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German Pages 426 [429] Year 1984
RICHTUNGEN DER MODERNEN SEMANTIKFORSCHUNG
SAMMLUNG AKADEMIE-VERLAG 37
SPRACHE
Akademie der Wissenschaften der DDR Zentralinstitut für Sprachwissenschaft
RICHTUNGEN DER MODERNEN SEMANTIKFORSCHUNG mit Beiträgen von Manfred Bierwisch, Ewald Lang, Renate Pasch, Anna Ufimceva, Dieter Viehweger und Ilse Zimmermann Herausgegeben von Wolfgang Mötsch und Dieter Viehweger
AKADEMIE-VERLAG • BERLIN 1983
Erschienen im Akademie-Verlag, DDR-1086 Berlin, Leipziger Straße 3—4 © Akademie-Verlag Berlin 1983 Lektor: Stephan Ploog Lizenznummer: 202 • 100/249/83 Gesamtherstellung: VEB Druckerei „Thomas Müntzer", 5820 Bad Langensalza Bestellnummer: 7540127 (7537) • LSV 0805 Printed in GDR DDR 28,— M
Inhalt
Vorwort
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Manfred Bierwisch Psychologische Aspekte der Semantik natürlicher Sprachen
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Ewald Lang Die logische Form eines Satzes als Gegenstand der linguistischen Semantik
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Dieter Viehweger Semantik und Sprechakttheorie
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Renate Pasch und Ilse Zimmermann Die Rolle der Semantik in der Generativen Grammatik
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Anna Ufimceva Wortschatzbeschreibung mittels Systemmethode in der sowjetischen Sprachwissenschaft . . 363
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Was ist Bedeutung? Diese Frage wird mit unterschiedlichen Voraussetzungen und Zielstellungen in mehreren Wissenschaften gestellt. BedeutungsbegrifTe wurden vor allem in der Linguistik, der Logik, der kommunikationstheoretisch orientierten Sprachphilosophie und in der kognitiven Psychologie entwickelt. Sie spielen darüber hinaus in zahlreichen anderen Gebieten wissenschaftlicher Forschung eine Rolle. Zu den durch die Interessen verschiedener Wissenschaften geprägten Unterschieden kommen noch divergierende Standpunkte innerhalb einzelner Wissenschaften, so daß sich insgesamt der Eindruck verwirrender Vielfalt ergibt. Diese Bilanz verdeutlicht eine methodologische Grundtatsache: ein und derselbe Sachbereich kann unter verschiedenen Aspekten und mit unterschiedlichen theoretischen Positionen erforscht werden; oder anders ausgedrückt, ein Bereich von Erscheinungen der objektiven Realität kann zum Zwecke genauerer wissenschaftlicher Erforschung in zahlreiche, durch bestimmte Theorien festgelegte Gegenstandsbereiche zerlegt werden. Jede Theorie gestattet es, Aussagen über ganz bestimmte Seiten des Gesamtbereichs objektiver Erscheinungen zu formulieren. Je präziser die zugrunde gelegte Theorie ist, desto verbindlicher sind diese Aussagen bezüglich ihres Wahrheitswertes überprüfbar. Man könnte sich nun mit dieser methodologischen Feststellung begnügen und sich auf den Standpunkt zurückziehen, daß jede mit semantischen Fragen konfrontierte Wissenschaft ihren eigenen Bedeutungsbegriff zu entwickeln habe, der entweder unabhängig von entsprechenden Begriffen anderer Wissenschaften ist oder diese in bestimmter Weise ergänzt. Lange ¡Zeit ist diese Voraussetzung in der Tat in der linguistischen ebenso wie in der logischen Semantikforschung mehr oder weniger direkt vertreten worden. Die Logik befaßte sich mit den syntaktischen und semantischen Eigenschaften idealer Sprachen, die von einer formalen Theorie des Schließens vorausgesetzt werden. Eigenschaften natürlicher Sprachen interessierten nur unter diesem Blickwinkel. Die linguistische Semantik begnügte sich mehr oder weniger mit intuitiven Bedeutungsbegriffen und befaßte sich vor allem mit semantischen Eigenschaften des Wortschatzes einzelner Sprachen. Einer der bedeutendsten Trends in der Entwicklung der Semantikforschung der jüngsten
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Zeit ist jedoch eine außerordentlich fruchtbare Begegnung von Linguistik und Logik. Ergebnis des vor allem von der Linguistik geförderten Kontaktes ist nicht nur die Übernahme logischer Beschreibungsmittel für eine linguistisch-semantische Theoriesprache, sondern auch die Einbeziehung von Konzepten der logischen Semantik in die linguistische Bedeutungsanalyse. Begriffe wie logische Form eines sprachlichen Ausdrucks, Intension und Extension bzw. Bedeutung und Referenz, Proposition, Skopus, Präsupposition, Enthaltensein (entailment) u. a. erwiesen sich als brauchbar auch für die Untersuchung semantischer Eigenschaften natürlicher Sprachen. Die auf diese Weise sich vollziehende Integration wurde und wird vor allem dadurch gefördert, daß die Beziehung zwischen natürlichen Sprachen und konstruierten Sprachen der Logik durch die Ergebnisse der linguistischen Theoriebildung immer besser durchschaut werden konnten. Auch Logiker betrachten neuerdings natürliche Sprachen als die eigentliche empirische Instanz ihrer Untersuchungen. Das gilt ganz entschieden für die von MONTAGUE, CRESWELL u. a. entwickelte modelltheoretische Semantik. Wenn aber die Bedeutung von Ausdrücken natürlicher Sprachen die empirische Basis sowohl der linguistischen wie auch der logischen Semantikforschung bildet, so drängt sich die Frage auf, ob die Aspekte, unter denen beide Disziplinen den Objektbereich untersuchen, wirklich völlig auseinandergehalten werden können oder ob nicht eine integrative Theorie möglich ist, die es gestattet, die logischen Aspekte als Spezialisierung eines allgemeineren Bedeutungskonzepts zu erklären. Diese Problematik ist in der gegenwärtigen Diskussion noch umstritten. Ihre Klärung hängt in hohem Maße davon ab, ob die von FREGE eingeführte Unterscheidung zwischen ,Sinn' ( = Begriffsbezug) und ,Bedeutung' ( = Sachbezug) eines sprachlichen Zeichens, die später auch durch die Termini,Intension' und .Extension' sowie ,meaning' und ,reference' repräsentiert wurde und die die Grundlage logischer Semantiktheorien darstellt, in einem linguistischen Bedeutungsbegriff enthalten sein muß. Insbesondere stellt sich die Frage, welche Rolle die Begriffe .Wahrheit' und .Wahrheitsbedingungen' bei einer linguistischen Erklärung des Sachbezugs von sprachlichen Ausdrücken spielen. Linguistische Vorschläge, den Begriff .Bedeutung eines Satzes S' auf der Grundlage einer Angabe der Wahrheitsbedingungen von S zu definieren, gehen von einer Uminterpretation des klassischen logischen Wahrheitsbegriffs aus, die sich an den Bedingungen natürlicher Sprachen orientiert. Problematisch ist aus linguistischer Sicht vor allem die in der logischen Semantik vorausgesetzte Anwendbarkeit strenger Kriterien für die Bestimmung des Sachbezugs eines sprachlichen Ausdrucks und die Beschränkung des Wahrheitsbegriffs auf Aussagesätze sowie auf solche semantischen Aspekte, die unter dem Gesichtspunkt einer Theorie des Schließens relevant sind. Die Vorgaben der Logik erweisen sich in ihrer klassischen Form häufig als zu weit oder als zu streng. Unbestritten ist, daß natürliche Sprachen nicht nur Aussagesätze enthalten, die Sachverhalte beschreiben, sondern auch andere Satztypen wie Aufforderungen und
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Fragen. Ein auf natürliche Sprachen anwendbarer Bedeutungsbegriff muß diese Tatsache berücksichtigen. Auf diese Notwendigkeit hatte ganz besonders WITTGENSTEIN in seinen späteren Arbeiten hingewiesen. Er postulierte eine Gebrauchstheorie der Bedeutung, die teilweise in den Glückensbedingungen der Sprechakttheorie von AUSTIN und SEARLE sowie in der kommunikationstheoretisch orientierten Semantiktheorie von G R I C E ausgeführt wurde. Die in der Sprechakttheorie eingeführte Aufteilung der Satzbedeutung in ,illokutionäre Rolle' und .propositionalen Gehalt' gilt heute als eine notwendige Bedingung für die Explikation des linguistischen Bedeutungsbegriffs. Damit ergibt sich die zusätzliche Problematik, wie semantische Fragen zu formulieren und theoretisch zu begründen sind, die über die auf Sachverhaltsbeschreibungen eingeschränkte Semantik hinausreichen. Der Charakter der Sprache als Handlungsinstrument und damit ihre gesellschaftlichen Funktionen rückten auf diese Weise in das Blickfeld der theoretischen Forschung. Es zeigte sich, daß allgemeine und spezifische gesellschaftliche Bedingungen für das Verständnis und den Erfolg sprachlicher Handlungen mitbestimmend sind. Dies kommt in den Begriffen ,illokutionäre Rolle', Einstellungen der Kommunikationspartner', .Bedingungen für das Glücken einer Äußerung' genauer zum Ausdruck. Die Beziehung zwischen Sprache und Kommunikation wurde bewußt in die Diskussion von Begriffen der Semantiktheorie einbezogen. Hier ist natürlich nur ein ganz weiter Rahmen für die Probleme angedeutet, die mit der Bestimmung des Bedeutungsbegriffs verbunden sind. Innerhalb dieses Rahmens gibt es ganz verschiedene Zugänge, die z. T. schwer aufeinander zu beziehen sind. So unterscheiden sich vor allem die handlungstheoretisch orientierten Vorstöße der Sprachphilosophen, die unter dem Namen ,ordinary language philosophy' (Philosophie der normalen Sprache) bekannt sind, von denen der formallogischen Traditionslinie FREGES, TARSKIS, CARNAPS, MÖNTAGUES. Diese beiden sprachphilosophischen Strömungen behandeln das Verhältnis zwischen Semantik und Pragmatik auf z. T. sehr unterschiedliche und schwer vergleichbare Weise. Dennoch gibt es Berührungspunkte, und in jedem Falle wird anerkannt, daß ein auf natürliche Sprachen anwendbarer Bedeutungsbegriff nicht auf Aussagesätze beschränkt sein darf. In der linguistischen Semantikforschung haben die logischen und sprachphilosophischen Zugänge zu pragmatischen Fragestellungen einen nachhaltigen Widerhall gefunden. Für eine theoretische Fundierung des Bedeutungsbegriffs ist weiterhin eine Klärung der Frage relevant, was Bedeutungen eigentlich unter psychologischen Gesichtspunkten sind. Diese Frage wurde aus der Logik ganz bewußt ausgeschlossen. FREGE verstand unter dem Sinn nur die .objektive' Struktur von Gedanken, nicht die .subjektiven' Prozesse, aus denen sie hervorgehen. Für die linguistische Semantikforschung erweist sich der psychologische Status von Bedeutungen jedoch als eine fundamentale Voraussetzung. Vor allem die Interpretation semantischer Grundelemente und die Begründung möglicher Strukturen aus den Grund-
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elementen, aber auch speziellere semantische Fragestellungen sind nur auf dem Hintergrund psychologischer Erkenntnisse möglich. Betrachtet man die Semantikforschung aus linguistischer Sicht, aber mit einem systematischen Blick auf andere Wissenschaften, die Aspekte der Bedeutung natürlicher Sprachen erforschen, so kann zweifellos festgestellt werden, daß die jüngste Entwicklung zu einer integrativen Betrachtungsweise geführt hat. Diese geht davon aus, daß Probleme der sprachlichen Bedeutung nur dann allseitig geklärt werden können, wenn es gelingt, eine Bedeutungstheorie zu entwickeln, die die logischen, linguistischen, sozialen und psychologischen Aspekte in systematischer Weise aufeinander bezieht. Im Verlauf dieser Entwicklung wurden Konzepte der positivistischen Wissenschaftstheorie,, wie sie für eine ganze Phase des Strukturalismus charakteristisch waren, verworfen. Eine integrative Betrachtungsweise setzt ja gerade die Überwindung undialektischer Abgrenzungen von Gegenständen voraus. Sie verlangt den Vergleich der theoretischen Grundlagen und der Resultate eines bestimmten Blickwinkels mit den Voraussetzungen und Ergebnissen anderer Blickrichtungen. Eine methodologische Untersuchung dieser integrativen Forschungsweise auf semantischem Gebiet könnte wichtige Hinweise für die Anwendung der dialektisch-materialistischen Denkweise auf linguistischem Gebiet ergeben und den komplizierten Forschungsprozeß durch methodologische Bewußtheit stützen. Die Entwicklungstendenzen der modernen Semantikforschung bestätigen die Kritik, die vor allem seit Ende der 60er Jahre an den positivistisch beeinflußten Richtungen der Linguistik geübt wurde. Wir können heute aber auch besser verstehen, daß wirkungsvolle Kritik Vorschläge oder zumindest konkretere Vorstellungen zur Überwindung des kritisierten Zustands voraussetzt. Aus unserer heutigen Perspektive lassen sich sowohl die weiterführenden Leistungen als auch die Mängel, Fehler und Lücken älterer linguistischer Theorien kompetenter und sachlicher beurteilen. Ein umfassender Bedeutungsbegriff hängt zweifellos mit philosophischen Fragen zusammen. Die Art und Weise, wie philosophische Aspekte der Bedeutung mit einzelwissenschaftlichen verbunden sind, ist jedoch durchaus nicht ohne weiteres durchschaubar. Nach Auffassung der Philosophie des dialektischen und historischen Materialismus sind philosophische Theoreme nicht apriorisch begründbar. Sie sind vielmehr das Ergebnis der theoretischen Durchdringung des spezifischen Gegenstandsbereichs der Philosophie und der Verallgemeinerung der Ergebnisse von Einzelwissenschaften. Die empirisch fundierten Ergebnisse der Semantikforschung in Einzelwissenschaften sind im dargelegten Zusammenhäng zugleich Grundlagen für die Rechtfertigung philosophischer Aussagen, die auf semantische Erscheinungen Bezug nehmen. Das gilt z. B. für Aussagen über den Abbildcharakter des menschlichen Bewußtseins und die darauf begründete Erkennbarkeit der objektiven Realität; eine philosophische Fragestellung, die weitreichende Konsequenzen für das Verständnis des Wesens des menschlichen Lebens hat. Ergebnisse
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und Problemstellungen der linguistischen Semantikforschung können also in gewissem Maße zur empirischen Rechtfertigung philosophischer Aussagen, speziell erkenntnistheoretischer, herangezogen werden. Für die Sprachwissenschaft ergibt sich in diesem Rahmen die Aufgabe, auf die philosophische Auswertbarkeit ihrer Ergebnisse hinzuweisen. Für die linguistische Bedeutungstheorie wichtiger, wenngleich auch bei weitem komplizierter, sind aber direkte oder indirekte Beziehungen zwischen philosophischen und linguistischen Begriffen im Bereich der Semantik. Welche Konsequenzen hat z. B. der dialektisch-materialistische Abbildbegriff für den linguistischen Bedeutungsbegriff? Diese Frage betrifft den Zusammenhang zwischen Gedanken als mentalen Gebilden, Bedeutungen und der objektiven Realität. Die erkenntnistheoretische Frage nach dem Primat der objektiven Realität vor den gedanklichen Gebilden muß sowohl im Hinblick auf den intensionalen Aspekt der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke wie auch im Hinblick auf den extensionalen aufgeworfen werden. Die mit dem Abbildbegriff verbundene Problematik wird erst dann im linguistischen Bedeutungsbegriff rekonstruierbar, wenn Gedanken durch eine psychologische Theorie genauer als konzeptuelle Strukturen beschreibbar sind, die auf semantische Strukturen und eine ontologische Strukturierung der Welt abgebildet werden. In diesem Rahmen stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen konzeptuellen Strukturen und semantischen Strukturen einerseits und semantischen und ontologischen andererseits, die materialistisch, d. h. letztlich unvoreingenommen wissenschaftlich zu beantworten ist. BIERWISCH skizziert in seinem Beitrag einen Weg, der es ermöglicht, die FREGEschen Begriffe ,Sinn' und .Bedeutung' in ihrer durch die modelltheoretische logische Semantik definierten Form auf Begriffe der kognitiven Psychologie und der linguistischen Semantik zu beziehen. Damit wird zugleich die Einschlägigkeit von Positionen der marxistischen Erkenntnistheorie für einen, integrativen Bedeutungsbegriff offensichtlich. Der vorliegende Band vereinigt Darstellungen, die auf unterschiedliche Weise einen stark problemorientierten Überblick über Fragestellungen und theoretische Positionen speziell der linguistischen Semantikforschung vermitteln. Von Richtungen sprechen wir in zweifacher Bedeutung: zum einen im Sinne von .Schulen' und zum anderen im Sinne von .Problemstellungen'. Die Beiträge von E. LANG und M. BIERWISCH behandeln keine Schulen der Semantikforschung, sondern Problemstellungen, die sich aus den jüngsten Tendenzen der integrativen Betrachtungsweise ergeben. E. LANG geht vom Begriff der .logischen Form eines Satzes', einem Grundbegriff der linguistischen Semantik, aus und zeigt in Form eines Überblicks konvergierende Bemühungen verschiedener Semantikrichtungen um die Bestimmung dieses Begriffs. Er skizziert ein Programm, das vor allem den Zusammenhang linguistischer und logischer Fragestellungen unterstreicht. Die logische Form eines Satzes wird als die grundlegende Repräsentationsform eines Satzes S aus der Sprache L behandelt, die es erlaubt,
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die zentralen Bedeutungsaspekte Systembezug, Begriffsbezug und potentieller sowie aktueller Sachbezug systematisch aufeinander zu beziehen. LANG versucht nachzuweisen, daß dies eine Ergänzung der bisher innerlinguistisch betriebenen Sinn-Semantik durch eine Referenz-Semantik erfordert. Die Verbindung von Sinnund Referenzsemantik erfolgt über das Kriterium der Wahrheit, d. h. die logische Form eines Satzes spezifiziert dessen Wahrheitsbedingungen. Der Beitrag geht von der Überzeugung aus, daß sich die Semantiktheorie dann fruchtbar entwickeln wird, wenn sie nicht im herkömmlichen Sinne innerlinguistisch bleibt, sondern zum Integrationsbereich für Grammatik, Logik und Psychologie, sowie — bei entsprechender Erweiterung — auch Handlungstheorie, Soziologie und Geschichte wird. M. BIERWISCH erweitert das von E. LANG skizzierte Programm durch Aspekte der Psychologie. Er gibt vor allem einen Überblick über Antworten auf die Frage: was ist die semantische Struktur eines Satzes unter dem Gesichtspunkt psychischer Gegebenheiten? Ziel seines Beitrages ist es, das Verhältnis zwischen Linguistik und Psychologie aus grundsätzlicher Sicht zu beleuchten. Dabei spielt die Logik eine wichtige vermittelnde Rolle. BIERWISCH will zeigen, daß die psychologische Seite sprachlicher Strukturen nicht lediglich eine ergänzende Betrachtung verdient, sondern in der linguistischen Theoriebildung enthalten sein muß. Die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke wird im Zusammenhang mit der begrifflich strukturierten Widerspiegelung der objektiven Realität und über diese mit der objektiven Realität überhaupt betrachtet. Die grundsätzliche Rolle des gesellschaftlichen Charakters des menschlichen Lebens und der organismischen Anlagen des Menschen für die Art dieses Zusammenhangs wird herausgestellt. Die in sprachlichen Bedeutungen enthaltenen systematischen Beziehungen zwischen grammatischer, psychologischkonzeptueller, logisch-konzeptueller Struktur und Wirklichkeit werden an konkreten Beispielen besprochen. Dabei werden vor allem Standpunkte, Ergebnisse und Fragestellungen der generativen Transformationsgrammatik einschließlich ihrer semantischen Ausprägung, der kognitiven Psychologie und der modelltheoretischen Semantik herangezogen. Von erkenntnistheoretischem Interesse dürfte der Versuch M. BIERWISCHS sein, den logischen Begriff der .möglichen Welt' materialistisch zu interpretieren. Die Anstöße, die die Linguistik durch die Sprechakttheorie von AUSTIN und durch die kommunikationsorientierte Bedeutungstheorie von GRICE sowie durch andere pragmatische Richtungen erhielt, werden von D. VIEHWEGER in einem Überblick dargestellt. Er zeigt den Einfluß dieser sprachphilosophischen Richtungen auf die Generative Semantik. Hier bestand das Grundanliegen darin, durch Erweiterung bzw. Modifizierung des existierenden Modells bestimmte Aspekte der Kommunikation in der Grammatiktheorie zu berücksichtigen. Dieses Vorgehen führt zu zahlreichen unbefriedigenden Lösungen. Erfolgversprechender scheinen die Versuche zu sein, die von vornherein zwischen einer Theorie der SEARLE,
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Sprache und einer Theorie sprachlichen Handelns unterscheiden und auf dem Hintergrund von Begriffsbildungen dieser Theorien semantische Fragen behandeln. Relativ einheitliche Richtungen im Sinne von Schulen, die durch Gegenstandsbestimmung, methodologische und theoretische Instrumentarien sowie Tradition definierbar sind, werden in dem Beitrag von R. PASCH und I. ZIMMERMANN behandelt. Es handelt sich dabei um eine kritisch-vergleichende Darstellung der beiden auf der Basis der Generativen Transformationsgrammatik entstandenen Grammatikmodelle, die als Interpretative bzw. Generative Semantik bekannt geworden sind. Die linguistische Semantik wird innerhalb dieser Grammatikmodelle konsequent als Teilkomponente behandelt. Im Mittelpunkt steht das generelle Problem, wie semantische Strukturen auf syntaktische bezogen sind. Die genauer dargestellten Vorschläge der Generativen Transformationsgrammatik dienen nur als Beispiele für die Problemlage und für zentrale Detailfragen des Gesamtgebiets. Beide ausführlicher behandelten Richtungen haben in theoretischer und methodologischer Hinsicht einen maßgeblichen Beitrag zur Entwicklung der linguistischen Semantik geleistet. Sie haben in ganz besonderem Maße zur Durchsetzung einer interdisziplinären Sehweise beigetragen und damit zur Ausweitung des Gegenstandsbereichs der linguistischen Semantikforschung. Das bedeutet keinesfalls, daß diese Richtungen jenseits der Kritik stünden. Zahlreiche empirische und theoretische Fragen sind durchaus offen. Das betrifft insbesondere Probleme, die sich im Rahmen der eingangs skizzierten Integrationstendenzen von Linguistik, Logik, kognitiver Psychologie und Kommunikationstheorie ergeben. Ferner werden bestimmte Gebiete der linguistischen Bedeutungsforschung kaum oder nur andeutungsweise behandelt, so zum Beispiel der Anteil grammatischer Formative an der Bedeutung von Sätzen. A. A. UFIMCEVAS Beitrag schließlich stellt die verschiedenen Forschungsansätze vor, die in der sowjetischen Sprachwissenschaft auf dem Gebiet der lexikalischen Semantik entwickelt wurden. Die theoretischen und methodologischen Positionen, die von den einzelnen Forschungsrichtungen erarbeitet wurden, werden dabei nicht nur in philosophische, erkenntnistheoretische, semiotische und psychologische Theoriezusammenhänge eingeordnet, sondern auch in ihren Traditionen bis zur russischen Sprachwissenschaft zurückverfolgt und Modellvorschlägen gegenübergestellt, die sich in der westeuropäischen und amerikanischen Linguistik herausgebildet haben. Keiner der Beiträge erhebt den Anspruch auf vollständige Darstellung und umfassende Kritik. Hauptanliegen der Autoren war es, einige der Richtungen der modernen Semantikforschung genauer vorzustellen, die die Entwicklung zu einem umfassenden linguistischen Bedeutungsbegriff mitbestimmt haben bzw. mitbestimmen. Die Autoren hoffen, mit ihren Überblicksdarstellungen zur Information und
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zur Diskussion auf dem Gebiet der Semantikforschung beizutragen. Sie wenden sich nicht nur an Linguisten, sondern auch an Logiker, Psychologen und Philosophen, vor allem Erkenntnistheoretiker. Sie versprechen sich gerade von Vertretern anderer Einzelwissenschaften und nicht zuletzt auch von Vertretern der marxistisch-leninistischen Philosophie weiterführende Hinweise und Kritik. Einen besonderen Wert erhält das Buch durch die Zusammenarbeit mit den Kollegen des Sektors für allgemeine Sprachwissenschaft des Instituts für Sprachwissenschaft der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften, die nicht nur durch den Beitrag von A. A. UFIMCEVA in diesem Band zum Ausdruck kommt. Die „Richtungen der modernen Semantikforschung" stehen darüber hinaus in einem, wenngleich auch losen Zusammenhang mit dem vom Sektor für allgemeine Sprachwissenschaft verfaßten Band „Aspekte der modernen Semantikforschung", der 1980 im Verlag Nauka in Moskau erschien. Die Autoren danken an dieser Stelle N . D . ARUTJUNOVA, T . N . BULVGINA, E . S. KUBRJAKOVA u n d A . A . UFIMCEVA
herzlich für anregende Kritik und lebhaften Gedankenaustausch. Autoren und Herausgeber danken ferner Dorothea DUCKWITZ, die das umfangreiche Druckmanuskript schrieb. Mit besonderer Dankbarkeit erwähnen wir schließlich die große Förderung, die unserer Arbeit durch Stephan PLOOG, Lektor im AkademieVerlag, zuteil wurde. Berlin, im Dezember 1980
Wolfgang Mötsch Dieter Viehweger
Manfred Bierwisch
Psychologische Aspekte der Semantik natürlicher Sprachen
1. Linguistik und kognitive Psychologie 1.1. Die Fragestellung, die der Titel dieses Beitrages andeutet, hängt mit dem mentalen Charakter sprachlicher Strukturen im allgemeinen und mit der konzeptuellen Natur der Semantik im besonderen zusammen. Der Grund für ihre Erörterung liegt nicht nur und nicht in erster Linie in der Fülle von Befunden, die psychologische Untersuchungen in diesem Bereich in den vergangenen Jahren erbracht haben, so daß semantische Probleme in der Tat nicht mehr ernsthaft verfolgt werden können, ohne diese Befunde zu berücksichtigen. Der wichtigste Grund ist vielmehr die Art der Fragen und Erklärungsmöglichkeiten, die sowohl für die Linguistik wie für die Psychologie aus der systematischen Klärung ihrer wechselseitigen Beziehung und aus der Integration ihrer jeweiligen Gegenstandsbereiche entstehen. Natürlich ist die Feststellung, daß Linguistik und Psychologie durch ihren Gegenstand in enger Beziehung zueinander stehen, keineswegs neu, und die Art, in der dieser Tatsache Rechnung getragen worden ist, hat in der Geschichte beider Disziplinen beträchtliche Wandlungen durchlaufen. STEINTHAL, WUNDT, PAUL, BÜHLER und VYGOTSKI repräsentieren verschiedene Ausprägungen innerhalb einer Entwicklung, die hier nicht nachgezeichnet werden kann. Das Verhältnis der beiden Disziplinen, das aus dieser Entwicklung hervorgegangen ist, resultiert vor allem aus ihrer jeweils spezifischen Ausgestaltung der Theoriebildung und der Methodologie, durch die ihre Beziehungen in wesentlichen Punkten klarer bestimmbar geworden sind. Eine kurze Erläuterung dieser Beziehungen, die sich dabei als keineswegs symmetrisch erweisen werden, bildet den Ausgangspunkt der folgenden Darstellung, die im weiteren nicht auf einen Überblick über die kaum überschaubare Vielfalt empirischer Analysen und Resultate gerichtet ist, sondern auf die Verdeutlichung von Grundzügen, denen die speziellen Ergebnisse zuzuordnen sind. Bei der Bestimmung dieser Grundzüge im Verhältnis von Linguistik und Psychologie wird für den Bereich der Semantik außerdem die Logik eine wichtige Rolle spielen, die sich als dritte Disziplin mit einer weiteren Seite des gleichen Objektbereichs beschäftigt. 1.2. Was linguistische und was psychologische Aspekte der Sprache allgemein
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und der Semantik im besonderen sind, steht nicht im vorhinein fest. Ein provisorischer erster Schritt ergibt sich durch die prätheoretischen Schlüsselbegriffe der jeweiligen Disziplin, also etwa Verhalten, Wahrnehmung, Lernen, Gedächtnis, Motivation für die Psychologie und Wort, Satz, Grammatik, Bedeutung, Lautform für die Linguistik. Solche Schlüsselbegriffe, die ich hier nur als Beispiel und keineswegs im Sinn einer verbindlichen Liste aufgeführt habe, umschreiben Gegenstandsaspekte, auf die hin die Theoriebildung angelegt wird. Die schrittweise Ausarbeitung der Theorie klärt dann die systematischen Zusammenhänge und damit auch die genauere Abgrenzung der jeweiligen Aspekte. Ohne das Gesamtbild der beiden Disziplinen hier auch nur kursorisch darstellen zu können1, will ich in diesem Sinne die folgenden relativ unstrittigen Feststellungen treffen: Zusammen mit vielen anderen fallen auch sprachliche Erscheinungen in den Gegenstandsbereich der Psychologie, sofern es z. B. um ihre Wahrnehmung, ihren Erwerb, ihre Verankerung und Auffindung im Gedächtnis, die Motivation ihrer Hervorbringung geht; umgekehrt fallen psychische Erscheinungen dann in den Bereich der Linguistik, wenn in ihnen Wörter, deren Verknüpfung zu Sätzen, die Abhängigkeit von grammatischen Regeln eine bedingende Rolle spielen. Diese provisorischen Feststellungen sind nicht so trivial wie sie auf den ersten Blick erscheinen: Sie umschreiben nicht nur den Bereich von Erscheinungen, der sowohl in die Zuständigkeit der Psychologie wie der Linguistik fällt, sondern lassen zugleich eine bemerkenswerte Asymmetrie erkennen: Die Erscheinungen, mit denen sich die Linguistik befaßt, haben offensichtlich stets auch eine psychologische Seite, da sie eine Form des Verhaltens sind, auf Gedächtnis beruhen, lernabhängig sind, usw.; dagegen haben keineswegs alle Erscheinungen, die in den Bereich der Psychologie fallen, stets eine linguistische Seite. Anders ausgedrückt: die Linguistik analysiert einen systematisch zusammenhängenden Aspekt eines Bereichs, der insgesamt zu den von der Psychologie erfaßten Erscheinungen gehört. Damit hängt eine zweite Art von Asymmetrie zusammen, die aus dem Gesagten nur mittelbar hervorgeht: Die psychologische Analyse sprachlicher Erscheinungen — etwa der Perzeption sprachlicher Äußerungen oder der Gedächtnisfixierung sprachlicher Einheiten — setzt immer zumindest eine partielle Charakterisierung des linguistischen Aspekts voraus. Die psychologische Analyse und Theorie-
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Einen kurzen Versuch dieser Art habe ich in BIERWISCH ( 1 9 7 9 b) gemacht. Umfangreichere Darstellungen finden sich in Überblickswerken wie LEONT'EV ( 1 9 6 9 ) , F O D O R , BEVER, GARRETT ( 1 9 7 4 ) , FODOR ( 1 9 7 5 ) , MILLER, JOHNSON-LAIRD ( 1 9 7 6 ) , C L A R K u n d CLARK ( 1 9 7 7 ) . D e r j e w e i l s
spezifische Gesichtspunkt der Darstellung und die Position der Autoren haben dabei nicht unwichtige Unterschiede in der Bestimmung der Disziplinen und ihres Ineinandergreifens zur Folge. Einige solcher Probleme sind im folgenden zu erörtern.
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bildung setzt in diesem Sinn die Bestimmung der linguistischen Struktur voraus in dem Bereich, der in die Zuständigkeit beider Disziplinen fallt. Am wenigsten offensichtlich ist eine dritte, wiederum asymmetrische Beziehung, die auf den ersten Blick die Umkehrung der soeben erörterten zu sein scheint. Sie ergibt sich daraus, daß die fundierenden Begriffe der Linguistik ihrerseits psychologisch interpretierbar sein müssen. Der Grund dieser Forderung liegt methodologisch in der Tatsache, daß sprachliche Erscheinungen stets auf viele verschiedene Arten beschrieben werden können; Illustrationen dieser Behauptung liefert nahezu jede ernsthafte Erörterung der verschiedenen Analysen etwa des Phonemsystems einer Sprache oder einer syntaktischen Erscheinung wie Passiv oder Nominalisierung. Unter diesen verschiedenen Beschreibungen kann nur dann auf empirisch begründete Weise ausgewählt werden, wenn zu den sprachlichen Beobachtungsdaten entsprechende Kriterien für die Angemessenheit der Beschreibung hinzugenommen werden. Das entscheidende Kriterium in dieser Hinsicht ist aber die psychologische Gültigkeit der Beschreibung, das heißt ihre Begründung durch psychologisch interpretierbare Prinzipien. Anders ausgedrückt, wenn die Analyse sprachlicher Strukturen eine empirische Erklärung und nicht lediglich eine nach beliebigen Gesichtspunkten systematisierte Beschreibung sein soll, dann muß sie auf psychologisch interpretierbare Grundlagen zurückgeführt werden können.2 In diesem dritten Bezug wird die Linguistik demnach zu einem speziellen Gebiet der theoretischen Psychologie. Damit tritt die Zielstellung dieses Beitrags in ein neues Licht: Die psychologische Seite sprachlicher Strukturen gehört nicht zu einer Betrachtungsweise, die der linguistischen hinzugefügt werden kann, sondern sie ist in der linguistischen Theoriebildung immer schon enthalten. Ich werde das an entsprechenden konkreten Problemen verdeutlichen. Das bisher Gesagte betrifft das, was ich eingangs den mentalen Charakter der Sprache im allgemeinen genannt habe. Im Hinblick auf die semantische Struktur ergibt sich zusätzlich ein spezieller Bezug, den ich wiederum im Rahmen intuitiver Vorüberlegungen deutlich machen will. Die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke hat eine direkte Beziehung zur begrifflich strukturierten Widerspiegelung d$r äußeren und inneren Realität und durch diese vermittelt zu dem, worüber die Ausdrücke etwas sagen, worauf sie verweisen. Welcher Art diese Beziehung ist, wird im einzelnen zu erörtern sein, sie weist jedenfalls eine gewisse Parallelität zur Beziehung der Lautmuster der Sprache zu den artikulatorischen und auditiven 2
Dieser Gesichtspunkt hat vor allem in der europäischen Linguistik, so etwa bei BAUDOUIN DE COURTENAY und bei BÜHLER, eine bedeutende Tradition, die bei SCERBA (1931) eine programmatische Formulierung gefunden hat. Die systematischen Konsequenzen aus diesen Bedingungen für die Methodologie und Theoriebildung der Linguistik hat CHOMSKY, insbesondere in CHOMSKY (1965: Kap. 1), aber auch in zahlreichen anderen Arbeiten, deutlich gemacht.
2 Viehweger, Semantikforschung
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Eigenschaften der akustischen Signale auf. So wie die Phonologie mit der artikulatorischen und auditiven Phonetik zusammenhängt, hängt deshalb die Semantik mit den Disziplinen zusammen, die sich mit der konzeptuellen Struktur der Umwelterfahrung (im weitesten Sinn) befassen. Psychologie und Logik teilen sich unter verschiedenen Gesichtspunkten mit der Linguistik in diesen Bereich3, wobei in diesem Fall die Psychologie nicht insgesamt, sondern nur eine Teildisziplin der kognitiven Psychologie relevant ist. Die genaue Formierung dieser Teildisziplin ist erst im Werden. 4 Festzuhalten ist zunächst lediglich, daß der Charakter sprachlicher Bedeutungen eine spezielle Beziehung der Semantik einerseits zu einem Teilgebiet der Psychologie, andererseits zur Logik bedingt.5 Diese Beziehung entspricht zwar auch dem allgemeinen mentalen Charakter sprachlicher Strukturen, sie betrifft darüber hinaus aber speziell den konzeptuellen Aspekt semantischer Strukturen. Dieser Aspekt bildet den eigentlichen Fokus dieses Beitrags. 1.3 Ich habe das Verhältnis von Linguistik und Psychologie bisher im wesentlichen methodologisch, das heißt aus der Vorgehensweise der betroffenen Disziplinen betrachtet. Ich will dem noch eine kurze Erläuterung der inhaltlichen Vorstellungen anfügen, die diesen Überlegungen zugrunde liegen. Das menschliche Verhalten wird durch ein komplexes System kognitiver Strukturen und Prozesse determiniert, das mit den emotionalen und motivationalen Grundlagen des Verhaltens zusammenwirkt. Das kognitive System gliedert sich in Teilsysteme, die auf teils spezifischen, teils generellen Grundlagen beruhen. Mit einem in der Schule VYGOTSKIS entwickelten Konzept können diese Teilsysteme als funktionelle Hirnsysteme (LURIA 1970: 47 ff.) oder als funktionelle Hirnorgane (LEONT'EV 1959: 466 ff.) charakterisiert werden. Das visuelle, das motorische, das auditive, das konzeptuelle, das sprachliche, das auf soziale 3
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Diese Feststellung hat keinen ausschließenden Charakter. Ein Beispiel wie die ausführlich studierten Verwandtschaftsbeziehungen macht deutlich, daß auch andere Disziplinen wie Kulturanthropologie und allgemeiner solche Wissenschaften, die sich mit der Struktur und den Prinzipien von Alltagswissen befassen, an der Analyse dieses Bereichs Anteil haben. Sie haben für den jeweils speziellen Bereich ein ähnliches Verhältnis zur Psychologie wie die Linguistik es für den Bereich der Sprachstruktur hat. Aus dieser Feststellung folgt sinngemäß auch das Verhältnis der genannten Disziplinen zueinander. Wäre dieser Titel nicht durch seine Tradition vorbelastet, dann würde .Denkpsychologie' das Gebiet am ehesten umschreiben. Im Augenblick ist jedoch weder eine terminologische noch eine inhaltliche Abgrenzung des auf konzeptuelle Strukturbildung orientierten Gebiets der kognitiven Psychologie hinreichend geklärt. Nur der Vollständigkeit halber erwähne ich, daß die Linguistik selbstverständlich noch in einer anderen Beziehung zur Logik steht, insofern diese nämlich als Metawissenschaft die Struktur linguistischer Theorien bestimmt. In dieser Hinsicht ist,die Beziehung der Linguistik zur Logik nicht anders als die der Astronomie, der Physik oder der Ökonomie.
Psychologische Aspekte der Semantik
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Interaktion gerichtete System sind hypothetisch anzunehmende Funktionseinheiten dieser Art, die als relativ autonome Systeme in ihrer Wechselwirkung die komplexe Struktur menschlicher Tätigkeit bestimmen. 6 Die Aufzählung hat lediglich exemplizifierenden Charakter. Sie ist nicht erschöpfend und in der angenommenen Aufteilung provisorisch. Insbesondere ist anzunehmen, daß die Teilsysteme sich in weitere, spezifische Funktionseinheiten aufgliedern. Offensichtlich ist das für das sprachliche System, das etwa in die phonologische, die syntaktische und die lexikalische Komponente zu gliedern ist, und entsprechende Teilsysteme sind im konzeptuellen System anzunehmen. Ein funktionelles Organ im eben erläuterten Sinn ist die Basis für bestimmte Leistungen oder Fähigkeiten, auf denen das konkrete Verhalten beruht. Das besagt nicht, daß es jeweils einzelne Handlungen oder Verhaltensabläufe gibt, die durch ein und nur ein solches System bedingt sind. In der Regel sind mehrere Teilsysteme am Zustandekommen konkreter Handlungen beteiligt: Das motorische System wird durch visuelle Leistungen gesteuert, soziale Interaktion bezieht motorische Strukturen praktischer Handlungen oder kommunikative Akte sprachlicher oder anderer Art ein, sprachliche Prozesse stehen in direkter Wechselwirkung mit konzeptuellen Repräsentationen, usw. Der pathologische Ausfall eines bestimmten Systems hat deshalb Störungen in der Funktion der mit ihm interagierenden Systeme zur Folge, auch wenn diese selbst nicht gestört sind. Das Studium hirnpathologischer Störungen ist deshalb ein wichtiger Weg, die hypothetisch angenommenen Hirnsysteme zu identifizieren und ihre Wechselwirkung zu bestimmen. 7 Für jedes in diesem Sinn anzunehmende funktionale System muß es nun einerseits Mechanismen geben, die die Realisierung der entsprechenden Leistungen garantieren, und andererseits die systemspezifischen Kenntnisse, die den Inhalt der Leistung determinieren. Diese Kenntnisse und Mechanismen sind der bewußten Kontrolle weitgehend entzogen, ihre Identifizierung muß deshalb im wesentlichen auf indirektem Wege geschehen. 6
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Wieweit solchen Funktionseinheiten spezielle Regionen im Cortex zugeordnet werden können, ist eine bisher nur partiell geklärte Frage, die auf der hier gegebenen Abstraktionsebene jedoch nicht entscheidend ist. Es soll lediglich gelten, daß die funktionellen Einheiten grundsätzlich als Leistungen entsprechender physiologischer Strukturen aufzufassen sind, wobei diese Strukturen nicht nur die Großhirnrinde, sondern auch entsprechende periphere Systeme umfassen können. Die berühmten Arbeiten von Broca (1861) und Wernicke (1874) waren bahnbrechende Schritte auf diesem Weg, der unter anderem durch die Arbeiten von Luria (1970 und 1973) entscheidend vorangetrieben worden ist. Dabei ist die funktionale Identifizierung eines Systems von seiner Lokalisation im Cortex zu unterscheiden. Die Aufklärung des Zusammenhangs zwischen diesen beiden Aspekten hat eine wechselhafte Geschichte gehabt und kann noch bei weitem nicht als abgeschlossen gelten.
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Die genauere Analyse dessen, was ich hier als Kenntnissystem bezeichnet habe, führt zur Unterscheidung von drei Dingen: (a) Repräsentationen der Struktur der durch das System bedingten Leistungen, (b) Regeln, die der Mannigfaltigkeit der Repräsentationen zugrunde liegen, (c) Prinzipien, die den Charakter und die Funktionsweise der Regeln determinieren. Die Termini Repräsentationen', .Regeln' und .Prinzipien' haben orientierenden Sinn, das mit ihnen Gemeinte findet sich unter wechselnden Bezeichnungen wieder. Repräsentationen können Muster oder Instruktionen — also selbst eine Art von Regeln — sein, Regeln können Strukturschemata, mehr oder weniger generelle Bedingungen oder Operationsmuster sein, und entsprechend vielgestaltig kann der Charakter der Prinzipien sein. Es gehört zur theoretischen Analyse der jeweiligen Funktionssysteme, den genauen formalen Charakter der unter (a) bis (c) angegebenen Entitäten zu bestimmen. Ein funktionales System ist damit durch ein Kenntnissystem im angedeuteten Sinn und die zugehörigen Realisierungsmechanismen bestimmt. Die Unterscheidung dieser beiden Komponenten ist durch Fakten verschiedener Art begründet. So sind hirnpathologisch bedingte Störungen in der Regel Beeinträchtigungen der Realisierungsmechanismen. Aphasie, Agnosie, Apraxie, Alkalkulie sind Beispiele solcher Störungen, bei denen die Wirkung der jeweiligen Kenntnissysteme zwar blockiert ist, weil bestimmte Realisierungsfunktionen ge- oder zerstört sind, aber zumeist in latenter Form erhalten bleiben, wie unter anderem die Möglichkeit spontaner Restitutionen belegt.8 Weiterhin sind die Realisierungsmechanismen nicht notwendig kongruent mit den Kenntnissystemen strukturiert: Ein Kenntnissystem kann mehrere partiell verschiedene Realisierungssysteme haben, und umgekehrt kann ein Realisierungssystem für mehrere Kenntnissysteme zur Verfügung stehen. Um das nächstliegende Beispiel anzuführen: Das Kenntnissystem der Sprache liegt sowohl dem Produzieren wie dem Verstehen von Äußerungen, aber auch der Bildung von Urteilen über Eigenschaften von Äußerungen zugrunde.9 Andererseits dienen bestimmte Mechanismen der Moto8
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Vgl. dazu unter anderem LENNEBERG ( 1 9 6 7 ) , W E I G L und BIERWISCH ( 1 9 7 0 ) und CHOMSKY ( 1 9 8 0 ) . Alternative Auffassungen über den Charakter hirnpathologisch bedingter Störungen, insbesondere der Aphasie, führen, sofern sie in der fraglichen Hinsicht hinreichend klar formuliert sind, wie etwa bei WITHACKER ( 1 9 7 1 ) , zu Schwierigkeiten angesichts der weitverbreiteten Erscheinungen von Fluktuation, von Restitution und von Störungen, die nur Leistungen einer Realisierungsform (etwa der Sprachproduktion) betreffen, während die gleichen Leistungen in anderen Modalitäten (etwa der Sprachperzeption) ungestört sind. Ein nicht selten anzutreffender Irrtum besteht darin, die Realisierungsprozesse des spontanen Sprachgebrauchs z. B. beim Verstehen von Äußerungen nicht von denen der Beurteilung von Äußerungen etwa auf ihre Wohlgeformtheit oder ihre phonetische oder semantische Ähnlich-
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rik sowohl der schriftlichen Sprachproduktion wie zahlreichen anderen Verhaltensleistungen. Das skizzierte Bild des kognitiven Gesamtsystems als Komplex interagierender Systeme und Subsysteme, in denen wiederum Kenntnisstrukturen und verschiedene Formen von Realisierungsmechanismen zu unterscheiden sind, stützt sich auf theoretische Überlegungen und zahlreiche empirische Befunde, hat aber selbstverständlich hypothetischen Charakter und ist im einzelnen weitgehend offen. Es gestattet aber, spezielle Problemstellungen zu formulieren und empirisch zu prüfen. Für die kognitive Psychologie ergeben sich auf dem Hintergrund dieses Bildes zwei Typen von Problemen, die in einsehbarer Weise miteinander verknüpft sind: Einmal ist die Struktur von Kenntnissystemen — d. h. der verschiedenen Systeme von Repräsentationen, Regeln und Prinzipien — zu bestimmen, zum anderen sind die Mechanismen der Realisierungsprozesse und die Prozesse des Erwerbs der Kenntnissysteme zu analysieren. Für letzteres ist natürlich wesentlich, welchen Charakter die Kenntnisse haben, die erworben bzw. realisiert werden. Auf diesem Hintergrund stellt sich die Linguistik als Theorie der Repräsentationen, Regeln und Prinzipien des sprachlichen Kenntnissystems dar. Ihr sind entsprechende Theorien der anderen Kenntnissysteme an die Seite zu stellen. Die Psycholinguistik kann weitgehend als Analyse der Realisierungs- und Erwerbsprozesse des sprachlichen Funktionssystems identifiziert werden. Das im vorigen Abschnitt methodologisch betrachtete Verhältnis von Linguistik und Psychologie erhält damit ein inhaltliches Korrelat, das auch die wissenschaftsgeschichtlichen Zufälligkeiten in der Aufteilung der Disziplinen erkennen läßt. Von den verschiedenen Problemen, die sich in dem bisher skizzierten Rahmen dem Titel psychologische Aspekte der Semantik' zuordnen lassen, werde ich im weiteren vor allem die betrachten, die sich aus dem Status der Semantik als Teil des sprachlichen Kenntnissystems und ihre Beziehung zu anderen Kenntnissystemen ergeben, von denen natürlicherweise die Beziehung zu dem im Vordergrund steht, was ich provisorisch das konzeptuelle Kenntnissystem genannt habe. Probleme, die mit den verschiedenen Realisierungsmechanismen der Kenntnisse zusammenhängen, werden nur sekundär und im Hinblick auf die zugrundeliegenden Kenntnisse einbezogen.
keit zu unterscheiden oder die letzteren als irrelevant aus der empirischen Analyse auszuklammern. Die empirische Basis der Linguistik wird damit entweder unangemessen verzerrt oder willkürlich eingeengt. Im Sinn der hier angedeuteten Vorstellungen ist es sinnvoll und notwendig, die verschiedenen Arten der Realisierungsprozesse zu berücksichtigen und ihre jeweils verschiedenen Bedingungen zu analysieren.
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2. Biologische und gesellschaftliche Bedingungen der Sprache 2.1. Ehe ich mich den damit umschriebenen Problemen selbst zuwende, will ich die weiteren Zusammenhänge umschreiben, in denen sie gesehen werden müssen. Denn der im vorigen Abschnitt angedeutete Rahmen ist mit entscheidenden Abstraktionen verbunden. Ohne solche Abstraktionen ist die theoretische Durchdringung konkreter Erscheinungen natürlich nicht möglich. Es ist aber notwendig, den Charakter der Abstraktionen deutlich zu machen, um einerseits Mißverständnissen vorzubeugen und Fehldeutungen zu vermeiden, und um andererseits die Wechselwirkungen zwischen den durch Abstraktion gewonnenen Systemen erklären zu können. Offensichtlich wird das menschliche Verhalten insgesamt nicht nur durch das kognitive Gesamtsystem und seine Wechselwirkung mit dem emotionalen und motivationalen System bestimmt, sondern natürlich auch durch die Gesamtheit der natürlichen und gesellschaftlichen Umweltbedingungen, die ihre eigenen spezifischen Strukturen und Gesetzmäßigkeiten besitzen. Da diese beiden Bedingungsgefüge, das interne und das externe, nicht einfach nebeneinanderstehen, sondern eng miteinander verflochten sind, gehen in jede abstrahierende oder idealisierende Herauslösung eines Teilsystems stets bestimmte Annahmen über die Art ihrer Zusammenhänge ein. Die mit dieser Feststellung verbundene Problematik kann hier natürlich auch nicht annähernd vollständig erörtert werden. Ich will im folgenden aber einige Faktoren deutlich machen, die für das sprachliche und das konzeptuelle System wesentlich sind. Beginnen wir mit der unstrittigen Feststellung, daß sprachliche Äußerungen die wichtigste Form, oder wenn man so will, das wichtigste Mittel, der menschlichen Kommunikation sind. Kommunikation jeder Art ist konstitutiver Bestandteil des realen gesellschaftlichen Lebensprozesses, sie spielt sich im Rahmen verschiedenartiger sozialer Strukturen ab, deren determinierende Grundlage die gesellschaftliche Reproduktion des Lebens ist. Vom jeweils speziellen Charakter dieser Strukturen hängt der interaktive Sinn kommunikativer Äußerungen ab: (1) Da liegen noch Äpfel auf dem Tisch. Eine Äußerung dieses Satzes kann, je nach den Umständen, eine überraschte Feststellung sein, ein Angebot, einen Apfel zu essen, eine Aufforderung, den Tisch abzuräumen, die wiederum von sehr verschiedener Verbindlichkeit sein kann, ein Ausdruck des Bedauerns, oder vieles andere mehr. Ich werde den damit angedeuteten Aspekt, der gewöhnlich als die illokutionäre Kraft sprachlicher Äußerungen bezeichnet wird, hier nicht weiter diskutieren.10 Was ein ein10
Ausführlich behandelt wird dieser Aspekt in der umfangreichen Literatur zur Sprechakttheorie. Einen Überblick gibt VIEHWEGER (1982).
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faches Beispiel wie (1) für unseren Zusammenhang illustrieren kann, ist dreierlei. Erstens sind kommunikative Äußerungen in zweifacher Weise sozial bedingt, einmal weil sie sich stets auf einen Kommunikationspartner beziehen und insofern gewissermaßen elementare, konkrete Realisierungen sozialer Interaktion sind, zum anderen aber, weil sie auf soziale Strukturen und Zusammenhänge Bezug nehmen, die über den jeweils konkreten Kommunikationsakt hinausgehen. Zweitens setzt ein Kommunikationsakt nicht nur das Bestehen der sozialen Strukturen voraus, sondern auch die (weitgehend unreflektierte) Kenntnis der Kommunikationspartner von diesen Strukturen und den Konsequenzen, die sich aus ihnen im Hinblick auf den Kommunikationsakt ergeben — daß z. B. bestimmte Verpflichtungen oder Rechte entstanden sind oder aufgehoben werden usw. Drittens setzt ein sprachlicher Kommunikationsakt natürlich die Kenntnis der sprachlichen Struktur der produzierten Äußerung und der ihr zugrunde liegenden Regeln voraus; daß diese Kenntnis von der soeben betrachteten Kenntnis der sozialen Strukturen und Konsequenzen zu unterscheiden ist, wird sofort deutlich, wenn man einander entsprechende Kommunikationsakte in verschiedenen Sprachgemeinschaften betrachtet: die Unterschiede der vorauszusetzenden Sprachkenntnis fallen dabei keineswegs mit entsprechenden Unterschieden der Sachbezüge und der Sozialstrukturen zusammen. Die im dritten Punkt enthaltene Unterscheidung von Sprache und Kommunikation will ich noch etwas verdeutlichen, da mit ihr eine für unsere Problematik wichtige Kontroverse verbunden ist bezüglich der Möglichkeit oder Notwendigkeit, Sprache aus der Kommunikation erklären, sie also in gewissem Sinn auf diese reduzieren zu können. Klar und kaum zu bestreiten ist zunächst die Tatsache, daß es Kommunikation auch mit anderen als sprachlichen Mitteln gibt. So kann z. B. eine hinweisende Geste unter entsprechenden Bedingungen die gleiche Aufforderung oder Offerte wie eine Äußerung von (1) realisieren. Wichtig ist, daß es demnach ein Kenntnissystem geben muß, das Kommunikationsakten sprachlicher und nichtsprachlicher Natur zugrunde liegt und das übrigens keineswegs trivialer Art sein kann. Eindeutig ist weiterhin die Tatsache, daß es verschiedene Formen nichtkommunikativer sprachlicher Äußerungen gibt. Sie reichen von sprachlich formulierten Überlegungen monologischer Art bis zu unwillkürlichen emotionalen Reaktionen. Wer etwa einen bellenden Hund verägert anfahrt: (2) Halt die Schnauze, blödes Vieh!
produziert eine regelmäßige sprachliche Äußerung, vollzieht aber in keinem ernsthaft vertretbaren Sinn eine kommunikative Handlung.
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Strittig hingegen ist die Frage, ob die nichtkommunikative auf die kommunikative Verwendung sprachlicher Äußerungen zurückgeführt werden kann. Das entschiedenste Programm einer solchen Reduktion hat G R I C E (1957 und 1968) formuliert. Es besteht in dem Versuch, die Bedeutung von Sätzen aus der kommunikativen Intention abzuleiten, die bei ihrer normalen Verwendung verfolgt wird. Statt dieses Programm hier nachzuzeichnen und die Gründe zu erörtern, aus denen es scheitert11, will ich kurz die Grundzüge einer Vorstellung skizzieren, derzufolge sprachliche und kommunikative Strukturen durch jeweils eigene, aber aufeinander zu beziehende Kenntnissysteme bedingt sind. Sprachliche Kenntnisse vermitteln nach dieser Auffassung die systematisierte Möglichkeit, konzeptuell strukturierte gedankliche Strukturen auf extern manifestierbare Signale abzubilden, ihnen also eine äußere, sinnlich wahrnehmbare Manifestation zu geben. Verkürzt gesagt: Die Sprache ist eine systematische Möglichkeit, Gedanken auszudrücken. Sprachliche Äußerungen realisieren diese Möglichkeit bei nichtkommunikativer Verwendung nicht weniger als bei kommunikativer. Ein Gedanke, der auf diese Weise durch eine Äußerung repräsentiert wird, bedingt nun bei kommunikativer Verwendung einer Äußerung (mehr oder weniger direkt) deren speziellen kommunikativen Sinn auf Grund der Kenntnisse
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Vgl. dazu u. a. ZIFF (1967), CHOMSKY (1975, Kap. 2), BIERWISCH (1979) und Yu (1979). Das entscheidende Problem ist, daß Äußerungen wie (2) — und viele andere — zwar eine reguläre Bedeutung haben und der Sprecher durchaus meint, was er sagt, ohne daß damit eine kommunikative Absicht verbunden ist. Die Bedeutung des Satzes stammt demnach nicht aus seiner kommunikativ intendierten Verwendung. Ein noch tiefergehendes Problem liegt darin, daß zahlreiche systematische Eigenschaften sprachlicher Strukturen, und zwar nicht nur ihrer semantischen, sondern auch der syntaktischen und phonologischen Seite, aus ihrer kommunikativen Verwendung nicht hergeleitet werden können. Die Tatsache, daß alle Sprachen, die stimmhafte Verschlußlaute haben, auch stimmlose besitzen, aber nicht notwendig umgekehrt, oder daß (i) eine korrekte Frage ist, (ii) dagegen nicht, sind willkürlich herausgegriffene Beispiele. (i) Mit wem ist Hans verwandt? (ii) *Als wer ist Hans jünger? Der entscheidende Punkt ist, daß Eigenschaften der angedeuteten Art nicht arbiträren oder konventionellen Charakter haben, sondern auf den zugrunde liegenden Prinzipien der Sprachstruktur beruhen. Gewiß müssen die Eigenschaften sprachlicher Äußerungen ihrer kommunikativen Verwendung entsprechen und werden den damit verbundenen Bedingungen auch in bestimmten Grenzen im Verlauf der Sprachentwicklung stets erneut angepaßt. Aber davon sind gerade die nicht-arbiträren Eigenschaften nicht betroffen. Der Versuch, sie aus der Kommunikation zu erklären wäre dem Versuch analog, die Anatomie der Beine aus der Art der Fortbewegung zu erklären statt umgekehrt die Art der Fortbewegung als mitbedingt durch die Anatomie der Beine.
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über die Struktur von Kommunikationssituationen, auf die sich die Partner ebenso wie auf ihre Sprachkenntnisse beziehen. Das Charakteristikum sprachlicher Kommunikationsvorgänge besteht demnach in der Möglichkeit, die Kommunikation durch die externe Wiedergabe konzeptueller Strukturen zu vermitteln, sie an die begriffliche Abbildung von Sachverhalten zu binden. Diese nicht sehr überraschende Feststellung besagt zugleich, daß sprachliche Äußerungen stets auch die Kenntnissysteme einbeziehen, die dem Aufbau konzeptuell strukturierter Gedanken zugrunde liegen. Die damit postulierte Beziehung zwischen sprachlichen und konzeptuellen Strukturen wird im folgenden ausführlicher betrachtet.12 Wenn es richtig ist, daß die Struktur sprachlicher Äußerungen und die ihnen zugrunde liegenden Kenntnisse nicht auf ihre kommunikative Verwendung zurückgeführt werden können, dann entsteht anscheinend die Frage, wie ihre doch offensichtliche gesellschaftliche Bedingtheit begründet werden kann. Tatsächlich liegt das Problem umgekehrt: Nur weil die Sprache ein gesellschaftlich bedingtes Kenntnissystem ist, kann sie in spezieller Weise der Kommunikation dienen. Dieses Problem aber stellt sich keineswegs nur für die Sprachkenntnis, sondern für alle Systeme, die an der Formung des menschlichen Verhaltens beteiligt und nicht rein biologischer Natur sind. In der Formulierung von M A R X (1844: 538): „ . . . auch wenn ich wissenschaftlich, etc. tätig bin, eine Tätigkeit, die ich selten in unmittelbarer Gemeinschaft mit anderen ausführen kann, so bin ich gesellschaftlich, weil als Mensch tätig. Nicht nur das Material meiner Tätigkeit ist mir — wie selbst die Sprache, in der der Denker tätig ist — als gesellschaftliches Produkt gegeben, mein eigenes Dasein ist gesellschaftliche Tätigkeit;" Mit anderen Worten, nicht aus der kommunikativen Verwendung folgt die gesellschaftliche Bedingtheit der Sprachkenntnis, sondern aus ihrem Charakter als Kenntnissystem selbst, ein Umstand, der für Kenntnissysteme insgesamt gilt.13
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Die vielzitierte These von MARX und ENGELS (1884: S. 30), nämlich „die Sprache ist das praktische, auch für andere Menschen existierende, also auch für mich selbst erst existierende wirkliche Bewußtsein" verlangt zu ihrer Explizierung die Analyse genau dieser Beziehung. Hier sind übrigens interessante Unterschiede zu machen im Hinblick auf den Anteil, den gesellschaftlich veränderbare Komponenten an den Kenntnissystemen haben. Dieser Anteil ist offensichtlich in der historisch und regional wechselnden Sprachkenntnis; er ist unschwer, wenn auch weniger direkt erkennbar in den historisch und regional wechselnden konzeptuellen Systemen. Auf wiederum andere Weise variieren Kommunikationssysteme, Indessen ist es denkbar, daß Kenntnissysteme zwar an der Strukturierung sozialer Bezüge beteiligt sind, ohne jedoch gesellschaftlich bedingten Veränderungen zu unterliegen. Ein hypothetischer Kandidat dieser Art ist das System, das der Identifizierung und Unterscheidung von Gesichtern zugrunde liegt. Wichtiger als die Frage, ob es in diesem Sinn „geschichtsinvariante" Systeme strikter
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2.2. Zwei aufeinander angewiesene Seiten oder Momente konstituieren den gesellschaftlichen Charakter von Kenntnissystemen im eben erwähnten Sinn: (a) Kenntnissysteme werden im Rahmen des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses aufgebaut, geformt und modifiziert. (b) Damit Kenntnissysteme als gesellschaftlicher Bestand wirksam sein können, müssen sie von den Individuen im Verlauf der Ontogenese angeeignet werden. Bei oberflächlicher Betrachtung mag man geneigt sein, die inner (b) genannte Seite für die abgeleitete, der unter (a) genannten nachgeordnete zu halten, denn das jeweilige Produkt des gesellschaftlichen Prozesses legt ja fest, was im Sozialisationsprozeß erworben wird: Welche begrifflichen Unterscheidungen ein Mensch zu machen lernt, mit welchen sprachlichen Mitteln sie ausgedrückt werden können, das hängt zunächst von den entsprechenden Festlegungen ab, die in dem Consocium gelten, in das er hineinwächst. Bei näherem Hinsehen wird indessen sofort deutlich, daß es eine ebenso entscheidende umgekehrte Abhängigkeit gibt: Nur auf dem Wege über den Erwerb durch die konkreten Individuen können Kenntnissysteme modifiziert und akkumuliert werden: konzeptuelle Distinktionen differenzieren oder vereinfachen, sprachliche Regeln verändern sich, indem die Individuen entsprechend veränderte Kenntnissysteme erwerben. Aber auch das ist noch nicht das vollständige Bild. Die Bedingungen des Kenntniserwerbs (zusammen mit den Grundlagen der Realisierungsmechanismen) stecken nämlich den Rahmen ab, in dem sich Kenntnissysteme auf Grund des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses überhaupt nur entwickelt und verändern können. Um diese Behauptung zu verdeutlichen und zu begründen, wenden wir uns wieder dem im Abschnitt 1.3. skizzierten Charakter kognitiver Systeme zu. Die funktionellen Systeme, von denen dort die Rede war, werden durch zwei Typen von Bedingungen geformt und strukturiert: (i) die organismische Ausstattung des Individuums als Glied der menschlichen Spezies, die einen charakteristischen Bereich von Möglichkeiten zur Ausbildung der verschiedenen funktionellen Systeme bereitstellt; (ii) die in der sozial vermittelten Umwelt auftretenden Gegebenheiten, die entsprechend der in (i) genannten Ausstattung verarbeitet werden und die Substanz der Erfahrung bilden, die die Kenntnissysteme formt. Wir können (i) abkürzend die biologischen, (ii) die gesellschaftlichen GrundArt gibt, ist die Tatsache, daß auch eindeutig Variante Systeme wie Sprache oder Kommunikation wesentliche invariante Strukturen aufweisen. Ich komme darauf im nächsten Abschnitt zurück.
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lagen der resultierenden psychischen Funktionssysteme nennen. Daß diese beiden Faktoren als Grundlage angenommen werden müssen, ist nicht strittig, wohl aber ihr relatives Gewicht und die Art ihrer Wechselwirkung. Ich will deshalb beide Seiten noch etwas näher erläutern. 2.3. Daß die Individuen verschiedener Gattungen nicht nur die für die jeweilige Gattung charakteristischen physiologischen Organe und Systeme, sondern auch spezifische funktionelle oder Verhaltenssysteme ausbilden, ist unstrittig und vor allem durch die Verhaltensforschung ausführlich belegt. Endogene und exogene Faktoren wirken dabei in spezifischer Weise zusammen: exogene Faktoren, d. h. Reize aus der Umwelt, werden den endogenen Bedingungen entsprechend verarbeitet, die endogenen Faktoren werden durch die externen Bedingungen aktiviert und modifiziert. Umweltreize werden so verarbeitet, wie die jeweiligen Anlagen es bedingen, und die Anlagen werden aktiviert und entwickelt durch die jeweiligen Umgebungsbedingungen. In dieser allgemeinen Form gilt das auch für die Ontogenese des Menschen, wobei die exogenen Faktoren bereits gesellschaftlich vermittelter Natur sind, d. h. sie gehören zu den historisch entwickelten Lebensbedingungen der Gemeinschaft, an deren Existenz die Entwicklung des Individuums gebunden ist. Kontrovers ist die Spezifik der organismischen Anlagen. Unter der Voraussetzung, daß ein bestimmtes spezies-spezifisches Arsenal als Grundlage der normalen Entwicklung des Individuums angenommen werden muß, gibt es zwei prinzipielle Alternativen: (a) Die organismischen Anlagen sind nicht spezifiziert im Hinblick auf bebestimmte Kenntnissysteme, sie bilden ein einheitliches System der Informationsverarbeitung und Verhaltensregulation. (b) Die organismischen Anlagen legen Dispositionen zur Ausbildung bestimmter Kenntnissysteme mit jeweils spezifischer Auswertung und Verarbeitung der Umweltinformation fest. Nach der Auffassung (a) wären die Gliederung des kognitiven Gesamtsystems, von der oben die Rede war, und der Aufbau der Teilsysteme im wesentlichen determiniert durch die Struktur des äußeren Reizangebots und könnten mit dem Reizangebot beliebig variieren. Die organismischen Anlagen würden den Menschen nur durch bestimmte globale Charakteristika wie Umfang der Gedächtniskapazität oder Komplexität interner Repräsentationen (in bezug auf ein globales Komplexitätsmaß) von anderen Gattungen unterscheiden.14 Insbesondere wären 14
Diese Auffassung ist kein bloßer Strohmann: Alle Vorstellungen, die den Erwerb von Kenntnissen auf den Aufbau bedingter Reflexe oder assoziativer Verknüpfungen im Gedächtnis reduzieren, gehen von der Annahme (a) aus, womit der Unterschied zwischen verschiedenen biologischen Gattungen auf rein quantitative Faktoren der angedeuteten Art zurückgeführt werden muß.
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Erwerb und Beherrschung der Sprache nur extern bedingte Besonderheit des Menschen. Nach der Auffassung (b) dagegen beruht die Informationsverarbeitung auf spezifischen Dispositionen, die sowohl Auswahl und Interpretation der relevanten Information wie die aus ihrer Auswertung entstehenden Kenntnissysteme in charakteristischer Weise organisieren. Der Erwerb der Sprache ist damit ein Prozeß, der einer spezifischen internen Grundlage entspricht, auf Grund deren sprachliche Äußerungen in einer für diesen Bereich charakteristischen Weise verarbeitet werden. Entsprechendes gilt für andere Erfahrungsbereiche. Die organismische Ausstattung stellt nach Auffassung (b) gewissermaßen Vorinformationen bereit, die die Interpretation von Interaktionsbeziehungen, gegenständlichen Sachzusammenhängen usw. steuern und die Entwicklung der entsprechenden Kenntnissysteme erst ermöglicht. Nun ist in strikter Auslegung die Auffassung (a) mit ziemlicher Gewißheit falsch. Nicht nur haben verschiedene biologische Gattungen unterschiedliche Dispositionen für die Auswertung der Umweltinformation, die sich in der Phylogenese als Ergebnis von Mutation und Selektion herausgebildet haben. Vielmehr geschieht auch beim Menschen die Entwicklung verschiedener Teile des kognitiven Gesamtsystems in jeweils spezifischer Weise und in Phasen, die im Wachstum des Organismus verankert sind. Die Entscheidung zwischen (a) und (b) wäre damit zu ersetzen durch die schrittweise empirische Klärung der Art und Spezifik der in (b) angenommenen Dispositionen und ihrer Wechselwirkung. Dieses Problem läßt sich noch etwas klarer formulieren, wenn wir auf die früher getroffene Unterscheidung von Repräsentationen, Regeln und Prinzipien von Kenntnissystemen zurückgreifen. Repräsentationen sind die Form, in der die verarbeiteten Informationen und die Verhaltensantworten intern dargestellt, abgebildet werden. Sie sind strukturiert gemäß den Regeln, die zu dem für den jeweiligen Erfahrungsbereich zuständigen Kenntnissystem gehören. Dieses System von Regeln wiederum ist strukturiert gemäß den zugrunde liegenden Prinzipien, die den Aufbau des jeweiligen Regelsystems determinieren, und damit auch die allgemeine Form der zugehörigen Repräsentationen. Für das visuelle System z. B. sind Repräsentationen die Strukturen, in denen optische Reize zu interpretierten, perzeptiven Mustern organisiert sind, die Regeln bestimmen den Aufbau solcher Muster, und die Prinzipien determinieren die Form, die diese Regeln auf Grund entsprechender Erfahrung annehmen können.15 Die Repräsentationen, Regeln und 15
Da Regelsysteme als erfahrungsabhängige Spezialisierungen innerhalb des durch die Prinzipien gesetzten Rahmens gelten müssen, könnte man versucht sein, Regeln und Prinzipien für das visuelle System zu identifizieren, da man ja offenbar nicht im gleichen Sinn sehen lernt, wie man sprechen lernt. Es scheint jedoch notwendig zu sein, auch beim visuellen System mit der Ausprägung unterschiedlich differenzierter Regelsysteme zu rechnen. Was
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Prinzipien anderer Kenntnissysteme sind entsprechend verschiedener Natur: Strukturen kooperativer Handlungen oder sprachlicher Äußerungen repräsentieren Informationen anderer Art auf Grund anderer Regeln. Die Auffassung (a) vom uniformen Charakter der organismischen Anlagen läßt sich in diesem Rahmen als die Hypothese formulieren, daß das kognitive Gesamtsystem auf einem einzigen System P von Prinzipien beruht, die alle gleichermaßen am Aufbau aller Kenntnissysteme beteiligt sind. Die Auffassung (b) dagegen rechnet mit unterschiedlichen Systemen Pt, P2, P3 usw. von Prinzipien, die jeweils spezifische Erfahrungsbereiche organisieren. Dabei können mehr oder weniger generelle Prinzipien angenommen werden. Ein Kenntnissystem K1 könnte außer auf bestimmten, nur in JCj wirksamen Prinzipien auch auf übergreifenden Prinzipien beruhen, die mehrere Kenntnissysteme determinieren. Ein Prinzip der hierarchischen Strukturierung linearer Folgen etwa ist vermutlich sowohl für sprachliche wie für musikalische und für handlungsorganisierende Repräsentationen, nicht dagegen für visuelle und konzeptuelle Repräsentationen anzunehmen. Das besagt, daß auch Regeln und Repräsentationen ganz unterschiedlicher Art von partiell gleichen Prinzipien determiniert sein können. Die auf der Basis der Auffassung (b) zu formulierende empirische Aufgabe ist dann die Auffindung der verschieden speziellen Systeme von Prinzipien. Ein Kenntnissystem K., das zusammen mit den entsprechenden Realisierungsmechanismen ein funktionelles Organ im oben besprochenen Sinn bildet, beruht damit auf einem System P. von (mindestens zum Teil) spezifischen Prinzipien. Diese Prinzipien bestimmen, was die für K( relevanten Informationen sind und wie ihre Auswertung zu dem zu Kt gehörenden Regelsystem Ri führt. R{ schließlich determiniert die Repräsentationen, die das entwickelte Kenntnissystem Kt zur Organisation des Gesamtverhaltens beisteuert. Dieses Raster gibt zugleich ein generelles Schema für den Erwerb von Kenntnissen an: Pi ist die für den durch Ki organisierten Verhaltensbereich relevante organismische Ausstattung; sie wird durch die Auswertung von spezifischen Umwelterfahrungen des zugehörigen Bereichs in das entsprechende Regelsystem R. überführt, wobei Pi eine Klasse möglicher Regelsysteme festlegt und die verarbeitete Erfahrung das tatsächlich erworbene Regelsystem Ri ergibt. Dieses generelle Schema bedarf entsprechender Konkretisierung, in der vor allem die mit mit dem intuitiven Begriff „Sehgewohnheiten" gefaßt wird, gehört in diesen Bereich. Einen konkreten Beleg liefert die Tatsache, daß die Regeln zur perzeptiven Interpretation von Photographien erworben werden müssen, wie Untersuchungen in vorindustriellen Kulturen zeigen. Allerdings macht der Vergleich des visuellen mit dem sprachlichen System deutlich, daß die Spezialisierung des jeweiligen Regelsystems gegenüber den zugrunde liegenden Prinzipien sehr unterschiedlichen Charakter haben kann. Ein Aspekt dieser Unterschiedlichkeit ist der in Anmerkung 13 erwähnte Grad der gesellschaftlich bedingten Varianz der Kenntnissysteme.
