Rudolf Borchardt und seine Zeitgenossen 9783110810714, 9783110156034


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German Pages 419 [424] Year 1997

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Table of contents :
VORWORT
ABKÜRZUNGEN
Poesie des Interregnums. Rudolf Borchardt über Stefan George
Werner Kraft und Rudolf Borchardt
Ein amerikanischer Traum am deutschen Abgrund. Rudolf Borchardt und Edna St. Vincent Millay
Rudolf Borchardt und die universitäre Altphilologie (Friedrich Leo)
Rudolf Borchardt und das romanische Mittelalter
Eine Wissenschaft für die Kunst. Wie Burdach, Borchardt und Hofmannsthal einander nützen
Rudolf Borchardt und Josef Nadler
Rudolf Borchardt und Friedrich Hölderlin
Rudolf Borchardt und Tommaso Gallarati Scotti
Eidos. Borchardt zwischen Croce und Warburg
"Ist das die Villa?" Rudolf Borchardt in der Villen-Landschaft
Pisa und die Pisani in der Sicht Rudolf Borchardts. Sein Text Pisa. Ein Versuch von 1932
Vier Kolosse. Rudolf Borchardt und die Architektur des "Campo dei Miracoli" in Pisa
"Das Zentrum der Poesie". Rudolf Borchardts Gartenidee
Geschichte als Phantasmagorie. Rudolf Borchardts Aufsatz Die Tonscherbe
Das Reich, der Posteritätsblick und die Erzwingung des Feindes. Rudolf Borchardts Aufsatz Der Kaiser aus dem Jahr 1908 und seine Wende zur Politik
Italien, Deutschland und der türkische Krieg 1911/12 im Urteil Rudolf Borchardts
Rudolf Borchardts Weltkriegsreden
Rudolf Borchardt und die "Konservative Revolution"
"Deutschland ist Kain". Rudolf Borchardt und der Nationalsozialismus
NAMENREGISTER
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Rudolf Borchardt und seine Zeitgenossen
 9783110810714, 9783110156034

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Rudolf Borchardt und seine Zeitgenossen

Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte Begründet als

Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker von

Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer

Herausgegeben von

Ernst Osterkamp und Werner Röcke

10 (244)

W G DE

Walter de Gruyter • Berlin • New York 1997

Rudolf Borchardt und seine Zeitgenossen herausgegeben von

Ernst Osterkamp

W G DE

Walter de Gruyter • Berlin • New York 1997

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek —

ClP-Einheitsaufnahme

Rudolf Borchardt und seine Zeitgenossen / hrsg. von Ernst Osterkamp. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1997 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte ; 10 = (244) ISBN 3-11-015603-2 NE: Osterkamp, Ernst [Hrsg.]; GT

ISSN 0946-9419 © Copyright 1997 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen Printed in Germany Einbandgestaltung: Sigurd Wendland, Berlin Druck: Arthur Colügnon GmbH, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin

Vorwort R u d o l f Borchardt hat es zu den Rechten des Dichters gezählt, verkannt zu bleiben. Und doch hoffte er zugleich auf eine "rächende Nachwelt", die "die verschleuderten Demanten, die verworfenen Perlen aus dem Schutte schuldiger Zeiten" empor heben werde. 1 Tatsächlich hat in dem Halbjahrhundert seit Borchardts T o d die Nachwelt sein W e r k aus den "zertretenen Feldern der Vergangenheit" geborgen: In vierzehn umfangreichen Bänden liegen die Dichtungen, Ubersetzungen, Reden und Prosaschriften vor; hinzu kommt die auf zwanzig Bände angelegte Edition des Briefwechsels. Das Klischee vom großen Unbekannten der deutschen Literatur, das jahrzehntelang in den nicht eben häufigen Zeitschriften- und Zeitungsartikeln über Borchardt bemüht worden ist, hat sich längst verbraucht; das W e r k Borchardts findet seine Leserschaft, dies nicht allein innerhalb der literarischen Öffentlichkeit, sondern in zunehm e n d e m M a ß e auch in den Kunst- und Kulturwissenschaften, die sich für die überraschungsvollen Einsichten, die aus Borchardts Essays zu gewinnen sind, und für die jenseits eingefahrener Blickweisen von Borchardt entworfenen historischen Perspektiven zu öffnen beginnen. Es ist dies freilich, da sein vielgestaltiges W e r k keineswegs nur "Demanten" und "Perlen" enthält, auch eine kritische Leserschaft. Borchardt hat sein Leben im Widerstand gegen eine zerrissene Zeit programmatisch ins Zeichen von Ganzheit gestellt: einer schöpferischen W i e derherstellung der kulturellen Traditionen und künstlerischen F o r m e n . In schroffer Ablehnung hielt er sich von der zeitgenössischen literarischen Öffentlichkeit abgekehrt; politisch blieb er, über den Zusammenbruch des Kaiserreichs hinaus, Monarchist und intransigenter Verfechter der deutschen Reichsidee. D a ß Borchardt sich von 1 9 0 6 bis 1 9 1 4 , dann seit 1 9 2 1 endgültig in lucchesischen Villen niedergelassen hat, wurde schon von den Zeitgenossen als bewußte Inszenierung seines Bruchs mit Politik, Kultur und Literatur seines Heimatlandes verstanden. Deshalb auch wurde in der bisherigen Rezeption immer die Isolation Borchardts, der als Dichter, Wissenschaftler und politischer Denker in bewußter Opposition zu seiner Zeit stand, im literarischen Leben der Epoche hervorgehoben. M i t der Veröffentlichung von Borchardts g r o ß e m Briefwerk aber, das

1

So in dem auf eine Anfrage Eduard Korrodis im April 1926 in der Neuen Zürcher Zeitung

veröffentlichten Brief Über das Recht des Dichters verkannt zu bleiben; Prosa I, S. 314.

VI

Vorwort

fünfzig Jahre nach seinem T o d zu erscheinen begann, wird nun ganz sichtbar, auf welch vielfältige Weise er mit zentralen Strömungen der literarischen Moderne verbunden war und wie intensiv der Austausch mit zahlreichen Künstlern, Wissenschaftlern und Politikern seiner Zeit gewesen ist. Der große Unzeitgemäße stand, wie seine Korrespondenz mit Dichtern wie Hofmannsthal und Schröder, mit Verlegern wie Anton Kippenberg, Alfred Walter Heymel und Ernst Rowohlt, mit Politikern wie Walther Rathenau und Regisseuren wie Max Reinhardt, mit Gelehrten vom Range Benedetto Croces, Karl Vosslers, Konrad Burdachs und Werner Jaegers zeigt, mitten in der von ihm verworfenen Epoche und hat deren Entwicklungen nach seinen Vorstellungen umzubiegen versucht. Die auf der Grundlage des Briefwechsels mögliche Rekonstruktion des Geflechts der historischen Bezüge, in dessen Zentrum Borchardt stand, ermöglicht erst eine differenzierte Beschreibung seiner poetischen Konzeptionen im Zusammenhang der literarischen Moderne, seiner wissenschaftlichen Entwürfe im wissenschaftsgeschichtlichen Kontext, seiner politischen Absichten und Irrtümer im politischen Kräftespiel der Epoche. Die folgenden Studien versuchen, den historischen Ort von Borchardts Gestalt und Werk im Zusammenhang von Poesie, Wissenschaft und Politik der ersten Jahrhunderthälfte zu bestimmen. Sie erläutern Borchardts Beziehungen zu führenden Repräsentanten von Dichtung, Wissenschaft und Politik - in Anziehung wie Abstoßung - und wollen damit seine entschiedene Zeitgenossenschaft sichtbar werden lassen. Sie setzen ein mit der Rekonstruktion einer besonders problematischen Verbindung: derjenigen zu Stefan George, der, ohne daß Borchardt ihm jemals persönlich begegnet wäre, sein Poesieverständnis auf lebensentscheidende Weise geprägt und doch, bei aller Verehrung für dessen dichterisches Werk, über vier Jahrzehnte hinweg Borchardts mit ständig wachsendem Haß niedergeschriebene Invektiven auf sich gezogen hat. Von vergleichbarer Bedeutung war für Borchardts dichterische Biographie allenfalls die Begegnung mit Hofmannsthal - und auch die Freundschaft mit Hofmannsthal, die Christoph König unter wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive beleuchtet, gestaltete sich, wie der nun vollständig vorliegende Briefwechsel zeigt, auf eine Weise spannungsvoll, von der Borchardts Schriften über den Dichter nichts ahnen ließen. Exemplarisch für Borchardts Wirkung auf die junge Generation wird seine Bedeutung für Werner Kraft (Jörg Drews), exemplarisch für sein Verhältnis zur nicht-deutschsprachigen modernen Poesie seine späte Begegnung mit den Gedichten Edna St. Vincent Millays untersucht (Friedmar Apel). Im Zentrum des Bandes stehen Abhandlungen über Borchardts Wissenschaftskonzeption, den geistigen Austausch und die kritische Auseinandersetzung mit führenden Gelehrten seiner Zeit. Die Bedeutung, die Friedrich Leo als akademischer Lehrer für die Ausbildung des Borchardtschen Verständnisses von Philologie besessen hat, beleuchtet Thomas Poiss. Borchardts

Vorwort

VII

Mittelalter-Deutung und sein Konzept einer mittelalterlichen Altertumswissenschaft werden in Abgrenzung von der romanistischen Dante-Forschung (Sebastian Neumeister) und dem Renaissance-Verständnis Konrad Burdachs expliziert, dem Borchardt seine Dante-Übersetzung zugeeignet hat (Christoph König). Den Gründen für Borchardts begeisterte Zustimmung zu Josef Nadlers stammeskundlicher Literaturbetrachtung, aber auch für seine späte Skepsis gegenüber der Nadlerschen Methode geht Ulrich Wyss nach, während Christian Wagenknecht Borchardts Kritik an der zeitgenössischen HölderlinForschung konturiert, wobei wiederum die Gestalt Stefan Georges im Hintergrund steht. Den - bisher allzu wenig beachteten - Einfluß italienischer Gelehrter auf Borchardt zeichnet Elena Raponi am Beispiel Tommaso Gallarati Scottis nach; ihrer Studie an die Seite zu stellen wäre die jüngst erschienene Abhandlung Marcello Barbaneras über Borchardt und Ranuccio Bianchi Bandinelli. 2 Auch Benedetto Croce zählte zu Borchardts italienischen Gesprächspartnern; Michael Neumann analysiert Borchardts Verständnis von historischer Forschung im Spannungsfeld von Croces Konzept historischer Intuition und Aby Warburgs kulturwissenschaftlichem Forschungsprogramm. Am Beispiel des frühen Villa-Aufsatzes (1907) und des späten Pisa-Buchs (1938) dann werden Borchardts methodische Verfahren und seine kunsthistorischen Ergebnisse vor dem Hintergrund der aktuellen Forschungsdiskussion überprüft und diskutiert (Andreas Beyer, Antje Middeldorf Kosegarten, Bruno Klein). Späten Schriften Borchardts gelten auch die Untersuchungen Markus Bernauers und Norbert Millers: dem postum erschienenen Gartenbuch in seiner impliziten Gegenbildlichkeit zu den aktuellen geschichtlichen Verheerungen in Gestalt der nationalsozialistischen Barbarei und der kleinen Studie Die Tonscherbe (1937), in der dem Dichter, wiederum in unausgesprochenem Widerstand gegen die nationalsozialistische Traditionszerstörung, aus der Betrachtung eines zufällig überlieferten antiken Fragments die Kraft zur phantasmagorischen Vergegenwärtigung verlorener geschichtlicher Ganzheit - der griechischsprachigen Welt des Hellenismus - erwächst. Beide Aufsätze leiten über zu dem erstmals in diesem Band unternommenen Versuch, Borchardts politische Schriften vor dem Hintergrund der politischen Entwicklungen in der ersten Jahrhunderthälfte zu analysieren. Borchardts politische Schriften und Reden bilden sicher den problematischsten Teil seines Werks, und erst die Veröffentlichung der Briefe hat das ganze Ausmaß seiner politischen Irrtümer und Fehlurteile sichtbar werden lassen. Fünf Studien versuchen exemplarisch Borchardts politischen Weg nachzuzeichnen: seinen unbeirrbaren Legitimismus (Hartmut Zelinsky), seine Versuche publizistischer Einflußnahme auf aktuelle politische Entscheidungsprozesse in den

2

Marcello Barbanera: Rudolf Borchardt e Ranuccio Bianchi Bandinelli. Geggiano, archivio chiantigiano, in: Belfagor LI, 1996, S. 80-98.

VIII

Vorwort

Spectator Germanicus-Aufsätzen des Jahres 1912 (Jens Petersen), seine Weltkriegsreden, die sich in Sprache und politischer Argumentation von der kaum überschaubaren Reden-Produktion der Zeit signifikant abheben (Kurt Flasch), seine Stellung zu den Strömungen der "Konservativen Revolution" vor 1933 (Stefan Breuer), zögerndes Sympathisieren und rascher Bruch mit dem Nationalsozialismus (Jens Malte Fischer). Diese Studien schlagen den Bogen zurück zu der ersten Abhandlung, in der Borchardts abschließendes Urteil über George aus den geschichtlichen Erfahrungen nach 1933 zu erklären war. Der Band weist Lücken auf; so hätte sich das - freilich oft behandelte Verhältnis zu Hofmannsthal auf der Grundlage des nun vollständigen Briefwechsels neu beleuchten lassen, während die lange Jahrzehnte übergreifende Freundschaft mit Rudolf Alexander Schröder nicht dargestellt werden konnte, weil der Briefwechsel noch nicht vorlag. Allerdings kann und soll der vorliegende Band auch nicht die noch zu schreibende Biographie Borchardts ersetzen. Seine Aufgabe besteht darin, in Einzelstudien die poesie-, wissenschafts- und politikgeschichtlichen Problemfelder zu rekonstruieren, aus denen Borchardts Werk erwachsen ist. Die Mehrzahl der Beiträge geht auf das Symposion "Rudolf Borchardt und seine Zeitgenossen" zurück, das vom Literarischen Colloquium Berlin und der Rudolf Borchardt-Gesellschaft im Juli 1995 aus Anlaß von Borchardts 50. Todestag im Literarischen Colloquium Berlin veranstaltet worden ist. Ergänzt wurde der Band um Abhandlungen, die aus auf Einladung der Rudolf Borchardt-Gesellschaft entstandenen Vorträgen erwachsen sind. Für die gute Hilfe, die sie bei der Fertigstellung des Buchs geleistet haben, sei Uta Kabelitz und Bernhard Klöckener herzlich gedankt. Berlin, im Januar 1997

Ernst Osterkamp

Inhaltsverzeichnis VORWORT ABKÜRZUNGEN ERNST OSTERKAMP (BERLIN): Poesie des Interregnums. Rudolf Borchardt über Stefan George

V XI

1

JÖRG DREWS (BIELEFELD): Werner Kraft und Rudolf Borchardt

27

FRIEDMAR APEL (PADERBORN): Ein amerikanischer Traum am deutschen Abgrund. Rudolf Borchardt und Edna St. Vincent Millay

45

THOMAS POISS (BERLIN): Rudolf Borchardt und die universitäre Altphilologie (Friedrich L e o ) . . 56 SEBASTIAN NEUMEISTER (BERLIN): Rudolf Borchardt und das romanische Mittelalter

73

CHRISTOPH KÖNIG (MARBACH): Eine Wissenschaft für die Kunst. Wie Burdach, Borchardt und Hofmannsthal einander nützen

84

ULRICH WYSS (ERLANGEN): Rudolf Borchardt und Josef Nadler

113

CHRISTIAN WAGENKNECHT (GÖTTINGEN): Rudolf Borchardt und Friedrich Hölderlin

132

ELENA RAPONI (MAILAND): Rudolf Borchardt und Tommaso Gallarati Scotti

143

MICHAEL NEUMANN (EICHSTÄTT): Eidos. Borchardt zwischen Croce und Warburg

157

X

Inhaltsverzeichnis

ANDREAS BEYER (JENA):

"Ist das die Villa?" Rudolf Borchardt in der Villen-Landschaft

194

ANTJE MIDDELDORF KOSEGARTEN (GÖTTINGEN)

Pisa und die Pisani in der Sicht Rudolf Borchardts. Sein Text Pisa. Ein Versuch von 1932

210

BRUNO KLEIN (BOCHUM):

Vier Kolosse. Rudolf Borchardt und die Architektur des "Campo dei Miracoli" in Pisa

232

MARKUS BERNAUER (BERLIN):

"Das Zentrum der Poesie". Rudolf Borchardts Gartenidee

245

NORBERT MILLER (BERLIN):

Geschichte als Phantasmagorie. Rudolf Borchardts Aufsatz Die Tonscherbe

265

HARTMUT ZELINSKY (MÜNCHEN):

Das Reich, der Posteritätsblick und die Erzwingung des Feindes. Rudolf Borchardts Aufsatz Der Kaiser aus dem Jahr 1908 und seine Wende zur Politik

281

JENS PETERSEN ( R O M ) :

Italien, Deutschland und der türkische Krieg 1911/12 im Urteil Rudolf Borchardts

334

KURT FLASCH (MAINZ):

Rudolf Borchardts Weltkriegsreden

355

STEFAN BREUER (HAMBURG):

Rudolf Borchardt und die "Konservative Revolution"

370

JENS MALTE FISCHER (MÜNCHEN):

"Deutschland ist Kain". Rudolf Borchardt und der Nationalsozialismus NAMENREGISTER

386 399

Abkürzungen Die Werke Borchardts werden nach der Ausgabe der gesammelten Werke in Einzelbänden mit folgenden Kurztiteln zitiert: Reden Erzählungen Gedichte Gedichte II / Übertragungen II

Prosa I Prosa II

Reden, hrsg. von Marie Luise Borchardt, Rudolf Alexander Schröder und Silvio Rizzi, Stuttgart 1955. Erzählungen, hrsg. von Marie Luise Borchardt und Silvio Rizzi, Stuttgart 1956. Gedichte, hrsg. von Marie Luise Borchardt und Herbert Steiner, Stuttgart 1957. Gedichte II / Übertragungen II, hrsg. von Marie Luise Borchardt und Ulrich O t t unter Beratung von Ernst Zinn, Stuttgart 1985. Prosa I, hrsg. von Marie Luise Borchardt, Stuttgart 1957. Prosa II, hrsg. von Marie Luise Borchardt und Ernst Zinn, Stuttgart 1959.

Prosa III

Prosa III, hrsg. von Marie Luise Borchardt und Ernst Zinn, Stuttgart 1960.

Prosa IV

Prosa IV, hrsg. von Marie Luise Borchardt, Ulrich Ott und Ernst Zinn, Stuttgart 1973.

Prosa V

Prosa V, hrsg. von Marie Luise Borchardt und Ulrich O t t unter Mitwirkung von Ernst Zinn, Stuttgart 1979. Prosa VI, hrsg. von Marie Luise Borchardt, Ulrich Ott und Gerhard Schuster unter Mitarbeit von Angelika O t t und unter Beratung von Ernst Zinn, Stuttgart 1990.

Prosa VI

Dantes Comedia Deutsch Der leidenschaftliche Gärtner

Dantes Comedia Deutsch, hrsg. von Marie Luise Borchardt, Ulrich O t t und Ernst Zinn, Stuttgart 1967. Der leidenschaftliche Gärtner, hrsg. von Marie Luise Borchardt, Ernst Zinn und Ulrich O t t , Stuttgart 1968.

Borchardts Briefe werden nach der von Gerhard Schuster und Hans Zimmermann besorgten Ausgabe der gesammelten Briefe mit folgenden Kurztiteln zitiert: Briefe 1895-1906

Briefe 1895-1906, München und Wien 1995.

Briefe 1907-1913

Briefe 1907-1913, München und Wien 1995.

Briefe 1914-1923

Briefe 1914-1923, München und Wien 1995.

Briefe 1924-1930

Briefe 1924-1930, München und Wien 1995.

Briefe 1931-1935

Briefe 1931-1935, München und Wien 1996.

Borchardt /

Hofmannstbal

Rudolf Borchardt - Hugo von Hofmannsthal: Briefwechsel, München und Wien 1994.

ERNST OSTERKAMP

Poesie des Interregnums. Rudolf Borchardt über Stefan George Im Anhang zu Pisa. Ein Versuch (1938), Rudolf Borchardts letztem zu Lebzeiten erschienenen Buch, ist eine Liste seiner veröffentlichten Schriften abgedruckt, die mit vier in Vorbereitung befindlichen Werken abschließt, darunter Der leidenschaftliche Gärtner, den Marie Luise Borchardt 1951 aus dem Nachlaß herausgegeben hat, und die nie abgeschlossene historische Monographie Kleopatra und ihre Zeit, von der schmale Fragmente erst 1973 veröffentlicht worden sind.1 Die beiden anderen hier genannten Bücher sind nie erschienen: Ob von dem "in englischer Sprache geschriebenen", im Briefwechsel der dreißiger Jahre oft erwähnten Werk Interregnum / Being an Inquiry into the causes of European disorders, past and recent, für das Borchardt bereits Heinemann in London als Verleger nennen kann,2 jemals eine Niederschrift existiert hat, ist unbekannt; man darf allerdings daran zweifeln, denn es ist das einzige der vier vorbereiteten Werke, für das Borchardt noch keinen Seitenumfang angibt. Anders steht es mit dem zweiten bis heute unveröffentlichten Werk auf dieser Liste; es trägt hier den Titel Autobiographische Aufzeichnung über Stefan George. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Jahrhundertwende, wird durch den Vermerk "Nicht für den Handel" als eine Schrift charakterisiert, deren Problemgehalt eine breitere Öffentlichkeit ausschließt, und wird in seinem Umfang auf 120 Seiten kalkuliert.3 Dieser Text, der von Borchardt in einer merkwürdigen Strategie verhüllenden Enthüllens einer Öffentlichkeit angekündigt wird, die von seiner Lektüre ausgeschlossen bleiben soll, hat sich in seinem Nachlaß erhalten: 69 eng beschriebene Manuskriptblätter unter dem bewußt nüchternen, einem Gerichtsprotokoll angemessenen Titel Aufzeichnung Stefan George betreffend, die im Druck ca. 120 Seiten umfassen dürften.4 Tatsächlich ist der Problemgehalt

1 2

Prosa IV, S. 81-99, 4 2 3 - 4 3 3 . Rudolf Borchardt: Pisa. Ein Versuch, Zürich 1938, S. 166.

3

Ebd.

4

Deutsches Literaturarchiv, Marbach. F ü r die Erlaubnis, aus dem Manuskript zu zitieren, sei Cornelius Borchardt freundlich gedankt.

2

Ernst Osterkamp

dieser Schrift von solcher Art, daß er eine Veröffentlichung selbst jenseits des Buchhandels bis heute ausgeschlossen hat. Es wäre eine lohnende Aufgabe, den ideellen Zusammenhang dieser vier Werke zu rekonstruieren und in ihnen gemeinsam den Entwurf einer groß angelegten historisch-politischen Antwort nicht nur auf die deutsche, sondern auf die europäische Situation unmittelbar vor Ausbruch des zweiten Weltkriegs zu bestimmen: das Kleopatra-Buch als die Analyse der Zeitenwende von der hellenischen zur römischen Welt, des ersten großen Beispiels für die Zerstörung historisch-kultureller Kontinuität; die Interregnums-Schrift als aktuelle politisch-geistesgeschichtliche Begründung für die historische Katastrophe, auf die Europa zusteuerte; dazu als Gegenbild das Gartenbuch, das den geschichtlichen Verheerungen, den "European disorders", jene im Naturraum bewahrte "Ordnung des Menschengeistes"5 entgegenstellt, die im Raum der Geschichte, unter den Bedingungen des "Interregnum", längst unkenntlich geworden ist. Der Verlust dieser "Ordnung des Menschengeistes" aber, die Borchardt im Gartenbuch im Widerstand gegen seine Zeit entwirft, spiegelt sich, seinem emphatischen Dichtungsverständnis entsprechend, zunächst und vor allem im Medium der Poesie, im Werk des größten Dichters seiner Zeit. So läßt sich vielleicht der systematische Ort seiner riesenhaften Protokollnotiz zu Stefan George, die Borchardt zu den Akten der Geschichte geben will, innerhalb dieses Werkplans bestimmen: Stefan George als der repräsentative Dichter des "Interregnum", sein Werk in seiner ganzen unerreichten Größe Ausdruck einer geschichtlichen Verkehrung, historischer Inversion, mehr noch: nicht allein Spiegel der geschichtlichen Auflösung in Zeiten der Zwischenherrschaft, sondern zugleich deren Ferment. Wenn diese Deutung, nach der Borchardt zumindest in seinem letzten Lebensjahrzehnt George als den repräsentativen Dichter des "Interregnum" begriffen hätte, zutrifft - und ich versuche im folgenden, sie plausibel zu machen - , dann läge die Bedeutung von Borchardts Aufzeichnung Stefan George betreffend nicht allein darin, daß sie das Schlußdokument seiner über vier Jahrzehnte umgreifenden Auseinandersetzung mit Stefan George wäre, sondern sie dürfte zugleich als eines der wichtigsten Zeugnisse für sein politisches Denken in der Zeit nach 1933 gelten. Daß die autobiographische Aufzeichnung Stefan George betreffend als dichtungsgeschichtliche zugleich eine politische Schrift ist, liegt in Borchardts Dichtungsverständnis begründet, demzufolge die Geschichte einer Nation in der Poesie ihren höchsten Ausdruck findet.

5

"Der leidenschaftliche Gärtner / Der menschliche Blumenbesitz als Ordnung des Menschengeistes", so der Titel des Gartenbuchs in der Ankündigung des Jahres 1938; Rudolf Borchardt: Pisa (Anm. 2), S. 166.

Poesie des Interregnums. Rudolf Borchardt über Stefan George

3

Als dichtungsgeschichtliche wie als politische Schrift aber gehört Borchardts Aufzeichnung Stefan George betreffend zu den schockierendsten Texten in der deutschen Literatur der Moderne. Es kann mir im folgenden nicht darum gehen, das Skandalon dieses Textes dadurch zu relativieren, daß ich ihn in eine Problemkontinuität innerhalb des Borchardtschen Werkes einbette; die Aufzeichnung bleibt in ihrer Mischung aus politischer, poetischer und sexueller Invektive allemal ein kaum erträglicher, oft abstoßender Text. Aber es ist zu zeigen, daß jedes der zentralen Motive der Aufzeichnung in den vorangegangenen Schriften Borchardts über George bereits im Kern vorhanden, wenn auch oft nur in Andeutungen ausgesprochen worden ist. Gerade weil dies so ist, bleibt die Aufzeichnung ein unverzichtbares Dokument für das Verständnis dieser fast lebenslangen, mit äußerster Erbitterung und solchem existentiellen Ernst geführten Auseinandersetzung, daß der Leser den Eindruck gewinnt, sie sei für Borchardt von lebensentscheidender Bedeutung gewesen. Es ist innerhalb des hier gegebenen Rahmens nicht möglich, diese Auseinandersetzung in ihrer ganzen Komplexität zu rekonstruieren; das reiche Material, das insbesondere auch durch die Publikation der Borchardtschen Briefe zutage getreten ist, verlangt nach einer größeren monographischen Darstellung. Aufgabe der folgenden Bemerkungen kann es nur sein, die problemgeschichtlichen Entwicklungslinien nachzuzeichnen, die zur Entstehung der Aufzeichnung geführt haben. Daraus ergibt sich naturgemäß eine Konzentration auf die Borchardtschen Schriften und eine entsprechende Vernachlässigung der Gegenperspektive: Georges und seines Kreises. Dennoch sollte immer mitbedacht werden, daß die polemische Schärfe und die Härte der Auseinandersetzung in Borchardts Texten auch dadurch motiviert war, daß George und seine Anhänger, sobald es um Borchardt ging, bei der Wahl ihrer Formulierungen ebenfalls nicht eben zurückhaltend verfuhren; als z. B. im März 1 9 3 1 der junge Michael Landmann unvorsichtigerweise George gestand, er liebe Borchardts Elegien, erhielt er zur Antwort: "Das ist eine Personage, so schmierig, wenn man sie täte an die Wand werfen, würde sie pappen bleiben." 6 Borchardt und George sind einander nie persönlich begegnet; der einzige Brief, den Borchardt (am 14. Januar 1906) an George gerichtet hat, war bereits ein Abschiedsbrief und blieb ohne Antwort. Borchardt hat bis an sein Lebensende die epochale Bedeutung hervorgehoben, die für seine gesamte geistige Existenz die Begegnung mit dem Werk Hofmannsthals und, kurz

6

Michael Landmann: Erinnerungen an Stefan George. Seine Freundschaft mit Julius und Edith Landmann, Amsterdam 1980, S. 59.

4

Ernst Osterkamp

darauf, Georges im Frühjahr 1898 besessen hat. Es waren Ernst Hardt und Reinhard und Sabine Lepsius, die ihn mit den ersten Büchern Georges bekannt gemacht hatten. 7 Gewiß blieb auch nach der ersten Begegnung mit den Gedichten Georges weiterhin Hofmannsthal für Borchardt die zentrale Leitgestalt poetischer Erneuerung; die am 8. September 1902 gehaltene Rede über Hofmannsthal bezeugt dies mit jeder Zeile. Und doch sollte nicht übersehen werden, daß jene vier Jahre zwischen Borchardts plötzlicher Trennung von Hofmannsthal in Wien im Frühjahr 1902 und der Wiederaufnahme der Beziehungen nach dem Bruch mit George und der Eheschließung mit Karoline Ehrmann im Mai 1906 die Zeit seiner engsten Annäherung an die Georgesche Sphäre gewesen sind - bedingt auch durch Irritationen über Hofmannsthals dichterische Entwicklung. In dieser Zeit war Borchardt, wie Edith Landmann berichtet, so "besessen" von George, "dass er von keinem nüchternen biographischen Faktum wissen wollte, sondern erklärte, Pan habe ihn [George] mit einer Nymphe gezeugt"8 (eine genealogische Pointe, die doch wohl schlüssiger den Verfasser der Bacchischen Epiphanie als denjenigen des Jahrs der Seele charakterisiert). Borchardt hat in diesen Jahren viele seiner Freunde auf George aufmerksam gemacht und für dessen Werk begeistert, und von diesen wiederum zählten manche später zu den wichtigsten Stützen von dessen Staat: so Berthold Vallentin, Friedrich Wolters, schließlich Julius und Edith Landmann. 9 Was Borchardt unternahm, war Werbung für das Werk und nicht Seelenfischerei für den Meister, konnte dies auch nicht sein, weil sich die Strukturen des nach "Herrschaft und Dienst" geordneten Kreises zu dieser Zeit noch gar nicht ausgebildet hatten. Daß Borchardt allerdings schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt zwischen dem Dichter George und seiner engeren Gefolgschaft zu unterscheiden gelernt hat, zeigt ein um den 13. April 1902 noch in Wien entstandener Brief, mit dem er der Redaktion der Preußischen Jahrbücher einen durch Ludwig Klages' eben erschienenes George-Buch veranlaßten Aufsatz anbietet, der "gegen die alles verzerrende Anmassung eines geschmacklosen und im inner-

7

8 9

Zu Borchardts früher Begegnung mit den Werk Georges vgl. Rudolf Borchardt. Alfred Walter Heymel. Rudolf Alexander Schröder. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum, Marbach am Neckar 1978, S. 143ff.; im folgenden zitiert: Katalog Marbach. Des weiteren die Briefe an Helene Borchardt, 4.12.1898 ("so hat seit Goethe keiner gesprochen"), an Heinrich Goesch, 28.8.1899, 24.9.1899, 18.7.1900, an Karl Wolfskehl, 2.10.1900, 4.12.1900, 3.2.1901 und vor allem 31.3.1901: "Die Bekanntschaft Ernst Hardts, die ich Ostern 1898 machte lehrte mich George, Hofmannsthal und die Blätter für die Kunst kennen und ich gebrauche kein zu hohes Wort wenn ich sage dass es ein ungeheures Erlebnis für mich war [•••]•" Briefe 1895-1906, S. 134. Edith Landmann: Gespräche mit Stefan George, Düsseldorf, München 1963, S. 13. Vgl. den Katalog Marbach, S. 147f.

Poesie des Interregnums. Rudolf Borchardt über Stefan George

5

sten ungebildeten Klüngels den Geist der Wissenschaft, der morgenfrischen Nüchternheit" beschwört: Z u Klages' Buch zu schweigen, das von einer "unaufhörlich sich vergrössernden Clique" als "mystisches Evangelium" gepriesen werde, sei eine "Versündigung an Kunst und bon sens zugleich". 1 0 Es mag sein, d a ß Borchardt hier vorerst nur an den Kreis der M ü n c h n e r Kosmiker dachte; sicher ist aber, daß Brief und Aufsatzprojekt den unmittelbaren Einfluß Hofmannsthals spiegeln, denn auch Hofmannsthal hatte, wie er im gleichen J a h r an George schrieb, Klages' Schrift "peinlich" berührt: "Es finden sich da Metaphern, die ich zu vergessen trachte." 1 1 Wie Borchardts Brief an die Preußischen

Jahrbücher

zeigt, hatte er deshalb in dem von ihm angebotenen

Aufsatz Hofmannsthal bereits konsequent als Gegenbild zu George aufgebaut. Entscheidend ist nun, daß parallel zu Borchardts größtem Engagement für Georges W e r k dieser selbst, nach dem Maximin-Erlebnis der J a h r e 1 9 0 2 bis 1 9 0 4 , jene grundlegende Neuorientierung in seinem Leben und in seiner Dichtung vollzog, die ihn zum magischen Zentrum eines Kreises, zum H e r r scher des Geheimen Deutschland, zum einzigen Inhalt einer säkularen Heilslehre e r h o b . Dieser Rückzug in die Gruppenesoterik verband sich mit einem usurpatorischen Zugriff auf die Seelen derer, die Mitglieder des Kreises sein wollten; die Motive und Mechanismen des Staatsgründers George hat Stefan Breuer schlüssig mit den Kategorien der Kohutschen beschrieben.

12

Narzißmus-Theorie

George muß instinktiv gespürt haben, daß Borchardts Seele

nicht über jene symbiotische Grunddisposition verfügte, die sie zum exklusiven Dienst am Meister tauglich gemacht hätte - und dies nicht allein deshalb, weil Borchardt durch die Veröffentlichung seiner Gedichte in der Insel bereits in gefährliche Nähe zu Schröder und Hofmannsthal geraten war. 1 3 Als Edith Landmann 1 9 2 6 George fragte, o b Borchardt nicht doch hätte geholfen werden können, wenn der Meister ihn einmal gesehen hätte, da antwortete dieser jedenfalls: "Ach nein, er habe von X . nur die Rockschösse

10 Briefe 1895-1906, S. 191f. 11 Briefwechsel zwischen George und Hofmannsthal. 2. ergänzte Aufl., hrsg. von Robert Boehringer, München, Düsseldorf 1953, S. 169. 12 Stefan Breuer: Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus, Darmstadt 1995. 13 Bereits im 4. Quartal des 1. Jahrgangs der Insel, die sich als ein öffentlichkeitsorientiertes Gegenorgan zu den exklusiven Blättern für die Kunst lesen ließ, veröffentlichte Rudolf Alexander Schröder einen Verriß des 1900 von George und Wolfskehl herausgegebenen 1. Bandes der Deutschen Dichtung: Jean Paul. Ein Stundenbuch für seine Verehrer. Schröder warf den Herausgebern dieser kurzen Auszüge aus Jean Pauls Werk "unverzeihliche Geschmacklosigkeit" (S. 245) vor und attackierte bei dieser Gelegenheit auch gleich noch Melchior Lechters "abscheuliche" Buchausstattung und dessen "geradezu verblüffende Unfähigkeit" (S. 249). Die Insel. 1. Jahrgang, 4. Quartal, Nr. 11, Aug. 1900, S. 244-250.

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Ernst Osterkamp

gesehen, aber er wisse genug."14 Tatsächlich hatte Borchardt nicht unter schwersten Konflikten um der Poesie willen gegen den eigenen Vater rebelliert, um sich selbst und die Poesie nun dem Dichter-Herrscher George zu unterwerfen; in den Hermetismus einer exklusiven Meister-Adept-Beziehung hätte er sich nicht zu fügen vermocht. George aber mußte es gerade nach der Kultsetzung im Zeichen Maximins im Vorfeld des Siebenten Ring darum zu tun sein, seinen Staat durch die Inkorporation nur solcher Jünger zu konstituieren, die sich auf ein exklusives Verhältnis zum Meister zu verpflichten bereit waren. Daß er in dieser entscheidenden Umbruchssituation in seinem dichterischen Selbstverständnis gemeinsame Freunde vor Borchardt, der in ihm allein den Dichter zu sehen in der Lage war, gewarnt und sie in einem Akt seelischer Besitzergreifung vor eine existentielle Alternative gestellt hat, erscheint durchaus plausibel. Es besteht deshalb kein Grund, an Borchardts in seinem Brief vom 2.3.1906 an seinen Bruder Philipp gegebener Darstellung zu zweifeln, es seien Georges "unaufhörliche Versuche, zwischen mir und ihm geteilte Menschen mir abwendig zu machen (Vallentin, Heilmeyer, jetzt hier die beiden Böhringer)", gewesen, die ihn zu seinem Brief vom 14. Januar 1906 an George gezwungen hätten, in dem er den Bruch mit dem bewunderten Dichter vollzog: "und seitdem herrscht Krieg zwischen seinem Samen und meinem Samen."15 Schon in seinem Brief an George trennt Borchardt entschieden zwischen der Person des Dichters und dem Werk; der Absage an George präludiert das Bekenntnis der Liebe zu dessen Poesie: "Es sind neun Jahre dass ich Sie ohne des Gesetzes Werk sola fide liebe; ich darf es sagen, weil die Früchte dieser Liebe heut in Ihren Gärten wachsen."16 Die endgültige Absage an die Gestalt Georges formuliert Borchardt in den letzten Sätzen des Briefes so: Versuchen Sie noch ein einziges Mal, mich zu verdächtigen, statt mich offen zu vergewaltigen, - und die Reihe der Gewalt ist an mir. Jene Entscheidungen zwischen Ihnen und mir werde alsdann ich erzwingen, und allerdings überall unter Einsetzung meiner gesammelten persönlichen Macht, die mir zwar, wo Sie im Spiele sind, zum Siege nicht verhelfen kann, wol aber eine aus Verbitterung, Vorwurf und Herzeleid gemischte Sphäre unendlicher Beunruhigung in der Jugend hinterlassen muss, die meinen Namen nach Ihrem immer kühner auszusprechen gelernt hat, und ihn nicht verlernen wird bis ich sie zwingen werde, alle Namen die sie kennt, an ihm zu messen, in zehn oder in dreissig Jahren, gleichgiltig, wie sie sich unter dem heutigen Drucke entscheidet. 17

14 15

Landmann (Anm. 8), S. 150. Briefe 1895-1906, S. 408. Wie der Anfang des Briefs an George zeigt, scheinen vor allem "Zuträgereien" über Borchardts frühere "Lebensführung" George dazu veranlaßt zu haben, Mitglieder des Kreises vor Borchardt zu warnen; ebd., S. 398. 16 Ebd., S. 399. 17 Ebd., S. 403f.

Poesie des Interregnums. Rudolf Borchardt über Stefan George

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Diese Sätze geben zu erkennen, daß der Brief an George, der zunächst als eine wunderliche Uberreaktion anmuten mag, in Wahrheit ein Akt der Befreiung, eine lustvoll inszenierte Herausforderung zu einem dichterischen Agon ist: die von einem höchst selbstbewußten Dichter ausgesprochene Herausforderung zu einem Wettkampf um Mit- und Nachwelt allein mit den Mitteln der Dichtkunst. Und tatsächlich vermag der hier eröffnete Agon nicht allein zu erklären, weshalb Borchardts dichterisches Werk an keiner Stelle einen Georgeschen Ton an sich trägt, sondern er hat überdies auch beträchtliche Teile von Borchardts übersetzerischem Werk veranlaßt, die im Wettstreit mit dem Georges entstanden sind: so etwa die Übertragungen Swinburnes und Dantes. Der Bruch mit George befreite Borchardt zu weiterer Produktivität — und ebnete überdies den Weg zurück zu Hofmannsthal! Heißt es noch am 28. Februar 1906 in einem Brief an Julius Zeitler: "Welche Tragödie ist dies Hofmannsthalsche Sinken! [...] Ich habe jetzt keine Hoffnungen mehr, diese Laufbahn stürzt gegen ihr Ende", 18 wird doch schon wenige W o chen später der seit vier Jahren unterbrochene Kontakt wieder aufgenommen, und im Folgejahr dann erscheint endlich das Fragment der 1902 gehaltenen Rede über Hofmannsthal, in der gegen die Größe der Georgeschen Dichtung, die "das allgemeine Niveau der deutschen Poesie sofort um ein Gewaltiges gesteigert", ja "ein Niveau erst wieder geschaffen" habe, 19 das "Chimärische seiner Denkungsart" gestellt wird, 2 0 mit einem scharfen Hieb auf die "Lehre von der Gemeinde als Mittlerin zwischen Kunst und Publikum", 21 um anschließend dem Werk Georges mit demjenigen Hofmannsthals "das erste reife Beispiel des großen Stiles seit dem Verfalle der Kunstübung" gegenüberzustellen. 22 Erst der Bruch mit George zieht die Simulation eines Dioskurenbundes Borchardt-Hofmannsthal nach Schiller-Goetheschem Vorbild nach sich, und die Kampfstellung gegen George und seine "Gemeinde" bleibt ihm von Anbeginn eingezeichnet. Welche wirklich zwingenden Gründe es waren, die den Bruch herbeigeführt haben, scheint sich Borchardt im Januar 1906, als er seinen Brief schrieb, selbst noch hinter dem "Chimärischen" der Georgeschen Denkungsart verborgen zu haben. Offenbar war ihm die auf der Kultsetzung um Maxi-

18 Ebd., S. 407. 19 Rudolf Borchardt: Rede über Hofmannsthal. Öffentlich gehalten am 8. September 1902 zu Göttingen, Leipzig 1905, S. 19. 20 So lautet im Erstdruck die Marginalie zu Beginn des Passus, der mit den Worten "Denn er ist gedacht" beginnt; ebd., S. 22. Die Marginalien sind in der Neuausgabe der Rede innerhalb der Borchardtschen Reden (Stuttgart 1955) fortgefallen. 21 Ebd., S. 21. 22 Ebd., S. 30.

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min gründende Selbstnobilitierung Georges zum Herrscher eines Geheimen Deutschland in ihrer vollen Tragweite damals noch nicht gegenwärtig. Als er sie erkannte, gewann die "Chimäre" schlagartig für ihn Gestalt, und er setzte nun alles daran, ihre Monstrosität öffentlich zu enthüllen. Als Gegenbild gegen den Herrscher George spielte er dabei immer den Dichter George aus. Borchardt hat bis an sein Lebensende in jeder seiner Schriften über und gegen George die Größe von dessen Poesie gerühmt, um von ihr in kalkulierter Polarisierung den Kultsetzer, den Herrscher über unfreie Seelen und Mythenstifter um so effektsicherer abheben zu können. In diesem Sinne heißt es, drei Jahrzehnte der Auseinandersetzung resümierend, am Ende in der Aufzeichnung Stefan George betreffend: Ich habe mir die strenge und fast übermenschliche Pflicht, das schärfste Schwert gleichzeitig für George und gegen George zu schwingen, lebenlang zur Gewissenslage der c o m plexio oppositorum erhoben. 2 3

Die Stationen dieses Kampfes für George und gegen George sollen kurz nachgezeichnet werden. Er beginnt im Jahre 1907 mit der Veröffentlichung der Rede über Hofmannsthal, mit der sich Borchardt nach langem Zögern, das ausgelöst war durch heftige Irritationen über Hofmannsthals dichterische Entwicklung, nun endlich, wie fragmentarisch auch immer, zu Hofmannsthal und damit implizit gegen George bekannte. Die Rede über Hofmannsthal gewann bereits auf diese Weise, ob geplant oder nicht, den Status einer Kontroversschrift gegen die poetische magna charta der Georgeschen Staatsgründung: den ebenfalls 1907 erschienenen Siebenten Ring, in dem das "Chimärische" der Georgeschen "Denkungsart" sich nun tatsächlich verfestigte und zu Gestalt und Namen fand: Maximin, die als Auffindung getarnte Erfindung eines säkularen Heilsbringers, mit deren Hilfe George einen neuen Kult stiftete, dessen einziger Inhalt er selbst war. Der hiermit verbundene Totalitäts- und Absolutheitsanspruch wurde in dem Augenblick, da er formuliert wurde, bereits von der Rede über Hofmannsthal bestritten, und zwar weniger dadurch, daß Borchardt mit dem Dichter Hofmannsthal dem einen Absolutum nun ein anderes entgegenstellte, als vielmehr dadurch, daß er den Anspruch des Dichters auf eine umfassende Lebenserneuerung allein durch die Kraft der Poesie grundsätzlich verwarf: Die Welt regeneriert sich nicht an Gedichten. [...] Jene Lehre von der Gemeinde als Mittlerin zwischen Kunst und Publikum, jene Scheidung des esoterischen vom exoterischen Verständnisse des Kunstwerkes, jene Regelung des Theaters und des Schauspielers, die Organisation der Meister-Dichter und der Dichter-Gesellen,

das Dekret gegen den

Roman - ein denkwürdiger Versuch, v o m schwächsten Punkte aus die Einheit des Daseins zu erzwingen. N u r die Albernheit kann wünschen, ihn im einzelnen zu diskutieren [...]. 2 4 23

Ich zitiere nach der durchpaginierten Handschrift; hier S. 7f.

24

Borchardt, Rede (Anm. 19), S. 21.

Poesie des Interregnums. Rudolf Borchardt über Stefan George

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Die Implantation eines Gottes an eben diesem "schwächsten Punkt" muß Borchardt als die schlüssige Bestätigung seiner Kritik an der Georgeschen "Lehre" erschienen sein. Der in der Rede über Hofmannsthal unternommene Versuch, den Dichter George von dessen esoterischer Lehre zu trennen und ihn auf das Rein-Dichterische festzulegen: am Siebenten Ring hatte er endgültig seine Grenze gefunden. Damit aber entzog Borchardts in der Rede formulierte Weigerung, George anders denn als ein rein dichterisches Phänomen wahrnehmen zu wollen, dem im Siebenten Ring gestalteten Anspruch des Dichters auf Stiftung einer säkularen Heilslehre von Anbeginn die Grundlage. Vor diesem Hintergrund ist Borchardts große Kritik des Siebenten Ring, eines der Meisterwerke der deutschen Literaturkritik, zu lesen. Er hat sie gleich nach Erscheinen des Buches niedergeschrieben; veröffentlicht wurde sie 1909 als kritisches Herzstück des gemeinsam mit Hofmannsthal und Schröder herausgegebenen Jahrbuchs Hesperus, das nun tatsächlich auf allen Ebenen sich von der Georgeschen Lehre abgrenzte: mit dem Verzicht auf alle Programme der Lebenserneuerung, mit der strengen Auswahl politik- und weltanschauungsferner poetischer Texte, mit dem Ubersetzungskonzept, durch den Abdruck des Hofmannsthalschen Komödienfragments Silvia im "Stern" - und nicht zuletzt dadurch, daß dem Jahrbuch als einziger programmatischer Text ein langes Zitat des von George und Wolfskehl zum Stundenbuch-Autor zurechtgeschnittenen Jean Paul vorangestellt wurde, das sich in jeder Wendung als ein Gegentext zur millenistischen Neuorientierung des zum Führer des Geheimen Deutschland nobilitierten Dichters lesen ließ: "Das tausendjährige Reich des Alls soll (verlangen wir) morgen an unserm Geburtstage draußen eben ausgeschifft vor der Türe stehen und uns gratulieren, damit wir auch davon profitieren." 25 Borchardts Kritik des Siebenten Ring ist ein durch und durch polemischer Text nicht dadurch, daß sie sich mit größtem poetischem Sachverstand ins künstlerische Detail vertieft und, gegen das Georgesche Analyseverbot, das Gelungene vom Mißlungenen scheidet, sondern dadurch, daß sie ihn nach wie vor ausschließlich als Dichter, als "großen Künstler"26 beurteilt, und dies in dem vollen Bewußtsein, daß Georges Anspruch längst darüber hinaus auf die Stiftung einer in seiner Gestalt und in seinem Werk verbürgten metapolitischen Heilslehre zielte, deren Gründungsurkunde Borchardt mit dem Siebenten Ring in Händen hielt. Indem Borchardt den Siebenten Ring rein als Dichtung liest und die poetischen Stärken, aber nicht zuletzt auch die 25 So der letzte Satz. Jean Paul: Aus einer Vorrede, in: Hesperus. Ein Jahrbuch von Hugo von Hofmannsthal, Rudolf Alexander Schröder und Rudolf Borchardt, Leipzig 1909, S. VII. 26 Rudolf Borchardt: Stefan Georges "Siebenter Ring", in: Prosa I, S. 258-294, hier S. 291.

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Schwächen der Gedichte herausarbeitet, verwirft er den Absolutheitsanspruch des Dichters, er überführt ihn der Fehlbarkeit und erweist allein damit, ohne daß noch ein Wort gegen die überpoetischen Absichten Georges fallen müßte, das Trügerische des Anspruchs, als Dichter Künder eines neuen Gottes zu sein, der von seinem eigenen Propheten ununterscheidbar ist. Den Allmachtsphantasien Georges wird mit dem Nachweis partieller poetischer Ohnmacht der Boden entzogen. Es liegt auf der gleichen Linie, daß Borchardt mit wenigen Worten über das geistige Kernstück und organisierende Zentrum des Siebenten Ring, den Maximin-Zyklus, hinweggeht, ihn mit nachlässiger Gebärde zu einer reinen Privatangelegenheit des Dichters erklärt 27 und gerade damit den Herrscher des Geheimen Deutschland vom eben bestiegenen Throne stößt. Das Resümee der Kritik lautet, daß der Dichter George eine Gestalt des "Übergangs" bleibe und daß sein Werk, mit Erscheinen des Siebenten Ring, bereits historisch geworden sei: "Die Gestalt Georges ist historisch geworden und steht außerhalb des Kampfes, den wir kämpfen." 28 Im Zusammenhang damit verband Borchardt die Poesie Stefan Georges erstmals mit der Kategorie des Interregnums, einer geschichtlichen Zwischenzeit: "Es wird lange dauern, bis unter uns, aus unserem Blute und unserer Sprache der Gewaltige aufsteht, der Stefan Georges rechtmäßiger Fortsetzer wird." (Eine Wendung, die es ausschließt, den an anderer Stelle wie nebenbei gesprochenen Satz "Die Zukunft ist in Hofmannsthal" 29 auf diesen "Gewaltigen" zu beziehen!). Der Kritiker aber müsse "die Interregnumspflicht, den Weg zu bereiten, mit allen ihren Notwendigkeiten" auf sich nehmen. 30 Der erste Schritt hierbei hat in Borchardts Augen der "Einspruch gegen die Intoleranz" zu sein, "die in der Kunst noch weniger Geltung hat, als wo immer es sei". Konkret bezogen auf den Siebenten Ring heißt dies: Einspruch gegen die "nackte Hybris", gegen "Georges auf Unterdrückung arbeitenden Trotz". 31 Denn nur dies sichert der Dichtung in jenem poesiegeschichtlichen Interregnum, für dessen Eintritt das Erscheinen des Siebenten Ring das wichtigste Symptom bildet, jene Zukunft, in der ein neuer "Gewaltiger" sich entfalten wird. So wie für Borchardt mit dem Siebenten Ring Georges dichterisches Werk abgeschlossen und historisch geworden war, so war deshalb mit der Kritik des Siebenten Ring im Jahre 1909 auch Borchardts Auseinandersetzung mit

27 "Wir übergehen ferner [...] das mittlere Stück des Buches, und kränken einen großen Schmerz nicht in seinem Rechte, sich auszuströmen, wie er muß." Ebd., S. 284. 28 Ebd., S. 292. 29 Ebd., S. 285. 30 Ebd., S. 291. 31 Ebd., S. 293.

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Georges dichterischem Werk abgeschlossen - und zwar für immer! Zwar hat er noch 1917 zu einer großen Analyse von Georges eben erschienenem Gedicht Der Krieg angesetzt, aber er brach diesen Versuch über das jüngste Werk Georges, den er auch hier noch den "größten deutschen Dichter" nennt, nach wenigen Seiten ab, und diese Blätter schon zeigen, daß er auch hier George nicht mehr als Dichter zu würdigen bereit war. Denn das neue Gedicht war in seinen Augen "kein Gedicht" mehr, sondern nur noch "bald sibyllinische bald nüchterne Rede. Das Dichterische daran läßt sich leicht abstreichen und bleibt dünn in der Hand liegen."32 So wäre denn vermutlich Borchardts Analyse des Kneg-Gedichtes eine exemplarische Auseinandersetzung mit der Haltung der Deutschen zum Weltkrieg geworden und hätte deshalb thematisch wohl eher in den Kontext der Kriegsreden gehört: ein politischer Text, keiner zur Poesie! Tatsächlich beschäftigen sich alle weiteren Schriften Borchardts zu George und seinem Kreis, die nach der Kritik des Siebenten Ring entstanden sind, nur noch am Rande mit der Dichtung Georges und nehmen statt dessen den Kampf mit der Politik Georges auf. Schon die große Kritik hatte an ihrem Ende zu erkennen gegeben, daß deren Verfasser in dem Gedichtbuch das Medium einer geistigen Unterwerfungsstrategie erkannt zu haben glaubte, mit der George, "diese große und tyrannische Natur", 33 die deutsche Jugend sich Untertan zu machen anschickte. Der ominöse Hinweis auf "unsere Pflicht gegen die Jugend", 34 mit dem der Borchardtsche "Einspruch gegen die Intoleranz" abschließend motiviert wurde, ließ bereits durchscheinen, daß der Leser der Kritik des Siebenten Ring, der einem Kampf um die deutsche Poesie beizuwohnen glaubte, in Wahrheit die Herausforderung zu einem Kampf um die deutsche Seele vor Augen hatte, innerhalb dessen sich Borchardt zum Sprecher der "deutschen Jugend" ernannte. Die erste und einzige offene Schlacht in diesem Kampf ließ nicht lange auf sich warten. Als im Folgejahr im ersten Jahrbuch für die geistige Bewegung Friedrich Gundolf in seinem Aufsatz Das Bild Georges Borchardts Rede über Hofmannsthal einer scharfen Kritik unterzog, Borchardt dort einen "unproduktiven, historisch belasteten menschen" nannte 35 und die "seelische substanz" von Hofmannsthals Poesie auf die Wirkungen Georges zurückführte, 36 32 33 34 35

Rudolf Borchardt: "Der Krieg" von Stefan George. In: Prosa VI, S. 318. Borchardt: "Siebenter Ring" (Anm. 26), S. 292. Ebd. Friedrich Gundolf: Das Bild Georges, in: J a h r b u c h f ü r die geistige Bewegung, hrsg. von Friedrich Gundolf und Friedrich Wolters, Berlin 1910, S. 37. 36 Ebd., S. 34. Gundolf ging in seinem Aufsatz nicht auf Borchardts Kritik des Siebenten Ring ein, angeblich weil sie, wie er an Ernst Robert Curtius schrieb, "als ganzes zu subaltern" war und ihn "zu einem Zerpflücken von Zerpflückungen geführt hätte". Friedrich

12

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antwortete Borchardt im Dezember 1 9 1 0 in den Süddeutschen mit seinem Wolfskehl,

gegen

den

gerichteten

George-Kreis,

insbesondere

Pasquill Intermezzo:

gegen

eine der

Monatsheften Gundolf

und

lustvoll-wütendsten

Polemiken in deutscher Sprache, die zwar gewaltiges Aufsehen erregte, deren Maßlosigkeit aber Borchardt zugleich auch um seine Wirkung brachte und ihn isolierte. Die Vorgänge um das Intermezzo

bedürfen einer eigenen Dar-

stellung; 3 7 hier soll nur der Hinweis erfolgen, daß Borchardt, mit vom H a ß geöffneten Augen, im Intermezzo

die erste schlüssige Analyse jener auf opti-

male Öffentlichkeitswirksamkeit zielenden Mechanismen der Gruppenesoterik gegeben hat, die von Klaus Landfried als "Politik des Unpolitischen" bezeichnet worden sind. 38 Der v o m Intermezzo die geistige Bewegung

ausgelöste Skandal, die Einstellung des Jahrbuchs

für

nach dem dritten Band ( 1 9 1 2 ) und der Ausbruch des

ersten Weltkriegs setzten der öffentlichen Polemik ein rasches Ende. Daß Borchardt seinen Kampf gegen den George-Kreis um die Seelen der deutschen Jugend dennoch keineswegs abzubrechen gedachte, zeigte sich bald nach dem ersten Weltkrieg, als er, im Jahre 1920, gleich in den ersten Band seiner im Rowohlt-Verlag erscheinenden Schriften, Prosa I, die große GeorgeRezension und die Intermezzo-Polemik aufnahm und dies in einer dem Band beigegebenen Notiz damit begründete, daß "die nackte Frechheit dieses Treibens den Umfang einer bloß literarischen Gefahr überstieg. [...] Z u d e m ste-

37

38

Gundolf: Briefwechsel mit Herbert Steiner und Ernst Robert Curtius, hrsg. von Lothar Helbing und Claus Victor Bock, Amsterdam 1963, S. 154. Erste Materialien im Katalog Marbach, S. 162ff. Dieser Zornesausbruch, zumal gegen Gundolf, ist so heftig, daß er schwerlich allein durch Gundolfs Aufsatz veranlaßt worden sein kann. Man darf vermuten, daß er sich mindestens seit 1907 vorbereitet hat; wie Borchardt im Februar 1907 an seinen Bruder Philipp schrieb, hatte er Grund zu der Vermutung, sein Brief an George, "der alles in alles gerechnet, doch das grösste Herz ist das unter uns schlägt", sei von Gundolf, dieser "Creatur", unterschlagen worden; in: Briefe 1907-1913, S. 28. Borchardt hat gleich nach Erscheinen des Jahrbuchs für die geistige Bewegung am 15.3.1910 eine mehrseitige "Erklärung" verfaßt, die als Richtigstellung von Aussagen Gundolfs in dessen Aufsatz in einer Tageszeitung hätte erscheinen sollen. Im Schlußabsatz stehen Sätze, in denen Borchardt pointiert begründet, weshalb seine Beschäftigung mit dem Dichter George abgeschlossen sei: "Hinzufügen darf ich, dass mit jenem Stefan George betreffenden Abschnitte meiner Rede, mit der Recension des Siebenten Rings im Hesperus in den Notizen zu seinem Dante die ich in diesen Blättern begonnen habe und noch beschliessen werde, dies Phänomen für mich abgethan ist. Ich betrachte seine Einleitung zum 'Maximin' die letztes Jahr in der öffentlichen Ausgabe der Blätter für die Kunst erschienen ist, als eine Selbstköpfung, so weit man einen noch möglichen menschlichen Akt mit einem schon unmöglichen vergleichen kann, und halte den noch vorhandenen Rumpf nicht mehr für diskutierbar." (Unveröffentlicht; Manuskript in Privatbesitz.) Rudolf Borchardt: Intermezzo, in: Prosa I, S. 435-468. Klaus Landfried: Stefan George. Politik des Unpolitischen, Heidelberg 1975.

Poesie des Interregnums. Rudolf Borchardt über Stefan George

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hen die Fragen für die Jugend heut noch gleich und so muß die Fahne im Felde bleiben." 39 Diese Bemerkungen waren kryptisch genug: Was war damit gemeint, daß die Politik des Kreises "den Umfang einer bloß literarischen Gefahr überstieg"? Eine Wendung wie "die nackte Frechheit dieses Treibens" deutete jedenfalls auf Abgründe der politischen Pathologie, die offenzulegen Borchardt auf eine Herausforderung hin jederzeit bereit schien. Da die andere Seite aber bewußt keine Kenntnis davon nahm, daß Borchardt seine "Fahne im Felde" hielt, bot sich ihm keine Gelegenheit zur öffentlichen Präzisierung. So ruhte der Konflikt bis zum Ende der zwanziger Jahre - bedingt wohl auch dadurch, daß der Kreis selbst nach dem Krieg, durch Rivalität und Umstrukturierungen zerklüftet, äußere Auseinandersetzungen vermied. Wenn man nach den Gründen sucht, die Borchardt zu Ende der zwanziger Jahre den Konflikt zu aktualisieren zwangen, so sind sie wohl letztlich politischer Art. Sie beruhten auf der Vorstellung, daß mit dem Ende des ersten Weltkriegs dem poetischen Interregnum nun auch ein politisches Interregnum entsprach, ein riesenhaftes politisches Machtvakuum und ein geistig-politischer Hohlraum, in dem, wie Borchardt es wohl gesehen hat, der Herrscher des Geheimen Deutschland seine politischen Absichten nun erst ganz zu entfalten vermochte und seine Tyrannis über die Seelen der deutschen Jugend zu totalisieren suchte. Auf die esoterische Politik des Dichters als Führer antwortete Borchardt also mit einer paranoiden Denkstruktur: Da die Mechanismen der Georgeschen Politik verborgen blieben, ließen sich prinzipiell alle Fehlentwicklungen in der deutschen Poesie, Politik, Wissenschaft, Kultur auf sie zurückführen und fanden so ihre konspirationstheoretische Auflösung. Sie wurden zu Anzeichen und Symptomen dafür, daß eine geheimnisvolle Unterwerfungsstrategie am Werke war, die alle Bereiche des öffentlichen Lebens zu durchdringen schien. Im politischen Interregnum, der kaiserlosen Zeit, wucherte unterirdisch das Fremde, und das Zentrum dieses Myzels, der Kaiser dieses Schatten- und Gegenreichs, das die deutsche Nation aushöhlte, war George, der "knochige Rheinkelte mit der fliehenden Fanatikerstirne und den breiten Jochbeinen, dem gepeinigten Munde über dem vorgebauten Kinn des Willensmenschen", wie Borchardt 1928 zum 60. Geburtstag Georges in seinem Aufsatz Die Gestalt Stefan Georges in der Deutschen Allgemeinen Zeitung schrieb. 40 Gewiß, die hier von mir gezeichnete Denkfigur, in der George zum Schattenkaiser einer nahezu unaufhaltsam sich ausbreitenden Sekte stilisiert erscheint, hat Borchardt in keiner seiner veröffentlichten Schriften formuliert,

39 40

Rudolf Borchardts Schriften. Prosa I, Berlin 1920, S. 294. Rudolf Borchardt: Die Gestalt Stefan Georges, in: Prosa I, S. 300.

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und doch erklärt allein sie den Haß und die Erbitterung, mit der zuletzt die Arkan-Politik des Dichters ihre Arkan-Enthüllung in der Aufzeichnung Stefan George betreffend erfuhr. Allerdings zeichnet sich diese konspirationstheoretische Denkfigur bereits deutlich in dem großen Aufsatz zu Georges 60. Geburtstag ab, der sich zunächst wie eine souveräne Huldigung an Deutschlands größten Dichter liest und mit dem Wunsche schließt: [...] niemand der ihn erkannt hat wird sein, der nicht gern einen der eigenen Tage den Tagen dessen zulegte, der dem Begriffe, ein Deutscher zu sein, durch die erhabenste Umbildung der deutschen Sprache und ihre Heiligung für den deutschen Geist einen neuen Klang gegeben hat. 4 1

Doch gerade von Georges Erneuerung der deutschen Dichtersprache handelt Borchardts Geburtstagsartikel eben nicht, sondern er beschreibt die Geschichte einer strategisch bis ins kleinste geplanten Eroberung. Daß in diesem Aufsatz im übrigen an alles andere denn an Dichterpanegyrik gedacht war, geht aus Borchardts Brief an seinen Bruder Ernst vom 1 7 . 8 . 1 9 2 8 hervor, in dem er seiner Hoffnung Ausdruck verlieh, daß der Artikel "seine Wirkung dort thun" werde, "wohin er gezielt ist. Uberhaupt springen in der nächsten Zeit überall Minen." 4 2 Bereits mit dem ersten Satz situiert Borchardt den Dichter George im herrschaftsfreien Raum des Interregnums: Das hätte die deutsche Poesie niemandem, der es ihr vor dreißig Jahren geweissagt hätte, glauben müssen, daß sie den senatorischen Tag ihres größten Namens dermaleinst in einer solchen Lage, einer Einsamkeit und Verlassenheit wie der heutigen, werde zu begehen haben, ohne V o l k und ohne Fürsten, ohne Publikum und Mittler und Richter. 4 3

In diesem Interregnum aber sieht Borchardt den Dichter sein Imperium entfalten; George tut dies als ein Fremder, für den die deutsche Poesie nur ein Mittel zur Eroberung eines Reiches ist. Die Nadlerschen Denkfiguren, die ihn in diesen Jahren so sehr faszinierten, radikalisierend, grenzt Borchardt zu Beginn seines Aufsatzes George aus der deutschen Nation aus: Die Fügung, die George unter uns hat geboren werden lassen, ist eine napoleonische Relikte. Der Urgroßvater Charles-Etienne (nach anderen Charles-Armand) George, ein Lothringer Franzose, ist als Steuerbeamter mit Weib und Kindern, darunter der Großvater des Dichters, im T r o ß der Invasionsheere der französischen Revolution nach Rheinhessen gekommen und nach verlaufener Flut an erkauften Büdesheimer Weinbergen haften geblieben. 4 4

Eine fürwahr pastose Schichtung pejorativer genealogischer Signale! Fremd der Nation, fremder noch ihren kulturellen Traditionen ("kein deutscher Lieb-

41

Ebd., S. 313.

42

Briefe 1 9 2 4 - 1 9 3 0 , S. 275.

43

Borchardt: Gestalt (Anm. 40), S. 295.

44

Ebd., S. 298.

Poesie des Interregnums. Rudolf Borchardt über Stefan George

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lingsdichter" 45 ) wächst George auf: "sich in Sprache und Raum fremd" fühlend. 46 In Frankreich dann "ergänzt" er "sein widerspruchsvolles und gebrochenes Volkstum aus den Originalwerten der französischen Kultur" 47 und von Frankreich aus tritt er, mit einem strengen Begriff von "Hoheit und Würde der Poesie",48 mit "Geduld, Reserve und Klugheit" seinen langen "Feldzug"49 zur Eroberung der deutschen Gesellschaft und kulturellen Öffentlichkeit an, wobei ihm eine "mit höchster Umsicht und Vorsicht" betriebene "Menschensuche"50 "Truppe und Troß neben den Kaders" zuführt. 51 Borchardts Aufsatz umreißt die Stationen und Strategien dieses "Feldzugs", wobei er insbesondere die strategische Bedeutung der Eroberung der Universitäten hervorhebt und im übrigen keinen Zweifel daran läßt, daß die Poesie für George - wie die Musik für Wagner - nur ein Mittel im "Kampf um die Gestaltung der Welt" gewesen sei.52 Dieser Kampf endet mit Georges Sieg: Bereits 1898 sei "mit dem Jahr der Seele der Sieg" über das deutsche Publikum "unzweifelhaft geworden". 53 Deshalb auch fällt, auffällig genug für eine Würdigung zum 60. Geburtstag, kein Wort mehr über das in Georges zweiter Lebenshälfte, seit dem 30. Geburtstag, entstandene Werk vom Teppich des Lebens bis zum Neuen Reich; es ist, als existierten für Borchardt diese Bücher nicht in Georges dichterischem Werk oder, anders gewendet, als lasse sich ihre Funktion nicht mehr innerhalb dichterischer Zusammenhänge bestimmen. Auf welche Weise Georges "Sieg" über die deutsche Seele diese verändert hat und welche Wirkungen die neuen Bücher auf die seitdem herangewachsene Generation entfalteten, beläßt der Aufsatz im Bedeutungsvoll-Unentschiedenen; diese Wirkungen Georges gehören, so deutet er an, einer Krypto-Geschichte zu, die, als dieser Aufsatz entsteht, erst noch geschrieben werden muß: Die Geschichte Georges ist nur im Momente dieses Durchbruchs durch die Welt scharf umschrieben; der unterirdische Bogen, der ihm voraufging und der nur scheinbar irdische, in Wahrheit schon schwebende, der ihm folgt, lassen sich nicht mehr festlegen, denn der erste fällt von selber dem Dunkel der Vorbereitung zu, der letztere gehört dem Reich der Seele an, das er unter Menschen gestiftet hat, und von dem seine Bücher nicht entfernt ausreichende Rechenschaft geben. 54

45 46 47 48 49 50 51 52 53 54

Ebd., Ebd. Ebd. Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. 299.

S. S. S. S. S. S. S.

301. 305. 302. 304. 306. 310. 312.

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Und genau hier wird die Aufzeichnung

Stefan George

betreffend

anschließen.

Sie wird "ausreichende Rechenschaft" zu geben suchen über jenes von George im "Interregnum" gestiftete "Reich der Seele", dessen Gründungsgeschichte der Aufsatz von 1 9 2 8 erzählt hatte - diese wohl merkwürdigste Würdigung, die ein großer Dichter zu seinem 6 0 . Geburtstag erfahren hat. Denn mochte der Geburtstagsartikel zwar auch Stationen und Mechanismen eines Feldzugs der Eroberung beschreiben, an dessen Ende George, "hart und hoch, ein Geist und nicht immer aus lichten Reichen, vor der Menge" stand, 5 5 über die Triebkraft und die Ziele, die diesem Feldzug zugrunde lagen, hüllte er sich jedoch in bedeutungsvollstes Schweigen. Die zwischen 1 9 3 5 und 1 9 3 8 entstandene Aufzeichnung

legt all dies offen und schreibt damit die Krypto-

Geschichte der Georgeschen Bewegung. 5 6 Georges Triebkraft lautet danach: Homosexualität; das Ziel: "Knechtschaft des deutschen Geistes"; 5 7 mit beidem aber habe George dem Nationalsozialismus den W e g bereitet. Bevor ich den Inhalt dieser vielleicht monströsesten deutschen Literaturpolemik dieses Jahrhunderts skizziere, will ich vorab kurz andeuten, daß diese Kernpunkte seines Angriffs ganz unvorbereitet

in Borchardts vorangegangener

Auseinander-

setzung mit George und seinem Kreis nicht waren. Denn den Willen zur Tyrannis und zur Unterdrückung hatte er George seit der Rezension des Siebenten

Rings vorgeworfen, und es ist deshalb auch nicht falsch, wenn er

deren Absicht in der Aufzeichnung

so umschreibt:

George innerhalb der Poesie zurückzuwerfen, Privileg, Monopol und Superlativ zu brechen und ihm auf jeder Stelle an der er für die Nachwachsenden zur Gefahr werden konnte, die Gorgone der Freiheit und all ihres Wagnisses entgegen zu halten. 58

55 56

Ebd., S. 311. Die Aufzeichnung ist nicht genau datierbar; in der Korrespondenz der dreißiger Jahre wird sie nicht erwähnt. Den Terminus ante quem bildet die Erwähnung im Pisa-Buch 1938, den Terminus post quem legen Hinweise auf die politischen Ereignisse seit 1933, insbesondere auf den Röhm-Putsch 1934 fest. Die inhaltliche Nähe zu dem im Herbst 1935 entstandenen George-Jambus Unterwelt hinter Locamo deutet auf eine Entstehung in dieser Zeit oder wenig später. Der 1938 erschienene Briefwechsel George-Hofmannsthal war Borchardt bei der Niederschrift offenbar noch nicht bekannt. - Schon Ende Dezember 1933, also kurz nach dem Tod Georges, schreibt Borchardt an Herbert Steiner, er habe "italienisch einen grossen George Aufsatz, der zum ersten Male die Fakten bringt und die Urteile präcisiert für Ojettis 'Pan' geschrieben"; Rudolf Borchardt: Briefe 1931-1935, S. 315. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist auch Borchardts Brief vom 12.10. 1936 an Nora von Schnitzler, in dem er sich dafür ausspricht, "dass Bücher über George auf recht lange hinaus von gar niemandem geschrieben werden sollten. [...] Nun er, schon seit langem gebrochen als Mensch und als Dichter, am Ubergang zum Alter der Qual erlegen ist, noch mit eigenen Augen das Unheil sehend, zu dem er mit eigenen Händen genug beigesteuert hatte, ist schon überhaupt nichts zu sagen." Briefe 1936-1944.

57 58

Rudolf Borchardt: Aufzeichnung Stefan George betreffend, Ms., S. 58. Ebd., S. 68.

Poesie des Interregnums. Rudolf Borchardt über Stefan George

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Dieser Kampf gegen George um geistige Freiheit war in den zwanziger Jahren für Borchardt schon längst kein innerpoetischer mehr; als dessen zentralen Austragungsort begriff er, der sich zeitlebens der Idee der deutschen Universität und der Tradition der Philologie verpflichtet fühlte, vielmehr die deutschen Universitäten. Mit äußerster Erbitterung beobachtete er, wie Mitglieder des George-Kreises auf deutsche Lehrstühle berufen wurden, ja wie an bestimmten Universitäten Georgesche Positionen mehr und mehr zu dominieren begannen; so ist z.B. sein heftiges Engagement bei der Wiederbesetzung des Lehrstuhls von Franz Muncker im Jahre 1926/27 gegen Friedrich Gundolf sowie Ernst Bertram und für Josef Nadler zu erklären. 59 Borchardt hatte es als besondere Auszeichnung empfunden, am 7. Dezember 1 9 3 0 auf Einladung von Richard Härder die Festrede zur 2000-Jahrfeier Vergils an der Universität Kiel halten zu dürfen; 60 daß gerade dort zur gleichen Zeit Julius Landmann dem Vorschlag, Borchardt den Ehrendoktor zu verleihen, "leidenschaftlich und mit Erfolg opponiert hat", 61 dürfte jedenfalls Borchardts Erbitterung über die wachsende Repräsentanz der Anhängerschaft Georges auf deutschen Lehrstühlen noch zusätzlich gesteigert haben. In welchem Maße gerade die Universitätspolitik des Kreises, die Borchardt mit gespannter Aufmerksamkeit verfolgte, bei ihm die Vorstellung von Georges geistiger Unterdrückungsstrategie verfestigt und so die Entstehung der Aufzeichnung zusätzlich motiviert hat, ist an der Vehemenz nicht weniger Formulierungen in diesem Text abzulesen, so etwa der folgenden zum Jahre 1910: N o c h war die Zeit nicht gekommen, in der die Homosexualität das preussische Kultusministerium erobern und von dort aus den sterilen Dünkelhaber der Georgeschen G n o s t i k im Schwünge über die Lehrstühle deutscher Universitäten verspreuen sollte, aber die Anzeichen für ihr lautloses Vordringen in die Gremien der Nominierung mehrten sich im Stillen. 6 2

59

Zur Sache vgl. Ernst Osterkamp: "Verschmelzung der kritischen und der dichterischen Sphäre". Das Engagement deutscher D i c h t e r im Konflikt um die M u n c k e r - N a c h f o l g e 1 9 2 6 / 2 7 und seine wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung, in: Jahrbuch der deutschen Schiller-Gesellschaft 33, 1989, S. 3 4 8 - 3 6 9 . Das T h e m a Borchardt und die Universitäten bedarf im übrigen noch einer gesonderten Untersuchung.

60

Erstdruck der Rede in: Die Antike, hrsg. von Werner Jaeger, Bd. VII, 1931, S. 106-119.

61

So im Katalog Marbach, S. 155. D e m Auftritt Borchardts gerade in Kiel, w o Mitglieder des George-Kreises eine besonders erfolgreiche Berufungspolitik betrieben, kam deshalb durchaus programmatische Bedeutung zu; die wissenschaftsgeschichtlichen Hintergründe der Vergil-Rede, insbesondere die Spannungen zwischen Repräsentanten des G e o r g e Kreises und den Schülern Werner Jaegers, bedürfen ebenfalls einer eigenen Darstellung. Andeutungen hierzu in Borchardts Brief an seine Mutter, E n d e N o v e m b e r 1930: "die Nebenabsicht der in Kiel um George aufgebauten Clique mit ihrer intoleranten Unverschämtheit einen Nasenstüber zu erteilen, wird bei dem mit Universitäten verbundenen rancuneusen Geiste auch nicht gefehlt haben." Briefe 1 9 2 4 - 1 9 3 0 , S. 546.

62

Borchardt: Aufzeichnung (Anm. 5 7 ) , S. 46.

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Ernst Osterkamp

Und auch die konspirationstheoretische Umdeutung der Homosexualität kommt nicht ganz unvorbereitet. Denn schon die vornehme Abwehr unausgesprochener Vorwürfe in der Rezension des Siebenten Ring mußte ja, auch und gerade in der Zeit der Eulenburg-Affäre, diese Vorwürfe in all ihrer gesellschaftlichen Brisanz am Leben erhalten: "Wir hören die in der Zeit verbreitete Gemeinheit immer dreister, weil immer noch ungestraft, von den Mittelchen und den falschen Zauberkünsten tuscheln, die diesem Manne den Anhang geschaffen und erhalten haben." 63 Man wird dieser vornehmen Zurückweisung schon deshalb kaum trauen, weil Borchardt im gleichen Text in einer Anmerkung zu dem Gedicht Die Kindheit des Helden George vorwirft, er habe hier das Bild des Fußfalls vor dem Helden "in den Formen widerlichster Schändung" konzipiert und den "Kuß der Treue zu einer Vorstellung" erniedrigt, "durch deren Wiedergabe wir niemanden, geschweige ihn, würden beschämen wollen. Man möchte die Seelen wohl kennen, oder je nachdem nicht zu kennen brauchen, auf die mit solchen Tönen zu wirken ist."64 In dieser Zeit beginnt Borchardt damit, in seiner Korrespondenz den Begriff "Buhlknaben" zur Diffamierung des George-Kreises einzusetzen; so spricht er am 9.4.1910 in einem Brief an seinen Bruder Ernst von "einer frechen Clique von Buhlknaben", 65 und wenige Wochen später, am 8. Mai 1910, heißt es in dem Brief an Friedrich Wolters, mit dem er den Bruch mit dem früheren Freund vollzieht: "Ich gebe es nun auf, zwischen Ihnen und den Lügnern Fälschern und Buhlknaben länger zu unterscheiden, mit denen Sie in Reihe und Glied stehen". 66 Im Lichte derart gut gezielter Seitenhiebe, mit denen Borchardt andeuten will, daß er zur Not sehr wohl Auskunft über den wahren Charakter des Kreises zu geben vermöchte, läßt sich dann auch der kurze Hinweis auf die "nackte Frechheit dieses Treibens" 67 in der dem Band Prosa I 1920 beigegebenen Notiz nicht mehr als eine rein literarische Insultation lesen; auch hier schlug die Invektive gegen die im Kreis vermutete Homosexualität durch. Der obsessive Wunsch freilich, die dem Kreis unterstellte homosexuelle Geheimgeschichte als dessen wahre Geschichte zu schreiben, scheint bei Borchardt erst im Jahre 1930 nach Erscheinen von Friedrich Wolters' Gesamtdarstellung Stefan George und die Blätter für die Kunst. Deutsche Geistesgeschichte seit 1890 aufgekommen zu sein. Er selbst hat sich damals in seinem zur Veröffentlichung im Ring geplanten Aufsatz Pseudognostische Geschichts-

63 64 65 66 67

Borchardt: "Siebenter Ring" (Anm. 26), S. 290. Ebd., S. 282f. Briefe 1907-1913, S. 306. Ebd., S. 314. Wie Anm. 39.

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Schreibung mit Wolters' "unseligem und unheimlichem Buche" nur kurz auseinandergesetzt und im übrigen befunden, die Frage "nach dem Wesen des Neuen Reichs, dem Grundriß des geheimen Deutschlands", könne "den Kundigen nur lächeln machen." 68 Offener sprach sich dagegen der BorchardtVerehrer Franz Blei aus, der unter dem Titel Stefan Georges Tempelglocken im Querschnitt exemplarisch Wolters' hagiographischer Verklärung von Georges Konflikt mit Hofmannsthal im Januar 1892, nachdem er versichert hatte, er "habe gar nichts gegen die Homosexualität", im Stil des Enthüllungsjournalismus die angeblich wahren Motive gegenüberstellte: Hofmannsthal sei "eben nicht invertiert" gewesen. 69 Daß Blei, veranlaßt wohl durch Borchardt selbst, für seine Polemik gegen Wolters gerade diese Episode ausgewählt hat, wirft ein Licht auf ein zentrales Motiv Borchardts dafür, gegen Wolters' offizielle Geschichte des Kreises dessen Geheimgeschichte, wie sie später in der Aufzeichnung niedergelegt wird, ins Feld zu führen: den Kampf um das Bild Hofmannsthals, des im Vorjahr verstorbenen Freundes. Der Angriff auf die Homosexualität Georges wird zum Medium der Ausgrenzung Georges und seines Kreises aus der Hofmannsthalschen Sphäre: George als die "invertierte" Gegenfigur zur Lichtgestalt des verklärten Freundes, dessen Gedächtnis damit ganz in die Hände Borchardts gegeben ist. Jedenfalls avanciert sofort nach dem Tod des Freundes und der Veröffentlichung der Woltersschen ß/äiier-Geschichte der Homosexualitätsvorwurf zum zentralen Argument im Kampf gegen George. Die in der Aufzeichnung auf breiter Front geführte Attacke auf die Homosexualität Georges verdankt sich also keineswegs einer durch die Isolation im Exil hervorgerufenen Paranoia, sondern spiegelt ein schon erheblich früher bei Borchardt ausgebildetes Erklärungsmuster für die Politik des Kreises. Als Edgar Julius Jung ihm die Neuauflage seines Buches Die Herrschaft der Minderwertigen schickt, antwortet Borchardt Mitte Januar 1930 in einem nicht abgesandten Brief: Stefan George ist fanatischer Homosexualist. Sein "Reich", sein "Eros", seine Leibvergottung und Gottverleibung sind Begriffe eines hemmungslosen InversionsSektierers. Ich vermisse in Ihrem Buche jeden Kampf mit den grauenhaften Gewalten die diesen unheimlichen Menschen über die Schwellen gehoben haben und die zwar zum Teile nicht in ihm allein sich integrieren, wol aber zu seiner wachsenden Macht beisteuern. Die unter seinem Einflüsse entstandene und entstehende Monographieenliteratur ist von diesem Virus grossenteils rettungslos durchseucht. 70

68 Rudolf Borchardt: Pseudognostische Geschichtsschreibung, in: Prosa IV, S. 292, 298. 69 Franz Blei: Stefan Georges Tempelglocken, in: Der Querschnitt 10, 1930, S. 629. Vgl. hierzu Karl und Hanna Wolfskehl: Briefwechsel mit Friedrich Gundolf. 1899-1931, hrsg. von Karlhans Kluncker, Bd. 2, Amsterdam 1977, S. 223ff. 70 Briefe 1924-1930, S. 419.

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Ernst Osterkamp

Und wenig später schreibt Borchardt in einem ebenfalls nicht abgeschickten Brief an die Deutsche Rundschau, die ihn um eine Stellungnahme zu Jungs Buch gebeten hatte: Jung habe nicht beachtet, "in welchem Maasse das Georgesche Wesen mit päderastischer Tendenz durchsetzt ist" und "dass wir der homosexuellen Gefahr, als einer der furchtbarsten unser Volkstum bedrohenden, in der verlockendsten und pathetischesten ihrer Formen wie in ihren Gassenformen unversöhnlich gegenüberzutreten haben." 71 Die Aufzeichnung Stefan George betreffend ist eine riesenhafte Ausfaltung dieser Sätze, sie nimmt eben jenen "Kampf 1 auf, den Borchardt bei Jung vermißte. Sie rückt den schon 1928 beschriebenen Georgeschen "Feldzug" zur Eroberung des deutschen Geistes ganz in das Zeichen einer homosexuellen Triebstruktur: Georges "homosexueller Lebensgrund" 72 als der Ursprung seiner Poesie, seines Kreises, seiner Religionsstiftung, seiner auf Unterwerfung zielenden Politik. Seit dem Brief an Jung im Jahre 1930 aber hatte sich die Problematik für Borchardt noch dadurch radikalisiert, daß in dem 1918 angebrochenen politischen Interregnum, in dem sich das Georgesche "Neue Reich" zu entfalten suchte, sich 1933 das "Dritte Reich" Adolf Hitlers installiert hatte, dasjenige also, was Borchardt als die nationalsozialistische "Revolution" 73 verachtete und zugleich als äußerste Stufe des geschichtlichen Verfalls, als "größte Not der deutschen Geschichte", 74 betrauerte und bekämpfte. Das wahre Skandalon der Aufzeichnung besteht nun darin, daß sie den homosexuellen Seelenfeldzug Georges 75 und die nationalsozialistische Machtergreifung Hitlers wenn auch nicht in einen unmittelbar ursächlichen, so doch in den gleichen geschichtlichen Zusammenhang rückte, dies wiederum im Zeichen des Interregnums, als zwei miteinander verbundene Stufen in der Geschichte der Zerstörung der deutschen Nation: Georges "Messianismus schrumpft in einer götterlosen Zeit so in den Autotheismus zusammen wie in einer kaiserlosen die Kanzlerschaft Adolf Hitlers in den Autarchismus." 76 Dies will heißen, daß auf George, den Mystagogen und homosexuellen Sektengründer des poetischen Interregnums, Adolf Hitler folgte, der Mystagoge und homosexuelle "Abenteurer" 77 des politischen Interregnums. 71 Ebd., S. 443f. Am 8. Januar 1931 spricht Borchardt in einem Brief an die Deutsche Allgemeine Zeitung von der "Krisis dieser Bewegung durch das Wolterssche Buch und die höhnischen Pressefeststellungen über die Päderastie als Kern des 'Neuen Reichs'", womit ersieh auf den Artikel Bleis bezieht. Briefe 1931-1935, S. 19. 72 Borchardt: Aufzeichnung (Anm. 57), S. 35. 73 Ebd., z.B. S. 52. 74 Ebd., S. 69. 75 Ebd. Die Aufzeichnung beschreibt wie der Aufsatz zu Georges 60. Geburtstag einen Feldzug zur Eroberung des deutschen Geistes. 76 Ebd., S. 55. 77 Ebd., S. 68.

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Ich kann die Aufzeichnung hier nicht im ganzen vorstellen, will nur den Argumentationsgang skizzieren und einige charakteristische Partien als Beispiele für die Problematik der Borchardtschen Argumentation zitieren. 78 Die Aufzeichnung ist, obgleich sie nach Ausweis der Handschrift in einem Zug niedergeschrieben wurde, ein vielfach zerklüfteter, uneinheitlicher Text: die Erzählung jener Abschnitte von Borchardts Bildungsgeschichte, in denen George und die Mitglieder des Kreises eine Rolle spielten, der Bericht über Motive und Hintergründe seines Kampfs mit und gegen George, die Entstehungsgeschichte der Rezension des Siebenten Ring und des Intermezzo, das ganze untermischt mit langen Exkursen über Homosexualität, Poesie und Politik, dazwischen exemplarische Novellen über die seelischen Verwüstungen, die George bei jungen Männern und Mädchen angerichtet haben soll, das ganze mündend in einen geistesgeschichtlichen Uberblick über die Geschichte jener Seelenmagier des 19. Jahrhunderts, die in die Genealogie Georges und Hitlers gehören: Liszt, Wagner, Nietzsche, abschließend die Evokation des Bildes der deutschen Katastrophe und des Georgeschen Anteils daran - dies alles vorgetragen mit dem steilen Pathos desjenigen, der als erster und letzter Zeuge die bisher verborgene Wahrheit einsam ins Buch der Geschichte schreibt, und diktiert von einem Haß, der den Blick im ganzen so sehr trübt, wie er ihn im einzelnen schärft. Zusammengehalten wird diese monströse Schrift durch den das gesamte Argumentationsgefüge bestimmenden Leitgedanken, daß den Kern der Georgeschen Poesie dessen Homosexualität bilde, daß für einen Homosexuellen die Poesie aber nie Zweck, immer nur Mittel sein könne: ein Mittel, um andere Seelen an sich zu binden. Der homosexuelle Dichter ist nicht ein Dichter, der übrigens so homosexuell ist wie ein grünäugiger Dichter ein Dichter der übrigens grüne Augen hat. Er ist ein Homosexueller der übrigens ein Dichter ist. 79

Die Textbewegung ist die des Crescendos; der Text wird, je weiter er voranschreitet, immer lauter, schriller, erregter. Er setzt ein mit der Schilderung von Borchardts erster Begegnung mit der Georgeschen Poesie: George trat in die deutsche Öffentlichkeit auf schmälster Basis und mit eisernem Willen ein, als der Mann, den ein persönliches Verhängnis dazu zwang, von Beginn an genau zu wissen, was er wollte, und den seine schöpferische Ader, zwei Jahrzehnte lang trotzig quillend, in Stand setzte, dies Verhängnis eine Weile im Gebilde auszugleichen und zu verziehen. Ich war von Anfang an und bald genauer und genauer darüber aufgeklärt worden, dass der Gegenstand und das Centrum seiner Poesie die kaum verhüllte und ins Wütende getriebene Männerliebe war, und wie sehr mir ein von der Natur so in die Wüste verstossenes Naturell unbegreiflich und mitleidswürdig, bei ernsthaftem Ansprüche auf Geltung als absurd, bei intolerantem als höchst gefährlich erscheinen musste, so war doch 78

Eine kommentierte Ausgabe des Gesamttextes soll innerhalb der Schriften der Rudolf Borchardt-Gesellschaft erscheinen.

79

Borchardt: Aufzeichnung (Anm. 57), S. 27.

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Ernst O s t e r k a m p unter den ersten Eindrücken seiner einheitlichen und geschlossenen lyrischen Kunst gar keine Rede davon, Erwägungen dieser u n d anderer A r t gegen den Bann aufzubieten u n t e r den meine J u g e n d getreten war. Hier waren gedichtete Gedichte, hier war ein fester Stil, hier ein reiches Verhältnis der innern z u r äussern Welt, in immer neuen unfehlbar m o d u lierten D u r c h f ü h r u n g e n den Vorrat des Sagbaren erweiternd, hier schliesslich eine überlegene Grundvorstellung von Kunst und Sprache, tyrannisch vielleicht, aber eine W o l t h a t gegenüber der herrschenden C o n f u s i o n und Willkür. 8 0

Erst der Seelenkampf um Robert Boehringer, den Borchardt in einer der eingestreuten Novellen schildert und der zu dem Abschiedsbrief an George vom Januar 1906 führte, habe den Bann gelöst, bis dann Maximin und Siebenter Ring zur öffentlichen Reaktion zwangen: dies deshalb, weil sich bei George, mit fortschreitendem Alter, im ursprünglichen Ausgleichsverhältnis von poetischer Kraft und Homosexualität mehr und mehr die Homosexualität durchzusetzen begann und er die Poesie zu einem Mittel der Werbung zurüstete; gegen diese Tendenz habe er, so Borchardt, die Rezension geschrieben und George auf das Rein-Poetische zurückzuwerfen gesucht: Meine Aufgabe war keine leichte. Das frevelhafte Buch in dem George mit höhnischer H e r a u s f o r d e r u n g endlich das beim N a m e n nannte, was seine Lebenswirklichkeit war u n d was er bis dahin mit ruckweisem vorsichtigem Wagnis nur halb enthüllt, halb zweideutig gelassen hatte, blieb gerade auf diesem Punkte, der meinen Schritt entschieden hatte, durchaus straffrei; ich hatte selbst hier wo Poesie und Sodomie ihren erschreckenden K n o t e n o f f e n geschürzt hatten, nur die Poesie zu gewahren, und bin o h n e A n d e u t u n g über den verwesten Kern des Buches hinweggegangen in d e m der Verrückte den t o t e n Lieblingsknaben rite als Gott ausschreit: "Heil unserer Zeit die einen G o t t geboren, Heil unserer Zeit, in der ein Gott gelebt". A b e r gerade diese Schranke concentrierte die Arbeit auf ihr wirkliches Problem, und zwang mich dazu es bei aller Schonung mit fester H a n d zu umschreiben. D e r Frevel der im Kerne des Buches als reines Gift vorquoll, durchlief verteilt und vermengt alle seine Adern, und man musste ihn nicht n u r an der Quelle s c h ö p f e n u m vor ihm zu s c h a u d e r n . "

(Ich zitiere diese Sätze auch, um anzudeuten, daß man nach Lektüre der Aufzeichnung die Kritik des Siebenten Ring immer mit einem Subtext lesen wird, zumal ja tatsächlich dort der "verweste Kern" weitgehend ausgespart wird: in der Nichtbeachtung des Maximin.) Was aber war nun das "wirkliche Problem", das Borchardt "mit fester Hand" zu umschreiben hatte? Seit der Jahrhundertwende, so legt Borchardt nun in einer groß angelegten Analyse der Homosexualität und ihrer gesellschaftlichen Ausbreitung dar, habe sich die "Päderastie" in Deutschland wie "ein freimaurerartiger Geheimbund" wuchernd entfaltet und "ihren Zustand" zum "Mittelpunkt einer universal gedachten Theorie" nobilitiert (hier fällt der Name Blüher), was um so unheilvoller gewesen sei, als Homosexualität mit Werteverfall einhergehe: "So erwächst um jede Homosexualität herum [...] eine Welt labiler und erschüt-

80 81

Ebd., S. 6. Ebd., S. 25.

Poesie des Interregnums. Rudolf Borchardt über Stefan G e o r g e

23

terter Werte." 8 2 (Hier nun fallen Namen wie Kessler und Rathenau.) Parallel zu dieser kontinuierlichen Ausbreitung der homosexuellen Bewegung aber habe George, je weiter sein Siegeszug über die Seelen der deutschen Jugend vorangeschritten sei, den Kern seiner Poesie freigelegt und sie endgültig zum Medium der homosexuellen Werbung zugerüstet: Mit dem 'Teppich" wird diese teuererkaufte und eben darum menschlich erhabene O r d nung, ein köstlicher Erwerb der Freien Seele und der Macht ihres Willens über die C o n tingenz, von unter her durchbrochen. Schon vor dem dreissigsten Jahre ist in der Zwitternatur die Kraft verbraucht die phantomatische Persönlichkeit länger zu fristen, und der fremde Tempel von Opfer, Werbung, neuer Heilslehre, Diktat und blinder Fügsamkeit steigt ruckweise durch die zerfallende Struktur. D e r Werber suggeriert sich bereits, legt den Geworbenen Katechismus Antworten in den Mund, bindet an sich, erkürt, verwirft, verstösst, und enthüllt für Augenblicke schwach gereimter Prosa sein ganz pragmatisches und praktisches Gesicht. [...] D e r Frevel ist im Entwürfe bereits lange vor dem Siebenten Ring fertig, George ist Ende der Zwanziger - die 9 9 veröffentlichten Gedichte sind von 96 an entstanden, "wegessicher" geworden. D i e geliebte Person, noch in den Hängenden Gärten wenigstens fiktionsmässig eine Einzige, im J a h r der Seele schon die Vielheit, die durch immer neue Enttäuschung motiviert von Abschied zu neuer Erklärung neuem Abschied und nächster Illusion motiviert wird, ist im Teppich die heroisch-theodizeenmässig stilisierte Realität des typischen homosexuellen Zwangswunsches oder Wunschzwanges, als solcher allen Homosexuellen gemeinsam; "die Jugend" schlechtweg, viele, alle, oder so viele wie möglich, denn nur der unbeschränkteste Plural betäubt die sterile Einzelerfahrung, und die Sterilität auch dieses Plurals zwingt den Geminderten zu seinem m o n s t r ö sen 'Mehr'. 8 3

Deshalb also der Einspruch gegen den Siebenten

Ring: um dem Dichter den

Absolutheitsanspruch zu nehmen und der Seelenjagd ein Ende zu bereiten. Der zweite Schlag dann habe, so Borchardt, als Reaktion auf das Jahrbuch die geistige Bewegung,

für

dem Kreis gegolten, durch den Kreis hindurch aber

dem "Reichsgründer und Sektenhäretiker" George, 8 4 auf den in Wahrheit das Intermezzo

gezielt war. Denn, so heißt es nun: "George hatte keine Tran-

scendenz. Alle seine Ziele waren auf der Ebene des Irdischen unterzubringen." 8 5 Diesen Zielen diente die Stiftung einer weltlichen Heilslehre, für die aber festzuhalten sei: George "war Messias und Numen auf dem gleichen Altar." 86 Und hier nun, jenseits der paranoiden Fixierung auf die Homosexualitätsthematik, finden sich wieder erhellende Passagen über Funktion und Mechanismen der Sektengründung: [...] er war nach Typus und Sendung ein Religionsstifter, erst instrumental dazu ein D i c h ter. Erst spät ist er dazu geschritten seiner Religion das göttliche W e s e n zu bestellen durch das allein sie aufhören konnte, unnennbar zu sein - es war so lange der M ü n c h n e r

82

Ebd., S. 31f., 30.

83

Ebd., S. 34f.

84

Ebd., S. 51.

85

Ebd., S. 54f.

86

Ebd., S. 55.

24

Ernst Osterkamp Knabe lebte, der 'Engel', schliesslich der Gott Antinoos eines karikierten Hadrian, - Maximin, aber alle diese Ernennungen waren Substitute. D e r Gott seines Heilbaus war Er selber, die Religion die er gestiftet hat, die des Glaubens an ihn, seiner Anbetung, seiner übernatürlichen Funktion, seiner Wunderkraft und Allmacht, seiner Entscheidung über Leben und T o d der Seinen, der Ablösung aller Glaubens- und Seinsformen durch die Seine. Seine Lyrik wurde in diesem Sinne nur zu einem Koran. 8 7

U n d a u f r e g e n d einsichtsvoll sind a u c h B o r c h a r d t s B e m e r k u n g e n zu d e r Seel e n s t r u k t u r d i e s e s S e k t e n g r ü n d e r s , d e m i n f a n t i l e n N a r z i ß m u s , d e r s i c h in d e n G e o r g e s c h e n Allmachtsphantasien B a h n bricht: Wie bei vielen ja den meisten geschlechtsgeschädigten und geschlechtsschwachen wucherte in George ein krankhaft unabgestossen gebliebener Rest Kindheit und Kinderei oder Kindischkeit ein quälendes weder abgereiftes noch an der Gewitterschwelle verzehrtes, nur alt gewordenes Stück infantilen Seelengewebes, zu dessen schemenhaftem von keiner Causalität gehemmten Glückstraume: 'König sein und angebetet werden', 'die Welt austeilen und die höchsten Günstlinge für sich sterben lassen', - das in die Causalwelt gestossene Zwitterwesen zwangartig immer wieder zurückgelenkt wird, - der Infantilismus von dem er sich nie befreit hat, der in seiner freiesten Zeit als unaufhörlicher selbstbedauernder, sich an sich selbst rührender, selbst verhätschelnder oder selbstbewundernder Rückblick des unstillbaren Heimwehs lyrisch moduliert wird - die schönsten Laute seiner reineren Zeit sind darunter - der als Realisierung wieder auftaucht in den Jahren, in denen der Mensch zu schwach wird, seine Uranlage zu meistern: in diesem Lichte ist die Stiftung der überreifen Mannesjahre der psychologische Rückfall in den Infantilismus, und das kindische Element blickt doppelt grausig durch das Wahnbild des alternden Mannes mit der Maske des Idols - Fürst, König, Narziss, Cäsar, Algabal und Gott selber, - wie Kaiser Gaius. 8 8 Als S e k t e n g r ü n d e r und Religionsstifter nun fügt G e o r g e sich für

Borchardt

ein in d i e R e i h e d e r M y s t a g o g e n u n d " g r o s s e n A b e n t e u r e r der R a u s c h -

und

S c h w a r m s t i f t u n g " , 8 ' in d e r e n A b f o l g e s i c h d i e k o n t i n u i e r l i c h e Z e r s t ö r u n g d e r d e u t s c h e n N a t i o n spiegelt: v o n Liszt u n d W a g n e r über Nietzsche zu

George

u n d A d o l f Hitler. U n d hier erreicht die B o r c h a r d t s c h e Schrift ihre

Klimax:

dort, w o Borchardt das H a k e n k r e u z "von den Stilpapieren der Uncialdrucke auf die roten F a h n e n " w a n d e r n sieht:90 D e r Millenniumswahn eines Unglücksvolkes, ein irrationales Elementarereignis ohne Struktur, System und Schema, ohne Logik und Stufung schlug über dem in Flammen stehenden Lande ungeheuerlich gen Himmel. Als der Nationalsozialismus in Mordwelle nach Mordwelle sein homosexuelles Triebelement, als es sich schon anschickte die Mitregierung zu fordern, eliminierte oder unter den Tag scheuchte oder hinter Masken zwang nicht aus höhern sondern den gemeinsten Gründen seiner Sicherung gegen die ausgebreitete heimliche Macht - tauschten sich Päderastie und Hakenkreuz gegenseitig zurück, jedem blieb das Seine und das Dritte Reich hatte sich gegen das N e u e Reich glatt gestellt.

87 88 89 90

Ebd. Ebd., S. 55f. Eine Analyse, die in auffälliger Nähe zu Breuers narzißmustheoretischer Deutung des George-Kreises (Anm. 12) steht. Ebd., S. 61. Ebd., S. 57.

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Poesie des Interregnums. Rudolf Borchardt über Stefan G e o r g e

Damals war George, sich sterben fühlend, längst über die Grenze gewichen und auf fremdem Boden, nach seinem Willen, gestorben begraben und überwölbt. Jüdische Treue hatte neben den letzten Tagen des Geschlagenen selbstlos ausgeharrt, und er hatte bestimmt, dass seine Reste nie auf deutschen Boden verbracht werden sollten. Die W a h l war widerrufen, denn der Auserwählte hurte mit den G ö t z e n , und auch dies A f t e r H i m m e l reich wie das echte des Evangeliums endete statt mit geladenen Gästen bei den Blinden und Lahmen. D e n n o c h wird das Adlerauge der von oben überblickenden Geschichte den der Mitzeit noch so breit erscheinenden Trennungsraum zwischen Stefan George und der deutschen Revolution auf einen Faden beschränkt s e h e n . "

Warum? Nur der Weltkrieg, so Borchardt, habe verhindert, daß George die "Jahrgänge der Jahrhundertwende" - die "totalste menschliche Missernte, mit der je eine grosse Nation geschlagen worden ist" - als seine "sichere Beute" habe übernehmen können; nach dem Krieg aber sei sie Hitler, dem "letzten der bundstiftenden Abenteurer des Wagnerschen Jahrhunderts", in den Schoß gefallen. 92 Die Schlußsätze der Aufzeichnung

sind der furchtbare Klartext zu

dem 1 9 6 7 aus dem Nachlaß veröffentlichten nicht weniger Jamben-Gedicht Unterwelt

hinter

Locarno,

furchtbaren

dessen vielfach verschlüsselter

Sinn bisher nur erahnbar war: 9 3 George habe die Beute, die er sich zugerichtet hatte, in Wahrheit Hitler in die Arme getrieben: D e r illiterate Wühler und Aufrührer der aus den Dauerwirren der böhmischen Völkerverstrickung hochgeschleudert war um wie ein verzerrter Fortinbras sein Reich zu erben, war die zweite Generation, die wirkliche Geschichtsfolge, der wirkliche Ergänzer im Sinne der Geschichte. Grenzler von O s t e n wie George von Westen, T s c h e c h e und Hussit wie jener Kelte und Druide, aus der Flanke des Abenteurertums auch er in Deutschland einbrechend, wie er sich das ihm nicht angeborene wählend und in der Wahl verzerrend auch er mit dem M o t o r der Homosexualität und des wütenden Orgasmus im dumpfen Blute, aber dort beginnend wo George endete, bei der Buhlschaft seines weibischen Schoosses mit dem Incubusvolk, dem in der Rauschrede, dem Rederausche zur Gewalt am Hingegebenen, sich Unterwerfenden, Unterstützenden Herbeigebrüllten Herbeigelechzten. G e o r g e hatte selber den Incubus abgeben wollen, das V o l k pflügen wollen wie er in seinen Rasereien sagte, die neue Schreckensfigur war Succubus und riss Jugend, V o l k Nation, zu einer monströsen Männlichkeit umgeträumt auf seine kleine hysterische Gestalt. So vollendete sich der hermaphroditische Wechsel im deutschen Untergange, lockte die Reste der päderastischen Jugendbewegung

in die SA und schloss den Ring ohne das

abgedankte

Zwischenglied, als Hitler den für ihn organischen Anschluss an Wagner als Institution des Dritten Reichs proklamierte. Wagner und N i e t z s c h e konnten die A r m e nicht mehr dräuend aus den Grüften strecken, aber hat George sie immer abwehrend erhoben?? Diese Jugend der er das N e u e Reich verheissen hatte und dem Verderben zugerüstet, war seine Beisteuer zur grössten N o t der deutschen Geschichte, - von ihm entwurzelt, gebrochen, der Entwicklung beraubt, entmannt, verführt, entkernt. 9 4

91

Ebd., S. 57f.

92

Ebd., S. 67f.

93

Rudolf Borchardt: J a m b e n , hrsg. von Marie Luise Borchardt unter Mitarbeit von Ernst Zinn und Ulrich O t t , Stuttgart 1967, S. 26f.

94

Borchardt: Aufzeichnung (Anm. 57), S. 68f.

26

Emst Osterkamp

So also das ungeheuerliche Schlußwort Borchardts zu seiner nahezu lebenslangen Auseinandersetzung mit Stefan George, dem Dichter des Interregnums, der nun für Borchardt, die geschichtliche Summe ziehend, als "das abgedankte Zwischenglied" auf dem Weg zum "deutschen Untergang" im Nationalsozialismus erscheint: 95 Zwar sei der Georgesche "Feldzug" siegreich gewesen, und doch habe er Deutschland für einen anderen erobert. Man sollte gar nicht erst versuchen, diese historische Konstruktion ernsthaft zu diskutieren, und dies auch deshalb nicht, weil die ihr zugrundeliegenden rhetorischen Strategien der Ausgrenzung des Anderen und Fremden (hier der Homosexualität) oft auf erschreckende Weise denjenigen gleichen, die Borchardts nationalsozialistische Gegner bei der Bekämpfung und Vernichtung des Anderen und Fremden einsetzten. Ihre Bedeutung gewinnt sie allein im Zusammenhang mit Borchardts Versuch, seinem Haß auf George objektive geschichtliche Bedeutung zu verleihen. Darin aber fügt sie sich mit größter Schlüssigkeit in Borchardts bisherige Schriften zu George ein. Die Aufzeichnung ist nicht das unkontrollierte Wort eines Einsamen,96 sondern das unter größtem geschichtlichen Druck entstandene Schlußdokument eines Kampfes, in dem dessen sämtliche Motive noch einmal versammelt, einer konspirationstheoretischen Denkfigur eingeordnet und radikalisiert worden sind. Gerade deshalb besitzt dieser erschreckende, in vielfacher Hinsicht abstoßende Text Schlüsselcharakter für Borchardts Verhältnis zu George; nicht, wie Borchardt es gedacht hatte, als Dokument, das die geschichtliche Wahrheit über George festhält, sondern als Zeugnis dafür, wie Borchardt die Gründe für den Untergang der deutschen Nation zu bestimmen versucht und dabei, wie so oft in seinem Leben und darin seinem großen Gegner nicht unähnlich, die Rolle der Poesie überschätzt.

95 96

Ebd. Hierauf deutet auch die Tatsache, daß Borchardt seine Deutung der Geschichte des George-Kreises Franz Blei vorgetragen hat; der George-Aufsatz, den Franz Blei 1940 in seine Zeitgenössischen Bildnisse aufgenommen hat, liest sich jedenfalls wie eine dünne Paraphrase der Aufzeichnung: "Aber nicht von dem Dichter, sondern von seinem frevlerisch arrogierten Mythus ging die verderbliche Wirkung aus, die man noch in der Pseudologie des Dritten Reiches erkennt. Aus dem George-Mythus kam die deutsche Jugendbewegung, entzündete sich an ihm und gab den Mythus vergröbert an die nächste Generation. Der Mythus wirkt weiter, wenn auch der Dichter keines der drängenden Berliner Telegramme, sich zum 'Führer' zu bekennen, beantwortete während seines lang währenden Sterbens in Lugano." Franz Blei: Zeitgenössische Bildnisse, Amsterdam 1940, S. 166f.

J Ö R G DREWS

Werner Kraft und Rudolf Borchardt Mit den festen Worten "Mit Borchardt war das so." beginnt der Abschnitt 13 von Werner Krafts Autobiographie Spiegelung der Jugend,1 und mit ebenso fester Stimme möchte man bei der Darstellung der Beziehung Werner Krafts zu Rudolf Borchardt beginnen mit den Worten: "Mit Kraft und Borchardt war das so." Das geht aber noch nicht. Zwar handelt Werner Kraft in seiner bis ins Jahr 1934 - also bis zu seiner erzwungenen endgültigen Übersiedelung nach Jerusalem - reichenden Erinnerung an seine Jugendjahre auf insgesamt 34 Seiten von der Rolle Borchardts in seiner Lebensgeschichte bis zu diesem Zeitpunkt; über keinen anderen Verwandten, Freund oder Autor schreibt Kraft derart ausführlich, von seiner ersten Borchardt-Lektüre 1910/11 bis zu seinem Besuch bei Borchardt in der Villa di Bigiano in Candeglia/ Pistoia 1926; daneben haben wir vor allem auch Krafts große Borchardt gewidmete Monographie Rudolf Borchardt. Welt aus Poesie und Geschichte, 532 Seiten stark im Jahre 1961 veröffentlicht und bis heute nicht nur der umfangreichste, sondern der einzige Versuch der Gesamtdeutung des Werkes und der geistigen Gestalt Rudolf Borchardts. Obwohl also Werner Kraft über Borchardt so ausführlich schrieb wie sonst nur über Karl Kraus, dem er zwei Bücher widmete - Karl Kraus. Beiträge zum Verständnis seines Werkes (1956) und Das Ja des Neinsagers. Karl Kraus und seine geistige Welt (1974)-, und Carl Gustav Jochmann - die Monographie Carl Gustav Jochmann und sein Kreis. Zur deutschen Geistesgeschichte zwischen Aufklärung und Vormärz, die er 1955 abschloß und die 1972 veröffentlicht wurde - , sind viele Aspekte seiner frühen Begeisterung und lebenslangen Verehrung für Rudolf Borchardt und die Veränderungen seiner Haltung zu ihm bis jetzt weder in Ansätzen richtig erforscht noch auch in ihrer ganzen Komplexität recht einzuschätzen. Erstens sind offenbar nicht alle Briefe Borchardts an Kraft und auch Krafts an Borchardt erhalten, die zwischen 1914 und 1936 gewechselt

1

Werner Kraft: Spiegelung der Jugend. Nachwort von J ö r g Drews, Frankfurt am Main 1973 (Bibliothek Suhrkamp 3 5 6 ) , S. 45. - Zitate werden nach dieser Ausgabe nachgewiesen. Inzwischen gibt es von Krafts Autobiographie eine Neuausgabe: Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1996.

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J ö r g Drews

wurden. Zweitens sind die den Umgang mit Borchardt und das Nachdenken über sein Werk und seine Person betreffenden Passagen der umfangreichen, im Besitz des Werner Kraft-Archivs befindlichen Tagebücher Werner Krafts noch nicht aus Krafts Handschrift transkribiert; erst ein Vergleich dieser Tagebuchpassagen mit der Darstellung in der Autobiographie Spiegelung der Jugend und mit dem Prosastück Der Dichter in Krafts Buch Zeit aus den Fugen2 könnte erweisen, welche Auswahl aus dem im Umgang mit Borchardt Erlebten und Erfahrenen das Buch mit Prosaskizzen und die Autobiographie bieten, in der Kraft sich, als 75jähriger, großen Taktes befleißigt und zwar nicht schönt, aber in souveräner Dankbarkeit nicht nur bei Borchardt, sondern bei vielen derer, die ihm in seinem Leben begegneten, das Positive ihrer Person und des Umgangs mit ihnen überwiegen und das Negative, das Konfliktuöse und auch Abstoßende als wesenlos in den Hintergrund treten läßt. Einen Hinweis darauf, daß Kraft die Begegnungen mit Rudolf Borchardt als viel zwiespältiger erlebt hat, als er für die Öffentlichkeit zugab, bietet auch, daß er im Gespräch viel mehr schonungslose Kritik und tiefen Zweifel an Aspekten der Haltung und der Schriften Borchardts wie auch anderer äußerte. Dennoch gibt es keinen Zweifel daran, daß seine Bewunderung für das Werk Borchardts und seine Loyalität diesem Menschen gegenüber größer waren als alle kritischen Einwände und daß es keineswegs pure Taktik war, wenn Kraft 1958 in einem Lebenslauf, der einem Antrag auf einen Druckkostenzuschuß der DFG für Krafts Borchardt-Manuskript beizugeben war, feststellt: Das mich bestimmende Erlebnis meiner Jugend war die große deutsche Poesie von Goethe und Hölderlin. Unter den neueren deutschen Dichtern übte Rudolf Borchardt den entscheidenden Einfluß auf mich aus, und er war es, der meinem geistigen Leben die Richtung gab. 3

Werner Kraft las als Fünfzehn-, Sechzehnjähriger zum ersten Mal Gedichte von Borchardt in dem von Julius Zeitler herausgegebenen Deutschen Almanach auf das Jahr 1907. Der Almanach enthielt ein Schriftenverzeichnis der Verlagsautoren, und Kraft fand einen Titel von Borchardt: Ein Gespräch über Formen und der Lysis des Piaton Deutsch, kaufte das Buch und dann: Alles, alles las ich, gänzlich hingegeben, gänzlich unkritisch, aber eine Welt ging mir auf, eine Welt fing an, sich zu bilden, nebelhaft, falsch, schief, unendlich bereichernd. W o nichts war, fing etwas an zu entstehen. Ich war dankbar, ich bin es noch heute. 4

Werner Krafts umfassend-planlose Lektüre jener Jahre also führte ihn auch an Borchardt, schließlich zu Borchardt, und es scheint zunächst der bestimmte, einen festen Willen ausdrückende Ton Borchardts gewesen zu sein, der den 2

Werner Kraft: Zeit aus den Fugen. Aufzeichnungen. Frankfurt am Main 1968, S. 1 7 0 - 1 7 2 .

3

Werner Kraft: Lebenslauf, in: Werner Kraft. 1 8 9 6 - 1 9 9 1 , bearbeitet von J ö r g Drews, Marbacher Magazin 75, Marbach am Neckar 1996, S. 9.

*

Kraft: Spiegelung (Anm. 1), S. 47.

W e r n e r Kraft u n d Rudolf Borchardt

29

nach Halt und geistiger Führung Suchenden faszinierte. Es kommt wohl aber dazu, daß jenseits von Krafts Bereitschaft, eine überlegene Person zu bewundern und sich ihr anzuvertrauen, er sich nach Orientierung in einer vielfältigzerstreuten, zerstreuenden und in literarischen Dingen liberalistischen Atmosphäre sehnte und den definitiven Eindruck hatte, daß es sich bei den Schriften Borchardts nicht um weitere reizvolle Texte innerhalb des Spektrums der damaligen deutschen Literatur handelte, sondern daß hier entschieden etwas gewollt war: Dieser große Stil des Rhetors, d e m es u m Wahrheit ging! [...] Das Apodiktische des Stils fing mich u n d schlug mich für Jahre in Bann, wenn auch allmählich nicht mehr ganz. 5

Und Kraft wurde nicht nur für Borchardt gewonnen, sondern eroberte sich damit auch einen - wie er sagt - "kritischen Gesichtspunkt" 6 gegenüber Stefan George. Kraft muß ähnlich wie der 19 Jahre ältere Borchardt und die ihm, Kraft, fast gleichaltrigen Walter Benjamin und Gerhard Scholem bei aller zunehmenden Kritik an George doch diesen und seine Leistung aufs höchste dafür geschätzt haben, daß hier der deutschen Lyrik in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts wieder eine Würde und eine Höhe des Tons gegeben worden war, die sie übers Geschmäcklerisch-Beliebige hinausführte und neue Maßstäbe setzte. Doch gerade Borchardts Besprechung von Georges Der siebente Ring rückte sowohl Georges Lyrik wie auch seine durch die Jünger betriebene Geistpolitik und Kunstpolitik für Kraft in ein kritisches Licht, das ihn dann - wie Kraft emphatisch sagt - "George nicht verfallen ließ". 7 Er findet ein Gegengewicht zu Georges Lyrik und empfindet vor allem Georges 'Politik' für sein Werk, die Versammlung von Schülern um sich, die mit dem "Kreis" verfolgte Strategie als unrein, als moralisch problematisch. Dies ist der argumentative Kern der vergleichenden Besprechung von Georges Der Stern des Bundes und Borchardts Wannsee in Franz Pfemferts Zeitschrift Die Aktion, deren Druck Franz Blei vermittelt hatte. 8 Werner Kraft hat sich später dieser enthusiastischen Rezension eher geschämt; sie schien ihm in dem 'großen' Ton, den sie anschlägt und der aus der schneidend verfügenden Schärfe Borchardts und einem frühexpressionistischen Pathos gemischt ist, nicht 'gedeckt' durch wahre Urteilsfähigkeit, sondern literatenhaft bauchrednerisch (und zwar Borchardt nachredend), das Produkt eines großsprecherischen Achtzehnjährigen, der scheinbar demütig eingesteht, daß er noch nicht eigentlich berufen ist zu sagen, was er da sagt, solche Lizenz sich aber dann

5 6 7 8

Ebd., S. 46. Ebd., S. 48. Ebd. Werner Kraft: D e r "Stern des Bundes" und 'Wannsee", in: Die Aktion, 4. Jg., 2. Mai 1914, Sp. 394-397.

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Jörg Drews

doch wenigstens als "Begeisterter"9 zuschreibt. Theodor Lessing schickte Krafts Besprechung an Borchardt nach Italien, und Kraft selbst muß im Sommer 1914 an Borchardt einen - nicht mehr erhaltenen - Brief geschrieben haben, auf den Borchardt am 29. Juni 1914 ausführlich und mit bewegender menschlicher Zuwendung antwortet. 1 0 Kraft hatte ihm offenbar von seiner deprimierenden Berufsarbeit in einer Hannoveraner Bank geschrieben und nach Methode und Systematik beim Studium der Literatur gefragt, das er demnächst anfangen wolle, und Letzteres führt wohl über ein vages Schwärmen für das "aus dem Geist geborene" Werk Borchardts hinaus; es belegt Krafts Vertrauen in Borchardts "viel größeren [Hervorhebung von mir, J.D.] geistigen Gesichtskreis" 11 , in seine historischen Kenntnisse und argumentativen Fähigkeiten: der Komparativ bezieht sich auf Stefan George, den Kraft durch sterile Selbstfeier dichterisch bedroht und intellektuell verarmen sieht. Dem späteren Kritiker Werner Kraft ist das kritische Potential Borchardts, sein argumentativ eingesetzes Wissen wichtiger als die nur dekretierende, nirgends argumentative Selbstsetzung Georges. Es bleibt allerdings das Paradox zu konstatieren, daß Krafts immer stärker kriegsgegnerische Haltung, seine Entscheidung für Karl Kraus' Rede In dieser großen Zeit... und gegen Borchardts Kriegsreden ihn nicht von Borchardt entfernte. "Borchardt hatte die Macht des Augenblicks, mich dies [i.e. Borchardts Befürwortung des Krieges und die "schrecklichen Dinge über den Krieg", die er sagte 12 ] und die Lage als ganze vergessen zu machen. Er war für mich gefährlich und auch schon nicht mehr [...] er hat niemals versucht, magisch auf mich einzuwirken, wie George auf die jungen Menschen seines Lebenskreises eingewirkt hat." 13 Vergegenwärtigt man sich den großen Rest von höchster Achtung, die auch Rudolf Borchardt zumindest bis in die dreißiger Jahre hinein sich bewahrt oder doch jedenfalls öffentlich für Stefan George geäußert hat, so hat man vielleicht auch eine Vorstellung von dem über viele Jahre ausgetragenen Konflikt, in den Kraft mit seiner Verehrung für George geraten war und den er nie ganz entschieden löste. Sein GeorgeBuch von 1980 ist noch immer ein Zeugnis der Unzulänglichkeit seines Nachdenkens über George, und diese entstammt wohl seiner Unwilligkeit, scharf und verwerfend über George sich zu äußern; es ist Krafts zerrissenstes Buch, weil er George eben auch die Erneuerung der deutschen Dichtersprache um 1900 zuerkennen mußte; es ist der Versuch einer späten konkre-

9 10 11 12 13

Ebd., Sp. 395. Briefe 1914-1923, S. 16-18. Kraft: D e r "Stern des Bundes" (Anm. 8), Sp. 397. Kraft: Spiegelung (Anm. 1), S. 68. Ebd., S. 67f.

Werner Kraft und Rudolf Borchardt

31

ten Einlösung jener Kritik an Stefan George, die er früh ahnte, aber noch nicht leisten konnte, und wenn es bei diesem Buch bei einem eher unbehaglichen H i n und H e r der Argumente bei gleichzeitigem intensiven Interesse am George-Kreis bleibt, so kann man die Faszination ermessen, die George einst, um 1910, für W e r n e r Kraft gehabt haben muß. Bis in die zwanziger Jahre hinein muß Kraft, trotz ihm wahrscheinlich immer deutlicher werdender und sich vergrößernder politischer Divergenzen und trotz großer Irritation über die maßlose Einseitigkeit und Heftigkeit vieler Äußerungen Borchardts - einen Eindruck von der massiven Verwunderung Krafts über Borchardt im Umgang gibt der fünfzehn Seiten umfassende Bericht von dem Besuch bei Borchardt 1926, der sich in Spiegelung der Jugend findet 1 4 - , sich vor allem einig gefühlt haben mit Borchardt in einer Konzeption von Poesie und in einer Einschätzung der Lage von Dichtung überhaupt, welche die Geschichte der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts als einen Verfallsprozeß und ihre neuen Möglichkeiten im 20. J a h r h u n d e r t nicht in den literaturrevolutionären Produkten des Expressionismus etwa u n d Dadas, auch nicht in der Romanliteratur Thomas Manns oder Robert Musils, sondern in den restitutiven, traditionsgebundenen, vielmehr: die Tradition erst wieder in ihr Recht setzenden Dichtungen und Dichtungskonzeptionen von Hofmannsthal und George sah. Kraft erblickte fast so streng wie Borchardt im Zustand der deutschen Literatur um 1900 und bis in die zwanziger Jahre hinein dieselbe Entartung, Minderwertigkeit und Schändlichkeit am Werk, und Kraft wird sein ganzes Leben lang in diesem Sinne ein Kulturkonservativer bleiben; dies beruhte wohl weniger auf einem 'Einfluß' Borchardts als auf einer grundsätzlichen Ubereinstimmung ihrer Dichtungskonzeptionen. Man kann sagen, daß Werner Kraft bis ins hohe Alter die Berechtigung der Literatur der Klassischen Moderne nicht einsah, mit wenigen schwachen Ausnahmen, was bei ihm jedoch merkwürdiger ist als bei Borchardt, da Kraft 19 Jahre jünger war und also seine Altersgenossen unter den Dichtern bzw. die Dichter, welche auch nur ein wenig älter als er waren, nicht zur Kenntnis nehmen wollte bzw. unfähig war, überhaupt die Berechtigung ihrer Literatur zu sehen. O b w o h l er Emmy Ball-Hennings, Richard Huelsenbeck und Alfred Wolfenstein lesen hörte und selbst Alfred Lichtenstein, Georg H e y m und Franz Werfel las: sie traten ebenso wenig wirklich in seinen Kosmos wie etwa, unter den älteren Autoren, Paul Scheerbart als Romancier. Doch wie Rudolf Borchardt Kraft eine Hilfe war, Stefan George nicht zu verfallen, so entdeckte Kraft zu Beginn des Krieges einen mehr als nur literarischen Autor, der ihm half, eine politisch-moralische Position zu formulieren, die sich von der Borchardts unterschied. Dem nach Halt suchenden 14 Ebd., S. 117-132.

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jungen Werner Kraft, der offenbar sehr starken Stimmungsschwankungen unterworfen und gewissermaßen zwar frühreif, aber zugleich ein Spätentwickler war, galt zwar Borchardt als eine solche persönliche Autorität, daß er fast geneigt war, einen gewissermaßen schocktherapeutischen Vorschlag Borchardts anzunehmen: Dabei hatte mir Borchardt [...] sagen lassen, ich solle mir doch einmal, als eine Art Heilung meiner Zerrissenheit, den Krieg aus der Nähe ansehen. Dieser heroische Vorschlag hatte sogar für mich, von diesem Manne kommend, eine Verlockung, und doch konnte ich mich nicht entschließen. 15

Von einem anderen Autor war indessen Krafts Widerwillen gegen den Krieg schon gestärkt worden, von der zweiten der Gestalten, die lebenslang für Kraft eine höchste Autorität - auch als Lyriker - darstellten. Borchardt war dabei eher die poetische Autorität, die moralisch-politische aber war schließlich eher Karl Kraus, "den ich fand in einem, ich möchte sagen, entscheidenden weltgeschichtlichen Moment, nämlich im Jahre 1914, bei Beginn des Krieges, als ich 18 Jahre alt war." 1 ' Kraft war damit politisch aufgewacht, doch als 1 9 1 6 Borchardt ihn in einem Telegramm bat, er solle für den "Kulturbund deutscher Gelehrter" eine "Werbeschrift" für Borchardts Rede Der Krieg und die deutsche Entscheidung schreiben, schrieb Kraft sofort die geforderten "vier Quartseiten" 17 , aber "gedruckt im Berliner Tagblatt wurde ein Aufsatz von Hofmannsthal" 18 . Soweit feststellbar, ist das Manuskript von Krafts Aufsatz nicht erhalten; es wäre interessant zu sehen, wie Kraft seine Hochschätzung des Dichters und Kritikers Rudolf Borchardt zu einem Zeitpunkt formuliert hat, da doch, wie er lakonisch schreibt, "meine Fähigkeit, die Zeitung zu lesen, durch Karl Kraus geweckt worden war" 19 , eine Fähigkeit, die er Borchardt absprach. Borchardt und der junge Kraft konnten sich zu diesem Zeitpunkt auch noch darüber einigen, daß es gute Gründe dafür gebe, daß ihr "Gefühl für den heutigen Hofmannsthal kühler geworden" sei, 20 auch wenn sie dies bedauerten, da sie beide von Hofmannsthal Höheres erwartet hatten für die Stiftung einer neuen Epoche der deutschen Poesie, unter welchem Aspekt sogar ein Zusammengehen Georges und Hofmannsthals in beider Augen so überaus wünschenswert gewesen wäre; 2 1 wenn Kraft später schreibt, Hof15 16

Ebd., S. 53f. "Ich bin an meinen Punkt gebannt". Werner Kraft im Gespräch mit Jörg Drews, München 1978, S. 3. 17 Briefe 1914-1923, S. 149. 18 Kraft: Spiegelung (Anm. 1), S. 67. 19 Ebd., S. 61. 20 Ebd., S. 70. 21 Vgl. hierzu Werner Kraft: Stefan George, München 1980, S. 153 und Spiegelung (Anm. 1), S. 69f.

Werner Kraft und Rudolf Borchardt

33

mannsthal habe nur "geniale Trümmer eines Werks" hinterlassen, und seine dichterische Kraft sei nicht "groß genug" gewesen, "um den 'König Ödipus', den 'Jedermann' und das 'Salzburger große Welttheater' über den großen Theatererfolg hinaus als Sprachwerke beweiskräftig zu machen", 22 so dürfte dies mit Borchardts Einschätzung übereinstimmen bzw. übereingestimmt haben. Doch mit dem Auftauchen von Karl Kraus im geistigen Horizont Krafts und, 15 Jahre später, mit Krafts Entdeckung der Schriften des spätaufklärerischen Philosophen und Sprachdenkers Carl Gustav Jochmann beginnt sich bei ihm ein grundsätzlich anderes Bild von der deutschen Geschichte und vor allem auch der Möglichkeiten und Versäumnisse der deutschen Literatur seit dem späten 18. Jahrhundert herauszubilden. "Schiller, Goethe, Kleist, Hegel, Hölderlin, die Romantik, die deutsche Germanistik, die deutsche Altertumswissenschaft, die deutsche Geschichtsschreibung, Jacob Burckhardt genügten ihm [Rudolf Borchardt], um sein Bild des deutschen Geistes zu entwickeln", schreibt Kraft in seinem Buch über Borchardt, 2 3 und man braucht nur die Namen zu nennen, die im historischen und literaturkritischen Denken Krafts eine große Rolle spielen, um die Distanz Krafts zu den literarischen und damit verknüpft zugleich den politischen Vorstellungen Borchardts einschätzen zu können, die sich nach und nach entwickelte: Jakob Michael Reinhold Lenz, Konrad Engelbert Oelsner, Graf Gustav Schlabrendorf, Carl Gustav Jochmann, Johann Gottfried Seume, Ludwig Börne, Georg Büchner, Heinrich Heine und, wie gesagt, Karl Kraus. Diese Autoren kommen bei Borchardt gar nicht oder fast gar nicht vor; Kraft aber denkt über ihre Leistungen positiv und denkt über ihre literarischen und sprachdenkerischen Konzeptionen in seinem weiteren kritischen Werk nach; sie bezeichnen einen Traditionsstrang, innerhalb dessen alles, was Borchardt perhorreszierte, in Stichworten gesagt: die Französische Revolution und die bei Borchardt immer mit allen Anzeichen des Abscheus genannte "Emanzipation", positiv aufgefaßt wurde. Kraft setzte sich nach und nach in den Stand, die große Sprache der deutschen Poesie um 1 8 0 0 in einer durchgehenden Spannung zu denken zu den historisch-politischen und eben auch literarischen Versäumnissen Deutschlands seit 1800, das heißt dem nicht geglückten Projekt Emanzipation des Bürgertums und einer Entwicklung von Prosa mit Bezug auf politische Öffentlichkeit: nämlich republikanischer Prosa. Werner Kraft stand in den zwanziger und dreißiger Jahren politisch eher links und er stand auf jeden Fall der Weimarer Republik positiv und loyal gegenüber, während Borchardt die republikanische, demokratisch-liberale, soziale und parlamen-

22

Werner Kraft: Stefan George (Anm. 21), S. 152.

23

Werner Kraft: Rudolf Borchardt. Welt aus Poesie und Geschichte, Hamburg S. 393.

1961,

34

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tarische Verfaßtheit des Staates scheitern sehen wollte. Von seiner politischen Wahrnehmung der Gegenwart her konnte Kraft dann auch andere Teile der deutschen literarischen Vergangenheit entdecken, nämlich zum Beispiel eben die ins 19. Jahrhundert hineinreichenden Spätaufklärer Jochmann oder Seume; Borchardt aber antwortete auf Krafts Frage, was er von jenem Autor denke, der eine symptomatologische Kritik der öffentlichen Sprache der Gegenwart betrieb, nämlich Karl Kraus, den man ja in der Tat in der sprachkritischen und die Abwesenheit einer Sprache der Öffentlichkeit erörternden Tradition Carl Gustav Jochmanns sehen kann - Borchardt also antwortete 1926 in Pistoia auf Krafts Frage "Und was halten Sie von Karl Kraus?" wegwerfend: "Was soll ich von ihm halten? Ein Revolverjournalist." 24 Der politisch zurückgebliebene Borchardt kann nicht sehen, daß er sich ein mythisches Bild eines Deutschland aufgebaut hat, dessen gefährliche politische Zurückgebliebenheit seinem Blick völlig entgeht; für Werner Kraft dagegen ist es seit etwa 1930 eine zentrale denkerische Herausforderung, die 'Fortschritte' der deutschen Poesie um 1800 und seit 1800 bis zur Gegenwart zusammenzudenken mit Deutschlands politischer Zurückgebliebenheit; daher - und bei einem, der in seinen frühen Jahren in Palästina dem Trotzkismus nahestand, ist das nicht verwunderlich - sein Buch über Jochmann, sein Aufsatz über Seume, 25 seine Äußerungen zu Börne, sein Buch über Heine, seine Bücher über Karl Kraus. Borchardts Konzept von Literaturgeschichte ist für Kraft ein einseitiges und politisch fatales Konzept, doch Borchardts Konzeption von Geschichte überhaupt ist ihm die mythische Verblendung, die Verblendung durch den Mythos - nämlich der Macht - selbst. Borchardt lehre Geschichte als "vergewaltigende und übermächtige Geschichte",26 und dem sei zu opponieren, auch wenn Borchardt sicher nicht einfach Kriegsverherrlichung oder Ästhetisierung des Krieges vorzuwerfen sei: Borchardt hat nie den Krieg ästhetisch verklärt, rechtfertigt [...]. Bei meiner ersten Begegnung schichte zu studieren, jugendlich unreif mit dem halt der Geschichte ablehnte, sagte er - im Jahre kommt doch in der Geschichte gar nicht vor!" 27

sondern ausschließlich geschichtlich gemit ihm, als ich seinen Vorschlag, GeHinweis auf den Krieg als den Hauptin1917! - : "Was wollen Sie denn, der Krieg

Er kommt in dem Sinne nicht vor, als er nur Mittel ist, Hebel, Ausdruck von Ideen, die mittels seiner sich verwirklichen oder sich zu verwirklichen

24 Werner Kraft: Spiegelung (Anm. 1), S. 120f. 25 Werner Kraft: Johann Gottfried Seume, in: ders.: Rebellen des Geistes, Stuttgart 1968, S. 135-163. 26 Werner Kraft: Rudolf Borchardt (Anm. 23), S. 408. 27 Ebd., S. 405.

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versuchen; er hat in sich selbst keine Dignität oder irgendwelchen Eigenwert. Doch Kraft antwortet hierauf, es sei seine Absicht, die in jedem Satz Borchardts wirksame Idee der Geschichte "in das Licht des Zweifels zu rücken, diese Idee ist groß, sie ist lebensmächtig, sie ist fruchtbar, und zugleich ist sie problematisch bis zur Unhaltbarkeit." 2 8 Sie ist unter anderem deshalb problematisch, weil sie eigentlich dem Krieg mit inhumanen Konsequenzen Wesentlichkeit abspricht, weil er ja niedrigen Ranges, immer nur Mittel sei, und diese Konzeption dann ebenso etwa die soziale Frage leugnet, da diese verglichen mit den größeren Fragen des Staates, der Nation und der nationalen Kultur ihm der Beachtung nicht wert erschien. Das aber ist nicht nur eine Frage der Geschichtsphilosophie, sondern es hat für die deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts und bis zur Gegenwart katastrophale Wirkungen, die keineswegs im Bereich des Geschichtsphilosophischen bleiben: [...] nach 1815 beginnt der Verrat der deutschen Macht an dem deutschen Volke, der alles Spätere erklärt, im Zeitalter des deutschen Geistes, der eine echte deutsche Freiheitsbewegung mit seinen Reserven an Freiheit und Menschlichkeit hätte speisen können. Daß Börne, der aus diesen Reserven gespeist war, Goethe hassen mußte, statt ihn zu lieben, wie er Jean Paul geliebt hat, ist nur eine der negativen Folgen dieser Entwicklung, deren weitere Folgen Marx, 1848 und Bismarck waren. Borchardt hat sich dieser Einsicht mit blinder Konsequenz verschlossen. 2 9

Kraft war gewiß bei den Treffen mit Borchardt zwischen 1 9 1 7 und 1 9 2 6 immer wieder schockiert von dem Gröblichen, Aggressiven, Verächtlichen, das Borchardt im Gespräch äußerte; bei Berichten von Gesprächen mit Borchardt fügt er immer wieder ein "Das übergehe ich", "Ich sage es nicht", "Ich setze es nicht hierher", "es war unter Niveau" ein, wenn er eine ihn verstörende Äußerung Borchardts hätte berichten müssen. Eine Neigung zur Schonung und Idealisierung von Menschen, deren geistige Leistung er bewunderte, und eine Abneigung

gegen

sensationslüsterne,

dem

Klatschjournalismus

sich

nähernde Ausschlachtung von Aussprüchen berühmter Personen, die eben "nicht in jedem Moment auf der Höhe ihrer selbst sein können", wie Kraft gern formulierte, und deren moralische Ausfälle angesichts ihrer Gesamtleistung nicht gezählt oder doch nicht überbewertet werden sollten, ist auch bei Krafts Darstellungen Johann Gottfried Seumes oder auch des Heidelberger Psychoanalytikers Wilhelm Kütemeyer unverkennbar, und sie sollte nicht mit Blindheit für die Schwächen der betreffenden Personen oder mit Feigheit verwechselt werden. Das Schrille und Erregte, das "tobsüchtige Wüten", 3 0 auf das er in schriftlichen wie mündlichen Äußerungen Rudolf

28

Ebd., S. 398.

29

Ebd., S. 393.

30

Ebd., S. 400.

36

J ö r g Drews

Borchardts öfter traf, stieß ihn durchaus ab und steigerte seine ambivalente Haltung gegenüber Borchardt. Aber erstens stimmte er offenbar grundsätzlich Borchardts These zu, "daß einer, wo er wirklich und wesentlich ein Dichter ist, nicht widerlegt werden könne durch falsche Auffassungen, die er sonst noch in seinen Schriften vertritt" 31 , was bedeutete, daß Kraft nicht bereit war, politisch ihn gefährlich dünkende Auffassungen Borchardts unmittelbar mit dessen Werk zu verrechnen, und zweitens unterstellte er Borchardts Denken und Ausdrucksgestus grundsätzlich eine reine Intention auf Wahrheit hin: Borchardt sei trotz allem "ein um Einsicht bemühter, hinter aller dämonischen Selbstverblendung wahrheitsliebender Mensch." 32 Wegen dieser Überzeugung und weil er als Uberlebender des Jahres 1945 nicht zu leicht recht behalten haben wollte gegenüber einem, dessen "Geschichtsverblendung" 33 er schon früh diagnostiziert hatte, dessen elende letzte Jahre und dessen Sterben ihn aber erschütterten, konnte seine Schätzung des Werkes von Rudolf Borchardt auch nach dem Ersten Weltkrieg, dann nach 1933 und schließlich noch nach 1 9 4 5 weitergehen. Zudem hat Werner Kraft es durchaus gewagt, Borchardt ins Gesicht hinein zu widersprechen bzw. zu versuchen, ihm 'die Wahrheit zu sagen'. Kraft berichtet in seiner Autobiographie: Wie ich sicher bin, daß keiner von Borchardts Freunden ihm je die Wahrheit gesagt hat, so habe ich es einmal in einem Brief gewagt. Ich scheiterte vollständig. Das Einzelne habe ich vergessen, aber ich weiß noch, daß ich zu ihm kam und daß er mir sagte, ich hätte nicht die Konvention, ich hätte die Konvenienz verletzt. 3 4

Bevor Borchardt dergestalt im Gespräch reagierte, antwortete er auf Krafts Brief mit einem Brief, bei welchem es sich wahrscheinlich um den vom 23. Oktober 1918 handelt; 35 jedenfalls würde dieser als Antwort ganz genau auf den - leider nicht erhaltenen - Brief Krafts passen, dessen Inhalt Kraft wie oben skizziert, nämlich als entschiedenen Einspruch gegen Borchardts Geschichts- und Macht-Konzeption, und es ist nicht schwer sich vorzustellen, daß der empörte Brief eines noch wenig geschulten, um so mehr aber moralisch erregten Zweiundzwanzigjährigen keine Chance hatte gegen die Argumente Borchardts (der allerdings auch im Ton äußerst maßvoll und ernsthaft antwortete und Kraft freundschaftlich zwar mit Sie, aber mit dem Vornamen anredete), so sehr auch die Zukunft erweisen würde, daß der fast um zwei Jahrzehnte Jüngere mit seiner Einsicht in die mythische Machtverfallenheit Borchardts hellsichtiger war als Borchardt.

31

Ebd., S. 393.

32

Ebd., S. 398.

33

Ebd., S. 412.

34

Werner Kraft: Spiegelung (Anm. 1), S. 103.

35

Briefe 1 9 1 4 - 1 9 2 3 , S . 2 1 0 f .

37

Werner Kraft und Rudolf Borchardt

Ein zweites Mal trat Werner Kraft Borchardt dann im Jahr 1 9 3 3 Rechenschaft fordernd entgegen, nicht viel erfolgreicher, aber mit einem Hintergrund, der diesmal in gewissem Sinn noch ernster war, da er die persönliche 'Identität' bzw. die Wahl einer 'Identität' - das Wort müssen wir hier wohl benutzen - beider betraf. Werner Kraft schrieb am 6. April 1 9 3 3 an Borchardt noch aus Hannover, aus der Tiestestraße 19, kurz bevor er Deutschland verlassen mußte: Sehr geehrter Herr Borchardt, wie ich der Deutschen Allgemeinen Zeitung vom 5. 4. entnehme, haben Sie zugesagt, in Rom an Stelle des unpäßlichen Gerhart Hauptmann den Eröffnungsvortrag der Vortragsreihe des Goethe-Hauses zu halten. Ich darf bei den Beziehungen, die Sie zu dieser Zeitung notorisch haben, annehmen, daß diese Nachricht authentisch ist. Ebenso steht es wohl außer allem Zweifel - für den, der Zeitungen zu lesen versteht —, daß Gerhart Hauptmann nicht darum abgelehnt hat, die Eröffnungsrede zu halten, weil er unpäßlich ist. Zweifelhaft bleibt nur, ob er aus eigenem Antrieb oder aus Zwang abgelehnt hat. Aber in beiden Fällen besteht immerhin - für mich - die Möglichkeit, zu glauben, daß er trotz seiner feigen Haltung im Krieg und Nachkrieg schließlich doch der Dichter der "Weber" ist, ein großer Dichter! Es ergibt sich also die groteske Tatsache, daß im heutigen Deutschland, das eine Rassentheorie, von deren Falschheit Sie überzeugt sind, zum Regierungsprinzip macht, dem wertvolle Arbeitskräfte, ja Menschenleben mit einem Federstrich geopfert werden, ein Mann, dessen Zugehörigkeit zur jüdischen Rasse unbezweifelbar ist, nicht nur von Staats wegen einen andern, der zweifellos der germanischen Rasse zugehört, offiziell bei wichtiger kultureller Gelegenheit ersetzen darf, sondern daß er ganz offenbar die geistige und moralische Verantwortung für diese Entscheidung auch selbst zu übernehmen bereit ist. (Sie könnten hier nicht einmal auf Ihren Aufsatz "Das Reich als Sakrament" verweisen, in dem Sie mit so beredtem Schweigen zu erkennen geben, daß Sie von der "größten deutschen Volksbewegung seit der Reformation" nicht gerade sehr viel halten, denn Ihre dortigen Einwände sind staatsrechtlicher Art und beziehen sich mit keinem Wort auf das eigentliche Thema: - - "Und rettete was die gebärdig' lauten schliesslich zum abgrundsrand gebracht: das reich .. / Doch vor dem schlimmren feind kann er nicht retten.") Meine Auffassung von dem geistigen und sprachlichen Wert Ihres Werkes hat sich nicht geändert, und der Dichter des LichterblickungsLiedes wie der Übersetzer jenes griechischen Fragments im Nachwort zum Pindar gehören gewiß auf dem Weg eines Volkes in den Untergang zu denjenigen Lichtblicken, die ein Leser der Sprache, wo es ihn noch gibt, nicht missen möchte. Ich bekenne Ihnen aber dennoch, daß das unscheinbare Faktum obiger Möglichkeit - das ein Dementi des Mutes erforderte, wenn es nicht, und der Reue, wenn es auf Wahrheit beruhte daß die Möglichkeit auch nur der indirekten Identifizierung mit dem Unrecht meine Beurteilung dessen was geschieht komplett macht. Ihr Werner Kraft Ich möchte Ihnen aber ausdrücklich, um einem Mißverständnis vorzubeugen, sagen, daß meine Ablehnung Ihrer Haltung die gleiche wäre, wenn Sie wirklich Deutscher und Christ wären. Ich glaube auch, daß Sie in der echten Tiefe Ihres Geistes dies wissen. Das tiefste Wort, das in meiner Lebenszeit gesprochen ist, stammt von dem Juden Franz Kafka. Es lautet: "Der Geist ist erst frei, wenn er aufhört, Halt zu sein." 36

36

Borchardt-Nachlaß, Dt. Literaturarchiv/Schiller-Nationalmuseum, Marbach am Neckar.

38

J ö r g Drews

Borchardt antwortet Kraft am 13. April 1 9 3 3 , Kraft sei schlecht informiert über die näheren Umstände dieser römischen Einladung an Borchardt: Er sei nicht als Repräsentant von irgendetwas in R o m aufgetreten, sondern nur in seiner Eigenschaft als Dante-Ubersetzer

eingeladen gewesen und

gefeiert

worden, und obendrein sei offenbar von deutschen Stellen hintertrieben worden, daß ihn - wie vorgesehen - eine Einladung an das Petrarca-Haus in Köln erreiche, was heiße, daß der "Deutsche Staat" "mich seinem Prinzipe vork o m m e n d e n Falles genau so opfert wie jedermann". Borchardt fährt in seiner A n t w o r t an den "alten Hitzkopf und Phantast", wie er Kraft zu Anfang des Briefes kopfschüttelnd-nachsichtig tituliert, fort: 7.) Gestatte ich Ihnen nicht, mich als Christen und Deutschen zu diskutieren, wofür Ihnen mir gegenüber jede Autorität und jede Convenienz abgeht. 8.) Mache ich meine sachlichen Einsichten, zu denen auch meine Beurteilung der nationalsozialistischen Bewegung gehört auch heute, da ihre nächsten Folgen mir selber empfindlich werden, nicht von meinem persönlichen Vorteil oder Nachteil abhängig, sondern ausschliesslich von meinem Gewissen,

und ihre

Bekundung

ausschliesslich

von

meinen

Pflichten

gegen

mein

Vaterland, das mir nur in verworrenen Zeiten und nur von überreizten Leuten und nur auf dem Papier abgesprochen werden kann. 9.) Gibt es, da es keine Rassen in der geschichtlichen Welt gibt, auch keine "unzweifelhaften Rassejuden" und ich habe nicht einmal die Veröffentlichung meiner familiengeschichtlichen Thatsachen nötig, um zu erhärten, dass die Juden ein Volk sind. 10.) Sind aus diesem Volke Vorfahren von mir Anfang des X I X . Jahrhunderts geistig glaubensmässig und gesetzlich ausgewandert und in Geist Glauben und G e s e t z des deutschen Volkes eingewandert, haben ihre Erinnerungen schon selber bewusst zerstört und sind verschmolzen. Was am Juden jüdisches V o l k ist, ist mir völlig fremdartig. Daran kann weder die Thatsache etwas ändern, dass das Deutsche V o l k mich auf Grund eines irrigen Schemas ins falsche Fach registriert, wo ich vielleicht für eine gewisse Zeit verlegt bleibe, noch die andere, dass die Juden die mich immer aufs bitterste gehasst haben, mich für sich beanspruchen. Meine Linie läuft seit meiner Jugend ungebrochen und ich werde sie unbekümmert um meine Zeit ungebrochen bis unter meinen Grabstein führen. Ihr B o r c h a r d t 3 7

Offenbar zählt Borchardt hier W e r n e r Kraft zu den "überreizten Leuten", die ihm sein Vaterland absprechen wollen, und sieht zu diesem Zeitpunkt noch nicht, daß just dieses Vaterland ihn nicht mehr als Deutschen haben wollte hätte er es d o c h gesehen, würde er es wohl etikettiert haben als eine kurzzeitige Ablegung seiner "ins falsche Fach". D a er einen rassischen Begriff des Judentums

nicht anerkennt,

im religiösen Sinn aber ohnehin kein Jude,

sondern Protestant ist und bleiben will, kann er nicht auf sein J u d e n t u m festgelegt werden, akzeptiert die Zuschreibung überhaupt nicht - und dies ist der entscheidende Gegensatz zu W e r n e r Krafts Reaktion auf die Ausschließung aus dem deutschen Volk durch die Nazis: Es war für W e r n e r Kraft, der sich offenbar gezwungen sah, mit dem Rasse-Begriff zu operieren, eine Frage 37

Briefe 1 9 3 1 - 1 9 3 5 , S. 239ff.

39

W e r n e r Kraft u n d Rudolf Borchardt

des Stolzes, in dieser Situation, obwohl er eigentlich als assimilierter jüdischer Deutscher keinen besonderen Wert auf sein Judentum legte, sein Judentum jedenfalls nicht zu leugnen oder wegzudiskutieren, sondern anzunehmen. Kraft berichtet in seiner Autobiographie, Anzeichen von Antisemitismus in Deutschland bis 1933 nur am Rand, jedenfalls nicht als massive Bedrohung wahrgenommen zu haben: "Erst nach 1933 wußte ich endgültig und für immer, daß ich kein Deutscher war, daß ich ein Jude bin." 38 Ob Werner Kraft diese Zurechtweisung durch Borchardt in dem Brief vom 13. April 1933 akzeptiert hat, wissen wir nicht. Vielleicht hat er eingesehen, daß es in diesem Punkte keine Diskussion geben konnte, weil Borchardt und er von verschiedenen Prämissen und auch von einem verschiedenen Begriff von Judentum ausgingen; da er Borchardts Einstellung, wie sie in dem Brief formuliert war, für wenn auch verkehrt, so doch ehrenhaft hielt, ließ er die Sache eventuell auf sich beruhen. Wahrscheinlich aber hat er auf den Brief Borchardts vom 13. April 1933 geantwortet; dieser Brief ist verloren, doch daß es ihn gab (und daß Borchardt auf ihn jedenfalls nicht antwortete), wird deutlich aus dem Brief, den Kraft unter dem 22.8.1933 aus Stockholm an Borchardt schreibt: Stockholm, 22.8.33 Sibyllegatan 31 bei Blumenthal Sehr geehrter H e r r Borchardt, ich m ö c h t e an Sie die Frage richten, ob Ihnen meine Mithilfe an Ihren Arbeiten im Augenblick nützlich erschiene. In diesem Falle stünde ich, da ich binnen k u r z e m vogelfrei sein werde, zu Ihrer Verfügung, unter Bedingungen, die Sie selbst b e s t i m m e n mögen. Mein Verhältnis zu Ihnen hat sich, abgesehen v o n aller politischen Differenz, in dem Sinne gewandelt, daß ich zu Ihnen wie zu allem was heute künstlerisch geschieht kritisch mich verhalte; nicht gewandelt aber in dem Sinne, daß ich von d e m Positiven, das ich in Ihnen weiß, mit Freuden zu lernen bereit wäre. Natürlich bin ich mir bewußt, daß nach unserem letzten Briefwechsel eine Beziehung von Ihnen zu mir nicht mehr besteht. Mit Sicherheit weiß ich es nicht, aber es ist wahrscheinlich, denn Sie haben meinen letzten Brief (den ich nicht z u r ü c k n e h m e n k ö n n t e ) unbeantwortet gelassen. Sollte es also wirklich der Fall sein, so bitte ich Sie, die A b l e h n u n g meines Anerbietens durch N i c h t b e a n t w o r t u n g dieses Briefes auszusprechen. Ihr W e r n e r Kraft 3 9

Der Brief stammt aus jenen Monaten, da Kraft, kurz vor Entlassung aus Beamtenverhältnis bei der Provincialbibliothek Hannover stehend, in Europa nach neuen Beschäftigungen umsah; vielleicht schwebte ihm für Borchardt als eine Art Sekretär oder wissenschaftliche Hilfskraft tätig 38 39

Kraft: Spiegelung (Anm. 1), S. lOf. Borchardt-Nachlaß (Anm. 36).

dem sich vor, sein

40

J ö r g Drews

zu können, und denkbar ist, daß er in der Erwartung, ein - wenn auch geringes - Ruhegehalt als Beamter zu bekommen, Borchardt glaubte anbieten zu können, daß er solche Tätigkeit auch ohne Bezahlung würde ausüben können - es sei denn, er überschätzte die finanziellen Möglichkeiten Borchardts und stellte sich vor, dieser könnte ihm ein kleines Salär für seine "Mithilfe" aussetzen. Einen Antwortbrief Borchardts auf diesen Brief Krafts kennen wir nicht, und wahrscheinlich existiert er auch nicht. Krafts Brief zeigt aber, daß er alle Divergenzen mit Borchardt als "politische" beiseitezusetzen bereit war, weil ihm die literarisch-poetische Autorität Borchardts noch immer nicht beschädigt erschien und die menschliche Integrität Borchardts nicht grundsätzlich zu bezweifeln war. Das letzte Zeugnis eines Kontaktes zwischen Kraft und Borchardt ist ein Brief Borchardts vom 29. August 1936, der darauf schließen läßt, daß Kraft ihn bat, für ihn bei einer Wiener Literaturzeitschrift zu intervenieren, um den Abdruck von Gedichten Krafts zu erreichen. Werner Krafts Bemühen galt seit frühen Jahren auch der Lyrik; er wollte keineswegs nur Bibliothekar und Literaturhistoriker bzw. -kritiker sein, und bei seiner Arbeit an einer eigenen lyrischen Sprache spielte nach eigenem Bekunden anfangs die Lyrik Borchardts eine bedeutende Rolle, später dann die Karl Kraus'. Wahrscheinlich versuchte Werner Kraft, bevor er einen kleinen Band mit Gedichten unter dem Titel Wort aus der Leere 1937 im Verlag Manfred Rothschild in Jerusalem erscheinen und diesem 1938 im Selbstverlag einen zweiten Band mit Gedichten folgen ließ, Gedichte in europäischen Zeitschriften unterzubringen. Rudolf Borchardts Antwort auf Krafts Brief und Sendung ist kurz angebunden, "streng", wie er selbst sagt, doch er trifft ein Problem der Kraftschen poetischen Produktion, daß nämlich sehr, sehr viele Gedichte entstanden, denen anzumerken ist, daß sie gegen keinen großen Widerstand geschrieben sind und eher so etwas wie lyrische Notate, Gelegenheitsgedichte darstellen, an denen ein ziemlich invariant-beliebiger T o n auffällt. [...] Ihre besten Leistungen stehen oberhalb dieser Sphäre [ = der üblichen lyrischen Zeitschriftenbeiträge]. Manche allerdings sind in ihr zu Hause. Rhythmische Tagebuchblätter eines überempfindlichen Innern, das jeden schwachen Eindruck als Schattenbild festhält, sind keine Gedichte. Geben Sie nicht jedem zufälligen Druck nach und verwalten Sie ihre schönen Möglichkeiten mit dem größten Verantwortungsgefühl, das Sie aufbringen können. Versagen Sie dies noble Instrument jedem leichtsinnigen Hauche der auf ihm klimpern will und lassen Sie es sich nur von der unwiderstehlichen Minute entreißen. Gedichte müssen notwendig sein, - nur hübsch zu sein reicht für Hüte, Bilder und Bronzen. Ich sage dies so streng, weil Sie mich rühren. [...] Lesen Sie überhaupt, - viel alte langweilige Bücher, alte, harte, schöne Prosa. Trainieren Sie Ihr Ohr, erzwingen Sie von sich geistige Kuren und Kurse, und behandeln Sie Ihr Herz recht kurz, - es ist für schlechte Behandlung dankbar. 4 0

40

Borchardt-Nachlaß (Anm. 36).

Werner Kraft und Rudolf Borchardt

41

Mag sein, daß Kraft sich durch diese erkältende Diagnose verletzt fühlte, doch kann man ihr Präzision nicht absprechen. Die politischen Divergenzen wie die ernüchternden poetologischen Ratschläge Borchardts hielten Kraft jedenfalls nicht davon ab, in den folgenden Jahren, nach 1936, seine BorchardtMonographie sowie zahlreiche Aufsätze zum Werk Borchardts zu schreiben, nicht zu vergessen die zwei Seiten umfassende Erinnerung an ein langes nächtliches Gespräch mit Borchardt, der in einem Berliner Stundenhotel logierte, mit den bitteren, deprimierten und zugleich sarkastisch heiteren Schlußsätzen: Es muß drei U h r gewesen sein, als er mich hinunterbrachte und den mürrisch aus seinem Schlaf aufwachenden Portier mit einem Trinkgeld bewog, mich hinauszulassen. Es war, es ist entwaffnend, es ist aber auch so traurig, wie diese Welt schon damals war, die Welt, in der der Dichter nur in einem Stundenhotel geduldet wird, und das ist gegen spätere Aufenthalte störender und als Dekoration der guten Stube später zugelassener Personen dieser Art noch ein herrlicher Aufenthalt auf der Bahn der Welt in den Abgrund, wo man aber, falls man nicht tot ist oder ermordet, auch gut leben kann. 4 1

Diese wahrhaft abgründigen Sätze, in denen die KZs als Aufenthaltsorte von Prostituierten, Juden und Dichtern sowie das mit einem Hitler-Bild dekorierte deutsche Wohnzimmer nur merkwürdig ineinander verwoben angedeutet werden und an deren Ende in der Schwebe gelassen wird, ob man über den im Januar 1945 während der Verschleppung nach Deutschland gestorbenen Rudolf Borchardt nicht doch sagen muß, daß er eigentlich ganz kurz vor Ende der Nazi-Herrschaft "ermordet" wurde, was um so schlimmer ist, als gerade der Ermordete anfangs gegenüber dem totalen Unheil, das die sogenannte nationalsozialistische Bewegung über Deutschland bringen würde, blind war, und was alles gekrönt wird dadurch, daß man sogar nach diesen zweiten "Letzten Tagen der Menschheit" unter Umständen immer noch wirklich gut leben kann - diese Sätze sind ein erschütterndes und Rudolf Borchardt noch immer die Treue haltendes Denkmal, das Werner Kraft dem setzte, der wie kein anderer nicht nur seine Vorstellung von Dichtung, sondern sein Ethos von Dichtung geprägt hatte. Dem steht nicht entgegen, sondern belegt die bei aller Verehrung und Dankbarkeit unbestechliche Nüchternheit Krafts angesichts des Phänomens Borchardt, daß er zur Kennzeichnung der komplexen Beziehung der problematischen mit den schöpferischen Zügen Borchardts im Gespräch nachdenklich und mit Nachdruck Sätze sagen konnte wie "Borchardt war ja krank, aber in seiner Krankheit gesund." Die vornehmere, sozusagen monumentalere Formulierung dieses dialektischen Sachverhalts in der Persönlichkeit Borchardts findet sich in Krafts Autobiographie: "Er war ein großartiger und

41

Kraft: Zeit aus den Fugen (Anm. 2), S. 71f.

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J ö r g Drews

unglücklicher Mensch. Er wußte es wohl, aber er überstrahlte es." 42 Es ist ein atemberaubendes Paradoxon, daß zu dem Zeitpunkt, da die politische Distanz zwischen Borchardt und Kraft am größten und die Verbindung zwischen ihnen abgerissen war, Werner Kraft zu verwirklichen begann, was Borchardt ihm in den Briefen der zehner und zwanziger Jahre und in den Gesprächen zu raten nicht müde gewesen war: daß Kraft in strenger Abgeschiedenheit seine geistigen Kräfte auf einige wenige Gegenstände richten und konsequent an ihnen seine Geistesgabe entfalten solle, statt ziellos "Menschen, Kräfte, Ideen" an sich "reißen" zu lassen. 43 Ein nicht abgesandter Brief Borchardts an Kraft, geschrieben offenbar kurz nach dessen im Sommer 1925 erfolgtem Doktorexamen, rät dem schwankenden, seiner Bestimmung ungewissen jungen Mann: Die Hauptsache für Sie ist und wird sein: Arbeit. Sie müssen etwas finden was Sie geistig erfüllt und nicht loslässt bis Sie es, mit Ihren besten Kräften durchtränkt, aus sich herausstossen. Sie haben vor Millionen das Glück eines Inhalts Ihrer N a t u r voraus. Es muss dahin k o m m e n , dass dies indefinible Etwas, dies nach Vermählung mit dem Universum hungernde seinen Gegengehalt findet, und sich in ihm auflöst. Lesen Sie, horchen Sie, versuchen Sie hier und da, bleiben Sie hart anschliessend an den die Zeit durchziehenden Ahnungen, ernennen Sie sich imaginäre Mitlebende an Stelle der Ihnen durch Umstände versagten zu G e n o s s e n Ihrer Generation, bieten Sie alle Kräfte der Phantasie auf um die Wüstenei des Sie einschliessenden Lebens zu bevölkern. Was ich Ihnen rate ist nichts wesentlich anderes als was ich selber thun muss um nicht zu Grunde zu gehen. 4 4

Die "imaginären Mitlebenden", mit denen Werner Kraft die Wüstenei, in die er in gewissem Sinn durch die erzwungene Auswanderung nach Palästina versetzt war, bevölkerte, waren Carl Gustav Jochmann, Karl Kraus, Franz Kafka und - Rudolf Borchardt. In ungeheurer Einsamkeit schuf er in der Jerusalemer Isolation der Jahre von 1934 bis etwa 1954, als er wieder umfangreichere Arbeiten in Deutschland publizieren konnte, die Monographien und Aufsatzsammlungen sowie die Anthologie 'Wiederfinden, die dann ab den fünfziger Jahren seinen späten Ruhm bei einer kleinen Leserschaft in Deutschland begründeten. Sicher war Werner Kraft für Rudolf Borchardt nicht im entferntesten so wichtig wie Borchardt für Kraft. Dennoch könnte von einer genaueren, auf allen verfügbaren Dokumenten fußenden Darstellung dieser Beziehung auch etwas Licht auf die Persönlichkeit und den Einfluß Borchardts auf eine bestimmte Generation seiner Leser und insbesondere auf Werner Kraft fallen. Wir brauchen hierzu eine vollständige kommentierte Edition aller Briefe und Briefentwürfe Borchardts und Krafts; da die Briefe Borchardts in der großen, von Gerhard Schuster und Hans Zimmermann herausgegebenen Briefausgabe 42

Kraft: Spiegelung (Anm. 1), S. 98.

