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German Pages 133 [136] Year 1970
Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 2
Peter Salm
Drei Richtungen der Literaturwissenschaft Scherer - Walzel - Staiger
Aus dem Englischen übertragen von Marlene Lohner
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1970
Titel der amerikanischen Originalausgabe: Three Modes of Criticism The Literary Theories of Scherer, Walzel, and Staiger © The Press of Case Western Reserve University Cleveland 1968
Redaktion der Reihe: Lothar Rotsch
I S B N 3 484 22 002 3 © für die vom Verfasser autorisierte deutsche Fassung Max Niemeyer Verlag Tübingen 1970 Alle Rechte vorbehalten • Printed in Germany Herstellung: Bücherdruck Helms K G Tübingen Einband von Heinr. Koch Tübingen
Vorwort
Als Student fragte ich mich manchmal, ob die Literaturtheorie dadurch, daß sie sich mehr und mehr ihrer selbst bewußt werde, nicht dazu neige, sich von der Literatur zu entfernen. Meine erste Berührung mit Werken, die man wohl zutreffend als >Kritik der Kritik< bezeichnen könnte, löste in mir das unbehagliche Gefühl aus, es könne sich eine dritte und sogar noch eine weitere Stufe der Kritik entwickeln, so daß eine unendliche Reihe - ähnlich dem durch zwei einander gegenüberstehende Spiegel vervielfachten Bild - schließlich das Ergebnis wäre. Diesem Unbehagen ist die weitverbreitete, meist mit Bedauern vorgebrachte Ansicht verwandt, daß Kritik eher eine Kunst denn eine Wissenschaft sei und sein solle. Abstraktionen seien niemals ganz genau auf bestimmte literarische Werke anwendbar. Pedanterie und Anmaßung findet man in der Literaturwissenschaft mindestens ebenso häufig wie in anderen Disziplinen, sie sollten auch als solche angeprangert werden. Aber die Ansicht, Kritik müsse >künstlerisch< oder >poetisch< sein, scheint aus einer Vermischung von Theorie und Praxis entstanden zu sein. Wenn auch beide voneinander abhängen, so bleiben sie doch verschieden und unterscheidbar. Man muß sowohl der Kunst des Literaturkritikers als auch der Abstraktion, die hinter einer Theorie der Kritik steht, den ihnen gebührenden Rang zugestehen - eingedenk dessen, daß es hier mehr um die richtige Gewichtsverteilung als um Exklusivität geht. Ich bin der Überzeugung, daß die Literaturtheorie als philosophische Disziplin eine ständige Neubewertung verdient und daß die praktische Kritik von der Revision ihrer theoretischen Voraussetzungen nur profitieren kann. Diese Studie ging aus einer Dissertation hervor, die ich unter Anleitung von Professor René Wellek erarbeitet und 1959 vorgelegt habe. Das zweite Kapitel erschien im Mai 1969 in einer kurzen Fassung unter dem Titel »Oskar Walzel and the Notion of Reciprocai Illumination in the Arts« in The Germanie Review. Durch Abänderungen und Zusätze hat dieses Buch manches von dem ursprünglichen Charakter einer Dissertation verloren; andererseits wurde es dabei hoffentlich mehr auf den V
heutigen Stand der Forschung gebracht und die Entwicklung des Autors nicht außer acht gelassen. Es ist mir ein Bedürfnis, meinen Dank der Übersetzerin, Frau Dr. Marlene Lohner, auszusprechen, die viel Mühe und ihr außerordentliches Geschick darauf verwendet hat, diese Arbeit erfolgreich ins Deutsche zu übertragen. Wie die englische Ausgabe dieses Buches ist auch die deutsche Fassung meiner Frau June gewidmet. Peter Salm
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort Einführung I. Wilhelm Scherer II. Oskar Walzel III. Emil Staiger
V i 5 37 7j
Literaturhinweise
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Namenverzeichnis
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Einführung
Abhandlungen über Literaturtheorien machen einen übernationalen Standpunkt in einem höheren Maße notwendig als solche, die sich direkt mit Literatur beschäftigen. Eine gemeinsame Sprache und ein annähernd gleicher sozialer und politischer Hintergrund berechtigen durchaus dazu, literarische Werke in einen nationalen oder regionalen Zusammenhang zu stellen. Doch wird man sich zunehmend der Grenzen einer streng nationalen Orientierung jeglichen kritischen Bemühens bewußt, sei dieses nun praktischer oder ausgesprochen theoretischer Natur. Obwohl literarische Bewegungen eine deutlich nationale Färbung haben, sind sie doch meist durchsetzt von Ideen, die in vielen Ländern Geltung haben. Von poetologischen und ästhetischen Theorien erwartet man mit Recht, daß sie über die speziellen Probleme von Nationalität und Sprache hinausgehen. Literaturwerke stehen im allgemeinen in schärfstem Licht, wenn man sie in ihrem >nationalen Kontext< sieht. Die Frage nach dem spezifisch Deutschen beispielsweise in Novalis' »Heinrich von Ofterdingen« oder dem spezifisch Englischen in T. S. Eliots »The Cocktail Party« ist selbstverständlich berechtigt, und die Relevanz von nationalem Klima und nationaler Tradition braucht nicht geleugnet zu werden. Aber wie stark der Geist einer Nation auch immer an den einzelnen Literaturwerken beteiligt sein mag, so ist in ihnen doch ein Nährboden für poetologische Prinzipien eingebettet, welcher der europäischen Literatur insgesamt eigen ist. Eine Literaturtheorie, die an bestimmten Werken nur so grundlegende Begriffe wie das Verhältnis von Realität und Dichtung demonstrieren will oder sich mit Literaturgattungen beschäftigt, wird sogleich Teil eines Systems ästhetischer Prinzipien, die ihrem Wesen nach allgemein und übernational sind. In einer Analyse von Novalis' verstreuten kritischen Äußerungen oder von Eliots Essays dürfen Überlegungen, die sich auf Nationales und Regionales beziehen, nur eine zweitrangige Rolle spielen. Dazu ließen sich noch zahlreiche Beispiele anführen. Es ist dabei ziemlich unwichtig, ob der Autor seine Theorien als Apologie für seine eigenen poetischen Schriften konzipiert hat oder ob er ausschließlich
Theoretiker ist. Die darin enthaltenen poetologischen Prinzipien müssen nach ihrem eigenen Wert beurteilt werden. Die Frage, ob Novalis und Eliot sich in ihren Dichtungen tatsächlich an ihre eigenen Theorien gehalten haben oder nicht, ist zwar recht interessant, aber doch nicht unmittelbar von Belang für die Literaturtheorie. Während das Programm, das Zola in seinem »Roman Expérimental« umrissen hat, sich allgemein in seinen Romanen widerspiegelt, bietet seine Theorie des wissenschaftlichen Naturalismus dagegen keine Erklärung für symbolische, melodramatische oder ironische Elemente, die ebenfalls vorhanden sind. Gleichwohl wurde der Naturalismus als Programm Teil der gesamten europäischen Kritik, mit dem man sich als einer von vielen dichterischen Möglichkeiten auseinandersetzen mußte. Die Tatsache, daß die drei Literaturwissenschaftler, mit denen wir es hier in erster Linie zu tun haben, der Tradition deutscher Literaturkritik angehören, ist für die deutsche Geistesgeschichte von Bedeutung und sollte auch von den Verfechtern selbst der strengsten philosophischen Poetik nicht übersehen werden. Von Belang sind gewiß auch biographische Daten. Es ist jedoch selbstverständlich, daß die Berücksichtigung eines solchen Hintergrundes eine Beurteilung der Theorien selbst nicht zu ersetzen vermag. Das Verständnis von Wilhelm Scherer wird zweifellos vertieft, wenn man sich vergegenwärtigt, daß er ein Österreicher war, den die Fortschritte Preußens in bezug auf eine deutsche Vereinigung unter der Führung Bismarcks in Begeisterung versetzten. Scherer wurde Preuße aus Überzeugung, was ihn zudem zu einer oppositionellen Haltung gegenüber dem Katholizismus und dem religiösen Dogma im allgemeinen führte. Es ist daher richtig, sein Vorurteil gegen die österreichische Literatur vor diesem Hintergrund zu sehen. Doch um sein Ziel, die Schaffung einer neuen Basis für die deutsche Literaturwissenschaft, zu erreichen, machte er sich ohne Zögern die Ideen des französischen wissenschaftlichen Determinismus und des englischen Positivismus zu eigen. Sein grenzenloser Glaube an die Methoden der Naturwissenschaft wurde von den meisten seiner Zeitgenossen geteilt. Desgleichen wird auch eine Bewertung Walzels durch die Kenntnis, daß er Österreicher war, bereichert. Ganz im Unterschied zu Scherer verwarf Walzel den Katholizismus jedoch nie. Die religiöse Glaubenslehre wurde zu einem immer wichtigeren und zentraleren Faktor in seinem Leben. Infolgedessen lassen sich Walzels Ablehnung des Determinismus und der Idee naturwissenschaftlicher Kausalzusammenhänge im Bereich der Literatur in einem umfassenderen soziologischen und geistigen Zusammenhang sehen, als es ohne die Kenntnis solcher bio2
graphischen Fakten möglich wäre. Walzeis formalistisches Vorgehen mag als eine Reaktion auf den Glauben seiner Lehrer - die meisten von ihnen prominente Mitglieder der Scherer-Schule - an eine allgegenwärtige mechanistische Kausalität verstanden werden. Er war einer der ersten, der die Literatur als ein komplexes und weitgehend autonomes System von Formen ansah, das keine Analyse außerhalb seiner selbst erfordere. Das katholische Dogma war noch am wenigsten dazu geeignet, selbst durch die strengste Anwendung des Formalismus gefährdet zu werden. Letzterem sollte sogar vor Diltheys nachdrücklicher Forderung nach Psychologie der Vorzug gegeben werden. Man muß jedoch bedenken, daß Versuche, Literatur mit Hilfe von Begriffen zu erhellen, die ursprünglich für Malerei und Architektur entwickelt wurden, weder neu noch spezifisch deutsch sind. Vielmehr stehen sie im Zusammenhang mit einem ästhetischen Bestreben, das in ganz Europa eine Rolle spielte seit der Forderung von Horaz, ein Gedicht solle wie ein Gemälde sein. Emil Staiger ist Schweizer. Sein Hauptinteresse gilt der deutschen Literatur. Wir verweisen auf seine Liebe zur Musik und darauf, daß er ausgezeichnet Klavier spielt. Sein besonderes Verhältnis zur lyrischen Dichtung, seine Vorstellung vom Stil als >Rhythmus< erscheinen dann als natürlich gewachsen aus seiner persönlichen Neigung und speziellen Begabung. Sein überwiegend >musikalisches< Herangehen an die Dichtung kann wohl auf die deutsche Romantik zurückgeführt werden und auf das Prinzip, das M. H . Abrams in »The Mirror and the Lamp« (1953) zutreffend »ut musica poesis« nennt. - Selbst wenn man in Betracht zieht, wie schwierig es ist, seine eigene Zeit zu analysieren, darf man wohl mit Sicherheit behaupten, daß der Existentialismus in seinen verschiedenen Formen ein wichtiger Bestandteil des modernen intellektuellen Klimas ist. Er ist eine Revolte gegen traditionelle Systeme und da, wo Staiger Heideggersche Prinzipien auf die Literatur anwendet, ein Versuch, die Kategorien der Existenz und der Zeit in der schöpferischen Literatur herauszustellen. Bei ihm findet eine radikale Abkehr vom begrifflichen Denken und vom begrifflichen Gebrauch der Sprache statt. Worte und ihre Wurzeln leiten hin zu philosophischen Einsichten. Eindeutig vertreten die drei Gelehrten drei aufeinanderfolgende Generationen: Scherers theoretische Hauptwerke entstanden etwa zwischen 1870 und 1886, als er im Alter von 45 Jahren starb. Für Walzel waren die Jahre zwischen 1 9 1 0 und 1930 die produktivsten. Professor Staiger, geboren 1908, letzthin im Kreuzfeuer vehementer Debatten über >Modernität< in der Literatur, veröffentlichte sein erstes Buch im Jahr 1933. Allerdings wird in dieser Studie nicht der Versuch gemacht, festzu3
stellen, in welchem Ausmaß jede der drei Theorien typisch ist für die Generation, in der sie entstand, oder andererseits, bis zu welchem Grade jede einzelne ein wesentlicher Beitrag zum Denken und Empfinden einer Generation war. Zugleich aber resultiert doch die Tatsache, daß wir diese drei Persönlichkeiten für unsere Untersuchung ausgewählt haben, aus der Überzeugung, daß sie in hohem Maße repräsentativ sind für die Veränderungen des literaturkritischen und literaturwissenschaftlichen Schrifttums zwischen 1870 und der Gegenwart. Historische und biographische Fakten werden nur soweit Berücksichtigung finden, wie sie unserer Betrachtung Perspektiven und Brennpunkte verschaffen können. Das bedeutet, daß die kritischen Theorien nicht im Hinblick auf ihre historischen Zusammenhänge bewertet werden, sondern daß ich mich bemüht habe, ihre Prämissen und Methoden von einem durch und durch modernen Standpunkt aus zu betrachten. Anstatt lediglich festzustellen, daß eine bestimmte Theorie für eine bestimmte Zeit typisch gewesen ist, werden wir untersuchen, wie weit - ganz oder teilweise - eine solche Theorie für unsere Zeit Gültigkeit besitzt. Ermutigend für dieses Bemühen ist die Tatsache, daß alle drei Methoden, zumindest in Variationen, heute noch angewandt werden, wenn auch die extremeren Formen der biographischen Methode, wie sie von Scherers Schülern geübt wurden, viel an Überzeugungskraft verloren haben. Walzels beharrliche Versuche, ein Vokabular zur Beschreibung der strukturellen Elemente in der Literatur zu entwickeln, kann man mit nahe verwandten Strömungen der jüngeren amerikanischen Kritik vergleichen; und Staigers Suche nach Seinsweisen, wie sie sich im literarischen Stil widerspiegeln, ist ein starker Beweis für das wiederkehrende Bedürfnis nach einer neuen ontologischen Wertung auf dem Gebiet der Literaturtheorie. In unseren Untersuchungen wollen wir uns bemühen, den Unterschied zwischen der Theorie und ihrem Gegenstand, der Literatur, klar im Bewußtsein zu behalten. Sidneys berühmter Ausspruch, daß der Dichter »nichts behauptet und deshalb niemals lügt« ist immer noch wahr. Literaturtheorie ist jedoch nicht Kunst. Sie hat es mit ästhetischen Postulaten zu tun, die man entweder bejahen oder bestreiten kann. Man kann die Gültigkeit theoretischer Behauptungen durchaus in Frage stellen, und der Kritiker beruft sich nicht wie der Dichter auf die Integrität des geschriebenen Wortes, sondern auf die Normen der philosophischen Ästhetik.
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I. Wilhelm Scherer
Obwohl Scherer bei seinen Kollegen und Studenten in hohem Ansehen stand, wurde er in weiteren Kreisen doch erst bekannt, als 1883 die vollständige »Geschichte der deutschen Litteratur« in den Buchhandlungen erschien. Der phänomenale Erfolg dieses Buches ist bekannt; Scherer selbst erlebte in den letzten drei Lebensjahren noch drei Auflagen. Sein Einfluß auf die Literaturgeschichtsschreibung und darüberhinaus auf die Kritik war beträchtlich. Als das Werk dreißig Jahre nach dem ersten Erscheinen gesetzlich frei und Allgemeingut geworden war, ergriff ein neuer Verleger sofort die Gelegenheit und bat Walzel, Scherers »Geschichte« auf den neuesten Stand zu bringen. Der >SchererWalzelnaher Verwandtschaft zur gebundenen Rede< versteht. Er schließt nur e i n e Form des Schreibens vom Bereich der Poetik aus, nämlich eine in Prosa geschriebene naturwissenschaftliche Abhandlung, da sie keinen Anspruch auf künstlerische Wirkung erhebe und die Einbildungskraft nicht stimulieren wolle.' 4 Eine wissenschaftliche Abhandlung in gebundener Rede andererseits ist ipso facto Dichtung. Scherer setzt sich mit Aristoteles auseinander, weil dieser gerade Lehrgedichte aus der Dichtung ausschloß, während er die Sokratischen Dialoge dazurechnete. Scherer bezeichnet ohne Zögern alle metrisch gegliederte Rede als Dichtung, aber er ist unsicher hinsichtlich der Einordnung der Prosa. Hier und nur hier werden, nach Scherer, die Unterscheidungen unscharf. Er bemerkt mit einiger Unruhe, daß eine wissenschaftliche Abhandlung wohl die Phantasie anzusprechen vermöge, während sich ein Roman unter Umständen in keinerlei Hinsicht als poetisches Material erweisen könne. Er ist offensichtlich unfähig, überzeugende Grundsätze für die Auswahl von Prosa aufzustellen, die dem Bereich der Dichtung im weiteren Sinne zugehörte.®5 Scherer versucht dann, poetische Aussageweisen zu charakterisieren und zu erklären, indem er sie auf drei Urtypen sprachlichen Ausdrucks gründet: Chorgesang, Sprichwörter und Märchen. Die Schlußfolgerung scheint zu sein - obwohl dies nicht deutlich gemacht wird - , daß Prosa, welche sich auf eine oder mehrere dieser ursprünglichen Typen zurückführen läßt, als echte Dichtung eingeordnet werden kann. Solche Art von Analyse ist unbefriedigend, ja sogar unmöglich, wenn sie ganz objektiv ausgeführt wird. Die Schwierigkeit ergibt sich aus Scherers ursprünglicher Absicht, Definitionen zu vermeiden - aus der offenkundigen Überzeugung heraus, daß poetische Prinzipien von innen her nicht definierbar seien und von außen nur teilweise: Verse sind Poesie, weil Reim und Metrum durch mechanische oder >wissenschaftliche< Methoden bestimmt werden können. Eine Prosaerzählung läßt " M 85
Poetik S. 3 2 . Ibid. S . 3 1 . Nachträglich modifiziert Scherer dichte über naturwissenschaftliche gelten, dürften sie natürlich nicht mehr >Darstellung< des Entdeckten
seine A u f f a s s u n g im Hinblick auf G e Gegenstände; er sagt: um als Poesie zu Untersuchung sein, sondern müßten vielenthalten. 27
sich nicht so leicht einordnen; sie ist dann poetisch, wenn sie in naher Verwandtschaft zur gebundenen Rede steht. Solch ein Schluß scheint unvermeidlich zu sein, wenn wir Scherers in der Einleitung ausgedrücktes Ziel bedenken: »Ich strebe wenig danach, das Wesen der Sache durch Definitionen aufzufassen und in eine Definition zu pressen. Ich scheue mich vielmehr vor Definitionen, weil damit zuviel Unwesen getrieben worden ist.«66 Die »Poetik« ist tatsächlich die letzte Konsequenz von Scherers Tatsachen-Empirismus. Weil er die Gültigkeit eigentlich literarischer oder ästhetischer Normen leugnet, ist er unfähig, gute Literatur von schlechter zu unterscheiden oder gar Literatur von Nicht-Literatur. In der Praxis überwindet er natürlich diesen theoretischen toten Punkt mit Hilfe intuitiver Wertung oder ganz einfach mit gutem Geschmack. Die theoretische Sackgasse könnte nicht besser demonstriert werden als durch sein Unvermögen, die Sokratischen Dialoge als Poesie anzuerkennen, wie es Aristoteles getan hatte. Auf Grund seines extremen Standpunktes muß er notwendigerweise Aristoteles als zu >gesetzgeberisch< und nicht genügend unparteiisch ansehen: » . . . Aristoteles ist mir - abgesehen v o n der Erweiterung des Gesichtskreises, die uns von selbst reicher macht, als er w a r , - nicht Naturforscher genug. E r behandelt mir nicht hinlänglich die vorhandene Dichtung mit der kühlen Beobachtung, A n a l y s e und Classification des Naturforschers. Es ist mir zusehr Gesetzgeber. E r sucht die wahre Tragödie und das w a h r e E p o s ; er macht Wertunterschiede, die sich entschieden bestreiten lassen . . ,« 8 7
Werturteile in der Literatur seien deshalb ein zweckloses Unternehmen; eine sichere Anleitung zur Beurteilung poetischen Wertes könne nur durch das Studium der geschichtlichen Wirkung eines bestimmten Werks auf das Publikum gegeben werden: »In der A n a l y s e der Wirkungen werden zum Theil allerdings Werthurteile gegeben. Eine Poesie, v o n der gesagt werden kann, daß sie auf die edelsten Menschen aller Zeiten gewirkt hat, ist gewiß werthvoller als eine andere. A b e r weiter braucht die Ästhetik nicht zu gehen; des Urtheils über G u t und Schlecht kann sie sich gänzlich enthalten.« 68
Es ist bezeichnend, daß Scherer etwa die Hälfte seiner »Poetik« den Beziehungen zwischen dem Dichter und seinem Publikum widmet und meint, die Entwicklung poetischer Gattungen sei nichts anderes als des Dichters Antwort auf die Wünsche des Publikums. Das macht natürlich 86
Poetik S. X I I .
68
Ibid. S. 64. 28
67
Ibid. S. 4 3 .
die Poesie zum Sklaven des Gesetzes von Angebot und Nachfrage. Scherer ist tatsächlich der Meinung, daß selbst in der Antike die Poesie eine Art Ware gewesen sei, auf welche ökonomische Lehrsätze wirksam angewendet werden könnten. Und konsequenterweise geht er dazu über, die Begriffe und das Vokabular der Nationalökonomie zu verwenden, die er in reichem Maße von dem Nationalökonomen Wilhelm Roscher entlehnte."9 Es erscheinen Wörter wie »Kurswert«, »Waren«, »Produktion«, »Konsum«, und es wird deutlich, daß man Scherers Auffassung vom literarischen Wert in gewissem Sinne als demokratisch* bezeichnen kann. Nicht nur werden die literarischen Werte vom Volke bestimmt, sondern es ist auch der eigentliche Vorgang literarischer Schöpfung weitgehend abhängig von des Autors Fähigkeit zu erfühlen, was das Publikum wahrscheinlich gelten lassen wird. Solch althergebrachte Regeln für erfolgreiches dichterisches Schaffen wie z. B. Einheit in der Vielheit und Wahrscheinlichkeit werden nicht von der Struktur oder dem Sinn der Dichtung selber abgeleitet, sondern sind als Hilfen anzusehen, die Aufmerksamkeit des Publikums zu erhalten und Spannung hervorzurufen. Besondere Abschnitte der »Poetik« sind einer Analyse der Publikumsreaktion gewidmet. Von den bedeutenderen Autoren ästhetischer Schriften bewundert Scherer nur Gustav Th. Fechner ohne größere Einschränkungen, und er zitiert oft aus seiner »Vorschule der Ästhetik« (1876). Scherers Abneigung gegen Hegels Anschauungen wurde schon erwähnt. Er gibt allerdings zu, daß Hegel bei der Behandlung einzelner literarischer Erscheinungen gelegentlich hervorragende Einsichten hatte. Doch er kann nichts mit Hegels Schüler Friedrich Theodor Vischer anfangen, dessen Formalismus ihm noch unerbittlicher — und deshalb nutzloser - als der Hegels erscheint. Er lobt Hettners Essay »Wider die spekulative Ästhetik«, aber ist zugleich enttäuscht, daß Hettner nicht versucht, eine empirische Ästhetik zu umreißen, sondern stattdessen eine Kunstgeschichte schreibt. Im ganzen fand Scherer weit mehr Unterstützung für seine Auffassungen bei Philosophen (Darwin, Comte, Buckle), Wirtschaftspolitikern (Roscher), Historikern (Ranke) und bei Gelehrten wie Gervinus, für welche Literaturgeschichte ein Nebenzweig der nationalen Geschichte war, als bei Männern, die sich ausschließlich mit Literatur befaßten. Dilthey meinte, der entscheidende Unterschied zwischen ihm und Scherer liege darin, daß Scherer die Bedeutung der Psychologie unterschätze und es versäumt habe, sie als einen Faktor in die literarische *• Vgl. Wilhelm Roscher, Kolonien, Kolonialpolitik und Auswanderung, Leipzig 18 j6. Zuerst erschienen in: Archiv der politischen Ökonomie V I / V I I (1847-1848).
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Theorie einzubeziehen.70 Es stimmt zwar, daß Scherer bei der Entwicklung der >wechselseitigen Erhellung< und bei seinem Bestehen auf der Ursächlichkeit der Umweltfaktoren kein großes Interesse an der Psychologie zeigt. Doch sind beide Vorstellungen undenkbar ohne den festen Glauben an die Gleichheit und Vorausbestimmbarkeit psychischer Reaktionen auf bekannte Anreize. Aber wir brauchen uns nicht mit bloßen Vermutungen zufriedenzugeben: Scherer wußte auf jeden Fall, daß die Psychologie den Graben zwischen außerliterarischen Fakten und den eigentlich literarischen Erscheinungen überbrücken mußte. Schon im Jahre 1866 schrieb er in der Besprechung eines Buches über Geschichtsschreibung, daß die letzte Erklärung ökonomischer, geographischer und nationaler Einflüsse im Bereich der Psychologie zu suchen ist: »Classificationen der Erscheinungen und besondere Beschreibung jeder einzelnen Classe, Gattung und Art werden den Anfang der Forschung bilden und die Frage nach ihren Gründen und Folgen wird von selbst wieder auf die Vereinigung der verschiedenen Lebensgebiete und auf die gegenseitige Wirksamkeit ihrer Erscheinungen führen, die Erklärung dieser Wirkungen schließlich auf den Boden der Psychologie hindrängen, um dort den letzten Aufschluß zu suchen.« 71
In der »Poetik«, dem Werk, dem Diltheys Bemerkung im besonderen galt, zeigt der große Abschnitt, der sich mit der Verbindung zwischen Autor und Publikum befaßt, eine fast gänzlich psychologische Sicht. Ferner finden sich im ganzen Buch verstreut deutliche Hinweise auf die Psychologie. So schreibt Scherer, wenn er von der reinigenden Wirkung der homerischen Dichtungen spricht: »Hier ist dann wieder zu allgemeiner psychologischer Erfahrung vorzudringen, die zum Theil unmittelbar nacherlebt werden kann.« 72 Er beklagt es, daß sich Fr. Th. Vischer, dessen hegelianische Methode er ablehnt, zu sehr auf Spekulationen eingelassen und die Prinzipien der empirischen Psychologie nicht gebührend beachtet habe.73 In einem K a pitel mit der Überschrift »Aufmerksamkeit und Spannung«, in dem Scherer zu zeigen versucht, wie ein Dichter sein Werk verändern könne, um die gewünschte Wirkung auf das Publikum zu erzielen, schließt er 70
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»Scherer verwarf jede Mitwirkung der Psychologie. Wie sich zur Zeit die vergleichende Sprachwissenschaft von der Benutzung psychologischer Sätze ganz freigemacht hat, so gedachte er eine Poetik ganz mit denselben Hilfsmitteln und nach denselben Methoden herzustellen.« (Wilhelm Dilthey, in: Deutsche Rundschau X L I X , S. 144.) Kleine Schriften I, S. 1 7 1 . Poetik S. 68. Ibid. S. 160.
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den einführenden Abschnitt: »Es wäre wünschenswerth, die Erfahrungen, welche hierüber vorliegen, aus der Natur der menschlichen Aufmerksamkeit, wie sie die Psychologie darlegen müßte, abzuleiten.«74 Es scheint also, daß hier ein grundlegendes Mißverständnis auf Seiten Diltheys vorliegt, das er mit dem Philologen Hermann Paul teilt, der die vermutete Mißachtung der Psychologie zu einem wichtigen Faktor in seiner völlig negativen Einschätzung Scherers macht. 75 Wenn auch Erich Rothacker schon auf dieses Mißverständnis hingewiesen hatte,78 so blieb doch der irrtümliche Eindruck bestehen, daß Scherer, da er Positivist war, nichts mit der Psychologie zu tun haben wollte. So schreibt Otto Wirth in einer Dissertation aus dem Jahre 1937: »Im Einklang mit diesen positivistischen Ideen verwarf Scherer um der Klarheit und Einfachheit willen die psychologische Betrachtung der Literatur.« 77 Zweifellos deckten sich Scherers Methoden mit denen der Naturwissenschaft seiner Zeit, aber dies bedeutete keineswegs den völligen Ausschluß der Psychologie. In den frühen sechziger Jahren hatte der volkswirtschaftlich orientierte Historiker Roscher geschrieben: »Jede Wissenschaft vom Volksleben ist psychologischer Natur«, und Scherer billigte dieses Prinzip ausdrücklich im Jahre 1866. 78 Es wäre interessant zu untersuchen, bis zu welchem Ausmaß und in welcher Weise Scherers literarische Werturteile seinen formulierten Prinzipien entsprechen. Selbst wenn er sagt, daß in der Literaturgeschichtsschreibung eine Wertung unnötig sei, so zeigt seine »Geschichte der deutschen Litteratur« doch bestimmte Vorlieben und Abneigungen. Er beschäftigt sich mit Schriftstellern, deren Werk sich dazu eignet, seine Theorie der Zyklen zu unterstützen und die einen gewissen Widerstand gegen die vorherrschenden kirchlichen Doktrinen zeigen, eingehender als mit solchen, die den von ihm aufgestellten Prinzipien widersprechen würden. Er preist Luthers lyrische Leidenschaft und Einfachheit, aber er hat verhältnismäßig wenig über Hans Sachs zu sagen, wobei er sich indirekt rechtfertigt, wenn er schreibt: »An keinem Dichter des sech-
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Ibid. S. i 9 i f . Z . B . eine Stelle, w o Hermann Paul Scherer mit Buckle vergleicht: » M e r k w ü r d i g ist es, daß er wie Buckle absichtlich die psychologische A n a l y s e verschmähte, und es liegt darin ein Hauptmangel seiner Behandlungsweise.« (Hermann Paul, Grundriß der Philologie, 2. A u f l . Straßburg 1 9 0 1 , B d I, S. 1 0 3 . Erich Rothacker, Einleitung in die Geisteswissenschaften S. 2 2 8 f f . Otto Wirth, Wilhelm Scherer, Josef N a d l e r , and Wilhelm Dilthey as Literary Historians, Diss. C h i c a g o 1 9 3 7 , S. 9. Kleine Schriften I, S. 1 7 1 .