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der Formel „Auswertung der Erfahrung" nur vage umschriebenen Prozesse zu spezifizieren sind. Es erlaubt jedoch zwei wichtige Feststellungen: Erstens folgt aus diesem Schema, daß Umweltreize in bestimmter Weise strukturiert ausgewertet werden, daß die Erfahrungsbereiche, auf die sich die auszubildenden Kenntnissysteme jeweils beziehen, durch die Prinzipien begrenzt werden. Und zweitens besagt dieses Schema, daß die Umwelterfahrungen in spezifische organisierende Systeme eingeordnet werden, innerhalb deren sie mehr besagen als ihr Informationswert in bezug auf ein unstrukturiertes Gesamtsystem. Mit anderen Worten, je spezifischer das jeweilige System P( von Prinzipien, desto informativer werden die relevanten Informationen. Lückenhafte, uneinheitliche oder divergierende Erfahrungen können dadurch zu relativ einheitlichen, invarianten Kenntnissystemen führen, eine für die menschliche Ontogenese charakteristische Tatsache. Im Anschluß an geläufige terminologische Festlegungen will ich für das sprachliche Kenntnissystem die zugrunde liegenden Prinzipien Pi die Universalgrammatik UG nennen und das Regelsystem R{ die jeweils erworbene einzelsprachliche Grammatik G. Die Gesamtheit der durch G determinierten Repräsentationen ist die durch G determinierte Sprache L{G). Für das konzeptuelle System, das uns neben dem sprachlichen im weiteren vor allem interessiert, sind entsprechende Begriffsbildungen nicht terminologisiert, ihr Inhalt ist auch weit weniger vorgeklärt als dies innerhalb der Linguistik für das sprachliche System geschehen ist. In provisorischer Analogie will ich mit UC die Prinzipien des Konzeptuellen Systems bezeichnen und mit C das jeweils spezielle erworbene Konzeptuelle System. Entsprechend sei M(C) die Gesamtheit der durch C determinierten konzeptuellen Repräsentationen. 2.4. Folgt man den skizzierten Annahmen über die biologische Grundlage von Kenntnissystemen, dann ergeben sich zwei Gesichtspunkte für die gesellschaftliche Bedingtheit der Sprache (und anderer Kenntnissysteme). Der erste liegt in der offensichtlichen Tatsache, daß eine Sprache jeweils an eine Sprachgemeinschaft gebunden ist, die den ,Inhalt' der Sprachkenntnis tradiert. Er betrifft die Determination von G (und allgemein der Regelsysteme Rt) auf Grund gesellschaftlich vermittelter Erfahrung. Der zweite liegt in der auf diese Erfahrung disponierten Grundlage des Erwerbs von Kenntnissen, er betrifft den Charakter von UG (und allgemeiner der Prinzipien Pt). Der zweite dieser beiden Gesichtspunkte geht über unsere Thematik grundsätzlich hinaus, er verlangt die Erörterung des Zusammenwirkens biologischer und sich entwickelnder gesellschaftlicher Faktoren in der Anthropogenese. Die Grundüberlegungen zu dieser Problematik findet man bei ENGELS ( 1 8 7 6 ) 1 6 , sie 16
Es ist hier nicht der Ort, die nicht selten anzutreffenden Fehldeutungen von ENGELS' Grundüberlegungen zu erörtern. Es sei nur ein Punkt erwähnt: Der Beschreibung der beginnenden Ver-
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wären im Lichte der modernen Evolutionstheorie und, was die Sprache betrifft, der modernen Linguistik weiterzuführen und zu präzisieren. Ich will hier nur zwei Anmerkungen machen. Zum einen besagt die Annahme (empirisch zu begründender) spezieller Dispositionen nicht, daß Kenntnissysteme in dem Maß außerhalb des gesellschaftlichen Bedingungsrahmens liegen, in dem sie durch organismische Grundlagen bestimmt sind. Vielmehr ist anzunehmen, daß sich in der Phylogenese gerade solche Dispositionen selektionsbevorzugt waren, die den sich herausbildenden sozialen Reproduktionsprozessen die relativ angemessensten Kenntnissysteme bereitzustellen in der Lage waren. Die oben erwähnte Spezifik der Informationsauswertung deutet die Wirkungsweise dieser Bedingung an. Mit anderen Worten, die anzunehmenden Prinzipien sind wesentlich auf ihre soziale Nutzung hin disponiert. Zum anderen hören die organismischen Anlagen damit nicht auf, biologischer Natur zu sein: sie müssen im Rahmen biologischer Entwicklungen entstanden sein und sie werden als solche vererbt. Was dies besagt, ist vielmehr, daß die biologische Natur des Menschen auf Gesellschaftlichkeit disponiert ist. Ich komme damit zum ersten der oben genannten Gesichtspunkte, der den gesellschaftlichen Charakter der resultierenden Kenntnissysteme betrifft. Was unter diesem Titel ins Auge zu fassen ist, kommt zu der soeben angedeuteten Bedingung nicht als zusätzliches Moment hinzu, sondern macht den Bereich aus, in dem sich ihre Wirkung manifestiert, daß nämlich menschliche Individuen sich zu ihrer Umwelt verhalten auf Grund von Kenntnissystemen verschiedener Art, die im Verlauf des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses geformt worden sind, in diesem Sinn also ein gesellschaftliches Produkt sind. Der Erwerb dieser Kenntnissysteme macht den normalen Sozialisationsprozeß der Individuen aus, und die Gesellschaftlichkeit der Kenntnissysteme besteht eben darin, daß die Glieder einer Gemeinschaft sie sich aneignen und in ihrem Verhalten realisieren. gesellschaftung als Faktor, der mehr und mehr die biologische Evolution bestimmt, folgt bei ENGELS die Feststellung: „Kurz, die werdenden Menschen kamen dahin, daß sie einander etwas zu sagen hatten. Das Bedürfnis schuf sich ein Organ: Der unentwickelte Kehlkopf des Affen bildete sich langsam aber sich um, durch Modulation für stets gesteigerte Modulation . . ." (S. 446f.). Wer nicht berücksichtigt, daß ENGELS entschiedener Darwinist war, mißinterpretiert diesen Gedanken leicht im LAMARCKSchen Sinn als Vererbung durch Übung gewonnener Eigenschaften. Es ist für ENGELS aber klar, daß ein .Bedürfnis' nur auf dem Weg über Erbanpassung — d. h. Mutation und Selektion — ein Organ schaffen oder verändern kann. Und es versteht sich von selbst, daß das .Organ' der Sprache nicht nur der Kehlkopf ist, sondern die Struktur des Zentralnervensystems, vor allem aber des Cortex umfaßt. Das so gefaßte Organ der Sprache ist übrigens nicht das in Abschnitt 1.3. erörterte funktionelle Hirnorgan, da&ja das Resultat des individuellen ontogenetischen £pracherwerbs ist, sondern vielmehr die organismische Grundlage für die Entstehung dieses funktionellen Organs, also die phylogenetisch erworbene Sprachfahigkeit des Menschen.
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Die Fähigkeit dazu macht einen entscheidenden Aspekt der Natur des Menschen aus. Wenn wir nun annehmen, daß diese Fähigkeit als wesentlichen Bestandteil die oben erörterten Prinzipien der verschiedenen Kenntnissysteme enthält, dann ergeben sich zwei wichtige Konsequenzen. Erstens: Der Sozialisationsprozeß besteht im wesentlichen darin, die durch die Prinzipien vorgezeichneten Möglichkeiten zu konkretisieren, die mit ihnen gegebenen offenen Parameter auf Grund einschlägiger Erfahrungen so festzulegen, wie es den in der sozialen Umgebung geltenden Regeln entspricht. Der entscheidende Punkt dabei ist, daß ein Kind damit im Vorhinein über alles das schon verfügt, was in der Kenntnisstruktur durch die Prinzipien determiniert ist. Es kommt damit zu seinem sprachlichen oder konzeptuellen oder kommunikativen Kenntnissystem nicht, indem es dieses System aus isolierten, atomaren Erfahrungen induktiv zusammensetzt, sondern indem es die Erfahrungen nach einem wohlorganisierten (aber natürlich völlig unbewußten) Plan auswertet. In der Tat ist nur auf diesem Weg eine Erklärung der Effektivität und Invarianz möglich, mit der Kinder die komplexen Systeme sprachlicher und konzeptueller Kenntnisse erwerben, mit denen sie ohne systematische und explizite Anleitung konfrontiert sind. Zweitens: Der Rahmen, in dem die Veränderung, Differenzierung, Vereinfachung, kurz jede Art von Entwicklung gesellschaftlicher Kenntnissysteme vor sich geht, ist durch die Prinzipien strukturiert, die den Erwerbsprozeß steuern, da der Erwerb im normalen Sozialisationsprozeß ja die Bedingung für den gesellschaftlichen Charakter der Kenntnisse ist. Mit anderen Worten, wie verschiedenartig auch die sprachlichen oder konzeptuellen Systeme sein mögen, die sich in verschiedenen Gemeinschaften herausbilden, sie sind Differenzierungen innerhalb eines wohlstrukturierten Rahmens von Prinzipien. Und es ist gerade dieser organisierende Rahmen, der erst die Entwicklung immer neuer, den jeweiligen Zielen und Bedürfnissen entsprechender, außerordentlich komplexer Systeme von Kenntnissen ermöglicht. Der an das einzelne Individuum gebundene Prozeß des Spracherwerbs und die an gesellschaftliche Gruppen gebundenen Prozesse des Sprachwandels haben damit in dem System UG, also den Prinzipien, die die Universalgrammatik ausmachen, ihren Schnittpunkt, ihren gemeinsamen Rahmen. Entsprechendes gilt für alle anderen gesellschaftlich tradierten Kenntnissysteme. Diesen Rahmen gilt es in entsprechenden empirisch zu begründenden Theorien abzubilden. Er muß Spielraum für die Vielzahl der historisch oder regional verschiedenen Systeme aufweisen, und er muß spezifisch genug sein, um die möglichen von den unmöglichen Kenntnissystemen zu unterscheiden und damit zugleich die charakteristische Komplexität menschlicher Leistungen und Verhaltensweisen erklären. Zusammengefaßt: Die gesellschaftliche Erfahrung schlägt sich in Kenntnissystemen nieder, die historisch sich wandelnde Ausprägungen auf der Grund-
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läge der in den Individuen verankerten biologischen Anlagen sind; diese in der Anthropogenese fixierten Anlagen strukturieren die Wechselwirkung der Gesellschaft mit der Natur und konkret der Individuen mit ihrer Umwelt. Einen besonderen Aspekt im gesellschaftlichen Charakter von Kenntnissystemen bildet eine Erscheinung, die PUTNAM (1975) linguistische Arbeitsteilung' genannt hat. (Angemessener wäre es, von konzeptueller Arbeitsteilung zu sprechen.) Sehr vereinfacht gesagt besteht diese Erscheinung darin, daß bei der Entwicklung spezieller Konzepte die Mitglieder einer Gemeinschaft nicht alle mit diesen Konzepten verbundenen Aspekte in gleicher Vollständigkeit erwerben, daß also die Repräsentation der entsprechenden Kenntnisse sich auf verschiedene Weise auf das Consocium verteilen kann. Ich komme auf dieses Problem, das nur im Rahmen der zuvor skizzierten allgemeineren Bedingungen möglich ist, in Abschnitt 5. kurz zurück. Die in Abschnitt 1. umschriebene Fragestellung aufgreifend fasse ich nun Kenntnissysteme als psychische Strukturen auf, in denen biologische und gesellschaftliche Bedingungen des Verhaltens im Individuum zusammengeschlossen sind und die konkreten Verhaltensabläufe, die von den jeweiligen Realisierungsmechanismen getragen werden, bedingen und ermöglichen. Der mentale Charakter der Strukturen, auf den sich unsere Aufmerksamkeit konzentriert, ist auf eben diesem Hintergrund zu verstehen. 3. Die Struktur sprachlicher Äußerungen 3.1. Um zu den konkreteren Problemen zu kommen, die sich in diesem Rahmen für die semantische Struktur ergeben, will ich von der Betrachtung konkreter sprachlicher Äußerungen ausgehen. Ich führe zunächst eine Reihe von Begriffen und Unterscheidungen ein, mit deren Hilfe diese Probleme klarer formuliert werden können. Obwohl dabei im wesentlichen geläufige Überlegungen zu rekapitulieren sind, scheint mir das zur Vermeidung von Mißverständnissen und im Interesse der Übersichtlichkeit von Nutzen. Eine Äußerung ist zunächst ein physikalisches Ereignis oder Gebilde, mit einem Terminus von KASHER (1972) eine Inskription ins, das von einem Sprecher (oder Schreiber) produziert wird und von einem Hörer (oder Leser) perzipiert werden kann. Zu einer sprachlichen Äußerung wird ein solches akustisches oder optisches Signal dadurch, daß ihm eine sprachliche Struktur / zugeordnet wird, kurz: ( D l ) Eine sprachliche Äußerung u ist ein geordnetes Paar {ins, t), wobei ins ein physikalisches Signal und / die Repräsentation der sprachlichen Struktur von u ist. Die sprachliche Struktur / besteht aus der Gesamtheit von Elementen und Beziehungen, die der Inskription auf Grund der Sprachkenntnis vom Sprecher 3
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bzw. vom Hörer zugeordnet werden. Der geläufigen Auffassung zufolge sind dabei mindestens drei Strukturebenen zu unterscheiden, eine phonetische, eine morphosyntaktische und eine semantische Repräsentation. Zusammengefaßt: (D 2) Die sprachliche Struktur l einer Äußerung u ist ein Tripel (phon, syn, sem), wobei phon die phonetische, syn die morpho-syntaktische und sem die semantische Struktur von u ist. Ich verschiebe die notwendigen Kommentare zur Struktur und Funktion dieser Repräsentationen auf die folgenden Abschnitte und vervollständige zuerst die Grundkomponenten sprachlicher Äußerungen. Betrachten wir zu diesem Zweck einen einfachen Satz wie diesen: (3) Ich werde alle abschließen lassen. Eine Äußerung dieser Lautfolge hat, bezogen auf die Grammatik des Deutschen, mindestens vier Strukturen /, die zwar stets die gleiche phonetische Repräsentation phon aufweisen, aber in der semantischen und zum Teil auch in der syntaktischen Repräsentation differieren: syntaktisch kann abschließen transitiv oder intransitiv sein (im ersten Fall ist alle Subjekt von abschließen, im zweiten Fall ist es Objekt), und in jedem der beiden Fälle kann abschließen entweder als beenden oder als verschließen interpretiert werden. Da diese verschiedenen Möglichkeiten nicht mit Unterschieden in der Signalstruktur korrespondieren, müssen sie durch die Information bedingt sein, die die Sprachkenntnis bereitstellt. Sprecher und Hörer einer Äußerung selektieren demnach bei der Zuordnung von / zur Inskription ins gegebenenfalls eine unter mehreren möglichen Varianten.17 Mit der Zuordnung einer bestimmten sprachlichen Repräsentation / ist die Interpretation einer Äußerung jedoch keineswegs abgeschlossen. Das wird deutlich, wenn wir eine der möglichen Strukturen von (3) herausgreifen, etwa die, die ungefähr durch (4) paraphrasiert werden kann: (4) Ich werde veranlassen, daß alle verschlossen werden. Damit eine so interpretierte Äußerung einen Gedanken repräsentiert, muß sie auf einen Kontext oder eine Situation bezogen werden, aus der die Gegenstände zu entnehmen sind, auf die alle sich bezieht. Je nach der Art dieser Gegenstände — Häuser, Schränke, Türen, Koffer zum Beispiel — verweist abschließen auf verschiedene Handlungen. Sprecher wie Hörer beziehen sich bei diesen Festlegungen auf außersprachliches Sachwissen, das auf den Kontext 17
Experimentelle Untersuchungen zum Sprachverstehen zeigen, daß diese Selektion in der Tat im Verlauf des Perzeptionsprozesses vollzogen wird, nachdem unter Umständen zunächst zwei oder mehr Möglichkeiten (unbewußt) verfolgt werden. Vgl. dazu — wie zum Sprachrezeptionsprozeß insgesamt — den instruktiven Überblick von LEVELT (1978).
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bzw. die Situation, in der die Äußerung interpretiert wird, zu beziehen ist. Mit anderen Worten, eine Äußerung in dem in ( D l ) und (D 2) festgelegten Sinn bezieht sich auf einen Kontext et, und in bezug auf diesen Kontext gewinnt sie eine kontextuell bedingte Äußerungsbedeutung, die ich mit m symbolisieren will. Bezeichnen wir eine dergestalt interpretierte Äußerung mit mu, so kommen wir zu folgender Festlegung: (D 3) Eine kontextuell interpretierte Äußerung mu ist ein Tripel (u, et, m), wobei u eine sprachlich interpretierte Äußerung gemäß ( D l ) und (D 2) ist, et der Kontext, auf den u bezogen wird, und m die Bedeutung, die u in bezug auf et annimmt. Im Hinblick auf die Beziehung zwischen Sprache und Kommunikation kann nun eine kommunikativ verwendete Äußerung bestimmt werden als eine kontextuell interpretierte Äußerung mu, die in Abhängigkeit von den Interaktionsbeziehungen, in denen Sprecher und Adressat zueinander stehen, einen bestimmten kommunikativen Sinn annimmt. (D 4) Eine kommunikativ interpretierte Äußerung kmu ist ein Tripel (mu, ias, ks), wobei mu eine kontextuell interpretierte Äußerung gemäß (D 3) ist, ias die Struktur der Interaktionssituation, in der die Äußerung interpretiert wird, und ks der kommunikative Sinn, den sie in bezug auf diese Bedingungen annimmt. So kann z. B. eine Äußerung von (3) eine Zusage, ein Versprechen, eine Drohung oder auch nur eine beiläufige Bemerkung sein, je nachdem welche Beziehungen informeller oder institutioneller Art und welche Erwartungen oder Verpflichtungen von Sprecher und Adressat den Rahmen des Kommunikationsaktes bilden. Jede dieser kommunikativen Interpretationen bezieht aber den von mu ausgedrückten Sachverhalt ein. Fügt man die in ( D l ) bis (D 4) festgelegten Bestimmungen ineinander, so erhält man für die Komponenten einer kommunikativ verwendeten sprachlichen Äußerung folgendes Schema: (5)
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C
K
(((ins, (phon, syn, sem)), et, m), ias, ks)
/ u mu kmu 3»
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Über den erörterten Komponenten habe ich die Regelsysteme angegeben, die die jeweiligen Repräsentationen strukturieren. (G für Grammatik und C für konzeptuelles System habe ich oben eingeführt, K wäre entsprechend als System der Kommunikationsregeln zu verstehen, das möglicherweise Teil eines umfassenderen Systems sozialer Interaktionsregeln ist.) Dieses Schema ist zunächst nur eine strukturierte Liste von Komponenten oder Faktoren, die die in Abschnitt 2.1. skizzierten Annahmen über den Zusammenhang von Sprache, konzeptueller Verarbeitung der Umwelt und Kommunikation etwas präzisiert. Es stellt keineswegs eine Theorie dar, sondern liefert nur die Möglichkeit, Probleme deutlicher zu formulieren, ein heuristischer Zweck, der auch auf verschiedenen anderen Wegen erreicht werden könnte. Von den erörterten und in (5) zusammengefaßten Komponenten werde ich mich im Folgenden mit denen, die die kommunikative Verwendung von Äußerungen betreffen, nicht weiter befassen. 18 Unser zentrales Thema ist der Charakter der semantischen Repräsentation sem und der Äußerungsbedeutung m und ihre Beziehung zueinander. 3.2. Für die Analyse der semantischen Struktur und ihrer verschiedenen Bezüge ist es nützlich, wenn nicht unumgänglich, von den Ergebnissen auszugehen, die die moderne Logik zu dieser Problematik beigesteuert hat, zum einen weil sie ein außerordentlich präzises Instrumentarium zur Behandlung dieses Gebietes bereitgestellt hat, zum anderen aber, weil die Schwierigkeiten und Grenzen, die sich für die Logik dabei ergeben, unmittelbar mit dem psychologischen Aspekt der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke zusammenhängen und also unser Thema besonders zu verdeutlichen gestatten. 19 Schlüsselkonzept der logischen Analyse der Sprache ist die'logische Form If einer Äußerung u. Von Autoren mit sonst sehr unterschiedlicher Auffassung wie etwa KATZ (1972) oder MONTAGUE (1974) wird die logische Form einer Äußerung mit ihrer semantischen Struktur gleichgesetzt. Ich werde zunächst von dieser Gleichsetzung ausgehen und dann auf einige Probleme eingehen, die sich aus dieser Identifizierung ergeben, um damit die psychologischen Bedingungen der semantischen Struktur kennzeichnen zu können. Die Traditionslinie der modernen Logik, die für unsere Thematik relevant ist, hat ihren Ausgangspunkt bei FREGE. Für diese Traditionslinie sind zwei Punkte wichtig, die die mögliche Integration der Logik mit dem was man die linguistische
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Einige der hierher gehörenden Probleme machen den wesentlichen Teil der von AUSTIN (1962), SEARLE (1969) und anderen entwickelten Sprechakttheorie aus. Deren Interpretation in dem hier umrissenen Rahmen habe ich in BIERWISCH (1980) erörtert. Diese beiden Befunde sind unter verschiedenem Blickwinkel thematisiert worden, u. a. in JOHNSON-LAIRD ( 1 9 7 9 ) u n d HALL-PARTEE ( 1 9 7 9 ) .
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und die psychologische Semantikforschung nennen könnte, entscheidend bestimmen. Zum ersten dient bei FREGE (1892) und der gesamten an ihn anschließenden formalen Logik die Klärung der logischen Form letzten Endes der Begründung der Mathematik und allgemeiner der Theorie des logischen Schließens. Sofern die semantische Struktur mit der logischen Form gleichgesetzt werden kann, wird die Semantik im Sinn dieser Tradition zu einer Grundlagendisziplin der Mathematik.20 Bei FREGE ist diese Festlegung aufgrund sorgfaltiger Abwägung des Zusammenhangs zwischen logischen Strukturen und den psychischen Prozessen, in denen logische Strukturen aufgebaut und manipuliert werden, zunächst eine deutliche Grenzziehung zwischen dem .objektiven' Charakter der Struktur von Gedanken und den subjektiven' Prozessen, aus denen sie hervorgehen und die ihre logische Validität nicht begründen können. (Daß darin eine zeitbedingte Abwehr gegen eine unangemessene Psychologisierung der Logik zum Ausdruck kommt, ist dabei nur von historischem Interesse.) Inhaltlich besagt das, daß in die logische Form einer Äußerung alles und nur das einzuordnen ist, was auf ihre Wahrheit bzw. die aus ihr abzuleitenden Folgerungen Einfluß hat. Die logische Form wird damit zur Repräsentation der Bedingungen, unter denen eine Äußerung wahr ist. Diese Festlegung hat TARSKI (1935) systematisch ausgearbeitet und so erweitert, daß Wahrheitsbedingungen als Spezialfall von Erfüllungsbedingungen gefaßt werden können. (Der Spezialfall trifft dann auf Äußerungen von Aussagesätzen zu, während Äußerungen anderen Typs jeweils eigene Arten von Erfüllungsbedingungen haben.) Zweitens wird innerhalb dieses Ansatzes die Klärung der logischen Form dadurch erreicht, daß künstliche oder formale Sprachen konstruiert werden, deren Struktur direkt mit der logischen Form natürlicher Sprachen identifiziert werden kann. Grund dieses Vorgehens ist die Überzeugung, daß die Struktur von Äußerungen der natürlichen Sprache deren logische Form eher verdeckt oder verschleiert als daß sie sie einsichtig und greifbar macht. In diesem Sinn besteht die Entwicklung der modernen Logik im kontrollierten Aufbau formaler Systeme, bei denen die logische Form If (und das heißt nach der oben getroffenen Annahme die semantische Struktur sem) mit ihrer syntaktischen Struktur syn zusammenfällt, die wiederum direkt und ohne Vermittlung durch eine separier20
Diese Einordnung der Semantik in die Mathematik ist nicht identisch mit der Verwendung mathematischer Mittel, etwa der Mengentheorie oder der abstrakten Algebra, beim Aufbau der entsprechenden Theorie. Mathematische Mittel können zur Formulierung der Semantiktheorie auch dann verwendet werden, wenn sie nicht als Teil der Mathematik, sondern als Teil der Psychologie konzipiert wird, so wie ja auch die Ökonomie oder die Astronomie mathematisch formulierte Theorien besitzen, ohne eine Teildisziplin der Mathematik zu sein. Vgl. dazu auch Anmerkung 5.
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bare phonetische Struktur auf die jeweilige Inskription bezogen werden kann. Damit können dann semantische Beziehungen gewissermaßen direkt auf Eigenschaften der Inskription bezogen werden. Dieses Vorgehen, das, angefangen von FREGES Begriffsschrift über die ,Principia Mathematica' von WHITEHEAD und RUSSELL, in den verzweigten Systemen der Modallogik zu außerordentlich komplexen und ausdrucksstarken Systemen geführt hat, bringt zwei gravierende Probleme für die Beziehung der Logik zur Semantik natürlicher Sprachen mit sich: Das erste besteht darin, daß jeweils nur die Teile der semantischen Struktur im Rahmen formaler Systeme .rekonstruiert' werden (wie der Terminus technicus lautet), die unter dem Gesichtspunkt der Theorie des Schließens relevant und eindeutig analysierbar sind. Mit anderen Worten, die Elemente der natürlichen Sprache teilen sich in .logische' und ,außerlogische' Elemente, von denen nur die ersteren tatsächlich erfaßt werden. Das zweite Problem besteht darin, daß die semantische Analyse natürlicher Sprachen sich verwandelt in die Aufgabe, die Korrespondenz zwischen den Ausdrücken der formalen Sprache und den ihnen entsprechenden Ausdrücken der natürlichen Sprache zu klären, eine Aufgabe, die nicht mehr innerhalb der formalen Systeme gelöst werden kann. Die Schwierigkeit in bezug auf das erste Problem besteht darin, die Prinzipien, nach denen die formalen Systeme zur Darstellung der logischen Form aufgebaut sind, auf die Gesamtheit der Elemente natürlicher Sprachen auszudehnen. Die Schwierigkeit mit dem zweiten Problem liegt darin, die Korrespondenz zwischen Ausdrücken der natürlichen Sprache und Ausdrücken der konstruierten formalen Sprache ihrerseits systematisch zu erfassen. Diese Voraussetzungen der formalen Logik in Rechnung stellend, ist nun zu fragen, was deren Analyse der logischen Form für die Charakterisierung der semantischen Struktur ergibt. Die Antwort auf diese Frage muß mit der bekannten Unterscheidung von FREGE (1892) zwischen Sinn und Bedeutung beginnen, die in der weiteren Entwicklung der Logik durch die Unterscheidung von Intension und Extension ersetzt worden ist. Die Bedeutung oder Extension einer Äußerung ist das, worauf sie verweist; der Sinn bzw. die Intension einer Äußerung ist die Art, in der sie auf die Extension verweist. Der Grund für diese Unterscheidung ist die Tatsache, daß zwei Äußerungen mit verschiedener Intension die gleiche Extension haben können und also in verschiedener Art auf das gleiche verweisen können. Äußerungen der Sätze (6) und (7) sind Beispiele dafür: (6) Ich bitte um Entschuldigung. (7) Der Sprecher dieses Satzes bittet um Entschuldigung. Die Extension einer Äußerung sind also offenbar die Dinge, Beziehungen, Sachverhalte der Umwelt (im weitesten Sinne), auf die verwiesen wird. Und die Intension einer Äußerung kann als eine (komplexe) Regel aufgefaßt werden, die diese Dinge, Beziehungen und Sachverhalte identifiziert. Die beiden Sätze (6) und (7)
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haben die gleiche Extension, weil die Intension von Ich und von der Sprecher dieses Satzes zwar verschieden zusammengesetzte Regeln sind, die aber in jedem Fall das gleiche Objekt, nämlich den Sprecher des Satzes, identifizieren, so daß auch die Intensionen der Sätze (6) und (7) als Ganzes den gleichen Sachverhalt identifizieren. Die Zusammensetzung der Intension einer Äußerung aus Teilregeln bildet dann die logische Form der Äußerung, und die Ausdrücke der formalen Logiksysteme sind nichts anderes als ein Mittel, die Teilregeln und die Art ihrer Zusammensetzung durch Grundsymbole und die Art ihrer Verknüpfung darzustellen. Die Möglichkeit, daß Ausdrücke mit verschiedener Intension die gleiche Extension haben, macht deutlich, daß Intension und Extension nicht generell die gleiche Struktur, d. h. die gleiche Art der Zusammengesetztheit aus Teilen aufweisen können. Andererseits ist auch offensichtlich, daß ein Zusammenhang zwischen der Struktur der Intensionen, also der logischen Formen einer Sprache, und der Extensionen, also des Bereichs, auf den die Intensionen verweisen, bestehen muß. In diesem abgeleiteten Sinn kann man dann auch von der logischen Struktur der Welt sprechen als der Form, in der die Dinge, Beziehungen und Sachverhalte zu Extensionen von Ausdrücken einer Sprache werden. Die logische Struktur der Welt ist mithin stets abhängig von der logischen Struktur der Sprache, in der über die Welt gesprochen wird. Sieht man umgekehrt die logische Struktur der Welt — ihre Zusammensetzung aus Dingen und Beziehungen, die Zugehörigkeit der Dinge zu bestimmten Klassen usw. — als gegebene Ausgangsbedingung an, dann hängt in bestimmten Grenzen die logische Form der sprachlichen Ausdrücke, mit denen man über die Welt sprechen kann, von der logischen Struktur der Welt ab. Unabhängig davon, in welcher Richtung man die Abhängigkeit betrachtet, wird die Beziehung zwischen Intension und Extension bei dieser Betrachtungsweise zur Beziehung zwischen zwei komplexen Strukturen, und die Art dieser Beziehung genau zu bestimmen, läßt sich damit als eine mathematische Aufgabe formulieren. In genau diesem Sinn wird die formale Logik zu einer mathematischen Disziplin. Um die Art der Beziehung zwischen Intension und Extension in der für unsere Fragestellung relevanten Hinsicht richtig zu verstehen, müssen wir dem bisher Gesagten noch einen Punkt hinzufügen, der erst in der Weiterentwicklung von FREGES Ansatz deutlich geworden ist. Er setzt an bei der einfachen Beobachtung, daß nicht nur zwei Äußerungen mit verschiedener Intension die gleiche Extension haben können, sondern daß auch eine Äußerung bei der gleichen Intension verschiedene Extensionen haben kann, je nachdem, auf welchen Weltausschnitt man sie bezieht. (8) ist ein Satz, auf den das, im Unterschied zu (9) zutrifft: (8) Der höchste Turm der Welt ist eine Metallkonstruktion. (9) Der Eifelturm ist eine Metallkonstruktion. Für einen bestimmten Zeitausschnitt der Welt haben Äußerungen von (8) und (9),
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trotz ihrer verschiedenen Intension, die gleiche Extension, für andere Zeitausschnitte aber nicht, und zwar, weil (8) — bei gleicher Intension — verschiedene Extensionen haben kann. Einfacher gesagt, (9) ist eine unabhängig von der Zeit wahre Behauptung, (8) dagegen nicht. Was in diesem Beispiel durch verschiedene Zeitabschnitte der realen Welt bedingt ist, wird im folgenden Beispiel durch den Unterschied zwischen der realen, historischen und einer fiktiven Dramenwelt bedingt: (10) Jeanne 1980, weil dann in (2) eine andere Stadt identifiziert würde und auch die Lokalbestimmung in (3) muß nicht für jedes tj > t0, also in alle Zukunft, auf Moskau zutreffen. Die drei Lokalbestimmungen identifizieren auf unterschiedliche Weise bezogen auf t0 = 1978 genau ein Denotat als gemeinsamen Durchschnitt. Deshalb sind bezüglich der Wahrheitsbedingungen von (1)—(3) die drei Ortsbezeichnungen wechselseitig substituierbar „salva veritate", was die korrekte Folgerung von (1)—(3) auf (4) und auf (5) erklärt. Antwort in (6) und (7) erweist sich als mehrdeutiges Lexem, insofern als es sich bei Redewiedergabe entweder auf die in der
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ursprünglichen Äußerung angesprochenen Denotate beziehen kann, das ist die sogenannte de re-Lesung, oder auf die sprachliche Form der ursprünglichen Äußerung, das ist die sogenannte de iftcio-Lesung. Offensichtlich ist (6) die Variante de re, (7) die Variante de diclo, und darauf bezogen sind die gleiche bzw. eine andere, da sie hinsichtlich der ursprünglichen Äußerung unterschiedliche Denotate haben, miteinander verträglich und infolge der Austauschbarkeit der Lokalbestimmungen im gegebenen Kontext sogar zusammen wahr. Nachdem wir hiermit eine wichtige Facette der semantischen Kompetenz illustriert, die Notwendigkeit einer Verbindung von Sinn- und Referenzsemantik begründet und die Form ihrer Realisierung durch Spezifikation der Wahrheitsbedingungen skizziert haben, ist ein weiteres Resümee zu ziehen: Die Kompositionalität der „Bedeutung" von Sätzen bzw. Äußerungen von Sätzen ist im Vergleich zu 3.5.3. oben noch auf eine weitere Dimension auszudehnen. Als sprachliches Gebilde ist ein Satz kompositionell aufgebaut aus grammatischen Einheiten — dies reflektiert das syntaktische Kompositionsprinzip. Das semantische Kompositionsprinzip aber erstreckt sich nun auf zwei Bereiche: Der Sinn eines Satzes ist kompositionell aufgebaut aus den Sinnen seiner Bestandteile, das dem Satz via Sinn zugeordnete Denotat ist seinerseits „aufgebaut" aus den Denotaten der Bestandteile des Satzes. Wir haben für die Beschreibung dieses Zusammenhangs dann die Formel eingeführt: Die Wahrheitsbedingungen eines Satzes sind kompositionell zusammengesetzt aus den Wahrheits- bzw. Identifizierungsbedingungen seiner sinntragenden Bestandteile, und ebenso: der Wahrheitswert eines Äußerungsvorkommens eines Satzes ist kompositionell zusammengesetzt aus den Wahrheitswerten bzw. Erfüllungen, die durch den Kontext geliefert werden. Die Berücksichtigung dieser so formulierten dreifachen Kompositionalität bei der semantischen Explikation ist — in Anlehnung an die von FREGE um die Jahrhundertwende vorgetragenen Grundideen — in die Literatur unter dem Namen „FREGE'S principle" eingegangen (vgl. hierzu van EMDE BOAS/JANSEN ( 1 9 7 9 ) ) . Wir können das genannte Prinzip im Sinne der in 2.2. angeführten Verweishinsichten auch so umformulieren: Es gilt, bei der Beschreibung der „Bedeutung" eines Satzes s in L die Kompositionalität seines sprachinternen Systembezugs mit der seines Begriffsbezugs und mit der seines potentiellen Sachbezugs zu korrelieren. Daß diese Korrelation im wesentlichen das Verstehen eines Satzes ausmacht, ist ein Indiz für die „innere Logik" der Sprache. Tatsächlich haben sich die von der Logik (als Disziplin) entwickelten Ausdrucksysteme herausgebildet als Abstraktionen aus der natürlichen Sprache mit dem (nicht immer so formulierten) Ziel, die Kompositionalität von Systembezug, Begriffsbezug und Sachbezug in möglichst reduzierter und genereller Form zu rekonstruieren. Daß dabei — zumindest in den kalkülisierten Systemen der symbolischen Logik — der Begriffsbezug eines Ausdrucks reduziert ist auf die Eigenschaft „Träger eines Wahrheits-
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werts" zu sein und sein Sachbezug auf die Eigenschaft „wahr bzw. falsch bezüglich eines Modells" macht nur die Art und den Grad der Abstraktion deutlich. Zugleich ist dies aber die Voraussetzung, den Systembezug der Ausdrücke im Hinblick auf Ausdrucksbildung und Ausdrucksinterpretation ganz parallel zu spezifizieren: logische Syntax und logische Semantik sind mit gewissen Zusatzbedingungen kompositioneil isomorph. Wegen des parallelen Aufbaues von Syntax und Semantik sind logische Systeme so gesehen der Idealfall einer Sprache. Insofern bietet es sich geradezu an, Logiksysteme zu benutzen als Beschreibungsmittel für die linguistische Semantik, d. h. als Mittel, die genannte dreifache Kompositionalität der Verweishinsichten sprachlicher Ausdrücke in geeigneter Form zu repräsentieren. Daher resultiert das Konzept der ,logischen Form eines Satzes'. Die Repräsentation eines Satzes s bezüglich seiner logischen Form ist zunächst nichts weiter als die Übersetzung des Satzes in die Sprache eines bestimmten Kalküls. Der so gewonnene logische Ausdruck macht die logische Struktur des Satzes s in dem Ausmaß sichtbar, wie das das Ausdrucksrepertoire des betreffenden Kalküls gestattet. Die logische Form von Sätzen aber, die wir für Repräsentationszwecke innerhalb der Bedeutungsexplikation im Rahmen der linguistischen Semantik suchen, ist an eine Vielzahl von Bedingungen gebunden. Logische Ausdruckssysteme sind (trotz der genetischen Verwandtschaft mit der natürlichen Sprache) gemäß der oben genannten Zielstellung unabhängig, d. h. ohne den für die Linguistik konstitutiven Rekurs auf die natürliche Sprache, ausgearbeitet worden. Die auf dieser Grundlage bildbaren logischen Formen von Sätzen und die durch sie explizierten logischen Strukturen sind also nicht ohne weiteres in die linguistische Beschreibung zu übernehmen. Wir werden im folgenden schrittweise eine Reihe von Forderungen bzw. Kriterien aufstellen, denen das Konzept .logische Form eines Satzes' und seine deskriptive Realisierung genügen müssen, um für die Bedeutungsexplikation dienlich und in die linguistische Semantik integrierbar zu sein. 4.4. Die zu Ende von 3.5. oben gegebene Charakterisierung der logischen Struktur eines Satzes können wir nun so präzisieren: Die logische Struktur eines Satzes ist die Kompositionalität seiner Wahrheitsbedingungen in systematisierter Form — relativiert auf eine bestimmte Abstraktionsebene. Deskriptiv darstellbar ist die logische Struktur eines Satzes nur durch eine entsprechende Logiksprache, die den Satz 5 als logische Form von s repräsentiert. Die Ausdrucks- und Interpretationsmöglichkeiten der verwendeten Logiksprache legen dann fest, wie abstrakt, d. h. wie weit von der sprachlichen Struktur von s abgehoben, die logische Form von s repräsentiert wird. Damit ergibt sich das grundlegende Postulat: (I) Die logische Form eines Satzes muß die Kompositionalität seiner Wahrheitsbedingungen spezifizieren.
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Für die Explikation der „Bedeutung" eines Satzes im Sinne der linguistischen Rekonstruktion seiner Verweishinsichten ist dies eine notwendige, keineswegs schon hinreichende Bedingung. Durch (I) wird bei weitem nicht all das abgedeckt, was linguistisch berechtigterweise unter „Bedeutung", d. h. unter semantisch zu explizierende Phänomene fallt. Vielmehr ist (I) in erster Linie aufzufassen als Grundansatz, um dem Erklärungsziel „Wie werden die Sätze von L (semantisch) verstanden?" eine faßbare Kontur zu geben. In diesem Sinne fungiert (I) auch als organisierende Hypothese für die Sortierung von Befunden, ihre Zusammenfassung zu Beschreibungsgegenständen und die Bedingungen ihrer Rekonstruktion in (Fragmenten) eines integrierten Modells von G(L) wie es in 3.5. diskutiert wurde. Um den in (I) genannten Grundansatz in Richtung auf die dreifache Kompositionalität der „Bedeutung" natürlichsprachlicher Ausdrücke zu spezialisieren, sind eine Reihe weiterer Forderungen aufzustellen. (II) Die logische Form eines Satzes ist diejenige Repräsentationsform, die die Sinnrepräsentation und die Referenzrepräsentation des Satzes in einer die spezifische Kompositionalität berücksichtigenden Weise verbindet. Hierher gehört einerseits die Berücksichtigung der Tatsache, daß — wie wir in 3.5. gezeigt haben — bezogen auf den Satz als syntaktisch strukturierten Komplex lexikalischer Einheiten Syntax und Semantik der natürlichen Sprache nicht die gleiche Operationsdomäne haben, also im Unterschied zu Logiksprachen nicht völlig parallel aufgebaut sind. Die logische Form eines Satzes muß daher sowohl die interne Bedeutungsstruktur lexikalischer Einheiten zugänglich machen als auch die in den lexikalischen Einheiten abgedeckten Komplexbildungen reflektieren. Eine Dekomposition der lexikalischen Bedeutungen in deskriptive Konstanten der Logiksprache (etwa nach Art der Marker) ist zwar notwendig, für die linguistische Seite der Analyse ist es aber ebenso erforderlich, daß die durch Lexeme abgedeckten (bzw. abdeckbaren) Kombinationen solcher Elemente ausgezeichnet werden in der als logische Form fungierenden Repräsentation von s. Nur so ist die Rolle der Lexeme als Schaltstelle bzw. Verteilerknoten angemessen wiederzugeben. Andererseits fordert (II) die Berücksichtigung der Tatsache, daß die formale Bewerkstelligung einer Verbindung von Sinn- und Referenzrepräsentation eines Satzes der natürlichen Sprache an die Ausdrucksfahigkeit der dafür vorgesehenen Beschreibungssprache erhebliche Ansprüche stellt. Die von uns im Anschluß an FREGE ,Sinn' und,Referenz' genannten Bedeutungsaspekte sprachlicher Ausdrücke sind in der Logik vermittels der Unterscheidung ,Intension' und ,Extension' approximiert worden, demgemäß werden auch die verschiedenen logischen Ausdruckssysteme in extensionale und intensionale unterteilt, wir werden darauf noch eingehen. Was (II) als Forderung nahelegt, ist, daß als Beschreibungssprache
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für die Repräsentation der logischen Form eines Satzes ein System mindestens von der Ausdrucksfahigkeit einer intensionalen Prädikatenlogik gebraucht wird. Was natürlich nicht heißt, daß für entsprechende Ausschnitte aus dem Bereich semantischer Phänomene nicht auch einfachere Systeme einen — wenigstens heuristischen — Wert als Beschreibungsmittel hätten. Wir werden in 5.2. und 5.3. solche Beispiele diskutieren. Über die Respektierung lexikalischer Einheiten als empirisch vorgegebene Kategorien semantischer Komplexbildung hinaus gilt, daß die Repräsentation der logischen Form eines Satzes die lexikalischen Einheiten auch als syntaktisch kategorisierte Konstituenten erfassen muß, mehr noch, daß die syntaktische Struktur des Satzes insgesamt gegenüber der Repräsentation der logischen Form des Satzes transparent bleiben muß. Dabei umfaßt die Forderung nach Transparenz der syntaktischen Struktur des Satzes einerseits Disambiguierung — ein syntaktisch mehrdeutiger Satz muß entsprechend verschiedene logische Formen erhalten — andererseits Wahrung oder Restituierung ihrer Manifestationsform, die allgemein als .Oberflächenstruktur' des Satzes bezeichnet wird. Daraus folgt : (III) Die Repräsentation der logischen Form eines Satzes von L muß verträglich sein mit der (Oberflächen-)Syntax von L, und zwar auf eine intuitiv wie konstruktiv angemessene Weise. Die hiermit angesprochenen Probleme betreffen die Integration von logischer Syntax und linguistischer Syntax bezüglich der Beschreibung von L. Es gilt, die innerlinguistisch entwickelten und motivierten Kategorien und Regeln der Syntax in ihrem Erklärungsgehalt zu bewahren, mehr noch, sie als Ausdruck linguistischer Generalisierungen zu betrachten, denen die syntaktische Ausdrucksfahigkeit der logischen Beschreibungssprache nach Möglichkeit Rechnung tragen sollte. Zugleich ist die Übersetzung der Oberflächensyntax von L in die Syntax einer Logiksprache, die eine linguistisch interessante Repräsentation der logischen Form der Sätze von L liefern soll, eine Überprüfungsprozedur für die linguistische Syntax in mehrfacher Hinsicht : (a) die darin codifizierten Hypothesen über intuitive Befunde werden einer Konsistenzprüfung unterzogen, (b) die Präzision der Formulierung linguistisch-syntaktischer Regeln wird durch die Übersetzung ebenfalls auf die Probe gestellt, (c) das Inventar linguistisch motivierter syntaktischer Kategorien wird dem Kriterium von Occam's Razor unterzogen. Angesichts des bekannten Variantenreichtums syntaktischer Oberflächenstrukturen, von Sätzen s, s', s" ..., die bezogen auf die von ihnen ausgedrückte Proposition, d. h. als Sinnträger, und damit bezüglich ihrer Wahrheitsbedingungen identisch oder — in schwer zu bestimmender Weise — annähernd identisch sind,
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wie auch angesichts der Vielfalt syntaktischer Oberflächenstrukturen überhaupt, sind die hier anfallenden Probleme immens. (III) ist zu verstehen als Kurzformel für ein komplexes Forschungsprogramm. Jenseits dessen, aber natürlich in unmittelbarem Konnex mit den Forderungen (I)—(III), gilt die Bedingung: (IV) Die Repräsentation der logischen Form eines Satzes von L muß so angelegt sein, daß die dem Satz intuitiv zugeschriebenen semantischen Bewertungen und die aus ihm intuitiv ableitbaren Folgerungen formal gewinnbar sind. Dies betrifft zum einen die in 3.5. oben bereits diskutierten Eigenschaften wie semantische Anomalie, Analytizität, Synthetizität, Widersprüchlichkeit, und Relationen wie Entailment, Präsupposition, Inkonsistenz u. a., die im Rahmen der verwendeten Logiksprache eine Definition erhalten müssen, zum anderen betrifft es die Spezifikation von Folgerungsbegriffen, die nur partiell auf den klassischen logischen Folgerungsbegriff rückführbar sind. Die Interpretation eines Satzes und erst recht die Interpretation einer Äußerung in einem gegebenen Kontext involviert wesentlich mehr als die „bloße" Zuordnung von Sinn und Referenz bzw. von potentiellem und aktuellem Sachbezug. Auch sind die unmittelbar wahrheitsdefiniten Folgerungsbeziehungen, wie wir sie S. 115 f. anhand von (1)—(3) bezüglich jeweils (4)—(7) illustriert haben, nur ein Teil der Interferenzen, die in die Gesamtinterpretation einer Äußerung eingehen. Folgerungen verschiedener Art sind darüber hinaus verbunden mit der Interpretation etwa der Ausdrücke auch und ebenfalls in (2), mit der Interpretation der Oberflächenstruktur im Sinne der Thema-Rhema-Gliederung, mit der Interpretation des per Sinn und Referenz Mitgeteilten in bezug auf seinen Zweck innerhalb der betreffenden Kommunikationssituation usw. Folgerungen dieser Art, die unter der Bezeichnung „lexikalische" oder „pragmatische Präsupposition" (im Unterschied zu „logischer Präsupposition", die wesentlich enger zu fassen ist), Identifizierung von bekannter vs. neuer Information, Implikatur u. a. jeweils ganze Forschungsgebiete kennzeichnen, sind ihrer formalen Struktur nach natürlich den logischen Folgerungen vergleichbar, aber sie beruhen nicht auf derselben Bewertungsinstanz, d. h. nicht auf dem die Verbindung von Sinn und Referenz herstellenden Wahrheitsbegriff. Hier besteht die Aufgabe, die für eine wahrheitsfunktionale Semantik relevanten Folgerungstypen von den anderen zu sondern, für alle mit der Interpretation von Äußerungen zusammenhängenden Arten von Folgerungen aber möglichst eine einheitliche, auf Integrierbarkeit ausgerichtete Behandlung anzustreben. Schließlich ist, da wir von der Vorstellung ausgegangen sind, daß die logische Form eines Satzes die Systematisierung seiner Verweishinsichten darstellen soll, noch ein weiterer Aspekt anzufügen, demgemäß der logischen Form eine wichtige instrumentale und erklärende Funktion zukommt:
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(V) Die Repräsentation der logischen Form eines Satzes muß so angelegt sein, daß sie als Pendant kognitiver Strukturbildungen interpretierbar ist. Damit soll nicht einer Renaissance des Psychologismus in der Logik Vorschub geleistet werden, sondern die Verweishinsicht,Begriffsbezug' soll aus der Perspektive der linguistischen Semantik genauer ins Auge gefaßt werden. Es geht dabei darum, (a) die Elemente und Strukturen der Sinnrepräsentation auf ihre konzeptuellen und perzeptiven Grundlagen und Operationsweisen hin zu interpretieren (also das in 3.5. anhand der Marker-Interpretation als „einigermaßen schillernd" bezeichnete Verhältnis von linguistischer Semantik und Psychologie zu klären); (b) eine Verbindung herzustellen, zwischen dem, was linguistisch im Sinne des potentiellen Sachbezugs zu beschreiben ist, und dem, was die Aktualisierung dieses Sachbezugs in konkreten Äußerungssituationen gewährleistet. Die letztgenannte Verbindung ist herzustellen unter der Annahme, daß die Aktualisierung des Sachbezugs, die Anwendung des Satzsinns auf den Kontext seiner Äußerung, den Aufbau einer kognitiven Repräsentation der Äußerungssituation voraussetzt, auf die wiederum die kognitive Repräsentation, die dem Sinn der Äußerung entspricht, abgebildet wird. Logisch formuliert ist dies der Zusammenhang zwischen den Wahrheitsbedingungen eines Satzes und seinen Verifikationsbedingungen, letztere sind gegeben durch das Modell der Äußerungssituation. Die kognitive Repräsentation der Äußerungssituation liefert somit den Interpretationsbereich, (das Modell) für die ebenfalls kognitive Sinnrepräsentation. Was wir oben durchweg die von der Sinnrepräsentation separat zu haltende Referenzrepräsentation genannt haben, ist in Form eines logischen Konstrukts das, was im Falle einer wahren Äußerung als kognitive Repräsentation der Äußerungssituation aufgebaut wird und dadurch die Äußerung verifiziert. Die Forderung (V) impliziert grundsätzliche Annahmen über die Art und Weise, in der kognitive Repräsentationen aufgebaut werden, sowohl im Falle (a), wo wir immerhin linguistische Einsichten als Regulativ zur Verfügung haben, wenngleich deren psychologische Realität nur in Ansätzen bisher plausibilisiert werden konnte, wie auch im Falle (b), wo Evidenzen in erster Linie aus wahrnehmungspsychologischen * Experimenten zu erwarten sind. Immerhin sind Hinweise erbracht worden, daß auch die perzeptive Identifizierung von Gegenständen bzw. von Konfigurationen von Gegenständen als Sachverhalte, etwa im Satz-BildVergleich, „propositional" funktioniert.
Die logische Form eines Satzes
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Die Forderung (V) läßt bezüglich der Struktur und Operationsweise kognitiver Repräsentationen mehrere, unterschiedlich starke Morphismus-Hypothesen zu: Die starke Version besagt, daß der Aufbau kognitiver Repräsentationen des Sinns von sprachlichen Ausdrücken qua Sprachkompetenz und der Aufbau kognitiver Repräsentationen eines außersprachlichen Situationszusammenhangs qua praktischer Umweltorientierung völlig analog vonstatten gehen und durch einen Homomorphismus auf der Beschreibungsebene korreliert werden können. Die schwächere Version besagt, daß beide Arten von Repräsentationen durchaus unterschiedlichen Prinzipien folgen können, daß sie aber, da sie ja de facto interagieren, bezüglich ihrer Strukturbildungsmuster einen Überschneidungsbereich haben, der mangels anderer Evidenzen auf der Beschreibungsebene als durch einen Homomorphismus konstituiert modelliert werden kann. Für die weitere Detaillierung dieses ein ganzes Forschungsprogramm umfassenden Problemkreises sei auf BIERWISCH (1982) verwiesen. Nachdem wir bisher vor allem ziemlich weitgespannte Forderungen aus linguistischer Sicht an die Realisierung des Konzepts der logischen Form gestellt haben, sei zum Abschluß dieses Katalogs auch daran erinnert, daß .logisch' in diesem Zusammenhang kein schmückendes Attribut ist, sondern daß gilt: (VI) Die Repräsentation der logischen Form eines Satzes muß die Kriterien erfüllen, die an eine Logik (als kalkülisierte Sprache) zu stellen sind. Das heißt, es muß für diese Sprache eine Festlegung des Grundzeicheninventars geben, Regeln zur Bildung und Umformung von Ausdrücken über diesem Grundzeicheninventar, sodann ein Modell (Interpretationsbereich), in bezug auf den Begriffe wie „wahr" „ . . . folgt aus . . ." usw. definiert werden, darauf basierend dann Schlußregeln usw. Die in (I)—(VI) formulierten Grundsätze umreißen das Konzept der logischen Form eines Satzes als Gegenstand der linguistischen Semantik. Sie charakterisieren ein weitläufiges Rahmenprogramm, das in voller Breite gar nicht in Angriff genommen werden kann, sondern nur in sehr fragmentarischen Ausschnitten, die zudem an unterschiedlichen Stellen ansetzen und z. T. ziemlich divergierenden Ausgangsannahmen folgen. Insofern begründet das Thema dieses Beitrags keine irgendwie einheitlich faßbare Forschungsrichtung, sondern es artikuliert bestimmte Grundprobleme der Semantik, in bezug auf die Semantikauffassungen herkömmlicher Art und bestimmte aktuelle Semantikforschungen als Ausarbeitungsversuche bewertet werden können. Wir werden im folgenden Kapitel drei in gewisser Weise repräsentative Konzeptionen über die logische Form eines Satzes in der linguistischen Semantik vorstellen und an (I)—(VI) messen.
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5. Drei Ausfiihrungsvarianten in der Semantik
des Konzepts der logischen Form eines
Satzes
5.1. Die drei hier vorzustellenden Konzeptionen unterscheiden sich nach ihrer Quelle, ihrer Orientierung und Zwecksetzung in wesentlichen Punkten. Dennoch sind sie in (I)—(VI) einzuordnen als Versuche, eine Integration von Logik und linguistischer Semantik vorzunehmen. Die Differenzen zwischen ihnen, etwa bezogen auf die Berücksichtigung des Verhältnisses von linguistischen und logischen Zielsetzungen einerseits wie auch andererseits bezogen auf die jeweils ins Auge gefaßten Phänomene, sind — jenseits eines schmalen Durchschnitts gemeinsam behandelter Konstruktionstypen — so groß, daß sie kaum als direkte Alternativen voneinander gewertet werden können. Realistischer ist da die Auffassung, die drei Konzeptionen als Sondierungen zu betrachten, die an ganz verschiedenen Ecken des durch (I)—(VI) abgesteckten weiten Feldes angesetzt werden. Die ersten beiden Konzeptionen sind linguistisch orientiert. Sie haben sich entwickelt aus der in 3.5.1. erläuterten Grundannahme, daß eine Grammatik G(L) Strukturbeschreibungen von den Sätzen von L erzeugt, die über ein System von Repräsentationsebenen deriviert eine Explikation liefern für die Regularitäten der Laut-Bedeutungs-Zuordnung in L. Im Gefolge der in der GG entstandenen Kontroverse um den Status der syntaktischen Tiefenstruktur' sind die beiden Konzeptionen im Rahmen konkurrierender Modellvorstellungen mit jeweils verschiedener Zwecksetzung zu einem Konzept der ,logischen Form' gelangt. Die dritte Konzeption ist dezidiert logisch orientiert, insofern ist das Konzept der ,logischen Form eines Satzes' hier nicht thematisiertes Beschreibungsz/e/, sondern der eigentliche Ausgangspunkt der Beschreibung. Es versteht sich, daß alle drei Konzeptionen verschieden sind in bezug auf die Annahmen, die sie für das Verhältnis von Sprache und Logik (genetisch), von Grammatik und Logik (gegenstandsbezogen) und von Linguistik und Logik (methodologisch) als vorrangig erachten.
5.2. ,Logische Form' und,Natürliche
Logik' im Sinne der Generativen
Semantik
Die einzelnen linguistischen Motivierungen für dieses — vornehmlich von G. und R . LAKOFF, MCCAWLEY, POSTAL, SEUREN (in einigen Varianten) vorgeschlagenen — Modell sind in PASCH/ZIMMERMANN ( 1 9 8 3 ) sowie in FODOR ( 1 9 7 7 ) detailliert dargestellt worden. Wir können uns somit auf eine knappe Herleitung des Konzepts der .logischen Form' in diesem Modell beschränken, indem wir die ausführlichen Darstellungen voraussetzen. Das Konzept der,logischen Form' ist in diesem Rahmen entstanden als Resultat innerlinguistischer Argumentationen und der in diesem Zusammenhang gemachten
Die logische Form eines Satzes
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„Entdeckung", daß sich logische Notationen als zweckmäßiges Beschreibungsmittel erweisen, wenn man über die Form (einer bestimmten Art von) semantischen Repräsentationen argumentiert. Alle weitergehenden Ambitionen haben sich erst im Verlaufe der Kontroverse zwischen Interpretativer und Generativer Semantik artikuliert. Die Etablierung des Konzepts ist also keineswegs so verlaufen, daß eine der in (I)—(VI) genannten Forderungen als explizite Zielsetzung vorgelegen hätte. Die Beziehung zu (I)—(VI) hat sich erst allmählich und implizit ergeben. Nun kurz die „historische" Herleitung: Aus verschiedenen an das Aspects-Modell anschließenden Analysen ergab sich die Einsicht, daß die ursprünglich angesetzten syntaktischen Kategorisierungen und Strukturbildungen ungeeignet und durch wesentlich komplexere und abstrakter zu fassende P-Marker zu ersetzen sind. Induziert wurde dies durch Faktengruppen, deren syntaktische Beschreibung die Formulierung von Regeln (PMarker-Strukturen) erforderte, die auf semantische Bedingungen rekurrierten — stets unter Aufrechterhaltung der Annahme, daß syntaktische Transformationsregeln „meaning-preserving" sind. Dies führte zunächst zu der These, daß das Konzept einer .syntaktischen Tiefenstruktur' nicht aufrecht zu erhalten sei, sofern ,Tiefenstruktur' zu verstehen sei als eine ausgezeichnete und eigenständige Repräsentationsebene innerhalb des Derivationsmechanismus von G(L). Ein zweiter Argumentationsstrang bestand darin, daß das Inventar syntaktischer Kategorien nicht erweitert wurde — was man angesichts der komplexere Strukturen erfordernden Fakten als Alternative ja erwarten könnte, sondern daß — um Generalisierungen erfassen zu können — der Kategorienbestand reduziert wurde. Das bekannteste Beispiel ist die Zusammenfassung von Verben, Adjektiven (bestimmten Typs) und Präpositionen unter die Kategorie V. Die nötigen Differenzierungen innerhalb der Kategorie V wurden nun durch semantisch zu interpretierende Merkmale angezeigt, die anstelle lexikalischer Einheiten an bestimmten Stellen als Elemente in die syntaktischen P-Marker eingefügt wurden. Dieses Verfahren machte die syntaktische Struktur in P-Marker-Form komplizierter und abstrakter zugleich. Die Hauptlinie dieser Argumentation basierte auf Faktenmaterial (darunter inchoative Verben wie thicken = become thick), dessen Analyse im Rahmen der immer noch syntaktisch orientierten Konzeption es erfordert, die interne Struktur der lexikalischen Einheiten zugänglich zu machen, damit das syntaktische Verhalten der betreffenden Einheiten im gegebenen Rahmen in generalisierter Form beschreibbar war. Dies verdichtete sich dann zu der These, daß die wesentlichen Aspekte der internen Bedeutungsstruktur lexikalischer Einheiten in Termen der Syntax zu erfassen sein. Als heuristische Brücke dienten dabei die bekannten Paraphrasebildungen der Art kill = cause someone to become not alive usw. Aus diesen Erwägungen heraus kam dann der Vorschlag, für John killed Bill eine syntaktische Struktur zu postulieren, die ebensoweit aufgefächert ist wie die
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von John caused Bill to become not alive. Die diesen beiden Sätzen (und verschiedenen möglichen Zwischenversionen) gemeinsam zugrunde liegende syntaktische Struktur enthält dann keine lexikalischen Einheiten mehr als terminale Symbole, sondern „universal semantic elements", die etwa die Bedeutung von kill repräsentieren als CAUSE — BECOME — NOT — ALIVE, verteilt auf die mit ,V' etikettierten Knoten des P-Markers. Von hier aus war es nur noch ein kleiner Schritt, die zugrunde liegenden syntaktischen Strukturen, die jetzt ohnehin mit (den Lexemen allerdings verdächtig ähnlichen!) universellen semantischen Elementen bestückt waren, mit semantischen Repräsentationen zu identifizieren. Daraus erwuchs die programmatische „organizing hypothesis": „The rules of grammer, which generate the grammatical sentences of English, filtering out the ungrammatical sentences, are not distinct from the rules relating the surface forms of English to their corresponding logical forms" (so LAKOFF 1970: 159 und viele ähnliche Versionen anderswo). Daß die so konzipierten zugrunde liegenden semantischen Repräsentationen nun als ,logical forms' ausgewiesen werden, gründet in der von LAKOFF und MCCAWLEY Ende der 60er Jahre mehrfach vorgebrachten Annahme, daß das zum damaligen Zeitpunkt für die Formulierung syntaktisch-semantischer Repräsentationen übliche Kategorieninventar {S, NP, VP, CONJ — sowie die als ,contentives' zusammengefaßten N, V, A) „matches in almost one-to-one fashion the categories of symbolic logic" (MCCAWLEY 1970: 138). Alle anschließenden Elaborierungen des Konzepts der,logical form' sind eingepaßt in die Argumentationen, die Evidenzen für die Rechtfertigung der oben genannten organisierenden Hypothese' liefern sollten. Dabei hat sich das auf einen relativ eng umschriebenen Fakten- und Problemkreis begründete Konzept als heuristisch fruchtbar erwiesen, zumal sich seine Anwendbarkeit auf Fakten, die traditionell von logischem Interesse sind (etwa Quantorenskopus, Koreferenz, deflnite Beschreibungen, de re vs. de dictoLesungen, Negationsverhalten usw.), in der Folge zu bestätigen schien. Auf dieser Basis hat LAKOFF (1970) dann, unter geschickter Resümierung vieler unter diesem Blickwinkel einschlägiger Beobachtungen, die .Natürliche Logik' als umfassendes Forschungskonzept postuliert. Man muß die Herkunftsbedingungen dieses Begriffs von ,logical form' berücksichtigen, wenn man nun retrospektiv die ganze Konzeption an den Forderungen (I)—(VI) messen will. Zu berücksichtigen ist dabei ebenso, daß der in diesem Modellrahmen tatsächlich diskutierte Bereich von linguistischen Fakten wie auch der im Detail behandelte Ausschnitt des Gesamtmechanismus von G(L) ziemlich begrenzt sind, wiewohl in diesem Zusammenhang eine Fülle von Phänomenen und Problemstellungen erstmals in der Linguistik in den Blick geraten sind. Insgesamt ist diese Konzeption charakterisierbar als Versuch, (a) die semantischen Repräsentationen von Sätzen in G(L) in möglichst enger
Die logische Form eines Satzes
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Anlehnung an die Notationsweise der Prädikatenlogik zu formulieren = .logical form' (b) Form und Funktion solcher Repräsentationen zu rechtfertigen im Hinblick auf den empirisch motivierten, d. h. aus linguistischen Befunden abgeleiteten, Aufbau einer Logik, „whose goals are to express all concepts capable of being expressed in natural language, to characterize all valid inferences that can be made in natural language, and to mesh with adequate linguistic descriptions of all natural languages." = ,Natural Logic' (LAKOFF 1970: 151). Trotz gelegentlicher Hinweise auf Wahrheitsbedingungen werden solche als das, was die .logical form' im Sinne der Forderung (I) zu spezifizieren hätte, nicht thematisiert, geschweige denn deskriptiv ausgeführt. Ähnliches gilt in bezug auf (II): Obwohl LAKOFF gelegentlich auf die Notwendigkeit verweist, Indices für Sprechzeit, Ort, vor allem für Sprecher und Hörer (/, you) im Zusammenhang mit der Performativhypothese (vgl. dazu VIEHWEGER 1982) in die semantische Repräsentation zu integrieren — eine Referenzsemantik wird de facto nicht ausgearbeitet. Da insgesamt die Verwendung des Ausdrucks,Natural Logic' unbestimmt bleibt in der Hinsicht, ob damit eine Disziplin, eine Menge von Problemstellungen, eine Theorie oder ein Kalkül gemeint ist — wie DAHL (1973) und andere Autoren kritisiert haben —, somit Forderung (VI) gar nicht ernsthaft in Betracht gezogen wird, können wir uns beschränken auf das, was die .logical form' leistet bezüglich (III)—(IV), die ja in (b) oben immerhin anklingen. Die Angleichung des Verfahrens zur Repräsentation .logischer Formen' an die Prädikatenlogik umfaßt im wesentlichen folgende Punkte: 1. Kategorieninventar und seine Deutung Die in den syntaktischen bzw. syntaktosemantischen Baumstrukturen als Knotenetikettierung fungierenden Kategorien werden reduziert auf S, NP, VP, was den prädikatenlogischen Ausdruckstypen Satzformel, Individuenterm, Prädikatsterm entspricht. Als Endsymbole treten unter NP-Knoten sog. Indices auf, die als Individuenvariablen (JC, y, z) bzw. Individuenkonstante (a, b, c) gedeutet werden. Als Endsymbole unter V-Knoten treten universelle semantische Elemente auf, die als ein- bzw. mehrstellige Prädikate gedeutet werden. Die Kategorie V enthält (in dieser Prädikatform codiert) traditionell als sehr verschieden angesehene Kategorien wie Verben (DO, BECOME, BELIEVE, PERMIT), Adjektive (ALIVE, SAD, SIMILAR), Konjunktionen (AND, OR, NEITHER-NOR), Präpositionen (IN, TO), Negation (NOT), Quantoren (ALL, SOME, MANY, FEW).
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Die Prädikate werden unterteilt nach Stellenzahl und Art ihrer Argumente, so verlangt ALIVE einen Individuenterm, SIMILAR zwei Individuenterme, BELIVE und PERMIT einen Individuenterm und eine Satzformel, AND zwei Satzformeln usw. Die Endkette eines durch S dominierten Baumabschnitts wird als Proposition gedeutet, bei rekurrierendem S repräsentiert der Baum folglich komplexe Propositionen. 2. Ausdrucksbildung und -Interpretation Die Baumstrukturen, die ,logische Formen' repräsentieren, werden nicht durch Phrasenstruktur-Erzeugungsregeln (,rewriting rules') bestimmt, sondern durch Knotenzulässigkeitsbedingungen, die festlegen, was zulässige, d. h. interpretierbare Konfigurationen sind. Dies entspricht weitgehend der logisch-syntaktischen Ausdrucksbestimmung. Der wichtigste Unterschied zur üblichen prädikatenlogischen Notation ist der, daß die ,logical forms' als Baumstrukturen repräsentiert werden. Dies ist erforderlich, weil die linguistisch motivierten Transformationsregeln, die zwischen den zugrunde liegenden ,logical forms' und den Oberflächenstrukturen vermitteln, so formuliert sind, daß sie auf Knotenetiketten (S, NP, V) und Konstituenzbeziehungen (Dominanz, ,command', /-ter Zyklus) Bezug nehmen. Eine durch S dominierte Struktur ist ferner so aufgebaut, daß durch V (NP", n = 1, 2, 3, ...) gebildete Operator-Operand-Strukturen bestimmt sind, die für die Behandlung von Skopusproblemen günstig sind. Die Knotenetiketten S, NP, V und die Baumstruktur-Repräsentation sind die Anschlußstücke, die die ,logical forms' an die grammatische Strukturbeschreibung anschließen sollen. Die darauf operierenden strukturbildenden Regeln sind ein funktionales Pendant zu den prädikatenlogischen Umformungs- bzw. Äquivalenzregeln. Der wichtige Unterschied aber ist, daß die linguistisch motivierten Umformungsregeln wie Prädikatshebung, Equi-NP-Tilgung, Psych-Movement, Quantoren-Senkung usw. als ,meaning preserving' Operationen über Prädikatcnkonstantcn definiert sind. Auf dieser Basis gibt es dann eine Reihe weiterer, nur linguistisch motivierter Beschränkungen der Strukturbildung, die sog. Derivationsbeschränkungen, die kein Pendant in der Prädikatenlogik besitzen. Fragen wir nun, was das für die linguistische Semantik einbringt. Offensichtlich wird hierdurch ein Überschneidungsbereich von syntaktischer und semantischer Kompositionalität erfaßt — das ist durch die Anlage des gesamten Apparats garantiert. Die oben zitierte .organisierende Hypothese', die ja gegen eine Konzeption der .Autonomen Syntax' ins Feld geführt wurde, postuliert einen parallelen,
Die logische Form eines Satzes
129
in bezug auf die Operationsdomäne sogar identischen Aufbau von Syntax und Semantik. Was dabei aber in den tatsächlichen Analysen vorgestellt wurde, betrifft genau den in 3.5. gekennzeichneten Bereich, in dem das semantische Kompositionsprinzip unterhalb der Schwelle der lexikalischen Einheiten operiert. Erfaßt wird dieser Bereich durch einfache Ausdehnung des syntaktischen Kompositionsprinzips „nach unten", was wiederum nur plausibel ist, wenn man den Kategorienbestand und die Strukturbildungsmöglichkeiten der Syntax drastisch reduziert auf das, was sich mit gewisser Plausibilität auch auf die interne lexikalische Struktur von lexikalischen Einheiten übertragen läßt. Das wesentliche Resultat dieser Konzeption besteht somit darin, in dem durch die prälexikalischen Transformationen und den entsprechenden Lexikoneintragungsvorschlägen erfaßten Bereich von Phänomen die Überschneidung von syntaktischen und semantischen Kompositionsprinzipien mindestens in aufschlußreicher Weise demonstriert zu haben. Die gravierenden Mängel in bezug auf (III) bestehen darin, daß (a) der Anschluß an die sog. postlexikalische Syntax, d. h. die Interpretation der ,logical forms' nach Anwendung der prälexikalischen Regeln und der Lexikoneinsetzung, völlig offen bleiben — von wenigen Andeutungen abgesehen, und daß (b) die an der prädikatenlogischen Notation orientierte Repräsentationsform so arm ist, daß — wie P A S C H / Z I M M E R M A N N lakonisch vermerken — „die linguistisch interessante Syntax weitgehend abhanden gekommen ist". Werfen wir noch einen Blick auf Forderung (IV) und die in bezug auf die,Natural Logic' postulierte Forderung, daß diese Logik alle in einer natürlichen Sprache ausdrückbaren Konzepte (Begriffe) und deduzierbaren gültigen Inferenzen spezifizieren müsse, vgl. das Zitat in (b) oben. Beide Aspekte werden innerhalb der hier diskutierten Konzeption behandelt in bezug auf die zwischen den ,universal semantic elements' bestehenden Kombinations- und Implikationsbeziehungen. Zum ersten Punkt werden einige sehr interessante Vorschläge gemacht hinsichtlich der Bedingungen, die ein in L mögliches von einem in L nicht möglichen Lexem differenzieren. Im Rahmen der dazu geführten Argumentation wird behauptet, daß unmögliche Lexeme z. B. dadurch zu charakterisieren seien, daß die Kollektionierung ihrer als Baumstruktur repräsentierten Konfiguration von semantischen Elementen zu einem Komplex, dem ein Lexem zuzuordnen ist, die Anwendung von prälexikalischen Regeln erforderlich machte, die bestimmte generelle syntaktische Beschränkungen verletzen würde. Als Instanzen -werden dabei die berühmten von Ross formulierten ,Constraints on Variables in Syntax' benutzt — die aber auf eine oberflächennahe Syntax zugeschnitten sind. So etwa die Beschränkung, daß die Konjunkte einer koordinativen Struktur nicht durch syntaktische Tranformationsregeln aus dem ,command'-Bereich dieser Struktur herausbewegt werden dürfen, also John drank beer and whisky *It was whisky John drank beer andj *It was beer and John drank whisky. 9
Viehweger, Semantikforschung
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Die Generativen Semantiker analogisieren dies auf die Ebene ihrer ,logical forms' und postulieren daher die Unmöglichkeit eines Verbs *brink = DRINK BEER AND, demzufolge *John brank whisky = John drank beer and whisky eine echte Paraphrase wäre. Die damit angeregte Diskussion über die Strukturbedingungen der lexikalischen Bedeutung hat viele wichtige Aspekte eröffnet, auch wenn die so formulierte Hypothese insgesamt empirisch wie methodologisch auf ziemlich schwachen Beinen steht. Die Inferenzaspekte werden durch Postulierung von Entailment-Beziehungen über semantischen Elementen (Prädikatenkonstanteq) anvisiert. Die Folgerung von Peter öffnet die Tür auf Die Tür ist offen oder auf Peter läßt die Tür nicht zu wird geregelt durch Postulate wie CAUSE (x, t0 (COME ABOUT (OPEN (y, tj))) — OPEN 0 , i t ) bzw. CAUSE (x, t0 (COME ABOUT (OPEN (y, tj))) CAUSE (x, t0 (NOT REMAIN (NOT OPEN (y, t,)))). Wie man sieht, sind solche Postulate wieder stark angelehnt an die Paraphrasierungsmöglichkeiten auf der Oberflächenstruktur. Das macht ihre ad hoc einsichtige Plausibilität aus, die aber darf nicht verwechselt werden mit theoretischer Aussagefähigkeit für die zu erklärenden und in logischer Form zu fassenden Sinnrelationen zwischen den lexikalischen Einheiten von L. Ohne Rekurs auf die in (V) und (VI) genannten Forderungen sind solche Bedeutungspostulate — wie übrigens die gesamte hier vorgestellte Konzeption — bestenfalls eine Art organisierender Hypothese für die Gewinnung und Anordnung semantisch relevanter Beobachtungsdaten .13
5.3. Die logische Form als Repräsentationsmittel in der Interpretativen Semantik (am Beispiel der Skopusbildung von Operatoren) Diese Konzeption von,logischer Form eines Satzes' ist in ihrer Reichweite wesentlich begrenzter und in ihrer Ausführung wesentlich präziser als die in 5.2. diskutierte, was sich so eingrenzen läßt: (1) Als logische Form wird hier nur eine spezifische Repräsentationsstufe innerhalb einer Hierarchie von linguistisch unabhängig motivierten Repräsentationsebenen angesehen, die einem genau abgezirkelten Darstellungszweck genügen soll. (2) Dieser Zweck, nämlich die Darstellung der Skopusbildung von Operatorausdrücken, ist ohnehin sowohl bezogen auf die dort zu repräsentierenden Aus13
Eine gute zusammenfassende kritische Darstellung gibt MCCAWLEY (1981) in seinem auf linguistische Bedürfnisse zugeschnittenen Einführungsbuch in die formale Logik.
