Rhetorik Und Religion: Die Bewertung Und Nutzung Paganer Wissensfelder Bei Arnobius Von Sicca (Altertumswissenschaftliches Kolloquium, 29) (German Edition) 3515129464, 9783515129466

Der zum Christentum konvertierte Rhetoriklehrer Arnobius von Sicca verfasste um 300 n. Chr. die Schrift Adversus natione

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German Pages 476 [478] Year 2020

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INHALTSVERZEICHNIS
VORWORT
PROLEGOMENA
1. FORSCHUNGSÜBERBLICK
2. ZIELSETZUNG DER VORLIEGENDEN ARBEIT
3. CHRÊSIS ARNOBIANA? ÜBERLEGUNGEN ZU EINEM FORSCHUNGSPARADIGMA
3.1 DER THEMENKOMPLEX „ANTIKE UND CHRISTENTUM“
3.2 DIE FORSCHUNGSKONTROVERSE UM DIE AUSEINANDERSETZUNG VON ANTIKE UND CHRISTENTUM
3.3 VERSUCH EINER ZWISCHENBILANZ
3.4 SKIZZE DES CHRÊSIS-KONZEPTES
3.5 ANSÄTZE EINER USUS-IUSTUS-KONZEPTION BEI ARNOBIUS VON SICCA
3.6 DAS IM FOLGENDEN ZUGRUNDE GELEGTE CHRÊSIS-VERSTÄNDNIS
4. FORM UND ADRESSATENKREIS VON ADVERSUS NATIONES
4.1 DER LITERARISCHE CHARAKTER DER SCHRIFT
4.2 ADVERSUS NATIONES ALS REDE IN EINEM IMAGINIERTEN PROZESS
4.3 VORTEILE DER GEWÄHLTEN LITERARISCHEN FORM
4.4 ZUM ADRESSATENKREIS VON ADVERSUS NATIONES
4.5 KONSEQUENZEN FÜR DAS WEITERE VORGEHEN
5. BILANZ
TEIL I: STUDIEN ZUR BEWERTUNG PAGANER WISSENSFELDER DURCH ARNOBIUS
1. RHETORIK, GRAMMATIK UND SPRACHRICHTIGKEIT IN ADVERSUS NATIONES
1.1 STAND DER FORSCHUNG
1.2 AUSSAGEN ZU RHETORIK, GRAMMATIK UND SPRACHRICHTIGKEIT
1.3 ERGEBNIS
1.4 DER SPRECHER ÜBER SEINE EIGENE ELOQUENZ BZW. SEINE RHETORISCHE PRAXIS
1.5 DAS RHETORIKVERSTÄNDNIS DES ARNOBIUS UND DIE FORMALE ANLAGE VON ADVERSUS NATIONES
2. „DIE“ PHILOSOPHIE UND „DIE“ PHILOSOPHEN IN ADVERSUS NATIONES
2.1 STAND DER FORSCHUNG
2.2 AUSSAGEN ÜBER „DIE“ PHILOSOPHIE UND „DIE“ PHILOSOPHEN
2.3 ERGEBNIS
2.4 EXKURS: SAPIENTIA BEI MENSCH UND GOTT
3. DICHTUNG UND DICHTER IN ADVERSUS NATIONES
3.1 STAND DER FORSCHUNG
3.2 DAS ANSEHEN VON DICHTERN IN DER PAGANEN GESELLSCHAFT
3.3 INHALTE VON DICHTUNG
3.4 BEZEICHNUNGEN UND PRÄSENTATIONSKONTEXTE FÜR DICHTUNG
3.5 ERGEBNIS
4. ERGEBNISSE
TEIL II: STUDIEN ZUR NUTZUNG PAGANER WISSENSFELDER: ARNOBIUS’ APOLOGETISCHE TECHNIK
EINFÜHRUNG
II. A: DIE APOLOGETISCHE ARGUMENTATION IN ADVERSUS NATIONES 1
1. TERMINOLOGIE UND REFERENZRAHMEN
2. DIMENSIONEN DER ARGUMENTATIONSANALYSE
2.1 GRUNDLEGENDES
2.2 INVENTIO
2.3 DISPOSITIO
3. ARNOBIUSʼ ARGUMENTATIONSFÜHRUNG UND APOLOGETISCHE TECHNIK IN ADVERSUS NATIONES 1
3.1 BAUELEMENT 1: KAP. 1,1–2,2
3.2 BAUELEMENT 2: KAP. 2,3–7
3.3 ÜBERLEGUNGEN ZUR WEITEREN ARGUMENTATIONSSTRATEGIE
3.4 BAUELEMENT 3: KAP. 8–16
3.5 BAUELEMENT 4: KAP. 17–24
3.6 BAUELEMENT 5: KAP. 25–35
3.7 BAUELEMENT 6: KAP. 36–53
3.8 BAUELEMENT 7: KAP. 54–59
3.9 BAUELEMENT 8: KAP. 60–63
3.10 BAUELEMENT 9: KAP. 64–65
4. ERGEBNISSE
II. B: FALLSTUDIEN ZUR ARGUMENTATIONSFÜHRUNG UND RHETORISCHEN GESTALTUNG AUF DER MIKRO-EBENE
1. EINLEITUNG
1.1 GRUNDZÜGE DES PROSARHYTHMUS
1.2 FORSCHUNGSSTAND ZUR ARNOBIANISCHEN RHYTHMUSPRAXIS
2. EINZELUNTERSUCHUNGEN
2.1 NAT. 7,9,2–12
2.2 NAT. 1,31,1–3
2.3 NAT. 1,38,2–8
3. ERGEBNISSE
SCHLUSSBETRACHTUNGEN
BIBLIOGRAPHIE
INDEX LOCORUM
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 3515129464, 9783515129466

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Johannes Breuer

Rhetorik und Religion Die Bewertung und Nutzung paganer Wissensfelder bei Arnobius von Sicca

Klassische Philologie Franz Steiner Verlag

Altertumswissenschaftliches Kolloquium | 29

Altertumswissenschaftliches Kolloquium Interdisziplinäre Studien zur Antike und zu ihrem Nachleben Herausgegeben von Rainer Thiel und Meinolf Vielberg Wissenschaftlicher Beirat: Walter Ameling (Köln), Susanne Daub ( Jena), Michael Erler (Würzburg), Angelika Geyer ( Jena), Jan Dirk Harke ( Jena), Christoph Markschies (Berlin), Norbert Nebes ( Jena), Tilman Seidensticker ( Jena), Timo Stickler ( Jena) und Christian Tornau (Würzburg) Band 29

Rhetorik und Religion Die Bewertung und Nutzung paganer Wissensfelder bei Arnobius von Sicca Johannes Breuer

Franz Steiner Verlag

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Förderungsfonds Wissenschaft der VG WORT.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2021 Layout und Herstellung durch den Verlag Druck: Beltz Grafische Betriebe, Bad Langensalza Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-12946-6 (Print) ISBN 978-3-515-12949-7 (E-Book)

INHALTSVERZEICHNIS VORWORT ........................................................................................................

9

PROLEGOMENA .............................................................................................. 11 1. FORSCHUNGSÜBERBLICK ....................................................................... 13 2. ZIELSETZUNG DER VORLIEGENDEN ARBEIT ..................................... 20 3. CHRÊSIS ARNOBIANA? ÜBERLEGUNGEN ZU EINEM FORSCHUNGSPARADIGMA ..................................................................... 21 3.1 Der Themenkomplex „Antike und Christentum“ .................................. 3.2 Die Forschungskontroverse um die Auseinandersetzung von Antike und Christentum ......................................................................... 3.3 Versuch einer Zwischenbilanz ............................................................... 3.4 Skizze des Chrêsis-Konzeptes ............................................................... 3.5 Ansätze einer usus-iustus-Konzeption bei Arnobius von Sicca............. 3.6 Das im Folgenden zugrunde gelegte Chrêsis-Verständnis ....................

21 23 33 34 39 43

4. FORM UND ADRESSATENKREIS VON ADVERSUS NATIONES ........... 45 4.1 Der literarische Charakter der Schrift .................................................... 4.2 Adversus nationes als Rede in einem imaginierten Prozess .................. 4.2.1 Die Szenerie .................................................................................. 4.2.2 Der Sprecher/Verteidiger .............................................................. 4.2.3 Die Gegner/Ankläger .................................................................... 4.2.4 Das Publikum/die Richter ............................................................. 4.2.5 Kontinuierliche Vergegenwärtigung der Prozesssituation ............ 4.2.6 Fazit ............................................................................................... 4.2.7 Exkurs: Das historische prozessuale Verfahren ............................ 4.3 Vorteile der gewählten literarischen Form............................................. 4.4 Zum Adressatenkreis von Adversus nationes ........................................ 4.5 Konsequenzen für das weitere Vorgehen...............................................

45 46 48 49 51 56 57 58 58 61 62 68

5. BILANZ .......................................................................................................... 69

6

Inhaltsverzeichnis

TEIL I: STUDIEN ZUR BEWERTUNG PAGANER WISSENSFELDER DURCH ARNOBIUS ................................................... 71 1. RHETORIK, GRAMMATIK UND SPRACHRICHTIGKEIT IN ADVERSUS NATIONES ................................................................................ 73 1.1 Stand der Forschung............................................................................... 1.2 Aussagen zu Rhetorik, Grammatik und Sprachrichtigkeit..................... 1.2.1 nat. 1,58f. ...................................................................................... 1.2.2 nat. 2,11f. ...................................................................................... 1.2.3 nat. 2,5f. ........................................................................................ 1.2.4 nat. 2,19......................................................................................... 1.2.5 nat. 2,38......................................................................................... 1.2.6 nat. 3,6f. ........................................................................................ 1.2.7 nat. 4,33......................................................................................... 1.2.8 nat. 4,36......................................................................................... 1.3 Ergebnis ................................................................................................. 1.4 Der Sprecher über seine eigene Eloquenz bzw. seine rhetorische Praxis ................................................................................... 1.5 Das Rhetorikverständnis des Arnobius und die formale Anlage von Adversus nationes ...........................................................................

73 79 79 93 96 100 101 102 104 104 105 107 108

2. „DIE“ PHILOSOPHIE UND „DIE“ PHILOSOPHEN IN ADVERSUS NATIONES ................................................................................ 110 2.1 Stand der Forschung............................................................................... 2.2 Aussagen über „die“ Philosophie und „die“ Philosophen ..................... 2.2.1 Gegenstände und Themen der Philosophie ................................... 2.2.2 Wesen, Methoden und Leistungen der Philosophie ...................... 2.2.3 Eigenschaften und Verhaltensweisen von Philosophen ................ 2.2.4 Methodik und Verlässlichkeit der Aussagen von Philosophen .......................................................................... 2.2.5 Philosophen als Bürgen für die bzw. partielle Teilhaber an der christlichen Wahrheit ....................................................... 2.2.6 Nennung von Philosophen ohne explizite Wertung ...................... 2.2.7 Philosophen und Christen ............................................................. 2.3 Ergebnis ................................................................................................. 2.4 Exkurs: sapientia bei Mensch und Gott ................................................. 2.4.1 Menschliche sapientia................................................................... 2.4.2 Göttliche sapientia ........................................................................ 2.4.2.1 sapientia des christlichen Gottes ..................................... 2.4.2.2 sapientia paganer Götter ................................................ 2.4.3 Fazit des Exkurses .........................................................................

110 114 114 116 123 126 132 137 139 145 148 149 151 151 152 155

Inhaltsverzeichnis

7

3. DICHTUNG UND DICHTER IN ADVERSUS NATIONES .......................... 157 3.1 3.2 3.3 3.4

Stand der Forschung............................................................................... Das Ansehen von Dichtern in der paganen Gesellschaft ....................... Inhalte von Dichtung ............................................................................. Bezeichnungen und Präsentationskontexte für Dichtung ...................... 3.4.1 carmen .......................................................................................... 3.4.2 fabula ............................................................................................ 3.4.3 Theater .......................................................................................... 3.5 Ergebnis .................................................................................................

157 160 161 165 165 166 167 168

4. ERGEBNISSE ................................................................................................ 170 TEIL II: STUDIEN ZUR NUTZUNG PAGANER WISSENSFELDER: ARNOBIUSʼ APOLOGETISCHE TECHNIK .............................................. 173 EINFÜHRUNG .................................................................................................. 175 II. A: DIE APOLOGETISCHE ARGUMENTATION IN ADVERSUS NATIONES 1 ............................................................................. 185 1. TERMINOLOGIE UND REFERENZRAHMEN .......................................... 187 2. DIMENSIONEN DER ARGUMENTATIONSANALYSE ........................... 190 2.1 Grundlegendes ....................................................................................... 190 2.2 inventio .................................................................................................. 190 2.3 dispositio ............................................................................................... 191 3. ARNOBIUSʼ ARGUMENTATIONSFÜHRUNG UND APOLOGETISCHE TECHNIK IN ADVERSUS NATIONES 1 .................... 194 3.1 Bauelement 1: Kap. 1,1–2,2 ................................................................... 3.2 Bauelement 2: Kap. 2,3–7 ...................................................................... 3.3 Überlegungen zur weiteren Argumentationsstrategie ............................ 3.4 Bauelement 3: Kap. 8–16 ...................................................................... 3.5 Bauelement 4: Kap. 17–24 ..................................................................... 3.6 Bauelement 5: Kap. 25–35 ..................................................................... 3.7 Bauelement 6: Kap. 36–53 ..................................................................... 3.8 Bauelement 7: Kap. 54–59 ..................................................................... 3.9 Bauelement 8: Kap. 60–63 ..................................................................... 3.10 Bauelement 9: Kap. 64–65 .....................................................................

195 211 231 234 253 270 292 329 339 348

4. ERGEBNISSE ................................................................................................ 357

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Inhaltsverzeichnis

II. B: FALLSTUDIEN ZUR ARGUMENTATIONSFÜHRUNG UND RHETORISCHEN GESTALTUNG AUF DER MIKRO-EBENE ............... 363 1. EINLEITUNG ................................................................................................ 365 1.1 Grundzüge des Prosarhythmus............................................................... 366 1.2 Forschungsstand zur arnobianischen Rhythmuspraxis .......................... 372 2. EINZELUNTERSUCHUNGEN .................................................................... 375 2.1 nat. 7,9,2–12........................................................................................... 2.1.1 Kolometrisch-rhythmische Analyse .............................................. 2.1.2 Interpretation ................................................................................. 2.2 nat. 1,31,1–3 .......................................................................................... 2.2.1 Kolometrisch-rhythmische Analyse .............................................. 2.2.2 Interpretation ................................................................................. 2.3 nat. 1,38,2–8........................................................................................... 2.3.1 Kolometrisch-rhythmische Analyse .............................................. 2.3.2 Interpretation .................................................................................

375 376 380 392 392 394 403 404 406

3. ERGEBNISSE ................................................................................................ 424 SCHLUSSBETRACHTUNGEN ....................................................................... 426 BIBLIOGRAPHIE .............................................................................................. 433 INDEX LOCORUM ........................................................................................... 465

VORWORT Bei der vorliegenden Untersuchung handelt es sich um die leicht überarbeitete Fassung meiner dem Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz im Dezember 2017 vorgelegten Habilitationsschrift. Mein Dank gilt an erster Stelle Herrn Prof. Wilhelm Blümer: Im Studium entfachte er meine Begeisterung für die frühchristliche Literatur und gab mir im Rahmen seines Forschungsprojektes „Neutestamentliche Textforschung – Die altlateinischen Actus Apostolorum“ die Gelegenheit, mich tiefer in die christliche Literatur der Spätantike und in die Überlieferungsgeschichte der Bibel einzuarbeiten. Die vorliegende Untersuchung hat er stets mit großem Interesse und Engagement sowie mit richtungsweisenden Impulsen gefördert. Wichtige Anregungen verdanke ich auch den weiteren Gutachtern Frau Prof. Dorothea Weber (Salzburg), Herrn Prof. Meinolf Vielberg (Jena) sowie den Herren Professoren Jochen Althoff und Jürgen Blänsdorf (beide Mainz). Die Anregung, mich gerade mit Arnobius von Sicca zu beschäftigen, gab mir mein langjähriger Kollege und Freund Herr Dr. Jochen Walter (Mainz), mit dem ich immer wieder anregende Gespräche u.a. über Arnobius, Lactanz und die christliche Literatur der Spätantike im Allgemeinen führe; ferner hat er das ganze Manuskript durchgesehen und mir wichtige Hinweise gegeben. Ihm sei deshalb ganz herzlich gedankt! Herzlicher Dank gebührt auch Frau Dr. Rebekka Schirner (Mainz), die nicht nur die Mühen des Korrekturlesens auf sich genommen, sondern mich auch stets mit Rat und Tat unterstützt und mir neue Horizonte eröffnet hat. Wichtiges Feedback und stimulierende Impulse habe ich auch im Rahmen verschiedener Workshops und Konferenzen (u.a. in Trier, Würzburg, Erlangen, Dijon und Oxford) erhalten; stellvertretend möchte ich Herrn Prof. Ulrich Volp (Mainz) danken, in dessen Patristischer Sozietät ich einige Gedanken aus dem Projekt zur Diskussion stellen durfte. Entscheidende Fortschritte hat die Untersuchung im Rahmen mehrerer Aufenthalte in der „Fondation Hardt pour lʼétude de lʼantiquité classique“ (Vandœuvres) gemacht; die Gastfreundschaft und extrem anregende Atmosphäre dieses paradiesischen Arbeitsumfeldes durfte ich unter anderem im Rahmen zweier research fellowships for young researchers genießen, für die ich stellvertretend Herrn Prof. Pierre Ducrey herzlichen Dank ausspreche. Dank gebührt auch den Herren Professoren Meinolf Vielberg und Rainer Thiel (beide Jena) für die Aufnahme der Studie in die Reihe „Altertumswissenschaftliches Kolloquium“. Danken möchte ich auch der VG Wort für die Gewährung eines großzügigen Druckkostenzuschusses sowie Herrn stud. phil. Achim Rohweder, der mich bei der Überprüfung der Zitate und der Erstellung des Index unterstützt hat. Schließlich bin ich der Antonie Wlosok-Stiftung zu Dank ver-

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Vorwort

pflichtet, die die vorliegende Arbeit mit dem Antonie Wlosok-Preis 2019 ausgezeichnet hat. Gewidmet sei dieses Buch meinem Vater sowie meiner Mutter, der es leider nicht mehr vergönnt war, die Fertigstellung dieser Arbeit zu erleben. Mainz, im November 2020

J.B.

PROLEGOMENA

1. FORSCHUNGSÜBERBLICK Vor allem zwei Zugänge prägen die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Schrift Adversus nationes des älteren Arnobius1 in der Forschung der letzten Jahrzehnte: der theologisch-philosophische und der „quellenkundliche“. Trotz oder gerade wegen der zahlreichen „unorthodoxen“ christlichen Ansichten,2 die in diesem wohl um 300 n.Chr. entstandenen Werk3 vorgetragen werden, analysierten 1 2

3

Weitere Namensbestandteile sind für diesen Autor nicht überliefert. Eine onomastische Analyse zu Arnobius bietet SIMMONS (1995) 94ff. Vgl. z.B. LIEBESCHUETZ (1979) 257: „Arnobius’ departures from what was to become standard Christian doctrine are just what makes his book a significant historical document.“ MADDEN (1981) 215 sieht in Arnobius gar „perhaps the most bizarre of the Fathers of the Church.“, während ihm RAPISARDA (1946) 79, Anm. 2 Orthodoxie attestiert: „sa tenersi dentro i limiti di quella ortodossia, quale si può richiedere allʼinizio del IV secolo.“ AHMED (2017) 130 wiederum nennt Arnobiusʼ Darstellung des Christentums „schwammi[g]“. Die Datierung von Adversus nationes ist nicht unumstritten; vgl. die ausführlichen Diskussionen der Zeugnisse und Forschungsmeinungen etwa bei LE BONNIEC (1982a) 30ff., GIERLICH (1985) Iff., WLOSOK (1989a) 366f., SIMMONS (1995) 47ff. und LUCARINI (2005) 139ff. Im Werk selbst findet sich die Angabe, Rom sei etwa 1050 Jahre alt (2,71,5 [in der Ausgabe von ARMISEN-MARCHETTI als Aussage eines Gegners gedeutet]: „annos ducit [sc. urbs Roma] quinquaginta et mille aut non multum ab his minus“), die, sofern man vom traditionellen varronischen Gründungsdatum ausgeht, ungefähr auf das Jahr 298 verweist (Arnobiusʼ Vertrautheit mit der varronischen Chronologie beweist nat. 5,8). Ausführungen in nat. 4,36 scheinen hingegen auf Diokletians erstes Verfolgungsedikt von 303 anzuspielen (vgl. hierzu u., S. 58). In nat. 1,13,2 wiederum wird erklärt, dass es seit ungefähr 300 Jahren Christen gebe (trecenti sunt anni ferme, minus vel plus aliquid, ex quo coepimus esse Christiani et terrarum in orbe censeri). Die Informationen, die aus den Angaben des Hieronymus gewonnen werden können, ergeben kein einheitliches Bild: In De viris illustribus (abgefasst ca. 393 n.Chr.) datiert er das Wirken des Arnobius als Rhetor in die Regierungszeit Diokletians (79,1: Arnobius sub Diocletiano principe Siccae apud Africam florentissime rhetoricam docuit); in seiner Chronik (ca. 380 n.Chr.) hingegen behandelt er Arnobius’ Lebensweg, seine Konversion sowie die Abfassungsumstände von Adversus nationes anlässlich des Jahres 327 [chron. ad 327 p. Chr. (p. 231,14ff. HELM): Arnobius rhetor in Africa clarus habetur. qui cum Siccae ad declamandum iuvenes erudiret et adhuc ethnicus ad credulitatem somniis compelleretur neque ab episcopo impetraret fidem, quam semper inpugnaverat, elucubravit adversum pristinam religionem luculentissimos libros et tandem velut quibusdam obsidibus pietatis foedus impetravit]. Hierbei könnte es sich jedoch um Arnobius’ Todesjahr handeln, anlässlich dessen sein Werdegang gewürdigt wird. Da Hieronymus aber die Chronik Eusebs ab diesem Jahr fortführt, könnte er die Information auch als Nachtrag hier positioniert haben. Auch ein Irrtum des Sekretärs, der bei Hieronymusʼ Diktat die Vicennalia Diokletians mit denen Konstantins verwechselt haben könnte, wurde erwogen; ebenso könnte der Fehler auch in Hieronymusʼ Quelle vorgelegen haben, vgl. SIMMONS (1995) 47ff. – U.a. folgende Datierungen wurden vorgeschlagen: Beginn der Abfassung vor 300: LAURIN (1954) 154f. datiert Buch 2 auf 297 oder wenig später, die restlichen Bücher zwischen 305 und 311, MONCEAUX (1963) 248 die Bücher 1 und 2 auf 296/297, die übrigen auf 303 oder später. FREND (1987) 14 datiert den Beginn der Abfassung auf 295/296, das letzte Buch jedoch in die Phase nach dem Ausbruch

14

Prolegomena

v.a. Theologen und Philosophen etwa Arnobius’ Vorstellungen von der Beschaffenheit der menschlichen Seele oder von der Emotionslosigkeit Gottes, um ihnen den gebührenden Platz in der abendländischen Geistesgeschichte zuzuweisen.4 Zum anderen erfuhr der Rhetor und Apologet5 aus Sicca Veneria, dem heutigen

4

5

der diokletianischen Christenverfolgung. LE BONNIEC (1982a) 34 bilanziert vorsichtig: „Arnobe a commencé à écrire vers 297, [...] la plus grande partie de lʼouvrage a été écrite autour de 300 et la totalité avant 311; [...] la rédaction a été interrompue par la mort de lʼauteur; ajoutons que lʼouvrage nʼa pas été publié en une seule fois.“ MORA (1997) 21: „um 297–303 n. Chr., sicher vor 311“. MORESCHINI/NORELLI (2007) 218: „Drei Bücher entstanden in den Jahren vor der Christenverfolgung (das erste geht wahrscheinlich auf die Jahre 297–300 zurück), das vierte wurde während der Christenverfolgung verfasst“. Eine Abfassung der einzelnen Bücher zu unterschiedlichen Zeiten hält auch STRACHEY (1958) 227 für wahrscheinlich; vage BARDY (1950) 709: „gegen 300“. 302–305: SIMMONS (1995) 7, DEPALMA DIGESER (2000) 147, Anm. 19, FIEDROWICZ (2000) 74, KAHLOS (2009) 168, Anm. 163; BARNES (2011) 176 datiert den Beginn der Abfassung auf 302, den Abschluss vor 305. Ab 303: NICHOLSON (2004) 259: „some date later than the First Edict of the Great Persecution in 303“, während DERS. (1984) eine Datierung nach der diokletianischen Verfolgung noch für möglich hielt; LUCARINI (2005) 143 (Arnobius sei aber 304/305 schon eines natürlichen Todes gestorben). 304–310: HARNACK (1904) 415, DE LABRIOLLE (1947) 227, Anm. 2 („[p]robablement“), ALTANER/STUIBER (1978) 183. JÜLICHER (1896) 1026 und BARDENHEWER (1962) 521 datieren beide: „um 305“. QUASTEN (1964) 384: „during the persecution of Diocletian and prior to 311 A.D.“ 327: Argumente für diese Datierung führt EDWARDS (2004), (2007) 121 und (2016) ins Feld, also für die Zeit nach der „Konstantinischen Wende“, als das Christentum bereits legalisiert war. Neben werkinternen Indizien führt er auch den Umstand an, dass Lactanz, der laut Hieronymus ein (Rhetorik-)Schüler des Arnobius war (vir. ill. 80,1: Lactantius, Arnobii discipulus), in der Übersicht über seine apologetischen Vorgänger in inst. 5,1,22ff. Arnobius nicht nennt. SIMMONS (2012) bezeichnet EDWARDS’ Spätdatierungsvorschlag als „absolutely ridiculous“, während THOMAS (2011) 139 ihn willkommen und diskussionsanregend nennt. EDWARDS (2016) 683f. wiederum formuliert mehrere Thesen, welche die unterschiedlichen bezeugten Jahreszahlen unter Postulierung verschiedener redaktioneller Stadien des Werkes in Einklang zu bringen versuchen. Zu Arnobius’ Seelenlehre vgl. z.B. RÖHRICHT (1893), KARPP (1950) 171ff., BURGER (1970) 89ff. und AMATA (1984) 13ff., zur Frage der Emotionslosigkeit Gottes etwa MICKA (1943). Zu Arnobiusʼ theologischen Ansichten vgl. ferner z.B. LECKELT (1884), BRUNNER (1933), SCHEIDWEILER (1954), MCDONALD (1966), BURGER (1970), LE BONNIEC (1982a) 68ff., AMATA (1984) 137ff., (1985) und (1986), GIERLICH (1985) XVff., LAURENTI (1985), SIMMONS (1995) 131ff., FRAGU (2010) XXXIIff., TAMAS/DUPONT (2016) 509f. und WILHITE (2017) 177f. Vgl. auch NORTH (2007) 35: „It might be possible to invent a form of Christianity in which all these views could be compatible; but the fact is that Arnobius’ ideas cut deeply across any accepted Christian conception of the character of deity or of humankind or of their relationship with one another. If the Bishop of Sicca ever read Arnobius’ book, it would be highly illuminating if we could read his reactions.“ Bedenken gegen diese allgemein übliche Bezeichnung äußert SIMMONS (1995) 10: „Arnobius never had any intentions of being a ʻChristian apologistʼ. This does not mean, however, that Arnobius was not a Christian; nor would it imply that it is unnecessary to ask why [Hervorh. im Original] he responded to the pagan attacks upon Christianity as he did.“ THOMAS (2011) kommt nach einer Diskussion der Gattungsmerkmale zu folgender Einschätzung (S. 142): „Although the primary classification of the Aduersus nationes may not be ʻapologeticʼ in its purest form, the definition as ʻpolemical apologeticʼ can be applied to refer to the character of the work.“ SANTORELLI (2013) 189 wiederum betont, das Werk gehöre „mit gutem Recht der

1. Forschungsüberblick

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Le Kef (Tunesien)6, oftmals Aufmerksamkeit, die nur sekundär seinem eigenen, nur auf sehr schmaler Basis überlieferten Werk7 galt; vielmehr beabsichtigten die entsprechenden Forscher, aus seinen zahlreichen Paraphrasen Aufschluss über inzwischen verlorene Schriften anderer Autoren zu gewinnen oder aus seinen Schilderungen Anhaltspunkte für religiöse Einrichtungen wie etwa die Mysterienkulte zu erhalten.8

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Gattung ,Apologieʻ an“. – Zu den Problemen, eine literarische Gattung „Apologie/apologetische Schrift“ zu definieren, vgl. z.B. JACOBSEN (2009). Zum antiken Sicca Veneria, seiner ökonomischen Situation und seinen archäologischen sowie epigraphischen Hinterlassenschaften vgl. DESSAU (1923), ENNABLI (1976), LEPELLEY (1981) 156ff., SIMMONS (1995) 97ff., MULLEN (2004) 318 und PANEGYRES (2019) 413f. Einen Überblick über die Geschichte, Wirtschaft und Kultur der römischen Provinz Africa proconsularis bietet BARATTE (2012), vgl. ferner LE BOHEC (2005). WITSCHEL (2006) konzentriert seine Darstellung auf das 3. Jh. n.Chr. Die kaiserliche Baupolitik in Nordafrika zur Zeit Diokletians untersucht WALDHERR (1989); LEONE (2013) analysiert Veränderungen auf den Gebieten Religion, Wirtschaft und Stadtentwicklung im Nordafrika der nachkonstantinischen Epoche. – Zu den Spezifika des nordafrikanischen Christentums vgl. z.B. DECRET (1996), TILLEY (2006), MACMULLEN (2009) 51ff., PATOUT BURNS/JENSEN (2014) und WILHITE (2017); SIMMONS (1995) 105ff. diskutiert Bezüge von Adversus nationes zu Aspekten der Kultur Nordafrikas. Adversus nationes ist nur in zwei Handschriften erhalten: im Codex Parisinus Latinus 1661 (= P, aus dem 9. Jh.) und im Codex Bruxellensis Latinus 10847 (= B; verschieden datiert, nach der gegenwärtigen communis opinio aus dem 11. Jh.), der eine Abschrift von P darstellt. In beiden Handschriften folgt auf das Ende des siebten Buches der Octavius des Minucius Felix, in P bezeichnet als achtes Buch der Schrift des Arnobius; s. hierzu etwa LE BONNIEC (1982a) 96ff. und DUVAL (1986), der auf den S. 85ff. die beiden Manuskripte detailliert beschreibt; ferner SCHUBERT (2014) 1ff. In beiden Codices fehlt eine inscriptio; jedoch findet sich in P am Ende des zweiten Buches die Notiz: „Arnovii adversus nationes“. Hieronymus spricht hingegen in vir. ill. 79,1 von adversum gentes volumina und in epist. 70,5,2 von septem libros adversus gentes. Dass es sich zumindest an der letzteren Stelle nicht nur um eine allgemeine Themenangabe handeln dürfte, zeigt die Fortsetzung des Satzes, die für Lactanz konkrete Werktitel nennt: Lactantius, qui de ira quoque et de opificio dei duo volumina condidit. – DUVAL (1986) 78 bezeichnet die Überlieferungs- und Editionsgeschichte des arnobianischen Werkes als „echten Kriminal- und Fortsetzungsroman“. – Der Humanist Johannes Trithemius (1462–1516) bezeichnet Arnobius in seiner Schrift De scriptoribus ecclesiasticis (53) als Presbyter und schreibt ihm neben Adversus nationes (dort allerdings Adversum gentes genannt) noch andere Werke zu: Abgesehen von einem Werk zum Psalter [hier dürfte eine Verwechslung mit Arnobius dem Jüngeren vorliegen, vgl. zu diesem Themenkomplex DEN BOEFT (2005)] führt Trithemius eine Schrift De rhetorica institutione (1 Buch) an und fügt hinzu: „Alia quoque multa edidit quae ad noticiam meam non venerunt.“ Diese sonst nicht nachprüfbaren Angaben werden allgemein als unzuverlässig betrachtet. Vgl. hierzu z.B. LE BONNIEC (1982a) 13f. Vgl. etwa TULLIUS (1934), SITTE (1970) 34ff., LE BONNIEC (1974) und MORA (1994). MEISER (1908) 9 urteilt: „[Arnobius] verdanken wir schätzbares [sic] mythologisches Material, das er aus guten Quellen zusammengetragen hat.“ Für BARDY (1950) 711 liegt die Bedeutung des Arnobius „vor allem in der Fülle der Auskünfte, die er über die heidnischen Sagen u. über Einzelheiten aus den antiken Kulten beibringt.“ QUASTEN (1964) 384 hält das Werk für „an extremely rich mine of information on the contemporary pagan religions.“ WLOSOK (1965) 330 bezeichnet Arnobius als „wertvoll als Quelle für heidnische Kulte und Mythologie und als Zeugnis synkretistischer Philosophie“. SCHNEIDER (1970) 445 nennt „die imponierend

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Prolegomena

Arnobius’9 Haltung gegenüber paganen10 Wissensfeldern jedoch hat bislang in der Forschung wenig Aufmerksamkeit erfahren und ist noch nicht in einer umfassenden Studie untersucht worden.11 Allerdings lassen sich aus allgemeiner konzipierten Forschungsarbeiten einige knappe Einschätzungen zusammentragen:12 In seiner Untersuchung „The attitude of the early Christian Latin writers toward pagan literature and learning“ aus dem Jahr 1949 kommt GERALD ELLSPERMANN auch auf Arnobius zu sprechen. Seiner Meinung nach kam Arnobius’ Konversion zu spät, um noch einen „complete change in his mental habits“ zu vollziehen.13 Der Autor billige Medizin, Philosophie, Musik, Grammatik, Rhetorik und Geometrie eine Funktion für das soziale Leben der Menschen zu, warne jedoch davor, auf diese Künste übermäßig stolz zu sein. Dichter und Schauspieler aller Art jedoch würden strikt abgelehnt. Arnobius drücke reservierte Wertschätzung derjenigen paganen Autoren aus, welche die Wahrheit sorgfältig und fleißig mit „edlem Glanz“ ans Licht gebracht hätten; Cicero, Varro, Platon und Aristoteles würden gar bewundert. ELLSPERMANN bilanziert schließlich: „Arnobius, as a convert

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wüste Materialsammlung des Arnobius“ dessen spezifischen Beitrag zu den christlichen Apologeten. KISS (2007) 209: „[Arnobius] schildert die heidnischen Kulte, Mysterien und Riten, die ganze heidnische Welt schlechthin, mit besonderer Sorgfalt, etwa nach Art eines heidnischen Wissenschaftlers.“ SIMMONS (2012) charakterisiert insbesondere die Bücher 3–7 von Adversus nationes als „a goldmine of information on cults, mythology, and ancient religion and philosophy“, und auch ARIS (2018) 1042 spricht mit Blick auf Adversus nationes von einer „reichhaltigen antiquarischen Quelle für die römische Religiosität“. Vgl. hierzu aber Teil II, S. 182 der vorliegenden Arbeit. PANEGYRES (2019) wiederum hält die arnobianische Darstellung des Verhältnisses zwischen Christen und Nichtchristen für propagandistisch verzerrt; Näheres hierzu unten, S. 32f. – Die Bedeutung des arnobianischen Werkes für die Geistesgeschichte des 16. bis 18. Jahrhunderts dokumentiert KRAFFT (1966). Zu den Problemen, den sozialen Status und die Vermögensverhältnisse des Autors zu bestimmen, vgl. SIMMONS (1995) 117. Die Begriffe „pagan“, „heidnisch“ u.ä. werden hier und im Folgenden im Sinne von „nichtchristlich und nichtjüdisch“ verwendet, obwohl sie keine neutralen Termini darstellen, sondern bekanntermaßen problembehaftet sind: Es handelt sich bei ihnen um von Seiten der Christen stammende Fremdbezeichnungen, die dem/den Bezeichneten eine nichtgegebene Homogenität und Kohärenz sowie ein nicht durchgängig vorhandenes Selbstverständnis zuschreiben. MAXWELL (2012) 852f. diskutiert die diesen Begriffen innewohnenden Probleme, aber auch die Schwächen anderer vorgeschlagener Begriffe und kommt zu dem Fazit (S. 853): „Despite the clear problems with the terms, this chapter uses the terms paganism and pagan because the alternatives [...] are so awkward“. Vgl. auch CAMERON (2011) 14ff., der auch die Wortgeschichte von paganus nachzeichnet und auf S. 24 zu dem Ergebnis kommt, religiös verwendet, stehe paganus weder mit der Bedeutung „ländlich“ noch „zivil“ (im Gegensatz zu den milites Christi) in Zusammenhang, sondern bezeichne „den Außenseiter“ in einer mehrheitlich christlichen Gesellschaft; vgl. ferner JONES (2014) 1ff. und JÜRGASCH (2016). – In Adversus nationes selbst wird der Begriff paganus gar nicht verwendet. Auf dieses Desiderat weist z.B. auch FREUND (2000) 257, Anm. 5 hin. Zu den später im Einzelnen untersuchten Bereichen „Rhetorik, Grammatik und Sprachrichtigkeit“, „Philosophie“ und „Dichtung“ vgl. die Einleitungen der jeweiligen Kapitel. ELLSPERMANN (1949) 54.

1. Forschungsüberblick

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to Christianity, understood that there was a place for pagan culture in the life of a Christian.“14 HARALD HAGENDAHL widmet in seiner Studie „Latin Fathers and the Classics“ Arnobius ein Kapitel, in welchem er dessen Verhältnis zu Lukrez untersucht.15 In diesem Rahmen hebt er die Passage nat. 2,6 hervor, in welcher dem menschlichen Erkenntnisstreben und insbesondere dem Erkenntnisanspruch der Naturphilosophie die These entgegengestellt wird, menschliche sapientia sei vor bzw. bei Gott Dummheit,16 woran er als Fazit anschließt: „Here Arnobius [...] resolutely throws overboard all that bears the name of research in the natural sciences“.17 WILHELM KRAUSE führt in seiner paraphrasierenden Inhaltsangabe zu Adversus nationes einige für das Bildungsproblem relevante Arnobiusstellen an, begrenzt seine Ausführungen aber angesichts seines eigentlichen Fokus (Zitation antiker Autoren in der frühchristlichen Literatur) auf knapp drei Seiten.18 GIORGIO FORTIS Aufsatz „Sulla pedagogia di Arnobio“19 ist im Hinblick auf die hier zugrunde gelegte Fragestellung unergiebig, da er sich Arnobius’ Seelenvorstellung und den daraus resultierenden Konsequenzen widmet. In seiner Charakterisierung des Arnobius hebt PAUL MONCEAUX en passant hervor, dass Bildung die Lieblingswaffe dieses Apologeten gewesen sei, weil er mehrfach seine Gegner durch den Erweis ihrer Unwissenheit, z.B. im Bereich der Mythologie, bloßgestellt habe.20 Obgleich mit „Arnobio: cristianesimo e mondo romano“ betitelt, streift OLOF GIGONS Aufsatz das hier zu verhandelnde Thema nur am Rande, insofern GIGON bemerkt, Arnobius habe sich darum bemüht zu zeigen, dass er die „Gesamtheit der Werkzeuge der zeitgenössischen Kultur“ besessen habe, wobei diese Feststellung in eine Bewertung des arnobianischen Stils eingebunden ist.21 BIAGIO AMATA richtet seinen Blick zunächst auf Arnobius’ Umgang mit Mythen und auf Bildung als Prozess,22 sieht jedoch bei dem Autor eine Verurteilung jeglicher klassischer Bildung gegeben bzw. eine Minimalisierung derjenigen Erkenntnisse, die das menschliche Denken erreichen kann.23 Nach der Ankunft 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23

ELLSPERMANN (1949) 55ff.; Zitate S. 65. HAGENDAHL (1958) 12–47; vgl. zu dieser Frage auch unten, S. 112. Vgl. dazu unten, S. 98f. und 117. HAGENDAHL (1958) 26. KRAUSE (1958) 117–119. FORTI (1962). MONCEAUX (1963) 263. GIGON (1982) 88. AMATA (1988). AMATA (1988) 34 („La condanna del mito e di tutta la paideia classica evidenzia una concezione di fondo dell’antico retore, ancora indecisa tra fedeltà e ricerca di testimonianze, anche pagane [...] per giustificare il suo assenso alla fede cristiana, e lo svuotamento e il rigetto delle credenze e del pensiero filosofico pagano [...] per annunziare Cristo [...].“) und ebd. 48 („egli sembra avallare la scepsi totale verso la scienza e la paideia classica“) bzw. ebd. 43 („Arnobio non rigetta, in linea di principio, il lavoro dei dotti e degli uomini di cultura che lo hanno preceduto, [...] ma portando ad estreme conseguenze la visione negativa della humana

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Prolegomena

Christi könne es nur noch Bildung geben, die christlich oder von Christi Lehre erleuchtet sei (S. 44). Bei Arnobius, so AMATA generalisierend, lasse sich ebenso wie bei den anderen Kirchenvätern und Apologeten das Paradoxon theoretischer Zurückweisung klassischer Bildung bei ihrer gleichzeitigen praktischen Akzeptanz feststellen.24 In einem wenig später publizierten Aufsatz hingegen, der sich primär mit „Zweifel und Gewissheit bei Arnobius“ beschäftigt, sieht AMATA ein anderes Konzept bei dem Apologeten gegeben: Den Wert des ganzen kulturellen paganen Erbes bemesse Arnobius folgendermaßen: Als „Nahrung menschlichen Stolzes“ sei es zu verwerfen; sehr wohl zu akzeptieren sei es jedoch im Dienste der christlichen Wahrheit, gemäß der besten Tradition der Apologetik.25 KONRAD VÖSSING hat mit „Schule und Bildung im Nordafrika der Römischen Kaiserzeit“26 eine geographisch organisierte Untersuchung vorgelegt, in der das einschlägige Quellenmaterial jeweils für die einzelnen Regionen und Städte Nordafrikas ausgewertet wird, wobei Karthago die prominenteste Position zukommt. Für diese eingehende Analyse werden auch gelegentlich Passagen aus Arnobius herangezogen; ein kohärentes autorenspezifisches Bild ist jedoch nicht intendiert. MANUELA CONIGLIO bemerkt in einem Aufsatz, der sich mit Spezifika der arnobianischen Lexik befasst, Arnobius lehne die pagane Kultur nicht in ihrer Gänze ab, sondern übernehme bzw. rette („recuperarne“) aus ihr diejenigen Aspekte, die der christlichen Religion nicht widersprächen. Diese teilweise versöhnliche Haltung zeige sich einerseits in der Tendenz, bei nichtchristlichen Schriftstellern wie etwa Cicero zweckdienliche Argumentationen zur Darlegung eigener Theorien „auszuleihen“ („mutuare“), andererseits in der Sprache, die von Reminiszenzen der klassischen Literatur durchwirkt sei.27 Innerhalb einer Illustration der Haltung des Lactanz gegenüber den paganen Klassikern fasst ELISABETH DEPALMA DIGESER ohne weitere Diskussion Arnobius’ vermeintlichen diesbezüglichen Standpunkt in einem einzigen Satz zusammen: „Arnobius [...] showed little inclination to “find the truth hidden in error.”“28 PETER GEMEINHARDT schließlich berücksichtigt in seiner umfassend angelegten Untersuchung „Das lateinische Christentum und die antike pagane Bildung“29 insgesamt vier kurze Passagen aus Adversus nationes, deren Inhalte Aussagen anderer christlicher Autoren als Parallele zur Seite gestellt werden; er widmet aber

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curiositas, lo ridimensiona, fin quasi a minimizzare quelle autentiche conquiste del pensiero.“). AMATA (1988) 46f.: „non differisce essenzialmente dalle posizioni di Tertulliano e degli altri Padri e Apologisti della Chiesa antica, per quanto il suo comportamento sembra sottolineare, forse in maniera ancora più forte, il paradosso del rifiuto teorico e dell’accettazione pratica della paideia classica.“ AMATA (1989) 244. VÖSSING (1997). CONIGLIO (1999) 47 (Zitate und paraphrasierter Text). Ganz ähnlich auch noch einmal CONIGLIO (2000) 72. DEPALMA DIGESER (2000) 88. GEMEINHARDT (2007).

1. Forschungsüberblick

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Arnobius – im Gegensatz etwa zu Tertullian, Minucius Felix oder Cyprian – keine zusammenhängende Darstellung. Keine oder nur marginale Aufmerksamkeit wird Arnobius in einigen Überblickswerken zum Thema „(Antikes Christentum30 und) pagane Bildung“ zuteil, so etwa in HENRI-IRÉNÉE MARROUS „Geschichte der Erziehung im Klassischen Altertum“ (1957, urspr. 1948), WERNER JAEGERS „Das frühe Christentum und die griechische Bildung“ (1963), ALOIS DEMPFS „Geistesgeschichte der altchristlichen Kultur“ (1964), ALBERT WIFSTRANDS „Die alte Kirche und die griechische Bildung“ (1967), HARALD FUCHS’ „Die frühe christliche Kirche und die antike Bildung“ (1971, urspr. 1929), GERHARD RUHBACHS „Bildung in der Alten Kirche. Das Eindringen des Christentums in die gebildete Welt“ (1974), ROBERT SCHOLLS „Das Bildungsproblem in der Alten Kirche“ (1976, urspr. 1964), PETER STOCKMEIERS „Glaube und Paideia. Zur Begegnung von Christentum und Antike“ (1976, urspr. 1967) und GLANVILLE DOWNEYS „Erziehung und Bildung im spätrömischen Reich“ (1976, urspr. 1957). Gleiches gilt ferner für BERNHARD SCHWENKS „Hellenistische Paideia und christliche Erziehung“ (1992), AVERIL CAMERONS „Education and Literary Culture“ (1998), PETER MÜLLERS „Das frühe Christentum und die Bildung“ (2002), das von JOHANNES CHRISTES, RICHARD KLEIN und CHRISTOPH LÜTH herausgegebene „Handbuch der Erziehung und Bildung in der Antike“ (2006), für KATRIN PIETZNERS „Bildung, Elite und Konkurrenz. Heiden und Christen vor der Zeit Constantins“ (2013) und für CATHERINE WOLFFS „Lʼéducation dans le monde romain“ (2015).

30 Wenn in dieser Arbeit von dem Christentum die Rede ist, so ist dies allein sprachpragmatischen Gesichtspunkten geschuldet – die Wahl des Singulars soll also keineswegs implizieren, dass sich das antike Christentum syn- oder gar diachron als ein monolithischer Block oder als eine einheitliche Größe beschreiben ließe. Vgl. z.B. LEPPIN (2012) 249: „der Gedanke, es habe irgendwann ein oder gar das Christentum gegeben, verbietet sich bei einer historischen Analyse.“ Analoges ist bei dem Adjektiv „christlich“ jeweils mitzudenken. Zu den zahlreichen Identitäten speziell nordafrikanischer Christen in der Spätantike vgl. REBILLARD (2012). – Ebensowenig dürfen die Begriffe „pagan“/„heidnisch“/„Heiden“ so verstanden werden, als ob sie durchweg homogene Denkweisen bzw. Personengruppen bezeichnen würden; vgl. hierzu oben, Anm. 10.

2. ZIELSETZUNG DER VORLIEGENDEN ARBEIT Eine detaillierte Untersuchung zur arnobianischen Theorie und Praxis des Umgangs mit paganen Wissensfeldern ist mithin ein Desiderat. Aus diesem Befund ergibt sich die Anlage der vorliegenden Arbeit: Der erste Hauptteil wendet sich drei zentralen Bereichen der antiken Bildung und ihrer expliziten Charakterisierung in Adversus nationes zu: (1) Rhetorik, Grammatik und Sprachrichtigkeit, (2) Philosophie sowie (3) Dichtung. Alle relevant erscheinenden Stellen, an denen deskriptive oder normative Aussagen über diese Wissenskomplexe oder ihre Exponenten getroffen werden, sind zusammenzutragen und interpretatorisch fruchtbar zu machen für die übergeordnete Frage nach Arnobius’ Position gegenüber paganen Kulturgütern. Dabei ist jedoch nicht auszuschließen, dass vorgetragene Ansichten nicht vollumfänglich dem historischen Arnobius zugeschrieben werden dürfen; zu rechnen ist auch mit Aussagen, die aus einer Sprecher-persona heraus getätigt werden.31 Dieser erste Teil ist also eher kulturwissenschaftlich-ideengeschichtlich ausgerichtet. Im zweiten Hauptteil hingegen, der stärker klassisch-philologisch ausgerichtet ist, wird analysiert, inwiefern der Apologet selbst bei der Entwicklung seiner Gedanken und Argumente in concreto auf die Wirkungspotenziale primär der Rhetorik, aber auch der Philosophie und Dichtung zurückgreift – sowohl in den Makrostrukturen (Teil II. A) als auch auf der Mikro-Ebene (Teil II. B). Damit jedoch eine sachgerechte Auseinandersetzung mit beiden Themenkomplexen geleistet werden kann, müssen zunächst zwei Fragen diskutiert werden: 1. Lässt sich aus der umfangreichen Forschungsdiskussion um die „Auseinandersetzung von Antike und Christentum“ ein Paradigma gewinnen, unter dem die oben skizzierten Forschungsgegenstände hermeneutisch gewinnbringend betrachtet werden können? 2. In welche literarische Form hat Arnobius seine Ausführungen gegossen, und welche Konsequenzen ergeben sich aus der generischen Rahmung für die Interpretation inhaltlicher, aber auch formaler Elemente?

31 Vgl. hierzu unten, Kap. 4.2.2 der Prolegomena.

3. CHRÊSIS ARNOBIANA? ÜBERLEGUNGEN ZU EINEM FORSCHUNGSPARADIGMA 3.1 DER THEMENKOMPLEX „ANTIKE UND CHRISTENTUM“ Phasen des Umbruchs und der Veränderung sowohl in der Biographie einzelner Individuen als auch in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur ganzer Völker und Epochen ziehen das Interesse des Menschen allgemein und der akademischen Forschung im Speziellen in ganz besonderer Weise auf sich.32 Insofern verwundert es nicht, dass das Verhältnis von Christentum und griechisch-römischer Antike einen zentralen Gegenstand der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Spätantike darstellt, dem sich u.a. Theologie, Philosophie, Kirchengeschichte, Religionswissenschaft, Archäologie, Alte Geschichte und Klassische Philologie von unterschiedlicher Warte aus intensiv widmen.33 Dabei ist die Junktur „Antike und Christentum“ durch das Wirken FRANZ JOSEPH DÖLGERS (1879–1940)34 zu einem etablierten Forschungsprogramm geworden,35 das seinen Niederschlag auch institutionell im Franz Joseph Dölger-Institut zur Erforschung der Spätantike sowie u.a. in dessen Publikationsreihen Reallexikon für Antike und Christentum (Untertitel: „Auseinandersetzung des Christentums mit der antiken Welt“) und Jahrbuch für Antike und Christentum fand.36 HANS DIETER BETZ beschreibt ihren aktuellen Begriffsinhalt folgendermaßen:37 [„Antike und Christentum“ hat sich] in der Forschung als heuristischer Begriff durchgesetzt. Er steht in enger Beziehung zum Problemkomplex Hellenismus und bezeichnet das Spannungsverhältnis von antiker Kultur und dem in ihrer Mitte entstehenden Christentum, wobei „Antike“ die Gesamtheit der mit diesem Stichwort gegebenen historischen, kulturellen und religiösen Sachverhalte in Beziehung setzt zum „Christentum“ als Besonderheit. [Dabei] handelt es sich um einen umfassenden Prozeß [...], der [...] die gesamte Umwelt mit ihren politischen, sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und religiösen Phänomenen umfaßt [...].

Aufschlussreich sind auch die folgenden Ausführungen EDWIN JUDGES, aus denen das Ausmaß der Ambitionen des DÖLGER’schen Projekts deutlich wird:38 32 In jüngerer Zeit widmet sich die kulturwissenschaftliche Forschung verstärkt Phänomenen des Übergangs, der Transgression und der Liminalität, vgl. z.B. BROADHURST (1999), STRECKER (1999), LAUTERBACH (2002), TRUCHLAR (2006) und KAY (2007). 33 Eine wissenschaftshistorische Einordnung dieses Forschungsgebietes leistet z.B. BURKERT (1996). SCHNEIDER (1989) gibt einen breiten Überblick über materialistische und sozialgeschichtliche Theorien bezüglich des Wandels im frühen Christentum. 34 Zu seiner Biographie siehe KLAUSER (1980) und SCHÖLLGEN (1993). 35 Vgl. hierzu etwa JUDGE (1979) 4ff. und SCHÖLLGEN (1993). 36 Die Bedeutung des Dölger-Instituts für den akademischen Betrieb im weiteren Sinne skizziert DIHLE (1983). 37 BETZ (1998a) 542. 38 JUDGE (1979) 6.

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Prolegomena On the one hand there is the intellectual tradition of the fathers, a reasonably clear lineage of ideas [...]. On the other hand, DÖLGER now proposed, there is the interaction between the outlook of the believers themselves, including not only the fathers, but the great array of their little known followers, and that of their neighbours who kept to the old ways of the Greeks and Romans. The history of this interaction must be traced not only through the works of the fathers, but by studying the ceremonial life, the intellectual and linguistic features of the way ideas were formed, and their expression in the daily life of believers [...]. The interaction must include not only conscious reaction against customs and ideas which conflicted with a believer’s faith, but unconscious accommodation to and acceptance of secular themes and habits, however inconsistent they may have been with the faith.

Mit dieser Beschreibung sind allerdings schon wesentliche Punkte der Problemstellung angesprochen und in einem möglichen Sinne beantwortet. Die zentrale Frage ist, ob man ein Paradigma namhaft machen kann, unter welchem sich die Auseinandersetzung von Antike und Christentum vollzogen hat. Um im Vorgriff auf das Folgende drei prominente, miteinander konkurrierende Hypothesen zu benennen: Ist davon auszugehen, dass das Christentum im Laufe der Zeit unter den Einfluss antik-paganer Bildung und Kultur (insbesondere Philosophie und Rhetorik) geriet und somit zunehmend hellenisiert wurde, also gewissermaßen unwillkürlich zunächst Fremdes annahm und seinem Wesen nach zumindest partiell verändert wurde?39 Ein weiterer Ansatz besteht darin, die christlichen Elemente als unverfälscht und rein erhalten zu betrachten; demnach wäre nicht das Christentum hellenisiert, sondern die Antike christianisiert worden, etwa indem pagane Elemente von den Christen ganz bewusst übernommen und – ggf. gereinigt – in den Dienst christlicher Lehre und Lebensführung gestellt worden wären, nachdem diese sich im Prozess kritischer Selektion vom Nutzen einzelner Güter überzeugt hätten.40 Schließlich lässt sich das Paradigma einer Synthese vertreten, in deren Verlauf sich aus Christentum und paganer Antike durch Verschmelzung beider Elemente etwas Neues ergeben habe. Da es das Ziel der vorliegenden Arbeit ist, die Bewertung und Nutzung paganer Wissensfelder in der Schrift Adversus nationes des älteren Arnobius zu untersuchen, erscheint es unabdingbar, die Forschungskontroverse um die Auseinan39 Zu bedenken ist allerdings, wie LUTZ-BACHMANN (1992) 85 hervorhebt, dass nach dem Zeugnis der Apostelgeschichte schon innerhalb der Urgemeinde von griechischer Sprache und Kultur geprägte Gruppierungen auszumachen sind; vgl. u.a. Act 6,1: ἐν δὲ ταῖς ἡμέραις ταύταις πληθυνόντων τῶν μαθητῶν ἐγένετο γογγυσμὸς τῶν Ἑλληνιστῶν πρὸς τοὺς Ἑβραίους, ὅτι παρεθεωροῦντο ἐν τῇ διακονίᾳ τῇ καθημερινῇ αἱ χῆραι αὐτῶν. Ferner hat WYRWA (1991) 34 ins Bewusstsein gerückt, dass schon die Septuaginta – „die Bibel des Apostels Paulus“ – massiv hellenisiert war, so dass es für die Christen keine Epoche ohne Kontakt mit griechischem Denken geben konnte; vgl. dazu auch ULRICH (2006) 29ff. 40 Je nach Standpunkt kann ein solcher vermeintlicher Sieg des Christentums freilich ganz unterschiedlich (als Triumph oder Niedergang) bewertet werden; man denke an die extreme Einschätzung Friedrich Nietzsches, das Christentum – nach Nietzsche seinerseits eine durch Paulus pervertierte Form des wahren Willens Christi – sei der „Vampyr“ des römischen Reiches gewesen und habe die Menschen „um die Ernte der antiken Cultur gebracht“ (Der Antichrist, Nr. 58 bzw. 60, zit. nach: Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hrsg. v. G. Colli und M. Montinari, Bd. 6, München 1980, 245 bzw. 249). – Zu Nietzsches Einstellung gegenüber dem Christentum vgl. z.B. KUTZNER (1986).