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zehnten Jahrhunderts läßt sich die ästhetische Unbildung der Epoche so mit Händen greifen wie an Hans Sachs.«70 Während er zu Goethe eine steigende Verwandtschaft empfand, zeigte er für Schiller nur ziemlich kühlen Respekt. Merkwürdigerweise stellte er die »Braut von Messina« am höchsten unter Schillers Dramen. Seine Abhängigkeit vom >Urteil der Geschichte< nötigte ihn, sein Buch mit Goethes »Faust« zu beenden, und in einer Nachschrift sagt er, daß nur so seine Geschichte zu einem würdigen Abschluß gelangen könne. Sich mit den letzten fünfzig Jahren zu befassen, wäre wie ein »zerstreuter und zerstreuender Anhang«. 80 Man darf wohl sagen, daß Scherers Wertungskriterien insofern soziologisch sind, als er literarische Werke als Dokumente auffaßte, welche die Wechselfälle des nationalen Lebens widerspiegeln. Ein interessantes Beispiel ist seine Beurteilung Friedrich Hölderlins. Über die Behandlung dieses Dichters in der »Geschichte der deutschen Litteratur« kann nicht viel mehr gesagt werden, als daß er ihm nur eine einzige Seite in einem Werk von 720 Seiten widmete. Die einleitende Bemerkung, obwohl rein impressionistisch, ist die verständnisvollste: »Und der unglückliche Hölderlin, der im Wahnsinn endete, sang einige so ergreifende Melodien, daß uns ihr Ton noch heute wie mit erster Gewalt erschüttert.« 81 Abgesehen von der Kürze der Behandlung ist die Wertung doch ziemlich hoch, mit Ausnahme des Satzes: »Lieber aber schwelgt er in gestaltloser Stimmung.«82 Viel aufschlußreicher ist ein früherer Artikel über Hölderlin, den Scherer im Jahre 1870 schrieb. Bei hoher Wertschätzung einzelner Gedichte kommt er zu einem im wesentlichen negativen Urteil. Man muß freilich bedenken, daß bis dahin noch niemand Hölderlins große Bedeutung als Dichter erkannt hatte. Erst durch Diltheys im Jahre 1905 veröffentlichten kritischen Essay »Hölderlin« wurde die Aufmerksamkeit der Literaturwissenschaft auf ihn gelenkt. (Eine kritische Ausgabe seiner Werke lag vollständig erst fünf Jahre nach dem ersten Weltkrieg vor.) 83 Scherer geht bei seiner Beurteilung von Goethes bekannter negativer Einschätzung Hölderlins aus. Er weist auf das Fehlen sinnlicher Elemente in seiner Dichtung hin und wendet sich gegen die Klopstockartige »gestaltlose Idealität«. 84 79
Geschichte d. d. Litt. S. 306.
80
81
Ibid. S . 6 4 5 . Hölderlin, Sämtliche Berlin 1 9 1 3 - 1 9 2 3 .
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Werke,
hg. von
Ibid. S. 6 4 5 .
Ibid. N o r b e r t von
Hellingrath,
6
Bde,
»Die gestaltlose Idealität Klopstocks hat sich in Hölderlin fortgesetzt.« (Vorträge und A u f s ä t z e zur Geschichte des geistigen Lebens in Deutschland und Österreich, Berlin 1 8 7 4 , S. 3 $ i . )
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Diese Bemerkungen sind jedoch nur die Vorbereitung zu der endgültigen Auseinandersetzung, in der Scherers nationales Ethos seine Kritik bestimmt. Er behauptet, der das ganze Dichten und Leben Hölderlins durchziehende Gefühlston sei die Verzweiflung über die Erniedrigung seines Vaterlandes. Es findet sich keinerlei Anerkennung der metaphysischen Leidenschaft der reifen Werke Hölderlins. Stattdessen beschuldigt er ihn, ein Opfer der >WeltschmerzWeltschmerzWeltanschauung< geworden. Scherer verwechselt das besondere Vorurteil seines Zeitalters mit Objektivität. Zum Beispiel tadelt er die Brüder Schlegel, weil sie der >Astrologie, Magie und aller Art von Aberglauben« zu Hilfe kämen.8® Nachdem Scherer sich an der Berliner Akademie durchgesetzt hatte, befaßte er sich auch gelegentlich mit zeitgenössischen Werken der Literatur. In verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften erschienen Besprechungen über Bücher von Gustav Freytag, Gottfried Keller, Berthold Auerbach. In einer Rede über Emanuel Geibel erhebt er diesen zweitrangigen, doch eleganten Münchner Dichter zu hoher Bedeutung in der deutschen Literatur. 87 Man versteht, daß sich Scherer als >Germanist< nicht mit Ibsen, Dostojewskij, Tolstoj und Zola befaßte, die alle zu seinen Lebzeiten bedeutende Werke schufen, aber erstaunlicherweise fehlt bei ihm auch gänzlich eine Auseinandersetzung mit Autoren vom Range eines Theodor Storm, Theodor Fontane und Conrad Ferdinand Meyer. Scherers Stil in diesen Buchbesprechungen ist flüssig und journalistisch. Sie sind eher von der Art anerkennender Essays als von der Art der Kritik. Gustav Freytags »Soll und Haben« gehörte zu Scherers formbildender Erfahrung, und er empfand gegenüber Freytag eine umso 85 88 87
Ibid. S. 3 $ 3 . Kleine Schriften I, S . 4 1 . Deutsche Rundschau X L (1884), S. 3 6 - 4 5 .
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herzlichere Verehrung, als er ihm das freundlichste und phantasievollste Bild der germanischen Vergangenheit in den »Ahnen« beschert hatte.88 Eine Besprechung von Gottfried Kellers Züricher Novellen ist des Lobes voll und enthält nur einen milden Vorwurf, der die Figur des Hadlaub betrifft. 89 Tatsächlich ist diese Besprechung erfrischend frei von Theorie, und der sprachliche Ausdruck ist hier flüssig, phantasievoll in der Wahl von Metaphern und von ansteckendem, jugendlichem Schwung. Die Unruhe, mit der Keller die Besprechung seines Werkes in der einflußreichen »Deutschen Rundschau« erwartete, wirft ein interessantes Streiflicht auf Scherers Ansehen. Verständlicherweise fürchtete Keller, daß der berühmte Professor aus Berlin das Maß nüchterner Korrektheit an die Figur des Hadlaub anlegen werde. In einem Brief vom 18. März 1878 an seinen Freund Julius Rodenberg schrieb Keller: »Die Rezension des Herrn Professor Scherer gewärtige ich mit beklemmtem Herzen, da er namentlich über den Hadlaub als Fachmann den Bakel schwingen wird, wegen Verbreitung falscher Behauptungen.«90 Als die Besprechung dann erschien, sehr günstig außer der erwarteten Einschränkung im Hinblick auf Hadlaub, bemerkte Keller mit einem Anflug von Humor : » . . . wenn er nur überall so recht hätte, wie bei dem Hadlaub.« 91 Dagegen ist der Name Richard Wagner für Scherer ein Greuel. Er macht ihn als Dramatiker und als Komponisten bei jeder sich bietenden Gelegenheit lächerlich, ohne einen zwingenden Grund für seine Haltung anzugeben. Wir können aber annehmen, daß sich diese aus seiner lebenslangen Abneigung gegen den >Pessimismus< erklärt, den er schon bei Hölderlin, Schopenhauer und Grillparzer bekämpft hatte.92 Die Methoden, deren sich Scherer wirkungsvoll für die Literatur bis zur Goethezeit bediente, waren offenkundig ungeeignet für die Anwendung auf zeitgenössische Werke. Scherers Weigerung, in seine »Geschichte der deutschen Litteratur« Bücher aufzunehmen, die weniger als fünfzig Jahre alt waren, bestätigt diesen Schluß. Scherers Hauptverdienst liegt in der Begeisterung für eingehende textliche und biographische Forschung, die er auf seine Studenten übertragen konnte. Indem er der Kenntnis von Fakten, die mit der endgültigen Fassung eines literarischen Werkes zusammenhängen, eine so große Bedeutung beimaß, 88 89 90
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Vgl. Scherers Brief an Gustav Freytag: Kleine Schriften II, S. 3 6 - 3 9 . Kleine Schriften II, S. 1 5 2 - 1 5 9 . Emil Ermatinger, Gottfried Kellers Leben, 3. und 4. Aufl. Stuttgart Bd III, S. 237. Ibid. S. 264. Kleine Schriften I, S. 53 und 7 1 8 ; auch: Poetik S. 192. 34
1919,
förderte er die umständliche, aber unschätzbare Arbeit, die für kritische Editionen und genaue Biographien erforderlich ist. Der Umfang des Faktenmaterials wurde bedeutend erweitert, und die Kriterien für die Prüfung seiner Zuverlässigkeit wurden unermeßlich geschärft. Dazu gehörten das Verifizieren von Daten, Perioden und Ursprüngen wie auch Studien über die Übereinstimmungen zwischen literarischen Werken und historischen Ereignissen. Die Scherer-Schule hielt sich bis weit ins 20. Jahrhundert hinein, obwohl eine wichtige neue Bewegung schon von 1890 an erfolgreich vordrang. Als letzten Vertreter der Scherer-Schule kann man vielleicht Edward Schröder bezeichnen, der 1942 starb.93 Neben Scherer, aber hauptsächlich nach dessen Tode im Jahre 1886, arbeitete Dilthey an einer Poetik, die wie diejenige Scherers empirisch, historisch und wissenschaftlich sein sollte. Dilthey bemühte sich nicht nur um eine Erhellung des Bindegliedes zwischen äußerem Faktum und literarischem Ausdruck, sondern dieses Bindeglied selbst bildete das Zentrum seiner Untersuchungen. Leben und Literatur wurden zu einer einzigen psychischen Struktur und alle kritischen Bemühungen zielten darauf ab, die >Weltanschauung< des Autors herauszudestillieren. So wurde gerade die Auffassung, die Scherer als irrelevant abgelehnt hatte, grundlegend für die neue Bewegung der >GeistesgeschichteWeltanschauung< voneinander unterscheiden. Der Grund für Walzels Annahme des ihm vom Verleger gemachten Vorschlags, Scherers Literaturgeschichte fortzusetzen, war mehr praktischer als theoretischer Art. Für den neuen Verleger war es ein gutes geschäftliches Unternehmen, da Scherer im Jahre 1917 dreißig Jahre tot war und die Verlagsrechte daher frei waren; für Walzel hingegen war es eine ausgezeichnete Gelegenheit, ein großes Publikum zu gewinnen. Man darf freilich nicht vergessen, daß Walzels akademische Schulung fast ausschließlich in den Händen prominenter Vertreter der Scherer-Schule gelegen hatte: zuerst waren es Erich Schmidt und Richard Heinzel, und, nach Schmidts Berufung an das Goethe-Archiv in Weimar im Jahre 1887, auch Jakob Minor. Walzels Entfremdung von Scherers Ansichten ging allmählich vor sich und wurde wahrscheinlich auch durch das stete Vorbild seiner Lehrer verzögert; aber sie nahm zu mit wachsender Selbstsicherheit und mit der Festigung seiner Position unter den Literaturwissenschaftlern. Den Ansatz zu jenen Ansichten, die ihn schließlich dazu brachten, sich vom Naturalismus und der positivistischen Schule der Literaturwissenschaft zu trennen, kann man schon in seinen frühesten Veröffentlichungen erkennen. Seine zunehmende Bindung an das katholische Dogma und seine frühe Neigung zu einer synthetischem statt >analytischen< Literaturauffassung müssen als wichtige Faktoren in Walzels Geistesentwicklung angesehen werden. Oskar Walzel wurde 1864 in Wien geboren. Sein Vater war ein wohlhabender Getreidekaufmann, dessen Vermögen und Sicherheit in der Wirtschaftskrise von 1875 unwiederbringlich zerstört wurden. Wal37
zels Mutter war nun gezwungen, für den Lebensunterhalt der Familie aufzukommen. Sein Leben lang bewunderte Walzel die Willenskraft und Ausdauer seiner Mutter. In seinen ersten Gymnasialjahren hatte er keine besonderen Erfolge und mußte sogar das fünfte Jahr wiederholen. Er erhielt Nachhilfestunden durch einen Hauslehrer; erst nach dessen Entlassung besserten sich seine Leistungen beträchtlich. Er fühlte sich nun selbständig und imstande, die Bedeutung von Willenskraft und Beharrlichkeit zu erkennen. 1 Nachdem er 1883 die Matura gemacht hatte, ließ er sich an der Wiener Universität immatrikulieren und machte 1887 sein Rigorosum, ohne besondere Auszeichnung. Durch Nachhilfestunden für Gymnasiasten konnte er für ein Jahr genug Geld verdienen, damit er nach Norden reisen und in Berlin Vorlesungen hören konnte. Mit dem Doktordiplom in der Tasche konnte er die verschiedensten Seminare besuchen, ohne ein strenges Programm einhalten zu müssen. So hörte er Treitschke, dessen Volksrednermanier ihn erschreckte. Er war von Diltheys Vorlesungen tief beeindruckt und glücklich, seine persönliche Bekanntschaft zu machen, aber doch bestürzt über dessen Bemerkung, daß Friedrich Schlegel, so groß er auch sei, seit seinem Ubertritt zum Katholizismus ihn nicht interessiere. Es ist seltsam, daß Walzel trotz seiner offenkundigen Verbundenheit mit dem erwählten Beruf erst zehn Jahre nach seiner Doktorprüfung damit begann, Vorlesungen an einer Universität z u halten. Bald nach seiner Rückkehr von Berlin nach Wien wurde er Hauslehrer des dreizehnjährigen Leopold Andrian-Werburg, des Sohnes einer prominenten Wiener Familie. 2 In dem luxuriösen Haushalt Andrian wurde er wie ein Mitglied der Familie behandelt. Er reiste viel und gab sich ganz dem hin, was er als vita activa zu bezeichnen pflegte, wozu auch die sensationelle und tragische Liebesbeziehung zu einer ehemals gefeierten Operndiva, die schon in den Sechzigern war, gehörte. Während der Sommerferien 1892 begegnete Walzel der Tochter eines Bankiers; zwei Jahre später heirateten sie. Es war wohl ihr Verdienst, daß Walzel zu einer vita contemplativa fand. Ihre jüdische Herkunft wurde zum Anlaß beklemmender Furcht während des Naziregimes in Deutschland. Ihre Konversion zum Katholizismus vor ihrer Heirat erleichterte das Problem natürlich in keiner Weise. Im Jahre 1893 nahm Walzel eine Stellung als Bibliothekar an der 1
2
»Zum erstenmal in meinem Leben entdeckte ich, daß ich etwas wollen und durchsetzen könne.« (Wachstum und Wandel, Berlin 1956, S. 6.) Baron Leopold Andrian wurde später bekannt als Dichter und Mitglied des literarischen Kreises um Hermann Bahr und H u g o von Hofmannsthal; 1918 wurde er Direktor der Wiener Hoftheater.
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Hofbibliothek in Wien an und benutzte die reichliche Freizeit dazu, sich auf seine Habilitation vorzubereiten. Da er schon mehrere wissenschaftliche Abhandlungen veröffentlicht hatte, brauchte er keine Habilitationsschrift vorzulegen, sondern mußte sich nur einer Prüfung in einem von Jakob Minor geleiteten Colloquium unterziehen. Nach einem ersten Mißerfolg wurde er aufgefordert, es 1894 noch einmal zu versuchen. Im folgenden Jahr wurde er dann Privatdozent an der Wiener Universität; zusätzlich übernahm er eine Literaturklasse an einer Höheren Mädchenschule. Im Jahre 1897 bewarb er sich an der Universität Bern und erhielt seinen ersten Ruf als Ordinarius. Er verbrachte dort zehn fruchtbare Jahre und verbesserte seine Vorlesungstechnik derart, daß seine Seminare zu den beliebtesten in Bern gehörten. Obwohl Walzel seinen Schweizer Aufenthalt genoß, hielt er doch stets Ausschau nach einer Möglichkeit, einen Ruf nach Deutschland zu bekommen. Deutschland bedeutete für ihn nicht nur das geistige Zentrum der deutschsprachigen Völker, sondern es war auch seit dem Krieg von 1870/71 ein politischer Schwerpunkt geworden. Bismarcks Krieg gegen Frankreich hatte die Vorstellungen des Knaben Walzel von Heroismus stark geprägt. Bismarck, Moltke und der Kronprinz, deren Bilder er in den Zeitungen gesehen hatte, waren die großen Helden seiner Kindheit gewesen.3 Eine Gelegenheit zum Aufstieg bot sich 1907 in Form einer Vakanz an der Technischen Hochschule in Dresden, die durch den Tod des Literaturwissenschaftlers Adolf Stern entstanden war. Um sein Einkommen aufzubessern, übernahm Walzel zusätzlich die Aufgabe, an der Akademie der Bildenden Künste Vorlesungen zu halten, eine Stellung, die früher Hermann Hettner innegehabt hatte. Während der vierzehn Jahre in Dresden wurde Walzel in ganz Deutschland bekannt. Er wurde aufgefordert, an verschiedensten Orten Vorträge zu halten, und während des ersten Weltkrieges besuchte er befreundete Hauptstädte als deutscher Kulturgesandter. Nach dem ungeheuren Erfolg des >SchererWalzel< verbreitete sich sein Ruhm in Deutschland in immer weiteren Kreisen. Im Jahre 1921 machte die Universität Bonn ein vorteilhaftes Angebot. Walzel sehnte sich danach, an einer Universität statt an einer Technischen Hochschule zu lehren; auch machten die Aussichten auf mehr freie Zeit zum Schreiben und Forschen das Bonner Angebot reizvoll. Er nahm an und bereute diesen Schritt nie. Viele Ehrungen wur3
»Zu Weihnachten 1870 wollte jeder Junge und auch ich eine Pickelhaube haben.« (Wachstum und Wandel S. 97.)
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den ihm zuteil, und er erntete nun die Früchte seiner Arbeit. Als der Einführungsband der großangelegten Handbuch-Folge veröffentlicht wurde, bekam die literarische Welt Zugang zu einer umfassenden Darstellung von Walzels theoretischem Standpunkt. An Einfluß und wissenschaftlichem Rang hatte er nun den Höhepunkt erreicht. 1933 wurde er im Alter von fast 70 Jahren emeritiert; sein Nachfolger war Karl Justus Obenauer, der seine Antrittsvorlesung in Nazi-Uniform hielt.4 Walzels im allgemeinen pessimistische Lebensauffassung erhielt ihre endgültige Bestätigung im Jahre 1944 in Bonn, als seine 74jährige kränkliche Frau von der Gestapo von seiner Seite gerissen und nach Theresienstadt im besetzten Gebiet der Tschechoslowakei verschleppt wurde, wo sie einen Monat später starb. Im Dezember desselben Jahres wurde Walzel - im Alter von 80 Jahren - bei einem Luftangriff der Alliierten getötet.5 Seit ungefähr 1905 verfaßte Walzel ständig Aufsätze, Vorträge, Buchbesprechungen und Bücher. Dadurch läßt sich die Entwicklung seiner Literaturtheorie im einzelnen verfolgen. Bis ungefähr 1 9 1 0 hatten sich die wichtigsten Begriffe und Anschauungen herausgebildet.6 Den Grundstock seiner Ideen enthält jedoch sein theoretisches Hauptwerk, das er als Einleitung zum »Handbuch der Literaturwissenschaft« schrieb, einem anspruchsvollen Unternehmen, dessen Herausgeber er war. Diesem Einführungsband, betitelt »Gehalt und Gestalt im Kunstwerk des Dichters« (1923), wird unser hauptsächliches Interesse bei der Interpretation der Ansichten Walzels gelten; denn nichts weist darauf hin, daß seine Theorien nach 1923 wesentliche Änderungen erfahren hätten. Walzels literarischer Stil hat nichts von der journalistischen Würze und fließenden Eleganz Scherers. Seine Sätze bewegen sich eher schleppend, oft unbeholfen und verweilen zu lange bei Einzelheiten. Seine Methode ist eklektisch. Unsicher vorgetragene Meinungen finden sich in 4
Obenauer erlangte berüchtigte Berühmtheit durch den Austausch von o f f e nen Briefen mit Thomas Mann, in dessen Verlauf der Ehrendoktor Manns widerrufen wurde.
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Die meisten biographischen Informationen stammen aus Walzels Memoiren, die aus den Ruinen seines Hauses gerettet werden konnten. Zusätzliche Einzelheiten, etwa Beispiele für Walzels angeborenen Pessimismus und seine gesellschaftliche Unnahbarkeit, enthält ein Artikel, den sein Freund C a r l Enders unter dem Titel »Oskar Walzels Persönlichkeit und W e r k « in der Zeitschrift für deutsche Philologie L X X V ( 1 9 J 6 ) , S. 1 8 6 - 1 9 9 , geschrieben hat; dieser A u f s a t z enthält jedoch keine Wertung von Walzels Werk. Eine vollständige Bibliographie von Walzels Schriften bis zum Jahre 1 9 2 4 w u r d e von Edith Aulhorn, einer Studentin Walzels aus der Berner Zeit, zusammengestellt und der Festschrift für Oskar Walzel ( V o m Geiste neuer Literaturforschung, Wildpark-Potsdam 1 9 2 4 ) beigefügt.
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großen Massen von Sekundärmaterial, sogar in einem Buch wie »Gehalt und Gestalt«, das, wie man erwarten könnte, hauptsächlich Walzels eigener Theorie gewidmet sein sollte. Im Gegensatz zu Scherers optimistischer, anfeuernder Rhetorik, die alle Hindernisse beiseite schiebt, zeigt Walzel vorsichtiges Zögern, eine Eigenschaft, die sein Freund Julius Wahle »tiefbohrenden Scharfsinn« nannte.7 Vor einer ausführlichen und kritischen Prüfung wollen wir zunächst einmal diejenigen Gebiete der Literaturwissenschaft herausstellen, die Walzel vor allem beschäftigten. Sein Interessengebiet ist weit größer als das Scherers; seine Belesenheit und kritische Tätigkeit erstreckt sich sowohl auf Philosophie wie auf Literatur. Neben seiner Gelehrsamkeit in der Germanistik hatte er ein beachtliches Wissen auf dem Gebiet der englischen und französischen Literatur. Obwohl seine Ausbildung in traditionellen Bahnen verlaufen und auf die Literatur früherer Generationen gerichtet gewesen war, zeigte Walzel bald ein lebhaftes Interesse für die Nach-Goethe-Zeit und sogar für seine eigenen Zeitgenossen. Grob ausgedrückt war Walzels Lebenswerk auf zwei fundamentale Ziele gerichtet: er wollte erstens die Autonomie der Kunst im allgemeinen und der Literatur im besonderen etablieren und festigen und die Literaturwissenschaft von der Beherrschung durch nicht-ästhetische Disziplinen befreien, und er wollte zum anderen umfassende morphologische Kategorien für die Dichtung durch Herausarbeitung gemeinsamer oder gegensätzlicher Kriterien entwickeln und solche Kategorien durch das Auffinden analoger Strukturen in den bildenden Künsten erhellen. Die beiden Ziele sind kaum voneinander zu trennen; meistens gehören sie zusammen und ergänzen einander, aber, allgemein gesprochen, kann man sagen, daß die Hauptbemühung seiner frühen Jahre darin bestand, formale Elemente zu erforschen und ihre Bedeutung zu betonen. Seit dem Erscheinen von Wölfflins »Kunstgeschichtlichen Grundbegriffen« (1915) begann er Gedankengänge zu entwickeln, die in eine abgerundete formalistische Theorie der Literaturwissenschaft mündeten. Walzel war keineswegs der erste, der gegen die positivistische und die materialistische Schule der Literaturgeschichte opponierte. Frühe, heftige Angriffe gegen den Positivismus richteten sich nicht so sehr gegen Scherer selbst als gegen seine Epigonen wie z. B. Düntzer. In Zeitungsfeuilletons erschienen scharfe, bilderreiche Angriffe auf die angeblich fixen Ideen der Scherer-Schule, wie Forschen nach >Urfassungen< literarischer Werke oder nach genauesten biographischen Einzelheiten.8 Unter 7
8
Julius Wahle in einem Brief an Walzel anläßlich seines 60. Geburtstages in: Festschrift für Oskar Walzel S. 2 2 4 . »Gegenwartsfremdheit, Parallelenjägerei, Unterrocksschnüffelei, K a d a v e r -
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diesen Umständen konnte H. Maync in seiner »Rechtfertigung der Literaturwissenschaft« (1910) Scherers eigene Methoden eindrucksvoll verteidigen, indem er darauf hinwies, der Meister selber habe seinen Schülern keinen Beifall gespendet, vielmehr für solche extremistischen Anwendungen seiner Prinzipien nur Verachtung übrig gehabt. (Scherer sprach in solchen Fällen von »Mikrologie« und »Küstenschiffahrt«.) Wirkungsvollere Angriffe gegen die Scherer-Schule kamen von anderer Seite. Dichter wie Liliencron, Dehmel und Spitteier wandten sich gegen den >wissenschaftlichem Zugang zur Literatur. Peter Rosegger z.B. schrieb anläßlich der Entdeckung des >Ur-Meister< (1910): »Der Himmel bewahre uns davor, daß sie außer den vollendeten Werken der Dichter auch noch ihre Konzepte edieren.«9 Solche Stimmen der Entrüstung fanden ihr Echo in ganz Deutschland. R . M . M e y e r erhob schließlich dagegen kräftigen Protest. 10 Er betrachtete die Wissenschaft der Scherer-Schule, selbst einschließlich einiger ihrer amateurhaften Auswüchse, als richtig und angemessen, da sie fest auf dem Wirken des gesunden Menschenverstandes begründet sei. Obwohl Walzel in gewissem Sinn ein ungetreuer Schüler prominenter Vertreter der Scherer-Schule - Minor, Schmidt und Heinzel - war, stand er doch keineswegs allein in seiner Opposition gegen Positivismus und Materialismus, gegen Naturalismus und Impressionismus. Er blickte mit einem Gefühl der Dankbarkeit zurück auf das Buch des Bildhauers Adolf von Hildebrand »Das Problem der Form in der bildenden Kunst« (1893), das großen Nachdruck auf den entscheidenden Unterschied zwischen Natur und Kunst legte, den die Zeitgenossen vernachlässigten. Auf dem Höhepunkt des Impressionismus in den bildenden Künsten befand Hildebrand es als notwendig, die Bedeutung der Form und ihrer begrifflichen Definition hervorzuheben. Außerdem konnte Walzel sich auf einen seiner Studenten berufen, Wilhelm Worringer, einst Mitglied seines Seminars in Bern, der weit vorgestoßen war bei der Definition kontrastierender Paare ästhetischer Formen im Hinblick auf klassische und germanische (oder gotische) Ornamentzeichnungen. 11 Hildebrand und Worringer waren Walzel wegen ihrer fast ausschließlichen Beschäftigung mit der Kunst besonders lieb. Eine weit einflußreichere Opposition gegen die Scherer-Schule als diese
9 10
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seziererei.« (Oskar Benda, Der gegenwärtige Stand der deutschen Literaturwissenschaft, Wien 1928, S. 8.) Zitiert nach demselben Werk von Oskar Benda, S. 9. Richard M. Meyer, Philosophische Aphorismen, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift III ( 1 9 1 1 ) , S. 4 9 7 L Wilhelm Worringer, Abstraktion und Einfühlung, München 1908.
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isolierten Bemühungen kam jedoch von der Bewegung, die später als >Geistesgeschichte< bekannt wurde. Der Positivismus in der Literaturgeschichte wurde nicht von Watzels Formalismus oder dem irgendeines anderen abgelöst, sondern von der philosophisch anspruchsvollen Schule, deren Begründer Wilhelm Dilthey war. So hoch aber auch Walzel die überragende Gestalt Diltheys schätzte, so vermied er es doch, sich mit dessen Methoden ganz zu identifizieren. Weitere Opposition gegen die Methoden der Scherer-Schule kam von Karl Vossler. Obschon Walzel seine eigenen Theorien unabhängig von diesem Gelehrten ausarbeitete, hob er besonders lobend Vosslers Artikel »Der Zusammenhang zwischen Sprachgeschichte und Literaturgeschichte« hervor, wo überdies die Methoden der »Geistesgeschichte« heftig bekämpft wurden. 12 Während er mit der Hauptthese durchaus übereinstimmte, glaubte Walzel doch, daß Vossler sich allzu sehr beschränkte, indem er seine literarischen Analysen zu ausschließlich auf linguistische und grammatische Kategorien stützte. 13 Die Herrschaft des Positivismus über die deutsche Literaturwissenschaft war also schon durch die historisch und psychologisch orientierte >Geistesgeschichte< gebrochen worden, die im Gefolge der großen Gestalt Wilhelm Diltheys stets an K r a f t gewann. Trotzdem ist die von Oskar Benda aufgestellte Behauptung 14 falsch, Walzel habe nur einen Scheinkampf geführt, als er gegen die positivistische Schule in »Gehalt und Gestalt« Stellung bezog, weil sie schon zehn Jahre früher zurückgewiesen worden sei. Tatsächlich aber hat Walzel schon 1909 15 mit der Formulierung seiner eigenen Ansichten begonnen, als er sich mit Dilthey verbündete, um die Kunstkritik der Herrschaft der Naturwissenschaften zu entreißen. Ihm fielen frühzeitig zwei Komponenten in Scherers Literaturwissenschaft auf. Die eine war ein romantischer Historismus, den er mit Recht für anti-individualistisch hielt; zur gleichen Zeit erkannte er die zweite große Komponente von Scherers Methode: den Positivis12
Z u m Beispiel: »Demgegenüber haben tiefer blickende Kunsthistoriker v o n jeher gesehen und verstanden, daß die Kunst nicht nur ein allseitig bedingtes Ergebnis der historischen Kulturen und der psychologischen Naturen, sondern auch eine durch sich selbst bedingte Tätigkeit ist, und daß sie als solche ihre eigenen Probleme und ihre autonome Spezialgeschichte hat.« (Vossler, Gesammelte A u f s ä t z e zur Sprachphilosophie, M ü n chen 1 9 2 3 , S. 26.)
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Gehalt und Gestalt im Kunstwerk des Dichters, Berlin 1 9 2 5 , S. 3 1 . Oskar Benda, D e r gegenwärtige Stand der Literaturwissenschaft, S. 8. Analytische und synthetische Literaturforschung, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift I I ( 1 9 1 0 ) , S. 2 5 7 - 2 7 4 und 3 2 1 - 3 4 1 , wiederabgedruckt in: D a s Wortkunstwerk, Leipzig 1 9 2 6 , S. 3 - 3 $ .