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Die logische Form eines Satzes
druckstypen wie auch auf die darzustellenden Relationen ein traditionell logisch relevanter Bereich. (3) Die dafür verwendete Beschreibungssprache ist eine Logik im Sinne von (VI), d. h. ein abgeschlossener, unabhängig konstruierter Kalkül. Die Integration in die linguistisch motivierten Repräsentationszusammenhänge erfolgt nicht durch Modifikation oder Uminterpretation des Kalküls, sondern durch geeignete Adaptierung der linguistischen Anschlußstücke. Zuerst ein paar Bemerkungen zu ,Skopusbildung' und .Operatorausdrücken'. „Skopus" ist ein aus der symbolischen Logik entlehnter Begriff, der definiert ist als Geltungsbereich eines Operators innerhalb des ihm als Operationsdomäne zugeordneten (komplexen) Ausdrucks'. Interessant werden Skopusbetrachtungen erst dann, wenn innerhalb einer Formel zwei oder mehr Operatoren sich in dieselbe Operationsdomäne teilen. Bei einem Ausdruck etwa folgender Art ~ Vx 3y [P(x) .—• Q(y)] mit drei Operatoren gilt die Festlegung: „der 3-Operator steht im Skopus des V-Operators, beide stehen im Skopus des Negationsoperators" oder auch „der 3-Operator hat den engsten, der Negationsoperator den weitesten Skopus, der V-Operator einen weiteren als der 3-Operator, aber einen engeren als der Negationsoperator". Die Skopusweite eines Operators relativ zu anderen Operatoren bemißt sich syntaktisch an der links-rechts-Abfolge ihres Auftretens in einer Formel. Sind die Operatoren nicht „gleichnamig", wie etwa Vx Vy [P(x) - Q(y)] = Vy Vx [P(x) - Q(y)] dann ist mit verschiedenem Skopus auch eine verschiedene Semantik verbunden. Ein Ausdruck wie 3yVx ~ [P(x) —* Q(y)] ist mit dem eingangs genannten also weder syntaktisch noch semantisch, d. h. bezüglich seiner Wahrheitsbedingungen, äquivalent. Die Verhältnisse in der natürlichen Sprache liegen etwas komplizierter, hier ist die Skopusdetermination eines Operatorausdrucks nicht allein durch seine syntaktische Position bedingt, sondern durch eine Reihe weiterer Faktoren, was zur Folge hat, daß syntaktisch nicht ambige Strukturen mehrere semantische Interpretationen haben können. Betrachten wir ein Beispiel. Logische Ausdrücke wie (a) und (b): (a) ~ Vx [K(x)
G(x)] ;
(b) Vx ~ [K(x) -> G(x)]
sind in der gegebenen Operatorabfolge syntaktisch und semantisch eindeutig in sich und klar verschieden voneinander. Wenn wir (a) und (b) aber mit natürlichsprachigen Sätzen belegen und dabei dieselbe Abfolge der Operatorausdrücke einhalten, so ergibt sich: (i) Nicht alle Kinder sind geimpft ist eindeutig, es hat die 9*
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Operatorabfolge wie (a) und eine semantische Interpretation wie (a). (ii) Alle Kinder sind nicht geimpft ist mehrdeutig, es hat eine Operatorabfolge wie (b) und eine semantische Interpretation wie (b), aber auch eine wie (a). Das heißt, trotz der Abfolge Alle . . . nicht . . . in (ii) gibt es für (ii) eine Interpretation, die auf ein Skopusverhältnis wie in (a), nämlich ~ Vx zu beziehen ist, in der zweiten Interpretation von (ii) sind wie bei (i) Oberflächenreihenfolge der Operatorausdrücke und Skopusverhältnis ihrer logischen Pendants ganz parallel. Linguistisch ist daraus zu folgern: Oberflächenabfolge von Operatorausdrücken und semantisches Skopusverhältnis können, müssen aber nicht parallel liegen. Im Falle von Mehrdeutigkeit ist die parallele Version die Basis für die präferente Interpretation des Satzes, bei (ii) ist die Interpretation (b) präferent. Die Interpretation, die weniger präferent ist, also nicht auf der genannten Parallelität fußt, bedarf gewöhnlich zusätzlicher Indikatoren, im Falle (ii) in der Interpretation (a) ist dies z. B. die Akzentkontur Alle Kinder sind nicht geimpft. Andere, die potentielle Mehrdeutigkeit einschränkende Faktoren sind an die im Lexikon zu vermerkenden idiosynkratischen Eigenschaften eines Operatorausdrucks gebunden. Operatorausdrücke in diesem Sinne sind außer der Negation nicht (und eventuell kaum, keinesfalls, mitnichten) und den Quantorenausdrücken {alle, einige, mehrere, viele, wenige, keine) u. a. auch Modalverben (können, müssen, dürfen), Partikel {nur, auch), Satzadverbiale {möglicherweise, wahrscheinlich, leider) und Adverbien wie jeweils, insgesamt, gegenseitig usw. Die Operatorausdrücke in einem Satz interagieren bezüglich ihrer syntaktischen und semantischen Kombinier- und Interpretierbarkeit nicht nur miteinander, sondern auch mit dem Tempus, der Definitheit bzw. Indefinitheit von NP, der Eigenschaft „specific" — „non-speciflc" usw. Dieser gesamte, äußerst komplizierte Zusammenhang wurde unter dem Gesichtspunkt der Skopusbildung — die zweifellos ein semantisch zu beschreibendes Phänomen ist — in Angriff genommen durch ein Konzept von .logischer Form', das einzig dazu dient, eindeutige Repräsentationen von logisch möglichen Operatorkombinationen zu bilden, d. h. Skopusverhältnisse in einer Idealform vorzugeben, um dann auf die bezogen die linguistisch motivierten Interpretationseinschränkungen zu formulieren. Repräsentativ für diese Verfahrensweise ist die Arbeit von KROCH (1974), die wir hier zugrunde legen. Skopusverhältnisse werden dieser Auffassung nach in G{L) am günstigsten beschrieben in einer Skopus-Komponente, die eingepaßt ist in den Modellaufbau einer Grammatik im Sinne der Erweiterten Standardtheorie wie sie auf LASNIK, JACKENDOFF und jüngste Arbeiten von CHOMSKY (1975 und spätere) bezogen konzipiert ist (vgl. dazu PASCH/ZIMMERMANN, Abschnitt 4.3.). Die Einrichtung einer solchen Komponente beruht auf drei Annahmen: (1) Die Oberflächenreihenfolge der Operatorausdrücke ist für die Interpretation ihrer Skopusverhältnisse zwar kein hinreichendes, aber doch ein wichtiges
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Indiz, weil sie im Falle paralleler Interpretation — wie (i) zu (a) und (ii) zu (b) — die präferente, somit unmarkierte Interpretation (Lesung) liefert. (2) Die Prädikatenlogik 1. Stufe ist ein hinreichend ausdrucksfahiges Mittel, um mit ,3', ,V\ also dem Negations-, Existenz- und Alloperator (wir beschränken uns hier auf diese) Skopusrepräsentationen anzugeben, die für Sätze mit Kombinationen von Operatorausdrücken aus not (für ,~')» all, every, each, any u. a. (für ,V) und a, some, one (für ,3') eine Grundinterpretation zu geben, die für alle weiteren (weniger präferenten oder ausgeschlossenen) Interpretationen die Basis bildet. (3) Das Skopusverhalten der Operatorausdrücke in einer natürlichen Sprache läßt sich am besten beschreiben, wenn man von einer grundsätzlichen, die Kombinatorik voll ausschöpfenden Mehrdeutigkeit ausgeht, und dann den Spielraum der Interpretationen nach syntaktischen und lexikalischen Präferenzbedingungen systematisch einschränkt. Die Skopuskomponente leistet dies durch dreierlei Vorrichtungen (,devices'):' (A) Ein obligatorisch anzuwendendes Skopusprinzip ordnet syntaktischen Oberflächenstrukturen bezüglich ihrer Operatorausdrücke einen die Oberflächenabfolge direkt spiegelnden Skopusmarker zu. (B) Auf diesem Skopusmarker können dann fakultativ Skopusausgleichsregeln operieren, die die Ausgangsstruktur nach kontextsensitiven Permutationsregeln umarrangieren. (C) Eine Menge von als Filter fungierenden Output Conditions spezifiziert die nach (A) und (B) bestimmten Skopusmarker nach der Unzulässigkeit bzw. dem Präferenzgrad der ihnen zuzuordnenden Interpretationen. (B) und (C) nehmen Bezug auf den Oberflächenkontext der betreffenden Operatorausdrücke sowie auf bestimmte Lexem-gebundene Merkmale des Skopusverhaltens. Mit den gebotenen Vereinfachungen können wir das Operieren der Skopuskomponente so illustrieren: (S) Every Student didw'f solve some of the problems Dieser Satz enthält drei Operatorausdrücke und ist gemäß (3) entsprechend 2 x 3 = sechsdeutig. Von diesen sechs möglichen Interpretationen sind im Englischen aber nur vier nachweisbar, und die sind verschieden natürlich, bilden also eine Präferenzordnung. Betrachten wir nun, wie die Skopuskomponente diese Fakten expliziert. Der Übersichtlichkeit wegen, wiederholen wir S und notierea darunter die sechs möglichen Skopusmarker und kommentieren, wie sie sortiert und bewertet werden als Repräsentationen für Lesungen von S. (S) Every Student didn't solve some of the problems (a) (V) (b) (V)
(3) (3)
134 (C)
(d)
E. Lang (~) (~)
(e) ( 3 )
(0 (3)
(V) (3) (V)
(3) (V) (~) (V)
Das Skopusprinzip (A) ordnet S zunächst obligatorisch den Skopusmarker (a) zu, was jedoch einer Interpretation entspricht „jeder Student hat kein Problem gelöst", die S nicht hat. (a) für S muß somit als Interpretationsträger aussortiert werden. Dies erledigt eine auf die Spezifik von some im Skopus von not rekurrierende Out-Put-Condition aus (C). Dieselbe Bedingung filtert auch (d) aus, was einer Interpretation entspräche „es gibt kein Problem, das jeder Student gelöst hat", die S ebenfalls nicht hat. Die Skopusausgleichsregeln (B) leiten aus (a) den Skopusmarker (b) für S ab mit der präferenten Interpretation „Jeder Student hat einige der Probleme nicht gelöst", ferner (c) mit der weniger präferenten Interpretation „nicht alle Studenten haben einige der Probleme gelöst". Mit weiteren Gradabstufungen dann auch (e) mit der Lesung „es gibt einige Probleme, die alle Studenten nicht gelöst haben" und (f) mit „es gibt einige Probleme, die nicht alle Studenten gelöst haben". Das Bemerkenswerte an dieser Konzeption von ,logischer Form' ist, daß sie zunächst einmal als Instrument dient, um einen notorisch diffusen und an sehr subtile intuitive Urteile appellierenden Faktenbereich mit Rigidität auf ein bestimmtes Verfahrensschema zu bringen, das einen logisch möglichen Spielraum determiniert, der dann durch empirische Bedingungen systematisch eingeschränkt wird. Soweit es das abgegrenzte Problem der Skopusverhältnisse betrifft, werden hierdurch ernsthafte Beiträge geleistet zur Differenzierung der Kompositionalität, insbesondere zur Präzisierung der Annahme, daß das syntaktische und das semantische Kompositionsprinzip oberhalb der Domäne der lexikalischen Einheiten im wesentlichen parallel funktionieren. Die Einpassung dieser Repräsentationsebene und der Skopuskomponente überhaupt sind ein Tribut an die Forderung (III). (I) und (II) werden indes nur soweit berücksichtigt, wie die Prädikatenlogik dies für die klassischen Operatoren tut. Andererseits hat KROCH mit Hilfe seiner Analysemethode eine beachtliche Menge von idiosynkratischen oder gruppenbildenden Skopuseigenschaften für englische Operatorlexeme gefunden, die eine empirische Grundlage bieten könnten, eine motivierte Kalkülerweiterung zu erwägen, die dann auch den Forderungen (I) und (II) weiter entgegenkommen könnte. Erwähnenswert ist als Nebenprodukt ein Hinweis auf die unter (V) vermerkten Aspekte — logische Form als Pendant zu kognitiven Strukturbildungen: Wenngleich nicht explizit thematisiert, kommt die psychologische Relevanz bestimmter Festlegungen dennoch zum Vorschein: Allein die unter (1) oben gemachte An-
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nähme, daß die für Oberflächenabfolge und Skopusverhältnis parallel laufende Interpretation die unmarkierte (im Prinzip!) ist, bringt perzeptionspsychologische Beobachtungen in den Status von Argumenten. Ähnliches wäre zu sagen in bezug auf gruppenbildende Skopuseigenschaften, die Operatorlexeme aufweisen. 5.4. Logische Form eines Satzes als primäres Repräsentationsmittel im Sinne der modelltheoretischen Semantik Hier ist die Ausgangssituation, aus der sich die Konzeption der Verbindung von Logik und Linguistik angebahnt hat, eine völlig andere als in 5.2. und 5.3. Die unter dem Namen,modelltheoretische Semantik' zusammengefaßten Theorien haben ihren Ursprung und ihre Zielsetzung aus der Logik abgeleitet. Die theoretischen Grundlagen der entsprechenden Logiksysteme sind aus innerlogischen, unabhängigen Problemstellungen entwickelt worden. Ihre Hinwendung zur bzw. ihre Anwendung auf die natürliche Sprache erwuchs aus einem „philosophic interest in attempting to analyze ordinary English; and ordinary English is an adequate vehicle for philosophy." (MONTAGUE 1974: 186) Das damit motivierte Programm des Logikers, Sprachphilosophen und Mathematikers Richard MONTAGUE (1930—1971) verdichtete sich in seinen folgenden Arbeiten zu der (berühmt gewordenen) These: „There is in my opinion no theoretical difference between natural languages and the artificial languages of logicians; indeed, I consider it possible to comprehend the syntax and semantics of both kinds of languages within a single mathematically precise theory." (MONTAGUE 1974: 222). Und gleich darauf heißt es konkreter: „Very extensive portions of natural languages can . . . be adequately interpreted by way of translation into (das von ihm vorgeschlagene — E. L.) system of intensional logic." Die angeführten Zitate können gleich Protest hervorrufen, von beiden Seiten, und sie sind in der Tat anhaltend im Zentrum heftiger Auseinandersetzungen, vor allem unter Sprachphilosophen und Linguisten. Wir können uns aber — ohne die grundlegende philosophische Problematik zu leugnen oder zu schmälern — angesichts der unter linguistischen Gesichtspunkten aufgestellten Forderungen (I)—(VI) und den in den Abschnitten 2. und 3. diskutierten Semantikauffassungen auf den letzten Satz des dritten Zitats konzentrieren, indem wir die Position einnehmen, daß uns die hier vorgeschlagene Logik lediglich interessiert in dem Maße, wie sie als Instrument der Beschreibung der in 2.2. diskutierten Verweishinsichten sprachlicher Ausdrücke eingesetzt werden kann. Wir stehen damit vor der Situation, ein Konzept von .logischer Form eines Satzes' vorzustellen, bei dem die Logik vorgegeben ist, somit (I) und (VI) von vornherein erfüllt sind, nun aber diese Logik auf den Anwendungsfall (II) bezogen wird, und für linguistische Zwecke, die Punkte (III)—(V) das eigentliche Bewährungsfeld abgeben.
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Die Intensionale Logik als Mittel der Sprachbeschreibung wurde außer von von LEWIS ( 1 9 7 0 ) und CRESSWELL ( 1 9 7 3 ) in verschiedenen Versionen ausgearbeitet. Die drei (und einige Subtypen) sind zusammengefaßt als .modelltheoretische Semantik' ein aktueller Forschungszweig, der zunehmend in die genuin linguistische Forschung hineinwächst. Die Intensionale Typenlogik MONTAGUES auch nur in groben Umrissen vorzustellen erforderte einen kaum vertretbaren Aufwand an Platz und Typographie. Wir begnügen uns daher mit einer Skizze des Grundaufbaus, die in bezug auf die Forderungen (II)—(V), vor allem hinsichtlich ihrer in Kap. 4 gegebenen Aufgabenstellung, nämlich die dreifache Kompositionalität eines Satzes bezüglich der Verweishinsichten Begriffsbezug und potentieller Sachbezug, bzw. die Korrelation von Sinnsemantik, Referenzsemantik und kognitiver Strukturbildung, einen zumindest ungefähren Eindruck vermittelt. Die Grundüberlegung der modelltheoretischen Semantik ist die, die Sätze der natürlichen Sprache nach einem exakt definierten Verfahren in eine Sprache der Intensionalen Logik (IL) zu übersetzen und sie in dieser Repräsentationsform semantisch zu interpretieren. Den Ausgangspunkt des Übersetzungsvorgangs bilden zwei wichtige Festlegungen: MONTAGUE
(1) Die Lexeme der natürlichen Sprache werden als nicht weiter zerlegbare Einheiten in die Übersetzung übernommen. Davon ausgenommen sind bestimmte Operatorausdrücke, die Kopula, Artikel, sowie logisch „interessante" Ausdrücke wie believe, know,usw. Eine Analyse der lexikalischen Bedeutung und damit der unterhalb des Lexems operierenden semantischen Komposition bleibt somit außer acht. Dies ist eine wesentliche Einschränkung aus linguistischer Sicht. (2) Der Übersetzungsprozeß hat die Oberflächenstruktur natürlich-sprachlicher Sätze weitestgehend zu wahren. Generalisierungen über syntaktischen Strukturzusammenhängen, wie sie in der Transformationsgrammatik angestrebt werden, sind hier kein Beschreibungsziel. Probleme wie kategorielle Homonymie, Mehrdeutigkeit, nicht-rekonstruierbare Tilgungen, die aus linguistischer Sicht eine Festlegung wie (2) unattraktiv machen, werden in der modelltheoretischen Semantik bewältigt durch Inkaufnahme von Komplizierungen der Übersetzung. Hierbei stehen Exaktheit und Explizitheit als Kriterien über Ökonomiegesichtspunkten, seien sie psychologisch oder nur darstellungstechnisch motiviert. Die Intensionale Logik geht in Gegenüberstellung zur Extensionalen Logik auf die von FREGE (1892) getroffene Unterscheidung von Sinn und Bedeutung (in FREGES Terminologie) zurück. Die beiden Logiksysteme unterscheiden sich durch die Entitäten, die sie den in ihnen bildbaren Ausdrücken als Interpretation zu-
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ordnen. In der Extensionalen Logik werden den Ausdrücken als Entitäten zugeordnet: Sätzen — Wahrheitswerte; Individuentermen (Namen, Kennzeichnungen) — Individuen (Objekte); einstelligen Prädikaten — die Klasse der Objekte, auf die das Prädikat zutrifft; «-stelligen Prädikaten — die Klasse Objekt-«-tupel, zwischen denen die durch das n-stellige Prädikat angegebene Beziehung besteht. Die Intensionale Logik hingegen interpretiert die ihren Ausdrücken zugeordneten Extensionen nach „der Art ihres Gegebenseins", d. h. nach FREGE nach dem Sinn der Ausdrücke. Intensionen nun sind die den logischen Ausdrücken qua Sinn zugeordneten Entitäten, die — wie wir in 4.2. schon gesagt haben — begrifflicher Natur sind. Als Intensionen werden in der IL den Ausdrücken zugeordnet: Sätzen — Propositionen (Sachverhalte in einer möglichen Welt — darüber unten mehr); Individuentermen — Individuenbegriffe; einstelligen Prädikaten — Eigenschaften; «-stelligen Prädikaten — Relationen-in-Intensionen. Außerdem hat die IL das in 4.2. schon erwähnte FREGEsche Prinzip der Kompositionalität übernommen, wonach die Bedeutung ( = Wahrheitswert) eines Satzes sich kompositionell zusammensetzt aus den Bedeutungen (Extensionen) seiner Bestandteile, ebenso wie sich der Sinn ( = Proposition) zusammensetzt aus den Sinnbeiträgen ( = Intensionen) seiner Bestandteile. Eine IL ist somit das geeignete Mittel um sinnsemantische und referenzsemantische Repräsentationen via Spezifikation von Wahrheitsbedingungen zu verbinden. Und da — wie aus den Festlegungen (1) und (2) oben folgt — die Oberflächensyntax in die Übersetzung einbezogen ist, dürfte von einer intensionallogisch formulierten Übersetzung eines Satzes tatsächlich eine Explikation der dreifachen Kompositionalität zu erwarten sein. Genau das geschieht auch, und zwar in dem hier zu besprechenden System von IL so, daß die für die referenzsemantische Repräsentation erforderliche Zuordnung von Intensionen zu Extensionen und der kategoriale Aufbau der Ausdrücke absolut demselben Operationsschema folgen. Wir betrachten jetzt den Aufbau der IL. Gemäß dem in 2.2. als (B) angegebenen Schema benötigen wir zunächst dreierlei: (1) Eine Festlegung über die Menge E der erzeugbaren Ausdrücke von IL. (2) Eine Festlegung über den Denotatbereich D (Interpretationsbereich), dessen Entitäten den Ausdrücken von IL als Extensionen zugeordnet werden sollen (3) Eine Festlegung Füber die Zuordnungsvorschriften, denen gemäß jedem Element aus E eine passende Entität aus D als Interpretation zugewiesen wird. Im einzelnen gilt dann: E beruht auf einer endlichen Menge von Konstanten und einer unendlichen
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Menge von Variablen, sagen wir kurz dafür K und V. Die Gesamtmenge E ergibt sich aus Verknüpfungen von Elementen aus K mit Elementen aus V, wobei die aus der Verknüpfung resultierenden Strukturen sämtlich jeweiligen Kategorien zugeordnet werden. Die Kategorisierung wird geleistet durch Einführung eines Systems KAT. KATerfüllt zweierlei Zwecke: (a) es legt fest, wie Elemente aus K und V miteinander verknüpft werden können (b) es legt fest, welchen Typ von Denotat eine Verknüpfung aus Elementen von K und V als Extension zugewiesen erhält. KAT umfaßt (gewöhnlich nur) zwei Grundkategorien: S für Propositionen, deren Extensionen Sachverhalte sind N für Namen, deren Extensionen Individuen sind. Alle übrigen Kategorien sind abgeleitet, d. h. sie werden aus N und S gebildet nach folgender Vorschrift: (i)
(a) N, S sind Grundkategorien (b) wenn a, bx, b2, ... , b„ komplexe, oder Grundkategorien sind, dann ist (a/bl ... bn) eine komplexe Kategorie. (ii) Wenn ei ein Ausdruck der Kategorie (a/b) ist und e2 ein Ausdruck der Kategorie b, dann ist die Verknüpfung von eL und e2 ein Ausdruck der Kategorie a. Alle Kategorien außer den beiden Grundkategorien werden — anders als in der linguistischen Syntax etwa — nicht durch direkte Etiketten, sondern durch ihre Funktionalstruktur, d. h. ihre Bildungsweise, charakterisiert. S ist eine Proposition mit dem Denotat Sachverhalt, N ein Name mit dem Denotat Individuum. Eine Kategorie (S/N) ist (ii) zufolge Repräsentant eines Ausdrucks, der kombiniert mit einem Namen einen Satz ergibt — also steht (S/N) für einstellige Prädikate. Entsprechend die Extensionsbestimmung: die Kategorie hat als Extension ein Denotat, das zusammen mit einem Individuum einen Sachverhalt ergibt — also hat der durch (S/N) kategorisierte Ausdruck als Denotat die Klasse der Individuen, die eine bestimmte Eigenschaft besitzen. Die Kategorie (S/N N) steht für zweistellige Prädikate, die Kategorie (S/S) für einstellige, die Kategorie (S/S S) für zweistellige propositionale Operatoren. Analog zum Aufbau der Ausdrucksmenge E erfolgt der Aufbau ihres Denotatbereichs D. Der Denotatbereich ist definiert über zwei Typen von Grundeinheiten, einer Menge A von möglichen Individuen, und einer Menge W von möglichen Welten. Der Denotatbereich D ist ein mengentheoretisches Konstrukt. Eine mögliche Welt ist in diesem Zusammenhang eine durch Eigenschaften von und Relationen zwischen Individuen bzw. Individuen-tupeln strukturierte Menge von Individuen.
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Einer Eigenschaft, d. h. der Intension eines einstelligen Prädikats der Kategorie (S/N), entspricht in D eine Funktion, die für jede mögliche Welt w aus W die Klasse der Individuen auswählt, auf die die fragliche Eigenschaft in w zutrifft. Ebenso ist das Denotat einer Kategorie (S/N N) in D bestimmt durch eine Funktion, die für jede Welt w aus W die Klasse der n-tupel auswählt, die in der fraglichen Relation zueinander stehen. Die Eigenschaften, Relationen, Eigenschaften von Eigenschaften usw. in D können nun wieder als Einheiten bestimmter Typenzugehörigkeit definiert werden, und zwar ganz analog zu (i) und (ii) oben. D ist aufgebaut aus einem Typensystem TYP so wie E aufgebaut ist aus einem Kategoriensystem KAT. Für TYP gilt: (i') (a) 0 und 1 sind Grundtypen (b) wenn x, y1, y2,..., yn komplexe oder Grundtypen sind, dann ist (x\yl ein komplexer Typ (ii') entsprechend (ii) auf Typenbildung bezogen.
...yn)
Einheiten vom Typ 0 sind Sachverhalte, Einheiten vom Typ 1 sind Individuenkonzepte, Einheiten vom Typ (0; 1) sind Eigenschaften, d. h. Funktionen, die angewandt auf ein Individuum einen Sachverhalt ergeben, (0; 1 1) sind Relationen, die angewandt auf zwei Individuen einen Sachverhalt ergeben. An dieser Stelle ist es vielleicht angebracht, ein paar Bemerkungen einzuschieben über den Begriff,mögliche Welt' und entsprechend über mögliche Individuen, Sachverhalte und Wahrheitsbedingungen. In modelltheoretischer Redeweise sind die beiden folgenden Bestimmungen äquivalent: (1) Ein Sachverhalt kann aufgefaßt werden als diejenige Menge möglicher Welten, die dadurch ausgezeichnet ist, daß er in ihnen besteht. (2) Eine mögliche Welt kann aufgefaßt werden als die Gesamtheit der in ihr bestehenden Sachverhalte. Da beides, Sachverhalte und mögliche Welten, in D als mengentheoretische Gebilde figurieren, sind — entgegen dem alltagssprachlichen Sinn — (1) und (2) nur unterschiedliche Projektionen auf eine mengentheoretische Struktur. Nehmen wir ein einfaches Beispiel. Sei M der durch die Bedeutungen des Satzes S spezifizierte Sachverhalt, M = „Der 13. Mai ist ein Freitag," und die möglichen Welten, auf die S zu beziehen ist, seien repräsentiert durch die Jahreskalender 1900 bis 1980. Nach der Version (1) könnten wir sagen: M sortiert aus den 81 Kalendern die aus, in denen der 13. 5. auf einen Freitag fallt. Entsprechend gilt nach Version (2), daß wir von M ausgehend einen Kalender aufbauen und dann nachsehen, wie oft der sich von 1900—1980 wiederholt. Der Begriff ,mögliche Welten' darf nicht ontologisch mißverstanden werden. Über eine erkenntnistheoretisch-philosophische Klarstellung dieses Problems vgl. die Monographie von CELISCEV ( 1 9 7 8 ) . Bleibt nun noch die Charakterisierung
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von F, der Zuordnungsvorschrift für die Einheiten aus E zu den Einheiten aus D. Da E und D völlig parallel aufgebaut sind, lautet sie: (iii) (a) AS) = 0 (b) AN) = 1 (c) Aalh ... bn) = (x\yl ... yH), wobei die Typen x, j>15 ... ,yn jeweils den Kategorien a, b1,..., bn auf Grund von (a), (b) und (c) entsprechen. Ganz parallel zu der Komplexbildung in KA T und TYP erfolgt auch die Zuordnung von Kategorien zu Typen. Eine wichtige Ergänzung zu diesem im grundsätzlichen nun vorgestellten Mechanismus muß noch angeführt werden: Wie wir anhand der Beispiele (1)—(7) in Kap. 4 verdeutlicht haben, ist die Identifizierung eines Denotats z. B. von deiktischen Ausdrücken {ich, dort, die Stadt der nächsten Olympischen Spiele) abhängig von indexikalischer Information über Zeitpunkt, Ort und Äußerungssituation. Die Integration dieser Faktoren ist in IL vorgesehen als spezifizierende Bedingung der durch (iii) geleisteten Zuordnung. Fassen wir diese Faktoren zu einem speziellen Index i aus einer Indexmenge I zusammen, wobei wir annehmen, daß i mindestens ein Paar ist (w, j), wobei w eine mögliche Welt, j die durch Äußerungszeitpunkt, Ort, Situationszusammenhang determinierte Faktorenbündelung darstellen. Demgemäß wird etwa folgende Zuordnung gemacht: (a) ic/i(¡V)(i) = dSprtebei (w) unter der Bedingung j (b) dum(i) = Adressat (w) unter der Bedingung j usw. — die in 4.2. bezüglich (1)—(7) verbal angegebenen Identifizierungsbedingungen können in IL nun in kanonischer Form ausgedrückt werden. Damit schließen wir die sehr grobe Überblicksdarstellung von IL ab. Vielen Linguisten mag der aufwendige Formalismus der IL abschreckend erscheinen und es mag sich die Frage erheben nach dem rechten Verhältnis von Nutzen und Aufwand. Was die nun wirklich .logische' Form eines in IL übersetzten Satzes bringt für die linguistische Semantik, ist in erster Linie die Demonstration all der Beschreibungsbedingungen, die für eine formale Rekonstruktion der semantischen Kompositionalität sprachlicher Ausdrücke zu erfüllen sind. Die Ausdrucksfahigkeit der IL für die prinzipielle Darstellung der ins Auge gefaßten semantischen Zusammenhänge ist bei weitem ausreichend, das Problem besteht eher in der linguistisch passend zu rechtfertigenden Auswahl und Beschränkung. Ebenso ist die geforderte Rigidität des rekonstruktiven Vorgehens eine in der Entwicklungsgeschichte der Linguistik ebenso notwendige wie nützliche Bedingung des methodologischen Fortschritts. So gesehen kann man der Fülle modelltheoretisch angelegter Fragmente von Grammatiken, die in den letzten Jahren vor-
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gelegt wurden, eine Schubwirkung nicht absprechen, die sich u. a. auch darin niederschlägt, daß das Thema „Grammatik und Logik" derzeit zu einem der zugkräftigsten Themen für Konferenzen, Workshops und Sammelbände geworden ist, zum Knotenpunkt interdisziplinärer Bemühungen, jedenfalls zu einem Schwerpunkt der aktuellen Forschung. Ernsthafte Probleme für eine wirklich linguistisch befriedigende Nutzung des modell-theoretischen Instrumentariums zeichnen sich in zwei Richtungen ab: Einmal dürften das Kategorienerzeugungsschema und die Kompositionalitätsforderung Schwierigkeiten für eine linguistisch befriedigende Behandlung der Oberflächenstrukturen bieten, etwa eine passende Beschreibung und Integration morphologischer und morphonologischer Erscheinungen, die bisher kaum in Rechnung gestellt wurden. Zum anderen — und wichtiger noch — ergibt sich die Frage nach der emprisch angemessenen Interpretation jener zwar formal ausgefeilten, aber eines Rückbezugs auf die psychologischen Aspekte entbehrenden Repräsentationen, die hier geliefert werden. Hier formiert sich eine Forschungsrichtung, bei der von unterschiedlichen Disziplinen aus und aus unterschiedlichen Beweggründen, aber konvergierend in der Zielvorstellung auf die Notwendigkeit der Verbindung von modell-theoretischen Beschreibungsmitteln und psychologischen Evidenzen für die" weitere Semantikforschung verwiesen wird. Was etwa PARTEE (1979) aus einer immanenten Kritik heraus entwickelt, ergänzt sich mit den von dem Psychologen JOHNSONLAIRD initiierten Forschungen über „mentale Modelle" und den jüngsten Arbeiten von BIERWISCH (1982; in Vorb. a, b), wo er die Erweiterung der Interpretation der durch IL repräsentierbaren Strukturen im Hinblick auf kognitive Strukturbildungen etwa gemäß (V) behandelt. In Schlagworte simplifiziert könnte man sagen: war K A T Z ' Semantiksprache kritisierbar als Übersetzung der Syntaxsprache in uninterpretiertes MARKERESE, so ist die IL kritisierbar als Übersetzung der natürlichen Sprache in weitmaschiges FUNCTIONALESE. Was uns nun linguistisch gesehen fehlt, ist eine Interlinearübersetzung von Deutsch, Ungarisch, Hopi usw. — in MENTALESE! Dabei dürften die in (I)—(VI) umrissenen Gesichtspunkte den Kriterienrahmen dafür abstecken, daß die weitere Semantikforschung, wie immer disziplinär gekoppelt oder aufgefächert und wie immer verschieden im Interessenschwerpunkt sie erfolgen mag, doch zentriert bleibt auf die Explikation dessen, was wir die komplexe Verweisfunktion eines sprachlichen Ausdrucks genannt haben, und somit zentriert bleibt auf die „logische Form".
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Dieter Viehweger
Semantik und Sprechakttheorie
Ausgangspositionen Die Sprachwissenschaft befindet sich gegenwärtig in einer Phase der Neuorientierung. Während sie vor einigen Jahren noch vorwiegend unter dem Einfluß verschiedener Richtungen der strukturellen Linguistik um die Ausgrenzung eines relativ autonomen Gegenstandsbereiches bemüht war, sucht sie jetzt in stärkerem Maße die Verbindung zu anderen Wissenschaftsdisziplinen und greift bisher vernachlässige oder bewußt ausgeschlossene Fragestellungen auf. Evidenter Ausdruck dieser Neuorientierung ist die Vielzahl linguistischer Teildisziplinen, die in den letzten Jahren — häufig durch Entwicklungsanstöße der Nachbarwissenschaften — unter Bezeichnungen wie linguistische Pragmatik, Sprechakttheorie, Konversationsanalyse, Diskursanalyse, Textlinguistik, handlungsorientierte Linguistik, kulturhistorische Sprachwissenschaft u. a. entstanden sind und der Linguistik neue Forschungsperspektiven eröffneten. Im Zusammenhang damit wurde auch die Frage nach dem Objektbereich und den Erkenntnisinteressen der Linguistik neu gestellt und zu beantworten versucht. Für die Mehrzahl der neyen linguistischen Entwicklungsrichtungen ist charakteristisch, daß sie sich als Alternatiworschläge zu jenen Modellansätzen verstehen, die — wie die Mehrzahl der Richtungen und Schulen der strukturellen Linguistik — sich ausschließlich auf die Beschreibung und Erklärung des Sprachsystems konzentrieren und dabei von den Bedingungen der Kommunikation und den Menschen, die Sprache in konkreten gesellschaftlichen Situationen zur Erreichung bestimmter Ziele verwenden, weitestgehend oder gänzlich abstrahieren. Zwei Beispiele sollen verdeutlichen, wie die bisherige Sprachwissenschaft auf jede Bestimmung verzichtete, die über ihren autonomen Gegenstand hinausging. SAUSSURE (1931: 9 ff.) hat es zur Aufgabe der Sprachwissenschaft erklärt, sich abzugrenzen und selbst zu definieren. Damit wurde gleichzeitig postuliert, Sprache als ein einheitliches Ganzes, als ein Ganzes in sich zu beschreiben, als ein System, das nur seine eigene Ordnung zuläßt und seiner Natur nach in sich gleichartig ist. Nach SAUSSURE untersucht die Sprachwissenschaft in ihrem „Inneren", was der Sprache als identischem Objekt wesentlich zukommt, nach außen verdrängt sie alles, was der Sprache fremd ist. Zu dem Fremden, 10 Viehweger, Semaiitikforschung
D. Viehweger
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was von der Sprache ferngehalten werden muß, zählt SAUSSURE all jene sprachlichen Erscheinungen, die sich durch Verschiedenartigkeit und Unabgeschlossenheit auszeichnen. Zu den fernzuhaltenden Erscheinungen gehören somit die menschliche Rede, die als allgemeine Sprachfähigkeit die Existenz der Sprache ermöglicht, sowie das Sprechen, die empirische Existenzform der Sprache in jeweils momentaner, raum-zeitlicher Konkretheit. Mit der von SAUSSURE vorgenommenen Isolierung des Sprachsystems zu einem in sich geschlossenen, einheitlichen Gegenstand ist der Weg deutlich charakterisiert, auf den sich die Sprachwissenschaft in den letzten Jahrzehnten bewegt hat und über den offenbar weitgehende Einhelligkeit bestand. MÖTSCH (1978: 11) weist mit Recht darauf hin, daß dieser Abstraktionsschritt den meisten Grammatikern so evident zu sein schien, daß „sie es selbst im Zusammenhang mit der Diskussion des Verhältnisses zwischen Sprachsystem und Sprachgebrauch für überflüssig hielten, sich genauere inhaltliche Vorstellungen vom Sprachgebrauch zu machen". Auch die generative Grammatik CHOMSKYS sieht die zentrale Aufgabe der Linguistik darin, das den Äußerungen einer Sprache zugrunde liegende System zu ermitteln. Fragen der Performanz diskutiert die generative Grammatik daher nur unter dem Aspekt der psychologischen Mechanismen des Erzeugens und Verstehens von isolierten Sätzen. Das Sprachsystem, das alle potentiellen Sätze charakterisiert, wird somit als der absolut dominierende Aspekt von Sprache angesehen. Die Konzeption der generativen Grammatik ist zu bekannt, als daß sie hier einer ausführlichen Darstellung bedürfte.1 Da sich die Mehrzahl der eingangs genannten Forschungsrichtungen als Alternativen zur bisherigen Grammatiktheorie verstehen, und da die Entwicklung dieser Modellvorschläge vielfach mit einer grundsätzlichen Kritik an der generativen Grammatik verbunden ist, erweist es sich als zweckmäßig, hier die wichtigsten theoretischen und methodologischen Positionen der Grammatiktheorie CHOMSKYS noch einmal thesenartig vorzustellen. CHOMSKY (1965) sieht die wichtigste Aufgabe der Linguistik darin, aus der Klasse der möglichen generativen Grammatiken diejenige Teilklasse von Grammatiken auszuwählen, die es gestattet, die Kompetenz des idealen SprecherHörers zu beschreiben und zu erklären. Eine generative Grammatik wird dabei weder als Sprecher- noch als Hörermödell verstanden, es handelt sich bei dem idealen Sprecher vielmehr um einen abstrakten Automaten, der kraft seiner Kompetenz in der Lage ist, beliebig viele Sätze seiner Sprache zu erzeugen und zu verstehen sowie jedem Satz das Prädikat ,grammatisch in V bzw. ,nicht grammatisch in V zuzuschreiben. Der ideale Sprecher-Hörer kennt ferner die Synonymie und Ambiguität von Sätzen und ist in der Lage, Ambiguitäten
1
Vgl. hierzu vor allem den Beitrag von
PASCH
und
ZIMMERMANN
(in diesem Band).
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ohne Einbeziehung von Informationen über den sprachlichen und außersprachlichen Kontext durch Paraphrasierung aufzulösen. Mit Ausnahme der allgemeinen Funktion, die Gedanken des Menschen auszudrücken, hat Sprache nach CHOMSKY keine weitere wesentliche Funktion, und wenn sie noch eine haben sollte, so gibt es zumindest keinen relevanten Zusammenhang zwischen dieser Funktion und ihrer Struktur. Für die generative Grammatik CHOMSKYS ist die Sprache durch die syntaktische Struktur definiert, die durch angeborene Eigenschaften des menschlichen Geistes bestimmt ist. Obzwar syntaktische Strukturen zur Kommunikation verwendet werden, wird kein systematischer Bezug zwischen dieser und der der Kommunikation hergestellt.2 Aus der gedrängten Problemdarstellung wird ersichtlich, daß auch CHOMSKY von einer Idealisierungsbasis ausgeht, die Probleme der sozialen und funktionalen Differenziertheit konkreter Sprachen sowie der historischen Veränderung und Entwicklung unberücksichtigt läßt. CHOMSKY befaßt sich nur mit der Grammatikkenntnis, mit der sprachlichen Kompetenz und stellt keinen Zusammenhang zwischen dem Kenntnissystem der Kompetenz und den übrigen Kenntnis-, Einstellungs- und Wertsystemen dar, die sprachlichem Handeln zugrunde liegen. Wenngleich für CHOMSKY das Sprachsystem insofern nicht autonom ist, als eine erklärende Theorie des Sprachsystems in systematischer Weise auf Erkenntnisse der kognitiven Psychologie Bezug nehmen muß, bleibt der von der generativen Grammatik eingeschlagene Weg der Forschung dennoch auf einen hochgradig restriktiven Gegenstand orientiert, auf die Untersuchung der strukturellen Eigenschaften von Sätzen einer homogenen Existenzform von Sprache. Bezüglich der Frage, welche Rolle kommunikative Faktoren für die Erklärung von Sprachstrukturen spielen, bleibt CHOMSKY fest auf den Positionen des klassischen Strukturalismus. Einige Vertreter der generativen Grammatik haben sich intensiv darum bemüht — vielfach unter partieller oder totaler Zurücknahme der strengen Idealisierungen sowie der hochrestriktiven linguistischen Grundeinheiten — die aus dem Modellvorschlag CHOMSKYS resultierenden Teiltheorien systematisch weiterzuentwickeln und durch konkrete Einzeluntersuchungen zu verifizieren und zu vertiefen. In zunehmendem Maße zeigte sich dabei jedoch, daß selbst nach der Zurücknahme ursprünglich auferlegter Idealisierungen und der dadurch zum Teil erreichten Wiedergewinnung des Zusammenhangs von Sprache und sozialem Handeln (FILLMORE 1970 und 1971) sowie der Dimension Sprache und Geschichte (KIPARSKY 1968) gerade die zentrale Kategorie des Modells der generativen 2
Aus der Vielzahl kritischer Stellungnahmen, die sich vor allem gegen die in CHOMSKY (1969a, 1969b) entwickelten Annahmen richten, erwähnen wir hier nur SEARLE (1975), KANNGIESSER (1976) und ANDRESEN (1976).
10*
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Grammatik — der ideale Sprecher-Hörer — eine große Zahl von Unzulänglichkeiten aufwies, die nicht nur diese Abstraktion, sondern den gesamten Modellvorschlag in Frage stellten. Gegen den von CHOMSKY abgesteckten Rahmen der Grammatik, der nur bestimmte allgemeinpsychologische Aspekte sprachlichen Handelns unter dem Gesichtspunkt einer stark vereinfachten Vorstellung von Grammatikkenntnissen zu berücksichtigen erlaubt, sind von den oben erwähnten Forschungsrichtungen zahlreiche kritische Einwände vorgebracht worden. Ziel der Kritik war vor allem der ideale Sprecher-Hörer, der in einer völlig homogenen Sprachgemeinschaft lebt und somit nicht als Träger der gesamten dialektisch organisierten Tätigkeit der Gesellschaft verstanden wurde. In den Einwänden wurde immer wieder hervorgehoben, daß die Menschen einer bestimmten Gemeinschaft, die sich ihrer Sprache zum Zwecke der gesellschaftlichen Kommunikation bedienen, mit Sicherheit mehr und anderes tun als schlechthin Sätze dieser Sprache zu bilden und zu verstehen (was sie selbstverständlich auch tun). Ein Mensch, der eine Sprache spricht, handelt, indem er dies tut, d. h., er stellt Behauptungen auf, formuliert Fragen, Bitten und Aufforderungen, spricht Beschuldigungen und Rechtfertigungen aus, die jeweils zweckorientiert und partnerbezogen realisiert werden und in der Regel mit nichtsprachlichen Handlungen in spezifischer Weise verbunden sind. Aus der damit kurz charakterisierten Auffassung von Sprache als einem Instrument gesellschaftlichen Handelns ergeben sich wichtige Konsequenzen, die wir, da sie in der vorliegenden Arbeit noch ausführlicher behandelt werden, hier nur kurz illustrieren wollen. Die Grundannahme vieler Grammatiktheorien bestand darin, daß alle in die Domäne der Grammatiktheorie fallenden sprachlichen Eigenschaften von Sätzen unabhängig von einer Charakterisierung der kommunikativen Situation erforscht werden können, in der sie geäußert werden können. Daraus wird ersichtlich, daß sich die bisherige Grammatiktheorie, soweit sie überhaupt eine umfassende und explizite Theorie der Bedeutung anstrebte, sich ausschließlich auf die Beschreibung von Aussagesätzen bzw. wahrheitsdefiniten Sätzen beschränkte und die Vielzahl jener Probleme ausklammerte, die sich aus der Untersuchung des Zusammenhangs zwischen der Bedeutung sprachlicher Äußerungen und dem Verhalten der Sprachbenutzer ergaben. Unter Linguisten und Logikern schien zunächst stillschweigendes Einverständnis darüber zu bestehen, die semantische Beschreibung anderer Modi als etwas zu betrachten, das sich finden wird, wenn man erst einmal die Aussagesätze im Griff hat. LEWIS, der radikalste Vertreter der Indikativrestriktion, hat bekanntlich die Auffassung vertreten, daß die Unterscheidung zwischen dem Indikativ und den anderen Modi semantisch irrelevant sei. Alle Sätze seien schließlich und endlich wahrheitsdefinit, auch wenn sie nicht immer dazu verwendet werden, eine Behauptung zu machen. Eine Bedeutungstheorie hat demzufolge nichts damit zu tun, was ein Sprecher mit Sätzen alles tun
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kann, der Bedeutungsbegriff ist vielmehr in einem seiner wesentlichen Aspekte auf der Grundlage der Begriffe ,Wahrheit' oder ,Evidenz' zu explizieren. Wahrheit wird zum Ausgangspunkt der logischen wie auch linguistischen Semantiktheorie, deren Programm DAVIDSON in der Formel zusammengefaßt hat: Die Bedeutung eines Satzes sind deren Wahrheitsbedingungen, mit anderen Worten: die Bedeutung eines Satzes zu verstehen heißt zu wissen, unter welchen Umständen ein Satz wahr ist. Aus dem kurzen Resümee wird ersichtlich, daß die Linguistik offenbar unter dem Einfluß der logischen Semantik sich ausschließlich auf die Beschreibung der propositionalen Qehalte, d. h. auf die Abbildung von Sachverhalten konzentrierte und somit nur die Wahrheitsbedingungen von Sätzen in den Mittelpunkt ihrer Theoriebildung rückte. In Anlehnung an die Sprachphilosophie (DAVIDSON, HARMAN) und an die philosophische Logik (MONTAGUE) wurde davon ausgegangen, daß Bedeutungstheorien, die die Logik für formale Sprachen entwickelt hatte, in angemessener Weise auf natürliche Sprachen übertragen werden können. GAZDAR (1978: 6) hat die Positionen, die von Linguisten wie auch Logikern bezüglich der semantischen Beschreibung natürlicher Sprachen vertreten wurden, treffend charakteririert: (i) natürliche und formale Sprachen müssen theoretisch nicht unterschieden* werden (ii) die Sätze der natürlichen Sprache lassen sich auf die Sätze einer formalen Sprache abbilden (iii) die Bedeutung der Sätze der natürlichen Sprache kann durch ihre Gegenstücke in der logischen Sprache erfaßt werden (iv) die Bedeutungen von mutmaßlichen logischen Funktoren in einer natürlichen Sprache entsprechen den Bedeutungen ihrer Gegenstücke in der logischen Sprache (v) die Bedeutungen von Sätzen der logischen Sprache werden durch eine Theorie angegeben, die die Bedingungen festsetzt, unter denen die Sätze wahr sind. v Werden Sätze jedoch nicht unabhängig von den kommunikativen Bedingungen untersucht, dann erweist sich die monolithische, wahrheitsfunktionale semantische Komponente der Grammatik als unzureichend. Wenn ein Sprecher den Satz (1) In Schönefeld ist im Januar häufig Nebel
äußert, dann kann er damit zweierlei tun. Erstens kann er damit Feststellungen über metereologische Bedingungen machen, die im Januar häufig im Bereich des Flughafens Schönefelds anzutreffen sind. Er kann durch die Äußerung von (1) dem Adressaten auch vorschlagen bzw. empfehlen, im Januar lieber mit der Bahn zu fahren, da es wegen des Nebels ungewiß ist, ob die Flugzeuge überhaupt starten.
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Ist sich der Sprecher, was den Grad der Gewißheit des Zutreffens des in der Proposition genannten Sachverhalts anbetrifft, nicht sicher, kann er seine Auffassung bzw. Einstellung über den Grad des Zutreffens des Abbildes auf die Wirklichkeit sowie Bewertungen in bezug auf den durch die Proposition genannten Sachverhalt zum Ausdruck bringen. Dies kann der Sprecher tun, indem er seine Einstellung durch „vermutlich", „möglicherweise" usw. dem Adressaten gegenüber kundgibt: (2) In Schönefeld ist vermutlich/möglicherweise
im Januar häufig Nebel
Aus der kurzen Illustration ist zu ersehen, daß die Bedeutung sprachlicher Äußerung ein komplexes Phänomen ist, in dem drei semantische Bereiche unterschieden werden können, die in der Äußerung in spezifischer Weise reflektiert werden. In Anlehnung an die in der Literatur übliche Sprechweise wollen wir diese drei Bereiche als propositionalen Gehalt, Einstellungen zum propositionalen Gehalt sowie als illokutive Funktion bezeichnen, wobei wir davon ausgegangen sind, daß der propositionale Gehalt die Abbilder von Sachverhalten charakterisiert und Einstellungen zum propositionalen Gehalt Auffassungen des Sprechers über den Grad des Zutreffens des Abbildes auf die Wirklichkeit bzw. Positionen, d. h. Bewertungen des Sprechers reflektieren. Propositionaler Gehalt und propositionale Einstellungen werden häufig auch als propositionaler Bedeutungsbereich bezeichnet. Unter dem Begriff der illokutiven Funktion hingegen werden alle diejenigen Faktoren zusammengefaßt, die mit der Art der Mitteilung von propositionalen Gestalten und Einstellungen des Sprechers in konkreten sozialen Situationen verbunden sind, in erster Linie jedoch Faktoren, die mit dem Handlungscharakter einer Äußerung und den Resultaten und Wirkungen, die durch eine sprachliche Handlung erzielt werden, verknüpft sind. Die Faktoren, die wir hier unter den Begriff der illokutiven Funktion subsumiert haben, sind in der Literatur vielfach auch als pragmatischer Bedeutungsbereich bezeichnet worden. Das Problem, worum es geht, ist durch die angeführten Fakten bereits hinreichend charakterisiert: wie kann eine Semantiktheorie um diejenigen Aspekte der Bedeutung erweitert werden, die beim Gebrauch der Sprache an den Tag treten und festlegen, was ein Satz ausdrückt, wenn er geäußert wird. Zur Erreichung dieses Ziels sind zahlreiche Forschungsansätze entwickelt worden, die sich bezüglich ihres methodologischen Herangehens in zwei Richtungen einordnen lassen: (a) bei der ersten Richtung geht es primär darum, bestehende Grammatikmodelle zu erweitern und so auszubauen, daß die neu gestellten Fragen, die über den bisherigen Rahmen der Grammatik hinausweisen, erfaßt und mit den bereits bewährten Instrumentarien beschrieben und erklärt werden können. Für den Fall, daß die neuen Phänomene nicht mit den bekannten Instrumentarien beschrieben werden können, sind diese zu verfeinern.
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(b) beim zweiten Entwicklungsweg, der eingeschlagen wurde, handelt es sich nicht um die Erweiterung existierender Modelle, sondern um die Entwicklung neuer Modellvorschläge, die dem Handlungsaspekt der Sprache gerecht werden und es erlauben, den propositionalen und pragmatischen Bedeutungsbereich in einer integrierten Semantiktheorie zu erfassen. Während es bei der unter (a) genannten Herangehensweise vorrangig um eine Modifikation bzw. Erweiterung existierender Grammatikmodelle, z. B. um die Einbeziehung einer sogenannten kommunikativ-pragmatischen Komponente geht, durch die jene Erkenntnisdimensionen zurückgewonnen werden sollen, die bisher bewußt ausgeschlossen oder vernachlässigt wurden, streben die Vorschläge, die hier unter (b) zusammengefaßt werden, eine Abkehr von den Modellentwürfen der bisherigen Grammatiktheorie an und formulieren als zentrale Aufgabe der Linguistik — die Charakterisierung der Merkmale des Sprechkontextes, die mitbestimmen helfen, welche Proposition durch einen gegebenen Satz ausgedrückt wird; — die Explikation der Bedingungen, unter denen Sprachhandlungen gelingen; — die Typisierung von Sprechhandlungen; — die Ermittlung der Struktur von Sprachhandlungsfolgen. Das hier thesenartig wiedergegebene Programm der Forschungsansätze, die wir unter (b) subsumiert haben, macht deutlich, daß es diesen Modellvorschlägen in erster Linie darum ging, den Handlungsaspekt sprachlicher Äußerungen zu untersuchen und Bedingungen, Inhalte und Ziele sprachlicher Handlungen eingehender zu analysieren. Damit ist nicht nur eine Schwerpunktverlagerung linguistischer Forschungsaufgaben verbunden, mit dem in (b) charakterisierten Herangehen wird zugleich auch der bis dahin dominierenden Ansicht entschieden widersprochen, daß Sprache in erster Linie dazu diene, wahrheitsdefinite Aussagen zu beschreiben und daraufhin ausschließlich als ein System, losgelöst von den sprechenden Menschen und den konkreten Beziehungen zwischen diesen zu erfassen sei. Die von uns getroffene Einteilung der in den letzten Jahren entstandenen Forschungsansätze in die beiden Richtungen (a) und (b) erfolgte zunächst ausschließlich auf der Grundlage der prinzipiell unterschiedlichen methodologischen Herangehensweisen, die die einzelnen Richtungen auszeichnen. Die Einteilung ist jedoch viel zu grob und macht somit nicht die unterschiedlichen theoretischen und methodologischen Positionen deutlich, die den einzelnen Richtungen zugrunde liegen, durch die vor einem Dezennium eine linguistische Entwicklung initiiert" wurde, die heute vielfach als .pragmatische Wende' bezeichnet wird. Bevor wir uns eingehender mit dem Rahmen befassen, der von den in (b) charakterisierten Modellvorschlägen für eine linguistische Sprechakttheorie abgesteckt wurde, insbesondere für eine Theorie der Bedeutung, wollen wir zu-
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nächst einige der Vorschläge kurz vorstellen, die wir oben als Modifikationen bzw. Erweiterungen existierender Grammatikmodelle gekennzeichnet haben. Wir rükken dabei jene Entwürfe in den Mittelpunkt, an denen die Bestrebungen der Grammatiktheorie, insbesondere der Theorie der generativen Grammatik besonders deutlich werden, Handlungsaspekte der Sprache in der Grammatik zu explizieren. 1. Modifikation existierender Grammatikmodelle Die zahlreichen Einwände, die gegen CHOMSKYS Grammatikkonzept sowohl von außerhalb der generativen Grammatik (SEARLE) als auch „aus dem eigenen Lager" (Ross, POSTAL, MCCAWLEY, 'FILLMORE, G. LAKOFF, R . LAKOFF Ü. a.) vorgebracht wurden, führten dazu, daß Ende der 60er Jahre eine Reihe zum Teil grundlegender Modifikationsvorschläge vorgelegt wurde, bei denen es — wenngleich unter Beibehaltung der methodologischen Werte der generativen Grammatik — in erster Linie darum ging, die schwächste Komponente des CHOMSKYschen Modellvorschlags — die semantische Komponente — auszubauen und die scharfe Trennung zwischen Syntax und Semantik aufzuheben sowie das Modell dadurch in seiner Grundkonzeption so zu verändern bzw. zu erweitern, daß es in der Lage ist, diejenigen pragmatischen Sachverhalte einzubeziehen und zu reflektieren, die den Interpretationshintergrund sprachlicher Äußerungen liefern. 1.1. Ross' Performativhypothese i
Die 1970 erschienene Publikation „On declarative sentences" von Ross ist der erste.umfassende Versuch, die Semantiktheorie der generativen Grammatik durch die Einbeziehung des ,illokutiven Aktes' in die tiefenstrukturelle Repräsentation von Sätzen zu bereichern. Ross geht dabei von der Annahme aus, daß jeder Satz in seiner zugrunde liegenden Struktur Konstituenten aufweisen muß, die den propositionalen Gehalt einerseits und die illokutive Rolle bzw. Funktion des Satzes andererseits repräsentieren. Aus dieser Annahme wird die Schlußfolgerung gezogen, daß alle Sätze von Tiefenstrukturen abzuleiten sind, die als obersten Satz einen sogenannten Performativsatz enthalten, der aus einem Subjekt der 1. Person ( = Sprecher), einem performativen Verb und einem indirekten Objekt der 2. Person ( = Adressat) besteht.3 Dieser übergeordnete performative Satz, 3
Vgl. dazu auch BOEDER (1968 : 248), der noch vor Ross versuchte, die Personalpronomina ich und du, die die Identität mit dem Sprecher bzw. Hörer bezeichnen, in das CHOMSKYsche Grammatikmodell einzubeziehen und aus dem Vokativ, der Konstituente ,Sprecher' und dem eingebetteten Satz eine höhere Einheit ,Satz' zu konstruieren.
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d. h. der explizit performative Teil des Satzes, kann unter bestimmten Bedingungen durch eine Transformationsregel getilgt werden. Am Beispiel der Deklarativsätze des Englischen hat Ross eine eingehende Begründung seiner abstrakten Performativhypothese zu geben versucht und in diesem Zusammenhang für diese Satzart folgende Regel formuliert : Alle Deklarativsätze, die in Kontexten vorkommen, in denen ein Pronomen der 1. Persdh auftreten kann, werden von Tiefenstrukturen abgeleitet, die als obersten Satz genau einen Performativsatz enthalten, dessen Hauptverb ein verbum dicendi ist. Der Satz (3) Prices slumped würde nach Ross von folgender Tiefenstruktur abgeleitet: (4)
S
• performative •communication + linguistic • declarative "
pnces slumped
Derjenige Teil der Tiefenstruktur, der den Performativsatz repräsentiert, kann durch sogenannte Performativtilgungsregeln eliminiert werden, wodurch (4) in (5) umgeformt wird.
slumped
Die Frage, wann der abstrakte Performativsatz zu tilgen ist und wann nicht, läßt Ross im wesentlichen unbeantwortet. Er weist lediglich unter Berufung auf MCCAWLEY (1968) daraufhin, daß die Performativtilgungsregel dann ausgeschlos-
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sen ist, wenn im übergeordneten Satz Indikatoren wie ,hereby' usw. vorkommen. Die Hypothese, daß jeder Deklarativsatz von einer Struktur wie (4) abgeleitet werden kann, versucht Ross durch 14 syntaktische Argumente zu rechtfertigen, von denen 7 die Annahme eines übergeordneten Subjekts „I" und je 3 die Annahme des performativen Verbs sowie des übergeordneten indirekten Objekts stützen. Ein Argument schließlich dient als Rechtfertigung der Gesamtannahme. Es ist hier nicht der Ort, jedes der von Ross vorgeschlagenen Argumente ausführlich darzustellen und auf seine Tragfähigkeit hin zu prüfen. GREWENDORF hat sich eingehend mit der Performativhypothese Ross' auseinandergesetzt und eine Reihe von Überlegungen angestellt, mit denen er nachweisen konnte, daß die von Ross zu einer syntaktischen Rechtfertigung der performativen Hypothese vorgebrachten Argumente das erklärte Argumentationsziel nicht erreichen, da „vorschnelle Generalisierungen, zweifelhafte und zum Teil verkehrte Feststellungen über die Sprache einen Großteil der Argumente hinfallig machen" (GREWEN4 DORF 1972: 163). Konkret heißt dies: (a) Die Frage, welcher illokutive Akt mit einer Äußerung vollzogen wird, ist von der syntaktischen Form dieser Äußerung weitgehend unabhängig, demzufolge kann auch aus rein syntaktischen Gründen nicht entschieden werden, ob durch das Äußern eines Deklarativsatzes eine Behauptung aufgestellt oder eine Beschuldigung, eine Gratulation oder Rechtfertigung ausgedrückt wird. (b) Die bereits in (a) ausgedrückte Tatsache, daß eine Äußerung in Abhängigkeit von den Umständen mehrere illokutive Funktionen haben kann, daß eine Äußerung somit — wie es ALSTON (1963) und FRÄSER (1971) genannt haben — ein ,illokutives Aktpotential' bzw. ,force multiplicity' besitzen kann, d. h. daß ein Sprecher in Abhängigkeit von dem konkreten Kontext, in dem die Äußerung gebraucht wird, eine Behauptung aufstellen, eine Beleidigung oder einen Glückwunsch aussprechen oder eine Aufforderung formulieren kann, steht im Widerspruch zu der Annahme, ein einziger übergeordneter Satz reiche in der Tiefenstruktur aus, um die illokutiven Sachverhalte zu repräsentieren. In der Tiefenstruktur müßte explizit angegeben sein, welcher illokutive Akt in einer konkreten Situation mit der Äußerung vollzogen wird. Da Ross aber auf die kommunikativen Bedingungen in seiner Hypothese nicht zurückgreift, kann darüber folglich keine Entscheidung getroffen werden. (c) Es gibt eine Vielzahl von Äußerungen, in denen Verben in explizit performativer Form verwendet werden, mit denen jedoch nicht der illokutive Akt vollzogen wird, den das explizit performative Verb bezeichnet. So drücken die 4
Siehe dazu auch die Kritik, die in
FRÄSER
(1971) geäußert wird.
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Sätze (6) und (7) keineswegs ein Versprechen bzw. einen Rat aus, sondern vielmehr Drohungen, vgl.: (6) Ich verspreche dir, daß du noch dein blaues Wunder erleben wirst (7) Ich rate dir, mich nicht noch einmal Dicker zu nennen (d) Eine Reihe illokutiver Akte ist nach GREWENDORF überhaupt nicht explizit vollziehbar, d. h., für die performative Repräsentation in der Tiefenstruktur steht kein geeignetes Verb zur Verfügung. So existiert beispielsweise kein Verb, mit dem eine Beleidigung oder ein Verblüffen expliziert werden könnte. (8) *Ich beleidige dich hiermit, indem ich dir etwas vorwerfe (9) *Ich verblüffe dich hiermit, indem ich meinen neuen Anzug anziehe Ross' Versuch einer syntaktischen Rechtfertigung semantischer und pragmatischer Faktoren mußte schließlich auch deshalb erfolglos bleiben, weil die abstrakte Performativhypothese von den Handlungsbedingungen, die für Deklarativsätze einschlägig sind, vollständig abstrahierte. 1.2. Evidenzen für die Performativhypothese Ausgehend von der Hypothese Ross', daß jeder geäußerte Satz in seiner zugrunde liegenden Form Konstituenten aufweisen muß, die die illokutive Rolle und den propositionalen Gehalt des Satzes repräsentieren, haben sich zahlreiche amerikanische Linguisten Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre intensiv darum •bemüht, die Hypothese von den höheren abstrakten Performativsätzen durch weitere Argumente zu stützen (vgl. HARADA 1970, HERINGER 1971, G. LAKOFF 1 9 7 4 , R . LAKOFF 1 9 6 8 , LEE u n d MAXWELL 1 9 7 0 , PETERSON 1 9 6 9 , RUTHERFORD 1 9 7 0 , SADOCK 1 9 7 0 , 1 9 7 1 , 1 9 7 2 u n d 1 9 7 4 , SCHREIBER 1 9 7 2 u . a . ) .
Im Gegensatz zu Ross, der seinen Modellvorschlag ausschließlich durch syntaktische Gegebenheiten zu rechtfertigen versuchte, werden mit der Erweiterung der Ross'schen Analyse auf andere Satztypen als Evidenzen für die Performativhypothese in zunehmendem Maße auch semantische Argumente herangezogen, die durch eingehende Untersuchungen der Pronominalisierung, der Adverbialausdrücke sowie anderer sprachlicher Erscheinungen gewonnen wurden. Drei jener Modellvorschläge, deren Ziel es ist, Ross' Performativhypothese im allgemeinen sowie die Annahme einer impliziten Sprecher- und einer impliziten Hörerkonstituente und eines performativen Verbs in der Tiefenstruktur von Deklarativsätzen im besonderen durch einige wesentliche Modifikationen zu präzisieren
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bzw. in einer linguistischen Theorie der Sprechakte aufzuheben, sollen in 1.2.1. bis 1.2.3. eingehender betrachtet werden. Zuvor scheint es notwendig, die Motivationen deutlich zu machen, die diesen Modifikationsvorschlägen zugrunde liegen. Für die zahlreichen Modifikationsvorschläge zur Performativhypothese sind im wesentlichen zwei Gründe zu nennen: (1) In einer Vielzahl linguistischer Untersuchungen war man auf zahlreiche syntaktische Phänomene gestoßen, deren Auftreten im Satz ohne Rückgriff auf pragmatische Elemente nicht erklärbar war. Es wurde daher von mehreren Linguisten der Vorschlag unterbreitet, diese Phänomene als semantische und/oder syntaktische Kategorien in der Grammatik zu erfassen. R. LAKOFF (1972: 907 ff.) soll stellvertretend für die große Zahl von Linguisten zu Wort kommen, die Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre bemüht waren, Elemente der Sprechsituation als grammatische Kategorien zu fassen und in der Tiefenstruktur von Sätzen abzubilden. Sie führt folgende Argumente an: (a) die bisherige Transformationsgrammatik versuchte die Bedingungen für die Anwendbarkeit grammatischer Regeln allein auf der Grundlage oberflächensyntaktischer Phänomene zu definieren. Dieser Standpunkt kann nach R. LAKOFF nicht länger aufrecht erhalten werden, da zahlreiche empirische Befunde, die an Partikeln, am Honorativ sowie an speziellen Verbformen, die anzeigen, daß ein Sprecher nicht selbst die Verantwortung für eine übermittelte Aufforderung trägt, festgestellt wurden, dieser Annahme grundsätzlich widersprechen; (b) um die Anwendbarkeit vieler Regeln korrekt vorhersagen zu können, ist es notwendig, Grundvorstellungen über den sozialen Kontext einer Äußerung zu entwickeln, auf die ebenso systematisch Bezug zu nehmen ist wie auf die Vielzahl impliziter Annahmen, die die Kommunikationspartner machen, bevor das relevante sprachliche Handeln abläuft. (2) Die Erkenntnisse der sprachphilosophischen Forschung sind bereits in den 60er Jahren von mehreren Linguisten aufgegriffen und für die linguistische Analyse von Sätzen nutzbar gemacht worden. Die Entwicklungsanstöße, die die Grammatiktheorie durch die Übernahme von Erkenntnissen der Sprechakttheorie erhielt, waren in zweifacher Hinsicht von Bedeutung. Zum einen waren die Erkenntnisse von AUSTIN, SEARLE U. a. deshalb für die Grammatiktheorie wichtig, weil sie gezeigt haben, daß nicht nur Sätze, sondern auch Äußerungen Gegenstand der Grammatikbeschreibung sein konnten, wodurch automatisch der Kontext und die sozialen Bedingungen ins Spiel kommen, in dem ein Satz geäußert wird. Zum anderen führte die von der Sprechakttheorie entwickelte Auffassung von der Sprache als einer spezifischen Form menschlichen Handelns dazu, die für die frühen Modelle der generativen Grammatik typische strikte Trennung zwischen
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der Struktur eines Satzes und seiner Funktion aufzugeben und die konkreten Situationen, an die sprachliches Handeln gebunden ist und in denen jeder Satz zweckhaft geäußert wird, als unentbehrlichen Erklärungshintergrund in die Grammatik einzubeziehen.5
1.2.1. RUTHERFORDS Argumente für die Performativhypothese RUTHERFORD (1970) will mit seinen Untersuchungen den Nachweis erbringen, daß das von Ross vorgeschlagene Schema nicht nur für Deklarativsätze, sondern auch für die Beschreibung restriktiver und nicht restriktiver Nebensätze geeignet ist. Er führt dafür eine Reihe sprachlicher Befunde an, die als Spuren eines getilgten übergeordneten Performativsatzes zu interpretieren und daher unter Bezugnahme auf diesen zu erklären sind. Das Kernstück der RuTHERFORDschen Argumentation basiert auf Beobachtungen an nicht restriktiven Nebensätzen wie
(10) He beats his wife, because I talked to her, wo der Sprecher mit der Tatsache, daß er mit der Frau gesprochen hat, (daß die Frau ihm erzählt hat) seine Behauptung rechtfertigt, daß die Frau geschlagen wird (vgl. RUTHERFORD 1970: 100). Trotz der grundsätzlichen Übereinstimmung mit Ross hat RUTHERFORD zwei prinzipielle Einwände gegen die Performativtilgungsregel formuliert: (a) Die Performativtilgungsregel ist selbst dann anwendbar, wenn der übergeordnete performative Satz zusätzlich Partikeln enthält. Nach Ross, darauf sei hier nochmals hingewiesen, ist die Performativtilgungsregel nicht anwendbar, wenn der Performativsatz Partikeln wie „hereby" u. a. enthält. (b) Gegen die Performativtilgungsregel spricht ferner die Tatsache, daß selbst eingebettete Performativsätze performativ verwendet werden können, vgl.: (11) I declare that I (hereby) promise to stop smoking und (12) / (hereby) declare that I promise to stop smoking die beide dem Satz (13) / (hereby) promise to stop smoking 5
Zu den Versuchen, pragmatische Erscheinungen als semantisch-syntaktische Kategorien zu fassen, gehört auch der Vorschlag von BOYD/THORNE (1969), die AUSTINS Kategorien „Sprechakt", „illokutive Kraft" und „performatives Verb" für die Analyse von Imperativsätzen sowie für die Rückführung von Fragesätzen auf Imperative verwenden.
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semantisch äquivalent sind, der deutlich macht, daß der höchste Deklarativsatz neutral und transparent ist.6 1.2.2.
SADOCKS
linguistische Sprechakttheorie
Den Inadäquatheiten, die sich für die Ross'sche Performativhypothese aus der angestrebten ,Syntaktifizierung' pragmatischer Phänomene einerseits sowie der strikten Forderung, „every deep structure contains one and only one performative sentence as its highest clause" (Ross 1970 : 261) andererseits ergeben, versucht SADOCK in seinem Ansatz zu einer linguistischen Sprechakttheorie dadurch zu entgehen, indem die illokutive Kraft eines Satzes als Teil der Bedeutung eines Satzes (Hervorhebung von uns — D. V.) aufgefaßt wird, die dem höchsten Satz in dessen semantischer Repräsentation entspricht. Der empirischen Tatsache, daß eine Vielzahl geäußerter Sätze .indirekte Illokutionen' sein können, daß sie somit eine „discrepancy between surface form and use" (SADOCK 1974: 73) aufweisen, will SADOCK dadurch gerecht werden, daß die Hypersätze, d. h. die tiefenstrukturellen Gebilde von Sätzen nicht mehr nur eine, sondern mehrere illokutive Funktionen angeben. Bei den Hypersätzen handelt es sich um Tiefenstrukturrepräsentationen von Sätzen, die den ,performativen Sätzen' bei Ross im wesentlichen gleich sind, ein signifikanter Unterschied ist aber darin zu sehen, daß Hypersätze keine lexikalischen Einheiten enthalten, sondern lediglich abstrakte (hypothetische) Kategorien, durch die Sprecher, Sprechakttyp sowie Adressat als die wesentlichsten pragmatischen Faktoren in den Tiefenstrukturen repräsentiert werden. SADOCK untersucht die hier kurz angedeuteten Probleme an imperativisch verwendeten Sätzen, die die Oberflächenform von Fragen haben, den sogenannten ,Whimperativesi (vgl. SADOCK 1970) sowie an Sätzen mit der gleichen Oberflächenform, die jedoch auf Grund ihres semantischen Wertes sowie der syntaktischen Eigenschaften als Deklarativsätze zu erklären sind. Letztere nennt SADOCK ,Queclaratives' (vgl. SADOCK 1971). Mit einer Reihe syntaktischer Tests versucht SADOCK dafür Evidenzen anzugeben, daß eine adäquate Beschreibung der sogenannten , Whimperative' für deren Tiefenstrukturen sowohl imperativisch als auch interrogative Hypersätze annehmen muß. Ein , Whimperative' von der Form (14) Will you give me a drink? würde daraufhin in seiner Tiefenstruktur einen imperativischen und einen interrogativen Hypersatz verbinden müssen: 6
Im Gegensatz zu RUTHERFORD (1970), der für die Annahme eines obersten abstrakten performativen Satzes plädiert und dafür ein obligatorisches Verb ,declare' vorsieht, arbeitet R. LAKOFF (1969: 611 ff. und 1971: 145ff.) mit sogenannten abstrakten Verben.
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Semantik und Sprechakttheorie
Größere Schwierigkeiten bereitet SADOCK die Analyse der sogenannten Queclarative, die in Abhängigkeit von den Umständen, in denen sie geäußert werden, eine Behauptung oder eine Frage ausdrücken können. Auf Grund einer gewissen semantischen, d. h. illokutiven Verwandtschaft der Queclarative mit bestimmten ,tag questions', deren Oberflächenstruktur eine Kombination aus tiefenstrukturellem Deklarativsatz und tiefenstrukturellem Interrogativsatz reflektiert, hält SADOCK eine Analyse der Queclarative in Analogie zu den.,tag questions' für gerechtfertigt. Sätze wie (16) Isn't Danish beautiful? und (17) Danish is beautiful, isn't it? wären nach diesem Analysevorschlag auf folgende Struktur zurückzuführen:
Danish
(is)
beautiful
Die Frage, wann nun Interrogativität und wann Deklarativität vorliegt, versucht SADOCK mit Hilfe syntaktischer Tests zu entscheiden. So ist beispielsweise ein Unterscheidungskriterium einleitendes ,after all', das nur in Deklarativsätzen, jedoch nicht in Fragen vorkommt. Ferner können mit ,yet' eingeleitete Behauptungen Deklarativsätzen folgen, nicht aber Fragen.