3. Chrêsis Arnobiana? Überlegungen zu einem Forschungsparadigma

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dersetzung von Antike und Christentum in ihren Grundzügen vorzustellen,41 um anschließend selbst zumindest zu einem Teilaspekt Stellung zu beziehen. 3.2 DIE FORSCHUNGSKONTROVERSE UM DIE AUSEINANDERSETZUNG VON ANTIKE UND CHRISTENTUM An den Anfang dieser Übersicht42 sei ADOLF VON HARNACK gestellt, der im Wintersemester 1899/1900 sechzehn Vorlesungen „Über das Wesen des Christentums“ an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin hielt.43 Darin spürt er dem geschichtlichen Wandel des Christentums nach, der sich seiner Meinung nach in einer Vielzahl von Metamorphosen vollzieht (erste Vorlesung, S. 61),44 um dadurch den „Maßstab für das Wesentliche und wahrhaft Wertvolle“ zu finden, für das „Evangelium im Evangelium“ (ebd. S. 61f.). In diesem Rahmen bezeichnet er in der elften Vorlesung „[d]as Einströmen des Griechentums, des griechischen Geistes, und die Verbindung des Evangeliums mit ihm“ als „die größte Thatsache in der Kirchengeschichte des zweiten Jahrhunderts“, die sich, „grundlegend vollzogen, in den folgenden Jahrhunderten“ fortgesetzt habe (S. 194). Die griechische Religionsphilosophie habe aber nicht nur nach dem Einströmen „sofort das Centrum der Religion“ erreicht; auch das Christentum habe sich nach dieser „Bundesgenossin aus[gestreckt]“ (S. 195). Im vierten Jahrhundert habe sich gar „das ganze Griechentum mit allem, was es in sich ausgebildet hat und besitzt [inkl. Mythologie und Polytheismus, so ist aus dem Vorhergehenden zu ergänzen]“ in der Kirche etabliert (ebd.). Losgelöst vom einströmenden Griechentum behandelt VON HARNACK für das zweite Jahrhundert die „akute Hellenisierung“, worunter er eine als „Gnosticismus“ bezeichnete Tendenz zur Religionsmischung versteht, die mit Hilfe der Allegorese die christliche Verkündigung zu attackieren bzw. zu inkorporieren gedroht habe (S. 198).45 In seinem Werk „Der Ausgang des griechisch-römischen Heidentums“ beschreibt JOHANNES GEFFCKEN den „Kampf des Christentums mit dem innigen 41 Von den zahlreichen Forschungsüberblicken seien exempli gratia diejenigen bei JUDGE (1979), WALTER (2006) 12ff. und GEMEINHARDT (2007) 1ff. genannt. 42 Zu früheren Stadien der Diskussion, die sich bis in die Schrift De transitu Hellenismi ad Christianismum (Paris 1535) des Humanisten Gulielmus Budaeus zurückverfolgen lässt, vgl. z.B. LUTZ-BACHMANN (1992) 78f. Zu Erasmus’ und Melanchthons Einschätzung vgl. etwa WYRWA (1991) 29f. SCHINDLER (1984) 89ff. macht auf eine Schrift des Reformators Zwingli aufmerksam, in der jener auf Parallelen zwischen Pindar und alttestamentarischer Lyrik hinweist und darlegt, dass das reine Evangelium nur gesehen werden könne, wenn es in seiner wiederentdeckten antiken Umwelt kontextualisiert werde. – Zum Konzept „Antike und Christentum“ in der patristischen Forschung speziell von 1870 bis 1930 s. MAY (1993). 43 Im Folgenden zitiert nach VON HARNACK (1999). 44 Zu VON HARNACKS Vorstellung von der Entstehung des Christentums vgl. JANTSCH (1990) 82ff. 45 Zu VON HARNACKS Hellenisierungsthesen und ihrer allmählichen Modifikation vgl. JANTSCH (1990) 134ff. – Die Revision und Erweiterung der Hellenisierungsthese in VON HARNACKS „Lehrbuch der Dogmengeschichte“ stellt MEIJERING (1985) dar.

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Prolegomena

Glauben der heidnischen Massen, mit der Überzeugung der führenden Geister“, der „unvergleichlich schwerer als das Ringen mit der römischen Staatsgewalt“ gewesen sei.46 Zwar formuliert er: „jene alte Kultur [sc. der griechisch-römischen Welt] lebte ja auch in neuer Erscheinung fort; manch edles Kleinod der Vergangenheit ward ins neue Haus hinübergerettet. Wem nicht das Herz aufgeht, nicht der Sinn sich beschwingt beim Verkehr mit Origenes [...], dem ist auch die eigentliche ,Antike‘ nur ein tönendes Erz und eine klingende Schelle“ (S. 3), und auf S. 242 sieht er in der „Hellenisierung und [dem] stark entwickelte[n] Mystizismus“ des Christentums einen Faktor für die Hinwendung vieler Heiden zur neuen Religion. Dennoch schließt er sich der Einschätzung Wendlands an, „daß die Elemente der höheren hellenistischen Kultur sich mehr an der Peripherie des Christentums halten und den Charakter des Zufälligen und Sporadischen, des Unbewußten und Unbeabsichtigten tragen“ (S. 227). CARL SCHNEIDER folgt in seinen Untersuchungen zur Geistesgeschichte des antiken Christentums bzw. der christlichen Antike47 dem Leitgedanken eines bruchlosen Übergangs vom Hellenismus zum Christentum. Seiner Meinung nach durchdrang das Christentum Philosophie, pagane Religion und Alltagsleben aufgrund der „geistigen Macht und der inneren Glut seiner doppelten Liebesidee“, auf welche die Welt jedoch auch in einzigartiger Weise vorbereitet gewesen sei.48 Aber auch das Christentum habe sich von der paganen Welt durchdringen lassen; ja schon die Paulusbriefe und die Evangelien seien mit der hellenistischen Geistes- und Formwelt so verschmolzen, dass man von einem „reinen Christentum“ zu keiner Zeit reden könne. Wer daran zweifle, mache das Christentum zu einer unwirklichen Abstraktion; lediglich über den Grad der Angleichung an die Umwelt könne man im jeweiligen Einzelfall uneins sein (1970, S. 595). Somit verwundert es nicht, wenn SCHNEIDER im weiteren Verlauf Begriffe wie „Einfluß“, „Vereinigung“, „einströmende Fülle“ und auch „wundervolle Synthese“ verwendet. Bemerkenswert ist die methodische Grundlage, auf die OLOF GIGON seine Studie „Die antike Kultur und das Christentum“ von 1966 stellt:49 Da seiner Meinung nach „die geschichtlichen Leistungen immer nur von Minderheiten zustande gebracht werden, von jenen wenigen, die entschlossen sind, den Gang der Geschichte zu gestalten“ (S. 7), legt er in seiner Darstellung großes Gewicht auf literarische Werke bedeutender Persönlichkeiten des zweiten bis fünften Jahrhunderts. Dies geschieht aus der Überzeugung heraus, „daß nicht der schlichte Glaube der Handwerker und Freigelassenen die geschichtliche Kraft des Christentums ausgemacht hat, sondern der Wille, den Gebildeten eine christliche Bildung und den Philosophen eine christliche Theologie zu geben“ (S. 8; ähnlich auf S. 17). GIGON ist ferner der Überzeugung, „daß das Christentum sich von Anfang zum Ziele gesetzt hat, mit der Lehre, die es brachte, die gesamte geistige Kultur der Antike zu durchdringen und das antike Denken gerade in seinen entscheidenden 46 47 48 49

GEFFCKEN (1963 = Nachdruck der Ausgabe von 1929) 1. SCHNEIDER (1954) bzw. (1970). SCHNEIDER (1970) 588ff., Zitat S. 595. GIGON (1966).

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Artikulationen umzuformen“ (S. 14); dabei wird jedoch der Auseinandersetzung der christlichen mit der antik-paganen Theologie ein „außerordentlich differenzierte[r] Charakter“ attestiert (S. 15). Gemäß seiner Orientierung an den Exponenten des Geisteslebens sieht der Schweizer Gelehrte in Augustins De civitate dei dasjenige Werk, „in welchem das Christentum [...] abschließend sein Verhältnis zur antiken Kultur dargelegt hat“ (S. 127). In eben dieser Zeit, so GIGON, hätten „die christlichen Autoren [...] nicht bloß ihre Ebenbürtigkeit durchgesetzt, sondern [seien auch bereit gewesen,] die Gesamtheit der antiken Kultur in ihre eigene Hand zu nehmen“ (ebd.), jedoch „ohne die eigene Substanz ernstlich zu gefährden“ (S. 180). ROBERT M. GRANT will in seiner Untersuchung „Augustus to Constantine. The Thrust of the Christian Movement into the Roman World“ von 1971 die Geschichte des Christentums in seiner Auseinandersetzung mit dem römischen Reich nachzeichnen und untersuchen, inwieweit seine Entwicklung der [sc. politischsozial-religiösen] Umwelt geschuldet ist.50 Dabei schließt er sich ausdrücklich VON HARNACKS These der „akuten Hellenisierung“ des Christentums im zweiten Jahrhundert an, die „on all sorts of levels“ stattgefunden habe (S. 143). Ferner zieht er eine Entwicklungslinie der Systematisierung christlicher Ethik von Theophilos’ Werk Ad Autolycum (kurz nach 180), in dem in 3,11–14 Texte aus dem Alten und dem Neuen Testament thematisch zusammengestellt werden, zur „Kombination“ christlicher Maximen mit Grundsätzen pythagoreischer und stoischer Provenienz (S. 292). Auf S. 315 bilanziert GRANT unter Einbeziehung der Parusie-Verzögerung: „moral teaching and creedal-theological matters [...] alike were influenced by the ongoing movement of Christians out of first-century Jewish eschatology and into the world of Graeco-Roman culture“. MARCEL SIMON wählt bereits im Vorwort zu seiner Abhandlung „La civilisation de l’antiquité et le christianisme“ von 1972 eher martialisches Vokabular: Das Christentum, zunächst nur eine Komponente eines einzigartig komplexen Universums, habe schließlich alle anderen Komponenten eliminiert oder absorbiert (S. 13); die Spätantike sei dominiert von einer Spannung oder – genauer gesagt – einem Kampf zweier antagonistischer Kräfte (S. 13f.), und folgerichtig überschreibt er später ein Großkapitel mit „Contacts et affrontements“ (S. 95). Die Epoche der Apologetik charakterisiert er folgendermaßen: Entouré de la méfiance, de l’animosité, de la haine ouverte du monde romain, le christianisme y oppose deux réactions différentes. Tantôt il répond à la haine par la haine et rejette sans nuances ni réserves une civilisation viciée dans son principe même [...]; tantôt au contraire, tout en retournant contre le paganisme les attaques dont il est l’objet, il s’efforce de dissiper ce qui lui apparaît comme un malentendu et de révéler à ses adversaires son vrai visage.51

So verwundert es nicht, wenn SIMON schließlich von einer „victoire du christianisme“ spricht, die dem Ende des römischen Reiches knapp vorausgehe (S. 409).

50 GRANT (1971) 12f. 51 SIMON (1972) 147.

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Das Bild, welches ROBERT A. MARKUS entwirft, erscheint etwas heterogen:52 So sieht er das Verhältnis zwischen Antike und Christentum ständig im Fluss, da beide Elemente einem ständigen Wechsel ausgesetzt seien (S. 11). Mit Bezug auf das dritte Jahrhundert erkennt er dem Christentum eine aktiv rezipierende Rolle zu: „[Christianity] made its own selection from the resources that contemporary culture had to offer. This was as true of Christian thought and literature as it was of art.“ (S. 85). Schließlich betitelt MARKUS zwar ein Kapitel recht drastisch mit „The triumph of Christianity and barbarism“, skizziert dort aber eine „Bekehrung des Christentums zu den Klassikern“, die Teil einer „umfassenderen Bewegung der Selbstidentifikation mit der römischen Welt, mit ihrer Struktur und Kultur“ (S. 141) gewesen sei. CARL ANDRESEN benennt in seinem TRE-Artikel „Antike und Christentum“ von 1978 drei Formen der Rezeption, die er einerseits mit verschiedenen Graden intellektuellen Vermögens, andererseits mit verschiedenen historischen Epochen (und damit verknüpft mit unterschiedlichen Motiven) in Verbindung bringt:53 Als „Adaption“ bezeichnet er den Rezeptionsprozess „auf der untersten [sc. geistigen] Stufe mit größter Breitenwirkung“; dieser gehorche „dem Gesetz des Alltags und dem Diktat der Notwendigkeit“ (S. 52). So sei z.B. in der Zeit der ersten Christen popular- und moralphilosophisches Gedankengut der Antike in die christlichen Gemeinden eingeströmt und „bedenkenlos, um nicht zu sagen: gedankenlos übernommen“ worden (S. 56f.). Die nächste Stufe stelle die „Usurpierung“ dar, bei der Bildungsgüter unter dem Aspekt der Brauchbarkeit ohne über utilitaristische Gesichtspunkte hinausgehende Reflexion übernommen würden (S. 53f.). Dies lasse sich für das Christentum im zweiten Jahrhundert konstatieren; die „Aneignung des antiken Geisteserbes“ sei zu einer „Notwendigkeit geistiger Selbstbehauptung gegenüber der heidnischen Umwelt“ geworden, die aber freiwillig und gewollt, nicht erzwungen erfolgt sei (S. 59). Charakteristisch für die Usurpierung sei der damit einhergehende „Absolutheitsanspruch“ des Christentums, der als richtig erkanntes paganes Wissen als letztlich doch den Christen gehörend oder als nur partielle Wahrheit klassifiziert (S. 60f.).54 Bei der Behandlung der Usurpierungsphase wird im Blick auf die Philosophie von einer „Synthese von Antike und Christentum“ gesprochen (S. 62), von einem „Trutzbündnis“, das sich jedoch aufgrund der Konkurrenz von Christentum und Neuplatonismus nicht als „,Einheitsfront‘ zwischen Heidentum und Christentum“ literarisch niedergeschlagen habe (S. 63). In der „Integrierung“ sieht ANDRESEN schließlich die höchste Stufe der Rezeption. Diese sei im vierten Jahrhundert zu beobachten, wo die Antike „auf allen Stufen der Bildungspyramide zum Norm- bzw. Antinorm-Begriff ins Bewußtsein“ gerufen worden sei, und werde gerade an herausragenden Persönlichkeiten der Theologiegeschichte besonders augenfällig (S. 66); so sieht er etwa in Gregor von Nyssa den „höchsten Grad der Synthese [sc. von Antike und Christentum] innerhalb der altkirchlichen Entwicklung“ (S. 68f.). 52 MARKUS (1974). 53 ANDRESEN (1978). 54 Vgl. hierzu etwa die Aussagen Justins unten in den Anm. 82f. der Prolegomena.

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In einer Reihe von Veröffentlichungen hat CHRISTIAN GNILKA seine Theorie vom „rechten Gebrauch“ entfaltet.55 Ausgehend von Beobachtungen des Indologen Paul Hacker, dem die Vorliebe christlicher Autoren für einfache Begriffe wie χρῆσθαι und uti zur Charakterisierung ihres Umganges mit der paganen Antike aufgefallen war, untersuchte der Münsteraner Altphilologe in großem Stil einschlägige Aussagen von Kirchenvätern und stieß immer wieder auf das Konzept des rechten Gebrauches, auf die Forderung der Autoren, Elemente der paganen Kultur nach sorgsamer Prüfung – ggf. gereinigt und geläutert – in die christliche Sphäre aufzunehmen. Diese Übernahme, die in Wirklichkeit erst den wahren und richtigen Gebrauch jener Elemente ermögliche, verfolge drei Ziele: 1) Die geistigen Waffen der Heiden sollten gegen sie selbst gekehrt und zur Destruktion des Lügengebäudes der paganen Religion verwendet werden. 2) Vertraute Gedanken und Formen sollten die Akzeptanz der neuen Religion erhöhen, mithin missionarischen Zwecken dienen. 3) Da alles Gute und Schöne letztlich von Gottes Schöpfung herrühre, müssten diese Dinge in den Dienst der Verehrung Gottes gestellt und ihrem theozentrischen Zweck zugeführt werden.56 GNILKA begnügt sich jedoch nicht damit, die normativen Aussagen christlicher Autoren zusammenzustellen, sondern er sieht auch das Panorama der historischen Entwicklung durch diese Aussagen treffend charakterisiert: Die durch die christliche Religion bewirkte Metamorphose der mittelmeerischen Kultur ist [...] das Ergebnis bewußt gestaltender, umformender Arbeit, ist das Resultat sorgsam auswählender, prüfender, sichtender und sondernder, kurzum: diakritischer Anstrengung. [...] Die christliche Kultur bildet sich nicht durch das unkontrollierte Verfließen verschiedener geistiger Strömungen, nicht durch zufällige Zusammenballung unterschiedlicher Gedankenelemente, nicht innerhalb religiöser Stimmungen einer dumpfen Masse: sie entstand vielmehr aus der klar-bewußten, energischen, zielgerichteten Arbeit vieler einzelner Persönlichkeiten [...]. Sie alle [...] arbeiten im Umgang mit den vorchristlichen Geistesgütern nach einem einheitlichen großen Plan.57

1982 veröffentlichte JACQUES FONTAINE einen Aufsatz unter dem Titel „Christentum ist auch Antike“.58 Der französische Gelehrte betont darin, Bezug nehmend auf seine Beobachtungen zur lateinischen Literatur der Spätantike, die „förmlich[e] und grundlegend[e] Einheit der letzten Phase des hellenistisch-römischen Altertums“ (S. 7). Die seiner Meinung nach „außerordentlich tiefgreifende Hellenisierung des zeitgenössischen Judentums“ stelle eine Art „pränatale Konditionierung“ des Christentums dar (S. 9); die Auseinandersetzung von Antike und Christentum vollziehe sich auch als eine „alltägliche und konkrete Ineinandersetzung“ (ebd.). Zwischen der Theorie und der Praxis, zwischen literarisierten Grundsatzpositionen und realem christlichen Gemeindeleben ließen sich z.T. deutliche Divergenzen ausmachen, da die Frage [sc. der eigenen Haltung gegenüber dem paganen Erbe] dem Gewissen jedes einzelnen überlassen gewesen sei (S. 11). FON55 56 57 58

U.a. GNILKA (1979), (1980), (1984, 2., erw. Auflage 2012) und (1993). GNILKA (1984) 16. – Weitergehendes hierzu unten, Kap. 3.4 der Prolegomena. GNILKA (1984) 12f. FONTAINE (1982).

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wählt den Terminus translatio, da ihm Ausdrücke wie „Usurpierung“, „Adaptierung“ und „Integrierung“ aufgrund ihrer semantischen Konnotate „Beherrschen“ und „Angleichen“ unangemessen erscheinen: Stattdessen betrachtet er den Prozess als „Verschmelzung (,alliage‘)“ oder „Kreuzung (,métissage‘)“; der Erfolg des Christentums sei nicht auf „Verrat an der reinen Lehre seines Stifters“, sondern auf die „lebendig[e] Logik einer Symbiose“ (S. 15 mit Anm. 32) zurückzuführen. „Ein aufgepfropftes Reis bringt neue Früchte; der veredelte Baum wird anders, bewahrt aber die alten Wurzeln“, so FONTAINE (S. 16). Gewissermaßen naturgegebene, Kontinuität stiftende Faktoren sieht der französische Forscher darin, dass die Formen religiösen Empfindens des spätantiken Menschen auf eine frühkindlich erhaltene pädagogische Prägung zurückgingen (S. 18), und darin, dass eine Bekehrung nur dann gelinge, wenn der Bekehrte mit seinem ursprünglichen kulturellen Nährboden tief verwurzelt bleibe (S. 19f.). Indem er diese biologische Metapher vom Individuum auf die Gesamtheit überträgt, unterstreicht er den „Osmosecharakter der Beziehungen von Antike und Christentum“ (S. 20f.). In einer Berner kulturhistorischen Vorlesung thematisierte ALFRED SCHINDLER 1984 das Verhältnis von Antike und Christentum. Speziell im Blick auf die Philosophie konstatiert er: „Von einer blinden Uebernahme philosophischen Denkens kann keine Rede sein. Im Gegenteil: Je mehr Philosophie in die Kirche einströmte, desto mehr Umformung geschah durch die Theologen.“ (S. 95). Generell sieht er ein breites Spektrum von Formen der Auseinandersetzung, warnt aber vor allzu drastischer Metaphorik (ebd.): TAINE

Wer hat hier nun wen vergewaltigt oder überfremdet? Die Antike das Christentum oder das Christentum die Antike? Ich meine, dass wir nicht von Vergewaltigung oder Ueberfremdung reden sollten, sondern von Begegnung und Auseinandersetzung. Das ist nicht Aussöhnung, das ist nicht Kompromiss, aber bleibendes Bezogensein auf einander, ein unentbehrliches Spannungsverhältnis, das im Laufe der Geschichte zu dramatischen Konflikten wie auch zu grossartigen Synthesen führte. Beides bleibt möglich und nötig!

Bemerkenswert ist ferner sein Hinweis auf den Modellcharakter der historischen Auseinandersetzung zwischen Antike und Christentum für die „Indigenisation“ oder „Inkulturation“ der christlichen Botschaft für Kirchen der dritten Welt.59 AVERIL CAMERON konzentriert sich in „Christianity and the Rhetoric of Empire“60 auf die Entwicklung des christlichen Diskurses. Eigentlich müsse man den Plural „Diskurse“ benutzen, denn „there was rather a series of overlapping discourses always in a state of adaptation and adjustment, and always ready to absorb in a highly opportunistic manner whatever might be useful from secular rhetoric and vocabulary“ (S. 5). Die britische Historikerin ist der Ansicht, dass christliche 59 SCHINDLER (1984) 99; der Brückenschlag zu den Forschungen Paul Hackers, auf die GNILKA (1980) 36f. u.ö. verweist, liegt nahe. Vgl. ferner ULRICH (2006) 43: Aufgrund der Tatsache, dass das Christentum in einigen Regionen Deutschlands in einer Minoritätsposition sei oder in eine solche gelange, stelle „sich die Frage nach möglichen, das Christentum verteidigenden oder bewerbenden Mustern des Denkens und Argumentierens, die die Christentumsgeschichte stets begleitet hat, heute noch einmal in schärferer Form.“ 60 CAMERON (1991).

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und pagane Autoren dieselben Einflüsse von ihrer Umwelt empfangen hätten, so dass man die in Texten ausgedrückte Differenz zwischen beiden Gruppen eher als rhetorischen Kunstgriff, weniger als Beschreibung der realen Verhältnisse betrachten müsse; daraus habe sich eine Art Metadialog ergeben, der für beide Seiten vorteilhaft gewesen sei (S. 7). Demgemäß wendet sie sich dezidiert von der älteren Fragestellung (Verhältnis/Konflikt des Christentums zur/mit der paganen Antike) ab und formuliert programmatisch: „we shall need instead to look to the broader techniques of Christian discourse and its reception in the social conditions of the empire“ (S. 20). Dementsprechend lehnt es CAMERON ab, von einem „Sieg“ des Christentums zu sprechen, zumal auch die Begriffe „christlich“ und „pagan“ eine „trübe Überlappungszone“ aufwiesen (S. 122).61 MATTHIAS LUTZ-BACHMANN hingegen stellt im Rahmen einer Ringvorlesung der Freien Universität Berlin wieder die Frage: „Hellenisierung des Christentums?“62, wobei er VON HARNACKS Thesen am Beispiel des Konzils von Nizäa prüft. Dabei gliedert er die Problemstellung vierfach, indem er zwischen dem materialen und dem formalen Aspekt, dem sachlichen Zusammenhang sowie dem Werturteil unterscheidet. Auch wenn LUTZ-BACHMANN die Hellenisierungsthese zumindest in diesem Fall schließlich als „in materialer Hinsicht [...] korrekturbedürftig, in formaler Hinsicht zwar zutreffend, aber erklärungsarm“ (S. 97) qualifiziert, so erscheint ihm die Frage im Allgemeinen als „heuristische Anleitung zum Studium der Geschichte und ihrer Probleme“ weiterhin relevant und berechtigt (S. 98). PEDRO BARCELÓ weist in seinem Aufsatz „Zur Begegnung, Konfrontation und Symbiose von religio Romana und Christentum“ aus dem Jahr 1992 auf das generelle methodische Problem hin, dass die Quellen meist von denkwürdigen Ereignissen und prinzipiellen Fragen berichteten, dass die „vieltausendfachen, alltäglichen Kontakte zwischen Christen und Anhängern der altgläubigen Religionen“ sich jedoch schwerlich exakt rekonstruieren ließen.63 Er kommt allerdings zu dem Ergebnis, dass „die über dreihundertjährige Berührung von heidnischen und christlichen Kultformen [...] eine Symbiose aus heidnisch-christlichen Elementen“ geschaffen habe; das Heidentum habe einerseits „eine Reihe von Umbildungen“ erfahren, andererseits sei es „in ein christliches Gewand“ geschlüpft und habe so im Christentum fortgelebt. Geschwächt von diesem als Integration und Assimilation verstandenen Prozess, sei das Heidentum so schwach geworden, „daß [es] sich zu keinem sonderlichen Aufbäumen gegen seine christlichen Unterdrücker aufraffen konnte“.64 Diese Unterlegenheit des Heidentums drücke sich etwa auch im Diskussionsstil der Kontrahenten im berühmten Streit um den Victoria-Altar 61 Zu den Problemen einer trennscharfen Unterscheidung zwischen „pagan“ und „christlich“ vgl. z.B. auch VON STUCKRAD (2002), MAXWELL (2012), EPPINGER (2015) 11ff. sowie PANEGYRES (2017) und (2019). Jedoch kann Arnobius, nat. 3,3,1 [gegen KAHLOS (2010) 176, Anm. 40] nicht als Beleg für diese Schwierigkeiten herangezogen werden, vgl. unten, S. 278, Anm. 373. 62 LUTZ-BACHMANN (1992). 63 BARCELÓ (1992) 156. 64 Alle Zitate bei BARCELÓ (1992) 184.

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aus: Symmachus argumentiere, bitte und erhoffe, wohingegen Ambrosius apodiktisch spreche, fordere und verlange (S. 185). Folgerichtig erscheint es, wenn BARCELÓ am Ende seiner Ausführungen Synesios von Kyrene behandelt, in dessen Biographie er die „Symbiose zwischen Heidentum und Christentum“ sowie die „Verschmelzung von heidnischer Philosophie und christlicher Ethik“ exemplifiziert sieht (S. 189). Zunächst unkonventionell, dann aber von großer Wirkungsmacht war die Sichtweise, die PETER BROWN in seiner Essay-Sammlung „Macht und Rhetorik in der Spätantike. Der Weg zu einem ,christlichen Imperiumʻ“ entfaltete.65 Die verbreitete Auffassung, das vierte Jahrhundert sei durch eine allgemeine und bewusste Auseinandersetzung zwischen Christentum und Heidentum geprägt gewesen, entspringe, so der irische Althistoriker, vor allem der geschickten Darstellung christlicher Historiker des fünften Jahrhunderts. Nur in ihrer Sicht sei ein schwerwiegender Konflikt durch eine Reihe denkwürdiger Siege des christlichen Glaubens schnell beendet worden. „Die Heiden sollten einfach wissen, daß es einen Krieg gegeben hatte und daß sie besiegt worden waren“ (S. 165). Anders als vielfach in der Sekundärliteratur referiert, ist BROWNS Beweisziel aber kaum, dass es in Wirklichkeit gar keinen Konflikt gegeben habe;66 vielmehr legt er Wert darauf, dass dieser nicht schnell beendet gewesen sei, dass also das Heidentum vor allem durch eine „Ideologie des Schweigens“ (S. 166) in den christlichen Diskursen zurückgetreten, realiter aber noch immer verbreitet gewesen sei.67 HANS DIETER BETZ betont in seinem Artikel „Antike und Christentum“ in RGG4 von 1998, Antike und Christentum stünden sich „als in geschichtlichem Wandel befindliche Bezugsgrößen gegenüber“, deren gegenseitige Einwirkung sich nicht nur als „Entgegen- oder Auseinandersetzung“, sondern zugleich als „Ineinandersetzung“ vollziehe, womit er JACQUES FONTAINES Wortspiel aufgreift. Dabei seien „Integration und Neuschöpfung“ zu beobachten, „Widerspruch und Kontinuität, Überwindung und Bewahrung, Rückgriffe und Weiterführungen in 65 BROWN (1995). 66 Vgl. GARNSEY/HUMFRESS (2001) 134: „Even after the so-called ‛Theodosian settlement’, the victory of Christianity [...] was by no means assured. In fact, modern historians increasingly reject the concept of the victory of Christianity and also question the whole idea of a clash of cultures between Christians and pagans in late antiquity. It is now fashionable, following Peter Brown, to play down the element of religious confrontation and to stress what Christianity and paganism had in common, especially among the leaders of society.“ 67 Etwas anders noch BROWN (1971): In einem „The conversion of christianity, 300–363“ überschriebenen Kapitel formuliert er auf S. 82: „It was more significant for the immediate future of Christianity that the leaders of the Christian Church, especially in the Greek world, found that they could identify themselves with the culture, outlook and needs of the average well-to-do civilian. [...] Christianity had become a church prepared to absorb a whole society.“ – Damit durchaus kompatibel ist die These, die BROWN in seinem Essay „The Making of Late Antiquity“ von 1978 in Anknüpfung an Untersuchungen der Anthropologin Mary Douglas vorgetragen hat: Der Wandel des Verhältnisses zwischen paganer Antike und Christentum lasse sich als Wandel des „Stils der Beziehung“ beschreiben; ebenso korreliere der Stil der Beziehung einer Gruppe zum Göttlichen mit den Formen ihrer sozialen Interaktion (hier zitiert nach der deutschen Übersetzung von 1986, S. 25ff.).

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immer neuen Konfigurationen“. Theologische Konzeptionen des zweiten bis vierten Jahrhunderts seien philosophischen Lehren „gegenübergestellt bzw. mit ihnen verschmolzen“ worden.68 In seiner Heidelberger Antrittsvorlesung von 2001 geht CHRISTOPH MARKSCHIES der Frage nach, warum das Christentum in der Antike überlebt habe.69 Dabei macht der Kirchengeschichtler sieben Gründe namhaft, wobei als letzter Faktor ein vom Christentum geschaffenes neues Gefühl der Einheit genannt wird, das u.a. deshalb geherrscht habe, weil das Christentum so viele Elemente der antiken Kultur „synthetisiert“ habe (S. 55). Auf die Folgen der Expansion des Christentums richtet RAMSAY MACMULLEN in seinem Aufsatz „Christianity Shaped through its Mission“ sein Augenmerk.70 Verbunden mit der Annahme, dass seit dem vierten Jahrhundert zahlreiche Konversionen zum Christentum erzwungen worden oder nur auf Druck von Seiten der Eliten zustande gekommen seien, greift er den Ausdruck „incomplete conversion“ auf (S. 106).71 Zwischen Theologen wie Augustinus und Ambrosius auf der einen und der überwiegenden Mehrheit der getauften Christen auf der anderen Seite – „illiterate, primitive, the vulgus“ (S. 116) – habe eine große Kluft geherrscht.72 Bei dieser Mehrheit hätten sich bestimmte pagane Riten wie Feste und Grabrituale großer Beliebtheit erfreut; da diese Mehrheit aber (zumindest ein Teil der) Christenheit war, lasse sich eine allmähliche Veränderung des Christentums konstatieren, die in signifikantem Ausmaß eine Paganisierung gewesen sei.73 FRIEDRICH PRINZ betont in einem Aufsatz von 2003 das breite Spektrum und die Ambivalenz des christlich-paganen Kontaktes. Er greift VON HARNACKS These von der drohenden philosophischen Verfremdung (also „Hellenisierung“) der christlichen Offenbarung auf, sieht aber gerade in dem durch den „langwährenden Abgrenzungskampf“ „letztlich erfolgreiche[n] Balanceakt zwischen Ratio und Glauben“ den entscheidenden Faktor für den Aufstieg des Christentums, im Gegensatz etwa zum Mithras-Kult, der zu keiner philosophisch-dogmatischen Ver68 69 70 71

BETZ (1998a) 542f., ganz ähnlich auch DERS. (1998b) 3–7. MARKSCHIES (2004). MACMULLEN (2001). Diesen Gedanken entwickelt MACMULLEN schon in seiner 1984 erschienenen Monographie „Christianizing the Roman Empire (A.D. 100–400)“, in der er der paganen Sicht auf das Christentum und den möglichen Faktoren einer Konversion nachspürt. Er bilanziert ebd. auf S. 107: „it follows that, by my definition [= Ein „echter“ Christ sei aufrichtig überzeugt, dass Gott wirklich existiere und dass sein Wille befolgt werden solle], some were not really converted at all – that, in the whole early church, more than a trivial portion at any given moment can have been Christian only in name, though among them no doubt belief often developed in time, as a result of a person’s going through the motions. Why should one do even that? Surely to gain social and material benefits.“ 72 Diese wird allerdings nach MACMULLEN durch die Quellenlage verwischt, vgl. DENS. (1986) 322: „our sources […] distort the truth through offering too much of an upper-class view, and one that is excessively bookish.“ 73 Ausführlicher hierzu das unter den Titel „Assimilation“ gestellte Kapitel bei MACMULLEN (1997) 103ff.; ebd. wird auf S. 159 bilanziert: „The triumph of the church [sc. over paganism] was one not of obliteration but of widening embrace and assimilation.“

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festigung fähig gewesen sei.74 Zugleich habe die „Teilrezeption philosophischer Begrifflichkeiten eine schwere Belastung“ in dogmatischen Streitfragen dargestellt (S. 288). Im Bereich der praktischen Ethik hingegen habe die Kirche durch teilweise Übernahme stoischer Gedanken „einen guten Griff getan, der die Akzeptanz christlicher ethischer Grundwerte wesentlich erleichterte.“ (S. 290). Für das Weiterleben paganer Kulturtraditionen (v.a. in Philosophie und Philologie) nach dem „Sieg“ des Christentums erscheint PRINZ der kunsthistorische Begriff der „Spolie“ illustrativ, mit dem im eigentlichen Sinne aus ihrem ursprünglichen architektonischen Kontext herausgelöste und in neue Umgebungen eingepasste materielle Elemente bezeichnet werden (S. 302). KAREN PIEPENBRINK spürt in ihrer Studie „Christliche Identität und Assimilation in der Spätantike“ aus dem Jahre 2005 vor allem den Problemen „,gewöhnlicher‘ Christinnen und Christen“ (S. 11) nach, wobei sie von der These ausgeht, dass „Christliches und Nichtchristliches verschmolzen – und es [...] immer schwieriger [wurde] zu bestimmen, was überhaupt das Christsein ausmacht.“ (ebd.). Ein zentraler hermeneutischer Begriff ist dabei für die Althistorikerin der Synkretismus, seiner früheren negativen Konnotation entkleidet und in dem Sinne verstanden, dass es keine Reinform von Religionen gebe; im konkreten Fall handele es sich zudem „nicht um einen Synkretismus auf Systemebene, sondern lediglich auf Elementebene“.75 Seit der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts seien „viele Menschen ohne hinreichende Informationen und ohne intrinsische Motivation Katechumenen“ geworden, wodurch „zugleich ein besonderes Bedürfnis, sich mit der Frage nach christlicher Identität auseinanderzusetzen“, entstanden sei (S. 16). Um den Rahmen nicht zu sprengen, soll abschließend nur noch ein Aufsatz von KONSTANTINE PANEGYRES aus dem Jahr 2019 vorgestellt werden, der die neuere einschlägige Forschung akribisch auswertet, um ihre Ergebnisse mit der von Arnobius skizzierten Situation zu vergleichen. Aufgrund seiner Aktualität und seines direkten Bezugs auf den im Zentrum dieser Arbeit stehenden Autor soll dieser Beitrag („The Rhetoric of Religious Conflict in Arnobiusʼ Aduersus nationes“)76 etwas ausführlicher vorgestellt werden: Arnobius schaffe in seinem Werk eine künstliche rhetorische Trennung zwischen Christen und Nichtchristen, die der Realität in der Provinz Africa proconsularis des zweiten und dritten Jahrhunderts nicht gänzlich entspreche; er überzeichne bei einigen Themen die Unterschiede zwischen Christen- und Heidentum (S. 402f.). Seine verzerrende Darstellung diene der Selbstdefinition der Christen, rufe die Wahrnehmung eines Konfliktes zwischen Heiden- und Christentum überhaupt erst hervor und negiere kultische Kontinuitäten (S. 409). Die materiellen Hinterlassenschaften aus der Provinz Africa proconsularis ergäben folgendes Bild (S. 411f. mit Anm. 67):

74 PRINZ (2003) 288. 75 PIEPENBRINK (2005) 13f., Zitat auf S. 14. Ebd. auch weitere Literatur zum Begriff des Synkretismus. 76 PANEGYRES (2019).

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this evidence [...] suggests a world of slow integration and assimilation, rather than of conflict, competition and difference; nor was this phenomenon restricted only to North Africa, but is also well attested in, for example, Britain, Italy and Gaul. It is rather in the works of such authors as Arnobius that we find artificial ideas of religious conflict and competition, which were formulated in order to extract Christianity from the intellectual traditions of pagans. There is no clear ʻweʼ and ʻyouʼ that distinguishes Christians from pagans in the archaeological and epigraphic evidence of the time of Arnobius, between roughly 250 to 320, but rather a grey area remains, where the absolute terms ʻChristianʼ and ʻpaganʼ become empirically meaningless unless stated explicitly in documentary evidence [...]. [Anm. 67:] It was for theologians such as Arnobius and Porphyry to supply the philosophical difference, if there was little practical difference. [...] It seems that [...] Christian authors accepted the necessity for peaceful integration in practice while strongly rejecting it in rhetoric.

Daher zieht PANEGYRES folgendes Fazit (S. 416): Arnobiusʼ rhetoric creates a binary out of a much more complex religious situation. [...] it will sometimes be profitable to view notions of religious conflict as the inventions of a ʻrhetoric of differenceʼ or ʻrhetoric of conflictʼ conceived of by early Christian and late pagan authors such as Arnobius as part of their polemics and propaganda.

Erstaunlich ist, dass PANEGYRES nicht auf die iudiciale Form eingeht, in die Arnobius Adversus nationes literarisch gekleidet hat (vgl. Teil I, Kap. 4.2 der vorliegenden Arbeit): Gerade in einem Christenprozess gibt es natürlich eine binäre Opposition zwischen (bekennenden) Christen und Nichtchristen; durch das Bekenntnis zum Christentum wird ja gerade diejenige „documentary evidence“ generiert, der allein PANEGYRES empirischen Wert zugesteht. 3.3 VERSUCH EINER ZWISCHENBILANZ Trotz seines unvermeidbar selektiven Charakters dürfte aus dem vorgetragenen Forschungsüberblick die Vielzahl divergierender Meinungen zum Komplex „Auseinandersetzung zwischen Antike und Christentum“ deutlich geworden sein. Dies dürfte nicht zuletzt den unterschiedlichen Perspektiven (Christentum als Glaubensgebäude? als Summe von Gläubigen und deren kultureller Praxis? usw.), den in den Publikationen jeweils betrachteten Epochen und Personenkreisen sowie schließlich den Gattungen der berücksichtigten Zeugnisse geschuldet sein. Für die Auswertung literarischer Zeugnisse jedoch scheint das von CHRISTIAN GNILKA etablierte Chrêsis-Paradigma zumindest ein lohnender hermeneutischer Zugang, ein vielversprechendes Kriterium der Analyse zu sein. Der Münsteraner Altphilologe hat systematisch die antike christliche Literatur analysiert und dabei zahlreiche Stellen zusammengetragen, aus denen zweifelsfrei hervorgeht, dass der Gedanke, Christen seien zur Nutzung sorgsam ausgewählter paganer Güter geradezu verpflichtet, über Jahrhunderte hinweg immer wieder im christlichen Schrifttum auftaucht.77 Der Befund, der sich aus den literarischen Zeugnissen von Expo77 Vorsichtige Zustimmung zu diesem Punkt etwa bei PROLINGHEUER (2008) 38 (bei sonstiger Zurückhaltung). Anders WINKELMANN (1986) 60, der – mit Bezug auf BARR (1965) – Zweifel äußert, ob semantische Untersuchungen geistesgeschichtliche Zusammenhänge erhellen

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nenten der geistigen Entwicklung von Christentum und Kirche ergibt,78 ist also recht eindeutig. Dass diese Quellen eine emische, d.h. systemimmanente Perspektive vermitteln, ist dabei für die vorliegende Untersuchung kein Nachteil; ganz im Gegenteil, da sie ja gerade das Selbstverständnis zentraler und wirkmächtiger christlicher Denker illustrieren. 3.4 SKIZZE DES CHRÊSIS-KONZEPTES79 Im Neuen Testament wird im Ersten Timotheus-Brief jegliche Schöpfung Gottes als gut bezeichnet; nichts sei zu verwerfen, wenn es mit Dank empfangen werde (4,4: πᾶν κτίσμα θεοῦ καλὸν καὶ οὐδὲν ἀπόβλητον μετὰ εὐχαριστίας λαμβανόμενον). Somit müsste alles, was auf Erden existiert, gut und für den Christen unanstößig sein. Sei das nicht der Fall, so könne dies nur daran liegen, dass in der pagan dominierten Welt Gegenstände und Güter einem falschen, verkehrten Gebrauch, einem das ursprüngliche τέλος geradezu pervertierenden Missbrauch unterworfen worden seien.80 Dem Zweiten Korinther-Brief lässt sich gewissermaßen als Ergänzung hierzu das Konzept entnehmen, die Christen machten sich jeden Gedanken als Gefangenen zwecks Gehorsam gegenüber Christus zu eigen (10,5: αἰχμαλωτίζοντες πᾶν νόημα εἰς τὴν ὑπακοὴν τοῦ Χριστοῦ).81 Justin der Märtyrer (ca. 100–165) rezipiert die stoische Anschauung vom λόγος σπερματικός, gibt ihr aber eine ganz neue Wendung: Dieser λόγος stamme vom christlichen Gott, und jeder, der auch nur einen Teil davon erkenne, könne richtige Aussagen treffen. Was aber bei allen Völkern in treffender Weise gesagt, mithin richtig erkannt worden sei, das gehöre in Wahrheit den Christen.82 So sei können. Einwände gegen die Annahme eines einheitlichen Chrêsis-Konzepts skizziert GE(2007) 15f., der auch weiterführende Literatur zur Würdigung bzw. Kritik des GNILKA’schen Ansatzes verzeichnet. Dass diese auch auf die Ansichten und Haltungen ihrer Mitchristen eingewirkt haben dürften, hebt z.B. CONTRERAS (1980) 974 hervor. Die folgende Skizze nach GNILKA (1980), (1984; erw. Neuauflage 2012), (1993) und (1999), der auch den vorchristlichen Wortgebrauch nachzeichnet. Dieser Gedanke lässt sich (hier allerdings sexuell konnotiert) auch in Rm 1,26ff. finden: αἵ τε γὰρ θήλειαι αὐτῶν μετήλλαξαν τὴν φυσικὴν χρῆσιν εἰς τὴν παρὰ φύσιν, ὁμοίως τε καὶ οἱ ἄρσενες ἀφέντες τὴν φυσικὴν χρῆσιν τῆς θηλείας ἐξεκαύθησαν ἐν τῇ ὀρέξει αὐτῶν εἰς ἀλλήλους. Vgl. ferner I Cor 7,29ff.: τοῦτο δέ φημι, ἀδελφοί, ὁ καιρὸς συνεσταλμένος ἐστίν· τὸ λοιπόν, ἵνα καὶ οἱ ἔχοντες γυναῖκας ὡς μὴ ἔχοντες ὦσιν [...] καὶ οἱ χρώμενοι τὸν κόσμον ὡς μὴ καταχρώμενοι· παράγει γὰρ τὸ σχῆμα τοῦ κόσμου τούτου. Hierauf beruft sich etwa Gregor von Nazianz (ca. 326–ca. 390) in seinem Panegyricus auf Basilius, um die christliche Beschäftigung mit paganer Literatur zu legitimieren (or. 43,11). Just. 2 apol. 13,3: ἕκαστος γάρ τις ἀπὸ μέρους τοῦ σπερματικοῦ θείου Λόγου τὸ συγγενὲς ὁρῶν καλῶς ἐφθέγξατο [...]. ὅσα οὖν παρὰ πᾶσι καλῶς εἴρηται, ἡμῶν τῶν Χριστιανῶν ἐστι [...]. Noch weiter geht ders. in 1 apol. 46,2f., wo unter anderem Sokrates und Heraklit als Christen bezeichnet werden: τὸν Χριστὸν πρωτότοκον τοῦ θεοῦ εἶναι ἐδιδάχθημεν καὶ προεμηνύσαμεν, Λόγον ὄντα, οὗ πᾶν γένος ἀνθρώπων μετέσχε. καὶ οἱ μετὰ Λόγου βιώσαντες Χριστιανοὶ ἦσαν, κἂν ἄθεοι ἐνομίσθησαν, οἷον ἐν Ἕλλησι μὲν Σωκράτης καὶ Ἡράκλειτος καὶ οἱ ὅμοιοι αὐτοῖς. MEINHARDT

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es zu erklären, dass es in philosophischen Lehren, aber auch in den Werken von Dichtern und Schriftstellern Elemente gebe, die den Lehren Christi nicht fernstünden, aber eben doch auch nicht gänzlich deckungsgleich mit ihnen seien.83 Tertullian (ca. 160–nach 220) äußert in seiner Schrift De corona das Axiom, die ganze Schöpfung sei dem Menschen zu bestimmten Formen des Gebrauchs anvertraut (6,2: universam conditionem certis usibus homini mancipatam). Die Substanz der Dinge rühre von Gott her, ihr unter Umständen falscher Gebrauch aber von den Menschen (5,2: substantia tibi a deo tradita est, habitus a saeculo). Über das Konkret-Materielle hinausgehend, weitet Tertullian sodann seinen Blick auf Kulturgüter, als deren πρῶτοι εὑρεταί bekanntlich in vielen Fällen pagane Götter galten. Während er diese Entstehungshypothese als wahr akzeptiert, billigt er zwar die gemeinsame Nutzung solcher Gebrauchsgegenstände wie Schrift, Schiffe und Möbel, ruft aber nachdrücklich zur Unterscheidung (distinctio) zwischen Vernünftigem und Unvernünftigem auf, da ein Mangel des Unterscheidens (passivitas) täusche und die Verderbnis der Schöpfung nicht mehr erkennen lasse.84 Auch Clemens von Alexandrien (ca. 150–215) sieht bei der Behandlung der Frage, wie der Mensch die von Gott geschaffenen Blumen verwenden solle, eine Antithese zwischen richtigem, dankbarem Gebrauch und undankbarem Missbrauch für pagane Kultzwecke (paed. 2,72,4: οὐκ εἰς τὴν ἰδίαν εὐχάριστον χρῆσιν, ἀλλ’ εἰς τὴν τῶν δαιμονίων ἀχάριστον ὑπηρεσίαν κατεχρήσαντο). Eine alttestamentarische Vertiefung erfährt der Chrêsis-Begriff bei Origenes (ca. 185–252). In einem Brief an Gregor Thaumaturgos erläutert er dem talentierten jungen Mann, dieser könne zwar ein vollendeter römischer Jurist oder ein griechischer Philosoph par excellence werden; Gregor solle jedoch seine ganze Begabung für das Christentum gebrauchen (καταχρήσασθαί [...] τελικῶς εἰς χριστιανισμ[όν]).85 Diese Notwendigkeit lasse sich dem Buch Exodus entnehmen: Bei der Flucht aus Ägypten hätten die Israeliten den Ägyptern auf Befehl Gottes kostbare Gefäße und Gewänder geraubt, die sie zur Verehrung Gottes verwandten. Ebenso müssten die Christen auch auf die geistigen Schätze der Heiden zurückgreifen, um sie zum Lobpreis des Herrn einzusetzen. Die Ägypter hätten ihre Schätze nicht in der gehörigen Weise gebraucht (PG 11,89 B: οὐκ εἰς δέον ἐχρῶντο), die Israeliten hingegen – aufgrund ihrer Orientierung zu Gott hin und infolge der Weisheit Gottes – schon (ebd.: διὰ τὴν τοῦ Θεοῦ σοφίαν εἰς θεοσέβειαν ἐχρήσαντο). Da der Befehl zur Aneignung von Gott persönlich ausgegangen sei, sei Chrêsis auch keine fakultative, sondern die obligatorische Haltung 83 Just. 2 apol. 13,2: Χριστιανὸς εὑρεθῆναι καὶ εὐχόμενος καὶ παμμάχως ἀγωνιζόμενος ὁμολογῶ, οὐχ ὅτι ἀλλότριά ἐστι τὰ Πλάτωνος διδάγματα τοῦ Χριστοῦ, ἀλλ’ ὅτι οὐκ ἔστι πάντῃ ὅμοια, ὥσπερ οὐδὲ τὰ τῶν ἄλλων, Στωϊκῶν τε καὶ ποιητῶν καὶ συγγραφέων. 84 Tert. coron. 8,4: huiusmodi quaestioni sic ubique respondeo, admittens quidem utensilium communionem, sed provocans eam ad rationalium et inrationalium distinctionem, quia passivitas fallit obumbrans corruptelam conditionis, qua subiecta est vanitati. 85 Orig. ad Greg. (PG 11,88 A): δύναται οὖν ἡ εὐφυΐα σου Ῥωμαῖόν σε νομικὸν ποιεῖν τέλειον καὶ Ἑλληνικόν τινα φιλόσοφον τῶν νομιζομένων ἐλλογίμων αἱρέσεων. ἀλλ’ ἐγὼ τῇ πάσῃ τῆς εὐφυΐας δυνάμει σου ἐβουλόμην καταχρήσασθαί σε τελικῶς [...] εἰς χριστιανισμ[όν].

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gegenüber paganen (Bildungs-)Gütern.86 Gleichzeitig ist sich Origenes aber auch der Schwierigkeiten bewusst, die mit dem richtigen Gebrauch verbunden sind; auch diese sieht er im Alten Testament gewissermaßen präfiguriert: Unter Rückgriff auf die alttestamentarischen Gestalten (H)adad/Ader und Jerobeam, zwei Widersacher Salomos, die beide eine Zeit lang in Ägypten verweilten, deren letzterer aber nach seiner Rückkehr aus Ägypten goldene Götzenbilder aufstellte,87 legt er seine Meinung dar, dass nur wenige, die das Brauchbare aus Ägypten nehmen, aus Ägypten herauskommen und ihre Beute zur Verehrung Gottes einsetzen können; andererseits gebe es viele Brüder des Edomiters Hadad, die aufgrund philosophischer Kenntnisse häretische Gedanken äußerten und gleichsam goldene Kälber in Bethel aufstellten.88 In Augustins Schrift De doctrina Christiana (abgeschlossen 427) schließlich findet sich gewissermaßen der locus classicus des Chrêsis-Konzeptes, der aufgrund seiner Bedeutung hier ausgeschrieben werden soll (2,XL 60f.): philosophi autem qui vocantur si qua forte vera et fidei nostrae accommodata dixerunt, maxime Platonici, non solum formidanda non sunt, sed ab eis etiam tamquam ab iniustis possessoribus in usum nostrum vindicanda. sicut enim Aegyptii non tantum idola habebant et onera gravia, quae populus Israhel detestaretur et fugeret, sed etiam vasa atque ornamenta de auro et argento et vestem, quae ille populus exiens de Aegypto sibi potius tamquam ad usum meliorem clanculo vindicavit, non auctoritate propria, sed praecepto dei ipsis Aegyptiis nescienter commodantibus ea, quibus non bene utebantur, sic doctrinae omnes gentilium non solum simulata et superstitiosa figmenta gravesque sarcinas supervacanei laboris habent, quae unusquisque nostrum duce Christo de societate gentilium exiens debet abominari atque vitare, sed etiam liberales disciplinas usui veritatis aptiores et quaedam morum praecepta utilissima continent deque ipso uno deo colendo nonnulla vera inveniuntur apud eos, quod eorum tamquam aurum et argentum, quod non ipsi instituerunt, sed de quibusdam quasi metallis divinae providentiae, quae ubique infusa est, eruerunt et, quo perverse atque iniuriose ad obsequia daemonum abutuntur, cum ab eorum misera societate sese animo separat, debet ab eis auferre Christianus ad usum iustum praedicandi evangelii. vestem quoque illorum, id est, hominum quidem instituta, sed tamen accommodata humanae societati, qua in hac vita carere non possumus, accipere atque habere licuerit in usum convertenda Christianum. 61. nam quid aliud fecerunt multi boni fideles nostri? nonne aspicimus quanto auro et argento et veste suffarcinatus exierit de Aegypto Cyprianus et doctor suavissimus et martyr beatissimus? quanto Lactantius? quanto Victorinus, Optatus, Hilarius, ut de vivis taceam? quanto innumerabiles Graeci? quod prior ipse fidelissimus dei famulus Moyses fecerat de quo scriptum est, quod eruditus fuerit omni sapientia Aegyptiorum. quibus omnibus viris superstitiosa gentium consuetudo et maxime illis temporibus, cum Christi recutiens iugum Chris-

86 Ihren Urspung hat diese exegetische Idee bei Irenäus von Lyon (ca. 135–ca. 200), haer. 4,30, vgl. dazu GNILKA (1984) 57, Anm. 120. Zur Rezeption und weiteren Entfaltung dieses Gedankens, der etwa in der Renaissance noch Petrarca als Rechtfertigung seiner Cicero-Lektüre diente, vgl. GNILKA (1980) 62, Anm. 63. 87 Hadad: III Rg 11,14–25; Jerobeam: III Rg 11,40; 12,28–30. 88 PG 11,89 Cf.: κἀγὼ δὲ τῇ πείρᾳ μαθὼν εἴποιμ’ ἄν σοι, ὅτι σπάνιος μὲν ὁ τὰ χρήσιμα τῆς Αἰγύπτου λαβὼν καὶ ἐξελθὼν ταύτης καὶ κατασκευάσας τὰ πρὸς τὴν λατρείαν τοῦ Θεοῦ· πολὺς δὲ ὁ τοῦ Ἰδυμαίου Ἄδερ ἀδελφός. οὗτοι δέ εἰσιν οἱ ἀπό τινος Ἑλληνικῆς ἐντρεχείας αἱρετικὰ γεννήσαντες νοήματα καὶ οἱονεὶ δαμάλεις χρυσᾶς κατασκευάσαντες ἐν Βαιθήλ.

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tianos persequebatur, disciplinas, quas utiles habebant, numquam commodaret, si eas in usum colendi unius dei, quo vanus idolorum cultus exscinderetur, conversum iri suspicarentur: sed dederunt aurum et argentum et vestem suam exeunti de Aegypto populo dei nescientes quemadmodum illa quae dabant, in Christi obsequium redderentur. illud enim in exodo factum sine dubio figuratum est, ut hoc praesignaret, quod sine praeiudicio alterius aut paris aut melioris intellegentiae dixerim.

Hieraus lassen sich noch einmal wesentliche Punkte des Chrêsis-Paradigmas zusammenfassend hervorheben: Wenn sich bei den Heiden Richtiges und für den christlichen Glauben Passendes findet, sind diese Dinge für den christlichen Gebrauch in Anspruch zu nehmen und ihren sozusagen unrechtmäßigen Besitzern zu entwinden. Als normatives Vorbild hierfür kann auf den Auszug der Israeliten aus Ägypten verwiesen werden, bei dem diese auf Gottes Anweisung hin u.a. die von den Ägyptern schlecht gebrauchten Gegenstände aus Gold und Silber einem besseren Gebrauch zuführten.89 Nach Augustins Auffassung enthalten alle paganen Wissenschaften und Wissensbestände (doctrinae omnes gentilium) neben negativen Elementen auch Lehren, die für den Gebrauch im Sinne der Wahrheit recht geeignet90 sind, und überaus nützliche moralische Ratschläge. Dies ist jedoch kein Verdienst der Heiden im eigentlichen Sinne; vielmehr sind diese zufällig auf die Gold- und Silberadern der ubiquitären divina providentia gestoßen, die – um im Bild zu bleiben – durch das Bergwerk der menschlichen Geisteswelt verlaufen. Nun gilt es, die zur Dämonenverehrung missbrauchten Güter dem rechten Gebrauch zuzuführen, welcher auf die Verkündigung des Evangeliums ausgerichtet ist. Für den Bischof von Hippo handelt es sich dabei aber nicht nur um eine allgemeine Maxime, an der unter Umständen in der Praxis nicht festgehalten werden könne – so z.B. die oben skizzierte Auffassung des Origenes. Ganz im Gegenteil: Zumindest von Augustins Standpunkt aus lässt sich eine ganze Reihe guter rechtgläubiger Christen namhaft machen, welche so verfahren sind. Insbesondere zahllose Griechen und prominente lateinische christliche Autoren wie etwa Cyprian und Lactanz hätten sich weidlich an den Schätzen Ägyptens bedient, und auch zu Augustins eigener Zeit war diese Praxis offensichtlich weit verbreitet. Zwar wird Arnobius in diesem Zusammenhang – ebenso wie etwa Tertullian oder Minucius Felix – nicht explizit genannt; aber Augustin beabsichtigt, wie er ja selbst deutlich erkennen lässt, keine vollständige Aufzählung aller dem Prinzip der Chrêsis verpflichteten Literaten. Hervorzuheben sind schließlich noch zwei Gesichtspunkte: Augustin verlässt sodann die metaphorisch-allegorische Ebene (ägyptische Schätze ≈ pagane Bildungsgüter) und richtet seinen Blick auf die Person des Mose: Dieser sei einerseits ein überaus treuer Diener Gottes, andererseits zugleich aber in jeglicher Weisheit der Ägypter unterrichtet gewesen. Er habe also bereits paganes Wissen theozentrischen Zwecken dienstbar gemacht. Zum anderen hätten die Heiden insbesondere im Zeitalter der Verfolgungen ihr Wissen nur in Unkenntnis 89 Ex 3,21f.; 11,2; 12,35f. – Zu Augustins Gestaltung dieses Themas im siebten Buch der Confessiones vgl. z.B. WEBER (2009). 90 Denkbar wäre auch, aptiores als echten Komparativ aufzufassen: Dann wären die disciplinae für den neuen, richtigen Gebrauch sogar geeigneter als für den vorherigen paganen.