14 15
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mus Comtes. Er wies auf die gemeinsamen Elemente der beiden Komponenten hin: das Auslöschen des Individuums als eines bedeutsamen Faktors und die Opposition gegen die Metaphysik. Aber er wußte auch um den unversöhnlichen Konflikt zwischen beiden. Comtes Positivismus ließ keinen >Nationalgeist< gelten. Die >organische< Sicht des Herderschen Historismus, die sich auf solch einen Geist berief, war Comte und seinen Nachfolgern fremd. Wissenschaftliche Kausalität trat an die Stelle organischer oder innerer Notwendigkeit. Der Positivismus war daher mehr am Zusammenhang der historischen Phänomene interessiert als an deren tatsächlichem Charakter. Walzel sah, daß die Prinzipien des wissenschaftlichen Determinismus im wesentlichen unverändert von Scherer übernommen und dann mit einer romantischen Sicht der Literaturgeschichte vermischt worden waren. Kurz und gut: Walzel betrachtete die Verbindung von Historismus und Positivismus als unglücklich. Schon 1909 sah Walzel in Diltheys Schriften eine Unterstützung für seine eigene Ansicht, daß es höchst notwendig sei, die >Form< eines Kunstwerks zu erforschen und sie als ein der begrifflichen Analyse zugängliches Seiendes zu behandeln: »Diltheys Fingerzeige weisen dem synthetischen Forscher den W e g . Sie deuten auf die Voraussetzung aller Synthese, auf den Begriff. Begriffliches, das über bloßes Nacherleben hinausführt, gibt es in der Geschichte. Weit mehr begriffliche Elemente von entwicklungsgeschichtlicher Bedeutung stehen der Literaturgeschichte zur Verfügung. Ich hebe nur die wichtigsten hervor: das Ideelle, das v o m Kunstwerk verwirklicht wird, die Lebensprobleme, die es darstellt, endlich . . . die Form, in der es zur Gestalt wird.«16
Walzel erkannte freimütig in vielen Veröffentlichungen seine Verpflichtung gegenüber Dilthey an, und doch drängt sich die Frage auf, ob nicht Diltheys Prinzipien den von Walzel entwickelten wesentlich fremd sind. Er widersprach Dilthey niemals offen, aber es ist ganz klar, daß sein formaler und begrifflicher literaturwissenschaftlicher Ansatz sich nicht mit Diltheys Psychologismus und historischem Relativismus verträgt. Z w a r erklärte er sich mit dessen neuem Begriff >Erlebnis< einverstanden, zeigte aber paradoxerweise starke anti-psychologistische Neigungen. Er wollte von Diltheys berühmten »drei Typen« 17 durchaus Gebrauch machen, bestritt aber nachdrücklich, daß sie auf psychologischen Unterschieden in der Persönlichkeit des Künstlers basierten.
19 17
Ibid. S. 20. Dilthey, T y p e n der Weltanschauung, 1 9 2 3 , V I I , S. 1 0 0 - 1 1 2 .
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in:
Gesammelte
Schriften,
Berlin
Diltheys drei Typen von Weltanschauungen sind: 1. M a t e r i a l i s m u s und P o s i t i v i s m u s , gegründet auf die N a turwissenschaften und vertreten durch Männer wie Demokrit, Lukrez, Hobbes und Comte. Die Vorgänge der N a t u r und des Geistes werden als analog angesehen. Die einzige Realität ist die physische N a t u r , und das Studium der N a t u r gilt am höchsten. 2. O b j e k t i v e r I d e a l i s m u s , wie er bei Heraklit, Spinoza, Leibniz, Shaftesbury, Goethe, Hegel zu finden ist. >Gefühl< ist der Kern dieser Weltanschauung. Im Gegensatz zum ersten T y p sind Sinn und Z w e c k der Existenz, ebenso wie moralische Werte, von entscheidender Bedeutung. Gott wird als immanent in den Erscheinungen der N a t u r gesehen, und deshalb sind Pantheismus und Panentheismus natürliche Unterabteilungen dieses Typs. 3. I d e a l i s m u s d e r F r e i h e i t (Plato, Corneille, K a n t , Schiller, Carlyle). Dieser T y p wird charakterisiert durch die Unabhängigkeit des Geistes von der Natur. Die souveräne Persönlichkeit projiziert ihre Begriffe auf das Universum. 1 8 Diese grobe Einteilung, die alles Denken und die Kunst umfaßt, faßte Walzel als ein rein philosophisches Schema auf, ähnlich den » K a tegorien« Kants, wie sie in § 1 1 der »Kritik der reinen Vernunft« definiert sind, trotz Diltheys nachdrücklicher Behauptung, daß der psychologische Begriff »Erlebnis« im Zentrum aller Dichtkunst stehe. 19 Ferner trug er nicht der Tatsache Rechnung, daß Diltheys Ästhetik auf »Gefühlskreise« gegründet ist, die eingeführt werden, damit sowohl Form wie Inhalt mit H i l f e der Psychologie begrifflich faßbar werden. 20 N u r gelegentlich deutet Walzel Unterschiede zu Dilthey an. Diltheys philosophische Kategorien >wagte er zu erweitern^ Ermutigt durch das Werk von Hermann Nohl, wollte er die Problematik der Formanalyse mit H i l f e des von Dilthey entwickelten Instrumentariums erforschen, obwohl dieses sich auf den geistigen Gehalt und nicht auf die Form richtete. 21 Man darf dabei nicht vergessen, daß schon der österreichische 18
Diltheys kritische Theorien werden eingehend diskutiert bei René Wellek, History of Modern Criticism, N e w H a v e n 1 9 6 5 , I V , S. 3 2 0 - 3 2 5 .
19
V g l . K u r t Müller-Vollmer, T o w a r d s a Phenomenological T h e o r y of Literature. A Study of Wilhelm Dilthey's Poetik, Den H a a g 1 9 6 3 , S. 3 3 - 4 1 . V g l . René Wellek, Wilhelm Dilthey's Poetics and Literary Theory, in: Festschrift f ü r Hermann J . Weigand, N e w H a v e n 1 9 5 7 , S. 1 2 7 - 1 3 2 . » U m so wichtiger ist mir, an dieser entscheidenden Stelle zu zeigen, wie v o n Diltheys drei T y p e n weitergegangen werden kann in die Erschließung des Wesentlichen künstlerischer Form. Ich w a g e es, an einer kleinen Reihe
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Philosoph Johann Friedrich Herbart ihn von der grundlegenden Notwendigkeit überzeugt hatte, in einem Kunstwerk beides, Form und Gehalt, vorauszusetzen - entgegen dem weitverbreiteten Hang der Deutschen nach einer nur inhaltlichen Beurteilung. Er säumte nicht, Herbart seine Dankesschuld auszudrücken. 22 Es war Walzeis ständige Sorge, als >bloßer Formalist< bezeichnet zu werden, und er legte Wert auf die Erklärung, daß er die > Inhalte< eines Kunstwerks stets als von großer Bedeutung angesehen und daß er dessen Form zu erforschen sich nur deshalb vorgenommen habe, weil dieses Gebiet bisher vernachlässigt worden sei. In »Gehalt und Gestalt« äußert er jedoch die Zuversicht, in seiner Generation bestehe das Bedürfnis nach einer Literaturwissenschaft, die sich an einer modernen Erkenntnistheorie orientiere. Er schreibt: »Seit etwa zwei Jahrzehnten wehrt sich die L o g i k erfolgreich gegen Ü b e r g r i f f e der naturwissenschaftlich arbeitenden Psychologie. Einen irreführenden Psychologismus hat auch der Erkunder künstlerischen Gestaltens zu bekämpfen. M a n mute mir nicht zu, daß ich das S c h a f f e n des Künstlers in das Gebiet des Logischen hinüberdrängen wolle. Allein w e r dieses S c h a f f e n erfassen will, bleibt der Gesetzgebung des Geistigen, der Logik, immer noch näher als einer Seelenlehre, die naturwissenschaftlich forscht.« 2 3
Er rühmt an Dilthey, daß er den Begriff >Gehalt< geklärt und bereichert habe, kritisiert ihn aber versteckt, weil er ebenso wichtige Probleme der Form vernachlässigt habe. Er selber möchte sich jenem Bereich zuwenden, wo er die >Gestalt< erforschen kann. Obwohl Walzel viel Mühe auf eine Klärung des Begriffs >Gestalt< verwandte, blieb dieser doch immer schwankend, frei schwebend zwischen den Extremen mechanischer Metrik auf der einen Seite und reinem >Inhalt< auf der anderen. Seine prägnanteste Definition scheint mir die folgende: »Gestalt ist in der Dichtung alles, was auf den äußern oder den innern Sinn wirkt, was zum Ohr oder zum Auge spricht oder auch Gehör- oder Gesichtsvorstellungen wachruft.« 24 Es ist bemerkenswert, daß Walzel bei dieser Definition den Gebrauch des Wortes >Form< vermeidet. So scheut ja auch der Titel seines Hauptwerks »Gehalt und Ge-
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von Erscheinungen nachzuweisen, wie mit Diltheys Mitteln gegensätzliche Formmöglichkeiten sich erfassen lassen.« (Gehalt und Gestalt S. 86.) »Herbarts und seiner N a c h f o l g e r Verdienst ist, diese Scheidung [von Form und Gehalt] gefordert und im Gegensatz zur Ästhetik des deutschen I d e a lismus die Bedeutung der Scheidung nachgewiesen zu haben.« (Wortkunstw e r k S. 8of.) Gehalt und Gestalt S . 9. Ibid. S. 1 7 8 .
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stalt« die alte Kontroverse >Form gegen Inhalt< und verwendet stattdessen die Terminologie der deutschen Klassik. 25 Die größere Bedeutungsbreite des Begriffs >Gestalt< wurde jedoch auf Kosten der Klarheit erzielt. Die Handlung oder Fabel eines literarischen Kunstwerks, die Walzel sicherlich als >Gehalt< anzusehen wünschte, kann jedoch sowohl zum Ohr als auch zum Auge sprechen und daher unter den Begriff >Gestalt< fallen. Er versucht diese Schwierigkeit zu überwinden, indem er zwischen formalen, äußeren Elementen, wie Metrum und Rhythmus, und einer >inneren Form< unterscheidet. Während Metrum, Rhythmus, Stil wenigstens in begrifflichen Worten beschreibbar sind, dehnt die Aufnahme der >inneren Form< in Walzeis Begriff der >Gestalt< diesen Ausdruck so weit aus, daß seine Brauchbarkeit erheblich vermindert wird. Um 191 j befaßte sich Walzel eingehend mit dem Begriff der i n neren FormGestalt< meint, und daß das Ganze der >Gestalt< eingebettet ist in >ErlebnisErlebnis< und >Gestalt< zu finden, war Walzel sehr beeindruckt von Nordens kühner Anwendung der Begriffe >Klassizismus< und >Barock< auf Cicero und Tacitus. Er sah mit Freude, daß einer den Mut hatte, diese Begriffe aus ihren historischen und chronologischen Ketten zu befreien und sie als formale Kategorien auf literarische Stile anzuwenden. 32 Anscheinend hat Walzel hier das erste Mal über eine besondere Methode nachgedacht, die er dann später wechselseitige Erhellung< nannte. Eine vollständige Entwicklung des Systems erfolgte erst, als er mit Wölfflins Gegensatzpaaren in den bildenden Künsten bekannt geworden war (s. S. 59). Man fragt sich, warum Walzel auf den Gebrauch (oder auch die Ausdehnung) des von ihm bewunderten antiken rhetorischen Vokabulars verzichtete. Vielleicht fand er, daß die Einsichten der modernen Literaturwissenschaft (und seiner selbst) auch eine neue Nomenclatur erforderten. Bevor er an eine Anpassung der Wölfflinschen Kategorien gehen konnte, bemühte sich Walzel zweifellos am beharrlichsten um eine Ausweitung der >Dreitypenlehre< Diltheys. Mit äußerster Zähigkeit verfolgte er das selbstgesetzte Ziel. 83 In einem charakteristischen Abschnitt versucht er klarzumachen, daß >Weltanschauung< in der Literatur als >Gestalt< definierbar sei:
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Später erschienen in dem B a n d : Die Bildungswerte der lateinischen Literatur und Sprache auf dem humanistischen Gymnasium, Berlin 1 9 2 0 , S. 14fr.
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»Ich lege v o r allem G e w i c h t auf die A r t und Weise, wie hier Cicero und Tacitus als ein Vertreter des Klassizismus und als ein Vertreter des Barocks einander entgegengestellt werden. W i e wertvoll mir solche Stilscheidung ist, soll noch später sich bewähren.« (Gehalt und Gestalt S. 1 9 7 ) . Möglichkeiten der A n w e n d u n g von Diltheys T y p e n auf die Literatur bespricht auch Rudolf Unger, A u f s ä t z e zur Prinzipienlehre der Literaturgeschichte, Berlin 1 9 2 9 , I, S. 4 9 - 8 7 .
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5°
» A n ein paar naheliegenden Belegen suchte ich nachzuweisen, daß Diltheys drei T y p e n der Weltanschauung sich nicht bloß verwerten lassen für die Scheidung der Lebensauffassungen v o n Dichtern, daß vielmehr bis in die technischen Besonderheiten der Dichtungen sich die N a c h w i r k u n g der typischen Gegensätze verfolgen läßt. Verschiebungen, die sich ebenso in der künstlerischen Gestalt von Dichtung w i e im Weltbild der Dichter gerade jetzt oder auch v o r kurzem beobachten ließen, sind mit Diltheys Typenlehre unschwer zu bezeichnen und verständlicher zu machen.« 3 4
Es fiel ihm allerdings schwer, den Übergang vom >Typ< zu definierbaren formalen Kriterien zu finden, und er bewegte sich auf recht gewundenen Pfaden, um zu seinem Ziel zu kommen. Während seiner frühen Jahre in Dresden (etwa 1 9 1 2 ) hatte er gewisse technische Demonstrationen, vorgeführt von Eduard Sievers, besucht. Der akademische Klatsch wollte wissen, daß dieser bedeutende Germanist im Alter kindisch geworden sei, denn er behauptete, daß Literatur »manchmal mit nach vorn ausgestreckten Armen, manchmal mit eingezogenem Bauch« zu lesen sei, je nachdem der Autor beim Bilden seiner Sätze den Bauch gewölbt habe oder nicht.35 Walzel nahm Sievers' Botschaft ernst und bewunderte sein großes Feingefühl bei der Klassifizierung der Autoren nach gewissen intuitiv erspürten >vokalen< Typen. Tatsächlich wußte Walzel um das außergewöhnliche Talent und das Einfühlungsvermögen, welche Sievers bei der Vorbereitung kritischer Ausgaben halfen: »die Melodie eines Gedichts war in ihm so lebendig und so fest umschrieben, daß er die geringste Abweichung vom Wortlaut fast schmerzlich verspürte.«36 Zum Beispiel glaubte Walzel, daß Sievers sicher bestimmen konnte, welche der »Xenien« von Goethe und welche von Schiller waren. Und wirklich hatte Walzel selber Sievers' Dienste in Anspruch genommen, als er eine Ausgabe von Wackenroders »Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders« vorbereitete, und zwar um festzustellen, welche Stellen möglicherweise von Tieck geschrieben sein könnten. Walzel war sich des begrenzten Nutzens von Sievers' Fähigkeiten für die Literaturwissenschaft bewußt. Von solchen Eingebungen konnte keine Methodik abgeleitet werden. Ihn interessierte daran vielmehr der Begriff des >vokalen Typshöre< Unterschiede in der Art von Goethes Stimme - je nachdem, an wen er ein Gedicht oder einen Brief richtete.39 Jedoch gibt es nur eine einzige Möglichkeit, solche Tonvariationen zu bestimmen, indem man sie aus Goethes Schriften ableitet; das Objekt der 37 58 39
Hermann N o h l , Typische Kunststile in Dichtung und Musik, J e n a 1 9 1 5 . Gehalt und Gestalt S. 96. E d u a r d Sievers, H . Lietzmann und die Schallanalyse, Leipzig 1 9 2 1 , S. 4 z f f .
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Untersuchung wird damit zur Prämisse einer neuen Vermutung gemacht. An diesem Punkt ist an Walzels eingestandene Ablehnung psychologischer Analysen von Formproblemen in der Literatur zu erinnern. Aber er müßte doch zugeben, daß Muskeleinstellungen und körperliche Haltung physische Reaktionen auf intellektuelle, emotionale oder ästhetische Werte darstellen, daß solche Reaktionen daher weder logisch noch metaphysisch, sondern eindeutig psychologischer und sogar physiologischer Natur sind. Walzel scheint diese Verwicklung zu sehen, wenn er sagt, Rutz' Theorien zeigten, daß individuelle geistige Charakteristika das unausweichliche Resultat des physischen Typs seien; doch gleichzeitig verlangt er dieselbe Überzeugungskraft für die entgegengesetzte Annahme, nach welcher die Theorie auch die Macht des Geistes über die Materie zeige. Als Beweis führt er an, daß ein Kunstwerk den Zuschauer zwinge, eine >typische< Haltung anzunehmen: »Unterwirft Rutz geistiges Schaffen mithin auf ungewöhnliche und neue Weise dem Stofflichen, so erhärtet er doch auch, welche Macht der Geist über den Stoff hat . . . Ein Gemälde, eine plastische Darstellung, ein Werk der Baukunst zwingen gleichmäßig zu Muskeleinstellungen nach dem Gesetz ihres Typus und von dessen Unterarten.«40 Diese Beobachtung ähnelt stark der schon 1887 in seiner Poetik ausgesprochenen Ansicht Diltheys, daß der ästhetische Eindruck etwas Ähnliches sei wie der Schaffensprozeß, wenn auch nur eine »matte Kopie« davon. 41 Diese wohlbekannte »Infektions«Theorie stellt nicht - wie Walzel meinte - ein Beispiel von der Macht des Geistes über den Stoff dar. Rutz' Theorien müßten, konsequent angewandt, zu einer deterministischen und psychologischen Anschauung von Kunst und künstlerischem Schaffen führen, der Walzel stets feindlich gegenüberstand. Erfolg oder Mißerfolg von Walzels Versuch, einen Ubergang von Diltheys drei Geistestypen zu ihrer Ausprägung in formalen Elementen der Literatur herzustellen, hängt von der Bedeutung der kinästhetischen Typen für die >Gestalt< ab. Walzel selbst gab seine Bemühungen in dieser Richtung auf, als er das Scheitern Nohls und auch Sievers' erkannte. »Doch die Verbindung der Typen von Rutz mit Diltheys Typen scheint mir verunglückt. Sie bricht noch unbedingter zusammen, wenn die Erweiterung von Rutz' Lehre Anerkennung findet, die jüngst von Sievers vorgetragen wurde.« 42 40 41
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Gehalt und Gestalt S. 99. »Die eine selbige Menschnatur läßt nach denselben Gesetzen schaffende Kunst und nachfühlenden Geschmack entstehen, und beide einander entsprechen.« (Dilthey, Gesammelte Schriften V I , S. 1 9 1 . ) Gehalt und Gestalt S. 1 0 2 .
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Da der einzige Zweck von Walzels Untersuchung der Rutzschen Typen darin lag, überzeugend die enge Verbindung zwischen >Gehalt< und >Gestaltoptische< Anschauung Goethes der >haptischen< Anschauung der positivistischen Schule in der letzten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor (s.S. 22), und es ist kein Zufall, daß er schließlich von den bildenden Künsten die Begriffe und die Terminologie bezog, die er so sehr gesucht hatte. Im Rückblick auf seine eigene geistige Entwicklung schreibt Walzel 1926: »Bald nach ersten Versuchen, das Erreichte zu überblicken und zu nutzen, . . . wurde mir durch Heinrich Wölfflins »Kunstgeschichtliche Grundbegriffe« von 191 j der mächtige Vorsprung ganz deutlich, den auf der Suche nach den wesentlichen künstlerischen Merkmalen eines 43 44
45 40 47
Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, München 1 9 1 5 . Eine erweiterte Fassung dieses Vortrags erschien unter dem Titel: Wechselseitige Erhellung der Künste, Berlin 1 9 1 7 . - Fortan zitiert als »Wechselseitige Erhellung«. Wachstum und Wandel S. 2 3 8 . Ibid. S. 4 8 . Wortkunstwerk S. i o i f .
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Kunstwerks die neuere Erforschung der bildenden Kunst über meine Wissenschaft gewonnen hatte.«48 Wiederum werden die Künste, welche recht eigentlich vom >Sehen< abhängen, als Führer auf der Suche nach begrifflicher Durchdringung der Literatur aufgerufen. Die wechselseitige Aufklärung der Künste ist kein neuer Gedanke. Der Begriff wechselseitige Erhellung der Künsteerhellende< Analogien, die sowohl literarische als auch soziologische waren, bewegen sich vertikal durch die Zeit, während Walzels demselben geschichtlichen Moment entnommen sind und auf einer horizontalen, alle Künste verbindenden Linie liegen. Walzel findet vieles von dem, was er zu entwickeln wünscht, in der romantischen Idee von der Synästhesie und bezieht sich nur kurz auf das alte Wort: »Malerei ist stumme Poesie, und Poesie ist ausgesprochene Malerei«, von Plutarch dem Simonides zugeschrieben.49 Das »ut pictura poesis« des Horaz wird in Walzels historischem Bericht nicht gebraucht, und eine kurze Besprechung von Lessings »Laokoon« gipfelt in der rhetorischen Frage: »Allein verwirft Lessing den Einfall des Simonides wirklich in Bausch und Bogen?«50 Walzels Antwort ist negativ, wenn auch das Argument dafür wenig überzeugend ist: der Hauptnutzen des »Laokoon«, behauptet Walzel, liege in dem darin gegebenen Beweis für die Stärke des Arguments von Simonides, gegen das Lessing, nach etwa zweitausend Jahren seinen berühmten Angriff richten zu müssen glaube. Vor allem jedoch benutzt Walzel den allgemein August Wilhelm Schlegel zugeschriebenen Ausspruch »Architektur ist gefrorene Musik«, 51 seine Wiederholung und besondere Hervorhebung durch Schelling und Goethe, um sein Argument zugunsten der wechselseitigen Erhellung zu stützen. Besonders interessiert ist Walzel an der Brauchbarkeit und der logischen Klarheit stilistischer Vergleiche unter den Künsten. E r weist darauf hin, daß es vor allen Dingen notwendig sei, spezifische formale Begriffe herauszuarbeiten, die in mindestens zwei Künsten zu beobachten sind. Ein wichtiges Beispiel dafür ist der >Rhyth48 49
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Ibid. S. I X . Plutarch, Über den Ruhm der Athener, in: Moralia, Cambridge 1936 (Loeb Library), S. 500. Wechselseitige Erhellung S. 9. Zur Kontroverse über den Urheber dieser geistreichen Bemerkung vgl. René Wellek, The Parallelism between Literature and the Arts, in: English Institute Annual 1 9 4 1 , S. 32.
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musRhythmus< auf die bildenden Künste eine unberechtigte Ausweitung des Begriffs sei.52 Andererseits konnte Walzel zeitgenössische Wissenschaftler anführen, die eine wechselseitige Erhellung nach seiner eigenen Methode praktizierten. Karl Steinweg z. B. war überzeugt, daß ästhetische Kriterien, die für die bildenden Künste entwickelt worden waren, auch auf die Poesie angewandt werden könnten und sollten.53 Und es gab gerade auch in Leipzig Gelehrte, die, umgekehrt, metrische und rhythmische Bezeichnungen auf die bildenden Künste anwandten. Zum Beispiel traten August Schmarsow und sein Anhänger Wilhelm Pinder für die Gültigkeit rhythmischer Analysen in der Architektur ein und wurden dadurch Gegner der Gruppe Wundt. Die Universität Leipzig wurde so zum Zentrum dieser Kontroverse. Bei dem Versuch, den Rhythmus in den bildenden Künsten herauszuarbeiten und zu definieren, kam Schmarsow zu dem Schluß, daß die Tiefendimension für die Wahrnehmung des Rhythmus notwendig sei,54 weil es nur im dreidimensionalen Raum - so behauptete er - möglich sei, aufeinanderfolgende Eindrücke zu empfangen, die zutreffend Rhythmus genannt werden können. In einer späteren Veröffentlichung gibt Schmarsow alle Zurückhaltung auf und wendet ungehemmt Begriffe aus Metrik und Prosodie auf die Architektur an. So schreibt er: »Eine rigoros geschlossene strophische Struktur ist das entscheidende Kriterium östlicher Kirchenarchitektur« 55 und zeigt dann, in einem Anflug von Extravaganz, auf, wie eine achtzeilige alkäische Strophe, vertikal ge52
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Ernst Meumann, Untersuchungen zur Psychologie und Ästhetik des Rhythmus, in: Philosophische Studien X ( 1 8 9 4 ) , S. 260. K a r l Steinweg, Goethes Seelendramen und ihre französischen Vorlagen, Halle 1 9 1 2 . August Schmarsow, Unser Verhältnis zu den bildenden Künsten, Leipzig 1 9 0 3 , S. 1 1 2 . August Schmarsow, Kompositionsgesetze in der Kunst des Mittelalters, Bonn 1 9 1 5 , S. 97.
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ordnet, mit dem fünften Vers in der Mitte und dem letzten Vers als horizontaler Basis, das Gerippe einer griechischen Palmette ergibt.56 Es muß gerechterweise gesagt werden, daß Walzel solch willkürlichen Methoden keine weitere Beachtung schenkte. Sie erscheinen ihm lediglich als launenhafte Vergleiche, die jeder kritischen Nützlichkeit entbehren. Ganz offensichtlich lernte Walzel auf dem Wege zu einer abgerundeten Theorie und zur Anwendung der wechselseitigen Erhellung mehr von Johann Friedrich Herbart als von seinen Zeitgenossen, ehe er schließlich unter den entscheidenden Einfluß von Heinrich Wölfflin kam. Die Kenntnis Herbarts ermöglichte ihm eine klar definierte Idee vom Rhythmus, ganz unabhängig von der Dreidimensionalität. Aus Herbarts »Lehrbuch der Einleitung in die Philosophie« ( 1 8 1 3 ) lernte er, daß »ein Musikstück oder eine Dichtung unter Umständen wie ein Gemälde vor uns ausgebreitet erscheinen können«. »Umgekehrt erleben wir auch Bilder (Plastiken und Bauwerke), als wären sie Werke transitorischer Kunst, genießen sie in einem Nacheinander von Eindrücken.« 57 In Anbetracht von Walzels lebenslangem Interesse an der Tätigkeit des »Sehens« kann man verstehen, daß er eine Ästhetik bevorzugte, die eine systematische Anwendung seiner natürlichen Neigung rechtfertigte. Sie scheint ihm der bedeutendste, wenn nicht sogar der einzige Zugang zur richtigen Bewertung der >Gestalt< in der Literatur zu sein. Diese neue Entdeckung war für ihn wie eine Offenbarung: » V o n mir selbst kann ich nur sagen, daß ich das G e f ü h l habe, Schuppen seien mir von den Augen gefallen, seitdem ich mich daran gewöhnte, Dichtwerke grundsätzlich bildhaft zu sehen und dem Bilde, das sich mir bot, die Gestaltungsgeheimnisse abzufragen, die aus dem bloß gelesenen oder gehörten W e r k sich nur mühsam deuten lassen.« 58
Zweifellos haben einige Aspekte von Walzels fertiger Theorie der wechselseitigen Erhellung vieles mit gewissen Ideen Worringers gemeinsam, obwohl Walzel seinen ehemaligen Studenten hauptsächlich als einen Vorläufer Wölfflins ansah. Ihm war klar, daß Worringer irrtümlich die Bezeichnung >gotisch< als Synonym für >germanisch< oder >nordisch< gebrauchte, eine Anwendung, die ihren Vorläufer in Goethes Sturm und Drang-Essay »Von deutscher Baukunst« (1773) hatte. Walzel war freilich weniger an der Richtigkeit dieser Bezeichnung interessiert als an der Tatsache, daß sie als eine von zwei kontrastierenden formalen Mög56
Eine schematische Zeichnung lung S. 24.
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Wechselseitige Erhellung S. I J . Gehalt und Gestalt S. 280.
58
ist wiedergegeben
in: Wechselseitige
Erhel-
57
lichkeiten gedacht war. Direkt entgegengesetzt dem >Gotischen< war das >KlassischeGehalt< auszuschalten. Beide Ornamenttypen zeigen wiederkehrende Muster: Das klassische Ornament hat eine ruhige und klare Zeichnung mit deutlich voneinander abgesetzten Gruppierungen. Die Wiederholungen kommen häufig in umgekehrtem Sinne vor oder in spiegelbildartiger Folge. Das gotische Element hingegen, das im Zentrum von Worringers Interesse stand, »geht auf eine unendliche Melodie der Linie aus«.59 Die Wiederholung war in diesem Fall eine Form der Intensivierung, die ein ständiges Suchen nach einem unbestimmten Ziel der Intensität bedeutete. Anstatt ganz selbstgenügsame Einheiten zu sein, erreichen die Muster ihre volle Bedeutung erst, wenn sie in dem Ganzen aufgehen. Worringer spricht von >Addition< in der klassischen Ornamentik gegenüber >Multiplikation< in der nordischen Kunst der gleichen Art. Die Begriffe >Einfühlung< und >Abstraktion< wurden ebenfalls eingeführt, um in einer allgemeinen Weise jede Form von Realismus im ersten Fall und eine Entfernung vom Leben und von der Natur im zweiten Fall zu bezeichnen. Für Worringer gehörte die ägyptische Kunst zur >abstrakten< Kategorie, und die gotische oder germanische Ausformung war vermutlich Ausdruck desselben künstlerischen Impulses. Griechischer und römischer Klassizismus, wie auch der moderne Realismus, gehörten zu dem entgegengesetzten Pol der >einfühlenden< Kunst. 60 Walzel bemerkte mit Freude, daß Worringer reichlich Begriffe der Musik und der Dichtkunst gebrauchte, um graphische Ornamente zu beschreiben. Die Richtigkeit im einzelnen Fall war für ihn weniger wichtig als die Bestätigung des eigenen Prinzips der Polarität. Die Idee gegensätzlicher künstlerischer Impulse wurde der Grundstein seiner Wertetheorie, die später behandelt werden soll. Tatsächlich ist die Ähnlichkeit zwischen Worringers Gegensätzen und Wölfflins fünf formalen Gegensatzpaaren groß, obgleich sie für diesen nicht länger >klassisch< und >gotisch< sondern >Renaissance< und >Barock< heißen. Die von Wölfflin entwickelten wesentlichen Unterscheidungsmerkmale waren so gewählt, daß bei richtiger Anwendung zwei grundlegende stilistische Methoden in höchst ergiebiger und bedeutungsvoller Weise unterschieden werden können. Nachfolgend eine Aufstellung der Wölfflinschen fünf Grundbegriffe:
59
Wechselseitige Erhellung S. 27.
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Wilhelm Worringer, Abstraktion und Einfühlung S. 6}S.