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Strukturen wie (15) und (18) benutzt SADOCK, um relevante Aspekte der Sprachverwendung mit Hilfe tiefenstruktureller Hypersätze zu beschreiben. Aus SADOCKS Argumentation ist zu entnehmen, daß es sich bei den sogenannten „Whimperatives" und „Queclaratives" um pragmatische Kategorien handelt, die als pragmatische Bedeutung in den Hypersätzen repräsentiert werden. Nach SADOCK unterscheidet sich die pragmatische Bedeutung, d. h. die illokutive Kraft nicht von dem propositionalen Akt im Sinne SEARLES bzw. einer bestimmten Art des lokutiven Aktes im Sinne AUSTINS. In jedem Falle hat die illokutive Kraft eines Satzes — wenngleich auch nur sehr subtile und vielfach mehrdeutige — Reflexe in der Oberflächenstruktur. In der semantischen Repräsentation ist das Prädikat, das die illokutive Kraft ausdrückt, das höchste agentivische Prädikat, das in einem Satz vorkommt, der das Objekt eines abstrakten DO ist, der aber selbst nicht durch einen anderen Satz dominiert wird, der ein abstraktes DO enthält. Damit versucht SADOCK die Frage nach der Repräsentation der pragmatischen Bedeutung als Bestandteil der „most remote syntactic structure" (SADOCK 1974:147) zu beantworten, eine Erklärung der jeweils vorliegenden illokutiven Funktion des geäußerten Satzes wird damit jedoch nicht gegeben. Diese Entscheidung bedarf einer Spezifikation des Kontextes. Dieser stellt aber offenbar für SADOCK keine Entscheidungsinstanz dar, durch die festgelegt wird, wann Queclarative eine Behauptung und wann sie eine Frage ausdrücken. SADOCK verläßt sich vielmehr wie schon seine Vorgänger weitgehend auf syntaktische Eigenschaften der Sätze und suggeriert mit seiner Analyse, daß Sätze wie (14) mehrdeutig sind. Nun hat SADOCK mit seiner Behauptung zwar recht, daß die von ihm zur Rechtfertigung seiner Annahmen herangezogenen Partikeln wie ,please', einleitendes ,after all' u. a. Indikatoren dafür sein können, wie eine Äußerung vom Sprecher intendiert wurde und somit vom Hörer zu verstehen ist. Die Partikeln fungieren dabei jedoch keineswegs — wie SADOCK behauptet — als Indikatoren der syntaktischen Eigenschaften von Sätzen, sie sind vielmehr Mittel zur Differenzierung der illokutiven Rolle, d. h. der kommunikativen Funktion von Äußerungen. Mit anderen Worten, durch die Einbeziehung dieser Indikatoren in die sprachliche Äußerung verdeutlicht der Sprecher seine kommunikative Intention, so daß der Hörer ohne Rückgriff auf Kontextinformationen diese Äußerungen relativ eindeutig interpretieren kann. SADOCK hypostasiert jedoch die Rolle der Partikeln für die Differenzierung der illokutiven Funktion sprachlicher Äußerungen und übersieht dabei, daß die Verwendung der Partikeln — wie auch die Verwendung der performativen Verben — noch keinen vollständigen Aufschluß über die tatsächliche Funktion, d. h. über die illokutive Rolle des aktualisierten Satzes geben kann. SADOCKS Forschungsansatz, mit dem nicht nur eine syntaktische Motivation der Performativhypothese, sondern zugleich auch eine Modifikation des Modells der generativen Grammatik angestrebt wurde, muß aus mehreren Gründen als ein nicht adäquater Versuch angesehen werden, relevante Aspekte der Sprech-
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Situation mit Hilfe tiefenstruktureller Hypersätze zu beschreiben. Die wesentlichen Ursachen für diese Inadäquatheiten sind bereits bei der Einschätzung der Ross'schen Performativhypothese genannt worden, so daß hier darauf verwiesen werden kann. Wie schon Ross gelingt es auch SADOCK nicht, seinen Versuch zur Rechtfertigung der abstrakten Performativhypothese von einer einheitlichen Erklärungsgrundlage aus vorzunehmen. SADOCK betont zwar mit Recht, daß Sprachverwendung weitaus mehr ist als ein einfaches „stringing out and stacking up propositions. For communication take place, we must also indicate what it is we are doing with these propositions, and we must also be able to apprehend the pragmatic significance of the utterances of others" (SADOCK 1974: 12). Für die Entwicklung einer linguistischen Sprechakttheorie, um die es SADOCK primär geht, werden daraus jedoch nicht die notwendigen Konsequenzen gezogen, denn die konkreten Analysen, die mit den .Whimperatives' und ,Queclaratives' durchgeführt werden, lassen den Kontext sowie Faktoren der Sprachverwendung nahezu in toto unberücksichtigt bzw. reduzieren die Probleme der ,illokutiven Rolle' sprachlicher Äußerungen weitgehend auf ein Repräsentationsproblem dieses Phänomens in den tiefenstrukturellen Gebilden der Hypersätze. Aus der Definition der illokutiven Kraft als „that part of the meaning of a sentence which corresponds to the highest clause in its semantic representation" (SADOCK 1974:19) kann geschlossen werden, daß den Repräsentationsproblemen in der Tiefenstruktur ein wesentlich größerer Stellenwert zukommt als den eigentlichen Handlungsfaktoren, die sich unter den Begriff der illokutiven Rolle subsumieren lassen.
1.3. LAKOFFS
Performativhypothese
Ross, SADOCK, RUTHERFORD U. a. sind — wie wir mit unseren Ausführungen zu zeigen versucht haben — in ihren Performativhypothesen davon ausgegangen, daß die logische Struktur eines Satzes ein performatives Prädikat enthält, das die ,illokutive Kraft' eines Satzes repräsentiert, der in einer bestimmten Situation geäußert wird. Die Rechtfertigung dieser Annahme erfolgte bei Ross ausschließlich durch syntaktische Kriterien, SADOCK, R. LAKOFF (1968, 1969a und 1969b) u. a. ziehen darüber hinaus auch semantische Kriterien heran. Weitaus schwächere Annahmen liegen der Performativhypothese zugrunde, die G. LAKOFF mit seinem Modell der generativen Semantik entwickelte (vgl. G. LAKOFF 1971a, 1971b und 1974). G. LAKOFF geht davon aus, daß (a) mit jedem Satz, der in einer bestimmten Situation zum Vollzug eines Sprechaktes geäußert wird, sich in dieser Situation eine logische Struktur verbindet, die ein performatives Prädikat enthält, das die wörtliche Bedeutung (literal meaning) des Sprechaktes ausdrückt; 11 Viehweger, Semantikforschung
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(b) jeder Satz, der in seiner Oberflächenstruktur ein deiktisches (oder indexikalisches Element) enthält, d. h. ein Element, das nur durch die Referenz auf einen Sprechakt etwas bedeutet, in seiner logischen Struktur ein performatives Prädikat hat, das die wörtliche Bedeutung des Sprechaktes ausdrückt. Mit diesen beiden Annahmen wird die Möglichkeit offen gelassen, daß es Sätze in natürlichen Sprachen gibt, die keine deiktischen Elemente enthalten und die in abstracto unabhängig von irgendeinem expliziten und impliziten Sprechakt betrachtet werden können. G. LAKOFFS Perfórmativanalyse stimmt trotz der schwächeren Annahmen in zahlreichen Grundpositionen mit den Modellvorschlägen von Ross, SADOCK, R. LAKOFF U. a. überein. Auf die grundsätzliche Übereinstimmung bezüglich der Analyse der Imperativsätze, für die in allen Performativhypothesen eine logische Struktur angenommen wird, die ein performatives Imperativprädikat enthält, dessen Argumente auf den Sprecher und den Hörer referieren, weist G. LAKÓFF ausdrücklich hin. Er macht in diesem Zusammenhang deutlich, daß die syntaktischen Evidenzen den Vorschlag eines abstrakten Performativsatzes — zumindest für Imperativsätze — voll rechtfertigen. Generell ist G. LAKOFF jedoch der Ansicht, daß die syntaktischen Argumente nicht ausreichen und nicht nur wie bei SADOCK durch semantische, sondern durch semantische und pragmatische ergänzt werden müssen. Für Imperative, Fragen und Behauptungen wird von G. LAKOFF eine logische Struktur angenommen, die folgende Repräsentation hat:
AR6
In dieser logischen Struktur wird mit 5 t der propositionale Gehalt einer Aufforderung, Frage oder Behauptung ausgedrückt. Subjekt und indirektes Objekt des performativen Verbs werden in einer logischen Form durch die indexikalischen Ausdrücke x und y repräsentiert. Regeln der Grammatik kennzeichnen das Subjekt des performativen Verbs als Subjekt der 1. Person und das indirekte Objekt als 2. Person, so daß in der logischen Form kein Hinweis auf die 1. und 2. Person enthalten sein muß. Gibt es in d. h. im propositionalen Gehalt einer Frage, Aufforderung oder Behauptung weitere Instanzen für die indexikalischen Aus-
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drücke x und y, dann werden sie als 1. und 2. Person entsprechend der .grammatical rule of person-agreement' spezifiziert, die die Person einer NP mit deren Antezedenten in Übereinstimmung bringt. Alle Vorkommen von Pronomen der 1. und 2. Person sind demzufolge entweder das Subjekt oder indirekte Objekt eines performativen Verbs oder werden dies durch die erwähnte ,rule of personagreement'. Die oben angegebene logische Struktur liegt nicht nur Behauptungen, Fragen und Aufforderungen mit explizitem performativem Verb zugrunde, sondern auch Äußerungen mit der illokutiven Funktion von Behauptungen, Fragen und Aufforderungen, in deren Oberflächenform kein performatives Verb vorkommt, d. h. Äußerungen, die keine explizite performative Formel enthalten und demzufolge als indirekter Sprechakt zu interpretieren sind (vgl. 2.7.). Um diese Annahme in ihrer Konsequenz richtig beurteilen zu können, macht es sich erforderlich, die Grundvorstellung des LAKOFFschen Grammatikmodells hier kurz zu charakterisieren. Eine Grammatik erzeugt nach G. LAKOFF (1974) Quadrupel der Form (5, L, C, CM), wobei S L
für Satz bzw. dessen phonetischer Repräsentation steht; eine modelltheoretisch interpretierte logische Struktur ist, die die wörtliche Bedeutung (literal content) eines Satzes repräsentiert; C eine konsistente Menge logischer Strukturen und CM eine Sequenz logischer Strukturen ist, die die übertragenen Bedeutungen (conveyed meanings) eines Satzes relativ zum Kontext C repräsentiert. Der Grund für die Repräsentation der übertragenen Bedeutungen als Sequenz ist darin zu sehen, daß Sätze in der Regel eine wörtliche Bedeutung plus eine oder mehrere übertragene Bedeutungen haben können.
Paare der Form (S, L) werden durch Derivationen charakterisiert, d. h. durch Sequenzen von Bäumen, die S und L verbinden. Jede Derivation D charakterisiert dabei eindeutig ein Paar (S, L). Daraufhin könnte man auch sagen, daß efne Grammatik Tripel der Form (D, C, CM) erzeugt, wobei D ein Paar (5, L) determiniert. Die Derivationen sind nicht schlechthin wohlgeformt oder nicht wohlgeformt, sie sind es nur in bezug auf den Kontext C und in bezug auf die übertragenen Bedeutungen CM. Derivationen werden durch lokale und globale Korrespondenzregeln charakterisiert. Transderivationelle Regeln sind Beschränkungen, die spezifizieren, welche Derivationen in bezug auf Kontext und übertragene Bedeutungen wohlgeformt sind. Mit der prinzipiellen Unterscheidung von wörtlicher und übertragener Bedeutung will G. LAKOFF in seinem Modellvorschlag der empirischen Tatsache Rechnung tragen, daß Äußerungen in Abhängigkeit vom Kontext ganz unterschiedliche illokutive Funktionen haben können. Ein Satz wie ii*
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(20) Would you pass me the salt? ist in seiner wörtlichen Bedeutung eine Frage, häufiger wird dieser Satz jedoch in übertragener Bedeutung, d. h. nicht wörtlicher Bedeutung als Bitte bzw. Aufforderung verwendet. In allen Fällen, in denen wie in (20) ein geäußerter Satz mehrere kommunikativen Funktionen haben kann, werden nach G. LAKOFF beim Äußern dieses Satzes die wörtlichen Bedeutungen ebenfalls übermittelt, und die übertragenen, d. h. die nicht wörtlichen Bedeutungen entstehen nur auf Grund der übermittelten wörtlichen Bedeutungen. Ein angemessenes Verfahren, das die Relation zwischen der wörtlichen und übertragenen Bedeutung erklärt, sieht G. LAKOFF in der Anwendung des sogenannten ,context dependent entailment' in Verbindung mit der Performativanalyse. In Anlehnung an GRICE (1968) wird die Annahme formuliert, daß bestimmte Konversationspostulate existieren, auf denen diese Relationen basieren. Es wird ferner angenommen, daß die wörtlichen Bedeutungen zusammen mit den Postulaten die konversationeil implizierten übertragenen, d. h. die nicht wörtlichen Bedeutungen, enthalten. Da die Anwendung der Konversationspostulate von den Kontexten abhängt, postuliert G. LAKOFF Kontextklassen als endliche konsistente Mengen logischer Strukturen, von denen jede diejenigen Kontexte charakterisiert, in denen jede logische Struktur der Kontextklasse wahr ist. Als Beispiel für ein von G. LAKOFF vorgeschlagenes Konversationspostulat kann (21) dienen: (21) ASSUME (*, NOT RELEVANT (WANT (x, O))) & SAY (x, y WANT (x, Q)) -* REQUEST (x, y, Q) „Wenn x annimmt, daß es nicht relevant ist, daß er Q wünscht und zu y sagt, er wünscht Q, dann ersucht er y Q zu tun". In der ursprünglichen Konzeption der Konversationspostulate (GORDON und G . LAKOFF 1971) wurde von der Annahme ausgegangen, bei den Postulaten handle es sich um „culture-specific principies of social interaction". In G. LAKOFF (1974) wird der damit angedeutete generelle Bezug auf sprachliche Handlungszusammenhänge in gesellschaftlichen Situationen wieder zurückgenommen. G. LAKOFF weist ohne Angabe von Gründen darauf hin, daß ihm Zweifel an dieser Interpretation gekommen seien und schlägt vor, die Konversationspostulate lediglich als „meaning postulates or theoremes of natural logic that happen to contain performative predicates" (G. LAKOFF 1974: X-28) aufzufassen. Was sind die grundsätzlichen Innovationen, die die Performativhypothese G . LAKOFFS gegenüber den vorherigen Modellvorschlägen auszeichnen? G . LAKOFFS Performativhypothese geht zunächst von der Annahme aus, daß die Theorie der generativen Semantik erweitert werden muß, wenn sie der Tatsache gerecht werden will, die Bedeutung von Sätzen im Zusammenhang mit den Kontextbedingungen zu beschreiben und zu erklären. Für diese Erweiterung sind
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nach G. LAKOFF eine natürliche Logik sowie transderivationelle Regeln erforderlich, wobei die natürliche Logik den Begriff des .Entailment' charakterisiert, insbesondere das Enthaltensein eines Satzes in einer Kontextklasse als einer endlichen konsistenten Menge logischer Strukturen. Zur Explikation der konversationeil implizierten, d. h. nicht wörtlichen Bedeutungen werden bestimmte Konversationspostulate eingeführt, die von bestimmten Regeln der Grammatik abhängen. Aus der ,Semantisierung' aller pragmatischen Phänomene werden nicht nur die Rechtfertigung für eine einheitliche Performativhypothese abgeleitet, sondern Zugleich auch die Schlußfolgerung gezogen, daß „no additional pragmatic theory is necessary for an account of speech acts and conversational implicatures, provided that one accepts the goals of natural logic and the need for global transderivational grammars" (G. LAKOFF 1974: X-28). Der Erklärungsrahmen der LAKOFFschen Performativhypothese ist zweifelsohne weiter als der, der in den vorangegangenen Modellvorschlägen abgesteckt wurde. Das wird vor allem darin sichtbar, daß G. LAKOFF im Gegensatz zu SADOCK das illokutive Aktpotential weitaus stärker ausschöpft und in systematischerer Weise auf Bedingungen für sprachliches Handeln zurückgreift, als dies beispielsweise bei Ross, RUTHERFORD, HERINGER U. a. überhaupt der Fall war. Trotz der Verbesserungen, die dadurch für das Modell der generativen Semantik erreicht werden, gelingt es G. LAKOFF nur zum Teil, den funktionalen Handlungszusammenhang, in dem Sätze geäußert werden, in seiner semantisch-pragmatisch motivierten Performativhypothese zu rekonstruieren. Dafür sind u. E. folgende Gründe anzuführen. Nach G. LAKOFF sind alle pragmatischen Faktoren, die für die Explikation der konversationeil implizierten Bedeutungen relevant sind, als semantische Eigenschaften der Sätze zu betrachten und somit auch der Semantiktheorie einzuverleiben. Eine Theorie der Pragmatik, die sprachliche Handlungen sowie die jeweiligen Kontexte beschreibt, in denen sie vollzogen werden, wird daraufhin als überflüssig angesehen. Wenngleich bisher nur das Gerüst dieser erweiterten Semantiktheorie durch G. LAKOFF entwickelt wurde und somit ein umfassenderer Theoriekontext noch fehlt, so wird doch daraus bereits ersichtlich, daß mit der Anreicherung der Semantik durch pragmatische Faktoren nur ein relativ begrenzter Ausschnitt des komplizierten Gefüges kommunikativer Bedingungen erfaßt wird, unter denen Sätze geäußert werden. So abstrahiert G. LAKOFFS Performativhypothese nicht nur weitgehend von den konkreten gesellschaftlich-geschichtlichen Kontexten, in denen Menschen kommunizieren, sie abstrahiert damit gleichzeitig auch von den Zielen der gesellschaftlichen Kommunikation und läßt den Kontext, in dem die grundlegenden Kategorien von Sprechakten zu bestimmen sind, weitgehend unberücksichtigt.
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2. Sprechen als Handeln. Ansätze zu einer Théorie sprachlichen Handelns Mit den bisherigen Ausführungen wurden Forschungsansätze charakterisiert, deren Ziel es ist, bisher als irrelevant ausgeschlossene Faktoren der Kommunikationssituation als grammatische Kategorien zu fassen und in existierende Grammatikmodelle zu integrieren. Grammatiktheorien, die wie die generative Grammatik abstrakte, isolierte Sätze als Untersuchungsgegenstand haben und eine strikte Trennung zwischen abstrakten sprachlichen Strukturen und ihrer Aktualisierung vornehmen, stellten — wie aus den in 1. behandelten Modellvorschlägen deutlich wurde — keine adäquate Grundlage für die Beschreibung der Vielzahl neuer Faktenbereiche dar, die in die Grammatikbeschreibung einbezogen wurden. Dies trifft vor allem auf Modelle wie das von CHOMSKY (1965) entwickelte zu, das von den Bedingungen der Kommunikation und all ihren sozialen Implikationen abstrahiert. Wir haben in der gedrängten Problemübersicht deutlich zu machen versucht, daß es sich bei den in 1.1.—1.3. behandelten Modellvorschlägen im wesentlichen um bestimmte Verbesserungen' der generativen Grammatik handelt, nicht aber um grundsätzliche Revisionen ihrer zentralen theoretischen und methodologischen Positionen. Der von Ross, SADOCK, LAKOFF U. a. eingeschlagene Weg, Handlungsaspekte der Sprache mit dem von CHOMSKY entworfenen und in der Folgezeit mehrfach erweiterten Modell der generativen Grammatik zu erfassen, zielt auf eine Ausweitung des Gegenstandsbereichs der Grammatik ab. In den methodologischen Konsequenzen weist dieser Weg zahlreiche Gemeinsamkeiten mit dem auf, der in der Grammatiktheorie mit dem Übergang von rein syntaktischen Theorien zu solchen vollzogen wurde, die die Semantik einbeziehen. Trotz des umfassenderen Orientierungsrahmens, der mit der in Abschnitt 1. beschriebenen Ausweitung des Gegenstandsbereichs der Grammatik abgesteckt wurde, bleibt dies letztlich ein isolationistisches Herangehen an die Bestimmung des Begriffs des Sprachsystems, denn die für die Mehrzahl strukturalistischer Schulen und Richtungen charakteristische absolute Trennung zwischen Grammatiktheorie und Theorie der Kommunikation wird auch mit den Forschungsansätzen beibehalten, die wir unter den Begriff der Performativhypothese eingehender charakterisiert haben. Zwar reichen die Erkenntnisse, die von SADOCK, LAKOFF U. a. gewonnen wurden, vielfach über den kategorialen Rahmen hinaus, der mit den Grammatikmodellen abgesteckt wurde. Zu einem Theorieverständnis von Grammatiktheorie, nach dem die Grammatiktheorie als Teiltheorie in einem Gefüge linguistischer Theorien konzipiert wird, die unterschiedliche Seiten natürlicher Sprachen abbilden und in einem sachlichen und logischen Zusammenhang stehen, hat dieser Weg nicht geführt. Die entscheidende Rolle, die dem Sprachsystem — was immer darunter im einzelnen verstanden wird — für das sprachliche Handeln zukommt, ist von den in
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Abschnitt 1. charakterisierten Forschungsansätzen mehrfach hervorgehoben worden. Als problematisch erwies sich dabei aber die Begründung des konkreten Gegenstandsbereichs einer Theorie des Sprachsystems und speziell die Frage, mit welcher Begründung eine Theorie des Sprachsystems von Tatsachen des sprachlichen Handelns absehen kann bzw. wie die von einer Theorie des Sprachsystems erfaßte Seite der Sprache mit jenen Seiten der Sprache zusammenhängt, die durch andere Theorien darzustellen sind. Von besonderer Bedeutung für die Weiterentwicklung der Grammatiktheorie, insbesondere aber für die Theorie der Semantik, waren zahlreiche Anregungen, die von der Logik und analytischen Sprachphilosophie einerseits und der kulturhistorischen Schule der Psychologie andererseits ausgegangen sind und in der Folgezeit zur Entwicklung zahlreicher linguistischer Forschungsrichtungen geführt haben, die sich als linguistische Sprechakttheorie und Theorie der sprachlich-kommunikativen Tätigkeit etabliert haben. Beide Theorien gehen von der Überlegung aus, daß sprachliche Phänomene im Kontext umfassender Systeme menschlichen Handelns zu beschreiben sind. Der isolationistischen Betrachtungsweise des Sprachsystems stellen sie eine integrative Betrachtungsweise gegenüber, mit der sie den Orientierungsrahmen festlegen, in dem Sprache zu beschreiben ist. Entsprechend der Zielstellung unserer Arbeit werden wir uns im folgenden auf die Beschreibung der theoretischen und methodologischen Positionen konzentrieren, die in der von WITTGENSTEIN (1967) inspirierten und von AUSTIN und SEARLE entworfenen Sprechakt- bzw. Sprechhandlungstheorie entwickelt wurden.
2.1. Der Begriff sprachliches Handeln' Im Zuge der Hinwendung der Linguistik zu einer Theorie der Pragmatik bzw. zu einer erweiterten Theorie der Semantik hat der Begriff der sprachlichen Handlung eine Schlüsselfunktion erhalten und ist heute in dieser oder jener Form in einer Vielzahl linguistischer Forschungsansätze anzutreffen. Nach SEARLE (1975) ist die Sprechhandlung bzw. der Sprechakt die minimale Einheit der sprachlichen Kommunikation. MAAS und WUNDERLICH (1972) verstehen „Sprechen als gesellschaftliches Handeln" und sehen eine Schwerpunktaufgabe der Linguistik darin, „Sprachen als Produkte vergangenen Handelns" zu beschreiben. HENNE (1978) grenzt aus der Gesamtheit sozialer Handlungen des Menschen das sprachkommunikative Handeln aus, das dadurch gekennzeichnet ist, daß es auf Zusammenhänge und Ereignisse verweisen kann, die außerhalb des Situationszusammenhangs stehen, in dem sich die Sprachkommunikation ereignet. Die zitierten Beispiele, die stellvertretend für die Vielzahl linguistischer Handlungsbegriffe bzw. Sprechaktdefinitionen stehen, machen deutlich, daß der Handlungsbegriff in der gegenwärtigen Linguistik offenbar zu den universellsten Abstraktionen gehört, die unab-
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hängig von dem Kontext, in dem sie gebraucht werden, ein und dieselbe Rolle spielen. Eine eingehende Analyse der den einzelnen Forschungsansätzen zugrunde liegenden Handlungsbegriffen zeigt jedoch, daß der Begriff des sprachlichen Handelns ganz unterschiedlichen Theorietraditionen entstammt und somit auch nicht losgelöst von dem theoretischen System interpretiert und erklärt werden kann, in dem er entstanden bzw. aus dem er in linguistische Theoriezusammenhänge gestellt wurde. Da der Begriff der Sprechhandlung bzw. des Sprechakts in den folgenden Ausführungen eine zentrale Stellung einnimmt, scheint es zweckmäßig, zunächst in groben Zügen jene Dimensionen kurz zu charakterisieren, die sich für eine Sprachtheorie aus einem handlungsorientierten Forschungsansatz ergeben. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß unter den Begriff sprachliche Handlung häufig Erkenntnisse subsumiert werden, die in Abhängigkeit von dem Gesamtkontext, in dem sie entstanden sind, ganz unterschiedliche Sachverhalte problematisieren. Der folgende Versuch eines Überblicks über die gegenwärtige Problemlage soll zunächst dazu dienen, bestimmte allgemeine Theoriezusammenhänge des Begriffs sprachliche Handlung' aufzuhellen. Spezielle Aspekte von Sprechhandlungen, insbesondere die notwendigen und hinreichenden Bedingungen für die Ausführung einer Sprechhandlung, werden am Ende dieses Kapitels ausführlicher behandelt. Auf die Entwicklung einer Theorie sprachlichen Handelns haben folgende Richtungen einen mehr oder minder großen Einfluß ausgeübt: (a) wesentliche Impulse auf die Entwicklung linguistischer Handlungstheorien gingen vor allem von den „Philosophischen Untersuchungen" WITTGENSTEINS aus, in denen durch die Einführung des Begriffs des,Sprachspiels' das Sprechen der Sprache als Teil einer Tätigkeit bzw. Lebensform verstanden wird, die Menschen nach bestimmten Regeln vollziehen; ein Spiachspiel ist nach WITTGENSTEIN stets ein aus sprachlichen und nicht sprachlichen Tätigkeiten verwobenes Ganzes, dessen Regeln weder ein für allemal konstruiert bzw. rekonstruiert noch in privater Gewißheit befolgt werden können, sondern in der sozialen Praxis erarbeitet und verändert werden müssen. (b) der entscheidende Einfluß auf die Entwicklung eines linguistischen Handlungsbegriffs ging von der angelsächsischen Handlungsphilosophie, insbesondere von AUSTINS philosophischem Hauptwerk „How to do things with words" und der sich daraus entwickelnden Sprechakttheorie aus, die den Handlungsaspekt der Sprache vor allem durch sozialsituative Voraussetzungen sowie durch die Folgen sprachlichen Handelns zu bestimmen versuchten. (c) bedeutende Anregungen erhielt die Theorie sprachlichen Handelns aus verschiedenen Entwicklungsrichtungen psychologischer Verhaltenstheorien sowie der Tätigkeitstheorie ( L . S. VYGOTSKIJ und A. N . LEONT'EV), durch die insbesondere der Aspekt der Produktion sprachlicher Handlungen anhand von
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Modellen der kommunikativen Kompetenz einer psychologischen Validierung näher gebracht wurde. (d) eine andere Traditionslinie verbindet die Theorie sprachlichen Handelns mit d e r H a n d l u n g s l o g i k ( v o n WRIGHT, NOWAKOWSKA, BRENNENSTUHL u n d HARE),
die vor allem Aspekte der Produktion sprachlicher Handlungen eingehender untersuchte und systematisierte. (e) wichtige Impulse gingen ferner von den zahlreichen Forschungsansätzen zu e i n e r l i n g u i s t i s c h e n P r a g m a t i k (STALNAKER, WUNDERLICH, MAAS, REHBEIN,
BALLMER und EHLICH) aus, deren Hauptziel es ist, sprachliche Handlungen in ihrem systematischen Zusammenhang mit den Kontexten zu beschreiben, in denen sie vollzogen werden. (f) zahlreiche Anleihen für die Entwicklung eines sprachlichen Handlungsbegriffs wurden bei soziologischen Handlungstheorien gemacht, insbesondere bei WEBERS Begriff des sozialen Handelns, das als solches Handeln verstanden wird, „welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert i s t " (WEBER 1 9 5 6 : l ) . 7
Offenbar sind damit nicht alle Traditionslinien linguistischer Handlungstheorien erfaßt. Unsere Aufzählung erhebt auch gar nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. Sie will vielmehr auf zwei methodologisch bedeutsame Probleme hinweisen, denen in der Literatur bisher nicht immer , die erforderliche Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Erstens wird aus der knappen Charakterisierung der Richtungen, die auf die Entwicklung eines linguistischen Handlungsbegriffs einen mehr oder minder starken Einfluß ausgeübt haben, deutlich, daß hinter ein und demselben Namen .Handlung' keineswegs immer gleichartige Begriffe stehen. Daraus ergibt sich zweitens, daß die einzelnen Handlungskonzepte ganz unterschiedliche Sachverhalte thematisieren und somit auch ein ganz unterschiedliches Erklärungspotential besitzen. Es ist hier nicht der Platz, die unterschiedlichen Handlungskonzepte eingehender zu betrachten und auf ihre Tragfähigkeit hin zu analysieren. Entsprechend der Zielstellung unserer Arbeit werden wir nach der Betrachtung allgemeiner Aspekte sprachlicher Handlungen nur diejenigen Gesichtspunkte herausgreifen, die in den einzelnen Forschungsansätzen für die Entwicklung einer linguistischen Sprechakttheorie als konstitutiv angesehen werden. In der Mehrzahl der vorliegenden Definitionsvorschläge werden für den Begriff der sprachlichen Handlung vor allem folgende Bestimmungsstücke als wesentlich erachtet: (1) Sprachliche Handlungen werden — wie andere Handlungen auch — im 7
Siehe d a z u ausführlicher HARRAS (1978), insbesondere S. 3—81, KELLER (1977), REHBEIN ( 1 9 7 7 ) u n d VIEHWEGER ( 1 9 7 9 ) .
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wesentlichen durch die mit ihnen verfolgten Intentionen bestimmt, d. h., mit dem Vollzug einer sprachlichen Handlung intendiert der Sprecher, daß ein bestimmter Zustand herbeigeführt oder verhindert wird. Sprachliche Handlungen dienen somit der Erreichung bestimmter Ziele bzw. der Herbeiführung eines bestimmten Zustandes. Dabei ist das Ziel des Handelnden eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für das Zustandekommen einer Handlung. Handlungsziele müssen vom handelnden Subjekt für grundsätzlich realisierbar gehalten werden.8 (2) Sprachliche Handlungen unterliegen bestimmten Normen bzw. werden nach bestimmten Konventionen oder Regeln vollzogen, die zum kollektiven Wissen der Kommunikationspartner gehören. Bei der Ausführung einer sprachlichen Handlung kommen zwei Konventionalitätsebenen ins Spiel: das System der grammatischen Regeln, denen ein Sprecher in seinem sprachlichen Handeln folgt, sowie die Regeln des symbolischen, speziell verbalsymbolischen Handelns, durch die der Kommunikationsablauf steuerbar wird.9 8
9
Vgl. von WRIGHT (1974: 98): „Ich kann nur solche Dinge zu tun beabsichtigen — und daher auch wollen in dem Sinne von .beabsichtigen' — von denen ich glaube, daß ich sie tun kann, zu denen ich mich imstande fühle." Diese allgemeine Charakterisierung der Intentionalität sowie die Voraussetzungen ihrer Realisierbarkeit wurde zunächst unterschiedslos auf Handlungen und somit auch auf sprachliche Handlungen bezogen. Später erhielt der Intentionsbegriff der sprachlichen Handlung zahlreiche Präzisierungen. Nach SCHIFFER (1972: 62) enthält der Begriff der sprachlichen Handlung zwei intentionale Faktoren: „Generally, when a person does an act X a distinction can be made between (1) the intention(s) with which the person did x ( = Primärintention, die als Begründung für die Ausführung einer Handlung geltend gemacht werden kann — D. V.) and (2) certain other intentions that person merely had in doing X ( = sekundäre Intention — D. V.). GRICE(1967: 45): hat zwei notwendig zur Primärintention hinzukommende Intentionen in Abhängigkeit zueinander formuliert: „A must intend to induce by x a belief in an audience, and he must also intend his utterance to be recognized as so intended. But these intentions are not independent; the recognition is independent by A to play its part in inducing the belief, and if it does not do something will have gone wrong with the fulfllment of A's intentions". Anders ausgedrückt heißt dies: (a) Der Sprecher will, daß der Adressat etwas Bestimmtes weiß, glaubt, annimmt usw. oder etwas Bestimmtes tut. (b) Der Sprecher hat die Absicht, daß der Adressat (a) erkennt. (c) Der Sprecher wünscht, daß die Erkenntnis von (a) durch den Adressaten für dessen Reaktion eine bestimmte Rolle spielt. (d) Der Sprecher will, daß der Adressat erkennt, daß (2). Vgl. WUNDERLICH (1972: 13f.). In ähnlicher Weise differenziert auch HARRAS (1978 : 49) die Regelbefolgung, die bei der Ausführung kommunikativer Handlungen in unterschiedlicher Weise in zwei Handlungsstadien relevant wird: „einmal bei der Art und Weise der Verwendung eines kommunikativen Mittels, im Fall sprachlicher Äußerungen der Formulierung, und zum anderen bei der Verwendung eines ganz bestimmten Mittels in bezug zu einem ganz bestimmten Ziel".
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(3) Als eine Grundvoraussetzung sprachlicher Handlungen wird die Tatsache angesehen, daß die handelnde Person eine oder mehrere andere Personen in ihre Handlung einbezieht. Die Involvierung einer oder mehrerer Personen in eine Handlung ist in zweifacher Weise zu verstehen: ein Sprecher fuhrt eine sprachliche Handlung aus, (a) um sein Ziel in bezug auf einen Adressaten zu realisieren oder (b) um sein Ziel mittels eines Adressaten zu realisieren. Mit anderen Worten: sprachliche Handlungen sind auf das Verhalten anderer gerichtet und werden daher als symbolisch vermittelte Interaktionen verstanden. (4) Sprachliche Handlungen setzen die Existenz bestimmter Handlungsmittel voraus. (5) Der Vollzug einer sprachlichen Handlung wird durch bestimmte Präferenzen determiniert, die sich auf individuelle Wünsche und Bedürfnisse des Sprechers sowie auf gesellschaftlich vermittelte Wünschbarkeiten (Normen, Gesetze u. a.) beziehen. (6) Sprachliche Handlungen werden in Abhängigkeit von der Situationseinschätzung und -bewertung durch konkrete Ausdrucksmittel realisiert. Die Aspekte sprachlicher Handlungen, die durch (1)—(5) thematisiert werden, sind in den einzelnen Modellvorschlägen mehr oder weniger umfassend beschrieben und systematisch erklärt worden. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, daß die Begriffe ,Intentionalität' und ,Konventionalität' in sprachtheoretischen Kontexten häufig in einem allgemeinphilosophischen Sinne verwendet werden, ohne daß es nötig scheint, diesen Begriffen eine gegenstandsspezifische Interpretation zu geben, durch die sie letztlich erst eine reale Funktion in einer Wissenschaft erhalten und somit als Erklärungsprinzip dienen können. Dem in (6) dargestellten Problem wurde demgegenüber in linguistischen Handlungstheorien — sieht man von gelegentlich anzutreffenden fragmentarischen Äußerungen ab, durch die der Begriff des sprachlichen Handelns einen mentalistischen Anstrich erhält — bisher kaum Aufmerksamkeit geschenkt, so daß dieser bedeutsame Aspekt in den einzelnen Definitionsvorschlägen nicht zum Tragen kommen konnte. Zweifelsohne werden durch die in (1)—(6) angeführten Merkmale wesentliche Bestimmungsstücke sprachlicher Handlungen genannt, die als Anhaltspunkte für die Entwicklung eines expliziten Konzepts sprachlichen Handelns dienen können. Zwei methodologische Probleme bleiben dabei jedoch weitgehend ungelöst. Zum einen bleibt in zahlreichen Explikationsversuchen offen, in welchem Verhältnis die in (1)—(6) exemplarisch vorgeführten Bestimmungsstücke sprachlicher Handlungen stehen. Zum anderen ist in den bisherigen Definitionsvorschlägen weitgehend unberücksichtigt geblieben, daß das verwendete Kategorieninventar noch unvollständig ist und somit für die Entwicklung eines adäquaten Begriffs sprachlichen Handelns noch nicht ausreicht. Die Hauptursachen für diese Inadäquatheiten sind vor allem in den Ausgangspositionen zu sehen, in den Voraussetzungen, von denen aus das sprachliche handelnde Subjekt in den einzelnen Modellvorschlägen zum Ausgangs-
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punkt der Analyse gemacht wird. Drei nach unserem Dafürhalten entscheidende Unzulänglichkeiten sollen im folgenden thesenartig dargestellt werden. 10 In einer Reihe bisher entwickelter Forschungsansätze zu einer Theorie sprachlichen Handelns wird das menschliche Individuum nicht als ein schöpferisch tätiges, aktiv handelndes Wesen verstanden, das sich in ständiger Wechselbeziehung mit der Umwelt befindet, aktiv auf diese einwirkt und sie verändert, sondern als Abstraktum ohne historischen und sozialen Inhalt. Die sprachlich handelnden Individuen sind Sprecher bzw. Hörer an sich, die isoliert von den konkreten Kontexten kommunizieren. Mit der Isolation der Sprecher von den gesellschaftlichen Kontexten wird zugleich vielfach auch von den Zielen der Kommunikation abstrahiert. Versuche, die gesellschaftliche Dimension in linguistischen Handlungstheorien zu rekonstruieren, erschöpften sich häufig in der mechanischen Einführung eines sozialen Kontextes, in dem die Vielfalt der sozialen Beziehungen unberücksichtigt blieb. Auf diese Weise werden sprachliche Handlungen vorwiegend als Handlungen individueller Subjekte charakterisiert und nicht auf den geschichtlich konkreten gesellschaftlichen Arbeits- und Lebensprozeß des Menschen bezogen. Eine detaillierte Analyse der einzelnen Handlungskonzepte macht deutlich, daß die Tragweite dieser Einsicht offenbar nicht voll erkannt wurde, so daß linguistische Handlungstheorien nicht oder nur partiell zu der Erkenntnis vordringen konnten, daß sprachliche Handlungen ihre Grundlage und ihre entscheidenden Triebkräfte letztlich in der materiellen, gegenständlichgesellschaftlichen Tätigkeit des Menschen haben (vgl. HELBIG 1978, KOZLOVA 1 9 7 2 , M A A S 1 9 7 2 u n d SCHLIEBEN-LANGE 1 9 7 5 ) .
— In der Vielzahl existierender sprachlicher Handlungs- bzw. Sprechakttheorien wird das handelnde Subjekt häufig nur als ein Subjekt angesehen, das auf Umweltreize reagiert und sich rezeptiv verhält, nicht aber als ein Subjekt, das mit Hilfe des Denkens die Wirklichkeit verallgemeinert widerspiegelt und die Resultate seiner zukünftigen Handlung gedanklich zu antizipieren, nach bestimmten Plänen zu realisieren und an Hand der Einschätzungen des Erfolgs zu kontrollieren vermag. Ein so verstandener Handlungsbegriff negiert den untrennbaren Zusammenhang von Handeln und Bewußtsein und reduziert das handelnde Subjekt somit weitgehend auf ein rein mechanisch handelndes Wesen. — Schließlich ist in dem gedrängten Verallgemeinerungsversuch darauf hinzuweisen, daß Schlußfolgerungen über sprachliche Handlungen häufig nur auf der Grundlage einzelner Sprechakte bzw. isolierter Handlungsausschnitte gezogen werden, nicht aber auf der Grundlage des gesamten Systems der sprachlichen Handlungen, der sprachlich-kommunikativen Tätigkeit des Menschen. Zwar wird nicht selten unterstrichen, daß zahlreiche Sprechhandlungen per Konvention zur Fortführung einladen (vgl. AUSTIN 1975 und SEARLE 1977), für 10
Siehe d a z u a u s f ü h r l i c h e r die kritischen B e m e r k u n g e n in HEESCHEN (1976) u n d STREEK (1978).
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die konkreten Analysen jedoch wurden in den sprechakttheoretischen Modellvorschlägen daraus nur in den seltensten Fällen die erforderlichen Konsequenzen gezogen. 2.2. AUSTINS Theorie der Sprechakte. Lokutiver VJ. illokutiver Akt In 2.1. wurde bereits im Zusammenhang mit der exemplarischen Vorstellung allgemeiner Aspekte des sprachlichen Handlungsbegriffs darauf hingewiesen, daß ein ganz wesentlicher — wenn nicht der wesentlichste — Anstoß für die Entwicklung alternativer linguistischer Modellvorschläge, die auf keine bloße Modifikation theoretischer und methodologischer Positionen der Grammatiktheorie abzielten, sondern deren grundsätzliche Revision anstrebten, von J. L. AUSTINS Werk „How to do things with words" ausgegangen ist. AUSTINS sprechakttheoretischer Ansatz war, obwohl er auf Fragestellungen zugeschnitten war, die die Grammatiktheorie bis dahin überhaupt nicht oder nur am Rande interessierten, für die Weiterentwicklung der Grammatiktheorie in den USA sowie in mehreren europäischen Ländern in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung. Einerseits wurde mit der handlungsorientierten Sprachbetrachtung das relativ stabile und bis dahin als verbindlich angesehene „methodologische Paradigma" der grammatiktheoretischen Forschung beträchtlich erschüttert. Mit seinen Analysen hat AUSTIN gezeigt, daß die Entwicklung neuer Fragestellungen die Notwendigkeit mit sich bringt, eine neue Art linguistischer Daten anzuerkennen, die wiederum die Erarbeitung neuer Forschungsinstrumente und -verfahren bedingen, d. h. eine methodologische Umorientierung erforderlich machen. Darüber hinaus hat AUSTIN mit seiner Sprechakttheorie erstmals der bis dahin dominierenden Auffassung widersprochen, Sprache diene vor allem dazu, wahrheitsdefmite Aussagen zu formulieren. In seinem sprachphilosophischen Hauptwerk hält AUSTIN dem,deskriptiven Fehlschluß' die Beobachtung entgegen, daß es zahlreiche Äußerungen gibt, die zwar die grammatische Form von Tatsachenfeststellungen haben, die aber weder etwas beschreiben oder behaupten, sondern den Vollzug einer Handlung darstellen. AUSTIN zieht aus der Tatsache, daß Äußerungen in Kommunikationssituationen Bedeutungen annehmen können, die aus ihrer wörtlichen Bedeutung nicht erklärt werden können, den Schluß, daß Sprache nicht losgelöst von den sprechenden Menschen und ihren Beziehungen untereinander beschrieben werden kann. Da nahezu alle linguistischen wie auch sprachphilosophischen Forschungsansätze, die in den letzten Jahren unter Bezeichnungen wie Sprechakttheorie, Konversationsanalyse, linguistische Pragmatik, handlungsbezogene Textlinguistik, Diskursanalyse u. a. auf AUSTINS Sprechakttheorie zurückgreifen bzw. von dem Theorieansatz profitieren, der in AUSTINS sprachphilosophischem Hauptwerk entwickelt wird, erweist es sich als zweckmäßig, wenigstens in groben Zügen einige Grundpositionen zu skizzieren, die auf die Entstehung und Entwicklung der
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erwähnten Richtungen einen entscheidenden Einfluß ausgeübt haben. Im Zusammenhang mit diesem Rekurs soll gleichzeitig auf eine Reihe in der Literatur anzutreffender unvollständiger und zum Teil voneinander abweichender Vorstellungen näher eingegangen werden, die durch die unterschiedlichen Rezeptionsversuche der AusTiNschen Theorie der Sprechakte entstanden sind. AUSTINS Theorie der Sprechakte ist ein Beitrag zur Klärung der Frage, was unter dem Gebrauch einer sprachlichen Äußerung zu verstehen ist. Nach der im wesentlichen durch WITTGENSTEIN beeinflußten Auffassung der Philosophie der normalen Sprache besteht die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke in ihrem Gebrauch. Unterschiedlich gebrauchte sprachliche Äußerungen haben somit eine unterschiedliche Bedeutung. Diese These bedarf einer ausführlichen Erörterung, die wir anhand eines Beispiels vornehmen wollen. Wenn ein Sprecher einem Hörer gegenüber den Satz (22) Heute abend rufe ich dich an
äußert, dann äußert er einen Satz der deutschen Sprache, der nach den Regeln der deutschen Grammatik korrekt gebildet ist und den jeder, der des Deutschen mächtig ist, versteht, unabhängig davon, ob er weiß, wann und mit welcher Absicht der Satz geäußert wurde. Jeder vermag den Sachverhalt, der mit der Bedeutung dieses Satzes ausgedrückt ist, zu verstehen, jedoch weiß nicht jeder, was der Sprecher tut, indem er (22) äußert. Der Sprecher kann seinem Hörer gegenüber mitteilen, daß er ihn heute abend anruft, er kann aber auch ein Versprechen damit zum Ausdruck bringen, den Hörer warnen oder auch drohen wollen usw. Ob (22) als Behauptung, Versprechen, Warnung, Drohung usw. zu verstehen ist, liegt noch in keiner Weise fest, wenn die Bedeutung des Satzes bereits festliegt. Um die verschiedenen Verwendungsweisen von (22) zu kennzeichnen, sind weitere Unterscheidungen zu treffen. Ein Sprecher, der einen Satz äußert, vollzieht nach AUSTIN drei simultane Akte bzw. Handlungen. Wenn ein Sprecher (22) äußert, indem er dem Hörer sagt, daß er ihn heute (am 20. Dezember, am Donnerstag) anrufen wird, dann vollzieht er damit nach AUSTIN einen lokutiven Akt, d. h. er artikuliert ein komplexes Schallgebilde (phonetischer Akt), äußert damit gleichzeitig bestimmte Wörter in einer bestimmten grammatischen Konstruktion (phatischer Akt) und verwendet diese mit einer mehr oder minder bestimmten Bedeutung (rhetischer Akt). Wenn der Sprecher jedoch mit seiner Äußerung dem Hörer etwas mitteilt, verspricht, ihn warnt usw., dann kennzeichnet er damit den illokutiven Akt, den er mit seiner Äußerung vollzieht, d. h. „einen Akt, den man vollzieht, indem man etwas sagt im Unterschied zu dem Akt, daß man etwas sagt" (AUSTIN 1 9 7 5 : 115). Die Theorie der verschiedenen Funktionen, die Sprache unter diesem Aspekt haben kann, nennt AUSTIN .Theorie der illokutiven Rollen'. Damit ist das von AUSTIN aufgeworfene Problem noch nicht umfassend charakterisiert. Die illokutiven Akte müssen noch von den perlokutiven Akten abgegrenzt werden, die als
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eine Art Konsequenz angesehen werden können, die sich für den Hörer aus der Ausführung der Sprechhandlung durch den Sprecher für den weiteren Kommunikations- bzw. Handlungsablauf ergibt. So kann der Sprecher durch die Äußerung von (22) gewisse Verpflichtungen eingehen, wenn er damit ein Versprechen ausgedrückt bzw. den Hörer überzeugt hat, daß er ihn zum festgelegten Zeitpunkt anruft, für den Hörer können sich aus (22) bestimmte Handlungen, kausale Effekte bzw. Wirkungen auf Gefühle, Gedanken usw. ergeben, indem er beispielsweise daraufhin bestimmte Vorbereitungen trifft. AUSTIN weist in seiner Argumentation darauf hin, daß dies ebenfalls Phänomene sind, die ein Sprecher mit seiner Äußerung getan haben kann. Perlokutive Akte unterscheiden sich von den illokutiven Akten in mehrfacher Hinsicht. Ob ein bestimmter perlokutiver Akt vollzogen wird, hängt nach AUSTIN davon ab, ob dank der Äußerung noch etwas Zusätzliches geschieht. Für den illokutiven Akt gilt diese Bedingung nicht. Welcher illokutive Akt mit einer Äußerung vollzogen wird, hängt von den Bedingungen bzw. Umständen ab, unter denen er vollzogen wird. Lokutiver, illokutiver und perlokutiver Akt sind nicht drei Akte, die ein Sprecher nacheinander vollzieht, es handelt sich bei diesen vielmehr um unterschiedliche Aspekte ein und derselben komplexen Äußerungshandlung. AUSTINS Analyse des Sprechaktes läßt sich durch folgendes Modell darstellen (nach MEYER 1975): Sprechakt«
illokutiver Akt
illokutiver Akt (die im Sprechen vollzogene Handlung)
perlokutiver Akt (die durch das Sprechen vollzogene Handlung)
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Wir werden in den folgenden Ausführungen die Problemstellung nicht weiter verfolgen, die AUSTIN unter dem perlokutiven Akt zusammenfaßt, und uns vielmehr auf das Verhältnis von lokutivem und illokutivem Akt, d. h. auf das Verhältnis von Bedeutung und illokutiver Rolle sprachlicher Äußerungen konzentrieren und die von AUSTIN aufgeworfene Frage eingehender betrachten, ob und inwieweit die Bedeutung von Sätzen mit Bezug auf die illokutive Rolle erklärt werden kann.
2.2.1. Konventionalität illokutiver
Akte
Zu den wesentlichsten Bestimmungsstücken des illokutiven Akts gehört nach AUSTIN die Konventionalität. Ein illokutiver Akt wird als eine konventionelle Handlung verstanden, die Folgen nach sich zieht, die aber keine Folge lokutiver Akte ist oder zusätzlich einige Folgen des lokutiven Akts einschließt (vgl. AUSTIN 1975: 128). Illokutive Akte glücken nicht bzw. können nicht erfolgreich vollzogen werden, wenn nicht gleichzeitig auch eine bestimmte Wirkung erzielt wird. AUSTINS Ausführungen zur Konventionalität illokutiver Akte legen zunächst die Vermutung nahe, daß die Konventionen, nach denen diese Akte vollzogen werden, auf grammatische Regeln zurückführbar sind, d. h. auf Regeln, die eine explizit performative Formel determinieren und in einem systematischen Zusammenhang mit der Bedeutung des performativen Verbs stehen. Diese Interpretation kann aus AUSTINS Argumentation geschlossen werden, da der als konventionelles Benutzen interpretierte illokutive Akt in der Performativformel expliziert werden kann. So zeigt sich der konventionelle Charakter der illokutiven Rolle sehr deutlich bei performativen Äußerungen, deren illokutive Rolle in der Regel festgelegt ist: (23) Ich verspreche dir, das Buch morgen endlich zurückzugeben. (Versprechen) (24) Ich teile dir mit, daß dein Manuskript im Sekretariat abgeholt werden kann. (Mitteilung) (25) Ich rate dir, dich bei diesem Wetter wärmer anzuziehen. (Empfehlung, Ratschlag) Die zunächst aus der 8. Vorlesung der „How to do things with words" zu folgernde Auffassung, daß die Konventionalität illokutiver Akte auf grammatische Regeln zurückführbar ist, wird in der 9. Vorlesung grundsätzlich in Frage gestellt. AUSTIN macht hier deutlich, daß die illokutive Rolle einer Äußerung nicht deshalb konventionell ist, weil sie grammatisch explizit gemacht werden kann, sondern weil sie in einer regulären Beziehung zu den Umständen der Situation steht, in der ein illokutiver Akt vollzogen wird. Die Konventionalität illokutiver Akte ist somit durch besondere Regeln begründet. Um welche besonderen Regeln
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es sich dabei jedoch handelt, läßt AUSTIN im Grunde genommen unbeantwortet. Er weist lediglich darauf hin, daß mit dem Begriff des illokutiven Akts bestimmte konventionell angestrebte Wirkungen, Ergebnisse, Folgen und Konsequenzen verbunden sind, die Sprecher und Hörer ziehen bzw. zu ziehen bereit sind. Die Wirkungen eines illokutiven Akts beinhalten erstens, daß Bedeutung und illokutive Rolle der Äußerung vom Hörer verstanden und akzeptiert werden, sie beinhalten zweitens, daß sich durch die vollzogene Sprechhandlung die ,Welt' der Kommunikationspartner in spezifischer Weise verändert, d. h., daß dadurch ein bestimmter Zustand eintritt, der ohne den Vollzug der Sprechhandlung für den natürlichen Ablauf der Ereignisse nicht eingetreten wäre (vgl. AUSTIN 1975:130, WUNDERLICH 1972: 46 und von WRIGHT 1974). Fassen wir das Problem kurz zusammen. Die Frage, ob lokutiver und illokutiver Akt nach bestimmten Regeln vollzogen werden, hat AUSTIN grundsätzlich bejaht. Obwohl die von AUSTIN entwickelten Beispiele für Sprechaktanalysen nicht genügend auf Fragestellungen zugeschnitten sind, die den Linguisten vorrangig interessieren, kann daraus geschlossen werden, daß für den Vollzug des lokutiven Akts die Regeln der Grammatik verantwortlich sind. Was die Regeln anbetrifft, die illokutiven Akten zugrunde liegen, bleibt AUSTINS Position im wesentlichen unklar und läßt unterschiedliche Interpretationen zu (vgl. STRAWSON 1973: 46ff., SEARLE 1973: 141 ff., FORGUSON 1973, 160ff. und WUNDERLICH 1972: 45 f.). Es wird lediglich deutlich gemacht, daß illokutive Akte nicht nur hinsichtlich ihrer Ergebnisse, sondern auch bezüglich der Formen ihres Vollzugs bestimmten Konventionen unterworfen sind. Wie diese Konventionen im einzelnen zu fassen sind, welchen Status sie haben, bleibt entweder ungelöst oder wird durch den Rückgriff auf einen allgemein philosophischen Konventionsbegriff zu erklären versucht. AUSTINS Aufmerksamkeit entgeht in diesem Zusammenhang ein bedeutendes methodologisches Faktum. Aus der Tatsache, daß dem Konventionsbegriff konstruktive und innovative Eigenschaften zugeschrieben werden, folgt keineswegs, daß sich der Sprachphilosophie und Linguistik automatisch neue Forschungsperspektiven für die Beschreibung des Zusammenhangs von Bedeutung und illokutiver Rolle sprachlicher Äußerungen ergeben, sobald sie sich des Konventionsbegriffs als Erklärungsprinzip bedient. Im Gegenteil, der Konventionsbegriff wird nur in dem Maße eine reale Funktion erfüllen, wie es gelingt, ihm eine gegenstandsspezifische Interpretation zu geben, d. h. wie es möglich wird, einen für den jeweiligen Gegenstandsbereich spezifischen Konventionsbegriff zu entwickeln. Darüber hinaus ist der Rahmen zu spezifizieren, in dem dieser Begriff theoretisch zu begründen und auf empirische Fakten abzubilden ist. In AUSTINS Theorie der Sprechakte wird der Rahmen, in dem sich sprachliches Handeln vollzieht, auf wenige Beispiele zeremonieller Prozeduren wie Taufe, Eheschließung, Wetten u. a. eingeschränkt, die bestimmten (teilweise sogar stark restriktiven) Konventionen unterworfen sind, von der gesellschaftlichen kommunikativen Praxis in toto jedoch wird dabei abstrahiert. Daraus folgt ferner, daß 12 Viehweger, Semantikforschung
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der Mensch, der sprachliche Handlungen vollzieht, nicht gesellschaftlich-konkret, sondern als Abstraktum verstanden wird, „abgezogen von irgendwelchen konkreten, gesellschaftlich-geschichtlich vermittelten Kontexten bzw. Situationen, in denen sie kommunizieren" (EHLICH 1972: 122). Durch diese Abstraktionen verstellt sich AUSTIN selbst den Blick auf die Realität und erkennt nicht, daß für die zu vollziehenden Sprechhandlungen Festlegungen bestehen, die jenseits der subjekr tiven Willkür der Kommunikationspartner liegen, sondern durch die in der gesellschaftlichen Praxis entwickelten Formen der Kommunikation bestimmt sind und somit in einem funktionalen Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Praxis des Menschen stehen. Sucht man die Fundierung der illokutiven Rolle in den Zusammenhängen der gesellschaftlichen Praxis, so kann man davon sprechen, daß Sprechhandlungstypen als gesellschaftlich-vermittelte und gesellschaftlich verbindliche Formen des Verkehrs zwischen den Menschen den Charakter von Konventionen haben, anderenfalls bleibt es eine bloße Redeweise, der man sich gern bedient, um „das Problem damit ein für allemal losgeworden zu sein, aber nicht erklärt, was denn eine Konvention (oder mit anderen Worten, eine eingespielte soziale Regel) eigentlich ist und inwiefern Sprache unter diesen Begriff von Konventionen fallen kann" (WUNDERLICH 1 9 7 2 : 11). Der hauptsächlich durch den Einfluß von WITTGENSTEINS philosophischem Spätwerk avancierte und von AUSTIN zu einem Schlüsselbegriff erhobene Begriff der Regel bzw. Konvention hat vor allem in sprechakttheoretischen Untersuchungen eine große Verbreitung gefunden, ohne daß damit letztlich geklärt werden konnte, welche Aspekte eine systematische Analyse des Konventionsbegriffs zu berücksichtigen hätte. Das Fehlen einer solchen Analyse war aber kein Hindernis, diesen Begriff auch weiterhin als Erklärungsprinzip zu verwenden. Offenbar reichte es aus, immer wieder zu betonen, daß eine Sprache sprechen und verstehen etwas sei, das in Konformität zu bestimmten Regeln bzw. Konventionen geschehe.
2.2.2. STRAWSONS Versuch der Vermittlung von Konventionalität und Intentionalität sprachlicher Handlungen Eine gründliche Auseinandersetzung mit der Konventionalitätsthese AUSTINS führt STRAWSON ( 1 9 6 4 / 1 9 7 1 ) in seinem Aufsatz „Intention and Convention in Speech Acts", in dem er vor allem die von AUSTIN erstmals aufgeworfene Frage aufgreift, ob es eine eigene Art von Regeln gibt, die die Aufnahme illokutiver Akte sichern und — falls es hinreichende Gründe für die Annahme solcher Regeln gibt — wie diese beschaffen sein müssen. STRAWSON folgt zunächst der Behauptung AUSTINS, daß die illokutive Kraft einer Äußerung eine Sache der Konvention sei. An einer Vielzahl von Beispielen läßt sich leicht ablesen, daß „many kinds of human transaction involving speech are
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governed and in part constituted by what we easily recognize as established conventions of procedure additional to the conventions governing the meanings of our utterances" (STRAWSON 1 9 6 4 / 1 9 7 1 : 602). STRAWSON verweist dabei wie bereits AUSTIN auf prozedurale Handlungen im Rahmen sozialer Institutionen wie Gericht, Standesamt sowie auf zahlreiche gesellschaftliche Aktivitäten. Mit Nachdruck wird aber in diesem Zusammenhang auch hervorgehoben, daß es zahlreiche Fälle gibt, „in which the illocutionary force of an utterance, though not exhausted by its meaning, is not owed to any conventions other than those which help to give it its meaning" (STRAWSON 1964/1971: 602). Beispiele dieser Art sind nach STRAWSON Warnungen, Sitten und Einwanderheben, woraus STRAWSON den Schluß zieht, daß der Konventionsbegriff nicht generell auf illokutive Akte anzuwenden ist, d. h., einige illokutive Akte sind konventionell, andere nicht, außer in so weit, als sie lokutive Akte sind. Der Unschärfe in der Konventionalitätsthese AUSTINS will STRAWSON durch die Einführung einer Skala von Graden der Konventionalität entgehen, wobei die Pole dieser Skala durch „wesentlich konventionelle Akte" auf der einen Seite und „nicht wesentlich konventionelle Akte" auf der anderen Seite besetzt sind. Unter die wesentlich konventionellen Akte (essentially conventional acts) werden solche Akte subsumiert, die in Übereinstimmung mit einer eindeutig ausführbaren Konvention vollzogen werden müssen, während zu den nicht wesentlich konventionellen Akten jene .alltäglichen' Akte gehören, die nur in sofern konventionell sind, als sie durch konventionelle Mittel wie performative Formeln expliziert werden können. In diesen Sprechhandlungen geht die illokutive Kraft voll in der Bedeutung (im lokutiven Akt) auf. Illokutive Akte unterscheiden sich aber nicht nur durch den unterschiedlichen Grad ihrer Bindung an Konventionen. Nach STRAWSON übernimmt der Sprecher beim Vollzug wesentlich konventioneller Akte zugleich auch die Verpflichtung, eine von ihm intendierte Hörerreaktion einzuklagen, dabei sei es gleichgültig, ob der Hörer die Intention des Sprechers selbständig verstanden hat oder unter Zwang reagiere. Nicht wesentlich konventionelle Akte sind demgegenüber bereits dann gelungen, wenn der Hörer sie korrekt identifiziert hat, wie er darauf reagiert, ist letztlich eine Angelegenheit des Hörers selbst. Im letztgenannten Fall spielt die Intention des Sprechers eine zentrale Rolle, wobei zur Verdeutlichung der Intention konventionalisierte performative Formeln verwendet werden können, die zwar das Verstehen der Äußerung sichern, nicht aber den gewünschten Effekt. STRAWSON relativiert damit AUSTINS Auffassung, nach der explizit performative Äußerungen bezüglich ihrer Interpretation eindeutig festgelegt sind. Bei den wesentlich konventionellen Akten hingegen besteht die Intention des Sprechers nur darin, eine begonnene konventionelle Prozedur fortzusetzen, die neben dem Verstehen auch die Wirkung der Sprechhandlung sichert. Zur Unterscheidung der beiden Konventionalitätsakte sowie der zwei Grundklassen illokutiver Akte erweitert STRAWSON den Bedeutungsbegriff und stellt die12*
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sem als Komplementärbegriff das Hörer-Verstehen gegenüber. Während AUSTIN das Verstehen einer Äußerung auf die Kenntnis von Konventionen zurückführt, bestimmt STRAWSON unter Bezugnahme auf den GRiCEschen Bedeutungsbegriff das Verstehen von Sprechhandlungen, d. h. das Verstehen der illokutiven Rolle als ein Deuten von Intentionen und benutzt das Kriterium des Hörer-Verstehens als Erfolgsbedingung für eine Klasse von Sprechakten. STRAWSON hat mit der Unterscheidung der beiden Konventionalitätsakte und der darauf aufbauenden prinzipiellen Differenzierung der Sprechakte in institutionell verankerte und alltägliche zweifelsohne zahlreiche Inadäquatheiten überwunden, die dem Konventionalitätsbegriff AUSTINS noch anhafteten. Durch die Einführung des Intentionsbegriffs und den daran geknüpften Versuch der Vermittlung von Konventionalität und Intentionalität sprachlicher Handlungen werden darüber hinaus erstmals Ansätze einer mentalistischen Interpretation von Sprechhandlungen sichtbar. Weiterführend ist auch STRAWSONS Unterscheidung von sprecherseitigen und hörerseitigen Bedingungen von Sprechhandlungen, durch die — zumindest im Ansatz — eine Revision des im vorhinein auf monologische Produktionsmodelle der Sprachverwendung festgelegten Modellvorschlags von AUSTIN deutlich wird. Problematisch erscheint demgegenüber die Festlegung der beiden Konventionalitätsakte auf die Pole einer Skala. Daß es schwer ist, STRAWSONS Argumentation in diesem Punkte zu folgen, hängt offenbar damit zusammen, daß auch hier dem Begriff der Konvention eine zentrale Position zukommt, ohne den Begriff der Konvention jedoch zu explizieren und gegenstandsspezifisch zu "interpretieren. Selbst wenn STRAWSON im Gegensatz zu AUSTIN Sprechakte als essentiell kooperative Handlungen ansieht, die nicht deshalb kooperativ sind, weil durch die Sprechhandlungen die individuellen Beiträge der Kommunikationspartner im Sinne eines Spiels zusammenfließen, sondern weil bereits der autonome Beitrag eines jeden Sprechers ein kollektives Produkt ist, in dem die produktiven und interpretativen Leistungen der Kommunikationspartner sich vereinigen, erfaßt das Theoriegerüst STRAWSONS nur einen begrenzten Ausschnitt des komplexen Bedingungsgefüges der sprachlich-kommunikativen Tätigkeit des Menschen. Nun ist zwar unstrittig, daß Menschen in der Regel ihre gesamte Tätigkeit in Koordination bzw. Kooperation mit anderen realisieren, daß somit die Handlungen, die in einer bestimmten Situation ausgeführt werden, von den Handlungen und Verhaltensweisen der anderen Menschen abhängen. Ein Mensch, der eine Handlung ausführt, reagiert jedoch nicht einfach nur auf Reize der Umwelt bzw. auf Verhaltensweisen anderer, er vermag vielmehr das Ergebnis seiner zukünftigen Handlungen gedanklich zu antizipieren und seine Handlungen zielgerichtet, zwecksetzend zu realisieren. Dieser Problemzusammenhang wird in STRAWSONS Sprechakttheorie nicht reflektiert, so daß sie in diesem Punkt nicht wesentlich über den theoretischen Rahmen hinausführt, der durch AUSTIN abgesteckt worden war.
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2.2.3. Konvention und Regel Die Frage, ob es für die Ausführung illokutiver Akte besondere Regeln gibt, hat SEARLE in seiner Theorie der Sprechakte nicht nur grundsätzlich bejaht, er hat zugleich auch durch Analysen erste Hinweise auf die Struktur dieser Regeln gegeben. Mit der Interpretation der illokutiven Akte als rege/determinierte Handlungsformen hat der bis dahin in der Sprechakttheorie dominierende Begriff der Konvention an Gewicht verloren. Durch die Bezugnahme auf den in der Philosophie der normalen Sprache bereits umfassend analysierten und in seinen wesentlichen Merkmalen bestimmten Regelbegriff hat SEARLE die von AUSTIN erstmals aufgeworfene Frage, ob der Ausführung illokutiver Akte bestimmte Regeln zugrunde liegen, ein ganzes Stück weitergebracht und damit zugleich die Voraussetzung geschaffen, den relativ vagen und mit zahlreichen alltagssprachlichen und wissenschaftsgeschichtlichen Konnotationen belasteten Terminus ,Konvention' neu zu bestimmen und in einen systematischen Zusammenhang mit dem Regelbegriff zu stellen. Ob sich aus SEARLES Hypothese, daß Sprache regelgeleitetes Verhalten sei, tatsächlich inhaltliche Konsequenzen für die Weiterentwicklung der Sprechakttheorie ergeben, indem die Phänomene, die bisher unter die Konventionalitätsthese subsumiert wurden, in neue Problemzusammenhänge gestellt werden und somit ein größeres Erklärungspotential erhalten, oder ob es sich nur um eine Variation des bereits bekannten Konventionalitätsthemas handelt, ist im einzelnen noch zu zeigen. SEARLE revidiert zunächst das von AUSTIN entwickelte Modell des Sprechakts und unterscheidet folgende Arten von Akten, die ein Sprecher mit der Äußerung eines Satzes gleichzeitig vollzieht: 1. Sprechakte sind Äußerungsakte, d. h., es werden Wörter, Morpheme und Sätze geäußert, die eine Bedeutung haben und mit denen der Sprecher, der sie äußert, etwas meint. Vergleicht man diese Begriffsbildung mit den Kategorien in AUSTINS Modell der Sprechakte, so kann man feststellen, daß der Äußerungsakt bei SEARLE den phonetischen und phatischen Akt AUSTINS umfaßt. 2. An einem Äußerungsakt kann man mehr oder weniger deutlich den Vollzug eines propositionalen Akts ablesen, d. h. den Referenz- und Prädikationsakt, durch die der Inhalt bzw. die Proposition des illokutiven Akts ausgedrückt wird. Der propositionale Akt wird durch diejenigen Teile im Satz repräsentiert, die keine Indikatoren der illokutiven Rolle enthalten. 3. An dem Äußerungsakt kann ferner der illokutive Akt unterschieden werden, d. h. die konkrete Handlung, die ein Sprecher mit einer Proposition ausführt. Propositionaler und illokutiver Akt werden von SEARLE sehr eng mit verschiedenen Arten von Ausdrücken verbunden, die beim Vollzug dieser Akte geäußert werden. Die charakteristische Form des illokutiven Akts ist der vollständige Satz, die typische Form des propositionalen Akts hingegen bilden bestimmte Teile von
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Sätzen. So sind die Prädikate charakteristische Teile des Prädikationsakts, die Referenz der Eigennamen, Pronomen sowie andere Nominalausdrücke sind diejenigen Teile des Satzes, die mit dem Referenzakt in systematischem Zusammenhang stehen. Den entscheidenden Punkt für die Differenzierung der einzelnen Arten von Akten, die mit dem Vollzug einer Sprechhandlung ausgeführt werden, sieht SEARLE in den unterschiedlichen Identitätskriterien. So können die gleichen propositionalen Akte verschiedenen illokutiven Akten gemeinsam sein (vgl. 2.6.), ferner kann man einen Äußerungsakt vollziehen, ohne damit überhaupt einen propositionalen oder illokutiven Akt auszuführen. SEARLE verweist darauf, daß Äußerungen wie „Hurra!" oder „Au!" als illokutive Akte keinen propositionalen Gehalt haben. Den drei genannten Akten fügt SEARLE noch den perlokutiven Akt bzw. Effekt hinzu, worunter — wie schon bei AUSTIN — die Konsequenzen oder Wirkungen verstanden werden, die illokutive Akte auf die Handlungen, Gedanken, Anschauungen und Einstellungen des Kommunikationspartners haben können. Nach SEARLES Modell besteht ein Sprechakt im einfachsten Fall aus dem Vollzug eines illokutiven Akts, z. B. einem Versprechen, einer Aufforderung, einer Warnung usw., und dem Vollzug eines dem illokutiven Akt untergeordneten propositionalen Akts. Aus dem Vollzug dieser beiden Akte resultiert dann der Sprechakt. Auf Grund der von SEARLE getroffenen Unterscheidung kann die allgemeine Form illokutiver Akt durch folgende Formel dargestellt werden: (26) F(p) in die für die Variable F als Werte Mittel einzusetzen sind, die als Indikatoren der illokutiven Rolle dienen (z. B. Behauptung, Aufforderung, Versprechen, Ja-NeinFragen), p ist durch Propositionen zu ersetzen (vgl. SEARLE 1977: 51 ff.). Problematisch an dieser Einteilung ist die Grundlage, von der aus eine Differenzierung zwischen-propositionalem und illokutivem Akt erreicht werden soll. SEARLE geht dabei von der Annahme aus, daß für den Vollzug dieser Akte jeweils typische Ausdrucksmittel zur Verfügung stehen, die eine eindeutige Distinktion erlauben. Da wir die Unterscheidung zwischen propositionalen und illokutiven Indikatoren noch ausführlich darstellen werden, genügt an dieser Stelle folgender genereller Hinweis. SEARLE unterlaufen in diesem Punkt im wesentlichen dieselben Fehler, wie sie bereits bei AUSTIN festzustellen sind. So wird die illokutive Funktion der expliziten performativen Formeln überschätzt und übertrieben, die situativen Bedingungen, die Umstände, unter denen ein illokutiver Akt ausgeführt wird, werden demgegenüber unterschätzt. Nach der Skizzierung des knappen Theoriekontextes, in dem SEARLES Sprechaktkonzept zu erklären ist, wollen wir nun zu der Frage SEARLES zurückkehren, inwiefern Sprechen eine Form menschlichen Verhaltens ist, die in Übereinstimmung
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mit bestimmten Regeln vollzogen wird. Wir wollen in diesem Zusammenhang ferner untersuchen, welche hotwendigen und hinreichenden Bedingungen es für den Vollzug von Sprechakten gibt. Zur Bestätigung der Hypothese, daß Sprache regelgeleitetes intentionales Verhalten sei, entwickelt SEARLE anhand des Sprechhandlungstyps ,Versprechen' aus den Bedingungen, die seiner Auffassung nach notwendig sind für die Ausführung illokutiver Akte, vier Arten von Regeln, die die Verwendung der illokutiven Mittel, d. h. den Gebrauch der illokutiven Indikatoren, determinieren: (a) Regeln des propositionalen Gehalts (propositional content rules), die aus den sogenannten Bedingungen des propositionalen Gehalts abgeleitet sind, die SEARLE wie folgt formuliert: (1) In der Äußerung des Satzes T drückt der Sprecher S aus, daß p ; (2) Indem S ausdrückt, daß p, sagt S einen zukünftigen Akt A von S voraus. (b) Einleitungsregeln (preparatory rules); diese sind von den Einleitungsbedingungen abgeleitet: (1) Der Hörer H sieht lieber die Ausführung als die Unterlassung von A durch S, und S glaubt, daß H lieber seine Ausführung als seine Unterlassung von A sieht; (2) Für S und auch für H ist es nicht offensichtlich, daß S bei einem normalen Verlauf der Ereignisse A tun wird. (c) Aufrichtigkeitsregeln (sincerity rules), die aus der Aufrichtigkeitsbedingung S beabsichtigt, A zu tun hergeleitet sind. (d) Wesentliche Regeln (essential rules), die SEARLE aus den wesentlichen Bedingungen gewinnt: 5 hat die Absicht, sich zur Ausführung von A zu verpflichten, wenn er, T äußert. Die Regeln für den Gebrauch der Mittel, die illokutive Rollen anzeigen, sind nach SEARLE geordnet. So setzt die Anwendung der wesentlichen Regeln die Befolgung der Regeln des propositionalen Gehalts voraus, wesentliche Regeln gelten ihrerseits nur, wenn ebenfalls den Einleitungsregeln entsprochen wurde. Auf dem Weg zur Analyse dieser Regeln, die am illokutiven Typ des Versprechens ausführlich charakterisiert werden, führt SEARLE zwei unterschiedliche Arten von Regeln ein, die als regulative und konstitutive Regeln bezeichnet werden. Regulative Regeln werden als Regeln charakterisiert, die „bereits bestehen oder unabhängig von ihnen existierende Verhaltensformen regeln" (SEARLE 1977: 56). Regulative Regeln regeln somit eine bereits existierende Tätij^keit, deren Ausführung von der Existenz dieser Regeln logisch unabhängig sei. Konstitutive Regeln hingegen regeln nicht nur Verhaltensformen, sie erzeugen bzw. prägen auch neue Formen menschlichen Verhaltens, anders ausgedrückt: Konstitutive Regeln konstituieren eine Tätigkeit, sie definieren Handlungen, deren Vorhandensein von den
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Regeln logisch abhängig ist. Bedeutungen sprachlicher Äußerungen sind ebenso wie der Vollzug eines illokutiven Akts nach SEARLE an bestimmte Konventionen gebunden, die als konstitutive Regeln beschrieben werden können. Beide Regelarten unterscheiden sich nach SEARLE durch ein weiteres wichtiges Moment. Regulative Regeln wie beispielsweise die Anstandsregeln zwischenmenschlicher Beziehungen haben die Form von Imperativen und lassen sich durch die Formel „Tue JC" oder „Wenn y tue x" charakterisieren, konstitutive Regeln werden demgegenüber durch analytische Sätze der Form „x gilt als y im Kontext c" ausgedrückt. Letztere haben daher auch keine normative Funktion, was nach SEARLE die Frage überflüssig macht, ob bestimmte Abweichungen von diesen Regeln möglich sind bzw. ob ein Sprecher diese Regeln verletzen kann. Für SEARLE ist diese Frage nicht von Bedeutung, denn ein Mensch, der diese Regeln nicht befolgt, verletzte sie in Wirklichkeit nicht, sondern spiele lediglich ein anderes Spiel. Wenn aber konstitutive Regeln keinen normativen Charakter haben, sondern nur eine definitorische Kraft besitzen, dann ist damit gleichzeitig zum Ausdruck gebracht, daß sie nicht erlernbar sind. SEARLE unterläuft in der Interpretation dieser Regeln somit ein schwerwiegender Fehler. Aus der Tatsache nämlich, daß sprachliche Regeln bzw. andere soziale Regeln im Gegensatz zu Naturgesetzen einerseits bewußt und absichtlich verletzt werden können bzw. daß einem Sprecher bei ihrer Befolgung andererseits Fehler unterlaufen können, folgt als logische Konsequenz, daß Regeln dieser Art erlernbar sind und von den Mitgliedern einer menschlichen Gemeinschaft erlernt werden müssen, will man sie nicht mit biologistischen Postulaten der Existenz angeborener Ideen erklären, denen von SEARLE konsequent widersprochen wird. Mit einem solchen Regelkonzept wird nicht nur eine wesentliche Bestimmung des Regelbegriffs als Grundstein einer Theorie sprachlichen Handelns über Bord geworfen, durch den Hinweis darauf, daß das Nichtbefolgen einer Regel lediglich so zu interpretieren sei, daß hier ein anderes Spiel vorliege, wird zudem auch der intersubjektive Charakter sozialer Regeln wieder in Frage gestellt. Die eingangs mehrfach zitierte Hypothese, daß eine Sprache sprechen als regeldeterminiertes Verhalten zu interpretieren sei, erhält in der weiteren Argumentation SEARLES folgende Konkretisierung. Die semantische Struktur einer Sprache wird als eine Menge von Systemen konstitutiver Regeln, d. h. eine auf Konventionen beruhende Realisierung einer Serie von Gruppen zugrunde liegender Regeln aufgefaßt. Illokutive Akte sind dann Akte, die in Übereinstimmung mit diesen Mengen konstitutiver Regeln vollzogen werden. In der Regel ist der Vollzug eines illokutiven Akts an die Existenz bestimmter Konventionen gebunden, es gibt aber auch eine Reihe illokutiver Akte, die unabhängig von irgendwelchen Kpnventionen vollzogen werden. Der Konventionsbegriff wird — wie aus SEARLES Überlegungen deutlich wird — auf die semantische Struktur konkreter Sprachen als einzelsprachliche Vollzugsform von Sprechakten bezogen, nicht aber auf Sprache. Ver-
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Semantik und Sprechakttheorie
schiedene menschliche Sprachen können in dem Maße, in dem sie ineinander übersetzbar sind, als verschiedene auf Konventionen beruhende Realisierungen der gleichen zugrunde liegenden Regeln betrachtet werden. Daß im Deutschen ein Versprechen mit „ich verspreche es dir" und im Englischen mit „I promise" ausgedrückt wird, ist nach SEARLE eine Sache der Konvention, daß die Äußerung eines zum Vollzug des Versprechens dienenden Mittels als Übernahme einer Verpflichtung gilt, hängt dagegen nicht von Konventionen, sondern von Regeln ab. Fassen wir SEARLES Diskussionen zu diesem Problem kurz zusammen. (a) Die Frage, ob es Konventionen für Sprachen gibt, wird von SEARLE grundsätzlich bejaht. Welchen Status diese Konventionen haben, bleibt bei SEARLE ebenso unklar wie in anderen Sprechaktansätzen, die auf der Konventionalitätsthese aufbauen. (b) Der Vollzug eines illokutiven Akts setzt bestimmte Regeln voraus, d. h. konstitutive Regeln, denen nach SEARLE kein normativer Charakter zukommt. (c) Konventionen sind im allgemeinen Realisierungen von Regeln. Die hier gegen SEARLES konstitutive Regeln formulierte Kritik richtet sich nicht gegen die Annahme, Sprechen als eine Form regelgeleiteten Verhaltens zu betrachten, sondern gegen die zahlreichen Analogien, die SEARLE zwischen sprachlichen Regeln und Regeln bestimmter Wettkampfspiele formuliert. Sie richtet sich ferner gegen die Vagheit, mit der der Begriff Institution, an den die konstitutiven Regeln von SEARLE gebunden werden, gebraucht wird (vgl. dazu auch B R Ü C K / K E N D Z I O R R A 1972). Die zahlreichen ungelösten Probleme sowie die Unzulänglichkeiten, die durch eine systematische Analyse des SEARLEschen Regelbegriffs deutlich werden, haben ihre Wurzeln in erster Linie in den Abstraktionen und Idealisierungen, durch die sich SEARLE selbst den Blick auf die Realität verstellt und somit zu einer Gegenstandsbestimmung seiner Sprechakttheorie kommt, die sich von der Wirklichkeit so weit entfernt hat, daß sie vielfach nicht mehr empirisch vorgefundene sprachliche Handlungen beschreibt und erklärt, sondern Typen von Handlungen, die vom generellen Arbeits- und Handlungskontext isoliert und aus dem Zusammenhang zwischen Sprechhandlungen und den Interessen des Sprechers herausgelöst werden.