43

Ebd., S. 20f.

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Briefe 1 9 2 4 - 1 9 3 0 , S. 112f.

W e r n e r Kraft u n d Rudolf Borchardt

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demnächst fast vollständig enthalten sein werden, müssen nun vordringlich die Briefe Krafts ediert werden. Zweitens müssen die Borchardt betreffenden Passagen der Tagebücher Werner Krafts transkribiert, kommentiert und ediert werden, welche gewiß viele Details enthalten, die nicht in die bisherigen Schriften Krafts und insbesondere auch in seine Autobiographie eingegangen sind. Drittens ist gegenwärtig auch leider die Monographie Krafts über Borchardt im Buchhandel nicht greifbar, was angesichts der nicht allzu dicht gesäten literaturwissenschaftlichen Arbeiten zu Borchardt u n d der bis heute bedenkenswerten Ausführungen Krafts zu vielen Aspekten von W e r k und geistiger Erscheinung Borchardts zu bedauern bleibt. Schließlich wären natürlich auch Untersuchungen zu einzelnen Aspekten des Einflusses Borchardts auf Kraft, etwa auf die Entwicklung seiner frühen Lyrik und auf die Konzeption seiner Anthologie Wiederfinden. Deutsche Poesie und Prosa, sehr wünschenswert. Am Ende sei ein zweites, ein lyrisches Denkmal zitiert, das Werner Kraft Rudolf Borchardt nach 1945 setzte, nachdem er von Borchardts T o d erfahren hatte. Es findet sich unter Gedichten, die Kraft 1948 an Wilhelm Lehmann schickte, und gehört zu einem Typus von Gedichten Werner Krafts, in denen er seine Erinnerung an Dichter bzw. Autoren, die er kannte, statuiert o d e r in denen er eine Art geistiges Porträt von ihm wichtigen Autoren zeichnet: Seume und Goethe, Else Lasker-Schüler und Ludwig Strauß, Walter Benjamin und Karl Kraus. Der Leser sei gebeten, sich die im vorstehenden Aufsatz genannten Daten der Geschichte der Begegnungen Krafts mit Borchardt und die Borchardt betreffenden Passagen von Krafts Autobiographie zu vergegenwärtigen bzw. sie nachzulesen; sie sind ein sehr weitgehend aufschlußkräftiger Kommentar zu W e r n e r Krafts auf den Tag des 70. Geburtstages von Rudolf Borchardt datierten Gedicht 4 5 . Rudolf Borchardt 9. 6. 47 "Schieße mir die Schärfe eines G ö t t e r t o d e s durch die Kehle' Fern aus dem Süden kam ein Brief; er weckte einen, der noch schlief. - Ich stand v o r einem Bergmassiv.

Riß mich der Rausch der Sprache hin, N a c h Seele sehnt' ich mich und Sinn U n d hatte scheiternden Gewinn.

Da ich's mit f r e m d e m F u ß erstieg, Sah ich, von oben, und verschwieg, Wie leicht mir war des Scheines Sieg.

Im Staube gabst dem G ö t t e r k n i e D u die Gestalt der Poesie, Die mir zu T r u g und Schmerz gedieh ..

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Deutsches Literaturarchiv/Schiller-Nationalmuseum, Marbach am Neckar, A: Wilhelm Lehmann 68. 4493. Das Gedicht liegt einem Brief Krafts an Lehmann vom 24.3.1948 bei.

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Jörg Drews

Wie sich die Riesenstadt mir naht, Auf Flügeln her v o m Karlsbad Raucht mir's ums Herz und raunt wie Rat.

Pistoja nahm mit Pinien auf D e n Gast, er zweifelte zuhauf, Dies ist der traurige Verlauf,

D u sagtest nüchtern ein Gedicht Von Hofmannsthal, mir wird s o licht, wenn reinen Lauts es zu mir spricht.

D a ß ich, den stets das Wort verließ, D a s nicht die Wahrheit vorwärts stieß, Im Schweigen auf die Ohnmacht wies,

'Blüht Ionien?' fragtest du, im Kuß Des Wortes sprang der Genius Ins Licht - o Archipelagus..

U n d doch hielt ich im Griff den Stein, Bevor er traf, gewaltig ein, Z u m Ja ward meiner Liebe Nein.

D u fuhrst vorbei, du sprangst heraus, In deiner Hand den Blumenstrauß, Wir sahen beide glücklich aus.

Ich ging, du führtest mich ans Tor, G a b s t mir die Hand, stiegst steif empor, Ich seh' dir nach wie nie zuvor ..

Die Worten waren froh getauscht, Und mit dem Sturm sind sie verrauscht; Mein O h r dehnt sich zurück und lauscht.

Wie oft, wenn du mich aufgebracht D u r c h die Verfinstrung deiner Pracht, H a b ' dennoch stark ich dein gedacht.

So dankt ein Leben den Bestand D e m Blitz des Zufalls, der entschwand U n d niederfuhr zu Halt und Band ..

U n d jedes Tages, den du rangst U m das Geheimnis und bezwangst Dein starkes Selbst und frei erklangst.

Ich seh' im Zorn der wüsten Zeit Dich in des Herzens Heiterkeit, Die mich beseelt, rückt nah, was weit - :

D o c h alle Menschheit würgt der Strick, I m Göttertode bricht der Blick, D e r Pfeil trifft hinten durchs Genick.

In einem düsteren Hotel War nachtlang halbgerettet hell Der Seele brüchiges Kastell.

D u lebtest groß und Dunkles auch, Dies ist der Menschen alter Brauch D a s Dunkel weicht der Schöpfung Hauch ..

Von deiner Wildheit trug das Maß Auch mich, daß ich der N o t vergaß U n d hohen Augenblicks genaß ..

So kummervoll bist du gestorben, Als Deutschland barst, zertrümmert, Rauch, U n d hast dir kommenden Ruhm erworben.

FRIEDMAR APEL

Ein amerikanischer Traum am deutschen Abgrund. Rudolf Borchardt und Edna St. Vincent Millay Zwischen 1 9 3 3 und 1 9 3 4 hat Borchardt in Radikalisierung seines bildungsgeschichtlichen Nationsbegriffs symbolisch die Exkommunikation Deutschlands vollzogen und die Idee der Restauration im Geiste Herders und der deutschen Romantik in der Totalverwerfung deutscher Gegenwart in eine illusionslose Imagination verlegt. Borchardts verschiedene Strategien futurischen symbolischen Handelns zur Rettung der Tradition für eine Zeit des Danach, in denen er seine Einsamkeit als wehrhafte Stärke erfahren wollte, kulminieren im J a h r 1935. Borchardt schreibt das Nachwort zum Pisa-Buch, das, wie Susanne Hofmanns Arbeit über Borchardts Mittelalterkonzeption 1 differenziert zeigt, die poetische Phantasmagorie des Reichs als Protest gegen die geschichtliche Fehlentwicklung vorstellt. Radikaler praktiziert die "Notwehrdichtung" der J a m b i k , Ernst A. Schmidt 2 zufolge, Selbsterhaltung als kompromißloseste Negation des Bestehenden, während nach Ernst Osterkamp 3 die poetische Selbstreflexion notwendig zur politischen Kritik gerät. Dem Abschied der Kultur von Geschichte und Gesellschaft wollte Borchardt schließlich in der gleichsam archäologischen Rekonstruktion eines Europa ein Gegenbild entwerfen, wie es Novalis schon einmal gegen die geschichtliche und politische Wahrscheinlichkeit als imaginäres Territorium friedenstiftender Ganzheitlichkeit visioniert hatte. 4 Borchardt hatte sein übersetzerisches Werk, was die romantische und nachromantische Tradition betrifft, von vornherein als Heimholung der romantischen Seelenform betrieben, deren Fortwirken er vor allem in dem antigesell-

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Susanne Hofmann: Bildung und Sehnsucht. Untersuchungen zum Mittelalterbild Rudolf Borchardts, Paderborn 1995. Zum Pisa-Buch darin das Kapitel "Der Untergang im Adlerkleide", S. 196-247. Ernst A. Schmidt: Notwehrdichtung. Moderne Jambik von Chinier bis Borchardt, München 1990. Ernst Osterkamp: Poetische Selbstreflexion als politische Kritik. Zur Deutung von Rudolf Borchardts Schmähgedicht "Nomina Odiosa", in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 26, 1982, S. 357-382. Vgl. Susanne Hof mann (Anm. 1), S. 18-30.

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Friedmar Apel

schaftlichen Paradigma der englischen Lyrik des 19. Jahrhunderts von Byron und Shelley über Browning und Rossetti zu Swinburne gegeben sah. Jedoch erschien ihm Swinburne schon als der letzte ritterliche romantische Heros, der die Freiheit einer idealen Welt gegen eine sich unaufhaltsam mechanisierende und barbarisierende Zivilisation nur noch in ihrer Unwiederbringlichkeit und Machtlosigkeit gegenüber der zerstörenden Macht der Zeit zur Geltung bringen konnte. So war Borchardt auch England als geschichtlich versteinerte Kulturlandschaft, als verlassener Garten erschienen und stand als imaginatives Territorium einer dichterisch zu realisierenden neuen O r d n u n g in Zweifel. 5 Eine wie immer phantasmagorische Territorialvorstellung in Anverwandlung der Herderschen Bestimmung des Menschen als Erdwesen und von Nadlers landschaftsgeschichtlicher Literaturbetrachtung 6 scheint aber für Borchardts einsame Bewältigungsstrategien unverzichtbar gewesen zu sein. So ist es sicher kein Zufall, jedenfalls aber als symbolisches H a n d e l n aufschlußreich, daß Borchardt im Jahr des radikalen Abschieds von Deutschland die Poesie Edna St. Vincent Millays als einen neuen Kontinent entdeckt, das Eigene im Fremden nun gerade fern von Europa. 7 Der Aufsatz Die Entdeckung Amerikas ist der Versuch, die Tradition gleichsam auf unbelastetem Boden neu erstehen zu lassen. Schon vorher hatte Borchardt in seiner Konzeption einer schöpferischen Restauration nach unterirdischen Wirkungen des Romantischen gefahndet, im Angesicht der deutschen als europäischer Katastrophe setzt er diese postulierten Wirkungen nun in die räumliche Distanz: "die große europäische Poesie aller Jahrhunderte bis zu ihrem letzten, dem Neunzehnten, nach diesem im Mutterlande erlöschend oder einziehend, hatte den Atlantik unterlaufen und war in Amerika in einer gewaltigen lyrischen Pyramide aus dem tauben Boden gebrochen" (S. 435). N u n hatte die Literaturkritik, insbesondere Edna Millays großer M e n t o r Edmund Wilson, die 1892 geborene Lyrikerin ohnehin in einer Kontinuität mit Coleridge, Shelley, Rossetti und Swinburne gesehen, und der Kontakt mit der europäischen Kultur hatte durchaus auf den überirdischen Wegen der Reise und der Lektüre stattgefunden. Überdies war die Dichterin mit einem holländischen Importkaufmann verheiratet. Um so deutlicher wird, daß Borchardt in dem Bild, in dem man Anklänge an Alfred Wegeners Kontinen-

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Vgl. das Nachwort in: Swinburne. Deutsch von Rudolf Borchardt. Als Paralleldruck mit dem Urtext hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Friedmar Apel, München 1990 (Schriften der Borchardt-Gesellschaft 1). Vgl. vom Verf.: Borchardt als Leser der Landschaft, in: Merkur 2, 1989, S. 168-174. Rudolf Borchardt: Die Entdeckung Amerikas: Die Poesie von Edna St. Vincent Millay, in: Prosa III, S. 429-472.

Rudolf Borchardt und Edna St. Vincent Millay

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talverschiebungstheorie wahrzunehmen meint, 8 die ja 1929 noch einmal in einer durchgearbeiteten Fassung erschienen war, versucht, die Katastrophe der Tradition geokulturell als eruptiven Neuanfang zu denken und dabei Kontinuität zum Eigenen zwar zu bewahren, sie jedoch von den aktuellen europäischen Bedingungen abzulösen. Diese Dialektik bestimmt die Landkarte, die Borchardt von der Terra Millay entwirft, bis in die kleinste Einzelheit. Es ist eine Entzifferung der eigenen Situation, aber als radikaler Gegenentwurf. Die leitende Idee dieser Entzifferung ist einmal mehr die Herdersche These von der Poesie als der Muttersprache des Menschengeschlechts, die in ihrer ursprünglichen Form bereits die ganze Substanz "des großen Menschenwesens" in sich enthält, und in der Wissen und Ausdruck ungeschieden sind. Zunächst aber wird Edna Millay nach Borchardts Begriff des Dichters und des Dichterischen modelliert, wie er es zuletzt im Swinburne der Poems and Ballads verkörpert sah. Die Abgrenzung von Swinburne erfolgt dann aber über einen Formulierungskomplex, der Borchardts Situation von 1935 durchscheinen läßt: In Edna Millays Werken erfahre man "die bittere Herrlichkeit einer Niemand brauchenden Niemandem Rede stehenden, nur von sich selber zu beschränkenden Freiheit". Während der junge Swinburne "der wirkliche Rebell gegen wirkliche Mächte" gewesen sei, werde in der Welt der amerikanischen Lyrikerin "das Vorhandensein dieser Mächte stillschweigend vorausgesetzt, aber sie sind keine wirklichen Mächte mehr und sie werden daher auch nicht mehr herausgefordert." (S. 4 4 2 ) So erscheint bei Edna Millay nicht die Freiheit einer idealen Welt, sondern eine neu erstehende und zugleich ursprüngliche Autonomie des Verhältnisses von Freiheit und Gesetz, die Borchardt geradezu feministisch begründet. Allerdings nicht im Sinne der Emanzipation, sondern in dem Bild der freien Frau als einer "Urform", einer "geschichtsmorphologischen Realität" im Sinne Herders und Goethes. Die Möglichkeit dieser "Autonomie des Geschlechts" (S. 437) wird nun ganz von den europäischen gesellschaftlichen Verhältnissen abgesetzt. Als "selbständige Individualpoesie des jüngsten der neuen Weltvölker" (S. 4 4 3 ) konstituiert sich für Borchardt hier ein von der europäischen Fehlentwicklung unbelasteter Keim eines neuen Paradigmas, der mit der Erscheinung Sapphos vergleichbar ist, "mit der heroischen Katharse wilder Ungebundenheit junger Welten durch eine gottgezeichnete Frauenseele, die all deren Unmaß und Ubermaß in sich wie ihre Schwestern wol als Glück er-

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Ernst A. Schmidt macht mich darauf aufmerksam, daß die Idee einer unter dem M e e r verlaufenden Verbindung zwischen alter und neuer W e l t bereits im Arethusa-Mythos vorgebildet war. V o n Alpheios verfolgt, soll die N y m p h e nach Sizilien geflohen und dort als Quelle wieder zutage getreten sein. So waren nach dem Glauben der Alten Peloponnes und Sizilien durch eine unterirdische Strömung verbunden.

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fährt, aber als erste als Leid absondert und ihre Erfahrung in die Geschichte unsterblich niederschlägt." (S. 443) So zeigt sich, daß Borchardt in diesem Jahr 1935 den Gedanken der Restauration wie der konservativen Revolution durch den einer autonomen, aber doch unterirdisch mit dem Alten verbundenen Neuentstehung der Kultur hinter sich läßt: "Es erhebt sich nicht zu einer neuen Stufe, es entsteht auf einer neuen Stufe." (S. 445) Gegen das trostlose Zerfallen an der Zeit, zu der die europäische Dichtung, wie Swinburnes Beispiel zeigte, verdammt ist, denkt Borchardt einen die geschichtlichen Fesseln abstreifenden natürlichen und ganzheitlichen Neuanfang als vulkanische Gesteinsverflüssigung jenseits eines falschen Gesellschaftlichen, einer tödlichen Totalität von Versteinerungsprozessen. Freilich gebraucht Borchardt in diesem Zusammenhang nicht zufällig den Begriff des Wunders, und er kann im folgenden gar nicht umhin, die Zeichen der Moderne in diesem angeblichen archaisch-autonomen Neuanfang zu bemerken, nämlich den Konstruktionscharakter dieser Autonomie, der vom "Problem der Einsamkeit des Menschen" (S. 457) ausgeht, und die Lebenswie Seelenform nicht in "einer bestehenden Gemeinschaft, sondern einer postulierten und ganz fraglichen" (S. 457) geltend machen muß. So übersieht denn Borchardt in seiner selektiven Idealisierung des neuen Kontinents nicht, daß die Dichtung Edna Millays im "Zusammenpralle mit Zeit und Gesellschaft" (S. 465) an diese gebunden bleibt, daß sie aus der Selbstbehauptung "gegen den maniakalisch reißenden wurzellosen Fortschritt der Kolonialmenschheit" (S. 465) motiviert ist. Freilich will Borchardt auch diese kritische Zeitgebundenheit der individualistisch-pazifistischen Dichterin, die in ihrer antimaterialistischen Einstellung zeitlebens von der Greenwich Village-Bohème beeinflußt bleibt, noch als Neuerscheinung einer ursprünglichen geschichtsmorphologischen Realität sehen: In ihrer Dichtung erscheine das uralte Frauenrecht des Zweifels und des Widerspruchs, das Recht, "eine Welt überhaupt zu leugnen und zu beklagen, die durch Schuld und Wiederschuld beschränkter und geblendeter Männlichkeit von Stufe zu Stufe geworfen wird" (S. 457). So zeigt sich, daß Borchardt hier den metaromantischen Versuch unternimmt, die aus der Selbstbehauptung gegen das Gesellschaftliche entspringende Individualpoesie zur unfraglich gültigen Instanz zu erklären, "an der die ganze Wahrheit über ein Volks- und Zeitganzes gesagt werden muß, ob sie schändlich klinge oder löblich. Die Poesie ist weder dazu da schönzureden noch zum guten zu reden, sie ist weder die Diplomatie schmerzloser Euphemismen noch die Gleißnerin die der jeweils modischen Lüge zuhält." (S. 469) So bleibt nicht im Unklaren, was die Poesie in Borchardts Augen im Jahre 1935 zu leisten hat. Sie wird zum symbolischen Kampfmittel, die es

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dem aus dem ältesten Recht legitimierten dichterischen Individuum ermöglichen soll, "die Zeit zu Boden" zu schlagen, sich "über seinen Zufall an Zeit und Volk" und in einem neuen selbstgegründeten Maß im Verhältnis von Freiheit und Gesetz "über das ungeheure Leidwesen" (S. 470f.) zu erheben. Es scheint nicht zweifelhaft, daß der Aufsatz, wäre er 1935 erschienen, unter dem Eindruck der Ermordung des Röhmkreises, in dem Borchardt ja mehrere Freunde hatte, sowie unter dem Eindruck der Rassengesetze als Legitimation eines sich aus dem Altesten herleitenden Widerstandsrechts des Einzelnen zu lesen gewesen wäre. Das dürfte auch den vorsichtigen Herausgebern der Corona nicht entgangen sein. Der Aufsatz ist aber auch eine Urkunde des anderen Durchhaltewillens, deren Bildlichkeit Borchardts Sprachgebrauch entspricht, es gelte, unter der schmutzigen Flut hindurchzuschwimmen und in der Zeit danach imstande zu sein, eine Wüste neu zu kultivieren. Es ist Borchardts Hoffnung in der Tradition des klassisch-romantischen Programms der ästhetischen Erziehung, daß die künftige Gestalt der Welt dem Bilde der Welt folgt, "das sich in menschlicher Größe, dem eigentlichen Geheimraume der weitergehenden Schöpfung, geisterhaft bildet" (S. 472). Der Millay-Aufsatz fungiert als ein solches gleichsam vorläufig ins Exil gedachtes Bild, dessen geschichts- und geophilosophischer Rahmen die Dialektik von Verwerfung, Neuanfang und Wiederkehr genau umreißt: "In dieser großen Dichterin ist das Weltbild verworfen, das viele europäische Jahrhunderte nach sich gemodelt hat, und hat ein urältestes sich wieder geboren, unter Umständen des organischen Dranges, dessen Europa sich noch von fernher wol bewußt ist. Durch diesen weltgeschichtlichen Rhythmus wirkt die gewaltigste Kolonie des weißen Mannes auf ihre Ausgangsländer zurück. [...] Diese leidende Welt ist weder so jung wie ihre Torheit, noch so alt wie ihre Verzweiflung sich wähnt." (S. 472) Ein amerikanischer Zukunftstraum am deutschen, am europäischen Abgrund, der sich von der im Pisabuch aus dem Reichsbegriff entwickelten phantasmagorischen Geschichtsphilosophie vor allem dadurch unterscheidet, daß Borchardt willentlich oder unversehens Individualität und Weiblichkeit als zukünftige Wertinstanzen zentral setzt, womit er sich im Grunde in einer Weise mit der kritischen Moderne solidarisiert, die seine früheren Urteile über ihre Tradition seit Baudelaire ebenso dementiert wie die totalitären Anwandlungen der Führungsrede und übrigens auch die Rückstände imperialistischen Herrenmenschentums in dem Millay-Aufsatz selbst. 9 In dem letzten umfassenden Versuch, die Kunst als Medium nichtkorrumpierter Erfahrung zu denken, ergreift Borchardt entschlossen und emphatisch Partei für eine Zeitgenossin, an der die spärliche deutsche Rezeption vor allem die indivi9

So wenn abfällig von der "Niggerpoesie" (S. 434) gesprochen wird.

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dualistische Revolte getadelt hat. 10 So erscheint der Millay-Aufsatz als eine grundsätzliche symbolische Neuorientierung in einer Situation, in der Borchardt jeglicher Glaube an gesellschaftliche Ganzheiten zerfallen war. Die Ubersetzungen von Millay-Gedichten, die Borchardt größtenteils im gleichen Jahr 1935 erarbeitet, weisen die nämliche eigenartige Dialektik des Eigenen u n d des Fremden auf, die Borchardt in der Topographie der Millayschen Bewußtseinslandschaft findet. Er entziffert in den Gedichten distanzierend die eigene Situation, indem er sie dialogisch, nämlich als Geistergespräch konzipiert. Dies sollte jedoch nicht mit einem mehr oder minder willkürlichen Hineinziehen ins Eigene, mit Nachdichtung oder Bearbeitung oder dergleichen verwechselt werden. Vielmehr bleibt Borchardt im einzelnen Ubersetzungsfall in der Regel inhaltlich wie formal innerhalb der Grenzen und Lizenzen einer philologisch gegründeten ästhetischen Ubersetzungskonzeption; erst das Ensemble von Selektion und Konfiguration macht deutlich, daß Borchardt vergegenwärtigend und futurisierend auf das Verhältnis des dichterischen Subjekts zur historisch-gesellschaftlichen Lage Bezug nimmt, wie sie sich aus Borchardts Situation um 1935 darstellte, die er als Uberwinterung e m p f u n d e n hat. Diese Verfahrensweise ist auf der anderen Seite aber auch nicht unwillkürlich: es handelt sich um eine kalkulierte und artistische Selbsterfahrungsstrategie in kulturkritischer Absicht. 11 Ein inneres Z e n t r u m dieses Geistergesprächs bildet die Ubersetzung von

Childhood is the kingdom where ttobody dies aus Poems selected for young people von 1929 (S. 322f.). 1 2 Schon die Ubersetzung der Titelzeile bzw. des Refrains zeigt die veränderte Perspektive an. Die verallgemeinernde Übersetzung von "kingdom" mit "Reich" hat in Verbindung mit der Pronominalflexion in "stirbt Dir" für "dies", worin durch das Du des Briefstils noch zusätzlich der Charakter des Geschriebenen deutlich gemacht wird, den Effekt einer dialogisch-selbstreflexiven Verinnerlichung des Reichsbegriffs. Von vornherein redet der Ubersetzer mit der amerikanischen Dichterin und mit sich selbst, und es ist das innere Reich eines von Anfang kehrenden erinnernden Dichtertums, jener im schöpferischen Individuum existierende Raum, in dem 10 In Amerika wird Edna Millay seit einiger Zeit jedoch verstärkt als Feministin mit differenziertem politischem und gesellschaftlichem Bewußtsein diskutiert. Zuletzt d o k u m e n tiert bei William B. Thesing (Ed.): Critical Essays on Edna St. Vincent Millay, N e w Y o r k 1993. 11 Cornelius Borchardt glaubt, daß die Ubersetzungen nicht völlig durchgearbeitet waren. Borchardt habe sie als lediglich "anübersetzt" bezeichnet. Auf der anderen Seite spricht Ulrich O t t von "vollendeten Übertragungen", deren Typoskripte teils "mit eigenhändigen Korrekturen Borchardts" versehen sind; Gedichte II / Übertragungen II, S. 451. Die Übertragungen werden im folgenden nach dieser Ausgabe zitiert. 12 D i e Gedichte Edna Millays werden zitiert nach: Collected Lyrics, N e w Y o r k 1981 u n d Collected Sonnets, N e w Y o r k 1988.

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das Bild der Welt sich formt, von dem hier die Rede sein wird. Unsterblich und aufgehoben ist darin bei Borchardt nur, wer "mitzählt", nicht etwa der, der "zählt", was eine unverdächtige Ubersetzung von "matters" gewesen wäre. In dem Schmähgedicht auf die Nazis "Nomina Odiosa" erscheint das Zählen nicht zufällig als zentrale symbolische Zeitgestaltung des zornigen Isolierten. Im Zusammenhang betrachtet handelt es sich bei "soundsoviel" für "a certain age" daher nicht vorrangig um das Alter eines Kindes, sondern um den inneren Stundenschlag des poetischen Reichs, den nur die Mitzählenden als, wie es im Millay-Aufsatz heißt, Mitstrebende vernehmen. Gegen dieses innere Reich der wiederkehrenden Verjüngung steht die versteinernde Prosa der erwachsenen Welt der Gesellschaftlichkeit als das Abgelebte und Ausdruckslose. Nicht darum, was jene Erwachsenen sagen ("what was it they said"), geht es dem in der Ubersetzung Sprechenden, sondern um die Frage nach dem möglichen Ausdruck, der in dieser Welt des Alten erloschen ist. Die Paraphrase der Stelle im Aufsatz macht noch deutlicher, daß es Borchardt um das totenhaft Verdorrte gesellschaftlicher Verhältnisse zu tun ist, gegen die das Dichterische zuzeiten vergeblich anspricht. "Groß sein heißt mit Toten beim Thee sitzen, die auf nichts mehr eingehen. Jemehr Du an ihnen reißt, je toter fallen sie von Dir." In der Paraphrase zeigt sich, daß Borchardt den Schluß stärker apellativ und grundsätzlicher als Abschied gedeutet hat: "Steh auf, mach fort." (Prosa III, S. 4 5 5 ) Zuletzt geht bei Borchardt nicht mehr nur ein Kind aus dem Haus einer anödenden Erwachsenenwelt, sondern Dichterin oder Dichter fliehen eine falsche Heimatlichkeit und Häuslichkeit. Borchardt scheint also hier den Vorsatz zu gestalten, die Heimat künftig zu meiden. Der Widerspruch zum Gesellschaftlichen, der in Childhood is the kingdom aus der Solidarität mit der kindlich-ganzheitlichen Erfahrung lyrisch begründet wird, rückt in dem an Shelley gerichteten Gedicht To a poet that died young aus dem Band Second April von 1 9 2 1 zusätzlich in die Perspektive jener literarischen Tradition, mit der Edna Millay sich identifizierte. Sie wurde hundert Jahre später geboren als Shelley, um so leichter ist zu errechnen, daß das Alter, in dem Shelley starb, kurz bevorstand. Der Widerstand gegen das Älterwerden als Hineinwachsen in eine falsche Gesellschaftlichkeit äußert sich zunächst in der Anspielung auf den Verrat, den der poet laureate Alfred Tennyson in seinen affirmativen Tendenzgedichten an der romantischen Lyrik begangen hatte. 13 Im Eingedenken Shelleys ist das Gedicht gleichsam eine lyrische Durchhalteparole gegen eine eventuell drohende gesellschaftliche Vereinnahmung, die im Bild der das Territorium des Dichterischen überspülenden trüben und warmen Flut veranschaulicht wird. In seiner Ubersetzung

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Etwa in der Verherrlichung des Krim-Krieges in The cbarge of the Light Brigade, 1854.

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(S. 3 1 6 ) verschiebt und verallgemeinert Borchardt zunächst vorsichtig die historischen und zeitlich-biographischen Züge des Gedichts. Zwar bleibt die anfängliche Anspielung auf Tennyson erhalten, die weiteren Bezüge werden aber in Konkretisierung wie Verallgemeinerung so gestaltet, daß das T h e m a des Sicheinlassens des Dichters mit der Macht von der Situation des englischen 19. Jahrhunderts abgelöst wird. Am auffälligsten, wenn die Königin durch die "großen Herrn" ersetzt wird. Im Aufsatz hatte Borchardt ja in der Identifikation mit einer als moderne Sappho stilisierten Edna Millay die beschränkte und geblendete Männlichkeit als Urheber der geschichtlichen Fehlentwicklung bestimmt. Die erweiterte geschichtliche Dimension und zugleich die eigene Sicht bringt Borchardt einschneidend zum Ausdruck, wenn er Thalia, die im Original als Muse des jugendlichen frechen Muts erscheint, durch Klio, durch die Geschichte, ersetzt. Edna Millay war fast 3 0 , als sie das Gedicht schrieb, Borchardt doppelt so alt, als er es übersetzte. Die komparative Wendung, die Borchardt dem romantischen T h e m a des jung sterbenden Künstlers gibt, ist vor dieser Rechnung deutlich: "welch teur Bedingen / Rarer macht, daß Greisere singen". Der hier Sprechende nähert sich nicht nur dem Greisenalter und sorgt sich um seine kreative Potenz, er ist überdies von gravierenderen Umständen bedroht als das Subjekt des Originals. Nicht allgemein von der die schöpferische Freiheit einschränkenden trüben, aber warmen Tide des Konformismus ist die Rede, sondern von einer kalten, bedrohlich nahe gerückten "braunen Flut", deren Assoziation mit realen Vorgängen im Jahre 1 9 3 5 nicht schwergefallen wäre. Das Gedicht Spring aus dem gleichen Band beschreibt in der Tradition Swinburnes die Situation der Dichterin und des Dichterischen in Bildern der Entfremdung und der Disparität von der Zeitlichkeit des Natürlichen. Borchardt folgt dem Wortlaut wie dem Duktus des ersten Textes sehr eng [April, S. 312); um so signifikanter erscheinen die Sinnmodifikationen, die Borchardt vornimmt. Am auffälligsten ist natürlich, daß Borchardt den Vers "I know what I know" wegläßt. Es scheint, daß ihm in seiner Situation von 1 9 3 5 ein solch apodiktischer Ausdruck der reflektierten Selbstgewißheit nicht über die Lippen wollte. Schon bei Edna Millay erscheint trotz der Form der doppelten Assertion in "It is apparent that there is no death" die Sichtbarkeit des neuerstehenden Lebens als trügerisch, mehr als darum geht es aber als Erklärung des Auseinander von Naturerscheinung und innerer Verfassung um die Zerstörung des Geistes. Um eine Nuance deutlicher wird bei Borchardt, daß es jenseits des Augenscheins den T o d durchaus gibt. Und überdies, nämlich zusätzlich, das erreicht Borchardt durch die Wiedergabe von "not

only

under ground" durch "Nicht unterirdisch allein", gibt es jene Geisteszerstörung, die in der Ubersetzung umfassender das Wesen des Menschen betrifft.

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Schon in Spring bzw. April war die Situation des Subjekts als winterlich bestimmt gewesen, in Alms gestaltet Edna Millay wie in sehr vielen Gedichten die Jahreszeitenmetaphorik als Ausdruck der Disparatheit der Liebe. Der Stetigkeit des eigenen Herzens wird vorwurfsvoll und resignierend die einsetzende Erkaltung der Gefühle des Geliebten konfrontiert, vor der sich das lyrische Ich in eine Tätigkeit und Situation zurückzieht, die in der Metaphorik des Uberwinterns beschrieben wird. Obwohl Borchardt auch hier (S. 314f.) eine weitgehende Analogie der Sinn- wie der Formstrukturen realisiert, überschreitet er die Ausdrucksintention des Gedichts erheblich zu einer viel grundsätzlicheren lyrischen Beschreibung der Isolation des Dichters und des Dichterischen, aus der die Liebesproblematik weitgehend (aber nicht ganz) ausgeklammert wird. "Doch steht es winterlich um uns" statt "But it is winter with your love" - das bezeichnet in der Ubersetzung umfassend den Stand der Dinge, wie ihn Borchardt 1935 wahrnahm, als ihm die Gartenarbeit als "Zuflucht aus der unerträglichen Welt" erschien, wie er an Bodmer schrieb. In pessimistischer Fortsetzung jener Analogie, die Hofmannsthal und Borchardt schon in ihren frühesten Beiträgen zwischen Dichtung und Gärtnerei begründet hatten, läßt sich die Unverlorenheit des Herzens, die Gesinnung, die sich dem Wandel versagt, wie es in Volterra heißt, nun nur noch in selbstgenügsamer winterlicher Pflege des Vorhandenen erfahren. Alle Kommunikation ist zwangsläufig ins Innere verlegt, an eine Wirkung nach außen ist nicht zu denken. Das Gedicht ist Selbst- und Geistergespräch. Trotz ihrer angeblichen Selbstherrlichkeit und ihres Individualismus hat Edna St. Vincent Millay die europäischen Vorgänge in den 30er Jahren schon früh als welthistorisch bedeutsame Bedrohung der Humanität aufgefaßt. Ihre erste umfassende Reaktion darauf war der 1934 erschienene Sonettzyklus Epitaph for the race of man, der in Uberbietung Swinburnescher Bildlichkeit den Untergang der Menschheit darstellt. In der Folge verfaßte sie zunehmend explizit antifaschistische Kampfgedichte, die in dem 1942 erschienen The Murder of Lidice gipfeln. Der Sonettzyklus nimmt jedoch noch nicht auf konkrete politische Vorgänge Bezug, sondern ist in einer Art poetischer Anthropologie, die als eigentliche menschliche Fähigkeiten die Werte des Gefühls und der Imagination geltend macht, eine Kritik menschlicher, d. h. männlicher Habsucht, die das Menschengeschlecht zu kriegerischer Selbstzerstörung führt. Borchardt übernimmt in seiner Ubersetzung des Titels, 14 den er dem letzten Gedicht des Zyklus gibt, nicht die Gattungsbezeichnung, sondern setzt "Wesen Mensch" (S. 458) als Substanz dessen, was die Poesie als "Biographie des großen Menschenwesens", wie es im Aufsatz 14

F ü r das Sonett liegt keine gesonderte H a n d s c h r i f t vor, es entstammt d e m Millay-Aufsatz, in d e m es die einzige vollständige U b e r s e t z u n g ist; Prosa III, S. 462f.

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über Edna Millay heißt, enthält. Entsprechend nimmt der Übersetzer die Bildlichkeit aus dem Wortfeld des Kriegers und des Krieges stark zurück bzw. hebt sie auf und deutet sie zu Bildern der Kunstfertigkeit des "Wesens Mensch" um. Während die Begrifflichkeit des Kriegsgeschreis ("clamour") und der Rüstung ("the riveted pride he wore") bei Edna Millay die Deutung nahelegt, daß es sich bei dem als letztes an den Menschen erinnernden rostigen Rückstand um einen leeren Harnisch handelt, erscheint das "Säulenstück" bei Borchardt als ein ruinöses Überbleibsel menschlicher Kunst, deren zu Größe und Ewigkeit bestimmte Substanz verrottet ist. Auch die Übersetzung von "doughty man" mit "bündiger Mensch", also: Mensch in der Bindung, statt tapferer Mensch und Mann, sowie von "heaven in arms" mit "Himmel in Zorn" zeigt, daß Borchardt die vordergründige Kriegsmetaphorik vermeidet. Dies entspricht seinem im Aufsatz dargelegten Deutungswillen, in den Gedichten Edna Millays nicht einen "tendenziösen Pazifismus" zu sehen, sondern die Leugnung einer Welt, die durch männliche Verblendung in den Untergang getrieben wird. Im übrigen war Borchardt auch und gerade 1935 nicht bereit, der kriegerischen Sprache abzuschwören, wie sie wesentlich zu seiner Identifikation mit einem romantisch-adeligen Paradigma gehörte. Im Widmungsgedicht an den Heros Swinburne hieß es z.B.: "Denn ich schwur mich, Fremder, an dein Fremdes, Seit ich [...] Spiel in Bann tat,- Seit ich Waffen antat." 15 In der äußersten Isolierung mußte sich Borchardt offenbar um so mehr als wehrhaft imaginieren. Noch einmal schließlich, im vorletzten Vers, wird bei Edna Millay der Schuldzusammenhang in Kriegsbegriffen konkretisiert: "broadside" (Artillerie), "heavy blade" (Infanterie), wohingegen bei Borchardt die Begriffe des Verbrechens, des Einbruchs der Gesetzlosigkeit, stehen; nicht vom Töten ist die Rede, sondern von Mord. Bei Edna Millay wird die Schuld am Untergang der Menschheit in den seit Kain und Abel angelegten männlich-menschlichen Eigenschaften des Neids, der Gier und der kriegerischen Ehrsucht begründet, während in Borchardts Version die Schuldigen mit dem "Wesen Mensch" nicht ohne weiteres identisch sind. Sie wären durchaus benennbar, erübrigte sich nicht für das isolierte wissende Subjekt vorerst das Wort. "Der Mörder wird / Erst nennbar wieder durch das Beil", heißt es in Nomina Odiosa (Gedichte II, S. 53). Für jene Mörder verbietet sich die Begrifflichkeit des Krieges oder Bürgerkrieges wie des Aufstands, sogar der Tyrannei und jegliche durch Tradition geadelte Wortwahl, es sind jene "Steißgesichter" der Nazis, die sich "wie die Hintern gleichen, nicht wie Antlitze", die dem Menschen gebühren (S. 54). Es ist die verbrecherisch herbeigeführte Katastrophe

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Swinburne (Anm.5), S. 7.

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der menschlichen Kultur, von der die Übersetzung redet, eine Katastrophe, die jedoch in der Isolierungssituation, in der sich das lyrische Subjekt der Übersetzung entziffert, nirgendwo mehr einklagbar ist als vor dem ans Land getriebenen Meer, vor einer Natur, die das fiktive Subjekt, das hier als Letztübriggebliebener in leerer, versteinerter Welt spricht, nur noch mit sich selbst konfrontieren kann. So zeigt sich zum Schluß deutlich, daß Borchardts Identifikation mit der feministisch-individualistischen Zeitgenossin ihre bestimmten Grenzen hat. Daher kann die Betrachtung ihres Verhältnisses jenen von Adorno benannten Widerspruch zwischen der Identifikation mit dem Unterdrückten und Zertretenen und den herrschaftlichen und kriegerischen Kategorien, 1 6 in denen Borchardt bis zuletzt dachte, nur differenzieren, aber nicht auflösen.

16 Vgl. Theodor W. Adorno: Die beschworene Sprache, in: ders.: Noten zur Literatur, Frankfurt am Main 1981, S. 536-556.

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Rudolf Borchardt und die universitäre Altphilologie (Friedrich Leo) Der etwas verschachtelte Titel der folgenden Ausführungen resultiert aus Rudolf Borchardts Verquickung von historisch-theoretischen Konstruktionen zur Wissenschaftsgeschichte mit der Person Friedrich Leos, der in Borchardts Lebenskrisis der Jahre 1898-1902 Lehrer und Mahner von bleibendem Maß wurde. Noch im Jahr 1925 nimmt Borchardt Leos Rede auf Karl Lachmann in die Deutschen Denkreden auf und widmet seinem akademischen Lehrer die teleologische Kurzcharakteristik, "als Philologe letzte Blüte und Frucht der letzten philologischen Schule Deutschlands" gewesen zu sein; 1 1929 berichtet der Dichter über sich selbst: "Leos Forscherpersönlichkeit und vom Leben in der Poesie verklärte geistige Anmut ist für Jahrzehnte ein Leitstern meiner Arbeit geblieben",2 um im rückblickenden Essay von 1944 Leos Lob ins äußerste zu spannen: "ein großer Gelehrter, ein herrlicher und mächtiger Mann, ein, soweit Menschenurteil Vollkommenes begreift, vollkommener Mensch". 3 Der engen persönlichen Beziehung und Erfahrung, die in diesem Urteil sich ausspricht und die durch einen singulären Brief Leos aus dem Jahr 1902 belegt wird,4 gilt es zuerst nachzugehen, ehe in einem zweiten Teil versucht werden soll, Borchardts Philologie-Begriff im Blick auf den Leo gewidmeten Essay von 1944 näher zu bestimmen. Wer war der, von dem Borchardt 1925 sagen konnte, daß er "den Beweis in Untersuchung Forschung Deutung zu einem der klassischen Anmut seines Wesens angeglichenen und der Poesie verwandten Kunstwerke [erhob], mit dessen Aufstellung die Philologie in Deutschland zu ihrem Ausgange, der Dichtung, zurückkehrte und ihren Zyklus schloss"? Wer war der, der auch

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Deutsche Denkreden. Besorgt von Rudolf Borchardt, München 1925; die Rede: S. 371394, die Kurzbiographie: S. 464. - Die Rede zur Säkularfeier Karl Lachmanns vom 4. 3. 1893 findet sich auch in: Friedrich Leo: Ausgewählte kleine Schriften, hrsg. von Eduard Fraenkel, Rom i960, Bd. 2, S. 415-431. Prosa VI, S. 199. Prosa VI, S. 261 -293, das Zitat S. 261. Briefe 1895-1906, Nr. 58, S. 193-201.

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nach dem Zeugnis von Wilamowitz, Borchardts lebenslangem philologischem Gegenbild, 5 "sein Leben zu einem Kunstwerk gestaltet" hatte? Die äußere Vita Friedrich Leos ist eine dürr-glänzende Philologenkarriere. 6 Leo wurde 1 8 5 1 in Regenwalde/Pommern als Sohn eines Arztes geboren, der 1 8 4 3 vom jüdischen zum protestantischen Glauben konvertiert war. Der Vater übersiedelte bald nach Bonn, wo Fritz Leo als Sohn eines angesehenen Sanitätsrates und von vielen Universitätsprofessoren konsultierten Mediziners aufwuchs. Mit 14 Jahren - so Borchardt 7 - zur Klassischen Philologie entschlossen, studiert er dieses Fach 1 8 6 8 - 1 8 7 1 in Göttingen; 1870/71 wird das Studium durch ein halbes Jahr freiwilligen Kriegsdienstes

unterbrochen.

1871-1873 kehrt er nach Bonn zurück und studiert bei Usener und Bücheler, den berühmtesten Philologen seiner Zeit. 1 8 7 3 wird Leo mit einer Arbeit über Aristophanes promoviert und geht dann für ein Jahr nach Italien, wo er in Rom die lebensbestimmende Freundschaft von Wilamowitz gewinnt. 1 8 7 4 legt Leo das Staatsexamen ab und beginnt das Referendariat in Berlin, daneben wird er, vermittelt durch Wilamowitz, von Mommsen mit der Edition des Venantius Fortunatus betraut. 8 Nach einer längeren Griechenlandreise habilitiert sich Leo in Bonn 1 8 7 7 über Senecas Tragödien, die er auch 1878/79 ediert. 1 8 8 1 wird er Extraordinarius in Kiel, 1 8 8 2 heiratet er Cécile Hensel ( 1 8 5 9 - 1 9 2 8 ) ; im Laufe der Jahre werden dem Paar eine Tochter und zwei Söhne geboren. 1 8 8 3 wird Leo Ordinarius in Rostock, 1 8 8 8 in Straßburg; 1889 wird er auf Initiative von Wilamowitz 9 nach Göttingen berufen, wo er für immer bleibt.

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Ulrich v. Wilamowitz-Moellendorff: Erinnerungen, 2. Auflage Berlin 1929 (1. Auflage 1928), S. 242. - Zum gesuchten Gegensatz Borchardts zu Wilamowitz vergleiche man Arnolds Polemik im Gespräch über Formen (Prosa I, S. 332): "Was hat der Lysis mit der Orestie zu schaffen? Was ich mit Wilamowitz?" Die im folgenden gegebenen Daten beruhen auf folgenden Quellen: Paul Wendland: Rede auf Friedrich Leo, in: Geschäftliche Mitteilungen der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen 1914, H. 1, S. 3-24; Max Pohlenz: Friedrich Leo, in: Neue Jahrbücher für das Klassische Altertum, Geschichte und Deutsche Literatur 17, 1914, S. 297-316; Eduard Fraenkel: Einleitung zu Friedrich Leos Kleinen Schriften (Anm. 1), Bd. I, S. xiii-xliii; Ulrich Schindel: Friedrich Leo, in: Neue Deutsche Biographie 14, 1985, S. 241 f.; Wolfram Ax: Friedrich Leo, Professor der Klassischen Philologie 1889-1914, in: Carl Joachim Classen (Hg.), Die Klassische Altertumswissenschaft an der Georg-AugustUniversität Göttingen, Göttingen 1989, ( = Gött. Universitätsschriften 14), S. 149-177. Prosa IV, S. 276. Der Text erschien 1881 bei den Monumento Germaniae Histórica, Auetores Antiquissimi, IV,1 und ist bis heute unersetzt. - Für die Bibliographie der Schriften Leos sei verwiesen auf Fraenkels Verzeichnis in Leos Kleinen Schriften (Anm. 1), Bd. I, S. xlv-lvii und auf Ax (Anm. 6), S. 157f. und S. 176f. Mommsen und Wilamowitz, Briefwechsel 1872-1903, hrsg. von Fr. u. D. Hiller von Gaertringen, Berlin 1935, S. 371f.

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Leo schuf in seinem Leben zwei Ausgaben des Plautus (1885; 1895/96) und publizierte auch Plautitiische Forschungen (1895). Eine Formgeschichte der griechisch-römischen Biographie (1901) und eine Arbeit zum Monolog im Drama (1908) zeigen seinen literarischen und formal geschulten Blick. Ab 1893 wird Leo bis an sein Lebensende führend in die Errichtung des Wörterbuch-Projektes Thesaurus Linguae Latinae eingebunden. Wilamowitz schreibt dazu 1893 an Mommsen: "Die Hauptarbeit muß dann Leo tun", um süffisant hinzuzufügen: "Leo ist einen Kopf größer geworden, seit er die Ehre der Arbeit hat". 10 1913 erscheint der erste, bis zum Beginn des 1. Jahrhunderts v. Chr. reichende Band einer römischen Literaturgeschichte. Als Leo am 15. 1. 1914 überraschend einem Gehirnschlag erliegt, gilt er den NachrufVerfassern als der erste Latinist seiner Zeit. Zwar fehlt Leo aus unerfindlichen Gründen in einer neueren biographischen Enzyklopädie 11 , doch noch heute gilt er allgemein als derjenige Latinist, der die Forderungen Wilamowitzscher Gräzistik als erster und am reinsten erfüllt habe. Von der Uberlieferungsgeschichte bis zur poetischen Nuance eines Textes im Gesamtzusammenhang von dessen Epoche hat ein Latinist, wie Leo es war, alles zu beherrschen. Erworben wurde dieses Wissen und Können durch extreme Selbstforderung. Sein Schüler Eduard Fraenkel scheut sich nicht, zur Charakterisierung Leos folgende Wanderanekdote zu erzählen: Der Professor habe einem jungen Mann den Rat erteilt: "Der Tag hat 24 Stunden, und wenn er nicht reicht, nehmen Sie die Nacht dazu". 12 Arbeit, wissenschaftliche Arbeit war sein Credo. Wir müssen uns Leo als einen glücklichen Menschen vorstellen. Man muß das Stakkato dieser Vita in den Blick nehmen, weil es genau jene Laufbahn war, für die sich Rudolf Borchardt mit 18 Jahren entschieden hatte: Zügiges Studium, Promotion mit 22-23 Jahren, Italienaufenthalt, Habilitation mit 26-28 Jahren; dann die Stufenleiter der Universitäten bzw. Schuldienst mit wissenschaftlicher Weiterqualifikation. Wer sich 1895 für die Klassische Philologie entschied, trat normalerweise in einen fest organisierten Orden ein, dessen Basis um 1890 - trotz Borchardts Klagen über das zerrüttete Schulsystem seiner Zeit - etwa 103 000 Schüler an Preußens humanistischen Gymnasien waren und dessen Spitze im hohen Staatsdienst auslief. 13

10 Ebd., S. 480. 11 W. W. Briggs, W. M. Calder III (Hg.), Classical Scholarship. A Biographical Encyclopedia, New York, London 1990. 12 Einleitung zu Leos Kleinen Schriften (Anm. 1), S. xlii. 13 Uta Preuße: Humanismus und Gesellschaft. Zur Geschichte des altsprachlichen Unterrichts in Deutschland von 1890-1933, Frankfurt am Main u.a. 1988, S. 20.

Rudolf Borchardt und die universitäre Altphilologie (Friedrich Leo)

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Im Reifeprüfungsgesuch an seinen Gymnasialdirektor steht der Wunsch schon fest, Philologe zu werden, 1 4 doch 1895 nimmt Borchardt in Berlin neben der Philologie (bei Diels, Vahlen und Kirchhoff) auch das Studium der Orientalistik 1 5 und der Theologie auf. Er wechselt dann im Sommersemester 1896 zur Philologie nach Bonn, w o er noch Bücheler und Usener, dazu Koerte und den Archäologen Loeschcke hört. Im Sommersemester 1898 stand er kurz vor Publikation seines ersten wissenschaftlichen Aufsatzes 16 und plante ein Jahr nach Göttingen zu gehen, u m etwa 1899 in Bonn zu promovieren. Dann wollte er zwei Jahre in den Süden gehen, sich anschließend habilitieren und ab Winter 1903 als Privatdozent leben. 1 7 Der Plan scheint zu klappen. Z u m Wintersemester 1898/99 wechselt Borchardt mit begonnener, ambitionierter Dissertation nach Göttingen, w o neben Leo, dem Latinisten, Georg Kaibel seit 1897 als Nachfolger von Wilamowitz Griechisch lehrt. Nach anfänglicher Verhaltenheit findet er rasch Aufnahme ins - wie es 1907 rückschauend heißen wird 1 8 - "distinguirteste und besonderste" Haus Göttingens, ins Haus Leo. Die Tatsache, daß die Frau des Bruders von Rudolf Borchardts Großvater 1 9 eine geborene Leo war, scheint dabei kaum eine Rolle gespielt zu haben. Vertrauliche, unangemeldete Gespräche mit dem Lehrer sind keine Seltenheit; für Leos Kinder gibt Borchardt eigene Jausen. 2 0 Eine schwer durchschaubare, andeutend und heftig geführte Liebesbeziehung zur (noch sehr jungen) Tochter von Leos Kollegen Kaibel entspinnt sich. 21 Borchardt korrespondiert freundschaftlich mit dem eben berufenen Bonner Lehrer Alfred Körte, doch mit der Dissertation gerät Borchardt allmählich in Verzug: Bonner Jahrgangskollegen promovieren bereits. 2 2 Doch bis ins Jahr 1900 war Borchardt in die Seminarwelt zwischen Göttingen und Bonn fest integriert, ja fast schon familiär eingebunden, u n d es stand ihm die philologische Norm-Karriere offen. Die Briefe an den Freund Heinrich Goesch geben - gerade auch im etwas blasierten Tonfall - Einblick ins Leben eines Philologen, eines, der einer sein will 23 - auch wenn auf sei-

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15 16 17 18 19 20 21 22 23

Briefe 1895-1906, N r . 1, S. 5. - Abweichend davon erwähnt Borchardt im Brief an Martin Buber v o m 29. 12. 1930 (Rudolf Borchardt - Martin Buber, hrsg. von Gerhard Schuster u. Karl N e u w i r t h , M ü n c h e n 1991, S. 65; Brief N r . 655 der Briefausgabe), daß er eine Zeitlang Pfarrer werden wollte. Ebd. an Buber; mit A n m . 162-164 der Herausgeber. Briefe 1895-1906, N r . 7, S. 20, an Philipp Borchardt. Ebd., N r . 6, S. 18, an Helene Borchardt. Briefe 1907-1913, N r . 126, S. 56, an Vera Rosenberg, die eben verheiratete Schwester. Prosa VI, S. 86. Briefe 1895-1906, N r . 27, S. 74ff., an Heinrich Gösch. Quellen: ebd., N r . 30, S. 90f.; N r . 49, S. 147f. und in Leos Brief (Anm. 4), S. 193-195. Ebd., N r . 20, S. 52; an Alfred Körte, 16. 1. 1899. Die Deckfigur A r n o l d im Gespräch über Formen sagt v o n sich (Prosa I, S. 337): "ich bin

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nem orientalischen Teetisch 24 seit 1 8 9 8 2 5 Hofmannsthal und George ausliegen. Im Frühjahr 1 8 9 9 bricht Borchardt ein erstes, im Frühjahr 1 9 0 0 ein zweites Mal aus; nach dem Duell im Oktober 1 9 0 0 , das er mit dem nunmehrigen Ehemann von Agnes Kaibel, einem Herrn Lass, ausgetragen hat, 2 6 arbeitet Borchardt "wie eine Maschine den ganzen Tag" 2 7 - bis zum gesundheitlichen Zusammenbruch im Januar 1901. Am 11. April 1 9 0 1 tritt Margarete Ruer in Borchardts Leben. 28 Borchardt kehrt für kurze Zeit im frühen Frühjahr 1 9 0 2 in die Philologie zurück, was - vielleicht - bis zu Druckfahnen der Dissertation führt. 2 9 Doch dann bricht Borchardt zu Hofmannsthal auf und der Dichter Borchardt schleppt noch lange die Komödie um den versäumten Doktortitel mit sich. Schon nach diesen beiden Lebensabrissen Leos und Borchardts ist klar, daß nicht Unverständnis der universitären Klassischen Philologie Borchardt die Promotion verwehrt hat - kaum ein Student um 1 9 0 0 dürfte ein Verhältnis zu seinem Professor gehabt haben wie Borchardt zu Leo. 3 0 Die existentielle Heftigkeit und Rücksichtslosigkeit des Dichters und die empfundene Dürftigkeit der Philologie trieben und führten Borchardt dazu, die Dissertation liegenzulassen. Philolog und ein stolzer dazu", 1912 betont Borchardt Hofmannsthal gegenüber seine fachliche Kompetenz noch in der Philologenkritik (Borchardt/Hofmannsthal, S. 119), und 1 9 4 4 (Prosa V I , S. 2 6 2 ) wird es über das Verhältnis zu Leo heißen: "ich bin sein Schüler gewesen und weiß es anzugeben". E b e n s o affirmativ äußert sich Borchardt in einem Briefkonzept an den Philologen Gilbert Murray (Briefe 1 9 3 1 - 1 9 3 5 , Nr.

776,

S. 276; 7. 10. 1933): "as an Hellenist and indeed a philologist - f o r that I was in the winding sheets o f my literary career and that I shall never quite cease to be". 24

Briefe 1 8 9 5 - 1 9 0 6 , N r . 29, S. 82, an Heinrich G o e s c h .

25

Briefe 1 8 9 5 - 1 9 0 6 , N r . 46, S. 134, an Karl Wolfskehl, v. 31. 3. 1901.

26

Briefe 1 8 9 5 - 1 9 0 6 , N r . 49, S. 147.

27

Briefe 1 8 9 5 - 1 9 0 6 , Nr. 42, S. 128, an Vera Borchardt.

28

N a c h w o r t zu: Rudolf Borchardt. Vivian. Briefe, Gedichte, Schriften, hrsg. von Friedhelm

29

In Aussicht gestellt werden Druckfahnen bereits im März 1901 (Briefe 1 8 9 5 - 1 9 0 6 , Nr.

Kemp u. Gerhard Schuster, Marbach 1985, S. 153ff. 4 6 , S. 135, an Karl Wolfskehl). Leo bezieht sich in seinem Brief (ebd., N r . 58, S. 200) mit einer Bedingungsperiode darauf: "Wenn Ihre Druckbogen mit den Resultaten Ihrer ausgezeichneten Forschung und Ihres schneidend festen Urteils nicht zu mir kämen und mich einer Gemeinschaft wenigstens in den Dingen unserer TEXVT| versicherten, so ständen Sie für mich nach jahrelanger Kenntnis Ihres Geistes und Ihres Charakters in einem trüben N e b e l . " O b der verneinte Irrealis der Gegenwart "wenn ... nicht kämen" eine künftige Möglichkeit vorwegnimmt oder etwas tatsächlich Vorliegendes durch eine negierte H y p o t h e s e betont, ist schwer auszumachen. Leos Beurteilung des Inhalts der Arbeit und die zustimmende Färbung des Verbs "versicherten" scheinen mir für ein reales Vorliegen v o n Fahnen zu sprechen. 30

Ebd., S. 195: "Eine Stellung wie Sie hat nie ein Student in meinem Hause allerdings."

gehabt,

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Daß von der Dissertation nichts erhalten blieb, ist schmerzlich, es dürfte sie aber doch gegeben haben. Hieß es noch am 18. 11. 1901 an Otto Deneke, 3 1 daß seine Papiere (=Dissertation) in "attristierendem Zustande von Unordnung" seien, so weist Leo im Mai im Anhang des Briefes auf eine zu tätigende Emendation auf "pg. 192 alin 12" hin, was man mangels anderer Bezugspunkte nur auf die vorher erwähnten "Druckfahnen" beziehen möchte, denn so präzise zitiert man nur etwas, was tatsächlich vorliegt und wovon man annimmt, daß der Empfänger auch ein Exemplar zur Verfügung hat. Leider ist aber - worauf mich mein Freund Stefan Monhardt eindringlich hinweist - gerade das Postscriptum in der Handschrift schwer leserlich, so daß eine definitive Zuordnung zur Dissertation und eine Bestimmung von deren Umfang derzeit nicht möglich ist. 32 Unter diesem Vorbehalt kann man davon ausgehen, daß es eine, wenn nicht allein dem materiellen Umfang, so doch auch schon dem Thema nach die damals geltenden Usancen sprengende Dissertation von Borchardt gegeben hat über ..., ja worüber? Im Februar 1899 galt die Arbeit den Gattungen Epithalamion und Paraklausithyron, 33 am 31. 3. 1901 hieß sie "Forschungen und Versuche zur Geschichte der griechischen Lyrik", 34 "Quaestiones Sapphicae" im November 1901 (an Deneke). Geblieben ist Philologie als Lebensform. Noch in einem Text von 1942 3 5 legt Borchardt die Wanderanekdote über Leo abwandelnd Mommsen in den Mund: Borchardts archäologischer Lehrer Loeschcke, als junger Mann unter Mommsen arbeitend, soll den Tag und die Nacht bei Ausgrabungen daran geben. Mommsen will: "Keine Leute, die in den gewissen Jahren, in denen sich die Karätigkeit entscheidet, ihrer Gesundheit leben wollen." "Sie sind ein Mörder", wirft Donna Ersilia ein - bis Mommsen die Nacht als sympotisch durchwachte aufhellt. Diesen physisch-psychischen Arbeitsüberdruck der philologischen Ideologie 3 6 hat Borchardt sein Leben lang nicht abgelegt - mit allen produktiven, mit allen zerstörerischen Konsequenzen. Leo gelang es als einem der wenigen, dieser extremen Arbeitsstrenge auch ein Leben in bürgerlicher Anmut abzugewinnen: Sommerfeste, betreut von drei Hausangestellten, öffneten das Haus weiteren Kreisen. 3 7 Gastlichkeit und 31 32 33 34 35 36 37

Ebd., Nr. 53, S. 164. Verschärft wird die Problematik dadurch, daß die von Leo angesprochene griechische Text-Stelle bislang nicht identifiziert werden konnte. Ebd., Nr. 21, S. 55f., an Philipp Borchardt, Anf. Feb. 1899; N r . 22, S. 57ff., an Alfred Körte, 22. 2. 1899; darin erwähnt: Theokrit 18, Properz 1,16 u. 2,15. Ebd., Nr. 46, S. 135, an Karl Wolfskehl. Theodor M o m m s e n und Donna Ersilia Gaetani Lovatelli, in: Prosa VI, S. 532-541, das Zitat: S. 533f. Man vergl. Borchardts Charakteristik seines Lehres Franz Bücheler (Prosa VI, S. 49): "Da er immer zu viel forderte, pflegte er fast alles, was er hätte fordern dürfen, zu erreichen." Ax (Anm. 6), S. 152.

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Fürsorge für erkrankte Studenten oblag nicht nur Leos Frau, sondern er nahm sich selbst Zeit für persönliche Besuche. 38 Mit Borchardt verband Leo jedoch auch ein ganz anderes Band. Der Student brachte die moderne Dichtung ins Haus des Professors: Hofmannsthal, George. Goethe hatte nie in Leos Leben gefehlt. 39 Borchardt hatte gleich zu Anfang seiner Göttinger Zeit Leo als "beinahe ein Dichter" beschrieben, 40 und die Briefe an Heinrich Goesch zeichnen uns Tee- und Leseabende erfüllt von Literatur. Von Leos literarischen Fähigkeiten können wir uns aber nur ein beschränktes Bild machen. Seine wissenschaftlichen Werke ruhen in klarster Prosa, sind allen Gegenständen gewachsen. Am umfassendsten ist dies in der römischen Literaturgeschichte nachvollziehbar, aber auch in einem Aufsatz zu Vergils erster und neunter Ekloge: Die textkritische Schärfe der Fußnoten zerstört die bukolische Atmosphäre des Textes nicht. 41 Die beigegebenen metrischen Übersetzungen in Leos Literaturgeschichte 42 bestechen durch Unauffälligkeit. In einem Nachruf sind uns zwei Gedichte Leos überliefert, 43 die allerdings zumindest nach meinem Urteil - nicht über akademische Produktion hinausgehen. So beginnt das Sonett Zeit und Moment aus dem Jahr 1906: "Der Sturm des Herbstes braust um unsre Hütten". Auch eine Erwähnung bei Wilamowitz 44 verheißt nichts Allzugutes für das Verlorene: "Das Weihnachtsfest [sc. 1874] verlief nicht minder glänzend als das vorige; Leos Gedichte schoßen den Vogel ab". Der private Nachlaß Leos ist in den Wirren des 20. Jahrhunderts verlorengegangen. Die Familie verarmte, Frau Cécile Leo starb 1928; die Söhne, darunter der Romanist Ulrich Leo, mußten emigrieren. Von Leos Persönlichkeit und sprachlicher Größe, durch die ja nach Borchardt in Leo die Philologie in ihren Ursprung, die Dichtung, zurückkehrte, gibt es also neben den Berichten über Gespräche im Salon Leo nur zwei direkte Zeugnisse: Leos Kriegserinnerungen, die er um 1906 für seine Kinder verfaßte, und den Brief Leos an Borchardt. In den Kriegserinnerungen lernen wir in Leo einen anderen Zug des deutschen Philologen kennen. 45 Er war wie viele der preußischen Philologen über-

38 39 40 41 42 43 44 45

Borchardt berichtet selbst davon: Briefe 1895-1906, N r . 22, S. 59; an Alfred Körte. Ebd., N r . 26, S. 69. - Borchardt überliefert z u d e m im Eranos-Brief (Prosa I, S. 104), daß 1869 der 18jährige Leo G o e t h e wie einen selten gelesenen A u t o r gelesen habe. Briefe 1895-1906, N r . 20, S. 52; an Alfred Körte. Friedrich Leo: Kleine Schriften (Anm. 1), Bd. 2, S. 12-28 ( = H e r m e s 38, 1903, S. 1-18). Friedrich Leo: Geschichte der römischen Literatur I, Berlin 1913, S. 447-491. Wendland (Anm. 6), S. 22. Wilamowitz: Erinnerungen (Anm. 6), S. 166. Friedrich Leo: Kriegserinnerungen an 1870-71. Manuskript von 1906. Veröffentlicht u n d mit einem Einleitungswort von Ulrich v. Wilamowitz-Moellendorff, Berlin 1914.

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zeugter Anhänger Bismarcks, mit Wilamowitz zu sprechen: "er war ein Deutscher, ein Preuße bis in die innerste Fiber seines Wesens". Leos wahre Haltung ersieht man aus der schlichten, wohl durch die Kinder als Adressaten bedingten Erzählweise, in der die nationale Euphorie, mit der der Burschenschafter als Infanterist (nicht als Bonner Kavallerist, wie es seine Eltern wünschten) aufbricht, und die ruhige Distanz des Wissenden einander die Waage halten. "Die Fackel dieses Krieges war uns der Aufgang einer neuen Sonne am Himmel unserer Geschichte, mit unbeschreiblichem Glücksgefühl empfanden wir den M o m e n t einer historischen Vollendung, es war ein Sturm, derselbe, der den deutschen Süden und N o r d e n zusammenführte und jedem von uns das Herz in die H ö h e riß." Eine Seite später heißt es: "Wohl dem der sein inneres Flämmchen hegte und nicht verglimmen ließ". Im Gedächtnis bleibt das Pflichtbewußtsein des Soldaten, der mit durchschossener H a n d das Gewehr nicht losläßt, bleibt der Soldat Leo, der nur ein einziges H e m d entwendet und sonst alle Aufwendungen bezahlt, als wäre es eine Reise. Man hat das 1914 nationalistisch gewendet, aber es finden sich auch befreiende W o r t e : "Niemand liebt und wünscht den Krieg; selbst die deren H a n d w e r k er ist, wagen kaum, ihn zu wünschen". Deutlicher noch: "Wir hatten genug vom Krieg". Dennoch blieb Leo Reserveoffizier, 4 6 und dieses mythisch-kriegerische Element gab der feinsinnig-großbürgerlichen Existenz jene Autorität der Lebenserfahrung, die dann Borchardt in seiner späteren Lebensskizze Leos so sehr bewundert. Leo habe im Krieg "das Gesetz seines Lebens und den Maßstab seines Urteils", seine "heroische Harmonie" empfangen. 4 7 Der Kontrast zu Borchardts erbärmlicher Weltkriegserfahrung, wie wir sie seinen Feldbriefen entnehmen, könnte nicht größer sein. Leos Sprachmacht offenbart sich aber glücklicherweise nicht nur in diesem unwirklich fernen Erzähltext vom reinen Krieg, sondern gerade in jenem Brief, der Borchardts Lebenswende umfaßt. Geschrieben wurde er im Mai 1902, abgesandt nach Rodaun zu Hofmannsthal, wohin sich Borchardt im Februar zurückgezogen hatte; doch war er bereits abgereist. H o f m a n n s t h a l bewahrte diesen Brief 16 Jahre ungeöffnet, berichtete aber 1918 an Borchardt, daß er ihn gelesen habe. 48 O b Borchardt je seinen Inhalt - erzählungsweise erfahren hat, wissen wir, weiß ich nicht; der Brief soll sich jedenfalls in H o f mannsthals Nachlaß erhalten haben. Dieser Brief allein verdiente alles hohe Lob, das Borchardt für Leo findet, so schlüssig ist er gearbeitet, so persönlich 46 Zumindest für 1875 sind durch einen Brief von Wilamowitz Waffenübungen bezeugt; Brief an Mommsen vom 15. 5. 1875; S. 22 im Briefwechsel Wilamowitz-Mommsen (Anm. 9 ) . - Z u r Bedeutung, die der Stand des Reserveoffiziers vor 1914 im Schuldienst hatte, s. Karl Reinhardt: Akademisches aus zwei Epochen, in: ders.: Die Krise des Helden, München 1962, S. 150f. 47 Prosa VI, S. 280. 48 Borchardt/Hofmannsthal, Nr. 88, S. 209f., 5. 5. 1918.

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ist die drängende Dichte der Sprache, die derjenigen Borchardts nicht nachsteht, ja an menschlicher Teilnahme die Rhetorik Borchardts tief beschämt. Zum Verständnis des Briefes ist noch ein Privatissimum vorauszuschicken: Leo schreibt ihn anstelle seiner Frau, von der der Ehemann "weiß, daß sie immer die Fähigkeit gehabt hat, Ihr Herz in seinem Mittelpunkt zu treffen". Hinter dieser Wendung zeigt und verbirgt sich eine der engsten Bindungen Borchardts: "So wie ich geliebt werden möchte, liebt mich nur ein Mensch, Frau Leo". 4 9 Cécile Leo war in den Jahren um 1 9 0 0 so eng mit Borchardt befreundet, daß Gerüchte in Göttingen kursierten. Borchardt erwog 1 9 0 5 in einem Brief an Karoline Ehrmann, eine künftige Tochter Genovef Cécile zu nennen, und schrieb: "ich ging zu Leos weil Leo mein Freund war und Frau Leo mir alles Gute was die Frau einem Manne geben kann von dem sie kein Kind haben kann, aus vollen Händen gab". 5 0 1 93 8 widmet Borchardt die Corona-Ausgabe des Pisa-Buches Friedrich und Cécile Leo. 5 1 Aus dieser intimen Nähe verfaßte Leo einen Brief, der schonungslos Gericht hält: "Lieber Borchardt! Sie können sich denken, in welchem Maaße die Nachrichten die Sie uns geben, Cécile und mich bestürzt und empört haben". In pochender, wuchtiger Dringlichkeit fügen sich die Sätze zu einer Geschichte von Borchardts Göttinger Jahren, die die ganze Fallhöhe aufspannen: "Ich kann Ihnen jetzt, nachdem Sie so sehr ein anderer geworden sind, wohl sagen, daß Sie der hinreißendste junge Mensch gewesen sind, dem ich seit Wilamowitz begegnet bin". Noch August 1 9 0 0 , zwei Monate vor dem Duell, habe ihm Borchardt geschrieben: "Ich weiß, wieviel ich von meinem Herzen sage, wenn ich sage: Sie sind nach meinem Herzen". Und dann folgt der Tatenkatalog: "Agnes ist ein zugrundegerichtetes Wesen". "Laß [der Ehemann] ist für Jahre auf den Strand geworfen", "Kaibels letztes Lebensjahr ist vergiftet gewesen". Es ist "ein Weg über Leichen". Borchardt reist im Frühjahr 1 8 9 9 nach Trier, als die Beziehung zu Agnes noch besteht, verschwindet für Wochen, schreibt aus England, wohin er mit einem Mädchen, das er "im Hotel kennen oder nicht kennen gelernt hat", gereist war. Borchardt schreibt zugleich an Agnes, die mit ihrem Brief zu Frau Leo kommt, wodurch

Leo Einblick

in Borchardts Abgründe

bekommt.

Trotzdem geht man im Haus Leo bei Borchardts Rückkehr im Herbst 1 8 9 9 noch taktvoll über die Ereignisse hinweg und pardoniert die Leidenschaft. Im Frühjahr 1 9 0 0 wiederholt sich die jähe Reisetätigkeit, im Herbst erfolgt das "frevelhafte, unsinnige Duell". - Dazu zeichnet sich, kaum glaublich, in den Briefen aus dem Herbst 49 50 51

1900 an die Schwester Vera auch noch

Briefe 1895-1906, Nr. 38, S. 110, an Vera Borchardc, 2. 10. 1900. Ebd., Nr. 81, S. 311 u. 314. Prosa III, S. 494f.

eine

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Beziehung zu Käthe Rosenberg 52 ab. - Im Frühjahr wird wieder gereist: der Annus mirabilis beginnt. "Wenn Sie in den kurzen Pausen dazwischen in unserem Garten sitzen, sind Sie wie im Fieber": Leo schildert die gehetzte Intensität dessen, der zum Dichter wird. Lange Zeit verurteilt das Paar Leo Borchardt nicht. "Wir billigten Ihnen mit schwerer Uberwindung, für die Gestaltung Ihres Lebens andere Bedingungen zu als anderen Menschen". Dann erst zieht sich Leo bei Begegnungen auf rein fachliche Themen zurück: Wenn Ihre Druckbogen mit den Resultaten Ihrer ausgezeichneten Forschung und Ihres schneidend festen Urteils nicht zu mir kämen und mich einer Gemeinschaft wenigstens in den Dingen unserer tixvri versicherten, so ständen Sie für mich nach jahrelanger Kenntnis Ihres Geistes und Ihres Charakters in einem trüben Nebel. Welche Gedanken Sie zu den leitenden Ihres Lebens machen, weiß ich nicht. Der Dichter, der Kritiker, der Philolog stehen für meine Augen bei Ihnen in einer Verbindung über die mein Urteil mich im Stiche läßt.

Leo wünscht dann noch Borchardt alles Glück für seine Ehe mit Margarete Ruer, die ihm Borchardt wohl brieflich angekündigt haben muß, und kündigt sich sogar als Gast an. "Mit herzlichen freundschaftlichen Grüßen Ihr F. Leo". Bis zuletzt also gibt Leo Borchardt im Brief nicht auf und schlägt wohl - wie ich in einem Gespräch mit Karl Neuwirth einsehen lernte - als erstes unverfängliches Gesprächsangebot die Textverbesserung auf "pg. 192 alin 12" vor. Der Brief erreichte Borchardt nicht mehr. Die weiteren Beziehungen zu Friedrich Leo verlieren sich in den publizierten Briefen. 1907 ist gemäß einem Brief an die Schwester Vera, die einen Mathematiker heiratet und nach Göttingen zieht, jeglicher Kontakt Borchardts zu Göttingen erloschen, auch zu "denjenigen, deren ehemalige Liebe oder wie immer Dus nennen willst, in Extreme vielfacher Schattierung umgeschlagen ist".53 In einem Brief an die Mutter, wo es um pekuniäre Familienquerelen geht, werden dann jedoch 1911 "Fragen, die Freunde wie Leos in dieser Hinsicht an mich richten", erwähnt, 54 was auf eine Wiederaufnahme des Kontaktes schließen läßt; Borchardt hatte ja geradezu seine Schwester darauf hingewiesen, daß Frau Leo in Göttingens Universität unumgänglich sei. Die Briefe 1914-1923 zeigen keine weitere Erwähnung Leos, auch nicht im Umkreis von Leos Tod im Januar 1914. Borchardt hat Göttingen erst 1931 wieder zu einem Vortrag betreten; 55 im Leo-Essay weiß Borchardt, daß Frau

52 Briefe 1895-1906, Nr. 38, S. 108; an Vera Borchardt, 2. 10. 1900. - Im Januar 1934 erinnert sich Borchardt an die Vernichtung des Briefwechsels: Briefe 1931-1935, S. 325. 53 Briefe 1907-1913, Nr. 126, S. 55. - Mit Therese Leo, der in Bonn wohnenden Schwester Friedrich Leos, steht Borchardt 1908 in brieflichem Kontakt, erwähnt in: Briefe 1907-1913, Nr. 163, S. 179, an Rose Borchardt. Vgl. ebd., Nr. 220, S. 393, an Josef Hofmiller, 14. 6. 1912; Nr. 269, S. 557f., an Herbert Steiner, 18. 9.1913 (Borchardt hatte als Student bei ihr logiert). 54 Ebd., Nr. 208, S. 346. 55 Briefe 1931-1935, Nr. 678, S. 25, an Werner Jaeger, 1. 3. 1931.

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Cécile Leo bei ihrem Tod im Jahr 1928 "weder alt noch dem Vernehmen nach krank gewesen [war], als sie nicht mehr lebte".56 Was zu tun bleibt, ist der Versuch einer Bestimmung der Rolle, die Leo in Borchardts philologiegeschichtlichen Konzeptionen einnimmt, wie sie uns in der leider abgebrochenen Arbeit Borchardts zu Leo aus dem Jahr 1944 vorliegen. "Philologen sind ein Thema für sich", meint Arnold im Gespräch über Formen, in dem Borchardt 1904 eine katastrophale Entwicklung der Universitäten und einen desaströsen Niedergang des Gymnasiums während der letzten 30 Jahre konstatiert.57 In weitem Rundumschlag wird kritisiert, was Rang und Namen hat: vom Vorsokratiker-Forscher Diels bis zu Wilamowitz. Sucht man weiter nach Philologenkritik, wird man bei Borchardt rasch fündig: "meine Fachgenossen, die philologischen Studenten, sind so vollständig kulturlos und übelriechend, daß sich jeder Verkehr mit ihnen verbietet", berichtet er im Herbst 1898 an seine Schwester.58 Im September 1912 charakterisiert Borchardt den philologischen Mangel folgendermaßen: Immer wieder frage ich, (für den die Philologie keineswegs blosses tirocinium gewesen ist) mich selber, woran dieser organische Fehler selbst subtiler philologischer Geister und ich kenne deren die feinsten - im letzten Grunde liegt; und immer wieder erkenne ich ihn im Fehlen jener nicht demütigen, sondern affektiven, fast passionellen Ehrfurcht, der Sehnsucht in etwas G ö t t l i c h e m aufzugehen, da dies einmal der einzige Weg ist, auf dem man das G ö t t l i c h e erfahren kann. Auch der beste Philolog glaubt an andere Wege, zum Beispiel an den, dem G ö t t l i c h e n die Hand zu schütteln und ihm für seine ausgezeichneten Leistungen zu d a n k e n . 5 '

Von diesen kläglichen Gestalten soll im weiteren nicht gesprochen werden. Zu geläufig ist die interne Kritik schon lange vor Nietzsche; schon Ritsehl klagte, daß sich der Horizont der Schulphilologen umgekehrt proportional zur Ausweitung des Faches verengt habe. Philologie ist für Borchardt etwas, was man mit dem vergilbten Schildchen "Philologia perennis" bezeichen würde, wenn die Erscheinung nicht historisch und national so eng begrenzt wäre. Es ist die deutsche Philologie des 19. Jahrhunderts, in der Geistes-, National- und Stammesgeschichte einen Zyklus bilden. Von Herders und Wolfs Entdeckungen ausgehend, transformiert sich die geistige Bewegung Deutschlands in Dichtung und Philosophie durch die Romantik hindurch. "Wir [...] setzen das Werk der Romantik schöpferisch an den Stellen fort, an denen sie es unter die Erde tauchend den Wissenschaften überließ, die unter ihrem Anhauche erst entstanden".60 56

Prosa V I , S. 281.

57

P r o s a i , S. 331, 338ff.

58

Briefe 1 8 9 5 - 1 9 0 6 , Nr. 18, S. 44.

59

Borchardt/Hofmannsthal, N r . 49, S. 119.

60

Schöpferische Restauration, in: Prosa III, S. 250.

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Rudolf Borchardt und die universitäre Altphilologie (Friedrich L e o )

Klassische Philologie ist dabei die Leitwissenschaft, mit Borchardts Wort, die "Mantelwissenschaft" einer Epoche. Und es ist die einzige Wissenschaft. In mannigfachen Verhüllungen nimmt sie Geschichtswissenschaft, Philosophie, alle Sprachwissenschaften und auch die Archäologie in sich auf. Mit diesem extrem ausgedehnten Gebrauch des Begriffs Philologie steht Borchardt in einer Tradition. Hatte F. A. Wolf 1 8 0 7 das Fach programmatisch als einheitliche Wissenschaft mit nationalem Anspruch konstituiert, 61 so findet sich dann bei A. Boeckh die Philologie in ihrer höchsten Anspannung und Ausdehnung in der Encyklopädie, dem geronnenen Ertrag von über fünfzigjähriger Vorlesungstätigkeit, charakterisiert. 62 Für ihn "fällt der Begriff der Philologie [...] mit dem der Geschichte im weitesten Sinn zusammen". Mehr noch: auch die Philosophie wird (abgesehen von ihren formalen Teilen: also Physik und Ethik) in die Philologie integriert: "iAocroeIv kann auch das ungebildete Volk, nicht iA.oXoye!v".63 Philologie ist Geistesgeschichte 64 in avanciertester Form. Sie ermöglicht "die Erkenntnis eines Volkes", und somit kann gelten: "Die Philologie des Alterthums enthält also als Stoff der Erkenntnis die gesamte Erscheinung des Alterthums". 65 Ein Gedanke, der schon durch Wolf vorformuliert ist: Das Ziel der Altertumswissenschaft "ist kein anderes als die Kenntniß der alterthümlichen Menschheit selbst, welche Kenntniß aus der durch das Studium der alten Ueberreste bedingten Beobachtung einer organisch entwickelten bedeutungsvollen National-Bildung hervorgeht", wobei "Kenntniß der Menschheit" rasch zur Kenntnis der griechischen Völker und Staaten präzisiert wird. 66 So weit ich sehe, hat Borchardt diese extensive Totalkonzeption seiner Wissenschaft beibehalten und ausgedehnt, indem er 1927/28 die Mittelalterliche Altertumswissenschaft forderte: V o r wenig mehr als hundert Jahren zog die geharnischte Promachos des europäischen Klassizismus, die klassische Philologie, durch B o e c k h die Summe ihrer jahrhundertelangen Waffentaten, indem sie sich aus zehnerlei Antiquariendisziplinen horizontal zur klassischen Altertumswissenschaft konstituierte. [...] Man ist nicht mehr Philologe oder N u mismatiker oder Archäologe oder Historiker, sondern man studiert klassische Altertums-

61

Friedrich August W o l f , Darstellung der Altertumswissenschaft nach Begriff, Umfang,

62

August B o e c k h , Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften,

63

Ebd., S. 12.

64

So explizit Friedrich Leo in seiner Rede: D i e Originalität der römischen

Zweck und Wert, Berlin 1807 (Nachdruck Berlin 1985). hrsg. von Ernst Bratuscheck, Leipzig 1877. Literatur,

G ö t t i n g e n 1904, S. 3: "Der Philologe beschäftigt sich mit der Geistesgeschichte Menschheit". 65

B o e c k h (Anm. 6 2 ) , S. 55f.

66

W o l f (Anm. 6 1 ) , S. 132.

der

68

Thomas Poiss Wissenschaft und griechische Tragiker, klassische Altertumswissenschaft und römische Archäologie, klassische Altertumswissenschaft und umbrische Dialekte u.s.f. 67

Philologie ist "Zentralwissenschaft" oder, wie es in Notizen zu einem Nachwort des Pisabuches heißt, 68 "Mantelwissenschaft". Es gilt, die Einsicht zu eröffnen, "daß das abendländische Mittelalter als ein weltgeschichtlich einheitlicher Kulturraum, genau wie die Antike, sich eine dieser Einheit gemäße Mantelwissenschaft, eine der klassischen gleichstehende Altertumswissenschaft erzeugen muß." Der Primat der Philologie beruht auf deren intensivem Nukleus, denn das Wort Philologie ist zugleich Synonym für Methode, stärker noch, wie sie Jahn zugesprochen wird, 6 ' "die reine Methode in ihrer fast demantenen Härte und Schneide". Methode meint - jetzt mit Leos Worten über Lachmann: Er hat uns die Methode gelehrt, durch die wir in den sicheren Besitz unserer Schätze zurückgelangt sind. Er hat aber damit auch den Begriff der philologischen Kritik zu dem Umfang erweitert, der dem neuen Begriff der ganzen Wissenschaft entsprach. Diese Kritik umfaßt und hat zur Voraussetzung die ganze Stufenfolge der Forschung von der Vergleichung der Handschriften und der Ermittlung der Orthographie bis zur Reconstruction des Culturkreises, aus dem das Werk hervorgegangen, aus dem heraus es allein wahrhaft verstanden werden kann. 70

In Rudolfi Borchardt Vita von 1902 findet sich das Leitwort Methode an herausragender Stelle: "Per duo semestria lectionibus theologicis, hebraicis, arabicis, samskriticis denique, ne methodo careret, Vahleni et Dielesii disciplina edoctus totum se humanitatis studio involvere conatus Bonnam migrat". 71 Man muß diese Stelle als Klimax akzentuieren. All die anderen Studien auf der einen Seite und dann "schließlich, um nicht der Methode zu entbehren, ging er [Borchardt] durch Vahlens und Diels' strenge Schule und begab sich zum Unterfangen, ganz in Philologie sich einzuhüllen, nach Bonn". Bonn: der Name wird von Borchardt reichlich mit rhetorischer Aura ausgestattet, doch entspricht die Stellung, die der Bonner Universität im LeoEssay zugesprochen wird, weitgehend dem Bild, das die moderne Forschung davon zeichnet. 72 Selbst Wilamowitz, der - nach Borchardt - die Bonner 67 68 69 70

Prosa III, S. 86. Prosa III, S. 496f.; datiert vom 26. 1. 1935. Prosa VI, S. 269. Friedrich Leo: Kleine Schriften (Anm. 1), Bd. 2, S. 424 (=Deutsche Denkreden, S. 383f.). 71 Prosa VI, S. 8f. 72 Zur Stellung der Bonner-Universität siehe Hans Joachim Mette: Nekrolog einer Epoche. Hermann Usener und seine Schule, in: Lustrum 22, 1980, S. 7-101. - Arnaldo Momigliano, Wege in die Alte Welt, 1991 (orig. 1982), S. 143ff. - Hubert Cancik, Nietzsches Antike, Stuttgart 1995, S. 12ff.

Rudolf Borchardt und die universitäre Altphilologie (Friedrich Leo)

69

Schule zu s p r e n g e n d r o h t e , stellt, als e r in den 8 0 e r J a h r e n einen R u f n a c h B o n n a n z u n e h m e n überlegt, fest, daß B o n n d e m B o n n e r Studenten

immer

Ideal bleibt. 7 3 B o r c h a r d t selbst führt die bildungsstrategische B e d e u t u n g der preußischen p r o t e s t a n t i s c h e n N e u g r ü n d u n g v o n 1 8 1 8 auf katholischem R h e i n - B o d e n mit allem Z u b e h ö r aus: Ein Kavallerie-Regiment schuf die M ö g l i c h k e i t der Einjährigen-Freiwilligen-Ausbildung

in der N ä h e

der Universität

und gab

so

G e l e g e n h e i t zu staatstragend paralleler Ausbildung, wie sie in L e o fast p a r a digmatisch gelang. ( D a ß er g e r a d e zu Kriegsausbruch in G ö t t i n g e n w a r , k a n n als Zufall g e l t e n . ) B o r c h a r d t konstruiert nun im L e o - E s s a y 7 4 die Philologiegeschichte im Blick a u f die Ausnahmestellung der B o n n e r Universität, die d u r c h kluge Berufung e n zu e i n e m O r t nationaler Einigung in und d u r c h W i s s e n s c h a f t w u r d e , ja zu einem

"rheinischen

Oxford"

hätte w e r d e n

können.

Professoren

aus

allen

S t ä m m e n und aus beiden Konfessionsgebieten w u r d e n berufen, es k o m m t zu einem Ausgleich "zu Gunsten eines erst sich bildenden, stolzen und feurigen D e u t s c h e n o h n e Sonderzüge, ja ihnen feindlich, o h n e selbst einen

preußi-

schen Z u g , der hier nicht aushielt". 7 5 Die V ä t e r g e n e r a t i o n der F . W e l c k e r , F. Ritsehl, O . J a h n und die der N a c h g e b o r e n e n H . U s e n e r und F . B ü c h e l e r d e n e n B o r c h a r d t s c h o n 1 9 0 8 ein D o p p e l p o r t r ä t Aus

der Bonner

w i d m e t h a t t e 7 6 - , w e r d e n so in g r o ß e Linien gestellt, d e r e n

Schule

-

ge-

konstruktive

S p a n n u n g u n d W i d e r s t r e i t sich endlich in L e o h a r m o n i s c h v e r s ö h n e n .

73

Briefwechsel Wilamowitz-Mommsen (Anra. 9), S. 381: "Es [sc. nach Bonn zu gehen] ist mir eine große Verlockung [...] da [...] Bonn für den Bonner Studenten immer Ideal bleibt. Auch daß ich schon als Kind, ehe ich einen Professor gesehen hatte, mir die Bonner Professur prophezeit habe, müßte wirken." 74 Prosa VI, S. 266. 75 Weder soll noch kann der Einfluß von Nadlers literarischer Stammestypologie auf Borchardt in Frage gestellt werden (zu Nadler siehe den Beitrag von Ulrich Wyss in diesem Band), doch Borchardts auffallende Berücksichtigung der tribalen Herkunft der Bonner Philologen hat daneben auch fachinterne Quellen in der Philologenbiographik des 19. Jahrhunderts. Otto Ribbeck etwa beginnt Friedrich Ritschis Biographie 1881 so: 'Thüringen scheint zur Pflege philologischer Studien wie zur Heimathstätte philogischer Naturen eigenthümlich berufen", und der Autor stellt sogleich ein thüringisches Dreigestirn Wolf-Lobeck-Ritschl auf. Auch Hoffmann läßt die Biographie Boeckhs 1901 mit dem Gegensatz von dessen süddeutscher Herkunft (Mannheim-Heidelberg) und Wirkung im preußischen Berlin beginnen. - Ganz ähnlich charakterisierte Borchardt schon 1908, also lange vor der Kenntnis Nadlers, Bücheler als gewachsene Einheit rheinfränkischer und niederrheinischer Volksart; Prosa VI, S. 52; s. folgende Anm. 76

Ebd., S. 45-56. Der Untertitel Erinnerungen eines Schülers an Franz Bücheler bezeichnet den Inhalt des Textes nur indirekt richtig, insofern als Büchelers Porträt in ähnlichem Kontrast zu Usener aufgebaut wird wie dasjenige Leos zu Wilamowitz. - Zu den einzelnen Namen bietet Mettes Artikel (Anm. 72) jeweils erste Informationen.

70

Thomas Poiss

Zu diesen teleologischen Konzeptionen Borchardts muß man wissen, daß die Geschichte der deutschen Philologie, deren Kenntnis dem Studenten Borchardt Leos erste Aufmerksamkeit gewann, 77 durch programmatische Kontroversen geprägt wurde. Borchardt erwähnt selbst die Ritschl-Jahn-Kontroverse, eine Berufungs-Farce, die ins Fundamentale eskalierte und den Auszug Ritschis nach Leipzig verursachte. 78 Dieser Streit verläuft nach Borchardt entlang dem römischen Limes, diesseits Katholizismus, Klosterkultur und Humanismus als "ererbte Antike", jenseits Protestantismus und Philologie als "erlernte Antike". In Borchardts Darstellung siegt Jahn, der zeitgemäße, aber starre Philologe aus dem Norden, 7 9 über den bei Erfurt geborenen, eigentlich moderneren Humanisten Ritschi. Borchardt erzählt nun - bislang in der Leo-Forschung unberücksichtigt - , daß der Streit auch durch Leos Elternhaus ging und der damals 14jährige Leo sich unter dem Einfluß des Gymnasiallehrers (und gegen die Eltern) für Jahn entschied. Diese frühzeitige Konfrontation mit geschichtlichen Positionen der Philologie habe Leos Blick für die historische Dimension von Wissenschaft bleibend geprägt. Noch weiter zurück geht aber die Boeckh-Hermann-Kontroverse, ein Streit zwischen Sachwissen und Wortphilologie, der alle Fragen der Philologie Metrik, Inschriftenkunde, Tragikerinterpretation - berührte und über Jahrzehnte währte. 80 Die Bedeutung dieses Streits war Borchardt zweifellos bekannt, 81 denn er sieht zum einen die Opposition zwischen umfassender Totalität und minutiöser Kritik im Paar Usener - Bücheler verkörpert und versöhnt; 82 zum anderen vertrat Leo in der Lachmann-Rede die Auffassung, daß gerade Karl Lachmann es gewesen sei, der kritisches Sprachdetail und Gesamtschau vereint habe. 83

77 Prosa VI, S. 2771. 78 Zum Jahn-Ritschl-Streit s. William M. Calder III, in: W. M. C., Hubert Cancik u. Bernhard Kytzler (Hg.): O t t o Jahn. 1813-1868, Stuttgart 1991, S. 198 (mit Literatur). 79 Der Geburtsort Kiel erscheint bei Borchardt in der Wendung "der [sc. lungen] kranke Holsteiner". 80 Ernst Vogt: Der Methodenstreit zwischen Hermann und Böckh und seine Bedeutung für die Geschichte der Philologie, in: Helmut Flashar, Karlfried Gründer u. Axel Horstmann (Hg.): Philologie und Hermeneutik, Götttingen 1979, S. 103ff. 81 Sie ist wichtiges Kriterium in Carl Bursian, Geschichte der classischen Philologie in Deutschland von den Anfängen zur Gegegenwart, Bd. 1 u. 2, München, Leipzig 1883; Borchardt erwähnt das Werk als früh bekannt: Prosa VI, S. 277f. 82 Ebd., S. 275. 83 Friedrich Leo, Kleine Schriften (Anm. 1), Bd. 2, S. 424 ( = Deutsche Denkreden, S. 384): "Sie [sc. diese Kritik] kann im Lachmannschen Geiste nicht ohne das Können in Hermanns Sinne, nicht ohne das Wissen in Boeckhs Sinne getrieben werden."

Rudolf Borchardt und die universitäre Altphilologie (Friedrich Leo)

71

O. Ribbeck hatte freilich bereits in F. Ritsehl die Synthese verwirklicht gesehen; Wilamowitz bezeichnete 1894 in der Gedächtnisrede auf H . Sauppe diesen als Vereiniger der beiden philologischen Richtungen; 8 4 und naturgemäß sah auch H. Patzer noch 1953 in Wilamowitz die Synthese der beiden Richtungen gelungen. 8 5 Borchardts Essay über Leo ist somit als Element in einer Reihe von Versuchen zu verstehen, den Versöhner der Klassischen Philologie zu finden. Borchardts Text setzt nun alles mit dem strategischen Ziel in Bewegung, gegen den unbestrittenen Genius Wilamowitz - dieses "naturalistische Monstrum" 86 und diesen zugleich bei seinem T o d e tief betrauerten "alten Helden" 87 , der keine Lehrer brauchte - den philologisch-menschlichen Primat für Leo zu vindizieren. Freilich nicht nur um die Planstelle in der Philologennomenklatura zu besetzen: "Es ist nicht die klassische Altertumswissenschaft, von der ich vorgeben wollte, sie hätte sich in ihm [sc. Leo] abgekrönt". Mag Wilamowitz auch fachlich überlegen sein, so hat dennoch Leo durch seine Person Anspruch auf das gesamte Erbe deutscher Geistestradition. Eben dies war auch schon der Sinn der Verbindung von Person und Wissenschaft in der Kurzcharakteristik von 1925: LEO, Friedrich, geboren zu Regenwalde 1851, gestorben zu Göttingen 1914, als Philologe letzte Blüte und Frucht der letzten philologischen Schule Deutschlands, der Bonner, als Latinist bahnbrechender Neugestalter fast aller die römische Literatur betreffenden Probleme, erwies als erster ihren durchgehend hellenistischen Charakter und erhob den Beweis in Untersuchung Forschung Deutung zu einem der klassischen Anmut seines Wesens angeglichenen und der Poesie verwandten Kunstwerke, mit dessen Aufstellung die Philologie in Deutschland zu ihrem Ausgange, der Dichtung, zurückkehrte und ihren Zyklus schloss. 88

In Friedrich Leos "klassischer Anmut" ist eben nicht die Altertumswissenschaft, sondern das gesamte 19. Jahrhundert - von H u m b o l d t bis in die Tage des Dichters - ein einziges Mal geglückt. 1944, im Angesicht der äußersten Katastrophe, erschuf sich Borchardt aus der intensiven Erfahrung der Jahre 1898-1902 den letzten glücklichen Deutschen.

84 85 86

87 88

Geschäftliche Mitteilungen der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen 1894, Göttingen 1895, S. 41. Harald Patzer: Wilamowitz und die klassische Philologie, in: Festschrift Franz Dornseiff, hrsg. von H. Kusch, Leipzig 1953, S. 254. Brief an Rudolf Alexander Schröder aus dem Januar 1931; in: Ernst A. Schmidt: Werner Jaeger and Rudolf Borchardt. Correspondence 1929-1933, in: William J. Calder III (Hg.): Werner Jaeger Reconsidered, Illinois Classical Studies Supplement 3, Atlanta 1992, S. 161-208; hierS. 185. Briefe 1931-1935, Nr. 709, S. 130, an Werner Jaeger, 20. 1. 1932. Deutsche Denkreden (Anm. 1), S. 464.

72

Thomas Poiss

Erlaubt sei noch die Frage, ob nicht Borchardts aus der Romantik stammender Grundgedanke der "schöpferischen Restauration" seine terminologischen Vorläufer gerade auch im Philologiekonzept der Tradition Wolf-BoeckhUsener und Bücheler-Leo hatte. Dazu zwei Hinweise, einer stammt von Borchardt selbst. In den Deutschen

Denkreden,

die insgesamt vier Reden Boeckhs enthalten,

wird diesem die kanonische Formulierung des Problems der Klassischen Altertumswissenschaften zugeschrieben: "das gesamte sichtbare und unsichtbare Leben der Antike als eines einheitlichen Kulturraumes durch

restaurieren,"89

Forschung

zu

Der andere Hinweis findet sich im Sprachgebrauch jener Philologie des 19. Jahrhunderts. Ritsehl definierte um 1833 die Aufgabe ähnlich: des Lebens

"Reproduktion

des klassischen Alterthums durch Anschauung und Erkenntnis sei-

ner wesentlichen Äußerungen". 9 0 Leo formulierte ganz in diesem Geist, wenn er 1 9 0 4 Mommsen als den bezeichnete, "der als der erste das römische Alterthum in seinem Geist zusammenfaßte und als ein Ganzes und Recht nachschaffend

Geschichte,

Staat

vor Augen stellte". 91 Ganz ähnlich lautet Leos Urteil

über Friedrich Marx' Lucilius-Ausgabe: "Solche Arbeit an den Trümmern einer großen Production geleistet ist schöpferisch,

der Dichter, sein Kreis, seine

Zeit fügen sich vor unseren Augen zusammen." 92 Womit auch dieser beschränkte Beitrag zur Rekonstruktion von Borchardts Kreis geschlossen sei.

89 90 91 92

Ebd., S. 461. (Die Hervorhebungen in diesem und den folgenden Zitaten von T.P.) Friedrich Ritsehl: Opuscula, Bd. 5, 1879, Nr. 88, S. 1*. Friedrich Leo: Die Originalität der römischen Literatur (Anm. 64), S. 5. Friedrich Leo: Kleine Schriften (Anm. 1), Bd. 1, S. 221 ( = Göttinger Gelehrte Anzeigen 1906, S. 837).

SEBASTIAN NEUMEISTER

Rudolf Borchardt und das romanische Mittelalter Anfang April 1933 wird Rudolf Borchardt von Benito Mussolini empfangen. Er überreicht ihm die gerade erschienene Ausgabe seines Dante deutsch. Borchardt hat darüber in der Osterausgabe der Kölnischen Zeitung vom 16. April 1933 berichtet1 - es war im übrigen seine letzte Veröffentlichung in Deutschland. Mussolini läßt sich das kostbar aufgemachte Buch zeigen, blättert darin und liest einige Terzinen in der deutschen Fassung. Er nimmt auch die dem Text vorangestellte "Ehrentafel des deutschen Dantegedächtnisses" wahr, die von August Wilhelm Schlegel bis zu Stefan George reicht und zehn Namen umfaßt. 2 Mussolini kennt einige davon dem Namen nach, insbesondere kennt er Karl Vossler (1872-1949), damals Ordinarius für romanische Philologie an der Universität München, Verfasser eines zweibändigen Werkes über die Göttliche Komödie (1907-10) und später auch ihr Übersetzer (1942). Mit den Namen von August Wilhelm Schlegel und Karl Vossler, der eine Wegbereiter, der andere Erbe einer aus romantischen Urgründen gespeisten, gegen den Positivismus des 19. Jahrhunderts gerichteten idealistischen Textphilologie, könnte man auch die Sicht in Verbindung bringen, die Rudolf Borchardt auf die romanische Literaturwelt des Mittelalters hat. 3 Für die 1 2

Prosa VI, S. 211-218. Die Ehrentafel, zu der außer den im folgenden aufgezählten Personen noch der Historiker Friedrich C h r i s t o p h Schlosser (1776-1861) gehört, der Borchardt zufolge die geistliche D e u t u n g begann, ist in der Originalform der Erstauflage des Dante deutsch von 1923 abgebildet in: Rudolf Borchardt. Alfred Walter Heymel. Rudolf Alexander Schröder. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum, Marbach am Neckar 1978, S. 316; im folgenden zitiert: Katalog Marbach.

3

Borchardt kennt Vossler, der ihn in Italien aufsucht, auch persönlich. In einem Brief an Benedetto Croce zeichnet Karl Vossler ein sehr scharfsichtiges Portrait des Schriftstellers und Menschen Rudolf Borchardt: "Er ist ein sehr merkwürdiger Kopf, halb genial und halb dilettantisch, echter Dichter, solange er parasitische Dichtung schreibt, ein falscher Dichter, sobald er sie aus dem eigenen Innern schöpft, der wahre Alexandriner, der fremde Dichtung mit größerer Intensität und mit größerer Reinheit empfindet als die eigenen Gefühle - übrigens unter den heutigen Dichtern einer der wenigen, der die historischen Wissenschaften kennt und achtet, das heißt einer der wenigen wirklich gebildeten, und der nicht die Barbarei zur Schau trägt; im übrigen ein unterhaltendes u n d wunderbares Geistesfeuerwerk." Briefwechsel Benedetto C r o c e / Karl Vossler, Berlin, F r a n k f u r t am

74

Sebastian Neumeister

Philologie stehen ihm in besagter Ehrentafel neben August Wilhelm Schlegel und Karl Vossler noch Karl Witte, der Herausgeber der ersten kritischen Ausgabe der Divina Comedia überhaupt und Begründer der Deutschen Dante-Gesellschaft, Adolf Gaspary, Verfasser einer einflußreichen italienischen Literaturgeschichte, und, aus der endlosen Reihe der Ubersetzungsversuche der Comedia, Prinz Johann von Sachsen ("Philalethes"), ab 1 8 5 4 König von Sachsen, der prominenteste aller Dante-Übersetzer, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Alfred Bassermann und Stefan George. Die Nennung August Wilhelm Schlegels und des Königs von Sachsen erscheint für Borchardts geistigen Horizont wichtiger als die Nennung Hegels und Schellings, deren einer nach Borchardt den "welthistorischen Zusammenhang erwies", während der andere "übersetzte und erklärte". Denn mit den beiden ersten Namen erinnert Borchardt an die Großtat der romantischen Epoche, die Wiederentdeckung des Mittelalters, und damit an die Brüder Schlegel und an Novalis mit seinem Aufsatz Die Christenheit oder Europa, auch wenn der kühne Anlauf Borchardt zufolge im Entwurf steckengeblieben war 4 : Die romantische Ahnung davon, daß der deutsche und europäische Völkergeist nicht für immer darin aufgehen konnte, die Antike jedes Jahrhundert von neuem wiederzuerleben, und daß ihre höhere Kompletion davon abhängig sein würde, vielmehr immer im geistigen Besitze der Universalität aller ihrer Entscheidungsepochen gleichzeitig zu sein - diese Ahnung, die natürlich, wie die gesamte Romantik in Herder vorgebildet lag, enthielt sehr wesentliche Blankowechsel auf die Wissenschaft, - auf eine postulierte Summe von Geschichtswissenschaft, Kulturgeschichte, Kunstgeschichte, politischer und Sprachgeschichte, und Literaturgeschichte und Philologie. Das ganze Schicksal der Romantik, ihr frühes Zusammenbrechen nach solchen Hoffnungen und Entwürfen, wie es Novalis großer Aufsatz, "Die Christenheit oder Europa", gewesen war, nach Adam Müllers und August Schlegels Reden, Friedrich Schlegels Konstruktionen und Hegels Zauberwerken, - dies ganze Schicksal lag darin beschlossen, daß es Blankowechsel auf eine Wissenschaft waren, die es überhaupt nicht gab; die es nicht geben konnte, weil sie erst in der Romantik und durch sie postuliert war; nicht geben konnte, weil ihr weder ein Material vorlag noch eine Methode zu Gebote stand, noch eine Systematik sich ausgebildet hatte, ja, keine Tradition einer wissenschaftlichen forma mentis zugekommen war oder auch nur von ferne vorschwebte. 5

Und auch die folgenden Jahrzehnte, die Epoche der positivistischen Textphilologie, hatten daran nichts zu ändern gewußt. Borchardt schreibt die Schuld dafür vor allem Jacob Burckhardt und seinem großen Buch über Die Kultur der Renaissance in Italien zu, einer, wie er durchaus weiß, nicht weniger

* 5

Main 1955 (zuerst it. Bari 1951), S. 289; Brief an Croce vom 21.6.1923. Croce stimmt dieser Beschreibung zu: Brief an Vossler vom 31.7.; ebd., S. 291. Borchardt versucht ihn in einer Schrift Europa wiederaufzunehmen, an der er 1935 unter dem Eindruck der Vorgänge in Deutschland arbeitet. Prosa III, S. 74.

75

Rudolf Borchardt und das romanische Mittelalter

kühnen Geschichtskonstruktion als die der Romantiker. Der Nachteil dieses an Hegel geschulten Entwurfes ist es aber, daß diesmal die Renaissance in den Mittelpunkt rückt, eine Renaissance, die es bis dahin nicht gab: Jacob Burckhardt hat, wie man heute kaum mehr weiß, den historischen Begriff der Renaissance als eines allumfassenden, einheitlichen menschlichen Kulturraumes nicht nur illustriert und disponiert, er hat ihn als erster aufgestellt und überhaupt geschaffen; weder Goethe noch Herder noch Schiller, weder Schlegel noch Novalis, weder Hegel noch Gervinus haben ihn als solchen überhaupt gekannt. 6

Damit aber hat Jacob Burckhardt, wie Rudolf Borchardt ihm ausgerechnet in einem Vortrag in der Schweiz ankreidet, ein unlösbares Problem geschaffen, die Antwort nämlich auf die Frage: "Was scheidet die Kultur- und Seelenform des 11. und 12. Jahrhunderts in Italien, Provence und den Ländern beiderseits des Rheines grundsätzlich von der des 13. und 14ten?" 7 Oder, in anderen Worten, was scheidet das Mittelalter von der Renaissance, so wie sie Jacob Burckhardt sieht? Der Name, der diese Scheidegrenze bezeichnet, wird sichtbar: es ist derjenige Dantes. Dante Alighieri steht mit seiner Vita nuova,

De vulgari eloquentia Comedia

und Monarchia

mit den Traktaten

und vor allem natürlich mit seiner

in der Lücke, die zwischen einem Mittelalter, das Borchardt zufolge

erst wieder zu entdecken war, und einer Renaissance klafft, die eben dieses Mittelalter zu ersticken, zu ihrer Vorstufe zu degradieren trachtete. Rudolf

Borchardt

versucht,

in mehrfacher

Schlachtreihe

gegen

diese

"Sehtäuschung der deutschen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts" 8 , wie er das in seinem Zürcher Vortrag Mittelalterliche

Alterumswissenschaft

nennt, anzugehen, insbesondere durch die Übertragungen der großen T r o badors und der beiden italienischsprachigen Hauptwerke Dantes und durch Abhandlungen wie die beiden großen Dante-Nachworte und das Pisa-Buch. Was er damit und insbesondere mit dem letztgenannten Buch anregen und erreichen will, ist nichts weniger als die exemplarische Etablierung einer "mittelalterlichen Altertumswissenschaft", wie er sie in Anlehnung an die klassischen Altertumswissenschaften nennt. Borchardt will mit dieser wissenschaftlichen Utopie, um den vom "wissenschaftlichen Klassizismus des 19. Jahrhunderts" 9 ausgedörrten Boden der Zeit wieder fruchtbar zu machen, drei mächtige Ströme in ein gemeinsames Bett leiten: die noch nicht verwissenschaftlichten "affektiven Fiktionen des Mittelalters" 10 durch die Romanti-

6

Ebd., S. 72.

7 8

Ebd., S. 80. Ebd., S. 81.

9

Ebd., S. 81.

10

Ebd., S. 80.

76

Sebastian Neumeister

ker, die große, mit dem Namen Friedrich August Wolf bezeichnete Tradition der deutschen Altertumswissenschaft und die neuesten Ansätze zu einer alle Disziplinen und Kunstarten umfassenden Kulturwissenschaft. Für alle drei bringt Borchardt die besten Voraussetzungen mit, die lesende Vertrautheit mit der deutschen Romantik und Klassik seit Herder, die intensive Beschäftigung mit den Texten und den Problemen der griechischen und römischen Antike und schließlich auch das gleichermaßen philologisch-historisch abgesicherte wie sinnlich konkrete Kunsterleben. Allerdings ist abzusehen, daß Borchardt sich mit einem solchen Programm übernehmen muß. Nicht nur lehnt er immer wieder die Beschäftigung mit der akademischen Sekundärliteratur ab und stützt sich lieber auf die Primärtexte, sondern er riskiert in dieser selbstgewählten wissenschaftlichen Isolation auch Hypothesen von großer Kühnheit, um nicht zu sagen Fragwürdigkeit. All dies bedürfte jedoch da hat die bisherige Borchardt-Literatur noch allzuwenig zu bieten - jenseits wohlfeiler Pauschalurteile der sorgfältigen philologischen Uberprüfung. Eines läßt sich immerhin zum Lobe des Einzelgängers Rudolf Borchardt sagen: er rückt mit seiner Forderung und teilweise auch Realisierung einer "mittelalterlichen Altertumswissenschaft" konzeptuell und auch produktiv in das wissenschaftsgeschichtliche Panorama seiner Zeit ein, er tritt neben Forscher, die ihm nur zum Teil nahestehen, in der Mehrzahl aber eher fern. Zu denken ist hier an Ernst Kantorowicz und sein ohne Stefan George nicht zu verstehendes Friedrich-Buch, an Ernst Robert Curtius und seine zähe, erst Jahrzehnte später zu einem Buch sich rundende Vision von einer aus dem lateinischen Mittelalter sich entfaltenden europäischen Literatur, aber auch an Aby Warburg und Erwin Panofsky und ihren für die Kunstwissenschaft methodologisch so fruchtbaren Kreis. Sie alle kommen von der Seite der Wissenschaften zu jener europäischen Gesamtschau, die Borchardt von der Seite der dichterischen Sprache und der intuitiven Kunstbetrachtung her einfordert. Die Fülle der Einzelbeobachtungen, aber auch die Kühnheit einer Gesamtschau, mit der Borchardt Sprachen, Nationen und Disziplinen zusammenzwingt, muß bis heute beeindrucken. Die "affektive Fiktion" eines großen germanisch-romanischen "Kulturfeldes zwischen Rhonemündung, Loire, Main, Donau, Adria und Appennin" 11 allerdings, die Borchardt in den Epilegomena zu Dante II entwirft, zeigt auch die Gefahren, denen sich Borchardt mit seiner visionären kulturgeschichtlichen Methode aussetzt. Zum einen enthält sie den Keim zu jener scharfen Verurteilung der bornierten Nationalphilologien des 19. Jahrhunderts, die Borchardt Konrad Burdach vorträgt: Sie bemerken, welch allgemeinere Grundanschauung diese Gedankengänge von der damals — und wie lange noch - gängigen scheidet: diese, den geschichtsfremden Originalitäts- und 11

Prosa I I , S. 485f.

Rudolf Borchardt und das romanische Mittelalter

77

Nationalitätsbegriff des 19. Jahrhunderts acht und sieben Jahrhunderte rückwirken lassend, gingen ja auf die Isolierung Deutschlands theoretisch aus, construierten eine bodenheimische Lyrik im Anfang, gliederten ihr ein bodenheimisches Volksepos an, schrieben die höfische Frühzeit, das höfische Epos, und in logischer Durchführung des Baufehlers Hartman, Gotfrid und Wolfram fast zu Schaden, um erst auf Walther wieder ausruhend die wiedergewonnene deutsche Originalität zu proklamieren, an die dann freilich der "Verfall" sofort heranconstruiert werden mußte, bis mit Luther die "Sprachschöpfung" begann, die durch Opitz zu Goethe führt und über das "Herabsinken" der von Luthers Bibel nicht aufgesogenen deutschen Sprachmöglichkeiten zu "bloßen Mundarten" jubiliert werden konnte. 12 Z u m a n d e r e n aber g e h t es hier u n v e r h o h l e n g e g e n das praktische Kunstgeschöpf der Luxemburger Obrigkeitsschreiber in Prager Kurialkammern, keine Sprache, sondern ein Volapük, nicht als Concurrenz zu den echten gewordenen und gesprochenen Sprachen Deutschlands gedacht, und überhaupt nicht, und als nichts, gedacht, sondern der Behelf einer auf bloße Bezeichnungen, Weisungen, Anordnungen gestellten, auf ein grobes Verständigungsmittel zwischen den lebendigen Mundarten reduzierten Vulgata von Geschäftsleuten, wie die Sprache der makedonischen und Diadochenkanzleien und wie die deutsche Armeesprache der altösterreichisch-ungarischen Armee es war, eine Sprache, in der nicht gelitten und gefühlt, geliebt und geformt, rückerlebt und ausgeblickt, zugefügt und erfahren werden sollte, sondern mitgeteilt, angezeigt, zugeschrieben und verhandelt, eine Sprache, deren Gliederung grob über der Syntax des nicht mehr hinlänglich verstandenen Geschäftslateins der älteren Höfe abgeformt war, und alles in allem genommen so künstlich und gemacht, so sehr nicht jung, nicht alt, so lehrhaft und erlernsam, so nicht geschichtshaltig und doch nicht aus frischer Tat gespeist, wie ihre Altersgenossinnen, literaturtschechisch und literaturpolnisch, der geschichtliche Rückfall also des ehemals von Oberdeutschland süd- und westwärts angesogenen Raumes ab der Elbe und der Saale, - nach Osten. Dies war sie, in Ihrer großen und revolutionären Darlegung, die Sprache des neuen Volkes ohne Kaiser, Kreuzzüge, Hartman, Walther und Wolfram, ohne Lehnstreue und Frauendienst und Gottesminne, ohne das Rom des Sagum und das Rom der Stola, des Volkes abgewirbelter Ostwanderer, jüngerer Söhne, Handwerksgesellen und Glücksucher, erinnerungsloser Auswanderung wie der amerikanischen. 13 D e r a n t i m o d e r n e Affekt ist u n ü b e r h ö r b a r , mit e n t s p r e c h e n d e n F o l g e n Borchardts

eigenes E i n d e u t s c h u n g s v e r f a h r e n .

Die K u l t u r r a u m - V i s i o n

für trifft

z w a r bei aller r o m a n t i s c h e n Verklärung d u r c h a u s etwas von der h o c h m i t t e l alterlichen Weitläufigkeit einer E p o c h e , in d e r die wenigen Mitglieder einer geistigen u n d politischen Elite die L ä n d e r W e s t - und S ü d e u r o p a s g r e n z ü b e r schreitend bereisten und b e h e r r s c h t e n , einer Z e i t , in der Proensals, Franceis, Lombartz, Tyeis, Alemans, Engleis, eng in die gleiche Hülle geschlossen, el so lati so wenig zu verfechten dachten wie Swäbe Franke Beier Sahse, oder Nachbartäler und anrainende Gaue das ihre, wo Richard Löwenherz provenzalisch dichtet, Kaiser Heinrich und Kaiser Friedrich italienisch und provenzalisch, Tommasino di Circlaria mittelhochdeutsch, Jehans de Brabant niederrhein-fränkisch, Brunetto Latini französisch, wo die Dichtungsgattung des descort in jeder Strophe eine andere Sprache als Maske vornimmt, Dante mitten in seinem toskanischen Gedichte provenzalisch sprechen läßt 12 Ebd., S. 494. 13 Ebd., S. 479f.

78

Sebastian Neumeister und Wolfram mitten in seinem deutschen französisch; dieser ein "Champeneis" in den Reim setzen darf wie jener ein "Osterrich" - und sie alle das darum konnten und durften, weil Gesang keine "Literatur" oder "Nationalliteratur" war, sondern ein allverbrüderndes Spiel der Weltfreude, der Süßigkeit, die alle zu allen zog, jener sinnlichen und farbigen Kühnheit, die fast alle diese Sprachen ihren germanischen Trägern verdanken und deutsch benennen, und weil dahinter bei ihnen allen das gemeinsame zwieschichtige Latein steht; es ist das halbvergessene Barbarolatein ihrer gemeinsamen Grundlage, und es ist das auf den Donat gestützte der gemeinabendländischen Klosterschulen für jede ernste Vornahme, vom Kauf der Hufe bis zum Kirchenbann, von Messe und Gebet zum Brief, von der Chronik zur Rechnung - und für jede ehrgeizige Vornahme, vom literarisch gemeinten Gedicht zur Schrift auf der Grabplatte. 14

B o r c h a r d t s d e u t s c h e r D a n t e , der o h n e d e s s e n Sprachschrift De quentia

vulgari

elo-

e b e n s o w e n i g z u d e n k e n ist w i e o h n e d i e hier mit kräftigen S t r i c h e n

g e z e i c h n e t e mittelalterliche Kultureinheit, hat bei d e n Z e i t g e n o s s e n , bei J o s e f N a d l e r , J o s e f H o f m i l l e r , Karl Vossler, R u d o l f G. Binding, ja sogar b e i Franz Blei e i n e w e i t h i n p o s i t i v e A u f n a h m e g e f u n d e n . Letzterer e t w a s c h r e i b t 1 9 3 1 in d e r Literarischen

Welt:

Da und dort gehörte Meinung, man könne dieses "Deutsch" nicht verstehen, sagt nichts weiter, als daß wir eben im Zeitalter des Ullstein-Deutsch lebend sind. Aber Borchardts Werk ist ja kein modernisierter Dante, mit dem er sich an nichts als Zeitgenossen wendet, die des irrigen Glaubens sind, sie könnten von der Lektüre des 'Tempo" oder des "8-UhrAbendblattes" ungehindert von selbst zur Lektüre des "Dante-Deutsch" hinüberwechseln. Als brauchten sie da nur wie bei ihrem Auto einen andern Gang einzuschalten, hier etwa den der "Bildung". Verlorne Müh. Mit der "Bildung" dieser Zeit ist da nichts zu machen. Aber Borchardts Werk ist ja, wie gesagt, nicht für die Zeit hingestellt, sondern für die Zeiten. 15 Konrad Burdach dagegen, Adressat der Epilegomena

zu Dante

II, akzeptiert w e -

der d e n A n t i - R e n a i s s a n c e - A f f e k t n o c h d i e sprachliche F o r m der D a n t e - U b e r tragung. 1 9 2 4 , e i n Jahr n a c h d e m E r s c h e i n e n der T e i l a u s g a b e , schreibt er in e i n e m Brief an Borchardt, n a c h h ö f l i c h e n W o r t e n zur ä u ß e r e n A u f m a c h u n g : Was nun das Innere angeht, so kann ich darüber eigentlich noch nichts sagen. Zunächst überwiegt bei aller Bewunderung der schöpferischen Sprachkraft und der ernsten Vertiefung in das Urbild doch noch der Eindruck des Fremdartigen, stellenweise auch des Gewaltsamen. [...] Vorläufig scheint mir auch, als ob Sie das Gedicht Dantes überwiegend in seinen mittelalterlichen, um den (verkehrten) Modeausdruck zu brauchen, in seinen "gotischen" Elementen empfinden und wiedergeben wollen: Daher weht in Ihrer Sprachgestaltung etwas vom Stil Wolframs, selbst wohl auch des jüngeren Titurels und Meister Eckharts. Ich persönlich dagegen höre und sehe in Dante mehr [...] den Schöpfer der Renaissance. 1 ' B o r c h a r d t hat in der T a t versucht, d e r Comedia

d u r c h das S t u d i u m

der

älteren S t u f e n der r o m a n i s c h e n u n d g e r m a n i s c h e n S p r a c h e n , aber a u c h d u r c h e i n e n s e c h s m o n a t i g e n A u f e n t h a l t i m o b e r d e u t s c h e n D i a l e k t r a u m e i n e histo14 Ebd., S. 497f. 15 Katalog Marbach, S. 320. 16 Ebd., S. 317f.

79

Rudolf Borchardt und das romanische Mittelalter

risch adäquate deutschsprachige Präsenz zu verleihen. 17 Er bemüht sich, wie er schon 1911 an Josef Hofmiller schreibt, um einen "genuinen Archaismus", der schafft "nicht, was schon da war, sondern was unter idealen Umständen hätte werden können und nicht geworden ist" 18 bzw., wie er dem Duce bei der Überreichung des fertigen Buches erklärt: "ich habe versucht ein älteres Deutsch durchschimmern zu lassen, und eine Sprache zu finden, die es nicht gibt." 19 Das Vorhaben, die Comedia zu "lesen wie Arnaut Daniel, wie Burkart von Hohenvels und Konrad von Megenberg sie, wenn sie es erlebt hätten, hätten lesen können" 2 0 , ist allerdings, wie vor allem die heutige Leseerfahrung zeigt, wohl ebenso als gescheitert anzusehen wie die Eindeutschung der großen Trobadors. 2 1 Immerhin behauptet sich Borchardts Dante deutsch mühelos als Klangdokument, das sich dem Hörer im Rhythmus eines sprachlich disziplinierten, durch intensive Textkenntnis vorbereiteten Vortrags erschließt, 22 nicht als Idealübersetzung, sondern als eine neue Textsorte, nicht als Authentizität garantierende Übertragung, sondern als eine genuine Sprachleistung, geboren aus dem Geist der neuromantischen Avantgarde der Zeit vor dem ersten Weltkrieg, aus der ja, wie erste Proben im Jahrbuch Hesperus von 1 9 0 9 zeigen, die Anfänge dieser Arbeit stammen. Damit wird, dies sei betont, nicht einer gängigen Übersetzungskritik des "besser" oder "schlechter" das Wort geredet, sondern eine historistische Aporie in den Blick genommen. Denn zweifellos handelt es sich bei den Trobadors und bei Dante um Texte, die sich nach der relativen Popularität ihrer Blütezeit nur noch schwer an ein weitgehend geschichtsloses Publikum vermitteln lassen. Diesem Publikum aber noch zusätzlich den Umweg über ein künstliches oberdeutsches Mittelalter zuzumuten, das zwangsläufig in der Konkurrenz zu dem ja schon in einer reichen Literatur existierenden Mittelhochdeutschen stehen muß, ist denn doch des Guten zuviel. Der Leser von heute, "erinnerungsloser" Auswanderer "ohne Lehnstreue und Frauendienst und

17

Zu Borchardts Übersetzungstätigkeit im Bereich der Romania vgl. Fred Wagner: Rudolf Borchardt and the Middle Ages, Frankfurt am Main 1981, Kap. I V und V ; H a n s - G e o r g Dewitz:

'Dante

deutsch'.

Studien

zu

Rudolf

Borchardts

Übertragung

der

'Divina

Comedia', Göppingen 1971; ders.: Rudolf Borchardt: "Dante deutsch". Zu Aporie und Apologie einer Hybride, in: H o r s t Albert Glaser ( H g . ) : Rudolf Borchardt

1877-1945,

Frankfurt am Main 1987, S. 3 4 7 - 3 6 5 . 18

Zitiert nach Dewitz: 'Dante deutsch' (Anm. 17), S. 28.

19

Prosa V I , S. 213f.

20

Prosa II, S. 485.

21

Diese haben in modernen Anthologien nicht einmal neben denen anderer Autoren Aufnahme gefunden; vgl. Ulrike Bunge: Übersetzte Trobadorlyrik in Deutschland, Frankfurt am Main 1995.

22

Vgl. die von Siegfried Wittlich konzipierte Aufnahme von Teilen der Nachdichtung mit Gert Westphal: La Comedia des Dante Alighieri, C D Litraton, Hamburg 1993.

80

Sebastian Neumeister

Gottesminne", 23 lernt die Vorreiterrolle der Trobadors und die Einzigartigkeit Dantes wohl doch eher an den exakt kontrollierten Übertragungen

der

Philologen vom Schlage eines Karl Vossler oder Hermann Gmelin kennen 24 oder aber an den Originaltexten selbst, jenem arcanum,

das nur noch in Uni-

versitätsseminaren ein verdecktes und z. T. auch verstörtes Leben fristet, kaum noch in den Bibliotheken eines weithin unsichtbar gewordenen Bildungsbürgertums. Am kühnen Experiment einer Reaktualisierung vergangener Sprachzustände durch ihre Neuerfindung erweist sich einmal mehr der Zwiespalt von elitärem Wissen und volkserzieherischem Auftrag, an dem Rudolf Borchardt zeit seines Lebens gelitten hat - es ist die eigentliche tragische Dimension seines Bemühens. Anders, nämlich zumindest im Ansatz besser, steht es um die zweite große Utopie Rudolf Borchardts, die kulturmorphologische Gesamtschau auf zurückliegende Epochen, wie sie sich etwa im Villa-Aufsatz oder im Pisa-Buch ausspricht. Auch hier hat sich Borchardt die klassischen Altertumswissenschaften, wie sie zu seiner Zeit noch in höchster Blüte standen und, wie man weiß, auch seiner intensiven Anteilhabe gewiß sein durften, zum Vorbild genommen. An ihnen nämlich entwickelt er durchaus polemisch die Maßstäbe einer mittelalterlichen Altertumswissenschaft, wie sie ihm vorschwebte und wie sie gerade auch der heutigen Geschichts- und Kulturwissenschaft gut anstünde: Man ist nicht mehr Philologe oder Numismatiker oder Archäologe oder Historiker, sondern man studiert klassische Altertumswissenschaft und griechische Tragiker, klassische Altertumswissenschaft und römische Archäologie, klassische Altertumswissenschaft und umbrische Dialekte u.s.f. Aber dieser methodische Grundsatz reicht, wie es scheint, scharf von Romulus und Remus bis zu Romulus Augustulus. Nach letzterem Monarchen scheint eine Epoche beginnen zu dürfen, in der man sich mit den Skulpturen des Jahres 1300 beschäftigen kann, ohne von den Versen des Jahres 1300 sachverständig urteilen zu können, und für die es der Analyse eines Kunstwerkes nichts schadet, wenn man sich in völliger Unklarheit über die moralische Sphäre befindet, in der es erwachsen ist. Es ist völlig zugestanden, daß man keine römische Philologie treiben kann, ohne ein durchgebildeter Gräzist zu sein, weil im höheren Sinne die Einheit des Kulturraumes diese Unterschiede wissenschaftlich aufhebt. D a ß das Mittelalter für alle Völker, deren gehobene Sprache sich auf den Wendungen des Hoflateins aufbaut - nicht nur die Erben des Vulgärlateins - , ein genau ebenso geschlossener Kulturraum gewesen ist, geschlossen auf dem sprachlichen Gebiete durch das soeben Berührte, auf anderen durch den ökumenischen Charakter des Christentums und des Rittertums, ist eine theoretisch, wie es scheint, in so hohem Maße trivial gewordene Annahme, daß man es überflüssig findet, die Folgerungen aus ihr praktisch zu ziehen. 2 5 23 24

Prosa II, S. 480. Einen Vergleich der Dante-Nachdichtungen von Rudolf Borchardt und Stefan George nimmt Lucia Mancini vor: Borchardt und George: Die Übersetzung der Divina C o m m e dia, in: Glaser (Anm. 17), S. 321-346.

25

Prosa III, S. 86f.

Rudolf Borchardt und das romanische Mittelalter

81

Rudolf Borchardt hat bewußt darauf verzichtet, mit seiner Deutung des mittelalterlichen Stadtkörpers von Pisa an einer historischen, kunstwissenschaftlichen oder literaturgeschichtlichen Diskussion teilzunehmen, die es durchaus gab. Er hat es vielmehr vorgezogen, nach jahrelanger Vertiefung in den Gegenstand aufgrund eigenen Erlebens eine Summe "ganz aus freier Hand zu ziehen" 26 , wie er sagt. Gerade deshalb aber ist ihm bei aller Preziosität im Stil, bei aller im Detail fragwürdigen Durchdringung des Stoffes ein Buch gelungen, das beeindruckt und dem immerhin noch 1 9 7 7 , also knapp 4 0 Jahre nach der Erstausgabe, die Ehre einer italienischen Ubersetzung zuteil wurde. 27 Es ist sicher kein Zufall, daß gerade Pisa Borchardt fasziniert hat, und dies nicht nur wegen des Aufenthaltes, den er dort im Winter 1903/1904 nahm. Pisa ist für Rudolf Borchardt die Stadt, die sich gegen alle Versuche italischer, römischer, langobardischer Einvernahme behauptet hat, eine Siedlung, die vom Meer, von Karthago, Marseille, Mallorca, Sardinien aus kolonisiert, gleichmütig auf die Querelen und Parteiungen der Appenninenhalbinsel schaut, bis - ja bis das "fränkisch erneuerte Kaisertum" auf den Plan tritt: Wunderbar, mit welcher Strenge die Meerstadt, deren Lebensfragen durch binnenländische Machtausgleiche nicht berührt werden und durch Hineingeraten in sie nur kritisch werden können, die uralte Neutralitätslinie ihrer Eilandstellung festhält und, während Italien seine ganzen Volksgeschmelze unter das neue Pathos der Nationalität gegen den Deutschen zu binden im Begriffe ist, wie automatisch in den Adlerschatten der Universalmonarchie rückt, in deren Weltbilde jeder nationale Begriff erlischt.28

Borchardt sieht in der Geschichte Pisas im Mittelalter "die Verschmähung des Chaos der italienischen Kleinwelt in seinem Rücken und die Weigerung, aus nichts als Italien hervor-, in nichts als Italien aufzugehen", er erkennt im Schicksal dieser Stadt einen antiken Seereichsgedanken, der wie im Falle Venedigs ins Europäische wächst, mit Kolumbus und Vasco da Gama aber dann ins Amerikanisch-Planetare ausbricht und im Ergebnis die Geschichte des Mittelmeerraumes auf den Kopf stellt: Der Vorgang ist vom Kleinasien des zweiten vorchristlichen Jahrtausends bis zum Kap Vascos und dem Feuerlande Magelhäes' eine einzige geschlossene Kette von Völkerdiadochien in einem festen geschichtlichen Räume und wird von Rom bei Zama nur scheinbar, das heißt eben nicht unterbrochen, sondern sie verrinnt ins Meer, um erst zwölfhundert Jahr[e] später am gelüfteten Anker der Pisaner Balearenschiffe für ein neues Halbjahrtausend wieder aufzutauchen. Die Römerzeit ist hierin wie in so vielem nicht die Fortsetzung, sondern die fremdartige Unterbrechung der eigentlichen Geschichte des Mittelmeeres.

29

26 Ebd., S. 496. 27 Vgl. Katalog Marbach, S. 322. 28 Prosa III, S. 121. 29 Ebd., S. 124.

82

Sebastian N e u m e i s t e r

Diese eigentliche Geschichte des Mittelmeerraumes aber sieht Borchardt in der Verbindung zum deutschen Norden - es ist die Reichsidee des letzten Hohenstaufenkaisers: Dies pisanische Ausschnittbild, dessen Streuung ein Entwurf gebliebenes, nie völlig realisiertes Seereich bezielt, wurde aber, sobald es seine F r o n t verkehrte, zu der tatsächlichen g r o ß e n Flankenstellung gegen das italienisch nationale Mittelalter, in welcher antike, urälteste T e n d e n z e n eines seemächtigen Universalismus auflebten, und die der Universalmonarchie der deutschen Kaiser gerade dasjenige zu bieten hatte, was dieser k o n s t r u k t i v gerade fehlte, die exzentrische Umfassung der Halbinsel, den vergeblichen T r a u m Friedrichs II., statt des h o f f n u n g s l o s e n frontalen Steckenbleibens der älteren Kaiserzüge in der dichten Städterhecke. 3 0

Es ist diese welthistorische Vision, die erst Borchardts sprach-, literatur- und kunstgeschichtliche Meditationen über Pisa und seine Landschaft verständlich werden läßt, aber auch seinem obstinaten Anrennen gegen alle herkömmlichen Deutungen den ideologischen Halt gibt. Der Camposanto von Pisa ist ihm nicht ein Kapitel aus der italienischen Kunstgeschichte, sondern der Rest einer Weltreichsidee. Man muß, so fordert Borchardt, "auf den ersten Blick gewahren, daß keine bloße Stadt sich für sich selber dies riesige Forum der Weltwunder gerüstet hat, sondern nur eine Reichshauptstadt für ein Reich, für ihr Reich, für - man zaudert den Gedanken zu Ende zu denken - Das Reich." 31 Rudolf Borchardt bindet in seinem Pisa-Buch ganz im Sinne seiner Vorstellung von einer mittelalterlichen Altertumswissenschaft zwei Gestalten aneinander, den gotischen Bildhauer Giovanni Pisano, Schöpfer der Domfassade in Pisa und der Kanzel im Inneren, und Arnaut Daniel, den provenzalischen Trobador und wichtigsten Vertreter des dunklen Stils (trobar clus32), dem Dante in seiner Comedia die Ehre von drei Terzinen im provenzalischen Original zuteil werden läßt (Purgatorio XXVI, Vers 140-147) 33 . Borchardt versteht diese Verbindung ein weiteres Mal als ein historisches Ereignis, das die überkommenen Maßstäbe verkehrt, in diesem Falle zugunsten des europäischen Nordens "das Austauschverhältnis von Nord und Süd, Mittelmeergebiet und revolutionärer Christenheit, antikischer Mündigkeit und stationärformspielender Gotik - unreifer also". Es ist, im Gegenzug dazu, als Frucht von Borchardts Trobador-Lektüren, "die mächtige geschichtliche Tatsache der Originaldichtung nordischer Völker", hier am Beispiel der aus mittelmeerischer Sicht als nordisch verstandenen Provenzalen, "gegenüber dem dichterischen Vakuum der Mediterranen, diese Gegenkraft zur antikischen Bildtradition wider das bildnerische Vakuum des Nordens", die in Pisa sichtbar wird,

30 31 32 33

Ebd., S. 125. Ebd., S. 134. Vgl. dazu Ulrich Molk: Trobar clus - trobar leu, München 1968. Vgl. dazu J ö r n Gruber: Die Dialektik des Trobar, Tübingen 1993, S. 39f.

Rudolf Borchardt und das romanische Mittelalter

83

und dies fast im Wortsinne. Denn Borchardt sieht in einer heute Nino bzw. Andrea Pisano zugeschriebenen Anunziata-Figur im Museum zu Pisa 34 nicht nur die erste nachantike, dem Relief abgerungene Freiplastik, sondern auch den Geist der im Frauenlob aufgehenden höfischen und nachhöfischen Lyrik der Provence, Dantes und Petrarcas: Mit dieser Gestalt hat die Kunst des italienischen Mittelalters nun aber auch den Anschluß an die klassische Poesie des Mittelalters gewonnen und fließt mit der höfischen Frau der Provence, mit Laura und den Herrinnen der Comedia zusammen; zwischen ihr und der aus diesem Kanon geschöpften Ilaria des Senesen auf dem Luccheser Sarkophag ist mit einer Meisterschaft, die von keiner Aufgabe mehr geschreckt wird, endlich dasjenige in den Raum gestellt worden, was die Seelen eines ganzen Zeitalters der Menschheit bis zur Beseligung zerrissen, bis zur Zerreißung beseligt und in beidem über sich selber erhöht hat, die abendländische Edelfrau, jungfräulich herb und eher verwehrend als gewinnend, gottgeplant und gottgeliebt, Lenkerin, Umwandlerin, Erzieherin, Weissagin, wie diejenige, von der in noch fast mittelalterlicher Fassung der ritterliche Engländer des späten achtzehnten Jahrhunderts sagt: "Sie zu lieben war in sich selbst ein höherer Bildungsgang." 3 5

Und, im Nachgang dazu, wiederum und noch einmal zwei Sätze, die Borchardts Vision, die Aufwertung des Mittelalters als einer zweiten Antike gegen den Renaissancebegriff des 19. Jahrhunderts, erkennen lassen: D i e Renaissance hat ein solches Freibild nicht mehr erzeugen können. Aus der seelischen Einheit des Mittelalters, aus der seelischen Einheit der Antike allein konnte seinesgleichen entstehen. 3 6

Rudolf Borchardts Versuch, die Dichter des süd- und südwesteuropäischen Mittelalters, insbesondere der Provence und Italiens, in das Joch eines nicht existierenden Altdeutschen zu zwingen, muß ebenso als fragwürdig angesehen werden wie sein Versuch, für diese Epoche einen geopolitischen Kulturraum Italien - Provence - Oberdeutschland zu rekonstruieren. Damit aber fällt sein Vorhaben, einer neuartigen mittelalterlichen Altertumswissenschaft den Weg zu bereiten, nicht schon dem Vergessen anheim. Die Entwicklung der historischen Mediävistik im Gefolge der französischen Antiales-Schu\e wie die Abkehr der literarischen Mediävistik von der reinen Textphilologie zeigen nur zu deutlich, daß Rudolf Borchardt, wenn auch mit einer Vision, die um einiges zu groß war für die kleinteilige Realität, auf einem richtigen Weg war.

34

Vgl. die Abb. im Katalog Marbach, S. 324.

35

Prosa III, S. 231 f.

36

Ebd., S. 232.

CHRISTOPH KÖNIG

Eine Wissenschaft für die Kunst. Wie Burdach, Borchardt und Hofmannsthal einander nützen1 Die Wissenschaft benötigt die Kunst, um Geschichte abzuwehren und das Ganze zu sichern. Das ist Goethes Formel - Nietzsche hat eine Wissenschaft vor Augen, die von Geschichte in diesem Sinn schon erfüllt ist, das Leben stört, aber auch aufklärt und in solchem kritischen Lebensbezug eine Vorbedingung von Kunst sein kann. Hofmannsthal hat zum Ziel die Totalisierung. Goethe und Nietzsches Konzepte zum Verhältnis von Kunst und Wissenschaft sind ihm geläufig und dienen als Muster. Diese modernisiert er. Dabei trifft er eine Unterscheidung, die aus einer Skepsis den Vorgängern gegenüber entstammt: (a) er kann ("theoretisch") rekonstruieren, was nötig wäre, um Kultur, das Ziel seiner Totalisierung, zu schaffen, und (b) er kann eine Ahnung evozieren von ihrem Gelingen. Danach verteilen sich auch die Aufgaben von Wissenschaft und Kunst. In der Wissenschaft läßt sich - fiktiv - das Modell, die Formel, die Kulturformel skizzieren (das tut er in seiner Habilitationsschrift über Victor Hugo); mehr noch werden ihre Gegenstände, ihr Wissen zu Elementen im Kulturprozeß; das Prinzip, als gelungenes und lebendiges, bleibt ihr hingegen unzugänglich. Darauf zeigt die Kunst, ohne jedoch davon sprechen zu können. Denn um die behauptete Universalität nicht einbüßen zu müssen, darf die "Kultur" keine Attribute haben, keine historischen, philosophischen oder mythologischen. Solche Attribute können nicht mehr als Behelfe vorläufiger Verständigung sein. Er fragt: Wozu soll seine Zeitschrift Neue Deutsche Beiträge, die er von 1922 bis 1927 herausgibt, beitragen? Und antwortet: "Zum geistigen Besitz der Nation, demnach zur Sprache? denn wo wäre, als in der Sprache, der geistige Besitz der Nation lebendig zu finden? Immerhin. Die Sprache, ja, sie ist Alles; aber darüber hinaus, dahinter ist noch etwas: die Wahrheit und das Geheimnis. Und, wenn man dies nicht vergisst,

1

Dieser A u f s a t z ist Teil eines Buches über H o f m a n n s t h a l u n t e r den Philologen, das demnächst erscheint.

Wie Burdach, Borchardt u n d H o f m a n n s t h a l einander nützen

85

darf man sagen: die Sprache ist Alles." 2 Begriffe wie eben den der "Sprache" toleriert er nur mit dieser Vorläufigkeitsklausel. Nicht jede Wissenschaft eignet sich für dieses Programm. W ä h r e n d des Ersten Weltkriegs und danach bemüht er sich immer mehr, seine Kultur in Kulturpolitik umzumünzen und daraus auch Kunst zu machen. W i e er Goethe in seinem Deutschen Lesebuch als Gelehrten bietet oder an Nietzsche vor allem den Altphilologen schätzt, bildet er bewußt einen offenen Zirkel von Verbündeten, deren Rolle und deren Bedeutung für ihn er fein bestimmt danach, wie ihre Wissenschaft, die zur Kultur der Zeit ein jeweils unterschiedliches Verhältnis hat, seiner Kunst dienen kann. Bevorzugt wird, wer nach einem Kulturmodell arbeitet, ohne konkret kulturell sich festzulegen, so daß seine Einzelbefunde von H ö h e r e m durchdrungen sind, ohne dieses beim "Namen" zu nennen, und bevorzugt wird, wer solcherart vor dem H ö h e r e n den gehörigen Respekt bewahrt. Es nicht zu beherrschen sucht. In diesem Sinn achtet Hofmannsthal auf die Grenzen der Gebiete und hütet sich vor einer (dann zudringlichen) Asthetisierung in der Philologie tel quel. Immer wieder zitiert er: "La science a cessé d'adorer de là le malheur." 3 Mit Walther Brecht, Konrad Burdach, Josef Nadler, Walter Benjamin, Rudolf Borchardt, Rudolf Pannwitz und Carl J. Burckhardt ist der Kreis von Gelehrten, Gebildeten oder von auf die Universität hin orientierten Dichtern grob umschrieben, zu denen Hofmannsthal, auf unterschiedliche Art und auch in wechselndem Abstand, seit dem Ersten Weltkrieg die Verbindung sucht; bislang hat man deren Bedeutung, zugunsten der Dichterfreundschaften, unterschätzt. Schreibt man ihre intellektuelle Geschichte, so wird man sie innerhalb der Geistesgeschichte der deutschen Kulturwissenschaften zwischen 1910 und 1925 einordnen können. 4 Sie ist alles andere als homogen, und ihre Vielfalt ist eine Vielfalt von Antworten auf Probleme des Historismus im 19. Jahrhundert, als dessen Erben - Burdach und Borchardt stehen hier als Beispiele - die Freunde sich sahen: Sie verstanden sich im Problem, auch mit Hofmannsthal, der die Antworten anderer von seinen praktischen poetischen Interessen her berurteilte.

2 3

H u g o von H o f m a n n s t h a l : V o r w o r t , in: N e u e Deutsche Beiträge 1, 1922, H . 1, S. 4. H o f m a n n s t h a l zitiert das W o r t in den N o t a t e n zu Rodauner Anfänge (Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe, Bd. X X X I : E r f u n d e n e Gespräche und Briefe, hrsg. von Ellen Ritter, F r a n k f u r t am Main 1991, S. 129,20); auch in N 1 und N 4 z u m Xenodoxus-Fragment (Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe, Bd. X I X , D r a m e n 17: F r a g m e n t e aus d e m N a c h l a ß 2, hrsg. von Ellen Ritter, F r a n k f u r t am Main 1994, S. 70,7 u n d 71,9). D e r Satz s t a m m t , vermittelt von H e r m a n n Bahr, aus Ernest Hello, L ' H o m m e . La Vie-La Science-L'Art (1872).

4

Vgl. Literaturwissenschaft u n d Geistesgeschichte 1910 bis 1925, hrsg. v o n C h r i s t o p h König u. Eberhard Lämmert, F r a n k f u r t am Main 1993.

86

Christoph König

Der Universitätsdichter Borchardt Zeit seines Lebens gibt Borchardt der Universität zurück, was er ihr verweigert hat, als er die Dissertation nicht schrieb und die Karriere, die ihm in den Augen seiner Lehrer sicher schien, gar nicht erst antrat. Er hätte ihr, innerhalb der Mauern, geben können, wonach, wenn nicht alle, so doch viele verlangten. Warum ihn später Gelehrte wie Burdach und Nadler und GermanistenGenerationen nach jener Zeit gerne als Kollegen anerkennen, bezeugt der Brief von Friedrich Leo 5 aus Göttingen am 1 0 . 5 . 1 9 0 2 , der über Hofmannsthal geleitet wurde und den spurlos verschwundenen Borchardt wohl nie erreicht hat; Leo erzählt die Geschichte der Freundschaft zu seinem Schüler, dessen private Verfehlungen gegen die bürgerlichen Normen (darunter auch das spurlose Verschwinden) er ihm nachsah, weil er sie als die schwarze Seite der Genialität nahm, die Borchardts philologische Arbeiten so unvergleichlich machte. Solange er in der Disziplin blieb, durfte das Schöpferische vor der Ethik rangieren: Als Sie im Herbste vor drei Jahren nach G ö t t . kamen haben Sie durch Ihr Ungestüm, durch Ihre Bildung und Ihren Weltblick, schließlich durch die Fülle lebendiger Gedanken die Sie bei so erstaunlicher Jugend in sich bewegten und aus sich hergaben mit einem Schlage unser lebhaftes Interesse für sich gewonnen. D a ß Sie ein reines kindlich sich öffnendes H e r z hatten, fein, gütig und liebevoll waren, erwarb Ihnen unsere herzlichste Freundschaft in kürzerer Zeit als wir sie sonst zu geben gewohnt sind. Ich kann Ihnen jetzt, nachdem Sie s o sehr ein anderer geworden sind, wohl sagen, daß Sie der hinreissendste junge Mensch gewesen sind, dem ich seit Wilamowitz begegnet bin [...] D e r W e g den Sie hinter sich haben wird von Leichen bezeichnet. Das muß Ihnen ganz hart gesagt werden [...] aber wir entschuldigen es vollkommen mit Ihrer Leidenschaft.

Unentschuldbar bleibt, daß er diese Anlagen der Wissenschaft entzieht, deren "Müssen" sie erst hätten entfalten können. "Der Dichter, der Kritiker, der Philolog stehen für meine Augen bei Ihnen in einer Verbindung, über die mein Urteil mich im Stiche läßt, f...] Ihr neuer Weg hat unsere Billigung nicht." 6 Im Verhältnis von Lehrer und Schüler spiegelt sich der Grundkonflikt der Universität, den Borchardt dreißig Jahre nach dem T o d Leos ( 1 8 5 1 - 1 9 1 4 ) , ganz in Diltheyscher Manier, im Zusammenhang der Traditionen deutet, aus denen Leo hervorging (bevor jedoch aus diesen das Bild Leos gezeichnet wird, bricht der T e x t ab 7 ). Der allgemeine große Demokratisierungsprozeß des Wissens steht den Bildungsansprüchen gegenüber, die die Universität be-

5

Zum Verhältnis von Borchardt und Leo vgl. Thomas Poiss in diesem Band.

6

Briefe 1 8 9 5 - 1 9 0 6 , S. 194-200.

7

Rudolf Borchardt: Friedrich Leo, in: Prosa V I , S. 2 6 1 - 2 9 3 .

Wie Burdach, Borchardt und Hofmannsthal einander nützen

87

friedigen soll - und auch an Politik und Gesellschaft heranführt. 8 Borchardt deutet den Konflikt als einen Gegensatz zwischen (oberdeutschem) Humanismus (dafür steht Ritsehl) und einer preußischen, universitären, "geschichtlich umgebauten Philologie"' Otto Jahns und läßt diese zwei Geistesarten sich in Leo begegnen; durch den "Zuschuß der gesamten deutschen Humanitas in den Arbeitsvorgang der Wissenschaft" 10 erhält die Philologie Anteil an der Nation. Borchardt will nicht einen "Gelehrten" skizzieren, sondern eine "herrlich organisierte Natur" 11 , und als Dichter solidarisiert er sich mit ihm, indem er - das "herrlich" und das "organisiert" zusammengenommen - die Poesie weder zum Paradies noch zur Utopie einer "schöpferische[n] Wissenschaft" 12 macht, sondern zu ihrem ständig möglichen Gravitationszentrum, das wirksam wird, wenn die zwei Geistesarten zusammenschießen wie eben bei Friedrich Leo. Borchardt will mit seiner Dichtung diesen Konflikt für die Philologie lösen, während Leo gerade durch die klare Trennung der Welten Borchardt, trotz seiner weltlichen Eskapaden, in Schutz nehmen konnte. Die synthetische Lösung wollte er von dem Späteren nicht annehmen.

Eranos: Universität privater Art 1924 überreichte Borchardt Hofmannsthal die Festschrift Eranos zum fünfzigsten Geburtstag. 1 3 Der Titel erinnerte an das griechische Institut eines Mahls unter Freunden, deren Geschenke einem der ihren zugedacht waren. Oft war es ganz privat organisiert. Die Freunde Hofmannsthals bildeten im Zeichen des Freundesmahls eine universitäre Sitte im eigenen Kreis nach und zeigten, daß sie sich an der Universität orientierten und - "nach Art der rühmlich bekannten akademischen Festgaben" 14 - im Privaten wettzumachen suchten, was an ihr versagt blieb. Denn entweder sahen sie sich, sofern sie ihr angehörten, an ihrem Rand, als Außenseiter; ein Topos in Burdachs Briefen 8

9 10 11 12 13 14

Der Bismarck-Anhänger Leo hält etwa "im Namen der Georg-Augusts-Universität" eine national-sakrale und militaristische, auf Heldenverehrung gestimmte Rede zum Gedächtnisse des Fürsten Bismarck am 20. November 1898 (Göttingen: Dieterich'sche Univ.-Buchdruckerei). Borchardt (Anm. 7), S. 272. Ebd., S. 283. Ebd., S. 281. Ebd., S. 272. Eranos. Hugo von Hofmannsthal zum 1. Februar 1924, München: Verlag der Bremer Presse 1924. So Borchardt in seinem um Beiträge werbenden Rundbrief, der die Form einzuhalten sucht bis hin zur peniblen Angabe von akademischen Titeln, auch wenn sie ehrenhalber verliehen wurden; Briefe 1914-1923, S. 523f.

88

Christoph König

ist die Klage über seine Vereinsamung an der Akademie, und Nadler bewegte sich zu seinem Leidwesen immer an der Peripherie (von Prag nach Fribourg und Königsberg), bevor er erst 1931 nach Wien berufen wurde. Oder sie standen draußen und hielten ihre eigene Universität wie Pannwitz ("auswachsung bis zu einer organisch entstandenen Universität vollkommen privater art die allein durch meine person zusammengehalten ist."15) oder Borchardt: Der Ausgleich von Forschung und Dichtung hat von 1901, als ich Göttingen verließ, bis zum Ausbruche des Krieges wechselvolle Jahre mit leidenschaftlichen Bemühungen angefüllt, während deren ich notgedrungen mir zur eigenen Universität und eigenen Tradition werden mußte, weil niemand mehr mich lehren konnte, was ich zu lernen hatte. 1 6

Seit Dilthey die Universität im Leben begründet hatte, konnte man dafür auch das eigene hernehmen. Weil sich die Universität in ihrem Bildungsauftrag einer staatlichen und nationalen Aufgabe fügt, darf nicht verborgen bleiben, was sie tut. Sie muß sich einen öffentlichen Teil zulegen. Festreden und Festschriften gehören dazu. So hatte die Gattung des Erattos Folgen. Er brachte die stille Gelehrsamkeit um Hofmannsthal ans Licht. Ganz gegen seinen Willen. Als Herausgeber der Neuen Deutschen Beiträge etwa konnte er den Autoren Diskretion zusichern, sogar wenn einer ihm eigene Aufzeichnungen zur Veröffentlichung überließ. An Carl J. Burckhardt schrieb er: "Es wird in der anständigsten Gesellschaft stehen - und dem ganzen liegt jede Ostentation, jede gewöhnliche Publicität so fern, daß auch der private Charakter Ihrer geistigen Existenz dadurch nicht tangiert wird." 17 Aber der Eranos ist kein Werk Hofmannsthals, sondern eben Borchardts, und er folgte nicht der Wahrheit, sondern einer rhetorischen Norm mit der Demutsformel: "Der Zufall fügt es, mein Teurer, daß gerade ich derjenige sein soll, der Dir den Festschwarm dieses Tages in das schöne Haus Deines Lebens zuführt".18 Wenn Hofmannsthal sich zur Festschrift äußerte, so fast nur verärgert über die öffentliche Festlegung und fast nur über Borchardts einleitenden Brief, wo ihm, als Begründung des Unternehmens, ein universitäres Poesiekonzept entgegengehalten wurde, das die Auflistung von Hofmannsthals Werken im Deutschen Lesebuch gipfeln ließ und seine Lyrik, ohne auch auf sein späteres Œuvre einzugehen, daher deutet. Eine Provokation.

15

Hugo von Hofmannsthal / Rudolf Pannwitz: Briefwechsel. 1907-1926, in Verb, mit dem Deutschen Literaturarchiv hrsg. von Gerhard Schuster, mit einem Essay v. Erwin Jaeckle, Frankfurt am Main 1994, S. 79 (10.9.1917).

16 17

Rudolf Borchardt: D e r Dichter über sich selbst, in: Prosa VI, S. 200. Hugo von Hofmannsthal / Carl J. Burckhardt: Briefwechsel, erw. u. überarb. Neuausg., Frankfurt am Main 1991, S. 96.

18

So beginnt der einleitende Eranos-Brief, in: Prosa I, S. 9 0 - 1 3 0 .

89

W i e Burdach, Borchardt und Hofmannsthal einander nützen

Borchardts Gedankengang lautet: Die Universität hat eine nationale Aufgabe. Diese Aufgabe besteht in der Aufbereitung des Wissens zu Bildung. Bildung ist nur möglich innerhalb einer Geschichtskonstruktion. Eine solche Konstruktion kann von der Poesie geschaffen werden. Damit erfüllt Poesie, innerhalb der Universität, deren eigenste nationale Aufgabe. Öffentlich läßt er deshalb auch von anderen in der Festschrift das Verhältnis von Poesie und Universität debattieren und so die öffentliche Bedeutung der Poesie dokumentieren oder begründen: Burdach bestimmt nach d e m Vorbild der Dichtung die Aufgaben einer Akademie der Wissenschaften, 1 9 Karl Vossler thematisiert den Gegensatz, der englische Philologe Gilbert M u r r a y wechselt die Gebiete

und

dichtet

auf griechisch,

Nadler

erläuterte

ursprünglich

jene

völkische Kraft, die auf Gelehrte und Dichter gleichermaßen wirkt (die aber Juden wie W a s s e r m a n n unzugänglich bleibe) - nur Brecht hält sich zurück und schützt die Dichtung. 2 0

Poesie u n d nationale Aufgabe der Philologie Borchardt selbst sucht Hofmannsthal in seine Dienste zu ziehen. Ihre Beziehung erhält aus wissenschaftsgeschichtlicher Sicht wesentlichen Aufschluß. 2 1 Borchardt hat seinen Gedankengang in die eigene Bildungsgeschichte eingelassen, die er auf die Begegnung mit Hofmannsthal hin erzählt. V o n der Schule, w o Antike und Gegenwart noch verbunden waren, w o es keine "Geschichte" gab und die Bücher der großen Gelehrten (von Scherer,

19

Herman

Konrad Burdach: D i e deutschen wissenschaftlichen Akademien und der schöpferische nationale Geist, in: Eranos (Anm. 13), S. 2 9 - 6 0 ; mit einem Nachwort wiederabgedr. in: ders.: Vorspiel. Gesammelte Schriften zur Geschichte des deutschen Geistes, 2. Bd. G o e t h e und sein Zeitalter, Anhang: Kunst und Wissenschaft der Gegenwart, Halle: 1926 (Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Buchreihe 3), S. 5 4 6 - 5 8 0 . Borchardt bezieht sich noch 1933 darauf: D i e deutsche Dichtung im Leben der Nation, in: Prosa IV, S. 364.

20

G i l b e n Murray: [Griechische Elegie], in: Eranos (Anm. 13), S. 91; J o s e f Nadler: Altwiener Theater. Aus Hofmannsthals Vorgeschichte, in: ebd., S. 9 6 - 1 0 8 (ursprünglich vorgesehen war ein Beitrag: Christian Wahnschaffe und Das Grosse Welttheater, jetzt in: Hofmannsthal-Blätter 2 3 / 2 4 , 1 9 8 0 / 8 1 , S. 7 2 - 8 0 ) ; Walther Brecht: Fragmentarische Betrachtung über Hofmannsthals Weltbild, in: ebd., S. 18-24.

21

Zwischen Selbstreflexion und Schaffensprozeß klafft eine Lücke; diese Lücke mindert ihre Modernität prinzipiell. D e n n o c h fügt sich die Forschung gern dem

poetischen

Anspruch. So vergleicht, unter dem Gesichtspunkt des Erinnerungsvermögens, die beiden Gerhard Neumann: "L'inspiration qui se retire". Musenanruf, Erinnern und Vergessen in der Poetologie der Moderne, in: Memoria. Vergessen und Erinnern, hrsg. von Anselm Haverkamp u. Renate Lachmann, München 1993 (Poetik und Hermeneutik 15), S. 4 3 3 - 4 5 5 .

90

Christoph König

Grimm, M o m m s e n und Curtius) als Zeugnisse der "ganzen Menschheit" 2 2 gelesen w u r d e n , kam er an die Universität, w o er diesen Bildungsgang nicht mehr fortsetzen konnte. Der Eintritt an die Universität kam für ihn d e m Eintritt in ein verfallendes Zeitalter gleich, dessen Katastrophe darin bestand, daß die politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen keine nationalen waren. National ist für Borchardt eine kulturelle Kontinuität, die das ganze Volk durchdringt. Indem die Universität sich den Naturwissenschaften und d e m geschichtlichen Denken unterwerfe, versage sie vor der Aufgabe, mit d e m Theater, dem Buchhandel und dem Gymnasium die Kultur der h ö h e r e n Stände ins Volk zu bringen. Denn was die Vielfalt von N a t u r und Geschichte für den Menschen kulturell bändigen könne, werde zerstört. Statt Geschichtsphilosophie Geschichte der Philosophie in historistischem Sinn, statt Naturphilosophie naturwissenschaftliche Durchdringung der Philosophie durch Psychologie. "Die Universitäten gaben sich auf." 23 Aber die deutsche Universität besitze in der "Poesie das unsichtbare Z e n trum dieses Kräftetausches" 2 4 von außen und innen. Borchardt führt eine Geschichtskonstruktion ein, die dies erläutert und von der er behauptet, daß sie von der Poesie verwirklicht werde. Anders als die Universität als RenaissanceInstitution römischer Provenienz und rhetorischer Ausrichtung, wie man sie in anderen Ländern finde, setze die deutsche das H u m a n e voraus, welches aus der griechischen Erweiterung des Römischen resultiere und die Einheit von "Universität und Poesie, Forschung und Schöpfung" 2 5 zur Folge habe. Für diese Konstruktion, gegen den Gegenwartsbefund gerichtet, mit Hilfe H e r d e r s erstrebt, habe er seine Gelehrsamkeit einzusetzen gesucht - und ihre mühelose Erfüllung in Hofmannsthals Gedichten gefunden. Meine Studien ruhten, vollkommen logisch und rechtmäßig [...]. Die Restauration, zu deren Bewirkung in mir ich einen nach Breite und Tiefe unverhältnismäßigen, ungefügen und unbrauchbaren Apparat in Bewegung gesetzt hatte, vollzog sich teils schon, teils war sie in einem bestimmten Falle vollzogen, mühelos anmutig, und über schwermütigem Grunde heiter, in den Formen des Zaubers, der Schöpfung, des Gesanges. Meine ganze Last schien mir abgenommen. 2 6

Zuletzt führt er Hofmannsthal in die Universität und ihre Aufgabe ein. N a c h den G r ü n d e n jenes "Zaubers" sucht er und findet sie in Hofmannsthals eigener geschichtlicher und geographischer Kontinuität, die jener der idealen deutsch-griechischen Universität gleiche. Er besitze "durch das lebendig gebliebene Barock die Renaissance und die Antike in geschichtlich verfeinerten 22 Prosa I, 23 Ebd., S. 24 Ebd., S. 25 Ebd. 26 Ebd., S.

S. 94 105. 100. 123.

W i e Burdach, Borchardt und Hofmannsthal einander nützen

91

und ätherisierten Formen" und "durch die blühende archaische Mundart eines homogenen Volksstammes so viel Mittelalter wie Dir unentbehrlich war"; 2 7 andere Linien werden hinzugefügt, so daß Borchardt schließlich aus der Vielfalt der in Hofmannsthal sich versammelnden Traditionen den alten deutschen Zustand zu restaurieren vermag: Deutschland zeige sich als das, was es sei, als Altertum, als Hellas vornehmlich - eine (national-kulturelle) Poesie, die solches möglich mache, sei die "Vorform einer künftigen Gleichung von Schöpfung und Forschung" 2 8 . Mit solcher Kunst kann die Universität ihren Bildungsauftrag erfüllen. Da die Kultur selbst keine Theorie ist, können ihre Stücke nur durch die Fiktion einer Theorie zusammengehalten werden. Die Universitätskultur muß Zeiträume schaffen und dafür eine Geschichtsphilosophie. Diese historische Anschauung ist staatsgebunden, politisch. Hofmannsthal hat sich für einen anderen Weg entschieden: Er sucht die Kulturbrocken dem kreativen Prozeß der Erneuerung und der Moderne dienstbar zu machen. Er steht außerhalb der Institution in einer vielfach schattierten Gesellschaft, der eine seismographisch supplierende Kunst zukommt. Der große T o n zerstört die Vielfalt der Gesellschaft und damit diesen seinen Raum. Natürlich liegen auch Hofmannsthals Kunst kulturelle Konstruktionen zugrunde, aber er darf sie nicht offenlegen. Die öffentliche Deutung seiner kulturgeschichtlichen Grundlagen irritiert ihn am meisten, auch wenn er sie in der Sache anerkennt. 2 9 So wehrt sich Hofmannsthal gegen Borchardts Gedankengang und greift sehr präzise dessen wichtigste Elemente auf: zuerst die Überführung des Privaten ins Öffentliche ("mischest diese Intimität mit feierlichen Feststellungen" 3 0 ), denn so wird der "großsprechende Ton" 3 1 öffentlich und die Rhetorik zerstörerisch. Er sagt es mit den Worten W . S. Landors: "neither, on the contrary, can I praise the gait of that pedestrian who lifts up his legs as high on a bare heath as in a corn-field" 3 2 . Und dann die Geschichtskonstruktion: '"die endliche Tuba der Geschichts- und Geisterwelt Habsburgs' bin ich nicht, ich bin keine Tuba, will auch keine sein, war nie eine, und werde nie eine werden! und schon gar keine endliche Tuba." 3 3 Drei Wochen später, am 27

Ebd., S. 126.

