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German Pages [236] Year 2007
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Ursula Stiff/Rosemarie Tpker (Hg.)
Kindermusiktherapie Richtungen und Methoden
Mit 9 Abbildungen und 5 Tabellen
Vandenhoeck & Ruprecht
Den Pionieren der deutschen Kindermusiktherapie gewidmet!
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet ber abrufbar. ISBN 978-3-525-49105-8 ’ 2007, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen. Internet: www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile drfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages çffentlich zugnglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung fr Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Gesamtherstellung: l|Hubert & Co, Gçttingen Umschlagfoto: Thomas Gasparini, graphische Bearbeitung: Ursula Stiff und Rainer Stiff Gedruckt auf alterungsbestndigem Papier.
Inhalt
Hermann Rauhe Grußwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Helmut Hollmann Geleitwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Danksagung der Herausgeberinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Ursula Stiff Einfhrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Johanna Vocke Geschichtliches zur Kindermusiktherapie in Deutschland . . .
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Karin Schumacher und Claudine Calvet Entwicklungspsychologisch orientierte Kindermusiktherapie – am Beispiel der »Synchronisation« als relevantes Moment
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Jutta Brckner Kindermusiktherapie nach Brckner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Wolfgang Mahns und Natalie Hippel Analytische Kindermusiktherapie – am Beispiel der »Symbolbildung« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Rosemarie Tpker und Bernd Reichert Morphologische Kindermusiktherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142
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Inhalt
Lutz Neugebauer Die Kunst der Musik als Therapie – Musiktherapie nach Paul Nordoff und Clive Robbins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Melanie Voigt und Christine Plahl Die Orff-Musiktherapie als kindzentrierte und entwicklungsfçrdernde Musiktherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231
Hermann Rauhe
Grußwort
Musik hat nicht nur elementare Bedeutung fr unser Leben und unsere Kultur, sie besitzt heilende Kraft – das weiß man seit Jahrtausenden. Unserer Zeit kommt das Verdienst zu, diese therapeutischen Einflsse auf unser psychisches und vegetatives System erforscht und einer wissenschaftlich fundierten Therapie zugnglich gemacht zu haben. Hierzu leistet das vorliegende Werk einen wertvollen Beitrag. Als Fçrderer der Musiktherapie als Hochschulfach und als Mitbegrnder des Studienganges Musiktherapie an der Hochschule fr Musik und Theater Hamburg freut es mich besonders, dass die an diesem Buch beteiligten namhaften Musiktherapeuten neben ihrer praktischen Arbeit auch durch die theoretische Reflexion zu einer weiteren Etablierung der Musiktherapie an Musikhochschulen, Universitten und Fachhochschulen beitragen. Die Autoren und Autorinnen, die in dem vorliegenden Wegweiser versammelt sind, reprsentieren wichtige Richtungen und Methoden der Kindermusiktherapie. Da Musik ein Phnomen ist, das nur interdisziplinr verstanden werden kann, ist es folgerichtig, dass neben den musiktherapeutischen auch psychologische, medizinische und musikpdagogische Aspekte bercksichtigt werden, die eine ausreichende Weite des Blickfeldes gewhrleisten. Ein besonderer Dank sei an dieser Stelle der Wilhelm Schimmel Pianofortefabrik ausgesprochen. Mit der Weitergabe des mit der Verleihung des Praetorius-Preises 2006 an Schimmel verbundenen Preisgeldes wurde die Herausgabe dieser Publikation untersttzt. Prof. Dr. Dr. h.|c. Hermann Rauhe Ehrenprsident der Hochschule fr Musik und Theater Hamburg
Helmut Hollmann
Geleitwort
Klang, Melodie und Rhythmus spielen in der vorsprachlichen Kommunikation der Tierwelt eine dominierende Rolle. Der Abendgesang der Schwarzdrossel mit seinen kunstvoll auf- und absteigenden Tçnen, der keckernde Warnruf des Eichelhhers, das wohlige Schnurren der Katze oder der Gesang der Delfine erfreuen und faszinieren aber auch das menschliche Ohr. In allen Kulturen der Welt spielt Musik eine wichtige Rolle. Da die Sprache als Kommunikationsmittel zur Verfgung steht, kommt den vielfltigen Formen einer musikalischen Bettigung zudem eine emotional getragene Bedeutung zu. Bereits im Altertum finden sich Hinweise auf den Stellenwert des gemeinsamen Musizierens mit Tanz und Gesang in der Gruppe. In heutiger Zeit ist diese gemeinschaftliche und verbindende Funktion von Musik nur allzu oft abgelçst von einer permanenten musikalischen Reizberflutung, die eher in den Dienst subtiler Werbung gestellt ist oder dem Einzelnen bei einer monotonen Ttigkeit wie Autofahren die Annehmlichkeit heimischer Geborgenheit suggerieren mag. Musik ist in ihrer Vielseitigkeit zum Forschungsobjekt geworden, sei es zur zielgerichteten emotionalen Ausgestaltung von Film oder »Event«, sei es hinsichtlich der Wirkung auf zu frh geborene Suglinge. Zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Musik fhrt Manfred Spitzer in seinem lesenswerten Buch »Musik im Kopf – Hçren, Musizieren, Verstehen und Erleben im neuronalen Netzwerk«1 aus: »Von allen hçheren geistigen Leistungen scheint sich
1 Spitzer, M. (2003): Musik im Kopf – Hçren, Musizieren, Verstehen und Erleben im neuronalen Netzwerk. 2. Aufl. Stuttgart u. New York.
Geleitwort
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Musik am wenigsten fr neurowissenschaftliche Untersuchungen zu eignen. Das Musikhçren stellt eine sehr persçnliche Erfahrung dar, die oft nur schwer zu beschreiben ist. Der Hçrer reagiert emotional auf die vom Komponisten erdachten und den Musikern ausgefhrten Bewegungen der Luft. Diese Reaktionen sind stark abhngig von den jeweiligen Vorerfahrungen des Hçrers, seinem Interesse, seiner (musikalischen) Erziehung, seiner Kultur und seiner Persçnlichkeit. Das gleiche Musikstck kann den einen tief bewegen und den anderen vçllig kalt lassen. Wie soll man in Anbetracht dieser Individualitt und problematischen Kommunizierbarkeit von Musik zu wissenschaftlichen, d.|h. allgemein gltigen Aussagen ber Musik gelangen? [.|.|.] Man kann also den Spieß gleichsam herumdrehen: Nicht nur die perzeptuellen oder sprachlichen Aspekte von Musik, sondern auch und gerade deren Individualitt und Emotionalitt machen neurobiologische Untersuchungen zur Musik berhaupt erst so richtig spannend!« (Spitzer 2003, S.|V). Im weiten Anwendungsfeld der Musik hat sich der systematische Einsatz im Heilbereich als »Musiktherapie« erst im vergangenen Jahrhundert entwickelt. Sehr wohl gibt es seit alters her szenische Darstellungen sowie literarische berlieferungen, die auch auf die heilende Kraft der Musik verweisen. Doch war dies meist den Priestern oder rituellen Anlssen in der Gruppe vorbehalten. Mit der allmhlichen Entwicklung der Medizin auf naturwissenschaftlicher Grundlage entstand auch Interesse an den Einflssen, die von Musik in ihren unterschiedlichen Formen auf den Kçrper, insbesondere das vegetative Nervensystem, und die Psyche ausgehen. Aber es dauerte bis zur Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, dass erste Ausbildungsgnge – unter Bercksichtigung der psychologisch beziehungsweise medizinisch erfassbaren Bedeutung der individuellen wie interaktionalen Wirkung von Musik fr das therapeutische Geschehen – als eigenstndige Disziplin konzipiert wurden. Vor allem das Spektrum der Kindermusiktherapie formierte sich basierend auf neuen musikpdagogischen Ideen. Das vorliegende Buch gibt eine systematische bersicht ber den aktuellen Stand der deutschen Kindermusiktherapie in Theorie und Praxis. Die Herausgeberinnen haben ausgewiesene Exper-
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Helmut Hollmann
ten gewonnen, die als Autorinnen und Autoren in der Regel in einem Kleinteam die einzelnen Musiktherapiekonzepte vorstellen. Der konzeptionelle Stil des Buches trgt damit einer zentralen Auffassung in der modernen Musiktherapie Rechnung dahingehend, dass diese Form der Behandlung am gnstigsten aus den Rahmenbedingungen eines interdisziplinren Teams zur Anwendung gelangt. Musiktherapie ist keine Konkurrenz, sondern eine Erweiterung der funktionellen und psychotherapeutischen Interventionsmçglichkeiten. Als nonverbale Therapie liegt der besondere Stellenwert in den vielfltigen Einsatzmçglichkeiten. Dies kann im Rahmen von Praxen geschehen, ebenso bei der ambulanten Behandlung chronisch kranker Kinder und Jugendlicher beispielsweise in der Onkologie, aber auch im stationren Sektor wie auf der Frhgeborenen-Intensivstation. Unstrittig ist heutzutage die Notwendigkeit der Bercksichtigung von gltigen Erkenntnissen aus der Entwicklungspsychologie. hnlich wie in anderen (psycho-)therapeutischen Bereichen gilt es, eine gemeinsame Basis therapeutischen Handelns zu gewinnen mit der individuellen Person und Persçnlichkeit des Kindes im Mittelpunkt. Dogmatische Auseinandersetzungen auf der Basis der jeweils vertretenen theoretischen Schule sind nicht mehr zeitgemß. In gleicher Weise muss sich Musiktherapie aber auch in ihren Effekten an den eigenen Wirksamkeitsansprchen messen lassen und bereit sein, Anstrengungen zu einer systematischen Evaluation vorzunehmen. So verfolgt das vorliegende Buch auch den Ansatz, soweit bisher mçglich eine zunehmende wissenschaftliche Fundierung der ursprnglich hufig vorwiegend von Intuition geprgten therapeutischen Vorgehensweise einzufordern. Die Schwierigkeiten dabei sind vergleichbar denen, die in einer stark von çkonomischen Sachzwngen bestimmten Medizin und Heilkunst alle Verfahren zu bewltigen haben, deren Auswirkungen sich nicht schlicht und unmittelbar in Kçrpermessdaten protokollieren lassen. Die Qualifikation des Musiktherapeuten in Grundlagen und anerkannten Verfahren der Psychotherapie stellt dabei neben der von Empathie geprgten Persçnlichkeit den wesentlichen Baustein dar, um in einem interdisziplinren Behandlungskonzept ein wichtiger und wertgeschtzter Ansprechpartner zu
Geleitwort
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sein. Vor einem solchen Hintergrund kann Musik, als therapeutisches Medium eingesetzt bei sorgfltiger Indikationsstellung, fr behandlungsbedrftige Kinder und Jugendliche nicht das einzig mçgliche, wohl aber ein ganz wesentliches Heilmittel darstellen. Das Buch richtet sich an Musiktherapeuten, Musiker, Musikpdagogen, ebenso aber auch an Psychologen, Therapeuten und rzte, die beruflich mit dem Thema der kindlichen Entwicklung befasst sind. In einem sich verndernden Gesundheitssystem, wo in manchen Bereichen çkonomische Aspekte nahezu vollstndig im Vordergrund stehen, wnsche ich dem Buch auch deshalb eine große Verbreitung, weil es ein Beleg fr die Notwendigkeit und den Erhalt auch anderer Zugangswege zu Kindern und Jugendlichen darstellt, die sich in ihrer kçrperlichen oder seelischen Entwicklung in einer Krise befinden. Im Verstndnis solcher Zusammenhnge, die sich mitunter der rationalen Messbarkeit zu entziehen scheinen, und in Verbindung mit einer fundierten Qualifikation liegt die Chance, ein ergnzendes und wichtiges Therapieverfahren besser als bisher zu etablieren. Dr. med. Helmut Hollmann Direktor des Kinderneurologischen Zentrums der Rheinischen Kliniken Bonn Sprecher der Bundesarbeitsgemeinschaft Sozialpdiatrischer Zentren
Danksagung
Den mitwirkenden Autoren sei herzlichst gedankt, dass sie die im Rahmen ihrer Ttigkeit in Praxis, Forschung und Lehre verfassten ausfhrlichen Darstellungen ber ihr musiktherapeutisches Schaffen in diesem langfristig geplanten Werk ber Kindermusiktherapie zur Verfgung stellen. Auch gilt ein besonderer Dank dem betreuenden Verlag Vandenhoeck & Ruprecht Gçttingen, welcher die Herausgabe des Buches stets konstruktiv untersttzte. Weiterhin gilt großer Dank der Wilhelm Schimmel Pianofortefabrik fr die freundliche Untersttzung der Publikation. Herrn Dr. Rainer Stiff, Diagnose- und Behandlungszentrum fr Entwicklung und Neurologie des Kindes- und Jugendalters in Berlin, danken wir sehr fr die umfassende Begleitung des Buchprojektes in den verschiedenen Phasen der Entstehung. Ursula Stiff Rosemarie Tpker
Ursula Stiff
Einfhrung
Mit dem Buch »Kindermusiktherapie – Richtungen und Methoden« liegt ein aktueller Gesamtberblick ber die Ausrichtung der in Deutschland vertretenen bedeutenden kindermusiktherapeutischen Schulen – dargelegt von namhaften Musiktherapeuten – vor. Praxisberichte ergnzen die theoretischen Ausfhrungen. Neben der jeweiligen Darlegung der geschichtlichen Entwicklung, des allgemeinen theoretischen Hintergrunds und der Charakteristika der einzelnen Musiktherapiekonzepte werden Erkenntnisse aus der musiktherapeutischen Forschung, der Evaluation musiktherapeutischer Behandlung sowie Ausblicke auf zuknftige Forschungsvorhaben vermittelt und dem Leser die Weiterentwicklung der Musiktherapie als eine wissenschaftlich begrndete Disziplin veranschaulicht. Die in Praxis, Forschung und Lehre ttigen Autoren geben dabei auch Einblick in die weiterfhrende Literatur. Da die Kindermusiktherapie im interdisziplinren Kontext Verwendung findet, begrndet sich die Mitwirkung multiprofessionell ttiger Autoren aus den entsprechenden Bereichen, wie Psychologie, Musikpdagogik und Medizin.
Zum Standort wichtiger kindermusiktherapeutischer Richtungen – Eine vergleichende bersicht Neben der freien Praxis gelten als wichtige institutionell angebundene Arbeitsfelder der Kindermusiktherapie beispielsweise die Heil- und Sonderpdagogik, die Sozialpdiatrie, die Kinderpsychiatrie, die Kinderpsychosomatik sowie die Neonatologie.
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Ursula Stiff
Die analytische Kindermusiktherapie findet wie die morphologische Kindermusiktherapie unter anderem Geltung in der Arbeit mit psychiatrisch und psychosomatisch erkrankten Kindern, entwicklungsgestçrten oder behinderten Kindern sowie mit Neugeborenen. Whrend die Orff-Musiktherapie weiterhin insbesondere in der Behandlung mit behinderten oder entwicklungsgestçrten Kindern zum Einsatz kommt, erweiterte die Schçpferische Musiktherapie nach Nordoff und Robbins ihr therapeutisches Angebot zum Beispiel auf die Therapie psychiatrisch erkrankter Kinder. Hervorzuheben ist, dass die entwicklungspsychologisch orientierte Kindermusiktherapie – ebenso eingebunden in die allgemeine therapeutische Untersttzung von behinderten bzw. entwicklungsgestçrten Kindern – sich schwerpunktmßig auf die Arbeit mit kindlichen Autisten konzentriert. Anders als die entwicklungspsychologisch orientierte Kindermusiktherapie, bieten die analytische Kindermusiktherapie, die morphologische Kindermusiktherapie, die Schçpferische Musiktherapie nach Nordoff und Robbins und die Orff-Musiktherapie Behandlungskonzepte nicht nur fr Kinder, sondern auch fr Jugendliche und Erwachsene an. Die Kindermusiktherapie nach Brckner – zunchst in Anlehnung an ein Konzept der Erwachsenenmusiktherapie entwickelt – dient vorwiegend der Therapie von entwicklungsgestçrten und psychiatrisch erkrankten Kindern und Jugendlichen. Die vielfach aus der Praxis heraus entwickelten kindermusiktherapeutischen Richtungen erhielten eine nhere Einordnung in ein theoretisches Bezugssystem oftmals nicht von ihren Grndern, sondern erst von den Vertretern der nachfolgenden Generationen. Einflsse der psychoanalytischen Psychologie kommen insbesondere in der analytischen Kindermusiktherapie (B. Mahns 1977, S.|66|f.; W. Mahns 2004, S.|67), der morphologischen Kindermusiktherapie (Tpker 2001, S.|59; W. Mahns 2004, S.|69), der entwicklungspsychologisch orientierten Kindermusiktherapie (B. Mahns 1977, S.|66) und der Kindermusiktherapie nach Brckner (W. Mahns 2004, S.|69) zum Tragen. Der humanistisch-existentialistischen Psychologie stehen die Schçpferische Musiktherapie (B. Mahns 1977, S.|120; W. Mahns
Einfhrung
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2004, S.|66) und die Orff-Musiktherapie (Vocke 1986, S.|35; Plahl 2000, S.|34), aber auch die morphologische Kindermusiktherapie (Tpker 2001, S.|58|ff.) und die Kindermusiktherapie nach Brckner (vgl. W. Mahns 2004, S.|69) nahe. Eine Beachtung von Lerntheorien findet sich in der Schçpferischen Musiktherapie nach Nordoff und Robbins (W. Mahns 2004, S.|149), in der Orff-Musiktherapie (W. Mahns 2004, S.|177) und in der Kindermusiktherapie nach Brckner (Kapteina 1996, S.|139). Bezge zur Anthroposophie lassen sich in der Schçpferischen Musiktherapie nach Nordoff und Robbins (W. Mahns 2004, S.|149) herstellen. Hervorzuheben ist, dass die aktuellen Forschungsergebnisse der modernen Entwicklungspsychologie zunehmend die Weiterentwicklung der vorgestellten kindermusiktherapeutischen Richtungen (wie in der entwicklungspsychologisch orientierten Kindermusiktherapie) in Theorie und Praxis prgen. Zur Herbeifhrung einer positiven therapeutischen Beziehung – von Grawe (1998) als wichtige Einflussgrçße therapeutischen Gestaltens eingeordnet – gilt im kindermusiktherapeutischen Schaffensprozess die Befolgung der von Axline (1984) in Anlehnung an Rogers (1972) fr die non-direktive Spieltherapie genannten therapeutischen Grundhaltungen (Wertschtzung, Empathie, Echtheit) als Basis therapeutischen Arbeitens. Entsprechend der zugrunde gelegten Ausrichtung zeigen sich Besonderheiten in der Handhabung von Methoden, das heißt musiktherapeutischer Vorgehensweisen, die – zur Behandlung sowie zur Diagnostik und zur Evaluation der Therapie formuliert (Bruscia 1998) – beispielsweise die aktiven Formen der Improvisationen und der Lieder sowie die rezeptive Form des Musikmalens umfassen. Schulenbergreifend dienen diverse Improvisationstechniken (Bruscia 1987, S.|533|ff.) – wie das Imitieren als empathische Technik – unter Bercksichtigung des Theoriebezuges und Praxiskontextes der Bearbeitung des musiktherapeutischen Improvisationsgeschehens. Die Bereitstellung eines ohne besondere Vorkenntnisse zu spielenden Musikinstrumentariums – bei Einbeziehung der Stimme als kçrpereigenes Instrument – kennzeichnet die kindermusiktherapeutische Praxis. Whrend das therapeutische Musizieren am
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Klavier in einigen kindermusiktherapeutischen Richtungen traditionell (wie zum Beispiel in der Schçpferischen Musiktherapie nach Nordoff und Robbins) von zentraler Bedeutung ist, dient das Klavier nun auch anderen kindermusiktherapeutischen Richtungen vermehrt (u.|a. der OMT) als ein dem Therapeuten und dem Patienten zur Verfgung stehendes Instrument. Neben der Ausfhrung von bestehenden Musikstcken (Lieder, Instrumentalkompositionen etc.) steht die vokale oder instrumentale Improvisation im Vordergrund des musikalischen Geschehens. Musik, Bewegung, Spiel, Malen und Sprache sind wichtige Ausdrucksmittel der Musiktherapie mit Kindern. Der Musik als Ausdrucksmittel kann vorwiegend eine sthetische Funktion (z.|B. Schçpferische Kindermusiktherapie nach Nordoff und Robbins), eine soziale Funktion (z.|B. Orff-Musiktherapie) und eine symbolische Funktion (z.|B. morphologische Kindermusiktherapie) zugeschrieben werden (W. Mahns 2004, S.|191|f.). Dem kindlichen Bewegungsbedrfnis entgegenkommend, erhlt das Kind im kindermusiktherapeutischen Kontext die Gelegenheit, sich kçrperlich bettigend auszudrcken; Kçrperwahrnehmung, Raumwahrnehmung und personen- oder objektbezogene Interaktion werden in einfachen wie komplexen Bewegungsablufen erfahrbar gemacht. Die Gewichtung des Spiels als bedeutendes Ausdrucksmittel zeigt sich in der kindermusiktherapeutischen Arbeit ebenfalls als strukturierendes Element im Therapieablauf. Neben konkreten Spielformen (sensomotorische Spiele, Explorationsspiele, Konstruktionsspiele, Regelspiele) finden fiktive Spielformen (Symbolspiele, Rollenspiele) Bercksichtigung (vgl. Frohne-Hagemann u. PleßAdamczyk 2005, S.|94; Rahm et al. 1993, S.|234). Auch der Hinzuziehung des Malens als Ausdrucksmittel kommt darber hinaus therapeutisch wie diagnostisch eine herausragende Bedeutung zu (z.|B. in der analytischen Kindermusiktherapie und in der Kindermusiktherapie nach Brckner). Die Verbindung Musik – Sprache – Bewegung zeichnet den besonderen Stellenwert der Sprache als Ausdrucksmittel in der Musiktherapie mit Kindern aus. Ferner dient sie zudem der Bearbeitung des therapeutischen Geschehens (so in der analytischen Kindermusiktherapie und in der morphologischen Kindermusiktherapie).
Einfhrung
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Schlussbemerkung Die zunehmende Etablierung der Musiktherapie in Deutschland – unter anderem vertreten durch die Deutsche Gesellschaft fr Musiktherapie (DGMT), den Deutschen Berufsverband der Musiktherapeutinnen und Musiktherapeuten (DBVMT), den Berufsverband klinischer Musiktherapeutinnen und Musiktherapeuten (BKM), die Deutsche Musiktherapeutische Vereinigung Ost (DMVO) – zeigt sich in dem Aufbau staatlicher oder staatlich anerkannter Studiengnge. Bestrebungen innerhalb der deutschen Musiktherapie – und damit auch der deutschen Kindermusiktherapie – sich im Konsens bei Respektierung vorhandener Differenzen auf gemeinsame Definitionen des Musiktherapiebegriffs zu einigen, fhren auch zu einer positiven Selbstdarstellung des Berufsbildes Musiktherapie im deutschen Gesundheitswesen. Ergnzend zu der von der Deutschen Gesellschaft fr Musiktherapie (DGMT) gegebenen Definition »Musiktherapie ist der gezielte Einsatz von Musik im Rahmen der therapeutischen Beziehung zur Wiederherstellung, Erhaltung und Fçrderung seelischer, kçrperlicher und geistiger Gesundheit« (Deutsche Gesellschaft fr Musiktherapie 2005|ff.) sei exemplarisch die von der Kasseler Konferenz Musiktherapeutischer Vereinigungen in Deutschland verfasste Ausfhrung zitiert: »Musik ist vom Menschen gestalteter Schall. Als akustisches, zeitstrukturierendes Geschehen ist sie Artikulation menschlichen Erlebens mit Ausdrucks- und Kommunikationsfunktion. Sie befindet sich im dialektischen Spannungsfeld individueller – kçrperlicher, psychischer, spiritueller, sozialer – und gesellschaftlich-kultureller Bedingungen und ist dort wirksam und bedeutsam. Musik wird zum subjektiven Bedeutungstrger ber den Prozeß des Wiedererkennens interiorisierter Erfahrungen, die im Zusammenhang der Menschheitsgeschichte, dem Enkulturationsprozeß und der aktuellen Situation stehen« (Kasseler Konferenz 1998, S.|232|ff.). Zur »Qualittssicherung« der therapeutischen Arbeit (Weymann 1996, S.|379) empfehlen Autoren wie Weymann unter anderem die Supervision, in der die Reflexion des therapeutischen Vorgehens in den Vordergrund rckt; auch stehen in der Musik-
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therapie in einer wachsenden Anzahl Arbeiten ber qualitativ ausgerichtete Evaluation (vgl. Langenberg et al. 1996) und Arbeiten ber quantitativ ausgerichtete Evaluation (Nordoff u. Robbins 1986; Plahl 2000; Schumacher u. Calvet-Kruppa 2001, S.|102|ff.) zur Auswahl. Die Weiterentwicklung der Kindermusiktherapie findet ihren Ausdruck beispielsweise in fachbergreifenden Forschungsprojekten und in der Ausarbeitung musiktherapeutischer Theorielegungen unter Einbeziehung aktueller (entwicklungs-)psychologischer Erkenntnisse. Erstellung und Handhabung spezifisch musiktherapeutischer Indikationskataloge (vgl. Frohne-Hagemann u. PleßAdamczyk 2005), die sich auf die derzeit gltigen internationalen klassifikatorischen Diagnosesysteme beziehen (vgl. Remschmidt et al. 2001), weisen einen weiteren inhaltlich qualitativen Zugewinn musiktherapeutischer Arbeit aus. Der Anspruch, »musiktherapeutisches diagnostisches Vorgehen wissenschaftlich abzusttzen« (Frohne-Hagemann u. Pleß-Adamczyk 2005, S.|12), erfordert eine aus medizinisch-psychologischer als auch aus musiktherapeutischer Sicht mçglichst przise Diagnosestellung, die verschiedene Ebenen – wie kognitive Entwicklung, umschriebene Entwicklungsstçrungen, Verhaltensaufflligkeiten, emotionale Entwicklung, psychosoziales Umfeld des Kindes – einbezieht (vgl. Hollmann et al. 2003) und somit eine fundierte Grundlage fr eine interdisziplinr ausgerichtete musiktherapeutische Disziplin schafft.
Literatur Aldridge, D.; Gustorff, G.; Neugebauer, L. (1994): Musiktherapie mit entwicklungsverzçgerten Kindern. Musiktherapeutische Umschau 15: 307–334. Axline, V. (1984): Kinder-Spieltherapie im nicht-direktiven Verfahren. 6. Aufl. Mnchen u. Basel. (Original: Play Therapy. Edinburgh, 1979.) Brckner, J.; Mederacke, I.; Ulbrich, C. (1982): Musiktherapie fr Kinder. Rezipieren – Improvisieren – Kommunizieren – Bewegen. Berlin. Bruhn, H. (2000): Musiktherapie. Geschichte – Theorien – Methoden. Gçttingen u.|a. Bruscia, K. (1987): Improvisational Models of Music Therapy. Springfield, Illinois. Bruscia, K. (1998): Defining Music Therapy. 2. Aufl. Gilsum, NH.
Einfhrung
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Decker-Voigt, H.-H.; Knill, P. J.; Weymann, E. (Hg.) (1996): Lexikon Musiktherapie. Gçttingen u.|a. Deutsche Gesellschaft fr Musiktherapie e.V. DGMT (1998): Themenheft: Musiktherapie mit Kindern. Musiktherapeutische Umschau 19. Deutsche Gesellschaft fr Musiktherapie e.V. DGMT (2005|ff.): Definition Musiktherapie. http://www.musiktherapie.de/index.php?id=18. Frohne-Hagemann, I.; Pleß-Adamczyk, H. (2005): Indikation Musiktherapie bei psychischen Problemen im Kindes- und Jugendalter. Musiktherapeutische Diagnostik und Manual nach ICD-10. Gçttingen. Grawe, K. (1998): Psychologische Therapie. Gçttingen u.|a. Hollmann, H.; Schmid, R. G.; Kretzschmar, C. (2003): Altçttinger Papier. Grundlagen der Strukturqualitt und Behandlung in Sozialpdiatrischen Zentren. Mehrdimensionale Bereichsdiagnostik Sozialpdiatrie. Diagnosen-Verzeichnis nach ICD-10 zum Gebrauch im Sozialpdiatrischen Zentrum. In: Bundesarbeitsgemeinschaft Sozialpdiatrischer Zentren (Hg.): Qualitt in der Sozialpdiatrie. Bd.|1. Berlin. Kapteina, H. (1996): Geschichte der Improvisationsbewegung. In: Decker-Voigt, H.-H.; Knill, P.J.; Weymann, E. (Hg.): Lexikon Musiktherapie. Gçttingen u.|a., S.|137–139. Kasseler Konferenz (1998): Musiktherapeutische Umschau 19: 232–235. Langenberg, M.; Aigen, K.; Frommer, J. (Hg.) (1996): Qualitative Music Therapy Research. Beginning Dialogues. Gilsum, NH. Mahns, B. (1997): Musiktherapie bei verhaltensaufflligen Kindern. Praxisberichte, Bestandsaufnahme und Versuch einer Neuorientierung. In: Bolay, V., Bernius, V. (Hg.) Praxis der Musiktherapie. Bd.|14. Stuttgart u.|a. Mahns, W. (2004): Symbolbildung in der analytischen Kindermusiktherapie. Eine qualitative Studie ber die Bedeutung der musikalischen Improvisation in der Musiktherapie mit Schulkindern. In: Tpker, R. (Hg.): Materialien zur Musiktherapie. Bd.|6. Mnster. Nçcker-Ribaupierre, M. (Hg.) (2003): Hçren – Brcke ins Leben. Musiktherapie mit frh- und neugeborenen Kindern. Forschung und klinische Praxis. Gçttingen. Nordoff, P.; Robbins, C. (1986): Schçpferische Musiktherapie. In: Bolay, V., Bernius, V. (Hg.): Praxis der Musiktherapie. Bd. 3. Stuttgart u.|a. (Original: Creative Music Therapy. New York 1977). Orff, G. (1974): Die Orff-Musiktherapie. Aktive Fçrderung der Entwicklung des Kindes. Mnchen. Plahl, C. (2000): Entwicklung fçrdern durch Musik. Evaluation musiktherapeutischer Behandlung. Mnster. Remschmidt, H.; Schmidt, M.; Ponstka, F. (Hg.) (2001): Multiaxiales Klassifikationsschema fr psychische Stçrungen des Kindes- und Jugendalters nach ICD-10 der WHO mit einem synoptischen Vergleich von ICD-10 und DSM-IV. 4. Aufl. Bern.
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Ursula Stiff
Rogers, C. R. (1972): Die klientenzentrierte Gesprchspsychotherapie. Mnchen. (Original: Client-Centered Therapy. Boston 1951.) Schumacher, K.; Calvet-Kruppa, C. (2001): Die Relevanz entwicklungspsychologischer Erkenntnisse fr die Musiktherapie. In: Decker-Voigt, H.-H. (Hg.): Schulen der Musiktherapie. Mnchen, S.|102–124. Tpker, R. (2001): Morphologisch orientierte Musiktherapie. In: Decker-Voigt, H.-H. (Hg.): Schulen der Musiktherapie. Mnchen, S.|55–77. Vocke, J. (1986): Effektivittskontrolle der Orff-Musiktherapie. Dissertation. Ludwig-Maximilians-Universitt Mnchen. Voigt, M. (2002): Ich bin da, du bist da – Orff-Musiktherapie mit behinderten Kindern. In: Kraus, W. (Hg.): Die Heilkraft der Musik. 2. Aufl. Mnchen, S.|114–120. Weymann, E. (1996): Supervision. In: Decker-Voigt, H.-H.; Knill, P. J.; Weymann, E. (Hg.): Lexikon Musiktherapie. Gçttingen u.|a., S.|377–381.
Johanna Vocke
Geschichtliches zur Kindermusiktherapie in Deutschland
Allgemeine Aspekte Die Geschichte der Musiktherapie (MT) geht in die frhe Kulturgeschichte der Menschheit zurck. Nicht nur in der Einordnung als kultisch-mystisches Mittel, sondern auch als Abbild kosmischer Ordnung und als Medikament fand das Medium Musik Beachtung (vgl. Bruhn 2000, S.|9): Die kultisch-mystische Anwendung von Rhythmen und Klngen zum Zwecke der Heilung mag hnlich ausgesehen haben, wie wir sie auch heute noch bei den Naturvçlkern und den magischen Ritualen der Schamanen beobachten kçnnen. Mit der vielfach zitierten Beschreibung – »ein nicht genau datierbares Beispiel« – der Behandlung des depressiven Kçnigs Saul durch das Harfenspiel Davids (Altes Testament, 1. Buch Samuel, Absatz 23) findet sich eine der ltesten schriftlichen Verweise fr die Verwendung der Musik als Wirkmedium in der 3000-jhrigen »Tradition« der Musiktherapie (vgl. Bruhn 2000, S.|9). Whrend in der klassischen Antike die der Musik zugrunde liegenden Zahlenverhltnisse als heilend fr die Seele erachtet wurden, versuchte man in der Renaissance, mit bestimmten Musikstcken seelische und kçrperliche Prozesse gnstig zu beeinflussen. Das Verstndnis von Krankheit und ihren Behandlungsmçglichkeiten hat sich im Laufe der Zeit sehr gendert, und trotzdem sieht man auch heute noch in der Musik ein Wirkmedium, das – als integraler Bestandteil von multimodalen Therapieanstzen – großen therapeutischen Nutzen bringen kann.
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Johanna Vocke
Die heutige Musiktherapie, die sich in den letzten circa fnfzig Jahren etabliert und weiterentwickelt hat, stellt das musikalische Wirken in den Mittelpunkt, um therapeutische Ziele zu erreichen. Basierend auf den unter Anregung der Neuen Musik des 20.|Jahrhunderts entstandenen Einflssen der Musikpdagogik (u.|a. Friedemann 1973, 1983), findet seit den zurckliegenden Jahrzehnten beim Musizieren die Improvisation als musiktherapeutische Methode grçßere Beachtung. Nach Sichtung der Literatur zeigt sich, dass die Geschichte der Musiktherapie fr Kinder nur schwer von der Geschichte der MT fr Erwachsene loszulçsen ist. Sie verlief parallel und die Vertreter der Kindermusiktherapie begannen ihr Wirken zeitgleich mit den Vertretern der MT fr Erwachsene. Sie entwickelte und erprobte ihre Konzepte teilweise unter Einbeziehung theoretischer Grundkonzepte, teilweise eklektisch unter Verwendung erprobter praktischer Methoden. Die verschiedenen beschriebenen Bereiche innerhalb der Medizin, der Heilpdagogik und der Psychotherapie bestimmen ihre jeweilige Vorgehensweise. Das zugrunde gelegte theoretische Konzept bercksichtigt die zu behandelnden Diagnosen oder das Alter der Patienten. Ob rezeptiv oder aktiv, regelhaft oder frei improvisatorisch, und mit welchen Instrumenten gespielt wird, hngt von den Vorstellungen des Therapeuten ab. Bisher konnten sich offensichtlich die verschiedenen Richtungen und Methoden der Musiktherapie fr Kinder im praktischen Einsatz behaupten.
berblick ber die geschichtlich gewachsene Zuordnung der kindermusiktherapeutischen Richtungen in Deutschland Eine Gliederung oder Einteilung der Musiktherapie wurde von verschiedenen Autoren unter unterschiedlichen Aspekten vorgenommen. Einerseits wurde die Art der Vorgehensweise, das Einsatzgebiet oder die theoretische Ausrichtung zugrunde gelegt. Andererseits wurde zunehmend eine Zuordnung der musiktherapeutischen Richtungen zu psychotherapeutischen Richtungen
Geschichtliches zur Kindermusiktherapie in Deutschland
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vollzogen. Im Folgenden werden zunchst die verschiedenen Formen der Musiktherapie kurz skizziert.
Medizinische Musiktherapie Musiktherapeuten untersuchen die Auswirkung bestimmter Musik auf die Psyche des Menschen beziehungsweise auf psychovegetative Vernderungen. Bei dieser sogenannten rezeptiven Musiktherapie wird eine Art »Musikapotheke« zusammengestellt. Bei den Patienten wurde hier in der Regel nicht nach dem Alter differenziert. In der Weiterentwicklung medizinisch orientierter musiktherapeutischer Tendenzen finden sich – unter anderem durch das musiktherapeutische Schaffen Nçcker-Ribaupierres – Bestrebungen, unter Bercksichtigung moderner Suglingsforschung in Verbindung mit psychoanalytischen Theorien individuelle Aspekte wie beispielsweise in der pr-, peri-, postnatalen Therapie Neugeborener einzubeziehen (vgl. W. Mahns 2004, S.|64).
Musiktherapie innerhalb der Heilpdagogik Hier hat sich im Rahmen von Sonder- und Heilpdagogik die Musiktherapie nach P. Nordoff und C. Robbins etabliert, wobei diese Form vom geistigen Konzept her auch der humanistischen MT zuzuordnen wre (vgl. »Humanistische Musiktherapie«). Vernderung geschieht durch musikalische Improvisation und soll Wachstumskrfte im Hier und Jetzt fçrdern. Ferner ist die anthroposophische Musiktherapie auf der Grundlage der Anthroposophie Rudolph Steiners zu nennen, bei der Kinder verschiedener Altersstufen und mit unterschiedlichen Diagnosen – vor allem aber bei kçrperlicher oder geistiger Behinderung – unter Einbeziehung besonderer Instrumente (wie Harfe, Leier oder Choroi-Flçte) aktive oder rezeptive MT als Einzel- oder Gruppentherapie erhalten. Namhafte Vertreter der anthroposophischen Musiktherapie sind zum Beispiel Kçnig, Schppel, Ja-
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Johanna Vocke
cobs, Knierim, Ruland und Florschtz (vgl. W. Mahns 2004, S.|66).
Musiktherapie innerhalb der unterschiedlichen Psychotherapie-Richtungen Auch wenn es schwierig ist, die MT einzelnen Theorien zuzuordnen – da die Musiktherapeuten nicht immer eine eindeutige Richtung vertreten –, ist es sinnvoll, die verschiedenen Anstze entsprechend zu gliedern. Hierbei muss hervorgehoben werden, dass es nur einige Anstze gibt, die sich speziell mit Kindern oder Jugendlichen beschftigen. Bei manchen ist das Verfahren auf Erwachsene und Kinder gleichermaßen anzuwenden (B. Mahns, S.|117). Die unterschiedliche Ausrichtung hngt teilweise auch von den jeweiligen Instituten ab, in denen sie durchgefhrt werden. Es kommt bei der Entwicklung der musiktherapeutischen Richtung auch immer zu einer Wechselwirkung zwischen den ganz pragmatischen ußeren Bedingungen der jeweiligen Institution (wie z.|B. Kinderklinik, Kinderpsychiatrie, Sozialpdiatrisches Zentrum) und der theoretischen Ausrichtung. Dies bezieht sich sowohl auf die Dauer und Frequenz der Therapie, die Anzahl der Teilnehmer als auch auf die Art der Diagnose. Im Folgenden sollen die musiktherapeutischen Richtungen soweit mçglich den jeweiligen psychotherapeutischen Richtungen zugeordnet werden. Psychoanalytisch-psychodynamisch orientierte Musiktherapie: Die als psychoanalytisch-psychodynamisch eingeordneten Anstze der MT (W. Mahns 2004, S.|67) gehen auf tiefenpsychologische Theorien sowohl von Freud, Jung als auch auf Ideen der Kinderanalyse nach Klein, Winnicott und anderen zurck. Das Indikationsspektrum ist weit und Musik wird sowohl rezeptiv als auch aktiv bei allen Altersstufen eingesetzt, um analytische Prozesse auf nonverbaler Ebene in Gang zu setzen. Hier sind vor allem Alvin und Priestley zu nennen, die auch die Entwicklung der psychoanalytisch-psychodynamisch ausgerichteten MT im deutschsprachi-
Geschichtliches zur Kindermusiktherapie in Deutschland
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gen Raum prgten. Als wichtige deutsche Vertreter der psychoanalytisch-psychodynamischen Kindermusiktherapie gelten unter anderem B. Mahns, W. Mahns, Langenberg und Niedecken (vgl. W. Mahns 2004, S.|67). Verhaltenstherapeutisch orientierte Musiktherapie: Entsprechend den Lerntheorien von Pawlow, Skinner oder Watson soll Musik als Stimulus eingesetzt werden, um bestimmtes Verhalten zu konditionieren. Sowohl rezeptiv als auch aktiv eingesetzt, soll erwnschtes Verhalten bei Patienten aller Altersstufen besser erlernt werden. Vertreter sind hier im deutschsprachigen Raum unter anderen Palmoswki (1983) und Rett und Wesecky (1975) (vgl. W. Mahns 2004, S.|65). Humanistische Musiktherapie: Die humanistische MT nach Maslow gilt als die dritte große Grundstrçmung innerhalb der psychotherapeutisch ausgerichteten MT. Im »Hier und Jetzt« sollen die Selbstheilungskrfte des Patienten durch bestimmte Formen des Erlebens geweckt werden. Hier ist – neben der bereits erwhnten Musiktherapie nach P. Nordoff und C. Robbins (W. Mahns 2004, S.|66) – die non-direktive Therapie fr Kinder von G. Orff (Vocke 1986, S.|35), die sogenannte Orff-Musiktherapie, zu nennen. Seit den siebziger Jahren wird sie bei Kindern verschiedener Altersstufen und mit diversen Diagnosen als aktive Form der Musiktherapie durchgefhrt. Es kommen hier vor allem spezielle Instrumente des Orff’schen Schulwerkes zum Einsatz. In der humanistisch fundierten Gestalt-Musiktherapie mit Vertretern wie Hegi steht Gegenwrtiges im Vordergrund des musiktherapeutischen Geschehens, wobei eine wechselseitige Beeinflussung mit der Integrativen Musiktherapie Frohne-Hagemanns, die ebenfalls »entwicklungspsychologische Kenntnisse mit gestalttherapeutischen Prinzipien« verknpft (W. Mahns 2004, S.|181), festzustellen sind. Beispiele fr die Zusammenarbeit der in der Kindermusiktherapie ttigen Musiktherapeuten verbinden sich mit den Namen Pleß-Adamczyk (Gestalt-Musiktherapie) und FrohneHagemann (Integrative Musiktherapie) (vgl. Frohne-Hagemann u. Pleß-Adamczyk 2005).
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Johanna Vocke
Konzeptkombinationen: Eine eindeutige Zuordnung bleibt bei vielen Richtungen sehr schwierig, da sich die Grnder selber teilweise nicht eindeutig einer Theorie zuordnen, sondern Ideen aus verschiedenen Richtungen in ihre Arbeit mit einbeziehen. Dieser von Mahns als Konzeptkombinationen benannten Einteilung lassen sich neben G. Orff Vertreter wie Schumacher (entwicklungspsychologisch orientierte Kindermusiktherapie) und Tpker (morphologische Musiktherapie) – beide mit psychoanalytisch-psychodynamisch geprgter Grundhaltung – zuordnen (W. Mahns 2004, S.|68|f.). Eine weitere Vertreterin ist hier Brckner, die in ihrer Arbeit mit Kindern im medizinisch-klinischen Bereich sowie im Sonderschulwesen Methoden verbindet, die sowohl aus der aktiven MT nach Orff als auch aus den rezeptiven Verfahren Schwabes und dem non-direktiven Verfahren Axlines als auch dem psychoanalytischen Hintergrund von Willms stammen (W. Mahns 2004, S.|69) und ferner die Anwendung von Lerntheorien einbezieht (Kapteina 1996, S.|139). Literatur Bruhn, H. (2000): Musiktherapie. Geschichte – Theorien – Methoden. Gçttingen u.|a. Decker-Voigt, H.-H.; Knill, P. J.; Weymann, E. (Hg.) (1996): Lexikon Musiktherapie. Gçttingen u.|a. Friedemann, L. (1973): Einstiege in neue Klangbereiche durch Gruppenimprovisation. Wien. Friedemann, L. (1983): Trommeln – Tanzen – Tçnen. 33 Spiele fr Große und Kleine. Wien. Frohne-Hagemann, I.; Pleß-Adamczyk, H. (2005): Indikation Musiktherapie bei psychischen Problemen im Kindes – und Jugendalter. Musiktherapeutische Diagnostik und Manual nach ICD-10. Gçttingen. Kapteina, H. (1996): Geschichte der Improvisationsbewegung. In: Decker-Voigt, H.-H.; Knill, P.J.; Weymann, E. (Hg.): Lexikon Musiktherapie. Gçttingen u.|a., S.|137–139. Mahns, B. (1997): Musiktherapie bei verhaltensaufflligen Kindern. Praxisberichte, Bestandsaufnahme und Versuch einer Neuorientierung. In: Bolay, V., Bernius, V. (Hg.): Praxis der Musiktherapie. Bd.|14. Stuttgart u.|a. Mahns, W. (2004): Symbolbildung in der analytischen Kindermusiktherapie. Eine qualitative Studie ber die Bedeutung der musikalischen Improvisation in der Musiktherapie mit Schulkindern. In: Tpker, R. (Hg.): Materialien zur Musiktherapie. Bd.|6. Mnster. Vocke, J. (1986): Effektivittskontrolle der Orff-Musiktherapie. Dissertation. Ludwig-Maximilians-Universitt Mnchen.
Karin Schumacher und Claudine Calvet
Entwicklungspsychologisch orientierte Kindermusiktherapie – am Beispiel der »Synchronisation« als relevantes Moment
Zusammenfassung Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie, die durch Suglingsund Bindungsforscher in den letzten Jahrzehnten gewonnen wurden, bieten fr die Arbeit mit tiefgreifend entwicklungsgestçrten Kindern, speziell aus dem autistischen Formenkreis, eine sehr hilfreiche Orientierung. Sie stellen eine theoretische Grundlage fr das Verstehen aller Krankheitsbilder, die mit einer Beziehungsstçrung einhergehen, zur Verfgung und geben klare Hinweise fr das methodische Vorgehen in der Musiktherapie. Am Beispiel sogenannter »relevanter Momente« einer Therapie werden »synchrone Momente«, das heißt Momente der genauen zeitlichen bereinstimmung zweier Menschen im gemeinsamen musikalischen Spiel und deren affektive Auswirkung analysiert. Die Bedeutung des Phnomens »Synchronisation« wird entwicklungspsychologisch begrndet und mit Hilfe praktischer Beispiele aus der musiktherapeutischen Arbeit veranschaulicht. Das »EBQ-Instrument« wird als Evaluierungsinstrument zur Einschtzung der Beziehungsqualitt in Bezug zum Phnomen »Synchronisation« angewandt.2
2 Besonderer Dank gilt dem Karajan Centrum Wien, das durch Forschungsgelder das Projekt »Musik und Synchronisation« ermçglicht hat.
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Karin Schumacher/Claudine Calvet
Zur Geschichte der entwicklungspsychologisch orientierten Musiktherapie Musiktherapie bei tiefgreifend entwicklungsgestçrten Kindern, die an einer Beeintrchtigung der sozialen, interaktiven und kommunikativen Fhigkeiten (ICD-10, F 84) leiden, fhrt zur Frage nach den Ursprngen zwischenmenschlicher Beziehungsfhigkeit auch beim typisch entwickelten, gesunden Kind. Die Auseinandersetzung mit der prnatalen Sinnesentwicklung und die Frage, wie es zur Integrationsfhigkeit der Sinneseindrcke kommt, die bis heute auch die Hirnforscher beschftigt, war eine logische Folge und schlug sich in meiner musiktherapeutischen Herangehensweise nieder (Schumacher 1994): Musik-, Bewegungs- und Sprachspiele, die ganz vom Kind ausgehend entwickelt werden, schaffen ein »koordiniertes Reizklima« und helfen, die einzelnen Sinneseindrcke zu integrieren. Die aus der prnatalen Zeit stammenden Bedrfnisse des Suglings nach Wiegen und Getragen-Werden und die Bedeutung der frhen Mutter-Kind-Spiele fr die zwischenmenschliche Beziehungsfhigkeit (Schumacher 1996, S.|105) haben Einfluss auf die musiktherapeutische Arbeitsweise mit an schwerer Beziehungslosigkeit leidenden Kindern. 1990 begann durch die Zusammenarbeit der Musiktherapeutin Karin Schumacher mit der Entwicklungspsychologin Claudine Calvet ein stndiger und intensiver Austausch gegenseitigen Wissens und praktischer Erfahrungen auf dem Gebiet der Musiktherapie mit Kindern, die an einer tiefgreifenden Beziehungsstçrung leiden. Die Entwicklungspsychologin Claudine Calvet brachte durch ihre Auseinandersetzung mit Themen der frhen Kindheit ihr Wissen und ihre Forschungsergebnisse ein, Karin Schumacher ihre jahrzehntelange musiktherapeutische Erfahrung mit Kindern mit Autismus. Diese musiktherapeutische Arbeit wurde seit 1990 regelmßig videographiert und von beiden Forscherinnen systematisch untersucht und analysiert. Die Auseinandersetzung mit dem »Selbst-Konzept«, wie es der Suglingsforscher Daniel Stern entworfen hat (Stern 1985, 2000), fhrte zunchst dazu, das Krankheitsbild Autismus aus der Sicht der Suglings- und Bindungsforscher (Bowlby, Ainsworth, Gross-
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mann) zu sehen und fundierte das methodische Vorgehen in der Musiktherapie (Schumacher 1996, 2004). Die Erkenntnis, dass nur eine geordnete Wahrnehmung und eine emotionale Regulation durch den anderen zur zwischenmenschlichen Beziehungsfhigkeit fhren und diese Fhigkeit die Basis jeglicher Entwicklung ist, ließ uns die Entwicklung des ersten Lebensjahres bis zur Sprachentwicklung ins Zentrum stellen. Das Studium der beobachtbaren Merkmale, die fr jede Entwicklungsphase typisch sind, ergab, dass tiefgreifend entwicklungsgestçrte Kinder nicht oder nur eingeschrnkt angeborene Merkmale wie Blickkontakt, Imitationsfhigkeit, Vitalittsaffekte zeigen, die bei gesunden Kindern schon bei der Geburt zu beobachten sind. Kann Musiktherapie diese so frh gestçrte Entwicklung nachholen beziehungsweise »entstçren« helfen? Kann die Fhigkeit zur Inter-Subjektivitt und Empathie, diesen zentralen Voraussetzungen fr eine »zwischenmenschliche« Beziehungsfhigkeit, die auf einer geordneten Wahrnehmung der Welt, einem kohrenten Kçrperempfinden und einem sicheren Gefhl von Urheberschaft (s. Kohuts Definition des »Selbst-Begriffes« nach Milch 2001, S.|292) beruht, nachentwickelt werden? Diesen stetigen Aufbau der Fhigkeit zur »Ordnung« konnten wir bei der Analyse der videographierten musiktherapeutischen Langzeitverlufe entdecken und beobachten.
Elementare Musik – Elementare Instrumente – Elementare Spielweise Der hier dargestellten entwicklungspsychologisch orientierten musiktherapeutischen Arbeitsweise liegt, wie auch der entwicklungsorientierten Orff-Musiktherapie, ein Musikbegriff zugrunde, den Carl Orff »Elementare Musik« nennt. Er definiert: »Elementare Musik ist nie Musik allein, sie ist mit Bewegung, Tanz und Sprache verbunden, sie ist eine Musik, die man selbst tun muß, in die man nicht als Hçrer, sondern als Mitspieler einbezogen ist« (Orff 1963, S.|16). Auch wenn der Begriff »elementar« immer wieder zu großen Diskussionen fhrt (Jungmair 1992), ist er in der
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Karin Schumacher/Claudine Calvet
von Orff definierten Weise nach wie vor hilfreich. Der Begriff »Elementare Musik« verweist auf ein methodisches Vorgehen, das die unterschiedlichen Ausdrucksbereiche des Menschen nicht getrennt behandelt. Begreift man Musik, Bewegung, Sprache und szenische Darstellung als Einheit, so ergibt sich ein fließender bergang vom kçrperlichen zum stimmlichen oder instrumentalen Ausdruck. Oder ein kçrperliches Befinden wird szenisch begriffen und musikalisch begleitet. Nicht das Ausdrucksmedium, sondern der Blick auf den Menschen, mit dem man arbeitet, ist ein »musischer«. »Musik«, der griechische Begriff, den Orff als Grundlage fr seine Definition wiederbelebt hat, meint die musische Gesamtdarstellung des Menschen in Wort, Ton, Gebrde, Bewegung mit instrumentaler Untersttzung. Wenn ich einen Patienten in seiner Kçrperlichkeit, seiner Bewegung, seiner Gestimmtheit betrachte und empfinde, ergibt sich ein musikalisch ausdrckbares und damit zu hçrendes Geschehen, das dem Patienten »resonierend« begegnet. Dieser Vorgang gleicht dem Blick in einen Spiegel, nur dass die Emotion, die sich hinter diesem Spiegelbild verbirgt, besonders hervorgehoben wird. Folgt man der Definition des Begriffes »Elementare Musik« von Hermann Regner (1988, S.|97), wird hier der Begriff »elementar« mit dem Beziehungs- und Begegnungsaspekt verbunden: »›Elementar‹ ist eine Musik nicht, wenn sie leicht zu spielen oder schnell nachzusingen ist; sie ist es dann, wenn sie im Musizierenden oder Zuhçrenden ein Echo hervorruft, wenn sie die inneren Saiten zum Mitschwingen bringt, wenn sich eine Verbundenheit zwischen ihr und dem Menschen einstellt.« Regner ergnzt: »Solche elementaren Begegnungen sind Glcksflle. Sie stellen sich ein, wenn die richtige Stimme im darauf eingestimmten Menschen erklingt, wenn sich Musik und Mensch ›doppelseitig erschließen‹.« Das Elementare ist nach Wolfgang Klafki das sich doppelseitig Erschließende (Klafki 1961). Fr uns bedeutet »elementar« etwas »Verdichtetes«, Einfaches, keinesfalls etwas Simples. Das Vokabular eines Suglings oder Kleinkindes ist einfach, aber niemals unwichtig oder gar wertlos. Aus der Sicht des Kindes steht oft ein Wort fr ein sehr komplexes Geschehen (»Auto«) oder fr eine sehr umfangreiche emotionale
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Erfahrung (»Mama und Papa«). Diese »einfachen« Vokabeln verstehen, sie richtig deuten und auf sie prompt reagieren, bezeichnen die Bindungsforscher mit »feinfhlig« sein. Einen musikalisch »feinfhligen« Kontakt herstellen, adquat und verstndlich auf eine kçrperliche, vokale oder instrumentale ußerung reagieren und antworten, ist dann »elementar«, wenn es dieselben Vokabeln, das heißt Laute, Tonfolgen, Motive, vor allem aber auch die Klangfarbe, das Timbre der kindlichen ußerung mit seinen zeitlich noch nicht strukturierten und leicht wiederholbaren Rhythmen aufnimmt und einbindet. Dieses Einbinden meint das Formen und Gestalten einer elementaren musikalischen ußerung, sie in eine Spielform zu fhren und damit einen Spielraum zu schaffen. Dies verlangt Formgefhl und Gestaltungsvermçgen, die das Kind selbst noch nicht besitzt. Gemß der von C. Orff formulierten Definition gilt: Elementare Musik »ist vorgeistig, kennt keine große Form, keine Architektonik, sie bringt kleine Reihenformen, Ostinati und kleine Rondoformen [.|.|.]« (Orff 1963, S.|16). Sie muss fr das Kind berschaubar und damit nachvollziehbar sein. Im Unterschied zur pdagogischen Arbeit wird eine derartige Form nicht fertig, also vorgeformt angeboten, sondern entsteht spontan aus den »Vokabeln«, die das Kind geußert hat. Diese aus dem Stegreif zu schaffende musikalische Gestaltung gehçrt zum Handwerkszeug des Therapeuten und kann gelegentlich auch »kunstvoll« gelingen. Das verwendete Instrumentarium|, das als sogenanntes »Elementares Instrumentarium« umschrieben wird, hat Eigenschaften, die aus entwicklungspsychologischer Sicht als besonders wertvoll zu erachten sind. Wie schon an anderer Stelle ausgefhrt (G. Orff 1984; Keller 1996; Schumacher 2000) ist mit diesem Instrumentarium nicht nur das sogenannte »Orff-Instrumentarium« gemeint, sondern es sind alle spieltechnisch einfach zum Klingen zu bringenden Instrumente, wie sie aus dem außereuropischen Raum, durch Ideen von Instrumentenbauern und durch Selbstgebautes in den letzten Jahrzehnten fr die therapeutische Arbeit eingefhrt wurden. Bei all diesen »elementaren« Instrumenten ist der Vorgang der Tonerzeugung leicht zu beobachten. Der Spieler kann sehen, fhlen und gleichzeitig hçren, welche Art und Intensitt der
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Bewegung zu welchem Klangergebnis fhrt. ber die direkte kçrperliche Beziehung entwickelt sich die innere Beziehung zum Instrument, zum selbst produzierten Klang, zur Musik« (Regner 1988, S.|85|f.). Entscheidend ist bei all diesen Instrumenten, dass sie trotz einfacher Spielweise und robuster Bauart gut und resonanzreich klingen. Die oft schlecht aufbewahrten, ungewollt ungestimmt belassenen Instrumente vermitteln den Eindruck, als gehçrten sie keinem und verlieren dadurch an Wert. Je kleiner das Instrument, desto kostbarer muss es dem Patienten als Ausdrucksmittel angeboten werden. Die vielen Missverstndnisse der sogenannten »Elementaren Musik« kommen oft auch aus der Unkenntnis der Musiktherapeuten, die sich mit einer »klassischen« Instrumentalausbildung mit diesem Instrumentarium nie wirklich auseinandergesetzt haben und sie »nur« ihren Patienten zum Spiel anbieten. Sie selbst halten sich an ihrem jahrzehntelang gelernten Instrument fest und meiden das Abenteuer und die Herausforderung dieser anderen Klangwelten. Ein weiteres Missverstndnis ist dort zu beobachten, wo Therapeuten mit zu geringer musikalischer Ausbildung das »einfach« zu spielende Instrumentarium nur »irgendwie« zum Klingen bringen. Gerade auch der Laie, der Patient sprt diese zu gering ausgebildete Bezogenheit und wird schnell das Interesse am solcherart angebotenen Instrument verlieren. Unseres Erachtens mssen also gerade auch »Elementare Instrumente«, die wir als Medium in der Musiktherapie verwenden, ernsthaft und so erlernt werden, dass sie uns Therapeuten als persçnliches Ausdrucksmittel dienen und wir gestalterisch mit dieser vielfltigen Klangwelt umgehen kçnnen. Erst dann werden wir das Instrumentarium dem Patienten gezielt ausdrucks- und dialogfçrdernd anbieten. Eine »elementare Spielweise«| ist eine fr das Kind und den Laien durchschaubare, nach- und mitvollziehbare musikalische ußerung, die eine Begegnung auf derselben Ebene, mit denselben musikalischen Mitteln erlaubt. Natrlich wird der Therapeut mit Hilfe seines musikalischen Handwerkszeuges und auf Grund seiner Intervention einen haltenden Akkord, eine umspielende Melodie, eine bestimmte Stimmung gebende Tonart whlen, aber je nher er an den musikalischen Ausdrucksmitteln des Patienten
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bleibt, desto strkender wird dies fr das Selbstgefhl des Patienten sein. Der Musiktherapeut versucht, aus dem Patienten die Musik »herauszuholen« (Schumacher 1994, S.|13) und vermeidet, sich selbst mit seiner Musik in Szene zu setzen.