2.2.4. Bedeutung urtd konventionelle
Regularität
Aus den exemplarisch vorgeführten Handlungskonzepten wird deutlich, daß dem Konventionsbegriff in der Sprechakttheorie seit A U S T I N eine zentrale Stellung zukommt. Daß ein sprachliches Zeichen eine Bedeutung hat, heißt nach der Konventionalitätsthese, daß es Konventionen und Regeln gibt, durch die die Verwendung der Zeichen festgelegt ist. Welche Bedeutung ein sprachliches Zeichen hat, hängt ausschließlich davon ab, was die Konventionen als Realisierungen von Regeln
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für den konkreten Fall besagen. Die Bedeutung eines Zeichens bzw. einer Sprechhandlung zu verstehen heißt, die Konventionen für die Verwendung der Zeichen zu erkennen. Aus den in 2.2.1.—2.2.3. eingehender behandelten Konventionsbegriffen wurde ersichtlich, daß sie bisher bestenfalls Andeutungen darüber sind, welche Aspekte eine systematische Analyse des Konventionsbegriffs zu berücksichtigen hätte, verbindliche Festlegungen, die der bedeutungstheoretischen Diskussion neue Perspektiven eröffnen könnten, wurden für die einzelnen Konventionsbegriffe bisher nicht getroffen. Die Unschärfen, mit denen bisher benutzte Konventionsbegriffe behaftet waren, stellten offenbar kein Hindernis dar, diesen Begriff auch weiterhin zu verwenden. Möglicherweise genügte es, in Anlehnung an SHWAYDERS Theorie des konventionellen Verhaltens immer wieder zu betonen, daß der Sprachgebrauch auf bestimmten (wie immer auch gearteten) Konventionen beruhe, wobei unter Konventionen zumeist ganz allgemein das konforme Handeln zwischen den Mitgliedern einer Gemeinschaft verstanden wurde, ohne damit auch nur im Ansatz anzudeuten, wie sich in der betreffenden Gemeinschaft Konventionen herausbilden, verfestigen und verändern. Gewichtige Einwände, wie sie beispielsweise v o n ZIFF (1960, 1970 und 1972) sowie SNYDER (1971) u. a. gegen den
bedeutungsnominalistischen Konventionalismus erhoben wurden, verhallten offenbar ohne größere Resonanz und hinterließen keine erkennbaren Wirkungen. Eine wesentliche Präzisierung erfuhr die Konventionalitätsthese erst durch die ausführliche Explikation des Konventionsbegriffs in LEWIS (1969/1975). Allgemein ausgedrückt ist eine Konvention eine Regelmäßigkeit im Verhalten der Mitglieder einer Gemeinschaft, die einer Reihe von Bedingungen unterliegt. Nach LEWIS Ausgangsthese ist sprachliches Handeln als eine Art Koordinationsproblem zu verstehen, das von den Mitgliedern einer Kommunikationsgemeinschaft konventionell gelöst wird. So betrachtet erweist sich sprachliches Handeln dann in erster Linie als Interaktion. Anhand zahlreicher Beispiele versucht LEWIS nachzuweisen, daß Sprachspiele in der Mehrzahl der Fälle darauf aufbauen, daß der Sprecher den Hörer auf Grund seines eigenen sprachlichen Verhaltens nicht im Unklaren lassen will, daß der Hörer die Sprecherabsicht zu identifizieren in der Lage ist. Eine Kombination von zwei Handlungen befindet sich dann in einem Koordinationsgleichgewicht, wenn jeder Handelnde sie zumindest so sehr erwünscht wie jede andere Kombination, die er erreicht haben könnte, wenn die Entscheidungen der anderen gegeben sind. Mit dem Hinweis, daß es Alternativen für Handeln geben muß, ist noch nichts darüber ausgesagt, durch welche Gründe die einzelnen Entscheidungen determiniert werden. Unter Bezugnahme auf das SHWAYDERsche Modell des praktischen Syllogismus kann ein Sprecher Übereinstimmung im Handeln nur dann erreichen, wenn er entsprechend seinen Erwartungen über das Verhalten des Hörers handelt und wenn umgekehrt das Verhalten des Hörers durch dessen Erwartungen über das eigene Verhalten bestimmt wird. Der Sprecher muß somit nach LEWIS die
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Überlegungen des Hörers replizieren, d. h. antizipieren. Die Entscheidung für eine bevorzugte Alternative bezeichnet LEWIS als die dominante Wahl einer Alternative zur Lösung von Koordinationsproblemen. Wenn eine von mehreren Entscheidungsmöglichkeiten dominant geworden ist, wenn sich also eine Konvention herausgebildet hat, dann hat sie die Tendenz, immer stabiler zu werden, dann ermöglicht sie den Übergang von den einzelnen Handlungen zum Handlungstyp. Die Erwartungen der Mitglieder einer Gemeinschaft, die diese in bezug auf das Verhalten einzelner in bestimmten Situationen haben, bezeichnet LEWIS als das gemeinsame Wissen. Kernstück des LEWisschen Begriffs der konventionellen Regularität ist — wie die bisherigen Ausführungen bereits erkennen lassen — der Begriff des konventionskonformen Handelns bzw. des übereinstimmenden sprachlichen Verhaltens, der besagt, daß jeder gemäß einer Konvention handelt, weil er Interessen hat, von denen er erwartet, daß er sie nur durch konventionskonformes Handeln befriedigen kann. Diese Überlegungen faßt LEWIS in folgender Definition zusammen: (27) „Eine Verhaltensregularität R von Mitgliedern einer Gemeinschaft P, wenn diese Handelnde in einer wiederkehrenden Situation S sind, ist genau dann eine Konvention, wenn es wahr ist und wenn es in P gemeinschaftliches Wissen ist, daß bei fast jedem Eintreten von S unter Mitgliedern von P (1) beinahe jeder R folgt; (2) beinahe jeder erwartet, daß beinahe jeder andere R folgt; (3) beinahe jeder annähernd die gleichen Präferenzen im Hinblick auf alle möglichen Kombinationen von Handlungen hat; (4) beinahe jeder es vorzieht, daß jeder andere R unter der Bedingung folgt, daß annähernd jeder andere R folgt; (5) beinahe jeder vorzieht, daß jeder eher R' unter der Bedingung folgt, daß beinahe jeder R' folgt, wobei R' eine andere mögliche Verhaltensregularität von Mitgliedern von P in S ist, derart, daß beinahe niemand bei beinahe jedem Eintreten von S unter Mitgliedern von P sowohl R' als auch R entsprechen könnte" (LEWIS 1975: 79). Die Äußerung (28) Öffne bitte das Fenster! ist dann der konventionelle Vollzug einer sprachlichen Handlung, wenn die Äußerung dieses Satzes unter entsprechenden Bedingungen als Vollzug einer Handlungsanweisung verstanden wird, wenn die Mitglieder einer Sprachgemeinschaft sich daran halten, auf die Äußerung des Satzes hin das Fenster zu öffnen. Das Verhalten der anderen muß somit dadurch beeinflußbar sein, daß sie auf Grund des sprachlichen Verhaltens des Sprechers erkennen, was dieser von ihnen erwartet.
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Konventionen sind nach LEWIS weder auf eine explizit formulierte Regel noch auf eine Abmachung zurückzuführen, sie werden vielmehr — wie bereits erwähnt — als Kenntnisse verstanden, die das Handeln der Mitglieder einer bestimmten Gemeinschaft steuern. Entscheidend ist an LEWIS' Konventionsbegriff, daß er nicht auf den Sprecher festgelegt wird und somit nur etwas über das Verhalten des Sprechers aussagt, sondern auch die Handlungen des Hörers einschließt. Ein so verstandener Konventionsbegriff macht es LEWIS möglich, Sprechen als Interaktion der Mitglieder einer bestimmten Gemeinschaft zu erklären und auf der Grundlage dieses Begriffs eine Theorie der konventionellen Bedeutung sprachlicher Zeichen zu entwickein: Mit der Reduzierung der Bedeutung auf deren konventionellen Gebrauch ist eine Reihe von Problemen Verbunden, die für eine Theorie der Bedeutung von weitreichender Konsequenz sind. Da diese Probleme in einem später darzustellenden Systemzusammenhang noch ausführlich behandelt werden, ist es ausreichend, hier nur kurz darauf einzugehen. LEWIS hat durch seine systematischen Analysen den Konventionsbegriff zweifelsohne auf ein sicheres Fundament gestellt, als dies bei den bisher vorliegenden Konventionalitätskonzepten der Fall war. Durch die Einordnung des Konventionsbegriffs in Interaktionszusammenhänge erhielt dieser Begriff ferner eine neue Interpretationsbasis und ein größeres Erklärungspotential im Rahmen sprechakttheoretischer Untersuchungen. Mit dem Versuch, den zahlreiche Vertreter der Sprechakttheorie in der Folgezeit anstellten, die Bedeutung sprachlicher Zeichen allein aus deren Gebrauch zu erklären und eine Theorie der Bedeutung ausschließlich auf eine Theorie des Gebrauchs sprachlicher Zeichen zu reduzieren, wird aber ein ganz entscheidender Aspekt sprachlicher Bedeutungen in Abrede gestellt, der Aspekt, daß Bedeutungen Abbilder von Sachverhalten der Wirklichkeit sind. Wird dieser Aspekt nicht in jeder Sprechhandlung als gegeben angesehen, dann wird nicht nur der Bedeutungsbegriff zu einem leeren Begriff, sondern auch eine wesentliche Funktion der Sprache, nämlich ihre kognitive Funktion, negiert.
2.3. Bedeutung, Meinen,
Sprecherintention
Durch WITTGENSTEINS grundlegende Kritik am psychologistischen Intentionalismus, der die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke durch einen Rückgriff auf einen unsichtbaren Akt des Meinens zu erklären versuchte, war das Erklärungspotential des Intentionsbegriffs grundsätzlich in Frage gestellt und der Begriff Intention als nicht seriöser Begriff aus dem Theoriekontext der Sprachphilosophie verbannt worden. An die Stelle des Intentionsbegriffs wurde der Begriff der Konvention gestellt, dem a priori innovative und konstruktive Eigenschaften zugeschrieben wurden, die der Bedeutungsbeschreibung automatisch neue Forschungsperspektiven eröffnen, sobald sie sich dieses Begriffs bedient. Es bedurfte erst der 1957 unter dem Titel „Meaning" erschienenen Arbeit von GRICE, um den Intentionsbegriff
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wieder zu rehabilitieren und zu einer zentralen Kategorie der weiteren bedeutungstheoretischen Diskussion zu machen. GRICE führt in dieser Arbeit Bedeutung auf Meinen zurück und definiert Meinen als eine mit einem geäußerten Zeichen verfolgte Absicht des Sprechers. Die Evidenzen dafür, ob ein Sprecher mit dem Vollzug einer sprachlichen Handlung eine Intention verfolgt, sieht GRICE in den öffentlich zugänglichen Verhaltensweisen des Handelnden. Die Intention ist damit nicht mehr wie im psychologistischen Intentionalismus ein unsichtbarer geistiger Akt, den der Handelnde vollzieht, sondern eine exteriorisierte Größe, die den Handlungsresultaten zugrunde liegt und an ihnen abgelesen werden kann. G R I C E hebt in diesem Zusammenhang zwei Punkte besonders hervor: (1) Ein Sprecher kann eine Äußerung mit einer bestimmten Intention ausführen, ohne dafür einen bestimmten Plan zu besitzen bzw. zu entscheiden, wie er am geeignetsten die Handlung realisiert. Das Fehlen eines Plans bzw. Entschlusses ist nach GRICE nicht die Ausnahme, sondern der Normalfall sprachlichen Handelns. Einem Sprecher, der eine sprachliche Handlung vollzieht, wird die Absicht unterstellt, gerade das bewirken zu wollen, was er mit der Sprechhandlung normalerweise zu bewirken beabsichtigt. (2) Sprachliches Handeln ist grundsätzlich intentional, und die Absicht, die ein Sprecher mit seiner Äußerung verbindet, kann durch den Hörer eindeutig rekonstruiert werden, weil — wie bereits in (1) deutlich wurde, dieser davon ausgehen kann, daß dem Sprecher, der eine sprachliche Handlung vollzieht, die Absicht unterstellt werden kann, genau das bezwecken zu wollen, was normalerweise mit dem Vollzug der Sprechhandlung intendiert ist. Nur in wenigen Fällen, wo die Sprecherintention unklar bleibt, da mehrere Intentionen unterstellt werden können, müssen Aufschlüsse aus dem sprachlichen und außersprachlichen Kontext gewonnen werden. (1) ist nicht nur eine wenig realistische Auffassung von Intentionalität, sie steht auch im Widerspruch zu den Erkenntnissen der Verhaltens- und Tätigkeitspsychologie, durch die die These, daß menschliches Handeln nach bestimmten Handlungsplänen realisiert und kontrolliert wird, eindeutig nachgewiesen wurde. GRICES Intentionskonzept wird — wie aus ( 1 ) hervorgeht — nicht auf eine kognitive Basis gestellt und somit mit der Bewußtseinstätigkeit des Menschen in einen systematischen Zusammenhang gebracht. G R I C E reduziert vielmehr sprachliches Handeln auf mechanisch auszuführende Interaktionsprozesse, für die das Bewußtsein keine regulierende und kontrollierende Funktion besitzt. (2) ist zunächst nichts weiter als eine bestimmte Andeutung auf Kommunikationsbedingungen, aus ihnen kann jedoch gefolgert werden, daß die Umstände, unter denen Sprechhandlungen vollzogen werden, für die Bedeutungstheorie GRICES nur bedingt herangezogen werden und somit für den 1957 vorgestellten Theorieentwurf nur eine untergeordnete Rolle spielen.
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GRICE grenzt zunächst zwei Bedeutungsbegriffe gegeneinander ab, den semantisch relevanten Begriff der ,nicht natürlichen Bedeutung' (nonnatural meaning, abgekürzt als ,meaningnri') und den Begriff der natürlichen Bedeutung' (natural meaning) im Sinne von Anhaltspunkt oder empirischem Anzeichen (vgl. GRICE 1971: 437 f.). Es wird von GRICE in diesem Zusammenhang eingeräumt, daß diese Unterscheidung nicht immer leicht und einfach sei, in den meisten Fällen jedoch „we should be at least fairly strongly inclined to assimilate a use of mean to one group rather than to the other" (GRICE 1971: 438). Entscheidend für die GRiCEsche Zielstellung, Bedeutung auf Meinen zurückzuführen, ist die Erklärung dafür, daß ein Sprecher mit der Äußerung eines Satzes etwas gemeint hat.
(29) „Ein Sprecher S hat mit seiner Äußerung x etwas gemeint" heißt: Es gibt eine Zuhörerschaft H, so daß S x mit der Intention geäußert hat, daß (1) /feine bestimmte Reaktion r zeige; (2) H denke oder erkenne, daß S beabsichtige, daß H r zeige; (3) / f s Erkenntnis der Absicht von S (daß H r zeige) einen Grund für H darstelle, r zu zeigen". Das, was ein Sprecher in einer gewissen Situation meint, ist für GRICE die Situationsbedeutung der Äußerung. Ein Satz hat Bedeutung, wenn der Sprecher etwas mit der Äußerung des Satzes meint. Mit einer indikativischen Äußerung intendiert der Sprecher, daß der Hörer glaube, daß p, mit einer Aufforderungshandlung wird vom Sprecher intendiert, daß der Hörer eine bestimmte Handlung ausführt bzw. daß beim Hörer eine bestimmte Intention hervorgerufen und auch realisiert wird. Das 1957 entworfene Theoriegerüst wird in GRICE (1968 b) entscheidend präzisiert und verfeinert, wenngleich die Grundannahmen im wesentlichen erhalten bleiben. Als zentral wird dabei diejenige Bedeutung angesehen, die ein Sprecher in einer bestimmten Äußerungssituation auszudrücken beabsichtigt. Dieser Bedeutungsbegriff ist von anderen Begriffen zwar grundsätzlich abzugrenzen, jedoch im Zusammenhang mit den übrigen Bedeutungsbegriffen zu bestimmen und zu analysieren. GRICE unterscheidet vier Bedeutungsbegriffe: — Utterer's occasion meaning (mit dem Vollzug einer Äußerung JC durch den Sprecher S meint dieser, daß *p bzw. das Tun von x bedeutet für S, daß *p, wobei *p einen Modus indiziert). — Utterance-type occasion meaning (wenn S eine Äußerung vom Typ x produziert, meint S(*p».
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— Timeless meaning for an utterance-type (eine Äußerung vom Typ x bedeutet
p in (32) decken nach GRICE das ab, was ein Sprecher meint, wenn er zu einem bestimmten Anlaß einen Satz äußert. In diesem Zusammenhang wird von GRICE hervorgehoben, daß das, was ein Satz meint (timeless meaning bei GRICE), und das, was ein Sprecher meint, wenn er den Satz zu einem bestimmten Anlaß gebraucht (utterer's meaning bei GRICE) nicht notwendigerweise dasselbe sind. Es bedarf keiner besonderen Hervorhebung, daß GRICE'S Bedeutungsauffassung mit jenen Konzeptionen unvereinbar ist, die — der logischen Tradition folgend — Bedeutungen als Träger von Wahrheitswerten definieren. GRICE will mit seiner Analyse zeigen, daß die Äußerungsbedeutung in Termen definiert werden kann, die erstens nicht den Begriff der sprachlichen Bedeutung voraussetzen, GRICE will zweitens damit zeigen, daß die sprachliche Bedeutung demzufolge in Termen der Äußerungsbedeutung definiert werden kann. Mit anderen Worten: sprachliche Bedeutung muß auf der Grundlage der Sprecherüberzeugung (speaker's belief) sowie der Intention definiert werden, mit der ein Satz geäußert wurde. GRICE'S Bedeutungsdefinition ist nicht nur mit einer Reihe von Unschärfen behaftet, sie wirft auch zahlreiche Fragen auf, die zum Teil weitreichende Konsequenzen für das Erklärungspotential dieses Forschungsansatzes haben. Unklar bleibt vor allem die Relation zwischen den Elementen x, / , c, p und die die sogenannte ,nicht natürliche Bedeutung' konstituieren. Wenig überzeugend ist ferner der Intentionsbegriff, mit dem GRICE mehr oder minder stark die Vorstellung suggeriert, daß Intentionen zuerst etwas ganz Privates seien, die dann in ein intersubjektives, gesellschaftliches Medium übersetzt werden. Diese Interpretation liegt nahe, da GRICE in seiner Definition von Bedeutung keinen expliziten Hinweis auf den kommunikativen Kontext gibt, in dem die Menschen zielgerichtet ihre Handlungen ausführen. Es ist im folgenden zu prüfen, inwieweit die Handlungsbedingungen, die für die Explikation des G R i C E s c h e n Intentionsbegriffs unerläßlich sind, durch das allgemeine Kooperationsprinzip sowie durch die daraus abgeleiteten Konversationsmaximen rekonstruiert werden können.
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2.3.1. Kooperationsprinzip, Konversationsmaximen, Implikaturen In einer Reihe von Einwänden, die gegen GRICE aus dem Lager der konventionalistischen Bedeutungsauffassung vorgebracht wurden, spielt das Problem, G R I C E stütze sich in seiner Analyse ausschließlich auf den IntentionsbegrifT und lasse die konventionelle Komponente für die Bedeutungsdefinition weitgehend unberücksichtigt, eine zentrale Rolle. In den gegen GRICE erhobenen Einwänden ist offenbar übersehen worden, daß diejenigen Sachverhalte, die im konventionalistischen Bedeutungsnominalismus unter die allgemeine Kategorie der Konvention subsumiert werden, bei GRICE keineswegs fehlen, sondern aus anderen Systemzusammenhängen heraus entwickelt werden. Bisher wurde nur ein Aspekt der GRiCEschen Bedeutungstheorie eingehender dargestellt — die Definition der Sprecherbedeutung, der sogenannten ,meaning nn '. GRICE verfolgt mit seiner Theorie jedoch ein weiteres Ziel. Es geht ihm darum, allgemeine Verhaltensmaximen aufzustellen, mit denen die kooperative Natur der Kommunikation erklärt werden kann. Dieses Problem steht im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen. Das zentrale Problem aller bisher vorgestellten Forschungsansätze zu einer Theorie der Pragmatik besteht darin, daß sich die Informationen, die in einer Äußerung übermittelt werden, nicht allein aus der wörtlichen, d. h. sprachlichen Bedeutung des Satzes ergeben, sondern aus dem sprachlichen und nicht sprachlichen Kontext, aus dem Zusammenhang zwischen sprachlichen Handlungen und den ihnen vorausgehenden, mit ihnen gleichzeitig vollzogenen sowie aus ihnen zu folgernden nicht sprachlichen Handlungen ergeben. G R I C E sieht zunächst zurecht eine Parallele zwischen den Regeln, die das sprachliche und nicht sprachliche Handeln des Menschen bestimmen und nimmt gewisse Prinzipien an, denen die Teilnehmer solcher Handlungen normalerweise folgen. So haben die Teilnehmer eines Gesprächs ein gemeinsames Ziel, sie verfolgen einen gemeinsamen Zweck und sind daraufhin bemüht, zusammenzuarbeiten. Ziel bzw. Zweck der Kommunikation können bereits vor dem Vollzug der sprachlichen Handlungen fixiert sein oder aber erst im Gesprächsverlauf entwickelt werden. Das allgemeine Kooperationsprinzip, von dem GRICE annimmt, daß es alle Kommunikationspartner befolgen, erfahrt in GRICE (1968a: II, 7) folgende Definition: (33) Mache deinen Beitrag zur Konversation so, wie es an der jeweiligen Stelle entsprechend dem akzeptierten Zweck oder der Richtung des Gesprächs, an dem du beteiligt bist, erforderlich ist. Auf der Grundlage dieses generellen Kooperationsprinzips lassen sich nach GRICE spezifische Konversationsmaximen formulieren, die von unterschiedlicher Relevanz sein können bzw. von den Kommunikationspartnern unterschiedlich beach13*
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tet und befolgt werden können. 12 Im einzelnen unterscheidet men:
GRICE
vier Maxi-
(34) Maxime der Quantität Mache deinen Beitrag so informativ wie erforderlich. Mache deinen Beitrag nicht informativer als erforderlich. Maxime der Qualität Versuche deinen Beitrag so zu machen, daß er wahr ist. Sage nichts, von dem du glaubst, es sei falsch. Sage nichts, für das dir hinreichende Evidenzen fehlen. Maxime der Relation Mache deinen Beitrag relevant. Maxime der Art und Weise Sei klar und deutlich. Vermeide Dunkelheit im Ausdruck, vermeide Mehrdeutigkeit, sei kurz, sei methodisch. GRICE 12
räumt ein, daß es weitere soziale, ästhetische und moralische Maximen
Es ist nicht nur wissenschaftsgeschichtlich interessant, daß URMSON bereits 1952 bei der Analyse parenthetischer Verben Gesprächsregeln aufgestellt hat, ohne jedoch diesen Terminus zu benutzen. Es wird von URMSON darauf hingewiesen, daß die Kommunikationspartner sich nach bestimmten .presuppositions of communication' richten. So beanspruche ein Sprecher für sich, daß das, was er sage, wahr ist und einen Grund habe. URMSON spricht von Implied claims to truth sowie Implied claims to reasonableness, die er wie folgt definiert: Whenever anyone utters a sentence which could be used to convey truth or falsehood there is an implied claim to truth by that person . . . Suppose that someone utters . . . ,It will rain tomorrow' . . . This act carries with it the claim that it is true that it will rain to-morrow . . . just as it is understood that no one will give orders unless he is entitled to give orders, so it is understood that no one will utter a sentence of a kind which can be used to make a statement unless he is willing to claim that that statement is true, and hence one would be acting in a misleading manner if one uttered the sentence if he was not willing to make that claim. The word .implies' is being used in such a way that if there is a convention that X will only be done in circumstances 7, a man implies that situation Y holds if he does X (URMSON 1 9 6 3 : 2 2 4 ) .
Implied claims to reasonableness . . . whenever we make a statement in a standard context there is an implied claim to reasonableness . . . Unless we are acting or story-telling . . . it is, I think, a presupposition of commufiication that people will not make statements, thereby implying their truth, unless they have some ground, however tenuous, for those statements . . . we will not make statements unless we are prepared to claim and defend their reasonableness (URMSON 1 9 6 3 : 2 2 9 f.).
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geben kann, die jedoch für das generelle Kooperationsprinzip nicht einschlägig sind. Die in (34) angeführten Maximen haben einen zweifachen Status: einerseits reflektieren sie empirische Tatsachen, GRICE nimmt an, daß die Menschen sich tatsächlich so in ihrem kommunikativen Handeln verhalten und nur unter Anstrengungen sich anders verhalten können, andererseits stellen die Maximen bestimmte Handlungsanweisungen dar, d. h., sie sagen etwas darüber aus, wie es vernünftig wäre, sich im sprachlichen Handeln zu verhalten. Der Charakter von Handlungsweisungen kommt implizit durch die von GRICE gewählte Formulierung zum Ausdruck. KEMPSON ( 1 9 7 5 : 162), die die GRiCEschen Maximen kritisch beleuchtet, fügt der Maxime der Quantität zwei weitere Untermaximen hinzu: (35) the requirement that one answer questions appropriately, the requirement of presenting sufficient information in questions and imperatives to enable one's request to be successfully carried out . sowie die allgemeine Maxime (36) the general requirement of not saying what is familiar. Diese allgemeine Maxime ergibt sich bereits aus GRICES Maxime der Quantität, die besagt, nicht informativer als nötig zu sein, KEMPSON (1975:166) führt sie unter Bezugnahme auf STRAWSONS „Presumption of Ignorance" und „Presumption of Knowledge" ein und begründet diesen Schritt folgendermaßen: „These .presumptions' capture on the one hand the assumptions of the speaker that the hearer does not already know what the speaker is telling him and on the other hand the speaker's assumption that the hearer knows certain empirical facts relevant to the particular point to be imparted in the utterance". Es wird somit in KEMPSONS Vorschlag davon ausgegangen, daß es in jedem Gespräch ,a certain body of facts' gibt, von denen der Sprecher annimmt, daß sie dem Hörer bekannt sind. Diese Menge von Sachverhalten, die sowohl vom Sprecher als auch vom Hörer als gegenseitig bekannt vorausgesetzt werden, konstituieren das sogenannte,pragmatic universe of discourse', das als gemeinsamer Bezugspunkt von Sprecher und Hörer eine notwendige Bedingung für das Zustandekommen und für die Aufrechterhaltung eines Gesprächs darstellt. KEMPSON unterstreicht dabei, daß dieses Universum nicht statisch ist, sondern häufiger Veränderungen unterliegt. Das gemeinsame Wissen von Sprecher und Hörer, das als Grundvoraussetzung für jede erfolgreiche Kommunikation angesehen werden kann, muß nach KEMPSON (1975: 167) folgende vier Bedingungen erfüllen: (37) 1. S believes Pt 2. S believes H knows 3. S believes H knows S believes P{
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4. S believes H knows S believes H knows Pi wobei S, H und P für Sprecher, Hörer und Proposition stehen. Nach den damit formulierten Beschränkungen, die von KEMPSON der Maxime der Quantität auferlegt werden, kann diese Maxime folgendermaßen neu formuliert werden: (38) Do not assert any proposition p which is a member of the Pragmatic Universe of Discourse (KEMPSON 1 9 7 5 : 169). Diese Maxime besagt, daß ein Sprecher nichts Triviales, Offensichtliches oder bereits Bekanntes sagen oder gar explizit behaupten soll. Mit dem Gesprächsmaximen haben sich vor einiger Zeit bereits GORDON/ LAKOFF ( 1 9 7 1 ) und R. LAKOFF ( 1 9 7 2 ) auseinandergesetzt. Da die Gesprächspostulate, wie sie von GORDON/LAKOFF vorgeschlagen wurden, bereits in 1.3. ausführlicher dargestellt wurden, wollen wir hier nur noch kurz den Versuch von R. LAKOFF vorstellen, mit dem sie die GRiCEschen Maximen zu erweitern versuchte. Nach R. LAKOFF treffen die Kommunikationspartner folgende Annahmen über die Kommunikation: (39) Rule 1: What is being communicated is true. Rule 2: It is necessary to state what is being said: it is not known to other participants, or utterly obvious. Further, everything necessary for the hearer to understand the communication is present. Rule 3: Therefore, in the case of statements, the speaker assumes that the hearer will believe what he says (due to rule 1). Rule 4: With questions, the speaker assumes that he will get a reply. Rule 5: With orders, he assumes that the command will be obeyed. Nach diesem gedrängten Überblick, mit dem zugleich eine Reihe kritischer Einwände sowie Modifikationen vorgestellt wurden, die gegen GRICES Bedeutungsbegriff sowie gegen das Kooperationsprinzip erhoben wurden, wollen wir wieder zu GRICES Ausgangspunkt zurückkehren und noch einmal hervorheben, daß GRICE bei der Begründung seines Modellvorschlags davon ausgegangen war, daß das allgemeine Kooperationsprinzip sowie die Gesprächsmaximen von den Kommunikationspartnern normalerweise befolgt werden. GRICE schließt dabei jedoch nicht aus, daß es durchaus zu Verletzungen der einzelnen Maximen wie auch des Kooperationsprinzips kommen kann. Werden einzelne Maximen verletzt, kann es dafür unterschiedliche Gründe geben. So kann ein Sprecher grundsätzlich nicht zur Kooperation bereit sein oder sich damit einverstanden erklären, das Gespräch fortzuführen, er kann aber auch die Maximen ignorieren, um seine Gesprächspartner zu ignorieren. Schließlich ist für GRICE auch jener Fall denkbar, daß der Sprecher bewußt irreführen oder täuschen will; er kann
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aber auch seinem Gesprächspartner etwas nahelegen wollen, was dadurch erreicht werden kann, daß der Hörer annimmt, daß der Sprecher die Maximen auf einer anderen, nicht wörtlichen Ebene einhält. Es ist also nach GRICE sehr wohl möglich, daß ein Sprecher mit seiner Äußerung etwas meint, das aus der Äußerung selbst nicht hervorgeht, das aber von den Kommunikationspartnern auf Grund der Ännahme erschlossen werden kann, daß der Sprecher die Maximen befolgt, in der konkreten Kommunikationssituation etwas Sinnvolles, Relevantes und für die Kooperation Nützliches zum Ausdruck bringt. Aus der Tatsache, daß ein Sprecher etwas nicht wörtlich sagen kann, dabei aber die Maximen befolgt, leitet GRICE den Begriff der sogenannten konversationeilen Implikatur ab, den er wie folgt definiert: (40) Wenn jemand sagt, daß p (oder so tut, als würde er dies sagen), hat er konversationeil impliziert, daß q, falls gilt: (1) der Sprecher beachtet die Kooperationsmaximen, mindestens aber das Kooperationsprinzip; (2) die Annahme (1) ist mit dem Umstand, daß der Sprecher sagt, daß p (oder so tut, als würde er dies sagen, oder es gerade mit diesen Worten tut), nur in Einklang zu bringen, wenn der Sprecher sich bewußt ist oder denkt, daß q\ (3) der Sprecher denkt (und erwartet vom Hörer, daß dieser denkt, der Sprecher denke so), daß es in der Kompetenz des Hörers liegt, auszuarbeiten oder zumindest intuitiv zu erfassen, daß die Annahme (2) erforderlich ist. Eine konversationeile Implikatur ist der schließende Vorgang des Hörers, eine Interpretation für die Äußerung des Sprechers zu finden, durch die der Verdacht auf Regelwidrigkeit ausgeräumt wird. Das übergeordnete Prinzip der Zusammenarbeit ist nach G R I C E gewöhnlich so stark, daß bei einer Verletzung einer Gesprächsmaxime durch den Sprecher beim Hörer ein Mechanismus in Aktion tritt, durch den der Hörer versucht, für die Äußerung eine Interpretation zu finden. Dem Hörer kommt es somit zu, eine konversationelle Implikatur auszuführen. Für die Ausführung einer konversationeilen Implikatur ergibt sich folgendes allgemeine Schema: (41) Der Sprecher hat gesagt, daß p; es gibt keinen Grund anzunehmen, daß er die Maximen oder wenigstens das Kooperationsprinzip nicht beachtet; er könnte dies nicht tun, außer er dachte, daß q, er weiß (und weiß, daß ich es weiß, daß er weiß), daß ich sehen kann, daß die Annahme, er denke, daß q, notwendig ist; er hat nichts getan, um mich davon abzuhalten zu denken, daß q; deshalb hat er die Absicht, ich solle denken, daß q, oder mindestens ist er bereit, mir zu denken zu erlauben, daß q; folglich hat er impliziert, daß q.
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GRICE (1968 a, Lecture II, 4 und 1975: 43) verdeutlicht die konversationeile Implikatur an folgendem Beispiel: (42) Suppose that A and B are talking about a mutual friend, C, who is now working in a bank. A asks B how C is getting on his job, and B replies, Oh quite well, I think; he likes his colleagues, and he hasn't been to prison yet. Unter den entsprechenden Gesprächsumständen löst dieses Beispiel folgenden schließenden Prozeß des Hörers aus (vgl. GRICE 1968 a, Lecture II, 13 und 1975: 50):' (43) (1) B has apparantly violated the maxim ,Be relevant' and so may be regarded as having flouted one of the maxims conjoining perspicuity; yet I have no reason to suppose that he is opting out from the operation of the CP; (2) given the circumstances, I can regard his irrelevance as only apparent if, and only if, I suppose him to think that C is potentially dishonest; (3) B knows that I am capable of working out step (2). So B implicates that C is potentially dishonest. Konversationelle Implikaturen sind von der Beachtung der wörtlichen Bedeutung, dem Prinzip der Zusammenarbeit und den Gesprächsmaximen abhängig, sie sind ferner abhängig von der konkreten Gesprächssituation sowie von den gemeinsamen Annahmen und dem gemeinsamen Wissen, die Sprecher und Hörer machen bzw. über das sie verfügen. Da konversationeile Implikaturen, nicht Teil der wörtlichen konventionellen Bedeutung sind, lassen sie sich weder vorhersagen noch sind sie die einzig möglichen Interpretationen einer Äußerung. Die konversationelle Implikatur, d. h. das schließende Verfahren seitens des Hörers sowie dessen Resultat ist von den konventionellen Implikaturen zu unterscheiden, bei denen es sich nach GRICE um Schlußfolgerungen handelt, zu denen sich der Sprecher verpflichtet, denen er ferner nicht widersprechen kann und deren Erkennen nicht davon abhängt, daß eine Verletzung des Kooperationsprinzips unterstellt werden kann. Konventionelle Implikaturen gehören aber ebenso wie die konversationeilen Implikaturen nicht zur wörtlichen Bedeutung eines Lexems, werden aber als Folge des Gebrauchs dieses Lexems erschlossen. GRICE (1968 a, Lecture II, 6 und 1975: 44ff.) gibt dafür folgendes Beispiel: (44) If I say (smugly), He is an Englishman; he is, therefore brave, I have certainly committed myself, by virtue of the meaning of the words, to its being the case that this being brave is a consequence of (follows from) his being an Englishman. But . . . I do not want to say that I have SAID (in the favored sense) that it follows from his being an Englishman that he is brave, though I have certainly indicated, and so implicated, that this is so..
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hat mit seinem Modellvorschlag erstmals die Gemeinsankeiten der Voraussetzungen charakterisiert, die Sprecher und Hörer treffen, bevor das relevante sprachliche Handeln abläuft. Präsuppositionen, Annahmen und Erwartungen gehören zur Vorgeschichte einer sprachlichen Äußerung, Implikaturen, Mitverstandenes fallen in den Bereich der Nachgeschichte. Die von GRICE formulierten Implikaturen beziehen sich — wie bereits gezeigt wurde — auf Äußerungen, deren kommunikativer Sinn nicht aus der konventionellen Bedeutung der sprachlichen Äußerung rekonstruiert werden kann. Sie setzen voraus, daß alle Kommunikationsteilnehmer über gemeinsame Präferenzen, d. h. Maximen verfügen. Die Frage, welchen Status die einzelnen Maximen haben, ob sie Konventionen oder allgemeine kommunikative Präferenzen darstellen, wird von GRICE nicht eindeutig beantwortet. Aus GRICE (1975: 48) kann gefolgert werden, daß er eher zu einer präferentiellen Bestimmung der Maximen neigt als zu einer konventionellen: „I am however enough of a rationalist to want to find a basis which underlies these facts, undeniable though they may be; I would like to be able to think of the standard type of conversational practice not merely as something which all or most do in fact follow, but as something which it is reasonable for us to follow, which we should not abandon". Dies würde nichts anderes bedeuten, als daß sich die Maximen aus der Präferenz ableiten, vernünftig zu handeln. Da aber die Praxis vernünftigen Handelns sich auf Koordination bzw. Kooperation richtet, werden dadurch Konventionen erforderlich. GRICES Maximen bleiben sehr allgemein, sie sagen nichts darüber aus, unter welchen Bedingungen — außer den sehr allgemeinen, in den Maximen formulierten — eine sprachliche Handlung in einer sprachlichen Gemeinschaft als vernünftig zu gelten hat. GRICE hat dieses Problem offenbar völlig außer acht gelassen oder bewußt ausgeschlossen. Ihm scheint es allein darum zu gehen, allgemeine Voraussetzungen zu formulieren wie Wahrheit, Relevanz, Informationsgehalt u. a., die in der Kommunikation eine bestimmte Rolle spielen. In der Frage, daß in kommunikativen Handlungen bestimmte präferentielle Prinzipien zur Anwendung kommen, ist GRICE nicht zu widersprechen, da aber Kommunikation nicht etwas Naturhaftes ist, sondern stets Kommunikation zwischen Menschen einer bestimmten Gemeinschaft, reicht es nicht aus, diese Prinzipien nur unter diesen allgemeinen Gesichtspunkten zu charakterisieren und als eine Art anthropologische Konstante zu fassen, sondern stets auch unter dem Aspekt, welche Rolle diese Prinzipien in jeweils speziellen Kommunikationszusammenhängen in einer konkreten Gesellschaft spielen. Von anderen Voraussetzungen ausgehend sind in den letzten Jahren zahlreiche Forschungsansätze entwickelt worden, die in ihrem Herangehen dem GRiCEschen Vorschlag der konversationeilen Implikatur sehr ähnlich sind. Von diesen Forschungsansätzen sind vor allem DUCROTS (1972) Konzept des Mitverstandenen („Sous-entendus"), GEIS' und ZWICKYS (1971) suggerierte Schlußfolgerungen (inviGRICE
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ted inferences), SEARLES (1975 a) Inferenzprozeduren sowie KATZ' (1977) allgemeine Pragmatikfunktion zu nennen, die ebenso wie die GRiCEschen Implikaturen vom Hörer mit Hilfe eines Schlusses erkannt werden, der suggeriert wird. Der Rahmen dieser Arbeit erlaubt es nicht, diese Vorschläge hier im einzelnen zu charakterisieren, bestimmte Aspekte dieser Forschungsansätze werden jedoch bei der Behandlung der sogenannten indirekten Sprechakte in 2.5. wieder aufgegriffen.
2.4. Bedeutung und illokutive Rolle Nach der eingehenden Erörterung zentraler Begriffe, die im Mittelpunkt der bedeutungstheoretischen Diskussion in der Sprachphilosophie und Linguistik standen, wollen wir nun zu der Frage nach dem Zusammenhang von Bedeutung und illokutiver Rolle bzw. Funktion zurückkehren und zu zeigen versuchen, welche unterschiedlichen Wege bezüglich der Explikation des Zusammenhangs von wörtlicher Bedeutung und Äußerungsbedeutung seit AUSTIN eingeschlagen wurden. AUSTIN hat in seiner Theorie der Sprechakte darauf hingewiesen, daß ein Sprecher, der eine Äußerung produziert, bestimmte Handlungen ausführt. Die einzelnen Akte, die ein Sprecher dabei vollzieht, wurden bereits in 2.2. ausführlich charakterisiert. Die Diskussion, die sich in der Folgezeit um AUSTINS Sprechakttheorie entwickelte, konzentrierte sich im wesentlichen auf zwei Probleme: auf die Unterscheidung zwischen Bedeutung und illokutiver Rolle einer Äußerung sowie auf die Differenzierung performativer und konstativer Äußerungen. Wir betrachten im folgenden zunächst das erstgenannte Problem, über dessen Diskussion in der Sprachphilosophie der 60er Jahre bereits COOPER (1972) eine erste Bilanz gezogen hat. COOPER hat in seiner Bestandsaufnahme festgestellt, daß es bezüglich der Frage, ob die Bedeutung von Sätzen mit Bezug auf den illokutiven Akt beschrieben und erklärt werden kann, folgende Psotionen vertreten wurden: (1) Es gibt illokutive Akte und Bedeutung kann mit Bezugnahme auf sie beschrieben werden (ALSTON 1963). (2) Es gibt illokutive Akte, aber jeder Versuch, Bedeutung mit Bezugnahme auf sie beschreiben zu wollen, führt zu einem Zirkel (HOLDCROFT 1964). (3) Es gibt illokutive Akte, sie sind aber von der Bedeutung einer Äußerung grundsätzlich verschieden, weshalb sie für eine Bedeutungserklärung offenbar auch nicht in Betracht kommen (AUSTIN 1975). (4) Es gibt keine illokutiven Akte, Bedeutung kann daher auch nicht mit Bezug auf sie beschrieben werden (COHEN 1964). GREWENDORF (1976: 108) hat die Frage umgekehrt, woraus sich mindestens drei unterschiedliche Auffassungen ergeben:
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(5) Welche illokutive Rolle eine Äußerung hat, hängt unter anderem davon ab, welche Bedeutung sie hat (AUSTIN 1962). (6) Welche illokutive Rolle eine Äußerung hat, hängt allein davon ab, welche Bedeutung sie hat (SEARLE 1 9 6 8 / 1 9 7 3 ) . (7) Es gibt keinen Aspekt von Äußerungen, der sich im Unterschied zu ihrer Bedeutung als illokutive Rolle bezeichnen ließe (COHEN 1964). Es ist relativ schwierig, aus den einzelnen Arbeiten die Ursachen zu rekonstruieren, die die Diskussion gerade auf dieses Problem von AUSTINS Sprechakttheorie konzentrierten, zumal AUSTINS Position in dieser Frage klar bestimmt und im grundsätzlichen kaum kritikwürdig erscheint. Möglicherweise resultieren die unterschiedlichen Standpunkte aus einer unterschiedlichen Bestimmung der zentralen Begriffe .Bedeutung' und „illokutive Rolle'. COOPER ist daher geneigt, terminologische Unschärfen und Unklarheiten als den Hauptgrund für die oben angeführten divergierenden Auffassungen anzusehen. Die weiteren Ausführungen werden zeigen, daß dieses Argument zwar durchaus einschlägig ist, daß es aber allein nicht ausreicht, die Ursachen für die inkompatiblen Standpunkte zu erklären. Ein nicht unwesentlicher Grund für die unterschiedlichen Standpunkte ist auch darin zu sehen, daß bei den einzelnen Rezeptionsversuchen der Sprachphilosophie zahlreiche Fehlinterpretationen zentraler Positionen AUSTINS unterlaufen sind. Unklarheit und Uneinigkeit über das Verhältnis von Bedeutung und illokutiver Funktion innerhalb der Linguistik haben demgegenüber ihre Ursache vor allem darin, daß an dem engen wahrheitsfunktionalen Bedeutungsbegriff konsequent festgehalten wurde, mit dem zugleich in Anlehnung an HARMAN, DAVIDSON u. a. die Behauptung vertreten wurde, daß es keinen wesentlichen Unterschied zwischen den natürlichen Sprachen und den künstlichen Sprachen der Logik gäbe. Das bedeutet nichts anderes, als daß die Semantiktheorien, die innerhalb der Logik für formale Sprachen entwickelt wurden, in angemessener Weise auf natürliche Sprachen übertragen werden können. Um den Ausgangspunkt der Diskussion noch einmal deutlich zu machen, ist es zweckmäßig, AUSTINS Grundthese, Sprechen bedeutet Handeln, durch die der wahrheitsfunktionale Bedeutungsansatz entscheidend in Frage gestellt wurde, hier noch einmal thesenartig vorzustellen. AUSTIN geht davon aus, daß jemand, der etwas sagt, mehrere zusammengehörige Akte ausführt. Ohne auf Einzelheiten hier näher einzugehen, kann dieser Prozeß folgendermaßen beschrieben werden. Wer etwas sagt, muß (a) gewisse Geräusche äußern, d. h. einen phonetischen Akt vollziehen. AUSTIN nennt das, was ein Sprecher äußert, Phon; (b) gewisse Wörter in einer bestimmten Konstruktion äußern, die zu einem bestimmten Lexikon bzw. zu einer bestimmten Grammatik gehören. Diese grammatische Konstruktion muß ferner mit einer bestimmten Intonation ge-
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äußert werden. Diesen Akt nennt AUSTIN phatischen Akt, das, was dabei geäußert wird, bezeichnet AUSTIN als Phem; (c) im allgemeinen eine Handlung vollziehen, mit der das Phem oder seine Bestandteile so benutzt werden, daß mehr oder weniger genau festliegt, wovon die Rede ist (Referenz) und mehr oder genau festliegt, was darüber gesagt wird (Sinn). Liegt beides fest, so liegt auch die Bedeutung (meaning) fest. Diese Handlung nennt AUSTIN den rhetischen Akt, das, was der Sprecher damit äußert, ist das Rhem. AUSTIN präzisiert seine Definition des rhetischen Akts durch die Angabe, daß über etwas sprechen und etwas darüber sagen untergeordnete Handlungen im Vollzug des rhetischen Akts sind. Im allgemeinen kann kein rhetischer Akt vollzogen werden, ohne über etwas zu sprechen, ohne etwas damit zu nennen. Das Phem ist eine Einheit der Sprache, des Systems, sein typischer Fehler ist nach AUSTIN, vage, leer und unklar zu sein. Mit einem Phem kann man nach AUSTIN unterschiedliche rhetische Akte vollziehen. Pheme haben somit ein bestimmtes rhetisches Aktpotential. Daß ein sinnvoller sprachlicher Ausdruck Bedeutung hat, ist für AUSTIN gleichbedeutend mit der Tatsache, daß ein Sprecher mit ihm illokutive Akte vollziehen kann. Welcher illokutive Akt in einer konkreten Situation mit der Äußerung vollzogen wird, hängt von den Umständen ab, mit anderen Worten, welche illokutive Rolle des illokutiven Aktpotentials in einer konkreten Situation aktualisiert wird, ist durch die Umstände der Äußerungssituation bestimmt. Aus dieser gedrängten Darlegung wird ersichtlich, daß AUSTIN — wie oben bereits gezeigt wurde — einen Zusammenhang zwischen der Bedeutung und der illokutiven Rolle annimmt. Neben HARE (1970), der AUSTINS Annahme kritisierte, daß die illokutive Rolle einer Äußerung etwas von deren Bedeutung Verschiedenes sei, haben vor allem COHEN (1970, 1973) und SEARLE (1968/1973) grundsätzliche Vorbehalte gegen AUSTINS Lokutiv-Illokutiv-Unterscheidung angemeldet und den Versuch unternommen, diese Unterscheidung aufzugeben. SEARLES Hauptargument stützt sich auf die Behauptung, daß Bedeutung und illokutive Rolle in einer Äußerung nicht sinnvoll auseinander gehalten werden können, da der zur Bedeutung und damit zum thematischen Akt AUSTINS gehörende Modus eines Satzes bereits Determinanten der illokutiven Rolle enthalte. Ähnliche Argumente führt auch HARE (1970) an, dessen Einwand gegen AUSTIN darauf hinausläuft, daß man im lokutiven Akt nicht etwas sagen kann, ohne dies gleichzeitig in einem bestimmten Modus zu tun, was notwendigerweise in folgendes Dilemma führe: entweder ist der Modus Bestandteil des Sinns einer Äußerung und damit zugleich Bestandteil des rhematischen und lokutiven Akts, so daß der Sinn einer Äußerung zumindest Teile ihrer illokutiven Rolle umfaßt, oder aber die illokutive Rolle gehört nicht zum Sinn der Äußerung, was aber nach HARE eine unvollständige Äußerung zur Folge hat.
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Die Argumente, mit denen gezeigt werden soll, daß AUSTINS Unterscheidung im Prinzip leer sei, sind in mehrfacher Hinsicht wenig überzeugend. Einerseits stützen sie sich vorwiegend auf explizite performative Formeln und verkennen damit, daß in denjenigen Fällen, in denen diese fehlen, die Bedeutung des Satzes durchaus nicht einfach an der Äußerung ablesbar ist. Andererseits stellen sie damit in Abrede, daß für die Untersuchung der illokutiven Rolle wesentlich mehr als nur die Bedeutung eines Satzes zu berücksichtigen ist, nämlich die Umstände, unter denen illokutive Akte vollzogen werden. AUSTIN hat mehrfach auf diesen Fakt hingewiesen und die Rolle der Umstände, unter denen illokutive Akte ausgeführt werden, hervorgehoben. AUSTIN hat auch klar zwischen der phematischen Bedeutung (Bedeutung in Isolierung, Systembedeutung, wörtliche Bedeutung) und der rhematischen Bedeutung (Bedeutung eines Ausdrucks in einer bestimmten Verwendung, Situationsbedeutung) unterschieden. Die von uns gegen SEARLE, COHEN und HARE vorgebrachte Kritik teilt auch WARNOCK ( 1 9 7 1 ) , der SEARLES Schluß, die AusTiNsche Distinktion auf Grund der Modi aufzugeben, als Fehlschluß zurückweist. In dieselbe Richtung zielt auch die Kritik THAUS ( 1 9 7 2 ) , in der als Einwand gegen SEARLE zahlreiche Beispiele für geglückte rhetische und nicht geglückte illokutive Akte angeführt werden. GREWENDORF ( 1 9 7 6 : 113) faßt die bisher zu AUSTINS Unterscheidung von lokutivem und illokutivem Akt geäußerte Kritik treffend zusammen. Nach GREWENDORF kranken alle diese Einwände an einer Nichtunterscheidung zwischen phematischer und Thematischer Bedeutung. Ferner wird aus dem Nachweis, daß die phematische Bedeutung von Ausdrücken die mit diesen vollziehbaren illokutiven Akte determiniere, der falsche Schluß gezogen, daß eine sinnvolle Unterscheidung zwischen phematischer und Thematischer Bedeutung nicht möglich sei. Bei keinem der Kritiker AUSTINS findet sich — obwohl es deren erklärtes Ziel war — eine detaillierte Analyse des Zusammenhangs zwischen der rhematischen Bedeutung und der illokutiven Rolle einer in einer konkreten Situation vollzogenen Sprechhandlung. Aber auch in den Fällen, in denen SEARLE, COHEN u. a. der Nachweis eines solchen Zusammenhangs möglich gewesen wäre, hätte dieser die prinzipielle Berechtigung der AUSTINschen Unterscheidung nicht untergraben, da der illokutive Akt, den man mit einer Äußerung vollzieht, nicht nur von der rhematischen Bedeutung abhängt, sondern in entscheidendem Maße auch von den Umständen. Da diese aber bei SEARLE U. a. unberücksichtigt bleiben, muß es notwendigerweise zu Fehlschlüssen dieser Art kommen. 2.5. Konstative vs. performative Äußerungen. Explizit performative und primär performative Äußerungen Der lange Zeit in der Sprachphilosophie dominierende Standpunkt, das „Geschäft von Festlegungen' oder ,Aussagen' sei einzig und allein, einen Sachverhalt
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zu beschreiben oder eine Tatsache zu behaupten, und zwar entweder zutreffend oder unzutreffend" (AUSTIN 1975: 23), ist durch AUSTINS exakte Beobachtungen in seinen Fundamenten erschüttert worden. AUSTIN setzte dem sogenannten „deskriptiven Fehlschluß" die Tatsache entgegen, daß es Äußerungen gibt, die ihrer grammatischen Form nach zwar Tatsachenfeststellungen sind, die aber nicht etwas beschreiben, behaupten oder berichten und auch nicht wahr oder falsch sind, sondern den Vollzug einer Handlung darstellen. Als Beispiele führt AUSTIN folgende Belege an: (45) Ich taufe dieses Schiff auf den Namen , Queen Elizabeth' (als Äußerung, die mit dem Wurf der Flasche gegen den Schiffsrumpf ausgeführt wird) (46) Ich vermache meine Antiquitäten meinem Bruder (als Teil eines Testaments) (47) Ich wette 100 Mark, daß es morgen regnet Nach AUSTIN kann man davon sprechen, daß ein Sprecher mit diesen Äußerungen unter den gegebenen Umständen etwas Bestimmtes tut, wobei klar ist, daß er damit nicht beschreibt, was er tut oder feststellt, daß er es tut; den Satz äußern heißt, es ,tun' (vgl. AUSTIN 1975: 27). Äußerungen wie (45)—(47) werden im Gegensatz zu den sachverhaltsbeschreibenden konstativen Äußerungen performative Äußerungen bzw. performative Sätze genannt. Dieser Typ von Äußerungen zeichnet sich nach AUSTIN durch zwei wesentliche Merkmale aus: (a) sie stellen den Vollzug einer Handlung dar (b) sie sind weder wahr noch falsch. Performative Äußerungen weisen darüber hinaus folgende charakteristische Struktur auf: (48) 1. Person — Präsens — 2. Person — {hiermit), daß + S. Möglich sind auch verkürzte Strukturen wie (49) Es wird gebeten, ab 22 Uhr sich leise zu verhalten (50) Es ist verboten, während der Filmvorführung zu rauchen Performative Äußerungen werden von AUSTIN in Abhängigkeit davon, ob die sprachliche Handlung, die ein Sprecher mit der Äußerung eines Satzes vollzieht, expliziert wird oder nicht, weiter untergliedert in die sogenannten explizit performativen Äußerungen und in die primitiv bzw. primär performativen Äußerungen. Explizit performative Äußerungen sind Äußerungen, in denen durch das Vorkommen eines performativen Verbs deutlich gemacht wird, welche Handlung der Sprecher mit der Äußerung ausführt. Charakteristisch ist für diesen Typ von Äußerungen, daß sie alle mit einem eindeutigen Ausdruck beginnen, mit einem sogenannten explizit performativen Vorwort (explicit performative perface), dessen Funktion darin besteht „to communicäte something, about what one is say-
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ing — specifically, to make it clear what one is doing in saying what he is saying and in that way to remove any possible ambiguity as to force" (STAMPE 1 9 7 3 : 2 ) .
Entsprechend den Umständen kann ein Sprecher jedoch eine Äußerung mit demselben Ergebnis benutzen, ohne dabei auf explizite performative Formeln zurückzugreifen. Die Äußerung (51) Gehen Sie abends nicht allein durch den Park kann in Abhängigkeit von den Umständen die gleiche Funktion erfüllen wie (52) Ich rate Ihnen, abends nicht allein durch den Park zu gehen oder (53) Ich warne Sie, abends allein durch den Park zu gehen Nach AUSTIN ist im wesentlichen aus den Umständen zu entnehmen, ob eine Äußerung wie (51) als ein Rat oder eine Warnung zu verstehen ist. Vielfach geben nicht einmal die Umstände etwas für die Entscheidung her, wie die Äußerung überhaupt zu interpretieren ist. Äußerungen dieser Art nennt AUSTIN primitive bzw. primär performative Äußerungen. Die Unterscheidung zwischen explizit performativen und primär performativen Äußerungen verbindet AUSTIN mit der Behauptung, daß die explizit performativen Äußerungen sich mit dem Fortschritt von Sprache und Gesellschaft aus den primär performativen Äußerungen entwikkelt haben. AUSTIN übersieht jedoch dabei, daß in konkreten Kommunikationssituationen der Gebrauch expliziter performativer Äußerungen einen Spezialfall darstellt, da Äußerungen wie (52) und (53) offenbar nur dann gebraucht werden, wenn der Sprecher seiner Sprachhandlung besonderen Nachdruck verleihen will. Mit den bisherigen Ausführungen wurde nur der allgemeine Rahmen formuliert, in den AUSTIN seine Performativ-Konstantiv-Unterscheidung gestellt hat. Um performative und konstative Äußerungen voneinander abgrenzen zu können, sind nach AUSTIN weitere Differenzierungskriterien erforderlich.13 Es wurde bereits 13
HARE (1971: 102ff.) sieht in der Performativ-Konstativ-Unterscheidung AUSTINS zwei wesent-
liche Fehler: (1) die Performativ-Konstativ-Distinktion wurde durch die falsche Kontrastierung von „saying something" und „doing something" eingeführt; (2) bei AUSTIN handelt es sich genau genommen nicht um eine Unterscheidung, sondern um zwei, die miteinander vermischt worden sind: (a) die Unterscheidung zwischen verschiedenen illokutiven Akten, die wir ausführen, wenn wir etwas sagen (z. B. Bitten, Befehlen, Fragen). (b) die Unterscheidung zwischen primär performativen und explizit performativen Verben, d. h. die Unterscheidung zwischen zwei unterschiedlichen Arten, dasselbe zu tun.
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an mehreren Stellen darauf hingewiesen, daß konstative Äußerungen im Gegensatz zu den performativen Äußerungen Träger von Wahrheitswerten sind und somit entweder wahr oder falsch sein können. Als relevante Bewertungsinstanz für performative Äußerungen werden nicht die Wahrheitsbedingungen angesehen, sondern die Bedingungen des Glückens (Gelingens) oder Verunglückens (Scheiterns). Die von AUSTIN getroffene Unterscheidung zwischen performativen und konstativen Äußerungen kann auf folgende einfache Formel gebracht werden: konstative Äußerungen beschreiben den Sprechakt, performative Äußerungen hingegen stellen Sprechakte dar, mit denen gleichzeitig die entsprechende Handlung ausgeführt wird. Nach dieser grundsätzlichen Unterscheidung erhebt sich nun die Frage, ob es bestimmte sprachliche Indikatoren, d. h. bestimmte grammatische und lexikalische Mittel gibt, die den beiden Äußerungstypen eigen sind und es somit ermöglichen, die Unterscheidung zwischen performativen und konstativen Äußerungen auf ein sicheres, empirisch überprüfbares Fundament zu stellen. Als entscheidendes Differenzierungskriterium sieht AUSTIN den bereits oben dargestellten expliziten performativen Rahmen an, d. h. das performative Verb in der 1. Person Präsens Singular Indikativ Aktiv. (54) Ich verspreche dir, daß ich morgen ins Institut komme (performative (55) Ich versprach dir, morgen ins Institut zu kommen (konstative (56) Peter versprach ihr, morgen ins Institut zu kommen (konstative (57) Peter verspricht ihr, morgen ins Institut zu kommen (konstative
Äußerung) Äußerung) Äußerung) Äußerung)
Neben der expliziten performativen Formel, die von AUSTIN als letztes und erfolgreichstes Sprachmittel zum Ausdruck sprachlicher Handlungen angesehen wird, können auch Modus, Betonung, Adverbien und adverbiale Bestimmungen sowie Konjunktionen zur Differenzierung zwischen performativen und konstativen Äußerungen dienen. Die Liste dieser Mittel wird von AUSTIN noch durch das begleitende Verhalten des Sprechers (Gesten) und die Umstände der Äußerungssituation ergänzt. AUSTIN räumt dabei zwar ein, daß die Funktion dieser Mittel nicht eindeutig festgelegt ist, wodurch es zu Mehrdeutigkeiten und zum Verwischen von Unterscheidungen kommen kann, überschätzt aber die Funktion der expliziten performativen Formeln, indem er diesen die Eigenschaft zuschreibt, daß sie Mehrdeutigkeiten ausschließen und einigermaßen exakt festlegen, was mit dem sprachlichen Handeln getan wird. Neben den grammatischen Mitteln sind weitere Bedingungen für performative Äußerungen anzugeben, die AUSTIN in seiner Theorie der Unglücksfalle, d. h. des Scheiterns von Sprechhandlungen zu systematisieren versucht. Um eine per-
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formative Äußerung erfolgreich ausführen zu können, müssen nach AUSTIN (1975: 35) folgende Bedingungen als notwendige Bedingungen erfüllt sein: A 1: Es muß ein übliches konventionelles Verfahren mit einem bestimmten konventionellen Ergebnis geben, d. h., es muß eine Konvention existieren, auf deren Grundlage ein Sprecher mit der Äußerung bestimmter Wörter eine bestimmte Handlung ausführen kann. A 2: Die Umstände müssen so sein, daß sie zur Berufung auf eine entsprechende Konvention berechtigen. B 1: Alle Beteiligten müssen das Verfahren korrekt durchführen. B 2: Alle Beteiligten müssen das Verfahren vollständig durchführen. T 1: Wenn, wie oft, das Verfahren für Leute gedacht ist, die bestimmte Meinungen oder Gefühle haben, oder wenn es der Festlegung einer der Teilnehmer auf ein bestimmtes späteres Verhalten dient, dann muß derjenige, der am Verfahren teilnimmt und sich so darauf beruft, diese Meinungen und Gefühle auch wirklich haben, und die Teilnehmer müssen die Absicht haben, sich so und nicht anders zu verhalten. F 2: und sie müssen sich dann auch so verhalten. r 1 und r 2 besagen, daß performative Äußerungen, die bestimmte Gefühle, Absichten oder Einstellungen einschließen, als solche beim Sprecher auch vorhanden sein müssen bzw. daß durch performative Äußerungen, die bestimmte Verhaltenserwartungen hervorrufen, das Konsequenzverhalten auch tatsächlich realisiert wird. „Sündigt ein Sprecher" gegen eine oder mehrere dieser sechs Regeln, dann ist seine performative Äußerung in der einen oder anderen Weise verunglückt. Zwischen den einzelnen Regeln sieht AUSTIN fundamentale Unterschiede. Verstößt ein Sprecher beispielsweise gegen eine der A- und B-Regeln, d. h., benutzt der Sprecher eine explizit performative Formel fehlerhaft, dann wird die Handlung überhaupt nicht erfolgreich vollzogen, sie kommt nicht zustande. Unglücksfälle dieser Art, d. h. Fälle, in denen die Handlung nicht vollendet wird, nennt AUSTIN „Versager" (misfires). Verstößt ein Sprecher gegen eine der beiden T-Regeln, so kommt die Handlung zwar dennoch zustande, wenngleich der Handlungsvollzug unter solchen Umständen — wenn wir beispielsweise unehrlich sind — einen Mißbrauch des Verfahrens darstellt. Verstöße dieser Art bezeichnet AUSTIN als Mißbräuche (abuses). Neben dem grundlegenden Unterschied zwischen den A- und B-Fällen auf der einen Seite und den T-Fällen auf der anderen sind die Versager weiter zu differenzieren. Die beiden A-Fälle sind nach AUSTIN „Fehlberufungen" (misinvocations) auf ein Verfahren, das es entweder nicht gibt, das nicht so angewendet werden kann, wie es versucht wird. Den zuletztgenannten Fall bezeichnet AUSTIN als Fehlanwendungen eines Verfahrens (misapplications). Versager bezüglich der B-Fälle resultieren daraus, daß es das Verfahren zwar gibt und dieses durchaus auch anwendbar ist, daß aber die ausgeführte Handlung dadurch „ver14 Viehweger, Semantikforschung
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dorben" wird. AUSTIN nennt diese Art von Versagern „Fehlausführungen" (misexecutions), die wiederum in „Trübungen" (flaws) und „Lücken" (hitches) unterteilt werden. Da AUSTIN im Ansch/uß an seine Theorie der Unglücksfalle die bisher dargestellten Überlegungen grundsätzlich revidiert, ist es zweckmäßig, die bisher diskutierten Kriterien zur Unterscheidung zwischen konstativen und performativen Äußerungen noch einmal zusammenzufassen. Nach AUSTIN lassen sich alle Äußerungen zwei Grundklassen zuordnen: (1) der Klasse der konstativen Äußerungen und (2) der Klasse der performativen Äußerungen. Für (1) gilt, daß diese Äußerungen keine Händlungen sind und somit auch keinen Glückensbedingungen unterliegen; konstative Äußerungen sind wahr oder falsch und stehen somit mit der Wirklichkeit in einem systematischen Zusammenhang; schließlich werden diese Äußerungen — wie bereits gezeigt wurde — durch bestimmte grammatische Mittel realisiert. Die wesentlichen Kriterien für (2) sind, daß Äußerungen dieses Typs als explizite Handlungsausdrücke fungieren und daher keine Wahrheitswerte tragen; auf Grund dieser Eigenschaften können sie glücken oder scheitern; für diese Äußerungsklasse gibt es zahlreiche grammatische und lexikalische Mittel, die den Charakter dieser Äußerung signalisieren. AUSTIN bringt die von ihm eingeführte und durch zahlreiche empirische Evidenzen belegte Differenzierung zwischen konstativen und performativen Äußerungen am Schluß seines Buches selbst zu Fall. Er begründet diesen Schritt damit, daß die zur Differenzierung herangezogenen Merkmale nicht tragfahig seien, so daß die Dichotomie aufgegeben und letztlich ein völlig neuer Ansatz zu einer Theorie der Sprechakte entwickelt werden muß. AUSTIN weist daraufhin, daß auch konstative Äußerungen Handlungscharakter besitzen und performative Äußerungen einen Wirklichkeitsbezug haben. Der apriorische Ausschluß konstativer Äußerungen aus dem Bereich der Sprechhandlungen war von Anfang an ein dubioser Gedanke, denn wenn Sprache als Form menschlichen Handelns verstanden wird, dann gibt es keine Rechtfertigung, den Handlungsbegriff nur für eine bestimmte Äußerungsklasse zu reservieren. AUSTIN hätte das Dilemma, in das ihn seine Unterscheidung geführt hat, vermeiden können, wenn er sein Grundkonzept, Sprechen bedeutet Handeln, von vornherein grundsätzlich auf alle sprachlichen Äußerungen bezogen hätte. Es ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, daß AUSTIN die Revision seines Forschungsansatzes nicht mit diesem grundsätzlichen Argument motiviert, sondern mit einer Reihe von Einzelbeobachtungen, die an konstativen bzw. performativen Äußerungen gemacht wurden. Einige dieser Beobachtungen wollen wir kurz zusammenfassen. Wenn ein Sprecher den Satz (58) Die Katze ist auf der Matte äußert, aber nicht davon überzeugt ist, daß sich die Katze tatsächlich auf der
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Matte befindet, kommt es zu einem Fehlschlag im Sinne einer Unredlichkeit ( r 1). Äußert ein Sprecher den Satz (59) Peters Frau besucht die Abendoberschule obwohl es gar nicht zutrifft, daß Peter verheiratet ist, kommt es zu einem Versager (A 2). AUSTIN glaubte ursprünglich postulieren zu können, daß jede performative Äußerung prinzipiell in eine explizit performative Äußerung umgeformt werden kann, woraus sich schließlich ein Katalog performativer Verben aufstellen lasse, der durch grammatische Kriterien eindeutig bestimmbar ist. Bei dieser Zielstellung wird jedoch übersehen, daß das Kriterium der 1. Person Singular Präsens Indikativ Aktiv für performative Äußerungen keineswegs wesentlich ist, vgl.: (60) Sie werden gebeten, am akademischen Festakt teilzunehmen. Auch liefert die Einführung von Adverbien wie „hiermit" kein verläßliches Kriterium, auf das sich die Performativ-Konstativ-Unterscheidung stützen kann. (61) Ich bitte dich hiermit, mir das Buch unbedingt zurückzugeben (62) Ich stelle hiermit fest, daß der Kandidat einstimmig gewählt wurde (63) Ich gebe dir hiermit deinen Ring zurück hat auch erkennen müssen, daß eine Äußerung selbst in der explizit performativen Formel nicht in jedem Falle eine eindeutige Interpretation zuläßt. So scheinen Äußerungen, die mit der Formel „Ich stelle fest, daß . . . " eingeleitet werden, unter formalen Aspekten den Bedingungen performativer Äußerungen zu genügen, doch werden mit diesen Äußerungen Feststellungen getroffen, die wahr oder falsch sein können. Die Liste von Beispielen, die AUSTIN ZU einer sukzessiven Revision seiner Ausgangsdichotomie geführt haben, könnte beliebig erweitert werden. Wir verzichten hier auf weitere Argumente und wollen vielmehr AUSTINS Überlegungen zu einer neuen Theorie der Sprechakte in vier Punkten zusammenzufassen versuchen. AUSTIN
(1) Es gibt letzten Endes nur „ein wirkliches Ding", um dessen Klärung sich eine neue Theorie der Sprechakte zu kümmern hat, das ist der gesamte Sprechakt in der gesamten Redesituation. (2) Feststellen und Behaupten haben keine einzigartige Stellung in der Sprechakttheorie, sie sind lediglich zwei Bezeichnungen unter anderen für illokutive Akte. (3) Nicht einzigartig ist die Stellung der beiden genannten Sprechhandlungen in ihrer Relation zu den Tatsachen, denn diese Relation besteht nicht in einer einheitlichen Beziehung „wahr oder falsch sein". Wahrheit und Falschheit sind keine Namen für Relationen, sondern für eine Dimension der Beurteilung. 14»
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(4) Neu zu formulieren ist auch die Unterscheidung zwischen lokutiven und illokutiven Akten, die nicht anhand einer Liste explizit performativer Verben, sondern auf der Grundlage einer Liste der illokutiven Rolle vorzunehmen ist (vgl. AUSTIN 1 9 7 5 : 163 f.).