28

Ebd., S. 129.

29

Vgl. etwa an Alfred von Nostitz-Wallwitz: "er hat doch eine unvergleichlich großartige Weise das Geistesgeschichtliche darzustellen". Hugo von Hofmannsthal / Helene von N o s t i z : Briefwechsel, hrsg. von Oswalt von Nostiz, Frankfurt am Main 1965, S. 154.

30

Borchardt/Hofmannsthal, S. 332.

31

Vgl. an Alfred von Nostitz-Wallwitz (Anm. 2 9 ) .

32

Borchardt/Hofmannsthal, S. 331 f.

33

Ebd., S. 333; daraus wird in der Festschrift "Endliches Klangwerden" (S. X X X I I ) und in der Prosa-Veröffentlichung "Endliches mündiges Mundstück der G e s c h i c h t s - und Geisterwelt Habsburgs"; Prosa I, S. 126.

92

Christoph König

25.2.1924, schreibt Hofmannsthal Borchardt nochmals und nimmt die Vorhaltungen des ersten Briefes vollständig zurück, er vollführt eine rhetorische Figur, eine Palinodie im strikten Sinn, und gibt Borchardt damit zu verstehen, d a ß er sein Metier wohl erkennt. 3 4 Hofmannsthal schreibt gewissermaßen, mit schönen W o r t e n diesmal, den ersten Brief nochmals. Er kritisiert durch seine Reaktionen die konkrete Manifestation dessen, was Borchardt als deutsche universale Universitätspoesie emphatisch beschwört. H o f m a n n s t h a l sieht, d a ß sie, entgegen allen Beteuerungen, zweifach ins Geschichtliche zurückgebunden ist: als Rhetorik u n d als Geschichtskonstruktion.

R h e t o r i k und G e s c h i c h t s k o n s t r u k t i o n Das N a c h w o r t zu seiner Übersetzung der Divina Comedia, die 1930 erschien, widmete Borchardt, etwas verspätet, "Konrad Burdach zum siebzigsten Geburtstage" 3 5 . Es ist ein Stück klassischer Rhetorik, das in wesentlichen Punkten von der rhetorischen Tradition abweicht. Identität und Abweichung erklären sich aus dem Sinn des Nachworts: Borchardt wendet sich an Burdach und bietet ihm einen höheren Zusammenhang für die Resultate seiner sprachgeschichtlichen Forschungen an, den er rhetorisch beglaubigen will. Burdach hatte die von Jacob Burckhardt befestigten Grenzen zwischen Mittelalter und Renaissance in Frage gestellt. Für ihn war die Zeitenwende viel früher anzusetzen, schon im 14. Jahrhundert, als deutsche und italienische Einflüsse sich in Böhmen begegnen konnten und einen bildungsgeschichtlichen Prozeß auslösten, aus dem heraus erst der Ackermann von Böhmen, ganz und gar kein mittelalterliches W e r k eben, zu verstehen sei. 36 Z w a r will Burdach auch zum Ursprung, doch verbietet ihm seine philologisch-historische Ethik den ontologischen Sprung in eine "eigentliche" Geschichte; er denkt bildungsgeschichtlich 37 und sucht, von einem bestimmten 34 35 36

37

B o r c h a r d t / H o f m a n n s t h a l , S. 336f. Prosa II, S. 472-531. D e r A c k e r m a n n aus Böhmen, im Auftrage der Königl. Preussischen Akademie der Wissenschaften hrsg. von Alois Berat u. Konrad Burdach, Berlin 1917 (Vom Mittelalter zur Reformation. F o r s c h u n g e n zur Geschichte der deutschen Bildung, hrsg. von Konrad Burdach, Bd. 3, T . 1); ein Exemplar befindet sich auch in der H o f m a n n s t h a l b i b l i o t h e k im Freien D e u t s c h e n H o c h s t i f t . "Ich will hingegen mit d e m W o r t 'Bildung' n u r diejenige Sphäre bezeichnen, in der auch die Wandlungen u n d Siege der Mode u n d der Sitte sich abspielen. [...] Bildungsgeschichte soll heißen: [...] [es] waltet überall ein soziologischer Faktor, ein gesellschaftliches Element, eine suggestive Macht des Verkehrs." (Konrad Burdach: Wissenschaftsgeschichtliche Eindrücke eines alten Germanisten. Festgabe z u m z w e i h u n d e r t f ü n f z i g s t e n Jubiläum der W e i d m a n n s c h e n Buchhandlung, Berlin 1930, S. 52f.)

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Wie Burdach, Borchardt und Hofmannsthal einander nützen

historischen O r t aus, der Renaissance etwa, früheste Zeugnisse. Borchardt will ihn davon überzeugen, daß seine Dokumente eines geschichtlichen Anfangs in W a h r h e i t auf einen übergeschichtlichen Ursprung verweisen.

Er

konstruiert die Geschichte ganz anders. Auch Borchardt sucht die Kontinuität, doch teilt er die Geschichte gewissermaßen in eine Oberflächengeschichte und eine wesentliche Geschichte: einen Geist mit eigener Entelechie. Die beiden "Geschichten" können sich verschieden entwickeln, und an der O b e r fläche mag es Entwicklungen geben, die dem eigentlichen Kern zuwiderlaufen, doch würde dieser nicht verloren gehen und er würde Orte finden, w o er sich manifestieren kann. 3 8 Das Programm seiner Danteübertragung

lautet

daher: Im Mittelalter war das Deutsche bei sich, weil es universal (europäisch) war; die Geschichte der deutschen Sprache nach einem Riß im 14. J a h r hundert ist die Geschichte einer sprachlichen Entfremdung ins Neuhochdeutsche. Nur im Oberdeutschen blieb der deutscheuropäische Sinn zuhause: W ü r d e er dahinein den Dante, das große mittelalterliche W e r k , übersetzen, könnte er den Deutschen die nicht geschaffene (oder: nur verloren gegangene?) Nationaldichtung schaffen. Damit verliert aber die

Geschichtskon-

struktion letztlich an Bedeutung. An ihre Stelle tritt ein "spatiales Denken" (Harald W e i n r i c h 3 9 ) , das die geographischen Eroberungen eines räumlich verstandenen Wesens prüft und ihm an der Oberfläche, sofern das nötig ist, in einem poetisch-politischen Streben Geltung verschaffen will. W e r so denken will, kann epistemologischen Schwierigkeiten nur scheinbar ausweichen. Die Schwierigkeiten bestehen darin, daß man angeben muß, wie das Konkrete als Offenbarung eines Wesens zu erkennen sei. Auch wenn das Konkrete als die richtige

Offenbarung erst zu schaffen ist, verschiebt sich das

Problem nur. So m u ß man eben später das Geschaffene beurteilen. Und dafür annehmen,

einen

Offenbarungszusammenhang

erkennen

zu können.

Das

weiß Borchardt. Zumindest sein Gebrauch der Rhetorik legt dies nahe; drei Aspekte sind zu beachten: die W a h l der Stilebene, die Bedeutung von T r o p e n , die Mischung von narratio und argumentatio in der Konstruktion des T e x t s . Sie gehören zu Borchardts Mitteln, die behauptete Differenz nicht in Frage zu stellen, sondern zu lösen und schließlich den Scheincharakter der Lösung zu verbergen.

38

Zur Verbindung von Geschichte, Geographie und Geopolitik gehört der Weg der politischen Geographie (eines Carl Ritter, den Borchardt kannte) nach Frankreich (AnnalesSchule); darauf wies in der Diskussion Gustav Seibt hin; von dort erreichte sie Borchardt wieder über Johan Huizinga. Vgl. auch Ulrich Raulff: Ein Historiker im 20. Jahrhundert. Marc Bloch, Frankfurt am Main 1995. 39 Titel eines Pariser Vortrags im Juni 1995 über Ernst Robert Curtius im Rahmen des Seminarzyklus Théories de la littérature et critique littéraire en Allemagne depuis 1945.

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narratio/argumentatio, Tropen und genus grande Borchardt erzählt Burdach sein Leben als Erkenntnisprozeß. 40 Das Muster ist dasselbe wie im Eranos-Brief

für Hofmannsthal. Die rhetorischen Regeln wer-

den zunächst übernommen: 4 1 Der Text gehört zum genus iudicale, mit Elementen der Lobrede gemischt, wenn es um Burdach geht. Die Disposition läßt sich erkennen: Von den üblichen fünf Teilen einer Rede hat er vier: exordium, narratio, argumentum, perorado; nur die Widerlegung gegnerischer Behauptungen (refutado) kurz vor dem Schluß fehlt. Die Gattung ist im Zentrum aufgebaut durch die parteiische Erzählung des 'Tathergangs", um dann so recht mit dem, üblicherweise darauf folgenden, Argument stechen zu können. Borchardt vermischt jedoch narratio und argumentado. Historia non facit saltus - memoria facit. Borchardts Epilegomenon zur Danteübertragung ist in zwei Dritteln die Geschichte seiner Erkenntnis. Er erzählt sprunghaft: Bewegungen sind spontan, es gibt keine Gründe, weder für einen Beginn, noch fürs Scheitern, und daher mag sich der Eindruck einer klaren Gliederung nicht einstellen. 42 "Sie sehen, ich habe mich nicht bemüht, Ihnen das umirrende und abenteuerliche Entstehen meiner Einsichten klarer darzustellen, als es sich in mir selber vollzog." 43 Hauptstationen der Erinnerung sind Orte: Pisa und Arlesheim, die Provenze und das Oberdeutsche, die "provincia Germania" als Teil und Erbe des antiken orbis terrarum. Da-

40

41

42

43

Klaus Weimar hat gezeigt, daß die Geistesgeschichtler davon ausgingen, in den literarischen Texten eine Selbstbespiegelung des objektiven Geistes beobachten zu können, de facto aber von sich sprachen und statt vom objektiven Geist von den eigenen Problemen des Erkennens. Rudolf Unger ist sein Paradigma. Über die Einleitung zu dessen Hamann und die Aufklärung sagt er: "Sein Text, die geistesgeschichtliche Darstellung, präsentiert sich in dieser Selbsttäuschung als wissenschaftliche Darstellung historischer Prozesse, ist aber in Wahrheit eine mythologisierende Inszenierung des höllisch mühsamen Ringens um historische Erkenntnis aus Texten." Klaus Weimar: Das Muster geistesgeschichtlicher Darstellung. Rudolf Ungers Einleitung zu 'Hamann und die Aufklärung', in: König/ Lämmert (Anm. 4), S. 92-105, hier S. 100. Vgl. zu den folgenden Fragen der Rhetorik: Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, 2 Bde., München 1960; Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (1948), 2. Aufl., Bern 1954; Wilfried Barner: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen, Tübingen 1970; Gert Ueding u. Bernd Steinbrink: Grundriß der Rhetorik. Geschichte, Technik, Methode, Stuttgart 1986; O t t o A. Baumhauer: Die sophistische Rhetorik. Eine Theorie sprachlicher Kommunikation, Stuttgart 1986; Josef Kopperschmidt: Methodik der Argumentationsanalyse, Stuttgart, Bad Cannstatt 1989. "Eines Tages waren auch diese Pläne Werkstattschutt" (Prosa II, S. 511); "Auf einmal war ich wieder bei Dante" (ebd.); "ohne Plan und Vorsatz und erst nach getaner Sache selber begreifend" (ebd.). Ebd., S. 491.

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zwischen bewegt sich seine biographie intellectuelle. Gerne erzählt man das eigene Leben entlang der Lebensstationen. Vor allem ist es aber ein rhetorisches Mittel, eine Erinnerungshilfe beim Reden. In ihrem vierten Buch lehrt die Rhetorik die Kunst, eine Rede nach Orten zu memorieren: Die Zahl der immer wieder verwendbaren Orte (topoi) ist begrenzt, sie sind Mittel des Gedächtnisses und weniger dessen Gehalt. 4 4 Die Rede wird zu einer W a n d e r u n g durch Orte, an die sich das, was man sagen will, assoziativ heftet. Auch für Borchardt hängt die wahre Geschichte nicht von den Orten ab, aber die Orte erhalten, entsprechend seinem Geschichtsschema, aus der Tiefe der Geschichte eine Bedeutung, insofern die Geschichte sich an ihnen, an der Ortsoberfläche gewissermaßen, unterschiedlich gut verwirklichen kann. So ist der Festbrief rhetorisch. Und er ist es nicht, w o er das Rhetorische (die Orte) zum Inhalt nimmt und für die Sprünge der Erinnerung (saltus) einen geschichtsphilosophischen Sinn beansprucht, den Orten ein Gravitationszentrum geben will. Die rhetorische Bewegung ist also nicht endlos. Irgendwann wollen alle Figuren ihre Bedeutung erhalten. Wendungen, die mit dem Anspruch auftreten, schließlich und endlich sinnvoll zu sein, mögen uns nach wie vor rhetorisch anmuten, doch kann Borchardt - in seiner bestimmten historischen Situation - damit rechnen, daß die Stopwörter eine eingeübte Bedeutung haben. Begriffe wie "deutsch", "menschlich" und "Geist" benennen damals bekannte Gefilde. Borchardt kann auf sie hin formulieren, auch wenn er sie nie deutlicher erläutert. So mag die Geschichte seiner Erkenntnis als "rhetorische" Relativierung seiner Position aufgefaßt werden, als ob er den Geisteshistorikern zurufen würde, Erkenntnis sei nur als Erkenntnisprozeß zu haben; doch in Wahrheit macht er irgendwann Schluß mit dem "höllisch mühsamen Ringen" (Klaus Weimar) und verläßt sich dabei auf ein unmittelbares Verstehen durch die, an die seine Rede sich wendet. Wahrheit wird so soziale und kulturelle Übereinstimmung. Um dies zu überspielen, wird zum hohen T o n gegriffen, der die Existenz dessen, worüber Redner und Z u h ö r e r sich verständigen, beteuern kann. Mit anderen Worten: die Rede in T r o p e n bricht immer wieder willkürlich ab, privilegiert, und tarnt das durch die Stillage des genus grande, das selbst hinsichtlich der propagierten höheren Wahrheit einen Sinn beansprucht. Borchardts indirektes Reden in dung seiner Zuhörer. O f t löst er W e r t des Angespielten erkennbar: weitere Anspielung. "Ich tue es

44

Vgl. dazu Weinrich (Anm. 39).

dauernden Anspielungen zielt auf die seine Metonymien auf, und dann ist Meist ist es kein Gegenstand, sondern gleichzeitig im N a m e n Ostpreußens

Bilder eine und

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Königsbergs, Herders und der Albertina," - und nun die Auflösung - "unserer gemeinsamen Heimatstradition von Schöpfung, Begeistung und Forschung". 45 Sogar wenn seine Verschiebungen eine Forschungsposition charakterisieren, darin münden wollen, lösen sie sich nicht recht auf, weil diese Art zu sprechen stets das unmittelbare Verständnis des Gegenstands voraussetzt, anstatt sich an ihm zu prüfen. Im folgenden Beispiel wird ein unbestimmter Statthalter durch einen Satz erläutert, an dessen entscheidender Stelle: dort, wo man sich die konkrete Erklärung erhofft, wieder ein Statthalter steht, an den ein Satz anschließt, dem von neuem die Hoffnung des Lesers zufliegt. Auch wenn historische Namen genannt werden, ist die Antonomasie keine Erleichterung - sie ist, sogar für einen Konrad Burdach, zu apart ("Alles habe ich langsam mit Aufmerksamkeit gelesen: bewundernd, erwärmt, oftmals die allzu große Kürze des Ausdrucks und der vielfach schwer verständlichen Anspielungen bedauernd, manchmal auch Ihren Urteilen innerlich widersprechend." 46 ). Das Beispiel lautet: Über Sprache, Gestalt, Wert, Charakter, Formwillen und Entfaltungsdrang dessen [Statthalter], was [der Relativsatz verspricht Erläuterung] bei uns [ein neuer Statthalter: wer sind "wir"?] anhebt, w o [offenbar werden "wir" geographisch bestimmt] [...] eine leidenschaftliche Menschheit in den Zuschnitt [Statthalter] wächst, den die großartigen Chronikwerke Südwestdeutschlands, die Limburger und die Zimmernsche [aparte N a m e n ] voran, geschichtlich versammeln [was sammeln sie?], wo die handelnden Gestalten auftreten, die mit Lied und Tat [Statthalter], die Ulrich, Hutten und Frundsberg [wofür stehen die Namen?], die neuen Frauen, die neuen Individuen [das ist nun gänzlich abstrakt] [...] über dieser ganzen Epoche stand der Anticyklon, das Schönwetter der wolkenlosen Phrase, ein ungebrochenes Blau der fehlenden Forschung, wie das ungebrochene Weiß unerforschter Zonen auf den alten Karten Afrikas stand. 47

Der Satz trägt nicht dazu bei, das Weiß aufzuhellen. Vorerst soll das Nichtwissen, dem der Kampf Burdachs gilt, auch nur inszeniert werden: wie es einer parteiischen Rede genügt. Ex negativo wird es später aufgelöst, als Borchardt die Position Burdachs wiedergibt, aber eben auch nur in ihren programmatischen Zügen, die zu nennen Burdach immer zurückschreckte: Sie haben den geschichtlich begrenzten Gehalt der Renaissance als einer nationalen reformatio des Lateiners gegen den Druck seiner mittelalterlichen Selbstentfremdung für immer außer Zweifel gestellt, indem Sie die Antriebe dieser Bewegung [vor allem in Oberdeutschland] und ihren geistigen Entwurf schon als tiefmittelalterlich erwiesen und dadurch bereits die schulmäßige Epochensonderung aufhoben. 48

Wenn aber gegen die rhetorischen Figuren regelmäßig eine Art Erdung erfolgt, so ist es gleichgültig, welche Figuren gewählt werden. In den Vorder45 46 47 48

Prosa II, S. 473. A m 9.7.1928 (Original im Deutschen Literaturarchiv Marbach am Neckar, A:Borchardt). Prosa II, S. 476f. Ebd., S. 478.

W i e Burdach, Borchardt und Hofmannsthal einander nützen

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grund rückt dann das Reich der sozial und kulturell geteilten Überzeugungen. Sie treten an die Stelle des objektiven Geistes, der sich selbst in den Texten spiegeln soll: Die gemeinsam Betrachtenden sehen in den Gegenständen sich selbst. Sie können von den Gegenständen sprechen oder nicht. Es spielt keine Rolle. Auch wie darüber gesprochen wird, ist in einem höheren Sinn egal. Borchardt schreibt in seinem als Antwort auf das Dante-Nachwort gedachten Pisa-Buch49 viel konkreter und verzichtet auch darauf, seinen Erkenntnisgang einzubauen. Sogar Pisa wird historisch anders gesehen (sie gilt ihm nun als spätantike, nicht mehr als mittelalterliche Stadt). Geändert hat sich dennoch nichts. Selbst ein Ort/Gegenstand kann verschiedene Bedeutungen erhalten, weil zwischen Gegenstand und Uberzeugung kein notwendiger Zusammenhang besteht. Wie geerdet wird, läßt sich schwer vorhersagen. Daraus folgt: Die rhetorischen Mittel sind nicht mehr nur persuasiv oder didaktisch, sondern haben selbst eine Dignität, die ihnen von einer anderen Ebene zukommt. Diese andere Ebene gibt sich als eine (sprach)ontologische, ist aber de facto eine kulturelle, der man sich in dieser neuen Art von Rhetorik versichert. Selbst die Devotionsformel am Schluß meint es ernst: "so will ich [...], sobald Sie mir denn den Knoten zeigen werden, den meine Zeit mir zu lösen nicht gewährte, verstummen, quasi contentato."50 Die Rhetorik als Kunst, mit dem Hörer übereinzustimmen, ist - wohl wider Willen - die ehrliche Form, soziale "Wahrheit" zu propagieren. Eine "ars recte dicendi". Doch worin besteht diese kulturelle Wahrheit?

Kulturelle "Wahrheit" und Hofmannsthals Distanz Borchardt verstrickt sich, versucht er sich in Einflußforschung, in Widersprüche: Einmal ist Pisa, man hat es gesehen, mittelalterlich, ein andermal spätantik; einmal ist das Provenzalische das Agens europäischer Einheit (stirbt es, stirbt auch das Deutsche),51 dann wieder die generelle germanische Formung des Mittellateinischen, bewirkt durch den wachsenden Verkehr. Welche Annahmen müssen gelten, um diese Widersprüche, die im rhetorischen Fluß kaum bemerkbar sind, aufzulösen? So kann man die Frage nach der sozialkulturell geteilten "Wahrheit" stellen. Borchardt stilisiert im Eranos-Brief die Lektüre von Herders Die älteste Urkunde des Menschengeschlechts zu seinem elementaren Bildungserlebnis. Seit diesem Erlebnis sei ihm die ersehnte Welt des Geistes sicher. Diese Welt 49

Borchardt: Pisa. Ein Versuch, in: Prosa III, S. 115-234.

50

Prosa II, S. 531.

51

"Ich sah den T o d der Provenze zum T o d e Deutschlands werden"; ebd., S. 500.

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charakterisiere den Menschen im allgemeinen und damit auch seine Erzeugnisse: die Sprache in erster Linie, in zweiter die Dichtung. Dichtung sei nicht etwas partikulares, sondern eine vielleicht intensivere Form, in der Sprache vorkommen kann. "Stil war nicht ein Erzeugnis, sondern ein Intensitätsgrad." 52 Auch wie Herder die unterschiedlichen Völker und Sprachen herleitet, überzeugt Borchardt. Herder habe sie noch "vom anderen Pole, dem urmenschlichen und gottmenschlichen herzuusurpieren" 53 vermocht. Aus dieser Quelle entsprangen, in jeweils anderer Ausprägung, "Wort Sprache Mundart, Stamm Volk Nation". 54 Borchardt mußte jedoch, nach seinen Worten, den umgekehrten Weg gehen: vom Deutschen her aufs Ganze. Von sich selbst mußte er ausgehen, und er war sich sicher, durch die Universalisierung des Deutschen zu jener Welt zu gelangen, die ihm im Gefäß des Herderschen Buches geoffenbart war. "Uberall eher war Deutschland, als zwischen den geographischen Grenzen von 97."55 Solche Universalisierung geht auf die Weltgeschichte und ist notwendig mit einer Art von Geschichtsphilosophie verbunden. Deutschland mußte sich erweitern, und diese Erweiterung mußte in die Geschichte Deutschlands eingebaut werden. Borchardt vertrat somit das romantische bildungsgeschichtliche Dogma des 19. Jahrhunderts, daß das Besondere am Deutschen seine Universalität sei: universal insofern, als deutsches Denken die Besonderheit der einzelnen Völker verstehen könne. "Wir Kinder [...] des auf Homer gegründeten Hellenismus, des auf das eigene Herz jedes Volkes für sich gegründeten Volksbewußtseins jenes heldenhaften Nordens"; 56 er konnte von seinen Lehrern lernen, daß die Deutschen als Erben Griechenlands (man sagte dann "Hellas") galten. Die in Deutschland entwickelte Philologie verstand sich in diesem Geist. So entstand für Borchardt die Aufgabe, das Deutsche oder seine (griechische) Besonderheit, universell zu sein, in der deutschen Geschichte und auch in ihrer Vorgeschichte aufzufinden. Das deutsche Mittelalter wurde zum europäischen, 57 Germanien als rechtmäßige Erbin der römischen Spätantike aufgefaßt, 58 Vergil zum zurückhellenisierten Römer. 5 ' Borchardt löst das Problem geschichtsphilosophischer Kontinuität, indem er ein univer52 53 54 55 56

Prosa I, S. 116. Ebd., S. 118. Ebd., S. 117. Ebd., S. 118. Vgl. Rudolf Borchardt: Mittelalterliche Altertumswissenschaft. Arnaut Daniel und Giovani Pisano als Schöpfer der modernen Seelenform Europas, in: Prosa III, S. 71-92, hier S. 83. 57 Vgl. Ulrich Wyss: Deutsches oder europäisches Mittelalter? in: Germanistik. Disziplinare Identität und kulturelle Leistung. Vorträge des deutschen Germanistentages 1994, hrsg. von Ludwig Jäger, Weinheim 1995, S. 322-338. 58 Vgl. Rudolf Borchardt: Der Arme Heinrich Hartman's von Aue, in: Prosa II, S. 317-342. 59 Vgl. Rudolf Borchardt: Vergil, in: Prosa II, S. 295-309.

W i e Burdach, Borchardt und Hofmannsthal einander nützen

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sales Volk in allen Epochen gleichzeitig zuhause sein läßt. 6 0 Zuletzt herrscht, in präziser geschichtsphilosophischer, um nicht zu sagen: ideologischer Funktion, räumliches Denken. Borchardts Gegenstand und Instrument ist die Sprache. Sie muß über alle Räume hinweg gültig sein. Für diese universale Sprache findet er keinen (literarischen) Gegenstand, am wenigsten im Deutsch seiner Epoche. Er will ihn deshalb in den Ubersetzungen aus den verschiedensten Sprachen schaffen. Dabei schöpft er aus einem großen Vorrat an Formen und Vokabeln. Gerade sein Lexikon enthält Wörter großer Konkretheit und Anschaulichkeit, wie er es fordert. Doch wie er die Wörter in den Kontext eines Verses oder Satzes bringt, ist ihre Bedeutung nicht mehr erkennbar. Hans-Georg Dewitz beobachtet "Widersprüche zwischen offensichtlich sehr bewußter Wortwahl und unzureichender Einpassung in das Sinn- und Satzgefüge"; 61 die gleiche Tendenz gilt bei den Wortbildungen. So herrscht eine universale Sprache über die einzelne Stelle, über das einzelne Werk, doch diese Sprache selbst ist weithin sprachgeschichtlich einzuordnen, als frühneuhochdeutsche Variante. Das ist also die sozial-kulturell gesicherte "Wahrheit" und ihre sprachliche Manifestation, von der Borchardt den Sprachhistoriker Burdach überzeugen will. Die Gewißheit jener tiefen geistigen Kraft will der Gratulant dem Geburtstagskind vermitteln. Die Beschwörung einer programmatischen Übereinstimmung füllt das erste Drittel des Festtagsbriefes. Der Kernsatz der Beschwörung lautet: Die deutsche [!] Geschichtswissenschaft, als Erforschung der Geschichte des menschlichen [!] Geistes ist ebenso das Geschöpf der deutschen Poesie wie der deutschen Gelehrsamkeit, Ihre Ahnen gehören der Geschichte meiner Kunst so an wie die meinen der Geschichte Ihrer Disziplin und weder Ihre Bemühungen noch die meinen können sich ihrer Entelechien, Volkstum Nation Menschheit Gott, schöpferisch bewußt werden, ohne daß wir, von Jahrhundert zu Jahrhundert, wieder zusammenträten um die Erinnerung an den gemeinsamen Ursprung in Gedanken zu begehen. 6 2

Die deutsche Geschichtswissenschaft nimmt den Geist der Menschen zum Gegenstand, weil er als der universale deutsche gilt. Wie die Poesie ist auch die Wissenschaft nur eine Emanation dieses Geistes. Was Burdach tut, ist in Borchardts Sicht mit dem, was Borchardt tut, vermittelbar.

60

Im Nachwort zum PiM-Buch erläutert Borchardt ein Konzept, das auf eine allgemeine Altertumswissenschaft (oder Philologie) hinausläuft und im Ganzen der Disziplin das Ganze des Gegenstands gespiegelt hat; vgl. Prosa III, S. 496f.; vgl. auch die Auseinandersetzung mit Jacob Burckhardt im Zürcher Aulavortrag (1927) über Mittelalterliche Altertumswissenschaft (Anm. 56).

61

Hans-Georg Dewitz: "Dante Deutsch". Studien zu Rudolf Borchardts Übertragung der "Divina Comedia", Göppingen 1971 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 3 6 ) , S. 191.

62

Prosa II, S. 483.

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Hofmannsthals Distanz kann nun systematischer erläutert werden: 1.Borchardt will mit seiner Poesie innerhalb der Universität deren öffentliche, nationale, kulturelle Aufgabe lösen und so das philologische Material ordnen. Zum Vorbild hat er (nicht ohne Mißverständnis) Friedrich Leo. 2. Seine Poesie ist rhetorisch und zieht - in einem formal persuasiven Sinn die Bewegung dem Sinn der Bewegung vor. Doch gewinnt sie (wenn etwa topoi zu Geschichtsorten werden) eine kulturelle Aufgabe und einen kulturellen Gehalt. 3.Diesen Gehalt gewinnt sie gegen die rhetorische Tendenz, eine Welt durch fortlaufende und ständig neu gestaltete Verweise zu schaffen: Die rhetorische Bewegung wird immer wieder unterbrochen, durch Signalwörter etwa oder Philosopheme, die eine konkrete kulturelle Bedeutung oder zumindest Aura haben und daher gut verstanden werden. 4. Anders als Hofmannsthal, der Namen und Begriffe appellativ gebraucht, um einem konkreten, ständig "drohenden" Sinn im Text auszuweichen, benötigt Borchardt solche "Kultureme", um der drohenden Sinnlosigkeit der rhetorischen Bewegung zu begegnen. Die kulturelle Explikation ist notwendig in die Rhetorik eingelassen. Mag Hofmannsthal den Konstruktionen auch nahe stehen, so sind sie ihm doch zu aufdringlich. Eine nationale universale Universitätspoesie, ob nun Borchardt Burdach überzeugen wird oder nicht, kann er keinesfalls gebrauchen. Daher gewinnt er zu Burdach sein eigenes Verhältnis.

Der gespaltene Philologe Burdach 6 3 Die Krise des Historismus resultierte aus seiner eigenen Produktivität. Seit der Jahrhundertwende stellten sich viele mit Ernst Troeltsch die Frage, "wie lange der menschliche Geist und die menschlichen Nerven diese Uberfülle des Wissens und der intellektuellen Arbeit aushalten" 64 können. Während sich 63

Vgl. Paul Piur: Burdach-Bibliographie. 1880-1930. Z u m fünfzigjährigen D o k t o r j u b i l ä u m am 24.11.1930 dargebracht von Freunden u n d Schülern, Berlin 1930 (ein F e s t g r u ß v o n Julius Petersen ist vorangestellt, S. 13-16; zur Bibl. nach 1930 vgl. Garber); Klaus Garber: Burdach, Konrad, in: Literaturlexikon. A u t o r e n und W e r k e deutscher Sprache, hrsg. v o n Walther Killy, Bd. 2, G ü t e r s l o h / M ü n c h e n 1989, S. 325f; Agnes Ziegengeist: D e r KonradBurdach-Nachlaß im Berliner Akademie-Archiv (Mit ungedruckten Texten v. K. Burdach, R. Hildebrand, E. Schmidt, W . Stammler), in: Zeitschrift für Germanistik, N . F . 3, 1992, S. 670-683; z u m Verhältnis v o n Borchardt u n d Burdach vgl. Susanne H o f m a n n : Bildung u n d Sehnsucht. Untersuchungen z u m Mittelalterbild Rudolf Borchardts, Paderborn u.a. 1994 (Schriften der Universität-Gesamthochschule Paderborn; Sprach- u n d Literaturwissenschaft 13), S. 185-195. 64 Ernst Troeltsch: Das neunzehnte Jahrhundert (1913), in: ders.: Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie (Gesammelte Schriften 4), hrsg. von H. Baron, Tübingen 1925.

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Karl M a n n h e i m aufs Beobachten verlegte und fragte wie eine Wissenschaft, die nach der Einheit des Wissens trachtet, funktioniert, wollten andere das eben tun und den Prozeß durch Geschichts- und Wertekonstruktionen aufhalten. 6 5 Von außen galt das immer schon als Aufgabe der Institution Universität. Doch von dort ertönte, auch von denen, die drinnen waren u n d daran glaubten, ein lautes "non possumus", so daß nach der Krise der disziplinare Auftrag dort erfüllt werden wollte, wo er allein erfüllbar war, nämlich eben außerhalb der Disziplin, oder w e n n man nach außen hin sprach. Von Borchardt etwa, dem Burdach zu dessen 50. Geburtstag schrieb: "Aber Ihre Dichtung zieht ihre besten Säfte aus einer universalen Anschauung und Durchdringung des Weltgeschehens und der geistigen Entwicklung der Menschheit, wie sie als das höchste, selten oder nie erreichte Ziel dem Bemühn der Wissenschaft vorschwebt." 66 Nicht alles Exoterische, nicht alles außerhalb der Institution ist somit überlegen, sondern Burdach denkt an die Dichtung, weil sich die Konstruktion ans Schöpferische wendet. Das Problem der Wissensflut spiegelt sich im Paar von Wissenschaft und Poesie. Das "Schöpferische" steht im Mittelpunkt ihrer Korrespondenz von 1923 bis 1930; von den T h e m e n , die man erwarten würde, weil sie beide darüber arbeiten, etwa über das Verhältnis von Mittelalter und Renaissance oder die sprachgeschichtliche Bedeutung des Frühneuhochdeutschen, ist in den siebzehn Briefen kaum die Rede. 6 7 Sie geben den Bereichen von Wissenschaft und Poesie ihre eigene Berechtigung und stellen sie hierarchisch zueinander. "Poesie war in Ihnen, und Sie haben sie streng zur Kritik umgeboren", 6 8 sagt Borchardt im Dantewidmungsbrief zu Burdach, der sich selbst eine lebendige Gestaltung und "einen Hauch künstlerischer Beseelung" 69 in der Darstellung seiner geschichtlichen Forschungen zubilligt. Doch zieht Burdach - und beobachtet dabei sich selbst ungenügend (s.u.) - eine harte Grenze u m die Disziplin. Davon ist auch die Kunst betroffen. Es ist die Grenze zwischen tiefer (endgültiger) und komplexer (annähernder) Einsicht: Borchardts Danteübertragung dünkt ihn "fremd65

66 67

68 69

Vgl. Karl Mannheim: Ideologie und Utopie, Bonn 1929 (Schriften zur Philosophie und Soziologie); exemplarisch und bedeutsam für Debatten im Umkreis von Hofmannsthal: Dirk Hoeges: Kontroverse am Abgrund. Ernst Robert Curtius und Karl Mannheim. Intellektuelle und "freischwebende Intelligenz" in der Weimarer Republik, Frankfurt am Main 1994. A m 30.5.1927 (Original im D e u t s c h e n Literaturarchiv Marbach am Neckar, A: Borchardt). Vor allem die Briefe Burdachs sind noch unveröffentlicht, sie liegen im Deutschen Literaturarchiv Marbach am Neckar, A.Borchardt; zu jenen Borchardts vgl. die Briefausgabe von Gerhard Schuster. Prosa II, S. 483. A m 30.5.1927 aus Anlaß von Borchardts 50. Geburtstag am 9. Juni (Original im D e u t schen Literaturarchiv Marbach am Neckar, A:Borchardt).

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artig", "gewaltsam", "gewaltig", "überkühn", eine "ungeheure Schöpfung". Ihr hält er seine Philologie entgegen: "Aber ich glaube an den Beruf und die Fähigkeit, Dichterwerke und führende Personen ferner Vergangenheiten auf dem Wege quellenkritischer Forschung annähernd in ihrer echten Wesenheit, befreit von den Entstellungen der gleichzeitigen oder späteren Überlieferung zu erkennen und faßbar zu machen."70 Burdach spaltet die Welten und beschränkt sich selbst auf die Welt der Forschung. Sie ist gegenüber der Poesie sekundär, doch nährt auch sie sich von einer Kraft, der die Poesie zwar näher steht, die innerhalb der Institution kontrolliert ("streng zur Kritik umgeboren") ist, die aber doch die Ordnung der philologischen Data ermöglicht und der selbst ein Gelehrter Ausdruck geben kann. Er kann es dann, wenn er sein Fach verläßt und zur Öffentlichkeit spricht. Kulturell spricht. Von dem Holz muß auch die Poesie sein, wenn die Wissenschaft auf sie hoffen kann.

Öffentliche Aufgaben einer Deutschen Akademie Wissenschaft und Dichtung und ihr Verhältnis zueinander behandelt Burdach in seinem Erawos-Beitrag Die deutschen wissenschaftlichen Akademien und der schöpferische nationale Geist,71 in dem Borchardt ein "geistiges Bild" für die Festschrift insgesamt erkennt. 72 Diese geschichtliche und kritische Skizze der 1700 gegründeten Berliner Akademie der Wissenschaften sucht zwei Fragen zu beantworten: Soll die Akademie einer nationalen Aufgabe nachkommen? Sollen zu diesem Zweck die Wissenschaftler und die Künstler in einer Akademie zusammenwirken? Die erste Frage wird bejaht, die zweite verneint, und nur wenn man versteht, warum Burdach für die Trennung ist, versteht man das Plädoyer für eine nationalkulturelle Aufgabe der Akademie. Das eigentliche Problem ist die Academie française und, weiter gegriffen, Frankreich, zu dem man in Konkurrenz tritt, weshalb die deutsche Akademie zugleich symmetrisch national und, darüber hinausgreifend, international sein muß. Wer wie die Franzosen annehme, daß die "großen geistigen Lebensmächte" 73 Instrumente der menschlichen Vernunft und der von ihr bestimmten Regeln seien, dürfe keinen Unterschied zwischen Wissenschaft und Kunst

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Im letzten Brief vom 24.8.1930 (Original im Deutschen Literaturarchiv Marbach am Neckar, A:Borchardt). 71 Burdach (Anm. 19). 72 Borchardt am 11.11.1923 (unveröffentlicht, Original im Archiv der Akademie der Wissenschaften, Berlin). 73 Burdach (Anm. 19), S. 50.

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machen. Gegenläufig kann man diesen französischen Rationalismus schlagen, wenn "das Unbewusste, das für die Vernunft Inkommensurable, für Logik und Regelbuch Unauflösbare" 74 anerkannt werde. Dies kann die deutsche Wissenschaft tun, ohne irrational zu werden, da sie alles "als geschichtlich gewordene Produkte" 75 und die Geschichte als Ausdruck natürlicher Lebensmächte auffaßt. Dafür steht Herder, der den Fluchtpunkt des Essays gibt. Die Dichtung stehe den Lebensmächten unmittelbar nahe, die Wissenschaft erhalte nur indirekt, sekundär Zutritt: nur über die Geschichte. Weil sie die Dichtung als natürliche sprachliche Lebenserscheinung des Volkes anerkenne, könne sie der Dichtung nacheifern. So muß sich die Wissenschaft alleine auf den Weg machen und dabei das gleiche Ziel verfolgen. Sie tut das, indem sie sich zum Gewissen der Politik macht. Herder wird referiert: Über dem Gesamtgebiet der nationalen Kultur des geistigen, politischen, wirtschaftlichsozialen Lebens sollte dieses Institut, das sich aus Provinzialdeputationen zusammensetzt, als Areopag des nationalen Gewissens leitend wachen und aus seinen Verhandlungen und Berichten, die in einem 'Jahrbuch des deutschen Nationalgeistes' zusammengestellt werden würden, sollten die Fürsten und ihre Minister 'wie auf einem freien Schauplatz die Stimme der Wahrheit sich zu hören gewöhnen' [Herder]. 76

Das protestantische Modell der zwei Welten löst den Widerspruch des Esound Exoterischen: Man anerkennt die politische Macht, die aber muß auf die Kanzel hören. 77 Ganz nach Wilamowitz-Moellendorff. 78 Muß die Wissenschaft zwar zugleich unabhängig sein und zum Volk hin nützlich, so kann sie kraft dieser Dialektik von Geist und Politik beide Rollen spielen: Der Geist fühlt sich identisch mit der Politik, die Wissenschaftsgeistlichen gelten als die geistigen Vertreter der Nation. Borchardts Versuch einer Universalisierung des Deutschen konnte das Deutsche weit mehr öffnen als Burdach mit der hier schon erkennbaren Tendenz zur Nationalgeschichte. Das wird sich noch erwiesen. Doch soll nun ein Weg gezeigt werden, den Burdach (und mit ihm andere) wählte, um in die-

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Ebd., S. 51. Ebd. Ebd., S. 37. Zur Diffusion von National- und Kulturprotestantismus und ihrem unterschiedlichen Bezug zur Macht im Kaiserreich vgl. Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 3. Von der "Deutschen Doppelrevolution" bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849-1914, München 1995, S. 1173-1181. 78 Vgl. Jean Bollack: M. de W.-M. (en France). Sur les limites de l'implantation d'une science, in: Wilamowitz nach 50 Jahren, hrsg. von William M. Calder III, Hellmut Flashar u. Theodor Lindken, Darmstadt 1985, S. 468-512; Luciano Canfora:. Politische Philologie. Altertumswissenschaften und moderne Staatsideologien, Stuttgart 1995; zur öffentlichen Rolle des Gelehrten vgl. Alexander KoSenina u. Julia Zernack: Andreas Heuslers Briefwechsel mit Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, in: Euphorion 89, 1995, H. 2, S. 205-220.

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sem Sinn kulturell wirken zu können, gewissermaßen öffentlich die im Fach zurückgedrängten Prinzipien der eigenen Wissenschaft auszustellen. Die Festrede war ein Weg, und sie gab noch mehr Lizenzen als die Bildungspolitik.

Kritik, in der Festrede zur Poesie umgeboren Die Festrede gehört nach der Rhetorik des Aristoteles zum genus demonstrativum. Sie ist exhibitionistisch und von allen rhetorischen Genera am wenigsten intellektuell. 7 9 Anders als im Gericht, wo die eine Seite in ihrer Argumentation die möglichen Einreden der anderen vorwegnehmen und vorab schon widerlegen muß, kann der Lobredner ein gleichgestimmtes Publikum voraussetzen oder zumindest ein solches, das zur Einstimmung bereit ist. Im Dreieck von Kultur, Wissenschaft und Kunst gehört die epideiktische Prunkrede zur Kultur. Sie richtet sich an ein relativ offenes Auditorium, und der Redner aktualisiert für dieses Auditorium seinen Gegenstand, er stiftet Sinn. Die Festrede ist so intellektuell wie ihr Publikum gerade sein will. W e r Sinn stiftet, ordnet das heterogene philologische und poetische Material. Darin besteht das Versprechen der Kultur in der Zeit des Historismus, und diesem Versprechen verdankt die Kultur ihre Gravitation. Folgt ihr die Wissenschaft, muß sie sich fragen lassen, welchen methodischen Preis sie zahlt. Folgt ihr die Kunst, dann hat sie, wie die Wissenschaft, dem Publikum Eingang in ihr System gewährt, sie ist eine Werte vermittelnde Kunst geworden. Beide müssen nicht nur die Differenz gegenüber jenen rechtfertigen, die bei sich bleiben, beide sehen sich nun unversehens aufgefordert darzutun, was sie, Kunst und Wissenschaft, denn noch voneinander unterscheidet. Wissenschaft und Literatur können also in einer Kultur gründen, die auf beide Einfluß nimmt. Auf das kulturell Gemeinsame, das in der Festrede ungehindert Ausdruck gewinnt, mag ihr Pathos hinweisen, das Ueding und Steinbrink als "vorherrschenden Stilzug der Zeit" charakterisieren, als Stil von "Größe und Erhabenheit, die auf Bewunderung und Überwältigung zielt." 80 Diese Rhetorik, dieses Pathos ist Ausdruck eines Kulturideals der Höhe, der Größe oder des Tiefen. Rhetorisch soll der Drang aufs Allgemeine und, in der Moderne, die Feier des Allgemeinen als des Heroischen oder des Ursprungs durchgesetzt werden. 79

80

Vgl. Baumhauer (Anm. 41), insbesondere zur Auffassung der Sophisten von Erkenntnis als sozialem Geschehen; der rhetorische Kampf (agon) wird vor den vielen Zeugen entschieden (u.a. S. 39ff.). Ueding/Steinbrink (Anm. 41), Kapitel Prunk-Rhetorik und Gründerzeit, S. 154-156, hier S. 155.

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Alle drei sind als Redner hervorgetreten: Borchardt, Hofmannsthal und Burdach. Die Reden oder das Rhetorische haben im Ganzen ihres Werkes eine jeweils unterschiedliche Stellung, je nachdem, wie sie die kulturellen Werte beurteilen. So schätzt Borchardt an Burdach anderes als Hofmannsthal. Borchardt erdet eine universale Kulturgeschichtsrhetorik durch sein (recht präzises und historisch bestimmbares) Programm;81 Hofmannsthal fühlt sich verpflichtet, der kulturellen Heterogenität durch den hohen Ton zu begegnen, der möglichst das konkret Kulturelle vergessen läßt; Burdach gibt den Wertekern seiner Philologie in der Öffentlichkeit preis und läßt so wieder "Begriffe" ein, die er in seinem Metier mühsam austreibt. Daraus folgen die verschiedenen "Bezüge" der drei untereinander: Borchardt kann seine Universitätspoesie legitimieren, wenn sie in der Poesie des Philologen ihr Gegenstück erhält; in der Festrede Burdachs hat er den Beweis - Hofmannsthal sucht den Philologen und seine Einzelheiten, deren Zusammenhang er voraussetzen aber vergessen und - wie der Gelehrte - nicht präzisieren möchte. - Im folgenden wird daher zu zeigen sein, (1) welches für Burdach die Grenzen zwischen öffentlichem Auftritt und den esoterischen Regeln der Disziplin sind, (2) welche Verfahren der Gelehrte findet, um das eine (das Kulturelle) tun zu können und das andere (die Philologie) nicht lassen zu müssen, (3) wie ihn der Dichter Hofmannsthal brauchen kann und (4) was Borchardt angesichts grundsätzlicher Unterschiede in der Sache eigentlich mit ihm noch verbindet.

Der Wagnerianer Burdach und Hofmannsthal tun in Festreden, was sich nicht gehört: der eine, weil er sich verpflichtet fühlt, der andere wie befreit. Im Ton sind ihre Reden ganz vergleichbar. Zuerst Hofmannsthal. Zum 5. Mai 1921 schreibt er für die Tagespresse einen Festartikel.82 Er feiert den 100. Todestag Napoleons und würdigt einen "Helden". Ein Held sei, wer die Umstände, in denen er handelt, selbst bestimmt. Er setze sich hinweg über das, was er vorfindet, und schaffe eine Ganzheit, die er vertritt. Hofmannsthal geht zwar von Goethes Äußerung aus, dieser Mensch sei das "Kompendium der Welt". 83 Doch 81 82 83

Vgl. auch Kurt Flasch über Borchardts Kriegsreden in diesem Band. Hugo von Hofmannsthal: Reden und Aufsätze, hrsg. von Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch, Frankfurt am Main 1979, Bd. 2: 1914-1924, S. 466-472. Vgl. Eintrag vom 16.2.1826 in: Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe, hrsg. von Gustav Moldenhauer, 3 Bde, Leipzig 1884, Bd. 1, S. 162; der Band befindet sich in Hofmannsthals Bibliothek im Freien Deutschen Hochstift.

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überbietet er ihn in bezeichnender Weise. Goethe hat bei Napoleon die machiavellistische Fähigkeit beobachtet, alle Menschen zu seinen Zwecken zu gebrauchen 84 - Hofmannsthal deutet "Kompendium der Welt" dagegen nach dem Verhältnis von Fatum und Einzelnem heroisch: Napoleon kenne "keine Ubermacht der Umstände. Grenzenlos im Auf-sich-Nehmen von Entscheidungen, empfindet er sich selbst als Fatum gebend und kein Fatum empfangend." Goethe gibt Hofmannsthal hier, wie so oft, den festen Punkt, auf den hin seine Gedanken gerichtet sind und von dem sie sich abstoßen. Den Respekt bezeugt Hofmannsthal hier seinem alter ego, indem er es nicht zum Gegenstand seiner Heldenverehrung macht. Denn die Attitüde des Artikels ist geborgt, hier hat Rudolf Pannwitz wohl Pate gestanden, 85 wie Josef Nadler dann bei der ein Jahr später gehaltenen Grillparzerrede. 86 Jedenfalls schlägt Burdach in seiner Weiherede bei der Centenarfeier von Richard Wagners Geburt genau diesen Ton an. 87 Burdach zieht ja sonst, wie es sein bildungsgeschichtlicher Ansatz verlangt, kämpferisch gegen 'irrationalistische' und 'dekadente' Tendenzen oder gegen "Weltanschauungstempel auf 'strukturpsychologischem' Sande" in seiner Wissenschaft zu Felde. 88 Doch eine Festrede steht außerhalb des streng gehüteten Bereichs der Wissenschaft. So hört man 1913 im Königlichen Schauspielhaus zu Berlin anderes: "Der unsterbliche Sohn des Heldenjahres war der größte Held, den es geboren. Wir bringen heute diesem Titanen freudig Kränze des Siegs."89 Das Heldenjahr ist das Jahr 1813 und Wagner der erste Sohn des Deutschen Reiches, der sich dessen Werte Nation, Familie und Militarismus so weit bemächtigt hat, daß er die deutsche Geschichte seine Musik komponieren lassen kann. Das Siegfried-Idyll, an Weihnachten 1870 seiner Frau zugedacht, ist ein Lied - und nun zitiert Burdach Wagner - "von deutschen Heeres Tat gedichtet". 90 Der wahre Held versichert sich indes nicht nur der geschichtlichen, sondern auch

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Vgl. Eintrag v o m 14.10.1808 in: Goethes Gespräche, hrsg. von Flodoard Woldemar von Biedermann, 5 Bde, Leipzig 1909-1911, Bd. 1, S. 546, auch in H o f m a n n s t h a l s Bibliothek. Vgl. Rudolf Pannwitz: Die Krisis der europäischen Kultur, N ü r n b e r g 1917; das Buch begründete die Freundschaft mit Hofmannsthal. 1923 liest u n d gebraucht H o f m a n n s t h a l in ähnlichem Sinne: Ernst Bertram: Nietzsche. Versuch einer Mythologie (1918), dessen 6. Aufl., Berlin 1922, er besaß. Vgl. J u t t a Rißmann: H u g o von H o f m a n n s t h a l . Reden u n d Aufsätze. Prolegomena zu einer kritischen und erläuterten Edition, Diss. Phil., W u p p e r t a l 1985, S. 38-48 u. 220-261. Richard Wagner. Weiherede bei der Centenarfeier seiner G e b u r t am 22. Mai 1913 im Kgl. Schauspielhaus zu Berlin, in: Deutsche Rundschau 39, S. 1-24; auch in: ders.: Vorspiel (Anm. 19), S. 462-495 (hier danach zitiert). Vgl. Burdach (Anm. 37), S. 27-46 (u.a. Angriffe auf Rudolf Stadelmann u n d Eugen Wolf). Burdach (Anm. 87), S. 462. Vgl. ebd., S. 474.

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der übergeschichtlichen Umstände. Die Götter geben deshalb ihren Segen, als Siegfried Wagner, dessen N a m e n jenes Lied trägt, "am Tage der Nachricht von Sedan unter Donner und Blitz, den zustimmenden Zeichen des Himmels, getauft ward". 9 1 Diese nationale Emphase ist für einen Gelehrten jener Zeit nicht weiter erstaunlich. Das Beispiel soll auf etwas anderes hinführen. Die Ähnlichkeit in der Argumentation zwischen Dichter und Gelehrtem, wie sie sich eben zeigte, ist frappierend, der gemeinsame Gedanke müßte, spinnt man ihn fort, für beide in ihren Werken dieselbe Konsequenz haben: Der Held, der seine Umstände bemeistert, wird als Gegenstand, der Darstellung wie der Analyse, von den Umständen nicht unterschieden, und er verliert sich als distinkter Gegenstand. Hofmannsthal schreibt vom "großen Ganzen" (Walter Benjamin) ebenso wie Burdach - Wagner, Napoleon, die Welt, das Schicksal sind alles eins. Doch haben beide ihre Kontrollen. Man darf daher nicht ohne weiteres von der auf ein festliches Publikum gestimmten Rede eines Gelehrten auf seine Wissenschaft schließen. H a t diese Gattung der öffentlichen Ansprache nicht denselben O r t wie der zu diesem Anlaß gewählte Gegenstand, nämlich vor den Toren der Wissenschaft, aus der man hervortritt, wenn man ein privates, eben ein kulturelles Bedürfnis hat? So wie es Julius Petersen, der einflußreichste Germanist damals, 9 2 in seinem Festgruß anläßlich des 50jährigen Doktorjubiläums von Burdach formulierte: "Auch das Erlebnis Richard Wagners ist Ihnen mehrfach zur Verpflichtung persönlichen Bekenntnisses geworden". 9 3 Die Frage ist also: H a b e n Gegenstand und Verfahren, wie sie außerhalb der Wissenschaft gewählt u n d gestaltet werden, Gegenstücke in ihr selbst? Gegenstücke, die von den Gesetzen, welche die Gattung des gelehrten Textes bestimmt, zwar verdeckt und verdrängt: verschoben, aber nicht ausgeschlossen werden? Die großen und zum Teil mehrbändigen, sich immer wieder erweiternden Bücher und Akademieabhandlungen Burdachs (seit 1902 leitete er die Forschungsstelle für deutsche Sprachwissenschaft in der Preußischen Akademie der Wissenschaften) über Faust und Moses, Walther von der Vogelweide, den Ackermann aus Böhmen und über Goethe, die Epochenstudien Vom Mittelalter

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Ebd., S. 483. Burdach setzt n o c h eins drauf u n d assoziiert zu Sedan Zeus, C h r i s t u s und Dionysos. Vgl. Petra Boden u. Bernhard Fischer: D e r Germanist Julius Petersen 1878-1941. Bibliographie, systematisches Nachlaßverzeichnis u n d D o k u m e n t a t i o n , Marbach am N e c k a r 1994 (Deutsches Literaturarchiv, Verzeichnisse-Berichte-Informationen 16). Piur (Anm. 63), S. 15.

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zur Reformation und Reformation, Renaissance, Humanismus oder der Briefwechsel des Cola di Rienzo 94 verstehen sich als bildungsgeschichtliche Quellenstudien, deren Material reich bis zur Unübersichtlichkeit ist. Das Wissen begleiten nicht, wie häufig bei Philologen mit geistesgeschichtlichen Ambitionen, unvermittelt und hoch aufschießende Ideenspekulationen, sondern ist stets zurückgebunden an ein historisches Allgemeines, das nicht benannt werden, sondern in dem Gefüge der Zusammenhänge sich zeigen soll. Gänzlich fremd gibt sich hier das begriffliche Resümee größerer Zusammenhänge. Burdach sagt es selbst: "Am liebsten würde ich meine Forschungen mitteilen, ohne diese Hilfsbegriffe jemals zu gebrauchen." ,s Fremd wäre auch der Versuch, eine Epoche durch den Namen eines Helden zu bezeichnen. Denn ein solcher Name ist kein Eigenname mehr, sondern ein Begriff. Die Rede über Wagner wäre wissenschaftlich unmöglich.

Das Einzelne im Ganzen: Hofmannsthal und Burdach Hofmannsthal ist wie Burdach ein großer Kenner der Kultur- und Literaturgeschichte und ein ebenso unersättlicher Sammler auf diesem Gebiet; er destilliert in seinen Werken aus den erlesenen Traditionen reine Gebilde und zwar so, daß diese imstande sind, seriell andere Traditionen auch zu vereinnahmen. Diese reinen Gebilde können Figuren in den Werken oder auch Handlungsabläufe in den Dramen sein, sie sind auf jeden Fall wie Begriffe, "Gedankengefühle" sagt er. Hofmannsthal, der sonst schon einen engen Verkehr mit bedeutenden Literarhistorikern seiner Zeit pflegte, zeigte sich von Burdach besonders angetan. Nach dem bisherigen Gang der Argumentation mag man vermuten, daß er die reichhaltigen Werke Burdachs als Repertorien der Kulturgeschichte auswertete, wie man mit Steinbrüchen umgeht. Aber die Korrespondenz zwischen den beiden zeigt mehr - und wird vom Schaffensprozeß bestätigt. Hofmannsthal schreibt am 17.2.1918: Im Frühjahr 17, durch einen Bekannten, einen einsamen Vielleser, geriet mir Ihre Abhandlung über Faust u. Moses in die Hand und ich überschritt die gehütete Schwelle Ihrer Welt. [...] Ich bin natürlich weit davon entfernt, zu denken, dass ich nun Ihre Grenzen abstecken kann; auch nur die Grenzen Ihrer Bedeutung für mich. Das 'Vielverknüpfende' ist nur eine Seite, ein Aspect. Dahinter liegt noch vieles. Menschen Ihrer Art tritt der A u f n e h m e n d e mit einer latenten aber nie ganz schweigenden Erwartung entgegen: das Herderische in ihnen gewahr zu werden, das Grenzen-aufhebende, das Leben-liebende u.

94 Vgl. Piur (Anm. 63); zumeist in Hofmannsthals Bibliothek, versehen mit Widmungen, erhalten. 95 Burdach (Anm. 37), S. 53.

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Leben-fördernde, mit der Vergangenheit auf die Gegenwart Wirkende, das mehr-alsGelehrtenhafte (bei strenger Erfüllung alles vom Gelehrten zu fordernden). 9 6

Das "Mehr-als-Gelehrtenhafte": daß Burdach Grenzen aufhebe oder, mit anderen Worten, Ganzheiten schaffe und damit der Gegenwart, der Moderne Hofmannsthals etwas zu sagen habe, kann nicht im bildungsgeschichtlichen Verfahren dieses großen Aufsatzes liegen, den Hofmannsthal viermal durchstudiert hat. 97 Und dennoch hat Hofmannsthal recht. Er macht auf eine eigenartige Verschiebung aufmerksam. Burdach folgt in seinen Abhandlungen demselben Impuls wie in seiner Wagner-Rede, läßt ihn jedoch weder im Ton noch im Analyseverfahren laut werden, sondern ausschließlich in der Wahl des Gegenstands. Der Impuls erhält in dem zitierten Brief von Hofmannsthal ganz richtig den Namen Herder. Er löst zwischen Literatur und Wissenschaft ein regelrechtes Hin und Her aus. Man will in der Wissenschaft lebendig sein und darf es nicht. Dieser Vorgang ist, wie es sich für eine richtige Verschiebung gehört, kaum zu thematisieren, so lebhaft er auch ist. Hofmannsthal fügt in jenem Brief deshalb folgenden Satz an: "Solche Dinge zu berühren, die Ihnen selbst problematisch, ja innerstes Lebensgeheimnis sein müssen, ist schon fast zu kühn." 98 Modern an seinen Abhandlungen ist der Gegenstand. In Faust und Moses rückt Burdach die Suche nach dem Ursprung in den Mittelpunkt - wie andernorts den patriotischen Einsatz eines Individuums99 oder wie - seit der Habilitation 1 8 8 4 in Halle - in seinen sprachgeschichtlichen Untersuchungen die Einheit und den Einigungsvorgang hin zur neuhochdeutschen Schriftsprache. 1 0 0 Burdach sieht in der Gestalt Moses' und ihrer Vermittlung von der alten jüdischen Sage vom Tod des Moses über die mystischen Auslegungen der Kirchenväter, vor allem durch Gregor von Nyssa, bis hin zu alchimistischen Lesarten und dann der pietistischen Mystik in der Straßburger Gemeinschaft um Herder und Susanne von Klettenberg (Cordata), in die der junge Goethe eingeführt wurde, eine wichtige Quelle für den Schluß des fünften Aktes von Faust II. Das Moses-Thema gibt nun Lizenzen. Burdach kann seinem Drang, Ursprünge zu suchen, in einer Weise genügen, die kaum zu hintergehen ist: 96

D e r Brief erschien in: Neue Zürcher Zeitung, 18.8.1974 (den Hinweis verdanke ich Martin E. Schmid, dessen Hofmannsthal-Brief-Chronik 1996 erscheinen soll). Insgesamt sind 12 Briefe Hofmannsthals an Burdach und 5 Briefe Burdachs an Hofmannsthal erhalten und werden demnächst von mir ediert.

97

So Hofmannsthal am 17.9.1920 aus Bad Aussee, in: Neue Zürcher Zeitung, 1 5 . / 1 6 . 3.

98

Hofmannsthal (Anm. 96).

99

Konrad Burdach: D a n t e und das Problem der Renaissance (Vortrag 1923), in: Deutsche

1980.

Rundschau 198, 1924, S. 1 2 9 - 1 5 4 u. 2 6 0 - 2 7 7 . 100 Vgl. T h o m a s Cramer: Geistesgeschichte und Spätmittelalter, in: König/Lämmert (Anm. 4 ) , S . 58-72.

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Mit Moses gelangt er in den Orient, an den Anfang der eigenen Kultur; und die Gestalt Moses selbst enthält Züge, die über alle irdischen und historischen Grenzen hinausführen: Moses ist direkt zu Gott, er kann Gott ins Auge sehen (ohne zu erblinden), er ist der erste Prophet, der Urmagier, durch ihn spricht Gott, in seiner Brust hält er das Ganze und ruft - nach der islamischen Legende: "Herr! mach mir Raum in meiner engen Brust."101 Hofmannsthal betonte in seinem Vortrag über Der Dichter und diese Zeit, daß die Wissenschaft nicht geben könne, was der Leser in ihr suche. Sie sei kalt und verzichte "in grandioser Entsagung", trotz des ungeheuren Drucks der angesammelten Facta auf Zusammenhang. Wonach die Sehnsucht der zeitgenössischen Suchenden gehe, seien aber "die verknüpfenden Gefühle; die Weltgefühle, die Gedankengefühle [...] gerade jene, welche auf ewig die wahre strenge Wissenschaft sich versagen muß, gerade jene, die allein der Dichter gibt." 102 Das war 1906, er beschrieb damit auch die zeitgenössische und kulturelle Erwartung, der die Wissenschaft damals ausgesetzt war und die Hofmannsthal, ein Jahrzehnt später, als er Burdach kennen lernte, in dessen Wissenschaft eingelöst sah. Nicht wie in der heroischen Geistesgeschichte des Georgekreises, sondern aufs Einzelne bedacht, dem die Kulturgeschichte zum "Geheimnis" wird. Öffentlich versagt Hofmannsthal indes der Wissenschaft diese Anerkennung auch 1927 noch: in seiner Rede über das Schrifttum als geistiger Raum der Nation, wo er wohl auch von Burdach, ohne ihn zu nennen, spricht. Wie der Wissenschaftler sorgfältig den Abstand wahrt, so auch der Dichter. Gerade diese Vorsicht weist jedoch hin auf das Gemeinsame: das große Allgemeine, das sie in ihren Reden evozieren. Hofmannsthal unfreiwillig und Burdach wie befreit: Der eine sucht, was der andere verläßt, um zu diesem zu kommen.

Das Ganze: Borchardt und Burdach "Vorläufig scheint mir auch," schreibt Burdach am 11.1.1924, "als ob Sie das Gedicht Dantes überwiegend in seinen mittelalterlichen, um den (verkehrten) Modeausdruck zu brauchen, in seinen 'gotischen' Elementen empfinden und wiedergeben wollen. Daher weht in Ihrer Sprachgestaltung etwas vom Stil Wolframs, selbst wohl auch des jüngeren Titurels und Meister Eckharts.

101 Diese Vorstellung des Koran, von H e r d e r an G o e t h e herangetragen (vgl. G o e t h e an H e r d e r am 10.7.1772), spielt in Burdachs Abhandlung eine zentrale Rolle. 102 H o f m a n n s t h a l : Reden und Aufsätze (Anm. 82), S. 65f.

Wie Burdach, Borchardt und Hofmannsthal einander nützen

111

Ich persönlich dagegen höre und sehe in Dante mehr den großen Ahnen und Künder der gebundenen, streng gemessenen Form, der plastischen und malerischen Sinnlichkeit, der Seele, die starkes und tiefes Fühlen als Schauen und Bilder gestaltet, den Schöpfer der Renaissance." 103 Das ist mehr als nur eine Meinungsverschiedenheit. Burdach und Borchardt haben unterschiedliche Geschichtskonzepte und daher konstruieren sie ihre Geschichten anders. Wenn der eine in Dante den Nationaldichter der Renaissance sieht und der andere ihn als Resultat eines deutscheuropäischen Mittelalters deutet, so geht das direkt aufs Geschichtskonzept. Burdach spricht 1923 über Dante und das Problem der Renaissance. Geschichte ist da für ihn ein im Grunde ungegliedertes Werden, dem keine eigentliche (vorläufig untergegangene) Geschichte entgegensteht. Diese Geschichte wird für ihn nicht zum Gegenstand. Gut kantianisch ordnet er von sich und damit von heute aus. Die "Zerlegung des geschichtlichen Flusses ist nur bedingt durch die Organisation unserer Aufnahmefähigkeit". 104 Die Legitimation der Sicht, die ihm als national orientiertem Germanistikprofessor sich aufdrängt, erfolgt durch die richtig gewählten Beispiele. Sie erhärten die Ordnungen und auch das hier erläuterte Geschichtsprinzip. Borchardt ist im Prinzip weniger gebunden, weil er von einer anderen, noch gar nicht gelungenen Gegenwart ausgehen kann. Er kann sogar historisch genauer sein, da er Brüche sehen darf (in der Sicherheit spatialer Universalität), während der Philologe - dem Geschichtsdogma "Kontinuität" verpflichtet - alles aus seiner einzigen bildungsgeschichtlichen Ebene ziehen muß, Brüche nicht wahrhaben darf. Bei Borchardt läßt sich - vor allem in der Wortwahl - eine Verdeutschung von Burdachs nationaler deutscher Bildung beobachten. Burdach würde nie "Veste" sagen. Dante steht für Burdach deshalb am Beginn der Renaissance: Er ist ein souveränerer Einzelner, der gebildet genug ist, um in die Kulturgeschichte einzugreifen, deren Progression sich solchem Durchwalken des vorliegenden Materials - Burdach diagnostiziert anhand von Staatslehren, politischen Verfassungen, Verwaltungsformen, Herrscherideal, Bildungstraditionen, Bildungsinstitutionen, Architektur, Stilformen, Rhetoriken, Literatur - verdankt. Mit selbstbewußtem Künstlerstolz erneuert er die Antike aus italienischem patriotischem Geist und gibt Burdach gute Gründe für die nach seiner "Aufnahmefähigkeit" organisierte Geschichte. Nun sieht man auch, wie Burdach sich trotz der Gesetze gelehrter Texte in ihnen mit seinen Bedürfnissen einrichten kann. Es ist eben eine Frage der Gegenstandswahl.

103 Original im Deutschen Literaturarchiv Marbach am Neckar, A:Borchardt. 104 B u r d a c h ( A n m . 99), S. 135.

112

Christoph König

B o r c h a r d t und B u r d a c h teilen -

d a v o n s p r e c h e n sie in ihren Briefen a m

liebsten - die A c h t u n g v o r dem S c h ö p f e r i s c h e n , das im G r u n d e ihre beiden D o m ä n e n verbindet. W e n n B u r d a c h als R h e t o r die Prinzipien einer scheinbar heillos u n g e o r d n e t e n S p r a c h - und Bildungsgeschichte offenbart, die er als Philologe zurückweist, und sich gleichzeitig die K u l t u r g e s c h i c h t e g a n z a n d e r s zurechtlegt gehen

105

als B o r c h a r d t

(so d a ß sie im Inhaltlichen

ganz

auseinander-

) , dann kann B o r c h a r d t s Faszination für den G e l e h r t e n nur m e h r in

der rein f o r m a l e n A n n a h m e eines schöpferischen K e r n s bestehen, den B o r c h a r d t aus den A b h a n d l u n g e n diviniert und d e r e n a n g e m e s s e n e Geste die F e s t r e d e des G e l e h r t e n ist. 1 0 6

105 Prag gilt Burdach als Zentrum, Borchardt das Oberdeutsche; ist bei diesem das Mittelalter der Gegenstand des Interesses, so bei jenem die Renaissance. Und die Gegensätze lassen sich vermehren: nationale vs. universale Konzeption des Deutschen; was geschichtliche Prozesse prägt: der Eingriff oder die Entelechie; Einzelne vs. Volk, Kultur und Sprache als diagnostisches Material. Burdach hat gerade keine mittelalterliche Altertumswissenschaft im Sinn (vgl. Hofmann, Anm. 63). 106 Immerhin hat Borchardt wohl den öffentlichen Burdach zuerst gesehen; er kannte dessen populären Vortrag über die Deutsche Renaissance. Betrachtungen über unsere künftige Bildung, gehalten 1916 auf einem "Deutschen Abend", den das Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht veranstaltete (Berlin 1917, 2. Aufl. 1920). Die moderne wissenschaftsgeschichtliche Forschung kennt vor allem Burdach als den von Rudolf Hildebrand sich herleitenden Bildungsideologen; im Sammelband: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert, hrsg. von Jürgen Fohrmann u. Wilhelm Voßkamp, Stuttgart und Weimar 1994, wird fast nur Burdachs Über deutsche Erziehung (1886) bedacht. Man kennt also den öffentlichen Burdach.

ULRICH WYSS

Rudolf Borchardt und Josef Nadler I

Dichter und Philologen haben es nie leicht miteinander gehabt. Es gibt eine lange Tradition der Beschimpfung von bornierten Literaturbeamten, welche ein Hauch poetischen Geistes nie und nimmer anweht. Karl Kraus plante schließlich eine Razzia und drastische M a ß n a h m e n gegen Professoren, "die in keinem Zusammenhang mit der Literatur stehen und darum nur Literarhistoriker heißen" 1 . Dabei geht es immer um die Frage, o b das Reden über Poesie selber poetisch sein kann; wer Dichtungen analysiert, muß notgedrungen in einer Metasprache von ihnen reden. Versuche, die Literaturgeschichte selber als Poesie zu betreiben und die Philologie als eine Kunst zu mythisieren, sind seit Friedrich Schlegel zwar immer wieder ins W e r k gesetzt worden, erwiesen sich aber als inkompatibel mit dem Wissenschaftsbetrieb. 2 N o c h die Literaturprofessoren aus dem Georgekreis irrten zwischen Kunst und Wissenschaft hin und her; Gundolf etwa wird heute weder als Dichter noch als Philolog rezipiert oder gar ernst g e n o m m e n . 3 Aus der Sicht des Philologen gibt es ähnliche Schwierigkeiten zu beklagen, wenn auch die Kritik an der literarhistorischen Kompetenz von Schriftstellern auf eine weniger ehrwürdige Tradition zurückblicken kann. Nicht jedem Dichter gelangen Meisterwerke der Literaturkritik, die auch in der

Wissenschaftsgeschichte

Epoche machten. T h o m a s M a n n sei hier genannt, dessen Essays über G o e t h e oder über W a g n e r ganze Bibliotheken ersetzen, auch Hofmannsthal

oder

Vladimir Nabokov mit seinem Kommentar von Puschkins Ow/'egi'w-Dichtung;

1

2 3

Karl Kraus: Die Fackel 3 4 1 / 3 4 2 , Januar 1912, S. 29-43; vgl. Ulrich Wyss: Die Literatur und ihr Schatten, in: Literaturgeschichtsschreibung in Italien und Deutschland, hrsg. von Frank Baasner, Tübingen 1989 ( = Reihe der Villa Vigoni 2), S. 175-197. Vgl. Heinz Schlaffer: Poesie und Wissen. Die Entstehung des ästhetischen Bewußtseins und der philologischen Erkenntnis, Frankfurt am Main 1990, bes. S. 234ff. Vgl. Ernst Osterkamp: Friedrich Gundolf zwischen Kunst und Wissenschaft. Zur Problematik eines Germanisten aus dem George-Kreis, in: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910 bis 1925, hrsg. von Christoph König und Eberhard Lämmert, Frankfurt am Main 1993 ( = Fischer Taschenbuch 11471), S. 177-198.

114

Ulrich Wyss

als Gegenbeispiel wäre Arno Schmidt anzuführen. Dessen Bemühungen um eine Revision des literarischen Kanons sind, bei aller Akribie, die im einzelnen aufgewandt wurde, als gescheitert zu betrachten. Und zwar deshalb, weil Arno Schmidt von Literaturgeschichte einfach "nicht genug verstand": es gelang ihm nicht, sein Urteil von elementaren Affekten der Rivalität, von schöpferischer Idiosynkrasie zu reinigen. So mußte er sich in einem forcierten Antiklassizismus verbeißen. Wenn nun aber der Dichter als ein Philolog mit allen professionellen Kompetenzen der Disziplin auftritt, wird das Verhältnis noch komplizierter. Rudolf Borchardt hat die klassische Philologie im Ernst studiert, wie man weiß. Er sei "der dankbare Sohn der aus dem Geiste der Romantik wiedergeborenen deutschen Universität", schrieb Borchardt einmal 4 - und er sei es "nicht nur als wissenschaftlicher Arbeiter, sondern auch als Dichter". Ein gelehrter Dichter also, ein dichterischer Wissenschaftler. Das hat es den Philologen besonders schwer gemacht, mit Borchardt zurechtzukommen. Da ist endlich einmal ein Schriftsteller, der nicht nur Hohn für ihre tägliche Arbeit übrig hat. Aber zugleich ein Gelehrter, der für sich die Zuständigkeiten in zwei, drei, nein in einem Dutzend von Fachgebieten reklamiert: das muß jeden von uns mit einem gesunden Mißtrauen erfüllen. Dieser Superphilolog, der alles immer besser weiß als unsereiner, er wird doch auch mit Wasser kochen... Weshalb aber schlägt gesundes Mißtrauen, sobald es Borchardt betrifft, schnell in affektgeladene Abwehr um? Vossler, Auerbach und Curtius zitieren Borchardt, wenn es um Dante und die Provenzalen geht, am liebsten nur so nebenbei und nicht ohne ein wenig Herablassung; 5 den Altgermanisten ist die Übersetzung des Armen Heinrich ein willkommenes Beispiel dafür, wie man es nicht machen darf; in der neuesten zweisprachigen Ausgabe der Vita Nova wird Borchardts Ubersetzung nicht einmal angeführt. 6 Es ist aber auch das Gegenteil vorstellbar: die forcierte Identifikation mit Borchardts Intuitionen, ein parasitäres Teilhaben an der Extravaganz des Außenseiters. Da geht es zunächst nur um die Lust am Widerspruch

4

5

6

Zitiere nach: Rudolf Borchardt. Alfred Walter Heymel. Rudolf Alexander Schröder. Eine Ausstellung des D e u t s c h e n Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum, Marbach am N e c k a r 1978, S. 28; im folgenden zitiert: Katalog Marbach. Vgl. Ulrich Wyss: Mediävistik als Krisenerfahrung - Z u r Literaturwissenschaft u m 1930, in: Die D e u t s c h e n und ihr Mittelalter, hrsg. von Gerd Althoff, Darmstadt 1992, S. 127146, Literatur in A n m . 8 8 auf S. 209. D a n t e Alighieri: Vita N o v a - Das N e u e Leben, übers, und k o m m e n t i e r t von Anna Coseriu und Ulrike Kunkel, München 1988 (dtv 2199); allenfalls eine kryptische Bemerkung im N a c h w o r t S. 136: "eine recht schnöde Lesart, die in d e n Zwanzigerjahren bereits vorgetragen w o r d e n war", k ö n n t e auf Borchardts D e u t u n g des Werkes als eine Verteidigungs- und Rechtfertigungsschrift hindeuten.

Rudolf Borchardt und J o s e f Nadler

115

gegen herrschende Meinungen; in derlei Opponieren wird jedoch ein wissenschaftskritisches Motiv virulent. Borchardt, wenn er der deutschen Universität seine Dankbarkeit bezeugt, meint ja auch nicht die Universität, wie er sie in seiner Studentenzeit kennenlernte, sondern deren erlauchte Vorzeit; schon im Gespräch über Formen wird Wilamowitz als ein Repräsentant des Niedergangs auf das schärfste kritisiert. 7 Unter Borchardts passionierten Bewunderern hat es immer auch Philologen gegeben, die sich sehr wohl vorstellen konnten, von Borchardt etwas zu lernen, und zwar auch in fachlichen Fragen. 8 Zu ihnen gehört nicht zuletzt Josef Nadler. Am 23. Mai 1 8 8 4 im nordböhmischen Neudörfl geboren, war Nadler 1 9 0 4 in Prag promoviert worden und trat 1 9 1 2 sein erstes Lehramt in Freiburg im Uechtland an; 1925 wurde er nach Königsberg berufen, 1931 nach Wien. Nach 1 9 4 5 erhielt er auf Dauer Lehrverbot. 9 Mit Borchardt wechselte er seit 1923 Briefe; 1 0 im Februar 1 9 2 7 kam Borchardt, zusammen mit Rudolf Alexander Schröder, zu Besuch nach Königsberg. Es war das einzige Zusammentreffen der beiden Männer. Borchardt hatte Nadler für den Eranos, die Festgabe zu Hofmannsthals fünfzigstem Geburtstag, zu gewinnen versucht. Daß Nadlers Abhandlung, die Hofmannsthal wie Jakob Wassermann als Prototypen des assimilierten Juden traktierte, einer der Hauptgründe für die Verstimmung Hofmannsthals werden sollte, die dessen Kontakt mit Borchardt für Jahre abreißen ließ, 11 scheint Borchardt Nadler nicht übelgenommen zu haben. Nadler aber war, sobald er mit Borchardts Arbeiten in Berührung kam, wie geblendet. Als er die Trobadors und die Altionischen Götterlieder übersandt bekam, schrieb er: "Ihr Werk entfaltet sich mir in

7

Rudolf Borchardt: Gespräch über F o r m e n , in: Prosa I, S. 3 2 8 - 3 7 3 .

8

D e r Einfachheit halber zitiere ich mich selbst: Ulrich Wyss: Mediävistik als Krisenerfahrung (wie A n m . 5), vgl. ferner ders: Literaturlandschaft und Literaturgeschichte. A m Beispiel Rudolf Borchardts und J o s e f Nadlers, in: Interregionalität der deutschen Literatur im europäischen Mittelalter, hrsg. von Hartmut Kugler, Berlin 1995, S. 4 5 - 6 3 .

9

Zu Nadler vgl. seine Autobiographie: J o s e f Nadler: Kleines Nachspiel, Wien 1954; z u den politischen Zusammenhängen Sebastian Meissl: Zur Wiener Neugermanistik der dreißiger Jahre: Stamm, Volk, Rasse, Reich. U b e r J o s e f Nadlers literaturwissenschaftliche Position, in: Klaus Ammann und Albert Berger (Hg.): Osterreichische Literatur der dreißiger Jahre, Wien, Köln, Graz 1985, S. 1 3 0 - 1 4 6 ; ders., Germanistik in Osterreich. Z u ihrer Geschichte und Politik 1 9 1 8 - 1 9 3 8 , in: Franz Kadrnoska (Hg.): Aufbruch und Untergang, Wien, München, Zürich 1988, S. 4 7 5 - 4 9 6 ; ders: Wiener Ostmark-Germanistik, in: Gernot Heiss u.a. (Hg.): Willfährige Wissenschaft. Die Universität Wien 1 9 3 8 - 1 9 4 5 , Wien 1989, S. 133-154.

10

I c h danke dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach am N e c k a r für die Erlaubnis, Nadlers Briefe einzusehen und aus ihnen zu zitieren. Die Briefe Borchardts sind j e t z t im D r u c k zugänglich: Briefe 1 9 1 4 - 1 9 2 3 ; Briefe 1 9 2 4 - 1 9 3 0 .

11

Vgl. Werner Volke: Hugo von Hofmannsthal und J o s e f Nadler in Briefen, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 18, 1974, S. 3 7 - 8 8 .

116

Ulrich Wyss

seiner ganzen planmäßigen Fülle. Ihre Worte zu den Trobadors' haben mich ergriffen und beschämt. Der Anfang zu den 'Götterliedern' ist von einer Logik der unmittelbarsten Intuition, die Sie als begnadeten Philologen ausweist".12 Fortan wird Nadler immer wieder um Borchardts Freundschaft werben; er verspricht sich von dem Dichter Kontakte zur literarischen "Szene" in München, Berlin und Wien, die er in seinen randständigen Universitätsstädten vermißt. Und einmal, nachdem sie sich persönlich begegnet sind und Borchardt sich für eine Berufung Nadlers nach München ins Zeug gelegt hatte, heißt es sogar: "Ich habe seit meiner Hochschulzeit keinen neuen Freund mehr gehabt u. bin glücklich, daß wir einander [...] hier begegnen konnten".13

II Wie aber kam Borchardt auf Nadler? Er hat es selber erzählt. Gegen das Ende des Weltkriegs war's, daß Hofmannsthal seine Freunde dazu drängte, den zweiten Band von Nadlers Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften, erschienen 1913 in Regensburg, zur Kenntnis zu nehmen: A u c h auf den Arbeitstisch des Schreibers dieser Zeilen legte er ihn, keine

Abwehr

duldend, die Hände des andern sanft niederdrückend, um Duldung bittend, zum Lesen zwingend. 1 4

So steht es in einem Artikel zur Verleihung des Martin-Bodmer-Preises der Gottfried-Keller-Stiftung an Nadler im Jahr 1929. Nadler selber schrieb der Dichter, in seinem ersten Brief, am 11.XII. 1923 aus München: Sie wissen, dass die Literaturgeschichte, die mir Hofmannsthal mitten im Kriege - ich kam felddienstunfähig aus dem Lazarett und wurde vorübergehend in Berlin verwendet - all mein Widerstreben niederzaubernd, auf den Schreibtisch zwang, dann für mich zur E p o che geworden ist, von der ich einen Teil meines innern Vorganges durchaus neu datiere. 1 5

Da waren Widerstände zu brechen, es bedurfte des Zaubers und des Zwangs, um Borchardt zu einem Leser der voluminösen Bände einer neuen deutschen Literaturgeschichte zu machen. Aus eigenem Entschluß hätte er sie offensichtlich nicht in die Hand genommen. Und inwiefern wurde diese Lektüre zur Epoche in Borchardts Leben? Die Arbeiten, an denen Borchardt seit dem Ende des Krieges saß, waren alle im dritten Lebensjahrzehnt entworfen worden: das Pisa-Buch wie die Dante-Ubersetzung gehen auf den Winter 1903/4 zurück, 1905 beginnt er

12

Brief vom 2 7 . X I I . 1 9 2 7 aus Düdingen (Schweiz); Hervorhebung von mir.

13

Brief vom 2 7 . I V . 1 9 2 7 aus Königsberg.

14

Prosa I, S. 404.

15

Briefe 1914-1923, S. 531.

117

Rudolf Borchardt und J o s e f Nadler

mit der Vita Nova,

im Herbst jenes Jahres nimmt er in Arlesheim bei Basel

Quartier, um sich in die alemannische Mundart und deren spezifische, ins Mittelalter weisende Archaik einzuleben; auch der Durant

wird in jenen

Jahren konzipiert. 1 9 1 2 entwirft Borchardt den Plan für die Ubersetzungen, die im Verlag der Bremer Presse erscheinen sollen: Tacitus, Hartmann von Aue, Pindar, die Trobadorlyrik, Dante. Dieses Programm wird er in zwei Jahrzehnten Punkt für Punkt abarbeiten. 1 6 Mit Nadlers Literaturgeschichte und deren Theorie von den Stämmen und Landschaften hat es nicht das geringste zu schaffen. Borchardt brauchte Nadler, so scheint es, für sein eigenes Arbeiten durchaus nicht. Nur in seinen kulturpolitischen Umtrieben der Zwanzigerjahre zieht er ihn als Mitstreiter in Betracht: für den mißglückten Eranos

und für die verschiedenen Projekte von Zeitschriften, Jahrbüchern,

Schriftenreihen, die er, zum Teil mit Hofmannsthal und Schröder, entwirft. Dann aber, an der Jahreswende 1 9 2 9 / 3 0 , das laute, öffentliche Lob: ein

Artikel erscheint in der Deutschen Allgemeinen Zeitung vom 29.12.1929 und 9 . 1 . 1 9 3 0 , ein zweiter in der Neuen

Zürcher

Zeitung

vom 1 0 . 1 1 . 1 9 2 9 , beide

im Zusammenhang mit dem Zürcher Martin-Bodmer-Preis; eine Würdigung

von Nadlers Literaturgeschichte der deutschen Schweiz aus dem Jahr 1932

blieb ungedruckt, und weitere Entwürfe fanden sich im Nachlaß. 1 7 Im Frühjahr 1 9 2 7 schließlich engagierte sich der Dichter für die Berufung des Germanisten auf den Münchener Lehrstuhl, der mit dem T o d Franz Munckers vakant geworden war. Die literarhistorische Symptomatik jenes Vorgangs, daß sich eine Reihe von Schriftstellern in eine universitäre Personalfrage einmischten, hat Ernst Osterkamp vor ein paar Jahren dargestellt. 18 Wie man weiß, war Borchardts generalstabsmäßig angelegter Intervention zugunsten Josef Nadlers am Ende kein Erfolg beschieden. "Sie haben ja wie ein Feldherr disponiert", schrieb ihm Nadler, 1 9 aber den Ruf erhielt zuerst Ernst Bertram, der ihn ablehnte, und dann Walther Brecht, übrigens ein Studienfreund Borchardts aus alten Göttinger Tagen. Diese Münchener Affaire müssen wir nachträglich als ein Krisenzeichen für die deutsche Philologie lesen. Die Beteiligung von Schrifstellern ersten Ranges wie Thomas Mann, Hofmannsthal und Borchardt an einer Angelegenheit, die sie, streng genommen, nichts

16

Zur Chronologie siehe bis auf weiteres den Katalog Marbach, S. 591ff.

17

Die T e x t e finden sich in: Prosa I, S. 4 0 1 - 4 1 0 ; Prosa IV, S. 2 5 4 - 5 6 5 ; Prosa I, S. 4 1 1 - 4 1 7 .

18

Ernst Osterkamp: "Verschmelzung der kritischen und der dichterischen Sphäre". Das Engagement deutscher Dichter im Konflikt um die Muncker-Nachfolge 1 9 2 6 / 2 7 und seine wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 33 ( 1 9 8 9 ) , S. 3 4 8 - 3 6 9 .

19

Brief vom 9 . I I I . 1 9 2 7 aus Königsberg. Die hier einschlägigen Briefe Borchardts sind jetzt im vierten Band der Briefausgabe zu lesen.

118

Ulrich Wyss

anging, markiert gerade das Gegenteil dessen, was sie zu bezeugen scheint: daß die Germanistik fortan des öffentlichen Interesses durchaus entraten muß und den Zusammenhang mit der literarischen Aktualität verloren hat. So erweist sich Borchardts und Nadlers Münchner Niederlage als hochschulpolitisches Satyrspiel am Ende eines langwierigen Abschieds der "deutschen Wissenschaft" von der Funktion einer im nationalen Interesse privilegierten Disziplin. Was also hatte Borchardt zu loben, als er für Nadler publizistisch eintrat? Da ist einmal das Außenseitertum im gelehrten Betrieb. Nadler war, als die ersten Bände der Literaturgeschichte erschienen, Germanist im schweizerischen Freiburg; bei Borchardt heißt das: er war "auf halbwelschem Boden der Literaturlehrer des schief angesehenen gelehrten Pfaffenhorstes im Uechtlande".20 Es ist eine Marginalität in geographischer, sprachlicher und konfessioneller Hinsicht, aus der erst der Ruf nach Königsberg Nadler erlöste: "der erste Sonnenstrahl der Menschlichkeit in das Freiburger Amtszimmer"!21 Da wird eine ziemlich unauffällige Professorenkarriere nach Kräften dramatisiert. Um so paradoxer der Erfolg, den Nadlers Bände beim Publikum hatten. Die ersten beiden Bände sollen, mitten im Krieg, plötzlich vergriffen gewesen sein. Nicht die gelehrten Fachleute, sondern "das deutsche Volk, unbeschwatzt und ungeworben", "das namenlose, nach Licht verlangende, hatte geahnt, wer weiß wie, was vorging und die riesige Papiermenge drucknaß unter den Pressen herausgekauft".22 Und schließlich: Nadler ist ein begnadeter Polemiker und Pasquillant. Was mir heute als peinliches Quengeln und ganz unerfreuliche Rechthaberei eines Gelehrten erscheint, der sich nicht in seinem Wert gewürdigt dünkt, gilt Borchardt als Zeugnis unverächtlicher Streitbarkeit. Der Traktat Die Berliner Romantik von 1921 sei "dem Ergebnis nach die schönste Streitschrift der historischen Wissenschaften seit einem Halbjahrhundert".23 Vielleicht ist es erlaubt, in der Wendung "dem Ergebnis nach" die Spur einer Distanzierung zu lesen: Ganz behaglich wird die Attitüde der gekränkten Unschuld Borchardt denn doch nicht gewesen sein... Das Außenseitertum zu feiern, ist das eine; es kommt jedoch auf die wissenschaftlichen Entdeckungen an, die bei Nadler zu Buche schlagen. Es sind ihrer vier: (1) Im Gefolge von Konrad Burdachs Studien zur Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache hat Nadler den Vorgang einer "ostmitteldeutschen Volksbildung" in seiner ganzen Tragweite erkannt und zum ersten Mal dargestellt. Die deutsche Literatur mußte, nachdem die Tradition der 20 21 22 23

Prosa I, Ebd., S. Ebd., S. Ebd., S.

S. 404. 405. 403. 404.

Rudolf Borchardt und Josef Nadler

119

oberdeutschen, also der alemannischen, bairischen und fränkischen Dialekte als Literatursprache abgerissen war, auf dem erst im Hochmittelalter kolonisierten slawischen Gebiet noch einmal neu ansetzen. (2) Nadler entdeckte die "geschlossene Nationalkultur der Baiern", also den Komplex von barocker Ästhetik und theatralischer Genialität, der sich vor allem in der Kultur Wiens manifestierte. Dieses Thema war es gewesen, das Hofmannsthal Nadler zu verdanken glaubte. (3) Erst Nadler gelang es, das Verhältnis von Klassik und Romantik auf eine konkrete historische Grundlage zu stellen. Der Klassizismus ist oberdeutsch-oberrheinisch, wogegen die Romantik und deren historistische Impulse sich den Neustämmen jenseits der Elbe verdanken. (4) Noch unverbraucht ist die historische Energie des sächsischen Stammes. Sie wirkt in Bismarck und der Gründung eines zweiten Kaiserreichs. 24 Das sind die Themen. Bewundernswert nun findet Borchardt, daß Nadler sie nicht nur als genialische Einfälle präsentiert; statt dessen entfaltet er sie in einem breit angelegten Forschungsprogramm. Darauf kommt es an. "Jeder Dilettant von Geist", schreibt Borchardt, "erzeugt in einer Stunde mehr an wissenschaftlichem Aperçu als zehn Gelehrte in einem Leben nutzbar machen können", und: "Der wissenschaftliche Gedanke ist nur die Frage, die wissenschaftliche Tat eine Antwort, die die Frage fast vergessen hat". 25 Damit erledigt sich auch der Streit um die Priorität des Einfalls: War Nadler als erster auf die Idee verfallen, Literatur an Stämme und Landschaften zu binden, oder sein Prager Lehrer August Sauer? Dieser führte, wie Borchardt anmerkt, ohnehin nur ein Projekt seines erlauchten Lehrers Wilhelm Scherer einer der Hausgötter in Borchardts Vorstellung von der Germanistik weiter. 26 Nadler selber war das keineswegs gleichgültig, wie wir aus seinen Memoiren wissen. 27 Er wollte Stamm und Landschaft schon zwei Jahre vor Sauers Prager Rektoratsrede vom 18. November 1907 als Prinzipien der Literaturgeschichte postuliert haben. Methodisch auffällig war, wie Nadler den Literaturbegriff entgrenzte. Wenn nicht Individuen, sondern die Völker selber Träger des Geschichtsprozesses sind, gibt es keine ästhetischen Kriterien der Relevanz mehr. Literatur besteht fortan "nicht mehr aus Büchern und Belletristik, sondern aus der gesamten seelischen Voraussetzung und der gesamten geistigen Filiation des Schrifttums als des Ausdrucks einer innerlichen Nationaltendenz". 28

24 Prosa I, S. 409f.; Prosa IV, S. 261; in letzterer Version für die N Z Z fehlt der Punkt "Nationalkultur der Baiern". 25 Prosa IV, S. 256. 26 Ebd., S. 256. 27 Josef Nadler (wie Anm. 9), S. 34. 28 Prosa IV, S. 260.

120

Ulrich Wyss

Soweit Borchardts Lobesgründe. Die Elogen auf Nadler problematisieren aber auch, sie fassen Beziehungen ins Auge, formulieren Einwände. So behauptet Borchardt, daß Nadlers Grundidee so neu nicht war, sondern zum festen Bestand jeder historischen Kulturwissenschaft gehört. Aus der Altphilologie kannte man ein Beispiel dafür schon seit hundert Jahren: Karl Otfried Müllers zweibändiges Werk Die Dotier von 1824. "Es gab 'Griechen an sich' theoretisch. Historisch gab es Stämme und Landschaften".29 Interessanter, daß Borchardt auch die Argumente, mit deren Hilfe die germanistische Zunft die Zumutungen des Außenseiters Nadler in der Regel abwehrt, nicht verschweigt. Im Gegenteil, er faßt sie in einer großartigen Tirade zusammen: Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften - du hast ein Bayer zu sein, ein Ostfale, ein Alemanne, dann erst du selbst, du wirst nicht losgelassen. D u bist, hinter dem Produkte der Geschichte noch ein Produkt der Naturgeschichte. Dein Geist hat sich unter das Primat deines Leiblichen zu ducken, du bist determiniert. J a war das nicht in neuer Gestalt, Positivimus ältester Observanz? U n d war es nicht eine Konstruktion, die der Geschichte spottet? Hatten nicht durch die Jahrhunderte alle Heere aller V ö l k e r im deutschen Schöße gezeugt? War es bei allen Geburten s o fadengrad hergegangen, wie die Kirchenbücher aussagten? W a r denn der Stammesbegriff, ihn selbst zugegeben, geschichtlich durchzuhalten, ohne ihn totzuhetzen? D e r Österreicher mag ein Ostbayer sein, aber der Wiener darf doch schon halb ein Wiener sein und halb nur noch ein Österreicher? Was soll aus dem Schematisieren herauskommen? Entwickelt sich nicht das Genie eher gegen seine Umstände als aus ihnen? Hängt es mit seinem Nährboden durch seine wirklichen Stärken zusammen, oder nicht nur durch seine uns gleichgültigen Schwächen? U n d was der verdrossenen Fragen der oben abgeschöpften mehr sind. 3 0

Borchardt kann nicht umhin, die Berechtigung solcher Einwände anzuerkennen. Jedenfalls verteidigt er Nadler mit dem Argument, sie seien für das Wesentliche, für die Leistung, für das Genie unerheblich.31 Das ist eine Strategie der Immunisierung gegen fachliche Kritik, die dazu zwingt, den Mund sehr voll zu nehmen. Auch die Kosmologie der Göttlichen Komödie oder Goethes Farbenlehre sind "weder richtig noch falsch", heißt es dann; es komme allein auf die "Kolossalgewalt einer in sich einheitlichen Weltauffassung" an. 32 Diese spricht für sich, ihre Evidenz schießt über alle Beweisbarkeit hinaus. Das ist am Ende ein ästhetisches Problem. Auch Borchardt hat das bedacht. Poesie und Wissenschaft lassen sich, wenn es um Geschichtsschreibung geht, nicht unterscheiden. Auch Klio ist eine Muse. Und die großen Historiographen kamen ohne "mythologische petitio principii" nicht aus: nicht Ranke, nicht Mommsen, und ebensowenig Treitschke oder Lamprecht. 33 Mit anderen 29

Prosa IV, S. 2 5 8 ; zu Karl Otfried Müller ( 1 7 9 7 - 1 8 4 0 ) vgl. Rudolf Pfeiffer: D i e klassische

30

Prosa I, S. 405.

31

Ebd., S. 406.

Philologie von Petrarca bis Mommsen, München 1982, S. 228ff.

32

Ebd.

33

Ebd., S. 407.

Rudolf Borchardt und Josef Nadler

121

Worten: die Literaturgeschichte ist selber Literatur. Es fällt Borchardt nicht schwer, Kriterien der erhabensten poetischen Gattungen auch in Nadlers Bänden nachzuweisen. Was bietet die Literaturgeschichte anderes als eine "mythologische Dramatisierung der deutschen Stämme"? Nadler habe "die deutsche Landkarte dramatisch gemacht", und das natürlich im Sinn der Tragödie - "da es die deutsche ist". 34 Der Enkomiast greift auch zu einem weiteren Vergleich: Nadlers Buch ist schlicht und einfach "unser letztes Epos" 3 5 , die teutsche Ilias 36 sozusagen, die Johannes von Müller, irrtümlicherweise, im Nibelungenlied vor sich zu haben geglaubt hatte... "Auch seine Gesänge", schreibt Borchardt über Nadler, "auch seine Gesänge haben Schiffskataloge, gut. Aber auch seine Helden sind die Völker, und Achill frevelt, und Hektor überlebt, obgleich Troja fällt. Was ist Tragödie, was Geschichte?" 3 7 Nadler also war es, der als erster seit Scherer eine Geschichte der deutschen Literatur verfaßte, die sich auch lesen läßt. Wir sind es gewohnt, in Literaturgeschichten dann und wann etwas nachzuschlagen, und die meisten Vertreter der Gattung kommen denn auch wie schlecht organisierte Nachschlagewerke daher. Als Erzähltexte dagegen sind sie, aus guten Gründen, ein veritables "genre faux", und die wenigsten Literarhistoriker versuchen sich im Ernst als Epiker. Nadler dagegen hat sich offensichtlich bemüht, seine Geschichte mit epischem Atem zu erzählen, und einigen literarischen Ehrgeiz in sie investiert. Einen "nicht alltäglichen schriftstellerischen Glanz" hatte auch einer von Nadlers entschiedensten Kritikern, nämlich Walter Muschg, bewundern zu müssen geglaubt. 38 Er las das Buch als einen "historischen Roman". In seinem Urteil über zeitgenössische Literatur war er wohl, wir wissen es, nicht immer sattelfest... Nadlers pathetische Arrangements, seine trivialen Bühnenmetaphern, die barock raunenden Oxymora: es sind die Ingredienzien von Schwulst und Kitsch, nicht großer Erzählprosa. Als Epiker bringt es Nadler doch wohl nur zum Verfasser von gelehrten Schundromanen. So muß ihm Borchardts Lob, das geradezu demonstrativ auch die erlesensten Vergleiche - Dante, Goethe, Homer - nicht scheut, gefährlich werden; solche Huldigungen töten ihren Gegenstand. Nadler haben sie auch nicht von seinem Außenseitertum, weder im universitären Betrieb noch in der Welt der Literaten, erlöst.

34 35 36 37 38

Prosa IV, S. 262. Prosa IV, S. 263. Vgl. dazu Ulrich Wyss: Z u m letzten Mal: die teutsche Ilias, in: Pöchlarner Heldenliedgespräch, hrsg. von Klaus Zatloukal, Wien 1990 (Philologica Germanica 12), S. 157-179. Prosa IV, S. 263. Walter Muschg: Die Zerstörung der deutschen Literatur, München 1961, S. 186.

122

Ulrich Wyss

III Was aber hat Borchardt von Nadler lernen können? Manifeste Spuren hat die Bekanntschaft auch nach 1920 in Borchardts materialen Arbeiten zur Literaturgeschichte nicht hinterlassen. In den großen Nachworten zu den Bänden der Bremer Presse fällt der Name nur einmal ziemlich beiläufig: Es ist von Konrad Burdachs "Wirkung auf Nadlers Genie" die Rede. 39 Burdach erscheint als der wirkliche Neuerer, dem Nadler seine zentralen Einsichten am Ende zu verdanken hat. Ein Niederschlag der Nadler-Lektüre läßt sich ansonsten allenfalls im Nachwort zu den Großen Trobadors von 1924 vermuten. Da unterscheidet Borchardt zwischen den europäischen Nationalliteraturen, die vom Geist der provenzalischen, der "ersten großen Originalpoesie des Abendlandes und [...] Mutter aller übrigen", 40 erfaßt wurden, und jenen anderen, die von der französischen abhängen. Töchter der Provence waren die catalanische, die portugiesische, die italienische Lyrik, zum Teil auch die deutsche; im nördlichen Frankreich dagegen, wo die langue d'oil gesprochen wird, dominierte der höfische Roman, für welchen Borchardt nur Verachtung übrig hat: die "spitze und blinzende Armseligkeit der galloromanischen Amüsierfabel", heißt es bei ihm, wo immerhin Dante Alighieri von den "Arturi regis ambages pulcherrimae" gesprochen hatte. 41 In der deutschen Literaturgeschichte nun kommt es darauf an zu erkennen, wie sich der provenzalische zum französischen Einfluß verhält: Wie es einen Grenzwall sichtbar gibt, der das römische Germanien v o m freien, u n d eine Strömegrenze, die Deutsches von Kolonialdeutschem scheidet, so scheidet eine dritte, unsichtbare die Deutschen, die ihre F o r m e n aus provenzalischen und die sie aus französischen H ä n d e n empfangen haben. 4 2

Für den Leser mittelhochdeutscher Poesie gehört zu den einen Wolfram von Eschenbach, zu den anderen Gottfried von Straßburg. Ihre wechselseitige Polemik deutet Borchardt kühn als die Auseinandersetzung um den trobar dus, also den dunklen, hohen Stil, wie ihn etwa Arnaut Daniel, der von Dante bewunderte "miglior fabbro del parlar materno" 43 (bei Borchardt "bessr ein schmied der mundart seiner leute"), praktizierte. Wenn Wolfram neben dem Romancier Chrétien de Troyes aus der Champagne den Provenzalen Kyot als zweite Quelle seines Parzival ins Spiel bringt, beschwört er die provenzalische Ästhetik, von der Chrétien nichts versteht. 44 Und wenn Gottfried 39 40

Prosa II, S. 478. Ebd., S. 345.

41 42 43 44

Ebd., S. 346; vgl. D a n t e Alighieri: De vulgari eloquentia I,X,2. Prosa II, S. 347. Purg. X X V I , 117. Vgl. dazu Ulrich Wyss: Literaturlandschaft (wie Anm.8).

Rudolf Borchardt und J o s e f N a d l e r

123

gegen Wolframs Dunkelheiten und Manierismen polemisiert, zielt er auf eben das, was Wolfram von Arnaut hat lernen können. Das ist eine originelle und neuartige Erklärung der allen Germanisten wohlgeläufigen Dichterfehde. Borchardt instrumentiert sie nun aber als ein Stammes-Problem: Wolfram steht als Ostfranke gegen den Alemannen Gottfried vom Oberrhein. Das klingt dann so: D e r große fränkische Stamm ist [...] in Deutschland selbst gespalten; die provenzalisch bis tief nach Wien hin ergriffenen und erneuerten Baiern reißen die O s t - M i t t e l f r a n k e n mit sich und v o m Stamme ab, und siegen im K a m p f e um den T h ü r i n g e r H o f , um d e n der Streit im G r u n d e geht. 4 5

Was es mit dem Thüringer Hof des Landgrafen Hermann, der ein Mäzen Wolframs und Walthers von der Vogelweide war, für eine Bewandtnis hat, sei hier nicht erörtert. Nadlers Konzeption eines thüringischen "Herzraums" im Gefüge und Geschiebe der deutschen Stämme, in dem es Geistigkeit gibt, aber kaum Staatlichkeit, 46 spielt für Borchardt, wenn ich recht sehe, keine Rolle; die Anspielung hier büßt die Lust an einer wichtigtuerischen Esoterik. Und wie und warum die Baiern "provenzalisch ergriffen" wurden, wer will es erklären? Bei Borchardt hat das zunächst ästhetische, literarhistorische Votum für die Baiern wohl auch literaturpolitische und dann auch politische Gründe tout court: Es ist ein Argument für Hofmannsthal, gegen George, und vom bairischen Monarchismus erwartete der Verehrer des wittelsbachischen Kronprinzen Rupprecht ohnehin die Rettung Deutschlands... Daß Borchardt, wenn er sich in der Fehde Gottfrieds und Wolframs auf des Ostfranken Seite schlägt, mit Gottfried zugleich Stefan George, den Rheinfranken aus Bingen treffen will, macht der nächste Satz in seinem Text nur zu deutlich: "Es ist kein Zufall, daß der Rhein, mit einziger Ausnahme Friedrich von Hausens, die keine ist" (warum? weil Hausen nachweislich bei den Provenzalen in die Schule ging!), "keine große Dichtung hat und bekommt, nie wieder, bis zur zerrissenen Gestalt Stefan Georges". 47 George: das ist zwar wieder große Dichtung, aber von der prekärsten, widersprüchlichsten, bedenklichsten Art; eine Dichtung gegen alle stammeskundlichen Prämissen... Nadler reagierte enthusiastisch. Er selber hatte das Problem ganz anders dargestellt. So konstruierte er keinen Gegensatz von Wolfram und Heinrich von Veldeke, jenem Epiker vom Niederrhein, dem der Straßburger Gottfried nachrühmte, als erster den französischen Roman in die deutsche Sprache herübergeholt zu haben. Wolfram habe sich, heißt es in Nadlers erstem Band,

45

Prosa II, S. 346.

46

Vgl. J o s e f Nadler: Das stammhafte Gefüge des deutschen Volkes, M ü n c h e n S. 104ff.

47

Prosa II, S. 346f.

1934,

124

Ulrich Wyss

auch noch in der Auflage von 1929, immer wieder zu Veldeke bekannt: "vielleicht unter dem Drange der Stammesgleichheit"! 48 Das rassistische Apriori der Stammesidentität - der eine Dichter stammt aus der Nähe Nürnbergs, der andere aus dem Maasland, Franken sind sie allemal - gibt bei Nadler den Ausschlag. Aber das hinderte ihn nicht, sich von Borchardts Spekulation faszinieren zu lassen. "Wie in den törichten Tagen meiner Studentenzeit gebe ich mich widerstandslos und naiv dem Erlebnis Ihrer Bücher hin", heißt es in einem Brief aus Königsberg im Sommer 1925. Er vernachlässige darob seine beruflichen Pflichten, und dann: Ihr N a c h w o r t zu den T r o b a d o r s ' bereichert mich von Tag zu Tag. Ihre Distinktion zwischen provenzalisch u. französisch gebildetem Deutschland ist so fühlbar, daß ich n u n seit Tagen d e n Kopf davon voll habe. 4 9

Doch am Ende ändert sich Nadlers Sicht der Zusammenhänge nicht. Der Widerstreit zweier Ästhetiken, den Borchardt tollkühn auf die Landkarte projiziert hatte, ließ sich nicht in das Drama der Stämme und Landschaften auflösen. Borchardt und Nadler trafen anderthalb Jahre später zum ersten und einzigen Mal persönlich zusammen. Der Dichter hielt im Februar 1927 einen Vortrag in Königsberg und war, zusammen mit Rudolf Alexander Schröder, beim amtierenden Ordinarius für deutsche Literaturgeschichte zu Gast. Zuletzt schuf Hofmannsthals Tod am 15.Juli 1929 Gelegenheit zum Briefwechsel, ein Jahr später das Erscheinen des deutschen Dante. 5 0 Dann bricht, soweit ich sehe, der Kontakt ab. Nadler wurde zum Wintersemester 1931/32 nach W i e n berufen; an Beziehungen zu dem in Deutschland seit 1933 verfemten Dichter wird ihm bald nicht mehr viel gelegen haben. Was Borchardt angeht, so finden sich jetzt, im vierten Band der Briefausgabe, zwei Bruchstücke von Briefen an Josef Nadler, die nie abgesandt wurden. Das erste, von Gerhard Schuster auf den September 1925 datiert, 5 1 bietet eine ausführliche Deutung des Durant-Gcdichtes. In dem Band Gedichte der Werkausgabe wird daraus zitiert, allerdings o h n e Quellenangabe. 5 2 Borchardt stellt da eine Weltformel des erotischen Begehrens auf, mit Anwendungen auf die Minnesänger, auf Michelangelo, auf Goethe, vor allem aber auf sich selber. Er vergleicht sich d a n n mit Hofmannsthal und knüpft daran die Mitteilung: "Sie werden wissen, und es wäre unmännlich, Ihnen vertuschen zu wollen, dass in meiner Familie

48 Josef Nadler: Literaturgeschichte der deutschen Stämme u n d Landschaften, I. Bd., 3. Auflage, Regensburg 1929, S. 108. 49 Brief v o m 25.VII.1925 aus Königsberg. 50 Vgl. Nadlers Briefe vom 24.XI.1929 u n d v o m 17.XI.1930; dazu Borchardts Briefe v o m 27.VII.1929, v o m 27.XII.1929 und vom 17.XI.1930 In: Briefe 1924-1930. 51 Briefe 1924-1930, S. 104-109. 52 Gedichte, S. 568f.

Rudolf Borchardt und Josef Nadler

125

jüdisches Blut ist"53 - es folgen Ausführungen über das Königsberger "Judenchristentum", wie sie in der Autobiographie und dann in der späten Auseinandersetzung mit Nadler breit entfaltet werden. W a r u m Borchardt das alles Nadler dann doch nicht anvertrauen mochte, werden wir wohl nie erfahren. Wäre hier ein Grad an Intimität erreicht, dem die Erfahrungen nicht gewachsen waren, die Borchardt mit dem Adressaten hatte machen müssen? Oder lief es auf eine Polemik gegen Nadlers Literaturgeschichte hinaus? Dafür spricht der zweite nicht abgesandte Brief, entworfen im Frühjahr 192 8. 54 Er soll für den vierten Band danken, wächst sich aber schnell zu einer Kritik an Nadlers Behandlung des West-östlichen Divan und der Wahlverwandtschaften aus. Auch sie kehren in dem Fragment wieder, dem die Herausgeber des Bandes Prosa W den Titel Zur deutschen Judenfrage gegeben haben. 5 5 Die beiden Briefentwürfe lassen sich, die Minneformel ausgenommen, als Vorstufen zu jener Abhandlung lesen, die Borchardt noch in den letzten Wochen vor seiner Verhaftung beschäftigte. Ich komme darauf noch zu sprechen. Daß diese beiden Briefe nicht auf die Post gegeben wurden, deutet darauf hin, daß Borchardt einer Kontroverse in der Sache ebenso aus dem Weg gehen wollte wie rückhaltloser Explikation seiner selbst. Dafür war Nadler nicht der rechte Partner. Er identifizierte sich schnell mit Borchardts Ideen, unterwarf sich ihnen beinahe lustvoll, propagierte sie mit zelotischem Eifer auch in seinem Königsberger Hörsaal; aber genau diese Art von Verehrer wird Borchardt denn doch nicht haben brauchen können.

IV Fragen wir also, welchen Gewinn Borchardt aus Nadlers Deutungen seines Werkes ziehen konnte. In der Neuen Schweizer Rundschau erschien 1924 die Abhandlung Von Bodmer zu Borchardt,56 Sie beginnt mit Konrad Burdachs Hinweis, daß der Minnesang und überhaupt die mittelhochdeutsche Literatur in Zürich wiederentdeckt worden sei. Das setzte Energien frei, welche der ostmitteldeutsch geprägten Hochsprache neue poetische Möglichkeiten eroberten. Oberdeutsch war immer eine Sprache der Poesie gewesen, die mitteldeutschen Kanzleisprachen dagegen eigneten sich von vornherein für die Prosa. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts, mit Bodmer, setzte nun der "ober-

53 54 55 56

Briefe 1924-1930, S. 108. Ebd., S. 251-260. Prosa IV, S. 370-396. Josef Nadler: Von Bodmer zu Borchardt, in: Neue Schweizer Rundschau (Wissen und Leben) 17, 1924, S. 883-892.

126

Ulrich Wyss

deutsche Rückschlag" ein, ohne den es die Weimarer Klassik nie gegeben hätte. Und Borchardt sollte ihn vollenden. Er nämlich stellt, in der Danteübertragung vor allem, die "organischen Ubergänge" zwischen der mittelhochdeutschen Dichtersprache und der neuzeitlichen prosaischen Gemeinsprache erst her. Das betrifft, meint Nadler, weniger den Lautbestand als vielmehr Satzbau, Satzfolge, Wortstellung, artikelloses Substantiv, freien Kasusgebrauch... Borchardt hat es sich gesagt sein lassen. In dem großen Brief an Burdach, der das Nachwort zur deutschen Divina Comtnedia bildet, rekapituliert er sein philologisch-poetisches Abenteuer in eben diesem Sinn; da hat ihm Nadler ganz offensichtlich auf die Sprünge geholfen. Der Aufenthalt in Arlesheim im Winter 1905/6 stellt sich jetzt als Initiation in die alemannische Gebirgsmundart dar, die schon im Landschaftlichen Affinitäten zum Toskanischen des Dante Alighieri aufweisen muß: "ich hatte eben noch einmal deutsch gelernt, von Grund auf. Für ein halb Jahr in ein Dorf des Baselgebiets vergraben, mit der einheimischen Art und Zunge lebend, hatte ich meiner gesamten Sprachgewöhnung ein Wildbad zugemutet, aus dem sie mit einem verzauberten Ohre herausstieg, wie die Menschen in der Sage, die plötzlich die Sprache der Vögel verstehen". 57 Dies Wildbad erlebte er, wie es weiter heißt, als einen veritablen "Jungbrunnen" 58 . Nadlers zweite Huldigung, wiederum in der Neuen Schweizer Rundschau, erschien 1927. 59 Sie wendet den Befund vom Sprachlichen ins historisch Grundsätzliche. "Die gesamte Arbeit um Dante", behauptet Nadler nun, "ist ostdeutsch", in ihr vollendet sich der Historismus der Neustämme östlich der Elbe, der schon die Romantik hervorgebracht hat. Hofmannsthals, des Baiern, Werk hat mithin eine barocke, Borchardts Werk eine romantische Basis. Hier fällt nun das Wort: "Es wäre nicht redlich, zu verschweigen, dass hier uns allen ein Vorbild lebt, für die einen freilich zu früh, um begriffen, für die andern zu spät, um nachgeahmt zu werden". 60 Nadler allein war im rechten Augenblick zur Stelle... Er schließt mit einer stammeskundlichen Pointe, die er indessen verschenkt. Burdach habe die sprachhistorischen Zusammenhänge untersucht, aus welchen Borchardt als Dichter die fällige Konsequenz zieht, und dann: "Burdach und Borchardt stammen, bei Abstand eines halben Menschenalter, aus Königsberg".61 Das ist trivial. Wer aus Stämmen und

57 Prosa II, S. 507. 58 Ebd., S. 508. 59 Josef Nadler: Rudolf Borchardt, in: Neue Schweizer Rundschau 20, 1927, S. 209-226; wieder gedruckt in: Uber Rudolf Borchardt, hrsg. von Hubert Arbogast, Stuttgart 1977, S. 24-48. 60 Nadler: Rudolf Borchardt, Neudruck (wie Anm. 59), S. 48. 61 Ebd.

127

Rudolf Borchardt und J o s e f Nadler

Landschaften spontane Evidenz herausspringen lassen will, muß einen anderen rhetorischen Aufwand treiben. Borchardt hat es vorgemacht, zum Beispiel in dem von Nadler so sehr bewunderten Nachwort zu den

Trobadors.

Da lesen wir: D e r Rhein ist weder je edel höfisch gewesen noch edel volksmäßig, sondern locker und laut zerstreut auf rohem Grunde. Was hätte aus Fischart werden können, was aus J a c o b Balde, wie schwer hat Wieland den Coblenzer Einschub büßen müssen [...], w o sind F o r ster und Brentano erstickt, wo Heine geboren? 6 2

Stammes-Charalcteristik ist im übrigen seit jeher eine Selbstverständlichkeit auch im alltäglichen Reden. Als - ich erinnere ein beliebiges Beispiel - der Abgeordnete J . Fischer von den Grünen den amtierenden Bundeskanzler im Parlament ein "pfälzisches Gesamtkunstwerk" nannte, hat das niemand als eine rassistische Entgleisung verstanden. Oder Jacob Grimms Charakterisierung von Goethe und Schiller: "ein Franke mild" der eine, der andere "ein freidenkender Schwab". 6 3 Wenn Borchardt in seiner späten Abhandlung über den Lehrer Friedrich Leo die Schulen der klassischen Philologie und deren Konflikte mit Landschaftsbegriffen definierte ("Es war der in seinen ersten Exponenten unversöhnliche Gegensatz zwischen dem oberdeutschen Humanismus und der niederdeutschen, meißnischen, preußischen geschichtlich umgebauten Philologie, der wie ein Schisma die ganze Universität zwischen Ritsehl und Jahn

zerriß" 64 usw.), so mag darin der eine oder

andere

nadlerische Tonfall nachklingen - aber schon Jahrzehnte früher, vor aller Bekanntschaft mit Nadler und seinen Systemen, findet sich bei Borchardt die Kontrastierung der beiden Bonner Lehrer, Hermann Usener und Bücheler:

Franz

Da steht "der hessische Pfarrersohn" gegen den "Sproß jenes

glücklichen Stammes, in dem die beste rheinfränkische Volksart mit der besten niederdeutschen, in der Nähe Hollands, zu einer so markigen und blühenden Einheit zusammenwächst". 65 Der Aufsatz Aus der Bonner

Schule

wurde 1 9 0 8 niedergeschrieben. Er zeigt auch, daß die Stammescharaktere gern in binomischer Figuration auftreten, bei Borchardt genau so wie bei Jacob Grimm; oder auch bei Nadler. Sie dienen der Dramatisierung literaroder wissenschaftshistorischer Zusammenhänge, wobei anschauliche Antithesen immer benötigt werden. Borchardt machte daraus sogar eine eigene Theorie, als er von Leo und Wilamowitz zu handeln hatte: Diese beiden Gelehrten seien eine der ewig wiederkehrenden binomischen Erscheinungen der deutschen

Geistesge-

schichte gewesen, in denen immer wieder ein zur E n d f o r m drängender Zeitgehalt sich auf 62

Prosa II, S. 347.

63

J a c o b Grimm: Rede auf Schiller, in: ders.: Kleine Schriften I, Berlin 1864, S. 3 7 8 .

64

Prosa VI, S. 2 7 2 .

65

Ebd., S. 52.

128

Ulrich Wyss

der vorletzten Stufe nicht in die letzte hinein ö f f n e t , sondern zugleich dialektisch in einen tiefen Gegensatz aufteilt und diesen stereoskopisch zu einer höheren Plastik, weil n u r für das Geistesauge, wieder versammelt. 6 6

Einer Art Plastik, soviel ist sicher, dienen die antithetisch angelegten Profile, und da sind Imaginationen des Herkommens von da oder dort hilfreich. Es handelt sich dabei aber nicht um eine aus "Stämmen und Landschaften" geschöpfte Geschichtsontologie, sondern um Darstellungstechnik und rhetorische Effekte.

V Nadler ist jedoch die Voraussetzung für zwei Arbeiten aus Borchardts letzten Jahren: den Traktat Der Untergang der deutschen Nation und das Fragment, das in der Werk-Ausgabe unter dem Titel Zur deutschen Judenfrage zu lesen ist. 67 Im ersten Text, der auf ein Projekt aus dem Jahr 1921 zurückgehen dürfte, 68 wird gezeigt, daß die Deutschen nie ein homogenes Volkstum ausbilden konnten, wie es als Prämisse einer stabilen Nation notwendig wäre. Da muß der Historiker weit zurückgreifen. Letzten Endes sind die Ursachen der aktuellen deutschen Misere in der Völkerproblematik der Spätantike aufzusuchen... Das deutsche Mittelalter war zunächst, das hatte Borchardt schon in der Bremer Rede über Die Antike und der deutsche Völkergeist von 1927 ausgeführt, 69 die dritte, "die tausend Jahre währende deutsche Antike" 70 nach der griechischen und der römischen, gewesen. Dagegen empörte sich dann das Volkstum der germanischen Stämme; fortan wird die Geschichte der Nation aus Drama, Aufruhr und Dissidium bestehen. Es handelt sich um eine eigenwillige Weiterentwicklung von Nadlers Gedanken, die schließlich den exakten Gegensatz zu dessen Geschichtskonzept hervortreibt: die Tragödie einer deutschen Nation nämlich, die von Anbeginn dem Untergang geweiht war, und nicht das Epos einer herrlich gelingenden Reichsgründung. Geriet Borchardt mit seinem Versuch über die Nation in Widerspruch zu Nadler, obwohl er dessen Prämissen zunächst sich zu eigen gemacht hatte, so setzte er sich in der Abhandlung über die "deutsche Judenfrage" direkt mit diesen auseinander. Er muß erkennnen, daß diese Frage vom Nationalsozialismus "mechanisch abgeräumt" worden sei: durch "Ausmordung, Austreibung, 66 67 68 69 70

Ebd., S. 291. Prosa V, S. 502-526; Prosa IV, S. 370-396. Vgl. Gerhard Schuster: Wie auf Fittichen über das Rauhste, in: F A Z vom 10.1.1995, S. 25. Reden, S. 272-308. Ebd., S. 290.

Rudolf Borchardt u n d Josef Nadler

129

und Auszehrung der von Inquisition erfaßten Elemente". 71 Das sind seine Worte. Doch es gilt, so formuliert Borchardt sein Axiom, der Grundsatz: "Ein Volk besteht aus seinen lebenden Angehörigen. Eine Nation besteht aus ihren Lebenden und ihren Toten". 7 2 Die "Eindeutschung" der Juden aber war für die deutsche Geschichte essentiell, und sie gelang nirgendwo so vollständig wie in Königsberg. Um diesen Mythos der ostpreußischen Kultur ist es Borchardt vor allem anderen zu tun. Sogar Karl Lachmann, der große Philologe, wurde in seinen Königsberger Jahren "zum Ostpreußen umgeboren" 7 3 . M ä n n e r wie Johannes Jacoby (1805-1877), der Arzt und sozialdemokratische Politiker, oder Eduard von Simson (1810-1899), der Präsident der Frankfurter Nationalversammlung von 1848, sind, will Borchardt zeigen, Ostpreußen durch und durch, nicht in erster Linie getaufte Juden. Das kann Nadler nicht verstehen. Wenig mehr als zweimal eine halbe Seite in seinem vierten Band 7 4 handeln von Simson und Jacoby; für Borchardt entscheiden sie alles. Schon im Briefentwurf vom September 1925, w o er von seinen jüdischen Vorfahren zu sprechen versucht, 7 5 werden die beiden Namen beschworen. Da steht das Ideal einer ostpreußischen Kultur mit ihren vorbildlichen Errungenschaften auf dem Spiel, von dem Borchardt um keinen Preis zu lassen bereit war. Auch die Autobiographie 7 6 handelt davon des langen und breiten. Nadler nun, erläutert Borchardt, war vierfach befangen: als Katholik, als Böhme, als Determinist und als Parteipolitiker 7 7 , und infolgedessen außerstande, dem Vorgang gerecht zu werden, wie in Ostpreußen - und nur d o r t "der Jude deutsch erobert, deutsch umgewandelt, deutsch eingeschmolzen" wurde. 7 8 Die Emanzipation der Juden war "nicht ein jüdischer Sieg, sondern ein deutscher Ruhm". 7 9 Nadler, zu dessen geistiger Grundausstattung leider ein ganz gewöhnlicher Antisemitismus gehört, kann in dieser Frage nur eine "peinliche Konfusion" anrichten. 8 0 Ostpreußen: das ist für Borchardt nicht einfach eine abgelegene Provinz, sondern ein eigenständiges Land, so wie auch die Provence (er schreibt Provertze) der Trobadors keine Provinz eines größeren Reiches gewesen war. Und wie diese ist Ostpreußen eine causa

71 Prosa IV, S. 371. 72 Ebd., S. 372. 73 Ebd., S. 376. 74 Josef Nadler: Deutsche Literaturgeschichte in Stämmen und Landschaften, Bd. IV, Regensburg 1928, S. 167f. 75 Briefe 1924-1930, S. 108. 76 Prosa VI, S. 59-176. 77 Prosa IV, S. 374. 78 Ebd., S. 376. 79 Ebd., S. 378. 80 Ebd., S. 382.

130

Ulrich Wyss

victa; als Borchardt starb, gab es sein Königsberg nicht mehr. Die Stadt seiner Geburt, die er kaum kannte, war sein Utopicon einer gelungenen Kultur, das er nicht verlorengeben wollte. Und eine gelungene Kultur bedeutete nichts anderes als: ein Land, in dem das "Umgeborenwerden" möglich ist. Es folgt ein als "Anmerkung" gekennzeichneter zweiter Teil. Hier trägt Borchardt vor, was er gegen Nadlers Goethekapitel einzuwenden hat. Auch dazu gibt es die Vorstufe in einem Briefentwurf. 81 Hier heißt es nun, es würde "sich aufzeigen lassen, daß die Nadlerschen Darstellungsprinzipien die Grenze, die ihnen Goethes geschichtliche Erscheinung [...] setzt, nur überschreiten können, um an ihr zu zerfallen". 82 Nadlers Bornierungen treiben in diesem Fall seltsame "Schrullen des Grolls" 83 hervor. So kann Nadler Goethes Verhältnis zur mittelalterlichen Kultur nicht bestimmen, weil er nichts davon weiß, daß die Deutschen das echte Mittelalter, wie das Altertum, durch England, das heißt durch englische Philologie, erhielten. Goethe hatte sich mit Dante geplagt 84 erst hundert Jahre später wird ein authentischer deutscher Dante vorstellbar, dank einem Jahrhundert philologischer Anstrengung und dank Stefan George. Nadler findet auch keinen Zugang zu Goethes Wissenschaft, die Borchardt einst als grandioses Analogon zu seiner Literaturgeschichte herbeizitiert hatte. Auch von Goethes Verhältnis zu Frankreich hat er keine Ahnung; was Napoleons Satz "vous êtes un homme" bedeutete und wie Goethe ihn verstehen konnte, ist ihm unzugänglich. Und schließlich die 'Wahlverwandtschaften: deren erotische Dämonie und Goethes Einsicht in die Mysterien des Ehestandes werden Nadlers spießigem Bürgersinn immer verschlossen bleiben. Das Fazit ist vernichtend: Es gibt "auf Verstimmung und Mißton stimmende Nebenherbemerkungen und Nebenherverschweigungen, durch die ein so großartiges Werk sich, wie leider feststeht, anfänglich aufrichtige Bewunderer, und zwar die ihm willkommensten, für immer verscherzt hat".85 Für immer: es gab keine Verständigung zwischen dem bekennenden Nationalsozialisten Josef Nadler und Rudolf Borchardt in Italien mehr. Dabei kannte der Dichter die vierte Auflage von Nadlers Werk aus den Jahren 1939 bis 1941 noch gar nicht. Sie erst bot den expliziten Gegenentwurf zu Borchardts Nachsinnen über den "Untergang der deutschen Nation". In vier riesengroßen Schritten ging es da voran: vom 'Volk' (das betraf die Zeit von 800 bis 1740) zum 'Geist' (das meinte die Goethezeit) und dann zum 'Staat' (der Epoche von Goethes Tod bis zum ersten Weltkrieg), um im 'Reich'

81 82 83 84 85

Briefe 1924-1930, S. 251-260. Prosa IV, S. 383. Ebd., S. 382. Ebd., S. 386. Prosa IV, S. 393.

131

Rudolf Borchardt und J o s e f Nadler

( 1 9 1 4 bis 1 9 4 0 ) die Sendung des Volkes zu vollenden. Da war nichts mehr als Tragödie konzipiert, wie Borchardt noch um 1 9 3 0 wohlwollend unterstellt hatte. Es geht nur noch um Aufgipfelung, Triumph, Apotheose der Nation im Hitlerstaat. Dafür ist bei Nadler der Dichter Borchardt, den er sich einst zum Freund gewünscht hatte, zur tragischen Figur mutiert. Nicht nur soll er jetzt "aus jüdischer Familie geboren" sein, sondern seine Gedichte zeigen, "daß soviel Bildung, Stilformen, Sprachwesen aus allen Zeiten und Räumen des Abendlandes in dieser Seele sich nur ins Spektrum zerlegte, die Seele aber

volkhaft

Weise

unberührt

ließ',

und: "Sein Werk offenbart auf eine

die unüberwindlichen Grenzen, die das Schicksal

Willen des Geistes

der

selber tragische

Geburt

dem

entgegensetzt" 86 ...

Damit komme ich zum Schluß. Nach 1 9 4 5 , als auch Osterreich von der Naziherrschaft befreit worden war, beklagte Nadler nur, daß man ihn auf Dauer aus dem Lehramt an der Wiener Universität entfernt hatte; mit den Ruhestandsbezügen eines Ordinarius, versteht sich. Borchardt erlebte den Untergang einer deutschen Nation auch im völkerrechtlichen Sinn nicht mehr. In seinen letzten Tagen, in Trins am Brenner, beschäftigte er sich wieder mit Homer. Hätte er, wäre ihm ein Weiterleben im Frieden vergönnt gewesen, an Deutschland, am Geist deutscher Nation als dem metaphysischen Zentrum seines Denkens und Dichtens festgehalten? Das Werk, das er einer immer wieder staunenden Nachwelt hinterließ, zerbricht den Horizont einer Nationalliteratur. Daß er trotzdem, und bei allem Wissen um den Untergang der Nation, das Nationale als ein Absolutum in seiner Welt nicht preisgab, setzte sein Schreiben unter eine Spannung, die es auseinanderreißt und die Passion eines jeden Lesers in Bewunderung und Erschrecken spaltet. Die Genossen seiner Generation haben sich, jeder auf seine Weise, nicht so weit ins Widersprüchliche vorgewagt: Thomas Mann sowenig wie Hugo von Hofmannsthal und auch nicht Ernst Robert Curtius. Eines allerdings möchte ich, Borchardt zu ehren, sagen. Daß es nach dem Untergang der deutschen Nation keine vernünftige deutsche Literaturgeschichte geben kann, auch keine "in Stämmen und Landschaften", er hat es gewußt, gezeigt, bewirkt. Die Germanisten können es von ihm lernen. KORREKTURNOTIZ: In dem Band der Briefe 1 9 3 1 - 1 9 3 5 sind zwei Briefe Borchardts an J o s e f Nadler enthalten, die mir im Sommer 1995 nicht zugänglich waren: der Glückwunsch zum 50. Geburtstag, datiert vom 14.3.1934 (S. 3 2 9 - 3 3 1 ) und ein Schreiben vom 12.8.1934 (S. 3 4 1 3 4 4 ) , in welchem sich Borchardt dagegen verwahrt, daß Nadler bei den neuen Machthabern ein W o r t zu seinen Gunsten einlegen könnte. Daraus wird ersichtlich, daß schon ein J a h r nach der Machtergreifung Hitlers Borchardt sich keine Illusionen über sein Verhältnis zu dem neuen Reich machte. E r wollte zu diesem Zeitpunkt offenbar noch wünschen, daß seine Beziehungen zu Nadler davon nicht affiziert würden. 86

J o s e f Nadler: Literaturgeschichte des deutschen Volkes, Bd. III, München 1938, S. 6 4 6 f .

CHRISTIAN W A G E N K N E C H T

Rudolf Borchardt und Friedrich Hölderlin 1 Ich muß mich vor Ihnen, meine Damen und Herren, nicht dafür entschuldigen, daß ich unter dem Titel 'Rudolf Borchardt und Friedrich Hölderlin' keine "Vergleichung", um mit Goethe zu reden, 2 anstelle, insbesondere nicht versuchen werde, Borchardts lyrisches Werk einer neuen "Lektüre", wie das Modewort lautet, einer Deutung im Zeichen Hölderlins, zu unterziehen. Auch wenn ich auf herkömmliche Art bloß den Mustern nachspüren wollte, denen sich Borchardts Lyrik, wie eigenwillig sie im ganzen auch ist, im einzelnen dennoch verpflichtet hält, so wäre, das wissen Sie, manch ein Name vor dem Hölderlins zu nennen - Goethe vor allem, und von den Neueren George. Selbst in seinen Oden knüpft Borchardt an Hölderlin nicht mehr als an Platen an, und mit dem Furchtbaren Frühling, seinem einzigen freirhythmischen Gedicht, greift er über Hölderlin hinweg vielmehr auf Klopstocks Frühlingsfeier zurück. Aber auch nach seiner inneren Form hat von den Jugendgedichten an Borchardts überaus vielgestaltiges, sozusagen alexandrinisches Werk wenig mit Hölderlins Lyrik gemein, deren Mannigfaltigkeit sich erst von Stufe zu Stufe, im Nacheinander, entwickelt hat. Wenn gleichwohl von Borchardts Verhältnis zu Hölderlin etwas Erhebliches gesagt werden soll, kann den Ausgangspunkt nur die Tatsache bilden, daß Borchardt sich mit Hölderlin einmal ernstlich und gründlich hat beschäftigen müssen: bei der Zusammenstellung seiner Auswahl deutscher Dichtung, die unter dem Titel Ewiger Vorrat deutscher Poesie 1926 im Verlag der Bremer Presse erschienen ist.3 Gestatten Sie mir also, daß ich von Borchardt, dem Philologen, und meinerseits als Philologe spreche. So verlangt es die Sache und das ist mein Métier. In der Geschichte der Wirkung lyrischer Dichtungen spielen Anthologien eine gewichtige Rolle. Indem sie das Verständnis bekunden, das der Sammler von einem Lyriker gewonnen hat, zeichnen sie zugleich dem Leser, der die

1 2 3

Die Fassung des Vortrags ist beibehalten. Ergänzt wurden nur die Nachweise der Zitate. J o h a n n Wolfgang von Goethe: N o t e n und Abhandlungen, in: ders.: Werke, hrsg. von Erich T r u n z , Bd. 2, H a m b u r g 1949 u.ö., S. 183-186. Rudolf Borchardt: Ewiger Vorrat deutscher Poesie, München 1926.

Rudolf Borchardt u n d Friedrich Hölderlin

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Sammlung gebraucht, die Richtung seines Verstehens vor. Mit Recht also hat Adolf Beck im vorletzten Band der Stuttgarter Ausgabe, im Anhang zu den "Rezensionen und Würdigungen", über das Erscheinen Hölderlins auch in frühen Anthologien berichtet. 4 Bezeichnend ist zunächst die Anzahl der aufgenommenen Gedichte - die von dem einen in Matthissons vielbändiger Blütenlese von 1806 bis zu den zwanzig in Wilhelm Wackernagels Lesebuch von 1836 reicht. Gleichwohl steht um die Mitte des Jahrhunderts das Bild, das die Anthologien von Hölderlins Lyrik entwerfen, noch keineswegs fest. Während Goedekes Elf Bücher deutscher Dichtung von 1849 wieder zwanzig Gedichte bieten, teilt Wolfis Poetischer Hausschatz des deutschen Volkes in der Auflage von 1853 bei ungefähr gleichem Umfang nur eben drei Gedichte mit. Und ähnlich unbestimmt bleibt das Hölderlin-Bild auch in den Anthologien der nächsten Jahrzehnte. Ebenso wirksame Mittel der Rezeptionssteuerung bilden Auswahl und Anordnung der Gedichte. Je nachdem, ob die Anthologie der frühen oder der späten Lyrik den Vorzug gibt, vermittelt sie ein anderes Bild: läßt Hölderlin in dem einen Fall als einen Epigonen Schillers, im zweiten als einen Vorläufer der Moderne erscheinen. Und je nach der Anordnung, die dem Anthologisten beliebt hat, tritt die Quintessenz des Werkes bald mehr in dessen eigenem Zusammenhang und bald mehr in seinen Beziehungen zu anderen Werken hervor. Schließlich kann sich die Freiheit des Herausgebers auch noch in der Zurichtung der in solcher Anzahl, Auswahl und Anordnung mitgeteilten Gedichte betätigen. Gerade in Hölderlins Fall hat er nicht selten über die Wahl der Fassung und über die Anordnung der Strophen und Verse zu entscheiden. Schon Matthisson hat sich den Vorwurf Varnhagens zugezogen, Hölderlins Elegie Der Wanderer "auf das willkührlichste abgeändert u: verstümmelt" 1 zu haben, und in manchem Einzelfall ist die richtige Lesart etwa von Interpunktionen ja bis heute nicht einhellig festgestellt. Im ganzen war die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, wie man weiß, dem Fortleben Hölderlins nicht eben günstig. Während die Anthologien seinen Namen kaum je übergehen, ist sein Werk doch in keiner der Reihen, die sich nach dem sogenannten "Gemeinfreiwerden" der deutschen Klassiker (9. November 1867) eines Kleist oder Körner annehmen, nach Gebühr vertreten. Erst fünfzig Jahre nach Christoph Theodor Schwabs Ausgabe von 1846 erscheint in der Cottaschen Bibliothek der Weltliteratur die Ausgabe von Berthold Litzmann: 1896. Dann freilich geht es Schlag auf Schlag. In immer kürzeren Abständen treten die Hölderlin-Ausgaben von Wilhelm Böhm (1905), 4 5

Vgl. Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke, hrsg. von Friedrich Beißner und Adolf Beck, Stuttgart 1943ff., Bd. 7/4, S. 309-326. Vgl. auch Bd. 8, S. 70-77. Im folgenden zitiert: StA. StA 7/4, S. 309.

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von Seebaß und Hellingrath (ab 1913) sowie von Zinkernagel (ab 1914) hinzu. "Hölderlins Wiederkunft" - sie fällt, nach Wilhelm Michels Wort, ziemlich genau mit dem Beginn des Jahrhunderts zusammen. Und zur Zeit des ersten Weltkriegs ist diese Renaissance auf ihrem Höhepunkt. Einen schwer zu überschätzenden Anteil hat daran eine Anthologie: die Sammlung Das Jahrhundert Goethes von Stefan George und Karl Wolfskehl aus dem Jahre 1902. Die zweite, zugleich die erste öffentliche Auflage kam 1910 heraus - unter Einfügung der eben erst von Hellingrath aufgefundenen Feiertagshymne. Wie im Falle Jean Pauls, dem der erste Band der dreibändigen Reihe gewidmet war, leitet die zwanzig Gedichte Hölderlins umfassende Auswahl (die im übrigen von Klopstock bis Conrad Ferdinand Meyer reicht) eine neue Phase der Schätzung und Deutung des Dichters ein. Ausgeschlossen bleiben die Reimgedichte der Jugend - nicht verwunderlich in einer Sammlung, die neben Heine auch Schiller eher zu den kleineren Sternen der deutschen Lyrik rechnet. Außer den beiden Hymnen Andenken und Wie wenn am Feiertage sowie Hyperions Schicksalslied finden sich in dieser Auswahl allein Oden und Elegien aus der Zeit um 1800, unter Bevorzugung der kurzen Oden wie Abbitte und Diotima {Du schweigst und duldest in der ersten Fassung). Von Georges und Wolfskehls Auswahl schreibt sich in einigen Zügen auch Rudolf Borchardts Hölderlin-Bild in seinem Ewigen Vorrat her - in jener Sammlung also, von der Wolfgang von Einsiedel gesagt hat, daß es neben ihr kaum eine zweite gibt, "die in sich geschlossener, reiner, volltönender und doch auch wieder einseitiger, voreingenommener, schnitt- und sprungfreudiger wäre" als eben sie.6 Der Dichter George ist in dieser Anthologie, die "aus äusseren Gründen" keins von seinen Gedichten enthält, erklärtermaßen als eine "unsichtbare Summe" enthalten.7 Er ist darin wirksam aber auch als Sichter von Hölderlins Werk. Von den acht Gedichten, die Borchardt ausgewählt hat, stehen vier schon bei George: die Oden Geh unter, schöne Sonne und An die Parzen, das Schicksalslied und ein Auszug aus Brot und Wein. (Bei George: der erste, bei Borchardt: der erste und der zweite Teil.) Hinzu treten Der Neckar und das späte Reimgedicht An Landauer. Die frühen Reimgedichte fehlen auch hier - obwohl Borchardt ihr Muster, also Schillers Lyrik, nicht ebenso deklassiert wie George. Von den späten Hymnen greift Borchardt Patmos auf - mit der Anmerkung: "Hölderlin (halbumschattet, im Stile Pindars)".8 Den Schluß der Reihe bildet Hälfte des Lebens aus den

6

Zum Verständnis des Werkes. In: Rudolf Borchardt: D e r unwürdige Liebhaber, Hamburg

^

Borchardt: Ewiger Vorrat (Anm. 3), S. 456.

8

Ebd., S. 315.

1957 ( = rowohlts klassiker 13), S. 124.

Rudolf Borchardt und Friedrich Hölderlin

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Nachtgesängen von 1804, dargeboten allerdings in fremdartiger Gestalt, als Skizze zu einer Ode.9 Kräftiger als mit seiner Auswahl Hölderlinscher Gedichte setzt sich Borchardt mit deren Anordnung von seinem Vorbild ab. Bei George und Wolfskehl werden die Rubriken von den in chronologischer Folge aufgereihten Dichternamen gebildet. Borchardts Sammlung folgt hingegen nur im ganzen dem Gang der deutschen Poesie - von Spervogel bis Hofmannsthal. Im einzelnen jedoch "sind ganze Stücke gelegentlich dem chronologischen Ablaufe entzogen und in die Bezüge einer höheren Geschichte als die annalistische es ist eingereiht". 10 So steht etwa Gretchens Gebet gleich zu Beginn mit einer Osterlitanei aus dem 13. Jahrhundert zusammen und der Talisman aus dem Divan gegen Ende mit spruchhaften Vierzeilern von Paul de Lagarde. Die acht Gedichte Hölderlins verteilen sich, in kleinerem Maßstab, auf immerhin mehr als hundert Seiten: setzen mit Schiller ein und reichen bis zum späten Brentano. Dabei stellen sich mehrfach erhellende Verbindungen ein - wenn etwa Der Neckar neben Schillers Die Götter Griechenlands tritt, Patmos ("Dem Landgrafen von Homburg") neben Kleists Gedicht An die Königin Luise und die Hälfte des Lebens neben Brentanos Frühlingsschrei eines Knechtes aus der Tiefe. Es dürfte sich lohnen, solchen Winken nachzugehen. Was nun die Zurichtung der Texte betrifft, so hat sich Borchardt im Nachwort einige Freiheit im Umgang mit "Drucken und Ausgaben" ausbedungen und in der Tat vielfach das Gedicht selbst gegen den Dichter in Schutz zu nehmen versucht. "Die Absicht des Dichters ist ihm [dem Herausgeber] nie massgebend gewesen, wenn diese Absicht dem Dichterischen des Gedichtes aus Verkehrtheit schadete, oder wenn der Dichter ein Edleres und Höheres, ihm Halbunbewusstes, einer äusseren Absicht opferte." 11 Dagegen mag sich, wie gegen die ähnlich eingreifenden Zurichtungen in Matthissons Anthologie, allerlei einwenden lassen. Andererseits aber wird auch der Philologe bisweilen gut daran tun, die Entscheidungen, die Borchardt getroffen hat, zu bedenken. Ein Beispiel findet sich in der Wiedergabe von Hölderlins Ode An die Parzen.n Ohne Rückhalt in der Überlieferung des Gedichts, auch gegen Hellingrath und Zinkernagel, schreibt Borchardt in den Versen: Doch ist mir einst das Heil'ge, das am Herzen mir liegt, das Gedicht gelungen:

das Adjektiv klein. Der Erstdruck, in Neuffers Taschenbuch auf das Jahr 1799, hat wie zwei spätere Abschriften, darunter eine von Hölderlins Hand, 9 10 11 12

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. 354. S. 462. S. 460. S. 259.

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Christian Wagenknecht

"Heil'ge" mit Majuskel. Die Druckvorlage ist verschollen; ein Entwurf spart gerade diese Stelle aus. Alles spricht für Großschreibung schon in Hölderlins Reinschrift. Aber ist damit auch schon die Frage nach dem grammatischen Status des Wortes entschieden? Muß Hölderlin "das Gedicht" als erklärende Apposition zu einem absolut gesetzten "Heiligen" gedacht haben? Könnte nicht trotz der Großschreibung eine attributive Fügung, die dann durch einen vorgezogenen Relativsatz unterbrochen wäre, gemeint sein? Borchardt hätte sich wohl auf den Anfang der Hymne Germanien berufen können, wo es in ähnlich sperriger Konstruktion heißt: wenn aber Ihr heimatlichen Wasser! jezt mit euch Des Herzens Liebe klagt, was will es anders, Das Heiligtrauernde? 13

- wo mit dem großgeschriebenen Partizip doch wohl eher eine Eigenschaft oder Tätigkeit des Herzens als eine eigene Wesenheit bezeichnet ist. Ähnliche Fügungen stehen öfter in Hölderlins Pindar-Übersetzungen - unter Abwechslung von Klein- und Großschreibung: Den lieben erfinden wollen wir den Hymnus, 1 4 Das Gemeinsame auszusprechen das Wort, 1 5

Das Problem, vor das sich Borchardt hier gestellt sehen konnte, ist der Editionsphilogie vertraut. Welche Bedeutung ist einer Schreibung beizumessen in Texten, die lange vor der staatlichen Reglementierung der Orthographie entstanden sind? Und wie läßt sich einem Publikum, das unter dem Regiment des Duden aufgewachsen ist, diese Bedeutung vermitteln? Ein Herausgeber, der diplomatisch genau den alten Handschriften und Drucken folgt, würde eben damit Fehldeutungen geradezu erzwingen - und wäre besser beraten, wenn er in geeigneten Fällen eine ältere Großschreibung ebenso energisch aufheben wollte, wie er die deutsche Schrift des Orginals durch die lateinische der Ausgabe ersetzt. Im Fall der Ode An die Parzen hat Borchardt wohl dafür gehalten, daß die Hölderlinsche Großschreibung das Adjektiv nicht zum Substantiv erheben solle, und damit, wie mir scheint, das Richtige getroffen. Aufschlüsse ganz anderer Art gewährt die Betrachtung der Patmos-Hymne in Borchardts Wiedergabe. 16 Sie steht da in der frühen Fassung, die Hellingrath in seiner Ausgabe als "Erste Niederschrift" bezeichnet hat - allerdings unter Verwendung von allerlei Lesarten der späteren Reinschrift, nach der bei 13 M 15 16

StA 2/1, S. 149 (Vs. 3-6). StA 5, S. 66 (Vs. 113). StA 5, S. 76 (Vs. 3). Borchardt: Ewiger Vorrat (Anm. 3), S. 306-315.

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Hellingrath die zweite Fassung zu lesen ist. Einige wenige Stellen, an denen Borchardt den handschriftlichen Befund (oder dessen Wiedergabe durch Hellingrath) für zweifelhaft gehalten haben mag, sind durch bald kürzere, bald längere Reihen von Gedankenstrichen als Lücken, das Ganze des Gedichts mithin als unfertig charakterisiert - nicht zu Unrecht, und doch insofern irreführend, als jeder Hinweis darauf unterbleibt, daß Hölderlin wenig später die H y m n e in durchaus vollendeter Gestalt dem Landgrafen von H o m burg hat überreichen lassen. Das Widmungsexemplar ist zwar erst in den vierziger Jahren unseres Jahrhunderts aufgefunden worden; der Wortlaut jedoch war durch eine reinliche Abschrift der Prinzessin Auguste schon Hellingrath bekannt. M a n wird das Motiv der Fragmentierung, die Borchardt da v o r g e n o m m e n hat, in der Voraussetzung erkennen dürfen, Hölderlin habe schon die erste Fassung der Hymne, also nicht erst die Bruchstücke der letzten, der "Barockfassung" Hellingraths, "halbumschattet" geschrieben - weshalb ihm denn nur streckenweise der klare Ausdruck und die reine Form gelungen sei. Diesen Vorbehalt hat offenbar schon der junge Borchardt entwickelt - obwohl gerade der weit davon entfernt war, die späte H y m n e für das Werk eines Kranken zu halten. Ein Indiz bildet das Zitat der Eingangsverse vor dem Buch Joram von 1905, das sie wiedergibt in der Form: Nah ist und schwer zu fassen der Gott: wo aber Gefahr ist, Wächst das Rettende auch ...17

Im Wiederabdruck des Gedichts, in den Poetischen Erzählungen von 1923, ist das nicht eben stilgerecht gewählte M o t t o wieder getilgt. 18 Wie aber ist Borchardt auf seine Fassung der Hölderlin-Verse gekommen? In älteren Ausgaben oder Anthologien hat er sie so gewiß nicht gefunden: als Verse in einem Gedicht, das statt in Freien Rhythmen in daktylischen H e x a m e t e r n oder elegischen Distichen abgefaßt wäre. Seiner später bekundeten Auffassung gemäß, die aber schon der Student gewonnen zu haben scheint: ">Patmos< und der >Rhein< enthalten große hexametrische Partien aus verloren gegangenen Entwürfen" 1 9 übersetzt er die "im Stile Pindars" gehaltenen R h y t h m e n in die metrisch strengere Sprache etwa von Brot und Wein zurück. Dies freilich nur bei Gelegenheit der Motto-Setzung; in der Anthologie stehen die Verse in der überlieferten O r d n u n g . Und doch hat es Borchardt bei diesem Versuch einer Deutung, die Hölderlin in den Weimarer Klassizismus stellt, nicht bewenden lassen.

17 Rudolf Borchardt: Das Buch Joram, Leipzig 1907, S. 5. 18 Rudolf Borchardt: Poetische Erzählungen, Berlin 1923. 19 Rudolf Borchardt: Hölderlin und endlich ein Ende [1926], in: Prosa I, S. 470.

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Denn das eigentlich Skandalon der Behandlung, die Hölderlin in Borchardts Anthologie erfährt, bildet die Darbietung von Hälfte des Lebens.10 Borchardt gibt das von Dilthey wie von Hellingrath gerühmte Gedicht bloß für die "Skizze zu einer Ode" aus, unter Nachstellung des Titels, und dergestalt, daß sich die überlieferten Worte nun auf vier Strophen im alkäischen Maß verteilen. Die vermeintlich unausgeführten Teile sind Silbe für Silbe durch Striche markiert.

SKIZZE ZU E I N E R O D E Hälfte des Lebens. Mit gelben Birnen hänget und ( ) voll Mit wilden Rosen das Land in den See: Ihr holden Schwäne

Und trunken - von Küssen - tunkt ihr das Haupt ins heilig Nüchterne Wasser Weh mir wo nehm ich, - wenn es Winter ist Die Blumen - und wo -- den Sonnenschein Und Schatten d e r Erde

• die Mauern stehn Sprachlos und kalt; im Winde Klirren die Fahnen

Wie begründet Borchardt die 'Gewaltätigkeit' dieser 'Entzweiskandierung'?21 Er begründet sie zunächst nicht. In der die Sammlung beschließenden "Notiz" heißt es apodiktisch nur: Die Gedichte [insgesamt dreizehn, darunter Hälfte des Lebens] sind in allen Handschriften und Drucken mehr oder minder fehlerhaft überliefert und erscheinen hier zum ersten Male in kritischen Herstellungen, für die durchweg auf das gesamte geschichtliche Material zurückgegangen ist, und für die der Herausgeber die wissenschaftliche Verantwortung trägt. 22

20 21 22

Borchardt: Ewiger Vorrat (Anm. 3), S. 354. Oskar Marius Fontana [Rezension], Berliner Börsen Kurier, Morgen-Ausgabe, 1.1927. Borchardt: Ewiger Vorrat (Anm. 3), S. 486.

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Im Falle von Hälfte des Lebens umfaßt die Überlieferung freilich nur den Entwurf im Stuttgarter Foliobuch und den Druck in Wilmans' Taschenbuch für 1805. Auch ist beiden Zeugen eigentlich keine 'Fehlerhaftigkeit' nachzusagen. W o r u m also geht es? Es geht dem Nachwort zufolge wie gegen den Novalis der "gestrigen" gegen den Hölderlin der "heutigen geblähten Unzulänglichkeit". 23 Den Sinn dieser Invektive verrät Borchardt wenig später in dem Aufsatz Hölderlin und endlich ein Ende und in der "Note" zu dessen Wiederabdruck in der Aufsatzsammlung Handlungen und Abhandlungen von 1928. 2 4 In Frage steht da nicht sowohl irgendein Versäumnis der Hölderlin-Philologie als vielmehr eine gewisse Schiefheit des seinerzeit populären Hölderlin-Bildes. Tatsächlich hatte sich ja die expressionistisch gestimmte Generation zwischen 1910 und 1920 zumal von Hölderlins später und spätester Dichtung anmuten lassen - und darüber den klaren Ton der klassischen Oden und Elegien mehr oder minder überhört. Es entstand geradezu eine Art von Kult um den "kranken" oder "irren" Hölderlin - von Ludwig Ulimanns Aufsatz in der Fackel 1911 bis hin zu Erich Trummlers Dokumentation 1921. Dazu hat sich Franz Zinkernagel schon 1922, in der Einleitung zu seiner Hölderlin-Ausgabe, geäußert: Und so überbieten sich gerade die Jüngsten nicht nur in Feuilletons und ganzen Büchern, sondern auch in den mannigfachsten Ausgaben, das Bild des stillen Sängers ins schier Phantastische zu steigern. 25

Dem widersetzt sich auch Borchardts Auswahl - sowohl im ganzen wie im einzelnen, und im einzelnen besonders mit der Darbietung von Hälfte des Lebens. Borchardt war in den letzten neunziger Jahren als Bonner Student mit Hölderlin näher bekannt geworden, in Berthold Litzmanns Seminaren, desselben, der 1896 die Gesammelten Dichtungen herausgegeben hat. Dort habe er "durch die Interpretation der damals für 'Wahnsinnsprodukte' gehaltenen 'Patmos' und 'Rhein' als erster den Beweis ihrer Kunstform erbracht". 26 Ein Aufsatz über Hölderlin ("mein Hölderlin") sollte Anfang 1898 in der Kölnischen Zeitung erscheinen. 27 Hierzu stellt sich ein Satz in der Göttinger Rede über Hofmannsthal von 1902: Die schwermütigen Gestalten Hölderlins, Novalis' und Kleistens sind hundert Jahre lang schwankend und ohnmächtig, vielmehr fast lebenlos gewesen; sie sind erst jetzt im

23 Ebd., S. 483. 24 Prosa I, S. 469-471 und 534f. 25 Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke, hrsg. von Franz Zinkernagel, Bd. 1, Leipzig 1922, S. XLI. 26 Prosa I, S. 534. 27 Rudolf Borchardt. Alfred Walter Heymel. Rudolf Alexander Schröder. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum, Marbach am Neckar 1978, S. 35; im folgenden zitiert: Katalog Marbach.

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geistigen Dasein der N a t i o n befestigt, ganz s o tief bestätigt wie G o e t h e , d u r c h W i r k u n g bewiesen [•••].28

Ferner auch der "vehemente Hinweis auf Hölderlins damals verschollene Sophokles-Übersetzungen" im Gespräch über Formen von 1905. Aber eben weil er "damals Furcht und Mitleid aufnahm und weitergab", glaubt er nun, zwei Jahrzehnte später, das Recht zu haben, "ihre Abreinigung" zu verlangen und gegen den "Unfug", der inzwischen um den späten Hölderlin getrieben wurde, einzuschreiten. Die Hölderlinkrankheit des angehenden zwanzigsten J a h r h u n d e r t s ist wie die Ossiankrankheit des endenden achtzehnten dafür reif, auf die Ladendiener überzugehen, die schon als ihre schmerzlichen Träger hervorzutreten beginnen, u n d von nobleren Leserklassen abgeschüttelt zu w e r d e n . 2 '

In diesem Sinne will Borchardt seine Darbietung von Hälfte des Lebens verstanden wissen: als einen "Protest gegen das allmählich ruchlos werdende Operieren mit dem und an dem kranken Hölderlin, zu dem die sehr geringe und sehr gering vertiefte Befassung mit dem gesunden das selbstverständliche Komplement macht." 30 In einem Brief an Max Rychner, von 1929, beklagt er noch einmal "die Hölderlinmode einer schlaffen, impotenten und verweichlichten Generation von Wortemachern" und gibt die Schuld daran Georges und Hellingraths Unfähigkeit zur "Unterscheidung künstlerischen Willens von irrer Federübung". 31 Ebenso entschieden heißt es in der Pindar-Schrift von 1930: Hölderlins Pindar-Übersetzungen, die ein neues Mißverständnis f ü r Werke literarischer Absicht gehalten u n d als solche publiziert, u n d der Frevel f ü r die einzigen erklärt hat, durch die Pindar zu uns spreche, sind tastende Interlinearversionen eines Griechisch Lernenden, der sich mit d e m Stifte u m das genaue Verständnis von W o r t nach W o r t quält, während in der z e r s t ö r t e n Persönlichkeit die W o r t e u n d Begriffe bereits zu rollen und z u bersten beginnen. 3 2

Wie hier gegen ein Mißverständnis nimmt Borchardt in der Anthologie Hölderlin gegen einen Mißbrauch in Schutz: den gesunden Hölderlin gegen den Mißbrauch durch die "widerwärtigen Anschmecker" des kranken. 3 3 Er ist darin eines Sinnes mit seinem Lehrer Berthold Litzmann, der von seiner Hölderlin-Ausgabe "die Masse der Bruchstücke zusammenhangloser Versreihen" sowie "die Gedichte aus der Zeit des Irrsinns" ausgeschlossen hatte - denen in den älteren Ausgaben entschieden mit Unrecht "ein ziemlicher Raum" gewährt

28 29 30

Rudolf Borchardt: Rede über Hofmannsthal, in: Reden, S. 71. Prosa I, S. 534f. Ebd., S. 470.

31 32 33

Katalog Marbach, S. 496. Prosa II, S. 233. Prosa I, S. 534.

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worden sei. 34 Das geht vor allem gegen die Gesamtausgabe von 1846. Folgerichtig steht bei Litzmann am Ende der chronologisch geordneten Reihe (vor zwei irrig auf 1804 datierten älteren Stücken) die Patmos-Hymne. Von den Nachtgesängen ist nur die Ode An die Hoffnung aufgenommen; es fehlt also auch Hälfte des Lebens. An dieser Einschätzung des späten Hölderlin hält Borchardt, dreißig Jahre nach Litzmann, also fest - nur eben nicht obwohl, sondern weil Hellingrath inzwischen einer anderen Schätzung den Boden bereitet hat. ("Dieser Band", so beginnt Hellingrath seine Vorrede, "enthält Herz, Kern und Gipfel des Hölderlinischen Werkes, das eigentliche Vermächtnis." 35 ) Im erklärten Widerspruch gegen die "Hölderlinmode" einer Generation, die Form und Riegel sprengen wollte, sucht Borchardt gerade dem vermeintlichen Inbegriff aufgelöster Rede, dem Gedicht Hälfte des Lebens, die Kunstform einer alkäischen Ode abzuhören. Der Sache nach geht und führt dieser Versuch sicherlich in die Irre; das hat Ludwig Strauß in seiner Untersuchung des Gedichts (1950) bündig dargetan. Aber auch er hat den "Motiven" von Borchardts "Demonstration" seine Zustimmung nicht versagen wollen. 36 Es bleibt nach alledem freilich ein Rest. Sieht man Borchardts dichtungstheoretische Arbeiten durch, zumal die Münchner Rede Uber den Dichter und das Dichterische aus dem Jahre 1923, so nimmt es wunder, daß in diesen Zusammenhängen kaum je der Name Hölderlins fällt. Als Verkörperung des "homo sapiens varietas poetica", wie es da halb scherzhaft heißt, 37 erscheinen Vergil, Tasso und Kleist, auch Goethe und Schiller, Dante und Shakespeare, und noch Swinburne. Den Inbegriff aber bildet Pindar. Der Dichter jedoch, "hingestellt in die prophetische Mission, die eine politische Mission ist", "im Namen des Gottes der Welt ihre Ziele verkündend" 3 8 - welcher Deutsche hätte diesem Bild denn genauer zu entsprechen gesucht und vermocht als der Hölderlin der Vaterländischen Gesänge? Und wer hätte dieses Bild selber genauer bedacht als wieder Hölderlin? Nicht zufällig auch stehen doch Hölderlin und Borchardt, als Übersetzer, im Zeichen Pindars nahe beisammen. Und wenngleich sich Borchardt mit Recht nicht dazu verstanden hat, in Georges Lobrede einzustimmen, die Hölderlin den "eckstein der nächsten

34 Friedrich Hölderlin: Gesammelte Dichtungen, hrsg. von Berthold Litzmann, Bd. 1, Stuttgart 1896, S. 7. 35 Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke, hrsg. von Norbert von Hellingrath, Bd. 4, Berlin 1916, S.XI. 36 Ludwig Strauß: Friedrich Hölderlin: Hälfte des Lebens [1950], in: L.S.: Dichtungen und Schriften, München 1963, S. 478-512, hier S. 507. 37 Prosa I, S. 52. 38 Ebd., S. 44.

Christian Wagenknecht

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deutschen Zukunft" und den "rufer des Neuen Gottes" nennt, 3 9 scheint er doch wenigstens einmal die Idee vom Dichter als Verkünder mit Hölderlins Beispiel verknüpft zu haben - in seinem Brief an Hofmannsthal v o m

15.