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1. D a s L i n e a r e und das M a l e r i s c h e bezieht sich auf die Betonung der Linie einerseits und eine größere Ausnutzung von Licht und Farbe andererseits. Im >Linearen< ist der Akzent auf Grenzen und Umrisse gelegt, das >Malerische< ist ein Vorstoß in die Unendlichkeit. Der Übergang von der Malerei der Renaissance zur Malerei des Barock enthält eine Bewegung vom >haptischen< Prinzip hin zu einer größeren Ausnutzung >optischer< Möglichkeiten. 2. Dementsprechend zeigt die Bewegung vom F l ä c h e n h a f t e n zum T i e f e n h a f t e n eine Tendenz fort von horizontaler Schichtung zu einer Betonung der Qualität der Tiefe hin, vom Vordergrund zu einer verstärkten Konzentration auf den Hintergrund und schließlich von den horizontalen und vertikalen Linien zur Diagonalen. 3. G e s c h l o s s e n e F o r m und o f f e n e F o r m . Die erste zeigt deutliche Abgrenzungen und fest bestimmte Formen; die zweite neigt dazu, solche Begrenzungen aufzuheben und über sich selbst hinauszuweisen. Dieses Paar wird manchmal auch als >tektonisch< und >atektonisch< bezeichnet. 4. Das V i e l h e i t l i c h e und das E i n h e i t l i c h e . In der Gestaltung eines klassischen Gemäldes haben die einzelnen Teile genügend Gewicht, um ein gewisses Maß von Unabhängigkeit zu besitzen. Die Teile sind natürlich durch das Ganze bedingt; es fehlt nicht an Integrierung. Und doch kann jeder Teil als eine Ganzheit verstanden werden. In einem Barockgemälde andererseits sind die Teile mehr einem alles durchdringenden Leitgedanken untergeordnet.61 J . K l a r h e i t und U n k l a r h e i t . Dieses Gegensatzpaar grenzt an die Kategorie des >Linearen< und des >MalerischenAnschauungsformen< dar, die durch in der Entwicklung begriffene historische Kräfte vorbestimmt sind. Man muß wissen, daß - nach Wölfflin — die ausgedrückte Form, die traditionsgemäß mit der Nachahmung der Natur zu tun hat, auch den Prinzipien und Regeln des Dekorativen gehorcht. Veränderungen und Übergänge kommen ebenso im Interesse dekorativer Muster wie im Interesse der Naturtreue vor. 63 Wölfflin vertritt die Theorie einer nicht umkehrbaren Entwicklung in den bildenden Künsten. Es ist natürlich nicht notwendig, daß ein Gemälde allen fünf Kriterien des Barock- oder des Renaissance-Stils entspricht. Jedoch sollten immer einige der Kriterien erkennbar sein, wenn das betreffende Werk einer der beiden Perioden zugeschrieben werden soll. Die Kriterien sind einander oft so verwandt, daß man in vielen Fällen sagen kann, die eine impliziere die andere. Wölfflins wertvolle Beobachtungen übten großen Einfluß nicht nur in der Kunstkritik und der Kunstgeschichte aus, sondern auch in der Literaturwissenschaft. 64 Theophil Spoerri und Walzel kommt die Ehre zu, als erste Wölfflins Gegensatzpaare systematisch auf die Literatur angewandt zu haben. Vor allen jedoch war es Walzel, der sich nicht mit einer bloßen Übertragung von vagen impressionistischen Daten zufrieden gab; er beschäftigte sich unentwegt damit, logische Entsprechungen zu finden. Völlig zu Recht konnte Walzel behaupten, daß die deutsche Kritik vorwiegend idealistisch und ideologisch gewesen sei. Der Inhalt der Literatur stand lange Zeit im Mittelpunkt der Beschäftigung; die auf der Form basierende kritische Analyse war in den bildenden Künsten viel weiter fortgeschritten als in der Literatur. Man kann Walzel nur zustimmen, wenn er immer wieder auf die außerordentliche Schwierigkeit hinweist, Gefühle und Eindrücke, die von einem literarischen Kunstwerk hervorgerufen werden, in Begriffe umzuwandeln: »Kunst und Begriff sind ein für allemal Gegensätze. Kunst in Begriffe umzusetzen, ist schwer; doch wenn wissenschaftlich etwas über Kunst gesagt werden soll, unerläßlich.« 66 Zweifellos herrschte damals ein bedauerlicher Mangel 63
64 65
66
»Darum haben unsere fünf Begriffspaare sowohl eine imitative wie eine dekorative Bedeutung. Jede A r t der Naturwiedergabe bewegt sich schon innerhalb eines bestimmten dekorativen Schemas.« (Ibid. S. 17t.) V g l . René Wellek, in: English Institute Annual 1941, S. }6ß. Theophil Spoerri, Renaissance und Barock bei Ariost und Tasso. Versuch einer Anwendung Wölfflinscher Kunstbetrachtung, Bern 1922. Wachstum und Wandel S. 21. V g l . auch: Geistesleben S. 87; Wechselseitige Erhellung S. 10 und 42; Gehalt und Gestalt S. 139 und 144 et passim.
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an Begriffen, um die strukturellen Elemente in der Literatur zu bezeichnen. Das Vokabular der Rhetorik war außer Gebrauch gekommen, und für Walzels Zwecke war es auch zu eng verbunden mit den rein mechanischen Aspekten der Form; es enthielt weder >innere Form< noch >höhere Mathematik«. Es wäre nötig gewesen, ein neues technisches Vokabular zu erfinden, das allein den literarischen Strukturen gerecht wurde. Aber Walzel war dazu entweder nicht fähig oder nicht willig. Er konnte seine Eindrücke nicht direkt in Begriffe umsetzen und ging deshalb in umgekehrter Richtung vor: er übernahm die fertige Terminologie der bildenden Künste und wandte sie auf die aus der Literatur gewonnenen Daten an. Er hielt dies für eine ausgezeichnete Methode, obwohl seine Argumente dafür seltsam anmuten. Das kritische Vokabular einer bestimmten Kunstart, das von Begriffen gebildet wird, die wesentlicher Bestandteil eben dieser Kunstart sind, läuft nach Walzels Meinung Gefahr, einen unberechtigten Wertbegriff einzuführen. Er hielt an der Idee der Gleichwertigkeit zweier entgegengesetzter Pole im Stil fest und eben deshalb war es für ihn von ausschlaggebender Bedeutung, daß das kritische Vokabular neutral sei. Er meinte, sogar Wölfflin sei durch seine Beschränkung auf das Gebiet der bildenden Künste gelegentlich in Gefahr, voreingenommene Urteile auszusprechen. Wenn er zum Beispiel sagt, ein Gemälde könne mehr oder weniger >malerisch< sein, so sei darin schon impliziert, daß das >mehr< dem >weniger< vorzuziehen sei.67 Sicherlich war Walzels Ansicht falsch, daß solch ein sprachlich bedingtes Vorurteil unvermeidlich sei. Wenn wirklich durch die gemeinsame Wurzel der Wörter >Gemälde< und >malerisch< ein Vorurteil entstehen sollte, so könnte es leicht dadurch beseitigt werden, daß man das Wort >malerisch< durch ein anderes ersetzt, das dieselbe Vorstellung vermittelt, und sollte solch ein Wort nicht verfügbar sein, so ließe sich gewiß eine brauchbare Umschreibung finden. Doch selbst solch ein Austausch erscheint überflüssig, da Wölfflin beim Gebrauch des Wortes >malerisch< keine Parteilichkeit zeigte. Das Wort hatte nicht nur eine gut definierte Bedeutung in den schönen Künsten, sondern darüber hinaus verwandte Wölfflin auch große Sorgfalt darauf, diese Bedeutung noch zu umschreiben und es niemals mit irgendeinem Werturteil a priori zu belasten. Daß ein Austausch kritischer Terminologien unter den Künsten notwendig sei, konnte Walzel nicht überzeugend darlegen. Es wird nicht 67
Wechselseitige Erhellung S. 66. 61
klar, ob er meinte, daß die Struktur eines literarischen Kunstwerks mit Hilfe literaturkritischer Begriffe nicht zu analysieren sei, oder ob er glaubte, daß die für eine solche Analyse notwendigen Begriffe schon existierten, daß sie schon beschrieben und definiert seien und nur noch darauf warteten, daß irgendjemand ihnen passende moderne Namen gebe. Anstatt diese Frage zu beantworten, nahm er einfach an, daß die für eine bestimmte Kunstform entwickelte Terminologie ästhetische Gültigkeit für a l l e Künste habe. Karl Vossler, der das erfolglose Bemühen von Gelehrten wie Walzel um die wechselseitige Erhellung< bedauerte, erkannte nur zu gut die ungeheuren Schwierigkeiten. »Jeder Forscher, der sich irgendwie um die gegenseitige Erhellung der Künste bemüht, sollte wissen, daß er damit das Gebiet der philosophischen Ästhetik betritt. D i e bloß philologische oder empirische Betrachtung und Vergleichung ohne philosophische Reflexion kann allerhand Ergebnisse zeitigen, aber zu der gegenseitigen Erhellung der Künste dringt sie nicht v o r ; denn der Reflektor, d. h. der reine B e g r i f f fehlt, in dem sie gespiegelt und als Einheit begriffen werden können.«' 8
Wenn die Literatur durch die bildenden Künste zu erhellen ist, dann kann auch mit derselben theoretischen Begründung eine andere Kunst diesem Zweck dienen. Walzel zahlte diesem unvermeidlichen Schluß seinen Tribut, indem er in einem Kapitel von »Gehalt und Gestalt« die möglichen Methoden zur Anwendung musikalischer Begriffe auf die Literatur diskutiert. Er gibt dort eine Übersicht, wie oft musikalische Formen wie die der Sonate erfolgreich in der Dichtkunst benutzt wurden, und wie sogar die Struktur gewisser Gedichte dadurch erhellt wurde, daß sie in Musik gesetzt wurden. Die Darstellung ist unkritisch und recht skizzenhaft. Nirgendwo in diesem Kapitel läßt Walzel die Möglichkeit zu, daß für einen Musiker ein Gedicht nur Material sein könnte, ein Ausgangspunkt, von dem aus die musikalische Eingebung ausströmen kann in unvorhersagbare formale Gebilde, die, überdies, der Musikkritik statt der literaturwissenschaftlichen Analyse unterworfen sind. Walzel zitiert beifällig Otto Ludwigs Charakterisierung der meisten Dramen Shakespeares als sonatenartige Strukturen und Felix Trojans Entdeckung von literarischen Parallelen zu musikalischen Kompositionsmitteln wie basso obligato und Kontrapunkt wie auch zu Dissonanzen und ihrer Auflösung. Walzel sah allerdings nicht, daß wahrscheinlich die Mehrzahl aller Dramen als >Sonaten< angesehen werden könnten, 68
K a r l Vossler, Über gegenseitige Erhellung der Künste, I n : Festschrift H e i n rich W ö l f f l i n zum siebzigsten Geburtstag, Dresden 1 9 3 5 , S. 1 6 4 .
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solange nicht mehr als eine Einteilung in drei Sätze (Thema, Gegenthema und breitere Ausführung des Themas) als Grundlage für den Vergleich benötigt wird. Felix Trojans genauere Analogien sind nun zwar wirklich sehr geistreiche, ja sogar geniale Metaphern, sie können jedoch nicht zu einem Verständnis dessen beitragen, was spezifisch literarisch ist.69 In Walzeis verhältnismäßig kurzer Behandlung der Musik als einer möglichen Quelle der Erhellung wird das Kompositionsmittel >Leitmotiv< sehr ausführlich besprochen. Er betrachtet es offensichtlich als ein eigentlich musikalisches Mittel, obgleich man sehr wohl die Leitmotivtechnik als eine besondere Anwendung des Prinzips der Wiederholung ansehen kann, das in der ganzen Literaturgeschichte als ein Grundelement des Aufbaus benutzt worden ist.70 Es wurde schon vor Wagner gebraucht, der dieser Technik die letzte Verfeinerung gab, aber es ging in die Musik nur dann ein, wenn auf außermusikalische Faktoren - Charaktere, Situationen oder Ereignisse - Bezug genommen wurde. 71 August Wilhelm Schlegels Berliner Vorlesungen regten Walzel dazu an zu betonen, wie wünschenswert, ja sogar notwendig es sei, die Harmonie ebenso wie die Melodie zur Übertragung von Begriffen der Musik auf die Literatur zu benutzen. Aus der verhältnismäßig flüchtigen Behandlung der Musik ist es jedoch klar ersichtlich, daß Walzels Beziehung zu den bildenden Künsten weit stärker ist als die zur Musik. Nirgends findet sich im Hinblick auf die Musik ein gleich starkes Erlebnis wie seine Lektüre Wölfflins. »Es war mir eine Offenbarung, als ich, mitten in den Untersuchungen, deren vorläufige Ergebnisse ich hier vorlege, die Kunstgeschichtlichen Grundbegriffe H. Wölfflins aufschlug.«72 ,9 70
71
72
Felix Trojan, D a s Theater an der Wien, Wien 1 9 2 3 , S. i 8 f f . Martin Schütze, A c a d e m i c Illusions, C h i c a g o 1 9 3 3 , S. 2 1 9 , behandelt das formale Problem des >Leitmotivs< wie f o l g t : » D e r Gebrauch des Leitmotivs als T y p der Wiederholung in einer literarischen Komposition ist, obwohl es zu einer sehr reichen und charakteristischen Entwicklung durch einen späteren Komponisten romantischer Opern, nämlich Wagner, geführt wurde, dennoch kein Beweis der romantischen N a t u r des Kompositionsmittels, sondern einfach nur der augenfälligen Tatsache, daß die literarische Struktur der Romantik auf dem allen Künsten gemeinsamen Prinzip der Wiederholung beruhte und daß die Romantik diejenigen A n w e n d u n gen der Wiederholung besonders zu betonen suchte, die am wirkungsvollsten f ü r eine Intensivierung des Gefühls waren.« V g l . den Artikel >Leading Motif< im O x f o r d Companion to Music ( 1 9 3 8 ) : » I t [Leitmotiv] is, indeed, such an obvious means of connection between related passages of the libretto that it w a s bound to be introduced as soon as opera and oratorio were born.« Wortkunstwerk S. 3 1 5 .
63
Die erste Anwendung von Walzeis neuen kritischen Einsichten war eine Strukturanalyse von Shakespeares Stücken unter Benutzung zweier eng verbundener Wölfflinscher Gegensatzpaare, >tektonisch und atektonisch< und geschlossene Form und offene Formbarocken Shakespeare< schnell eine große Zahl von Anhängern in Deutschland wie auch im Ausland fand. 74 Im folgenden Jahr befaßte sich Walzel in einem Vortrag vor der Kant-Gesellschaft mit einem Rückblick und einer Analyse der Prinzipien, die er bei der Übertragung kritischer Begriffe von der Malerei auf die Dichtung gebraucht hatte. Es war deutlich seine Absicht, seine Stellung zu untermauern und ein philosophisch geschultes Auditorium von der Gültigkeit seiner Methode zu überzeugen. Die unmittelbare Aufgabe war, die Anwendung der Wölfflinschen Kategorien auf die Literatur zu rechtfertigen. Selbstverständlich fiel ihm das nicht schwer bei den Begriffen des >Vielheitlichen< und des Einheitlichen« sowie >Klarheit< und >UnklarheitFlächenhaften< und dem >TiefenhaftenDas Problem der Form in der bildenden Kunst< (1893), und wandte gewisse Kategorien »reiner Sichtbarkeit« auf die Literatur an. So wurde die Verbindung von >Hauptfläche< und >Hintergrundfläche< in der Malerei als analog zur Nebeneinanderstellung der Anfangs- und Endsituation im Drama aufgefaßt. Walzel aber ließ diese Analogie nicht gelten. Vielmehr sah er das literarische Äquivalent dieser Kategorie in der Hierarchie der Personen eines Dramas, einerlei ob sie gleichzeitig oder nacheinander erscheinen. So zeigen das klassische französische Drama und auch Goethes »Iphigenie« und »Tasso« die >OberflächenDiagonalengeschlossene< oder >offene< Form, >tektonische< oder >atektonische< Strukturen von >Oberfläche und Tiefe< zu entdecken. Zweifellos verschmilzt die Kategorie unmerklich mit ihnen, aber rückblickend glaubte Walzel, daß Wölfflins dritte Gruppe die wesentlichen Einsichten brachte. 76 Zwei Tragödien Shakespeares, »Antonius und Kleopatra« und »King Lear«, verstärkten Walzels Glauben an die Wirksamkeit seines neuen kritischen Werkzeugs. Er begann seinen Essay über Shakespeare mit einem Lob August Wilhelm Schlegels, da dieser Bildhauerei und Malerei eingeführt habe, um den Kontrast zwischen klassischer und romantischer Kunst aufzuhellen, und da er außerdem gezeigt habe, daß das Shakespearsche Drama zu der letztgenannten Kategorie gehöre, während das Drama der griechischen Antike mehr der Plastik verwandt sei.77 Aber Walzel wollte über diesen Vergleich noch hinausgehen. N u r sein Gebrauch der Kategorie der g e schlossenen und offenen (tektonischen und atektonischen) Form schien das rechte und geeignete Werkzeug für die Analyse der schwierigen formalen Probleme in »King Lear« und »Antonius und Kleopatra« zu liefern. Diese Dramen, behauptete Walzel, seien im wesentlichen den Gemälden von Rubens und Rembrandt nahe verwandt. So definierte Walzel mit Hilfe eines einzigen morphologischen Kriteriums traditionelle Periodenbegriffe neu. Corneille und Racine sind klassische Dramatiker, weil die Form ihrer Dramen »geschlossen ist. Shakespeare ist barock, weil viele seiner Dramen die >offene< Form haben. Die »zentrale Achse< in den französischen Dramen ist die Vorbedingung für die >tektonische
Diagonalen< und sind daher >atektonischlinear< oder >malerisch< sein, aber es kann auch keins von beiden sein.78 Dieses Problem, wie überhaupt der ganze Begriff der wechselseitigen Erhellung, wird in der späteren Darstellung im ehrgeizigen Rahmen von »Gehalt und Gestalt« mit weniger Bedenken und fast überspannt behandelt. Hier sieht er dieses Prinzip als eine über jeden ernsthaften Zweifel erhabene, feststehende Tatsache an, obgleich er hinsichtlich der besonderen Anwendung der Wölfflinschen Kategorien noch etwas unschlüssig ist. Der Gegensatz von >linear< und >malerisch< bleibt weiterhin störend; er kann sich auf die mehr oder weniger konkrete Darstellung des >Sichtbaren< beziehen, aber auch dazu benutzt werden, zwei verschiedene Arten sprachlichen Ausdrucks zu kennzeichnen. Walzel meint, eine Beschränkung des Gegensatzes auf nur eine der beiden Künste würde seiner Nützlichkeit ernsthaft schaden. Es kann wohl keinen Zweifel geben, daß allgemeine Vergleiche unter den Künsten tatsächlich möglich sind. Sie können Stimmungen evozieren und interessante Zugänge zu einem bestimmten Werk eröffnen. Sicherlich können gewisse Grundarten der Malerei, einschließlich der Wölfflinschen Kategorien, als Katalysatoren für das Verständnis eines Gedichts dienen - wenigstens für solche Betrachter, die eine intuitive A f f i nität zu beiden besitzen. Derartige >metaphorische< Untersuchungen können jedoch nicht an die Stelle literarischer Analyse treten; man darf die Tatsache nicht verschleiern, daß jedes literarische Werk die Lösung eines besonderen strukturellen Problems fordert. Es ist die Aufgabe des Literaturwissenschaftlers, sich mit dem Problem wie auch mit dessen Lösung auseinanderzusetzen. Jedes Bestehen auf einer Gleichwertigkeit im Verhältnis zwischen den formalen Aspekten einer Kunstart und denen einer anderen führt dazu, das Wertvolle einer bildlichen Aufhellung zu zerstören, ohne daß zugleich ein annehmbares neues Normensystem geschaffen würde. Unter der Einwirkung morphologischer Analogien wird die Brauchbarkeit eines Periodenbegriffs wie >Barock< stark beeinträchtigt, weil 78
Wechselseitige Erhellung S. 60. 66
das Wort dann nicht länger notwendig mit einer spezifischen Phase der Kunstgeschichte verknüpft ist. Tatsächlich sah Walzel, wie zu erwarten, die formalen Eigenschaften nicht so sehr als Symptome eines bestimmten Augenblicks in der Literatur an, sondern, was wichtiger ist, als wiederkehrende Erscheinungen durch die ganze Literaturgeschichte hindurch. Er lobte Eduard Norden, weil dieser Cicero als >klassischen< und Tacitus als >barocken< Schriftsteller bezeichnete (s. S. 49-50), und hatte nichts gegen die Anwendung derselben Kriterien auf den Gegensatz von klassischer und romantischer Literatur einzuwenden, wie dies tatsächlich schon Fritz Strich in seinem Buch »Deutsche Klassik und Romantik« (München 1922) gemacht hatte. Es ist gewiß berechtigt, polare Gegensätze künstlerischen Ausdrucks überall dort zu sehen, wo es sich um eine historische Folge von Aktion und Reaktion handelt, aber bei der Arbeit, eine literarische Bewegung zu beschreiben oder zu definieren, muß das Auffinden entgegengesetzter morphologischer Kriterien eher Ausgangspunkt als Ergebnis der Untersuchung sein. Mit der Bemerkung, ein Dichter könne schließlich auch weder >linear< noch >malerisch< sein, bewies Walzel großen Scharfsinn, aber leider erstreckte sich diese Einsicht nicht auch auf die anderen Gruppen polarer Gegensätze. Die Literaturkritik wird auch durch das ausgeklügeltste System nicht bereichert, wenn dieses am Ende nur demonstriert, daß es in der Kunst (und eben besonders in der Literatur) eine ewige Wiederkehr von Aktion und Reaktion gibt. Wie René Wellek ausführte, war eine Anzahl von Ästhetikern vor Walzel schon zu ähnlichen Ansichten gelangt, ohne Begriffe von anderen Wissenschaften entlehnen zu müssen.7' Walzeis Streben, den literarischen Stil einer Zeit vorwiegend als Reaktion auf eine vorhergehende Zeit zu beschreiben, ist dem von Worringer sehr ähnlich, dessen Gegensatzpaar >gotisch< und >klassisch< oder >Einfühlung< und >Abstraktion< ihm einen Zugang zur literarischen Theorie und Geschichtsschreibung verschaffte. Einfühlung und Abstraktion werden als zwei gleichwertige Pole künstlerischer Empfindung gesehen. Für Walzel ist alle Literaturgeschichte ein ständiger Kampf zwi79
V g l . René Wellek, in: English Institute A n n u a l 1 9 4 1 , S. j 8 f . : » W ö l f f l i n s Kategorien, auf die Literatur übertragen, erlauben uns nur, die Kunstwerke in zwei Kategorien einzuteilen, die, wenn man sie im einzelnen prüft, nur auf die alte Unterscheidung zwischen Klassik und Romantik, strenger und lockerer Struktur, plastischer und malerischer Kunst hinauslaufen: ein Dualismus, der den Schlegels, der Schiller und Coleridge bekannt w a r , und zu dem sie durch ideologische und literarische Argumente, gelangt waren.«
67
sehen diesen beiden Notwendigkeiten. 80 In ähnlicher Weise waren Worringen >GotikAbstraktion< oder >geometrische Gesetzlichkeit< der >Einfühlung< diametral entgegengesetzt und wurden von ihr oder von einer der verschiedenen Formen des Realismus abgelöst. Worringer wie Walzel gelangten schließlich fast unmerklich dazu, die Gegensatzpaare mit Werturteilen zu verbinden. Beider Sympathien liegen bei der >Abstraktion< in der Kunst. Walzel fühlte sich noch immer in Opposition zu den materialistischen Theorien der Scherer-Schule, aber auch zum Naturalismus und Impressionismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Von Worringer hatte Walzel gelernt, alle Formen des Realismus als die Kunst des >Treffens< anzusehen. Der Ausdruck erscheint häufig in Walzeis kritischen und historischen Schriften und wird fast immer in einem abfälligen Sinn gebraucht. So bemerkte er in einem Kapitel über den Impressionismus: »Die Kunst des Treffens entspricht im 19. Jahrhundert der herrschenden materialistischen und positivistischen Weltauffassung, die Kunst selbständiger, von der äußerlichen Wirklichkeit unabhängiger Betätigung des Geistes entspricht einem Wiedererwachen idealistischer Denkwünsche.« 81 Während seines Wirkens in Dresden begrüßte Walzel das Emporkommen des Expressionismus und stellte fest, daß Worringers Werk viel zu dieser Entwicklung beigetragen hatte.82 Er bewies seine Parteinahme, indem er der neuen >Ausdruckskunst< schöpferischen Geist zuerkannte und, wenn auch nicht expressis verbis, das Fehlen solchen Geistes beim Naturalismus und Impressionismus bedauerte. Er begrüßte den Expressionismus als eine Befreiung von der kleinlichen Beschäftigung mit persönlichen und sozialen Verhältnissen. Vor allem zeigte er eine Abneigung gegen die minutiöse Beobachtung seelischer Zustände bei den Impressionisten, so weit verbreitet unter den Autoren der Decadence. Seiner Meinung nach bemühten sie sich damit vergeblich, >Gott und die Welt zu erklärengermanisch< (im Sinne Worringers), und >barock< in der Betonung des Abgrunds zwischen dem Leben und der Kunst. 85 Bedenkenlos schmälerte er im Namen des Expressionismus die Verdienste der Romantik und sogar Goethes. 8 ' Diese frühe Abneigung gegen realistische und weltliche Aspekte bei Goethe hängt zweifellos mit Walzeis standhaftem Katholizismus zusammen. Doch gleichzeitig gab Walzel nie seinen Glauben an Goethe als den wahren Mittelpunkt und Gipfel der deutschen Literatur auf. Daraus ergab sich für ihn ein Konflikt, den er lange Zeit ohne Erfolg zu überwinden suchte. Einer der Versöhnungsversuche ist in der Broschüre »Goethes Allseitigkeit« (1932) enthalten. Und im letzten Teil seiner Memoiren, die sich besonders mit seinem katholischen Glauben befassen, schließt er gelassen, daß Goethe und der Katholizismus keineswegs antithetisch seien, daß im Gegenteil Goethe seinen eigenen Glauben an das katholische Dogma verstärkt und bereichert habe.87 Es ist leicht zu erkennen, daß Walzel nicht immer wissenschaftliche Unparteilichkeit den beiden Polen künstlerischen Ausdrucks gegenüber wahrt. Und doch ist die Gleichwertigkeit der beiden Pole eine der zentralen Voraussetzungen seines Systems. Es ist, nach Walzel, der Künstler und nicht der Gelehrte, der mit Recht einseitig sein darf. Der Künstler oder Dichter oder Musiker ist notwendigerweise der Repräsentant eines Stils, und seine Kunst würde an K r a f t und Überzeugung verlieren, wenn er einen Stil nur vorübergehend annähme, als eine Möglichkeit unter mehreren. Der Wissenschaftler andererseits muß das polare System be84
85
86 87
Ibid. - V g l . dazu neuerdings: Gisela Luther, Barocker Expressionismus? Den H a a g - P a r i s 1969. W a l z e l bemerkte zu Fritz v o n Unruhs D r a m a »Louis Ferdinand Prinz v o n Preußen« ( 1 9 1 4 ) : » F ü r die mächtigen seelischen Spannungen des neusten Barockgefühls blieb in Louis Ferdinands Brust R a u m genug.« (Deutsche Dichtung S. 329.) Ibid. S. 1 9 2 . » M i r mußte es ungewöhnlich viel bedeuten, Goethe mit dem Katholizismus einig zu wissen, viel einiger, als er es selber jemals ahnte. E r hatte mir für den Bau meiner Weltschau so viel geschenkt, daß ich nun ganz hätte umlernen müssen, wenn V e r w a n d t s c h a f t von Goethes Weltbild mit dem des Katholizismus sich meinem Forschen nicht ergab. N u n durfte ich nach bestem Wissen und Gewissen sagen, daß ich Goethe nicht dem Katholizismus opfern, nicht eine mir ganz neue Weltschau an die Stelle der von mir allmählich errungenen setzen mußte.« (Wachstum und Wandel S. 3 2 2 . )
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nutzen, um in eine anscheinend chaotische Masse literarischer Erzeugnisse Ordnung zu bringen. Das polare System wird Einseitigkeit der kritischen Perspektive verhindern, weil für jede aufgeführte oder angenommene ästhetische Norm eine entgegengesetzte von gleicher Gültigkeit als potentiell oder tatsächlich existent angenommen werden muß. 88 Walzel hatte stets Schillers antithetische Weltanschauung bewundert, und er sah in Hegels dreiteiliger dialektischer Entwicklung einen ähnlichen Denktypus. 89 Die Annahme einer dreifachen anstelle einer zweifachen Einteilung war nur der Form, nicht dem Wesen nach ein Unterschied in der Anschauung.90 War das Prinzip des Miteinbegriffenseins einmal aufgestellt, konnte Walzel sich der Aufgabe des Wertens zuwenden. Er wollte um jeden Preis das rein impressionistische Vorgehen auf diesem Gebiet vermeiden und war überzeugt, daß die Frage der Bewertung nicht zu lösen sei, »wenn man empört auf den Tisch schlägt«.91 Man möchte meinen, daß Walzeis umfassende Beschäftigung mit der >Gestalt< in der Literatur und seine Erforschung formaler Analogien unter den Künsten ihn befähigt hätte, eine etwas umfassendere Aufgabe zu erfüllen als die, nur eben neue formale Rechtfertigung für Periodenbegriffe wie Barock, Renaissance, Romantik und Gotik zu liefern. Auch könnte man erwarten, daß Walzels größtes Bemühen der Anwendung seiner formalen Analyse auf die überragend wichtige Aufgabe einer wertenden Kritik gegolten hätte. Statt dessen sehen wir, daß Walzel seine eigene Arbeit auf diesem Gebiet völlig außer acht ließ und sich damit begnügte, die Existenz eines >Zeitgeistes< zu behaupten und diesen als einzig gültigen Maßstab für
88
» E s gilt nur, das Gegenteil des aufgestellten Ideals zu suchen. Dieses Gegenteil w i r d meist an der Stelle zu finden sein, gegen die sich der Künstler ausdrücklich ausspricht. Tatsächlich ist, w a s der Künstler v e r w i r f t , nur ein anderes Ideal v o n gleichem Lebensrecht. W o der Künstler im Sinn seines eigenen und eigentümlichen Schaffens und zu dessen Schutz f ü r eine einzige Möglichkeit k ä m p f t und diese Möglichkeit begrifflich festlegt, da kann der Betrachter und Bewerter eingreifen, um die beiden polar entgegengesetzten Möglichkeiten zu bestimmen.« (Gehalt und Gestalt S-iij.)