Aus AUSTINS grundsätzlicher Revision seiner Sprechakttheorie wird ersichtlich, daß er das deskriptivistische Vorurteil, das er anderswo scharf anprangerte, in seinem eigenen Modellvorschlag nicht völlig abgebaut hat. Auch gelang es ihm nicht, das Dichotomieprinzip, das er in zahlreichen konkreten Einzelfallen zu beseitigen versuchte, in seiner Zwei-Dimensionen-Theorie, die als Alternativvorschlag zu Bedeutungstheorien der Logik und Sprachphilosophie entwickelt wurde, zu überwinden. Die Tatsache, daß AUSTIN die eingeführte Unterscheidung der Äußerungen in konstative und performative selbst aufgegeben hat, fand trotz der überzeugenden Argumente, die von mehreren Kritikern (HARE 1971, COHEN 1970) und von AUSTIN selbst dafür angeführt wurden, keine ungeteilte Zustimmung. So haben CHISHOLM (1969), BLACK (1969) und WALKER (1969) versucht, diese Unterscheidung aufrechtzuerhalten.14 Auch WUNDERLICH (1971) versucht die AusTiNsche Distinktion in einem anderen Theoriezusammenhang durch die Behauptung zu rekonstruieren, wenn er deutlich zu machen versucht, daß konstatierende Äußerungen von der Negation nicht affiziert würden, performative Äußerungen hingegen dadurch zu konstatierenden würden. Alle Rehabilitations- bzw. Rekonstruktionsversuche sind jedoch wenig überzeugend und formulieren — wie FORGUSON (1966) gezeigt hat — keine Einwände, durch die AUSTINS destruktiver Standpunkt grundsätzlich erschüttert werden könnte. 2.6. Propositionale
und illokutive
Indikatoren
AUSTINS grundlegender Fehler, die illokutive Funktion der expliziten performativen Formeln zu überschätzen und deren Erklärungspotential überzubewerten, setzt sich in zahlreichen Forschungsansätzen fort, die gegenüber AUSTIN zwar als neu erscheinen, sich bei näherem Hinsehen jedoch als Variationen der AusTiNschen Sprechakttheorie erweisen. Ein evidentes Beispiel dafür ist SEARLES semantische Theorie der Sprechakte, in der die semantischen Regeln für die Äußerung von Sätzen an die Stelle der sozialen Konventionen treten und als Erklärungsprinzip für das intersubjektive Verstehen sprachlicher Handlungen benutzt werden. SEARLE geht davon aus, daß nicht nur das Verstehen des in den Sprechhandlungen 14
Zu den zahlreichen Versuchen, die Konzeption der performativen und konstativen Äußerungen trotz der Einwände, die gegen diese erhoben wurden, zu rehabilitieren bzw. zu verbessern, gehören auch die von WARNOCK (1973)-und KATZ (1977).
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kommunizierten propositionalen Gehalts, sondern auch das Verstehen der illokutiven Rolle durch das Verstehen der Bedeutung des Satzes gewährleistet wird. Ein solches Herangehen macht es erforderlich, die Lokutiv-Illokutiv-Unterscheidung AUSTINS einer gründlichen Revision zu unterziehen und aus einem neuen Problemzusammenhang heraus zu entwickeln. SEARLE (1965/1974: 89) geht dabei von der empirischen Beobachtung aus, daß unterschiedliche illokutive Akte oft gemeinsame Züge aufweisen. Das wird deutlich in den Äußerungen folgender Sätze: (64) (65) (66) (67) (68)
Wird John den Raum verlassen ? John wird den Raum verlassen. John, verlaß den Raum! Ich wünsche, daß John den Raum verläßt. Wenn John den Raum verläßt, werde ich ihn auch verlassen.
Die Äußerungen der Sätze (64)—(68) bedeuten in entsprechenden kommunikativen Situationen den Vollzug unterschiedlicher illokutiver Akte. (64) ist charakteristisch für eine Frage, (65) für eine Behauptung über die Zukunft, d. h. für eine Vorhersage, (66) für eine Aufforderung bzw. einen Befehl, (67) für den Ausdruck eines Wunsches und (68) schließlich für den hypothetischen Ausdruck einer Absicht. Mit dem Vollzug jeder dieser Äußerungen wird der Sprecher nach SEARLE auch einige subsidiäre Akte vollziehen, die allen illokutiven Akten in (64)—(68) gemeinsam sind. So bezieht sich der Sprecher in jeder dieser Äußerungen auf eine bestimmte Person „John", der zugeschrieben wird, daß sie den Raum verläßt. Mit anderen Worten: in jedem der genannten Fälle sind die nichtillukutiven Akte der Referenz und Prädikation dieselben, obwohl die einzelnen illokutiven Akte verschieden sind. Die Referenz auf ein und dieselbe Person sowie die Prädikation derselben Sache über diese Person in jedem der illokutiven Akte veranlaßt SEARLE zu sagen, daß es in all diesen Äußerungen einen gemeinsamen Inhalt gibt, der durch das allen Äußerungen gemeinsame Merkmal „daß John den Raum verlassen wird" ausgedrückt werden kann. SEARLE bezeichnet diesen gemeinsamen Inhalt als Proposition, d. h., der Sprecher, der die Äußerungen (64)—(68) vollzieht, drückt damit die Proposition „daß John den Raum verlassen wird" aus. Auf Grund dieser Beobachtung führt SEARLE zwei Unterscheidungen ein: (a) die Unterscheidung zwischen dem illokutiven Akt und dem propositionalen Gehalt eines illokutiven Akts (b) die Unterscheidung zwischen dem propositionalen Indikator ufid dem illokutiven Indikator. Die erste Unterscheidung ist nicht neu, sie ist bereits in dieser oder jener Version bei FREGE, LEWIS, REICHENBACH, H A R E U. a. zu finden. Die zweite Unter-
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Scheidung hingegen, die SEARLE aus seiner semantischen Sprechakttheorie ableitet, ist neu und nicht schlechthin als Ersatz für die Lokutiv-Illokutiv-Unterscheidung AUSTINS anzusehen. Sie soll daher im folgenden kurz vorgestellt werden. SEARLE geht davon aus, daß jeder Satz zwei Teile besitzt, die auf bestimmte sprachliche Mittel abgebildet werden und somit als Indikatoren dieser beiden Teile dienen können. SEARLE bezeichnet diese beiden Teile als propositionalen Indikator und als Indikator der illokutiven Rolle. Was die propositionalen Indikatoren angeht, bleiben SEARLES Aussagen relativ verschwommen.15 Es wird mit einem negativen Ausschlußverfahren lediglich darauf hingewiesen, daß propositionale Akte keine illokutiven Indikatoren (illocutionary force indicating devices) enthalten. Daraus kann gefolgert werden, daß es sich bei einem propositionalen Akt um den Ausdruck einer Proposition in Form eines Nominalausdrucks bzw. eines daß-Satzes handelt. Illokutive Indikatoren sind demgegenüber Mittel, die die illokutive Funktion einer Äußerung anzeigen und darüber Auskunft geben, wie die Proposition aufzufassen ist, mit anderen Worten: illokutive Indikatoren sind Mittel, die ausdrücken, welchen illokutiven Akt ein Sprecher vollzieht, wenn er einen Satz in dieser Form äußert. Zu den Mitteln, die im Englischen die illokutive Rolle anzeigen, zählt SEARLE den Modus des Verbs, die sogenannten performativen Formeln sowie Wortfolge, Betonung, Intonation und Interpunktion. So kann ein Sprecher den illokutiven Akt, den er vollzieht, durch Formeln wie „ich behaupte", „ich entschuldige mich", „ich warne" usw. zum Ausdruck bringen, in konkreten kommunikativen Situationen geht nach SEARLE bereits aus dem Zusammenhang hervor, welche illokutive Rolle der Äußerung zukommt, ohne daß es erforderlich wird, auf den expliziten Indikator der illokutiven Rolle zurückzugreifen. SEARLES semantische Differenzierung zwischen propositionalen und illokutiven Indikatoren wirft zwei grundsätzliche Fragen auf: (a) Ist die Verwendung der oben angeführten illokutiven Mittel eine hinreichende Bedingung für den Vollzug illokutiver Akte? (b) Welcher Zusammenhang besteht zwischen einer Äußerung und der konkreten Sprechsituation, wodurch die Verwendung expliziter illokutiver Indikatoren überflüssig wird? Eine Antwort auf die erste Frage ist bereits an zahlreichen anderen Stellen unserer Arbeit gegeben worden. Äußerungen wie (69) Ich rate dir, den Mund zu halten (70) Ich verspreche dir, daß ich es dir heimzahlen werde sind keine Äußerungen von Sätzen, mit denen der Sprecher einen Ratschlag oder 15
Aus den inkonsequenten Ausführungen SEARLES resultieren zahlreiche Mißverständnisse und Konfusionen,- die charakteristisch sind für die Diskussion dieses Problems Anfang der 70er Jahre, vgl. H A R B (1970), SLOMAN (1969/70) und GARNER (1970/71).
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ein Versprechen zum Ausdruck bringt, in beiden Fällen handelt es sich vielmehr um Drohungen. Für Äußerungen wie (69) und (70) ist ferner charakteristisch, daß auch der Gebrauch von „hiermit" nicht möglich ist. Die Möglichkeit, explizit performative Formeln nicht wörtlich zu verwenden, läßt den Schluß zu, daß die Mittel, die SEARLE als Indikatoren der illokutiven Rolle ansieht und sprachlichen Äußerungen fest zuordnet, die ihnen zugedachte Funktion nicht, zumindest nicht eindeutig erfüllen. Diese Einschränkung trifft auch auf die Verwendung der Modi zu. So vollzieht ein Sprecher mit Interrogativsätzen keineswegs nur den Akt des Fragestellens, so daß der Interrogativmodus dieser Äußerung nicht als feste Indikatoreigenschaft zugeschrieben werden kann. Dies kann durch zahlreiche Beispiele belegt werden. So wird (71) Können Sie mir bitte sagen, wie spät es ist ? trotz des interrogativen Indikators in der Regel nicht dazu geäußert, um eine Frage zu stellen, sondern um jemand zu bitten bzw. aufzufordern, die Uhrzeit zu sagen. Die in (69)—(71) diskutierten Beispiele zeigen, daß die von SEARLE zum Ausdruck der illokutiven Funktion von Äußerungen behandelten sprachlichen Mittel polyfunktional sind und somit nicht als feste Indikatormerkmale an sprachliche Äußerungen gebunden werden können. Sie zeigen ferner, daß die Verwendung der explizit performativen Formeln nicht in Übereinstimmung mit den semantischen Regeln für deren Gebrauch geschehen muß. Die Beispiele zeigen ferner, daß ein entsprechender „Fehlschlag" (im Sinne AUSTINS) bezüglich des einen illokutiven Aktes sehr häufig ein Indiz dafür ist, daß der Sprecher einen anderen illokutiven Akt vollzieht. RICHARDS (1971) weist daher zu Recht die semantische Schlußfolgerung und das Prinzip der Ausdrückbarkeit zurück und macht deutlich, daß der Hauptfehler in der von SEARLE postulierten Identität von Sprechhandlungsanalyse und Semantik darin besteht, daß von SEARLE ZU viel zur Bedeutung von Sätzen gerechnet wird. An nahezu allen Sprechhandlungen kann festgestellt werden, daß die semantische Komponente keineswegs alle für die korrekte Äußerung von Sätzen notwendigen Bedingungen spezifiziert. Die zweite Frage, d. h. die Frage nach dem Zusammenhang zwischen einer Äußerung und der konkreten Kommunikationssituation, und die sich daraus ableitende Frage, unter welchen Bedingungen auf die explizite Angabe der Indikatoren verzichtet werden kann, wird in SEARLES (1977) semantischer Sprechakttheorie zu keiner echten Frage, da der Kontext, innerhalb dessen sich die Kommunikation vollzieht, weitgehend ausgeblendet wird, mit anderen Worten: die Handlungsbedingungen werden für die Entscheidung, wann performative Formeln expliziert werden und wann nicht, nicht in der erforderlichen Weise berücksichtigt. SEARLE nimmt damit nicht nur entscheidende Restriktionen für den Objektbereich seiner Sprechakttheorie vor, er formuliert damit zugleich auch grundlegende
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Annahmen über die Natur menschlicher Kommunikation, nach denen der Situationskontext für die durch die Kommunikation zu erreichende Verständigung völlig unbedeutend ist. SEARLE betrachtet sprachliche Kommunikation als eine autonome, absolute Aktivität des Menschen, bei deren Beschreibung von den Zusammenhängen zwischen der sprachlich-kommunikativen Tätigkeit und den übrigen Tätigkeitsformen des Menschen abstrahiert werden kann. SEARLES Konzept der illokutiven Indikatoren zieht jedoch noch weitere Schwierigkeiten nach sich.16 Zur Repräsentation der Unterschiede zwischen propositionalen und illokutiven Indikatoren hatte SEARLE (1975: 51) folgende Symbolik eingeführt : „Die allgemeine Form (sehr vieler Arten) illokutiver Akte ist F(p), worin für die Variable Fals Werte Mittel einzusetzen sind, die als Indikatoren der illokutiven Rolle dienen, und fürp Ausdrücke für Propositionen." Behauptungen würden dann durch (p), Versprechen durch V(p), Warnungen durch W(p), Aufforderungen durch !(p) und ja-nein-Fragen durch ?(p) repräsentiert. In der von SEARLE eingeführten Symbolik wird erneut die Hypostasierung der expliziten performativen Formeln deutlich, denn es handelt sich hierbei um nichts anderes als um die Repräsentation der expliziten performativen Rahmen, nicht aber um den Bereich der illokutiven Mittel schlechthin, der nach SEARLE wesentlich mehr umfaßt als die explizit performativen Formeln. 2.7. Indirekte Sprechakte In 2.4. und 2 . 6 . haben wir eingehender zu zeigen versucht, daß AUSTINS LokutivIllokutiv-Unterscheidung sowie SEARLES Differenzierung zwischen propositionalen und illokutiven Indikatoren den empirischen Tatsachen in mehrfacher Hinsicht nicht gerecht werden. In den genannten Forschungsansätzen wurde davon ausgegangen, daß es in jeder Äußerung bestimmte Indikatoren gibt, die die illokutive Funktion der Äußerung anzeigen. AUSTIN hat zwar eingeräumt, daß die Bedeutung der sprachlichen Mittel zur Indizierung der illokutiven Funktion häufig unklar ist, so daß sie nicht mit Sicherheit ankommen, die erforderlichen Konsequenzen für die Explikation der illokutiven Rolle sprachlicher Äußerungen wurden daraus jedoch nicht gezogen. AUSTIN wie auch SEARLE unterlaufen dabei im wesentlichen zwei Fehler: (a) beide Modellvorschläge überschätzen die Rolle der explizit performativen Rahmen, indem sie Äußerungen, in denen diese Indikatoren vorkommen, eine eindeutige Interpretation zuschreiben; 16
Nach GREWENDORF (1976: 123) ist die Unterscheidung zwischen illokutiven und propositionalen Indikatoren nicht nur völlig leer, sie ist auch eine der irreführendsten in der Sprachphilosophie überhaupt, da durch eine solche dichotomisierende Betrachtungsweise eine völlig verkehrte Auffassung von der Bedeutung sprachlicher Äußerungen suggeriert wird.
Semantik und Sprechakttheorie
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(b) in beiden Herangehensweisen spielen die Umstände, unter denen sprachliche Handlungen vollzogen werden, entweder eine nur untergeordnete Rolle oder sie bleiben völlig unberücksichtigt. Die erwähnten Mängel resultieren in erster Linie daraus, daß die konkreten Sprechaktanalysen nicht an empirisch vorgefundenem Material durchgeführt wurden, sondern an Beispielen, mit denen die empirische Analyse realer Kommunikationsprozesse auf die Analyse der Indikatoren der illokutiven Rolle reduziert wurde. Aus unserer kommunikativen Praxis ist uns bekannt, daß die vor allem von SEARLE angenommene Identität zwischen den illokutiven Rollen sprachlicher Handlungen und den repräsentierten Bedeutungen faktisch eine Seltenheit ist, da in der Mehrzahl der sprachlichen Äußerungen die durch sprachliche Mittel ausgedrückte illokutive Funktion nicht mit der primär intendierten illokutiven Funktion übereinstimmt. Die Tatsache, daß eine sprachliche Handlung nicht nur direkt vollzogen werden kann, indem die jeweiligen kommunikativen Funktionen der Äußerung durch ein syntaktisches Korrelat dieser Funktion oder durch ein entsprechendes performatives Verb bzw. durch einen anderen, diese Funktion spezifizierenden Indikator realisiert werden kann, sondern durch sogenannte nicht direkte bzw. indirekte Sprechhandlungen bzw. Sprechakte, hat sowohl in der Linguistik als auch in der Sprechakttheorie zur Entwicklung zahlreicher Beschreibungsverfahren geführt, die wir in diesem Kapitel eingehender beleuchten und auf ihre Tragfähigkeit hin untersuchen wollen. Das Problem der sogenannten .indirekten Illokution' soll damit in diesem Kapitel noch einmal systematisch dargestellt werden, nachdem bereits an mehreren Stellen — so bei der Behandlung der linguistischen Sprechakttheorie SADOCKS, der Konversationspostulate GORDONS und LAKOFFS sowie der konversationellen Implikaturen von GRICE — kurz darauf hingewiesen wurde. Zwei Fragen wollen wir dabei in den Mittelpunkt unserer Betrachtung stellen:' (1) Was sind indirekte Sprechakte und wie werden sie von den einzelnen Modellvorschlägen beschrieben? (2) Welche Gründe werden für die vorgeschlagenen Lösungen in den einzelnen Modellvorschlägen angeführt? Zur Verdeutlichung des hier zu behandelnden Problems führen wir ein Beispiel an, das sehr gut zeigt, daß verschiedene Sprechhandlungen in ein und derselben kommunikativen Situation dieselbe illokutive Funktion erfüllen können. (72) (a) (b) (c) (d) (e)
Renate, Renate, Renate, Renate, Renate,
hole mir bitte meine Jacke! holst du mir bitte meine Jacke? kannst du mir bitte meine Jacke holen? du kannst mir bitte meine Jacke holen. mir ist kalt.
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Für die Beschreibung der in (72) (a)—(e) enthaltenen „speech act entailments" sind von der generativen Semantik im wesentlichen drei Lösungsvorschläge entwickelt worden, deren Beschreibungs- und Erklärungsziel wir in Anlehnung an SADOCK (1974) hier kurz umreißen wollen.
2.7.1. Beschreibung indirekter Sprechakte durch die Modellvorschläge der generativen Semantik Als einer der ersten Lösungsvorschläge, übertragene Bedeutungen bzw. Verwendungsweisen von Sätzen durch die Regeln der Grammatik zu erfassen, kann der von GORDON und LAKOFF (1971) entwickelte Forschungsansatz der Konversationspostulate angesehen werden. Nach GORDON und LAKOFF sollen die indirekten, d. h. die nicht wörtlichen Bedeutungen der Sätze durch kontextabhängige semantische Folgerungen, die als Bedeutungspostulate angesehen werden, erfaßt werden, die gemeinsam mit den globalen und transderivationellen Regeln der Grammatik wirken. GORDON und LAKOFF gehen dabei von der Annahme aus, daß es in der Oberflächenstruktur eines jeden Satzes zahlreiche erkennbare Aspekte gibt, die die illokutive Funktion einer Äußerung anzeigen. Auf Grund dieser Annahme ist der auf Konversationspostulate aufbauende Vorschlag zur Beschreibung indirekter Sprechakte auch als „surface meaning hypothesis" bezeichnet worden (vgl. SADOCK 1974: 73ff.). Anders als GORDON und LAKOFF geht der zweite Lösungsvorschlag, der vor allem von HERINGER (1971) entwickelt wurde, von der Annahme aus, daß der Gebrauch einer Äußerung mit deren „encoded illocutionary force" übereinstimmt. Nach dieser Hypothese würden Sätze wie (73) (a) (b) (c) (d)
I want you to bury the turtle. Bury the turtle. I request that you bury the turtle. The turtle is beginning to smell.
eine logische Struktur zugeschrieben, die das performative Verb ,bitten' enthält. Ähnlich den Konversationspostulaten geht auch die von HERINGER vertretene „meaning-use hypothesis" von Aufrichtigkeitsbedingungen aus, die spezifizieren, „what is entailed by the sincere use of the various illocutionary forces" (SADOCK 1974: 75), benutzt diese jedoch nicht zur Ableitung der illokutiven Rolle aus der Bedeutung, sondern zur Derivation der Oberflächenform aus der Bedeutung. Der dritte Lösungsvorschlag, von SADOCK als „meaning-meaning-hypothesis" bezeichnet, nimmt keinen dieser extremen Standpunkte ein, wie er beispielsweise von den beiden kurz charakterisierten Hypothesen vertreten wird, stimmt aber in
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219
wesentlichen Punkten sowohl mit der Hypothese von GORDON und LAKOFF als auch mit HERINGERS ,Gebrauch-Bedeutung-Hypothese' überein. SADOCK will mit seinem Beschreibungsverfahren eine Methode entwickeln, die präzise anzugeben erlaubt, in welchen Fällen Übereinstimmung zwischen der illokutiven Rolle und der Oberflächenform besteht und in welchen nicht. Mit dieser Differenzierung will SADOCK die Unzulänglichkeiten der beiden anderen Hypothesen überwinden, die alle Sätze in der gleichen Weise zu behandeln versuchen und somit bedeutende Unterschiede, wie sie beispielsweise in (74) und (75) zum Ausdruck kommen, verwischen. (74) Can you close the door? (75) Are you able to close the door?
Da beide Sätze als Bitte verwendet werden können, die Tür zu schließen, postuliert „meaning-use hypothesis", daß (74) und (75) dieselbe zugrunde liegende Struktur erhalten. GORDON und LAKOFF würden demgegenüber die in beiden Sätzen ausgedrückte Bitte aus der logischen Fragestruktur ableiten. Beide Explikationsversuche machen jedoch die zwischen beiden Sätzen bestehenden Unterschiede nicht deutlich. Nach SADOCK (1974) wird nur die „meaning-meaninghypothesis" dem Unterschied zwischen beiden Sätzen gerecht, da sie (74) als Bitte und (75) als Frage erklärt, wobei der Gebrauch von (75) als Bitte aus der Bedeutung abgeleitet wird, wohingegen der Gebrauch von (74) als Bitte als eine Funktion dessen aufgefaßt wird, daß der Satz die Bedeutung einer Bitte hat. SADOCK diskutiert zahlreiche andere Fälle, aus denen er Argumente zur Favorisierung seines Modellvorschlags ableitet, und durch die er das größere Erklärangspotential seines Lösungswegs nachzuweisen versucht. Es würde zu weit führen, diese hier im Detail zu behandeln und auf ihre Reichweite hin zu untersuchen. Wir wollen vielmehr einige generelle Aspekte herausgreifen, die für alle Modellvorschläge von Bedeutung sind, die im Rahmen der generativen Semantik entwickelt wurden. Läßt man die bereits erwähnten Unterschiede zunächst beiseite, dann wird deutlich, daß alle Forschungsansätze, die zur Explikation indirekter Sprechakte im Rahmen der generativen Semantik entwickelt wurden, von der Annahme ausgehen, daß die illokutive Rolle ein Aspekt der Bedeutung ist, der wie alle anderen Bedeutungsaspekte auch als Teil der „most remote syntactic structure" (SADOCK 1974: 147) zu repräsentieren ist. Die illokutive Rolle eines geäußerten Satzes ist somit nicht von den propositionalen Akten im Sinne SEARLES verschieden. Die genannten Modellvorschläge gehen ferner von der Annahme aus, daß die illokutive Rolle in jedem Falle Reflexe in der Oberflächenstruktur hat, wenngleich diese Reflexe oder Spuren vielfach sehr subtil und in der Regel auch mehrdeutig sein können. Diese Reflexe dienen als Erklärungsbasis für die sogenannten „Speech act entailments" im Sinne COHENS bzw. für die „indirect illocutions" im Sinne
HERINGERS
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HERINGERS. Drei fundamentale Probleme bleiben in den genannten Forschungsansätzen weitgehend ungeklärt: (1) Die von der Grammatiktheorie formulierten Annahmen, die Relationen zwischen wörtlicher Bedeutung, übertragener Bedeutung und Kontext in der Grammatik zu erfassen und zu beschreiben, zeugen zweifelsohne von dem Bemühen, die semantische Seite der sprachlich-kommunikativen Tätigkeit immer tiefer theoretisch zu durchdringen. Da aber — wie die Beispiele (72) (e) und (73) (d) zeigen — sprachliche Äußerungen in bestimmten Situationen kommunikative Bedeutungen annehmen können, die von den wörtlichen Bedeutungen völlig verschieden sind, verlangt dies eine systematischere Analyse der Kommunikationssituation sowie der Handlungsbedingungen sprachlicher Äußerungen, als dies bisher in der Grammatik der Fall war. Damit entfernt sich die Grammatik mehr und mehr von dem semiotischen Aspekt als dem zentralen Abstraktionsgesichtspunkt ihrer bisherigen Gegenstandsbestimmung und überschreitet den Rahmen der Zuordnung von Laut- und Bedeutungsstrukturen. Daraus leitet sich die prinzipielle Frage ab; ob indirekte Sprechakte überhaupt durch den bisher von der Grammatik abgesteckten Rahmen adäquat erfaßt werden können oder ob diese nicht vielmehr von einer linguistischen Teiltheorie zu beschreiben sind, die von einer Einbettung semantischer Strukturen sprachlicher Äußerungen in komplexe Handlungszusammenhänge ausgeht und keinerlei Bezug auf die spezifischen Ausdrucksmittel nimmt.
(2) In keinem der hier thesenartig vorgestellten Forschungsansätze werden indirekte Sprechakte von nichtwörtlichen Sprachverwendungstypen wie Ironie, metaphorischen Reden, standardisierten Redensarten u. a. unterschieden17, so daß unter den Begriff des indirekten Sprechaktes letztlich alle Sprechakte subsumiert werden, die nicht direkt gebraucht werden. Mit dieser Einordnung aller nichtwörtlichen Verwendungsweisen verliert der Begriff »indirekter Sprechakt' nicht nur seine Spezifik, es wird dabei auch übersehen, daß Ironie, metaphorische Redensarten u. a. offenbar andere Interpretationsverfahren verlangen als indirekte Sprechakte. (3) Der Begriff,indirekter Sprechakt' ist nur dann ein sinnvoller Begriff, wenn er auf bestimmte Sprechakttypen bezogen werden kann, mit anderen Worten: die Erklärung nichtwörtlicher Verwendungsweisen durch den Begriff des indirekten Sprechakts setzt Überlegungen über eine Sprechakttypologie bzw. Sprechaktklassifikation voraus. Keines der bisher beschriebenen Beschreibungsverfahren
17
Vgl. dazu auch SCHLIEBEN-LANGE (1979: 93): „Einige Erscheinungen, die gelegentlich unter dem Stichwort ,Indirektheit von Sprechakten' mitbehandelt werden, scheinen mir getrennt davon gesehen werden zu müssen, nämlich Ironie, Witz, Metaphorik usw."
Semantik und Sprechakttheorie
221
hat diesem Zusammenhang die erforderliche Aufmerksamkeit geschenkt und einen Forschungsansatz zur Sprechakttypologie entwickelt.
2.7.2.
Der Begriff „nicht-direkter Sprechakt" bei
EHRICH
und
SAILE
Einen anderen Weg zur Beschreibung indirekter Sprechakte sind EHRICH und SAILE (1972) gegangen, mit dem nicht nur eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen direkten und nicht direkten Sprechakten getroffen, sondern auch die Ermittlung der spezifischen kommunikativen Funktionen nicht direkter Sprechakte angestrebt wird. Als direkte Sprechakte werden dabei diejenigen Äußerungen von Sätzen angesehen, „deren jeweilige kommunikative Funktion (z. B. Behauptung, Frage, Aufforderung) durch ein syntaktisches Korrelat dieser Funktion (Behauptungs-, Frage-, Befehlsatz) oder durch ein entsprechendes performatives Verb bzw. einen anderen, diese Funktion spezifizierenden Indikator realisiert wird" (EHRICH und SAILE 1972: 256). Nicht-direkte Sprechakte weisen demgegenüber eine Dissoziation zwischen der intendierten kommunikativen Funktion und dem Satztyp der Äußerung oder einem in ihr enthaltenen performativen Verb bzw. einem anderen illokutiven Indikator auf oder aber sie haben eine Dissoziation zwischen der intendierten Proposition und der wörtlichen Form der Äußerung. EHRICH und SAILE halten es anhand der von ihnen durchgeführten Beispielanalyse für erforderlich, bei den nicht-direkten Sprechakten zwischen dem indirekten und dem impliziten Gebrauch zu unterscheiden, wobei die Explikation der indirekten Sprechakte inhaltlich im wesentlichen den Konversationspostulaten bei GORDON und LAKOFF folgt. Es muß noch daraufhingewiesen werden, daß EHRICH und SAILE mit einem sehr weiten Indirektheitsbegriff operieren, der keineswegs nur die „nicht direkten Sprechakte" umfaßt, sondern auch illokutive Indeterminiertheit, Ironie, metaphorische und standardisierte Redensarten, verdeckte Angriffe, Techniken des ,fishing for compliments' und des ,advocatus diaboli' u. a. einschließt. Darin mag im wesentlichen der Grund für die sehr allgemeine, den linguistischen Tatsachen nicht in jeder Weise gerecht werdende Interpretation der sogenannten nicht-direkten Sprechakte zu suchen sein, die EHRICH und SAILE geben, wenn sie nicht-direkte Sprechakte als bestimmte Techniken der Imagepflege im Sinne GOFFMANS (1973) charakterisieren und davon ausgehen, daß ein Sprecher einen nicht-direkten Sprechakt dann gebraucht, wenn er sein Image oder das des Hörers zu bewahren versucht. Zahlreiche Fälle, die von EHRICH und SAILE diskutiert werden, legen möglicherweise diese Interpretation nahe, da in den analysierten Beispielen verstärkt paralinguistische Mittel ins Spiel kommen; Indirektheit jedoch allein als Techniken der Imagepflege beschreiben und erklären zu wollen, verlagert das Problem auf eine andere Ebene und führt somit zu inadäquaten Ergebnissen. Auch bei EHRICH und SAILE vermißt man Aussagen über eine mög-
222
D. Viehweger
liehe Typologie der Sprechhandlungen, ohne die — worauf bereits hingewiesen wurde — der Begriff des indirekten Sprechakts inhaltlich leer bleibt. 2.7.3.
FRANKS
und
SEARLES
Analyse indirekter Sprechakte
Weiterführende Ansätze zur Beschreibung indirekter Sprechakte haben FRANCK (1975) und SEARLE (1975 a) entwickelt, deren Grundideen sowie deren Objektbereich im folgenden eingehender charakterisiert werden sollen. Unter einem indirekten Sprechakt wird von den genannten Autoren ein Sprechakt verstanden, in dem der mit sprachlichen Mitteln angezeigte Illokutionstyp nicht mit der primär intendierten illokutiven Funktion übereinstimmt. Der Begriff ,Indirektheit' wird hier in einem rein linguistischen Sinne verstanden und an dem verbal expliziten Teil der Ausführung von Sprechakten festgemacht. Ein solches Herangehen geht von einer normalen, d. h. eindeutigen Interpretation der illokutiven Indikatoren aus und setzt somit voraus, daß jede Äußerung Indikatoren bezüglich der möglichen illokutiven Funktionen enthält. Methodologisch gesehen können ganz unterschiedliche Wege zur Beschreibung der indirekten Sprechakte gegangen werden. Zwei dieser Wege, die auch bei FRANCK und SEARLE ausführlich diskutiert und gegeneinander abgewogen werden, wollen wir ohne Anspruch auf eine tiefergehende Analyse kurz skizzieren. (1) Es wäre durchaus denkbar, auf den Begriff des indirekten Sprechaktes überhaupt zu verzichten. Anstatt der Markierung indirekter Sprechakt' werden der Interpretation der illokutiven Indikatoren weitere Varianten hinzugefügt, d. h., man macht die Indikatoren somit mehrdeutig. Dieser Lösungsvorschlag wäre z. B. denkbar in Fällen wie (76) und (77), in denen Aufforderungen durch Fragen ausgedrückt werden: (76) Können Sie mir bitte sagen, wie spät es ist? (77) Würdest Du das Buch bitte im Sekretariat abgeben ? Für alle übrigen indirekten Verwendungsweisen, die nicht wie (76) und (77) auf weitgehend konventionalisierte Indirektheitsmuster zurückgehen, erweist sich dieser Vorschlag jedoch als ungeeignet, da den Sätzen eine so große Zahl von Mehrdeutigkeiten zugeschrieben werden müßte, die in Abhängigkeit vom Kontext wieder einzuschränken wäre, so daß damit eine Bedeutungszuordnung zu den illokutiven Indikatoren letztlich unmöglich wird. (2) Der zweite Weg, der zur Beschreibung indirekter Sprechakte eingeschlagen werden kann, geht wie G . LAKOFF ( 1 9 7 4 ) von der Annahme aus, daß illokutive Indikatoren eine relativ enge und damit weitgehend eindeutige Funktion besitzen, durch die die Interpretation einer Äußerung festgelegt wird. Die Interpretation eines indirekten Sprechaktes wird nach diesem Lösungsvorschlag als ein Folge-
Semantik und Sprechakttheorie
223
rungsprozeß des Hörers verstanden, in dem „sowohl die wörtliche Bedeutung wie auch bestimmte Kontextfaktoren, Regeln der Sprechakte und Sprechaktsequenzen, allgemeine Prinzipien der Konversation und des Schließens eine Rolle spielen" ( F R A N C K 1975: 220). Daraus wird ersichtlich, daß auch in diesem, in erster Linie von F R A N C K und SEARLE entwickeltem Lösungsvorschlag dem Kontext eine zentrale Funktion eingeräumt wird, denn es wird hier davon ausgegangen, daß der Kontext letztlich entscheidet, daß überhaupt ein indirekter Sprechakt vorliegt. Kontext und sprachliche Indiktoren geben schließlich darüber Auskunft, um welchen konkreten Sprechakt es sich handelt, sie werden somit für den Hörer zu entscheidenden Prämissen, auf deren Grundlage er die intendierte Bedeutung einer Äußerung zu rekonstruieren vermag. FRANCK und SEARLE weisen mit Recht darauf hin, daß die Einführung des Begriffs indirekter Sprechakt' sich nur dann als sinnvoll erweist, wenn im Zusammenhang damit folgende Fragen aufgeworfen und hinreichend beantwortet werden: (a) Welche spezifischen kommunikativen Funktionen besitzen indirekte Sprechakte? (b) Können die direkte und die indirekte Version eines Sprechaktes semantisch in bestimmter Hinsicht als Paraphrasen und somit als Sprechhandlungsvarianten angesehen werden, die in einer konkreten Kommunikationssituation wechselseitig austauschbar sind? (c) Welcher Zusammenhang besteht zwischen der wörtlichen, d. h. der direkten und der indirekten Interpretation eines Sprechaktes? Die hier aufgeworfenen Fragen sind in der Literatur bisher vielfach nur thesenartig beantwortet worden, wobei als spezifische Funktionen indirekter Sprechakte in erster Linie Tabuvermeidung, Unverfanglichkeit, Unverbindlichkeit, Umgehung unerwünschter commitments oder unberechtigter Beanspruchung (oder Verschleierung) eines Status oder Rechts, Schaffung eines breiteren Fortsetzungsbzw. Auswegspotentials für den Sprecher oder den Kommunikationspartner verstanden wurden (vgl. F R A N C K 1975: 225). Die zweite Frage, ob in konkreten Kommunikationssituationen die indirekte Version eines Sprechaktes durch eine entsprechende direkte Version austauschbar ist, muß auf Grund zahlreicher Faktoren verneint werden, so daß die direkte und die indirekte Version eines Sprechaktes auch nicht als Sprechhandlungsvarianten angesehen werden können. Was die Frage nach dem Zusammenhang zwischen der wörtlichen und der indirekten Interpretation eines Sprechaktes angeht, wird von SEARLE (1975 a) darauf hingewiesen, daß dieser Zusammenhang trotz der Tatsache, daß illokutive Indikatoren und der eigentliche Sprechaktcharakter in indirekten Sprechakten nicht zusammenfallen, keineswegs beliebig ist. Anhand zahlreicher Beispiele hat SEARLE diesen Zusammenhang eingehend analysiert und daraus die für das natürliche Schließen typischen Inferenzschritte rekonstruiert. Im Zusammenhang damit wird von
D. Viehweger
224
die Unterscheidung zwischen dem primären illokutiven Akt und dem sekundären illokutiven Akt eingeführt, die durch die Beispiele (78) und (79) wie folgt begründet wird: SEARLE
(78) Student X: Let's go to the movies tonight. (79) Student Y: I have to study for an exam.18 (78) ist ein Vorschlag, was nach SEARLE bereits durch den Indikator ,Let's' zum Ausdruck gebracht wird. (79) ist in diesem Kontext die Zurückweisung dieses Vorschlags, obwohl die Äußerung, mit der diese Zurückweisung geschieht, auf Grund ihrer Bedeutung lediglich eine Behauptung ist. Wieso kann der Student X die Antwort von Y als Zurückweisung des in (78) unterbreiteten Vorschlages verstehen bzw. wie ist es Y möglich, (79) als Zurückweisung eines Vorschlages zu 18
Die Rekonstruktion der einzelnen Schritte, die notwendig sind, um in (78) und (79) die Primärillokution aus der wörtlichen Illokution abzuleiten, hat SEARLE (1975A: 63) wie folgt beschrieben: Schritt 1: Ich habe Y einen Vorschlag gemacht, und er hat darauf mit einer Feststellung erwidert, daß er für eine Prüfung lernen müsse (Fakten über das Gespräch). Schritt 2: Ich nehme an, daß Y in diesem Gespräch mit mir kooperiert und daß sein Beitrag deshalb als relevant beabsichtigt ist (Prinzipien kooperativer Gesprächsführung). Schritt 3: Als relevante Erwiderung kann eine Annahme des Vorschlags, eine Ablehnung, ein Gegenvorschlag, eine weiterführende Diskussion usw. gelten (Sprechakttheorie). Schritt 4: Wörtlich verstanden, war seine Äußerung aber nichts Derartiges und also keine relevante Erwiderung (Folgerung aus Schritten 1 und 3). Schritt 5: Er meint deshalb wahrscheinlich mehr, als er sagt. Wenn ich annehme, daß sein Beitrag relevant ist, so muß sich dessen primärer Illokutionszweck (illocutionary point) von der wörtlichen Illokution unterscheiden (Folgerung aus Schritten 2 und
4). Schritt 6:
Schritt Schritt
Schritt
Schritt
Ich weiß, daß das Lernen für eine Prüfung einen großen Teil eines Abends in Anspruch nimmt, und ich weiß auch, daß Ins-Kino-Gehen einen großen Teil eines Abends beansprucht (faktisches Hintergrundswissen). 7: Deshalb kann Y sehr wahrscheinlich am selben Abend nicht sowohl ins Kino gehen, als auch für eine Prüfung lernen (Folgerung aus Schritt 6). 8: Eine Vorbereitungsbedingung für die Annahme eines Vorschlags oder für jede andere kommissive Äußerung (commissive) besteht darin, daß der Hörer die in der Bedingung des propositionalen Gehalts ausgedrückte Handlung auch ausführen kann (Sprechakttheorie). 9: Ich weiß daher, daß er etwas gesagt hat, das zur Folge hat, daß er den Vorschlag nicht annehmen kann, wenn er sich konsistent verhalten will (Folgerung aus Schritten 1, 7 und 8). 10: Daher besteht der primäre Illokutionszweck seiner Äußerung wohl darin, den Vorschlag abzulehnen (Folgerung aus Schritten 5 und 9).
Semantik und Sprechakttheorie
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intendieren? SEARLE geht davon aus, daß der primäre illokutive Akt, der mit der Äußerung von Y vollzogen wird, die Zurückweisung des Vorschlags ist, den X unterbreitet hat. Y weist diesen zurück „by way of performing a secondary illocutionary act of making a statement to the effect that he has to prepare for an exam. He performs the secondary illocutionary act by way of uttering a sentence the literal meaning of which is such that its literal utterance constitutes a performance of that illocutionary act. We may, therefore, further say that the secondary illocutionary act is literal; the primary illocutionary act is not literal" (SEARLE 1975 a: 62). Aus SEARLES Argumentation geht deutlich hervor, daß die wörtliche Bedeutung von der indirekten Bedeutung impliziert wird, nicht aber umgekehrt. Wörtliche Bedeutung und indirekte Bedeutung stehen somit in einem Verhältnis von Prämisse — Schlußfolgerung bzw. Handlungsvoraussetzung — eigentliche Handlung zueinander. In SEARLE ( 1 9 7 5 a, 1 9 7 5 b), in denen das Konzept des indirekten Sprechaktes eingeführt und als mögliche Kategorie zur Beschreibung der nicht wörtlichen Bedeutung begründet wird, ist erstmals auf ein bedeutendes methodologisches Problem hingewiesen, das in den bisher behandelten Beschreibungsverfahren nahezu unberücksichtigt blieb, oder nur — wie in SADOCK ( 1 9 7 4 : 1 4 9 ) — im Ansatz entwickelt worden war. SEARLE hat sehr gut demonstriert, daß der Begriff .indirekter Sprechakt' sich nur dann als sinnvoll erweist, wenn dieser auf eine allgemeine Sprechaktklassifikation bezogen werden kann. Geht man von der von SEARLE entwickelten Klassifikation aus, dann ergeben sich folgende Arten von Indirektheitsbeziehungen, die wir in Anlehnung an FRANCK ( 1 9 7 5 : 2 2 9 ff.) in der nachfolgenden Tabelle zusammenfassend darstellen.
direkte (wörtliche) Bedeutung
indirekte Bedeutung
Beispiel
Repräsentativ
Direktiv
Dort ist die Tür. Die Schuhe sind noch nicht geputzt. Meine Eltern sind verreist. Es ist noch Eis im Kühlschrank. Ich bin eben auch nur ein Mensch. Das Mittagessen könnte schmackhafter sein. Willst du nicht lieber Tee trinken ? Kannst du mir sagen, wie spät es ist? Sag' noch 'mal, daß ich ein Idiot bin. Warum hast du das gemacht ?
Commissiv Expressiv Repräsentativ Direktiv
Direktiv Commissiv Expressiv
15 Viehweger, Semantikforschung
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D. Viehweger
direkte (wörtliche) Bedeutung
Commissiv
indirekte Bedeutung
Beispiel
Repräsentativ
Siehst du, was der Mond heute für einen Hof hat? Ich werde dir beim Abendbrot helfen. Ich verspreche dir, daß es beim nächsten Mal knallt. Wer so ein Haus konstruiert hat, der müßte selbst mal drin wohnen. Ich verspreche dir, morgen regnet's. Ich bedaure sehr, daß Sie das noch nicht erledigt haben. Es tut mir leid, daß ich zukünftig zu strengeren Mitteln greifen muß. Ich bedaure es außerordentlich, daß ich so etwas tun konnte. Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, daß. . .
Direktiv Commissiv Expressiv
Expressiv
Repräsentativ Direktiv Commissiv Expressiv Repräsentativ
Die gedrängte, keineswegs vollständige und durch weitere Subkategorisierungen sowie durch Kontextangaben noch zu präzisierende Übersicht zeigt, daß jeder Sprechakttyp indirekt gebraucht werden kann. Eine Ausnahme machen lediglich die deklarativen Sprechakte wie Taufen, Schuldigsprechen, Trauung usw., die auf Grund ihrer festen Bindung an institutionalisierte Kontexte keine indirekte Verwendung zulassen. Die aus dieser Übersicht zu folgernde allseitige Verwendbarkeit der einzelnen Sprechakttypen erfährt mit Sicherheit Einschränkungen, wenn eine adäquatere Klassifikation, insbesondere jedoch eine weitere Subklassifikation der einzelnen Sprechakttypen zugrunde gelegt wird. 2.8.
Sprechakttypen, Klassifikation von Sprechakten
2.8.1.
AUSTINS
Klassifikation der Sprechakte
In dem knapp gehaltenen Exkurs über die indirekten Sprechakte wurde bereits mehrfach das Problem der Typisierung bzw. Klassifikation von Sprechakten erwähnt und der von SEARLE entwickelte Klassifikationsvorschlag kurz vorgestellt. Wir haben uns dort einer kritischen Stellungnahme weitgehend enthalten und lediglich darauf hingewiesen, daß bisher noch keine geeignete Klassifikation
Semantik und Sprechakttheorie
227
erarbeitet wurde. Bevor wir auf Probleme der Abgrenzung und Identifizierung von Sprechakten näher eingehen und einige Klassifikationsvorschläge zur Diskussion stellen, wollen wir kurz zeigen, daß die Klassifizierung von Sprechakten bereits im Ansatz in AUSTINS Sprechakttheorie angelegt ist und in der ursprünglich angenommenen Unterscheidung von performativen und konstativen Äußerungen ihre erste wissenschaftliche Reflexion erfährt. Wir haben bereits in 2.5. gezeigt, daß diese Distinktion, die durch die Dimension von Glücken und Verunglücken einerseits sowie durch die Dimension von Wahrheit und Falschheit andererseits begründet werden sollte, von AUSTIN später wieder aufgegeben wurde, da er feststellen mußte, daß konstativen Äußerungen keine einzigartige Stellung zukommt und Feststellungen und Behauptungen lediglich zwei Namen unter vielen anderen für illokutive Akte sind. An die Stelle der performativ-konstativ-Dichotomie will AUSTIN eine Einteilung der Äußerungen setzen, die diese nach ihren illokutiven Rollen klassifiziert. Der von AUSTIN in der 12. Vorlesung der „How to do things with words" entwickelte Klassifikationsvorschlag umfaßt 5 Klassen: (1) Verdiktive Äußerungen, mit denen über Werte oder über Tatsachen auf Grund von Beweismaterial oder Argumenten ein amtliches oder nicht amtliches Urteil abgegeben wird. AUSTIN zählt zu dieser Klasse im wesentlichen die Urteile einer Jury, Äußerungen des Schätzens, Bewertens und Taxierens u. a. Die von AUSTIN angeführte Beispielliste deutet darauf hin, daß es sich um Äußerungen handelt, die Werte oder Tatsachen betreffen, über die man aus unterschiedlichen Gründen schwer Gewißheit erlangen kann. Beispiele für verdiktive Äußerungen sind: beurteilen, deuten, auslegen, veranschlagen, kennzeichnen, schuldig sprechen usw. (2) Exerzitive Äußerungen, die dazu benutzt werden, um Einfluß und Rechte auszuüben. Mit diesen Äußerungen spricht sich der Sprecher für oder gegen ein bestimmtes Verhalten aus. Es geht bei diesen Äußerungen um Entscheidungen, daß etwas so oder auch so sein solle. Exerzitive Äußerungen können zur Folge haben, daß andere „verpflichtet", ermächtigt oder nicht befugt sind, bestimmte Dinge zu tun. Beispiele für diesen Äußerungstyp sind befehlen, bestimmen, verbieten, untersagen, fordern, verlangen usw. (3) Kommissive Äußerungen, d. h. Versprechen oder andere Verpflichtungsübernahmen. Mit diesen Äußerungen legt sich der Sprecher auf ein bestimmtes Verhalten bzw. auf bestimmte Handlungen fest. AUSTIN ordnet dieser Klasse von Äußerungen ferner Willens- und Absichtserklärungen sowie Parteinahmen zu. Beispiele sind versprechen, sich verpflichten, sich bereit erklären, Einspruch erheben, übereinkommen u. a. (4) Konduktive Äußerungen, d. h. Äußerungen, die mit Einstellungen und Verhalten in der Gesellschaft zu tun haben. Bei diesem Äußerungstyp geht es in erster Linie um Reaktionen auf das Verhalten anderer sowie um Einstellungen 15'
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D. Viehweger
und um den Ausdruck von Einstellungen gegenüber dem Verhalten anderer. Beispiele sind entschuldigen, Dank sagen, gratulieren, bedauern, glückwünschen. (5) Expositive Äußerungen, d. h. Äußerungen, die den Sinn haben klarzumachen, „wie die Äußerungen zu nehmen sind, mit denen man seine Ansichten darlegt, seine? Begründung durchführt, die Bedeutung der eigenen Worte erklärt" (AUSTIN 1975: 177). Beispiele für die nach AUSTIN sehr schwer zu definierende Gruppe von Äußerungen sind behaupten, annehmen, mitteilen, fragen, voraussetzen. Dazu gehören ferner die metakommunikativen Ausdrücke wie ich will damit sagen, ich spreche von, ich beziehe mich auf usw. AUSTIN hat an mehreren Stellen daraufhingewiesen, daß er diese Klassifikation als vorläufig betrachtet; er hat ferner hervorgehoben, daß sich für die Begründung der einzelnen Klassen zahlreiche Schwierigkeiten ergeben haben, was sich letztlich darin zeigt, daß einige Klassen wie die Klasse der konduktiven und expositiven Äußerungen außerordentlich heterogen zusammengesetzt sind, so daß sich die Frage aufdrängt, ob die Einordnung in eine andere Klasse nicht eine angemessenere Lösung darstellen würde. Darüber hinaus ist sogar grundsätzlich zu fragen, ob die Einteilung nicht in toto inadäquat ist und demzufolge durch eine andere zu ersetzen sei. AUSTIN hält die Klassifikation trotz der erwähnten Unzulänglichkeiten für ausreichend, um damit mit zwei Fetischen fertig zu werden, die es in der Bedeutungstheorie zu überwinden gilt: den Wahr-Falsch-Fetisch sowie den Sein-SollenFetisch (vgl. AUSTIN 1975: 165). AUSTINS selbstkritische Einstellung erfaßt aber keineswegs alle Unzulänglichkeiten, die in dem von ihm vorgelegten Klassifikationsvorschlag sichtbar werden. Ein ganz zentrales methodologisches Problem läßt AUSTIN völlig unbeachtet: Die Einordnung aller sprachlichen Äußerungen in die oben dargestellten fünf Klassen macht deutlich, daß von AUSTIN kein durchgängiges Kriterium definiert und damit auch keine einheitliche Klassifikationsbasis bestimmt wurde, die es erlaubt, die zu charakterisierenden Sprechakte voneinander zu unterscheiden. Zum anderen fehlen in dem AusTiNschen Klassifikationsvorschlag die Anwendungsprinzipien, die klarstellen, wie die Äußerungstypen auf einzelne beobachtbare Sprechakte zu beziehen bzw. wie einzelne Sprechakte den fünf definierten Klassen zuzuordnen sind. Schließlich ist darauf hinzuweisen, daß AUSTIN die einzelnen Klassen bzw. Typen von Äußerungen nicht als disjunkte Klassen versteht, sondern als Familien verwandter und einander überlappender Sprechakte, wodurch wesentliche Klassifikationsprinzipien aufgegeben und die Klassifikation von Sprechhandlungen auf eine mehr oder weniger willkürliche Aneinanderreihung irgendwie charakterisierbarer Sprechakte reduziert werden. Wir haben dem Klassifikationsvorschlag AUSTINS deshalb mehr Platz eingeräumt, um an diesem Vorschlag einige allgemeine Eigenschaften von Klassifikationen zu diskutieren. Dabei wurde sichtbar, daß dieser Vorschlag nicht durch eine einheitliche Klassifikationsbasis getragen wird, worin wiederum die wesentlichen Ur-
229
Semantik und Sprechakttheorie
Sachen dafür zu suchen sind, daß fundamentale Anforderungen, die an Klassifikationen zu stellen sind, hier nicht erfüllt werden. Prüfen wir nun, inwieweit andere Klassifikationsvorschläge diesen Anforderungen gerecht werden.
2.8.2.
SEARLES
Sprechakttypologie
Der in SEARLE (1976) unterbreitete Vorschlag zur Klassifikation von Sprechakten ist die erste Klassifikation, die auf der Grundlage exakter Kriterien eine Differenzierung der einzelnen Sprechakte zu erreichen versucht. SEARLES Klassifikation stützt sich auf drei Hauptkriterien: 1. welches ist die illokutive Absicht, der illokutive Zweck (illocutionary point) eines Sprechaktes? 2. welches ist die Anpassungsrichtung (direction of fft) des Sprechaktes? 3. welcher psychische Zustand wird in einem Sprechakt zum Ausdruck gebracht? Durch zusätzliche Kriterien kann die Menge der möglichen Sprechakte weiter unterteilt werden. SEARLE versteht darunter (a) (b) (c) (d) (e)
die Stärke eines Sprechaktes den Status oder die Position von Sprecher und Hörer das Interesse von Sprecher und Hörer den von der illokutiven Rolle determinierten propositionalen Gehalt die Relationen des Sprechaktes zum Kontext sowie zum übrigen Teil des Diskurses (f) die Möglichkeit, einen Sprechakt mit einem Satz zu vollziehen, der ein performatives Verb enthält.
Unter Zugrundelegung der drei oben angeführten Hauptkriterien gelangt zu folgender Klassifikation:
SEARLE
Sprechakttyp
illokutive Absicht
Richtung der Zuordnung von Welt und Wörtern
psychischer propositioZustand des naler Gehalt Sprechers in bezug auf den propositionalen Gehalt
1. repräsentative Sprechakte
(Freges Urteilsstrich) S verpflichtet sich H gegen-
J, die Wörter sollen der Welt entsprechen
Meinen Glauben
/»beliebige Proposition
230 Sprechakttyp
2. direktive Sprechakte
D. Viehweger
illokutive Absicht
über zur Wahrheit der ausgedrückten Proposition ! S versucht zu bewirken, daß H etwas Bestimmtes tut
Richtung der Zuordnung von Welt und Wörtern
propositiopsychischer Zustand des naler Gehalt Sprechers in bezug auf den propositionalen Gehalt
t die Welt soll Wunsch den Wörtern entsprechen (die Proposition soll wahr gemacht werden) Intention 3. kommissive C S verpflich- Î die Welt soll den Wörtern Sprechakte tet sich zu einem zukünf- entsprechen tigen Handlungsablauf 4. expressive E S drückt 0 kein Bezug verschiedene Sprechakte den psychizwischen Wort Zustände schen Zustand, und Welt sind möglich der in der Aufrichtigkeitsbedingung festgelegt ist, aus 0 keine 5. deklarative D S versucht i Welt und besonderen Sprechakte eine Überein- Wörter entstimmung sprechen sich Zustände zwischen proerforderlich positionalem Gehalt und Wirklichkeit herzustellen
H tat a, der Adressat führt eine Handlung aus S tut a (Sprecher führt Handlung aus) p beliebige Proposition
p beliebige Proposition
Das Fundament der SEARLEschen Klassifikation stellen die illokutiven Absichten sowie das Kriterium der „direction of fit" dar, d. h. die Richtung, in der Wörter
Semantik und Sprechakttheorie
231
und Welt einander zugeordnet werden. So einleuchtend SEARLES Klassifikationsvorschlag prima facie zu sein scheint, eine eingehende Analyse macht zahlreiche Probleme sichtbar, die für diese Sprechaktklassifikation von mehr oder weniger großer Tragweite sind. Bevor wir einige dieser Probleme, auf die in mehreren Arbeiten hingewiesen wurde, systematischer behandeln, ist zunächst deutlich zu machen, daß SEARLES Sprechaktklassifikation gegenwärtig als die am weitesten ausgearbeitete und am explizitesten dargestellte Typologie von Sprechakten angesehen werden muß. Sie gehört ferner zu den wenigen bisher existierenden Klassifikationen, die auf einem exakt definierten Kategoriensystem basieren, das eine relativ vollständige und disjunkte Klassifikation der Sprechakte erlaubt. BALLMER (1979) und WUNDERLICH (1976, 1979) haben nachgewiesen, daß SEARLES Klassifikation nicht vollständig ist und somit keineswegs alle Sprechakte erfaßt. Sie haben ferner gezeigt, daß diese Klassifikation nicht disjunkt ist, d. h., daß es zahlreiche Sprechakte gibt, die in mehr als eine Klasse fallen. BALLMER zieht daraus den Schluß, daß SEARLES Klassifikation nicht Sprechakte, sondern lediglich Sprechaktkomponenten bzw. Sprechaktaspekte erfaßt. WUNDERLICH (1979: 284 ff.) erhebt gegen SEARLES Klassifikation im wesentlichen drei Einwände. So hält er es erstens für problematisch, den propositionalen Gehaft in allen Fällen mit einer Proposition gleichzusetzen, wie dies bei SEARLE geschieht. WUNDERLICH kritisiert in diesem Zusammenhang SEARLES Klasse der direktiven Sprechakte und weist nach, daß hierbei Unterschiede zwischen Aufforderungen, Normeinführungen und Vorhersagen nicht in Betracht gezogen worden sind. Der zweite Einwand, der von WUNDERLICH vorgebracht wird, richtet sich gegen das zentrale Kriterium der Anpassungs- bzw. Einflußrichtung, der ,direction of fit', das in SEARLES Klassifikation eine Proposition durch unterschiedliche Perspektiven in der ,Wortung der Welt' zu situieren versucht. WUNDERLICH weist an zahlreichen Beispielen nach, daß nach diesem Kriterium kommissive Sprechhandlungen (Versprechen) nicht von direkten (Aufforderungen) unterschieden werden können. Drittens schließlich kritisiert WUNDERLICH an SEARLES Typologie, daß der Frage keine eigene Klasse eingeräumt wird. Mit der Subsumierung der Fragen unter die direktiven Sprechakte scheint SEARLE von der Annahme auszugehen, daß Fragen — wie (80) und (81) zeigen — häufig als Aufforderungen formuliert werden können, wodurch die Proposition vervollständigt wird: (80) Wann beginnt heute die Vorstellung in der Komischen Oper? (81) Sage mir, wann heute die Vorstellung in der Komischen Oper beginnt. Die Umschreibung von Fragen nach dem Muster „Sage mir, . . . " trifft jedoch nicht auf alle Fragen zu, sondern nur auf Informations- und Examensfragen. Mit der Einordnung aller erotetischen Sprechakte, d. h. aller Fragehandlungen in die direktiven übersieht SEARLE, daß rhetorische Fragen, deliberative und didaktische Fragen wie auch Überraschungsfragen nicht mit diesem Muster umschrieben werden können.
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D. Vieh weger
Wir können an dieser Stelle die Vorzüge bzw. Nachteile der Sprechaktklassifikation SEARLES nicht weiter ergründen, da dies voraussetzen würde, allgemeine Eigenschaften einer prinzipiellen Klassifikation eingehender zu erörtern, an denen letztlich SEARLES Vorschlag zu messen wäre. BALLMER (1979:253 ff.) hat allgemeine Bedingungen der Klassifikation von Sprechakten im Detail analysiert und eine Modifikation der SEARLEschen Klassifikation vorgeschlagen. Wir wollen stattdessen noch zwei andere Klassifikationsvorschläge betrachten und daran deutlich zu machen versuchen, welchen Einfluß die Klassifikationsbasis letztlich auf die zu erarbeitende Typologie hat.
2.8.3.
FRÄSERS
Klassifikation der Sprechakte
(1974,1975) sieht als wesentlichen Faktor zur Differenzierung der illokutiven Akte die Intention des Sprechers an, deren Funktion darin besteht, beim Hörer Verständnis für die Position des Sprechers gegenüber der im geäußerten Satz ausgedrückten Proposition zu erreichen. Da ein Sprecher mit einer einzigen Äußerung verschiedene illokutive Akte ausführen kann, und dies auch häufig tut, muß die Position des Sprechers gegenüber der Proposition als eine komplexe Kombination einfacher Positionen angesehen werden. FRÄSER geht in seiner Taxonomie illokutiver Akte von 8 Positionen aus, die ein Sprecher gegenüber einer Proposition einnehmen kann. Damit ist nicht ausgeschlossen, daß jede der 8 Klassen durch mehrere Subklassen weiter spezifiziert werden kann, wenn weitere Kriterien zur Klassifikation herangezogen werden. In die Taxonomie illokutiver Akte, d. h. die Taxonomie performativer Verben nimmt FRÄSER nur die sogenannten „vernacular performatives" auf und ordnet diese einer oder mehreren Klassen zu. Unter „vernacular performatives" werden dabei Verben verstanden, die allgemeine, alltägliche Handlungen wie Versprechen, Definieren, Erlaubnis erteilen, Fragen usw. bezeichnen. Diese Klasse der performativen Verben wird von den „ceremonial performatives" abgegrenzt, die Handlungen ausdrücken, deren erfolgreicher Vollzug an die Existenz bestimmter staatlicher, juristischer, kommerzieller, religiöser u. a. Institutionen gebunden ist. Durch diese Bindung sind die mit diesen Verben zu vollziehenden Sprechakte weitgehend konventionalisiert und unterliegen daher in der Regel bestimmten Restriktionen. FRÄSERS Taxonomie umfaßt folgende Klassen, deren Differenzierung nach dem Kriterium der Sprecherintention vorgenommen wird (vgl. FRÄSER 1975: 190ff.). FRÄSER
(1) Akte des Behauptens (acts of asserting): Sie machen deutlich, wie der Sprecher die ausgedrückte Proposition in das Gespräch eingliedern will; sie bringen ferner zum Ausdruck, wie stark der Sprecher von der Wahrheit der Proposition überzeugt ist.
Semantik und Sprechakttheorie
233
Beispiele: abstreiten, anerkennen, ankündigen, antworten, beßirworten, benachrichtigen, bestreiten, folgern, informieren, postulieren, sagen, schließen, verkünden, warnen, zurückweisen, zustimmen u. a. Innerhalb dieser Klasse werden zwei Gruppen unterschieden: Behaupten I : ankündigen, bekanntgeben, bemerken, berichten, erinnern, erwähnen, erwidern, erzählen, informieren, sagen u. a. Behaupten II : abstreiten, anerkennen, argumentieren, befürworten, beschuldigen, beweisen, folgern, voraussagen, widersprechen, zustimmen u. a.
(2)
(3)
(4)
(5)
(6)
Für die erste Gruppe nimmt FRASER an, daß wenige, vielfach überhaupt keine Bedingungen für den erfolgreichen Vollzug des entsprechenden Illokutionsakts vorausgesetzt werden. Bei der zweiten Gruppe hingegen gibt es demgegenüber bestimmte Einschränkungen für den erfolgreichen Vollzug. So impliziert .beschuldigen', daß der dadurch bezeichnete Akt als negativ angesehen wird, .zugeben' impliziert, daß der Sprecher sich zuvor weigerte, die Proposition anzuerkennen. Akte des Bewertens (acts of evaluating). Der Sprecher beurteilt die Wahrheit der ausgedrückten Proposition und schätzt die Grundlagen für sein Urteil ein. Beispiele: abschätzen, analysieren, auswählen, berechnen, klassifizieren, beurteilen, charakterisieren, einschätzen, postulieren u. a. Akte, die die Einstellung des Sprechers widerspiegeln (acts reflecting speaker's attitude) : Der Sprecher beurteilt die Angemessenheit eines Sachverhalts, der durch einen vorangehenden, in der Proposition ausgedrückten Sachverhalt bewirkt wurde. Beispiele: anprangern, beglückwünschen, begrüßen, empfehlen, sich entschuldigen, gratulieren, loben, tadeln, Vorwürfe machen u. a. Akte des Festsetzens (acts of stipulating) : Der Sprecher äußert den Wunsch, daß die in der Proposition ausgedrückten Benennungskonventionen akzeptiert werden. Beispiele: beginnen, benennen, beschreiben, bezeichnen, charakterisieren, ernennen, kennzeichnen, als etwas klassifizieren, unterstreichen u. a. Akte des Aufforderns (acts of requesting) : Der Sprecher äußert den Wunsch, der Hörer möge den in der Proposition ausgedrückten Sachverhalt herbeiführen. Beispiele: anflehen, appellieren, auffordern, beauftragen, befehlen, bitten, einladen, ersuchen, fordern, fragen, untersagen, verbieten u. a. Akte des Vorschlagens (acts of suggesting): Der Sprecher äußert den Wunsch, der Hörer möge die Vorteile der in der Proposition ausgedrückten Handlung in Erwägung ziehen.
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D. Viehweger
Beispiele: befürworten, empfehlen, raten, vorbringen, vorschlagen, warnen, zureden (7) Akte der Autoritätsausübung (acts of exercising authority): Der Sprecher will auf Grund bestimmter ihm zustehender Rechte und Machtbefugnisse einen neuen Sachverhalt herbeiführen. Beispiele: ablehnen, abweisen, akzeptieren, anerkennen, beantragen, befreien, einwilligen, entlassen, entschuldigen, erlauben, ermächtigen, genehmigen, gewähren, verbieten, verfugen, verordnen u. a. (8) Akte des Sich-Verpflichtens (act of committing): Der Sprecher erklärt sich bereit, eine Verpflichtung einzugehen, den in der Proposition ausgedrückten Sachverhalt herbeizuführen. Beispiele: akzeptieren, anbieten, garantieren, geloben, schwören, versichern, versprechen, sein Wort geben u. a. Aus der gedrängten Wiedergabe des FRASERschen Klassifikationsvorschlages ist zu entnehmen, daß es bei dieser Taxonomie im Grunde genommen nicht um eine Klassifikation illokutiver Akte, sondern um die systematische Analyse explizit performativer Verben geht, wobei der Taxonomievorschlag im wesentlichen nur den subjektiven Faktor der Intentionalität bzw. Einstellung des Sprechers in Betracht zieht und objektive Faktoren wie z. B. die Tatsache, daß Sprechakte auch erwartbare Konsequenzen für die beteiligten Personen haben können, unberücksichtigt läßt. Wie bereits SEARLES Klassifikation erfüllt auch diese Taxonomie die Anforderungen, die an eine prinzipielle Klassifikation zu stellen sind, noch nicht.
2.8.4.
WUNDERLICHS
Klassifikation illokutiver Typen
(1976: 54ff.) schlägt im Zusammenhang mit der Entwicklung einer integrierten Theorie der grammatischen und pragmatischen Bedeutung eine Klassifikation illokutiver Typen vor, die auf der semantischen Ebene 8 Typen von Sprechakten unterscheidet. Unterschiede zwischen Sprechaktklassen wie Aufforderungen, Versprechen, Behauptungen, Fragen u. a. versucht WUNDERLICH — wie eingangs bereits angedeutet — auf der semantischen Ebene zu differenzieren, die Abgrenzung der zu einem Sprechakttyp gehörenden Subklassen, z. B. die Spezifizierung des Sprechakttyps der Aufforderung nach Bitten, Befehlen, Anordnungen usw. wird demgegenüber auf der pragmatischen Ebene vorgenommen. Ausschließlich pragmatisch charakterisiert werden in WUNDERLICHS Sprechakttheorie die sogenannten konditionalen Sprechakte, die Sprechhandlungen wie Warnungen, Drohungen, Ratschläge, Belehrungen, Vorwürfe, Vorschläge u. a. umfassen, sowie die redeorganisierenden Sprechakte, d. h. die metakommunikatiWUNDERLICH
Semantik und Sprechakttheorie
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ven Äußerungen. Entscheidendes Kriterium zur Differenzierung der einzelnen illokutiven Typen ist bei WUNDERLICH die Stellung der Sprechakte zu allgemein notwendigen Interaktionsbedingungen. In diesem Zusammenhang kritisiert WUNDERLICH, daß in den meisten sprechakttheoretischen Forschungsansätzen im allgemeinen und in den bisher vorgeschlagenen Typologien im besonderen der objektive Charakter der Sprechakte weitgehend vernachlässigt wird. Die illokutive Kraft ist für WUNDERLICH etwas, das neue Interaktionsbedingungen einführt. Wenngleich diese Eigenschaft nicht für alle Sprechhandlungen zutrifft — Entschuldigungen erfüllen bereits bestehende Interaktionsbedingungen — scheint es dennoch gerechtfertigt, Sprechakte primär in bezug auf dieses Kriterium zu klassifizieren und nicht in bezug auf die Intention des Sprechers, da nahezu jeder Sprechakt bestimmte Konsequenzen für den weiteren Handlungsablauf hat, Intentionen aber für zahlreiche Sprechakte — besonders für institutionalisierte — irrelevant sein können. Mit der von WUNDERLICH gewählten Klassifikationsbasis kommt ein weiterer, außerordentlich wichtiger Aspekt ins Spiel, der in den vorangegangenen Klassifikationen gänzlich vernachlässigt wurde. Für WUNDERLICH gehört es zur Natur der Sprechakte, daß sie in bestimmten Handlungssequenzen stehen, wodurch der daraus abgeleitete Klassifikationsrahmen nicht nur umfassender als der auf der Intentionalität isolierter Sprechakte basierender Typologien ist, er ist damit auch adäquater. Von WUNDERLICH werden folgende illokutive Typen unterschieden: (1) Direktive Sprechakte: Aufforderungen, Bitten, Befehle, Anweisungen, Anordnungen, Instruktionen, Normsetzungen (2) Kommissive Sprechakte: Versprechungen, Ankündigungen, Drohungen (3) Erotetische Sprechakte: Fragen (4) Repräsentative Sprechakte: Behauptungen, Feststellungen, Berichte, Beschreibungen, Erklärungen, Versicherungen (5) Satisfaktive Sprechakte: Entschuldigungen, Danksagungen, Antworten, Begründungen, Rechtfertigungen (6) Retraktive Sprechakte: Zurückziehen eines Versprechens, Korrektur einer Behauptung, Erlaubnisse (7) Deklarative Sprechakte: Benennungen, Definitionen, Ernennungen, Schuldsprüche, Festsetzen einer Tagesordnung, Eröffnung einer Sitzung (8) Vokative Sprechakte: Anrufe, Aufrufe, Anreden Direktive und erotetische Sprechakte sind initiativ, d. h., sie führen neue Interaktionsbedingungen ein und eröffnen somit eine Handlungsfolge. Satisfaktive Sprechakte sind demgegenüber reaktiv, da sie bereits bestehende Interaktionsbedingungen erfüllen und somit Handlungsfolgen abschließen. Die Anzahl der illokutiven Typen entspricht nicht der Anzahl der grammatischen Modi. Gegen eine solche Gleichsetzung sprechen zahlreiche empirische Fakten, denn nur direk-
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D. Viehweger
tive und erotetische Sprechhandlungen können unmißverständlich durch die entsprechenden grammatischen Modi ausgedrückt werden.