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seines Wirkungspotenzials preisgegeben; hätten sie auch nur geahnt, dass gerade dieses Wissen zum Umsturz von Götzendiensten führen sollte, hätten sie ihr Wissen eifersüchtig für sich behalten. Dieser Punkt dürfte besonders interessant werden, wenn man die Werke von Exponenten des Geisteslebens betrachtet, die zum Christentum konvertierten und somit angehalten waren, in ihrer eigenen Person die Neuausrichtung bisheriger Kenntnisse und Fähigkeiten zu vollziehen. Das Konzept der Chrêsis bzw. des usus iustus lässt sich also in vielen Äußerungen zentraler christlicher Autoren über mehrere Jahrhunderte hinweg konstant belegen. Für Augustin zumindest steht in der Retrospektive außer Frage, dass eine ganz erhebliche Zahl älterer christlicher Literaten dieser Vorstellung verpflichtet ist; die Praxis seiner eigenen Zeitgenossen glaubt er gar nicht mehr thematisieren zu müssen. Darüber hinaus hat in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Studien die Validität und Fruchtbarkeit dieses Untersuchungsansatzes bestätigt, indem der praktische Umgang verschiedener christlicher Autoren mit Elementen der paganen Kultur untersucht wurde; dabei wurde ein breites Spektrum abgedeckt, sowohl was die Chronologie als auch was die Gattungen betrifft: RAINER HENKE untersuchte die Nutzung zoologischer Fachliteratur durch den Kappadokier Basilius (ca. 330–379).91 Dass Ambrosius von Mailand (339–397) für seine eigene Pflichtenlehre Ciceros Werk De officiis „[v]om überlegenen Standpunkt der geoffenbarten Wahrheit aus [...] seinem eigenen Darstellungszweck“ unterwirft, zeigte MARIA BECKER.92 ULRIKE GANTZ befasste sich mit der Trostrede, die Gregor von Nyssa (ca. 335/340–nach 394) anlässlich des Todes der Pulcheria hielt, der kleinen Tochter Kaiser Theodosius’ I.; dabei wies sie Gregors Nutzung und Umformung der paganen Konsolationsliteratur nach.93 ROBERT KIRSTEIN unternahm es in seinem Kommentar zum carmen 17 des Paulinus von Nola (ca. 354–431), die christliche Nutzung der Gattung „Geleitgedicht/Propemptikon“ aufzuzeigen.94 Wie Sedulius (gest. um 450) die pagane Poesie im dritten Buch seines epischen Carmen paschale nutzt, wurde von MICHAEL MAZZEGA untersucht.95 WILHELM BLÜMER schließlich analysierte die Nutzung antiker Stilkunst in den Predigten Leos des Großen (ca. 400–461).96 Mithin erscheint es berechtigt, in diesem Paradigma auch einen lohnenden hermeneutischen Zugang zu Arnobius’ Adversus nationes zu sehen.

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HENKE (2000) 39ff. BECKER (1994), Zitat auf S. 276. GANTZ (1999). KIRSTEIN (2000). MAZZEGA (1996). BLÜMER (1991).

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3.5 ANSÄTZE EINER USUS-IUSTUS-KONZEPTION BEI ARNOBIUS VON SICCA Arnobius trägt in Adversus nationes keine zusammenhängende Theorie des usus iustus vor, wie man sie etwa an der oben behandelten Stelle aus Augustins De doctrina Christiana findet. Doch einer Reihe von Passagen lassen sich Anzeichen dafür entnehmen, dass diese Denkfigur zumindest der Sache nach dem Apologeten nicht fremd war.97 Dass verschiedene Arten des Gebrauches, Nutzens und der Bestimmung existieren, wird in allgemeiner Weise z.B. aus nat. 2,7,3 deutlich. Dort wird im Zusammenhang mit der Begrenztheit menschlichen Erkenntnisvermögens ausgeführt, dass kein Sterblicher – nicht einmal Sokrates – das Wesen und die Herkunft des Menschen verstehen könne; ebenso wenig könne man verstehen, in quos usus prolatus sit, also zu welchen Zwecken oder Arten des Nutzens er geschaffen worden sei. In ähnlicher Weise verwendet, begegnet das Substantiv usus in 3,9,5, wo im Zuge der Kritik anthropomorpher Gottesvorstellungen den Teilen des Körpers ganz bestimmte Zwecke zugeordnet sind.98 Thematisch etwas einschlägiger ist die folgende Passage, die einem arnobianischen „Höhlengleichnis“ entnommen ist, mit welchem der Sprecher im Rahmen seiner Seelenlehre die These von der Existenz apriorischen Wissens falsifizieren will (nat. 2,23,1–3, vgl. hierzu auch S. 137): esurienti si dederis uvam, mustacium […], sciet posse sedari omnibus ex his famem […]? […] 3. iam vero si vestem, si superlectilem ponas in medio tam urbanam quam rusticam, eritne, idem ut possit discriminare, discernere, cui negotio res quaeque conveniat, cuius muneris adcommodata sint usui?

Hier wird deutlich die Vorstellung artikuliert, dass es einzelne Dinge gibt, die für bestimmte Beschäftigungen besonders passend sind und die der Nützlichkeit bei einer bestimmten Aufgabe angepasst sind.99 Dies erfordert allerdings eine gewisse Kompetenz beim Unterscheiden und Auswählen (discriminare, discernere). Dass der usus eines Gegenstandes nicht unveränderbar ist, wird z.B. in 1,6,3 deutlich, wo der Sprecher gegen die These argumentiert, das Erstarken des Chris97 GATZEMEIER (2013) 199, Anm. 77 nennt nat. 3,6, wo Cicero richtige Ansichten über die paganen Götter zugestanden werden, als Hinweis darauf, dass das Chrêsis-Konzept Arnobius geläufig war. Auch die oben (S. 18) referierten Einschätzungen von AMATA und CONIGLIO ähneln sachlich dem Chrêsis-Gedanken. 98 ut enim ad usus certos manus, pedes, oculi ceteraque constructio membrorum sua quaeque in officia constituta est, ita convenit credere in sui muneris functionem comparatas esse has partes. – Eine eher rhetorisch bedingte Vielzahl von usus liegt in 6,3,5 vor (templa igitur, quaerimus, in deorum quos usus aut in rei cuius necessitatem aut dicitis esse circumscripta aut esse rursus aedificanda censetis?); tatsächlich wird ja insinuiert, dass Götter natürlich keinerlei Verwendung für Tempel haben. 99 Der Gedanke, dass man Dinge dem jeweiligen Gebrauch anpasst, begegnet auch in 6,16,7, dort allerdings in komischer Verzerrung von unliebsamen Tieren gesagt (non videtis […] steliones […] nidamenta ponere atque habitare, spurcitias huc omnes atque alia usibus accommodata conducere […]?).

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tentums habe die paganen Götter verärgert, was zu einer Vermehrung der Kriege auf der Welt geführt habe: quodsi omnes [...] salutaribus eius pacificisque decretis aurem vellent commodare paulisper [...], universus iamdudum orbis mitiora in opera conversis usibus ferri tranquillitate in mollissima degeret et in concordiam salutarem incorruptis foederum sanctionibus conveniret.

Wenn die (leider unvernünftigen) Menschen, so der Sprecher, nur auf Christi friedenspendende Botschaft hörten, dann würde schon längst weltweit Friede und Eintracht herrschen. Vorausgegangen wäre diesem Zustand eine neue Zweckbestimmung des Eisens im Sinne des alttestamentarischen „Schwerter zu Pflugscharen!“100 Es wird mithin deutlich, dass ein Gegenstand in verschiedener Weise genutzt werden kann, sowohl zum Schlechten als auch zum Guten, so dass er selbst als indifferent angesehen werden muss. In einem religiösen Kontext wird das Substantiv usus in 2,64 verwendet: Ein Interlocutor hatte den Christen vorgeworfen, Christus habe sein Erlösungsangebot nur in ungerechter Exklusivität unterbreitet.101 Dieser These hält der Sprecher entgegen, dass einerseits der Apostrophierte in Wahrheit die angebotene Gnade aus Hochmut ablehne (2,64,2: tibi fastidium tantum est, ut oblati respuas beneficium muneris), dass andererseits die göttliche Gnade aber nicht bei den Widerwilligen um Akzeptanz werbe.102 Es bestünden nun nur zwei Optionen (2,64,4): vis sumere, quod offertur, atque in tuos usus convertere? consulueris tu tibi. aspernaris, contemnis et despicis? tu te muneris commoditate privaveris.

Wer das Angebot des christlichen Gottes annehme sowie seinem eigenen Gebrauch und gleichzeitig Nutzen zuführe, der habe gut für sich gesorgt, wobei die Unmittelbarkeit des Heilsanbruchs und der Vollzug der Rettung sprachlich durch die Verwendung des Futur II unterstrichen werden. Hier dürfte der Junktur in usum convertere allerdings kaum die Konnotation der Abwandlung oder Modifikation eignen, da das Heilsversprechen Christi nur in seiner reinen, unmodifizierten und damit unverfälschten Form in vollem Maße wirksam werden kann. Relevant ist in diesem Zusammenhang auch ein Gedankengang aus 2,66f.: Der Sprecher verteidigt das historisch junge Christentum gegenüber dem höheren Alter anderer Religionen, indem er eine Parallele zwischen dem Fortschritt im Bereich der Zivilisation (Nahrung, Kleidung usw.)103 und demjenigen im religiösen Bereich konstruiert. Diese Parallele wird nun durch die folgende gnomische Aussage begründet (2,66,4):

100 Is 2,4; Ioel 3,10; Mi 4,3. Das AT scheint aber für Arnobius keine Relevanz gehabt zu haben, bzw. er distanziert sich deutlich von ihm, vgl. z.B. JAKOBI (2002) 63. 101 Nat. 2,64,1: „sed si generis Christus humani, ut inquitis, conservator advenit, quor omnino non omnes aequali munificentia liberat?“ 102 2,64,4: an numquid orandus es, ut beneficium salutis ab deo digneris accipere, et tibi aspernanti fugientique longissime infundenda in gremium est divinae benivolentiae gratia? 103 2,66,3: inventis frugibus glandes spreverint et repudiaverint arbuta, quod corticibus contegi et amiciri desierint pellibus, postquam vestis excogitata est textilis [...].

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commune est omnibus et ab ipsis paene incunabulis traditum bona malis anteferre, inutilibus utilia praeponere et, quod esse constiterit pretiosius, laetius, id consectari et petere in eoque defigere spem salutis et salutarium commodorum.

Allen Menschen sei es gleichsam von Kindesbeinen an gemein, Gutes Schlechtem vorzuziehen und Nützliches über Nutzloses zu stellen. Und das, was bekanntermaßen wertvoller und beglückender sei, mit aller Konsequenz zu verfolgen und seine Hoffnungen darauf zu setzen, sei ebenfalls allgemein verbreitet. Hier wird also der Prozess der Auswahl des Nützlichen und Wertvollen geschildert und dabei mit dem Begriff salus („Rettung, Heil“) verbunden, jedoch nicht explizit als spezifisch christlich gekennzeichnet. Wenn man aber die Fortsetzung der Passage miteinbezieht,104 wird deutlich, dass dieses Vorgehen gerade für die Christen in ihrer damaligen Situation zentral war. Der Gesichtspunkt eines verfehlten Gebrauches tritt in 2,40,3 hervor, während der Sprecher gegen seiner Meinung nach falsche Vorstellungen bezüglich der menschlichen Seele argumentiert: idcirco [sc. rex mundi] animas misit, ut, quae secum commorantes possessionis alicuius nullum umquam habuissent amorem, avarissimae hic fierent et […] effoderent altos montes et viscera ignota terrarum in materias verterent alieni nominis atque usus […]?

Wer – wie etwa die Platoniker – von einer transzendenten Existenz der Seele ausgehe, müsse erklären, wie die Seele, die zunächst keinerlei Gewinn- und Besitzstreben kenne, in ihrer irdischen Existenz habgierig werde. Als konkreter Ausdruck dieser Habgier werden zwei Formen der Gewinnung von Edelmetallen benannt, die sowohl durch den Kontext als auch durch Anklänge an entsprechende Praetexte der augusteischen Literatur als negativ charakterisiert werden.105 Dabei, so der Sprecher, wandelten die (entsprechend „beseelten“) Menschen die Eingeweide der Erde in Stoffe eines fremden, vielleicht sogar unpassenden Namens und Gebrauches um. Hier begegnen also die beiden zentralen Begriff vertere und usus gemeinsam, allerdings bezogen auf ein negativ bewertetes Vorgehen der Menschen in der materiell-konkreten Sphäre. Aber der Apologet thematisiert auch schlechten usus, wenn er auf den Umgang von Dichtern und Schauspielern mit den paganen Göttern zu sprechen kommt (4,35): sed poetis tantummodo licere voluistis indignas de dis fabulas et flagitiosa ludibria comminisci? quid pantomimi vestri, quid histriones, quid illa mimorum atque exoleti generis multitudo? nonne ad usum quaestus sui abutuntur dis vestris et lenocinia voluptatum ex iniuriis adtrahunt contumeliisque divinis?

104 2,67,1: itaque cum nobis intenditis aversionem a religione priorum, causam convenit ut inspiciatis, non factum, nec quid reliquerimus opponere, sed secuti quid simus potissimum contueri. 105 HAGENDAHL (1958) 390ff. macht auf den Zusammenhang mit dem Weltalter-Mythos aufmerksam und verweist u.a. auf Ov. met. 1,131 (amor sceleratus habendi) und 1,140 (effodiuntur opes, inritamenta malorum).

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Seinem Hauptziel folgend – dem Beweis der These, dass niemand die paganen Götter schmählicher behandle als gerade ihre eigenen Anhänger –,106 führt der Sprecher aus, dass nicht nur Dichter, sondern auch Schauspieler aller Art von unwürdigen Geschichten über die Götter profitieren. Mittels einer Paronomasie (ad usum […] abutuntur) wirft er den Heiden Missbrauch ihrer eigenen Götter zu persönlichen finanziellen Vorteilen vor. Noch deutlicher wird der Sprecher in 7,4,7, einem Passus, der sich in den Nachweis der Sinnlosigkeit von Tieropfern einordnet. Da schon Menschen angesichts der grausamen Schlachtungen zuweilen Mitleid mit den Tieren empfänden, müsse dies – so wird a minore gefolgert – für Götter erst recht gelten. In diesem Zusammenhang wird formuliert: semiferi nos homines – quin immo, apertius ut pronuntiemus, quod est verius atque aptius dictu: feri –, quos infelix necessitas et malus usus edocuit cibos ex his carpere, miseratione interdum commovemur illorum […].

Wir Menschen sind also einem unseligen Zwang zur Nahrungsaufnahme ausgesetzt, und dieser habe gemeinsam mit einem malus usus die Menschen dazu gebracht, sich von Tieren zu ernähren. Sofern man malus usus nicht als „schlechte Gewohnheit“ o.ä. auffassen möchte,107 muss hier der schlechte, da gegen göttlichen Willen erfolgende Gebrauch von Gaben der Schöpfung gemeint sein. Die Existenz eines schlechten Gebrauchs impliziert aber auch diejenige eines richtigen Gebrauchs, der seine Objekte ihrer wahren und eigentlichen Bestimmung zuführt. Schließlich setzt sich der Sprecher in nat. 1,59,1f. mit Vorwürfen gegen die stilistische Qualität der Heiligen Schrift auseinander. In diesem Zusammenhang lässt sich ein weiterer Aspekt einer impliziten usus-Theorie des Apologeten ausmachen: barbarismis, soloecismis obsitae sunt, inquit, res vestrae et vitiorum deformitate pollutae. 2. – puerilis sane atque angusti pectoris reprehensio, quam si admitteremus, ut vera sit, abiciamus ex usibus nostris quorundam fructuum genera, quod cum spinis nascuntur et purgamentis aliis, quae nec alere nos possunt nec tamen impediunt perfrui nos eo, quod principaliter antecedit et saluberrimum nobis voluit [coni. Sabaeus : valuit P B] esse natura.108

Den Vorwurf, die Heilige Schrift sei durch sprachliche Härten geradezu entstellt, kontert der Sprecher mit einem Bild aus einer anderen Sphäre: Auch einige Nahrungsmittel seien im Urzustand mit Stacheln und Schmutz behaftet. Dieses Beiwerk sei zwar unerwünscht und nutzlos, könne die Menschen aber doch nicht daran hindern, die Frucht, das Getreide o.ä. selbst zu nutzen, welches die Natur den Menschen zu ihrem Vorteil geschenkt habe. Obgleich die Wendung ex usibus 106 Nat. 4,30: illud nobis propositum est, quoniam nos impios et inreligiosos vocatis, vos pios contra et deorum contenditis esse cultores, demonstrare atque in medio ponere, ab hominibus magis nullis ignominiosius eos tractari quam a vobis. 107 So BRYCE/CAMPBELL (1895) 311 und MCCRACKEN (1949a) 484 (jeweils: „bad habit“), LAURENTI (1962) 211 („un’abitudine perversa“), AMATA (2000) 368 („l’abitudine perversa“) und FRAGU (2010) 28 („une mauvaise habitude“). Hingegen VON BESNARD (1842) 182: „durch üblen Gebrauch belehrt“. 108 Vgl. auch die Diskussion dieser Passage auf S. 83f.

3. Chrêsis Arnobiana? Überlegungen zu einem Forschungsparadigma

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nostris hier zunächst den ganz konkreten Gebrauch eines Lebensmittels bezeichnet, lassen sich weitergehende Folgerungen ableiten: Es gibt Güter, die nicht ohne Weiteres genutzt werden können, deren Gebrauch aber auch nicht einfach verworfen werden sollte. Hinzu kommt der Aspekt des Reinigens: Wenn man Widriges und Schmutziges entfernt hat, steht der Nutzung dessen, was für uns von Natur aus überaus förderlich ist, nichts mehr im Wege. Parallelisieren ließe sich auch die Rolle der Natur an dieser Stelle mit dem Schöpfungsplan Gottes in der Schilderung anderer christlicher Autoren: Da die Gegenstände der menschlichen Erfahrungswelt Erzeugnisse der Natur bzw. der Schöpfung sind, müssen sie in einer gewissen Weise gut sein, auch wenn diese Eigenschaft gegebenenfalls erst noch oder wieder zum Vorschein gebracht werden muss. Umso gewichtiger und auch über das Akzidentielle hinausgehend erscheint diese Passage, weil sie der Illustration des richtigen Umgangs mit (allerdings bereits christlichen) literarischen Gegenständen dient. Obwohl Arnobius mithin in Adversus nationes keine zusammenhängende Theorie über den richtigen Gebrauch paganer Kulturgüter entfaltet, lassen sich mehrfach Anklänge an usus-iustus-Vorstellungen anderer christlicher Autoren feststellen: Es gibt verschiedene Arten des usus, die – einhergehend mit genauer Unterscheidung und Prüfung – an die jeweiligen Erfordernisse anzupassen sind. Nützliches ist Nutzlosem vorzuziehen; auf Nützliches muss man seine Hoffnung setzen, errettet zu werden. Dinge können einem besseren und einem schlechten Gebrauch zugeführt werden. Auch im religiösen Bereich kann es angezeigt sein, Elemente in den eigenen Gebrauch zu überführen; die Heiden hingegen missbrauchen ihre Götter. Schließlich begegnet der Begriff „Gebrauch“ im Kontext eines den richtigen Umgang mit der Heiligen Schrift erläuternden Bildes auch in Verknüpfung mit dem Gebot der Reinigung.109 3.6 DAS IM FOLGENDEN ZUGRUNDE GELEGTE CHRÊSIS-VERSTÄNDNIS Um Missverständnisse zu vermeiden, möchte ich zwei zentrale epistemologische Punkte des meiner Untersuchung im Folgenden zugrunde gelegten ChrêsisBegriffes explizieren: 1. Ich verstehe Chrêsis als ein zentrales Konzept, mit dem viele christliche Autoren über einen langen historischen Zeitraum hinweg teils normativ den in ih109 Die von KRAUSE (1958) 176 vorgetragene Einschätzung hingegen liest Adversus nationes gewissermaßen als eine Anti-Chrêsis: „Die kompromißlose Art seiner Darstellung fand keinen Weg, auf dem die heidnische Philosophie in den Dienst des Christentums treten konnte, sein auf das Wesentliche, das Wahre, gerichteter Blick ist empfindungslos für [...] die Wahrheit im Irrtum, für den guten Willen in der sittlichen Unvollkommenheit. So ist auch verständlich, daß sein Werk rasch in Vergessenheit geriet, als nach der Verfolgung nicht mehr das Trennende, sondern das Gemeinsame in den Vordergrund trat.“

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rer Sicht richtigen Umgang von Christen mit paganen Gütern propagieren, teils deskriptiv in der Retrospektive den Umgang früherer (Literaten-)Generationen charakterisieren, teils ihre eigenen Werke praktisch gestalten. Keineswegs soll aber behauptet werden, dass sich die historische Auseinandersetzung zwischen paganer Antike und Christentum immer, vollumfänglich und auf allen Ebenen so vollzogen habe, dass man sie unter diesem einen Paradigma der von einem überlegenen Standpunkt aus erfolgenden kritischen und planmäßigen Auswahl betrachten könne.110 2. GNILKA hebt als Vorzug der einschlägigen Arbeiten des Indologen Paul Hacker hervor, dieser habe sich „mit größter Genauigkeit an die behandelten Texte [angeschmiegt]“.111 Ein akribischer Blick auf die Texte und ein genaues Hinhören auf die Aussagen ihrer Autoren sind unbestreitbar zentrale Anforderungen an alle Philologinnen und Philologen. Dem Axiom, christliche Literatur sei „nur von innen heraus (aus dem Geist und der Lehre) zu verstehen“,112 ließe sich einerseits der Grundsatz der alexandrinischen Homerphilologie Ὅμηρον ἐξ Ὁμήρου σαφηνίζειν, andererseits das Prinzip des hermeneutischen Wohlwollens als Parallelen zur Seite stellen.113 Deutlich darüber hinaus geht allerdings GNILKAS These, dass man das Verhältnis von Antike und Christentum mit Hilfe des Chrêsis-Ansatzes umso leichter erforschen könne, je höher die eigene Zustimmung zur Christianisierung der Antike, mithin die Akzeptanz christlicher Glaubenssätze, sei.114 Obgleich sich GNILKA in diesem Zusammenhang mit res tantum intellegitur, quantum diligitur implizit auf ein Prinzip der antiken Vergilerklärung bezieht,115 möchte ich für die folgende Untersuchung das hermeneutische Potenzial des Chrêsis-Konzepts ausdrücklich vom religiösen Standpunkt des Forschenden losgelöst wissen.116 110 Anders GNILKA (1984) 13: „Die christliche Kultur […] entstand vielmehr aus der klarbewußten, energischen, zielgerichteten Arbeit vieler einzelner Persönlichkeiten, vieler christlicher Denker, Dichter, Literaten, Künstler. Sie alle […] arbeiteten im Umgang mit den vorchristlichen Geistesgütern nach einem einheitlichen großen Plan.“ – Kritik an der These eines solchen „Masterplans“ wurde mehrfach erhoben, etwa von ERDT (1985) 417, WINKELMANN (1986) 60 und GEMEINHARDT (2007) 16. 111 GNILKA (1980) 36. 112 GNILKA (1980) 35, Anm. 1a. 113 Gleichwohl polemisiert WINKELMANN (1986) 61 schon hiergegen: „Das ist mehr als eine untergeordnete Geschmackssache.“ 114 GNILKA (1984) 23. Noch deutlicher formuliert Johannes Dörmann auf S. 9 im Vorwort zu GNILKAS Monographie, das mitherausgebende Institut für Missionswissenschaft der Universität Münster wolle durch diese Publikationsreihe „in den Wirren unserer Zeit Maßstäbe für die Evangelisierung der Welt von heute“ gewinnen. 115 Mit eben diesem Prinzip wirbt (der Sache, allerdings nicht dem Wortlaut nach) Augustin unter Verweis auf die schulmäßige Beschäftigung mit Vergil bei dem Manichäer Honoratus für hermeneutisches Wohlwollen gegenüber der Bibel (util. cred. 13). 116 Einer anderen Intention geschuldet sind Aussagen wie etwa DODDS (1965) 5: „The historian’s interpretation of this period [sc. der Zeit von Marcus Aurelius bis Konstantin] is inevitably coloured in some degree by his own religious beliefs. It is therefore right that I should declare my interest, so that readers may make the appropriate allowances. It is in fact a kind of disinterest.“

4. FORM UND ADRESSATENKREIS VON ADVERSUS NATIONES 4.1 DER LITERARISCHE CHARAKTER DER SCHRIFT Zu wenig im Blick der Forschung ist bislang der Umstand gewesen, dass auch apologetische Schriften neben ihren jeweiligen inhaltlichen Anliegen literarische Intentionen verfolgen können117 bzw. dass sie wie jegliches Schrifttum unter literaturwissenschaftlichen Aspekten betrachtet werden können. So ist z.B. nicht a priori auszuschließen, dass in einem Werk Sprecher und Autor nicht identisch sind oder dass implizite und explizite Adressaten sowie intendierte und potenzielle Rezipienten divergieren könnten. Ferner ist zu bedenken, dass es sich in der Regel nicht um Mitschriften von „echten“ Streitgesprächen handelt, wie sie uns etwa in Augustins Contra Felicem Manichaeum libri duo118 vorliegen, oder um Erwiderungen auf vorliegende Schriften wie im Falle von Augustins Contra Faustum,119 sondern um gänzlich vom Autor konzipierte und bewusst geformte Texte. Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden differenziert dargelegt werden, in welche äußere Form Arnobius sein Werk Adversus nationes gegossen hat bzw. in welchen fiktionalen Rahmen er seinen Inhalt gestellt hat und in wieweit sich dieser Rahmen an historisch fassbare Gegebenheiten anlehnt. Nach einem kurzen Überblick über die mit der literarischen Form einhergehenden Vorteile ist schließlich zu diskutieren, wie explizite und implizite Adressaten sowie intendierte bzw. potenzielle Rezipienten zueinander in Beziehung gesetzt werden können.

117 Anders etwa KINZIG (2000) 183: „Diese Arbeiten [= u.a. die Schriften von Tertullian und Arnobius] waren ursprünglich eben nicht zur weiteren Verbreitung bestimmt, sondern sind nur als ,Entwürfe‘ anzusprechen, die einzig dem Nachweis des Christentums dienten und keine literarischen Ambitionen hatten.“; DERS. vermutet ebd. auf S. 180, die Gattung der Adversus-nationes-Schriften insgesamt sei im Katechumenenunterricht anzusiedeln und habe den Charakter von Garantiewerken. Zu diesem von DÖLGER geprägten Begriff vgl. die Ausführungen unten, S. 65, Anm. 196. 118 Vgl. hierzu z.B. MAYER (1974) 308. 119 Vgl. c. Faust. 1,1: commodum autem arbitror sub eius nomine verba eius ponere et sub meo responsionem meam.

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4.2 ADVERSUS NATIONES ALS REDE IN EINEM IMAGINIERTEN PROZESS120 Adversus nationes birgt explizit wie implizit zahlreiche Elemente einer Verteidigungsrede in sich121 und wird vom Sprecher auch an drei Stellen ausdrücklich als defensio bezeichnet.122 Bereits der Anfang des Werkes (1,1,1–3) lässt die Grundzüge der imaginierten Sprechsituation erkennen: quoniam comperi nonnullos, qui se plurimum sapere suis persuasionibus credunt, insanire, bacchari et velut quiddam promptum ex oraculo dicere: postquam esse in mundo Christiana gens coepit, terrarum orbem perisse, multiformibus malis affectum esse genus humanum, ipsos etiam caelites [...] terrarum ab regionibus exterminatos, 2. statui pro captu ac mediocritate sermonis contraire invidiae et calumniosas dissolvere criminationes, ne aut illi sibi videantur, popularia dum verba depromunt, magnum aliquid dicere aut, si nos talibus continuerimus ab litibus, obtinuisse se causam putent victam sui vitio, non adsertorum silentio destitutam. 3. neque enim negaverim validissimam esse accusationem istam [...].123

Der Sprecher, der sich an dieser Stelle nicht vorstellt oder in irgendeiner Weise charakterisiert, hat von Vorwürfen gehört, die einige Leute törichterweise im Munde führten. Obwohl er also nicht selbst Ziel derartiger Angriffe gewesen ist, hat er sich das Ziel gesetzt, die verleumderischen Beschuldigungen zu entkräften. Auch das weitere Vokabular macht deutlich, dass in gewisser Weise ein Rechts120 In den folgenden Abschnitten soll jeweils nur plausibel gemacht werden, dass in Adversus nationes gewisse Instanzen (Verteidiger, Ankläger, Publikum) vertreten sind, so dass sich wesentliche Elemente einer Gerichtssituation zeigen lassen. Eine vollständige Auswertung aller Passagen, die direkt oder indirekt zur Charakterisierung des Verteidigers, der Ankläger oder des Publikums dienen, ist hier nicht intendiert. 121 Hierauf weisen z.B. auch FÖLLINGER (1999) 14ff., ZILLING (2004) 193ff., ARIS (2018) 1041 und TORNAU (2018) 71 hin. Auch LOPETEGUI SEMPERENA (2017) 68 weist en passant darauf hin, dass Adversus nationes charakteristische Elemente des genus iudiciale enthält; insgesamt aber betrachtet sie das Werk als im Rahmen und Ton einer philosophischen Debatte präsentiert bzw. gehalten (ebd. S. 53.64 und passim). 122 Nat. 2,1,1: vellem [...] ab instituta principaliter defensione deverticulo paulisper facto talia verba miscere; 3,2,1: nunc ad ordinem revertamur [...], ne diutius interrupta defensio palmam criminis comprobati calumniatoribus concessisse dicatur; 5,18: postulat quidem magnitudo materiae atque ipsius defensionis officium. Die Äußerung si in rebus perspicuis et nullam desiderantibus defensionem non stoliditatis esset diutius inmorari (1,3,3) stellt keine Gegeninstanz hierzu dar, da nur für einen einzelnen Punkt die Notwendigkeit einer Verteidigung(srede) negiert wird. 123 Eine eingehende Analyse dieser prominenten Passage wird in Teil II. A auf S. 195ff. vorgenommen. – Zu den juristischen Kenntnissen des Arnobius vgl. FERRINI (1894), der die wichtigsten Anspielungen auf juristische Ausdrucksweisen und Einrichtungen in Adversus nationes gesammelt hat. Er attestiert dem Autor „ziemlich sichere Kenntniss des römischen Rechts“ (ebd. S. 343) und vermutet als seine juristische Hauptquelle die Institutiones des römischen Juristen Gaius (2. Jh. n.Chr.). LE BONNIEC (1982a) 346 formuliert allgemein: „Arnobe puise largement dans le vocabulaire juridique“; SIMMONS (1995) 116 urteilt: „Arnobius provides familiarity with forensic science“. HAGENDAHL (1937a) 116 formuliert unter explizitem Einschluss der Jurisprudenz: „Pour combattre les religions païennes, lʼauteur prend à son service tous les domaines de la science“. – Zur römischen Jurisprudenz in Africa s. VÖSSING (1996).

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streit (lis) um einen Fall (causa)124 ausgefochten wird, den es zu gewinnen gilt (victam) und in dem ein Rechtsbeistand (adsertor) nötig ist. Schon ganz am Anfang des Werkes ist also diejenige Konstellation präsent, die jede juristische Auseinandersetzung prägt:125 Über mehrere Fragen (quaestiones) herrscht Uneinigkeit: Ist die Welt zugrunde gegangen, werden die Menschen durch zahllose Übel geplagt, sind die Himmelsbewohner aus den Regionen der Erde vertrieben, seitdem die Glaubensgemeinschaft der Christen existiert? Die Gegenpartei bejaht dies; der Sprecher negiert es mit aller Vehemenz, so dass sich ein Gegensatz bildet, der aufgelöst werden muss. Hierin kann man mit CHRISTOFF NEUMEISTER das „dynamische Prinzip“ eines jeden Gerichtsprozesses sehen.126 Aus dieser Kontroverse ergibt sich auch die „Ausgangsstellung“, mit Termini der antiken Rhetorik also die στάσις oder der status,127 woraus das jeweilige Argumentationsziel der beiden Streitparteien resultiert. Ihren Ausgang nimmt die Verteidigung der Christen in Adversus nationes dabei vom sogenannten status coniecturae bzw. στοχασμός, also von der Frage, ob die Angeklagten die ihnen zur Last gelegten Vergehen wirklich begangen haben.128 Problematisch erscheinen jedoch die folgenden, Allgemeingültigkeit beanspruchenden Ausführungen NEUMEISTERS:129 Welche von den beiden Antworten, die auf die kontroverse quaestio gegeben werden können, die richtige ist, entscheidet erst der Ausgang des Prozesses. Es gibt also über diese Frage zunächst nur vorläufige Meinungen (opiniones), noch kein endgültiges Wissen (scientia). Darin liegt nun die Chance der Rhetorik, denn wäre alles von vornherein klar, dann würde es weder eine Verhandlung noch Anwälte noch Plaidoyers geben. Die Unsicherheit der Sachlage ist [...] geradezu die Voraussetzung dafür, daß der Redner mit seiner Kunst etwas ausrichten kann.

Hier liegt eine Verwechslung der Ebenen vor: Nicht der Ausgang des Prozesses entscheidet, welche die richtige Antwort auf die quaestio ist, sondern die Sachlage bzw. die faktische Richtigkeit einer Aussage oder eines Anspruches. Im Ausgang des Prozesses manifestiert sich lediglich, welche Antwort nach Ansicht des Ge124 Als causa wird der Rahmen von Adversus nationes mehrfach bezeichnet, u.a. in 2,72,2 (ne causam tam longa prodere dissimulatione videamur); 3,1,2; 3,4,1 (jeweils: parte in hac causae) sowie 3,6,6 (perorata esset et haec causa). 125 Vgl. hierzu etwa NEUMEISTER (1964) 15ff. 126 NEUMEISTER (1964) 15. 127 Zur status-Lehre vgl. z.B. VOLKMANN (1963) § 4ff. und LAUSBERG (2008) § 79ff., ferner die Ausführungen unten, S. 225 und 231f. 128 Die Grundfrage, um deren Klärung sich das Gericht also kümmern muss, ist dabei „an fecerit“. Vgl. z.B. Quint. inst. 3,6,73: „occidisti hominem“, „non occidi“: quaestio, an occiderit, status coniectura. Dass der status coniecturae nicht immer nur auf die Vergangenheit gerichtet ist, macht z.B. Cicero in De inventione (1,11) deutlich: quid factum sit, potest quaeri hoc modo: occideritne Aiacem Ulixes; et quid fiat hoc modo: bonone animo sint erga populum Romanum Fregellani; et quid futurum sit, hoc modo: si Carthaginem reliquerimus incolumem, num quid sit incommodi ad rem publicam perventurum. – Es ist freilich nicht a priori ausgeschlossen, dass die Verteidigung im Laufe ihrer Darlegung noch weitere status einnehmen könnte. 129 NEUMEISTER (1964) 15f.

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richtes die zutreffende ist; diese Einschätzung muss aber nicht zwangsläufig mit der Wahrheit übereinstimmen. Auch die These über opiniones und scientia stimmt nur im Blick auf die Richter, und hierin liegt in der Tat – im Guten wie im Schlechten – das Wirkungspotenzial der Rhetorik. Die prozessierenden Parteien aber verfügen sogar in vielen Fällen über endgültiges Wissen bezüglich des Sachverhaltes, gestehen dies aber unter Umständen nicht ein, weil es für sie nachteilig wäre. Also ist nicht die Unsicherheit der Sachlage, sondern die anfängliche richterliche Unkenntnis über sie Voraussetzung für die Wirksamkeit jedweder Argumentation.130 4.2.1 Die Szenerie Zu Anfang des Werkes wird zwar, wie unten gleich gezeigt wird, eine iudiciale Kommunikationssituation evoziert, indem die Rollen von Ankläger, Verteidiger und Richter bzw. Publikum (zumindest implizit)131 konstituiert werden. Allerdings unterlässt es Arnobius, das Geschehen in einem näher bestimmbaren zeitlichen oder örtlichen Rahmen zu situieren, was zwar der Anschaulichkeit abträglich sein mag, aber die Auseinandersetzung einer konkreten Situation enthebt und sie auf eine überzeitliche, grundsätzlichere Ebene transponiert. An zwei Stellen jedoch wird der Sprecher im Blick auf die Kommunikationssituation paradoxerweise zugleich anschaulicher und allgemeiner. In 1,29,1 wird der Blick folgendermaßen entgrenzt: atque utinam daretur in unius speciem contionis toto orbe contracto oratione hac uti et humani in generis audientia conlocari.

Der Sprecher äußert den durch die Verwendung des Konjunktivs Imperfekt als unerfüllbar qualifizierten Wunsch, dass die ganze Welt zusammenkomme und eine einzige Versammlung bilde. Vor diesem Publikum wolle der Sprecher dann die aktuelle Rede132 halten und sie dem gesamten Menschengeschlecht zu Gehör bringen. Dieser Äußerung lässt sich zum einen entnehmen, dass der Verteidiger davon überzeugt ist, dass das, was er vorzubringen hat, für die ganze Welt von Belang ist. Zum anderen scheint er auch sicher zu sein, dass seiner Argumentation gewissermaßen ubiquitäre Geltung und Überzeugungskraft eignet. Dies ist umso beachtlicher, als er des Öfteren auch auf Länder und Völker zu sprechen kommt, die nicht im engeren Sinne zum griechisch-römischen Kulturkreis gezählt wur130 Diese Anschauung ergibt sich auch aus den von NEUMEISTER ebd. S. 16 zitierten Äußerungen Ciceros (de orat. 1,241: quae causae sunt eius modi, ut de earum iure dubium esse non possit, omnino in iudicium vocari non solent) und Quintilians (inst. 5,14,14: nam si contingeret semper controversa [sc. ab adversario] confessis probare, vix esset in hoc genere usus oratoris). 131 Anders freilich z.B. Tertullian am Beginn des Apologeticum (1,1), der sich ausdrücklich an die Romani imperii antistites als Richterinstanz wendet. 132 Bei contracto handelt es sich um die Textgestaltung der „zweiten Hand“ in B. Hält man am in P und B1 überlieferten contracta fest, müsste es sich wohl um eine gekürzte Fassung der aktuellen Rede handeln, die der Sprecher dann vortragen wollte.

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den;133 man wird also davon ausgehen dürfen, dass hier wirklich die gesamte Menschheit als ersehntes Publikum namhaft gemacht wird. Ein ähnlicher Eindruck entsteht in 6,14,1f.: libet in hoc loco, tamquam si omnes adsint terrarum ex orbe nationes, unam facere contionem atque in aures haec omnium communiter audienda depromere: 2. „quidnam est istud, homines, quod ipsi vos ultro in tam promptis ac perspicuis rebus voluntaria fallitis et circumscribitis caecitate134?

Der Sprecher möchte gerne eben am Ort des imaginierten Geschehens (in hoc loco) zu einer einzigen Versammlung sprechen und dabei aller Ohren erreichen, als ob alle Völkerschaften der Welt zugegen wären. Eine besondere Pointe der lateinischen Formulierung liegt hierbei noch darin, dass das Substantiv nationes im christlichen Sprachgebrauch ähnlich wie das griechische Substantiv τὰ ἔθνη zur Bezeichnung der Heiden dient.135 Im nächsten Satz wiederum werden aber die Menschen im Allgemeinen (homines) apostrophiert, so dass die Gruppe der Adressaten nun denkbar weit ausgedehnt erscheint.136 4.2.2 Der Sprecher/Verteidiger Wie schon oben gesehen, schildert der Sprecher, der sich nicht näher vorstellt und somit nicht a priori mit dem Autor in eins zu setzen ist,137 am Beginn des Werkes eine Notlage: Wenn niemand für die Christen und ihre Religion das Wort ergreift, glauben ihre Widersacher, sie seien siegreich, und der christliche Glaube scheint im Stich gelassen worden zu sein. Gerade durch die Formulierung u.a. dieser 133 So z.B. in 1,16,1–3 (Alamannen, Perser, Skythen, Gaetuler, Mauren und Numider); 4,13 (Perser, Inder, Chaldaeer und Armenier) sowie 6,4,4 (Aethiopen). 134 Zum arnobianischen Gebrauch des Metaphernfeldes Blindheit/Dunkelheit/Licht vgl. SANSONE (2017). 135 Vgl. hierzu ThLL 9,1, Sp. 137f., s.v. natio II B 2 b β und BAUER/ALAND, s.v. ἔθνος 2. Vgl. ferner nat. 5,29: quid dicitis o gentes, quid occupatae, quid deditae templorum venerationibus nationes? 136 In 2,1,1 äußert der Sprecher ferner den Wunsch, mit allen Christengegnern ins Gespräch zu kommen: hoc in loco tribui si ulla facultas posset, vellem cum his omnibus, quibus nomen invisum est Christi, [...] talia verba miscere. 137 Anders ZILLING (2004) 192: „Die Advokatenrolle nimmt Arnobius selber ein.“ NORTH (2007) 33 jedoch scheint mit mehreren personae oder zumindest Sprechhaltungen zu rechnen: „In other passages [...] the identity assumed by Arnobius is even more difficult to grasp.“ Vgl. ferner MONCEAUX (1963) 252 („Lʼauteur se met volontiers en scène“) und 279 („lʼauteur luimême sʼest réservé dans la pièce le rôle principal“) sowie die in anderem Kontext verwendeten Formulierungen bei MASTERSON (2014) 387 („Arnobius plays the consummate orator on the attack“) bzw. 398 („Arnobius plays, after a fashion, the vates“). – Dass Arnobius ein gewisses Vergnügen an der Einführung anderer Sprecher-personae gehabt haben dürfte, ergibt sich daraus, dass er in 7,9,2–12 ein Rind sprechen (vgl. hierzu unten, S. 375ff.), in 4,19 gar mehrere Minervae miteinander zanken lässt; vgl. auch MONCEAUX (1963) 279: „Il aime surtout à mettre ses personnages en scène“ und CHAMPEAUX (2018) 208: „Arnobe est homme de théâtre“.

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Überlegungen aber bricht der Sprecher das Schweigen der (potenziellen) Verteidiger (adsertorum silentio, 1,1,2) und übernimmt somit die Rolle eines Anwaltes. Durch die Verwendung der ersten Person Plural bzw. der nominalen Pluralformen, die kaum als Pluralis modestiae aufzufassen sein dürften, im selben Abschnitt (si nos talibus continuerimus ab litibus; adsertorum) ergibt sich jedoch der Eindruck, im Grunde kämen alle Christen als Verfechter ihres Glaubens in Frage und der Sprecher ergreife nur stellvertretend als einer von vielen möglichen Kandidaten das Wort. Hiermit harmoniert auch der Befund, dass in Adversus nationes insgesamt nur vierzehnmal das Pronomen ego mit Bezug auf den Sprecher verwendet wird, sich aber 211 Belege für das Pronomen nos mit Bezug auf die Christen (bisweilen auch in Kombination mit der Bedeutung „wir Menschen“) finden.138 An einer Stelle jedoch gewinnt der Sprecher gewisse Konturen: In 1,39,1f. kontrastiert er seine eigene frühere pagane Kultpraxis mit seinem jetzt erlangten Erkenntnisfortschritt und seinem daraus resultierenden Wohlverhalten: venerabar, o caecitas, nuper simulacra modo ex fornacibus prompta, in incudibus deos et ex malleis fabricatos, elephantorum ossa, picturas, veternosis in arboribus taenias; si quando conspexeram lubricatum lapidem et ex olivi unguine sordidatum, tamquam inesset vis praesens, adulabar, adfabar et beneficia poscebam nihil sentiente de trunco, et eos ipsos divos, quos esse mihi persuaseram, adficiebam contumeliis gravibus, cum eos esse credebam ligna, lapides atque ossa aut in huius rerum habitare materia. 2. nunc doctore tanto in vias veritatis inductus omnia ista, quae sint, scio, digna de dignis sentio, contumeliam nomini nullam facio divino, et quid cuique debeatur vel personae vel capiti, inconfusis gradibus atque auctoritatibus tribuo.

Obwohl der Sprecher in diesem Passus seine früheren heidnischen Kulthandlungen in vielen Einzelaspekten beschreibt und auch sein jetziges Verhalten vierfach gegliedert (scio/sentio/facio/tribuo) schildert, finden sich keinerlei greifbare biographische Details, keine Auskünfte über die Beweggründe, die Umstände oder den Ort der Konversion,139 so dass die Aussagen letztlich einerseits etwas diffus, andererseits aber auch schablonenhaft bleiben.140 Doch gerade diese Dar138 Eine bemerkenswerte Fokussierung des vermeintlichen Wirkens aller Christen auf den Sprecher hingegen begegnet in 1,16,5f.: nationibus enim sumus in cunctis […]. si enim ego, ut male sit, facio, cur, ut bene sit, non obsto? […] si, ut in bellis accipiatur vulnus, ego dicor adferre fortunam, cur, duelles cum pereant, laevum augurium non sum […]? – Kritik an der Verwendung des Begriffs „wir“ in Bezug auf die Christen äußert PANEGYRES (2019) 410, da Arnobius aufgrund seiner eigenen Unwissenheit, was Christentum bedeute, keinen genauen Inhalt damit verbinden könne, sondern sich nur auf eine rhetorisch konstruierte binäre religiöse Pseudo-Realität beziehe (vgl. auch Teil I, S. 32f.). Mindestens im Rahmen eines ChristenProzesses gibt es aber sehr wohl die binäre Opposition „(bekennender) Christ/Nichtchrist“, und dort ist sie von existenzieller Bedeutung. 139 Vgl. auch AHMED (2013) 45: „hier [ist] keine Rede von einem Konversionsereignis im engeren Sinne [...], sondern von dem Zustand des Sprechers vor oder nach einem solchen Ereignis, das der Leser annehmen muss.“ 140 Vgl. auch NOCK (1933) 258: „We should not perhaps take his autobiographical statement literally, for the reason that his account of his former attitude agrees almost verbally with the common ancient descriptions of the type of the superstitious man.“ und AHMED (2013) 47:

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stellung ohne konkret überprüfbaren Rahmen macht diese Konversion in gewisser Weise paradigmatisch; beinahe jeder zeitgenössische Konvertit dürfte sich mehr oder weniger in ihr wiedererkannt haben.141 So gesehen, gewinnt die persona des Verteidigers auf den ersten Blick durch diese Digression mehr Tiefe und Individualität; letztlich wird sie aber nicht so weit individualisiert, dass nicht weiterhin weite Kreise der christlichen Gemeinden sich in ihr wiederfinden könnten.142 4.2.3 Die Gegner/Ankläger Abgesehen davon, dass es sich bei den Anklägern um Heiden, genauer gesagt um Anhänger der traditionellen römischen Religion, handelt, lassen sie sich kaum einer konkreten Personengruppe zuordnen, sondern erscheinen insgesamt sehr heterogen. Nirgends belegt der Sprecher seine Gegner mit einem spezifischen Kollektivbegriff.143 Doch bereits ganz am Anfang kommt er in allgemeiner Weise auf sie zu sprechen (1,1,1): „Ob [...] wir in nat. I 39 also ein biographisches Detail erfahren, muss offen bleiben.“ ENG(2009) 54 schließt sich NOCK in der Bestandsaufnahme an, sieht aber (S. 69) in der Beschreibung von Details abergläubischer paganer Praktiken den Versuch, das Christentum gegen den Vorwurf des Aberglaubens in Schutz zu nehmen. SIMMONS (1995) 109ff. hingegen, der Zeugnisse für derartige Kulthandlungen nennt, sieht darin eine echte autobiographische Aussage des Arnobius, die authentische Praktiken schildere. Auch GUÉDON (2011– 2012) 606f. hält die geschilderten Handlungen für historisch; und FREND (2006b) 8 berichtet, er selbst habe 1939 in Algerien vergleichbare kultisch verehrte Elefantenknochen und Bänder an Bäumen gesehen. KAABIA (2015) 1221 verweist innerhalb seiner Analyse der Passage hinsichtlich der mit Bändern geschmückten Bäume sogar auf vergleichbare Praktiken im zeitgenössischen Tunesien. LE BONNIEC (1982a) 311 sieht an dieser Stelle einen Bezug auf die Konversion des historischen Arnobius, verweist aber ebd. auch auf den Mangel an konkreten Informationen („il nʼest pas prodigue de confidences“). Jedenfalls lässt sich in nat. 1,39 kaum etwas finden, das zu Hieronymusʼ Bericht über Arnobiusʼ Konversion in chron. ad 327 p. Chr. (p. 231,14ff. HELM) passt. Vgl. hierzu auch unten, S. 65. 141 AHMED (2013) 46 gibt für den Fall, dass es sich bei Adversus nationes tatsächlich um eine Garantieschrift handelt (vgl. hierzu unten, S. 65, Anm. 196), Folgendes zu bedenken: „Wir könnten dann annehmen, dass der Autor gerade an dieser Stelle genau das schreibt, was der Bischof und die Gemeinde von ihm hören will, nämlich eine Erzählung über die eigene Konversion, wie sie in der Gruppe für ,richtigʻ gehalten wird.“ 142 Eine genauere Untersuchung erfährt diese Passage unten, S. 297f. Vgl. allgemein auch TROMBLEY (2006) 313: „The apologetics of Arnobius [...] indicate the type of ideological persuasion, but tell little about the personal experience that drew people into the Christian catechumenate.“ 143 Nicht eingegangen werden soll hier auf die in nat. 2,15,1 genannten viri novi, auf deren Identifizierung die Sekundärliteratur viel Mühe verwendet hat [Einen Überblick zur einschlägigen Diskussion bieten u.a. FORTIN (1973), GIERLICH (1985) 199f., WLOSOK (1989a) 373, SIMMONS (1995) 216ff., LUCARINI (2005) 146ff. und ARMISEN-MARCHETTI (2018) XXIIIff.]. Diese werden nämlich nicht als Ankläger oder direkte Kontrahenten genannt, sondern nur als (charakterlich defizitäre) Verfechter einer in der Sicht des Sprechers verfehlten philosophischen Anschauung (quare nihil est, quod nos fallat, nihil, quod nobis polliceatur spes cassas, id, quod a novis [coni. Gelenius, von REIFFERSCHEID und MARCHESI übernommen : nobis P BERG

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Prolegomena nonnullos, qui se plurimum sapere suis persuasionibus credunt, insanire, bacchari et velut quiddam promptum ex oraculo dicere

Die Zahl der Gegner erscheint also durchaus überschaubar (nonnullos), und durch die Wahl des Wortfeldes „Wahnsinn/Raserei/religiöse Verzückung“ (insanire; bacchari; promptum ex oraculo dicere) wird insinuiert, dass ihre Behauptungen, mit denen man sich im Folgenden auseinandersetzen wird, keine logische Stringenz aufweisen, obwohl sie selbst sich auf ihren Verstand äußerst viel zugute halten (se plurimum sapere suis persuasionibus credunt). Ferner wird in 1,42,3 ein anonymer Gegner explizit als außer sich vor Wut beschrieben (aliquis furens, iratus et percitus). An einigen Stellen jedoch glaubte die Forschung konkrete, wenngleich nicht namentlich genannte Ankläger identifizieren zu können, so etwa in der folgenden Passage (2,64,2): si tibi fastidium tantum est, ut oblati respuas beneficium muneris, quinimmo si tantum sapientia praevales, ut ea, quae offeruntur a Christo, ludum atque ineptias nomines

Einen recht eindeutigen Bezug auf den neuplatonischen Christengegner Porphyrios von Tyros (234–305)144 sieht hierin etwa HENRIKE ZILLING,145 und für WERNER DAHLHEIM ist Porphyrios „der große Gegner“ im Gesamtwerk des Arnobius überhaupt146 – eine Position, die maßgeblich von MICHAEL BLAND SIMMONS geprägt wurde,147 dessen Thesen vielfach Zustimmung fanden, jedoch auch Skepsis

144

145 146 147

B : bonis coni. Ursinus, übernommen von ARMISEN-MARCHETTI] quibusdam dicitur viris et inmoderata sui opinione sublatis, animas immortales esse). Ausführliche Diskussion der Textkonstitution bei ARMISEN-MARCHETTI (2018) XXIIIff. Zu Porphyrios vgl. z.B. NESTLE (1990) 20ff., SIMMONS (1995) 22ff.218ff. und (2015) 3ff. sowie CHASE (2001); weiterführende Literatur verzeichnet FIEDROWICZ (2000) 345ff. – Eine neue Sammlung der Fragmente, Testimonien und Dubia des porphyrianischen Werkes Contra Christianos liegt jetzt vor mit BECKER (2016), wo auch die erhaltenen biographischen Informationen zu Porphyrios sowie die Contra Christianos betreffenden Überlieferungsprobleme ausführlich diskutiert werden. BECKER schlägt, was die Präsentation von Texten angeht, nach eigenen Angaben (S. 95) einen Mittelweg zwischen dem Maximalismus von Harnacks und dem Minimalismus neuerer Sammlungen ein. „Als sicher zuweisbar“ klassifiziert er (ebd. S. 96) Texte, „die Porphyrios bzw. seinem anti-christlichen Argumentationshorizont zweifelsfrei zugeordnet werden können, und zwar [...] entweder durch Namensnennung des Porphyrios, durch Anspielung auf den Titel von Contra Christianos oder [...] durch einen Inhaltsvergleich mit sicher zuweisbaren Texten.“ Vgl. zu Text, Kontext und Wirkung von Contra Christianos ferner die Beiträge im Sammelband von MÄNNLEIN-ROBERT (2017). ZILLING (2004) 196, vgl. ebd. S. 184ff. DAHLHEIM (2003) 316. SIMMONS (1995) passim, z.B. S. 10f. Zuvor war Porphyrios nur für das zweite Buch von Adversus nationes eine gewisse Relevanz zuerkannt worden, vgl. SIMMONS (1995) 320. DERS. formuliert programmatisch ebd. auf S. vi: „the present work is significant for revealing an anti-Porphyrian argumentation which permeates the Adv. nat. as a whole and has given Arnobius the framework according to which he developed the basic premisses of his frontal assault upon religious paganism.“

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und vereinzelt massive Kritik erfuhren.148 SIMMONS geht ferner davon aus, dass Arnobius vor seiner Konversion selbst ein Anhänger jenes Neuplatonikers gewe148 SIMMONS’ Position oder zumindest der Ansicht, dass Arnobius auf Vorwürfe des Porphyrios antworte, haben sich zahlreiche Forscher angeschlossen, z.B. FIEDROWICZ (2000) 74ff., der auch eine persönliche Bekanntschaft des Arnobius mit Porphyrios für möglich hält (ebd. S. 74), DEPALMA DIGESER (2006), KAHLOS (2009) 43.48 und FRAGU (2010) XXV; FREND (1987) 14 hingegen spricht davon, dass Neuplatoniker traditionelle Vorwürfe gegen die Christen unter Verwendung porphyrianischer Argumente verstärkt hätten. NICHOLSON (1984) 105 bemerkt mit Blick auf das zweite Buch: „Arnobius’ target is larger and more amorphous than Porphyry.“ Zurückhaltend MERTANIEMI (2009) 109: „it is possible that Porphyry and his circle are in the background of at least some of these descriptions [in texts of Lactantius and Arnobius]“. NORTH (2007) 30 betrachtet es als unstrittig, dass die ersten beiden Bücher von Adversus nationes sich mit „Porphyry’s anti-Christian works“ befassen, und nennt ältere Literatur hierzu. – EDWARDS (2007) hingegen konzediert, dass sich bei Arnobius Antworten auf Vorwürfe finden, die bei Porphyrios artikuliert werden; doch er zeigt sich skeptisch, ob man entscheiden könne, ob Arnobius’ Schrift eine Erwiderung auf Porphyrios oder auf weit verbreitete Vorwürfe im Allgemeinen darstelle (121f.). Er bilanziert schließlich ebd. S. 125: „Porphyry’s work was menacing enough to provoke an occasional salvo, not to dictate the whole plan of campaign.“ LUCARINI (2005) 154 formuliert zunächst, seiner Meinung nach seien bei Arnobius keine „Echos einer spezifisch antiporphyrianischen Polemik erkennbar“, bevor er nach einer eingehenden Analyse der „stärksten“ SIMMONSʼschen Argumente einen primären Bezug auf Porphyrios als „Irrtum“ (S. 164) bezeichnet. – Auf das Werk des Arnobius geht BECKER (2016) in seiner Ausgabe der Fragmente von Porphyrios’ Contra Christianos selten ein: Auf S. 300 referiert er zu fr. 9(a) Harnack = 45F Becker, dass in der Forschung hierzu auf nat. 1,58,1 verwiesen worden ist; auf S. 438 nennt er nat. 1,60,1 im Kontext der Kommentierung von fr. 84 Harnack = 82D Becker als Vergleichstext. Ferner kommt auf S. 409 zur Sprache, dass in der Forschung zu fr. 81 Harnack = 76F Becker auf nat. 2,63–75 verwiesen wurde. Schließlich berichtet ECKER auf S. 370 zu fr. 80 Harnack = 65F Becker, dass in der Forschung auf eine Parallele in nat. 7,44–48 hingewiesen wurde. – Nach RIEDWEG (2005) 152 „tappen wir bei Porphyrios[’ Schrift Contra Christianos bzgl. Inhalt und Argumentation] weitgehend im Dunkeln.“ Die porphyrianische Schrift De philosophia ex oraculis haurienda wiederum hält SIMMONS (1995) 322f. für „perhaps one of the most dangerous pieces of anti-Christian literature [...] during the ante-Nicene period“; ihr widme Arnobius in seinem Werk ernsthafte Aufmerksamkeit (ebd. S. 322). RIEDWEG (2005) 165 hingegen formuliert, „eine polemische Perspektivenverengung und Fokussierung auf das Christentum [ist in dieser Schrift nirgendwo] zu erkennen“; ferner bilanziert er ebd. S. 187: „[Es] deutet in Eusebiosʼ Ausführungen über den Inhalt und in den erhaltenen Fragmenten nichts darauf hin, dass die kritische Auseinandersetzung mit dem Christentum im Zentrum stand.“ WALTER (2016) führt RIEDWEGS Überlegungen fort und kommt auf S. 221 zu dem Ergebnis: „die Orakelphilosophie des Porphyrios [war] nicht primär polemisch motiviert [...]. Vielmehr erweisen sich einzelne Aussagen der Orakel für das Anliegen einer gewaltsamen Christenverfolgung sogar als kontraproduktiv.“ Für die in Teil II. A dieser Studie vorgenommene Analyse der Argumentationsstruktur und Argumentauswahl im ersten Buch von Adversus nationes können die erhaltenen Porphyrios-Fragmente demnach keinen methodisch sicheren Vergleichs- oder gar Ausgangspunkt bereitstellen. Unter denjenigen antiken christlichen Autoren, für die explizit Schriften gegen Porphyrios bezeugt sind [Methodios von Olympos, Euseb von Caesarea, Apollinaris von Laodizäa sowie im frühen 5. Jh. Pacatus, vgl. hierzu z.B. BECKER (2016) 21 sowie die Belege und weiterführende Lit. ebd. in Anm. 108], wird Arnobius jedenfalls nicht genannt. – GEFFCKEN (1908) 288f. wiederum sieht Ähnlichkeiten zwischen einigen paganen Einwürfen, mit denen sich Arnobius befasst, und Positionen des Christengegners Kelsos (2. Jh.).