August 1 9 1 5 , wo es heißt: dass, seit Generationen zum ersten Male wieder, der Dichter eine Funktion hat. Nicht die der Kriegsliederfabrikation vor der mir ekelt; sondern die, die Welt der Welt zu erklären, die aufgehört hat sich zu begreifen und daran fast zu Grunde geht.40 Denn diese Funktion hat, einige Generationen zuvor, niemand so ernsthaft auszuüben gesucht wie der späte Hölderlin. Die verzweifelten Verse aus Brot und

Wein: So zu harren und was zu thun indeß und zu sagen, Weiß ich nicht und wozu Dichter in dürftiger Zeit?41

- ihnen antwortet die Patmos-Hymne

mit Sätzen, die wie gemacht scheinen

zum Ausdruck dessen, was Borchardt zeitlebens am Herzen lag: Wir haben gedienet der Mutter Erd Und haben jüngst dem Tagesgotte gedient, Unwissend; der Vater aber liebt, Der über allen waltet, Am meisten, dass gepfleget werde Der feste Buchstab, und Bestehendes gut Gedeutet. Dem folgt deutscher Gesang.42 Nicht zuletzt dieser Verse wegen, so möchte ich meinen, hat Borchardt die Patmos-Hymne

statt eines ganzen Dutzends kürzerer Gedichte, die sonst dar-

in Platz gefunden hätten, in die Arche seines Ewigen

Vorrats

aufgenommen.

Und also kann denn auch wirklich von einer Wahlverwandtschaft zwischen Borchardt und Hölderlin die Rede sein. Was aber gerade in M ü n c h e n , einst Hauptstadt der Bewegung, nicht verschwiegen werden darf, ist dies: daß R u d o l f Borchardt seine Vaterländischen Gesänge am Ende nur als Spott- und Strafgedichte, als Jamben,

hat anstimmen dürfen.

Der Blitz ernährt sich hoch im Unzugänglichen, Doch flammt er in die Niedertracht, Der Offenbarung ungeheur Berittene Verzogen nicht als Hochgespenst Fern über Patmos.43

39 40 41 42 43

Stefan George: Hölderlin, in: Tage und Taten, 2. Auflage, Berlin 1925, S. 71. Borchardt/Hofmannsthal, S. 166. StA 2/1, S. 94 (Vs. 121 f.) Borchardt: Ewiger Vorrat (Anm. 3), S. 314f. Vgl. StA 2/1, S. 172 (Vs. 220-226). Gedichte II / Übertragungen II, S. 55 (Nomina odiosä).

ELENA RAPONI

Rudolf Borchardt und Tommaso Gallarati Scotti "Noch nie hat ein italienischer Leser die Vita Nova so rücksichtslos in die grelle Beleuchtung der Divina Commedia gestellt. Unabhängig von Rudolf Borchardts herrlichen und unübertroffenen Epilegomena zu Dante hat Gallarati Scotti den Weg zu überraschend ähnlichen Ergebnissen gefunden".1 Mit diesen Worten rezensierte der schweizer Kritiker Theophil Spoerri 1929 in der Neuen Zürcher Zeitung Tommaso Gallarati Scottis Vita di Dante, von der kurz zuvor in Mailand die 2. revidierte Auflage erschienen war.2 Spoerri, der sich zwei Jahre vorher mit Borchardts Einleitung in die Vita Nova in derselben Zeitung auseinandergesetzt hatte,3 mußte zu seiner Verwunderung feststellen, wie weit das Werk des "lombardischen, feingebildeten Edelmanns" in seinen Schlußfolgerungen mit Borchardts Epilegomena zu Dante übereinstimmte. Er fragte damals nicht weiter. Doch wir verfügen heute über verschiedene Zeugnisse, nicht zuletzt über einige Briefe Borchardts an Gallarati Scotti, die dazu veranlassen, jene überraschenden Ähnlichkeiten ins neue Licht zu stellen. Wie wir sehen werden, rundeten Borchardts Epilegomena I und Gallarati Scottis Vita di Dante einen lebenslangen liebenden Umgang mit dem Mittelalter und mit dem Dichter der Commedia ab, der sie Anfang des Jahrhunderts in der Toskana zusammengeführt hatte: Aus einem "Zufallsgespräch", wie Borchardt in seinem unvollendeten Dialog Deutschland im dritten Italien erzählte,4 war eine "dauernde Verbindung" geworden. Wie sich Borchardt und Gallarati Scotti kennengelernt, welche Rolle Dante und das Mittelalter in ihrer Beziehung gespielt haben, ferner welche Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede ihren Weg bis in die 30 er Jahre hinein markiert haben, das sind einige Fragen, die im folgenden behandelt werden sollen. Die erste Begegnung Rudolf Borchardts mit dem jungen lombardischen Intellektuellen fällt in die ersten Jahre dieses Jahrhunderts, eine Zeit großen Wandels:5 Der Positivismus, der mit seiner Forderung, sich an positive Fakten 1 2 3 4

Theophil Spoerri: Dantes Leben, in: Neue Zürcher Zeitung, 5. August 1929, S. 1. Tommaso Gallarati Scotti: Vita di Dante, 2. Aufl., Milano 1929 (1. Aufl., Milano 1921). Theophil Spoerri: Borchardts Deutung der Vita Nova, in: Neue Zürcher Zeitung, 30. Januar 1927, S. 2. Prosa V, S. 566.

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und bewiesene Tatsachen zu halten, schon längst Überdruß und Enttäuschung erzeugt hatte, neigte in ganz Europa seinem Ende zu. Das spekulative Denken, das größtenteils beengt brach gelegen hatte, blühte jetzt wieder auf und ließ bisher vernachlässigten Studienrichtungen und Forschungsgebieten neues Leben zufließen. In Italien reagierten die neuen geistigen Strömungen insbesondere nicht nur auf den alten Positivismus, sondern auch auf einen müden Liberalismus, der nach den Jahren des Risorgimento allmählich an idealer Kraft verloren hatte und sich von einem praktischen Materialismus kaum unterschied - seine Unzulänglichkeit besonders in den großen Lebensfragen verratend, zu denen er eine skeptische bzw. gleichgültige Haltung einnahm. Der wiedergewonnenen Freude am Spekulieren, am Erforschen entsprach die Gründung neuer Zeitschriften, von denen hier nur die bekanntesten erwähnt seien: La Critica von Benedetto Croce (ab 1903), Leonardo, 19031 9 0 7 von Prezzolini und Papini herausgegeben, La voce, 1908 gegründet, L'Anima 1911, Lacerba 1 9 1 3 - 1 9 1 4 , schließlich die Mailänder Zeitschrift II Rinnovamento 1 9 0 7 - 1 9 0 9 , der, wie wir sehen werden, eine wichtige Rolle in den Beziehungen Borchardt-Gallarati Scotti zukommt. In den neugegründeten kulturellen Kreisen war die Aufmerksamkeit vieler auf ähnliche Erfahrungen im Ausland gerichtet und, aufgrund der ausgeprägt philosophischen Züge, die der Erneuerungsprozeß aufgenommen hatte, insbesondere auf Deutschland. Es sei an dieser Stelle an die Bedeutung erinnert, die Menschen wie Alessandro Casati, ein gebildeter Nachkomme eines alten Hauses aus der Risorgimento-Zeit, mit Croce befreundet, als Mäzen und Kulturvermittler eingenommen haben. Neben ihm sei hier noch Stefano Jacini jr. erwähnt, der mit Casati zur lombardischen Gruppe gehörte: Als tiefer Kenner 5

Eine lebhafte, doch nicht ganz unparteiische Schilderung jener Jahre hat Benedetto Croce in seiner Geschichte Italiens von 1871 bis 1915 entworfen: "Era già molto innanzi, in Italia e fuori d'Italia, all'inizio del secolo, la reazione contro lo scientificismo o positivismo, che, [...] con la sua predica del doversene stare ai ritrovati delle scienze e rassegnarsi nel rimanente all' agnosticismo, lasciava delusi e insoddisfatti. [...]. Per effetto di questa reazione, l'orizzonte spirituale ampliò la sua distesa, [...], rinacquero coraggio e ardire per le speculazioni [...]". Doch hinter dieser positiven Entwicklung steckten für Croce ungesunde Keime eines Irrationalismus, dessen vielfältige Erscheinungen besonders in den jungen Zeitschriften sichtbar waren. Man lese das vereinfachende, etwas reduzierende Urteil Croces darüber: "In questa cosi rigogliosa rinascita di fervore speculativo [...] si insinuava, per altro, qualcosa di malsicuro e di poco sano. [...] la filosofia di reazione al positivismo, e perciò la tendenza, che essa prese contro quel superficiale razionalismo, [...] andò, [...] nella maggior parte, sotto molteplici e spesso ingannevoli forme, verso l'irrazionalismo [...]. Filosofie di tal fatta si susseguirono e si avvicendarono e si mescolarono [...]. Se si ha voglia di rivedere questo spettacolo da caleidoscopio, si ricerchino le riviste di quel tempo, particolarmente le giovanili, più sensibili alla moda e per tal riguardo più significanti [...]". Es folgen die Titel Leonardo, Prose, L'Anima und Lacerba. Benedetto Croce: Storia d'Italia dal 1871 al 1915, 6. ed. rived., Bari 1939, S. 249-253.

Rudolf Borchardt und Tommaso Gallarati Scotti

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der deutschen Philosophie, mit Eucken und Vossler in Verbindung, hatte er Beiträge des berühmten Dante-Forschers fürs Rinnovamento gewonnen, bis er vom Verleger Laterza mit der Ubersetzung von Vosslers Die göttliche Komödie. Entwicklungsgeschichte und Erklärung beauftragt wurde. Kennzeichnend für die Zeit war schließlich das Unternehmen Croces, der, seit 1899 in regem Briefwechsel mit Vossler, zusammen mit dem Verleger Laterza eine Reihe größerer deutscher Philosophen für die Classici della filosofia moderna plante. Vor diesem Hintergrund neubelebter spekulativer Studien ist auch das Interesse des jungen Tommaso Gallarati Scotti ( 1 8 7 8 - 1 9 6 6 ) für die italienischen Mystiker des 13. und 14. Jahrhunderts zu sehen. Der mailändische Patrizier, der mit Casati und Jacini jr. eng befreundet war, hatte sich seit der Jahrhundertwende mit dem poetischen Werk des heiligen Francesco, des Jacopone von Todi und der S.ta Caterina von Siena beschäftigt. Anregungen hierfür hatte er von zwei Mittelalter-Forschern erhalten: dem Francesco-Biographen Paul Sabatier und Francesco van Ortroy, einem belgischen Gelehrten der Societé Bollandienne, der dem jungen Scotti die Liebe zur Archivforschung und zur strengen Disziplin der historischen Kritik beigebracht hatte. 6 Einen starken Einfluß auf den jungen Intellektuellen übte aber auch der Dichter Antonio Fogazzaro ( 1 8 4 2 - 1 9 1 1 ) aus, der als Vertreter eines mystisch-poetischen Eklektizismus angesehen werden kann. 7 Im Zusammenhang mit seinen Forschungen 8 hatte Gallarati Scotti schon früh Vorträge und Reden über Jacopone bzw. über Caterina von Siena in verschie6

7

8

Giorgio Picasso: Interessi per il Medioevo cristiano, in: Rinnovamento religioso e impegno civile in Tommaso Gallarati Scotti, a cura di Fulvio De Giorgi e Nicola Raponi, Milano 1994, S. 200-202. Fulvio De Giorgi: Tommaso Gallarati Scotti e gli studi su Jacopone da Todi, in: ebd., S. 297. Gallarati Scotti hatte den älteren Dichter kennengelernt, als er noch nicht zwanzig war, und mit ihm eine tiefe Freundschaft geschlossen, von der seine berühmte Fogazzaro-Biographie noch heute Zeugnis ablegt: Tommaso Gallarati Scotti: Vita di Fogazzaro, Milano 1920; der Band wurde auf den Index gesetzt. Gallarati Scotti plante auch eine Reihe von Mystikern, doch das Verlagsprojekt gewann erst 1905 an Kontur, als Giuseppe Prezzolini sich des Planes entschieden annahm. Vorgesehen waren die bedeutendsten Mystiker aller Zeiten, insbesondere die deutschen: Seuse, Tauler, Silesius, Böhme. Prezzolini wollte die von ihm selbst übersetzten Novalis-Fragmente herausgeben. Die italienische Mystik war u. a. durch Jacopone von Todi und S.ta Caterina von Siena vertreten, für die eben Gallarati Scotti verantwortlich war. Doch bald sollte das Projekt an tiefen Meinungsverschiedenheiten zwischen Scotti, Prezzolini und den anderen Mitarbeitern der Reihe scheitern. Prezzolini, der in den ersten Monaten des Jahres 1905 eine mystisch-religiöse Krise durchgemacht hatte, hatte sie bald überwunden und sich Croce und dessen Immanentismus wieder angenähert, einem Standpunkt, der sich mit der Einstellung seiner Mailänder Kollegen schwer versöhnen ließ. Am 9. Oktober schrieb Benedetto Croce an Giuseppe Prezzolini: "Noi teniamo fermo all'inconcepibilità di un dualismo, che ponga accanto o al di là della scienza una veduta religiosa,

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denen Städten gehalten. Hierzu sei auf das treffende Portrait hingewiesen, das Borchardt, der Gallarati Scotti 1904 kennengelernt hatte, mit wenigen Stichworten entwirft, als er 1906 seinen italienischen Freund rückblickend wie folgt schildert: zwischen "Mystikern des Dugento und Volksversammlungen der Freunde Fogazzaros als Edelmann Forscher und Redner geteilt".9 Gerade um seinen Forschungen und Studien über die mittelalterliche Mystik nachzugehen, hielt sich der junge Gallarati Scotti in den ersten Jahren dieses Jahrhunderts wiederholt in der Toskana auf. In der Toskana befand sich in denselben Jahren, wie allgemein bekannt, der junge Borchardt. Seiner ersten Reise nach Italien, die er 1898 noch als Student unternommen hatte, waren viele andere gefolgt, längere Aufenthalte, bis er 1906 die Toskana endgültig zu seiner Wahlheimat machte. 10 Der erste Brief Borchardts an Gallarati Scotti - es haben sich insgesamt sieben erhalten, die mit größeren Pausen einen langen Zeitraum decken, von 1904 bis 1937 11 - trägt das Datum 29. Mai 1904. Nicht viel früher, um einige Tage nur, wird die erste Begegnung zwischen dem deutschen Dichter und dem mailändischen Intellektuellen stattgefunden haben. Borchardt befand sich damals in Volterra, wo er an seinen mittelalterlichen Epyllien arbeitete; der junge Scotti hielt sich in Siena auf, und ähnlich wie Borchardt verbrachte er seine Tage im Archiv.12 Ob sie sich in Siena bzw. in Volterra getroffen haben, bleibt noch offen. Aus dem Brief vom 29. Mai erhellt aber, daß Borchardt mit Gallarati Scotti lange, intensive Gespräche geführt hatte, deren er sich mit Freude entsann. Denn er bittet nun Gallarati Scotti, als Andenken daran ein Bild von ihm anzunehmen, das er, wie er schreibt, zu einem unbedeutenden Anlaß in Volterra bestellt hatte. 13 In jenen Gesprächen comunque poi si chiami, fede, sentimento, azione, tradizione, e via dicendo". CrocePrezzolini: Carteggio, Bd. I, S. 42, zitiert nach: De Giorgi: Tommaso Gallarati Scotti e gli studi su Jacopone da Todi (Anm. 7), S. 314, Anm. 71. 9 Prosa V, S. 566. 10 Siehe hierzu: Rudolf Borchardt. Alfred Walter Heymel. Rudolf Alexander Schröder. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum, Marbach am Neckar 1978, S. 591 ff. 11 Zu den Briefen siehe Elena Raponi: Vita letteraria e intellettuale tra Italia e Germania nei primi anni del Novecento. Su alcune lettere toscane di Rudolf Borchardt a Tommaso Gallarati Scotti (1904-1907), in: Otto/Novecento. Rivista bimestrale di critica letteraria 5, Jg. XIV, Sept./ Okt. 1990, S. 87-122. Briefe von Gallarati Scotti an Borchardt sind bis heute nicht ermittelt. 12 "Sono fisso a Siena per quindici giorni" (Tommaso Gallarati Scotti an Antonio Fogazzaro, Monteaperti (Siena), 22. Mai 1904, Biblioteca Bertoliana, Vicenza, Carte Fogazzaro). Am 5. Juni 1904 schrieb Scotti an den Vater: "E1 con uno sforzo di volontà che mi sono costretto a questa vita eremitica. Non vedo nessuno. N o n parlo che con me stesso. N o n ho altri amici che i documenti e per sole amiche le opere d'arte. Sto dalle 10 alle 5 in archivio" (T. Gallarati Scotti an den Vater Giancarlo, 5. Juni 1904, Biblioteca Ambrosiana, Milano, Archivio Gallarati Scotti, Corrispondenza familiare).

Rudolf Borchardt und Tommaso Gallarati Scotti müssen B o r c h a r d t und Gallarati Scotti m i t Leidenschaft und

147 unbekümmert

über vieles g e r e d e t haben: über ihre dichterischen Pläne, über kulturpolitische F r a g e n . In der Politik zeigen sich wohl gleich die g r ö ß e r e n M e i n u n g s v e r s c h i e d e n h e i t e n . B o r c h a r d t spielt nur flüchtig d a r a u f an, als er a m 2 9 . M a i schreibt, er habe mit etwas V e r w u n d e r u n g festgestellt, " q u a n t o , in t a n t a c o m m u n i t ä di vedute, c e r t e nostre idee politiche d i v e r g a n o fra l o r o " , 1 4 w o b e i er sich a u f die R e d e über Giuseppe Mazzini bezog, die Gallarati Scotti im M ä r z in M a i l a n d g e h a l t e n 1 5 und von der B o r c h a r d t offensichtlich eine Kopie g e s c h e n k t b e k o m m e n hatte. D o c h der S c h w e r p u n k t ihrer ersten G e s p r ä c h e lag vermutlich bei dichterischen F r a g e n . D e n n n o c h am 2 9 . M a i i n f o r m i e r t e B o r c h a r d t Gallarati Scotti über die F o r t s c h r i t t e seiner Arbeiten: Die Päpstin

Jutta,

schrieb er, sei, seit-

d e m er allein ist, u m 5 2 0 Verse g e w a c h s e n , und fast abgeschlossen sei ferner das B u c h über die Lucchesische K u l t u r . 1 6 S e i n e m folgenden Brief, auf d e n 1 3 . Juni datiert, legte er seine altitalienische Übersetzung der Ballade Lebens Erdbeeren

des

äußeren

v o n H u g o v o n H o f m a n n s t h a l bei und v o n sich selbst das G e d i c h t Mit und

einer

Schale,

das folgende eigenhändige W i d m u n g , wie zu

e i n e m v o r ü b e r g e h e n d e n Abschied, t r ä g t : "Für F . T o m m a s o Gallarati Scotti. Z u r E r i n n e r u n g an Stunden g r o ß e n Lebensgefühles. D e r D i c h t e r " . 1 7

13 "Gliene offro dunque una, pur non sapendo se questa che mi prendo non le parerà libertà un po' balorda. In ogni modo ciò le dica, con che vivo piacere io continui a serbar memoria delle nostre conversazioni." Briefe 1895-1906, S. 208. 14 Ebd. 15 Fulco Tommaso Gallarati Scotti: Giuseppe Mazzini e il suo idealismo politico e religioso. Discorso, Milano 1904. Die Rede fand am Abend des 10. März 1904 in Mailand, in der Aula Magna des k. Liceo Beccaria, auf Einladung der Università Popolare statt. 16 Es handelt sich dabei vermutlich um den Versuch über die vorflorentinische Kultur Toskanas, den Borchardt auch in anderen Briefen aus dieser Zeit erwähnt; vgl. Gerhard Schuster: Toskana als geistige Lebensform, in: Rudolf Borchardt 1877-1945. Referate des Pisaner Colloquiums, hrsg. von Horst Albert Glaser in Verb, mit Enrico de Angelis, Frankfurt am Main u.a. 1987, S. 161 f. 17 Beide Gedichte in der Biblioteca Ambrosiana, Milano, Archivio Gallarati Scotti, sezione carteggi: vgl. Borchardt an Gallarati Scotti, Volterra, 13 giugno 1904. Wie aus dem Kontext zu schließen ist, muß diesem Brief eine erneute Begegnung zwischen Borchardt und Gallarati Scotti vorausgegangen sein, vermutlich in Volterra, wo der junge Scotti auf seiner Rückkehr in die Lombardei kurz vorbeifahren wollte, um sich eine Handschrift anzuschauen. In einem Brief an den Vater schreibt Tommaso: Tornerò a Siena nell'autunno per finire se sarà necessario. Nel ritorno non intendo che fermarmi per mezza giornata a Volterra per consultare un manoscritto" (Tommaso Gallarati Scotti an den Vater, 5. Juni 1904, Milano, Ambrosiana, Archivio Gallarati Scotti, Corrispondenza familiare). Auf diesen Anlaß bezieht sich mit aller Wahrscheinlichkeit eine Bemerkung Borchardts im Dialog Deutschland im dritten Italien, wo er Gallarati Scotti aussprechen läßt: "Wie sehr Sie doch der Alte sind; methodisch und analytisch, tedescone wie damals im Volterraner Archiv, als wir den Stammbaum der S.ta-Caterina-Handschriften feststellten"; Prosa V, S. 566.

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Elena Raponi

Borchardts altitalienische Übersetzung der Ballade des äußeren Lebens ist für das Verständnis jener Tage am bedeutendsten. Denn sie liefert nicht nur den Beweis dafür, daß Hofmannsthal nie, auch in den Jahren des Exils nicht, aufgehört hatte, "einen centralen Gegenstand meiner Gedanken auszumachen", 18 sondern sie weist auf einen vollzogenen Wechsel der Perspektive hin, wobei jetzt Borchardt auf Dante und die Commedia entschieden orientiert ist. Denn die Ballata, die Borchardt in zeitgenössischen und späteren Briefen als "altitalienische Übersetzung" "in den Stil Petrarcas" erwähnt, 1 ' weist weniger Petrarca-Züge auf, sondern, wie man schon auf einen ersten Blick erkennt, verdankt dem Dichter der Commedia die meisten Anregungen. Hier seien nur einige Beispiele genannt: 20 In der ersten Terzine der Ballata wachsen die Kinder, die Borchardt mit "pargoli" übersetzt, nicht mehr auf, sondern "gehen" und sterben gleich, schnell - "ratto" heißt es bei Borchardt - , was an das schmerzvolle Schicksal der ungetauft gestorbenen Kinder im Limbus erinnert, die Vergil im Fegefeuer als "pargoli innocenti" bezeichnet. 21 Weiterhin: da, wo Borchardt "und spüren Lust und Müdigkeit der Glieder" mit "Passa viltà di membra ed ardimento" übersetzt, klingen die Vorwürfe nach, die Vergil an den zögernden Dante richtet: "perché tanta viltà nel cuore allette? perché ardire e franchezza non hai?"22 Und weiter: Der Vers "E il pianto si fa riso, e i risi guai?", dem bei Hofmannsthal folgende Verszeile entspricht: "Was wechselt Lachen, Weinen und Erbleichen?", beschwört in der italienischen Fassung das leidende Höllental herauf, wo "sospiri, pianti e alti guai" sind. 23 Zum Schluß sei nur noch auf die vorletzte Terzine hingewiesen; bei Hofmannsthal heißt es: Was f r o m m t das alles uns und diese Spiele, Die wir doch groß und ewig einsam sind, U n d wandernd n i m m e r suchen irgend Ziele?

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Rudolf Borchardt an H u g o von H o f m a n n s t h a l , 3. O k t o b e r 1906, in: B o r c h a r d t / H o f mannsthal, S. 24. Borchardts Brief an Gallarati Scotti v o m 29. Mai 1904 e n t n i m m t man, daß Borchardt d e m Freund eine Kopie seiner Rede über Hofmannsthal versprochen hatte. D o c h Borchardt entschuldigte sich, man finde in seinen Kisten keine Kopie mehr, u n d bat Gallarati Scotti, als Ersatz dafür das Bild von ihm annehmen zu wollen. Vgl. Rudolf Borchardt an Karoline E h r m a n n , 1. Juni 1904, in: Briefe 1895-1906, S. 215, und Rudolf Borchardt an H u g o von H o f m a n n s t h a l , 11 O k t o b e r 1906, in: B o r c h a r d t / H o f m a n n s t h a l , S. 33f. Siehe auch Elena Raponi: Dalla "Ballade des äußeren Lebens" di H u g o von H o f m a n n s t h a l alla "Ballata della vita esteriore" di Rudolf Borchardt. U n esempio di traduzione poetica in "antico italiano", in: Aevum. Rassegna di scienze storiche linguistiche e filologiche 3, Jg. LXV, Sept.-Dez. 1991, S. 609-625. Dante: Fegefeuer, VII, 31. Dante: Hölle, II, 122-123. Dante: Hölle, III, 22 u n d IV, 8.

Rudolf Borchardt u n d T o m m a s o Gallarati Scotti

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Borchardt übersetzt wie folgt: E a noi che giovan le fatiche mante, Poi che soli p u r sempre andiamo in süe Pe'l cammin che mai termine n o n vante?

wobei der Text eine auffällige Bedeutungsverschiebung erfahren hat, denn bei H o f m a n n s t h a l war vom Hinaufgehen, andar in süe, nicht die Rede: Mit dem neuentstandenen Bild verweist der Text auf das langsame Aufsteigen der büßenden Seelen im Fegefeuer, bergauf, eben wie Dante und Vergil, "lo duca mio, e io appresso, soli" 24 . Borchardt hat die Ballade von Hofmannsthal in die Sprache und Bilderwelt Dantes getaucht und sie gewaltsam zu einer Metapher der Commedia umgedeutet, was wohl eine vollkommene Vertrautheit mit ihrer Welt voraussetzt, eine Vertrautheit, die auf die intensive Beschäftigung mit Dante in den Herbst- und Wintermonaten 1903-1904 in Pisa zurückgeht. Mit der Ballata de IIa vita esteriore tritt Dante, w e n n auch auf indirekte Weise, zum zweiten Mal zwischen Borchardt und Gallarati Scotti. Denn in der erwähnten Rede über Giuseppe Mazzini, die Borchardt, wie er schreibt, mit großer Sorgfalt gelesen hatte, hatte Gallarati Scotti den berühmten, ihm damals sehr nahestehenden Patrioten und Politiker des Risorgimento, der ins Exil gegangen war, als einen neuen Dante porträtiert, zwischen Alpen und Meer, von einer Stadt in die andere, die H o f f n u n g auf die Wiedererstehung Italiens erbettelnd. 2 5 Wie man aus diesen Beispielen schlußfolgern kann, hatten sich Borchardt und Gallarati Scotti, aus verschiedenen Lebenserfahrungen, zu diesem Zeitpunkt in den Menschen und Dichter Dante derart hineingelebt, d a ß sie ihre Ideale, ihr eigenes Dichten und Leben im Licht des Lebens und Schicksals Dantes sahen. Es sei nur daran erinnert, daß Borchardt - wie allgemein bekannt ist - 1904, nach dem intensiven Studium der Wintermonate, angefangen hatte, an Probestücken zur Ubersetzung der Commedia zu arbeiten. Gallarati Scotti, der an Dante über die Mystiker des 13. und 14. J a h r h u n d e r t s gelangt war, hatte schon 1902 eine lectura Dantis, die erste einer langen Reihe, in Mailand öffentlich gehalten. Daß der N a m e Dante in ihren Briefen nie ausdrücklich vorkommt, heißt also nicht, d a ß der Dichter in ihren Gesprächen eine unwichtige Rolle gespielt habe. Im Gegenteil: Dante gehörte eher zum Vorauszusetzenden. Seine Welt war ihnen beiden so vertraut, daß sie selbst die toskanische Landschaft mit den Augen des florentinischen Dichters anschauten. N u r : wo 24 25

Dante: Fegefeuer, IV, 23. "Esule ancora, come era stato esule Dante, nella stessa terra promessa de' suoi sogni giovanili, tra l'Alpe e il mare; quasi mendicando di città in città la speranza che l'Italia potesse risorgere", F. T o m m a s o Gallarati Scotti: Giuseppe Mazzini (Anm. 15), S. 6.

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Gallarati Scotti den Schauplatz lebhafter politisch-religiöser Kämpfe der italienischen Kommunalgeschichte erblickte, sah Borchardt, der sich gegenüber seinem Freund als Erbe und Statthalter überkommener Pflichten fühlte, Provinzen des alten Kaiserreichs, wohl keine politischen, sondern Provinzen der Seele. Hier waren ihre Meinungen entgegengesetzt: Am deutlichsten kommt dies im Dialog Deutschland im dritten Italien zum Ausdruck, der - wie schon erwähnt - über ein Gespräch mit Gallarati Scotti berichtet, das im Mai 1 9 0 5 zwischen Siena und Firenze stattgefunden hat. Anlaß zum Gespräch war die unklare politische Haltung Italiens zum Dreibund. Borchardt vertrat die Meinung, es gebe alte geistige Verbindungen, die viele Italiener auf Deutschland orientieren. Um seine Worte zu bekräftigen, verwies er den Freund auf die kleine Stadt San Miniato, im Mittelalter Sitz der Reichsvikare: "ich habe von meinen Ahnen die Uberzeugung [...], sagen wir die Manie geerbt, daß es sich schickt, italienische Provinzen zu haben: [...] wenigstens Provinzen in der Seele;" worauf er Gallarati Scotti erwidern läßt: "Ich verdanke den meinen, sie Ihnen zu verweigern und für die Weigerung zu sterben; was Ihnen die toskanischen Schlachtfelder ins Gedächtnis rufen, brennen mir tausend österreichische Schafotte in die Seele". 26 Ein leidenschaftliches Bekenntnis zur Gesinnung und zu den Idealen des Risorgimento, das viele Jahre später unverändert in Scottis Urteil über Heinrich VII. wiederkehren sollte. 27 Diese Stelle war übrigens der einzige Punkt, an dem Spoerri seine Kritik ausübte, als er Gallarati Scottis Vita di Dante rezensierte: Der Autor, schrieb Spoerri, habe in diesem Punkt versagt, indem er die Gestalt Heinrichs VII. aus patriotischen Gründen, die Dantes Kaiser-Idee fremd seien, völlig verzeichnet habe. Doch Gallarati Scottis Kritik ging aufs Ganze: Er wies die Kaiser-Idee der Commedia als antihistorisch und utopisch zurück, ebenso wie Dantes Versuch zu beweisen, das römische Reich bestehe in seinen germanischen Nachfolgern fort und werde von ihnen legitim vertreten. 28 Damit erklärte er auch jeden Anspruch auf seelische Provinzen als historisch unbegründet. 29

26 27

Prosa V, S. 576f. Heinrich VII. - schrieb Gallarati Scotti in seiner Vita di Dante - habe das Volk und die kommunalen Freiheiten in Italien gedemütigt, indem er die waltenden Podestà und capitani durch Reichsvikare ersetzt hatte; nun bereiteten sich die Städte der Lombardei zum Aufstand. Das Portrait, das er vom Kaiser entwirft, ist nicht wohlwollend: "Sotto il manto mistico dell'imperatore vi era un tedesco, e il nome e la cosa erano così istintivamente invisi agli Italiani, che fin d'allora, come cinque secoli dopo, ai tempi della dominazione austriaca in Lombardia, l'anonimo pittore eterno che fa la sua schietta politica a carbone sopra i muri, cominciò a disegnare sulle case di Brescia aquile imperiali impiccate". Tommaso Gallarati Scotti: Vita di Dante, Milano 1957, S. 274.

28

Ebd., S. 265. In dem 1934 erschienenen Aufsatz Pisa und seine Landschaß schrieb Borchardt, die Politik der Staufer in Italien zielte auf "italienische Legitimierung der Kai-

Rudolf Borchardt und Tommaso Gallarati Scotti

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Hier öffnet sich ein zweites Kapitel in den Beziehungen Borchardt-Gallarati Scotti. Hinter dem Dante-Forscher, der mit Borchardt auf den "pellegrinai di questa dolce terra degli ardori e dei martiri" wanderte, 30 ahnt man den jungen Intellektuellen und Politiker, der sein Land - wie einst Borchardt schrieb mit einem "glühenden Wille der Erneuerung" liebte. 31 Aus seiner Bildung heraus Erbe der katholisch-liberalen Tradition des Risorgimento, die von Rosmini und Manzoni vertreten worden war, setzte sich der junge Gallarati Scotti in den ersten Jahren des Jahrhunderts kräftig für eine Erneuerung des kulturellen Lebens ein. Er strebte hierzu eine geistigkulturelle Erneuerung des Gewissens an, in der Überzeugung, daß nur eine solche Reform zu einer Neubelebung der gesamten sozialen und politischen Gemeinschaft führen könnte. Doch sein Engagement gewann gegen seinen ausgesprochenen Willen gleich politische Relevanz. Denn Gallarati Scotti, der nicht nur Positivismus und Materialismus für den geistigen Verfall Italiens verantwortlich machte, sondern auch den sogenannten Klerico-moderatismus, der dem politischen Leben der Giolitti-Ara zugrunde lag, trat in seiner Ablehnung eines Kompromisses, der die Religion zu einem Mittel sozialer und politischer Konservation machte, dem Kampf nahe, der auf kulturpolitischer Ebene von der Lega Democratica Nazionale geführt wurde. Aus der fortschrittlichen Fraktion der "Democristiani" von Romolo Murri hervorgegangen, hatte sich die Lega 1905 als unabhängige politische Bewegung der Katholiken gebildet. Am 6. Juli 1906 hatte Gallarati Scotti einen öffentlichen Brief an Murri, den Führer der Lega Democratica Nazionale, geschrieben, in dem er sich zu den gemeinsamen Idealen bekannte. Kurz danach, am 28. Juli, erschien ein päpstliches Schreiben, das den Katholiken jede Autonomie auf politischem Gebiet wiederum absprach und es den Priestern verbot, Mitglied der Lega Democratica zu sein. Murri, der als Priester vom päpstlichen Verbot betroffen war, durfte daher beim Eröffnungskongreß der Lega in Mailand, vom 15.-18. September 1906, nicht mehr auftreten. So kam es, daß es Gallarati Scotti war, der die Rede zur Eröffnung hielt; sie war so erfolgreich, daß er nun unwillkürlich als der eigentliche Führer der Lega Democratica angesehen wurde. 32

29

30 31 32

sermacht als fortgesetzten antiken Imperiums"; Rudolf Borchardt: Italienische Städte und Landschaften, hrsg. von G. Schuster, Stuttgart 1986, S. 55. "Wenn Sie die politisch erforderte Provinz politisch zu verweigern, Angriff mit Verteidigung, Invasion mit Risorgimento zu erwidern gelernt haben, wie steht es mit den Provinzen der Seele", mit dieser Frage hatte Borchardt 1905 seinen Gesprächspartner in Deutschland im dritten Italien gedrängt; Prosa V, S. 577. R. Borchardt an T. Gallarati Scotti, Lucca, 30 giugno 1907, in: Briefe 1907-1913, S. 88. Prosa V, S. 574. Borchardt nennt Gallarati Scotti in Deutschland im dritten Italien "Führer in der democri

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Quasi als Antwort auf die Erwartungen und Hoffnungen vieler auf ein Organ zur Koordinierung und Förderung aller Erneuerungsbestrebungen gründete Tommaso Scotti 1907 mit Alessandro Casati und Antonio Ajace Alfieri in Mailand die Zeitschrift Ii Rinnovamento. Die Herausgeber hatten es sich als Ziel gesetzt, zur Erneuerung der Ideen und des geistigen Lebens im Katholizismus beizutragen. Zur Diskussion standen für das katholisch-liberale Denken traditionelle Themen wie der Primat des Gewissens, weiterhin philosophische und theologische Fragen. Hierzu erhielt die Zeitschrift wichtige Anregungen durch den Modernismus: Berühmte Modernisten waren am Unternehmen beteiligt, wie z.B. George Tyrrell und Friedrich von Hügel; Gallarati Scotti selbst stand mit vielen Vertretern dieser internationalen Bewegung in Verbindung, die in den ersten Jahren des Jahrhunderts den Versuch unternommen hatte, durch die Wiederbelebung der Theologie und der religiösen Studien die Spaltung zu überbrücken, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts aufgrund der Fortschritte der Wissenschaften und der historischen Kritik zwischen Katholizismus und modernem Denken aufgetan hatte. Das Rinnovamento stellte sich hiermit an den Kreuzungspunkt zwischen katholisch-liberalen Traditionen, modernistischen Anregungen und christlichdemokratischen Instanzen, von denen es eine Synthese zu bieten wußte. 33 Bereits im Januar 1907 stellte Gallarati Scotti Borchardt die neue Zeitschrift zu, wofür Borchardt sich bedankte, wobei er ihm versicherte, er habe das Rinnovamento bereits abonniert. 34 Borchardt hatte die Verbindung mit seinem lombardischen Freund seit ihren Gesprächen 1904 nie ganz abgebrochen. Nach einem zufälligen Wiedersehen im Mai 1905 hatte er Anfang 1906 Gallarati Scotti ein Exemplar der wertvollen Basler Ausgabe des Buch Joram zugesandt, dann ein paar Briefe, die aber anscheinend nicht eintrafen. Jetzt, im Juni 1907, lud Gallarati Scotti Borchardt dazu ein, an der Zeitschrift mitzuarbeiten. Die Einladung entsprach wohl den Richtlinien des Rinnovamento, das von Anfang an neben italienischen auch internationale Beiträge aufgenommen hatte; es seien hier die Namen von George Tyrrell, Friedrich von Hügel, Rudolf Eucken, Karl Vossler und Miguel de Unamuno erwähnt. Doch Borchardt lehnte die Einladung ab, wofür er unpräzise politische Verstianischen Bewegung", was wohl vermuten läßt, daß Borchardt den Dialog in den letzten Monaten 1906 verfaßte; Prosa V, S. 566. 33 Pietro Scoppola: Crisi modernista e rinnovamento cattolico in Italia, 3. Aufl., Bologna 1961, insbesondere S. 13 f., S. 19 u. S. 207. Zum Modernismus s. auch Jean Rivière: Le modernisme dans l'Église. Étude d'histoire religieuse contemporaine, Paris 1929; Émile Poulat: Travaux récents sur le modernisme, in: Revue belge de philologie et d'histoire XLI (1963), S. 1159-1167. 34 Rudolf Borchardt an Tommaso Gallarati Scotti, Lucca, 23 gennaio 1907, in: Briefe 19071913, S. 21.

Rudolf Borchardt und Tommaso Gallarati Scotti

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pflichtungen anführte. Er verwies dabei auf die schwierige und umstrittene Lage, in der sich die Zeitschrift befand, denn wenigstens in der Öffentlichkeit, schrieb Borchardt, gelte sie nicht mehr als allgemeine Revue, sondern als "organo prettamente politico, anzi, qual portavoce di una party in being" 35 . Auf diesen Brief ließ Gallarati Scotti offensichtlich einen zweiten folgen, in dem er seine Einladung erneuerte, denn am 30. Juni 1907 wiederholte Borchardt seine Ablehnung, doch diesmal verließ er seine frühere Zurückhaltung: Er sei nichts anderes als "un rappresentante della politica imperiale", beteuerte er, der am 1. Januar 1908 sein Amt offiziell antreten müsse, 36 und dürfe daher keinen Schritt tun, der die offizielle Politik seiner Regierung beeinträchtigen bzw. ihr widersprechen könnte, insbesondere was die Beziehungen zwischen seiner Regierung und dem Vatikan bzw. der dem Vatikan treuen preußischen Hierarchie anbelangte. Borchardt nahm hiermit eine klare Stellung zu den Peripetien ein, die die Zeitschrift durchgemacht hatte. Das Rinnovamento hatte bereits vor seinem Erscheinen als Symbol u n d O r g a n o n der Reformbewegung des Modernismus in Mailand die Kritik und die Vorwürfe der Hierarchie auf sich gezogen. Am 3. Mai 1907 hatte die Zeitung Osservatore romatto einen strengen Brief des Prefetto des Index an den Kardinal Ferrari, Erzbischof von Mailand, veröffentlicht, in dem die Herausgeber zur sofortigen Aufhebung ihres Unternehmens aufgefordert wurden. 3 7 Borchardt konnte sich daher - laut seiner Aussage - nicht an einem Unternehmen beteiligen, das des öfteren, wohl zu Unrecht, als ein Versuch dargestellt wurde, die Organisation der Kirche und ihre Disziplin umzustürzen. Etwas ähnliches war im März desselben Jahres passiert: Damals hatte Borchardt Hofmannsthals Einladung abgelehnt, sich an der Zeitschrift Morgen zu beteiligen. Wie aus einem Brief erhellt, den Hofmannsthal am 11. April 1907 an Harry Kessler sandte, hatte Borchardt sich mit ähnlichen G r ü n d e n entschuldigt. Denn Hofmannsthal teilte Kessler mit, er möchte ihm "einen besonders schönen und glänzenden Brief von Borchardt schicken, welcher unter anderem andeutet / zu meiner größten Überraschung, daß er sich inten-

35 R. Borchardt an T. Gallarati Scotti, Lucca, 26. Juni 1907; ebd., S. 81. 36 "Non sono altro che un impiegato assai oscuro, a disposizione del Segretariato di Stato per gli affari esteri, a partire dal 1 gennaio 08 addetto al ministero prussiano dell' istruzione pubblica presso l'ambasciata dell'Impero a Roma, col carattere di consigliere di governo"; R Borchardt an T. Gallarati Scotti, Lucca, 30. Juni 1907; ebd., S. 84f. 37 Das Rinnovamento hatte den Brief des Prefetto und einen Antwortbrief der Redaktion im Juni-Heft veröffentlicht; Borchardt bezieht sich darauf, als er an Gallarati Scotti schreibt: "Le misure del Vaticano quel sistema di mezze scommuniche, e di minaccie coll'Indice, ne hanno fatto per i più una impresa schiettamente politica". Borchardt an Gallarati Scotti, Lucca, 30 giugno 1907; ebd., S. 88.

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Elena Raponi

siv mit Politik befaßt". 38 Heute, dank der breiteren Dokumentation, die die neue Briefausgabe Borchardts uns zugänglich gemacht hat, ist es vielleicht möglich, die undeutlichen Umrisse dieser Geschichte um ein kleines zu klären. In einem auf den 9. März 1907 datierten Brief aus der Toskana an die Mutter schrieb Borchardt, er erwarte mit dem Frühling allerlei Leute, insbesondere nannte er drei: von Gleichen-Russwurm, Walther Rathenau und Hans Lichtenfeldt, einen hohen Reichsbeamten und Ratgeber des Kaisers. Er fügte hinzu, er habe die Hoffnung, "dass das Zusammentreffen dieser drei Menschen hier [...] andere als nur gesellschaftliche Folgen haben wird". 39 Borchardt hegte also in den ersten Monaten des Jahres 1907 konkrete Hoffnungen, vielleicht hatte er sogar ein entsprechendes Versprechen bekommen, in einem politischen Reichsamt "wirken" zu können; um solche Hoffnungen nicht von vornherein mit Schritten zu kompromittieren, die ihn - seiner Ansicht nach - vor seiner Regierung diskreditieren würden, hatte Borchardt zuerst Hofmannsthals und dann Gallarati Scottis Einladung abgelehnt. Auf jeden Fall war die mailändische Zeitschrift in den Augen Borchardts zu schwach, als daß sie ihm die Möglichkeit gegeben hätte, "wirken" zu können. 40 Mit der Enzyklika Pascendi des 16. September 1907 wurde der Modernismus verurteilt, und im folgenden Dezember wurde der Kirchenbann über die Herausgeber des Rinnovamento verhängt. Es folgten für den unruhigen Intellektuellen schmerzliche Tage: Tommaso Scotti, der sich im Dezember aus Solidarität mit Casati und Alfieri vom Unternehmen nicht zurückgezogen hatte, als es noch möglich gewesen wäre, dem Bann auszuweichen, verließ nach erfolgtem Urteil die Redaktion des Rinnovamento. In der Gewissensnot, die ihn damals bedrängte, war für ihn der Dichter der Divina Commedia, der Verbannte, der einzige wirksame Trost: la figura di D a n t e mi è ispiratrice di riflessioni benefiche; poiché egli è veramente n o s t r o padre spirituale, nello sdegno e nell'amore per la Chiesa. Io credo che anche nella lotta presente noi d o v r e m m o ispirarci al n o s t r o medio evo italiano che ha in sè tutti i caratteri della resistenza interiore, spirituale, agli eccessi di Roma; ma che è sempre caldo di sentimenti mistici e n o n diventa che raramente ribelle all'autorità suprema. 4 1

38

39 40

41

H u g o von H o f m a n n s t h a l an Harry Graf Kessler, 11. IV. 1907, in: H u g o von H o f m a n n s t h a l / H a r r y Graf Kessler: Briefwechsel 1898-1929, hrsg. von Hilde Burger, F r a n k f u r t am Main 1968, S. 156. Rudolf Borchardt an Rose Borchardt, 9. März 1907, in: Briefe 1907-1913, S. 45. "la disgrazia a p p u n t o è questa, che la rivista, anzi di lottare per l'esecuzione del proprio programma, ora lotta, e a q u a n t o pare lotta disperatamente per la nuda conservazione del programma e del c o n c e t t o stesso"; Borchardt an Gallarati Scotti, 30. J u n i 1907; ebd., S. 88. T o m m a s o Gallarati Scotti an A n t o n i o Fogazzaro, 7. Januar 1908, Biblioteca Bertoliana, Vicenza, Carte Fogazzaro.

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Rudolf Borchardt und Tommaso Gallarati Scotti

Die Geschichte des Rinnovamento

knüpfte hiermit für Gallarati Scotti unmit-

telbar an die toskanischen J a h r e an. Dante wird zum Paradigma seines eigenen Schicksals; wenn der junge Scotti vom florentinischen Verbannten spricht, von seinem unbändigen Z o r n und seiner warmen Liebe zur Kirche, hat er auch sich selbst im Sinne. N o c h in seinem Leben

Dantes findet man nach Jah-

ren ergreifende Seiten verschleierter Autobiographie; 42 ähnlich hatte Borchardt gerade von den ersten Jahren seiner Freundschaft mit Gallarati Scotti an sein eigenes Dichten und Leben - wie aus seinen Briefen und Werken erhellt - im Lichte Dantes und seiner Commedia

paradigmatisch gesehen und nachgestaltet.

In den folgenden Jahren ruht ihr Briefwechsel; ihre Wege werden durch die Geschichte vorübergehend getrennt. 4 3 Freiwilliger im ersten Weltkrieg, nahm Gallarati Scotti in den Nachkriegsjahren entschieden Stellung gegen den Faschismus. 1 9 2 3 lehnte er die Einladung Giovanni Gentiles ab, eine Vortragsreihe über das damalige Italien in den Vereinigten Staaten zu halten, wobei er Gentile, damals Kultusminister in der Regierung Mussolini, antwortete, es sei ihm zuwider, für das Regime Propaganda zu machen. Sein intransigenter kultureller und politischer Widerstand zog ihm grobe Angriffe in der faschistischen Presse zu: Am 8. Mai 1 9 2 4 , nachdem er die in den W a h l e n des 6. April verübten Gewalttaten in einem Zeitungsartikel Le disgrazie hatte, erschien im Popolo

d'Italia

di Renzo

verurteilt

eine zornige und drohende Erwiderung mit

dem Titel II duca Tommaso-. Il suo estetismo non capisce le idee di forza e volontà e non può capire quel che vi è di grande e di veramente spirituale nel movimento fascista. Il fascismo penserà un giorno a trattare come si conviene, con santa grossolanità, questa intellettualità spuria che non capisce la storia e neppure la vita.

1 9 2 5 war Gallarati Scotti einer der ersten, der das Manifesto antifascisti 42 43

degli

intellettuali

von C r o c e unterzeichnete, dem Philosophen, der gerade in diesen

Gallarati Scotti: Vita di Dante (Anm. 27), insbesondere S. 48 und S. 186f. Hier zur Ergänzung einige biographische Angaben: Tommaso Gallarati Scotti studierte Jura an der Universität Genua und promovierte 1901 mit einer Dissertation zur Rechtsphilosophie mit dem Titel Platone e la Repubblica ideale. 1918 heiratete er die Contessa Aurelia Cittadella-Vigodarzere, die 1921-1926 in freundschaftlichem Briefwechsel mit Rilke stand; siehe Rainer Maria Rilke: Lettere milanesi, hrsg. von Lavinia Mazzucchetti, Milano 1956. 1922 brachte Eleonora Duse das Drama Così sia, das der Duca Tommaso für sie geschrieben hatte, mit Erfolg und Aufsehen auf die Bühne. 1924-1925 war Gallarati Scotti Mitarbeiter des Oppositionsblatts II Caffè, 1923-1926 Präsident des Circolo Filologico Milanese. In den 50er Jahren wurde er Präsident der Mailänder Messe der Campionaria. Neben seiner Fogazzaro- und Dante-Biographie arbeitete er an einem Leben Manzonis, das 1969 als Fragment mit dem Titel La giovinezza del Manzoni postum erschien. Gallarati Scotti schrieb auch Gedichte und Erzählungen. In den letzten Jahren verfaßte er für den Corriere della Sera zahlreiche Artikel, die heute in zwei Bänden gesammelt sind: Interpretazioni e memorie, Milano 1960 und Nuove interpretazioni e memorie, Milano 1972.

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Elena Raponi

Jahren oft in der Villa Casati verkehrte, wo ihn Gallarati Scotti auch des öfteren besuchte. Noch einige Jahre vergingen, bis Gallarati Scotti und Borchardt sich am 30. März 1933 zufällig in Rom wiedersahen, wo Borchardt auf Einladung Giovanni Gentiles, damals Präsident des neu gegründeten Istituto Italiano di Studi germanici in Rom, einen Vortrag - L'Italia e la poesia tedesca intorno al 1900 - g e h a l t e n hatte. 44 Diese zufällige kurze Begegnung bot dem deutschen Dichter Anlaß zur Wiederaufnahme einer altvertrauten Verbindung. Denn es folgten zwei Abende, die Borchardt zwischen dem 15. und 17. November desselben Jahres 1933 bei Gallarati Scotti in dessen Hause in der Via Manzoni in Mailand verbrachte. Das Haus Gallarati Scotti wurde damals, als eine Art geschützte Enklave, von Familienfreunden und antifaschistischen Intellektuellen viel besucht. Ausländische Künstler und Denker wie z.B. der russische Dichter und Philosoph Venceslav Ivanov (1866-1949) fanden hier immer freundliche Aufnahme. An jenen Novemberabenden lernte Borchardt die italienische Germanistin Lavinia Mazzucchetti (1889-1965) kennen, die offizielle Übersetzerin Thomas Manns, mit dem sie auch befreundet war. 45 Ende Juli 1943 trafen nach dem Sturz Mussolinis die Vertreter der Oppositionsparteien heimlich im Haus Gallarati Scotti in Mailand zusammen, die bald darauf das CLN - Comitato di Liberazione Nazionale - ins Leben rufen sollten. Nach dem 8. September wurde aber ein Protokoll jener Gespräche mit den Namen der Unterzeichner in einer faschistischen Zeitung bekanntgegeben. Gallaratti Scotti mußte in die Schweiz fliehen, von der er Anfang 1945 zurückkehrte, um als Botschafter der neuen Regierung zuerst nach Spanien, dann nach England zu gehen. 46 Der schöne, warme Brief, den Borchardt im Juni 1937 an Gallarati Scotti sandte, wo noch keine Spuren der bevorstehenden tragischen Ereignisse sind, ist das letzte Zeugnis ihrer langen, lebhaften Freundschaft, die uns heute, die wir auf das viele Erlebte zurückblicken, bedeutend erscheint, nicht nur für die kleinen, sondern auch für die großen Verhältnisse der damaligen Zeit.

44

Siehe Rudolf Borchardt: L'Italia e la poesia tedesca. Aufsätze u n d Reden. 1904-1933, hrsg. v o n der Deutsch-Italienischen Vereinigung, übers, u. eri. v. Gerhard Schuster u. Ferruccio delle Cave, F r a n k f u r t am Main 1988, S. 153ff.

45

Ihrer erinnerte sich Borchardt, als er 1937 eine italienische U b e r s e t z u n g seines Romans Vereinigung durch den Feind hindurch beim Treves Verlag f ü r möglich hielt; vgl. Borchardt an Gallarati Scotti, 3. Juni 1937; in: E. Raponi (Anm. 11), S. 121-122. Siehe hierzu A. Canavero: T o m m a s o Gallarati Scotti and his role in Italian Foreign Policy after W o r l d W a r II, in: T h e Journal of Italian H i s t o r y 2, 1979, S. 32-51.

46

MICHAEL NEUMANN

Eidos. Borchardt zwischen Croce und Warburg Der ersten Sammlung seiner Lyrik gab Borchardt 1913 eine in der dritten Person gehaltene biographische Skizze bei, in der er sich nachdrücklich auf Benedetto Croce berief: Seit 1906 in Italien lebend, so heißt es da, suchte er Rudolf Borchardt sich durch neue F o r m e n der Geschichtsbetrachtung einer Phänomenologie des historischen Geschehens zu nähern [und] arbeitete gleichzeitig praktisch an der kanonischen Herstellung einer deutschen geistigen Tradition [...]. - Die vorliegende Sammlung enthält nahezu seine gesamte lyrische Produktion [...] und macht erst vor den P r o d u k t e n der Krisis halt, für deren Abschluß die Berührung mit der Philosophie Croces entscheidend wurde, und die seinem bis dahin vorwiegend divinierenden Traditionalismus zu einem neuen Begriffe der Freiheit und zu den zusammenhängenden Vorstellungen von der bewahrenden und herstellenden Funktion der Poesie verhalf [...].'

Sehr viel wissen wir nicht von der großen Lebenskrise in den Jahren vor 1906. Lassen wir beiseite, was daran - zwischen Margarete Ruer und Karoline E h r m a n n - Persönlichstes war, so bildet ein entscheidendes M o m e n t wohl der Konflikt zwischen Dichter und Wissenschaftler; ein Konflikt, dessen Alternativen nicht zu entscheiden, sondern nur durch Verschmelzung produktiv zu machen waren. Das aber ist leichter gesagt als getan. Es ist nicht nur der lebenslang alles Schriftliche unterwerfende Z w a n g zum hohen Pathos, der Borchardt die entscheidenden Stationen auf dem W e g zu seinem Weg als Erweckungserlebnisse stilisieren läßt. Die erste derartige Offenbarung hatte 1897 die Lektüre von Herders Altester Urkunde des Menschengeschlechtes gebracht. Mit fiebernder Eindringlichkeit schildert er im Eranos-Brief an H o f m a n n s t h a l , wie sich dem Lesenden plötzlich der Weg zeigte, den er nicht nur als den seinen, sondern auch als den W e g seiner N a t i o n und seiner Zeit begriff; wie er den Geist als Schöpfergewalt erkannte, die alle Formen menschlichen Gestaltens aus sich hervorströmte; die verschiedenen historischen Formationen dieses menschlichen Schöpfergeistes als Wirklichkeiten eines Weltgeistes, der jedem Individuum dem einzelnen wie dem kollektiven - seinen Sinn im Schaffen, Aneignen und 1

P r o s a V I , S. 58.

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Michael Neumann

Umschaffen solcher Formen anwies und seinen O r t durch die individualisierenden Kräfte von Nation und Zeit. Daß der leidenschaftliche Vielleser sich auf diese Erkenntnis durch keine zeitgenössische Schrift vorbereitet fühlte, daß ihm solche Erleuchtung aus dem alten, vergriffenen Buch eines "sagenhaft gewordenen" Klassikers springen mußte, setzte eine weitere Erkenntnis ans Licht (Prosa I, S. 116f.): trotz aller "mechanischen Kultur-Kontinuität" und "schulmäßigen Archivierung der Vergangenheit" hatte die entscheidende Einsicht den Deutschen "wieder so verloren gehen können, wie die Kulturen erloschener Völker und Zeiten ihren Nachfolgern!" 2 Das Gespräch über Formen datiert im Jahr 1900 diesen Traditionsbruch auf die Revolution von 1848 (Prosa I, S. 342); später wird das politische Datum durch den soziologischen Rückgriff auf die Bevölkerungsumschichtungen der 40er und 50er Jahre konkretisiert: "wir haben in Deutschland 45 Großstädte, von denen 43 zur Zeit der Romantik nicht bestanden, und sie sind ausnahmslos auf das Proletariat gegründet," auf einen "Menschheitsabfall" also, der im "aufzehrenden Vakuum des großstädtischen Arbeiterbedarfs [...] in kürzester Zeit auf die Beute des Kapitalismus, der Sensation und der Reklame reduziert [wird], auf ein Halbmenschen- und Viertelsmenschenwesen ohne Nationalität, ohne Erinnerung an eine Vorzeit, ja fast ohne Väter". (Reden, S. 247) 3 Aus dieser Überzeugung entspringt dann das Bemühen um die "kanonische Herstellung einer deutschen geistigen Tradition", auf das die biographische Skizze verweist. Das führt allerdings auf ein weiteres Moment der "Krisis": wo der lebendige Zusammenhang der Tradition abgerissen ist, läuft ein "divinierender Traditionalismus" ins Leere. Ist es nicht ein Widerspruch in sich, eine "kanonische" Tradition herstellen zu wollen?

2

3

Wohl unbewußt reproduziert Borchardt hier einen Topos der Kanonbildung; vgl. Aleida und Jan Assmann: Kanon und Zensur, München 1987, S. 18; ein Bild taucht "im Zusammenhang der Kanongenese immer wieder auf: die Auffindung eines verschollenen Buches. So fand sich etwa die Urfassung des konfuzianischen Buches I-Ging in den Trümmern eines im 2. Jh. n.Chr. abgerissenen Wohnhauses. Das Buch Mormon ist ein Schatz, der aus einem amerikanischen Acker geborgen wurde. Der biblische Bericht über die Reform des Josia erzählt, wie bei Aufräumungsarbeiten im Jerusalemer Tempel das [Deuteronomium] gefunden wird, das die vergessene Wahrheit [...] der zwischen Moses und Gott vereinbarten Vorschriften" enthält; als eine Variante sei auch das "vom Himmel gefallene Buch" zu verstehen, als welches der Koran sich darstellt. Diese Kennzeichnung des Proletariats als geschichtslos ist in der Zeit verbreitet. So spricht etwa Werner Sombart vom Haufen einer "ungegliederten Masse von Einzelwesen, die völlig mit der Vergangenheit gebrochen haben, die aus allen Gemeinschaftsbanden herausgelöst sind: aus Heimat, Dorf und Sippe"; zit. nach Dagobert Frey: Bausteine zu einer Philosophie der Kunst, hrsg. von Gerhard Frey, Darmstadt 1976, S. 272.

Eidos. Borchardt zwischen Croce und Warburg

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H i e r , so v e r m u t e ich, k a m C r o c e zu Hilfe. 4 C r o c e t r e n n t die Überlieferung v o n d e r Geschichte. S a c h e der Kritik ist es, die überlieferten N a c h r i c h t e n geg e n e i n a n d e r a b z u w ä g e n und in ihrem W e r t zu beurteilen. 5 Sie leistet d a m i t eine n o t w e n d i g e V o r a r b e i t , dringt aber zur Geschichte selbst nicht v o r . Die G e schichte selbst - mit C r o c e s W o r t e n : die "lebendige" G e s c h i c h t e , die "wirkliche" G e s c h i c h t e - ist jene Geschichte, die m a n im Akt des D e n k e n s wirklich denkt.6 C r o c e v e r s p o t t e t es als M e t h o d e aus 1 0 0 1 Nacht, die Geschichte für eine im Dunkel v e r b o r g e n e Realität zu halten, die wie der R a u c h in Aladins L a m p e nur darauf wartet, daß die Philologen liebevoll das Messing polieren, u m mächtig und deutlich als Geist herauszuströmen. 7 Die Geschichte ist in uns. Ihre W a h r h e i t ist keine ewige und endgültige, s o n d e r n bemißt sich n a c h einer je gegenw ä r t i g e n Problemstellung. G e s c h i c h t e ist i m m e r g e g e n w ä r t i g e G e s c h i c h t e . Die Problemstellung entscheidet über die Auswahl d e r Q u e l l e n wie über die A r t d e r F r a g e n . 8 Alles kann Quelle d e r Geschichte w e r d e n . Die D o k u m e n t e sind v o n sich aus neutral, C r o c e sagt: sie sind t o t . D o c h jede t o t e G e s c h i c h t e kann für eine neue P r o b l e m l a g e w i e d e r lebendig w e r d e n . ' -

Daß

solche

W i e d e r b e l e b u n g keinem Philologen gelingt, leuchtet ein. W e m a b e r d a n n ?

4

5

b 7 8 9

Aus der oben zitierten Formulierung darf freilich nicht geschlossen werden, daß Borchardt Croce erst um 1906, also gegen Ende der "Krisis", zur Kenntnis gekommen sei; schon in einem Zeitungsartikel vom 29.10. 1904 wird Croce als "il primo estetico del mondo" bezeichnet. (Rudolf Borchardt: L'Italia e la poesia tedesca. Aufsätze und Reden 1904-1933, hrsg. und übers, von Gerhard Schuster und Ferruccio Delle Cave, Frankfurt am Main, Stuttgart 1988, S. 18.) Borchardt, so G. Schuster, dürfte Croces Estetica "sofort nach ihrem Erscheinen 1902 während seiner toskanischen Studienjahre gelesen haben und gehörte, wie Herbert Steiner bezeugt, auch zu den Lesern der Zeitschrift Critica." - Zu Borchardt und Croce siehe Inge Sommer: Untersuchungen zu Rudolf Borchardts ItalienRezeption, Diss. Bonn 1967, S. 28-43, und Jacques Grange: Rudolf Borchardt 1877-1945. Contribution à 1' étude de la pensée conservatrice et de la poésie en Allemagne dans la première moitié du X X e siècle, Bern 1983, S. 25-36 u. 120-125. Croce wird zitiert nach den Gesammelten philosophischen Schriften in deutscher Ubertragung, hrsg. von Hans Feist, 1. Reihe, Tübingen 1930: Aesthetik = Bd. 1: Aesthetik als Wissenschaft vom Ausdruck und allgemeine Sprachwissenschaft. Theorie und Geschichte, dt. v. H. Feist u. Richard Peters. Logik = Bd. 2: Logik als Wissenschaft vom reinen Begriff, dt. v. Felix Noeggerath. Historiographie = Bd. 4: Theorie und Geschichte der Historiographie und Betrachtungen zur Philosophie der Politik, dt. v. H. Feist u. R Peters. Die Aesthetik ist im Original 1902 erschienen, die Logik 1905, die Historiographie 1917. In den Anmerkungen wird die Aesthetik zitiert nach: Estetica come scienza dell'espressione e linguistica generale. Teoria e storia, Roma/Bari 1973 12 . - Zitat: Aesthetik, S. 134-137. Historiographie, 1. Teil, Kap. 1.1. Ebd., S. 17. In Logik (Anm. 5), S. 189-193, wird die Problemstellung auch mit den ihr zugrundeliegenden Interessen verknüpft. Historiographie (Anm. 5), S. 14.

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Michael N e u m a n n

Croce rechnet die Geschichte nicht zu den Wissenschaften: sie suche nicht nach Gesetzen noch bilde sie Allgemeinbegriffe, sondern sie strebe nach Erzählung und setze Intuitionen. Daraus folgt: 10 "Die Geschichte fällt [...] unter den allgemeinen Begriff der Kunst." "Intuition" ist der Zentralbegriff in Croces Aesthetikn, aber er ist leider nicht sonderlich klar definiert. Als Intuition erklärt Croce jede Verarbeitung einer Empfindung. 12 Jeder Eindruck ist bereits geistig geformt, sobald es nur gelingt, ihn vor das Bewußtsein zu stellen. Diese transzendentale 13 Bedeutung bildet aber nur einen einfachen Fall von Intuition. Intuition ist für Croce eine viel weiterreichende, eigene Form der Erkenntnis, die er von der logischen oder "intellektiven" Erkenntnis unterscheidet. Die intellektive Erkenntnis arbeitet mit Begriffen, schreitet fort durch Induktion oder Deduktion und zielt auf Gesetze. Die intuitive Erkenntnis arbeitet mit Bildern, faßt ihren Gegenstand als ein wechselseitiges Bedingungsverhältnis zwischen einem Ganzen und seinen Teilen - und zielt auf Intuitionen wie sie mit Intuitionen anfängt. Die intellektive Erkenntnis gehört dem engumschränkten Bereich der strengen Wissenschaft an. Die intuitive Erkenntnis orientiert die Menschen in ihrem gewöhnlichen Alltagsleben. Sie ist auch die spezifische Erkenntnisart der Kunst. Die Intuitionen der Kunst unterscheiden sich von den Intuitionen des gewöhnlichen Lebens nicht qualitativ, sondern quantitativ: die Kunst vermag komplexere Verhältnisse zu einem intuitiven Ganzen zusammenzuschließen; ihre Intuitionen sind reicher.14 In diesem Sinne faßt Croce ein Kunstwerk und sei es eine fünfaktige Tragödie oder Dantes Comedia - als eine einzige Intuition auf. Diese kann in sich eine unbegrenzte Fülle von Gefühlen und Begriffen synthetisieren, doch, sofern das Werk gelungen ist, versammelt es all diesen Reichtum im Betrachter oder Leser zu einer einzigen mächtigen Intuition. Wenn Croce auch die Geschichte unter den Begriff der Kunst rückt, so wehrt er doch nachdrücklich die Vermischung von Poesie und Geschichte ab: 10

Aesthetik (Anm. 5), S. 29. Estetica, S. 31: "La storia si riduce perciò sotto il concetto generale dell'arte." - Diese These hatte er 1893 als Titel einer Schrift (La storia ridotta sotto il concetto generale dell'arte) verwendet, die den Begriff von Geschichtsschreibung, wie ihn die Aesthetik dann ausarbeitet, bereits in den Grundlinien exponiert.

11

Siehe dazu Robert Zimmer: Einheit und Entwicklung in Benedetto Croces Ästhetik. Der Intuitionsbegriff und seine Modifikationen, Frankfurt am Main, Bern, N e w York 1985, der die historische Intuition allerdings nicht einmal erwähnt. Aesthetik (Anm. 5), 1. Kap. Schon Susanne K. Langer (Feeling and Form. A Theory of Art, N e w York 1953, S. 375f.) hat auf die Analogie zu Kants Begriff der Wahrnehmung hingewiesen, aber auch Croces Begrifflichkeit kritisiert. Aesthetik (Anm. 5), 2. Kap.

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Eidos. Borchardt zwischen Croce und Warburg

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Die künstlerische Intuition arbeite im Feld des Möglichen oder Imaginären; die historische Intuition richte sich auf die "Welt des Geschehenen". 15 Eine "poetische Geschichte", die das Geschehene mit dem Imaginären vermengt zu denken ist hier an historische Romane und Dramen - , bleibt daher immer nur Poesie; ihr Anspruch, Geschichte zu geben, ist ebenso illegitim wie es die Ansprüche der lehrhaften oder der tendenziösen Geschichte sind. 16 Die Unterscheidung zwischen dem Imaginären und dem Geschehenen ist freilich nicht mit den Beweismitteln der Wissenschaft zu bewerkstelligen; aus solcher Verwechslung der Sphären resultieren laut Croce die Zweifel des historischen Skeptizismus am Realitätsgehalt der Geschichte. Der gesunde Menschenverstand tue aber durchaus recht daran, an die Geschichte zu glauben: 17 Sie ist keine 'fable convenue' [...], sondern die Erinnerung des Individuums und der Menschheit an die Vergangenheit. Eine vielfach dunkle, vielfach auch sehr klare Erinnerung; eine Erinnerung, die man mit vieler Mühe erweitern und recht genau machen kann [...] N u r aus Geschmack am Paradoxen wird man daran zweifeln können, daß Hellas und Rom, Alexander und Cäsar, ein feudales Europa und eine Reihe von Revolutionen, die es niedergeschlagen haben, existiert haben. [...] "Was für Gründe führst du für alle diese Dinge an?" fragt ironisch der Sophist. Und die Menschheit erwidert: "Ich erinnere mich."

Eben diese wohlgemute Gewißheit freilich sieht Borchardt erschüttert. W o Croces Optimismus vom kontinuierlichen Wandel der Erinnerung schreibt, der konsequent den kontinuierlichen Wandel der einander ablösenden Gegenwarten mitvollzieht, entdeckt Borchardt einen katastrophenhaften Abbruch der Erinnerung, der die moderne Menschheit mit der Zerstörung ihrer Menschlichkeit bedroht. Dem Menschen, der sich nicht mehr bewußt ist, "daß seine wie jede Lebensspanne durch Geist und Kunst in die aus Ewig nach Ewig greifende Kette des Unvergänglichen geknüpft ist," so schreibt er im

15 Ebd., S. 32; Estetica, S. 34: "Il mondo dell'accaduto". 16 Historiographie (Anm. 5), S. 23-32. In diesem Punkt unterscheidet sich seine 'Philosophie des Geistes' entschieden von Croces Frühwerk. Siehe Wolfgang Mager: Benedetto Croces literarisches und politisches Interesse an der Geschichte, Diss. Köln 1962, S. 1519 u. 94-110. Allerdings rückt Croce den historischen Roman auch in der Logik, S. 185, recht nahe an die intuitive Geschichtsschreibung. 17 Aesthetik (Anm. 5), S. 31f; Estetica, S. 34: La storia "non è già 'favola convenuta', ma ciò che l'individuo e l'umanità ricordano del loro passato. Ricordo dove oscuro, dove chiarissimo; ricordo che con industri sforzi si procura di allargare e rendere esatto il meglio possibile; [...] Solo per gusto di paradossi si potrà dubitare che sia mai esistita una Grecia e una Roma, un Alessandro e un Cesare, un'Europa feudale e una serie di rivoluzioni che l'abbatterono; [...] 'Che ragione rendi tu di tutto questo?', domanda ironicamente il sofista. L'umanità risponde: 'Io ricordo'." - Nicht ganz zu Unrecht spottet Hayden White, Croces Konzeption laufe "auf eine Verteidigung des gesunden Menschenverstands als der Theorie' oder 'Methode' historischer Synthese hinaus." Ders.: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt am Main 1991, S. 507.

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Nachwort zum Deutschen Swinburne (Prosa IV, S. 437f.), wäre es besser, "als Fliege geboren zu sein."18 Geschichtswissenschaft und Erinnerung treten auf eine für Croce undenkbare Weise auseinander: Während erstere als "mechanische Kultur-Kontinuität" (Prosa I, S. 116) sich unbeirrt in die entferntesten Winkel der Vergangenheit bohrt und unerschütterlich Berge von Papier bedruckt, ist letztere im Verschwinden begriffen. Gründe für diesen Zustand werden nur gelegentlich und nebenbei genannt. Borchardt greift da nirgends über die Zeitklage seiner konservativen Zeitgenossen hinaus." Ihn interessieren weniger die Ursachen als die Möglichkeiten des Widerstands. Croces Überlegungen bieten ihm hierfür drei Ansatzpunkte: im Begriff der "lebendigen" Geschichte kommt die Tradition in Bewegung, werden Erinnern und Vergessen Vorgänge, die zum selbstverständlichen "Rhythmus des lebendigen Geistes" gehören 20 und sich notwendig abwechseln; aus dem Begriff der Erinnerung läßt sich ein Vereinigungspunkt zwischen Individuum und Nation schmieden; der Begriff der Intuition schließlich bietet einen solchen Vereinigungspunkt für die in Borchardt streitenden Seelen des Dichters und des Historikers. 21 Im Brief an den Verleger exponiert er 1906 den Begriff des Erben, in dem sich eine frühe Ahnung zu dem Gedanken forme, "daß nichts was je war für mich je tot sein könne", und zu der Verachtung einer Lebensweise, "die unter 'Leben' jenen nichtigen und unerheblichen Bruchteil eines ungeheuren Ganzen begreift, der durch die völlig gleichgiltige Geburt und den völlig gleichgiltigen Tod des also Denkenden begrenzt wird." (Prosa VI, S. 22). Ahnliches hat er schon bei Herder 2 2 und Croce 23 lesen können. 24 Doch er verschiebt den Schwerpunkt (Prosa VI, S. 22f.):

18 Vgl. Croce: Estetica (Anm. 5), S. 141: "Senza la tradizione e la critica storica, il godimento di tutte o quasi tutte le opere d'arte sarebbe irremissibilmente perduto: noi saremmo poco più che animali, immersi nel solo presente o in un passato ben vicino." 19 Zur konservativen Zeitkritik siehe Stefan Breuer: Anatomie der Konservativen Revolution, Darmstadt 1993. 20 Historiographie (Anm. 5), S. 15; vgl. Prosa IV, S. 8. 21 Noch am 20.4.1943 bestätigt er in einem Brief an Bianchi Bandinelli (unpubl.; referiert b e i j . Grange [Anm. 4], S. 999f., Anm. 56) die zentrale Bedeutung, die Croces Begriff der Intuition für ihn gehabt habe. 22 Vgl. etwa Sämtliche Werke, hrsg. von B. Suphan, Bd. XXIX, S. 104f., 136-139, und Bd. XVI, S. 28-50. 23 Aesthetik (Anm. 5), S. 101. 24 Vgl. Borchardts Gespräch Uber Formen (Prosa I, S. 373): "Harry: Ach, alles ist ein Traum im Traume. Amold: Nein, es ist wahr, denn es war einmal da, ob in uns, ob außer uns, und da wir es aus unserm Blute nicht hinausschleudern können wie eine Blüte, die in den Becher gefallen ist, so verwächst es in uns hinein und wird ein Teil unserer Zukunft."

Eidos. Borchardt zwischen C r o c e und Warburg

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so begann ich denn die Ströme zu betrachten, die durch meinen gebrechlichen Leib hindurch in G o t t e s Zukunft mündeten. [...] Daher sich denn in mir von der Einheit des menschlichen Geschehens und von meinem in diese Einheit Begriffensein eine [...] gewaltige und den Nerv der Seele [...] stark spannende Vorstellung bildete.

Im Eranos-Brief kommt er mit Berufung auf Nietzsche auf diese "stark spannende Vorstellung" zurück (Prosa I, S. 119f.): ich begriff, daß die Gegenstände meines Studiums und meiner Qualen - Wissenschaft und Leidenschaft -

Geschichte des deutschen Volkes und Geschichte des

menschlichen

Geistes im Sinne meiner eigenen, höheren Biographie waren, und daher alle im Flusse, alle lebendig, alle noch unentschieden, noch mitten in ihrem Drama. Erforschung war Handeln, Leben, Schaffen. Schaffen war Beschwören, Hervorzaubern, Beleben, Wiederherstellen. D e n k e n war Erinnern. Erinnern war Vorverkündigung.

Hier wächst sich Teilhabe zur Stellvertretung aus. Geschichtsschreibung wird zu einer Geschichtsschöpfung, die Croce ferner steht als Nietzsche. Croce nimmt den Wandel der Interessen, der das Bild der Geschichte unweigerlich verändert, als ein selbstverständliches Phänomen hin, dessen Mechanismus er nicht weiter befragt. Nietzsche dagegen, der in Kategorien des Willens zur Macht denkt, verbindet diesen Wandel mit dem Gedanken der Größe: "Jeder grosse Mensch hat eine rückwirkende Kraft", heißt es in der Fröhlichen Wissenschaft15, "alle Geschichte wird um seinetwillen wieder auf die Wage gestellt und tausend Geheimnisse der Vergangenheit kriechen aus ihren Schlupfwinkeln - hinein in seine Sonne. Es ist gar nicht abzusehen, was Alles einmal noch Geschichte sein wird. Die Vergangenheit ist vielleicht immer noch wesentlich unentdeckt! Es bedarf noch so vieler rückwirkender Kräfte!" Nietzsche denkt bei den großen Menschen zunächst wohl an die großen Täter. Doch das Wort von der Entdeckung der Vergangenheit muß auch das Ohr des Historikers treffen; die Rede von den "rückwirkenden Kräften" beschwört Friedrich Schlegel herauf, der den Historiker einmal als rückwärtsgekehrten Propheten definierte. 26 Borchardt repliziert 1 9 0 7 - ob bewußt oder unbewußt - Nietzsches Aphorismus in dem Essay Villa (Prosa III, S. 42): "Es ist nicht der Äquator, der den Entdecker macht, sondern eine Verfassung der Seele, der Widerwille, nur das, was die andern sehen, und gar nur so zu sehen wie sie." Der Satz enthüllt ohne Zweifel einen der tiefsten Antriebe Borchardts. Um vom Zeitgenossen zum Stellvertreter seiner Zeit aufzurücken, brachte Borchardt nun eben jene einzigartige Voraussetzung mit, die von Croces Kategorien aus Erfolg versprechen konnte: er verband die Intuitionskraft des Dichters mit der souveränen Beherrschung der historischen Kritik, die er en

25

Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, Nr. 34, in: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hrsg. von Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 1980, Bd. 3, S. 4 0 4 .

26

80. Athenäums-Fragment.

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passant noch auf das neue Niveau "mittelalterlicher Altertumswissenschaften" zu heben ankündigte. Der Preis der per Willensschluß ergriffenen Stellvertretung läßt sich freilich am Ton von Borchardts Prosa, die - entgegen allen antiken Rhetorenforderungen nach Stilmischung - die Ebene des hohen Pathos kaum je verläßt 27 , ebenso ablesen wie an den Photos, die den Mann durchwegs in gewaltsamer Anspannung präsentieren. Croces Vorstellung der historischen Intuition blieb ein dauerhafter Bezugspunkt. Noch der Grundriß zu Epilegomena zu Homeros und Homer beharrt 1 9 4 4 auf der "schlagartige [n] Anschauung eines Ganzen, die man Intuition oder Phantasie genannt hat, die aber besser heißt, was sie ist, Vision." (Prosa II, S. 7 0 ) Die terminologische Präzisierung enthüllt freilich, daß Borchardt unter "Intuition" wohl von Anfang an etwas anderes verstand als Croce. 2 8 Croce unterschied die Intuitionen des Dichters nur quantitativ von den Intuitionen des gewöhnlichen Menschen und subsumierte dem derart weitgespannten Begriff der intuitiven Erkenntnis eben auch den Historiker. Borchardt trennt kategorisch. 29 Die Wahrnehmung und unwillkürliche Deutung des Wahrgenommenen im Alltagsverstande nennt er nicht Bild, sondern Umriß: "das um sich blickende Auge des Menschen bannt wohl Einzelnes in den Umriß und gelangt auf mühseligen Wegen dazu Umrisse zu reihen, bis es sich in das Chaos der Überschneidungen aller Umrisse verliert und daran verzagt, die ihm unzugängliche Welt zu ordnen" (Prosa V, S. 496).

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Und nicht nur am Ton, sondern auch am Gestus: "Wenn Borchardt etwas mitzuteilen hat, schüchtert er den Leser zunächst durch eine funkelnde Paradoxie ein und dann redet er als Besitzer eines höheren Wissens, das der Menge verschlossen ist. Er gibt seiner Darstellung das Pathos dessen, der in die Mysterien eingeweiht ist." Ernst Robert Curtius: Kritische Essays zur europäischen Literatur, 2. Aufl., Bern 1954, S. 25. Vgl. auch Marianello Marianeiiis Kritik an Borchardts Berufung auf Croce: Rudolf Borchardt e la restaurazione creatrice, Catania 1960, S. 13, Anm. 16, und Marianeiii: Studi (Anm. 93), S. 389f. - Croce selbst blickte mit respektvoll gemischten Gefühlen auf Borchardt. An Vossler, der den gemeinsamen Bekannten "halb genial und halb dilettantisch" genannt und in dessen Vita rcwtma-Aufsatz "sehr scharfsinnige und wichtige Bemerkungen neben einigen zweifelhaften oder unmöglichen Ansichten" gefunden hatte, schreibt er am 31.7.1923: "Auch ich habe einen ähnlichen Eindruck gehabt, als ich mit ihm sprach und seine Sachen las. [...] Von seinem Buche über die Vita nuova hatte ich eine italienische Ausgabe begonnen, nicht weil ich es für wahr hielte, sondern für geistvoll und auf seine Weise tief. Manche seiner kleineren Schriften gefallen mir sehr: zum Beispiel die über die Villa." Briefwechsel Benedetto Croce - Karl Vossler, hrsg. von Otto Vossler, Berlin, Frankfurt 1955, S. 289 und 291. Ohne jede Reserve äußert er sich dagegen über Warburg (ebd., S. 320), der ihn für den Herbst 1930 nach Hamburg eingeladen hatte (Warburg an Vossler, 12.10.1929, in: "Ekstatische Nymphe" [Anm. 100], S. 125f.) Vgl. I. Sommer (Anm. 4), S. 38.

Eidos. Borchardt zwischen C r o c e u n d W a r b u r g

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Für die Intuition des Dichters aber greift er auf den T o p o s des poeta vates zurück. Wohl gehört jeder Mensch einer sozialen Gruppe, insbesondere einer Nation, nur insoweit an, als er ihre Geschichte intuitiv begreift. Doch solches Begreifen ist nur möglich, sofern ihm das visionäre Ergreifen des Dichters vorgearbeitet hat: 3 0 Solange der Dichter, und nicht der Historiker, die Fleisch und Blut gewordene Erinnerung der N a t i o n an sich selber, solange er, u n d nicht der politische Mestierant, [...] die Fleisch und Blut gewordene A h n u n g der N a t i o n von sich selber ist, solange die Gegenwart der N a t i o n in jedem ihrer M o m e n t e auf ihn als N a m e n g e b e r u n d Bewahrer rechnet - u n d das wird immer sein, sowahr es von je gewesen ist - solange entscheidet der D i c h t e r und niemand anders über die positiven u n d die negativen Kräfte der Zeit. [...] er ist Politiker kraft seiner Konzeption der Welt als eines Ganzen [...].

So heißt es 1908 (Prosa V, S. 74), 3 1 und abermals liegt im Kern dieses heroischen Anspruchs der am eigenen Ich entwickelte Mythos der Stellvertretung (Prosa V, S. 75): D a r u m ist nicht nur der Dichter, der Intensität genug hat, das Ganze der Welt auf sich zu beziehen - worin seine dämonische Passivität wie seine b e w u ß t e Aktivität liegt - s o n d e r n es ist auch, und wird durch seinen magnetischen Strom, sein Publikum politisch.

Solche Selbsteinschätzung kann sich nur scheinbar auf die Tradition der deutschen Geniereligion berufen. Kein Dichter vor Borchardt hat die historische Darstellung so bedingungslos als eine legitime Form nicht der Dichtung, aber des Dichters beansprucht und realisiert. Keiner vor ihm hat freilich auch derart ausgebreitete und detaillierte philologische und historische Kenntnisse zur Basis seines Schreibens zählen können. V o n den Universalhistorikern von Lasaulx bis Spengler andrerseits, die "poetische Geschichte" von Seiten der Wissenschaft betrieben, unterschied ihn der programmatische Verzicht auf historische Gesetze (Prosa IV, S. 9f.) - hierin kam er mit Croce überein. Borchardt sucht nicht Gesetze, sondern entwirft Bilder, die die überlieferten Details jeweils kraft ihrer Evidenz zu einem möglichst überzeugenden Ganzen zusammenordnen und diesem Ganzen seinen spezifischen Bezug auf die Gegenwart zuweisen. Für die Notwendigkeit solch visionärer Evidenzen verweist er auf einen Satz des Mathematikers [!] Gauß: "die Resultate habe ich längst; ich weiß nur noch nicht, wie ich zu ihnen gelangen werde." (Prosa II, S. 102) Den mikroskopierenden Kritikern und Philologen bleibt das Recht, diese Bilder des Ganzen "nachzurechnen" und zu überprüfen. Der Begriff des 'Bildes1 ist historiographisch zentral. "Von keinem Stile", so heißt es schon 1900 3 2 im Gespräch über Formen (Prosa I, S. 335), ist "sein ihm 30

31

Vgl. einen Brief v o m 15.8.1915: "denke, dass, seit Generationen z u m ersten Male wieder, der D i c h t e r eine F u n k t i o n hat. [...] die, die Welt der Welt zu erklären, die aufgehört hat sich zu begreifen und daran fast zu G r u n d e geht." B o r c h a r d t / H o f m a n n s t h a l , S. 166. Vgl. auch A n m . 51.

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eigentümliches Raumbild, die Beschränkung jedes sinnlichen Verhältnisses zur Welt zu trennen": "Nibelungen im Verse der Ilias, mit ionischer Geste, seien so unmöglich und abominabel wie Polygnot im Holbeinschen Linienholzschnitt oder Euphronios als Miniatur in einer Handschrift der Eneit." Daß diese Bestimmung Poesie und bildende Kunst gleichermaßen einschließt, zeigt, daß Stil hier nicht im rhetorischen Sinne an die Sprache gebunden wird. In der Folge weitet sich das "Raumbild" dann zum "Weltbild".33 Das Nachwort zu Joram etwa definiert 1907 Stil als "die durch nichts von außen her zu erweiternde Begrenzung eines Weltbildes und einer Vorstellungsform" (Prosa I, S. 326). Der Begriff des Stils gerät damit in die Nähe dessen, was der mittlere und späte Nietzsche als 'Perspektive' bezeichnet: 34 die Bemächtigung der Realität durch den Willen in der Erkenntnis. 1906 bezeichnet der Entwurf Weltfragen ein Weltbild als das Resultat der "Abgrenzung und Beurteilung [des] schwankenden Bereiches des Wichtigen und Unwichtigen". Als solches schafft es die Grundlage "einer organischen, geschichtlichen und politischen Weltauffassung, des aus ihm sich ergebenden Weltgefühls und darüber hinaus des eigenen und persönlichen Verhältnisses zur ersten Angelegenheit eines jeden Lebendigen, den Zielen der eigenen Stammesgemeinschaft, der eigenen Nation und des eigenen Staates." (Prosa V, S. lOf.) Die Scheidung des Wichtigen vom Unwichtigen bringt die Wahrnehmung der politischen Welt in ihre je eigene Form. Die Gleichgewichtspolitik der europäischen Mächte vor dem Ersten Weltkrieg verweigert in Borchardts Augen diesen Akt der wertenden Formung, indem sie jedem Staat dieselbe Wichtigkeit zumesse (Prosa V, S. 42): Dies sei "das erste formlose Weltbild, das die Geschichte kennt"; es halte alle Entwicklungen auf, "in denen durch die Geschichte hindurch Staaten- und Völkerbildung bestanden" habe, und wolle das "zur Gestalt Strebende" im konfusen Moment einfrieren. Solche Verweigerung von Gestalt und Form würde Europa "dem ersten besten mehr oder weniger organisierten Barbarenansturme, dem ersten besten Sklavenaufstande in seiner sozialistischen oder seiner anarchistischen Form in die Hände geliefert haben", wenn "die mächtige Geschichte sich nicht schließlich doch plötzlich

32 33

34

Das Gespräch über Formen wurde 1900/01 geschrieben, 1905 publiziert. Nach Grimms Deutschem Wörterbuch zu urteilen, setzt sich die übertragene Wortbedeutung im ausgehenden 19. Jahrhundert durch (14. Bd., I. Abt., 1. T., Leipzig 1955, Sp. 1531f. u. 1553-1555). Zum Wortgebrauch bei Hofmannsthal vgl. Christoph König: Geistige, private Verbündung. Brecht, Nadler, Benjamin und Hugo von Hofmannsthal, in: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910 bis 1925, hrsg. von C. K. u. Eberhard Lämmert, Frankfurt am Main 1993, S. 156-171, hier 156-161. Vgl. Michael Neumann: Unterwegs zu den Inseln des Scheins. Kunstbegriff und literarische Form in der Romantik von Novalis bis Nietzsche, Frankfurt am Main 1991, S. 538549.

Eidos. Borchardt zwischen Croce und Warburg

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und aller Staatsraison zum Trotze entladen hätte". 1906 geschrieben, zeichnet der Text die Reaktion auf den Ausbruch des Weltkriegs bereits deutlich vor. 35 "Form", bzw. die Fähigkeit und Kraft zur Formgebung, ist eine zentrale Kategorie nicht nur für Borchardt. Die Frage, warum nicht der Kommunismus, sondern der Liberalismus die wüstesten Affekte der konservativen Revolutionäre auf sich zog, hat Stefan Breuer 36 mit dem Hinweis auf den Versailler Vertrag beantwortet: 37 der deutsche Liberalismus wurde als Arm und Erfüllungsgehilfe des internationalen Liberalismus wahrgenommen. Aus den von Breuer zusammengestellten Zitaten läßt sich aber noch eine weitere Antwort ablesen: Carl Schmitt macht die Demokratie für Formlosigkeit, Chaos und Anarchie verantwortlich; 38 Oswald Spengler bezeichnet den Liberalismus als Destruktion der hohen Form; Moeller van den Bruck als "Selbstauflösung der Menschheit". 39 Diese Angst vor der Formlosigkeit grassiert unabhängig von Versailles. Sie läßt sich auf die Wahrnehmung dessen zurückführen, was Breuer die 'reflexive Modernisierung' nennt. Die Vorbehalte und Begrenzungen, mit denen die klassische bürgerliche Gesellschaft .während der ersten, "einfachen" Modernisierung die Emanzipation des Einzelnen an "ein als harmonisch gedachtes Ganzes" rückgebunden hatte, wurden nun "ausgehöhlt und aufgezehrt": 40 Der Staat galt nicht länger als historische Inkarnation des Allgemeinen, sondern als bloße Maschine, die bestimmte Aufgaben zu erfüllen hatte; die bürgerliche Gesellschaft nicht mehr als 'Erscheinungswelt des Sittlichen' (Hegel), sondern als höchst unsittliche Welt der Krisen und Zusammenbrüche, deren Einheit sich stets nur in gewaltsamer, katastrophaler Form geltend machte. Die Moral erschien als ein Symptom der Dekadenz (Nietzsche) [usf.]

Keiner übergeordneten Größe wird mehr die Fähigkeit zugetraut, die auseinanderstrebenden Tendenzen ihrer Form zu unterwerfen - daher die konservative Anklage, der Liberalismus erhebe den Egoismus zum einzigen Wert und damit Sinn und Sicherheit zu spenden. So beginnt im ausgehenden 19. Jahrhundert die Angst, die aus dem Konflikt zwischen Form und Chaos aufsteigt, allgemein zu faszinieren, weil sie allgemein betrifft: Nietzsche reagiert mit der Psychologie der Dekadenz, Borchardt mit der absoluten Priorität der Form, Warburg mit der unten zu erläuternden Theorie des distanzierenden "Denkraums". 35 In der Konsequenz dieser Vorstellung beschreibt er 1929 die Katastrophe des Ersten Weltkrieges im Rückblick als Formverlust: als "die Verwandlung des seelischen Aufbaus und des seelischen Klimas der europäischen Landfeste in ein Chaos" (Prosa VI, S. 198). 36 Breuer: Konservative Revolution (Anm. 19), S. 49-54. 37 Ebd., S. 53. 38 Ebd., S. 44. 39 Ebd., S. 51. 40 Ebd., S. 16.

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Borchardts Vorwurf der Formlosigkeit läßt sich auf die von ihm verachtete Demokratie übertragen: die grundsätzliche Gleichberechtigung aller Beteiligten verbietet, zwischen historisch Bedeutsamem und Unbedeutendem zu unterscheiden. In beiden Fällen sieht Borchardt letztlich die Weigerung, überhaupt noch ein Weltbild zu konstituieren. Das aber bedingt in seinen Augen den Abschied von der Bühne der historischen Akteure und damit auch den Abschied von Freiheit und Selbständigkeit als Nation und Staat. 'Freiheit' akzeptiert Borchardt nur als metaphysischen Begriff (Reden, S. 216): der Mensch wird nicht frei geboren, sondern ist zur Freiheit bestimmt. Diese Bestimmung zu erfüllen aber gelingt zu jeder Zeit nur den wenigen Edlen. Die Forderung nach demokratischer Freiheit zielt nicht auf Freie, sondern - mit einem bösen Terminus aus der antiken Sklavenhaltergesellschaft - auf "Freigelassene" (ebd. u.ö.). Sie ist in Borchardts Augen nur ein Etikettenschwindel mit verheerenden Auswirkungen. Diese kategorische Trennung von metaphysischer und demokratischer Freiheit, die sich trotz aller Anglophilie gegen die republikanischen Traditionen des westlichen Europa abschottet, hat ihn dann in den 20er und frühen 30er Jahren in gefährliche Nähe zu Faschisten und Nationalsozialisten gebracht. Freiheit und Selbständigkeit betrachtet Borchardt als Synonyme von Gestaltungskraft. Auch hier ist er ein Schüler Nietzsches, so sehr er diesen Lehrer zu verschweigen und zu verleugnen gesucht hat. Historisch wirksam also ist jene Kraft, die sich und ihre Umgebung ihrer eigenen Form zu unterwerfen strebt. Ins Bewußtsein tritt solche Form als Weltbild. Weltbilder aber werden von Dichtern geschaffen. Borchardt erhebt sie zu Richtern ihrer Gegenwart und Propheten der Zukunft - der Zukunft allerdings nicht, wie sie werden wird, sondern wie sie werden soll. Der Dichter als Prophet ist nicht Augur, sondern moralische Institution, nicht Zeichendeuter, sondern Ideenschöpfer. Ob die Idee, die er dem Weltenlauf entgegensetzt, im Reich der Wirklichkeit zum Erfolg führt, ist demgegenüber sekundär - tatsächlich tritt Borchardt meist auf die Seite des Unterlegenen oder Gescheiterten, macht er sich mit Vorliebe zum Anwalt der "causa victa". Angesichts der llias schreibt er 1944 von "der Konstanz des menschlichen Geistes in aller Poesie aller Zeiten und Länder" (Prosa II, S. 91): "alle Höchststufen aller Poesie aller Zeiten [überzeugen einander] im gleichen Kulturbereiche, durch gemeinsam Menschliches". 41 Solch gemeinsam Menschliches

41

D a ß dieses geraeinsame Menschliche auf die Werke eines gemeinsamen "Kulturbereichs" begrenzt wird, rührt aus einem Eurozentrismus, d e m Borchardt auch sonst u n u m w u n d e n Ausdruck verschafft - der aber zu seiner Zeit ohnehin n o c h nicht das Residuum reaktionärer Intellektueller war weist aber auch jene m o d e r n e n Künste ab, die sich Anregungen von den "Primitiven" Afrikas holen.

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Eidos. Borchardt zwischen Croce und Warburg

ist jedoch nicht in der Statik eines Ewig-Menschlichen zu verstehen, das immer und überall wie von Zeitgenosse zu Zeitgenosse spräche. Jedes W e r k ist wesentlich historisch. 4 2 Die großen W e r k e der Kunst und Literatur enthalten die Bedingungen der Möglichkeit unserer Gegenwart. Die "Zeiten und Menschheitsformen Penthesileas" etwa, so heißt es 1 9 3 5 anläßlich der Lyrik von Edna St. Vincent Millay (Prosa III, S. 4 4 0 ) , 4 3 "sind weder nur mythisch noch nur vergangen. Was nicht unter gleichen und ähnlichen Umständen immer wiederkehren könnte, hat es nie gegeben." Was einmal in der W e l t war, kann immer wiederkehren, doch solche W i e derkehr ist selbst wiederum schöpferisch und also nie pure Wiederholung. Was in diesem Sinne wiederkehrt, ist nicht das klassizistisch Selbstverständliche, sondern das neu zu Vergegenwärtigende. Gleichwohl:

wiederkehren

kann es erst, nachdem es einmal in der W e l t war. 4 4 Die Zeit der Geschichte ist irreversibel. D e r Reichtum der historischen Möglichkeiten wird immer größer. Tatsächlich vermehrt werden diese Möglichkeiten, weil nichts, was einmal geistige F o r m geworden ist, je wieder vergehen kann: "Ein Ideal ist eine ungeheuer lebendige Sache, fast eine lebendigere als eine Realität. Bei einer Realität kann man sich schließlich beruhigen, bei einem Ideal nie." ( 1 9 3 0 ; Prosa V , S. 3 8 7 f . ) Das Ideal ist ewig 4 5 , aber erst, nachdem es zum ersten M a l aus dem K o p f eines Menschen in die W e l t getreten ist. W a s hier in idealistischem Gewand einherkommt, erinnert doch auch an Warburgs K o n zept der kollektiven Erinnerung - ohne daß es freilich Hinweise auf eine Warburg-Kenntnis Borchardts gäbe. Ende 1 9 1 2 kündigt Borchardt für den wiederzubelebenden Hesperus

eine

Abhandlung an, die unter dem Titel Eidos von "Entstehung und Bewahrung

42

Prosa II, S. 92: "Da die Voraussetzungen jedes literarischen Werkes geschichtlicher Natur sind [...]". 43 Daß ausgerechnet Penthesilea hier zum Beispiel dient, ist kein Zufall: Auch die Figur Heinrich von Kleists wollte er in einem Essay von dessen Penthesilea aus aufschließen. Ernst Osterkamp hat das Fragment ediert, kommentiert, dabei auch Auszüge aus Borchardts vermutlich 1920 gehaltenem Penthesilea-Vonrzg mitgeteilt und gezeigt, daß das 'Modell' Penthesilea auch Borchardts Erzählung Der unwürdige Liebhaber zugrundeliegt; in: Kleist-Jahrbuch 1983, S. 7-42. 44 Vgl. etwa über den Zusammenhang von politischen und religiösen Formen das Diktum: "Wie alle Frömmigkeitsformen letzten Endes aus Offenbarung und einmaligem Erlebnis Gottes, so stammen auch alle Konventionen des Denkens letzten Endes von Individuen ab, vor welchen sie einmal nicht dagewesen sind." (Prosa V, S. 325f.) 45 Vgl. auch Prosa I, S. 394: "In den geistigen Wissenschaften [...] sind alle Probleme, die diesen Namen verdienen, ewig, und wird ihr jeweiliger Lösungsstand nicht, wie [in den Naturwissenschaften], durch die letzte und überzeugendste Lösung bestimmt, sondern durch die Summe aller bisherigen Lösungen ohne Unterschied, ihre Proportion zu einander und ihre Geschichte."

170

Michael Neumann

d e s M y t h u s d u r c h b i l d l i c h e , nicht literarische Tradition" h a n d e l n s o l l . 4 6 D e r T i t e l ist a u f s c h l u ß r e i c h für seine S t e l l u n g z w i s c h e n Idealismus u n d G e s c h i c h t e der I m a g i n a t i o n e n : "eidos" ist v o n P i a t o n her e i n S y n o n y m für "idea"; Borc h a r d t übersetzt es k o n s e q u e n t mit "Bild". 47 - D i e A b h a n d l u n g ist n i e e r s c h i e nen; einige Grundgedanken wurden jedoch innerhalb der 1 9 2 0 publizierten48 Schrift z u H o f m a n n s t h a l s Alkestis

skizziert.

In der f r ü h g e s c h i c h t l i c h e n E n t s t e h u n g s z e i t Europas, bei d e n G r i e c h e n , s o d i e T h e s e , w a r das "Bild" das älteste O r g a n seelischer Integration. Aus i h m , n i c h t aus d e m "Wort", entsprang der g r i e c h i s c h e M y t h o s (Prosa II, S. 2 4 0 ) . B o r c h a r d t führt das a m Beispiel der Alkestis aus (ebd., S. 2 3 9 f . ) : Auf dem fernsten Grunde der Erscheinungen steht ein Stück der Sage als ein kleines rätselhaftes Schema von Bild, ein Eidos, eine archaische Gruppe aus zwei Gestalten: ein großer Mann zieht eine Verschleierte nach, das heißt, sie ist wie Tote angezogen, kommt von den Toten oder geht zu ihnen, oder sie tut beides, geht und kehrt zurück, wird hinabgeführt oder hinaufwärts. D i e N a m e n , m i t d e n e n d i e s e s Paar b e l e g t wird, w e c h s e l n v o n L a n d s c h a f t zu L a n d s c h a f t ; d i e G e s c h i c h t e , die d a v o n erzählt w i r d , ist " s c h w i m m e n d u n d v o n e i n e r heiligen Unentschiedenheit". D a s "genaue Bild" aber spricht zu allen: Indem es von einer Todesbefreiung, Befreier und Befreite abbildend, sinnlich Zeugnis gibt, lindert es den Druck des gewissen Endes durch die noch ganz traumhafte Kunde von irgendwo vorhandener Ewigkeit des wiederkehrenden Lebens und bringt der Seele den Moment des Gleichgewichts, in dem sie ein Dämonisches durch ein Dämonischeres aufgehoben weiß. S o l c h e Bilder t a u c h e n in der U r z e i t e n T i e f e , in die k e i n e f o r s c h e n d e W i s s e n s c h a f t h i n u n t e r r e i c h t , aus d e m "Volksgefühl" auf. Ihre Z a h l v e r m e h r t s i c h 4 9 46

Briefe 1907-13, S. 425. In der Übersicht über die veröffentlichten, begonnenen und geplanten Werke, die Borchardt 1923 in Wolf Przygodes Zeitschrift Die Dichtung (2. Bd., 2. H., S. 158f.) publiziert, wird Eidos. Vier Untersuchungen über das Bild im Mythus als eine von Uber Alkestis unabhängige Abhandlung aufgeführt und mit "abgeschlossen" gekennzeichnet. Laut Ulrich O t t ist davon aber "nichts erhalten"; vgl. U. O.: Rudolf Borchardt und die klassische Altertumswissenschaft, in: Rudolf Borchardt 1877- 1945. Referate des Pisaner Colloquiums, hrsg. von Horst Albert Glaser, Frankfurt am Main 1987, S. 295-320, zit. 297 u. 301. 47 1909 heißt es in dem Aufsatz Stefan Georges 'Siebenter Ring': "Mallarmé und George haben bewiesen, daß sie vom Wesen der künstlerischen Idee nicht gemeiner denken als Piaton, nämlich wissen, daß sie mit dem Bilde alles und mit dem Denken weniger als nichts zu tun hat." (Prosa I, S. 267) 48 Laut Borchardt war diese Schrift 1910 bereits abgeschlossen (Prosa II, S. 536f.). 49 Borchardt gibt noch einige Beispiele (Prosa II, S. 240): "Ein riesiger Mann wandert und trägt oder führt ein Knäblein; Großmutter, Mutter und ein Knabe. Eine Großmutter oder Mutter spricht dem Säugling im Arme zu; Starke erdrosseln das Scheusal. Eine Verschleierte geht vor dem Manne, der den Hals nach ihr dreht. Und nun haben Pferde Flügel, ist ein Gewaltiger im Kreuz an einen Roßleib angewachsen, und so ins Unendliche weiter".

Eidos. Borchardt zwischen Croce und Warburg

171

teils aus eigenem, teils durch K o n t a k t mit a n d e r e n V ö l k e r n . Schier ins U n e n d liche w ä c h s t ein "Schatz v o n Bildformel, alldeutigen S c h e m a t e n , dunklen J u x t a p o s i t i o n e n , d e r e n W i r k u n g auf die f u r c h t b a r e Empfindlichkeit n o c h ganz jungfräulicher P e r z e p t i o n s o r g a n e ganz elementarisch gewesen sein m u ß , u n d v o n u n s e r n seit der Kindheit s t u m p f g e h a u e n e n Sinnen w e d e r

überschätzt

n o c h irgend ermessen w e r d e n kann." (Prosa II, S. 2 3 9 f . ) Als Gegenwartskritik variieren diese Sätze H e r d e r s V o r w u r f an eine M o d e r n e , d e r e n Verzettelung, Verflachung und Abstraktion den K i n d e r n und Jugendlichen

starke

Eindrücke

und

damit

die H e r a u s f o r d e r u n g

e n t s c h i e d e n e n V e r a r b e i t u n g v o r e n t h ä l t , aus d e r nur originale

zu

jener

Individualität

sich entwickeln k a n n . 5 0 Das R e d e n v o m "Volksgefühl" weist zurück a u f d e n m ä r c h e n - und m y t h e n z e u g e n d e n "Volksgeist" r o m a n t i s c h e n

Eingedenkens.51

D o c h B o r c h a r d t s R e f l e x i o n e n sind viel dichter in seine eigene Z e i t v e r f l o c h ten als solches Z i t i e r e n der T r a d i t i o n v e r m u t e n läßt. Die u r t ü m l i c h e n Bild-Schemata w e r d e n zunächst als Bilder im w ö r t l i c h e n Sinne t r a d i e r t : als gemalte o d e r plastische Kleinkunstwerke an H a u s g e r ä t und Ringsiegel. H i e r dürfte B o r c h a r d t a n die T h e o r i e der "bildlichen T r a d i t i o n " v o n G e o r g L o e s c h c k e anschließen 5 2 , bei d e m e r in B o n n A r c h ä o l o g i e studiert hat. L o e s c h c k e hatte diese T h e o r i e w ä h r e n d seiner D o r p a t e r Z e i t e n t w i c k e l t und 50

51

52 53

1890

in e i n e m Aufsatz z u s a m m e n g e f a ß t . 5 3

Darin geht e r v o n

einer

Siehe Herder: Journal meiner Reise im Jahr 1769, in: Werke, hrsg. von Wolfgang Proß, Bd. I, München, Wien 1984, S. 355-473, hier 459-463. Dazu Michael Neumann: "die starken Bande". Eine konservative Theorie aus dem Geiste der Aufklärung, in: Nationen und Kulturen. Zum 250. Geburtstag Gottfried Herders, hrsg. von R. Otto, Würzburg 1996, S. 249-260. Vgl. in der Anthologie Ewiger Vorrat deutscher Poesie von 1926 (Prosa III, S. 327): nicht "eine Reihe deutsch dichtender Autoren" solle vorgestellt werden, "sondern das poetische Vermögen der Volksgesamtheit, in der Gesamtheit latent und diffus, in Individuen von geringer oder zerstreuter innerer Energie dem heterogenen Stoffe nur angeflogen, in den wortführenden begnadeten Seelen Botschafterin des Allen gemeinsamen Erlebnisses, der von Allen her wehenden Sehnsucht, ein Akt und eine Vollendung." Zur Tragik der Moderne gehört es, daß all solche Kontinuität des "Volkes" abgerissen ist: Reden, S. 246-248 (1927). Ich danke Thomas Poiss, der mich auf Loeschckes Bild-Theorie aufmerksam gemacht hat. Georg Loeschcke: Bildliche Tradition, in: Bonner Studien. Aufsätze aus der Altertumswissenschaft. Reinhard Kekulé zur Erinnerung an seine Lehrtätigkeit in Bonn gewidmet von seinen Schülern, Berlin 1890, S. 248-260. - Loeschcke, der 1873-76 in Bonn, unter anderem bei Kekulé, J. Overbeck, Usener und Bücheler, studiert hatte, lehrte 1879 bis 1889 in Dorpat. 1889 wurde er Kekulés Nachfolger auf dem Bonner Lehrstuhl und dort "der vielleicht erfolgreichste archäologische Hochschullehrer seiner Zeit"; vgl. Adolf Borbein: Klassische Archäologie in Berlin, in: Berlin und die Antike, Bd. 2, hrsg. von Willmuth Arenhövel u. Christa Schreiber, Berlin 1979, S. 99-150, zit. S. 130. Wolf-R. Megow bezeichnet Loeschckes Bild-Theorie als einen methodischen Ansatz, "der der archäologisch-kunstwissenschaftlichen Forschung eine neue Dimension erschloß." In: Archäologenbildnisse. Porträts und Kurzbiographien von Klassischen Archäologen deutscher Sprache, hrsg. von Reinhard Lullies u. Wolfgang Schiering, Mainz 1988, S. 106f.

172

Michael Neumann

Darstellung des Zweikampfs zwischen Achilles und Penthesilea auf einem schwarzfigurigen Vasenbild aus54, in dem J. Overbeck "mehr eine schöne Künstlerphantasie als die Reproduktion der Poesie" hatte erkennen wollen. Loeschcke zeigt nun, "daß jene Künstlerphantasie keine 'freie' war, sondern gebunden durch bildliche Tradition, dass ihre Tätigkeit nur darin bestand, ein vorhandenes Schema auf den Zweikampf des Peliden mit der Amazone anzuwenden". 55 Dazu führt er eine lange Reihe von "Anwendungen und Umbildungen des Schemas"56 an. Der symmetrische Grundaufbau der gegeneinander aufbäumenden Pferde ist weit verbreitet; er findet sich auch etwa in dem "assyrischen Schema tierbändigender Gottheiten" wieder. Loeschcke vermutet den Grund dieser Ubereinstimmung jedoch nicht in direkter Abhängigkeit, sondern in der gemeinsamen Herkunft aus der Webtechnik, "für die es bequem ist, dieselben Figuren im Gegensinn zu wiederholen und wappenartig zusammenzustellen." 57 Für das älteste Exemplar seiner Vergleichsreihe, das runde Innenbild einer Schale, macht er den Einfluß griechischer Siegelsteine und Gemmen wahrscheinlich. 58 Gewebe, Vasen, runde Siegel und Gemmen: hier ist schon versammelt, was Borchardt dann "Geräte" und "Ringsiegel" nennen wird (Prosa II, S. 240). Bei den ältesten Anwendungen des Schemas ist die mythologische Identität der Figuren noch offen: "jederzeit ist diese Komposition wie eine Form angesehen worden, in die jeder einen neuen Inhalt giessen konnte, wie eine Hieroglyphe, die sich in verschiedenartigster Weise deuten Hess."59 Als Abfolge von Schema zu mythologischem Inhalt ist hier detailliert vorgebildet, was Borchardt als den Weg vom Bild zum Mythos darstellt. In zwei wesentlichen Punkten allerdings weicht Borchardt von seinem Lehrer ab. Loeschcke ist weit davon entfernt, eine Priorität des Bildes vor dem erzählten Mythos anzunehmen; er arbeitet nur die Eigenständigkeit bildnerischer FormTraditionen neben den Einflüssen des erzählten Mythos heraus. 60 Und er läßt nur eine rein formale Herkunft dieser Schemata aus technischen Voraussetzungen und Erfordernissen von Webkunst, Steinschnitt und Vasenbildum-

54 Borchardts Fixierung auf das 'Bild' der Penthesilea (vgl. Anm. 43) dürfte diesem Aufsatz ein zusätzliches Interesse gesichert haben. 55 Loeschcke: Bildliche Tradition, (Anm. 53), S. 249. 56 Ebd., S. 250. 57 Ebd., S. 249. 58 Ebd., S. 253f. 59 Ebd., S. 254. Als Beispiele weiterer solcher Schemata nennt Loeschcke (S. 253, Anm. 12): Herakles mit dem Meergreis ringend; sitzender Mann, auf den ein Adler zufliegt; umblikkender Kentaur auf dem Stein; frauenraubender Kentaur. 60 So etwa ebd., S. 258.

Eidos. Borchardt zwischen Croce und Warburg

173

rissen gelten: "Es war nicht eine die Phantasie mächtig beschäftigende Vorstellung, die unaufhaltsam zur Darstellung drängte, sondern die formalen Gesichtspunkte einer dekorativen Kunst wirkten noch in erster Linie bei Schöpfung dieses Typus." 61 Hier grenzt er sich von einer zeitgenössischen BildTheorie ab, auf die ich gegen Ende zu sprechen kommen werde. Neben das gemalte oder plastische tritt bei Borchardt das "lebendige Bild": der Ritus. Er folgt damit der von der Cambridger anthropologischen Schule um Jane Harrison und William Robertson Smith proklamierten Priorität des Rituals vor dem Mythos, die wohl auch auf seinen Bonner Lehrer Usener gewirkt h a t " , relativiert seinerseits aber das Ritual zum Sonderfall des Eidos. Die Vorstellung von den dämonischen Kräften wiederum, deren unheimlich andrängende Vielfalt im Eidos zur Anschauung integriert wird, bringt seine Theorie in eine eigentümliche Nähe zu den Überlegungen, denen zeitgleich Aby Warburg im fernen Hamburg nachhängt. Die Integration heterogener Wahrnehmungen, Empfindungen und Ängste zum anschaulichen Bild ist der erste Schritt zum Verstehen von Leben und Welt. Doch wenn im Bild das Unsichtbare anschaulich wird, verliert es damit noch nicht seine unmittelbar-dämonische Kraft: der Mensch vor dem Bild begreift nicht eigentlich, sondern wird ergriffen. Von dieser Verzauberung erlösen ihn erst die Dichter: "Die Phantasie des großen Volkes entzog sich der Bannung durch das augenfällig starre Bild deutend, erwehrte sich der Fülle des zuströmenden sinnlichen Eindrucks durch das ordnende Wort". (Prosa II, S. 240f.) Das Eidos wird zum Kern der mythischen Erzählung, welche die Fülle des Eindrucks in die Vielzahl der Geschichten auseinanderlegt und den dämonischen Zauber durch rationale Deutungen depotenziert. Das rätselhafte Paar wird nun zu Semele und Dionysos, zu Alkestis und Herakles und wie die mythologischen Paare sonst noch heißen. Die poetische Form bringt den dämonischen Kern auf Distanz und entwirft so im Wechselspiel ihrer Erzählungen das welthistorisch neue Bild des griechischen Menschen. So geht der Weg immer "vom Vielfachen über das Einfache ins Mehrfache, vom Alldeutigen über das Eindeutige ins Abwandelnde, dem Einen zu, das alle Abwandlung wieder erbt": "ewig nach Integration, nie nach Differenzierung" (Prosa II, S. 240). Differenzierung erscheint nur als Mittel auf dem Weg

61 Ebd., S. 254. 62 Siehe Hermann Usener: Götternamen. Versuch einer Lehre von der religiösen Begriffsbildung [1896], 3. Aufl., Frankfurt am Main 1948, S. 254f. - Dazu Walter Burkert: Griechische Mythologie und die Geistesgeschichte der Moderne, in: Les études classiques aux XIXe et XX« siècles: leur place dans 1' histoire des idées, hrsg. von Willem den Boer, Genf 1979, S. 159-207, bes. 172-177, und Roland Kany (Anm. 128), S. 74.

174

Michael Neumann

zu i m m e r u m f a s s e n d e r e r Integration, 6 3 v o n mythischen Einzelbildern zu W e l t bildern, v o m B a n n zur Bemächtigung. W e n n B o r c h a r d t eine M ö g l i c h k e i t v o n F o r t s c h r i t t in d e r G e s c h i c h t e sieht, so in dieser R i c h t u n g : in d e r Integration i m m e r r e i c h e r e r Vielfalt in ein i m m e r g r ö ß e r e s Ganzes. S o l c h e Integration freilich m u ß geleistet w e r d e n ; sie folgt keinerlei g e s e t z m ä ß i g e m G a n g

der

Geschichte. Die M e n s c h e n , w e l c h e die Dichter aus d e m B a n n der N a t u r befreit haben, bedürfen a u c h w e i t e r h i n solcher Bilder, u m nicht d e m C h a o s der W e l t zu verfallen. D o c h d e r e n W i r k u n g ist ambivalent. W o h l o r d n e t in ihnen der D i c h t e r zur W e l t , w a s sonst als C h a o s ängstigen m ü ß t e . D o c h indem so das C h a o s seine b a n n e n d e M a c h t verliert, w a n d e r t etwas v o n dieser M a c h t in die Bilder ein. B o r c h a r d t spricht geradezu v o n e i n e m ' T r i e b e der

Unterwerfung

u n t e r das Bild" ( P r o s a V , S. 4 9 6 ) . M a n kann an seinen Schriften ablesen, d a ß dies für ihn nicht nur ein t r e m e n d u m , s o n d e r n a u c h ein fascinosum w a r . Im übrigen b e w e g t B o r c h a r d t sich auch hier auf zeitgenössisch aktuellen B a h n e n ; e r i n n e r t sei nur an M a x W e b e r s Begriff des magischen C h a r i s m a 6 4 und an 63 Vgl. Prosa III, S. 72: "Denn nicht Analyse und Synthese, wie gemeinhin kontrastiert wird, Differentiation und Integration sind die Antinomien der groß angesehenen Geschichte des menschlichen Geistes." - Die Begriffe 'Integration', von Herbert Spencer eingeführt und von Carl Schmitt übernommen, und 'Differenzierung', im Gegenzug von Otto Hintze herausgestellt, werden in der zeitgenössischen Staatstheorie heftig diskutiert; siehe Otto Hintze: Soziologie und Geschichte. Gesammelte Abhandlungen zur Soziologie, Politik und Theorie der Geschichte, hrsg. von Gerhard Oestreich, 2. Aufl., Göttingen 1964, S. 232-238; ob Borchardt hiervon Kenntnis genommen hat, ist mir nicht bekannt. 64 Wirtschaft und Gesellschaft, hrsg. von Johannes Winckelmann, 5. Aufl., Tübingen 1972, 1980, S. 245ff. u.ö. Siehe dazu Stefan Breuer: Max Webers Herrschaftssoziologie, Frankfurt am Main 1991, S. 33-67 u. 215-221, und ders.: Bürokratie und Charisma. Zur politischen Soziologie Max Webers, Darmstadt 1994, bes. S. 144-175. Der gemeinsame Ausgangspunkt für Borchardt und Weber (wie für Warburg) mag auch hier Nietzsche gewesen sein, den Wilhelm Hennis (Max Webers Fragestellung. Studien zur Biographie des Werks, Tübingen 1987, S. 167-191, bes. 179f.) als den entscheidenden Anreger ausgemacht hat für Webers lebenslang zentrale Frage nach dem Wert der unterschiedlichen politischen und wirtschaftlichen Ordnungen und Kräfte für den durch sie geformten Menschen. - Für den Anspruch des Dichters auf Charisma bot Stefan George reichliches Anschauungsmaterial: vgl. Wirtschaft und Gesellschaft, S. 142, und Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik, 2. Aufl., hrsg. von Marianne Weber, Tübingen 1988, S. 446 (wo der George-Kreis als Beispiel moderner Sektenbildung neben Sigmund Freud gerückt wird); ferner Marianne Weber: Max Weber. Ein Lebensbild, München 1989, S. 463-472; dazu Breuer, Bürokratie, S. 144-161; ders.: Das Syndikat der Seelen. Stefan George und sein Kreis, in: Heidelberg im Schnittpunkt intellektueller Kreise, hrsg. von Hubert Treiber und Karol Sauerland, Opladen 1995, S. 328-375, und Edith Weiller: Max Weber und die literarische Moderne, Stuttgart 1994, S. 61-71. Anläßlich der GeorgeKritik in Borchardts Intermezzo bekannte Weber, dem Kritiker "in manchem näher [zu stehen] als seinen Gegnern", wandte sich allerdings scharf gegen den Stil der Borchardt'schen Polemik (Marianne Weber, S. 467f.). - Borchardt hat den Begriff des Charisma übrigens auch verwendet: Prosa V, S. 332.

175

Eidos. Borchardt zwischen Croce und Warburg

Walter Benjamins Spekulationen zum kultischen Charakter des auratischen Kunstwerks 65 . Um Borchardts 'Eidos' gegen ähnlich klingende Formulierungen abzugrenzen, sei auf Jacob Burckhardts Bestimmung von Kunst und Poesie in den Weltgeschichtlichen

Betrachtungen66

zurückgegriffen: "Aus Welt, Zeit und

Natur sammeln Kunst und Poesie allgültige, allverständliche Bilder, die das einzig irdisch Bleibende sind, eine zweite ideale Schöpfung, der bestimmten einzelnen Zeitlichkeit enthoben, irdisch-unsterblich, eine Sprache für alle Nationen." Dies ist eine idealistische Konzeption: Sie zielt auf eine rein geistige, von allen irdischen Schlacken befreite Kommunikation, die die Jahrhunderte und Jahrtausende als Kontinuität 67 übergreift und sich so, in ständiger Bereicherung der Menschheit, dem geschichtlichen Wandel enthebt. Ahnliches kann man bei Croce lesen. 68 Indem Borchardt auf der Ewigkeit jeder geistgeborenen Form beharrt, will er sich an die Tradition dieses Idealismus rückbinden. Doch sein Konzept zielt nicht auf zeitenthobene Kontinuität, sondern auf geschichtliche Dramatik. Ein Bild wird geschaffen, um Angst zu bannen, um Chaos zu ordnen; und es wird aufgenommen, um an seiner bannenden und ordnenden

Macht

teilzuhaben. Die visionären Bilder der Dichter sollen die Geschichte nicht transzendieren, sie sollen Geschichte machen.

65

Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen

Reproduzierbarkeit

( 1 9 3 5 / 3 6 ) , in: Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhausen Bd. I, S. 4 3 1 - 5 0 8 . Siehe dazu Birgit Recki: Aura und A u t o n o m i e . Z u r Subjektivität der Kunst bei Walter Benjamin und T h e o d o r W. Adorno, Würzburg 1988, bes. S. 13-78. — Zu Benjamins prekärem Verhältnis zu Borchardt siehe Ernst

Osterkamp:

Näherungen. Rudolf Borchardt im W e r k Walter Benjamins, in: G R M 31, 1981, S. 2 0 3 2 3 3 . - Die Zweifel, die Recki (S. 21f.) an Benjamins T h e s e von der Zerstörung der Aura des Kunstwerks durch seine Reproduzierbarkeit anmeldet, bestätigt H o r s t Bredekamp am historischen Material, in: D e r simulierte Benjamin. Mittelalterliche Bemerkungen zu seiner Aktualität, in: Frankfurter Schule und Kunstgeschichte, hrsg. von Andreas Berndt u.a., Berlin 1992, S. 117-140. Benjamins Behauptung, daß im Film kraft

Apparatur,

Schnittechnik etc. erstmals auch für die Masse G e n u ß und kritische Distanz gegenüber dem Kunstwerk zusammenfallen, könnte einen arglosen Leser auf den Gedanken bringen, Benjamin habe nie in einem Kino gesessen. Gleichwohl rückt ihn sein Ziel, eine historische Theorie von der Wirkung der Bildmedien zu entwickeln, unmittelbar neben Warburg, um dessen Kreis er sich nicht zufällig, wenn auch erfolglos, bemüht hat; siehe Wolfgang Kemp: Walter Benjamin und A b y Warburg, in: Kritische Berichte 3, 1975, S. 525. Webers Theorie des Charisma rechnet Recki (S. 58f.) unter die Einflüsse auf Benjamins Begriff der Aura. 66

J a c o b Burckhardt: Gesammelte Werke, Bd. IV, Basel 1970, S. 45.

67

Ebd., S. 6: "Und nun gedenken wir auch der G r ö ß e unserer Verpflichtung gegen die V e r gangenheit als ein geistiges Kontinuum, welches mit zu unserem höchsten geistigen B e sitz gehört."

68

Z . B . Historiographie, S. 71f. Vgl. auch H . W h i t e (Anm. 17), S. 4 8 4 - 5 5 2 , bes. 5 0 5 - 5 0 8 .

176

Michael Neumann

Nicht zeitenthobene Idealität also macht ein Bild zum Eidos, sondern seine psychologische und historische Funktion. Das verbindet Borchardt mit dem "Bildhistoriker" 69 Warburg und stellt beide in den Zusammenhang der zeitgenössischen Tendenz zur Sozialpsychologie. Zwar hat Borchardt das Wort 'Psychologie' immer abgelehnt 70 - im Ton der Verachtung, wenn er gelegentlich Wilhelm Wundt erwähnt (Prosa I, S. 106, 388), mit blankem Haß, wenn Sigmund Freud in Sicht kommt. Den Namen des Begründers der Psychoanalyse hat er seiner Feder nie zugemutet: er schrieb vom "Traumdeuter, der aus der entblößten Scham weissagt, und den Wurzeln des Selbstbewußtseins, um sie vorgeblich zu stärken, dort nachwühlt, wo der Wurm der es sonst zernagt, wenigstens von der Zerstörung leben muß" (Prosa IV, S. 10). Aber dennoch hat er als den Gegenstand der Geschichte den "Aufbau der Seele" bezeichnet (Prosa III, S. 337); hat vom "Formschicksal der menschlichen Seele" gesprochen (ebd., S. 76), von der "Struktur der italienischen Seelenentfaltung" (ebd., S. 96), vom "geistesgeschichtlichen Aufbau der europäischen Seelenform" (ebd., S. 98f.), usf. Seine Reflexionen über die psychische Integrations-Funktion der poetischen Bilder zeigen, daß seine historischen Studien auf eine historische Psychologie zutrieben - wie sehr er den Begriff auch perhorresziert hätte. Borchardt selbst hat sich immer als den einsamen Erben des großen Jahrhunderts deutscher Wissenschaft zwischen Herder und Mommsen betrachtet wissen wollen und damit stillschweigend eine einsam-singuläre Position beansprucht. Seine meistzitierten Gewährsmänner sind Herder und die Brüder Schlegel, Hegel und Wilhelm von Humboldt, Carl Ritter und Jacob Grimm, Karl Lachmann und August Boeckh. Auf seine Zeitgenossen blickt er mit abwehrender Distanz. Lamprecht und Breysig werden nur beiläufig erwähnt; Dilthey zwar mit hohem Respekt, aber ebenfalls nur beiläufig 71 , obwohl sein Begriff des Erlebnisses zu den Hauptbegriffen in Borchardts Historik zählt 72 ; Warburgs Name fällt nur einmal, wie aus zweiter Hand (Prosa VI, S. 206). Tagebucheintrag Warburgs vom 12.2.1917; zitiert nach Michael Diers: Von der Ideologie- zur Ikonologiekritik. Die Warburg-Renaissancen, in: Frankfurter Schule (Anm. 65), S. 19-39, hierS. 30. 70 Auch Croce übrigens legte Wert darauf, daß an der Intuition des Künstlers das Unbewußte keinerlei Anteil habe; Aesthetik (Anm. 5), S. 17. 71 Prosa I, S. 307f., und Brief an Hofmannsthal vom 22.8.1935, Borchardt/Hofmannsthal, S. 391. 72 Siehe Prosa I, S. 308; vgl. ferner Prosa II, S. 69f.: "Es gibt kein absolutes Tun. Jedes Tun ist das Attribut eines Tuenden. Es gibt kein absolutes Gedicht und nicht einmal einen absoluten Vers: er ist der Ausdruck eines Gedichtmachers oder Versmachers, sagen wir eines Dichters. Es gibt kein absolutes Buch. Es ist das Produkt einer Person, [...] und ehe ich diese Person nicht kenne, [...] das heißt Geschichte forsche und Geschichte schreibe, bricht keine Reagenzkraft, kein überführendes Kreuzverhör konfrontierter Widersprü-

Eidos. Borchardt zwischen Croce und Warburg

177

U n d d o c h hat s c h o n Karl L a m p r e c h t die Kollektiv- o d e r Sozialpsychologie zur "Grundlage trachtete

die

aller Geschichtswissenschaft"

psychologische

Erkenntnis

erhoben.73

als das Ziel

K u r t Breysig

seiner

be-

Universalge-

s c h i c h t e . 7 4 Gustav v o n S c h m o l l e r erklärte die Psychologie als d e n "Schlüssel [...] zur N a t i o n a l ö k o n o m i e . " 7 5 O t t o H i n t z e v e r b a n d einen s t r u k t u r g e s c h i c h t lichen Ansatz m i t sozialpsychologischen F r a g e s t e l l u n g e n . 7 6 1 8 9 8 Georg

Steinhausen

rückwirkend sogar J a c o b

Burckhardt,

reklamierte

Gustav

Freytag

und W i l h e l m H e i n r i c h Riehl für die Sozialpsychologie. 7 7 B u r c k h a r d t

hätte

sich in dieser U m g e b u n g vielleicht nicht sehr w o h l gefühlt. Riehl w a r e h e r von

der

romantischen

Vorstellung

des

'Volksgeistes'

geprägt.

Allerdings

k ö n n t e m a n g e r a d e a n B o r c h a r d t s Schriften studieren, wie fließend die U b e r gänge

waren

zwischen

dem

mitgeschleppten

Volksgeist-Begriff

und

dem

Begriff der Volksseele, der die n e u e r e n A n s p r ü c h e einer Kollektiv-Psychologie a u f n e h m e n k o n n t e . 7 8 In F r a n k r e i c h g r ü n d e t e H e n r i Berr 1 9 0 0 die Revue

de Synthèse

Historique

als F o r u m einer interdisziplinären Geschichtswissenschaft mit d e m ausdrücklichen Ziel, zu einer "'historischen' o d e r 'kollektiven' Psychologie" v o r z u s t o ß e n . 7 9 Emile D ü r k h e i m baute die Soziologie auf den Begriff des "Kollektiv-

73 74 75

76

che, kein Schluß ex silentio oder e temeritate die Siegel auch des scheinbar plansten Buches." - Zum Begriff und Stellenwert der Psychologie innerhalb von Diltheys Geisteswissenschaften siehe Rudolf A. Makkreel: Wilhelm Dilthey and the Neo-Kantians. The Distinctions of the 'Geisteswissenschaften' and the 'Kulturwissenschaften', in: Journal of the History of Philosophy 7, 1969, S. 423-440. Karl Lamprecht: Was ist Kulturgeschichte?, in: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, N F 1, 1896-97, S. 75-145, hier S. 77. Kurt Breysig: Kulturgeschichte der Neuzeit, 1. Bd., Berlin 1900, S. 31 f. Gustav von Schmoller: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre [1900], 3. Aufl., Leipzig 1908, S. 108: Die Psychologie ist der "Schlüssel zu allen Geisteswissenschaften und also auch zur Nationalökonomie." Die "Interessen der Arbeiter und Unternehmer [...] sind keine objektiv feststehenden Größen: sie sind massenpsychologische Erscheinungen [...]". Otto Hintze: Die Schweizer Stickereiindustrie und ihre Organisation, in: Schmollers Jahrbuch 18, 1894, S. 221-269, hier S. 250. Bei mancher Kritik im Detail stimmte er doch mit Lamprecht darin überein, "daß die historische Wissenschaft auf die breite Basis einer möglichst in die Tiefe reichenden sozialpsychischen Forschung gesetzt werden muß." Otto Hintze: Uber individualistische und kollektivistische Geschichtsauffassung, 1897, in: ders.: Soziologie (Anm. 63), S. 315-322, hier S. 321. An diesem grundsätzlichen Interesse an den "sozialpsychischen Zuständen" und "Prozessen" hat er auch später festgehalten; siehe etwa 1929 die Auseinandersetzung mit Sombart: ebd., S. 374-452, hier S. 388 u. 430.

77 Neue Jahrbücher für das klassische Altertum, Geschichte und Litteratur 1, 1898, S. 454: Sie alle pflegten "die Erforschung der 'Geschichte der Volksseele'" und "also die Erforschung eines psychischen Gesamtlebens im nationalen Rahmen". 78 Vgl. Otto Hintze: Soziologie (Anm. 63), S. 316f. 79 Peter Burke: Offene Geschichte. Die Schule der Annales, Berlin 1991, S. 15. - In der ersten Nummer der Revue stellte auch Karl Lamprecht seinen Ansatz vor; siehe Claudia

Michael Neumann

178

B e w u ß t s e i n s " ( c o n s c i e n c e collective) u n d b e z e i c h n e t e sie 1 9 0 8 als "Psychol o g i e sui generis". 8 0 1 9 0 9 forderte S o m b a r t , "alle V o r g ä n g e im B e r e i c h d e r M e n s c h e n g e s c h i c h t e seelisch zu motivieren". 8 1 M a r c B l o c h u n d L u c i e n F e b v r e n u t z t e n , w i e Peter Burke gezeigt hat 8 2 , s p ä t e s t e n s seit d e n 2 0 e r J a h r e n d i e Möglichkeiten der Kollektivpsychologie.83 1 9 2 9 widmete Aby Warburg seine Kulturwissenschaftliche

Bibliothek

"einer

historisch-psychologischen

Aus-

d r u c k s k u n d e " 8 4 - w o m i t wir w i e d e r am A u s g a n g s p u n k t unserer R u n d r e i s e zur h i s t o r i s c h e n P s y c h o l o g i e a n g e k o m m e n sind. D i e s e R u n d r e i s e hatte w e d e r sys t e m a t i s c h e n A n s p r u c h n o c h den E h r g e i z n a c h V o l l s t ä n d i g k e i t , aber sie m a g d o c h v o r A u g e n g e f ü h r t h a b e n , d a ß B o r c h a r d t s e i n e E i n s a m k e i t auf r e c h t g e d r ä n g t e m Platz zu b e h a u p t e n hatte. 8 5

80 81 82 83

84

85

Honegger, in: M. Bloch, F. Braudel, L. Febvre u.a.: Schrift und Materie der Geschichte. Vorschläge zur systematischen Aneignung historischer Prozesse, hrsg. von C.H., Frankfurt am Main 1977, S. 38, Anm. 6. 'Toute la sociologie est une psychologie, mais une psychologie sui generis." Emile Dürkheim: Remarques sur la méthode en sociologie, in: ders.: Textes, Bd. I, Paris 1975, S. 59. Werner Sombart: Das Lebenswerk von Karl Marx, Jena 1909, S. 40. Burke: Offene Geschichte (Anm. 79), S. 21-24. In ihren frühen Straßburger Jahren hielten die Gründerväter der Annales engen Kontakt zu Maurice Halbwachs, der 1925 den Begriff der mémoire collective in die Soziologie einführte, und zu Charles Blondel, der 1927 eine Introduction à la psychologie collective publizierte. Blochs Rois thaumaturges arbeitete 1924 mit der Vorstellung der "conscience collective" (Paris 1961, S. 86) und zielte auf eine Art historischer Religionspsychologie (ebd., S 19): "il ne suffit pas non plus d'analyser dans l'abstrait ou de chercher à dégager chez quelques grands théoriciens les concepts d'absolutisme ou de droit divin. Il faut encore pénétrer les croyances et les fables qui fleurirent autour des maisons princières." Noch in der Apologie der Geschichte heißt es: "Die historischen Tatsachen sind wesentlich psychische Tatsachen." München 1985, S. 147; siehe auch Ulrich Raulff: Parallel gelesen. Die Schriften von Aby Warburg und Marc Bloch zwischen 1914 und 1924, in: Akten (Anm. 117), S. 167-178. Aby Warburg: Ausgewählte Schriften und Würdigungen, hrsg. von Dieter Wuttke, 3. Aufl., Baden-Baden 1992, S. 13 u. 307; vgl. ebd., S. 185: Das Material der Kunstgeschichte soll der "noch ungeschriebenen 'historischen Psychologie des menschlichen Ausdrucks' zur Verfügung" gestellt werden. Vgl. Peter Burke, der die 'historische Psychologie' als den gemeinsamen Nenner dreier ansonsten recht unterschiedlicher Richtungen des beginnenden 20. Jahrhunderts bezeichnet: der Dürkheim-Nachfolge samt Lévy-Bruhl und Marc Bloch, der Cambridger Anthropologen um Jane Harrison und der deutschen Gruppen um Warburg in Hamburg sowie um Wundt und Lamprecht in Leipzig; Peter Burke: Aby Warburg as Historical Anthropologist, in: Akten (Anm. 117), S. 39-44. Felix Gilbert weist darauf hin, in welchem Ausmaß der Rückgriff auf psychologische Fragestellungen Warburg mit den Heterodoxen der europäischen Historikerzunft verband; Felix Gilbert: From Art History to the History of Civilization. Gombrich's Biography of Aby Warburg, in: The Journal of Modern History, March-December 1972, S. 381-391, hier 387f. Diesen Heterodoxen erweist sich auch Borchardt als zugehörig.

Eidos. Borchardt zwischen Croce und Warburg

179

Freilich t r e n n t ihn v o n den g e n a n n t e n A u t o r e n sein B e s t e h e n a u f d e r Intuition. H i e r gibt es Parallelen vor allem im G e o r g e - K r e i s . 1 9 3 0 teilte E r n s t K a n t o r o w i c z der erstaunten V e r s a m m l u n g d e u t s c h e r H i s t o r i k e r mit, d a ß er seine - wie alle w a h r e - Geschichtsschreibung als Kunst b e t r a c h t e und zur deutschen

Nationalliteratur

rechne86;

Geschichtsschreibung

habe

nicht

zu

beweisen und zu u n t e r s u c h e n , sondern Bilder zu g e b e n und zu e r z ä h l e n . 8 7 S c h o n 1 9 1 8 hatte E r n s t B e r t r a m Geschichtsschreibung als "tätige Bildschaffung" b e s t i m m t . 8 8 1 9 2 1 nannte F r i e d r i c h G u n d o l f den w a h r e n

historischen

86 Ernst Kantorowicz: Grenzen, Möglichkeiten und Aufgaben der Darstellung mittelalterlicher Geschichte, hrsg. von Eckhart Grünewald, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 50, 1994, S. 104-125, hier S. 107. Vgl. dazu auch Kantorowicz' "Mythenschau", in: HZ 141, 1930, S. 457-471, bes. 461f. u. 471. 87 Ebd., S. 105, 111, 112f. und passim. Seine größte Nähe zu Borchardt erreicht Kantorowicz, wenn er darauf besteht, daß zum "vollständigen Bild der Vergangenheit" nicht nur gehört, "was war," sondern auch, "wie etwas gesehen wurde" (S. 117): "Gerade in den Legenden und Mythen verhüllt sich immer ein sonst Unsagbares" (S. 119). - Die französische Mentalitätsgeschichte hat darin einen verwandten Ansatz entdeckt: "une histoire de la psychologie collective", so Alphonse Dupront, "doit mettre en évidence la motivation de 1' acte collectif, les pulsions, les habitudes, les idées-forces, les représentations conscientes, les attentes eschatologiques, ce qu'il y a de conformisme mental, d1 habitudes de chancellerie ou d'une société dans les stipulations d'un traité, ou comme le font avec tant de clarté les recherches des professeurs Schramm et Kantorowicz, les images sacrales de l'autorité dans les formules de la liturgie ou l'iconographie des rois." Alphonse Dupront: Problèmes et méthodes d'une histoire de la psychologie collective, in: Annales. Economies Sociétés Civilisations 16, 1961, S. 3-11, hier S. 7. Dazu Lutz Raphael: Die Erben von Bloch und Febvre. i4nna/es-Geschichtsschreibung und nouvelle histoire in Frankreich 1945-1980, Stuttgart 1994, S. 343: So "gelangten mit mehr als dreißigjähriger Verspätung Denkmodelle aus Kunstwissenschaft und Psychoanalyse in den Denkhorizont französischer Mentalitätengeschichte: Dupronts Modell war jenseits aller modischen Anleihen beim Diskurs der zeitgenössischen Annales an einer historischen Phänomenologie tiefenpsychologisch relevanter Symbole und Verhaltensmuster interessiert, über die Männer wie A. Warburg, C.G. Jung und S. Freud geforscht und vor allem spekulative Deutungen formuliert hatten." Immerhin hatte Marc Bloch aber sowohl Kantorowicz' Friedrich IL, der unter dem Signet der Blätter für die Kunst, als auch P.E. Schramms Kaiser, Rom und Renovatio, das innerhalb der Studien der Bibliothek Warburg erschienen war, - wenn auch kritisch - rezensiert; Marc Bloch: Histoire d'Allemagne, in: Revue historique 158, 1928, S. 108-158, hier S. 116, wo Kantorowicz allerdings in den Kreis um Hofmannsthal versetzt wird; und Revue critique d'histoire et de littérature 65, 1931, S. 9-11. Zum Verhältnis Bloch-Kantorowicz siehe Peter Schöttler in: Genèses 5, 1991, S. 172-185. Zu Analogie und Differenz in ihrer Arbeit an politisch-religiösen Symbolen und Riten wie in ihrer Reaktion auf Nietzsches Kritik am Historismus siehe Ulrich Raulff: Ein Historiker im 20. Jahrhundert. Marc Bloch, Frankfurt am Main 1995, S. 330-358 u. 406-412. 88

Ernst Bertram: Nietzsche. Versuch einer Mythologie, 2. Aufl., Berlin 1919, S. 6. In seiner Einleitung S. 1-10 setzt Bertram gegen Philologie und analytische Methode die Legende: In ihr lebe die "Geschichte im intensivsten Sinne" fort, nämlich die Geschichte der großen Einzelnen. Nur die Legende - oder das Bild, die Gestalt, der Mythos - "verknüpft wirklich, als ein jederzeit Wirkendes, Urzeit und Heute". Wenn Bertram Geschichte als "Seelenwissenschaft" bestimmt, so meint er nicht eine historische Psychologie, sondern

Michael Neumann

180 Sinn " D i v i n a t i o n " 8 9 :

D e r Geschichtsschreiber

habe den R u h m d e r

großen

T ä t e r als "mythische Bildwerdung" zu e r k e n n e n . 9 0 Ulrich Raulff 9 1 hat an Gundolf, Gustav Seibt 9 2 an K a n t o r o w i c z die G e f a h r herausgearbeitet, d u r c h die hieratische F i x i e r u n g s o l c h e r B i l d w e r d u n g

auf

H e l d e n f i g u r e n ä la C ä s a r und Friedrich II. G e s c h i c h t e zu e i n e m statischen Bildersaal e r s t a r r e n zu lassen. Auch B o r c h a r d t mißt z w a r d e n g r o ß e n H e r r s c h e r n d e r V e r g a n g e n h e i t die Fähigkeit zur Bildschöpfung zu, aber e r versteht darunter

nicht

ihren

Helden-Mythos,

sondern

ihren

zukunftsprägenden

eine ewig gleiche Mythik: "Der Weg, auf dem die Gestalt einer Persönlichkeit legendär wird, ist typisch und trotz der wechselnden äußeren Form, die der Zeitcharakter bestimmt, im Grunde immer der nämliche." Ihr Ziel ist ein "Sternenhimmel der menschlichen Erinnerung"; Geschichte reduziert sich auf die perspektivischen Veränderungen, denen der Blick auf diesen Sternenhimmel unterworfen ist. - Wie nahe das Interesse für "Glaubensformen" und "Fabeln" (so Blochs Rois thaumaturges; siehe Anm. 79) in Frankreich ansetzte, aber auch welch andere Wege es nahm, zeichnet sich schon 1914 in einer Rede von Marc Bloch ab: Wenn man erst einmal darauf verzichte, die Epen des Mittelalters als "schlechte Chroniken" zu lesen, dann böten uns jene Gedichte "ein klares Bild"; "das, was die Schönheit dieser Legenden und ihre eigene Wahrheit ausmacht, besteht darin, getreu die Gefühle und die Glaubensformen der Vergangenheit zu übertragen". Marc Bloch: Critique historique et critique du témoignage, in: Annales 1950, S. 8; zit. nach Carlo Ginzburg: Spurensicherungen. Uber verborgene Geschichte, Kunst und soziales Gedächtnis, München 1988, S. 130. Das ist der Anfang dessen, was später als "Wirken der historischen Imagination" (U. Raulff [Anm. 87], S. 367) zu einem zentralen Motiv und Ziel der Blochschen Forschungen wird. 89

Friedrich Gundolf: Dichter und Helden [1912], in: ders.: Dichter und Helden, Heidelberg 1921, S. 23-58, hier S. 49 (mit Berufung auf Herder, Ranke und Nietzsche). In einer für Friedrich von der Leyen bestimmten Erläuterung der Wissenschaft des GeorgeKreises schreibt er am 6.7.1911: "Das wissenschaftliche denken selbst war [bei den Griechen] schauen, (intuitio)"; in: Die Wirkung Stefan Georges auf die Wissenschaft. Ein Symposium, hrsg. von Hans-Joachim Zimmermann, Heidelberg 1985, S. 109-111. Zum Begriff der Intuition bei den Wissenschaftlern um George siehe E. Weiller (Anm. 64), S. 95-99. 90 D.h. als eine Wirkung, "die sich an immer andern Massen erprobt, in neuen Seelen neue Bilder, durch neue Bilder neue Kräfte zeugend" (ebd., S. 29). - Auch Max Kommerell treibt 1928 in seinem georgeanischen Hauptwerk Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik bildhafte Heroengeschichte: in der Straßburger Begegnung zwischen Herder und Goethe etwa wird ihm "das Schicksal des deutschen Geistes zur Sage", vor der er an die "Sinnbilder" erinnert, "unter denen man von jeher solche Urverhältnisse begriff." Zitiert nach der 3. Aufl., Frankfurt am Main 1982, S. 79; vgl. dazu das Nachwort von Eckhard Heftrich, ebd., S. 485-493. 91

92

Urich Raulff: Der Bildungshistoriker Friedrich Gundolf, in: F.G.: Anfänge deutscher Geschichtsschreibung von Tschudi bis Winckelmann, hrsg. von Edgar Wind, Frankfurt am Main 1992, S. 115-154. - Zu Gundolfs Fixierung auf die "Heroengeschichte" durch Stefan George siehe Ernst Osterkamp: Friedrich Gundolf zwischen Kunst und Wissenschaft, in: Literaturwissenschaft (Anm. 33), S. 177-198, bes. S. 184-186. Gustav Seibt: Römisches Deutschland. Ein politisches Motiv bei Rudolf Borchardt und Ernst Kantorowicz, in: Sinn und Form 46, 1994, S. 61-71, bes. S. 62f.

Eidos. B o r c h a r d t z w i s c h e n C r o c e u n d W a r b u r g

181

Eingriff in die geschichtliche Dynamik: 93 "Die französischen Republiken haben sich nur durch einen im Mittelalter geschaffenen fürstlichen Begriff Frankreichs aus den Folgen ihres Verfalls gerettet. Das in Casars Fürstenauge entstandene Richtbild des römischen Weltkreises hat ein Jahrtausend europäischer Geschichte gezwungen sich ihm nachzubilden. Diese schaffenden Bilder sind die wirklichen Realitäten der Weltgeschichte, gegen die alle Wirklichkeiten Kaff und Spreu sind." (Prosa V, S. 495) 9 4 Der oben skizzierte Mythos der Stellvertretung - daß sich in seinem, Borchardts, Werk die Sache seines Landes und seiner Zeit zumindest mitentscheide - weist zurück auf Nietzsche 95 , ist zeitgenössisch eingebettet in den Kult des charismatischen Durchbruchs, wie er in den Kreisen der Konservativen Revolution gepflegt wurde 96 , und findet auch in seiner hybriden Dimension Seinesgleichen durchaus nicht nur bei Stefan George. 97 Und doch mag es überraschen, wenn Aby Warburg am 3. April 1929 in sein Tagebuch schreibt: 98 "Manchmal kommt es mir vor, als ob ich als Psychohistoriker die Schizophrenie des Abendlandes aus dem Bildhaften in selbstbiographischem Reflex abzuleiten versuche".

93

Vgl. P r o s a III, S. 255 (1935): " D e n n die G e s i n n u n g , die sich d e m W a n d e l versagt, verk e h r t nur, w e n n sie e b e n d a d u r c h den W a n d e l b r i n g t , mit d e n U n s t e r b l i c h e n . " - D e m g e g e n ü b e r bildet es einen Sonderfall, w e n n B o r c h a r d t in d e m A u f s a t z Der Kaiser, mit d e m er sich 1908 auf die Seite W i l h e l m s II. schlägt (Prosa V, S. 86-110), d e m H o h e n z o l l e r n a u c h Z ü g e verleiht, die aus der zeitgleichen Stefan G e o r g e - V e n e r a t i o n b e k a n n t sind: siehe Marianello Marianeiii, Studi di letteratura tedesca, Pisa 1988, S. 167f.

94

Vgl. P r o s a V, S. 459: "Das G e n i e in B i s m a r c k [...] hat hier scharf n a c h d e n h ö c h s t e n M ä c h t e n gewiesen, aus d e n e n die I n s t i n k t e e i n e r g r o ß e n N a t i o n leben, d e n s y m b o l i s c h e n . F ü r ein Sinnbild, nicht f ü r d e n Beutel u n d Magen, leben u n d s t e r b e n wir M e n s c h e n - f ü r das K r e u z , f ü r das heilige Land, f ü r R o m , f ü r das Reich, f ü r das Paradies, f ü r die I d e e n v o n 1789 [...]".

95

Vgl. Marianello Marianeiii ( A n m . 28), S. 319: "La aemulatio nietzschiana di B o r c h a r d t arrivò al p u n t o di p r e n d e r e s u di sé le s t i g m a t e della crisi tedesca [...] N o n c o n t e n t o di dividere c o n N i e t z s c h e la croce dei tempi, egli s o f f r e la c o s c i e n t e f r a t t u r a fra il p a s s a t o e il p r e s e n t e e al t e m p o s t e s s o si o f f r e quale v i t t i m a designata a colmarla."

96

Siehe Breuer ( A n m . 19), S. 33-39 u. 192-194. " D u r c h b r u c h " als h i s t o r i s c h e K a t e g o r i e bei B o r c h a r d t : P r o s a II, S. 525; P r o s a III, S. 123, 169, 180, 337f.

97

M i t d e m U n t e r s c h i e d freilich, d a ß G e o r g e d e n G e s t u s einer t o t a l e n V e r w e r f u n g d e r G e genwart z u r R e l i g i o n s s t i f t u n g per " S e l b s t v e r g o t t u n g " (Max W e b e r ; zit. in M a r i a n n e W e b e r [ A n m . 64], S. 466) h i n a u f t r i e b , w ä h r e n d B o r c h a r d t gegen d e n T r a d i t i o n s v e r l u s t der M o d e r n e die D i c h t e r m a c h t neuer T r a d i t i o n s s t i f t u n g per G e s c h i c h t s d e u t u n g d u r c h z u s e t z e n v e r s u c h t e . - D a ß N i e t z s c h e s o m a n c h e m d e n G r ö ß e n w a h n beflügelte, k a n n m a n etwa an A l f r e d Schuler, Ludwig Klages, L u d w i g D e r l e t h u n d Rudolf P a n n w i t z s e h e n .

98

Ernst H . Gombrich: A b y Warburg. Eine intellektuelle Biographie, Frankfurt am Main 1984, S. 406.

182

Michael N e u m a n n

In voller Bewußtheit' 9 wird hier die eigene Erfahrung der Psychose 1 0 0 als Sensorium für die wissenschaftliche Erkenntnis 101 erkannt und angenommen. Aber auch Warburg will mit seinen Erkenntnissen hineinwirken in jenen immerwährenden welthistorischen Zweikampf zwischen den Mächten, die er so oft als magisch-astrologische Praktik und mathematisch-rationale Wissenschaft konfrontiert hat. Bei Warburg wie doch auch bei Borchardt rührt der Gestus der Stellvertretung am Ende weniger aus persönlicher Hybris denn aus dem Bewußtsein, die Kenntnis ihres besonderen Gegenstandes nicht nur der Wissenschaft, sondern auch einer sehr einsamen Erfahrung zu schulden. Ihre größte Nähe erreichen sie dort, w o sie den Ursprung der Kunst bzw. der Poesie psychologisch ableiten: Warburg als "Pathosformel" 102 , Borchardt als "Eidos". Wohin Borchardt freilich unter idealistischem Kostüm tendiert, das entwickelt Warburg in aller Offenheit: die historisch-psychologische Analyse kollektiv wirkender Bildmächte. - 1929, in der Einleitung zum Mnemosy«e-Atlas103, hat er das bewußte "Distanzschaffen zwischen sich und der Aussenwelt" den "Grundakt menschlicher Zivilisation" genannt. Diese

99

V o n dieser Bewußtheit zeugt auch, daß Warburg nach seiner Rekonvaleszenz eine Zeichnung des kranken Nietzsche (von H a n s O l d e ) "blicknah in seinem Zimmer" aufhängte; Carl G e o r g Heise: Persönliche Erinnerungen an A b y Warburg, H a m b u r g 1959, S. 57. A u c h wurde der Grundstein f ü r den Erweiterungsbau der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek am 25.8.1925 gelegt, dem 25. Todestag Friedrich Nietzsches; siehe D i e t e r W u t t k e : A b y M. Warburgs Kulturwissenschaft, in: Bibliographie zur Symbolik, I k o n o graphie u n d Mythologie 24, 1991, S. 5-28, hier S. 22. V o n der "Gefährlichkeit" des Berufs, als "Seismograph" der Zeit zu dienen, "sodass neue Gebiete aus der verdeckten Schicht verschollener Tatsachen herausbrechen", handelte Warburg 1927 am Beispiel Burckhardts u n d Nietzsches; Burckhardt-Seminar, hrsg. v o n Bernd Roeck, in: Idea 10, 1991, S. 86-89.

100 D a z u jetzt Karl Königseder: Aby Warburg im 'Bellevue', in: A b y M. Warburg. "Ekstatische N y m p h e . . . trauernder Flußgott". Porträt eines Gelehrten, hrsg. von Robert Galitz u n d Brita Reimers, H a m b u r g 1995, S. 74-98. Ludwig Binswanger, der Leiter des 'Bellevue', korrespondierte über Warburg auch mit Sigmund Freud, der o f f e n b a r nicht unvertraut war mit den "scharfsinnigen Arbeiten" dieses Patienten; so am 3.11.1921; zit. ebd., S. 85; vgl. R o n C h e r n o w : Die Warburgs. Odyssee einer Familie, Berlin 1994, S. 328. 101 1927 bezeichnete Warburg "Burckhardt u n d N i e t z s c h e als Auffänger der m n e m i s c h e n Wellen", als "sehr empfindliche Seismographen, die in ihren G r u n d f e s t e n beben, w e n n sie die Welle empfangen und weitergeben müssen." Burckhardt-Seminar (Anm. 99), S. 86. Die Rolle eines "Seismographfen] f ü r geistigen Erbgutsverkehr" hatte W a r b u r g seiner Kulturwissenschaftlichen Bibliothek zugedacht (Schriften [Anm. 84], S. 307); von einem "psychischen Seismographen" spricht ein Brief an Gustav Pauli, u n d von einer "Antenne", "die alle Schwingungen, die das Mittelmeerbecken umzittern, v e r n ü n f t i g auffängt"; am 25.5. 1929; zit. nach: Porträt aus Büchern. Bibliothek Warburg und W a r b u r g Institute H a m b u r g - 1933 - London, hrsg. von Michael Diers, H a m b u r g 1993, S. 82f. 102 Siehe v o r allem die N o t i z Festwesen (1903-06; E. G o m b r i c h [Anm. 98], S. 229f.) und Einleitung Mnemosyne-Atlas (Anm. 103). 103 Pieter van Huisstede: D e mnemosyne beeldatlas van Aby M. Warburg. Een laboratorium voor beeldgeschichte, Diss. Leiden 1992, S. 79-88, hier S. 79.

Eidos. Borchardt zwischen Croce und Warburg

183

Distanz eröffnet zwischen Reiz und Reaktion einen "Denkraum"104, der den Menschen vom reflexhaft reagierenden Tier trennt. 105 Die Bedingung von dessen Möglichkeit aber ist das Gedächtnis: indem der aus dem Unbekannten auftreffende visuelle oder akustische Reiz mit etwas Bekanntem assoziiert wird - und sei dieses Bekannte auch noch so bedrohlich - , ist die Bedrohung doch bereits herabgesetzt. Warburg spricht von "mythischer Denkweise" oder "märchenmäßigem" Denken: 106 "Ein Märchentier [...] ist in statu nascendi ein mühevoll begriffenes Abstraktum. Es ist eine Umfangsbestimmung für Erscheinungen, die sich sonst in ihrer vorbeifliehenden Unfaßbarkeit nicht erfassen lassen." Was hier "Umfangsbestimmung" heißt 107 , ist dem verwandt, was Borchardt als den Versuch der "Umriß"-Bildung gegenüber dem Chaos der Welt bezeichnet. Die Erinnerungen, die das Gedächtnis dem primären Reiz als Ursachen unterschiebt, sind zunächst allgemein biomorph, dann - in totemistischem Sinne - zoomorph. Um auf diese Wettergötter und Tiergeister einzuwirken, greift der "primitive" Mensch zu Magie und Ritual, und d.h. zu Einfühlung und Identifikation. Der Totemismus kennt freilich auch bildliche Darstellungen, und Warburg beobachtet bei den Pueblo-Indianern fasziniert, wie die Bilder im Geräteschmuck allmählich in Ornamente übergehen. 108 Er liest daran einen kontinuierlichen Fortschritt in der Distanzierung ab. 109 Dieser setzt 104 Ebd., S. 80. Vgl. etwa A. Warburg: Schriften (Anm. 84), S. 202, 219, 267 (Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten, 1920); ders.: Schlangenritual. Ein Reisebericht, hrsg. von Ulrich Raulff, Berlin 1988, S. 59 (1923), und dazu die Notiz 4 bei E. Gombrich (Anm. 98), S. 298. 105 Mit entsprechend gespanntem Interesse reagierte Warburg, als Edgar Wind ihn 1929 mit Wolfgang Köhlers Untersuchungen zur Intelligenz der Schimpansen bekannt machte; siehe Bernhard Buschendorf: "War ein sehr tüchtiges gegenseitiges Fördern". Edgar Wind und Aby Warburg, in: Idea. Jahrbuch der Hamburger Kunsthalle 4, 1985, S. 164-209, hier S. 179f. (Buschendorf macht den Gestaltpsychologen Köhler allerdings zum Behavioristen). 106 Notiz 1 und 2 bei E. Gombrich (Anm. 98), S. 297. 107 Zu diesem Begriff siehe E. Gombrich (Anm. 98), S. 105. 108 Schlangenritual (Anm. 104), S. 15. Hier lag auch der ursprüngliche Zweck seiner Reise: "Aus den Publikationen der Smithsonian Institution war mir bei meinem Aufenthalt in Washington soviel klar geworden, daß zwischen den künstlerischen Leistungen der Pueblos und ihrer heidnischen Zivilisation [...] Zusammenhänge bestehen, die für die Frage nach der Entstehung des Kunstwerks ethnologisch die wichtigsten Beiträge geben, besonders zur Geschichte der ornamentalen Formen." Unpubl. Vortrag vom 21.1.1897; zit. nach Claudia Naber: Pompeji in Neu-Mexico. Aby Warburgs amerikanische Reise, in: Freibeuter 38, 1988, S. 88-97, hier S. 92. 109 Ahnlich macht Borchardt die Distanz zur Voraussetzung, kraft welcher der Dichter das Chaos der Welt zu ordnen vermag, weil er nicht dazugehört. So bestimmt er die Hoheit der Bilder schaffenden Dichter wie der Geschichte schaffenden Fürsten als Distanz: als "das schlichte Geheimnis der Ausgenommenheit, Unangreifbarkeit, Unrührbarkeit, Unzugänglichkeit, die mit ihr auf natürliche Weise eines ist, denn um zu überblicken was ein

184

Michael Neumann

s i c h fort, w e n n in d e n m a g i s c h e n D a r s t e l l u n g e n ä s t h e t i s c h e Kriterien in d e n V o r d e r g r u n d d r ä n g e n u n d s o aus R e l i g i o n Kunst e n t s t e h t . D e n

Höhepunkt

d e r E n t w i c k l u n g bildet d a n n die W i s s e n s c h a f t . In ihr erreicht der "Denkraum", der d e n M e n s c h e n v o n primitiver A n g s t u n d r e f l e k t o r i s c h e r U n m i t t e l barkeit trennt, d i e g r ö ß t e Erstreckung. A n die Stelle v o n Ekstase u n d I d e n t i f i k a t i o n treten R u h e , S c h a u u n d M a t h e m a t i k . D a m i t ist e i n , w e n n a u c h sehr abstrakter, G r u n d r i ß der p s y c h i s c h e n G e s c h i c h t e " 0 d e r M e n s c h h e i t e n t w o r f e n . U m dieser i m D e t a i l

nachzuspüren,

will W a r b u r g d i e K u n s t g e s c h i c h t e u m die R e l i g i o n s g e s c h i c h t e u n d n o c h m a n c h e a n d e r e n D i s z i p l i n e n zur Kulturgeschichte e r w e i t e r n . A u c h hier s p r i n g t d i e Parallele z u B o r c h a r d t ins A u g e , der e i n e interdisziplinäre "mittelalterlic h e A l t e r t u m s w i s s e n s c h a f t " fordert, u m d i e "Kultur- u n d S e e l e n f o r m e n " der Zeiten

und

Regionen

des

europäischen

Mittelalters

zu

rekonstruieren

(Prosa III, S. 8 0 ) . m Als Warburg diesen Grundriß

1 8 9 0 seiner s p ä t e r e n Frau, d e r

Malerin

M a r y H e r t z , vorträgt, w e h r t diese sich allerdings v e h e m e n t d a g e g e n ,

als

Ganzes bildet, muß sie übersehen, was sich aus ihm hervordrängt, und von oben her gesehen heben sich Seiten und Gegenseiten in der Ansicht auf" (Prosa V, S. 497). 110 Siehe etwa Schriften (Anm. 84), S. 185: "historische Psychologie des menschlichen Ausdrucks" (1922); S. 307: Die Kulturwissenschaftliche Bibliothek soll ein "Pionierwerk historisch-psychologischer Ausdruckskunde" werden (1929); Gesammelte Schriften, hrsg. von Gertrud Bing u. Fritz Rougemont, Berlin 1932, S. 561: "Versuch einer auf solider philologisch-historischer Grundlage ruhenden Geschichte der europäischen Mentalität"; S. 564: "hängt die Einsicht in die Psychologie des inneren Zusammenhangs der Kulturbewegungen, die vom Rande des Mittelmeerbeckens ausstrahlten, davon ab, ob sich klassische Philologie und moderne Kunstgeschichte mit der Orientalistik [...] zusammenfinden" (1926). E. Gombrich (Anm. 98), S. 300f: "schwebt mir für meine Bibliothek als Zweckbezeichnung vor: eine Urkundensammlung zur Psychologie der menschlichen Ausdruckskunde" (1923); S. 343: "Ikonologie des Zwischenraumes. Kunsthistorisches Material zu einer Entwicklungspsychologie des Pendelganges zwischen bildhafter und zeichenmäßiger Ursachensetzung" (1929). 111 Wie Warburg (siehe Roland Kany: Die religionsgeschichtliche Forschung an der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg, Wiesbaden 1989), so privilegiert auch Borchardt dabei religionshistorische Kategorien: die historischen Denk- und Ordnungsformen der Politik porträtiert er als "Frömmigkeitsformen" (Prosa V, S. 325f.); die prägenden Bilder der nationalen Erinnerung bezeichnet er als "eine Welt heiliger und geschützter und schutzflehender Werte", als "Heiligenbild[er] eines Gottes, eines Mannes, eines Weibes, einer Heimat, eines Volkes" (P III 325). Die Wahrheit der Religion sieht Borchardt dabei nicht in dem, worüber die Theologen streiten, sondern in dem, was sie in Mensch und Geschichte bewirkt. In diesem Sinne weist er dem Dichter die Aufgabe zu, "ein Verhältnis des Menschen zu Gott auszudrücken" (Reden, S. 152). In diesem Sinne auch sieht er das 19. Jahrhundert durch den Verlust Gottes verurteilt: Dem zivilisatorisch-politischen Begriff Europas habe "zur höchsten Kraft das Element der Gemeinbürgschaft für ein Heiligtum" gefehlt; "weder Wohlfahrt und Sekurität noch die Opportunitätsgüter der relativen Kriegsvermeidung sind Heiligtümer." (Reden, S. 152f.)