Indikation, methodisches Vorgehen und Ziel einer entwicklungspsychologisch orientierten Musiktherapie Die entwicklungspsychologisch orientierte Musiktherapie hat die Entwicklung, Verbesserung und Erhaltung der zwischenmenschlichen Beziehungsfhigkeit zum Ziel und fokussiert damit den emotional-kognitiven Entwicklungsstand des Kindes. Erkenntnisse ber die Entwicklung der sozio-emotionalen Fhigkeiten, wie sie der Suglingsforscher Daniel Stern und die Entwicklungspsychologen Sroufe (1996) und Als et al. (1980) in ihren Arbeiten beschreiben, die Kenntnis der mçglichen psychopathologischen Vernderungen, der Defizite und daraus resultierenden Stçrungen und Traumata bilden die theoretische Grundlage dieser Arbeitsund Denkweise. Emotionale Erfahrungen werden durch die nahe stehenden und damit wichtigsten Bezugspersonen des ersten Lebensjahres geprgt und beeinflussen uns lebenslnglich. Die Entwicklung eines guten »Selbstgefhls« als Basis fr die »dialogische« Fhigkeit spielt eine zentrale Rolle. Der in der selbstpsychologischen Diskussion gebruchliche Begriff des »Selbst« ist fr die hier dargestellte erlebniszentrierte Arbeitsweise zentral. Das von Heinz Kohut auf tiefenpsychologischer Basis formulierte Selbstkonzept meint, dass das Selbst »aus einer kohrenten und dauerhaften Konfiguration durch die frhesten Selbstobjekterfahrungen sowie angeborenen und umweltbedingten Faktoren entsteht. Kernaufgaben des Selbst sind Zentrum der Initiative und Empfnger von Eindrcken zu sein und die Motivationssysteme und Erfahrungen zu integrieren. Das Selbst strebt danach, die eigene Entwicklung selbst voranzutreiben, eine eigene Richtung zu verfolgen und der Persçnlichkeit eine zentrale Bestimmung zu verleihen, die ihr ein Gefhl fr den Sinn des persçnlichen Lebens ermçglicht. Die eigenen Handlungen im individuellen Leben werden rumlich und
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zeitlich durch das Selbst als ein Kontinuum erlebt und geben dem Menschen das Gefhl des Selbstseins im Sinne eines unabhngigen Zentrums eigener Initiative und eigener Sinneseindrcke« (zit. n. Milch 2001, S.|292). Bezogen auf die »Selbstentwicklung« spielen in der musiktherapeutischen Arbeit die emotionalen Erfahrungen mit sich und dem Therapeuten dank des Mediums Musik eine zentrale Rolle. Nicht nur bei Kindern mit einer tiefgreifenden Entwicklungsstçrung, sondern berall, wo das Lernen mit den blichen pdagogischen Maßnahmen nicht mçglich ist, ist der Blick auf die Beziehungsfhigkeit und damit die Entwicklung des »Selbst«, also ein entwicklungs- und tiefenpsychologischer Blickwinkel in Ergnzung zu einem funktional und organisch orientiertem Blick notwendig. Dieser Blick auf das »Selbst« des Kindes fhrt uns direkt in die Fragen hinein: »Wie alt ist das Kind bezogen auf seine emotionale Entwicklung?«, »Welche diesbezglichen Merkmale sind beobachtbar, welche sprbar?« Der folgende berblick zeigt die auffallendsten Symptome, die bei gestçrter »zwischenmenschlicher Beziehungsfhigkeit« in Erscheinung treten. Vermutete Ursachen sowie Aspekte zum Krankheitserleben ergnzen diese Auflistung. Das Nicht-Herstellen- oder Nicht-Aushalten-Kçnnen einer Beziehung geht mit Ausdrucksnot und psychischer Isolation einher. Die fehlende Erfahrung, den eigenen Kçrper als kohrent und damit als Quelle von Handlungen zu erleben, lsst Gefhle und Handlungen nicht als etwas Eigenes und Selbstverursachtes wahrnehmen und erleben. Es kommt zu keiner Erfahrung von Selbstwirksamkeit und Urheberschaft. Daraus ergibt sich, dass die Fhigkeit, Wnsche und Interessen gemeinsam mit einem anderen Menschen im Sinne einer »Inter-Intentionalitt« und »Inter-Attentionalitt« nicht entwickelt werden und das »Funktionalisieren« der Welt als Hauptsymptom chronifiziert in Erscheinung tritt. Die fr eine zwischenmenschliche Beziehung so wesentliche Fhigkeit, Gefhle mit einem anderen Menschen zu teilen, kann ohne diese Basis nicht gebildet werden. Das Fehlen einer kommunikativen Sprache als Folge der genannten Defizite gehçrt zu den Hauptindikationsbereichen einer »nonverbalen« Musikthera-
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Entwicklungspsychologisch orientierte Kindermusiktherapie Tabelle 1: Gestçrte zwischenmenschliche Beziehungsfhigkeit aus der Sicht der Bezugsperson
aus der Sicht des Patienten
Symptome und mçgliche Ursachen
beobachtbare Folgen
hufige Folgen und individuelles Krankheitserleben
Mangel/Stçrung sozialer Beziehungen:| – Blickstçrung und Unfhigkeit zur Imitation
– emotionale Entwicklungsstçrung und damit kognitive Lernstçrung
– stndige berforderung im Falle von ber- oder auch Unterstimulierung
emotionale Aufflligkeiten:| – scheinbare Affektlosigkeit – fehlender Affektaustausch
– schwer lesbare Mimik, keine Ge- – fehlende differenstik zierte Gefhlserfah– Fehlen von Vitalittsaffekten rungen – Fehlen von Affektabstimmung, – keine Erwartung, eine Regulation gerade die Bezugsperson wird nicht als auch hoher Affekte Hilfe wahrgenommen durch eine Bezugsperson zu erfahren
Aggressionen: |– Autoaggression – Fremdaggression – das Fehlen von Freude
– Missverstndnis auf Grund der – Isolation Mitteilungs- und Verstndigungs- – Depression einschrnkung – Antriebslosigkeit – Freude, vor allem geteilte Freude, im Sinne von »Inter-Affektivitt« fehlt als Entwicklungsmotor
stereotypes Verhalten/ repetitives Spielverhalten:| – Fehlen von explorativem und sozialem Spielen-Kçnnen
– Wahrnehmungsverarbeitungsstçrung – Stçrung des Kçrperempfindens
– Angst, Chaos, berflutung – zwanghaftes Festhalten an selbst geschaffener Ordnung oder Getriebenheit – Unruhe und Unzufriedenheit
Sprachstçrung:| – Sprachlosigkeit – unkommunikative Sprache
– natrliche Folge der oben genannten emotional-kognitiven Stçrung – Stçrungen der Symbolisierungsfhigkeit
– Ausdrucksnot – Isolation – Lerneinschrnkung
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pie. Musiktherapie kann und wird aber hier zunchst nicht die »Sprache« verbessern helfen, sondern die emotionalen Defizite behandeln, die dem Unvermçgen zu sprechen oder einer kommunikationsgestçrten Sprache zugrunde liegen kçnnen. Das Element »Freude« muss in Erscheinung treten, damit Spielrume entstehen, die als Nhrboden fr jegliche Entwicklung so wichtig sind (PapouÐek 2003; Schumacher 1994). Da jegliche emotional-kognitive Weiterentwicklung nur auf der Basis einer zwischenmenschlichen Beziehung mçglich ist, wird eine entwicklungspsychologisch orientierte Musiktherapie oft als basale| therapeutische Maßnahme indiziert sein. Die Indikationsbereiche sind all die Krankheits- und Stçrungsbilder, die mit einer Stçrung der zwischenmenschlichen Beziehungsfhigkeit einhergehen und deren Ursprung in der pr- und postnatalen Zeit bis zum Spracherwerb angenommen werden. Das methodische Vorgehen| ergibt sich aus diesen Defiziten und Stçrungen. Die entsprechenden musiktherapeutischen Interventionen, die vor allem bei tiefgreifend entwicklungsgestçrten Kindern, speziell bei Autismus, sinnvoll sind, gehen von einer noch nicht entwickelten Dialogfhigkeit aus. Das Unvermçgen der Fhigkeiten mit- und nachzumachen, nicht »mitschwingen« zu kçnnen im Sinne der Inter-Affektivitt, wird bercksichtigt. Statt der Aufforderungen wie: »Schau her, mach mit, mach nach, spiel mit«, wird das Medium »Elementare Musik« gepaart mit einer stimmigen therapeutischen Grundhaltung angeboten. Interventionen, die Musik als »einhllendes«, Atmosphre schaffendes, die Wahrnehmungsbereiche integrierendes und affektabstimmendes Medium verwenden, gehen ganz vom Befinden des Kindes aus und kçnnen ohne das dialogische Prinzip wirksam werden (Schumacher u. Calvet 2005). Das Aufgreifen der meist durch Ausdrucksnot angestauten Affektstrme, auto- und fremdaggressives Verhalten werden auf der Basis des Verstehens der oft schon chronifizierten Konflikte mit dem sozialen Umfeld durch Affektabstimmung und Affektgestaltung in Verbindung mit Kçrperarbeit, durch entsprechende Situationslieder und bei Sprachverstndnis und Sprachvermçgen auch durch ein verbales Angebot behandelt. Erst wenn die Affekte so weit reguliert sind, dass sich das Kind auf etwas, zum Beispiel auf
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seine eigenen ußerungen, konzentrieren kann, sind Selbstwirksamkeit und Urheberschaft das Ziel musiktherapeutischer Interventionen. Das sttzende und spiegelnde Aufnehmen jeglicher ußerung, das Einbinden in Spielformen soll dieses Auftauchen des »subjektiven Selbst« ermçglichen und »Selbstbewusstsein« schaffen. Die »aktive Inaktivitt« des Therapeuten ist eine wichtige Grundhaltung und lçst die »einhllende« und »mitfhlende« ab. Erst wenn das Kind sich selbst als Urheber seines Handelns wahrnimmt, wird es den Therapeuten in seine Wahrnehmung einschließen und ihn schließlich als ein »Gegenber« empfinden. Erst jetzt beginnen Interventionen, dialogischen Charakter anzunehmen. Erst jetzt ist es sinnvoll, zum gemeinsamen Spiel aufzufordern. Die Fhigkeit des Mit- oder Nachmachens ist erst auf dieser Entwicklungsstufe zu erwarten. Ziel| einer entwicklungspsychologisch orientierten Musiktherapie ist das Erleben, Aushalten-Kçnnen und schließlich »Genießen« zwischenmenschlicher Beziehung, die auf emotionalen Fhigkeiten beruht. Folgt man dem Sternschen Selbstkonzept, so zielt eine musiktherapeutische Behandlung auf die Entwicklung des Empfindens eines »auftauchenden, eines Kern- und eines subjektiven Selbst«. Erst wenn die fr jedes dieser Stadien typischen Merkmale in Erscheinung getreten sind, kann eine »zwischenmenschliche Beziehungsfhigkeit« entwickelt werden (Stern 1989; Schumacher u. Calvet 2005). In der Sprache der Suglingsforschung werden diese emotionalen Fhigkeiten mit Begriffen wie Austausch von »Vitalittsaffekten«, »Selbst-Affektivitt« und »Inter-Affektivitt« beschrieben (Stern 1989; Schumacher 1999, 2004). Die wichtigsten Erfahrungen, die diese Fhigkeiten mit sich bringen und entwickeln helfen, sind ein »koordiniertes Reizklima«, das die Wahrnehmungsstçrungen bercksichtigt, »Affektabstimmung« und »Affektregulierung«, die im musikalischen Geschehen besonders sinnlich, das heißt hçr- und sprbar werden. Die Entwicklung eines »Selbstgefhls« als Basis fr ein dialogisches Lernen wird sich durch die wiederholte Erfahrung von Urheberschaft und Selbstwirksamkeit einstellen. Merkmale wie sie Tronick fr eine gute Mutter-Kind-Beziehung nennt, werden in Erscheinung treten: Kohrenz, Synchronizitt und Reziprozitt (Tronick 1989). Das
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folgende Kapitel fokussiert das Thema »Synchronisation« (synonym Synchronizitt) zunchst aus entwicklungspsychologischer Sicht.
Zum Phnomen »Synchronisation« »Sie versuchten, dieselbe Note zu spielen, mit derselben Dynamik, mit demselben Bogenstrich, Klang und Ausdruck [.|.|.], nachdem sie einmal diese Note gemeinsam zustande gebracht hatten, sahen sie einander schon mit anderen Augen. Schließlich hatten sie zusammen eine Erfahrung gemacht. Und das war es, was bei dieser Begegnung wirklich zhlte« (Barenboim in: Guzelimian 2004, S.|27). Daniel Barenboim hatte junge Musiker aus arabischen Lndern und aus Israel nach Weimar eingeladen, um zu musizieren und zu diskutieren und auf diese Weise einen Beitrag zur gegenseitigen Annherung und Verstndigung zu leisten.
Das Phnomen »Synchronisation« faszinierte uns bei der Analyse von videographierten Langzeittherapien, da es sich offensichtlich um sogenannte »relevante Momente« der Therapie handelte. Musiktherapeuten hatten sich schon mit diesem Phnomen befasst und haben es auf unterschiedliche Weise aus psychologischer und physiologischer Sicht beschrieben und untersucht (Neugebauer 1998; Gindl 2002). Die Musiktherapeutin Gisela Lenz, die sich mit der Forschergruppe um Daniel Stern auseinandersetzte, machte uns erneut auf die Verbindung zwischen den Phnomenen der »relevanten und synchronen Momente« aufmerksam (Lenz u. von Moreau 2003). Seit 2001 verfolgen wir diese Momente systematisch bei fnf Langzeittherapien und stellen die Ergebnisse hier aus musiktherapeutischer und entwicklungspsychologischer Sicht dar. Wir gingen folgenden Fragen nach: Welche Arten von Synchronisationen gibt es, wodurch stellen sich diese relevanten Momente ein (Interventionen), welche Auswirkungen haben sie auf die Entwicklung und wie kçnnen sie nachgewiesen werden? Vor Erçrterung dieser Fragen werden einige grundstzliche entwicklungspsychologische Erkenntnisse zusammengefasst und wichtige Begriffe erlutert.
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Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie und Bindungstheorie Anfang der sechziger Jahre interessierte sich die Entwicklungspsychologie zunchst fr die zeitliche und kçrperliche Dimension des Phnomens der Synchronisation. Condon beobachtete schon 1963, dass Suglinge und ihre Mtter gleich nach der Geburt synchrone Erfahrungen machen. Die Bewegung des Suglings koordiniert sich mit der Stimme der Mutter. Man vermutete, dass diese Fhigkeit bereits im Uterus (Condon u. Sander 1974) in Erscheinung tritt. Dieses Phnomen wurde auch bei Erwachsenen beobachtet. Whrend sie interagieren, zeigen sie immer wieder fr eine Synchronisation typische Zeichen: Wenn eine Person spricht und die andere zuhçrt, synchronisieren sich ihre Bewegungen. Condon (1980) spricht sogar von tnzerischen Bewegungen. Zuhçren und Sprechen schaffen ein beide Gesprchspartner verbindendes Kontinuum. Gegenseitiges Beobachten und Reagieren folgen einander innerhalb von fnfzig Millisekunden (Condon 1980). Auch die Kçrperhaltungen der interagierenden Personen weisen synchrone Momente auf. Fehlen diese Momente ganz, so spricht dies fr eine nicht wirklich gute Interaktion, fr ein nicht wirklich im KontaktSein mit dem anderen. Lewis und Rosenblum (1977) beschreiben die schon mit drei Monaten nachweisbare zeitliche bereinstimmung der vokalen ußerungen zwischen Sugling und Mutter. Bereits 1974 beobachteten Stern et al. diese synchrone Vokalisation (sog. »coactions«), die typischerweise mit positiven Erregungen verbunden ist. Diese gleichzeitig auftretenden Vokalisationen sind von abwechselnden stimmlichen ußerungen im Sinne eines Frage-Antwortspiels (»turn-taking«) zu unterscheiden. Rosenthal beschreibt 1980 Vokalisationen des Suglings, die sich an die der Mutter anschließen (»join-in«). Interessant ist, dass die Hufigkeit der synchronen Vokalisationen mit vier Monaten viermal so hoch ist wie die der abwechselnden Vokalisationen. Erst mit der Fhigkeit der InterAttentionalitt verringert sich das Auftreten synchroner Momente, und ein Zunehmen des Frage-Antwort-Stils ist nachzuweisen. Ende der siebziger Jahre interessierte sich die Entwicklungspsy-
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chologie verstrkt fr den Zusammenhang zwischen Interaktionsweise von Mutter-Kind-Paaren und der Bindungsqualitt, die sich whrend des ersten Lebensjahres durch die tagtglichen Erfahrungen des Kleinkindes mit seiner Hauptbezugsperson etabliert. Erste Antwort gab die Bindungstheorie von Bowlby (1958) und Ainsworth (1969). Die Qualitt der Bindung mit ihren zwei Hauptgruppen von sicherer und unsicherer Qualitt im Alter von zwçlf Monaten ließ sich auf Grund der Feinfhligkeit (Ainsworth et al. 1974) der Bezugsperson in der Interaktion voraussagen. Dabei hat Feinfhligkeit, definiert durch die Wahrnehmung und richtige Interpretation sowie das prompte und angemessene Reagieren auf die Signale des Kindes (Ainsworth in: Grossmann 1977), positive Interaktionserfahrungen zur Folge. Ist dieser Zustand gegeben, treten synchrone Momente auf. Isabella und Belsky (1991) untersuchten die Entwicklung dieses Phnomens bei sicher und unsicher gebundenen Kindern. Sie fanden eine große Hufigkeit synchroner Momente|, besonders bei Kindern im Alter zwischen drei und vier Monaten. Die Interaktion ist bei sicher gebundenen Kindern bereits in diesem frhen Alter gut organisiert und gewinnt durch die Erfahrung synchroner Momente an Voraussagbarkeit. Zahlreiche Forscher besttigen, dass diese synchronen Momente fr die Entwicklung einer sicheren Bindung typisch sind. Asynchrone Sequenzen| traten hufig bei unsicher gebundenen Mutter-Kind-Paaren auf, die nie die Erfahrung synchronen Austausches im ersten Lebensjahr machen konnten. Diese Kinder machten hufiger die Erfahrung, dass ihre Bezugsperson nicht prompt und angemessen auf ihre Signale reagierte, oder sie nahmen auf Grund einer Behinderung die Signale der Bezugspersonen nicht wahr. Die Bezugspersonen waren in die Interaktion nicht wirklich involviert, und wenn sie es waren, unterbrachen sie hufig die Aktivitt ihrer Kinder oder berstimulierten sie. Kempton (1980) hatte schon das Scheitern der Synchronisation bei erwachsenen Gesprchspartnern beobachtet, die sich nicht akzeptierten. Wenn Unstimmigkeiten auftraten, entwickelte sich keine erfolgreiche Interaktion, Synchronisation trat nicht in Erscheinung. Am auffallendsten war die visuelle Vermeidung der Interagierenden. Bei einer »verzerrten Synchronisation«| sind die zeitlichen Struk-
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turen im Kçrper oder zwischen zwei interagierenden Personen minimal versetzt. Condon (1980) beobachtete dies bei einer Reihe von Verhaltensaufflligkeiten bei Kindern wie zum Beispiel bei Autismus oder auch bei einer Legasthenie. Er betont den Zusammenhang von Synchronisation und dem Gefhl psychischer Nhe. Da das Erleben synchroner Momente immer mit dem Erleben psychischer Nhe verbunden ist, wird die Emotionalitt der beteiligten Personen verndert. Als Beispiel beschreibt er eine Familie mit Zwillingen. Eines der Mdchen wurde als schizophren diagnostiziert. Die Mutter bewegte sich auffllig hufig in synchroner Art mit dem gesunden Mdchen, war aber nicht in der Lage, diese Erfahrung dem kranken Mdchen anzubieten. Jeder Versuch des Mdchens, eine Synchronisation der Kçrperhaltung mit der Mutter herbeizufhren, wurde sofort von der Mutter unterbrochen. Condon beschreibt hier ein konsistentes Muster nonverbaler Ablehnung und betont, wie sehr die Erfahrung von Synchronisation die Entwicklung von Vertrauen oder Misstrauen beeinflussen und die Selbst-Identitt negativ beeinflussen kann.
Das Phnomen der Affektabstimmung Daniel Stern beschreibt 1989 in seinem Buch »Die Lebenserfahrung des Suglings« das Phnomen der Affektabstimmung, das eng mit dem Phnomen der Synchronisation verbunden ist. Unter »Affektabstimmung« versteht man die Fhigkeit, einen Gefhlszustand im anderen ablesen und bernehmen zu kçnnen. Ziel der Affektabstimmung ist, eine Verbindung seelischer Zustnde herzustellen und der Gemeinsamkeit inneren Erlebens Ausdruck zu verleihen. Folgt man der Definition von Synchronisation, die eine zeitliche bereinstimmung beschreibt, so meint Affektabstimmung eine darber hinausgehende gefhlsmßige, die sich vor allem in den Parametern Intensitt und Dynamik ablesen lsst. Wie Condon beschreibt, fhrt das zeitgleiche Handeln, Bewegen, Spielen zu einer gemeinsam erlebten »Stimmung«, einer Art »emotionalen Ansteckung«, die als psychische Nhe erlebt wird.
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Emotionale Entwicklung heißt demnach, dass diese Ansteckungsphnomene (Vitalittsaffekte bei gelungenem Blickkontakt), das heißt ein »Hineingleiten« in den Affekt des anderen, zu einem gegenseitigen affektiven Austausch fhren. Die angeborene Fhigkeit zum Blickkontakt ist eng mit der emotionalen Entwicklung verbunden. Nur bei adquater Stimulierung (s. Feinfhligkeit) wird der Sugling in der Lage sein, seine Blickkontakte selbststndig regulieren zu lernen und mit innerer Ruhe seine Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten. Nur dadurch werden positive Affekte ausgetauscht und synchrone Momente hufiger in Erscheinung treten. Das hufige Erleben positiver Affekte fhrt zu einem lngeren positiven emotionalen Austausch mit der Bezugsperson. Dies ist die Basis fr die von Stern beschriebene Entwicklung der angeborenen Fhigkeit zur affektiven Resonanz im Sinne der Vitalittsaffekte und Imitation zur Fhigkeit, die Aufmerksamkeit mit dem anderen zu teilen (Inter-Attentionalitt), sich rckzuversichern (soziale Rckversicherung), die zur Fhigkeit des Lesenlernens der Gefhle des anderen fhren. Die Fhigkeit zur Inter-Subjektivitt und Empathie sind die Folge. Eine Besttigung, wie wichtig das Erleben synchroner Momente ist, wird in den letzten Jahren durch die Hirnforschung erbracht (Bauer 2002; Hther 2004). D. Stern beschreibt in der 2000 berarbeiteten Version seines Buches: »The Interpersonal World of the Infant« zwei biologische Mechanismen, die gleich nach der Geburt aktiviert sind: »Adaptive Oszillatoren« und sogenannte »Spiegelneuronen« (Stern 2000). Sie sind nicht nur fr die Synchronisation von Bewegungen zwischen Menschen verantwortlich, sondern auch fr die Fhigkeit, die Emotionen eines anderen Menschen, die er whrend seiner Handlung wahrnimmt, mitzuempfinden.
Das Phnomen »Synchronisation« aus musiktherapeutischer Sicht Aus musiktherapeutischer Sicht handelt es sich bei einem »synchronen Moment« um ein »relevantes« Moment, da es auf dem Weg zu den oben genannten therapeutischen Zielen nicht nur ein
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klar auszumachendes und beschreibbares Phnomen ist, sondern mit einer emotional relevanten Vernderung einhergeht. In einer Langzeitstudie, einer Analyse des Therapieverlaufes von fnf Kindern ber den Zeitraum von zwei bis vier Jahren, konnten wir folgende Formen von Synchronisation ausmachen. Die Darstellung3 dieser unterschiedlichen Formen von Synchronisation wird im folgenden Kapitel durch praktische Beispiele veranschaulicht. Es werden zwei Arten von Synchronisation unterschieden: (1) Bei der Intra-(Selbst-)Synchronisation| sind die zeitlichen Strukturen im Kçrper einer Person aufeinander abgestimmt, das heißt Gesichtsausdruck (Mimik), Kçrper (Gliedmaßen, Rumpf) bewegen sich auf den Sekundenbruchteil in genauer bereinstimmung. Sobald ein sprachlicher Ausdruck hinzukommt, ist auch dieser mit den Bewegungen des Kçrpers koordiniert (Condon 1963). Das Empfinden des Kern-Selbst hngt von der Fhigkeit ab, den ganzen Kçrper und alle Kçrperbewegungen organisch verbinden zu kçnnen. Erst dieses Gefhl von »Selbstkohrenz« (Stern 2000) ermçglicht die Integration von Erleben und gilt als Basis einer Inter-Synchronisation. (2) Die Inter-(aktions-)Synchronisation| meint die genaue bereinstimmung der zeitlichen Strukturen zweier oder mehrerer Personen. Obwohl der Mensch potentiell die Fhigkeit zur Intra- und Inter-Synchronisation von Geburt an mitbringt, kçnnen – wie beim Autismus – diese Fhigkeiten nicht oder nur gestçrt in Erscheinung treten. Unser Anliegen ist daher, den Zusammenhang zwischen dieser bereinstimmung der zeitlichen Strukturen sowohl im Kçrper selbst als auch zwischen Therapeut und Kind zu analysieren. Besonders interessieren uns die durch diese zeitliche bereinstimmung entstehenden affektiven bereinstimmungen zweier Personen, wie sie gerade durch ein musikalisches Zusam-
3 Siehe auch den Lehrfilm: »Auf der Suche nach der gemeinsamen Zeit« von 2004, der ein Ergebnis des vom Karajan Centrum Wien gefçrderten Projektes ist.
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menspiel auftauchen kçnnen. In diesem Fall sprechen wir von einer »inter-affektiven Synchronisation«.
Synchronisationsformen Art: Intra-(oder Selbst-)Synchronisation und Inter-(aktions-)Synchronisation unterscheiden sich durch den Ort des Geschehens. Bei der Intra-Synchronisation steht das Empfinden des eigenen Kçrpers im Mittelpunkt, bei der Inter-Synchronisation das Erleben von bereinstimmung, die sich zwischen zwei oder mehreren Personen ereignet. Ausdrucksebene: Synchronisationen kçnnen durch verschiedene Ausdrucksmçglichkeiten in Erscheinung treten. Sie kçnnen sich im kçrperlichen, im instrumentalen und/oder vokalen Ausdrucksbereich ereignen. Dabei kçnnen sich bei der Inter-Synchronisation die unterschiedlichen Ausdrucksebenen treffen. Ort und Form: Es werden »modale« und »intermodale« Interventionen (»intermodale Verknpfung«) unterschieden, wodurch sich synchrone Momente auf der entsprechenden Ausdrucksebene ereignen werden. »Modal« meint, die Kçrperbewegung entspricht genau der Kçrperbewegung des anderen. Stimmliche sowie instrumentale ußerungen entsprechen genau den stimmlich-instrumentalen ußerungen des anderen. »Kreuz- oder auch intermodal« hingegen meint das genaue bereinstimmen einer kçrperlichen Bewegung mit einer stimmlichen oder/und instrumentalen ußerung und vice versa. Unterschieden wird, ob das Empfinden und Mitvollziehen fr eine gemeinsame Spielform (Phrasierung) nachzuweisen ist oder noch nicht (s. fehlender Einschwingungsvorgang). »Mentale« bereinstimmungen meint denselben Einfall zweier Personen, der in einer zeitgleichen verbalen ußerung »passiert«. Dauer: Je nach Dauer des In-Erscheinung-Tretens einer Synchronisation unterscheiden wir eine sogenannte »diskrete« und eine
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»offensichtliche« Synchronisation. Die sich diskret ereignende Synchronisation tritt wie eine zufllige Begleiterscheinung zutage. Sie entsteht unwillentlich und gelangt wohl kaum ins Bewusstsein. Eine offensichtliche Synchronisation jedoch ist gut beobachtbar, da sie von lngerer Dauer ist und eine sichtbare emotionale Vernderung nach sich zieht. Dies verweist auf ein gewisses Gewahrwerden dieses Phnomens. Intention: Synchrone Momente kçnnen durch einseitigen oder durch gegenseitigen Wunsch nach Abstimmung zustande kommen. Sie werden verursacht durch eine Intention des Kindes, das einem inneren Bedrfnis folgt, oder durch den Therapeuten, der durch entsprechende Interventionen hilft, ein synchrones Moment herbeizufhren. Musik als Medium: Die hier geschilderten synchronen Momente haben sich whrend improvisierter, das heißt einer aus dem Stegreif erfundenen Musik ereignet. Synchronisation kann sich aber auch beim Tanzen, zum Beispiel nach einer gemeinsam gehçrten Musik oder beim Reproduzieren von Musik ereignen. Klassische Musiker erleben synchrone Momente beim Interpretieren vorgegebener, also notierter Werke. Diese Momente werden »relevant«, meist sogar als »besonders schçn« und befriedigend empfunden.
»Auf der Suche nach der gemeinsamen Zeit« In den folgenden Szenen werden Therapieausschnitte mit achtbis zehnjhrigen Kindern dargestellt, deren Diagnose »tiefgreifende Entwicklungsstçrung«, speziell unterschiedlich ausgeprgte Formen von Autismus, lautet. Es werden Sequenzen beschrieben, in denen die oben angefhrten unterschiedlichen Formen von Synchronisation deutlich werden. Diese Szenen zeigen, wie durch bestimmte Interventionen synchrone Momente in Erscheinung treten. Folgende wesentliche frhkindliche Erfahrungen kçnnen durch dieses Erleben nachgeholt werden:
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das Erleben von Affektabstimmung, das Koordinieren und Integrieren von Sinneseindrcken, das Gewahrwerden des eigenen Kçrpers, das Erleben von Selbstwirksamkeit und Urheberschaft, das Erleben von Gemeinsamkeit im Sinne der Interessen und Wnsche und – das Erleben gemeinsamer Freude. Die Wahrnehmung von Rhythmus, Intensitt und Form gilt als angeboren (Stern 1989). Die Aufnahme- und Differenzierungsmçglichkeit dieser musikalischen Parameter sind die Voraussetzung, um synchrone Momente empfinden zu kçnnen. Auch solche basalen Fhigkeiten kçnnten bei Kindern mit Autismus gestçrt sein. Die Erfahrung zeigt aber, dass die Empfindungsfhigkeit meist doch so weit ausgebildet ist, dass durch spezifische musiktherapeutische Interventionen dem Kind das Erleben synchroner Momente mçglich ist. Um auf die »verloren gegangene« Selbstentwicklung im ersten Lebensjahr hinzuweisen, haben wir die Szenen als »Suche nach der gemeinsamen Zeit« berschrieben, entsprechend Marcel Prousts Romantitel »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«. Auch die Suche nach gemeinsamer Empfindung, speziell auch Kçrperempfindung, nach gemeinsam gesungenen Tçnen, gemeinsam gespielten Rhythmen und instrumental hervorgebrachten Tçnen sowie gemeinsamen mentalen Zustnden, die sich durch die Videographie nicht abbilden lassen, wird veranschaulicht. Ein gemeinsames »synchron« in Erscheinung tretendes Interesse lsst sich jedoch durch die Kçrpersprache ablesen und wird in der Musik schließlich hçrbar. Das Suchen und noch nicht Finden synchroner Momente wird durch das Fehlen eines Einschwingungsvorganges deutlich, der beim gemeinsamen Musizieren durch das Spren eines gemeinsamen Pulses und durch unwillkrliches gemeinsames Atmen erleichtert wird. Kennt ein Kind diese Erfahrung nicht, wird das synchrone Moment nur durch einen besonderen Zufall entstehen. Synchrone Momente lassen sich nicht erzwingen oder ben, aber sie werden durch bestimmte musiktherapeutische Interventionen eher in Erscheinung treten. Ziel ist, durch das Erle-
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ben und Aushalten synchroner Momente in die intersubjektive Welt und das Entwickeln zwischenmenschlicher Beziehungsfhigkeit hineinzufhren.
Noch keine Suche nach Synchronisation Entwicklungspsychologischer Aspekt: Das »auftauchende Selbst« mit seinen Merkmalen: amodale, kreuz- und transmodale Wahrnehmung, Blickkontakt und Imitation durch physiognomische Wahrnehmung sowie Vitalittsaffekte, die die Emotionen des Suglings zeigen, kann bei Kindern mit Autismus gestçrt bzw. nicht ungestçrt entwickelt sein. Die folgende Szene beschreibt die fehlende Intra-Synchronisation|, die das In-Erscheinung-Treten synchroner Momente und damit das Entstehen zwischenmenschlicher Beziehung erschwert und die vermutlich mit einem nicht Koordinieren-Kçnnen der unterschiedlichen Wahrnehmungsbereiche in Zusammenhang steht. Fritz, ein achtjhriger nicht sprechender Junge, zeigt die typischen Merkmale eines Kindes mit Autismus. Er nimmt keinerlei Notiz von der sich im Raum befindenden Therapeutin, er starrt aus dem Fenster, produziert ein eigenartiges, vermutlich in der Kehle erzeugtes Knarren und immer wiederkehrende Handbewegungen (eine Art vertikales Ineinander-Flattern und -Reiben der Hnde). All die ußerungen und Bewegungen sind zeitlich nicht aufeinander abgestimmt. Jede dieser ußerungen hat ihren eigenen Rhythmus. Ich whle meine Stimme, begleite mich auf dem Glockenspiel mit einem Ostinato und nehme auch seine Mundgerusche in die Musik auf. Da Fritz keine deutliche Reaktion zeigt, er beschleunigt nur etwas seine stereotypen Handbewegungen, ziehe ich mich zurck. Ich improvisiere eine Musik, die das Kind nicht weiter ins Zentrum stellt, sondern den Raum atmosphrisch verndert.
Intervention: Diese von Fritz entwickelte Stereotypie zeigt eine fehlende Intra-Synchronisation und die damit verbundene Unfhigkeit, Kontakt aufzunehmen. Dies bedeutet zwischenmenschliche Isolation. Wie immer, wenn der Patient keine Kontaktangebote macht oder annimmt, kann der Therapeut seine Gegenbertragungsempfindungen musikalisch umsetzen. Gefhle von Verlorensein und Haltsuche prgen die Stimmung dieser Improvi-
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sation und spiegeln die durch das Kind ausgelçste Atmosphre wider (vgl. Schumacher 2005). Auswirkung: Auch wenn Fritz keine erkennbaren Zeichen setzt, ist es mçglich, dass er diese sein Verhalten akzeptierende Grundhaltung der Therapeutin und seine fr ihn gespielte Musik sehr wohl hçrt. Entscheidend fr eine positive Weiterentwicklung ist, dass das Kind sprt, dass es keine Erwartungen erfllen muss, kein Erwartungsdruck auf ihm lastet. Synchrone Momente lassen sich nicht erzwingen oder »herstellen«. Sie kçnnen sich nur ereignen. Der Therapeut kann aber durch seine Intervention (»einhllen«) den potentiellen Boden fr synchrone Momente bereiten.
Diskrete Synchronisation Entwicklungspsychologischer Aspekt: Das Fehlen von Bezogenheit lçst je nach Grundstimmung Apathie, Unruhe oder Hyperaktivitt aus. Bei Kindern mit Autismus wird diese Unbezogenheit und vermutliche Leere meist durch Stereotypien »gefllt«. Norbert streunt unruhig im Raum umher. Ich versuche, den Rhythmus seiner Gangart zu erfassen und auf dem Xylophon hçrbar zu machen. Plçtzlich dreht er sich um, und ich begleite zeitgleich diese Drehung mit einem Glissando. Er hlt kurz inne und wischt mit einem Blick ber mich hinweg, als wolle er sagen: »Na, was war denn das?«, und geht wieder seiner Wege, als wre nichts geschehen.
Intervention: Das Hçrbarmachen von Bewegung ist eine schwierige Intervention, da die Bewegungen oft unkoordiniert, unrhythmisch und schwer vorausschaubar sind. Wichtig ist, dass Intensitt und Rhythmus bereinstimmen. Auswirkung: So »diskret« dieses Moment auch ist, es ist sicher nicht »wertlos«, denn als Therapeutin habe ich das eindeutige Gefhl, das Kind »berhrt« und damit erreicht zu haben, auch wenn keine offensichtliche Reaktion erfolgt. Interventionen, die auf syn-
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chrone Momente abzielen, sollten anfangs nicht zu hufig angeboten werden. Merkmale: Ausdrucksebene: Ort und Form: Dauer: Intention:
Kçrper – Instrument intermodal ohne Phrasierungsempfinden diskret einseitig (vom T)
Synchronisation und Stereotypie Entwicklungspsychologischer Aspekt: Das sogenannte »KernSelbst« mit seinen Merkmalen Urheberschaft (Selbstwirksamkeit), Selbstkohrenz, Selbst-Affektivitt und Selbst-Geschichtlichkeit ist bei Kindern mit Autismus nicht ungestçrt entwickelt. Es mangelt dem Kind an der Fhigkeit, den eigenen Kçrper als Zentrum seines Willens, als Ausgangspunkt seines Handelns wahrzunehmen und die eigenen Gefhle und sein Empfinden zu erleben. Diese Fhigkeit zur Wahrnehmung der eigenen Person und der eigenen Geschichte muss ausgebildet werden. Stereotypes Verhalten ist der Versuch, das fehlende Kçrperempfinden und die fehlende Kçrperkohrenz kompensatorisch zu ersetzen. Florian, ein nicht sprachfhiger achtjhriger Junge, sucht keinen Blickkontakt. Eine Schnur stereotyp hantierend, schaukelt er am Boden sitzend immer wieder vorund rckwrts. Gelegentlich stçßt er hohe Tçne dabei aus. Ich setze mich hinter ihn, bewege mich mit und versuche, seinen stimmlichen ußerungen einen stimmlichen Rahmen zu geben. Ich vollziehe seine Tçne mit und gestalte sie. Florian bemerkt und akzeptiert die gemeinsame Bewegung, und es entsteht eine gemeinsame Schaukelbewegung. Seine stimmlichen ußerungen bekommen dieselbe zeitliche Struktur, er atmet im selben Rhythmus. Diese kçrperliche und stimmliche bereinstimmung dauert minutenlang an und enthlt immer wieder synchrone Momente.
Intervention: Das Mitvollziehen der stereotypen Schaukelbewegung beinhaltet eine genaue bereinstimmung in Rhythmus und Intensitt. Die stimmliche Intervention bercksichtigt Tonhçhe
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und Intensitt im Ausdruck und Timbre der kindlichen ußerung. Synchrone Momente treten in diesem minutenlangen Geschehen immer wieder in Erscheinung, zeigen sich in derselben zeitgleich ausgefhrten Bewegung und dem Singen desselben Tones in gleicher Tonhçhe, Intensitt und Ausdruck. Gleichzeitigkeit entsteht und Phasengleichheit bahnt sich durch das gestaltende Angebot der Therapeutin an. Auswirkung: Florian lsst diese Interventionen der Therapeutin nicht nur zu, sondern vollzieht sie minutenlang mit. Er gibt aber der Therapeutin noch kein Zeichen, das fr das Vorhandensein der intersubjektiven Entwicklung spricht. Er zeigt noch keinen rckversichernden Blick und der Einschwingungsvorgang, wie gemeinsames Einatmen oder ein Bewegungszeichen vor Beginn der neuen Phase, fehlt. Die synchronen Momente sind in seine stereotype Handlung integriert. Merkmale: Art: Ausdurcksebene: Ort und Form: Dauer: Intention:
Intra- und Inter-Synchronisation Kçrper – Stimme modal, sich anbahnendes Phrasierungsempfinden offensichtlich einseitig (vom T)
Synchronisation und das Auftauchen des anderen Entwicklungspsychologischer Aspekt: Die Verknpfung der unterschiedlichen Wahrnehmungsbereiche gilt als Basis fr die Entwicklung von Inter-Subjektivitt. Eine motorische Stereotypie scheint die fehlende Intra-Synchronisation| herstellen zu helfen. Gelingt es dem Kind, die unterschiedlichen Wahrnehmungsbereiche zu integrieren, entsteht eine Ordnung, die die Wahrnehmung der Umwelt ermçglicht. Das Kind sucht nach der Quelle der zu hçrenden Musik und entdeckt dabei die Therapeutin. Oft ist ein erster Blickaustausch die Folge.
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Florian hpft gerne und exzessiv auf dem Trampolin. Die Therapeutin nimmt seinen Bewegungsrhythmus genau auf und bindet ihn in ein improvisiertes Musikstck ein. Immer wieder vollzieht sie seine unregelmßigen Pausen und Bewegungsimpulse mit. Plçtzlich stimmt sein Hinfallen auf das Trampolin mit dem Klavierakkord exakt berein. Florian macht darauf eine Pause und hçrt der Musik zu. Ein direkter Blick zur Kameraperson und zu mir ist die Folge.
Intervention: Das Kind stimuliert sich selbst und aktiviert durch das Hpfen seine propriozeptive Wahrnehmung. Diese wird durch die musikalische Begleitung mit dem akustischen System verknpft. Auch hier mssen Rhythmus, Intensitt und Phrasierung genau mit den Bewegungen des Kindes bereinstimmen, wodurch synchrone Momente entstehen kçnnen. Auswirkung: Florian nimmt dieses »koordinierte Reizklima« an und sprt die Verbindung, die zu ihm hergestellt wird. Sein Blick zur Therapeutin am Ende hat die Qualitt einer sozialen Rckversicherung, womit ein typisches Merkmal fr eine beginnende Inter-Subjektivitt nachzuweisen ist. Merkmale: Art: Ausdrucksebene: Ort und Form: Dauer: Intention:
Intra- und Inter-Synchronisation Kçrper – Instrument kreuzmodal, Phrasierungsempfinden durch Pause offensichtlich einseitig (vom T)
Die erschwerte Suche nach Synchronisation. Zum Problem des fehlenden Einschwingungsvorgangs als Zeichen einer noch nicht entwickelten Inter-Subjektivitt Entwicklungspsychologischer Aspekt: Zur Entwicklung eines »intersubjektiven Selbst« ist das Gewahrwerden der Trennung von Ich und Du eine wichtige Voraussetzung. Das Bedrfnis nach Beziehung fhrt zur »Verwendung« der Bezugsperson fr eigene Bedrfnisse, durch zunehmenden Blickkontakt wchst das Interesse
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an der »anderen« Person. Erst nach und nach tritt diese als eigenstndiges und vom Selbst getrenntes Wesen in Erscheinung. Auf diesem Weg wird das Bedrfnis nach Wiederholung besonders deutlich. Tanja, ein neunjhriges Mdchen mit starken Autoaggressionen und ohne Sprachfhigkeit, entwickelte durch oft erlebte Affektabstimmung das Bedrfnis nach synchronen Momenten. Obwohl sie mich genau beobachtet, kann sie mich noch nicht in ihre plçtzlich geußerten stimmlichen ußerungen einbeziehen. Entsprechende Vorzeichen wie Blick, Geste oder gemeinsames Einatmen fehlen. Dadurch gelingen die synchronen Momente noch nicht ganz, und ich hinke immer etwas hinterher. Tanja entdeckt trotzdem mit Freude die Gemeinsamkeit. Sie initiiert mit Blick, Gestik und Stimme, aber ohne Vorbereitung, das heißt fr mich nicht genau vorhersehbar, den Kontakt. Sie kann eine von mir immer wieder versuchte Schlussfindung noch nicht mitvollziehen. Plçtzlich, durch mein schnelles Reagieren, wird jedoch trotzdem ein synchroner Moment mçglich. Freude, ein Blick zur Kameraperson und ein erstaunter Blickkontakt zu mir sind die Folge.
Intervention: Die ohne Einatmung, das heißt ohne Einschwingungsvorgang hervorgebrachten stimmlichen ußerungen werden von der Therapeutin mit demselben Timbre, Ausdruck und in gleicher Intensitt aufgenommen und gestaltet. Auch wenn das Kind eine Phrasierung noch nicht mitvollzieht, ist es wichtig, diesen musikalischen Austausch zu gestalten. Auswirkung: Die unbewusste Suche nach synchronen Momenten wird durch den Drang nach Wiederholung deutlich. Die Freude nach einer geglckten Synchronisation ist der Beweis fr die emotional positive Vernderung als Folge. Merkmale: Art: Ausdrucksebene: Ort und Form: Dauer: Intention:
Intra- und Inter-Synchronisation Stimme – Stimme modal, kein Mitvollziehen der Phrasierung offensichtlich gegenseitig
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Das offensichtliche Interesse an Synchronisation. Das InErscheinung-Treten des Einschwingungsvorgangs als Zeichen fr eine entwickelte Inter-Subjektivitt Entwicklungspsychologischer Aspekt: Kinder, die autistische Verhaltensweisen durch Hospitalismusschden entwickelt haben, sind durch ein stabiles Beziehungsangebot eher bereit, sich doch wieder auf eine zwischenmenschliche Beziehung einzulassen. Das Angebot eines musikalischen Ausdrucks bietet die Mçglichkeit, die fehlende Affektabstimmung und damit affektive Regulationserfahrung zu erleben. Das dringende Bedrfnis, diese Erfahrung nachzuholen, wird durch das Wiederholen-Wollen solcher gemeinsamen Schrei- oder Singphasen deutlich. Marian, ein achtjhriger Junge mit Sprachverzçgerung und großer Ausdrucksnot, versucht auch mit seiner Stimme, die Erfahrung synchroner Momente herbeizufhren. Durch einen direkten Blickkontakt und ein eindeutiges Einschwingungszeichen kçnnen eine bereinstimmung und das Gefhl von Gemeinsamkeit entstehen. Am Ende der Szene wiederholt er das einschwingende Einatmen und beobachtet genau, ob ich ihm folge. Auch ber eine grçßere kçrperliche Distanz hinweg gelingen synchrone Momente, die nun gestisch verknpft und gestaltet werden. Tonhçhe, Intensitt und Form werden genau aufeinander abgestimmt. Marians sonst nur kontrollierender Blick bekommt einen interessierten Ausdruck, und er beginnt zu imitieren. Ein anhaltender zwischenmenschlicher Kontakt entsteht.
Intervention: Da das Kind eindeutige Einschwingungszeichen gibt, entstehen offensichtliche stimmliche Synchronisationen. Die Aufgabe des Therapeuten ist hier, sich ganz auf die Initiative und Wnsche des Kindes einzulassen und sich so zu verhalten und so zu musizieren, dass es als Urheber seiner ußerungen und Phrasierungsvorschlge hervortritt. Auswirkung: Die bewusste Suche nach synchronen Momenten wird nicht nur durch den Drang nach Wiederholung deutlich, sondern die Frage nach der eigenen Existenz steht im Mittelpunkt. Das Kind exploriert hier die Therapeutin, ob sie auch wirklich seinen Impulsen folgt. Es will wissen, ob es der Urheber der stimmlichen ußerung ist und ob es als Person wahrgenommen wird.
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Merkmale: Art: Ausdrucksebene: Ort und Form: Dauer: Intention:
Intra- und Inter-Synchronisation Stimme – Stimme modal mit Phrasierung offensichtlich einseitig (vom K ausgehend)
Die gelungene Synchronisation Entwicklungspsychologischer Aspekt: Die Koordination propriozeptiver und akustischer Wahrnehmungsbereiche fhrt zum Erleben intrasynchroner Momente. Diese erçffnen die Mçglichkeit, die Außenwelt und damit den »anderen«, hier die Therapeutin, wahrzunehmen. Trifft diese sowohl den Rhythmus als auch den dahinterliegenden Affekt, untersttzt sie das Kind, bei sich selbst die Verbindung von Affekt und Handlung wahrzunehmen. Wird seine Handlung von mir im Text meines Liedes verbal beschrieben und interpretiert, werden Gefhle des gegenseitigen »Verstehens« mçglich. Das »narrative Selbst«, das Stern erst spter seinem Selbstkonzept hinzufgte und das sich in der Zeit nach dem Spracherwerb entwickelt, wird hier durch das Geschichtenerzhlen gefçrdert. Da das Sprachverstndnis vor der eigenen Sprachfhigkeit entwickelt ist, kann auf mentaler Ebene ein Verstehen stattfinden. Florians auffallend unkoordinierte Kopf- und Handbewegungen stimmen nicht berein (gestçrte Intra-Synchronisation), lçsen bei mir eine sprbare Ambivalenz, in Kontakt zu treten, aus. Seine Hnde sagen »Ja«, er schlgt mit den Schlgeln auf eine Holzstange, sein Kopf sagt »Nein«, indem er ihn entsprechend hin- und herbewegt. Der Rhythmus seiner Handbewegungen wird von mir genau aufgenommen, whrend im Text des zu diesem Rhythmus erfundenen Liedes diese fr mich deutlich sprbare »Ambivalenz« angesprochen wird. Florian reagiert auf die im Zusammenspiel entstehenden synchronen Momente, indem er sein Spiel zunchst abrupt beendet. Nach einer kurzen Pause initiiert er aber ganz bewusst erneut das Zusammenspiel, das nun lngerfristig andauert. Er reagiert mit immer lnger werdenden Blicken in meine Richtung, mit einem verschmitzten Lcheln und Freudevokalisationen. Ein deutlich sichtbarer Einschwingungsvorgang ergibt einen klaren gemeinsamen Anfang fr ein gemeinsames abschließendes Spiel.
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Intervention: Die Kombination »intermodale Verknpfung« (Florian spielt, die Therapeutin singt) und das improvisierte Besingen und Interpretieren seiner Handlung im Sinne eines »Situationsliedes« bieten hier auf mehreren Ebenen bereinstimmungen. Synchrone Momente entstehen im Schlagen desselben Rhythmus und der bereinstimmenden Rhythmik des Liedes, dessen Inhalt aber vermutlich verstanden wird. Diese »zweistimmige« Intervention birgt zwei Ebenen, die musikalisch-sensorische und die mentale bereinstimmung, in sich. Auswirkung: Das anfngliche Abbrechen und dann Wieder-Initiieren des Zusammenspiels zeigt, dass die psychische Nhe hier nicht nur ausgehalten, sondern bewusst wieder aufgesucht wird. Die positive emotionale Vernderung wird sowohl mimisch als auch durch vermehrte Freudevokalisationen deutlich. Merkmale: Art: Ausdrucksebene: Ort und Form: Dauer: Intention:
Inter-, dann Intra-Synchronisation Instrument/Handlung – Stimme mit instrumentaler Begleitung intermodal mit Phrasierung offensichtlich gegenseitig (sowohl vom T als vom K ausgehend)
Forschung: Das »EBQ-Instrument« zur Einschtzung der Beziehungsqualitt Auf der Suche nach einem Wirkungsnachweis der musiktherapeutischen Arbeit wurden zunchst Therapiemomente, die einen »Quantensprung« in der Entwicklung zeigten, untersucht. Im Laufe von zehn Jahren entstand daraus ein Beobachtungs- und Einschtzungsinstrument, das sogenannte »EBQ-Instrument«, das der Einschtzung der Beziehungsqualitt dient. Dieses Instrument wurde einer Reliabilittsprfung unterzogen, und es wird zur Zeit geprft, in welchen weiteren Anwendungsbereichen der Musiktherapie es eingesetzt werden kann.
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Dieses Instrument besteht aus vier Skalen. Jede Skala unterscheidet sieben bis acht Beziehungsqualitten, auch »Modi« genannt, die durch genaue Merkmale unterschieden werden. In dem Buch »Indikation der Musiktherapie bei Kindern und Jugendlichen« (Frohne-Hagemann u. Pleß-Adamczyk 2005) werden diese Beziehungsqualitten als »Kontakt-Modi« bezeichnet. Jeder »Modus« entspricht einem bestimmten Entwicklungsstand und kann daher auch zu diagnostischen Zwecken verwendet werden. Jede der vier Skalen fokussiert einen bestimmten Aspekt des Ausdrucks- und Beziehungsgeschehens. Zunchst wurde der Umgang mit Musikinstrumenten und damit der instrumentale Ausdruck fokussiert (Schumacher 1999, 2004). Er unterschied sich gut von anderen Ausdrucksphnomenen, machte aber vor allem die gerade bei Kindern mit Autismus gestçrte Beziehung zu Gegenstnden und hiermit auch zu Musikinstrumenten deutlich. Danach untersuchten wir die Stimme und all die vorsprachlichen ußerungen in ihren Beziehungsqualitten (Schumacher u. Calvet-Kruppa 1999). Kinder, die weder instrumentale noch stimmliche ußerungen zeigten, fhrten uns mehr und mehr zum Kçrper und den dort ablesbaren emotionalen Ausdrucksphnomenen (Schumacher u. Calvet-Kruppa 2001). Die Tatsache, dass das InErscheinung-Treten einer Beziehungsqualitt von der Intervention des Therapeuten abhngen kann, fhrte zur Fokussierung auf den Therapeuten und seine Interventionstechniken (Schumacher u. Calvet 2005). Jede dieser Skalen folgt derselben entwicklungspsychologischen Ordnung und hebt die wesentlichen Merkmale jeder Entwicklungsstufe und der damit verbundenen Beziehungsqualitt hervor. Whrend der Arbeit an diesem Einschtzungsinstrument fielen uns immer wieder »besondere« Momente auf, die die Entwicklung auffallend positiv beeinflussten. Die acht »Modi« entsprechen der Selbstentwicklung im ersten Lebensjahr, treten aber im therapeutischen Kontext nicht unbedingt in chronologischer Reihenfolge in Erscheinung. – Modus 0: (scheinbare) Kontaktlosigkeit, Kontaktabwehr; – Modus 1: Kontakt-Reaktion; – Modus 2: funktional-sensorischer Kontakt;
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Modus 3: Kontakt zu sich, Selbstempfinden, Selbsterleben; Modus 4: Kontakt zum anderen (Inter-Subjektivitt); Modus 5: Beziehung zum anderen (Inter-Aktivitt); Modus 6: Begegnung (Inter-Affektivitt); Modus 7: Verbalisieren/Reflektieren.
Wendet man dieses Instrument zur Analyse der hier dargestellten Szenen aus der Praxis an, kann Folgendes beobachtet werden: Das Erlebnis eines synchronen Momentes lçst Affekte aus, die reguliert werden mssen. Dazu braucht das Kind einen anderen Menschen, der diese vernderte Gefhlswelt mit ihm teilt und ihm hilft, diese »neuen« Affekte zu integrieren. Diese andere Person, hier die Musiktherapeutin, wird meist bei Kindern mit Autismus nicht sofort als »Affekt-Regulator« akzeptiert. Die durch die Synchronisation eingetretene psychische Nhe wird meist nicht sofort ausgehalten und das Kind sucht daher zunchst nach anderen »Lçsungen«, bis es schließlich die mit dem Erleben synchroner Momente aufkommenden Affekte integrieren und beziehungsfçrdernd erleben wird. Wir konnten durch genaue Analyse feststellen, dass das Kind mit Autismus auf ein synchrones Moment abhngig vom Entwicklungsstand reagiert. Kinder, deren Beziehungsqualitt (BQ) mit Modus 1| eingeschtzt wird, nehmen das synchrone Moment vermutlich erstmalig und nur kurz wahr. Kinder reagieren entweder mit einem kurzen Innehalten, ihr Verhalten erinnert an ein »Erstarren«, ein wie vom Blitz Getroffen-Sein. Sie reagieren so, als htten sie sich den Finger an einer zu heißen Herdplatte verbrannt, und es folgt ein »blitzartiges« Vermeiden eines weiteren Kontaktes. Oder die Reaktion wirkt wie ein scheinbar nicht wirkliches »Zugeben« des sich ereignenden synchronen Momentes und des damit einhergehenden Affektes. Das Kind wischt mit seinem Blick ber den Therapeuten hinweg und wendet sich gleich danach kçrperlich ab, so »als wre nichts geschehen«. Die Therapeutin sprt aber ganz genau, dass hier »etwas« war. Bei besonders schwer gestçrten Kindern (Modus 2|) kann es zu reflexartigen autoaggressiven Handlungen kommen. Das Kind beißt sich kurz zum Beispiel in den eigenen Handrcken, um den plçtzlich aufkommenden Affekt zu regulieren.
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Kinder, deren BQ mit Modus 3| eingeschtzt wird, haben das synchrone Moment in ihrem eigenen Tun, im Sinne der IntraSynchronisation, bereits erlebt. Sie kçnnen das affektive Erleben, das nun mit einem intersynchronen Moment verbunden ist, integrieren und werden ihr exploratives Verhalten, das mit Neugier, aber doch auch einer gewissen inneren Ruhe verbunden ist, fortfhren. Eine gute Hand-Augen-Koordination, eine Konzentration, die auf den eigenen Kçrper oder auf ein Objekt gerichtet ist, sind zu beobachten. Kinder, deren BQ mit Modus 4| eingeschtzt wird, richten ihre Aufmerksamkeit nun auch auf einen Gegenstand. Der Therapeut teilt dieses Interesse des Kindes (Inter-Attentionalitt oder JointAttention) und gert damit in dieselbe Affektlage, nmlich eine konzentrierte Aufmerksamkeit. Im Gegensatz zu den vorhergegangenen Entwicklungsstadien, in denen der Kçrper und der affektive Zustand des Kindes im Zentrum standen, besteht hier eine mentale Verbindung, die gemeinsame synchrone affektive Momente auslçsen kann. Interessant ist, dass die Suche nach synchronen Momenten in diesem Modus 4 am hufigsten auftritt. Die vermehrte Wahrnehmung des anderen durch die Erfahrung von Synchronisation bildet den Nhrboden fr die sich anbahnende Inter-Subjektivitt. Kinder, deren BQ mit Modus 5| eingeschtzt wird, haben die Erfahrung gemacht, dass diese »neuen« Gefhle, die mit Synchronisation verbunden sind, nicht zerstçrerisch auf sie wirken. Sie suchen nun nicht mehr nach synchroner Erfahrung, sondern akzeptieren und integrieren diese Momente. Das dialogische Spiel lçst das synchrone Spiel ab. Typisch ist, dass die Hufigkeit des Blickes zunimmt, woraus sich ein natrlicher Blickaustausch entwickelt. Kinder, deren BQ mit Modus 6| eingeschtzt wird, genießen synchrone Momente. Dies zeigt sich durch das lngerfristige Teilen positiver Gefhle im Spiel. Ein lebendiger Wechsel von dialogischem, synchronem und auch getrenntem Spiel, das aber immer wieder zusammenfindet, begleitet von Spielfreude und gegenseitigen Initiativen, ist typisch. Im Gesprch mit Kindern (Modus 7|) zeigt sich genau, ob hier Kçrperhaltung und Tonfall beider Partner Entsprechungen, Bezo-
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genheiten und vielleicht sogar synchrone Momente aufweisen. Entscheidend ist, dass ein sprachlich kommunizierender Mensch auch die Erfahrung von Synchronisation gemacht haben muss, um sinnvoll mit seiner Sprache Kontakt herstellen zu kçnnen (vgl. Condon 1980). In Ergnzung, aber zeitlich sehr aufwendig, kçnnen synchrone Momente durch eine musikalische Notation oder auch eine Bewegungsnotation (Labannotation) nachgewiesen werden. Videographie und Notationsmçglichkeiten ergnzen einander und bringen durch den Außenblick des notierenden Musikers oder der tanztherapeutisch arbeitenden Kollegin sehr interessante Fragen bezglich des Entstehens und der emotional-kognitiven Auswirkung synchroner Momente zutage. Auch diese Mçglichkeiten kçnnen zur Erhellung des Themas beitragen. Literatur Ainsworth, M. D. S. (1969): Object relations, dependency and attachment: a theoretical review of the infant-mother relationship. Child development 40: 969–1025. Ainsworth, M. D. S.; Bell, S. M.; Stayton, D. J. (1974): Infant-mother attachment and social development: »Socialization« as a product of reciprocal responsiveness to signals. In: Richards, P. (Hg.): The integration of a child into a social world. Cambridge, S.|99–135. Als, H.; Tronick, E.; Brazelton, T. B. (1980): Stages of early behavioral organization. In: Field, T.; Stern, D.; Sostek, A.; Goldberg, S. (Hg.): Interactions of high risk infants and children. New York, S.|181–204. Bauer, J. (2002): Das Gedchtnis des Kçrpers – wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern. Frankfurt a.|M. Bowlby, J. (1958): The nature of the child’s tie to his mother. International Journal of Psychoanalysis 39: 787–795. Condon, W. S. (1963): Synchrony units and the communicational hierarchy. Paper presented at Western Psychiatric Institute. Pittsburgh, Pa. Condon, W. S. (1980): The Relation of Interactional Synchrony to Cognitive and Emotional Process. In: Key, M. R. (Hg.): The Relationship of Verbal and Nonverbal Communication. The Hague u.|a., S.|67–75. Condon, W. S.; Sander, L. W. (1974): Synchrony demonstrated between movements of the neonate and adult speech. Child Development 45: 456–462. Frohne-Hagemann, I.; Pleß-Adamczyk, H. (2005): Indikation Musiktherapie bei psychischen Problemen im Kindes- und Jugendalter. Musiktherapeutische Diagnostik und Manual nach ICD-10. Gçttingen.
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Jutta Brckner
Kindermusiktherapie nach Brckner
Zusammenfassung Dieser Beitrag schildert eine musiktherapeutische Entwicklung vor dem spezifischen gesellschaftlichen Hintergrund DDR in den Jahren ab 1969 bis nach der Wende 2003. Die Autorin hat ohne »musiktherapeutische Ausbildung« berwiegend praktische Erfahrungen in der Arbeit mit Kindergruppen gesammelt. Theoretisch gespeist waren diese durch den persçnlichen Erfahrungsaustausch mit Kinderpsychotherapeuten (Kinderneuropsychiatern und Psychologen) und geprgt durch das Methodensystem von Schwabe, der seiner Musiktherapie eine integrative Funktion innerhalb einer komplexen Psychotherapie zuschrieb. Ergnzt wird das Konzept durch Praxisberichte aus der Klinik und aus der ambulanten Ttigkeit eines Sozialpdiatrischen Zentrums.
Einleitung Mein Beitrag zur Entwicklung der Kindermusiktherapie in Deutschland fr die vorliegende Verçffentlichung erfolgt – nach 31-jhriger klinischer Ttigkeit und whrend der letzten drei Jahre in einem Sozialpdiatrischen Zentrum in Leipzig unter ambulantem Setting als Musik-, Psycho- und Familientherapeutin vor meinem Berufsausstieg 2003 – nunmehr aus der Retrospektive. Prgende konzeptionelle Einflsse kamen aus verschiedenen Richtungen wie der Musiktherapie fr Erwachsene, aber vor allem durch die Etablierung von Kinderpsychotherapie an einigen Klini-
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ken innerhalb der ehemaligen DDR, die miteinander kooperierten. Schließlich kam es zur Erarbeitung meines Konzeptes fr die Kindermusiktherapie, das seinen ersten Niederschlag nach zweieinhalbjhriger Wartezeit in der Verçffentlichung des Buches »Musiktherapie fr Kinder« fand (Brckner et al. 1982, s. auch Brckner 1972), gemeinsam mit einer Pdagogin und einer Tanzpdagogin und Rhythmikerin. Den nicht geradlinigen und einer Richtung verpflichteten Weg vergleiche ich mit einem Fluss, von dem mir nur eine Uferseite bekannt war. Aus diesem Grund kann ich im Fluss der Entwicklung nur eine eingegrenzte Landschaft beschreiben. Ich habe mich nie als Vertreterin einer| Schule verstanden noch habe ich mich streng abgegrenzt. Auf mein therapeutisches Selbstverstndnis werde ich noch zu sprechen kommen. Es erfolgen die kurze Schilderung meiner Motivation zur Kindermusiktherapie und meines beruflichen Werdeganges.
Motivation und beruflicher Werdegang Nach dem Studium der Musikwissenschaft von 1961 bis 1966 und dem Nebenfachstudium Klinische Psychologie an der damaligen Karl-Marx-Universitt Leipzig begann ich 1969 meine musiktherapeutische Ttigkeit als Autodidaktin. In der damaligen DDR gab es berhaupt keine Ausbildungssttte fr Musiktherapie. Die wenigen Kollegen, die versuchten, Musiktherapie zu praktizieren, arbeiteten zunchst vçllig unabhngig voneinander. Ein Vorteil fr mich bestand darin, dass ich in der Deutschen Bcherei in Leipzig bereits whrend der Studienzeit einige Literatur zum Thema Musiktherapie lesen und durcharbeiten konnte. Dabei ist meine Motivation entstanden, Musik und Therapie miteinander zu verknpfen und einmal als Musiktherapeutin zu arbeiten. Ich verzichte an dieser Stelle, die Vielzahl der Autoren und Herausgeber, die sich der noch jungen Disziplin zuwandten, zu nennen oder einen speziell hervorzuheben. Bereits whrend eines Praktikums in der Kinder- und Jugendneuropsychiatrischen Klinik der Universitt Leipzig experimen-
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tierte ich noch als Studentin mit einzelnen jugendlichen Patienten. Im Vordergrund stand das Musikhçren klassischer Musik (es war Mozart), wobei das dabei Erlebte zusammen reflektiert wurde. Dies konnte als ein geeigneter Einstieg in ein Gesprch auch ber Probleme und Konflikte gelten, ber die insbesondere Jugendliche kaum zu reden fhig und bereit waren. In der Rckschau gelang das mit erstaunlichem Erfolg (das Medium klassische Musik als neue Erfahrung) und lçste eine Gesprchsbereitschaft aus, die vom damaligen Stationsarzt gemeinsam mit mir genutzt wurde. In der Begleitung der Kinder im Stationsalltag (es waren 24 im Alter von 3 bis 18 Jahren) und vor allem an den Abenden sang ich mit den jngeren Kindern. Mit den dort ttigen Physiotherapeutinnen fhrte ich rhythmische Bewegungstherapie durch, ich improvisierte dazu am Klavier. Im Mrz 1969 fand in der Leipziger Alten Handelsbçrse das erste internationale Symposium zum Thema Musiktherapie statt. Neben zahlreichen Referaten von Medizinern und auch ttigen Musiktherapeuten unter anderem aus sterreich (Frau Prof. Koffer-Ullrich, Prof. Schmçlz, Wien) beeindruckte mich ein dort von dem hollndischen Musiktherapeuten Clemens Holthaus demonstrierter Rhythmustest als diagnostisches Verfahren (Holthaus 1971). In der klinischen Arbeit modifizierte und erweiterte ich diesen fr Kinder, der mir ber viele Jahre als ein aussagefhiges Instrument diente. Im gleichen Jahr, im Herbst 1969, begann ich als Absolventin drei Jahre nach Beendigung des Studiums meine Ttigkeit als Musiktherapeutin in der Klinik fr Kinder- und Jugendneuropsychiatrie am damaligen Bezirkskrankenhaus fr Psychiatrie in Leipzig. Erwhnen mçchte ich an dieser Stelle, dass ich von Beginn an ber reichlich zehn Jahre dort auch mit sogenannten fçrderungsfhigen nicht schulbildungsfhigen Kindern (das war der offizielle Terminus in der DDR fr geistig Behinderte) musikalisch-rhythmisch und in enger Zusammenarbeit mit den Erziehern auf zwei Stationen gearbeitet habe. Diese Zeit, in der mir die Kinder und Jugendlichen unendlich viel Offenheit, Geradlinigkeit und Dankbarkeit entgegen gebracht haben, mçchte ich nicht missen.