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sen sei und er daher gewissermaßen seine eigenen früheren Ansichten widerrufe.149 Im Verlauf der Schrift werden Äußerungen und Einwände der Ankläger zum einen als wörtliche Rede wiedergegeben, abhängig von Prädikaten in der dritten Person Plural oder auch Singular;150 auch konkretere Beschreibungen eines Interlocutors begegnen.151 Zum anderen aber werden Thesen als Aussagen der Gegner referiert, indem sie ihnen durch Prädikate wie dicitis in den Mund gelegt werden.152 Schließlich begegnen Ansichten der Gegner auch unvermittelt und ohne derartige metasprachliche Einleitung, so dass es an einigen Stellen sogar unklar erscheint, ob eine Äußerung als eigene Aussage des Verteidigers oder als Referat gegnerischer Einlassungen zu verstehen ist.153 Auch die Haltung, die der Sprecher gegenüber den Anklägern einnimmt, divergiert an einzelnen Stellen sehr deutlich, so dass man geneigt sein könnte, in ihren Reihen verschiedene Gruppen zu vermuten.154 So wird an einigen Stellen ein höflicher, beinahe ans Ironische angrenzender Ton angeschlagen, z.B. in 1,36,2:155 si vobis iucundum est, amici, edissertate, quinam sint hi dii

Andererseits werden z.B. in 2,77,3 den Apostrophierten zahlreiche extrem grausame Handlungen gegenüber den Christen vorgeworfen, wenngleich diese Folter-

149 Z.B. SIMMONS (1995) 123 („the purpose for writing books 1 and 2 is best understood as a recanting of [sc. his own] former beliefs“) und 130 („Arnobiusʼ straw man [Herv. im Orig.] was Arnobius, who was furnished with a significant amount [...] of very powerful Porphyrian artillery.“). Hiermit spielt er an auf MCCRACKEN (1949a) 45, der formuliert hatte: „[Tertullian and Arnobius] employ the device of an adversarius or assumed opponent who is a sort of straw man set up to be knocked down.“ 150 So findet sich z.B. in 1,3 sowohl die Formulierung inquiunt (§ 2) als auch wenig später inquit (§ 5). – COURCELLE (1958) 185 hält es für möglich, dass auch die Formulierung inquiunt auf einen konkreten Text verweist; seiner Meinung nach bezieht sich dieser Ausdruck in nat. 2,63,1 auf Porphyrios. 151 Vgl. 1,42,3f.: inquiet aliquis furens, iratus et percitus [...] postulabit forsitan insanior et furiosior factus [...]. 152 Zum Beispiel in 1,6,1; 1,13,1 usw. 153 Dies hebt auch FÖLLINGER (1999) 15 hervor. Vgl. ferner VON ALBRECHT (2003) 1258: „Das dramatische Talent des Autors zeigt sich in der quasi dialogischen Gestaltung seiner Rede; wie in einem Kreuzverhör jagen sich Fragen und Antworten.“ 154 Anders AHMED (2017) 124: „Die Gegner des Arnobius können also als (populärphilosophische) Neuplatoniker identifiziert werden, die er in Buch II als Philosophen der Unsterblichkeit der Seele, im Rest des Werkes (und auch in Buch II) als Christenkritiker und Verteidiger der traditionellen, paganen Religion auftreten lässt.“ Insgesamt konsensfähiger jedoch erscheint ihre Bilanz zum allgemeinen Bild, das Arnobius von den Gegnern zeichne (ebd. S. 129): „Im Vergleich zu den früheren lateinischen Apologeten Tertullian, Minucius Felix und Cyprian ist es erstaunlich, dass bei Arnobius Unsittlichkeit oder falsches moralisches Verhalten der Anderen keine Rolle spielen. Abgesehen von impietas und Christenhass werden ihnen keine Verbrechen oder Laster vorgeworfen.“; vgl. aber etwa Arnobiusʼ Kritik an sexuellen Ausschweifungen von sapientes in 3,27,2f. (s. unten, S. 124). 155 Vgl. hierzu unten, S. 293.

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und Hinrichtungsmethoden den Christen nicht wirklich etwas anhaben können, insofern sie sie von der Bürde des Leibes befreien: itidem et vos flammis, exiliis, cruciatibus, beluis, quibus corpora lancinatis et diu vexatis nostra, non vitam eripitis nobis, sed pelliculis relevatis et cutibus nos nescii, et quanto instatis et pergitis in effigies has nostras speciesque saevire, tanto artis et gravibus relevatis nos vinculis et ad lumen efficitis circumcisis nexibus evolare.156

Es könnte zwar zunächst erstaunlich anmuten, dass der Sprecher, der sich durch die Verwendung von fünf Pronomina der ersten Person Plural (corpora [...] nostra; nobis; nos; effigies has nostras; nos) hier wieder deutlich als Teil der ganzen Christenheit präsentiert, überhaupt einen Dialog aufrecht erhält mit Menschen, die seine Glaubensbrüder martern und hinrichten. Doch ließe sich dieses Verhalten vielleicht einerseits allgemein aus dem christlichen Gebot der Feindesliebe erklären;157 andererseits erscheint es aber in Anbetracht der historischen Situation alternativlos: Wer um die Wende zum vierten Jahrhundert oder kurz danach Nichtchristen christliche Glaubensinhalte – sei es in apologetischer, sei es in werbender Absicht – zur Kenntnis bringen wollte, sah sich einem Publikum gegenüber, dem zum Teil auch Menschen angehörten, die in Christenverfolgungen involviert waren oder diese zumindest billigten. Da der Apologet sich und die Christen ja aber gegen verschiedene Anklagen zu verteidigen sucht, ist es für ihn geradezu unumgänglich, sich mit den Anklägern direkt auseinanderzusetzen.158 156 Vgl. ferner 1,26,1 (propter quod [sc. facinus] vos ipsi [...] exuitis nos bonis, exterminatis patriis sedibus, inrogatis supplicia capitalia, torquetis, dilaceratis, exuritis et ad extremum nos feris et beluarum laniatibus obiectatis?), 1,55,3 (membra vobis proicere et viscera sua lanianda praebere), 2,5,3f. (cum genera poenarum tanta sint a vobis proposita religionis huius sequentibus leges, […] cum carnifices, unci aliique innumeri cruciatus […] inpendeant credituris), 3,36,1 (alia postularetis suppliciorum in nos genera, quibus sitim soletis vestram nostri sanguinis adpetitione proluere), 4,16 (nos enim vel auctoritate commotos vel violentia terroris vestri), 4,17 (qui ad deorum nos cultum membrorum laniatibus invitatis et […] conpellitis?), 4,36 (quod si haberet vos aliqua vestris pro religionibus indignatio, has potius litteras vos exurere debuistis olim, libros istos demoliri, dissolvere theatra haec potius, in quibus infamiae numinum propudiosis cotidie publicantur in fabulis. nam nostra quidem scripta cur ignibus meruerunt dari? cur immaniter conventicula dirui [?]), 5,29 (ad haecine nos sacra flammis, exiliis, caedibus atque alio genere suppliciorum compellitis et crudelitatis metu?) und 6,27,2 (consuestis […] nobis […] poenas etiam capitis beluarum crudelitatibus inrogare). Schließlich vom Interlocutor geäußert (2,76,1): „si omnipotenti servitis deo […], cur persecutiones patitur perpeti vos tantas atque omnia genera poenarum et suppliciorum subire?“ Vgl. zu arnobianischen Bezügen auf die Verfolgung von Christen auch SIMMONS (1995) 64ff. 157 Vgl. Mt 5,44 (ἐγὼ δὲ λέγω ὑμῖν· ἀγαπᾶτε τοὺς ἐχθροὺς ὑμῶν καὶ προσεύχεσθε ὑπὲρ τῶν διωκόντων ὑμᾶς) und Lc 6,27 (ἀλλʼ ὑμῖν λέγω τοῖς ἀκούουσιν· ἀγαπᾶτε τοὺς ἐχθροὺς ὑμῶν, καλῶς ποιεῖτε τοῖς μισοῦσιν ὑμᾶς). 158 Umgekehrt könnte im Octavius des Minucius Felix der Umstand Staunen erwecken, dass der Heide Caecilius mit den Christen Octavius und Minucius Felix befreundet ist und sich mit ihnen vertraut unterhält [z.B. in 5,1 (Caecilius zu Octavius): tibi, Marce frater und 16,5 (Octavius über Caecilius): meus frater erupit; vgl. jeweils SCHUBERT (2014) ad loc.; eine Zusammenstellung gegenseitiger wertschätzender Bezeichnungen im Octavius bietet AHMED (2017), 88, Anm. 133], obwohl er den Christen im Allgemeinen doch überaus abstoßende Ri-

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4.2.4 Das Publikum/die Richter Bereits ganz am Anfang der Schrift Adversus nationes wird deutlich, dass neben den Anklägern eine weitere Personengruppe als anwesend imaginiert wird (1,1,1): quoniam comperi nonnullos, qui se plurimum sapere suis persuasionibus credunt, insanire, bacchari et velut quiddam promptum ex oraculo dicere:

Wenn der Sprecher Aussagen über eine Gruppe trifft, ohne sie zu apostrophieren, liegt es nahe, diese Aussagen als an andere Instanzen adressiert aufzufassen. Neben Anklägern und Verteidiger sind also noch weitere Kommunikationspartner involviert. Noch deutlicher wird dies in 1,2,1f., wo der Sprecher formuliert: inspiciamus igitur opinionis istius mentem et hoc, quod dicitur, quale sit, summotisque omnibus contentionum studiis, quibus obscurari et contegi contemplatio rerum solet, an sit istud, quod dicitur, verum, momentorum parium examinatione pendamus. 2. efficietur enim [...], ut [...] illi ipsi reperiantur criminis istius rei [...].

Die Ermittlung und Überprüfung des Sachverhaltes, wozu der Sprecher unter Einbeziehung seiner selbst durch die Hortative inspiciamus und pendamus aufruft, ist die genuine Aufgabe von Richtern. Auch der Appell, jegliche Parteilichkeit aufzugeben und eine gerechte Abwägung des Wahrheitsgehaltes erhobener Vorwürfe vorzunehmen, skizziert gewissermaßen die Eigenschaften eines idealen Richtergremiums, implizit vielleicht auch den idealen Rezipienten von Adversus nationes; abgegrenzt hiervon wird die Gruppe derer, auf die mit illi verwiesen wird. Auch in 1,27 erfolgt eine klare Trennung zwischen Zuhörern und Anklägern, da den Zuhörern erklärt wird, es sei noch nicht die richtige Zeit, um die Identität oder Herkunft der Ankläger darzulegen.159 Ferner wird in 4,31 dem Interlocutor vor Augen gestellt, wie jeder nur denkbare Richter auf eine bestimmte Verhaltensweise wohl reagieren dürfte.160 Zu bedenken ist hierbei jedoch, dass es Überschneidungen zwischen den Gruppen der Richter und der Ankläger geben dürfte, da es sich bei beiden um Nichtchristen handelt. Doch eben dadurch, dass sie keine Christen sind, stellen die Apostrophierten einen lohnenden Adressatenkreis für Darlegungen über die Vorzüge der christlichen Lehre bzw. über die Absurditäten der paganen Religion dar, sind sie doch potenziell bekehrbar. Der im Sinne des Verteidigers günstigste Verlauf des imaginierten Prozesses dürfte demnach sein, dass die Ankläger insgesamt oder zumindest einige von ihnen zu Richtern werden, die ein positives Urteil über das Christentum fällen.161 In diese Richtung deutet auch die folgende Passage aus tuale und Praktiken unterstellt; vgl. zur Caecilius-Rede etwa HASENHÜTL (2008) und SCHU144ff. 159 Nat. 1,27,1: nondum est locus, ut explicemus, omnes isti, qui nos damnant, qui sint vel unde sint [...]. 160 4,31: si rerum momenta pendantur, nullum reperias tam † invidum iudicem, qui non criminosius aestimet maledictis insignibus cuiuspiam famam carpi quam a quoquam silentio praeteriri. 161 Zu bedenken ist dabei freilich, was ECKERT (1993) 55f. für Tertullians Apologeticum ausführt: Da in wirklichen Prozessen keine Verhandlung über die Inhalte des Christentums stattBERT (2014)

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dem letzten Buch (7,35,1), in welcher der Verteidiger die Heiden dazu aufruft, mit ihm gemeinsam in vergleichender Betrachtung pagane und christliche Ansichten gegeneinander abzuwägen: age nunc summatim, quoniam sermo prolatus est et perductus in haec loca, singularum partium oppositionibus comparemus, utrumne vos melius rebus de superis sentiatis an potius nos multo et honoratius opinemur et rectius quodque rei divinae suam praestet atque attribuat dignitatem.

4.2.5 Kontinuierliche Vergegenwärtigung der Prozesssituation Die forensisch-iudiciale Situierung von Adversus nationes ist aber nicht etwa ein Rahmen, der – am Anfang konstruiert – im weiteren Verlauf der Schrift nicht mehr präsent wäre. Ganz im Gegenteil finden sich über das ganze Werk verteilt immer wieder Passagen, aus denen hervorgeht, dass die Christen Angeklagte sind, die sich gegen Vorwürfe verteidigen müssen und dabei unter Umständen ihr Leben riskieren.162 Andererseits wird von Zeit zu Zeit Vokabular aufgegriffen, das Befragungen von Zeugen und Angeklagten sowie das aufmerksame Verfolgen von „Plädoyers“ evoziert.163 Durch derartige Hinweise wird die Prozesssituation, die als fiktionaler Rahmen der Darlegungen dient, immer wieder „reaktiviert“ und den Rezipienten in Erinnerung gerufen.

fand, sondern die Feststellung des nomen Christianum bereits für die Schuldfeststellung ausreichte (vgl. unten, S. 59f. der vorliegenden Arbeit), ist es ein besonderer Vorzug literarischer Verteidigungen, dass der Rezipient auch die Sichtweise der Christen kennenlernen und daher – in der ihm innerhalb der Fiktion zugeschriebenen Richterrolle – ein objektives Urteil fällen kann. Ferner hält DERS. ebd. S. 79 zu Recht fest: „die Fiktion des Christenplädoyers vor den ,Ohren‘ der römischen Untersuchungsrichter [wertet] sein Anliegen bereits unerhört [auf]. Es erhält damit den Rang eines unentschiedenen Rechtsfalles, der zudem Aussicht auf den gewünschten Erfolg hat“. 162 Vgl. die oben in Anm. 156 genannten Stellen. 163 Befragung: u.a. nat. 1,8,1 (ne […], quid de rebus huiusmodi sentiam, nihil videar interrogatus expromere); 1,25,2 (audire a vobis exposcimus); 2,1,1 (si nullam esse ducitis contumeliam respondere aliquid interrogatos, edissertate nobis et dicite); 2,58,5 (potestis interrogati planum facere scientissimeque monstrare); 2,73,5 (si quis igitur vos interroget); 2,74,1 (interrogamus et nos contra: „quae causa, quae ratio est, ut [...]? [...]“); 4,1 (interrogare vos libet ipsosque ante omnia Romanos); 4,13 (ne nobis fidem habere nolitis, Aegyptios, Persas, Indos [...] interroget omnesque illos alios); 4,31 (interrogare enim vos libet et ad sermonis exigui responsionem vocare); 5,29 (totam interroget Graeciam); 5,35 (illud a vobis repetita interrogatione conquirimus); 7,9,10 (interroga Pietatem, utrumne sit aequius [...]). Aufmerksamkeit: 4,17: ne forte prolixitas fastidium audientiae pariat [...]. – Besonders interessant ist nat. 3,6,6, wo, wie KRAUSE (1958) 59 hervorhebt, explizit ein Konnex zwischen der Bezugnahme auf eine intellektuelle Autorität und einer Zeugenaussage vor Gericht hergestellt wird: a quo [= Cicerone] si res sumere iudicii veritate conscriptas [...] pergeretis, perorata esset et haec causa nec secundas, ut dicitur, actiones nobis ab infantibus postularet.

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4.2.6 Fazit Arnobius hat seine Gedanken und Argumente in Adversus nationes in enger Anlehnung an die äußere Form einer Prozesssituation gestaltet: Die für eine juristische Auseinandersetzung konstitutiven Instanzen Verteidiger, Ankläger und Richter sind vorhanden, wenngleich es zwischen den beiden letzten Personengruppen Übergänge geben mag, und der Sprecher bezeichnet seine Äußerungen selbst an drei Stellen als Verteidigungsrede. Bei dieser fiktionalen Situation handelt es sich aber nicht nur um einen markanten Startpunkt der Debatte, der danach aber aus dem Blick geriete, wie es etwa bei der Schilderung des Strandes von Ostia in Minucius Felix’ Schrift Octavius der Fall ist. Vielmehr wird die forensische Kommunikationssituation immer wieder in Erinnerung gerufen, so dass es für ein angemessenes Verständnis des ganzen Werkes von erheblicher Bedeutung sein dürfte, sie weit mehr als bisher geschehen zu berücksichtigen. 4.2.7 Exkurs: Das historische prozessuale Verfahren Es liegt nahe zu fragen, ob es für die von Arnobius fiktional entworfene iudiciale Sprechsituation noch fassbare historische Modelle gibt. Da Adversus nationes von der communis opinio in die Zeit der diokletianischen Christenverfolgung164 datiert wird,165 sollen die für diesen Zusammenhang relevanten juristischen Modalitäten dieser Epoche, soweit sie rekonstruiert werden können, kurz geschildert werden. Seitdem die 249/250 beginnende decisch-valerianische Christenverfolgung durch das Toleranzedikt des Gallienus 260 ein Ende gefunden hatte, erlebten die christlichen Gemeinden eine ungefähr vierzig Jahre währende Friedenszeit. Doch nach dem Misslingen einer Opferschau im Osten um 299 zwingt Kaiser Diokletian alle Palastangehörigen und alle Soldaten zum Opfer; weigern sie sich, drohen Prügelstrafe bzw. Entlassung aus dem Militär. Am 23. Februar 303, dem Terminalienfest, wird ein erstes Edikt erlassen, das den Christen Ämter, Würden und Rechtsfähigkeit aberkennt und zusätzlich zur Zerstörung christlicher Kirchen und zur Verbrennung christlicher Schriften aufruft. Zwei weitere Edikte, die im Laufe

164 Zu den dieser Bezeichnung inhärenten Problemen vgl. z.B. FRITZEN (1962) 12ff. Einen ereignisgeschichtlichen Überblick bieten u.a. VOGT (1954) 1192, MOLTHAGEN (1970) 101ff., FREND (1981) 477ff. und (2006a) 5174f., DEMANDT (1989) 57ff., SIMMONS (1995) 43f., BRANDT (2001) 17f., CLARKE (2005) 647ff., PIEPENBRINK (2007) 16ff., LEPPIN (2007) 103, COBB (2013) 5174f. und HAUSCHILD/DRECOLL (2016) 256ff. Sehr konzise MARTIN (2001) 8f., an den sich die folgende Skizze der Ereignisse bis 311 eng anlehnt. Eine umfassende Bestandsaufnahme zur diokletianischen Christenverfolgung hat SHIN (2018) vorgelegt. – Den Ablauf der Verfolgungen in Nordafrika beschreiben u.a. DECRET (1996) 127ff., PATOUT BURNS/JENSEN (2014) 38ff. und SHIN (2018) 138ff.; eine Fallstudie zur südlich von Karthago gelegenen Stadt Abthugni hat LEPELLEY (1984) vorgelegt. 165 Vgl. oben, Anm. 3.

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des Jahres 303 ergehen,166 fordern zur Inhaftierung von Klerikern auf (2. Edikt) bzw. bieten diesen Freilassung an, falls sie opfern (3. Edikt). Schließlich ergeht Anfang des Jahres 304 ein Opferbefehl an die Bevölkerung des ganzen Imperium Romanum, dessen Einhaltung durch das Führen von Listen überprüft werden soll, wobei in den unterschiedlichen Reichsteilen jedoch verschieden hart und ausdauernd verfahren wird: In Nordafrika, Ägypten und Palästina wird am grausamsten gegen Christen vorgegangen; und während im Westen die Verfolgungen bereits 305 mit der Abdankung Diokletians und Maximians weitgehend enden, werden sie im Osten fortgeführt, bis Galerius, in dem Lactanz den eigentlichen Initiator der Verfolgungen sah,167 im April 311 ein Toleranzedikt erlässt, welches das Christentum zu einer erlaubten Religion (religio licita) macht168 und zugleich seine Anhänger dazu auffordert, für das Wohlergehen des römischen Staates zu ihrem Gott zu beten.169 Hervorzuheben ist, dass Diokletian also die Christen nicht nur – wie etwa Decius – zum Opfern zwingen will, sondern sie an vitalen Punkten (Amtsträger, Schriften, Versammlungsgebäude) angreift und sie gewissermaßen zwingen will, ihr Christsein insgesamt aufzugeben.170 Die einzelnen Prozesse wurden vom jeweiligen Statthalter geleitet;171 eine vom richtenden Magistrat unabhängige Anklägerinstanz scheint es nicht gegeben zu haben.172 In den Prozessen spielten Gefängnishaft und Folter eine große Rolle, sei es, bevor die Angeklagten dem Richter vorgeführt wurden, sei es, um Angeklagte, die sich bereits zum nomen Christianum bekannt hatten, zu brechen.173 Im Prozess174 fragte der Richter den Angeklagten, ob er Christ sei oder nicht; falls dieser bejahte, wurde er zum Opfer aufgefordert. Verweigerte er das Opfer, wurde 166 SCHWARTE (1994) hingegen vertritt die These, es habe nur ein einziges Verfolgungsedikt gegeben; ihm schließt sich z.B. BRANDT (1998) 99f. an. DASSMANN (2000) widmet in seiner Geschichte der Alten Kirche dieser seiner Meinung nach „völlig unsinnigen und in die zeitliche Entwicklung überhaupt nicht mehr hineinpassenden Verfolgung unter Diokletian“ (S. 109) nur einen Nebensatz, ohne auf ihren Ablauf einzugehen. 167 Mort. pers. 10ff., z.B. 10,6: Maximianus quoque Caesar [= Galerius] inflammatus scelere advenit, ut ad persequendos Christianos instigaret senem vanum [= Diokletian]. 168 Allerdings führt Maximinus Daia in seinem Reichsteil Unterdrückungsmaßnahmen bis 313 fort. 169 Diesem schließt sich bekanntlich das sog. Mailänder Toleranzedikt von 313 an, in welchem Konstantin und Licinius vereinbaren, das Christentum und auch alle übrigen Religionen im römischen Reich zu tolerieren, und somit Religionsfreiheit schaffen. 170 Vgl. VOGT (1954) 1195 („der Angriff richtet sich gegen den Christengott selbst“) und 1196 („So lag der Plan der Ausrottung des Christentums offen zutage“). 171 Hierzu und zur folgenden Darstellung vgl. FRITZEN (1962) 59ff. 172 Vgl. z.B. auch MOMMSEN (1955) 404, Anm. 4. 173 Auf die Paradoxie der Prozesse weist FRITZEN (1962) 65 hin: „Statt einen Angeklagten seines Unrechtes zu überführen oder aber seine Unschuld zu beweisen, bestand das Ziel jener Prozesse darin, den Delinquenten an Ort und Stelle zu einer Sinnesänderung zu bewegen, und sobald er dies durch den Vollzug einer vorgeschriebenen Handlung bewies, ihn ohne Strafe laufen zu lassen.“ 174 Zu den Gerichtsorten, an denen Christenprozesse stattfanden, vgl. z.B. AUBERT (2010) und FÄRBER (2014), v.a. 256ff.

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er grausam gefoltert und schließlich häufig hingerichtet. Zwar sind einige Fälle dokumentiert, in denen die Angeklagten ihre eigene moralische Integrität betonen175 und einige Grundsätze des Christentums knapp erläutern.176 Doch existierte in solchen Prozessen offenbar nicht die Möglichkeit, die christliche Lehre in größerem Umfang apologetisch darzulegen oder gar systematisch die pagane Religion zu attackieren. Die historische Prozesssituation entspricht also nicht der von Arnobius in Adversus nationes imaginierten Sprechsituation. Zieht man die juristisch-rhetorische Lehre von den verschiedenen status heran,177 könnte man pointiert formulieren, dass in den historischen Christenprozessen die Leitfrage an fecerit/faciat (Ist der Angeklagte Christ?) war, dass Arnobius die Auseinandersetzung aber in einen anderen status transponiert und die Diskussion um die Frage an iure fecerit/faciat (Ist der Angeklagte zu Recht Christ?) zentriert.

175 So z.B. in der Passio Iuli Veterani 2,1 (zum Jahr 304): Iulius respondit: […] in annis XXVII numquam tamquam scelestus aut litigiosus oblatus sum iudici. 176 Z.B. Acta Maximiliani 2,6 (zum Jahr 295): ego Christianus sum, non licet mihi plumbum collo portare post signum salutare domini mei Iesu Christi, filii dei vivi, quem tu ignoras, qui passus est pro salute nostra, quem deus tradidit pro peccatis nostris (vgl. I Cor 15,3: Χριστὸς ἀπέθανεν ὑπὲρ τῶν ἁμαρτιῶν ἡμῶν). huic omnes Christiani servimus; hunc sequimur vitae principem, salutis auctorem, Worte, in denen GUYOT/KLEIN (1993) 399, Anm. 16 einen Teil einer christlichen Katechese sehen. Ferner Passio Iuli Veterani 2,3 (zum Jahr 304): semper timens deum, qui fecit coelum et terram (vgl. Act 4,24: δέσποτα, σὺ ὁ ποιήσας τὸν οὐρανὸν καὶ τὴν γῆν καὶ τὴν θάλασσαν καὶ πάντα τὰ ἐν αὐτοῖς), colui, cui etiam nunc exhibeo servitutem sowie ebd. 3,4: Iulius respondit: ille mortuus est pro peccatis nostris (vgl. abermals I Cor 15,3), ut vitam nobis daret aeternam. deus vero idem ipse Christus permanet in saecula saeculorum. quem si quis confessus fuerit, habebit vitam aeternam; qui autem negaverit, habet poenam perpetuam. Vgl. ferner die Passio sancti Irenaei Episcopi Sirmiensis 4,3 (zum Jahr 304): deum habeo, quem a prima aetate colere didici. ipsum adoro, qui me confortat in omnibus, cui etiam et sacrifico. deos vero manu factos adorare non possum) und die Passio sanctae Crispinae 1,7 (ebenfalls zum Jahr 304): Crispina respondit: numquam bene sit illis, ut me daemoniis faciant sacrificare, nisi uni deo, qui fecit caelum et terram, mare et omnia, quae in eis sunt (vgl. abermals Act 4,24). Ausführlichere Darlegungen von Glaubensinhalten (Auferstehung des Leibes, Göttlichkeit Christi, Bedeutung des Paulus, Wesen des Gewissens), nach denen sich der Präfekt Culcianus im Verhör erkundigt, finden sich in den Acta Phileae, die auch als Apologie des Phileas bezeichnet werden und Ereignisse schildern, die zwischen 304 und 306/7 zu datieren sind; vgl. MUSURILLO (1972) XLVIff. – WLOSOK (1990a) 131, Anm. 38 vermerkt zu Plinius, epist. 10,96,8, wo der Statthalter davon spricht, im Laufe seiner Verhöre nihil aliud [...] quam superstitionem pravam et immodicam gefunden zu haben: „Sehr wahrscheinlich haben [die Verhörten] vor dem römischen Beamten über ihre Lehre gesprochen, was in Christenprozessen fast topisch ist.“ Vgl. ferner LIEBS (2002), der für die Zeit bis ca. 250 untersucht, wie Christen während der Prozesse und in ihrem weiteren Rahmen (z.B. auch in Haft) missionierend mit ihrer paganen Umwelt interagierten. 177 S. hierzu Teil II. A, S. 225 und 231.

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4.3 VORTEILE DER GEWÄHLTEN LITERARISCHEN FORM Die Gestaltungsentscheidung für eine fiktionale Prozessrede eröffnete Arnobius eine Reihe von Vorteilen: Durch die für derartige Reden typische Bezugnahme auf und Wiedergabe von Äußerungen der Ankläger entsteht zuweilen beinahe der Eindruck eines regen Schlagabtausches zwischen den Parteien, was der Aufrechterhaltung des Rezipienteninteresses sicherlich zuträglich ist. Eine Argumentation, die sich gegen Einwände von Interlocutoren durchsetzen kann, wirkt zudem deutlich kraftvoller als eine rein monologische Abhandlung,178 obwohl die Aussagen der Gegner natürlich ebenfalls Produkte des Autors sind. Dadurch, dass nicht ein Dialog mit konkreten, namentlich fassbaren Gegnern geführt wird, erhält die Auseinandersetzung und auch jeder einzelne „argumentative Etappensieg“ überdies eine generellere Bedeutsamkeit. Im Octavius des Minucius Felix etwa wird eben mit Caecilius nur ein einziger Heide widerlegt, obgleich seine Vorwürfe gegen die Christen und ihren Glauben konventionell sind und wohl von vielen geteilt wurden. Der Verteidiger in Adversus nationes hingegen tritt einer Vielzahl von Gegnern entgegen und würde sogar, wie oben (Kap. 4.2.1) gezeigt wurde, alle Menschen von der Richtigkeit seiner Ansichten überzeugen wollen, wenn dies räumlich möglich wäre. Indem die Ankläger und paganen Gegner nicht individualisiert werden, ist es dem Autor ferner möglich, in ihren Reihen verschiedene Gruppen zu konstituieren. Somit wird erklärlich, warum der Sprecher zuweilen (sofern man keine Ironie darin vermutet) freundlich zu einer gemeinsamen Prüfung eines Sachverhaltes aufruft, andernorts aber den Apostrophierten schlimmste Untaten gegenüber Christen vorwerfen kann: Er interagiert jeweils mit unterschiedlichen (fiktiven) Gesprächspartnern. Daraus ergibt sich aber wiederum auf der außertextlichen Ebene, dass Heiden das Werk ggf. unterschiedlich rezipieren, abhängig davon, mit welcher innertextlichen Adressatengruppe sie sich am ehesten identifizieren. Die intratextuelle Differenzierung ermöglicht mithin extratextuell verschiedene Rezeptionshaltungen und somit eventuell die Ansprache weiterer Personenkreise.179 Schließlich bietet die Integration von Interlocutoren noch einen weiteren Vorteil: Indem der Autor ihnen bestimmte Äußerungen in den Mund legt, kann er bis zu einem gewissen Grade auch die Reaktionen der Rezipienten auf die von ihm vorgetragenen Thesen beeinflussen, z.B. indem er den Gegner ein leicht widerlegbares Gegenargument einführen lässt, obwohl ein gewichtigeres zu Gebote gestanden hätte, oder indem der literarische Widerpart zustimmt, wo ein realer Gesprächspartner gezögert hätte usw. Umgekehrt kann die Problemlage aber auch 178 Vgl. auch AMATA (1989) 242: „La forza persuasiva è nella forma stessa discorsiva con cui gli argomenti sono introdotti, e che danno anche alla ritorsione e allʼirrisione lʼaspetto di conversazione, riprendendo accuse e ripresentandole come obiezioni e interrogazioni.“ 179 Zu ähnlichen Ergebnissen kommt ECKERT (1993) 57 für Tertullians Apologeticum: „Es ist, zugegeben, ein besonders subtiler Kunstgriff des Autors, wenn er diesen gewünschten Richter gar nicht nennt, und so jedem seiner Leser die Möglichkeit gibt, sich insgeheim aus dem Kreis der heftig attackierten Christengegner, denen er bislang vielleicht unüberlegt gefolgt ist, auszuklammern und so am Grundsatz altrömischer aequitas festzuhalten.“

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besonders gründlich erörtert werden, falls fiktive Interlocutoren wichtigere Argumente nennen als irgendein zufälliger Kontrahent.180 4.4 ZUM ADRESSATENKREIS VON ADVERSUS NATIONES Seiner äußeren Anlage nach richtet sich apologetisches Schrifttum in aller Regel an (gebildete) Nichtchristen und nichtchristliche Exponenten säkularer Institutionen, um ihnen gegenüber Vorurteile, Missverständnisse oder böswillige Diffamierungen des christlichen Glaubens zu entkräften.181 Häufig suchen Apologeten aber auch aus ihrer Sicht gegebene logische Schwächen „des“ paganen Weltbildes und Glaubens offenzulegen und für Heiden das Christentum annehmbar zu machen, indem sie eine Konvergenz paganer Philosophie und Religion mit den Überzeugungen der Christen nachweisen, freilich in dem Sinne, dass das Christentum die wahre, eigentliche und wesentlich umfassendere Philosophie und Religion sei, von der die Nichtchristen höchstens defizitäre Ahnungen erlangt hätten. Anschaulich formuliert MICHAEL FIEDROWICZ:182 Indem sich die Apologeten gezielt den Einwänden oder Fragen ihrer nichtchristlichen Umwelt stellten, betraten sie, verglichen mit der bisherigen Verkündigungssituation [gemeint: zur Zeit der Apostolischen Väter], Neuland. Sie bezogen ihre Position an der Grenzlinie zwischen christlicher Glaubensgemeinschaft und paganer Gesellschaft, um bei ihren Gesprächspartnern argumentativ dafür zu werben, die von ihnen selbst getroffene Entscheidung für den Glauben nicht nur zu verstehen, sondern diesen Schritt ebenfalls zu vollziehen.183

Dieses Anliegen eignet auch in nicht zu übersehendem Maße Arnobius’ Schrift Adversus nationes: Sie ist von einem durchgehenden Debattier- und Appellcharakter geprägt, und mehrfach expliziert der Sprecher seinen Wunsch, mit

180 Vgl. hierzu auch unten, S. 178. 181 Vgl. z.B. WLOSOK (1990b). SECKLER (2009) 847 macht aufmerksam auf den Vers I Pt 3,15 (κύριον δὲ τὸν Χριστὸν ἁγιάσατε ἐν ταῖς καρδίαις ὑμῶν, ἕτοιμοι ἀεὶ πρὸς ἀπολογίαν παντὶ τῷ αἰτοῦντι ὑμᾶς λόγον περὶ τῆς ἐν ὑμῖν ἐλπίδος), den er ebd. als „[m]otivgeschichtlich wegweisend für die A[pologie] des Christentums als immerwährend[e], umfassend[e], wahrheitsorientiert[e], positiv-missionar[ische] Aufgabe“ bezeichnet; ähnlich auch schon WLOSOK (2005) 11ff. 182 FIEDROWICZ (2000) 15f. 183 Vgl. hierzu etwa Just. 1 apol. 14,3 (οἱ μισάλληλοι δὲ καὶ ἀλληλοφόνοι [...] νῦν μετὰ τὴν ἐπιφάνειαν τοῦ Χριστοῦ ὁμοδίαιτοι γινόμενοι [...] καὶ τοὺς ἀδίκως μισοῦντας πείθειν πειρώμενοι, ὅπως [οἱ] κατὰ τὰς τοῦ Χριστοῦ καλὰς ὑποθημοσύνας βιώσαντες εὐέλπιδες ὦσι σὺν ἡμῖν), Theoph. Autol. 1,14 (μὴ οὖν ἀπίστει, ἀλλὰ πίστευε. καὶ γὰρ ἐγὼ ἠπίστουν τοῦτο ἔσεσθαι, ἀλλὰ νῦν κατανοήσας αὐτὰ πιστεύω [...] πιστεύω πειθαρχῶν θεῷ· ᾧ, εἰ βούλει, καὶ σὺ ὑποτάγηθι πιστεύων αὐτῷ), Ps.-Just. coh. ad Graec. 1,1 (ἀρχόμενος τῆς πρὸς ὑμᾶς παραινέσεως, ὦ ἄνδρες Ἕλληνες, εὔχομαι τῷ θεῷ [...] ὑμᾶς δέ, τῆς προτέρας ἀφεμένους φιλονεικίας καὶ τῆς τῶν προγόνων πλάνης ἀπαλλαγέντας, ἑλέσθαι τὰ λυσιτελοῦντα νῦν). Vgl. auch z.B. WLOSOK (2005) 19: „Andere Leser konnten sich unter gebildeten am Christentum interessierten oder gar mit ihm sympathisierenden Nichtchristen finden, unter aufgeschlossenen oder wißbegierigen Zeitgenossen“.

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Christengegnern ins Gespräch zu kommen,184 natürlich mit dem Ziel, sie zu widerlegen,185 vielleicht sogar, um einen ersten Schritt zu ihrer Konversion zu vollziehen, obgleich einigen Forschern der Ton allzu schroff erschien,186 als dass an eine Überzeugung der Gegner gedacht werden dürfe.187 Deutlich in diese Richtung weist auch die Behauptung des Verteidigers in 2,5, viele Größen aus den

184 So z.B. (allerdings am Beginn eines Exkurses) in nat. 2,1,1: hoc in loco tribui si ulla facultas posset, vellem cum his omnibus, quibus nomen invisum est Christi, ab instituta principaliter defensione deverticulo paulisper facto talia verba miscere. 185 So etwa MCCRACKEN (1949a) 26 („the fundamental purpose of Arnobius [is] to impress the pagans with their own guilt, rather than to win them to Christianity“) und 48 („Remember constantly that the Adversus nationes is addressed to the pagans; indeed, the preposition adversus itself means not only ‛against’ but also ‛toward.’ [sic]“). 186 Vgl. z.B. KINZIG (2000) 171: „der Diskussionsstil bei […] Arnobius ist außerordentlich schroff, ja rüde.“ sowie AHMED (2017) 118 („diesem Zweck würde die Schrift mit ihren aggressiven Tönen auch nicht gerecht“) und 130 („beleidigende[r] Ton“). Anders MEISER (1908) 12: „Stets ist es ihm [= Arnobius] um die Erforschung der Wahrheit zu tun, er achtet seine Gegner und will sie durch Gründe überzeugen“. 187 So z.B. DE LABRIOLLE (1947) 285 („Nul souci chez lui de gagner des esprits rebelles. Il ne vise qu’à confondre et qu’à humilier“), NORTH (2007) 28 („[Arnobius] makes no effort to persuade or cajole the recalcitrant pagan to understand or adopt Christian ideas“) und ZILLING (2004) 193.195, die aber andererseits (S. 196f.) als Arnobius’ Hörer dessen Schüler, Kollegen und Anhänger philosophischer Zirkel vermutet und resümiert (S. 197): „Die missionarische Intention der Argumentation [sc. in nat. 2,5] ist kaum zu überhören.“ Vgl. ferner GIGON (1982) 100: „Insomma Arnobio […] ha fatto tutto ciò che poteva per dimostrare al lettore l’assurdità delle sue opinioni e per spianargli al tempo stesso la via al cristianesimo.“ MEISER (1908) 4 nimmt an, Arnobius habe die ersten vier Bücher „abschnittsweise [...] einem heidnischen Zuhörerkreise vorgetragen [...] und sie dann herausgegeben“. Einen öffentlichen Vortrag der Apologie sogar vor ihrer Verschriftlichung hält AMATA (1989) 238 für wahrscheinlich. VOGT (1968) 350 allerdings sieht in Adversus nationes eine „entscheidende Wendung der Apologetik“ gegeben und spekuliert: „Der Abstand des Christentums von der heidnischen Gegenwart wird zu feindseliger Gegnerschaft [...]. Es ist leicht vorstellbar, daß ein Arnobius [Kurs. im Orig.], der sich an eine christliche Obrigkeit hätte wenden können, mit noch größerem Nachdruck für Bücherverbrennung und Tempelzerstörung eingetreten wäre und Gesetze gegen Gotteslästerung verlangt hätte.“ – TIMPE (2001) 66 vermutet einen allgemeinen Zusammenhang zwischen sozialer/funktionaler Position und Habitus der Apologeten (jedoch v.a. für das zweite Jh.): „Diese Autoren verteidigen zwar die christliche Gemeinschaft gegen heidnische und jüdische Polemik, aber nicht als deren Funktionäre; ihre soziale Stellung als Intellektuelle, Lehrer, Wanderprediger entsprach der Rolle der heidnischen Rhetoren, Sophisten und Philosophen der Zeit, deren selbstbewußte und provokative Haltung, nicht kluge und vorsichtige, diasporajüdischer Lebenspraxis entstammende Anpassung, auch ihr Auftreten leitete. Als literarische Wortführer und Meinungsbildner konnten sie eine weitreichende Wirkung entfalten [...], aber für die Gemeinden ihrer Zeit waren sie vermutlich eher Außenseiter.“ – Im Allgemeinen kann damit noch die Warnung vor Schroffheit in Rhet. Her. 2,27,43 verglichen werden: item vitiosum est, quod dicitur contra iudicis voluntatem aut eorum, qui audiunt, si aut partes, quibus illi student, aut homines, quos illi caros habent, laedantur aut aliquo eiusmodi vitio laeditur auditoris voluntas.

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Bereichen Rhetorik, Grammatik, Recht, Medizin und Philosophie hätten sich bereits von ihren früheren Überzeugungen ab- und dem Christentum zugewandt.188 Daneben ist aber im Allgemeinen auch davon auszugehen, dass die Apologeten durch das Vorbringen zahlreicher Argumente für die Richtigkeit des christlichen Glaubens bzw. gegen die ihm gegenüber geäußerten Vorhaltungen auch zu einer Stärkung und Festigung der christlichen Gemeinden selbst sowie zur innerchristlichen Diskussion beitrugen,189 wobei man in den vorgebrachten Argumenten vielleicht auch eine Art Leitfaden für apologetische oder gar konversionsintendierende Gespräche sehen könnte, dessen sich Christen ggf. in Debatten mit Nichtchristen bedienen konnten.190 Diese Wirkung wird man auch Adversus nationes im Speziellen zuschreiben dürfen, werden in dieser Schrift doch zahlreiche typische Vorwürfe gegen den christlichen Glauben mit einer Fülle von Argumenten entkräftet bzw. konkurrie188 Nat. 2,5,3: quod tam magnis ingeniis praediti oratores, grammatici, rhetores, consulti iuris ac medici, philosophiae etiam secreta rimantes magisteria haec expetunt spretis quibus paulo ante fidebant, vgl. hierzu auch S. 132. 189 Dies heben u.a. auch FIEDROWICZ (2000) 17 und ZILLING (2004) 17 u.ö. hervor. Explizit genannt wird diese Intention z.B. in Orig. Cels. praef. 4 (ἐπεὶ ἐν τῷ πλήθει τῶν πιστεύειν νομιζομένων εὑρεθεῖεν ἄν τινες τοιοῦτοι, ὡς σαλεύεσθαι μὲν καὶ ἀνατρέπεσθαι ὑπὸ τῶν Κέλσου γραμμάτων, θεραπεύεσθαι δὲ ἀπὸ τῆς πρὸς αὐτὰ ἀπολογίας, ἐὰν ἔχῃ χαρακτῆρά τινα καθαιρετικὸν τῶν Κέλσου καὶ τῆς ἀληθείας παραστατικὸν τὰ λεγόμενα, ἐλογισάμεθα πεισθῆναί σου τῇ προστάξει καὶ ὑπαγορεῦσαι, πρὸς ὃ ἔπεμψας ἡμῖν σύγγραμμα). Vgl. ferner Cyr. Alex. contr. Jul. praef. 3: ἔστι τοίνυν ἀκόλουθόν τε καὶ ἀναγκαῖον τοὺς τῶν ἱερῶν δογμάτων συνασπιστὰς ἡμᾶς, δηλονότι προκεχειρισμένους εἰς τοῦτο παρ’ αὐτοῦ, τοῖς ἀδικεῖν ἐθέλουσι τὴν δόξαν αὐτοῦ τοὺς συναγορεύειν ἰσχύοντας ἀνταναστῆσαι λόγους καὶ οἵπερ ἂν γένοιντο πρὸς καλοῦ τοῖς ἐντευξομένοις καὶ τοῖς μὲν εὐπαρακόμιστον ἔχουσι τὴν καρδίαν καί, ἐφ’ ἃ μὴ προσῆκεν, ἑτοιμότατα συναρπαζομένην ἐπικούρημα χρειωδέστατον, τοῖς γε μὴν εὖ βεβηκόσι περὶ τὴν πίστιν ῥάβδος οἷά τις ἀνέχειν ἰσχύουσα πρός γε τὸ χρῆναι διαπεπῆχθαι μειζόνως καὶ ἀκράδαντον ἔχειν τῆς ὀρθῆς πίστεως τὴν παράδοσιν. – Lactanz geht sogar noch einen Schritt weiter, indem er zusätzlich zu den genannten Intentionen die erbauliche Wirkung für den Autor selbst thematisiert (inst. 5,1,9.12: operamne perdemus? minime. nam si lucrari hos a morte, ad quam concitatissime tendunt, non potuerimus, si ab illo itinere devio ad vitam lucemque revocare, quoniam ipsi saluti suae repugnant, nostros tamen confirmabimus, quorum non est stabilis ac solidis radicibus fundata et fixa sententia. nutant enim plurimi ac maxime, qui litterarum aliquid attigerunt. [...] praeterea etiamsi nulli alii, nobis certe proderit: delectabit se conscientia, gaudebitque mens in veritatis se luce versari, quod est animae pabulum incredibili quadam iucunditate perfusum). 190 Mit diesen beiden Aspekten rechnet KINZIG (1989) 315 (allerdings in Bezug auf als Bittschriften an Kaiser gestaltete Apologien des 2. Jh.s) als sekundären Wirkungen; WLOSOK (2005) 19 hingegen rückt sie in den Vordergrund: „Wer las diese Apologien pro Christianis? In erster Linie doch wohl die betroffenen Christen selbst. Sie brauchten in ihrer Lage Stärkung, Ermutigung und vor allem Rüstzeug (Argumente, Erklärungen und Begründungen) für die mündliche Auseinandersetzung mit ihrer Umgebung im alltäglichen Leben.“ Ähnlich auch z.B. JACOBSEN (2009) 14. – Bemerkenswert ist eine Passage aus einer Predigt Augustins aus dem Jahr 411 (serm. 296,9), in der imaginiert wird, wie ein Christ darum ringt, was er paganen Kritikern bzgl. der politischen Probleme Roms antworten könne: iam adhuc video, quid dicas in corde tuo: ecce temporibus Christianis Roma affligitur aut afflicta est et incensa est: quare temporibus Christianis? [...] ergo tu tibi responde, si Christianus es: quia voluit deus. sed quid dico pagano? insultat mihi.

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rende Heilskonzepte herabgesetzt.191 Noch deutlich stärker kommt der Aspekt der innerchristlichen Erbauung zum Tragen, wenn man Arnobius’ Biographie berücksichtigt, wie sie sich in den Zeugnissen bei Hieronymus192 darstellt: Nach seiner Konversion attackiert der frühere Christengegner Ansichten, die er vormals vermutlich selbst vertreten hat, was für seine jetzigen Glaubensbrüder und -schwestern einiges Gewicht haben dürfte:193 Anfeindungen von außen, so illustriert der Vorgang, beruhen auf Unkenntnis, sind aber kein unabänderlicher Zustand. Noch weiter zuspitzen kann man die These, Adversus nationes sei auch mit Rücksicht auf die Erwartungen christlicher Rezipienten gestaltet worden, wenn man der folgenden Notiz des Hieronymus194 Glauben schenkt: Arnobius rhetor in Africa clarus habetur. qui cum Siccae ad declamandum iuvenes erudiret et adhuc ethnicus ad credulitatem somniis compelleretur neque ab episcopo impetraret fidem, quam semper inpugnaverat, elucubravit adversum pristinam religionem luculentissimos libros et tandem velut quibusdam obsidibus pietatis foedus impetravit.

Dieser Nachricht gemäß hätte Arnobius, durch Träume zum Christentum bewogen, sein Werk als „Bürge“ seiner neuen Frömmigkeit verfasst und damit den Bischof von Sicca Veneria195, der ihm zuerst aufgrund seiner Vergangenheit keinen Glauben schenkte, von der Ernsthaftigkeit seiner Absichten überzeugt.196 191 Die Diskreditierung konkurrierender philosophischer Heilskonzepte dürfte, wie ZILLING (2004) 197 betont, besonders an die gebildeteren Gemeindemitglieder adressiert gewesen sein. 192 Zu diesen vgl. z.B. DUVAL (1986). 193 AHMED (2017) 118f. hält die innerchristliche Stärkung (und die Selbstvergewisserung des konvertierten Autors) sogar für die einzige Werkintention. Anders EDWARDS (2004) 267: „If [...] the treatise was composed in a period of extreme adversity, it is hard to guess how a Christian audience would have found the leisure [...] to read it.“ Vgl. auch LIEBESCHUETZ (1979) 254: „Arnobius’ book is addressed to pagans rather than Christians.“ 194 Hier. chron. ad 327 p. Chr. (p. 231,14ff. HELM); ausführliche Diskussion bei SIMMONS (1995) 94ff. 195 Dessen Identität ist ungewiss; vgl. SIMMONS (1995) 123: „the only bishop known by name from Sicca who precedes Arnobius is Castus. He attended the Seventh Council of Carthage on 1 September 256. It is improbable that he was still bishop of Sicca in 302–5“. 196 Diese Darstellung akzeptieren u.a. DUVAL (1986) 92ff., FIEDROWICZ (2000) 75, KINZIG (2000) 173ff., DAHLHEIM (2003) 316 und ZILLING (2004) 183.195 (Der Bischof sei „als nicht genannter Adressat stets mitzudenken“); KAABIA (2015) 1225f. hebt die Parallelen zur Konversion des Paulus hervor. DÖLGER (1932) 262f. betrachtet Arnobiusʼ Schrift als ein „Garantiewerk der Bekehrung als Bedingung bei der Taufe“; hierbei ist „Werk“ jedoch im Sinne von „Tat“ zu verstehen, da z.B. auch die Zerstörung eines Mithras-Heiligtums durch den römischen Stadtpräfekten Gracchus im Jahr 377 als Garantiewerk gewertet wird (ebd. S. 263ff.). AHMED (2017) 118 gibt jedoch zu bedenken: „die Forderung des Bischofs nach einem schriftlichen Beweis für die Aufrichtigkeit der Konversion zum Christentum [ist] ein Vorgang, der in der Alten Kirche keine Parallele hat.“ – Zur vermeintlichen Bekehrung des Arnobius im Traum: In nat. 1,39, wo der Sprecher seine früheren und seine aktuellen religiösen Überzeugungen kontrastiert, ist von Träumen keine Rede; allerdings wird die Konversion selbst dort nicht geschildert. In 1,46,8 wird betont, dass Christus sich (zumindest überaus gerechten Männern) gerade nicht in nichtigen Traumbildern zeige (iustissimis viris etiamnunc […] non per vana insomnia, sed per purae speciem simplicitatis apparet). Allerdings wird in 7,39,2ff.