185

Eidos. Borchardt zwischen C r o c e und W a r b u r g Künstlerin zu e i n e m l e b e n d e n Fossil d e r E v o l u t i o n erklärt zu w e r d e n . b u r g s A n t w o r t ist s o h ö f l i c h w i e r a t l o s : d i e S t u f e n i m O r d n u n g s v e r s u c h

Wardenke

e r s i c h " u r s p r ü n g l i c h in e i n e r b e s t i m m t e n R e i h e n f o l g e e r w o r b e n , j e t z t a b e r n e b e n e i n a n d e r , je n a c h d e m T e m p e r a m e n t d e r M e n s c h e n in G e b r a u c h " . 1 1 2 den privaten treten systematische Schwierigkeiten: W e n n und D e n k r a u m die evolutionäre

Zu

Distanzgewinnung

Errungenschaft des M e n s c h e n

ausmachen,

m u ß es d e n g u t e n D a r w i n i s t e n , d e r W a r b u r g a u c h w a r 1 1 3 , irritieren, d a ß d e r magische

Einsturz

dieser

Distanz

die

Menschheitsentwicklung

als

unge-

s c h w ä c h t e M ö g l i c h k e i t b e g l e i t e t . 1 1 4 E b e n das a b e r z e i g e n die F o r s c h u n g e n zur

112 Siehe E. Gombrich: A b y Warburg (Anm. 9 8 ) , S. 109. 113 In den N o t i z e n zu seinem Kreuzlinger Vortrag bezeichnet er das Bild "als biologisch notwendiges Produkt zwischen Religion und Kunstausübung" (Schlangenritual [Anm. 104], S. 6 5 ) . In seinem Manet-Vortrag führt er ein Kunstwerk an, "das für den evolutionistisch gestimmten Kunstbetrachter als O b j e k t geradezu die Postulate eines Zwischenkieferknochens erfüllt." Kosmopolis der Wissenschaft. E. R . Curtius und das Warburg Institute, hrsg. von Dieter W u t t k e , Baden-Baden 1989, S. 2 7 1 . Siehe auch Gertrud Bing, in: Schriften (Anm. 84), S. 448, und E . Gombrich (Anm. 98), S. 99, 104 u. 3 2 7 - 3 3 0 . G o m b r i c h ( A b y Warburg und der Evolutionismus des 19. Jahrhunderts, in: "Ekstatische Nymphe" [Anm. 100], S. 5 2 - 7 3 , bes. 60f.) benennt das Problem, faßt seine evolutionstheoretische Seite aber nicht scharf genug: daß neben jüngeren Stufen der Entwicklungen auch ältere (noch) überlebt haben, erklärt nicht die Rückfälle von jüngeren auf ältere Stufen. Was Warburg noch nicht vermochte, fällt uns - nach den neueren Erkenntnissen der Evolutionsgenetik - leichter: einen Trennungsstrich zu ziehen zwischen der Einbettung des Menschen in die biologische Evolution einerseits und die Geschichte der psychischen Strukturen andrerseits. D e n n o c h hat schon Warburg die Geschichte des sozialen Gedächtnisses nicht einfach der biologischen Evolution implantiert (so richtig Claudia N a b e r in: "Ekstatische N y m p h e " [Anm. 100], S. 122). Umgekehrt wird auch eine 'psychohistoire' nicht dauerhaft die biologische Grundlage ignorieren können, auf der sich die von ihr zu rekonstruierenden Veränderungen abspielen. So mögen zwar "aus heutiger Sicht [Warburgs] evolutionstheoretische, neurobiologische Ansätze zur Erklärung der Gedächtnisfunktion weniger interessieren" (Ulrich Raulff: Aby Warburg, unerhört, in: Merkur 45, 1991, S. 4 4 8 - 4 5 4 , hier S. 450); daß Warburg das Problem des kollektiven G e dächtnisses aber überhaupt mit evolutionstheoretischen und neurobiologischen Fragestellungen konfrontiert hat, weist vielleicht weiter in die Zukunft, als mancher heutige Warburg-Exeget sich träumen läßt. 114 Darwins Theorie des "Rückschlag" (reversion, throwing-back; vgl. C h . Darwin's gesammelte Werke, dt.v. J . V i c t o r Carus, 4. Bd.: Das Variiren der Thiere und Pflanzen, II. Bd., Stuttgart 1878, 13. Cap.) scheint Warburg nicht bekannt geworden zu sein. Aus der T a t sache, daß bei Tieren und Pflanzen Charakterzüge auftreten können, die in der Species schon seit geraumer Zeit verschwunden schienen, folgert Darwin, daß "noch unsichtbare Charactere [im Keim] gehäuft sind, [...] die durch Hunderte oder selbst Tausende von Generationen von der J e t z t z e i t getrennt sind; und diese Charactere liegen alle, wie mit unsichtbarer T i n t e auf Papier geschriebene Buchstaben da, bereit, sich unter gewissen bekannten oder unbekannten Bedingungen zu entwickeln." (IV 3 9 ) "Rückschlag [...] tritt bei gekreuzten Thieren und Pflanzen so regelmäszig und bei nicht gekreuzten Rassen so häufig auf, dasz es offenbar einen wesentlichen Theil des Princips der Vererbung bildet." ( I V 405) - Eine eigentümliche Parallele findet das von Warburg entworfene Verhältnis

186

Michael Neumann

G e s c h i c h t e des astrologischen A b e r g l a u b e n s . 1 , 5 K o m m t also auch d e m G e g e n p o l d e r Wissenschaft eine wichtige F u n k t i o n im m e n s c h l i c h e n

Seelen-

haushalt zu? In den f o l g e n d e n J a h r e n 1 1 6 zeichnen sich zwei A n t w o r t e n ab. D e r Kreuzling e r V o r t r a g über das Schlangenritual der Pueblo-Indianer hebt h e r v o r , d a ß die als Symbol gefaßte Schlange nicht nur die m e n s c h l i c h e Urangst d u r c h G e staltbildung d e p o t e n z i e r t , sondern a u c h eine anschauliche A n t w o r t auf die F r a g e gibt, w o h e r " e l e m e n t a r e Z e r s t ö r u n g , T o d und Leid in die W e l t " k o m m e n . 1 1 7 D e r m o d e r n e "Ersatz der m y t h o l o g i s c h e n V e r u r s a c h u n g d u r c h die t e c h n o l o g i s c h e " befreit den M e n s c h e n z w a r v o n den im m y t h i s c h e n

Bild

i m m e r n o c h g e g e n w ä r t i g e n Schrecken - o b sie ihm aber "auch wirklich hilft, zwischen fortschreitender Distanzierung und der unausrottbaren Möglichkeit der Magie in dem 1922 von Max Weber in Wirtschaft und Gesellschaft beschriebenen Verhältnis zwischen Rationalisierung und Charisma: "Der Prozeß der Rationalisierung", schreibt Stefan Breuer (Herrschaftssoziologie [Anm. 64], S. 38), "hebt diese Möglichkeit [des Charisma] nicht auf, kann sie nicht aufheben, da auch das höchste Niveau der Rationalität ontogenetisch erworben werden muß" - auch wenn die konkrete Form des Charisma mit den gesellschaftlichen Zuständen wechselt. Diese Parallele ist umso bemerkenswerter, als die zeitgenössisch dominierenden religionshistorischen Theorien durchwegs geradlinig evolutionistisch argumentierten; siehe Gottfried Küenzlen: Unbekannte Quellen der Religionssoziologie Max Webers, in: Zeitschrift für Soziologie 7, 1978, S. 215-227. 115 Siehe Ernst H. Gombrich: Tributes. Interpreters of our cultural tradition, Oxford 1984, S. 131f. - Martin Jesinghausen-Lauster (Die Suche nach der symbolischen Form. Der Kreis um die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg, Baden-Baden 1985) stellt die Entwicklung auf den Kopf, wenn er der "letzten Forschungsphase Warburgs" die Annahme zuschreibt, daß "die Zeichen der Mathematik und die vernunftdurchdrungenen Ordnungssysteme [...] den Himmel ein für allemal von den magisch-dämonischen Leibern leerfegen." (S. 175f.) Astrologische Forschungen, Weltkrieg und geistiger Zusammenbruch hatten Warburg ja eben deutlich genug gemacht, daß die Vernunft sich nie "ein für allemal" durchsetzt; er selbst hat 1923 die Einsicht in "die Unzerstörbarkeit des primitiven Menschen, der zu allen Zeiten derselbe bleibt," schon auf die frühe Amerika-Reise datiert (siehe Anm. 118). Man kann Warburg also weder widersprüchliche Annahmen über einen eindeutigen historischen Fortschritt bzw. über die Polarität "der kulturkonstitutiven Psyche" (so Jesinghausen-Lauster, S. 180) noch ein "Scheitern" an diesem Widerspruch vorwerfen (S. 182f). Das Mißverständnis gründet darin, daß Jesinghausen-Lauster Warburgs anthropologischen Ansatz schlicht verabscheut (S. 168 u.pass.) und daher gar nicht erst zu rekonstruieren versucht. 116 Carl Georg Heise (Anm. 99), S. 54, betrachtet diese Einsicht als den direkten Ertrag der Krankheits-Jahre: 'Tiefer gesehen war es so: daß er allzusehr von außen an die Phänomene herangetreten war, obwohl er ihre Einwirkung auf die Bildgestaltung als erster erkannt hatte. Wie kann etwas, was man als Unsinn abtun will, von so weittragender Bedeutung werden gerade für die höchsten künstlerischen Erzeugnisse aller Zeiten?" 117 Schlangenritual (Anm. 104), S. 55. Die Bedeutung der Amerikareise von 1895/96 für Warburgs Denken hat Kurt W. Forster nachgezeichnet: Die Hamburg-Amerika-Linie, oder Warburgs Kulturwissenschaft zwischen den Kontinenten, in: Aby Warburg. Akten des internationalen Symposions Hamburg 1990, hrsg. von Horst Bredekamp, Michael Diers und Charlotte Schoell-Glass, Weinheim 1991, S. 11-37.

Eidos. Borchardt zwischen Croce und W a r b u r g

187

die Rätsel des Daseins ausreichend zu beantworten, das wollen wir nicht ohne weiteres behaupten." 118 Ferner verknüpft Warburg die Wahrnehmung der modernen Wissenschaft zunehmend mit der Beobachtung der modernen Technik und entdeckt dabei im Innern der Wissenschaft eine "faustische" Verwandtschaft mit den magischen Praktiken der Weltaneignung. 11 ' Damit erscheint nur mehr die Kunst fähig zur ruhigen Distanz der freien Anschauung. Ihrer Mittelstellung zwischen Magie und Wissenschaft entspringt jedoch auch der Doppelcharakter der Kunst. 120 Einerseits kommt in ihr die Entwicklung der distanzierenden Anschauung und Gestaltbildung zu ihrem Höhepunkt 121 ; die Wissenschaft muß die Anschaulichkeit ja durch Mathematik er118 Ebd., S. 56. A m 14.3.1923 notiert Warburg: "Ich ahnte noch nicht, daß mir aus dieser amerikanischen Reise eben der organische Zusammenhang zwischen Kunst u n d Religion der 'primitiven' Völker so klar werden würde, daß ich die Identität oder vielmehr die U n z e r störbarkeit des primitiven Menschen, der zu allen Zeiten derselbe bleibt, so deutlich schaute, daß ich ihn als O r g a n ebenso in der Kultur der florentinischen Frührenaissance wie später in der deutschen Reformation herausstellen konnte." In: C . N a b e r (Anm. 108), S. 97, Anm. 28. Vgl. dazu D o r o t h e e Bauerle: Gespenstergeschichten f ü r ganz Erwachsene. Ein K o m m e n t a r zu A b y Warburgs Bilderatlas M n e m o s y n e , M ü n s t e r 1988, S. 1 lf. 119 Ges. Schriften (Anm. 110), S. 564: "wie die griechische Weisheit zur öden hellenisierenden Praktik entartete, die sich letzten Endes als eigentliches Substrat der 'modernen faustischen Weltanschauung' verrät." (1926) Vgl. auch Schlangenritual (Anm. 104), S. 58f.; u n d den Brief an Wilamowitz-Moellendorff vom 23.4.1924, in: M. Jesinghausen-Lauster (Anm. 115), S. 311-313. 120 So etwa in einem Vortrag über Mediceische Feste (1928): "Kunstschaffen und K u n s t g e n u ß verlangen die lebenskräftige Vereinigung zwischen seelischen H a l t u n g s f o r m e n , die sich beim N o r m a l m e n s c h e n eigentlich ausschließen. Leidenschaftliches sich selbst verlieren bis zur völligen Verwandlung an den Eindruck - u n d kühl distanzierende Besonnenheit in der o r d n e n d e n Betrachtung der Dinge. In der Mitte zwischen d e m C h a o s der leidhaften Erregung und vergleichend ästhetischer T e k t o n i k ereignet sich das Künstlerschicksal." E. G o m b r i c h (Anm. 98), S. 343. In der Einleitung z u m Mnemosyne-Atlas schreibt er "von der polaren F u n k t i o n der künstlerischen Gestaltung zwischen einschwingender Phantasie und ausschwingender Vernunft", der "Doppelheit zwischen antichaotischer F u n k t i o n , die man so bezeichnen kann, weil kunstwerkliche Gestalt das Eine auswählend umrissklar herausstellt, und der augenmässig v o m Beschauer erforderten, kultlich erheischten Hingabe an das geschaffene Idolon" (Anm. 103), S. 80. - G e r t r u d Bing und Edgar W i n d sprachen von dem Zusammenhang, der "die erlösende Kraft, die ihren Symbolen innewohnt, mit der erregenden Kraft, die sie immer von neuem bewähren, verbindet." D e r Begriff der Kulturwissenschaft u n d die Bibliothek Warburg (1932), in: D. W u t t k e (Anm. 99), S. 24-26, hier S. 26. 121 Mediceische Feste (E. G o m b r i c h [Anm. 98], S. 359): So "müssen wir uns freilich entschließen, die nachlebende antike Götterwelt einerseits als religiöse Macht - in Gestalt v o n Schicksalsdämonen, die in der Astrologie ihre systematische Kultvorschrift f a n d e n anzuerkennen, und aus dieser Einsicht heraus als Akt der H u m a n i s i e r u n g zu begreifen, w e n n Raffael eben diese fatalen D ä m o n e n z u olympisch heiteren G ö t t e r n wandelt, in deren h ö h e r e r Region kein Raum mehr ist f ü r abergläubische Praktiken." - Vgl. dazu Margaret Iversen: A b y Warburg and the N e w A r t History, in: A k t e n (Anm. 117), S. 281-287.

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setzen. Andrerseits vermag die Kunst eine lebendige Anschauung nur zu vermitteln, solange sie die Verbindung zu jenen primitiven Untergründen noch nicht ganz abgeschnitten hat 122 , in denen die Betrachter von der Macht der Bilder noch überwältigt wurden. 1 2 3 Welch unterschiedliche Legierungen diese beiden Tendenzen in den konkreten Kunstwerken eingehen, zeigt Warburg etwa am Ubergang vom Mittelalter zur Frührenaissance oder von der Renaissance zu Manierismus und Barock. Aus der linearen Entwicklungsgeschichte der frühen Jahre wird so eine komplexe Seelengeschichte, die nachzeichnet, wie die Menschen sich in dem wechselhaften Drama zwischen ihrer biologischen Disposition und den historisch-gesellschaftlichen Veränderungen mit unterschiedlichem Erfolg psychisch zu behaupten versuchen. Warburg liest an den einzelnen Kunstwerken zum einen die kollektivpsychologische Problemlage ihrer Zeit ab, interpretiert sie zum anderen aber auch als individuelle Möglichkeiten einer je gelingenden oder scheiternden Lösung des Widerstreits zwischen Verschmelzung und Abstraktion, Magie und Wissenschaft. 124 Was in den Pathosformeln der antiken Tradition als Höchstmaß an Ausdruckskraft bereitliegt, kann im neuen Werk ebenso in den Dienst des Gleichgewichts treten wie zum Medium der Auflösung werden. 1 2 5

122 Siehe Ges. Schriften (Anm. 110), S. 248 zum Alexanderbuch des Vasco de Lucena: "Die Wiederherstellung der klassischeren Form für den antiken Stoff begann um [die Mitte des 15. Jahrhunderts] die italienische 'Frührenaissance' zu erringen; sie brachte allerdings der westeruopäischen Kultur das Ideal wirklich erreichbarer humaner Größe als neue Waffe in dem Befreiungsversuch des modernen Menschen aus dem Bann lähmenden Glaubens an eine tückisch verzauberte Welt. Alexander in klassischeren Umrissen klarer vor Augen sehen, hieß freilich nicht unbedingt ihn auch lebendiger im Herzen fühlen." (1913); vgl. auch die Zitate bei E. Gombrich (Anm. 98), S. 340 u. 331. 123 Vgl. Edgar Winds Kommentar zu Warburgs Begriff des Symbols: das Symbol enthält eine ganze Reihe von Möglichkeiten zwischen kulthaftem Akt und reinem Begriff. "Die kritische Phase liegt aber in der Mitte, dort, wo das Symbol als Zeichen verstanden wird und dennoch als Bild lebendig bleibt, wo die seelische Erregung, zwischen diesen beiden Polen in Spannung gehalten, weder durch die bindende Kraft der Metapher so sehr konzentriert wird, daß sie sich in Handlung entlädt, noch durch die zerlegende Ordnung des Gedankens so sehr gelöst wird, daß sie sich in Begriffe verflüchtigt. Und eben hier hat das 'Bild' (im Sinne des künstlerischen Scheinbilds) seine Stelle." In: Schriften (Anm. 84), S. 172. Siehe jetzt auch D. Bauerle (Anm. 118), S. 16-25. 124 Martin Warnke spricht treffend von einem "diagnostischen Verständnis des Kunstwerks" Martin Warnke: Aby Warburg, in: Altmeister moderner Kunstgeschichte, hrsg. von Heinrich Dilly, Berlin 1990, S. 116-130, hier S. 123. Zum Gesamtkomplex siehe die wichtigen Aufsätze von Claudia Naber und Peter van Huisstede in: "Ekstatische Nymphe" (Anm. 100), S. 104-171. 125 Siehe Zitate bei E. Gombrich (Anm. 98), S. 338-340 und S. 322: "Jede Zeit hat die Renaissance der Antike, die sie verdient." (1926/27) In Huisstedes Transskription fehlt der Satz (Anm. 103), S. 139.

Eidos. Borchardt zwischen Croce und Warburg

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Betrachtet der Aufklärer Warburg somit die Wirkungskraft der Werke als eine zwar notwendige, aber doch stets auch ängstigende Bedrohung, so bejaht Borchardt sie mit ungeteilter Emphase. Daß sie mit magischer Gewalt wirken, eröffnet den Bildern der Künstler und Dichter die Möglichkeit, weltordnend in die Geschichte einzugreifen. Daß er das nicht erkannte, was Warburg als die dämonische Seite solcher Wirkungsmacht beunruhigte, machte Borchardt lange blind für das, was politisch tatsächlich heraufkam. Als Hitler dann die Macht ergriff, blieb Borchardt nur der Rückzug auf die Erinnerung daran, daß er die geschichtsbewußten Dichter und Propheten immer auch schon als scheiternde Außenseiter porträtiert hatte - Kassandra wie Jesajas, Pindar wie Dante - , und auf den idealistischen Protest gegen eine Geschichte, in der immer schon der Bessere unterlag und der Sieger auch noch die Geschichtsbücher schrieb. Erstaunlich bleibt gleichwohl, wie nahe Borchardt und Warburg einander kommen, wenn sie Entstehung und Wirkung der über die Epochen reichenden Bilder der kollektiven Erinnerung aus deren psychologischer Funktion zu erklären suchen. 126 Sie hatten allerdings - abgesehen von der psychologisierenden Grundtendenz der Zeit - einen konkreten Ausgangspunkt gemeinsam: Hermann Useners "formenlehre der religiösen Vorstellungen"127. Wieviel Warburg dem Studium bei Usener verdankt, wissen wir durch Ernst Gombrich und Roland Kany. 128 Dabei wurde Useners Bedeutung bislang eher noch zu gering eingeschätzt, da Gombrich die Erkenntnis der "zentralen Rolle, die dem Gefühl der Angst im Prozeß der Projektion zukommt," Tito Vignoli zuschreibt.129 In Vignolis Buch über Mythus und Wissenschaft ist von

126 So kann es auch nicht überraschen, daß man sowohl bei Warburg wie auch bei Borchardt versucht hat, Analogien zu C.G. Jung herzustellen: siehe E. Gombrich (Anm. 98), S. 326, und Silvio Rizzi: Rudolf Borchardt als Theoretiker des Dichterischen, Diss. Zürich 1958, S. 82-87. In keinem Fall wurden aber direkte Bezüge entdeckt. - Zur zeitgenössischen 'Entdeckung' des sozialen Gedächtnisses zwischen Maurice Halbwachs und Karl Mannheim siehe W. Kemp (Anm. 65), S. 17f., und Martin Warnke: "Der Leidschatz der Menschheit wird humaner Besitz", in: Die Menschenrechte des Auges. Uber Aby Warburg, hrsg. von Werner Hofmann, Georg Syamken u. Martin Warnke, Frankfurt am Main 1980, S. 113-186, hier S. 116-118 u. 165-68. 127 Hermann Usener: Götternamen (Anm. 62), S. VI. 128 E. Gombrich, (Anm. 98), bes. S. 42-62 u. 93-113; Roland Kany: Mnemosyne als Programm. Geschichte, Erinnerung und die Andacht zum Unbedeutenden im Werk von Usener, Warburg und Benjamin, Tübingen 1987. Siehe auch Maria Michela Sassi: Dalla scienza delle religioni di Usener ad Aby Warburg, in: Aspetti di Hermann Usener. Filologo della religione, Vorwort von Arnaldo Momigliano, Pisa 1982, S. 65-91. Zu Warburgs ethnologischen Quellen bringt Ulrich Raulffs Nachwort zu Warburgs Schlangenritual (Anm. 104) wichtige Ergänzungen. 129 E. Gombrich (Anm. 98), S. 98.

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Angst aber nirgends die Rede; sie begegnet allenfalls indirekt in einigen der Tierversuche, die er erläutert. 130 Nun spielt die Angst zwar auch in Useners religionshistorischen Studien keine zentrale Rolle. Das liegt aber offensichtlich daran, daß Usener, so interessiert er sich auch an Vignolis Versuch zeigte 131 , den Mythos mit den Mitteln einer biologisch gestützten Psychologie zu erklären, seine eigenen Studien streng auf den Kompetenzbereich der Philologie beschränkte. 132 So schreibt er 1896 an Hermann Diels: 133 130 So etwa bei dem Pferd, das vor einem geschwenkten weißen Tuch scheut, als wäre es ein feindliches Subjekt - und selbst hier spricht Vignoli zutreffender von "Schrecken". Tito Vignoli: Mythus und Wissenschaft. Eine Studie, [1879] Leipzig 1880, S. 52f. 131 Usener rezensierte Mythus und Wissenschaft 1881 in der Deutschen Literaturzeitung (2. Jg., Sp. 1065-67). Zwar übte er hier heftige Kritik an einem Dilettantismus, der "bei aller Belesenheit in neuerer mythologischer und ethnographischer Litteratur doch nirgends auf eigenen Füßen steht, [so] dass ihm wesentliche Momente entgehen, deren Vernachlässigung seine Constructionen einseitig und schief oder haltlos machen muss." Die Wissenschaft werde sich demgegenüber "nach wie vor bescheiden, in langsamerem Schritte und ohne zoologische Vehikel voran zu dringen." Doch klingt daneben die Faszination dessen durch, der nach ähnlichen Zielen strebt, auch wenn ihm das wissenschaftliche Gewissen dabei den Weg beschwert: "Man wird auch dem Streben, die Bewegungsformen des Denkens auf elementare psychische Vorgänge zurückzuführen und an Stelle formaler Logik eine geschichtlich und empirisch begründete Erkenntnislehre zu setzen, bereit sein volle Sympathie entgegenzubringen." Und, als Schlußsatz: "Aber etwas kann der Einzelforscher [...] doch daraus lernen, und das ist wahrlich nichts Geringes, denken nehmlich und das große Ziel einer volleren Erkenntnis der Menschennatur unverrückt im Auge behalten." - Daß Usener auch in seinen Vorlesungen auf Vignoli hinwies, belegen Warburgs Kollegnachschriften (E. Gombrich [Anm. 98], S. 47) Von Useners eigenen Schriften zeigt der späte Aufsatz Mythologie (1904; ders.: Vorträge und Aufsätze, Leipzig, Berlin 1907, S. 37-65) am deutlichsten, wie sehr Usener für die psychologische Fundierung des Mythos Vignoli verpflichtet geblieben ist (siehe auch Anm. 141; eher skeptisch äußert sich M. M. Sassi in Aspetti [Anm. 128], S. 83f.). Zu Useners Stellung zur Völkerpsychologie der Lazarus, Steinthal und Wundt siehe Remo Bodei: Hermann Usener nella filosofia moderna - tra Dilthey e Cassirer, ebd., S. 23-42, hier S. 36-38. - 1901 formulierte Usener ausdrücklich, daß die "mythologische Denkweise [...] in dem unbewußten Seelenleben wurzelt"; wenn er zwei Sätze später fortfährt: "Nachdem der Sinn für das Traumleben des menschlichen Geistes und die Beschäftigung mit der Volksüberlieferung allerorten erwacht war, mußte auch der Bann, der bisher auf der Astrologie gelegen hatte, schließlich gehoben werden" - so läßt sich eine Anspielung auf Freuds 1900 erschienene Traumdeutung nicht ausschließen. Die Sätze stehen in einer Rezension zu einem Buch über die griechische Astrologie (Kleine Schriften, Bd. III, Leipzig, Berlin 1914, S. 372376), deren souveräne Beherrschung der einschlägigen Forschung zeigt, daß Usener auch diesem Lieblingskind von Warburgs späteren Forschungen bereits intensives Interesse entgegengebracht hat. 132 Usener: Götternamen (Anm. 62), S. VII. 133 13.3.1896; im folgenden zitiert nach: Hans Joachim Mette: Nekrolog einer Epoche. Hermann Usener und seine Schule, in: Lustrum 22, 1979-80, S. 5-106, hier S. 86f. - Zugrunde liegt dem doch die Uberzeugung von "der naturnothwendigkeit der formen [...], mit der die strahlen religiöser empfindung im menschlichen geiste sich brechen", so in einem

Eidos. Borchardt zwischen Croce und Warburg

191

Ich habe absichtlich auf alle grundlegung verzichtet, auch auf psychologische, u m die vorginge der begriffsbildung [...] auf empirischem wege zu ermitteln [...] Mit dem letzten kapitel sind wir durch die analyse der worte unmittelbar zu dem seelischen Vorgang geführt, den in der gleichen empirischen weise zu erfassen aufgabe des zweiten theils sein wird. [...] Aber freilich, was D u verlangst, analyse des menschen, aus deren innerem das alles sich hervorbildete, wirst D u auch da vergeblich suchen. Verwechseln wir nicht die aufgabe einer formen lehre der religiösen Vorstellungen mit der aufgabe der religionsgeschichte. [...] In der 'formenlehre', die mir vorschwebt, hoffe ich zwar der psychologie, richtiger der erkenntnißlehre einen wesentlichen dienst zu erweisen, aber nicht dadurch, daß ich von ihnen anleihen mache, sondern ihnen vorarbeite und neuen Stoff liefere.

Dies bezeichnet genau die Grenze, die seine Schüler Warburg und Borchardt dann überschritten. Daß Usener den "primitiven" Menschen gleichwohl im Banne ständiger Angst vermutete, geht immerhin aus Nebenbemerkungen hervor wie der, daß in der Vorzeit "der mensch keinen schritt über den frieden seiner hütte hinaus zu tun [vermag] ohne beängstigende oder rätselhafte Wahrnehmungen". 134 Warburg verknüpft die "Augenblicksgötter" 135 , die Usener an den Ursprung der religiösen Vorstellungen setzt, mit den "Anschauungsbildern", in denen laut Vignoli der Inhalt der primitiven Wahrnehmung zu einer "virtuellen Causalität" personifiziert wurde 1 3 6 , und versucht daraus eine Psychologie zu entwickeln, welche die mythologische Bildschöpfung als Bannung von Angst deutet. Auch Borchardt schließt unmittelbar an Usener an. Möglicherweise wurzelt sein Konzept des Eidos sogar direkt in der Bonner Studienzeit. Am 13.2. 1898 schreibt er an den Bruder Philipp: "Meine mythologischen paralipomena sind noch manuspt. weil Useners kranke äugen ihn hindern die abhandlung fertig zu stellen, der sie im Hermes angehängt werden sollten". 137 Die Mitteilung ist nicht ganz leicht einzuschätzen. Usener hat zahllose Aufsätze publiziert, aber keinen einzigen in Hermes, obwohl er mit einem der beiden Herausgeber, Georg Kaibel, einem ehemaligen Studiengenossen, in regem Briefwechsel stand. 138 Auch scheint es nicht zu seinen Usancen gezählt zu haben, Arbeiten seiner Studenten eigenen Aufsätzen anzuhängen. Außer Frage steht allerdings, daß Borchardt sich zu der Zeit nicht nur mit Mythologica beschäftigte, sondern hierbei vor allem mit den Herakles-Mythen, 1 3 9 die dann

134 135

136 137 138 139

Brief, den Usener im Winter 1895/96 an Wilamowitz-Moellendorff - nicht abgeschickt hat; ebd., S. 81f. Usener: Götternamen (Anm. 62), S. 254. E b d . , S. 280. Vignoli: Mythus und Wissenschaft (Anm. 130), S. 104-107. Briefe 1895-1906, S. 22. Ich hatte leider keine Gelegenheit, Kaibels Briefe an Usener einzusehen; sie liegen in der Bonner Stadtbibliothek; siehe H.J. Mette (Anm. 132). Briefe 1895-1906, S. 22 u. 25.

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Michael N e u m a n n

auch wieder im Mittelpunkt des Alkestis-Aufsatzes stehen werden. Aus dem Hinweis auf den Hermes läßt sich somit wohl zumindest entnehmen, daß Borchardts mythologische Arbeiten zu diesem Zeitpunkt unter dem Zeichen Useners standen. Der hatte 1895 seine Götternamen veröffentlicht; 1898 erschienen als Nachtrag dazu die Göttlichen Synonyme.140 Sein nächstes Werk - an dem Usener also zur Zeit von Borchardts Brief gearbeitet und aus dem er auch in seinen Vorlesungen mitgeteilt haben dürfte waren die Sintfluthsagen (1899), in denen er die für Borchardt entscheidende Theorie v o m Ursprung der Mythen aus 'mythischen Bildern' entwickelte: vielfältige Mythen ließen sich jeweils zurückführen auf ein "einfaches bild, unter welchem das mythenbildende volk eine eindrucksvolle Wahrnehmung oder lebenserfahrung auffasste und festhielt." 141 Die Priorität des einfachen Bildes vor dem ausgeführten Mythos ist hier schon formuliert und im 'Volksgeist' 142 verankert. In den Sintfluthsagen ist es das Bild des in der Truhe schwimmen1*0 Im Rheinischen Museum-, siehe dazu: Kleine Schriften, Bd. IV, Leipzig, Berlin 1913, S. 260f., sowie: Usener und Wilamowitz: Ein Briefwechsel. 1870-1905, Leipzig, Berlin 1934 ( N a c h d r u c k Stuttgart, Leipzig 1994, hrsg. von William M. Calder III), S. 57f. 141 H e r m a n n Usener: Die Sintfluthsagen, Bonn 1899, S. 182. Ausführliche Rückleitungen unterschiedlicher Mythen auf derart 'einfache Bilder' hatten davor auch bereits die Abhandlungen Der Stoff des griechischen Epos (1897) und Göttliche Synonyme (1898) gegeben (Kleine Schriften, IV, S. 199-259 u. 259-306). Aufschlußreich ist, was U s e n e r s c h o n 1881 in seiner Rezension gegen Vignolis R ü c k f ü h r u n g des M y t h o s auf die Personifikation einwendet: "der Vorgang der Personification setzt nichts anderes, als den Begriff eines göttlichen Wesens: damit Mythus zu Stande komme, ist außer der selbstverständlichen Voraussetzung einer vorgestellten Persönlichkeit noch ein zweites notwendig, das Bild o d e r die Metapher: es hat überall, selbst bei den Griechen, G ö t t e r gegeben o h n e M y then." ( [ A n m . 131], Sp. 1066). Im A u f s a t z Mythologie (Anm. 131) wird die T h e o r i e des 'einfachen Bildes' dann ausdrücklich als eine Verbindung der K o n z e p t i o n e n v o n Vignoli und Vico vorgestellt (S. 57f.): "Symbol und M y t h u s [...] entspringen denselben Vorgängen u n b e w u ß t e n Vorstellens, deren grundlegende Bedeutung zuerst Giambattista Vico erkannte [...]. T i t o Vignoli war im Irrtum, w e n n er durch die Personifikation den M y t h u s schon f ü r gegeben ansah. Es muß gleichzeitig aus der Tiefe des Bewußtseins ein Bild aufsteigen und sich mit der beseelten Vorstellung zu einer bildlichen vereinigen." 142 Vgl. Philologie und Geschichtswissenschaft (1882): Vorträge und Aufsätze (Anm. 131), S. 1-35, hier S. 12. - Ahnliche Vorstellungen begegnen auch bei G e o r g Loeschcke: Kopf der A t h e n a Parthenos des Pheidias. Festschrift des Vereins v. A l t e r t h u m s f r . im Rheinlande z u m 50jähr. Jubiläum 1891, S. 8: N a c h d e m "im Ringen nach Menschlichkeit u n d Schönheit" die Eulenhaftigkeit der älteren Athene-Bildnisse bis zur Verwischung des Göttlichen getilgt worden sei, habe Pheidias "auf die Volksvorstellung" zurückgegriffen; "mancher Alte aus Kydathen, dem beim ersten Anblick das Bild der P a r t h e n o s fast u n f r o m m vor Schönheit erschienen sein mag, sah gewiss freudig, w e n n sein andächtiger Blick länger in sinnender Betrachtung auf d e m Antlitz der G ö t t i n weilte u n d den wie spielend geführten Linien des Helmrands folgte, wie in seiner Phantasie das uralte liebe Bild der 'Eulenäugigen' verklärt wieder auflebte." Man sieht, daß die erzählerische Vergegenwärtigung abstrakter Rekonstruktionen zu jener Zeit nicht n u r A u ß e n s e i t e r n wie Borchardt vorbehalten war.

Eidos. Borchardt zwischen Croce und Warburg

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den Knaben, das Usener durch eine Fülle unterschiedlicher Mythen verfolgt. Er hat auch bereits die Ausgestaltung der einzelnen Mythen den Dichtern unterstellt. Borchardt allerdings beachtet in seiner Alkestis-Studie weniger die reichhaltigen mythologischen Filiationen des Urbildes, denen Useners ganze Aufmerksamkeit gilt, und er ignoriert die Rückführung auf elementare Naturereignisse, mit der Usener 143 noch der vergleichenden Mythologie ä la Max Müller und Adalbert Kuhn folgt. Borchardt konzentriert sich auf die psychische Funktion: auf die Kraft des Bildes, durch ordnende Gestaltung das Chaos der wahrgenommenen Welt zu bannen. Darin trifft er sich wieder mit Warburg. Mag Borchardt - in den Spuren Nietzsches - mehr an der bannenden Macht der genialen Vision interessiert gewesen sein, Warburg dagegen unter dem Einfluß Darwins und Vignolis - an der bannenden Distanzierung eines "primitiven" Erbes durch die aufklärende Ratio - einig waren sie sich in der Schlüsselstellung, die sie der kunsthistorischen Interpretation für die Entwicklung einer historischen Psychologie zutrauten. Und geeint zeigen sie sich auch in ihrer alle Fachgrenzen sprengenden Neugier: der Neugier auf die Bilder, deren die Menschen bedürfen, um Welt aufzubauen, und der Neugier auf die Mechanismen, mit denen diese Bilder im Menschen ihre Wirkung tun.

143 So wird Thersites letztlich auf den Kampf zwischen Sommer und Winter zurückgeführt (Der Stoff des griechischen Epos (Anm. 141, S. 239ff.) und werden die Mythen vom Knäblein in der Truhe in der 'Vorstellung des lichtaufganges" (Sintfluthsagen [Anm. 141], S. 213) begründet, auch wenn Usener im Widerspruch zu Kuhn davon ausgeht, daß die von dieser Vorstellung abgeleiteten Bilder als "lebendige gestalten" dann unabhängig von der "zu gründe liegenden anschauung [...] ihre eigene bewegungsfähigkeit" entfalten (ebd., S. 194).

ANDREAS BEYER

"Ist das die Villa?" Rudolf Borchardt in der Villen-Landschaft "Villen, ja Villen!" Carlo Emilio Gadda

I

Rudolf Borchardts 1907 erschienener Essay Villa' ist seinen Lesern stets weit mehr gewesen als der bloße Versuch, die Typologie einer spezifisch italienischen Baugattung, nämlich des Landhauses, zu skizzieren. Hugo von Hofmannsthal begrüßte das ebenso bündige wie dichte Prosastück emphatisch: "Sie können kaum berechnen, wie viel eine Arbeit wie die über die Villa mir giebt. Nicht das Einzelne, sondern die Geste darin - die Möglichkeit, sich in geistigen Dingen der precärsten Synthese, auf jemand in der Welt verlassen zu können f...]."2 Ernst Robert Curtius betrachtete den "großartigen Essay" als einen "Markstein der neueren Geistesgeschichte [...], [der] die römische Kontinuität der europäischen Geistesform [...] wieder ins Bewußtsein gehoben" und der "Neuwertung des Römertums und Virgils" in der ersten Hälfte unse-

1

2

Der Essay Villa erschien erstmals in zwei Lieferungen in der Frankfurter Zeitung, 51. Jg., Nr. 46 und 47 vom 15. und 16. Februar 1907, jeweils Erstes Morgenblatt S. 1-3. Im darauffolgenden Jahr kam er als Privatdruck im Auftrag Alfred Walter von Heymels in Leipzig in Buchform heraus und erlebte seither mehrere Neuauflagen, so in Rudolf Borchardt: Schriften. Prosa I, Berlin 1920, S. 5-44, und Rudolf Borchardt: Prosa III, Stuttgart 1960, S. 38-70, 491f., zuletzt in Rudolf Borchardt: Italienische Städte und Landschaften, hrsg. von Gerhard Schuster, Stuttgart 1986, S. 14-48, im folgenden zitiert: Villa. Vgl. auch Rudolf Borchardt. Alfred Walter Heymel. Rudolf Alexander Schröder. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum, Marbach am Neckar 1978, S. 198f.; im folgenden zitiert: Katalog Marbach. Vgl. auch Inge Sommer: Untersuchungen zu Rudolf Borchardts Italien-Rezeption, Bonn 1967, S. 11-27. - Der Contessa Maria Adelaide Sardi Giustiniani und Conte Sebastiano Giustiniani (Monte San Quirico, Lucca) bin ich für vielfache, großzügig gewährte Unterstützung dankbar. Christine Tauber (Bonn) danke ich für kritische Lektüre und hilfreiche Anregungen. Hugo von Hofmannsthal in einem Brief an Borchardt vom 28. Februar 1907; Rudolf Borchardt/Hugo von Hofmannsthal: Briefwechsel, S. 52.

Rudolf Borchardt in der Villen-Landschaft

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res Jahrhunderts den Weg bereitet habe.3 Ralph-Rainer Wuthenow wies diesem "ersten großen Essay" paradigmatischen Charakter für Borchardts spätere Arbeiten zu und erkannte darin den Ausdruck eines Ordnungsdenkens, das weit über den verhandelten Gegenstand hinausreiche.4 Gerhard Schuster endlich hat daran erinnert, daß die Villa nur das Bruchstück eines weit umfangreicheren und lange erdachten Italienwerks darstellt, der Wege nach Altdeutschland, und also, wie nachfolgende, italienischen Städten und Landschaften gewidmete Prosastücke auch, "für Deutschland und nach Deutschland hinüber gesprochen" sei.5 Ungeachtet dieser Verweiseigenschaften, eröffnete Borchardts Aufsatz aber vorrangig einen kunsthistorischen Diskurs, wobei die Kunst- und Architekturgeschichte den primordialen Rang dieses Essays zu erkennen lange Zeit versäumt und sich dessen synthetische Qualität nicht zunutze gemacht haben, obschon doch gerade sein Gegenstand zu den meist verhandelten Objekten der architektonischen Entwurfs- und Rekonstruktionspraxis, der Traktatistik und der Kunstwissenschaft zählt.6 Im folgenden soll die Behauptung verfolgt werden, daß Borchardts Villen-Essay, aller Widerständigkeit des Themas zum Trotz, die Bedeutung eines architekturtheoretischen Traktats zukommt, der in seiner Verbindung aus Form- und Funktionsanalyse, wirtschaftsgeschichtlicher Einschätzung und Erfassung des literarisch an den Villenort gebundenen Lebensgefühls vorbildhaften methodischen Charakter erhält. In jüngerer Zeit vergleichbar erscheint er mir allenfalls Pierre Bourdieus Analyse des "Kabylenhauses", das dieser wie einen sinnhaltigen Text ausdeutete.

II Borchardt war sich freilich selbst bewußt, daß sein Essay weit über die literarischen Ambitionen einer Kunstwissenschaft hinausreichte und sich die Villa, in der gebauten Wirklichkeit nicht weniger als in seinem Essay, dem leichten Zugang verschloß. In einem Brief an seine Schwester Helene bekannte er:

3

Ernst Robert Curtius: Rudolf Borchardt über Virgil (1952), in: ders., Kritische Essays zur europäischen Literatur, 2. Aufl. Bern 1954, S. 2 3 - 3 0 , hier S. 27.

4

Ralph-Rainer Wuthenow: Anmerkungen zu Borchardts "Villa", in: H o r s t Albert Glaser

5

Gerhard Schuster: Toskana als geistige Lebensform, in: Glaser (Anm. 4), S. 151-174.

6

Vielleicht ist es allein Reinhard Bentmann und Michael Müller in ihrem Versuch einer

( H g . ) : Rudolf Borchardt 1 8 7 7 - 1 9 4 5 , Frankfurt am Main u.a. 1987, S. 199-206.

kunst- und sozialgeschichtlichen Analyse: Die Villa als Herrschaftsarchitektur, Frankfurt am Main 1970, gelungen, in vergleichbarer Stringenz, freilich mit viel expliziterem politischem Impetus, vom T h e m a der Villa zu handeln.

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Andreas Beyer

Viele klagen über die "eingeschachtelten Sätze" so nennen die Leute, die seit langem weder Goethe noch Schiller noch Schopenhauer, noch irgend einen der grossen stilerhaltenden Künstler lesen, auf denen die Entwicklung unserer Sprache beruht, jene beherrschte und gestaltete Prosa. Der Hass gegen den Nebensatz ist eben eine bestimmte Qualität des deutschen Kleinbürgers - als seelischen Typus genommen, er mag dabei sehr reich sein wie sein Hass gegen das tub, die selbstgebundene Cravatte, gute Manieren und alles überhaupt worin er überlegene Kultur wittert, die ihn zu formen versucht. Ich bin durch solche Sachen allerdings nicht zu beirren und fahre fort mich fest an Traditionen zu halten, in einer Zeit, die die Zukunft unaufhörlich aus der Erde zu stampfen versucht, aus der Misere des jeweiligen verlumpten Moments der sich Gegenwart nennt. 7

Dieses "Festhalten an Traditionen", der Glaube an eine geschichtliche Kontinuität, stellt den Grundgedanken von Borchardts Werk überhaupt und besonders den der Villa dar. Schon das Motto - ein freies Zitat aus Ciceros "De finibus bonorum et malorum" - "Quocumque ingredimur, in aliquam historiam pedem ponimus" 8 verweist auf den Ursprung, an dem Borchardt die Villentradition des hesperischen Landes angesiedelt und dort sich bis in seine Zeit hinein ungebrochen fortsetzen sieht, wie denn auch der Essay mit der programmatischen Aufforderung schließt: "[...] wer wissen will, wie die Villa und Italien zusammenhängen, muß sich schon selber dazu herablassen, den letzten Dänen aus der Hand zu legen und unbekannte Schriftsteller zu lesen wie Horaz." 9 In der Villa handelt Borchardt, pars pro toto, von Italien, oder anders, vom romanischen "Wesen", das er in der Polarität der Dinge und des Lebens aufgehoben sieht: "Ich könnte von Mann zu Frau in Italien sprechen, von Herr und Knecht, von Schuld und Strafe, den Heiligen und den Mördern, vom Staate und vom Einzelnen, vom Alter und der Jugend, könnte ein anderes Mal so von den Städten mitteilen, wie heute vom Lande, vielmehr von Palazzo, Piazza und Land, wie heute von Villa und Stadt." 10 Denn Italien, so Borchardt, sei "so altertümlich, daß man es in jedem seiner Durchschnitte polar betrachten muß."11 Diese Polaritätsidee bestimmt aber nicht nur Borchardts inhärenten Blick auf Italien; auch Deutschland und Italien, Norden und Süden hat er nicht anders als antagonistisch erfahren.

7 8

Rudolf Borchardt an die Schwester Helene, 20. März 1907; Briefe 1907-1913, S. 5 l f . "... quocumque enim ingredimur, in aliqua historia vestigum ponimus." ("Wohin wir auch gehen, wir setzen den Fuß in Geschichte.") 9 Villa (Anm. 1 ) , S . 48. 10 Ebd., S. 18. Vgl. dazu auch Borchardts Übertragung von Robert Brownings Up at a Villa — Down in the City (As Distinguished by an Italian Person of Quality) - Droben in der Villa - drunten in der Stadt (behandelt von einer italienischen Standesperson), in: Gedichte II / Übertragungen II, S. 361 f. 11

Villa (Anm. 1), S. 18.

Rudolf Borchardt in der Villen-Landschaft

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III Mit der Villa wählte Borchardt eine architektonische Gattung, die die Baugeschichte stets prominent beschäftigt hat und die Gegenstand zahlreicher baupraktischer, architekturgeschichtlicher und kunstliterarischer Bemühungen gewesen ist. Zumal wie die Villa der Alten, die Borchardt am Beginn einer unausgesetzt fortreichenden Tradition sieht, ausgesehen hat, darüber spekulierten, nicht nur bis zu den ersten Grabungen des 18. Jahrhunderts, sondern bis heute, Architekten genauso wie Archäologen. 12 Sie taten und tun es nicht zuletzt, um sich das Fortleben dieser Baugattung von der Antike bis zur Neuzeit, vor allem aber die Formen ihres Uberdauerns im Mittelalter zu erklären. Kein anderer Bautyp nämlich hat eine vergleichbar lange, seine Bestimmung kaum variierende Tradition wie eben die Villa. Aber weder die sprichwörtlichen "dunklen Stellen" Vitruvs, noch Vergil, Horaz oder Tibull, die von Borchardt aufgerufenen Zeugen des von ihm in der Villa erkannten Kontinuitätsprinzips, erlauben es, die bauliche Beschaffenheit des Landhauses der Alten verläßlich zu bestimmen. Zwar bildet auch in der Antike die Villa das Korrelat zur städtischen Behausung - wie es die ergrabene Villenkultur der Campagnia eindrucksvoll bestätigt und es etwa der berühmte Abguß eines römischen Reliefs von Avezzano augenfällig macht. 13 Wie aber das "Sabinum" des Horaz in seinen Bauteilen wirklich beschaffen war, läßt sich aus den spärlichen Mauerresten, in denen es vermutet wird, nicht verläßlich rekonstruieren. 14 Was in den Eklogen und Epoden der Alten besungen wird, sind nämlich nicht die architektonischen Details, sondern das Lob des Landlebens überhaupt, die Daseinsform und das Lebensgefühl des "otium" - fern dem geschäftigen Treiben der Städte. 15 Selbst in dem einzigen erhaltenen Architekturtraktat der Antike, den Zehn Büchern zur Architektur des Vitruv, findet sich nur der für ihn aller-

12 Zur Forschungsgeschichte der Römischen Villa vgl. Fridolin Reutti (Hg.): Die Römische Villa. Wege der Forschung, Band CLXXXII, Darmstadt 1990, S. 1-12. 13 James S. Ackerman: The Villa. Form and Ideology of Country Houses, London 1990, Abb. 1. 14 Vgl. hierzu, und zur römischen Villa allgemein, Harald Mielsch: Die römische Villa. Architektur und Lebensform, München 1987. Die ausführlichsten Kommentare zum Leben auf dem Lande des Horaz finden sich in dessen Oden (Carmina), III.l und III.13; den Satiren, 1.6 und II.6, den Episteln, LIO, 1.14 und V.16, sowie den Epoden II. 15 Vgl. dazu Evelyn Martinengo-Cesaresco: The Outdoor Life in Greek and Roman Poets, London 1911; René Marin: Recherches sur les agronomes latins et leurs conceptions économiques et sociales, Paris 1971; Kenneth D. White: Roman Agricultural Writers. I: Varrò and his Predecessors, in: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, I, Berlin, New York 1973, S. 439-497; ders.: Country Life in Classical Times, Ithaca 1977; sowie eine aggiornierte Bibliographie bei James S. Ackerman (Anm. 13), S. 287f.

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dings typische, weil ebenso knappe wie letzlich undeutliche Hinweis, "auf dem Lande" kämen nach den Eingangstüren "sofort die Peristyle [...], darauf d a n n die Atrien, die ringsum mit Estrich versehene Säulenhallen haben, die zur Palestra und den Promenaden hinblicken." 16 Im übrigen, darf man vermuten, hatte die Villa auszusehen wie das Stadthaus. Allenfalls im Brief Plinius' des Jüngeren an Gallus, in dem dieser seine Villa, das "Laurentinum" in der N ä h e von Ostia, beschreibt, scheinen die Umrisse einer römischen "Villa urbana" aufzuscheinen. 1 7 Aber, so fragt Beat Wyss in seinem Reisebericht vom Castel Fusano, 1 8 das er mit der Erkenntnis verließ, ein "otium" könne man nicht ergraben: "Wie soll der Archäologe ein Eßzimmer rekonstruieren, von d e m es nur heißt: 'quae plurimo solo, plurimo mari lucet'?" 19 Vielleicht, so Wyss, sei die Villa des Plinius nur "wie viele andere Kultfiguren der Geschichte [...] einfach der ewige Traum vom besseren Leben, das man in die Vergangenheit legt?" 20 Gerade aber die Unklarheit der Äußerungen Plinius' hat über viele Generationen vor allem Architekten veranlaßt, einen der wirklichen Gründungsbauten der Villenkultur immer wieder anschaulich nachzubilden. Besonders die Anlage des Atriums und des sich anschließenden Säulengangs - ob halb- oder ganz kreisförmig bleibt nach Plinius' Angaben unentschieden - provozierte immer neue Lösungsvorschläge. W ä h r e n d Andrea Palladio, der sich bei seinem Exkurs zur Villa der Alten auf die Exegese Vitruvs beschränkt, ganz bewußt auf eine Erörterung dieser komplizierten Quelle zu verzichten scheint, erlangte die Rekonstruktion seines "Nachfolgers" Vincenzo Scamozzi von 1615, die im Aufriß eher einem palladianisch inspirierten vicentinischen Stadtpalast des 16. Jahrhunderts gleicht, für lange Zeit Gültigkeit 2 1 - bis hin zu John Soane, der noch um 1810 Scamozzis Grundriß unverändert beibehielt und ihn nur im Aufriß um dekorative Teile ergänzte. 2 2 Etwa gleichzeitig

16

Vitruv, Lib. VI, Kap. 9. Des Marcus Vitruvius Pollio Baukunst, Bd. 2, Lpz. 1796, S. 33ff.

17

Plinius der Jüngere: Briefe. Ausgewählt, übersetzt und mit einem N a c h w o r t versehen v o n Mauriz Schuster, Stuttgart 1953. Vgl. auch d e n Abdruck des Briefes in: Vitruv (Anm. 16), S. 46-53. Beat Wyss: Das Laurentinum des Plinus. Ein Reisebericht, in: Grenzbereiche der Architektur, Festschrift Adolf Reinle, Basel 1985, S. 259-272. "[...] der Glanz der Sonne und des Meeres erfüllen diesen Raum mit Helligkeit." Zit. nach Plinius (Anm. 17), S. 15. Vgl. Beat Wyss (Anm. 18), S. 262. Ebd., S. 270. Zu Vincenzo Scamozzis "Laurentinum" vgl. ders.: Delle lodi, e comodità delle fabriche suburbane: e de'loro generi: e del Laurentino di Plinio Cecilio: e della eletione de'siti per esse, in: ders.: Idea dell'architettura universale, Venedig 1615, Lib. III, Kap. 12, S. 265-268. Zu J o h n Soanes Rekonstruktionsvorschlag vgl. Maurice C u l o t / P i e r r e P i n o n (Hg.): La Laurentine et L'Invention de la Villa Romaine, Paris 1982, S. 115.

18 19 20 21

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variierte Achille N o r m a n d das "Laurentinum" "revolutionsarchitektonisch", 2 3 während sich Louis-Pierre Haudebourt um 1838 d a r u m bemühte, das literarische Itinerar exakt zu befolgen, womit er eine Zeitlang Architekten wie die klassische Archäologie gleichermaßen begeisterte. 2 4 Karl Friedrich Schinkel dagegen gestaltete um 1841 seine Anlage so irregulär, daß der Grund d a f ü r weniger die Ungenauigkeit des Plinius sein dürfte, als vielmehr Schinkels Griechenkult, der hier eine griechische Version des Landsitzes am tyrrhennischen Ufer ansiedelte. 25 Bis hin zu Leon Kriers postmodernem T r a u m der antiken Villeggiatura 2 6 aus den achtziger Jahren unseres Jahrhunderts ist die Villa der Alten, für die das "Laurentinum" mehr als jede andere steht, immer auch die Projektionsfläche sowohl der jeweils zeitgenössischen Stadtfluchtphantasien als auch zwangsfreier Bauphantasie geblieben, die keine Bauaufgabe so großzügig zu gewähren scheint wie gerade die Villa. 27

IV Für Rudolf Borchardt freilich stellte sich nicht die Frage nach verläßlicher archäologischer Rekonstruktion und bauhistorischer Quellenforschung. Was durch das antike Schrifttum tradiert war, erlebte er als bauliche Gegenwart in den Villen der Apenninenhalbinsel. In die Villenbauten der Neuzeit projizierte er die Beschwörung des "modus agri" der klassischen Literatur, w o d u r c h sich für ihn "lateinisches Wesen" und italienische Wirklichkeit in der Villa symbolhaft verdichteten. Dazu setzte Borchardt nicht einmal den Fuß in die ältesten Landschaften der Villenkultur - weder verirrte er sich im Gestrüpp und der Macchia am Strand von Ostia, noch suchte er die Villa in d e n Sabiner Bergen, den "Castelli romani" oder am Fuß des Vesuv. Er spürte ihr in den Hirtengedichten und Episteln nach und fand sie in der Villeggiatura der Toskana, wohin schon die Dichtkunst der frühen Neuzeit mit Giovanni Boccaccio und die Erneuerung der antiken Literatur des 19. Jahrhunderts mit Giosuè Carducci und Giovanni Pascoli den W e g gewiesen hatten. Diese Ver23 Zu Achille Normand vgl. Culot/Pinon (Anm. 22), S. 119. 24 Louis-Pierre Haudebourt: Le Laurentin, Maison de Campagne de Pline le Jeune, Paris 1838. Vgl. auch Culot/Pinon (Anm. 22), S. 128-131, Abb. S. 129. 25 Karl Friedrich Schinkel: Architektonisches Album, Berlin 1841, Heft VII, Bl. 41/42. Vgl. auch Karl Friedrich Schinkel. Ausst.-Kat., Berlin 1981, Kat.-Nr. 95. 26 Vgl. Leon Krier: L'Amour des Ruines ou Les Ruines de l'Amour, in: Culot/Pinon (Anm. 22), S. 149-164. 27 Schon der bedeutendste Traktatist zur Baukunst der Renaissance, Leon Battista Alberti, charakterisierte den Unterschied zwischen Land- und Stadthaus mit den Worten: "Hier ist alles freier, dort alles gehemmt." Vgl. Leon Battista Alberti: Zehn Bücher über die Baukunst, Wien, Leipzig 1912, Lib. V, Kap. 14, S. 263.

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längerung einer literarischen Tradition in eine zeitgenössische räumliche Erfahrung hinein hat Borchardt, als "hartnäckiger Villenbewohner" (Gerhard Schuster), sich selbst vorgelebt. Vom Sommer 1906 bis zum Herbst 1907 bewohnte er die Villa Sardi (ehemals Benassai) in Vallebuia bei S. Quirico unweit von Lucca,28 die den Prototyp seines Ideals bilden wird; bezog anschließend die Villa dell' Orologio in Vicepelago bei Lucca;29 verbrachte das darauffolgende Jahr (1909/ 1910) in der Palazzina Burlamacchi-Altieri in Gattaiola30 und mietete ab Oktober 1910 auf zwei Jahre die Villa Geggiano im Sienesischen - einen Bau, von dem Borchardt schrieb, daß er "keine künstlerischen Reize [besitze] als die in [seinen] grandiosen Proportionen liegenden", und daß er "kahl" sei, "ohne Säulen und Hallen, nur mit einem schmalen Balkon: ein riesiger nackter Würfel mit einem aufgesetzten Geschoß."31 Gerade darin aber entsprach diese Villa Borchardts Vorstellung des Landhauses in besonderem Maße, das er sich "schmucklos nach Art deutscher Gutshöfe" dachte.32 Ab 1912, und mit Unterbrechungen bis 1925, bewohnte Borchardt die Villa Mansi in Monsagrati bei San Martino in Freddana33 - jenen Bau, an den er sich in seinem Aufsatz Nach zwanzig Jahren erinnert.34 Sechs weitere Jahre bewohnte er die Villa Chiappelli bei S. Alessio auf den Hügeln vor Pistoia35 und von 1931 bis 1943 schließlich die Villa Bernardini bei Saltocchio, wieder im Lucchesischen.36 Allein die beeindruckend große Zahl der Borchardt zur Verfügung stehenden Villen, die, von ihren Besitzern geflohen, dem nordisch-arkadischen Lebensentwurf zur Miete offen standen, hätte freilich seine Zweifel an der von ihm behaupteten ungebrochenen Kontinuität auch der Villenkultur in Italien wecken müssen - so wie die Ergebnisse der Sozialgeschichte, die schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts den lange zuvor einsetzenden Niedergang der Halbpacht, der "Mezzadria", konstatiert hatten. Die durch Mißernten und Verschuldung ausgelöste Landflucht hatte das soziale und kulturelle Netz der Villenkultur lange schon brüchig werden lassen; als Reminiszenzen an die verlorenen gegangene Versöhnung von Stadt und Land, Mensch und Natur vermochten die verwitterten Landsitze allenfalls noch an ein historisches Bewußtsein zu appellieren.

28

Z u r Villa Sardi vgl. Katalog Marbach, S. 2 0 0 - 2 0 2 .

29

Zur Villa dell'Orologio vgl. ebd., S. 204f.

30

Zur Palazzina Burlamacchi-Altieri vgl. ebd., S. 2 0 4 - 2 0 6 .

31

Zur Villa Geggiano vgl. ebd., S. 206-208.

32

Villa (Anm. 1) S. 22.

33

Zur Villa Mansi vgl. Katalog Marbach, S. 208f.

34

Prosa V I , S. 2 1 9 - 2 2 6 .

35

Zur Villa Chiappelli vgl. Katalog Marbach, S. 362f.

36

Zur Villa Bernardini vgl. ebd., S. 387-390.

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Daß diese Wirklichkeit Borchardt freilich nicht verborgen geblieben war, zeigt sich besonders eindringlich in seinem Aufsatz Nach zwanzig Jahren (1935), in dem er sich an die Suche nach einer Villa nahe der Apuanischen Alpen erinnert: [...] und diese gefunden und, an einem regnerischen N o v e m b e r n a c h m i t t a g in einem Wägelchen spät hier hinaufgeschleppt, mir das seit Generationen u n b e w o h n t e H a u s habe öffnen lassen [...] Räume aus denen der alte G o e t h e eben gerade herausgeschritten z u sein schien [...]; wie ich mir den Saal, in d e m wir standen, den einzigen des Hauses, nach hinten hinaus, doppelt hätte erleuchten lassen, u m z u lesen, was am Plafond rings u m den Lüster oder u m das Wappen am Lüster, gemalt war oder geschrieben, u n d daß der Alte mir gesagt hatte, das habe der Marchese schreiben lassen, als er sich hierher aus einer veränderten Welt zurückzog, der letzte Mansi, der letzte seines Hauses. H o f m a n n s t h a l blickte dort hinauf u n d las das stolze trauernde Latein: Ego Solas Mansi, ich allein bin Mansi, ich allein bin geblieben, ich bin allein geblieben. Ich erzählte ihm, wie das W o r t , und der W u n s c h , es täglich zu lesen, mich seitdem nicht mehr verlassen hätte; wie ich ihm [...] nachgehangen habe, und endlich, da ich das Haus gemietet u n d g e n o m m e n , fast aufgeatmet. 3 7

Damit setzte sich Borchardt in mimetischer Bewegung selbst in die Rolle des letzten Bewahrers einer Lebensform ein, die historiographisch in die Jetztzeit zu retten einen zentralen Antrieb der Villa darstellt. Die "nach zwanzig Jahren" düster evozierte Verlassenheit der toskanischen Gutshöfe, ihr trauerndes Dasein in einer "veränderten Welt", blendete Borchardt in seinem VillenEssay freilich konsequent aus. Dabei hatte bereits die Sozial- und Ökonomiegeschichte des 19. Jahrhunderts den kritischen Zustand gerade der toskanischen Agrikultur drastisch beleuchtet. In Charles Sismondis Tableaux sur l'agriculture toscane von 1801 (Gemälde der toskanischen Landwirtschaft, Tübingen 1807) hätte sich Borchardt, Gerhard Schuster hat darauf verwiesen, ausführlich über die Zusammenhänge von Bodennutzung und Agrarvertrag, Steuerbelastung, Kreditverhältnissen und Auswanderung, Untergang der "Mezzadria" und Absentismus unterrichten können. "Die Realien eines Paul David Fischer erlauben jede Gegenprobe, sobald Borchardts Darstellung aus der konjunktivischen Typologie der Geschichte in die aktuelle Situation der Jahrhundertwende gerät. Borchardt kannte das Diktum des Plinius: Latifundia Italiam perdidere natürlich ebensogut wie die Lettere meridionali Pasquale Villaris von 1878. Verschuldung, Mißernten und Hunger als Gründe für lombardische und toskanische Bauernaufstände seit 1898 können seiner Anschauung nicht gut entgangen sein. Es waren taktische Gründe", so Schuster, die in der Villa die Ausblendung solcher Tatsachen bedingten, in der polemischen Absicht nämlich, "mit Hilfe dieses aristokratisch gesteigerten Arkadien das Kaiserreich ins Abseits eines zivilisatorischen Entwicklungslands" zu verweisen. 38 Wohl aber

37

Prosa VI, S. 220f.

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auch, um seinen monographischen Traktat, der nach geschichtlicher Herleitung suchte, nicht durch eine Gegenwart zu belasten, die neue Fragen nach Funktion und Repräsentation der Villa aufwerfen mußte und in die hinein er die Traditionslinien ja ungebrochen führen sah. Das beeinträchtigt aber durchaus nicht die Einschätzung, daß die Villa - ihr Idealtypus ist gemeint - zur Zeit ihrer Errichtung durchaus den wirtschaftlichen und ideologischen Bedingungen entsprach, die Borchardt als Voraussetzung ihrer Existenz erkennt. Unausgesprochen beschreibt der von Borchardt entworfene Idealtypus der Villa und seiner Enstehungsbedingung den zeitlichen Rahmen vom späten Mittelalter bis in das späte 18. Jahrhundert.

V Die toskanische Landschaft war, so bereits in Michel de Montaignes Badereise im Lucchesischen 39 und noch weiter zurück, wiederholt Gegenstand literarischer Beschreibung gewesen - "von einigen Fingerzeigen Böcklins abgesehen" erschien sie Borchardt aber als ein "malerisch unentdecktes Land." 40 Mit Arnold Böcklins Frühlingstag (1883) 41 oder seiner Villa am Meer (1864/65) 42 seien hier nur zwei Beispiele aus einer Fülle anderer aufgeführt, in denen die Villa immer auch Ausdruck zisalpiner Sehnsucht ist, des Strebens nach zwangsfreiem, den gesellschaftlichen Normen enthobenen Leben. 43 Schon deshalb illustrieren Böcklins "Villen-Bilder" nur sehr bedingt, eben allenfalls als "Fingerzeig", Borchardts Villen-Ideal. Denn zum "locus amoenus" hat sich die Toskana weder in Literatur noch Kunst je wirklich gewandelt. Fritz Dörrenhaus hat die geographische Mitte Italiens treffend als "Stadt-Landschaft" beschrieben: "Die lichte berauschende Landschaft Toskanas mit ihren Gutshöfen, ihren Ölbäumen und Zypressen ist das Ergebnis der Planung der Bourgeoisie und des Kapitals. So erweist sich die Landschaft der 'case sparse' [der 'verstreuten Häuser', A.B.] als völlig in die Stadt einbezogen [...], ist die dem äußeren Augenschein nach am stärksten ländliche Erscheinung dieser mittelitalienischen Region ihrer inneren Struktur nach die am stärksten urbanisierte." 44

38 39 40 41 42 43

Schuster (Anm. 5), S. 166. Zum zeitgenössischen Gegenbild, auf das Borchardt sein Dekadenzschema nicht angewendet hat, um seine Polaritätsidee nicht zu gefährden, vgl. ebd. Michel de Montaigne: Tagebuch einer Badereise (1580/81), dt. von O t t o Flake, Stuttgart 1963. Villa (Anm. 1), S. 14. Zu Böcklins Frühlingstag vgl. Rolf Andree: Arnold Böcklin. Die Gemälde, Basel, München 1977, Kat.-Nr. 374, Farbtafel 30. Zu Böcklins Villa am Meer vgl. Rolf Andree (Anm. 41), Kat. Nr. 174, Abb. 284. Vgl. dazu: Arnold Böcklin e la Cultura Artistica inToscana. Ausst.-Kat. Fiesole, Rom 1980.

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Gerade diese "städtische" Eigenart der Toskana machte sie und ihre Villenkultur für Borchardt zum geeigneten Feld seines gattungsspezifischen Versuchs, der ja vom Dualismus, der Polarität von Stadt und Land und ihrer gegenseitigen Bedingtheit, ausgeht, nämlich jener "Gesinnung, die bis auf den heutigen Tag in Italien Palazzo und Villa in Zwillingsschalen vollkommen gegeneinander aufhebt." 4 5 Die politische Unterwerfung des Landes durch die Kommunen, die den Adel in die Stadt zwang, hatte zur privatwirtschaftlichen Nutzung des Landes von der Stadt aus geführt und damit zur Urbanisierung des Landvolkes. Die angestrebte neue rationelle Betriebsweise sprengte das Netz der alten dörflichen Siedlungen, die neuen Eigentümer rundeten ihren Landsitz ab und setzten in die Mitte des Besitzes den Pachthof - die "poderi" oder die "case sparse" der Toskana, die entscheidend zur additiven Landschaftsphysiognomie der Toskana beigetragen haben. 4 6 In den ökonomischen Voraussetzungen dieser Besiedlungsform erkennt Borchardt folgerichtig die Grundvoraussetzung zur Ausbildung der Villen-Landschaft: "Der wichtigste Menschenbestand der Villa sind ihre Contadini, die festen Pachtbauern auf den festen poderi, die auch die Maßeinheit des Besitzes - Villen von drei oder dreißig poderi [...] in sich darstellen; diese Bauernfamilien sind dank dem segensreichen Institute der mezzeria [d.i. die mezzadria], oder Halbpacht [...] in Toskana und sonst vielfach auf ihren poderi so alt eingesessen wie die Signoria auf der Villa." 47 Weshalb denn auch die Villa nur "der Teil eines Landbesitzes" sei, "nämlich sein unwesentlichster", 4 8 und auf die bestimmenden wirtschaftlichen Faktoren verwiesen ist, die das gesamte von der Villa nur zusammengefaßte Areal betreffen. Der folgenreichste Traktatist zur Villenkultur, Andrea Palladio, bezeichnet so in seinen 1570 erschienenen Quattro Libri dell'Architettura mit "Villa" die gesamte Anlage und unterscheidet die "casa del padrone" von den Wirtschaftsgebäuden, den "case di villa". 49 Freilich zielt Borchardt mit seiner Bemerkung auch polemisch gegen Erwartungen, die in der Villa, also dem Herrenhaus, Prunkfassaden, Raumfluchten und Gartenarchitekturen nach Art der Gründerzeitvillen vermuten, wie sie die deutsche Villenkultur, zumal des 19. Jahrhunderts, am Rhein

44 Fritz Dörrenhaus: Urbanität und gentile Lebensform. Der europäische Dualismus mediterraner und indoeuropäischer Verhaltensweisen, entwickelt aus einer Diskussion um den Tiroler Einzelhof, Wiesbaden 1971. Hier zitiert nach Edith Ennen: Die europäische Stadt des Mittelalters, 1987, S. 165. 45 Villa (Anm. 1), S. 30. 46 Vgl. etwa den sehr anschaulichen Lageplan der Villen von S. Colombano, Segromigno und Valgiano in: Isa Belli Barsali: La Villa a Lucca dal XV al XIX secolo, Rom 1964, Abb. Nr. 46. 47 Villa (Anm. 1), S. 36. 48 Ebd., S. 23. 49 Andrea Palladio: Die vier Bücher zur Architektur (1570), München, Zürich 1983, S. 164f.

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ebenso wie am Wannsee, prägen, die ja zu so widersprüchlichen Schöpfungen geführt hat wie etwa der innerstädtischen "Westendvilla". 50 W e r aber mit diesem Begriff von der Villa oder der Villenkolonie durch das T o r blickt, dem wird das italienische Landhaus auch nichts von seinem monumentalen Ernst offenbaren, nichts von der durch- und zu Ende gebildeten Vornehmheit der unscheinbaren F o r m , an der alles participiert, was in diesem Lande ungebrochener Uberlieferungen bis an die Wende des vorigen Jahrhunderts und darüber hinaus steinern hingestellt worden ist, um als F o r m zu bleiben und von F o r m zu zeugen. Ihm wird kaum das Schweigsame und Zurückgehaltene daran bewußt werden, die architektonische G e s t e des Zufluchtsortes, der das Auge eher abzuweisen als anziehen zu wollen scheint, mit Fenstern, die nichts verraten, geheimnisvoll mienenlos wie die Stirnwand eines Klosters. Sondern er wird überhaupt kaum etwas anderes sehen, als große, augenscheinlich recht geräumige und bequeme Wohnhäuser, im groben Rasen stehend und nicht zum besten gehalten, mit Ö k o n o m i e gebäuden und Nutzanbauten, recht gelb, Stockflecken auf der T ü n c h e , die Steinfassungen verwitternd, der Bewurf rissig, Moos auf den Wegen und nirgend Teppichbeete und überhaupt Farbe, schmucklos nach Art deutscher G u t s h ö f e . 5 1

"Ist das die Villa?" fragt Borchardt und weiß sich selbst und seinem Leser zu antworten: "Genau das ist die italienische Villa." 52 Die Sicherheit und Richtigkeit ihrer Formen, die monumentale Schönheit ihrer Erscheinung, sieht er begründet in ihrer Verhaftung in Ort und Zeit: Und weil sie "geschichtlich mit ihrer Landschaft eins" sei, "darum, nur darum [sei sie] auch ästhetisch." 53 In jenen Bauten freilich, mit denen der Begriff der Villa gemeinhin verbunden wird, erkennt Borchardt "weltflüchtige" Ausnahmen. Das gilt etwa für die Mediceervillen Poggio a Caiano oder Caffaggiolo, 54 die in ihrer Mischung aus landwirtschaftlichem Betrieb und humanistischem Impetus in sich das Konzept des Agrikulturhumanismus gewissermaßen symbolhaft verdichten, und mehr noch für die Villa Medici in Fiesole, die von Viehzucht und Ackerbau nicht weniger weit entfernt liegt als vom geschäftigen Treiben der Stadt. 5 5 Sie ist, wie die rund einhundert Jahre später errichtete Villa Rotonda des Andrea Palladio vor Vicenza, 56 ganz dem vergeistigten ländlichen Genuß gewidmet 50

Wolfgang Brönner: Die bürgerliche Villa in Deutschland 1 8 3 0 - 1 8 9 0 , Düsseldorf 1987.

51

Villa (Anm. 1), S. 21f. Vgl. zu diesen Ausführungen Borchardts einige der typischen Villen im Lucchesischen, etwa die Villa Buonvisi in M o n t e S. Quirico in: Isa Belli Barsali (Anm. 46), Abb. N r . 51; die Villa Burlamacchi in S. C o l o m b a n o , ebd., A b b . N r . 2 2 7 ; oder die Villa Barsanti, ebd., A b b . N r . 229.

52

Villa (Anm. 1 ) , S . 22.

53

Ebd., S. 24.

54

Vgl. James S. Ackerman (Anm. 13), S. 6 3 - 8 7 .

55

Vgl. hierzu Amanda Lillie: Giovanni di C o s i m o and the Villa Medici at Fiesole, in: Andreas B e y e r / B r u c e B o u c h e r (Hg.): Piero de'Medici ( 1 4 1 6 - 1 4 6 9 ) . Kunst im Dienste der Mediceer, Berlin 1993, S. 189-205.

56

Carlo Semenzato: La Rotonda. Corpus Palladianum, Vol. I, Vicenza 1968; Wolfgang Lötz: "La Rotunda, edificio civile c o n cupola", in: Bollettino del Centro Internationale dell'Istituto di Studi di Architettura, IV, 1962, S. 6 9 - 7 3 . Auf den ideengeschichtlichen Hintergurnd der "Rotonda" verweist nicht zuletzt die über die vier Giebelseiten fortlau-

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und stellt gemeinsam mit dieser das wohl gelungenste Beispiel der Villa als Vorstellung und Lebensentwurf, die vollkommene Ideologisierung des Landlebens, dar. Weshalb sich auch der Ausblick nicht mehr nur über das eigene, die Villa umgebende "podere" erstreckt, sondern auf die gesamte natürliche Umgebung überhaupt, die dem Besitzer nicht wirklich, sondern nur ideell gehört, so wie er seinerseits der Natur angehört, in deren ungestörte Abgeschiedenheit er sich denkt und flieht. "Aber", so Borchardt, "jene Fälle unvermittelter Gründungen haben vom Lustschloß schließlich doch immer zur Villa zurückgeführt, und sind zudem Ausnahmen." 57

VI Borchardts "Sabinum", der Bau, an dem er die Typologie der Villa exemplifiziert - "Die Regel hat vom Typus auszugehen"58 - , fordert nicht den Archäologen. Es ist die Villa Sardi in Vallebuia bei S. Quirico, nordöstlich von Lucca, von der Familie Benassai errichtet und noch heute im Besitz der Conti Sardi, der Eigentümer also, denen Borchardt die Villa entlieh, was seine Festeilung, daß "sich in manchen Gegenden" die "Geschichte [einiger Familien] und oft die des dazugehörigen Wohnhauses bis auf den heutigen Tag verfolgen"

57

58

fende Inschrift: "Marius Capra Gabrielis filius / qui aedes has / arctissimo primogeniturae gradui subjecit / una c u m omnibus / censibus agris vallibus et collibus / citra viam magnam / memoriae perpetuae mandans haec / d u m sustinet ac abstinet." (Marius Capra, Gabriels Sohn, der dies Gebäude dem engsten Erstgeburtsgrade unterstellt hat, zugleich mit allen E i n k ü n f t e n , Feldern, Tälern u n d Hügeln diesseits der großen Straße, dies zu ewigem Gedächtnis anbefehlend, während er selbst duldet u n d Enthaltsamkeit übt.) Das "Sustine et abstine" bildet eine zentrale Lebensmaxime der Stoa. Vgl. dazu auch J o h a n n Wolfgang Goethe: "Der Schluß besonders ist seltsam genug, ein Mann, d e m so viel Verm ö g e n und Wille zu G e b o t e stand, fühlt noch, daß er dulden und e n t b e h r e n müsse. Das kann man mit geringerm A u f w a n d lernen." J o h a n n Wolfgang G o e t h e : Italienische Reise,, hrsg. von Andreas Beyer u n d N o r b e r t Miller, M ü n c h e n , Wien 1992, S. 65. Villa (Anm. 1), S. 24. D a ß der Blick aus der Villa n u r den ihr zugehörigen "Weltausschnitt", daß heißt allein das von hier aus bewirtschaftete Land, umfassen darf, schildert Borchardt am Beispiel der später hinzugefügten "Loggia" als Bekrönung der Villa Sardi: "Aber der Blick, den man von d o r t oben her auf das G u t s g a n z e u n d die Landschaft hat, ist bei aller Schönheit des Einzelnen teils s c h o n fast zu vag, teils fast zersplittert. Man ist d e m Geiste der älteren, den Bau b e s t i m m e n d e n Besitzer und den Gedanken, mit denen sie von diesem H a u s e aus auf ihren Teil an der N a t u r blickten, näher, wenn man aus den Mitteltüren der Sala grande auf die geschmiedeten Balkone hinaustritt oder an den Fenstern der anderen Säle des H a u p t s t o c k e s vergleichend die R u n d e macht [...], ebd., S. 46. Mit der Frage des "Ausblicks" aus der Villa allgemein beschäftigt sich derzeit Gerd Blum in seiner demnächst abgeschlossenen Dissertation an der Universität Basel. Villa (Anm. 1), S. 24.

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läßt, 59 beiläufig bestätigt. Die Villa Sardi zählt vom Typ und ihrer Grundrißdisposition her zum Typus der schlichteren Villenbauten des späten Cinquecento der Toskana, den sämtliche späteren Eingriffe - wie Entwurfszeichnungen von Lorenzo Narducci von 1681 und 1688 und Giovanni Lorenzo Martineiii von 1730 sowie Filippo Juvarras unausgeführte Erweiterungspläne von 1714 belegen 60 - unverändert beibehielten oder nur geringfügig modifizierten. Um die große, den Bau der Breite nach durchreichende "sala" des oberen Geschosses gruppierten sich (bis zu einschneidenden Veränderungen in jüngerer Zeit, die die Villa zu einem Tagungszentrum veränderten) drei kleinere Wohnräume. Im Erdgeschoß der nicht unterkellerten Villa mit seinem großzügigen Vestibül waren Speisezimmer, Küche, Arbeitszimmer und die kleine Kapelle untergebracht. In dem von Borchardt verfaßten Itinerar durch diese Villa 6 ' scheinen immer wieder die Grundprinzipien der tradierten Villenliteratur auf, so wie sie etwa in Andrea Palladios zweitem seiner Vier Bücher zur Architektur folgenreich kodifiziert wurden. 62 Wenn aber Borchardt, der schreibt, wie die Villa ist, weder Alberti noch Palladio oder den jüngeren Vincenzo Scamozzi aufruft, die schreiben, wie die Villa zu sein hat, dann, weil die unmittelbare Anschauung und Erfahrung der Villa, als Autopsie des realen Abbilds der Traktatistik, diese ihm entbehrlich werden ließen. Freilich kommt es immer wieder zu auffallenden Analogien, etwa wenn Borchardt bemerkt, daß die Villa "als altlateinische Lebensform durch und durch real und praktisch" sei, "etwas mit Geld und Macht Zusammenhängendes, aus Geld und Macht Entstandenes, zäh festgehalten, um Macht und Geld zu steigern, zu bezeugen, zu verzinsen, zu vererben." 63 Worin er sich denn mit dem Palladio trifft, der versichert, der "Edelmann" werde "nicht geringen Nutzen und Erholung [...] aus den Villen ziehen, wo er den übrigen Teil seiner Zeit [den er nicht in seinem Stadtpalast verlebt] damit verbringt, seine Besitzungen im Auge zu haben und sie zu vervollkommnen sowie mit Fleiß und mit Hilfe der Kunst der Landwirtschaft sein Vermögen wachsen zu lassen [...]. In möglichst günstiger Lage zu den Besitzungen oder gar mitten in ihnen suche man zunächst den Wohnplatz aus", empfiehlt Palladio, "damit die Herrschaft ohne Mühe die ihr gehörenden umliegenden Felder überwachen

59 60 61 62 63

Ebd., S. 25. Vgl. Belli Barsali (Anm. 46), S. 166f. Villa (Anm. 1),S. 45-48. Andrea Palladio (Anm. 49), S. 161 -201. Villa (Anm. 1),S. 39.

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sowie Verbesserungen einleiten kann." 64 "Der Platz der Villa", schreibt Borchardt wie in einem Nachtrag hierzu, "ist [...] durch die realsten Zusammenhänge gegeben, und nur in den seltensten Fällen durch eine das Gefühl verlockende Lage bestimmt." 65 Herrschaftsanspruch und konkrete Wirtschaftsinteressen werden damit als konstituierende Elemente der Villenkultur neben die literarischen Stadtfluchtphantasien gesetzt - die Erkenntnis, die Andrea Palladio als Summe aus seiner Auftragspraxis zieht, gewinnt Borchardt durch subtile Beobachtung von Form und Funktion. Sämtliche von Borchardt kommentierten Einzelelemente der Villa, von der zentralen Stellung der "sala" über die Anordnung der kleineren Räume bis hin zur Gestaltung der "hohen Front", korrespondieren mit den klassischen Prinzipien der Villenbaukunst und den Topoi der neuzeitlichen Villenliteratur - es ließe sich mühelos eine umfängliche Konkordanzliste erstellen. Denn das Schema der Grundrisse der meisten Villenbauten ergibt sich, nach Rudolf Wittkower, "aus den schlichten Bedürfnissen des italienischen Landhauses: offene Loggien (Portiken) und ein großer Saal in der Mittelachse, zwei oder drei Wohn- oder Schlafzimmer verschiedener Größe an beiden Seiten, und zwischen diesen und dem Saal Raum für kleine Nebengelasse und die Treppen." 66 Wittkowers Untersuchungen einiger typischer Grundrisse, die sich besonders auf die Villenbauten Andrea Palladios im Veneto bezogen, führten ihn zu der Überzeugung, daß sie sämtlich aus einer einzigen geometrischen Formel entwickelt sind. Wenngleich sowohl Palladio als auch die anderen Villen-Baumeister das grundlegende "Skelett" der Villa stets den spezifischen Erfordernissen des jeweiligen Auftrags anpaßten, bleibt es mit seinen wenigen verbindlichen Einzelteilen doch über lange Zeit und über weite Regionen hinweg der gültige Modul. Allenfalls in den einzelnen Dekorationsprogrammen, meist Fresken oder Skulpturen, läßt sich eine ideologische Übersteigerung des Landhauses unter wechselnden Voraussetzungen konstatieren. Daß Borchardt in der Villa Sardi mit treffsicherer Intuition ihren Phänotyp ausgewählt hat, soll hier nur an einem Detail abschließend belegt werden. Ein Detail freilich, das ihm, der sich ja die Villa nicht archivalisch, sondern durch unmittelbare Betrachtung und Bewegung erschloß, zwangsläufig hat entgehen müssen. Weil der Zugang hier über das zu ebener Erde angelegte Vestibül erfolgt, war Borchardt gezwungen, auf einen anderen Bau zu verweisen, um ein weiteres prominentes Element der Villenbaukunst, die Freitreppe, abzuhandeln: 64 Andrea Palladio (Anm. 49), S. 161. 65 Villa (Anm. 1), S. 41. 66 Rudolf Wittkower: Grundlagen der Architektur im Zeitalter des Humanismus (1949), München 1969, S. 61.

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[...] die Villa wirft diese Treppe weitausholend vor die F r o n t als Freiaufgang mit schönen Balustraden, bildet d e n Vorplatz, den sie so gewinnt, o f t aufs k ü h n s t e und herrlichste zur halben Exedra aus (so vielleicht am schönsten die Villa Sardi in Pieve San M a r t i n o bei Lucca) u n d verbindet sie immer neu mit dem Balkon darüber, in den sich das Mittelfenster des Saales zu ö f f n e n pflegt. Und so wird man, je tiefer man geht, so häufiger eine ursprünglichere F o r m der Villa noch durch den fürstlichen Barock- und Empire-Bau hindurch ahnen und die organische Nachhaltigkeit bewundern, mit der im konservativsten aller Länder die F o r m e n und die Dienste aneinander hangen. 6 7

Was Borchardt am Beispiel der Villa Sardi in San Martino beschreibt, 68 war aber als Erweiterungsprojekt auch für die Villa Sardi in Vallebuia erdacht worden. In seinem im Auftrag des früheren Besitzers Cesare Benassai 1714 entworfenen Erweiterungsplan hatte Filippo Juvarra neben zwei ergänzenden risalitartigen Flankenbauten die "sala" exedrenartig auf den Vorplatz hinausreichen und von einer geschwungenen doppelläufigen Freitreppe erschließen lassen. 69 Der von Borchardt gewählte Prototyp hätte, wären Juvarras Pläne nicht verworfen worden, damit sämtliche Bestandteile des von ihm festgehaltenen Villentyps in sich vereint. Der spätere Archivfund bestätigt damit geradezu irritierend die "Richtigkeit" von Borchardts Beobachtungen und erweist sie als weit mehr als pure literarische Konjekturen. In der Kennzeichnung der Villa als ursächlich städtische Bauaufgabe, in ihrer Herleitung sowohl aus der antiken literarischen Tradition als auch aus den wirtschaftlichen Spekulationen der Neuzeit, in der exakten Verfolgung von Formen und Funktionen stellt Borchardts Essay zur italienischen Villa bei aller zeitgebundenen Ausgrenzung und adressatenbezogenen Tendenz einen in seiner Stringenz und Treffsicherheit unerreichten Traktat zu einer der prominentesten Baugattungen der Architekturgeschichte dar. Wenn es sich dabei auch nicht um einen präskriptiven Text handelt, legt er doch durch seine Deskription Normen fest, die die Erfassung der Villa durch die nachfolgende Kunstliteratur auf ihn verpflichten. Es gelingt kaum, aus diesem Text, dem "wie in Stein gegrabenen Aufsatz" (Hugo von Hofmannsthal), wieder herauszufinden, der in sprachgewaltiger Geste sämtliche inneren und äußeren Bedingungen dieses Bautyps signalisiert. Wohl haben Rudolf Wittkowers Baustudien, 70 Fritz Eugen Kellers Untersuchungen des barocken Villenbaus um Rom 71 oder Reinhard Bentmanns und Michael Müllers Erforschung der "Villa als Herrschaftsarchitektur", 72 wie andere Studien auch, das 67 68 69 70

Villa (Anm. 1), S. 41. H e u t e Villa Tronci, vgl. Belli Barsali (Anm. 46), S. 162-166, 173f., Abb. 307-315. Vgl. Salvatore Boscarino: Juvarra architetto, R o m 1973, S. 169, Abb. 110. Rudolf W i t t k o w e r (Anm. 66).

71

Fritz Eugen Keller: Z u m Villenleben u n d Villenbau am Römischen Hof der Farnese. Kunstgeschichtliche U n t e r s u c h u n g der Zeugnisse bei Annibal Caro, Berlin 1980. Reinhard Bentmann/Michael Müller (Anm. 6).

72

Rudolf Borchardt in der Villen-Landschaft

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Schrifttum zur Villa um landschaftliche und zeitliche Räume bereichert und dabei auf die notwendig verschiedenen Anforderungen verwiesen, denen der von Borchardt skizzierte "Modul" zwangsläufig unterliegen mußte. Die Villa macht die mikrohistorische Erforschung ihrer Einzelphänomene durchaus nicht obsolet. Dennoch wird man in den kulturhistorischen Schlußfolgerungen, die noch jede Studie dieser Art synthetisch zu beschließen versuchen, kaum über die Prägnanz von Borchardts Essay hinausreichen und immer wieder zu ihm zurückkehren müssen. Und wer wissen will, wie in Italien Baukunst und Literatur, Lebensgefühl und Bauhabitus zusammenhängen, und wie der Fremde sich in diese Landschaft denkt, 73 dem wird man empfehlen müssen, den letzten Amerikaner aus der Hand zu legen und - wenigstens in der Kunstgeschichte - noch immer allzu unbekannte Schriftsteller zu lesen wie Borchardt.

73 Vgl. auch Rudolf Borchardt: Der Deutsche in der Landschaft (1925), 3. Aufl., Frankfurt am Main 1990, und dazu Gert Mattenklott: Das Andere mit dem Eigenen vermählen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.4.1990.

A N T J E MIDDELDORF KOSEGARTEN

Pisa und die Pisani in der Sicht Rudolf Borchardts. Sein Text Pisa. Ein Versuch von 1 9 3 2

i

Pisa war für Dante die Stadt des politischen Verrats. Conte Ugolino della Gherardesca (gest. 1 2 8 8 ) , einer der mächtigsten und einflußreichsten pisanischen Magnaten, hatte in den Jahrzehnten politischer Schwäche der ehemaligen Großmacht, die in der Seeschlacht bei der Insel Meloria 1 2 8 4 von den Genuesen vernichtend geschlagen worden war, aus realpolitischen Gründen mit den Guelfen sympathisiert. Deshalb wurde er - so Dante - mit seinen Söhnen und Enkeln von dem Erzbischof Ruggiero degli Ubaldini in die T o r r e della Muda geworfen und ausgehungert, so daß er, zum Kannibalismus getrieben, Hand an die Leichen seiner Nachkommen legte. Für seinen Verrat an der Stadt und die Grausamkeit an seinen Kindern verdammte ihn Dante nach mythischem Vorbild dazu, in alle Ewigkeit an dem Schädel des Erzbischofs Ruggiero nagen zu müssen. 1 Borchardt übersetzt die W o r t e des Conte Ugolino an Dante bei deren Begegnung im Inferno folgendermaßen: Ich weiss nicht wer du seist; noch welcher füge du kommen seist herab; so dünkst du zwar mich von Florenze; ob mir das ohr nicht lüge Merk dass ich Hügelin, der grafe, war, und dieser hier ist Rüeger erzbischuf: dem bin ich, hör die sach, um dies nachbar: 2

1

Die schriftliche Fassung dieses Vortrags von 1991 wurde unverändert beibehalten, d.h. neuere Literatur konnte nicht mehr berücksichtigt werden. Da ich als Kunsthistorikerin keine Borchardt-Spezialistin bin, ist mir der aktuelle Stand der Borchardt-Forschung nicht bekannt. Wichtig war für mich die Lektüre von Marianello Marianeiii: Introduzione, in: Rudolf Borchardt: Scritti italiani ed italici, hrsg. von Marianello Marianeiii, Milano, Napoli 1971, S. X I I I - C X X I I , und die Benutzung der bis 1970 vollständigen Bibliographie dieses Buches, soweit die Beiträge an der Göttinger Universitätsbibliothek vorhanden waren. Überlegungen zu Borchardts Sicht der Nordtoskana und der Geschichte Pisas finden sich hier vorformuliert. - Zu Dante und Pisa vgl. Dante Alighieri: La Divina Commedia, a cura di Natalino Sapegno, Firenze 1955,1, Inf. X X X I I , v. 124-39; X X X I I I , v. lff., femer die jeweiligen diesbezüglichen Artikel in der Enciclopedia Dantesca, ed. Umberto Bosco, I-V, Rom 1970ff.

Pisa und die Pisani in der Sicht Rudolf Borchardts

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und Dantes berühmte Verfluchung Pisas: Ahi Pisa, vitupèrio delle genti del bel paese la dove l'si sona, poi che i vicini a te punir son lenti muovasi la Capraia e la Gorgona e faccian siepe ad Arno in su la foce s'ch'elli annieghi in te ogni persona! 3

wie folgt: Hei Pisa, schänden laster über jene im schönen reich, allwo's nach >si< gehört säumt nachbarschaft zu rächen das geschehne, So rühr sich Görgnau und dein Geissenwörth, den Arnus aufzustäufen gen der münde, bis hoch flut jeden leib in dir zerstört! 4

Zwei Sachverhalte fallen dem unvoreingenommenen Leser von Borchardts Dante-Ubersetzung auf: zum einen, daß er beabsichtigte, durch ein selbst konstruiertes oder nachempfundenes Mittelhochdeutsch - das poetisierte Mittelhochdeutsch eines Philologen - eine dem Sprachduktus und der Wortwahl Dantes entsprechende Übertragung mit dem Anspruch auf Kongenialität herzustellen. Sie ist reich an Archaismen in Syntax und Wortwahl, besonders auffällig ist das bei der Übertragung der Eigennamen. Stilgeschichtlich könnte man vielleicht von einem archaisierenden Expressionismus sprechen, der bezüglich des Interesses an der Literatur des deutschen (Spät?)-Mittelalters und ihrer Verarbeitung Parallelen oder Analogien in der Kunst des Expressionismus, auch in der Malerei Beckmanns und Dix' oder in der Skulptur Barlachs hätte. Zugleich aber gehört Borchardts Dante-Übersetzung zu allen jenen deutschen Übertragungen der Commedia, deren angestrengte Rede in Terzinen einer gewissen gymnasiallehrerhaften Pedanterie nicht entraten, im Gegensatz etwa zu Georges machtvoller sprachlicher Neuschöpfung des Dante-Textes. 5 Auch wenn man apologisiert, daß Borchardts Übertragung die Alterität der Sprache Dantes erst zu Bewußtsein bringe, also Distanz zum Original schaffe, nimmt ihr das m. E. nicht jenen Ruch eines geschmäcklerischen Philologismus. Zum anderen bemerkt man beim Studium von Borchardts Pisa, daß der Schriftsteller, der dreißig Jahre lang mit Dante rang, mit seiner eigenen Sicht auf Pisa gleichsam ein Gegenbild zum Theben-Epitheton Dantes für diese seine geliebte Stadt entwerfen möchte. Er tritt gleichsam in Konkurrenz zu Dante und nimmt, wie dieser, Partei, allerdings bezüglich Pisas die Gegenpartei, 2 3 4 5

Dantes Comedia Deutsch, S. 154, Inf. X X X I I I , 10-15. Dante Alighieri (wie Anm. 1), Inf. X X X I I I , 79-84. Dantes Comedia Deutsch, S. 156. Stefan George: Dante. Die Göttliche Komödie. Übertragungen, Berlin 1932 ( = GesamtAusgabe der Werke. Endgültige Fassung, 10/11), S. 65ff.

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Antje Middeldorf Kosegarten

denn er trotzt ihm und korrigiert ihn, indem er die alte Seemetropole im nachhinein gegen ihn verteidigt. Der ottimo poeta, enttäuschter Republikaner aus Florenz, der in der Monarchia den Ghibellinen ihr Manifest geschrieben und seinem Alto Arrigo, Heinrich VII. von Luxemburg, in Anspielung auf das Endgericht den leeren Richterthron im Emphyräum bereitgestellt hatte, erwähnt die ghibellinischen Traditionen Pisas mit keinem Wort; er sieht sie nur verraten und läßt daher die Stadt in den Abgrund fahren. Auch als exilierter Florentiner und Propagator des deutschen Kaisers mochte er an der toskanischen Feindin von Florenz kein gutes Haar lassen. Dagegen hebt Borchardt Pisa als die Krone des Imperium Romanum auf den Schild und betreibt somit eine gegen Dantes Verdikt gerichtete Ehrenrettung der Stadt. Das faszinierende Moment in Borchardts Sicht auf Pisa ist für mich gegeben in einem als existentiell begriffenen Verhältnis zu Dante, ferner in seiner engen Beziehung zu einer damals wenig bekannten, mittelalterlichen Toskana, nämlich der an Ligurien grenzenden Nordtoskana der fiere selvaggie (Inf. XIII, 8) der Maremma mit Volterra und Pisa, unter Ausschluß von Florenz und der klassischen Hügeltoskana, - eine Beziehung, welche schon um die Jahrhundertwende während seiner Italien-Reisen grundgelegt worden war. Diese Region vermittelte sich Borchardt ästhetisch über die mittellateinische Literatur der Romania und speziell über die mittelalterliche Literatur Italiens, wie vor allem auch über das ihm archaisch-geschichtslos erscheinende Landschaftsund Stadtbild Volterras, schließlich über die mittelalterliche Architektur und Bildnerei Pisas. Politisch war er affiziert über sein Schicksal als nationalkonservativer Deutscher jüdischer Abstammung, der wohl auch bemüht war, letztere zu negieren, wie Textstellen im Pisa-Buch schließen lassen (so wurde z. B. seiner Meinung nach die große Baugruppe auf dem Campo dei Miracoli "auf dem alten Judensumpf errichtet). In zeitübergreifendem kulturhistorischen Zusammenhang gehört das Phänomen "Borchardt und Pisa" trotz seiner spezifischen zeitgeschichtlich-politischen Implikationen gewiß in jene Tradition deutsch-idealistischer Italiensehnsucht, deren Vertreter sich im Süden Selbstfindung und Selbsterfüllung erhofften, wenngleich Borchardts Arkadien ein anderes war als das Goethes. Trotz seiner Verachtung für Florenz und Rom, für Antike und Renaissance, mit seiner Begeisterung dagegen für die vorrömische und die mittelalterliche Geschichte und Zivilisation Italiens schien er das Italien-Bild seiner deutschen Vorläufer unter veränderten Vorzeichen noch einmal legitimieren und retten zu wollen. Für einen Künstler wie Barlach z. B. war das nicht mehr möglich; er hatte wenig von italienischer Kunst während seines Florenz-Stipendiums 1909 an der dortigen Villa Romana rezipiert, sein Megalith und Ur war Rußland.6 6

Vgl. Elmar Jansen (Hg.): Ernst Barlach. Werk und Wirkung, Frankfurt am Main 1972, S. 66ff.

Pisa und die Pisani in der Sicht Rudolf Borchardts

Nach

langer Vorbereitungszeit

schrieb Borchardt den Text Pisa.

213 Ein

Versuch 1 9 3 2 nieder; er wurde 1938 mit einem Nachwort von 1 9 3 5 erstveröffentlicht; 7 1935 erschien der T e x t Volterra. Dieser schließt mit folgenden Worten über Pisa, die Borchardts Vision der Stadt programmatisch umreißen: Wenige Schritte von den Balze entfernt erreicht der bewegt sich Wendende, die Kuppe umkreisend, den Punkt, an dem über dem Pisaner Horizonte die Pania marmorschön aufgeht wie eine Götterburg, und die Ahnung die Stadt der Wunder, des Willens und des Reiches im weitgezogenen Plane weiß, die, bei gleicher A b k e h r vom landläufigen N a c h barn wie die Stadt des Hügels [ = Volterra; A . M . K . ] , ihre Unwandelbarkeit zum Subjekt statt zum O b j e k t der Weltgeschichte zu machen gewußt hat und damit das Gesicht der Halbinsel und der Welt gewandelt. D e n n die Gesinnung, die sich dem Wandel versagt, verkehrt nur, wenn sie ebendadurch den Wandel bringt, mit den Unsterblichen. 8

In der von Borchardt auf Pisa projizierten Gesinnung, die sich dem Wandel versagt, spiegelte sich ihm seine eigene Gesinnung. Es war vor allem die große Baugruppe aus Dom, Baptisterium, Campanile und Camposanto vor der Marmormauer am Nordrand der Stadt, die den Dichter-Philologen zu seiner eschatologisch eingestimmten, in der Rückschau entwickelten Utopie von Pisa als Metropole - er nennt sie Reichsstadt - einer gleichsam verhinderten mittelalterlichen Universalmonarchie der Mittelmeerküsten angeregt hat. Er entwarf diese Utopie auf der Grundlage einer gewaltigen Geschichtsklitterung, die so absurd, in ihrem Pathos fast komisch ist, daß man sich darüber kaum erregen kann. Dem zünftigen Historiker dürfte sie als poetische Aberration letztlich uninteressant sein, sie könnte allenfalls den "Geschichtsbild-Forscher" interessieren, der sich fragt, wie Geschichte wahrgenommen werden kann. Man kann vielleicht von dem teleologisch geprägten projektiven Geschichtsbild eines poeta doctus des 20. Jahrhunderts sprechen. In Nietzsches Klassifizierung der Modi der Geschichtsschreibung wäre Borchardts Studie wohl der "monumentalischen" Geschichte zuzuordnen - jedenfalls hatte, wie für Nietzsche, auch für Borchardt Geschichtsschreibung als existentieller Akt etwas mit dem "Leben" zu tun. Folgendermaßen äußerte sich Nietzsche bezüglich der monumentalischen Geschichtsschreibung: In dieser verklärtesten F o r m ist der R u h m doch etwas mehr als der köstlichste Bissen unserer Eigenliebe, wie ihn Schopenhauer genannt hat, es ist der Glaube an die Zusammengehörigkeit und Kontinuität des G r o ß e n aller Zeiten, es ist ein Protest gegen den Wechsel der Geschlechter und die Vergänglichkeit.'

7

Vgl. Rudolf Borchardt. Alfred Walter Heymel. Rudolf Alexander Schröder. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum, Marbach am N e c k a r 1978, S. 3 2 2 f . , N r . 228.

8

Prosa III, S. 255.

9

Friedrich Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen II. V o m N u t z e n und Nachteil der Historie für das Leben, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 2, München 1964, S. 84.

214

Antje Middeldorf Kosegarten

Borchardt sah die Stadt Pisa als letzte Nachfolgerin und legitime, einzige Erbin der großen mittelmeerischen Handelsmetropolen vorgriechischer und griechischer Zeit. Das elische Pisa ( = Olympia), die elische Pisatis w e r d e n als namengebend beschworen, obgleich diese ehrfurchtsvolle Konjektur barocker Historiographen Pisas längst überholt war. 1 0 Dann heißt es weiter in monumentaler, in Richtung Solitudine di utt Impero (so lautet der Untertitel der italienischen Übersetzung seines Pisa-Büchleins) tendierender Stilisierung: Pisaner geblieben und keine Toskaner geworden, t r o t z der leidenschaftlichen nationalen W e r b u n g s s t ü r m e des guelfischen Jahrhunderts, ganz wie sie keine R ö m e r geworden waren t r o t z Garnison, Prätorium, Zirkus und Reich. [...] Unverstanden und verhaßt, kein Verständnis suchend u n d brauchend und begehrend, auf die Jahrtausende gestützt, die seine U r z e i t g r ö ß e , mit Phönikern und verschollenen Seefahrtsvölkern schiffsverknüpft, vor den Siebenhügelburgen der Tiberbauern u n d den Krämerbuden an der Fäsulaner A r n o b r ü c k e voraushat, kehrt Pisa Italien den Rücken zu, sucht mit sidonischen und karthagischen Gedanken ein Reich, das es mit sidonischem u n d karthagischem T o d e bezahlt. Es trägt, wie Karthago z u m T o d e noch den Dichterfluch Lukrezens, so den b e r ü h m t e n Dantes, aber gleichmütig, zu seinen andern K r o n e n . "

Das römische Pisa - auf welches das mittelalterliche Pisa so stolz war - bezeichnet für Borchardt eine fremdartige Abweichung; die langobardischen Einwanderer, auf deren Namen diejenigen der führenden mittelalterlichen Adelsfamilien Pisas zurückgehen, gab es nach ihm gar nicht, statt dessen wären erst fränkische Germanen nach Pisa gekommen, mit welcher These er eine bis auf das fränkische Königshaus zurückgehende Bindung Pisas an das Imperium R o m a n u m "dokumentieren" will. Deutschtümelnd werden die Lanfranchi zu Lewinfrank, die Gualandi zu d e n Walant, die Pannochieschi zu den Folkacher, es gibt die Sigismunt, Uppethinge und die Albithinge: d. h. Pisa rückt nach Borchardt "automatisch in den Adlerschatten der Universalmonarchie". 12 Sozusagen mit geschlossenen Augen trennt er - und das ist wirklich verblüffend - Pisa, seine Reichshauptstadt, von der Kommunalbewegung ab, deren toskanischer Vorreiter die Stadt seit der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts war und die bis zu verschiedenen Signorien im späten 13. und frühen 14. Jh. alle Phasen des Kommunalismus exemplarisch durchlief, was man spätestens seit den Forschungen Volpes (1902) auch wußte. 1 3 Doch nach unserem Dichter hat Pisa das Chaos der turmstarrenden toskanischen H ü gelkommunen, die Borniertheit ihres Kleinkommunalismus und vor allem 10 Z u r Geschichte Pisas vgl. die Enciclopedia Italiana Treccani, Bd. XVII, 1935, Sp. 392ff., bes. 399ff., u n d vorab das Lexikon des Mittelalters, Bd. VI, M ü n c h e n und Zürich 1993, Sp. 2176-82 (Mario Luzzatti). U Rudolf Borchardt: Pisa. Ein Versuch, Zürich 1938, S. 7f. 12 Ebd., S. 14. 13 Gioacchino Volpe: Studi sulle istituzioni communali a Pisa, Pisa 1902.

Pisa und die Pisani in der Sicht Rudolf Borchardts

215

natürlich die armen Budenbrücken vor Fiesole verschmäht, um europäisch, nicht kommunalpisanisch sondern reichspisanisch zu sein. Borchardt beschwor ein nicht verwirklichtes mittelalterliches Küstenreich - wäre man bösartig, würde man sagen, in gewisser Analogie zur Mare «osiro-Ideologie Mussolinis - , ein Reich, welches den Kaisern die Möglichkeit geboten habe, die italienische Halbinsel mitsamt der Provence bis Marseille zu umfassen und zu beherrschen: ein mediterranes Seereich also, welches allein Friedrich II. beschert gewesen sei zu imaginieren, das aber letztlich an der Kurzsichtigkeit und Tumbheit der deutschen Kaiser gescheitert sei, obgleich die Pisaner - laut Borchardt - durch die Jahrhunderte vergeblich versucht hätten, als diplomatische Vorreiter der im Wirrwarr der italienischen Städte sich festlaufenden Kaiser diesen die Wege zu ebnen, mit dem Ziel der Etablierung einer italienischen Reichshauptstadt Pisa als politischem und geistigem Zentrum jener mediterran-mittelalterlichen Universalmonarchie. Alles andere sei Florentiner Geschichtsfälschung, über deren Autoren er sich nicht genau äußert, als welche man aber Dante, für die Kunstgeschichte mit gewissem Recht Vasari, schließlich auch Robert Davidsohn als Verfasser der Geschichte von Florenz vermuten darf.14

II Kommen wir jetzt zur bildenden Kunst, vor allen Dingen zur Bildhauerei. Die sie betreffenden Passagen haben bis heute nicht an Anziehungskraft verloren, weil Borchardt - außer offenbar breiter Kenntnis kunsthistorischer Literatur und Methoden - ein ungewöhnlich empfindliches visuelles Wahrnehmungsvermögen oder, einfacher gesagt, ein hochsensibles Auge besaß und dazu die Fähigkeit, das wenn auch gleichsam in einem ästhetisch-halluzinatorischen Rauschzustand wie durchs Vergrößerungsglas oder in riesigen BlowUps Gesehene in einem inspirierten, expressiv übersteigerten Deutsch von enormer synthetischer Kraft und Dichte wiederzugeben. In der Tat kann man seine Beschreibungen am besten anhand moderner Photo-Bildbände mit ihren großen, präzisen Detailabbildungen nachvollziehen. Es sind vor allem diese Beschreibungen, in denen ihm Formulierungen gelingen, die man, falls sie einem wirklich selbst einfallen sollten, lieber als vor- oder unwissenschaftlich für sich behalten würde, weil kein kläubelnder Philologismus sie bestimmt. Borchardts Beschreibungen sind dagegen von der Absicht einer Erfassung der Totalität oder Ganzheit des Kunstwerks in seiner geschichtlichen

H

Vgl. Borchardt (Anm. 11), S. 14-30, passim; zu Davidsohn S. 33.

216

Antje Middeldorf Kosegarten

Bestimmtheit wie in seiner formal/inhaltlichen Wirkungsmacht geleitet, entsprechend einem Kunstbegriff, der zugrunde legt, daß Form und Inhalt unteilbar seien, d. h. der Inhalt in der Form sich entäußere oder die Form als solche den Inhalt aus sich entlasse: ein Beschreibungsmodus, der mir aus meiner eigenen Studienzeit durchaus noch vertraut ist. Es ist jene ominöse "Wesensschau", die, wenn sprachlich unzulänglich gehandhabt, auch hart an der Grenze zur Trivialität sich bewegen kann, indem sie den "Inhalt" nicht mit dem Sujet oder Thema, sondern mit einem wie immer auch definierten "Ausdruck" als Ziel künstlerischen Gestaltungswillens gleichsetzt, wobei das Thema resp. der "Bildgegenstand" als eher außerkünstlerische Angelegenheit auch marginalisiert werden kann. Heute rät man den Studierenden eher, so zu beschreiben, daß derjenige Aspekt, der dargetan oder "bewiesen" werden soll, evident werde, daß also auf eine Erfassung der 'Totalität" eines Kunstwerks in seiner Beschreibung besser zu verzichten sei. Stark vereinfachend gesagt, gelangte Borchardts (allerdings wirklich nicht von allen Kunsthistorikern geteilter) Beschreibungsmodus in Westdeutschland vorab durch den Einfluß von Panofskys ikonographisch-ikonologischer Methode während der 60er Jahre an sein Ende, indem nunmehr die Trennung von Form als Stil und Inhalt als Sujet programmatisch wurde; an die Stelle der angestrebten verbalen Reproduktion des Gesehenen als Ganzheit trat das Bemühen um analytische Verfahren. 15 Es entspricht Borchardts Sicht- und Beschreibungsweise, daß er die pisanische Kunst von der Romanik bis hin zu Andrea und Nino Pisano - bis ins 14. Jahrhundert also - als homogene Ganzheit begreift: "Sie [die Werke; A.M.K.] sind ein völlig kompaktes Stück einer nur hier erhaltenen Welt und der Rest des Entwurfs zu ihr [...], in dem antiken Sinne, in dem Niniveh Niniveh ist und die Akropolis die Akropolis"16 - das Pisanische des Pisanischen also wird zur Tautologie, ist für ihn eine weiter nicht ableitbare Größe - a rose is a rose is a rose. Unter diesem Blickwinkel allerdings gelingt ihm in eindrucksvoller Weise, Zumindestens scheinbar gleichsam per Einfühlung, eine Erfassung und Darstellung von mittelmeerischem Internationalismus und formalem Synkretismus der pisanischen Kunstproduktion im 11. und 12. Jahrhundert. In Wirklichkeit hatte er sich wohl ausführlich mit den Arbeiten der damals publizierenden Kunsthistoriker beschäftigt; sicher hatte er z. B. Igino Benvenuto Supinos Buch Arte pisana, Pisa 1904, gelesen.

15

Vgl. Erwin Panofsky: Das Problem des Stils in der bildenden Kunst [ 1 9 1 5 ] , in: ders.: Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, hrsg. von Hariolf O b e r e r und E g o n Verheyen, Berlin 1964, S. 2 3 - 3 2 .

16

Borchardt (Anm. 11), S. 29.

Pisa u n d die Pisani in der Sicht Rudolf Borchardts

217

In der Perspektive der von ihm 1927 konzipierten mittelalterlichen Altertumswissenschaft als gleichsam integral oder interdisziplinär arbeitender "Mantelwissenschaft" berührt er bis heute hochaktuelle Fragen der Künstlerwanderung und des Gebrauchs von Musterbüchern auf der Spur eines von ihm imaginierten Volgare imperiale, das als eine Art pisanischer Koinè zwischen Provenzalisch, Latein und Pisanisch einheitsstiftend gewirkt haben soll, in methodengeschichtlich interessanter Antizipation von Beltings Konzept einer lingua franca für die sogenannte Kreuzfahrerkunst des 13. Jahrhunderts zwischen Sachsen, Venedig, Konstantinopel und dem Sinai. 17 Das Byzantinische (unter dem N a m e n des Griechischen), das Sarazenische, das Römische, das Provenzalische als Faktoren einer zwischen Konstantinopel, Barcelona und Marseille, zwischen Amalfi und der lombardischen Kaiserstadt Pavia offenen See- und Handelsstadt treten in das Blickfeld, ebenso die anverwandelnde Kraft der Stadt Pisa, die das Fremdländische entsprechend dieser pisanischen Koinè in die Synthese gezwungen habe. Als ein Beispiel zitiere ich Borchardt zu den Bronzetüren des Bonanus da Pisa am Pisaner Dom von ca. 1160-70: [Es wurden] die b r o n z e n e n P f o r t e n [...] von sizilischen Bewahrern altgriechischer Metalltechnik erholt [sie]. Die Welt von Kuppelbauten und Palmwäldern, in Relief auseinandergezogenen Faltenwurfgestalten, H e r r s c h e r n mit Riesentiara und H i r t e n im antik geblieben e n A u f z u g e des süditalienischen Bergwaldes, die sich auf den schwergetriebenen Blechen ausbreiten, versetzt den ganzen Bau mit einem Schlage ins H e r z der z u m Reiche drängenden Völker- und Zeitaltermischung der Bauperiode. 1 8

O b sie nun zum Reiche drängten, sei dahingestellt, ob das alles kunsthistorischphilologisch so stimmt, tut hier nichts zur Sache, aber eine eindrucksvolle und in gewisser Weise wissenschaftlich ausbaufähige Metapher wurde g e f u n d e n . Für das pisanische 13. J a h r h u n d e r t u n d als Kulisse für Nicola Pisano möchte ich, um die Borchardtsche Gigantomanie kurz aufzubrechen, einen Augenzeugen heranziehen, der das Zivilisationsniveau der Weltstadt Pisa vor ihrer von den Genuesen beigebrachten Niederlage bei der Insel Meloria (1284) unübertrefflich schön zu schildern weiß. Es ist der aus Parmeser Adel stammende Franziskaner Fra' Salimbene de' Adam, der in seinen um 1280 verfaßten Memoiren - denn so möchte man seine Cronica bezeichnen - zum Jahr 1245 von einem Bettelgang in Pisaner Straßen in Gesellschaft eines Laienfraters erzählt: Ich war also mit ihm in Pisa, u n d als wir mit unseren Strohtaschen herumgingen, u m Brot zu erbetteln, kamen wir in einen Cortile, in den wir zusammen eintraten. Ein üppiger W e i n s t o c k breitete sich über den ganzen Cortile, dessen G r ü n herrlich anzusehen war und

17

18

Ebd., S. 107; vgl. Hans Belting: Zwischen G o t i k u n d Byzanz. G e d a n k e n zur Geschichte der sächsischen Buchmalerei im 13. J a h r h u n d e r t , in: Zeitschrift f ü r Kunstgeschichte X X X X I , 1978, S. 217-275. Borchardt (Anm. 11), S. 38f. Z u den Bronzetüren des Bonanus von Pisa vgl. Ursula M e n de: Die Bronzetüren des Mittelalters, M ü n c h e n 1983, S. 102-110, Abb. 164-184.

Antje Middeldorf Kosegarten

218

dessen Schatten nicht minder süß für unseren Aufenthalt war. Und da waren Leoparden und viele andere Wildtiere aus dem Oltremare, die wir uns lange mit Vergnügen anschauten, weil man alles Neue und Schöne gern anschaut. Und da waren auch Mädchen und junge Männer in blühendem Alter, denen die Schönheit ihrer Gewänder und die Anmut ihrer Gesichter in unterschiedlicher Weise einen liebenswerten Anblick verlieh. Und sowohl die Männer wie die Frauen hatten Violen und Zithern und andere Musikinstrumente verschiedener Art, auf denen sie die süßesten Melodien spielten, die sie mit passenden Bewegungen begleiteten. - Und es war da kein störendes Geräusch oder Lärm, niemand sprach, aber alle standen schweigend und lauschten. Und das Lied, das sie sangen, war ungewöhnlich und schön, sowohl wegen seiner Worte wie auch wegen der Verschiedenheit der Stimmen, anders als die herkömmlichen Lieder, so daß das Herz in ungewöhnlicher Weise erfreut wurde. Sie sagten uns nichts, und wir sprachen auch nicht mit ihnen. Und solange wir uns da aufhielten, hörten sie nicht auf zu singen, immer von den Instrumenten begleitet. Und wir blieben lange Zeit da, es gelang uns nicht, fortzugehen. Ich weiß nicht - aber Gott weiß es - weshalb dort solch festliche Aufmachung war und warum es sich traf, daß wir sie sahen. In der Tat haben wir weder vorher noch nachher eine solche oder ähnliche Sache gesehen." F r a ' Salimbene schildert seine E r i n n e r u n g an eine E p i s o d e aus d e m a m v o r dringlichsten staufisch geprägten J a h r z e h n t in der Geschichte dieser Stadt, den 1 2 4 0 e r J a h r e n , als atmosphärisch dichtes T a b l e a u , als Bild der dorée

jeunesse

Pisas, w e l c h e s unwillkürlich unsere Vorstellung staufischer " H o f k u l t u r "

u n t e r F r i e d r i c h II. und M a n f r e d evoziert. E t w a fünfzehn J a h r e später,

1260

(st. pis.; 1 2 5 9 st. c o m . ) , vollendete N i c o l a Pisano seine b e r ü h m t e Kanzel im Pisaner Baptisterium, d e r wir uns jetzt mit B o r c h a r d t z u w e n d e n . A m Anfang ihrer B e t r a c h t u n g steht ein H i e b B o r c h a r d t s auf die unterstellte F l o r e n t i n e r Geschichtsfälschung Vasaris. Dieser hatte in N i c o l a Pisano denjenigen Bildhauer g e s e h e n , welcher im Blick auf pisanisch-römische S a r k o p h a g e die maniera

greca,

goffa

e sproporzionata

des finsteren Mittelalters ü b e r w u n -

d e n und d a m i t die italienische Kunst besseren Z e i t e n e n t g e g e n g e f ü h r t h a b e . 2 0 A n t w o r t B o r c h a r d t s a u f Vasari: [...] Nicolas Kanzelwerk im Baptisterium: für Vasaris und seiner Nachsprecher seichten Blick der Anfang der italienischen, das heißt ihm florentinischen, Renaissance, - für die Geschichte der Formausdruck des Stauferreichs, wie Pisa, sich in ihm verklärend, es riet und baute: das echte plastische Zubild zum cursus von Petrus de Vineas Reichslatein staufischer Kanzleien und den pisanischen und sizilianischen Kanzonen der staufischen Hofsprache italienischer Ritter und Notare. 21 19 Meine Übertragung nach: Otto Holder-Egger (Hg.): Cronica Fratris Salimbene de Adam Ordinis Minorum, in: M H G SS, X X X I I , Hannover und Leipzig 1905-13, S. 44f. 20 Vgl.Giorgio Vasari: Le vite de' più eccellenti pittori scultori e architettori, Bd. I, Mailand 1962, S. 239. Für gute Abbildungen der Pisaner Baptisteriumskanzel vgl. Enzo Carli: Il Pulpito del Battistero di Pisa, Mailand 1971 und Maria Laura Testi Cristiani: Nicola Pisano architetto scultore, Pisa 1987. 21 Borchardt (Anm. 11), S. 42. - Da steht's, und ich dachte eigentlich, die Analogie zum stilus sublimis (nicht cursus: der war damals stilgeschichtlich noch nicht hinreichend vom capuanischen stilus sublimis unterschieden worden) Petrus da Vineas sei meine Idee, wenn auch eine sozusagen vorwissenschaftliche, methodisch vorläufig kaum umsetzbare.

Pisa u n d die Pisani in der Sicht Rudolf Borchardts

219

Aus Borchardts Äußerung geht hervor, daß ihm das Problem der H e r k u n f t des magistro Nichola Pietri de Apulia resp. magistro Nichola de Apulia, wie er in zwei Urkunden genannt wird, aus der sog. "Hofkunst" Friedrichs II. von Hohenstaufen vertraut war; es ist eines der ältesten der kunsthistorischen Italianistik überhaupt und bis heute nicht ausdiskutiert. 22 Als Romanist nähert sich Borchardt der Gestaltungsabsicht Nicolas wiederum innerhalb sprachlicher Kategorien, indem er die Kanzelreliefs als "ein hochmittelalterliches Ubertragungswerk aus Sprache in Sprache" bezeichnet, das "Motive und Gestalten des ihr vorgelegten kirchlichen Bilderkanons aus der Sprache des spätgriechischen Frühchristentums [gemeint ist die byzantinische Kunst; A.M.K.] [...] ganz so Stückchen um Stückchen, wie man in der Literatur sagt 'wörtlich', in eine ihr nur visionär in den Formen satter Endlichkeit vorschwebende Epoche [nämlich in die Sprache der Antike, A.M.K.]" "übersetzt": 23 sehr interessant, denn Nicolas Verwendung byzantinischer Vorlagen und ihre z. T. direkte Umsetzung in antikes Idiom ist inzwischen erwiesen, und zwar in der Perspektive von Beltings lingua franca als ost-westlicher Mischform "zwischen Gotik und Byzanz", welche sich nach diesem Autor gerade in dem von Borchardt beschworenen internationalisierten Klima der Mittelmeerhäfen herausgebildet habe. Georg Swarzenski hatte das Phänomen eines "Mischstils" Nicolas in seiner immer noch richtungweisenden Monographie über den Bildhauer von 1926 schon problematisiert. Allerdings hatte er Analogien zur sächsischen Byzanz-Rezeption im sächsischen sog. "Zackenstil" konstatiert und implizit die Frage nach einer Art Imperial- oder Kaiserstil antik-byzantinischer Prägung gestellt, der in Nicolas Kanzelreliefs die Kunst des sächsischen Reichsgebiets mit der des apulisch-sizilianischen regnum verschmolzen habe. Von Swarzenski könnte Borchardt daher m. E. seine Inspiration bezogen haben. 24 Dazu will passen, daß für ihn die 'Themen" der Kanzelreliefs als "dem Bildhauer vorgelegter kirchlicher Bilderkanon" nicht bildkonstitutiv sind; die christliche Ikonographie fügte sich nicht in sein imperial eingestimmtes Kunstgeschichtsbild von Pisa. Trefflich sind indessen die folgenden Bemerkungen Borchardts zum gestalterischen Vorgehen Nicolas, das in der Pisaner Baptisteriumskanzel in besonderem Maße durch zitatartige Ubernahmen aus byzantinischen Bildvorlagen 22

23 24

Vgl. ebd., S. 30 und die Zusammenfassung der Forschungsgeschichte zu diesem T h e m a bei Max Seidel: Studien zur Antikenrezeption Nicola Pisanos, in: Mitteilungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz XIX, 1975, S. 303ff. Borchardt (Anm. 11), S. 43. Georg Swarzenski: Niccolo Pisano, F r a n k f u r t am Main 1926, S. 23f.; zu Belting vgl. A n m . 14; z u r Byzanz-Rezeption des Bildhauers A n t j e Middeldorf Kosegarten: Nicola Pisano. Das Wolfenbütteler Musterbuch und Byzanz, in: M ü n c h n e r Jahrbuch der bildenden Kunst X X X I X , 1988, S. 29-50.

220

Antje Middeldorf Kosegarten

und aus dem Bereich der Pathosformeln antiker Sarkophagskulptur charakterisiert ist, so z. B.: Sie [ = die Kanzel, A.M.K.] zieht aus der Sprache der römischen Sarkophage und der griechischen Trümmer, zu der sie keinen geistigen Schlüssel besitzt [wirklich nicht? darin steckt ein Problem! A.M.K.], ein fragmentarisches Glossar von Anatomie, Geste, Mienenspiel, Tracht, Stoffbehandlung, überhaupt aller dort verzeichneten Schablonen und Federzüge klassischer Typik, und komponiert aus ihnen für jedes der "byzantinischen" Schemata ein alles Vorgeschriebene enthaltendes Sarkophagstil-Schema, in dem die Ubersetzung sich dadurch verrät, daß sie alle Hauptsachen als Details, alle Details als gleichwertig behandelt und jeden Zug mit ihrer Anstrengung lädt - vor allem aber darin, daß das antike Raumbild, in dem allein die antike Typik zu leben vermag, nicht übernommen worden ist, denn es war nicht durch Travestie zu übertragen, und es zu übernehmen hätte die Begriffschranken der im Typenmosaik sich bewegenden Arbeit durchbrochen. 2 5

Das alles ist hervorragend gesehen und faszinierend beschrieben. Borchardt hat den kompositen Charakter der Kunst Nicola Pisanos zuerst erkannt; auch alles, was dann noch folgt, ist stimulierend, und man wird zugeben, daß er mit

seinem

methodische

Hinweis

auf "Zitate" und

Strategie

antizipiert,

die

Motivkoppelungen über

eine

reine

eine

aktuelle

Stilanalyse

weit

hinausführt. Im Zeitalter von deren Hochblüte führte Borchardt als Romanist eine völlig neuartige Dimension in die Beurteilung der Formenwelt eines mittelalterlichen Bildhauers ein. Vermutlich gelangte man auf dem Wege der Zitat- oder Toposforschung am ehesten dazu, analoge Strukturen des ebenfalls hochkünstlich aus biblischen, mittellateinischen,

byzantinischen

und

klassischen Quellen und Topoi zusammengesetzten sizilianischen Kanzleilateins auf die Kanzelreliefs zu beziehen, um deren stilus supremus

begrifflich

zu fassen - ein Problem, das weiter oben schon angerührt wurde. Der hieratische Klassizismus dieser Stillage pisanischer Figuration tritt im W e r k Nicolas nur in der Pisaner Kanzel und noch einmal gleichzeitig in Lucca, an der Fassade von S. Martino (1259), auf; dem entspräche Borchardts Diktum, daß "nur aus dem Floskelschatze der erregten kaiserlichen Parteisprache des Zeitalters, bis tief in Dante hinein, [...] sich ihre dröhnenden Beziehungen herholen" lassen. 26 Lassen wir den Abschnitt ausklingen mit

Borchardts

gereizter Feststellung, daß die Antikenrezeption der später Mittelitalien prägenden Goldschmiede-,

Zeichner- und Humanistengeneration,

d. h.

der

Florentiner Renaissance, mit derjenigen Nicolas inkompatibel, die Perspektive Vasaris also falsch sei, insofern Nicolas von den Ingredienzien des absoluten antiken Kanons freie, "rein dynamische Antike [...] im Akademiegarten Cosimo Medicis" sich ausgenommen hätte "wie eine

zeitzerfressene

Schrulle". 2 7 Und fassen wir zusammen: Hinsichtlich der Pisaner Kanzel sind 25

Borchardt (Anm. 11) S. 43f.

26

Ebd., S. 45.

27

Ebd., S. 46.

221

Pisa und die Pisani in der Sicht Rudolf Borchardts

Borchardts Hinweise auf Sprache, Topoi und deren Zitate, Motive und deren Verknüpfungen

und

damit

nicht

zuletzt

auch

auf das

Problem

einer

möglicherweise bewußt angestrebten Stilhöhe im Sinne eines mittelalterlichstaufischen Klassizismus m. E. von ungebrochener Aktualität. Desillusionierend allerdings wirkt auf den heutigen Leser die anschließende Indienstnahme Nicolas für einen wilhelminisch-postwilhelminisch eingefärbten Staats- und Reichsgedanken nationaler Prägung: "In der Pisaner Opera der Stauferzeit saßen keine Mäzenaten Florentiner Gepräges, die einen geschickten Meister gewähren ließen, sondern die Männer, in denen der Staatsund Reichs-Gedanke lebte" und die überdies die Absicht hatten, "dem Reichsforum [das ist der Campo dei Miracoli; A.M.K.] antiken Zuschnitt zu geben". 28 Man liest über solche Absichten nichts in den Quellen. Die Kanzel war in erster Linie liturgisches Ausstattungsstück des Baptisteriums und kein politisches Propagandainstrument im Sinn des 2 0 . Jahrhunderts. Das Baptisterium diente jeweils einmal jährlich der Taufe, bei den beiden Festen zu Ehren Johannes' des Täufers und der himmlischen Stadtpatronin, der Muttergottes, am Assunta-Tag. Was die "politische" Seite der Programmatik der Kanzel anbetrifft, die sich vorab in dem Zyklus aus Statuetten von Personifikationen an den Ecken des Kanzelbeckens niedergeschlagen hat, so ist sie nicht staufisch im Sinne eines deutschnationalen Konservativismus Borchardtscher Prägung, sondern auf allegorischer Ebene ghibellinisch eingestimmt: religiös-politischer Messianismus, der für die Ideologie der Stauferherrscher so wichtige Endkaiser-Gedanke, Das kommende

Reich

des Friedens

(so der Titel von Bern-

hard Töpfers bedeutendem Buch, Berlin/Ost 1 9 6 4 ) spielen hier hinein. Diese Kunst-Realität muß nicht unbedingt "Abbild" der politischen Realität sein. Die jüngere historische Forschung betont jedenfalls vorab den politischen Pragmatismus der Pisaner, der sie zum Imperium halten ließ, weil dieses sie mit Handelsprivilegien belohnte; sie seien vorrangig furbi e non fedeli

gewesen.

"Gläubige" oder "treue" Ghibellinen in einem gleichsam idealistischen Sinn habe es erst nach 1 3 0 0 zu Zeiten des Romzugs Heinrichs VII. von Luxemburg gegeben, also nach dem Zusammenbruch der Vormachtstellung der Seemetropole, als alle Hoffnungen sich noch einmal auf den Kaiser konzentrierten; ferner war die Haltung eines Ghibellinen im Sinne einer identitätsstiftenden Ideologie der Stadt primär eine anti-florentinische und nicht eine pro-kaiserliche oder reichstreue, sie war also in erster Linie pragmatisch, campanilistisch und aus diesem Grund auch imperial. 29

28 29

Ebd., S. 46f. Ich beziehe mich diesbezüglich auf ein Gespräch mit dem Historiker Prof. Ronzani an der Scuola Normale Superiore in Pisa.

Mauro

222

Antje Middeldorf Kosegarten III

G i o v a n n i Pisano, der "rätselhafte Sohn", ist für B o r c h a r d t der "definitive, erste u n d letzte Genius eines Zeitalters der Seele", als welches er die Z e i t der G o t i k b e z e i c h n e t . 3 0 Ausgangspunkt für dieses Urteil sind die Arbeiten G i o v a n n i s in Pisa, v o r a b dessen 1 3 0 1 - 1 3 1 1 gefertigte g r o ß e Kanzel im d o r t i g e n D o m . Die G o t i k ist für B o r c h a r d t

vorab nordischen

Ursprungs,

entsprechend

etwa

e i n e m D i k t u m Wölfflins: Wir kennen die italienische Kunst als eine Kunst der sinnlich-wahrnehmbaren, formalen Vollkommenheit, aber wir hüten uns, ihr die Wertbegriffe zu entnehmen zur Beurteilung einer Kunst des unmittelbaren seelischen Ausdrucks, wie es die germanische in ausgesprochenem Maße ist. 31 B o r c h a r d t definiert sie nicht als Stilphänomen, s o n d e r n e h e r religions- o d e r frömmigkeitsgeschichtlich, als neue religiöse Befindlichkeit d e r M e n s c h e n , die jetzt ein Bewußtsein v o n sich selbst erlangen k o n n t e n . Die G o t i k schreibt den Menschen den Typus nicht mehr vor, sie gibt ihn endlich zu; sie öffnet sich für ihn und nimmt ihn auf; sie erfüllt sich mit ihm und stellt seine Neuheit dar. Indem sie ihn aufsucht, ihn bei sich versammelt und überblickt, steht sie erdrückt und überflutet von dem Niedagewesenen, Unbezeugten, an keine Geschichte Geschlossenen und durch keine Verbürgten, der von den Kämpfen, Leiden und Verheißungen gestaltarmer Jahrhunderte aufgewühlten, zugleich wilden und gebrochenen christlichen Menge, die unter kein höfisches und kein Stiljoch geht, - der unabsehbaren reuezerrissenen und gewissensverfeinerten, sehnsuchtverzehrten Christenheit der geißelnden Bußpredigt und Kreuzzugswirklichkeit. Sie [...] atmet die frischen Erfahrungsüberspannungen junger ungeprägter Völker, deren Fieber nicht von lateinischen Vernünftigungen zu Glut gedämpft sind [...]. 32 U n d so g e h t es w e i t e r ; es ist die erste "lebendige" Z e i t und die erste sterbliche. Das n e u e gotische Menschenbild ist für B o r c h a r d t also ein

authentisches,

selbst erschaffenes, nicht historisch v o r g e f o r m t e s o d e r antikisch ü b e r f o r m t e s ; es definiert sich d a g e g e n über die auf Buße e i n g e s t i m m t e n Massen,

kommt

also "von unten". E s ist nie grundsätzlich bezweifelt w o r d e n , d a ß Giovanni Pisano die im väterlichen W e r k s c h o n vorfindlichen M e r k m a l e einer G o t i k - R e z e p t i o n in einer entschlossenen Auseinandersetzung mit französischer K a t h e d r a l g o t i k des h o hen 13. J a h r h u n d e r t s radikalisierte, also neu ansetzte, w e n n a u c h über die M o d i dieser F r a n k r e i c h - E r f a h r u n g Giovannis kein Konsens b e s t e h t . 3 3

30 31 32 33

Bor-

Borchardt (Anm. 11), S. 50ff. Heinrich Wölfflin, Das Erklären von Kunstwerken, in: H. W., Aufsätze, hrsg. von Josef Gantner, Basel, Stuttgart 1975, S. 15. Borchardt (Anm. 11), S. 58f. Vgl. zuletzt Antje Middeldorf Kosegarten: Langiolo cholla testa dt sco Giovanni in mano. Zum Werk Giovanni Pisanos, in: Mitteilungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz X X X I V , 1990, S. 3-68, mit älterer Literatur.

Pisa und die Pisani in der Sicht Rudolf Borchardts

223

chardt begreift das Problem nach Maßgabe eines ehrwürdigen Denkmusters, welches vorsieht, daß die nordische Gotik erst in ihrer Berührung mit dem mediterranen Süden und in ihren hervorragendsten Repräsentanten, nämlich in Dante und Giovanni Pisano, zu sich selbst gelangt sei, indem sie ihre eigenen neuartigen, gleichwohl nordisch begrenzten Möglichkeiten durch die Begegnung mit dem antiken oder antik geprägten Menschenbild transformierte und transzendierte. Neben den Werken Giovanni Pisanos verkörpern die reifen Werke der Gotik in Chartres, Reims und Naumburg für Borchardt noch eine geschichtslos schlummernde Welt erster Stufe, wie Ägypten und Ostasien; bei allen in ihnen angelegten Möglichkeiten bleiben sie, so Borchardt, archaisch. Das Nordische der Gotik ist ihm allerdings auch wieder nicht so ausschließlich nordisch, daß es nicht doch seinen Ursprung im Mediterraneo hätte: in der hermetischen Dichtung des um 1200 lebenden Provenzalen Arnaut Daniel, mit dessen "bittern Munde" die Gotik "selbstzerfleischt [...] vor der überwältigenden Sinnenwelt" steht. 34 D. h. Borchardt möchte seine drei Heroen Arnaut, Dante und Giovanni Pisano zu einer großen historischen Trias der eigentlichen, authentischen Gotiker zusammenspannen und träumt von geheimnisvollen Berührungen Giovannis mit Arnaut "als atmosphärische Überlieferungen" 35 ; Dante bezeugt seine Kenntnis Arnauts ja selbst und ist somit Protagonist des italienischen Gotikers Borchardt'scher Konzeption, der seine ihm eigentümliche Ausdrucksform als eine gotische erst in der Berührung mit einem nordischen Gotiker, nämlich Arnaut, entwickeln konnte. Also auch hier wieder ein Zugriff auf den Bildhauer über die Sprache, d. h. über die Dichtung, vermittels derer allein sich die Größe Giovannis zeigen und einzig erklären lasse. Bemerkenswert ist, daß Borchardt sein Bild der italienischen Gotik als höchste Verwirklichung seines "Zeitalters der Seele" zwar mit Bernhard von Clairvaux, aber trotz des 1904 in zweiter Auflage erschienenen, damals sensationellen Buches von Henry Thode über Franziskus von Assisi und zweifellos wider besseres Wissen ohne eine Erwähnung des Poverello entwirft. 36 Man möchte vermuten, daß das Syndrom "Franziskus, die Franzlegende in Assisi und Giotto" sowie Thodes Verknüpfung dieses Syndroms mit dem Beginn der Kunst der Renaissance in Italien ihm zuwiderlief. Giotto und die Renaissance waren florentinisch und wurden daher abgelehnt. Jedenfalls bezeugt dieser Zusammenhang ein anderes Mal, daß seine Vision Pisas und der Pisani keine der Geschichte abgewonnene, sondern eine vorab ästhetische ist: Der Norden sollte mit dem Süden ästhetisch versöhnt werden.

34

Borchardt (Anm. 11), S. 59.

35 36

Ebd. Ebd., S. 57; Henry Thode: Franz von Assisi und die Anfänge der Kunst der Renaissance in Italien, 2. Aufl., Berlin 1904.

224

Antje Middeldorf Kosegarten

Interessant ist Borchardts Feststellung, daß Arnaut, Dante und Giovanni keine Stammväter geschichtlicher Reihen, sondern "Terminalgötter" gewesen seien. Bezüglich Dantes und der janusköpfigen Kunst der Dantezeit gibt es im Rahmen von Überlegungen zur "Epochenschwelle" zumindest einen schon angejahrten Gelehrtenstreit über ihre Zugehörigkeit zum Mittelalter oder/ und zur Neuzeit. 3 7 Giovanni Pisano aber kann man mit Borchardt mit einigem Recht als letzten Repräsentanten einer genuin pisanisch-international

orien-

tierten Bildnerei des Mittelalters sehen und man möchte auch Zeichen des "Spätzeitlichen" gerade in seiner Pisaner Domkanzel ( 1 3 0 1 - 1 3 1 1 ) erkennen, wenngleich man auch fürchten muß, mit einem solchen Urteil in die Fallen einer modernen Ästhetik zu laufen. Borchardt spricht im Zusammenhang des Spätzeitlichen von barocken Stilverschmelzungen, Heterosen. Vielleicht ließe sich das von Panofsky entwickelte Denkmodell des Entstehens von Mystik und Subjektivismus als Korrelat eines neuen Rationalismus zum Zeitpunkt des Systemverfalls von Scholastik und Hochgotik auf Giovannis Pisaner Domkanzel übertragen, d. h. man könnte versuchen, ihre spezifische Gestaltung aus dem Kontext von Mystik und Subjektivismus zu deuten, um der ästhetischen Schlinge zu entschlüpfen. 3 8 Giovannis Domkanzel entstand im ersten Trecento-Jahrzehnt, als sich Pisa politisch und wirtschaftlich in einer Krise befand; ihr Entstehen fällt also in die gleichen Jahre, während derer Giotto die italienische Kunst neu begründete und gleichsam nationalisierte (Padua, Arenakapelle, vollendet 1305). Giotto wäre also, um bei Panofsky zu bleiben, der Exponent des neuen Rationalismus, sprich Nominalismus, der im Gegensatz stand zu dem von Giovanni Pisano repräsentierten subjektiven Mystizismus: ein sehr griffiges, verdächtig verkürzend wirkendes Denkmuster, aber vielleicht doch nicht ganz ohne tieferes Interesse! Das beurteilte Borchardt zwar anders, insofern Giotto als Florentiner bei ihm in Ungnade fiel, wie schon angemerkt: Er führte alles, was allenfalls gut an Giotto sei, auf eine Einwirkung der Kunst Giovanni Písanos zurück; er lehnte auch die beliebten Analogisierungen von Giotto und Dante strikt ab. 3 9 Dante war für ihn kein richtiger Florentiner und wurde daher von ihm geliebt, er habe nichts mit Giotto zu tun, denn Giotto

37

Vgl. zuletzt etwa Hans Belting: Wandmalerei und Literatur im Zeitalter Dantes - zwei öffentliche Medien an einer Epochenschwelle, in: Epochenschwelle und E p o c h e n b e w u ß t sein, hrsg. von Reinhart Herzog und Reinhart Koselleck, München 1987 ( = Poetik und Hermeneutik X I I ) , S. 53ff.

38

Erwin Panofsky: Gotische Architektur und Scholastik. Zur Analogie von Kunst, Philosophie und T h e o l o g i e im Mittelalter [1. Aufl. 1948], hrsg. von T h e o d o r Frangenberg, Köln 1989, S. 14ff.

39

Vgl. z. B. n o c h Martin Gosebruch: G i o t t o und die Entwicklung des neuzeitlichen Kunstbewußtseins, Köln 1962.

Pisa u n d die Pisani in der Sicht Rudolf Borchardts

225

w a r Florentiner und fiel d a h e r d u r c h ; gleichwohl w a r e n f ü r ihn beide aus pisanischen W u r z e l n erklärbar. Borchardts oben e r w ä h n t e s pisanisches volgare imperiale - ein von ihm windungsreich rekonstruiertes, imaginäres I d i o m war f ü r ihn die eigentliche Quelle nicht nur f ü r die sizilianische Dichterschule u n d f ü r das Kanzleilatein u n t e r Friedrich II., s o n d e r n auch f ü r das volgare illustre Dantes. So einfach ist das. 4 0 Jetzt zu einigen Beschreibungen der Reliefs der 1 3 0 1 - 1 3 1 1 erstellten Pisaner D o m k a n z e l G i o v a n n i Pisanos von Borchardt, u m die m a n ihn auch beneiden k a n n ; leider m u ß ich sie wegen Uberlänge in unzulässiger Weise f r a g m e n tieren. M a n k a n n w o h l voraussetzen, d a ß B o r c h a r d t die Reliefs vor Baccis 1926 erfolgter R e k o n s t r u k t i o n der Kanzel, welche im 16. J a h r h u n d e r t abgebaut w o r d e n w a r , intensiv aus der N ä h e studiert hat. Er sieht Giovanni Pisano in erster Linie als besessenen Z e i c h n e r u n d die Kanzelreliefs als "Bilder", im Sinne einer damals verbreiteten T h e o r i e der Stilentwicklung, die d e n Ubergang v o m "Plastischen", in diesem Fall repräsentiert von Nicola, ins "Malerische" vorsieht, u n d d e r e n geistiger A h n h e r r H e i n r i c h W ö l f f l i n mit seinem T h e o r e m einer Entwicklung v o n geschlossener F o r m zu o f f e n e r F o r m o d e r Aloys Riegl mit d e m j e n i g e n einer solchen v o m H a p t i s c h e n zum O p t i s c h e n gewesen sein k ö n n t e ; 4 1 vielleicht w a r e n es auch die A r c h ä o l o g e n mit d e m M o d e l l v o m Archaischen zum Klassischen zum Hellenistisch-Barocken o d e r , in der Seminar-Terminologie Ernst Buschors, der Einbahnstraße "faltenlosfaltenarm-faltenreich". Borchardt sah zeichnerische Übung als G r u n d l a g e für Giovannis Fähigkeit zur W i e d e r g a b e seelischer K o m m u n i k a t i o n , die d e m malerischen Prinzip k o r respondiere: Der Gegenstand der ganzen Darstellung ist das seelische K o m m u n i z i e r e n von Einzelnen mit Einzelnen, das Blick in Blick Hangen, das Einander Neigen, das Einander Gewahren und Voreinander Erschrecken, das Einander zu Begreifen Suchen, in Starren, in Verschmelzen, in Helfen u n d Leiten. Die den Gestus aufs k ü h n s t e und vielsagendste u m schreibende zeichnerische Linie, von einer jugendlichen Gefügigkeit u n d stolzen Kindlichkeit ohnegleichen, ist der Träger des seelischen Ausdrucks. [...]. Die malerische A u f f a s sung behandelt den Reliefstil souverän als N o t s t a n d , zwingt ihm V e r k ü r z u n g e n und H a l b perspektiven auf, Vorderansichten, Herausringendes aus d e m Stein. [...]. Er entfaltet, w o er m u ß , ein V e r m ö g e n des Dramatischen, das [...] keinen Zweifel daran läßt, daß er das Recht der Menschenseele in ihrer tiefsten N o t verwaltet, den nach R e t t u n g ringenden Schrei seiner Schwäche vor der Wirklichkeit des Bösen, die Realisierung des Christentums, die allgemeine praktische D u r c h f ü h r u n g seiner Paradoxien als ganz normaler Gegebenheiten, fegt als Wirbel diese dichten Szenen [...]. Die Frau dominiert. [...]. Wie die U n t e r schiede zwischen den Geschlechtern, so sind die zwischen den Ständen verwischt, die zwi-

40 41

Borchardt (Anm. 11), S. 86ff., 94ff. Zu Wölfflin und Riegl vgl. die resp. Beiträge in: Heinrich Dilly (Hg.): Altmeister m o d e r ner Kunstgeschichte, Berlin 1990, mit Literaturnachweisen.

226

Antje Middeldorf Kosegarten

sehen den Lebensaltern besänftigt. Ein ergriffenes Geschlecht [...] tauscht unter sich den Geheimnisblick des Einverständnisses. [...]. So herrliche Erfindungen wie die des in schamhafter Vornehmheit zagend geneigten jungen Königs, der in der Anbetungsgruppe [...] vor das Heilige Kind geleitet wird, nehmen Jahrhunderte der Kunst voraus. [...] die wilde Freudenorgie des Jüngsten Tags, in einer einzigen rhythmischen Bewegungslinie [...] hinter der rennenden Aufrührerin her, die, das Haar im Winde, mänadisch in die Seligkeit rast [...]. [...] die malerische Inspiration in der plastischen Tiefe gebrochen und mit fremden verziehenden Lichtern über sie hinspielend, die Plastik auch mitten im Sterbeblick der Krise immer noch den Primat der Bildsetzung behauptend - wer glaubt ein solches Werk kunstgeschichtlich erklären zu können? 42

Borchardts geistreicher Deutungsansatz des Reliefstils der Pisaner Domkanzel über eine (vorausgesetzte) intensive zeichnerische Vorbereitung ist zweifellos interessanter als die obligaten kunsthistorischen Ableitungs-Exerzitien von hellenistischen Sarkophagen, auch wenn er vorläufig unbeweisbar bleibt, weil "Skizzen" im modernen Sinne oder Vorzeichnungen von Figuren m. W. aus der Dantezeit nicht überliefert sind (es gab allerdings um 1300 Architekturentwürfe mit detailliert eingezeichneten Statuen und Reliefs im Stil ihres Urhebers). Sei dem wie ihm wolle - Borchardts Beschreibungsmodus ist im Sinne des eingangs angesprochenen Anspruchs auf Erschließung der Gesamtheit der formal/inhaltlichen Aussagekraft des Kunstwerks großartig, vor allen Dingen auch, weil der allgemeine historische Hintergrund - die politische und religiöse Krisensituation in Pisa wie auch sonst in Italien - nicht nur präsent ist, sondern weil der interpretierende Blick Borchardts gerade aus dieser Perspektive auf die Pisaner Domkanzel trifft. Das ist um so erstaunlicher, weil diese sich einer ästhetischen Würdigung bis dato entzogen hatte. Vasari bedauerte, daß so viel Können auf ein schließlich doch mißratenes Werk verwendet worden sei; Peleo Bacci, der sie 1926 pietätvoll rekonstruierte und enorm zur Kenntnis ihrer Geschichte und inhaltlichen Deutung beigetragen hat, war eher Historiker, Archivist und Ikonograph; erst Keller hat sie 1942 - auch unter dem Eindruck des Textes von Borchardt? - als Kunsthistoriker zu würdigen gewußt, wenn auch nur in termini eines Spätstils: "Beide alternden Meister [Giovanni und der späte Donatello; A.M.K.] vernachlässigen im Ringen um die Bewahrung der reinen Geistigkeit des erzählten Vorgangs dessen sinnliche Vergegenwärtigung." Erst der Expressionismus also und mit ihm die Einfühlungsästhetik, die nicht mehr gebunden war an eine klassizistisch normative Ästhetik, haben die Augen geöffnet. Bereits Braunfels aber konnte in einem wichtigen Aufsatz von 1949 zur Gestaltikonographie der Pisani-Kanzeln mit Giovannis Pisaner Domkanzel wieder nichts Rechtes

42 Borchardt (Anm. 11), S. 62-65; gute Abbildungen bieten die Bücher von Michael Ayrton: Giovanni Pisano sculptor, London 1969; Enzo Carli: Il Pergamo del Duomo di Pisa, Pisa 1975 und Crispino Valenziano (Hg.): L'Ambone del Duomo di Pisa, Pisa 1993.

Pisa und die Pisani in der Sicht Rudolf Borchardts anfangen

und

bestätigte

nochmals

Vasaris

Urteil;

227

Ayrton,

inspiriert

von

H e n r y M o o r e , sah sie 1 9 6 9 b e e i n d r u c k t und eindrucksvoll mit den A u g e n eines m o d e r n e n Bildhauers, aber w e n i g e r mit d e n e n eines Kunsthistorikers.

-

S o h a r r t die pisanische D o m k a n z e l Giovannis als gestalterisches Ereignis einzigartigen R a n g e s eigentlich bis heute ihrer E n t d e c k u n g und D e u t u n g , d e n n a u c h Seidels neuere, auf i k o n o g r a p h i s c h e E i n z e l p r o b l e m e g e r i c h t e t e Untersuc h u n g e n wie a u c h der jüngste R e k o n s t r u k t i o n s v o r s c h l a g

von

Kreytenberg

bringen diesbezüglich wenig m e h r a u ß e r s c h ö n e n F o t o s . 4 3 Gemessen a m ästhetischen Urteil d e r Kunsthistoriker, liegt B o r c h a r d t bezüglich Giovannis Pisaner D o m k a n z e l , ihrer zeitgeschichtlichen Implikationen und der Deutung der F o r m e n w e l t o d e r des "Stils" des Bildhauers i m m e r n o c h weit vorn. Schließlich n o c h zu den M a d o n n e n b i l d e r n Giovannis, w e l c h e die für die Kanzelreliefs bezeichnende M ö g l i c h k e i t seelischer K o m m u n i k a t i o n in b e s o n d e r e m M a ß e charakterisiert. Sie g e r ä t in F o r m und Ausdrucksgehalt zu ä u ß e r ster p o l a r e r Spannung zwischen jungfräulicher G o t t e s g e b ä r e r i n und W e l t e r löser und ist vermutlich inspiriert v o n franziskanischer M a r i e n m y s t i k , d e r e n V e r t r e t e r - auf d e m H i n t e r g r u n d der M a r i o l o g i e B e r n h a r d s v o n C l a i r v a u x

-

n a c h d e m theologischen Gehalt der spezifischen Beziehung M a r i a s und C h r i sti als sponsus

und sponsa,

also als Liebende, gefragt haben. D i e s e m Sachver-

halt v e r m ö c h t e n B o r c h a r d t s Beschreibungen zu e n t s p r e c h e n : Es ist nicht, was das frischweg charakterisierende Dutzendurteil "Mutterjubel" genannt hat, es ist nicht bloße Realistenvorliebe für Jäheit der Bewegung, was aus diesen und verwandten Stücken spukt [...]. Dies zuckende Sich-Abdrehen vom weggestemmten Kinde, dies in der harten Schiefe des Rumpfes Erstarrende, von dem der Kopf sich als visionäre Profilmaske in den Gegenwinkel zurückschraubt - dies sind nicht Genrebilder der gotischen Kinderstube. Es ist Wirklichkeit zweiter Stufe, nicht Abbildung eines rasch ergriffenen Wirklichen, sondern Verwirklichung, und darum erschreckende, des Unwirklichen [...]. [So] spannt sich das unaussagbare Wunder, Jungfrau und Mutter, liebunkundige Gebärerin des unkindlichen Kindes, auf das andere Wunder, das kindgestalte Ziel der Weissagungen [...] mit den Dämonengesten fremden Zwiegesprächs.44

43

Pèleo Bacci: La ricostruzione del Pergamo di Giovanni Pisano nel Duomo di Pisa, Mailand, Rom 1926; Harald Keller: Giovanni Pisano, Wien 1942, S. 52f.; Wolfgang Braunfels: Zur Gestalt-Ikonographie der Kanzeln des Nicola und Giovanni Pisano, in: Das Münster II, 1948/49, S. 321 ff.; Ayrton (Anm. 42); Max Seidel: Ubera Matris. Die vielschichtige Bedeutung eines Symbols in der mittelalterlichen Kunst, in: Städel-Jahrbuch VI, 1977, S. 37-48; Gert Kreytenberg: Aspetti storici e artistici, in: Crispino Valenziano (Anm. 42), S. 17-34.

44

Borchardt (Anm. 11), S. 74f.; er nimmt innerhalb der von ihm sog. "Kleinmadonnen" Giovanni Pisanos besonders Bezug auf die Pisaner Elfenbein-Madonna und die Madonna in Prato; vgl. u. a. Max Seidel: Die Berliner Madonna des Giovanni Pisano, in: Pantheon X X X , 1972, S. 181-192; ders., Die Elfenbeinmadonna im Domschatz zu Pisa. Studien zur Herkunft und Umbildung französischer Formen im Werk Giovanni Pisanos, in: Mittei-

228

Antje Middeldorf Kosegarten

Und von der traditionell sogenannten "Madonna del Colloquio" in Pisa heißt es: Die überlebensgroße ruhige Halbfigur des Camposanto, [...] das von sich abgerückte Kind auf der wundervoll antik gebildeten emporgreifenden Riesinnenhand, das gekrönte unbewegte Haupt ins Profil nach links gedreht, den Hauch einer Verwunderung, die man noch nicht Lächeln nennen kann, fast nur eines dunklen Stutzens, um die bitterlich keuschen leblosen Lippen, hüllt das ihm ferne Gesichtlein in den mächtigen Forscherblick, eine Riesin, ihrem ungewollten undurchdringlichen Schicksal das riesige Maß nehmend, stumm. Das lachende Kinderantlitz lacht nicht nur, es spricht. Geist des Sprechens, beredter Geist, [...] Weissagung, spielt um die Winkel des gebildeten Mundes. Es sitzt auf der großen Hand wie von Throne lehrend, durchbohrt von dem Einblick der düsteren Heldin in das Wunder und die Last. Solche Szenen hat kein "Realist" auf Erden gesehen, und kein "Gotiker" mußte erst erwachsen, damit ihr gewinkelter Umriß entdeckt und festgehalten würde, noch konnte er in Arles aufstehen oder in Reims und Naumburg. 4 5

Borchardt spricht auch von dem "pisanischen Lächeln, wunderlich unfeststellbar und sonderlingsartig, wunderlich alt und jung zugleich über die Antlitze Giovannis hingeisternd", und bindet das alles ein in ein nicht unbekanntes Konzept, welches eine politische Krise mit höchster Kunstblüte verknüpft, wie es z. B. in Athen zu Zeiten des Perikles der Fall gewesen sei. Die sterbende Stadt Pisa habe sich in Werken entäußert, die, "wie vorher nie, nur mehr Kunst" seien, womit gemeint ist, daß Giovanni eine "im Menschen und seiner Darstellung befreite Originalwelt" geschaffen habe, daß seine Bildnerei also nicht mehr theologisch-liturgisch gebunden, sondern autonome künstlerische Hervorbringung um ihrer selbst willen sei. 4 6

IV Für Borchardt war die Gotik Giovannis in Pisa einerseits verknüpft mit jener neuen, "lebendigen Zeit", welche "die grandiose antikische Reichsfiktion der Stadt aus ihrem Zyklus erlösen mußte", sie war auf der anderen Seite indessen "den Staufern nicht mehr zugedacht, sondern deren Reiche nurmehr nachgeträumt, als Bezeugerin des Interregnums, im Italien der Anjou". 4 7 Ich weiß nicht, ob Giovanni und seine Auftraggeber dem Stauferreich nur nachgeträumt haben: Die Kanzel entstand in den Jahren 1 3 0 1 - 1 1 , also kurz vor dem Romzug Heinrichs VII. von Luxemburg, der seit 1 3 0 9 vorbereitet wurde. Das Eintreffen Heinrichs in Pisa wurde mit fast religiösem Eifer zugerichtet: Man

lungen des Kunsthistorischen Instituts in Florenz X V I , 1972, S. 1-50; Giuseppe Toniolo (Hg.): Il Museo del'Opera del Duomo a Pisa, Pisa 1986, Abb. 95, S. 98f. 45

Borchardt (Anm. 11), S. 75f.; vgl. Ayrton (Anm. 42), Abb. 118; Toniolo (Anm. 44), Abb. 97.

46

Borchardt (Anm. 11), S. 67.

47

Ebd., S. 66.

Pisa und die Pisani in der Sicht Rudolf Borchardts

229

sah in ihm eine Reinkarnation der staufischen Imperatoren. 48 Ihre Programmatik ist gekennzeichnet durch ein prophetisches Element, in welchem franziskanisch-joachimitische Eschatologie und Endkaiserhoffnung konvergieren. In der berühmten Statue der Muttergottes mit den Zwillingen als "Ecclesia" und zugleich als Personifikation der "Pisa" im Stützengeschoß der Domkanzel möchte ich auch eine Sinnebene angesprochen sehen, welche sie als Darstellung der Kirche einer bevorstehenden Friedenszeit, nämlich jene Ecclesia spiritualis der franziskanischen Spiritualen ausweist, deren Vorläufer Franziskus und Dominikus gewesen wären, von denen als Führer zweier kommender Orden Joachim von Fiore dunkel sprach und die von ihm und vor allem von seinen Anhängern und Nachfolgern u. a. auch mit biblischen Zwillingen, etwa Jacob und Esau, gleichgesetzt wurden. 49 Und die Erythräische Sibylle mit den beiden Flammenfüllhörnern aus dem Zwischengeschoß ist jene Sibilla Erithea Babilonica der Joachimiten, in deren um 1 2 4 0 verfaßtem Vatizinium die beiden Ordensgründer mit jenen beiden großen Leuchten verglichen wurden, die den großen, friedvollen Weltsabbath vor dem Endgericht einleiten würden. Diese politisch brisante Sibylle hat Giovanni Pisano auch im Prophetenzyklus seiner Sieneser Domfassade aufgestellt. 50 Joachimismus und franziskanische Spiritualenbewegung konnten mit dem Ghibellinismus recht enge Berührungen haben, wie lange festgestellt wurde. Ohne auf diesen Fragenkreis hier weiter eingehen zu wollen: insgesamt halte ich Giovanni Pisano für einen Bildhauer, der eine starke Beziehung zum religiös-politischen Prophetismus seiner Zeit hatte, also bei allem Künstlerehrgeiz offenbar ein ghibellinischer "Geschichts-Mystiker" in den Begriffen seiner Zeit war, jedenfalls als Bildhauer. 51 So gesehen, kann man in kühnem Zugriff vielleicht doch von einer Art zeitübergreifender Interessengemeinschaft oder einer Jahrhunderte überspannenden "Berührung" der Geschichtsmystiker und Eschatologen Giovanni Pisano und Rudolf Borchardt sprechen; genau wie letzterer es sich für Dante, Arnaut und Giovanni ausmalte?

48

Vgl. z.B. die Angaben bei Robert Davidsohn: Geschichte von Florenz, Bd. III, Berlin 1927, S. 3 8 3 , 408, 411, 464ff., 5 2 1 , 548; ferner A n t j e Middeldorf Kosegarten: Grabmäler von Ghibellinen aus dem frühen T r e c e n t o , in: J ö r g Garms ( H g . ) : Skulptur und Grabmal des Spätmittelalters in R o m und Italien, Wien 1990 ( = Akten des Kongresses "Scultura e m o n u m e n t o sepolcrale del Tardo Medioevo as R o m a e in Italia, R o m 1985), S. 3 1 7 - 3 2 9 .

49

Zur Stützenfigur der Maria/Ecclesia mit den Zwillingen vgl. Seidel (Anm. 4 4 ) .

50

Die Erythräa der Pisaner Kanzel abgeb. bei Ayrton (Anm. 42), A b b . 309. Zur Sieneser Sibylle vgl. A n t j e Middeldorf Kosegarten: Sienesische Bildhauer am D u o m o Vecchio, M ü n chen 1984, S. 86ff.

51

Eine Studie zum Phänomen des religiös-politischen Prophetismus in den Kanzelprogrammen der Pisani hat Verf. in Vorbereitung.