89
Ibid. S. J H . »Drei T y p e n statt eines Paares gegensätzlicher T y p e n aufzustellen, bedeutet nur in der Form, nicht im Wesen etwas Besonderes. Drei T y p e n lassen sich mühelos ins Paarige überführen.« (Ibid. S. I I 6 . ) »Ein Denker v o n dem Feinsinn und der strengen geistigen Schulung F . T h . Vischers konnte tatsächlich meinen, daß die Frage des Werturteils zu lösen ist, wenn man empört auf den Tisch schlägt.« (Ibid. S. 1 1 9 . )
90
91
7°
die Bewertung der Literatur einzusetzen. Das ist die unumgängliche Schlußfolgerung aus dem Kapitel über Werturteile in »Gehalt und Gestalt«. Demnach liegt der Wert eines literarischen Werks im Vermögen, diesen Zeitgeist, der auch der Geist einer nationalen Kultur ist, zum Ausdruck zu bringen. Die Beurteilung des kulturellen Wertes eines Werkes wäre dann die unbedingte Aufgabe einer wertenden Kritik. 92 Obwohl solch eine auf >Kulturinhalten< beruhende Methode doch Relativismus par excellence zu sein scheint, behauptet Walzel nachdrücklich, daß Werturteile eine relativistische Beweisführung überschreiten sollten.93 Wie außerordentlich schwierig es ist, einen >Zeitgeist< angemessen zu definieren, ist bekannt. Walzeis Polaritätsbegriff nützt hier nur wenig, weil Varianten innerhalb eines Periodenstils nicht notwendigerweise >entgegengesetzt< sind. Charakter und Art einer Zeit ergeben komplexe und ungefüge Muster, die zwar ein einigermaßen klares impressionistisches Bild liefern, aber kaum als zuverlässiger Maßstab für eine kritische Bewertung gelten können. Tatsächlich ist der Gedanke, daß eine Wesenseinheit alle geistigen Aktivitäten einer bestimmten Epoche durchdringt, sehr fragwürdig. René Wellek bemerkt, wie trügerisch eine eingängige Theorie oft sein kann, die auf dem Parallelismus von Philosophie und Kunst gegründet ist.94 Die Vorstellung, der Wert eines Kunstwerks könne beurteilt werden, indem man es an dem Geist der Zeit mißt, in der es geschrieben wurde, beruht auf einem circulus vitiosus. Dies wurde von George Boas aufgezeigt, wenn er schreibt: »Künstler bilden ihre Zeit wie andere Leute auch, und die Vorstellung, es gäbe eine Zeit außerhalb der Ereignisse, die in ihr stattfinden, erscheint bei einigem Nachdenken als unglaubwürdig.« 95 Dies ist genau so, als wolle man, um die genaue Länge eines Maßbandes zu ermitteln, dasselbe Maßband als Norm für seine Richtigkeit benutzen. Der >Zeitgeist< spielt eine gewichtige Rolle in Walzels historiographischer Methode. 96 Die Literaturgeschichte der Zeit zwischen Goethes
92
9S
94
Ibid. S. 1 3 6 . (Walzels Buch mit dem vielversprechenden Titel: Poesie und Nichtpoesie, F r a n k f u r t a. M . 1 9 3 7 , ist kein W e r k über wertende Kritik, sondern eine Geschichte der klassischen und romantischen Ästhetik.) »Ich hingegen möchte auf dem W e g e zu festerer Wertung über solche Zugeständnisse an den Relativismus einigermaßen hinausgelangen.« (Gehalt und Gestalt S. 1 4 3 . ) René Wellek - Austin Warren, T h e o r y of Literature, 2. A u f l . N e w Y o r k 1 9 5 5 , S. 1 1 0 .
95
George Boas, Wingless Pegasus, Baltimore 1 9 5 0 , S. 2 1 1 .
9e
Z u m Beispiel in: Deutsche Dichtung.
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Tod und dem ersten Weltkrieg wird als eine Phase in der Kreisbewegung eines Zeitgeistes gesehen, dessen Weg immer durch die entgegengesetzten Pole des Impressionismus und Expressionismus, des Materialismus und Idealismus, der Kunst des Treffens und der die Realität überschreitenden Kunst führt. Walzel behauptete, daß die Wendung zum Realismus mit Goethe begann 97 und geradewegs ihrem Höhepunkt im Naturalismus zustrebte. Das Junge Deutschland und der Realismus der fünfziger Jahre werden als Stationen auf diesem Wege angesehen: »Wie sich auf dem Wege von Goethe durch Romantik und Junges Deutschland zum Realismus der Zeit um 1 8 5 0 innerhalb deutscher Dichtung die Annäherung an die äußere Wirklichkeit, die S c h ä r f u n g der Beobachtung vollzog, w i e trotz gelegentlichen A b w e g e n und Rückentwicklungen das Ziel näher und näher kam, hatte diese wie jede Darstellung der deutschen Dichtung des 19. Jahrhunderts zu berichten.« 98
Doch kurz nach der Jahrhundertwende gab es einen bedeutungsvollen Wechsel: »Das Weltrad setzt sich wieder einmal in Bewegung, eine der großen Umdrehungen zu wagen, die den Menschen von einer Richtung der Weltbetrachtung zur entgegengesetzten weiterführen.« 99 Als Walzel seine Bücher schrieb, hatte der Naturalismus bereits seine führende Rolle in Deutschland eingebüßt, und der Expressionismus hatte die Vorherrschaft. Walzel suchte nach neuen Richtlinien in den geistigen Bestrebungen, besonders aber in den Künsten, deren grundlegende Aufgabe es eben war, die Weltanschauung ihrer Zeit zum Ausdruck zu bringen. Analog zu der Veränderung, die sich in seiner eigenen Zeit vollzog, - einer wachsenden Ablehnung des wissenschaftlichen Empirismus - sah Walzel die Bewegung des Sturm und Drang, Kants Kritik der praktischen Vernunft und Hegels Idealismus als eine Reaktion gegen den Rationalismus des achtzehnten Jahrhunderts an. Die gemeinsamen Elemente im Rationalismus und im Materialismus, wie zum Beispiel die tiefgehende Skepsis gegenüber Metaphysik und Religion, erschienen Walzel so augenfällig, daß nach seiner Ansicht ähnliche Reaktionen zwangsläufig zu allen Zeiten des geistigen Lebens der Nation erfolgen mußten. Es wird deutlich, daß Walzeis Theorie der literarischen Werte auf einer Vorstellung beruht, die ihn in eine Richtung führte, welche derjenigen, in der er sich sein ganzes Leben lang mit großer Beständigkeit
97
98 99
»Goethe ist ohne Z w e i f e l der Ahnherr des Realismus.« tung S. 1 6 1 . ) Ibid. S. I J J . Ibid. S. 1 5 7 .
72
(Deutsche
Dich-
bewegt hatte, genau entgegengesetzt war. Der Anstoß, den er zu einer formalen Analyse gegeben hatte, war ein wichtiger Schritt zur Begründung der Autonomie der Literatur als Kunst. Hier bot sich eine Alternative zur Betrachtung der Literatur als eines Dokuments der Geistesgeschichte. Es ist deshalb doppelt bedauerlich, daß Walzel in dem entscheidenden Punkt der Wertung auf außerliterarische Kriterien zurückkam, also zu einer Methode, die zu überwinden er in anderen Bereichen literaturwissenschaftlicher Forschung kräftig beigetragen hatte.
73
I I I . E m i l Staiger
Obgleich Emil Staiger an der wechselseitigen Erhellung der Künste nicht eigentlich interessiert ist, wird es doch aus seiner praktischen Kritik wie auch aus seinem theoretischen Werk sehr bald deutlich, daß für ihn zwischen Musik und Dichtung die engsten Bindungen bestehen, deren Entdeckung und Aussonderung ihm reiche Ergebnisse bei der Interpretation von Literatur brachten. Für Walzel wurde ein literarisches Werk am ehesten dann definierbar, wenn es vor seinem geistigen Auge die Merkmale eines Gemäldes annahm. Linien, Farben und Schatten, Vordergrund und Hintergrund und sogar Rhythmus waren visuelle Elemente, welche für ihn am besten die strukturellen Aspekte sichtbar machen konnten. Und er fand nicht plötzlich erst seit dem Erscheinen von Wölfflins »Grundbegriffen« zu dieser Methode; vielmehr führte ihn eine lebenslange Beschäftigung mit dem >Sehen< dazu, begierig die Gelegenheit zu einer Systematisierung zu ergreifen, die sich ihm durch Wölfflins Buch bot. Staiger ist dagegen ausgesprochen musikalisch orientiert. Für ihn ist das Denken in musikalischen Begriffen mehr als ein theoretisches Mittel zum Zweck kritischer Analyse. Staiger ist in der Musiktheorie bewandert und sehr interessiert an grundlegenden musikalischen Problemen. Sein Buch »Musik und Dichtung« (Zürich 1947) enthält eine Sammlung von Vorträgen über Themen der Musik, die sich von Johann Sebastian Bach bis zu Arthur Honegger erstrecken. Anders als Walzel versucht Staiger jedoch nicht, eine Methodologie gegenseitiger Erhellung zu entwickeln; nur einmal berührt er kurz diesen Gegenstand in einem Essay über »Deutsche Romantik in Dichtung und Musik«. 1 E r wendet die Methode hier impressionistisch an, indem er auf auffallende Ähnlichkeiten des musikalischen und des literarischen Stils hinweist, ohne sich ausdrücklich auf ein besonderes System zu berufen, das den Übergang von der Musik zur Literatur bewirkt.
1
Emil Staiger, Musik und Dichtung, Zürich 1947, S. 61-85. 75
Das musikalische Element ist in Staigers Schriften über Literatur unterschwellig stets vorhanden. Er gebraucht musikalische Begriffe (Lied, Rhythmus, Tonika und Dominante, Tonart usw.) zur Charakterisierung von Dichtung, und er wählt absichtlich Ausdrücke, die etymologisch oder semantisch sowohl Musik als auch Literatur umfassen. Zum Beispiel zeigt er eine Vorliebe für das Wort >StimmungLaune< gebraucht und nicht mehr als musikalische Metapher empfunden wird, leicht seine musikalische Herkunft verrät. 2 Eine ähnliche Vorliebe hat Staiger für Wörter wie >klingenSchmelzMusik< selbst." Seine musikalische Ausbildung macht Staiger zu einem außergewöhnlich feinfühlenden Interpreten akustischer Nuancen in der Dichtung. Seine Begabung kommt vielleicht der glänzenden, doch unzuverlässigen Fähigkeit von Sievers zur Wahrnehmung der feinsten Schattierungen des individuellen Stils am nächsten (s. S. 51—5 3). Bei Staiger erbringt die >musikalische< Interpretation dichterischer Sprache, besonders wenn es sich um romantische Dichtung handelt, häufig unerwartete und wichtige Einsichten. Analysen wie die einer Strophe aus Brentanos »Romanzen vom Rosenkranz« sind gute Beispiele für Staigers kritische Wahrnehmung von Klangmustern: In des ernsten Tales Büschen Ist die N a c h t i g a l l entschlafen; Mondenschein muß auch verblühen, Wehet schon der frühe Atem. 7 » S o auf ü und a ist dann die ganze erste R o m a n z e gestimmt; und ebenso hat jede folgende ihre beiden Assonanzen wie Tónica und Dominant, deren Wechsel nie ermüdet. D o c h die größte W i r k u n g erreicht Brentano, wenn er nicht allein die Assonanzen durchhält, sondern noch innerhalb jeder Strophe reimt . . . Dreiundsechzig Strophen folgen sich so, und wenn w i r sie gelesen haben, entrinnen w i r der hypnotischen M a c h t v o n i [ü] und a nicht mehr.« 8 !
»Es
gibt ein W o r t ,
das ebenso wie
die Musik
die Poesie t r i f f t :
Stim-
mung.« (Ibid. S. 76.) 5
4
5
»Die Verse klingen leer . . . « (Staiger, Grundbegriffe der Poetik, 3. A u f l . Zürich 1 9 5 6 , S . 4 7 . — Im folgenden zitiert als »Grundbegriffe«.) » O b aber ein Leser mitschwingt . . . , das kümmert den L y r i k e r selber nicht.« (Grundbegriffe S. 47.) » S o rühmen w i r an der lyrischen Sprache den >SchmelzStil< für gewöhnlich als fast gleichbedeutend mit >Rhythmus< zu verstehen (beide Begriffe wurden von Staiger besonders definiert), und da der letztere gewisse musikalische Erscheinungen beschreibt, wird auch der erstere zu einem wesentlich musikalischen Begriff. Staiger ist stark von einer Theorie des musikalischen Stils beeinflußt, die von einem Anhänger von Eduard Sievers, Gustav Becking, entwikkelt wurde, auf dessen Hauptwerk, »Der musikalische Rhythmus als Erkenntnisquelle« (Augsburg 1928), Staiger sich in der Einleitung zu musikkritischen wie auch literaturwissenschaftlichen Essays beruft. 9 Wie Becking sieht auch Staiger im musikalischen Rhythmus das Grundelement der Poesie, das sich weiterer Analyse entzieht. In dem Essay »Deutsche Romantik in Dichtung und Musik« schreibt er: » D e r Stil an sich, ein Rhythmus, eine Haltung, eine Urgebärde des M e n schen, entzieht sich dem Begriff. Die Einbildungskraft jedoch erfaßt ihn und kann geleitet werden, indem der Interpret es sich zur P f l i c h t macht, das Mannigfaltige eines Kunstwerks immer im Hinblick auf das Eine, Unaussprechliche zu beschreiben.« 10
Das Unaussprechliche von Rhythmus und Stil gewinnt zusätzliche Bedeutung, wenn man bedenkt, daß Staiger ihre Isolierung als die »crux der Literaturwissenschaft« ansieht. 11 Viel von dem Reiz der interpretatorischen Essays Staigers rührt ganz abgesehen von ihrer Beachtung des akustischen Details - von einer wohltuenden Geschmeidigkeit und Unabhängigkeit von irgendeinem Dogma her, eine erfrischende Eigenschaft, geboren aus der ständigen Treue zu dem jeweiligen Text. Tatsächlich steht die Schmiegsamkeit von Staigers Interpretationen im Gegensatz zu seinen unerbittlichen und scharf umrissenen Begriffen, die als Grundlage für eine neue Literaturtheorie dienen sollen. Staigers Begriffe, wie sie in den bemerkenswerten »Grundbegriffen der Poetik« ausgearbeitet werden, sind absolutistisch und idealistisch in einem beinah platonischen Sinne, insofern als ein Kunstwerk sie niemals rein verwirklichen, sondern nur mehr oder weniger deutlich deren innerstes Wesen reflektieren kann. Solche Begriffe sind 8
10 11
» A l l e Begriffe wie >barockklassischromantisch< werden durchaus in Beckings Sinn gebraucht.« (Musik und Dichtung S. 9.) V g l . auch Staiger, D i e Kunst der Interpretation, Zürich 1 9 5 5 , S. 1 3 . Musik und Dichtung S. 64. Kunst der Interpretation S. 1 6 7 .
77
notwendigerweise unhistorisch und werden sub specie aeternitatis betrachtet, ein natürlicher Begleitumstand v o n Staigers Einstellung, die nur drei Grundmodelle der Dichtung z u l ä ß t - das Lyrische, das Epische und das Dramatische - welche zugleich die drei möglichen Formen menschlicher Existenz darstellen. Solche »Fundamentalpoetik« möchte in Staigers Worten - »ein Beitrag der Literaturwissenschaft an die philosophische Anthropologie« sein. 12 Er w i l l keine angewandte Poetik im Aristotelischen oder klassischen Sinne schaffen und ist nicht an D e f i nitionen aufgrund historischer Modelle interessiert. A u c h soll diese Theorie nichts über die W a h l einer bestimmten Form oder eines für gewisse Gattungen geeigneten Gegenstandes besagen. Stattdessen möchte Staiger die Schicht des geschriebenen (oder gesprochenen) Wortes durchdringen auf der Suche nach einem Kern, der die Literatur an die »fundamentalen Möglichkeiten des menschlichen Daseins« binden könnte. 13 Infolgedessen kann man die Dreiheit >lyrisch-episch-dramatisch< als analog z u »emotionalen, bildlichen, logischen« 14 Fähigkeiten ansehen oder, im Sinne v o n Tätigkeiten, analog z u »Fühlen, Zeigen, Beweisen« 15 und endlich auch z u den drei zeitlich-existenziellen Kategorien der Vergangenheit, Gegenw a r t und Z u k u n f t . Staigers Anspruch auf letzte Gültigkeit eines solchen Systems w i r d verstärkt durch den Gedanken, d a ß die zeitliche Dreiheit auch die treibende K r a f t hinter der Entwicklung der Sprache sei, v o m silbischen »Schrei der Empfindung« z u Bedeutung tragenden Wörtern und von diesen zu syntaktisch gebauten Sätzen. Jedes Stadium entspricht jeweils der lyrischen, epischen oder dramatischen Form. 1 6 D e r beherrschende E i n f l u ß auf Staigers Theorie kommt v o n Martin Heidegger, und Staiger erkennt seine Verpflichtung ihm gegenüber immer wieder dankbar an. Staigers Poetik stellt v o r allem einen Versuch dar, die Bedeutung der Existenzphilosophie für die Literaturtheorie aufzuzeigen. Heidegger selber hatte »nicht einmal angespielt« auf eine Theorie literarischer Gattungen, doch in seiner berühmten Analyse von 12 13 16
14 Ibid. S. 208. Grundbegriffe S. 12. 15 Ibid. S. 210. Ibid. S. 209. »Es ist keine bloße Analogie, wenn wir, um das Verhältnis von lyrischepisch-dramatisch zu erklären, an das Verhältnis von Silbe, Wort und Satz erinnern. Die Silbe darf als das eigentlich lyrische Element der Sprache gelten . . . Im epischen Stil dagegen behauptet das einzelne, einen Gegenstand bezeichnende Wort sein hohes Recht . . . Die Funktionalität der Teile, das Wesen des dramatischen Stils, ist ausgeprägt im Ganzen des Satzes, wo das Subjekt in einem Bezug zum Prädikat, der Nebensatz in einem Bezug zum Hauptsatz steht und ein Vorblick aufs Ganze nötig ist, um die einzelnen Teile zu verstehen.« (Ibid. S. 204-205.)
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drei Gedichten Hölderlins hatte er die drei Zeitdimensionen oder >Ekstasen< als ein impliziertes Prinzip der Erhellung benutzt. Es blieb Staiger überlassen, die rationale Grundlage für eine existentielle Poetik auszuarbeiten. Eine Feststellung Heideggers über die existentielle Rolle der Zeit dient Staiger, vielleicht mehr als irgendeine andere, bezeichnenderweise als Ausgangspunkt: »Wie die Zukunft primär das Verstehen, die Gewesenheit die Stimmung ermöglicht, so hat das dritte Strukturmoment der Sorge, das Verfallen, seinen existenzialen Sinn in der Gegenwart." Das entspricht Staigers Identifizierung des Dramatischen mit der Zukunft, des Lyrischen mit der Vergangenheit und des Epischen mit der Gegenwart. Außer der Tatsache, daß Staiger an einem entscheidenden Punkt seiner Erörterung Heidegger zitiert, 18 gibt es viele Beweise dafür, daß der Einfluß des Philosophen, besonders in den früheren Studien, tiefgehend ist. In »Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters« (1939) ist schon die erste Kapitelüberschrift, »Die reißende Zeit«, die das Wesen der >lyrischen< Gattung andeutet, von Heidegger übernommen. 19 In einem Artikel, der den Fortschritt der Hölderlin-Kritik während des zweiten Weltkrieges behandelt, 20 findet sich Staigers bis dahin umfassendste Beurteilung Heideggers, und es ist klar, daß es selbst in dem begrenzten Rahmen dieses Forschungsberichtes um beträchtlich mehr als um die Interpretation bestimmter Gedichte Hölderlins geht. Man braucht nur daran zu denken, daß in Heideggers Sicht - und Staiger stimmt ja in grundlegenden Fragen ganz mit ihm überein - Hölderlin das poetische Prinzip par excellence darstellt, und daß es möglich ist, an dem Werk dieses Dichters das Grundwesen der Dichtung selbst aufzudecken. Staiger erkennt, daß das Ausreifen von Heideggers Ontologie mit seiner vertieften Interpretation Hölderlins eng zusammenhängt, 21 und er findet den entscheidenden Gedanken der Existenzphilosophie - die Gleichung von Sein und reiner Zeit - leicht greifbar in Heideggers Essays über Hölderlin ausgedrückt, vor allem in dem über die Hymne »Wie wenn am Feiertage« (1942), 22 von der Staiger schreibt: »Die Inter-
17 18 19
21
22
Martin Heidegger, Sein und Zeit, 2. Aufl. Halle 1929, S. 346. Grundbegriffe S. 220. Martin Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, Frankfurt 1 9 j i , S. 37f. - Der letzte Ursprung der Formulierung »reißende Zeit« ist eindeutig die letzte Strophe von Hölderlins »Archipelagus«. Emil Staiger, Hölderlin-Forschung während des Krieges, in: Trivium I V (1946), S. 2 0 2 - 2 1 9 , bes. 2 1 1 - 2 1 7 . »In ständiger Auseinandersetzung mit Hölderlin hat sich Heideggers Ontologie allmählich umgestaltet.« (in: Trivium IV, S. 2 1 1 . ) Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung S. 4 7 - 7 4 .
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pretation der Feiertagshymne darf also, mindestens weithin, als Darstellung des letzten Grundes von Heideggers eigenem Denken gelten.«23 In Fragen von geringerer Wichtigkeit zeigt Staiger gelegentlich eine kritische Haltung gegenüber seinem Meister. Bei der Besprechung von Heideggers Hölderlin-Essays zum Beispiel kritisiert er ihn mit Recht wegen der Isolierung des Dichters vom geistigen Klima seiner Zeit und der Betrachtung Hölderlins als einer Art absoluter, unhistorischer Erscheinung: »Die Isolierung Hölderlins beschränkt sich aber nicht nur auf sein Verhältnis zur Philosophie der Zeit. Fast eifersüchtig ist Heidegger darauf bedacht, jede Wirkung von Zeitereignissen auf die Dichtung zu leugnen.«24 Und er merkt besonders an, daß Heidegger den Einfluß von Hölderlins Zeitgenossen Hegel und Schelling unbeachtet ließ. Ein anderes Beispiel einer Meinungsverschiedenheit zwischen Staiger und Heidegger - diesmal ein besonders ergiebiges — betrifft ein Interpretationsdetail in Mörikes Gedicht »Auf eine Lampe«.25 Das Gedicht besteht aus zehn jambischen Trimetern: N o c h unverrückt, o schöne Lampe, schmückest du, A n leichten Ketten zierlich aufgehangen hier, Die Decke des nun fast vergeßnen Lustgemachs. A u f deiner weißen Marmorschale, deren R a n d D e r E f e u k r a n z von goldengrünem E r z umflicht, Schlingt fröhlich eine Kinderschar den Ringelreihn. W i e reizend alles! lachend, und ein sanfter Geist Des Ernstes doch ergossen um die ganze Form E i n Kunstgebild der echten A r t . W e r achtet sein? W a s aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst.
Die ersten neun Zeilen werden recht übereinstimmend interpretiert. Die letzte, problematische Zeile jedoch läßt die Meinungen auseinandergehen im Hinblick auf die Bedeutung des Wortes >scheintvideturscheint< als >lucet< interpretiert: Schönheit scheint durch den Kunstgegenstand, er ist durch und durch erleuchtet. Der Briefwechsel zwischen Heidegger und Staiger über Mörikes Gedicht ruft einen zusätzlichen Kommentar von Leo Spitzer hervor, der 23
I n : T r i v i u m I V , S. 2 1 2 .
24
Ibid. S. 2 1 3 .
25
In: Trivium
IX
(1951),
pretation S. 3 4 - 4 9 .
So
S. 1 - 1 6 ;
wiederabgedruckt
in: Kunst der
Inter-
das Gedicht einer strengen philologischen Analyse unterwirft. 2 ' Er liefert die am reichsten dokumentierte und überzeugendste Interpretation des Gedichts, insbesondere der letzten Zeile. Durch den Hinweis auf den Einfluß der schwäbischen Umgangssprache zeigt er, daß das >scheint< der letzten Zeile als >ist schön< zu lesen ist in Übereinstimmung mit dem schwäbischen >scheinen< gleich >schön seinihm< nicht als eine äußerste sprachliche Verfeinerung zur Bezeichnung von etwas weniger Festem oder Sicherem als >sich< zu betrachten, sondern vielmehr als eine schwäbische Eigenheit, so daß die letzte Zeile durch folgende Umschreibung wiedergegeben werden könnte: >Aber was immer schön ist, ist selig schön in sichEin-gebungVor-behaltVorwurf< deutlich, das eine besondere Bedeutung annimmt durch die Etymologie des griechischen Äquivalents >problemaProblem< verstanden w i r den >Vorwurf< im wörtlichen Sinne des Begriffs, das Vorgeworfene, das der Werfende einzuholen berufen ist.« (Grundbegriffe S. i 7 4 f . )
28
29
30
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meinen Gebrauch blaß und abgenutzt gewordenen Wörtern eine neue Reinheit der Bedeutung wiederzugeben. Wie unsere Beispiele zeigen, soll der ursprüngliche, unverschmolzene Zustand der Zusammensetzungen die Struktur des zu behandelnden Begriffs erhellen. Die Etymologie ist in den Dienst der begrifflichen Analyse gestellt. Die Verwendung dieses Kunstgriffs ist eines der auffallendsten Charakteristika von Heideggers wie von Staigers Stil, obwohl bei letzterem dem allgemeinen Sprachgebrauch weniger Gewalt angetan wird. Das Mittel ist bei Staiger Teil seines flüssigen und ungeheuer anpassungsfähigen Interpretationsstils. Die beiden folgenden Stellen aus Heidegger mögen zum Vergleich dienen: » D a s Seiende, das den Titel Da-sein trägt, ist >gelichtethängt< das unabhängige«, innerweltliche Seiende mit der transzendierenden W e l t »zusammen«?« 31
Bei Heidegger zeigt sich ein merkwürdiger Glaube an die Bedeutung deutscher Wortursprünge. Leo Spitzer äußert sich mit Recht skeptisch über die Gültigkeit dieses Vorgehens. Er bezeichnet gewisse Sätze des Philosophen als »preziösen Wortprunk« 32 und schreibt: »Viele philosophische Leser Heideggers haben sich immer wieder über die Etymologie als Denkform (und speziell über Verwendung d e u t s c h e r Etymologie zur Erschließung oder Belegung universaler Sachverhalte) verwundert. Für den Philologen ist es erheiternd, das übliche philosophische Wortgeflecht über philologisch Zweifelhaftes gebreitet zu sehen.. .«33 Unserem Bemühen um ein klares Verständnis von Staigers Ansichten bietet sich große Hilfe durch die »Einleitung« zur zweiten und dritten Auflage seiner »Poetik«, wo das Bedürfnis für eine neu gefaßte, moderne Poetik überzeugend begründet wird, und noch einmal durch das »Nachwort«, das eine Art endgültiger Apologie und energische Verteidigung gegen kritische Angriffe ist.34 Wir haben daher einen besseren Ausgangspunkt als die Rezensenten der ersten Auflage der Poetik (1946), weil diese gewissen Mißverständnissen ausgesetzt waren - besonders hin31
Sein und Zeit S. 3 5 0 und 3 5 1 .
32
L e o Spitzer, in: T r i v i u m I X ( 1 9 5 1 ) , S . 1 3 7 . Ibid. S . 1 4 3 . Zusammengestellt aus Vorlesungen in O x f o r d im J a h r e 1 9 4 8 und »Grundbegriffen« v o n der zweiten A u f l a g e an ( 1 9 j i ) hinzugefügt.
33 M
82
den
sichtlich des Bezuges der Adjektive >lyrischepischdramatisch< zu ihren entsprechenden Substantiven die inzwischen durch ausführlichere Erläuterungen geklärt wurden, welche Staiger der Ausgabe von 1951 anfügte. Weil Staiger eine deutliche Vorliebe für >das Lyrische< hat, wollen wir uns zuerst mit diesem Begriff befassen. Vieles von dem, was mit >episch< und >dramatisch< gemeint ist, wird dann in klarerem Licht erscheinen. Es ist festgestellt worden, daß Staiger nicht daran interessiert ist, literarische Modelle oder Beispiele zu sammeln, um gemeinsame charakteristische Eigenschaften zu abstrahieren. Er hält diese Methode, literarische Gattungen zu bestimmen, für verwirrend und ohne großen Wert: »Sie [die Poetik] muß - um bei der L y r i k zu bleiben - Balladen, Lieder, H y m n e n , Oden, Sonette, Epigramme miteinander vergleichen, jede dieser A r t e n durch ein bis zwei Jahrtausende verfolgen und etwas Gemeinsames als den Gattungsbegriff der L y r i k ausfindig machen. Dies aber, w a s dann f ü r alles gilt, kann immer nur etwas Gleichgültiges sein.« 3 5
Ähnlich schreibt Heidegger: » A b e r läßt sich überhaupt am W e r k eines einzigen Dichters das allgemeine Wesen der Dichtung ablesen? D a s Allgemeine, das heißt: das f ü r vieles Gültige, können w i r doch nur in einer vergleichenden Betrachtung gewinnen.«"
Für Heidegger ebenso wie für Staiger kann das Wesen der poetischen Erscheinung durch das Studium eines einzigen Dichters enthüllt werden. Staiger meint, daß die >lyrische< Gattung gefühlt, intuitiv erfaßt und erfahren werden kann durch das Lesen schon einer kleinen Auswahl deutscher romantischer Dichtung. Bezeichnenderweise schreibt er: »Und wenn man mich fragt, wonach ich ein Gedicht als lyrisch bezeichne, würde ich sagen, nach dem, was mir an diesen Gedichten aufgegangen ist.«37 Wird das Wesen der allgemeinen Elemente einer besonderen Gruppe von Gedichten definiert und charakterisiert, wie es Staiger so bewundernswert getan hat, dann ist das ein wertvoller Beitrag dazu, den Geist solcher Gedichte zu verstehen und zu erleben. Staiger hat uns zu einem neuen und richtigeren Verständnis der lyrischen Dichtung der deutschen Romantik verholfen, vor allem durch sein feines Gefühl für musikalische und rhythmische Elemente in Gedichten von Goethe, Brentano und 35
Grundbegriffe S. y i .