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Bei dem abschließenden Versuch, zur Frage nach intendierten und potenziellen Rezipienten sowie Wirkabsichten von Adversus nationes Stellung zu nehmen, soll zunächst noch einmal darauf verwiesen werden, dass es sich bei dem Werk um ein Produkt bewusster literarischer Gestaltung handelt, woraus sich die Notwendigkeit zur Differenzierung ergibt: Innerhalb des Textes apostrophiert ein Verteidiger, der als recht allgemein gezeichneter Stellvertreter aller Christen agiert, Heiden, welche somit als explizite Adressaten fungieren. Da dieser Verteidiger aber an keiner Stelle ausdrücklich mit Arnobius identifiziert wird und es sich somit durchaus um eine persona handeln könnte,197 scheint generell eine gewisse Zurückhaltung geboten, wenn aus dem Text vermeintliche Eigenschaften des historischen Arnobius belegt werden sollen.198 Es ist davon auszugehen, dass die literarische Auseinandersetzung des christlichen Sprechers mit den paganen Anklägern von verschiedenen Lesern bzw. Hörern unterschiedlich rezipiert wurde, ein Umstand, der u.a. durch das Fehlen einer Widmung begünstigt worden ist:199 Die Christen dürften sich bis zu einem gewissen Grade im Verteidiger wiedererkannt und sich mit ihm identifiziert haben, da viele von ihnen wohl ähnlichen Vorwürfen ausgesetzt gewesen sein mochten, wie sie der Verteidiger aufgreift. Plausibel erscheint, dass sie, während sie der Auseinandersetzung folgten, Freude über die zum Teil heftigen Attacken auf die paganen Gegner und über die Superiorität und Durchschlagskraft der vorgetragenen Argumente empfanden. Zusätzlich lernten sie wohl im Laufe des Rezeptionsprozesses neue Argumente kennen, die sie sich dann selbst aneignen konnten. Denkbar wäre vielleicht sogar, dass Adversus nationes nach seiner Veröffentlichung zuweilen als Anleitung oder Repertorium für Christen in Debatten mit Heiden diente.200

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referiert, wie Juppiter einem Bauern im Traum eine Anweisung erteilt und später deren Nichtbeachtung bestraft habe. Vgl. dazu u.a. MCCRACKEN (1949a) 15ff., LE BONNIEC (1982a) 9f. und SIMMONS (1995) 117ff.; zu Träumen in der Spätantike allgemein vgl. COX MILLER (1994), zu Traumdarstellungen in der griechisch-römischen Dichtung WALDE (2001). Näheres hierzu oben in Kap. 4.2.2. So z.B. GABARROU (1921a) 7: „la physionomie d’Arnobe se révèle clairement dans son livre.“, SCHANZ/HOSIUS/KRÜGER (1959) 411: „Da der Verfasser noch kein inneres Verhältnis zum Christentum gewonnen hat, strahlt keine Wärme aus seiner Darstellung zu uns herüber. Die Schrift ist jedoch interessant, weil sie uns zeigt, wie sich ein gebildeter Mann in der damaligen Zeit mit dem Christentum abfinden konnte.“, MARCHESI (1965) 434: „Non è un uomo che abbia costruito la sua fede sulle sacre Scritture […] più che un catecumeno del cristianesimo è un disertore frettoloso e acceso del paganesimo.“, LE BONNIEC (1982a) 90: „son tempérament est manifestement aggressif“. NORDEN (1958) 605, Anm. 1 bezeichnet Arnobius gar als „fanatische[n] Schreier“. SITTE (1970) II hingegen sieht überall Arnobius’ „nüchterne und sachliche Art [im] Vordergrund“. Etwas anders MCCRACKEN (1949a) 19: „the frankness with which he handles his materials and the remarkable individuality of his views permit us to use his unconscious self-revelations to round out our picture of the man.“ Dieses Argument führt SCHUBERT (2006) 140 zugunsten der These an, der Octavius des Minucius Felix richte sich sowohl an pagane als auch an christliche Rezipienten. Hieronymus berichtet in De viris illustribus 79,1 (abgefasst ca. 393), dass Arnobiusʼ Schrift zu seiner Zeit allgemein verfügbar war: Arnobius [...] scripsitque adversum gentes volumina, quae vulgo extant. Allerdings wird das Werk des Arnobius (abgesehen von weiteren Nennun-

4. Form und Adressatenkreis von Adversus nationes

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Entsprechend der Vielzahl von Personengruppen, die sich unter den Begriffen „Nichtchristen“ bzw. „Christengegner“ subsumieren lassen, ist hier mit unterschiedlichen Rezeptionshaltungen zu rechnen. Einige von ihnen konnten sich mit den Positionen der Ankläger in Adversus nationes identifizieren oder ihnen zumindest einige Plausibilität zubilligen. Sie mussten jedoch konstatieren, dass diese Vorurteile oder Ansichten zumindest intratextuell widerlegt wurden, was sie womöglich zur Reflexion und zum Überdenken ihres eigenen Standpunktes angehalten haben könnte. Mutatis mutandis könnte man zur Illustration der Wirkung auf dieser Ebene vielleicht die Critognatus-Rede in Caesars Bellum Gallicum, den Mithridates-Brief in Sallusts Historien oder die Calgacus-Rede in Tacitus’ Agricola heranziehen:201 Die römischen Autoren kritisieren durch den Mund eines Feindes mittels fiktionaler Texte römische Wertvorstellungen oder Herrschaftspraktiken und hoffen dabei (so zumindest eine mögliche Interpretation) auf Verständnis unter den Angehörigen ihres eigenen Wertesystems. Arnobius kritisiert durch die Ausführungen der fiktionalen christlichen Verteidiger-persona pagane Wertvorstellungen und Kultpraktiken und hofft vielleicht darauf, ein Umdenken oder zumindest Akzeptanz bei den Anhängern eines Wertesystems erzielen zu können, dem er sich zuvor selbst verpflichtet fühlte.202Andererseits könnte es aber auch pagane Rezipienten gegeben haben, denen die den Anklägern in den Mund gelegten Ansichten zu radikal, zu polemisch oder rational zu wenig begründet erschienen. In deren Fall könnte gerade eine allzu pointiert antichristliche Attitüde der Ankläger gewisse Sympathien für die angeklagten Christen evoziert haben, weil sich die nicht-antichristlichen paganen Rezipienten von der Haltung der fiktionalen Ankläger zu distanzieren suchten.203 gen bei Hieronymus) nur noch im Decretum Gelasianum de libris recipiendis et non recipiendis erwähnt, das VON DOBSCHÜTZ (1912) VI ins sechste Jahrhundert datiert. Dort wird es in 5,7, ebenso wie etwa die Schriften von Tertullian und Lactanz (ebd.), den libri apocryphi zugerechnet. Sonstige antike Rezeptionszeugnisse liegen nicht vor. 201 Caes. Gall. 7,77,2ff.; Sall. epist. Mithr.; Tac. Agr. 30–32. 202 Nicht in vollem Umfang haltbar erscheint demnach die Einschätzung bei DE LABRIOLLE (1947) 285: „Nul souci chez lui de gagner des esprits rebelles. Il ne vise qu’à confondre et qu’à humilier.“ – Vergleichbar mit den Aussagen der drei oben genannten Gegner Roms erscheint ferner die heftige Kritik, die der arnobianische Sprecher am römischen Imperialismus übt, z.B. in nat. 1,5,6 (ut modo Romani velut aliquod flumen torrens cunctas submergerent atque obruerent nationes, nos videlicet numina praecipitavimus in furorem?) und 7,51,2 ([Magna mater] aliis [= Romanis] se praebuit exhibuitque fautricem, libertatem his abstulit, alios ad columen dominationis erexit, quae, ut una civitas emineret in humani generis perniciem nata, orbem subiugavit innoxium). Vgl. hierzu auch ZILLING (2004) 188ff., welche die antirömischen Äußerungen des Apologeten vornehmlich, jedoch nicht ausschließlich in den Zusammenhang der Götterkritik einordnet, sowie VOGT (1968) 349, VON HAEHLING (2000) 194ff., BIRLEY (2005) 265ff. und AHMED (2017) 121 („Die Römer sind bei Arnobius also ganz eindeutig ungerechte Eroberer und grausame Unterdrücker.“). GEFFCKEN (1908) 290 jedoch formuliert allgemein: „Wir sehen [bei Arnobius] nicht mehr wie bei Minucius und Tertullian den Haß gegen die kriegerische Entwicklung Roms“. 203 Vgl. hierzu die in anderem Zusammenhang vorgetragene Einschätzung bei GRANT (1971) 344: „Persecutions failed in large measure because they seemed unjust not only to Christians but to the leaders of the Roman world, who finally recognized that for the preservation of the

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Prolegomena

4.5 KONSEQUENZEN FÜR DAS WEITERE VORGEHEN Da Adversus nationes, wie gezeigt werden konnte, maßgeblich von einer iudicialen Kommunikationsform geprägt ist, erscheint es legitim und für ein tieferes Verständnis des Werkes sowie seiner Eigenarten nachgerade unabdingbar, den Text weit stärker als bisher unter rhetorisch-forensischen Kriterien zu analysieren und auszulegen.204 Doch gerade vor dem Hintergrund dessen, was oben über verschiedene potenzielle Adressaten ausgeführt wurde, könnte die Frage gestellt werden, ob bei zwei ganz heterogenen Gruppen von Rezipienten überhaupt Persuasion als Intention des Autors möglich sei. Hierbei ist allerdings zu bedenken, dass die Gruppe der Christen ja nicht mehr im eigentlichen Sinne überzeugt werden musste; höchstens konnten einzelne Argumentationsgänge Detailzweifel zerstreuen oder auch neue Argumente für eigene Debatten liefern. Die persuasiven Elemente des Werkes dürften daher primär im Hinblick auf ihre Wirkung auf die Heiden konzipiert sein, wodurch eine Wirkungsanalyse ermöglicht ist. Unabhängig davon können bei der Argumentationsanalyse im weiteren Sinne mehrere Adressatenkreise Berücksichtigung finden.

world justice was as important as order.“, und SHIN (2018) 223 bemerkt konkret zur diokletianischen Christenverfolgung: „the official persecution of Christians was not fully supported by the general public. Not everyone was happy about this policy.“ – Ferner ist daran zu erinnern, dass Tacitus in ann. 15,44,5 berichtet, dass während der Verfolgung durch Nero auch in paganen Kreisen Mitleid mit den (seiner Meinung nach durchaus bestrafungswürdigen) Christen aufkam (unde quamquam adversus sontes et novissima exempla meritos miseratio oriebatur, tamquam non utilitate publica, sed in saevitiam unius absumerentur). 204 EDWARDS (1999) 202 unterschätzt massiv die Gestaltungsautonomie gegenüber der Realität, die Literatur bietet, wenn er aufgrund der historischen Situation folgert: „Lacking any forensic or political occasion, the writings of Arnobius and Lactantius would appear to be epideictic“.

5. BILANZ Wie deutlich geworden ist, erscheint eine leicht modifizierte Auffassung von Chrêsis als ein konstruktiver hermeneutischer Zugang für die Interpretation christlicher Texte insgesamt, und auch bei Arnobius von Sicca lassen sich Ansätze einer solchen Konzeption finden. Mithin erscheint es lohnenswert, bei der Untersuchung von Arnobius’ deskriptiven und normativen Aussagen über pagane Bildungsgüter und Wissensdisziplinen im ersten Hauptteil dieser Studie auch zu überprüfen, inwieweit sich die Chrêsis-These für Arnobius im Blick auf einzelne Wissenskomplexe als tragfähig erweist. Zu bedenken ist dabei allerdings, dass alle Aussagen in einem literarisierten Kontext, einer fiktiven iudicialen Sprechsituation getroffen sind, was zu einer Modifikation oder Pointierung der Ansichten des historischen Arnobius geführt haben könnte. Mit dem Themenkomplex der Chrêsis lässt sich aber auch der zweite Hauptteil der Untersuchung gewinnbringend verknüpfen, gerade in Verbindung mit der Tatsache, dass Adversus nationes als Prozessrede gestaltet ist: Hier ist zu analysieren, wie Arnobius in seiner apologetischen Argumentation die pagane Rhetorik, aber auch andere Wissensfelder zur Verteidigung der Christen und ihrer Religion nutzt: einerseits auf der Makro-Ebene bei der Gestaltung des ersten Buches von Adversus nationes (Teil II. A), andererseits auf der Mikro-Ebene in drei ausgewählten kürzeren Textpassagen (nat. 7,9,2–12; 1,31,1–3; 1,38,2–8; Teil II. B).

TEIL I: STUDIEN ZUR BEWERTUNG PAGANER WISSENSFELDER DURCH ARNOBIUS

1. RHETORIK, GRAMMATIK UND SPRACHRICHTIGKEIT IN ADVERSUS NATIONES 1.1 STAND DER FORSCHUNG Die richtige Haltung gegenüber der Rhetorik205 war für christliche Autoren ein zentrales Thema, welches sowohl im Hinblick auf Rezeption als auch auf Produktion im Laufe der Zeit immer größere Virulenz gewann: Unter anderem vor dem Hintergrund der im Neuen Testament geäußerten Geringschätzung menschlicher Redekunst,206 aber auch angesichts der Veränderungen der sozialen Zusammensetzung und des steigenden Bildungsniveaus innerhalb der christlichen Gemeinden im Zuge der Bekehrung der Reichseliten207 galt es ebenso, eine für Christen angemessene Rezeptionshaltung gegenüber paganen, vom Einsatz rhetorischer Mittel geprägten Schriften zu bestimmen wie im Rahmen des eigenen literarischen und gegebenenfalls homiletischen Wirkens die Eloquenz in der richtigen Weise anzuwenden. Gerade die letztere Aufgabe barg umso mehr Brisanz in sich, als sehr viele christliche Autoren eine rhetorische Ausbildung durchlaufen haben dürften208 und viele von ihnen – so etwa Tertullian, Cyprian, Arnobius, Lactanz 205 Im Folgenden soll mit Begriffen wie „Rhetorik“, „Eloquenz“, „Beredsamkeit“ u.ä. jeweils auch deren Manifestation in literarischen Werken mitverstanden sein; vgl. hierzu z.B. MARROU (1982) 422 und BLÜMER (1991) 5. 206 Vgl. etwa Christi Anordnung gegenüber seinen Jüngern in Mc 13,11 (καὶ ὅταν ἄγωσιν ὑμᾶς παραδιδόντες, μὴ προμεριμνᾶτε τί λαλήσητε, ἀλλ’ ὃ ἐὰν δοθῇ ὑμῖν ἐν ἐκείνῃ τῇ ὥρᾳ τοῦτο λαλεῖτε; vgl. ferner Mt 10,19f.; Lc 12,11f.; 21,14f.), in der man geradezu einen Gegenentwurf zur rhetorischen Verteidigungskunst vor Gericht sehen kann. Vgl. ferner II Cor 11,6 (εἰ δὲ καὶ ἰδιώτης τῷ λόγῳ, ἀλλ’ οὐ τῇ γνώσει) und I Cor 2,1–5.13 (z.B. 2,1: κἀγὼ ἐλθὼν πρὸς ὑμᾶς, ἀδελφοί, ἦλθον οὐ καθ’ ὑπεροχὴν λόγου ἢ σοφίας καταγγέλλων ὑμῖν τὸ μυστήριον τοῦ θεοῦ oder 2,4: καὶ ὁ λόγος μου καὶ τὸ κήρυγμά μου οὐκ ἐν πειθοῖ[ς] σοφίας [λόγοις] ἀλλ’ ἐν ἀποδείξει πνεύματος καὶ δυνάμεως). Inwiefern die Evangelien und die Apostelgeschichte sowie die Paulusbriefe aber dennoch „rhetorischen“ Prinzipien folgen, zeigen z.B. BURRIDGE (1997) und PORTER (1997). UEDING (1995) 89 wiederum nennt Paulus sogar „einen gewichtigen Wegbereiter“ der Öffnung des Christentums hin zur Beredsamkeit. Schon Augustin führt im vierten Buch von De doctrina Christiana Paulus mehrfach als Beispiel für Eloquenz an. 207 Vgl. z.B. JONES (1971) und SIMMONS (1995) 33ff. 208 Zur rhetorischen Ausbildung vgl. etwa MARROU (1957) 413ff. und (1982) 43ff., der seine Untersuchung zu Augustins Bildungsgang (1982) als repräsentativ verstanden wissen will (Einleitung, S. XVIII), und GEMEINHARDT (2007) 43ff. Man denke auch an Hieronymus, der in epist. 22,30,4 berichtet, ihm sei im Traum vor Gottes Richterstuhl vorgeworfen worden: „Ciceronianus es, non Christianus“, woraus sich der Eindruck einer gewissen – zumindest von ihm selbst verspürten – Unvereinbarkeit von klassisch-rhetorischem Bildungsideal und Christentum ergibt. Auf die schwierige Informationslage bezüglich der griechischen Kirchenväter bis ins vierte Jahrhundert hingegen weist KINZIG (1997) 643 hin.

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Teil I: Studien zur Bewertung paganer Wissensfelder durch Arnobius

und Augustin – vor ihrer Konversion selbst als Rhetoriklehrer tätig gewesen waren.209 Entsprechend seiner Bedeutung hat dieser Aspekt der Auseinandersetzung des frühen Christentums mit der paganen Antike in der Sekundärliteratur breite Berücksichtigung gefunden.210 Die Bewertung und Bedeutung der Rhetorik in Arnobius’ Schrift Adversus nationes hingegen hat in der wissenschaftlichen Diskussion bislang wenig Aufmerksamkeit erfahren. Die ältere Forschung konzentrierte sich primär auf formale Aspekte wie etwa das arnobianische Vokabular und die Syntax,211 seine Klauseltechnik212 oder die einzelnen Ausprägungen einer zentralen rhetorischen Technik des Werkes, der refutatio.213 Nahm man – meistens jedoch en passant – die Eloquenz insgesamt in den Blick, so wurde über Arnobius zumeist das Verdikt der übermäßigen Anwendung rhetorischer Mittel verhängt,214 obgleich sich auch positive Urteile über seinen Stil oder seine Darstellungsart finden lassen.215 209 Einen Überblick über epigraphische und literarische Zeugnisse zu spätantiken lateinischen christlichen Rhetoriklehrern bietet GEMEINHARDT (2007) 384ff. 210 Genannt seien nur CLARKE (1953) 139ff., NORDEN (1958) 451ff., WIFSTRAND (1967) 28ff., MEMOLI (1969), KENNEDY (1980) 120ff., (1983) 180ff. und (1994) 257ff., GNILKA (1984) 73.87f.99f.116.140 und (1993) 19ff.72.88f.91.94f.102, OBERHELMAN (1991), CAMERON (1991), BERGER (1992), BAASLAND (1993), VICIANO (1993) 10ff., OTTO (1994), UEDING (1995) 88ff., AUKSI (1995) 67ff., ROBBINS (1996), BLÜMER (1996–2002), KINZIG (1997), UTHEMANN (1997), SATTERTHWAITE (1997), MITCHELL (2004), PIEPENBRINK (2005) 372ff., SPIRA (2007), GEMEINHARDT (2007) 417ff., MARIN (2008), PENNER/VANDER STICHELE (2009), TORNAU (2018) 53ff. und BREUER (2019). 211 So z.B. STANGE (1893), GABARROU (1921b), RAPISARDA (1946) 198ff. und VAN DER PUTTEN (1971a). 212 Vgl. hierzu den Forschungsüberblick unten in Anm. 38 auf S. 372. 213 MAYER (1939); dennoch sieht ANTONIE WLOSOK in ihrem maßgeblichen Artikel zu Arnobius im HLL in einer „Darstellung der rhetorischen Strategie und Taktik samt Widerlegungsformen und Argumentationsweise“ (1989a, 373) ein Desiderat. 214 So z.B. JÜLICHER (1896) 1206 („der Stil [ist] zuchtlos und affectiert, überladen mit rhetorischen Figuren und breit“), GABARROU (1921b) 208 („Lʼemphase verbale est la vrai plaie de la langue dʼArnobe. […] Tout les artifices lui sont familiers […] et il les étale sans vergogne.“), KLOTZ (1930) 372 („in leidenschaftlicher, schwülstig verzierter Polemik“), DE LABRIOLLE (1947) 288f., MCCRACKEN (1949a) 23 („in spite of the undeniable excellence of many passages, the defects of the style are precisely those which we should expect to find in a book written, not by a great master, but by a pedantic professor of rhetoric who uses all the tricks of his trade, and sows constantly with the sack, rarely with the hand. Arnobius is never content to make a point with lightning thrust and then pass on–he invariably continues to drive home each argument with seemingly endless repetition.“) [zustimmend zitiert von AHMED (2017) 119], NORDEN (1958) 605, Anm. 1 („Den Arnobius schließe ich übrigens von dieser Betrachtung [der antiken Kunstprosa] mit gutem Grunde aus: [...] Einen um so reichlicheren Gebrauch macht er von den σχήματα διανοίας [...] Das stimmt gut zu dem ganzen Ton dieses infamsten Pamphlets, welches das Altertum uns überliefert hat und welches den feingebildeten Christen selbst höchst peinlich war [...]“); schließlich wird Arnobius ebd. als „fanatische[r] Schreier“ bezeichnet, SCHANZ/HOSIUS/KRÜGER (1959) 411 („im Uebermaße zur Anwendung gekommen[e] rhetorisch[e] Kunstgriffe“), BARDENHEWER (1962) 522 („Das deklamatorische Pathos des alten Rhetors, die gesuchte und verschrobene Wortstellung [...] müssen auf die Dauer ermüdend und abstoßend wirken, um so mehr, als innere Wärme [...] sehr vermißt [wird]“), VICIANO (1993) 21 („un abrumador recurso a la técnica retórica“). COLOM-

1. Rhetorik, Grammatik und Sprachrichtigkeit in Adversus nationes

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Während sich jedoch ein Teil der Gelehrten damit begnügte, dem Apologeten diesen „Makel“ – zuweilen in jovialem Ton – anzukreiden, glaubten andere, dem Autor einen Bruch zwischen seinen theoretischen Aussagen216 zur Rhetorik und seiner tatsächlich geübten Praxis nachweisen zu können, was man Arnobius dann in einem Ton vorhielt, der ein Spektrum von vorwurfsvoll bis spöttisch umfasste.217 Hiermit war, auch ohne dass es manchen Forschern bewusst war, der BeBO (1930) 7 betrachtet Arnobius als „noch verstrickt in das Geschirr einer kurzatmigen Rhetorik“; aber trotz all seiner Defizite lese man ihn mit „tiefer Sympathie“ und werde gefesselt von seiner „Glut der Leidenschaft“. 215 RAPISARDA (1946) 196 (Arnobius sei ein „grande virtuoso della parola“ gewesen) und 256 („Arnobio ha veramente cercato e talvolta fatto rivivere la quadrata, armonica e solenne struttura ciceroniana“), GIGON (1966) 33 („Der unvoreingenommene Leser wird sogar einen so exzentrischen Literaten wie Arnobius interessanter finden als die Mehrzahl der griechischen Väter, die so gerne ihrem Hang zu uferloser Redseligkeit nachgeben.“), HAGENDAHL (1983) 38 („Der Satzbau und der Stil haben im Verhältnis zur Manieriertheit eines Tertullian oder Cyprian ein gewisses klassizistisches Gepräge“), WLOSOK (1989a) 368 („Die Durchführung ist [...] der Form nach locker und lebendig, voller Witz, Satire und Phantasie“), MORESCHINI/NORELLI (2007) 218 („Die Bücher [des A.] brillieren durch ihre ars rhetorica“) und 219 („langweilig ist [Arnobiusʼ Werk] nie“), NORTH (2007) 36: „[A.] is a witty, inventive and fast-footed controversialist, with a well-developed sense of humour.“ QUASTEN (1964) 385f. differenziert: „The author, it is true, drives home every argument with endless and tiresome repetitions[, but] shows considerable power of expression and rises at times to genuine eloquence.“ LE BONNIEC (1982a) 91 attestiert dem Apologeten, er sei sehr unterhaltsam und nicht langweilig; DERS. (1974) 202 hatte formuliert: „cet homme était la rhétorique incarnée; il avait toutes les qualités, tous les défauts aussi – poussés parfois jusquʼà la caricature – dʼun professionel de la déclamation.“ MEMOLI (1969) 42 vermittelnd: Die Ausdrucksweise des Arnobius sei zwar „florida e adiposa“, ordne sich aber (wie diejenige anderer Autoren) in ein „schema di un’eloquenza chiara, validamente espressiva e grave“ ein. 216 Bei dieser Bezeichnung ist allerdings zu bedenken, dass die entsprechenden Stellen keine vom Rest des Werkes völlig losgelösten Exkurse bilden, sondern ihrerseits in den Argumentationsgang eingeflochten sind und mithin unter Umständen eine Sichtweise auf einen bestimmten Gegenstand zum Ausdruck bringen, welche mit Blick auf die jeweilige Aussageabsicht bewusst verengt ist. Zur Frage der Sprecher-persona in Adversus nationes s.o. Prolegomena, Kap. 4.2.2. 217 RAPISARDA (1946) 195f.261f., MCCRACKEN (1947) 475 („Strange talk, indeed for one [...], whose own work abounds in all the tricks of the schools“) und (1949) 295, Anm. 282 („One wonders whether at his conversion Arnobius renounced his devotion to rhetoric.“), NORDEN (1958), der auf S. 529 für fast alle christlichen Autoren ein Auseinanderklaffen zwischen Theorie und Praxis thetisch konstatiert, LE BONNIEC (1982a) 370 („Il est très aisé de montrer que chez Arnobe cette ascèse stylistique est restée trés théorique!“), HAGENDAHL (1983) 37 (Kritik an der Redekunst sei „eine befremdliche Haltung bei einem Manne, der selbst vor allem Rhetor war“), VICIANO (1993) 64, Anm. 6, AUKSI (1995) 153, VON ALBRECHT (2003) 1259 (speziell mit Blick auf nat. 1,58f.). Differenzierter MEMOLI (1969), der zwar zunächst ein Auseinanderklaffen von Theorie und Praxis bei Arnobius konstatiert (S. 112: „Chi però conosce l’Adversus Nationes non potrà certamente assicurare che il comportamento stilistico tenuto da Arnobio […] sia ispirato a grande coerenza con le condanne lanciate contro la retorica classica“), dies aber später revidiert (S. 141ff.), da in der Theorie nur der zeitgenössische Geschmack und speziell der Stil der Zweiten Sophistik abgelehnt werde. MARCHESI (1965) 443 hingegen sieht einen Widerspruch zwischen den theoretischen Äußerungen und der praktizierten Argumentation mit Rückgriff auf die Grammatik. Etwas allgemeiner GIERLICH

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Teil I: Studien zur Bewertung paganer Wissensfelder durch Arnobius

reich der Chrêsis berührt, da ja der Umgang eines christlichen Autors mit einem zunächst paganen Bildungsgut, eben der Rhetorik, in den Blick genommen wurde.218 Andererseits scheinen weite Teile der Forschung Arnobius jedoch in gewissem Sinne zugleich ein Zuwenig an Rhetorik zu unterstellen: Immer wieder wurden der Aufbau und die Gedankenführung des arnobianischen Werkes als wenig geglückt, eilig-nachlässig, überladen und unsachgemäß getadelt.219 Versteht man (1985) 149: „Die christlichen Schriftsteller jedoch, die Stilfeinheiten als unnötig verwarfen, bemühten sich selbst um eine ausgefeilte Sprache.“, und BERGER (1992) 183 bemerkt mit Blick auf einen etwas anderen Personenkreis: „In Wirklichkeit aber verwenden alle [antiken] christlichen Prediger, spätestens seit Paulus, in reichem Maße das Material der antiken Rhetorik. Es entsteht daher ein unübersehbarer Spalt zwischen Theorie und Praxis, der faktisch zur Heuchelei führt.“ Ganz anders BLÜMER (1991) 60: „Aus dem Gesagten folgt, daß der Widerspruch zwischen Theorie (einfacher Stil) und Praxis (gehobener Stil), den man den Kirchenvätern unterstellt hat, in dieser Form nicht existieren kann.“ Vgl. ferner SINISCALCO (1995) 230: Die Kirchenväter richteten ihre Kritik gegen die falsche, manipulative Rhetorik; sie selbst aber bedienten sich der wahren, in positivem Sinne psychagogischen Rhetorik. 218 Zum Begriff und Konzept der christlichen Chrêsis s. oben, Kap. 3.4 der Prolegomena. 219 Als (vermeintlichen) Archegeten dieser Auffassung könnte man wohl Hieronymus nennen, dessen in epist. 58,10,2 geäußerte Einschätzung Arnobius inaequalis et nimius est et absque operis sui partitione confusus MCCRACKEN (1949a) 19 folgendermaßen übersetzt: „Arnobius is uneven and prolix and without clear division in his work, resulting in confusion.“ LE BONNIEC (1982a) 28, DUVAL (1986) 75 und CHAMPEAUX (2018) 11 hingegen verstehen den Ausdruck absque [...] partitione als „abgesehen von der Gliederung“, so dass ihrer Meinung nach der Gesamtaufbau des Werkes von Hieronymus Lob erfährt. – In neuerer Zeit wurden u.a. folgende Urteile gefällt: MEISER (1908) 4, Anm. 1: „der Tadel des Hieronymus [...] kann sich gerechterweise nur auf die ersten vier Bücher beziehen, in denen er sich augenscheinlich allzusehr gehen ließ“, KLOTZ (1930) 372: „So hat er [...] eine Verteidigung zusammengeschrieben, für die er den Stoff [...] eilig zusammenraffte“, BICKEL (1937) 334: „Der antike Wissensstoff kommt bei ihm zur Vorlage, ohne daß weltanschauliche Glut, missionarer Eifer oder auch nur künstlerische Spontaneität den Quellenstoff umgegossen hätte. Das fremde Gut bleibt ihm zum Greifen fremdes [...]“, RAPISARDA (1946) 1: „un’opera nell’insieme poco ordinata“, negativ auch SCHANZ/HOSIUS/KRÜGER (1959) 407.411. Vermittelnd GABARROU (1921a) 54f.: „un peu confus dans le détail [...], mais clair et précis, si on le considère dans l’ensemble“, MCCRACKEN (1949a) 19: „He is certainly uneven and prolix but the composition as a whole shows organic unity and each book discusses in thorough fashion the topic assigned to it“ und BARDENHEWER (1962): „mehrfach sich geltendmachende Eilfertigkeit und Überstürzung“ (S. 519), aber „im großen und ganzen wenigstens immerhin sachgemäß gegliedert“ (S. 522). WLOSOK (1989a) 368 konzediert, dass die Disposition zuweilen konfus erscheine, schreibt dies aber dem literarischen Genos des „Kontroversgesprächs“ zu. MORESCHINI/NORELLI (2007) 219 äußern die Ansicht, Arnobius habe „die Ordnung [...] der polemischen Verve geopfert“. JAKOBI (2002) 63 wiederum konstatiert zwar einen „von Anfang an diffusen Aufbau“, sieht in ihm jedoch rhetorische Taktik und nennt schließlich die Disposition wohlkalkuliert. Positive Einschätzungen äußern z.B. MONCEAUX (1963) 251 („Lʼouvrage, dans son ensemble, est bien conçu et bien construit; considéré dans les grandes lignes, le plan est net.“), LE BONNIEC (1982a) 28 („Si on fait abstraction du problème que pose l’insertion du livre 2 dans le traité, on reconnaîtra qu’Arnobe est capable d’organiser une matière abondante et complexe“), SIMMONS (1995) 54, Anm. 43 („I maintain that the seven books form an organic whole and represent a finished product.“), ARIS (2018) 1044 („das antike Publikum [sah] in dem Werk seine ästhetischen Interessen verwirklicht“) und CHAMPEAUX (2018) 11

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nun unter „Rhetorik“ nicht nur die Lehre vom passenden Ausdruck und der wirkungsvollen Wort- und Satzverbindung, sondern in einem erweiterten Sinne auch die sachgerechte Auffindung, Anordnung und Darbietung des zu behandelnden Stoffes,220 so müssten die benannten vermeintlichen Monenda gerade auf Versäumnisse des Autors im Bereich der Rhetorik hinweisen. Einen eher diachron-historischen Ansatz hingegen verfolgt ALBERT VICIANO: In seiner Monographie „Retórica, filosofía y gramática en el Aduersus nationes de Arnobio de Sica“ untersucht er einige Textpassagen (vor allem nat. 1,58f. und 2,11), in denen sich der Apologet zum Thema Sprache äußert. Diese Aussagen betrachtet VICIANO aus rhetorischer, philosophischer und vor allem grammatischer bzw. linguistischer Perspektive und stellt ihnen vergleichbare Ausführungen aus früherem, aber auch späterem Schrifttum der jeweiligen Provenienz zur Seite. Insgesamt kann er insofern weitgehende Kontinuität konstatieren, als Arnobius in den untersuchten Passagen größtenteils terminologisches Vokabular verwendet, welches sich schon etwa bei Cicero und Quintilian findet, aber auch bei späteren Rhetoriktheoretikern und Grammatikern begegnet.221 Einigendes Band zwischen Rhetorik, Grammatik und Philosophie sei für Arnobius, dass alle drei Disziplinen sich mit der Frage beschäftigten, mit welchem Grad an Wahrheit die menschliche Sprache die Realität der Dinge ausdrücken könne.222 Doch zum einen stellt gerade das ausgeprägte Bemühen, Kontinuitäten festzustellen und dem Autor einen Platz in der bestehenden Systematik zuzuweisen, eine belastende Prämisse für VICIANOS Untersuchung dar, die einige Eigenheiten des arnobianischen Textes nicht genügend berücksichtigt.223 Zum anderen ist es zwar ein unbestreitbares Verdienst der Studie, Traditionslinien aufgezeigt und Vergleichsmaterial in reichem Umfang zusammengetragen zu haben. Dennoch ergibt sich aus ihr trotz des universalistisch anmutenden Titels schon aufgrund der Selektivität der behandelten Texte kein vollständiges Bild der Ansichten des Arnobius über die Rhetorik. Der Beitrag von MANUELA CONIGLIO „Le parole della persuasione: Arnobio e la retorica“224 beschäftigt sich, anders als der Titel vermuten lässt, nicht mit Arnobiusʼ Verhältnis zur Rhetorik im engeren Sinne, sondern lotet aus, auf welche Praetexte und gedanklichen Konzepte der Apologet bei der Verwendung der Begriffe asellulus und trivialis anspielen könnte. MARCELLO MARIN schließlich stellt

220 221 222 223 224

(„La composition dʼensemble de lʼAduersus nationes est ferme et équilibrée, même si, sur quelques points particuliers, on peut encore discuter de lʼajustement de telle ou telle de ses parties.“). Weitere Urteile sind unten in Anm. 17 auf S. 179 gesammelt. Auf den Zusammenhang zwischen Rhetorik und partitio verweist en passant auch GEMEINHARDT (2007) 387 in seiner knappen Notiz zu Arnobius. VICIANO (1993). Auf seine Zusammenstellung von Belegmaterial für die jeweiligen rhetorischen Termini, die Arnobius verwendet, (ebd. S. 103ff.) sei hier auch für das Folgende verwiesen. VICIANO (1993) 47: „Un denominador común unifica esta variedad de puntos de vista. La principal preocupación del rétor de Sica se centra en precisar el grado de verdad o falsedad que el lenguaje humano tiene en orden a expresar la realidad de las cosas.“ Im Einzelnen vgl. hierzu die Anm. 245f.266.288 in diesem Kapitel. CONIGLIO (1999).

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in seinem Überblicksaufsatz „Riflessioni intorno alla retorica della verità nella cristianità antica“ die zentrale Arnobiuspassage nat. 1,59,1–6 vor, in der der Sprecher die Heilige Schrift gegen den Vorwurf stilistischer Mängel in Schutz nimmt.225 Angesichts dieser Ausgangslage sollen im Rahmen der vorliegenden Untersuchung alle relevant erscheinenden Aussagen des Arnobius bzw. der Sprecherpersona über Rhetorik, Grammatik226 und Sprachrichtigkeit einer (erneuten) Prüfung unterzogen werden, woraus sich ein differenzierteres Bild der arnobianischen Anschauung vom Wesen, von den Vorzügen und auch den Gefahren der Eloquenz ergeben dürfte, als es bislang entworfen wurde. In einem zweiten Schritt soll überprüft werden, welche Implikationen sich aus diesem neugewonnenen Bild mit Rücksicht auf die Sprechsituation von Adversus nationes ergeben. Im zweiten Hauptteil der vorliegenden Studie wird dann die rhetorische Praxis des Apologeten sowohl auf der Makro- als auch auf der Mikro-Ebene untersucht werden. Ziel dieser Analyse ist es, zu zeigen, wie Arnobius’ Argumentation konkret „funktioniert“, d.h. mit welchen sprachlich-rhetorischen Mitteln und in welchen Strukturen er Argumente präsentiert, um seine Ansichten zu plausibilieren oder gar alternativlos erscheinen zu lassen. Darüber hinaus wird zu überprüfen sein, wie tragfähig das Chrêsis-Paradigma im Falle der „Rhetorik“ des Arnobius ist, d.h. ob und inwieweit es sich zeigen lässt, dass der Autor traditionelle Dispositionsstrukturen und Darstellungsmittel im Verfahren kritischer Selektion für seine spezifisch christliche Aussage-Intention fruchtbar einzusetzen weiß.

225 MARIN (2008) 128–131. 226 Quintilian gliedert die Grammatik in inst. 1,4,2 in zwei Bereiche, in die recte loquendi scientia und die poetarum enarratio, so dass es auch denkbar gewesen wäre, sie in Kap. 3 in Zusammenhang mit der Dichtung zu besprechen. Hiervon wurde jedoch abgesehen, da im arnobianischen Text die Grammatik primär als recte loquendi scientia verstanden wird.

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1.2 AUSSAGEN ZU RHETORIK, GRAMMATIK UND SPRACHRICHTIGKEIT 1.2.1 nat. 1,58f. Im Zuge der Verteidigung der biblischen Schriften im Kapitel 57 des ersten Buches wird vom Sprecher aufgezeigt, dass sich zahlreiche Parallelen zwischen Heiden und Christen in der Haltung zu ihren eigenen religiösen Schriften, aber auch in der (abwertenden) Einschätzung der Texte des jeweils anderen Glaubens konstatieren, eventuell aber auch nur konstruieren lassen, wobei vor allem die sachliche Richtigkeit bzw. die Verlässlichkeit des Inhaltes der Texte thematisiert werden. Im Anschluss hieran kommen in Kapitel 58 die formalen Qualitäten der heiligen christlichen Texte227 zur Sprache: 1. sed ab indoctis hominibus et rudibus scripta sunt et idcirco non sunt facili auditione credenda. – vide, ne magis haec fortior causa sit, cur illa sint nullis coinquinata mendaciis, mente simplici prodita et ignara lenociniis ampliare.

Das Kapitel beginnt mit einem globalen Verweis des Interlocutors auf den geringen Bildungs- und Ausbildungsstand der Verfasser der christlichen autoritativen Texte,228 woraus im Hinblick auf diese abgeleitet wird: non sunt facili auditione credenda. Diese Wendung kann zunächst auf zweierlei Arten aufgefasst werden: Zum einen lässt sich das Gerundiv credenda im Sinne des Ausdrucks einer verneinten Möglichkeit verstehen,229 so dass behauptet würde, man könne den Inhalten der Texte nicht Glauben schenken, indem man ihnen auf bequeme Art und Weise zuhöre. In diesem Fall würde aus der mangelnden Bildung der Verfasser mindere formale und stilistische Qualität der Schriften gefolgert, die deren Rezeption beeinträchtige.230 Doch angesichts der in Kapitel 57 vorangehenden Diskussion um den jeweiligen Wahrheitsgehalt christlicher und paganer scripta, innerhalb deren der Sprecher die Existenz von Zeugen für die christlichen Inhalte behauptet und ihnen „weniger an Erfindung“ (minus [...] fictionis, 1,57,6) als den paganen zugesprochen hatte, liegt es wohl näher, den ersten Satz des Kapitels 58 als Weiterführung dieser Debatte zu betrachten. Dann würde der Interlocutor implizit die geringe Bildung der Verfasser der neutestamentlichen Schriften mit einem gewissen Hang zur Ungenauigkeit oder gar zur Fabulierlust ihrerseits verknüpfen, weshalb man

227 Ob hier nur die Evangelien oder das Neue Testament insgesamt gemeint sind, lässt sich nicht erkennen. Zur Frage der arnobianischen Bibelkenntnis im Allgemeinen vgl. Anm. 303 auf S. 99. 228 Vergleichbare Stellen und weiterführende Literatur hierzu bietet GIERLICH (1985) 133. 229 Vgl. zu diesem Gebrauch des Gerundivs z.B. HOFMANN/SZANTYR (1965) § 202 (Anfang). 230 Einen solchen Konnex beschreibt unter umgekehrten Vorzeichen Quintilian in inst. 4,2,119: nescio quo modo etiam credit facilius, quae audienti iucunda sunt, et voluptate ad fidem ducitur, wobei der Kontext die Begriffe iucunda und voluptate eindeutig der formal-stilistischen Sphäre zuweist.

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ihren Inhalten nicht unter willfährigem Zuhören glauben dürfte.231 Diese letztere Auffassung erscheint – auch mit Blick auf die inhaltsbezogene Antwort des Sprechers – plausibler, sofern man nicht annehmen möchte, dieser habe eine eigentlich auf formale Aspekte christlicher Texte abzielende bzw. eine bewusst ambige Kritik auf die inhaltliche Ebene transponiert. Jedenfalls bestreitet er den ersten Teil des gegnerischen Argumentes (geringer Bildungsstand der Verfasser der neutestamentlichen Schriften) nicht, zieht daraus aber ganz andere Konsequenzen: Es sei gut möglich, dass die Autoren gerade aufgrund ihrer Unbedarftheit die von ihnen geschilderten Ereignisse durch keinerlei Lügen befleckt hätten, dass diese mithin völlig wahrheitsgemäß überliefert seien.232 Der Sprecher findet allerdings für diese Geisteshaltung begreiflicherweise freundlichere Bezeichnungen: Ihm gelten die Verfasser als schlicht und aufrichtig im besten Sinne, zugleich als nicht in der „Kunst“ bewandert, ihrem Stoff durch verführerischen Prunk und gekünstelten Reiz – hier konkret gemeint: durch Hinzuerfinden und Ausschmücken – mehr Geltung und Gewicht zu verschaffen.233 Im Rückblick auf die oben im Zusammenhang mit facili auditione aufgeworfene Frage ist jedoch noch zu erwähnen, dass mit dem Substantiv lenocinium in der Antwort ein Begriff enthalten ist, der auch als rhetorischer Terminus verstanden werden kann, nämlich als „künstlicher Prunk in der Rede“234 bzw. als Kollektivbezeichnung der „stilistischen Mitte[l] des affektischen ornatus“235. 2. – trivialis et sordidus sermo est. – numquam enim veritas sectata est fucum nec, quod exploratum et certum est, circumduci se patitur orationis per ambitum longiorem. collectiones, enthymemata, definitiones omniaque illa ornamenta, quibus fides quaeritur adsertionis, suspicantes adiuvant, non veritatis liniamenta demonstrant. 3. ceterum qui scit, quid sit illud, quod dicitur, nec definit nec colligit neque alia sectatur artificia verborum, quibus capi consueti sunt audientes et ad consensum rei circumscriptionis necessitate traduci. 231 In diesem Sinne übersetzen VON BESNARD (1842) 50, BRYCE/CAMPBELL (1895) 48, MCCRACKEN (1949a) 104, LAURENTI (1962) 34, LE BONNIEC (1982a) 183, VICIANO (1993) 56 und AMATA (2000) 133. 232 Ein Zusammenhang zwischen simplicitas und religiöser Wahrheit wird auch in nat. 1,33,2 thematisiert, vgl. hierzu unten, S. 285f. 233 Hiermit nicht recht vergleichbar sind die Ausführungen in nat. 1,50,2. Dort wird zwar berichtet, dass die Apostel einfache Leute (Fischer, Handwerker, Bauern u.ä.) gewesen sind und gerade deshalb von Jesus ausgewählt wurden. In diesem Kontext aber soll der Verweis auf ihre imperitia belegen, dass die Apostel ihre Wundertaten unter den Völkern nicht aufgrund einer „Berufsmagier-Ausbildung“, sondern allein durch göttliche Beauftragung wirken konnten (piscatores, opifices, rusticanos atque id genus delegit imperitorum, qui per varias gentes missi cuncta illa miracula sine ullis fucis atque adminiculis perpetrarent). Vgl. hierzu auch unten, S. 317ff. 234 Vgl. z.B. Quint. inst. 4,2,118: caret enim ceteris lenociniis expositio et, nisi commendetur hac venustate, iaceat necesse est; 8 prooem. 26: sed ille est durus atque ineruditus: nos melius, quibus sordet omne, quod natura dictavit, qui non ornamenta quaerimus, sed lenocinia, quasi vero sit ulla verborum nisi rei cohaerentium virtus sowie 12,1,30: vir autem malus aliud dicat necesse est quam sentit: bonos numquam honestus sermo deficiet, numquam rerum optimarum (nam idem etiam prudentes erunt) inventio: quae etiam si lenociniis destituta sit, satis tamen natura sua ornatur nec quicquam non diserte, quod honeste, dicitur. 235 So LAUSBERG (2008) 737.

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In dieser Passage attackiert der Interlocutor nun eindeutig die literarische Beschaffenheit der christlichen Schriften:236 Sie seien in gewöhnlichem und „armseligen“ Stil abgefasst, d.h. unter Verwendung von Wörtern der „abstoßend-vulgäre[n] Gebrauchssphäre“237. Diesen Einwand lässt der Sprecher zunächst gelten,238 verknüpft mit seiner Beantwortung aber zugleich in Form eines Enthymems Aussagen über die Inhalte der in Rede stehenden Texte: Niemals habe sich die Wahrheit, welche sich – so ist zu ergänzen – in eben diesen Texten manifestiert, eifrig um Schminke bemüht, d.h. um unnatürlichen, trügerischen „Putz“ des sprachlichen Ausdruckes, in dem sie sich konkretisiert. Hierbei ordnet sich der Sprecher durch die Verwendung des Substantivs fucus in eine Traditionslinie rhetorischer Terminologie ein, die von der späten römischen Republik an verfolgt werden kann und auch im frühchristlichen Schrifttum fest verankert ist.239 Der zweite Teil des Satzes untermauert den Gedanken noch weiter: Nicht nur trachtet die Wahrheit nicht nach rhetorischem fucus, sondern ausgemachte und sichere Dinge lassen es auch gar nicht zu, dass man sie in einer längeren bzw. allzu langen Satzperiode ausführt. Kaum zufällig hat Arnobius hierbei aus der Fülle möglicher lateinischer Übersetzungen für den griechischen Begriff περίοδος [ambitus, circuitus, compre(he)nsio, continuatio, circumscriptio]240 mit ambitus gerade diejenige herausgegriffen, die neben dem Denotat „Satzperiode“ auch zahlreiche negativ besetzte Dinge wie etwa „Amtserschleichung“, „leidiger Ehrgeiz“, „Eitelkeit“, „Buhlen um Gunst“ u.a. bezeichnet.241 Überdies weckt das Verb circumducere, obwohl es sich bei ihm ebenfalls um einen Terminus für das „Abrunden der Rede“ handelt, durch sein z.B. bei Plautus und im juristischen Schrifttum belegtes Denotat „hinters Licht führen“, „prellen“ unter Umständen negative Assoziationen.242 Jedenfalls gilt dem Sprecher gemäß seiner hier vorge236 Dass der Vorwurf, christliches Schrifttum weise geringe literarische Qualität auf, als topisch angesehen werden kann, zeigen z.B. die Sammlungen einschlägiger Stellen bei MCCRACKEN (1949a) 295, Anm. 280, GIERLICH (1985) 149 und KINZIG (1997) 635f. Einen Überblick über das Urteil einiger christlicher Schriftsteller des zweiten und dritten Jahrhunderts über den biblischen Stil bietet z.B. SINISCALCO (1995). – Zur „Rhetorik“ einiger neutestamentlicher Bücher vgl. jedoch z.B. BURRIDGE (1997), PORTER (1997), THURÉN (1997) und STAMPS (1997) jeweils mit weiterführender Literatur. 237 So LAUSBERG (2008) § 1074,2 in seiner Übersetzung derjenigen Passage, in welcher Quintilian verschiedene Verstöße gegen das aptum erläutert (inst. 8,2,1: nam et obscena vitabimus et sordida et humilia). – Die Semantik von trivialis und sordidus tritt in umgekehrter Reihenfolge kombiniert bei Sulpicius Victor, einem Rhetor des vierten Jh.s n.Chr., auf (Rhet. min. p. 321,3ff. HALM: adhibendus est nitor […], ut scilicet verba non sordida et vulgaria et de trivio, quod dicitur, sumpta sint, sed electa de libris et hausta de liquido fonte doctrinae). 238 Offenkundig differenziert hierbei keine der beiden Seiten zwischen dem griechischen Originaltext und den lateinischen Übersetzungen des NT. 239 Vgl. hierzu die Motivuntersuchung zum fucus eloquentiae bei BLÜMER (1991) 9ff., der zahlreiche Untertypen dieser Metapher unterscheidet. 240 Vgl. Cic. orat. 204 und Quint. inst. 9,4,124. 241 ThLL 1, Sp. 1857ff., s.v. ambitus. 242 Vgl. ThLL 3, Sp. 1134f., s.v. circumducere II A. So übersetzt MCCRACKEN (1949a) 104: „to be led on“. GEMEINHARDT (2007) 402, der diesen Aspekt ebenfalls berücksichtigt, paraphrasiert dennoch etwas schief: „was einmal als gewiss erkannt worden sei, lasse sich nicht mehr

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tragenen Bewertung der Bau ziemlich bzw. allzu umfangreicher Perioden gewissermaßen als Beweis dafür, dass das, was der Redner zu sagen hat, weder exploratum noch certum ist.243 Daraufhin wendet sich der Sprecher einigen Argumentationsformen zu und beschreibt deren Wirkung: Nachdem er Syllogismen (collectiones), Enthymemata und dem Argumentationsziel eines Sprechers zuträgliche Begriffsbestimmungen (definitiones)244 namhaft gemacht hat, erweitert er seine Ansicht ins Generelle: All jene Arten des Redeschmucks, durch die man Glaubwürdigkeit für eine Behauptung zu erzielen suche, hülfen den Vermutenden, legten aber nicht die Grundzüge der Wahrheit dar.245 Unklar bleibt hierbei zunächst, wen das Partizip suspicantes bezeichnet: Sind hiermit Rezipienten gemeint, die über die zu verhandelnden Dinge noch kein Wissen haben, sondern nur Vermutungen hegen und denen die Akzeptanz der Inhalte durch die genannten Argumentationstechniken leichter gemacht wird, oder referiert suspicantes auf die Redner, die ihrerseits kein sicheres Wissen über die Inhalte haben, denen es die Verwendung dieser ornamenta aber leichter macht, ihr Publikum zu beeinflussen? Der das Kapitel beschließende Satz legt es jedoch nahe, suspicantes auf die Redner zu beziehen, da er in seinem ersten Teil ein auf die Produzenten sprachlicher Äußerungen fokussiertes Gegenbild zum vorherigen Gedanken entwirft: Wer um die Natur dessen, was gesagt wird, weiß, greift weder zu definitiones und collectiones noch jagt er anderen Kunstgriffen im Bereich der Wörter (artificia verborum) nach, durch welche sich die Zuhörer, da sie bereits an sie gewohnt sind, einnehmen und zur Zustimmung bewegen lassen.246 Mit circumscriptionis necesvon einer weitschweifigen rhetorischen Darstellung an der Nase herumführen“. BRY(1895) 48: „to be led away“. Wieder anders LAURENTI (1962) 34 und AMATA (2000) 133, die circumduci beide mit „verwässern“ („diluire“) wiedergeben; abermals anders VON BESNARD (1842) 50: „aufheben“. Bei LE BONNIEC (1982a) 183 bleibt circumduci unübersetzt. Diese inhaltliche Stoßrichtung bleibt auch dann erhalten, wenn man ambitus nicht terminologisch, sondern im Sinne von „umfangreiche Darstellung“ oder „Wortschwall“ versteht; so etwa MCCRACKEN (1949a) 104 („indirection and verbosity“) und MEMOLI (1969) 121 („complicati ed ampi giri di frasi“). Die oben zugrunde gelegte terminologische Auffassung erscheint aber angesichts der Verbindung von ambitus mit circumducere plausibler, zumal im nächsten Satz weitere Termini aus der Stilistik und Argumentationskunst folgen. Vgl. zum Terminus definitio: Carmen de figuris vel schematibus 97: ὁρισμός: definitio fit, cum rem definio pro me; Rut. Lup. (Rhet. min. p. 14,30f. HALM): hoc fit, cum definimus aliquam rem nostrae causae ad utilitatem neque tamen contra communem opinionem. KENNEDY (1980) 147 hingegen paraphrasiert: „Arnobius regards syllogisms, enthymemes, and the like as useful to the Christian controversialist.“ Auch die Deutung von VICIANO (1993) 73, dass collectiones, enthymemata, definitiones omniaque illa ornamenta so verwendet werden müssen, dass sie der Darlegung der Wahrheit dienen, könnte allgemein in Arnobiusʼ Sinne sein, geht jedoch nicht aus der Aussage non veritatis liniamenta demonstrant hervor. Die Deutung, die VICIANO (1993) 73 dieser Stelle abringt, erscheint unhaltbar: Denn der christliche Verzicht auf artificia verborum ist nicht dadurch motiviert, dass das Publikum für sie zu schlicht sei und dass deshalb die Wahrheit vereinfacht vorgetragen werden müsse: Unabhängig vom Bildungsstand der Rezipienten formuliert laut dem arnobianischen Sprecher CE/CAMPBELL

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sitate wird hierbei abschließend wieder ein übergreifender Terminus aufgenommen, indem die Darbietung der Argumentation in Gestalt einer Satzperiode angesprochen wird,247 wobei sich auch für circumscriptio – ebenso wie für ambitus in 58,2 – negative Denotate anführen lassen, u.a. „Hintergehung“, „Täuschung“ und „Übervorteilung“.248 Im Kapitel 59 wird die Diskussion über die formale Beschaffenheit der christlichen heiligen Schriften weitergeführt:249 1. barbarismis, soloecismis obsitae sunt, inquit, res vestrae et vitiorum deformitate pollutae. 2. – puerilis sane atque angusti pectoris reprehensio, quam si admitteremus, ut vera sit, abiciamus ex usibus nostris quorundam fructuum genera, quod cum spinis nascuntur et purgamentis aliis, quae nec alere nos possunt nec tamen impediunt perfrui nos eo, quod principaliter antecedit et saluberrimum nobis voluit [coni. Sabaeus : valuit P B] esse natura.

Der Gesprächspartner, dessen Beitrag diesmal durch inquit gekennzeichnet ist, urteilt, dass die neutestamentlichen Texte, die hier denkbar unspezifisch als res vestrae bezeichnet werden, von Verstößen gegen die korrekte lautliche Zusammensetzung einzelner Wörter (barbarismis) und gegen die korrekte grammatischsyntaktische Verknüpfung mehrerer Wörter (soloecismis)250 übersät und aufgrund dieser Entstellung durch Fehler befleckt251 seien. Unausgesprochen bleibt die (für

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der wahrhaft Sachkundige seine Aussagen unprätentiös. Zum anderen ist das Publikum ja nach Aussage des Sprechers gerade nicht schlicht, sondern verlangt – sozusagen aufgrund einer falschen „rhetorischen Sozialisierung“ – von sich aus artificia und circumscriptiones. So auch LE BONNIEC (1982a) 183 in seiner Übersetzung „sous la contrainte des belles périodes“, ähnlich AMATA (2000) 133 („per una specie di costrizione indotta dai bei periodi“), vgl. ferner LAURENTI (1962) 34: „a forza di giri di parole“. Etwas anders jedoch MCCRACKEN (1949a) 104: „by figures of speech“. VON BESNARD (1842) 50 hingegen: „durch nöthigenden Trug“. Bei BRYCE/CAMPBELL (1895) 48 bleibt circumscriptionis unübersetzt. Circumscriptio in der Bedeutung „fraus“: ThLL 3, Sp. 1164, s.v. circumscriptio 3; das Lemma verweist ebd. auch auf die in Rede stehende Arnobiusstelle, fasst sie also nicht terminologisch auf. Vgl. ferner nat. 6,14,2: quidnam est istud, homines, quod ipsi vos ultro in tam promptis ac perspicuis rebus voluntaria fallitis et circumscribitis caecitate? und 6,16,1: ipsique vos ultro credulitatis vacuae circumscriptione traducitis. – Bemerkenswert sind die Entsprechungen, aber auch die Kontraste im Aufbau der Paragraphen 2b und 3: Den Substantiven collectiones, enthymemata, definitiones in § 2 sind in § 3 chiastisch und unter Auslassung der enthymemata die etymologisch zugehörigen Prädikate definit und colligit gegenübergestellt. Der generalisierende Ausdruck omniaque illa ornamenta, quibus fides quaeritur adsertionis (§ 2) findet sein Pendant in alia […] artificia verborum, quibus […] (§ 3). Schließlich wird das erste konkrete Element aus der Aufzählung in § 2 (circumduci […] per ambitum longiorem) am Ende des § 3 in circumscriptionis necessitate traduci chiastisch wiederaufgenommen, wobei mit -duci das Verbum simplex erhalten bleibt, das Präfix circumjedoch vom Infinitiv zum Substantiv verschoben wird (circumduci – circumscriptionis). – Eine denkbare Erklärung dafür, dass enthymemata nicht wieder aufgenommen wird, könnte sein, dass Arnobius selbst, wie oben gezeigt, ein Enthymem an dieser Stelle verwendet. Bei dem diesbezüglichen „Aufsatz“ von SCHWENTNER (1939) handelt es sich lediglich um einen Abdruck des lateinischen Textes von nat. 1,59,7–12. Ob Solözismen auch bei Einzelwörtern möglich sind (Beispiel: Jemand sagt zu einer Gruppe von Personen: „Geh weg!“), diskutiert Quintilian in inst. 1,5,36ff. Bei polluere handelt es sich um ein Verb, welches auch die Entehrung/Befleckung im religiösen Bereich bezeichnet (vgl. ThLL 10,1,2, Sp. 2567f., s.v. polluo II A). Sieht man diese Be-

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die Argumentation notwendige) Folgerung des Gesprächspartners, man dürfe diesen Texten aufgrund ihrer vitiorum deformitas keine Bedeutung zumessen. Der Verteidiger schlägt sogleich polemisch zurück, indem er einen solchen Tadel kindisch und engstirnig nennt. Wenn man ihn gelten ließe, so fährt er fort, dann dürfe man auch einige Früchte nicht mehr verzehren, die zwar in einigen Teilen ungenießbar, in anderen aber der Gesundheit äußerst zuträglich seien. In diesem etwas enthymematischen Vergleich kommen indirekt mehrere Ansichten des Sprechers über die christlichen heiligen Schriften bzw. über das Verhältnis von Form und Inhalt zum Ausdruck:252 1. In den biblischen Schriften lassen sich tatsächlich Barbarismen und Solözismen finden. 2. Eine weniger zugängliche äußere Form tut dem vollständigen Genuss (perfrui) des Inhaltes keinerlei Abbruch. 3. Der Inhalt geht der Form zeitlich und auch im Blick auf die Relevanz voraus (principaliter antecedit) und ist für uns überaus nützlich und heilbringend. Angesichts des Gesamtduktus der Passage erscheint die von Faustus Sabaeus in der editio princeps von 1543 vorgeschlagene und von vielen Herausgebern übernommene Konjektur voluit für das überlieferte valuit nicht nötig: Ebenso wie das, was sich in manchen Früchten unter Dornen und anderen ungenießbaren Teilen verbirgt, von Natur aus äußerst förderlich ist, so vermochte und vermag auch der Inhalt christlicher Texte von Natur aus, d.h. aus der Sache selbst heraus, auch ohne rhetorisch-grammatische Perfektion, überaus heilbringend (saluberrimum) zu sein. 3. quid enim officit, o quaeso, aut quam praestat intellectui tarditatem, utrumne quid glabre [coni. Grotius : grave P B] an hirsuta cum asperitate promatur, inflectatur quod acui an acuatur quod oportebat inflecti?

In Form einer durch o quaeso wohl zusätzlich ironisch gefärbten rhetorischen Frage wird konstatiert, dass verschiedene Aussprachefehler dem Verständnis keinen Abbruch tun. Während der in Form eines „verbalen Polyptotons“ gestaltete Teil inflectatur [...] inflecti zwei Arten falscher „Akzentuierung“ bzw. Aussprache253 benennt, bezeichnet hirsuta asperitas bildhaft einen „struppigen“ Ton.254

deutung als hier aktiviert an, würde der Interlocutor den christlichen Texten religiöse Dignität aufgrund ihrer vermuteten morphologischen und syntaktischen Fehler absprechen. 252 Man könnte die Gültigkeit des Folgenden anzweifeln mit Hinweis darauf, dass es sich bei si admitteremus ja um einen irrealen Konditionalsatz handelt. Der Kontext (Genuss von Früchten trotz ihrer widrigen Schalen u.a.) zeigt aber, dass sich der Konditionalsatz nicht auf die von den Gegnern geäußerte stilistische Kritik bezieht, sondern auf die implizit daraus abgeleitete Ablehnung der christlichen Schriften. 253 Zu den lateinischen „Akzenten“ siehe z.B. Quint. inst. 1,5,22ff., die bei LE BONNIEC (1982a) 370 ad loc. genannte Literatur und VICIANO (1993) 160ff. – Dass hier falsch akzentuierte Manuskripte des griechischen Textes gemeint sein könnten, erscheint weniger wahrscheinlich. Jedenfalls sind inflectere und acuere gut belegt als Bezeichnungen für bestimmte Ausspracheweisen lateinischer Wörter, vgl. ThLL 7,1, Sp. 1460, s.v. inflecto I B 1 b β bzw.