230

Antje Middeldorf Kosegarten

Gleichwohl möchte ich nicht verschweigen, daß mir Borchardts 1935, im Nachwort, formulierte Forschungsperspektive erhebliche Verständnisprobleme bereitet, und ich lasse mir diesbezüglich auch gern einen "in Schablonen befangenen Blick"52 unterstellen: Borchardt setzt das abendländische Mittelalter in seiner mittelmeerischen Bindung als einen weltgeschichtlich einheitlichen Kulturraum voraus (so weit so gut), doch im Zusammenhang mit einer zweiten, zugehörigen Voraussetzung: daß die letzten weltgeschichtlichen Träger dieser mediterran geprägten Kultur des Mittelalters als letztes antikes Weltvolk die Germanen gewesen seien. Auch seine Betonung der "Vermischung" von Nord und Süd als konstitutivem Element dieser Kultur hilft nicht darüber hinweg: Dante und Giovanni Pisano als Germanen? Oder als durch die Germanen bedingt? Warum diese Priorität des Germanischen oder zumindest die Perspektive Nord-Süd, germanisch-romanisch und nicht umgekehrt? Der Akzent, der auf der Letztheit jener Kultur und jenes Weltvolkes liegt, rückt Borchardts Konzeption m. E. in eine subjektiv-teleologische, als "endzeitlich" gedachte und zu charakterisierende Dimension, die auf eine schwer zu definierende Weise mit der Konzeption der Germanen als letzten weltgeschichtlichen Trägern der Mittelmeerkultur zusammenhängt; darin unterscheidet sie sich vom dem gleichwohl sehnsuchtsvollen Blick der Archäologen aller Einzeldisziplinen auf die Antike seit Petrarca und Winckelmann. Die Antike nach Borchardt ein seinem mediterran-mittelalterlichen vergleichbar strukturierter, einheitlicher Kulturraum, dessen Erforschung durch die Altertumswissenschaft vorbildlich sein sollte für eine neu zu schaffende des mediterranen Mittelalters - die Antike also blieb stets verfügbar, sie konnte durch Nachahmung immer "wiederbelebt" werden und hat sich gegen Germanisierungs- und "Letzt"-Vereinnahmungsversuche gottlob bis heute als genau so resistent erwiesen wie eine Germanisierung des Mittelalters. 53

V Ich möchte abschließend zitieren aus einem Ze/i-Interview mit Werner Kraft, 54 dem Schriftsteller aus Braunschweig, der seit 1934 in Jerusalem lebte und kürzlich starb; er kannte Rudolf Borchardt seit 1914. Neben vielem anderen

52 Borchardt (Anm. 11), S. 153. 53 Zur Frage des "Zwanges" zur Antikenrezeption im Mittelalter vgl. Salvatore Settis: Verbreitung und Wiederverwendung antiker Modelle, in: Studien zur Geschichte der europäischen Skulptur im 12./13. Jahrhundert, hrsg. von Herbert Beck und Kerstin HengevossDürkop, Frankfurt am Main 1994 (= Schriften des Liebieghauses), 351-366. 54 Reinhard Merkel im Gespräch mit Werner Kraft, in: Die Zeit, Nr. 19 vom 3. Mai 1991.

Pisa und die Pisani in der Sicht Rudolf Borchardts

231

Interessanten heißt es hier: "Gegenwärtig wird in Deutschland Borchardt für einen, sagen wir, esoterischen Winkel der Literatur wiederentdeckt und reklamiert"; er verweist in diesem Zusammenhang auf Botho Strauss. Und dann heißt es weiter: In Deutschland sollte man keine Kulturpolitik betreiben, in der die finsteren Symbolwelten wieder zu aktuellem Gebrauch erschlossen werden, von denen man mit Recht gehofft hat, sie wären endgültig besiegelt. Das hat mit Borchardts Rang als großer Dichter nichts zu tun. Sehen Sie, er selbst war um der Kultur willen politisch, reaktionär politisch, ja, ein absoluter Nationalist, und er hatte auch etwas von einem Gewaltmenschen.

Der Gewaltmensch sollte nicht das letzte Wort meines Vortrags sein, und so möchte ich Dantes Erklärung des allegorischen Schriftsinns - una veritade ascosa sotto bella menzogna (Conv. II, 1,3), eine Wahrheit unter schöner Lüge verborgen - auf Borchardts Text übertragen, obwohl der Vergleich natürlich hinkt, denn er beabsichtigte nicht, Pisa zu allegorisieren. Gleichwohl ist seine "Wahrheit" über Pisa eine Kunst-Wahrheit, eine bella menzogna. Es war ja auch nur "ein Versuch".

BRUNO KLEIN

Vier Kolosse. Rudolf Borchardt und die Architektur des "Campo dei Miracoli" in Pisa 1 Borchardts Betrachtungen zur Pisaner Architektur mögen formal über jeden Zweifel erhaben sein, doch sind sie für den Kunsthistoriker durchaus problematische Dokumente, wenn er sie für die Geschichtsschreibung seiner eigenen Disziplin heranziehen möchte. Dies liegt nicht nur an den eigentümlichen inhaltlichen Aussagen des Pisa-Textes, sondern gilt auch wegen seiner kulturgeschichtlichen Stellung. Damit sind zwei der wichtigsten Punkte angesprochen, die im folgenden zu beleuchten sein werden. Borchardts Blick auf die Architektur dient mir dabei als roter Faden, entlang dessen ich mich, vielleicht ein wenig willkürlich und unsystematisch, durch sein Pisa-Buch bewegen möchte. Am Anfang steht ein kurzer Versuch, die Rolle zu bestimmen, welche die Architekturbetrachtung darin überhaupt spielt. Sodann wird der Modus von Borchardts Architekturbeschreibung zu analysieren sein, um zu zeigen, in welcher Tradition sie steht. Wie sich Borchardts Meinungen zur Pisaner Architektur vor dem Hintergrund älterer wie neuerer historischer und kunsthistorischer Forschungen ausnehmen, wird im nächsten Abschnitt behandelt. Wenn ich zuletzt versuchen möchte, das Buch in einen größeren, vielleicht sogar "kulturhistorisch" zu nennenden Zusammenhang einzubinden, so bin ich mir der Unzulänglichkeit dieses Versuches bewußt, da ich den komplizierten Gegenstand nur mit den Methoden und den Kenntnissen meines eigenen Faches untersuche, der Kunstgeschichte. Die Pisaner Architektur spielt in Borchardts Schrift nicht die zentrale Rolle wie beispielsweise Skulptur und Literatur, denn in den Analysen des Autors wird deutlich, daß seine Affinität zu den einzelnen Kunstgattungen unterschiedlich war; offenbar fühlte er sich bildender Kunst und Literatur stärker verbunden als den eher abstrakten architektonischen Zeugnissen.

1

Der vorliegende Text ist weitgehend identisch mit dem Manuskript eines Vortrages, der im Juni 1991 in München anläßlich des von der Rudolf-Borchardt-Gesellschaft veranstalteten Kolloquiums "Rudolf Borchardt und die Kunstgeschichte" gehalten wurde. Seitdem wurden nur noch die Literaturnachweise hinzugefügt. - Alle Zitate nach Rudolf Borchardt beziehen sich auf R. B.: Pisa. Ein Versuch, Zürich 1938.

Rudolf Borchardt und die Architektur des "Campo dei Miracoli"

233

Borchardts Blick auf das gebaute Pisa richtet sich im wesentlichen auf die M o n u m e n t e des "Campo dei Miracoli", das heißt Dom, Baptisterium, C a m panile und Camposanto. Die eigentlich zentrale Stellung nimmt jedoch deren Ausstattung ein, d.h. Fresken, Bronzewerke und Skulpturen. W ä h r e n d die Beschreibung von Werken der gotischen Epoche in der Wertung des Œuvres von Giovanni Pisano kulminiert, werden gotische Bauwerke - mit Ausnahme des genannten Camposanto - nur kurz gestreift. Die übrigen M o n u m e n t e Pisas werden nur an zwei Stellen erwähnt, von denen die eine lautet: Solange also das F o r u m [gemeint ist der C a m p o dei Miracoli; B.K.] nicht ausgebaut war, flössen f ü r gotische G r o ß b a u t e n keine Mittel, u n d hielten sich die O r d e n s k i r c h e n des Weichbildes, an seine äußersten G r e n z e n gedrückt, zu den W e l t w u n d e r n in d e m Verhältnis, das ihnen der strenge Aufbau der Stadt zuwies. Bei der ältesten Bischofskirche Pisas, der uralten schlichten, in Ältertagen noch jenseits des Stromgrabens verbannten PaulusUferbasilika, steht, aus Kreuzzugsregungen geboren, ein sarazenengotisches Spitalsbrüderhaus, auf gleichem U f e r stromauf in den d ü n n e n Bauzeilen einer Vorstadt eine über dem Model geformte Grabeskirche, die gleiche wie überall - Außenwerke, Bauschablonen, ungefühlt, unbedeutend. 2

Diese Zeilen müssen wohl nicht kommentiert werden. Großzügig gezählt benötigt Borchardt gerade acht Seiten für die Beschreibung der romanischen Bauwerke des Campo dei Miracoli, siebzehn aber für die beiden Pisani-Kanzeln darin; zwei Seiten für die Architektur des Camposanto, über zwanzig für dessen Fresken. Diese etwas tumbe Statistik besagte alleine noch nichts, wenn nicht auch die Borchardtschen Architekturbeschreibungen selbst hin und wieder in den Bereich der Skulpturanalyse hinübergleiten würden. "Das Verhältnis der Domfassadenstruktur zur Antike ist genau das gleiche wie das Nicolas zur antiken Plastik", heißt es beispielsweise an einer Stelle. 3 Offenbar waren die Bildhauer für Borchardt die wahren H e r o e n , in deren Werken der "Geist" Pisas am deutlichsten zum Ausdruck kam oder anhand derer dieser sich am besten darstellen ließ. Selbst an der einzigen Stelle, an der Borchardt einmal auf einen Rezipienten der Pisaner Kunst eingeht - es handelt sich um niemand anderen als Dante - , billigt er ihm ausschließlich die Beachtung skulpturaler Werke zu, so wie auch Borchardt selbst die Verknüpfung dichterischer und bildhauerischer Formen am besten gelingt. Skulptur vermag er mittels ihrer Parallelisierung mit der Literatur in einem - allerdings fiktiven - größeren historischen Rahmen unterzubringen, die Architektur bleibt demgegenüber isoliert. Aber auch hieraus saugt Borchardt seinen H o nig: Die - von mir vermutete - geringere persönliche Affinität des Autors gegenüber der Architektur, die in ihrer vergleichsweise kurzen Analyse mündet, wird in dem Sinne inhaltlich positiv genutzt, d a ß für Borchardt gerade in der

2 3

Ebd., S. 56. Ebd., S. 32.

234

Bruno Klein

Architektur Pisas die Einzigartigkeit der Stadt besonders zum Ausdruck gebracht wird. Wenden wir uns nun den Architekturbeschreibungen selbst zu: "Vier Kolosse", 4 Dom, Campanile, Baptisterium und Camposanto, sind für Borchardt die Bauten des Campo dei Miracoli. Die ausführlichste und zugleich längste Architekturbeschreibung des ganzen Textes ist dem Dom gewidmet. 5 Borchardt beginnt im Innern, wobei er den Raumeindruck und das Verhältnis der einzelnen Teilräume zueinander zu charakterisieren versucht. Einzelne Motive, wie beispielsweise Arkadenreihen, Pfeiler, Kapitelle, Fenster usw. erwähnt er eher beiläufig, dafür stehen Licht, Dunkelheit, Dimension und Proportion im Mittelpunkt. Entsprechend werden die Details auch beim Außenbau nur im Uberblick erfaßt und erst in ihrer Summe mit antiker Tempelarchitektur in Verbindung gebracht. Die Bezeichnung der Apsis als antiker "Halb-Tholos" liegt auf dieser Linie, ist aber nach Kriterien der Architekturtypologie ebenso originell wie falsch. Generell läßt sich behaupten, daß wirkliche Raumbeschreibungen

unter

allen kunsthistorischen Beschreibungen zu den schwierigsten gehören und deshalb sehr selten sind. Statt dessen wird oft dargestellt, wie Wandaufriß und Decken architektonisch organisiert sind, womit aber wenig über den Raum selbst, sondern nur etwas über seine Begrenzungen gesagt wird. Bei Borchardt ist dies anders: Er versucht tatsächlich, einen Raum zu charakterisieren, und verwendet, um der Beschreibung von Raumgrenzen zu entgehen, einen Kunstgriff: Er läßt Auge und Blick schweifen und versetzt den imaginären Betrachter in Bewegung:"[...] das Auge des Schreitenden, links und rechts in die ungebrochene Perspektive steiler Schrankenwände gefriedigt, sieht sich unablenkbar nur nach vorwärts, zu Hauptaltar und Chor, gezogen f...]." 6 An anderer Stelle heißt es: 'Tritt er [ = d e r Betrachter; B.K.] aus der Querkirche gegen die Vierung vor, den Blick auf ihren nahen Abschluß gerichtet, und zweigt plötzlich links von ihm das riesige Langhaus fünfschiffig ab, [...] und wendet er die Blick wieder aufwärts" 7 usw. In solchen Passagen wird deutlich, wie sehr Borchardts Beschreibungen aus der Bewegung heraus gewonnen werden, was übrigens nicht nur für die Architektur, sondern auch für die Skulptur zutrifft. Diese Art "dynamischen" Beschreibens möchte ich versuchsweise einmal vergleichend in den Blick nehmen. Denn es läßt sich unschwer feststellen, daß in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts zwei verschiedene Stile der Architekturbeschreibung gepflegt 4 5 6 7

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. 28. bes. S. 35-39. S. 35. S. 36.

Rudolf Borchardt u n d die Architektur des "Campo dei Miracoli"

235

wurden. Ich nenne sie thesenhaft den "dynamischen, raumbezogenen" und den "statischen, gliederungsbezogenen". Der typische, ungeheuer einflußreiche und vielgelesene Vertreter des ersten Stils war Wilhelm Worringen 8 Von seinen im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts erschienenen Schriften Abstraktion und Einfühlung, Lukas Cranach, Die Buchillustration der Gotik möchte ich nur aus der jüngsten zitieren, dem Buch Formprobleme der Gotik von 1911. Dort heißt es beispielsweise in einer Passage des Kapitels "Innerer Aufbau der Kathedrale": "Die altchristliche Basilika hatte ihr Ziel im Altar. Mit energischem Linienzwang leitete sie die ganze Aufmerksamkeit auf diesen Endpunkt der Bewegung, den Altar, hin." 9 Borchardt, zum gleichen Problem, schreibt wie eben schon zitiert: "Das Auge des Schreitenden, links und rechts in die ungebrochene Perspektive steiler Schrankenwände gefriedigt, sieht sich unablenkbar nur nach vorwärts, zu Hauptaltar und Chor, gezogen [...]."10 Die Übereinstimmungen sind meines Erachtens schon hier erkennbar. Doch möchte ich abermals Worringer zitieren, um noch deutlicher zu zeigen, wie zentral bei ihm die "dynamische" Beschreibung, aber auch die Analyse dynamischer Architekturstrukturen ist: A u c h die gotische Kathedrale kennt einen Linienzwang. Aber sein Ziel ist ein anderes. Es ist jene irreale Linie in verschwindender H ö h e , nach der alle Kräfte, all ihre Bewegtheit orientiert sind. Die Basilika hatte ein bestimmtes Ziel, die Kathedrale ein unbestimmtes. Ihre Bewegungen verklingen im U n e n d l i c h e n . "

Bei Worringer sind vielleicht die dynamischen Züge im Kunstwerk selbst ein wenig stärker betont als bei Borchardt, für den die aktive Perzeption des Betrachters eine größere Rolle spielt. Dennoch wird wohl insgesamt deutlich, wie sehr Borchardt in bezug auf die "dynamische" Architekturanalyse Worringer verpflichtet ist. Hierin ist ein echtes Derivat aus der damaligen Kunstgeschichte bei Borchardt sichtbar. Inhaltlich stimmen Worringer und Borchardt keineswegs vollkommen überein, denn nichts hätte Borchardt ferner gelegen als die These Worringers, daß die ganze mittelalterliche Architektur von "nordischen" Tendenzen geprägt sei. Vielmehr ging es ihm ja gerade darum, das autonome, "mittelmeerische" Element in der pisanischen Architektur herauszustellen. Dennoch sind die Ansätze strukturell vergleichbar, stoßen sich doch beide von einer antik-römisch geprägten Kunstrichtung ab, deren Relativität und historische Bedingtheit sie in Hinblick auf den Gegenstand ihres eigenen Interesses - mag dies nun Pisaner oder gotische Kunst sein - beweisen wollen. 8

Vgl. Magdalena Bushart: D e r Geist der G o t i k und die expressionistische Kunst. Kunstgeschichte und Kunsttheorie 1911-1925, M ü n c h e n 1990. 9 Wilhelm Worringer: F o r m p r o b l e m e der G o t i k , M ü n c h e n 1911, S. 100. 10 W i e A n m . 6. 11 W o r r i n g e r (Anm. 9), S. 100.

236

Bruno Klein

Hierzu möchte ich noch eine weitere, etwas längere Passage aus Worringers Buch zitieren. In dieser wird nicht nur erneut der "dynamische" Stil der Architekturparaphrase deutlich - von Architekturbeschreibung kann man hier wohl kaum mehr reden - , sondern es zeigt sich darin auch, welchen

Gegensatz

W o r r i n g e r zwischen Spätantike und "nordisch" geprägtem Mittelalter sieht: W e n n wir nun einen romanischen D o m mit einer altchristlichen Basilika vergleichen, so zeigt uns schon das äußere Bild, was dieser nordische Ausdruckswille aus dem basilikalen Schema gemacht hat. D i e altchristliche Basilika trägt einen einheitlichen A k z e n t . Die einheitliche Langhausbewegung zum Altarraum hin ist auch äußerlich ganz klar dokumentiert. Dieses einfache Elementarschema der Basilika erfährt nun im romanischen Stil eine durchgreifende Gliederung, die seinen einheitlichen Charakter aufhebt und an die Stelle reizloser Einfachheit eine reiche Mannigfaltigkeit setzt. Statt des einen Akzentes eine Vielheit der Akzente, die eine gewisse rhythmische Gebundenheit haben. Es ist, als ob man einen sachlichen, logisch aufgebauten lateinischen Satz vergleiche mit einem Vers aus dem Hildebrandslied und seiner unruhigen, knorrigen, ungemein ausdrucksvollen Rhythmik, seinem fast hypertrophischen Reichtum an Akzenten. Dieser schwerfällige, gedrungene Satzbau, der fast berstet unter der Summe der in ihn hineingepressten B e wegtheit, er weist uns darauf hin, wie auch die Schwerfälligkeit und Gedrungenheit des romanischen Baustils zu verstehen ist. Bewegung ist Aktivität. 1 2

Mit Hilfe dieses Zitates ließe sich nun auch die Parallelisierung von P h ä n o m e nen der Sprache und der bildenden Kunst bei W o r r i n g e r und B o r c h a r d t vergleichen. Beide Autoren konnten sogar, über alle strukturellen Ähnlichkeiten hinaus, bisweilen selbst noch zu inhaltlich ähnlichen Ergebnissen gelangen,

auch

wenn sie ganz Unterschiedliches meinten. Z u m Beleg m ö c h t e ich n o c h eine letzte kurze Passage aus Worringer zitieren: D e r Aufwand an äußerlicher mittelbarer Kraftentfaltung, die dem Grundgedanken des Baus entsprechend sich noch mit organischen Ausdrucksmitteln aussprach, mußte den Mangel an unmittelbarer innerer Kraftentfaltung ersetzen. Damit hängt auch die Neigung des romanischen Stils zu barocker Ausartung zusammen. D e n n als barock empfinden wir jede Stilerscheinung, die ein organisches Leben zeigt, das unter einem allzustarken D r u c k s t e h t . 1 3

Bei Borchardt heißt es, wenn er von D r a m a und Spannung bei den Baptisteriumsmasken spricht: "Aufgabe und Lösung waren, um das W o r t endlich auszusprechen, das hier eher gedeutet als leer gesetzt werden sollte, barock." 1 4 Da wir Parallelen im Motivischen wie im Beschreibungsmodus feststellen können, halte ich trotz mancher inhaltlicher Gegensätze eine Übernahme von Gedanken W o r r i n g e r s bei Borchardt für sicher. Dies läßt sich im Umkehrschluß auch durch den Vergleich mit jener kunsthistorischen Literatur belegen, die sich konkret auf Pisa bezieht, deren Sprachduktus jedoch im allgemeinen weit entfernt v o m expressiven Stil W o r r i n g e r s liegt. 1 5 12

Ebd., S. 83f.

13

Ebd., S. 85.

14

Borchardt (Anm. 1), S. 72.

Rudolf Borchardt und die Architektur des "Campo dei Miracoli"

237

In der 1939 erschienenen umfangreichen Studie Die Baukunst des 11. Jahrhunderts in Italien von Hans Thümmler16 steht am Beginn des Kapitels über die toskanische Architektur die Analyse des Pisaner Domes. Ihn beschreibt Thümmler wie folgt: Der Bau ist eine fünfschiffige Säulenbasilika mit Emporen. Die Tatsache, daß die äußeren Seitenschiffe breiter sind als die inneren, ist auffällig, aber kein Beweis, daß sie erst nachträglich hinzugefügt sein müßten. Ist doch gerade in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts die von den alten konstantinischen Basiliken inspirierte fünfschiffige Anlage auch andernorts zu finden. Entscheidend aber für den Gesamtkörper ist nicht so sehr die Vielschiffigkeit als vielmehr das ungeheuer weit ausladende, dreischiffige Querhaus. Daß nun diese Querhausanlage nicht unmittelbar vor der Apsis liegt, sondern nach Westen zu in das Langhaus sich einfügt, das schafft im Inneren einen weiten Chorraum, wie man ihn in Italien in Verbindung mit einem solchen Querhaus nicht wieder antrifft. Und für den Außenbau kommt eine besonders reiche Gruppierung einander zugeordneter Baukörper zustande. 1 7

Im Ton ist Thümmlers Beschreibung weit zurückgenommener als die Borchardts; auffällig auch, daß es eine durchgängige Beschreibung eigentlich nicht gibt, sondern daß Ansätze hierzu immer wieder von Herleitungsversuchen, Vergleichen und bauarchäologischen Erwägungen unterbrochen werden. Ein konkreter Standort des Betrachters ist nicht auszumachen, es scheint, als beschreibe Thümmler assoziativ, den Pfaden im "Musée imaginaire" folgend. Das Schwergewicht liegt nicht auf der Analyse der Details, sondern bei der Vergegenwärtigung des Raumkörpers: "Auf die in der Hauptsache erst im 12. Jahrhundert entstandene äußere, plastische Dekoration der Mauern wollen wir hier nicht eingehen."18 An diesem Punkt treffen sich Thümmler und Borchardt, aber auch darin, daß bei beiden die Beschreibung von Raum und nicht von Wand im Mittelpunkt steht - freilich geht der eine hauptsächlich auf das Innere, der andere auf das Außere des Pisaner Domes ein. Es wäre jedoch nicht richtig, wenn der Eindruck entstünde, solche summarischen, weniger systematisch als intuitiv vorgehenden Beschreibungen wären in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts die ausschließlich üblichen gewesen. Denn die Mehrzahl der Kunsthistoriker ist hierbei anders vorgegangen. Stark vereinfacht ließe sich sagen, daß vielmehr die Architekturinterpretationen aus technischer Sicht wie unter systematisch-typologischen Aspekten die Norm waren; dem entsprachen die Architekturbeschreibungen. Viollet-le-Duc 15

Hier soll nur aus einzelnen Werken und nicht aus der umfangreichen Pisa-Literatur insgesamt zitiert werden. Neuere Literaturübersichten zum Pisaner D o m in den in Anm. 29 genannten Aufsätzen sowie bei Piero Sanpaolesi: II D u o m o di Pisa e l'architettura romanica toscana delle origini, Pisa 1975.

16

Hans Thümmler: Die Baukunst des 11. Jahrhunderts in Italien, in: Römisches Jahrbuch für Kunstgeschichte 3, 1939, S. 141-226.

17

Ebd., S. 184f.

18

Ebd., S. 188.

238

Bruno Klein

und Dehio dürften vielleicht die bekanntesten Vertreter dieser Richtungen sein. Ich nehme sogar an, ohne dies aber im einzelnen nachgeprüft zu haben, daß jene Interpretationen rein statistisch immer sehr viel verbreiteter waren als die expressionistischen eines Worringer oder Borchardt. Auch Thümmler, selbst wenn er, wie soeben aufgezeigt, eine gewisse Nähe zur dynamischen Architekturbeschreibung verrät, ist in der Hauptsache doch Vertreter der systematischen Kunstgeschichte. Da der Pisaner Dom innerhalb der Kunstgeschichte eine recht prominente Rolle spielt, wird er in der Fachliteratur entsprechend häufig erwähnt. Es gibt somit eine dichte Folge literarischer Zeugnisse, die es erlaubt, die obigen Thesen zu überprüfen. Schauen wir uns beispielsweise nur kurz an, was ein Vertreter der sogenannten "technischen" Richtung aus dem Campanile macht: Im 1904 erschienenen dritten Band seiner Storia dell'arte italianaw liefert Adolfo Venturi, der den Dom selbst fast überhaupt nicht erwähnt, eine entsprechende Erklärung für die besondere Form des Schiefen Turmes. Dieser hätte ursprünglich den Domflanken entsprechend gegliedert werden sollen, das heißt geschlossen, mit Blendarkaden und Pilastern. Da der Grund aber bereits beim Bau des Erdgeschosses nachgegeben habe, sei man gezwungen gewesen, das Gewicht bei den oberen Geschossen nach innen zu verlegen. Erst dieser Planwechsel habe dann zum Bau der offenen Arkaden geführt. Die Form resultiert bei Venturi also eigentlich erst aus einer technischen Unzulänglichkeit, der mangelhaften Fundamentierung. Borchardt sieht das genau umgekehrt; für ihn sollte der Campanile nicht den flachen Seitenwänden des Domes, sondern der raumhaltigen Fassade entsprechend gegliedert werden. Die technischen Bedingungen spielen keine Rolle mehr - der Schiefe Turm wird, sehr ausdrucksstark, zur "Säulensäule" 20 . Die vielleicht nüchternste Beschreibung des Pisaner Domes stammt von Paul Frankl, der versuchte, Typen- und Stukturanalyse von Architektur miteinander zu verbinden. Dies liest sich in seiner 1926 erschienenen Baukunst des Mittelalters folgendermaßen: I m heutigen Zustand ist der D o m von Pisa eine große Basilika mit Vierungskuppel. Das Langhaus, eine fünfschiffige Basilika mit E m p o r e n über d e n beiden Seitschiffspaaren. Die E m p o r e n mit Bogenpaaren geöffnet, Pfeiler und Säulchen wechselnd. Das Mittelschiff flach gedeckt, die Seitenschiffe mit Gratkreuzgewölben, die E m p o r e n mit schrägsteigender Flachdecke. Die Vierung ist mit einer elliptischen Kuppel auf T r o m p e n gewölbt, ein achtseitiger T a m b o u r u m f a ß t die T r o m p e n nach außen. Gegen die Q u e r a r m e ist die Vierung durch Wände getrennt. 2 1

19 20 21

A d o l f o Venturi: Storia dell'arte italiana, Bd.3, L'arte romanica, Mailand 1904, bes. S. 840-842. Borchardt (Anm. 1), S. 47. Paul Frankl: Baukunst des Mittelalters. Die frühmittelalterliche und romanische Baukunst, Wildpark P o t s d a m 1926 ( = H a n d b u c h der Kunstwissenschaft, Bd. 10), S. 123.

239

Rudolf Borchardt und die Architektur des "Campo dei Miracoli"

Ich breche die Lektüre hier ab, da die Beschreibung ähnlich weitergeht. Nun ist Frankls nüchterne Art der Baubeschreibung nicht das Resultat mangelnder sprachlicher Fähigkeiten, sondern basiert auf methodischen Überlegungen, die er in der Einführung seines Buches dargelegt hat. Zunächst versucht er dort, seine Kunstgeschichte gegen verschiedene, nach seiner Auffassung allzu einseitige Interpretationen abzusetzen. So heißt es beispielsweise zu Worringer explizit: Uberall steht hinter dem Baustil ein bestimmter Typus Mensch [...] mit seiner Welt- und Lebensanschauung. [...] Menschheitspsychologie ist hier das letzte Ziel und die Baugeschichte sinkt zum illustrativen Mittel herab. Die Antithese N a t u r und Geist, ein Erzeugnis des Morgenlandes, durch die christliche Lehre in den germanischen N o r d e n überpflanzt, wird zur Zauberformel für das Verständnis der Gotik. [...] Jene beharrliche "Kryptogotik", jene Nordik sozusagen, ist die Ausstrahlung der erblichen Rassenpsyche; der wechselnde Zeitgeist schwindet unter der Hand, der unwandelbare Volksgeist bleibt. 2 2

Eine solche Interpretation ist für Frankl also nicht nur ahistorisch, sondern geht auch am eigentlichen künstlerischen Charakter eines Artefakts vorbei. Ich halte es für wahrscheinlich, daß Frankls Verdikt sich in Hinblick auf den formbestimmenden "unwandelbaren Volksgeist" auch auf Borchardts PisaBuch münzen ließe, selbst wenn bei ihm nicht ein nordisch-germanischer, sondern ein antik-mediterraner gemeint war. Doch dies wäre wohl nicht der einzige Vorwurf, den Frankl aus methodischen Erwägungen an Borchardt gerichtet hätte. Denn eine andere Richtung der Kunstgeschichte wird von ihm folgendermaßen kritisch charakterisiert: [Eine] innere Zusammengehörigkeit äußerlich verschiedenartiger Formengattungen ist nur demjenigen zugänglich, der auf die Kunstwerke sinnlich reagiert, der sie erlebt. Man verwechsle nur nicht dies subjektive Erleben mit dem individuellen Werten und Parteinehmen für bestimmte Stile, Bauten, Künstler, mit Kunstpolitik [...]. 2 3

Dieser Vorwurf trifft auf Borchardt nun ganz bestimmt zu, insofern er versucht hat, seine persönliche Vorliebe als objektiv darzustellen,

während

Frankl demgegenüber bestrebt war, das Kunsterlebnis insgesamt zu objektivieren. Eben dies ist der Grund für den hohen Grad von Nüchternheit bei seiner Architekturbeschreibung: Dem Anspruch der Kunstgeschichte auf Wissenschaftlichkeit ihrer Ergebnisse steht eine subjektivistische Beschreibung entgegen. Architekturparaphrase oder -nachschöpfung mußte Frankl deshalb ablehnen und durch eine Art der Analyse ersetzen, die eigenen, von der Disziplin festgelegten Gesetzen zu gehorchen hatte. Nach diesem Versuche, die Stellung von Borchardts Pisa-Buch unter stilistischen Gesichtspunkten in seinem Verhältnis zur zeitgenössischen Kunstgeschichte zu erhellen, möchte ich nun noch eine inhaltliche Untersuchung 22

Ebd., S. VI.

23

Ebd., S. VII.

240

Bruno Klein

in Angriff nehmen. Auch hier muß ich mich wieder eines Zitates aus Borchardts Schrift bedienen: Zwischen den bekannten vier Kolossen streicht "die Luft der Großartigkeit", im Kontrast zur "völligen Sterilität genuesischer und lucchesischer Bild- und Wertlosigkeit". 24 Es muß auffallen, daß Borchardt die Architektur anderer italienischer Städte, besonders von Florenz, benutzt, um "seine" Pisaner Monumente dagegen abzuheben. Er benötigt, schlicht gesagt, ein Feindbild. Der Solitär Pisa soll vor dunklem Hintergrund noch effektvoller strahlen, denn ein Vergleich zwischen pisanischer und beispielsweise florentiner Kunst wird nicht wirklich angestellt. Die vier pisanischen Denkmäler sind nicht ebenso schöne Kirchen oder Türme oder Bauten wie andere italienische auch, sie sind nicht schönere oder weniger schöne [...]. [Den] Camposanto, dessengleichen auf Erden überhaupt nicht wieder steht, vereinzelt viel mehr als bloß dieser äußere Umstand. Sie alle wenden nur einander, als Organe Pisas, ihre mächtigen Rätselmienen zu, und allem übrigen Toskana, als Organe Pisas, den Rücken. 2 5

Einen wirklichen Beweis für diese Behauptung bleibt Borchardt schuldig, er hat ihn auch nicht nötig, denn die vier Bauwerke werden hier als ein Absolutum gesetzt. "Sie sind ein völlig kompaktes Stück einer nur hier erhaltenen Welt und der Rest des Entwurfes zu ihr", wie "Niniveh Niniveh ist und die Akropolis die Akropolis". 26 Hier könnte die weitere Beschäftigung mit diesen Monumenten schon enden, denn sie sind "eine fest zugeschlossene unmittelbare Fremde, die dem flüchtig betroffenen Blicke ein großes Geheimnis zu hüten scheint, aber kein größeres und tatsächlich kein geringeres verbirgt als den völligen Untergang der sie erklärenden Welt." 27 Als Kunsthistoriker müßte ich eigentlich ohne diese "erklärende Welt" vor einer konkreten Interpretation der Bauwerke kapitulieren, was Borchardt auch empfunden hat: Diese Einsicht genügt, um die Fragestellungen der landläufigen Kunstgeschichte mit ihrer veralteten Bewertung süditalienischer, apulischer, nordischer oder sarazenischer "Originale" gegenüber pisanischer "Abhängigkeit" in die Schulräume zu verweisen, in denen solche Begriffe das Denken ersetzen. 28

Ich glaube jedoch nicht, daß die Kunstgeschichte sich mit ihrer eigenen Methodik so schnell geschlagen geben muß, um dann widerspruchslos zu adorieren. Denn Borchardt hat, um zu diesem Schluß zu gelangen, eine offensichtliche Geschichtsklitterung betrieben. Sind für ihn die Bauwerke des "Campo dei Miracoli" Elemente des Reichsforums in der Reichshauptstadt, so sollten wir bereits aufhorchen und den Zeitbezug dieser Interpretation erken-

24 25 26 27 28

Borchardt (Anm.l), S. 28. Ebd., S. 29. Ebd. Ebd. Ebd., S. 30.

Rudolf Borchardt und die Architektur des "Campo dei Miracoli"

241

nen, denn der Bau von Reichsforen aus Mittelalter und früher Neuzeit ist mir nicht bekannt, wohl aber entstanden sie seit 1933/34 in einem anderen Reich allerorten. Es wäre einer eigenen Untersuchung wert, Parallelen zwischen den Reichsforen Borchardts und denen der Nationalsozialisten aufzuzeigen und zu konkretisieren; an dieser Stelle soll jedoch der Hinweis auf die frappante Übereinstimmung der Begriffe genügen. Zunächst möchte ich jedoch versuchen, die Pisaner Bauten aus Borchardts eigentümlichem historischen Konstrukt herauszulösen. Es ist nämlich keineswegs - wie der Autor behauptet - so, daß der Dombezirk des Campo dei Miracoli völlig einmalig wäre. Die nächsten Parallelen hierzu finden sich in Oberitalien, wo ebenfalls seit der Wende vom 11. zum 12. Jahrhundert monumentale "Kirchenfamilien" entstanden sind. Als echte Parallelen hat Borchardt diese nicht anerkannt teils aus formalen Gründen, teils - aber dies bleibt unausgesprochen - weil er sie für epigonale Schöpfungen hielt. Diese Annahme war zu Borchardts Zeiten immerhin in gewisser Weise berechtigt, denn damals wurde der Baubeginn des Pisaner Domes zu früh datiert. Zwar sagen die Quellen, daß eine Grundsteinlegung in der Folge des Sizilien-Kreuzzuges von 1063 erfolgte, doch gebaut wurde, wie neuere Forschungen 29 ergeben haben, wohl erst seit der Jahrhundertwende. Die Pisaner Grundsteinlegung bedeutete offenbar zunächst nicht mehr, als daß man - bewußt salopp ausgedrückt - versuchte, den großen Ertrag aus dem "Sizilien-Kreuzzug" vorerst zu parken, ohne allzugroße Konflikte zwischen den einzelnen Gewinnlern zu provozieren. Das "gemeinnützige Bankinstitut", bei dem der Sizilienerlös angelegt wurde, hieß in Pisa "Domopera"; Eigentümerin war die Gottesmutter. Die konkreten bauarchäologischen Gründe für die jüngste Spätdatierung von Pisa müssen an dieser Stelle nicht aufgezählt werden. Wichtig ist alleine, daß der Pisaner Dombau damit zeitlich in die Nähe einer ganzen Reihe ähnlicher Unternehmungen in Oberitalien rückt, zum Beispiel in Parma, Cremona, Piacenza oder Ferrara. Auch dort entstanden seit der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts monumentale Baugruppen mit Domen als Mittelpunkt, zumeist - ähnlich wie in Pisa - am Rande der Städte gelegen, zum Teil - wie in Ferrara - sogar auf bis dahin unbesiedeltem Gebiet. 30 Diese Kathedralen zei-

29

Urs Boeck: Der Pisaner Dom zwischen 1089 und 1120. Beobachtungen zur Bautechnik und Bauausführung der ersten Baustufe, in: Architectura 11, 1981, S. 1-30; ders.: Der Pisaner D o m und seine Westfassade - Baunaht als "Vexierbild" und die Folgen, in: Franz J. Much (Hg.): Baukunst des Mittelalters in Europa. Hans Erich Kubach zum 75. Geburtstag, Stuttgart 1988, S. 385-400. 30 Zur oberitalienischen Baukunst der Romanik vgl. noch immer Arthur Kingsley Porter: Lombard Architecture, New Häven u.a. 1917.

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gen nicht nur eine Reihe von motivischen und stilistischen Übereinstimmungen mit Pisa, sondern sie sind alle aus einem ausgesprochen kommunalen Kontext hervorgegangen, der sich in starker Verkürzung folgendermaßen umreißen ließe: Ein Dom war durch das ottonisch-salische Reichskirchenwesen zur wichtigsten Rechtsperson einer Stadt geworden, derer sich die um ihre Autonomie ringenden Kommunen zu bemächtigen hatten. Zumindest in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts haben diese Kommunen kaum ein politisches Selbstverständnis entwickelt, sondern dies wurde ihnen erst durch Barbarossas Italienfeldzug aufgezwungen - eine Aussage, die für Pisa wie für andere italienische Städte gilt. Dieser kleine historisch-kunsthistorische Exkurs war notwendig, um zu zeigen, daß sich die Pisaner Architektur weder formal noch in ihrer Bedingtheit von der anderer oberitalienischer Städte unterscheidet, jedenfalls nicht so stark, wie Borchardt dies behauptete. Pisa geht zwar in gewisser Beziehung voran, aber auch nicht mehr, als dies beispielsweise Venedig tat, wo übrigens 1063 tatsächlich ein revolutionärer Kirchenbau begonnen wurde. Halten wir vielmehr fest, daß sich gegen 1100 in Italien allerorten einiges rührte, was sich dann in der Folge unter anderem im Neubau monumentaler Kirchen niederschlug. Aus diesem historischen Bezugsfeld läßt sich Pisa nicht herauslösen, und es besteht von architekturgeschichtlicher Seite kein Anlaß, einen Mythos um den dortigen Dom herum zu konstruieren. Es hat nun aber auch mit den inneren Krisen der Kommunen im 13. Jahrhundert zu tun, daß in diesem Zeitraum neben den älteren Bauten der Dombezirke nur wenige weitere Kirchen errichtet wurden. Einzelne Ausnahmen, wie etwa die sich um eine Universität und ein Heiligengrab gruppierenden Bettelordenskirchen von Bologna, bestätigen nur die Regel. Ein wirklicher Wiederaufschwung der städtischen Architektur setzte erst im späten 13. Jahrhundert ein, doch das war für Pisa bereits die Epoche nach Meloria, Zeit des Niedergangs. Konjunktur wie Rezession im Bauwesen verliefen also in Pisa wie den anderen Stadtkommunen zeitlich beinahe vollkommen parallel; beide waren das Resultat einer kommunalen Entwicklung und ihrer Krise. Mit Träumen vom Reich hat das überhaupt nichts zu tun, und es ist erstaunlich, daß Borchardt dies ignoriert hat, stand die Erforschung der Kommunen im frühen 20. Jahrhundert doch in voller Blüte.31 Wenn man allerdings einen Großteil der Arbeiten zum mittelalterlichen Kommunalwesen aus jenen Jahrzehnten, in denen auch Borchardt schrieb, als das Resultat von bürgerlichen Projektionen auf eine lange zurückliegende Epoche interpretiert, so liegt

31 Für Pisa sind hier vor allen Dingen die Forschungen von Gioacchino Volpe zu nennen; ders.: Studi sulle istituzioni comunali di Pisa, Pisa 1902.

Rudolf Borchardt und die Architektur des "Campo dei Miracoli"

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freilich der Verdacht nahe, daß Borchardt sich davon bewußt absetzen wollte. Ein Satz wie "[...] die Florentiner Voraussetzung ist kommunal" 3 2 und die Attribution einer "universalen" und "internationalen" 3 3 Voraussetzung für Pisa belegen diese Vermutung ebenso wie Borchardts offensichtliches Mißfallen am "bornierten Kleinkommunalismus mit seiner meist aufs fragwürdigste begründeten Patriziatseinbildung und seinem giftigen Mißtrauen gegen den einen Steinwurf vom Weichbilde beginnenden unreinen 'Ausländer'." 34 W e n n also Teile der Geschichts- und Kunstgeschichtsforschung im späten 19. und frühen 20. J a h r h u n d e r t vom "bürgerlichen" Mittelalter sprachen und die Gegenwart meinten, so trifft die auch auf Borchardt zu - freilich unter umgekehrten Vorzeichen. Der Erkenntnisgewinn über die behandelte Epoche ist in beiden Fällen verhältnismäßig beschränkt. Borchardts Pisa-Mythos war also nur deshalb so möglich, weil der Autor es vermieden hat, historisch konkret zu werden. "Wer befahl, wer führte aus, wer regte an, wer kam entgegen, wer hauchte den neuen Geist aus, wer atmete ihn ein? Wir sollten es nie fragen" 35 , sagt Borchardt. H a n d e l n d e Personen sind allenfalls die Künstler, ansonsten scheint in der Stadt jedoch eine mystische Ubereinkunft über ihre Ziele bestanden zu haben, deren Trägerschaft nicht b e n a n n t wird. Borchardts Prämisse könnte man somit als "kollektive Erinnerung" bezeichnen, was eine wissenschaftshistorisch ziemlich genau datierbare Denkfigur ist. Die Kunstgeschichte kennt ähnliche Begriffe; Worringers rassisches Erklärungsmodell oder Riegls diffuseres, dafür aber auch wertneutraleres "Kunstwollen" dürften auf vergleichbarer Ebene angesiedelt sein. Doch gab es gerade in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren auch andere Versuche, das Phänomen einer "kollektiven Erinnerung" genauer zu fassen und aus seinem Zwielicht zu befreien. Für diesen Ansatz steht vor allem der N a m e von Aby Warburg, dessen Interesse demjenigen Borchardts ähnlich war. Auch er untersuchte die verschütteten Kulturströmungen und versuchte deren latente Wirkungsmacht darzustellen. Und wie Borchardt hat auch er sich an einer allzu eindimensionalen Sichtweise der Florentiner Früh- und Hochrenaissance gestoßen, die er als nur einen Strang einer möglichen historischen Entwicklung erkannt hat. Der wesentliche Unterschied zwischen ihnen war jedoch, daß W a r b u r g seine Arbeit als aufklärerisches W e r k auffaßte und d a ß es ihm gerade darum ging, Mythen als solche zu erkennen, aufzuzeigen und damit letztendlich zu entschärfen.

32 33 34 35

Borchardt (Anm.l),S. 31. Ebd. Ebd., S. 41. Ebd., S. 47.

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Es ist nun auffällig, daß Warburg und sein Kreis sich fast nie mit Architektur, besonders der des Mittelalters, beschäftigt haben. Auch ihnen war, wie Borchardt, Literatur und bildende Kunst zunächst meistens näher - die kulturhistorische Methode Warburgs wurde nicht vor den späten dreißiger Jahren auch für die Architekturgeschichte fruchtbar gemacht. In Deutschland, wie in anderen Ländern, blieb die Erforschung der Architektur, gerade der des Mittelalters, hingegen lange Zeit einem ausgesprochen national-ethnischen Paradigma verhaftet - immerhin seit Goethes Von deutscher Baukunst fester Bestandteil des deutschen Bildungsgutes. Zuletzt steht Borchardt wohl auch in dieser Tradition, so daß sein Pisa-Buch nur formal den damals neuesten zeitgenössischen Strömungen verpflichtet ist, inhaltlich jedoch als ausgesprochen konservativ bewertet werden muß. Den Begriff "konservativ" kann man in diesem Zusammenhang sogar wertneutral verwenden, in dem Sinne, daß Borchardt neue kunsthistorische Forschungsansätze nicht wahrgenommen hat, denn auch die für ihn so überaus wichtigen Schriften Worringers waren damals schon zwanzig Jahre alt. Es sei aber der Gerechtigkeit halber zum Schluß noch bemerkt, daß zu jener Zeit auch die Kunstgeschichte in ihrer Breite noch mehr dem 19. Jahrhundert verpflichtet war, als es dem Wissenschaftshistoriker, der seinen Blick vielleicht zu sehr auf die innovativen Ansätze richtet, heute möglicherweise scheinen mag.

MARKUS BERNAUER

"Das Zentrum der Poesie". Rudolf Borchardts Gartenidee

I Mitten in Paris, am Ende der Tuilerien, befindet sich eine der schönsten Blumenlandschaften der Welt, kein Naturgarten, sondern ein künstliches Paradies, unter dem Boden angelegt und ohne Tageslicht, zwei ovale Räume, von deren Rundung dem Besucher schwere Farben entgegendämmern, unbestimmbare Mischungen von organischen Formen ihn verwirren, Ahnungen von Blumen mit ihren Spiegelungen zu unruhigen Wolken verschwimmen. Ich spreche von den Nymphéas-Räumen in der Orangerie, dem Urbild jener reinen Farbräume, wie sie in der amerikanischen Kunst der Nachkriegszeit, etwa von Marc Rothko in Houston, als Stätten mystischer Erfahrungen entworfen wurden. Claude Monet hatte an seinen Nymphéas dreißig Jahre gearbeitet, hatte die Wirkung seiner Farbkompositionen auf unzähligen Leinwänden ausprobiert, hatte gar, um den Zufall in der Wahl der Vorlage auszuschalten, einen eigenen Blumengarten in Giverny angelegt. Darin hatte er seit den neunziger Jahren die großformatigen Nymphéas entwickelt; sein Blick hatte sich zum Boden gesenkt, die Horizontlinie war von der Leinwand verschwunden. Die Pflanzen auf dem trockenen Boden und im Wasser wurden ihres räumlichen Zusammenhangs enthoben, nicht als Teil der natürlichen Welt gesehen; die Blumen dienten allein als Farbvorlagen für eine Malerei, der es gerade auf die Farbe und nicht auf die Vorlage, die Blume, ankommt; und die letzten Reste von Realität, die Spiegelungen der Pflanzen in den trüben Teichen, sind nurmehr unscharfe Erinnerungen an die Natur, die, aufgelöst in die Bewegungen des unruhigen Wassers, preisgegeben wurde. Der Garten, den Monet in Giverny angelegt hatte, war also Mittel zum Zweck, dazu bestimmt, als Garten in der Malerei zu verschwinden. Rudolf Borchardt, der mit der Gartenphantasie von 1925 zu dem Zeitpunkt über den Garten nachzudenken beginnt, da Monet sein schier endloses Uberarbeiten der großen Nymphéas-Bilder gezwungenermaßen einstellte, ist dieser ästhetische Umgang mit der Blume ein Graus. In Der leidenschaftliche Gärtner,

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konzipiert seit Ende 1934, 1 geschrieben im Sommer 1938, rechnet er mit dem Impressionismus ab: Der Zieranlage entsprach und dem Bedürfnis der Epoche entstammte der absolute Primat der Farbigkeit. Häufen und Massieren von Farbe, von möglichst einheitlicher, möglichst sättigender, wurde ein absolutes Rauschziel. Hier hatte die impressionistische Malerei der Epoche dem Auge der großen Zeichnervölker, in dem sich ehedem die herbe Keuschheit der stillen Akelei, die einsame Hoheit des Lilienschaftes gespiegelt hatte, die neue Theologie der in Licht aufgelösten Pigmente eingeflößt [...]. Wenn der Garten ein Instrument des Hauses geworden war und damit ein unterworfener, so wurde nun die Blume ein Instrument der Farbe und also Masse und Magd. 2

Und noch drastischer heißt es weiter unten: "Die Blume war im Teppichbeet, dem trotz allen Schreiens und sich Sperrens die Anlage, weil sie ebenso dumm war, wieder zustrebte, nie so tief erniedrigt gewesen als in dieser Degradierung zu färbender Materie". 3 Borchardt setzt dem Farbrausch in der Malerei die Idee einer luziden Linearität entgegen, um die Wölfflinsche Polarität zu bemühen: dem Malerischen das Lineare. Wenn er gegen die impressionistischen Farbflächen den Lilienschaft bemüht, so ruft er damit natürlich die Kunst der Präraffaeliten, aber auch jene Runges in Erinnerung. Borchardts Kritik scheint sich so zu lesen, als hätte er die im deutschen 19. Jahrhundert zum Topos verfestigte Entgegensetzung von sinnlich verderbtem Frankreich und keuschem Germanien aufgenommen: eine Konzession an den Zeitgeist der dreißiger Jahre. Aber dieses Verständnis greift zu kurz, denn was er beklagt, ist, in jeder Hinsicht, die Funktionalisierung der Blume. Während der zeichnerisch präsentierte Lilienschaft eine ins Bild gesetzte einzelne Pflanze bleibt und als Pflanze eben Bild wird, mißbraucht der Impressionismus die Blume als Farbenspenderin, abstrahiert von ihrer Erscheinung als Blume, nimmt dieser damit ihre Besonderheit, ihren schwer beschreibbaren Charakter als kollektive Individualität. Das ist nicht allein eine Versündigung an der materiellen Natur; denn soweit der Garten - und mit ihm die Blume - "eine Form der Einheit und Unteilbarkeit des menschlichen Geistes"4 ist, spiegelt sich im Umgang mit der Blume der Umgang mit dem menschlichen Geist, mit dem Menschen überhaupt. Tatsächlich hat Borchardt im Postscript auch leidenschaftlich die Kommerzialisierung der Gärtnerei angeklagt, die 'Tendenz, den Garten für den Philister annehmbar zu machen, um diesen Käufer zu gewinnen und zu besteuern" 5 . Der impressionistischen Malerei wie der kommerziellen Gärtnerei für den Philister ist die Blume nur Mittel zum Zweck, und zwar zu einem ihr fremden und die Blumenkultur zerstörenden Zweck. 1 2 3 4 5

Brief an Martin Bodmer vom 23. Dezember 1934, in: Briefe 1931-1935, S. 407. Der leidenschaftliche Gärtner, S. 214. Ebd., S. 215. Ebd., S. 266. Ebd., S. 270f.

Rudolf Borchardts Gartenidee

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Dagegen, daß die Ökonomie oder die Malerei sich der Natur bloß bemächtigen und sie sich dienstbar machen, setzt Borchardt die Arbeit an der Natur, genauer an der Pflanze, als eigenen Zweck. Die Natur zu kultivieren, heißt für ihn, sie in der Arbeit an und mit der Blume mit dem menschlichen Geist zu durchdringen und mit ihm in Übereinstimmung zu bringen. Kultivieren heißt keinesfalls, die Natur durch ökonomische oder ästhetische Funktionalisierung zu überwinden. Wenn Borchardt die Arbeit an der Blume zum eigentlichen Zweck der Gartengestaltung erklärt, stellt er sich freilich auch in Opposition zu den Gartentheorien des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. In der Moderne ist der Garten nur als Magd der Architektur Gegenstand der Reflexion und der Praxis; das gilt selbst für einen so bedeutenden Gartenarchitekten wie Leberecht Migge (1881-1935), für den die gestaltende Arbeit an der Natur die Defizienzen der Architektur kompensiert. Nun könnte man sich vorstellen, daß Migges Hoffnung, im Garten ein Remedium gegen die Entmenschlichung des großstädtischen Proletariats zu finden, sich ganz allgemein mit Borchardts Idee trifft, in der Blumenkultur ein Gegenstück zur seelischen Verrohung der modernen Zivilisation zu finden. Aber wo es um den Garten selbst geht, liegen die beiden denkbar weit auseinander; Migge sieht Gärten im Grunde nur als Oasen in großstädtischen Steinwüsten, und diese Sicht prägt seine Gartengestaltung. So unterscheidet er vier Gartentypen: im Urbanen Zusammenhang die öffentlichen Gärten (Plätze, Parks) und die gartenähnlichen Anlagen (Botanische Gärten, Schulgärten), dann die eigentliche Umgebungsgestaltung für Bauten, die Privatgärten (z.B. in Hinterhöfen, auf Dächern und als Vorgärten), und schließlich die Grünanlagen in den neuen Siedlungen 6 (den Gartenstädten; man kann, über Migge hinausgehend, dabei auch an die Siedlungstypen der zwanziger Jahre denken). Migge stand mit seiner funktionellen Konzeption des Gartens keineswegs allein da; im Gegenteil wurde nach der Jahrhundertwende der Garten fast immer als Instrument der architektonischen Lebensreform diskutiert. Ein Beispiel: In einem Kolloquium zum Arbeiterwohnhaus, das Karl-Ernst Osthaus 1906 in Hagen/Westfalen veranstaltete und an dem auch der Architekt und Werkbund-Initiator Hermann Muthesius teilnahm, referierte ein Königlicher Gartenbaudirektor Encke aus Köln über den Gartentypus, der dem künftigen Arbeiterwohnhaus angemessen sein werde; als Vorbild habe der ländliche Hausgarten zu dienen, dessen Mittelpunkt kein Grasstück, sondern der Hauptweg sein müsse, der zu einem Sitzplatz oder einer Laube zu führen habe. Dieser Ort dürfe durch Blumenrabatten gesäumt sein, im übrigen Gar-

6

Clemens Alexander Wimmer: Geschichte der Gartentheorie, Darmstadt 1989, S. 365.

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ten müßten freilich Nutzpflanzungen angelegt werden, die zur Versorgung der Hausbewohner beitragen sollten. 7 Diese Prämisse bleibt auch für die wenig später in Deutschland einsetzende Konzeption der Garten-Städte bestimmend; hier dienen die Planzungen einerseits der Versorgung der Bewohner mit Gemüse (wobei auch Kleintierhaltung vorgesehen ist), andererseits der Verwertung von Küchenabfällen, die zu Dung verarbeitet werden können, und, da der Anschluß an städtische Kanalisationssysteme die Baupreise zu sehr in die Höhe treiben würde, der Entsorgung von Fäkalien. Nun stellt auch Borchardt fest, der neue Garten sei ans Haus gebunden, doch - wenig verwunderlich angesichts dieser funktionalen Einseitigkeit eher skeptisch und abwehrend; wo er über die Gärten seiner Phantasie und seiner Wünsche schreibt, sind ihm utilitaristische Überlegungen vollkommen fremd, und kommt er auf Arbeitergärten zu sprechen, mit mühsam verhaltener Herablassung übrigens, so auf die große Liebe, die die Gärtner in ihnen der kleinen Blumenpracht angedeihen ließen. Keine Rede davon, daß gerade die Umgebung eines Arbeiterhauses einfach als Nutzgarten dienen könnte. Aber nicht nur der modernen Gartengestaltung als Teil der architektonischen Lebensreform steht Borchardt fern, sondern auch der Idee eines Gartenkunstwerks, wie sie die Gartentheorie des späteren 18. und des 19. Jahrhunderts entworfen hat. Pückler-Muskau etwa nennt diese in den Andeutungen über Landschaftsgärtnerei "Natur-Malerei" - "wenn ich das Hervorrufen eines Bildes, nicht mit Farben, sondern mit wirklichen Wäldern, Bergen, Wiesen und Flüssen so nennen, und dem Gebiete der Kunst zurechnen darf'. 8 Schon die in Pücklers Titel genannte Landschaftsgärtnerei macht den Unterschied zu Borchardt deutlich, der vom Blumengarten handelt. Mit Blumen aber sollen keine optischen Wirkungen und Stimmungen hervorgerufen werden, darf kein ästhetischer Schein erzeugt werden, dessen Gesetze sich das Material, das dem Kunstwerk zugrunde liegt, vollständig dienstbar machen. Der Blumengarten ist nicht Mittel, mit der Natur zu malen; vielmehr ist die Blume selbst, in ihrer Materialität, in Form, Farbe und Gestalt, schon ästhetischer Gegenstand, der nur eines Arrangements bedarf, um zu rechter Wirkung zu kommen. Borchardts Leidenschaftlicher Gärtner ist also weder eine Gartentheorie im traditionellen Sinne noch eine Konzeption der Gartengestaltung; er enthält, wo es um die Gestalt der Blume geht, vielmehr eine Art Theorie der Züch-

7

8

Die künstlerische Gestaltung des Arbeiter-Wohnhauses. 14. Konferenz der Centralstelle für Arbeiter-Wohlfahrtseinrichtungen am 5. und 6. Juni in Hagen i.W., Berlin 1906 (=Schriften der Centralstelle für Arbeiter-Wohlfahrtseinrichtungen Nr. 29). Hermann Fürst von Pückler-Muskau: Andeutungen über Landschaftsgärtnerei, hrsg. von Günter J. Vaupel, Frankfurt am Main 1988, S. 16.

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tung. Diese Theorie hat freilich mit der nazistischen Rassen-Ideologie nichts zu tun, und zwar schon deshalb nicht, weil Borchardt darin gerade den menschlichen Geist gegenüber den Gesetzen der Natur autonom setzt, also die Prämisse der Rassenideologie negiert. Die Autonomie des Geistes ist Voraussetzung des leidenschaftlichen Gärtners, dessen Leidenschaft die biologische Determination überwindet. So arbeitet der Gärtner daran, einen Spiegel seines Geistes, ja seiner Menschlichkeit in toto zu formen. Diese Menschlichkeit ist indes nicht die spezifische Ausprägung des Individuums, der Garten nicht der Spiegel individueller Art oder Befindlichkeit, die Leidenschaft als Attribut des idealen Gärtners nicht auf den Augenblick oder auf seine persönliche Anlage zu beziehen. Vielmehr wirkt der Garten als eine Erscheinung von Humanität per se, und zwar in ihren historischen Ausprägungen, durch die sich freilich als Kontinuität die Erinnerung an den Paradiesesgarten zieht. Oder anders gesagt: Der Garten ist zur Geschichte gewordene Natur, ja mehr, in ihm vergegenständlichen sich die Menschheitsverfassungen im Material der Natur, bilden einen Raum, in dem Geschichte zum gestalteten Gegenstand wird. Auch außerhalb des Gartens will Borchardt freilich Natur nicht anders wahrnehmen denn als Ausdruck des menschlichen Geistes, als Teil von Geschichte. Eine Landschaft sei, so heißt es im Leidenschaftlichen Gärtner, nicht erst dann Geschichtslandschaft, wenn Burgruinen darin zu sehen seien. 9 Ein derart entschiedenes Bekenntnis zur Historizität von Landschaft läßt sich schon aus dem Aufsatz Villa von 1 9 0 7 herauslesen. Dort unterscheidet Borchardt zwar zwischen vorgeschichtlicher Natur und jener kultivierten, die der menschlichen Geschichte angehöre; diese Unterscheidung dient ihm freilich dazu, die Bipolarität von nördlicher und südlicher Kultur aufzudecken: "Es ist und bleibt südliche Religion, sich die bezwungene und nützende Natur zu heiligen, wie es nordische ist, sich an die selbstherrlich wilde, spurenlose, selbstgenüge aufzugeben." 10 Der Gegensatz erklärt sich aus ihren Ursprüngen; diese Ursprünge sind in beiden Fällen als Zustände geschichtlich überwunden, aber sie haben sich in das Gedächtnis der Menschen eingeprägt, und die jeweilige Kultur entsteht als permanente Neuschöpfung dieser Ursprünge aus dem Gedächtnis. Die historische Erinnerung des Nordländers reicht weiter zurück als jene des Italieners; dessen Mythos, "seine Zeitlosigkeit, sein Ewiges, sein Teil Gott" ist ein mittlerer Zustand: das "verlorene Bauernwesen". 11 Die Natur ist in dieser Erinnerung immer schon ein kultivierter Nutzgarten gewesen, in dem ökonomischer Zweck mit ästhetischer Zweck-

9 10 11

Der leidenschaftliche Gärtner, S. 2771. Prosa III, S. 55. Ebd., S. 57.

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losigkeit in Übereinstimmung steht. Der Südländer hat sich in der späteren Geschichte eingerichtet, sich eine Landschaft geschaffen, die so, wie sie vor Augen liegt, seine ganze Wirklichkeit spiegelt und ihn mit sich selbst wie mit der Natur versöhnt. Anders der Nordländer, "der Erbe der Wanderungen", der "die gewaltsame Beschränkung auf zufällige, daher heute noch ganz vage Grenzen" nie verwunden hat; 12 ihn "mahnt das altarische Leiden am Individuum, das Bangen vor der irrseligen Unrast, der Kampf der Widersprüche im Gemüt an ein verlorenes einfältigeres Sein, und treibt ihn zu den geheimnisvollen brüderlichen Ahnen in Baum und Strom und Fels, zu dem GottgewolltLebendigen, das sich nie widerspricht". 13 Die "selbstherrlich wilde", die sogenannt ursprüngliche Natur ist also der Traum des zerrissenen nordischen Individuums, das außer sich sucht, was es in sich nicht findet: widerspruchslose Einheit. Die altarische Kulturstufe, die der Nordländer nicht überwunden hat, ist jene der Wanderungen; er wird sich also nie in einer Landschaft beheimatet fühlen, sondern immer eine "ursprüngliche" Natur, ein Bild seiner Sehnsucht, im Geist entwerfen; dieses Bild hat den Schein von gewesener Natur für sich, ist jedoch nur Phantasmagorie und nicht Wirklichkeit. Damit aber ist die Natur für Borchardt in jeder Hinsicht Teil der Geschichte; als reale ist sie verbunden mit den Kulturstufen der menschlichen Entwicklung; als Mythos erinnert sie je nach Kultur verschieden an eine bestimmte Stufe der Entwicklung. Und als "selbstherrlich wilde Natur" ist sie ein Sehnsuchtsbild des heillos zerrissenen Nordländers. Dessen Zerrissenheit hatte Borchardt in seinem Aufsatz von 1907 auch dem altarischen Leiden am Individuum zugeschrieben. Abgesehen von der ihm eigentümlichen Herleitung, nimmt Borchardt an dieser Stelle freilich einen zentralen Topos der zeitgenössischen Modernekritik und Modernediagnose auf, wie er sich etwa bei Georg Simmel finden läßt. Leidend an seiner Vereinzelung und zugleich an seiner Zerrissenheit ist der moderne Mensch, gerade weil er einer Gemeinschaftlichkeit, wie sie das italienische Bauernwesen bietet, beraubt ist. Diese historische Rangfolge kehrt Borchardt kurzerhand um, aber das soll nicht heißen, daß nicht verdeckt, wenn er gegen den parvenuhaften Umgang mit dem Garten im wilhelminischen Deutschland wütet, im Villen-Aufsatz sich eine Kritik an der modernen Zivilisation äußert. Umgekehrt findet der Gedanke einer "selbstherrlich wilde [n] Natur" seine Entsprechung in der zeitgenössischen Kunst, vor allem in der Skulptur. In der Tat haben Picasso, Derain, Brancusi oder Kirchner nach 1905 angefangen, der aus dem Klassizismus hergeleiteten antikisierenden Plastik, die noch um 1900 im ganzen normgebend für die Kunst war, die ungeschlachte Kraft und "ursprüngliche" 12 Ebd., S. 57. 13 Ebd., S. 56.

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Schönheit afrikanischer und ozeanischer Holzskulpturen entgegenzuhalten und ihren Primitivismus zu entwickeln. Daß Borchardt von diesen Entwicklungen gewußt oder gar die Arbeit eines der jungen Künstler gekannt haben könnte, ist so gut wie ausgeschlossen. Mindestens was Kirchner angeht, ist indes die Idee vom Sehnsuchtsbild eines einfältigen Daseins durchaus zutreffend; nur daß sich in die Ergebnisse dieses Bildes, in die Holzskulpturen, die Unrast und Zerrissenheit des modernen Menschen eingeprägt hat. Wahrscheinlich konnte Borchardt nur aus der Distanz seiner italienischen Zuflucht, deren ländliche Welt (nicht anders als die städtische übrigens) noch traditionell geprägt war, die Moderne als ein in den historischen Ursprüngen des Nordens begründetes Phänomen beschreiben. Deshalb ist es für ihn auch kein modernes Phänomen, daß der Nordländer, weil er sich seine Natur erträumt, mit seiner Geschichtslandschaft sich nicht versöhnen will; wo er einen Garten anlegt, gibt er ihn nur in Auftrag, ohne daß ein innerer Zusammenhang mit dem Menschen entstünde: Die Anlage bleibt reine Äußerlichkeit und repräsentiert allenfalls ökonomische Stärke - oder ökonomische Notwendigkeit, die, anders als dies im Süden geschieht, den Garten nur funktionalisiert, ohne ihn zu gestalten.

II Im Leidenschaftlichen Gärtner, dreißig Jahre nach dem Villen-Aufsatz entstanden, haben sich dessen Prämissen nicht geändert, auch wenn die am harten Kontrast zwischen Norden und Süden entwickelte Modernitätskritik zurücktritt und Borchardt nur noch vom Blumengarten und von der Blumenzucht handelt. Geblieben ist das Feindbild jenes Gärtners, der ohne innere Beteiligung an seinem Garten arbeitet; jetzt ist die Rede von jenem "Eskimo seines nur nominell temperierten Landes", der "für seine Pflanzen so uninteressiert und so gleichgiltig [ist], daß es Zwischenstufen für ihn nicht gibt, und er eher sterben würde, als für die winterliche Erhaltung eines schönen Gewächses das mindeste zu tun". 14 Dieser Eskimo, der als "kaltsinniger Egoist" die Pflanzung als "lebende [n] Leichnam" behandelt, "stumpf gegen T o d und Leben des Seinen, [...] auch so faul und lieblos, daß ihm überhaupt kaum die geringste Mühewaltung angesonnen werden darf, die das eigentlich lebendige Wesen des Gärtnerischen ausmacht", 15 ist das Produkt einer Gartenliteratur, die ausschließlich am Absatz, an den Möglichkeiten der Pflanzenindustrie

14 15

Ebd., S. 268. Ebd., S. 269.

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orientiert ist. Aber es ist nicht nur die Kritik am Primat der Ö k o n o m i e , die von dieser Stelle ausgeht; das zeigt der Fortgang der Nachschrift. Denn dieser durch die falschen Propheten des Gartens konstruierte Typus Mensch ist ein "gartenbesitzender Barbar", und das heißt: einer, der handelt, als stünde die krude N a t u r über der Kultur, über der Geschichte. Hätte dieser Barbar tatsächlich die Gartengestaltung bestimmt, "ein Gartenzusammenhang der Völker, Zeiten und Breiten, wie ihn der große geschichtliche Begriff der Akklimatisation zusammenfaßt, hätte sich nie gebildet, wir lebten gärtnerisch noch heut von Eicheln." 16 Gärtnerisch von Eicheln zu leben impliziert, den Eichenwald für den Inbegriff des nordischen Gartens, besser des Parks, zu halten, die in einer Landschaft vorhandene Pflanzenwelt als allein angemessenes Material zu behandeln, also die Natur, so wie sie unter nördlichem Himmel aus sich selbst ist, den Gestaltungsfähigkeiten des Menschen überzuordnen. In Wahrheit aber, so Borchardt, verhält es sich umgekehrt: "Das 'Klima' allein sagt garnichts aus, der Mensch ist entscheidend." 1 7 Folglich ist schon die Landschaft, vom Garten nicht zu reden, eben nicht bloße Natur, sobald der Mensch in ihr auftritt; daß "die Geschichte sich die N a t u r unterwirft", meint nichts anderes, als daß das, "was man 'deutsche' ebenso wie das, was man 'englische' Landschaft nennt, eine Geschichtslandschaft [ist], auch ohne daß eine Burgruine oder ein Turmstumpf zu sehen wäre" 18 . Und umgekehrt: Als krude N a t u r ist die "'nordische' Landschaft [...] eine entweder gewaltsame oder eine kurzsichtige Fiktion." 19 Mit anderen W o r t e n : Auch der Eichenwald ist nur eine Fiktion nordischer Landschaft, d.h. ein Kunstprodukt, das für Natur ausgegeben wird, nun aber verbunden mit einem Natur-Mythos, der das mehrdeutige Attribut "gewaltsam" durchaus verdient. Denn Borchardts vehementes Plädoyer f ü r die Geschichtslandschaft zielt offensichtlich, w e n n er die Klimatheorie verwirft und die nordische Landschaft als pure Fiktion entwickelt, gegen die ideologische Behauptung des Primats der Natur über die Kultur: Die N a t u r ist nicht Ursache für die Formen des Geistes, sondern zeigt die Wirkungen seines Schaffens. Deshalb ist der Garten auch kein Surrogat, sondern der O r t , an dem Natur zu ihrer Bestimmung findet: Der Gärtner reproduziert eben nicht Naturgesetze, sondern formt die Pflanzen und Blumen nach seinen Vorstellungen; er verleibt sie im Garten einer Kultur ein, deren Idee letzten Endes die "Einheit und Unteilbarkeit des menschlichen Geistes" 20 ist. Deshalb ist

16 17 18 19 20

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. S. S. S. S.

268f. 280. 277f. 278. 268.

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auch schon die Reflexion auf den Garten, also Borchardts Buch, jenseits aller botanischen Details, die darin besprochen sind, als Versuch zu lesen, gegen die Ideologie von der Determinierung des Menschen durch die Naturgesetze anzuschreiben. Gewiß wäre es übertrieben, den Leidenschaftlichen Gärtner als primär antinazistisches Buch zu verstehen, und gewiß hat Borchardt die Formeln des Widerspruchs gegen die zeitgenössischen Rassenlehren, denen er nie anhing, 21 hinter allerlei botanischen und gärtnerischen Lehren verborgen und sich zudem letztlich auf eine Formel beschränkt, eben jene des Primats des Geistes über die Natur. Einige Jahre vor dem Gartenbuch hatte Borchardt in seiner Rede Führung seine Neigung zum autoritär-faschistischen Staat offenbart. Aus der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft, nachdem sie einmal organisiert war, wurde er als Jude jedoch ausgeschlossen. Dem Grund für diesen Ausschluß, der Rassenlehre, widerspricht er im Leidenschaftlichen Gärtner vehement, ohne daß er die faschistische Versuchung, der er zu Ende der zwanziger Jahre erlegen war, als Versuchung erkannt hätte. Zunächst wird im Garten sichtbar, was außerhalb verborgen bleibt, daß Landschaft nämlich immer Geschichtslandschaft ist. Zugleich aber ruft der Garten damit die Ursprünge des Menschen in Erinnerung; diese liegen keinesfalls in einer wilden, ungeordneten, barbarischen Natur, sondern darin, der Natur die Ordnung des menschlichen Geistes aufzuerlegen. Im Villen-Aufsatz von 1 9 0 7 hatte Borchardt noch nach Norden und Süden differenziert, hatte die geschichtliche Erinnerung des Nordens auf die Idee einer "spurenlos-wilden Natur" und die des Südens auf den Bauerngarten bezogen; diese Differenzierung entfällt dreißig Jahre später zugunsten einer gemeinsamen Erinnerung der Menschheit an ihren Ursprung aus einem gemeinsamen Garten, dem Paradiesesgarten nämlich: D i e Menschheit stammt aus einem Garten. [...] W i r sind über den Heimatsgarten der Menschheit genügend unterrichtet, um eine Vorstellung von seiner technischen Struktur zu haben. Er war, wie alles urälteste Menschliche, eine ganz symmetrische Anlage, genauer gesagt eine geometrische. Alles Menschliche beginnt darum weil der menschliche Geist eingeatmeter göttlicher Geist ist, als eine Ordnung, und m u ß auf dem Wege der von G o t t verhängten Unordnung wieder eine Ordnung werden. D e r Garten Eden war eine quadratische Anlage, durch ein Kreuz von vier aus seiner Mitte entspringenden Flüssen symmetrisch aufgeteilt und bewässert. 2 2

Nicht aus der Natur, aus dem Garten ist die Menschheit gekommen, aus dem Garten Eden nämlich, dessen Form das Maß aller Landschaft gibt; alles, was

21

D a z u bemerkt Werner Kraft im Zusammenhang mit Borchardts Stellung zum Judentum, Borchardt sei "sein ganzes Leben lang für den Geist eingetreten und gegen die Rasse". W e r n e r Kraft: Rudolf Borchardt. Welt aus Poesie und Geschichte, Hamburg 1961, S. 39.

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D e r leidenschaftliche Gärtner, S. 82f.

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ihm folgt, ist Natur nach dem Sündenfall, verderbte Natur mithin. Das heißt, daß Borchardt den Mythos von der ursprünglichen Natur des Menschen durch den Mythos vom ursprünglichen Garten, aus dem die Menschheit stamme, ersetzt; dieser Garten ist, dem göttlichen (und menschlichen) Geist gemäß, geometrisch geordnet; in dieser Ordnung geht er der einzelnen Kultur voraus, ist jener allgemeine Ursprung, von dem sich dann die einzelnen Naturen, d.h. die einzelnen Kulturen, ablösen: Der Garten Eden ist Ursprung der Menschheit als ganzer; hingegen ist das, was man gemeinhin Natur nennt, ein geschichtliches Phänomen, durch das die Menschheit in Kulturen zerfällt. Der Ursprung der Menschheit liegt in der Ordnung, aber auch in der freien Wirkung jenes göttlichen Geistes, der die Ordnung hervorgebracht hat; diese Ordnung wird sichtbar in der quadratischen Anlage, also eben in der geometrischen Gesetzmäßigkeit, der er gehorcht. Die geordnete Form in die Natur zurückzutragen, ist letztlich Aufgabe des Gärtners; sofern der menschliche Garten die Natur Gottes nachbildet, vermag er im Garten und in der Gartenarbeit den Menschen mit sich selbst und mit der Welt auszusöhnen. Das heißt natürlich nicht, daß die Welt in einen Paradiesesgarten zurückverwandelt werden könnte, nur kann die Erinnerung an den menschlichen Ursprung im Garten wachgerufen werden. Nur nebenbei bemerkt sei, daß sich Borchardt mit der Behauptung, der Natur liege eine verlorene geometrische Ordnung zugrunde, auf erstaunliche Weise mit Piet Mondrian 2 3 trifft, der eben diese Begründung seiner eigenen konstruktivistischen Malerei zugrunde gelegt hatte. Freilich hatte Mondrian über die Rückverwandlung der Welt in diese Ordnung - mittels der Malerei - spekuliert, während Borchardt eine derart totalistische Kunstausübung fremd ist und er nur die Erinnerung an Eden mittels der Gartenarbeit pflegt. Ein Paradox in Borchardts Buch findet durch den Bezug der Gartenidee zum Paradiesesgarten seine Erklärung: daß einerseits nämlich der "Garten der

23

Ü b e r das Verhältnis der inneren Natur, des Universalen, z u r geometrischen Idealordnung der sichtbaren Welt vergl. z.B. den Dialog über die neue Gestaltung (1918/19). Mondrian zieht allerdings, da seine bessere N a t u r nur innerlich ist u n d auf keine Wirklichkeit des Paradieses bezogen werden kann, auch eine andere Konsequenz f ü r den U m g a n g mit der realen N a t u r als Borchardt: Z u m einen soll der Mensch nicht n u r das Bild der Versöhnung mit der Welt vor Augen haben, s o n d e r n tatsächlich mit ihr versöhnt werden; z u m anderen kann dies aber n u r geschehen, wenn die reale N a t u r gänzlich ü b e r w u n d e n und durch eine auf geometrische u n d koloristische Grundverhältnisse zurückgreifende K u n s t , die N e u e Gestaltung, ersetzt wird. Die Vergieichbarkeit beider ist also darauf beschränkt, daß die geometrische O r d n u n g in der N a t u r den Menschen mit der N a t u r , u n d das heißt für beide auch mit der Geschichte, versöhnt. Im übrigen soll dieser Hinweis auch Borchardts Zeitgenossenschaft unterstreichen u n d sein Gartenbuch als Teil des m o d e r n e n N a c h d e n k e n s über Kunst verstehen helfen.

Rudolf Borchardts Gartenidee

255

Menschheit [...] eine gewaltige Demokratie" 2 4 sei, daß aber andererseits der Volksgarten mindestens nördlich der Alpen der Barockgarten gewesen sei: Dies ist die einzige echte und große Gartentradition der D e u t s c h e n , der Barockgarten des alten habsburgischen, des Heiligen Römischen Reiches, v o n Wien her bestimmte u n d geleitete Ö f f n u n g des Morgenlandes ins Abendland hinein, die Uberleitung der persischtürkischen Kulturflora in das Vakuum des abendländischen immergrünen Gartentheaters, reiner Blumengarten und noch kaum Garten, in das ein gesundes Volk, Bauer, Bürger, Bruder und Klosterfrau, Weiber und Kinder, Arzte und A p o t h e k e r , Herren und H o f l e u t e sich hinübergeträumt, in das hinein sie sich abgebildet haben als in eine Idealwelt nicht der verlorenen N a t u r , denn sie sind N a t u r , und sind sich keiner verlorenen bewußt. 2 5

Natur ist dieses "gesunde" (!) Volk nicht, weil es in einem archaischen Naturzustand verblieben wäre, sondern im Gegenteil weil es sich, wie es anschließend heißt, der "außernatürlichen, nebennatürlichen, übernatürlichen" N a t u r bewußt sei, weil es den Garten in seiner Phantasie trägt, weil der Garten die Realisierung seiner geheimen T r ä u m e ist, weil die Blume, die in ihm wächst, für eine "Landschaft des Andersseins, eines Traums, einer Sehnsucht" 26 steht. Diese Landschaft aber ist nicht irgendeine Phantasmagorie - schließlich strebt "das Ordnungsprinzip des menschlichen Gartens [...] immer zum Geometrischen" 27 - , sondern die Erinnerung an den Garten Eden, an den Paradiesesgarten selbst, der wenigstens als Erinnerung nicht verloren ist, sondern im Volke - eben als T r a u m vom Anderssein - weiterlebt. Darum kann der Barockgarten auch Volksgarten sein; nicht das Bedürfnis der Fürsten, ein Sinnbild absolutistischer O r d n u n g zu schaffen, hat seine Gestalt geprägt, sondern die Idee des Gartens Eden, den er innerhalb der gefallenen Natur abbildet. Natürlich träumt sich das Volk in diesem habsburgischen Barockgarten auch in die Ferne, ins Land der Märchen, verdankt er seine Blumenfülle doch dem Morgenland. Dem Exotismus verfällt der Barockgarten deshalb nicht, schon weil Entstehung und Reichtum jeder Gartenflora nicht der Inzucht, sondern dem kulturellen Austausch zu verdanken sind. Aber gerade weil die Kulturen im Garten sich vermischen und kreuzen, hält er den Mythos vom Menschheits-Garten, dem Paradies, ebenso gegenwärtig wie die Geschichte, die Bildung und Entwicklung verschiedener Kulturen seit dem ersten Gartenfrevel, der zur Vertreibung aus dem Paradies g e f ü h r t hat. 2 8 Die Idee des Gartens - das Paradies - verbindet die Menschheit, ihre Realisierung - in der N a t u r - trennt die Welten. China steht auch in der Garten-

24 25 26 27 28

D e r leidenschaftliche Gärtner, S. 271. Ebd., S. 126. Ebd., S. 174. Ebd., S. 154. Ebd., S. 82f.

256

Markus Bernauer

gestaltung abseits.29 Im Abendland lassen sich drei Gartenformen voneinander unterscheiden: der weströmische Landschaftsgarten, der nur Kunst sei, jener Bauerngarten also, von dem Borchardt schon im Villen-Aufsatz schreibt; der oströmische Florgarten, den die Blume beherrscht, und schließlich der englische Landschaftsgarten, der sich als Natur gibt, in Wirklichkeit aber das Werk von Poeten und Malern, also aus der Kunst geschaffene Landschaft ist. 30 Borchardts Interesse gilt fast nur dem Florgarten, nicht die Landschaft überhaupt, die Blumenlandschaft ist Gegenstand seines Buches; als Garten erscheint darin konkreter nur die Form, in der die Blumenkultur angelegt und gepflegt wird. Diese Gartenflora hat ihre eigene Geschichte, die in Europa nach dem Fall von Byzanz und dem Eindringen der orientalischen Blumenkultur in den habsburgischen Garten einsetzt.31 Eine neue Transformation des Blumenbesitzes wird möglich durch den Aufbau des englischen Weltreiches: 32 Der Hyde-Park wird die "erste lebendige Landkarte der in Blumengebiete aufgeteilten Weltflora" 33 . Diese "Landkarte" führt mindestens im Geist zusammen, was seit dem Sündenfall getrennt war: die Flora der ganzen Welt; in ihr findet sich die Menschheit und überwindet ihre natürlichen Voraussetzungen, das heißt: die Natur, wie sie sich durch die Geschichte nach dem Sündenfall entwickelt hat. Was amerikanisch, orientalisch oder fernöstlich gewesen sein mag, wird zum Teil des europäischen Geistes, der seine Träume nicht in der eigenen Natur träumt, sondern in der integrierten Weltflora. Diese aber ist das Produkt menschlichen Handelns und Wollens; verwandelt sich die Welt, verwandeln sich die Träume, verwandelt sich der Garten, verwandelt sich die Flora. In der Zuchtpflanze, nicht in der Naturblume, in der Sorte, nicht in der Art spiegeln sich der Mensch und seine Geschichte; der Garten ist als Kunstprodukt, nicht als Natur, die außen vor bleibt, durch Gitter und Zäune ausgegrenzt, eine "Ordnung der menschlichen Seele"34. Borchardt führt so Natur als Negation des Gartens wieder ein, um diesen als etwas Eigenständiges, als eine spezifisch menschliche Hervorbringung behandeln zu können; es scheint, als stünden sich doch Natur und Mensch gegenüber. Soll Natur trotzdem Geschichte heißen, so ist der Widerspruch nur so aufzulösen, daß sich von einer selbsttätigen Entwicklung die geistig gestaltende Bildung von Natur oder Geschichte durch den Menschen abhebt. Je mehr der Mensch seine Kultur ausbildet, und zwar als Weltkultur, desto mehr nähert er sich der Idee des Paradieses, seiner ursprünglichen geistigen Natur also. 29 30 31 32 33 34

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. S. S. S. S. S.

201. 132. 121 f. 178. 180. 85.

Rudolf Borchardts Gartenidee

257

Damit aber ist der Garten selbst ein Kunstwerk; zwar schließt Borchardts Idee des Florgartens jene der Malens mit der Natur, dem die Pflanze bloß als Mittel dient, nicht Zweck ist, aus. Die Blume jedoch ist Poesie, sie liefert nicht nur Material für die Metaphorik; sie bindet "das menschliche Verhängnis der Wiederkehr von Liebe und Tod am einfachsten in sich" 35 , klärt "den Menschen über das Zyklische seines Schicksals ahnungsvoll"36 auf: Der Garten dichtet statt mit Worten mit Blumen. Er ist also nicht Erscheinung und schon gar nicht Schein, nicht auf visuelle Effekte angelegtes Kunstwerk und auch nicht einfach Symbol; er erlaubt es vielmehr der menschlichen Seele, unmittelbar im Material sichtbare Wirklichkeit zu werden. Wo die Blume den Menschen über das Zyklische des Daseins aufklärt, führt sie ihm immer wieder seine Herkunft aus dem Garten Eden vor Augen, aus einem Garten, der geordnete und kultivierte Natur war; die ursprüngliche Natur des Menschen entsprang dem Geist, und jede Arbeit mit der Blume schafft im Kunstwerk des Gartens ein Abbild des Paradieses, ein Abbild freilich, das, weil der Gärtner mit der Natur arbeiten soll, nicht gegen sie oder über sie hinweg, kein paradis artificiel ist. Schließlich soll noch die Züchtung, die die Herrschaft des Geistes über das "Material" in der Geschichte verwirklicht, ihre Grenze in der Stilzerstörung der Blume finden.37 Ist die pure Natur eine Erfindung des Geistes, eine schlechte Erfindung im übrigen, ist Landschaft immer Geschichtslandschaft, könnte sich die strenge Scheidung von Garten und Landschaft erübrigen. Borchardt aber verzichtet nicht auf den Zaun, der die Gartenblumen von den Gewächsen im Freien, die Sorten- von der Artenflora trennt; klar scheidet er zwei Welten, eine wuchernde von einer geordneten, die sich ausgrenzt und einen "Hortus conclusus"38 bildet. Nicht nur daß der Garten - als Spiegel des Paradieses - an die verlorene prästabilierte Harmonie zwischen Mensch und Welt erinnert, er zeigt auch den Menschen als handelndes Subjekt der Natur (und der Geschichte), nicht als erleidendes. Natur soll als Werk des Geistes und nicht als anonyme Kraft behandelt werden, der Mensch als Naturbeherrscher und geschichtliches Wesen, nicht als Naturprodukt: Diesem Appell in Borchardts Buch genügt nur der Garten, nicht die Landschaft. Der Zaun gleicht dem Bilderrahmen, er umschließt - mit den Worten Georg Simmeis - eine in sich geschlossene Welt, "ein Ganzes für sich [...], jeden seiner Fäden wieder in seinen Mittelpunkt zurückspinnend"39 (bei Borchardt den Gärtner), ein Kunstwerk eben. 35 36 37 38

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. S. S. S.

99. 91. 207. 86.

258

Markus Bernauer

Als Kunstwerk untersteht der Garten freilich Borchardts ästhetischen Überlegungen zur Dichtung; wie die Dichtung ist er Wiederbelebung eines archaischen Zustandes, besser: dessen Neuschöpfung. Der archaische Zustand ist seinerseits ein dichterisch festgeschriebener, die Idee des Gartens Eden der Genesis entliehen. Eine Neuschöpfung im Geist des Alten Testaments hatte aber Borchardt bereits in seinem Erstling Das Buch Joram, das 1905 als Privatdruck erschienen war, versucht. 40

III Das Buch Joram erzählt die Geschichte Jorams und seines Weibes. Joram, der Sohn des Pinchas in Israel, wird von seinem Vater mit Jezebel verheiratet. Er ist jedoch unfruchtbar, die Ehe bleibt ohne Kinder. Auf einer Reise wird er von Räubern überfallen und nach Chaldäa verkauft, wo er fünf Jahre als Knecht dient. Alle Versuche, sich loszukaufen, scheitern an Gott, der die Boten entweder tötet oder mit Blödheit schlägt. Als Freigelassener kehrt er im sechsten Jahr zurück, findet seine Frau jedoch als Hure wieder: Sie hat kein Kind von ihm, ist also nicht an ihn gebunden. Joram tötet in maßloser Wut eine Magd und klagt - wie Hiob - zu Gott, aber "so gewaltig [...], daß Gott es vernahm; und erschrak um seinen Ratschluß, den er ihm vorgesetzt hatte". 4 1 Gott sendet Engel, die um Jorams und Jezebels Bett stehen; Jezebel wird schwanger, sie verlassen Israel und wandern nach Ghaldäa; unterwegs kommt ein Sohn zur Welt. In Chaldäa läßt Gott Feuer über Jorams Zelte niedergehen; das Kind wird ohne Eltern aufgezogen. "Es ist aber dies Kind der Meister gewesen, dessen Namen man nicht kennt, sondern es ist genannt >ein Heilandunzweifelhaften Rassejuden< und ich habe nicht einmal die Veröffentlichung meiner familiengeschichtlichen Thatsachen nötig, um zu erhärten, dass die Juden ein Volk sind. [...] Was am Juden jüdisches Volk ist, ist mir völlig fremdartig." 60 Das Naziregime, dieses "Regiment der Tollheit", dem Borchardt "aus Gründen innerer Untrüglichkeit" nur eine kurze Lebensdauer voraussagte, 61 wollte ihm darin nicht folgen. Es blieb ihm eine gespenstische Verehrung Mussolinis, mit der er freilich (man denke nur an Ezra Pound) nicht alleine stand. Aus der Spannung zwischen faschistischer Gesinnung und Ablehnung durch die Nazis um eines Grundes willen, der seinem ganzen Denken fremd war, muß der erste Gedanke an ein Gartenbuch entstanden sein.

58 59 60 61

D e r leidenschaftliche Gärtner, S. 91. Brief an Konstantin Freiherr von N e u r a t h v o m 8. April 1933 (Entwurf), in: Briefe 19311935, S. 239. Brief an W e r n e r Kraft v o m 13. April 1933; ebd., S. 241. Brief an Martin Bodmer v o m 25. August 1933; ebd., S. 262.

NORBERT MILLER

Geschichte als Phantasmagorie Rudolf Borchardts Aufsatz Die Tonscherbe

I Daß in Rudolf Borchardts energisch verfochtenen Forderungen an Zeit und Geschichte, daß in der untrüglichen Heilsgewißheit, die Poesie werde immer und überall die Wahrheit hinter der Wirklichkeit transparent machen, daß in den prophetischen Visionen einer schöpferischen Restauration nach 1933 ein tiefgreifender, wenn auch unter der Oberfläche wirksamer Wandel sich vollzogen hat, eine "Krise der Reife", hat Werner Kraft 1961 bereits erkannt und am veränderten Tonfall der in Italien verfaßten Schriften im einzelnen beschrieben. Zu Recht machte er den Verlust der Leitsterne seines Lebens aus der Dichtung für diesen inneren Umbruch verantwortlich. Der Tod Hofmannsthals und Stefan Georges, auch wenn er sich mit beiden polemisch entzweit hatte, machte ihm die Unwiderruflichkeit des Scheiterns in seinen Bemühungen deutlich. Und auch seine wütend-beharrliche Verkennung der Zeitzeichen, denen er seine prekären Reden zur deutschen Zukunft und zur Führung entgegengestellt hatte, konnte vor dem Einbruch der Barbarei, die sich scheinbar der gleichen Argumente für die als Führung deklarierte Machtübernahme bediente, nicht die Augen geschlossen halten. Gerade weil er bis zuletzt auf der Trennung von Elite und Masse insistiert hatte, schienen seine hochmütigen Verwerfungsgesten den selbsternannten Führern die Argumente zu liefern; gerade weil er jede Rechtfertigung des dichterischen Wahrtraums vor der kleinlich-pragmatischen Vernunft, vor dem Nachrechnen nach Nutzen und Zweck, kategorisch abgelehnt hatte, mußte er Freund und Feind und sich selber, der beide Rollen vereinte, als Apologet des Irrationalen erscheinen. Die Wirkungen auf sein Schreiben zeigen sich in den verschiedensten Ausprägungen bei jeder seiner dichterischen, essayistischen und geschichtsphilosophischen Schöpfungen des letzten Jahrzehnts. "Er beugt keine seiner künstlerischen Uberzeugungen", heißt es bei Werner Kraft über den Edna St. Vincent-Millay-Aufsatz: Die Entdeckung Amerikas, der nach 1933 geschrieben wurde, "er sieht die Grenzen der Dichterin in ihrem pragmatisch-natur-

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Norbert Miller

wissenschaftlichen Weltbilde wie auch in ihrem dichterischen Weltbilde, denn er ist von ihrer dichterischen Größe durchdrungen. [...] Er erwähnt Poe, der 'in Frankreich in den Händen erlesenster, kritischer und nachahmender Leser' war, aber es ist fast sicher, daß Poes Theorie des Gedichts alles das in Frankreich, von Baudelaire bis Valéry, hervorgebracht hat, was er leidenschaftlich ablehnte. Er scheint nicht mehr abzulehnen, oder selbst seine Ablehnung verliert ihre Schroffheit; er entwickelt überhaupt Zweifel, denen Schroffheit nicht mehr zusteht, so ernst ist alles geworden."' Beharrlich werden die Axiome verteidigt, die er als Zwanzigjähriger in der Rede über Hofmannsthal aufgestellt hat, aber mit einem veränderten Akzent; denn das Gedicht zeugt vor einer unbestimmten Zukunft vollkommener und reicher als jede Tathandlung von der menschlichen Größe, auf die es doch vor dem Wirrwarr des Tages und vor der brutalen Herrschaftsausübung des Bösen im Ende einzig ankommt. Das rückt die dichterische Schöpfung - und gerade in ihren höchsten Ausprägungen - unversehens enger an den in seiner Zeit verhafteten Menschen heran, dessen Denken und Empfinden im Wort aufgehoben und für ferne Generationen unverlierbar bewahrt wird. Diese kaum eingestandene Relativierung spiegelt sich auch in dem anderen, bei Borchardt neuen Gedanken des Aufsatzes über die amerikanische Dichterin, daß nämlich alles je zeitgenössische Schreiben an der Dichtung ausgerichtet ist, die als höchster Ausdruck ihrer Gegenwart die heimliche Ordnung setzt. Bescheidung wird da angesagt, eine Öffnung des Blicks aus der Unbedingtheit der Vision, ein Sinn für das Indiz der Zeitlichkeit, aus dem sich erst die Stimmigkeit des Weltentwurfs erweisen kann. Natürlich ist das nicht das einzige, vielleicht nicht einmal das am meisten bestimmende Merkmal der Jahre nach 1933. Anderes tritt - aber unter dem gleichen Eindruck der Krise - neben diese gemilderte Verteidigung der Poesie in Zeiten der Not. Da ist einmal der Ton der Verwerfung, der in den Gedichten, Briefen und Zeugnissen gegenüber der schroffen Polemik früherer Jahre eher noch schriller, besessener, an den Rand des Erträglichen gehend geworden ist. Nicht nur in den grandios-aberwitzigen Haß-Tiraden seiner Jamben, deren entschiedener Bruch mit aller Kumpanei so eindringlich gegenüber den heimlichen Eitelkeiten und Ausgleichsversuchen Gottfried Benns oder Ernst Jüngers absticht, ist die krankhafte Unrast des Dichters auf dem wankenden 1

Werner Kraft: Rudolf Borchardt. Welt aus Poesie und Geschichte, Hamburg 1961, S. 505. Borchardts Aufsatz: Die Tonscherbe findet sich in: Prosa IV, S. 62-68, der Grundriß zu Epilegomena zu Homeros und Homer in: Prosa II, S. 7-108. (In dem Abschnitt über den angeblichen Sprachrückgriff mancher romanischer Sprachen auf das Griechische hat die Kennerschaft meines musikologischen Freundes Dr. Michael Zimmermann meiner Schwachheit aufgeholfen.) Eine stark gekürzte Fassung des Vortrags erschien in: Akzente 39 (1992), S. 451-463.

Rudolf Borchardts Aufsatz Die

Tonscherbe

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Boden der faschistischen Weltbedrohung spürbar, sondern auch in den privaten Stellungnahmen zur biographischen Situation oder zu den Wirkungsmächten der Zukunft. Bis 1 9 3 3 hatte sich für ihn, durch alle Katastrophen des Weltkriegs und der Weimarer Zeit hindurch, der Lebens- und Erkenntnisplan kaum verschoben. O b aus den schöpferischen Erlebnissen des mirabilis

Annus

der einzigartige lyrische Zyklus des Jahrhundertbeginns erwachsen

würde oder nicht, die Vita nova von des 2 0 . Jahrhunderts Beginn, war vor der prinzipiellen Unabschließbarkeit und Gültigkeit seiner Dichtung unerheblich. Die zusammenhängende Beschwörung eines mittelmeerisch-universalen cursus der Geschichte, die er sich und der Gelehrtenrepublik in einer neuen Mittelalter-Wissenschaft verschreiben wollte, stand bis dahin gewissermaßen nicht unter Zeitdruck: ihre Stimmigkeit ließ sich jederzeit selbstverständlich erweisen. Und erst recht waren die Konsequenzen aus beiden Wurzeln seines Denkens, der zeitenthobenen Dichtung und der zeitverstehenden Historie, in der kulturpolitischen Zukunft deutlich vorgegeben. J e d e r Aufsatz, jede Rede, jeder Bündelungsversuch verwandter Kräfte konnte auf Grundsätzen

auf-

bauen, die seiner gewalttätigen Natur als sicheres Fundament erschien. Nun war die Utopie einer Wiederherstellung der Gesellschaft aus dem Geist der Dichtung und der Geschichte für lange Zeit, vielleicht für immer gescheitert. Nun waren die eigenen Forderungen so desavouiert, durch eine nicht bloß scheinbare Wahlverwandtschaft zur faschistischen Bewegung bloßgestellt, daß ihm, wie es war, das Selbstvertrauen in seine Lebensvision zerbrechen mußte. Die hektischen Zornausbrüche und die aus dem Augenblick jäh aufgerissenen Geschichts- und Gedankenperspektiven seiner Schriften haben wohl den gleichen Ursprung in der gänzlich veränderten Situation der toskanischen Enklave nach 1 9 3 3 . Unter diesen Umständen mußte für ihn auch die Erfahrung des Alterwerdens erschreckende Dimensionen b e k o m m e n : zu äußerer Wirkungslosigkeit verurteilt und auf das Briefgespräch mit fernen Freunden verwiesen, bot nichts Gewähr für die Vollendung seiner ins Riesenhafte ausgreifenden Projekte. J a , es war mindestens im Innersten ungewiß, ob der Seherblick ins Vergangene und Zukünftige dem Selbstzweifel standhalten würde. Abmilderung des Urteils, Verschärfung des T o n s über der Unsicherheit der Wahrheitsfindung, halb unbewußte Fragmentierung des Traums vom unlösbaren, dichterischen Zusammenhang der Geistesgeschichte gehören in R u d o l f Borchardts Spätwerk eng zusammen. Und mit dieser Metamorphose stellt sich bei ihm ein neubelebter, vielleicht überhaupt erst geweckter Sinn für das sinnstiftende Detail ein, für die Signifikanz des Zufalls, für die irritierende oder überraschende Nuance. Vergleicht man das Landschaftsbild über V o l t e r r a oder die Aufsätze, die das Pisa-Buch vorbereiten, mit verwandten früheren T e x t e n wie dem jugendlichen Paradestück Villa, aber auch den Einleitungen zu seinen

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Übertragungen und Anthologien, so kann man mit Helmut Heißenbüttel darin "die späte historisch-landschaftliche Aussicht eröffnet" sehen, einfach weil in diese Stücke eine skeptischere und zugleich unmittelbarere Erfahrung eingegangen ist. Nach wie vor beschäftigen ihn große Buchpläne: das Pisa-Projekt sollte das Konzept der Mittelalter-Wissenschaft am Einzelfall des Gegensatzes von Pisa und Florenz zwingend erweisen; die Epilegomena zu Homeros und Homer sollten nach wie vor den Grund zu einem vertieften Verständnis der griechischen Frühzeit legen. Aber neben diese abgewandelten Lebensleistungen - und diese mehr und mehr in den Hintergrund drängend - treten neue Themen, punktueller gefaßte Leidenschaften: die Auseinandersetzung mit der Dichtung der Edna St. Vincent-Millay und - von ihr stimuliert - mit der Lyrik der Sappho, daraus vielleicht weiter gefolgert der Perspektivenwechsel von der männlich bestimmten Geschichtsvision auf die Rolle des Weiblichen überhaupt in dem wunderlichen Entwurf eines Kleopatra-Buchs, hervorgegangen aus dem Vortrag über die Schlacht von Aktium, und schließlich, in Neuland vorstoßend, das aus dem Gespräch mit Karl Foerster erwachsende Gartenbuch. Buchpläne? Der Anlaß gewinnt über Borchardt Macht. Und das in einer viel grundsätzlicheren Weise als früher. Gewiß, auch im Villa-Aufsatz stand die Beobachtung am Anfang, der Blick auf die Lage des Gutshauses im podere, und der Schreibvorgang gewann das rhetorische Feuer aus dem Paradox des ersten Satzes. Gewiß, es gehört zu den Eigentümlichkeiten seines Schreibens von jeher, daß er von einem Gedanken aus kontinuierlich, mit höchster Anspannung und ohne Korrekturen wie ein Redner seine Prosa ins Ungewisse vorentwirft, bis die Spannung abbricht. Schreibvorgänge, kaum Materialsammlungen, im Gedicht wie im Essay die Ersetzung feilender Schichten der Überarbeitung durch immer neue, sich selbst genügende Ansätze. In diesem Sinne war Rudolf Borchardt immer ein Gelegenheits-Autor. Aber auffallend ist in den Texten der 30er Jahre, daß der Geschichtsphilosoph und der wieder neu zu Wort sich meldende Dichter eine veränderte, weil aufmerksamere Haltung zu den Phänomenen der Wirklichkeit einnehmen. Der Schriftsteller wartet auf den glücklichen Augenblick oder auf den Moment der Verstörung. Die Zeitkontinuität wird zur drückenden Last, zu einem auf den Tod vorweisenden Zustand. Die erste Seite des kleinen Aufsatzes über die Tonscherbe hat das eindringlich festgehalten. Rudolf Borchardt schreibt nicht weniger als früher. Er schreibt auch in dem vorgegebenen Rahmen seiner Grundanschauung. Aber er partikularisiert. Er sucht im Wachstum einer Blume nach dem Gesetz der von ihm verworfenen Natur, im Fund eines archäologischen Beweisstücks oder einer landschaftlichen Besonderheit nach der Gewähr für die Wahrheit seines gefährdeten inneren Kosmos. Eine ungewöhnliche Lesart in einem Oden-Fragment oder eine vorher

Rudolf Borchardts Aufsatz Die Tonscherbe

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nicht beachtete Sprachwendung gewinnen für den unsicher g e w o r d e n e n Seher ganz neue Leuchtkraft. Sie werden, je zufälliger und unscheinbarer sie sind, zu Manifestationen der Wahrheit, zu Gottes- und Dichtungsbeweisen, deren er früher nicht bedurft hatte.

II Der Aufsatz: Die Tonscherbe entstand 1937, vermutlich unmittelbar unter dem Eindruck des dort beschriebenen Fundes. Der Essay, eines der geschlossensten Stücke der Spätzeit, von ihm selbst wohl als Kabinett- und Bravourstück angesehen, als eine Fingerübung, die zugleich seine Anschauung von Geschichte zusammendrängen sollte, gehört in den Umkreis der SapphoStudien und der dichterischen Konfrontation mit der frühen griechischen Lyrik. Beides hat ja eine ähnliche Struktur der panoramatischen Entfaltung des Gedankens aus einem Punkt. Beide sind Experimente, wie tief der Philologe in den innersten Zirkel der Dichtung einzudringen vermag, wo der Dichter auf ihn bereits wartet. Der große Sappho-Aufsatz führt die zwei weit voneinander entfernten Fassungen entschlossen in die Probleme der Frühzeit zurück, ohne sie dann in eine weiter gespannte Konzeption zu verwandeln. Die Tonscherbe dagegen ist von Anfang an auf den weitest denkbaren Spannungsbogen angelegt, eine Apotheose seines Zugriffs auf die Historie. Bei ihrem ersten Erscheinen im Merkur 1952 blieb der Text rätselhafterweise fast unbekannt. Den Anlaß hat Rudolf Borchardt im Fragment seiner großen Sappho-Abhandlung am einfachsten und klarsten dargestellt: Noch kürzlich hat der Sand die Tonscherbe eines ägyptischen Schulbuben hergegeben die Schiefertafel, würden wir sagen auf der nach dem Diktat des Lehrers und mit den orthographischen und idiomatischen Trübungen des Nachkritzelnden ein bezauberndes kleines Gedicht der unvergleichlichen Frau steht, und zwar eines, das nach Ausweis erhaltener Zitate schon immer in Schulauswahlen stand, wie solchen aus denen der Schulmeister diktiert hat. Aber ohne jenes Zitat und den Zufallsfund der Scherbe wäre dies Gedicht mit allen seines Gleichen verloren.

Italienische Ausgräber hatten die keilförmig zulaufende und nur zum Teil erhaltene Tonscherbe wenige Jahre zuvor im Schutt von Alexandria gefunden. Medea Norsa hatte das neu entdeckte Gedicht in einem knappen Aufsatz der jüngst erst gegründeten Annali della Reale Scuola normale superiore in Pisa im Juni 1937 publiziert und abgebildet. Die Nachbarschaft trug das ihre dazu bei, die Ausgrabung zum biographischen Ereignis zu erheben: die Anfangsseite des Essays mit ihrer weit ausgeführten Parallelisierung jahreszeitlicher Eintönigkeit und wundergleicher Erweckung auf der einen Seite, dem angeredeten Leser in die Erinnerung gelegt, und dem Zauberaugenblick, der dem

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Historiker Borchardt das Schulbuben-Gekritzel aus dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert, ja weniger noch: die Nachricht von einem solchen Tonscherben, als remedium vitae in die Trostlosigkeit einer immer auswegloseren Existenz gelegt hat, diese Anfangsseite hebt emphatisch die nur dem Eingeweihten auf Anhieb verständliche Sensation des Wunders hervor. Nur fünf Seiten braucht dann der Prosaist, der in den letzten Jahren so schwer auch mit kürzeren Abhandlungen zum Abschluß und zur Abrundung zu kommen vermochte, um wie mit einem Magierstab die unvergleichliche Bedeutung dieses nichtigsten Zufalls in Anschauung zu verwandeln. Das flüchtige Notat wird ihm zum Beweis der eigenen Sicht auf die Geschichte, zur unumstößlichen Tatsache für die einzige Perspektive in die Vorzeit, die diese nicht zu einer sinnlosen, weil eindeutigen Abfolge ideologisch zum Fortschritt umgelogener Dokumente siegreich überlebender Herrschafts- und Denksysteme depraviert: zu der einer mit der Erkenntniskraft der Einbildung in die großen, herausfordernden Entscheidungen der Vergangenheit vorstoßenden Haltung eines Entdeckungsreisenden in die weißen Regionen der Historie. Warum spielt die Handgreiflichkeit eines winzigen Beweisstücks für die doch immer angenommene allgemeine Verbreitung des Griechischen als Koivrj im ehemaligen morgen- und abendländischen Weltreich Alexanders des Großen eine so besondere Rolle? Die Banalität wird von Borchardt ja ausdrücklich hervorgehoben. Jeder romantische oder noch von der Romantik geprägte Geschichtsschreiber hätte zwar sicher das gleiche Vergnügen an einem solchen unzweifelhaften Beweisstück gehabt, wäre aber doch für sein Geschichtsbild oder für seine geschichtsphilosophische Vision auf eine solche Unterstützung durch den archäologischen Befund nicht festgelegt gewesen. Historia in nuce natürlich ist es eine Herausforderung für jeden, der sich in den Brunnen der Vergangenheit versenkt, das Panorama der inneren Wahrnehmung an einem Gegenstand festzumachen, den man beschreiben, in die Hand nehmen, überprüfen kann, zumal an einem, der durch seine absichtslose Aufbewahrung im Schutt der Alltäglichkeit jeder Manipulation durch das zeitgeschichtliche oder ästhetische Dokument entzogen ist. Die Scherben, die sich im Abhub von den Ostrakismen der Athenischen Polis erhalten haben, die hingekritzelten Zwischensummen eines Wirtschaftshofes auf Pylos oder der Papyrus über die ganz gleichgültige Handelsmission des Ägypters Wennamon nach Tyros retten die selbstverständliche Alltagserfahrung einer uns verlorenen Gegenwart aus dem Meer des Vergessens, dem sonst nur die offiziellen Urkunden eines Menschheitsaufstiegs von Siegermacht zu Siegermacht entgangen sind. Das ist sicher ein wichtiges, jeden geschichtlich Denkenden bewegendes Moment, das einem unwichtigen Fundstück einen Rang verleihen kann, weit über geschichtliche Quellenschriften hinaus. Auch der Fundbericht

Rudolf Borchardts Aufsatz Die Tonscherbe

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der M e d e a Norsa ist nicht unempfindlich gegen das Ungewöhnliche einer solchen Schulniederschrift eines Sappho-Gedichts durch einen kleinen Ägypterjungen - wenn wir einmal Borchardts Anekdoten-Rekonstruktion

folgen

wollen. Sie deutet in diesem Sinn die T o n s c h e r b e und die phonetischen und graphischen Mißverständnisse in der Nachschrift des archaisch wirkenden Gedichttextes. Aber für die Archäologin war der Gewinn die Wiederentdeckung eines einigermaßen zusammenhängenden Fragments aus einem verlorenen, einstmals sehr berühmten Gedicht der Sappho. Für Rudolf Borchardt dagegen, selbst mit der Rekonstruktion dieser Lyrik beschäftigt, wurde die T o n s c h e r b e wichtiger als der auf ihr verzeichnete T e x t . Der Zufall hatte ihm da eine Quelle in die Hand gespielt, die seinem Verständnis Geschichte anders entgegenkam als die üblichen schriftlichen

von

Dokumente

oder der archäologische Befund, der ja für gewöhnlich seinen Stellenwert wiederum erst aus den Sprachüberlieferungen gewinnt. Ein leidenschaftlicher Verfechter des bescheiden-hybriden Grundsatzes von Leopold von Ranke, im Umgang mit der Vergangenheit zu zeigen, wie es eigentlich gewesen war, hatte sich Rudolf Borchardt schon in seinen frühesten Schriften polemisch gegen jeden bestehenden Konsens der Geschichtswissenschaft gewendet. Die herrische Geste der Verwerfung, das pathetische Dringen auf die tiefere Einsicht in die innersten Tendenzen ferner Zeitalter, die fabelhafte Kombinatorik entlegener Erfahrungs- und Wissensbereiche - jedes der Elemente, aus denen Rudolf Borchardts Umgang mit der Historie gewonnen ist, setzt den Rückgriff auf übersehene Spuren und die Neubewertung von Indizien voraus, um methodisch den Mutmaßungen die Gewißheit des Beweises zu liefern. S c h o n in seiner Rede über Hofmannsthal,

insgesamt in seiner frühen Auseinanderset-

zung mit Stefan George, bindet er die Provokation seiner Umwertungen an die überraschende Beobachtung im Detail. Und im Aufsatz über die italienische Villa weitet sich die Beschreibung der eigenen Lebenserfahrung, des W o h n e n s in toskanischen Adelssitzen inmitten des podere,

zu einem weit in

die Vorzeit zurückgreifenden Geschichtspanorama italischer Siedlungs- und Herrschaftsformen. W i e d e r u m wird dabei die Deutung kleiner, von den Reisenden übersehener Beobachtungen zugleich Anlaß und Beweis einer in sich unbezweifelbaren Anschauung, die sich angeblich vor O r t so lange selbstverständlich behaupten konnte, als nicht die Eisenbahnen Italien verschlossen und zu einem der unbekanntesten Länder Europas gemacht hatten, wie es der höhnische Anfangssatz des Essays Villa von 1 9 1 1 polemisch formuliert. Ahnlich war er in den leidenschaftlich pointierenden V o r r e d e n zu seinen Anthologien, in der Auswahl und Kommentierung seiner Ubersetzungen, in beinahe jeder seiner geschriebenen oder nur geplanten Abhandlungen verfahren. Die Vision einer von mächtigen Strömungen durchpulsten, mittelmeerischen Ge-

III

Norbert Miller

schichte und das zufällig entdeckte, in der Gewöhnlichkeit verborgene Indiz bedingen einander. Man könnte den Fund des Tonscherbens in Alexandria als ein Zeugnis der Alltagsgeschichte beschreiben, das uns über die hellenisierte Gegenwart der Mittelmeer-Welt im 2. Jahrhundert gerade durch seine Gleichgültigkeit, seine Unerheblichkeit vor dem Katheder der Historie unterrichtet. Tatsächlich unterstreicht Borchardt, nach dem übersteigerten Beginn des Aufsatzes, diesen Aspekt noch. Er macht den Vorfall immer noch kleiner, den ägyptischen Schulbuben immer noch ungebildeter, barbarischer, schmutziger, als es das Gekritzel vermuten läßt. Das Diminutiv freilich wertet den Fund von vornherein ab: es geht Borchardt nicht um Alltagsgeschichten, nicht um eine Wiederherstellung einer Alltäglichkeit unterhalb der Schwelle der offiziellen Geschichtsschreibung. Der arrogante Eklektiker hätte achtlos ein vollständig überliefertes Archiv mit einer Handels- oder Gelehrtenkorrespondenz beiseite geschoben, da es ihm nur zur Vermehrung beliebiger Zeugnisse ohne geschichtlichen Aussagewert gedient hätte. Er verließ sich nicht gern auf Quellen und Quellenkunde. Sie durften dem Historiker den Weg nicht vorzeichnen, nicht den Blick verstellen. Er will, die Phantasie belebt durch das jäh aufspringende Bild des griechisch erzogenen Ägypters, durch das Indiz in die verlorene Zeit eindringen. So strebt er nach der Identifikation seiner Vorstellungskraft mit der in einem winzigen Bruchstück des Kaleidoskops wiederaufgetauchten Zeiterfahrung des Hellenismus und verfährt dabei nicht anders als in seinen abtastenden Paraphrasen einzelner schwer verständlicher Zeilen der Dichterin Sappho. In beiden Fällen spannt er so lange alle Kräfte an, bis er die Situation als seine eigene mutatis mutandis erfährt. So geht er vom Kleinsten sogleich zum Größten über. Aus der Vogelperspektive des Zeitenwanderers entwirft er ein umfassendes Bild der hellenistischen Welt, kurz ehe das römische Machtstreben vorübergehend alle Verhältnisse änderte. Ein Geschichtspanorama, der Sprache abgewonnen: Denn was hat der Bub, der die Sappho nur halb verstand, gesprochen? Griechisch, Gemeingriechisch, Allerweltsgriechisch, die Sprache, damals, aller W e l t , denn alle Welt sprach und las und schrieb keine andere mehr. V o n dem Parther und dem Indus im O s t e n zum Fayyum und den Quellen des Nils im Süden, dem skythischen Schwarzenmeer im Norden, der R h o n e und den Allobrogern im Westen, in den Alexander- und Antiochusstädten, in Tarsus und Gadara, in Kappadokien und Armenien, Makedonien und Massalia, in R o m und Sizilien herrscht ausschließlich oder in Deckschichten über Volkssprachen, erlöschenden oder dumpf schlummernden, die Sprache des neuen Griechenlands der Ausbreitung, des Griechenlands aller Völker und des Ausgleichs zwischen ihnen, jung und greisenhaft zugleich, jeder Aufgabe gewachsen außer der einen, einer Geschichte, einer Entwicklung und einer Leistung fähig zu sein.

Das Allerweltsgriechisch des Jungen löst die Phantasmagorie aus. Unversehens werden hinter ihm die Städte und Landschaften, die Stämme und Völ-

Rudolf Borchardts Aufsatz Die Tonscherbe

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kerschaften sichtbar, die durch die gemeinsam erlernte Sprache, die durch diese wirkliche "Allerweltssprache" zur Einheit verbunden sind. In unmißverständlicher Analogie zu den Namenslisten der Bibel und den Schiffs- und Völkerkatalogen H o m e r s werden fremde Völkernamen zwischen dem Indus und dem Westrand des Mittelmeers beschworen, jeder N a m e für sich reich an verdeckten Anklängen an Dichtung und Geschichtsschreibung, so daß sich aus jedem W o r t der Reihe lange Assoziationsketten ableiten lassen. M i t großer Geste weist dann Rudolf Borchardt auf den geschichtlichen Umbruch hin, der zu einer so widersprüchlichen Geschichtssituation geführt hat: die romantisch verklärten Inseln und Provinznester, in deren N a m e n die Erinnerung an Griechenlands Blütezeit ohnmächtig weiterklingt, in paradox überzeichnetem Gegensatz zu der geographischen Unendlichkeit, der sie, selbst ohnmächtig geworden, ihre Sprache als Richtschnur der Zivilisation und des geschichtlichen W e r d e n s aufgeprägt hatten. Das Ganze ist ein vor die Phantasie gezaubertes Fresko der hellenistischen Wirklichkeit des 2 . Jahrhunderts, voll gedrängter Spannung zwischen dem Einst und dem Künftig, voll der über sich hinausweisenden Einzelzüge - ein Fresko, das seine suggestive Lebendigkeit gerade nicht der Malerei verdankt, sondern der wie selbstverständlichen, kürzelhaften Anspielung. Borchardt spricht immer wie jemand, der ins Gedächtnis zurückruft, der aus dem Erlebnis und aus der Anschauung zu seinem H ö r e r oder Leser wie von etwas persönlich Verbürgtem erzählt. Er durchmißt, ein neuer Herakles, die antike W e l t in ihren entlegensten Grenzen. Nicht als Historiker, obgleich er nach der Fülle seiner Kenntnisse und nach seinem Scharfblick für das Wesentliche eines Wandels kaum seinesgleichen hatte, sondern als Dichter und Seher, der die Geschichte aus seiner vom Intellekt kontrollierten, aber nicht beherrschten Vorstellungskraft als Zusammenhang neu erschafft. Rudolf Borchardt hat die mythische W e l t H o m e r s und den Hellenismus, das Entstehen der provenzalischen Kultur und den jahrhundertelangen Konflikt zwischen dem Universalismus des Kaisergedankens und dem Partikularismus der Städte und der Nationen in allen Einzelheiten untersucht, beschrieben, in Dokumenten zugänglich gemacht. Aber die Geschichte war für ihn von Anfang an ein intuitiv erfaßter, Raum und Zeit lückenlos umspannender Nexus, der alle Zeichen des Tagtraums in sich trug. In seinem letzten, rührend großartigen W e r k , dem Grundriß ros und Homer,

zu Epilegomena

zu

Home-

hat er seine dichterische, aus innerster Anschauung getragene

Geschichtsauffassung

ausdrücklich

so

gerechtfertigt

und

das

Postulat

hinterlassen, jede Geschichtswissenschaft, die diesen N a m e n verdiene, sei Vision, sei rekonstruierender Tagtraum, sei der Blick in die Möglichkeiten hinter den Bruchstücken des Gewordenen oder Uberlieferten. M a n

wird

daher Rudolf Borchardt niemals gerecht, wenn man seine Thesen von den

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überlieferten Quellen her bestätigt oder falsifiziert. Seine weitgespannte Phantasmagorie der griechischsprachigen Welt des Hellenismus weicht nur der eindringlicheren, großartigeren, utopischeren Phantasmagorie; denn die Geschichte ist nur als Utopia, als Orplid, als Atlantis ganz zu begreifen. Das hat einen Zug ins Hochstaplerische, in das Metier des Taschenspielers und Illusionisten. Borchardt hat das nie bestritten. Einer seiner glänzendsten Aufsätze galt dem Hochstapler Veltheim, und dieser Aufsatz trägt unmißverständlich autobiographische Züge. Gemeint ist damit freilich nicht das Glücksritterhafte, nicht die charmante Merkurs-Leichtigkeit eines Felix Krull, auf anmutigen Lebensgewinn bedacht, sondern jene kühnere, auch frostigere Haltung einer schöpferischen Vorwegnahme von Leben und Erkenntnis aus einem ungebrochen leuchtenden, einem inneren Bild der Realität hinter der Realität. Rollenvorgabe und Rolleneinsicht bedingen da einander, wie das Rudolf Borchardt als Verfasser fingierter autobiographischer Lebensläufe und imaginärer Werke wieder und wieder durchgespielt hat. Hinter diesem corriger la fortune verbirgt sich die Entschlossenheit, die eigene Identität und die durch sie gestützte Welteinsicht nicht an die communis opinio preiszugeben. Darin ist der Abenteurer der Geschichtserkenntnis dem Typus des Hans im Glück verwandt, der wie Heinrich Schliemann unbeirrbar an seiner aus der Kinderzeit herrührenden Mission festhält. In diesem Glauben an eine Aufgabe unterscheiden sich nun sowohl Schliemann wie Borchardt als handelnde IchEmphatiker vom dichterischen Tagträumer. Wie Schliemann gegen jeden Beweis der homerischen Quellenkritik und gegen jede Historiker-Schulmeinung sein Vertrauen in die wörtliche Glaubwürdigkeit des Epikers durchsetzte und nur so schließlich die mykenische Welt als eine eigenständige Kultur entdecken konnte, so insistierte Rudolf Borchardt als Begründer einer nur durch ihn gewährleisteten Mittelalterforschung, die ihre Wurzeln in der Antike, ihre Auswirkungen in der Gegenwart hat, auf der Verbindlichkeit seiner Geschichtsbeschwörung, die er jeweils nur im Ausschnitt, in der signifikanten Probe aufs Exempel, vor Augen führen kann. Beide aber, der naive Entdecker Heinrich Schliemann und der mit allen Wassern gewaschene, seiner rhetorischen Mittel gewisse Phantasie-Spieler Rudolf Borchardt, bedürfen der Illusionen stiftenden Details, des in der Überraschung einleuchtenden Kurzschlusses, um die Triftigkeit des Gedankens sichtbar zu machen und die innere Ordnung ihrer Welt zu erweisen. Borchardt spricht, von einem Sprachzeugnis angeregt, nur von Sprache, vom Griechischen als erlernter lingua franca des Hellenismus, vom Verhältnis der Barbarensprache zu der erstorbenen höheren Kultursprache, vom Verhältnis toter oder sakral überhöhter Sprachen zu ungebärdig-ungefügen Mundarten. Aber zugleich wird das Rundgemälde seiner outre monde in einem Augenblick ihrer inneren Geschichte wie in einer

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Geisterbeschwörung entrollt, in einem f r ü h e n Stadium der Entfaltung, der er v o r allem in den Jahrhunderten zwischen dem Z e r f a l l der Antike und der R e naissance sein dichterisch-wissenschaftliches Interesse g e w i d m e t hat.

III Die Tiefenentfaltung seines Orplid der Vorgeschichtlichkeit ist in dem Panoramarundblick des Hellenismus angelegt: w e n n er die unentrinnbare und doch ohnmächtige Allmacht der G r i e c h e n in N a m e n und Anspielungen bes c h w ö r t , w e n n er die homerischen G r e n z e n v o n den Säulen des Herakles bis zu den A t h i o p e n mit der gleichen, gleich selbstverständlichen Evokation der N a m e n durch die anspielungsgesättigten N a m e n der Altertumskunde ersetzt, dann trägt jeder dieser N a m e n eine geheimnisvoll undeutliche Vorstellungswelt, halb erinnertes Zitat, halb Traumbild. Und darin w i e d e r u m steckt Historie, die sich in dokumentierter K u n d e nicht erschöpft: die Oase v o n F a y u m und die Quellen des Nils - das ist nicht einfach die Südbegrenzung des graecisierten Altertums, das ist leuchtende Farbigkeit und an den M y t h o s grenzende Erinnerung. Die Parter und die A l l o b r o g e r sind nicht nur bequeme und naheliegende Bezeichnungen f ü r V ö l k e r s t ä m m e , die wir aus Polybios und C a e s a r kennen, sie reißen in der Benennung den geographischen V o r h a n g an den W e l t r ä n d e r n in eine lang sich erstreckende Vorgeschichte geschichtsloser Barbarei auf. S o ist es kein W u n d e r , daß R u d o l f Borchardt aus der olympischen H ö h e seines R u n d f l u g s die Ursprungsstätten des griechischen W u n d e r s w i e in höhnischem Kontrast der hellenistischen W e l t eingemeindet: Wol liegt im Norden noch das kleine Ländchen, das einmal Griechenland, das Land wirklicher Griechen gewesen war, mit seinen zerfallenden, zerlumpten Kleinstädten die immer noch Sparta, Athen, Theben heißen, und den verödenden Inseln wie Lesbos, Paros, Keos, wo vor alters Alkaios, Sappho, Archilochos, Simonides, wer nicht noch, als Landeskinder ihre Muttersprache so weltberühmt gemacht hatten. Aber für die Welt der griechisch gewordenen Syrer und Pontiker und Ägypter und Alexandriner und Italiker und Kelten ist das die Rede nicht mehr wert, wie für das reiche Brasilien das bißchen Portugal, für Argentinien und Peru Castilien: Es ist kein Faktor sondern eine Romantik. Widerschein im Vexierspiegel - war die ärmliche, gleichgültig w e g g e w o r f e n e , schmutzige Tonscherbe die Aladins-Lampe, u m den mittelmeerischen K o s m o s der A l e x a n d e r - E r b e n ins Licht zur rufen, so sind jetzt dieser Fata M o r g a n a die magischen N a m e n , die den griechischen Ursprung f ü r alle N a c h f a h r e n festhalten, ins Ärmliche und Schmutzige verkleinert. Sie sind nicht R u i n e n o d e r Säulen im Wüstensand, sondern gleichgültig fortvegetierende Relikte f r ü h e r e r E p o c h e n , an denen aber ihrerseits w i e d e r f ü r den Kundigen des Hellenismus das G e h e i m n i s der Reminiszenz haftet, die R o m a n t i k , und damit die M ö g -

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lichkeit einer vollkommeneren Evokation. Ist das Geschichte? Ist das in den Brennpunkt verdichtete Anschauung der griechischen Welt des zweiten Jahrhunderts, die in ihm durch die Tonscherbe aufgerufen wird? Vermutlich ließe sich aus den spärlichen Quellenzeugnissen und den reichen Funden der Archäologen, die Grundlinien einmal für stimmend erklärt, ein ganz anderes, in jedem Einzelfall anders nuanciertes Bild gewinnen. Sagen wir, neben dem Verfall der Kykladen-Inseln und der Bevölkerungsumschichtung im Dodekanes die Fortdauer Athens als des zweiten großen Zentrums der griechischen Bildung, mit unvermindertem Anspruch auf geistige Herrschaft über die Welt der Barbaren, so wie Rom bis heute die ewige Stadt geblieben ist. Die Mosaiksteine ein wenig anders gemischt, der Widersprüchlichkeit in den Zeugnissen ängstlicher Rechnung getragen, das Herausspringen aus der Zeitversenkung in den ahistorischen Vergleich anders gefaßt - und es ergeben sich andere Geschichtsbilder, die bei zunehmender Annäherung an vollständige Erfassung und Verarbeitung des Materials jedes Bild in strittige Einzelheiten zertrümmern. Die Suggestion geschichtlicher Wahrheit verdankt Rudolph Borchardt weniger seiner souverän eingesetzten Bildung oder der unvergleichlichen Begabung, den Stellenwert einer Beobachtung für das Ganze sichtbar zu machen, sondern der inneren Welt, diesem unbegrenzten aber geschlossenen Raum, der für ihn bald Dichtung, bald Geschichte heißt, dessen Topographie früh schon festzustehen scheint, dessen Entfaltung in der Zeit dagegen über die Jahrzehnte hin unterschiedliche, einander nicht widerspruchsfrei überlagernde Visionen ausgelöst hat. Nun in den dreißiger Jahren braucht Borchardt freilich äußere Anlässe, um in den früheren Ausnahmezustand der selbstverständlichen Erkenntnis zurückzufinden. Wie schrieb Jean Paul, einer der Apologeten des Wahrgesichts hinter den Schleiern der Wirklichkeitsbeobachtung, dessen Zeugnis Borchardt vielleicht getraut hätte: Die Brühlische Terasse in Dresden abends mit ihren Lichtern und Gebirgen und der Brücke und Elbe gab mir einmal eine Stunde der innern Verklärung, die ich seit vielen Jahren umsonst gesucht. Die einanderbegegnenden Züge der Menschen wurden mir zur Einsicht in unser menschliches Leben. Ich sehe den Lärm, ohne ihn zu hören.

Der innere Verklärungszustand, an dem in schöpferischer Stille der Blick des Ich auf die Welt als wahr und sicher feststeht. Dieser Zustand war es, den Borchardt mit seinem Essay festzuhalten versuchte. Maskiert freilich hinter der Haltung des Polyhistors, der die Wahrheit an der Wirklichkeit erweisen will. Daß er als Dichter den Zusammenhang der Geschichte erfassen wollte, hätte er nicht abgestritten. Die Philologie, die Quellenfunde, das lebenslange Studium der Quellen stand ja für ihn in keinem Gegensatz zu seiner Erkenntnis als poeta vates. Die Züge seines hellenistischen Griechenlandbildes

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weisen freilich auf eine bestimmte Haltung dichterischer Selbstvergessenheit und dichterischen Selbstbewußtseins, die er weit von sich gewiesen hätte: die des kindlichen, ja kindischen, über die Jahre fortgesponnenen Tagtraums, die Arno Schmidt "Längeres Gedankenspiel" genannt hat. Von Mörikes "Orplid" war anspielend schon die Rede, von dessen topographischer Beschaffenheit, von dessen Mythologie und Geschichte wir freilich nur undeutliche Umrisse im Maler Nolten und in den trockenen Theaterstücken des Freundes Ludwig Bauer besitzen. Von Angria und Gondal dagegen, dem imaginären Doppelreich der Brontes wissen wir genug, um die Faszination einer solchen neben die Erfahrung gebauten Wirklichkeit verstehen zu können: die wundersam alltägliche Präsenz einer Welt mit langsam immer weiter erschlossenen Landschaften, Städten und Bewohnern, mit einer reicher und reicher werdenden Geschichte, eigenen Glaubensvorstellungen und einer widerspruchsfreien Gültigkeit der Erfahrung. Wer in ein solches Zauberland aufbricht, wird wie Rip van Winkle nie wieder ganz in die erste Realität zurückkehren. Nie stimmen die Grenzen im Ubergang ganz, nie ergibt sich der Zeithintergrund vollständig. Immer bleiben topographische Details und Zeitverhältnisse offen. Aber moderne Phantasmagorien einer solchen outre monde lehren, bis zu welcher Dichte der Anschauung, bis zu welcher schrankenlosen Tiefe der Zeiten solche Gedankenspiele vordringen können. Sie behalten immer einen Hang zum Nicht-Erwachsenen und eine Attitüde der Überlegenheit, da ja niemand auch dem verkleideten Kalifen in seine Machtvollkommenheit nachfolgen kann. Jeder dieser Zeitreisenden, dieser Entdecker innerster Fluchtlandschaften spricht mit der selbstverständlichen Kompetenz eines Kara Ben Nemsi über seine Welt. Keiner beschreibt sie, jeder evoziert sie aus dem langen Umgang mit ihr, in Einzelansichten, in Richtigstellungen, in bloßen Winken. Die Tiefendimension des Essays gewinnt ihren unwiderstehlichen Sog aus einer solchen Haltung bloßer Richtigstellung. Der Universalhistoriker korrigiert irrige Auffassungen über die Sprachverfassung seiner griechisch sprechenden Welt. Er trennt sich und den Leser von den stumpfäugigen Forschern, die an die Lebensmacht des Griechischen glauben oder umgekehrt es als tote Sprache abqualifizieren. In Wahrheit ist die Sprache einer herrschenden Bildungsschicht über den damals bekannten Kosmos eine in sich nicht mehr schöpferische, ihren Ursprüngen entfremdete Verständigungssprache geworden, an deren kanonischer Geltung aber von Generation zu Generation die unterschiedlichsten Barbarenstämme, die in ihren Sog geraten sind, ihr Denken und Sprechen neu orientieren. In der Attitüde, auch in der wirksamen Einbeziehung des Lesers in den Kreis der erfahrenen Zeitreisenden unterscheidet sich das nicht von Karl May, der sein anderes Ich den Kopf über die Geographen schütteln läßt, die von der Ausdauer arabischer Kamele in

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der Wüste gänzlich falsche Vorstellungen entwickeln. Der eine wie der andere wirbt nicht für seine Welt, er bewegt sich aus eigenem Anlaß in ihr und Berg und Fluß, die Sterne und die Götter ordnen sich über seinem Weg. Rudolf Borchardt hat sein Orplid mit der abendländischen Geschichte seit dem Aufgang der ionischen Poesie gleichgesetzt. Er spricht nicht über eine von ihm erträumte Gegenwirklichkeit, sondern er verwandelt alle geschichtlichen Erinnerungen aus diesem Zeitraum in eine solche Gegenwirklichkeit, in eine Welt hinter der Erscheinung, auf die die Phänomene, aber richtig gedeutet, untrüglichen Durchblick geben. Historische Erkenntnis und Wunschbild durchlagern sich in einer solchen Phantasmagorie auf kaum zu entschlüsselnde Weise. Das Nachdenken über die Sprache der Sappho, die der Ägypterjunge auf seine Tonscherbe kritzelt, bringt ihn auf das Verhältnis von schöpferisch ursprünglicher Sprache der Dichter und Magier zur ritualisiert-heiligen Sprache, die in der Distanzierung auch Verständigungswert gewinnen kann. Das wiederum bringt ihn auf das Verhältnis von übernommenen Universalsprachen und darunter sich ausprägenden Regionalidiomen.

Dieses ist

ohnehin - und nirgends ließe sich der phantasmagorische Charakter seines Denkens klarer erweisen als in dem immer wiederkehrenden Muster von gepriesenem Universalismus gegenüber der verworfenen Kleinteiligkeit, Interessenbewahrung und Gegenwartsverhaftetheit des Partikularismus! - einer der denkbaren Beispielfälle, an denen sich die geheime Wirksamkeit des Gesetzmäßigen hinter den wirr sich verschiebenden Erscheinungsbildern evident machen läßt: Die griechische Gemeinsprache hat früh der mittelmeerischen Welt den Stempel aufgeprägt. Sie behält diese Macht über das Denken lange nach dem Zeitpunkt, da die Griechen ihren politischen und kulturellen Einfluß selbst geltend machen konnten, und weit über den Raum hinaus, in dem einmal der Hellenismus geherrscht hatte. Das Lateinische tritt später an die Stelle der KOivfi. An ihrem Einfluß auf anderthalb tausend Jahre europäischer Geschichte läßt sich im Abglanz die herausragende Stellung des Griechischen ablesen. Die Sprachen und Mundarten der Romania, die sich aus dem Zerfall des Kaiserreichs herausgebildet haben, tragen ihr lateinisches Erbe in immer neue und fremde Zeitstufen weiter, so wie das Lateinische einst sich am Griechischen gebildet hatte. An dieser Stelle schiebt nun Rudolf Borchardt noch einmal eines seiner überraschenden Beweisstücke ein, das heißt er wiederholt im Kleinen das Verfahren des ganzen Aufsatzes. Um der Hervorhebung der griechischen Sonderrolle in der griechischen Sprach- und Denkentwicklung willen hatte er die Rolle des Latein zum sekundären Ereignis gegenüber dem Griechischen heruntergespielt. W e n n die ruhende Kraft des Griechischen wirklich stärker war - so Rudolf Borchardts Behauptung - , mußten dann nicht Spuren im Sand der Geschichte übrig geblieben sein?

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Der tiefste Grund der raschen Bildung romanischer Sprachen aus Latein verschiedener ethnischer Unterschichten ist nicht die Lebenskraft dieser letzteren im Sarden und Raeter und Wlachen gewesen, sondern die Zwiesprachigkeit der römischen Antike. Den Mut zu sich selber und seiner Einzigkeit, den das Griechisch in der ökumenischen Schulkultur des Hellenismus niemals verleugnet hat, hat das von Anfang an griechisch erzogene und durchsetzte Latein niemals besessen. Hätte es sich nicht in einem dunklen Punkte selber zu abhängig und unsicher gewußt, um unbedingt von sich abhängig zu machen, so würde der französische Bedingungssatz "si fêtais roi" heute lateinisch gebaut sein und nicht, wie er es ist, griechisch.

Das verblüfft und überzeugt durch die Verblüffung. Ohne langes Nachdenken ist der Leser bereit, sobald er sich mit der Beobachtung Borchardts vertraut gemacht hat, daß es damit wohl seine Richtigkeit habe. So kann das Detail, so kann die sprachliche Tonscherbe zum Beweis für die Richtigkeit des Hinweises werden. Tatsächlich: Im Unterschied zum Lateinischen (und Deutschen), wo der Sprecher eine Form des Konjunktivs benutzt, um die Irrealität einer Bedingung zu markieren ("si rex essem" - "wenn ich König wäre"), benutzt man im Französischen und im Griechischen zu diesem Zweck den Indikativ einer Zeitform der Vergangenheit: "si j'étais roi" - "ei eßaoiXeuov eyco" (wörtlich also: "falls ich König war"). Die Vermutung allerdings, die französische Konstruktion gehe auf die griechische als auf ihr Vorbild zurück, ist zwar geistreich, aber gewagt: beobachten wir dieselbe Konstruktion doch auch im Dänischen ("hvis jeg var konge") und im populären Englisch ("if I was a king" statt "if I were a king"), und in beiden Fällen ist ein griechischer Einfluß nicht recht wahrscheinlich. Näher liegt die Annahme, daß der Unterschied von wirklicher Gegenwart und schattenhafter Vergangenheit in vielen Sprachen spontan übertragen wird auf den Unterschied von dem, was wirklich, und dem, was nur gedacht ist, - falls nicht sogar umgekehrt dies die ursprüngliche Unterscheidung war, mit Hilfe welcher eben auch die Zeiten Gegenwart und Vergangenheit ausgedrückt wurden. Richtig aber bleibt doch, daß die Autorität des Lateinischen sich in der Syntax der romanischen Sprachen nur teilweise hat geltend machen können. Die Historiker unterschiedlichster Disziplin haben immer wieder den Versuch unternommen, Rudolf Borchardts Anregungen aus dem Quellenmaterial heraus zu falsifizieren. Oder sie haben überraschend zugestanden, daß sich herausfordernde Hypothesen im Nachhinein als zutreffend erwiesen hätten. Er hätte beide Haltungen hochmütig-gleichgültig links liegengelassen. Ob sich Beweise im Grabungsbefund für die von ihm behauptete Rolle Pisas als Seefahrer-Stadt der Antike finden ließen oder ob die Bildhauerfamilie der Pisani, ihres Namens ungeachtet, aus dem staufischen Apulien in den Norden gewandert war - für seine Geschichts-Vision der Ausnahmestellung Pisas im 12. und 13. Jahrhundert war das nebensächlich. Das archäologische Material, der Bestand eines Stadtarchivs zählt für ihn nicht als historisches Beweismaterial.

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wandert war - für seine Geschichts-Vision der Ausnahmestellung Pisas im 12. und 13. Jahrhundert war das nebensächlich. Das archäologische Material, der Bestand eines Stadtarchivs zählt für ihn nicht als historisches Beweismaterial. Oder doch nur in der Koinzidenz zu einem tragenden Gedanken, zu einer aus der Intuition gewonnenen Idee. Aus dem Zerfall, der aus den frühen Epochen der Menschheitsentwicklung neben der Dichtung nur zufällige Bruchstücke und Bildzeugnisse übrig gelassen hat, ist der innere Zusammenhang nur durch die Vision wiederherstellbar. Die Zeugnisse für sich haben keinen Aussagewert. Seine letzte Schrift, die auf der Flucht niedergeschriebene, dem drohenden Ende abgerungene Untersuchung: Epilegomerta zu Homeros und Homer gibt eine in sich geschlossene Rechtfertigung des eigenen Verfahrens einer punktuellen Restitution in integrum. Die Vergegenwärtigung des Verlorenen, die Phantasmagorie der Geschichte aus der Einbildungskraft, die Historiographie als Dichtung werden da sichtbar als die einzigen Möglichkeiten des Individuums, das seiner Geschichtlichkeit sich bewußt ist, aus dem Wirrwarr der Überlieferungen zur geschichtlichen Einsicht zu gelangen. Dichtung und Geschichte sind nicht Gegensätze. Die Historie erweist erst in der Phantasmagorie erkenntnisstiftende Kraft: Weil im C h o r e der N e u n , die Eines sind, Klio zwischen Urania und Melpomene kreist, die Herrlichkeit über der Geschichte zwischen der Herrlichkeit über das Ideenreich der Freiheit und der Herrlichkeit über der untergehend noch siegreichen Seele, darum kann es so wenig wie eine populäre Philosophie und eine populäre Tragödie eine andere populäre G e schichte geben, als die parteiische, die ein einziges praktisches Programm hat, und die servile, die jeden Erfolg als solchen rechtfertigt, und deren gräßlicher Optimismus so manchen vornehmen Geist die Bücher der Vergangenheit scheuen macht wie einen unreinen Lumpen.

Dagegen grenzt sich die wahre Geschichte ab, die der tieferen Einsicht aus Verwandtschaft mit dem Geist der Geschichte, die seherische Geschichte, in deren Dienst Herodot und Thukydides, Livius und Guicciardini, Edward Gibbon und Jacob Burckhardt neben den dichterischen Nachfahren des Homer stehen. Der Apotheose dieser Geschichtsdeutung in "souveränen Gesamtlesungen durch den Spiegel in einem zerbrochenen Glas" gelten die letzten Sätze des erschöpften Dichters und Historikers Rudolf Borchardt, in denen er den Morgenglanz ewiger Jugend über dem ewigen Verfall beschwört: A b e r die wahre Geschichte ist allerdings nicht die der siegreichen Sache und der vollendeten Fortschritte, - ja die G ö t t i n , deren Anhauch sie vom Dienste an dem Siebe und der Lupe zum Deuteramte der Gesichte über der Tafel und dem Griffel erhoben, verzieht auch wol den Mund zu den immer noch irdischen Opferschüsseln des Geschehenen und Vollbrachten. Erst das nicht ganz Geschehene, erst das nur Entworfene, N i e - G e s c h e h e n e , erst das brechende H e r z des besseren Mannes und der vernichtende Plan der rettenden Einsicht, - das in sich herrliche Nichtgewordene, durch alle Jahrtausende zusammenhängend hinter dem Stückwerke des Gewordenen, ist ihre reinste K o s t , der Ä t h e r ihrer A m brosia und der dünne N e k t a r des Durstes seliger Geister.

HARTMUT ZELINSKY

Das Reich, der Posteritätsblick und die Erzwingung des Feindes. Rudolf Borchardts Aufsatz Der Kaiser aus dem Jahr 1908 und seine Wende zur Politik

1. D i e Verhüllung des "Reichsaffenhauses", die W i e d e r e n t d e c k u n g Preußens und B o r c h a r d t s L e b e n s w e n d e 1 9 0 8 Nicht allen, die heute - im Juni 1 9 9 5 - über den Berliner Reichstag und seine Verhüllung sprechen, wird bewußt sein, daß ein Gespräch über den Reichstag insgeheim auch ein Gespräch über Kaiser Wilhelm II. und seine Regierungszeit ist. So könnte man in den folgenden Ausführungen auch eine Art Kommentar zu dem merkwürdig anziehenden und viele Zeitgenossen auf- und anregenden Verhüllungsspektakel sehen, das auch darüber nachzudenken Anlaß gibt, daß nicht selten eine heitere Außenseite oder hier Außenhülle sehr viel eindringlicher und ansprechender auf den ernsten und auch dramatischen Kern aufmerksam machen kann als politisches oder wissenschaftliches Palaver. Der die drei Hammerschläge begleitende Ruf Wilhelms II. bei der Schlußsteinlegung 1 8 9 4 "Pro gloria et patria!" sagt genug über seine Einschätzung des "Reichsaffenhauses" - wie er den Reichstag nannte. Bei der Einweihung fehlte auch der über dem Hauptportal vorgesehene Sinnspruch "Dem deutschen Volke". Der Bayreuthianer, Wagner-Propagandist und nachmalige Hitler-Förderer Houston Stewart Chamberlain, der seit Ende Oktober 1 9 0 1 nach einer von Wilhelm II. gewünschten Begegnung in Liebenberg beim Fürsten Eulenburg mit dem Kaiser im Briefwechsel stand, konnte auf dessen Einverständnis rechnen, wenn er ihm am 1. Januar 1 9 1 2 eine Briefstelle an den Verleger Diederichs mitteilte, der Chamberlain wegen seiner geplanten "Erziehung des deutschen Volkes zur Politik" drangsaliert habe: B i t t e fangen Sie damit an, daß Sie sämtliche Mitglieder aller Parteien des Reichstages zusammenberufen, und dann sprengen Sie das ganze sogenannte H o h e Haus mit Dynamit in die Luft; nachher wollen wir sehen was sich machen läßt.

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Hartmut Zelinsky

Die feine Außenseite dieser terroristischen wilhelminischen Vernichtungsmentalität, die sich durchaus auch bei Wilhelm II. findet, ist der ebenfalls mitgeteilte Satz aus dem Brief eines Offiziers aus dem 4. Garderegiment: Mögen die Leute sagen, was sie wollen; der Tag kommt, wo alle Welt wird anerkennen müssen, daß unser Kaiser es ist, der den Namen Deutschlands über die ganze Welt getragen und dessen Ruf fest gegründet hat. 1

Sind das Spektakel der Verhüllung des Reichstages und seine endliche Ermöglichung und Verwirklichung nicht zu verstehen und zu erklären ohne die politischen Veränderungen der vergangenen fünf Jahre, so haben diese auch ein anderes, man möchte sagen entspannteres, Verhältnis zu Preußen und zur preußisch-deutschen Geschichte geschaffen, die nach 1945 durch Alliiertenbeschluß ziemlich zum Verschwinden gebracht worden sind. Der Titel des Buches Ein Requiem für Preußen (1957) von W. Wolfram von Wolmar drückt diesen Tatbestand pathetisch aus, der auch durch die Veröffentlichungen und Aktivitäten von Hans Joachim Schoeps in Erlangen oder Wolf Jobst Siedler um diese beiden zu nennen - als seltene Ausnahmen bestätigt wird. Nicolaus Sombart begann seinen FAZ-Aufsatz Kaiser Wilhelm IL in neuer Sicht am 12. Januar 1979 mit dem Satz : "Plötzlich spricht man in Deutschland wieder von Wilhelm II. von Hohenzollern", um dann hinzuzufügen: Uber 50 Jahre wurde der Name des letzten deutschen Kaisers fast totgeschwiegen. Dabei hat Wilhelm II. von 1888 bis 1918 an der Spitze des Deutschen Reiches gestanden, volle 30 Jahre lang. Er hat einem Zeitalter seinen Namen und sein Gepräge gegeben. "Nie", sagte Rathenau, "hat eine Epoche mit größerem Recht den Namen ihres Monarchen getragen." Die Weimarer Republik, das Dritte Reich sind ohne das Wilhelminische Deutschland überhaupt nicht zu begreifen; selbst noch das gespaltene Deutschland ist entscheidend durch Männer geprägt worden, deren Denken und Charakter durch die kaiserliche Zeit geformt wurden [...]. Die sogenannte Vergangenheitsbewältigung kann nicht mit der Hitlerzeit beginnen, sondern mit dem Regime Wilhelms [....].2

Im September 1979 fand auf Korfu ein Kolloquium jüngerer Historiker unter dem Motto "Der Kaiser in neuer Sicht" statt, unter denen allerdings mehr Engländer und Amerikaner als Deutsche waren. Der darüber veröffentlichte Berichtband wurde von Nicolaus Sombart und John C. G. Röhl herausgegeben, der ebenfalls 1979 den zweiten Band - von dreien - von Philipp Egenburgs politischer Korrespondenz herausgab, eine der bedeutendsten Quelleneditionen zur wilhelminischen Zeit. 1991 erschien - ebenfalls von Röhl herausgegeben - der Berichtband eines Münchner Kolloquiums 1987 mit dem Titel Der Ort Kaiser Wilhelms II. in der deutschen Geschichte, und 1993 ver-

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Houston Stewart Chamberlain: Briefwechsel mit Kaiser Wilhelm II., in: ders.: Briefe 1882-1924, Bd. II, München 1928, S. 238. Nicolaus Sombart: Nachdenken über Deutschland, München, Zürich 1987, S. 77.

Das Reich, der Posteritätsblick und die Erzwingung des Feindes

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öffentlichte Röhl den ersten Band seiner auf mehrere Bände projektierten Biographie Wilhelms II., der ein großer Erfolg wurde. Für das fast modische neue Interesse an Wilhelm II. sprechen auch die hohen Besucherzahlen der beiden Wilhelm II.-Ausstellungen in München und Berlin 1991. Es kann nicht übersehen werden, daß dieses politisch motivierte - das heißt der Vereinigung folgende - modische Interesse an Preußen und damit auch an Wilhelm II. neue nationale Strömungen einer sich zeitgenössisch aufputzenden "konservativen Revolution" nährt, für die der 100. Geburtstag Ernst Jüngers ein willkommener Anlaß war, sich zu präsentieren und gleichzeitig einer "selbstbewußten Nation" das Wort zu reden. Und es kann auch nicht übersehen werden, daß Botho Strauß, der seinen Anschwellenden 3 Bocksgesang in dem Band Die sebstbewußte Nation wiederveröffentlichte und in dessen Untertitel nennen ließ und der auch als Gratulant für Jünger nicht fehlte, seit seinem am 23. Mai 1987 erschienenen FAZ-Aufsatz Die Distanz ertragen. Programm eines 'Wiederanfangs - Rudolf Borchardt und die Entstehung von Vergangenheit sich als Vertreter des "Rechten des gegenrevolutionären Typus von Novalis bis Rudolf Borchardt" versteht, das "in einem besonders spannungsreichen Verhältnis zu der Rechten steht, der revolutionären und totalitären, die Staat und Volk ins Verderben führte". 4 So einleuchtend und reinlich diese Unterscheidung auch sein mag, für die ideologischen und politischen Positionen Borchardts ist sie nur bedingt in Rechnung zu ziehen, da seine "Absonderung", die Strauß sich zu eigen gemacht hat, sich nicht selten von links wie rechts absetzt, und die Straußsche Differenzierung zwischen "das Rechte" (Novalis, Borchardt) und "die Rechte" (revolutionär und totalitär) als Wunschvorstellung auch nicht weiterhilft. Borchardt war Monarchist und er schrieb und veröffentlichte seinen Aufsatz Der Kaiser im Septemberheft der Süddeutschen Monatshefte 1908, um sich öffentlich zu dieser Überzeugung zu bekennen, von der er nicht mehr abrücken sollte, wiewohl er nach dem Ersten Weltkrieg von den Hohenzollern abrückte und sich den Wittelsbachern und dem Kronprinzen Rupprecht zuwandte. 1927 bekennt er in seiner in Freiburg/Br. gehaltenen Rede Der Dichter und das Dichterische bezogen auf die Zeit lange vor dem Kriege, "als Patriotismus unelegant war und in den Kreisen der gehobenen Literatur niemanden empfahl":

3

4

Siehe hierzu Heimo Schwilk und Ulrich Schacht (Hg.): Die selbstbewußte Nation. "Anschwellender Bocksgesang" und weitere Beiträge zu einer deutschen Debatte, Frankfurt am Main, Berlin 1994. Der Spiegel 16, 1994, 18.4.1994, S. 169.

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Hartmut Zelinsky

Selbstverständlich [war ich] Monarchist damals, [und bin] intransigenter, absoluter und schweigsamer Legitimist heute, für den persönlich es eine Republik nicht gibt, sondern nur ein Interregnum und wie so oft in der deutschen Geschichte, kaiserlose schreckliche Zeit. 5

Mit dem bekenntnishaften Kaiser-Aufsatz beginnt Borchardts immer wieder aufgenommene Auseinandersetzung mit Wilhelm II., mit Preußen und dem Reich, deren letztes Zeugnis das nach dem Tod Wilhelms II. 1941 geschriebene Klagegedicht Der Abschied vom Kaiser ist. Allein schon einige Titel, die hier genannt werden sollen, weisen auf diese Auseinandersetzung hin: Rene-

gatenstreiche (1908), Ballade von Tripolis (1912), Rheinsberg (1919), Brief über die Reichsreform (1930), Konservatismus und Monarchismus (1930), Weifisches Kaisertum (1931), Das Reich als Sakrament (1932), Rupprecht von Bayern

(Münchner Neueste Nachrichten = MNN, 18. Mai 1932),

Staaten-

bund oder Bundesstaat. Gelegentlich einer Wahlrede des Prinzen August Wilhelm von Preußen (MNN 8. und 1 5 . 1 . 1 9 3 3 ) , Der Fürst (Februar 1933). Doch auch der 1 9 3 7 im Verlag Bermann-Fischer in Wien erschienene Roman Verei-

nigung durch den Feind hindurch gehört in diesen Zusammenhang; nicht nur durch die Konfrontation eines mythisch gesehenen Liebespaares - "ritterlicher", stellungsloser preußischer Offizier und ebenfalls durch den Krieg verarmte junge und schöne Adlige - mit der Welt der "Emporkömmlinge" und "Freigelassenen" des Proletariats, die feindliche Welt schlechthin, sondern weil der hier so hervorgehobene Feind-Begriff den zentralen Hintergrund der ideologisch-politischen Kampfebene des Kaiser-Aufsatzes und der ihn flankierenden Arbeiten und Veröffentlichungen zwischen 1906 und 1 9 1 0 bildet: Weltfragen (1906/07), Villa (Frankfurter Zeitung = F Z , Februar 1907), Velt-

heim (FZ März 1908), Renegatenstreiche,

Simplicissimus Edition

française

(Süddeutsche Monatshefte = SM, Juni 1 9 0 8 ; geschrieben 28. April 1908), Politiker aus dem Kunstsalon (1908), Der Kaiser (SM September 1908), Ankündigung (1909), das Jahrbuch Hesperus (Herbst 1 9 0 9 ; darin der Aufsatz

Stefan Georges Siebenter Ring), Intermezzo (SM Dezember 1910). Alle Spuren, die zu diesem Kaiser-Aufsatz führen und von ihm ausgehen, sind Spuren, die die entscheidende und endgültige Wende in Borchardts geistiger Entwicklung und in seinem persönlichen Leben anzeigen; eine Wende, die - um seine eigenen Worte aufzunehmen - mit dem "entschlossenen Willen" zusammenhängt, "unsere Zeit zu verleugnen, statt ihr mit ruchlosem Optimismus zu schmeicheln" und - wie er im Dezember 1911 an Hofmannsthal schreibt - "die geistige Führerschaft der Nation an uns zu nehmen". 6

5

Prosa IV, S. 233.

6

Reden, S. 344; Borchardt/Hofmannsthal, S. 87.

Das Reich, der Posteritätsblick und die Erzwingung des Feindes

285

2. D a s Gegenbild Stefan George, "vernichtende Verachtung" und die "Pflicht, deutsch zu werden" Borchardts machtorientierte Wende zur entschlossenen und unbedingten geistigen Führerschaft war eine von mehreren Zeitgenossen im zeitlichen Umfeld des JGzi'ser-Aufsatzes ausdrücklich hervorgehobene Wende zur Politik 7 und zu einem politischen und "deutschen" Kulturbegriff, wodurch sich das nun nach außen und öffentlich demonstrierte Konkurrenzverhältnis zu George und seinem Kreis als zukünftig unaufhebbare - und durch die von dieser Seite konsequent verbreiteten polemisch-antisemitischen Haßäußerungen sich verschärfende - Kampfposition erklärt. Wenige Monate nach dem überdehnten Trennungsbrief an George vom 14. Januar 1906, den Borchardt in einem Brief an seinen Bruder Philipp "einen etwas rauhen Brief' nennt, seit dem "Krieg zwischen seinem Samen und meinem Samen [herrscht]", 8 und dem Hofmannsthals letzter Brief an George am 19. März folgt, heiratet Borchardt am 5. Juli und läßt sich kurz darauf in Italien nieder. In einem ausführlichen Brief an Friedrich Wolters vom 17. Oktober 1906 - den Absagebrief an diesen schreibt er dann am 1. März 1908 schildert Borchardt anschaulich das Leben in der angemieteten Villa Sardi bei Lucca und bemerkt: "Es ist zwar immer noch, so lange ich in der Heimat die Stelle die mir zukommt nicht einnehmen kann, Exil die einzige mögliche Daseinsform für mich und wird es fürs erste bleiben." Doch hebt er hervor, daß Verhandlungen mit seiner Familie ihn für immer in Stand gesetzt hätten, "herrschaftlich zu existieren", und beschreibt sich "als Centrum eines winzigen centralisierten Einheitsstaates". 9 Nicht nur Wolters wird herzlich eingeladen, sondern Borchardt sucht auch die Nähe zu den realen Machtbereichen: Am 9. März 1907 berichtet er seiner Mutter, daß er Alexander Freiherrn von Gleichen Russwurm (Schillers Urenkel) erwarte, "den bekannten und von mir sehr geschätzten Münchener Schriftsteller und Mäcen", und daß auch Walther Rathenau und Hans Lich-

7

A m 11. April 1907 schreibt Hofmannsthal an Harry Graf Kessler, den er ermuntert, gelegentlich einen Brief an Borchardt zu schicken, er könne "darin von der Absicht Deiner Privatdrucke sprechen und ihn durch die damit verbundene Huldigung für seine Prosa ganz ordentlich ermutigen und erfreuen": "Mein Lieber, sobald D u mir eine bleibende Adresse angiebst, möchte ich Dir einen besonders schönen und glänzenden Brief von Borchardt schicken, welcher unter anderem andeutet / zu meiner größten Überraschung, daß er sich intensiv mit Politik befaßt / auch ein glänzendes Urteil über Rilke enthält u.s.f." (Hugo von Hofmannsthal - Harry Graf Kessler: Briefwechsel 1898-1929, hrsg. von Hilde Burger, Frankfurt am Main 1968, S. 156.

8 9

Briefe 1907-1913, S. 408; 2. März 1906. Briefe 1895-1906, S. 439ff.

286

Hartmut Zelinsky

tenfeldt aus Bonn kommen wollen, von denen Borchardt sich - wie er ausdrücklich bemerkt - "Connexionen" erhoffte: Schliesslich ist Lichtenfeldt (Ratgeber des Kaisers und zukünftiger Chef des Reichsgesundheitsamtes, vielleicht ministrabel) als hoher Reichsbeamter - er war Reichscommissar für Chicago und im Reichsauftrag in Paris - ein vollkommener Weltmann, mit dem es reizend ist eine Stunde zu verplaudern.

Borchardt, der auf den ersten Seiten seines Kaiser-Aufsatzes so emphatisch die Unabhängigkeit des politischen Schriftstellers beschwört, gibt hier zu, "selbst der grösste und unabhängigste Geist kann sie [Connexionen, H. Z.] nicht entbehren wenn er wirken will und nicht in der doppelten Zeit die Hälfte seiner Schritte umsonst tun". 10 Der in diesem Brief erwähnte Villa-Aufsatz, der am 15. Februar 1907 in der Frankfurter Zeitung erschienen war und im Februar 1908 als Hundertdruck Alfred Walter Heymels herauskam, und der 1907 erschienene Gedichtband Der Siebente Ring Stefan Georges sind nicht zufällig zeitlich parallel laufende Dokumente zweier insgeheim aufeinander bezogener, voneinander abhängiger und auf geistig-politische Führerschaft in Deutschland zielender Lebenswenden, die beide auf je verschiedene Weise verschränkt sind mit der Erfahrung Italiens. So ist Borchardts Rezension des Siebenten Rings, die dann dem 1909 erschienenen und als Konkurrenzunternehmen zum George-Kreis inszenierten Jahrbuch Hesperus den "Kern aus Magneteisen" geben sollte, auch ein gegen den Strich zu lesendes Selbstportrait Borchardts, der - in einem Brief an R. A. Schröder vom 30. November 1907 - "die Consequenz dieser Fatalität von Mensch, die immer gegen ihre Zeit ist", als "grossen ganzen Trost für Unsereinen" beschreibt. Das Wort vom "herrischen und maßlos schroffen Manne" trifft auf Borchardt ebenso zu wie die Bemerkung (um nur diese Beispiele anzuführen): Wer, bei äußerster Kampfstellung gegen das meiste gegenwärtig Deutsche, das Schicksal, deutsch zu sein, so sehr als Pflicht, deutsch zu werden, auf sich genommen hat, darf nun all denen, die "leichthin schlüpfen aus innerer Fessel", mit dieser vernichtenden Verachtung begegnen."

Der Machtblick beider war auf den Begriff des Reiches gerichtet: Während Borchardt gegen die Politiker aus dem Kunstsalon und gegen deutsche Renegatenstreiche - so die Titel zweier den Kaiser-Aufsatz vorbereitender polemischer Aufsätze vom April und Juni 1908 - und für ein deutsches Reich als flottengestütztes Großmacht-Imperium und "ringsum eingeschlossene Volksgemeinschaft" Kaiser Wilhelm II. als "größten Ausdruck" 12 des Reiches ver10 Briefe 1907-1913, S. 45. 11 Rudolf Borchardt. Alfred Walter Heymel. Rudolf Alexander Schröder. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum, Marbach am Neckar 1978, S. 156, 158; im folgenden zitiert: Katalog Marbach. - Prosa I, S. 289ff.