2.9. Analyse von Sprechhandlungssequenzen In den vorangegangenen Kapiteln wurde skizziert, wie Sprechakte durch die vor allem auf A U S T I N und SEARLE zurückgehenden Forschungsansätze analysiert und klassifiziert wurden. Wir konnten dabei immer wieder feststellen, daß die von der sprachanalytischen Philosophie entwickelten Modellvorschläge nahezu in toto davon abstrahierten, daß Sprechakte in der Regel nicht isoliert vollzogen werden und demzufolge auch nicht allein, sondern stets in bestimmten Sprechhandlungssequenzen vorkommen und somit in bestimmten Sequenzmustern organisiert sind. Die Sequenzstruktur von Sprechhandlungen spiegelt sich nicht nur in komplexen, aus mehreren einzelnen Sprechakten zusammengesetzten Sprecheinheiten wider, sie ist auch charakteristisch für einzelne Sprechakte wie für ganze Diskursarten bzw. Textsorten. Aus der verstärkten Hinwendung zur Analyse von Sprechhandlungssequenzen sowie Zusammenhängen der Sprecheinheiten ergeben sich für die Sprechakttheorie zahlreiche Konsequenzen, die wir im folgenden kurz skizzieren wollen. (1) Es bedarf keiner besonderen Hervorhebung, daß die stärkere Orientierung der Sprechakttheorie auf die Analyse von Sprechhandlungsfolgen zu einer wesentlichen Erweiterung ihres bisherigen Objektbereichs führte. Waren es bisher einzelne, aus dem Kontext herausgelöste Sprechakte, die das Untersuchungsobjekt der Sprechakttheorie AusTiNscher und SEARLEscher Prägung darstellen, so wurden mit der eingangs erwähnten Neuorientierung mehr und mehr komplexe Einheiten, d. h. Texte in die Untersuchung einbezogen und mit den Instrumentarien der Sprechakttheorie zu beschreiben versucht. Im Zusammenhang damit verlagert sich der Schwerpunkt der Untersuchungen von der Beschreibung monologischer und schriftlich repräsentierter Texte zur Analyse dialogischer und mündlich repräsentierter Texte. (2) Von der Mehrzahl der auf A U S T I N und SEARLE zurückgehenden Forschungsansätze wurden Sprechakte im Grunde genau so als isolierte Einheiten erklärt und beschrieben wie bisher Sätze oder Propositionen durch die Grammatiktheorie. In den Analysen wurden darüber hinaus die konkreten Bedingungen, unter denen Sprechhandlungen vollzogen werden, weitgehend ausgeblendet. Im Prinzip ging es SEARLE U. a. gar nicht um die Analyse konkreter Sprechakte, sondern um die Ermittlung derjenigen Gesetzmäßigkeiten, die der Produktion von Sprechhandlungen zugrunde liegen. Im Gegensatz dazu wurde die Analyse von Sprechhandlungssequenzen streng sprachspezifisch in Angriff genommen, so daß die Analyse der Bedingungen, die Sprechhandlungen überhaupt erst ermöglichen,
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sowie des Verhältnisses zwischen Sprechakt und außersprachlichen Kontext nicht länger unberücksichtigt bleiben konnte. (3) In sprechakttheoretischen Untersuchungen ist immer wieder hervorgehoben worden, daß Kommunikation ein kooperatives Unternehmen, eine kooperative Tätigkeit ist, an der zumindest zwei Personen beteiligt sind. Durch die vorrangige Orientierung auf monologische Produktionsmodelle ist der intersubjektive Charakter der Kommunikation bisher nur in sehr wenigen Modellen zum Tragen gekommen. Mit der verstärkten Hinwendung zur Analyse von Sprechhandlungsfolgen ist im Rahmen der Sprechakttheorie erstmals deutlich gemacht worden, daß die bisher entwickelten Modelle der Wirklichkeit nicht gerecht werden, da Kommunikation keine isolierte Tätigkeit ist, sondern eine Tätigkeit, die in der Regel von einer Vielzahl nicht sprachlicher Prozesse umgeben ist, die für das Gelingen der sprachlichen Verständigung unmittelbar wichtig sind. Das bedeutet konkret, daß der Handlungsbegriff, wie er in mehreren Modellvorschlägen definiert wurde, einer gründlichen Revision zu unterziehen ist, d. h. daß ein Handlungsbegriff zu entwickeln ist, der aus der zwischenmenschlichen Verständigung abgeleitet wird und somit die Produktion und Interpretation von Sprechhandlungen auf einen einheitlichen Begriff bezieht. Das bedeutet aber auch, daß die Annahmen über Kognition, wie sie beispielsweise der These von der semantischen bzw. konventionellen Natur der Sprechakte zugrunde liegen, grundsätzlich korrigiert werden, da sie Ausdruck einer Denkweise sind, die in den Wissenschaften, die sich mit menschlicher Informationsverarbeitung befassen, seit langem als überwunden gilt. Für diesen Einwand gibt es zahlreiche Evidenzen. Wir haben bereits an mehreren Stellen deutlich zu machen versucht, daß das handelnde Subjekt in einer Vielzahl von Forschungsansätzen lediglich als ein mechanisch handelndes Subjekt verstanden wird, das bei der interpretativen Verarbeitung einer sprachlichen Äußerung keine anderen Informationen als eben diese Äußerung in Anspruch nimmt. Dieser Ansatz, nach dem der geäußerte Satz als einzige Quelle für die Identifikation der illokutiven Rolle angesehen wird, stellt im Grunde genommen in Abrede, daß der Mensch über komplexe kognitive Mechanismen verfügt, die keineswegs nur im vorhinein festgelegte Form-InhaltBeziehungen reidentifizieren, sondern unablässig auf eine Vielzahl zusätzlicher, implizierter, situativer sowie im Textkontinuum ausgedrückter Informationen zurückgreifen und diese mit den im Gedächtnis gespeicherten Kenntnissystemen in Beziehung setzen, um somit die gesamte Information einer Äußerung zu erfassen, die das verbal Repräsentierte weit überschreiten kann. (4) Die Sprechakttheorie hat sich ihren Objektbereich selbst ausgegrenzt und die dafür angemessenen Analyseeinheiten zu bestimmen versucht. Wir erinnern noch einmal daran, daß die Sprechakttheorie ihr wichtigstes Ziel nicht in der Analyse konkreter Sprechhandlungen sah, sondern in der Analyse performativer Formeln, die mit der Realität der sprachlichen Kommunikation durch das idealisierende
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Prinzip der Ausdrückbarkeit verbunden sind. Als fundamentale Analyseeinheit wurde der Sprechakt angenommen, wobei unter einem Sprechakt die grundlegenden oder kleinsten Einheiten der sprachlichen Kommunikation verstanden wurden, d. h. die Produktion oder Hervorbringung von Satzzeichen (vgl. SEARLE 1975: 30 und 36). Die Analyse zusammenhängender Sprechhandlungsfolgen benötigt neben dem Begriff des Sprechakts weitere Kategorien, um eine hinreichend vollständige Charakterisierung der Sprechhandlungsfolgen bzw. komplexen Sprecheinheiten zu ermöglichen. Als Grundeinheit der Sprechakttheorie, deren Ziel es ist, Sprechhandlungsfolgen zu analysieren, wird von WUNDERLICH u. a. der -Redebeitrag angesehen, worunter eine Folge von 1 — n Sprechakten bzw. Sprechhandlungen verstanden wird, die ein Sprecher nacheinander, d. h. ohne Unterbrechung ausführt. Ein Redebeitrag kann eine ganze Abfolge von Sprechhandlungen realisieren, er kann aber auch minimal sein, unter Umständen ist er nicht einmal von verbaler Natur. Jeder Redebeitrag besitzt — wie WUNDERLICH (1976 : 298ff. und 1978: 287ff.) gezeigt hat — zwei Eigenschaften. Erstens besitzt er eine kommunikative Funktion, d. h. eine für den Hörer erkennbare kommunikative Funktion. Zweitens weist ein Redebeitrag eine bestimmte innere Struktur auf, womit bereits zum Ausdruck gebracht ist, daß die Abfolge und Gliederung der einzelnen Redebeiträge keineswegs zufallig ist, sondern im allgemeinen „immer relativ zum gerade erreichten Entwicklungsstand eines Diskurses" (WUNDERLICH 1976: 299) zu sehen ist. Aus unserer kommunikativen Praxis ist uns bekannt, daß zahlreiche Sprechhandlungen wie Frage, Aufforderung, Beschuldigung typisch initiative, d. h. sequenzeröffnende Sprechakte sind, wohingegen Antwort, Gegenfrage, Danksagung, Rechtfertigung, Entschuldigung u. a. reaktive Sprechakte sind und Sprechhandlungssequenzen abschließen können. Die Abfolge von Sprechhandlungen ist nicht nur für Sprechhandlungen charakteristisch, mit denen im allgemeinen ein Sprecherwechsel verbunden ist, d. h. in denen der Sprecher, der einen initiativen Redebeitrag macht, dem Kommunikations-: partner die Möglichkeit zu einem Redebeitrag gibt. Auch Sprechhandlungsfolgen wie Argumentationen sind keine willkürlichen Aneinanderreihungen, sondern Folgen mit genau festgelegten Sequenzstrukturen. Neben den Analyseeinheiten Sprechakt und Redebeitrag benötigt die Analyse von Sprechhandlungssequenzen Begriffe wie Sprechaktsequenzmuster und Textsorte bzw. Diskurstyp, um der Tatsache Rechnung zu tragen, daß es zahlreiche Sprechhandlungsfolgen gibt, in denen die Abfolge der einzelnen Sprechakte bereits festgeworden ist und somit den Status sozialer Normen erreicht hat. (5) Die Verlagerung des Interesses der Sprechakttheorie von der Analyse isolierter Sprechakte auf die Beschreibung von Sprechhandlungssequenzen hat wesentlich dazu beigetragen, daß die Barrieren, die z. B. zwischen der Textlinguistik, der Konversations- und Diskursanalyse bisher bestanden, systematisch abgebaut werden konnten. Für die bisherige Entwicklung dieser linguistischen Teildisziplinen
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war charakteristisch, daß sie sich weitgehend isolativ entwickelten und in keiner Weise aufeinander Bezug nehmen. Die Interessenverlagerung der Sprechakttheorie trug mit dazu bei, daß sich Forschungsrichtungen wie die Textlinguistik mit neuen Fragestellungen beschäftigten, für die sie aus der linguistischen Pragmatik, verschiedenen Forschungsansätzen der Konversationsanalyse u. a. wesentliche Entwicklungsimpulse erhielten. Die Untersuchung geschriebener Texte hat eine lange Tradition. Sprachwissenschaft, Rhetorik und Stilistik haben die Regeln, die Sätze zu Texten verbinden, vorwiegend auf der Ebene der Syntax und Semantik gesucht. Dabei wurde die Annahme vertreten, daß Texte die gleichen semantischen, syntaktischen und kommunikativ-pragmatischen Eigenschaften wie Sätze haben und daher auch durch eine Grammatik zu beschreiben sind. LABOV (1970), ISENBERG (1977), REHBEIN (1972), WUNDERLICH (1976) u. a. haben gezeigt, daß der Rahmen, in dem Texte bisher beschrieben wurden, zu eng ist. Die Regeln, die Äußerungen zu Texten verknüpfen, sind demzufolge auf der Ebene der Sprechhandlungen zu suchen, so daß ein Text auch nicht primär als eine Abfolge von Sätzen, sondern als Ergebnis einer Abfolge von Sprechhandlungen zu verstehen ist. Diese Abfolge ergibt sich nicht allein aus den syntaktischen und semantischen Eigenschaften der Sätze, sie ergibt sich auch aus den Bedingungen, unter denen Texte produziert und rezipiert werden. Andererseits darf nicht übersehen werden, daß die im Rahmen der Konversationsanalyse bzw. Diskursanalyse entwickelten Forschungsaktivitäten, die ausschließlich mit empirisch erhobenen Sprachdaten arbeiten und diese strikt im textuellen Gesamtzusammenhang analysieren, ganz entscheidenden Einfluß auf die Sprechakttheorie SEARLEscher Prägung hatten.
3. Schlußfolgerungen Ziel unseres Beitrages war es, einige jener Forschungsansätze kritisch zu behandeln, die als Alternativen zur bisherigen Grammatiktheorie vor mehr als zehn Jahren in der Linguistik die sogenannte pragmatische Wende' herbeigeführt haben. Auf Grund der Themenstellung war es nicht möglich, alle Forschungsansätze, von denen neue Impulse für eine Theorie der Bedeutung ausgegangen sind, hier eingehender zu charakterisieren. Wir haben uns dabei auf jene Modellvorschläge beschränkt, die innerhalb einer Theorie sprachlichen Handelns entwickelt wurden, und uns vorrangig auf die Frage konzentriert, wie eine Semantiktheorie um diejenigen Aspekte der Bedeutung erweitert werden kann, die beim Gebrauch der Sprache an den Tag treten und festlegen, was ein Satz ausdrückt, wenn er geäußert wird. Die unterschiedlichen Wege, die zur Erreichung dieses Ziels eingeschlagen wurden, lassen sich im wesentlichen in zwei methodologisch
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unterschiedliche Richtungen einordnen, die wir als Erweiterung bestehender Grammatikmodelle einerseits und als Entwicklung neuer Modellvorschläge andererseits eingehender charakterisiert haben. Bei den unter dem Begriff der Modifikation existierender Grammatikmodelle zusammengefaßten Forschungsansätzen ging es primär darum, diejenigen Aspekte, die durch die Betrachtung des Sprachsystems in seiner tätigen Realisierung ins Spiel kommen, entweder der syntaktischen oder der semantischen Komponente zuzuweisen oder aber durch die Einbeziehung einer sogenannten kommunikativ-pragmatischen Komponente in die Grammatik zu erfassen und zu beschreiben. Es ist unbestritten, daß damit unsere Einsichten in die semantische Seite der sprachlich-kommunikativen Tätigkeit vertieft werden konnten, mit den Modifikationsversuchen entfernte sich aber die Grammatik mehr und mehr von dem semiotischen Aspekt als dem zentralen Abstraktionsgesichtspunkt ihrer bisherigen Gegenstandsbestimmung. Der zweite Weg bestand in der Entwicklung integrierter Theorien der Bedeutung natürlicher Sprachen auf der Grundlage einer Theorie sprachlichen Handelns. Ausgangspunkt dieser Bedeutungstheorien war die Annahme, daß die sprachlichen Eigenschaften von Sätzen nicht unabhängig von einer Charakterisierung der kommunikativen Situation erforscht werden können. Damit war eine wesentliche Schwerpunktverlagerung der linguistischen Forschung verbunden, durch die das linguistische Interesse auf die Charakterisierung der Merkmale des Sprachkontextes, auf die Explikation der Bedingungen, unter denen Sprechhandlungen gelingen, sowie auf die Ermittlung der Struktur von Sprechhandlungen gelenkt wurde. Mit dem Versuch, die Aussagen über Sprache auf Aussagen von Nachbardisziplinen wie Soziologie, Handlungstheorie, Psychologie, Geschichte u. a. zu beziehen, ergab sich aber häufig das Problem, daß die eigentlich genuin linguistischen Begriffe nicht ohne weiteres mit sozialwissenschaftlichen Begriffen in Beziehung gesetzt werden konnten, so daß der Anspruch, mit dem einzelne Forschungsansätze auftraten, vielfach schon wegen einer ungeeigneten Begrifflichkeit nicht eingelöst werden konnte. Als wesentlicher Grund dafür ist jedoch die Tatsache anzusehen, daß sich die Forschung auf diesem Gebiet erst am Anfang befindet, so daß gegenwärtig noch keine expliziten Theorien über die kommunikativen, soziologischen, psychologischen u. a. Aspekte der Sprache existieren. Bei einer solchen Forschungssituation ist es verständlich, daß zunächst der Orientierungsrahmen abgesteckt wird, in dem eine Theorie der Bedeutung natürlicher Sprachen zu entwickeln ist. Wie eine explizite Theorie der Bedeutung aufzubauen ist, ist gegenwärtig noch weitgehend offen; daß es sich hierbei jedoch um einen komplexen Forschungsansatz handelt, der aus einer Theorie der Wahrheitsbedingungen (propositionaler Bedeutungsbereich) und einer Theorie sprachlichen Handelns (pragmatischer Bedeutungsbereich) sowie einer Theorie besteht, die die beiden Bedeutungsbereiche in systematischer Weise verbindet, ist eine Schlußfolgerung, die bereits heute aus den gewonnenen Einsichten gezogen werden kann.
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Renate Pasch und Ilse Zimmermann
Die Rolle der Semantik in der Generativen Grammatik
Einleitung
Eine zentrale Frage für die Sprachwissenschaft und auch für die Semantikforschung ist das Problem, nach welchen Prinzipien und Regeln in sprachlichen Äußerungen Bewußtseinseinheiten auf Lautfolgen bezogen sind, wie LautBedeutungs-Zuordnungen in den konkreten historisch gewachsenen natürlichen Sprachen zum Zwecke der Kommunikation kodifiziert sind. Der Darstellung dieser komplizierten, über mehrere Strukturebenen vermittelten Beziehung zwischen Laut und Bedeutung wurden seit der Antike einzelsprachige Grammatiken und später auch Wörterbücher gewidmet, die in gewissem Sinne als partielle Abbildung der einzelnen Sprachsysteme betrachtet werden können. Allerdings zeigt sich beim Gebrauch solcher Grammatiken und Wörterbücher, daß die Erfassung der Regularitäten der Laut-Bedeutungs-Zuordnung unvollständig und unsystematisch ist, so daß der Grammatik- und Wörterbuchbenutzer nicht selten auf seine Intuition angewiesen ist, um Lücken, widersprüchlichen Auskünften und zusammenhangloser Darstellung von Fakten zu begegnen. Besonders kennzeichnend ist, daß Grammatik und Wörterbuch nicht als Teilkomponenten eines einheitlichen Regelsystems aufeinander bezogen wurden und keine Annahmen über Konstruktionsprinzipien gemacht wurden, nach denen sich die Bedeutung sprachlicher Äußerungen aus den Bedeutungen ihrer Komponenten zusammensetzt. Ein zentrales Anliegen der neueren linguistischen Forschung ist es in zunehmendem Maße, Regularitäten der Laut-Bedeutungs-Zuordnung in allen ihren Einzelheiten und Zusammenhängen zu erfassen und als ein System von Regeln und Prinzipien auf durchweg explizite Weise darzustellen. Das schließt die Explizierung der Bedeutungsstruktur sprachlicher Äußerungen ein — eine Aufgabe, die für die Linguistik nicht geringe intra- und interdisziplinäre Bedeutung hat. In der folgenden Untersuchung soll die Gesamtproblematik beispielhaft anhand eines Vergleichs zweier relativ gut ausgearbeiteter Grammatikmodelle, der Interpretativen Semantik (IS) und der Generativen Semantik (GS), dargelegt werden. Es ist zu zeigen, wie in einer generativen Transformationsgrammatik (TG), die den Anspruch erhebt, als wissenschaftliches Abbild des Sprachsystems zu gelten,
Generative Grammatik
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Bedeutungseinheiten und Lautfolgen aufeinander bezogen werden und insbesondere wie die Semantik in die Grammatik integriert ist. Im Vordergrund stehen die Art und der Grad der Vermitteltheit des Zusammenhangs zwischen Bedeutungs- und Lautstrukturen und das Zusammenwirken der verschiedenen Bedeutungsaspekte sprachlicher Äußerungen auf den einzelnen Strukturebenen. Bei dem Vergleich der IS und der GS werden wir uns darauf konzentrieren, Antworten auf folgende Fragen zu finden: (a) Welche unterschiedlichen Bewußtseinsfaktoren werden in Regeln der LautBedeutungs-Zuordnung natürlicher Sprachen — d. h. in deren Grammatiken — erfaßt? (b) Wie konstituieren diese Faktoren in sprachlichen Äußerungen gemeinsam deren Bedeutung? (c) Welche Vorstellungen gibt es bezüglich des Zusammenhangs zwischen semantischer Strukturbildung, syntaktischen Regeln und Lexikon? Wir legen unseren Untersuchungen den entwickeltsten Stand der zu vergleichenden Grammatikmodelle der IS und der GS zugrunde und verfolgen ihre Entwicklungslinien nur, soweit dies für die Behandlung der genannten Problemkreise von Belang ist.1 Bezüglich der wissenschaftsgeschichtlichen Einbettung und der philosophischen und methodologischen Implikationen der TG 2 möchten wir bei allen Einschränkungen im Detail hervorheben, daß die TG einen fruchtbaren Beitrag zur Klärung der auch erkenntnistheoretisch sehr wesentlichen Frage geleistet hat, wie Bewußtseinseinheiten und sprachliche Ausdrucksmittel miteinander verknüpft sind. Die über diese Beziehung im Rahmen der TG entwickelten Modellvorstellungen sind auch in methodologischer Hinsicht ein nicht zu unterschätzender Fortschritt in der sprachwissenschaftlichen Forschung.3 Eine umfassende Sprachtheorie, die auf dem Fundament der marxistisch-leninistischen Weltanschauung alle Seiten berücksichtigt, die das Wesen natürlicher Sprachen ausmachen und ihre Entwicklung bestimmen, kann sich auch auf eine Reihe von begründeten Erkenntnissen der TG stützen.4 1
Für uns beispielgebende, sehr informative Überblicke Aber die Entwicklung der T G und die Behandlung der verschiedenen Bedeutungsaspekte sprachlicher Äußerungen haben DEAN FODOR (1977), SOBOLEVA ( 1 9 7 7 ) u n d DANES z u s a m m e n m i t HLAVSA u n d KO&ENSKY ( 1 9 7 3 )
gegeben. Wir verweisen auch auf die Darstellung der Entwicklung der TG von IMMLER (1974). 2
V g l . d a z u BIERWISCH, HEIDOLPH, MÖTSCH, NEUMANN, SUCHSLAND ( 1 9 7 3 ) .
3
Die Relevanz der in den verschiedenen Wissenschaften immer breiter und tiefgründiger praktizierten Mödellmethode für die wissenschaftliche Erkenntnis und Theoriebildung hat HÖRZ (1978) mit Nachdruck hervorgehoben. Auf diesem Hintergrund sehen wir auch die in der Reihe Studia Grammatica des AkademieVerlags Berlin veröffentlichten zahlreichen Arbeiten zur TG (siehe u. a. BIERWISCH 1963;
4
248
R. Pasch/I. Zimmermann
Unser Entschluß, die Rolle der Semantik in der Grammatik natürlicher Sprachen. anhand von TG-Modellen zu erörtern, bedeutet nicht, daß wir die rationalistischen psychologischen und philosophischen Interpretationen der TG akzeptieren müßten, die insbesondere von CHOMSKY 5 und nicht wenigen seiner Anhänger gegeben wurden und werden. Diese Interpretationen 6 folgen nicht zwingend aus den Annahmen über die Art und Weise, wie die Regularitäten der LautBedeutungs-Zuordnung, die sprachlicher Kommunikation im einzelnen eigen sind, wissenschaftlich zu beschreiben sind. Wir sehen unsere Aufgabe vor allem darin, im Rahmen unseres Themas die Erträge zu beleuchten, die die TG für die Entwicklung der Linguistik allgemein und für die Semantikforschung im besonderen gebracht hat. Zugleich soll auch verdeutlicht werden, wo noch gravierende Lücken in der Forschung bestehen. In unseren Betrachtungen über die Rolle der Semantik in der Grammatik werden wir uns mit der GS und der IS auseinandersetzen, weil hier zwei gegensätzliche, aber durch ihre gemeinsame theoretische Grundlage relativ gut vergleichbare Grammatikkonzeptionen vorliegen. In dem Gegensatz, den diese beiden Konzeptionen bilden, liegt eines der grundlegenden spezifisch linguistischen Probleme, mit dem semantische Forschungen konfrontiert sind, nämlich die Frage, wie Lautstrukturen auf Bedeutungsstrukturen bezogen sind. Beide Modelle zeichnen sich durch eine ganzheitliche Betrachtungsweise des Sprachsystems aus und schließen das Lexikon und die Semantik als Komponenten der Grammatik ein. Sie streben in der wissenschaftlichen Beschreibung der entdeckten Regularitäten der Laut-Bedeutungs-Zuordnung nach Vollständigkeit und Explizitheit auf allen Strukturebenen. Sie haben ihre Entwicklung im einzelnen durch eine wechselseitige Polemik vorangetrieben. Die Einleitung und der Schluß sind unser Gemeinschaftsprodukt. Die Abschnitte 1.2., 2.3., 3.2.3., 3.3.3., 4.4. und 5. verfaßte R. PASCH als Anwalt der GS. Die Position der IS vertrat I . ZIMMERMANN, die alle übrigen Abschnitte schrieb und die Gesamtredaktion besorgte. Für helfende Kritik danken wir E . S . KUBRJAKOVA, M . BIERWISCH, E . L A N G , D . VIEHWEGER, W . M Ö T S C H , B . K R A F T u n d K .
MENG.
MÖTSCH 1964 u n d 1965; HÄRTUNG 1964; STEINITZ 1969; ISENBERG 1968; WURZEL 1 9 7 0 ; LANG
1977 a), die verschiedenen Studien von RÜ2ICKA am Material slawischer Sprachen (siehe vor allem RÜ2ICKA 1966 und 1980), Grammatikentwürfe wie im 4. Kapitel der „Theoretischen Probleme der Sprachwissenschaft" (1976) und in den „Grundzügen einer deutschen Grammatik" (1981). 5 6
Siehe vor allem CHOMSKY (1966, 1968). Zur rationalistischen Interpretation der TG siehe MÖTSCH (1974: Abschnitt 4).
Generative Grammatik
249
1. Generative Transformationsgrammatik als System von Regeln der Laut-Bedeutungs-Zuordnung 1.1. Der Gegenstand der Grammatik Bevor gezeigt wird, wie die Vertreter der IS und der GS die Beziehung von Semantik, Syntax und Lexikon in der Grammatik sehen, sollen als Vergleichsgrundlage einige wesentliche allgemeine Eigenschaften einer TG hervorgehoben werden. Die Gesamtheit der für eine Sprache geltenden Regularitäten der wechselseitigen Zuordnung von Bedeutungen und phonetisch oder graphisch manifestierten Signalstrukturen bildet das Sprachsystem, dessen wissenschaftliche Rekonstruktion die Grammatik ist. Da das Sprachsystem keine von den betreffenden Sprachträgern losgelöste Existenz hat, ist die Grammatik zugleich eine Hypothese über die Sprachkompetenz, d. h. über die mehr oder weniger unbewußte Kenntnis des Sprachsystems, die die Mitglieder der gegebenen Sprachgemeinschaft im Prozeß der Sprachaneignung erworben haben. Die Grammatik — einschließlich des Lexikons — muß als wissenschaftliches Abbild des Sprachsystems und der Sprachkompetenz das in einer Sprache Mögliche spezifizieren, unabhängig davon, ob es in einem gegebenen Corpus realisiert ist. „ . . . ^ O C T O H H C T B O cjioBapa H rpaMMaTHKH A O J I Ä H O N 3 M E P A T B C $ I B O 3 MoxcHocTbio npn HX nocpeacTBe cocTaBJiHTb jnoöbie npaBHJibHbie 4»pa3w BO Bcex cjiynaax JKHSHH H BnojiHe noHHMaTb Bce roBopHMoe Ha aaHHOM H3biKe",
vermerkt SÖERBA7, der mehrfach auf den innovativen Charakter des Sprachgebrauchs hinweist. Die ununterbrochene Auseinandersetzung des Menschen mit seiner natürlichen und sozialen Umwelt in Form ihrer fortschreitenden Erkenntnis und praktischen Veränderung verlangt und bedingt, daß die Bedeutungsstrukturen wie auch die sprachlichen Äußerungsformen in ihrem Inventar, ihrer Strukturierung und gegenseitigen Bezogenheit über Eigenschaften verfügen, die die sprachlich gebundene Verarbeitung und Vorwegnahme immer neuer Situationen ermöglichen. Die theoretische Klärung dieser Aspekte der Sprachstruktur wurde in der von CHOMSKY begründeten und in den letzten 2 0 Jahren von einer wachsenden Zahl von Sprachwissenschaftlern verschiedener Länder weiterentwickelten TG mit besonderem Nachdruck vorangetrieben. Dieser Grammatiktheorie zufolge stellt die Grammatik einen rekursiven Konstruktionsmechanismus dar, der im Rahmen einer endlichen Menge von Grundeinheiten und Strukturprinzipien jedem Satz aus einer potentiell unendlichen Menge von Sätzen mindestens eine Struktur7
SCERBA (1931) in ZVEGINCEV (Hrsg.) ( 3 1965: II, 362).
250
R. Pasch/I. Zimmermann
beschreibung zuordnet, die angibt, wie der betreffende Satz auf der Basis seiner Bestandteile und ihrer Relationen gebildet und verstanden wird.8 In diesem Sinne ist eine generative Grammatik aufzufassen als ein System von Strukturvorschriften, das in durchweg expliziter Weise die in einer bestimmten Sprache geltenden Regularitäten der Laut-Bedeutungs-Zuordnung angibt. Die Grammatik ist weder ein psycholinguistisches Sprecher- oder Hörermodell noch eine Theorie der Kommunikationshandlungen, sondern sie umfaßt für eine konkrete Sprache die Regularitäten der Laut-Bedeutungs-Zuordnung und repräsentiert die Sprachkenntnis, die für den aktuellen Sprachgebrauch eine Grundvoraussetzung ist.9
1.2. Grammatik als Ergebnis einer methodischen Abstraktion Wenn wir hier die Stellung der Semantik in der Grammatik am Beispiel der IS und der GS behandeln, so sind wir uns dessen bewußt, daß diese beiden Theorien nur eine Seite sprachlichen Verhaltens beschreiben und erklären. Wir verstehen diese Grammatiktheorie als Teiltheorie einer umfassenden Sprachtheorie. Ihre Aufgabe ist es, die Aufbauprinzipien möglicher einzelsprachlicher Grammatiken festzulegen. (Vgl. BIERWISCH et al. 1 9 7 1 : 11.) Dabei ist unter Grammatik die Charakterisierung des Systems einer Einzelsprache „als eines der Aspekte der Struktur des sprachlichen Verhaltens, nämlich als dessen Strukturierung hinsichtlich der regulären Zuordnung von Lautformen und Bewußtseinsinhalten" (ibid.: 8) zu verstehen. Grammatiktheorien betrachten also Sprache unter einem speziellen Abstraktionsgesichtspunkt, nämlich dem semiotischen. (Vgl. BIERWISCH, HEIDOLPH, MÖTSCH, NEUMANN, SUCHSLAND 1973: 11 sowie 11 ff. ausführlicher zum Gegenstand der Grammatiktheorie.) Insofern, als in einer Grammatik die Struktur einer Sprache hinsichtlich der Laut-Bedeutungs-Zuordnung beschrieben und sprachliches Verhalten als in dieser Hinsicht geregeltes Verhalten erklärt wird, d. h. insofern die Grammatiktheorie Strukturerklärungen liefert (siehe KANNGIESSER 1976: 73), gibt sie Antwort auf die Frage, wie sprachliche Kommunikation möglich ist (ibid.). Ein Aspekt, von dem bei der Formulierung „traditioneller" und struktureller Grammatiken — und auch in der Theorie der IS — abstrahiert wird, ist die Einbettung sprachlichen Verhaltens in nichtsprachliche Bedingungsgefüge, in
8
CHOMSKY, MILLER ( 1 9 6 3 : 2 8 5 ) u n d CHOMSKY ( 1 9 6 5 / 1 9 7 0 : 1 4 ) .
9
Vgl. SCERBA (1931) in ZVEGINCEV (Hrsg.) ( 3 1965: II, 361) und CHOMSKY (1965/1970: 18). „Actually, grammars . . . are quite neutral as between speaker and hearer, between synthesis and analysis of utterances", schreibt CHOMSKY (1957: 48).
Generative Grammatik
251
einen „Interpretationshintergrund sprachlicher Bedeutungen" (ANDRESEN 1976: 131). Die Abstraktion von solchen Faktoren muß im Rahmen einer umfassenderen Erklärung sprachlichen Verhaltens aufgehoben werden. (Vgl. ibid.: 131 ff.) Es muß in der Sprachtheorie eine sogenannte pragmatische Dimension sprachlicher Zeichen berücksichtigt werden. (Vgl. ibid.: 131, siehe zur Aufgabe pragmatischer Theorien ibid.: 132—133.) Zur theoretischen Behandlung des Zusammenhangs von grammatischen und pragmatischen Fakten wurden in der GS Vorstellungen entwickelt, auf die ausführlich in dem Beitrag von VIEHWEGER (1983) eingegangen wird und zu denen im Rahmen des vorliegenden Kapitels in Abschnitt 5.3. kurz Stellung genommen wird. Wir sind der Auffassung, daß Bezüge sprachlicher Zeichen auf „nichtsprachliche Interpretationshintergründe" (was immer darunter zu verstehen ist), die für die — den Intentionen des Sprechers entsprechende — Interpretation einer sprachlichen Äußerung notwendig sind, in die Grammatik gehören, wenn sie Bestandteil der Bedeutung selbst, d. h. Primärbedingungen für die Verwendung einer bestimmten Lautform gegenüber anderen Lautformen sind. Aufgabe einer in allen ihren Teiltheorien entwickelten Sprachtheorie wird es dann sein, die fraglichen Teilbereiche der Grammatik, die auf die genannten pragmatischen Faktoren Bezug nehmen, zu einer Teiltheorie sprachlichen Handelns in Beziehung zu setzen.10 Es ist der TG zum Vorwurf gemacht worden, daß sie die Sprache als statisches System behandle und damit deren Natur, Keime und Möglichkeiten ihrer eigenen Entwicklung in sich zu tragen, nicht gerecht werde. Weiterhin sieht die TG mit der Annahme eines idealen Sprechers/Hörers und Mitglieds einer homogenen Sprachgemeinschaft (vgl. CHOMSKY 1965/1970) von der sozialen und u. U . regionalen Differenzierung des Sprachsystems ab, behandelt einen heterogenen Gegenstand also als homogen. Wenn man die methodische Natur solcher Idealisierungen nicht vergißt, haben dieselben im Zuge der immer besseren und arbeitsteiligen Erforschung des komplexen Phänomens Sprache durchaus ihre Berechtigung; ja, sie scheinen uns Voraussetzung für die Beschreibung der historischen Variabilität und sozialen Differenzierung von Sprachen zu sein: „. . . die Untersuchung der Frage, welche Gesetzmäßigkeiten in einem heterogenen System von Teilsprachen und Teilgrammatiken gelten, setzt Einsichten in die Gesetzmäßigkeiten des einfacheren Falles, der homogenen Grammatik voraus." (BIERWISCH, HEIDOLPH, MÖTSCH, NEUMANN, SUCHSLAND 1973: 42) Ähnlich setzt die Erforschung der historischen Variabilität 10
Im Grammatik-Modell der „Theoretischen Probleme der Sprachwissenschaft" und in den „Grundzügen einer deutschen Grammatik" erfolgt die Berücksichtigung „pragmatischer" Faktoren in einer besonderen Komponente der Grammatik, in einer kommunikativ-pragmatischen Komponente.
252
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— der Veränderlichkeit von Regeln — eine Abstraktion von der Veränderung voraus; denn „bestimmte Bedingungen für die Veränderung von Regeln hängen . . . auf sehr tiefgreifende Weise mit Gesetzmäßigkeiten im Aufbau von Grammatiken zusammen" (ibid.: 43). Die Erfassung dieser Gesetzmäßigkeiten ist dann eine Phase beim Fortschreiten der wissenschaftlichen Erklärung vom (relativ) Einfachen zum Komplizierten. (Zur Grammatiktheorie als Teiltheorie der Sprachtheorie vgl. ibid.; gegen die Verabsolutierung der genannten methodischen Idealisierung durch C H O M S K Y siehe ibid.: 45—46.)
1.3. Die Motiviertheit der
Satzgrammatik
Die TG ist als Satzgrammatik konzipiert. Sie spezifiziert eine infinite Menge von Sätzen und mit ihnen synonymer sprachlicher Ausdrücke bezüglich der Regularitäten der Laut-Bedeutungs-Zuordnung in Form von Strukturbeschreibungen. Das Prinzip, den Satz als Orientierungspunkt für die Grammatik — nicht nur für bestimmte Gebiete der Syntax — zu nehmen, kennzeichnet die TG seit ihrem Bestehen und hat sich in der Forschungspraxis durchaus bewährt. Sätze sind die sprachliche Manifestation des Prädizierens, der Konstitution von Sachverhalten. Sie bilden die fundamentalen Einheiten, die im Spracherwerb eine entscheidende Rolle spielen, die als Aussagen einen Wahrheitswert besitzen und aus denen die Bedeutung des jeweiligen Satzes und seiner Teile hervorgeht. 11 Betrachtet man den Satz als grundlegende sprachliche Mitteilungseinheit, so müssen für seine Bedeutung folgende Faktoren als konstitutiv gelten, unabhängig davon, wie sie in einer gegebenen Sprache auf der Ausdrucksebene in Erscheinung treten. Neben der die semantische Satzbasis bildenden propositionalen Bedeutung, d. h. neben der Darstellung eines oder mehrerer verbundener Sachverhalte, ist auch der kommunikativ-pragmatische Aspekt zu berücksichtigen. So wird die in der Satzbasis enthaltene Sachverhaltsbeschreibung ergänzt durch die ThemaRhema-Gliederung, in der sich die prädikative Beziehung zwischen Aussagegegenstand und Ausgesagtem, zwischen dem logischen Subjekt und dem logischen Prädikat, ausdrückt, ferner durch die Tatsachengeltung, die der Sender der Prädikation beimißt, und nicht zuletzt durch die Intention, die der Sender bezüglich der 11
REICHENBACH, der keine Notwendigkeit für die Unterscheidung zwischen Satz, Proposition und Aussage sieht (1966: 5, Anm. 2), führt aus: "What makes a proposition the fundamental unit is the fact that only a whole proposition can be true or false — that, as we say, it has a truth-value. An isolated word like 'table' is not true or false. . . . Likewise the property of having a meaning is originally restricted to whole sentences. If we want to communicate meanings to other persons we speak in sentences; a word does not communicate anything unless it stands for a sentence." (ibid.: 6)
Generative Grammatik
253
Verarbeitung der Mitteilung seitens des Adressaten mit der Sachverhaltsdarstellung verbindet. Bezüglich des Vorrangs von Sätzen gegenüber Texten als Äußerungstypen in der Grammatik soll hier nur soviel gesagt werden: Trotz der Einsicht, daß der Satz erst im Text lebt, daß der Text viel zur semantischen Interpretation eines Satzes beitragen kann und in nicht geringem Maße seine Struktur bestimmt, erscheint es begründet, in erster Linie zu fragen, was der Satz für den Text bedeutet und nicht umgekehrt. Eine solche Blickrichtung vom Satz zum Text folgt aus der Annahme, daß der Satz als grundlegende kommunikative Einheit zu gelten hat, und bietet sich gewissermaßen an, wenn man Sätze mit beliebiger Komplexität und Länge in Betracht zieht. Gegenüber dem Text ist der Satz die fundamentale Einheit, deren Strukturbeschreibung Gegenstand der Grammatik ist, weil die Regularitäten, die sich in Strukturbeschreibungen von Texten auf die wechselseitige Zuordnung von Bedeutungsstrukturen zu Lautfolgen beziehen, keine anderen sind als die, die für Sätze gelten. Demgegenüber betreffen die über die Beschreibung der Strukturprinzipien von Sätzen hinausgehenden Regularitäten in der Konstitution komplexer Texte nicht mehr spezifische Lautstrukturen. Folglich ist ihre Erfassung in einer Grammatik, die als System von Regeln der Laut-Bedeutungs-Zuordnung konzipiert ist, nicht zwingend. Sofern eine Grammatik Sätze und deren Komponenten auch hinsichtlich ihrer textorganisierenden Funktion charakterisiert, kann man sagen, daß sie textorientiert ist. Eine textbezogene Grammatik erfaßt die in der Domäne „Satz" als Regularitäten der Laut-Bedeutungs-Zuordnung in Erscheinung tretenden Eigenschaften, die die textorganisierende Rolle des Satzes betreffen, und expliziert in den Strukturbeschreibungen von Sätzen auch Strukturmomente, die elementare Bedingungen für die sequentielle Textkonstitution und die globale Textkomposition darstellen. Ihre Distribution in Satzfolgen und textbildende Wirkung werden in speziellen Theorien über den Gegenstand „Text" beschrieben.
1.4. Das System der Komponenten der Grammatik und die Strukturebenen sprachlicher Äußerungen Nach diesem Exkurs zur Motivierung der Satzgrammatik sollen die Komponenten der Grammatik und die Repräsentationsebenen sprachlicher Äußerungen näher betrachtet werden. Dabei geht es um den Grad und die Art der Vermitteltheit der Beziehung zwischen Signal- und Bedeutungsstrukturen und um den Anteil und die Rolle, die die Komponenten der Grammatik in der wechselseitigen Zuordnung der Elemente der Inhalts- und der Ausdrucksebene spielen. Es kann als allgemein anerkannt gelten, daß das Sprachsystem eine strukturierte Gesamtheit von relativ autonomen Subsystemen darstellt, die ihrerseits
254
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jeweils aus einem bestimmten Inventar von Grundeinheiten und aus Regeln zu deren Kombination bestehen. (Vgl. „Allgemeine Sprachwissenschaft" 1972/ 1975: II, 71 f.) Als theoretisches Analogon ist die Grammatik mit ihren in systematischer Weise zusammenwirkenden Komponenten anzusehen, so daß der Aufbau der Grammatik, die Struktur und gegenseitige Bezogenheit ihrer Komponenten nicht ein beliebig gewähltes methodisches Verfahren zur Beschreibung einer bestimmten Sprache ist, sondern sich aus dem Wesen der Sprache, aus der auf der Vielschichtigkeit des Sprachsystems beruhenden mehrfach vermittelten Beziehung von Signal- und Bedeutungsstrukturen ergibt. (Vgl. ibid.: 62.) Jede Komponente der Grammatik ist eine charakteristische Teilmenge von Strukturvorschriften und determiniert im Rahmen des von ihr erfaßten Strukturaspekts die Strukturbeschreibung sprachlicher Äußerungen. Es wird vorausgesetzt, daß die Semantik, das Lexikon, die Syntax, die Morphologie und die Phonologie relativ selbständige Komponenten der Grammatik sind und ein hierarchisch gegliedertes System bilden. Demnach schließt die Grammatik als Mechanismus der wechselseitigen Zuordnung von Bedeutungsstrukturen und lautlichen bzw. graphischen Manifestationen sprachlicher Äußerungen die Semantik ausdrücklich ein. Trotz der scheinbaren Separierung der Semantik von den übrigen Komponenten der Grammatik geht es bei letzteren gerade darum, die sprachliche Kodierung semantischer Struktureinheiten, ihre Lexikalisierung, syntaktische Organisation, morphologische Ausformung und schließlich ihre physikalische Repräsentanz, zu explizieren, so daß die Semantik der Grammatik nicht gegenübersteht, sondern sie durchdringt. Als Konsequenz dieser Position ergibt sich die Überwindung der scharfen Trennung von lexikalischer und grammatischer Bedeutung12 und die Einbeziehung des Lexikons in die Grammatik als eine ihrer zentralen Komponenten. Insbesondere wird zu zeigen sein, welche Rolle der lexikalische Bestand einer Sprache bei der Materialisierung von Gedanken mit den Ausdrucksmitteln der natürlichen Sprache spielt und wie die einzelnen Komponenten der Grammatik in diesem sich ständig neu vollziehenden Akt zusammenwirken. Bei allen Unterschieden im Prinzip und im Detail gehen beide hier zu vergleichenden Grammatikmodelle, die IS und die GS, davon aus, daß die Grammatik die verschiedenen Strukturaspekte sprachlicher Äußerungen in Form von Strukturbeschreibungen expliziert. Jede Strukturbeschreibung ist eine Derivation D = (Pi, P2,..., Pr), d. h. eine Folge von miteinander in regulärer Weise verbundenen
12
(1967: 16f.) kritisiert die übertriebene Abgrenzun&grammatischer und lexikalischer Bedeutungen, die bisweilen sogar dazu führt, daß als eigentlicher Gegenstand der Semantik nur die lexikalischen Bedeutungen gelten, während die grammatischen außerhalb semantischer Untersuchungen bleiben. APRESJAN
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Generative Grammatik
Repräsentationen der Struktur einer sprachlichen Äußerung hinsichtlich der LautBedeutungs-Zuordnung. Entsprechend dem Aufbau und der Operationsweise der Grammatik gliedert sich jede Strukturbeschreibung in Teilfolgen, deren Anfangs- bzw. Endelemente insofern ausgizeichnet sind, als sie charakteristischen Strukturebenen angehören und jeweils spezifische, die möglichen Laut-Bedeutungs-Zuordnungen beschränkende Generalisierungen ausdrücken. Während sich diese markanten Repräsentationsstufen aus homogenen, für die jeweilige Strukturebene typischen Komponenten zusammensetzen, widerspiegeln die übrigen Elemente der Strukturbeschreibungen in der Heterogenität ihrer Struktureinheiten den schrittweisen Übergang von Strukturebene zu Strukturebene in der vermittelten Zuordnung von Bedeutungs- und Signalstrukturen.13 Auf der Grundlage der folgenden Skizze eines Grammatikmodells sollen die spezifischen Vorstellungen der IS und der GS über den Gesamtaufbau der Grammatik und das Zusammenwirken ihrer Komponenten in der Spezifizierung von Strukturbeschreibungen und der charakteristischen Strukturebenen sprachlicher Äußerungen verdeutlicht werden. Es soll gelten: (1.4.-1) UG)
=
{D:D
=
(/»!,...,
Pd,...,
P0,...,
Pp,...,
Pr)} ist die von der
Grammatik (G) spezifizierte Menge von Strukturbeschreibungen (Derivationen). Für jedes Element dieser Menge gilt (1.4.-2). (1.4.-2) D = (/>,,...,
Pd,...,
P0,...,
Pp,...,
Pr)
ist eine
Strukturbeschreibung
einer sprachlichen Äußerung, gdw.: (a) Alle bezüglich der Laut-Bedeutungs-Zuordnung Relevanten Strukturebenen, {£,.}, sind in D durch eine entsprechende Repräsentationsform, Pt, vertreten (i = 1, d, o, p, r). (b) Alle Pj entsprechen den Strukturvorschriften von G (1 r). (1.4.-3) Die hinsichtlich der Laut-Bedeutungs-Zuordnung relevanten Strukturebenen sprachlicher Äußerungen sind: die semantische Struktur, El = {P t } die syntaktische Tiefenstruktur, Ed = {P^} die syntaktische Oberflächenstruktur, E0 = {P0} die systematisch-phonemische Strukturebene, E p = die phonetische bzw. graphische Signalstruktur, Er = Die durch (1.4.-1) bis (1.4.-3) charakterisierte Grammatik G kommt der IS nahe. Die Grammatik der GS, G', ist durch die entscheidende Hypothese geprägt, daß die syntaktische Tiefenstruktur keine die Laut-Bedeutungs-Zuordnung ver13
Zur gegenseitigen Durchdringung der einzelnen Teilsysteme des Sprachsystems vgl. „Allgemeine Sprachwissenschaft" (1972/1975: II, 64).
256
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« « S« J1} in der GS und auf der Ebene der syntaktischen Tiefenstruktur Ed = {Pd} in der IS. (Vgl. (1.4.-3) und (1.4.-4).) Diese Repräsentationsformen, P1 in der GS und Pä in der IS, bilden die Anfangselemente der von diesen Grammatiken generierten Strukturbeschreibungen. Genauer: Sie bilden die Anfangselemente der durch Transformationsregeln determinierten Teilfolgen (P1,..., P0) in der GS und (Pd,..., P0) in der IS. Die Repräsentation von Sätzen auf der semantischen Ebene ist in der IS nicht nur nicht Anfangselement der Strukturbeschreibung, sondern ist in sie auf grundsätzlich andere Weise einbezogen als in der GS. Das Kernstück der IS ist die Syntax. Sie bildet gewissermaßen den Angelpunkt für die übrigen, die syntaktischen Strukturen morphologisch, phonologisch und semantisch interpretierenden Komponenten der Grammatik. Die semantische Interpretation syntaktischer Strukturen erfolgt durch Projektionsregeln, für die die syntaktische Tiefenstruktur ein wesentlicher Bezugspunkt ist. Nach dem Verständnis der IS setzen die Projektionsregeln unterschiedliche Eigenschaften sprachlicher Äußerungen widerspiegelnde Strukturen in Beziehung: semantische und syntaktische. Die entgegengesetzte Position der GS macht MCCAWLEY (1971c: 285) deutlich: „Semantic structures are claimed to be of the same formal nature as syntactic structures, namely labeled trees whose non-terminal node-labels are the same set of labels that appear in surface structure. The notions of a ,deep structure' which separates syntax from semantics and a distinction between transformations' and .semantic interpretation rules' are given up in favor of a single system of rules which relates semantic structure and surface structure via intermediate stages which deserve the name ,syntactic' no more and no less than .semantic'." Zu dieser sehr weitgehenden Relativierung der Unterscheidung zwischen Syntax und Semantik wird noch Stellung zu nehmen sein. Der These von der angeblichen Separierung der Syntax von der Semantik durch die von der IS postulierte syntaktische Tiefenstruktur muß entgegengehalten werden, daß man die Tiefenstruktur gerade als vermittelnde Übergangsstufe zwischen Einheiten zweier verschiedener Qualitäten, zwischen syntaktischen und semantischen Strukturbildungen, ansehen kann. Die Tiefenstruktur ist in der Laut-Bedeutungs-Zuordnung eine wichtige Integrationsstelle von Syntax und Semantik. Als syntaktische und lexikalische Invariante für mögliche unterschiedlich explizite synonyme Ausdrucksformen liegt die Tiefenstruktur den semantischen Interpretationsregeln zugrunde und bildet die Operationsbasis für syntaktische Trans-
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formationen. Sie ist eine hierarchisch gegliederte Struktur der lexikalischen Einheiten, die den jeweiligen Satz konstituieren, und resultiert aus der Basiskomponente der IS, d. h. aus der unmittelbaren Anwendung lexikalischer Transformationen auf die syntaktischen Basisstrukturen, die sich aus der Anwendung der syntaktischen Ersetzungsregeln ergeben. (Vgl. (1.4.-4) und die Ausführungen in den Abschnitten 2.2.3.1., 2.2.3.2. und 3.2.2.) „Wenn wir demnach .Tiefenstrukturen' als ,von der Basis-Komponente erzeugte Strukturen' definieren, so nehmen wir damit letzten Endes auch an, daß die semantische Interpretation eines Satzes nur von seinen lexikalischen Einheiten (lexical items) und den grammatischen Funktionen und Relationen abhängt, die in der zugrunde liegenden Struktur, in der sie auftreten, repräsentiert sind. Das ist die fundamentale Idee, die von Anfang an die M o t i v i e r u n g f ü r die T r a n s f o r m a t i o n s g r a m m a t i k w a r . " (CHOMSKY 1965/1970: 131)
Diese ausschließliche Fundierung der semantischen Interpretation auf die Tiefenstruktur ist kennzeichnend für die sogenannte Standardtheorie der IS19, während in der sogenannten Erweiterten Standardtheorie die semantische Interpretation in zunehmendem Maße auch Gegebenheiten der Oberflächenstruktur berücksichtigt.20 Ungeachtet dieser entscheidenden, in (1.4.-4) nicht ausgedrückten Modifikation ist hervorzuheben, daß die IS eine streng lexikalistische Position anstrebt (siehe JACKENDORF 1972), die sich u. a. in der Vorschrift äußert, daß alle lexikalischen Transformationen den syntaktischen Transformationen vorausgehen. Das besagt, daß die syntaktische Tiefenstruktur lexikalisch voll spezifiziert ist und somit alle an Lexikoneinheiten gebundenen Informationen der Laut-Bedeutungs-Zuordnung enthält und zwangsläufig zu einem wichtigen Angelpunkt für die interpretativen Komponenten der Grammatik wird.
2.2.3. Die Regeln der syntaktischen Strukturbildung in der Interpretativen Semantik 2.2.3.1. Syntaktische Ersetzungsregeln Die Funktion der syntaktischen Ersetzungsregeln der Basiskomponente der IS ist es, für die Konfigurationen, die lexikalische Einheiten in Sätzen eingehen, das Fundament zu legen. Die durch die Ersetzungsregeln erzeugten syntaktischen Basisstrukturen expli19 20
Siehe neben CHOMSKY ( 1 9 6 5 / 1 9 7 0 ) insbesondere KATZ, POSTAL ( 1 9 6 4 ) . Vgl. CHOMSKY (1971, 1972a und 1976) sowie JACKENDOFF (1972). Im Abschnitt 4 . gehen wir auf die unterschiedlichen Annahmen der IS über den Zusammenhang von Syntax und Semantik genauer ein.
Generative Grammatik
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zieren die Prinzipien der Syntagmenbildung in Form von Konstituentenstrukturbäumen. Sie stellen das syntaktische Bedingungsgefüge für die Einsetzung lexikalischer Einheiten, d. h. für die Anwendung lexikalischer Transformationen dar. Für die interpretativen Grammatikkomponenten ermöglichen sie die Bezugnahme auf syntaktische Konstituenten und Konstituentenkonstellationen. Zusammen mit den in sie als letzte Konstituenten eingesetzten lexikalischen Einheiten bilden sie die syntaktische Tiefenstruktur, die unmittelbare Operationsdomäne für syntaktische Transformationen und Projektionsregeln. Es ist hier nicht der Platz, die verschiedenen Vorstellungen zu diskutieren, die im Rahmen der IS für die syntaktischen Ersetzungsregeln der Basiskomponente entwickelt wurden. Die Kardinalfrage ist, was auf der Ebene der Tiefenstruktur als syntaktische Kategorie zu gelten hat. Das verlangt zu beantworten, wie abstrakt, d. h. von der syntaktischen Oberflächenstruktur entfernt, syntaktische Basisstrukturen aufzufassen sind und wie semantikhaltig sie sind. In den letzten 15 Jahren zeichnete sich eine immer stärkere Ausrichtung der auf dem CHOMSKYschen Modell basierenden Grammatikforschung auf die Semantik ab. Ein repräsentativer Beleg für die erste Phase dieser Entwicklung, die semantische Durchdringung der Syntax unter Beibehaltung der Semantik als interpretativer Komponente, ist eine Monographie von R. T. LAKOFF (1968). Zur Beschreibung und Erklärung universeller Eigenschaften der verschiedenen Sprachen, historischen Sprachzustände und sozialen Sprachschichtungen wird in dieser Arbeit von sehr abstrakten Basisstrukturen ausgegangen, die sich aus einem gegenüber dem Standardmodell von CHOMSKY erheblich reduzierten Inventar syntaktischer und lexikalischer Kategorien aufbauen und in den Endketten auch abstrakte lexikalische Einheiten ohne phonologische Repräsentanz enthalten. Diese dienen der Aufgliederung semantisch komplexer Prädikate, ermöglichen die einheitliche Darstellung zahlreicher semantisch begründeter Gemeinsamkeiten einfacher und zusammengesetzter Sätze und spielen als Elemente der entsprechenden Lexemklassen für die Verallgemeinerung und semantische Motivierung der lexikalisch regierten Transformationsregeln eine wesentliche Rolle. Solche den semantischen Repräsentationen von Sätzen weitgehend angenäherten syntaktischen Tiefenstrukturen führten schließlich zu der Konsequenz, daß ihnen die Geltung als zwischen Semantik und Syntax vermittelnde Repräsentationsstufe aberkannt wurde und die Grammatik als semantisch basiert angesehen wird. Dies ist die Position der GS. Daß bei dieser Umorientierung die Syntax weitgehend abhanden gekommen ist, zeigt u. a. die von der GS bisher nicht beantwortete Frage, wie in der Zuordnung der Bedeutungsrepräsentation und der Oberflächenstruktur von Sätzen die syntaktischen Kategorien zu gewinnen sind. (Vgl. unsere Erörterungen zu diesem Problem im Abschnitt 5.2.) Eine entgegengesetzte Entwicklung ist für die IS zu verzeichnen. Besonders für
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die Erweiterte Standardtheorie ist eine zunehmende Annäherung der syntaktischen Tiefenstruktur an die syntaktische Oberflächenstruktur charakteristisch. Wie im vorigen Abschnitt bereits angedeutet wurde, unterscheiden sich die Tiefen- und die Oberflächenstruktur nicht in den lexikalischen Einheiten, denn die zwischen ihnen vermittelnden syntaktischen Transformationen sind nichtlexikalische Regeln. Ferner besteht Übereinstimmung in den syntaktischen Kategorien, da die Beschränkung gilt, daß Transformationen weder neue Kategorien einführen noch Umkategorisierungen bewirken können. Das bedeutet, daß die syntaktischen Basisstrukturen alle syntaktischen Kategorien enthalten, die in der jeweiligen Sprache eine Rolle spielen. Entscheidend für die Annäherung der Tiefenstruktur an die Oberflächenstruktur ist auch die von CHOMSKY initiierte nichttransformationelle, lexikalistische Behandlungsweise von Wortbildungen. 21 Wenn Wortbildungen über das Lexikon in die Satzstrukturen integriert werden, bedeutet dies, daß derivationell verwandte Wörter wie destroy und destruction schon auf der Ebene der syntaktischen Tiefenstruktur in verschiedene Syntagmentypen eingehen. Das heißt, daß Sätze wie The enemy destroyed the town und Nominalphrasen wie the destruction of the town by the enemy keine gemeinsame Tiefenstruktur haben und zwischen ihnen keine transformationelle Beziehung besteht. Die syntaktischen Ersetzungsregeln müssen die Parallelitäten solcher verwandter Syntagmen widerspiegeln. Wie die morphologische, syntaktische und semantische Verwandtschaft solcher Konstruktionen zu erfassen ist, bedarf einer gründlichen Prüfung. Auf die von CHOMSKY (1970) vorgeschlagene und von JACKENDOFF (1974a) weiterentwickelte sogenannte XKonvention, die einen neuen Typ von Generalisierungen bezüglich syntaktischer Strukturtypen darstellt, sowie auf die von JACKENDOFF (1975) aufgestellten lexikalischen Redundanzregeln können wir hier nicht eingehen.22 Ein weiteres Kennzeichen des sich in der IS vollziehenden Klärungsprozesse ist, daß die syntaktischen Basisregeln keine Subkategorisierungen vornehmen, wie sie in den frühen Arbeiten zur TG vorgesehen waren. 23 Was ein transitives oder intransitives Verb ist, bringen die syntaktischen Basisstrukturen deutlich zum Ausdruck, so daß indizierte Kategorien wie Vtr, Vintr usw. resp. entsprechende strikte Subkategorisierungsmerkmale wie [ + NP], [ + ] usw. in den syntaktischen Basisstrukturen redundante Angaben sind. Als Merkmale von Lexikoneinheiten dagegen haben sie eine klassifizierende und die lexikalische Einsetzung regulierende Funktion. (Siehe dazu unsere Ausführungen im Abschnitt 3.2.2.) Auch selektionelle Markierungen wie [ + [ + Abstr] Aux Det [+ Belebt]] als Vorschrift für die Besetzung des Subjekts und des Objekts z. B. für frighten 21 22 23
Vgl. LEES (1960) vs. CHOMSKY (1970) und JACKENDOFF (1972, 1974a und 1975). Zum Parallelismus verbaler und substantivischer Konstruktionen vgl. ZIMMERMANN (1983). Vgl. CHOMSKY (1957, 1965/1970), BIERWISCH (1963) und viele andere.
Generative Grammatik
265
entfallen in der Syntax und werden als semantische Kontextbedingungen im Lexikon verankert und bei der semantischen Interpretation zum Tragen gebracht. Ganz allgemein läßt sich sagen, daß die syntaktischen Basisstrukturen von allen semantischen Kategorien und Merkmalen gereinigt sind und auch keine syntaktischen Pseudokategorien wie Lokal, Temporal, Art und Weise als Adverbialtypen mehr aufweisen. 24 Die von den Ersetzungsregeln erzeugten Basisstrukturen sind relativ konkrete, rein syntaktische Strukturen. Sie sind die am weitesten gehenden Generalisierungen syntaktischer Strukturbildung und markieren die Domänen, innerhalb deren sich die syntaktische Variabilität sprachlicher Äußerungen bewegt. Was sie als syntaktische Invariante zur semantischen Interpretation von Sätzen beitragen, werden wir im Abschnitt 4. beleuchten. Das unter (2.2.3.1.-1) angegebene Fragment einer Phrasenstrukturgrammatik und die dazu in (2.2.3.1.-2) und (2.2.3.1.-3) angeführten Beispiele für die syntaktische Tiefenstruktur von Sätzen und Nominalphrasen des Englischen sollen das Gesagte verdeutlichen und als Bezugspunkte für die Ausführungen in den folgenden Abschnitten dienen. (2.2.3.1.-1)
(c) VP -» (have en) (be ing) (AdvP) V (NP) (d) AP — (AdvP) A (PP) (PP) (e) AdvP — (AdvP) Adv (PP) (f) PP
(h) Nom
24
(AdvP) P (NP) (PP)
(AP) N (PP)
Vgl. JACKENDOFF (1972: 106) vs. CHOMSKY (1965/1970: 107).
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R. Pasch/I. Zimmermann
Die Ersetzungsregeln25 basieren auf den Vorstellungen, die JACKENDOFF (1972: 106) und insbesondere (1974a: 17f., 26f., 42ff.) bezüglich der syntaktischen Basisstrukturen englischer Sätze im Rahmen der Erweiterten Standardtheorie einer TG entwickelt hat. Die durch dieses System von Regeln erzeugbaren Satzstrukturen sind das Fundament für die unendliche Menge möglicher Sätze beliebiger Komplexität. (2.2.3.1.-2)
John
have
en
lose the
race
[ i fear * in all probability ' I evidently
(2.2.3.1.-3)
the famous 25
doctor's careful examination
of
John
Die in den Ersetzungsregeln verwendeten Kategoriensymbole sind wie folgt zu interpretieren: A = Adjektiv, Adv = Adverb, AdvP = Adverbialphrase, AP = Adjektivphrase, Art = Artikel, Aux — Auxiliarkomplex, N — Substantiv, Nom - Nominalkomplex, NP = Nominal-
267
Generative Grammatik
Die Syntagmen VP, AP, Nom, PP und AdvP bilden deutlich head-modifierKonstruktionen: Die lexikalischen Kategorien V, A, N, P und Adv sind die jeweiligen heads. Ein Vergleich der Regeln (c), (d) und (h) zeigt, daß NP weitgehend parallel zu VP und AP zusammengesetzt sind. Mehr noch : Sie weisen eine große Ähnlichkeit zu Sätzen auf, denn auch die Subjektphrase ist, wie der Vergleich von (a) und (g) deutlich macht, in sie einbeziehbar. Dies ist eine sich in den syntaktischen Basisstrukturen niederschlagende Konsequenz aus der oben bereits angedeuteten nichttransformationellen Behandlung von Wortbildungen, im vorliegenden Fall von Nominalisierungen. Die syntaktischen Basisstrukturen erlauben auch, Funktionen von Satzgliedern wie „Subjekt", „Objekt", „Prädikativ" usw. konfigurationell zu bestimmen. (Vgl. CHOMSKY 1965/1970: 73—78 und JACKENDOFF 1974a: 14ff„ 25f.) Generell sind die in den syntaktischen Basisstrukturen festgelegten Dominanzverhältnisse sowie Ko-Konstituentenschaft und lineare Abfolge wesentliche Bezugspunkte für die lexikalischen und syntaktischen Transformationen und auch für die semantische Interpretation. Wie die Einsetzung lexikalischer Einheiten in die syntaktischen Basisstrukturen erfolgt, werden wir im Abschnitt 3.2.2. zeigen. Im folgenden Abschnitt wird zu erörtern sein, welche Funktion die syntaktischen Transformationen in der LautBedeutungs-Zuordnung sprachlicher Äußerungen haben und inwiefern sie bedeutungsbewahrend sind bzw. welche semantischen Faktoren bei der transformationellen Abwandlung von Tiefenstrukturen eine Rolle spielen. 2.2.3.2.
Syntaktische
Transformationen
Das Kernstück der TG bilden die Transformationen. Sie beinhalten einen wesentlichen Teil der Regularitäten, die die vermittelte Beziehung von Laut- und Bedeutungsstrukturen sprachlicher Äußerungen ausmachen; sie sind fundamentale Hypothesen über den Charakter dieses komplizierten Zusammenhangs von Inhalt und Ausdruck. phrase, P = Präposition, PP — Präpositionalphrase, 5 = Satz, V — Verb, VP = Verbalphrase. Die unter Aux und VP figurierenden Morpheme sind Vorgriffe auf die Morphologie, die in der generativen Grammatik amerikanischer Prägung nicht zufällig in die Syntax einverleibt ist: ing ist das Suffix der „gerundive nominals" resp. der „progressive form", en bildet Partizipialformen. Daß die Hilfsverben have und be keinen syntaktischen Status als Verben haben, ist kaum zu rechtfertigen. Wir betrachten die Repräsentation all dieser Formative als provisorische Hinweise auf bestimmte paradigmatische und syntagmatische Beziehungen im Bereich der Morphologie des Englischen. Auch die Konstituenten Tense und Modal im Auxiliarkomplex sind als Provisorien anzusehen.
268
R. Pasch/I. Zimmermann
Entscheidend für die Entstehung der TG war die Erkenntnis, daß Konstituentenstrukturregeln allein nicht gestatten, die strukturelle Verwandtschaft sprachlicher Äußerungen durch geeignete Generalisierungen zu erfassen.26 Transformationen sind Regeln, die die gegenseitige Zuordnung von Basisstrukturen und Oberflächenstrukturen von Sätzen ermöglichen, indem sie deren Konstituentenstruktur schrittweise — jeweils entsprechend einer bestimmten Struktureigenschaft von Äußerungen — abwandeln. Im Unterschied zu den Formationsregeln, den Knotenzulässigkeitsbedingungen der GS und den Ersetzungsregeln der IS, sind Transformationen strukturabhängige Regeln27, die als lokale Derivationsbeschränkungen die zu einer Strukturbeschreibung (Derivation) eines Satzes gehörenden Konstituentenstrukturbäume (phrase markers) aufeinander beziehen. (Vgl. unsere Festlegungen (1.4.-1)—(1.4.-4).) Eine durch Transformationen spezifizierte Teilfolge von Konstituentenstrukturbäumen (P., Pl+l, ... , P„-i, P„) repräsentiert die transformationeile Ableitung, d. h. die Transformationsgeschichte, des betreffenden Satzes. Jede Transformation besteht aus einer Vorschrift für die strukturelle Analyse der Ausdrücke, auf die die betreffende Regel anwendbar ist, und aus der Angabe der strukturellen Veränderungen, die Pj von Pj_1 (i < j ^ n) unterscheiden.28 Entsprechend der Art und der Anzahl der in einer transformationeilen Derivation explizierten Strukturunterschiede mißt sich in der IS der Abstand zwischen der syntaktischen Tiefenstruktur und der syntaktischen Oberflächenstruktur von Sätzen und damit auch die relative Nähe transformationeil verwandter sprachlicher Ausdrücke zu ihrer gemeinsamen tiefenstrukturellen Basis. Als transformationell verwandte Äußerungen gelten in der IS Ausdrucksvarianten, die (weitgehend) identische syntaktische Tiefenstrukturen, d. h. Basisstrukturen mit übereinstimmenden lexikalischen Formativen und grammatischen Relationen haben. Die syntaktische Tiefenstruktur ist gewissermaßen das tertium comparationis für die in einer Sprache möglichen syntaktischen Ausdrucksvarianten, deren Bezug auf die Tiefenstruktur die syntaktischen Transformationen spezifizieren. In der Entwicklung der TG sind insbesondere von Vertretern der IS nicht geringe Anstrengungen unternommen worden, um den sehr ausdrucksstarken Apparat der Transformationen entsprechend den abzubildenden Eigenschaften der natürlichen Sprache einzuschränken. In diesem Zusammenhang sind vor allem die Arbeiten von Ross (1967 a), CHOMSKY (1973) und (1976), CHOMSKY und LASNIK (1977) sowie von EMONDS (1976) zu erwähnen. Bei dieser Suche nach einem fest umrissenen, an linguistischen Fakten orientierten Begriff der zulässigen Transformation ist sehr deutlich geworden, daß solche Festlegungen in hohem Maße von den 26 27 28
Zu den Grenzen der Konstituentenstrukturgrammatik siehe CHOMSKY (1957: 34ff.). Siehe CHOMSKY (1957: 35ff. und 1965/1970: 61, 92). Siehe CHOMSKY, MILLER (1963: 301 f.).
Generative Grammatik
269
durch die betreffenden Regeln erfaßten Strukturaspekten sprachlicher Äußerungen abhängen und nicht selten mit Modifikationen in anderen Teilbereichen der Grammatik verbunden sind. Zwei solcher Beobachtungen seien hier skizziert. E M O N D S vertritt das Prinzip der strukturerhaltenden Transformationen. Es besagt, daß für zyklische, nichtlokale Transformationen nur solche strukturellen Veränderungen zulässig sind, die im Rahmen der durch die Formationsregeln festgelegten syntaktischen Konfigurationen bleiben. (Siehe E M O N D S 1976: lff., 65ff, 153.) Die Passivtransformation erfüllt diese Bedingung: Eine Subjekt-TVP, d. h. eine NP unter der unmittelbaren Dominanz von S, ist als syntaktische Position in den Ersetzungsregeln vorgesehen und kann von einer durch die Passivtransformation in diese Position gebrachten NP eingenommen werden. Das gleiche gilt für die Agensphrase, die im Englischen und Deutschen im Passiv als Präpositionalphrase unter der unmittelbaren Dominanz von VP auftritt, eine Position, die die Ersetzungsregeln zulassen. (Vgl. die in (2.2.3.1.-1) angegebenen Ersetzungsregeln.) Das Prinzip der Strukturerhaltung versagte jedoch, wenn man — wie in der Kasusgrammatik von FILLMORE (1968 a) — die Subjektauswahl als Transformation ansähe.29 Diese Regel wäre eine nichtlokale, zyklische Transformation, für die also das Prinzip der Strukturerhaltung gelten müßte. Es könnte nur beibehalten werden, wenn die Ersetzungsregeln die Position des Subjekts in irgendeiner Weise markierten. Eine solche Markierung bedürfte — soll es sich nicht um ein ad hoc-Verfahren handeln — der Rechtfertigung. Oder anders herum: Es müßte begründet werden, warum die Subjektwahl zu dem Prinzip der Strukturerhaltung im Widerspruch steht. In dem streng syntaktisch motivierten Grammatikmodell von E M O N D S ergibt sich der erwähnte Widerspruch nicht, weil in den Formationsregeln eine Subjektauswahl verankert ist und somit bereits in den Basisstrukturen eine Subjektposition vorgesehen ist. Die zweite Beobachtung bezieht sich auf einen besonderen Typ von Transformationen, ohne die die GS nicht ohne weiteres auszukommen scheint: die sogenannten Senkungstransformationen. Sie sind u. a. erforderlich, wenn OperatorOperand-Beziehungen zwischen bestimmten semantischen Einheiten in den Basisstrukturen der GS durch Einbettung des Operanden in eine übergeordnete pseudopropositionale Struktur mit dem jeweiligen Operator als Pseudoprädikat ausgedrückt werden. So behandelt die GS die Negation und quantifizierende Einheiten als Prädikate übergeordneter Propositionen und ordnet sie transformationell durch entsprechende Senkungsoperationen in die Operandstrukturen ein, auf die sie sich beziehen.30 Die IS benötigt solche unnatürlichen Regeln nicht und schließt sie durch entsprechende Konventionen über zulässige Transformationen 29
Vgl. auch ZIMMERMANN (1978a).
30
Vgl. u . a . G . LAKOFF ( 1 9 6 9 , 1 9 7 1 a ) u n d d i e k r i t i s c h e n S t e l l u n g n a h m e n v o n JACKENDOFF (1971 a ) , CHOMSKY ( 1 9 7 2 a ) s o w i e a u c h v o n KANNGIESSER u n d LINGRÜN ( 1 9 7 4 a ) .
270
R. Pasch/I. Zimmermann
aus. Solche Beschränkungen sind möglich, weil in der IS Operator-OperandBeziehungen durch die semantische Interpretation syntaktischer Konfigurationen sprachlicher Ausdrücke erfaßt werden und — im Gegensatz zur GS — zwischen der semantischen Repräsentation von Sätzen und ihrer syntaktischen Oberflächenstruktur keine transformationelle Zuordnung postuliert wird. (Siehe unsere Ausführungen in den Abschnitten 2.2.2. und 4.3.) Durch die prinzipielle Unterscheidung zwischen Semantik und Syntax verfügt die IS über einen streng begrenzten, syntaktischen Transformationsbegriff und ist in der Lage, ohne pseudosyntaktische Repräsentationen semantischer Gegebenheiten — wie die Hierarchisierung von Adverbialen durch jeweils übergeordnete Sätze bei G. LAKOFF (1968 a) oder die Darstellung der intentionalen Modalität in Hypersätzen u. a. bei Ross (1968) und bei SADOCK (1969a, 1969b)31 — auszukommen. Die entsprechenden künstlichen transformationellen Operationen zur Auflösung der Hypersätze in den in sie eingebetteten Sätzen entfallen. Die jeweils angemessene semantische Struktur von Sätzen kommt in der IS durch die semantische Interpretation der betreffenden Formative und Konstituentenkonstellationen zustande. (Siehe unsere Darlegungen im Abschnitt 4.3.) Einen entscheidenden Schritt in der Entwicklung der TG bedeutet die von CHOMSKY (1970) eingeleitete lexikalistische, nichttransformationelle Behandlung von Wortbildungen. Dieser Grammatikkonzeption zufolge werden — wie im vorigen Abschnitt bereits erwähnt — die Parallelitäten von Sätzen und Nominalphrasen mit derivationell verwandten lexikalischen Ausdrucksmitteln nicht durch syntaktische Transformationen — wie bei CHOMSKY (1957: 88f., 1965/1970: 173 ff.) und vor allem bei LEES (1960) und VENDLER (1964) — abgebildet, sondern als Beziehungen zwischen lexikalischen Einheiten verstanden. In verallgemeinerter Form heißt das: Es gibt in der IS keine Transformationen, die Wortbildungen erzeugen, und die Übereinstimmung derivationell verwandter Wörter hinsichtlich phonologischer, morphologischer, syntaktischer und semantischer Merkmale wird in lexikalischen Redundanzregeln erfaßt. (Siehe dazu vor allem JACKENDOFF 1975.) Demnach stehen die unter (2.2.3.2.-1) resp. (2.2.3.2.-2) angeführten sprachlichen Ausdrücke in keinem transformationellen Ableitungsverhältnis zueinander. Jede dieser Äußerungen (2.2.3.2.-1) (a) It is probable that John has lost the race. (b) John probably has lost the race. (c) In all probability, John has lost the race. 31
Siehe auch LEWIS (1970) und G. LAKOFF (1974b). Es ist bemerkenswert, daß bereits KATZ und POSTAL (1964: 149, Anm. 9) erwogen, die intentionale Modalität durch Hypersätze zu repräsentieren, um diesbezügliche semantische Parallelitäten einfacher und eingebetteter Sätze zu erfassen und in verallgemeinerter Form darzustellen, wie es dann R. T. LAKOFF (1968) — in der die Entwicklung der GS vorbereitenden Phase der abstrakten Syntax — tat.