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Dem wird – je nach Textgestaltung – eine „enthaarte“, „glatte“ (glabre) oder eine „tiefe“ bzw. „dumpfe“ (grave)255 Aussprache entgegengestellt. Festhalten kann man in jedem Fall, dass sich der Sprecher hier auf Barbarismen, die nur in der Aussprache, nicht aber im Schriftbild kenntlich sind,256 konzentriert und hiermit in der Tat diejenigen herausgreift, die dem Verständnis am wenigsten Abbruch tun. 4. aut qui minus id, quod dicitur, verum est, si in numero peccetur aut casu, praepositione, participio, coniunctione? pompa ista sermonis et oratio missa per regulas contionibus, litibus, foro iudiciisque servetur deturque illis immo, qui voluptatum delinimenta quaerentes [edd. : querentes P B] omne suum studium verborum in lumina contulerunt.

Im Paragraphen 4 wendet sich der Sprecher den Auswirkungen grammatisch-syntaktischer Fehler zu. Abermals in Form einer rhetorischen Frage äußert er die Meinung, die Wahl eines falschen Numerus oder Kasus bzw. Fehler bei der Verwendung von Präpositionen, Partizipien und Konjunktionen verminderten die Wahrheit einer Aussage nicht. Diese Behauptung erscheint etwas gewagt: Zwar wird der Sachverhalt, über den ein Autor berichtet, durch eine fehlerhafte Formulierung nicht weniger wahr; dennoch kann seine Äußerung darüber falsch sein, wenn er z.B. aufgrund der fehlerhaften Verwendung des Plurals eine Aussage über mehrere Entitäten trifft, die nur für eine gilt, oder wenn eine semantisch falsche Präposition (etwa „mit“ statt „ohne“) oder Konjunktion verwendet wird.257 Doch obgleich es sich hierbei um durchaus elementare Aspekte der Sprachrichtigkeit handelt, lenkt der Verteidiger im folgenden Satz mit der (eigentlich auf das Vorhergehende zurückweisenden) Wendung pompa ista sermonis die Aufmerksamkeit wohl wieder auf den rhetorischen Prunk im umfassenderen Sinne zurück. Eben dieses Gepränge und überhaupt Regeln unterworfene Reden solle man sich für den Bereich der Öffentlichkeit, für gerichtliche Auseinandersetzungen und Prozesse aufsparen,258 ja sie sollten vielmehr259 jenen überlassen werden, die, da sie an den Verlockungen der Vergnügungen interessiert seien,260 all ihren Eifer auf „Schmucklichter glänzender Worte“, gewissermaßen

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ThLL 1, Sp. 462, s.v. acuo II C 1, wo auch die in Rede stehende Arnobiusstelle als Beleg genannt ist. Was hiermit genau gemeint ist, ist unklar. Aus ThLL 2, Sp. 822, s.v. asperitas I C lässt sich nur belegen, dass asperitas den unangenehmen Klang eines Wortes bezeichnen kann. Vgl. ThLL 6,2–3, Sp. 2299f., s.v. gravis II C 1. Vgl. Quint. inst. 1,5,6: quis hoc nescit alios barbarismos scribendo fieri, alios loquendo [...]? Unproblematisch wäre freilich z.B. die Verbindung einer auf einen einzigen Kasus festgelegten Präposition mit dem „falschen“ Kasus. Vgl. hierzu z.B. Aug. doctr. chr. 2,XIII 19: utrum enim „inter homines“ an „inter hominibus“ dicatur, ad rerum non pertinet cognitorem. Auch ELLSPERMANN (1949) 66 paraphrasiert, ohne in der Aussage Ironie o.ä. zu vermuten: „Even a pompous diction may have its place, for example, in the law courts.“ Vgl. ferner Cyprian in Ad Donatum 2: in iudiciis, [contione] pro rostris opulenta facundia volubili ambitione iactetur: cum de domino et de deo vox est, vocis pura sinceritas non eloquentiae viribus nititur ad fidei argumenta, sed rebus. GEMEINHARDT (2007) 401 hingegen übersetzt an dieser Stelle immo mit „vor allem“. Dieser Deutung liegt die Konjektur quaerentes zugrunde, deren Diphthong im Mittelalter als „e“ ausgesprochen worden wäre. Wollte man das überlieferte querentes beibehalten, müsste

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also „Highlights“ der Formulierungskunst verwendet hätten. Mit diesen Ausführungen scheint jedoch weniger die Formulierungskunst in toto als ihre Auswüchse kritisiert zu werden:261 lumina verborum ist in der rhetorischen Tradition – anders als etwa fucus – kein negativ besetzter Ausdruck;262 der Sprecher grenzt sich nur von der Gruppe derjenigen ab, die all ihre Bemühungen (omne suum studium) auf dieses Ziel ausrichten. Bemerkenswert ist in diesem Kontext, dass voluptatum delinimenta inhaltlich einen deutlichen Gegenpol zu veritatis liniamenta aus 58,2 darstellt, formal und phonetisch jedoch sehr deutliche Ähnlichkeiten mit eben diesem Ausdruck aufweist.263 5. cum de rebus agitur ab ostentatione summotis, quid dicatur, spectandum est, non quali amoenitate dicatur, nec quid aures commulceat, sed quas adferat audientibus utilitates; maxime cum sciamus etiam quosdam sapientiae deditos non tantum abiecisse sermonis cultum, verum etiam, cum possent ornatius atque uberius eloqui, trivialem studio humilitatem secutos, ne conrumperent scilicet gravitatis rigorem et sophistica se potius ostentatione iactarent.

Bei Dingen, die der auf äußerliche Wirkung berechneten Darstellung entzogen sind, ist, so der Sprecher, auf den Inhalt einer Aussage zu achten, nicht darauf, wie reizvoll sie vorgetragen wird; ebensowenig ist relevant, was für die Ohren angenehm ist; vielmehr ist entscheidend, welche nützlichen Gesichtspunkte eine Äußerung den Rezipienten eröffnet. Während sich dieser Satz ebenso als an Redner resp. Literaten adressierte Richtschnur für die inhaltliche und formale Ausgestaltung von Reden verstehen lässt wie als Anweisung zur kritischen bzw. richtigen Rezeption an Leser bzw. Hörer, konzentriert sich der Rest des Paragraphen auf eine ganz bestimmte Gruppe von Rednern und Autoren: Die vorherige Äußerung habe umso mehr Gewicht, als man ja wisse, dass einige Philosophen264 den

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man wohl von einer konzessiven Sinnrichtung ausgehen: „jenen, die, obwohl sie sich über die Verlockungen der Vergnügungen beschweren, […]“. – Der Umstand aber, dass in nat. 1,59,6 quaerere voluptatem zu lesen ist, lässt sich im Sinne lexikalischer Kohärenz als Indiz für quaerentes in 1,59,4 deuten. Die bloße Verknüpfung der pompa sermonis und der oratio missa per regulas mit dem juristischen Bereich dürfte noch kein Verdikt über diese bedeuten. Anders verhält es sich mit Spitzfindigkeiten und Sophistereien, die in nat. 5,33 ausdrücklich als traditionell mit der objektiv ungerechten Position vor Gericht verbunden bezeichnet werden: argutiae sunt, ut apparet, atque acumina haec omnia, quibus fulcire sollemne est malas in iudiciis causas [...]. Dies erinnert stark an das Angebot der Sophisten, zu lehren, wie man die schwächere Sache zur stärkeren mache (τὸν ἥττω λόγον κρείττω ποιεῖν), vgl. Protagoras 80 B 6b D./K. Vgl. ThLL 7, Sp. 1820, s.v. lumen caput alterum, I A 1 a. In beiden Fällen Voranstellung des Genitivattributs, jeweils vier + fünf Silben, identischer An- und Auslaut des Attributs, ähnlicher Klang von delinimenta (statt der „regulären“ Form delenimenta) und liniamenta. MCCRACKEN (1949a) 296, Anm. 284 und LE BONNIEC (1982a) 370 ad loc. verweisen unter Anführung einiger Belegstellen auf Epikur. LE BONNIEC macht ebd. überdies darauf aufmerksam, dass Seneca u.a. in epist. 75,2ff. zur Zurückhaltung bei rhetorischem Schmuck mahne. Nun formuliert Seneca zwar in 75,5 pointiert: non delectent verba nostra, sed prosint; doch seine vorher geäußerte Einschätzung non mehercules ieiuna esse et arida volo, quae de rebus tam magnis dicentur (neque enim philosophia ingenio renuntiat), multum tamen operae inpendi verbis non oportet (75,3) sowie seine der Pointe unmittelbar folgende Erläuterung si

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Redeschmuck nicht nur aufgegeben hätten, sondern – trotz ihrer Fähigkeit, anders zu verfahren – absichtlich einen schlichten und niedrigen Stil verfolgt hätten, um nicht die würdevolle Strenge ihrer Inhalte zu beeinträchtigen und um nicht eher sich selbst als ihre Themen mit spitzfindigem rhetorischen Prunk265 in den Vordergrund zu stellen. Hiermit werden jetzt zum ersten Mal innerhalb dieses Gedankenganges Nichtchristen als positive, nachahmenswerte Exempel in die Argumentation eingefügt, deren Beispiel aufgrund ihrer Autorität bei paganen Rezipienten einiges Gewicht haben dürfte. Aus diesem Seitenblick auf einige pagane Philosophen können indirekt zwei generell gültige Feststellungen deduziert werden: 1. Gewöhnliche Schlichtheit (trivialis humilitas) tut der würdevollen Strenge (gravitatis rigor) des Inhaltes keinen Abbruch; im Gegenteil: Sie kann ihr sogar zuträglich sein. Durch die Verwendung des Adjektivs trivialis wird zugleich die in 58,2 vorgebrachte Kritik, den christlichen heiligen Texten eigne ein gewöhnlicher und armseliger Stil (trivialis et sordidus sermo), aufgegriffen und als letztlich irrelevant erwiesen.266 2. Wenn man sich allzu sehr rhetorischer Raffinesse bedient, kann nicht nur der Inhalt hinter der Form zurücktreten, sondern man läuft auch Gefahr, die eige-

tamen contingere eloquentia non sollicito potest, si aut parata est aut parvo constat, adsit et res pulcherrimas prosequatur: sit talis, ut res potius quam se ostendat (75,5) lassen ihn nicht als einen der von Arnobius angesprochenen „radikal rhetorikfernen“ Philosophen erscheinen. – KASTER (1988) 83 hingegen paraphrasiert quosdam sapientiae deditos mit „certain Fathers“. GEMEINHARDT (2007) 402 wiederum sieht hierin „vor allem die Schriftsteller der Bibel“: Damit würde Arnobius aber implizit ein Zirkelschluss unterstellt, denn die ganze Passage will ja den vermeintlich niederen Stil der christlichen heiligen Schriften rechtfertigen. Dies kann aber doch nur überzeugend gelingen, wenn nichtchristliche Autoren angeführt werden, die genauso verfahren sind. 265 Der Begriff ostentatio rahmt also diesen Paragraphen. 266 Mindestens irreführend sind in diesem Zusammenhang die Ausführungen bei VICIANO (1993) 74ff.: Entsprechend dem Gesamttenor seiner Studie, dass Arnobius sich terminologisch weitgehend in die Tradition einreihe, verweist VICIANO zur trivialis humilitas auf Cicero, der im Orator (100f.) konstatiert: is est enim eloquens, qui et humilia subtiliter [...] potest dicere. [...] is erit igitur eloquens [...], qui poterit parva summisse, modica temperate, magna graviter dicere. Doch der Apologet betrachtet die im NT geschilderten Ereignisse sicherlich nicht als humilia oder parva und leitet seine Rechtfertigung ihrer formalen literarischen Beschaffenheit nicht in diesem Sinne aus dem Inhalt ab. Auch VICIANOS ebd. formulierter Verweis auf Theophrasts Zuteilung der Gerichtsrede zum γένος ἰσχνόν geht an Arnobius’ Text vorbei: Zum einen verhandelt er in dieser Passage kein juristisches Schrifttum. Zum anderen hat er in nat. 1,59,4 rhetorischen Pomp gerade gerichtlichen Auseinandersetzungen zugeordnet. Schließlich versucht VICIANO, die traditionellen drei Stilebenen auch (implizit) in Arnobius’ Aussagen zu finden, obwohl dieser mit der trivialis humilitas und der pompa sermonis nur zwei (extreme) Stilhöhen benennt. Wenn er dann (ebd. S. 76) bilanziert: „Podríamos postular que, según Arnobio, los discursos más elaborados de la Retórica se corresponden a la figura gravis del auctor clásico, los textos filosóficos a la figura mediocris, y los Evangelios a la figura attenuata [...]“, korrespondiert dies nicht mit Arnobius’ Überlegungen: Gerade der bewusst schlichte Stil einiger Philosophen wird ja den christlichen Schriften als rechtfertigende Parallele an die Seite gestellt.

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ne Person durch sophistische Prahlerei auf Kosten der Inhalte in den Vordergrund treten zu lassen. 6. et enimvero dissoluti est pectoris in rebus seriis quaerere voluptatem et, cum tibi sit ratio cum male se habentibus atque aegris, sonos auribus infundere dulciores, non medicinam vulneribus admovere.

Wie schon am Anfang des Kapitels (puerilis sane atque angusti pectoris reprehensio, 59,2) schreibt der Sprecher eine von ihm negativ bewertete Haltung einem charakterlichen Defizit zu: Es sei leichtfertig oder gar liederlich, in ernsthaften Angelegenheiten Vergnügen zu suchen267 und, wenn man es mit Leuten zu tun habe, die in schlechter Verfassung und krank seien, ihnen allzu angenehme Laute in die Ohren strömen zu lassen, anstatt ihre Wunden medizinisch zu versorgen. Das im zweiten Teil des Satzes entworfene Bild ist für des Sprechers Verständnis religiösen Schrifttums äußerst aufschlussreich, zeigt es doch den Rezipienten solcher Literatur als hilfsbedürftigen Kranken, den jeweiligen Autor hingegen (implizit) als Arzt. Im Kontext von Krankheit und Verletzungen wird die Behandlung von Wunden (medicinam vulneribus admovere) als richtiges Vorgehen beschrieben, das Einflößen angenehmer Laute (sonos auribus infundere dulciores) jedoch als falsch. Damit fügt sich das Bild gut in den Gedankengang ein, da es ja einen Gegensatz zwischen eitlem Gerede und tatkräftiger Hilfe entwirft, wobei durch den akustischen Aspekt eine unmittelbare Anbindung an den zu erhellenden Sachverhalt gewährt bleibt. Nachdem die Vorwürfe bezüglich Barbarismen und Solözismen sowie eines gewöhnlichen Stils in der Heiligen Schrift in ihrer Relevanz nun stark relativiert worden sind, fügt der Verteidiger grundlegende Reflexionen über die Natur der Sprache an: 7. quamquam si verum spectes, nullus sermo natura est integer, vitiosus similiter nullus. quaenam est enim ratio naturalis aut in mundi constitutionibus lex scripta, ut hic paries dicatur et haec sella, cum neque sexus habeant femininis generibus masculinisque discretos neque quisquam docere doctissimus me possit ipsum hic et haec quid sint aut cur ex his unum secus virile [coni. Carrio und Orelli : sexum virile268 P B : sexum virilem edd. nonnulli] designet, femininis generibus id quod sequitur adplicetur. 8. humana ista sunt placita et ad usum sermonis faciendi non sane omnibus necessaria: nam et haec paries forsitan et hic sella dici sine ulla reprehensione potuissent, si ab initio sic dici placuisset et a sequentibus saeculis communi esset in sermocinatione servatum.

Nachdem der Sprecher durch den Konditionalsatz si verum spectes signalisiert hat, dass die folgenden Ausführungen auf eine generelle Erkenntnisebene abzielen, formuliert er die These, von Natur aus sei keine sprachliche Ausdrucksweise richtig oder falsch. Konkret herausgegriffen wird nun die Frage, warum es hic

267 Auch diese Aussage kann – für sich genommen – ähnlich wie der Anfang des voraufgehenden Paragraphen gleichermaßen als auf Produzenten wie Rezipienten bezogen verstanden werden. Durch die Fortsetzung wird jedoch deutlich, dass die Produzenten in den Blick genommen sein dürften. 268 Vgl. hierzu unten die Diskussion von Fällen wie caelus/caelum, S. 90.

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paries, aber haec sella heiße,269 obwohl der jeweilige Gegenstand, also (um die Terminologie des Schweizer Linguisten Ferdinand de Saussure zu verwenden) das signifié, kein natürliches Geschlecht (sexus) habe, das etwa durch die verschiedenen grammatischen Genera angezeigt werde, und obwohl auch niemand trotz all seiner Bildung dem Sprecher erklären könne, worum es sich bei (den Demonstrativpronomina) hic und haec eigentlich handele oder warum das erste das secus virile bezeichne, letzteres aber zu Wörtern des femininen Genus hinzugesetzt werde. Er kommt zu dem Ergebnis, dass es sich hierbei um Entscheidungen von Menschen handele, deren Beachtung nicht für alle notwendig sei, um eine (sc. verständliche) sprachliche Äußerung hervorzubringen. Genauso gut hätte man auch haec paries und hic sella sagen können, wenn am Anfang diese Entscheidung getroffen – placuisset nimmt das vorherige placita wieder auf – und durch den allgemeinen Sprachgebrauch im Laufe der Zeit beibehalten worden wäre.270 Mit diesen Überlegungen positioniert sich Arnobius in einem linguistischen Diskurs, dessen Verlauf bis ins fünfte vorchristliche Jahrhundert zurückverfolgt werden kann: Sophisten wie Protagoras hatten sich eingehend mit sprachwissenschaftlichen Fragen und insbesondere mit der Genusproblematik befasst,271 und dieses Gedankengut war – zumindest in vereinfachter Form – bereits nach kurzer Zeit so verbreitet, dass z.B. Aristophanes in den Wolken mit einer Banalisierung dieser Überlegungen Komik erzielen konnte.272 Im Kontext der vorliegenden Argumentation erscheinen vor allem zwei Aspekte wesentlich:

269 Die Praxis, in linguistischen Erörterungen das grammatische Geschlecht eines Substantivs durch die Hinzufügung des jeweils kongruenten Demonstrativpronomens anzuzeigen, lässt sich bei den römischen Grammatikern bis ins erste vorchristliche Jahrhundert zurückverfolgen, vgl. MCCRACKEN (1949a) 296, Anm. 285. 270 Eine ähnliche Einschätzung äußert später Augustinus in doctr. chr. 2,XIII 19: quid est ergo integritas locutionis, nisi alienae consuetudinis conservatio loquentium veterum auctoritate firmatae? Der Kirchenvater scheut sich im Übrigen auch nicht davor, Neologismen bzw. Barbarismen wie etwa ossum (statt des graphisch ambigen os) zu befürworten (doctr. chr. 3,III 7: mallem quippe cum barbarismo dici: non est absconditum a te ossum meum, quam ut ideo esset minus apertum, quia magis latinum est) oder gar unlateinische Satzkonstruktionen zur Verdeutlichung der Syntax des griechischen Ausgangstextes heranzuziehen. Vgl. hierzu die grundlegenden Untersuchungen von SCHIRNER (2015) 122 bzw. 388ff. Zu einem eventuellen Einfluss des Arnobius auf Augustins linguistische Ansichten vgl. VICIANO (1993) 243ff. – Wieder aufgegriffen wird die genus/sexus-Problematik von Arnobius in 3,8,1f., diesmal mit Bezug auf Gott, der nur grammatisch betrachtet männlich sei: ac ne tamen et nobis inconsideratus aliquis calumniam moveat, tamquam deum, quem colimus, marem esse credamus, ea scilicet causa, quod eum, cum loquimur, pronuntiamus genere masculino, intellegat non sexum, sed usu et familiaritate sermonis appellationem eius et significantiam promi. non enim deus mas est, sed nomen eius generis masculini est […]. 271 Vgl. hierzu vor allem 80 A 27 D./K. (= Aristot. rhet. 3,5, 1407 b 6ff.: Πρωταγόρας τὰ γένη τῶν ὀνομάτων διήιρει, ἄρρενα καὶ θήλεα καὶ σκεύη) und 80 A 28 D./K. (= Aristot. soph. el. 14, 173 b 19ff.: καθάπερ ὁ Πρωταγόρας ἔλεγεν, εἰ ὁ μῆνις καὶ ὁ πήληξ ἄρρεν ἐστίν· ὁ μὲν γὰρ λέγων „οὐλομένην“ σολοικίζει μὲν κατ’ ἐκεῖνον, οὐ φαίνεται δὲ τοῖς ἄλλοις). 272 Nub. 658ff. Vgl. hierzu DOVER (1989) 181ff. ad loc. und WACKERNAGEL (1928) 1ff.

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1. Die vorgetragenen Argumente greifen der Sache nach auf die in § 4 referierten Vorwürfe zurück, christliche heilige Texte verstießen gegen elementare Regeln der Sprachrichtigkeit (si in numero peccetur aut casu, praepositione, participio, coniunctione). Mit der Fokussierung auf die Genus/SexusProblematik wird nun aber ein (wohl weniger schwerwiegendes) vitium entschuldigt, das vorher gar nicht thematisiert worden war: fehlerhafte Kongruenz bzw. Verwendung von Maskulina, als wären sie Feminina, und umgekehrt. 2. Bei der Erläuterung seines (angeblichen) eigenen Unverständnisses über die Verteilung von hic und haec stellt der Sprecher bzw. der versierte Rhetor Arnobius die Wendungen secus virile bzw. – je nach Textgestaltung – sexum virile(m) und femininis generibus einander gegenüber, obwohl es ihm offensichtlich hier um grammatische Genera geht und er kurz vorher darauf hingewiesen hatte, dass Dinge wie paries und sella gerade kein natürliches Geschlecht, keinen sexus haben. Erklären ließe sich dieser scheinbare Lapsus vielleicht als absichtliche Verkomplizierung der Diskussion: Indem der Sprecher selbst die terminologischen Trennlinien verwischt, erscheint der ganze Komplex noch verwickelter und ein eventueller Verstoß gegen den bon usage in noch höherem Maße verzeihlich. Hierauf wendet sich der Verteidiger dem Sprachgebrauch der Heiden zu: 9. et tamen, o isti, qui pollutas res nostras vitiorum criminamini foeditate, stribiligines et vos istas libris illis in maximis atque admirabilibus non habetis? 10. nonne aliud haec utria, aliud dicitis hos utres, caelus et caelum, non item filus et filum, non item crocus et crocum, non item fretus et fretum? non item apud vos est positum hoc pane et hic panis, hic sanguis et hoc sanguen, candelabrum et iugulum ratione eadem iugulus et candelaber? 11. nam si singula nomina non possunt genera plura habere quam singula neque eadem possunt huius esse generis et illius, genus enim transire genus in alterum non potest, tam peccat, qui genera masculina femininis pronuntiat legibus quam ab eo peccatur, qui articulos masculinos femininis generibus anteponit. 12. atqui vos [coni. Sabaeus : nos P B] conspicimus et res masculinas [add. Gelenius] et femineas masculine et quas esse dicitis neutras et illo et hoc modo sine ulla discretione depromere.

Nachdem der Sprecher in § 7 durch die Verwendung der generalisierenden zweiten Person Singular des Konjunktivs Präsens in der Wendung si verum spectes eine eher allgemeine Gesprächsatmosphäre geschaffen hatte, markiert er nun durch den unwilligen Vokativ o isti273 wieder klar den Verlauf der „Front“: In Form einer rhetorischen Frage wird den Gegnern, welche die christlichen Schriften stilistischer Scheußlichkeit bezichtigen,274 das Eingeständnis abgerungen, dass 273 Die neun arnobianischen Belegstellen für diese bei anderen Autoren unübliche Anrede listet AHMED (2017) 125, Anm. 53 auf; sie kommt zu dem Schluss, dass diese Anrede jedesmal in Verbindung mit einer falschen Meinung der Gegner auftritt und als „besonders unhöfliche Form der Anrede“ gedeutet werden kann. 274 In pollutas res nostras vitiorum […] foeditate liegt trotz der leichten Modifikation eine klare Bezugnahme auf die Wendung aus 59,1 (res vestrae et vitiorum deformitate pollutae, vom Interlocutor geäußert) vor.

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auch sie in ihren Meisterwerken Solözismen (stribiligines) vorfinden. In einer langen, neun Beispiele umfassenden Reihe werden nun Paare von stammgleichen Substantiven aufgeführt, von denen je eines maskulin, eines neutrum ist. Die in § 11 folgende, durch nam angeschlossene Bemerkung, Substantive könnten jeweils nur ein Genus haben, und daher mache derjenige einen Fehler, der Maskulina nach den für Feminina geltenden Regeln verwende und umgekehrt, ist zwar für sich betrachtet weitgehend richtig,275 fügt sich aber nicht recht an das Vorhergehende an: Zwar könnten die vom Sprecher genannten Substantive, wenn sie in obliquen Kasus erscheinen, tatsächlich sowohl als maskulin als auch als neutrum angesehen werden.276 In der hier gewählten Nominativform sind die Flexionsformen aber doch gerade distinkt, und es ist evident, dass es sich um zwei zwar stammgleiche, aber dennoch unterschiedliche signifiants für dasselbe signifié handelt;277 außerdem ist die Opposition in § 10 maskulin vs. neutrum, nicht maskulin vs. feminin. Sinnvoller erscheint es, durch nam einen neuen Punkt angefügt zu sehen: Pagane Schriften haben nicht nur den Makel von „Doppelformen“ wie caelus/caelum, sondern auch denjenigen von Genuswechseln zwischen maskulin und feminin. Alle drei Genera treten gemeinsam dann in § 12 auf, wo den mit vos direkt angesprochenen Heiden ohne Anführung von Beispielen und wohl recht hyperbolisch vorgeworfen wird, sie verwendeten auch Maskulina als Feminina, Feminina als Maskulina und die von ihnen als solche bezeichneten Neutra278 unterschiedslos sowohl als Maskulina als auch als Feminina.279 Das umfangreiche Kapitel schließt mit der folgenden Bilanz: 13. aut igitur nulla est culpa indifferenter his uti et frustra nos dicitis soloecismorum obscenitate deformes aut, si certum est, singula quibus debeant rationibus explicari, in similibus vitiis vos quoque versamini, quamvis Epicados omnes, Caesellios, Verrios, Scauros teneatis et Nisos.

Der Sprecher zieht ein dichotomisches Fazit, indem er die beiden Alternativen durch aut … aut markiert: Entweder liegt kein Vergehen darin, Substantive ohne 275 Nicht beachtet sind hierbei jedoch Fälle wie locus, das eine maskuline und eine neutrale Pluralform bildet, die sich semantisch unterscheiden, oder das sowohl maskulin als auch feminin gebrauchte dies. 276 Vor diesem Hintergrund erscheint in § 7 das von den Handschriften überlieferte sexum virile gegenüber dem von Carrio und Orelli konjizierten secus virile gut vertretbar: Nachdem im Rahmen der Diskussion über Genus und Sexus im selben Satz kurz vorher das maskuline sexus […] discretos verwendet worden ist, könnte hier bewusst das neutrale sexum virile gesetzt sein, um der in § 10f. verhandelten Problematik den Boden zu bereiten. 277 Allerdings ist zu verzeichnen, dass sich in den pseudacronischen Horazscholien zu sat. 1,3,89 (porrecto iugulo […]) der Eintrag iugulus incerti generis est, nam et hic iugulus et hoc iugulum dicimus findet, der zwar ein sich im horazischen Text manifestierendes Problem, nämlich das Genus von iugulo, thematisiert, in der vorliegenden Form (iugulus […]) aber irreführend ist. 278 Es ist bemerkenswert, aber auch bezeichnend, dass sich der Sprecher und damit wohl auch der (vormalige) Rhetoriklehrer Arnobius hier von dem indirekt als pagan etikettierten grammatischen Terminus „neutrum“ distanziert (quas esse dicitis neutras). 279 Argumentative Schwäche attestiert der ganzen Passage RAPISARDA (1946) 196.

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Rücksicht auf ihr im allgemeinen Sprachgebrauch (communis sermocinatio, vgl. 59,8) übliches Genus zu verwenden. In diesem Fall bezeichneten die Heiden die Christen ohne sachliche Grundlage (frustra) als soloecismorum obscenitate deformes, worin insofern eine deutliche Verschärfung gegenüber der dem paganen Interlocutor in den Mund gelegten Äußerung soloecismis obsitae sunt, inquit, res vestrae et vitiorum deformitate pollutae (59,1) vorliegt, als die Hässlichkeit nun nicht mehr den christlichen Schriften bzw. Glaubensangelegenheiten (res vestrae), sondern den Christen selbst zugeschrieben wird. Sollte aber jene erste Möglichkeit nicht zutreffen, sollte es also doch verbindliche Regeln für die Anwendung der einzelnen Genera geben, dann verstießen die Heiden ebenso gegen diese wie die Christen, obgleich sie zahlreiche berühmte Grammatiker280 in ihren Reihen (gehabt) hätten, so dass sie, so ist zu ergänzen, kein Recht hätten, den Christen Vorhaltungen zu machen.281 Angesichts der vielen angesprochenen Probleme und des nicht unkomplizierten Gedankenganges soll nun eine Bilanz dieser Stelle gezogen werden: Ausgehend vom geringen Bildungsniveau der biblischen Schriftsteller, das vom Sprecher jedoch zum Garanten für die Unverfälschtheit der Botschaft ausgedeutet wird, kommt die Diskussion auf den trivialis et sordidus sermo der biblischen Schriften. Die Wahrheit braucht jedoch, so der Verteidiger, keine Schminke (fucus [sc. eloquentiae]), und klare Sachverhalte dulden gar keine Darstellung mittels einer allzu langen Satzperiode (ambitus longior). Argumentationstechniken wie collectiones, enthymemata und definitiones hat derjenige, der den darzustellenden Gegenstand wirklich geistig durchdrungen hat, nicht nötig; allerdings wird über diese Techniken als solche kein negatives Urteil gefällt. Kapitel 59 setzt sich zunächst mit verschiedenen Verstößen gegen die Sprachrichtigkeit in der Heiligen Schrift auseinander, relativiert deren Bedeutung aber mit einem Bild aus der Landwirtschaft. In 59,4 jedoch wird die Perspektive durch die Formulierung pompa ista sermonis et oratio missa per regulas wieder geweitet und von der elementaren Ebene der Korrektheit emporgehoben; die übermäßige rhetorische Eleganz tritt wieder in den Blick. Diese solle man sich aber für öffentliche und vor allem juristische Situationen aufsparen, am besten aber vielleicht sogar denen überlassen, die all ihren Eifer auf die lumina verborum verwenden. Viel mehr müsse auf den Nutzen des Gesagten geachtet werden als auf dessen äußere Form, und durch ihren absichtlichen Verzicht auf rhetorischen Prunk seien einige pagane Philosophen bereits beispielhaft gewesen. In 59,7ff. werden dann wiederum elementare Fragen der Sprachrichtigkeit diskutiert, indem auf den Unterschied von grammatischem genus und natürlichem sexus und die daraus resultierende arbiträre Natur der jeweiligen Genuszuweisung verwiesen wird. Während aber in den Paragraphen 7f. eine Opposition zwischen Maskulinum und Femininum verhandelt wird, werden in den Paragraphen 9f. den paganen Schriften vermeintliche Verstöße 280 Vgl. hierzu die Ausführungen von MCCRACKEN (1949a) 297, Anm. 296 ad loc., GIERLICH (1985) 154 ad loc. und VICIANO (1993) 194ff. 281 Zu derartigen Argumentationen, die auf ein Dilemma für den Gegner zulaufen, s. unten, S. 268f.

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vom Typ caelus/caelum vorgehalten. In den §§ 11f. wird schließlich behauptet, die Heiden gebrauchten Substantive im Blick auf deren Genus völlig regellos. Somit kann der Sprecher schließlich den Argumentationsgang beenden, indem er in § 13 zwei für die Christen gleichermaßen vorteilhafte Folgerungen zulässt: Entweder sind die grammatischen Genera nicht bindend, so dass man den christlichen heiligen Schriften aus Fehlern in diesem Bereich auch keinen Vorwurf machen kann, oder sie sind eben doch verbindlich, was dann aber die paganen Schriften aufgrund ihres Sprachgebrauchs als ebenso angreifbar erscheinen lässt. Der Sprecher trennt also die Bereiche „Rhetorik“, „Grammatik“ und „elementare Sprachrichtigkeit“ in dieser Passage nicht klar voneinander, sondern verflicht ihre Behandlung recht eng. Diese stellt jedoch ihrem Anlass nach eine Verteidigung der literarischen Beschaffenheit der neutestamentlichen Schriften, aber keine programmatische Formulierung normativer Regeln für speziell christliches Schrifttum dar. Als mit der Darstellung klarer Sachverhalte unvereinbar wird explizit nur die allzu umfangreiche Periode (ambitus longior) bezeichnet; die „Schminke“ (fucus) gilt dem Sprecher ebenso wie „Wortkunstgriffe“ (artificia verborum) generell als unnötig. Obwohl diese Dinge als solche indifferent sind, können sie jedoch in schlechten Händen die Menschen täuschen, und dies geschieht so oft, dass die Rezipienten an diese Techniken bereits gewohnt sind. Übermäßigen rhetorischen Prunk (pompa sermonis) kann man sich für gewisse publikumswirksame Gelegenheiten (etwa öffentliche Reden und Prozesse) aufsparen. Hervorzuheben ist allerdings, dass pompa sermonis offenkundig ein allzu heftiges Engagement im Bereich der Eloquenz bezeichnet und mit denjenigen in Verbindung gebracht wird, die all ihre Energie auf lumina verborum verwenden. Es hat den Anschein, als werde vor allem die Unmäßigkeit derjenigen, die sich vollständig auf die Beredsamkeit kaprizieren, kritisiert; eine generelle Verurteilung jeglicher Redekunst stellen diese Ausführungen jedoch nicht dar.282 Maßvoller und vor allem der Sache nach adäquater Redeschmuck dürfte Arnobius demnach als formales Akzidens gelten, dessen Vorhandensein oder Fehlen den inhaltlichen Wert einer Aussage nicht modifiziert. 1.2.2 nat. 2,11f. In den Kapiteln 9ff. des zweiten Buches werden verschiedene Parallelen zwischen der antiken Philosophie und dem christlichen Glauben konstatiert bzw. konstruiert. Was aber die jeweiligen „Protagonisten“ betreffe, so ließen sich insofern deutliche Unterschiede zwischen den Philosophen und Christus bemerken, als 282 Zu allgemein fällt daher das Urteil bei HAGENDAHL (1983) 37 über nat. 1,58f. aus: „[Arnobius] äussert sich in apologetischer Absicht geringschätzig auch über Bildungsgüter wie Sprachrichtigkeit und Redekunst.“ Ausgewogener das summarische Urteil bei ELLSPERMANN (1948) 65f.: „With reference to all the rhetorical devices, he admits that their correct use can be a valuable aid for the grasping of truth. [...] But oftentimes they are used wrongly and excessively and are stupidly made the essence of all wisdom.“

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jene weder große Natur-/Rettungs- oder Heilungswunder noch kleine Heilungswunder vollbracht hätten.283 Im unmittelbaren Anschluss hieran liest man in 2,11,5f. Folgendes:284 non quo illos [sc. philosophos] negemus aut morum esse integritate laudabiles aut non omni genere studiorum et disciplinarum paratos; nam et verbis eos luculentissimis scimus loqui et compositionibus fluere levigatis, concludere acutissime syllogismos, ordinare sequaciter inductiones, suas reddere definitionibus formulas, partiri, dividere, multa dicere de numerorum generibus, multa de musicis, geometricas res etiam suis scitis et perceptionibus explicare. 6. sed quid istud ad causam? numquid enthymemata, syllogismi resque aliae similes scire illos veritatem spondent aut ea re digni sunt, quibus necessario debeat rebus de obscurissimis credi? personarum contentio non est eloquentiae viribus, set gestorum operum virtute pendenda. ille est dicendus auctor bonus, qui sermonem candidule prompsit, sed qui, quod pollicetur, divinorum operum prosequitur sponsione.

Der Sprecher stellt also nicht in Abrede, dass pagane Philosophen moralisch integer und wissenschaftlich in jeder Hinsicht beschlagen seien, was seinen Ausdruck darin finde, dass sie sich äußerst treffend285 und in geschmeidiger Ausdrucksweise äußerten. Darüber hinaus beherrschten sie verschiedene philosophische Argumentationstechniken, wüssten vieles über die numerorum genera286 sowie über die Musenkünste zu sagen, und schließlich vermöchten sie geometrische Probleme mittels ihrer Lehrsätze und Erkenntnisse zu klären. All das tue aber gar nichts zur Sache, wie in Form einer rhetorischen Frage illustriert wird: Die Verwendung von Enthymemen, Syllogismen und anderem Derartigem bürge nicht dafür, dass die Philosophen die Wahrheit kennen würden oder dafür, dass man ihnen in äußerst ungewissen Dingen Glauben schenken müsse. Bis hierher bewegt sich die Gedankenführung im konventionellen Rahmen: Gewählter Redeschmuck und raffinierte Argumentationstechniken, mithin eine prächtige äußere Form, garantieren nicht die Richtigkeit des Inhaltes. Statt den Gedanken aber nun in dieser Richtung weiter auszuführen, spitzt der Sprecher die Situation zu: Es handle sich letztlich gar nicht um zwei im Widerstreit stehende Ansichten, sondern um eine personarum contentio, also um einen Wettstreit zwischen Personen. Und wer in diesem Wett283 Nat. 2,11,4: vos in philosophis virtutes secuti quas estis, ut magis vos illis quam nos Christo oportuerit credere? quisquamne illorum aliquando verbo uno potuit aut unius imperii iussione non dicam maris insanias aut tempestatum furores prohibere, compescere, non caecis restituere lumina aut sine luminibus natis dare, non ad vitam revocare defunctos, non annosas dissolvere passiones, sed, quod levissimum multo est, fervunculum, scabiem aut inhaerentem spinulam callo una interdictione sanare? 284 Diese Passage wird auch von VICIANO (1997) diskutiert. Vgl. ferner die Besprechung unten, S. 143. 285 verbis [...] luculentissimis, bemerkenswert ist, dass Hieronymus in chron. ad 327 p. Chr. (p. 231,19f. HELM) Arnobius’ Werk als luculentissimos libros bezeichnet; vgl. dazu oben, S. 65. 286 MCCRACKEN (1949a) 121 übersetzt „phases of mathematics“, AMATA (2000) 153 „vari generi di calcolo matematico [o ritmico]“. Unterminologisch hingegen VON BESNARD (1842) 61 („Gattungen der Zahlen“), BRYCE/CAMPBELL (1895) 75 („kinds of numbers“), LAURENTI (1962) 48 („varie specie di numeri“) und ARMISEN-MARCHETTI (2018) 11 („sortes de nombres“).

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streit siege, sei nicht nach den rhetorischen Kräften und Fähigkeiten zu bemessen, sondern nach der virtus der vollbrachten Taten, was mit Blick auf die vorhergehenden Ausführungen über Wunder wohl am ehesten mit „mirakulöse Kraft“ o.ä. übersetzt werden kann. Hier wird also der Rahmen der Literatur und der sprachlichen Äußerung überhaupt transzendiert: Dem Redeschmuck wird nicht die schlicht vorgetragene Wahrheit gegenübergestellt, sondern die Fähigkeit, große Taten oder gar Wunder zu wirken. Durch das Vorhergehende287 sind diese Wundertaten Christi aber doch auch wieder mit der Sprache verknüpft: In Form einer praeteritio hatte der Verteidiger die Bezähmung von Naturgewalten mit einem einzigen Wort (verbo uno) und mit der Formulierung eines einzigen Befehls (unius imperii iussione) sowie schließlich durch ein einziges Verbot (una interdictione) bewirkte Heilwunder erwähnt. Hier wird also nicht mehr die Macht des Wortes als eines (ggf. rhetorisch „aufpolierten“) Kommunikationsmittels verhandelt, sondern die Macht des Wortes als einer vermittelnden Instanz göttlichen Wollens und Wirkens. Diese zwei divergierenden Bereiche bleiben auch im folgenden, das Kapitel beschließenden Satz dadurch präsent, dass Arnobius mit auctor ein Substantiv gewählt hat, das bekanntermaßen sowohl im literarischen Sinne als „Autor/Verfasser“ als auch im weiteren Sinne als „Gewährsmann“ verstanden werden kann: Als guter auctor wird derjenige bezeichnet, der seine Versprechen durch die Verbürgung übermenschlicher Taten ausführt.288 Das Verständnis des ersten Teils des Satzes jedoch erschließt sich nicht ohne Weiteres: Nimmt man an, dass Sabaeus zu Recht die Negation non konjiziert hat, wird in diesem Kolon ein auctor gezeichnet, dem das Attribut bonus verweigert wird. Wie dies aber zu erklären ist, hängt maßgeblich von der Übersetzung des Adverbs candidule289 ab: Sieht man darin ein Urteil über die Klarheit der jeweiligen Darstellung,290 bezieht sich die 287 Zitat des Textes in Anm. 283. 288 Kaum wird man hier VICIANO (1993) 96 folgen wollen, der diese Auffassung in eine Traditionslinie mit dem Diktum orator est [...] vir bonus, dicendi peritus Catos d.Ä. stellt. DERS. (1997) 374 hingegen stellt einen Zusammenhang zwischen der arnobianischen Charakterisierung der Philosophen in nat. 2,11 und dem o.g. Cato-Ausspruch her. Ferner negiert VICIANO gerade die vom Sprecher getroffene kategoriale Unterscheidung zwischen Rednern und dem auctor Christus, wenn er (1997, S. 376) aus nat. 2,11 ableitet, „Arnobiusʼ Binom eloquentiavirtus [gründet] auf verschiedenen Strömungen der griechisch-römischen Philosophie [und ist] mit der lateinischen Redetradition völlig vereinbar“. – In nat. 1,47,2 (quae quidem ab eo gesta sunt et factitata, non ut se vana ostentatione iactaret, sed ut homines duri atque increduli scirent non esse, quod spondebatur, falsum [...]) hingegen werden die Wunder als Garanten für die Heilsversprechungen Christi bezeichnet. 289 Während schon das Adjektiv candidulus [„(hübsch) weiß, glänzend“] recht selten belegt ist, findet sich das Adverb candidule – abgesehen von einer textkritisch unsicheren Stelle in einem Epigramm des Papstes Damasus aus dem 4. Jh. (epigr. 29,6) – nur hier; vgl. ThLL 3, Sp. 239, s.v. candidule. 290 So BRYCE/CAMPBELL (1895) 75 („clearly“), MCCRACKEN (1949a) 124 („lucidly“), LAURENTI (1962) 48 („una forma trasparente“) und AMATA (2000) 154 („in forma ineccepibile“). VON BESNARD (1842) 61 hingegen: „aufrichtig“. VICIANO (1993) übersetzt zwar auf S. 60 „de forma brillante“, paraphrasiert aber auf den S. 116f. mit Verweis auf Quint. inst. 12,11,8 (conscius sum mihi [...] candide me atque simpliciter [...] protulisse) im Sinne von „aufrich-

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Aussage auf formale Qualitäten eines sermo, den ein Autor hervorbringt. Versteht man candidule aber als moralische Einschätzung im Sinne von „aufrichtig“291, erscheint das Gesagte weit pointierter: Selbst eine aufrichtige, d.h. nach bestem Wissen vorgetragene Darlegung erweist – unabhängig von ihrer formalen Gestaltung – ihren Produzenten nicht als auctor bonus. Diese letztere Auffassung ließe sich gut als Rekurs auf die Ausführungen über die moralische Integrität der Philosophen (morum […] integritate laudabiles) verstehen, die jedoch nicht die Richtigkeit ihrer Inhalte garantiere. Folgt man hingegen nicht Sabaeus’ Konjektur non, müsste man den Ausfall eines Steigerungsadverbs wie magis oder potius hinter set vermuten. Dann würden zwei Arten von auctores boni postuliert, wobei aber dem zweiten Typus in höherem Maße diese Bezeichnung zukäme. Eine bemerkenswerte Weiterentwicklung erfährt der Gedankengang dann am Anfang des folgenden 12. Kapitels: Sogar Christus persönlich hätte keine Anhänger um sich scharen können, wenn er auf argumenta und suspicionum argutiae zurückgegriffen hätte, statt seine göttlichen Fähigkeiten zu zeigen.292 Festzuhalten bleibt, dass in dieser Passage rhetorische Fähigkeiten und Techniken letztlich neutral bewertet werden. Sie sind nicht a priori Hindernisse für die Formulierung der Wahrheit, aber sicherlich auch keine Gewähr für sie. Bemerkenswert ist, dass Redeschmuck und Argumentationskunst jedoch nicht mit einer schlichten und unprätentiösen Ausdrucksweise kontrastiert werden, sondern göttlichem Wirken, das sich in gesta divina opera manifestiert, den Primat überlassen müssen. 1.2.3 nat. 2,5f. Auf die in Kapitel 4 des zweiten Buches getroffene Feststellung der Heiden, sie glaubten unter anderem deshalb nicht, dass die Worte Christi wahr seien, weil diese sich auf die Zukunft bezögen und weil Christus das, was er versprach bzw. tig“. ARMISEN-MARCHETTI (2018) 11 wiederum übersetzt qui sermonem candidule prompsit mit „qui sʼest contenté de produire un discours“. 291 So GEORGES (2013), s.v. candidule (mit Verweis auf eben diese Stelle) und LEWIS/SHORT, s.v. candidule (innerhalb des Lemmas candidulus, ebenfalls mit Verweis auf diese Stelle). Im ThLL findet sich diese Bedeutung nicht explizit für candidule verzeichnet, aber für das diesem Diminutiv zugrunde liegende Adjektiv, s. ThLL 3, Sp. 244, s.v. candidus C 2. 292 Nat. 2,12,1f.: argumenta vos nobis et suspicionum argutias proferatis, quibus ipse si Christus (cum pace hoc eius et cum venia dixerim) populorum in conventibus uteretur, quis adquiesceret, quis audiret, quis eum promitteret aperte aliquid iudicare [P B, übernommen von ARMISEN-MARCHETTI : promittere ... iudicaret coni. Ursinus, übernommen von REIFFERSCHEID und MARCHESI], aut quis cassa et nuda iactantem, quamvis esset inprudens et facilitatis solidae [stolidae coni. Gelenius], sequeretur? virtutes sub oculis positae et inaudita illa vis rerum [...] subdidit adpetitionum flammas [...].). Christi große Reden wie etwa die Bergpredigt in Mt 5–7 finden hier offenkundig keine Berücksichtigung. Jesu Wortwahl bei Heilwundern wiederum wird in nat. 1,45,1 als unprätentiös und eher kolloquial beschrieben: ergo ille mortalis aut unus fuit e nobis, cuius imperium, cuius vocem popularibus et cotidianis verbis missam valetudines, morbi, febres atque alia corporum cruciamenta fugiebant?

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in Aussicht stellte, nicht bewiesen habe, erwidert der Sprecher, es sei besser, von zwei hypothetischen Möglichkeiten diejenige zu wählen, die Hoffnungen mit sich bringe und bei deren Nicht-Eintreten man immerhin nichts verliere, bei deren Eintreten aber die Rettung (der Seele) auf dem Spiel stehe.293 In Kapitel 5 wird den Gegnern, die in § 1 spöttisch mit o nescii, etiam fletu et miseratione dignissimi tituliert und zu unwissenden, bemitleidenswerten Figuren herabgesetzt werden, eine Reihe von Indizien (2,5,2: argumenta credendi) vor Augen gestellt, die dafür sprechen könnten, dass Jesu294 Ankündigungen eben doch wahr sein könnten: Inmitten anderer Argumente, namentlich (1) der Ausbreitung des christlichen Glaubens in – wie es hyperbolisch heißt – der ganzen Welt binnen so kurzer Zeit, (2) der zivilisierenden Wirkung des Christentums auch auf durch asperitas geprägte Völkerschaften, (4) der bei Einzelpersonen zu beobachtenden Geringschätzung rechtlicher und sozialer Nachteile im Vergleich zur fides Christiana und (5) der Reziprozität von Repression und Glaubensinbrunst der als „Volk“ bezeichneten Christenheit (§ 3: animosius populus obnitatur et ad credendi studium prohibitionis ipsius stimulis excitetur), wird als drittes Argument, d.h. an zentraler Position, Folgendes geltend gemacht (2,5,3): quod tam magnis ingeniis praediti oratores, grammatici, rhetores, consulti iuris ac medici, philosophiae etiam secreta rimantes magisteria haec expetunt spretis quibus paulo ante fidebant

Männer von ausgeprägter Begabung auf verschiedenen Gebieten, so der Verteidiger, bemühen sich nun um die christlichen Lehren, nachdem sie sich von denjenigen Dingen abgewandt haben, auf die sie zuvor vertrauten. Hierbei werden neben Rechtsgelehrten und Ärzten Redner, Philologen295 und Redelehrer in der Reihe der „Honoratioren“ aufgezählt.296 Die Erwähnung des Sachverhaltes, dass diese herausgehobenen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens der christlichen Lehre 293 Nat. 2,4,3: cum ergo haec sit condicio futurorum, ut teneri et comprehendi nullius possint anticipationis attactu, nonne purior ratio est, ex duobus et incertis et in ambigua exspectatione pendentibus id potius credere, quod aliquas spes ferat, quam omnino quod nullas? in illo enim periculi nihil est, quod dicitur imminere, cassum fiat et vacuum; in hoc damnum est maximum, id est salutis amissio, si, cum tempus advenerit, aperiatur non fuisse mendacium. 294 Die Bezeichnung Iesus verwendet Arnobius selbst ausweislich des Index von BERKOWITZ (1967) und der Brepolis-Library of Latin Texts – Series A nie. Eine mögliche Erklärung dafür wird unten in Anm. 589 auf S. 327 angesprochen. 295 Ein umfassendes Porträt des grammaticus hat KASTER (1988) vorgelegt; zum Grammatikunterricht vgl. ferner GEMEINHARDT (2007) 39ff., der ebd. auf den Seiten 371ff. lateinische christliche Grammatiker porträtiert. Einen knappen Überblick über die Grammatik zur Zeit des Arnobius gibt VICIANO (1993) 41; das spätantike grammatische Schrifttum insgesamt nimmt FUHRMANN (1997) in den Blick. Das Verhältnis zwischen Grammatik und Christentum in der römischen Spätantike wiederum ist Gegenstand der Untersuchung von CHIN (2008). 296 Unklar erscheint, ob philosophiae etiam secreta rimantes als eine weitere Berufsgruppe die Philosophen bezeichnet oder ob es sich um eine nähere Erläuterung der vorher Genannten handelt, die sich dann – neben ihrem eigentlichen Beruf – mit den Geheimnissen der Philosophie beschäftigen würden.

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folgen, soll jene Lehre offenkundig in der öffentlichen Wahrnehmung aufwerten. Bemerkenswert erscheint hierbei die Inversion der herkömmlichen Rollen: Allen genannten Berufsgruppen ist gemeinsam, dass sie in gewisser Weise Auskünfte erteilen und andere über Sachverhalte unterrichten oder belehren; jetzt aber sind sie es, die um Belehrungen (magisteria) bitten. Für die Beurteilung der arnobianischen Einschätzung der Rhetorik ist jedoch auch der abschließende Ablativus absolutus bedeutsam, der sich auf zwei Arten verstehen lässt: Bei den Dingen, die die Honoratioren nun geringschätzen, auf die sie aber noch kurz vorher vertrauten, lässt sich einerseits an philosophische und religiöse Überzeugungen denken, andererseits an die beruflichen Fertigkeiten der jeweiligen Gruppen. Sollte die letztere Auffassung die intendierte sein, so würde die Passage die generelle Irrelevanz beruflichen Wissens (unter anderem auch rhetorischen Könnens) gegenüber der göttlichen Offenbarung darstellen. Zugleich erführe die Beredsamkeit im Speziellen dann aber keine negative Wertung; sie wäre nur eine von mehreren auf derselben Ebene angesiedelten professionellen Fähigkeiten. Dass das Argument als ganzes unabhängig davon vor dem biographischen Hintergrund des Verfassers297 einiges an Überzeugungskraft gewinnt, ist evident; Arnobius ist sozusagen ein lebendes Beispiel für diese intellektuell-spirituelle Tendenz.298 Am Anfang von Kapitel 6 unterstellt der Sprecher seinen Gegnern die Ansicht, der entscheidende Faktor für die rasche Ausbreitung des Christentums über den ganzen Erdkreis hin könne die Dummheit der Bekehrten sein.299 Daraufhin attackiert er ihre vermeintliche Überheblichkeit und die ihnen nur unterstellte Ansicht, sie allein vermöchten die Nichtigkeit des christlichen Glaubens erkennen, wobei verschiedene potenzielle Quellen dieser exklusiven Erkenntnis (sapientiae atque intellegentiae vis, acumen, vivacitas, scientiae disciplinae und schließlich divinatio) genannt werden. Im Anschluss hieran werden Sachverhalte aus verschiedenen Wissensbereichen (Grammatik, Rhetorik, Literatur300, Rechtswesen und Philosophie) aufgelistet, deren Kenntnis die Heiden zu ihrer vermuteten Überheblichkeit bewogen haben könnte; einschlägig sind hierbei die folgenden Ausführungen (2,6,3): quia per casus et tempora declinare verba scitis et nomina, quia voces barbaras soloecismosque vitare, quia numerosum et instructum compositumque sermonem aut ipsi vos nostis

297 Vgl. hierzu S. 65. 298 Weitere Beispiele für die genannten Berufsgruppen inkl. epigraphischer Belege führt GEMEINHARDT (2007) 120ff. auf. 299 Nat. 2,6,1: nisi forte obtunsi et fatui videntur hi vobis, qui per orbem iam totum conspirant et coeunt in istius credulitatis adsensum. Das Substantiv credulitas ist hier in seiner Bedeutung wohl absichtlich ambig verwendet: Aus Sicht der Nichtchristen handelt es sich um Leichtgläubigkeit bzw. Aberglauben, der durch die Verbindung mit dem meist pejorisierenden Pronomen ista abgewertet wird. Die Christen selbst allerdings verstehen credulitas als neutrale Bezeichnung für ihren eigenen Glauben bzw. dessen Bekennen (vgl. hierzu ThLL 4, Sp. 1151, s.v. credulitas 2). 300 Zur Diskussion darum, was der Satz quia Fornicem Lucilianum et Marsyam Pomponi obsignatum memoria continetis (2,6,3) genau bezeichnet, vgl. MCCRACKEN (1949a) 305, Anm. 30f. sowie GIERLICH (1985) 181f. und ARMISEN-MARCHETTI (2018) 98 jeweils ad loc.

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ecferre aut, incomptus cum fuerit, scire […], idcirco vos arbitramini scire, quid sit falsum, quid verum, quid fieri possit aut non possit, quae imorum summorumque natura sit? numquamne illud vulgatum perstrinxit aures vestras, sapientiam hominis stultitiam esse apud deum primum?

In einer hinsichtlich ihrer Schwierigkeit klimaktisch organisierten Reihung werden korrekte Nominal- und Verbalflexion, richtige Wortwahl und das Verfassen einer rhythmischen,301 wohlgeordneten und wohlgefügten Rede sowie – antiklimaktisch angehängt – das Entlarven einer Rede, der diese Vorzüge fehlen, als Fähigkeiten genannt, deren Beherrschung die Gegner eventuell dazu gebracht hat, zu glauben, sie könnten generelle Urteile über das Wahre und Falsche sowie über metaphysische Themen fällen. Dieser Ansicht tritt der Sprecher entschieden entgegen, indem er ihnen das als allgemein bekannt bezeichnete Diktum (illud vulgatum) vorhält, die Weisheit des Menschen sei vor (eig.: bei) Gott, dem Ersten302, Dummheit.303 Auch hier wird also der Wert grammatisch-rhetorischen Wissens und Könnens nur im Blick auf metaphysische und theologische Fragestellungen relativiert, ohne dass eine absolute oder moralische Wertung erfolgte.