Das Reich, der Posteritätsblick und die Erzwingung des Feindes

287

klärte, w a r G e o r g e s Blick gegen W i l h e l m II. und gegen das wilhelminische Deutschland auf ein zukünftiges "Neues R e i c h " gerichtet. M i t R e c h t h a t daher W e r n e r Kraft in seinem B o r c h a r d t - B u c h bei der B e s p r e c h u n g des

Kaiser-

Aufsatzes, den er als "eines der merkwürdigsten D o k u m e n t e [...], die die Geschichte des Geistes kennt", bezeichnet, d a r a u f hingewiesen, d a ß dieser Aufsatz a u c h gegen G e o r g e gerichtet sei. Die Stelle lautet: Borchardt stellt den Kaiser dar, als handle es sich um eine mythische Figur aus dem Bereich Georges. Auf schroffste Antithese läuft es hinaus, bei George gegen, bei Borchardt für den Kaiser. George sagt im "Siebenten Ring": "Trompetenstoß mag aus- und einbegleiten / Umflitterten popanz und feisten krämer" oder: "Heut da sich schranzen auf den thronen brüsten / Mit wechslermienen und unedlem klirren". Dies ist gegen Wilhelm II. mitgerichtet; Borchardts Eintreten für den Kaiser ist indirekt auch gegen George gerichtet. 13 D o c h was B o r c h a r d t und G e o r g e verband, w a r die K o n z e n t r i e r u n g und a u c h V e r e n g u n g des Wirkungsfeldes auf Deutschland, in der N a c h f o l g e der W e r k Idee W a g n e r s - w e n n auch nicht mit sämtlichen vernichtungs-antisemitischen Konsequenzen -

die militant-rücksichtslose Aufladung und V e r k l ä r u n g

der

Begriffe "deutsch" und "Volk" und die d a v o n unablösbare " v e r n i c h t e n d e V e r achtung" für alles, was d e m als F e i n d - W e l t entgegenstand. In der s c h o n angeführten "Ankündigung" heißt es über die

Hesperus-Her-

ausgeber im Sinne eines "politischen Begriffes der Kultur", d a ß sie sich nicht m e h r , wie ehmals - in der Z e i t der Insel-Hefte

- an kleine G e m e i n s c h a f t e n ,

s o n d e r n allerdings an das Volk w e n d e n w ü r d e n . Und B o r c h a r d t fährt fort: Sie sind deutsch und bekennen sich dazu, vor allem deutsch und zum zweiten und dritten Male deutsch zu sein. Deutsch nicht im Sinne von heut freilich, sondern im Sinne einer Vergangenheit und einer Zukunft. Deutsch im Sinne jenes sich umwandelnden nationalen Typus, dessen Entwicklung sie zu beschleunigen versuchen werden, zu dessen Beschleunigung ihnen jedes gute Mittel recht sein wird. D a n n folgt konsequent das Bekenntnis zu R e i c h und Kaiser und d a m i t verbunden - wie s c h o n in den die Simplicissimus Renegatenstreichen

Edition

française

geißelnden

( S M J u n i 1 9 0 8 ) - die Abweisung des "Auslandes", w e n n

Borchardt hervorhebt: Daß sie [die //esperws-Herausgeber, H. Z.] in einer Zeit, in der Deutschland der Markt jedes konsistenteren Auslandes geworden ist, sich durchaus weigern ein Ausland zuzulassen, wo es nicht verspricht ihre Vorstellung vom Deutschen zu bekräftigen und zu ver12

Prosa V, S. 57. Auch in seinem Aufsatz Politiker aus dem Kunstsalon - geschrieben als Auseinandersetzung mit dem im April-Heft 1908 der Süddeutschen Monatshefte erschienenen Artikel Der ästhetische Mensch und die Politik von Friedrich Naumann bezeichnet Borchardt Wilhelm II. als "den Mann des deutschen Schicksals", "den Schöpfer der deutschen Flotte und der politischen Welthandelsmacht der Nation, den Exponenten des tiefsten seiner selbst unbewußten Volkswillens, der sich seit zwei Jahrzehnten an dem Widerstande der stumpfen Welt müde ringt und in jedem Momente das tragische Vorläuferlos seiner leidenschaftlichen Natur auskostet [...]" Ebd., S. 83. 13 Werner Kraft: Rudolf Borchardt. Welt aus Poesie und Geschichte, Hamburg 1961, S. 408.

288

Hartmut Zelinsky

dichten. Daß sie am Reiche halten, daß sie seinen größten Ausdruck in dem gekrönten Menschen, der es nach Außen vertritt, nicht verkennen, sondern sich vielmehr als seine Helfer und Genossen bekennen: Wie sie denn wissen, eines Schicksals mit ihm zu sein und ein Ziel mit ihm zu erstreben [...] 14

Die angeführten Zitate aus dem Umkreis des Kaiser-Aufsatzes zeigen - auch durch ihren militant-fanatischen und unbedingten Ton - , wie unaufhebbar und endgültig die in diesem Aufsatz dokumentierte Lebenswende war, die durch den Tod des Vaters am 3. Juli 1908 - zwei Monate vor Veröffentlichung des Aufsatzes - noch eine besondere Verstärkung erfuhr. Auf einige weitere Spuren und Facetten dieser Wende soll im folgenden eingegangen werden. Neben der das nationale Feind-Denken und reichsbezogene Herrschafts-Denken verstärkenden Niederlassung in Italien und seinen Villen, neben der schon angeführten Abgrenzung vom "Ausland" und von der mißachteten "europäischen Konstitutionsschablone" 15 und neben der nun offenen Konkurrenz zu George und seinem Kreis verdienen noch zwei Komplexe hervorgehoben zu werden: die Rolle Alfred Walter Heymels, der bereits Insel-Zeitschrift und -Verlag finanziert hatte, bei der programmatischen Ausrichtung und publizistischen Ausweitung der Süddeutschen Monatshefte seit seinem Eintritt in deren literarische Kommission 1907 und damit der Kampf gegen Albert Langen und die in seinem Verlag erscheinenden Zeitschriften Simplicissimus und März-, und die Rolle des im Kaiser-Aufsatz ausdrücklich zur Sprache gebrachten Harden-Eulenburg-Prozesses, der seit Maximilian Hardens ersten Angriffen - im April 1907 - gegen Eulenburg und die sogenannte "Liebenberger Tafelrunde" - insgeheim gegen Wilhelm II. als Bismarcksches Vermächtnis - in Gang gekommen war. Er mag einer der äußeren Hauptantriebe gewesen sein, anläßlich des zwanzigjährigen Jubiläums der Thronbesteigung den Kaiser-Aufsatz zu schreiben, und er steht im Hintergrund der maßlosen Haßausbrüche Borchardts gegenüber Harden. 14 Prosa VI, S. 202f. Über R. A. Schröder und seine zwölf Borchardt gewidmeten Deutschen Oden, die im Oktoberheft 1910 der Süddeutschen Monatshefte erschienen, schreibt A. W. Heymel am 26. Oktober 1910 an Max Freiherr von Holzing: "Sein heftiges Zeitgefühl, die Inbrunst mit der er an Deutschland hängt, sein edler flammender Zorn gegen innere und äussere Feinde giesst sich nun eines Tages in die edelsten alten Gefässe, die ihm gerade gut genug erscheinen, den Deutschen Wein zu kredenzen." (Katalog Marbach, S. 239.) - In Anlehnung an die Zeitschrift Die Insel erscheint im Februar 1900 eine Faschingsnummer des Münchener Cococello-Clubs mit dem Titel Die Halb-Insel, die nicht nur die /we/-Herausgeber, Richard Dehmel und Heinrich Vogeler aufs Korn nimmt, sondern auch den deutschen Kaiser mit seiner Barttracht; ein Beitrag aus der Halb-Insel lautet Weltspiegel, zwei Lieder aus den Gesängen einer Uberseele, für eine Singstimme und Klavier von Corbinian Strehler; am unteren Rand der Titelzeichnung finden sich die Angaben "Opus 1437 a, III. Abteilung" und "Selbstmoching bei München" und dazwischen eine Karikatur des Kopfes von Wilhelm II. mit der berühmten Bartformel "Es ist erreicht"; ebd., S. 103f. 15 Prosa V, S. 108f.

Das Reich, der Posteritätsblick und die Erzwingung des Feindes

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3 . Die "Pestratte" H a r d e n u n d die L i t e r a t e n r e p u b l i k Berlin W . In e i n e m - allerdings n i c h t a b g e s c h i c k t e n - B r i e f v o m 2 . N o v e m b e r 1 9 0 8 an Gustav Pauli, dessen im O k t o b e r h e f t d e r Süddeutschen

Monatshefte

erschiene-

n e n " d ä m l i c h e n Kaiseraufsatz" B o r c h a r d t g e g e n ü b e r H e y m e l "als R e t r a c t a t i o h o n o r a b i l i s , R ü c k z u g in allen E h r e n u n d o f f e n e n W i d e r r u f ' 1 6 hinstellte, w i r d die H a r d e n - E u l e n b u r g - D i m e n s i o n

des Katser-Aufsatzes

und seiner

Vorge-

s c h i c h t e e r k e n n b a r . D a r i n g e s t e h t B o r c h a r d t , d a ß er in d e r K a i s e r f r a g e " C o n vertit" sei u n d d a ß d r e i " C o e f f i c i e n t e n auf m e i n e U m k e h r g e w i r k t h a b e n " : Erstlich die geistige Gesellschaft, in der ich mich mit meiner negativen Stellung sah soweit jene Gesellschaft sich durch kritische Aktion vernehmlich machte und mich und meinesgleichen zu gewinnen suchte und gewann; dann das Ausland; und in allerletzter Linie die genaue parteilose unbezweifelbare private Information, über die ich zu wiederholten Malen habe verfügen können und weiter verfüge. Ich begann gegen meine Antipathie zunächst mißtrauisch zu werden, als ich mit Schrekken sah, mit wem ich sie teilte. [...] Ich fand es schlechterdings unmöglich mich im Gegensatz zu einer Person fühlen zu sollen, den eine gewisse bastardierte Intellektualität, ein gewisses internationales feiges Mittelmaß, ein gewisses als Modernität aufgestutztes Helotentum der Seele so deutlich und instinktiv als seinen Gegensatz empfand. B o r c h a r d t h e b t h e r v o r , e r h a b e seit seiner G a s t r o l l e in D e u t s c h l a n d in d e r Schule d e s Auslands alles H a l b w a h r e , H a l b g e l e b t e , Halbgefühlte, A n g e n o m m e ne u n d A n g e f l o g e n e , was e r m i t seiner G e n e r a t i o n geteilt h a b e , a b g e s t r e i f t ; so h a b e e r für d e n Kaiser d e n Posteritätsblick u n d Auslandsblick

gewonnen,

d e n n niemand in D e u t s c h l a n d , der seine einschlägige I n f o r m a t i o n aus politisch

interessierten u n d a n der S t i m m u n g s m a c h e

beteiligten

der

Auslands-

presse s c h ö p f e , a h n e e t w a s v o n d e m Z a u b e r u n d d e m N e i d d e r h e i m l i c h e n L i e b e , m i t d e m d e r Kaiser die W e l t erfülle. S o k o m m t B o r c h a r d t zu

dem

Schluß: Ich trat aus dem Strome heraus, der die anderen heut noch weiterträgt und ging querfeldein in die Stille. Von den allgemeinen Sentiments- und Culturstimmungen, aus denen heraus ich, wie meine ganze Generation, die rohe, laute, grelle, ungeformte Person des Kaisers abgestossen hatte, ist mir nicht eine einzige geblieben. J e mehr mein kritischer Abstand zur Gefühls- und Geschmackssignatur des deutschen Jahrzehntes zur Skepsis und schliesslich zur offenen Abneigung führte um so mehr gewann ich für den Kaiser der sich von dieser Signatur abhob, den Posteritätsblick der wesentliches und unwesentliches an einer historischen Gestalt anders formuliert als das mitlebende Jahrhundert. [...] Ich kann es nur mit den Worten meines Aufsatzes sagen, daß er in ganz Europa das ist, was die grossen Gestalten der Sage in früheren Weltaltern gewesen sind, und dass ein solches Verhältnis seine inneren Wahrheiten haben muss, gegen die alle Kritik wehrlos ist, ein Zeitliches gegen ein Ewiges, eine geistige Mode gegen eine dämonische Macht. 1 7

16 17

Briefe 1907-1913, S. 191. Ebd., S. 197ff.

290

Hartmut Zelinsky

Mit dem Begriff des Posteritätsblicks hat Borchardt den entscheidenden Hinweis gegeben, wie sehr er für sein auf Ganzheiten ausgerichtetes und das "Ewige" favorisierendes geschichtsphilosophisches Programm mit seinem Anspruch auf Herrschaft und Führerschaft den Kaiser und sein mythisierendes Bild des Sagen-Kaisers brauchte. Deshalb sprach er in der schon zitierten Hespems-Ankündigung von "deutsch nicht im Sinne von heut freilich, sondern im Sinne einer Vergangenheit und einer Zukunft" 18 , die er mit dem Posteritätsblick auch auf sich selber mit prophetischer Geste zu antizipieren sich angewöhnte. Hier liegen die Anfänge seiner späteren Vorstellung einer schöpferischen Restauration, das heißt einer zukünftigen Vergangenheit, und die Ursprünge seines Hasses auf das "Heute" und "Gegenwärtige", die als Vorstellung des Übergangs und Interregnums die Aufsätze Borchardts durchziehen und die auch im Kaiser-Aufsatz als "das geistige Chaos einer zerrissenen Übergangsgeneration" auftauchen. In diesem Sinne wird der Kaiser als "Exponent des Volkes in drei Stadien eines großen geschichtlichen Überganges" bezeichnet. 19 Einer der Hauptexponenten dieses "geistigen Chaos", der - wie es in dem Brief an Pauli hieß - "bastardierten Intellektualität", der mit vernichtender Verachtung gestraften Feind-Welt schlechthin ist für Borchardt Maximilian Harden, der in dem Pauli-Brief als "Pestratte der >ZukunftDeutschheit< aus jüdischem Gemüt" Ein weiteres Indiz für Borchardts Desertion aus dem Judentum als eine der Bedingungen des Kaiser-Aufsatzes ist die Aufnahme eines direkten Kontaktes zu Walther Rathenau in einem Brief vom 7. März 1 9 0 7 , in dem er ausdrücklich auf die Impressionen 72

Rathenaus zu sprechen kommt. 7 5 In diesem 1 9 0 2

Siehe hierzu Hartmut Zelinsky: Richard Wagner - ein deutsches Thema. Eine Dokumentation zur Wirkungsgeschichte Richard Wagners 1876-1976, Frankfurt am Main 1976 (3. Auflage: Berlin, Wien 1983). Diese Zeichnung wurde hier - gegenüber der Titelseite zum ersten Mal veröffentlicht. Zur Vorgeschichte dieser Zeichnung siehe: Sieg oder U n tergang, S. 83ff.

73

Siehe hierzu ebd., Kapitel "Wilhelm II. und Chamberlain".

74

Röhl: Kaiser, S. 22.

75

Die Stelle über die Impressionen

lautet: "Das Problem des Lesers ist für den Künstler, wie

ich dem Dichter der 'Impressionen' nicht erst sagen muss, verzweifelt, und wird es wie mir scheint, von einem zum andern Tage mehr. U n d wenn das ein Temperament, wie meines, zwar dazu bringen kann, sich der Gedanken an die Allgemeinheit der Aufnehmenden bei der Conception halb mit Bitterkeit halb mit Lust zu entschlagen, so ent-

Das Reich, der Posteritätsblick und die Erzwingung des Feindes

311

erschienenen Buch hatte Rathenau seinen zuerst 1 8 9 7 in Hardens Zukunft unter dem Pseudonym Hartenau veröffentlichten Aufsatz Höre, Israel! wiederveröffentlicht, wodurch sein Vater Emil Rathenau sich genötigt sah, "durch umfangreiche Aufkäufe dieses im Berliner und deutschen Judentum mit Empörung aufgenommene antijüdische Manifest vom Markt verschwinden zu lassen". 76 Am 14. März teilt Borchardt seiner Mutter mit, daß Rathenau sich gestern zu Besuch in der Villa Sardi angemeldet habe, und er fügt hinzu, "auch Lichtenfeldt aus Bonn will kommen, der Nahrungschemiker und Erfinder des Tropon, ein ganz ausserordentlicher Mensch, Ratgeber des Kaisers und zukünftiger Chef des Reichsgesundheitsamtes, vielleicht ministrabel". Borchardt bekennt, "dass es sich um das handelt was man Connexionen nennt", und er hat die Hoffnung, "dass das Zusammentreffen dieser drei Menschen hier [der dritte ist Alexander v. Gleichen-Rußwurm, H. Z.] - es braucht kein zeitliches zu sein - andere als nur gesellschaftliche Folgen haben wird. Aber darüber ist es heut noch zu früh zu reden." Die zuletzt gemachte Anspielung bezieht sich unzweifelhaft auf seine politischen Pläne, denn in bezug auf Lichtenfeldt betont er ausdrücklich, daß diese Verbindung - "eine alte Beziehung von mir" - auf "Verwandtschaft der politischen Ansichten und Absichten" beruhe und daß er seine "künstlerischen Entgleisungen" ängstlich vor ihm verbergen müsse. 77 Es scheint, daß Borchardt Zugang zu dem Kaiser nahestehenden Männern suchte und daß Rathenau hierbei eine bevorzugte Rolle spielte. In dem Aufsatz Politiker aus dem Kunstsalon - geschrieben im April 1908 - zitiert er aus Rathenaus kürzlich erschienenen Reflexionen, die er das einzige Buch "lebendiger und gelebter Politik" nennt, "das die letzten Jahre uns gegeben haben". 78 Und am Schluß der früher schon angeführten Passage über Wilhelm II. in den Weltfragen findet sich eine emphatische Würdigung Rathenaus, da in der zeitgenössischen monographischen Literatur der - höhnisch abgefertigten - Verlage Albert Langen und S. Fischer und anderer Würdigungen des Grafen Posadowsky-Wehner und Rathenaus fehlen würden. Borchardt schreibt: Ich suche vergeblich nach einer Würdigung Walther Rathenaus, dieses einzigen Erzeugnisses einer gemischten, leidenschaftlichen und kalten, handelnden und träumenden Zeit, dieses großen Unternehmers und Händlers, Fürsten und Erfinders, dieses Manns, der, um in seiner ganzen G r ö ß e offenbar zu werden, nichts braucht als das korrelative Verhältnis, eine Gesellschaft; Schriftsteller ersten Ranges, vollkommener M e n s c h und Herr, Banquier

schuldigt es vielleicht auch bedenklichere Massnahmen, durch die man sich mit dem einzigen Leser, den man sich wirklich wünscht, fester als durch Fremde, und wären es Brüder, zu verbinden sucht." Briefe 1 9 0 7 - 1 9 1 3 , S. 29f. 76

Rathenau - Harden, Briefwechsel (Anm. 2 1 ) , S. 211, Anm. 47.

77

Briefe 1 9 0 7 - 1 9 1 3 , S. 44f.

78

Prosa V, S. 70 und 76.

312

Hartmut Zelinsky

und Techniker, Politiker Gelehrter, adliger Schüler und ruhiger Meister alles Schönen und Gottverwandten, mit der Welt vertraut und ihr Mal für Mal überlegen gibt er ungefähr dasjenige ab was man in einer so gefährlich zersprengten und vereinzelnden Zeit wie die seine es ist noch Universalität nennen kann. 79

Die Vermutung, daß es eben die Heroisierung der germanischen Rasse durch einen deutschen Juden war, die Borchardt an Rathenau und seinen Reflexionen anzog und schätzte, wird in dem Briefwechsel Harry Graf Kesslers mit Hofmannsthal gerade über den Kaiser-Aufsatz bestätigt. Am 25. September schreibt Kessler von seiner Enttäuschung über Borchardt und fügt hinzu: Hast Du seinen Artikel in den letzten Südd. gelesen? Etwas so groteskes ist mir überhaupt noch nicht vor Augen gekommen. Während des ganzen Lesens haben in mir der Ekel und ein toller Lachreiz um die Herrschaft gekämpft; schließlich war die Komik doch stärker. Und dazu dieser Stil. Papieren ist noch gar kein Ausdruck dafür, Einzelne Sätze habe ich überhaupt nicht enträtseln können, zu meinem großen Leidwesen, da sie offenbar sehr komische Dinge enthielten. Ich hoffe sein Vater wird den Kommerzienratstitel erhalten oder Roten Adler Orden Zweiter erhalten, den dieses filiale Produkt wert ist, dann würden wir vielleicht künftighin mit politischen Aperçus verschont. 80

In seinem Antwortbrief vom 14. Oktober aus Rodaun stellt Hofmannsthal nun ausdrücklich die Reflexionen Rathenaus neben den Kaiser-Aufsatz und betont hierbei die '"Deutschheit' aus jüdischem Gemüt". Die Stelle lautet: Wir errichteten einen kleinen Friedhof begrabener Hoffnungen und ich bat Dich, Wassermann noch nicht definitiv umzugraben sondern das schöne große Grab neben Borchardt doch für Herrn Walther Rathenau zu reservieren. Ist Dir das Dir geweihte Exemplar seines Folianten, betitelt "Reflexionen" zugekommen [...]? Was für ein raffiniert unangenehmes Buch! Welche Mischung von Pedanterei, Prätension, Snobism (bei der vollkommenen Abwesenheit von "Welt") und abgestandener und wieder aufgekochter "Deutschheit" aus jüdischem Gemüt reproduciert. Und der Mensch hat eine bei aller Affectation doch hübsche Wohnung. - und gefiel uns ein paarmal sehr. Rudi [Rudolf Alexander Schröder, H. Z.] über dieses Thema zu hören, ist ein ausgesuchtes Vergnügen. Er triumphiert natürlich, seit dieser Mensch dieses Buch veröffentlicht hat. 81

Schon nach dem ersten Besuch Borchardts im Februar 1902 in Rodaun hatte Hofmannsthal Schröder - also einem Vertrauten gegenüber - Borchardts Judentum zur Sprache gebracht.82 Das wurde dann im George-Kreis in herab79 80

81 82

Ebd., S. 548. Hofmannsthal - Kessler: Briefwechsel (Anm. 7), S. 196. Schröders Urteil war keineswegs milder: "Borchardts Artikel finde ich nicht nur grotesk, sondern geradezu herostratisch." Ebd., S. 517; Brief an Kessler vom 9. Oktober 1908. Ebd., S. 197. In seinem ausführlichen Brief über einen Besuch Borchardts in Rodaun schreibt Hofmannsthal am 26. April 1902 an Schröder: "Er spricht alle Sprachen sehr geläufig, mit großem Wortreichtum, nur in einem fast unerträglichen Ton, mit einem ostentativen Zuhausesein in der Sprache, das - bei der Häßlichkeit seiner Betonung - zuweilen einen grotesken Eindruck macht. Man wird bei der Beurtheilung aller dieser Dinge nicht außer acht lassen dürfen, daß er Jude aus einem norddeutschen, ihm selbst sehr widerwärtigem Milieu ist. Seine Gabe, sich umzuthun und sich zu unterrichten ist ganz erstaunlich: in

Das Reich, der Posteritätsblick und die Erzwingung des Feindes s e t z e n d e r Absicht selbstverständlich, was sicher den Intermezzo-Aufsatz

313 mit

herausreizte. Saladin Schmitt schrieb n a c h seinem Besuch bei B o r c h a r d t s in Italien im O k t o b e r 1 9 0 7 an E r n s t B e r t r a m : [Seine] schroffe Ungerechtigkeit macht auch die gelassenste natur notwendig reaktionär. Auch äusserlich ist dieser brutale Marat-Kopf, durch den dich die polnisch-jüdische deszendenz nur noch allzu deutlich ansieht, zu allem anderen eher geneigt als liebe einzuflössen. Mit diesem Jakobiner von erborgtem adel haben wir - und ich weiss, dass ich hier für viele sprechen kann - nichts gemein. 83

wenigen Wochen hat er sich in Wien die Kenntnis der intimsten Personalien, die Namen aller Straßen und Geschäfte, alle Preise, die Gliederung der Gesellschaftskreise, die Verbindung der meisten ihn interessierenden Menschen angeeignet. Ich habe die begründete Furcht, daß er in wenigen Wochen anfangen wird, wienerisch zu reden." Rudolf Borchardt, Vivian, Briefe, Gedichte, Entwürfe 1901-1920, hrsg. von Fridhelm Kemp und Gerhard Schuster, Marbach am Neckar 1985 ( = Marbacher Schriften 25), S. 212ff. 83 Pisaner Colloquium, S. 174. - Einige weitere Stimmen aus dem George-Kreis seien angeführt. Am 10. Oktober 1908 schreibt Friedrich Gundolf an Karl Wolfskehl: "Ich höre aus dritter Hand, dass Borchardt in seinem Heymelwinkel einen Angriff gegen mich (Besprechung der Romantikerbriefe und Abwehr meines Angriffs in den 'Preussischen Jahrbüchern') plane. Wenn der Shakesp. kommt wird er sich wol auf den stürzen." Katalog Marbach, S. 159f. Im März 1910 schreibt Gundolf an E. R. Curtius: "Das mit dem Judendeutsch soll nur heißen, dass seine Dantedeutschung Mauscheln ist und das habe ich mit leiser Parodie und Borchardts eigener Diktion ausgedrückt." Ebd., S. 160f. Ahnlich spricht Hanna Wolfskehl in einem Brief an Gundolf vom 10. November 1909 in bezug auf Borchardts Pindar-Ubersetzung vom "Mauschelpindar" (ebd., S. 162f.). Eine Notiz von Ernst Bertram zum Nachwort Borchardts zu seiner Anthologie Ewiger Vorrat deutscher Poesie (1926) lautet "ehrgeiziger Jud" (ebd., S. 337). - Doch auch Borchardt zögerte keineswegs, sich dieser auch vom eigenen Judentum ablenkensollenden und auch antisemitischen Zuordnungstechnik zu bedienen. Am 22. Februar 1907 schreibt er an seinen Bruder Philipp - kurz vor dem ersten Brief an Rathenau am 7. März - in bezug auf einen für seine Arbeiten geeigneten Verlag, weil er auch wegen seiner Ehe "Geld, Geld und wieder Geld" brauche: "Fischer vielleicht? mit dem ich früher oder später doch arbeiten muss? Mit dem ekelhaften Bie und der ganzen Judenschaft der Neuen Rundschau? Oder vielleicht Langen der aus den Schmutz-Zinsen seiner Bordell Literatur jetzt sich eine pathetisch reformatorische Revue [die Zeitschrift März, H. Z.] zahlt? Ach nein, das Geschäftliche an der Literatur ist alles nur mit Doppelt wattierten Handschuhen anzufassen." Briefe 1907-1913, S. 25. In einem Brief an Herbert Steiner vom 17. Juni 1911 spricht er davon, daß "eine gewisse Rotte undankbarer Judenbengel in Berlin und sonstwo ihn [Hofmannsthal, H. Z.] zum alten Eisen werfen möchte." Ebd., S. 371. Am 8. Juli schreibt Borchardt an seine Mutter: "Im Herbst erscheint der Joram russisch. Drei Juden reinster Observanz von unglaublichen Namen, Eliasberg, Rosanow, Anisfeld, haben sich zusammengethan, ersterer übersetzt, der zweite leitet mich ein, der dritte 'stattet aus'. Wenns nun nicht geht!" In diesem Brief teilt Borchardt seiner Mutter auch mit, daß der Senat von Bremen - wohl als unmittelbare Folge des ^¡ser-Aufsatzes - ihn gegen das Honorar von 1000 Mark um eine Inschrift für das Bremer Moltkedenkmal gebeten habe. (Ebd., S. 253.) Doch auch den Mauschel-Begriff verwendet Borchardt gegen Lubliner und Gundolf gerichtet in einem Brief an seinen Bruder Ernst vom 13. Oktober 1908 kurz nach Veröffentlichung des Kaiser-Aufsatzes. Dort heißt es: "Wenn Du mir das Lublinersche

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Die späteren Lebenswege Borchardts und Rathenaus können hier nicht ausführlich verfolgt werden. Doch Rathenau schrieb nach dem ersten Weltkrieg 1 9 1 9 eine der gerechtesten Charakterisierungen Wilhelms II., der nach der Ermordung Rathenaus zu einem Besucher in Doorn bemerkte (was der Rathenau-Biograph Kessler am 3. April 1 9 2 3 in sein Tagebuch notiert): "Ist ihm ganz recht geschehen." 84 Ein Tagebucheintrag Kesslers vom 5. Dezember 1 9 3 1 enthält sein bündiges Urteil über Wilhelm II.: Wilhelm sei geradezu der Mann ohne Linie (außer der des schlechten Geschmacks), das gerade Gegenteil des deutschen Edelmannes und des englischen Gentleman gewesen, die eher zuviel als zuwenig Linie hätten, mit anderen Worten: ein gekrönter Barbar, der das ganze deutsche Volk in den Ruf der Barbarei gebracht habe. 85

Zeug abschreiben willst, so ist das sehr lieb von Dir. Unerwartet trifft es mich nicht. Dieser abgewirtschaftete Mauschel hat schon Buber, wie dieser mir erzählte, gegen mich zu montieren versucht, ohne Glück freilich. - Er ist in guter Gesellschaft; Gundelfinger hat vor ein paar Monaten gelegentlich einer Rez. in den Preuss. Jahrb. ohne Namensnennung aber unzweideutig etwas Wetter gegen mich zu machen versucht. Wer das Wetter macht lädt den Blitz zu Gaste. Es hat mich schon längst gelüstet, diesen dummdreisten Castraten aufs Magre zu gehen. Jetzt werden sie nicht viel Fleisch am Leibe behalten." (Ebd., S. 183f.) Im folgenden geht Borchardt dann etwas grundsätzlicher auf seine Kampflust gegenüber seinen "Feinden" ein: "Nicht als freute mich das Gezänke und das PersönlichNegative überhaupt. Glaube mir, ich habe Momente, in denen es mich anstinkt, in denen ich mich nach nichts mehr sehne, als nach reinem stillen Darstellen, nach Serenität; aber ich kann nicht anders um dazu zu kommen. Ich muss mir meine Leser erst schaffen, diejenigen nämlich, die mich lesen wie ich gelesen sein will. Auch wer mich heute gerne liest, und ein halb Hundert sind es ja wohl, liebt mich aus schlimmen Begriffen heraus. Ein Revirement dieser Begriffe muss allem anderen vorausgehen. Darum all dies Reden, Behaupten, Verneinen, Widerlegen, Vernichten, bei dem mir selber, nimm mein Wort darauf, oft übel wird. - Dazu habe ich den Feind im Hause. In den S. M. ist etwas gegen mich unternommen worden, wovon der Paulische dämliche Kaiseraufsatz, bestellte Arbeit, das erste Sturmzeichen ist ..." Ebd, S. 184. - Zum Thema Borchardt und das Judentum siehe auch: Jens Malte Fischer: Rudolf Borchardt - Autobiographie und Judentum, in: Pisaner Colloquium, S. 29-49; Rudolf Borchardt - Martin Buber. Briefe, Dokumente, Gespräche 19071964, hrsg. von Gerhard Schuster in Zusammenarbeit mit Karl Neuwirth, Ebersberg 1991 (Schriften der Rudolf Borchardt-Gesellschaft Bd. 2) und das Kapitel "Judentum", in: Werner Kraft (Anra. 13), S. 34-76. 84

Harry Graf Kessler Tagebücher 1918-1937, hrsg. von Wolfgang Pfeiffer-Belli, Frankfurt am Main 1961, S. 386. 85 Ebd., S. 651. - Henry van de Velde besuchte Heymel kurz vor dessen Tode am 26. November 1914 am Krankenbett. Er schreibt darüber in seinen Erinnerungen: "Ich setzte mich an sein Bett und betrachtete den Schlafenden. Und vor dem bedauernswerten Wesen ließ ich den Verwünschungen gegen Krieg und Kriegsgesinnung freien Lauf. Aber im selben Augenblick empfand ich unaussprechliches Mitleid mit diesem Opfer, diesem Deutschen, meinem Freund, der die Verantwortung für eine Tat mittragen mußte, die ein Geistesgestörter im Namen einer Nation begangen hatte, die er ebenso als von Gottes Gnaden ansah wie sich selbst." Henry van de Velde: Geschichte meines Lebens, München 1962, S. 379f. Doch Heymel war keineswegs nur ein Opfer, auch er war ein Repräsentant der lange vor dem Anzetteln des 1. Weltkriegs verbreiteten wilhelminischen Kriegs-Mentali-

Das Reich, der Posteritätsblick und die Erzwingung des Feindes

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Kessler hat in seinen T a g e b ü c h e r n ausdrücklich v o n der "Wandlung" gesprochen, "die mich auf m e i n e m Lebensweg aus diesem streng monarchistischen Kreis zur F r o n d e gegen W i l h e l m II. und dann zur Republik geführt" habe, 8 6 eine W a n d l u n g , die ähnlich auch f ü r den W e g Rathenaus bis zum A u ß e n m i n i ster d e r W e i m a r e r Republik gilt. A m 2 1 . Februar 1 9 1 6 hielt B o r c h a r d t auf Einladung Rathenaus in den C l u b r ä u m e n des Palais Pringsheim in der Berliner W i l h e l m s t r a ß e v o r der Deutschen Gesellschaft seine Rede Der Krieg die deutsche

Verantwortung,

zu acht Gedecken

und er hat in seinem Erinnerungstext

und

Frühstück

v o n 1 9 4 3 die Begegnungen dieser Fronturlaubstage geschil-

dert. Auch R a t h e n a u w i r d m e h r f a c h u n d ausführlich zur S p r a c h e gebracht, d o c h w e n n B o r c h a r d t "die riesige Nubiergestalt R a t h e n a u s neben d e m unschönen massiven G e w a l t h a b e r k o p f Dernburgs" b e t o n t u n d diese beiden auch an w e i t e r e n Stellen z u s a m m e n nennt u n d als "Mécontents" 8 7 bezeichnet, dann

tät; am 26. Oktober 1910 schreibt er an Max Freiherr von Holzing: "[Sollte] ein eventueller Krieg, in den Deutschland hineingezogen wird, im Anfang nicht durchaus glücklich geführt werden, so würde ich das für das größte Glück für die deutsche Jugend halten, die sich endlich wieder auf sich selber und die alten Ideale besinnen muss, um ihrer Vorväter würdig zu werden." Am 6. März 1911 schreibt Heymel an Gustav Pauli ähnlich "barbarisch": "Mein oft aufdringliches Kriegsgeschrei ist von zwei starken Wünschen und Erkenntnissen verursacht; einmal möchte ich gewaltsam den gordischen Knoten meiner Lebensverstrickungen und Verwirrungen mit dem Schwerte lösen, aber noch viel heftiger als dieser egoistische Grund lässt mich meine altruistische Liebe zum deutschen Vaterlande einen Krieg wünschen." Katalog Marbach, S. 245 und 263. - Rückblickend schreibt der deutsche Admiral Albert Hopman am 6. Oktober 1918 in sein Tagebuch: "Es ist gekommen, wie ich vorausgesehen, nicht nur in den letzten Wochen, sondern lange, lange vorher. Was Deutschland in den letzten 3 Jahrzehnten gesündigt hat, muß es büßen. Es war politisch erstarrt durch das blinde Vertrauen, die sklavische Unterordnung unter den Willen eines in Eitelkeit und Selbstüberschätzung strotzenden Narren." Röhl: Kaiser, S. 34. Nachdem Heymel im Oktober 1908 noch in die Redaktion der von Franz Blei und Carl Sternheim in München herausgegebenen Zeitschrift Hyperion eingetreten war, beschloß er aus persönlichen Gründen und auch wegen der Süddeutschen Monatshefte, seinen Wohnsitz von Bremen nach München zu verlegen, wo er sich dann Ende 1909 in der Poschingerstraße 5 im Herzogpark ein Haus baute. Im November 1908 löste Heymel den Bremer Haushalt auf und gab am 22. November in Hillmanns Hotel ein Herren-Abschiedsessen für über 50 Personen. Am 24. November startete er in Bremerhaven mit dem Dampfer "Kaiser Wilhelm II." zu einer großen Amerikareise. Siehe hierzu Neteler (Anm.36), S. 46 und 213. 86 Kessler (Anm. 84), S. 651. 87 Prosa VI, S. 247 und 230. - Zwei kritische, Rathenau auf die Seite der 'Todfeinde" stellende Bemerkungen Borchardts seien noch angeführt. Im Frühjahr 1920 spricht er in der Rede Uber den Dichter und das Dichterische von den "mechanischen Menschen", um hinzuzusetzen "das Wort ist nicht von Herrn Rathenau sondern von Boccaccio" (Prosa I, S. 57) wobei er auf Rathenaus 1913 erschienenes Buch Zur Mechanik des Geistes anspielt. Am 15. November 1930 erscheint in den Münchner Neuesten Nachrichten der dem "Konflikt des monarchistischen und des republikanischen Deutschland" gewidmete und für den "Fürstenbegriff" werbende Aufsatz Demant der Krone. Über Konservatismus und Monarchis-

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ist hier weder die Distanz zu übersehen noch der subtile Fingerzeig auf das Judentum der beiden. Zur Ermordung Erzbergers hat Borchardt in seinem

mus. Darin kommt Borchardt im Zusammenhang des "hinter uns liegende[n]" "furchtbare[n] Unglück[s] [...] des November 1918" auf die Bemerkung Rathenaus zu sprechen, "daß der Tag an dem der Kaiser mit seinen Paladinen siegreich durchs Brandenburger Tor eingeritten wäre, das Ende der europäischen Kultur bedeutet hätte." Prosa V, S. 416f. Diese hier korrupt und sinnentstellend wiedergegebene Bemerkung geht zurück auf eine Stelle in Rathenaus zuerst im März 1919 veröffentlichten Studie Der Kaiser, wo er von den etwa zwanzig Begegnungen mit Wilhelm II. zwischen 1901 und 1914 spricht und anmerkt: "Ein Freund fragte nach dem Eindruck der Erscheinung und des Gesprächs. Ich sagte: ein Bezauberer und ein Gezeichneter. Eine zerrissene Natur, die den Riß nicht spürt; er geht dem Verhängnis entgegen. - Der Mann, dem ich dies in der höchsten Blüte wilhelminischer Ära sagte, ein Kenner der Menschen, erstaunte nicht und hat in der langen Glanzzeit bis zum Kriege mir das Wort nicht vorgehalten. Als der Krieg begann, begegneten wir uns, beide von dem schlimmen Ausgang überzeugt. Abermals widersprach er mir nicht, als ich sagte: Nie wird der Augenblick kommen, wo der Kaiser, als Sieger der Welt, mit seinen Paladinen auf weißen Rossen durchs Brandenburger Tor zieht. An diesem Tage hätte die Weltgeschichte ihren Sinn verloren. Nein! Nicht einer der Großen, die in diesen Krieg ziehen, wird diesen Krieg überdauern. - Moltke stürzte und starb, Falkenhayn, Bethmann, Jagow, Tirpitz stürzten; im letzten Jahr war nur der Kaiser übrig, und zum Schluß stürzte auch er." Walther Rathenau: Gesammelte Schriften, Schriften aus Kriegsund Nachkriegszeit, Berlin 1929, S. 305. Bernhard Fürst von Bülow - der hier angesprochene "Freund" - gibt diese Rathenau-Bemerkung in seinen Denkwürdigkeiten folgendermaßen wieder: "Rathenau erinnerte mich daran, daß er mir im Herbst 1914, aus dem damals von mir bewohnten Salon im Hotel Adlon auf das Brandenburger Tor deutend, gesagt hatte: "Wenn durch dieses stolze Tor ein als Mensch interessanter und sympathischer, zum Regieren untauglicher Monarch wie Wilhelm II., rechts von sich einen total unzulänglichen Kanzler wie Bethmann, links einen so leichtfertigen Chef des Stabes wie Falkenhayn, einziehen sollte, so hätte die Weltgeschichte ihren Sinn verloren.' " Gespräche mit Rathenau, hrsg. von Ernst Schulin, München 1980, S. 327f.- Gegen die von Borchardt zweifellos bejahte Verwendung dieser Bemerkung zur Diffamierung Rathenaus im November 1919 durch Ludendorff wandte sich der pommersche Rittergutsbesitzer und Generalstabsoffizier Georg von Diezelsky, der Rathenau durch den Briefwechsel über dessen Staat und Judentum kennengelernt hatte, in einem Brief an Paul Kahn vom 15. August 1922: "Nur einmal sah ich mich veranlaßt, auf politischem Gebiet ihm einen Freundesdienst zu tun, weil ihm m. E. Unrecht geschehen war. Das war, als man ihm wegen der bekannten Äußerung in seinem Buch 'Der Kaiser' einen Vorwurf machte. Wenn der Kaiser als Sieger durch das Brandenburger Tor reitet, dann habe die Weltgeschichte ihren Sinn verloren. Er fühlte sich gekränkt durch die Äußerung des General Ludendorff vor dem Untersuchungsausschuß, da der General dieser Äußerung einen defaitistischen Sinn gab, Rathenau war aber alles andere als ein Defaitist. Als ich im Dezember 1914 mit ihm über den Pariser Platz ging, sagte Rathenau mir wörtlich: Wenn der Kaiser als Sieger mit Bethmann und Jagow auf weißen Rossen durch das Brandenburger reitet, dann war Napoleon ein Ochse und Cäsar ein Esel.' Er kam gerade an diesem Tage von Jagow und klagte mir dessen Unwissenheit. Diese Äußerung sollte heißen: Mit diesen Leuten kann man keinen Krieg gewinnen; so war die erwähnte Äußerung ohne Zweifel gemeint, und ich teilte sie auch in bezug auf die Ratgeber des Kaisers. General Ludendorff wollte aber von seiner Ansicht nicht abgehen, weil er sich an die Worte in Rathenaus Schrift 'Der Kaiser'

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blinden R e p u b l i k - H a ß geschrieben: "Die Schüsse des Volksgerichts haben nur einen s c h l i m m e n M a n n getroffen, die s c h l i m m e M a c h t ist u n v e r s e h r t . " 8 8

Ob

hielt." Ebd., S. 152. In einem Brief vom 11. September 1920 an Georg von Diezelsky kommentiert Rathenau die Ablehnung eines Verständigungsfriedens durch den siegfixierten Ludendorff: "Unter den damaligen sachlichen und persönlichen Verhältnissen konnte Deutschland keinen Anspruch auf niederschmetternde Siege erheben, wohl aber einen anständigen Frieden schließen. Hätte ich das nicht geglaubt, so hätte ich die Rohstofforganisation nicht übernommen. Ein Verständigungsfriede wurde aber damals, wie Sie sich erinnern, als Scheidemann- oder Juden-Frieden bezeichnet, und Ludendorff hat selbst erklärt, daß er einen solchen Frieden nicht wollte, sondern, wie er sich ausdrückte, 'auf Sieg kämpfte'. Er hätte keinen erstklassigen politischen Mitarbeiter geduldet, der sich auf Verständigung einließ." Walther Rathenau: Briefe, Bd. II, Dresden 1927, S. 260f. Auf seine Sieg-Bemerkung angesprochen, antwortete Rathenau einem Dr. Pachnicke in Berlin am 25. Januar 1921 - und der Brief zeigt, daß auch die Presse sich an der "Entstellung" seiner Ausführungen beteiligte: "Für Ihre freundliche Anfrage bin ich Ihnen dankbar. Der von Ihnen zitierte Satz: "Wenn wir als Sieger durch das Brandenburger Tor einziehen, hätte die Weltgeschichte ihren Sinn verloren' ist das Produkt einer bewußten Fälschung. Der authentische Satz findet sich in der kleinen Schrift 'Der Kaiser', von der ich einen Abdruck beifüge, auf Seite 28; er betrifft eine Voraussage, die ich im Jahre 1914 gemacht habe, und lautet wie folgt: 'Nie wird der Augenblick kommen ...' Daß dieser Satz sich lediglich auf die Aussichtslosigkeit der damaligen Führer, den Krieg zu gewinnen, bezieht, geht aus dem folgenden Satz hervor: 'Moltke stürzte und starb, Falkenhayn, Bethmann, Jagow, Tirpitz stürzten; im letzten Jahr war nur der Kaiser übrig, und zum Schluß stürzte auch er.' - Als zum erstenmal eine Entstellung meiner Ausführungen in der Presse erschien, schrieb mir ein befreundeter Mann, der im Kriege eine hohe und verantwortliche Stellung bekleidete, er erinnere sich genau meiner Äußerungen und könne auf seinen Eid jederzeit bezeugen, daß sie in dem Sinne zu verstehen sei, den ich soeben dargelegt habe." Walther Rathenau: Politische Briefe, Dresden 1929, S. 290f. Ein gleichlautender Brief an Oberlehrer Spatz vom 10. Februar 1922 - gut vier Monate vor seiner Ermordung — zeigt, daß Rathenau diesen Brief häufiger zu verschicken hatte. (Ebd., S. 328f.) In seinem am 23. November 1919 veröffentlichten Aufsatz Schicksalsspiel setzt Rathenau sich mit der "Äußerung des General Ludendorff vor dem Untersuchungsausschuß" ausführlich auseinander, die so aufgefaßt werden könne, "als hätte ich im Kriege zur Entmutigung des Volkes beigetragen, dem Siege entgegengearbeitet, Kriegssabotage getrieben", und er fügt hinzu: "Solche Beschuldigung bin ich nicht gewillt, auf mir sitzen zu lassen. Ich weise sie zurück und werde die Zurückweisung begründen." Das Resümee dieser entschiedenen Kritik des auch für Wilhelm II. typischen "Sieg oder Untergang'-Fanatismus Ludendorffs lautet am Schluß: "an die Stelle eines Verständigungsfriedens, den man nicht gewollte hatte, weil er nicht durch leichte Annexionen zu verhüllen war, trat der Vernichtungsfriede. Nun regt sich bei den Besiegten der Unmut gegen jeden, der die Illusionen nicht teilte. Doch soll der schwere Vorwurf der Kriegssabotage denjenigen erspart bleiben, die rechtzeitig warnten, deren Voraussagen eintrafen. [...] Mißverstandene Zitate ändern an diesen Dingen nichts." Rathenau: Schriften aus Kriegs- und Nachkriegszeit, siehe oben, S. 459-469. Zu Rathenaus Auseinandersetzung mit Ludendorff, der mit seiner bewußten und antisemitischen Diffamierung die von Cossmann inszenierte "Dolchstoßlegende" fütterte und den Weg zu Rathenaus Ermordung mitbereitete, siehe auch die Rathenau-Biographie Kesslers, dessen Kommentar lautet: "In diesem November 1919 geschah etwas, das sein Schicksal weitreichend beeinflußte [...]. Ludendorffs Mißdeutung stempelte Rathenau für weite Kreise, namentlich der völkischen Jugend, zu einem Schäd-

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Borchardt über die Ermordung Rathenaus am 24. Juni 1922 konsequenterweise ebenso dachte, denn auch dieser diente der "schlimmen Macht", ist - angesichts fehlender Briefzeugnisse - nur vermutbar. Jedenfalls gab es für Borchardt keine Wandlung, er blieb seinem Ewigkeits-, Interregnums- und Feind-Denken verhaftet, und er blieb, "um MarktWert zu bekommen" - wie er 1905 schon formulierte - , "fest entschlossen in dieser Richtung nichts unversucht zu lassen, mich des Theaters und des Romans, des Feuilletons und aller sonstigen Vehikel zu bedienen durch die Einfluss zu gewinnen ist" und so "allmählich dem Publikum aufzuzwingen, was ich nach der Notwendigkeit meiner Natur will und muss".89 Auch der Kaiser-Aufsatz war ein solches "Vehikel", dem Publikum ein - wie selbst enge Freunde wie Schröder oder Kessler fanden - "groteskes" Bild Wilhelms II. "aufzuzwingen" und damit auch aus poetischen und politischen und poetisch-politischen System-Gründen "das Reich" und damit "den Feind" zu erzwingen. Wie gewaltsam-grotesk diese von nun an unaufhebbare und sich nach dem Weltkrieg noch mehr verschärfende und verhärtende Standortbestimmung war, zeigt der Blick auf andere zeitgenössische Auseinandersetzungen mit Wilhelm II. und seiner Zeit: Noch vor dem Krieg schreibt Heinrich Mann seinen Roman Der Untertan mit dem Untertitel Geschichten der öffentlichen Seele unter Wilhelm II., und im März 1894 veröffentlicht der in München lebende und agierende patriotische Pazifist Ludwig Quidde seine auf Wilhelm II. zielende "Studie über römischen Cäsarenwahnsinn" Caligula, zu der er angeregt wurde durch ein vom Kaiser eigenhändig auf eine Photographie geschriebenes Caligula-Wort in der Preußischen Gesandtschaft beim Vatikan: "oderint dum metuant" (mögen sie hassen, wenn sie nur fürchten). 90

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Iing, einem Verbrecher, an d e m Rache zu n e h m e n ihnen als eine vaterländische T a t erscheinen m u ß t e . Er war von da an ein Gezeichneter." Harry Graf Kessler: Walther Rathenau. Sein Leben und sein W e r k , Berlin-Grunewald 1928, S. 287f. - Borchardt machte also seine parteiische Verwendung der k o r r u p t e n , Untergang-fixiert "das Ende der europäischen Kultur" ins Spiel bringenden Rathenau-Bemerkung in Kenntnis und im Bewußtsein der öffentlichen und ihm durch seine Ludendorff- und C o s s m a n n - N ä h e unzweifelhaft vertrauten Auseinandersetzung. Prosa V, S. 476. - In der Rede Führung spricht Borchardt 1931 im Z u s a m m e n h a n g mit der "Angeklagtenbank von Versailles" von den "gebrandmarkten Erzbergergesichter[n] jener Tage", die "patzig dreinzuschauen versuchen". Reden, S. 405f. Katalog Marbach, S. 187. - Dies Marktbewußtsein Borchardts zeigt auch seine BriefÄ u ß e r u n g zu Rudolf Kassners /.^su-Übersetzung und der dabei erkennbaren "miserablen Gesinnung, die ohne ein W o r t der Vorbereitung Anfrage A n k ü n d i g u n g pp. eine elende Geschäfts Ü b e r s e t z u n g des Lysis in den Handel wirft u n d mir den Markt verdirbt eh ich hab herauskönnen". Ebd., S. 183; Brief an den Bruder Philipp v o m 27. J u n i 1905. Utz-Friedebert Taube: Ludwig Quidde. Ein Beitrag zur Geschichte des demokratischen Gedankens in Deutschland, Kallmünz 1963 ( = Münchener Historische Studien Abteilung Neuere Geschichte, hrsg. von F r a n z Schnabel, Bd. V), S. 11.

Das Reich, der Posteritätsblick und die Erzwingung des Feindes

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Quidde war von 1 9 1 4 - 1 9 2 9 Vorsitzender der "Deutschen Friedensgesellschaft", in der in den zwanziger Jahren auch Harry Graf Kessler mitarbeitete. Am 13. November 1928 notierte dieser sich in sein Tagebuch, daß er abends für die "Liga der Menschenrechte" im Reichswirtschaftsrat einen Vortrag über Rathenau gehalten habe und daß Quidde - Friedensnobelpreisträger des Jahres 1927 - trotz seiner siebzig Jahre die ganze Zeit stehend ausgeharrt habe.' 1 91

Kessler: Tagebücher (Anm. 84), S. 578. Zu Quidde siehe auch: Ebd., S. 186 und 419. Wie hellhörig Quidde schon als junger Mann war, zeigt die Tatsache, daß er 1881 (als 23jähriger) anonym die Schrift Die Antisemitenagitation und die deutsche Studentenschaft veröffentlichte, in der er sich kritisch mit der "Antisemitenpetition" des Nietzsche-Schwagers Bernhard Förster, die dieser in Bayreuth im Geiste Wagners verfaßte und an Bismarck schickte, und mit Treitschkes antisemitischer Agitation auseinandersetzt. (Siehe hierzu: Sieg oder Untergang, S. 53-76, Kapitel "Nietzsche contra Wagner und Wilhelm".) Quidde blieb keineswegs der scharfe Kritiker Wilhelms II.; im Vorwort zur 31. Auflage seines Caligula teilt er mit, daß er "seit dem teilweisen Unrecht und der schweren Demütigung, die er 1908 nach dem Daily-Telegraph-Interview erlitten hatte", die Waffen gegen ihn gesenkt habe. Und Quidde fügt hinzu: "Ich war nicht unter seine Verteidiger gegangen; aber ich enthielt mich des Angriffs. Auch sprach bei mir zu seinen Gunsten, wie er 1911 der infamen Kriegshetze der Alldeutschen standgehalten hatte. Während des Krieges mußte ich ihn sogar gegen ungerechte Vorwürfe verteidigen. Die Forderung der Entente, ihn als Kriegsverbrecher auszuliefern, habe ich als eine dem Deutschen Volk angesonnene Schmach betrachtet. Seit seiner Flucht nach Holland war er kein Faktor mehr von irgendwelcher Bedeutung für unser öffentliches Leben, und es erschien mir unwürdig, dem Gestürzten noch Steine nachzuwerfen, zumal da es Einen ekeln konnte, wie viele von denen, die ihm vorher schmeichelten, nun über ihn herfielen. Dieses Bedenken wurde stark erschüttert, als er mit seinem mehr als anfechtbaren Erinnerungswerk in die öffentliche Diskussion eingriff, es schwand vollends, als der Kaiser sich unentwegt huldigen ließ und solche Huldigungen durch seine Haltung ermutigte, vor allem aber, als die monarchistische Agitation, die auf Rückführung der Hohenzollern gerichtet ist, immer ungescheuter sich breit machte." Angesichts dieser Agitation entschließt Quidde sich im Frühjahr 1926 zu einer mit Erläuterungen und persönlichen Erinnerungen versehenen Neuauflage seines Caligula, zumal die noch vorhandenen Hemmungen überwunden wurden - durch die Erwägung, "daß wir jetzt in einem Entscheidungs kämpf zwischen der Republik und der monarchistischen Bewegung stehen". Diese Neuauflage erscheint noch vor dem 20. Juni, dem Tag der Abstimmung über das von den Sozialdemokraten und Kommunisten durchgebrachte Volksbegehren auf entschädigungslose Enteignung der Fürsten, das aber statt der nötigen 20 Millionen Stimmen nur 14,5 Millionen erreicht. Quidde bemerkt dazu: "Nicht, daß es entscheidend wäre, ob am 20. Juni die 20 Millionen Stimmen erreicht werden. Ich bin gewiß Republikaner und doch ein Gegner der entschädigungslosen Enteignung. Aber die Frage ist, ob nicht, nachdem der Reichstag so kläglich versagt hat, das Ja beim Volksentscheid das geringere Übel ist. Wird der zur Abstimmung stehende Gesetzentwurf angenommen, so bleibt es ja den Ländern unbenommen, aus freien Stücken den Angehörigen der Dynastien angemessene Abfindungen zu gewähren. - Entscheidend aber ist, daß Hundert von Millionen aus unserem verarmten Land nicht in die Hände der Hohenzollern und der Koburger kommen dürfen, um dort vielleicht als Mittel zur Nährung des Kampfes gegen die Republik verwandt zu werden. In dieser Lage ist es die Pflicht jedes Republikaners, die Revision der monarchischen Gesinnung, zu der die ungeheuerlichen Ansprüche der entthronten Herrscherhäuser bei

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Borchardts Position auch in den zwanziger Jahren war weit abgelegen und abgesetzt von der Welt dieser mutigen Kämpfer für Frieden und Menschenrechte, aber auch von der Walther Rathenaus, der schon 1 9 1 3 gegen den "nationalistischen Haß der Nationen" eine europäische "solidarische Zivilisation" forderte. 9 2 Kesslers 1928

erschienene Rathenau-Biographie ist daher das

Millionen von Mitbürgern endlich Anlaß gegeben haben, zu fördern und dazu beizutragen, daß auch nach etwaigem Mißerfolg des Volksbegehrens der Reichstag ein Gesetz verabschiedet, das den Fürsten geben möge, was ihnen billigerweise zukommt, aber dem Volke sichert, was des Volkes ist." Ludwig Quidde: Caligula. Eine Studie über römischen Cäsarenwahnsinn, ergänzt durch Erinnerungen des Verfassers, "Im Kampf gegen Cäsarismus und Byzantinismus", Berlin 1926; das Vorwort zur 31. Auflage ist datiert "Pfingsten 1926". - Der Friedenspolitiker Quidde trat im Ersten Weltkrieg gegen Annexionen und für einen Verständigungsfrieden ein, aber 1919 beteiligte er sich an dem Kampf gegen die einseitige Zuweisung der Kriegsschuld an das Deutsche Reich im Versailler Vertrag. In einer Rede vom 12. Mai 1919 in der Deutschen Nationalversammlung betonte er, daß gerade die deutschen Pazifisten Grund hätten, gegen die Friedensbedingungen aufzutreten, und sagte dazu mit eindrucksvoller Weitsicht: "Unser Frieden hat ein bestimmtes Gepräge, und zu diesem Frieden, den wir wollen, gibt es keinen schärferen Gegensatz als den Frieden, den uns die Entente bietet. [...] Wenn dieser Friede Gestalt annehmen sollte, entsteht eine deutsche Irredenta, und es werden in ganz Deutschland Millionen sagen: jetzt muß unser ganzes [...] Trachten darauf gerichtet sein, diesen Frieden wieder zu beseitigen (sehr wahr! links), und sie werden nicht haltmachen bei dem Gedanken, daß künftig der Völkerbund, wenn er einmal ein wirklicher Völkerbund geworden ist, mit den Mitteln eines friedlichen Ausgleichs diesen Frieden beseitigt, sondern sie werden den Gedanken des Vergeltungskrieges pflegen. Und dieselbe nationalistische Bewegung wird durch das Ausland gehen! Dafür wird schon das schlechte Gewissen sorgen, das sie gegen uns haben (Sehr gut! links)." - Als Quidde 1924 eine Eingabe an den Reichskanzler richtet - mit Abschrift an den Chef der Heeresleitung um Gerüchte um angeblich gesetzwidrige Zustände bei der Reichswehr und um die "Schwarze Reichswehr" aufzuklären, antwortet General von Seeckt:"[...] möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, daß ich bei einer Erörterung der in Ihrem Schreiben berührten Fragen sofort mit den Mitteln des Ausnahmezustandes gegen Sie einschreiten werde, ganz unabhängig von einem etwaigen Verfahren wegen Landesverrats, von Seeckt." Als Quidde im Interesse der deutsch-französischen Verständigung die Sache in einem Artikel der Berliner Welt am Sonntag weiterverfolgt, wird er am 15. März 1924 verhaftet, doch nach einer Woche wieder entlassen. Die Verfahren vor dem bayerischen Volksgericht in München und vor dem Reichsgericht wegen Landesverrat wurden allerdings wieder eingestellt. Kurz nach Quiddes Verhaftung schrieb der Völkerrechtslehrer und Reichstagsabgeordnete Walther Schücking im Berliner Tageblatt: "Und wenn wir im Wilhelminischen Deutschland mehr Leute seiner Art gehabt hätten, wäre das Vaterland nie so tief gesunken. [...] Es ist furchtbar zu sagen, daß es keine Dummheit gibt, die bei uns nicht gemacht wird, und daß das deutsche Volk nicht nur durch seine eigene Blindheit immer mehr geschwächt wird." Siehe hierzu Hans Schuster: Pazifist, Patriot und Majestätsbeleidiger. Vor 50 Jahren erhielt Ludwig Quidde den Friedensnobelpreis, in: Süddeutsche Zeitung, 10./11. Dezember 1977, S. 92. 92

Walther Rathenau: Schriften, ausgewählt und eingeleitet von Arnold Harttung u.a., mit einem Beitrag von Golo Mann, Berlin 1965, S. 261 f. - Auch in seinen Erinnerungen behandelt Golo Mann diese Ideen Rathenaus in dem Kapitel "Paneuropa". Darin kommt er

Das Reich, der Posteritätsblick und die Erzwingung des Feindes

321

Gegenbild zu B o r c h a r d t s a m 9 . M ä r z 1 9 2 7 - zwei M o n a t e n a c h H o f m a n n s thals R e d e Das Schrifttum

als geistiger

Raum

Universität gehaltener R e d e Schöpferische

der Nation

Restauration.

- an der M ü n c h e n e r Seit W a g n e r hat kei-

ner - G e o r g e vielleicht a u s g e n o m m e n - s o unerbittlich und schonungslos wie B o r c h a r d t eine "entschlossene Ideologie" g e g e n "Jetztzeit" und "Verfall", g e g e n Demokratie,

Gegenwart,

die

Welt

der

"Emporkömmlinge"

und

"Freige-

lassenen", g e g e n das "mechanisierte Zeitalter", die "neuen Massen", "eine Abfallsmenschheit und ein[en] Menschheitsabfall", "das Gift des kindischen und ruchlosen Optimismus" postuliert - eine Ideologie, die sich - wie B o r c h a r d t schreibt - "der ganzen N a t i o n b e m ä c h t i g e n wird, fast hätte ich gesagt, des Erdteils". 9 3 Diese "restaurierende Revolution" bedingte H o f m a n n s t h a l geschriebenen Eranos-Brief

wie es ähnlich im 1 9 2 4

an

heißt - "die V e r w e r f u n g der Z e i t

und H e i m k e h r in die E w i g k e i t " 9 4 ; mit a n d e r e n W o r t e n : der R e i c h s - I d e o l o g e und M o n a r c h i s t v e r a c h t e t e die W e i m a r e r Republik in allen ihren Ä u ß e r u n g s f o r m e n als P e r i o d e des Interregnums. So beschrieb B o r c h a r d t sich 1 9 2 7 - wie s c h o n zitiert - als "intransigenten, absoluten u n d s c h w e i g s a m e n Legitimisten, für d e n persönlich es eine Republik nicht gibt, sondern nur ein I n t e r r e g n u m

im Zusammenhang mit einem Vortrag des Gründers der Paneuropa-Bewegung, Graf Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi, in der "Politischen Gesellschaft", einer akademischen Studentenvereinigung in München, auf Edgar Julius Jung zu sprechen, der als erster Gegenredner in der Diskussion dem Grafen an Gescheitheit und an historischen Kenntnissen entschieden überlegen war. Golo Mann fügt dann hinzu: "Aber nie bis dahin hatte ich einen so bösen, schadenfrohen Menschen reden hören. Er machte sich über Coudenhoves Geschichtsinterpretation lustig [...]. Er fragte, wie wohl Deutsche und Franzosen, so wie diese sich verhielten, wie Deutsche und Slawen, die Regierungen der österreichischen und russischen Nachfolgestaaten, bei ihrer doch zur Genüge bekannten deutsch-feindlichen Gesinnung einen einzigen Staat bilden sollten? Wenn sie es aber trotzdem eines Tages täten, wenn Europa wirklich zur dritten Weltmacht würde, dann, ja dann werde es Kriege geben, von Ausmaßen, die noch den Weltkrieg zum Kinderspiel machen würden! Welche Prophezeiung er mit wahrer Wollust aussprach." Am Ende dieses Kapitels kommt Golo Mann noch einmal auf Jung zurück, der als Verfasser der Marburger Rede Franz von Papens im Juni 1934 dem Massenmord des 30. Juni 1934 zum Opfer gefallen sei. In Anspielung auf Jungs 1927 zuerst veröffentlichtes Buch Die Herrschaft der Minderwertigen - gegen die Politiker der Republik gerichtet - endet Golo Mann mit den Sätzen: "Die wahren 'Minderwertigen' kamen hinterdrein; und sie waren es, die Dr. Jung umbringen ließen. Hatte er zuletzt sich noch eines Besseren besonnen? War er am Ende doch so böse nicht, wie er mir an jenem Sommerabend des Jahres 27 erschienen war?" Golo Mann: Erinnerungen und Gedanken. Eine Jugend in Deutschland, Frankfurt am Main 1986, S. 223-229; zu Jung und seiner Beziehung zu Borchardt siehe Anm. 101 und 102 und den dazu gehörenden Text. 93 94

Reden, S. 253, 238, 240, 241, 244, 245, 247. Prosa I, S. 122.

322

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und wie so oft in der Geschichte, kaiserlose schreckliche Zeit". 95 Da die Vorstellung vom Interregnum lange vor dem 1. Weltkrieg auftaucht und die dazugehörenden Begriffe des Bruches, der zerrissenen Ubergangsgeneration, des großen geschichtlichen Übergangs, der Ubergangszeit - wie schon an früherer Stelle angeführt - bereits den Kaiser-Aufsatz durchziehen, bedeutet die Verwendung des ideologischen Schlüsselbegriffes des Interregnums eine Wiederaufnahme und Weiterverwendung unter neuen politischen Verhältnissen.

9. Die "definitive Absage an die Hohenzollern", die bayerischen M o n a r chisten und der Nationalsozialismus und "König Rupprecht" Borchardts legitimistische Hoffnungen lösten sich nach dem 1. Weltkrieg allmählich von den Hohenzollern und Wilhelm II. und wandten sich dem bayerischen Kronprinzen Rupprecht zu, wodurch er sich auch wieder den politischen Kreisen der Süddeutschen Monatshefte, in denen von P. N. Cossmann, Karl Alexander von Müller u.a. die Dolchstoß-Legende gezimmert und propagiert wurde, und den Münchner Neuesten Nachrichten, die Cossmann ebenfalls herausgab, annäherte. Zwar schrieb Borchardt noch zum 24. Januar 1921, zum Geburtstag Friedrichs des Großen, den Aufsatz Rheinsberg, doch Werner Kraft gegenüber, der ihm in einem Gespräch nach 1918 vorwarf, den KaiserAufsatz geschrieben zu haben, nannte er Wilhelm II. "diese jämmerliche Figur", wozu Kraft bemerkt: "Das war nach der jämmerlichen Flucht des Kaisers nur konsequent, aber auch damals hat er, rückblickend, keineswegs bereut. Er hat an seiner monarchistisch-konservativen Grundhaltung bis zu seinem Tode festgehalten." 96 In seinem im Februar 1933 ganz auf Rupprecht zugeschnittenen Aufsatz Der Fürst gibt Borchardt selber eine politische Begründung dieser "Jämmerlichkeit": Napoleon III. hat als geheimnisloser und hoheitsloser Politikant auf Parteien gestützt, seinen Thron restauriert und verloren. Louis Philippe ist als liberaler Fürst mit der liberalen Welle fahrend, gestiegen und gescheitert. "Ich werde mir mein neues Reich mit der Sozialdemokratie aufbauen", sagte Wilhelm II. kurz vor dem bittern Ende dem abgedankten Feldherrn aller seiner verlorenen Siege. [...] Das Fürstentum auf Seiten der Partei spottet nicht nur des fürstlichen sondern auch des Parteinamens. 97

Während der andere "Feind'-Ideologe Carl Schmitt sich zusammen mit anderen Professoren bereit erklärte - wie Friedrich von Berg am 23. Januar

95 Prosa V, S. 233. 96 Kraft (Anm. 13), S. 407f. 97 Prosa V, S. 497.

323

Das Reich, der Posteritätsblick und die Erzwingung des Feindes

1926 an den Ex-Kaiser in Doorn schreibt - , "ihre Autorität und ihre Arbeit in Fachzeitschriften usw. für die Sache des Königshauses einzusetzen"98, gehörte zu Borchardts "entschlossener Ideologie" die Absage an die Hohenzollern. Öffentlich hat Borchardt sich dazu nicht geäußert, aber in einem Brief vom 29. Dezember 1931 an R. A. Schröder hat er ausführlich diese "definitive Absage" begründet. Darin heißt es: Im Nachwort zum J o r a m und der Alkestis sind alle Linien vorentworfen, die ich heut in reifen Jahren und mit strenger gewordener Hand in die vagen Karten unserer Väter und Großväter einzeichne. D e r Rest steht im Nachwort zu den Götterliedern

und in

gedruckten und ungedruckten

einzige

Politicis von Jahrzehnten.

Davon macht

die

Ausnahme die in schweren jahrelangen Enttäuschungen langsam entschiedene und heut definitive Absage an die Hohenzollern. Die Geschichte des letzten Jahrzehntes hat den lang und zäh verteidigten Legitimisten in mir gesprengt, und mich einzusehen gezwungen, daß die Zukunft unseres Volkes nicht an das Gespenst eines Dogmas gekreuzigt werden darf, damit das Dogma bleibe, was auch immer aus dem V o l k werde. Die tragische Figur in D o o r n , der Eitelfritzprozeß, die durchgegangenen Prinzessinnen J o a c h i m und August Wilhelm, der erschossene Joachim, der gräßliche Victoria-Skandal, die Memoiren der Herminen und Cecilien, die literarische und biographische Figur des Kronprinzen, die Zedlitz-Erinnerungen - ich glaube es ist besser dies große Haus großer Fürsten zieht für ein Jahrzehnt des Geschichtswinters stille in die Wurzeln ein und betrübt durch das was es an der Oberfläche zu zeigen hat, nicht ferner die Schatten seiner Ahnen und Preußens, das nicht mehr ist, das nie mehr sein wird. Deutschland wird immer sein, Preußen nie mehr. Deutschland war und ist eine ethnisch gegründete, geistig gewordene, staatlich nie zu Ende realisierte Tatsache. Das war Preußen nie, Preußen war eine Constellation mit der Spitze auf staatliche Realisierung, bestand aus einer erobernden Dynastie mit ihren Königsmännern, ständisch gestuft. Die

Constellation hat der Krieg erst

zerreissen

können, nachdem Sozialismus und Industrie und Unternehmertum diesen

Stufenbau

innerlich zerstört hatten und ein Stoß ihn in Schutt legen mußte. Die Traditionen sind nicht mehr herstellbar, die menschlichen Träger sind ausgestorben, man kann Preuße nur noch sein wie Grieche, das Land mit der Seele suchend. U n d daß die preußische Aufgabe consequent in dem Zerfließen Preußens in Deutschland zu enden habe, steht in meinen ältesten A u f s ä t z e n . "

Seit seiner Rede Schöpferische Restauration, die Borchardt - wie erwähnt - am 9. März 1927 an der Münchener Universität hielt, entwickelte er eine verstärkte Aktivität, seine politischen Vorstellungen der deutschen Öffentlichkeit zu präsentieren, und München spielte hierbei eine herausragende Rolle. Hier war auch der Sitz des Georg Müller-Verlages, dessen Aktienmehrheit 1929 der antisemitische "Deutschnationale Handlungsgehilfenverband" erwarb, der bereits die Ernst Jünger verlegende Hanseatische Verlagsanstalt besaß und 1930 den Münchener Albert Langen-Verlag hinzuerwarb. Bei Georg Müller

98

Röhl: Kaiser, S. 2 3 4 ; siehe hierzu Nicolaus Sombart: Die deutschen Männer und ihre Feinde. Carl Schmitt - ein deutsches Schicksal zwischen Männerbund und Matriarchatsmythos, München 1991.

99

Prosa V, S. 600f. - Zu "Zedlitz-Erinnerungen" siehe A n m . 59.

324

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erschienen 1931 Borchardts Reden Führung und Deutsche Literatur im Kampfe um ihr Recht-, die letztere resultierte in einer Beleidigungsklage durch den Korrespondenten des Berliner Tageblattes Werner Richter, die zu einer Geldstrafe von 6 0 0 Mark für Borchardt führte. 100 Seine Anwälte waren Dr. Leibrecht und Dr. Edgar Julius Jung - ein Duzfreund Borchardts der sein 1 9 2 7 im Verlag der Deutschen Rundschau erschienenes und zu Kampf, Haß und Verachtung aufrufendes Buch Die Herrschaft der Minderwertigen. Ihr Zerfall und ihre Ablösung 1930 in der zweiten und dritten um 3 5 0 Seiten erweiterten Auflage mit dem neuen Untertitel veröffentlichte: "Ihr Zerfall und ihre Ablösung durch ein Neues Reich."101 Trotz einiger brieflich geäußerter Vorbehalte gegen das erweiterte Buch wurde dafür öffentlich geworben mit der Bemerkung Borchardts, er habe darin "den mit leidenschaftlichem Naturell und bedeutenden geistigen Mitteln durchgeführten Versuch, ein konservatives Weltbild aus den Gegebenheiten der Zeitlage heraus neu zu denken und mit eigner Plastik zu erfüllen, freudig begrüßt." 102

100 Siehe hierzu Katalog Marbach, S. 473ff. 101 Das M o t t o des Buches lautet: "Denen, die im Kampfe fielen, / zum Gedächtnis, / D e n e n , die im Kampfe stehen, / zum Ansporn." I m Geleitwort heißt es: "Die hier vertretene Weltanschauung gestattet keine Weichheit, die Schwäche wäre. Es gilt, die Dinge und die Menschen zu sehen wie sie wirklich sind. N u r ein Geschlecht, das aus innerer Werthaftigkeit heraus zu hassen und zu verachten vermag, kann auch lieben und gestalten." A m Ende des ersten Teils mit der Überschrift "Die geistigen Grundlagen der Politik" erörtert J u n g die "Rassenfrage" und tritt für "die Pflege des Volkskörpers, das Streben nach seiner Erhaltung und Reinhaltung" ein. Er nennt die gegenwärtigen Zustände "reif zum U n t e r gange" und k o m m t zu dem Schluß: "Führt diese Umwertung aller Werte auch zur U m wälzung der Dinge, so mag man uns auch revolutionär nennen. Die revolutionäre Haltung gilt jedoch nur für die äußeren Umstände dieses zerbrechlichen Gesellschaftsbaues. In Wahrheit wollen wir die 400jährige individualistische Revolution des Abendlandes beenden und eine schöpferische Zeit der Erhaltung einleiten. D e r W e g zu diesem Ziele heißt Kampf. Unsere Rechtfertigung ist: daß man aus tiefstem Willen zur Erhaltung zerstören muß. Wahrer Wert verlangt Vernichtung des Unwertes. So steigt aus der Asche des ein Zeitalter begrabenden Krieges verjüngt der deutsche Mensch, neues Leben, neue Ordnung, aber den ewigen G o t t kündend." E . J . Jung: Die Herrschaft der Minderwertigen. Ihr Zerfall und ihre Ablösung durch ein Neues Reich, Berlin 1930, S. 11 und 127f. Hier offenbart J u n g nicht nur ein Untergangs-Denken, das ihn mit dem gerade auf diesen Schlußseiten mehrfach zitierten Spengler und auch mit Borchardt verbindet, sondern einen unübersehbaren Vernichtungsantisemitismus. 102 Siehe hierzu Edgar Julius Jung: Förderalismus aus Weltanschauung, München, Berlin, Leipzig 1931, hintere Umschlagseite. - Im Nachlaß Borchardts haben sich einige für ihr Verhältnis aufschlußreiche Briefe an J u n g erhalten. Auf die ideologische N ä h e des J u n g schen Buches zu Borchardts Reichs-Denken und zu den Büchern von Julius Evola: E r h e bung wieder die moderne Welt, Stuttgart, Berlin 1935 und von Christoph Steding: Das Reich und die Krankheit der europäischen Kultur, Hamburg 1 9 3 8 / 1 9 4 2 , deren Untersuchung an anderer Stelle erfolgen soll, sei hier zumindest hingewiesen.

Das Reich, der Posteritätsblick und die Erzwingung des Feindes

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Zu den Vorbehalten Borchardts gehörte das positive Leitbild des von ihm als Homosexuellen verachteten George, auf dessen 1928 veröffentlichten Gedichtband Das neue Reich er in seiner Rede Führung polemisch-abweisend zu sprechen kommt, um zu folgern: "statt der Herrschaft der Mysterienstifter und des Dienstes seiner Mysten tritt ein anderes Begriffspaar, Befehl und Gehorsam, in sein altes Männerrecht, der steinharte Druck, der in die Gesichtszüge der großen völkerumbauenden Volksmänner aller Zeiten gegraben ist, der Cromwell und Luther und Mussolini." 103 Wenn Borchardt am Schluß dieser Rede im Zusammenhang mit dem gesperrt gedruckten Satz "Die ganze Welt wird reißend konservativ" und der dadurch notwendigen "Revolution gegen die Revolution", gegen den "Feind", die "denkbare Aussicht auf Monarchen und Monarchie" 104 verneint, so steht insgeheim hinter dieser "Aussicht" bereits die Figur des Kronprinzen Rupprecht, die auch die eingangs angeführten um den Reichsbegriff kreisenden Schriften Borchardts bestimmt. Ende 1932 erschien eine von Fritz Büchner herausgegebene Sammlung von Aufsätzen mit dem Titel Was ist das Reich? Eine Aussprache unter Deutschen. Unter den Autoren finden sich auch Borchardt mit dem Aufsatz Das Reich als Sakrament und Erwein von Aretin, der innenpolitische Redakteur der Münchner Neuesten Nachrichten, wo die Aufsätze zuerst erschienen waren. Aretin kommt am Schluß seines Aufsatzes Das mißverstandene Reich nicht zufällig auf die Anwesenheit des "Erben des Hauses Wittelsbach" beim 900-jährigen Jubiläum des Speyrer Doms im Sommer 1930, "wenige Wochen nach der Befreiung der Pfalz", zu sprechen. 105 Denn um Hitlers Machtergreifung in 103 Reden, S. 418f. 104 Ebd., S. 428f. 105 Fritz Büchner: Was ist das Reich? Eine Aussprache unter Deutschen, Oldenburg i.O. 1932, S. 81. Die weiteren Beiträger sind: Eugen Diesel, Hans Grimm, G u n t e r Ipsen, T i m Klein, Albert Mirgeler, Friedrich Reck-Malleczewen, Erwin Reisner, Wilhelm Schäfer, Franz Schauwecker, Friedrich Alfred Schmid-Noerr und Heinrich Ritter von Srbik. Uber diese von Fritz Büchner im O k t o b e r 1932 herausgegebene Aufsatzsammlung schreibt Erwein von Aretin in seinen Erinnerungen: "Auf Veranlassung des Hauptschriftleiters Fritz Büchner der Münchner Neuesten Nachrichten fand in dieser Zeitung kurz vor unserem Ausscheiden eine äußerst interessante Diskussion über das Thema W a s ist das Reich?' statt, die später als Buch in den 'Schriften der Nation' bei Stalling in O l d e n burg erschien. Da Büchner alles gesagt hatte, was von unserem Standpunkt aus zu diesem Thema zu sagen war, so ist mein Beitrag zu dieser Diskussion wenig wichtig. D e n Büchnerschen aber und einige andere wie jene von Tim Klein, Schmid-Noerr, Borchard [!] u.a. möchte ich als mehr oder weniger deutliche Darstellungen der Gedanken bezeichnen, die meinen politischen Ideen zugrunde lagen, besonders den Beitrag Büchners, der auf diesen Seiten eine erhebliche Rolle spielen wird und dessen kluge Kameradschaft in diesen Jahren des freilich fruchtlosen Kampfes gegen das hereinbrechende nationale Unglück die liebste und wertvollste politische Erinnerung ist, die mir heute bleibt." Erwein von

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Bayern zumindest zu verhindern, bestanden Pläne, Rupprecht als bayerischen König zu inthronisieren oder zunächst zumindest als Generalstaatskommissar einzusetzen. Nachdem im Oktoberheft 1932 der Süddeutschen Monatshefte mit dem Titel Aus dem Zusammenbruch zur Nation der Sturz der deutschen Monarchien und die Abschaffung der deutschen Flagge als "Anerkennung der Schuldlüge" beklagt worden war, erschien im Januar 1933 das letzte Themenheft der Süddeutschen Monatshefte unter dem Titel König Rupprecht. Neben dem Einleitungstext Republik oder Monarchie?, in dem auch wieder der "Dolchstoß in den Rücken der Kämpfenden" beschworen wird und der den Standpunkt der Schriftleitung vertritt, finden sich u.a. zwei Aufsätze von Erwein von Aretin: Der Erbe der Krone und Die bayerische Königsfrage.106 Aretin: Krone und Ketten. Erinnerungen eines bayerischen Edelmannes, hrsg. von Karl Buchheim und Karl Otmar von Aretin, München 1955, S. 34. Wie wenig präsent Borchardt bei Erscheinen dieses Buches war, zeigt die Tatsache, daß er im Register - wieder falsch geschrieben - als "Borchard, Bruno, Schriftsteller" geführt wird. Den Anlaß zu der öffentlichen "Aussprache" über das "Reich" boten die "Reichsreform"-Pläne des Kabinetts Papen und seines Innenministers von Gayl, denen die bayerische Regierung entschiedenen Widerstand leistete. Aretins Aufsatz Das mißverstandene Reich - erschienen in der Nr. 300 der Münchner Neuesten Nachrichten vom 4. November 1932 - richtete sich daher gegen die Politik der Papen, Gayl und Schleicher vor den Reichs tags wählen am 6. November 1932. Siehe hierzu ebd., S. 410; siehe hierzu auch Borchardts Brief über die Reichsreform an Heinrich von Gleichen, den Herausgeber der konservativen Wochenschrift Der Ring. Unabhängige Wochenschrift für nationale Politik, in der Borchardt auch einige Arbeiten publizierte. Prosa V, S. 398-408 und 598. 106 Siehe hierzu Aretin (Anm. 105), S. 144ff. Aretin schildert anschaulich, daß durch die stark erhöhte und in wenigen Tagen vergriffene Auflage des Januarheftes 1933 König Rupprecht die Öffentlichkeit - angesichts der Passivität der Staatsregierung - schleunigst darauf vorbereitet werden mußte, "daß der Übergang zur Monarchie eines Tages gebieterische Notwendigkeit werden konnte", und daß in den Münchner Neuesten Nachrichten und in der Münchener Zeitung - den beiden führenden Blättern - Leitartikel zur Frage des Staatsoberhaupts erschienen. Am 24. Januar 1933 habe dann auch der Staatsrat und Finanzminister Fritz Schäffer als Vertreter der Staatsregierung und wohl mit Wissen des Ministerpräsidenten Held die Monarchie-Frage aufgegriffen, da er der "einzige wirklich politische Kopf in der Regierung war". Darüber schreibt Aretin: "Er hatte volle Einsicht in die ungeheure Gefahr, vor der Land und Reich standen, und wußte ausgezeichnet Bescheid über die Gedanken und Wünsche des Volkes. Hierin allen seinen Kollegen weit überlegen, erkannte er, genau wie die führenden Sozialdemokraten und Juden, den Schritt zur Monarchie als den einzigen, vielleicht noch möglichen Weg zur Rettung. Schäffer fuhr nach Berlin, wo Hindenburg ihn empfing und anhörte. Aber als ich am 2. Februar nach seiner Heimkehr das erstemal mit ihm zusammentraf, war Hitler bereits Reichskanzler und jede Gegenbewegung ungeheuer erschwert. Am 4. Februar kam aus Berlin der Befehl, die Münchner Neuesten Nachrichten bis auf weiteres zu verbieten. Da dies der Reichsverfassung widersprach, wurde der Befehl von der Bayerischen Staatsregierung nicht ausgeführt. Da ein Staatsstreich zugunsten der Monarchie unbedingt vermieden werden mußte - er hätte ja nur den in Berlin hocherwünschten Vorwand für ein gewaltsames Einschreiten des Reiches geliefert - , verdichtete sich der Plan, gemäß den in der Reichsverfassung und in der bayerischen Landesverfassung gegebenen Möglichkeiten, den Kronprinzen

Das Reich, der Posteritätsblick und die Erzwingung des Feindes Dieses H e f t und das D u r c h s i c k e r n d e r Pläne d e r b a y e r i s c h e n

327

Monarchisten

f ü h r t e A n f a n g M ä r z 1 9 3 3 zu einer V e r h a f t u n g s w e l l e in d e r R e d a k t i o n Münchner

Neuesten

Nachrichten,

und auch Cossmann w u r d e a m 5.

der

April

w ä h r e n d e i n e r K u r in B a d W ö r i s h o f e n v e r h a f t e t . E r h a t s p ä t e r J o s e f M ü l l e r g e g e n ü b e r tief b e r e u t , d a ß e r - im G l a u b e n a n e i n e n d e u t s c h e n Sieg -

durch

die V e r b r e i t u n g d e r D o l c h s t o ß l e g e n d e Hitlers P r o p a g a n d a m i t u n t e r s t ü t z t h a b e , u n d g e ä u ß e r t , d a ß alles, was n o c h a u f ihn z u k o m m e , S ü h n e sei für das, w a s e r a n g e r i c h t e t habe. C o s s m a n n s t a r b a m 1 9 . O k t o b e r 1 9 4 2 in T h e r e s i e n s t a d t . 1 0 7 B o r c h a r d t , der in seinen d e u t s c h e n R e i c h s t r ä u m e n sein J u d e n t u m h e b e n u n d v e r g e s s e n zu m a c h e n v e r s u c h t h a t t e , d e r als R e p r ä s e n t a n t

aufzueiner

d e u t s c h e n B i l d u n g s g e s c h i c h t e a g i e r e n w o l l t e u n d d e r d o c h seit B e g i n n s e i n e r W e n d e zur Politik und d a n n i n s b e s o n d e r e d u r c h W i l l y H a a s u n d

Theodor

Lessing in d e n z w a n z i g e r J a h r e n a u f sein J u d e n t u m g e s t o ß e n w u r d e -

Bor-

c h a r d t blieb es e r s p a r t , wie C o s s m a n n , m i t d e m ihn viele Z ü g e v e r b a n d e n , in e i n e m d e u t s c h e n K Z zu s t e r b e n . J e d e n f a l l s w a r B o r c h a r d t s o eng m i t d e n b a y e r i s c h e n M o n a r c h i s t e n u n d i h r e n Aktivitäten v e r b u n d e n , d a ß er, falls e r in M ü n c h e n o d e r B a y e r n g e w e s e n w ä r e , zweifellos a u c h v e r h a f t e t w o r d e n w ä r e . M i t d e m B e w u ß t s e i n d e r F ü h r e r s c h a f t seit J a h r z e h n t e n v e r f o l g t e er g e n a u die E r f o l g e und M a c h t s t r a t e g i e n H i t l e r s u n d Mussolinis, d e m er in R o m a u c h ei-

Rupprecht zum Generalstaatskommissar zu machen und ihm die gesamte Exekutive zu übertragen, wie man es schon zehn Jahre früher mit Herrn von Kahr gemacht hatte. Auch dies war ein Spiel mit dem Feuer, denn gerade die Erinnerung an Kahr konnte in Hitler keine beifälligen Gefühle erwecken. Aber es war die letzte Karte, die ausgepielt werden konnte. Auf sie verzichten hieß, das Land Bayern kampflos aufgeben und das Reich ungewarnt in ein Abenteuer gleiten lassen, über dessen Gefahren sich jeder Politiker im klaren sein mußte, wenn auch vielleicht noch keiner ahnte, daß es die Zerstörung des Reiches bedeutete." (Ebd., S. 144f.) Aretin berichtet auch, wie eine Aufführung der Operette Der Vogelhändler am 10. Februar 1933 im Münchner Staatstheater zu einer gelenkten Ovation für den anwesenden Kronprinzen Rupprecht benutzt wurde. Durch ein Meer von weißblauen Fahnen wurde die Huldigung für einen Fürsten am Ende eines Aktes zur Huldigung für einen bayerischen Fürsten, so daß - als diese Szene kam - sich, angeregt durch vorher bestimmte Klatscher, ein sich verstärkender zwanzig Minuten dauernder tosender Beifall während des ganzen Zeitraumes zwischen den Akten verbreitete, wobei das gesamte Theater jubelnd von den Sitzen aufsprang. Und Aretin fügt hinzu: "Zwanzig Minuten sind eine sehr lange Zeit! Hitler war erst zehn Tage im Amt; die Gestapo steckte noch in den ersten Anfängen, und die Leute hatten noch den in der Demokratie selbstverständlichen Mut ihrer Uberzeugung. Jeder wußte, daß sich die Demonstration gegen Hitler richtete; ihr Toben war ein Scherbengericht, das die Stadt an jenem Unglücksmenschen vollzog, der sie, seinem verlogenen Wesen entsprechend, die 'Hauptstadt der Bewegung' benannte!" Ebd., S. 145. 107 Siehe hierzu ebd., S. 155ff. und den Artikel über P. N. Cossmann von Helmut Pigge in: Süddeutsche Zeitung (Münchner Stadtanzeiger), 7. und 14. Januar 1993.

Hartmut Zelinsky

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n e n B e s u c h m a c h t e , 1 0 8 u n d e r e n t w i c k e l t e - i n s b e s o n d e r e in B r i e f e n -

eine

t a k t i s c h e S t r a t e g i e d e r N u t z b a r m a c h u n g des N a t i o n a l s o z i a l i s m u s für die m o n a r c h i s t i s c h e I d e e . S o s c h r e i b t B o r c h a r d t E n d e 1 9 3 0 a n K a r l L u d w i g Frhr. v o n Guttenberg -

als N a c h f o l g e r

Erwein

von

Aretins

letzter

Landesleiter

des

H e i m a t - u n d K ö n i g s b u n d e s - einen a u s f ü h r l i c h e n p r o g r a m m a t i s c h e n Brief, in d e m e r a u c h v o n d e m Plan einer v o n i h m seit J a h r e n v o r b e r e i t e t e n "unerläßlic h e n conservativen Monatsschrift" mit d e m N a m e n "Interregnum" spricht, mit d e r e i n e "publizistische Z e n t r a l e für u n s e r e G e d a n k e n " g e s c h a f f e n

werden

solle: Der Nationalsozialismus aber ist ihr eigentliches Kernstück. Ich halte es für die operativ gebotene Aufgabe, ihn unter Beiseitstellung aller theoretisch und gefühlsmässig begreiflichen Bedenken auf Zugangsstellen zu erkunden, Verbindung mit ihm zu schaffen, Einfluss auf ihn zu gewinnen, ihn zu penetrieren. Die übrigen nationalen Bünde einschliesslich des Stahlhelms werden von ihm mit Sicherheit aufgesogen werden. Ich habe den Vorgang in den ersten Stadien des Staats-Faschismus hier [in Italien, H. Z.] genau beobachtet [...]. Verbindungsmänner also zu den NS. - Und, ebenso wichtig, Durchdringung der Bünde mit monarchischen Gedanken, die morgen oder übermorgen N.S-isch resorbiert sein werden, damit sie so viel monarchistische Denkweise wie möglich dorthin mitbringen. Das schwere Dilemma Kirche-N.S'us im Verhältnis zur Monarchie dagegen ist nicht dadurch zu lösen, dass wir die Kirche für uns, sondern dass die Kirche den NS'us für sich interessiert. Politisch geht die Kirche nur und ausschliesslich und immer mit der Macht, genau wie der Jude. Sie ist fascistisch in Italien, gallicanisch in Frankreich, kleinbürgerliches juste Milieu in Deutschland. Dagegen kann der NS'us ja auf die Dauer an seiner albernen Heidentumspropaganda und Wodanphrase die nur ein Erbe der schlechten Literatur seiner Rassen-Revolte ist, nicht festhalten. Wir müssen danach trachten dass sich im NS'us ein katholischer Flügel bildet [...]. Eine monarchistische Propaganda die der Phantasie keine realen Anhalte bietet, wird mit ihrer Phraseologie bald am Ende sein. Der Begriff der Restauration ist ein gefährlicher und schwer zu handhabender. Die Menschheit verlangt neues in neuer Form. Dass wir ihr das Alte in diese Form nur verkleiden, muss unser Geheimnis bleiben. Die gutmütige und warmherzige Offenheit thut es nicht. Sonst wäre Herr Reck Malleczewen unser bester Werber. 1 0 9 Die H i n w e i s e a u f die W i t t e l s b a c h e r u n d d e n " F ü r s t e n " sind in d e n A u f s ä t z e n u n d R e d e n i n s b e s o n d e r e v o n 1 9 2 9 bis 1 9 3 3 n i c h t zu ü b e r s e h e n . U n d w e n n

108 Siehe hierzu Prosa VI, S. 211 ff. Wegen dieses Besuches brach die persönliche Beziehung zwischen Werner Kraft und Borchardt ab. Dazu schreibt Kraft in einem Brief vom 28. April 1985 an den Vf.: "Gewiß: sein antijüdischer Komplex. Ich bin nicht gegen sein Christentum aber gegen die fanatische Ableugnung, von Juden abzustammen [...]. Ich bin radikal gegen alles Antidemokratische bei Borchardt, sonst halte ich ihn wie eh und je für einen großen Geist und großen Dichter. Briefe habe ich nur vier oder fünf. Der letzte ist eine Absage an mich, weil ich ihm Vorwürfe gemacht habe, 1933 öffentlich in Rom aufgetreten zu sein. (Von seinem 'Besuch bei Mussolini' 1932 in der Kölnischen Zeitung wissen Sie wohl? Traurig, traurig!)" Siehe hierzu Hartmut Zelinsky: Erinnerungen an Werner Kraft in München und Jerusalem, in: Werner Kraft. 1896-1991, bearbeitet von Jörg Drews, Marbacher Magazin 75, Marbach am Neckar 1996, S. 150-154. 109 Briefe 1924-1930, S. 550-557. Der Brief wurde nicht abgesandt.

Das Reich, der Posteritätsblick und die Erzwingung des Feindes

329

Borchardt ausgerechnet in seinem Aufsatz zum 63. Geburtstag Rupprechts am 18. Mai 1932 in den Münchner Neuesten Nachrichten darauf zu sprechen kommt, daß nur diesem es gelingen werde, "den unsinnigen und heillosen Konflikt zwischen der stärksten und hoffnungsvollsten deutschen Partei auch die Hoffnungen des Schreibers dieser Zeilen sind mit ihr - und der Kirche staatsmännisch zu entwirren" 110 , dann steht hinter diesen "Hoffnungen" auf die NSDAP weniger ein Bekenntnis als - vor allem im Lichte des zitierten Briefes - eine berechnende taktische Absichtlichkeit. Außerdem gehört zu den Voraussetzungen dieses Geburtstagsartikels die persönliche Begegnung mit dem bayerischen Kronprinzen, mit dem die Tendenz dieses Aufsatzes wohl abgesprochen war: Die durch weitere Begegnungen - auch in Italien - sich entwickelnde Beziehung zu Rupprecht gestaltete sich so eng, daß Borchardt diesem insgeheim sein Pisa-Buch widmete, auch wenn er das nicht öffentlich machen wollte. Darüber schreibt Borchardt im September 1935 an eine junge Pianistin, die er kurz vor der Niederschrift des P/sa-Buches 1932 in Florenz kennengelernt hatte: Im Frühjahr ist wie jedes Jahr der König wieder für einen Tag bei mir gewesen, in ausgezeichneter Verfassung diesmal, energisch und nervig, und zu mir überaus gütig und gnädig. Diese nun seit fünf Jahren währende Beziehung ist mir so viel wie eine Liebe, sondern ich brauche nicht nur eine Dame sondern auch einen Herrn. Pisa ist ihm gewidmet, wiewohl Du das Widmungsblatt natürlich leer und für Handschrift freigelassen finden wirst, denn ich will weder ihn noch mich durch eine Affichierung missdeuten lassen. Letztes Jahr habe ich ihn nach Pisa geführt und die ganze Riesenmahlzeit mit ihm durchgenommen, bei einem Feinschmecker und Esser wie er ist, ein gewaltiges Vergnügen. 1 "

In seinem im Februar 1933 geschriebenen aber nicht mehr veröffentlichten Aufsatz Der Fürst kommt Borchardt noch einmal - als Gegenfigur zu dem insgeheim angesprochenen Rupprecht - auf Wilhelm II. zu sprechen und stellt ihn kritisch auf die Seite des "geheimnislosen und hoheitslosen Politikanten" Napoleon III. und des "liberalen Fürsten" Louis Philippe. In diesem Aufsatz umspielt Borchardt den Dichter und Fürst verbindenden Begriff der Hoheit und verknüpft ihn - ganz wörtlich nehmend - mit dem "schaffenden Herrscherblicke", mit dem "Riesengeheimnis des umgreifenden Blickes von oben herab", "um zu überblicken was ein Ganzes bildet". 112 Wie der "Posteritätsblick" aus dem Jahr 1 9 0 8 , dem Jahr des Kaiser-Aufsatzes, ist auch jetzt, 25 Jahre später, der Hoheits-Blick, der Adler-Blick, 110 Prosa V, S. 470. 111 Privatbesitz München. 112 Prosa V, S. 496f. - Die Blick-Symbolik im Werke Borchardts, vor allem im Zusammenhang mit der Symbolik des Blickes im Werke Hofmannsthals, soll einer weiteren Untersuchung vorbehalten bleiben. Siehe hierzu die Kapitel "Der Basilisk" und '"Durchdringende Augen"' in: Hartmut Zelinsky: Brahman und Basilisk (Anm. 24), S. 128ff. und 169ff.

330

Hartmut Zelinsky

entgegen allen Zeitgefängnissen dem Ganzen, dem Reich, der Ewigkeit zugeordnet, das heißt der "Ewigkeit nach allen Seiten", dem "ewiggeglaubten Bild unseres Reiches", der "ewigen Ruhelage". 1 1 3 Der Todfeind ist jetzt,

1933,

Hitler, mit dem er nun - in der Aufzeichnung Stefan George betreffend - den

anderen Todfeind und Reichs-Konkurrenten George verbindet, der auch in

einem der dem 3. Reich entgegengeschleuderten Jamben Locarno

- Unterwelt

hinter

- getroffen werden soll. 1 1 4

10. Das Gedicht Der Abschied vom Kaiser ( 1 9 4 1 ) als "dichterische Generalbereinigung" Die Erfahrung der Hitler-Jahre verändert nun auch den Blick auf den im Doorner Exil lebenden Wilhelm II. Borchardt gehört mit seiner "entschlossenen Ideologie" des Reiches und der damit verbundenen Erzwingung des Feindes, mit seiner Gewaltsprache und mit seiner "vernichtenden Verachtung" wie George und sein Kreis - insbesondere Kurt Hildebrandt, Ernst Bertram und der lange schon abtrünnige Ludwig Klages - und wie Wilhelm II. mit seinem Zerschmetter-Ton, seinem "Sieg oder Untergang'-Denken und seinem Antisemitismus zum ideologischen Vor- und Umfeld des Nationalsozialismus und des Dritten Reiches, das nun alle politischen Führungs-Pläne Borchardts in Deutschland zunichte machte und ihn entgegen allen energischen Bemühungen auf den Juden reduzierte und seine und seiner Familie nackte Existenz bedrohte. Diese Bedrohung vor Augen schreibt Borchardt nach dem T o d Wilhelms II. am 4. Juni 1 9 4 1 in Doorn sein großes Gedicht Der Abschied Kaiser,

vom

in dem diesem nun angesichts dessen, "was heut zum Himmel schreit",

die "Hoheit" wieder zugesprochen wird. In sechs Strophen in der Mitte des Gedichtes klagt Borchardt die Deutschen an, daß sie bereit waren und sind, jede Untat und jedes Verbrechen Hitlers, des "Fürsten der Welt", hinzunehmen und mitzumachen, und die Angabe auf dem Titelblatt der Handschrift: "Entworfen Florenz Juni 41//Gedichtet Saltocchio 3 0 . Juni/7. August 4 1 " 1 1 5 läßt vermuten, daß zum Hintergrund dieses Gedichtes auch die Erinnerung an den 30. Juni 1 9 3 4 gehört. Denn "unter den Juliopfern" im Zusammenhang mit der Röhm-Affaire hatte Borchardt - wie er am 3 0 . September 1 9 3 4 an seine Mutter schrieb - "vier persönliche und Duzfreunde verloren" 1 1 6 , darun-

113 Prosa I, S. 122; Prosa V, S. 482 und 486. 114 Siehe hierzu den Aufsatz von Ernst Osterkamp in diesem Band. 115 Gedichte II / Übertragungen II, S. 396. 116 Katalog Marbach, S. 483 und Briefe 1 9 3 1 - 1 9 3 5 , S. 347.

Das Reich, der Posteritätsblick und die Erzwingung des Feindes

331

ter auch Edgar Julius Jung, den Verfasser von Papens Marburger Rede vom 17. Juni 1 9 3 4 . 1 1 7 Einige Verse über die zu allem bereiten Deutschen lauten: Bereit, was man verjagter Hoheit stehle, Ehrab zu schneiden; M e m m e jeder Leib

[...]

U n d Meuterer jede Seele.

Bereit, - zu allem: weil Euch H i m m e l eisern U n d Erde karg blickt, mit dem Höllenhunde Zu jagen auf die Welt: zum schwarzen Bunde Mit ihm, dem man nicht huldigt nur wie Kaisern, D e n Vorbehalt im Munde - Pfand, oder nichts! Bereit, dem hergelaufen Landfremden Tagdieb, Gassenmaul und Schelm, D e m schmutzigen Bastard, daß er sich im H e l m Des Bannerherrn zum Erben umzutaufen Vermöge, beizustehn; [...] Bereit, wo er sich aufspielt, mitzuheucheln, D e n greulichen Mund voll Vaterland, die Stirn Gekränkt des Biedermanns; bereit, wo Hirn U n d Mark aufs Pflaster haut, im mitten Meucheln A u f Heil zu baun und Sieg!

Am Ende der sechs Anklage-Strophen heißt es dann (und Borchardt erinnert hier an sein Eintreten für Wilhelm II. in dem Kaiser-Aufsatz von 1 9 0 8 ) : - Du, von G o t t e s Gnaden, G e h schlafen, Wilhelms Enkel! Ah der D u gingst. Fürst meiner jähen Jahre, Schon Irrender, als ich den Degen für D i c h zog Und keiner für D i c h stand; den Alles trog U n d mied und ließ - bis angesichts der Bahre D u Deinen Stolz gebrochen zu dem Rest, D e n Unwirschheit unmächtiger Hoheit läßt -

118

Es war wieder der im oberbayerischen Bergen überwinternde Schröder, dem Borchardt in einem Briefentwurf mitteilte, welche Bedeutung er dieser "dichterischen Generalbereinigung" zumaß und wie präsent der Kaiser-Aufsatz dabei war. Dort schreibt er:

117 Siehe hierzu Edmund Forschbach: Edgar J . Jung. Ein konservativer Revolutionär 30. Juni 1934, Pfullingen 1984. Darin auch der Wortlaut der Marburger Rede und ihre V o r g e schichte. Dazu und zu Attentatsplänen Jungs gegen Hitler siehe auch Leopold Ziegler: Edgar Julius J u n g - Denkmal und Vermächtnis, Salzburg 1955. 118 Gedichte II / Übertragungen II, S. 6 4 - 6 6 .

332

Hartmut Zelinsky

Neuerdings hat mich die Poesie wieder ganz. Das letzte ein Ave atque Vale auf den Toten, durch dessen einzige Verteidigung ich mich schon Mal - eheu fugaces - um Euer Aller Achtung gebracht hatte - jetzt ein libellus, vierzig riesige Strophen von je elf Versen, in denen es mir endlich möglich gewesen ist, meinen zugefrorenen Strom in Eisgang zu zerbrechen und ins Meer abzufahren, wobei mir, unter uns gesagt, oft schrecklicher zu Mut gewesen ist als je bei einer solchen dichterischen Generalbereinigung. Es ist ein passabel ambiziöses Produkt geworden übrigens, heißt aber sehr einfach nur "Die Klage".

Und in einem Brief vom 2. Februar 1943, ebenfalls an Schröder, bekennt er: Von der dichterischen Produktion ist das wichtigste das 1942 abgeschlossene Epicedium für den letzten deutschen Kaiser, die Kaiserklage, das umfangreichste meiner Einzelgedichte, vierzig riesige Strophen zu je elf Versen verschlungener Reime, darum so streng und kunstvoll aufgerüstet, weil ich nur in einem so unerbittlichen Käfig sicher war, von dem furchtbaren Inhalt nicht zerrissen und überwältigt zu werden. Es wird gleich nach dem Kriege einzeln publiziert werden. 1 "

11. Ausblick in den "Weltgarten u n d Völkergarten" Wie der Schluß dieses Briefes zeigt, rechnete Borchardt mit einer Nachkriegszeit, das heißt mit einem Ende des Dritten Reiches, und es scheint, daß er mit seinem 1938 geschriebenen Buch Der leidenschaftliche Gärtner nicht nur gegen die Gegenwart den "menschlichen Blumenbesitz als eine O r d n u n g des Menschengeistes" 120 - so der Untertitel - darstellen wollte, sondern daß er in die Zukunft gerichtet damit die nationalen Schranken und Grenzen zu überschreiten gewillt war. In Briefen an den ihm seit Jahren vertrauten und nahestehenden Gärtner und Gartenphilosophen Karl Foerster, der seit 1911 in Bornim bei Potsdam seine berühmte und jetzt wieder allmählich ins deutsche und europäische Blickfeld geratende Staudengärtnerei betrieb und in zahlreichen Büchern und Zeitschriften sein unvergleichliches humanes Gartenwissen weitergab, hat Borchardt sich dazu geäußert. 1939 betont er, "daß es die geschichtliche Stufe war, die unsere in den letzten Jahrzehnten so energisch und selbständig gewordene Denkung des Gärtnerischen schließlich erreichen mußte - die Ausbildung des Speziellen und Nationellen zum Universalen, unbeschadet des Nationalen", und er folgert: "Ich habe zu unsern, d.h. den Goetheschen Begriffen - Weltliteratur, Weltgeschichte, Weltgeist, Weltseele auch den Weltgarten und Völkergarten stellen müssen - wir dürfen nicht in unsern Schranken stecken bleiben." 121

119 Ebd., S. 396,397. 120 Der leidenschaftliche Gärtner, S. 389. 121 Ebd., S. 390.

Das Reich, der Posteritätsblick und die Erzwingung des Feindes

333

W a r B o r c h a r d t auf dem W e g zu einer "solidarischen Zivilisation", wie sie R a t h e n a u s c h o n 1 9 1 3 g e f o r d e r t hatte? A u c h ein w e i t e r e r Brief a n F o e r s t e r v o m S o m m e r 1 9 4 1 - d e m Z e i t r a u m des Ka/ser-Gedichtes - a t m e t eine die unerträgliche italienische Isolation offenlegende, fast weiche

Warmherzigkeit

und Posenlosigkeit, als seien " W e l t g a r t e n und V ö l k e r g a r t e n " s c h o n b e t r e t b a r . B o r c h a r d t gesteht Foerster, "daß ich n a c h Ihnen verlange, liegt d a r a n , d a ß ich den f u r c h t b a r e n W e l t m o m e n t

mir habe ins H e r z treten fühlen wie

eine

T h r o m b o s e , und an ihm zu ersticken d r o h e , w e n n nicht zu mir ein B r u d e r tritt. In solchen Augenblicken hilft keine G a b e der Vorzeit", und weiter, "daß ich Sie v o n H e r z e n liebe, - ich der Ihnen seit J a h r e n als Anblick e n t z o g e n bin, als W o r t v e r s t u m m t " . Für den Fall, d a ß er F o e r s t e r nicht w i e d e r s e h e , w o l l e er ihm einmal gesagt haben, d a ß er sein "Auftreten und W i r k e n u n t e r u n s e r m a r m e n V o l k e für einen unermeßlichen Segen gehalten habe". A u c h a m Schluß dieses Briefes antizipiert B o r c h a r d t wie in d e m Brief an S c h r ö d e r über das Kaiser-Gedicht

die Z e i t nach d e m Kriege. D o r t heißt es:

Grüßen Sie Ihre Frau. Sei Ihnen Glück bereitet, in dem Maße in dem Sie es erschaffen und geben. Ich bin entschlossen, zu überdauern, zu überleben, nachher noch dazusein. Ich bin überzeugt, daß die neue Welt nur von den Uberbeständigen der Alten geschaffen werden kann, denen nichts das Haupt hat beugen können oder das Herz brechen. Ich werde mich nicht wegwischen lassen, solange ich mich unter Winde und Wetter flach am Boden halten kann. Aber über Wind und Wetter stehen noch die Sterne, in deren Beschluß über uns wir nicht blicken. Hier, mein Lieber, meine Hand. 122

122 Ein Garten der Erinnerung. Sieben Kapitel von und über Karl Foerster, hrsg. von Eva Foerster und Gerhard Rostin, 3. Auflage, Berlin 1992, S. 338. Dieser reich bebilderte und das große humane Lebenswerk Foersters anhand zahlreicher seiner Texte und vielfältiger Dokumente erschöpfend präsentierende Band enthält neben den beiden langen Briefen aus den Jahren 1939 und 1941, S. 334-338, auch die Seiten über Foerster aus Borchardts 1925 erschienener Gartenphantasie. Dazu schreibt der Herausgeber: "Die erste wahrhaft kongeniale Würdigung erfuhr Karl Foersters gärtnerische und schriftstellerische Doppelwirksamkeit durch Rudolf Borchardt [...]. Ihm folgte drei Jahre später Professor Theodor Lessing [...], an die Gedanken des Vorgängers anknüpfend. Beide, Lessing in einem Kapitel seines Buches 'Blumen' und Borchardt [...] stellen seine Tätigkeit und Leistung in einen größeren kulturhistorischen Zusammenhang." Ebd., S. 217. Beim Gartenthema sind sogar Borchardt und Lessing friedlich vereinigt - es demonstriert die schönste Balancierung des "jüdischen Selbsthasses".

JENS PETERSEN

Italien, Deutschland und der türkische Krieg 1 9 1 1 / 1 2 im Urteil Rudolf Borchardts

I Der italienisch-türkische Krieg 1 9 1 1 / 1 2 , mit dem Italien auf die nordafrikanische Gegenküste ausgriff und die ohnehin labilen Gleichgewichtsverhältnisse im mittleren und östlichen Mittelmeer zusätzlich gefährdete, ist bis heute im Windschatten des historischen Interesses geblieben. Zwischen Marokkokrise, den Balkankriegen und dem Katastrophenjahr 1 9 1 4 erschien dieser Krieg nur als periphere Episode. Der Zugriff auf Libyen war das diplomatisch vermutlich am besten vorbereitete Kolonialunternehmen einer europäischen Großmacht vor 1 9 1 4 überhaupt. Vertraglich hatten sowohl Wien wie Berlin ihr wohlwollendes Desinteressement an diesem letzten "freien" Streifen der nordafrikanischen Küste erklärt. Ahnliche vertragliche Zusicherungen lagen auch von London, Paris und St. Petersburg vor. Innenpolitisch jedoch schien Italien lange Zeit nicht in der Lage und auch nicht willens, diesen lange vorbereiteten Scheck auch einzulösen. Inmitten einer vom Imperialismusfieber angesteckten Umwelt, in der der Kampf um die letzten freien Flächen der Erde immer heftigere Formen annahm, schien Italien an diesem Wettlauf nicht teilnehmen zu wollen. D e r Versuch, die ab 1 8 8 4 eher akzidentiell erworbenen Kolonien Eritrea und Italienisch Somaliland zu einem großen nordafrikanischen Kolonialbesitz zusammenzufügen, hatte 1 8 9 6 im Krieg mit dem Kaiserstaat Abessinien zu der Niederlage von Adua geführt. Diese "größte Katastrophe, [...] die je eine der modernen Kolonialmächte" zu verzeichnen hatte (Wolfgang Schieder), führte zum Sturz Francesco Crispis und zur Entstehung einer massiven antikolonialistischen Bewegung in Italien. Das italienische Risorgimento, das in seiner demokratisch-republikanischen Version, symbolisiert in Person und W e r k von Giuseppe Mazzini und Giuseppe Garibaldi, Völkerbefreiung und -Verständigung, Emanzipation und Sozialreform auf seine Fahnen geschrieben hatte, schien in radikalem Gegensatz zu stehen zu allen kolonialistischen und imperialistischen Aspirationen. Ein linker Sozialreformer wie Achille Loria konnte

Italien, Deutschland u n d der türkische Krieg 1911/12 im Urteil Borchardts

335

noch 1910 stolz schreiben, sein Land sei nicht vom "morbus anglius" des Imperialismus angesteckt, und wünschte sich, daß Italien sich auch in Zukunft von "kolonialen Tollheiten" und "imperialistischen Abenteuern" 1 fernhalten werde. De facto jedoch vollzog sich genau in jenem Moment in der öffentlichen Meinung die Hinwendung zu prokolonialistischen Positionen. 1910 wurde die Associazione Nazionalista Italiana gegründet, die den Primat der Außen- und Machtpolitik propagierte und für Italien einen Platz an der Sonne forderte. Die Fünfzigjahrsfeiern der Staatsgründung im Frühjahr 1911 zeigten keine saturierte Nation, sondern lieferten viele Beweise dafür, daß Italien im Vollgefühl seiner gewachsenen politischen, ökonomischen und militärischen Macht nach neuen Ufern strebte. Angeführt von Zeitungen wie II Giornale d'Italia, Idea Nazionale und Tribuna lief seit Beginn des Jahres 1911 eine rasch wachsende und auf die große nationale Presse übergreifende Kampagne, die mit einer Vielzahl von historischen, geographischen, ökonomischen, strategischen und machtpolitischen Argumenten den endlichen Zugriff auf die afrikanische Gegenküste und die Inbesitznahme der noch locker in türkischer Hand befindlichen Territorien von Tripolitanien und der Cyrenaica forderte. Der deutsche "Panthersprung" von Agadir am 1. Juli 1911, der die zweite Marokkokrise auslöste, konnte diese auf militärische Aktion drängende Unrast nur noch vergrößern. Während die Regierung Giolitti noch bis in die Sommermonate 1911 beruhigende Erklärungen abgab und ihre Friedensabsichten betonte, sah sie sich unter der Hand unter dem Druck der nationalistischen Agitation zum Handeln gezwungen. In der Hoffnung, durch einen kolonialen Erfolg die sich formierende nationalistische und liberalkonservativ geprägte Opposition gegen seine Reformpolitik wieder auseinander zu dividieren, wählte Giolitti den Krieg als das kleinere Übel. Ohne sich um einen halbwegs plausiblen Kriegsgrund zu kümmern, stellte die römische Regierung am 28. September der Hohen Pforte ein offensichtlich unerfüllbares 24-Stunden-Ultimatum und ließ nach der Kriegserklärung am 29. September in den folgenden Tagen durch Flotte und Landungstruppen die nordafrikanischen Küstenstädte wie Tripolis, Benghasi und Tobruk besetzen. Da die schwachen türkischen Truppen, unterstützt von den arabischen Wüstenstämmen, ins Landesinnere auswichen, zog sich der Konflikt weit länger hin als erwartet. Um Europa vor vollendete Tatsachen zu stellen, erklärte die Regierung am 4. November die beiden Territorien kurzerhand für annektiert. Damit waren alle Möglichkeiten verbaut, nach französischem und englischem Vorbild eine Kompromißlösung zu finden, die neben der faktischen Besetzung des Landes

1

Wolfgang Schieder, Aspekte des italienischen Imperialismus vor 1914, in: D e r m o d e r n e Imperialismus, Stuttgart 1971, S. 140-171.

336

Jens Petersen

eine formelle türkische Souveränität hätte fortbestehen lassen. Um Konstantinopel zum Nachgeben zu zwingen, begannen italienische Seestreitkräfte bis nach Palästina und bis zu den Dardanellen vorzustoßen. Als letzten Schritt besetzten italienische Truppen als Faustpfand im Frühjahr 1912 die unter türkischer Oberhoheit stehende, aber griechisch besiedelte Inselgruppe des Dodekanes. Der Krieg endete mit dem unter starkem diplomatischen Druck der europäischen Großmächte zustandegekommenen Friedensvertrag von Lausanne (18. Oktober 1912). 2 Dieser vielfach als nackte Aggression empfundene Krieg erweckte in seiner Startphase in ganz Europa eine Welle der Entrüstung und der Kritik. In einer besonders schwierigen Lage befand sich Berlin, da Deutschland mit beiden kriegsführenden Mächten befreundet und verbündet war, mit seinen Vermittlungsbemühungen notwendige Erwartungen enttäuschen und Ressentiments hervorrufen mußte und damit die deutsche Diplomatie vor eine Zerreißprobe stellte. Der einflußreiche deutsche Botschafter in Konstantinopel, von Marschall, der für sein Lebenswerk der deutsch-türkischen Freundschaft und für den Fortbestand des Osmanischen Reiches fürchtete, plädierte für eine klare protürkische Option und eine Aufgabe des Dreibunds. Während die regierungsnahe Presse wie die Kreuzzeitung oder die Kölnische Zeitung das Vorgehen Roms zu rechtfertigen suchte, formierte sich in den sozialdemokratischen und liberalen Blättern eine heftige und teilweise bissige Kritik. In den Worten der Frankfurter Zeitung: "Es ist ein offener Raubzug, den Italien angetreten hat, eine Gewalttat mitten im Frieden, gegen die das ganze zivilisierte Europa [...] einmütig protestieren müßte". 3 Die Kriegserklärung löste in der deutschen Öffentlichkeit einen Sturm der Entrüstung aus. Der Vorwärts sprach von einem "frechen Raubzug", von "Wahnsinn" und von einer "italienischen Verbrecherbande". 4 Nach dem Berliner Tageblatt benutzte Italien "die Sprache der Brutalität, und zwar ohne den Schleier der Grazien".5

2

3

4 5

Die Literatur zum Libyenkrieg ist umfangreich. Genannt sei nur: Timothy W. Childs, Italo-Turkish Diplomacy and the War over Libya 1911-1912, Leiden, New York 1990; Angelo Del Boca, Gli Italiani in Libia. Tripoli bel suol d'amore 1860-1922, Roma, Bari 1988; Francesco Malgeri, La guerra libica (1911-1912), Roma 1970; Paolo Maltese, La Terra Promessa: la guerra italo-turca e la conquista della Libia 1911-1912, Milano 1976; Sergio Romano, La quarta sponda. La guerra di Libia 1911-1912, Milano 1977. Italien und die Türkei, in: Frankfurter Zeitung, 29.9.1911, Zweites Morgenblatt, zitiert nach: Kristina Petersen: Der italienisch-türkische Krieg 1911/12 im Spiegel der deutschen Öffentlichkeit, Universität Freiburg, Magisterarbeit (MS) 1993, S. 56. Wachsende Gefahr, in: Vorwärts, 1.10.1911, im folgenden zitiert: K. Petersen, Krieg (Anm. 3), S. 58. Paul Michaelis: Politische Wochenschau, in: Berliner Tageblatt, 1.10.1911, zitiert bei: K. Petersen, Krieg (Anm. 3), S. 59.

Italien, Deutschland und der türkische Krieg 1911/12 im Urteil Borchardts

337

Allgemein sah man die Gefahr einer neuen Orientkrise und damit den drohenden Schatten eines Weltkrieges näher rücken. Für Karl Kautsky im Vorwärts verdeutlichte der Tripoliskrieg "die wachsende Rohheit und Skrupellosigkeit" des imperialistischen Kapitalismus. 6 Die nationalliberale Hilfe sah vor allem in dem rabiaten Vorgehen einen brisanten Präzedenzfall. "Nicht der Inhalt, sondern die Form entscheidet und erschwert das tripolitanische Problem: die Form des räuberischen Überfalls [...], des italienischen Brigantaggio gegenüber der jungtürkischen Renaissance". Das sei "schnöder Wortbruch" und "mittelalterliches Faustrecht". 7 Nach dem Urteil von Robert Michels, einem vorzüglichen Kenner der damaligen Situation, war es fast unvermeidlich, "daß der Krieg der Italiener, als Störenfried der deutschen Orientpolitik und Türkenfreundschaft, in Deutschland und Osterreich keineswegs eine 'gute' Presse hatte, ein Umstand, der wiederum in Italien sehr viel böses Blut machte und tiefen Groll zurückließ". Die "erbitterte Kampagne der deutschen Presse gegen Italien [...] förderte auch sehr viel Unsinniges und Häßliches gegen Italien mit zutage und ließ insbesondere eine seltsame Ignoranz bezüglich der Stellung Italiens als Mittelmeermacht erkennen". 8 Als im Oktober/November aus der als "promenade tripolitaine" gedachten Aktion ein ernsthafter militärischer Abnutzungskrieg wurde und die Italiener mit den Massakern von Schara Schatt und Sidi Messri zu den Mitteln einer harten Repressionspolitik schritten, verstärkte sich die Empörung auf deutscher Seite noch. Sie erreichte ihren Höhepunkt mit dem Annexionsdekret vom 4. November, in dem die Frankfurter Zeitung einen "Bluff' und eine "Komödie" sah. 9 Die Baronin von Spitzemberg nannte das Vorgehen "die tollste Räuberei größten Stils, die die moderne Geschichte kennt. Sie haben das Land noch in keinster Weise, annektieren es feierlich und versprechen dem Beraubten großzügig günstige Friedensbedingungen". 10 Erst die Carthage- und Manouba-Zwischenfälle Anfang 1912, die zu einer schweren diplomatischen Krise zwischen Frankreich und Italien führten, machten der deutschen Öffentlichkeit deutlich, daß das Ausgreifen Italiens nach Nordafrika und das gewachsene italienische Selbstbewußtsein längerfristig für Deutschland auch positive Auswirkungen haben konnten. In diesem Augenblick begannen die Stellungnahmen Rudolf Borchardts. 6

Karl Kautsky. Banditenpolitik, in: Vorwärts, 6.10.1911, zitiert bei: K. Petersen, Krieg (Anm. 3), S. 60. 7 Ernst Jäckh: Der Prestigekrieg um Tripolis, in: Die Hilfe, 5.10.1911, S. 626-628, zitiert bei K. Petersen, Krieg (Anm. 3), S. 61. 8 Robert Michels: Italien von heute, Zürich, Leipzig 1930, S. 181 f. 9 Frankfurter Zeitung, 6.11.1911, zitiert bei: Petersen, Krieg (Anm. 3), S. 70. 10 Das Tagebuch der Baronin von Spitzemberg, geb. Freiin von Varnbüler, Aufzeichnungen aus der Hofgesellschaft des Hohenzollernreiches, 3.Aufl., Göttingen 1963, S. 537.

338

Jens Petersen

II Sie erschienen in den H e f t e n März / April / Mai / Juni 1912 der Süddeutschen Monatshefte. Diese Texte bilden ein zusammenhängendes organisches Ganzes. Vermutlich sind sie sogar in einem Guß entstanden und nur aus redaktionellen Gründen auf vier Kapitel verteilt worden. Mit ihrem Umfang von fast achtzig Seiten in der Werkausgabe bilden sie fast ein kleines eigenständiges Buch. Sie repräsentieren jedenfalls den umfangreichsten Kommentar, den Borchardt je über seine mehr als dreißig Jahre umfassenden Italien-Erfahrungen geschrieben hat. 11 Es handelt sich nicht - oder nicht nur - um tagespolitische Kommentare, sondern um eine historisch weit zurückgreifende gesamtpolitische Analyse, bei der vier Themata im Vordergrund stehen: die deutsche Außenpolitik, die italienische Außenpolitik, der Dreibund, die Rolle der Türkei. "Das Thema des Verhältnisses zwischen Deutschland und Italien durchzieht Borchardts politische Schriften", heißt es in den Anmerkungen der BorchardtAusgabe. 12 Diese Beobachtung ist nur bedingt richtig. Zutreffend daran ist, daß die Borchardtschen Italien-Kommentare auch weit über das Jahr 1912 hinaus im Zusammenhang gelesen werden können und müssen. Borchardt interessierte sich in jenen Jahren leidenschaftlich für die europäische Politik und für die Entwicklung der deutsch-italienischen Beziehungen. Aus dem Nachlaß ist das eindrucksvolle Gespräch bekannt geworden, das Borchardt mit Tommaso Gallarati Scotti 1906 über die erste Marokko-Krisis führte. Vergraben im Stadtarchiv von Volterra und für Monate abgeschnitten von einem Großteil der italienischen und dem Gesamt der deutschen Presse, litt Borchardt unter seinem Informationsdefizit fast wie unter einer psychischphysischen Entzugserscheinung. 13 Die Kommentare in den Süddeutschen Monatsheften erschienen ohne Nennung des Autors unter dem Pseudonym "Spectator Germanicus" und der fiktiven Ortsangabe "Rom". Der Schreiber stellte sich dar als eine hochgestellte Persönlichkeit der deutschen Politik oder Diplomatie, die Zugang zu den Arcana Imperii besaß und über genaueste Kenntnisse der Kommandozentralen in Berlin und Rom verfügte. An einer Stelle nennt er sich "den zornigen

11 Prosa V, S. 111-186. Es handelt sich um die Aufsätze Deutschland und die Verwilderung Italiens-, Das Verbrechen der Dreibundsemeuerung; Der Ursprung der italienischen Staatspiraterie und Die italienische Gefahr. In den gleichen Zusammenhang gehört der ebenfalls unter dem Pseudonym "Spectator Germanicus" in der Berliner Zeitung am Mittag am 9.5.1912 erschienene Aufsatz Englisch-italienisches Mittelmeerabkommen. 12 Prosa V,S. 561. 13 Ebd., S. 561ff.

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Politiker, der hier seines Geschäftes der Anklage waltet".14 Diese InsiderPerspektive schien für den Leser gleichzeitig verstärkt und relativiert durch apodiktische ex-cathedra-Urteile über Personen, Zusammenhänge und Zielsetzungen der deutschen Politik - und nicht nur dieser. Es gelte "aus der Geschichte des Tages zu lernen und auf der Straße empfangener historischer Lektionen fortzuschreiten".15 Rückblickend sah er sich sogar in der Rolle des einsamen Rufers in der Wüste, als Vates, der in seiner "freiwilligen Verbannung" vergeblich die Zukunft des heraufziehenden Krieges und den Abfall Italiens zutreffend vorausgesagt hatte".16 Borchardt agierte als "der realpolitische Beobachter, der sich zur Aufgabe gestellt hat [...], das deutsche Volk über die Trostlosigkeit einer in deutschen Landen weder übersehenen noch richtig gewerteten Situation endgültig zu informieren".17 Vordergründig bildet Italien und das tripolitanische Abenteuer den Hauptgegenstand der Polemiken und Analysen. Das zeigen schon die Titel der vier Aufsätze: Deutschland und die Verwilderung Italiens, Das Verbrechen der Dreibunderneuerung, Der Ursprung der italienischen Staatspiraterie und Die italienische Gefahr. Borchardt nahm die Pressepolemiken des Herbstes 1911 verschärfend wieder auf und stigmatisierte das italienische Vorgehen als einen Akt der Piraterie und als Verbrechen gegen das Völkerrecht. Diese "feigen wie brutalen Kriegsaktionen" erschienen Borchardt als "Brutalitätsgeste pur et simple", die nur den "Zweck politischer Machtprahlerei"18 gehabt habe. Dieser "elendste aller Kriege" sei "die schändlichste Unternehmung, [...] von der seit der Vergewaltigung Tarents durch Rom die italienische Geschichte zu berichten weiß". 19 Rom habe in geheimer Absprache mit Paris, London und Petersburg gehandelt und die schlafmützige deutsche Politik völlig hinters Licht geführt. Die für jeden Kundigen schon seit dem Frühsommer 1911 sichtbaren Kriegsvorbereitungen hätten die Deutschen, sowohl Presse wie Diplomatie und Politik, völlig verschlafen. Der dumme deutsche Michel habe sich einmal mehr übertölpeln lassen. Das Vorgehen Roms habe den Beweis erbracht für die "objektive Wertlosigkeit deutscher Freundschaft und deutschen Schutzes".20 Hier wird ein zweites Hauptthema der Borchardtschen Polemik sichtbar: die deutsche Politik selbst. Borchardt konstatiert ein völliges Versagen der deut-

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Ebd., S. 164.

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Ebd., S. 115.

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Ebd., S. 2 1 8 .

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Ebd., S. 116.

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Ebd., S. 134.

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Ebd., S. 147, 158.

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Ebd., S. 134.

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sehen Italienberichterstattung, und zwar in allen ihren Bereichen von der Presse, Publizistik und Reiseschriftstellerei bis zur Diplomatie. "Das Land, das jahraus jahrein Tausende deutscher Besucher sieht, dessen Kunstschätze, Landschaften, Geschichte den Gegenstand einer lawinenartig wachsenden gelehrten und populären Literatur bilden, ist als politischer und nationaler Faktor für die verantwortlichen [...] deutschen Kreise absolute terra incognita".21 Borchardt hatte schon 1907 über die Mängel der deutschen Italienberichterstattung geklagt und für sich die offiziöse Stellung eines der Quirinalbotschaft attachierten "Kulturbotschafters" erhofft, der die Aufgabe haben sollte, der Regierung in Berlin "über die geistigen, moralischen und kulturellen Entwicklungen in Italien" zu berichten. 22 Uber die deutschen Botschafter am Quirinal formuliert Borchardt vernichtende Urteile. Graf Monts ist ihm ein "unfähiger, indolenter, der Lage in keiner Weise gewachsener Mann", eine "Null", der "durch jedes neue Ereignis in seinen Voraussagen regelmäßig desavouiert" worden sei. 23 Sein Nachfolger Jagow kommt nicht viel besser davon. Borchardt sieht in dem Konflikt zugleich auch einen enormen Gesichts- und Ansehensverlust Deutschlands, das seit dem Jahrhundertbeginn ständig an Terrain verloren habe. Das deutsche Prestige sei völlig am Boden, Bismarcks falsch verstandenes Erbe würde völlig vergeudet, Deutschland werde innenwie außenpolitisch von "verantwortungsflüchtiger Trägheit" und "Feigheit" regiert. Die jetzigen Politiker hätten "unsere Ehre tief unter die Zeiten deutscher Erniedrigung herabgewürdigt". Die jetzige Lage Deutschlands sei schlimmer als die Preußens nach der "Schmach von Olmütz": "Machtlos und verlacht, verlassen und verachtet, stehen wir da". "Eine deutsche Presse gibt es nicht, so wenig wie es noch eine deutsche Politik gibt, so wenig wie es in politischen Dingen [...] eine deutsche öffentliche Meinung gibt". 24 Diese maßlosen und radikalen Thesen und Zornsprüche werden flankiert durch ein fast noch schärfer konturiertes Bild des südlichen Nachbarn. Italien ist "das Land der Renaissancebösewichte, Machiavellis und Cavours", d.h. der Unzuverlässigkeit und Hinterhältigkeit. Es setzt damit eine Tradition fort, die der Kern-Staat Italiens, Savoyen-Piemont, in einer Jahrhunderte währenden Schaukelpolitik entwickelt hatte. Getreu dieser Tradition hat Italien auch "im letzten Jahrzehnt fast jedes gegebene W o r t gebrochen". Dieser wetterwendi-

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E b d . , S . 116. Elena Raponi: Vita letteraria e intellettuale tra Italia e Germania nei primi anni del N o v e cento. Su alcune lettere toscane di Rudolf Borchardt a T o m m a s o Gallarati Scotti (19041907), in: O t t o / N o v e c e n t o . Rivista bimestrale di critica letteraria, Jg. 14, N r . 5, 1990, S. 87-122, S. 117. Prosa V, S. 125. Ebd., S. 142, 145, 164.

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sehe Gesamtcharakter italienischer Außenpolitik hat historische, geographische u n d geopolitische Gründe, spiegelt aber auch einen spezifischen Zug des Nationalcharakters wider. Italien ist das Land der Fassade, des "Schein[s] anstatt des Wesens", der "alten Vorliebe [...] für Blenden, Gelten und Beneidetwerden". 2 5 Die materiellen Fortschritte des Landes dürfen nicht vergessen lassen, d a ß die Südfrage in keiner Weise gelöst ist und das enorme sozio-ökonomische und kulturelle Nord-Südgefälle fortbesteht. Nur "ein volles Drittel von Italien kann heute als zivilisiertes Land gelten". Sizilien ist eine "halbautonome Barbareskenprovinz", "wo der Staat und seine Autorität nur durch ständige stille Kompromisse" mit der organisierten Großkriminalität fortbestehen kann, "aber auf die moralische Heilung des Volkes längst verzichtet hat". Das von dem neu entstandenen italienischen Nationalismus propagierte afrikanische Abenteuer zeugt von einem "sinnlosen Größenwahn" und dem Verzicht auf künftige Reformpolitik im Süden. Dieser wird damit "auf ein weiteres Halbjahrhundert dem Elende, der Dürre, der Camorra, der Unwissenheit", der Cholera und der Malaria überliefert. 2 6 In diesem Primat der Außenpolitik und des Übergangs zum Imperialismus sieht Borchardt gleichzeitig auch eine unheilige Allianz zwischen italienischem Nationalismus und der katholischen Kirche im Entstehen. Der Vatikan nämlich hat das Tripolis-Unternehmen unterstützt. "Die Zentrale des Katholizismus" hat damit aufgehört, "die sittlichen Interessen der heiligen allgemeinen christlichen Kirche zu vertreten", und ist "Exekutive einer italienischen Nationalkirche geworden". 2 7 Das Gravierendste jedoch an dem Vorgehen der italienischen Politik erscheint für Borchardt die Demonstration nackter, durch keine Rechtsgründe verhüllter Gewalt. Damit hat Rom das europäische Völkerrecht gebrochen. "Die europäische Familie beherbergt eine Rasse, deren staatliche Ausdrucksform außerhalb des ethischen Kodex der okzidentalen Völker steht". "Ein Staat, der zum Schwerte greift, ohne in N o t w e h r zu sein", der jeden K o m p r o m i ß verweigert, dessen Kriegsführung sich durch "Rohheit" und "Feigheit" auszeichnet, "ein solcher Staat ist so wenig waffenwürdig wie vertragswürdig". 2 8 Damit kommen wir zu dem T h e m a , das vermutlich den eigentlichen Anlaß der Borchardtschen Polemiken bildet: dem Dreibund. Der Deutsche plädiert für die Aufgabe "dieses unsinnigen und unsittlichen Bündnisses", das Italien "weder halten will noch halten kann, durch das wir ihm den Verrat aufzwin25 26 27 28

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. S. S. S.

126, 163, 145. 144, 148, 145. 162. 165.

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gen, auch wenn seine Natur und seine Tradition nicht verräterisch" sind. 29 Seit der französisch-italienischen Annäherung um die Jahrhundertwende, seit dem Prinetti-Barrere-Abkommen von 1902 und seit dem italienischen Ausscheren auf der Algeciras-Konferenz 1906 sei der Dreibund nur noch eine leere Larve, eine "Komödie". "Die konsequente Unzucht italienischer Politik" gefährdet die "Weltstellung Deutschlands". "Ein Attentat gegen die Türkei ist ein Attentat gegen uns. Ein Bundesgenosse, der es begeht, es gegen unseren Willen, gegen den Geist des Bundes [...] dennoch begeht, hat aufgehört, unser Bundesgenosse zu sein, sobald die Pakte ablaufen. Der Bund mit ihm bedeutet eine ständige Gefahr an unseren empfindlichsten Stellen. Er stärkt unsere Feindschaften, er zerreißt unsere Freundschaften". Ein solches Bündnis ist bestenfalls ein "totes Gewicht". 30 Wie andere plädiert Borchardt dafür, Italien durch die Türkei zu ersetzen und den Querriegel Berlin - Wien - Budapest - Bukarest - Istanbul auszubauen. Deutschland hat in "einem halben Jahrhundert genialer Orientpolitik" 31 Enormes geleistet, militärisch von Moltke bis zu von der Goltz, ökonomisch und finanziell mit dem Bau der Bagdad-Bahn. "Der Bestand und die Geltung des türkischen Reiches ist für Deutschland eine absolute Lebensfrage". Berlin muß daran gelegen sein, "daß die Vormacht im Orient dem einzigen Volke verbleibt, das in dem bastardierten Rassenmischmasch der Levante seine ethische Struktur und seine soldatische Disziplin fast unangefochten erhalten hat" und "das unserer Art der Kolonisierung, der Ausstrahlung des germanischen Herrschaftsprinzips mit seinen Begriffen von Zucht, Recht, Ehre, Ordnung, Gehorsam zugänglich ist".32 Zwei Fragen stellen sich im Anschluß an diese Borchardtschen Zornesausbrüche. 1. Was hat den Dichter dazu bewogen, sich so intensiv und in so kritischer Form mit der politischen Gegenwart seines Gastlandes zu beschäftigen? Das persönlich eingegangene Risiko war beträchtlich und reichte vom Bruch zahlreicher Freundschaften bis zur Ausweisung als persona non grata. Welche Zwecke verfolgte der Dichter? Handelte er im Auftrag von jemandem? 2. Welches Echo haben diese Brandartikel damals in Deutschland und Italien gehabt? Es handelte sich um Texte, die nach Umfang, Schärfe der Argumentation und stilistischer Qualität sicherlich das Bitterste und Gravierendste darstellen, was damals in der deutschen Presse über Italien geschrieben worden ist. 29 Ebd., S. 134. 30 Ebd., S. 114, 115, I83f. 31 Ebd., S. 169. 32 Ebd., S. 183.

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Zur ersten Frage enthalten die Borchardtschen Texte selbst einige Hinweise. Er schreibt: "Wir haben durch Feigheit und Taubheit gegen Rat und Warnung dem einzigen Politiker, den wir besitzen, sein Lebenswerk zerstört". 33 Dieses Lob hebt sich merkwürdig ab von dem Tenor allgemeiner schneidender Kritik. Bei dem Gelobten könnte es sich um den früheren Reichskanzler Bernhard Heinrich Martin von Bülow handeln, der 1909 über den Folgen der Daily Telegraph-Affare gestürzt war. Bülow war mit einer Italienerin, einer Tochter des Spitzenpolitikers Marco Minghetti, verheiratet und hielt sich häufig in Rom auf, wo er in der ihm gehörigen Villa Malta residierte. In der Literatur haben sich keine Aufschlüsse darüber finden lassen, ob Borchardt Bülow gekannt hat und ob letzterer ihn eventuell "inspiriert" haben könnte. Wenn dem so wäre, entbehrte ein solcher Sachverhalt nicht einer merkwürdigen Note: Bülow ging im Herbst 1914 im Auftrag Bethmann Hollwegs nach Rom, um den Dreibund oder zumindest die italienische Neutralität zu retten. In römischen Kreisen zirkulierte damals die These, Borchardt habe auf Inspiration und als Ghostwriter für den früheren Botschafter Graf Monts gehandelt. Monts hatte zunehmend kritisch über den Dreibund berichtet und den Bündniswert Italiens in Frage gestellt. Am 30. September 1911 schrieb er an Kiderlen Wächter: "Politisch und in Stunden der Gefahr dürften wir nie mit Italien rechnen, da Piemontesen und Lombarden selbst eine loyale römische Regierung sofort matt setzen würden. Vielleicht aber bietet sich jetzt eine Gelegenheit, Italien abzuschütteln. Irgendetwas für die Türken muß geschehen". 34 Borchardt lag also mit seinen Polemiken ganz auf der Montsschen Linie. Aber ist vorstellbar, daß ein Regisseur hinter den Kulissen in den von ihm inspirierten Texten sich so absolut lächerlich machen läßt, wie es mit dieser Borchardtschen Prosa geschah? Zur zweiten Frage weist Borchardt selbst auf zwei Antworten in der Kölner Zeitung und im Berliner Tageblatt hin. Hier fragte der Chefredakteur Theodor Wolff, welche Alternativen der unbekannte Italienkritiker anzubieten habe. In der Tat löste die Artikel-Serie mit ihrer ferventen Italien-Schelte, die im Frühjahr 1912 erschien, d.h. also in einem Moment, als die deutsche Presse mehrheitlich schon wieder auf eine italienfreundliche Haltung umgeschwenkt war, ein vielfältiges kritisches Echo aus. Der Italienkorrespondent Hans Barth schrieb in der Zeitschrift März, bei dem unbekannten Autor werde der Tripoliskrieg "ohne alle Würdigung der tiefbegründeten Motive, einfach als gewöhnlicher Raubzug dargestellt, die Vorgeschichte dieses Kriegs in ihren zwingenden Momenten einfach ignoriert, die Stimmung im Land und Volk 33 Ebd., S. 182. 34 Ernst Jäckh (Hg.): Kiderlen-Wächter der Staatsmann und Mensch. Briefwechsel und Nachlaß, Bd. 2, Stuttgart 1924, S. 165.

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ganz falsch geschildert [...], die treibenden Faktoren mit der Kindlichkeit charakterisiert, die den Autor einer Kasperltragödie auszuzeichnen pflegt". 35 Die von den Borchardtschen Texten ausgehende Unruhe reichte sogar bis in den Reichstag, wo sich der Staatssekretär des Äußeren, von Kiderlen Wächter, in bezug auf "diesen irrelevanten Artikel" weigerte, "alles [zu] dementieren, was geschrieben wird". 36 Innerhalb der Reichsleitung scheint man gewußt zu haben, wer sich hinter dem "Spectator Germanicus" verbarg. Im Marbacher Ausstellungskatalog von 1978 ist im Facsimile ein Brief Bethmann Hollwegs an Alfred Walter Heymel vom März 1913 wiedergegeben, in dem der Reichskanzler für die Übersendung zweier Gedichtbände von Borchardt dankt. Er schrieb: "Die Gedichte sind wirklich außerordentlich gut. Es wäre schade, wenn ein solches Talent von seinem Reiche weg auf die abseits führenden Pfade politischer Polemik gelenkt würde". 37

III Zu fragen wäre abschließend, wie die Thesen und Positionen Borchardts im Licht der heutigen Kriegsursachendiskussion und Dreibundforschung zu sehen sind. "Ein Treubruch, dessen gleichen die Geschichte nicht kennt, ist von dem Königreich Italien an seinen beiden Verbündeten begangen worden", so hieß es in dem "Aufruf an seine Völker", den Kaiser Franz Josef am 23.05. 1915 verbreiten ließ. Diese Auffassung vom Treubruch ohnegleichen und die durch ihn ausgelöste tiefe Erbitterung haben nicht nur die Kriegspolemiken bestimmt, sondern auch nach Abschluß des Krieges im deutschsprachigen Raum das politischhistorische Urteil nachhaltig geprägt. Dieses mit Empörung betrachtete, schmähliche Ende des Dreibundes rückte unvermeidlich auch die Vorgeschichte dieses Bündnisses ins Zwielicht. So läßt sich in der konvativen deutschen Geschichtsschreibung der zwanziger Jahre ein weitgehender Konsensus darüber feststellen, daß seit der französisch-italienischen Annäherung nach 1898 und vor allem nach den Vereinbarungen von 1900 und 1902 die Zugehörigkeit Italiens zum Dreibund bestenfalls noch formaler Natur gewesen sei. Die italienische Politik habe schon damals die

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Hans Barth: Italien und die Pharisäer, in: März, 6. Jg. 1912, 19.5.1912, S. 241, zitiert bei: K. Petersen, Krieg (Anm. 3), S. lOOf. Schultheiß' Geschichtskalender, Bd. 53, 1912, S. 173. Rudolf Borchardt. Alfred Walter Heymel. Rudolf Alexander Schröder. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum, Marbach am N e c k a r 1978, S. 278.

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Absicht besessen, im günstigen Moment in das Lager der Gegner überzugehen. In der schärfsten Version dieser Deutung wird der italienischen Politik sowohl 1902 mit dem Prinetti-Barrere-Abkommen wie 1909 mit der TittoniIswolski-Vereinbarung offener Vertragsbruch unterstellt. Seit der Jahrhundertwende habe Italien nur noch als eine Art Agent Englands und Frankreichs im Innern des Dreibundes gewirkt. Mit dem Vertrag von 1902, so schreibt etwa einer der bekanntesten deutschen Italienkenner der zwanziger Jahre, Paul Herre, "war Italien tatsächlich aus dem Dreibund ausgeschieden, denn die römische Regierung hatte es im Ernstfall in ihr Belieben gestellt, für welche Seite sie sich entscheiden sollte. Vollends seitdem war die italienische Politik durch den Charakter eines illoyalen Lavierungsverfahrens gekennzeichnet". 38 "Der Dreibund ist [...] offensichtlich gesprengt", schrieb Dietrich Schäfer 1912 in seiner Weltgeschichte der Neuzeit. "Unsere Diplomatie [...] wird [...] auf Italien nicht mehr rechnen" können. 39 Diese Unzuverlässigkeits- und Verratssthese, die Borchardt mit so großer Verve 1912 vorgetragen hatte, ist in der Zwischenkriegszeit nicht nur historiographisch, sondern auch politisch von erheblichem Belang gewesen. Die Protagonisten einer Annäherung zwischen deutschnationaler Rechten und faschistischem Italien Ende der zwanziger Jahre hielten es für notwendig, vorweg Aufklärung zu schaffen über die wirkliche Stellung Italiens im Dreibund und über sein Verhalten in den kritischen Neutralitätsmonaten nach dem August 1914. 4 0 Noch im Zeichen der Achsenfreundschaft nach 1936 stellte die Dreibundvergangenheit und vor allem die Intervention 1915, wie diplomatische Akten bezeugen, sowohl für Rom wie aber auch für Berlin ein ständig wiederkehrendes Problem dar. 41 Entkleidet man, wie dies nach 1945 auch in Deutschland möglich wurde, die Argumentation ihrer stark emotionalen, moralisch wertenden Züge, so steht hinter der These von der Unzuverlässigkeit Italiens die historiographisch weit verbreitete Auffassung, die Geschichte des Dreibundes lasse sich mit dem Bilde einer Parabel kennzeichnen: Aufstieg und Niedergang eines Bündnissystems. Gaetano Salvemini, dem wir die ersten gründlichen Studien zur Geschichte des Dreibundes verdanken, 42 hat fünf Voraussetzungen genannt, 38

Paul Herre: Weltgeschichte am Mittelmeer, Potsdam 1930, S. 377.

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Zitiert bei Michael Seidlmayer: Geschichte des italienischen Volkes und Staates, Leipzig 1940, S. 465. 40 Jens Petersen: Hitler-Mussolini. Die Entstehung der Achse Berlin-Rom. 1933-1936, Tübingen 1973, S. lff. 41 42

Ebd. Die verschiedenen Studien Salveminis finden sich vereint in: Gaetano Salvemini: La politica estera italiana dal 1871 al 1915, Milano 1970.

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die in den achtziger Jahren für Italien die Anlehnung an die Mittelmächte als erstrebenswert erscheinen lassen mußten: 1. gute Beziehungen zwischen England und den Mittelmächten, 2. schlechte Beziehungen zwischen England und Frankreich, 3. Sorgen um den von Frankreich bedrohten Status quo in Nordafrika, 4. Vertrauen Italiens auf die Bereitschaft Österreichs, bei der Aufrechterhaltung des Status quo auf dem Balkan zusammenzuarbeiten, 5. italienische Besorgnisse vor einem Wiederaufleben der römischen Frage. Salvemini hätte ein weiteres innenpolitisches Motiv nennen können: die monarchische Solidarität und das Interesse an der Aufrechterhaltung des jeweiligen politisch-sozialen Systems, wie diese Zielsetzungen in den Präambeln der Verträge von 1 8 8 2 und 1 8 9 1 formuliert wurden. Diese in den achtziger Jahren gegebenen Interessenkonstellationen veränderten sich in den folgenden Jahrzehnten entscheidend. Die römische Frage trat - vor allem auch nach der Annäherung zwischen Katholizismus und liberalem Staat in Italien - in den Hintergrund; die Absprachen von 1 9 0 0 und 1 9 0 2 sicherten das libysche Mittelstück der nordafrikanischen Küste vor französischem Zugriff; die Balkanrivalität zwischen Italien und Osterreich nahm nach 1 9 0 0 immer schärfere Formen an; die Anlehnung Englands an Frankreich und die maßgeblich durch die deutsche Flottenrüstung hervorgerufene deutsch-englische Entfremdung ließ London - und damit im Hintergrund das britische Empire - als möglichen Gegner des Dreibundes auftauchen; die von Giolitti eingeleitete innenpolitische Linkswendung mit dem Versuch einer Einbeziehung der reformistischen Sozialdemokratie schließlich machte die Frage monarchischer, gegen die Umsturzgefahr von links gerichteter Solidarität fragwürdig. Praktisch seiner sämtlichen Existenzgrundlagen beraubt, erscheint der Dreibund nach der Jahrhundertwende als leerer Schemen, der sich nur noch dank der vis inertiae aufrechterhielt. Italien blieb, so sahen es viele Zeitgenossen, im Dreibund, weil es den Kampf gegen den "Erbfeind" Österreich noch nicht führen konnte, ihn aber ohne Beibehaltung des Bundesverhältnisses nicht mehr länger hätte aufschieben können. "Wir werden eines Tages austreten", so sagte Tittoni zu Iswolski 1 9 0 9 in Racconigi, "aber nur, um dann gegen Österreich Krieg zu führen". 43 Aus dieser Sicht des vierten Risorgimento-Krieges erhält die Dreibundbindung einen nur temporären Charakter. Das Bündnis diente zur Konsolidierung des neugeschaffenen Einheitsstaates und zur Vorbereitung auf den Tag, wo man die noch ausstehenden letzten terre irredente einfordern konnte. Die Lebensprinzipien des Nationalstaates par excellence Italien und der Vielvöl-

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Vgl. Prosa V, S. 205-216. Vgl. ebd., S. 217-264. Vgl. Prosa VI, S. 363-364. Vgl. ebd., S. 364. Vgl. Prosa V, S. 265-283. Vgl. ebd., S. 587-589. Vgl. ebd., S. 284-300. Vgl. ebd., S. 301-324. Prosa VI, S. 362; die näheren Umstände illustriert der späte Essay Frühstück zu acht Gedecker,I, in: ebd., S. 227-260.

Rudolf Borchardts Kriegsreden

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Krieg und die deutsche Entscheidung. Die Rede wurde nicht gedruckt, ist auch im Manuskript nicht erhalten, doch verwies Hofmannsthal im Berliner Tageblatt vom 28. November 1916 k n a p p auf sie. 12 Aus dem Jahr 1917 beziehe ich mich auf den T e x t Öffentlicher Geist,13 14 ferner auf die Notizen zu Gesprächen mit Hofmannsthal. Im Winter 1918/19 hielt Borchardt im Berliner Haus von Ludwig W o l d e vor eingeladenem Kreis einen Zyklus von Reden unter dem Titel Einleitung in den Geist derZeit. Erhalten sind davon drei Einleitungen. 1 5 1919 folgte in Bremen die Rede Warum wir nicht völlig verloren sind. Die Herausgeber von Prosa V teilen mit, von ihr seien nur "einige handschriftliche Blätter im Nachlaß" (S. 595) erhalten, drucken diese aber nicht ab. Daher ist der letzte Text, den ich einbeziehe, keine "Rede"; es ist die Skizze So rette das eigene Leben von 1920. 1 6 Für eine erste Verständigung lassen sich die bibliographischen Angaben dahin zusammenfassen: Vor allem zählen die großen Reden Der Krieg und die

deutsche Selbsteinkehr von 1914 und Der Krieg und die deutsche Verantwortung von 1916; sie wurden begleitet von einer Reihe kleinerer Texte, die o f t nur bruchstückhaft erhalten sind. Unter ihnen sind die Notizen über Europa von 1917 hervorzuheben.

II

1. Eine erste Signatur der Individualität der Kriegsreden Borchardts drängt sich auf: Das sind seine Reflexionen über die Rede als Form. Borchardt spricht auch 1914/16 als Dichter, als Seher und Denker, nicht als Lustigmacher und Aufwiegler, nicht in prätendierter Objektivität der Wissenschaft, sondern als vates, als moralisch-intellektuelle Instanz, aber nicht als eine von entliehener oder bloß beanspruchter Allgemeinheit, sondern als einzelner, der Zustimmung sucht, also Allgemeinheit intendiert, sie aber als gegeben nicht voraussetzen kann. Er findet sich, auch vor großem Publikum, allein. Dem gesuchten Ubergang vom vereinzelten Seher zur erhofften Wirkung auf die Na-

12 Vgl. Hugo von Hofmannsthal: Prosa III, Frankfurt 1952, S. 384-386. 13 Vgl. Prosa I, S. 374-384. 14 Jetzt als Gedanken über Schicksal und Aussicht des europäischen Begriffs am Ende des Weltkrieges ediert in: Prosa V, S. 325-334; benutzt von Hofmannsthal in Die Idee Europa. Notizen zu einer Rede, in: ders. (Anm.12), S. 369-383. 15 Vgl. Prosa V, S. 337-350. 16 Sie ist zuerst erschienen in: Die Rettung. Blätter zur Erkenntnis der Zeit, Band 2, hrsg. von Franz Blei und Paris Gütersloh, Hellerau 1920; jetzt in: Prosa V, S. 351-356.

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tion entspricht die Rede als Form, anders als der gedruckte Traktat, anders als ein autoritativer Aufruf, anders als die bloß moralisierende Ansprache, anders als die in Kriegsdienst genommene Predigt. Zwar bestehen Analogien zwischen Predigt und Rede, aber die Rede als profane Predigt leitet ihre Autorität nicht von heiligen Texten oder Instituten her, sondern sucht sie erst im Hörer zu gewinnen. Fichte beim Vortrag seiner Reden an die deutsche Nation steht Borchardt vor Augen, aber seit diese Reden mit ihrem Pathos der zwingend bewiesenen Allgemeingültigkeit vor hundert Jahren verklungen sind, hat sich auch das Gesetz der Rede verändert. Da sie die Transzendentalphilosophie nicht mehr voraussetzen kann, ist sie privater und unsicherer geworden; sie muß jetzt, wie man in schlechtem Deutsch sagt, "existentiell" sein. Diese geschichtliche Verschiebung fordert, daß man zwischen der gesprochenen und der publizierten Rede wieder "mit der einfachen Strenge" scheidet, "die man von der antiken Literatur gewohnt ist" (S. 191). Die gesprochene Rede ist kein ersatzweise vorgetragenener popularisierter Traktat, keine für das breitere Publikum ermäßigte Vorlesung, sondern sie ist "Handlung und Leiden", individuelles Drama und Opfer, ein "erregter Lebensvorgang zwischen einem öffentlich Entschlossenen und einer vielköpfigen unschlüssigen Öffentlichkeit" (S. 190). Der Dichter als Redner, als sprechender Redner, beschreibt 1912/16 sein Tun in der Sprache der Lebensphilosophie; er nennt seine Rede, anders als die gedruckte, "eine gelebte Lebensstunde, und als solche unermeßlich, unaussprechlich, vergessen". Bleibend, unvergeßlich wird sie durch Gestaltung: "Der sprechende Redner versetzt den Hörer ins Innere seines eigenen auf bestimmte Gegenstände koncentrierten Geistes, der Autor einer publizierten Rede den Leser ins Innere der Versammlung" (S. 191). Die Dilthey-Anklänge verdecken nicht: Borchardt als Redner der Kriegsjahre 1914/16 stützt sich auf kein vorhandenes System; sein Anhalt ist einzig sein erschüttertes denkendes Ich; er folgt allein seiner Bestimmung als "Gewissen", wie er sagt, zu sprechen, ungefällig, rücksichtslos, ohne die Rhetorik des nationalen Selbstlobes, ohne Schmeichelei und - im Prinzip - ohne Beschimpfung der Feinde. Seine Vereinzelung ist seine Schwäche; er hat keine Massen, keine Partei hinter sich. Aber sie ist auch seine Stärke; sie sichert ihm "Unabhängigkeit" (S. 88). Er spricht als "moralische Person", die Borchardt von der eines "politischen Moralisten" (S. 116) scharf unterscheidet. Von ihr, der "moralischen Person", ist nicht die immer relativierende Betrachtung der "Sachkenner", die sich unter lauter Bedingtheiten bewegen, zu erwarten, sondern ein "Unverkäufliches", ein "Unbedingtes", die entschiedene Stimme eines "Liebenden", der sündigt, wenn er klug wird (S. 304f.). Der Redner geht zurück in den Grund, ins "Innere", aus dem Beschlüsse und Erkenntnisse, Dinge und Institutionen erst hervorgehen.

Rudolf Borchardts Kriegsreden

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Borchardt sagt dafür: Er spricht als "Seele" (S. 3 0 4 ) . Seine Rede stellt "Seele", das "einzig schöpferische Element in der Zeit" (ebd.) in das Stimmengewirr der vom Krieg und von den Phrasen Verstörten. Passagenweise verwandelt sich die "Seele" und wird zum "realpolitischen Beobachter" (S. 116), so wenn Borchardt die historische Rolle Englands und seine strategische Situation richtigstellend bespricht, besonders aber wenn er die objektive Position des als "treulos" gescholtenen Dreibundpartners Italien darstellt. Gerade dann gelingen Borchardt kleine Kabinettstücke historisch-politischer Analyse, aber er stellt sie unter den Dualismus von "Parteimann" und "Geistiger Person". Der Dichter, der in seinem öffentlichen Amte spricht, verlangt von sich nicht weniger als "das ganze Volk in sich darzustellen und aufzuheben" (S. 5 9 1 ) . Das ist hegelianisierend formuliert, nur teilweise mit Hegel gedacht: Dieser Redner spricht nicht mit der Gewißheit eines Geschäftsführers des Weltgeistes, der uns die Kabinettsbeschlüsse der Vorsehung auslegt. Dazu ist er zu zukunftsscheu, zu alttestamentlich, zunehmend auch von Kierkegaard berührt. Doch stellt er an sich schwer einzulösende, superlativische Forderungen. Ein metaphysisch ambitioniertes und, sagen wir es offen: ein zum Scheitern bestimmtes Selbstmaß spricht sich aus: "Wir sind nicht zusammengekommen, um einander zu belügen und zu schmeicheln, sondern um gemeinsam ins Höchste, Reinste, Wahrste zu zielen." (S. 2 4 7 ) Der Redner zielt darauf, "die Nation ins Wahrhaftige, ins Bescheidene und Tiefe zurückzurufen, damit es kein leerer Schall sei, daß der Krieg uns wandelt, damit wir bildbarer Stoff werden in den mächtigen Schöpferhänden der Zeit, nach Jahrzehnten der Brache und der Starrheit." (S. 2 4 9 ) Ein assoziationsreicher T e x t : der Krieg als Erprobung in einer fast pantheistisch gedeuteten Geschichtszeit, schroffe Distanzierung von der Vorkriegszeit. Beides verdeutlicht ein zweites Gedankenmotiv der Kriegsreden, dem ich mich jetzt zuwende.

2. Die Titel der beiden großen Kriegsreden stammen von Borchardt selbst und lauten:

1914: Der Krieg und die deutsche Selbsteinkehr, 1916: Der Krieg und die deutsche Verantwortung. In beiden Reden zeigt sich Borchardt vom Sieg der Deutschen überzeugt. Beide Reden zielen darauf ab, die Deutschen müßten sich radikal ändern, um des Sieges würdig und um der durch ihn gestellten Aufgaben gerecht zu werden. Die unerläßliche Voraussetzung nennt Borchardt "Selbsteinkehr". Was heißt das?

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Kurt Flasch

Borchardt verweist nicht ausdrücklich auf Fichte. Doch schlüsselt sich sein Haupt-Wort "Selbsteinkehr" von Fichte her auf. Fichte bemerkt einmal, die Menschen seien eher bereit, sich für ein Stück Lava auf dem Mond zu halten als für ein Ich. "Ich", das ist nicht das empirische Individuum. Es ist die weltermöglichende, weltschaffende, immer auch allgemeine Instanz, die sich selbst weiß, die aufgehört hat, sich mit einem Stück Lava auf dem Mond verwechseln zu können. Borchardts "Selbsteinkehr" enthält die neuplatonische, dann auch christliche Forderung, sich selbst wahrzunehmen, nicht als diesen-da, sondern als Seele, sich also nicht länger über die Dinge der Außenwelt zu definieren und in diesem Sinne sich selbst, als Geistseele, nicht zu vergessen. Plotinisch hieß das: Apbele panta, nimm alles weg, laß alles fallen! Augustinisch formuliert: tolle hoc, tolle illud, überwinde die festlegende Vorstellung des Dies und Das, kümmere dich um deine "Seele", nicht um empirische Selbsterhaltung und Selbst-Erweiterung, sondern um Einkehr in dich! Das platonisierende Konzept der "Seele" war Borchardt wesentlich, nicht als romantisierende Innerlichkeit (auch wenn er dafür "das Innere" sagt), denn aus ihr entstehen die "Formen". Das Innere - das ist unser Wille, unsere Freiheit, dann auch unser unbewußtes Gesetz, es sind alle Kräfte der Seele, nicht isoliertes Gefühl (vgl. S. 304). Die Seele ist der Ort des Unkäuflichen, des Unbedingten oder, wie Borchardt sagt, "der unabhängigen Innerlichkeit", aus der Taten hervorgehen. Die Standardkritik an deutscher Innerlichkeit trifft sie, glaube ich, nicht. Denn Borchardts "Innerlichkeit" beginnt zwar mit ihrem Gegensatz zur Außenwelt, aber sie endet nicht bei ihm. Sie ändert sich, damit die Welt sich verändere. Daher das öffentliche Amt des Dichters als Kriegsredner. Heutige Leser der Kriegsreden sind schwerlich darauf vorbereitet, in ihnen das delphische, sokratische, plotinische und augustinische "Erkenne dich selbst" wahrzunehmen. Deswegen insistiere ich: Die "Selbsteinkehr" ist der Weg zur "Seele". Die Kriegsreden sprechen diesen philosophischen Hintergrund klar aus, gehen dann aber von der spekulativen Seelenmetaphysik über zu einer nationalen Selbstbesinnung und Geschichtsrechenschaft. Dies entspricht ihrer Aufgabe, den Weltkrieg zu denken und zugleich intellektuell den Frieden ins Auge zu fassen, in differenzierten Analysen, von denen ich nur wenige Aspekte nennen kann. 3. Borchardt glaubte die Metaphysik der Seele und der Formen zu brauchen, um die Geschichtserfahrung des August 1914 begreifen zu können. Die Kriegsreden sollen jenen erregenden, vereinigenden Augenblick nicht nur deuten, sondern festhalten und zur Gestalt bringen. Sie geben dem Vorübergegangenen Form.