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Geschichte der musiktherapeutischen Richtung Einflsse durch Weiterbildungsmçglichkeiten in Psychotherapie Meine berufsbegleitende Weiterbildung basierte zunchst in der Teilnahme in Gesprchspsychotherapie (Helm 1978) an der Leipziger Universitt und einem Kurs, den Friedo Mann, der Enkelsohn von Thomas Mann, gehalten hat. In dieser aufregenden Zeit der siebziger Jahre durfte ich auch persçnlich einige Vertreter aus sogenannten westlichen Lndern wie Raoul Schindler (Schindler 1967) und Victor E. Frankl (1975) in eindrucksvoller Weise durch Vortrge und Seminare erleben. Es fanden zahlreiche Musiktherapielehrgnge unter der Leitung von C. Schwabe statt, die aber immer fr die Therapie mit erwachsenen Patienten in aktiver wie rezeptiver, spter regulativer Musiktherapie konzipiert waren. Daran nahm ich ab 1971 etwa drei Jahre in Folge teil und lernte auch Lili Friedemann (1973) persçnlich kennen, von der ich einige ihrer musikpraktischen Spiele modifizierte. Es waren vielfltige Einflsse, nicht nur durch Literaturstudium von (Hand zu Hand gegangener) Bcher und Skripten, als ich Raum habe dies zu schildern. Ohne diese Zeit zu idealisieren, war sie geprgt von Ideenreichtum und Enthusiasmus, in denen neue theoretische Erkenntnisse und erlebte Erfahrungen in die praktische Arbeit umgesetzt wurden.
Kinderpsychotherapie in der Stadt Leipzig Ich erinnere im Nachhinein eine fruchtbringende Zusammenarbeit unter Kinder- und Jugendneuropsychiatern, Psychologen und therapeutisch ttigen Kollegen in der Stadt Leipzig. Wir trafen uns regelmßig in unserer Klinik oder in Beratungsstellen der Stadtbezirke einschließlich der Klinik fr Kinder- und Jugendneuropsychiatrie der Universitt Leipzig, um verschiedene Methoden der Kinderpsychotherapie (wie Handpuppen- und Rollenspiel, Psychopantomime, aktive Musiktherapie, Malen nach Musik und kommunikative Bewegungstherapie) mit und an uns selbst durch
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das eigene Erleben kennenzulernen, zu reflektieren, zu diskutieren, aber auch in Frage zu stellen fr die eigenen therapeutischen Vorgehensweisen. Allgemeiner theoretischer Hintergrund Verbindung des Erlebten und Erfahrenen von Musiktherapie mit Erwachsenen nach Schwabe fr das Konzept der Kindermusiktherapie Da keine Ausbildungssttte fr Musiktherapie existierte, grndete Christoph Schwabe 1972 die sogenannte Leipziger Arbeitsgruppe, bestehend aus rzten, Psychologen und zwei Musiktherapeutinnen aus der Erwachsenenpsychiatrie und einem Musikwissenschaftler, in der ich nach reichlich einem Jahr praktischer klinischer Ttigkeit mitarbeitete. Rckblickend mçchte ich diese intensive Zusammenarbeit von unterschiedlichen Berufsgruppen als eine DDRtypische Besonderheit definieren. Die hochschulausgebildeten Musiktherapeutinnen hatten gleichberechtigt im psychotherapeutischen Verantwortungsbereich Zugang zur Weiterbildung und fhlten sich in besonderem Maße dazu verpflichtet. Das Phnomen Gruppe Dieses Phnomen mçchte ich in diesem Rahmen erwhnen als Bezug zum gesellschaftlichen Hintergrund, vor dem die therapeutischen Konzepte, die auch meines beeinflusst haben, entstanden sind. Innerhalb der Erwachsenenpsychotherapie fand 1969 in Bad Elster eine richtungsweisende Tagung statt, whrend der eine neue Neurosetheorie postuliert wurde, als deren Folge die intendiert dynamische Gruppenpsychotherapie (Hçck 1978) als Therapie| psychischer Fehlentwicklungen wie auch als Ausbildung| fr psychotherapeutisch Ttige galt. (Ich absolvierte im Zeitraum von 1984 bis 1987 die sogenannte Kommunitt VIII.) Folgerichtig fanden in der Theorienbildung wie auch fr die praktische Erarbeitung meines Konzeptes gruppentherapeutische Erkenntnisse Eingang – auch
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aus dem Erleben des Psychodramas auf Moreno (1989) zurckgehend – durch den bereits erwhnten R. Schindler. Grundannahme war, dass der Mensch ein gesellschaftliches Wesen ist und in eine natrliche Gruppe, seine Familie, hineingeboren wird, dass sich soziale Beziehungen nur innerhalb von Gruppen knpfen lassen, weil alle Stadien der Entwicklung in verschiedenen Gruppenkonstellationen (Kindergarten, Schule, Sportgemeinschaften, Arbeitskollektiv u.|a.) durchlaufen werden. Und weil das Kernstck von Gruppen durch zwischenmenschliche Beziehungen getragen wird, die aus verschiedenen Grnden gestçrt sein kçnnen, ist auch die Gruppe Gegenstand der Therapie. In diesem Kontext sollen angemessene soziale Verhaltensweisen erlernt und interiorisiert werden, wobei die Gruppe als Spiegel im Hier und Jetzt fungiert. Ein kurzer Einblick in die auch durch das Therapeutenverhalten entscheidend geprgten gruppendynamischen Prozesse soll veranschaulichen, welche Bedeutung einer Therapiegruppe zugemessen wurde. Als quantitative Aspekte einer Gruppe gelten die Gruppenstruktur im Sinne einer Binnengliederung und die Gruppendynamik im Sinne einer Rangordnung. Nach Schindler (1967) existieren in jeder Gruppe vier Rangpositionen: die »Fhrerrolle« (Alpha), die Rolle des »Fachmannes« (Beta), die der »Mitlufer« (Gamma) und schließlich die des »Prgelknaben« (Omega). Diese Rangeinteilung macht Gruppen berschaubar. Die Bewertung der Stellung des Einzelnen in der Gruppe wird quantifiziert und kann in einem sogenannten »Rollendiagramm« (Moreno 1989) – von uns in Anlehnung an das Soziogramm nach Hçck (1978) modifiziert – dargestellt werden. Die in der Leipziger Arbeitsgruppe erarbeitete Auffassung von der integrativen Funktion der Musiktherapie innerhalb einer komplexen Psychotherapie (Schwabe 1986) beeinflusste ebenso mein erstes musiktherapeutisches Konzept fr die Therapie mit Kindergruppen. Grundlagen fr meine theoretische Ausrichtung waren auch die nicht-direktive Kinderpsychotherapie nach Axline (1984) und Tausch und Tausch (1981) und die analytisch orientierte Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie von Dhrssen (1980) sowie die Psychotherapie und Heilpdagogik von Asperger (1982).
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Das Vier-Phasen-Spieltherapie-Konzept Das Konzept unserer Kinderpsychotherapiestation orientierte sich am sogenannten »Vier-Phasen-Spieltherapie-Konzept« (Wendt et al. 1981), in das ich mein musiktherapeutisches Konzept integrierte. Diese Station entwickelte sich von der »Schulstation« mit 30 Kindern zur Kinderpsychotherapiestation mit 20, zuletzt mit 15 Kindern, aufgeteilt in drei Gruppen. Nachfolgend mçchte ich die »Vier-Phasen-Spieltherapie« einschließlich der einzelnen Therapiephasen skizzieren, die wiederum von prgenden Faktoren abhngig sind und denen progressive Ziele immanent sind. Eine Reihe von Kinderpsychotherapeuten beobachtete, dass sich der sogenannte Heilungsvorgang innerhalb der Kinderpsychotherapie in Analogie zu den Stufen normaler kindlicher Entwicklung vollzieht. In der Behandlung werden diese Entwicklungsstufen der vier Phasen auf kurze Zeitrume zusammengedrngt und darin nachgeahmt. Dass das Spiel, in hohem Maße von Emotionen| besetzt, als Basis fr die Kindertherapie gilt, muss nicht besonders betont werden. Somit wird psychisch fehlentwickelten Kindern ermçglicht, die prospektiven Potenzen ihrer Persçnlichkeit zu entwickeln. Und das geschieht in einem geschtzten Spiel-Raum, an dem es ihnen im wenig geborgenen Familienklima mangelte, auf deren Ursachen ich hier nicht eingehe. Unsere therapeutische Beeinflussung intendierte also einen psychischen Nachreifungsprozess analog den Phasen der gesunden normalen kindlichen Persçnlichkeitsentwicklung systematisch, wenn auch nicht (mehr) dem realen Lebensalter entsprechend, in komprimierter Form. Obwohl sich aus heutiger entwicklungspsychologischer Sicht viele Faktoren der sogenannten »Vier-Phasen-Spiel-Therapie« berholt haben, umschreibe ich diese rckblickend (nach Wendt et al. 1981). 1. Phase: Sie dient der Annherung zwischen Therapeut und Kind, der Kontaktaufnahme und der Lockerung des (vor allem gehemmten) Verhaltens kindlicher Patienten. Diese erste Phase ist gekennzeichnet durch den Wegfall vieler Einschrnkungen und Verbote, denen die Kinder im Alltag stndig ausgesetzt sind. Eine
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spannungsfreie Atmosphre ohne Angst soll ihnen ermçglichen, auch einmal Grenzen zu berschreiten ohne Schuldgefhle zu haben und ohne dafr bestraft zu werden oder Ablehnung noch Liebesentzug frchten zu mssen. Erst das erforderliche Verstndnis von Therapeuten und anderen Mitarbeitern der Station fr die Impulse der Kinder, das viel Toleranz sowohl von Erwachsenen als auch von gleichaltrigen Gruppenmitgliedern erfordert, lassen die Kinder sich selbst akzeptieren. Vorsichtige Korrekturen kçnnen zugelassen und angepasste Gewohnheiten kçnnen entwickelt werden. Damit wird auch Verstndnis fr die Schwierigkeiten anderer erworben und lsst die Kinder Selbstsicherheit und schließlich Reife erlangen, die zu einer spannungsfreien Kontaktaufnahme erforderlich sind. Somit kçnnen Einschrnkungen, Misserfolge und Versagungen zunehmend ohne Verlust an Selbstwertgefhl bewltigt werden. 2. Phase: Auf der Grundlage eines therapeutischen Vertrauensverhltnisses werden aggressive Verhaltensweisen durch entsprechende Spielangebote erlaubt. Die ersten beiden Phasen gehen fließend ineinander ber, wobei versucht wird, Aggressionen zu kanalisieren. In der Persçnlichkeitsentwicklung entspricht diese Phase der Eigenttigkeit. 3. Phase: Hier geschehen Bindung und Identifikation durch das Sich-Mitteilen in Rollenspielen mit der bernahme positiver Rollen sowie auch Rollentausch. In der normalen Persçnlichkeitsentwicklung ist diese Phase als die der Sozialisierung beschrieben. Hier werden bereits kleine Aufgaben gestellt und gelçst und eine vorsichtige Korrektur unangepassten Verhaltens kann eingeleitet werden. 4. Phase: Es vollzieht sich die Ablçsung vom Therapeuten, nachdem schçpferisches Gestalten untersttzt worden ist. Konstruktions- und Regelspiele werden bevorzugt. Die Persçnlichkeitsentwicklung ist durch Zunahme an Eigenstndigkeit und Entscheidungsfhigkeit gekennzeichnet. Die beschriebenen Phasen sind von mir fr die Musiktherapie
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modifiziert worden. Der Fokus therapeutischen Handelns richtete sich also auf die Kindergruppe|, die unser therapeutisches Selbstverstndnis prgte (auch als ein ostdeutsches Phnomen einzuordnen).
Musiktherapiekonzept Das eigene Verstndnis von Musiktherapie im Kontext der Kinderpsychotherapiestation Ich erlebte es zeitweilig als Dilemma und weniger als Chance und Herausforderung (die es zweifelsfrei waren), mich nicht einer| Schule verpflichtet zu fhlen, sondern mich im Methodensystem der Musiktherapie fr Erwachsene auszukennen und in der Arbeit mit Kinderpsychotherapeuten (deren Haltung zur Musik allgemein sehr unterschiedlich war), und demzufolge Einflsse verschiedener theoretischer Erkenntnisse wie auch der praktischen Umsetzung tglich neu zu erfahren und mitzugestalten. Ohne eine weitere Definition von Musiktherapie zu formulieren, verstand ich mich als Psychotherapeutin und die Musiktherapie war fr mich immer Psychotherapie (im engeren wie im weiteren Sinn), was kollegial akzeptiert worden ist. Das bedeutete von Beginn an, dass die Beziehungsgestaltung| zwischen mir und den Patienten (gleich ob Kinder, Jugendliche oder Erwachsene) ber das intermedire Objekt Musik (Benenzon 1983) Prioritt hatte. Musikalische Parameter wie Melodie, Harmonie, Metrum, Tempo und Rhythmus (als autonomes Element und Bewegungsaufforderung), Dynamik und Klangfarbe sind in der Lage, in die Dimensionen von Raum und Zeit (der Patienten) hineinzufhren und galten fr mich als Grundlage und außerordentliches nonverbales Kommunikationsangebot. Ich habe mich anfangs mehr intuitiv als Instrument| verstanden und zur Verfgung gestellt im Dienste der Resonanz zur Gefhls- und Entwicklungsentfaltung durch das Gemeinsame-Erfahrungen-Sammeln in der »Musik im Augenblick«, wobei Blickkontakt und auch Berhrungen tragende Elemente innerhalb der Therapie waren. Schließlich war ich – er-
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weitert durch sptere Erkenntnisse – Projektionsflche, um den kindlichen Patienten den Zugang zu Erinnerungen und Wnschen zu ermçglichen und im freien Spiel das Ausdruckgeben dessen mitzutragen, immer die Notwendigkeit einer verbalen Aufarbeitung im Blick zu behalten, auch mit Problemen und Konflikten. Im Folgenden liegt mein Schwerpunkt auf der Beschreibung der Integration der Musiktherapie in das Konzept der Kinderpsychotherapiestation, auf der (fast) bis zuletzt meine Hauptttigkeit angesiedelt war. Andere Gruppentherapiemethoden – neben Musiktherapie noch die Gesprchsgruppe, das Rollenspiel, Psychopantomime und Bewegungstherapie – hatten circa 15 Jahre lang Prioritt vor der Einzeltherapie, die dennoch stattgefunden hat. Unser sogenanntes Persçnlichkeitszentriertes Therapiekonzept (so wurde es im Gegensatz zu einem trainingsbezogenen Ansatz benannt) deckte sich mit dem tiefenpsychologisch fundierten Therapieansatz, der die Akzeptanz des phasenweisen Therapieverlaufs voraussetzt. Es folgt die Schilderung der den Phasen immanenten Besonderheiten.
Konzeption der Gruppenmusiktherapie 1. Phase: Hier lernten alle Kinder einzeln den Musiktherapieraum und dessen Atmosphre wie auch mich als Person nher kennen. Zum Verstndnis war die Situation so, dass ich allen Kindern auf der Station bereits begegnet war; bei einigen Kindern war ich im Erstkontakt mit ihren Eltern dabei. In diese Phase gehçrte ein musikalisch-rhythmischer Dialog, den ich zunehmend mehr als Angebot der freien Instrumentenwahl verstand und wo Singen nur freiwillig geschah. Das bedeutete, dass es fr mich spter keinen Standard fr eine »musikalische Erstbegegnung« mehr gab. Der gemeinsame Trommel-WechselDialog wurde von vielen Kindern mit Leistungsdruck besetzt und deshalb nur bei entsprechend motivierten Kindern angewandt. In der Regel muteten die Instrumente wegen ihres hohen Aufforderungscharakters an, so dass es zu einem – zu weilen zaghaften – Versuch des Ausprobierens kam oder zu einem heftigen Traktie-
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ren, eventuell auch zu einem ersten instrumentalen Dialog. Im Umgang mit den Instrumenten spiegelten sich psychische Stçrungen mehr oder weniger verdeckt wider, die ich aufmerksam beobachtete, aber unkommentiert ließ. In lockerer, zugewandter und interessierter Weise erfragte ich biografische oder besonders bedeutsame Erlebnisse (evtl. mit der Anfrage: ».|.|. wie kçnnte das klingen .|.|.«), ohne das jedoch zu fordern. Als Anmerkung: Die eminent wichtige Dokumentation (allen musiktherapeutischen Handelns) erledigte ich immer im Anschluss, nie im Beisein von Patienten. Nicht bei allen Patienten ließ ich zu individuell ausgewhlter Musik ein Bild ohne Themenvorgabe als weiteres diagnostisches Instrument malen. In der ersten Gruppenmusiktherapiestunde waren unter anderem Themen: Sich-Kennenlernen und Sich-Ausprobieren. Der Kindergruppe wurde ein Freiraum ermçglicht durch altersgerechte Spiel-, vor allem auch Bewegungsangebote zu Musik, unter Umstnden wurde eine »Beschrnkung der Mittel« (Orff 1974, S.|27) erforderlich, um einer mçglichen Zerstçrung von Instrumenten keinen Vorschub zu leisten. Diese Phase diente dem Abbau von Hemmungen und der Auflçsung von ngsten. Wenn das weitestgehend gelungen war, begann die zweite Phase. 2. Phase: In dieser Phase wurden aggressive Verhaltensweisen nicht durch Zuwendungsentzug sanktioniert, was von mir viel Toleranz trotz Grenzsetzung erforderte. Auch hier geschah mehr ein Einsatz »kçrpereigener Instrumente« und das Singen von »Gassenhauern«, und nur dosiert wurden reale Instrumente »freigegeben«, wobei sich Trommeln aller Art anboten. Lrm wurde zugelassen. Dabei wurden die Selbstwahrnehmung sowie die Wahrnehmung des anderen untersttzt. Besonders schwierig waren die Zielvariablen: Erreicht werden sollte die Fhigkeit zur (angemessenen) Auseinandersetzung oder gar Kompromissbereitschaft, um in die dritte Phase berzuleiten. 3. Phase: In dieser Phase fanden vor allem musikalische Rollenspiele statt, in denen die Kinder sich mitteilen konnten durch die Identifikation mit ausgewhlten Rollen wie auch durch die Identi-
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fikation von bevorzugten Instrumenten. In dieser entscheidenden Phase wurden gemeinsam Regeln aufgestellt, da es den Kindern dann leichter fiel, diese einzuhalten. Hier wurde Raum gegeben zur Entwicklung von Sozialbeziehungen und Kommunikationsangebote ausprobiert und zum Beispiel durch Rollentausch neue Bewltigungsstrategien erprobt. 4. Phase: Diese Ablçsungsphase des therapeutischen Prozesses ermçglichte schçpferisches Gestalten, einhergehend mit der Zunahme an Selbstbewusstsein und Autonomie. Da fungierte ich eventuell nur als Beraterin, da die Gruppe fhig war (bzw. sein sollte), Entscheidungen selbst zu treffen – immer entsprechend der jeweiligen Alters- und Entwicklungsstufe. Damit sollte ein Transfer erreicht werden in die reale Alltagsebene. Ab einer Altersgruppe von etwa sieben Jahren fand eine verbale Bearbeitung von (Fehl-)Verhaltensweisen im Hier und Jetzt statt, die Hintergrnde eher in der Einzelmusiktherapie. Die beschriebenen Therapiephasen lassen sich nicht streng abgrenzen und deren bergnge sind fließend. Der Therapiestand der einzelnen Gruppenteilnehmer musste in seiner Individualitt akzeptiert werden. Als Zielvariablen der Gruppenmusiktherapie galten unter anderem: – Fçrderung der Selbstwahrnehmung und -reflexion sowie Identittsfindung, – Ausprobieren neuer Bewltigungsstrategien, – Auseinandersetzung im Hier und Jetzt, – Wahrnehmen und Verbalisieren emotionaler Erlebnisinhalte. Die Gruppenmusiktherapiestunden fanden wçchentlich einmal statt, Malen nach Musik fr die Altersgruppe zwischen neun und zwçlf Jahren ebenfalls einmal pro Woche. Es waren geschlossene Gruppen mit einer Gesamttherapiedauer von fnf bis sechs Monaten.
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Konzeption der Einzelmusiktherapie Am Anfang des Kontaktes erfolgte fr jeden Patienten neben der Anamneseerhebung und der psychologischen Diagnostik auch eine musiktherapeutische Diagnostik. Diese Erstbegegnung mit mir als Person wie auch dem Kennenlernen des Musiktherapieraumes ist entscheidend und weichenstellend fr alle weiteren Stunden einzeln wie auch in der Gruppe. Ich versuchte, mich im Sinne von G. Orff »leer zu machen« (Orff 1984, S.|72), um dem Kind zu spiegeln, dass ich es verstand und ermçglichte somit, dass InterAffektivitt im Sinne Sterns (1989) entstehen konnte. Dieser musiktherapeutische Beginn gab mir Aufschluss ber die musikalisch-rhythmische Ausdrucksfhigkeit und in einem Interview ber das emotional-musische Klima des Kindes und seiner Familie. Dazu gehçrte, dass die Kinder ein Bild zu von mir improvisierter Klaviermusik oder zu Musik vom Rekorder malten. An dieser Stelle fiel fr mich die Entscheidung, mit einem Kind einzelmusiktherapeutisch zu arbeiten. Im Team einigten wir uns darber, ob Musiktherapie oder eine andere Therapieform als Schwerpunkt indiziert war. Die Einzelmusiktherapie (EMT) wurde durch pr- und nonverbale Handlungsmittel realisiert. Ich arbeitete mit bertragung und Gegenbertragung und dem Widerstand. Instrumente dienten als bergangsobjekte. Vielfach tauchten die Kinder auf der Symbolebene in eine magische Phase ab, in der sie sich nicht mehr in der Realitt befanden. ber das gemeinsame Rezipieren von Musik wurde die Verdeutlichung von Gefhlsqualitten und Stimmungen sensibilisiert. Es konnten auch Kçrperwahrnehmungen und die psychophysische Spannungsregulierung im Vordergrund stehen. Zielvariablen von EMT waren: – – – –
Ich-Entwicklung und Stabilisierung des Selbst, Akzeptieren von Strken und Schwchen und eigener Grenzen, Bearbeiten von Wnschen und Phantasien, emotionale Ausdrucksfhigkeit mit Selbstwahrnehmung und -reflexion, was das Verbalisieren emotionaler Erlebnisinhalte und unbedingt auch einen Realittsbezug einschloss.
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Die EMT fand in der Regel einmal wçchentlich – neben der Gruppenmusiktherapie – im Zeitraum von fnf bis sechs Monaten statt. Alle Einzeltherapiestunden wurden – wie die Gruppenmusiktherapiestunden – protokolliert; am Ende der Therapie schrieb ich einen zusammenfassenden Abschlussbericht. In der einmal wçchentlich stattfindenden Therapiebesprechung (Chefarztvisite) wurde der aktuelle Therapiestand jedes einzelnen Patienten auch unter familienbezogenen Aspekten dargestellt. Es wurden Perspektiven und Ressourcen mit allen an der Therapie beteiligten Personen (rzte, Psychologen, Therapeuten, Schwestern bzw. Erzieher, Lehrer) diskutiert.
Die Verfahren der Kindermusiktherapie Wie ich diese Verfahren in der klinischen wie ambulanten Praxis angewandt habe, sei in diesem Kapitel genannt. So wie sich die Musiktherapie gewandelt hat, blieben auch deren Methoden keinesfalls starr, sondern unterlagen ebenso einer Weiterentwicklung und Vernderung. Sie finden – bei zum Teil unterschiedlicher Terminologie – in verschiedenen kindermusiktherapeutischen Schulen Verwendung. Alle, die Kindern in der Therapie begegnen, erleben, dass diese nur begrenzt aufmerksam sein kçnnen und sowohl – entwicklungs- als auch stçrungsbedingt – einen mehr oder weniger hufigen Methodenwechsel induzieren. Das unterscheidet Musiktherapie mit Erwachsenen von Musiktherapie mit Kindern gravierend, was ich selbst live praktiziert und erlebt habe. In der Regel begannen meine Musiktherapiestunden (in der Gruppe wie auch in der Einzeltherapie) mit einem Lied. Bei jngeren Kindern wurden die Stunden oft auch singend beendet. Die musikalischen Rollenspiele geschahen berwiegend ber den Einsatz von Instrumenten. Da aber insbesondere jngere Kinder einen hohen Bewegungsdrang verspren, der sich innerhalb der Musiktherapie explizit »kanalisieren« lsst, wurde der Einsatz »kçrpereigener Instrumente« durch teil- und ganzkçrperliche Bewegungen zum festen Bestandteil. Da konnte auch gleichzeitig
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(vor)gesungen und getanzt werden oder Lieder wurden »dargestellt«. Die aktiven Verfahren der Musiktherapie| sind bei Erwachsenen (in Anlehnung an das Methodensystem nach Schwabe) wie auch bei Kindern die – – – –
Gruppensingtherapie, Instrumentalimprovisation, Kindertanz oder Tnzerische Gruppenmusiktherapie und Bewegungsimprovisation nach (von mir improvisierter) Musik.
Die rezeptiven Verfahren der Musiktherapie| unterscheiden sich – wie folgende Tabelle veranschaulichen soll – bei erwachsenen und kindlichen Patienten. Dazu mçchte ich anmerken, dass Musikrezeption innerhalb einer Therapiestunde eher punktuell von mir angewandt worden ist und selbstverstndlich vom Entwicklungsalter und vom Grad der Reflexionsfhigkeit der Kinder abhngig war. Die sogenannten »Stimmungskarten« mit Kindergesichtern, die verschiedene GeTabelle 2: Rezeptive Gruppenmusiktherapie (Brckner et al. 1982, S.|89) Verfahren
Ziele bei Erwachsenen
Ziele bei Kindern
Regulative Musiktherapie
Symptombeeinflussung durch Verbesserung der Eigenwahrnehmung (Introspektion) als Lernen von Verhaltensregulativen im Sinne von aktiven Entspannungsvorgngen durch das Geschehenlassen gedanklicher und emotionaler Vorgnge, kçrperlicher Zustnde und der Aufnahme von Musik; Erweiterung und Differenzierung der sthetischen Erlebnis- und Genussfhigkeit; Wahrnehmungstraining
Symptombeeinflussung durch Entwicklung der Eigenwahrnehmung. Lernen von Verhaltensregulativen im Sinne von aktiven Entspannungsvorgngen durch Geschehenlassen gedanklicher und emotionaler Vorgnge, kçrperlicher Zustnde und Aufnahme von Musik. Entfaltung der sthetischen Erlebnisfhigkeit; Wahrnehmungstraining
Dynamisch orientierte rezeptive Gruppen-Musiktherapie
Verbesserung der Eigen- und Fremdwahrnehmung; aktive Konfliktauseinandersetzung, Erkennen von Konfliktzusammenhngen; Erweiterung und Differenzierung der sthetischen Erlebnis- und Genussfhigkeit
Entwicklung der Eigen- und Fremdwahrnehmung. Erkennen, daß es unterschiedliche Gefhle verschiedener Qualitt gibt; Gefhle akzeptieren und verstehen; ber innere Vorgnge reden lernen; ein positives Selbstkonzept entwickeln; Entfaltung der sthetischen Erlebnisfhigkeit
Reaktive Gruppenmusiktherapie
Auflçsung affektiv-emotionaler Prozes- fr Kinder nicht zutreffend se zur Stimulierung aktiver Konfliktauseinandersetzung mit Lçsung durch verbalsprachliche Gruppeninteraktionen
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fhlsinhalte ausdrcken sollten, waren fr mich Konstrukte ebenso wie die Karten, auf denen sich Gefhlspolaritten gegenberstanden, auf die ich in meiner therapeutischen Ttigkeit spter weitestgehend verzichten konnte. Von meiner Kollegin, Frau Mederacke, die als Sonderpdagogin musiktherapeutisch an einer Kçrperbehindertenschule gearbeitet hat, ist die Regulativ-aktive Gruppenmusiktherapie|, wie der Terminus bereits ausdrckt, in Anlehnung an die Regulative Musiktherapie nach Schwabe und Rçhrborn (Schwabe u. Rçhrborn 1987; Schwabe 1986) entwickelt worden und soll ebenfalls durch eine Tabelle anschaulich gemacht werden. Beim Malen nach Musik| handelt es sich um eine Methodenkombination von rezeptiver Musiktherapie und bildnerischem Gestalten. Malen nach Musik habe ich whrend meiner langjhTabelle 3: Regulativ-aktive Gruppenmusiktherapie (Brckner et al. 1982, S.|99) Stundenabschnitte
Spezifische Ziele
1. Teil Regulative Musiktherapie Fremdsuggestion vor dem Einsatz der Musik. Musikhçren und Kçrperwahrnehmungen beobachten (pendeln)
Kçrpererfahrungen vermitteln
2. Teil Teilkçrperliche Bewegungen der Arme und Beine in Liege- und Sitzhaltung. Taktschwerpunkt, Metrum oder Rhythmus klopfen
allmhliche Belastung, Ordnen und Bewegungen, Abbau der hastigen Bewegungen
3. Teil Ganzkçrperliche Bewegungsimprovisation allein, mit Partner oder in der Gruppe
Vermittlung von Bewegungserfahrungen, Lockerung, Verbesserung der Kommunikationsfhigkeit und der sozialen Wahrnehmung. Akzeptieren anderer Kinder
4. Teil Teilkçrperliche Bewegungen wie in Teil 2
Zurcknahme der Belastung; Zurckfhrung zur Ruhe
5. Teil Regulative Musiktherapie wie in Teil 1
Sensibilisierung der Kçrperwahrnehmung; Entwicklung der sthetischen Erlebnisfhigkeit
6. Teil Ghnen, Strecken
Zurcknahme
7. Teil Gesprche ber allgemeine Erlebnisse, Erlebnisse whrend der RAMT, allgemeine Musik-
Vertrauen der Kinder gewinnen; Bewußtwerden der Kçrpererlebnisse, aktive Mitarbeit;
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Tabelle 4: Musikeinsatz und Ziele (Brckner et al. 1982, S.|107) Stufe
Musikauswahl
Ziele
1. Stufe
ohne Musik anschaulich-bildhafte Musik (3–4 min)
Bekanntmachen mit dem Material
2. Stufe
Natur, Jahreszeiten und Wetter in der Musik (5–10 min)
Farbwirkungen und Musik erlebbar machen, vergleichen; Entwicklung der Aufmerksamkeitshaltung
3. Stufe
lebhafte Musik, Tnze, Musik mit volksliedhaftem Charakter (15 min)
freudige Erlebnisse mit der Musik in Verbindung bringen, Entwicklung der Ausdrucksfhigkeit
4. Stufe
konfliktreiche Musik (hochstens 10min)
Bewußtmachen von Gefhlen, Konflikte verdeutlichen
5. Stufe
Musikwiederholung von beliebiger Musik (15–20 min)
Auflçsen von positiven und negativen Emotionen, Entfaltung der sthetischen Erlebnisund Genußfhigkeit, Konfliktlçsungswege suchen
rigen klinischen Ttigkeit einige Jahre (spter auch bei erwachsenen psychiatrischen Patienten) angewandt. Es erleichterte vielen Kindern, ber ihr gemaltes Bild, das in jedem Fall eine sie selbst emotional betreffende Situation (oft auch verschlsselt) beinhaltete, zu reden als »pur« ber ein belastendes Erlebnis. Auch bte die Gruppe dabei eine Verstrkerwirkung aus, und das konnte ohne Leistungsdruck und durch die Akzeptanz auch schwcherer Gruppenmitglieder erreicht werden. Wie auch bei den aktiven Verfahren der Musiktherapie habe ich versucht, die Musikauswahl dem Vier-Phasen-Konzept anzupassen. Da jede Gruppe, geprgt durch die interindividuelle Zusammensetzung, ihre Normen und Wertvorstellungen selbst fand, blieb natrlich die Musikauswahl – unter Bercksichtigung der Bedrfnisse der jeweiligen Gruppe – variabel. Tabelle 4 vermittelt einen Einblick ber die Musikauswahl und die Ziele. Abschließend zum Thema Verfahren der Musiktherapie soll eine letzte Tabelle einen berblick ber die hier aus didaktischen Grnden in Stufen eingeteilten Verfahren der Musiktherapie geben, die jedoch mit den Therapiephasen korrelieren.
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Kindermusiktherapie nach Brckner Tabelle 5: Therapeutische Teilziele (Brckner et al. 1982, S.|124) Instrumentalimprovisation
Bekanntmachen mit dem Instrumentarium, Ausprobieren klanglicher Mçglichkeiten
Wahrnehmungsanbahnung, Fçrderung der Konzentration und des Reaktionsvermçgens
Anbahnung sozialer Verhaltensweisen: Abwarten kçnnen, Rcksichtnahme, Anerkennung eines Partners
Gruppensingtherapie
Auflockerung, Freude am Singen
Geborgenheitserleben
Einordnung, Selbstndigkeit
Rezeptive Musiktherapie
Anregung der Vorstellungsund Phantasiettigkeit, Auslçsung von Emotionen, Erweiterung der Wahrnehmungsfhigkeit
Regulativaktive Musiktherapie
Bekanntmachen mit der Trainingsmethode
Anbahnung der Kçrperbeobachtung, Vermittlung der Bewegungserfahrung
Entwicklung von Hçrgewohnheiten, Bekanntmachen mit klassischer Musik
Malen nach Musik
Bekanntmachen mit dem Material
Farbwirkung und Musik erlebbar machen, Entwicklung einer Aufmerksamkeitshaltung
Auslçsen von angenehmen Emotionen, Verbesserung der Eigenwahrnehmung und Kommunikationsfhigkeit
Bewegungsimprovisation
Anbahnung der EinordEntwicklung der Eigen- und Einhaltung von Spielregeln, nung und Rcksichtnahme Fremdwahrnehmung, Ver- Anbahnung zum kooperatimittlung von Bewegungs- ven Handeln vorstellungen
Indikationen und Ttigkeitsfelder Bei Kindern kann – nach meiner Meinung – Musiktherapie als multimodale Methode fast uneingeschrnkt angewandt werden. Es gab, so lange ich klinisch ttig war, keinen Ausschluss fr die Gruppenmusiktherapie bei allen Schwierigkeiten, die die zunehmend als gruppenunfhig geltenden Kinder boten. Nachfolgend zhle ich die Krankheits- und Stçrungsbilder (aus meiner Konzeption von 1999) auf: – neurotische Fehlentwicklungen mit Stçrungen im Sozialverhalten und/oder Leistungsversagen, – psychische Fehlentwicklungen (auf Borderline- wie auf Narzissmusniveau) mit frh entstandenen Stçrungen und Verhaltensaufflligkeiten und instabiler Entwicklung des Selbst, – Psychosen (im Jugendalter) nach Abklingen der akuten Phase, – psychosomatische Erkrankungen. Bei allen Patienten lag bei unterschiedlicher Genese immer eine Person-Umwelt-Stçrung, das heißt eine Beziehungsstçrung, vor,
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und dieser galt das Hauptaugenmerk, also auch immer der Einbezug des Familiensystems, von dem wir den Indexpatienten stationr betreuten. Natrlich arbeitete ich auch symptombezogen auf der Diagnostikstation, deren Konzept verhaltenstherapeutisch orientiert war, hufig in enger Zusammenarbeit mit der Logopdin und der Bewegungstherapeutin. Einen Vorteil der Prioritt von Gruppentherapien mçchte ich insofern unterstreichen, als dass wir uns ber einen Zeitraum von etwa 14 Jahren den Luxus leisten konnten, alle Therapiemethoden – so oft es ging – mit Gruppen- und Co-Leitern zu besetzen. Mithin hatten wir gegenseitig Einblicke in die Therapie der anderen und kannten den Stand der einzelnen Patienten. In der Regel beobachteten und dokumentierten Praktikanten und Hospitanten im sogenannten Außenkreis oder hinter der Einwegscheibe den Therapieverlauf. Herzstck auf unserer Station war die wçchentlich stattfindende Therapiebesprechung fr jede Gruppe, an der alle Therapeuten, die sehr kompetenten Gruppenschwestern und gut ausgebildeten Sonderpdagogen unserer Klinikschule teilnahmen. Zu meinem erweiterten Ttigkeitsfeld gehçrte auch, dass ich ab 1977 Co-Therapeutin und auch Gruppenleiterin von Elterngesprchsgruppen war. Im Wechsel gestalteten wir wçchentlich zustzlich Eltern-Informationsgruppen, in denen ich unter anderem musiktherapeutische Methoden einzeln vorstellte und erleben ließ. Natrlich scheiterten diese Versuche hufig am Widerstand vor allem der Vter, was wiederum bearbeitet werden konnte. In vielen Familien war gemeinsames Spielen vçllig abhanden gekommen.
Praxis Praktische Aspekte der Gruppenmusiktherapie Vor der Schilderung des methodischen Verlaufs einer Therapiestunde mçchte ich noch einige Gedanken allgemeiner Art ußern, die die Therapie mit Kindern von denen mit Erwachsenen unter-
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scheidet. Dabei handelt es sich um meine Erfahrungen, dass bei weitem nicht alle Kinder durch Musik, durch Melodie und Rhythmus unmittelbar erreicht werden konnten. Es kam durchaus vor, dass es zur offenen Ablehnung einzelner Kinder gegenber den musiktherapeutischen Angeboten kam. Das musste ich so akzeptieren und habe es auch getan. Hilfreich war dann die Verstrkerwirkung der Gruppe, und wenn ich einem Kind frei stellte, sich diese Aktivitten von außen anzusehen, wurde das unter Umstnden gar nicht lange durchgehalten. Kindermusiktherapeuten brauchen einen langen Atem, viel Geduld, kçnnen bei einem noch so ausgeklgelten Konzept oft nicht bleiben, sondern mssen – so flexibel es ihnen mçglich ist – auf das eingehen, was aktuell in der Gruppe »dran« ist. Durch den Einsatz außermusikalischer Therapiematerialien war es mir oft mçglich, Zugang zu den Kindern zu finden und diesen eben nicht immer einzig durch Musik suchen zu wollen. Der methodische Verlauf einer Gruppenmusiktherapiestunde wird im Folgenden anhand themenbezogener Beispiele veranschaulicht. Auch innerhalb einer| Gruppenmusiktherapiestunde zeichnete sich ein Phasenverlauf ab. Ein Begrßungslied war (fast) immer ein geeigneter Einstieg – egal, ob die Kinder mitsangen, teilkçrperlich mit agierten oder »nur« zuhçrten. Der Einsatz von frei gewhlten Instrumenten mit verbal so eindeutig wie mçglich angebotenen Themen und Rollenspielen wie zum Beispiel »Werden und Wachsen« (bei aller Vorsicht zur Regression der Gruppenteilnehmer), »Uhrenladen«, »Familienausflug«, »Zirkus« oder Szenen aus Mrchen wie »Die Bremer Stadtmusikanten«, »Frau Holle«, »Hnsel und Gretel« oder »Ich wnsche dir .|.|.« – es sind stellvertretend fr viele andere Spielangebote nur einige genannt – bildete den Haupt- und »Arbeitsteil« einer Stunde. Das konnte auch durch Bewegungselemente und sngerische Improvisationen geschehen. Wie bereits erwhnt, »halte ich an notwendigen Stellen an«, um das Erlebte unter Einbezug aller| Gruppenteilnehmer verbal zu bearbeiten. Das Ende einer Stunde gestaltete sich immer altersabhngig. Bei jngeren Kindern war es hufig ein (wiederkehrendes Abschieds-)Lied, ein Bewegungsspiel oder ein Singtanz; bei Schulkindern konnte das
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ein »Nacheinander-Spiel« als Abschiedsritual sein, es konnte durchaus auch das Ergebnis einer Gruppenimprovisation ohne Abschiedsritual sein, um vielleicht nur bei einem| Gruppenmitglied eine mçgliche Reflexion des Erlebten in Gang zu setzen. Ob ich als Gruppenleiterin oder als Co-Therapeutin fungierte, richtete sich ebenfalls sowohl nach dem jeweiligen Therapiestand wie auch nach der Entwicklungs- und Altersstufe. An dieser Stelle mçchte ich noch bemerken, dass ich mich nicht abstinent verhalten habe und Kinder in der Einzeltherapie betreute, die mich als »Gruppenmutter« mit den anderen »Quasi-Geschwistern« teilen mussten. Fr einige bedeutete das eine große Krnkung, die ich aber wiederum in der Einzeltherapie bearbeiten konnte. Wiederkehrende Rituale wie auch Spiel-Regeln gaben Halt und Orientierung (s. Loos 1986), und das habe ich in allen Gruppenwie auch Einzelmusiktherapie-Stunden zunehmend mehr als Schutz empfunden. Hier mçchte ich noch einige Gedanken zu den Besonderheiten in der Musiktherapie mit Kindern formulieren, was keinen Anspruch auf Vollstndigkeit erhebt. Es ist – die Abhngigkeit der Kinder von ihren Eltern mit Traumata und Krnkungen, und die muss ich als Therapeutin in der bertragung aushalten; – es fehlt unter Umstnden die Krankheitseinsicht und somit die Einsicht in die Notwendigkeit zu einer Therapie, hier entstehen Widerstnde in vielfltigen Spielarten bis hin zum totalen Rckzug; – es herrscht hufig eine unzureichende Nhe-Distanz-Regulierung und damit entweder eine Idealisierung oder auch Ablehnung, was zu – bergriffen aggressiver Art auf Objekte oder auch auf den Therapeuten fhren kann. Mit diesen berlegungen mçchte ich noch auf den Wandel der Stçrungen, die nicht mehr »nur« neurotischer Art sind, sondern viel frher entstanden und sich auch hufig in der zweiten Generation manifestieren, eingehen. Ihnen musste ich mit einem vernderten therapeutischen Vorgehen begegnen, was vor allem bedeutete, Kleingruppentherapien| zu gestalten oder aber Einzelthe-
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rapie als einzige Mçglichkeit der Einflussnahme. Damit wurden wir nicht erst mit der sogenannten »Wende« konfrontiert, aber ab da waren die gravierenden Stçrungen in sozial verunsicherten Familien besonders sprbar. Das von Rohde-Dachser (1989) klassifizierte Borderline-Syndrom, welches wir live erlebten, spaltete unser gesamtes Team und brachte uns unter massiven Druck von innen, dem wir nur durch (bereits lange praktizierte) Supervision begegnen konnten. Zustzlich belastete uns der Druck von außen, der vor allem çkonomischer Art war. Die Folge davon war eine hohe Fluktuation aus der Klinik.
Praktische Aspekte der Einzelmusiktherapie Es geschieht ein Szenenwechsel; denn ich hatte die Klinik verlassen und fand whrend meiner letzten drei Berufsjahre in meiner neuen Ttigkeit im Sozialpdiatrischen Zentrum ganz andere Voraussetzungen. Ohne mich in der Schilderung der Struktur, der Beschreibung der funktionellen Therapieangebote zu verlieren, bestand fr mich die neue Herausforderung, meine klinischen Erfahrungen in ein ambulantes Setting zu integrieren. Dass dies gut gelang, verdanke ich der Achtung und Wertschtzung der Kolleginnen untereinander sowie der – nicht in allen Sozialpdiatrischen Zentren in Deutschland blichen – Akzeptanz der Notwendigkeit von Musiktherapie, welche die Einbeziehung der Eltern in Gesprchen, vereinzelt auch die Mçglichkeit, musiktherapeutischer Angebote fr Mutter und Kind einschloss. Mein (von der Klinik nicht mehr getragenes) Konzept fr die Einzelmusiktherapie hatte volle Gltigkeit. Das Medium Musik als nonverbales Kommunikationsmittel erhielt durch die von Stern (1989) postulierten entwicklungspsychologischen Erkenntnisse eine neue Beachtung. Da, wo eine nonverbale Verstndigung in der frhen Mutter-Kind-Beziehung, begleitet durch Mimik, Gestik, Stimme und Kçrperkontakt, nicht gelungen war, wo die Signale des Babys unbeantwortet bleiben, kann Musiktherapie in einzigartiger Weise Nachreifungsmçglichkeiten bieten.
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In der Reinszenierung frher traumatischer Erfahrungen auf dem Boden einer tragenden und haltgebenden Beziehungsgestaltung besteht die Mçglichkeit, ber musikalische wie auch nichtmusikalische Handlungsmittel Entwicklungsphasen nachzuholen, wie zum Beispiel durch den realen Kontakt zu der Therapeutin als »bertragungs-(Groß-)Mutter« in der Therapie des Kindes R., mit dessen Schilderung einer Einzelmusiktherapie ich den praktischen Teil der Fallbeispiele einleite.
Fallbeispiele Die vorliegenden Fallbeispiele (aus dem SPZ sowie aus der KJP) beziehen sich auf meine internen Dokumentationen und auf die unverndert gelassenen Abschlussberichte, nachtrgliche Reflexionen dazu stehen gegebenenfalls in Klammern.
w Musiktherapie mit einem emotional entwicklungsgestçrten Jungen R. hatte im Zeitraum von einem reichlichen Jahr im SPZ insgesamt 34 Einzeltherapiestunden. Am Ende der Therapie war er sechs Jahre und vier Monate alt. Seine Diagnosen lauteten: – sozio-emotionale Entwicklungsstçrung mit Trennungsangst bei belastender Familien- und Eigenanamnese, – Verdacht auf zentrale Verarbeitungsstçrung kçrperlich, visuell-visuomotorisch, auditiv. Das Pflegerecht hatten die Großeltern, sie hatten auch das Sorgerecht beantragt. Die Mutter war bereits lange Jahre drogenabhngig. R. hatte offenbar keine frhen Mutter-Kind-Spiele und somit einen nur unzureichenden Austausch von positiven Gefhlen erlebt, weil seine Mutter nicht prsent sein konnte. Stattdessen gab es vor allem nchtliche laute Auseinandersetzungen, die dazu fhrten, dass ihn die Großeltern mit 1,6 Jahren zu sich nahmen. R. leidet unter nchtlichen Alptrumen, ngsten und nchtlichem Schreien. Das Anliegen des Großvaters (nicht sein leiblicher), der R. allein zur Therapie brachte, bestand darin, dass R. nachts allein schlafen kçnne und nicht mehr »so viel nervt [.|.|.] und plrrt«. Ich verabredete umgehend ein Gesprch mit beiden Großeltern.
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Therapeutischer Ersteindruck: R. mied Blickkontakt. Er negierte alle Angebote, vor allem aus totaler Verunsicherung. Als ich ihm vorsang, hielt er sich die Ohren zu. Psychomotorisch verhielt er sich hochgradig unruhig und hatte ganz feuchte Hnde. Therapieziele: Ein sicherer Beziehungsaufbau und Vertrauen schaffen. ber musikalisch-rhythmische und andere Handlungsmittel der Kinderpsychotherapie seine Strken und Schwchen herausfinden. Auf der Symbolebene Angst mobilisieren, ngste abbauen. Strken seines Selbstwerterlebens. Enge Anbindung der Großeltern. Therapieverlauf: Der therapeutische Beziehungsaufbau zwischen mir und R. gestaltete sich sehr schwierig und brauchte sehr lange. Anfangs wollte R. nicht mit mir allein im Therapieraum sein und klammerte sich verzweifelt an seinen Großvater. Whrend der ersten drei Therapiestunden war der Großvater mit anwesend, jedoch – aus eigener Unsicherheit – nicht wirklich prsent. R.s Stimmung war anfangs hufig gedrckt. Er schien hoch misstrauisch und war nur begrenzt in der Lage, sich auf die Therapiesituation einzulassen. Ich gestaltete unsere Therapiestunden durch eindeutig wiederkehrende Rituale, weil R.s Erziehung durch die »entnervten« Großeltern (die Großmutter war voll berufsttig) eine klare Grenzsetzung vermissen ließ. Der Großvater, der R. in der Regel zur Therapie brachte, erschien zu permissiv und ließ sich von seinem Enkelsohn teilweise erpressen. R. wirkte whrend der ersten Therapiestunden getrieben. Er hatte kaum Ausdauer und konnte nicht zuhçren. Auch zeigte R. whrend des Therapieverlaufs multiple ngste, wobei er auch weinte (z.|B. bewegte er sich kaum aus meiner Nhe im Raum fort). Auf die Symbolebene ließ er sich nur schwer ein und rckversicherte sich hufig. Es wurden im Rollenspiel, in der ich die bçse Hexe sein musste (».|.|. die ist heute mal strker als du .|.|.«) und er ein Polizist war, vor allem existentielle ngste deutlich, aber auch Angst vor Nhe – ich berhrte ihn lediglich an den Schultern oder an den Hnden – und Zweifel an seiner Daseinsberechtigung mit
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einem hohen aggressiven Potential (arme Trommel), sich und andere zerstçrend, wie auch ein Bericht aus dem Kindergarten deutlich machte. Ein sogenanntes Schlsselerlebnis geschah in der elften Stunde. Er »ertrug«, dass ich fr ihn sang, ihn in einen »Klang hllte« (Monochord, Verstecken unter einer Stndertrommel, auf die ich zwanzig Minuten leise »Regen trçpfeln« ließ!). Ab dieser Stunde wnschte er in (fast) jeder weiteren, dass ich ihn in der Hngematte wiegte und ihm vorsang oder leise eine Geschichte (»Fremdschilderung«) erzhlte. Seine Motivation, seine Aufmerksamkeit sowie seine Ausdauer steigerten sich. Sein Interesse an allen Instrumenten stieg. Er »polterte« gern auf dem Klavier herum. Wir konnten lange KanteleLeier-Dialoge spielen, in denen er sich aufgehoben und gehalten fhlte. Es mangelte aber noch an Kontinuitt und war real situationsabhngig und irritierbar – zum Beispiel durch Besuche bei seiner Mutter. Narzisstische Tendenzen nach dem »Alles-oderNichts«- Prinzip wurden deutlich. Bezglich der bevorstehenden Einschulung gaben mir die Großeltern das Einverstndnis, Telefonkontakt mit der Kindergrtnerin aufzunehmen. Nach deren Aussage wre R. »nicht mehr so schnell eingeschnappt«, er htte sich besser unter Kontrolle, sei wissbegierig und auch beliebt. Hufig spielte er aber noch »den Kasper« (Anm.: aus noch mangelndem Selbstvertrauen). R. wurde whrend des weiteren Therapieverlaufs zunehmend vertrauensvoll. Er teilte mir auch Kmmernisse mit und beschwerte sich manchmal ber die »meckernde« Großmutter. Zeitweilig wurde er psychomotorisch wieder unruhiger, dafr sang er plçtzlich freiwillig Lieder, die er von mir und aus dem Kindergarten gehçrt hatte. Insgesamt stabilisierte sich R. whrend des einjhrigen Therapieverlaufs auch mit Untersttzung der Großeltern, so dass die Therapie zum Ende meiner Berufsttigkeit abgeschlossen werden konnte. In der Zusammenarbeit mit den Großeltern fanden sieben Gesprche statt. Einmal war die Mutter von R. dabei. Nach der Fallsupervision bearbeitete ich den Mutter-Tochter-Konflikt mit gegenseitigen Schuldzuweisungen. Ich ermçglichte der Großmutter,
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ihrem Enkel Grenzen zu setzen und es gelang ihr, im Machtkampf mit ihm nicht nachzugeben und R. dennoch zu vermitteln, dass sie ihn liebt. Das abendliche Ritual wurde in Gegenwart von R. besprochen, obwohl es noch nicht kontinuierlich gelang, dass er allein einschlief. Die Therapie konnte leider nicht fortgesetzt werden. R. befindet sich auf einem guten Weg und wird weiter halbjhrlich ambulant betreut. Er ist ein guter Schler, der jetzt die 2. Klasse besucht. Ich habe meine bertragungsgefhle wie auch vorsichtige Deutungen außen vor gelassen. Es ist kein spektakulrer Therapieverlauf. Deutlich machen wollte ich den Ebenenwechsel| zwischen Therapie und Realitt, der im ambulanten Kontext immer wieder herausgefordert wird.
w Musiktherapie mit einem anorektischen Mdchen A. hatte im Zeitraum eines halben Jahres in der Kinder-und Jugendpsychiatrie 14 Einzeltherapiestunden und 13 Gruppenmusiktherapiestunden. Das Mdchen war elf Jahre alt. Ihre Diagnose lautete: Anorexia nervosa. Der therapeutische Beziehungsaufbau gelang in kurzer Zeit. A. war aufgeschlossen, freundlich und offen bei angemessener Distanz.
Therapeutische Ziele und Therapieverlauf: Die beiden therapeutischen Ziele, Wahrnehmen von Emotionen, auch negative, und Wahrnehmen von Kçrperreaktionen durch aktive wie rezeptive musiktherapeutische Handlungsmittel, gelangen in kontinuierlichen Schritten. A. war in der Lage, ber ihre Wahrnehmungen zu reflektieren. Mit therapeutischer Untersttzung fand sie einen Zugang von durch Musik ausgelçsten Gefhlen und kçrperlichen Entsprechungen. Trotz dieser »Entdeckung«, die sie auch genießen konnte, war ihre Motivation nicht proportional steigend. Im Laufe unserer EMT-Stunden konnte sie sich als Zeichen von gewonnenem Selbstbewusstsein zunehmend differenzierter verbal ußern. Auf der Symbolebene – beim Spiel mit Instrumenten wie auch beim Malen nach Musik – entfaltete A. mdchenhafte Phantasien, auch mit »gesunden narzisstischen« Anteilen. Anfangs verdrngte
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negative Gefhle konnte sie zulassen, zum Beispiel Wut auf ihre Stiefschwester wie auch auf ihre Kindesmutter. Auf der Realebene hatte A. gut differenzierte musikalisch-rhythmische Fhigkeiten. Das Spiel war strukturiert und phantasiereich. In ihren Bildinhalten zeigte sich eine positive Entwicklung; ihre verbale Ausdrucksfhigkeit gewann an Farbigkeit. Whrend des Gruppenmusiktherapieverlaufs wurde A. ein stabiler Faktor innerhalb der Gruppe; zuletzt blieb sie als einziges Mdchen brig und wandte sich innerlich ihrer Zukunft mit realistischen Erwartungen bezglich Familie, Freundschaften und ihrem Schulalltag zu.
w Musiktherapie mit einem allgemein entwicklungsgestçrten Jungen mit autistischem Verhalten S. hatte im Zeitraum von drei Monaten in der Kinder- und Jugendpsychiatrie 24 Einzeltherapiestunden und neun Gruppenmusiktherapiestunden. Der Junge war sechs Jahre alt. Seine Diagnose lautete: Allgemeine Entwicklungsstçrung mit autistischen Verhaltenszgen.
Therapeutische Ziele und Therapieverlauf: S.s Kontaktaufnahme war anfangs mehr objekt- als personenbezogen. Es gelang nach einigen Stunden, einen therapeutischen Beziehungsaufbau zu gestalten. Dieser hielt allmhlich auch der Frustration, in der Gruppenmusiktherapie die Therapeutin mit Quasi-Geschwistern zu teilen, stand. S.s Aufmerksamkeit und Durchhaltevermçgen bezglich musikalisch-rhythmischer Handlungen verbesserten sich whrend des Therapieverlaufs deutlich. Das Einhalten fester Rituale gaben S. Halt, Sicherheit und Orientierung. Musikalisch-rhythmisch bewegte sich S. auf der Ebene Zweibis Dreijhriger: Er imitierte einfache rhythmische Muster, konnte Laut und Leise unterscheiden und auch nachvollziehen. Selbst konnte er sich nicht zum Mitsingen berwinden, ein emotionales Defizit, das noch aufzuholen ist. Seine Phantasie bewegte sich im magischen Denken: Dem Zauberer wie dem Gespenst Trinchen, sogar der kleinen Hexe vertraute er ngste, wie auch Wnsche nach Fhigkeiten – spter singen kçnnen – an als einen Ausgleich
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realer Verluste und Krnkungen.Whrend des Therapieverlaufs lernte S., »Ich« zu sagen und konnte teilweise altersangemessene Bedrfnisse artikulieren. Er wurde in seinen Reaktionen angemessen und entwickelte – verzçgert – sein Selbst.
Ausblick: Wnsche fr die zuknftige Kindermusiktherapie-Generation In meinem musiktherapeutischen Handeln berwog die Praxis, da die Evaluation, als professioneller Standard in universitren Einrichtungen blich, nicht gegeben war. Außerdem besteht die (bekannte) Schwierigkeit darin, das musiktherapeutische Geschehen als außerordentlich komplexen Prozess zu durchleuchten und quantitativen Kriterien zu unterziehen. Als bereichernd habe ich das Kennenlernen des viel bunteren anderen Ufers am Fluss erlebt, der sich in mehr oder weniger rasch bewegtem Tempo auf das noch lange nicht erreichte Delta – dem Einschluss der Musiktherapie in ein von den Krankenkassen finanziertes Versorgungssystem – zufließt. Und das Erreichen dieses notwendigen Ziels wnsche ich der neuen Generation.
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Wolfgang Mahns und Natalie Hippel
Analytische Kindermusiktherapie – am Beispiel der »Symbolbildung«
Zusammenfassung Wie kommt es auf einer vorsprachlichen Ebene, also whrend der musikalischen Interaktion (Improvisation), zu einem Vorgang der Umwandlung sensomotorischer Erlebnisse und Ausdrucksformen in Affekte, und wie kommt es von den Affekten zu symbolischen Interaktionen? Diese Fragen bilden den Ausgangspunkt fr die von Mahns durchgefhrte qualitative Untersuchung ber die Bedeutung der musikalischen Improvisation in der Analytischen Kindermusiktherapie (AKMT) mit Schulkindern. Das Zentrum der Arbeit bildet die Fallstudie ber den trkischen mutistischen Jungen Osman. Anhand des von Mahns entwickelten Analysemodells der Multifaktoriellen Improvisationsanalyse (MIA) wird der dargestellte Einzelfall mikroanalytisch und mehrdimensional untersucht. Den Schluss der Arbeit bildet der Entwurf einer Theorie der Entstehung von Symbolen in der musiktherapeutischen Improvisation.
Einleitung Bei den Musikkonzepten in der Kindermusiktherapie wird zwischen den wirkungsorientierten und den prozessorientierten Anstzen unterschieden. Bei den erstgenannten Anstzen wird Musik als ein Mittel zum Zweck gesehen. Die Verwendung von Musik entspricht »einer bestimmten Diagnose- und Indikationsstellung im
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Sinne eines Produkts« (Mahns 2004, S.|74). Der Therapeut setzt das Medium Musik ein, um bestimmte Planschritte und Ziele zu erreichen. Die freie Improvisation erscheint fr diese Zwecke ungeeignet. Bei den prozessorientierten Anstzen nutzen die Musiktherapeuten »die kommunikativen und interaktiven Mçglichkeiten von Musik in ihrer Aktualisierung durch die Therapeut-Patient-Beziehung« (S.|75). Die zu diesen Anstzen gezhlte analytische Musiktherapie verwendet »die sinnlich-symbolische Interaktionsform des Klanglich-Musikalischen [.|.|.], um unbewusste Erlebnisinhalte sowie die aktuelle bertragungsbeziehung bewusst zu machen und ihr mittels Sprache einen Namen zu geben« (S.|75). In der freien Improvisation, dem »gemeinsamen Werk« (Grootaers 1983) von Therapeut und Klient drckt sich im gegenwrtigen Spiel etwas Vergangenes aus. »In der Therapie wird dann versucht, die Einflsse der Vergangenheit zu erkennen, zu rekonstruieren, mittels ›Durcharbeiten‹ in ihrer Wirkung abzuschwchen, um so neue Orientierungen zu ermçglichen« (Mahns 2004, S.|76).
Improvisation in der Kindermusiktherapie Innerhalb der prozessorientierten Anstze der Kindermusiktherapie nimmt die Improvisation einen festen Platz ein. Vom Musiktherapeuten wird Flexibilitt im Einsatz und Umgang verschiedener Interventionen erwartet, da Kinder in der Regel kein Leiden verbalisieren kçnnen und keine Krankheitseinsicht zeigen und sie sowohl das musiktherapeutische Setting als auch den Musiktherapeuten herausfordern (vgl. Tpker 1996, S.|5; zit. n. Mahns 2004, S.|78). Die »Appellwirkung« der zur Verfgung stehenden Musikinstrumente kçnnen bei Kindern Reaktionen wie etwa Neugier, Interesse, Wnsche hervorrufen. Aber es kann auch zu Abwehrreaktionen im Verhalten des Kindes kommen. Das Kind weigert sich, ein Instrument auszusuchen und darauf zu spielen oder aber es lehnt sich gegen das musikalische Spiel des Therapeuten oder anderer Mitspieler auf. »Hier erscheint es aus psychoanalytischer Sicht ntzlich, den Widerstand z.|B. als existentielle Angst vor ge-
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fahrbringender Verschmelzung wahrzunehmen und ggf. andere Formen der Symbolorganisation mit einzubeziehen (z.|B. Spiel mit Puppen, Spiel mit dem Material der Musikinstrumente, umgedeutet zu ›Spielzeugen‹ usw.)« (vgl. Mahns 2004, S.|82). Neben einem real existierenden Beziehungsgeschehen zwischen dem Therapeuten und dem Kind kann das »Beziehungsgeschehen [.|.|.] mal mehr im Sinne einer Kommunikationsfçrderung [verstanden werden], mal mehr vor dem Hintergrund eines bertragungsprozesses [.|.|.] oder auch unreflektiert geschehen [.|.|.] Ein Verstehen dieser Vorgnge und ein intervenierendes Dazwischengehen sind oft erst nach Beendigung der Improvisation mçglich. Der/die MusiktherapeutIn ist daher vielleicht noch mehr als der/die berwiegend verbal ttige PsychotherapeutIn mit sich selbst konfrontiert, mit den eigenen Wertvorstellungen, mit den eigenen Vorstellungen von Musik, mit Kçrpervorgngen und mit der eigenen emotionalen Disposition« (S.|79|f.). Neben der Supervision, die eine Betrachtung des therapeutischen Geschehens von einer anderen Perspektive ermçglicht, sind Grundkenntnisse von Symboltheorien wichtig, um im Nachhinein bestimmte whrend der Improvisation geschehene musikalische Reaktionen und Verhaltensweisen sowohl vom Therapeuten selbst als auch vom Kind zu verstehen.