38
A u s dem Kapitel »Hölderlin und das Wesen der Dichtung«, dem N e u druck einer Vorlesung in R o m aus dem J a h r e 1 9 3 6 , gedruckt in: H e i d egger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung S. 3 1 - 3 9 . Grundbegriffe S. 2 3 9 L
37
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Eichendorff. Schwierigkeiten gibt es allerdings, wenn Staiger die aus der Dichtung einer bestimmten Epoche gewonnenen Einsichten zu unabänderlichen Prinzipien von letzter Gültigkeit erhebt. Sicherlich war die deutsche Romantik mit all ihrer Antipathie gegen klassizistische Formen den literarischen Konventionen nicht weniger unterworfen als andere Bewegungen vergleichbaren Umfangs; ihren lyrischen Wertmaßstab als höchstes Vorbild für alle anzusehen, erscheint ziemlich gewagt. Im Nachwort zur »Poetik« schreibt Staiger aber: »Wir lesen an romantischen Liedern, an Liedern, die Goethe gedichtet, und andern Liedern, die diesen ähnlich sind, das Wesen des Lyrischen ab.«38 Staiger geht es nicht nur um eine neue Definition der traditionellen Kategorien des Lyrischen, Epischen und Dramatischen. Die ihnen von jeher zuerkannten Kriterien scheinen ihm oberflächlich zu sein. Zu viele verschiedene Stile und Gefühlstöne sind in solchen Kategorien zusammengeworfen. Die Behauptung, lyrische Gedichte seien Gedichte kleinen Umfangs, Dramen für die Bühne geschriebene Stücke und Epik lange Gedichte, die eine Handlung beschreiben und gelesen oder vorgetragen werden sollen, könnte schwerlich ein Beitrag zu einer sinnvollen Poetik sein. Denn Tatsache ist, daß ein kurzes Gedicht mehr >dramatisch< als >lyrisch< sein kann, ein für die Bühne geschriebenes Werk mehr >episch< als >dramatisch< usw. Was Staiger für entscheidend hält, ist mehr die >Qualität< einer Dichtung als ihre Gattung. Es ist freilich denkbar - und Staiger weiß das - , daß eine traditionelle Poetik die offensichtlichen Widersprüche zwischen >Qualität< und >Gattung< berücksichtigen könnte. Ein Gelehrter wie Julius Petersen unterscheidet, indem er eine Anregung Goethes aufgreift (s. S. 87-88), sorgfältig zwischen literarischen Grundformen und Dichtarten. Die ersteren betreffen wiederum die wohlbekannte Dreiheit, während die kleineren Unterteilungen wie Fabel, Ballade, Idylle, Satire usw. als Zwischenstufen zwischen den größeren Kategorien anzusehen sind. Petersen fordert seine Leser auf, sich die Unterteilung der Literatur in Form eines Rades zu vergegenwärtigen, das drei Hauptspeichen besitzt, welche die Grundformen darstellen und das Rad in drei Gruppen von Dichtarten einteilen.39 Eine Bewegung um die Achse kann Unterschiede in der Abstufung von Subjektivität und Objektivität bedeuten: Lyrik -»- Epik Dramatik, oder von Darstellungen des Stofflichen zu Darstellungen von Zuständen: Epik -»• Dramatik ->- Lyrik. Goethes »Werther« zum Beispiel ist ein episches Werk mit lyrischen Tendenzen im ersten Teil und dra39 39
Ibid. S. 2 4 3 . Julius Petersen, Die Wissenschaft von der Dichtung, Berlin 1 9 3 9 , I, S. 1 2 4 . 84
matischen Elementen im zweiten; Dantes »Divina Commedia«, eine »verzückte Schau«, ist Epik mit lyrischen Tendenzen. 40 Doch ein solches Schema befriedigt Staiger nicht, weil Petersen keinen zwingenden Grund dafür angibt, warum den epischen, lyrischen und dramatischen Arten ein Vorrang vor den verschiedenen Unterarten zukommen sollte. Petersens Vorschlag, das Merkmal der Einfachheit auf die Grundformen anzuwenden, überzeugt nicht; es läßt sich aufzeigen, daß ein Gebet oder ein Epigramm genauso >einfach< sein kann wie ein Epos. Auch gäbe es, in Ermangelung einer ontologischen Basis, keinen Grund, daß künftige Dichter nicht neue Grundarten einführen könnten, die die Nützlichkeit von Petersens Rad in Frage stellten. Staigers Forderung einer erkennbaren Identifizierung von philosophischer Anthropologie< mit einer Poetik darf nicht vergessen werden. Ein grundlegendes Dilemma aller Literaturtheorie wird an diesem Punkt sichtbar. Man kann die Gültigkeit einer traditionellen Poetik durchaus verneinen, wenn man literarische Arten oder Unterarten als illusorisch und als belanglos für die kritische Bewertung betrachtet. In diesem Fall kann das ästhetische Kunstprodukt unter Berufung auf das Wesen >intuitiver< und >expressiver< Erkenntnis untersucht werden. Eigenartigerweise erwähnt Staiger nicht ausdrücklich die Position Croces oder irgendeiner nominalistischen Anschauung, die jedes echte Kunstwerk als völlig unabhängig von alten Traditionen oder von Zeitstilen betrachtet. 41 Im Gegensatz dazu ist es auch möglich, die Verbindung zwischen dem Dichter und seinem Werk überhaupt unbeachtet zu lassen, das Werk nach seiner Form einzureihen und das Urteil weitgehend aufgrund der Ubereinstimmung des Werkes mit seiner Gattung zu fällen. Staiger verficht die Meinung, daß das Band zwischen einem dichterischen Werk und der menschlichen Natur nicht zerrissen werden darf. Die Einbeziehung eines solchen continuum verneint keineswegs die Möglichkeit einer Poetik. Andererseits müßte die Trennung von der philosophischen Anthropologie< zu einem starren und wirkungslosen Schema ohne Fühlung mit dem lebendigen Körper der Literatur führen. Da Julius Petersen seine Anschauung von der Literatur nicht auf philoso40 41
Ibid. S . 1 2 6 . V g l . Benedetto Croce, Ästhetik als Wissenschaft v o m Ausdruck und allgemeine Sprachwissenschaft, Tübingen 1 9 3 0 . - Im Kapitel »Historismus und Individualismus in der Ästhetik« schreibt C r o c e : »Die philosophische V e r u r teilung der künstlerischen und literarischen Gattungen ist ein strenger Beweis und eine scharfe Formulierung f ü r das, w a s die künstlerische A k t i v i t ä t immer bewirkt und der gute Geschmack immer anerkannt hat.« (S. 4 1 . )
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phische Voraussetzungen stützen konnte, ist er laut Staiger zur geistigen Sterilität verurteilt. Die erste Position, die eine unvoreingenommene Beschäftigung mit jedem Kunstwerk, ohne Bezugnahme auf die Gattung verlangt, beruht auf einer semantischen Verwirrung, die dadurch entsteht, daß man in Adjektiven wie >lyrischepisch< und >dramatisch< eine viel engere Verbindung mit ihren entsprechenden Substantiven sieht, als es tatsächlich der Fall ist. Die Adjektive sind gültige Bezeichnungen einer immanenten ästhetischen Eigenschaft. Andernfalls wäre es eine Tautologie, ein Drama als >dramatisch< zu bezeichnen. Nur das Substantiv ist ein äußerliches Etikett. Die Adjektive können sehr wohl als Bausteine für eine neue Poetik dienen. Die extrem formalistische Stellungnahme auf der andern Seite muß vermieden werden, weil sie zu einer »babylonischen Konfusion« führt. Eine Vielheit von Gattungen, das Verschmelzen der einen mit der anderen, das mögliche Erfinden neuer Dichtarten, können leicht eine chaotische Landschaft bewirken: »Da liegen die Begriffe kreuz und quer als Trümmer der alten Poetik, die ihre Basis verloren hat.«42 Staigers Poetik stellt einen Versuch dar, aus der Sackgasse herauszukommen durch den Hinweis auf drei >SeinsweisenNaturformen< der Literatur gibt: Epos, Lyrik und Drama. 47 Während er anerkennt, daß nur wenige der >Naturformen< jemals unvermischt erscheinen, glaubt er, daß sie durchaus erkennbar seien, und daß deshalb alle Unterarten und Unterteilungen in größere oder geringere Nähe zu einer von ihnen gestellt werden können. Er regt an, sie in einem Kreis zu gruppieren, in dem die >Naturformen< als Radien erscheinen und die Segmente durch die passenden >Elemente< ausgefüllt werden.48 Die Ausarbei45
V g l . z. B. Friedrich Schlegel: Seine prosaischen Jugendschriften, hg. v o n J a kob Minor, Wien 1 8 8 2 , II, S. 3 4 8 : » D i e einzige (dorische) Form ist L y r i k (so wie Epos ausschließlich ionische Form, und D r a m a athenische ist); und man darf nie vergessen, daß diese nichts anderes ist als der poetische Teil der Musik.« Ibid.: »Das lyrische Gedicht ist f ü r Heroen. D a s epische Gedicht ist für Menschen. D e r Heros ist lyrisch, der Mensch episch, der Genius dramatisch. D e r Mann lyrisch, die F r a u episch, die Ehe dramatisch.«
46
Schelling vergleicht die L y r i k mit der Musik, die E p i k mit der Malerei, das D r a m a mit der Bildhauerei, in: Sämtliche Werke, Berlin 1 8 5 6 - 1 8 6 1 , V , S. 640. - In seiner »Vorschule der Ästhetik« verbindet J e a n Paul die E p i k mit der Vergangenheit, das D r a m a mit der Z u k u n f t und die L y r i k mit der Gegenwart, in: Sämtliche Werke, Akademie-Ausgabe, hg. von E d u a r d Berend, Berlin 1909, X I , S. 2 5 4 .
47
Goethe, Sämtliche Werke, Jubiläumsausgabe, Stuttgart 1 9 0 2 - 1 9 0 7 , V, S. 2 2 3 . » M a n w i r d sich aber einigermaßen dadurch helfen, daß man die drei Hauptelemente in einem Kreis gegen einander über stellt und sich Musterstücke sucht, w o jedes Element einzeln obwaltet. Alsdann sammle man Beispiele, die sich nach der einen oder nach der anderen Seite hinneigen, bis endlich die Vereinigung v o n allen dreien erscheint und somit der ganze Kreis in sich geschlossen ist.« (Ibid. V , S . 224.)
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tung von Goethes Anregung durch Julius Petersen wurde schon besprochen. Emil Ermatinger ist gleichermaßen vertraut mit der Dreiheit: episch - lyrisch - dramatisch und glaubt, daß diese Grundarten Vorbilder haben, die für alle Zeit die literarischen Gattungen bestimmen.4' Karl Vietor bemerkt, daß Ermatinger, indem er die >Naturformen< als absolute, der Erfahrung vorangehende Begriffe ansah, Goethe mißverstand. Er zeigt, daß Goethe im Gegenteil darauf bestand, daß alle Begriffe induktiv gefunden werden müssen.50 Eine psychologische Rechtfertigung für die Existenz der >Naturformen< wird durch Robert Hartls Buch »Versuch einer psychologischen Grundlegung der Dichtungsgattungen« (Wien 1924) geboten. Bewußt von Kant ausgehend, leitet er die Grundarten von den drei Kategorien des Geistes ab: das Drama ist mit dem Willen (»Begehrungsvermögen«) verbunden, die Epik mit dem Denken (»Erkenntnisvermögen«), die Lyrik mit dem »Gefühl«. 51 Nachdem Staiger einmal seine Begründung für die Wichtigkeit einer >anthropologischen< Poetik vorgetragen hat, zeigt er großes Interesse für gewisse Grundprobleme der Methodologie. So ist ihm zum Beispiel daran gelegen, eine Art von kreisförmiger Gedankenführung (>hermeneutischer Zirkellyrischepisch< und >dramatisch< wurden unzweifelhaft in dieser 49
V g l . E m i l Ermatinger, Philosophie der Literaturwissenschaft, Berlin S.371.
50
K a r l Vietor, Die Geschichte der literarischen Gattungen, in: Vietor, Geist und Form, Bern 1 9 5 2 , S . 3 0 2 . Einen interessanten Beitrag zur Stellung von Grundkategorien in allen K ü n sten liefert Stephen Dedalus in James Joyces »Portrait of the Artist as a Y o u n g M a n « (Viking Compass Books, N e w Y o r k 1 9 5 8 , S. 2 i 3 f . ) , das erstmals im Jahre 1 9 1 6 erschien, noch ehe dieser Begriff bei den deutschen Gelehrten wieder größere Beachtung fand. Goethe dachte ganz offensichtlich, die Reihenfolge sei nicht von allzu großer Bedeutung und schlug die willkürliche Reihe E p i k - L y r i k - D r a m a vor. Joyces Stephan Dedalus jedoch äußert den Gedanken einer Hegelianischen vorherbestimmten Bewegung von der L y r i k zur D r a m a t i k : » D u wirst sehen, daß die Kunst sich notwendigerweise in drei Formen teilt, die von der einen zur nächsten fortschreiten. Diese Formen sind: die lyrische Form, die Form, in welcher der Künstler sein Bild in unmittelbarer Verbindung mit sich selbst zeigt; die epische Form, die Form, in welcher er sein Bild in mittelbarer Verbindung mit sich selbst und anderen zeigt; die dramatische Form, die Form, in welcher er sein Bild in unmittelbarer Verbindung mit anderen zeigt.«
51
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1930,
Weise entwickelt, durch Hin- und Herbewegen zwischen interpretativen Einzelheiten und dem Grundbegriff. Diese Methode ist nicht neu und ist seit einiger Zeit allgemein anerkannt. Staiger kann zur Unterstützung einer solchen Kreislogik überzeugende Äußerungen von so bedeutenden Gelehrten wie Dilthey (in seinem Essay über die Hermeneutik) 52 und vor allem von Heidegger anführen. Heidegger macht überdies den noch kühneren Schritt, den Kreis keineswegs als vitiosum anzusehen, sondern im Gegenteil als eine »positive Möglichkeit zur Erlangung grundsätzlicher Einsichten«.53 Eine sehr ähnliche Art von kreisförmiger Beweisführung wurde von René Wellek genau geprüft und für unerläßlich bei der Definition literarischer Epochen gehalten. Die Wirksamkeit dieser Methode nicht zu erkennen, könnte zu der unberechtigten Einführung außerliterarischer Werte führen, wie etwa der triadischen Progression Hegels oder anderer idealistischer Systeme.54 Wir tun gut daran, an dem logischen Zirkel, der in Staigers »Grundbegriffen« eingeschlossen ist, keinen Anstoß zu nehmen. Es liegt darin die willkommene Annahme einer persönlichen Perspektive, und zugleich bietet er die Möglichkeit einer Poetik, deren Grundlage die Literatur selbst ist. Staiger schreibt: »Aus den Sachen selbst!« Und: »So gehen auch wir an die Untersuchung heran, ohne uns vorher darum zu kümmern, wohin der Weg uns führen wird.« 55 Ich glaube jedoch, daß Staiger die Ergebnisse seines Denkens gelegentlich über die von seinem Gegenstand gesetzten Grenzen hinaustreibt, denn sicherlich läßt sich eine Abstraktion wie >das Lyrische< auch auf andere Epochen als die Romantik und auf andere Sprachen als die deutsche anwenden. Außerdem berücksichtigen Staigers >anthropologische< Konstanten nicht die Tatsache, daß sogar die literarischen Grundarten mit dem Heraufkommen neuer literarischer Formen ebenfalls dem Wechsel unterworfen sind. Ebensowenig wird das Problem gelöst durch die Einführung einer Dichotomie zwischen dem >unreinen< literarischen Werk auf der einen Seite und einem Substrat letzter und reiner Begriffe auf der anderen, wie es in Stellen wie der folgenden angedeutet ist: »Aber es ist nicht sinnlos, die Frage nach dem Wesen des Lyrischen, Epischen und Dramatischen aufzuwerfen. Denn diese Qualitäten sind 52
55 54
55
» A u s den einzelnen Worten und deren Verbindungen soll das G a n z e eines Werkes verstanden werden, und doch setzt das volle Verständnis des einzelnen schon das G a n z e voraus.« (Wilhelm Dilthey, Gesammelte Schriften, Leipzig 1 9 2 2 - 1 9 3 6 , V , S. 330.) Heidegger, Sein und Zeit S. 1 5 3 . V g l . René Wellek-Austin Warren, Theory of Literature, 2. A u f l . N e w 1 9 5 6 , S. 2 4 7 . Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters S. 1 9 .
York
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einfach und werden in ihrer Ruhe durch das Schillern und Schwanken des Charakters der einzelnen Dichtungen nicht gestört.«56 Ich glaube im Gegenteil, daß diese Dichotomie die Einheit des dichterischen Kunstwerks in einer Weise beeinträchtigt, die an Piatos zweifache Sehweise erinnert, die eine auf Kreise, Dreiecke und Würfel gerichtet, die andere auf ihre unvollkommenen Projektionen in der sinnlichen Welt. Es erscheint mir fruchtbarer, sich auf den Historismus Vicos zu berufen und zu erkennen, daß ein Kunstwerk, etwa ein lyrisches Gedicht, Wirklichkeit und eine ganze Anzahl von Qualitäten nur im Sinne seiner besonderen literarhistorischen Epoche hat.57 In seinem ausgezeichneten Artikel von 1931 zeigte Karl Vietor Scharfblick für die Schwächen einer Methode, die literarische Kategorien von einem zu kleinen Ausschnitt der Literaturgeschichte aus entwickelt.58 Im besonderen kritisierte er das von Emil Ermatinger in seinem Essay »Das Gesetz der Literaturwissenschaft« empfohlene Vorgehen: 5 ' » . . . wenn es so wäre, wie Ermatinger es sich denkt, müßte vom Typus 60 aus erst entschieden werden, welche Einzelwerke zu der betreffenden Gattung gehören. Der Typus könnte hier also nicht, wie bei Goethe, aus der Erfahrung stammen, sondern er müßte der Erfahrung vorausgehen. Ich wüßte nicht, woher man ihn haben könnte, wenn nicht so, daß man ein Einzelwerk als exemplarisch auffaßt und zur Reinheit des Gattungstypus erhebt. Eine Liedgeschichte aber, die etwa Goethes Lied als Gattungsnorm setzte, würde eine völlige Verzerrung des geschichtlichen Bildes geben . . . Es ist klar: kein einzelnes Stück kann tatsächlich Repräsentant der Gattung sein.«61 Der Abgrund zwischen permanenten ästhetischen Normen einerseits und dem Fluß der historischen Entwicklung andererseits kann vielleicht überbrückt werden, wenn man literarische Kategorien als Institutionen von der Art betrachtet, wie sie Harry Levin vorschlägt. 62 Wenn 56 57
58
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Grundfragen S. 2 3 7 f . »Die N a t u r der Dinge ist nichts anderes als ihr Entstehen in bestimmten Zeitläuften und unter bestimmten Umständen; jedesmal, wenn diese so sind, entstehen die Dinge daraus so und nicht anders.« (Giambattista Vico, Die N e u e Wissenschaft, übers, u. eingel. von E . A u e r b a c h , München 1 9 2 4 , S. 81.) Vietor befindet sich in grundsätzlicher Obereinstimmung mit Günther M ü l lers »Bemerkungen zur Gattungspoetik«, in: Philosophischer Anzeiger I I I ( 1 9 2 9 ) , S. 1 2 9 - 1 4 7 . Emil Ermatinger, Philosophie der Literaturwissenschaft S. 3 3 1 — 3 7 5 .
60
D a s W o r t >Typus< kennzeichnet einen B e g r i f f , der Staigers >Grundbegriff< eng v e r w a n d t ist.
61
K a r l Vietor, Die Geschichte der literarischen Gattungen S. 303. H a r r y Levin, Literature as an Institution, in: A c c e n t V I ( 1 9 4 6 ) , S. 1 5 0 - 1 6 9 .
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auch die Zugehörigkeit zu solch einer >Institution< natürlich Identifizierung mit ihr impliziert, so bedeutet es doch keinesfalls Konformität. Die fundamentalsten >Institutionen< haben die größte Dauer, obwohl ihre Permanenz durch nichts garantiert ist. Klassische und mittelalterliche Epen, sowohl der mündlichen wie auch geschriebenen Tradition, Klopstocks »Messias« und Miltons »Paradise Lost« können alle Zugehörigkeit zu der Institution Epik< beanspruchen, die ja gar nicht existierte ohne die Masse der Werke, welche die epische Tradition ausmachen. Eine kritische Bewertung dieser Werke kann durchaus auf die Institution der Epik Bezug nehmen. Jedes neue echte Kunstwerk ändert den ganzen Charakter der Institution, wie T. S. Eliot in seinem Essay von 1919, »Tradition and Individual Talent«, richtig erkannte: »Die bestehenden Denkmäler bilden eine ideale Ordnung untereinander, die durch die Einführung des neuen (des wirklich neuen) Kunstwerks verändert wird. Die bestehende Ordnung ist vollständig, bevor das neue Werk erscheint . . . Jeder, der diese Idee der Ordnung, der Form der europäischen, der englischen Literatur anerkannt hat, wird es nicht unsinnig finden, daß die Vergangenheit durch die Gegenwart verändert werden sollte, so wie die Gegenwart von der Vergangenheit gelenkt worden ist.«' 3 Ein Echo dieser einflußreichen Ausführungen findet sich in dem Eröffnungsatz von Cleanth Brooks' Vorrede zu »Modern Poetry and the Tradition« (Chapel Hill 1939): »Jeder Dichter, den wir lesen, verändert bis zu einem gewissen Grade unsere ganze Vorstellung von der Dichtung.« Es ist nicht zu übersehen, daß Staigers Abhängigkeit von gewissen Phasen der Literaturgeschichte die Brauchbarkeit seiner Poetik für die Aufstellung allgemeiner Normen einengt. Auch stimmen wir nicht mit allgemeinen Begriffen der Literaturtheorie überein, die größtenteils aus einer einzigen Nationalliteratur abgeleitet sind. Staiger erkennt diese Schwierigkeit und gibt zu, »im Englischen, in den romanischen Sprachen . . . sieht alles ganz anders aus«,64 und zuversichtlich überläßt er dem Leser die Entscheidung, ob die Prinzipien, die er hauptsächlich von deutschen Beispielen abgeleitet hat, für die Literatur im allgemeinen gültig sind. Doch das Nachwort zur »Poetik« ist weniger optimistisch und scheint einen Rückzug von dem früheren Vertrauen in die Allgemeingültigkeit der >Grundbegriffe< anzudeuten: »Ich gebe die Möglichkeit zu, daß alles nur in deutscher Perspektive von Interesse sei«.65 Hier und da scheint es, als bezöge der Autor eine letzte Verteidigungs63 64 65
T . S . E l i o t , Selected Essays, 3. Aufl. London 1 9 5 1 , S. 1 j . Grundbegriffe S. 22 j . Ibid. S. 245.
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Stellung, von der eines Tages eine neue Offensive ausgehen könnte. »Die Möglichkeit einer weltliterarischen Geltung scheint aber auch offen zu bleiben.«68 Staigers Wunsch ist klar: eine Poetik aufzubauen, die Heideggers drei existentielle Seinsweisen umfaßt. Es wäre eine >letzte< Poetik, die sich nicht so sehr mit dem geschriebenen oder gesprochenen Wort befaßt, sondern vielmehr mit ontologischer Analyse. » D i e B e g r i f f e lyrisch, episch, dramatisch sind literaturwissenschaftliche N a m e n f ü r fundamentale Möglichkeiten des menschlichen Daseins überhaupt, und L y r i k , Epos und D r a m a gibt es nur, weil die Bereiche des Emotionalen, des Bildlichen und des Logischen das Wesen des Menschen konstituieren . . . « "
Die das >Wesen des Menschen< betreffenden Prinzipien bringen eine Isolierung vom geschriebenen Wort mit sich, die in der Tat ein ernsthafter Mangel jeder Theorie wäre, welche die Literatur aufs neue erhellen und ordnen wollte. Wenn der >reine< Begriff des >Lyrischen< vor allem auf einige Gedichte Goethes, Brentanos und Eichendorffs anzuwenden ist, aber nicht auf Horaz und Petrarca, dann müssen — nach Staigers Schema - Horaz und Petrarca notwendig >episch< oder >dramatisch< sein, weil damit alle Grundbegriffe Staigers erschöpft wären. Wir sehen jedoch, daß Staiger Petrarcas Sonette, und übrigens auch Dantes kurze Gedichte, einfach übergeht, was es uns unmöglich macht zu erfahren, wie Staigers Poetik auf eine immerhin traditionell als Lyrik klassifizierte Dichtung anwendbar wäre. Horaz gegenüber gerät Staiger in eine Sackgasse, aus der ihn auch die etwas seltsame Erklärung nicht herausführt, daß Horaz' Gedichte häufig auf griechische Vorbilder anspielen und deshalb keinen »geschlossenen Kosmos« bilden: » W e r H o r a z ergründen will, hat zu bedenken, daß seine Sprache nicht jenen geschlossenen Kosmos bildet, den die Poetik zu schildern versucht, daß sie nicht nur in sich selber schwingt, sondern auf etwas anderes, das außer ihr liegt, bezogen bleibt. N u r insofern das, w a s außerhalb liegt bei H o r a z die griechische L y r i k - ein reiner poetischer Kosmos ist, mag indirekt eine Untersuchung im Sinne der Poetik möglich sein.« 68
Auf Vorbilder zurückführbare Dichtung kann also nicht wirklich die innerste Empfindung des Dichters wiedergeben. Staiger ist es unmöglich, zwischen dem Rohmaterial und dem gegliederten Inhalt der Dichtung zu unterscheiden. Der Stil eines Dichters ist sicherlich nicht weniger individuell, wenn er den Plan oder Elemente einer Handlung von anderswo • • Ibid. « Ibid. S. 209. 68 Ibid. S. 2 4 6 .
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entlehnt. Die Sackgasse in Staigers Gedankengang ist symptomatisch für einen Fehler in einem System, das letztlich von außerliterarischen Grundgegebenheiten abhängt. Staiger möchte die Unordnung ausmerzen, die einem neuaristotelischen Katalog literarischer Arten und Gattungen anhaftet; tatsächlich aber würde die Unordnung, die aus der rigorosen Anwendung der »Grundbegriffe« entstünde, die alten Poetiken vergleichsweise einfach erscheinen lassen. Ein Werk der Literatur würde nicht mehr unter Bezugnahme auf seine traditionelle Art oder Gattung besprochen und bewertet werden, sondern als eine besondere Mischung der drei existentiellen Grundformen. Es würde sehr schwierig werden, ein Werk zu klassifizieren, und in den Fällen, wo keine der drei Arten dominiert, ließe sich überhaupt kein Ordnungsprinzip anwenden; die Gefahr rein impressionistischer Beschreibung läge allzu nahe. Staiger hat höchst sensible und lehrreiche Abhandlungen über einzelne Werke der Literatur, hauptsächlich kürzere Stücke, geschrieben. Seine Behandlung von Mörikes »Auf eine Lampe« und Goethes »Dauer im Wechsel« oder die meisterhafte Stilanalyse von Kleists Prosastück »Das Bettelweib von Locarno« sind vorbildlich. Die großen kritischen Biographien von Goethe69 und Schiller70 erhellen die ganze Persönlichkeit der Dichter aus ihren Werken und nicht durch das umgekehrte Verfahren, was bis dahin die weitaus üblichere Praxis war. Erst Staigers Versuche, seine Einsichten zu theoretischen Prinzipien auszuweiten, rufen gewisse fundamentale Zweifel und Einwände hervor. Für eine gerechte Beurteilung von Staigers Poetik ist es notwendig, zulänglich genau die Merkmale eines jeden der >Grundbegriffe< zu kennen und zu wissen, was mit >lyrischepisch< und >dramatisch< gemeint ist. Staiger sagt wiederholt, kein Gedicht könne eine Grundform in ihrer reinen Gestalt verkörpern: die Sprache ist immer wenigstens teilweise etwas Begriffliches; ihre bloße Anwesenheit widerspricht der Idee der Lyrik, 71 die das »Sprechen der Seele« ist.72 Ferner kann kein Gedicht, so >lyrisch< es auch sein mag, gänzlich ohne das epische Element sein, weil jede semantisch relevante Äußerung >etwas vorstellt« (was ein typisches Merkmal der epischen Art ist). Das dramatische Element ist gleichfalls in der Literatur überall zu finden, weil es in allen logischen und syntaktischen Verbindungen vorhanden ist. Die neue Klas69 70
E m i l Staiger, Goethe, 3 Bde, Zürich 1 9 5 2 - 1 9 5 6 . E m i l Staiger, Friedrich Schiller, Zürich 1 9 6 7 .
71
D a s Gedicht »besteht aus Wörtern, die immer zugleich Begriffe sind. . . . aus Sätzen, die immer zugleich einen objektiven Zusammenhang bedeuten . . . « (Grundbegriffe S. 7 7 . )
72
» . . . jenes an sich unmögliche Sprechen der Seele . . . « (Ibid. S. 78.)
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sifizierung kann daher nach Staiger niemals mehr als eine Annäherung sein, weil die Aussage, ein Gedicht sei >lyrischLyrische< aber ist das letzte Element in jeder poetischen Äußerung. Jedes echte Gedicht enthält es, und keine Analyse kann darüber hinaus vordringen. 74 Man könnte sich sogar eine ansteigende Kurve poetischer Gattungen vorstellen, ohne damit auf einer chronologischen Reihenfolge zu bestehen. Staiger denkt jedoch an die Möglichkeit eines historischen Fortschreitens von der lyrischen zur dramatischen Gattung, zumindest an eine ansteigende Welle und schließliche Verwirklichung der höchsten menschlichen Fähigkeiten. Solch eine Entwicklung unterscheidet sich von Hegels dialektischem Fortschritt insofern, als sie offen hypothetisch ist und zeitlich allen uns bekannten literarischen Dokumenten vorausgeht. 75 Die lyrische als die fundamentalste Seinsweise erfährt durch Staiger die genaueste Prüfung; die Aufmerksamkeit wird auf die Stimmung des Autors wie auch des Lesers und natürlich auf das Werk selbst gelenkt. Staiger erklärt nicht, wie er zu einer Analyse außerliterarischer Faktoren kommt, aber man darf annehmen, daß es durch Ausdehnung der >Stimmung< des Gedichts in beiden Richtungen geschieht: zum Autor einerseits und zum Leser andererseits. Goethes Gedicht »Wanderers Nachtlied« ist für Staiger ein lyrisches Gedicht par excellence, woran er einige Aspekte seiner Auffassung von der lyrischen Form demonstrieren und entwickeln kann. Über allen Gipfeln Ist Ruh, In allen Wipfeln Spürest du K a u m einen H a u c h ; Die Vögelein schweigen im Walde, W a r t e nur, balde Ruhest du auch.