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Bis 1 9 1 6 sah Borchardt mit vielen, freilich durchaus nicht mit allen anderen Deutschen den seelischen Aufschwung bei Kriegsbeginn als die Wahrheit der Nation an, die zuvor unter Geschäftigkeit und Renommiergehabe verborgen gewesen sei. 1 9 1 7 äußert Borchardt diese Sicht nicht mehr. Aber bis dahin sah er mit vielen Zeitgenossen im Zurückdrängen des individuellen Egoismus, in Begeisterung und Opferbereitschaft die Rückkehr des bislang verborgenen, gar verleugneten deutschen Wesens. Die Kriegsreden suchen diesen Aufbruch ins Allgemeine, ins Dauerhafte zu heben, in die "Seele". Sie sind Reden eines Schöpferischen, der von sich verlangt, bleibende Form zu schaffen. Zugleich haben sie eine reinigende, eine polemische Aufgabe. Sie lehren, die Phrasen fernzuhalten, die umgehen und die der Größe des Geschehens nicht entsprechen. Sie erbringen über weite Strecken hin konkret eine Kritik der Weltkriegsrhetorik und gehen deren verschiedenen Niveaus durch. Das beginnt damit, daß Borchardt angeekelt die Zumutung zurückweist, wer über diesen Krieg spreche, müsse die Feinde schmähen. Das enthält die Weigerung, in den Chor des Selbstlobs der Deutschen einzustimmen. Verächtlicht verwirft Borchardt den Jargon des "Immer feste druff!"; er ironisiert die in zahllosen Predigten und national-frommen Traktaten verbreitete theologisierende Form des deutschen Uberlegenheitswahns, wir könnten des Sieges gewiß sein, weil die Vorsehung die Weltstellung Deutschlands wolle. Borchardt stöhnt auf: Der neue Deutsche, der Deutsche, der dieser geschichtlichen Situation entspreche, er ist noch nicht da, aber seine Karikatur haben wir schon - den nationalen Fanatiker, der am Stammtisch expansionistische Landkarten zeichnet, bevor der Krieg gewonnen ist. Sieg, interveniert Borchardt, ist eine Göttin, keine errechenbare Konsequenz der Rüstungstechnik, keine dumpfe Gefühlsgewißheit. Seine Kritik reicht weiter. Sie grenzt sich nicht nur ab von aufhetzenden Zeitungsparolen, sondern vor allem von den Denkschemata der meisten deutschen Intellektuellen, die über den Krieg öffentlich gesprochen haben. Von diesen Denkpositionen nenne ich drei, beginnend mit der rassistischen Geschichtsphilosophie. Es ist heute, ohne spezielle Studien, nicht abschätzbar, in welchem Maße die Kriegspublizistik - nicht nur Deutschlands und Österreichs - Rassentheorien in Anspruch genommen hat. Manche nähmen gar zu gerne an, der historisierende Rassismus entstamme späteren Jahrzehnten. Aber Borchardt hat 1 9 1 4 leidenschaftlich gegen ihn protestiert - als gegen den "Lügenplunder", der seit 5 0 Jahren die geschichtlichen Vorstellungen vieler bestimme (S. 211). Er hält fest: Bedeutende Historiker und angesehene Philosophen deuten den Krieg als Konflikt der germanischen und der slavischen Rasse. Er fragt dagegen: Sind nicht die "germanischen" Engländer einer unserer stärksten Gegner?

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Stehen etwa alle Polen auf Seiten Russlands? Borchardt notiert Stimmen aus Frankreich und Italien, die diesen Krieg als die Wiedergeburt der von Germanen bedrängten und überformten lateinischen Rasse deuteten (S. 2 0 9 211). Was er dieser rassistischen Geschichtsdeutung entgegenhält, ist nicht etwa deren Tendenz zum Antisemitismus. Davon ist bei ihm 1 9 1 4 / 1 6 nicht die Rede. Sein entscheidendes Argument gegen die rassistische Geschichtsdeutung ist das der Kategorienverwechslung: Die Rassentheorie will Geschichte in Naturkategorien

fassen. Geschichte aber ist die Aktion und das Leiden von Staa-

ten, von Geschichtsgruppen, die sich durch geistige Arbeit, durch Sprache, Religion und Recht geformt haben. Zudem ist "Rasse" eine unklare, eine ungesicherte, eine "mythologische" Kategorie: "Es gibt, vielleicht, Germanen. Ich weiß es nicht. Sie alle wissen es nicht" (S. 2 1 3 ) . Was wir wissen, ist, daß es Völker und Staaten gibt. Die rassentheoretische Geschichtsdeutung unterschlägt das Schicksalhaft-Faktische des geschichtlichen Lebens und verkennt das Moment seiner bewußten Gestaltung. Borchardt hielt es -

irrtümlich,

gewiß - für ein sicheres Ergebnis der denkenden Betrachtung des Weltkriegs, daß die rassistische Geschichtserklärung gescheitert sei. Ein zweiter Komplex, den Borchardts Kritik trifft, ist das Hervorkehren der technischen und militärtechnischen Überlegenheit Deutschlands.

Häßliche

Verblendung sei es, nach "der elenden Gewohnheit des letzten Vierteljahrhunderts" das Äußerliche, Technische hervorzukehren und in den "mechanischen Vorzügen von Vernichtungsapparaten" genüßlich zu schwelgen. Die Deutschen von 1 9 1 4 , sagt Borchardt, verstehen sich selbst nicht, wenn sie ihre Siegesgewißheit darauf bauen, daß Krupp die "dicke Berta" gebaut hat. Ihre Kriegsredner verweisen auf äußerliche, auf technische und mechanische Faktoren und verkennen dadurch die geschichtliche Sonderstellung in Europa - die deutsche "Verantwortung", die einer freien, leichten, besonnenen, historisch belehrten Ordnungsstiftung, für die Borchardt nur einmal, nur im Oktober 1 9 1 4 das damalige Modewort "Organisation" gebraucht, das er aber damals schon, Plenge und andere korrigierend, mit Ideen Schillers, auch Goethes

und Humboldts

verband.

Das

Deutschland

Borchardts

ist das

Deutschland Herders und Goethes; verächtlich notiert er den Abstieg von Hegel zu Siemens und Halske. Unter den Klassikern, die in den Kriegsreden präsent sind, ist Schiller hervorzuheben: Die Kriegsrede von 1 9 1 4 endet mit einem Zitat aus dem Lied an die Glocke.

Dessen abgeleierter T e x t gewinnt in

dieser Umgebung neue, unkonventionelle Nuancen, die genauerer Untersuchung wert wären.

Der Krieg und die deutsche Selbsteinkehr trägt das Motto: .. quod ferrum non sanat ignis sanat..

Das gehört nicht in die Bismarcksche Metaphorik von

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Blut und Eisen und Feuer, sondern in die medizinische Tradition der hippokratischen Schriften, der es Schiller entnommen und als Motto über die Räuber gesetzt hatte: Was das Messer des Anatomen nicht heilt, bedarf der Heilung durch innere Wärme. Borchardt interpretiert ausdrücklich "ignis" als Wärme, Brand, Licht und Form (S. 219). Er verteidigt in dieser Polemik gegen den Nationalmechanismus sein Deutschland, sein imaginiertes Deutschland, gegen das Deutschland der Meisten. Dies bestimmt sein Konzept vom Sieg eines veränderten, eines gereinigten Deutschland. Der Krieg lasse hoffen, mit Furcht und Zittern, nicht als Gewißheit, das reale Deutschland werde durch dieses reinigende Feuer seiner Idee näher kommen, seiner Tradition reiner entsprechen. Vom realen Deutschland sagt Borchardt, er sei dorthin jedesmal aus der Fremde zurückgekommen "wie Jonas nach Niniveh; sprachlos und stumm" habe er in seinen "bösen, bunten Gassen" dagestanden (S. 218). Der Sieg, hofft er, werde die Überwindung der "Zivilisation" durch die "Kultur" sein. Der deutsche Sieg müßte sein "der Sieg des Geistes über den Intellekt, der Ordnungen über die Mehrheit, goethisch gesprochen, des Glaubens über den Unglauben" (S. 221). Dies ist ein metaphysisches, ein anti-rassistisches und anti-mechanistisches Konzept mit anti-liberaler, anti-parlamentarischer Spitze: Der Sieg der Kultur wäre der Sieg der Seele, der Form, auch der Sieg der Monarchie. Ein dritter Komplex, den Borchardts Kritik trifft, ist die falsche geschichtliche Selbsteinordnung des Wilhelminischen Reiches. Seine Historiker hätten die Vergangenheit auf den status quo bezogen, hätten das "Reich" als Vorstufe der "Nation" gedeutet. Diese Kritik führt zu einer Reihe historischer Revisionen. Ich nenne nur die Neubestimmung der geschichtlichen Rolle Bismarcks, die Einschätzung der Weltstellung Englands und, damit verbunden, die Analyse der politisch-strategischen Situation Italiens seit dem Anwachsen der deutsch-englischen Spannungen. Zu diesen nuancenreichen Analysen kann ich nur einige Stichworte nennen: Borchardt beschwört einerseits Bismarck als Mythos, den einzigen, den die Deutschen jetzt besäßen, andererseits läge bereits in Bismarcks außenpolitischer Inkonsequenz - Desinteresse an Balkan und Orient, Fehlen einer Uberseepolitik - die Ursache der Spannungen, die zum Weltkrieg geführt haben. Der Konflikt mit England sei aufgrund der durch Bismarck geschaffenen zentralen Machtstellung Deutschlands unvermeidlich gewesen; Bismarck aber habe die Illusion genährt, Deutschland könne seine neue Weltstellung in friedlicher Kooperation mit England erwerben und erhalten. In diesem Zusammenhang fällt Borchardt das Urteil, nicht die Flottenpolitik, sondern das verspätete Einsetzen der Flottenpolitik habe den Konflikt mit England herbeigeführt. Andererseits hebt Borchardt hervor, ohne die stillschweigende Duldung Eng-

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lands hätte Bismarck weder 1866 noch 1871 siegen können. England habe ein Verdienst an der deutschen Einheit. Es habe auch Pate gestanden bei der Einigung Italiens, deshalb sei es eine Illusion der Wilhelminischen Reichsleitung gewesen, gegen England auf Konfliktkurs zu gehen und gleichzeitig Bündnistreue vom Dreibundpartner Italien zu verlangen, dessen wichtigste Städte in Reichweite der englischen Schiffsgeschütze liegen. Hier ist zu notieren, daß Borchardt seine Analyse der Entstehung des deutsch-englischen Konflikts später öffentlich revidiert hat. In Italien und Frankreich, einem Text von 1930, sagt er, es seien die Irrtümer der deutschen Politik gewesen, welche die "englisch geführte Weltkoalition" (S. 382) gegen Berlin herbeigeführt habe. 1938 interpretierte er seine Bemerkungen über Bismarck dahin, er habe nicht Bismarcks Nachfolger gegen Bismarck ausgespielt - eine Stelle auf S. 323 scheint mir immer noch in diese Richtung zu gehen - , sondern er habe die Rückkehr zum Freiherrn von Stein statt zu Bismarck empfohlen. Ich bedaure, hier nicht in die Einzelheiten eintreten zu können; es geht einzig darum, in Borchardts Konzept der "Selbsteinkehr" den historischen Aspekt neben dem metaphysischen nicht zu vernachlässigen. "Selbsteinkehr" heißt Rechenschaft über unsere geschichtliche Herkunft: Wie weit dachten wir selbst in rassistischen und national-mechanistischen Begriffen? Haben wir begriffen, warum die Zeit vor 1914 eine Zeit der Brache und der Erstarrung war? "Selbsteinkehr" heißt: Die Nation hat Anlaß zu fragen, wie weit sie noch Anteil hat an der Verkommenheit der Vorkriegszeit, zu der es kein Zurück mehr geben wird. "Selbsteinkehr" und deutsche "Verantwortung", das heißt: Wir müssen prüfen, was wir Europa zu geben haben, wenn wir siegen. Die meisten fragen aber, was wir uns nehmen werden, wenn wir siegen. Gegen das Gerede von Annexionen fordert Borchardt bereits 1914, "den nationalen Wunsch zeitig und eng zu begrenzen" (S. 242); er ruft auf "zu der Pflicht des Mißtrauens gegen unsere Emphase" (S. 243); er nennt die Annexion eine "historisch vollkommen überlebte Form" (S. 258). Entsagen, entsagen, heißt seine stoische, seine Goethesche Formel (S. 263). "Selbsteinkehr" - das wäre die Abkehr von den patriotischen Phrasen der Deutschtumsprahler (S. 251); sie wäre Rückkehr zur Goetheschen Kultur des Entsagens. Nachgiebigkeit bei starkem Willen. Deutschland muß etwas zu geben haben, was nur es zu geben hat. Dies kann nicht Liberalismus oder Kriegstechnik noch nationalistischer Länderraub sein; es ist der Geist, die Ordnung, die Form. Darauf laufen Borchardts Kriegsreden hinaus: "Was haben wir morgen zu geben? Geben, geben - dies ist das immer wiederkehrende mahnende Wort - was haben wir zu geben?" (S. 261; vgl. S. 215f., 245,262f.).

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Das Vorkriegsdeutschland hatte nichts zu geben; nur durch die Umwälzung des Krieges kann ein sich wandelndes Deutschland sich selbst wieder entdecken - dazu rufen die Kriegsreden auf. Mit einem argumentativ schwer zu stützenden Maß an Hoffnung. Was der Redner vorzubringen hat, ist allein eine metaphysische Verklärung des August 1 9 1 4 ; er spricht im Rückblick auf diese Tage von der "unendlichen Seligkeit der kaum mehr geglaubten Versöhnung mit dem tiefsten Geiste der Nation" (S. 247).

III Wie konnte Borchardt annehmen, der Taumel der ersten Augusttage 1 9 1 4 habe den Niedergang der Vorkriegszeit aufgehoben, den er so lebhaft beklagt hatte? Damit erheben sich Einwände. Ich habe sie bislang zurückgedrängt, um zunächst die Kriegsreden in ihrer gedanklich-sprachlichen Form, in der sie unwiderleglich und unverwechselbar sind, vor den Blick zu bringen. Doch treten die Weltkriegsreden Borchardts mit einem solchen Pathos der Wahrheit auf, daß sich gegen sie verginge, wer Gegengründe nicht vorzubringen wagte. Schließlich handelt es sich hierbei nicht um eine rein literarische Position, sondern um ein Unglück ungeheuren Ausmaßes, mit bis heute anhaltenden Folgen, oder, wie Borchardt sagte, um die größte Katastrophe, die Europa seit der Völkerwanderung betroffen hat. Daher erlaube ich mir die folgenden kritischen Hinweise: Erstens: Borchardt äußert durchdringende außenpolitische Einsichten, große Veduten, die zahllose geschichtliche und selbst strategische Einzelheiten aufschließen, besonders was Italien und damit sein Konzept eines VertikalEuropa (England, Deutschland, Italien) betrifft, aber sie werden verdrängt durch seine Tendenz zur metaphysischen, geschichtsphilosophischen Überhöhung, die ein isoliertes Faktum zum Inbegriff und transzendenten Maßstab erhebt. Die wohlbegründete Abwehr naturalistischer und mechanistischer Erklärungen, sein Abscheu vor Dekomposition, sein Ekel vor Banalisierungen, seine Verachtung des klugen Geredes enden in einer Heroisierung von Konflikten, in einer kultischen Attitüde gegenüber Staat, Ordnung, Organisation und Monarchie. Er versucht gar nicht erst eine historisch-empirische Analyse der Kriegsursachen und ihrer faktischen Bedingungen, denn er metaphysiziert den Deutschenhaß, über den er sich soviel früher als andere, Scheler zum Beispiel, Rechenschaft gab, aber so, daß er ihn auf den Gegensatz von europäischer Zivilsation und deutscher Kultur, von Intellekt und Geist reduzierte, ohne diese Dichotomien noch zu historisieren.

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Ich wende mir ein: Nachdem der Krieg nun einmal da war, galt es, dessen moralische, politische und intellektuelle Herausforderung anzunehmen; es galt, ihn zu begreifen, nicht: ihn zu erklären. Schon richtig, erwidere ich mir, aber ein Historiker und Geschichtsphilosoph vom Range Borchardts mußte auch zu den Einzelheiten des Juni/Juli 1914 kommen; er kam es aber nicht, weil ihn seine tragizistische Weltsicht dazu verleitete, den Krieg für unvermeidlich anzusehen; ich erinnere noch einmal an die Kritik an Bismarck, die nicht weit davon entfernt ist, ihm vorzuwerfen, er habe die unvermeidlichen Konflikte nur diplomatisch verschleiert und damit vertagt, ferner an die später zurückgenommene These, der Kampf mit England um Weltstellung sei unausweichlich gewesen und der Flottenbau sei zu spät begonnen worden. Zweitens: Viele Intellektuelle, die sich 1914 äußerten, sprachen - in einer heute unbegreiflichen Selbstbefangenheit - , als habe der Krieg die Aufgabe, ihre literarischen Gegner zu züchtigen, als sei der Krieg dazu da, die von ihnen mißachteten künstlerischen und philosophischen Strömungen zu widerlegen, als sei der militärische Kampf, in seinem tiefen Grunde betrachtet, das Symbol für eine intellektuelle Kraftprobe, an der er, der intellektuelle Kriegsredner, schon seit langem unbeachtet arbeite. Das gab es nicht nur in Deutschland. Französischen Kanonieren sagten nationalkatholische Geistliche, ihre Kanonen richteten sich gegen den verderblichen Kantianismus; deutsche Philosophen redeten, als ritten deutsche Kavalleristen gegen den Positivismus oder auch - das Verfahren wechselte beliebig - gegen den Bergsonianismus. An dieser Eigenheit hat auch Borchardt Anteil, nicht nur, daß er den Krieg zum Anlaß nimmt, seine Abneigung gegen Shaw, gegen d'Annunzio und Verhaeren zu bekräftigen, sondern vor allem insofern, als er vom Krieg, von seinem geistigen Feuer, also gerade nicht vom Schwert, die Umwandlung erwartet, die er durch Forschung und gestaltete Sprache im Vorkriegsjahrzehnt nicht erreichen konnte. Drittens: Borchardt sprach zu seinen Deutschen mit dem unendlich distanzierten metaphysischen Ernst eines alttestamentlichen Propheten gegen naive Siegessicherheit, gegen chauvinistische, rassistisch verbrämte Überheblichkeit. Dennoch oder gerade deswegen gar konnte er nicht vermeiden, die Deutschen als providentielles Volk zu sehen. Wir werden siegen, rief er aus, "nicht weil wir als Germanen das auserwählte Volk Gottes wären, sondern weil wir die Pflicht in Gottes Ordnung zu stehen voll und ernst nehmen und sie wiedereinsetzen müssen wo sie im Bereiche unserer Welt, durch keinen anderen Arm gehalten werden kann als den unsern" (S. 215). Solche Aussprüche waren vom Chauvinismus nationalprotestantischer Konsistorialräte nicht himmelweit entfernt. Selbst der so konstant und so entschieden verworfene Annexionismus kehrt wieder, nämlich in Borchardts

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Wunsch, künftig solle "vom Euphrat zu den finnischen Seen eine einzige Grenze sein. Wir werden sie auch gegen den Westen vorschieben müssen" (S. 214). Solche Sätze bildeten gewiß auch Teil eines strategischen Spiels, die Hörer von dem Wahn abzubringen, dieser Krieg werde England als Weltmacht beseitigen, aber es mangelt ihnen doch an Konsistenz. Ich beruhige mich nicht damit, ein Goethewort variierend, ein großer Text hänge mit seinem Entstehungsjahr immer durch eine Schwachheit zusammen. Nein, ich bleibe dabei, ich ehre den Denker Borchardt, indem ich von einer schwerwiegenden Inkonsistenz spreche, von Rückkehr des metaphysisch verbrämten Annexionismus, sogar, was die Farbigen angeht, des Rassismus. Da ist nichts zu beschönigen. Aber dann gehe ich weiter und erinnere an die Worte, mit denen Borchardt 1917 die Schwäche des Gedichtes Der Krieg von Stefan George beschrieb: "Die Allure ist die des Sehers. Das Gedicht ist das eines Sehers der nichts sieht, nicht sowol weil er kein Seher wäre, als weil seine Augen vor Jammer wanken und beben." In diesem Wanken und Beben, "nicht in der traditionellen Selbststilisierung, die es verleugnen will", sind Borchardts Kriegsreden, wie Georges Gedicht, "ein bleibender Ausdruck der Zeit" (VI, S. 321).

STEFAN B R E U E R

Rudolf Borchardt und die "Konservative Revolution" Zwischen uns Heutigen und dem Autor, der am 30. 8. 1931 in den Münchner Neuesten Nachrichten zu einer "konservativen Revolution" aufrief,1 stehen über sechzig Jahre. In diesem Zeitraum hat der Begriff der Konservativen Revolution (im folgenden KR) eine Ausfüllung erfahren, über die sich vorab Rechenschaft ablegen muß, wer darüber handeln will. Während er in der Weimarer Republik nicht nur, aber vor allem von Schriftstellern gebraucht wurde - neben Borchardt bekanntlich Hofmannsthal, davor schon Thomas Mann - , wobei der genaue politische Sinn stets vage blieb, wurde er nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem Ordnungsbegriff, der die intellektuelle Rechte zwischen NSDAP und Deutschnationalen charakterisieren sollte. Am bekanntesten ist das Handbuch von Armin Möhler geworden, das die KR als eine durch Nietzsche ausgelöste geistige Bewegung definiert, die durch ein gemeinsames Weltbild gekennzeichnet sei - das >Weltbild der Wiederkehr< - , welches Möhler zunächst von fünf, später nur noch von drei Gruppen vertreten sieht: den Jungkonservativen, den Nationalrevolutionären und den Völkischen. 2 Auch Borchardt taucht in Möhlers Sample auf, allerdings nicht unter einer dieser drei Gruppen. In den beiden ersten Auflagen rangiert er in der Rubrik 'Dichterischer Umkreis', Untergruppe B 63, 'Die stilisierenden Dichter', zusammen mit Hofmannsthal, George, Ernst Bertram und Paul Ernst. Dann, in der dritten Auflage, mit deutlicher Rangerhöhung in der Rubrik 'Leitfiguren', Untergruppe 'Die deutschen Paten', neben George, Richard Wagner, Gerhart Hauptmann u.a. Diese Einordnung erfolgt ohne jede inhaltliche Bezugnahme auf den solchermaßen Geehrten. Tatsächlich kann Möhler von Borchardt nicht viel gelesen haben, sonst wäre ihm kaum der Abstand entgangen, in dem sich dieser von seinem, Möhlers, Konzept der KR befindet. Borchardt hat wohl das "schöpferische Wiedererlebnis der Vergangenheit" gefordert, die "restitutio in integrum des ideellen

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Rudolf Borchardt: Konservatismus und Humanismus, in: Prosa V, S. 441. Vgl. Armin Möhler: Die Konservative Revolution in Deutschland 1918-1932, 2 Bde., 3. Aufl., Darmstadt 1989 (zuerst 1950).

Rudolf Borchardt und die "Konservative Revolution"

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deutschen Volksganzen", 3 aber damit nur die Rückkehr aus einer Sackgasse, einem Holzweg gemeint, kein 'Weltbild der Wiederkehr'. Ein zyklisches, gegen das Christentum gerichtetes Zeitverständnis, wie es Möhler für alle Varianten der KR postuliert, war ihm, dem das Christentum "der Geist der deutschen Geschichte" war, 4 gänzlich fremd. In Nietzsche hat er einen Hysteriker gesehen, auf den er sich jedenfalls in seinen Essays kaum anders als negativ bezog. 5 In der nachgelassenen Aufzeichnung Stefan George betreffend bildet Nietzsche mit Wagner und George das Trio infernale, das die am Ende im Nationalsozialismus kulminierende Effeminierung und Entmannung Deutschlands wesentlich mit zu verantworten habe. 6 Legt man das Verständnis Möhlers zugrunde, so ist man mit dem Thema "Rudolf Borchardt und die KR" zuende, noch bevor man recht angefangen hat. Da es mit den meisten anderen Vorschlägen, die KR zu definieren, nicht anders steht - Möhler gehört zu den wenigen, die überhaupt Kriterien angeben - , tut man am besten daran, die politikwissenschaftliche Literatur ganz zu vergessen; und das heißt insbesondere: das Vorverständnis, nach dem ein Autor, der von KR spricht, sich damit in eine Bewegung oder eine klar umreißbare Richtung dieses oder jenes Inhalts eingeschrieben hätte. Bevor man zu derartigen Urteilen kommt, ist es nötig, ganz schlicht von den Texten auszugehen und deren Sinn zu ermitteln. Ich beschränke mich deshalb auf zwei Fragen von elementarer Banalität: Was meint Borchardt, wenn er das Wort 'konservativ' gebraucht? Und warum kombiniert er es mit dem Wort 'Revolution'? Ich will versuchen, diese Fragen zu beantworten, und im Anschluß daran, so weit es der Rahmen zuläßt, erörtern, in welchem Verhältnis Borchardts Verständnis dieses Syntagmas zu anderen zeitgenössischen Versionen steht.

I Daß Borchardt sich selbst dem Konservatismus zugeordnet hat, läßt sich einer Reihe von Zeugnissen entnehmen. Im September 1930 teilt er Baron Karl Ludwig von Guttenberg mit, er habe den Münchner

Neuesten

Nachrichten

"eine Serie von 6 konserv. Aufsätzen" versprochen, von denen bereits zwei

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Rudolf Borchardt: Die geistesgeschichtliche Bedeutung des 19. Jahrhunderts, in: Reden, S. 344, 339. Rudolf Borchardt: Dichtung und Christentum, in: Prosa IV, S. 205. Rudolf Borchardt: Die Antike und der deutsche Völkergeist, in: Reden, S. 274. Vgl. Rudolf Borchardt, Nachlaß (Deutsches Literatürarchiv, Marbach): Aufzeichnung Stefan George betreffend, S. 53, (im folgenden zitiert: Aufzeichnung).

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Stefan Breuer

fertig seien, nämlich Konservatismus und Humanismus sowie Konservatismus und Monarchismus.7 Weitere Stücke dieser Serie sind Das Reich als Sakrament (1932) und Staatenbund oder Bundesstaat (1933) sowie das nicht mehr veröffentlichte Manuskript Der Fürst (1933), das Borchardt gegenüber der Redaktion als Teilstück einer 'Theorie des Conservatismus" bezeichnet. 8 Aus einem weiteren Brief an die Redaktion geht hervor, daß Borchardt vorhatte, diese Aufsätze zu sammeln und zu publizieren. 9 An Herbert Steiner schreibt er im Dezember 1933, seine Ziele seien "die monarchische Herstellung" und die Entwickelung einer in Weltsprachen sich ausdrückenden consequenten conservativen Schriftstellerei [...]. Sie wird, was seit Burke nicht mehr geschehen ist, den europäischen Conservatismus so pamphletär und angreifend vertreten, wie in den letzten Generationen nur der Radikalismus vertreten worden ist, und in sich ein conservatives Manifest darzustellen versuchen.' 0

Was versteht Borchardt unter Konservatismus bzw. konservativ? Eines mit Sicherheit nicht: die Weltanschauung einer Partei. In einem Rechenschaftsbericht über seine politischen Interventionen, der um 1932 entstanden sein dürfte, bezeichnet sich Borchardt als einen Mann, "der von keiner Partei sein konnte, der von Beginn alles was um ihn her Partei zu machen oder zu werden versucht hatte, sich ferngehalten hatte".11 Seine Ablehnung gilt dabei vor allem "dem völlig verödeten und obsoleten Blähleib der alten konservativen, nun anders genannten Partei", also der DNVP, einem Gebilde, das nur noch aus zum Tode verurteilten bornierten Landwirten und banausischen Arbeitgebern bestehe und von geistigen Tieffliegern und Phrasenhelden wie Hugenberg geleitet werde. 12 Dieselbe Abneigung äußert er gegenüber den Volkskonservativen, einer Abspaltung der DNVP, sowie den parteipolitischen Ambitionen des Deutschnationalen Handlungsgehilfenverbandes, für den er sich nichtsdestoweniger in einen langwierigen Rechtsstreit verwickeln läßt. 13 Eine gewisse Nähe ist allenfalls zu dem nicht parteipolitisch gebundenen Kreis um die Zeitschrift Der Ring zu erkennen, der unter Heinrich von Gleichen das Ziel einer Sammlung der Oberschicht verfolgte und sich seit 1929 für eine autoritäre Präsidialregierung stark machte. 14 Nach dem Rechenschaftsbericht, 7 8 9 10 11 12 13 14

Briefe 1924-1930, S. 492. Briefe 1931-1935, S. 185. Die o.g. Aufsätze finden sich in Prosa V. Briefe 1931-1935, S. 168. Ebd., S. 305. Rudolf Borchardt: Der verlorene Posten, in: Prosa VI, S. 203f. Ebd., S. 206; Nachlaß: Brief an Heinrich von Gleichen. Rudolf Borchardt: Deutsche Literatur im Kampfe um ihr Recht, in: Prosa IV, S. 302. Heinrich von Gleichen (1882-1959) gehörte kurz nach dem Krieg zusammen mit Moeller van den Bruck, Max Hildebert Boehm, Eduard Stadtler u.a. zu den Gründern des Juniklubs, der 1924 vor allem auf von Gleichens Initiative durch den wesentlich elitäreren Herrenklub ersetzt wurde: Manfred Schoeps: Der deutsche Herrenklub. Ein Beitrag zur

Rudolf Borchardt und die "Konservative Revolution"

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den Borchardt um 1932 verfaßt hat, kündigte er allerdings seine Mitarbeit in dem Augenblick auf, in dem das Blatt aus Geldnot in Abhängigkeit von der Großindustrie geriet. 15 Borchardts Konservatismus ist also nicht der einer Partei oder eines Verbandes. Er ist auch nicht identisch mit einer der unter diesem Titel angebotenen Weltanschauungen. Die Politik an Weltanschauungen und Programmen zu orientieren ist für Borchardt ein Kennzeichen des Liberalismus; die Behauptung einer konservativen Weltanschauung deshalb nicht Konservatismus, sondern bestenfalls 'Gegenliberalismus', so wie die Reformation neben dem Protestantismus auch eine Gegenreformation hervorgebracht habe. Echter Konservatismus dagegen "hat keine Weltanschauung, sondern er ist entweder eine, oder er hat nichts und ist nichts".16 Einige Abschnitte weiter wird präzisiert: Der Konservatismus hat nicht individuelle Triebe zu kollektivieren auf dem Wege der Theorie anstreben müssen, der "Weltanschauung", sondern umgekehrt von der höchsten Kollektivität her die ihm mitgeboren war, Volkstum, Nation, Menschheit, das Individuum zugleich bezielt und bedingt, durch Maßnahmen; denn Maßnahmen sind bei ihm, was beim Liberalismus "Programme" und der "demokratische Gedanke" sind. 17

Fragt man, wie dieses kollektive Sein, das der Konservatismus bewahren will, beschaffen ist, so wird man auf zwei Faktoren verwiesen: die "Art" und die 'Tradition". Der Begriff der Art deutet auf Naturkonstanten, wie sie in bestimmten Aufgaben und Eigenschaften der Geschlechter, im Institut der Elternschaft, im Verhältnis der Generationen sowie 'Urkräften' und Urmächten' wie Erde, Stamm, Volkstum etc. gegeben zu sein scheinen; 18 der Begriff Tradition hingegen auf ein Geistiges, geschichtlich Entstandenes, durch religiöse Offenbarung, dichterisches Sehertum, staatsmännisches Handeln etc. Bedingtes. Das Verhältnis zwischen beiden Faktoren wird als Spannungsverhältnis vorgestellt, bei dem sich die Gewichte mal nach der einen, mal nach der anderen Richtung verschieben können. Im 19. Jahrhundert habe die Überlieferung das Übergewicht gehabt; der Konservatismus der Gegenwart dagegen verlagere den Akzent auf die Art im biologischen Sinne und sei "antigeschichtlich, naturwissenschaftlich" 19 - eine Tendenz, gegen die Borchardt schon

15 16 17 18 19

Geschichte des Jungkonservatismus in der Weimarer Republik, Diss. Erlangen 1974, S. 22ff. Seit 1928 gab von Gleichen den Ring heraus. Eine Übersicht über die dort vertretenen Anschauungen gibt das Buch von Yuji Ishida: Jungkonservative in der Weimarer Republik. Der Ring-Kreis 1928-1933, Frankfurt am Main 1988. Prosa VI, S. 207. Prosa V, S. 432. Ebd., S. 435. Vgl. Rudolf Borchardt: Der deutsche Geist als Hüter des deutschen Föderalismus, in: Prosa V, S. 394ff. Ebd., S. 437; ders.: Revolution und Tradition in der Literatur, in: Reden, S. 211.

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während des Krieges mit dem Argument protestiert hat, es sei unmöglich, "indefinible Kategorien der Naturgeschichte in die sittliche Welt zu überpflanzen". 20 Was ihn freilich nicht daran hindert, seine Vorstellungen von Männlichkeit, Weiblichkeit, Elternschaft etc. auf eben solche Kategorien zu gründen - aber dies nur nebenbei.

II Konservatismus, soviel läßt sich nach dieser ersten Sondierung festhalten, heißt also: Bewahrung eines kollektiven Seins, das durch das Spannungsverhältnis von Art und Tradition bestimmt ist. Conservativ sein heißt zwar nicht erhalten um jeden Preis, aber grundsätzlich und bis ins Geringste hinein soviel Erhaltbares erhalten, wie mit dem Leben der Volksgemeinschaft als einem nationalen, nicht als einem statistisch umschriebenen Körper unter Aufwendung der letzten Anstrengung und der letzten Entbehrung vereinbar ist. 21

So weit, so gut. Das Problem ist nur: Erhaltbares in dieser Art vermag Borchardt hic et nunc nur noch bei den romanischen Völkern zu entdecken, die ihre nationale Tradition, ihre politisch-sozialen Institutionen und ihren auf Haus- und Grundbesitz basierenden Familialismus "durch alle Stürme der Zeit fast unversehrt gerettet" haben. 22 Für Deutschland dagegen fällt die Bilanz verheerend aus. Wo Art sein sollte, findet sich nur Entartung: "Entartung der Physis wie der Psyche", "Verkehrung der natürlichen Gegensätze der Geschlechter, der Lebensalter, der Stände". 23 Die Freilassung der Frau aus dem Familienverband führt zur "Übertragung von Dämonie und Problematik des männlichen Schicksals auf das weibliche", somit zur "Zerstörung des einzigen Ruhenden und Bewahrenden, das dem Menschengeschlechte zusteht". 24 Sie führt zugleich zu jener "deutschen Entartung", die sich in Zeugungs- und Kinderfeindlichkeit manifestiert. Verhöhnung der Elternschaft, Entweihung der Ehe, Entkoppelung von Sexualität und Fortpflanzung, Freigabe der Abtreibung - das sind nur einige Aspekte jener Dekadenz, die aus dem Volk ohne Raum einen "Raum ohne Volk" zu machen im Begriff ist. Das Ende der "deutschen Entvölkerungstragödie" ist bereits in Sicht: "Mit Perversen und Inversen stirbt die Menschheit an einem ihrer Zweige ab".25

20 Rudolf Borchardt: Der Krieg und die deutsche Selbsteinkehr, in: Prosa V, S. 252. 21 Rudolf Borchardt: Brief an Heinrich von Gleichen (Nachlaß). 22 Rudolf Borchardt: Konservative Sicherung bei romanischen Völkern, in: Prosa V, S. 447. 23 Rudolf Borchardt: Schöpferische Restauration, in: Reden, S. 243, 234. 24 Reden, S. 338. 25 Rudolf Borchardt: Deutsche Selbstverzehrung (Nachlaß).

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Das Volk, jenes Kollektiv, dessen Bewahrung sich der Konservatismus verschrieben hat, ist also auf dem besten Wege zu verschwinden. Und das, was von ihm noch übrig ist, lohnt imgrunde die Mühe nicht. An die Stelle des Volkes sind längst die neuen Massen getreten, ein großstädtisches Proletariat "ohne Nationalität, ohne Erinnerung an eine Vorzeit, ja fast ohne Väter", ein "Halbmenschen- und Viertelsmenschenwesen", mehr noch, "eine Abfallsmenschheit und ein Menschheitsabfall", nahezu "bestialisiert" und derart degeneriert, daß man es eines Tages "halbnackt nach der Trommel des Niggers" tanzen sehen wird. 26 Borchardt zögert denn auch nicht, diesen Auswurf "wieder bei seinem alten echten Namen Pöbel zu nennen" und ihm in gut lutherischer Drastik den Marsch zu blasen: Ein Volk, das seine Ahnen nicht heilig hält, sondern seine "Volksgenossen" einschließlich seines gesamten gut- und schlechtgekleideten Pöbels, das nicht sein ewiges Volkstum als Richte vor sich sieht, sondern die gesamte bar käufliche Vulgarität seines letzten Tages, ist kein Volk, sondern ein Dunghaufen, und wenn es noch so lustig und geschäftig in ihm schwärmt. 27

Mit den Institutionen, insbesondere Wirtschaft und Staat, ist es nicht viel besser bestellt. Der Wirtschaft wirft Borchardt vor, zu einem fast unübersehbaren Teil "auf fortgesetzter Vernichtung und fortschreitender Depravation unseres Volkes und der Gesellschaft aufgebaut" zu sein und es aus reiner Geldgier nachgerade in den "Kulturtod" zu treiben. 28 Den Staat hält er für eine bloße Fassade, hinter der sich die blanke Anarchie verberge - und dies übrigens nicht erst seit der Revolution von 1918, sondern bereits seit der Reichsgründung, die als "Bismarcks tragische Staatsschöpfung" apostrophiert wird. Im Kern von Anfang an hohl, sei dieses Gebilde zum eigentlichen Kriegsanlaß geworden und nach dem Krieg nur wegen seiner Unverzichtbarkeit als "die faßbare Form des Gemeinschuldners für das Jahrhundert der Zinsknechtschaft" gleichsam von Gnaden des Versailler Vertrages am Leben erhalten worden. Eine Zukunft für diese Einrichtung sieht Borchardt nicht. "Das Bundesstaatreich war Parteienstaat, wird Parteienstaat sein, solange ein Lebensrest von ihm dauert, und stirbt an Parteienhader im zweiten Interregnum". 29 Kein Volk, kein Reich, kein Führer: nicht eben ein ermutigender Befund für einen, der angetreten ist, das Erhaltbare zu erhalten. Da in der physischen Welt nichts ist, an das man sich halten kann, retiriert Borchardt ins Metaphysische. Angesichts der unaufhaltsam sich barbarisie-

26 27 28 29

Reden, S. 241 ff. Rudolf Borchardt: Aufgaben der Zeit gegenüber der Literatur, in: Prosa IV, S. 275. Reden, S. 241; Borchardt (Anm. 25). Rudolf Borchardt: Staatenbund oder Bundesstaat, in: Prosa V, S. 471, 473, 479; ders.: Brief über die Reichsreform, in: ebd., S. 403.

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renden Massen entscheidet er sich dafür, den aus der Romantik überlieferten Volksbegriff zu suspendieren, "ihn von dort, wo er nicht hingehört zurückzunehmen und zu verengen, ihn wie das Vaterland dem Räume zu entziehen, der Zeit zuzuteilen, ihn der Mehrheit zu versagen und seine Verwahrlosung und Entehrung in der strengen Minderheit wieder zu ordnen und ehrlich zu machen". 3 0 Der Volksbegriff sei durch den Nationsbegriff zu ersetzen und dieser dadurch vor jeglicher Kontamination mit der empirischen Wirklichkeit zu schützen, daß seine Ausfüllung und Entwicklung vollständig jener Instanz überlassen werde, die von jeher als "oberste sakramentale Instanz über der Nation" wache: der Dichtung. 31 In einem Brief aus dem Jahre 1 9 2 5 hat Borchardt ausgesprochen, worin er die letzte Bastion, sozusagen die Alpenfestung des Konservatismus, sieht: W o Dynastien nicht mehr, wie in meinem armen Lande, die historische Continuität des Volkes darstellen und enthalten, wo die Gesellschaft zu zertrümmert ist, um sie zu bewahren, bleibt die Poesie die einzige Zuflucht und die einzige Vertreterin des nationalen Genius und seiner, wenn es sein muß, hoffnungslosen Intransigenz. 3 2

III Mit Borchardt erkennt der Konservatismus seine Lage. Es ist die eines Offiziers, der mitten im Angriff feststellen muß, daß seine Truppe auf einen kaum noch nennenswerten Rest zusammengeschmolzen ist, so daß jeder weitere Schritt vorwärts Gefangenschaft oder T o d bedeutet. Aber anstatt diese Lage zu akzeptieren und sich dreinzuschicken, entscheidet sich Borchardt für Fortsetzung des Kampfes. Seine Strategie läßt sich in drei Punkten zusammenfassen: Rückzug - Auffrischung der Kräfte - Gegenoffensive. Die Notwendigkeit des Rückzugs wird am klarsten im Eranos-Brief ausgesprochen, wo vom "erstürmten Rückzug bergan in die unausgelebte Geschichte des Menschengeschlechtes" die Rede ist, von der "Verwerfung der Zeit und Heimkehr in die Ewigkeit", welche als einzige noch sicheres Terrain biete. 3 3 Drei Jahre später, in der Rede über Die geistesgeschichtliche Bedeutung des 19. Jahrhunderts heißt es: Gegenwart und Zukunft seien uns verbannt, nichts bleibe als der "Durchbruch [...] rückwärts" in die Vergangenheit, "um die T o ten zu holen, oder wie Theseus den Freund". 34 30

Reden, S. 249.

31

Prosa IV, S. 339.

32

Zit. nach: Werner Kraft: Rudolf Borchardt. W e l t aus Poesie und Geschichte, Hamburg

33

Rudolf Borchardt: Eranos-Brief, in: Prosa I, S. 122.

34

Reden, S. 343f.

1961, S. 4 2 1 .

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Die Auffrischung der Kräfte impliziert verschiedene Maßnahmen. Z u m einen die rigorose Ausmusterung aller Fußkranken, Lahmen, Verbrauchten, die den Anforderungen des Kampfes nicht gewachsen sind - Stichwort 'Verengung des Volksbegriffs'. Sodann die Schaffung einer Kerntruppe, einer Eliteeinheit, die, wie nach Jena und Auerstedt, die Reformation an Haupt und Gliedern ins Werk setzen kann. "Verwandeln Sie", heißt es in Die Aufgaben der Zeit gegenüber der Literatur, "die ecclesia pressa des deutschen Geistes in eine ecclesia militans, die es erträgt Blut zu sehen, Scheiterhaufen zu türmen, Kriege zu erklären". 35 Schließlich die Gewinnung einer breiteren Basis durch Ausgießung des erneuerten Geistes und "Hineinholung des natur- und geschichtslosen und -unbewußten Volksaufwuchses in die natürlich und geschichtlich gewordene Nation hinein" 36 , womit sich Borchardt in die nationalpädagogische Tradition des 18. und frühen 19. Jahrhunderts stellt. Auch mit seinem eingangs erwähnten Ziel: der "restitutio in integrum des ideellen deutschen Volksganzen", knüpft er expressis verbis an Herder und die Romantik an. Was die Bestimmung des geeigneten Zeitpunktes für den Gegenangriff betrifft - die konservative Revolution sensu stricto so sind allerdings bei Borchardt gewisse Unsicherheiten und Schwankungen im Urteil festzustellen. Zunächst bevorzugte er eine Strategie, die man als rechte Version der Zusammenbruchstheorie bezeichnen könnte: Der Weimarer Staat müsse abgewirtschaftet haben, bevor man die eigenen Kräfte ins Feld werfe. 1926, mitten in der Stabilisierungsphase, schreibt Borchardt an Julie Baronin Wendelstadt, es müsse das Programm des politischen Legitimismus sein, "dass das republikanisch demokratisch liberal sozial Parlamentäre Experiment restlos zu Ende gemacht wird, mit seinen eigenen Kräften, und der Nation zeigt, wozu es taugt und wieweit es reicht". 37 Noch schärfer heißt es vier Jahre später an Wilhelm Schäfer, daß er persönlich keinen Anlaß habe, "mit der naturgesetzmässigen Entwickelung des deutschen Unheils" unzufrieden zu sein, da sie über kurz oder lang zur Klimax führe; das Experiment der 'Freiheit', dem die Überlieferungen der Geschichte und der Gehalt des Volkstumes verkauft worden seien, müsse bis auf die grimmigste Neige ausgekostet werden, und jeder mache sich des Verbrechens mitschuldig, der die Waage vor dem Gerichtstage einzuhalten versuche. 38 Vor dem Hintergrund dieser Auffassung, daß allein die radikale, tunlichst noch zu beschleunigende Auflösung der Republik die Möglichkeit der Umkehr eröffne, erklärt sich wohl auch die eigenartige Aus-

35 36 37 38

Ebd., S. 395. Prosa IV, S. 338. Briefe 1924-1930, S. 151. Ebd., S. 476f.

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kunft an die Redaktion von Reclams Universum, er, Borchardt, wähle sozialistisch, weil diese "Partei der zweck- oder zwangsdemokratischen Koalition" sich um "Wiedererweckung, Stärkung und Sammlung der schon absterbenden konservativen Gesinnung, um Steigerung der öffentlichen Erbitterung und der allgemeinen Zuversicht der überlieferungstreuen Volksteile, so ungemessene Verdienste erworben hat, dass ich sie als die einzige conservative Organisation Deutschlands ansehe". 39 Lassen wir dahingestellt, ob Borchardt tatsächlich SPD gewählt hat. Den ihm wirklich nahestehenden politischen Kräften hingegen hat er empfohlen, sich politisch zurückzuhalten und sich weder an reformerischen noch an reaktionären Aktivitäten zu beteiligen. Im Brief über die Reichsreform wendet er sich gegen jede Bestrebung, die Verfassung zu ändern, weil der Weimarer Staat für den traditionstreuen Deutschen nur ein Notbehelf sei; ihn reformieren zu wollen aber hieße nichts anderes, als ihn anzuerkennen. 4 0 In einem anderen, wohl zur selben Zeit (1930) entstandenen Text mahnt er Konservative und Monarchisten zur Geduld. Ehe nicht auf den Blättern der Geschichte die dem deutschen Volk eigenen Ordnungen wieder auftauchten - "Regiment, Befehl, Gehorsam, Zucht, Amt, Ehre, peinliches Gesetz, blindes Recht für alle, Lohn und Strafe" - sei es abwegig, auf Restauration der Monarchie zu setzen: D e r Monarchismus ist weder Partei noch O p p o s i t i o n , noch der Intrigant auf der Bühne der demokratischen Tragödie, der auf die Peripetie wartet, u m die Katastrophe herbeizuführen. Die Republik hat keinen peinlicher treuen u n d observanten Bürger als ihn, keinen, der sie gegen vorlaute Störung eifersüchtiger schützen wird, u n d sie hat keinen Zuschauer, der mit d e m erworbenen Rechte auf den gezahlten Eintrittspreis sie erbarmungsloser bei der Aufgabe festhalten wird, z u der sie sich seit einem J a h r h u n d e r t drängt und in der sie, wie G o t t gewollt hat, heute steht. 4 1

Schon ein Jahr später indes ist diese Loyalitätserklärung gegenüber der Republik und ihrer Verfassung nur noch Makulatur. In seiner Rede über Führung, gehalten am 2.1.1931 in Bremen, erklärt Borchardt den Augenblick für den Gegenangriff, die Konterrevolution, für gekommen. Deutschland sei nicht mehr zu führen, "sondern nur zu erobern", und zwar im buchstäblichen, militärischen Sinne. Die "Bezwingung eines aus dem Rahmen gegangenen, durcheinanderratenden, durcheinanderrasenden Volksganzen" sei heute nicht mehr anders möglich als "durch ein Heer, durch eine Ordnung ohne andere Rechte als Kriegsrechte und ohne anderen Aufbau als den von Unterordnung und Uberordnung", mit anderen Worten: durch die Ausrufung des Ausnahme-

39 40 41

Ebd., S. 477f. Prosa V, S. 407f. Rudolf Borchardt: Konservatismus und Monarchismus, in: Prosa V, S. 417.

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zustands und die Errichtung der Militärdiktatur. Was not tue, sei die "Wiederumstürzung des Umsturzes", die "Revolution gegen die Revolution", die Borchardt zu diesem Zeitpunkt noch von den Resten der auctoritas, den Trägern der staatlichen Autorität erhofft. 42 Wiederum ein Jahr später hat sich diese Hoffnung vom Staat auf "die größte politische Bewegung die Deutschland seit der Reformation gesehen hat" verlagert: den Nationalsozialismus. 43 Aber das gehört nicht mehr zu meinem Thema.

IV Wie verhält sich nun dieses Konzept der "Konservativen Revolution" zu anderen Strömungen, die diesem Leitbegriff zugeordnet werden? Das große Gewicht, das Borchardt auf den Nationsbegriff und nationalpädagogische Intentionen legt, macht zunächst eine Affinität zu einer Richtung wahrscheinlich, die ich im Anschluß an Waldemar Gurian (aber nicht ganz mit der gleichen Bedeutung) als 'neuen Nationalismus' bezeichnet und auf Autoren wie Moeller van den Bruck, den Jünger-Kreis, den Kreis um die Tat, Hans Freyer, Carl Schmitt u.a. bezogen habe.44 Wägt man alle Faktoren ab, so scheint mir jedoch die Differenz größer zu sein als die Nähe. Borchardt neigt zwar dazu, die Nation zu hypostasieren und insbesondere den deutschen Volksgeist, die deutsche Poesie in einer Weise zum epochalen Repräsentanten des Weltgeistes zu stilisieren, daß es schwerfällt, nicht von Nationalismus zu sprechen. Versteht man aber mit dem Mainstream der Forschung unter Nationalismus eine Wertbeziehung, die die eigene Nation als obersten Wert ansetzt, dann darf nicht übersehen werden, daß es bei Borchardt Gegengewichte gibt, die in eine andere Richtung wirken: in erster Linie die Einbettung Deutschlands in die antik-christliche Tradition Europas. Nation ist dabei nicht der oberste Wert, vielmehr ein metaphysischer Begriff mit Verweisungsqualität, "mit natürlichen und geschichtlichen Wurzeln ins Unendliche"45. Höher als die Nation steht das Reich, in welchem sich die Nation "in die höchste aller Lagen, eine ewige Ruhelage im Einklänge mit göttlichen Gesetzen" erhoben hat; 46 und wenn es sich dabei auch um das deutsche Reich handelt, das die göttliche Gnade in ganz besonderer Weise verkörpert, so liegt doch in der das Partikulare transzendierenden metaphysischen Dimension ein Moment, das Bor-

42 43 44 45 46

Rudolf Borchardt: Führung, in: Reden, S. 424, 427f. Vgl. Rudolf Borchardt: Offene Worte nach allen Seiten (Nachlaß). Vgl. Stefan Breuer: Anatomie der Konservativen Revolution, Darmstadt 1993, S. 180ff. Prosa IV, S. 337. Prosa V, S. 486.

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chardt vom partikularistischen und rein säkularen Nationalismus ä la Moeller van den Bruck oder Jünger unterscheidet. Noch mehr aber unterscheidet ihn die scharfe Zeitablehnung, die mit den Weltmachtambitionen des neuen Nationalismus völlig unvereinbar ist.47 Borchardt verwirft einfach alles, was im 20. Jahrhundert für den Aufbau eines nationalen Machtstaates erforderlich ist. Er polemisiert gegen die "Irrlehre vom industriellen Zeitalter und dem der Technik" und lokalisiert die Gegenwart "im Zeitalter des sich enthüllenden, ungeheuren Fehlschlusses der Technik, der Weltkatastrophe der Industrie". 48 Er verlangt den Rückgang hinter die Mechanisierung; die Unterwerfung der Wirtschaft unter die Kontrolle des Staates; die "Demetropolitanisierung" Deutschlands durch "Absiedlung der Unterstützungsempfänger" und Zuzugssperre für Städte über hunderttausend Einwohner; eine "drakontische Zensur des Miets- und Vergnügungs-Lizenzen-Wesens"; die Begrenzung, wenn nicht gar Abschaffung des Arbeitsmarktes durch Schaffung eines Staatsarbeiterstandes auf Verpflegungs- anstatt auf Lohnbasis; die Zerschlagung des bürokratischen Unternehmerstaates, wie er insbesondere in Preußen verkörpert sei; die Umwandlung der Gewerkschaften in Zwangsgewerkschaften; die Reduktion des Reiches auf die Vertretung nach außen; schließlich den vollständigen Verzicht auf eine Orientierung der Politik an den Interessen der modernen Massen: Die grossstädtische Masse als Sklavenproletariat und entwurzelte Eleganz, die Spekulation u n d das Kartell, das U n t e r n e h m e r t u m und der Zwischenhandel, die charakterlose StaatskrippenBureaukratie die Regime nach Regime überlebt, der Personal- und Sozialwucher, kann v o n der Monarchie nicht gewonnen werden, sondern nur gebrochen und u n t e r dem Fusse gehalten. 4 9

Das war ein Programm, das wohl einem Cato gefallen hätte, zugleich aber allzusehr nach einer präsumtiven causa victa aussah, als daß es die Götter des neuen Nationalismus hätte beeindrucken können; weshalb sie es denn auch mit Stillschweigen übergingen. Größere Affinität weist Borchardt zu einer anderen Strömung auf, die in der Forschung oft als 'jungkonservativ' bezeichnet wird. Deutlich wird diese

47

48 49

Sie ist bereits sehr deutlich in einem Brief an Edith u n d Julius Landmann v o m 29.12.1909 ausgesprochen: "Es ist mir zugefallen alles schwer zu n e h m e n , was meine Zeit leicht n i m m t , und über das, was sie schwer n i m m t oder schwer zu n e h m e n vorgiebt, die A c h seln z u zucken. W o die Gleichgültigkeit der Zeit in vollständige Ignoranz übergeht, beginnen meine Probleme. Ich hasse alle ihre Lieblingsgerichte und nähre mich n u r von Stoffen, die sie gar nicht mehr assimilieren kann." Briefe 1907-1913, S. 284. Reden, S. 423. Brief an K. L. v o n Guttenberg vom 24.11.1930. Briefe 1924-1930, S. 556; Rudolf Borchardt: Wiederherstellung der Welt (Nachlaß); ders.: Weifisches Kaisertum, in: Prosa V, S. 428; ders.: Das Reich als Sakrament, in: ebd., S. 459.

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Affinität zum einen in der Beziehung zu dem von Heinrich von Gleichen geleiteten Ring, den Borchardt einmal "zur besten und fast zur einzigen politischen Wochenschrift Deutschlands" erklärt; 50 zum andern in der Freundschaft mit Edgar Julius Jung, der im Herbst 1932 zum Stab Franz von Papens stieß und in dieser Funktion wohl mehr als jeder andere zur Verbreitung des Schlagwortes von der "Konservativen Revolution" beigetragen hat. Da die Beziehung zum Ring sich aus den in der Werkausgabe enthaltenen Schriften sowie den Anmerkungen der Herausgeber ungefähr erschließen läßt, diejenige zu Jung aber weitgehend unbekannt ist, mag es zu rechtfertigen sein, wenn ich mich an dieser Stelle auf diese letztere beschränke. Zuvor ein paar kurze biographische Informationen. Edgar Julius Jung wurde 1894 in Ludwigshafen geboren, ist also siebzehn Jahre jünger als Borchardt. Im Weltkrieg kämpfte er als Kriegsfreiwilliger, nahm anschließend sein kurz davor begonnenes Studium der Rechtswissenschaften wieder auf und promovierte 1920 in Würzburg mit einer Arbeit über das Aktienrecht. Politisch engagierte er sich von 1919 bis 1925 in der Deutschen Volkspartei. 1924 beteiligte er sich an den Aktionen, die zur Ermordung der pfälzischen Separatistenführer führten. Seit 1924 als Anwalt in München niedergelassen, war er Mitglied im Juni- und Herrenklub, agierte an führender Stelle im Deutschen Schutzbund, der Dachorganisation aller Vereine und Verbände, die sich des Grenz- und Auslandsdeutschtums annahmen, bereitete die Gründung der Volkskonservativen Vereinigung mit vor, die sich 1930 von der Deutschnationalen Volkspartei abspaltete, und war gleichzeitig als politischer Publizist aktiv, wovon zahlreiche Artikel und Aufsätze in den Münchner Neuesten Nachrichten und der Deutschen Rundschau zeugen; aus ihnen ging 1927 sein Hauptwerk Die Herrschaft der Minderwertigen hervor, das drei Jahre später in einer erheblich erweiterten zweiten Auflage erschien. Nachdem er im Herbst 1930 wegen eines persönlichen Streites mit Heinrich von Gleichen vom Ring-Kreis Abstand genommen hatte, näherte er sich zwei Jahre darauf dieser Richtung wieder an. 51 Im Wahlkampf 1933 arbeitete er sämtliche Reden Franz von Papens aus; auch die berühmte Marburger Rede vom 17.6. 1934, in der Papen gegen bestimmte Auswüchse des NS-Regimes Stellung bezog, stammt aus seiner Feder. 52 Diese Tatsache wurde ihm zum Verhängnis. Am 25.6. wurde Jung von der Gestapo verhaftet und in der Nacht vom 30.6. auf den 1.7. 1934 in einem Wäldchen bei Oranienburg erschossen. 53 50 Wie Anm. 12. 51 Vgl. Ishida (Anm. 14), S. 218. 52 Vgl. Edmund Forschbach: Edgar J. Jung. Ein konservativer Revolutionär. 30. Juni 1934, Pfullingen 1984, S. 115. 53 Zur Biographie Jungs siehe Friedrich Grass: Edgar Julius Jung (1894-1934), in: Pfälzer Lebensbilder, hrsg. von Kurt Baumann, Bd. I, Speyer 1964, S. 320-348. Karl Martin

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D i e F r e u n d s c h a f t m i t Borchardt b e g a n n mit e i n e r schrillen D i s s o n a n z . Im D e z e m b e r 1 9 2 9 s c h i c k t e J u n g , damals stark für d i e V o l k s k o n s e r v a t i v e n e n g a giert, s e i n s o e b e n in z w e i t e r A u f l a g e e r s c h i e n e n e s O p u s m a g n u m an Borchardt. D a s Buch, das i m übrigen auf kräftigen Finanz- u n d A r g u m e n t a t i o n s h i l f e n v o n Paul R e u s c h v o n der G u t e h o f f n u n g s h ü t t e b e r u h t e u n d i n s o f e r n als "political m a n i f e s t o o f a significant sector of R u h r h e a v y industry" a n g e s e h e n w e r d e n k a n n , 5 4 löste bei Borchardt e i n e n W u t a u s b r u c h aus. In e i n e m Brief a n v o n G l e i c h e n attestierte er d e m Verfasser z w a r b e s t e n W i l l e n u n d reinstes Streben, d o c h w e r d e d i e s alles e n t w e r t e t d u r c h e i n e n t o t a l e n M a n g e l

an

B e g a b u n g , B e s c h e i d e n h e i t , Reife u n d Verstand: Und dabei über 600 Seiten, in heiliger Begeisterung und völliger Grünheit heruntergeschmiert, eine Encyclopädie alles Wißbaren (?) auf der ganzen Erde, wo die Competenz aufhört, fängt die Begeisterung an, und über 5000 Deutsche blicken bereits, den Daumen auf dieser unreifen Schwarte, getroster in die Zukunft! 5 5 In s e i n e m D a n k s c h r e i b e n an Jung ä u ß e r t e sich B o r c h a r d t w e i t a u s m o d e r a t e r , m a c h t e aber aus seiner A b l e h n u n g k e i n e n H e h l . Er m o n i e r t e d i e Kritiklosig-

Grass: Edgar Jung. Papenkreis und Röhmkrise 1933/1934, Phil. Diss. Heidelberg 1966. Bernhard Jenschke: Zur Kritik der konservativ-revolutionären Ideologie in der Weimarer Republik. Weltanschauung und Politik bei Edgar Julius Jung, München 1971. Larry E. Jones: Edgar J. Jung. The Conservative Revolution in Theory and Practice, in: Central European History 21, 1988, S. 142-174. Gilbert Merlio: Edgar J. Jung ou l'illusion de la "Revolution Conservatrice", in: Louis Dupeux (Hg.): La "Révolution Conservatrice" dans l'Allemagne de Weimar, Paris 1992, S. 223-236. Walter Struve: Elites against Democracy, Princeton 1973. Borchardt hat ein Jahr nach der Ermordung Jungs in einem Brief an einen Schweizer Verlag ein nicht gerade schmeichelhaftes biographisches Porträt seines Freundes verfaßt. Bei allem Liebenswerten seiner Natur sei Jung "ein von leidenschaftlichem politischem und persönlichem Ehrgeiz getragener und fortgerissener Führer-Prätendent ohne eigentlichen Anhang und Partei [gewesen], im höchsten Maasse rede- und federgewandt, mit solider staatswissenschaftlicher Bildung (Schüler Vilfredo Pareto's in Lausanne) aber wenig vertieften, dafür um so unbekümmerter verwandten allgemeinen Begriffen. In diesen Widersprüchen lag sein Unstern, seine Tragik und seine Unfähigkeit, gelegentliche starke Einzelerfolge conséquent in eine steigende Laufbahn zu verwandeln." Die Marburger Rede habe Jung nie verfaßt; umgebracht worden sei er deshalb, weil er "durch Indiskretionen und lautes Wesen das Unglück gehabt hat, den Machthabern als ausserordentlich wichtig und gefährlich zu erscheinen. Das ist der arme Jung niemals gewesen weil er sich niemals die Zeit, Vorbereitung und Geduld gönnte es auf natürlichem Wege zu werden. Er wählte immer den falschen Weg, weil er nicht warten konnte, und verbrauchte sich in unreifen Situationen, weil er sich der Fascination des praktischen Politikmachens an sich nicht zu entziehen vermochte. Darum wurden seine Talente von verschiedenen Machtgruppen und ihren Führern zwar als verwendbar immer wieder angefordert und genutzt, aber er selber trat auf der Stelle". Briefe 1931-1935, S. 498f. 54 Larry Jones (Anm. 53), S. 147. 55 Wie Anm. 12. Die zitierten Passagen stammen aus einer Fassung, die in der Briefausgabe nicht enthalten ist (Nachlaß).

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keit gegenüber Stefan George, vermißte "jeden Kampf mit den grauenhaften Gewalten die diesen unheimlichen Menschen über die Schwellen gehoben haben", stieß sich an der mangelnden Berücksichtigung ethischer Faktoren und vor allem: an der zu geringen Rolle, die der Begriff der Tradition bei Jung spiele, was seinem Buch einen zeitgebundenen und zeithinfälligen Zug verleihe. 5 6 Bei dieser scharfen Distanzierung ist es dann aber nicht geblieben. Dazu mag die Tatsache beigetragen haben, daß Jung im Juli 1930 Borchardts Rechtsbeistand wurde, mehr noch vermutlich die wachsende Einsicht in die Gemeinsamkeiten, die zwischen ihnen bestanden. Einig war man sich, erstens, in einer langen Liste von Negativposten: in der Bestimmung des Liberalismus als des Hauptfeindes; in der Verknüpfung von Liberalismus, Individualismus und Egoismus einerseits, Kollektivismus, Massenherrschaft und Rebarbarisierung andererseits; in der Ablehnung des Parteiwesens und der Plutokratie, der Großstadt und des bürokratischen Großstaates, der Sozialpolitik und des Sozialismus; in der Kritik der Frauenemanzipation als der Ursache des Bevölkerungsrückgangs und des d r o h e n d e n Untergangs von Rasse und Volk. 5 7 Ebenso einig war man sich, zweitens, in den positiven Bezugspunkten: in der Z u o r d n u n g zum Konservatismus; in der hohen Bewertung der antiken u n d christlichen Tradition; im Glauben an die abendländische Sendung Deutschlands; in der Orientierung am 'heiligen Reich 1 sowie in der Ansicht, d a ß die politische Führung allein bei einer geschichtsbildenden Minderheit liegen könne. 5 8 Woraus, drittens, auch die Ubereinstimmung im Katalog der zulässigen politischen Mittel resultierte: die Bejahung der Gewaltanwendung und der schöpferischen Zerstörung; die Legitimierung der Diktatur und die Bereitschaft, um der Wiederherstellung der O r d n u n g willen sogar mit dem Nationalsozialismus zu paktieren. 5 9 Beide haben zwar bald erkannt, welch katastrophale Fehleinschätzung ihnen in bezug auf den Nationalsozialismus unterlief. Aber da war es bereits zu spät. Die hier notierten Ubereinstimmungen sind beachtlich. D e n n o c h reichen sie nicht aus, u m aus Borchardt und Jung die Repräsentanten einer gemeinsamen, 'jungkonservativen' Position zu machen. Läßt man die kleineren Differenzen wie etwa die unterschiedliche Haltung zum Nationsbegriff oder zur Föderalismus/Unitarismus-Problematik einmal beiseite, so springt als Haupt-

56 Briefe 1924-1939, S. 419-422.. 57 Vgl. Edgar J. Jung: Die Herrschaft der Minderwertigen, 2. Aufl., Berlin 1930, S. 42, 168, 161, 240, 252, 153, 46, 192ff., 519ff. 58 Vgl. ebd., S. 127, 111, 372, 91, 117, 82. 59 Vgl. ebd., S. 128, 277; ferner Edgar J. Jung: Neubelebung von Weimar, in: Deutsche Rundschau 59, 1932, S. 153-162; Briefe 1924-1930, S. 548ff.; Briefe 1931-1935, S. 90f.

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Stefan Breuer

unterschied die weitaus größere Radikalität von Borchardts Zeitablehnung ins Auge. Für Borchardt war die gesamte politische, soziale und wirtschaftliche Entwicklung seit der Romantik eine Fehlentwicklung, hinter die er zurückzugehen wünschte; sein Bezugspunkt war und blieb die alteuropäische societas civilis, und dies in einem Ausmaß und einer Intensität, daß er zur Gegenwart nur eine Haltung fand: die der entschiedenen Verleugnung und Verwerfung. 60 In diesem Sinne kann man Borchardt, wie es Botho Strauß getan hat, als Fundamentalisten bezeichnen. 61 Jungs Zeitablehnung dagegen ist nicht fundamentalistisch. Er will nicht die Unterwerfung der Wirtschaft unter den Staat, sondern die Trennung zwischen beiden, ganz wie im Liberalismus. Er ist auch keineswegs gegen den Kapitalismus schlechthin, sondern nur gegen das internationale Kapital mit seinen weltwirtschaftlichen, kosmopolitischen Verflechtungen, womit er sich in schöner Ubereinstimmung mit seinem Geldgeber befindet, der den Weltmarkt ebenfalls nicht schätzte, weil er auf ihm nicht konkurrenzfähig war. Heide Gerstenberger und Panajotis Kondylis haben zu Recht festgehalten, daß bei Jung eine wirtschaftspolitische Grundhaltung dominiert, die eher als liberalreaktionär denn als konservativ eingestuft werden muß. 62 Die von Borchardt anvisierte "konservative Revolution", so wird man nach alledem resümieren können, ist ein Unternehmen eigener Art - zwar mit Verbindungen in mancherlei Richtung, aber dennoch von so singulärem Zuschnitt, daß es unangemessen erscheint, es mit anderen Unternehmungen in einem Atem zu nennen. 63 Vielleicht ist es deshalb auch ratsam, jenen viel60 61

Vgl. Reden, S. 246. Vgl. Botho Strauß: Distanz ertragen, in: Rudolf Borchardt: Das Gespräch über Formen und Piatons Lysis Deutsch, Stuttgart 1987, S. 109. 62 Vgl. Heide Gerstenberger: Der revolutionäre Konservatismus, Berlin 1969, S. 96, 146; Panajotis Kondylis: Konservativismus. Geschichtlicher Gehalt und Untergang, Stuttgart 1986, S. 487ff. 63 Dafür spricht im übrigen auch, daß Borchardt kaum einen Autor dieses Spektrums einer Auseinandersetzung für würdig befunden hat; mit den meisten dürfte es sich nicht anders verhalten haben als mit Ernst Jünger, von dem es im Juli 1935 lapidar heißt: "Jünger kenne ich nicht" (Briefe 1931-1935, S. 488). Außer zu Jung und von Gleichen hat er sich lediglich einmal knapp zu Wilhelm Stapel, dem Herausgeber des Deutschen Volkstums ausgelassen, dem er attestiert, "einer der klügsten und folgestrengsten politischen Autoren Deutschlands [zu sein], überdies wenigstens der Hoffnung, wenn nicht der Parteiangehörigkeit nach, Nationalsozialist" (Nachlaß: Offene Worte). Ansonsten hat Borchardt es vorgezogen, die Publizisten der Rechten zu ignorieren. Lediglich en passant finden sich Seitenhiebe, ohne Namensnennung, gegen verbreitete Theoreme wie Moeller van den Brucks Lehre von den alten und den jungen Völkern oder dessen Enthusiasmus fürs Variété (Vgl. Eranos-Brief, in: Prosa I, S. 97; Die geistesgeschichtliche Bedeutung des 19. Jahrhunderts, in: Reden, S. 342; Die Neue Poesie und die alte Menschheit, in: Reden, S. 115). Um 1920 scheint Borchardt einmal zu einem Anti-Spengler angesetzt zu haben, dessen Tenor schon aus den Titeln erkennbar ist: "Die Ewigkeit der Abendländer gegen

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Rudolf Borchardt und die "Konservative Revolution"

d e u t i g e n u n d u m s t r i t t e n e n Begriff d e r K o n s e r v a t i v e n R e v o l u t i o n zu v e r m e i d e n , d e n B o r c h a r d t o h n e h i n n u r selten g e b r a u c h t h a t . 6 4 W e n n es, m i t A u s n a h m e e i n i g e r G e d i c h t e , nichts m e h r zu k o n s e r v i e r e n gibt, w i e B o r c h a r d t zu b e t o n e n n i c h t m ü d e w i r d , d a n n h a t d i e s e r Begriff, z u m i n d e s t w a s das K o n s e r v a t i v e betrifft, seinen Sinn v e r l o r e n , u n d d a n n f ö r d e r t es die

Klarheit,

wenn

von

m a n d a s , w a s m a n will, o f f e n a u s s p r i c h t .

"schöpferischen

Restauration"

hat B o r c h a r d t

Mit dem W o r t

g e n a u dies g e t a n .

Ihm

der

sollte

deshalb vor der "konservativen Revolution" der Vorzug gegeben w e r d e n .

64

ein ruchloses Buch verteidigt" bzw. "Die Ewigkeit der Abendländer gegen Herrn Oswald Spenglers geistiges Verbrechen verteidigt" (Nachlaß). Das Manuskript ist jedoch über zwei Seiten nicht hinausgelangt. Ein ausführlicherer, im Tenor ebenfalls ablehnender Kommentar findet sich zu Spenglers Buch Jahre der Entscheidung in einem Brief an Martin Bodmer von Okt./Nov. 1933; Briefe 1931-1935, S. 281ff. In der Form des Syntagmas, soweit ich sehe, überhaupt nur ein einziges Mal, an der oben angegebenen Stelle. Hierzu kann man ergänzend die briefliche Auskunft an Max Brod hinzunehmen, er, Borchardt, sehe es als seine Aufgabe an, "die Tradition des deutschen Geistes innerhalb des europäischen, mit allen Mitteln zu verteidigen, mit den Mitteln des Conservatismus gegen die Anarchie und mit den Mitteln der Revolution gegen den statisch gewordenen bureaukratischen Compromiss mit der Anarchie, den Fristungsliberalismus". Obwohl er in dieser Hinsicht nicht geradezu von der Notwendigkeit blutiger Revolutionen gesprochen habe, sei er sich doch mit Hofmannsthal darin einig gewesen, daß die "heimlich schleichende friedlich blickende Vergewaltigung" nur durch Gewalt gebrochen werden könne. Hofmannsthal habe dies "conservative Revolution" genannt, er, Borchardt, "schöpferische Restauration". Brief an Max Brod vom 19.11.1931; ebd., S. 92.

JENS MALTE FISCHER

"Deutschland ist Kain". Rudolf Borchardt und der Nationalsozialismus A m Beginn sollen vier Zitate stehen: 1) Auf seinen Bildern wirkt Stalin groß, breit, stattlich. In Wahrheit ist er eher klein, schmächtig; in dem weiten Raum des Kreml, in dem ich ihn sah, verlor er sich geradezu. Stalin spricht langsam, mit leiser, etwas dumpfiger Stimme. Er liebt keinen Dialog mit kurzen, bewegten Fragen, Antworten, Zwischenreden, sondern zieht es vor, langsame, überlegte Sätze aneinanderzureihen. Er spricht druckreif, manchmal, als ob er diktierte. Er geht, während er spricht, gerne hin und her, kommt dann plötzlich auf einen zu, einen Finger der schönen Hand gegen einen ausgestreckt, deutend, dozierend, oder er malt, während er seine bedachten Sätze formt, mit blau und rotem Bleistift Arabesken und Figuren auf ein Blatt Papier. [...] Stalin spricht unverziert und weiß auch komplizierte Gedanken schlicht auszudrücken. [...] Er ist auf vielen Gebieten zu Hause, und er zitiert, unvorbereitet, N a m e n , Daten, Fakten präzis aus dem Gedächtnis. 1 2) Er spricht nicht, sondern es spricht aus ihm. Dabei ist er bei allem ungeheuren Ernst, der aus jedem Wort spricht, von einem ganz überlegenen und befreienden Humor, der immer wieder zum Vorschein kommt, - manchmal bis zum Sarkasmus, wenn er von irgendwelchen Schwächen spricht. Ein wesentlichster Grundzug ist die absolute Männlichkeit, die in jedem Gedanken und jeder Geste zum Ausdruck komfht, - weiter sein Tatsachensinn. Es kommt keine Theorie und keine Hypothese über seine Lippen, sondern selbst Gedankliches ist immer in der Wirklichkeit verankert. Eine große Güte, ein unendlicher Glaube, eine restlose eigene Bescheidenheit, ebenso ein unbegrenzter Stolz auf sein Volk und das, was erreicht wurde, und ein stolzes H o f f e n auf das, was erreicht werden soll - und eine riesige Spannung erfüllen ihn. 2 3) Es war ein unabsehbarer, und soweit das Auge reichte, vollkommen leerer Saal. In der Diagonale links mir gegenüber weit hinten, wie durch ein umgekehrtes Opernglas gesehen, erhob sich, während ich mich rasch und doch nur allmählich näherte, eine Gestalt hinter einem langsam deutlicher werdenden Tische, tat drei große Schritte um ihn herum und baute sich vor seiner rechten Ecke unbeweglich auf, die mächtige Brust geladen, den Kopf ins Genick geworfen, die Arme gerade herabhängend. Ich hielt inne um mich in gemes-

1 2

Lion Feuchtwanger: Moskau 1937. Ein Reisebericht für meine Freunde, Amsterdam 1937, S. l l l f . Heldenbariton Dr. Carl Schlottmann über einen Empfang bei Adolf Hitler im Haus Wahnfried in Bayreuth, zit. nach: Die Rückseite des Hakenkreuzes. Absonderliches aus den Akten des Dritten Reiches, hrsg. von B. und H. Heiber, München 1993, S. 42.

Rudolf Borchardt und der Nationalsozialismus

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sener Entfernung zu verbeugen, und gelangte endlich an die Hand, die er, immer noch in gebieterischer Haltung auf mich niederblickend, mir entgegenstreckte. [...] Gesammelte Willenskraft und unbedingte Festigkeit im Guten beherrschen die großen Flächen dieser in allen Ubergängen gerundeten und schönen Züge, die auch einen gewaltigen Kirchenfürsten und einen fürstlichen Dichter bezeichnen könnten, und mit manchen Bildnissen des reifen Goethe nicht zufällig übereinstimmen, weil die höchste aller Möglichkeiten männlicher Liebe im Geistigen, die plastische, sie zu ihrem Gefäß gemacht zu haben scheint." 3 4) [Karl Jaspers im Gespräch mit Martin Heidegger im Juni 1933 über Hitler:] "Wie sollte ein so ungebildeter Mensch Deutschland regieren?" [Heidegger:] "Bildung ist ganz gleichgültig. [...] Sehen Sie nur seine wunderbaren Hände an!"4

Das erste Zitat stammt aus Lion Feuchtwangers Bericht über seine MoskauReise 1937, das zweite hat einen kaum bekannten Opernsänger namens Carl Schlottmann zum Verfasser, der im Juli 1937 im Haus Wahnfried in Bayreuth an einem Empfang Hitlers teilnahm, das dritte stammt aus einem Bericht Rudolf Borchardts über einen Besuch bei Mussolini Ende März 1933. Die vier Zitate sollen nicht die absolute Vergleichbarkeit der Diktatoren des 20. Jahrhunderts beweisen, sondern demonstrieren, daß Männer verschiedenster Couleur durchaus bereit sind, auf große oder vermeintlich große Männer gleich zu reagieren: aus der Kammerdienerperspektive, unterwürfig, begeisterungsfähig, fanatisch entschlossen zur Bewunderung, allzeit bereit, körperliche Merkmale wie Blick oder Hand oder Schädelformen als Zeichen von Auserwähltheit zu nehmen. Einen vergleichbaren Eindruck hat Rudolf Borchardt von Hitler nicht gehabt. Er ist ihm nicht begegnet, hatte seine Informationen über ihn aus zweiter und dritter Hand. Eine Äußerung wie die von Edgar Julius Jung über Hitler nach einem Treffen in Harzburg: "Ich kann mir nicht vorstellen, daß ein Mensch mit einem solchen Verbrechergesicht in Deutschland Diktator wird. Wir müssen verhindern, daß Hitler auch nur einen Tag in die Macht gelangt",5 gewissermaßen die Komplementärformel zu Heideggers "wunderbaren Händen", ist von Borchardt nicht überliefert. Was Rudolf Borchardt in die Richtung des und in die Nähe zum Nationalsozialismus trieb, trägt unübersehbare Züge der Ubereinstimmung mit dem, was die sogenannte Konservative Revolution in die gleiche Richtung trieb. Insofern sind die folgenden Ausführungen als Ergänzung zu dem zu verstehen, was Stefan Breuer zur Konservativen Revolution beigetragen hat. 6 Es gab 3 4 5 (•

Rudolf Borchardt: Besuch bei Mussolini, in: Prosa VI, S. 212ff. Zit. nach: Victor Farias: Heidegger und der Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 1989, S. 175. Zit. nach Bernhard Jenschke: Zur Kritik der konservativ-revolutionären Ideologie in der Weimarer Republik. Weltanschauung u. Politik bei Edgar Julius Jung, München 1971, S. 157. Vgl. dazu Stefan Breuer: Anatomie der Konservativen Revolution, Darmstadt 1993 und Breuers Beitrag in diesem Band.

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Jens Malte Fischer

intensive Kontakte Borchardts mit wichtigen Persönlichkeiten der Konservativen Revolution, mit Edgar Julius Jung (ein Duzfreund Borchardts), Wilhelm Stapel, Heinrich von Gleichen, dem Herausgeber der Zeitschrift Der Ring, und mit Baron Guttenberg, der in Würzburg eine Art Koordinierungsstelle für konservative Publizistik leitete. Die wesentlichen Elemente von Borchardts zeitweiliger Inklination zum Nationalsozialismus sind auch die der Konservativen Revolution: ein Strukturkonservatismus und Legitimismus, der in der Spätphase der Weimarer Republik sich dann als Föderalismus von den Hohenzollern weg zu den Wittelsbachern in Gestalt des von Borchardt hoch geschätzten Kronprinzen Rupprecht bewegt, der "reißende" Nationalismus (um ein Lieblingsadjektiv Borchardts zu gebrauchen), der Haß auf die Weimarer Republik, der Kult des starken Mannes und der damit verbundene Ruf nach dem Fürst und / oder dem Führer. Je schäbiger Borchardt die Weimarer Republik werden sah, desto glühender wurde sein Monarchismus. Den Umsturz von 1918/19, den er nicht müde wurde als "Meuterei" zu bezeichnen (kurioserweise belegte er die Machtergreifung der Nationalsozialisten nach seiner Abwendung von ihnen mit dem gleichen Begriff), begriff er als säkularen Treubruch gegenüber den Monarchen. In einem (nicht abgesandten) Brief an die Baronin Wendelstadt 1926 schmähte er das neue Geschlecht, das vergessen habe, wie die Fürstenhäuser beschaffen waren, "denen man zum Danke für die Kulturthaten von Jahrhunderten die Treue brach in der (dann Gottlob enttäuschten) Hoffnung, dafür um 2% besser in Versailles davon zu kommen." 7 Im gleichen Brief wird aber auch deutlich, daß Borchardts Legitimismus keineswegs so beschaffen war, daß er sich umstandslos die alten Dynastien, so wie sie sich derzeit präsentierten, zurückwünschte. Sie hätten auch ihre Fehler gemacht, schwarze Schafe und "schlechte Weiber" müßten erst abgestoßen werden. Vor allem aber verficht er eine Strategie, die bei uns vor einigen Jahren den inzwischen verblaßten Namen der "Sonthofen-Strategie" erhalten hatte: "Vor allem aber muss es das Programm des politischen Legitimismus sein, dass das republikanisch demokratisch liberal sozial Parlamentäre Experiment restlos zu Ende gemacht wird, mit seinen eigenen Kräften, und der Nation zeigt, wozu es taugt und wieweit es reicht. Die Krone darf nicht in diese Experimente hinein gezogen und zu früh riskiert werden, sondern sie muss es unter ihrer Würde finden einen Zustand politisch zu übernehmen in dem auch nur der geringste Posten" (hier bricht die Uberlieferung des Briefes ab). In einem Briefentwurf an Edgar Julius Jung vom Januar 1930 fügt Borchardt hinzu, daß die Monarchie an dem deutschen Verfall im 19. Jahrhundert weder schuldig noch metaphysisch

7

Briefe 1924-1930, S. 150.

389

Rudolf Borchardt und der Nationalsozialismus

schuldlos sei, sie sei aber auf jeden Fall schuldlos an Krieg und Niederlage im Ersten Weltkrieg. W i e d e r u m wird die grauenhafte Schuld der Deutschen beklagt, ihre Dynastien dem Feind nachgeworfen zu haben. Diese Schande schwebe noch in der Luft; solange sie nicht abgewaschen sei, sei jeder Regenerationsplan obsolet. Die Monarchie werde da sein, wenn Elend und Niedergang nach der letzten Ausflucht schreien würden. "Ich kann des Treueides gegen meinen Herrscher von niemandem entbunden werden, auch von

meinem

Herrscher nicht." 8 Der H a ß auf die W e i m a r e r Republik schlägt bei B o r c h a r d t Funken des Fanatismus. Schon 1 9 2 0 zeichnet er ein Deutschlandbild, das dem Inferno seines geliebten Dante entliehen zu sein scheint: Ich befinde mich in dem Deutschland, das nach menschlichem Ermessen so vollständig verloren ist, wie ein von der Mannschaft, der ertrunkenen und der geretteten, verlaßnes, auf Klippen gestrandetes Schiff, dessen Eisenteile und Holzwände diejenigen, die es für Pauschalsummen gekauft haben, auszubrechen und zu bergen herbeifahren. Ich befinde mich in dem Deutschland, in dessen grauenhaften Eingeweiden M a m m o n s Krötenfinger Kadaververwertung treibt, dem Deutschland, das nach der Rechtloserklärung im Kriege, der Ehrloserklärung im Frieden nun unter der Wertloserklärung die letzte namenlose Plünderung erfährt. Ich befinde mich in diesem bis auf den letzten Grad der Entwertung verlumpten Lande, einem willenlosen O b j e k t der schamlosesten Geldherrschaft, die j e den Erdboden geschändet hat, unter dem Hammer des fremden Guldens, der mir mit dem Rechte der meinen Pfennig herabsetzenden Willkür das Ahnenbild von der Wand nimmt, mein Mädchen kauft, den Mörder gegen mich dingt und mir das Recht auf den Haushund gegen die Mörder von oben bis unten durchreißt. 9

Die Haltung gegenüber W e i m a r blieb bei Borchardt unverrückbar, sie wurde auch nicht in der sogenannten Konsolidierungsphase der Republik aufgeweicht, sondern verdichtete sich dann am Ende der zwanziger J a h r e zum Bild vom Bürgerkrieg, der allerdings in der eben zitierten Äußerung von

1920

schon voll im Gange zu sein schien. A m 12. März 1 9 3 2 erschien in der

Deut-

schen Allgemeinen

Zeitung

in der Rubrik Der Leser

hat das Wort ein Brief

Borchardts zur bevorstehenden Reichspräsidentenwahl, die einen T a g später stattfand. Zur Wahl standen Hindenburg (der vom Z e n t r u m , der SPD, der DDP, der DVP und der BVP unterstützt wurde), Hitler, Thälmann

und

Duesterberg von der D N V P . Borchardt entwirft wiederum ein apokalyptisches Bild der Situation: Das Land ist zahlungsunfähig, Straßenraub und Plünderung spotten des Rechts, Banden marschieren, Zuchthäuser schließen sich hinter Rechtschaffenen, das Blut der Jugend fließt. Deutschland befindet sich im Bürgerkriege. D e r Herr Reichspräsident, mit allem schuldigen Respekt, ist weder die Persönlichkeit, ihn zu unterdrücken, noch ihn zu führen. 1 0 8 9

Ebd., S. 422f.. So rette das eigene Leben, in: Prosa V , S. 353.

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Jens Malte Fischer

Wie so oft bei Borchardt: es ist alles ganz enorm dramatisch. Das war es diesmal ja nun wirklich, aber da er schon 1 9 2 0 das gleiche Bild gezeichnet hatte, gelingt es ihm gegenüber dem Leser von heute, der beide Äußerungen nebeneinander liest, nicht, klar zu machen, was und warum es 1 9 3 2 schlimmer geworden ist als 1 9 2 0 , und daß die marschierenden Banden ja nicht zuletzt jener Partei angehörten, der zu dieser Zeit seine Sympathie gilt, der NSDAP, wird camoufliert. Es bleibt die Frage, wen Borchardt denn nun zur Reichspräsidentenwahl empfiehlt, wenn er Hindenburg nicht empfehlen kann (und wenn ein ehemaliger Monarch oder jetziger Kronprinz nicht zu Wahl steht), und es bleibt die Frage, wem er im Gegensatz zu Hindenburg zutraut, einen Bürgerkrieg entweder zu unterdrücken oder zu führen. Thälmann und Duesterberg können wohl kaum gemeint sein, also muß es auf Hitler hinauslaufen, den er allerdings hier wie an anderen Stellen mit Namen zu nennen geradezu peinlich vermeidet. Die wahrscheinlich schlimmste Äußerung zu Weimar aus Borchardts Feder ist aber eine Nebenbemerkung. In einem zweiteiligen Artikel, der am 8. und 15. Januar 1933 in den Münchner Neuesten Nachrichten erschien (Staatenbund oder Bundesstaat war sein Titel), 'unterlief ihm folgende Entgleisung: Erzbergers Geist geht wieder um. Die Schüsse des Volksgerichts

haben nur einen

schlimmen Mann getroffen, die schlimme Macht ist unversehrt, wühlt und sammelt, knüpft und durchschneidet, tuschelt, droht und erpreßt, kauft, verkauft, pocht, trumpft auf und schleudert den Brand in die Baugerüste. 1 1

Borchardt interpretiert also die Schüsse zweier Ex-Offiziere der Brigade Ehrhardt auf den im Schwarzwald spazierengehenden Matthias Erzberger, Schüsse, die auch weiter abgefeuert wurden, als Erzberger schon am Boden lag, als "Schüsse des Volksgerichts", womit die rechtsradikalen Fememorde der Weimarer Republik (von Eisner über Erzberger zu dem nicht geglückten Attentat auf Philipp Scheidemann und zu Rathenau) durch ihn ihre historische Legitimation erfahren. Borchardts Monarchismus, Legitimismus und Republik-Haß führen völlig konsequent und unausweichlich zum Kult um Fürst und Führer / Führung, wobei bezeichnenderweise der Monarch und der diktatorische Führer ineinander verschwimmende Phantasmagorien sind, deren Konturen kaum noch sich voneinander abheben. Zwei Texte sind dafür besonders kennzeichnend. Der spätere von beiden trägt den Titel Der Fürst und stammt wahrscheinlich vom Februar 1 9 3 3 . Der Zusammenhang dieses Textes mit dem von Borchardt verehrten bayerischen Kronprinzen Rupprecht ist evident. Da die Ereignisse in Bayern nach dem 30. Januar 1933 für Borchardts Abwendung vom 10

W e m unsere Stimme?, in: ebd., S. 451.

11

Staatenbund oder Bundesstaat, in: ebd., S. 476.

Rudolf Borchardt u n d der Nationalsozialismus

391

Nationalsozialismus wahrscheinlich die entscheidende Rolle gespielt haben, seien sie hier kurz skizziert: 12 In Bayern hatten sich nach der Machtergreifung die stärksten Widerstände gegen die von Berlin ausgehenden Geschehnisse artikuliert. Konservativ-monarchistische Restaurationstendenzen setzten auf Rupprecht als konstitutionellen Monarchen u n d als Bollwerk gegen Hitler. Der von Borchardt propagierte Föderalismus war ebenfalls in Bayern am stärksten. Der Ministerpräsident Heinrich Held und Fritz Schäffer als Führer der Bayerischen Volkspartei führten den Widerstand gegen die Berliner Machtergreifung an und ließen sich wiederholt von Hindenburg versichern, daß Berlin nicht daran dächte, einen Reichskommissar nach Bayern zu entsenden. Hitler selbst beteuerte bei einer Kundgebung in München, er sei doch selbst Bayer und werde Bayern nicht schlecht behandeln. Selbst die bayerische NSDAP war nicht durchgängig antimonarchistisch, und erst als Rupprecht sich als entschiedener Gegner des Nationalsozialismus entpuppte, wandte sie sich von ihm ab. Im Februar 1933, eben in den Tagen und W o c h e n , als Borchardts Der Fürst offensichtlich entstand, trieben die Dinge auf die Spitze. Die Pläne der bayerischen Monarchisten gingen darauf hin, die bayerische Regierung solle den Kronprinzen ersuchen, sich für den Staatsnotstand als Generalkommissar mit erweiterten Befugnissen zur Verfügung zu stellen, woraus dann gewissermaßen zwanglos eine Proklamierung der Monarchie sich ergeben solle (Rupprecht hatte im Unterschied zu den anderen deutschen Königshäusern nie abgedankt oder offiziell auf den T h r o n verzichtet). W ä h r e n d Schäffer für diesen Plan eintrat (der natürlich verfassungswidrig war), konnte sich Held nicht endgültig entscheiden und schwankte in seiner Meinung hin und her, bis es zu spät war. Von Hindenburg kamen auch keine verläßlichen Signale, und nach der Wahl vom 5. März 1933 machten die Nazis kurzen Prozeß und rissen die Macht in Bayern putschartig an sich. An Borchardts Der Fürst fällt auf, daß die Beschreibung des Fürsten eigentlich die Beschreibung des Diktators ist. Die Lebensform des Fürsten sei Unterwerfung, er gestalte mit Menschen, sein Lebensraum sei die Hoheit, seine Sozialform die Souveränität, das Mittel seines Handelns der Schlag aus der Verschlossenheit usw. Die ziemlich genau zwei Jahre zuvor in Bremen gehaltene Rede Führung (der Vortrag fand am 2. Januar 1931 statt, die Broschürenpublikation im gleichen Jahr bei Georg Müller in M ü n c h e n zeigt das pointiert rechtskonservative Layout der Zeit) ist noch sehr viel deutlicher. Hier spricht er von den Parteien, die ihm und seinen Freunden nahestehen (der Plural ist wiederum Camouflage, denn gemeint sein kann nach Lage der Dinge nur die NSDAP) und die angetreten sind, die gesamte Nation in sich aufzusaugen, 12 Vgl. dazu die Darstellung K. D. Brachers in: K. D. Bracher, G. Schulz, W. Sauer: Die nationalsozialistische Machtergreifung, Bd. 1, F r a n k f u r t am Main u.a. 1983, S. 190ff.

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N a t i o n u n d Partei in e i n e m H ö h e r e n zu verschmelzen. D a n n entwickelt er seine These, d a ß d e r allgemeine Schrei nach einem F ü h r e r abstrus sei, weil es nicht an einem F ü h r e r fehle, sondern an der Fähigkeit des Volkes, f ü r einen Führer dazusein, eine These, die er in jenen J a h r e n i m m e r w i e d e r ausbreitet. Schließlich k o m m t er auf die Diktatur zu sprechen: Sie ist die Macht eines einzigen individuellen Willens oder einer persönlichen staatsmännischen Phantasie, der Phantasie und des Willens, das gesamte Gesicht der N a t i o n umzugestalten und in dies Gesicht mit der Schwertspitze einen neuen U m r i ß zu schreiben, ihre gesamten Werte mit der gleichen blutziehenden Feder u m - und ihre Bilanz neuzuschreiben, das heißt, sich als neuer Eckpfeiler in die nationale Ruine d o r t u n t e r z u s t e m m e n , wo die J a h r h u n d e r t r i c h t u n g im Winkel bricht, zwei Wände aneinander reißen u n d sich das Dach nachziehen w ü r d e n , w e n n nicht eine neue Gewalt sich d u r c h s c h ö b e [...]. 13

Unmittelbar darauf fällt in einer Reihe v o n D i k t a t o r e n n a m e n auch der N a m e Mussolini, u n d so wird endgültig klar, nach wessen Bild hier das Bild des idealen Diktators g e f o r m t wurde, u n d es wird auch deutlich, d a ß B o r c h a r d t sich u n t e r einem k ü n f t i g e n deutschen Führer eine A u s p r ä g u n g der MussoliniM ü n z e vorstellte. Der Kult des starken Mannes, d e m Borchardt innig anhing, w a r eine Erscheinung der Zeit, kein Zweifel. D a n e b e n gab es aber auch lebensgeschichtliche Dispositionen. Aus seinen autobiographischen A u f z e i c h n u n g e n wissen wir, wie wenig ihm die M u t t e r bedeutete, die d o r t nicht v o r k o m m t , u n d wieviel der Vater, den das Kind als schön, aber auch bitterstreng u n d b i t t e r h a r t e m p f a n d . Die "maschinenmäßige Energie, Willenskraft, Sachlichkeit, Unsentimentalität, ständige W a c h h e i t , [...] Tüchtigkeit, Macht", 1 4 das klingt nicht v o n ungefähr wie eine V o r w e g n a h m e seines Mussolini-Porträts; B o r c h a r d t hat in sein e m persönlichen H a b i t u s ebenfalls versucht, dieses M ä n n e r b i l d , eine preußische Latinität des vir, zu verwirklichen. Im Entwurf eines Briefs an H u g o Schaefer v o m Juni 1 9 2 5 schlägt er sich r e n o m m i e r e n d a n die Brust: "Appetit u n d V e r d a u u n g m u s t e r h a f t , Muskelzustand: hebe 1 Vi Z e n t n e r aus steifem Arm", u n d u m diese merkwürdige Mischung aus m e d i t e r r a n e m Potenzgehabe u n d preußischem C a s i n o - T o n zu vervollständigen, r ü h m t er sich d a n n auch n o c h (wie einst Krafft-Ebing in seiner Psycbopatbia sexualis ins Lateinische übergehend) seiner sexuellen Leistungsfähigkeit. 1 5 Der starke M a n n , das war er selbst, das w a r sein Vater gewesen, u n d so stellte er sich auch d e n M a n n vor, der das Vaterland aus seiner totalen V e r k o m m e n h e i t retten k ö n n e (wie es Mussolini vorexerziert hatte). 13 14

15

Reden, S. 412f. Rudolf Borchardts Leben von ihm selbst erzählt, in: Prosa VI, S. 94. Z u m Autobiographischen bei Borchardt vgl. meinen Beitrag: Rudolf Borchardt: Autobiographie und J u d e n tum, in: Rudolf Borchardt (1871-1945), Referate des Pisaner Colloquiums, hrsg. von H. A. Glaser, F r a n k f u r t am Main 1987, S. 29-48. Briefe 1924-1930, S. 80f.

393

Rudolf Borchardt und der Nationalsozialismus

Das Diagramm der Dispositionen Borchardts für die zeitweilige Sympathie mit dem Nationalsozialismus ist damit entworfen. Seine Inklination zu dieser Bewegung im Geiste der Konservativen Revolution ergab sich gewissermaßen von selbst.

Die wohl erste ausführliche Stellungnahme

zum

Nationalso-

zialismus findet sich in einem langen (nicht abgeschickten) Brief an Karl Ludwig Freiherr von Baron Guttenberg, den Leiter der "Arbeitsstelle für konservatives Schrifttum" in Würzburg. Der Brief stammt von Ende N o v e m b e r 1 9 3 0 . Borchardt entwirft darin eine Widerstandslinie gegen die W e i m a r e r Republik: D e r Nationalsozialismus aber ist ihr eigentliches Kernstück. Ich halte es für die operativ gebotene Aufgabe, ihn unter Beiseitstellung aller theoretisch und gefühlsmässig begreiflichen Bedenken auf Zugangsstellen zu erkunden, Verbindung mit ihm zu schaffen, Einfluss auf ihn zu gewinnen, ihn zu penetrieren. [...] D e r Nationalsozialismus hat heut so wenig ein Programm wie der Ur-Faschismus [gemeint ist der italienische, J . M . F . ] eines gehabt hat. Was geäussert wird (und damals wurde), sind (und waren damals) bombastische Knallphrasen der totalen politischen und wirtschaftlichen Ignoranz. Aus ihnen auf den Gehalt der Bewegung schliessen zu wollen, wäre ein völliges Verkennen der geschichtlichen Mächte. Grosse, auf die Massenphantasie unwiderstehlich wirkende D e m a gogieen wirken mit reissender Anziehungskraft auf den gesamten überlieferten Kulturbesitz der Gesellschaft. Der N.-Sozialismus ist programmverhungert bis zur Gier. E r hat keine Wahl als sich aus den denkmässigen Beständen der von ihm resorbierten aufzufüllen. [...] Mussolini hat uns vorgemacht, wie man die Masse zuerst mit den sachlich anfechtbarsten Schlagworten zusammenprügelt, um sie dann, wenn sie kompakt geworden ist, plastisch zu behandeln und ins Feine zu arbeiten. [...] W e r in drei Schützengrabenjahren das niedere V o l k (abzüglich des bäuerlichen) in seiner Verlogenheit, Gewaltthätigkeit und blinden Roheit des Eigennutzes kennen gelernt hat, zugleich seiner totalen Charakterlosigkeit und Gier, wird von der Sprache die Hitler zu ihm spricht, nicht mehr choquiert. Die Wahlmaschine zwingt ihn, es dem Gegner zu entreissen. Ü b e r die Möglichkeit und Wünschbarkeit, diese Sklavenmillionen darüber hinaus noch zu "gewinnen" denkt er, nach Mitteilungen die mir geworden sind, kaum minder verächtlich als wir. 1 6

Es finden sich bereits hier im November 1 9 3 0 alle Irrtümer der konservativen Steigbügelhalter Hitlers vereinigt, einschließlich der Unterschätzung der Person Hitlers. Bezeichnend ist, d a ß der N a m e Hitlers in den Briefen zwischen 1 9 2 4 und 1 9 3 6 nur ganz vereinzelt auftaucht. In einem ein J a h r später, im November

1 9 3 1 , an M a x Brod gerichteten Brief nennt B o r c h a r d t

Hitler

einen "armen Hantierer", den er nicht für den Diktator halte, dessen Bild er entwerfe (das ja nach dem Bild Mussolinis geprägt w a r ) . 1 7 Die geradezu peinliche Umgehung des Namens dieses Mannes zeigt ganz deutlich, daß er sich, in Italien wohnend, der Beurteilung Hitlers überhaupt nicht sicher war, ihn in Physiognomie und Auftreten zu seinem Nachteil mit Mussolini verglich. Eine Spekulation bleibt, ob er bei einer Begegnung mit Hitler (wie er sie mit Mus-

16

Ebd., S. 550ff..

17

Briefe 1 9 3 1 - 1 9 3 5 , S. 90f.

394

Jens Malte Fischer

solini hatte) zu einer Beurteilung wie der zu Anfang zitierten von Edgar Julius Jung gekommen oder eher auf Heideggers Seite geraten wäre. Im Brief an Baron Guttenberg finden wir das im konservativen Lager weit verbreitete NichtErnstnehmen der politischen Äußerungen der NSDAP als rein 'taktisch' oder rein 'propagandistisch', wir finden im weiteren Verlauf des Briefes die Illusion, daß ausgerechnet der Nationalsozialismus mit monarchistischem Gedankengut durchdrungen werden könne, daß sich in ihm ein einflußreicher katholischer Flügel bilden könne und daß der deutsche Durchschnittsbourgeois kryptomonarchistisch sei. Es ist zu vermuten, daß auch in diesem Fall Borchardt die Konstellationen des italienischen Faschismus und dessen Verhältnis zur Monarchie umstandslos auf die ganz andere deutsche Situation übertrug immer wieder greift er in seinen Briefen aus diesen Jahren auf seine italienischen Erfahrungswerte zurück. Am 18. Mai 1932 erschien in den Münchner Neuesten Nachrichten eine Geburtstagshuldigung Borchardts für den Kronprinzen Rupprecht, in der seine in den Nationalsozialismus gesetzten Hoffnungen wiederum deutlich zum Ausdruck kommen. Er traut Rupprecht dort zu, den "unsinnigen und heillosen Konflikt zwischen der stärksten und hoffnungsvollsten deutschen Partei - auch die Hoffnungen des Schreibers dieser Zeilen sind mit ihr - und der Kirche staatsmännisch zu entwirren" - der Kommentar der BorchardtAusgabe vermerkt dazu völlig zu recht, daß damit die NSDAP gemeint sei.18 Auffallend ist, daß er immer wieder in öffentlichen Äußerungen vermeidet, die NSDAP oder ihren Führer beim Namen zu nennen, so als sei er sich seiner Sache doch nicht ganz sicher. Diese Camouflierungstechnik kann sich bis zur ironischen Behauptung des Gegenteils steigern. Im August 1930 schreibt Borchardt an die Redaktion von Reclams Universum, die seinen Namen offensichtlich in einer Adresse an die Wähler benutzen wollte: Persönlich wähle ich sozialistisch, und bedauere meine Stimme n u r einer einzigen Partei der zweck- o d e r zwangsdemokratischen Koalition geben zu können, die sich u m Wiedererweckung, Stärkung und Sammlung der s c h o n absterbenden konservativen Gesinnung, u m Steigerung der öffentlichen Erbitterung u n d der allgemeinen Zuversicht der überlieferungstreuen Volksteile, s o ungemessene Verdienste erworben hat, dass ich sie als die einzige conservative Organisation Deutschlands ansehe.

Was auf den ersten Blick auch dem Interpreten von heute Schwierigkeiten macht (meint er mit 'sozialistisch' 'nationalsozialistisch' oder meint er allen Ernstes, er wähle die SPD?), enthüllt sich bei näherem Hinsehen als (bei ihm ungewohnte) Ironie: 'ich kann nur SPD wählen, denn deren Leistungen haben bewirkt, daß der Rechts-Konservatismus in Deutschland wieder eine Chance in Gestalt der NSDAP hat'. 19 Deutlicher wird Borchardt zu jener Zeit in Äu18 19

Rupprecht v o n Bayern, in: Prosa V, S. 470, K o m m e n t a r S. 604. Briefe 1924-1930, S. 477f. Ich verdanke diese einzig richtige D e u t u n g Ulrich O t t (Marbach).

Rudolf Borchardt und der Nationalsozialismus

395

ßerungen, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren, oder zumindest nicht veröffentlicht wurden. In einem T e x t mit dem Titel Offene Worte nach allen Seiten, der aus der zweiten Jahreshälfte 1 9 3 2 stammt und im Nachlaß erhalten ist, heißt es: Einer der klügsten und folgestrengsten politischen Autoren Deutschlands, überdies wenigstens der Hoffnung, wenn nicht der Parteiangehörigkeit nach, Nationalsozialist, Wilhelm Stapel, hat unlängst geschrieben, der Nationalsozialismus sei eine elementare aber noch ungeführte Bewegung. Nichts wahrer als das. 2 0

Dies wird man mit Fug auch von Rudolf Borchardt im Jahr 1 9 3 2 sagen können: er war Nationalsozialist der Hoffnung nach. Lange allerdings ist er es nicht geblieben. Wann die Abkehr Borchardts von seinen Illusionen anzusetzen ist, läßt sich ziemlich genau bestimmen. Einen terminus ante quem bietet ein Brief an Martin Bodmer vom 2 5 . August 1 9 3 3 . Dort heißt es: Die politischen Vorgänge in Deutschland haben nach doppelter Richtung eine neue Lage für mich geschaffen. Erstlich, da meine familiengeschichtlichen Umstände den Anforderungen nicht genügen, die dortseits theoretisch und praktisch zu Voraussetzungen persönlicher Integrität und sachlicher Berufsausübung gemacht worden sind, ist mir jede literarische Bethätigung in Deutschland virtuell unmöglich gemacht worden. [...] Abgesehen davon, dass ich nach meinen Informationen und aus Gründen innerer Untrüglichkeit das Regiment der Tollheit für ein zeitweiliges halten darf, das nur überlebt und inzwischen ausgestanden werden muss, bin ich für meine Thätigkeit nicht nur auf deutsche Sprache und deutschen Wirkungskreis angewiesen, und werde mich nicht erdrücken oder ersticken lassen. 2 1

Auch wenn ich dies aus den mir vorliegenden Briefen nicht erhärten kann, liegt die Vermutung mehr als nahe, daß die oben geschilderten Ereignisse in Bayern um die fehlgeschlagene Restitution der Monarchie in Gestalt Rupprechts, die im Februar/März 1 9 3 3 abliefen, Borchardt die verklebten Augen geöffnet haben. Er hatte klar gesehen, daß eine pur monarchistische Partei in Deutschland keine Chancen haben würde, und war der Hoffnung nach Nationalsozialist gewesen, d.h. er sah in der NSDAP die einzige rechtskonservative Bewegung mit Massenbasis und Erfolgsaussicht, die nach der Gewinnung der Macht ja nichts Besseres tun konnte, als den "armen Hantierer" Hitler zurückzuziehen und für die Rückkehr der Monarchie zu sorgen. Die Art, wie die nationalsozialistische Führung die bayerischen Alleingänge knapp und brutal unterband, sorgte für den raschen und kompletten Zusammenbruch seines Illusionsgebäudes. Außerdem sah er sich plötzlich auf seine jüdische Herkunft verwiesen. Der Antisemitismus der Nazis war für Borchardt, man muß es so konstatieren, bisher kein Thema gewesen. Offensichtlich gehörte dieser Antisemitismus für ihn ebenfalls zu jenen taktischen Manövern, mit denen der 20

R. B.: O f f e n e W o r t e nach allen Seiten. Typoskript im D t . Literaturarchiv Marbach, S. 1.

21

Briefe 1 9 3 1 - 1 9 3 5 , S. 262.

396

Jens Malte Fischer

Pöbel geködert werden sollte, die nach der Machtergreifung aber bald zu den Akten gelegt werden würden. Man muß Borchardt zugestehen, daß er diese gefährlichste aller Illusionen mit vielen Deutschen, auch deutschen Juden, teilte, die näher am Geschehen waren als er. Etwaige im Sommer 1933 noch vorhandene Hoffnungen sind dann spätestens durch die Ereignisse um den sogenannten "Röhm-Putsch" zerstört worden, bei denen ja auch sein Freund Edgar Julius Jung ermordet wurde. An seine Mutter schreibt Borchardt Ende September 1934: Dass wir bei d e m entsetzlichen Unglück unseres armen Vaterlandes, der N o t , den Leiden, den moralischen und physischen Entbehrungen der treuesten Patrioten, dem T o d e s o ausgezeichneter und edler Deutscher - ich habe unter den Juliopfern vier persönliche und D u z f r e u n d e verloren - mit verhältnismässig so geringen Abstrichen u n d Beschränkungen weiterexistieren, weiterarbeiten und unsere Kinder ahnungslos über d e n A b g r u n d bringen k ö n n e n , ist eine Gnade G o t t e s , für die man täglich danken muss. Es war d o c h wol ein dunkler richtiger Instinkt, dass ich seit 1903, mit geringen U n t e r b r e c h u n g e n , u n d den Krieg abgerechnet, hier lebe u n d dadurch deutsch bleibe dass ich dreissig Jahr lang keine der dortigen D u m m h e i t e n habe mitmachen wollen - dabei soll es bleiben. 2 2

Man wird Borchardt nicht vorwerfen können, er habe sehr lange gebraucht, um seinen Irrtum zu erkennen, insofern, aber auch nur insofern, kann man ihn mit Gottfried Benn vergleichen. Daß das, was in Deutschland vor sich ging, erst recht der Krieg, ihn vor unlösbare Probleme für sein Selbstverständnis stellte, dafür gibt es auch in dem in der Werkausgabe publizierten Material zwei deutliche Belege, zwei großangelegte Versuche, sich und dem Leser im Jahr 1943 (wahrscheinliches Datum der Abfassung) Rechenschaft abzulegen: Der Untergang der deutschen Nation und Zur deutschen JudenfrageP Beide Versuche, groß angelegt (wie könnte es bei ihm anders sein), brechen vorzeitig ab. Es wird nicht nur nachlassende Kraft gewesen sein, wie sie aus dem erschütternden (letzten?) Photo von 1942 zu erkennen ist. So, wie Borchardt war, konnte er Schuld und Versagen nicht eingestehen. Wie Gottfried Benn zu bekennen, daß sein einstiger Widersacher Klaus Mann weiter geblickt habe als er, das war nicht Borchardts Sache. Es war aber auch nicht seine Sache, wie Heidegger weinerlich und verlogen sich um den braunen Brei herumzuwinden. Immerhin: Borchardt hat die Nomina odiosa geschrieben, hat den braunen Dreck als "Scheißdreck" identifiziert 24 und er hat um 1943 diagnosti-

22 23

Ebd., S. 347. D e r Untergang der deutschen Nation, in: Prosa V, S. 503-526; Z u r deutschen Judenfrage, in: Prosa IV, S. 370-396.

24

Vgl. dazu Ernst O s t e r k a m p : Poetische Selbstreflexion als politische Kritik. Z u r D e u t u n g von Rudolf Borchardts Schmähgedicht "Nomina odiosa", in: J a h r b u c h der D e u t s c h e n Schillergesellschaft 26, 1982, S. 357-382.

Rudolf Borchardt und der Nationalsozialismus

397

ziert, daß die 'NS-Meuterer' die letzte staatliche und sittliche Ordnung vernichtet hätten, was nach kurzer Schreckensherrschaft zur Generalexekution der sittlichen Weltmächte gegen die mitschuldige, halbschuldige und unschuldige Nation geführt habe. 25 Daß er selbst in Rede und Schrift (wenn auch nicht mit allzu großer Breitenwirkung) den Boden für diese Meuterei bereiten half, wird er nicht gesehen haben - wie schrieb er doch an seine Mutter? Er habe, von 1903 bis 1933 in Italien lebend, keine der deutschen Dummheiten mitmachen wollen, womit wohl seine radikal rechten politischen Stellungnahmen der letzten Jahre und Jahrzehnte zu 'Klugheiten' umgemünzt werden sollten. In seinem etwa gleichzeitig entstandenen Exkurs über Josef Nadlers Literaturgeschichte, dem er selbst den grundsätzlicheren und durch den nicht vollendeten Text nicht eingelösten Titel Zur deutschen Judenfrage gegeben hat, finden wir ähnliche Argumentationslinien. Die Unangemessenheit mancher Formulierung läßt sich durch die Unkenntnis des wahren Ausmaßes der Vernichtung des Judentums erklären. Immerhin spricht er von der Ausmordung, Austreibung und Auszehrung der deutschen Juden. Daß die Judenemanzipation als einseitig deutscher Ruhm betrachtet wird, zu dem die Juden relativ wenig beigetragen hätten, versteht sich für den 'preußimilierten' Borchardt von selbst (ich spreche nicht vom Juden Borchardt, weil nach meiner gewiß angreifbaren Definition Jude nur ist, wer sich als solcher fühlt, oder derjenige, der von anderen dafür gehalten wird und schließlich aus diesem Grunde selbst daran glaubt - all das trifft für Borchardt nicht zu 26 ). Borchardt gelingt es in diesem späten Text nicht, über seine alten Positionen aus den zwanziger Jahren hinauszukommen. Bis zu seinem Lebensende hat er nicht verstanden, daß die 'antijüdische Spitze' der 'NS-Meuterei', wie er das nannte, keine Spitze war, sondern der Schaft und die Spitze zugleich dieser Grals-Lanze des Nationalsozialismus. Es ist sicher das Erschreckendste an Rudolf Borchardts Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus, daß sein Verhältnis zu den deutschen Juden durch einen völligen Mangel an 'compassion' gekennzeichnet ist. In dem Briefband 1 9 3 1 - 1 9 3 5 sind mehrere außergewöhnlich umfangreiche Briefe an Max Brod über das jüdisch-deutsche Problem die Höhepunkte. In ihrem Lichte müßte das Thema "Borchardt und das Judentum" neu verhandelt werden. Gänzlich Neues sagt er hier nicht, aber die schneidende Zuspitzung seiner Thesen umgibt sich mit einem immer dickeren Eispanzer, je zugespitzter die Lage der Juden in Deutschland wird. Daß er im März 1 9 3 2 der Meinung ist, daß den Juden im künftigen NS-Staat kein Haar gekrümmt werden wird,

25

Prosa V, S. 503.

26

Vgl. dazu meine Darstellung: R. Borchardt - Autobiographie und Judentum (Anm. 14).

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Jens M a l t e Fischer

kann nicht verwundern. 27 Wenn er aber im Januar 1936 in einem 14 Druckseiten umfassenden Brief an Brod und in offensichtlich voller Kenntnis der Drangsalierungen der Juden in Deutschland nichts besseres zu tun hat, als den Juden selbst die Urheberschaft und damit die Schuld an dem Streit um 'Blut', 'Rasse' und 'Vererbung' zuzuschieben, als ob die Rassen- und Vererbungstheorien des 19. Jahrhunderts, aus denen sich der Rassen-Antisemitismus nährte, eine Erfindung jüdischer Gelehrter gewesen seien, wenn er behauptet, daß der deutsche Antisemitismus ein Verfallssymptom sei, an dem jüdische Literaten und Halbwissenschaftler kräftig mitgewirkt hätten (und jetzt die Folgen ihres Tuns ernteten), dann greift er Argumente auf, die keineswegs neu sind, aber aus der Feder dieses Mannes zu diesem Zeitpunkt haben sie dann doch eine erheblich andere Wirkung. Mit dem Rücken zur Wand, wie Borchardt damals stand, nimmt die Inhumanität seiner Haltung zu. Das Wort 'Irrtum' - Borchardt-Leser wissen es - existiert in seinem Sprachschatz nur für Gegner. Es muß verblüffen, wenn er es dann doch einmal nach 1933 auf sich selbst bezieht. Wie aber ist der Kontext? In einem (nicht abgesandten) Brief an Alexander von Frey vom März 1935 heißt es auf die politischen Entwicklungen bezogen: Mein Irrtum hatte im Gegenteile in zeitlich verfrühten A n s ä t z e n bestanden. [...] Das W e sentliche besteht in der sicheren Zielprognose, und sie war durch eine Reihe einwandsfrei feststehender F a k t o r e n gegeben. Die Partie ist seit 1 Vi Jahren glatt verloren. [...] Aber schliesslich ist der Ablauf einer solchen Krisis cyklischer N a t u r , und wir k ö n n e n uns nicht wundern, wenn es nach d e m Hitlerfrühling plus respektivem S o m m e r und H e r b s t immer kälter wird. [...] W i n t e r s t ü r m e sind kein reines Vergnügen, auch w e n n sie den Wagnerschen W o n n e m o n d bringen. Aber die andere Alternative der Dauervergletscherung unseres Vaterlandes u n t e r d e m uniformen Leichentuch der Willkür irrsinniger u n d c o r r u p t e r Strolche ist n o c h etwas ganz anderes als das blosse Gegenteil eines Vergnügens. 2 8

Rudolf Borchardt hat einmal für die von ihm vertretene Position ganz ohne schlechtes Gewissen den Begriff "totalitärer Konservatismus" gebraucht. 29 Der totalitäre Anteil seines Konservatismus hat ihn in die Irre geführt, aus der ihn kein Ariadnefaden wieder hinausgeleitete. A u f g e h n ihm Katakomben neu, sein H a u s ist Die Höhle flüsternd v o m Verein Sag den Gefallenen, daß es mit uns aus ist U n d Abel tot: Deutschland ist Kain. 5 0

27 28 29 30

Briefe 1931-1935, S. 150. Ebd., S. 436f. Konservatismus u n d Humanismus, in: Prosa V, S. 439. Schatten v o m Wannsee, in: Gedichte II / Übertragungen II, S. 26.

Namenregister (Erstellt von Bernhard Klöckener) Kursiv gedruckte Zahlen verweisen auf die Fußnoten. Herausgeber sowie Namennennungen in (Buch-)Titeln wurden nicht berücksichtigt.

Ackerman, James S. 197, 204 Adorno, Theodor W. 55, 175 Alberti, Leon Battista 199, 2 0 6 Alexander der Große 161, 188, 270, 272, 275 Alfieri, Antonio Ajace 152, 154 Alkaios 275 André, Gianluca 3 4 8 Andree, Rolf, 202 Angelus Silesius 14S Annunzio, Gabriele d' 298, 306, 3 6 8 Apel, Friedmar, 4 5 - 5 5 Archilochos 2 7 5 Aretin, Erwein von 325f., 3 2 7 , 3 2 8 Aristophanes 5 7 Arnaut Daniel 79, 82, 122f., 223f., 229 Assmann, Aleida 1S8 Assmann, Jan 1S8 Auerbach, Erich 114 August Wilhelm, Prinz von Preußen 300, 3 2 3 Ax, Wolfram 57,61 Ayrton, Michael 2 2 6 , 2 2 7 , 228f. Bacci, Pèleo 225f., 227 Bahr, Hermann 85 Balde, Jacob 127 Ball-Hennings, Emmy 31 Bandinelli, Ranuccio Bianchi 162 Barlach, Ernst 2 1 1 , 2 1 2 Barner, Wilfried 94 Barth, Hans 3 4 3 , 344 Bassermann, Alfred 7 4 Baudelaire, Charles 4 9 , 2 6 6 Bauer, Ludwig 2 7 7 Bauerle, Dorothee 187f. Baumhauer, Otto A. 9 4 , 104 Beck, Adolf 133 Beckmann, Max 2 1 1 Belli Barsali, Isa 203f., 206, 208

Belting, Hans 2 1 7 , 2 1 9 , 224 Benassai, Cesare 2 0 8 Benjamin, Walter 29, 43, 85, 107, 175, 304 Benn, Gottfried 2 6 6 , 3 9 6 Bentmann, Reinhard 195, 208 Bergson, Henri 3 5 7 Bernauer, Markus, 2 4 5 - 2 6 4 Bernhard von Clairvaux 2 2 3 , 227 Berr, Henri 177 Bertram, Ernst 17, 106, 117, 179, 3 1 3 , 330, 3 7 0 Bethmann Hollweg, Theobald von 300, 316f., 343f. Beyer, Andreas, 1 9 4 - 2 1 0 Bie, Oskar 313 Bierbaum, Otto Julius 2 9 5 Binding, Rudolf G. 78 Bing, Gertrud 185, 187 Binswanger, Ludwig 182 Bismarck, Otto von 35, 63, 87, 119, 181, 2 8 8 , 319, 3 4 0 , 3 5 2 , 3 5 8 , 364-366, 368, 375 Blei, Franz 19, 20, 26, 29, 78, 315 Bloch, Marc 1 7 8 , 1 7 9 { . Blondel, Charles 178 Blüher, Hans 2 2 Blum, Gerd 205 Boca, Angelo Del 336 Boccaccio, Giovanni 199, 315 Böcklin, Arnold 2 0 2 Bodei, Romea 190 Boden, Petra 107 Bodenhausen, Eberhard von 2 9 0 Bodmer, Johann Jakob 125 Bodmer, Martin 53, 116, 246, 2 6 3 , 264, 385, 3 9 5 Boeck, Urs 241 Boeckh, August 67, 69, 70, 72, 176

400

Namenregister

Boehm, M a x Hildebert

372

Burke, E d m u n d

372

B o e h r i n g e r , R o b e r t 5, 6, 2 2 Boehringer, Rudolf 6 Böhm, Wilhelm 133 B ö h m e , H e l m u t 356

B u r k e , Peter 1 7 7 , 1 7 8 B u r k e r t , W a l t e r 173 Bursian, C a r l 70 Buschendorf, Bernhard

B ö h m e , J a k o b 145 Bollack, J e a n 103 B o n a n u s d a Pisa 2 1 7

Busching, Paul 3 0 0 , 301 Buschor, E r n s t 2 2 5 B u s h a r t , M a g d a l e n a 235 Byron, G e o r g e G o r d o n N o e l L o r d Caecilie v o n P r e u ß e n 3 2 3

B o r b e i n , Adolf 171 B o r c h a r d t , P h i l i p p 318 B o r c h a r d t , C o r n e l i u s 1, 50 Borchardt, Borchardt, Borchardt, Borchardt,

Ernst 291,313 H e l e n e 4, 59, 195, 196 M a r i e Luise 1 Philipp 6, 12, 59, 61,

285,313 B o r c h a r d t , Rose 17, 65 Borchardt, Vera, verh. Rosenberg 64f. Börne, Ludwig

C a l d e r III, W i l l i a m M . 58, Caligula 2 4 , 3 1 8

191,

59f.,

33-35

B o u r g e t , Paul 2 6 1 B r a c h e r , Karl D i e t r i c h 391 Brancusi, C o n s t a n t i n 2 5 0

B r e d e k a m p , H o r s t 175 B r e n t a n o , C l e m e n s 127, 135 167,

70

C a n a v e r o , A. 156 Cancik, H u b e r t 68 C a n f o r a , L u c i a n o 103 Carducci, Giosuè 199 Carli, E n z o 218,226 Cäsar 2 4 , 1 6 1 , 180f., 2 7 5 , 316 Casati, A l e s s a n d r o 1 4 4 f . , 1 5 2 , 1 5 4

282, 3 0 9 f . C h e r n o w , R o n 182 Childs, T i m o t h y W . 336 Chrétien de Troyes 122 Cicero 196

B r a u n f e l s , W o l f g a n g 2 2 6 , 227 Brecht, Walther 85, 89, 117

5 , 162,

46

C a t e r i n a v o n Siena 1 4 5 Cato 380 C a v o u r , C a m i l l o B e n s o Graf v o n 3 4 0 Chamberlain, H o u s t o n Stewart 281,

B o s c a r i n o , Salvatore 208 B o u r d i e u , Pierre 1 9 5

Breuer, Stefan

183

174,

181,

186, 3 7 0 - 3 8 5 , 3 8 7 Breysig, K u r t 176f. Briggs, W . W . 58 B r o d , M a x 385, 3 9 3 , 3 9 7 , 3 9 8 B r ö n n e r , W o l f g a n g , 204 B r o n t e , A n n e , C h a r l o t t e u n d Emily 2 7 7 B r o w n i n g , R o b e r t 4 6 , 196 Buber, Martin 59,314 B ü c h e l e r , Franz 5 7 , 5 9 , 61, 69, 70, 7 2 , 1 2 7 , 171 B ü c h n e r , Fritz 3 2 5 Büchner, Georg 3 3 Bülow, Bernhard Heinrich Martin von 316, 3 4 3 , 3 4 7 B u n g e , Ulrike 7 9 B u r c k h a r d t , Carl J a c o b 8 5 , 8 8 Burckhardt, Jacob 33, 74f., 92, 99, 175, 1 7 7 , 182, 2 8 0 , 3 0 8 B u r d a c h , K o n r a d 7 6 , 7 8 , 8 4 - 8 9 , 92, 9 4 , 9 6 , 9 9 - 1 1 2 , 118, 1 2 2 , 1 2 5 f .

Circlaria, T o m m a s i n o di 7 7 Cittadella-Vigodarzere, Contessa Aurelia 155 Classen, C a r l J o a c h i m 57 Coleridge, Samuel Taylor 4 6 C o s e r i u , A n n a 114 C o s s m a n n , Paul N i c o l a u s 2 9 4 , 2 9 7 - 2 9 9 , 317, 3 2 2 , 3 2 7 C o u d e n h o v e - K a l e r g i , Graf R i c h a r d N i k o laus 321 C r a m e r , T h o m a s 109 Crispi, F r a n c e s c o 3 3 4 C r o c e , B e n e d e t t o 73f., 1 4 4 f . , 1 5 5 , 1 5 7 , 159-165, 175 Cromwell, Oliver 3 2 5 Culot, Maurice 198f. Curtius, Ernst 90 C u r t i u s , Ernst R o b e r t

11, 7 6 , 93f.,

114,

1 3 1 , 164, 185, 1 9 4 , 3 1 3 D a n t e Alighieri 7, 3 8 , 7 3 - 8 0 , 82f., 93f., 97, 101, 110f., 114, 116f., 121f., 124, 126, 130, 141, 143, 145,

Namenregister 148-151, 154f., 160, 189, 2 1 0 212, 214f. 2 2 0 , 2 2 3 - 2 2 6 , 2 2 9 - 2 3 1 , 233, 2 6 0 , 2 6 3 , 3 8 9 Darwin, Charles Robert 185, 193 Davidsohn, Robert 215, 229 Decleva, Enrico 349f. Dehio, Georg 238 Dehio, Ludwig 356 Dehmel, Richard 288, 293 Deneke, Otto 61 Derain, André 2 5 0 Derleth, Ludwig 181 Dernburg, Bernhard 315 Dewitz, Hans-Georg 79, 99 Diederichs, Eugen 281 Diels, Hermann 5 9 , 66, 68, 1 9 0 Diers, Michael 176 Diesel, Eugen 325 Diezelsky, Georg von 316f. Dilly, Heinrich 225 Dilthey, Wilhelm 86, 8 8 , 1 3 8 , 176f., 3 6 0 Dix, Otto 2 1 1 Dominikus 2 2 9 Donatus, Aelius 7 8 Donatello 2 2 6 Dörrenhaus, Fritz 2 0 2 Drews, Jörg, 2 7 - 4 4 Dupront, Alphonse 179 Durkheim, Emile 177, 178 Duse, Eleonora 155 Duesterberg, Theodor 389f. Eckermann, Johann Peter 105 Eckhart (Meister Eckhart) 78, 110 Ehrhardt, Hermann 3 9 0 Ehrmann, Karoline 4, 64, 148, 157 Eisner, Kurt 3 9 0 Encke 247 Ennen, Edith 202 Ernst, Paul 3 7 0 Erzberger, Matthias 3 1 6 , 3 9 0 Etzel (Attila) 3 0 7 Eucken, Rudolf 145, 152 Eulenburg, Philipp Fürst 18, 281f., 2 8 8 , 2 9 0 , 294f., 3 0 8 Euphronios 166 Evola, Julius 324 Falkenhayn, Erich von 316f. Farias, Victor 387 Febvre, Lucien 178 Ferrari, Kardinal 153

401

Ferro, Marc 3 J 6 Feuchtwanger, Lion 386, 3 8 7 Fichte, Johann Gottlieb 3 5 7 , 3 6 0 , 3 6 2 Fischart, Johann 127 Fischer, Bernhard 107 Fischer, Fritz 3 J 6 Fischer, Jens Malte 314, 3 8 6 - 3 9 8 Fischer, Joschka 127 Fischer, Paul David 2 0 1 Fischer, Samuel 3 1 1 , 3 1 3 , 3 5 8 Flake, Otto 202 Flasch, Kurt 105, 3 5 5 - 3 6 9 Foerster, Karl 268, 332f. Fogazzaro, Antonio 145f., 155 Fontana, Oskar Marius 138 Forschbach, Edmund 331, 381 Förster, Bernhard 3 0 9 , 3 2 9 Forster, Georg 127 Forster, Kurt W. 186 Förster-Nietzsche, Elisabeth 3 0 9 Fraenkel, Eduard 5 7 , 5 8 Frankl, Paul 238f. Franz Josef, Kaiser 3 4 4 Franz von Assisi 145, 223, 2 2 9 Freud, Sigmund 174, 176, 179, 182, 190 Frey, Alexander von 3 9 8 Frey, Dagobert 158 Freyer, Hans 3 7 9 Freytag, Gustav 177 Friedrich I., genannt Barbarossa 2 4 2 Friedrich IL, Kaiser 77, 82, 180, 2 1 5 , 218f., 2 2 5 , 3 0 2 , 3 0 6 Friedrich III. 307f. Fries, Helmut 3 J 6 Frundsberg, Georg von 96 Gabriele, Mariano 3 4 9 Gadda, Carlo Emilio 194 Gallarati Scotti, Tommaso 1 4 3 - 1 5 6 , 3 3 8 Gallus 198 Gama, Vasco da 81 Garber, Klaus 100 Garibaldi, Giuseppe 3 3 4 Gaspary, Adolf 74 Gass, Karl Eugen 305f., 3 0 8 Gauß, Carl Friedrich 165 Gayl, Wilhelm von 326 Gentile, Giovanni 155f. George, Stefan 1-26, 29-32, 6 0 , 6 2 , 73f., 7 6 , 80, 110, 113, 123, 130, 132, 134f., 140f., 170, 174, 179, 180,

402

Namenregister 181, 211, 261f., 265, 271, 2842 8 8 , 292, 295, 2 9 8 , 3 0 4 , 3 0 8 , 312, 321, 325, 330, 369-371, 383

Gerstenberger, Heide 384 Gervinus, Georg Gottfried 75 G h e r a r d e s c a , U g o l i n o della 2 1 0 Gibbon, Edward 280 Gilbert, Felix 178 G i n z b u r g , C a r l o 180 Giolitti, G i o v a n n i 1 5 1 , 3 3 5 , 3 4 6 , 3 5 3 Giorgi, F u l v i o d e 146 Giotto 223f. G i u s t i n i a n i , C o n t e Sebastiano 194 G i u s t i n i a n i , C o n t e s s a M a r i a Adelaide Sardi 194 G l e i c h e n , H e i n r i c h von 326, 372i., 3 8 1 f . , 384, 3 8 8 Gleichen-Russwurm, Alexander von 154, 2 8 5 , 3 1 1 Gmelin, H e r m a n n 8 0 G o e d e k e , Karl L u d w i g 133 G o e s c h , H e i n r i c h 4, 5 9 , 60, 6 2 G o e t h e , J o h a n n W o l f g a n g v o n 4, 7, 2 8 , 33, 35, 37, 43, 47, 62, 75, 77, 8 4 f . , 1 0 5 - 1 0 7 , 109, 110, 113, 1 2 0 f „ 1 2 4 , 1 2 7 , 1 3 0 , 1 3 2 , 134, 1 4 0 f . , 180, 1 9 6 , 2 0 1 , 20S, 2 1 2 , 244, 332, 364, 366, 369, 387 G o l t z , C o l m a r F r e i h e r r v o n der 3 4 2 Gombrich, Emst H. 181-189 G o s e b r u c h , M a r t i n 224 G o t t f r i e d v o n S t r a ß b u r g 7 7 , 122f. G r a n g e , J a c q u e s 159 Grass, F r i e d r i c h 381 Grass, Karl M a r t i n 382 Gregor v o n Nyssa 109 G r i m m , H a n s 325 Grimm, H e r m a n 90 G r i m m , J a c o b 127, 176 G r u b e r , J ö r n 82 Guicciardini, Francesco 2 8 0 G u n d o l f , F r i e d r i c h l l f . , 17, 1 1 3 , 1 7 9 f „ 313f. Gurian, Waldemar 379 G u t t e n b e r g , Karl L u d w i g v o n 380, 3 8 8 , 3 9 3 f . G ü t t i n g e r , H e i d r u n 298 Haas, Willy 2 9 3 , 3 2 7 Hadrian 24

328, 371,

H a l b w a c h s , M a u r i c e 178, 189 H a l p e r n , G . 349 Halske, Johann Georg 364 H a m m e r , Karl 356 Harden, Maximilian 288-291, 293f., 295, 296(., 3 0 5 , 3 1 1 Härder, Richard 17 H a r d t , Ernst 4 H a r r i s o n , J a n e 1 7 3 , 178 H a r t m a n n von Aue 77, 117 H a u a r t , Felix 2 9 6 H a u d e b o u r t , Louis-Pierre 1 9 9 H a u p t m a n n , Gerhart 37, 3 7 0 H e f t r i c h , E c k h a r d 180 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 33, 7 4 f „ 167, 176, 361, 3 6 4 Heidegger, Martin 387, 394, 3 9 6 Heilmeyer 6 H e i n e , H e i n r i c h 3 3 f . , 127, 134 H e i n r i c h VI. 7 7 H e i n r i c h VII. v o n L u x e m b u r g , 1 5 0 , 2 1 2 ,

221, 228 H e i n r i c h v o n V e l d e k e 123f. H e i s e , Carl G e o r g 182, 186 Heißenbüttel, Helmut 268 H e l d , H e i n r i c h 326, 3 9 1 H e l l i n g r a t h , N o r b e r t von 1 3 4 - 1 3 8 , 1 4 0 f . H e l l o , E r n e s t o 85 H e n n i s , W i l h e l m 174 Herder, Johann Gottfried, 45-47, 66, 7476, 9 0 , 9 6 - 9 8 , 1 0 3 , 1 0 8 - 1 1 0 , 1 5 7 , 162, 171, 176, 180, 364, 3 7 7 H e r m a n n I., L a n d g r a f v. T h ü r i n g e n 123 Hermann, Gottfried 70 Herodot 280 H e r r e , Paul 3 4 5 Hertz, Mary 184 Hesse, H e r m a n n 304 H e y e , C l a r a 300 Heym, Georg 31 H e y m e l , A l f r e d W a l t e r 194, 2 8 6 , 288, 2 8 9 f . , 2 9 2 , 2 9 5 - 2 9 7 , 298f„ 3003 0 2 , 3 1 4 f „ 344 H i l d e b r a n d , R u d o l f 112 Hildebrandt, Kurt 3 3 0 H i n d e n b u r g , Paul v o n B e n e c k e n d o r f f u n d von 326, 389, 390f. H i n t z e , O t t o 174, 1 7 7 H i t l e r , Adolf 2 0 f „ 2 4 f „ 4 1 , 1 3 1 , 1 8 9 , 2 8 1 f., 293, 299, 3 1 0 , 3 2 5 , 326,

403

Namenregister 3 2 7 , 3 3 0 , 331, 386,

387, 389-391,

393, 395, 398 Hoeges, Dirk

Jansen, Elmar Jaspers, Karl

69

H o f m a n n , Susanne 4 5 ,

100

Hofmannsthal, H u g o von

212 387

J e a n Paul 5 , 9, 3 5 , 1 3 4 , 2 7 6

3 - 5 , 7 - 1 1 , 19,

Jehans de Brabant

77

31-33, 44, 53, 60, 62f., 84-92, 94,

Jenschke, Bernhard 382,

9 7 , 1 0 0 , 101,

Jesinghausen-Lauster, Martin

123f.,

105-110,

126, 131,

147-149, 176,

113-119,

135,

139,

295,

142,

J o a c h i m von Fiore

157,

166,

170,

J o c h m a n n , Carl Gustav 2 7 , 3 3 f . , 4 2

201,

208,

261,

J o h a n n , König von Sachsen

297,

312,

291-293, 321,

313,

329,

385

J o n e s , Larry E .

74

381f.

J u n g , C . G. 179,

189

J u n g , Edgar Julius

Hofmiller, H u l d a 2 9 9

19f., 3 2 1 , 3 2 4 , 3 3 1 ,

381-384, 387f„ 394, 396

Hofmiller, J o s e f 65, 7 8 f . , 2 6 0 , 2 9 4 , 2 9 7 ,

Jünger, E m s t 2 6 6 , 2 8 3 , 3 2 3 , 3 7 9 f . ,

Hohenvels, Burkart von Holbein d. J . , Hans

Kafka, Franz

79

Kahn, Paul

166

37,42 316

Hölderlin, Friedrich 2 8 , 3 3 , 1 3 2 - 1 4 2

Kahr, Gustav Ritter von

Holitscher, Arthur

Kaibel, Agnes

293

Holzing, M a x von 288,

Kallenberg, Fritz

315

98, 121, 131, 164, 268,

273,

H o p m a n , Albert

298

357

Kantorowicz, Ernst 7 6 , 1 7 9 f .

178

Kany, Roland 173, 184,

315

Kassner, Rudolf

196f.

Hötzendorf, Conrad von

Kautsky, Karl

347

Huelsenbeck, Richard

31

Hügel, Friedrich von

152

337 171

Keller, Fritz Eugen 2 0 8 , 2 2 6 Keller, Harald

227

Kemp, Wolfgang 175,

84

Huisstede, Pieter van 182,

189

318

K e k u l i , Reinhard

Hugenberg, Alfred 3 7 2

Huizinga, J o h a n

356

Kandinsky, Wassily Kant, Immanuel

280 Honegger, Claudia

327

60

Kaibel, Georg 5 9 , 6 4 , 1 9 1

Holstein, Friedrich von 2 9 4 , 3 0 8

Kessler, Harry Graf

188

189 2 3 , 1 5 3 , 285,

3 1 2 , 3 1 4 f . 317,

93

Ketteier, Klemens Freiherr von

Hüppauf, Bernd

Kiderlen W ä c h t e r , Alfred von

356

Kierkegaard, S e r e n

96

Ingold, Felix Philipp Ipsen, Gunter

325

Kippenberg, Anton 2 9 7 ,

Ishida, Yuji

373,381f.

Kirchhoff, Adolf 5 9

Iswolski, Alexandr Petrowitsch

346

Kirchner, Ernst Ludwig

241 305 250f.

Ivanov, Venceslav

156

Klages, Ludwig 4 , 5 , 181,

Iversen, Margaret

187

Klein, Bruno, 2 3 2 - 2 4 4

Jacini, jr., Stefano

144f.

Klein, T i m

J ä c k h , Ernst 337,

343

Kleist, Heinrich von

Jacoby, J o h a n n e s

129

J a c o p o n e von T o d i Jaeger, W e r n e r

356

330

325 33, 133, 135, 139,

169

Kleopatra 2 , 2 6 8

145

17, 65,

Jaeger, W o l f g a n g

141,

306 343f.

361

Kingsley Porter, Arthur

298

290,

318-320

Humboldt, Wilhelm von 7 1 , 1 7 6 , 3 6 4 Hutten, Ulrich

384

Juvarra, Filippo 2 0 6 , 2 0 8

298-300

Hugo, V i c t o r

186f.

229

194,

359, 370,

Homer

387

153f.,

179,

265f., 271, 284f., 290,

Horaz

340

Jahn, Otto 68-70, 87, 127

101

Hoffmann, M .

J a g o w , Gottlieb von 316f.,

71

Klettenberg, Susanne von

109

Klopstock, Friedrich Gottlieb

132, 134

404

Namenregister

Koerte, Alfred 5 9 , 61 Koester, Eckart 356 Köhler, Wolfgang 183 Kohut, Heinz 5 Kolb, Annette 2 9 5 Kolumbus, Christoph 81 Kommereil, Max 180 Kondylis, Panajotis 3 8 4 König, Christoph 8 4 - 1 1 2 , 166 Königseder, Karl 182 Konrad von Megenberg 79 Kopperschmidt, Josef 94 Körner, Karl Theodor 133 Körte, Alfred 62 Körte, Hermann 3S6 Köselitz, Heinrich 3 0 8 KoSenina, Alexander 103 Krafft-Ebing, Richard von 3 9 2 Kraft, Werner 2 7 - 4 3 , 230, 2 5 3 , 264f„ 266, 287, 313, 3 2 2 , 328,376 Kraus, Karl, 27, 3 0 , 32-34, 4 0 , 42f. 113 Kreytenberg, Gert 2 2 7 Krier, Leon 199 Küenzlen, Gottfried 186 Kühlmann, Richard von 296f-, 300 Kuhn, Adalbert 193 Kunkel, Ulrike 114 Kütemeyer, Wilhelm 3 5 Lachmann, Karl 56, 68, 70, 129, 176 Lagarde, Paul de 135, 293, 3 0 9 Lamprecht, Karl 120, 176f., 178 Landfried, Klaus 12 Landmann, Edith 4f., 6, 380 Landmann, Julius 4, 17, 295, 380 Landmann, Michael 3 Landor, Walter Savage 91 Langen, Albert 2 8 8 , 2 9 7 , 3 0 0 , 3 0 3 , 305, 3 1 1 , 313, 3 2 3 Langer, Susanne K. 160 Lasaulx, Ernst von 165 Lasker-Schüler, Else 4 3 Lass 60, 6 4 Latini, Brunetto 7 7 Lausberg, Heinrich 94 Lazarus, Moritz 190 Lechter, Melchior 5 Lehmann, Wilhelm 4 3 Lenz, Jakob Michael Reinhold 33 Leo, Cécile 5 7 , 6 2 , 6 4 - 6 6 Leo, Friedrich 5 6 - 7 2 , 86f., 100, 127

Leo, Therese 6 5 Leo, Ulrich 6 2 Lepsius, Sabine 4 Lessing, Gotthold Ephraim 2 9 4 Lessing, Theodor 3 0 , 3 2 7 , 333 Lévy-Bruhl 178 Leyen, Friedrich von der 180, 291f. Lichtenfeldt, Hans 1 5 4 , 2 8 6 , 3 1 1 Lichtenstein, Alfred 3 1 Liebermann, Max 290f. Lillie, Amanda 204 Liszt, Franz von 21, 24 Litzmann, Berthold 133, 139-141 Livius 2 8 0 Lobeck, Christian August 6 9 Loeschcke, Georg 5 9 , 61, 171f., 192 Loria, Achille 3 3 4 Lötz, Wolfgang 204 Louis Philippe 3 2 2 , 3 2 9 Louis, Rudolph 298, 299 Lübbe, Hermann 356 Lubliner, Hugo 313 Lucena, Vasco de 188 Lucilius 72 Ludendorff, Erich 316-318 Ludwig XIV. 3 5 7 Lukäcs, Georg von 3 5 5 Lukrez 2 1 4 Luther, Martin 77, 2 5 9 - 2 6 1 , 2 6 3 , 293, 325 Luzzatti, Mario 214 Machiavelli, Niccolo 3 4 0 Mackensen, August von 3 1 0 Mager, Wolfgang 161 Mahler, Gustav 298 Makkreel, Rudolf A. 177 Malgeri, Francesco 336 Mallarmé, Stéphane 170 Maltese, Paolo 336 Mancini, Lucia 80 Manfred, König von Sizilien 2 1 8 Mann, Golo 320f. Mann, Heinrich 2 9 3 , 3 1 8 Mann, Klaus 3 9 6 Mann, Thomas 31, 113, 117, 131, 156, 293, 3 7 0 Mannheim, Karl 101, 189 Manzoni, Alessandro 151, 155 Marianeiii, Marianello 164, 181, 210 Marin, René 197

405

Namenregister Marinetti, Filippo T o m m a s o

298

Martinelli, Giovanni Lorenzo Martinengo-Cesaresco, Evelyn M a r x , Friedrich M a r x , Karl

Müller, J o s e f

197

Müller, M a x

35 209

Matthisson, Friedrich

133, 135

195,208

M u n c k e r , Franz

17,117

Murri, R o m o l o

Medici, Cosimo

Muthesius, H e r m a n n

M e r l i o , Gilvert

Nabokov, Vladimir

230

Nadler, J o s e f

382

Mette, Hans J o a c h i m 68f.

134

14, 17, 4 6 , 69,

Napoleon I. Bonaparte

336

316,

124

105-107,

Napoleon III.

Michels, Wilhelm

Naumann, Friedrich 287,

134 210-231

247

Millay, Edna St. V i n c e n t

45-54,

169,

Miller, N o r b e r t Mirgeler, Albert

Neumann, Michael

157-193

379(„

167,

384

M ö h l e r , Armin

370f.

163,

M o l t k e , Helmut G r a f von 316f.,

5 7 f . , 6 1 , 63,

90, 1 2 0 , 1 7 6 356

370f.

72,

Oelsner, Konrad Engelbert

33

Ojetti, Ugo

16

254

Olde, Hans Opitz, Martin

350

Müller, Adam

77

347

277

74

Müller, Alexander von

Osterkamp, Ernst

145

1 - 2 6 , 4 5 , 113,

1 6 9 , 1 7 5 , 180, 3 0 4 , 305,

227

M ö r i k e , Eduard

182

Ortroy, Francesco van

Montaigne, M i c h e l de 2 0 2

91 283

245

M o o r e , Henry

199

Novalis, 4 5 , 7 4 f . , 1 3 9 , 145,

M o n d r i a n , Piet

61

Osthaus, Karl-Ernst O t t , Friedrich

50

Ott, Ulrich

170,394

330

247

Overbeck, J o h a n n e s Adolf 1 7 1 , 1 7 2 322

Müller, G e o r g 2 9 5 , 3 2 3 , 3 9 1

181,

319,

M o n e t , Claude

M o n t s , Graf 3 4 0 , 3 4 3 ,

179f„

193, 213, 2 6 1 , 2 9 2 , 307-309,

Nostitz-Wallwitz, Alfred von

68

Mommsen, Theodor

M o n t i c o n e , Alberto

174,

182,

Norsa, M e d e a 2 6 9 , 2 7 1

342

M o m i g l i a n o , Arnaldo

M o n h a r d t , Stefan

264

2 1 , 24f., 66, 84f.,

166-168,

Normand, Achille

82

Mommsen, Wolfgang J.

73-83

65

Nietzsche, Friedrich

325

M o e l l e r van den Bruck, Arthur

M o l k , Ulrich

89

Neuwirth, Karl

343

135

Neumann, Gerhard

Neurath, Konstantin von

265-280

Minghetti, M a r c o

293

297,315

Neumeister, Sebastian

265, 268

372,

Neteler, T h e o

206

Neuffer, Christian Ludwig

197

Migge, Leberecht

130,

322,329

Narducci, Lorenzo

Mielsch, Harald

7 8 , 85f.,

357

Michels, Robert 3 3 7 , 3 5 3 Middeldorf Kosegarten, Antje

187f.

113

88f., 106, 113, 1 1 5 - 1 3 1 , 3 9 7

190f.

Meyer, Conrad Ferdinand Michaelis, Paul

264,

247

Naber, Claudia 183, 185,

217

Merkel, Reinhard

73, 155f., 215,

325, 327, 354, 387, 392-394

115

M e n d e , Ursula

121

31

Mussolini, Benito

171

Meissl, Sebastian

151

Musil, Robert

156

220

Megow, Wolf-R.

Michelangelo

Müller, Michael

Muschg, Walter

147, 149, 3 3 4

Mazzucchetti, Lavinia

120

193

Murray, Gilbert 6 0 , 8 9

277

Mazzini, Giuseppe

121

327

Müller, Karl Otfried

72

Mattenklott, Gert May, Karl

Müller, J o h a n n e s von

206

Pachnicke

317

Palladio, Andrea 1 9 8 , 2 0 3 f . , 2 0 6 f .

117,

406

Namenregister

Pannwitz, Rudolf 8 5 , 8 8 , 1 0 6 ,

Ranke, Leopold von 1 2 0 , 1 8 0 , 2 7 1

181

Panofsky, Erwin 7 6 , 2 1 6 , 2 2 4

Raphael, Lutz

Papen, Franz von 321,

Raponi, Elena 1 4 3 - 1 5 6 ,

331, 381

326,

179

Papini, Giovanni

144

Rathenau, Emil

Pareto, Vilfredo

382

Rathenau, W a l t h e r

Pascoli, Giovanni

199 300-302,

314f.

Raulff, Ulrich 93, 178f.,

1 8 0 , 185,

189

Reck Malleczewen, Friedrich 325,

328

Recki, Birgit

334-354

Petersen, Julius 100,

175

Reinhardt, Karl

107

Petersen, Kristina 336f.,

344

Petrarca, Francesco 8 3 , 1 4 8 , 2 3 0

63

Reinhardt, M a x

290

Reisner, Erwin

325

Petrus da Vinea 2 1 8

Renner, Paul

299

Pfeiffer, Rudolf

Reusch, Paul

382

120

Pfemfert, Franz 2 9

Reutti, Fridolin

Pfitzner, Hans

Ribbeck, O t t o 6 9 , 7 1

297-299

Picasso, Giorgio

197

Richard Löwenherz

145

Richter, W e r n e r

Picasso, Pablo

250

Pigge, Helmut

327

Pindar

Riegl, Aloys

3 7 , 1 1 7 , 1 3 4 , 1 3 6 f . , 1 4 0 f . , 189,

77

324

225,243

Riehl, Wilhelm Heinrich Rienzo, C o l a di

300 Pinon, Pierre

285, 316f„

318-320, 333, 358, 390 289f., 293,

182,

Petersen, Jens

23, 154, 2 8 2 ,

290, 296f., 310-312, 314f.,

Patzer, Harald 7 1 Pauli, Gustav

340

311

Rilke, Rainer M a r i a

198f.

177

108 155,285

Pisano, Andrea 8 3 , 2 1 6

Rißmann, J u t t a

Pisano, Giovanni 8 2 , 2 2 2 - 2 3 0 , 2 3 3

Ritsehl, Friedrich 6 6 , 6 9 , 7 0 - 7 2 , 8 7 , 1 2 7

106

Pisano, N i c o l a 2 1 7 - 2 2 1 , 2 2 5 , 2 3 3

Ritter, Carl 9 3 , 1 7 6

Pisano, N i n o 8 3 , 2 1 6

Rivière, J e a n

Piur, Paul 100,

Rizzi, Silvio

107f.

Platen, August von

132

Röhl, J o h n C . G.

Piaton 2 8 , 1 7 0 Plautus

315,

58

2 8 2 f . , 294,

364

R o m e o , Rosario

350

198f., 2 0 1

Ronzani, M a u r o

221

Poe, Edgar Allan Pohlenz, M a x

Rosenberg, Käthe

266

Rossetti, D a n t e Gabriel

171

275

Rossi, Berardo

218

Polygnot

166

Rothko, M a r c

245

Posadowsky-Wehner, Arthur von Poulat, Emile

Rothschild, M a n f r e d

311

284,

40

Runge, Philipp O t t o

Preuße, Uta

Rupprecht, Kronprinz

58

Prezzolini, Giuseppe 1 4 4 ,

Pückler-Muskau,

246

322, 325f., 327, 329, 388, 390f.,

145

394f.

61

Przygode, W o l f

151

46

Ruer, Margarete 6 0 , 6 5 , 1 5 7

152

Pound, Ezra 2 6 4

Rychner, M a x

170 Hermann

Fürst

von

Quidde, Ludwig 3 1 8 f . ,

Sabatier, Paul

140 145

Saenger, Samuel

248 Puschkin, Alexandr Sergejewitsch 187

123, 283,

65

Polybios

Raffael

310,

Rosmini-Serbati, Antonio

57

Poiss, T h o m a s 5 6 - 7 2 , 86,

Properz

306,

323

R ö h m , Ernst 16, 4 9 , 3 3 0 , 3 9 6

Plenge, J o h a n n Plinius d. J .

152 189

320

113

302

Salimbene de 1 Adam, Fra' 2 1 7 f . Salvemini, Gaetano 3 4 5 - 3 4 8 , 3 5 1 San Giuliano, Antonio

348

Namenregister Sanpaolesi, Piero 237 Sappho 4 7 , 5 2 , 268f., 271f., 2 7 5 , 2 7 8 Sassi, M a r i a Michaela 189f. Sauer, August 119 Sauppe, H e r m a n n 7 1 Scamozzi, Vincenzo 198, 2 0 6 Schacht, Ulrich 283 Schaefer, H u g o 3 9 2 Schäfer, Wilhelm 32S Schäffer, Fritz 3 2 6 , 3 9 1 Schaukai, Richard v o n 297f. Schauwecker, Franz 32S Scheerbart, Paul 3 1 Scheidemann, Philipp 3 3 7 , 3 9 0 Scheler, M a x 3 6 7 Schelling, Friedrich W i l h e l m J o s e p h 74 Scherer, W i l h e l m 8 9 , 119, 121 Schieder, W o l f g a n g 334, 335 Schiller, Friedrich 7, 3 3 , 75, 127, 133135, 141, 196, 285, 357, 3 6 4 f . Schindel, Ulrich 5 7 Schinkel, Karl Friedrich 199 Schlabrendorf, Gustav von 3 3 Schlaffer, H e i n z 113 Schlegel, August Wilhelm 73f., 176 Schlegel, Friedrich, 74f., 113, 163, 176 Schleicher, Kurt von 326 Schliemann, H e i n r i c h 2 7 4 Schlosser, Friedrich Christoph 73 Schlottmann, Carl 386, 3 8 7 Schmid, M a r t i n E. 109 S c h m i d - N o e r r , Friedrich Alfred 32S Schmidt, A r n o 1 1 4 , 2 7 7 Schmidt, E m s t A. 4 5 , 4 7 , 7 1 Schmitt, Carl 167, 174, 3 0 5 , 3 2 2 , 3 7 9 Schmitt, Saladin 3 0 5 , 3 1 3 Schmoller, Gustav v o n 177 Schnitzler, A r t h u r 293 Schnitzler, N o r a von 16 Schoeps, H a n s J o a c h i m 2 8 2 Schoeps, M a n f r e d 372 Scholem, G e r h a r d 2 9 Schönberg, Arnold 2 9 8 Schüttler, Peter 179 Schramm, Percy E m s t 179 Schröder, Rudolf Alexander 5, 9, 71, 115, 117, 124, 2 5 9 , 2 8 6 , 288, 292, 2 9 6 , 2 9 7 , 3 0 0 , 301, 312, 3 1 8 , 3 2 3 , 331-333 Schücking, Walther 320

Schuler, Alfred 181 Schuster, G e r h a r d 4 2 , 101, 124, 147, 159, 195, 2 0 0 f . Schuster, H a n s 3 2 0 Schwab, Christoph T h e o d o r 133 Schwabe, Klaus 3 5 6 Schwilk, H e i m o 283 Scoppola, Petro 152 Scotti, Giancarlo 146 Seebaß, Friedrich 134 Seeckt, H a n s von 320 Seibt, Gustav 93, 180 Seidel, M a x 219,227,229 Seidlmayer, Michael 345 Semenzato, Carlo 204 Seneca 5 7

407

128,

Seton-Watson, Christopher 346 Settis, Salvatore 230 Seume, J o h a n n G o t t f r i e d 3 3 - 3 5 , 4 3 Seuse, Heinrich 145 Shakespeare, William 141 Shaw, George Bernard 3 6 8 Shelley, Percy Bysshe 4 6 , 5 1 Siedler, Wolf Jobst 2 8 2 Siemens, W e r n e r von 3 6 4 Simmel, Georg 2 5 0 , 2 5 7 , 258 Simonides 2 7 5 Simson, E d u a r d von 129 Sismondi, Charles 2 0 1 Smith, William Robertson 173 Soane, J o h n 198 Sombart, Nicolaus 2 8 2 , 2 9 6 , 323 Sombart, W e r n e r 158, 177, 178 S o m m e r , Inge 159, 164 Sophokles 140 Soulez, Philippe 3 5 6 Spatz 315 Spencer, H e r b e r t 174 Spengler, Oswald, 165, 167, 324, 384f. Spervogel 135 Spitzemberg, Baronin 3 0 1 , 302, 3 3 7 Spoerri, Theophil 143, 1 5 0 Srbik, Heinrich Ritter von 325 Stadelmann, Rudolf 106 Stadtler, E d u a r d 372 Stalin, Iossif Wissarionowitsch 3 8 6 Stapel, Wilhelm 384, 3 8 8 , 3 9 5 Steding, Christoph 3 2 4 Steinbrink, Bernd 94, 104 Steiner, H e r b e r t 16, 65, 159, 3 7 2

408

Namenregister

Steinhausen, Georg 177 Steinthal, Heymann 190 Sternheim, Carl 315 Stöcker, Adolf 3 0 7 - 3 0 9 Strauß, Botho 2 3 1 , 2 8 3 , 3 8 4 Strauß, Ludwig 43, 141 Struve, Walter 382 Supino, Igeno Benvenuto 2 1 6 Swarzenski, Georg 2 1 9 Swinburne, Algernon Charles 7, 46-48, 52-54, 141, 162 Tacitus 1 1 7 , 3 5 7 Tasso, Torquato 141 Taube, Utz-Friedebert 318 Tauber, Christine 194 Tauler, Johannes 145 Telesikrates 3 0 0 Tennyson, Alfred 5 1 f. Testi Cristiani, Maria Laura 218 Thälmann, Ernst 3 8 9 f . Theokrit 61 Thesing, William B. SO Thode, Henry 2 2 3 , 2 9 9 Thoma, Hans 29, 2 9 7 - 2 9 9 Thukydides 2 8 0 Thümmler, Hans 237f. Tibull 197 Tirpitz, Alfred von 316f., 3 5 4 Tittoni, Tommaso 3 4 6 Toniolo, Giuseppe 227f. Töpfer, Bernhard 2 2 1 Trebitsch, Siegfried 293 Treitschke, Heinrich von 120, 319 Troeltsch, Ernst 1 0 0 Trummler, Erich 139 Tyrrell, George 152 Ubaldini, Ruggiero degli 2 1 0 Ueding, Gert 94, 104 Ullmann, Ludwig 139 Ulrich von Württemberg 9 6 Unamuno, Miguel de 152 Unger, Rudolf 94

308f.,

Usener, Hermann 5 7 , 59, 69f., 72, 127, 171, 173, 189-193 Vahlen, Johannes 5 9 , 68 Valenziano, Crispino 2 2 6 Valéry, Paul 2 6 6 Vallentin, Berthold 4, 6 Varnhagen von Ense, Karl August 133

Vasari, Giorgio 2 1 5 , 2 1 8 , 220, 226f. Velde, Henry van de 2 9 0 , 314 Veltheim, Baron von 2 7 4 Venantius Fortunatus 5 7 Venturi, Adolfo 2 3 8 Vergil 17, 62, 98, 141, 148f., 194, 197 Verhaeren, Emile 3 6 8 Vico, Giambattista 192 Vigezzi, Brunello 349f. Vignoli, Tito 189, 190, 191, 192, 193 Villari, Pasquale 2 0 1 Viollet-le-Duc, Eugène Emmanuel 2 3 7 Vitruv 197f. Vogeler, Heinrich 288 Vogt, Ernst 70 Volke, Werner US, 298 Volpe, Gioacchino 2 1 4 , 242 Vondung, Klaus 356 Vossler, Karl 73f., 78, 80, 89, 114, 145, 152, 164 Wackernagel, Wilhelm 133 Wagenknecht, Christian 1 3 2 - 1 4 2 Wagner, Cosima 2 9 3 , 2 9 9 Wagner, Fred 79 Wagner, Richard 15, 21, 24f., 1 0 5 - 1 0 9 , 113, 2 8 1 , 2 8 7 , 2 9 1 , 293, 2 9 8 f „ 307-310,319, 321, 370f„ 398 Wagner, Siegfried 107, 2 9 9 Walther von der Vogelweide 77, 107, 123, 303 Warburg, Aby 76, 157, 164, 167, 169, 173, 175, 176, 178, 179, 1 8 1 - 1 8 5 , 187-189, 191, 193, 243f. Warnke, Martin 188f. Wassermann, Jakob 8 9 , 1 1 5 , 3 1 2 Weber, Marianne 174, 181 Weber, Max 174, 181, 186 Wedekind, Frank 293 Wegener, Alfred 4 6 Wehler, Hans-Ulrich 103 Weiller, Edith 174, 180 Weimar, Klaus 94 Weinrich, Harald 93, 95 Welcker, Friedrich Gottlieb 6 9 Wendelstadt, Julie Baronin 3 7 7 , 3 8 8 Wendland, Paul 57, 62 Werfel, Franz 3 1 Westphal, Gert 79 White, Hayden 161,175 White, Kenneth D. 197

409

Namenregister W i e l a n d , Christoph Martin

127

Wilamowitz-Moellendorff,

Ulrich

Wolfram von

von

Eschenbach

57-59, 62-64, 66, 68, 69, 71, 86,

Wolfskehl, H a n n a

1 0 3 , 1 1 5 , 1 2 7 , 187,

Wolfskehl,

Wilhelm

II.

294,

181, 299,

191f.

281-284, 301,

3 1 4 f . , 316f.,

303,

3 1 8 , 319,

286-288, 305-311, 322, 329-

331,347

134f.,

4 f . , 9,

W o l m a r , W . W o l f r a m von

46

W i m m e r , Clemens Alexander Winckelmann, Johann Joachim Winckelmann, Johannes W i n d , Edgar 183,

230

174

1 7 6 , 178,

Wuttke, Dieter 182, Wyss, Beat

187

198

Wyss, Ulrich 6 9 , 98,

113-131

Zedlitz-Trützschler,

Robert

Zeitler, Julius 7 , 2 8

207f.

Zelinsky, H a r t m u t

79

Zernack, J u l i a

359

281-333

103

Ziegengeist, Agnes

106

100

Ziegler, Leopold

331

W o l f , Friedrich August 6 6 f . , 6 9 , 7 2 , 76

Zimmer, R o b e r t

160

Wolfenstein, Alfred

Z i m m e r m a n n , Hans

31

W o l f f , Oskar Ludwig Bernhard Wolff, Theodor

190 195

306, 323

Wittlich, Siegfried W o l f , Eugen

247

187f.

W i t t k o w e r , Rudolf W o l d e , Ludwig

285

Worringer, W i l h e l m 2 3 5 f . , 2 3 8 f . , 2 4 3 f . W u t h e n o w , Ralph Rainer

74

60f.,

282

Wolters, Friedrich 4, 18f., 20, Wundt, Wilhelm

W i t t e , Karl

19,

12,

313

W i l h e l m , Prinz 3 0 8

300

110,

19,313

Karl

W i l s o n , Edmund

Winterfeld

77f.,

122f.

133

343

Wölfflin, Heinrich 2 2 2 , 2 2 5 , 2 4 6

42

Z i m m e r m a n n , Michael

266

Zinkernagel, Franz 1 3 4 f . , 1 3 9 Zweig, Stefan

290

Graf

von