Symbolisierung »In der psychoanalytisch orientierten Musiktherapie wird Musik hufig hinsichtlich der ihr innewohnenden besonderen symbolischen Qualitten bzw. der durch sie gefçrderten Symbolbildungsprozesse gesehen« (Mahns 2004, S.|81). Trotz ungenauer Verwendung des Begriffs Symbol| wird in der Musiktherapie immer wieder versucht, mit Hilfe von Symboltheorien musiktherapeutische Prozesse zu verstehen, um beim Beschreiben der inneren Dynamik einer Improvisation eine Verstndigung ber die psychologische Bedeutung von etwas (Musik) zu haben, fr das die Sprache nur annherungsweise Metaphern oder Bilder hat (vgl. Mahns 2004). »Die neueren theoretischen Entwicklungen in der Musiktherapie sttzen sich immer wieder auf die Annahme, daß
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Musik, hnlich wie Sprache, ein Symbolsystem sei« (Niedecken 1996a, S.|382; zit. n. Mahns 2004, S.|83). Diese Auffassung gilt insbesondere fr jene Forschungsanstze, denen es um die Bedeutung von Musik, um frhe klangliche Interaktionen, um die Interpretation der innerhalb der Musik ablaufenden oder durch Musik hervorgerufenen Empfindungen und Phantasien, sowie um die spezifischen Wirkfaktoren von Musik in Abgrenzung zu anderen Symbolsystemen geht (Mahns 2004, S.|83). Bei nherer Betrachtung und Untersuchung des Symbolbegriffs im Kontext mit entwicklungspsychologischen Vorstellungen wird die Abhngigkeit der Verwendung und des Verstndnisses des Begriffs Symbol von dem jeweiligen psychologischen Denkhintergrund deutlich sichtbar. Von besonderem Interesse sind fr Symbolisierungsvorgnge innerhalb und durch musiktherapeutische Improvisationen jene Versuche, die sehr frhe, vorsymbolische Interaktionsformen theoretisch zu greifen versuchen (vgl. S.|84). Deshalb sollten die neueren Theorien ber Art, Zeit und Entwicklungsstufen der Entstehung von Symbolsystemen und ihrer Vorformen nicht unbercksichtigt bleiben. Fr den Begriff Symbol| sind folgende Bedeutungen festzuhalten (vgl. Mahns 2004, S.|305|f.): 1. Das Symbol in der Funktion des Ausgleichs unbewusster innerer Triebspannungen und realer Vorgnge der Außenwelt (S. Freud). 2. Das Symbol als Gleichsetzung von Phnomenen (z.|B. »Baum«) und intrapsychischen Entsprechungen (C. G. Jung). Hierfr wird hufig auch der Begriff Metapher| verwendet. 3. Das Symbol als freie Assimilation der Wirklichkeit an das Ich (J. Piaget). 4. Das Symbol als Ergebnis eines Vorgangs gelungener Einigung in der dyadischen Interaktion (A. Lorenzer). An dieser Stelle soll der Symbolbegriff von Lorenzer und Langer nher beleuchtet werden, da der Aspekt der Beschreibung, Analyse und Reflexion der als »Musik« formulierten Affekte, Dialoge und seelischen Formenbildung (zusammengefasst als Symbolisierungen im Lorenzer’schen Sinne) fr eine Theorie einer Geburt von Symbolen in der Musik die Basis bildet (Mahns 2004, S.|306).
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Der Symbolbegriff bei A. Lorenzer und S. Langer: Fr Alfred Lorenzer stellt die Symbolbildung kein primr neurotisch-regressives Phnomen dar, auch lasse sich eine genaue Zuordnung zu den Instanzen Es und Ich nicht finden. Nach seinem Verstndnis ist Symbolbildung als eine Ich-Leistung zu betrachten: »Symbole sind psychische Gebilde, die ußere Objekte oder innere Vorgnge reprsentieren, die von diesen Objekten im Wahrnehmungs- bzw. Erkenntnisprozeß unterschieden werden kçnnen und die als selbstndige Einheiten Gegenstand der Denk- und Erkenntnisprozesse werden« (Lorenzer 1970, S.|91; zit. n. Mahns 2004, S.|87). »Symbolbildung ist immer Produkt einer einheitlichen Ich-Leistung, die sich auf unterschiedlichen Ebenen abspielt und die ihre Resultate auf unterschiedlichem Niveau organisieren kann« (Lorenzer 1970, S.|68|f.). Symbolbildung findet sowohl in Bereichen planvollen menschlichen Kulturlebens (Sprache) statt, aber auch in Bereichen nicht-zweckbestimmter Handlungsweisen wie etwa Musik, Spiel, Kunst, Religion. »Symbole sind nicht nur die rtselhaften Bilder des Traumes oder der Phantasien, [.|.|.] Symbole sind alle uns in Laut, Schrift, Bild oder anderer Form zugnglichen Objektivationen menschlicher Praxis, die als Bedeutungstrger fungieren, also ›sinn‹voll sind« (Lorenzer 1981, S.|23). In die Diskussion ber die (symbolische) Bedeutung von Musik ist besonders auf die von Susanne Langer vorgenommene Unterscheidung zwischen diskursiver| und prsentativer| Symbolik hinzuweisen. In der Sprache werden ußere Begebenheiten dargestellt, die, zeitlich gesehen, nacheinander ausgedrckt werden. »Nun ist aber die Form aller Sprachen so, daß wir unsere Ideen nacheinander aufreihen mssen, obgleich Gegenstnde ineinander liegen; so wie Kleidungsstcke, die bereinander getragen werden, auf der Wscheleine nebeneinander hngen. Diese Eigenschaft des verbalen Symbolismus heißt Diskursivitt« (Langer 1984, S.|88). In der Musik werden innere Gegebenheiten innerhalb einer konkreten Situation dargestellt, die zeitlich betrachtet, gleichzeitig stattfinden. »Betrachten wir nun die uns vertrauteste Art eines nichtdiskursiven Symbols, ein Bild. Es setzt sich zwar wie die Sprache aus Elementen zusammen, die jeweils verschiedene Bestandteile des Gegenstandes darstellen; aber diese Elemente sind
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nicht Einheiten mit unabhngigen Bedeutungen. Die Licht- und Schattenflchen, aus denen ein Portrait, z.|B. eine Fotografie, besteht, haben an sich keine Bedeutsamkeit. Einer isolierenden Betrachtung wrden sie lediglich als Kleckse erscheinen. Und doch sind sie getreue Darstellungen visueller Elemente, die den visuellen Gegenstand bilden« (Langer 1984, S.|100|f.; zit. n. Mahns 2004, S.|88). Lorenzer bernimmt die von Langer vorgenommene Unterscheidung und bezeichnet die nicht in Sprache fassbaren prsentativen Symbole als sinnlich-symbolische| Interaktionsformen, die von den sprachlich-symbolischen| Interaktionsformen zu unterscheiden sind (vgl. Lorenzer 1976). Trotz unterschiedlicher Entstehungsgeschichten sind die diskursiven und prsentativen Formen der Symbolorganisation aus Sicht von Lorenzer und Langer nicht als ein hierarchisches Aufeinanderfolgen zu betrachten, vielmehr weisen die prsentativen Symbole eine andere Qualitt auf als die diskursiven Symbole. Werden diese Gedanken auf die Frage nach der Bedeutung der Musik bertragen, so lsst sich sagen, dass Musik nicht eine Ansammlung von akustischen Reizen oder Signalen ist, die nur dem sprachlichen Verstehen einverleibt werden mssen (Sublimierung). »Wenn die Musik berhaupt einen Sinngehalt hat, so ist dieser semantisch und nicht symptomatisch [.|.|.] Wenn sie einen emotionalen Inhalt hat, so hat sie ihn in demselben Sinn wie die Sprache ihren begrifflichen Inhalt, nmlich symbolisch. Weder leitet sich die Bedeutung von Affekten ab noch zielt sie auf solche. Wohl aber lsst sich mit gewissen Einschrnkungen sagen, daß sie von ihnen handelt. Musik ist ebensowenig die Ursache von Gefhlen wie deren Heilmittel. Sie ist ihr logischer Ausdruck [.|.|.]« (Langer 1984, S.|215|f.; zit. n. Mahns 2004, S.|88|f.). Die Sicht der neueren Psychoanalyse – Symbole und Protosymbole: Die Forschungen von Stern, Dornes und anderen Suglingsforschern stimmen grçßtenteils mit den in der neueren Psychoanalyse vertretenen Auffassungen von Lorenzer (1972) und Kernberg (1981) berein, »daß primr Beziehungen internalisiert werden und nicht isolierte Selbst- oder Objektbilder« (Dornes
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1996, S.|65; zit. n. Mahns 2004, S.|95). In frheren psychoanalytischen Schriften wurde das Kleinkind als ein von den ihm angebotenen Anregungen und Empfindungen abhngiges Wesen beschrieben. »Das Gefhlsleben organisierte sich entsprechend der Triebtheorie nach Lust/Unlust/Differenzierungen. Die ersten Symbolisierungen galten dann als Ergebnis eines Triebverzichts. Sie lçsten Vorformen des Symbolischen [.|.|.] durch Ausbildung von Vorgngen der Ich-Abwehr und Transformation frustrierender Versagungserlebnisse auf die hçhere Ebene sekundrprozesshaften Erlebens ab [.|.|.] Lorenzer hat diese klassische psychoanalytische Symboltheorie von Grund auf erneuert. Interessant ist hier vor allem seine Theorie von den Vorformen symbolischen Ausdrucks. Er hatte [.|.|.] Symbolisierung als Ergebnis gelungener Einigungsvorgnge in den frhen dyadischen Dialogen charakterisiert. Die Vorformen dieser Einigungsvorgnge bezeichnet er mit ProtoSymbolen. Proto-Symbole sind stndig vorhandener Teil menschlicher Ausdrucksformen. Sie sind Nicht-Ausgesprochenes, jedoch im Hintergrund Anklingendes. In diesen Vorformen des Symbolischen gelangen Inhalte des inneren Erlebens nach außen. ProtoSymbole entstehen im Zusammenhang mit ersten Formen der Interaktion [.|.|.] Durch Proto-Symbole ausgedrckte Bedrfnisse [.|.|.] kçnnen niemals zureichend in Sprache gefasst werden« (Mahns 2004, S.|95): »Proto-Symbole sind mithin jene bekannten Interaktionsformen, die auf dem als Ausgliederung und Identittenbildung gekennzeichneten Weg ›auf der Strecke bleiben‹« (Lorenzer 1972, S.|119). Niedecken greift die von Lorenzer genannten Entwicklungsstufen auf und erweitert diese um das von Winnicott beobachtete Zwischenstadium der bergangsphnomene und bergangsobjekte (Winnicott 1983, S.|300|ff.). Gegenstnde wie etwa Puppen, Schnuffeltuch oder Bauklçtze werden vom Kind aktiv organisiert. So sieht ein Kind »in dem Gegenstand [.|.|.] sich selbst als hinfallendes Kind. Damit wird aus dem passiven Ausgeliefert-Sein die Mçglichkeit des aktiven Beherrschens der Situation. Auch Teile der dinghaft-konkreten Welt der Musik – wie sie sich in den Musikinstrumenten darstellt – kçnnen in Besitz genommen werden und in diesem Sinne lebenswichtige Bedeutung erhalten
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(bergangsobjekte). hnliches gilt fr bestimmte – als Gedchtnisengramme gespeicherte – melodische oder rhythmische Wendungen, die in sich eine klare Formgestalt haben und vom Einzelnen mit Bedeutung besetzt werden (bergangsphnomene)« (Haß 1982|a, S.|52; zit. n. Mahns 2004, S.|97).
Methodik der Analytischen Kindermusiktherapie – Elemente eines musiktherapeutischen Behandlungskonzepts in der Einzelmusiktherapie Analytische Kindermusiktherapie – Definition und Begriffsbestimmung »Einzelmusiktherapie mit Kindern im Schulalter ist ein analytisch orientiertes therapeutisches Behandlungsangebot fr Kinder und Jugendliche (Kindermusiktherapie), die in ihren Beziehungen zur Umwelt, insbesondere mit Auswirkungen auf die Entfaltung ihrer Fhigkeiten, Fertigkeiten sowie ihrer Persçnlichkeit (Lernen) so tiefgreifend gestçrt sind, dass sie vorbergehend einer therapeutischen Beziehung bedrfen. Vor allem trifft dies auf Kinder und Jugendliche zu, die unter ngsten, Hemmungen, mangelndem Selbstvertrauen oder psychischen Problemen als Sekundrsymptom kçrperlicher und geistiger Behinderungen leiden. Wesensmerkmal aller psychodynamischen Anstze ist die Erkenntnis, dass sich Einflsse der Vergangenheit auf die Gegenwart rekonstruieren lassen. Entsprechend geht auch die Analytische Kindermusiktherapie davon aus, dass psychische Stçrungen oder Aufflligkeiten stets eine individuelle Geschichte haben, im Schulalltag auch eine bestimmte psychosoziale Funktion. So kann eine vermeintliche Intelligenzschwche, sichtbar als Lernversagen, im Sinne eines ›Sich-Dumm-Stellens‹ eine durchaus psychologische und sinnvolle Lebensform oder berlebensstrategie darstellen (Jegge 1983; Buchholz 1986)« (Mahns 2004, S.|103). Das musikalische Spiel zwischen Therapeut und Kind umfasst neben musikalischen Improvisationen, Liedern, Rhythmusspielen, Rollenspielen auch außermusikalische Mittel wie etwa Malstifte,
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Papier, Stofftiere, Puppen, Bauklçtze, Wolldecken und vieles mehr. Dem Kind wird mit diesem Material die Mçglichkeit gegeben, intrapsychische und interpersonelle Konflikte spielerisch auszudrcken, durchzuspielen und in einem anschließenden Gesprch mit dem Therapeuten zu bearbeiten. »Durch das Wechselspiel von Spielen und Sprechen kçnnen unbewusste Wnsche und Fantasien auftauchen, als Impulse in Spielhandlungen lebendig werden und in musiktherapeutischen Interventionen [.|.|.] erforscht und verstanden werden, so dass sich im Oszillieren von Handeln und Verstehen grundlegende Korrekturen via Einsicht und Erfahrung einstellen. Durch die Besonderheiten des musiktherapeutischen Settings besteht zudem die Mçglichkeit, dass sich die Ausdrucksfhigkeit des Kindes grundlegend erweitert [.|.|.] Das in der KMT verwendete Material (u.|a. Musikinstrumente) ist dabei nicht nur ›Medium‹ fr den Ausdruck des ›Unsagbaren‹. Es dient vor allem bei frh gestçrten Kindern, bei denen Symbolisierung und auch bertragungsprozess erst ein Ziel sein kann, als Hilfe zur Strukturierung und vermag Halt zu geben in der unter Umstnden verunsichernden therapeutischen Situation« (Mahns 2004, S.|103|f.). Zur Methodik der Kindermusiktherapie gehçrt es auch, dass der Musiktherapeut im regelmßigen Austausch mit den Eltern und Lehrern des Kindes steht, auf deren Mitarbeit er angewiesen ist, und bei Bedarf als Berater fungiert. Die Dauer einer Musiktherapie »richtet sich jeweils nach dem Alter des Kindes, nach der Art und Weise, wie sich die Aufflligkeiten bereits manifestiert haben, und natrlich nach den gesteckten Therapiezielen, die entweder eine kurzfristige Linderung eines bestimmten Zustandes oder eine auf lngere Zeit angelegte, grundlegendere nderung beinhalten kçnnen« (S.|104).
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Das Behandlungskonzept der Analytischen Kindermusiktherapie (AKMT) Das WHREND q q q q q q q
erster musikalischer Kontakt Raum Zeit Phasen Musikalisches Material Kontakte zum sozialen Umfeld Strukturierung im Handeln
Das VORHER q Behandlungsauftrag q Arbeitsbndnis q Vorinformation (Sekundrinformationen, Erst-Interview, projektives Testverfahren, Elterngesprch, Gesprch mit KlassenlehrerIn)
Das NACHHER q Bearbeitung und Verstehen q Ende einer Behandlung q Katamnese
Abbildung 1: Behandlungskonzept der AKMT (Analytische Kindermusiktherapie) (Mahns 2004, S.|128)
w Das Vorher Der Behandlungsauftrag: Ein Erfolg einer musiktherapeutischen Arbeit ist nur dann mçglich, wenn das Kind innerlich bereit ist, mehr ber sich zu erfahren, also der »Leidensdruck« so groß geworden ist und es dem nicht mehr Widerstand leisten kann. »Geholfen werden kann nur dem Kind, das auch selbst bereit ist, an sich zu arbeiten und die getroffenen Vereinbarungen einzuhalten« (Mahns 2004, S.|106). Der Beginn einer Kindermusiktherapie wird in der Regel zunchst von den Eltern, dem Lehrer oder der Erzieherin initiiert. Die Erwachsenen haben bei dem Kind ein Leiden erkannt und kçnnen dies mit den Worten »Ich komme mit ihm/ ihr nicht klar« ausdrcken. Sie erteilen stellvertretend fr das Kind oder den Jugendlichen den ersten Behandlungsauftrag (Starthilfe). Doch im Anschluss »einer Phase der Vertrauensbildung zwischen Kind und MusiktherapeutIn muss immer wieder die eigene Betei-
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ligung geweckt und in den Mittelpunkt gerckt werden. Dies kann in Form kleiner Vertrge, von regelmßig stattfindenden Bestandsaufnahmen (Bilanzierung) ber den bisherigen Therapieverlauf und seine Perspektiven geschehen« (S.|107). Findet Musiktherapie im pdagogischen Rahmen einer Schule statt, ist es besonders wichtig, dass zwischen dem Therapeuten und dem Kind ein Behandlungsauftrag vereinbart wird. Der Alltag innerhalb der Institution Schule ist von Regeln und Lerninhalten und -zielen geprgt und strukturiert. Es ist daher unerlsslich, dem Kind zu verstehen zu geben: »Dies ist Deine Stunde [.|.|.] Was hier geschieht, was wir hier tun, was du erzhlen mçchtest, entscheidest du selbst« (S.|108). Natrlich kann sich das Kind dann auch gegen die Musiktherapie entscheiden oder ein vorzeitiges Ende herbeirufen. Das Arbeitsbndnis: Hat das Kind sich fr eine musiktherapeutische Behandlung entschieden, gibt es zunchst einige Probesitzungen. So hat das Kind aber auch der Therapeut die Mçglichkeit, sich zu berlegen, ob sie zusammen arbeiten kçnnen und wollen. In diesen Probesitzungen bekommt das Kind einen Eindruck von dem, was es die nchsten Wochen und Monate erwarten wird. Es lernt das Spielmaterial kennen, es erfhrt etwas ber die Dauer, den Verlauf und die Frequenz einer Therapiestunde. Zu den Probesitzungen gehçren auch Gesprche mit den Eltern, Lehrern und gegebenenfalls anderen Bezugspersonen. Nach den Probestunden schließen der Therapeut und das Kind einen »Vertrag«, in dem eine bestimmte Zahl von Sitzungen vereinbart werden (z.|B. »Bis zu den nchsten Sommerferien!«). Die wichtigste Absprache des Arbeitsbndnisses ist die Verschwiegenheitsregel. Sie besagt, dass der Therapeut »ber die Sitzungen keine Inhalte gegenber Dritten [weitererzhlt], es sei denn, dies ist vom Kind gewnscht oder erlaubt« (Mahns 2004, S.|109). Das im Vertrag festgelegte Ende der Musiktherapie sollte auf jeden Fall eingehalten werden. Manchmal jedoch veranlassen ußere oder innere Umstnde, dass die Therapie vorzeitig abgebrochen werden muss. In diesem Fall sollte der Abschied nicht abrupt vollzogen werden, sondern gemeinsam vorbereitet und gestaltet werden.
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Vorinformationen: Die ersten Informationen ber den biografischen Hintergrund, die aktuelle Lebenssituation und die schulische Entwicklung des Kindes oder Jugendlichen erhlt der Therapeut zunchst aus vorhandenen Akten und Berichten oder durch Gesprche mit den Eltern, Lehrern und Erziehern. Besonders wichtig ist jedoch das sogenannte Erstinterview mit dem betroffenen Kind oder Jugendlichen. Hierbei ist von großer Bedeutung, wie der Therapeut es schafft, »durch bestimmte Fragen nach Lebensumstnden und einer Atmosphre des vertrauensvollen Gesprchs zu einem mçglichst umfassenden Bild zu gelangen, das der Patient von sich zeichnet« (Mahns 2004, S.|110). Alles, was der Patient erzhlt, ist wichtig, es wird nicht bewertet und noch nicht bearbeitet. »Das Gesamt ist dann ein Fundus, eine stndige Quelle fr den therapeutischen Prozess« (S.|110).
w Das Whrend Der erste musikalische Kontakt: Im ersten musikalischen Kontakt mit den Instrumenten zeigt sich, welche Instrumente von dem Kind bevorzugt werden. »Das Bedrfnis zu freiem, ungeordnetem Spiel oder die Orientierung an bestimmten Vorerfahrungen, ferner die Fhigkeit, einen Rhythmus oder eine dynamische Steigerung mitzuvollziehen oder selbst zu initiieren, weist auf bestimmte Ausdrucksweisen oder Beschrnkungen hin [.|.|.] Nur in dieser Offenheit ist feststellbar, ob ein Kind eine Vorliebe fr Geordnetes (z.|B. Xylophon), Kraftvolles (z.|B. Pauke) oder Zartes (z.|B. Fingerzymbeln) hat oder ob es mit einem Musikinstrument berhaupt etwas beginnen kann« (Mahns 2004, S.|111). Fragen nach dem Namen des Instruments, nach der »richtigen« Spielweise, nach den verschiedenen Schlgeln und deren Gebrauch stehen zunchst im Interesse des Kindes, die Musikinstrumente sind noch nicht identifikatorisch besetzt. Im ersten musikalischen Spiel richtet der Musiktherapeut seine Aufmerksamkeit darauf, »ob das Kind z.|B. dynamische Spannungsverlufe und Rhythmen mit vollzieht, wie es mit Pausen, mit dem Nicht-Spielen, der Leere, dem Schweigen des Anderen umgeht« (S.|111). Die grundlegende
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Haltung des Therapeuten ist dabei, auf alles, was das Kind spielt, musikalisch zu antworten. Der Raum: In der musiktherapeutischen Literatur begegnet man hufig dem Begriff des »Spielraums« (Irle u. Mller 1996; Loos 1996). Fr Irle hat der Spielraum »zu tun mit einer offenen Begrenztheit, die ihren Sinn darin trgt, dass sie fr ein Anderes Grenzen, Halt, Fhrung und Raum gibt, damit sich dieses seiner Wesensart gemß darin frei und gebunden zugleich bewegen kann« (Irle u. Mller 1996, S.|13). Loos sieht in dem musikalischen Spielraum »mehr als ein Zimmer mit Instrumenten. Er ist ein Teil von jener frhen Atmosphre, die ahnend erinnert werden kann und manchmal in einem Klang, einem Rhythmus, einer Melodie aufleuchtet. Dieser Spielraum, zunchst warm, tragend, gewhrend, bietet dem frh Unverstandenen, Unbeheimateten eine angstfreie und leistungsferne Wohnung an, in der die Spielsituation des Kindes Platz hat, worin Versuch und Irrtum mit strafloser Selbstentscheidung stattfindet. Er çffnet sich zum Handlungsspielraum, indem die noch ungefesselte kindliche Kreativitt Imagination sich entfalten darf« (Loos 1996, S.|351). Im Idealfall hebt sich der Musiktherapie-Raum in seiner inneren und ußeren Beschaffenheit von den gewohnten Raumerfahrungen des Kindes ab. Ein lichtdurchfluteter und heller Raum, ausgestattet mit Tisch, Sthlen, Sofa, einem vielfltigen Instrumentarium, Malsachen, Puppen und Stofftieren, anderen Spielsachen wie Lego, Bauklçtze, Autos usw. regen das Kind zu einem spielerischen Umgang mit den Gegenstnden an. Fr den Musiktherapeuten ergibt sich ein Eindruck vom Innenleben und dem Leidensdruck des Kindes. Die Zeit: In der Regel dauert eine Musiktherapiestunde 45 Minuten und findet ein- bis zweimal die Woche statt. Wird Musiktherapie an einer Schule durchgefhrt, findet whrend der Ferien keine Musiktherapie statt. »Zum Zeitrhythmus gehçrt auch, dass in regelmßigen Abstnden Gesprche mit den Eltern bzw. bei Alleinerziehenden mit einem Elternteil, von Fall zu Fall auch mit dem Klassenlehrer/der Klassenlehrerin oder anderen wichtigen
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Bezugspersonen [.|.|.] durchgefhrt werden. Zeit muss im Kontakt mit dem Kind immer wieder bewusst in den Blick genommen werden« (Mahns 2004, S.|118). w Das Nachher Das Ende einer Behandlung: Das Ende einer therapeutischen Behandlung zeigt sich oft durch ußere Faktoren. So kçnnen die durch den Auftrag (z.|B. Krisenintervention) begrndete Vereinbarung ber eine bestimmte Anzahl von Sitzungen abgelaufen sein oder der Kostentrger (Krankenkasse, Sozialamt, Privatfinanzierung durch Eltern u.|.) lsst keine weiteren Stunden zu. Welcher Grund auch immer fr die Beendigung eines therapeutischen Prozesses vorliegt, es ist in jedem Fall notwendig, den Abschied vorzubereiten und zu gestalten. Auch gilt es, die Zukunft anzusprechen, wie es nach der Therapie weitergehen soll.
Die Phasen innerhalb der Kindermusiktherapie Die musiktherapeutische Einzeltherapie mit Kindern verluft nicht nach einem starren und vorgegebenen Muster. Vielmehr muss man als Musiktherapeut immer mit berraschungen und Unvorhergesehenem rechnen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Therapeut vçllig planlos in einen therapeutischen Prozess hineingeht. Anhand von praktischen Konzepten ist zu erkennen, dass auch »analytisch orientierte TherapeutInnen bemht sind, ihre Handlungsweisen bzw. die Entwicklungsschritte ihrer KlientInnen anhand der Strukturen im therapeutischen Prozess zu erkennen. Dies geschieht oftmals erst im gedanklichen Nachvollzug der gemeinsamen Aktionen und Erlebnisse. In Fallstudien wird dies erkennbar, wenn [.|.|.] der Therapieverlauf oder eine einzelne Sitzung abschnittsweise dargestellt und mit berschriften aus dem thematischen Material versehen wird« (Mahns 2004, S.|120). Modelle der Strukturierung musiktherapeutischer Prozesse finden sich unter anderem bei Kapteina (1974), Vorel (1993), Haß (1982|b) und Steen-Møller (2002).
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Fallstudie: »Osman spricht nicht«4 Begegnung mit Osman Die erste Begegnung mit Osman fand auf dem Schulhof whrend einer Pause statt, bei der ich Hofaufsicht hatte. In dem ganzen Trubel einer Pause gab es plçtzlich ein Handgemenge zwischen zwei trkischen Jungen. Der jngere der beiden lag auf dem Boden, der andere stand ber ihm und schlug auf ihn ein. »Okay«, sage ich. »Das war’s. – Ich glaub’ der Kampf ist zu Ende.« Die beiden halten inne und gehen mit hochrotem Kopf auseinander. »Worum ging es?« frage ich Hamid, den lteren der beiden. »Er spricht nicht«, bekomme ich empçrt zur Antwort. »Er spricht nicht mit mir. Er soll endlich sprechen.« »Ach, und da wolltest du ihn zum Sprechen bringen?« »Ja.« »Ich glaube nicht, dass du ihn dazu bringst, mit dir zu sprechen.« Osman steht ohne ein Wort zu sagen neben uns, so als wrde ihn die Unterhaltung berhaupt nicht betreffen. Selbst bei der Keilerei mit Hamid hat er sich still verhalten. ber seine Lippen kam kein Wort, kein Laut war zu hçren, selbst Trnen des Schmerzes waren nicht zu sehen, obgleich die Prgelei hart war und sicherlich ziemlich wehgetan hat. Osman ist ein Junge, von dem ich bereits viel gehçrt habe, ohne ihn jedoch persçnlich kennengelernt zu haben. Immer wieder ist er Thema im Lehrerzimmer. ußerungen wie »Ein Kind, das nicht spricht, kann nicht lernen, bleibt dumm, ist sogar zu dumm fr die Doofen-Schule« fallen oder »Es wre doch besser, ihn auf eine Sprachheilschule zu schicken, wo er mit Hilfe einer Sprachheiltherapie die Sprache richtig lernen und ben kçnnte«. Aber es gibt auch Berichte, nach denen Osman mal einen Laut von sich gegeben hat. Eine Kollegin berichtete, sie habe die Tr zum Klassenzimmer einmal etwas zu heftig geçffnet. Osman, der zufllig in dem Moment an der Tr vorbei kam, habe sich so erschrocken, dass er einen Laut ausgestoßen habe. Auch von Kindern ist zu hç-
4 Die folgende Fallstudie wird aus der Sicht von Wolfgang Mahns geschildert.
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ren, »Osman hat eben geredet.« – »Mit mir redet er.« – »Ich glaube, jetzt hat er was gesagt.« – »Er kann| reden!« Osman verunsichert, er lçst Aggressionen aber auch Traurigkeit aus. Als Lehrer fragt man sich stndig, ob Osman dem Unterricht folgen kann, ob er die Unterrichtsinhalte nachvollziehen und verstehen kann. Die Reaktionen der Mitschler reichen von vçlliger Gleichgltigkeit ihm gegenber bis zu Aggressionen. Irgendwie erscheint es schwierig, mit einem nicht-sprechenden Kind Kontakt aufzunehmen. Osmans Schweigen lsst ein »normales« Miteinander scheinbar nicht zu und es erscheint nicht verwunderlich, dass jeder darauf lauert, dass er endlich anfngt zu sprechen.
Begebenheiten aus dem schulischen Alltag Im Musikunterricht der Klasse 1/2 erlebe ich Osman durchaus als einen Schler, der sich am Unterrichtsgeschehen beteiligt. Sobald er jedoch in die Situation kommt, einen Laut von sich zu geben, sei es beim Singen eines Liedes oder beim Spielen eines Blasinstruments, das der menschlichen Stimme sehr nahe ist, zieht er sich zurck und bleibt stumm. Wenn die Klasse ein Lied singt, fllt auf, dass es Osman sehr schwer fllt, den Mund zu halten. So zuckt er unruhig mit den Augen und dem Mund, so als wolle er mitsingen, kçnne es aber irgendwie nicht. Bricht ein Schler oder auch die ganze Klasse in ein großes Gelchter aus, scheint es Osman viel Kraft zu kosten, nicht in das Lachen mit einzustimmen. Selbst das Weinen ist bei ihm eine stumme und lautlose Reaktion. Langsam beginne ich zu ahnen, welches Leid er sich auferlegt. Ich bekomme den Eindruck, dass er sich fr irgendetwas bestraft und gleichzeitig seine Umgebung mit »Strafe« im Sinne von »Mit euch rede ich nicht!« belegt. Osman hat sich mit Olaf, einem recht aufgeweckten, frechen deutschen Jungen, angefreundet. Olaf ist fr Osman sehr wichtig, da er die Rolle des Sprechers fr ihn bernimmt, das heißt eine Art »Ersatz-Ich«, ein »Dolmetscher« ist. Wenn etwa die Sozialpdagogin etwas mit Osman zu besprechen hat, schildert sie Olaf das Anliegen. Olaf sucht sich mit Osman einen ruhigen und ungestçr-
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ten Platz, erklrt ihm das Anliegen, wartet auf Osmans Antwort, die er dann an die Sozialpdagogin weitergibt. In einer kleinen Lerngruppe (zehn Kinder), die von der Sozialpdagogin geleitet wird, beginnt sich Osman mehr und mehr wohl zu fhlen. So spielt er gerne, er ist sehr aufmerksam beim Vorlesen von Geschichten, er malt und zeichnet viele Bilder, in denen er auf recht fantasievolle Weise seine Stimmung, seine Gefhle und seine ngste auszudrcken vermag. In einer Musikstunde etwa vier Wochen vor Beginn der musiktherapeutischen Einzeltherapie kommt es zu folgender Situation: Alle Schler sitzen im Kreis, einschließlich der Sozialpdagogin und mir. Nach einem Begrßungslied und einigen Wunschliedern der Schler, erzhle ich eine Geschichte. »Hier in der Mitte ist ein großes Wasser, ein Fluss. Links ein Ufer, rechts ein Ufer. Zwei wollen sich unterhalten, doch der Fluss ist dazwischen. Einer steht am linken Ufer, der andere am rechten. Fr die Unterhaltung hat jeder eine Trommel .|.|.«. Die Kinder schreien »Ich, Ich!« und jeder mçchte eins der beiden von mir mitgebrachten Tambourins spielen. Nachdem zwei Schler gleichzeitig und ohne Pause miteinander gespielt haben, geben sie ihre Trommeln an zwei weitere Schler ab. Dann ist Olaf dran, der nach seinem Spiel die Trommel an Osman weiterreicht. Alle Augen richten sich auf Osman, der die Trommel zwischen seinen Knien hlt und nicht so recht weiß, was er nun tun soll. Olaf, der neben ihm sitzt, zeigt es ihm, erst andeutungsweise, dann immer wilder gestikulierend. Maik, Osmans Spielpartner hlt in seinem Trommelfeuer inne und fordert Osman auf, doch endlich mit dem Spiel anzufangen. Whrend die Klasse unruhiger wird, nimmt Olaf Osmans Hnde, legt sie auf die Trommel und fhrt sie, ganz leise. »Nun mach’ allein!« Und tatschlich, Osman beginnt zu spielen und es scheint, als ob er selbst ber die von ihm erzeugten Klnge erstaunt ist. Maik nimmt Kontakt zu ihm auf und Osman beginnt zu lcheln. Olaf ist ganz glcklich und sagt: »Herr Mahns! Osman hat gesprochen! Auf der Trommel!« »Ja, Olaf! Ich glaube, das war fr uns alle sehr wichtig!«
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Die Symptomatik: Elektiver Mutismus Um auszuschließen, dass Osmans Schweigen auf somatische Ursachen zurckzufhren sei, wird eine Untersuchung im Phoniatrischen Institut des Universittskrankenhauses vereinbart. Die Mutter begleitet ihren Sohn. Whrend des Gesprches wirkte Osman sehr mde und unbeteiligt. Im Arztbericht findet sich folgender Eintrag: »Seit Einschulung in eine Regelschule vor ca. 2 Jahren hat er in der Schule kein einziges Wort gesprochen. Zu Hause hat er normal weitergesprochen. Dies wird von der ganzen Familie besttigt. Osman hat geußert, sich in der Schule zu schmen [.|.|.] Die Eltern reagieren auf Osmans Verhalten ausgesprochen hilflos. Insbesondere die Mutter glaubt, ihn durch Bestrafungen kçrperlicher Art zum Sprechen zu bringen [.|.|.] Beide Eltern sind berufsttig und haben keine Zeit, sich gesondert und gezielt um Osman zu kmmern. Des Weiteren ist es schwierig, bei den Eltern Verstndnis fr Osman zu wecken, da er ihnen nur Kummer bereite« (Mahns 2004, S.|229|f.). Nach Aussage der rzte leidet Osman an einem »partiellen Mutismus«, ich selber bevorzuge den international gltigen Begriff »elektiver Mutismus« (vgl. Sekeles 1996, S.|125|ff.).
Anamnese Osman G. ist das jngste Kind der Familie G. Er hat noch zwei ltere Schwestern (elf und zwçlf Jahre). Als Osman mit der Musiktherapie beginnt, ist er acht Jahre alt. Herr G. kam drei Jahre vor der Geburt seiner ltesten Tochter mit seiner ersten Frau nach Deutschland. Der Plan des Ehepaares sah Folgendes vor: Grndung einer Familie, viel arbeiten, Geld sparen, um irgendwann mit ihren Kindern in die Trkei zurckzukehren und dort ein gutes Leben zu fhren. Nachdem sie sich in Hamburg eingelebt hatten, kam Frau G. bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Whrend eines Urlaubs in seiner Heimat nahm Herr G. Kontakt zu der Familie seiner verstorbenen Frau auf. Herr G., inzwischen 38 Jahre alt, interessierte sich besonders fr seine 23-jhrige Schwgerin,
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die Schwester seiner Frau. Die beiden heirateten und zogen nach Hamburg. Die neue Frau G. nahm eine Hilfskraftstelle in einem Supermarkt an, Herr G. fand Arbeit im Hamburger Hafen, wo er kçrperliche Schwerstarbeit leistete. Innerhalb kurzer Zeit wurden zwei Tçchter geboren, worber Herr G. sehr enttuscht war, da er sich einen Sohn wnschte (»Mdchen nicht gut!«). Nach drei Jahren wurde dann endlich der ersehnte Sohn geboren, aber er entwickelte sich nicht so wie gewnscht. In einem Anamnesegesprch konnte die Mutter keine Informationen ber die frhkindliche Entwicklung ihres Sohnes geben (»Alles lange her. So lange her!«). Mit Hilfe von vorliegenden Beobachtungen lassen sich jedoch Vermutungen vornehmen. Die Familie G. wohnt in einer 21/2 -Zimmer-Wohnung eines Huserblocks im Osten Hamburgs. Das grçßte Zimmer wird als Kche genutzt, das kleinere ist zum einen das Wohnzimmer und zum anderen das Schlafzimmer der beiden Mdchen. In dem halben Zimmer schlafen sowohl die Eltern als auch Osman. Ein Badezimmer gibt es nicht, das WC befindet sich im Treppenhaus. Die Einrichtung der Wohnung ist sehr sprlich, auf jede Art von Luxus wird verzichtet, da fr die Rckkehr in die Trkei das verdiente Geld angespart wird. Fr die Kinder gibt es kaum Spielzeug wie etwa Bauklçtze, Malzeug, Puppen, Autos. Allerdings besitzt die Familie einen großen Farbfernseher, einen Video-Rekorder und einige andere Elektrogerte. Trotz der Berufsttigkeit der Eltern und den hufigen berstunden des Vaters hat die Familie es so organisiert, das fast immer ein Elternteil zu Hause bei den Kindern ist. In der Zeit, in der die Kinder stundenweise allein sind, passt eine Nachbarin auf sie auf. Der Umgang der Eltern mit ihren Kindern ist recht verschieden. Whrend der Vater zu seinen Kindern, auch wenn er oft nicht zu Hause ist, ein warmherziges Verhltnis hat, insbesondere zu Osman, zeigt die Mutter kaum Gefhle. Mit ihren 35 Jahren wirkt sie fr ihr Alter recht alt und abgearbeitet. Zwar versorgt sie ihre Kinder mit dem Nçtigsten, unter anderem mit Sßigkeiten aus dem Supermarkt, aber eine »gefhlsmßige Versorgung« findet nicht statt. In Gesprchen mit mir oder auch den Lehrerinnen haben wir immer wieder darauf hingewiesen, wie wichtig fr die
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Entwicklung der Kinder eine warmherzige, liebevolle und gefhlvolle Umgebung ist, was fr Frau G. schwer nachzuvollziehen ist. Fr den Wunsch ihres Sohnes, immer wieder spielen zu wollen, bringt sie kaum Verstndnis auf. Er solle lernen und nicht spielen, er sei nicht in der Lage, ihr den Zielort an Bus oder U-Bahn vorzulesen, so beklagt sie sich ber ihren Sohn. Obwohl das Ehepaar G. seit mehr als zwçlf Jahren in Deutschland lebt, ist es der deutschen Sprache kaum mchtig. Die Aufgabenteilung in der Familie G. ist von Traditionen und der Verteilung der Geschlechterrolle geprgt. Osman wird wie ein »Prinz« behandelt, er braucht nichts zu tun, selbst seine Schuhe werden zu gebunden, er wird gewaschen und angezogen, zum Lernen oder zum Mithelfen im Haushalt wird er nicht aufgefordert. Die Hausarbeit wird von seinen lteren Schwestern und der Mutter erledigt. In dieses Muster der traditionsgebundenen Erziehung passen nicht die immer wieder auftretenden heftigen Prgel und die sadistischen Strafmaßnahmen der Mutter gegenber ihrem Sohn. Verhlt sich Osman nicht so, wie die Mutter es wnscht oder lsst er seinen Aggressionen zu sehr freien Lauf, misshandelt sie ihn, indem sie ihn mit Fßen tritt, ihn anspuckt, schlgt oder einsperrt. Der Vater greift in solchen Situationen nicht ein, obwohl er diese nicht billigt. Zwischen den Eltern scheint es eine »verkehrte Welt« in der Rollenverteilung zu geben. Whrend Osman von seiner Mutter verprgelt wird, trçstet sein Vater ihn. Whrend des Anamnesegesprches kann Frau G. sich an ein Ereignis aus der frhen Kindheit Osmans besonders erinnern. Beim Durchblttern eines Fotoalbums gibt es zwei Fotos, die Osman im Krankenhaus zeigen. Das erste Foto zeigt einen etwa zweieinhalbjhrigen Jungen mit angstvoll aufgerissenen Augen und einem sehr ernsten Gesicht. Auf dem zweiten Foto ist derselbe Junge auf dem Arm einer Krankenschwester zu sehen, weinend, mit dem Rcken zum Fotografen (= Mutter). Frau G. fllt dazu ein, dass Osman eine Zeit lang an hohem Fieber und Schwindelanfllen litt. Als er einmal plçtzlich vom Topf gefallen war und ganz apathisch auf dem Boden gelegen habe, sei sie mit ihm zum Arzt gegangen, der den Jungen ins Krankenhaus einwies. ber die sechs Wochen, die Osman im Krankenhaus zur Beobachtung verweilte, kann die
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Mutter nichts sagen. Einmal in der Woche konnte sie ihren Sohn dort besuchen, da das Krankenhaus am anderen Ende der Stadt lag und sie sich nicht frei nehmen konnte. Die Abschiede waren immer sehr schwer, Osman schrie und weinte unerlsslich. Um den Abschiedsschmerz zu vermeiden, wandte die Mutter letztlich einen Trick an: Sie gab ihren Sohn einer Krankenschwester auf den Arm und sobald er nicht zu ihr herberschaute, verließ sie das Krankenhaus. Whrend dieser Erzhlungen wird deutlich, wie sehr Mutter und auch Sohn unter dieser Situation gelitten haben mssen. Frau G. glaubt, dass der lange Krankenhausaufenthalt ein mçgliches Schockerlebnis fr ihren Sohn gewesen ist, welches seine weitere Entwicklung beeintrchtigt hat. Es fllt ihr ein, dass Osman nach dem Aufenthalt im Krankenhaus ber lange Zeit sehr verndert war. ber das Untersuchungsergebnis kann sie keine Angaben machen. In dem Gesprch erfahre ich weiterhin, dass ein Onkel von ihr, auf den die ganze Familie sehr stolz ist, Direktor einer Schule sei. In trkischen Schulen wrde sehr streng und diszipliniert erzogen, indem Kindern unter anderem auf die Finger geschlagen wird. Auf meine Frage, die von den Tçchtern bersetzt wird, wann Osman denn zu sprechen begonnen hat, antwortet Frau G. mit »Vier«. Osman hat also im Alter von vier Jahren angefangen, die trkische Sprache zu lernen, er bemerkte aber, dass die Kinder, mit denen er spielte, eine andere Sprache sprachen und die Verstndigung wohl recht mhsam war. Seine beiden Schwestern, die beide gut deutsch sprechen kçnnen, waren ihm bei seinen Spielplatzkontakten keine Hilfe, da sie die Wohnung nur fr den Besuch der Schule verließen.
Einschulung als Kulturschock Die auslçsende Situation fr Osmans Schweigen ist der Besuch einer çffentlichen Schule. Bei der Durchfhrung eines »SchulreifeTest« stellt sich heraus, dass Osman mit seinen sechs Jahren noch nicht fr die Schule geeignet ist. Er kommt in die Vorschule. Nach dem bereits beschriebenen Krankenhausaufenthalt ist der Besuch
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der Vorschule die zweite Situation, bei der er nicht in seiner Familie und damit gewohnten Umgebung bleibt. Stattdessen kommt er in eine unbekannte deutsche Umgebung, bei der er von seiner Familie zeitweise getrennt ist. Laut Aussagen und Berichten der Vorschullehrerin habe Osman mit stummer Panik reagiert: So habe er am ganzen Kçrper gezittert, als die Mutter ihn abgeben wollte, er habe sich ablehnend und scheu gegenber der neuen und fremden Umgebung verhalten. Als er einsehen musste, dass seine Mutter ohne ihn nach Hause zurckkehrt, habe er resigniert. Osman wird von der Vorschullehrerin als »unselbststndig, hilf- und orientierungslos« beschrieben. Es kommt aber auch vor, dass Osman »auf Musik und Klnge« anspricht und er sich »in letzter Zeit fr die Betrachtung von Bilderbchern« interessiert. Wird er zum Mitspielen aufgefordert, nimmt er daran teil, ansonsten verhlt er sich passiv. Er ist durchaus in der Lage, kleinere Auftrge, die ihm in deutscher Sprache gesagt werden, auszufhren. Alles, was Osman tut, macht er stumm. Als sich nach einem Jahr keine Vernderung zeigt, wird beschlossen, dass Osman das Vorschuljahr wiederholt. In Absprache mit den Eltern soll Osman dahingehend gefçrdert werden, dass ihm im huslichen Bereich nicht mehr alles abgenommen und er zur Selbststndigkeit hin erzogen werden soll. Nach einem weiteren Jahr Vorschule ist es abzusehen, dass Osman nicht das erste Schuljahr einer normalen Grundschule besuchen kann. Er weigert sich nach wie vor standhaft zu sprechen, er ist meist sehr auf sich bezogen und Vorgnge in der Kindergruppe nimmt er kaum sichtbar wahr. Mit sieben Jahren besucht er probeweise den Unterricht der Eingangsstufe einer Fçrderschule (Sonderschule fr Lernbehinderte). Zunchst spricht er auch hier kein Wort, er nimmt keinen Kontakt zu seinen Mitschlern auf, obwohl es hier einige trkische Kinder gibt. Doch allmhlich scheint sich etwas zu ndern: Osman beginnt sich zu çffnen, er mag es, wenn Geschichten vorgelesen werden und aus seiner Mimik lassen sich Gefhle wie Freude ber ein Lob, Angst, Besorgnis, Wut, Mdigkeit erkennen. Er beginnt zu puzzeln, malt gern Bilder und er spielt mit den anderen Kindern mit. Er freundet sich mit zwei Jungen an: Olaf, von dem bereits die Rede war, und Mirko, einem spach-
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behinderten Jungen, der in seiner Entwicklung durch frhe Kindesmisshandlung stark retardiert war. Aber er spricht nach wie vor kein Wort. Das Symptom des Nicht-Sprechens bei Osman steht offensichtlich in enger Verbindung mit dem sozialen Kontext der Schule. Es hat Konsequenzen innerhalb der Schule, Konsequenzen sozialer Art und fr die Entwicklung von Lernfortschritten. Der Ursprung liegt in einem psychischen Leiden. Fr mich ist Osman ein sehr empfindsamer Junge, der, neben der Verarbeitung einiger schwieriger Trennungserlebnisse, besondere Probleme im Umgang mit den zwei Welten »trkisches Elternhaus« und »deutsche Umgebung« hat. Auf der anderen Seite werden ihm zu Hause kaum Mçglichkeiten angeboten, mit solchen Trennungssituationen adquat umzugehen.
Die familire Umgebung Da Gesprche mit Frau G. in der Schule nicht zustande kamen, besuchte ich Familie G. zu Hause. Der Vater war nicht anwesend, dafr seine Frau, die beiden Tçchter und Osman. In Anwesenheit von Osman sprachen seine Mutter und ich ber die momentane Situation. Neben den sprachlichen Problemen, die durch die bersetzungshilfe der Tçchter auszugleichen gewesen wre, gab es die Schwierigkeit, dass die Mutter auf der Gefhlsebene nicht erreichbar schien. Meine Versuche, Frau G. zu erklren, dass Osmans Schwierigkeiten außerhalb der Familie an einem mangelnden Vertrauen in eine fremde Umgebung liegen, er nicht aus Boshaftigkeit schweige, sondern weil er mçglicherweise Angst habe und sich allein gelassen fhle in einer deutschen Schule, stoßen bei ihr auf taube Ohren. Sie ist der Meinung, dass eine strenge Erziehung, wie sie in der Trkei gehandhabt wird, genau das Richtige fr ihren Sohn sei. Osman sei ein »bçser Junge«, der einer harten Hand bedrfe. Die recht angespannte Atmosphre lockerte sich etwas auf, als Frau G. das Familienalbum hervorholt. Mit Hilfe der Fotos wurde auch das Gesprch einfacher, denn die Fotos, die fr die Familie sehr wichtig sind, bildeten eine Verstehens-
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brcke. Es war mçglich, ber wichtige Dinge »so nebenbei« zu sprechen. Frau G. sah einen mçglichen Grund in Osmans Schweigen darin, dass er sich in der Schule schme. Whrend des ganzen Gesprchs war Osman anwesend. Wie immer blickte er stumm um sich herum und zeigte keinerlei Reaktion auf das Gesagte. Auch die Versuche seiner Mutter und seiner Schwestern, doch etwas zu sagen, blieben erfolglos. Osman steckte in einem inneren Konflikt: Zum einen befand er sich ja in seiner gewohnten Umgebung, in der er fast immer spricht, zum anderen kam ich aus der »feindlichen Welt«, in der er nichts sagt. Um jedoch die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, half er sich mit einigen Tricks. So wirbelte er Autos durch die Luft, knipste den Fernseher an und aus, schttete seiner Mutter lçffelweise den Zucker in den Tee, bis das Glas berschwappte. Es war Frau G. anzusehen, dass sie vor Zorn htte platzen kçnnen, aber sie sagte nichts und setzte auch keine Grenzen. Fr mich wurde in dieser Situation sehr deutlich, was sich hinter Osmans Schweigen noch versteckte: ein unbndiger Wunsch, sich auszudrcken, eine ungeheure Wut, der starke Wille, beachtet zu werden und auch adquate Grenzen gezeigt zu bekommen. Meine Versuche, Frau G. zu vermitteln, dass wir Osman nicht zum Sprechen zwingen, schien sie zu berraschen. Irgendwie schien sie zu spren, dass Osman angefangen hatte, eine positive Beziehung zu mir auf zu bauen. Zum Ende des Gesprchs machte sie jedoch eine ußerung, die mich ziemlich schockierte. »Nehmen Sie ihn mit, nehmen Sie Osman zu sich nach Hause. Kçnnen ihn behalten!« Welche Wut, welche Enttuschung und Hilflosigkeit musste hinter diesen Stzen stecken.
Der Verlauf der Einzelmusiktherapie (Zusammenfassung) Der Verlauf der musiktherapeutischen Einzelstunden mit Osman kann hier nur in Ausschnitten wiedergegeben werden. Die von Osman angefertigten Zeichnungen whrend des Therapieverlaufs finden sich in Mahns 2004, S.|240|ff.
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Der Anfang: »Anstelle einer Eigenanamnese bat ich [Wolfgang Mahns] Osman in der ersten Einzelsitzung, mir ein Bild zum Thema ›Mein Freund‹ zu zeichnen. Seine Zeichnung zeigt einen Jungen mit hocherhobenen Hnden, in der rechten Hand ein Messer, das gegen die ber ihm schwebende Wolke gerichtet ist. In der Wolke steht sein Name. Es gibt fr dieses Bild verschiedene Deutungsmçglichkeiten. So kçnnte Osman sich selbst dargestellt haben. ber sich eine Wolke, die ihn zugleich beschtzt und zwischen ihm und anderen steht [.|.|.] Im Messer als Phallus-Symbol sind Wnsche, Aggressionen ausgedrckt [.|.|.] Es ist ferner anzunehmen, dass sich hier Aussagen ber die Ambivalenz des Schweigens verbergen: ›Ich wrde gerne sprechen, aber es geht nicht, weil ich dann meine Zhne zeigen muss. Und das ist gefhrlich.‹ Am Anfang unserer musiktherapeutischen Aktivitten stand zunchst die Erforschung des Therapieraums und seiner Mçglichkeiten. Osman blieb dabei ziemlich passiv, vor allem, was die Musikinstrumente betraf. Seine Hauptaktivitt war das Zeichnen, wobei ich am Klavier eine Hintergrundmusik machte [.|.|.] Es war verwirrend, ein schweigendes Gegenber anzusprechen, etwas vorzuschlagen, zu informieren, Gefhle zu ußern und dabei Osmans Empfindungen doch intensiv mitzuerleben: den rger, die Traurigkeit, die Wut. [So] kam mir die Idee, wenigstens die Grundaussagen ›Ja‹ und ›Nein‹ durch eindeutige gestische Vereinbarungen festzulegen [.|.|.]« (S.|239|ff.). 3. Stunde: »In der 3. Sitzung entdeckte Osman in einem Schrank eine Kerze und Streichhçlzer, die ich fr festliche Gelegenheiten vorgesehen habe. Er zndete ein Streichholz nach dem anderen an und ließ sie wie Sylvester-Raketen durch die Luft fliegen. Ich verlegte den Spielort nach draußen, wo wir in den kommenden Wochen in einer geschtzten Ecke immer wieder kleine Feuer machten. In diesen wichtigen Handlungen zeigte er mir wortlos, wie viel Feuer in ihm steckte, wie viel Sehnsucht er nach Wrme hatte [.|.|.] Das Spiel mit dem Feuer wies auch hin auf den ungelçsten çdipalen Konflikt: Sehnsucht nach der Mutter, die ihm einerseits die ›kalte Schulter zeigte‹, ihn andererseits auch schlug und sich ihm damit auf sadistische Weise zuwendete« (Mahns 2004, S.|241).
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4. Stunde: »Im Therapieraum war das Thema ›Schlagen und Geschlagenwerden‹. Eine Szene aus der 4. Sitzung: Osman hatte die Puppen und Tiere entdeckt. Er nahm sie und wirbelte sie in der Luft herum, zerrte und zog an ihnen herum, boxte auf sie ein. ›Osman, wollen wir eine Musik machen?‹, fragte ich, als einige Puppen verstreut herumlagen und eine Pause eingetreten war. Osman nickte und steuerte auf Pauke und Bongos zu. Ich begleitete ihn am Klavier und drckte mit der Stimme den Schmerz aus, den ich whrend des Wutausbruchs empfunden hatte. Nach der Musik sagte ich: ›Das klang so, als ob Du jemanden verhauen hast.‹ Osman reagierte, indem er spontan ein Blatt Papier nahm. Er zeichnete mit dem Bleistift [.|.|.] einen weinenden Menschen. Er zeichnete mit krftigem Strich, so dass der Bleistift unter dem starken Druck zu brechen drohte. ber den Weg der verabredeten Gesten fand ich heraus, dass es sich um seine Mutter handelt« (Mahns 2004, S.|241|f.). 17. Stunde: »In der 17. Sitzung [.|.|.] kam Osman auf die Idee, sich Hçhlen zu bauen im Therapiezimmer. Dies hatte er bereits einige Male praktiziert, meist, indem er mich am Klavier zubaute [.|.|.] In dieser Sitzung sollte die Hçhle unter mehreren zusammengestellten Tischen sein, von Wolldecken seitlich abgedunkelt. Ein Paar Bongos sollte mit hinein, ebenso der transportable Kassettenrekorder sowie Filzstifte und Papier. Ich fragte Osman: ›Osman, was meinst du, erlaubst du mir, mit in die Hçhle zu kommen?‹ Er berlegte eine Weile, dann erhob er den Daumen genussvoll zum Ja-Zeichen nach oben. In der Hçhle zeichnete er nun eine Reihe von Bildern, die weiteren Aufschluß geben konnten ber seine innere Welt. Zwischendurch spielten wir eine mal geheimnisvolle, mal wilde Musik auf den Bongos. Ich hatte weiterhin die Aufgabe, die Bilder zu kommentieren, meine Wahrnehmung von Osman besttigen bzw. verwerfen zu lassen, was dieser mit sichtbarem Vergngen tat« (S.|243). Auf den ersten »Hçhlen-Bildern« sieht man »einen Kranken im Bett, der von Drachen, Schlangen, einem Geist und einer Kreuzspinne umgeben ist [.|.|.] Die beiden Drachen scheinen dem Mensche zu Hilfe zu kommen, indem sie die Schlangen mit ihren Krhenfßen packen« (S.|243). Das nchste
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Bild zeigt eine Riesenschlange, die einen Drachen und ein Kind umkreist. Sie versprht ihr Gift gegen das Kind, wird selbst von einem Drachen getroffen und trieft vor Blut. Auf dem dritten Bild ist wieder die Schlange zu sehen, sie liegt am Boden, in ihrem eigenen Blut dahingerafft, whrend das Kind auf ihrem Kçrper triumphierend spaziert (vgl. S.|244|f.). »Nach diesem Bild verließ Osman die Hçhle, nahm sich eine alte Cymbel aus dem Schrank und machte eine rhythmische Musik. Ich nahm Rasseln und sang dazu ›Wir feiern ein Fest, weil die Schlange besiegt ist!‹. Am Schluss warf Osman die Cymbel auf den Boden und traktierte sie heftig mit Fußtritten« (S.|246). Bei dieser Art der Bewltigung innerer Konflikte scheint es sich um eine Befreiung zu handeln, wobei die Schlange symbolisch betrachtet fr Osmans Mutter steht. 19. Stunde: In dieser Stunde »erlebte ich zum ersten Mal, wie Osman sein Lieblingstier, einen großen Affen, zrtlich umarmte. Kurz danach wurde dieser wieder durch die Luft gewirbelt [.|.|.] Ich begleitete diese Spielhandlung, indem ich versuchte, die Bewegung improvisatorisch auf dem Klavier aufzugreifen. Dazu rief ich immer dann, wenn der Affe aufgefangen und verhauen wurde, laut: ›Aua! Aua! Du tust mir weh!‹ Ein Teil dessen, was Osman mit dem Affen macht, so vermute ich, ist ihm selbst angetan worden. In diesem musikalisch-szenischen Spiel bin ich eine Art ›Ersatz-Ich‹, drcke die Schmerzen aus, die Osman nicht in der Lage ist auszudrcken [.|.|.]« (S.|246). 20. Stunde: »Die 20. Stunde war nach bisher acht Monaten gemeinsamer Arbeit rckblickend die zentrale Sitzung, eine Art Wendepunkt. Osman erschien mir als sehr chaotisch und destruktiv. Es fiel mir an diesem Tag besonders schwer, seine Vorschlge oder Anweisungen zu verstehen [.|.|.] Wir machten eine Improvisation, die in einer ruhigen Stimmung beginnt, und die in bestimmten Abstnden durch heftige Trommelwirbel seinerseits durchbrochen wurde. Anschließend fragte ich ihn, ob er ein Bild malen mçchte. Er nickte. Sein Bild zeigte diesmal zwei Menschen im Mittelpunkt, ferner einen kleinen und einen großen ›Super-
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mann‹, die Schlangen, Drachen und Geist bekmpfen. Ein Gegenstand gab mir Rtsel auf. Durch Beschreiben und Fragen erfuhr ich, dass es eine Bombe war. Ich fragte: ›Osman, meinst du, dass eine Bombe hochgeht, dass etwas Gefhrliches geschieht, wenn du anfngst zu sprechen?‹ Daraufhin reagierte Osman sehr impulsiv. Er knllte sein Bild zusammen und hielt es unschlssig in der Hand. ›Was mçchtest du mit dem Bild jetzt machen?‹ Er suchte im Schrank nach einer leeren Kaffeedose und tat das Bild dort hinein. Ich gab dem Behlter den Namen ›Geheimnisdose‹, was Osman sehr zu freuen schien. Hier hinein kamen von nun an alle Bilder, die er in den Stunden malte. Alles, was er ber sich preisgab, fand hier seinen sicheren geheimen Ort« (S.|247). 21. Stunde: Die 21. Stunde »begann etwas ungewçhnlich. Es war ›Sperrmll-Tag‹. Osman zog mich schweigend, jedoch wild gestikulierend, aus dem Therapieraum, zeigte deutlich, was heute fr ›ihn‹ dran war. Ich war neugierig, was er genau vorhatte [.|.|.] Osman erforschte einen Sperrmllhaufen nach dem anderen, war dabei ußerst aktiv, sprang auf alten Matratzen herum, ergriff zunchst auch gerade die gefhrlichen Dinge wie die besagten Flaschen oder zerfetzte eine Styropor-Verpackung. Diese Aktivitten schrieen geradezu nach Resonanz meinerseits. Ich setzte die nçtigen Grenzen deutlich und erklrte ihm die Gefahren [.|.|.] Die Schule war nicht mehr in Sicht. Jetzt hielt Osman Ausschau nach Dingen, die fr ihn wertvoll sein kçnnten. Er zeigte mir stolz seine Entdeckungen und tat sie leise flsternd kund, allerdings in einer mir unverstndlichen Sprache. Einige Gegenstnde – kleine Spielzeugautos, leicht beschdigt, zwei bunte Kreiden, ein ›Fix und Foxi‹-Heft – nahm er mit. Auf dem Rckweg merkte ich, wie das Flstern wieder nachließ. Je nher Osman der Schule kam, desto mehr trat das Verstummen wieder auf. Wieder zurck im Therapieraum, fragte ich: ›Sollen die Schtze hierbleiben? Oder mçchtest du sie mit nach Hause nehmen?‹ Osman signalisierte: Hierbleiben. Auch diese Schtze kamen in die Geheimnisdose, die sich nun langsam fllte« (S.|248|f.).
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24. Stunde: »In der 24. Sitzung ergab es sich [.|.|.], dass Osman ins Zimmer der Schulsekretrin ging und dort telefonieren wollte. Diese spielte das Spiel mit. So telefonierten wir miteinander ber den Hausapparat. Osman vom Apparat der Sekretrin, ich vom Nebenzimmer, dem Schulleiterbro aus. Es entwickelte sich ein kleines Gesprch, zunchst als Frage-Antwort-Spiel, in dem Osman erstmals auch meinen Namen deutlich artikulierte, dann mit Wendung zu kleinen Stimmimprovisationen. Wichtig erscheint mir vor allem das Auflegen und Wiederanrufen: Trennung und erneute Kontaktaufnahme [.|.|.] Osman [hat] seine Stimme wieder entdeckt und traut sich nun auch, sie in der Schule ›çffentlich‹ zu machen [.|.|.]« (S.|249). 27. Stunde: Das letzte Bild malte Osman in 27. Sitzung. Es zeigt ein Haus, ansatzweise mit Stroh bedeckt, aus dem Schornstein kommt Rauch. Man sieht Osman, wie er nach draußen geht und die trkische Flagge hisst. Es sind erstmals keine Tiere, keine Drachen oder Schlangen und auch kein Supermann auf dem Bild zu sehen, ein mçgliches Zeichen fr die Abnahme von ngsten und fr gewachsene Ich-Strke. Osman scheint durch die Beziehung zu seinem Heimatland außerdem mitzuteilen: Ich bin zu Hause. Ich bin zwar als Trke in einer deutschen Schule, in einer fremden, anfangs als feindlich erlebten Umgebung, aber auch hier kann ich das Gefhl von »Heimat« haben (S.|249|f.). Weitere Stunden: »Osman ußerte nun hufiger den Wunsch, seinen neuen Freund Olaf mit in die Therapie zu bringen [.|.|.] Olaf wurde zum Publikum und Korrektiv fr all die Dinge, die Osman und ich miteinander erlebten. Er war zudem Objekt fr Osmans Wnsche nach Bestimmen und Dominieren. Er war schließlich jemand, der bei meinen Vorschlgen spontaner bereit war, mitzumachen und Osman dann mitzog. Dieser Effekt hielt auch an, wenn Olaf nicht dabei war. Wenn Osman traurig war, machten wir eine traurige Musik. Ein wichtiges Thema war Osmans ›Wtigkeit‹, wie er es nannte. Er konnte nun Konflikte mit Klassenkameraden oder den rger ber die eigenen Lernschwierigkeiten vermitteln. Diese Affekte ließen sich nun auch musika-
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lisch-symbolisch ausdrcken [.|.|.] Bald war eine ußere Grenze fr die Musiktherapie gekommen. Die Familie G. hatte sich entschieden, nach ihrem mehrjhrigen Deutschland-Aufenthalt wieder in die Trkei zurckzukehren« (S.|250|f.). Abschiedsstunde: »Die letzte Stunde war ein langes vorbereitetes Abschiedsfest zu dritt – Osman hatte hierzu noch einmal Olaf eingeladen. Eine sehr lange Improvisation ber eine Melodie von Osman zu den Worten ›Bella, bella, bella‹ war die laute und unbeschwerte Schlussmusik. Osman stellte sich vor, er sei ein Zigeuner und ziehe nun durch die Welt. Ab und zu feiern die Zigeuner ein Fest und singen ihr ›Bella, bella‹. Osman sang mit mir gemeinsam aus voller Kehle, ich spielte Klavier, er begleitete sich mit der Trommel. Olaf blieb mit seinen Rumba-Rasseln eher im Hintergrund. Sehr eindrucksvoll fand ich, wie Osman bei diesen Improvisationen inzwischen Gebrauch von seiner Stimme machte [.|.|.] Die Musiktherapie mit Osman endete mit einem letzten Hausbesuch bei der Familie G., die – vollstndig anwesend – ihre letzten Tage zwischen gepackten Kartons verbrachte. Fr mich war berraschend, dass sich dieser Abend zu einem dreistndigen festlichen Essen entwickelte. Herr und Frau G. drckten erstmals so etwas wie Dankbarkeit fr meine Bemhungen um Osman aus und luden mich schließlich mit meiner Familie in eines ihrer Appartement-Huser an dem neuen Wohnort ein« (S.|251|f.).