271
Generative Grammatik
(2.2.3.2.-2) (a) The famous doctor carefully examined John. (b) the famous doctor's careful examination of John hat ihre eigene syntaktische Tiefenstruktur; für (2.2.3.2.-1 b) und (2.2.3.2.-1 c) ist es (2.2.3.1.-2), für (2.2.3.2.-2b) ist es (2.2.3.1.-3). Und die derivationell verwandten Wörter probable, probably und probability resp. examine und examination sind separate, durch entsprechende lexikalische Redundanzregeln verbundene Lexikoneinheiten. Gemäß ihrer syntaktischen Kategorisierung werden sie in die syntaktischen Basisstrukturen eingesetzt. Unter den in der IS zulässigen syntaktischen Transformationen nehmen Umordnungen (Permutationen) von Konstituenten einen großen Raum ein. Beispielsweise können Satzadverbiale wie probably oder in all probability — wie in (2.2.3.2.-3) durch Leerstellen angedeutet — verschiedene Positionen im Satz einnehmen. (2.2.3.2.-3) _____ John has lost the race . Dabei entspricht die Endstellung der für diese Ausdrücke in der syntaktischen .Tiefenstruktur vorgesehenen Position. Andere Stellungen kommen transformationeil zustande, wie auch in (2.2.3.2.-1 b) und (2.2.3.2.-1 c). Einen besonderen Platz unter den Permutationen nehmen diejenigen ein, die von anderen strukturellen Veränderungen begleitet sind. Diese sind die Folge von veränderten syntaktischen Dominanzverhältnissen und damit häufig auch von syntaktischem Funktionswechsel. Die Passivtransformation, die CHOMSKY ( 1 9 7 0 und 1976) auch auf den Bereich von Nominalphrasen ausgedehnt hat, ist ein Beispiel dafür. Die in (2.2.3.2.-4) für Sätze und in (2.2.3.2.-5) für Nominalphrasen angegebenen weitgehend parallelen Strukturen zeigen die schrittweise AbWandlung der jeweiligen Ausgangsstrukturen an. (2.2.3.2.-4) (a) [s[NPThe famous doctor] [XuxTense] [vpcarefully examine [NPJohn] [pPÄy[NPe]]]] (b) ¿[we] [XuxTense] [VPcarefully examine [NPJohn] \ppby [NPthe famous doctor^ (c) [s[NPJohn] [^uITense] [VPbe en carefully examine [OTe] [ppby[NP the famous doctor^ (2.2.3.2.-5) (a) [NP[NPthe famous doctor] [Nomcareful examination [ppoAspJohn]] [fPby[NPt)]]] b ( ) [jwU>e] lNomcareful examimtion[ppoJ[NpJohn]] \ppby[NPthe famous doctor]]]] ( c ) [Np[NPJohn]
[Nomcareful
examinationlppoftxpe]]
[pPby[NPthe famous doctor^]
272
R. Pasch/I. Zimmermann
(2.2.3.2.-4c) repräsentiert — abgesehen von der noch erforderlichen Permutation der die Passivierung der Verbform anzeigenden Formative be und en — die syntaktische Oberflächenstruktur des (2.2.3.2.-2a) entsprechenden Satzes im Passiv, John was carefully examined by the famous doctor. (2.2.3.2.-5b) und (2.2.3.2.-5c) kommen der syntaktischen Oberflächenstruktur der nominalen Ausdrücke the careful examination of John by the famous doctor32 resp. John's careful examination by the famous doctor sehr nahe. Die unter (a) skizzierten Ausgangsstrukturen weichen von den dem Aktiv entsprechenden Ausdrücken durch die Präpositionalphrase [pp£y|jvj>e]] ab, die die für das Passiv typische Umordnung von Nominalphrasen gewissermaßen vorprogrammiert, indem sie die Position und die Form der im ersten Schritt zu postponierenden Agensphrase anzeigt.33 Auch die Präponierung der Objektphrase 34 ist vorgezeichnet: Sie erfolgt in die ursprüngliche Position des postponierten Subjekts, die als dessen Spur in Form der leeren Kette e markiert ist. Somit nehmen die in der Passivtransformation permutierten Nominalphrasen in der Satzstruktur Plätze ein, die in den syntaktischen Formationsregeln vorgesehen sind und für die jeweilige transformationelle Umorganisierung durch [vPe] als besetzbare Position gekennzeichnet sind. Das ist das von EMONDS ( 1 9 7 6 ) vorgeschlagene Verfahren der Strukturerhaltung als Beschränkung für nichtlokale, zyklische Transformationen, zu denen die beiden Operationen der Passivbildung gehören. Beide transformationellen Abwandlungen sind fakultativ. 35 Das bedeutet, daß die in (2.2.3.2.-4a), (2.2.3.2.-4b) und (2.2.3.2.-5a) angegebenen Strukturen an einer bestimmten Stelle des Regelmechanismus der IS als nicht wohlgeformte, 32
33
34
35
Bezüglich der Regularitäten für das Auftreten des Artikels, von Demonstrativpronomen und von Quantorenausdrücken verweisen wir auf die Beobachtungen von CHOMSKY (1970: 36fT.), JACKENDOFF (1974a: 32FF.) und EMONDS (1976: 101 ff.). Höchstwahrscheinlich muß die entsprechende syntaktische Formationsregel — vgl. (2.2.3.1.-lg) — dahingehend modifiziert werden, daß u. a. der Artikel und eine NP in der syntaktischen Basisstruktur als pränominale Ko-Konstituenten auftreten können. Zu den in (2.2.3.1.-1) angeführten syntaktischen Formationsregeln der IS muß ergänzt werden, daß sie fakultativ sind und an jedem beliebigen Punkt abgebrochen werden können. Per Konvention dominieren alle präterminalen Kategorien die leere Kette e, die durch passende Lexikoneinheiten ersetzt werden kann. Da die lexikalische Ersetzung (siehe Abschnitt 3.2.2.) ihrerseits fakultativ ist, entsteht die für die Agenspostponierung erforderliche präformierte Struktur [pFby [j^e]] unter der Dominanz von VP resp. Nom als eine mögliche Realisierung der Basisstrukturregeln. Im Englischen kann auch die NP einer (adverbiellen) Präpositionalphrase zum Subjekt in passivierten Sätzen werden, wie das Beispiel von JACKENDOFF (1974a: 30) This bedhas beert slept in by an infamous Violinist andeutet. Die JVP-Präponierungsregel (2.2.3.2.-7) berücksichtigt diese Möglichkeit. Zu der Möglichkeit, einen großen Teil der Transformationen als fakultative Regeln zu bet r a c h t e n , s i e h e CHOMSKY, LASNIK ( 1 9 7 7 : 4 3 1 u n d 4 8 7 f f . ) .
273
Generative Grammatik
semantisch nicht interpretierbare Ausdrucksstrukturen ausgefiltert werden müssen, für den Fall, daß die mit der Passivbildung verbundenen Umordnungen unterbleiben. In (2.2.3.2.-5b) und (2.2.3.2.-5c) zeigt die leere Kette e, ohne daß sie ersetzt wurde, die ursprüngliche Position einer permutierten Nominalphrase an, was für die Identifizierung grammatischer Funktionen und Relationen bei der semantischen Interpretation von Wichtigkeit ist, wie wir weiter unten und im Abschnitt 4.3. noch sehen werden. In Anlehnung an JACKENDOFF (1974a: 3 0 ) können die für die Passivbildung charakteristischen Transformationen in Anwendung sowohl auf Sätze wie auch auf entsprechende Nominalphrasen folgendermaßen formuliert werden: (2.2.3.2.-6)
==>
Agenspostponierung
e— 2 —
(2.2.3.2.-7)
=> 5 - 2 -
3
- 4 -
NP-Präponierung
j
+
5-
1
-7
-
4
-
36
3
e - 6
Passivierung im Sinne der traditionellen Grammatik vollzieht sich — wie die Regeln deutlich machen — nur in der Domäne von Sätzen und zwar nicht nur als Funktionswechsel von Nominalphrasen, sondern als dessen Begleiterscheinung auch durch Markierung des passivischen Genus verbi. Die dem Verb und seiner möglichen adverbiellen Ergänzung links adjungierten Formative be und er?1 36
37
In der strukturellen Beschreibung der Agenspostponierung und der JVP-Präponierung müssen sich die Zeilen in den geschweiften Alternativklammern entsprechen. Die indizierten spitzwinkligen Klammern in der A7>-Präponierung zeigen strukturelle Entsprechungen in den durch diese Regel in Beziehung gesetzten Ausdrucksstrukturen an. Die Kategorien Verb (V) und Substantiv (N) sind in den Regeln durch lexikalische Merkmale, [ + V ] resp. [ + N ] , repräsentiert. Vgl. die entsprechende Verankerung der Formative, die Aspektunterschiede ausdrücken, durch die in (2.2.3.1 .-lc) zusammengefaßten syntaktischen Formationsregeln. Gemäß den von JACKENDOFF (1972: 73ff.) vorgeschlagenen Regeln befinden sich alle nichtmodalen Auxiliarverben zunächst unter der Dominanz von VP. Das äußerste linke Auxiliarverb wird transformationell unter die Dominanz von Aux gebracht, sofern in dieser Position kein anderes Verb (do oder ein Modalverb) steht. Durch diese Lösungen wird den spezifischen Stellungsmöglichkeiten von Satz- und KP-Adverbialen sehr weitgehend Rechnung getragen. Vgl. auch die Annahmen von EMONDS (1976: 207ff.) zur Syntax der Modal- und Hilfsverben.
18 Viehweger, Semantikforschung
274
R . Pasch/I. Z i m m e r m a n n
zeigen dies an. Es ist bemerkenswert, daß die Einführung dieser die Passivform des Verbs kennzeichnenden Formative in Verbindung mit der NP-Präponierung erfolgt. In slawischen Sprachen, z. B. im Russischen und Tschechischen, tritt — unter genauer zu spezifizierenden Bedingungen38 — gewissermaßen als Reflex der zum Subjekt erhobenen Objektphrase — das Reflexivelement sja resp. se auf. Vgl. die folgenden Beispiele: (2.2.3.2.-8) (2.2.3.2.-9)
3eMAH cozpeeaemcn Noviny
se tisknou
coAHtfeM.
v
noci.
In der Domäne von Nominalphrasen spiegeln sich die den passivischen Satzstrukturen entsprechenden Permutationen der Agens- und Objektphrase und die damit verbundene Umverteilung der syntaktischen Funktionen. Diese in den Transformationsregeln (2.2.3.2.-6) und (2.2.3.2.-7) ausgedrückten Parallelitäten in der Strukturierung von Sätzen und Nominalphrasen gelten nicht nur fürs Englische, sondern analog auch für andere Sprachen, z. B. fürs Deutsche und Russische. Es ist wichtig, zu betonen, daß die syntaktischen Formationsregeln (2.2.3.1.-1) und die Transformationen (2.2.3.2.-6) und (2.2.3.2.-7) auf den Formenbestand der englischen Sprache zugeschnitten sind. Es ist garantiert, daß die lexikalischen Transformationen den nichtlexikalischen vorausgehen und daß strukturbauende Transformationen nicht erforderlich sind. Deshalb sind u. a. Präpositionalphrasen mit den in ihnen auf Grund semantischer oder konfigurationeller Gegebenheiten typischerweise auftretenden Präpositionen schon in der syntaktischen Tiefenstruktur repräsentiert, wie die in (2.2.3.2.-4)—(2.2.3.2.-7) angeführten Beispiele und Regeln deutlich zeigen. Im folgenden sollen noch der zyklische Charakter der hier näher betrachteten Regeln der Agenspostponierung und der JVP-Präponierung und ihr Zusammenwirken mit anderen Transformationen beleuchtet werden. Wir bedienen uns dabei im Rahmen des hier erläuterten Regelapparats eines von CHOMSKY (1965/1970: 125 ff.) mit seiner Transformationsgeschichte vorgeführten Beispielsatzes, (2.2.3.2.-10). (2.2.3.2.-10)
The man who persuaded
John
to be exctmined
by a specialist
was
fired.
Die syntaktische Tiefenstruktur und die syntaktische Oberflächenstruktur dieses Satzes sind in (2.2.3.2.-11 a) und (2.2.3.2.-11 b) skizziert. (2.2.3.2.-11) (a) [s.UpeH^Tense] [vp[vflre\ [NP[Anthe] L U P w A ° ] Lii«Tense] [yp[vpersuade] [pp[pof\ 38
LvpUme]
[sjMw*]
Siehe u. a. RÖZIÖKA (1965, 1968).
[Nom[Nman]] [w[Nom[N
Uomlxspecialist]]]
John]]]
Generative Grammatik
275
[ÄUM [rp[vexamine]
[ NP e] [pp[pby] Lvpe]]]S3]]]]
s 2 ]] b-pipby] LvPe]]]Si]39 (b) hi^NphrAe] [vp[vpersuade] [rPen[vexamine]
[NoJjiman]] [S2\Npwho\ UpUmLv/oA«]]]^,^]
[^Tense] [Auxto be]
[ NP e] [¡.^by] [NP[Arta] [Nom
[ N i/)eciafoi]]]]] S3 ,]] S2 ,]] ^ . « T e n s e be] [vpen [vfir*\ Upel \fp\pby]
Ue]]]Sr]
Wie das Beispiel zeigt, weisen der Hauptsatz und die in den Relativsatz eingebettete Infinitivkonstruktion teilweise die gleichen transformationeilen Veränderungen auf. D a s heißt, daß die betreffenden Transformationen auf jede dieser Satzstrukturen anzuwenden sind und zwar fortschreitend von der kleinsten möglichen Anwendungsdomäne bis hin zur umfassendsten. Zyklische Transformationen sind diejenigen, die diesem Anwendungsprinzip folgen und Strukturbeziehungen beinhalten, die nicht nur für Hauptsätze resp. sogenannte root sentences 40 gelten. Folgende Transformationen werden in den drei Regelzyklen auf Sv S2, S3 unseres Beispiels angewendet: S 3 : (a) (b) (c) S2: (d) 39
40
41
18'
Agenspostponierung NP-Präponierung Hebung des Hilfsverbs be unter die Dominanz von Aux Präponierung der Phrase mit dem Relativpronomen. Diese Regel läuft hier leer, da das betreffende Syntagma in S2 bereits Anfangsstellung hat. 41
Der Hauptsatz, S p hat ein unspezifiziertes Agens, repräsentiert durch die leere Kette e, die die semantischen Regeln entsprechend interpretieren. Auch das Objekt in S 3 , das mit dem Objekt von S2 den gleichen Referenten hat, ist durch die leere Kette e vertreten, die ebenfalls einer entsprechenden semantischen Interpretation bedarf. Wir kommen im Abschnitt 4.3. darauf zurück. Der in das Präpositionalobjekt des Hauptsatzes eingebettete Satz, S3, weist unter Aux als Kennzeichnung der infinitivischen Form dieser Satzeinbettung das Formativ to auf, genau wie für gerundive nominals an dieser Stelle das Formativ ing figuriert. Vgl. (2.2.3.1.-lb). Vgl. EMONDS ( 1 9 7 6 : 2 ) : " A root S ('sentence') is an S that is not dominated by a node other than S." In solchen Sätzen ist ein besonderer Typ von Transformationen zu beobachten, die folgendermaßen charakterisiert werden: "A transformation . . . that moves, copies or inserts a node C into a position in which C is immediately dominated by a root S in derived structure is a 'root transformation'." (ibid.: 3) Die Permutation der finiten Verbform in die Position nach dem ersten Satzglied in Hauptsätzen des Deutschen ist eine solche Transformation. Das von CHOMSKY (1973, 1976) wie auch zusammen mit LASNIK (1977) und von EMONDS (1976: 188ff.) in Anlehnung an BRESNAN (1972) vertretene Regelsystem, das die Form eingebetteter Sätze betrifft, bedarf einer kritischen Sichtung, auf die wir hier leider verzichten müssen.
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276
(e) Eliminierung der Präposition of zusammen mit der leeren Kette [Nome], Dabei werden die dominierenden Kategorien PP und NP überflüssig. S1: wie in S3 Die zyklische Anwendung von Transformationen entspricht der in frühen Versionen der T G praktizierten separaten transformationellen Ableitung einfacher Sätze (Kernsätze), die dann in bestimmter Reihenfolge durch Koordinations- und Einbettungstransformationen zu Satzverbindungen und Satzgefügen verbunden wurden, wobei diese komplexen syntaktischen Gebilde ihrerseits transformationeilen Abwandlungen unterliegen konnten. 42 Bei einem solchen Konzept der TG, das bis zu C H O M S K Y S „Aspekten der Syntaxtheorie" (1965/1970) gang und gäbe war, liegt die Rekursivität der Grammatik im Transformationsteil, während sie in den hier vorgestellten Varianten einer TG, der GS und der IS, in den semantischen resp. syntaktischen Basisregeln verankert ist. 43 Mindestens in der IS sind nicht nur Sätze, sondern auch Nominalphrasen rekursive Kategorien, so daß auch Nominalphrasen Domänen für Transformationszyklen sein können. Das strukturell mehrdeutige, von A K M A J I A N (1975: 121 f.) entlehnte Beispiel (2.2.3.2.-12) und die Gegenüberstellung der jeweiligen Tiefen- und Oberflächenstruktur in (2.2.3.2.-13) und (2.2.3.2.-14) veranschaulichen das. (2.2.3.2.-12) a review of a book by three authors (2.2.3.2.-13)
(a) [NPl[Ar,a] [NPthree authors] [Nom[Nreview] [pp [pofi [NP2Lr,a][N„m[Nbook]]NP2]] [pp[pby] (b)
Ue]]]w] book
WJiN
Uel
%p2^
\-NoJ-NreVieW]
Utp^l
\fp\p°J\
U2Lr(ß]
[NPthree authors]]]NPi,]
(2.2.3.2.-14)
(a) U j L . t f ] [Nom[Nreview]\pP[pof\ [NPl[Arta] [NPthree authors] [Nom[Nbook] [¡.^y] [ w e]]] NP
(b)
2
UWJ]
[jVPi-Lri0] [n om Lvreview] \rApof] [Artä] [jvpß] [Nom[Nbook] [pplpby] [NPthree authors]]] #
42
Zur Unterscheidung einfacher und sogenannter generalisierter Transformationen siehe CHOMS-
43
Zur Motivierung der Verankerung der Rekursivität in der Basiskomponente der Grammatik siehe CHOMSKY (1965/1970: 129ff.).
KY ( 1 9 5 7 ) , FILLMORE ( 1 9 6 3 ) s o w i e K A T Z , POSTAL ( 1 9 6 4 ) .
Generative Grammatik
277
Die Mehrdeutigkeit des Beispiels beruht offensichtlich darauf, daß sich die Agensphrase by three authors auf review oder auf book beziehen kann. Entsprechend dieser Zuordnung ist die in (2.2.3.2.-6) angegebene Transformation der Agenspostponierung in der Domäne von NPl resp. von NP2 anwendbar. 44 Bekanntlich ist die Mehrdeutigkeit sprachlicher Ausdrücke nichts Absolutes und kann unter bestimmten Umständen ganz verschwinden. So ist der Satz (2.2.3.2.-15) eindeutig, obwohl er die hier betrachtete mehrdeutige Nominalphrase — allerdings mit extraponierter Agensphrase — enthält. (2.2.3.2.-15) A review of a book appeared last year by three authors. Die Analyse und damit das Verstehen dieses Satzes steht im Einklang mit einem Prinzip, das für solche Transformationen wie die Extraposition von Konstituenten gilt und das A K M A J I A N (1975: 119) so formuliert: (2.2.3.2.-16) „No elements may be extraposed more than one cycle up from the cycle containing it." Das bedeutet, daß die in die Domäne der zyklischen Kategorie S extraponierte Präpositionalphrase by three authors nur aus der Domäne der zyklischen Kategorie NP1, in (2.2.3.2.-13b) stammen kann, also als Agens zu review und nicht von book interpretiert wird. Aus NP2r in (2.2.3.2.-14b) kann die Agensphrase nicht in den Bereich von S extraponiert werden, da der Zyklus NPlt nicht übersprungen werden kann. Viele solcher allgemeiner Prinzipien für die Operationsweise von Transformationen sind im Rahmen der TG inzwischen entwickelt worden. 45 Sie gehören zu den formalen Universalien der Grammatiktheorie; als Hypothesen über generelle formale Eigenschaften der natürlichen Sprachen bedürfen sie der empirischen Bestätigung. Wie ist nun die Frage nach der Funktion der syntaktischen Transformationen und ihrem Zusammenhang mit Bedeutungsfaktoren sprachlicher Äußerungen zu beantworten? Um es zu wiederholen: Die Hauptfunktion der Transformationsregeln der TG besteht in der gegenseitigen Zuordnung von Basisstrukturen und syntaktischen Oberflächenstrukturen von Sätzen. Entsprechend den unterschiedlichen auf diesen Ebenen repräsentierten Struktureigenschaften sprachlicher Äußerungen widerspiegelt die transformationelle Derivation, (Pl,..., P0) in der GS und (Pd,..., P0) in der IS, notwendigerweise verschiedene Seiten der Struktur sprachlicher Ausdrücke. 44
45
Zur Motivierung der vorgeführten strukturellen Analyse des Beispiels (2.2.3.2.-12) vgl. JACKENDOFF (1974a: 32fT.). Bezüglich der Behandlung des Artikels vgl. Anm. 32. Wir verweisen nochmals auf Ross (1967a), CHOMSKY (1973, 1976) sowie auf CHOMSKY, LASNIK (1977).
278
R. Pasch/I. Zimmermann
In Abhängigkeit von dem Abstand der jeweiligen Derivationsstufe von der Basisbzw. Oberflächenstruktur verdunkeln sich bestimmte Strukturaspekte, während andere deutlicher hervortreten. Die auf der Ebene der syntaktischen Tiefenstruktur in der IS eindeutig identifizierbaren grammatischen Funktionen und Relationen verwischen sich in transformierten Strukturen mehr oder weniger. Ein Verfahren, sie für die semantische Interpretation von der syntaktischen Oberflächenstruktur aus greifbar zu machen, ist von CHOMSKY (1976) vorgeschlagen worden. Wir haben dieses Verfahren in der transformationeilen Ableitung der oben diskutierten Beispiele angewendet. Es sieht vor, daß für permutierte Phrasen in ihrer ursprünglichen Position Spurenelemente — jeweils in Form der entsprechend kategorisierten leeren Kette e — verbleiben.46 So fragwürdig diese Modifikation der IS in mancher Hinsicht auch sein mag, macht sie dennoch klar, daß bestimmte Bedeutungsaspekte in der Oberflächenstruktur sprachlicher Äußerungen nicht eindeutig ablesbar sind und in dieser oder jener Form einen Rückgriff auf die syntaktische Tiefenstruktur erfordern. Wir gehen darauf im Abschnitt 4.3. genauer ein. Inwieweit nun die entgegengesetzte Erscheinung, die Verdeutlichung von Bedeutungsfaktoren in der syntaktischen Oberflächenstruktur, zu beobachten ist, muß im Zusammenhang mit dem Prinzip, daß Transformationen bedeutungsbewahrend sind, untersucht werden. Während in den ersten Jahren der Entwicklung der TG Transformationen auch die Bedeutung von Kernsätzen modifizierende Formative einführen konnten47, schlugen KATZ und POSTAL (1964) für den Aufbau der Grammatik vor, alle bedeutungstragenden Elemente in der syntaktischen Tiefenstruktur zu verankern. Seitdem gilt der Grundsatz vom bedeutungsbewahrenden Charakter der syntaktischen Transformationen, mit dem die Forderung, daß die lexikalischen Transformationen den nichtlexikalischen vorausgehen, in vollem Einklang steht. Die mit einer solchen Organisation der Grammatik verbundene starke Beschränkung für zulässige Transformationen hat im Laufe der Jahre nicht geringe Skepsis bezüglich dieser Einengung der syntaktischen Transformationen hervorgerufen. Wir zitieren hierzu eine methodologisch aufschlußreiche Stellungnahme v o n HALL PARTEE ( 1 9 7 1 / 1 9 7 2 : 3 9 7 f . ) :
„Der Standpunkt, daß Transformationsregeln nicht bedeutungsbewahrend sind, ist von viel geringerem inhärentem Interesse als der entgegengesetzte Standpunkt, weil er schlicht auf die Einstellung hinausläuft, daß eine bestimmte starke Hypothese falsch ist. . . . Nur die Tatsache, daß eine Hypothese stark ist, macht sie nicht richtig, in der Tat erhöht sie das Risiko, daß sie falsch ist — aber es 46
47
CHOMSKY (1976: 78ff.), CHOMSKY, LASNIK (1977: 430, 432). Siehe auch CHOMSKY (1973), wo die „trace theory" bereits erkennbar ist. Siehe vor allem CHOMSKY (1957).
Generative Grammatik
279
macht sie interessant in dem Sinne, daß sie unser Repertoire an Generalisierungen über die Struktur der Sprache vergrößert, wenn sie richtig ist. Damit der Standpunkt, daß Transformationsregeln bedeutungsverändernd sein können, an Interesse mit dem entgegengesetzten Standpunkt vergleichbar ist, müßte er mit einigen alternativen Forderungen vergleichbarer Stärke . . . gekoppelt werden." Die Hauptfrage, die nach unserer Meinung gestellt werden muß, ist, welche Bedeutungsaspekte von Sätzen auf der Ebene der syntaktischen Tiefenstruktur sinnvollerweise verankert werden können und mit welchen Gegebenheiten der Bedeutungsstruktur sprachlicher Äußerungen bestimmte transformationelle Abwandlungen verbunden sind. Die Entwicklung der IS in den letzten Jahren hat gezeigt, daß die verschiedenen Strukturierungsprinzipien des kognitiven und kommunikativen Gehalts sprachlicher Äußerungen, ihre intensionale und extensionale Bedeutung auf verschiedenen Stufen der transformationellen Derivation sprachlicher Ausdrücke in Erscheinung treten und für die semantische Interpretation zugängig werden.48 In diesem Sinne tragen syntaktische Transformationen auf spezifische Weise dazu bei, bestimmte Bedeutungsfaktoren transparent zu machen. Es sind dies vor allem OperatorOperand-Beziehungen und Erscheinungen der Gewichtung der einzelnen Äußerungskomponenten. Erst im Ergebnis transformationeller Umordnungen treten diese semantischen Struktureinheiten als kontinuierliche Konstituenten der betreffenden Sätze auf. 49 Angesichts solcher Tatsachen ist von Synonymie transformationell verwandter Sätze wie in (2.2.3.2.-17)—(2.2.3.2.-19) (2.2.3.2.-17) (a) (b) (2.2.3.2.-18) (a) (b) (2.2.3.2.-19) (a) (b) (c)
Everyone in the room knows at least two languages. At least two languages are known by everyone in the room. Beavers build dams. Dams are built by beavers. It is easy to play sonatas on this violin. Sonatas are easy to play on this violin. This violin is easy to play sonatas on.
von jeher mit den erforderlichen Einschränkungen gesprochen worden. 50 Was das Prinzip anbelangt, daß Transformationen bedeutungsbewahrend sind, kann es sich in der IS nur auf die in der syntaktischen Tiefenstruktur verankerten Aspekte der Bedeutungsstrukturierung sprachlicher Äußerungen beziehen. Sie stellen das semantisch Invariante transformationeil abgewandelter sprachlicher 48
Siehe v o r allem CHOMSKY (1971) u n d JACKENDOFF (1972).
49
Vgl. dazu DEAN FODOR (1977: 83ff.). Siehe die entsprechenden Kommentare von CHOMSKY (1957: lOOf., 1976: 97F.) und JACKEN-
50
DOFF (1972: 227) zu den angeführten Beispielen.
280
R. Pasch/I. Zimmermann
Ausdrücke mit weitgehend identischer, hinsichtlich der lexikalischen Formative und grammatischen Relationen übereinstimmender Tiefenstruktur dar. Für den Aufbau der IS als Regelsystem der Laut-Bedeutungs-Zuordnung und die zentrale Stellung der Syntax in diesem System ist charakteristisch, daß die syntaktischen Transformationen unabhängig von Bedeutungsfaktoren — als rein syntaktische Abwandlungen — formuliert sind und die Repräsentation der den sprachlichen Ausdrücken anhaftenden Bedeutung durch semantische Interpretationsregeln zustande kommt. Im Abschnitt 4.3. werden wir auf die spezifischen Annahmen einzelner Vertreter der IS zur semantischen Interpretation syntaktischer Strukturen genauer eingehen.
2.3. Generative
Semantik
2.3.1. Zur Begründung der Annahme einer semantischen der Grammatik
Basiskomponente
In „Syntactic Structures" hatte CHOMSKY (1957) als Begründung für die Annahme von Transformationsregeln zusätzlich zu den Konstituentenstruktur-Regeln u. a. angegeben, daß die Einführung von Transformationen die Grammatik vereinfacht. Er illustrierte dies an der konstruktioneilen Synonymie, die zwischen Sätzen im Aktiv und entsprechenden Sätzen im Passiv besteht. Mit der Einführung einer Transformationsregel, die Passivsätze aus Aktivsätzen ableitet, wird der Tatsache Rechnung getragen, daß sich die Bedeutung des Passivs eines Verbs nicht von der des Verbs im Aktiv unterscheidet, was die Merkmale des bezeichneten Sachverhalts und vor allem die semantischen Restriktionen bezüglich der beteiligten Nominalphrasen in Subjekt- resp. Objektfunktion anbetrifft. (Vgl. CHOMSKY 1957: 42 f.) Dies hat zur Folge, daß — abgesehen von Sätzen mit mehreren skopusbildenden Operatoren — Aktivsatz und zu ihm durch die Passiv-Transformation in Beziehung stehender Passivsatz in jedem Kontext den gleichen Wahrheitswert haben. Aus CHOMSKYS Bemühen, durch die Unterscheidung von Regeln der Erzeugung syntaktischer Tiefenstrukturen einerseits und Transformationen andererseits „the simplest grammar of English" (ibid.: 107) zu konstruieren, d. h. reguläre Zusammenhänge zwischen sprachlichen Äußerungen zu erfassen, folgt auch, daß Fälle von konstruktioneller Homonymie wie the shooting of the hunters mit Hilfe von Transformationen zu rekonstruieren sind. (Siehe ibid.: 88 f., 107.) „More generally, it appears that the notion of ,understanding a sentence' must be partially analyzed in grammatical terms" (ibid.: 107).
Generative Grammatik
281
Wie das Zitat zeigt, geht CHOMSKY jedoch nicht so weit, es als eine Aufgabe der Syntax anzusehen, Synonymie und Mehrdeutigkeit generell zu rekonstruieren. Dies ist auch später in „Aspects of the Theory of Syntax" nicht der Fall. Allerdings findet sich in diesen und anderen programmatischen Arbeiten CHOMSKYS zur generativen Transformationsgrammatik keine argumentierte Aufstellung der Aufgaben, die die verschiedenen Komponenten der Syntax — also Basisstrukturregeln und Transformationen — zu bewältigen haben. Das ließ die Möglichkeit offen, für die syntaktische Tiefenstruktur von Sätzen zu postulieren, daß sie die semantische Interpretation der Sätze voll bestimmt, daß also Transformationen generell als bedeutungswahrend zu betrachten sind (vgl. KATZ, POSTAL 1 9 6 4 : insbesondere 33). Dieses Postulat müßte zur Annahme abstrakter Tiefenstruktureinheiten für Sätze führen, deren Bedeutung Elemente enthält, die nicht morphologisch, sondern suprasegmental oder durch einen Typ der Reihenfolge der morphologischen Einheiten realisiert sind. Eine Alternative zu einer solchen Konsequenz bezüglich der Darstellung des Zusammenhangs von Syntax und Semantik stellt die Aufgabe des Postulats vom bedeutungswahrenden Charakter der Transformationen dar, also die Aufgabe der Annahme, daß die Tiefenstruktur die semantische Interpretation der Sätze voll determiniert.51 Eine weitere Konsequenz aus der Annahme, daß die semantische Interpretation durch die syntaktische Tiefenstruktur determiniert wird, war z. B. die Semantisierung der grammatischen Relationen zwischen den Konstituenten der syntaktischen Tiefenstruktur, wie sie in der durch FILLMORE entwickelten Theorie von den semantischen Kasus als Kategorien der Tiefenstruktur ihren Ausdruck findet. (Vgl. FILLMORE 1968 a.) FILLMORE zieht die Grenze zwischen Syntax und Semantik anders als KATZ und POSTAL ( 1 9 6 4 ) sowie CHOMSKY ( 1 9 6 5 / 1 9 7 0 ) . Die syntaktischen Tiefenstrukturen, die er konzipiert, liegen „tiefer", sind mehr semantikhaltig als die der genannten Vertreter der IS. Er drückt semantische Generalisierungen — Rollentypen — syntaktisch aus, und zwar als syntaktische Kategorien. Aber auch selektionelle semantische Merkmale lexikalischer Einheiten, die für die Wohlgeformtheit der Sätze mit verantwortlich sind, wurden im Rahmen dieser Konzeption vom Zusammenhang von Syntax und Semantik in der syntaktischen Tiefenstruktur repräsentiert.52 Auf diesem theoretischen Fundament entwickelte sich in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre innerhalb der TG eine Richtung, die nachzuweisen versuchte, daß die von CHOMSKY durch die Annahme des Dualismus von Basisstruktur-Regeln und Transformationsregeln ins Auge gefaßten Vereinfachungen der Grammatik nur einen Teil der Vereinfachungen darstellen, die erzielt werden können, wenn die lexikalischen Einheiten als komplex angesehen werden und wenn die Basis51 52
Vgl. die Position der Erweiterten Standard-Theorie der IS. Vgl. die Merkmale der selektioncllcn Subkategorisierung bei CHOMSKY (1965/1970: 113).
282
R. Pasch/I. Zimmermann
regeln der Syntax Konfigurationen erzeugen, die mit den semantischen Konfigurationen sprachlicher Ausdrücke identisch sind. Nach Meinung der Gruppe generativer Grammatiker, die die syntaktische Tiefenstruktur der Sätze mit der semantischen Struktur der Sätze identifizieren, ist es inkonsequent, die der Lautstruktur eines Satzes zugrunde liegende syntaktische Struktur so zu konzipieren, daß sie nur die Mehrdeutigkeiten und Synonymien rekonstruiert, die durch Relationen zwischen lexikalischen Einheiten im Satz bedingt sind, nicht aber die, die auf der Bedeutung der lexikalischen Einheiten selbst beruhen. Das heißt, es ist nach Meinung dieser Grammatiker inkonsequent, die beiden Erscheinungen durch verschiedene Teilsysteme von Regeln der Grammatik — nämlich Basisregeln und Transformationen einerseits und Basisregeln und semantische Interpretationsregeln (Projektionsregeln) andererseits — zu erklären.53 Sie schlagen deshalb eine alternative Grammatik-Konzeption vor, die unter dem Namen „Generative Semantik" (GS) bekannt geworden ist. Nach dieser Grammatikkonzeption kann die syntaktische Struktur der Sätze nicht — wie in der IS — als autonom gegenüber ihrer semantischen Struktur dargestellt werden: Hier determinieren in der Beschreibung der Laut-BedeutungsZuordnung nicht autonome syntaktische Struktur und lexikalische Einheiten als kleinste Konstituenten die semantische Interpretation der Sätze. Vielmehr determiniert hier die semantische Struktur der Sätze die Möglichkeiten des Auftretens der spezifischen lexikalischen Einheiten und deren syntaktische Relationen im Satz. Die Annahme der semantischen Determiniertheit der syntaktischen Struktur der Sätze bedeutet jedoch nicht, daß es keine semantikunabhängigen syntaktischen Regeln in der Grammatik geben soll: „The claim that syntax is not autonomous is not the claim that there are no autonomous rules of grammar. Rather it is the claim that not all rules of grammar are autonomous. As it happens, most of them a r e n ' t . . . Autonomous syntax claims that all rules of syntax are independent of meaning, context, and use." (G. LAKOFF 1974C: XI — 27)
2.3.2. Die Regeln der syntaktischen Strukturbildung in der Generativen Semantik In der GS erzeugen Basisregeln semantische Repräsentationen (SR), die noch nicht lexikalisch belegt sind. Diese Basisstrukturen (SR) sind Konfigurationen aus drei Typen von semantischen Kategorien: Proposition, Prädikat, Argument mit den Symbolen S (für Proposition), Präd (für Prädikat), Arg (für Argument) (vgl. G. LAKOFF 1970a) bzw. (bei G. LAKOFF 1971 a und MCCAWLEY) F(für Prädi53
Eine ausführlichere Darstellung der Einwände, die die Anhänger dieser Transformationsgrammatik-Variante gegen die IS geltend machen, findet sich bei IMMLER (1974: 86—111).
283
Generative Grammatik
kat) und NP (für Argument) sowie S. Ein Prädikat bildet — je nach seiner Spezifik — mit n ^ 1 Argumenten eine Proposition. Die terminalen Knoten der Baum-Hierarchien, die diese Kategorien bilden, sind spezifische atomare Prädikate (semantische Primitivbegriffe, d. h. nicht lexikalische Elemente, sondern semantische Einheiten, die auch in den Bedeutungen lexikalischer Einheiten auftreten) und Referenzindizes als spezifische Argumente ( M C C A W L E Y 1 9 7 3 : 2 7 0 bis 271).
Beispiel für verwendete Darstellungsarten: (2.3.2.-1) (a) in Baumdarstellung: S
SEE
X
y
(in Klammerdarsteliung im folgenden als (SEE (x, j)>) bzw. — in anderer, die Anordnung von Prädikat und Argumenten betreffender Schreibweise (siehe dazu weiter unten das Beispiel (3.2.3.-1)) (2.3.2.-1) (b) S
NP x
V
NP
SEE
y
Nach M C C A W L E Y (1968a: 244—253, insbesondere 248, 259) werden die Basisregeln als Knotenzulässigkeitsbedingungen aufgefaßt. (Vgl. M C C A W L E Y 1973: 295.) Diese sind Regeln, die spezifizieren, was ein Knoten in einem Baum dominieren kann. Zum Beispiel legt eine generelle Knotenzulässigkeitsbedingung für syntaktische Basisstrukturen fest, daß ein Knoten S dann wohlgeformt ist, wenn er unmittelbar und ausschließlich ein Verb und eine bis drei NPs dominiert. Andere Knotenzulässigkeitsbedingungen sind z. B. Spezifikationen der Anzahl und kategoriellen Natur (NP oder S) der Argumente der einzelnen Prädikate.54 Ein Beispiel für die Kombination konkreter semantischer Prädikate findet sich 54
Einen Überblick über eine Reihe von Knotenzulässigkeitsbedingungen für Basisstrukturen in der GS, die MCCAWLEY auf einem Meeting der Linguistic Society of America 1970 vorges c h l a g e n h a t , g i b t IMMLER ( 1 9 7 4 : 113).
R. Pasch/I. Zimmermann
284
im Abschnitt 3.2.3. (siehe die Stufe (i) der transformationeilen Ableitung des Satzes (3.2.3.-1)).
Neben den Basisregeln spezifiziert die Semantik auch generelle Beziehungen zwischen den semantischen Prädikaten, z. B. Schlußregeln (vgl. G. LAKOFF 1970 a: 75 f.) wie die, die besagt, daß wenn wahr ist, y wahr ist (wogegen y nicht wahr sein muß, wenn , Q kann in eine syntaktische Struktur K eingesetzt werden, wenn die in (3.2.2.-1) genannte Bedingung erfüllt ist und wenn K entsprechend dem zu C gehörenden Merkmal [+Y Z] als A [ j V Y X Z W ] B analysierbar ist. (Die Variablen V und W repräsentieren mögliche Kokonstituenten von X.) In Anwendung auf die Beispiele (2.2.3.1.-2) und (2.2.3.1.-3) bedeutet das, daß der von den Lexemen lose, examination und famous verlangte syntaktische Kontext gegeben ist. Die entsprechenden Kontextmerkmale als Strukturbedingungen für die Einsetzung der betreffenden lexikalischen Einheit sind [+ NP] für lose, [+ PP] für examination und [+ ] für famous. Je nachdem, ob für die lexikalische Einsetzung die Konventionen (3.2.2.-1) und (3.2.2.-2) gelten oder wie bei JACKENDOFF (1972) nur erstere, ist die Menge der auf der Ebene der syntaktischen Tiefenstruktur erzeugten, d. h. durch syntaktische Ersetzungsregeln und lexikalische Transformationen definierten Satzstrukturen mehr oder weniger beschränkt. Im letzen Fall entstehen viele syntaktisch nicht wohlgeformte Strukturen, die später auf diese oder jene Weise ausgefiltert werden müssen. Unseres Erachtens gehört die in (3.2.2.-2) ausgedrückte Strukturbedingung für die lexikalische Einsetzung in den Bereich der Syntax. Außer den hier genannten Bedingungen können durchaus weitere erforderlich sein. Es bedarf z. B. der Erwägung, welche Zusammenhänge zwischen syntaktischen und semantischen Regularitäten des Zusammenvorkommens von lexikalischen Einheiten bestehen und wo und wie diese Beziehungen zur Geltung gebracht werden. Ein sich anbietender Platz wäre das Lexikon. Wir kommen auf diese Frage in den Abschnitten 3.3.2. und 4.3. zurück. Für die Konfrontation der IS und der GS ist wichtig, zu betonen, daß in der IS durch die lexikalische Einsetzung die für den Aufbau dieses Grammatikmodells charakteristische Ebene der syntaktischen Tiefenstruktur, Ed = {Pd}, als syntaktische und lexikalische Invariante möglicher syntaktischer Abwandlungen entsteht. Die lexikalischen Einheiten bringen sämtliche an sie gebundenen grundlegenden Informationen der Laut-Bedeutungs-Zuordnung in die Satzstruktur ein. Die Bedeutung der lexikalischen Einheiten ist ein wesentlicher Bestandteil der in die Tiefenstruktur eingehenden Bedeutungsfaktoren von Sätzen.
Generative Grammatik
289
3.2.3. Lexikalische Einsetzung in der Generativen Semantik Wie in Abschnitt 2.3.2. ausgeführt wurde, ist in der GS die abstrakte zugrunde liegende Struktur der Sätze identisch mit ihrer semantischen Repräsentation (SR1). Diese ist wie gesagt mit der Oberflächenstruktur der Sätze durch lokale und globale Derivationsbeschränkungen verbunden. Eine Teilmenge dieses Systems von Zuordnungsbeschränkungen ist das Lexikon. Durch Einheiten des Lexikons wird semantisches Material in Sätzen durch lexikalisches Material ersetzt. Genauer gesagt wird semantisches Material durch ein lexikalisches Formativ (siehe dazu insbesondere Abschnitt 3.3.3.) ersetzt. Nun entsprechen lexikalische Einheiten in der IS aber jeweils genau einer syntaktischen Konstituente. Auch nach Übereinkunft der Vertreter der GS können lexikalische Einheiten nur für einen Knoten in einer Satzstruktur und nicht für mehrere Knoten zusammen eingesetzt werden. Dies ist die sogenannte Ein-Knoten-Bedingung für die lexikalische Einsetzung in der GS, d. h. für die Einsetzung eines lexikalischen Formativs für spezifisches semantisches Material in Sätzen. Oft entspricht aber die Teilstruktur der SRl eines Satzes, die von einer lexikalischen Einheit „abgedeckt" wird, nicht genau einem Knoten der Satzstruktur (siehe z. B. die Teile der SRt eines Satzes, die remind ersetzt, in Beispiel (3.2.3.-1) weiter unten). Die Einführung von lexikalischen Einheiten in die Struktur eines Satzes anstelle mehrerer nicht in einem Dominationsverhältnis stehender Knoten ist nun nach Annahme der GS möglich, weil es Transformationen gibt, die — in SRt verstreute — Konstituenten verschiedener Hierarchiestufe so zusammenfassen — kollektionieren —, daß sie von einem Kategoriensymbol erschöpfend dominiert werden. Eine Regel, die dies leistet, ist die Prädikat(an)hebung (predicate raising, predicate lifting). Diese Regel vereinigt ein Prädikat eines S mit dem Prädikat des nächsthöheren S unter einem gemeinsamen Kategorienknoten (vgl. MCCAWLEY 1968b und 1971b). (Ein Beispiel für diese Kollektionsregel findet sich weiter unten.) Regeln, die semantisches Material zu Strukturen umgruppieren, die jeweils durch ein lexikalisches Formativ ersetzt werden können, werden prälexikalische Transformationen genannt. Neben der Prädikathebung wirken noch andere Typen von Transformationen prälexikalisch, d. h. auf semantischen Strukturen und als Bedingungen dafür, daß ein bestimmtes Formativ in die Struktur eines Satzes eingeführt werden kann (vgl. ibid.). Wir wollen jetzt an einem Beispiel zeigen, wie die SRl eines Satzes mittels verschiedener Typen von Transformationen so abgewandelt wird, daß die Einsetzung eines bestimmten lexikalischen Formativs möglich wird. Es handelt sich um das Verb remind in dem englischen Satz 1 (3.2.3.-1) Harry reminds me of Fred Astaire. 19 Viehweger, Semantikforschung
290
R. Pasch/I. Zimmermann
Die Darstellung der Derivation dieses Satzes im Rahmen einer GS-Grammatik stützt sich auf eine Präsentation bei KATZ (1972: 403 f.), die ihrerseits an die in POSTAL (1970) vorgeschlagene angelehnt ist. (Die Diskussion, die POSTALS Analyse von ,remind' ausgelöst hat, ignorieren wir bewußt, da die fragliche Darstellung der Derivation in unseren Ausführungen nur einen illustrativen Wert hat.) (3.2.3.-1) Harry reminds me of Fred
Astaite.
(3.2.3.-1) (i)
(Speaker)
(Perceives)
(Harry) (Similar)
(Fred
Astaire)
(i) ist die SRt von (3.2.3.-1). (3.2.3.-1) (ii) ?o
(Speaker)
(Perceives)
(Harry) (Similar)
(Fred Astaire)
(ii) ist Ergebnis der Transformation vom Typ Subjekthebimg (das Subjekt von S1 — Harry — ist in S0 gehoben worden).63 63
Die Darstellung in (i) und (ii) setzt voraus, daB die Links-Rechts-Anordnung kennzeichnet, welche NP Subjekt ist; es ist eine in der GS eingebürgerte Verfahrensweise, das Subjekt als die erste, d. h. am weitesten links stehende NP darzustellen. Eine Alternative dazu ist die Heraushebung einer NPt von mehreren gleichgeordneten NPn und die Nebenordnung von NPt zu dem S, das von dem Knoten gebildet wird, von dem NPi ursprünglich auch dominiert wurde. Dies ist die sogenannte Subjektbildung durch CHOMSKY-Adjunktion. (Siehe BACH 1971: 8.)
291
Generative Grammatik
(3.2.3.-1) (iii)
V
(Harry) (Perceives)
NP
(Speaker) (Similar) (Fred Astaire)
(iii) ist Ergebnis von Psych-Movement. (Das erste und das zweite Argument von perceive sind vertauscht worden.) (3.2.3.-1) (iv)
(Harry) (Perceives)
(Similar)
(Speaker)
(Fred
Astaire)
(iv) ist Ergebnis der Prädikathebung. (Das Prädikat von — similar — ist dem Prädikat von S0 — perceive — adjungiert worden.) Mögliche deutsche Lexikalisierungen von (i) bis inklusive (iii) sind z. B. (3.2.3.-2) (a) Ich finde, daß Harry Fred Astaire ähnlich ist (/ähnelt), (für (i)) (b) Ich halte Harry für Fred Astaire ähnlich, (für (ii)) (c) Harry scheint mir Fred Astaire ähnlich zu sein (/zu ähneln), (für (iii)) Die Struktur (iv) gestattet nicht mehr, alle Konstituenten einzeln lexikalisch zu realisieren. Die gemeinsame Unterordnung mehrerer (in diesem Falle zweier) F-Knoten unter einen F-Knoten verlangt hier die Einsetzung eines lexikalischen Formativs. Eine dem obersten F-Knoten in (iv) entsprechende lexikalische Einheit ist nun remind. Ihr Formativ — oder das einer anderen dem Knoten entsprechenden lexikalischen Einheit — kann für den F untergeordneten Prädikatkomplex eingesetzt werden; die Einsetzung des Formativs in die Satzstruktur ist eine lexikalische Transformation. Transformationen, die nach der lexikalischen Transformation wirksam werden, operieren dann „postlexikalisch". 19*
R. Pasch/I. Zimmermann
292
Die Einsetzung des Formativs remind in die Satzstruktur (iv) ergibt (3.2.3.-1) (v)
NP
Harry
reminds
me
of
Fred
Astaire
(v) ist Ergebnis der lexikalischen Einsetzung. Neben reminds sind auch die anderen Bestandteile dieser Struktur keine semantischen Einheiten mehr, sondern lexikalische bzw. grammatische Formative. Es wird in der GS — im Gegensatz zur IS — angenommen, daß die lexikalischen Einsetzungen nicht en bloc erfolgen, sondern daß auf den einzelnen Ableitungsstufen des Satzes in einer Struktur lexikalisch interpretierte mit noch nicht lexikalisch interpretierten Teilstrukturen koexistieren können, lexikalische Einsetzungsregeln mit anderen syntaktischen Transformationen alternieren können ( M C C A W L E Y 1 9 6 8 b: 7 2 und 7 8 f.). Die Unterscheidung der lexikalischen, prä- und postlexikalischen Transformationen hängt natürlich vom Begriff der Konstituente in der syntaktischen Struktur und davon ab, was unter einem lexikalischen Formativ verstanden werden soll. So ist die Einsetzung der grammatischen Formative (z. B. Flexive) postlexikalisch (oder transformationell in der IS) nur insofern, als lexikalische und grammatische Formative unterschieden werden. Aber die Konstitution eines solchen lexikalischen Formativs, bezüglich dessen die Adjunktion von Flexiven postlexikalisch ist, kann ihrerseits postlexikalisch in bezug auf die Einsetzung möglicher das Wort konstituierender lexikalischer Morpheme sein. So könnten z. B. für totschießen zwei Formative tot und schießen eingesetzt werden ( = lexikalische Transformation), wenn die EinKnoten-Bedingung sich nicht auf traditionell syntaktische Konstituenten, sondern auf wortinterne lexikalisch-morphologische Konstituenten bezieht. Die Möglichkeit, Wortformative einzusetzen, und die Möglichkeit, lexikalische Morphemformative einzusetzen, wägt BINNICK (1970: 48 ff.) gegeneinander ab. BINNICK skizziert ganz grob einen Weg der Behandlung der Wortbildung, jedoch findet sich auch bei ihm wie in den anderen Arbeiten zur GS keine ausgearbeitete Konzeption zur Eingliederung der Wortbildung in die Grammatik. 3.3. Typen lexikalischer Information 3.3.1. Die einzelnen Komponenten der TG sind sich ergänzende Regelsysteme, die jweils ganz bestimmte Regularitäten der Laut-Bedeutungs-Zuordnung sprach-
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licher Äußerungen erfassen. Welche spezielle Funktion das Lexikon als Komponente der Grammatik hat, muß im Zusammenhang mit den Informationen untersucht werden, die in den Lexikoneintragungen als Angaben über die Eigenschaften der lexikalischen Mittel einer Sprache enthalten sind. Entsprechend der besonderen Stellung des Wortschatzes im Sprachsystem stimmen die IS und die GS darin überein, daß das Lexikon eine Liste der lexikalisch verfestigten Zuordnungen von Laut und Bedeutung darstellt und der Ort in der Grammatik ist, wo das Spezielle (Idiosynkratische) der in sprachlichen Zeichen hergestellten Verbindung von Inhalt und Ausdruck auftritt. Jede Lexikoneinheit ist eine Menge von Strukturangaben, die das Verhalten des betreffenden Lexems auf den einzelnen Strukturebenen sprachlicher Äußerungen charakterisieren. Dadurch ist das Lexikon und jede einzelne lexikalische Einheit eine zentrale Vermittlungsinstanz in der Beziehung von Laut und Bedeutung. Im folgenden werden wir zeigen, wie Lexikoneintragungen in der IS und in der GS aufgebaut sind und inwieweit Zusammenhänge zwischen semantischen und syntaktischen resp. morphologischen Eigenschaften von Lexemen im Lexikon erfaßt werden.64 3.3.2. Lexikoneinträge in der Interpretativen Semantik In den folgenden Betrachtungen über den Aufbau von Lexikoneinträgen in der IS gehen wir von den Vorschlägen aus, die JACKENDOFF (1972, 1974b und 1975) zu dieser Frage entwickelt hat. Das Lexikon ist in dem von JACKENDOFF ins Auge gefaßten Grammatikmodell eine Liste von Wörtern; ein Morphemverzeichnis, wie es beispielsweise HALLE (1959 resp. 1973) vorsieht65, existiert nicht. Jeder Lexikoneintrag repräsentiert ein Wort (eine lexikalische Einheit), und zwar als Menge von Informationen über die systematischen und die idiosynkratischen Struktureigenschaften des betreffenden Lexems. Auch derivationell verwandte Wörter wie das Verb employ und die deverbalen Nomina employer, employee und employment sind als separate lexikalische Einheiten registriert. Das heißt, sie werden nicht wie bei CHOMSKY (1970), TERRY und STOCKWELL ( 1 9 6 7 ) oder bei HUDSON ( 1 9 7 6 ) auf der Basis ihrer Gemeinsamkeiten zu einem komplexen, redundanzfreien Lexikoneintrag zusammengefaßt. JACKEN64
65
Siehe dazu auch den Abschnitt 1.7.3. der „Grundzüge einer deutschen Grammatik" (1981), in dem „das Wort als Vermittlungseinheit zwischen semantischer und syntaktischer Struktur" untersucht wird. Vgl. auch WURZEL (1970: 18), wo ebenso wie in den „Theoretischen Problemen der Sprachwissenschaft" (1976: II, 555) das Lexikon Wortstämme und Derivative verzeichnet.
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DOFF (1972) und insbesondere (1975) schlägt vor, die in den Lexikoneinträgen verwandter lexikalischer Einheiten ausgedrückten Parallelitäten durch sogenannte lexikalische Redundanzregeln, die dem Lexikon assoziiert sind, zu erfassen und jeweils nur einmal als neu zu lernende Information zu zählen. Daß z. B. das Tiefenstruktursubjekt von decide und decision ein menschliches Wesen bezeichnet und mit dem impliziten Subjekt der Infinitivergänzung in Beispielen wie (3.3.2.-1 a) und (3.3.2.-1 b)
(3.3.2.-1) (a) John decided to go. (b) Joftn's decision to go identisch ist, sind solche in den Lexikoneinträgen von decide und von decision ganz parallel auftretenden Informationen.66 (Vgl. auch die ganz offensichtlichen phonologisch-morphologischen, syntaktischen und semantischen Parallelitäten der unter (3.3.2.-4) und (3.3.2.-5) angeführten verwandten lexikalischen Einheiten.) Die Lexikoneinträge (3.3.2.-2)—(3.3.2.-5) für die Verben put und remind sowie (3.3.2.-2) (a) r /put/ (b) +V (c)
+ N P J _ N P 2 P NP3
(d)
CAUSE j (NP 1( j^GOJ (NP2, NP3))
(3.3.2.-3) (a) r /re=maynd/ (b) +V (c) + N P ! _ N P 2 of NP 3 (d) PERCEIVE (NP2, SIMILAR (NP,, NP3)) (3.3.2.-4) /blxm/ +V + NPj on NP 2 (for NP 3 ) "CAUSEJ (NP p J^GOJ ([RESPONSIBILITY FOR NP 3 ], NP2))
66
Ausführlichere Betrachtung zur nichttransformationellen, lexikalistischen Behandlung von Wortbildungen finden sich in ZIMMERMANN ( 1 9 8 3 ) .
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(3.3.2.-5) (a) /blxm/ (b) +N (c) 4-Art (for NP 3 ) (d) F^CAUSEj (NP,, |~GOj ([RESPONSIBILITY FOR NP 3 ], NP2))) für das Verb blame und das entsprechende Verbalsubstantiv blame67 sind ergänzungsbedürftig und nur in bestimmter Hinsicht repräsentativ für die Kennzeichnungen lexikalischer Einheiten bezüglich der für sie geltenden Zuordnung von Laut und Bedeutung.68 Außer den gleich noch genau zu betrachtenden Typen von Informationen unter (a)—(d) gehören vor allem Angaben folgender Art in die Lexikoneinträge: — morphologische Merkmale, die Auskunft geben über die Einordnung des betreffenden Lexems in Flexionsklassen, über mögliche Besonderheiten der Stammbildung, über das grammatische Genus der Substantive, über Reflexivität/Nichtreflexivität der Verben u. a. m. (Vgl. dazu W U R Z E L 1 9 7 0 : 2 9 ff.) — syntaktische Merkmale, die die Anwendbarkeit von lexikalisch regierten, d. h. auf bestimmte Lexemklassen beschränkten Transformationen betreffen. (Vgl. G . LAKOFF 1 9 6 5 , R . T. LAKOFF 1 9 6 8 und ISENBERG 1 9 6 8 ) . Zum Beispiel müssen transitive Verben wie besitzen und bekommen von der Passivtransformation ausgeschlossen werden; die Subjekthebungstransformation ist u. a. für seem und certain zulässig, nicht aber für probable. — selektionelle Beschränkungen für die semantische Kombinierbarkeit des betreffenden Lexems mit seinen syntaktischen Kookkurrenzpartnem. Es handelt sich um die selektionelle Subkategorisierung. (Vgl. dazu CHOMSKY 1965/1970: 93ff., 112ff.; BIERWISCH 1970 und K A T Z 1972: 104ff.) Wir kommen auf die Wirkungsweise selektioneller Vorschriften bei der semantischen Interpretation von Sätzen im Abschnitt 4.3.2. noch zu sprechen. Auf welche Eigenschaften von Wörtern beziehen sich nun die Angaben (a)—(d) in den oben aufgeführten Lexikoneinträgen (3.3.2.-2)—(3.3.2.-5)? 67
68
Die Lexikoneinträge für put und blame sind JACKENDOFF (1974b: 491) entnommen. Die Angaben für remind basieren auf KATZ' (1972 : 403ff.) Betrachtungen zu POSTALS (1970) semantischer Analyse dieses Verbs und wurden JACKENDOFFS Notationsweise angepaßt. Grundsätzlich ist zu sagen, daß wir die Komponentenanalyse der Bedeutung der hier betrachteten Lexeme nicht in allen Punkten für unstrittig halten. Für die hier zu demonstrierenden Zusammenhänge zwischen Semantik und Syntax kann die Diskussion alternativer Vorstellungen jedoch unterbleiben. Bezüglich der Bedeutungsanalyse des Verbs blame verweisen wir auf FILLMORE (1968b und 1969) und auf G. LAKOFF (1970a). FILLMORE (1968b: 66) zählt 8 Typen von Angaben auf, die in jeden Lexikoneintrag eingehen.
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Unter (a) ist die phonologische Repräsentation des jeweiligen Lexems angedeutet : Die Vokal- und Konsonantensymbole sowie das Präfixe abtrennende Symbol „ = " sind verkürzte Schreibweisen für Matrizen phonologischer Merkmale. (Vgl. CHOMSKY, HALLE 1968 sowie WURZEL 1970.) Unter (b) ist die Wortklassenzugehörigkeit des Lexems angegeben, die eine wesentliche Strukturbedingung für die Einsetzung der betreffenden lexikalischen Einheit in die syntaktische Basisstruktur ist. (Vgl. die Konvention (3.2.2.-1).) Unter (c) ist sehr komplexe Information registriert. JACKENDOFF (1972 und 1974b) spricht von „strenger Subkategorisierung", ohne allerdings deutlich zu machen, was er im Unterschied zu CHOMSKY (1965/1970: 93ff.) darunter versteht. Offensichtlich bezieht er das Subjekt, unter (c) jeweils NPV in die Angabe der syntaktischen Kontextpartner des betreffenden Lexems ein und erweitert damit die Domäne der strengen Subkategorisierung auf S und entsprechend auf NP. Das Pro und Kontra für eine solche Entscheidung muß abgewogen werden. Uns fehlt dafür hier der Platz. Wir wollen sagen, daß die Angaben unter (c) die strenge Subkategorisierung, wie wir sie in 3.2.2. festgelegt haben, enthalten: Die Verben put und remind haben das Merkmal [+ NP PP], das Verb blame ist durch [+ PP (PP)] streng subkategorisiert, während das Substantiv blame das Merkmal [+ _ (PP)] hat. Ferner enthalten die Angaben unter (c) Informationen über regierte Präpositionen. Von den angeführten Lexemen regiert nur das Verb put nicht die Präposition der von ihm abhängigen Präpositionalphrase. Die Angaben unter (c) in dem Lexikoneintrag für das Verb blame spezifizieren für jeden der rechten Kontextpartner eine regierte Präposition, obwohl das Verb immer mit einem direkten Objekt auftritt. Diese Angaben sind eine Konsequenz der Annahmen über den Charakter der syntaktischen Tiefenstruktur als lexikalischer und syntaktischer Invariante möglicher syntaktischer Abwandlungen und auch der Beschränkungen für Transformationen (siehe unsere Ausführungen im Abschnitt 2.2.3.2.): Eine Präpositionalphrase kann transformationeil zu einer Nominalphrase reduziert, nicht aber transformationell aufgebaut werden. So basieren die Sätze (3.3.2.-6a) bis (3.3.2.-6c) auf den in (3.3.2.-7) angedeuteten syntaktischen Tiefenstrukturen, auf die auch die Lexikoninformationen des Verbs blame Bezug nehmen.69 (3.3.2.-6) (a) John blamed Bill for the accident. (b) John blamed the accident on Bill. (c) John blamed Bill. (3.3.2.-7) [s[NPJohn] [Auj>ast] [vp[vblame] [,,Pon[NPBill\] ([ppfor[NPthe accident]])]] (3.3.2.-6a) und (3.3.2.-6c) haben eine Transformation durchlaufen; welche eine 69
Die Analyse von blame und die Beispiele entnehmen wir JACKENDOFF (1974b).
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Generative Grammatik
Präposition vor einer Nominalphrase, die unmittelbar benachbarte rechte KoKonstituente eines Verbs ist, elidiert und damit die betreffende Präpositionalphrase auflöst. (3.3.2.-6b) durchläuft vor dieser Reduktion eine Permutationstransformation, die die äußere Präpositionalphrase in unmittelbare rechte Nachbarschaft zu dem Verb bringt. 70 Für das Substantiv blame besagen die syntaktischen Informationen unter (c), daß es immer zusammen mit einem Artikel — möglicherweise ohne jede Ergänzung — auftritt. Als rechte Ko-Konstituente ist die mit for eingeleitete Präpositionalphrase möglich, die mit on eingeleitete Präpositionalphrase liegt nicht innerhalb des Syntagmas, dessen head das Substantiv blame ist. (Vgl. JACKENDOFF 1974 b.) Die Subskripte an den Nominalphrasen in (c) und (d) dienen der Identifizierung syntaktischer und semantischer Argumentstellen. Unter (d) ist in den oben aufgeführten Lexikoneinträgen die Bedeutung des jeweiligen Lexems angegeben. Die Nominalphrasen mit den Subskripten sind in (d) als Variable zu verstehen, die durch die semantischen Interpretationsregeln (Projektionsregeln) mit der Bedeutung der entsprechenden syntaktischen Einheiten ausgefüllt werden. (Vgl. unsere Ausführungen im Abschnitt 4.) Durch den Bezug auf die in (c) enthaltenen syntaktischen Angaben sind die Nominalphrasen in (d) mit den kategorisierten Variablen in den Bedeutungscharakterisierungen von KATZ (1972: 104ff.) vergleichbar. In welchen unterschiedlichen Konfigurationen semantische Argumente und die ihnen entsprechenden syntaktischen Einheiten auftreten können, zeigt der Lexikoneintrag für das Verb remind besonders deutlich. Im Unterschied zu den Annahmen der GS erfolgt in der IS die Korrelierung semantischer und syntaktischer Strukturen zu einem ganz wesentlichen Teil — nämlich bezüglich der propositionalen Bedeutung von Sätzen — vermittels des Lexikons. Solche Zwischenprodukte, wie sie die prälexikalischen Transformationen der GS erzeugen, existieren nicht in der IS. Das hat auch zur Folge, daß die Bedeutungscharakterisierungen der Lexeme in der GS sich von denen der IS dadurch ganz wesentlich unterscheiden, daß sie derivierte semantische Strukturen, (in der Regel) also nicht semantische Basisstrukturen repräsentieren (siehe hierzu 3.3.3.), während die Bedeutungsrepräsentationen lexikalischer Einheiten der IS Konfigurationen von Prädikaten und Argumenten der semantischen Basisstrukturen der GS entsprechen. Wie die Bedeutungsangaben in den Lexikoneinträgen (3.3.2.-2)—(3.3.2.-5) zeigen, sind alle semantischen Argumente der einzelnen Prädikate in die Bedeutungsstruktur des betreffenden Lexems einbezogen, unabhängig davon, ob sie in der syntaktischen Struktur ihre Entsprechung haben. So erhält durch die in
70
Zur Motivation dieser Transformationen vgl. auch
JACKENDOFF, CULICOVER (1971).
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(3.3.2.-4d) verzeichnete Bedeutung des Verbs blame der Satz (3.3.2.-6c), John blamed Bill, auch eine Bezugnahme auf das syntaktisch und lexikalisch nicht näher spezifizierte semantische Argument NP3. Die in Großbuchstaben geschriebenen Prädikate, die in die jeweils unter (d) angegebene Bedeutungsstruktur der einzelnen Lexeme eingehen, sind — mindestens teilweise — nicht weiter analysierbare Komponenten der Bedeutung von Wörtern. Die unter den Prädikaten CAUSE und GO befindlichen Variablen stehen für nicht näher spezifizierte Modi der Verursachung (Initiierung) bzw. der Bewegung. JACKENDOFF (1974b: 491) deutet an, daß es sich bei put in Sätzen wie John put the book on the table um physikalische Bewegung handelt, während bei blame abstrakte Bewegung vorliegt. F in (3.3.2.-5d) repräsentiert eine Funktion, die Situationen (events) in die Klasse abstrakter Gegenstände überfuhrt (ibid.). In den Bedeutungsstrukturen sind die Argumente durch bestimmte Prädikate hinsichtlich der Rollen charakterisiert, die die entsprechenden Partizipanten in den durch die propositionale Bedeutung von Sätzen identifizierten Situationen spielen. Das bedeutet eine Rekonstruktion der von FILLMORE (1968 a) und GRUBER (1965) als syntaktische Pseudokategorien repräsentierten semantischen Funktionen von Nöminalphrasen unmittelbar durch die Prädikat-Argument-Konstellationen. So nimmt JACKENDOFF (1972: 39 und 1974b: 489f.) an, daß dem ersten Argument von CAUSE die semantische Funktion des Agens (Agent) zukommt, dem ersten Argument von GO die des Themas (Theme) und dem zweiten Argument von GO die des Ziels (Goal). Das heißt: Prädikate wie CAUSE und GO definieren bestimmte Rollentypen ihrer Argumente. Welche — offenbar sehr grundlegenden — Prädikate semantische Funktionen von Argumenten spezifizieren, betrachten wir als offene Frage.71 Entsprechend den von JACKENDOFF angenommenen Rollentypen und der von ihm vorgeschlagenen Bedeutungsstruktur für das Verb blame haben dessen Argumente folgende semantische Funktionen: NPl fungiert als Agens, RESPONSIBILITY FOR NP3 ist das Thema und NP2 das Ziel. Die Bedeutung des Verbs legt also die Rollentypen für die von ihm abhängigen Konstituenten fest. In den unter 71
(1972: 39) nennt außer CAUSE noch CHANGE und BE. (Wie sich CHANGE und GO zueinander verhalten, ist unklar.) CHANGE charakterisiert die semantischen Funktionen seiner drei Argumente als Thema, Ausgangspunkt (Source) und Ziel; BE hat zwei Argumente mit den semantischen Funktionen Thema und Ort (Location). Freilich kann man bei dem gegenwärtigen Entwicklungsniveau semantischer Analysen nicht umhin, FREIDIN (1975) und ROSENBERG (1975 b) zuzustimmen, wenn sie die Unscharfe der von JACKENDOFF verwendeten Rollenkonzepte kritisieren und die Gefahr ihrer inhaltlichen Aushöhlung sehen. Dennoch erscheint es lohnend und unerläßlich, die von FILLMORE und GRUBER weit vorangetriebene Suche nach geeigneten Verallgemeinerungen zur Charakterisierung der semantischen Funktionen der Argumente fortzusetzen. JACKENDOFF
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(3.3.2.-6) angeführten Beispielen ist im Einklang mit der Bedeutung von blame John das Agens, Bill das Ziel und the accident Teil des Themas. Die in den Lexikoneinträgen (3.3.2.-2)—(3.3.2.-5) angegebenen Bedeutungsstrukturen repräsentieren jeweils den nicht präsupponierten Teil der Bedeutung. Die mit den einzelnen Lexemen verbundenen Präsuppositionen sind nicht erfaßt. Sie sind jedoch ergänzbar.72 Wir kommen auf die Rolle von Präsuppositionen im Aufbau von Satzbedeutungen in den Abschnitten 4.3. und 5.3.2. noch genauer zu sprechen. . Für unsere weiteren Betrachtungen wollen wir festhalten, daß in der IS die Bedeutung der lexikalischen Einheiten zusammen mit den syntaktischen Basisstrukturen das Fundament für die Bedeutung von Sätzen bildet. Es kam uns in diesem Abschnitt besonders darauf an, die spezifischen Annahmen zu verdeutlichen, die im Rahmen der IS in dem von JACKENDOFF entworfenen Grammatikmodell über den Zusammenhang von Syntax und Semantik und ihre Inbeziehungsetzung durch das Lexikon gemacht wurden. Die andersartigen Vorstellungen der GS werden im folgenden Abschnitt vorgeführt.
3.3.3. Lexikoneinträge in der Generativen Semantik Nach Auffassung der Vertreter der GS besteht das Lexikon als Inventar der lexikalischen Einheiten aus (a) phonologischen Formen mit der Angabe morphologischer Eigenschaften und syntaktischer Ausnahmemerkmale — d. h. „Morphemen ohne Bedeutung", Formativen — (b) derivierten semantischen Bäumen (c) Mechanismen, die (a) und (b) einander zuordnen. (Vgl. GREEN 1 9 6 9 : 7 8 f.)
Jede lexikalische Einheit ist als Lexikoneintrag im Hinblick auf diese drei Typen von Angaben gekennzeichnet, sie ist als eine Regel konzipiert, die eine bestimmte derivierte semantische Struktur durch ein bestimmtes lexikalisches
72
(1968b ujid 1969) gibt die Präsuppositionen in den Lexikoneinträgen explizit an. deutet sie an (siehe 1972: 40) bzw. charakterisiert die verbal (siehe 1974b: 489). Zu der Unterscheidung von nicht präsupponierter, „inhärenter" Bedeutung und Präsuppositionen vgl. BIERWISCH (1970). FILLMORE
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300
Formativ ersetzt. Ein Beispiel für solche im Lexikon registrierten Regeln der lexikalischen Einsetzung in syntaktische Strukturen73 ist (3.3.3.-1) (a) [ K BECOME[ V NOT[ V KNOW]]] => [vForget]
bzw. in anderer Notation (3.3.3.-1) (b) ^
v
v Forget
V BECOME
NOT
KNOW
(Die Regel weist an, die links vom Pfeil stehende Struktur durch die rechts von ihm stehende zu ersetzen; vgl. DE RIJK 1974: 65.) Ähnlich faßt auch MCCAWLEY Lexikoneinträge als Substitutionstransformationen auf, deren strukturelle Beschreibung eine transformationell derivierte SR zusammen mit gewissen kontextuellen Spezifikationen ist, wie z. B. mit der Angabe, daß ein bestimmtes Verb ein direktes Objekt verlangt. Die Substitutionstransformation setzt für die derivierte SR eine phonologische Repräsentation mit idiosynkratischen Merkmalen ein, die das Verhalten des Morphems in postlexikalischen Transformationen steuern. Vgl. DEAN FODOR (1977: 156) unter Verweis auf MCCAWLEY (1968b). Damit stellen sich die Bedeutungen der lexikalischen Einheiten als Doubletten von Ergebnissen syntaktischer Regeln dar. Der Unterschied zwischen Syntax und Lexikon wird in bezug auf diese semantischen Strukturen gleichsam aufgehoben und ist auf die Bindung der Bedeutung der lexikalischen Einheiten an spezifische Formative reduziert. Es gibt jedoch Spezifika der lexikalischen Einheiten und damit des Lexikons gegenüber der Syntax, denen auch in der GS im Lexikon Rechnung getragen werden muß. Eines von diesen soll im folgenden veranschaulicht werden. In durch Prädikathebung derivierten semantischen Strukturen SR. von Sätzen wie 73
Vgl. auch DE RIJK (1974: 50): "The set of all lexical insertion rules is appropriately called the lexicon."
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(3.3.3.-2) SRr. S
MACHEN (CAUSE)
WERDEN (BECOME)
NICHT
LEBEND
(NOT)
(ALIVE)
wo der vom obersten K-Knoten dominierten Teilstruktur das Verb töten entsprechen soll, kann die semantische Rolle von x1 und y1 aus der Derivationsgeschichte des Satzes, und zwar aus seiner zugrunde liegenden semantischen Struktur SR t entnommen werden. Bei den lexikalischen Einheiten ist dies nach M C C A W L E Y S und G R E E N S Auffassung von Lexikoneinträgen nicht möglich. Für die lexikalischen Einheiten gibt es im Lexikon keine zugrunde liegende semantische Struktur. Demzufolge muß die Spezifik der semantischen Relation zwischen Verben und ihren einzelnen Ergänzungen aus der zugrunde liegenden semantischen Struktur von Sätzen, in die die lexikalischen Formative eingesetzt werden, entnommen werden. Nun unterliegen die im Lexikon verzeichneten prädikativen Einheiten bezüglich ihres Kontextes semantischen Selektionsbeschränkungen — auch lexikalische Voraussetzungen genannt. 74 Für das Verb töten z. B. ist dies die Beschränkung, daß das Objekt lebendig ist. töten hat die Bedeutungskomponenten ,