301 Zu Arnobiusʼ eigener Klauseltechnik s. unten, S. 372ff. 302 Anders GEMEINHARDT (2007) 402, der primum als Adverb auffasst und „zuallererst Torheit bei Gott“ übersetzt. 303 Zweifellos erinnern diese Worte an I Cor 3,19 [ἡ γὰρ σοφία τοῦ κόσμου τούτου μωρία παρὰ τῷ θεῷ ἐστιν / sapientia enim huius mundi stultitia est apud Deum (Vulg. WEBER/GRYSON)]. Die einleitenden Worte illud vulgatum lassen aber deutlich werden, dass es sich hierbei um ein nach Ansicht des Sprechers weit über christliche Kreise hinaus bekanntes bonmot handelt oder er den Gedanken zumindest so darstellt, vgl. auch unten, S. 117, Anm. 369. – Ob Arnobius die Bibel aus eigener Lektüre kannte, ist umstritten: Während etwa MARCHESI (1928/29) 1023 davon ausgeht, dass Arnobius sich bei der Darstellung der Wunder Christi klar auf die Evangelien stütze, SCHEIDWEILER (1954) 48 Arnobius Kenntnis des NT zuspricht und FREND (2006b) 8 referiert: „Arnobius had read parts of the New Testament and probably some apocryphal works“, kommt BURGER (1970) 15 zu dem Ergebnis: „Arnobius kennt die Schriften des Neuen Testaments nicht aus eigener Lektüre.“ U.a. GIERLICH (1985) 103 weist darauf hin, „daß die im Zuge der christenfeindlichen Maßnahmen [sc. Diokletians] angeordnete Verbrennung der Hll. Schriften Folgen für den Katechumenenunterricht hatte und die Unterweisung der neugewonnenen Glaubensbrüder erschwerte.“ DIES. (ebd. S. XV) resümiert vorsichtig: „[man kann] in Übereinstimmung mit der neueren Forschung feststellen, dass kein Beweis für eine tiefergehende Beschäftigung mit der Hl. Schrift vorliegt“. Gegen solide Kenntnis der biblischen Schriften sprechen sich u.a. MCCRACKEN (1949a) 25ff. und LE BONNIEC (1982a) 69ff. aus, obwohl auch sie in Rechnung stellen, dass in einer an pagane Kreise gerichteten Apologie Bibelzitate wenig Überzeugungskraft haben dürften. Apodiktisch AHMED (2017) 129f.: Arnobius habe „allgemein keine tiefergehenden Kenntnisse des Christentums“ gehabt; dessen Darstellung sei „schwammi[g]“, und ARMISEN-MARCHETTI (2018) XX bilanziert: „dans le cas dʼArnobe on peut suspecter une véritable ignorance [sc. de la Bible].“ Als dem literarischen Genre geschuldet betrachten das Fehlen (klar identifizierbarer) Bibelzitate hingegen z.B. GIGON (1966) 152 („Ein Arnobius kennt natürlich das Neue Testament genau; aber er vermeidet peinlich eigentliche Zitate und beschränkt sich auf Paraphrasen, die in ihrer philosophischen Stilisierung dem Gegner und zu gewinnenden Adressaten so weit wie irgend möglich entgegenkommen“), DUVAL (1986) 95 und KENNEDY (1994) 264f.

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1.2.4 nat. 2,19 Innerhalb der im zweiten Buch geführten Debatte über die Beschaffenheit der Seele, welcher der Sprecher nicht den Vorzug der unbedingten Unsterblichkeit, sondern nur eine qualitas media zuschreibt, werden verschiedene menschliche Errungenschaften dargelegt, die jedoch allesamt den Menschen nicht dazu berechtigten, sich göttlich zu fühlen: 1. quodsi homines penitus aut ipsos se nossent aut intellectum dei suspicionis alicuius acciperent aura, numquam sibi adsciscerent divinam immortalemque naturam nec existimarent quiddam magnificum se esse, quia sibi craticulas, trulleos creterasque fecerunt […]. 2. numquam, inquam, crederent typho et adrogantia sublevati prima esse se numina et aequalia principis summitati, quia grammaticam, musicam, oratoriam pepererunt et geometricas formulas, in quibus artificiis quidnam insit admirabile, non videmus, ut ex eorum inventione credatur esse animas potiores et sole et sideribus cunctis, hunc totum, cuius membra sunt haec, mundum et dignitate et substantia praeterire.

Nachdem der Sprecher also einige zwar nützliche, aber kaum als Ausweis göttlicher Schöpferkraft zu betrachtende Haushaltsgegenstände wie etwa Roste, Waschbecken und Kessel aufgezählt hat, wendet er sich einigen Wissensgebieten zu: Grammatik/Philologie, Musik, Redekunst und Geometrie hätten die Menschen hervorgebracht; doch dieser Sachverhalt sei kein objektiver Beweis für eine etwaige Göttergleichheit der Menschen. Zu verzeichnen ist hierbei, dass die Rhetorik auf einer Stufe mit den anderen genannten Fertigkeiten steht, ohne gesondert bewertet zu werden. Sie scheint demnach für den Sprecher eine Kunst (artificium) wie die anderen zu sein: durchaus nützlich, aber eben nicht so bewunderungswürdig (admirabile), dass man aufgrund ihrer Erfindung der Seele des Menschen ganz besondere Qualitäten zuschreiben dürfte. Im Rest des Kapitels wird der Gedanke noch weiter ausgeführt, erhält jedoch auch noch implizit eine andere Wendung: 3. quid enim aliud se spondent vel insinuare posse vel tradere, quam ut regulas nominum differentiasque noscamus, ut intervalla in vocum sonis, ut loquamur suadenter in litibus, ut terrarum continentias metiamur? 4. quae si secum animae divinis ex regionibus adtulissent et esset necessarium scire omnis, ea iamdudum in omni orbe tractarent [...]. 5. nunc vero in mundo quotusquisque est musicus, dialecticus et geometres, quotus orator, poeta, grammaticus? ex quo apparet, ut saepius dictum est, inventa haec esse locorum necessitate ac temporum, neque divinas, eruditas advolavisse huc animas, quod neque omnes doctae sint neque discere omnes possint [...].

Hier werden verschiedene „technische“ Fähigkeiten genannt, welche mit Hilfe der entsprechenden Wissenschaften ausgeübt werden können; die Reihenfolge der Fähigkeiten stimmt hierbei mit der vorherigen Reihenfolge der Wissenschaften überein. Als Kerngebiet der Grammatik wird etwas unspezifisch die Kenntnis der Regeln und Unterschiede der Nomina genannt,304 als Leistung der Rhetorik, dass 304 Die regulae dürften die richtige Flexion der Nomina bezeichnen; differentiae könnten vielleicht semantische Unterschiede betreffen. Anders AMATA (2000) 162, der differentiae als Unterschiede in der Deklination auffasst.

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man in Prozessen in überzeugender Weise sprechen kann.305 Auch hier erscheint die Redekunst also als eine Fähigkeit neben anderen, ohne dass ihr eine Sonderstellung eingeräumt würde oder sie einem besonders kritischen Urteil ausgesetzt wäre. Gleichwohl erfährt der Beruf des Redners im Verbund mit den anderen genannten Berufen eine gewisse Aufwertung, wenn u.a. gerade anhand der geringen Zahl von Rednern306 bewiesen wird, dass derartiges Wissen der menschlichen Seele nicht a priori oder im Sinne einer Anamnesis eignet und dass es durchaus nicht von jedem erworben werden kann. Redner sind demnach zwar keine Repräsentanten einer göttlichen Fähigkeit; unter den Menschen ragen sie aber dennoch – wie auch die Angehörigen einiger anderer Berufsgruppen (z.B. Philologen) – heraus. 1.2.5 nat. 2,38 Ein ähnlicher Befund wie in nat. 2,19 ergibt sich auch aus dieser Passage: Der Sprecher hat in 2,37 die Relevanz der menschlichen Existenz für die Welt an sich in Form einer rhetorischen Frage negiert,307 um dem Argument entgegenzutreten, die Göttlichkeit der menschlichen Seele zeige sich u.a. darin, dass sie auf göttliches Geheiß in die Welt gekommen sei, um in ihr einen spezifischen Beitrag zu leisten. Im nun folgenden Kapitel 2,38 findet sich eine lange Aufzählung von Personengruppen, die zum Teil zwar unter ihren Mitmenschen hohes Ansehen genießen, deren Existenz aber für die Welt ein Akzidens ist.308 Auch hier wird die Bedeutung der Redekunst und der Philologie zwar mit Blick auf die großen kosmologisch-theologischen Zusammenhänge beinahe minimiert; gleichzeitig aber kommt zum Ausdruck, dass unter anderem Redner unter den Menschen eine privilegierte Stellung einnehmen.309

305 Vgl. hiermit die vom platonischen Sokrates referierte gorgianische Definition der Rhetorik als πειθοῦς δημιουργός (Plat. Gorg. 453 a 2). Differenziert wird das Wirken der Beredsamkeit z.B. von Cicero im Orator (69) definiert: erit igitur eloquens [...] is, qui in foro causisque civilibus ita dicet, ut probet, ut delectet, ut flectat. probare necessitatis est, delectare suavitatis, flectere victoriae. 306 MCCRACKEN (1949a) 317, Anm. 133 sieht hierin eine Aussage insbesondere über die Verhältnisse zur Zeit Diokletians. 307 Nat. 2,37,2: et quid homines prosunt mundo aut ob rei cuius sint necessarii causam, ut non frustra debuisse credantur parte in hac agere et terreni esse corporis inquilini? 308 2,38,1f.: quid enim prodest mundo, ut ab rebus incipiam seriis, maximos reges hic esse? quid tyrannos, quid dominos, quid innumeras alias atque amplissimas potestates? quid rei militaris experientissimos duces [....]? quid oratores, grammaticos, poetas? 309 Zwar enthält diese Aufzählung auch wenig angesehene Berufe wie etwa Salzhändler, Maultiertreiber und Zuhälter. Angesichts der deutlich antiklimaktischen Anordnung aber, die bei den maximi reges und den amplissimae potestates ihren Ausgang nimmt, zählen die weit vorne eingeordneten oratores und grammatici sicherlich noch zu den Vertretern ehrenhafter und renommierter Tätigkeiten.

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1.2.6 nat. 3,6f. Im sechsten Kapitel des dritten Buches polemisiert der Sprecher gegen die menschliche Annahme, Götter seien teils männlich, teils weiblich, da diese Vorstellung einerseits die Götter entwürdige, andererseits aber aus philosophischtheologischen Gründen unhaltbar sei (da das Vollkommene unteilbar ist, so ist zu ergänzen).310 Hierbei sieht er sich in einer beeindruckenden Traditionslinie (3,6,5ff.): quem quidem locum plene iamdudum homines pectoris vivi tam Romanis litteris explicavere quam Graecis, et ante omnes Tullius, Romani disertissimus generis, nullam veritus impietatis invidiam ingenue, constanter et libere, quid super tali opinatione sentiret, pietate cum maiore monstravit; 6. a quo si res sumere iudicii veritate conscriptas, non verborum luculentias pergeretis, perorata esset et haec causa nec secundas, ut dicitur, actiones nobis ab infantibus postularet. 7,1. sed quid aucupia verborum splendoremque sermonis peti ab hoc dicam [...]?

Die Vorstellung, Götter könnten nach Geschlechtern getrennt existieren, sei von römischen wie von griechischen Autoren schon lange vollständig widerlegt worden, und insbesondere Cicero habe seinen Beitrag hierzu geleistet. Es fällt auf, dass Cicero in diesem Kontext, in dem es dem Sprecher darum geht, einen möglichst gewichtigen Gewährsmann anzuführen,311 nicht als Politiker oder Philosoph bezeichnet wird, sondern als eloquentester Vertreter Roms (Romani disertissimus generis).312 Dass Arnobius’ Zeitgenossen ihm in erster Linie Bedeutung als literarisches Vorbild beimessen, hingegen weniger inhaltliche Autorität zubilligen, geht aus den folgenden Ausführungen hervor: verborum luculentiae, aucupia verborum313 und splendor sermonis seien die primären Interessen seiner paganen Rezi-

310 3,6,3f.: invitare nos forsitan ad istorum numinum potuissetis cultum, si non ipsi vos primi opinionum turpium foeditate talia de illis confingeretis, quae non modo illorum polluerent dignitatem, sed minime illos esse qualitatibus conprobarent adiunctis. adduci enim primum hoc ut credamus non possumus, immortalem illam praestantissimamque naturam divisam esse per sexus et esse partem unam mares, partem esse alteram feminas. 311 Zur Auseinandersetzung des Arnobius mit Cicero vgl. auch S. 187. 312 In nat. 3,16,4 hingegen wird Cicero in einem Atemzug mit den Staatslenkern bzw. Politikern Romulus, Numa Pompilius und Cato genannt. Die hierbei entworfene Szenerie ist jedoch bizarr: Um zu zeigen, dass die anthropomorphe Darstellung von Göttern für diese beleidigend sei, wird in einem Gedankenexperiment die Vorstellung entwickelt, künstlerisch begabte Tiere wollten Menschen kultisch verehren und würden daher Romulus in Eselsgestalt, Numa als Hund, Cato und Cicero gar als Schweine darstellen (quantas, inquam, irarum flammas suffunderent, excitarent, si Urbis conditor Romulus asinina staret in facie, si sanctus Pompilius in canina, si porcina sub specie nomen esset Catonis aut Marci Ciceronis inscriptum!). 313 Die Wendung aucupia verborum findet sich auch bei Cicero selbst, der in Pro Caecina 65 im Rahmen der Darstellung verschiedener Prozesssituationen erläutert: tum aucupia verborum et litterarum tendiculas in invidiam vocant, tum vociferantur ex aequo et bono, non ex callido versutoque iure rem iudicari oportere. An jener Stelle spricht Cicero jedoch nicht von den Bemühungen eines Redners, eine besonders treffende oder jedenfalls überzeugende Formulierung zu finden, sondern von der buchstabengetreuen Auslegung eines bereits vorliegenden Gesetzestextes.

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pienten,314 sofern sie sich nicht von dessen theologischen Schriften abwendeten oder sogar (aus Angst vor Erkenntnis) deren Vernichtung forderten.315 Im Hinblick auf die übergeordnete Fragestellung lässt sich zunächst bilanzieren, dass in der Darstellung des Sprechers Cicero bei der Mehrzahl seiner Rezipienten vor allem aufgrund seiner Eloquenz Ansehen genießt und deshalb als Modell gilt, dass seine wirklich entscheidende Bedeutung jedoch aus den von ihm in De natura deorum geäußerten theologischen Ansichten resultiert.316 Vielleicht kann man jedoch die obige Passage sogar im Sinne einer Selbststilisierung des Arnobius deuten: Durch das Kolon perorata esset et haec causa hält der Sprecher in Erinnerung, dass es sich bei Adversus nationes – zumindest der fiktionalen Sprechsituation nach – um eine Verteidigungsrede in einem Prozess handelt, was schon durch den Ausdruck iudicii veritate im vorhergehenden Konditionalsatz vorbereitet wurde und im Folgenden durch die Aussage nec secundas [...] actiones [...] postularet noch intensiviert wird. Es ließe sich nun durchaus eine – zumindest vom Sprecher konstruierte – Parallele sehen zwischen Cicero, dem Exponenten der Eloquenz in Rom, dessen wahre Bedeutung sich jedoch erst auf der sachlich-theologischen Ebene voll entfaltet und der für seine theologischen Konzepte postum angefeindet wird, und Arnobius, dem Rhetoriklehrer, der die Redekunst technisch-formal durchdrungen hat und souverän über sie verfügt, der seine eigentliche Wirkung aber nun in der Darlegung und Verteidigung des christlichen Glaubens in einer Situation existenzieller Bedrohung entfalten will. Dennoch macht der Sprecher – wenngleich vielleicht auch nur in Form eines Bescheidenheitstopos – deutlich, dass er sich selbst als Cicero weit unterlegen betrachtet, indem er sich – im Vergleich zu Cicero, so ist zu ergänzen – als infans bezeichnet: Berücksichtigt man die Etymologie dieses Wortes, dann gesteht er sich im Vergleich zum Meister der römischen Beredsamkeit nur die Rolle eines stammelnden Kindes zu. Hervorzuheben ist in jedem Fall, dass aus diesen Äußerungen klar wird, dass der Sprecher nicht von einer generellen Unvereinbarkeit von rhetorischem Können bzw. Schmuck und inhaltlicher Wahrheit ausgeht, sondern dass Cicero in seiner Sicht beide Aspekte in sich vereint.

314 Dass auch Arnobius konkrete Ausdrucksweisen Ciceros geläufig sind, zeigt sich in nat. 5,38: potest quidem proscriptio, quemadmodum Tullius ludit, pugna dici appellarique Cannensis [vgl. Cic. S. Rosc. 89], sed quae gesta est dudum pugna, pugna esse non potest eademque proscriptio [...]. 315 Nat. 3,7,1: cum sciam esse non paucos, qui aversentur et fugiant libros de hoc eius nec in aurem velint admittere lectionem opinionum suarum praesumpta vincentem, cumque alios audiam mussitare, indignanter et dicere oportere statui per senatum, aboleantur ut haec scripta, quibus Christiana religio comprobetur et vetustatis opprimatur auctoritas? 316 Zu Arnobiusʼ Nutzung von Ciceros Schrift De natura deorum vgl. z.B. LE BONNIEC (1984) und MACCORMACK (2013) 256f.

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1.2.7 nat. 4,33 In der paganen Literatur werden, so legt der Verteidiger dar, den Göttern zahlreiche menschliche, vielfach unvorteilhafte Verhaltensweisen zugeschrieben. Die angesprochenen Heiden aber rezipieren, ja goutieren sogar die geschilderten Eskapaden oder auch Schicksalsschläge der Götter, ohne eine Strafe dafür zu fürchten.317 Der Grund für diese in den Augen des Sprechers inakzeptable Haltung liegt in der Wirkungsmacht der Beredsamkeit: illi vulnera orbitatis ingemere et cum heiulatibus indecoris fata incusare crudelia: vos stupetis eloquentiae viribus, et quod penitus oportebat ex humani generis † coalitu tolli, percensetis, ediscitis ac ne ulla intercidat oblivione curatis.

Unabhängig davon, ob man die eloquentiae vires zunächst den Göttern zuschreibt, die unmittelbar vorher bei verbalen Äußerungen gezeigt wurden (ingemere und incusare), oder – auf einer anderen Ebene – den Autoren, welche den Göttern diese Klagen in den Mund legen: Die Redekunst wird hier als psychagogische Fähigkeit geschildert, die bei falscher Anwendung den Menschen zu falschen Handlungen veranlasst.318 1.2.8 nat. 4,36 Die gesamte Argumentation in Adversus nationes verfolgt das übergeordnete Ziel, zu beweisen, dass die von den Heiden gegen die Christen erhobenen Vorwürfe in Wahrheit viel mehr auf die Heiden selbst zutreffen. Diese Struktur der retorsio findet sich auch in 4,36: Die paganen Schriften, Bücher und Theateraufführungen seien für eine eventuelle Verärgerung des Numinosen verantwortlich; die Schriften und Versammlungen der Christen hingegen verdienten keineswegs diejenigen Repressionen, denen sie ausgesetzt seien.319 Dies wird folgendermaßen begründet:

317 Nat. 4,33: vobis nulla est cura, quid super rebus dicatur tantis, neque ullo saltem castigationis metu luxuriantium litterarum coercetis audaciam. [...] sacrilegia vos illa miramini elata sublimiter, et, quod poenis omnibus conveniebat plecti, ut animosius consurgat audacia, incentivo extollitis laudis. 318 Hier ist also die Rede davon, dass die Rhetorik unbemerkt, sozusagen unterschwellig eine Wirkung auf die Rezipienten ausübt, während LAURENTI (1962) 147 und AMATA (2000) 284 sie mit ihrer identischen Übersetzung „voi ammirate il fascino dell’eloquenza“ zum Fokus der Rezipientenaufmerksamkeit erheben. 319 Nat. 4,36: quod si haberet vos aliqua vestris pro religionibus indignatio, has potius litteras vos exurere debuistis olim, libros istos demoliri, dissolvere theatra haec potius, in quibus infamiae numinum propudiosis cotidie publicantur in fabulis. nam nostra quidem scripta cur ignibus meruerunt dari? cur immaniter conventicula dirui [?] Zu Diokletians erstem Edikt, auf das hier angespielt werden dürfte, vgl. oben, Kap. 4.2.7 der Prolegomena.

1. Rhetorik, Grammatik und Sprachrichtigkeit in Adversus nationes

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in quibus [sc. conventiculis nostris] summus orator [P : oratur coni. Gelenius]320 deus, pax cunctis et venia postulatur magistratibus, exercitibus, regibus, familiaribus, inimicis, adhuc vitam degentibus et resolutis corporum vinctione [...].

Derartige Zusammenkünfte von Christen verdienen also keine Verfolgung, weil Frieden und Vergebung ihre zentralen Themen sind. Folgt man dem handschriftlich überlieferten Text summus orator deus, dann würde vom Sprecher Gott als wichtigster Redner bei den Zusammenkünften der Christen bezeichnet. Daraus ergäbe sich, dass die Funktion „orator“ an sich indifferent wäre, aber je nach personaler Ausgestaltung bzw. situativer Verwendung unterschiedlich bewertet würde. Die Rolle Gottes als orator könnte nun zunächst so verstanden werden, dass der christliche Glaube insgesamt auf Gottes Offenbarung basiert und jeder Gottesdienst immer in erster Linie eine Auseinandersetzung mit Gottes Wort ist, so dass dieser generell der summus orator einer jeden Zusammenkunft wäre. Im Hinblick auf die christliche Gemeinde könnte man aber auch vermuten, dass sich durch den Mund derjenigen, die in den conventicula das christliche Heilsgeschehen darlegen und ausdeuten, letztlich Gott selbst äußert. Falls diese Annahme zutrifft, würde dem in einen christlichen Kontext eingebundenen Redner eine ganz außerordentliche Stellung von Seiten des Sprechers zugebilligt. Plausibel wäre aber freilich auch die konjizierte lectio facilior „summus oratur deus“, wodurch der Sprecher ausdrücken würde, dass sich die Christen im Gottesdienst im Gebet an den höchsten Gott wenden. 1.3 ERGEBNIS Obwohl der Sprecher in Adversus nationes keine zusammenhängende rhetorische Theorie formuliert,321 lassen sich die über Rhetorik, Grammatik und Sprachrichtigkeit getroffenen Aussagen zu einem facettenreichen, aber konsistenten Bild zusammenfügen: Verstöße gegen die Sprachrichtigkeit schmälern die inhaltliche Relevanz einer Aussage nicht, umso mehr, als sprachliche Äußerungen letztlich arbiträren, von Menschen gemachten und durch Zeitablauf konventionell gewordenen Regeln unterliegen; Grammatik und Philologie sind nicht etwa göttlichen Ursprungs. Umgekehrt garantiert eine grammatische Basiskompetenz keineswegs Kompetenz in metaphysischen Fragen. Auch die Rhetorik entstammt nicht der göttlichen Sphäre, und Redner gehören ebenso wie Grammatiker unter den Menschen zwar einer angesehenen, privilegierten Schicht an, sind aber im kosmischen Maßstab irrelevant. Wohl nicht ohne Stolz hebt der Sprecher bzw. Arnobius jedoch hervor, dass die rhetorische Kunst – wie auch einige andere Künste – nur von wenigen beherrscht wird. Kenntnisse im Bereich der Beredsamkeit garantieren jedoch ebensowenig wie grammatische Kenntnisse Kompetenz im Metaphysischen, weshalb viele Redner, 320 Handschriftlich überliefert ist hier das Substantiv orator; Gelenius hat jedoch mit oratur ein Prädikat konjiziert, worin ihm u.a. REIFERSCHEID und MARCHESI gefolgt sind. 321 Anders VICIANO (1993) 49, der von der „doctrina retórica y gramatical“ des Arnobius spricht.

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Redelehrer und Grammatiker das, worauf sie vorher vertrauten, aufgegeben haben und sich nun um christliche Belehrungen bemühen, ein Sachverhalt, der sich anhand der Biographie des Autors exemplifizieren ließe. Wahrheit strebt, so der Sprecher, nicht nach unnatürlichem „Putz“ der Rede (fucus), und Dinge, die man sicher und genau kennt, lassen allzu lange Satzperioden (ambitus longiores) erst gar nicht zu. Wer eine Sache geistig wirklich durchdrungen hat, verzichtet von selbst auf Kunstgriffe im Bereich der Wörter (artificia verborum). Generell sollte man übertriebenen Redeschmuck und genau regulierten rhetorischen Prunk (pompa sermonis und oratio missa per regulas) für öffentliche Sprechsituationen wie Reden auf dem Forum und Prozesse aufsparen oder sogar ganz denjenigen überlassen, die sich nur auf rhetorische Effekthascherei kaprizieren. Nicht aus dem Blick sollte hierbei aber geraten, dass diese Ausführungen sich auf übermäßigen Redeschmuck, auf übertriebenes Gepränge beziehen und in einen Argumentationsgang eingebunden sind, der die literarische Beschaffenheit der neutestamentlichen Texte rechtfertigt. Generell sieht Arnobius die zentrale Leistung der Rhetorik darin, bei Prozessen persuasiv zu sprechen, wobei er sich durchaus auch des psychagogischen Potenzials der Beredsamkeit (eloquentiae vires) bewusst ist, welches diese in den falschen Händen, genauer gesagt: in den falschen Mündern entfalten kann. Jedenfalls schließen sich rhetorisch gefällige Form und inhaltliche Brillanz nicht gegenseitig aus, wie am Beispiel Ciceros klar wird: Obwohl dieser allgemein als Exponent der römischen Beredsamkeit betrachtet wird, hat er theologisch-philosophisch richtige, ja paradigmatische Aussagen getroffen. Seine Wirkmächtigkeit ist allerdings wohl gerade dadurch eingeschränkt, dass er von potenziellen Rezipienten in erster Linie als stilistisches Vorbild geschätzt wird, seine inhaltlich wichtigen Aussagen aber weniger Gehör finden bzw. sogar angefeindet werden – ein Dilemma, in dem sich Arnobius möglicherweise selbst sieht. Falls der überlieferte Text in 4,36 korrekt sein sollte und Gott tatsächlich als summus orator bezeichnet werden sollte, würde dies nahelegen, dass dem Bereich der Rede und Eloquenz in der Sicht des Arnobius nicht per se ein Odium anhaftet, sondern dass dieser Komplex – an sich indifferent – je nach personaler und situativer Ausgestaltung unterschiedlich zu bewerten ist. Anders als etwa GEORGE A. KENNEDY thetisch formulierte,322 lässt sich bei Arnobius keine explizite Trennung zwischen einer spezifisch christlichen und einer paganen Rhetorik belegen. Schließlich nimmt der Sprecher in 2,11 eine radikale Neubewertung bzw. Neueinordnung der Rhetorik vor: Dass die paganen Philosophen sich äußerst gefällig auszudrücken gewusst hätten, tue bei einem Wettstreit zwischen Personen (personarum contentio) nichts zur Sache; dieser dürfe nicht nach den Kräften der Redekunst bemessen werden, sondern müsse nach den göttlichen Werken (divina opera) entschieden werden. Da aber jene übermenschlichen Taten Christi in der Darstellung des Arnobius jeweils durch Worte bewirkt wurden, ist doch auch hier wieder eine Anbindung an den Bereich der Sprache gegeben. Jesus übertrifft also letztlich alle rhetorisch bewanderten auctores insofern auf einer prinzipiellen 322 KENNEDY (1980) 147.

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Ebene, als das Wort im Sinne eines rhetorisch veredelten Kommunikationsmittels zwangsläufig hinter dem Wort als Auslöser göttlichen Wirkens und als Manifestation heilbringenden Handelns zurückbleiben muss. 1.4 DER SPRECHER ÜBER SEINE EIGENE ELOQUENZ BZW. SEINE RHETORISCHE PRAXIS Über seine eigenen rhetorischen Fähigkeiten äußert sich der Sprecher wohl nur ein einziges Mal explizit in Adversus nationes; doch dies geschieht an prominenter Stelle: Im Rahmen des „Proömiums“ (nat. 1,1,2; vgl. hierzu auch unten, S. 195ff.) erfährt der Rezipient Folgendes: statui pro captu ac mediocritate sermonis contraire invidiae et calumniosas dissolvere criminationes [...].

Als Motivation zur Abfassung der Rede nennt der Sprecher seinen Entschluss, dem Hass, mit welchem Heiden den Christen begegneten, entgegenzutreten und gegen die Christen vorgebrachte böswillige Beschuldigungen zu zerstreuen. Dies wolle er tun, soweit es ihm seine nur mittelmäßige Fähigkeit, eine Rede zu halten bzw. ein Gespräch zu führen, erlaube. Obgleich man hierin wohl einen Bescheidenheitstopos wird sehen dürfen,323 wird doch zumindest deutlich, dass Arnobius, der konvertierte Rhetoriklehrer, sein Werk nicht explizit als rhetorisch ausgefeilt verstanden wissen will. Nicht ganz eindeutig ist der Befund in 6,27,1: Nachdem der Sprecher, wie er meint, im Laufe des sechsten Buches ausreichend deutlich über pagane Götterbilder gehandelt hat, stellt er das Programm für seine weiteren Ausführungen dar: de sacrificiis deinceps, de caedibus [...] de ture deque aliis omnibus, quae in parte ista confiunt, poscit ordo quam paucis et sine ullis circumlocutionibus dicere.

Da das Substantiv circumlocutio als rhetorischer Terminus für eine Periphrase verwendet wird,324 könnte man mit RAPISARDA hierin eine bewusst antirhetorische Absichtserklärung sehen.325 Dieser Gedanke ließe sich noch insofern untermauern, als es aus christlicher Sicht wichtig ist, die verwerflichen Opferpraktiken der Heiden durch konkrete Benennung in ihrer ganzen Widerwärtigkeit bloßzustellen 323 So auch MCCRACKEN (1949a) 269 ad loc. und VAN DER PUTTEN (1970) 73. Anders RAPISARDA (1946) 194, nach dessen Paraphrase Arnobius sich absichtlich auf eine mediocritas sermonis beschränke, weil es seine neue Religion so fordere. GABARROU (1921a) 55 wiederum sieht darin einen echten Zweifel des Arnobius, allerdings nicht an seinen rhetorischen Fähigkeiten, sondern an seiner Kompetenz in der christlichen Lehre. – Vgl. auch nat. 3,6,6, wo der Sprecher sich selbst im Vergleich zu Cicero als infans bezeichnet; s. hierzu oben, S. 103. 324 ThLL 3, Sp. 1155, s.v. circumlocutio. 325 RAPISARDA (1946) 194. BRYCE/CAMPBELL (1895) 302: „without any periphrasis“, MCCRACKEN (1949a) 480: „without any equivocation“, AMATA (2000) 363: „senza troppe circonlocuzioni“, FRAGU (2010) 25: „sans user de périphrases“. VON BESNARD (1842) 180 hingegen: „ohne alle Umschweife“, LAURENTI (1962) 208: „senza ambagi“.

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und sie eben gerade nicht durch Umschreibungen zu verhüllen. Doch angesichts der voraufgehenden Wendung quam paucis dürften an dieser Stelle mit circumlocutiones eher Umschweife und Digressionen in der Darstellung als rhetorische Tropen gemeint sein. Sicherlich jedoch keine Aussage über Stilhöhe oder Register stellt die in nat. 1,2,3 vorgebrachte Ankündigung des Sprechers dar, welche Fragen er seinen Gegnern in vertrauter und freundschaftlicher Rede (familiari et placida oratione) zuerst stellen werde.326 Hierdurch ist vielmehr der Ton bzw. die Atmosphäre der Auseinandersetzung beschrieben, die evoziert werden sollen. 1.5 DAS RHETORIKVERSTÄNDNIS DES ARNOBIUS UND DIE FORMALE ANLAGE VON ADVERSUS NATIONES Wie in den vorherigen Kapiteln gezeigt wurde, vertritt Arnobius bzw. seine Sprecher-persona an keiner Stelle seines Werkes die These einer generellen Unvereinbarkeit von inhaltlicher Wahrheit und rhetorischer Gefälligkeit einer Aussage; nur gegen die Darstellung eines klaren und offenkundigen Sachverhaltes in Form einer allzu langen Satzperiode (ambitus longior) wendet er sich in 1,58,2. Auch die Ablehnung übertriebenen und unnatürlichen Redeschmucks [pompa sermonis (1,59,4) bzw. fucus (1,58,2)] kritisiert nur ein Übermaß an Rhetorisierung, wobei gerade die Zurückweisung des fucus in eine auch pagane rhetorische Tradition eingeordnet werden kann. Rhetorik an sich aber wird allem Anschein nach als indifferent betrachtet, als ein Akzidens, das eine Aussage weder a priori wahr macht noch ihre Gültigkeit erschüttert.327 Die Beredsamkeit selbst wird, wie ebenfalls gesehen, an zwei Stellen explizit mit dem Wirken in Prozessen verbunden: Während in 1,59,4 die stark ausgeprägte Rhetorik, die pompa sermonis und die oratio missa per regulas, eventuell ironisch-polemisch Versammlungen, Gerichtsstreitigkeiten, dem Forum und Gerichtsprozessen überlassen wird,328 definiert der Sprecher in 2,19 als zentrale Leistung der Redekunst, sie befähige die Menschen, in Gerichtsstreitigkeiten überzeugend zu sprechen.329 Nun ist aber Arnobius’ Schrift Adversus nationes sowohl von der Gesamtanlage her als auch in den Details über weite Strecken als Verteidigungsrede ausgearbeitet, wobei, wie in Kapitel 4.2.5 der Prolegomena gezeigt wurde, die prozessuale Situation mittels verschiedener Elemente das ganze Werk hindurch immer wieder vergegenwärtigt und in Erinnerung gerufen wird. 326 Ein Stilbekenntnis scheint hierin jedoch RAPISARDA (1946) 194f. zu sehen. 327 Die artificia verborum (1,58,3) wiederum bezeichnen offensichtlich in erster Linie bestimmte Argumentationsfiguren, deren sich der wahrhaft Sachkundige nicht zu bedienen braucht. 328 1,59,4: pompa ista sermonis et oratio missa per regulas contionibus, litibus, foro iudiciisque servetur. – Vor diesem Hintergrund ist noch einmal daran zu erinnern (vgl. oben, S. 48f.), dass der Sprecher sich in 1,29,1 und 6,14,1 wünscht, seine Ausführungen in einer weltumspannenden contio vortragen zu können. 329 2,19,3: quid enim aliud se spondent vel insinuare posse vel tradere, quam […] ut loquamur suadenter in litibus […]?

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Denkt man diese beiden beobachteten Sachverhalte zusammen, so erscheint es ganz folgerichtig und vollkommen konsequent, dass Arnobius in seiner als Prozessrede gestalteten Verteidigungsschrift in gewissem Umfang rhetorische Gestaltungsmittel einsetzt, um seine Ansichten zu plausibilisieren; eine prinzipielle Divergenz zwischen theoretischen Postulaten und praktischem Vorgehen ist nicht zu verzeichnen.

2. „DIE“ PHILOSOPHIE UND „DIE“ PHILOSOPHEN IN ADVERSUS NATIONES 2.1 STAND DER FORSCHUNG Der Prozess der Auseinandersetzung des Christentums mit der antiken Philosophie ist von großem Facettenreichtum geprägt.330 Schon im paulinischen Schrifttum lassen sich einerseits Vorbehalte gegenüber der Philosophie und Warnungen vor Täuschung durch sie finden; andererseits wird aber auch den Heiden bis zu einem gewissen Grade die Erkenntnis Gottes zugestanden.331 Da aber in der Antike Diskussionen über Religion im Rahmen der Philosophie geführt wurden,332 mussten die christlichen Apologeten mögliche pagane Adressaten oder Rezipienten auf einer Ebene ansprechen, die – anders als etwa biblische Testimonia – auch für diese zugänglich und verbindlich war, mithin auf der philosophischen,333 obgleich sich in diesem polyphonen Diskurs auch dissonante Stimmen vernehmen lassen wie etwa diejenige Tertullians, der in Form einer rhetorischen Frage deutlich werden lässt, dass seiner Meinung nach Philosophie und Christentum (jeweils durch ihre „Epizentren“ Athen und Jerusalem symbolisiert) ebenso wie platonische Akademie und christliche Kirche rein gar nichts gemein haben.334 Umge330 Vgl. zum Folgenden u.a. HIRSCHBERGER (1960) 325ff., CHADWICK (1967) 133ff., SIMON (1972) 191ff., GÖRGEMANNS (1989), SCHMIDINGER (1989), WLOSOK (1989b), GEYER (1996) 125ff., GOMBOCZ (1997) 237ff., FRIIS JOHANSEN (1998) 569ff., RENAUD (2000) 867, ROSEN (2005), PIEPENBRINK (2005) 343ff., LÖHR (2010) und PIETZNER (2013) sowie die Einzeldarstellungen bei GERSON (2010) 233ff. 331 Abgrenzung: I Cor 1,19f. (γέγραπται γάρ· „ἀπολῶ τὴν σοφίαν τῶν σοφῶν καὶ τὴν σύνεσιν τῶν συνετῶν ἀθετήσω.“ ποῦ σοφός; ποῦ γραμματεύς; […] οὐχὶ ἐμώρανεν ὁ θεὸς τὴν σοφίαν τοῦ κόσμου;); 1,27 (ἀλλὰ τὰ μωρὰ τοῦ κόσμου ἐξελέξατο ὁ θεός, ἵνα καταισχύνῃ τοὺς σοφούς); 3,18 (εἴ τις δοκεῖ σοφὸς εἶναι ἐν ὑμῖν ἐν τῷ αἰῶνι τούτῳ, μωρὸς γενέσθω, ἵνα γένηται σοφός); vgl. ferner Col 2,8 (βλέπετε, μή τις ὑμᾶς ἔσται ὁ συλαγωγῶν διὰ τῆς φιλοσοφίας καὶ κενῆς ἀπάτης κατὰ τὴν παράδοσιν τῶν ἀνθρώπων, κατὰ τὰ στοιχεῖα τοῦ κόσμου καὶ οὐ κατὰ Χριστόν); Gotteserkenntnis der Heiden: Rm 1,19 (διότι τὸ γνωστὸν τοῦ θεοῦ φανερόν ἐστιν ἐν αὐτοῖς· ὁ θεὸς γὰρ αὐτοῖς ἐφανέρωσεν). 332 Dies hebt etwa WALTER (2006) 130 mit Verweis auf die theologia tripertita hervor. 333 So auch HIRSCHBERGER (1960) 327. 334 Tert. praescr. 7,9: quid ergo Athenis et Hierosolymis? quid academiae et ecclesiae? quid haereticis et Christianis? Ähnlich in apol. 46,18: adeo quid simile philosophus et Christianus, Graeciae discipulus et caeli, famae negotiator et salutis vitae, verborum et factorum operator, et rerum aedificator et destructor, et interpolator et integrator veritatis, furator eius et custos? Derselbe Autor beharrt in apol. 46,2 darauf, dass das Christentum ein divinum negotium und nicht ein philosophiae genus sei, formuliert aber in De pallio 6,2 pointiert: gaude, pallium, et exsulta! melior iam te philosophia dignata est, ex quo Christianum vestire coepisti. – Zu Tertullians Verhältnis zur Philosophie vgl. z.B. STEINER (1989) 174ff. (mit Aufarbeitung der älteren Forschung).

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kehrt wurde das Christentum gerade auch von Seiten einiger Philosophen wie etwa Kelsos (2. Jh.) oder Porphyrios335 als Torheit heftig kritisiert oder als missverstandener Platonismus diskreditiert.336 Ein wichtiger Faktor für die weitere Entwicklung, die je nach Forschungsparadigma als Synthese bzw. Hellenisierung des Christentums oder aber als bewusste, partiell und kritisch auswählend erfolgende Nutzung und Dienstbarmachung der Philosophie für den christlichen Glauben bezeichnet wird,337 dürften die Impulse gewesen sein, welche von dem jüdischen Gelehrten Philon von Alexandria (ca. 20 v.Chr.–nach 40 n.Chr.) und seinem Versuch ausgingen, alttestamentarische Religiosität mit der griechischen Philosophie zu verbinden. „Anschlussfähig“ machten die pagane Philosophie vor allem zwei Denkfiguren: zum einen die Vorstellung, die Christen dürften bzw. müssten sich sogar derjenigen (sorgsam ausgewählten) paganen Kulturgüter bedienen, die wertvoll und nützlich seien, da dieses Verfahren durch den – von Gott selbst befohlenen – alttestamentarischen Raub des Goldes der Ägypter durch die Israeliten beim Auszug aus Ägypten338 legitimiert und gleichsam präfiguriert sei.339 Wichtig ist zum anderen der Gedanke, dass die griechische Philosophie eigentlich von Moses und der jüdischen Weisheit abhängig sei, die offenkundig älter waren und somit einen Anspruch auf Überlegenheit hätten;340 ja dass die pagane Philosophie nur Fragmente der Wahrheit habe erkennen können, dass aber die christliche Theologie die „wahre Philosophie“ (vera philosophia/sapientia) verkörpere.341 Eine Schlüsselposition für den weiteren Verlauf der abendländischen Geistesgeschichte nimmt dabei Augustinus ein, bei dem sich die Aussagen finden lassen, dass Philosophie und Religion identisch seien342 und etwa der Platonismus im Christentum vollendet werde.343 Dabei ist für ihn die christliche Philosophie (philosophia Christiana) die einzig wahre Philosophie.344 Von der einschlägigen Passage im zweiten Buch von 335 Zu Porphyrios s. oben, S. 52, Anm. 144. 336 Zu antiken Irrationalitätsvorwürfen gegen das Christentum und den Repliken darauf s. z.B. VOLP (2008) und (2013), zum Beginn der antichristlichen Polemik vgl. z.B. HARGIS (1999). Einen Vergleich der Angriffe, denen Arnobius und dann Ambrosius argumentativ entgegentreten, vollzieht COURCELLE (1964). 337 Vgl. zur letzteren Position die obigen Ausführungen zu dem von GNILKA in einer Reihe von Publikationen untersuchten Chrêsis-Konzept auf S. 27 und in Kap. 3.4 der Prolegomena. 338 Ex 3,21f.; 11,2; 12,35f. 339 Vgl. hierzu die Ausführungen in den Prolegomena, Kap. 3.4. 340 PILHOFER (1990) 143ff. Vgl. auch z.B. Min. Fel. 34,5 (animadvertis philosophos eadem disputare, quae dicimus, non quod nos simus eorum vestigia subsecuti, sed quod illi de divinis praedicationibus prophetarum umbram interpolatae veritatis imitati sint). 341 Die Entwicklung dieses Gedankens wird z.B. von HONNEFELDER (1992) nachgezeichnet. 342 Aug. vera relig. V 8: sic enim creditur et docetur, quod est humanae salutis caput, non aliam esse philosophiam, id est sapientiae studium, et aliam religionem. 343 Aug. epist. 118,16f. 344 Aug. c. Iulian. 4,14,72 (PL 44,774: non sit honestior philosophia gentium quam nostra Christiana, quae una est vera philosophia). Zuvor hatte bereits Johannes Chrysostomos (ca. 350– 407) in seiner Predigt In Kalendas von einer Χριστιανικὴ φιλοσοφία gesprochen und diese mit der Ἑλληνικὴ πλάνη kontrastiert (PG 48,956).

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De doctrina Christiana, in der Augustin ausführt, dass die paganen Philosophen (eigentlich den Christen gehörende) Wahrheiten nur als „ungerechte Besitzer“ vorweisen können,345 war schon oben die Rede.346 Im Rahmen der Forschungen zu Arnobius nehmen Untersuchungen zu philosophischen Aspekten seines Werkes recht breiten Raum ein.347 Die ältere Forschung bemühte sich in erster Linie darum, für Aussagen des Autors oder für von ihm attackierte Philosopheme „philosophische Quellen“ und ggf. Übermittlungswege der jeweiligen philosophischen Anschauungen aufzuspüren.348 Ferner wurde eine ausgiebige Kontroverse darüber geführt, welcher Philosophenschule Arnobius selbst vor oder auch noch nach seiner Konversion am ehesten zugerechnet werden könne, wobei insbesondere die These verfochten wurde, er sei Epikureer gewesen oder sei von dieser Lehre (ggf. in ihrer lukrezischen Form) zumindest stark beeinflusst worden.349 Auch die genaue Bestimmung des philosophischen Standpunktes der (fiktiven) Gesprächspartner/Kontrahenten war ein Anliegen vieler Gelehrter.350 In der jüngeren Forschung hingegen hat sich zunehmend die Auffassung durchgesetzt, dass Arnobius wohl keiner bestimmten Philosophenschule angehör345 Doctr. chr. 2,XL 60: philosophi autem qui vocantur si qua forte vera et fidei nostrae accommodata dixerunt, maxime Platonici, non solum formidanda non sunt, sed ab eis etiam tamquam ab iniustis possessoribus in usum nostrum vindicanda. 346 S. 36f. 347 Vgl. z.B. den Überblicksartikel von ARIS (2018). 348 Vgl. hierzu den Forschungsüberblick bei LE BONNIEC (1982a) 41ff., der auf S. 42 formuliert: „Connaissance directe ou indirecte? La question revient à propos de chaque ,source‘; le plus souvent, si on entre dans le détail, il est impossible d’y répondre avec certitude.“ Zuversichtlich hingegen äußert sich z.B. RAPISARDA (1946) 78, Anm. 1: „Io non so perchè i critici abbiano voluto mettere in dubio la conoscenza diretta dei dialoghi platonici in Arnobio“ und in neuerer Zeit wieder MORA (1997) 21: „[Arnobius] kennt seine Quellen direkt“. ARMISENMARCHETTI (2018) 206 belegt schlüssig, dass Arnobius den platonischen Timaios im Original kannte. 349 Archeget dieser These war KLUSSMANN (1867), der in lukrezisch anmutenden Arnobiuspassagen „keineswegs [...] eine affectata imitatio des Lucrez, sondern einzig die ganz natürliche nachwirkung [sic, und so auch im Folgenden] emsig betriebenen, hingebenden studiums dieses dichters, aus dem er augenscheinlich die epikureische lehre schöpfte“ (ebd. S. 365) sah. Dagegen wandten sich schon JESSEN (1872) 17ff. und DALPANE (1905), während RAPISARDA (1946) 183 wieder bilanzierte: „Le vaste e profonde risonanze della poesia lucreziana, possono farci supporre quanto grande sia stato l’impulso del poeta latino, per trarre il retore verso il grande Maestro.“ MCCRACKEN (1949a) 29f. zeichnet die Debatte bis zu seiner Zeit nach und kommt auf S. 30 zu dem Schluss: „Whatever the explanation of the Epicureanism in Arnobius, the fact that it exists is undeniable.“ Ausführlich zu Arnobius’ Verhältnis zum Epikureismus HAGENDAHL (1958) 12ff., der auf S. 20 als Kernthesen formuliert, Arnobius habe in deutlicher Opposition zum epikureischen Materialismus gestanden und die Gründe für seine Lukrez-imitatio seien hauptsächlich literarisch. Vgl. zu dieser Debatte ferner SIMMONS (1995) 131ff. Mit der Lukrezrezeption des Arnobius befasst sich auch GATZEMEIER (2013) 182ff., die ihre Beobachtungen überzeugend in das Chrêsis-Paradigma (vgl. oben, S. 34ff.) einordnet. – Zum Platonismus in Adversus nationes vgl. u.a. BURGER (1970) 42ff. und LAURENTI (1981). 350 Vgl. zur Diskussion bzgl. der Identität der als viri novi bezeichneten Gegner oben Anm. 143.

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te,351 sondern vielmehr Philosopheme verschiedener Schulen je nach den Erfordernissen des aktuellen Argumentationszusammenhanges einsetzte.352 Dabei ist aber bislang – abgesehen von GATZEMEIER (2013) 182ff. mit Bezug auf Lukrez – noch kein Versuch unternommen worden, eine Brücke zur Chrêsis-Forschung353 zu schlagen und Arnobius’ Umgang mit der Philosophie oder auch seine allgemeineren Aussagen zu jenem Wissensgebiet in diesen größeren Zusammenhang einzuordnen. Hinzuweisen ist schließlich noch auf ALBERT VICIANOS 1993 publizierte Monographie „Retórica, filosofía y gramática en el Aduersus nationes de Arnobio de Sica“. Trotz des umfassend anmutenden Titels stellt das Werk in erster Linie eine semantische Untersuchung einiger Begriffe vor allem aus nat. 1,58f. und 2,11 dar, deren Bedeutungsspektrum innerhalb philosophischer Texte diachron dargestellt wird. VICIANO kommt zu dem Ergebnis, Arnobius wahre in seinem philosophischen Vokabular volle Kontinuität mit der Tradition der römischen Philosophie, biete aber auch partielle Innovationen, die teils auf christliche Apologeten zurückgingen, teils auf die expressive Kraft seines literarischen Stils.354 Im Folgenden soll jedoch ein anderer Ansatz verfolgt werden. Durch die Untersuchung aller relevant erscheinenden Stellen, an denen allgemeine Aussagen über die Philosophie und die Philosophen in toto getroffen werden, soll deutlich gemacht werden, welches Bild Arnobius bzw. der Sprecher355 von „der“ Philosophie und „den“ Philosophen insgesamt entwirft.356 Im Einzelnen werden die Gegenstände und Themen, das Wesen, die Methoden und Leistungen der Philosophie in der Einschätzung des Apologeten untersucht, sodann seine Aussagen über Eigenschaften und Verhaltensweisen von Philosophen sowie über ihre Methodik und die Verlässlichkeit ihrer Aussagen. Im Anschluss hieran ist auf Stellen einzu351 So u.a. schon MICKA (1943) 76f., der Arnobius zwar eine „predominantly Epicurean idea of God“ zuschreibt, aber dennoch bilanziert: „His spirit was rather eclectic, choosing ideas from various sources and attempting to mold them into one system“, ähnlich MCCRACKEN (1949a) 30 („eclectic philosopher [...] he did not construct a system of his own“), ferner LE BONNIEC (1982a) 60 („Arnobe n’était pas un philosophe original, il n’avait pas de système à proposer, il n’appartenait à aucune école, mais il se passionait pour les problèmes philosophiques“) und 64 („On soupçonne son drame intérieur: n’a-t-il pas été déchiré entre l’idéalisme platonicien et le matérialisme épicurien? […] Impossible de compter Arnobe, avant sa conversion, parmi les adeptes d’une philosophie nettement définie.“). SIMMONS (1995) 123 hingegen glaubt, Arnobius sei vor seiner Konversion Anhänger des Porphyrios gewesen. Bei CHAMPEAUX (2018) 373ff. wiederum finden sich Überlegungen, welche Philosopheme Arnobius nach und nach vom traditionellen Polytheismus abgebracht haben könnten. 352 FÖLLINGER (1999) 31. Vgl. auch COURCELLE (1964) 157: „it might be asked whether Arnobius was in fact attempting to outline a synthesis between Platonist philosophy and the Christian revelation [...]. My answer is that it is much more likely that his tactics were to use his opponentsʼ weapons against themselves, to turn against them the authorities they claimed as their own.“ 353 Vgl. hierzu Kap. 3.4 der Prolegomena. 354 VICIANO (1993) 253f. 355 Zu dieser Unterscheidung vgl. Kap. 4.2.2 der Prolegomena. 356 Sehr knappe Ansätze hierzu finden sich auch bei AHMED (2017) 120f.; sie kommt zu dem Ergebnis, dass es Arnobius nicht „[u]m ,die‘ Philosophen als geschlossene, definierbare Gruppe geht[, ...] sondern um die Philosophen als Autoritäten“ der Gegner (ebd. S. 120).

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gehen, an denen Philosophen als (partielle) Teilhaber an der christlichen Wahrheit angeführt werden, ferner auf Passagen, in welchen Philosophen ohne explizite Wertung in doxographischem Rahmen genannt werden. Überdies sind Texte zu analysieren, in denen ihre Interaktion mit Christen thematisiert wird. Ergänzt wird diese Untersuchung schließlich durch einen Exkurs über das Wortfeld sapiens/sapientia in Bezug auf Mensch und Gott bzw. pagane Götter bei Arnobius. Es erscheint plausibel, dass gerade durch die Erarbeitung dieses Panoramas, das auch im Hinblick auf den zeitgenössischen philosophischen Diskurs und auf Bildungsinhalte des beginnenden vierten Jahrhunderts im Allgemeinen aufschlussreich sein dürfte, die generelle Einschätzung des Apologeten bezüglich des Wesens und Wertes der Philosophie und ihrer Protagonisten nuanciert hervortreten dürfte. Erst vor diesem Hintergrund können Bezugnahmen auf einzelne Philosophen und Philosopheme gebührend gewürdigt werden. 2.2 AUSSAGEN ÜBER „DIE“ PHILOSOPHIE UND „DIE“ PHILOSOPHEN 2.2.1 Gegenstände und Themen der Philosophie Einen ersten Aufschluss über mögliche Untersuchungsgegenstände der Philosophie gibt nat. 1,31,4: audimus enim quosdam philosophandi studio deditos partim ullam negare vim esse divinam, partim an sit, cotidie quaerere; alios casibus fortuitis et concursionibus temerariis summam rerum construere atque diversitatis impetu fabricari, cum quibus hoc tempore nullum nobis omnino super tali erit obstinatione certamen.

Als Themen philosophischer Debatten werden hier die Existenz bzw. Nichtexistenz des Göttlichen und die atomistische Grundstruktur des Weltganzen genannt, eine, wie sich noch zeigen wird, im Vergleich mit anderen Passagen weite Auffassung von Philosophie.357 Allerdings lehnt es der Sprecher an dieser Stelle gerade ab, sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt in eine Diskussion (certamen) mit Philosophen einzulassen, die die o.g. Themen untersuchen; ihre diesbezüglichen Meinungen gelten ihm als Starrsinn (obstinatio). Stilistisch auffällig erscheint hierbei die Periphrase philosophandi studio deditos statt eines schlichten Substantivs wie etwa philosophos.358 357 Zum Bedeutungsspektrum des antiken Philosophiebegriffs – von „Himmelsbetrachter“ bis „Glücksforscher“ – vgl. BIEN (1982). 358 Inhaltlich dürften hiermit einerseits, wie MCCRACKEN (1949a) 282, Anm. 132 und GIERLICH (1985) 80f. ad loc. ausführen, Atheisten wie Diagoras von Melos, Hippo von Melos und Theodoros von Kyrene gemeint sein; u.a. diese sind in nat. 4,29 als Autoren genannt, die gezeigt hätten, dass es sich bei den paganen Göttern eigentlich um Menschen gehandelt habe. Zum Atheismus in der Antike vgl. z.B. DRACHMANN (1922), BREMMER (2007) und WINIARCZYK (2016). Andererseits wird auf Skeptiker wie etwa Protagoras Bezug genommen (vgl. 80 B 4 D./K.: περὶ μὲν θεῶν οὐκ ἔχω εἰδέναι, οὔθ’ ὡς εἰσὶν οὔθ’ ὡς οὐκ εἰσὶν οὔθ’ ὁποῖοί τινες ἰδέαν). Hinsichtlich der Atomlehre werden Rezipienten u.a. an Leukipp, Demokrit, Epikur und Lukrez gedacht haben; der Sprecher selbst nennt in nat. 2,9,3 Epikur, Demokrit und Me-

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Eine Erweiterung des Untersuchungsgegenstandes der Philosophie ergibt sich aus der folgenden Passage (nat. 3,35,1f.): in philosophiae memorabiles studio atque ad istius nominis columen vobis laudatoribus elevati universam istam molem mundi, cuius omnes amplexibus ambimur, tegimur ac sustinemur, animans esse unum sapiens, rationale, consultum probabili adseveratione definiunt. 2. quorum si est vera et fixa, certa sententia, etiam illi continuo desinent dii esse, quos in eius portionibus paulo ante immutatis nominibus constituebatis.

Aus der von angesehenen Philosophen mit glaubhafter Versicherung (probabili adseveratione) geäußerten359 Ansicht, die Welt sei insgesamt ein einziges, belebtes und weises Wesen,360 ergebe sich, dass die Gestirne, der Äther und die Erde, die die Gegner ohne Veränderung ihrer Bezeichnungen (immutatis nominibus) zu Göttern gemacht hätten, zwar Teile dieses Weltganzen, nicht aber Götter seien.361 Während an vielen anderen Stellen „Philosophie“ inhaltlich auf Moral und Ethik verengt verwendet wird, sieht der Sprecher hier auch die Metaphysik bzw. Ontologie als Teil der Philosophie an. Sprachlich fällt jedoch auf, dass wiederum nicht das Substantiv philosophi, sondern eine Umschreibung (hier: in philosophiae memorabiles studio) verwendet wird. Ein vergleichbarer Befund ergibt sich aus nat. 4,18: aut si ponderis existimatis nullius haec esse, aboleantur omnes libri, quos de diis habetis compositos theologorum, pontificum, nonnullorum etiam philosophiae deditorum [...].