Auswirkungen der Musiktherapie Im Laufe der Therapie haben sich Osmans Kontakte zu den gleichaltrigen Mitschlern zusehends normalisiert. Durch sein Schweigen reizt er nicht mehr zu Aggressionen. Ihm fllt es aber noch schwer, seine wirklichen Krfte einzuschtzen und so passiert es immer mal wieder, dass er sich in Auseinandersetzungen mit lteren Mitschlern eine »blutige Nase« fngt. Durch den Umzug der Familie G. in die Trkei findet die Musiktherapie ein vorzeitiges Ende. Das Ziel einer fortgefhrten Musiktherapie wre gewesen, Osman »in einer kleineren Therapiegruppe weiter zu sta-
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bilisieren und ihn zu befhigen, auch kompliziertere Gruppenprozesse mit ihren Vorgngen der Auseinandersetzung und Einigung zu bestehen« (Mahns 2004, S.|252). Welche Auswirkungen der Umzug in ein fr Osman unbekanntes und fremdes Land hat, ist schwer vorauszusagen. Mçglicherweise wird er in belastenden Situationen wieder in Schweigen zurckfallen, wenn es etwa zu Schwierigkeiten im Kontakt zu seinen neuen Mitschlern in einer trkischen Schule kommt oder die Lehrer mit Unverstndnis auf seine Entwicklungsverzçgerung, besonders hinsichtlich der Sprachentwicklung, reagieren.
Die multifaktorielle Improvisationsanalyse (MIA) Das Untersuchungsmodell der multifaktoriellen Improvisationsanalyse skizziert den Gang der Untersuchung einer musiktherapeutischen Improvisation. Hierbei werden der »Kontext (Fallstudie als Ganzes), die herausgehobene Bedeutung einer Improvisation (Qualitten der Bedeutsamkeit) mit einer Materialanalyse auf den vier Ebenen Introspektion (Assoziationen), Musik Kontext ▲
Hintergrund des Klienten und des Musiktherapeuten hinsichtlich Musik, Biografie, soziokulturellen Kontext
Musiktherapeut
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Prinzip der vierfachen Analysierbarkeit ▲
Assoziative Ebene (Hördurchgänge)
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visuelle Qualität körpernahe Qualität affektive Qualität musikalische Qualität psychodynamische Qualität transformatorische Qualität
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Bedeutsame Merkmale
Musikalisch-strukturelle Ebene
Prä-, peri-, postimprovisatorische Ebene ▲
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Gemeinsame Geschichte
Klient
Transformation
Psychodynamische Ebene
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Fallbeschreibung ▲
Episode
Hypothesenbildung hinsichtlich der Symbolisierung
Abbildung 2: Multifaktorielle Improvisationsanalyse (Mahns 2004, S.|208|f.)
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(musikalische Strukturen), Psychodynamik (vier Funktionen) und Therapiekontext (therapiemethodische Informationen)« (Mahns 2004, S.|307) verbunden. Kontext Bei der Betrachtung und nheren Untersuchung einer musikalisch-therapeutischen Improvisation ist zu bedenken, dass es nicht den einen| Kontext gibt. Vielmehr gehçren zum Kontext verschiedene Ebenen, die es zu bercksichtigen gilt (vgl. Mahns 2004, S.|210): – der fachliche und persçnliche Hintergrund des Untersuchers/ Therapeuten, – die institutionellen Bedingungen der musiktherapeutischen Praxis, – das zugrunde liegende Behandlungskonzept, – der aktuelle Hintergrund des »Falls« (Symptomatik, Behandlungsauftrag), – die aktuellen Außeneinflsse einer Sitzung. Qualitten der Sinneswahrnehmung als Auswahlkriterien fr bedeutsame Episoden (Bedeutsamkeit) In jedem therapeutischen Prozess finden sich bedeutsame Momente, die unter den aufeinander folgenden Ereignissen (Episoden) sowohl beim Therapeuten als auch beim Patient einen besonders tiefen Eindruck hinterlassen (vgl. Mahns 2004, S.|211). Diese Momente, auch als »meaningful moments« (Amir 1993, S.|1) oder »Aha-Effekt« (May 1958, S.|71) bezeichnet, verweisen im musiktherapeutischen Prozess auf einen Wendepunkt (Loos 1980, S.|301). An bestimmten Stellen scheint sich der Beginn einer Vernderung bemerkbar zu machen, etwas wendet sich, etwas beginnt zu brechen. Das Gewohnte, Bekannte und Vertraute wird verlassen, um eine neue Erfahrung zu machen, festgefahrene Gewohnheiten werden plçtzlich aus einem anderen Blickwinkel betrachtet und wahrgenommen, oder ein Gefhl der Anspannung weicht einer inneren Ruhe und Gelassenheit.
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In der Fallbeschreibung von Osman musste aus einer Flle von Material eine Auswahl an Informationen ber die Person des Jungen, eine Auswahl an Wahrnehmungen und der besprochenen und durchgearbeiteten Themen getroffen werden. Diese Auswahl erfolgte nicht willkrlich, sondern anhand von Merkmalen der Bedeutsamkeiten (Qualitten). Visuelle Qualitt: Hierunter werden alle »ins Auge springenden« sichtbaren Vernderungen gefasst: die Erinnerung an Raum, Lichtverhltnisse, Gestik und Mimik des Partners, an rumliche Verhltnisse wie die Anordnung der Musikinstrumente oder das Verhltnis von Nhe und Entfernung der beteiligten Partner. Wichtig sein kann auch: das Erscheinungsbild des Kindes, ein mçgliches Angespannt-Sein oder Aufgedreht-Sein, das Ankommen in der musiktherapeutischen Sitzung, der erste verbale Austausch, die Kleidung und das Aussehen von Therapeut und Kind, ein fehlendes Instrument, ein geußerter Wunsch usw. Musikalische Qualitt: Mit dem Begriff musikalische Qualitt werden alle »akustischen Ereignisse« bezeichnet, die als »Musik« wahrgenommen und registriert werden (Mahns 2004, S.|216). Zunchst hçrt sich eine Improvisation chaotisch, laut und scheinbar strukturlos an. Um vom Hçren zum genauen Hinhçren zu gelangen, sind einige Faktoren wichtig: So kann sich aus einem Chaos, einem »Heidenlrm«, plçtzlich eine Form herausbilden, es tauchen Wiederholungen auf, eine melodische und/oder rhythmischlineare Struktur wird erkennbar, es gibt dynamische Unterschiede, zwischen den Interaktionspartnern entwickelt sich ein dialogisches Musizieren. Kçrpernahe Qualitt: Der Begriff der kçrpernahen Qualitt stammt von Langenbach (1998). Eine Improvisation mag dem Bewusstsein am wenigsten zugnglich sein – gleichwohl vielleicht am intensivsten –, sie wirkt jedoch auf den Kçrper als Sinnesorgan. So kann sie den Zuhçrer tief berhren oder aber ihn vçllig kalt lassen, sie kann zu Trnen rhren oder Wut und Aggressionen hervorrufen. Mçglich ist auch, dass der Hçrer sich durch das schnelle
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Tempo gehetzt fhlt, er durch die Intensitt in Schweiß ausbricht oder er sich die Ohren aufgrund der Lautstrke zuhalten muss. »Auch eine Improvisation selbst kann als ausgesprochen kçrpernah empfunden werden, eine Empfindung, die dem Vorher vielleicht sogar entgegengesetzt sein kann« (Mahns 2004, S.|216). Affektive Qualitt: Eng verbunden mit der kçrpernahen Qualitt ist die affektive Qualitt. Hufig passiert es, dass man als Therapeut innerhalb einer Improvisation zunchst kein klares und eindeutiges Gefhl fr die Musik hat. In dem Augenblick jedoch, wo fr den Therapeuten »eine Dimension wahrnehmbar wird, die es zuvor nicht gab, scheint sich auch im Gegenber intrapsychisch Bedeutsames zu ereignen« (Mahns 2004, S.|217). Es ist anzunehmen, dass dieses Bedeutsame und Wichtige »im Sinne ›projektiver Identifikation‹ vorbergehend [im Therapeuten] ›geparkt‹ wird« (S.|217). Psychodynamische Qualitt: Eine musikalische Improvisation wird »als in Szene gesetzte Interaktion [verstanden], in der sich etwas fr das Kind lebensgeschichtlich Bedeutsames auf der Ebene der therapeutischen Beziehung (bertragung/Gegenbertragung)« (Mahns 2004, S.|217) zeigt. Die Aufgabe des Therapeuten ist es, dieses »Inszenierte vor dem Hintergrund bestimmter Persçnlichkeitsmerkmale des Kindes sowie deren Geschichtlichkeit (Zusammenhang von Bedrfnis und nicht befriedigend durchlaufener Entwicklungsphase) zu verstehen« (S.|217) und mit dem Kind zu bearbeiten. Transformatorische Qualitt: Hierunter fallen alle Reaktionen des Kindes whrend und direkt nach der Improvisation. An diesen Reaktionen ist abzulesen, »ob auch fr das Kind die Musik als bedeutsam nachvollziehbar gewesen ist« (Mahns 2004, S.|218). Dazu gehçren etwa »spontane stimmliche und verbale ußerungen, Spielhandlungen, ein gemaltes Bild, der Griff zu einem anderen [.|.|.] Musikinstrument, ein geußerter Wunsch [.|.|.]« (S.|218).
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Transformation: Das Prinzip der vierfachen Analysierbarkeit Assoziative Ebene: Jede Musik hinterlsst beim Hçrer Assoziationen, die sehr unterschiedlich sein kçnnen, aber immer etwas mit der gehçrten Musik zu tun haben: Gefhle, kçrperliche Empfindungen, Gedanken, Bilder, Fragen, Geschichten, Erinnerungen, sensorische Wahrnehmungen (vgl. Mahns 2004, S.|219). Die auftauchenden Assoziationen werden »brainstorming-artig zu Papier gebracht« (S.|220), so durcheinander wie sie gerade in den Sinn kommen. Eine Reihenfolge ist unwichtig, da die Improvisation als ein ganzes Werk, als eine Ganzheit betrachtet wird. Anschließend werden die notierten Assoziationen auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede hin untersucht, um sie dann Kategorien zu zuteilen, aus denen sich ein Ordnungssystem erstellen lsst. Musikalisch-strukturelle Ebene: Auf dieser Ebene geht es darum, die Musik in Notenschrift sichtbar zu machen und festzuhalten. Dabei kann es sich lediglich um eine Annherung an das Gehçrte handeln. Fr die Notation muss man die Improvisation auf bestimmte musikalische Mittel hin untersuchen: Rhythmik (Metrum, Tempo, Temposteigerungen, rhythmische Sequenzen, Pausen), Intervalle, Harmonik, musikalische Form (sog. Primrkomponenten), Instrumentation, Einsatz und Handhabung von Musikinstrumenten, Dynamik, Timbre und Intensitt (sog. Sekundrinstrumente) (vgl. Mahns 2004, S.|220). Im Anschluss daran wird das Notierte zusammengefasst, und »hinsichtlich der Wechselbeziehung der Elemente hermeneutisch« (S.|221) ausgelegt. Psychodynamische Ebene: In jeder Improvisation lassen sich vier Funktionen unterschiedlicher Intensitt aufspren (vgl. Mahns 1984, S.|301|f.; Trapp 1975): – Funktion der Einhllung: Die Musik ermçglicht es, zu seinem eigenen Selbst in Kontakt zu treten, mit dem Ziel, sich selbst zu schtzen und sich selbst Sicherheit zu geben. – Funktion der Selbst-Verdoppelung: Beim eigenen musikalischen Spiel schafft der Spieler sich ein »Gegenber«, eine »ima-
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ginre zweite Person«, die Kraft gibt und fremde Mchte und bedrohliche Gefhle abwehrt (vgl. Mahns 2004, S.|221). – Kontaktfunktion: In der Musik begegnen und berhren sich symbolisch zwei (oder auch mehrere) Menschen. – Funktion der Auseinandersetzung: »Musik dient der sensorischen und interpersonellen Auseinandersetzung mit der ußeren Natur« (S.|221). Die Spieler entdecken beim gemeinsamen Musikmachen die ußere Struktur der Instrumente und erfahren und stoßen an ihre eigenen Grenzen. Diese vier Funktionen geben dem Therapeuten »Aufschluß ber Bedrfnisse und Persçnlichkeitsstrukturen des Klienten sowie ber die spezielle Dynamik der Interaktionssituation« (Mahns 2004, S.|222). Therapiemethodische Ebene: In jedem musiktherapeutischen Verlauf kommt es zwischen dem Therapeuten und dem Klienten zu mehreren musikalischen Improvisationen. Wird nun eine Improvisation herausgenommen und genauer untersucht, muss dabei bedacht werden, welche konkreten Bedingungen in geschichtlicher Reihenfolge zum Zeitpunkt der Improvisation vorhanden waren. Hierzu zhlen: – pr-improvisatorischer Kontext: Was passierte vor der Improvisation? Hierzu zhlen die Beschreibung des Raumes, die Gestaltung sowie die Positionierung der Akteure im Raum, der zeitliche Prozess der Ereignisfolgen vor Beginn der Sitzung und gegebenenfalls Merkmale des »Drumherum«. – peri-improvisatorischer Kontext: Was passierte whrend der Improvisation? Hier ist es wichtig, auf den zeitlichen Ablauf der Sitzung einzugehen, an welcher Stelle es zur Improvisation kam, aus welchem Anlass und mit welchem Gefhl. – post-improvisatorischer Kontext: Was passierte und entwickelte sich nach der Improvisation? So kann sich nach dem gemeinsamen Musizieren das Thema ndern, es werden andere Inhalte als vor der Musik angesprochen (vgl. Mahns 2004, S.|222).
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Auswertung der Multifaktoriellen Improvisationsanalyse im Fall Osman Die Funktion der Musik (Kontext) Osmans Kindheit ist geprgt durch schwierige Trennungserlebnisse, die er zu bewltigen hat: Krankenhausaufenthalt, die durch die Berufsttigkeit seiner Mutter hervorgerufenen Trennungen, Besuch der deutschen Schule. Weiterhin bereitet Osman der Umgang mit den zwei Welten »trkisches Elternhaus« und »deutsche Umgebung« große Probleme. Zu dieser Identittsverwirrung kommt die Verwirrung auf Seiten der Eltern hinzu: Der Vater heiratete nach dem Tod seiner ersten Frau sehr schnell deren jngste Schwester. Auch die Rollenverteilung der Eltern ist fr trkische Verhltnisse eine eher unbliche. Whrend die Mutter immer wieder zu Prgel und harten Bestrafungsmaßnahmen greift, verhlt der Vater sich schwach und zurckhaltend. Osmans Stçrung beruht einerseits auf der mangelhaften emotionalen Versorgung durch die hartherzige Mutter, andererseits auf der Schwachheit des Vaters, der mçglicherweise unbewusst hohe Erwartungen an seinen einzigen Sohn stellt. Da Osman diesen Anforderungen nicht gerecht werden kann, reagiert der Vater mit Enttuschung und Rckzug. Die Mutter, die der Ansicht war, dass Spielen eher unwichtig ist, hatte kein Verstndnis fr das kindliche Bedrfnis Osmans nach Spielen und Spielobjekten, was an dem kaum vorhandenen Spielzeug zu sehen ist. Im Musiktherapie-Raum ging Osman zunchst auch recht sprunghaft und zerstçrerisch mit dem angebotenen Spielzeug und Instrumentarium um. Aus diesem Dilemma rettete ihn das Malen, welches er als sein Ausdrucksmittel fr sich entdeckte. Anfangs war fr ihn auch das Musikmachen mit Angst besetzt. Die ersten Improvisationen hatten eher die Funktion eines Rituals, sie zeigten den Anfang und den Schluss der Stunde an. Spter war es fr den Musiktherapeuten mçglich, Osmans Ttigkeiten mit einer Art Hintergrundmusik zu begleiten (»musikalischer Nhrboden«). Die ersten kurzen Improvisationen kndigten etwas
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an, was noch nicht in sprachlich-symbolische Begriffe gebracht werden konnte. Eine weitere Funktion hatte Musik fr Osman bezglich der spezifischen Appellwirkung der Musikinstrumente. Frh interessierte er sich fr die Maracas, Pauke und Bongos. ber diese Instrumente, die seinem Bewegungsdrang entsprachen, kam er zu anderen Instrumenten, die er zunchst zweckentfremdete: Aus Klangstben wurden Bauklçtze, aus Schlgeln wurden Messer, Sbel oder Pistolen. Erst zum Schluss traute er sich an die Blasinstrumente (Kazoo, Lotusflçte) heran. Mit Hilfe von bergangsobjekten wie dem Mikrofon und dem Telefonhçrer konnte Osman seine Stimme wiederentdecken. Insgesamt betrachtet hat die Musik sechs Funktionen im therapeutischen Prozess eingenommen (Mahns 2004, S.|271): – – – – –
Strukturierung der Situation, Einhllung in einen Klang (»musikalischer Nhrboden«), Intensivierung von Gefhlen in der Zeit, Verklanglichung unbewusster Impulse, Identifikation und Auseinandersetzung mit dem Material der Musikinstrumente (Spielzeug-Charakter), – Kontakt und Dialog. Die Qualitten der therapeutischen Wahrnehmung (Bedeutung) Die erste bedeutsame Improvisation entstand in der 4. Stunde. Vor der Improvisation kam es zu folgender Szene: »Im Therapieraum ist das Thema ›Schlagen und Geschlagenwerden‹ [.|.|.] Osman hat die Puppen und Tiere entdeckt. Er nimmt sie und wirbelt sie in der Luft herum, zerrt und zieht an ihnen herum, boxt auf sie ein. ›Osman, wollen wir eine Musik machen?‹, frage ich, als einige Puppen verstreut herumliegen und eine Pause eingetreten ist. Osman nickt und steuert auf Pauke und Bongos zu. Ich begleite ihn am Klavier und drcke mit der Stimme den Schmerz aus, den ich whrend des Wutausbruchs empfunden habe. Nach der Musik sage ich: ›Das klang so, als ob du jemanden verhauen hast.‹ Osman reagiert, indem er spontan ein Blatt Papier nimmt. Er zeichnet mit dem Bleistift einen weinenden Menschen« (Mahns 2004, S.|253|f.).
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Visuelle Qualitt: Die ersten Stunden mit Osman zeichneten sich dadurch aus, dass der Kontakt zwischen ihm und dem Musiktherapeuten nicht auf einem verbalen Austausch beruhte, sondern alle anderen Sinne angesprochen wurden. Kontaktangebote nahm Osman erst einmal nicht an, was zur Unsicherheit auf Seiten des Musiktherapeuten fhrte. Des Weiteren kam beim Therapeuten das Gefhl auf, da er sich besonders korrekt und genau in der Wortwahl ausdrckte, dass er mit einem geistig behinderten Menschen arbeite. Insgesamt ergibt sich folgendes »Bild«: »Fragen an Osman, Beschreibung des Settings, Beschreibung seiner Bilder, Spiel- und Malangebote an ihn, Summen zu meiner eigenen [Wolfgang Mahns] Musik am Klavier. Ansonsten viele Raumgerusche, Autos von der Straße, Kinderstimmen vom Schulhof, Schritte auf dem Boden, Tische und Sthle werden gerckt, ein Eimer mit Wasser wird geholt und abgestellt, ffnen und Schließen der Tr, das Quietschen der Kreide auf der Tafel« (S.|254). Anscheinend hatte die Stille des Gegenbers eine Entsprechung in zahlreichen, einander abwechselnden Aktivitten und Stimmungen gefunden, so dass auf Seiten des Therapeuten nicht nur Stille erlebt wurde. Besonders hervorzuheben sind die Streichhçlzer und die Behandlung der Puppen. Osman war sich sicherlich bewusst, dass der Gebrauch von Streichhçlzern oft mit Gefahr und mit Verboten der Erwachsenen verbunden war. Vielleicht gerade deshalb kann das Benutzen der Streichhçlzer als ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu Objektbezug und Spielhandlung gesehen werden. Auch die Behandlung der Puppen konnte im ersten Moment nicht als eine Spielhandlung gewertet werden. Mit der gemeinsamen Musik gewann diese Szene jedoch eine vorsymbolische Qualitt. Musikalische Qualitt: Am Anfang der Musiktherapie zeigte Osman nicht besonders großes Interesse an den Instrumenten. Er wanderte ziellos durch den Raum, benutzte ab und zu mal ein Instrument, indem er es umwarf oder nur berhrte. Er schien weder den Musiktherapeuten noch irgendwelche Materialen im Raum wahrzunehmen. Musik bedeutet fr ihn zunchst: Der Musikthe-
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rapeut spielt fr ihn, er begleitet ihn in seinen Aktivitten, seiner Wahllosigkeit, Sprunghaftigkeit, Aggressivitt im Raum am Klavier und anderen Instrumenten. In der 3. Stunde gelingt Osman eine erste lngere Musik, ein Pauken-Solo, an der Grenze zur Zerstçrung – wie ein »›die-Instrumente-Verhauen‹ – ohne Pausen, jedoch mit Akzenten [.|.|.] – wie ein Stolpern, das erste rhythmische Segmente bringt« (Mahns 2004, S.|255). Bei der ausgewhlten Musik aus der vierten Stunde gelingt es Osman erstmals, einen Moment bei der Pauke zu bleiben, »das Klanggeschehen folgt einer ersten musikalischen Formgestalt – die Musik hat einen Anfang und ein Ende –, es knpft an die vorangegangene Improvisation an, es gibt Wiederholungen von rhythmischen Elementen, der zum Ausdruck kommende Affekt nimmt auf das Vorher Bezug, es gibt ein erstes Zusammenkommen zweier Partner in der Musik. Aus der Spielform ›Solo mit Zuhçrer‹ [.|.|.] ist ein kleiner Dialog geworden« (S.|256). Kçrpernahe Qualitt: Osmans Schweigen war auch kçrperlich deutlich sprbar. ber weite Strecken entstand durch die kommunikative Unbalance eine Art Schieflage, die zum einen als Gefhl von großer Ferne und Unnahbarkeit| vom Therapeuten wahrgenommen wurde, zum anderen als Spannung im Bauch. Osman schien im Therapeuten zwei gegenstzliche Aspekte seiner Persçnlichkeit kçrpernah »geparkt« zu haben: 1) Unerreichbarkeit und Lhmung, 2) Spannung, Energie, Wollen. »Die Hinwendung zu gemeinsamem musikalischen Handeln ging einher mit einem Qualittssprung hinsichtlich der kçrperlichen Empfindung. Die Unerreichbarkeit und Lhmung vorher – z.|B. in der Puppen-Szene – wich einem Berhrtsein« (S.|256). Whrend Osman selber aktiv wird, indem er sich von der Musik berhren lsst, empfindet der Therapeut die Musik kçrperlich als ein Geschlagen-Werden.| Affektive Qualitt: Mit der Musik nach der Puppen-Szene zeigte sich eine affektive Dimension, die es bisher in dem »inneren Chaos« nicht gab. Zwar konnte man in den Aktivitten Osmans eine gewisse Vitalitt erspren, aber seine Aktionen standen nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit der aktuellen Situation. In
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der Puppen-Szene wurde das »innere Chaos« »anfassbar«. Es zeigte sich »als Schmerz, als rger, als Angst davor, dass die Puppen ›leiden‹ mssen, als meine [Wolfgang Mahns] Identifikation mit den ›Opfern‹, weil es offenbar keine Puppe wert schien, von Osman gehalten und geliebt zu werden. Diese Affekte plçtzlicher Klarheit kçnnen als Vorboten gesehen werden zu einer beginnenden Symbolisierung im Musikalischen« (Mahns 2004, S.|257). Psychodynamische Qualitt: Auf der Kontaktebene herrschte in den ersten Stunden Beziehungslosigkeit und Unerreichbarkeit vor, es kam zu keinem wahrnehmbaren Dialog der Beteiligten, der Kontakt zu den Gegenstnden und Instrumenten beschrnkte sich auf ein Benutzen| und ein Sich-wieder-Entledigen| verbunden mit aggressiven Handlungen. Es schien so, als sei Osman eingekapselt. »Die Einkapselung wich auf einer anderen Ebene besinnungsloser Wut und damit einem deutlich wahrnehmbaren Affekt« (Mahns 2004, S.|257). In der Musik scheint es »um Grenzen zu gehen, Grenzen des Materials: Instrumente, Lautstrke, Tempo. Es gibt ein ›Tter-Opfer-Modell‹ (Osman vs. Puppen, Osman vs. Pauke) im Affektausdruck. Im musikalischen Handeln vollzieht sich jedoch ein Wandel. Osman sprt die Kraft der Zerstçrung, die in ihm steckt. Er findet sie und beantwortet im eigenen Tun und in meiner [Wolfgang Mahns] Resonanz« (S.|258). Osman macht die Erfahrung von Resonanz, die Energien freisetzt und die es ihm mçglich macht, sich auf einen Partner zu beziehen. Transformatorische Qualitt: Nach der Improvisation wechselt Osman die symbolische Ebene. Indem er das Bild eines weinenden Menschen malt, zeigt er, dass die Musik ihn berhrt und erreicht hat, dass sie ihm etwas bedeutet hat. Es scheint ihm ein inneres Bedrfnis zu sein, dieses Bild zu malen. Die Musik, die im ersten Augenblick ziemlich diffus und durcheinander erschien, wird nun »ins Bild gerckt«, sie erhlt eine Form, »die zwar einen realen Hintergrund hat, aber auf der Ebene des ›nur Symbolischen‹ bleibt« (S.|258). Die Sprache als Symbolebene ist fr Osman noch in weiter Ferne, aber durch das Bild ist alles ber die Musik »gesagt«.
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Ergebnis: Bei der Auswahl der Improvisation spielten nach der Betrachtung der sechs Qualitten folgende Aspekte eine besondere Rolle: – Es gab direkt vor dieser Musik ein massives Konfliktgeschehen| (herumfliegende Puppen). – In der Sitzung zuvor ging es um Grenz-berschreitungen| (u.|a. Streichhçlzer, Feuer) (Mahns 2004, S.|271|f.). »Zur Dynamik der ersten Sitzungen gehçrte eine spannungsvolle Unbalance zwischen Geußertem und Zurckgehaltenem, so dass vor dem Hintergrund dieses erste gemeinsame Klanggeschehen den Effekt der Erleichterung| ber eine vernderte Symptomatik hatte« (S.|272). Die Musik bernimmt die Funktion, eine Botschaft zu vermitteln. Gleichzeitig vermittelt sie auch eine Art qualitativen Sprung| in der »Interaktion von Lhmung und Unerreichbarkeit zur affektiven und kçrperlichen Wahrnehmung von Vitalitt und Schmerz«. »Die Resonanz| auf die ›grenzberschreitenden Affekte‹ innerhalb des musikalisch-interaktionellen Handelns scheint einen Wandel zu ermçglichen bzw. vorzubereiten« (Mahns 2004, S.|272). Wie wichtig die Improvisation fr Osman ist, zeigt die nach der Musik angefertigte Zeichnung. Als Belege fr die Bedeutsamkeit der Improvisation| fr das Kind selbst kann auf den im Kontext beschriebenen Affekt des Bleistift-Drckens verwiesen werden, ebenso auf das Bild an sich und den Versuch, sich mit Ja/Nein/ Weißnicht-Gesten zu verstndigen (vgl. S.|272). Innerhalb des gemeinsamen musikalischen Handelns deutet die Musik bereits Dialogisches| im Sinne von Einigung an.
Die Ergebnisse der vierfachen Analyse (Transformation) Assoziative Ebene: Nach dem Durchlauf der vierfachen Analyse (Mahns 2004, S.|258|ff.) kann festgehalten werden, dass unterschiedliche Wahrnehmungen angesprochen werden. Es geht um:
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– Stimmungen| (allgemein) ausgedrckt durch Beschreibungen wie Druck, Spannung, Angst, Aggression; – physiologische Vorgnge| (Kçrperempfindungen) ausgedrckt durch Worte wie Energie, Intensitt, Kraft; – einen spezifischen Zugang zu Objekten| (Spielweise) wie: in blinder Wut auf das leblose Objekt Pauke draufschlagen; – Gesten und Bewegungsfiguren| (innere Bewegungen der Musik) wie dem anfnglichen Warten und Zçgern; – Affekte| wie Destruktion, Lust am Kmpfen, Schmerz, Not, Erschçpfung; – Symbolisierungen| (Formen bzw. Vorformen interaktioneller Einigung bzw. Auseinandersetzung) wie Dynamik von Herausforderung und Antwort, Aktivitt und berrascht-Sein, Pausen als Mçglichkeit der Selbstberprfung (Ich-Ich-Dialog) und Distanzierung vom Geschehen; – Metaphern| wie »ins Bild gerckte« Wahrnehmungen, dargestellt durch Wortbilder, Aphorismen oder Assoziationen (vgl. Mahns 2004, S.|273). Musikalisch-strukturelle Ebene: Bei der Analyse der Primrkomponenten heben sich Harmonie, Rhythmus und Form| hervor. In der Improvisation lsst sich von Harmonie sprechen, »wenn man an die Entwicklung des interaktionellen Zusammenspiels – vom Agieren (Osman)/Anwesendsein (Therapeut) bis hin zur Einigung als Vorform von Dialog – denkt« (S.|275). Das Metrum dient in erster Linie als »Ausgleich fr fehlende Zentrierung im traditionell Harmonischen. Bis zur gemeinsamen Synkope – verstanden als ›Spannungsstau‹ – dient Metrisches als Halt, der im (Unter)bewusstsein des beginnenden Dialogs vorbergehend aufgegeben werden kann« (S.|276). Die plakativen berschriften (»An die Grenze gehen« – »Resonanz« – »Auf der Stelle treten« – »Einigung«) der einzelnen Formteile scheinen mit der Entwicklung der Interaktion am eindeutigsten einherzugehen. Bei der Analyse der Sekundrkomponenten ist das Merkmal der Intensitt| (hier in Form von vier Pausen) besonders hervorzuheben. So wie Osman in Situationen sein Schweigen einsetzt, so bestimmen die von ihm eingesetzten Pausen in der Improvisation das Geschehen, sie »be-
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wirken auch den Fortgang, indem sie einen neuen Formteil innerlich vorbereiten« (S.|276). Psychodynamische Ebene: Fr einen so stillen und schweigsamen Jungen wie Osman ist das Spielen auf der Pauke revolutionr. Das Spielen auf der Pauke zum Beginn der Improvisation kann als eine »Vorform symbolischer Interaktion mit prlogischem Ausdruckspotential« (Mahns 2004, S.|276) verstanden werden. »Spannungen (fehlende Eindrucks-/Ausdrucksbalance) und auf dumpfe Weise unangenehme Gefhle (keine Objektkonstanz, Einsamkeit, ungestillte Sehnsucht) sollen [.|.|.] vertrieben werden (Funktion der Selbstverdoppelung|)« (S.|276). In dem Spiel auf der Pauke werden auch Grenzen getestet, es findet eine Auseinandersetzung mit der ußeren Natur| statt. Im Zentrum steht jedoch die Kontaktfunktion. »Die rasche Entwicklung der Improvisation vom Zerstçrerischen ber die Wahrnehmung des Anderen bis hin zu noch rudimentrer, noch instabiler Bereitschaft zur Einigung und damit Symbolisierung in der Musik zeigt, wie sehr Osman innerlich schon im Kontakt ist. Kontakt ist jedoch noch ambivalent. In die Sehnsucht nach einem Spielpartner – hçrbar in der Synchronisation von Rhythmus, Dynamik und Tempo – mischt sich Konfliktbereitschaft, fr die aber ebenfalls ein Gegenber, ein Resonanzboden bençtigt wird« (S.|277). Therapiemethodische Ebene: Aus dem pr-improvisatorischen Kontext heraus gab es »Grenzberschreitungen« (Feuer), eine gestische Verabredung (Ja, Nein) und viele aggressive Impulse. Neben den Musikinstrumenten befinden sich als weitere Objekte noch Puppen und Tierfiguren im Raum, die eine »konkrete Projektion ›guter‹ oder auch ›bçser‹ Impulse zulassen bzw. begnstigen kçnnen« (Mahns 2004, S.|277). Die Musik bietet Osman die Mçglichkeit, einem direkten Konflikt auszuweichen. »Es ›musikalisiert‹ die in Form einer nicht-musikalischen Spielhandlung geußerten Affekte« (S.|277). Whrend (peri-improvisatorisch) der Stunde erlebte Osman, dass »auf die Puppen-Szene keine Bestrafung erfolgt. Osman vermag die Unzerstçrbarkeit des Objekts (Klang, Instrumente, Mu-
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siktherapeut) zu erleben. Statt einer Unterdrckung von Affekten und Impulsen werden – im Sinne einer Gegenbertragungsreaktion – die Gefhle des Schmerzes geußert, verstehbar in der doppelten Bedeutung von Schmerzußerung des Geschlagenen, aber auch Einfhlung in den Schmerz bei ›Tter‹ wie bei ›Opfer‹« (S.|278). Der Beginn der Improvisation scheint fr Osman zu nahe zu sein, er hlt kurz an, bevor er selbst die Initiative ergreift. Am Ende der gemeinsamen Musik hat man den Eindruck: Sie haben alle ihre Energie gebraucht, ihre unterschiedlichen Anliegen zu synchronisieren und zu einem gewissen Punkt des Verstehens zu bringen (vgl. Mahns 2004, S.|278). Vom Nachher (post-improvisatorisch) kann festgehalten werden, »wie stark Osman whrend der Improvisation beteiligt war, wie diese auf das Vorher reflektierte und wie sie noch nachwirkt« (S.|278). Obwohl nicht gesprochen wurde, wird deutlich, dass die Musik eine Geschichte »erzhlt«, die im Zusammenhang mit der Lebensgeschichte von Osman steht. Im Sinne einer Verdichtung trgt die Musik eine Bedeutung, die durch Transformation auf andere, nicht-musikalische Formen der Symbolorganisation verstehbar wird.
Die Geburt von Symbolen in der Musik: Der Entwurf einer Theorie der Entstehung von Symbolen in der musiktherapeutischen Improvisation Die Frage, die bei dem Entwurf einer Theorie der Entstehung von Symbolen in der musiktherapeutischen Improvisation beschftigt, lautet: »Wie wird ein musikalisches Zeichen| (Gerusch, Signal, Impuls, Motiv), ein Musikinstrument| oder das Spiel auf dem Musikinstrument| zu einer bedeutsamen Geste bzw. zu einem Symbol, d.|h. also, wie wird es durch Bedeutung| besetzt?« (Mahns 2004, S.|284|f.). Fr eine Antwort werden die Symboltheorie von Lorenzer und deren Erweiterung durch Niedecken herangezogen. Vor diesem Hintergrund und der Fallbeschreibung des musiktherapeutischen Behandlungsverlaufs von Osman kçnnen sechs »Stufen musikalischer Symbolbildung« genannt werden:
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VI
Wolfgang Mahns/Natalie Hippel Ebenen
Zustandsformen Charakteristika
Transformation
Übertragung der Arbeit
Übertragung auf Bekräftigung der eine andere Bedeutung Symbolebene (spachl. Metapher, Zeichnung, SelbstDistanz durch Anhören)
▲
Aufgaben d. TherapeutIn
V
Symbolisierung
Arbeit auf einen Zustand hin
Musikalischinteraktioneller
Auseinandersetzung, Kontext, Dialog, Bedeutung
IV
Übergangsobjekte/ Übergangsphänomene
Schwellenzustand
Besetzung des (u. a. Instrumente, Melodien)
Aufgreifen der Besetzungen
III
Protosymbole
Teil eines Zustands
Acting-Out. Tabus Mitgehen, Containing, (vorsymbolische Fragment von Form„Berührung“) bildung vertiefen (Wiederholung)
II
Gesten
Anzeichen für einen Zustand
Schreien, Weinen, Anknüpfen, Halten Greinen
I
Sensorische Ebene
Unklarer Zustand
Affekte, Trauer, Vitalität
0
Kontext
Bereitstellung der Situation
Für das Kind spielen, die Handlung begleiten, Impulse hervorlocken Persönlich-fachlicher Kontext, Behandlungskonzept (Raum, Zeit, Material u. a.)
Abbildung 3: Stufen musikalischer Symbolisierung (Mahns 2004, S.|290)
– – – – – –
sensorische Ebene (Stufe I), gestisch-affektive Ebene (Stufe II), Ebene der Protosymbole (Stufe III), bergangsphnomene und bergangsobjekte (Stufe IV), Symbolisierung (Stufe V), Transformation (Stufe VI).
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Die Grundlage dieser Stufen bilden ein »Kontext, eine bestimmte fçrderliche Situation, die einen ›Nhrboden‹ fr Ausdruck, Entwicklung und Vernderung bietet« (Mahns 2004, S.|289). Nach Niedecken bildet sich ein »System von Interaktionsengrammen[.|.|.], in welchem die leibliche Selbst-Erfahrung des Suglings mit Erfahrungen ber die Umwelt in ihrer kulturellen Bestimmtheit vermittelt wird [.|.|.] Diese Interaktionsengramme [.|.|.] bilden [.|.|.] als gestisch angelegte Figuren die leibliche Grundlage jeglicher Symbolik« (Niedecken 1996b, S.|6; zit. n. Mahns 2004, S.|289). Diese Grundlage, die eine erste Ebene auf dem Weg zur musikalischen Symbolisierung (sensorische Ebene) ist, »ist in der musiktherapeutischen Situation durch atmosphrische Schwingungen im Raum, Schweigen, scheinbar sinnlose Aktivitten, Stereotypien, einen unspezifischen Zugang zu den Objekten im Raum, unter Umstnden ein ungerichtetes Umherwerfen von Dingen charakterisiert« (S.|291). Affekte kçnnen nur unzureichend benannt werden, die Aufgabe des Musiktherapeuten ist es, »diese diffuse Gefhlslage in einen Austausch zu bringen, indem er/sie fr das Kind spielt oder dessen Handlungen gewissermaßen grobmaschig aufnimmt, aber noch keine Richtung vorgibt« (S.|291). Auf der zweiten Stufe, der Ebene der Gesten, kommt es zu einem »Auf-die-Welt-Zugehen«. Hier werden die eigenen Ausdrucksmçglichkeiten (Affekte) ausprobiert ebenso der Raum entdeckt, Gegenstnde, Materialien, Mçglichkeiten und Grenzen des Partners ausgetestet. Dabei sind die Gesten noch recht rudimentr, »sie beinhalten noch kaum die beiden Hauptmerkmale fr Bedeutsamkeit, die Gerichtetheit und die Wiederholung. Gesten und Affekte sind [.|.|.] noch Andeutungen [.|.|.] Der Sinn muss erst innerhalb der gemeinsamen Interaktion entwickelt werden« (Mahns 2004, S.|291|f.). Die Aufgabe des Musiktherapeuten auf dieser Ebene ist es, in der Improvisation »scheinbar zufllig Geußertem und noch nicht ohne weiteres situativ Verstehbarem Resonanz zu geben [.|.|.] Der Austausch dieser noch rudimentren ußerungen ermçglicht es allmhlich, die in ihnen im Keim schon enthaltenen Stimmungen und Bedrfnisse immer mehr zu erkennen und so auch dem Gegenber ein Gefhl von In-Der-Welt-Sein zu geben« (S.|291|f.).
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Auf der Ebene der Protosymbole (Stufe III) treten die Phnomene auf, »die schon mehr sind als sensorische Wahrnehmung oder die kçrperliche Sensation, mehr sind als der ›reine‹ Affektausdruck oder die gestische ›Andeutung‹. Ein Beispiel ist die als erotisch erlebte ›symbolische‹ Berhrung des Gegenbers oder durch das Gegenber in der Musik« (S.|292). Der Musiktherapeut geht auf die bruchstckhafte Formenbildung ein, er wiederholt und besttigt sie und er bernimmt die Funktion des Haltens (»containing«). Somit erkennt er die Existenz der Protosymbole an, ohne sie auszugrenzen. Das auffallende Merkmal der nchsten Stufe (bergangsobjekte und bergangsphnomene) ist, dass hier zum ersten Mal bewusst Getrenntheit wahrgenommen wird, es also zu einer Trennung von »innerer und ußerer Wirklichkeit« kommt. »In diesen Phasen des bergangs, in denen es darum geht, etwas Altes loszulassen, um etwas Neues zu gewinnen, haben bergangsphnomene und bergangsobjekte die Funktion der ›berbrckung‹ (Mahns 2004, S.|293)«. Der Musiktherapeut bernimmt hier die Aufgabe, »individuelle Besetzungen hinsichtlich bestimmter Objekte oder Phnomene zu erkennen, zu akzeptieren und – falls nçtig – zu verstrken« (S.|293). Auf der Ebene der Symbolisierung (Stufe V) kommt es mit den sinnlich-symbolischen Interaktionsformen zum eigentlichen Beginn der Symbolbildung, noch vor der Einfhrung von Sprache. »Sinnlich-symbolische Interaktionsformen tragen z.|B. Lauterlebnisse als protosymbolischen Charakter in sich. Sie stehen fr, erinnern an, sorgen fr etwas und stellen daher gegenber frhen vitalen Interaktionsformen eine neue Qualitt dar« (S.|294). Whrend es in der Stufe IV noch um die Verarbeitung von Trennungserlebnissen geht, ist auf dieser Stufe die Trennung im Kontext der musikalischen Symbolisierung als »musikalisches Probehandeln« (Niedecken 1988, S.|85; zit. n. Mahns 2004, S.|294) bereits ein Stck bewltigt. Kommt es zwischen den Interaktionspartnern (Musiktherapeut und Klient) whrend der gemeinsamen Improvisation zu einem »stillschweigenden« Einvernehmen, ist die Symbolisierung »gelungen«. »Musikalischer Ausdruck ist eine Mitteilung, welche sich konstituiert aus Lautangebot und Aufnah-
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mebereitschaft. Er entsteht in der Interaktion. Erst wo diese gelingt, die Interaktionspartner sich zu einigen vermçgen, wird ein Lautangebot als Ausdruck sinnvoll, und dies zwar fr beide« (Niedecken 1988, S.|84, zit. n. Mahns 2004; S.|294|f.). Auf der Ebene der Transformation (Stufe VI) geht es um die »Organisierung und Systematisierung der Protosymbole« (Niedecken 1996b, S.|8; zit. n. Mahns 2004, S.|295). So ist es im musiktherapeutischen Prozess unabdingbar, »die musikalisch-interaktionellen Ereignisse als Lern- und Erfahrungsprozess nachzuvollziehen und zu verstehen. Ziel ist dabei festzustellen, welche Entwicklungsstufen angeklungen sind, wie diese zu Stande gekommen sind, ob sie Sinn machen, d.|h. Bedeutung haben oder ob sie etwas Kçrperlich-Physisches bewirkt haben« (Mahns 2004, S.|295). Mit Hilfe einer anderen Ausdrucksebene (z.|B. grafische Notation der Improvisation, gestische Vereinbarungen, Bilder und Zeichnungen) lassen im Nachhinein die Qualitt der Musik erkennen. Hierbei handelt es sich um den Versuch, »etwas von den ›stillschweigenden bereinknften‹ und damit von der Beziehungsqualitt der Musik in die nicht-musikalische Realitt hinber zu nehmen« (S.|296).
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Rosemarie Tpker und Bernd Reichert
Morphologische Kindermusiktherapie
Zusammenfassung Der Beitrag stellt einleitend die auf das Denkgerst der Morphologischen Psychologie bezogene morphologisch orientierte Musiktherapie dar. Mit der Formel »Gestalt in Entwicklung« wird versucht, einige Charakteristika der Musiktherapie mit Kindern und Jugendlichen hervorzuheben. Anhand zweier Therapieverlufe (Kind und Jugendliche) werden zum einen die beiden wesentlichen wissenschaftlichen Verfahren der morphologischen Musiktherapie beispielhaft durchgefhrt, zum anderen wird mit ihnen ein morphologisches Konzept im Rahmen stationrer psychosomatischer Behandlung vorgestellt.
Zur Geschichte Das morphologische Nachdenken ber musiktherapeutische Prozesse geht auf die Arbeit der »Forschungsgruppe zur Musiktherapie und Morphologie« (FMM) zurck, die sich im Anschluss an die gemeinsamen Studien im Mentorenkurs Musiktherapie Herdecke (1978–1980) grndete. Die vier Mitglieder, Frank G. Grootaers, Rosemarie Tpker, Tilman Weber und Eckhard Weymann, trafen sich neben der begonnenen praktischen musiktherapeutischen Arbeit zum Austausch und zur Reflexion der Erfahrungen und entwickelten Forschungsmethoden zur wissenschaftlichen Weiterfhrung. Der gemeinsame Bezugspunkt des Interesses war – bei teilweise auch unterschiedlichen fachlichen Herknften und
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ihren entsprechenden wissenschaftlichen Sicht- und Denkweisen – die Morphologische Psychologie Wilhelm Salbers, wie sie am Psychologischen Institut II der Kçlner Universitt von 1959 bis 1993 gelehrt wurde. Die morphologische Psychologie| versteht das Seelische als Gestaltbildung und Verwandlung und wissenschaftlich als einen Gegenstandsbereich mit eigenen Gesetzmßigkeiten, die sich von denen anderer Wissenschaften unterscheiden. Sie geht davon aus, dass die besondere Logik des Seelischen (Psycho-Logik) den Prozessen und Gesetzen der Knste hnlicher ist als denen einer mechanistischen, formalen oder linearen Logik. Sie verfolgt den Grundgedanken, dass im Austausch von Wissenschaft, Kunst und therapeutischer Praxis Erkenntnisprozesse in Gang gesetzt werden, bei denen Kunst und Wissenschaft voneinander lernen kçnnen und in denen das Junktim von Wissenschaft und Praxis die Regeln auch fr die wissenschaftlichen Verfahren bestimmt. Die reflektierte Einbeziehung des Subjekts, die Anerkennung der Geschichtlichkeit seelischer Phnomene, die Bedeutung von Verhalten und| Erleben, die Notwendigkeit der Mitbewegung im therapeutischen Prozess wie in der Wissenschaft sowie ein kunstanaloges Vorgehen sind einige der Merkmale dieser Psychologie, die fr die morphologische Musiktherapie eine besondere Bedeutung haben. (Ein berblick ber die Entwicklung der Morphologischen Psychologie findet sich in Salber 1991; wichtige Werke fr den therapeutischen Zusammenhang sind Salber 1973, 1987, 1997, 2001.) Die Morphologie als Wissenschaft| geht ursprnglich auf J. W. Goethe zurck, der in seinen naturwissenschaftlichen Forschungen erstmals den Begriff der Gestalt einfhrte und ihn zugleich untrennbar mit seinem Gegenpol, der Metamorphose, verband. Merkmale einer morphologischen Wissenschaft, die sich wissenschaftshistorisch stets als Gegenentwurf konzipierte, sind – hier auch in den Naturwissenschaften – die Mitbewegung des Forschers, Ganzheitlichkeit und die Suche nach den Zusammenhngen von Einheit und Vielfalt (zur Geschichte der wissenschaftlichen Morphologie s. Fitzek 1994). Erste Ergebnisse der Forschungsgruppe zur Morphologie der Musiktherapie wurden auf Tagungen und in Aufstzen (Grootaers
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1983, 1985; Tpker 1983, 1987; Weber 1986, 1987; Weymann 1986), Handbuchartikeln (in: Decker-Voigt 1983) und einer ersten Buchverçffentlichung (Tpker 1988) vorgestellt. 1988 entstand dann das »Institut fr Morphologie und Musiktherapie« (IMM) mit dem zustzlichen Ziel, durch eine kontinuierlichere Lehre den morphologischen Ansatz anderen Kollegen zugnglich zu machen. Whrend die praktischen Erfahrungen der Mitglieder der Forschungsgruppe sich hauptschlich auf die Arbeit mit Erwachsenen oder Jugendlichen bezogen, fanden sich durch die Weiterbildungen des IMM nun auch morphologisch Interessierte, die mit Kindern arbeiteten, so dass eine Konzipierung kindermusiktherapeutischer Verfahren unter morphologischen Gesichtspunkten mçglich wurde. Diese Ausweitung intensivierte sich dadurch, dass neben den privatrechtlichen Weiterbildungen des Humanistische Psychologien qualitative
Goethe Gestalt-
Methoden
psychologie Psychoanalyse
Selbst- und ObjektBeziehungstheorien, Neuere Entwicklungspsychologie
Morphologische Psychologie Anthroposophie
Morphologische
anthropos. Musiktherapie
Musiktherapie
Nordoff/RobbinsMusiktherapie veränderte Ästhetik des Hörens
Improvisation
Psychoanalytische Musiktherapie
Neue Musik
Abbildung 4: Historische und inhaltliche Einflsse auf die Morphologische Musiktherapie
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IMM das morphologische Denken seit 1990 auch in staatliche Musiktherapieausbildungen eingebunden ist. Der erste morphologische Artikel zur Kindermusiktherapie erschien 1993 von Anke Esch. Zur Orientierung seien einige historische und inhaltliche Einflsse sowie Verwandtschaften zu anderen Richtungen skizziert (Abbildung 4). Weitere vergleichende Ausfhrungen finden sich in Drewer (2000) und Tpker (2001).
Gestalt in Entwicklung Eine morphologische Orientierung meint primr kein bestimmtes Verfahren oder Vorgehen in der Kindermusiktherapie, sondern vielmehr eine allgemeine psychologische Sichtweise, eine bestimmte Mçglichkeit der Reflexion, eine besondere Art, Fragen zu stellen. Sie kann daher mit detaillierteren Anstzen, die zum Beispiel strker auf konkrete musikalische Spielformen zentrieren oder von Erfahrungen mit bestimmten Krankheits- oder Stçrungsbildern oder bestimmten Altersgruppen ausgehen, in eine fruchtbare Verbindung treten und dabei zu durchaus unterschiedlichen (wenn auch nicht beliebigen) Konzeptentwicklungen fhren. Obschon in den bisherigen Ausfhrungen psychotherapeutische Anstze berwiegen, sind vom Ansatz her sowohl psychotherapeutisch als auch heilpdagogisch ausgerichtete Aufgabenstellungen der Musiktherapie von der Morphologie her konzipierbar, zumal es auch eine morphologisch orientierte Pdagogik gibt (Wolfgang Baßler, Universitt Bonn; Linde Salber, Universitt Kçln; Erich Westphal, Universitt Oldenburg). Ebenso lsst sich zwar konstatieren, dass morphologisch orientierte Kindermusiktherapeuten vorwiegend mit musikalischer Improvisation arbeiten, ergnzt durch das Spielen im weiteren Sinne und die Sprache. Dennoch ist damit aber anderes, wie Musikhçren, Lieder singen oder schreiben, ein paar Gitarrengriffe lernen, nicht grundstzlich ausgeklammert, sondern in seiner jeweiligen Bedeutung fr die Entwicklung des Kindes wie die therapeutische Beziehung zu verstehen und gemß diesem Verstehen zu handhaben. Gerade die Behandlung von
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Kindern und Jugendlichen, darber sind sich die meisten Kindermusiktherapeuten einig, bedarf einer Offenheit gegenber dem, was im Therapieraum »erlaubt« ist und einer Vielfalt von Geschehensformen, damit das Seelische seinen Weg findet (vgl. WltringMertens 1999; Reichert 2001). Die besonderen Aufgaben und Spannungsfelder einer Musiktherapie mit Kindern kçnnen wir uns aus Sicht der Morphologie von einer »Gestalt in Entwicklung« aus verdeutlichen und damit einen »roten Faden« in dieser Vielfalt gewinnen. Whrend in der Arbeit mit Erwachsenen zunchst das Gewordensein, die »feste« (gelebte) Gestalt im Vordergrund der therapeutischen Arbeit steht, sind wir in der Arbeit mit Kindern stets zugleich mit dem Gegenpol konfrontiert, dass Werdendes sich formt und zur Formung aufruft. Zwar spielt auch bei Kindern, die in eine Musiktherapie kommen, Gewordenes immer schon eine Rolle, und umgekehrt drngt auch im Erwachsenen immer etwas auf Entwicklung, aber das Verhltnis der beiden Pole ist in der Kindertherapie ein irgendwie| anderes. Die Notwendigkeit herauszufinden, wie| es jeweils (anders) ist, bezogen auf Typisierbares (Alter, Geschlecht, Art der Stçrung, der Behinderung) wie auf unvergleichbar Individuelles, macht die besondere Kunst der Kindertherapie aus. Wie viel Struktur (Strukturierungshilfe) braucht das Seelische in welcher Entwicklungsphase? Was formt sich (von innen heraus), was muss (von außen) an Form angeboten sein, damit Keimhaftes, Angelegtes sich ausformen kann? Welcher Ordnungen und Anordnungen (Rahmenbedingungen, Material, Beziehung, Einflussnahme, »Kommen-Lassen«) bedarf es, damit ein Kind sich Welt aneignen und das Eigene des Kindes sich in der Welt ausbreiten und gestalten kann? Welcher Begrenzungen bedarf das kindliche Seelische, welcher Ausdruckshilfen? Was muss offen sein? Was fest? Was beweglich? Antworten auf diese Fragen sind abhngig vom Alter des Kindes wie von seiner Eigenart, von mitgebrachten Behinderungen und Begabungen wie von den Erschwernissen und Fçrderungen durch die Umgebung des Kindes. Nicht unterschtzen sollte man dabei allerdings, dass die gegebenen| Antworten verschiedener Therapeuten immer auch abhngig sind davon, wie viel Offenheit sie
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selbst wagen und ertragen kçnnen, wie viel Struktur sie selbst glauben haben zu mssen. »Gestalt in Entwicklung« meint, auf der Ebene des konkreten Handelns wie der therapeutischen Haltung, dass es hier nicht darum geht, feste| Verordnungen aufzustellen, sondern dass eher eine flexible Schwebe anzustreben ist, die so viel Gestaltungshilfe anbietet wie nçtig, und so viel Selbstwerdung der sich entwickelnden Gestalt erlaubt wie mçglich. »Gestalt in Entwicklung« verweist auf die wesensmßig paradoxe Gegenwrtigkeit des Selbst und seiner Entwicklung: Das meint, dass da| immer schon etwas ist, was sich dennoch erst entwickeln muss; dass es| seine Entwicklung in sich trgt und sich dennoch nur im Austausch mit Anderen entwickeln kann. Auch in der morphologischen Musiktherapie nutzen wir in diesem Zusammenhang die Forschungen Daniel Sterns (1989), wenn es um die Phasen und Strukturbildungen dieser Selbstentwicklung im Austausch mit der Entwicklung des Anderen (im Sinne des im Kinde reprsentierten Anderen) geht. Aber auch ltere Strukturbilder, die um »Orales«, »Anales« und den Mythos vom dipus zentriert sind, kçnnen durchaus eine Hilfe sein, wenn es in der Musiktherapie darum geht zu verstehen, warum ein Kind etwas Bestimmtes tut oder unterlsst, kann oder nicht kann, leiden oder nicht leiden kann. Whrend wir in der Behandlung Erwachsener danach suchen werden, dass die nicht gelebte (verborgene) Gestalt – die verwirrend, stçrend, ungeliebt, unerkannt, unerhçrt im Hintergrund dennoch mitwirkt – sich in der Musik wie in der gesamten therapeutischen Beziehung ausdrcken und zeigen kann, werden wir in der therapeutischen Arbeit mit Kindern meist auch| daran mitwirken, bestimmte Zge am Ausleben zu hindern und sie damit in den Hintergrund zu drngen. Das ist gemeint, wenn gesagt wird, dass (Musik-)Therapie mit Kindern immer auch pdagogische, erzieherische Zge trgt. Mit der Aufforderung: »Lass es sein!« (nach H. J. Berk die »klassische Deutung« in der Kindertherapie, vgl. Berk 1992, S.|66 u. 73) wollen wir nur auf der ußeren Bhne bewirken, dass etwas nicht| getan wird. Psychologisch betrachtet meint sie zugleich, dass wir (auf der inneren Bhne) einem Impuls des Seelischen einen be-
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stimmten Platz weisen, ihn in diesem Sinne »deuten« (mit dem Finger zeigen). Wir schließen damit einen Impuls, einen Verwirklichungswunsch, einen Affektumsatz von der Beteiligung an der sich als Hauptfiguration| ausbildenden Gestalt aus. Dieser Aufforderung zu folgen, bedeutet dementsprechend, aus der Perspektive des Kindes, nur auf der ußeren Handlungsebene ein Nicht-Tun, mit dem innerlich ein bisweilen durchaus schwieriges Tun (dieses Etwas woanders| unterbringen zu mssen) einher geht, was man Kindern in einer solchen Situation oft durchaus anmerkt. Zugleich wissen wir, dass ein solcher Impuls (bzw. das in ihm Wirksame) sich nicht ein fr alle mal »erledigen« lsst, und dass wir ihm mit dieser »Deutung« zugleich einen anderen Platz| weisen, in einer Art Nebenfiguration|; oder ihn auffordern, spter, in verwandelter Form, zurckzukehren (»So| nicht!«). Zum Therapeutischen gehçrt an dieser Stelle allerdings auch, dass diese Prozesse und die mit ihnen einhergehenden Leiden ihren Ausdruck finden drfen (in der Musik, im Spiel, in Worten, im Schweigen, im Widerstand), dass sie gehçrt und verstanden werden. Verstanden-Werden meint dabei zunchst »Im-Therapeuten-empathisches-Verstndnis-Finden« und erst darber hinaus eine Ebene der verbalen Mitteilung fr das Kind zu finden, dieses Verstehen mit dem Kind noch einmal zu teilen (also: deuten| im engeren Sinne). Die Musik ist dabei nicht nur therapeutisches Medium, sondern – als Angebot der kulturellen Welt des Kindes – auch eine Mçglichkeit des seelischen Unterbringens, die nicht nur im Therapieraum genutzt werden kann, sondern darber hinaus auch alltagstauglich ist. Kinder kçnnen aus der Musiktherapie auch »mitnehmen«, dass in der Musik Platz ist fr ansonsten verpçnte Gefhle, fr Verbotenes, Sperriges und Zerreißendes. Sie kçnnen erleben, dass Musik ansonsten fehlende Besttigungen anbietet, dass durch die Verwandlung in Musik das mit Applaus belohnt, was zuvor (in nicht symbolisierter Form) auf Ablehnung oder Empçrung stieß, dass Musik verbindet und bei der Identittsbildung hilft. So kann die Musiktherapie von Kindern und Jugendlichen auch genutzt werden, um eine weitere kulturelle Mçglichkeit zu gewinnen, die sie bisher nicht ergreifen konnten – sei es, weil sie ihnen nicht wirklich begegnete, sei es, weil ein Stck Ver-
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mittlung fehlte –, als eine Art durchaus gewnschte Nebenwirkung. Das kann dann mit Hilfe der Musikpdagogik in der Schule oder einem anderen Lebensbereich weitergefhrt werden, sei es in einer Band oder im Posaunenchor, im Schulchor oder in der gemeinsamen musikalischen Leidenschaft einer Peergroup, am Instrument, am PC oder als »Fan« einer bestimmten Gruppe. Auch hier finden sich also bergnge von der Musiktherapie zurck zur Musikpdagogik. Fragt man musiktherapeutische Kolleginnen und Kollegen, die in beiden Bereichen arbeiten, nach einer differenzierenden Unterscheidung des Therapeutischen zum Pdagogischen, so wird (aus der Perspektive des Erwachsenen) als das Markanteste die Mitbewegung| als Charakteristikum der Musiktherapie genannt im Gegensatz zur Vorbereitung und Richtungsbestimmung des Geschehens beim Unterrichten. Auf die »Gestalt in Entwicklung« zu achten heißt so auch, dass wir mit der Musik nicht ein Mittel beanspruchen, welches knstlich fr die Therapie konstruiert wurde, sondern dass die musiktherapeutische Behandlung nur ein Sonderfall einer Seelenbehandlung ist, die das Seelische auch im Alltag kennt, die unsere Kultur dem sich entwickelnden Selbst sowieso zur Verfgung stellt. So kann es manchmal sein, dass die Musiktherapie hier nur ein zufllig in der Umgebung eines Kindes fehlendes Zwischenstck bietet, das die Selbstbehandlung des Kindes dann ergreifen kann. Das kann kindermusiktherapeutische Behandlungen bisweilen ber die Wirkung, die ihr selbst zuzurechnen ist, hinaus so aussichtsreich machen. Damit kommt allerdings auch eine weitere Bedingung der Kindermusiktherapie in den Blick, die wir als das Dritte im Behandlungsauftrag| bezeichnen kçnnen. »Gestalt in Entwicklung« heißt auch, dass die psychologische Einheit, die es hier zu behandeln gilt, noch keine klaren Grenzen hat, dass sie weniger als beim Erwachsenen in sich| psychologisch funktioniert. In unterschiedlicher Ausprgung gehçren andere (Eltern, Geschwister, Großeltern, Schule, Lehrer, Betreuer) mit zu der Gestalt, die der Musiktherapeut behandeln muss, und zwar doppelt: mittelbar im Kind selbst (das ist beim Erwachsenen auch nicht anders) und un-
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mittelbar direkt durch Elterngesprche, Kontakte mit der Schule und hnliches. Der Behandlungsauftrag der Kindermusiktherapie ist daher ußerst komplex. Er ist weder gleichzusetzen mit dem, was zuweisende rzte verschreiben, Eltern an Vernderung wnschen oder Lehrer als Abweichung beschreiben, noch ist er etwas »ganz anderes«, jenseits der Anliegen oder Klagen der Erwachsenen. Zum einen gilt herauszufinden, womit das Kind selbst den Musiktherapeuten »beauftragt«, was es in den wenigsten Fllen wçrtlich zu formulieren weiß, aber in den meisten in einer symbolischen Form mitteilt, wenn es die Situation der Therapie erst einmal in seiner Besonderheit verstanden hat und der Therapeut im Sinne einer offenen Schwebe zuhçrt. Zum anderen gehçrt zum Behandlungsauftrag aber auch, den Zusammenhang zu finden| zwischen diesem Auftrag des Kindes und dem der Erwachsenen. Die Organisationsformen dieses Dreieckverhltnisses| (wer redet mit wem worber, wann, in wessen Anwesenheit oder Abwesenheit) werden dabei ebenso Einfluss auf die Entwicklung der Behandlung nehmen wie das innere| Verhltnis, welches der Musiktherapeut zu den wichtigen Bezugspersonen des Kindes gewinnt (Solidarisierungen, Rivalitten, Verstndnis, Wut, rger, Besserwisserei) und wie er dieses Verhltnis und seine Gefhle zu den Bezugspersonen des Kindes reflektiert und bearbeitet. Der Musiktherapeut muss in der Kindertherapie besonders damit rechnen, dass seine Mitbewegung nicht nur vom Kind selbst angestoßen wird, sondern dass die Einheit, auf die er eine Resonanz gibt oder empfindet, eine umfassendere ist. So muss zum Beispiel ein im Therapeuten aufkommender »Adoptionswunsch« nicht unbedingt eine Resonanz auf eine komplementre Regung des Kindes sein, sondern kann ebenso eine Reaktion auf einen frheren Abtreibungsimpuls der Mutter oder eine aktuelle Verstoßungsphantasie der Eltern sein. Auf der Ebene des Methodisch-Werdens tritt hier strker als in der Arbeit mit Erwachsenen ein Zusammenwirken verschiedener methodischer Eingriffe – auch auf die grçßere Gestalt der Familie – in den Vordergrund. Im Falle Mira (s. u.) wird zum Beispiel deutlich, wie musiktherapeutisches Behandeln, ein Training, Behandlungshilfen fr andere Mitglieder der Familie ineinander
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greifen mssen, damit die im Kindlichen steckengebliebene Gestalt sich weiter entwickeln kann.