Hier - und so in allen vorwiegend lyrischen Gedichten - gibt es nach Staiger keine Nachahmung durch Laute, sondern hier ist das Gedicht >gewordenwiederWanderers Nachtlied< hier die A b e n d stimmung wäre, und dort die Sprache mit ihren Lauten zur V e r f ü g u n g
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Das ideale lyrische Gedicht hält sich nicht an Konventionen von Metrum und Reim. Jedes Gedicht ist sich selber Gesetz. Es orientiert sich nicht auf die Prosa hin, sondern auf einen Rhythmus, der organisch zum Gedicht gehört und sich im Einklang mit der Stimmung wandelt. 77 Das darf aber natürlich nicht zu dem Glauben verleiten, ein in einem konventionellen Metrum geschriebenes Gedicht sei notwendigerweise unlyrisch. Es gibt genügend Variationsmöglichkeiten innerhalb eines metrischen Schemas, die den feinsten Stimmungsnuancen entsprechen. Das Wesen des lyrischen Gedichts verlangt Kürze, denn es stellt einen einzigen vorübergehenden Moment dar, der durch den ernüchternden Einfluß der Tatsachenwelt schnell zerstreut wird. Der Einklang des Dichters mit der reinen lyrischen Existenz ist von kurzer Dauer. 78 Für diese Auffassung fühlt sich Staiger Hegels Schüler Fr. Th. Vischer verpflichtet, der in seiner Ästhetik davon spricht, die Welt komme zu einem »punktuellen Zünden« im lyrischen Subjekt.79 So wird die Forderung nach Kürze in der lyrischen Dichtung, die seit Edgar Allan Poes »Philosophy of Composition« (1846) ein Hauptanliegen moderner Poetik ist, von Staiger wiederholt, da der Dichter unfähig sei, die lyrische Existenzform für längere Zeit aufrechtzuerhalten. Vielleicht geschieht das »punktuelle Zünden« in mehrfachem Nacheinander, was dann ein längeres Gedicht ergibt. In solchem Falle würde die existentielle Einheit des Gedichts zerbrochen, und es bestünde aus einer Kette von lyrischen Momenten, die durch die Verbindung zusammengehalten würden. Die Verse zeigen das Verschwinden des einen Momentes an und bereiten die Stimmung für den nächstfolgenden vor. Entsprechend setzt Staiger das längere lyrische Gedicht mit dem Lied gleich und betrachtet in der Tat das Volkslied als ein fast reines Beispiel der lyrischen Gattung, in welcher die lyrischen Momente durch den Refrain zusammengehalten werden. Ein vorwiegend lyrisches Talent wie Brentano ahmte gern Lieder aus »Des Knaben Wunderhorn« nach. In Brentanos balladenhaften Gesängen übertrifft die musikalische Qualität der Refrains bei weitem die denotative oder gar konnotative Bedeutung. Die Wiederholung, die nach Staiger für längere lyrische Gedichte wesentlich ist, braucht nicht aus dem traditionellen
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stünde und auf den Gegenstand angewandt würde. Sondern der Abend erklingt als Sprache v o n selber.« (Ibid. S. 15.) Ibid. S. 28. »Jedes Lied ist kurz, weil es nur so lange dauert, als das Seiende mit dem Dichter übereinstimmt.« (Ibid. S. 8 1 . ) Die lyrische Poesie »ist ein punktuelles Zünden der W e l t im Subjekte.« (Friedrich Theodor Vischer, Ästhetik, hg. von Robert Vischer, 2. A u f l . M ü n chen 1 9 2 3 , V I , S. 208.)
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Refrain zu bestehen. Sehr oft wird nur einfach eine einzigartige Stimmung durch den Gebrauch ähnlicher Worte immer wieder zum Erklingen gebracht. Eines von Staigers beliebtesten Bildern für diesen Typ lyrischer Wiederholung ist das einer Harfe, auf der dieselbe Saite in regelmäßigen Abständen gezupft wird. 80 Musikalische Eindrücke ersetzen die Beschäftigung mit der poetischen Handlung als solcher. Um die Art von Gedicht zu zeigen, die Staiger als hervorragend lyrisch bezeichnen würde und auf welche die Bemerkungen über die lyrische Wiederholung zutreffen, drucken wir Brentanos »Der Spinnerin Lied« aus dem fragmentarischen Roman »Aus der Chronik eines fahrenden Schülers« (1818) ab: Es sang v o r langen Jahren W o h l auch die Nachtigall, D a s w a r wohl süßer Schall, D a w i r zusammen waren. Ich sing' und kann nicht weinen U n d spinne so allein Den Faden klar und rein, S o lang der M o n d w i r d scheinen. D a w i r zusammen waren, D a sang die N a c h t i g a l l ; N u n mahnet mich ihr Schall, D a ß du v o n mir gefahren. S o o f t der M o n d mag scheinen, Gedenk' ich dein allein; Mein H e r z ist klar und rein, G o t t wolle uns vereinen! Seit du v o n mir gefahren, Singt stets die Nachtigall, Ich denk' bei ihrem Schall, Wie w i r zusammen waren. G o t t wolle uns vereinen, H i e r spinn' ich so allein D e r M o n d scheint klar und rein, Ich sing' und möchte weinen!
Nach Staiger kann die poetische Sprache selbst gewisse wichtige, für die Lyrik charakteristische Elemente enthalten, trotz der Tatsache, daß ihr begrifflicher Charakter und ihr notwendiges Mindestmaß an syntak80
V g l . Grundbegriffe S. 30 und 3 5 ; ferner: Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters S. 56.
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tischem Zusammenhang dieser Gattung direkt entgegengesetzt sind. In einem >lyrischen< Gedicht wie »Der Spinnerin Lied« wird die Syntax bis zu einem Punkt vernachlässigt, wo die Wortfolgen sich auf der Grenze zwischen Musik und Sprache befinden. Infolgedessen spielt hier die Sprache als Verständigungsmittel eine geringere Rolle. Die Stimmung einer lyrischen Zeile ist nach Staiger so sinnfällig, daß ihr Wesentliches sogar von denen erfaßt werden kann, welche die Sprache, in der das Gedicht geschrieben ist, nicht kennen. Der Hinweis auf die Analogie von Musik und Lyrik erinnert an eine romantische Vorstellung, die M. H . Abrams zutreffend als »ut musica poesis« bezeichnet. 81 John C. Ransom und René Wellek haben überzeugend dargelegt, daß Klangmodelle in der poetischen Sprache nicht mit den Modellen des musikalischen Klanges gleichgesetzt werden können und daß ihre Bedeutung nicht richtig interpretiert werden kann, wenn denotative und konnotative Bedeutungen der Worte, Sätze und des Kontextes fehlen. 82 Staiger zeigt, wie in gewissen romantischen Gedichten (zum Beispiel in Brentanos »Frühen Liedchen« und in »Wie sich auch die Zeit will wenden«) die begriffliche Bedeutung äußerst vage und fast nicht-existent ist und daß in einigen Fällen, die vielleicht >zu weit gehenweildaß< und >wennunlyrischlyrischer< sein könnte: Komm, wir wollen Erdbeern pflücken, Ist es doch nicht weit zum Wald, Wollen junge Rosen brechen, Sie verwelken ja so bald! 81 82
83
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M. H . Abrams, The Mirror and the Lamp, N e w York 1953, S. 88. Vgl. Wellek-Warren, Theory of Literature S. 1 4 6 - 1 5 0 ; auch John Crowe Ransom, The World's Body, N e w York 1938, S. 9 5 - 9 7 . »Freilich geht Brentano zu weit. E r hat einige Lieder gedichtet, . . . worin der Sinn sich so bescheiden hinter dem Lautlichen bergen muß, daß sie fast nur noch Solfeggien sind und man statt ihrer wohl ebenso do, re, mi, fa, sol, la, si, do anstimmen könnte.« (Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters S. 41.) Grundbegriffe S. 37.
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Droben jene Wetterwolke, Die dich ängstigt, furcht ich nicht; Nein, sie ist mir sehr willkommen, Denn die Mittagssonne sticht.
Durch Entfernung der anstößigen Wörter >dochjaneindenn< macht er das Gedicht liedhafter: W i r wollen Erdbeern pflücken, E s ist nicht weit zum W a l d , U n d junge Rosen brechen, Rosen verwelken so bald . . .
Wir können Staiger gern zustimmen, wenn er sagt, parataktischer Satzbau komme sehr häufig in der deutschen romantischen Dichtung vor. Doch müssen wir seiner Behauptung widersprechen, solch ein syntaktisches Merkmal sei typisch für >alle< lyrische Dichtung. Hier setzt Staiger nur das Adjektiv >lyrisch< für >romantisch< ein. Solche Einwände sind nicht wirksam durch die Behauptung zu entkräften, der Höhepunkt des lyrischen Stils sei eben in der deutschen Romantik erreicht: »Der Einwand, solche Parataxe sei insbesondere romantischer Stil, ist nur berechtigt, sofern die deutsche Romantik einen weltliterarischen Höhepunkt des Lieds und damit der reinsten lyrischen Dichtung erreicht.« 88 Die Änderungen, die Staiger für Hebbels Gedicht vorschlägt, gehen von der Voraussetzung aus, daß der Autor sein >lyrisches< Gedicht zu schreiben b e a b s i c h t i g t e und deswegen gewisse Prinzipien hätte beachten sollen. Obwohl Staiger wiederholt betont, seine Grundbegriffe als solche bedeuteten oder erlaubten keine Werturteile, so sehen wir an solchen Beispielen dennoch, daß der >lyrische< ebenso wie die anderen Grundbegriffe fast unbemerkt zu ästhetischen Imperativen werden; denn in einem ontologischen System wie dem Staigers ist die Unterscheidung zwischen der Absicht des Autors und dem vollendeten Werk weit weniger deutlich herausgearbeitet als in einer Poetik, die sich auf das geschriebene Wort beschränkt. Tatsächlich brauchten sich Staigers Grundbegriffe überhaupt nicht auf die Dichtung zu beziehen und könnten gänzlich auf der menschlichen Erfahrung der Natur beruhen: »Die . . . >ideale Bedeutung< >lyrisch< kann ich vor einer Landschaft erfahren haben, was episch ist, etwa vor einem Flüchtlingsstrom; den Sinn von >dramatisch< prägt mir vielleicht ein Wortwechsel ein.«88 Nur sollten wir uns fragen, ob Staiger nicht Ursache und Wirkung umkehrt, da man be-
85 86
Ibid. S. 39. Ibid. S. 9. 98
zweifeln muß, daß solche kategorisierten Gefühlstöne der Erfahrung der Natur eigen sind, es sei denn, der Geist ist durch die Literatur bereits darauf vorbereitet. Man wird an Oscar Wildes »nature imitates art« erinnert und an die Annahme dieses Grundsatzes durch Jacques Maritain: » . . . auch sehen wir, daß Oscar Wildes Ausspruch, die Natur imitiere die Kunst, nur eine Binsenwahrheit ist . . . Denn Kunst und Einbildungskraft des Menschen sind auch einer der Wege, auf denen die Menschheit in die Natur eindringt, um von ihr reflektiert und gedeutet zu werden.« 87 Der Vorstellung, die Erfahrung der Natur sei als ein poetisches Prinzip anzusehen, können wir uns allerdings nicht anschließen, und wir glauben, daß der durch Hebbels Gedicht hervorgerufene »frostige Eindruck« - man braucht über diese Bemerkung nicht zu streiten - nicht durch mangelhaftes Befolgen einer romantisch gefärbten Idee des >Lyrischen< entsteht. Stattdessen finden wir, daß dieser Eindruck durch einen Überfluß an Worten und einen für die einfache, ländliche Szene und kindliche Stimmung ungeeigneten Stil hervorgerufen wird. Die >unlyrischen< Konjunktionen und der sich daraus ergebende hypotaktische Satzbau zeigen eine Unnatürlichkeit, die mit der Treuherzigkeit und Einfachheit der Situation nicht im Einklang steht. Wie schon ausgeführt, betrachtet Staiger den Geisteszustand des Autors wie auch die Wirkung eines literarischen Werkes auf den Leser als wesentlichen Bestandteil seiner Poetik. So behauptet er, die lyrische Äußerung verlange keine Anstrengung. Sie ist eingegeben und nicht gemacht. Der lyrische Dichter ist kein Macher, sondern ein passives Instrument, eine Harfe, deren Saiten durch den Atem der Inspiration in Schwingung versetzt werden. Er ist das genaue Abbild von Piatos unwissendem Rhapsoden Ion, obwohl dieser Homers epische Dichtungen und keine lyrische Poesie wiedergab. Um sein Ziel zu erreichen, kann ein lyrischer Dichter nur eines tun: auf die >Ein-gebung< warten. Er ist »träge wie Mörike« oder »willenlos wie Brentano«, während der epische Dichter »fleißig« und der Dramatiker »verbissen« ist.88 Der lyrische Dichter bleibt seinem Charakter treu, selbst wenn er seine Zeilen neu schreibt und >ausfeiltmitschwingt< und ein Gefühl der Übereinstimmung mit dem Dichter empfindet. Solche Augenblicke finden nur zu bestimmten Stunden statt und während eines besonderen Seelenzustandes. Daher ist eine öffentliche Lesung eines lyrischen Gedichtes fast immer peinlich; das lyrische Moment ist die intimste aller Erfahrungen. Lyrische Zeilen werden unserer Seele eingeflößt, während ein episches Werk den Leser oder Hörer ergreift und das Drama aufregt und Spannung erzeugt. 81 Staiger glaubt, daß viele lyrische Gedichte ihren vollsten Ausdruck erst finden, wenn sie in Musik gesetzt sind; Musik, so behauptet Staiger, hilft die Stimmung vorbereiten und erhöht das Auffassungsvermögen für die durch das Gedicht veranlaßten Schwingungen. Mit der problematischen Natur der Verbindung von Musik und poetischer Sprache setzt er sich nicht auseinander. Die wechselseitige Erhellung der beiden Künste wird unkritisch angenommen.*2 Da Hugo Wolf in seiner Musik immer »auf treueste Auslegung bedacht« ist, wird er als hervorragender Interpret lyrischer Poesie angesehen. Es stört Staiger offenbar wenig, daß die Übertragung künstlerischer Effekte von einer Kunst auf die andere keine kritische Interpretation bedeutet. Mir scheint jedoch, daß der Interpret von Literatur, der die Notwendigkeit eines begrifflichen Ins-Wort-Fassens nicht beachtet, sich nur noch in vage, rhapsodische Andeutungen flüchten kann. Freilich, im Falle von Beckings phantasievollen Darstellungen von Rhythmus und musikalischem Stil als Konfigurationen des Taktschlagens beim Dirigieren" erkennt auch Staiger, daß 90 91
Ibid. S. 7 8 f . »Das ist die Wirkung einer Kunst, die weder, w i e die epische, fesselt, noch, wie die dramatische, aufregt und spannt. D a s Lyrische w i r d eingeflößt.« (Ibid. S. 48.)
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»Schubert, Schumann, Brahms, H u g o W o l f und Schoeck . . . haben mit ihrer Musik dem Menschen deutscher Zunge unermeßliche Schätze der lyrischen Dichtung erschlossen, H u g o W o l f zumal, der immer auf treueste Auslegung bedacht ist und kaum je über das W o r t des Dichters hinwegmusiziert.« (Ibid. S. 48.)
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Gustav Becking, D e r musikalische Rhythmus als Erkenntnisquelle, burg 1 9 2 8 , A n h a n g et passim.
100
Augs-
ohne die Verwandlung solcher »Schlagfiguren« in eine Begriffssprache diese »unentzifferbare Hieroglyphen« bleiben, ganz gleich, wie stark ihre Suggestionskraft auch sein mag.84 Er sieht jedoch nicht, daß auch er, genau wie Becking, bei Abhängigkeit von einer musikalischen Interpretation des Lyrischen es mit Hieroglyphen zu tun hat, die ihre begriffliche Bedeutung nur denen verraten, die sie bereits verstanden haben. Da wir Staigers Auffassung der lyrischen Gattung ziemlich ausführlich dargestellt haben, dürfen wir nun die beiden anderen Gattungen etwas gedrängter erörtern. Analog zur Lyrik wird jede der beiden anderen Gattungen in ihrem totalen anthropologischen und existentiellen Zusammenhang betrachtet: es gibt einen epischen und einen dramatischen Bewußtseinszustand beim Leser (»gefesselt« bzw. »gespannt«) wie auch beim Dichter. Beide >existieren< episch oder dramatisch. Der epische Dichter, Homer, ist nicht in die Ereignisse, die er beschreibt, verwickelt. Der unaufhörliche Gebrauch eines einzigen Versmaßes, in diesem Fall des Hexameters, weist auf des Autors Gleichmut und Unbewegtsein hin. Der Abstand zwischen dem Autor und dem wiedergegebenen Ereignis ist immer zu erkennen. 96 Der tragische Dichter andererseits ist einer, dessen Weg zur Selbstzerstörung führt. Staiger betrachtet Kleists Leben als das Modell solch einer >tragischen< Existenz. Die »nordische Schärfe des Hypochonders« ist ein notwendiges Merkmal eines solchen Lebens wie auch die standhafte Entschlossenheit zu eiserner Konsequenz: »Nur der unerbittlich konsequente Geist erfährt das Tragische. Aber den unerbittlich konsequenten Geist muß es zerstören. Er endet im Wahnsinn oder im Selbstmord, wenn die Müdigkeit nicht schonende Dämmerung über die Seele legt.«96 Analog zur lyrischen und epischen Gattung bezieht, nach Staiger, die dramatische Gattung den >dramatischen< Dichter und sein Publikum ein. Staigers Interpretation der kleinen Prosaerzählung von Kleist >Das Bettelweib von Locarno< endet mit einer Feststellung, die anschaulich - und dramatisch - zeigt, wie die dramatische Seinsweise, ähnlich den anderen, Autor und Leser gleichermaßen in ihren Bann zieht: « . . . damit sind wir Kleist so sehr verfallen, daß uns nur ein Ruck aus
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95
"
»Schlagfiguren sind aber unentzifferte Hieroglyphen ohne den Text, auf den sie sich beziehen. Sie sagen nur dem etwas, der das Gedicht bereits verstanden hat.« (Kunst der Interpretation S. 19.) » H o m e r steigt aus dem Strom des Daseins empor und steht befestigt, unbewegt den Dingen gegenüber. E r sieht von einem Standpunkt aus, in einer bestimmten Perspektive.« (Grundbegriffe S. 84.) Grundbegriffe S. 1 8 4 . 101
der Umschlingung noch befreit und uns erlöst von einer Weise, Mensch zu sein, von deren Tödlichkeit des Dichters Ende zeugt.«97 Auch bei der epischen Dichtung interessiert Staiger nicht die aus der Betrachtung einer großen Anzahl von Dichtungen gewonnene Abstraktion, sondern vielmehr das Werk eines einzelnen Dichters, durch das er zu seinem Begriff gelangt. So geht Staiger von der Voraussetzung aus, daß Homers »Ilias« und »Odyssee« das Wesen der epischen Gattung enthüllen, 98 obwohl selbst homerische Hexameter gelegentlich auch andere als epische Elemente enthalten mögen. Die »Odyssee« mit ihren »duftigen Landschaftsgemälden« und ihren »schmelzenden Farben« nähert sich oft dem Lyrischen. Besonders über den Nausikaa-Szenen »liegt bereits ein zarter lyrischer Hauch«, denn »die Liebe ist kein episches Thema, sofern sie schmelzt und die Konturen des gesonderten Daseins auflöst.« 99 Im Ganzen jedoch entdeckt Staiger bei Homer die charakteristischen Kriterien der wahrhaft epischen Dichtung. Die Objektivität des Dichters ist klar ersichtlich nicht nur aus der Regelmäßigkeit des Versmaßes, sondern auch aus der Tatsache, daß in den meisten Fällen ein Hexameter in der Länge etwa auch einer Satzperiode entspricht. Wie in der Lyrik ist die Syntax parataktisch, aber die epische Parataxe unterscheidet sich radikal von der lyrischen Parataxe dadurch, daß sie selbstgenügsam ist. Jede Zeile ist eine verständliche Einheit, und das Gedicht würde seine Einheit nicht verlieren, wenn die eine oder andere Zeile ausgelassen würde. Andererseits sind in einem lyrischen Gedicht die Zeilen so miteinander verwoben und so fein ausgewogen, daß der Fortfall einer von ihnen wohl den ganzen Sinn des Gedichts zerstören könnte. Die Struktur eines epischen Gedichts kann deshalb als eine >Addition< bezeichnet 'werden.100 Die Zeilen wie auch die Elemente der Handlung werden einfach addiert als selbständige Einheiten. Staiger stellt die anfechtbare Behauptung auf, die »Ilias« könne auf die Hälfte oder sogar auf ein Drittel ihrer Länge zusammengestrichen werden, und niemand würde die herausgeschnittenen Stellen vermissen, es sei denn natürlich, er wäre mit dem ganzen Werk schon vertraut. 101 Solche Unabhängigkeit und Selbständigkeit der Teile gehören nicht nur zur Form des Werkes, sondern auch zur Beziehung der handelnden Personen untereinander. 97
Meisterwerke
deutscher
Sprache
S. 1 1 8 .
-
Kleist
beging
im J a h r e
1811
Selbstmord. 98
» . . . ist H o m e r . . . der einzige Dichter, in dem das Wesen des Epischen noch einigermaßen rein erscheint.« (Grundbegriffe S. 1 3 2 . )
99
Ibid. S. 100.
100
Ibid. S . 1 1 7 .
101
Ibid. S. 1 1 6 .
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Die Beziehung des Agamemnon zu seinen Untergebenen zum Beispiel ist die eines primus inter pares. Jeder der griechischen Helden ist aus sich selbst heraus ein großer Führer, der seine Taten nicht aus Gehorsam gegen einen Vorgesetzten vollbringt, sondern aus eigener Motivation. Die Lage ist ähnlich bei den Göttern. Die kleineren Götter widersetzen sich oft den Befehlen des Zeus und versuchen, sie durch allerlei Listen zu umgehen. Die Klarheit der Umrisse und die dazugehörige Fülle an Licht sind einem Verschmelzen des Dichters mit seiner Umwelt nicht förderlich, noch auch den seelenverwandten Schwingungen zwischen Dichter und Leser, wie es bei der lyrischen Dichtung beobachtet worden war. Die Verwandtschaft zwischen lyrischer Dichtung und Musik findet ihre Analogie in der Verwandtschaft zwischen epischer Dichtung und den bildenden Künsten.102 Im Falle der Musik mußte Staiger zugeben, daß eine Bachsche Fuge nicht lyrisch ist,103 aber wir suchen vergeblich nach einer Äußerung von ihm, die uns daran erinnerte, daß gewisse Stile der Bildhauerei oder Architektur keineswegs >episch< sind, wenn man überhaupt literarische Begriffe auf die Architektur anwenden will. Dementsprechend sind die Worte in der epischen Dichtung nicht »Schreie der Empfindung«, und es fehlt ihnen nie an denotativer (>feststellenderDramatische< ist die dritte und höchste Stufe menschlicher und poetischer Entwicklung. In Anlehnung an Cassirers Theorie der Sprache105 entsprechen, nach Staiger, die drei >Gattungen< den fortschreitenden Entwicklungsstufen der Sprache vom emotionalen zum logischen Ausdruck. Die erste Phase, >sinnlicher Ausdrucke entspricht dem Lyrischen, »anschaulicher Ausdruck< dem Epischen und »begriffliches Denken< dem »Die schöpferische K r a f t von Homers Blick bewährt sich zumal in der bildenden Kunst.« (Ibid. S. 97.) 1 0 3 Ibid. S. 52f. 1 0 4 Ibid. S. 93. 105 Ygj Ernst Cassirer, Die Philosophie der symbolischen Formen, Berlin 1923, Bd I. 102
103
Dramatischen. Der dramatische Dichter ist herausgetreten aus der Phase der lyrischen Vereinigung von Dichter, Gedicht und Publikum; er verweilt nicht länger bei der Beschreibung von Szenen um ihrer selbst willen, wie es der epische Dichter tut, sondern stürzt Hals über Kopf von einem Ausgangspunkt zu einem festen Ziel. »Der Zweck des Dichters liegt nicht, wie in der Epik, in jedem Punkt der Bewegung, auch nicht in der Art der Bewegung, wie in der Lyrik, sondern in ihrem Ziel. Alles kommt - im wahrsten Sinne des Wortes — auf das Ende an.«108 So übertrifft die dramatische Gattung sowohl die Lyrik als auch die Epik und setzt diese zu ihrer bloßen Voraussetzung herab.107 Aber das >Dramatische< durchdringt alle literarischen Formen, und das dramatischste Werk braucht nicht notwendigerweise für die Bühne bestimmt zu sein. Ein Epigramm, eine Fabel, eine Novelle oder ein Roman kann eher ein reiner Vertreter dieser Grundform sein als ein für die Bühne geschriebenes Stück. Staiger will nichts mit einer historischen Exegese zu tun haben, die dramatischen Stil von den Anforderungen der Bühne ableiten möchte. Weil in einer ontologischen Poetik kein Raum ist für einen historischen Relativismus oder gar Perspektivismus, bedarf es seiner Ansicht nach keiner historischen Begründungen im Bereich der reinen Ästhetik. In überraschender Weise kehrt Staiger die traditionelle Kausalfolge um und betrachtet die Einrichtung der Bühne als eine aus den Anforderungen des dramatischen Geistes entstandene Entwicklung. »Aus dem Geist dramatischer Dichtung ist die Bühne erschaffen worden, als einzig gemäßes Instrument für eine neue Poesie.«108 Wenn Staiger von dramatischem Stil spricht, bezieht er sich nicht nur auf Eigentümlichkeiten des Rhythmus und der Sprache, sondern auch auf eine Spannung, die aus einer dramatischen >Weltanschauung< entsteht, ein Wort, das in einem philosophischen, d. h. Heideggerschen Sinne zu verstehen ist. >Welt< bezeichnet die besondere Beziehung eines menschlichen Geistes zu dem, was von diesem Geist wahrgenommen wird. Ein Bauer zum Beispiel sieht eine Landschaft im Hinblick auf ihre Fruchtbarkeit, ein Offizier im Hinblick auf ihre taktischen und strategischen Möglichkeiten; ein Maler wird ihre Linien und Farben sehen.109 106 107
G r u n d b e g r i f f e S. 1 5 8 . » D a m i t setzt er [der dramatische Dichter] aussetzung herab.« (Ibid. S. 1 6 7 . )
das Epische zur bloßen
Vor-
108
Ibid. S. 1 4 4 .
109
Dies ist im wesentlichen eine vereinfachende Interpretation von H e i d eggers Denken über das Thema >WeltStil< ausgetauscht werden kann, solange der letztere umfassend genug verstanden wird. »Die Unterschiede je nach verschiedenen Welten sind Unterschiede des Stils, so daß wir den Ausdruck >Welt< in ästhetischer Forschung ohne Bedenken mit dem Ausdruck >Stil< vertauschen dürfen.« 110 Des dramatischen Dichters besondere Art der Weltbetrachtung ist durch fehlendes Interesse an den Dingen selber gekennzeichnet. Sie interessieren ihn nur in ihrer Beziehung untereinander. Dinge und Geschehnisse nimmt er als Zeichen, als Bewährung oder Verdeutlichung einer Idee oder eines Problems. Die Frage >worumwillen< leitet ihn ständig. Das dem Dramatischen ausgesetzte Publikum erfährt Spannung. Der dramatische Dichter ist »unerbittlich^ und der dramatische Stil kann entweder >pathetisch< oder »problematisch sein. Das Übergewicht entweder des dramatischen oder des lyrischen Zustandes ist pathologisch und von begrenzter Dauer. Brentano - nach Staiger einer der »lyrischstem Dichter - kann weder die Ganzheit seines Lebens noch die Qualität seiner Dichtung aufrechterhalten; beides verzettelt sich. Und Kleist wird zerstört durch die unversöhnlichen Konflikte, die in seiner »dramatischem Existenz liegen. Nachdem Staiger nun einmal die Bedeutung der historischen Entwicklung abgelehnt und die Tragödie durch Rückgriff auf metaphysische, tragische Arten der Existenz erklärt hat, nimmt es kaum noch Wunder, daß er zu zeigen vermag, wie grundlegende Konventionen und Normen in der Tragödie ihren Wert nicht von der Tradition, sondern von den Anforderungen einer existentialen Kategorie herleiten. In einer überwiegend »pathetischem und leidenschaftlichen Tragödie hängt alles von der Kraft und dem Format des Hauptdarstellers ab, dessen Sprache genügend Gewicht haben muß, um den Widerstand des Publikums und seiner eigenen besonderen Menschlichkeit zu überwinden. 111 Die Bedeutung des Pathos ist so groß, daß psychologische Finessen und Motivierungen nicht am Platze sind. Diese, und nicht das Festhalten an einer Konvention, ist der Grund für die traditionelle Forderung, der tragische Held müsse
110
111
mos, mundus, W e l t darin, daß sie auf die Auslegung des menschlichen Daseins in seinem Bezug zum Seienden im Ganzen abzielt.« Grundbegriffe S. 1 7 3 . V g l . auch Staiger, Versuch über den Begriff des Schönen, in: T r i v i u m I I I ( 1 9 4 5 ) , S. i ä ^ f f . » D a s Pathos w i r k t nicht so diskret. E s setzt einen Widerstand voraus, offene Feindschaft oder auch Trägheit, und versucht, ihn mit N a c h d r u c k zu brechen.« (Grundbegriffe S. 1 4 7 . ) »Wenn das Pathos aber echt ist, erleidet auch der Redner G e w a l t . « (Ibid. S. 150.)
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physisch erhöht und soziologisch getrennt von der Masse und ihr überlegen sein. Wenn das Drama oder die Tragödie >problematisch< ist, d. h. wenn sie sich direkt auf die Lösung eines letzten Problems zu bewegt - ohne ablenkende epische Beschreibung oder lyrische Evokation von Stimmung - , dann ist die dem Publikum abverlangte unablässige Konzentration von entscheidender Bedeutung. Die Aufmerksamkeit ist ausschließlich auf eine letzte Lösung des Problems gerichtet. Jede Ablenkung von diesem Ziel wird die Spannung lockern und es wahrscheinlich machen, daß das eine oder andere Ereignis, das für den Fortgang der Handlung wichtig ist, in Vergessenheit gerät. Von solch hohen Anforderungen an das Publikum leitet Staiger die Berechtigung der Einheit von Zeit, Ort und Handlung ab. 112 Ohne Zweifel ist Staigers Schema der poetischen Gattungen in der Hegeischen Dialektik verwurzelt, obwohl Hegel eher die Epik als die Lyrik als die grundlegendste Gattung betrachtet 113 und seine Poetik viel stärker historisch orientiert ist als die von Staiger. 114 Wie wir sahen (s. S. 78), hat Staiger die Hoffnung aufgegeben, jemals einen historischen Beweis für seine ontologische Dreiheit zu finden, obwohl in seinem Denken die deutliche Uberzeugung impliziert ist, daß die Folge lyrischepisch-dramatisch sowohl historisch als auch ideologisch stichhaltig ist. Wie Hegel betrachtet auch Staiger das Dramatische als die höchstmögliche Entwicklung in der Literatur, und wie Hegel verbindet er das Epische und das Lyrische mit der bildenden Kunst und mit der Musik. 115 Für Hegel wie für Staiger sind die lyrische und epische Gattung Voraussetzungen für die dramatische. 116 Für beide ist das Drama die letzte Möglichkeit im Bereich der Dichtung, obwohl Staiger sich keine menschliche Entwicklung vorstellen kann (wie Hegel es tut), wo die Kunst allgemein und die Dichtung als ihre höchste Manifestation noch übertroffen werden und schließlich in das Reich der reinen Philosophie übergehen könnte. 117 Die grundsätzliche und existentiale Bedeutung der Dichtungsgrundarten ist für Staiger letzten Endes durch die jeweilige Zuweisung von 112
Ibid. S. 1 6 2 . Friedrich Hegel, Sämtliche Werke, hg. von Hermann Glockner, Stuttgart 1928, X I V , S. 3 2 2 . 114 Hegels kompliziertes System, in welchem Historie und Theorie einander einschließen, ist untersucht und erklärt durch René Wellek in A History of Modern Criticism, N e w N a v e n 1 9 5 J , II, S. 3 1 8 - 3 3 4 . 115 Hegel, Sämtliche Werke X I V , S. 3 2 2 . " « Hegel, Sämtliche Werke X I V , S. 3 2 3 ^ 117 Hegel, Sämtliche Werke X I I , S. 3 2 . 113
106
Zeitdimensionen gerechtfertigt. Zeit bildet das Zentrum von Heideggers Ontologie, und von daher muß Staiger die Brücke zu einer Poetik bauen. Seine erste Darstellung der Rolle der Zeit für die literarischen Gattungen erschien in dem Buch »Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters« (1939). In diesem frühen Werk wird noch kein Versuch gemacht, die drei traditionellen Dichtungsgattungen in ein analoges existentiales Zeitschema hineinzupressen. Die Zeit wird in einer genauen Textanalyse von drei Gedichten (Brentanos »Auf dem Rhein«, Goethes »Dauer im Wechsel«, Kellers »Die Zeit geht nicht«) als eine reine, konkrete Anschauungsform in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt. Dargelegt wird hier ein Fortschreiten von der »reißenden Zeit«, in die der Dichter ganz einbezogen ist, zur Trennung und Entfernung von der Zeit, wodurch ihre bewußte Betrachtung möglich wird (»ruhende Zeit«). Staiger weist zuerst auf eine überwältigend gegenwärtige Zeit hin - wie in Brentanos Bild eines verträumten Fischers, der stromabwärts getrieben wird ins Meer und in seinen Tod. Dann hebt er Goethes poetische Sehnsucht hervor, den fliehenden Augenblick zu ergreifen in »Dauer im Wechsel«: Hielte diesen frühen Segen A c h , nur eine Stunde fest!
und Ausblick und Freiheit zu gewinnen, indem er aus dem Strom der Zeit heraustritt. L a ß den A n f a n g mit dem E n d e Sich in Eins zusammenziehn! Schneller als die Gegenstände Selber dich vorüberfliehn.