Forschung und Evaluation In der morphologischen Musiktherapie wurden verschiedene Forschungs- und Evaluationsmethoden entwickelt, die auch auf die Kindermusiktherapie angewandt werden kçnnen. Da das Junktim von Forschung und Praxis ein wichtiger Grundsatz des morphologischen Ansatzes ist, werden die beiden wichtigsten in den beiden folgenden Kapiteln in Anwendung auf zwei Fallbeispiele dargestellt. ber diese beiden Methoden hinaus wurde ein Leitfaden zur Hilfe bei der Protokollierung von Erstkontakt, ergnzendem Interview (etwa mit Eltern, Erziehern) und Therapiestunden vorgelegt, der auch unabhngig vom wissenschaftlichen oder methodischen Ansatz als Strukturierungshilfe genutzt werden kann (Tpker 1993). Eine Variante fr die Arbeit mit geistig Behinderten, unabhngig vom Alter, findet sich bei Irle (2001). Ebenfalls eine methodische Variante, hier in Bezug auf das Verfahren der Beschreibung und Rekonstruktion, entwickelte Spliethoff (1995), die den Rahmen des Beschreibungsmaterials ber die Improvisation hinaus erweiterte, was auch fr die Kindermusiktherapie allgemein von Interesse sein kçnnte, da auch hier oft nicht abgeschlossene Improvisationen die sinnvollen psychologischen Einheiten sind, von der eine Analyse ausgehen kann. Die morphologischen Grundgedanken und Evaluationsmethoden fanden eine Anwendung auf die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen in verschiedenen Diplomarbeiten des Zusatzstudiengangs Musiktherapie an der Universitt Mnster (Plum 1991; Fischer-Rckleben 1992; Maurer 1992; Otto 1993; Funke 1994; Almodt 1995; Schfer 1996; Otterbein 1996; Guth 2002). Dabei spielten hufiger psychoanalytische und entwicklungspsychologische Aspekte ebenfalls eine Rolle in der Auseinandersetzung. Stiff (1995) verband in ihrer Arbeit den morphologischen Ansatz mit der Orff-Musiktherapie. Zwei weitere Diplomarbeiten sind unter dem Titel: »Raum zum Spielen – Raum zum Verstehen. Musik-
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therapie mit Kindern« als Buchverçffentlichung im Rahmen der Buchreihe »Materialien zur Musiktherapie« erschienen (Irle u. Mller 1996). Auch diese beiden ausfhrlichen Fallberichte, mit einem Internatsschler und einem mutistischen Jungen, zeigen neben der Anwendung der wissenschaftlichen Verfahren auch eine enge Verbindung zum psychoanalytischen und entwicklungspsychologischen Denken sowie – im Falles des Internatsschlers – zu den institutionellen Rahmenbedingungen und ihren Auswirkungen auf die Behandlung selbst. Weitere Arbeiten sind auf den Bereich der Schule zentriert (Tpker et al. 2005).
Methodik und Praxisbeispiele Behandlungsrahmen Genauso wie psychotherapeutische Behandlung allgemein nicht losgelçst vom kulturellen und gesellschaftlichen Hintergrund zu sehen ist, muss auch beim Versuch, ein morphologisches Musiktherapiekonzept darzustellen, der Rahmen, in dem Behandlungen stattfinden, betrachtet werden. Ambulante Musiktherapieangebote fr Kinder und Jugendliche, zum Beispiel im Rahmen von Privatpraxen oder Musikschulen, sind relativ selten, die Mehrzahl der Behandlungen findet in Institutionen statt – in sozialpdagogischen Einrichtungen, in der Kinder- und Jugendpsychosomatik oder -psychiatrie. Der Einfluss von Settingvariablen auf das Therapiegeschehen wurde noch kaum systematisch untersucht, gleichwohl von vielen Kollegen versprt. Seidel und Aurora (2002) haben eine entsprechende Untersuchung solcher Variablen bei ambulanter und stationrer Musiktherapie unter dem Begriffspaar »Alltagsferne – Alltagswirklichkeit« analysiert. Fr die Arbeit mit Jugendlichen reflektiert Reichert (2001) die Bedeutung des Behandlungs-Kontextes im stationren Rahmen aus Sicht der morphologischen Musiktherapie. Beispiele sowie eine kritische Reflexion des Zusammenhangs schulischer Rahmenbedingungen und musiktherapeutischer Arbeit finden sich in Tpker, Laabs und Hippel (2005).
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Der Rahmen fr den vorliegenden Entwurf ist der Bereich Psychosomatik der Universittskinderklinik in Mnster. Hier werden Kinder und Jugendliche von 6 bis 18 Jahren behandelt mit schwerpunktmßig folgenden ICD-10-Diagnosen: neurotische, Belastungs- und somatoforme Stçrungen; Verhaltensaufflligkeiten mit kçrperlichen Stçrungen und Faktoren; Persçnlichkeitsund Verhaltensstçrungen; Entwicklungsstçrungen; Verhaltensund emotionale Stçrungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend. Hinzu kommen Patienten mit seelischen Stçrungen im Zusammenhang mit chronischen kçrperlichen Erkrankungen wie zum Beispiel Diabetes mellitus, Cystische Fibrose oder HIV-Infektion. Patienten mit einer psychotischen Erkrankung als Primrdiagnose werden hier nicht aufgenommen, es kann aber durchaus vorkommen, dass sich ein solches Stçrungsbild aus einer anderen Aufnahme-Symptomatik entpuppt und man dann entscheiden muss, ob ein anderes stationres Umfeld bençtigt wird. Eine stationre Intervention bndelt eine ganze Reihe von Therapieangeboten, die durchaus parallel Anwendung finden und in deren Kanon Musiktherapie sich positionieren muss (z.|B. Kçrpertherapie, Kunsttherapie, diagnosespezifische Gruppen). Jede Patientin, jeder Patient hat einen Einzeltherapeuten (Arzt, Psychologe, Musiktherapeut), der die stationre Fhrung des »Falles«, die Einzel-Psychotherapie, die Familienbehandlung und administrative Aufgaben bernimmt. Dabei ist die therapeutische Ausrichtung je nach Ausbildung der Therapeuten unterschiedlich, gemeinsames Grundverstndnis ist aber die Vorstellung einer »multifaktoriellen« Verursachung der Erkrankung und die entsprechende »multimodale« Behandlung in einem Kontext, in dem der gesamte »Alltag« zur Therapie wird. Der Musiktherapeut bernimmt die Rolle als »Hauptbehandler« ebenfalls, so dass Musiktherapie als alleiniges Psychotherapieverfahren angewandt wird, ebenso wie sie als »Nebenbehandlung« vorkommt. Die Kategorisierung als Haupt- und Nebenbehandler rckt nicht nur semantisch in die Nhe des morphologischen Begriffspaares von Haupt- und Nebenfiguration, diese Settingvariable kann es durchaus mit sich bringen, dass sich in der Musiktherapie das (mçglicherweise ungeliebte) Nebenbild in ganz anderen|
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Themen, Verhaltensweisen, Gefhlen ausbreitet, als dies beim Haupttherapeuten der Fall ist, mit allen positiven und negativen Auswirkungen auf den Behandlungsprozess. Wichtig ist das Zusammenfhren der unterschiedlichen Bilder in ein gemeinsames Verstndnis des Falles, zum Beispiel in Teamsupervisionen. Die Gesamtgestalt aller an einer stationren Behandlung Beteiligten bildet einen mehr oder weniger bewussten und reflektierten »Seelenbetrieb« aus (vgl. Grootaers 2001), der nicht ohne Wirkung auf die einzelnen Behandlungselemente bleibt und dem gerade in der Kinder- und Jugendbehandlung mit ihren vielfltigen Beziehungsangeboten starke Beachtung geschenkt werden muss.
Methodische berlegungen »Methoden sind Formen, die sich nicht von ›inhaltlichen‹ Wirksamkeiten trennen lassen. Jede (methodische) Behandlung schließt ein Sinnverstndnis von seelischer Wirklichkeit in sich – jede sachbezogene Aussage erformt oder behandelt Wirklichkeit« (Salber 1980, S.|19). Gemß dem Sinnverstndnis seelischer Wirklichkeit von Kindern und Jugendlichen als einer »Gestalt in Entwicklung« bekommen Interaktionsformen und Interventionen in der Musiktherapie mit diesem Klientel eine Bedeutung in Bezug auf die bergreifenden Ziele, Seelisches in Gang| oder in Szene| zu setzen, sich ausbreiten zu lassen oder Begrenzungen zu finden. Hierzu kommen bei Jugendlichen vielfltige musikalische Aktivitten zum Tragen, einschließlich der freien Improvisation. Bei Kindern bis zum Alter von circa elf Jahren hat zustzlich die Inszenierung in Rollenspielen oder in einem unbewussten Handlungsdialog einen großen Stellenwert (vgl. Reichert 1996, 2001). Mit welchen Formen gearbeitet wird, hngt vom Entwicklungsstand und vom »Kçnnen« des Kindes ab, auch der Grad der Aktivitt des Therapeuten bezieht sich darauf, wieviel vom Kind kommt oder was angestoßen werden muss im Sinne eines Anbietens, das Entwicklung, Ausbreitung, In-Szene-Setzen und Suchbewegungen mçglich werden lsst.
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Eine solche Vielfalt an musikalischen Inhalten und die Erweiterung durch szenisches Handeln sowie die vom Therapeuten geforderte Offenheit solchen Prozessen gegenber verlangen nach einem theoretischen Bezugssystem und methodischer Rckkopplung. Anhand zweier Falldarstellungen sollen im Folgenden zwei Untersuchungsinstrumente der Morphologischen Musiktherapie dargestellt werden: eine Verlaufsuntersuchung in der Systematik der vier Behandlungsschritte und ein Querschnitt, der das Verfahren Beschreibung und Rekonstruktion aufzeigt.
Vier Behandlungsschritte Mira, zehn Jahre: Kontrolle aufgeben – Zugnge gewinnen Psychologische – und damit auch musiktherapeutische – Behandlungen sind Entwicklungswerke, die modelliert werden durch Leiden-Kçnnen, Methodisch-Werden, Anders-Werden| und Bewerkstelligen.| Diese vier Schritte bieten eine Systematik zur Untersuchung und Strukturierung therapeutischer Behandlungen an. Sie stellen in vier Versionen Notwendigkeiten eines Werkes in Entwicklung heraus und bieten gleichzeitig einen Bezugsrahmen und eine methodische Orientierung fr die Vielfalt der Phnomene. Die vier Schritte sind nicht als feste Reihenfolge zu denken, vielmehr bilden sie eine Rekonstruktions- und Einordnungsmçglichkeit von Aspekten einer Behandlung, die niemals einem strengen Nacheinander folgt. Leiden-Kçnnen: Im Leiden-Kçnnen ist ein Zweifaches aufgehoben, das Leiden, das in die Therapie fhrt und das, was man gut leiden kann, das Kçnnen, die Fhigkeit einer Lebensmethode. Das Scheitern und das Funktionieren, das die Not bisher wenden konnte. Die Frage nach dem Leiden-Kçnnen und Nicht-LeidenKçnnen fhrt gerade auch bei Kindern und Jugendlichen zur Frage nach dem Arbeitsbndnis, nach dem Behandlungsauftrag, der zunchst ja oft von außen kommt und fr den Patienten selbst mit dem Therapeuten neu und unter Umstnden anders herausgestellt wird als durch die Bezugspersonen.
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Die zehnjhrige Mira wird von ihrer Mutter zur stationren Behandlung gebracht, weil die Situation in der 5. Klasse der weiterfhrenden Schule nicht mehr tragbar war. Mira wrde tagsber und gelegentlich auch nachts einnssen und hufiger auch einkoten. Bisher htten die Mitschler still gehalten und die Schule htte durch diverse Arrangements die Auswirkungen abgemildert, nun drohe aber die soziale Isolation und Stigmatisierung, so dass von Seiten der Schule auf eine stationre Intervention gedrngt wurde. Es ist dies die zweite stationre Behandlung, in der 4. Klasse wurde Mira bereits fr zehn Wochen in einer anderen Klinik behandelt, die Symptomatik sistierte damals, trat aber sptestens nach dem Schulwechsel erneut auf.
Einige anamnestische Daten: Mira war nie ganz sauber oder trokken gewesen, eine Klingelhosenbehandlung in Eigenregie war ebenfalls nur kurzzeitig erfolgreich. Whrend des Kindergartenbesuchs bemerkten die Erzieherinnen an ußerungen und Verhaltensweisen ein aufflliges Verhltnis zum Vater, Mira fhle sich abgelehnt und sei eiferschtig auf den Bruder. Sonstige Aufflligkeiten waren der Mutter unbekannt, immerhin empfahl der Kindergarten damals eine ambulante Spieltherapie, die ber eineinhalb Jahre durchgefhrt wurde. Im Verlauf der Grundschule fiel der Lehrerin auf, dass Mira hufig sehr bedrckt war. Sie htte sich vom Vater drangsaliert und nicht mehr geliebt gefhlt. Die Lehrerin berichtet von einer »rapiden Verschlechterung der Konstitution, Belastbarkeit, Gesundheit und Psyche« des Mdchens. Obwohl eine motivierte und gute Schlerin, habe ihre Symptomatik schnell zu einer sozialen Isolation in der Klasse gefhrt. Soweit die fremdanamnestischen Angaben dazu, worunter die Umwelt litt. Das Mdchen selbst saß in der Aufnahmesituation klammernd auf Mutters Schoß. Sie beantwortete keine Fragen, ußerte sich hçchstens korrigierend zu Aussagen der Mutter, verkroch sich auch unter dem Sessel. Beim Ausfllen eines Formulars durch die Mutter sah Mira die Stelle: »Unterschrift des Vaters«. Das wollte sie gleich durchstreichen: »Der Vater ist eine Lgensau«. Die Familiensituation: Mira hat drei ltere und einen jngeren Bruder. Sie leben zusammen mit der Mutter. Der Vater sei ungefhr vor zehn Jahren »schwierig« geworden, er htte sich zunehmend verfolgt gefhlt, sei gegen die Frau und die Kinder aggressiv geworden. Vor einem Jahr hat die Mutter ihren Mann nach einer
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Kçrperverletzung aus dem Haus geklagt (whrend des letzten Klinikaufenthalts von Mira), es besteht keine Besuchsregelung, keine Absprache oder einvernehmliche Regelung des Sorgerechts, die Ehe ist nicht geschieden. Der Vater ist in psychiatrischer Behandlung, die Mutter geht von einer Persçnlichkeitsstçrung aus, fhlt sich aber nach wie vor schuldig am Verhalten des Mannes und am Scheitern der Ehe. Sie wirkt erschçpft und depressiv. Wie zeigten sich Leiden| und Kçnnen| in der Einzelsituation? Der Versuch, in sprachlicher Form ein Anliegen fr die Therapie zu erarbeiten, misslang grndlich. Schon das erneute Benennen der Auftrge der Umwelt fhrte dazu, dass Mira unruhig, angespannt und nervçs wurde, sagen wollte sie berhaupt nichts. Das Aussprechen des Wortes »Papa« durch den Therapeuten quittierte sie mit ohrenbetubendem Lrm. Hier verstand sie, das angebotene Instrumentarium zu nutzen. Auch das Verstecken aus der Aufnahmesituation tauchte wieder auf. Sie versteckte sich hinter einem Vorhang und gab dem Therapeuten Rtsel auf, zunchst einfache, dann so schwierige, dass er sie unter Garantie nicht lçsen konnte. In der zweiten Stunde war sie wieder am Schlagzeug und spielte sehr laut. »Ich mach’ jetzt wieder Krach!« Dann sagte sie, sie sei so stark, daß sie sogar ihre Mama hochheben kçnne. – Und den Papa? »Das sollst du nicht sagen.« Lauter Krach. In eine Lcke sagte der Therapeut: »Das muss ja ganz schçn schlimm gewesen sein .|.|.« »Sag das nicht!« Es folgten zehn Minuten Lrm, mit Schlagzeugstçcken, auch auf Gegenstnde. Zweimal mussten Grenzen gesetzt werden: Gerte drfen nicht kaputt gehen, der Therapeut darf nicht geschlagen werden. »Was habe ich denn Bçses angestellt, dass du mich so strafst?« »Du hast ein schlimmes Wort gesagt.« In den folgenden Stunden tauchte das »Krachmachen« relativ kurz auf, auch schon in spielerischer Form: »Du kannst dir jetzt wieder die Ohren zuhalten .|.|.«, dann zeigte sie eine andere Seite. Sie interessierte sich fr die Gitarre, setzte ihre schnelle Auffassungsgabe und ihre Geschicklichkeit ein und lernte schnell einige Griffe, an denen sie hartnckig bte. Allerdings wurde auch hier der Therapeut ausgesperrt, sie nahm das Lernen selbststndig in die Hand.
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Das Leiden-Kçnnen| und das Nicht-Leiden-Kçnnen| wird hier nicht sprachlich oder durch eine abgegrenzte Improvisationsgestalt vermittelt, sondern durch Handlungen. Mira zeigt, wie sie mit der elterlichen Situation umgeht: Sie nimmt die klare Trennung vor, die die Mutter nicht bewerkstelligen kann, sie bernimmt die Fhrung als die Strkere und versucht, alles zu verbannen, was mit dem Vater zu tun hat. Mit den Rtseln und mit dem Verstecken berprft sie ihre Befrchtung, der Therapeut kçnnte »allwissend« sein und beweist dann ihm und sich, dass dies nicht der Fall ist. Durch bermßige Kontrolle der Situation soll diese Vereinseitigung aufrechterhalten werden. Indem sie durch aggressive Abgrenzung oder Rckzug und Kontrolle die einseitige Identifikation mit der Mutter schtzen will, kommen quasi durch die Hintertr wieder vterliche Verhaltensweisen und eine entsprechende Rollenbernahme ins Spiel. Ihr Kçnnen, die Situation zu kontrollieren und zu dominieren, setzt sich auch beim Gitarrelernen durch. Sie nimmt es selbst in die Hand, braucht keine Hilfe. Auf der anderen Seite hat ihr diese Fhigkeit bisher zu schulischem Erfolg verholfen. Methodisch-Werden: Das Methodisch-Werden als zweiter der Behandlungsschritte bezieht sich auf die Vorstellung, dass sich die wirksame Konstruktion oder Lebensmethode des Patienten auch in der Behandlungssituation durchzusetzen sucht, deshalb versuchen wir, die Situation offen und relativ unstrukturiert zu gestalten. »Sich-Einlassen in Entwicklungen zieht das ›Leben‹ von Fragen, Wendungen, von Zerlegungen und Wieder-Zusammensetzen nach sich. Eine Behandlung entwickelt sich, indem die Sache in methodischen Brechungen zur Sprache kommt: Verfolgen von Beobachtungen, Aufdecken von Grnden, Verspren von Konsequenzen« (Salber 1977, S.|131). Dabei muss in der Kindertherapie bercksichtigt werden, dass bisher Gewordenes noch stark in Entwicklung ist und dass es zu großen Teilen mit engeren Bezugspersonen (Familie) verknpft ist. Die Lebensbedingungen und damit die auf die Entwicklung Einfluss nehmenden Personen waren und sind weiterhin da (auch wenn durch die stationre Aufnahme eine gewisse Alltagsferne zustande kommt). Von daher
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ist fr das Verstndnis der »Methode« des Patienten ein erweiterter Blick auf andere Formkrfte nçtig. Methodisch-Werden meint auch die Methode des Therapeuten als Einsetzen dessen, was er zur Verfgung hat, immer in Verzahnung mit der Methode des Patienten. Das bezieht sich auf Interventionen in der Musik, auf Spielhandlungen, verbale Deutungen, aber auch auf Protokolle schreiben, mit Kollegen austauschen, Supervision. Das Methodische im Leiden wird gesucht, Grundverhltnisse untersucht. Das fhrt unter Umstnden zurck zum Leiden und Verkehrt-Halten oder mndet schon in Anders-Werden. 4. bis 6. Woche: Inzwischen haben sich verschiedene Strnge herausgebildet: Das Verstecken und das Ratespiel hat Mira ausgebaut zu immer komplizierteren Verstecken und Rtseln und sie wurde nicht mde, den Therapeuten zum Narren zu halten. Sie versuchte auch, ihn mit dem kompletten Instrumentarium einzumauern, so dass er den Therapieraum nicht mehr verlassen konnte. Hier half nur, die Therapiezeit so zu beschrnken, dass am Ende gengend Zeit zum gemeinsamen Aufrumen blieb, was diese Inszenierung wieder etwas beschrnkte, da ihr die sonstige Therapiezeit zu kostbar war. Die gesetzten Regeln bezglich Schlagen und Zerstçren hielt sie ein. Gitarre ben und spielen nahm immer eine gewisse Zeit der Stunden in Anspruch. Immer wieder brachte der Therapeut den Vater und die husliche Situation als Gegebenheiten ein, als Gegenpol zu ihrem Getrennthalten. Eine von ihr akzeptierte Form war dabei, vom Vater als »Du weißt schon wer .|.|.« zu sprechen. So konnte der Therapeut, der konsequent auch immer wieder »ausgesperrt« war, sich wieder einmischen und Stilllegungsversuchen trotzen. ber selbsterfundene Liedtexte kamen weitere Tabuthemen wie das Einkoten und die Erschçpfung der Mutter ins Spiel. Auf die Melodie von »Meine Oma fhrt im Hhnerstall Motorrad .|.|.« sang Mira zunchst Texte ber »Die Berliner .|.|.«, dann ber den Therapeuten: »Der Bernd, der geht ins Cineplex und kackt dort .|.|.«. Diesen Vers wiederholte sie mit zunehmendem Vergngen und fand dabei viele Variationen des entscheidenden Wortes. Vom Therapeuten eingebracht begann eine Strophe mit: »Die Mama ist zu Hause und die .|.|.« und Mira ergnzte ».|.|. schlft dort
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.|.|.«, um dann zu enden ».|.|. meine Mama, die hat Ruhe jetzt verdient.« Diesen letzten Satz wiederholte sie nach dem Lied noch einmal, um sicherzustellen, dass der Therapeut ihn auch verstanden hat. Das machte dann eine kurze Gesprchssequenz ber den Zustand der Mutter mçglich. Ein weiteres Thema kam ber ein Lied zur Sprache. Mira sang dem Therapeuten einen kurzen Liedanfang vor und fragte unsicher und zaghaft, ob er das Lied denn kenne: »In einer Bar .|.|.«. Da das nicht der Fall war, setzte sie Stck fr Stck fort: »In einer Bar sprach er mich an, er war betrunken und er roch nach Schweiß«. ber mehrere Anlufe sang sie dann den Refrain: »Immer, ja wirklich immer, haben Typen wie du was auf die Fresse verdient.« Dieser Refrain wurde dann mehrmals lauthals von Patientin und Therapeut gesungen. Es entstand kein Gesprch darber, aber das Thema konnte mit dem Therapeuten geteilt werden. Parallel zur Entwicklung in der Einzeltherapie behandelten wir das Einnssen und Einkoten mit einem Toilettentraining, was zunehmend gut funktionierte. Eine erneute Klingelhosenbehandlung fr nachts wollte Mira nicht, sie wollte das allein schaffen, was ihr auch gelang. In Gesprchen mit der Mutter wurde deren eigene Erschçpfung immer deutlicher, ebenso ihre masochistisch anmutende Verstrickung in die eheliche Beziehung. Die huslichen Verhltnisse drohten zu dekompensieren, so dass ber Jugendamt und sozialpsychiatrischen Dienst hier Hilfen und Maßnahmen eingeleitet werden mussten. Miras zweitltester Bruder wurde wegen Selbst- und Fremdgefhrdung in eine Kinder- und Jugendpsychiatrie gebracht, fr die Mutter fand sich ebenfalls ein Platz in einer psychiatrischen Klinik, den sie parallel zu Miras Behandlung fr sechs Wochen in Anspruch nehmen konnte. Anders-Werden: Im vorigen Abschnitt wurde deutlich, wie eng das Methodisch-Werden schon mit dem nchsten (Abstraktions-)Schritt Anders-Werden verzahnt ist. Im Anders-Werden geht es um Umstrukturierungen und Verwandlungen »alter« Methoden. Es geht um Momente in der Behandlung, die manchmal als Dreh- oder Wendepunkte bezeichnet werden. »Die dritte Version
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vermittelt die Spannung von Gestaltverwandlung in neuer Form: Geschichten, Gestalten, Verhltnisse werden als Konstruktion und| als umkonstruierbar erfahren« (Salber 1983, S.|96). Werden solche Momente in Behandlungen mit Erwachsenen oft als Aha-Erlebnisse, als Bewusstwerden von Vernderungen oder als Anders-Wahrnehmen bemerkt, so vollzieht sich AndersWerden bei Kindern kaum in bewusst reflektiertem Geschehen. Eher machen sich verndertes Handeln, neue Mçglichkeiten im Spiel, in der Musik bemerkbar, das »Aha« obliegt eher dem Therapeuten. Es muss sich auch nicht, besonders in lngeren (Kinder-)Behandlungen, um ein einmaliges Ereignis handeln, kleine, hufiger auftretende Momente von Vernderung, Rckkehr zum alten Leiden, klare Sicht entwickeln sich spiralfçrmig. So waren auch in der zweiten Version bereits Anstze zu Vernderungen und mçgliche Entwicklungsrichtungen zu bemerken. In der 7. Woche war auf einmal ein langes Gesprch mçglich. Mira erzhlte von zu Hause, von ihren Brdern, erinnerte sich an ihren letzten Klinikaufenthalt dort, wo aktuell der Bruder behandelt wird. Sie wusste, dass er nicht mehr leben wollte und konnte besttigen, dass sie auch schon solche Gedanken hatte. Schließlich konnten wir ber Perspektiven reden, wie es zu Hause weitergehen soll, dass man ja auch woanders leben kçnnte, wie das mit der Schule wird. In der darauffolgenden Stunde entstand zum ersten Mal eine lange| Improvisation an Xylophon und Klavier, bei der Gemeinsames in Fluss kam und die sich ohne Anstrengung entwickelte. Nach einem zweiwçchigen Urlaub des Therapeuten tauchten zunchst wieder Verhaltensweisen aus der Anfangszeit auf: Krach machen, Rtsel stellen, Zimmer verbarrikadieren. Diesmal fanden sich aber andere Lçsungen, Kompromisse schließen| war die neue Mçglichkeit. Auch bei Konflikten auf Station, bei denen sie vor Wochen zum Beispiel einen ganzen Nachmittag im Bett verbringen konnte, wenn sie einer Anforderung aus dem Weg gehen wollte (z.|B. Urin abgeben), war sie nun zu Kompromissen bereit. Ihr Druck, ber alle und alles Bescheid zu wissen – Dienstplne der Schwestern, Belegungsplan –, womit sie die Schwestern gehçrig nerven konnte, wurde geringer.
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Mira versuchte, eine fr sie berfordernde Wirklichkeit im Griff zu halten durch bermßige Kontrolle, Getrennt-Halten, durch Verweigerung und Totschweigen. Austausch und In-FlussKommen entwickelte sich allmhlich. Paradoxerweise zeigte die Symptomatik, dass das vereinseitigte Trennen und Im-Griff-Halten nicht funktionierte, es floss an der falschen Stelle. Mit zunehmender Verflssigung der Hauptfiguration bekam Mira ihre Symptomatik in den Griff. In der Therapie entstanden immer hufiger Improvisationen, Spiele bekamen andere Inhalte. Mira erzhlte von ngsten vor Gespenstern und Feuer, und diese Themen konnten spielerisch bearbeitet werden. Bewerkstelligen: Das Bewerkstelligen fhrt ber die Behandlung hinaus in den Alltag und in das, was der Patient als Umsatz im »echten Leben« behlt. Konkrete Probleme geraten in den Blick, was muss sich im Leben ndern, welche Konsequenzen ergeben sich? Auch innerhalb der Therapie lsst sich Bewerkstelligen auffinden in dem, was dauerhaft anders gemacht werden kann, was als Erwerb erhalten bleibt, wie die Verhltnisse zwischen Hauptund Nebenbild in Bewegung kommen. »Das Bewerkstelligen wird zu einer Probe fr unsere Werke: ob wir uns auf sie, mit ihren Voraussetzungen und Folgen, wirklich verlassen kçnnen oder ob wir umbiegen, einklammern oder ausweichen mssen [.|.|.] Ob wir mit dem Paradoxen von Verwandlungswerken leben kçnnen wird so am Umgang mit ›zuflligen‹ Gegebenheiten zum Gegenstand einer berprfenden Behandlung gemacht« (Salber 1980, S.|129). Bewerkstelligen in der Kindertherapie hat auch zu tun mit nderungen in der Umwelt des Kindes. Wie hat sich die Familie neu strukturiert, ist die bisherige Schule angemessen, muss vielleicht das bisherige Lebensumfeld verlassen werden, damit Vernderung und Entwicklung Platz haben? Eine lngere stationre Behandlung von Kindern entfaltet immer auch einen Alltag auf der Station, in dem Vernderungen aus den Einzelsitzungen sich erweisen mssen. Mira wurde ein zunehmend normaleres Kind im Stationsalltag. In der 12. Woche begannen wir mit einem Außenschulversuch in der Heimatschule, der gut gelang. Mira nsste oder kotete nicht mehr ein. In einer Konferenz mit allen beteiligten Institutionen
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wurden weitere Hilfemaßnahmen fr die ganze Familie besprochen und koordiniert. Die Entlassung rckte nher und Mira hatte einen kleinen Rckfall in die Symptome, trotzdem beendeten wir die stationre Behandlung nach 16 Wochen. Eine Rckfrage circa ein Jahr nach dem Aufenthalt hat ergeben, dass Mira sich in der Schule stabilisiert hat, Einnssen und Einkoten kamen nicht mehr vor. Sie besucht noch eine ambulante Therapie. Die Mutter war noch einmal in einer Psychosomatischen Klinik. Sie hatte inzwischen das alleinige Sorgerecht fr ihre Kinder, ein Scheidungstermin war anberaumt.
Beschreibung und Rekonstruktion Kerstin, 17 Jahre: Hartnckigkeit verlassen – Vielfalt entwickeln Das zweite Fallbeispiel soll das Verfahren Beschreibung und Rekonstruktion illustrieren. Abhandlungen ber dieses Verfahren sind bereits an verschiedenen Stellen verçffentlicht worden (Tpker 1988/1996; Weymann 1996), so dass hier auf eine Herleitung des Vorgehens aus erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Positionen verzichtet werden soll. Ausgehend von der Hypothese, dass die gemeinsame Improvisation von Patient und Therapeut grundlegende seelische Formenbildungen ins Werk setzt, werden diese anhand einer Erstimprovisation in einem vierschrittigen Verfahren in ihrem Zusammenwirken untersucht. Im ersten Schritt Ganzheit| geht es um den Gesamteindruck, den die Musik bei uns bewirkt. Dazu wird einer Gruppe von Hçrern (Kollegen oder im Verfahren gebte Studenten) eine Aufnahme der zu untersuchenden Improvisation vorgespielt. Den Beschreibern stehen dabei außer der gehçrten Musik keine weiteren Informationen ber den Patienten zur Verfgung. Mit Hilfe der eigenen seelischen Mitbewegung beim Anhçren eines Mitschnitts wird versucht, Eindrcke, Gedanken, Gefhle, Bilder zu beschreiben, die das Ganze in seiner Paradoxie erfassen. Dazu werden in der ursprnglichen Durchfhrungsweise die Eindrcke zunchst einzeln schriftlich von der Beschreibergruppe fixiert, dann werden die Texte vorgelesen, eventuell kommentiert und erlutert und
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schließlich zusammengefasst in einem oder mehreren (paradoxen) Stzen. Inzwischen existieren auch die oben erwhnten Abwandlungen des Verfahrens in Anpassung an bestimmte Arbeitsfelder, bei denen zum Beispiel keine abgrenzbaren Improvisationen zur Verfgung stehen. In der Binnenregulierung|, dem zweiten Untersuchungsschritt, wird das Augenmerk auf das Zustandekommen des ersten Eindrucks gerichtet. Wie werden die im ersten Schritt gefundenen Verhltnisse hergestellt, wie ist das musikalisch gemacht? Dabei ist der Rckbezug auf das Ganze im ersten Schritt nçtig als Richtschnur in der Vielfalt der (musikalischen) Ereignisse. Die Transformation| nimmt neben der Musik nun weiteres Material hinzu. Biografisches, Erzhlungen, der Behandlungsverlauf werden in Bezug zu den bisherigen Befunden gesetzt, erweitern und ergnzen den Blick wieder. So kçnnen Analogien zur musikalischen Konstruktion auftauchen oder auch Gegenstze und Erweiterungen, die zur Vervollstndigung des Bildes beitragen. Einen Sinnzusammenhang im Sinne einer Rekonstruktion| stellt der vierte Schritt her. Die Gestalt der seelischen Grundbedingungen wird anhand der Gestaltfaktoren ausformuliert und damit noch einmal auf eine andere Abstraktionsebene gebracht. Dies ist zugleich Formulieren der seelischen Konstruktionsbedingungen oder »Lebensmethode« des Patienten wie auch Ausgangspunkt fr Vernderungen, der Blick auf eine mçgliche Verwandlungsrichtung. In einer anderen Salber’schen Systematik ist es auch mçglich, eine Rekonstruktion des seelischen Gefges in Haupt- und Nebenfiguration zu formulieren. Ganzheit: Das Verfahren wird nun Schritt fr Schritt anhand der Erstimprovisation aus einer Einzeltherapie vorgestellt. Zunchst seien hier – zur Erarbeitung des ersten Schrittes Ganzheit – die Texte wiedergegeben, die die Beschreiber (Studentengruppe) nach dem Hçren des Bandes verfasst haben: Da gibt es einen Weg. Jemand geht diesen Weg, aber es ist unbekannt, wohin man mit diesem Weg kommen kann. Freude! Gibt es etwas Schçnes am Ende dieses Weges? Das ist aber weit weg. »Ich mçchte es versuchen, ich muss es versuchen!« Das ist weit weg!
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Unschlssig – suchend. Erinnert mich an ein Kind, das vor einem Berg von Spielsachen sitzt und nicht weiß, mit welchem es spielen soll. Es findet eines, probiert es aus. Es scheint aber nicht das Richtige zu sein. Neues Spielzeug wieder ausprobieren – dieses Mal ist das Ausprobieren schon heftiger. Wieder ist es nicht das Richtige. Erneuter Versuch mit einem anderen .|.|. Das Kind wird immer hektischer und unruhiger, weil es unbedingt das finden mçchte, was es befriedigt. Es scheint verzweifelt, denn es hat nicht sein Spielzeug gefunden. Tanz eines Nussknackers, der zunchst zaghaft und etwas ngstlich ausprobiert, ob seine Holzbeine die Bewegungen auch mitmachen. Er gewinnt schnell Mut und variiert seinen Tanz in alle mçglichen Richtungen (krftige bzw. sanfte, fast schwebende Schritte). Er durchluft den gesamten Raum, um anschließend wieder zu bestimmten Tanzschritten zurckzukehren und den Tanz langsam und ruhig (erschçpft?) zu beenden. Mit zaghaften, ngstlichen Schritten geht sie auf das Wasser zu. Immer ein kleines Stckchen weiter, zçgernd, es kostet sie Mut. Als sie am Meer ankommt, versucht sie vorsichtig, ihren Zeh in das Wasser zu tauchen, zieht ihn wieder heraus, es ist viel zu kalt, sie hat Angst. Schrittchenweise geht sie dennoch weiter. Da ist auch noch etwas anderes: Die Lust, das Kçnnenwollen. Schließlich hat sie es geschafft und sie taucht ein. Zwischen Grauen und Vergngen badet sie im Meer. Ich krieg’s nicht hin, mich zu konzentrieren. Es tauchen Bilder auf – ein kleines Mdchen spielt Hpfspiele, allein, in sich versunken – dann aber stçrt mich wieder irgendetwas. Ich schweife mit meinen Gedanken ab, bin im gestrigen Tag, dann bei dem, was heute passiert. Versuche mich auf die Musik zu konzentrieren, einige Passagen sind melodiçs, harmonisch, schçn. Immer wieder Abbruch, gestçrt werden! Trauer, rger und rgern, hin- und herspringen mit den Gedanken, Lust und Frust. Eigentlich mçchte ich gar nicht zuhçren, sondern lieber trumen, aber ich soll ja noch eine Beschreibung machen. Also weiter in diesem Zwiespalt.
In der Diskussion der Eindrcke wird zunchst das Zaghafte, ngstliche, Unschlssige, Suchende und Zçgerliche in allen Texten hervorgehoben. Ein Hin und Her wird sowohl als anfnglicher Eindruck festgehalten, ist aber auch durchgngiges Element: Grauen und Vergngen, Lust und Frust, Konzentration und Abschweifen sind immer gleichzeitig vorhanden oder wechseln sich stndig ab, so dass sich nichts Entschiedenes entwickeln kann, nichts gefunden wird. Das Doppelbild des tanzenden Nussknackers hebt die Bemhung und Anstrengung eines vorgetuschten Kçnnens hervor: Ein Nussknacker, der Primaballerina spielt und sich darin erschçpft. Das hat eine Tragikkomik, die auch in weiteren Einfllen (trauri-
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ger Clown, etwas Maskiertes) auftaucht. Das Ganze wird aber immer weiter so betrieben: Kçnnenwollen; ich mçchte versuchen – ich muss versuchen; ich soll ja eine Beschreibung machen; immer wieder das richtige Spielzeug suchen – das weist auf eine Hartnckigkeit und Beharrlichkeit hin. Es weckt aber auch rger, Trauer und Verzweiflung, man kann nichts Befriedigendes finden. In wenigen kurzen Momenten, die konsequent immer wieder abbrechen, taucht etwas anderes auf: Das Schçne, die Lust, das Vergngen, Freude; es scheint aber unerreichbar. Das ist weit weg! Zusammenfassend lassen sich die Verhltnisse in der Improvisation folgendermaßen formulieren: In bestndigem Wechseln wird durch vorgetuschtes Kçnnen oder entschiedene Zaghaftigkeit das Finden verfehlt. Das fhrt zu fortgesetzten, hartnckigen Anstrengungen und macht rgerlich, verzweifelt und unzufrieden. Der Spaß an der Sache scheint weit entfernt oder unerreichbar. Binnenregulierung: Es folgt in der Binnenregulierung die Untersuchung der Musik, um herauszufinden, wie die zuvor beschriebene Logik sich musikalisch herstellt. Das Xylophon beginnt mit einer aufsteigenden Tonleiter, die aber nur stockend vorankommt, drei Tçne – Pause – zwei Tçne – wieder Pause usw., dann ein Glissando abwrts. Das Klavier spielt einige offene Akkorde, kein eindeutiges Metrum. Das wiederholt sich noch einmal, dann kommt schon ein Wechsel vom Xylophon zum Metallophon. Wieder kurze Tonfolgen aufwrts – Pausen – Glissando abwrts. Fr einen kurzen Moment treffen sich Klavier und Metallophon in krftiger werdenden Vierteltçnen, dann »luft« das Metallophon »davon« – und die Spielerin wechselt zurck zum Xylophon. Da kommen nun einige kurze melodische Motive, die zwar auch noch sequenziert werden, das aber schon im accelerando und dann mit Stockungen. Das Klavier will das Hin und Her nun nicht mehr mitmachen und zieht sich auf einige wiegende Akkorde im Sechsachtel-Feeling zurck. Die Patientin wechselt zu den Bongos und spielt plçtzlich zwei entschiedene rhythmische Motive, die das Klavier sofort aufgreift. Wie aus dem Nichts beginnt ein schnelles Zusammenspiel mit dem Xylophon, zu dem gleich
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zurckgewechselt wurde. Gemeinsam geht’s jetzt lustig voran, doch diesmal ist es das Klavier, das nach ein paar Takten das Tempo auflçst und das Xylophon hngen lsst. Das wird nun mit dem Marimbaphon vertauscht und es mndet in ein hnliches Spiel wie zu Beginn. Man verfehlt sich, nun auch noch mit Hilfe von Chromatik. Das Ganze endet in einem luftigen Verschwinden im Nichts. Die Spieler spielen aneinander vorbei, kein Metrum, kein harmonischer Bezug sind, wenn sie berhaupt zustande kommen, von langer Dauer. Es wird nicht zu einem gemeinsamen Spiel gefunden. Der Eindruck des Zaghaften entsteht durch die immer wieder vorkommenden Stockungen, die aber permanent produziert werden, und zwar auf beiden Seiten. Kurze Motive tragen nicht und es entwickelt sich nichts aus ihnen. So kann ein befriedigendes Spiel nicht entstehen. Lediglich einige kurze Sequenzen zeigen, »wie es gehen kçnnte«. Transformation: Die Transformation bringt nun weitere Informationen zur Patientin und zum Verlauf. Es handelt sich um eine 17-jhrige Jugendliche, Kerstin, die wegen einer Anorexia nervosa zur Behandlung kam. Der stationre Aufenthalt dauerte nur insgesamt sechs Wochen und endete mit einem Behandlungsabbruch. Anfangs hatte Kerstin wegen ihres geringen Gewichts Bettruhe und wurde ber die Magensonde ernhrt.
Einige Angaben aus dem Bericht der Psychologin: »Kerstin machte uns schnell klar, dass sie einen starken Willen hatte. Diesen Willen setzte sie zunchst dafr ein, das Regime der Nahrungsaufnahme dahingehend zu verndern, dass sie wieder selbst aß. Ein Beziehungsaufbau zu Kerstin wurde erschwert durch ein latentes Misstrauen ihrerseits, das beinahe in jedes Therapiegesprch einfloss. Sie konnte jedoch auch glaubhaft machen, dass sie sehr beziehungsstark zu einem Menschen sein kann, wenn dieser die ›Vertrauensprobe‹ erst einmal bestanden hat. Die Familie hatte eine ›psychische berforderung‹ Kerstins in der Zeit vor der Erkrankung benannt. Kerstin konnte im Lauf der Therapie Faktoren benennen, die in der Summe eine zu starke Anforderung fr sie dargestellt hatten: Sie fand heraus, dass sowohl die Anforderungen
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ihres Freundes, als auch die Anforderungen in der Schule, Anforderungen in mehreren Babysitterjobs, Erwartungen der Freunde und nicht zuletzt die Anforderungen der eigenen Familie ein deutliches ›Zuviel‹ fr sie bedeutet hatten. Es war ihr nicht mçglich gewesen, zu ußern, dass ihr alles zu viel sei. Denkbar ist auch, dass Kerstin sich diese vielfltigen Beschftigungen organisiert hatte, um einer doch eher schwermtigen familiren Atmosphre zu entfliehen.« Hier finden wir etwas wieder, was auch in der Improvisation auftauchte, ein erschçpfendes Zuviel, das aber hartnckig weitergetrieben wird. Langes Zçgern, Misstrauen, dann aber um so festeres Zupacken, dann wird kein Wanken mehr gestattet, »Kçnnen« zum Beispiel in der Beziehungsgestaltung wird nicht mehr in Frage gestellt, ist aber vielleicht nur vorgetuscht. In der Musiktherapie kamen, nach der Bettruhe und aufgrund der beschriebenen Umstnde, nur fnf Sitzungen zustande, die im Folgenden skizziert werden. 1. Stunde: Nach einem einleitenden Gesprch ber ihre Erkrankung und ihre kurzen musikalischen Vorerfahrungen (Orgelunterricht bei »unzuverlssiger« Lehrerin) entsteht die beschriebene Improvisation. In der Reflexion berichtet sie, dass die Bongo-Schlge sie erschreckt haben, die wren so laut gewesen. Trotzdem htten die den Impuls zu etwas rhythmischerem Weiterspiel gegeben. Sie hat bemerkt, dass das Klavier sich in der Lautstrke angepasst hat, sonst sei es nicht aufgefallen, hat nicht gestçrt. Sie wollte nicht langweilig spielen, deshalb htte sie çfter mal gewechselt. Der Therapeut fragt nach Einfllen zu der Wechselhaftigkeit, nach Analogien. Kerstin berichtet, dass sie gerne bastelt, zum Beispiel Perlenketten auffdeln. Eine Zeit lang betreibt sie das ganz intensiv, dann kommt das Nchste, zum Beispiel Malen, das andere wird berhaupt nicht mehr weitergefhrt. Und im sozialen Bereich? Sie sei sehr treu, prfe aber lange, bevor sie jemandem vertraue. Seit ber einem Jahr sei sie mit ihrem Freund zusammen. Sie htte schlechte Erfahrungen mit einer Freundin gemacht, die sie Anfang der 5. Klasse »verraten« habe. Kerstin beginnt zu weinen. Von da an sei sie isoliert gewesen, nicht mehr lernfhig, es wurde berlegt, sie von der Schule (Gymnasium) zu nehmen. Die
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Mutter htte dann viel mit ihr in Rollenspielen gebt, wie man zu anderen Kontakt kriegt, erst in Klasse 8 htte sie sich wieder gefangen. Die Themen der Stunde waren Kontinuitt, Treue, Bestndigkeit versus Langeweile, Wechsel, Neues – wobei in der Musik schon etwas ber die Verschrnkung zwischen den Themen deutlich wird. 2. Stunde: Es gibt am Anfang eine Irritation: Kerstin findet es so ungewohnt, dass es kein festes Thema gibt, was wollen wir denn jetzt tun? Der Therapeut schlgt schließlich vor, die Musik vom letzten Mal wieder anzuhçren. Kerstin fllt auf, dass da mehrmals Anlauf genommen wird, bis ein etwas lngeres »emotionales Duo« entsteht. Sie empfindet diese verschiedenen Anlufe als »mhsam«. Bei diesem Stichwort beginnt sie zu weinen. Was war so mhsam? Fr sie ist es die Anstrengung, die sie aufbringen muss, um gesund zu werden. Es folgt ein langes Klagen ber die Situation auf Station, die ihr zu depressiv ist. Sie msse sich unendlich anstrengen, ihren Gesundungswillen nicht durch die Negativitt der anderen durcheinanderbringen zu lassen. Sie wolle ja jetzt zunehmen und sich nicht nur mit Essen beschftigen wie frher. Kerstin hat alle Ambivalenzen verbannt, sie sieht das Kranke, die Symptome der Magersucht, nur noch bei den anderen, die dann bedrohlich werden und setzt ihre Hoffnung darauf, dies loszuwerden, indem sie sich von den anderen trennt. 3. Stunde: Zu Beginn erzhlt Kerstin von einem bevorstehenden Schulwechsel, weil ihr Wunsch-Leistungskurs nicht zustande gekommen ist. Fllt ihr der Wechsel schwer? Nein. Dagegen steht die Aussage, sie brauche gewçhnlich sehr lange, bis sie sich an etwas Neues gewçhnt habe. Sie berichtet dann vom Kindergarten, wo sie erst »zu langsam« war, dann htte die Mutter mit ihr gebt, danach wre sie in allem »zu schnell« gewesen. Jetzt htte sie ihr eigenes Tempo. Auch im Therapieverlauf legt sie ein schnelles Tempo vor (Sonde, Essen). Sie will bis Ostern »fertig« sein mit der Therapie und dann in ihre neue Schule gehen. Unter den Stichwçrtern Tempo und Wechsel schlgt der Therapeut vor, zu spielen. Kerstin nimmt wieder Xylophon, Metallophon und Bongos. Das Spiel fllt heute
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mehr auseinander. Sie wechselt schnell und hufig, das Klavier spielt drei Teile: ruhige Lufe – Klangwolke – ruhige Lufe. Am Ende des ruhigen Teils hçrt das Klavier auf, Kerstin spielt alleine weiter. Das Gesprch dazu: Das Spielen ist ihr heute schon leichter gefallen. Immer noch schwierig ist es, in einer ruhigen Phase von Ton zu Ton zu kommen. Es kçnnte langweilig werden. Dann macht sie einen Wechsel der Struktur oder des Instruments. Die Stelle mit der gemeinsamen »Klangwolke« fllt auf. Da ging es automatisch, ohne Nachdenken, getragen von der Musik. In den anderen Teilen muss sie immer neu Schwung holen, Anlauf nehmen. Deshalb konnte sie am Ende auch nicht aufhçren. Der Therapeut versucht eine Zusammenfassung der bisherigen aufgetauchten Themen Bestndigkeit, Dauer und Wechsel, neue Anlufe und eigenes oder fremdes Tempo: Das lebt nach dem Prinzip eines Schwungrad-Antriebes. Wenn er in Schwung ist, luft er, muss aber gelegentlich angetrieben werden. Man darf aber nicht stoppen, sonst geht’s nicht mehr weiter. Das Gegenbild wre ein Selbstznder, ein Dieselmotor, der kann anhalten und aus eigener Kraft wieder weiterfahren. Weitere Fragen wren: woher kommt das, wie kann es verndert werden? 4. und 5. Stunde: Zu einer weiteren Bearbeitung soll es dann aber nicht mehr kommen, da der bisher schon latent aufgetretene Wunsch und Drang, entlassen zu werden, immer strker wird. Kerstin ist nicht mehr zu einer weiteren Mitarbeit bereit, die Station mache sie nur krnker, außerdem kçnne sie doch schon wieder essen, htte auch zugenommen und die seelischen Probleme seien auch gelçst. Die Station sei fr sie nur eine Trauerhçhle und ein Gefngnis. Aus der 5. Stunde heraus – der Musiktherapeut hatte in dieser Zeit die Urlaubsvertretung fr die Psychologin – wurden die Eltern informiert, die dem Entlassungswunsch nichts entgegensetzen konnten, so dass Kerstin am Abend des selben Tages noch abgeholt wurde. Nur angerissen werden kann der familire Hintergrund, in dem diese Stçrung entstanden ist und sich aufrechterhlt. Eine verdeckte Beziehungsstçrung der Eltern und eine Einbindung der
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Tochter in eine Koalition mit der Mutter wurden deutlich. Der Behandlungsabbruch war kurz vor einem anberaumten Paar-Gesprch, bei dem diese Problematik als Mitbedingung der Erkrankung zur Sprache gebracht werden sollte. Rekonstruktion: So haben wir in der Rekonstruktion eine Lebensmethode, die sich in der Hauptfiguration| zwischen bestndigem Wechseln, beliebiger Vielfalt und Neuanfngen auf der einen Seite, hartnckiger Treue, langweilendem Dran-Kleben und ben auf der anderen spannt. Das zehrt aus und erschçpft und verfehlt dabei, einen eigenen Weg zu finden und etwas Befriedigendes zu schaffen. Die Nebenfiguration| weist darauf hin, dass Sich-Einlassen auf gemeinsame Entwicklungen und Dabei-Bleiben zu befriedigenden Werken fhren kann, als Eigenes erlebt werden kann und das Ganze dann auch noch Spaß macht. Das Seelische der Patientin glaubte, mit sehr wenig auskommen zu kçnnen. Genauso wie sie erprobt hat, mit wie wenig (Essen) sie auskommen kann, probierte sie nun, mit wie wenig Behandlung und Umwandlung es gehen kann. Ungefhr ein halbes Jahr spter kam Kerstin mit einem Rezidiv erneut in unsere Behandlung. Das Seelische hat gemerkt, dass es doch noch etwas mehr braucht, dass es so noch nicht funktionieren kann. Dieses Mal blieb sie lnger und konnte ihre Essstçrung grçßtenteils bewltigen. Es gab auch einen neuen musiktherapeutischen Verlauf, in dem in vielfltigen musikalischen Formen Ausbreitung erprobt wurde, in Improvisationen, in denen sich die beschriebenen Figurationen weiterdrehten, aber auch in der Entdeckung ihrer Singstimme. Die Krise der ehelichen Beziehung war verhrtet und die Eltern waren auch nicht bereit, Hilfestellungen anzunehmen und daran zu arbeiten. Kerstin konnte eine klarere Sicht darauf gewinnen, sich etwas davon distanzieren und die Idee eines Lebens in anderer Umgebung entwickeln. Im Laufe der Therapie schaffte sie den Ablçsungsschritt von Zuhause und zog nach der Behandlung in eine Wohngruppe mit schrittweiser Verselbststndigungsmçglichkeit.
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Lutz Neugebauer
Die Kunst der Musik als Therapie – Musiktherapie nach Paul Nordoff und Clive Robbins
Zusammenfassung Der vorliegende Artikel gibt eine bersicht zur aktuellen Entwicklung des von Paul Nordoff und Clive Robbins begrndeten Arbeitsansatzes. Er fhrt in die Grundlagen ein und beschreibt ausgehend von zwei Fallbeispielen die Entwicklung klinischer Arbeitsfelder, Ausbildungsangebote und aktuelle Forschungsarbeiten im Bereich der musiktherapeutischen Arbeit mit Kindern.
Geschichtliches Wie andere Musiktherapieanstze ist auch die Schçpferische Musiktherapie zunchst stark von ihren Grnderpersçnlichkeiten geprgt. Sie wird in verschiedenen Zusammenhngen nach den Begrndern als Nordoff/Robbins-Musiktherapie benannt. Paul Nordoff – amerikanischer Komponist (1909–1977) – und Clive Robbins (geb. 1927) – englischer Sonderpdagoge – entwickelten in ihrer gemeinsamen Arbeit das Konzept der »Kunst der Musik als Therapie«. Ausgangspunkt ihrer Arbeit ist die Erkenntnis, dass jeder Mensch die Fhigkeit zu kreativem Handeln und Gestalten besitzt. Diese individuellen schçpferischen Fhigkeiten sind es, die uns berhaupt befhigen, zu handeln, zu gestalten und uns zu entwickeln. Werden sie angesprochen und kçnnen sich selber zum Aus-
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druck bringen, sind sie der Ursprung jeder Entwicklung und Persçnlichkeitsentwicklung (Beuys 1990). Im musikalischen Bereich sprechen Nordoff und Robbins (1986) von einem »Music Child«, ein Konzept, das spter von Aldridge auch fr die Arbeit mit erwachsenen Klienten im Begriff einer »musikalischen Identitt« Eingang findet (Aldridge 1996). Statt eines Menschenbildes, das kçrperliche Prozesse in einer mechanischen Analogie versteht, entwickelt Aldridge das Konzept eines sinfonischen Wesens, das sich selber gestaltet. Die notwendige Flexibilitt in dieser »Auffhrung des eigenen Lebens« vergleicht er mit der musikalischen Improvisation (Aldridge 1998). Diese kreativen Potentiale sind es, die uns gesund erhalten und im Falle einer Krankheit zu einer Gesundung beitragen kçnnen. In der Musik kçnnen sie auf besondere Weise angesprochen werden, weil sich in der Improvisation die Gelegenheit bietet, in einem lebendigen, gemeinsam gestalteten Prozess die Mçglichkeiten und Grenzen auszuloten. Sie berwindet dann emotionale, physische und kognitive Begrenzungen. In dieser Form der gemeinsamen Begegnung nimmt der Klient eine aktive gestaltende Rolle ein. Hierfr stehen ihm einfach zu spielende Instrumente zur Verfgung, die auch ohne bung, Vorerfahrung und technische Fertigkeiten zu spielen sind. Eine besondere Rolle spielt in der von Nordoff und Robbins begrndeten Musiktherapie die Sichtweise auf die Potentiale des Klienten, die sich in dessen musikalischem Ausdruck zeigen. Musik in ihrer Vielfalt lsst Beschreibungen zu, die nicht (ab-)werten, sondern in der Beschreibung eine andere Sichtweise auf Begrenzungen und Schwierigkeiten zulassen, die durch Behinderung und Krankheit entstehen. Ein besonderes Interesse galt schon bei den Grndern die Dokumentation der Therapien. Als probates Mittel fr die Aufzeichnung der in der Therapie entstehenden musikalischen Improvisationen nutzten Nordoff und Robbins Tonbandaufzeichnungen. Schon sehr frh in ihrer Arbeit werden sie sich bewusst, dass fr den Austausch mit anderen Professionen diese Tonbandaufzeichnungen sehr wertvoll sind. Unverzichtbar werden sie fr die eigene gerichtete Arbeit. Musik als in sich flchtiges, zeitliches Phno-
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men birgt in sich, dass sie in der bloßen Rckerinnerung berlagert wird von Eindrcken und Empfindungen. Zeitliche Ablufe werden durch den Bedeutungsgehalt, den wir ihnen geben, gestreckt oder verkrzt. Gute Beispiele aus dem Alltag kçnnen das Empfinden einer »Schrecksekunde« oder die zeitliche Ausdehnung einer nur flchtigen, mçglicherweise sogar unabsichtlichen Berhrung durch jemanden sein, mit dem wir gerne eng verbunden wren. Umgekehrt kann man erleben, dass schçne Stunden »wie im Fluge vergehen«. hnliche Phnomene treten bei der gemeinsamen Improvisation auf. So kçnnen flchtige, aber auf die Musik bezogene vokale Laute eines nicht sprechenden Kindes in der Rckerinnerung viel Platz einnehmen, eben weil sie therapeutisch bedeutsam sind und ein Potential offenbaren. Die musikalische Auswertung des Bandmaterials bildet – abseits der Erinnerung und der Empfindung des Bedeutungsinhalts durch den Therapeuten – die musikalische Realitt ab. Hierdurch ermçglicht sie dem Therapeuten gleichsam, systematisch danach zu suchen, wodurch ein Respons ausgelçst wurde; und – wenn hier klare musikalische Zusammenhnge erkennbar sind – diese Zusammenhnge in weiteren Improvisationen nchster Sitzungen wieder bewusst herbeizufhren (Aigen 1998, 2005). So sind die Tonbandaufzeichnungen Ausgangspunkt einer gleichermaßen pragmatischen wie evidenzbasierten Vorgehensweise.
Praktisches Musiktherapie mit Bahman Bahman ist fnfeinhalb Jahre alt, als er zur Musiktherapie kommt. Die medizinische Diagnose lautet: frhkindlicher Autismus. Bei normaler kçrperlicher Entwicklung zeigten sich schon im Suglingsalter erste Aufflligkeiten. Bahman schrie sehr viel, nahm keinen Blickkontakt auf und erwiderte das Lcheln nicht, war autoaggressiv. Er lernte erst spt laufen. Als wir ihn kennenlernen, spricht er nicht und ist nicht sauber.
Der Arzt schreibt in einem Bericht: »Sprachliche Reaktionen auf Ansprache kommen in der Beobachtungssituation nicht vor.
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Spontane Kontaktaufnahme zu anderen Kindern findet nicht statt, spontanes Spiel zeigt er nicht. Wnsche bringt er durch Schreien, Weinen oder das Ausstoßen schriller Laute zum Ausdruck. Er ist unruhig und luft viel, scheinbar ziellos umher. Eine neurologische Untersuchung ist bei der Unruhe nur orientierend mçglich. Er reagiert auf Klingeln des Schlsselbundes normal [.|.|.], ohne dass jedoch eine deutliche Hinwendung erfolgt [.|.|.] [Es] kam zu lngeren Phasen der Autoaggression. Nach dem Kopfschlagen kam Beißen in die Hnde dazu. Dabei hat er schon eine elastische Binde durchgebissen.« Nach Aussage seiner Mutter reagiert er auf jegliche Vernderung des Tagesablaufes, auf fremde Personen und neue Situationen mit heftigen Schrei- und Weinanfllen. Deshalb sind wir nicht berrascht, als er heftig weinend in die erste Musiktherapiesitzung kommt. Wegen der Schwere der Stçrung Bahmans arbeiten wir im Team von zwei Musiktherapeuten. Ziel unserer Arbeit in dieser ersten Sitzung ist es, einen Zugang zu Bahman zu erhalten; so greifen wir alles, was er tut – Schreien, Herumlaufen, impulshaftes Experimentieren mit Instrumenten – in der fr ihn improvisierten Musik auf. Dabei begleitet einer von uns Bahman im Raum, verhindert, dass er sich selbst durch Beißen und Schlagen verletzt, hilft ihm, Instrumente zu spielen, whrend der andere am Klavier improvisiert. Die Sitzung dauert circa zwanzig Minuten. Die ganze Zeit ber scheint Bahman uns berhaupt nicht zu beachten und keine Verbindung zur Situation zu haben. Bei der Tonbandauswertung, die sich an jede Sitzung anschließt, zeigt sich aber deutlich, dass sein Weinen und Schreien tonal zur Musik bezogen sind, Bahman diesen Bezug jedoch nicht richten kann. Alles, was er tut, scheint zufllig zu sein; er reagiert aber – wie im Reflex – unbewusst auf das, was ihn musikalisch umgibt. Schon in der zweiten Sitzung tritt eine Wende innerhalb der Therapie ein. Die in der ersten Sitzung wirkungsvollste Musik – dissonante, laute Musik im orientalischen Stil – wird wieder zum Mittelpunkt der Arbeit. Bahmans Weinen und Schreien wird jetzt von uns musikalisch gehçrt und in eine gemeinsame Gesangsimprovisation einbezogen. Seine Anspannung wird durch die dis-
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sonanten und spannungsgeladenen Begleitakkorde aufgenommen. Ausgelçst durch diese »Begegnung« kommt es zum ersten Blickkontakt. Danach gelingt es Bahman erstmals, gerichtet auf Instrumenten zu spielen. Die Hilfe, die er zunchst bençtigt, kann mehr und mehr zurckgenommen werden. Es gelingt ihm sogar zeitweise – untersttzt durch die Musik –, allein zu spielen. Die dadurch entstehende Beziehung ist allerdings nur vorbergehend und kann von ihm nicht durchgetragen werden. In den kommenden Wochen arbeiten wir daran, diese Anstze zu Kommunikation und Beziehungsfindung auszuweiten und Bahman so neue Mçglichkeiten zu erçffnen. Nach der vierten Sitzung schreibt die Mutter in ihr Tagebuch: »Auf der Heimfahrt schlft Bahman nach einer Viertelstunde ganz ruhig ein. Er ist den Nachmittag und Abend ber ausgeglichener als sonst, zeigt weniger Autoaggressionen und ist durchweg guter Laune. Auch die Aufnahmefhigkeit hat sich gut entwickelt.« In der Musiktherapie fngt er jetzt an, zu lautieren und Worte zu bilden, diese bezogen zur Situation einzusetzen. Die anfnglich geschilderte Abwehr wandelt sich mehr und mehr in aktive Teilnahme, erste Schritte, die ihm einen anderen Zugang zu Kontakt, zur Welt und zu anderen Menschen ermçglichen. Die oben stehende Fallstudie habe ich fr diesen Beitrag ausgewhlt, weil sie nahtlos an Erfahrungen der klinischen Praxis von Nordoff und Robbins anknpft. Wer als Leser gerne klangliche Eindrcke von der Arbeit bekommen mçchte, hat die Gelegenheit, auf der Internetseite www.musictherapyworld.de Audiofiles und Videos kostenlos als Download-Material zu erhalten.
Musiktherapie mit Gesa Gesa ist viereinhalb Jahre alt, als ihre Eltern sie im Institut fr Musiktherapie der Universitt Witten/Herdecke zur Musiktherapie anmelden. Nach einer normalen Schwangerschaft und einer unkomplizierten Geburt habe sich herausgestellt – so fhren die Eltern in einem ersten Gesprch vier Wochen nach Therapiebeginn aus –, dass sie von einer Cerebralparese betroffen sei. Diese Kçrperbehinderung hat bei ihr die Ausprgung einer Tetraspastik, das heißt, alle vier Gliedmaßen, Rumpf und der Kopf sind betroffen. So habe sie bis zum Zeitpunkt der Anmeldung – also
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dem Alter von viereinhalb Jahren – kaum Mçglichkeiten gefunden, sich selber aktiv zu bewegen. Sie habe keine Sprache entwickelt und eine Beurteilung ihrer Kommunikationsmçglichkeiten sei ausgesprochen schwer, weil sie kaum Reaktionen zeigen kçnne.
Die Eltern erhoffen sich von der Musiktherapie, dass an die Aufgeschlossenheit angeknpft werden kann, die sie bei Gesa beobachten, dass die geistigen Fhigkeiten entwickelt werden, an die sie fest glauben, und dass sich ihre Wahrnehmungen von Gesa als – trotz ihrer starken Behinderung – aufgewecktes Kind besttigen lassen. Gesa wird von ihren Eltern liebevoll begleitet und durchluft die in Deutschland bliche Fçrderung durch Krankengymnastik, Frhfçrderung, immer ergnzt durch Therapieangebote, welche die Eltern zustzlich aufsuchen. So kommt Gesa ber den Zeitraum von fast drei Jahren in Behandlungsphasen von je etwa zehn Sitzungen, unterbrochen von jeweils dreimonatigen Pausen, in das Institut fr Musiktherapie. Hier arbeiten wir einmal wçchentlich fr etwa zwanzig bis fnfundzwanzig Minuten mit ihr. Dank einer Genehmigung der Eltern, die das gesamte Dokumentationsmaterial aus der Musiktherapie freigeben, habe ich nun die Mçglichkeit, diese Verlaufsdarstellung zu schreiben, welche Mçglichkeiten Musiktherapie zum Beispiel fr kçrperbehinderte Kinder bietet. In die erste Sitzung wird Gesa von ihrer Mutter begleitet. Gesa sitzt in einem Buggy, in dem eine gepolsterte Kçrperschale ihren Rumpf und ihren Kopf sttzt. Ihr Kçrper wirkt schlaff, ist aber jederzeit bereit, auf den kleinsten Reiz mit einer spastischen Kontraktion der Arme und Beine zu reagieren. Sie ist deshalb am Rumpf durch einen Hosentrgergurt und an den Fßen durch Klettverschlsse gesichert. Gesas Augen, die durch eine Brille besonders groß erscheinen, wirken so, als ob sie die ganze Zeit ziellos umher wandern, stets auf der Suche nach einem Fixpunkt, den sie dann aber doch nicht fokussieren kann. Dabei hat sie eine ruhige, zugleich auch frçhliche Ausstrahlung. Sie wirkt, als ob sie mit großer Erwartung kommt, und lçst auch bei uns diese Erwartungshaltung aus. Wegen der Schwere ihrer kçrperlichen Beeintrchtigungen arbeiten wir zu zweit. Als Therapeut am Klavier improvisiere ich fr Gesa Musik, die von dem ausgeht, was Gesa
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tut oder ausstrahlt. David Aldridge als Co-Therapeut hat die Aufgabe, Gesa kçrperlich zu untersttzen, wenn sprbar ist, dass sie etwas mçchte, ihr Instrumente zu reichen oder beim Spielen zu helfen. Schon in der ersten Begegnungssituation macht Gesa deutlich, dass sie die Situation erkennt und nimmt auf ihre Weise aktiv daran teil: Der Co-Therapeut hat Gesa aus ihrem Buggy gehoben und zum Klavier getragen, wo sie auf seinem Schoß sitzend musikalisch begrßt wird. Ich improvisiere eine ruhige offene Musik, zu der ich singe, um Gesa willkommen zu heißen. Zunchst ist sie in sich zusammengesunken, als die Musik sie anspricht, richtet sie sich auf und reagiert, oder besser gesagt agiert, auf die ihr mçglichen Weisen. Besonders beeindruckend ist die Unmittelbarkeit, mit der Gesa auf die Musik reagiert. Sofort streckt sie sich durch, wendet aber auch ihren Kopf und sucht mit ihrem Blick nach dem »Snger«. Unmittelbar reagiert sie auch vokal, wobei ihre Stimme zu der Tonart der Musik passt, die ich improvisiere. In ausholenden – ungerichtet wirkenden – Bewegungen gelingt es ihr, einzelne Tçne auf dem Klavier zu spielen; und an ihrem Blick und ihrer Stimme ist zu erkennen, dass sie sich selbst als Urheberin zu erkennen scheint. Als sie stimmlich ein rhythmisches Motiv hervorbringt und ich dieses auf dem Klavier und in meiner Stimme wiederhole, freut sie sich sehr, reagiert unmittelbar kçrperlich – bevor sie selber ein hnliches Motiv noch einmal singt. Diesmal gelingt es mir, sie musikalisch so »einzufangen«, dass ich synchron zu ihr spiele und ihre Stimme nun wirklich gesanglich klingt. Wieder wird in ihrer Reaktion klar, dass Gesa weiß, dass sie es ist, die die Musik macht. Meine Aufgabe besteht darin, sie in ihren Aktivitten zu begleiten. Gemeinsam entsteht so ihre Musik, die fr viele Sitzungen die Begrßungssituation bestimmen soll. Ein beeindruckender Anfang fr die Therapie mit einem Kind, das sonst aufgrund seiner kçrperlichen Beeintrchtigungen scheinbar kaum in der Lage ist, gerichtet zu kommunizieren. Zugleich zeigt sich hier eine Strke der Musiktherapie als Behandlung fr schwer behinderte Kinder: Sie kann unmittelbar anknpfen an die Angebote der Kinder, kann aufgreifen, was immer sie tun, und
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so hçrbar vermitteln, dass ein Bezug zur Welt besteht. In diesem Beispiel mag sich so besttigen, was PapouÐek und PapouÐek zur Kommunikation sagen: »Ganz allgemein bedeutet Kommunikation jede Form von Informationsvermittlung, geht also weit ber die menschliche Sprache hinaus« (1989, S.|29). In der Auswertung des Videomaterials und der Beobachtung dieses Musikbeispiels, besonders in den stimmlichen Spielen, wird aber auch noch eine zweite Aussage der gleichen Autoren besttigt, dass nmlich Kommunikation ein gegenseitiger Lernprozess ist: So lernen Eltern und Kinder in einem Rckkoppelungskreislauf (aus Anregung der Eltern bzw. Handlung des Kindes, Beobachtung des anderen, Rckkoppelung und Wiederholung bzw. Vernderung), wie sie Kommunikation herstellen kçnnen. Musik eignet sich hierfr als Lernfeld deshalb, weil sie keine abstrakte, an das Denken gebundene Form der Kommunikation, sondern unmittelbar erlebbar ist (vgl. Neugebauer 2001, S.|8). Ein Beispiel fr dieses Entstehen stimmlicher Kommunikation, aber auch der beginnenden gerichteten Bewegung entsteht in den nchsten Therapiesitzungen. Zeitweise haben wir in allen Sitzungen Gesa auf den Boden gelegt, um sie auch ohne ußere Hilfestellungen nach ihren Mçglichkeiten spielen zu lassen. Von den Eltern war im ersten Gesprch gesagt worden, dass sie hofften, Gesa kçnnte in der Musiktherapie die Mçglichkeiten ihrer motorischen Fhigkeiten erweitern, vielleicht sogar Mçglichkeiten zu gerichtetem und gezieltem Greifen finden. So gab es Phasen, in denen Gesa ruhig auf dem Boden liegt. Dann scheint sie der Musik zu lauschen, die ich spiele, um schon bald mit ihrer linken Hand Bewegungen in Richtung der Schellentrommel auszufhren, die David Aldridge als Co-Therapeut ihr in Spielhçhe anreicht. Nach dem Ende der ersten Melodiephrase, die zu hçren ist, hlt sie scheinbar aufmerksam inne und reagiert – nachdem ich singe »Hier ist Gesa« – unmittelbar spontan vokal. Whrend ich ihre stimmlichen Laute musikalisch aufgreife und weiterentwickle, ist sie ruhig, spielt aber auf der Schellentrommel weiter. Erst nach dem Ende meines Gesanges nutzt sie wieder ihre Stimme. Mit einem musikalischen Wechsel, der sich nun mehr auf ihr Spielen konzentriert, hlt sie dauerhaft ihre Hand ausgestreckt, damit Da-
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vid Aldridge mit der Trommel gegen ihre Hand spielen kann. Nun singt und spielt sie gleichzeitig mit mir, zuweilen synchron, manchmal dialogisch. Immer erkennt sie, wenn die Musik auf sie wartet, und reagiert entweder spielend oder singend. Dort, wo ich ihre Vokalimpulse synchron begleite, besttigt sie die Gemeinsamkeit mit einem freudigen Juchzer. hnliche musikalische Interaktionen finden sich in spteren Sitzungen. Wieder liegt Gesa auf dem Boden, wieder spielt David Aldridge mit zwei Schellentrommeln gegen ihre ausgestreckt hingehaltenen Hnde. Zur spanischen Musik singt sie energisch und stets im Dialog mit mir. Musikalische Wechsel gestalten der CoTherapeut und ich gemeinsam. So entwickeln sich Formteile, in denen ein klares Tempo entsteht, und solche, die rein melodisch geprgt sind und melismatisch gestaltet sind. Mit einem solchen Teil beginnt auch das Beispiel. Den vom Co-Therapeuten im Blickfeld geschttelten Schellentrommeln schaut Gesa aufmerksam nach, bevor sie ihre Hand ausstreckt und damit den Wechsel der Musik initiiert. Bei einem nochmaligen Musikwechsel reagiert sie vokal und verfolgt wieder die Instrumente mit ihrem Blick. Zur Verdeutlichung habe ich im Video ein Standbild eingefgt, in dem dieses gerichtete Blicken festgehalten ist. Spter schaut Gesa den vom Co-Therapeuten im Blickfeld geschttelten Schellentrommeln aufmerksam nach, bevor sie ihre Hand ausstreckt und damit den Wechsel der Musik initiiert. Bei einem nochmaligen Musikwechsel reagiert sie vokal und verfolgt wieder die Instrumente mit ihrem Blick. Sie ist in der Lage, die ihr zur Verfgung stehenden Bewegungsmçglichkeiten so zu nutzen, dass sie Klnge erzeugen kann, die in der Musik einen sinnvollen Zusammenhang finden. David Aldridge vertritt die These, dass wir uns im wesentlichen als handelnde Menschen erleben und dass dieses Selbsterleben in Handlung identittsbildend sei. »I perform therefore I am« – »Ich handle, also bin ich« schreibt er (vgl. 1999, S.|36). So betrachtet, verhilft Musiktherapie kçrperbehinderten Kindern nicht nur zu grçßerer Mobilitt und Bewegungserweiterung, sondern trgt vor allem dazu bei, dass die Kinder ber die handelnde Erfahrung ein Bewusstsein von sich selbst als handelnde Person erlangen kçnnen.
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Einen Beleg hierfr finden wir in Gesas Trommelspielen. Auf dem Schoß sitzend, ergreift Gesa mit ihrer rechten Hand den Stock. Zunchst fhrt der Co-Therapeut ihre Bewegungen, aber schon nach zwei Schlgen wird an ihrem Gesicht deutlich, dass sie sich handelnd erlebt. Immer wieder çffnet sie ihre Hand, um den Stock zu greifen, streckt ihre Beine durch und richtet sich kurz auf, bevor sie zusammensinkt – alles jedoch, ohne aufzuhçren, Impulse fr das Spielen zu geben. Gesa bereitet in ihrem Blick das Spielen auf der Cymbel vor. Sie greift gezielt nach dem Stock, um weiterspielen zu kçnnen. In einer frheren Untersuchung mit entwicklungsverzçgerten Kindern (Aldridge et al. 1994) hatten wir zeigen kçnnen, dass die Kinder in der Musiktherapie eine bessere Fhigkeit zur Koordination von Hand und Auge erwerben. Im Mittelpunkt der Therapie allerdings steht die musikalische Aktivitt und nicht die berwindung kçrperlicher Hemmnisse. Aus dem Wunsch zu spielen werden gerichtete Bewegungen – oder ein Bewegtwerden in relativer Entspannung – fr Gesa mçglich. In einer spteren Phase der Therapie greifen wir dieses soziale und gefhrte Spiel noch einmal im Beispiel auf. Auf dem Schoß des Co-Therapeuten sitzt sie am Klavier. Vor ihr steht die Windharfe, ein Instrument, das schon bei kleinen Berhrungen große Klnge erzeugt. Hinzu gesellt sich in der Videosequenz eine vom Co-Therapeuten gehaltene Schellentrommel, die Gesa bei Bedarf gereicht werden kann. Gesa differenziert nicht nur den Gebrauch der Instrumente in Bezug zu den musikalischen Teilen des Liedes, sie differenziert auch zwischen der rechten und der linken Hand. Nach einem erfolgreichen Durchgang freut sie sich hçr- und sichtbar. Als ich sie bitte, das Gleiche noch einmal zu spielen, zeigt sie nicht nur im Blick, sondern vor allem in der Musik: Ganz klar ist ihr die Aufgabenstellung, die sich aus der Musik und ihrem Spielen stellt, und mit großer Konzentration arbeitet Gesa daran. Dieses Beispiel habe ich deshalb gewhlt, weil es deutlich macht, dass Musik nicht nur – wie oft gesagt wird – emotionale Begegnungen vermittelt. Vielmehr ist es so, wie Paul Nordoff und Clive Robbins hervorheben: Musik ermçglicht »verstehbare Erfah-
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rungen« (vgl. Nordorff u. Robbins 1975, S.|14). Sie spricht eben auch intellektuelle Teile an und es ist an ihr ablesbar, ob zum Beispiel Handlungsplanung, ein absichtsvolles Gestalten einer Form in der Zeit, erfolgt. Im Kontext der Behandlung kçrperlich behinderter Kinder kann Musiktherapie deshalb mçglicherweise einen Beitrag dazu leisten, einzuschtzen, inwieweit das Kind versteht und seinem Verstndnis Ausdruck geben kann – eine Einschtzung, die sonst aufgrund der fehlenden sprachlichen Mçglichkeiten schwerfllt. Musiktherapie erçffnet ein Handlungsfeld, das nicht nur die Beobachtung dieser Fhigkeiten begnstigt, sondern auch deren Fçrderung maßgeblich untersttzt (Neugebauer 2001). Die Beobachtungen aus der Musiktherapie mit Gesa stehen stellvertretend fr Entwicklungen, welche die Eltern auch im tglichen Leben machen konnten. In einem Elterngesprch schildern sie, dass Gesa ihre Stimme vermehrt benutzt, sie plappere »ganze Stze« und es sei deutlich, dass sich ihr Gedchtnis verbessert habe: Sie erkenne auch nach langer Zeit ihr bekannte Menschen, freue sich sichtlich ber Spielzeug und ihr Zimmer, als sie aus dem Urlaub wiedergekommen sei. Auch lache sie ber Gerusche, die sie hervorbringt, probiere bewusst aus, was sie tun kçnne und wie sie welche Laute produzieren kçnne. Auch im motorischen Bereich seien viele Vernderungen eingetreten, seit sie mit der Musiktherapie begonnen habe. So greife sie inzwischen nach einem Lçffel, spiele gerne allein mit Spielzeug, sie spiele mit anderen Kindern und habe viel Neues entdeckt. Sicherlich sind diese Entwicklungen nicht allein auf die Musiktherapie zurckzufhren; mçglicherweise htte Gesa all diese Mçglichkeiten sogar auch ohne die Begegnungen in der Musik entdeckt und fr sich entwickelt. Dass sie aber in der Musiktherapie und in der Musik eine Mçglichkeit gefunden hat, ihre Strken zu zeigen und in ihrer Musik anderen Menschen davon hçrbar »zu berichten«, steht fr mich außer Frage. Dafr, dass die Eltern und somit auch Gesa die Erlaubnis erteilt haben, diese Berichte in der vorliegenden Form auch zugnglich zu machen, bedanke ich mich bei ihnen und bei ihr herzlich.
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Entwicklung der klinischen Praxis Schon Nordoff und Robbins selber haben sich um die systematische Auswertung ihrer Arbeit bemht. Sie entwickelten Skalen zur Auswertung der Therapien, die sich an bestehenden Skalen zur Verhaltens- und Interaktionsbeobachtung autistischer Kinder anlehnten (Nordoff u. Robbins 1986, S.|157|ff.). Neben der zehnstufigen Systematik zur Beschreibung der musikalischen Beziehung und zur Interaktion mit den Kindern liefern sie wertvolle Hinweise auf mçgliche weitere Schritte, die der Therapeut einleiten oder initiieren kann, weil sie nicht – wie sonst blich – ausschließlich das Kind beobachten, sondern die Beziehung und die musikalische Interaktion beider beteiligten Menschen in Betracht ziehen. Neben der Tonbandauswertung sind sie deshalb ein zweites geeignetes Mittel, um den Therapeuten zu einer von seinem eigenen Erleben und Empfinden losgelçsten Einschtzung zu verhelfen: »In Skala I [Abbildung 5] werden verschiedene Ebenen der Beziehungen – wie sie in der Musik auftreten kçnnen – beschrieben und anhand musikalischer Kriterien nachvollziehbar. Die Skala ist in zehn Teilschritte untergliedert, die von vçlligen Nichtbeachten bis hin zu Erreichen und Festigen von aktiver Selbstndigkeit in musikalischer Gruppenarbeit reichen. Der sogenannten Abwehr wird in ihrer Beziehungsqualitt| die gleiche Bedeutung beigemessen, wie der aktiven Teilnahme. Skala II [Abbildung 6] beschreibt die Mçglichkeiten zur Kommunikation innerhalb der Musik. Auch sie ist in zehn Teilschritte unterteilt. In ihr werden sowohl Wahrnehmungs- als auch Ausdrucksaspekte angesprochen. Sie ist untergliedert in drei Teilbereiche der Aktivitten: – instrumentale Aktivitten, – vokale Aktivitten, – Bewegungsaktivitten. Die Anwendung der Skalen war zunchst auf die Musiktherapie mit Kindern gerichtet. Ihre Entwicklung sttzte sich auf die Arbeit mit 52 Kindern, die in insgesamt ber tausend Musiktherapiesitzungen behandelt wurden, bei deren Auswertung die Skalen Anwendung fanden.
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ber ihre ursprngliche Funktion als Beurteilungsinstrument fr musiktherapeutische Entwicklungen hinaus stellen sich die Skalen als sinnvolles Element der Ausbildung von Musiktherapeuten heraus. Sie erwiesen sich als gute Hilfe bei der Entwicklung klinischer Wahrnehmungsfhigkeit und zur Identifikation und Differenzierung dynamischer interaktiver Elemente im Therapieprozeß. Auch wenn sie heute nicht mehr in einem gleichen Umfang wie zu Beginn der Arbeit eingesetzt werden, stellen die RaKind: ___________________ Datum: _____________ Sitzung: ________________ Ausgewertet von: ____________________________ Punkte
Stufen der Teilnahme
Arten der Abwehr
_____ (10) Erreichen und Festigung von aktiver Selbstndigkeit in Gruppenarbeit. _____
(9) Stabilitt und Selbstvertrauen innerhalb der gegenseitigen musikalischen Beziehung. Konstruktive Teilnahme an Gruppenaktivitten.
Durch Identifikation mit den Erwartungen der Therapeuten fhig, den eigenen Regressionstendenzen zu widerstehen.
_____
(8) Gleichberechtigtes Miteinander in (a) Krise – zur Lçsung hin. ausdrucksvoller musikalischer (b) Keine Abwehr. Beweglichkeit.
_____
(7) Selbstsicherheit in der gemeinsamen Aktivitt. Arbeitsbeziehung.
Beharrliche Zwanghaftigkeit und/ oder selbstbehauptende Unnachgiebigkeit. Offene Auseinandersetzung. Widerspenstigkeit.
_____
(6) Entstehen von Aktivittsbeziehung.
Widersetzlichkeit und/oder Manipulation.
_____
(5) Begrenzte Reaktivitt.
Ausweichendes Defensiv-Verhalten.
_____
(4) Tastende Ambivalenz. Versuchsweises Akzeptieren.
ngstliche Ungewißheit. Tendenz zur Zurckweisung.
_____
(3) Erkennen, aber kein Akzeptieren. Kontinuierliche Negativhaltung.
_____
(2) Flchtige Anzeichen von Erkennen.
Abkehr in den autistischen Zustand.
_____
(1) Vçlliges Nicht-Beachten.
Unzugnglichkeit. Wut-Reaktion bei Forderungen.
Abbildung 5: Auswertungsbogen. Skala I. Kind-Therapeut-Beziehung in der musikalischen Aktivitt (Nordoff u. Robbins 1986, S.|162)
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Kind: ___________________ Datum: _____________ Sitzung: ________________ Ausgewertet von: ____________________________ Aktivittsarten Stufen der Kommunikativitt
Instrumental
Vokal
Kçrperbewegungen
Summe
(10) Hingabe an musikalische Aufgaben in der Gruppenaktivitt.
_____
_____
_____
_____
(9) Musikalische Intelligenz und Fertigkeiten frei wirksam und der Kommunikation zur Verfgung.
_____
_____
_____
_____
(8) Begeisterung fr musikalische Kreativitt. Musikalische Kompetenz.
_____
_____
_____
_____
(7) Aufmerksame, bewegliche Reaktivitt. Selbstdarstellendes musikalisches Vertrauen.
_____
_____
_____
_____
(6) Teilnehmende kommunikative _____ Reaktivitt entwickelt. Zunehmend intensive Beschftigung mit individuell gestalteten Aktivittsformen.
_____
_____
_____
(5) Aufrechterhalten von gerichteten Responseimpulsen. Dadurch Aufbauen von musikalischer Kommunikation.
_____
_____
_____
_____
(4) Zeitweilige musikalische Perzeption und Gerichtetsein.
_____
_____
_____
_____
(3) Hervorgerufene Reaktionen II: deutlicher zusammenhngend und musikalisch geformt.
_____
_____
_____
_____
(2) Hervorgerufene Reaktionen I: fragmentarisch.
_____
_____
_____
_____
(1) Keine kommunikative Reaktivitt. _____
_____
_____
_____ _____ Nichtaktiv
Abbildung 6: Skala II. Musikalische Kommunikativitt (Nordoff u. Robbins 1986, S.|176)
ting-Scales einen wesentlichen Schritt fr die Entwicklung systematischer Beobachtungskriterien dar. Eine systematische Beobachtung der fr Musiktherapie spezifischen Prozesse, wie sie
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Nordoff und Robbins seinerzeit entwickelten, wird [.|.|.] als Ausgangspunkt jeder forscherischen Ttigkeit betrachtet« (Neugebauer 1996, S.|316|f.). Durch die Erkrankung Nordoffs beginnt Robbins die Zusammenarbeit mit seiner Frau Carol Robbins (gest. 1997), die zuvor als Sonderschullehrerin im Gehçrlosen- und Schwerhçrigenbereich ttig war. Gemeinsam mit ihr bertrgt er den Arbeitsansatz, der seine Eignung mit autistischen, mehrfachbehinderten und entwicklungsverzçgerten Kindern inzwischen an vielen Orten zeigt, in den Bereich der sinnesbehinderten Kinder (Robbins u. Robbins 1980, 1998). In diesem Entwicklungsstrom sind auch die spteren Arbeiten der deutschen Kollegen Karen Thoms und Rainer Haus zu sehen, die beide, unabhngig voneinander, Ende der neunziger Jahre mit Kindern arbeiten, die Cochlea-Implantate erhalten haben. Sie zeigen, dass Musiktherapie ein sehr geeignetes Verfahren ist, diese Kinder an Kommunikation heranzufhren, die sich auf akustische Interaktion sttzt. Musik stellt hierfr einen idealen Rahmen dar, der jenseits der Sprache Kommunikation ermçglicht und als Modell auch fr spter einsetzende sprachliche Interaktion dienen kann. Abseits der Entwicklungen in der Betreuung von Kindern, die sich in den Bereich der Behandlung von Krebsbetroffenen und chronisch erkrankten Kindern ausweitet, entwickelt sich vor allem vom Gemeinschaftskrankenhaus in Herdecke ausgehend die klinische Arbeit in viele Bereiche der Medizin hinein. In der Neurologie und Psychiatrie, der Psychosomatik und der Begleitung Schwersterkrankter in der letzten Lebensphase hat sie ebenso ihren festen Platz gefunden wie in der Intensivmedizin, der neurochirurgischen Rehabilitation und der Betreuung alter Menschen mit Demenz. Die Entwicklung klinischer Arbeitsfelder profitiert dabei von dem Umstand, dass Nordoff und Robbins nicht auf ein bestehendes Therapiekonzept aufbauen. Wie Aigen (2005) schreibt, »[.|.|.] sind sie nicht von theoretischen berlegungen als Grundlage fr bestimmte Behandlungsweisen und Interventionen ausgegangen. Statt dessen gingen sie von der Grundannahme aus, dass behinderte Kinder von der Beschftigung mit Musik profitieren wr-
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den. Das war ihr Fundament. Alle Elemente des Arbeitsansatzes, die Nutzung von Improvisation, das auf einzelne Kinder zugeschnittene Repertoire, die berzeugung, dass Pathologien in Musik sowohl ausgedrckt als auch umgangen bzw. berwunden werden kçnnen, die Einbindung des Kindes als Co-kreativer Partner, der eine aktive Rolle in der Musik innehat [.|.|.]« ermçglichte auch nach meiner berzeugung, dass der Ansatz von Nordoff und Robbins in so viele verschiedene klinische Anwendungsbereiche bertragen werden konnte, ohne seinen originren Ausgangspunkt zu verlieren. So stehen wir in der heutigen Entwicklung der klinischen Arbeitsfelder vor einer Vielzahl von Arbeitsgebieten, in denen der originre Musiktherapieansatz der Kunst der Musik als Therapie zur Anwendung kommt. Neben der Entwicklung der klinischen Arbeit in großer Vielfalt ist die internationale Entwicklung von Ausbildung und Forschung zu erwhnen, die zu einer eigenen methodischen Identitt beitrgt.
Entwicklung der Ausbildung und Forschung 1974 entsteht in England der erste Ausbildungskurs, in dem Nordoff und Robbins ihre inzwischen ausgearbeiteten Konzepte an Studierende und Interessierte weitergeben. In Folge einer Begegnung mit dem Psychiater und Neurologen Konrad Schily wachsen auch in Deutschland die Bemhungen, diesen Arbeitsansatz als Ausbildung zu verankern. Bevor es 1978 zu einem internationalen Symposion zur Musiktherapieausbildung kommt, verstirbt Nordoff in Herdecke. Als Nachfolger des Mentorenkurses, der nach dem Symposion in Herdecke begonnen wird, entsteht in Zusammenarbeit mit der Musikhochschule Aachen ein an der Schçpferischen Musiktherapie ausgerichteter Studiengang als Modellversuch, der 1985 in der Genehmigung des Universittsstudienganges an der Universitt Witten/Herdecke mndet. In London ist der Ausbildungsgang inzwischen an der City University London angesiedelt und auch in Amerika und Australien entwickeln sich unter Beteiligung von Clive Robbins Studienangebote.
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Mit jeweils eigenem Schwerpunkt sind alle diese Ausbildungsstellen auch wissenschaftlich ttig. Whrend in Amerika unter Beteiligung des Ehepaares Robbins zunchst das Archivmaterial aufgearbeitet wird und Bcher mit Fallstudien und auf Vorlesungen Nordoffs basiertes Unterrichtsmaterial entsteht (Robbins u. Robbins 1998), bezieht das Nordoff and Robbins Centre in London moderne musikwissenschaftliche Strçmungen in den theoretischen Rahmen der Therapie ein. Aufgrund der Einbettung in einen grçßeren Universittszusammenhang wird an allen Ausbildungsstellen auch die Nahtstelle zu psychotherapeutischen Strçmungen beziehungsweise zur Medizin betrachtet, immer unter dem Aspekt der Musik als Kunst, die in der Therapie wirkt. Die Universitt Witten/Herdecke whlt einen breiteren Ansatz fr die wissenschaftliche Arbeit und berschreitet die Grenzen der Arbeitsanstze, um die praktische Ttigkeit in ein gesamtwissenschaftliches Bild einzubetten. Insgesamt liegt eine Vielzahl von internationalen Publikationen vor, deren Darstellung nicht im hiesigen Rahmen vorzunehmen ist. ber die Internetseiten der einzelnen Ausbildungen sind Gesamtlisten wie Einzelpublikationen einsichtig und zum großen Teil auch abrufbar. Wie in der klinischen Arbeit bezieht sich nur ein Teil der Publikationen auf die Arbeit mit Kindern. Auf diesen Aspekt focussiert sich daher auch die weitere Darstellung. Einen wesentlichen Teil der Publikationen machen Fallberichte und Einzelfallbeschreibungen aus. Dass diese Form der Arbeit in den Bereich der wissenschaftlichen Arbeit zu zhlen ist, wenn bestimmte formale Aspekte eingehalten werden, zeigt das Buch von David Aldridge (2005), in dem Arbeiten zum Beispiel von Petra Kern zur Begleitung autistischer Kinder und von Trygve Aasgard zur Betreuung krebserkrankter Kinder enthalten sind. Auch wenn beide nicht als Nordoff/Robbins-Therapeuten ausgebildet sind, zeigen die Arbeiten eine Methodik auf, wie Einzelfalldokumentationen in der Forschung ihren Platz finden kçnnen. Neben den oben bereits erwhnten Arbeiten von Thoms und Haus zur Arbeit mit Cochlea-Implantat versorgten Kindern ist die Arbeit von Gilbertson (2005) zu nennen, in der unter anderem die Arbeit mit Kindern beschrieben und analysiert wird, die ein Schdel-Hirn-
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Lutz Neugebauer
Trauma erlitten haben. Diese Indikationsfelder werden ergnzt von Arbeiten mit der Klientel, mit der das musiktherapeutische Wirken von Nordoff und Robbins seinen Ausgang nahm, die Begleitung autistischer und entwicklungsverzçgerter Kinder. Hier sei – ebenfalls nur als Beispiel – die Arbeit von Aldridge, Gustorff und Neugebauer (1994) genannt, in der wir in einer Gruppenuntersuchung im Cross-over-Design die Entwicklungen der musiktherapeutisch behandelten Kinder gegenber der Warteliste deutlich zeigen konnten, indem wir die Kinder von einem unabhngigen Beobachter mit einem standardisierten Entwicklungstest untersuchen ließen. Dem Beobachter war dabei nicht bekannt, welche der beiden Gruppen zum jeweiligen Untersuchungszeitpunkt behandelt wurde. »Die hauptschlichen Bewertungen bezogen sich – die Entwicklung betreffend – auf psychologische und funktionale Kriterien (Griffiths-Test [.|.|.]) und, in bezug auf das Musikalische, auf die Nordoff-/Robbins-Auswertungstabellen [.|.|.] Die Musiktherapie-Sitzungen wurden auf Tonband aufgezeichnet und spter entsprechend [.|.|.] [der] Kriterien der Musiktherapie ausgewertet. Eingangskriterien waren ein Lebensalter von 4 bis 6,5 Gruppe B
Gruppe A 120
A B C D E F
A B C D E F A B C D E F
A B C D E F
A B C D E F
120
100
100
80
80
60
60
40
40
20
20
0
Katrin
Matthias
Andrea
Monika
Michael
A B C D E F
A B C D E F A B C D E F
120 A B C D E F
A B C D E F
100
100
80
80
60
60
40
40
20
20
0
Katrin
Dana
A B C D E F
A B C D E F
Gudrun
Susanne
A B C D E F
A B C D E F
A B C D E F
Dana
Gudrun
Susanne
Gruppe B
Gruppe A 120
0
A B C D E F
Matthias
Andrea
Monika
Michael
0
Abbildung 7: Profile des Griffiths-Test bei der Eingangsuntersuchung, Profile des Griffiths-Test bei der Abschlussuntersuchung (Aldridge et al. 1997, S.|17)
193
Die Kunst der Musik als Therapie
Alle Kinder werden von einem Pädiater untersucht, das Projekt wird Eltern bzw. Betreuern erklärt, die Kinder werden den Behandlungsgruppen zugeordnet
Untersuchungszeit
EINGANGSUNTERSUCHUNG
➧
➤
➤
MUSIKTHERAPIE
KEINE MUSIKTHERAPIE
A
B
BEHANDLUNGSBEGINN
TEST 1 Nach 3 Monaten
➤
➤
B
A
TEST 2 Nach 6 Monaten
➤
➤
A
B
TEST 3 Nach 9 Monaten
➤
B
➤
A
TEST 4 Nach 12 Monaten
Abbildung 8: Untersuchungsaufbau (Aldridge et al. 1997, S.|16)
Jahren und ein Entwicklungsalter von 1,5 bis 3,5 Jahren. Die ausgewhlten Kinder durften keine frheren Erfahrungen mit Musiktherapie haben« (Aldridge et al. 1997, S.|16). Mittels der Auswertung des Griffiths-Tests, welcher die Entwicklungsbereiche Motorik, Hçren und Sprechen, Hand-AugeKoordination, persçnlich-soziale Fhigkeiten, Geschicklichkeit und Intelligenz umfasst, »ergibt sich ein Gesamtentwicklungsquotient sowie Entwicklungsquotienten fr jede Subskala, und damit ein Entwicklungsprofil, das im Einzelfall zur Differentialdiagnose von Behinderungen eingesetzt werden kann« (Testkatalog 1998). Die Kinder zeigten Verbesserungen in allen erfassten Bereichen, die der Test abbildete. Hervorzuheben ist, dass »sich die Vernderungen in der Griffiths-Skala tatschlich unterscheiden, abhngig davon, in welcher der beiden Behandlungsgruppen die Kinder sind. In der gleichen Zeitspanne verndern sich die Kinder der Be-
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Lutz Neugebauer
handlungsgruppe (A) strker als die Kinder der Kontrollgruppe (B) auf der Warteliste. Wenn die Wartelistengruppe behandelt und im Anschluß daran im zweiten Test untersucht wird, whrend gleichzeitig die erste Gruppe eine Behandlungspause hat, holen die neubehandelten Kinder den Entwicklungsrckstand gegenber der ersten Gruppe auf. Diese Unterschiede kçnnen auch auf der Ebene der statistischen Signifikanz nachgewiesen werden und untersttzen unsere Eingangshypothese, daß Musiktherapie eine Initialwirkung fr Vernderungen haben kann« (Aldridge et al. 1997, S.|18). Der Vergleich der Entwicklung vor und nach Musiktherapie – am Beispiel eines kleinen Jungen mit kçrperlicher Behinderung aufgrund einer Cerebralen Parese (vgl. Abbildung 9) – verdeutlicht die Bereiche, in denen Kinder durch Musiktherapie gefçrdert werden kçnnen. Von besonderer Bedeutung ist diese Arbeit deshalb, weil im Prinzip eine bertragung dieser Untersuchungsmethodik denkbar und praktikabel ist. Ziel der Ausbildung und Forschung in diesem Zugang zur Musiktherapie ist es aber nach wie vor, ein »individualized treatment«, einen je individuellen Behandlungszugang fr das jeweilige Kind in seiner besonderen Lebenssituation zu er-
120
A B C D E F A B C D E F
100
Werte für: A: Motorische Entwicklung
80
B: Sozialbeziehung
60
C: Sprechen und Hören
40
D: Hand/Auge-Koordination
20
E: Geschicklichkeit F: Praktische Urteilsfähigkeit
0
vor MT
nach MT
Abbildung 9: Testergebnisse des Griffiths-Entwicklungstests fr das Kind M. vor und nach der Musiktherapie (Neugebauer 2001, S.|10)
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mçglichen und zu finden. »Musik an sich hat die innewohnende Fhigkeit, einen einzigartigen, signifikanten Kontakt mit behinderten Kindern zu stiften und ein Experimentierfeld bereitzustellen fr hingebendes Handeln, fr ihre Persçnlichkeits-Entwicklung und fr ihre individuelle und soziale Integration. In dem Maße, in dem Musik dies bewirkt, wird sie Musik-Therapie« (Nordoff u. Robbins 1983, S.|14).
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Lutz Neugebauer
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Internetadressen www.musictherapyworld.de www.nordoff-robbins.org
Melanie Voigt und Christine Plahl
Die Orff-Musiktherapie als kindzentrierte und entwicklungsfçrdernde Musiktherapie
Zusammenfassung Die Arbeit mit Kindern mit Entwicklungsstçrungen und Behinderungen stellt ein wichtiges Arbeitsfeld fr Musiktherapeuten dar. Sie arbeiten mit diesen Menschen in vielen verschiedenen Einrichtungen, zum Beispiel in Sozialpdiatrischen Zentren, in heil- oder sonderpdagogischen Einrichtungen, in Langzeiteinrichtungen fr Behinderte und in der freien Praxis. Die Orff-Musiktherapie (Musiktherapie nach Gertrud Orff) ist eine der wenigen Musiktherapieformen, die speziell fr die Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Entwicklungsstçrungen und Behinderungen entwickelt wurde. Sie gehçrt zu den Musiktherapieformen, deren Entwicklung whrend der »Pionierzeit« der Musiktherapie in Deutschland begann und die heute noch angewendet werden.
Geschichte und Entwicklung der Orff-Musiktherapie »Die Orff-Musiktherapie wurde aus praktischer Arbeit entwickelt« (Orff 1974, S.|9). Einflsse aus der Medizin und der Musik sowie Gertrud Orffs eigene philosophische Sichtweise und ihre Erfahrungen in der Arbeit mit Kindern spielten eine wichtige Rolle in der Entwicklung der Orff-Musiktherapie.
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Einflsse aus der Medizin Gertrud Orff begann ihre praktische therapeutische Arbeit im Kinderzentrum Mnchen, dem ersten Sozialpdiatrischen Zentrum Deutschlands. Der medizinische Fachbereich der Sozialpdiatrie entstand aus der Arbeit des Kinderarztes Prof. Theodor Hellbrgge. In dieser Arbeit wurden diagnostische und therapeutische Maßnahmen fr Kinder entwickelt, die unter Stçrungen der Entwicklung litten. Die therapeutischen Maßnahmen sollten das einmalige Potential der frhkindlichen Entwicklung ausnutzen, um die Entwicklung der Kinder positiv zu beeinflussen und mçgliche Behinderungen zu vermeiden oder zu vermindern. Mit der Einbeziehung von Psychologen und verschiedenen Therapeuten in das Konzept der Sozialpdiatrie gelang eine Ergnzung des Wissens und der diagnostischen beziehungsweise therapeutischen Mçglichkeiten der Medizin. Auch die Eltern der Kinder spielten eine wichtige Rolle im Prozess der Diagnostik und der Therapie. Die Sozialpdiatrie hatte als Ziel die frhestmçgliche Diagnostik und Therapie von Entwicklungsstçrungen und Behinderungen. Zustzlich wurde das Ziel der sozialen Integration der betroffenen Kinder verfolgt. Die Musiktherapie wurde in das Konzept der Sozialpdiatrie integriert, um die emotionale Entwicklung der Kinder positiv zu beeinflussen. Hellbrgge hat den Namen »Orff-Musiktherapie« geprgt (Hellbrgge 1975; Orff 1976).
Einflsse aus der Musik Gertrud Orff wandte in ihrer praktischen Arbeit am Kinderzentrum Mnchen Elemente des Orff-Schulwerks an. Das Orff-Schulwerk ging von der Annahme aus, dass alle Menschen, alle Kinder in der Lage sind, sich musikalisch auszudrcken. Ein Verstndnis von Musik, das dem Begriff »musik« entsprach, lag dem Konzept des Orff-Schulwerks zugrunde. Dieser Begriff, mit dem ein musischer Gesamtausdruck in Wort, Ton und Bewegung gemeint ist, beschrnkt die Musik nicht auf den Komplex Ton, sondern bezieht
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Sprache und Bewegung mit ein. In diesem Begriff ist auch die Multisensorik| beinhaltet – die Kombination verschiedener Modalitten wie das Hçren, das Sehen, das Fhlen und das Bewegen. Das Ziel des Schulwerks war es, durch die Anwendung elementarer Musik die Kreativitt von Kindern im pdagogischen Rahmen zu untersttzen und die Entwicklung von gemeinsamen musischen Gestaltungen (Improvisationen|) auf der Basis verschiedener Modelle zu ermçglichen. Sprache, Rhythmus, Melodie und Bewegung wurden als Einheit gesehen, die jeder erleben und erlernen kann, an der jeder aktiv teilnehmen kann. Die Virtuositt stand nicht im Mittelpunkt, auch keine komplexen musikalischen Formen. Stattdessen wurde es den Kindern ermçglicht, durch den Einsatz von Kçrperinstrumenten und leicht spielbaren Instrumenten spontan und kreativ in der Gruppe zu musizieren (Orff 1973, 1974). Gertrud Orff integrierte in die Therapie die Idee des »musik«, die Multisensorik, die Prinzipien der elementaren Musik, das Instrumentarium und die Improvisation, da sie diese als hilfreich fr die Arbeit mit behinderten Kindern erachtete. Fr sie waren das Orff-Schulwerk und die Orff-Musiktherapie nicht identisch, wohl aber miteinander verwandt (Orff 1974, S.|12).
Entwicklung therapeutischer Prinzipien Die Sozialpdiatrie und das Orff-Schulwerk gingen vom positiven Potential des Kindes aus – die Sozialpdiatrie vom Entwicklungspotential, das Orff-Schulwerk vom musikalischen Potential des Kindes. Auch Gertrud Orff, vom Humanismus stark beeinflusst, ging davon aus, dass das Kind, auch das behinderte Kind, Strken hatte, die es zu entdecken und zu untersttzen galt. Hier spielten die pdagogischen Erfahrungen, die sie zwischen 1960 und 1970 in Europa und den USA sammelte, eine wichtige Rolle. Durch ihre Arbeit mit dem Orff-Schulwerk in Schulen in diesen Lndern erwarb sie prgende Erfahrungen mit Kindern und Jugendlichen mit und ohne Entwicklungsstçrungen. Sie erfuhr die Probleme der Kinder, aber auch ihre Strken, die im Rahmen der pdagogischen Aktivitten sichtbar wurden. Kinder mit Verhaltensstçrungen, mit
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geistiger Behinderung, mit Sinnesbehinderungen, Sprachstçrungen und Kçrperbehinderungen zeigten in den Musikstunden viel Potential zur konstruktiven Mitarbeit, zur Kreativitt und zur sozialen Kompetenz. Diese Erfahrungen bezog Gertrud Orff in die Entwicklung der Therapie mit ein (Orff 1974). In der Sozialpdiatrie sammelte sie auch Erfahrungen mit Kindern mit verschiedensten diagnostizierten Entwicklungsstçrungen und Behinderungen, was ein individuell abgestimmtes Vorgehen und eine große Flexibilitt erforderte. Das Kind selbst stand immer im Mittelpunkt fr Gertrud Orff. »Unser Ansatzpunkt ist das Kind. Wir haben das behinderte Kind vor uns, wir mssen Zugang zu ihm finden« (Orff 1974, S.|14). Sie betonte immer die von ihr sogenannten »Profizite« des Kindes, seine Strken (Orff 1998). Durch sensibles Beobachten des Kindes suchte sie seine Ressourcen und Interessen und versuchte, ber diese Zugang zum Kind zu bekommen, um den ersten Kontakt herzustellen. Dieser Kontakt sollte sich ihrer Meinung nach in der ersten Stunde ergeben, danach drfte aber kein Druck im therapeutischen Prozess entstehen. Dieser Prozess sollte sich den Entwicklungsprozessen und den Fhigkeiten des Kindes anpassen (Orff 1974). »Die Behandlung vollzieht sich als Prozeß, bildlich als ein Gehen auf einem Weg. Dabei sind die unbegradigten Wege vorzuziehen, eben die Wege, die Kinder gerne gehen und die fr das Kind Weg bedeuten. Die Richtung allerdings, das Wohin wird vom Therapeuten indiziert. Er wird nun all die Um- und Nebenwege mitgehen, wird verweilen, wo ein Verweilpunkt sich ergibt« (Orff 1974, S.|16). Um das Vorgehen des Therapeuten in diesem Prozess zu beschreiben, benutzte sie die Begriffe ISO| und Provokation. ISO| bedeutete fr sie ein Mitgehen des Therapeuten mit dem Kind auf hnliche Art und Weise. Um das Wesen, die Interessen und die Fhigkeiten des Kindes wahrzunehmen, war ein genaues Beobachten des kindlichen Verhaltens notwendig. Mit dem Begriff Provokation| meinte sie einen Impuls vom Therapeuten, »der interessiert, die Fassungskapazitt etwas erweitert und dadurch anreichert« (Orff 1984, S.|17). Das Wort sollte in seinem positiven Sinne verstanden werden, im Sinne eines Hervorrufens.
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In der Interaktion mit dem Kind unter Anwendung eines Therapeutenverhaltens, das sowohl sich dem Kind anpasste, es aber auch im positiven Sinne herausforderte, sollten dann neue Kompetenzen beim Kind entstehen. Die Auswirkungen der verschiedenen Entwicklungsstçrungen und Behinderungen mussten dabei bercksichtigt werden, das Vorgehen diesen immer wieder angepasst werden (Orff 1974). In diesem interaktiven Prozess zwischen Therapeut und Kind waren Gertrud Orff zwei Dinge wichtig. Erstens war die Beziehung, die zwischen Therapeut und Kind entsteht, ein grundlegender Faktor. Sie beschrieb diese Beziehung als einen »Zustand der Begegnung« (Orff 1974, S.|161), die sich von einer Situation, in der zwei sich gegenberstehen, in eine verwandelt, in der zwei nebeneinander und miteinander agieren. Im Rahmen dieser Therapeut-Kind-Beziehung war es aber Orff auch wichtig, dass der Therapeut verstehe, dass er die Rolle eines Mittlers innehat, »Mittler fr die Selbstndigkeit eines Wesens, fr die Entwicklung von Interesse, sei es fr den anderen, sei es fr Objekte« (Orff 1984, S.|92|f.). Auf der Basis dieser therapeutischen Prinzipien, die von Gertrud Orff in der Praxis entwickelt wurden, fanden ber die Jahre der Anwendung der Therapie im Kinderzentrum Mnchen und anderswo der Beginn einer theoretischen Fundierung (Vocke 1986; Voigt 1998; Plahl 2000), die Herauskristallisierung musiktherapeutischer Indikationen und die Weiterentwicklung der Praxis der Orff-Musiktherapie (Voigt 1998) statt.
Allgemeiner theoretischer Hintergrund Den allgemeinen theoretischen Hintergrund der Orff-Musiktherapie finden wir im Menschenbild und in der therapeutischen Haltung der humanistischen Psychologie, in den Prinzipien einer kindzentrierten und entwicklungsorientierten Therapie und im Spektrum der klinischen Zielsetzungen der Therapie.
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Menschenbild und therapeutische Haltung in der Orff-Musiktherapie Orff-Musiktherapie orientiert sich am Menschenbild der humanistischen Psychologie, das im Menschen ein schçpferisches Wesen mit einem lebenslangen Streben nach Selbstwerdung und Selbstverwandlung sieht (Maslow 1973). Liegt – aus welchen Grnden auch immer – eine Behinderung der Selbstentfaltung eines Menschen vor, greift eine erfahrungsorientierte Therapie wie die Musiktherapie das in jedem Menschen vorhandene Bedrfnis nach Selbstaktualisierung auf, indem hinderliche Bedingungen entdeckt und beseitigt werden. Die humanistische Psychologie geht davon aus, dass jeder Mensch ber einen inneren Bezugsrahmen verfgt, der aus der Summe aller frheren Erfahrungen entstanden ist. Mit Hilfe dieses Bezugsrahmens werden alle aktuellen Wahrnehmungen und Erfahrungen bewertet und erhalten so ihre Bedeutung fr das eigene Leben und die eigene Lebenswelt. Erst wenn es gelingt, eine andere Person mit ihrem je eigenen Bezugsrahmen in ihrer eigenen Lebenswelt wahrzunehmen, kçnnen echte Begegnungen und unmittelbarer Kontakt entstehen. Weg und Ziel einer an der humanistischen Psychologie ausgerichteten personzentrierten und entwicklungsorientierten Therapie ist es, sowohl die eigene Person wie die Person des Klienten in der therapeutischen Begegnung genau wahrzunehmen und bewusst zu erleben. Das therapeutische Vorgehen in den humanistischen Therapien ist in der Grundhaltung nicht-direktiv; das Streben nach Selbsterkenntnis, Selbstverwirklichung und Selbstregulation wird lediglich untersttzt, nicht jedoch direktiv gelenkt. Fr die OrffMusiktherapie beschreibt Gertrud Orff dies etwas abgewandelt als Gehen auf den Um- und Nebenwegen des Kindes in die vom Therapeuten vorgegebene Richtung (siehe »Entwicklung therapeutischer Prinzipien« in diesem Beitrag). Carl Rogers (1902–1987) hat in seiner klientenzentrierten Psychotherapie beziehungsweise personzentrierten Therapie drei zentrale therapeutische Haltungen beschrieben, die entwicklungsfçrdernde Rahmenbedingungen in der Therapie herstellen: Unein-
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geschrnkte Wertschtzung, Empathie und Echtheit (Rogers 1982, 2004). Grundlegend ist zunchst eine bedingungslos positive Haltung dem Kind gegenber. Eine solche uneingeschrnkte Wertschtzung| bedeutet, die Gefhle und Handlungen des Kindes vorbehaltlos und vollstndig anzunehmen und zu respektieren. Erst, wenn sich das Kind als bedingungslos akzeptiert erfhrt, kann es sich auch selbst akzeptieren. Diese Haltung der Akzeptanz bedeutet, keine bestimmte Vorstellung vom Kind mitzubringen, sondern: »[.|.|.] versuchen, alles anzunehmen, was vom Kind irgendwie angeboten wird« (Orff 1971, S.|19). Es bedeutet, es in einer wohlwollenden Art anzunehmen. Als therapeutische Haltung ist die uneingeschrnkte Wertschtzung eine immer wieder neu zu gewinnende Einstellung, die durch die Sensibilisierung fr die »Profizite« des Kindes, seine oftmals verborgenen Strken und Fhigkeiten erleichtert und untersttzt wird (Orff 1998). Mit Hilfe der zweiten zentralen therapeutischen Haltung – der Empathie| – versucht der Therapeut, durch aufmerksames Zuhçren und einfhlsames Nachfragen Zugang zur individuellen Lebenswelt und zum inneren Bezugsrahmen des Kindes zu erhalten. Durch eine solche empathische Haltung kann eine sichere und von Vertrauen getragene Beziehung aufgebaut werden, die es dem Kind erleichtert, sich zu çffnen und sich mitzuteilen. Dahinter steckt die Annahme, dass sich Menschen erst dann weiter entwickeln kçnnen, wenn sie bereit sind, sich selbst vollstndig wahrzunehmen und sich anderen Menschen anzuvertrauen. Das einfhlsame Sich-Hineinversetzen ins Kind ußert sich in der Orff-Musiktherapie in einer sensibel auf die Besonderheiten des jeweiligen Kindes abgestimmten Anregung. Bei dieser Art von Anregung geht es nicht darum, das Kind mit musikalischen Reizen zu konfrontieren. Vielmehr soll es durch eine stimulierende musikalische Atmosphre und ein akustisches Klima dazu angeregt werden, von sich aus musikalisch aktiv zu werden. Therapeutische Erfahrungen sind nur wirkungsvoll, wenn eine echte Begegnung zwischen zwei Menschen stattfindet. Dies bedeutet fr den Therapeuten, in seinem Verhalten gegenber dem Klienten keine Rolle zu spielen, sondern echt zu sein. Als dritte zentrale therapeutische Grundhaltung meint Echtheit|, in berein-
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stimmung zu sein mit der eigenen Person und den eigenen Gefhlen im therapeutischen Handeln ebenso wie im authentischen Ausdruck beim Spiel auf dem Instrument und beim Singen. Dies heißt nicht nur, als Therapeut die eigenen Gefhle und Reaktionen auf das Kind vollstndig wahrzunehmen und sich auch negative Gefhle einzugestehen, sondern auch, diese therapeutisch angemessen auszudrcken und bei Bedarf dem Kind Grenzen zu setzen. Das Umsetzen der beschriebenen therapeutischen Haltungen erfordert nicht nur eine sensible und differenzierte Wahrnehmung, sondern vor allem eine gleichzeitig strukturierte und intuitive Handlungsweise. Das musikalische Spiel ist gleichermaßen organisiert und inspiriert. Die besondere Herausforderung besteht darin, zielgerichtet spielerisch zu experimentieren. Dabei ist die Begegnung in der gemeinsamen musikalischen Handlung sowohl das Ziel als auch der Weg hin zu diesem Ziel. In der therapeutischen Beziehung wird das Kind in seinem Sosein akzeptiert, es erfhrt Resonanz und Anregung und kann sich in einem entwicklungs- und kreativittsfçrdernden Klima auf neue Weise erleben (Plahl 1997). Auf prverbale Weise werden so in spielerisch experimentierender Form Entwicklungsprozesse angestoßen und die Selbstentfaltung der Person wird untersttzt.
Kindzentrierte und entwicklungsorientierte Musiktherapie Orff-Musiktherapie versteht sich als eine kindzentrierte und entwicklungsorientierte Musiktherapie. Im Untertitel ihres grundlegenden Buches zur Orff-Musiktherapie hat Gertrud Orff (1974) die Zielsetzung der Orff-Musiktherapie als »Aktive Fçrderung der Entwicklung des Kindes« beschrieben. Um eine solche aktive Entwicklungsfçrderung zu bieten, richtet sich die Orff-Musiktherapie an den jeweiligen Entwicklungsbedrfnissen der behandelten Kinder oder Erwachsenen aus. Kindzentriertes Vorgehen| bedeutet, im therapeutischen Handeln stets von dem auszugehen, was das Kind von sich aus zeigt, seine musikalischen kommunikativen Signale genau wahrzunehmen
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und das Kind dazu anzuregen, selbst initiativ zu werden. Dies erfordert vor allem bei Kindern mit starken Einschrnkungen nicht nur ein genaues Beobachten des Kindes, sondern auch eine feinfhlige Abstimmung des eigenen Handelns auf die kommunikativen Signale des Kindes: »Der Therapeut gleicht sich an, er denkt vom Kind her [.|.|.]« (Orff 1971, S.|24). Stets wird das Interesse des Kindes aufgegriffen und das musiktherapeutische Vorgehen daran orientiert. Um das Kind weder zu berfordern noch zu unterfordern, wird versucht, die sogenannte Zone der nchsten Entwicklung (Vygotsky 1978) zu finden, die den Entwicklungsbereich beschreibt, in dem das Kind mit Hilfe einer kompetenteren Person seine Fhigkeiten erweitern kann. Hier wird dem Kind durch gezielte Untersttzung der nchste Entwicklungsschritt ermçglicht. Wichtig ist stets, dass das Kind aus eigenem Antrieb und mit Freude handelt und sich selbst als erfolgreich handelnd erlebt: »Die Arbeit ist prozeßorientiert, nicht produktorientiert: Erfllung im Weg und nicht im Ziel« (Orff 1971, S.|23). Kenneth Bruscia (1998) bezeichnet die Orff-Musiktherapie als »developmental music therapy«, bei der die therapeutische Arbeit an den jeweiligen Entwicklungsbedrfnissen des Kindes orientiert ist. Darber hinaus zhlt Bruscia die Orff-Musiktherapie zu den »intensiven« musiktherapeutischen Verfahren, die Musik sowohl in der Therapie als auch als Therapie verwenden (»to use music as| or in| therapy«). Orff-Musiktherapie lsst sich als eine intensive Entwicklungstherapie mit Musik beschreiben, bei der – entsprechend den Bedrfnissen des Kindes – Musik als therapeutisches Medium im Rahmen einer therapeutisch geprgten Interaktion angewendet wird (Voigt 1998). Als entwicklungsorientierter Ansatz versucht die Orff-Musiktherapie, die Persçnlichkeitsentwicklung des Kindes im Kontext seiner individuellen Lebensgeschichte zu bercksichtigen. Das Kind wird so durch spezifische klinische Zielsetzungen, die seinen emotionalen und sozialen Bedrfnissen angepasst sind, in der Bewltigung verschiedener Entwicklungsaufgaben untersttzt. Darin unterscheidet sich der Ansatz der Orff-Musiktherapie von einem heilpdagogischen Ansatz, wie ihn etwa Goll (1993) formuliert, in dem vorrangig spezifische Lernziele angestrebt werden.
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Die entwicklungsfçrdernde Wirkung von Musiktherapie wird entscheidend geprgt durch die Art der therapeutischen Beziehung, die hergestellt wird: Eine gelingende therapeutische Beziehung zeichnet sich durch drei wesentliche Bestandteile aus: Kohrenz, Synchronizitt und Reziprozitt. Diese Merkmale hat Edward Tronick (1989) bei seiner Untersuchung gut koordinierter Mutter-Kind-Interaktionen gefunden. Um die Entwicklungsstçrung eines Kindes zu kompensieren, wird in der therapeutischen Beziehung versucht, einen kohrenten Rahmen| herzustellen. Solche zusammenhngenden Rahmenbedingungen in Form von Spielhandlungen oder einfachen Interaktionsroutinen ermçglichen es dem Kind, Regelmßigkeiten wahrzunehmen und Erwartungen auszubilden. Synchronizitt| in der therapeutischen Beziehung bedeutet, Handlungen und Stimmungen des Kindes synchron aufzugreifen und dem Kind auf diese Weise eine unmittelbare Rckmeldung und musikalische Resonanz zu geben. Das Erleben von Resonanz ist eine wesentliche Voraussetzung fr die Entwicklung kindlicher Selbstwirksamkeit. Wenn ein Kind erfhrt, dass es selbst in der Lage ist, seine Umgebung erfolgreich im eigenen Sinn zu beeinflussen, kann es Selbstbewusstsein und Selbstsicherheit entwickeln. Das reziproke Gestalten| der therapeutischen Beziehung im abwechselnden Spiel schließlich gibt beiden Beteiligten gleichermaßen Gelegenheit, sich mitzuteilen und miteinander in Beziehung zu treten. Hier kann das Kind die wichtige Erfahrung machen, dass es auf seine ußerung eine Antwort erhlt und selbst in vorsprachlicher Form bei sich und anderen das Verhalten und die Gefhle regulieren kann. Die Ergebnisse einer in der musiktherapeutischen Abteilung im Kinderzentrum Mnchen durchgefhrten Studie zeigen, dass auf diese Weise erfolgreich die prverbale Kommunikation von Kindern mit mehrfachen Behinderungen gefçrdert werden kann (Plahl 2002). Insbesondere entwickeln die Kinder dadurch ihre intentionale Kommunikation, bei der sie absichtsvoll ihre kommunikative Mitteilung an eine bestimmte Person richten und so deutlich ihre Wnsche und Bedrfnisse mitteilen.
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Spektrum klinischer Zielsetzungen Orff-Musiktherapie wird schwerpunktmßig bei Stçrungen der sensomotorischen, der emotional-kognitiven und der sozial-kommunikativen Entwicklung angewandt. Im Bereich der sensomotorischen Entwicklung| liegen die Behandlungsziele in den Bereichen der auditiven Wahrnehmung, der Bewegungskoordination (Bewegungsarmut, Antriebslosigkeit, motorische Anspannung oder berschießende Bewegungen) und der Integration sensomotorischer Erfahrungen. Entsprechende Zielsetzungen der musiktherapeutischen Behandlung sind hier beispielsweise: Sensibilisieren durch Klangdifferenzierung und Klanglokalisierung, Untersttzen und Leiten durch musikalische Spiele und Lieder, Ermçglichen kontingenter Erfahrungen (Selbstwirksamkeit) durch musikalische Aktivitt, Motivieren und Mobilisieren durch Klang-Anreize, Entspannen und Strukturieren durch Klangreize. Im Entwicklungsbereich der emotional-kognitiven Entwicklung| liegen die Behandlungsziele in der emotionalen Regulation, der Aufmerksamkeitsregulation, im Fçrdern von Interesse und Initiative, im Fçrdern von Frustrationstoleranz und Belohnungsaufschub, im Untersttzen beim Bewltigen von Belastungen, im Akzeptieren von Behinderung und chronischer Krankheit. Zielsetzungen musiktherapeutischer Behandlung sind beispielsweise der Ausdruck von Gefhlen durch musikalische Gestaltung, Fokussieren der Konzentration und Motivieren zur Aktivitt durch musikalische Reize, Entlasten durch musikalischen Ausdruck und Erproben von Copingstrategien. Im Bereich der sozial-kommunikativen Entwicklung| sind Behandlungsziele beispielsweise das Fçrdern von Selbstwertgefhl, von sozial kompetentem Handeln, von kommunikativen Fhigkeiten, von Dialogfhigkeit und Ausdrucksverhalten. Zielsetzungen musiktherapeutischer Behandlung kçnnen sein, das Selbstvertrauen durch musikalische Interaktion zu strken, musikalische Aktivitten in der Gruppe nach gemeinsamen Regeln einzuben und das Handlungsrepertoire im musikalischen Spiel zu erweitern, Phantasie anzuregen, Wahrnehmungs- und Erlebnisfhigkeit zu vertiefen sowie nonverbale und prverbale Kom-
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munikation durch musikalische Dialogstrukturen zu untersttzen.