Und schließlich sieht er bei Keller eine Kristallisation der Zeit zu einer statischen Ewigkeit: Die Zeit geht nicht, sie stehet still, W i r ziehen durch sie hin; Sie ist ein Karawanserei, W i r sind die Pilger drin.
Nach Staiger ist die »Zwangsvorstellung des deutschen Idealismus, die Dreizahl und der Dreiakt,« in einer intuitiven Erkenntnis der Zeit als der letzten Form der Existenz verwurzelt. Die drei Dimensionen der Zeit, oder >Extasen< in Heideggers Terminologie, lassen sich in einer Vielzahl von Dreiheiten finden, am bezeichnendsten vielleicht in der Aufteilung der Künste in Musik, bildende Künste und Dichtung. Für Heideggers >Extasen< ist das grammatische Tempus allerdings nicht we107
sentlich; auch der objektive Begriff der Zeit, wie er in den Naturwissenschaften gebraucht wird, ist für das System Staigers und Heideggers nicht besonders wichtig. Worauf es ankommt, ist die >reine Anschauungexistiertreiner< während des Schaffensaktes als in seinem täglichen, unpoetischen Leben. Daher fühlt sich Staiger berechtigt, die poetischen Gattungen mit den drei >Extasen< der Zeit auf gleiche Stufe zu stellen. Das ganze Buch »Grundbegriffe der Poetik« arbeitet auf diese Gleichsetzung hin, und in den Schlußkapiteln wird es schließlich formuliert: Lyrik ist Vergangenheit; Epik ist Gegenwart; Drama ist Zukunft. Offensichtlich läßt sich der Abgrund zwischen Heideggers Ontologie und Staigers poetischen Gattungen schwer überbrücken, und der Eindruck von Willkürlichkeit ist nicht leicht zu zerstreuen. Ähnliche zeitliche Schemata waren schon von anderen ausgearbeitet worden, aber hinsichtlich der richtigen Verteilung der Dreiheit: vergangen - gegenwärtig — zukünftig kam es zu keiner Übereinstimmung. Das früheste Schema dieser Art wurde wahrscheinlich von Jean Paul vorgeschlagen (s. S. 87, Anm. 46). Der nachromantische englische Kritiker E. S. Dallas verbindet die Lyrik mit der Zukunft, die Epik mit der Vergangenheit und das Drama mit der Gegenwart. 118 Fr. Th. Vischer schlägt die Vergangenheit für die epische Dichtung vor, die Gegenwart für die Lyrik und die Zukunft für das Drama. 119 John Erskine interpretierte die drei literarischen Gattungen als Typen des poetischen Temperaments und betrachtete die Lyrik als gegenwärtig, sonderbarerweise die Epik als zukünftig und das Drama als vergangen. 120 Wenn man gebeten würde, ein intuitives Urteil abzugeben, so würde man wohl natürlicherweise die Gegenwart jener Art romantischer Dichtung zuschreiben, die für Staiger das Lyrische verkörpert. Tatsächlich bemerkt auch Staiger, daß das grammatische Präsens in der lyrischen Poesie vorherrscht. Bei der Besprechung des durch und durch >lyrischen< Gedichts »Auf dem Rhein« von Brentano weist er auf die Abwesenheit einer Vergangenheit und einer Zukunft hin und auf die beherrschende Macht des >Jetzt< über den Fischer. 121 Das lyrische Gedicht beschwört in naher Analogie zur Musik - und >wird< Stimmung eines besonderen 118 119 120 121
E. S.Dallas, Poetics. A n Essay on Poetry, London 18 j 2 , S. 81 und 105. Friedrich Theodor Vischer, Ästhetik V I , S. 123. John Erskine, The Kinds of Poetry, N e w York 1930, S. 12. »Er ist ein Jetzt und nichts als ein Jetzt und fällt so jedem Jetzt anheim.« (Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters S. 67.) 108
Augenblicks. 122 Der Dichter ist von dieser Stimmung gesättigt und kann daher nur im Momentanen aufgehen. Doch Staiger weist nicht die Gegenwart, sondern die Vergangenheit der lyrischen Gattung zu. Es ist daran zu erinnern, daß nach Martin Heidegger nur das, was gewesen ist (die >GewesenheitStimmung< möglich macht. Man hat das Gefühl, daß Staiger unter dem inneren Zwang, seine Poetik Heideggers Ontologie anzugleichen, seine Beweisführung durch eine geistreiche Manipulierung der Begriffe etwas beeinträchtigt. Der Titel des ersten Kapitels von Staigers »Grundbegriffen der Poetik« lautet: »Lyrischer Stil: Erinnerung«. Das >Ein-gehenErinnerung< zusammenhängt, ist das Wesentliche des Lyrischen. Staigers Hang, die ursprüngliche Bedeutung der Teile eines zusammengesetzten Wortes für die begriffliche Erläuterung heranzuziehen, wurde schon erwähnt (s. S. 81-82). Es ist auch gezeigt worden, wie die ursprüngliche und die heutige Bedeutung manchmal abwechselnd gebraucht werden und Staiger dazu dienen, die Richtigkeit einer philosophischen Erkenntnis darzutun. In diesem Sinne soll das Wort >erinnern< überzeugend gemahnen, daß lyrische Dichtung >innerlich< ist (in wörtlicher und ursprünglicher Bedeutung). Indem implizite auf die heutige Wörterbuchbedeutung von >sich erinnern< Bezug genommen wird, wird sodann das Vergangensein des Lyrischen gezeigt. Deshalb kann Staiger, indem er dem Wort >erinnern< den Sinn von >in eine Stimmung ein-gehen< gibt, behaupten, daß >erinnern< sich auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft beziehen kann, 12 ' und gleichzeitig »offenbar präteritale Bedeutung« für das Wort beanspruchen.124 Es ist klar, daß solche Augenscheinlichkeit sich auf die heutige Bedeutung von »erinnern« bezieht. Es finden sich auch Anspielungen auf eine »Rückkehr in den Mutterschoß«, poetische Beschwörungen eines Primordialzustandes lyrischer >GewesenheitStimmungwirklich machen< und im Substantiv >Gegenwart< die >jetzige ZeitGegenwart< eines der wichtigen Worte liefert, die Staiger zur Kennzeichnung des Epischen benutzt, ist es sprachlich einleuchtend, daß die Gegenwart und das Epische zwei Aspekte derselben Seinsweise werden. 127 Nachdem so die Zeitdimensionen von zwei der Grundarten bestimmt sind, kann man die Gleichung >das Dramatische = Zukunft< als selbstverständlich annehmen. Staiger gebraucht kein einziges Wort, um anzuzeigen, was für das Dramatische charakteristisch ist und gleichzeitig die Bedeutung von Zukünftigem hat. Doch die Adjektive >spannend< und vor allem >problematisch< (vgl. die ursprüngliche griechische Bedeutung von >Problemdas, was vorgeworfen ist; das VorgeworfeneVergangenheit< und >ZukunftRhythmen< oder >Welten< hätten überhaupt nichts mit den traditionellen Gattungen des Dramatischen, 128 127 128
Ibid. S. 87, 218, 219 et passim. Ibid. S. 2i8f. Ibid. S. 160. 110
Epischen und Lyrischen zu tun. Im Gegenteil, er muß, anscheinend doch widerstrebend, einräumen, daß solch eine Verbindung tatsächlich besteht.129 Dies ist ein wichtiges Zugeständnis in Staigers Poetik, obwohl es erst in dem zwei Jahre nach dem eigentlichen Buch geschriebenen Nachwort erscheint. Hier zeigt sich die Möglichkeit einer wertenden Kritik. Bisher hatte Staiger oft betont, die relative Reinheit oder Unreinheit einer Gattung, wie sie in einer bestimmten Dichtung erscheint, dürfe keinesfalls deren literarischen Wert bezeichnen. Aber nachdem er einmal eingeräumt hat, daß eine Verbindung zwischen den >Grundbegriffen< und den traditionellen Arten der Dichtung existieren müsse, kann er an eine literarische Institution und ihre Konventionen appellieren. Dabei ist es unwichtig, daß er sich nicht auf die Institutionen selbst, sondern auf ein sie umgebendes allgemeines Gebiet bezieht. »Und so, mit dem Begriff des Spielraums, schiene es mir grundsätzlich erlaubt, den Grundbegriffen eine lange Musterpoetik anzuschließen und die Fragen aufzuwerfen: was ist im Raum der Ode, der Elegie, des Romans, der Komödie möglich?«130 An dieser Stelle muß Staiger zugestehen, daß eine Verserzählung von beträchtlicher Länge eigentlich als etwas der Epik Verwandtes betrachtet werden sollte.131 Und tatsächlich enthalten die Schlußseiten des Nachwortes unzweideutige Werturteile, die nicht leicht mit früheren häufigen Behauptungen in Einklang gebracht werden können, solche Bewertungen lägen nicht im Bereich seiner Poetik. So befriedigt Klopstocks »Messias« deshalb nicht, weil der epische Raum durch eine Masse von lyrischen und pathetischen Versen überschritten ist.132 Gottfried Kellers Gedichte werden aus entgegengesetzten Gründen kritisiert. Sie sind zu kurz, als daß die epische Phantasie sich richtig entfalten könnte. 133 So werden Staigers >Grundbegriffe< schließlich als Handhabe zur Bewertung gebraucht. >Lyrischepisch< und >dramatisch< werden zu Stilmerkmalen, die einer der traditionellen Gattungen oder Arten eigen oder nicht eigen sind. Als eine Analyse fundamentaler literarischer Stile ist Staigers Methode reich und anregend. Als eine Fundamentalpoetik jedoch bewegt sie sich im Kreise und endet mit dem Zugeständnis, daß 129
130 131
132 133
»Denn wenn man mich nun fragen wollte: Besteht also gar kein Zusammenhang zwischen dem Epos und dem Epischen, der Lyrik und dem Lyrischen mehr, so würde ich mich nicht getrauen, vorbehaltlos zu erwidern: Nein! Es besteht überhaupt kein Zusammenhang.« (Ibid. S. 248.) Ibid. S. 249. »Kann eine längere Verserzählung auch alles andere sein als episch? Das würde ich schwerlich zugestehen.« (Ibid. S. 248.) Ibid. Ibid. S. 249. Iii
die traditionellen poetischen Gattungen und Arten noch nicht verdrängt worden sind. Die unüberwindliche Sackgasse, in der sich Staiger befindet, wird ganz deutlich, wenn er eine Poetik vorschlägt, die sich mit den bestehenden Möglichkeiten innerhalb des allgemeinen Bereichs traditioneller Gattungen befaßt; er muß zugeben, daß die Aufgabe, eine solche Musterpoetik auszuarbeiten, zu kompliziert, zu schwierig und ihre Gültigkeit zu vergänglich wäre, als daß es sich lohnte. Er möchte lieber gleich von seinen >Grundbegriffen< zur Interpretation der einzelnen Gedichte übergehen,134 wodurch der Eindruck verstärkt wird, daß trotz einer Vertiefung und Schärfung unserer Erkenntnis gewisser wichtiger poetischer Stile die eigentliche Grundlage für eine neue Poetik wahrlich noch nicht gelegt worden ist. In seinen neueren Schriften zeigt Staiger keine Neigung, das in seiner Poetik entwickelte System zu stärken oder auszudehnen. Aus dem Essay »Kunst der Interpretation« von 1951 darf man wohl schließen, daß er jetzt andere Wege geht. Er geht nicht von den >Grundbegriffen< über zur Interpretation, wie er es sich 1948 vorgenommen hatte, sondern läßt sich statt dessen bei seiner Analyse von seiner Begabung, von seiner musikalischen Empfindung wie auch von »historischen Resonanzen« leiten. 135 Es findet sich mehr als ein Hinweis in Staigers Essay, daß die Preisgabe seiner eigenen theoretischen Prinzipien wohlüberlegt ist und daß er über die Gefahren impressionistischer Kritik und eines daraus hervorgehenden Relativismus nicht beunruhigt ist. Es ist für Staigers spätere Position bezeichnend, daß er glaubt, die Hinneigung zu ästhetischen Normen, traditionellen oder philosophischen, müsse zu unberechtigten Vorurteilen führen. »Ich bin überzeugt, gerade so, mit den Mitteln der Interpretation, mit ihrer A r t , sich restlos ihren jeweiligen Gegenständen zu widmen, gelingt es am ehesten, jene schematischen Aufteilungen zu überwinden, die so viele Vorurteile erzeugen und uns verhindern, in eines Dichters Worten zu lesen, was eigentlich dasteht.« 1 3 6
Die wertvollsten Urteile scheinen sich aus einem sensiblen Schwebezustand und einer äußersten Bewußtheit seitens des Kritikers zu ergeben, 134
» N u r möchte ich mich weigern, dieses Geschäft zu übernehmen. Denn die Verhältnisse scheinen mir hier so kompliziert und schwierig zu sein, so groß ist mein Glaube an neue, ganz unerwartete Möglichkeiten der Dichter, daß ich v o n den Grundbegriffen lieber gleich zur Interpretation des einzelnen Kunstwerks übergehe.« (Ibid. S. 249.)
135
Kunst der Interpretation S. 16. Ibid. S. 30.
136
112
der dann in der Lage ist, über alle Reaktionen auf ein literarisches Werk volle Rechenschaft zu geben, ohne von ihnen unterdrückt oder beherrscht zu werden. Ein solcher Zustand verdunkelt in keiner Weise eine persönliche Perspektive, sondern führt im Gegenteil zu der Empfänglichkeit und Empfindungsfähigkeit, die wir von den besten Leistungen der Kritik erwarten.
ii3
Beschluß
Wir sagten schon früher, es würde weder der Reichweite ihrer Theorien noch der ihrer kritischen Schriften gerecht werden, wollte man Scherer einfach mit dem Determinismus, Walzel mit dem Formalismus und Staiger mit dem Existenzialismus identifizieren. Scherer kombinierte oft in etwas bedenklicher Form romantischen Primitivismus mit wissenschaftlichem Determinismus. Walzel versuchte ohne großen Erfolg, seinen Formalismus mit soziologischen und psychologischen Normensystemen zu vereinigen. Staiger macht den faszinierenden Versuch, ein modernes literarisches Empfindungsvermögen begrifflich und strukturell zu ordnen, das in der Heideggerschen Existenzphilosophie und in der deutschen Romantik verwurzelt ist. Aber selbst bei reichlich bemessenem Spielraum treten die drei Theorien als deutlich verschiedene Betrachtungsweisen der Literatur hervor, wobei jede von ihnen Werte sucht, welche die beiden anderen ihrer Anlage nach nicht auffinden können. Wissenschaftlicher Determinismus — als eine literarische Theorie hat seine Anziehungskraft für moderne Kritiker verloren, obwohl er sich als eine allgemeinverständliche Methode praktischer Kritik noch immer erstaunlich lange gehalten hat. In seiner fruchtbarsten Form bringt er außerliterarische Daten bei, mit denen literarische Werke ins rechte Licht gesetzt werden. Im schlimmsten Fall degeneriert die Untersuchung eines Textes zu belanglosen Erörterungen biographischer Tatsachen und Anekdoten. Während morphologische, von den bildenden Künsten abgeleitete Kriterien in der Literatur wohl nicht völlig überzeugen können, waren Walzeis rastlose Bemühungen, für die Literaturkritik ein Vokabular formaler Begriffe zu schaffen, ein Vorbote späterer, einflußreicher Bemühungen in dieser Richtung unter Gruppen wie dem Prager Linguistikkreis in Europa und den >New Critics< in den Vereinigten Staaten. Walzeis formale Analyse von Epochen-Stilen und von Shakespeare-Tragödien lieferte einen bedeutenden methodologischen Anreiz zu einer Zeit, als in Deutschland die Tendenz herrschte, die Literatur in erster Linie als ein Mittel zum Ausdruck des geistigen Gehalts einer historischen Epoche zu betrachten. nj
Durch seinen Vorschlag, die Existenzphilosophie mit der Literaturtheorie zu verschmelzen, hat Staiger einem wachsenden Verlangen unserer Tage nach einer Ontologie der Literatur Ausdruck gegeben. Die grundlegenden literarischen Formen als >Seinsweisen< aufzufassen, ist recht überzeugend und viel anregender als Theorien, die in der Entwicklung literarischer Gattungen nur Zufälle der Tradition und der Konvention am Werke sehen.
116
Literaturhinweise
Die Bibliographie umfaßt neben der benutzten Literatur eine Auswahl weiterer Schriften, die sich mit dem Werdegang und den literaturwissenschaftlichen Prinzipien und Methoden Scherers, Walzeis und Staigers beschäftigen. V o n deren eigenen Werken sind, der Übersichtlichkeit wegen, nur die im T e x t häufiger zitierten aufgenommen; im übrigen muß auf die einschlägigen Personalbibliographien verwiesen werden. Abrams, Meyer H o w a r d : The Mirror and the Lamp. Romantic Theory and the Critical Tradition. N e w Y o r k 19 53 Aulhorn, Edith: Verzeichnis der Schriften Oskar Walzels [1890-1924]. - I n : V o m Geiste neuer Literaturforschung, S. 226-232 Batteux, Charles: Cours de belles-lettres. Paris 1753 Becking, G u s t a v : Der musikalische Rhythmus als Erkenntnisquelle. Augsburg 1928 Behrens, Irene: Die Lehre v o n der Einteilung der Dichtkunst, vornehmlich vom 16. bis 19. Jahrhundert. Studien zur Geschichte der poetischen Gattungen. Halle 1940 (= Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie 92) Benda, O s k a r : Der gegenwärtige Stand der deutschen Literaturwissenschaft. Eine erste Einführung in ihre Problemlage. Wien 1928 Binswanger, L u d w i g : Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins. Zürich 1942 Biscardo, R . : Wilhelm Scherer e la critica letteraria tedesca. Rom 1937 Boas, George: French Philosophies of the Romantic Period. Baltimore 1925 Boas, George: Wingless Pegasus. A H a n d b o o k for Critics. Baltimore 1950 Boeckh, August: Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften. H g . von Ernst Bratuschek. Leipzig 1877 Bollnow, O t t o Friedrich: Das Wesen der Stimmungen. Frankfurt 1941 Bonn, Friedrich: Ein Baustein zur Rehabilitierung der Schererschule. Emsdetten 1956 Buckle, H e n r y Thomas: History of Civilization in England. N e w Y o r k 1858 Burdach, K o n r a d : Schriftenverzeichnis [Wilhelm Scherer 1863-1891]. - In: W. Scherer, Kleine Schriften II, S. 391-415 Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen. 2 Bde. Berlin 1923-1925 Comte, Auguste: Cours de philosophie positive, j . A u f l . Paris 1892 Croce, Benedetto: Ästhetik als Wissenschaft v o m Ausdruck und allgemeine Sprachwissenschaft. Theorie und Geschichte. N a c h der 6., erweiterten italien. A u f l . übertragen von Hans Feist und Richard Peters. Tübingen 1930 Cysarz, Herbert: [Artikel] Wilhelm S c h e r e r . - In: Neue österreichische Biographie X I I I (1959), S. 75-85 117
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Vossler, K a r l : Über gegenseitige Erhellung der Künste. - In: Festschrift Heinrich Wölfflin zum siebzigsten Geburtstage, Dresden 1935, S. 160-167 Walzel, Oskar: Die deutsche Dichtung seit Goethes Tod. Berlin 1919 Walzel, Oskar: Deutsche Dichtung von Gottsched bis zur Gegenwart. WildparkPotsdam 1 9 2 7 - 1 9 3 0 (= Handbuch der Literaturwissenschaft 10) Walzel, Oskar: Gehalt und Gestalt im Kunstwerk des Dichters. Berlin 1925 (= Handbuch der Literaturwissenschaft 3) Walzel, Oskar: Leben, Erleben und Dichten. Ein Versuch. Leipzig 1 9 1 2 Walzel, Oskar: Poesie und Nichtpoesie. Frankfurt 1937 Walzel, Oskar: Vom Geistesleben alter und neuer Zeit. Leipzig 1922 Walzel, Oskar: Wachstum und Wandel. Lebenserinnerungen. Aus dem Nachlaß hg. von Carl Enders. Berlin 1956 Walzel, Oskar: Wechselseitige Erhellung der Künste. Ein Beitrag zur Würdigung kunstgeschichtlicher Begriffe. Berlin 1 9 1 7 (= Vorträge der Kant-Gesellschaft 15) Walzel, Oskar: Wilhelm Scherer und seine Nachwelt. - In: Zeitschrift für deutsche Philologie L V (1930), S. 391-400 Walzel, Oskar: Das Wortkunstwerk. Mittel seiner Erforschung. Leipzig 1926 Wellek, René: Aesthetics and Criticism. - In: The Philosophy of Kant in Our Modern World, hg. von Charles W. Hendel, N e w Y o r k 1957, S. 65-89 Wellek, René: A History of Modern Criticism 1750-1950. 4 Bde. N e w Haven 1955-196$ Wellek, René: The Parallelism between Literature and the Arts. - In: English Institute Annual 1941, S. 32ÌF. Wellek, René: Wilhelm Dilthey's Poetics and Literary Theory. - In: Festschrift für Hermann J . Weigand, N e w Haven 1957, S. 1 2 7 - 1 3 2 Wirth, Otto: Wilhelm Scherer, Josef Nadler, and Wilhelm Dilthey as Literary Historians. Diss. Chicago 1937 Wilkinson, Elizabeth M.: [Rezension von] Emil Staiger, Grundbegriffe der Poetik. - In: Modern Language Review X L I V (1949), S. 433-437 Wölfflin, Heinrich: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. München 1 9 1 j Worringer, Wilhelm: Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie. München 1908
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Namenverzeichnis
Abrams, Meyer H . 3 , 9 7 Andrian-Werburg, Leopold Frhr. von 38» 54 Aristoteles 28, 47, 49, 86 Auerbach, Berthold 33
Eichendorff, Joseph Frhr. von 84, 92 Eliot, Thomas Stearns 1 , 9 1 Enders, Carl 40 Ermatinger, Emil 88,90 Erskine, John 108, 1 1 0
Bach, Johann Sebastian 75, 103 Batteux, Charles 49 Becking, Gustav 77, ioof. Behrens, Irene 86 Benda, Oskar 43 Bismarck, Otto Fürst von 2, 39 Boas, George 71 Boeckh, August 13 Bollnow, Otto Friedrich 109 Bonitz, Hermann 6 Bonn, Friedrich 3 $ Boretius, Alfred 6 Brentano, Clemens 76, 83, 92, 99, 10$, 107 Brink, Barend ten 8 Brooks, Cleanth 91 Bruno, Giordano 47 Buckle, Henry Thomas i9f., 29
Fechner, Gustav Theodor 29 Fontane, Theodor 33 Frey tag, Gustav 33f. Friedmann, Hermann 22
9jf.,
Cassirer, Ernst 103 f. Cicero 49, jo, 67 Comte, Auguste i j , 19, 29, 44 Corneille, Pierre 65 Croce, Benedetto 85 Dallas, Enaeas S. 108 Dante Alighieri 48, 92 Darwin, Charles 20, 29 Dehmel, Richard 42 Dilthey, Wilhelm 3, 6, 9, 25, 26, 29f., 35. 38. 43-45. 5°f-> 52. 53. 89 Dostojewski, Fjodor M. 33 Düntzer, Heinrich 41
Geibel, Emanuel 33 Gervinus, Georg Gottfried 5, 6, 19, 29 Goethe, Johann Wolfgang von 9, n f . , 13, 17, 2 1 , 2 j , 32, 47, J I , 52, 55. 57. 6 4 f -> 69, 72, 83, 84, 87, 92, 93. 94. 107 Gottfried von Straßburg 12 Grillparzer, Franz 1 0 - 1 2 , 34 Grimm, Herman 6 Grimm, Jakob 6, 8, 22f., 24 Hartl, Robert 88 Hebbel, Friedrich 97^, 99 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich i7f., 29, 70, 72, 86, 9 j , xo6 Heidegger, Martin 3, 78-83, 89, 104, 107, 109 Heinzel, Richard 37, 42 Herbart, Johann Friedrich 46, 57 Herder, Johann Gottfried von 6 , 1 3 , 20f., 44, 47 Hettner, Hermann 18, 29, 39 Heusler, Andreas 8 Hildebrand, Adolf von 42, 64 Hölderlin, Friedrich 32f., 34, 79f. Homer 99, 1 0 1 - 1 0 3 Honegger, Arthur 75 Horaz 3, 55, 92 Humboldt, Wilhelm von 47 123
Ibsen, Henrik 33 Jean Paul 87, 108 Joyce, James 88 Kant, Immanuel 45, 88 Keller,Gottfried 33, 34, 107, i n Kleist, Heinrich von 93, i o i f . , 105 Klopstock, Friedrich Gottlieb 32, 91, in Lachmann, Karl 7 Lessing, Gotthold Ephraim 5 5 Levin, Harry 90 Liliencron, Detlev von 42 Lorenz, Ottokar 8 Ludwig, Otto 62 Luther, Martin 14, 31 Mann, Thomas 40 Maritain, Jacques 99 Maync, Harry 42 Metternich, Klemens Fürst von 10 Meumann, Ernst 5 6 Meyer, Conrad Ferdinand 33 Meyer, Richard M. 9, 2 j f . , 42, 49 Michelet, Jules 15 Mill, John Stuart 19 Milton, John 91 Minor, Jakob 37, 39, 42 Moser, Justus 21 Moltke, Helmuth Graf von 39 Mommsen, Theodor 6 Mörike, Eduard 8of., 93, 99 Müllenhoff, Karl 6f., 9, 20 Müller-Vollmer, Kurt 45 Nohl, Hermann 45, $2-54 Norden, Eduard 49f., 67 Novalis 1 Obenauer, Karl Justus 40 Paul, Hermann 31 Petersen, Julius 84L, 88 Petrarca, Francesco 92 Pfeiffer, Franz 6, 7 Pinder, Wilhelm 56 Plato 86, 90, 99 Plotin 47, 49 124
Plutarch 55 Poe, Edgar Allan 95 Racine, Jean 65 Ranke, Leopold 6, 19, 29 Ransom, John C. 97 Reichel, Karl 6 Reiffenstein, Carl Theodor 13 Rembrandt 65 Riehl, Alois 64 Roethe, Gustav 26 Roscher, Wilhelm 1 9 , 2 9 , 3 1 Rosegger, Peter 42 Rothacker, Erich 6, 31 Rubens, Peter Paul 65 Rutz, Ottmar 5 1 - 5 4 Sachs, Hans 31 f. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von 55, 80, 87 Scherer, Wilhelm 2, j—3j, 37, 40, 4 1 , 55.H5 Schiller, Friedrich von 32, 51, 70, 93 Schlegel, August Wilhelm 33, 48, 55, 63, 65 Schlegel, Friedrich 33, 38, 87 Schmarsow, August j 6 Schmidt, Erich 8, 2 j f . , 37, 42 Schmidt, Julian 5, 6, 18 Schopenhauer, Arthur 33f. Schröder, Edward 3 5 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper 47 Shakespeare, William Sievers, Eduard 5 1 - 5 4 , 7 6 , 7 7 Simonides 55 Spitteier, Carl 42 Spitzer, Leo 8of., 82 Spoerri, Theophil 60 Staiger,Emil 3 , 7 5 - 1 1 3 , 1 1 j f . Steinweg, Karl 56 Stern, Adolf 39 Storm, Theodor 33 Strich, Fritz 67 Tacitus 50, 67 Taine, Hippolyte 17 Treitschke, Heinrich von 38
Tolstoj, Leo N . 33 Trojan, Felix 6zf. Unger, Rudolf 50 Unruh, Fritz von 69 Vahlen, Johannes 6 Vico, Giambattista 1 3 , 1 5 , 9 0 Viètor, Karl 88, 90 Vischer, Friedrich Theodor 29, 30, 70, 95, 108 Vossler, Karl 43, 62 Wackenroder, Wilhelm Heinrich 51 Wagner, Richard 34, 63
Wahle, Julius 41 Walzel, Oskar 2, 22, 3 7 - 7 3 , 75, 1 1 5 Walther von der Vogelweide 12 Wellek, Rene 67, 7 1 , 89, 97, 106 Wilde, Oscar 99 Wirth, Otto 31 Wölfflin, Heinrich 4 1 , 50, 54, 57, 58-66, 75 Wolf, Hugo 100 Wolfram von Eschenbach 1 2 Worringer, Wilhelm 42, ^yf., 6jL, 69 Wundt, Wilhelm 56 Zola, Emile 33
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KONZEPTE der Sprach- und Literaturwissenschaft
Folgende Bände sind bereits erschienen oder in
Vorbereitung:
Benedetto Croce Die Dichtung. Einführung in die Kritik und Geschichte der Dichtung und der Literatur. Mit einem einführenden Vorwort von Johannes Hösle Hans-Martin Gauger Wort und Sprache. Sprachwissenschaftliche Grundfragen Uriel Weinreich Erkundungen zur Theorie der Semantik Noam Chomsky Cartesianische Linguistik. Ein Kapitel in der Geschichte des Rationalismus Hermann Paul Prinzipien der Sprachgeschichte H . P. H . Teesing Das Problem der Perioden in der Literaturgeschichte Roman Ingarden Über den Gegenstand und die Aufgaben der Literaturwissenschaft Helmut Henne Prinzipien und Probleme der Lexikographie