Musiktherapiekonzept Gertrud Orff hat die Orff-Musiktherapie als »verschwistert« mit dem Orff-Schulwerk »Musik fr Kinder« bezeichnet (1974, S.|12). Beiden gemeinsam ist die Sicht des Menschen als ein schçpferisches und spielerisches Wesen ebenso wie die starke Betonung des Bewegungselementes, des Rhythmischen und des Elementaren in der Musik sowie die damit verbundene Form einer freien Improvisation. In den sechziger und frhen siebziger Jahren des 20.|Jahrhunderts hat Gertrud Orff begonnen, Bestandteile des Orff-Schulwerks in ihre therapeutische Arbeit zu integrieren und wurde damit zu einer Pionierin der Musiktherapie mit Kindern. Grundlegend dafr war die elementare Beschaffenheit des Instrumentariums, das einen musikalischen Ausdruck ohne Vorkenntnisse ermçglicht. Allerdings – so hat Gertrud Orff immer betont – ist das Schulwerk »Mittel, Ausdrucksprache, nie Selbstzweck« (Orff 1971, S.|23). Fr die Orff-Musiktherapie hat Gertrud Orff zwei wesentliche Elemente aus dem Orff-Schulwerk bernommen: Einmal die Idee des spontan-kreativen Musizierens und zum anderen das fr das Orff-Schulwerk geschaffene Instrumentarium, das eine aktive Musiktherapie mit Kindern erst ermçglichte. In ihrer Arbeit mit Kindern hat Gertrud Orff das therapeutische Potential im Instrumentarium des Orff-Schulwerks entdeckt: »Die besondere Qualifikation, um nicht zu sagen Prdestination des Orff|-Schulwerks fr die Therapie liegt in der Mçglichkeit einer multisensorischen Applikation und Perzeption, verbunden mit einer sozialbezogenen musikalischen Interaktion« (Orff 1973, S.|199). Sie hat erkannt, dass das Instrumentarium selbst eine viele Sinne anregende Mçglichkeit des Ausdrucks darstellt, multisensorische Wahrnehmungen und Anwendungen erçffnet und gleichzeitig zahlreiche Formen musikalischer Interaktionen ermçglicht.
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Elementare Musik Das Orff-Schulwerk will grundlegende kulturbergreifende musikalische Verhaltensweisen zur Entfaltung bringen, die sich berall auf der Welt in den musikalischen Aktivitten von Kindern beobachten lassen. Carl Orff (1932, 1932/1933) charakterisiert diese Form der elementaren Musik folgendermaßen: Bewegungsgebundene und ohne die Bewegung nicht vorstellbare Lautußerungen, bewegungsbegleitende Spielrufe und versunken vor sich hingesponnene Lieder, die das Kind begleitend zum Spiel singt. Gleichzeitig weist er darauf hin, wie schnell diese ursprngliche Ausdrucks- und Improvisationsfhigkeit des Kindes in einer solchen Art elementarer Musik berdeckt wird vom Nachsingen gelernter Lieder und wie dabei auch die Einheit mit der Bewegung verloren geht. In der therapeutischen Praxis findet ein solcher umfassender Musikbegriff seine Umsetzung im multisensorischen Vorgehen, bei dem neben dem auditiven auch die visuellen, taktilen und kinsthetischen Sinne des Kindes angesprochen werden. Der Musikbegriff im Sinne von »musik« als eine den ganzen Menschen umfassende Ausdrucksform, die eine knstlerische Gesamtaussage in Wort, Ton, Gebrde und Bewegung mit instrumentaler Untersttzung bedeutet, ist fr die Orff-Musiktherapie zentral: »Das Kind reprsentiert noch heute ›musik‹, das Kind muß sie nicht erst lernen, diese totale ußerung, es wird eher immer daran gehindert« (Orff 1976, S.|113|f.). Spiel und spielerische Interaktion in der Orff-Musiktherapie Spiel und spielerische Interaktion sind grundlegende Handlungsformen in der Orff-Musiktherapie. Die therapeutische Anregung geschieht immer im Spiel oder auf spielerische Art und Weise: »In der Musiktherapie ›spielt‹ man mit der Musik, Regeln kçnnen unbercksichtigt bleiben. Die Elemente der Musik, Klang und Bewegung, gengen. Man greift die Musik sozusagen aus der Luft, das ist aus der Umgebung und sich selbst, aus einer Stimmung. Wenn diese fehlt, kann man nicht ›Musik machen‹« (Orff 1984, S.|59).
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Der Rahmen einer Spielhandlung erleichtert es, die Balance zwischen abwartender und herausfordernder Haltung zu finden, da sich im Spiel selbst bereits verschiedene Aktionen gegenseitig durch den Spannungsfaktor ausbalancieren, der das Spiel kennzeichnet. In ihrem Beitrag »Spielgeschehen als Heilfaktor« beschreibt Gertrud Orff (1976) den Aufbau des Spiels mit den drei Elementen im Spielablauf: Vorbereitung, Ablauf des Spiels und Beendigung des Spiels. Diese bringt sie mit den Namen der ersten drei Musen der Bçotier in Verbindung: »memoria« (Gedchtnis, Erinnerung), »cantus« (Gesang, Ton) und »meditatio« (Nachdenken, Vorbereiten). In der Therapie soll »cantus« im Sinne eines knstlerisch-energetischen Tuns geschehen. Um diese Art von Anregung, um »cantus« zu bilden, schlgt sie als Haltung vor: »Keine Korrektur unterbricht den Fluß des Geschehens, Ab- und Umwege werden mitgegangen. Momente beobachtet, um sinnvoll einzugreifen. Lernen wird aktiv untersttzt« (Orff 1974, S.|64). Aus dem Cantus soll sich ber die erlebte Gestalt des musikalischen Spiels Erinnerung, »memoria«, bilden. Auch hier kommt es auf die Art der Anregung an. So hebt Gertrud Orff hervor: »Unser Tun muß so viel Wirklichkeit haben, so viel Ansprechbares, daß es affektiv etwas bedeutet. Das Tun muß von der spontanen Lust dazu angetrieben werden, sonst ist das Tun bedeutungslos, bei vielleicht richtiger Bewltigung. Lernen wird affektiv untersttzt« (Orff 1974, S.|64). Entscheidend fr den Erfolg der Therapie ist schließlich die emotionale Resonanz, die ausgelçst wird. Der Kreis schließt sich mit der »meditatio«, dem gleichzeitigen Nachsinnen und Vordenken. Hier gilt es, in der Therapie dafr zu sorgen, dass eine solche Form von »meditatio« wirksam werden kann: »Zum Tun gehçrt Aktives wie Passives. Wenn das Vermçgen der Aussage gekrftigt ist, kçnnen durch Reflexion, Nachsinnen ber Getanes und Dargestelltes neue Ideen gewonnen werden. Lernen wird betrachtend untersttzt« (Orff 1974, S.|65). Das Spiel ist das Medium in der kindlichen Entwicklung, mit der das Kind zahlreiche Fhigkeiten entwickelt und sich selbst dadurch kontinuierlich verndert. Diese Vernderungen werden
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durch die gleichzeitig flexible und feste Form des Spiels strukturiert: »Spiel hat genug Freiheit und Elastizitt, das Kind zu lassen, und genug Bindung und Straffheit, um das Kind nicht ganz zu entlassen« (Orff 1976, S.|126).
Theoretische Grundlagen der Orff-Musiktherapie Wenn auch bisher keine explizite Theorie der Orff-Musiktherapie formuliert wurde, existieren doch einzelne Elemente einer theoretischen Fundierung. Eines davon ist die grundlegende Bedeutung von Musik fr das menschliche Leben, die menschliche Entwicklung und die daraus abgeleitete therapeutische Anwendung. Die elementaren Funktionen der Musik zeigen sich auf besonders beeindruckende Weise in der individuellen Entwicklung des Kindes. Bereits im Mutterleib kann das noch ungeborene Kind etwa ab dem sechsten Schwangerschaftsmonat Klang wahrnehmen und verarbeiten. Nach der Geburt kçnnen Suglinge die ihnen vertrauten Klnge von fremden Klngen unterscheiden und zeigen dabei eine deutliche Vorliebe fr die vertraute Stimme ihrer Mutter (Fassbender 1998). Besonders beeindruckend ist, wie Neugeborene die musikalischen ußerungen in ihrer Umgebung wahrnehmen und verarbeiten kçnnen. Eltern und andere Bezugspersonen berall auf der Welt verwenden intuitiv musikalische Klangmuster, um mit ihrem Baby zu kommunizieren und seine Befindlichkeit zu regulieren. Kinder kçnnen solche musikalischen Botschaften von Anfang an verstehen und lassen sich beispielsweise durch die abfallende Sprachmelodie und den gleich bleibenden Rhythmus einer etwas tieferen Stimme beruhigen oder durch die ansteigende Melodiekontur einer hçheren Stimme anregen (PapouÐek u. PapouÐek 1995). Musik erfllt fr Kinder im Laufe ihrer Entwicklung eine Reihe wichtiger Funktionen. Die vorsprachliche Kommunikation mit Hilfe musikalischer Elemente ermçglicht es dem Kind, sich auch ohne Sprache von Anfang an mit seiner Umgebung auszutauschen. Dabei lernt das Kind, dass es durch seine Lautußerungen etwas bewirken kann. Es lernt, dass es dadurch unangenehme Si-
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tuationen beenden oder angenehme Situationen wiederholen kann und dass die Eltern seine eigenen Laute beantworten. Das Kind erlebt auf diese Weise Selbstwirksamkeit – es kann selbst etwas in seiner Umgebung und bei anderen Personen bewirken – und lernt so, seine Befindlichkeit mit Hilfe prverbaler Kommunikation – durch Lautieren, Gesten und Mimik – zu regulieren. Im Laufe der kindlichen Entwicklung spielt Musik eine wesentliche Rolle in der Ausbildung einer eigenen Identitt und in der Gestaltung einer eigenen Lebenswelt. Dies sind grundlegende musikalische Entwicklungsfunktionen, die in der Musiktherapie mit Kindern genutzt werden kçnnen (Plahl u. Koch-Temming 2005). Gertrud Orff formulierte ausgehend von ihren Erfahrungen in der praktischen musiktherapeutischen Arbeit die therapeutischen Prinzipien der Orff-Musiktherapie, wie sie im Abschnitt »Praxis der Orff-Musiktherapie« dargestellt werden. Es werden Bedingungen hergestellt, die dem Kind eine Weiterentwicklung beziehungsweise eine Vernderung seines interaktiven und kommunikativen Verhaltens ermçglichen. Dadurch macht das Kind im spielerischen Umgang mit musikalischen Elementen angenehme affektive Erfahrungen und erfhrt durch die musikalische Interaktion eine besondere Form der Untersttzung kommunikativer Aktivitten (Orff 1976). Die therapeutische Wirkung der Musiktherapie liegt nach Gertrud Orff (1974) insbesondere in einem spezifischen musikalischen Klima begrndet, dessen Geheimnis ist, »[.|.|.] daß es belebt, daß es steigert, mildert, beruhigt. Das Klima bekommt seine bestimmte Frbung, seinen Reiz und seine Bekçmmlichkeit durch die Bewegung, den dauernd unaufdringlich-rhythmischen Fluß und den Klang, der auf verschiedene Weise erzeugt wird« (Orff 1974, S.|162). Die kommunikativen Austauschbeziehungen (Transaktionen), die sich in der Musiktherapie zwischen Kind und Therapeut ereignen, kçnnen auf verschiedenen Ebenen untersucht werden. So lsst sich beispielsweise im zeitlichen Prozess musikalischen Schaffens untersuchen, wie durch kommunikative Austauschprozesse spezifische Interaktionen entstehen, die allmhlich eine besondere musikalische Spielhandlung hervorbringen und schließlich den
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musiktherapeutischen Rahmen als eine Zone nchster Entwicklung (Vygotsky 1978) gestalten. Die interaktive Beziehung zwischen Kind und Musiktherapeut spiegelt sich in der Struktur der geschaffenen Musik und illustriert so anschaulich, dass das beobachtbare Verhalten in der musiktherapeutischen Situation immer gleichzeitig Prozess und Ergebnis ist. Es kann allerdings jeweils unterschiedlich betrachtet werden: Aus der Perspektive der Herstellung – der Interaktion, der Bewegung – oder aus der Perspektive des geschaffenen Produktes – der Musik, dem Klang. Die Interaktion von Kind und Therapeut prgt die musikalische Struktur, diese wiederum verndert und erneuert gleichzeitig die musikalische Interaktion. Es entsteht allmhlich ein flexibles, musikalisch bewegtes Muster kommunikativen Flusses. In ihrer Schrift »Musikalische Erziehung als Mittel zur sozialen Integration« hat Gertrud Orff (1975) dies im Bild eines zu erbauenden Gebudes ausgedrckt: »Durch das kreative Moment ist es [das Ganze, die musiktherapeutische Situation] in einem stndig werdenden Prozeß. Man ist gleichzeitig Erbauer und Erhalter eines fiktiven Gebudes; es geschieht in der Zeit und im Spiel; alle sind verantwortlich« (Orff 1975, S.|135). Transaktion ereignet sich nicht nur zwischen Menschen, sondern auch innerhalb einer Person: Durch einen ußeren Anstoß, eine ußere Vernderung kommt es zu einer inneren Bewegung, die die Person verndert. So kommt es ber sinnliche Wahrnehmungseindrcke und motorische Bewegungserfahrungen zu emotionalen und sozialen Bewegungen. Im musikalischen Handeln findet Transaktion statt, die durch die Klang- und Bewegungswahrnehmung (auditiv, visuell, taktil), durch die innere Kçrperwahrnehmung (propriozeptiv, motorisch) und durch das Teilnehmen an einer gemeinsamen Handlung alle Beteiligten – Kind wie Therapeut – verndert (Plahl 2004).
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Praxis der Orff-Musiktherapie Die Orff-Musiktherapie ist auch heute eine aktive, multisensorische Therapie, in der die Elemente Klang und Bewegung in einer stimulierenden Spielsituation angewendet werden, um verschiedenste Entwicklungsziele zu verfolgen. Sie geht von der Annahme aus, dass jedes Kind positives Entwicklungspotential hat. Es gilt, dieses zu entdecken und zu untersttzen. Das Kind – seine Entwicklung und sein Empfinden – steht im Mittelpunkt der Therapie. Die Einflsse aus der Sozialpdiatrie und aus dem Orff-Schulwerk sowie die therapeutischen Prinzipien, die von Gertrud Orff entwickelt wurden, sind deutlich zu erkennen. Gleichzeitig sind Weiterentwicklungen in der therapeutischen Praxis auch zu beobachten.
Bedeutung der Entwicklung fr die musiktherapeutische Praxis Die Arbeit im sozialpdiatrischen Rahmen hat zu einer starken Betonung der Entwicklung und der Entwicklungsprozesse der Kinder gefhrt. Die differenzierte medizinische und entwicklungspsychologische Diagnostik ist im Laufe der Jahre immer wichtiger geworden. Sie gibt uns Informationen ber die Entwicklung des Kindes, damit wir verstehen, welche Faktoren diese Entwicklung beeinflussen und/oder behindern. Ein Teil dieser Information kann durch die Diagnose vermittelt werden. Genauso wichtig ist aber die Beschreibung der Strken und Schwchen des Kindes in der Form eines Entwicklungsprofils, das den Entwicklungsverlauf des Kindes besser verstndlich macht. Diese Information ist die Basis fr die Erstellung einer klaren Indikation und fr die Formulierung korrespondierender Ziele, was einen gezielten Einsatz der Therapie ermçglicht. Sie ermçglicht es auch dem Therapeuten, die Indikation im Hinblick auf die Entwicklungsmerkmale des jeweiligen Kindes zu verstehen und somit seinen Bedrfnissen gerecht zu werden. Dies ist notwendig, weil Entwicklungsstçrungen und Behinderungen in der Regel sehr komplexe Phnomene sind, in denen
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eine Stçrung in einem bestimmten Entwicklungsbereich, zum Beispiel in der Motorik, in der mentalen Entwicklung, in der Sprache, auch die Entwicklung in anderen Bereichen beeinflusst. Die Familienmitglieder der betroffenen Kinder und die Beziehungen, die sie zueinander entwickeln, werden von diesen Wechselwirkungen ebenfalls beeinflusst (Straßburg et al. 2000; Voigt 1999). Der Musiktherapeut betrachtet dann problematische Entwicklungsmerkmale des Kindes, zum Beispiel im Bereich der sozialen Entwicklung, nicht als isoliertes Problem, sondern im Hinblick auf seine gesamte Entwicklung und seinen familiren Hintergrund (Voigt 1998).
Anwendung von Musik in der musiktherapeutischen Praxis Die Elemente und Prinzipien, die Gertrud Orff aus dem OrffSchulwerk bernahm, spielen nach wie vor eine wesentliche Rolle in der Therapie, ihre Funktionen unterscheiden sich teilweise von ihren Funktionen in der Pdagogik. Mit einem Verstndnis von Musik im Sinne des Begriffs »musik« wird es mçglich, jede Geste und jede ußerung des Kindes als musikalisches Element zu betrachten und aufzunehmen. Nicht nur das strukturierte Musizieren, sondern auch das Spielen mit Klang und das Rollenspiel kçnnen als musische Darstellung verstanden werden. Somit kann der Therapeut ein sehr breites Spektrum an Aktivitten entwickeln, indem das Kind mit einer Entwicklungsstçrung im Rahmen seiner Fhigkeiten aktiv mit einbezogen werden kann (Voigt 1999, 2001). Der Begriff der Multisensorik| bedeutete fr Gertrud Orff »mehrere Sinne ansprechend, gleichzeitig, auch neben- und hintereinander« (Orff 1984, S.|23). Diese Angebote untersttzen die Integration verschiedener Modalitten in der Therapie und somit auch die Entwicklung der Kinder. Der Klang einer Trommel kann zum Beispiel auch ber die Vibration erfahren werden. Auch die nicht-akustischen Eigenschaften von Instrumenten und Materialien – beispielsweise Form, Materialbeschaffenheit, Grçße, Farbe – werden in die The-
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rapie mit einbezogen. Visuelle Signale, Gestik oder Malen gehçren zum Begriff der Multisensorik. Durch den Einsatz solcher Angebote wird beabsichtigt, den Entwicklungsbedrfnissen der Kinder besser gerecht zu werden, damit sie in ihrer Entwicklung untersttzt werden kçnnen (Orff 1974; Voigt 1999). Die elementare Musik| ist die Grundlage fr das musikalische Handeln in der Therapie. Jedes Kind, auch das Kind mit einer Entwicklungsstçrung oder mehrfachen Behinderung, kann in die Gestaltung von kleinen, leicht verstndlichen musikalischen Formen mit einbezogen werden durch den Einsatz seiner Stimme, der Bewegung, der Instrumente und/oder der Mçglichkeit der Kçrperinstrumente (Orff 1973, 1974). Als Instrumentarium| bezog Gertrud Orff auch nichtmusikalische Spielmaterialien und Materialien aus der Umwelt mit ein und wendete diese neben dem traditionellen Orff-Instrumentarium und den Kçrperinstrumenten an. Sie erweiterte auch das Angebot an Musikinstrumenten um Saiteninstrumente wie die Leier und die Harfe. Im Laufe der Jahre sind auch Tasteninstrumente ein Teil des Instrumentariums geworden. Klavier und elektronisches Keyboard bieten zustzliche Mçglichkeiten fr Therapeut und Kind. Das Instrument, die Materialien dienen der Kommunikation und der sozialen Interaktion in der Therapie und sind das »Werkzeug«, mit dem Improvisation durchgefhrt werden kann (Orff 1974; Voigt 1998, 1999). Die Improvisation, die fr Kinder im pdagogischen Rahmen eine Mçglichkeit fr gemeinsames Musizieren bietet, wird in der Therapie zum kreativen Stimulus per se. Musikalische Aktivitten sollen in der Therapie nicht auf der Grundlage fertiger Modelle erfolgen, wie dies im Schulwerk blich ist, sondern sie werden entwickelt, um das Kind zu motivieren, sich im Sinne von »musik« an diesen Aktivitten zu beteiligen. Die Improvisation in der OrffMusiktherapie besteht nicht nur aus der sogenannten »freien Improvisation«. Struktur und Form werden schon geboten, zum Beispiel durch Spielen – Nicht-Spielen, Klang – Stille. Auch das Phnomen »Spiel« – Spiel mit Musik, Spiel mit Materialien – ist Bestandteil der Improvisation in der Orff-Musiktherapie (Orff 1974, 1984).
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In der Entwicklung musikalischer Aktivitten im Sinne von »musik« unter Anwendung der Improvisation kann der Therapeut traditionelle Reime, Lieder oder Verse, aber auch spontane ußerungen des Kindes – zum Beispiel ein Wort, ein musikalisches Motiv, einen Klang, eine Bewegung – als Grundidee fr die Aktivitt verwenden. Malen und Zeichnen, Rollenspiel und multisensorische Elemente kçnnen mit musikalischen Elementen kombiniert werden. Bewegungsspiele und Tnze kçnnen vorgeplant oder im Rahmen der laufenden Stunde entwickelt werden. Auch strukturiertes musikalisches Spiel mit einer bestimmten Form wie Rondo-Form kann hier zum Tragen kommen. Das Phnomen Spiel als solches wird ebenfalls bercksichtigt. Das Spielen mit einem Instrument oder mit einer Person, das Erforschen der Materialien, das »Bauen« von Klangkomplexen oder im buchstblichen Sinne, das »ben« im Spiel und die Assoziierung von Klngen mit Stimmungen, Situationen oder Ideen stellen Spielmçglichkeiten in der Musiktherapie dar. Der Therapeut wendet die musikalischen Mittel in einer sozialen Spielsituation an, bercksichtigt dabei immer die Entwicklungsprozesse des Kindes. Hierfr ist wiederum eine genaue Beobachtung des kindlichen Verhaltens notwendig, um ein angemessenes musikalisches Angebot machen zu kçnnen. Diese musikalischen Angebote kçnnen eine akustische Atmosphre, die der Situation angemessen ist, entwickeln oder untersttzen. Sogenannte »Situationslieder« kçnnen es dem Therapeuten ermçglichen, Signale zu geben, zu strukturieren, zu spiegeln oder zu kommentieren oder zu reagieren. Neue musikalische Impulse und Angebote kçnnen die Aufmerksamkeit des Kindes einfangen und es zu einer neuen Aktivitt motivieren (Orff 1974, 1984; Voigt 1999, 2001).
Anwendung therapeutischer Prinzipien in der Praxis Die Grundlagen des therapeutischen Vorgehens entsprechen den von Gertrud Orff entwickelten Prinzipien, welche im theoretischen Teil beschrieben wurden. Jene Prinzipien der responsiven
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Interaktion, nach Gertrud Orff »ISO« und »Provokation« genannt, dienen als Basis des therapeutischen Vorgehens, um Zugang zum Kind zu finden, und um es zu untersttzen in der Entwicklung neuer Kompetenzen. Die Anwendung dieser therapeutischen Prinzipien wird adaptiert, um den Entwicklungsmerkmalen des jeweiligen Kindes und seinem familiren Bezugssystem gerecht zu werden. Der Therapeut beobachtet das Kind vor dem Hintergrund der Information, die durch die Diagnostik und Indikationsstellung zur Musiktherapie gewonnen wurde. Dadurch werden Interessen und Initiativen des Kindes, Strken und Schwchen sowie seine Reaktionen auf Angebote des Erwachsenen wahrgenommen. Der Therapeut ist bereit, auf Interessen und Initiativen des Kindes einzugehen, sich auf eine Interaktion mit dem Kind einzulassen, die dem Entwicklungsstand des Kindes entspricht. Zeigt das Kind Schwierigkeiten, kann es notwendig sein, dass der Therapeut Untersttzung gibt. Diese Untersttzung muss den Kompetenzen des Kindes angepasst werden, die Lçsung nicht fr das Kind, sondern mit dem Kind durchgefhrt werden (Voigt 1998, 2001).
Beispiele aus der Praxis Vignetten aus den Therapieverlufen von Petra und Stefan (beide Namen gendert; Therapeutin: M. Voigt) kçnnen die Umsetzung der genannten Prinzipien veranschaulichen. Petra wurde mit fnf Jahren und elf Monaten in die Musiktherapie berwiesen. Aufgrund einer genetischen Stçrung entstanden eine schwere geistige Behinderung und Epilepsie. Sie zeigte keine expressive Sprache, aber ein eingeschrnktes Sprachverstndnis. Sie brauchte sehr lange, um zu reagieren oder um Handlungen umzusetzen, ihr Spiel war sehr stereotyp. Die Indikation fr Musiktherapie lautete 1) Probleme in Kontakt und Interaktion, 2) Probleme in der Kommunikation, 3) Stereotypien.
Whrend ihres ersten stationren Aufenthaltes im Kinderzentrum mit ihrem Vater zeigte sie sehr viele Stereotypien. Fr mich als Therapeutin war viel Zeit und Geduld notwendig, um Kontakt und Interaktion mit ihr aufzubauen. Oft nahm sie eine Perlenkette
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und schttelte diese stereotyp. Ich nahm dieses Interesse wahr und griff die Aktivitt auf und versuchte, diese in ein interaktives Spiel umzuwandeln. Wenn Petra die Kette schttelte, begleitete ich diese Handlung mit einem rhythmischen Vers im Sechsachtel-Takt ber vier Takte mit einem Auftakt, beendete dann den Vers mit dem Wort »still« (»Sie raschelt und raschelt, und raschelt und raschelt, und raschelt und raschelt, und still«). Zwischendurch hob ich die Kette hoch oder streckte sie zu ihrer vollen Lnge, kommentierte auch dies verbal und mit Vernderungen in der Stimmhçhe (»herauf« mit der Stimme nach oben, »herunter« mit der Stimme nach unten) oder in der Lnge der Worte (»und la-a-a-a-a-a-ng ist die Kette«), um die Handlung zu untermalen. Durch diese Impulse konnte ich ihre Aufmerksamkeit aufrechterhalten. Sie begann am Spiel aktiv teilzunehmen, zog die Perlen nach unten, nachdem ich sie hochhob, oder zog ein Ende der Kette, als ich das Wort »lang« sprach. Das Schtteln der Kette mit seinem Begleitvers wurde zum Refrain in diesem Spiel, Petra beendete das Schtteln dann am Ende des Verses (Voigt 2003). Erluterung des Beispiels: Die Indikation fr Musiktherapie fand auf der Basis der differenzierten Entwicklungsdiagnostik statt. Durch Beobachten des kindlichen Verhaltens in der Stunde vor dem Hintergrund dieser Information war es mir mçglich, Angebote zu machen, die ihrem Entwicklungsstand entsprachen. Um Zugang zu Petra zu finden, war es notwendig, auf ihre eigenen Initiativen einzugehen (ISO). Zur Untersttzung ihrer Fhigkeiten hinsichtlich Kontakt, Interaktion und Kommunikation war das Einbringen neuer Impulse notwendig (Provokation). All dies fand in einem Rahmen statt, in dem der Einsatz von Musik im Sinne von »musik«, der Einsatz der Multisensorik sowie das Elementare in der Musik deutlich wurden. Unser kleines Spiel beinhaltete Sprache, Rhythmus, Melodie und Bewegung. Die Melodie war in der Sprache zu finden, der Rhythmus im Schtteln der Kette. Ein Instrument im traditionellen Sinne kam nicht vor. Die glnzende Kette, die auch Klang erzeugte und einen deutlichen taktilen Reiz darbot (Multisensorik) sowie die Stimme waren unsere Instrumente, mit denen wir unsere Musik gestalteten.
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Stefan wurde mit neun Jahren in die Musiktherapie berwiesen. Seine Diagnose lautete »infantile spastische Diparese«. Die Indikationen fr Musiktherapie wurden aufgrund von Begleiterscheinungen der primren Stçrung im sozial-emotionalen Bereich gestellt: 1) Passivitt, 2) eingeschrnkte motorische und soziale Selbststndigkeit, 3) Notwendigkeit der Untersttzung des Selbstwertgefhls. Er wurde zweimal im Jahr stationr aufgenommen, damit das physiotherapeutische Programm kontrolliert werden konnte. Neben Gesprchen bei seinem Psychologen gab ihm die Musiktherapie die Mçglichkeit, sich zu ußern.
Ein Bedrfnis, das schon in der ersten Stunde deutlich wurde, war das Bedrfnis, diese Stunde allein fr sich zu haben. Er bat seine Eltern gleich nach Ankunft im Raum, zu gehen und erst am Ende der Stunde wieder zu kommen. Stefan wurde die Mçglichkeit, eine Therapiestunde fr sich allein zu haben, gewhrt. Die Stunden fanden immer in der Dyade Therapeutin – Kind statt. Vom Anfang an zeigte Stefan Interesse an einem musikalischen »Produkt«. Ich ging auf dieses Interesse ein, und gemeinsame Improvisationen wurden gestaltet. Er genoss den Erfolg, den er dabei empfand, drckte dies auch verbal aus, wollte unser gemeinsames musikalisches Spiel auf Tonband aufnehmen, um es nach Hause mitzunehmen. Im Laufe der Therapie, die immer whrend der stationren Aufenthalte stattfand, beobachtete ich bei ihm eine zunehmende Freude am eigenen Handeln. Er improvisierte strukturierter und differenzierter, sprach auch Dinge an, die ihn beschftigten oder interessierten. Seine Unsicherheit und ngste bezglich einer notwendigen Operation kamen in einer Stunde zur Sprache, und ich schlug ihm eine Improvisation am Klavier vor, die diese Gefhle ausdrckten. In seiner Improvisation verwendete er viele Tremolo-hnliche Figuren, beschrieb diese hinterher als Ausdruck seiner eigenen ambivalenten Gefhle und erkannte, dass er das Bedrfnis nach einer klaren Entscheidung in der Sache hatte. In der Musiktherapie entwickelte er auch Strken und Kreativitt. So erfand er vor dem Hintergrund von Klngen, mit denen er am Keyboard experimentierte, eine Kriminalgeschichte und vertonte diese selbststndig, whrend er sie erzhlte, setzte musikalische Stimmungen passend zur Handlung gezielt ein. Natrlich wurde der Schurke gefangen und alles hatte ein gutes Ende (Voigt 2002a).
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Erluterung des Beispiels: Stefan zeigte ein ganz anderes Entwicklungsprofil und einen anderen Entwicklungsverlauf als Petra, und die Indikationen und Zielsetzungen unterschieden sich entsprechend. Die Prinzipien, die angewandt wurden, waren jedoch die selben. Alle Improvisationen, die stattfanden, waren im Sinne von »musik«, und sie dienten als Stimulus, um Stefan zu motivieren, sich aktiv an musikalischen Aktivitten zu beteiligen. Stefan benutzte zwar eher traditionelle Instrumente, die Musik, die wir erzeugten, passte in die Kategorie »elementare Musik«. Das Eingehen auf seine Wnsche fr gemeinsame Improvisation (ISO) wurde auch hier durch Provokation ergnzt, zum Beispiel in Form des Vorschlags, seine Gefhle in Bezug zur bevorstehenden Operation musikalisch auszudrcken. Die musikalische Aktivitt ermçglichte ihm, seine Stimmungen und Gefhle auszudrcken, aber auch eigene kreative Impulse zu gestalten. Er lernte dadurch, seine eigenen Schwierigkeiten wahrzunehmen, aber seine Strken und neue Fhigkeiten zu entdecken.
Eltern in der Therapie Die Bercksichtigung des familiren Hintergrunds beinhaltet auch eine Bereitschaft, mit den Eltern der betroffenen Kinder zu arbeiten. Dieser Bereich reprsentiert einen Bereich der Weiterentwicklung in der Orff-Musiktherapie. Gertrud Orff sah die Anwesenheit der Eltern in der Therapie eher als Ausnahme, damit das Kind sich frei entfalten und neue Erfahrungen machen konnte, ohne dass diese bewertet wurden. Sie zog Gesprche mit den Eltern vor, gab ihnen die Mçglichkeit, durch eine Einwegscheibe die Stunde zu beobachten (Orff 1974). ber die Jahre haben wir mehr Verstndnis fr die Situation der Eltern von Kindern mit Entwicklungsstçrungen und Behinderungen entwickelt. Wir sehen, dass auch sie Bedrfnisse haben. Gerade in der Arbeit mit sehr jungen Kindern, die aufgrund von Stçrungen der Eltern-Kind-Interaktion fr Musiktherapie indiziert sind, oder mit Kindern mit mehrfachen Behinderungen nehmen wir wahr, dass die Eltern mit ihrem Kind spielen mçchten,
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das Gefhl haben mçchten, dass ihr Kind positiv auf sie reagiert, wenn sie ihm Spiel- und Interaktionsangebote machen, und dass das Kind diese Interaktion auch genießt. Sie wollen ihr Kind verstehen, angemessen auf seine Mitteilungen reagieren kçnnen, das Gefhl haben, dass das Kind ihre Zuneigung erwidert. Sie brauchen oft Untersttzung im Umgang mit problematischen Verhaltensweisen wie Stereotypien, Unruhe oder Wutausbrchen. Sie brauchen die Versicherung, dass sie auch Kompetenzen haben. Fr den Therapeuten kann die Zusammenarbeit mit Eltern sehr wichtig sein. Eltern kennen ihr Kind am besten, kçnnen hufig (gerade bei mehrfach behinderten Kindern) seine ußerungen und Verhaltensweisen verstehen und dem Therapeuten klarmachen (Voigt 2002b). In der Therapie gilt es, die Eltern in der Entwicklung und Aufrechterhaltung einer positiven Eltern-Kind-Interaktion zu untersttzen und sie in ihren elterlichen Kompetenzen zu strken. Eltern werden auf drei verschiedene Weisen in die Therapie eingebunden. Erstens kçnnen sie die Therapie beobachten. In dieser Situation kçnnen sie das Kind, sein Verhalten und den Verlauf der Therapie wahrnehmen, ohne den Druck selbst agieren zu mssen. Der Therapeut fungiert hier als Modell fr den Umgang mit dem Kind im Spiel oder, wenn notwendig, bei problematischem Verhalten des Kindes. Zweitens kçnnen Eltern auch den Therapeuten untersttzen|, wenn das Kind zum Beispiel eine Kçrperbehinderung aufweist. Sie sind nher am Geschehen als bei einer reinen Beobachtungssituation, sind aber fr die Gestaltung der Situation nicht verantwortlich. Sie kçnnen das Kind untersttzen und so die Erfahrung machen, dass eine gewisse Handlungsselbststndigkeit beim Kind vorhanden ist, wenn die Situation nach seinen Bedrfnissen gestaltet wird. Drittens kçnnen Eltern aktiv teilnehmen| am Spiel. In diesen Situationen beginnen sie, mit ihrem Kind musikalisch im Rahmen einer responsiven Spielsituation zu agieren und gestalten das Spiel aktiv mit. Dadurch erfahren sie Mçglichkeiten, mit dem Kind auf seinem Entwicklungsniveau zu spielen, neue, adquate Impulse in die Spielsituation selbst einzubringen und die Spielsituation ange-
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messen zu strukturieren. Kommen Verhaltensprobleme vor, kann der Therapeut Untersttzung geben. In diesem Setting muss der Therapeut bereit sein, sich zurckzunehmen, die Eltern und das Kind interagieren zu lassen und Impulse nur in die Situation mit einzubringen, wenn diese notwendig sind (Voigt 2002b). Mark wurde in die Musiktherapie im Alter von elf Monaten berwiesen. Er wurde mit einer mehrfachen Behinderung diagnostiziert, die vor allem in der Motorik beobachtbar war. Er reagierte nicht auf Ansprache, lachte aber, wenn seine Eltern lachten. Er hatte multiple gesundheitliche Probleme aufgrund seiner motorischen Stçrung. Seine Fhigkeit zu schlucken war beeintrchtigt, auch seine Fhigkeit zu husten, was jede Erkltung zu einer lebensbedrohlichen Situation werden ließ. Die Interaktion mit seinen Eltern fand deshalb hauptschlich whrend seiner Pflege statt. Seine schweren motorischen Probleme machten es schwierig, seine allgemeine Entwicklung einzuschtzen. Die Indikationen fr Musiktherapie waren folgende: 1) Mitdiagnostik der Fhigkeiten des Kindes und 2) Untersttzung der Eltern-KindInteraktion.
In der Musiktherapie fhrten wir fnf Stunden durch, in Anwesenheit seiner Eltern. Sie beobachteten die Stunden, untersttzten mich in der Handhabung von Instrumenten oder in der Lagerung vom Kind sowie im Verstndnis seiner ußerungen und Verhaltensweisen. Ab der vierten Stunde wurde seine Mutter in die Therapie aktiv mit einbezogen. Ich arbeitete mit Mark aufgrund seiner schweren motorischen Stçrung hauptschlich am Boden, da unserer Erfahrung nach diese Kinder in der Rckenlage eher aktiv sind. Auf der Basis von dem Kinderlied »Hopp hopp hopp, Pferdchen lauf, galopp« entwickelte ich ein kleines, interaktives Spiel mit Mark. Ich befestigte Schellenbnder an seinen Hnden, bewegte seine Hnde zuerst, whrend ich sang, damit Klang erzeugt werden konnte. Am Ende des Liedes wurde er gefragt, wo seine »Pferdchen« waren. Bewegte er seine Hnde auch zufllig, wurde diese Handlung sozial untersttzt, und ich antwortete mit meinem Schellenband. Nach neun Minuten bewegte er seinen Arm eindeutig auf und ab, die Schellen klingelten deutlich. Ab diesem Zeitpunkt entstand ein dialogisches Spiel, das zuverlssig wiederholt werden konnte. Das Spiel mit den »Pferdchen« wurde eine wichtige Aktivitt whrend dieses ersten Therapieblocks. Whrend der vierten Stun-
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de bat ich seine Mutter, an der Aktivitt selbst teilzunehmen. Zunchst brauchte sie Hinweise von mir, um ihre Reaktionen auf seine Handlung und eigene Impulse einzubringen. Im Laufe der Aktivitt wurde sie souverner und sicherer, und ihre Signale wurden klarer fr Mark. Beide, Mutter und Kind, zeigten eine Freude whrend dieser sich entwickelnden Interaktion, die sehr deutlich zu beobachten und sehr rhrend war (Voigt 2002b, 2003). Erluterung des Beispiels:| In diesem Beispiel kçnnen wir die Umsetzung der Prinzipien der Orff-Musiktherapie in der Arbeit mit Eltern und Kindern sehen. Marks gesundheitliche Probleme waren sehr belastend und der Grund fr die Sorge seiner Eltern war berechtigt. Gleichzeitig hatten diese Probleme jedoch die Wahrnehmung seiner Fhigkeiten und Strken berlagert, und Interaktion bestand hauptschlich aus Pflege. Seine Eltern erlebten ihn deshalb als sehr passiv. Durch das Angebot von musikalischen Aktivitten, die seinem Entwicklungsniveau entsprachen, kamen diese Fhigkeiten und Strken ans Licht. Seine Eltern beobachteten zunchst diese Fhigkeiten, seine Mutter erlebte sie dann selbst und begann ihre eigene intuitive Fhigkeit zum Spiel zu entdecken. Das Beobachten allein reichte nicht aus, das direkte Erleben des Spiels mit dem Kind legte das Fundament fr die Entwicklung einer sehr schçnen Eltern-Kind-Interaktion und -Beziehung.
Forschung und Evaluation in der Orff-Musiktherapie Bislang wurde die Erforschung der Wirkung von Orff-Musiktherapie vorwiegend in unverçffentlichten Abschlussarbeiten der Absolventinnen und Absolventen aus den Orff-MusiktherapieAusbildungskursen an der Deutschen Akademie fr Entwicklungsrehabilitation dokumentiert. Einige darber hinausgehende ausgewhlte Studien werden im Folgenden kurz dargestellt. Gertrud Orff (1982) beschreibt in einer Einzelfallstudie die musiktherapeutische Behandlung eines blinden Mdchens mit Sprachentwicklungsstçrungen in Form einer stark ausgeprgten Echolalie und Aufflligkeiten im Spielverhalten. Sie stellt den Verlauf der Behandlung – beginnend im Alter von 3 3/4 Jahren bis
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zum Alter von sechs Jahren – dar, in dem durch die klangliche Resonanz der Musikinstrumente das Mdchen allmhlich eine verbesserte Selbstwirksamkeit entwickelte, das echolalische Sprechen reduzierte und schließlich lernte, im Gesprch zu fragen und zu antworten. Eine erste empirische Untersuchung der Wirksamkeit von OrffMusiktherapie wurde von Johanna Vocke (1986) im Rahmen einer Interventionsstudie in der musiktherapeutischen Abteilung am Kinderzentrum Mnchen durchgefhrt. Sie untersuchte insgesamt 28 Kinder im Alter von drei bis zwçlf Jahren mit verschiedenen Verhaltens- und Entwicklungsstçrungen sowie teilweise zustzlichen kçrperlichen Einschrnkungen. In einem kontrollierten Pr-Post-Vergleich stellte sie nach einer ambulanten musiktherapeutischen Behandlung signifikante Verbesserungen in den Bereichen der Konzentrationsfhigkeit, des Spielverhaltens und der sprachlichen Fertigkeiten fest. Ebenfalls in einer klinischen Interventionsstudie in der musiktherapeutischen Abteilung des Kinderzentrums Mnchen wurde von Plahl (2000) untersucht, wie wirkungsvoll durch Orff-Musiktherapie die prverbale kommunikative Entwicklung von zwçlf mehrfach behinderten Kindern im Alter von 2;4 bis 5;10 Jahren gefçrdert werden kann. Dazu wurden die musiktherapeutischen Sitzungen der stationr mit ihren Eltern aufgenommenen Kinder auf Video aufgezeichnet und mit Hilfe einer Videomikroanalyse ausgewertet. Zu Beginn und am Ende der beiden musiktherapeutischen Behandlungsphasen wurden die prverbalen kommunikativen Fhigkeiten des Kindes in einer psychologischen Untersuchung mit den Early Social Communication Scales (ESCS) (Seibert u. Hogan 1982) erfasst. Hier ließen sich im Verlauf der Behandlung signifikante Entwicklungsfortschritte feststellen, die auch durch die Einschtzungen der Eltern und der behandelnden Musiktherapeutinnen besttigt wurden. Die Mikroanalyse der Videoaufnahmen zeigte ebenfalls signifikante Verbesserungen grundlegender prverbaler Fhigkeiten in Form kommunikativer Aufmerksamkeitsausrichtung, Produktion kommunikativer Beitrge, kommunikativer Bezugnahme auf die Therapeutin und dialogischer Abstimmung im gemeinsamen Spiel am Instrument. Die
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Vernderungen im therapeutischen Rahmen wurden durch die Angaben der Eltern zu Vernderungen im huslichen Rahmen besttigt. Sie berichteten vor allem Verbesserungen in der Beziehungsqualitt und im Kommunikations- und Sozialverhalten der Kinder. Voigt (2002) hat anhand einer Videoanalyse in der Orff-Musiktherapie das kommunikative Verhalten eines Mdchens mit Rett-Syndrom untersucht. Im Verlauf der musiktherapeutischen Behandlung stellte sie eine zunehmende Aktivitt und Selbststndigkeit in der musikalischen Kommunikation fest. Dies zeigte sich darin, dass Spielimpulse des Mdchens zunahmen und seitens der Therapeutin immer weniger Untersttzung notwendig war. Der Anteil musikalischer ußerungen nahm im Verlauf der Behandlung zu und Musik wurde zunehmend mehr als Kommunikationsmittel eingesetzt. Neben vermehrtem beidhndigen Spiel ließen sich hufiger Vokalisationen und musikalische Spielhandlungen als Antwort auf die musikalischen Beitrge der Therapeutin beobachten, aus denen sich schließlich musikalische Dialoge mit abwechselnden Beitrgen entwickelten. Ebenso verbesserten sich die Aufmerksamkeitsausrichtung und die bewusste Bezugnahme auf die Therapeutin ber den Blickkontakt.
Schlussbemerkung Erfahrungsorientierte Therapien wie die Orff-Musiktherapie ermçglichen es, auf eine neue Weise mit sich und seinen Gefhlen in Berhrung zu kommen, sich emotional auf neue Art auszudrcken und sich anderen mitzuteilen. Dabei wird versucht, das Schçpferische und das Spielerische im Menschen zur Entfaltung zu bringen. Die improvisierende Form der Kommunikation und des Ausdrucks, wie sie in der Musiktherapie praktiziert wird, erscheint angesichts zunehmender Unsicherheiten in der heutigen Lebenswelt nicht nur fr Kinder mit Einschrnkungen und Stçrungen von besonderer Bedeutung zu sein: Improvisieren bedeutet stets, mit einem unvorhergesehen Verlauf rechnen zu mssen und ein mçgliches Scheitern zu akzeptieren. Allerdings kçnnen
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gerade »falsche« Tçne oft interessante Anregungen geben, neues Material bilden oder zu einem neuen Umgang mit dem alten Material stimulieren. Nicht zuletzt fçrdert das spielerische Improvisieren Flexibilitt, Humor und Spontaneitt – beim Kind wie bei dem Therapeuten. Damit erçffnet sich ein Entwicklungsraum mit einem reichhaltigen Spektrum an Ausdrucks- und Interaktionsformen. Die Lust an der Bewegung ebenso wie die Lust am Spiel erzeugen eine dynamische Spannung, die es erleichtert, musikalische Resonanz auf eigene innere Zustnde zu erfahren. Das kindliche Spielen mit der Stimme ist eine einzigartige Mçglichkeit, Geschichten zu erzhlen, Erinnerungen und Ideen auszudrcken und so auf lustvoll-spielerische Art Musikalitt und Phantasie zu entfalten. Kinder singen und musizieren nicht, um etwas Wohlklingendes zu erzeugen, sondern um durch die Musik – durch Singen ebenso wie durch Tanzen zur Musik oder durch das Hçren »ihrer« Musik – wichtige Aspekte ihres Lebens auszudrcken (Stadler Elmer 2000, 2002). Diese frhen Formen musikalischer Aktivitt dienen der Identittsbildung, vermitteln den Kindern ein Gefhl der Zugehçrigkeit und sind daher nicht nur in der Musiktherapie zu untersttzen. Die Orff-Musiktherapie bietet Mçglichkeiten, der Komplexitt der kindlichen Entwicklung gerecht zu werden und schçpferische Krfte im Kind zu wecken. In den Worten von Gertrud Orff: »In der Mçglichkeit, in unserer Orff-Musiktherapie von Anfang an aktiv mitzutun, zu handeln, zu spielen, zu entscheiden, spontan den kreativen Moment zu erfassen, liegt schon das Geheimnis [.|.|.]« (Orff 1974, S.|162).
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Plahl, C. (2000): Entwicklung fçrdern durch Musik. Evaluation musiktherapeutischer Behandlung. Mnster. Plahl, C. (2002): Musiktherapeutische Behandlung bei mehrfachbehinderten Kindern. Ergebnisse einer klinischen Studie. Kinderrztliche Praxis. Zeitschrift fr Soziale Pdiatrie und Jugendmedizin 2: 82–92. Plahl, C. (2004): Transactional theory on an empirical ground. Dimensions of relation in music therapy. Music Therapy Today (online). Volume V, Issue 4. Zugriff unter http://musictherapyworld.net. Plahl, C.; Koch-Temming, H. (Hg.) (2005): Musiktherapie fr Kinder. Grundlagen, Methoden, Praxisfelder. Bern. Rogers, C. R. (1982): Meine Beschreibung einer personenzentrierten Haltung. Zeitschrift fr personenzentrierte Psychologie und Psychotherapie : 75–79. Rogers, C. R. (2004): Entwicklung der Persçnlichkeit. Psychotherapie aus der Sicht eines Therapeuten. 15. Aufl. Stuttgart. Seibert, J. M.; Hogan, A.E. (1982): Procedures manual for the Early Social-Communication Scales (ESCS). Miami, FL. Stadler Elmer, S. (2000): Spiel und Nachahmung. ber die musikalische Entwicklung der elementaren musikalischen Aktivitten. Aarau. Stadler Elmer, S. (2002): Kinder singen Lieder: ber den Prozess der Kultivierung des vokalen Ausdrucks. Mnster. Straßburg, H. M.; Dacheneder, W.; Kress, W. (2000): Entwicklungsstçrungen bei Kindern. Grundlagen der interdisziplinren Betreuung. 2. Aufl. Lbeck. Tronick, E. Z. (1989): Emotions and emotional communication in infants. American Psychologist 44: 112–119. Vocke, J. (1986): Effektivittskontrolle der Orff-Musiktherapie. Dissertation. Ludwig-Maximilians-Universitt Mnchen. Voigt, I. (2002): Musiktherapie bei Mdchen mit Rett-Syndrom. Eine Untersuchung zum kommunikativen Verhalten eines Mdchens mit Rettsyndrom in der Orff-Musiktherapie. Diplomarbeit. Hochschule Magdeburg/Stendal. Voigt, M. (1998): Musiktherapie in der Behandlung von Entwicklungsstçrungen – die Orff-Musiktherapie heute. Musiktherapeutische Umschau 19: 289–294. Voigt, M. (1999): Orff Music Therapy with Multi-handicapped Children. In: Wigram, T.; de Backer, J. (Hg.): Clinical Applications of Music Therapy: Developmental Disability, Paediatrics and Neurology. London u.|a., S.|166–182. Voigt, M. (2001): Musiktherapie nach Gertrud Orff – eine entwicklungsorientierte Musiktherapie. In: Decker-Voigt, H.-H. (Hg.): Schulen der Musiktherapie. Mnchen, S.|242–262. Voigt, M. (2002a): Ich bin da, du bist da – Orff-Musiktherapie mit behinderten Kindern. In: Kraus, Werner (Hg.): Die Heilkraft der Musik. 2. Aufl. Mnchen, S.|114–120. Voigt, M. (2002b): Promoting parent-child interaction through Orff Music Therapy. In: Aldridge, D.; Fachner, J. (Hg.): Info CD-ROM IV. Conference – Music therapy in Europe. University of Witten-Herdecke. S.|1012–1029.
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Melanie Voigt/Christine Plahl
Voigt, M. (2003): Orff Music Therapy – An Overview. Voices: A World Forum for music Therapy. Retrieved January 21, 2004. Zugriff unter http://www.voices.no/ mainissues/mi40003000129.html. Vygotsky, L. S. (1978): Mind in society: The development of higher psychological processes. Cambridge, MA.
Die Autorinnen und Autoren
Brckner, Jutta, Diplom-Philosophin, Musiktherapeutin und Psychotherapeutin (HP), Studium der Musikwissenschaft und Nebenfach Psychologie, Weiterbildung in Systemischer Kurzzeittherapie, Familientherapie und Beratung, langjhrige kindermusiktherapeutische Ttigkeit seit 1969, zunchst in der Klinik fr Kinderneuropsychiatrie in Leipzig, zuletzt – bis zum Berufsende im Jahr 2003 – im Sozialpdiatrischen Zentrum Leipzig. Ordentliches Mitglied der Gesellschaft fr rztliche Psychotherapie der DDR, Vorstandsmitglied der Sektion Musiktherapie dieser Gesellschaft von 1978 bis 1982. Schwerpunkt: Praxis und Lehrttigkeit in Kindermusiktherapie, Lehrmusiktherapeutin der DMVO. Calvet, Claudine, Diplom-Psychologin, Psychologische Psychotherapeutin, Studium der Psychologie an der Universitt Paris-Sorbonne. Seit 1980 Arbeit in entwicklungspsychologischen Forschungsprojekten an der Freien Universitt Berlin und an der Universitt Potsdam. Schwerpunkt: Klinische Entwicklungspsychologie der frhen Kindheit, speziell Interaktionsstçrungen bei Kindern mit und ohne Behinderungen. Langjhrige Zusammenarbeit mit Karin Schumacher in Forschungsprojekten an der Universitt der Knste Berlin. Hippel, Natalie, Diplom-Musiktherapeutin, Studium der Musikpdagogik und der Musiktherapie an der Universitt Mnster, zur Zeit Promotion an der Universitt Mnster im Bereich Musikwissenschaft. Schwerpunkt: Musiktherapeutische Ttigkeit mit behinderten Kindern und psychisch traumatisierten Erwachsenen. Hollmann, Helmut, Dr. med., Facharzt fr Kinder- und Jugendmedizin, Psychotherapie, Direktor des Rheinischen Kinderneurologischen Zentrums Bonn, Sprecher der Bundesarbeitsgemeinschaft Sozialpdiatrischer Zentren. Mahns, Wolfgang, Dr., Diplom-Musiktherapeut, Sonderpdagoge, Psychotherapeut (HP). Seit 1980 als Studienrat (SO) und Musiktherapeut in Praxis und Ausbildung ttig. Seit 2003 Schulleiter einer Integrationsschule in Hamburg. Schwerpunkt: Musiktherapie mit Kindern und Jugendlichen im Grenzbereich zwischen Therapie und Pdagogik.
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Die Autorinnen und Autoren
Neugebauer, Lutz, Prof. Dr., Diplom-Musiktherapeut, Studium am Nordoff-Robbins Centre in London nach seinem Abschluss als Musiklehrer. Nach langjhriger klinischer Ttigkeit bernahme der Leitung des Instituts fr Musiktherapie an der Universitt Witten/Herdecke 1988. Ernennung zum Honorarprofessor 1998. Schwerpunkt: Musiktherapie mit entwicklungsverzçgerten und behinderten Kindern. Plahl, Christine, Prof. Dr. phil., Diplom-Psychologin, Psychologische Psychotherapeutin, Studium der Psychologie an der LMU Mnchen, Ausbildung zur OrffMusiktherapeutin am Kinderzentrum Mnchen, Dozentin an der Katholischen Stiftungsfachhochschule Mnchen sowie am Kinderzentrum Mnchen. Schwerpunkt: Musiktherapie mit Kindern, Evaluation von Kindermusiktherapie. Rauhe, Hermann, Prof. Dr. Dr. h.c., Musikwissenschaftler und Musikpdagoge. Studium der Musik, Musikwissenschaft, Theologie und Philosophie. Ehrenprsident der Hochschule fr Musik und Theater Hamburg, Prsident der Hochschule von 1978 bis 2004. Mitbegrnder des Studienganges Musiktherapie an der Hochschule fr Musik und Theater Hamburg sowie Mitbegrnder und Vizeprsident der Deutschen Gesellschaft fr Prventivmedizin und Prventionsmanagement DGPP. Prsident der Initiative »II canto del mondo« zur Fçrderung des Singens. Ehrenkantor an der Hamburger Hauptkirche St. Michaelis. Trger des Bundesverdienstkreuzes, der Brahms-Medaille fr besondere Verdienste in der Musik, der Katja-Loos-Medaille fr besondere Verdienste um die Musiktherapie und der Medica-Verdienst-Plakette fr die Mitwirkung bei der Weiterentwicklung der Musiktherapie in Forschung und Lehre. Reichert, Bernd, Diplom-Musiktherapeut (FH), Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut, Psychotherapie (HP), Ttigkeit in der Universitts-Kinderklinik Mnster, Bereich Psychosomatik, Dozent am Zusatzstudiengang Musiktherapie der Universitt Mnster. Schwerpunkt: Musiktherapie mit psychosomatisch erkrankten Kindern und Jugendlichen. Schumacher, Karin, Prof. Dr., Musiktherapeutin (Wiener Diplom) und Kinderund Jugendlichenpsychotherapeutin, Studium der Elementaren Musik- und Tanzerziehung am Orff-Institut in Salzburg. Langjhrige Ttigkeit in einer psychiatrischen Klinik, seit 1984 Musiktherapie mit tiefgreifend entwicklungsgestçrten, speziell autistischen Kindern. 1984–1995 Einrichtung und Leitung des Studienganges Musiktherapie an der Hochschule der Knste in Berlin. Seit 1995 Professorin fr Musiktherapie an der Universitt der Knste Berlin und Dozentin an der Universitt fr Musik und darstellende Kunst in Wien. Schwerpunkt: Musiktherapie und Suglingsforschung, Musiktherapie mit entwicklungsgestçrten Kindern. Stiff, Ursula, Diplom-Musiktherapeutin, Studium der Musikpdagogik und der Musiktherapie an der Universitt Mnster, Ausbildung zur Orff-Musiktherapeutin am Kinderzentrum Mnchen, Zusammenarbeit mit Gertrud Orff zur Theorielegung der Orff-Musiktherapie. Forschungsttigkeit in pdiatrischen Zentren in Ber-
Die Autorinnen und Autoren
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lin und Mnster. Schwerpunkt: Frhfçrderung – Prvention – Therapie, Untersuchungen zur Effektivitt von Musiktherapie (u.|a. bei Kindern mit Aufmerksamkeitsstçrungen). Tpker, Rosemarie, PD Dr. phil., Diplom-Musiktherapeutin – Psychotherapie, Leiterin des Studiengangs fr Musiktherapie an der Universitt Mnster, Studium der Musik, Musiktherapie, Musikwissenschaft, Psychologie und Philosophie, Grndungsmitglied des Instituts fr Musiktherapie und Morphologie (IMM). Schwerpunkt: Morphologische Musiktherapie, Musikpsychologie, Musiktherapie in der Psychosomatik, mit alten Menschen und in der Schule. Vocke, Johanna, Dr., Diplom-Psychologin, Psychologische Psychotherapeutin, Studium der Psychologie an der LMU Mnchen, mehrjhrige Zusammenarbeit mit Gertrud Orff als Dozentin im Ausbildungskurs Orff-Musiktherapie am Kinderzentrum Mnchen, langjhrige psychotherapeutische Ttigkeit. Schwerpunkt: Klinisch psychologische Ttigkeit mit Kindern und Erwachsenen. Voigt, Melanie, Ph.D. (Universitt Texas), Musiktherapeutin, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, Studium der Musikpdagogik (USA), langjhrige Zusammenarbeit mit Gertrud Orff. Leiterin der musiktherapeutischen Abteilung des Kinderzentrums Mnchen seit 1984. Leiterin des Ausbildungskurses Orff-Musiktherapie am Kinderzentrum Mnchen und Lehrbeauftragte an der Hochschule Magdeburg/Stendal. Schwerpunkt: Musiktherapie mit entwicklungsgestçrten und behinderten Kindern und Jugendlichen.
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Isabelle Frohne-Hagemann / Heino Pleß-Adamczyk Indikation Musiktherapie bei psychischen Problemen im Kindes- und Jugendalter Musiktherapeutische Diagnostik und Manual nach ICD-10
Isabelle Frohne-Hagemann und Heino Pleß-Adamczyk kommt das Verdienst zu, für die Musiktherapie mit Kindern und Jugendlichen mit diesem %and die *rundlagen für st|rungsspezi¿sche Indikationen zu liefern, wie sie inzwischen von Psychotherapieverfahren gefordert werden. Die Autoren bedienen sich einer integrativen Sichtweise, die die spezi¿sch musiktherapeutische Diagnostik vor dem Hintergrund verschiedener Theoriemodelle anderer Verfahren anschaulich macht. Das abschließende Manual gibt einen praxisbezogenen Überblick zu den relevanten Störungsbildern nach ICD-10 und vermittelt exemplarisch, welche beziehungsfördernden Funktionen Musik bei spezi¿schen Symptomatiken in der musiktherapeutischen Behandlung haben kann.
Ulrike Haffa-Schmidt / Dorothee von Moreau / Andreas :ölÀ Hg. Musiktherapie mit psychisch kranken Jugendlichen Grundlagen und Praxisfelder
Psychische Störungen sind hlu¿g mit (inschrlnkungen oder dem Verlust emotionaler (rlebnis- und :ahrnehmungsflhigkeit verbunden Beziehungsfähigkeit und Kreativität gehen verloren. Will man Jugendliche mit psychotherapeutischen Hilfen erreichen, so gelingt das besonders gut, wenn man ihre nicht-sprachlichen und körpernahen Ausdrucksbedürfnisse einbezieht. An dieser Stelle knüpft Musiktherapie an, um auf musikalischem Weg eine gemeinsame Sprache mit Jugendlichen zu ¿nden. Im Wechselspiel von musikalischem Tun und verbaler Weiterführung werden erlebnis- und handlungsorientierte Vorgehensweisen mit reÀektierenden verbunden, und es entwickelt sich ein therapeutischer Prozeß. Mit einem einführenden Theorieteil, gefolgt von Falldarstellungen kinder- und jugendpsychiatrischer Störungsbilder, die das methodische Spektrum musiktherapeutischen Arbeitens praxisnah vermitteln, machen die 16 Autorinnen und Autoren anschaulich, wie Musiktherapie als psychotherapeutisches Verfahren in der Behandlung Jugendlicher wirkungsvoll einsetzbar ist.
Musiktherapie mit Kindern Dietrich Petersen / Eckhard Thiel Tonarten, Spielarten, Eigenarten Kreative Elemente in der Musiktherapie mit Kindern und Jugendlichen 2001. 135 Seiten mit 3 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-45874-7 Musiktherapien mit Kindern und Jugendlichen trennen vordergründig Welten: hier das noch spielende Kind, dort der um Autonomie ringende, darin oft sperrige Jugendliche. Tatsächlich jedoch gibt es zwischen diesen Altersgruppen vielerlei Gemeinsamkeiten, die von den Autoren als roter Faden auf verschiedenen Ebenen verfolgt werden: entwicklungspsychologisch, neurophysiologisch, tiefenpsychologisch, künstlerisch und ausdruckstherapeutisch. Die heilsamen Prozesse im Spiel mit Tönen, Rhythmen, Versen, Bildern oder Instrumenten werden so theoretisch fundiert und anhand von Fallbeispielen begreifbar gemacht.
Monika Nöcker-Ribaupierre (Hg.) Hören – Brücke ins Leben Musiktherapie mit früh- und neugeborenen Kindern. Forschung und klinische Praxis Mit einem Vorwort von Mechthild Papoušek. 2003. 302 Seiten mit 7 Abb. und 2 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-46200-3 Über seinen Hörsinn hat das Kind im Mutterleib seine erste Verbindung mit der Außenwelt. Ein zu früh geborenes Kind wird einer Umwelt ausgesetzt, die dank der fortgeschrittenen medizinischen Technik zwar sein Überleben sichert, aber trotzdem sein Wohlergehen beeinträchtigt, seine Entwicklung erschweren und ihm sogar den Lebensmut nehmen kann. Der wohl überlegte, gezielte Einsatz von Musiktherapie gewährt Reizabschirmung, vermittelt das Gefühl von Struktur und Geborgenheit und unterstützt die Entwicklung von Beziehung und Kommunikation. Das Buch vermittelt umfangreiche praktische Anregungen, um Musiktherapie in einer neonatologischen Station zu verankern.
Kinder- und Jugendlichentherapie – eine Auswahl Gilbert Lelord / Aribert Rothenberger Dem Autismus auf der Spur Verstehen, erklären, behandeln – ein Lesebuch 2. Auflage 2004. 164 Seiten, kartoniert. ISBN 978-3-525-01459-2
Jo Eckardt Kinder und Trauma Was Kinder brauchen, die einen Unfall, einen Todesfall, eine Katastrophe, Trennung, Missbrauch oder Mobbing erlebt haben 2005. 160 Seiten mit 2 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-46225-6
Ulrike Schäfer / Wolf-Dieter Gerber AD(H)S – Die AufmerksamkeitsdefizitHyperaktivitätsstörung Ein Ratgeber für Eltern, Erzieher und Lehrer 2007. 125 Seiten mit 16 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-46252-2
Leonhard Thun-Hohenstein (Hg.) Übergänge Wendepunkte und Zäsuren in der kindlichen Entwicklung 2005. 122 Seiten mit 6 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-46243-0
Marianne Leuzinger-Bohleber / Yvonne Brandl / Gerald Hüther (Hg.) ADHS – Frühprävention statt Medikalisierung Theorie, Forschung, Kontroversen Schriften des Sigmund-Freud-Instituts. Reihe 2: Psychoanalyse im interdisziplinären Dialog, Band 4. 2. Auflage 2006. 306 Seiten mit 14 Abb. und 3 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-45178-6
Micha Hilgers Mensch Ödipus Konflikte in Familie und Gesellschaft 2007. 130 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-49102-7