Der Verteidiger sieht sich mit dem Argument konfrontiert, seine Götterkritik ruhe nicht auf einer soliden Basis, da er die in der Literatur geäußerten paganen Gottesvorstellungen angreife, welche jedoch ihrerseits nur von Theologen niedergelegt, möglicherweise aber nicht zutreffend seien.362 Zwar weist er diesen Einwand zunächst als verfehlt zurück, da es ja gerade seine Absicht sei, die kursierenden Ansichten zu widerlegen;363 dann jedoch vermutet er, dass die Heiden dann, wenn man alle entsprechenden Schriften beseitigte, gar nicht zu anderen, hiervon unabhängigen Gottesvorstellungen gelangen könnten. Als Verfasser dieser also äußerst wirkmächtigen Schriften werden im oben aufgeführten Text Theologen, Oberpriester und auch einige an der Philosophie Interessierte genannt.364 Hier wird also

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trodor als Vertreter dieser Theorie (qui individuis corporibus mundos semper fabricatur et destruit, non Epicuro, Democrito, Metrodoro [sc. credit]?). Vgl. dazu unten Kap. 2.2.4: „Methodik und Verlässlichkeit der Aussagen von Philosophen“. Belegstellen für die platonisch-stoische Provenienz dieser Ansicht führt CHAMPEAUX (2007) 143f. ad loc. auf. Nat. 3,35,4: quo constituto ac posito summa omnis illuc redit, ut neque sol deus sit neque luna neque aether, tellus et cetera. sunt enim partes mundi, non specialia numinum nomina. 4,18: unde, inquit, scimus, an explorata et cognita theologi scriptitarint an, ut visum est atque sedit, libidinosam extulerint fictionem? 4,18: nihil istud ad causam, nec sermonis istius in eo est ratio constituta, utrumne res ita sint, theologorum ut indicant scripta, an aliter se habeant et multo dissociatae discrimine; nobis enim satis est rebus de publicatis loqui neque quaerere, quid sit in vero, sed refutare, convincere id, quod in medio positum est atque opinatio concepit humana. MCCRACKEN (1949a) 553, Anm. 129 sieht in dem Ausdruck philosophiae dedit[i] einen deutlichen Hinweis auf Ciceros De natura deorum, vgl. hierzu aber oben, S. 102f.

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abermals die Theologie als ein Gegenstand der Philosophie namhaft gemacht; deren Vertreter werden aber auch hier nicht als philosophi, sondern in Periphrase als nonnull[i] philosophiae dedit[i] bezeichnet, während die ersten beiden Elemente des Trikolons einfache Substantive waren. Womöglich macht auch nat. 4,9 eine Aussage über einen zentralen Gegenstand der Philosophie: qui est enim, qui credat esse deos Lucrios et lucrorum consecutionibus praesidere, cum ex turpibus causis frequentissime veniant et aliorum semper ex dispendiis constent? quis Libentinam, quis † Burnum libidinum superesse tutelis, quas iubet sapientia fugere et quas mille per species propudiosa experitur et exercet obscenitas?

Während der Sprecher die Meinung bekämpft, Götter seien für bestimmte Bereiche des menschlichen Lebens wie etwa finanziellen Gewinn „zuständig“, verwirft er auch den Gedanken, die Götter Libentina und Burnus (?) seien die besonderen Schutzmächte der Begierden, zu deren Vermeidung die Weisheit auffordere. Zwar lässt es auch Weisheit im allgemeinen Sinne angeraten erscheinen, sich den Begierden nicht (im Übermaß) hinzugeben; doch ist der Kampf gegen Laster und Leidenschaften bekanntlich auch ein zentrales Thema in der Ethik und Moralphilosophie,365 so dass mit dieser Stelle ein weiterer Gegenstand dessen angesprochen sein dürfte, was in Adversus nationes unter Philosophie subsumiert wird. 2.2.2 Wesen, Methoden und Leistungen der Philosophie Ausführungen über Alter und Leistung der Philosophie werden in nat. 2,69,2 vorgetragen: medicina, philosophia, musica ceteraeque omnes artes, quibus vita est exstructa et expolita communis, cum hominibus natae sunt, et non potius nuper, quinimmo paene paulo ante agitari, intellegi celebrarique coeperunt?

In Form einer rhetorischen Frage wird suggeriert, dass die Philosophie nicht vom ersten Anbeginn der Menschheit an existiert habe, sondern erst seit recht kurzer Zeit betrieben, geistig durchdrungen und gefeiert werde. Dies, so der Sprecher, gelte aber nicht nur für die Philosophie allein, sondern genauso für die Medizin, die Musik und die übrigen Künste, durch welche das menschliche Leben erhöht366 und verfeinert werde. Die Leistung der Philosophie wird also an dieser Stelle als durchaus positiv eingeschätzt; aufgrund ihrer Mittelposition innerhalb des Trikolons medicina, philosophia, musica lässt sich jedoch nicht genau bestimmen, ob der Verteidiger sie – wie die Medizin – unter die für das menschliche Leben basalen τέχναι oder – wie die Musik – unter die zwar angenehmen, aber nicht absolut unabdingbaren Künste zählt. Die relative „Neuheit“ der Philosophie ist hierbei 365 Dass dies auch der Sprecher so einschätzt, wird aus nat. 2,30f. deutlich; vgl. die Behandlung dieser Passage unten auf S. 119ff. 366 Buchstäblich grundlegender deuten quibus [...] exstructa z.B. MCCRACKEN (1949a) 181 („upon which [...] is built“) und ARMISEN-MARCHETTI (2018) 71 („qui fondent“).

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nicht etwa ein Makel, sondern sie fungiert gerade als legitimierende Instanz für den Umstand, dass das Christentum historisch gesehen zur Zeit des Arnobius als jung gelten muss.367 In den weiteren Rahmen zeitgenössischer intellektueller Aktivitäten werden einige Philosophen in nat. 2,6,1ff. eingeordnet (vgl. hierzu auch oben, S. 98f.): vos soli sapientiae conditi atque intellegentiae vi mera nescio quid aliud videtis et profundum? soli esse nugas intellegitis haec omnia, soli verba et pueriles ineptias ea, quae nobis promittimus principali ab rege ventura? 2. unde, quaeso, est vobis tantum sapientiae traditum, unde acuminis et vivacitatis tantum [...]? 3. quia [...] scitis [...], quid sit genus, quid species, oppositum a contrario quibus rationibus distinguatur, idcirco vos arbitramini scire, quid sit falsum, quid verum, quid fieri possit aut non possit, quae imorum summorumque natura sit? numquamne illud vulgatum perstrinxit aures vestras, sapientiam hominis stultitiam esse apud deum primum? 7,1. atque ipsi penitus perspicitis vos ipsos, si quando de rebus disceptatis obscuris et naturalia pergitis reserare secreta, et ipsa, quae dicitis, quae adseveratis, quae capitali plerumque contentione defenditis, nescire vos et unumquemque suspiciones suas probatis et comprehensis pertinaci obluctatione tutari.

Die Widersacher des christlichen Glaubens, so der Sprecher vor der eben zitierten Stelle, könnten das Faktum der wachsenden Christengemeinschaft vielleicht mit dem Verweis auf intellektuelle Schwäche der Gläubigen abtun (2,6,1: nisi forte obtunsi et fatui videntur hi vobis, qui per orbem iam totum conspirant et coeunt in istius credulitatis adsensum). Dementsprechend zentral ist in diesem Zusammenhang der Schlüsselbegriff sapientia, der im zitierten Text dreimal verwendet wird: Bei der ersten Verwendung stellt sapientia zusammen mit intellegentia im allgemeinen Sinne einen Kontrast zur den Christen unterstellten Dummheit dar. An der zweiten Stelle, wo sapientia verbunden mit acumen und vivacitas (sc. ingenii o.ä.)368 auftritt, dürfte ebenfalls die intellektuelle Potenz gemeint sein, die in diesem speziellen Fall Christi segensreiche und heilspendende Worte als Flausen, bloßes Geschwätz und kindischen Unsinn (nugas [...] verba et pueriles ineptias) enttarnt zu haben glaubt. Im Anschluss an diese rhetorische Frage werden nun verschiedene Wissensbereiche aufgezählt, im Einzelnen Grammatik, Rhetorik, Literatur, juristisches Fachwissen und schließlich „philosophische Grundkenntnisse“. Aufgrund solcher Kenntnisse aber zu wähnen, man wisse, was falsch oder wahr, möglich oder unmöglich sei, oder man verstehe das Wesen des Weltganzen (genauer: der geringsten und höchsten Dinge), erscheint dem Sprecher verfehlt. Denn ein bekannter Ausspruch besage doch, dass die Weisheit des Menschen Torheit bei Gott sei.369 367 2,69,1f.: – sed novellum nomen est nostrum et ante dies paucos religio est nata, quam sequimur –. ut interim concedam id, quod nobis obicitur, intentionis esse non falsae, quid est enim in negotiis hominum, quod vel opere corporis et manibus fiat vel solius animi disciplina et cognitione teneatur, quod non ex aliquo coeperit tempore et in usum exierit experientiamque mortalium? medicina, philosophia [...]? 368 Vgl. 5,32 (es spricht der Interlocutor): mysteria in se continent sancta, rationes miras atque altas nec quas facile quivis possit ingenii vivacitate pernoscere. 369 Vgl. hierzu die Zusammenstellung ähnlicher Stellen in jüdisch-frühchristlichem Schrifttum bei GIERLICH (1985) 183, ferner ARMISEN-MARCHETTI (2018) 99f. HAGENDAHL (1958) 26, Anm. 2 sieht hierin jedoch „one of the very few passages in the Bible which Arnobius proves

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Und den Apostrophierten sei schließlich selbst klar, dass sie, wenn sie über Verborgenes (de rebus [...] obscuris) stritten und die Geheimnisse der Welt zu lüften versuchten (naturalia [...] reserare secreta), unwissend seien und nur eigene Vermutungen (suspiciones suas) verfechten könnten – dies allerdings mit großem Nachdruck (pertinaci obluctatione). Ihr Wissen, ihre sapientia370 beschränkt sich demnach in den Augen des Sprechers auf Fähigkeiten wie diejenige, Begriffe wie genus und species bzw. oppositum und contrarium gegeneinander abzugrenzen. Der Sprecher fährt fort (2,7,2): quid enim, si verum perspiciam [P B, REIFFERSCHEID und MARCHESI : perspicias coni. Löfstedt, übernommen von ARMISEN-MARCHETTI], etiamsi omnia saecula in rerum investigatione ponantur, scire per nos possumus, quos ita caecos et superbos nescio quae res protulit et concinnavit invidia, ut, cum nihil sciamus omnino, fallamus nos tamen et in opinionem scientiae sub inflati pectoris tumore tollamur?

Beginnend mit einem Bescheidenheitstopos, der jedoch zugleich tiefere Erkenntnis ankündigt (si verum perspiciam) und der geschickt an die vorherige polemische Frage semantisch anknüpft (2,6,3: vos arbitramini scire, quid sit falsum, quid verum [...]?), wird die Erkenntnisfähigkeit des Menschen schlechthin negiert: Selbst wenn alle Jahrhunderte auf die Erforschung der Welt verwendet würden, könnten wir Menschen nichts wissen. Doch nicht einmal dieses Defizits an Erkenntnisfähigkeit, so der Sprecher, sind wir uns bewusst, so dass wir uns von falschem Stolz verblendet zu völlig unbegründetem Übermut erheben. In gewisser Weise wird in diesem Zusammenhang also implizit sogar eine Kritik am Sprachgebrauch vorgetragen, der sapientia als Synonym für philosophia verwendet: Die Philosophie kann einige ihrer zentralen Fragen und Anliegen, vor allem im Bereich der Metaphysik und der Ontologie, nicht zufriedenstellend klären und muss deshalb in einer holistisch-transzendentalen Sicht als Torheit betrachtet werden. Dieses Verdikt müsste aber über alle Disziplinen menschlichen Erkenntnisstrebens gefällt werden, da Gott eben eine transzendentale Entität ist, deren Qualitäten die analogen menschlichen Qualitäten jeweils unermesslich übertreffen, sofern sie überhaupt irgendwie vergleichbar sind. Ein jedoch speziell gegenüber der Philosophie geltend zu machender Kritikpunkt ist, dass die Philosophen sich zwar über die Beschaffenheit ihrer Urteile im Klaren sind, insofern es sich aus Sicht des Sprechers dabei nur um (mehr oder weniger gut begründete) Vermutungen, jedoch nicht um sicheres Wissen371 handelt, dass sie ihre Ansichten aber dennoch mit größtem Nachdruck vertreten. Der Gedankengang wird ferner noch dadurch modifiziert, dass das Bibelwort bzw. jenes allgemein verbreitete Diktum die menschliche sapientia immerhin als to be aware of.“ Zum Problem der arnobianischen Bibelkenntnis vgl. oben, Anm. 303 auf S. 99. 370 Zur sapientia bei Mensch und Gott in Adversus nationes s. den Exkurs am Ende dieses Kapitels. 371 Nat. 2,7,1: ipsi penitus perspicitis [...] ipsa, quae dicitis, [...] nescire vos. Vgl. dazu auch unten das Kap. 2.2.4 des Teils I: „Methodik und Verlässlichkeit der Aussagen von Philosophen“.

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solche anerkennt, aber sie in Relation zum göttlichen Wissen herabstuft. Der Verteidiger hingegen erkennt in 2,7 nicht einmal das, was unter den Menschen als wahr gilt, als Wissen an, sondern postuliert, der Mensch wisse gar nichts. Im Zuge der Entfaltung seiner Überzeugung, dass die menschliche Seele – zumindest per se – nicht unsterblich sei,372 führt der Sprecher in nat. 2,30,1–4 auch das folgende Argument an: et quis erit tam brutus et rerum consequentias nesciens, qui animis incorruptibilibus credat aut tenebras Tartareas posse aliquid nocere aut igneos fluvios aut caenosis gurgitibus paludes aut rotarum volubilium circumactus? 2. quod enim contiguum non est et a legibus dissolutionis amotum est, licet omnibus ambiatur flammis torrentium fluminum […], inlibatum necesse est permaneat et intactum neque ullum sensum mortiferae passionis adsumere. 3. quid, quod ista persuasio non tantum est incitatrix ad vitia libertate ex ipsa peccandi, verum etiam philosophiae ipsius causam tollit et inaniter eam suscipi supervacanei operis difficultate declarat. 4. nam si verum est animas nullius esse participes finis […], quid periculi res habet, contemptis praetermissisque virtutibus, quibus est contractior atque horridior vita, voluptatibus se dare […]?

Hier wird ein eigenartiger Komplex aus traditionell-mythologischen Unterweltsbildern, einer hypothetischen absoluten Unvergänglichkeit der Seele und dem Wesen der Philosophie konstruiert: Wenn die Seelen wirklich unvergänglich (incorruptibiles) wären, könnten ihnen sämtliche Schrecken des Tartarus nichts anhaben. Daraus jedoch ergäben sich weitreichende Konsequenzen: Die Ansicht von der „Unzerstörbarkeit“ der Seele und die daraus resultierende „Straffreiheit“ stachele, so der Sprecher, zur Lasterhaftigkeit an und beseitige die eigentliche Existenzberechtigung der Philosophie. Wenn den Seelen nämlich nichts geschehen könnte, könne man auch die Tugenden, die das Leben einschränkten, komplett vernachlässigen und sich stattdessen den Lüsten hingeben.373 An dieser Stelle wird der Begriff „Philosophie“ mithin sehr stark auf die Bereiche Moral, Ethik und Sorge um die Tugenden verengt, während andere Aspekte wie Theologie und Metaphysik völlig ausgeblendet werden. Doch es erstaunt, dass der Sprecher hier ein Junktim bzw. ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen der Philosophie und der mythischen Unterwelt postuliert: Gerade die Philosophie hatte doch zur Überwindung des Schreckens der Vexierbilder mythischer Büßer maßgeblich beigetragen.

372 Vgl. nat. 2,15,1: quare nihil est, quod nos fallat, nihil, quod nobis polliceatur spes cassas, id, quod a novis [coni. Gelenius, von REIFFERSCHEID und MARCHESI übernommen : nobis P B : bonis coni. Ursinus, übernommen von ARMISEN-MARCHETTI] quibusdam dicitur viris [...], animas immortales esse [...]. Zur Seelenlehre des Arnobius vgl. u.a. RÖHRICHT (1893), KARPP (1950) 171ff., BURGER (1970) 89ff. und AMATA (1984) 13ff. GIERLICH (1985) 219 weist darauf hin, dass sich „die überwiegende Mehrheit der griechischen Apologeten [...] gegen eine natürliche Unsterblichkeit der Seele verwahr[e]“ und ein mit Arnobiusʼ Äußerungen vergleichbares Konzept einer „bedingten Unsterblichkeit der Seele“ vertrete. 373 Diesen Gedanken sollen die sog. libertinistischen Gnostiker in dem Bewusstsein, auserwählt zu sein, konsequent in die Tat umgesetzt haben. Reaktionen christlicher Autoren auf diese Haltung sowie weiterführende Sekundärliteratur verzeichnet GIERLICH (1985) 254f.

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Schließlich muss noch das ungewöhnliche Substantiv incitatrix374 Beachtung finden: In dem Satz quid, quod […] declarat weist der durch verum etiam eingeleitete Abschnitt mit tollit und declarat zwei Vollverben als Prädikate auf, während im ersten Teilsatz eine Ausdrucksweise mit einem femininen Nomen agentis als Prädikatsnomen gewählt ist: ista persuasio […] est incitatrix ad vitia. Es dürfte kaum Zufall sein, dass diese Wendung Ciceros Lob der Philosophie im fünften Buch der Tusculanen evoziert, wo gleich drei solcher auf -trix endender Nomina agentis zur Umschreibung des Wirkens der Philosophie verwendet werden und ebenfalls von Lastern gesprochen wird.375 Überdies lassen sich auch von Cicero an der betreffenden Stelle geäußerte Gedanken bei Arnobius wiedererkennen, freilich in grotesker Verzerrung: Auch bei Cicero wird die Furcht vor dem Tod erwähnt, deren Beseitigung der Philosophie als Verdienst zugeschrieben wird (5,6: nobis […] terrorem mortis sustulisti); bei Arnobius jedoch wird die Philosophie durch den Verlust der Todes- bzw. Unterweltsfurcht sinnlos. Auch wird das ciceronische Konzept der „sündigenden Unsterblichkeit“ wiederaufgenommen; ein solcher (hypothetischer) Zustand findet bei Arnobius sogar – zumindest hier – als überaus angenehme und entspannte Situation Billigung, während Cicero ihm einen einzigen nach den Maßgaben der Philosophie verbrachten Tag vorzieht.376 Doch noch im selben Kapitel nat. 2,30 findet sich eine weitere Aussage zur Leistung der Philosophie: 6. rursus vero si animae leti adeunt ianuas, Epicuri ut sententia definitur, nec sic causa est conpetens, cur expeti philosophia debeat, etiamsi verum est purgari hac animas atque ab omni puras vitiositate praestari. 7. nam si communiter obeunt et in ipsis corporibus sensus eis deperit extinguiturque vitalis, non tantum est erroris maximi, verum stolidae caecitatis frenare ingenitos adpetitus, cohibere in angustiis vitam [...], cum nulla te praemia tanti laboris exspectent, cum dies mortis advenerit et corporalibus fueris vinculis exsolutus.

Als Gegenentwurf zur gerade verhandelten These, die Seelen seien unvergänglich (incorruptibiles), wird nun die Epikur zugeschriebene Auffassung377 betrachtet, dass auch die Seelen sterblich seien, wobei auffällt, dass Arnobius sich mit leti [...] ianuas eines Poetismus378 bedient, der zugleich mythische Vorstellungen wie etwa den Eingang zur Unterwelt evoziert. Obwohl durch den Nebensatz etiamsi verum est ein gewisser Vorbehalt geäußert wird, wird als Leistung der Philosophie benannt, dass sie die Seelen reinige und von jeder Fehlerhaftigkeit befreie (purgari hac animas atque ab omni puras vitiositate praestari). Dennoch rechtfertigt dies, so der Sprecher, eine Beschäftigung mit der Philosophie nicht: Wenn die Seelen nach dem Ende der körperlichen Existenz nicht weiterbestehen, kann es 374 Im ThLL 7,1, Sp. 928, s.v. incitatrix ist außer der vorliegenden Arnobiusstelle nur ein einziger weiterer sicherer Beleg verzeichnet. 375 Cic. Tusc. 5,5: o vitae philosophia dux, o virtutis indagatrix expultrixque vitiorum! […] tu inventrix legum […] fuisti. 376 Cic. Tusc. 5,5: est autem unus dies bene et ex praeceptis tuis actus peccanti inmortalitati anteponendus. 377 Vgl. hierzu Diog. Laert. 10,63–68. 378 Vgl. Lucr. 1,1112 (ianua leti); 2,960 (leti iam limine); 3,67 (leti portas); 5,373 (leti [...] ianua) und 6,762 (ianua [...] Orci).

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auch keine Belohnungen für die Seelen derjenigen Menschen geben, die sich um eine Lebensführung nach den sittlichen Grundsätzen der Philosophie bemüht haben. In diesem Kontext wird die zuvor geäußerte Meinung, eine Geringschätzung der Tugenden berge im Falle der Unvergänglichkeit der Seele keine Gefahren, unter anderem Vorzeichen wiederaufgenommen: Falls die Seele sterblich ist, ist es aus Sicht des Sprechers nicht nur ein gewaltiger Irrtum, sondern sogar törichte Blindheit, wenn Menschen ihren angeborenen Trieben Zügel anlegen, statt das Leben in vollen Zügen zu genießen.379 Bilanziert man nun die Ausführungen in diesem Kapitel, so befindet sich die Philosophie in einem Dilemma: Sind die Seelen unvergänglich, so bedarf der Mensch der Philosophie und ihrer moralisch reinigenden Kraft nicht, weil seine Seele selbst in einem Inferno der Unterweltsstrafen keinen Schaden nehmen kann. Endet die Existenz der Seele aber zugleich mit derjenigen des Körpers, wäre es ein törichter Irrtum, sich selbst gemäß den Lehren der Philosophie moralische Schranken aufzuerlegen, da man nach dem Tod keine Belohnungen erhalten kann. Der Philosophie, die hier ganz auf Ethik und Moral verengt ist, wird also selbst bei hypothetischer Anerkennung einer die Seele reinigenden Wirkung an diesem Punkt der Argumentation eine nur marginale Bedeutung zugesprochen, da diese läuternde Wirkung in den beiden zentralen in Frage kommenden metaphysischen Konstellationen keine Relevanz hat. In 2,31,1–3 wird der Gedanke jedoch folgendermaßen zu Ende geführt: medietas ergo quaedam et animarum anceps ambiguaque natura locum philosophiae peperit et causam, cur appeteretur, invenit, dum periculum scilicet ex malis iste formidat admissis, alter concipit spes bonas, si nihil sceleris faciat et cum officio vitam iustitiaque traducat. 2. inde est, quod inter doctos viros et ingeniorum excellentia praeditos de animarum qualitate certamen est et eas alii dicunt mortali esse natura nec divinam posse substantiam sustinere, alii vero perpetuas nec in naturam posse degenerare mortalem. 3. quod istud ut fiat, medietatis efficitur lege [...].

Der Seele eigne eine Art „mittlere Natur“ (medietas) und somit eine gewisse Ambiguität, woraus Platz und Rechtfertigung für die Philosophie gefunden worden sei:380 Der eine fürchte aufgrund böser Taten die drohende Gefahr für seine Seele, der andere hege gute Hoffnungen, da er sich nichts zu schulden kommen lasse und sein Leben pflichtbewusst und gerecht führe. Argumente für und gegen die Unsterblichkeit der Seele ließen sich von Philosophen demnach nur deshalb anführen, weil die Seele sich zunächst in einem Schwebezustand zwischen beiden Qualitäten befinde.381 379 Bemerkenswert erscheint, dass der Sprecher das Ende von Körper und Seele hier mit der Wendung corporalibus fueris vinculis exsolutus umschreibt, da die Loslösung aus den Fesseln bzw. dem Gefängnis des Leibes sich eigentlich nur auf die Seele beziehen kann und somit diese Vorstellung nur mit philosophischen Lehren kompatibel erscheint, die ein Weiterleben der Seele nach dem Tod des Leibes postulieren. 380 Formal fällt an diesem Gedanken die Häufung von Alliterationen auf (animarum anceps ambiguaque [...] philosophiae peperit [...] causam, cur). 381 Vgl. auch die Fortsetzung des oben erörterten Gedankenganges in 2,32 (s. S. 126f.). – Allerdings macht der Sprecher andernorts deutlich, dass die Unsterblichkeit der Seele nur als gnä-

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In gewisser Weise tangiert wohl auch nat. 3,12,2f. den Wissensbereich „Philosophie“: neque quisquam Iudaeicas in hoc loco nobis opponat et Sadducaei generis fabulas, tamquam formas tribuamus et nos deo: hoc enim putatur in eorum litteris dici et ut vel re certa atque auctoritate firmari; 3. quae aut nihil ad nos attinent nec ex aliqua portione quicquam habent commune nobiscum aut, si sunt, [add. Salmasius] creditur, sociae, quaerendi sunt vobis altioris intellegentiae doctores, per quos possitis addiscere, quibus modis conveniat litterarum illarum nubes atque involucra relaxare.

Bei seiner Kritik an anthropomorphen paganen Gottesvorstellungen will der Sprecher dem Einwand zuvorkommen, man könne den Christen mit Verweis auf jüdische und speziell sadduzäische Erzählungen382 ähnliche Anschauungen vorhalten. Darauf hat er zwei alternative Antworten parat: Entweder hätten diese Schriften und Vorstellungen überhaupt nichts mit den Christen gemein. Wenn sie aber doch mit ihnen in Verbindung stünden, wie allgemein angenommen werde, dann müssten die Heiden „Lehrer eines tieferen Verständnisses“ (altioris intellegentiae doctores) finden, mit deren Hilfe sie den wahren Sinn jener Schriften aus ihrem (sc. irreführenden) sprachlichen Gewand herausschälen könnten. Mit diesen Lehrern dürften Leute gemeint sein, die in der Technik der allegorischen Auslegung von Texten bewandert sind, unter anderem also auch Philosophen.383 Diesen doctores gesteht der Sprecher also zu, das wahre Verständnis gewisser Produkte menschlicher Schaffenskraft zu fördern, sofern man die Passage nicht ironisch versteht.384 Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass andernorts in Adversus nationes im Blick auf pagane Texte allegorische Methoden als hermeneutische Zugänge verworfen werden.385 Negative Aspekte und Konsequenzen der sapientia werden in nat. 3,15,3 verhandelt: itane istud non turpe, non impietatis et contumeliae plenum est moribundi et caduci animantis liniamenta diis dare, insignire his partibus, quas enumerare, quas persequi probus audeat nemo nec sine summae foeditatis horrore mentis imaginatione concipere? hocine est illud fastidium vestrum, sapientia haec adrogans, qua despuitis nos ut rudes atque omnem scientiam remini rerum vobis divinarum patere?

Eingebettet in seine Kritik an paganen anthropomorphen Götterkonzepten trägt der Sprecher eine Widerlegung vor, die man als reductio ad absurdum bezeichnen könnte: Wenn Götter menschliche Eigenschaften und Attribute wie etwa ver-

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diges Geschenk Gottes erreicht werden kann; vgl. z.B. 1,65,7: [Christus] aequaliter benignus hostibus diceret, quidnam his salutis deo portaretur a principe, quid esset facto opus, ut interitum fugerent et immortalitatem consequerentur ignotam. Die Bedeutung des Gebets dabei wird in 1,27,3 hervorgehoben, vgl. S. 276. Vgl. hierzu CHAMPEAUX (2007) 65 ad loc. Dass hier an christliche Lehrer gedacht ist, die das AT allegorisch deuten, ist weniger wahrscheinlich; christliche Allegorese wird jedenfalls sonst in Adversus nationes nirgends thematisiert. So jedoch CHAMPEAUX (2007) 66 ad loc. Vgl. z.B. 5,32ff.

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schiedene Altersstufen und unterschiedlichen Bartwuchs aufwiesen sowie Kleidung trügen, dann müsste es unter den Göttern auch Wäschereipersonal und Friseure geben, die sich u.a. um das wild wuchernde, zottelige Götterhaar kümmerten (3,15,2: esse deos fullones, esse tonsores, qui vel sacras eluant vestes vel capillos imminuant silvescentium crinium velleribus involutos). Dies sei aber, so der Verteidiger, so schändlich und schmachvoll, dass kein anständiger Mensch sich gedanklich damit beschäftigen könne. An diese Feststellung wird die polemische Frage angeschlossen, ob dieses ungehörige Gedankenkonstrukt jener pagane herablassend-verachtende Widerwille (fastidium) sei bzw. die anmaßende Weisheit (sapientia [...] adrogans), aufgrund deren zwar die Christen als unwissend verlacht würden, die Heiden sich aber im Besitz allen theologischen Wissens wähnten. Auch in diesem Zusammenhang dürfte die Verwendung des Substantivs sapientia den Vorstellungsbereich „Philosophie“ mindestens evozieren, umso mehr, als die sapientia implizit mit theologischem Wissen (omnem scientiam […] rerum […] divinarum) in Verbindung gebracht ist. Der Stelle lassen sich drei Aussagen über das vom Sprecher vermutete Wesen philosophischer Weisheit entnehmen: 1) In der Sicht der Heiden führt sie zu umfassendem theologischen Wissen. 2) Faktisch aber verführt sie zu Hochmut und Anmaßung und begünstigt herablassendes Desinteresse gegenüber der wahren christlichen Offenbarung. 3) Andererseits sensibilisiert sie die Heiden nicht in ausreichendem Maße für völlig unhaltbare Anschauungen über ihre eigenen Götter oder hat zumindest noch nicht für deren Beseitigung sorgen können. 2.2.3 Eigenschaften und Verhaltensweisen von Philosophen Im Zuge der Erörterung der Frage, ob es gute Menschen gebe,386 legt der Verteidiger in nat. 2,50,1–3 eine bemerkenswerte Charakteristik der Philosophen vor: quinam isti sunt? dicite! philosophi, credo, qui quidem (coni. REIFFERSCHEID : quid P : qui se coni. Sabaeus : quidam coni. ARMISEN-MARCHETTI) esse solos sapientissimos autumant et vi huius nominis supercilium sustulerunt: 2. nempe illi, qui cum suis cotidie cupiditatibus pugnant et adfectus etiam ex animis insitos proturbare, pellere pertinaci moliuntur obluctatione virtutum; qui, ne in vitia proritari facultatis possint alicuius instinctu, patrimonia et divitias fugiunt et causas sibi auferunt lapsus. 3. quod cum faciunt et curant, apertissime animas esse indicant labiles et infirmitate ad vitia proclives. nostra autem sententia quod bonum natura est, neque emendari neque corripi [se] poscit [...].

Philosophen behaupten voller Eitelkeit, so der Sprecher, sie allein seien überaus weise.387 Dabei hätten sie doch tagtäglich mit ihren eigenen Begierden zu kämpfen und versuchten mit hohem Aufwand und der Hilfe der Tugenden, die Men386 Nat. 2,50,1: vos humano in genere bonos esse dicatis viros: qui ut esse credantur, conparatio forsitan efficiat pessimorum. 387 Die historische Entwicklung des Begriffs des Weisen in der Philosophie bis ins 20. Jh. skizziert GENT (1966).

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schen nun einmal angeborenen Emotionen zu vertreiben, was unter anderem in seltsam anmutenden Handlungen seinen Niederschlag finde: Um sich selbst nicht in Versuchung zu führen, vermieden sie Erbschaften und Reichtümer. Gerade dies aber sei ein sehr deutlicher Beweis dafür, dass (ihre) Seelen nicht konstant am Guten festhielten (esse [...] labiles) und zu Lastern neigten. Was aber von Natur aus gut sei, verlange keine Verbesserung. Selbst wenn man annehmen möchte, dass der Sprecher die Philosophen hier als Teil eines argumentum a maiore verwendet und ihnen somit implizit eine höhere moralische Qualität als dem Durchschnittsmenschen zubilligt,388 so entwirft er explizit dennoch ein denkbar ungünstiges Bild von ihnen: Gerade durch ihren offen zur Schau gestellten Kampf gegen Begierden und Leidenschaft ergibt sich der Eindruck, eben die Philosophen würden am meisten von diesen Beschwernissen geplagt.389 Hiermit verbinden lässt sich das folgende Panorama der Leidenschaften (nat. 3,27,2f.), in dem den Rezipienten „Weise im Ausnahmezustand“ präsentiert werden: ergone dea [sc. Venere] cogente in vilissimi nominis scorta suam saepius produnt etiam nobiles dignitatem, dissuuntur tenacium matrimoniorum nexus, [add. Stew] incestas libidines necessitudo sanguinis inardescit […], sapientes et fortes viri solvunt decreta constantiae virilitatis vigore mollito […]? 28,1. quisquamne est hominum rationis alicuius primordiis indutus, qui divinitatis constantiam tam foedis polluat aut contaminet moribus?

Hier werden zahlreiche menschliche Verhaltensweisen geschildert, die als outrierte Konsequenz erotischen Verlangens betrachtet werden können: Neben Männern von adligem Stand, die sich mit Prostituierten der untersten Gesellschaftsschicht einlassen,390 dem Auseinanderbrechen von Ehen, unkeuschem oder gar inzestuösem Verlangen und weiteren tadelnswerten Vorkommnissen finden auch weise und tapfere Männer Erwähnung, die ihre eigentlich unumstößlichen Beschlüsse aufgeben (solvunt decreta constantiae). An dieser Stelle könnte das Adjektiv sapientes zwar unspezifisch im Sinne von „lebensklug“ oder „in der bisherigen Lebensführung sich als weise hervortuend“ verwendet sein. Doch lassen sich die beiden Substantive decreta und constantiae mit guten Gründen der philosophischen Sphäre zuordnen: decretum kann im Sinne von δόγμα als terminus technicus den Grund- oder Lehrsatz einer philosophischen Schule bezeichnen,391 und 388 So werden Philosophen in nat. 2,11,5 als morum [...] integritate laudabiles bezeichnet. 389 Weniger negativ versteht GIERLICH (1985) 301 die Stelle: „Das Bild, das Arnob hier vom Philosophen entwirft, entspricht dem Ideal des Weisen in der Stoa, die sich unter den antiken Philosophien wohl am meisten mit der praktischen Lebensweise und Moral befaßt hat, die Arnob hier beschreibt.“, und auch ARMISEN-MARCHETTI (2018) 201ff. ordnet die beschriebenen Verhaltensweisen lediglich doxographisch ein. Vgl. jedoch auch die beißende Kritik bei Minucius Felix, Octavius 38,5: philosophorum supercilia contemnimus, quos corruptores et adulteros novimus et tyrannos et semper adversus sua vitia facundos. 390 Dieser Punkt dürfte gegen die restriktive These CHAMPEAUXS (2007, 114f. ad loc.) sprechen, es gebe keinerlei Realismus in dieser Passage und man dürfe darin auch kein Sittengemälde der Kaiserzeit sehen, sondern die Quellen seien ausschließlich mythologisch und literarisch. 391 Vgl. ThLL 5,1, Sp. 155f., s.v. decretum II A. – Zum Lehrbetrieb in spätantiken Philosophenschulen vgl. DILLON (2004).

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constantia ist im allgemeineren Sinne von „Unerschrockenheit, charakterliche Stärke“ ebenso ein zentrales Ziel ethisch-philosophischer Anstrengungen wie im engeren Sinne der εὐπάθεια, des „behaglichen Seelenzustandes“, welcher den wünschenswerten Gegenpol zur perturbatio animi darstellt.392 Nimmt man also an, dass sapientes in einem spezifischen Sinne gebraucht ist und die Passage das Verhalten von Philosophen beschreibt, eröffnet sich ein immenser Kontrast zwischen deren theoretischer Lehre und ihrem praktischen Handeln: Gerade die Philosophen, die sich als weise und charakterstark verstehen oder zumindest doch auf dieses Ideal hinarbeiten, geben unter dem Einfluss erotischer Begierden ihre ethischen Maximen preis. Dass es hierzu kommt, ist aber, wie der Sprecher am Beginn von Kap. 28 in einer rhetorischen Frage erkennen lässt, nicht etwa – was das Ganze vielleicht verzeihlicher erscheinen ließe – einer transzendenten Macht geschuldet: Wer auch nur einen Ansatz von Verstand hat (rationis alicuius primordiis indutus), darf auch die Göttlichkeit einer paganen Macht393 (konkret: der Venus) nicht beschmutzen, indem er sie mit solchem Treiben in Verbindung bringt.394 Zum letzten Mal innerhalb der Schrift Adversus nationes tritt das Lexem „philosoph-“ im sechsten Buch auf. Im Zuge seiner Kritik an paganen Götterbildern führt der Verteidiger als Argument an, dass zahlreiche Vergehen gegen Statuen ungesühnt blieben, unter anderem ein dreister Raub des jüngeren Dionysios (nat. 6,21,4): nam quid Aesculapii gravitatem ab eo [sc. Dionysio] esse commemorem risam? quem cum barba spoliaret amplissima boni ponderis et philosophae densitatis, facinus esse dicebat indignum, ex Apolline procreatum patre levi et glabro simillimoque inpuberi ita barbatum filium fingi, ut in ancipiti relinquatur, uter eorum pater sit, uter filius, immo an sint generis et cognationis unius.

Diese Anekdote, die sich in ähnlicher Form u.a. auch bei Cicero findet,395 soll nun einerseits illustrieren, dass Dionysios trotz seines Raubes und seiner provokativen Worte ungestraft blieb; andererseits aber benennt seine referierte Aussage in der Tat ein logisches Problem, das sich aus einer Inkongruenz von ikonographischer Konvention (bärtiger Äskulap, aber bartloser Apollon) und Genealogie (Äskulap als Sohn Apollons) ergibt. Im Hinblick auf die vorliegende Fragestellung jedoch ist bemerkenswert, dass der gestohlene (goldene, so ist zu ergänzen) Bart des Äskulap mit den Attributen boni ponderis und philosophae densitatis qualifiziert wird, wodurch der Sprecher en passant ironisierend auf die typische Gesichtshaar392 Vgl. Aug. civ. 14,8: quas [...] Graeci appellant εὐπαθείας, Latine autem Cicero constantias nominavit, Stoici tres esse voluerunt; Cic. Tusc. 4,80: ut constantia scientiae, sic perturbatio erroris est. 393 Nach CHAMPEAUX (2007) 116 ad loc. ist der Ausdruck [divinitatis] constantia als „essence“ im philosophisch-terminologischen Sinne zu verstehen. 394 Interessanterweise wird in diesem Zusammenhang der Bereich des Göttlichen (divinitatis constantiam) mit demselben Substantiv wie der Gegenstand der Beschlüsse der „Weisen“ bezeichnet (decreta constantiae). 395 Cic. nat. deor. 3,83: idemque [sc. Dionysius] Aesculapi Epidauri barbam auream demi iussit; neque enim convenire barbatum esse filium, cum in omnibus fanis pater imberbis esset.

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tracht von Philosophen und Leuten, die als solche gelten möchten, anspielt.396 Es wird hier also in gewisser Weise Kritik am rein äußerlichen Gebaren vieler Philosophen geübt. 2.2.4 Methodik und Verlässlichkeit der Aussagen von Philosophen Über Diskursthemen und Methoden von Philosophen gibt zunächst nat. 2,31,2f. Aufschluss:397 inde est, quod inter doctos viros et ingeniorum excellentia praeditos de animarum qualitate certamen est et eas alii dicunt mortali esse natura nec divinam posse substantiam sustinere, alii vero perpetuas nec in naturam posse degenerare mortalem. 3. quod istud ut fiat, medietatis efficitur lege, quod et illis argumenta sunt praesto, quibus eas passivas atque interibiles invenitur, et his contra non desunt, quibus esse divinas immortalesque monstratur.

Ohne erkennbare Ironie werden Philosophen hier als „gelehrte Männer“ und „mit herausragenden geistigen Fähigkeiten begabt“ bezeichnet. Unter diesen herrscht aber, so der Verteidiger, nicht nur Uneinigkeit, sondern ein regelrechter Wettstreit der Meinung über das Wesen der menschlichen Seele. Doch beide Parteien können Beweisgründe (argumenta) anführen, welche die jeweilige Meinung nicht etwa nur plausibel, sondern offenkundig richtig erscheinen lassen (invenitur […] monstratur). An dieser Stelle gesteht der Sprecher den Philosophen also ein Vorgehen zu, das über bloße Thetik von Dogmata hinausgeht. Diese scheinbare philosophische Aporie wird nun folgendermaßen aufgelöst (nat. 2,32,1): haec cum ita se habeant et cum ab summo traditum teneamus auctore non esse animas longe ab hiatibus mortis et faucibus constitutas, posse tamen longaevas summi principis munere ac beneficio fieri, si modo illum temptent ac meditentur adgnoscere (eius enim cognitio fermentum quoddam est vitae ac rei dissociabilis glutinum), tum deinde feritate atque inhumanitate depositis resumant ingenia mitiora, ut ad illud, quod dabitur, esse possint paratae.

Der Verteidiger verweist darauf, vom wichtigsten Gewährsmann (ab summo […] auctore) erfahren zu haben, dass die Seele zwar dem Tode verfallen sei, was im poetisch-anschaulichen Bild vom „klaffenden Todesschlund“ (ab hiatibus mortis et faucibus) verdeutlicht wird, andererseits aber durch das gnadenvolle Geschenk Gottes (summi principis munere ac beneficio) langlebig werden könne, wenn sie 396 MCCRACKEN (1949a) 599, Anm. 150 und FRAGU (2010) 150 ad loc. verzeichnen weitere Stellen der christlichen wie paganen Literatur, an denen der Bart als topisches Merkmal der Philosophen genannt wird. Vgl. besonders Gellius 9,2,4 (video, inquit Herodes [sc. Atticus], barbam et pallium, philosophum nondum video) und Lukian, Icarom. 29 (οὗτοι τοίνυν [...] οἱ μὲν Στωϊκοὺς ἑαυτοὺς ὠνομάκασιν, οἱ δὲ Ἀκαδημαϊκούς, οἱ δὲ Ἐπικουρείους [...] τὰς ὀφρῦς ἐπάραντες καὶ τὰ μέτωπα ῥυτιδώσαντες καὶ τοὺς πώγωνας ἐπισπασάμενοι περιέρχονται). Vgl. ferner FRIEDLÄNDER (1964) 265ff., der solches und ähnliches Gebaren unter „Afterphilosophen“ abhandelt, und ZANKER (1995), der u.a. darlegt, wie sich die Bedeutung des Bartes für antike Intellektuellenporträts im Laufe der Zeit wandelt. 397 Zum Kontext dieser Passage vgl. die Ausführungen oben, S. 121.

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sich nur um dessen Erkenntnis bemühe. Wenn man nun im summus auctor Christus sieht,398 dann ergibt sich ein absoluter Primat gegenüber den Meinungen der Philosophen: Deren Ansichten konkurrieren miteinander und lassen sich gegeneinander mit verschiedenen trefflichen Argumenten ausspielen. Was Gott aber den Christen geoffenbart hat, ist unbestritten, und die Menschen besitzen es als unverbrüchliches Gut, wie durch die alliterierende Wendung traditum teneamus hervorgehoben wird. Auch in 2,7 wird die These von der Unwissenheit der Philosophen verhandelt: 3. ut enim divina praeteream et naturali obscuritate res mersas, potest quisquam explicare mortalium – id, quod Socrates ille conprehendere nequit in Phaedro –, homo quid sit aut unde sit, anceps, varius, mobilis, pellax, [...], in quos usus prolatus sit, cuius sit excogitatus ingenio [...]? 4. potest, inquam, scire in medio haec posita atque in sensibus constituta communibus: [...] quibus modis fiant insomnia, quibus visa? [...] 5. [...] quibus ex causis pili nigrorem ingenitum ponant neque omnes pariter, sed paulatim adiciendo canescant? [...] 7. delira et fatua et insana quidem infirmitas et inscientia miserabilis hoc magis est, ut, cum fieri possit, ut veri aliquid aliquando dicamus, et hoc ipsum nobis incertum sit, an veri aliquid dixerimus.

Nachdem der Sprecher in Form einer praeteritio theologische und überhaupt von Natur aus verborgene Themen (divina [...] et naturali obscuritate res mersas) beiseite geschoben hat, rückt er in einer rhetorischen Frage unter Rekurs auf den platonischen Sokrates zunächst anthropologische Grundlagenprobleme wie etwa die Frage nach der Beschaffenheit, der Herkunft und dem Daseinszweck des Menschen ins Blickfeld, auf die keiner der Sterblichen eine Antwort wisse. Im nächsten Schritt wendet er sich physiologischen Sachverhalten wie z.B. den Träumen und dem allmählichen Ergrauen der Haare zu, die jeder Mensch als Erfahrungstatsachen kennt, deren Ursachen aber unbekannt sind. Somit kommt er zu dem Fazit, dass die Schwäche und Unwissenheit der Menschen (und somit auch der Philosophen) so ausgeprägt sei, dass wir zwar von Zeit zu Zeit etwas Wahres sagen, dass es aber selbst dann für uns unsicher bleiben muss, ob wir wirklich etwas Wahres gesagt haben. Eine allgemeinmenschliche Verhaltensweise, die sich insbesondere an Philosophen beobachten lasse, wird im folgenden Textabschnitt beschrieben (nat. 2,56,3f.): cum enim sibi persuaserit quis esse aliquid aut non esse, amat, quod opinatur, adserere et acumine alios anteire, maxime si agatur res submota et abditae caligine involuta naturae. 4. mundum quidam ex sapientibus aestimant neque esse sic natum neque ullo esse in tempore periturum, immortalem nonnulli, quamvis eum conscribant esse gnatum et genitum, tertiis vero conlibitum dicere est et esse natum et genitum et ordinaria necessitate periturum.

398 Zu dieser Ansicht tendiert GIERLICH (1985) 259 ad loc., was durch den Verweis auf nat. 2,14,4 (sicut Christo auctore compertum est) gestützt wird; ihr schließt sich ARMISENMARCHETTI (2018) 161f. ad loc. an. MCCRACKEN (1949a) 325, Anm. 211 ad loc. hingegen vermutet im summus auctor Epikur, hält aber auch den Bezug auf den christlichen Gott für möglich. FESTUGIÈRE (1952) 230 wiederum bezieht den Ausdruck mit Blick auf Timaios 41 a 5ff. auf Platon.

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Wenn jemand zu einer bestimmten Überzeugung gekommen sei, dann trete er mit Freuden für die Richtigkeit seiner bloßen Vermutung ein und wolle andere mit seinem Scharfsinn übertreffen, insbesondere, wenn es sich um der Evidenz entzogene Themen handele. Dies exemplifiziert der Sprecher anhand der unterschiedlichen Philosophenmeinungen über die Beschaffenheit der Welt. Der arbiträre Charakter der einzelnen Meinungen wird durch die verwendeten Verben deutlich hervorgehoben: Einige meinen (aestimant), die Welt sei ungeworden und unvergänglich399 bzw. zwar unvergänglich, aber doch einst entstanden.400 Einer dritten Gruppe beliebt es zu sagen (conlibitum dicere est), sie sei geworden und werde dereinst auch vergehen.401 Keiner von ihnen kann sich also auf sicheres Wissen oder echte Erkenntnis berufen. Allerdings gesteht der Verteidiger hierbei einer der referierten Ansichten sogar die (zufällig) richtige Einschätzung des Sachverhaltes zu (2,56,4–2,57,1): et cum ex istis opinionibus trinis unam esse necesse sit veram, cunctis tamen argumenta non desunt, quibus et sua decreta confirment et aliorum subripiant et labefaciant scita. 5. eundem hunc alii elementis ex quattuor tradunt et pronuntiant stare, ex geminis alii, ex singulis tertii, sunt, qui ex his nullo, set individua corpora eius esse materiem et primam originem dicant. cumque ex his vera sit una sententia, at nulla ex his certa, similiter hic quoque argumenta omnibus praesto sunt, quibus et ea, quae dicunt, vera esse constituant et redarguant positas in aliorum sententiis falsitates. […] 57,1. cum ergo haec ita sint neque aliter fiat, quin sit unum ex omnibus verum, pugnant tamen argumentis omnes neque singulis deest id, quod probabiliter dicant, sive cum suas res adserunt sive cum alienis opinionibus contradicunt.

Nur eine der geäußerten Meinungen bezüglich des Gewordenseins und Fortdauerns der Welt könne wahr sein, aber alle Diskursteilnehmer verfügten über Argumente, welche ihre eigenen Ansichten stützten, die Lehrmeinungen der anderen aber weniger überzeugend erscheinen ließen. Doch auch bei der Frage, woraus die Welt bestehe, ließen sich ähnliche Beobachtungen anstellen: Verschiedene Philosophen(schulen) verträten und propagierten divergierende Meinungen (tradunt et pronuntiant […] dicant);402 doch niemand verfüge über gesichertes Wissen. Dennoch macht der Sprecher auch hier den Philosophen ein erstaunliches Zugeständnis: Eine der vorgetragenen Ansichten sei zutreffend, wenngleich nicht erkennbar sei, welche.403 Aber auch bei dieser Streitfrage lasse sich die jeweils eigene Position argumentativ festigen, und man könne Unwahrheiten in den Aussagen anderer widerlegen. Nachdem er auch noch die Uneinigkeit der Philosophen bezüglich 399 MCCRACKEN (1949a) 333, Anm. 314 ad loc. verweist hierzu auf Lukrez, wogegen sich GIERLICH (1985) 314 ad loc. wendet. Die letztere skizziert ebd., wo die Ewigkeit der Welt in der paganen Philosophie und in der Patristik verhandelt wird. Vgl. ferner ARMISEN-MARCHETTI (2018) 217f. ad loc. 400 Vgl. Plat. Tim. 28b 1ff. und ARMISEN-MARCHETTI (2018) 218 ad loc. 401 Hiermit sind die Stoiker gemeint; Belegstellen und weiterführende Literatur hierzu bei MCCRACKEN (1949a) 333, Anm. 316 ad loc. und GIERLICH (1985) 314 ad loc. 402 Diskussion der doxographischen Einordnung bei GIERLICH (1984) 315 ad loc. und ARMISENMARCHETTI (2018) 218f. ad loc. 403 Denkbar wären aber auch noch andere Ansichten über die ἀρχή bzw. ἀρχαί oder elementa der Welt, so dass keineswegs sicher ist, dass eine der genannten Thesen wirklich zutrifft.

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der Existenz und Interessen der Götter thematisiert hat, formuliert der Sprecher als allgemeines Fazit, dass von allen Ansichten zwangsläufig nur eine wahr sei,404 dass aber streitende Parteien plausible Argumente für die eigenen und gegen die fremden Meinungen aufbieten könnten. In bezeichnender Gesellschaft befinden sich Philosophen in nat. 2,62: 1. neque illud obrepat aut spe vobis aeria blandiatur, quod a sciolis [coni. Gelenius, übernommen von REIFFERSCHEID und MARCHESI : scholis coni. Sabaeus, übernommen von ARMISEN-MARCHETTI] nonnullis et plurimum sibi adrogantibus dicitur, deo esse se gnatos nec fati obnoxios legibus, si vitam restrictius egerint, aulam sibi eius patere, ac post hominis functionem prohibente se nullo tamquam in sedem referre patritam; 2. neque quod magi spondent commendaticias habere se preces, quibus emollitae nescio quae potestates vias faciles praebeant ad caelum contendentibus subvolare; neque quod Etruria libris in Acheronticis pollicentur [-etur B2] certorum animalium sanguine numinibus certis dato divinas animas fieri et ab legibus mortalitatis educi. 3. blandimenta haec cassa sunt et inanium fomenta votorum. servare animas alius nisi deus omnipotens non potest[. …] 5. caedant licet hostias quantaslibet Etruria, humana sibi omnia sapientes negent, magi cunctas emolliant et commulceant potestates: nisi ab domino rerum datum fuerit animis id, quod ratio postulat idque per mandatum,405 multum postea paenitebit fuisse me [rem coni. REIFFERSCHEID] risui, cum ad sensum coeperit interitionis accedi.

Zweimal kommen in diesem Text (in unterschiedlicher Reihenfolge) drei vermeintliche Wege zur Unsterblichkeit der Seele zur Sprache: 1) der Weg einiger „Philosophen“, die sich Gott verwandt und dem Schicksal entzogen fühlen, wenn sie ihr Leben asketisch führen; 2) die Methode von Magiern, die sich im Besitz von „Empfehlungsgebeten“ wähnen, mittels deren unbekannte Mächte erweicht werden könnten,406 und schließlich 3) etruskische Riten407, bei denen durch die Opferung von Tierblut für bestimmte Gottheiten Seelen unsterblich werden.408 404 Dies wiederum ist nur dann schlüssig, wenn man ex omnibus als „alle denkbaren“ versteht und davon ausgeht, dass solche Fragen überhaupt vom menschlichen Verstand beantwortet werden können. 405 Zu dieser nicht leicht verständlichen Stelle, für die REIFFERSCHEID unter Verweis auf Mt 6,13 oratio nostra postulat idque per Christi mandatum vorschlägt, jedoch nicht in den Text aufnimmt, vgl. auch den Apparat in der Ausgabe von MARCHESI. 406 GIERLICH (1985) 327ff. ad loc. verweist in diesem Zusammenhang auf Überzeugungen der Gnosis und der chaldäischen Orakel sowie darauf, dass die platonische Philosophie im 3. und 4. Jh. sehr empfänglich für Magie und orientalische Vorstellungen gewesen sei. Vgl. etwa DODDS (1965) passim. MCCRACKEN (1949a) 336, Anm. 356 macht hingegen darauf aufmerksam, dass in Platons Politeia die Rede von Bettelpriestern und Sehern ist, die den Reichen ihre besondere Beziehung zu den Göttern anbieten (II, 364 b 5ff.: ἀγύρται δὲ καὶ μάντεις ἐπὶ πλουσίων θύρας ἰόντες πείθουσιν ὡς ἔστι παρὰ σφίσι δύναμις ἐκ θεῶν ποριζομένη θυσίαις τε καὶ ἐπῳδαῖς). 407 Zur Rolle Etruriens bei Arnobius vgl. CHAMPEAUX (1999). 408 Vgl. hierzu Servius zu Aeneis 3,168: Labeo in libris, qui appellantur de diis animalibus; in quibus ait esse quaedam sacra, quibus animae humanae vertantur in deos, qui appellantur animales, quod de animis fiant. hi autem sunt dii penates et viales. Zu der intensiven Diskussion über den Sakralschriftsteller und Neuplatoniker Cornelius Labeo als Quelle des Arnobius vgl. MCCRACKEN (1949a) 337, Anm. 359 ad loc. mit umfangreichem Überblick über die einschlägige Sekundärliteratur, GIERLICH (1985) 329f. ad loc., CHAMPEAUX (2007) XIVff. und ARMISEN-MARCHETTI (2018) 237f. ad loc.

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Doch all diese Methoden werden als zwecklos verworfen, da nur der allmächtige Gott die Seelen bewahren könne. Auffallend ist dabei die recht aggressive Titulierung der betreffenden Philosophen als „Halbwisser“ (scioli), während die anderen beiden Gruppen keine pejorative Bezeichnung erhalten. Bei der zweiten Erwähnung, bei der dieselben Elemente nun in der Reihenfolge 3 – 1 – 2 auftreten, wird zwar die unpolemische Bezeichnung sapientes für die Philosophen verwendet; die einzelnen Praktiken sind aber ins Absurde gesteigert: Etrurien könne beliebig viele Opfertiere schlachten, die Philosophen könnten sich alles Menschliche versagen, die Magier könnten sämtliche Mächte durch Schmeicheln erweichen: Dennoch könne die Unsterblichkeit der Seele nur vom christlichen Gott erlangt werden. In recht humoristischer Weise wird ein Philosophenbild in nat. 7,10,1–4 in den Gedankengang eingefügt: sed fortasse aliquis dicet: „idcirco dis hostias et cetera impendimus munera, ut familiares quodam modo nostris supplicationibus facti res tribuant prosperas avertantque a nobis mala […].“ 2. non exiguam curam locus iste desiderat nec, quod dicitur facile, tam consuetum est vel audiri vel credi. 3. advolabit enim continuo universus ille doctissimorum chorus, qui adseverans et comprobans fato fieri, quaecumque fiunt, eripiat nobis e manibus opinionem istam et inanibus nos arguat persuasionibus fidere: 4. „quicquid in mundo, inquiet, gestum est, geritur et geretur, olim definitum et fixum est habetque immobiles causas […].“

Im Zuge seiner Auseinandersetzung mit paganen Opferpraktiken lässt der Sprecher einen fictus interlocutor als Argument für die Sinnhaftigkeit von Opfern anführen, dass dadurch die Götter wohlwollend gestimmt würden, so dass sie den Menschen Glück zukommen lassen und Schaden von ihnen abwehren. Der Verteidiger braucht aber gar nicht selbst gegen diesen Einwand zu opponieren: Stattdessen eilt sogleich eine ganze Schar äußerst gebildeter Philosophen (doctissimorum) herbei, die nachdrücklich auf die Bedeutung des Schicksals für den Weltlauf verweisen.409 Dadurch wird die Meinung des Interlocutors, der sich der Sprecher zwischenzeitlich zum Schein angeschlossen hatte (eripiat nobis e manibus opinionem istam), entkräftet und als nichtige Überzeugung entlarvt: Wenn das Schicksal die Kausalitäten des Weltgefüges determiniert,410 können selbst durch Opfer „korrumpierte“ Götter nicht zugunsten der Menschen Einfluss nehmen. Hervorzuheben sind an dieser Stelle vier Aspekte, die das von Arnobius entworfene Philosophenbild weiter nuancieren: 1.

Durch die Verwendung des leicht metaphorischen Ausdrucks advolare („heranfliegen“) ironisiert der Sprecher die seiner Meinung nach übertriebene Neigung der Philosophen zu Diskussionen. 2. Die Wendung universus [...] chorus („der ganze Reigen“) zeichnet an dieser Stelle ein Bild seltener Eintracht unter Philosophen, während ihnen sonst häufig gerade ihre Uneinigkeit untereinander vorgehalten wird. Obwohl sich die 409 Zur Frage, wie der Sprecher Christus in Relation zum fatum einordnet, vgl. unten, S. 304. 410 Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass sich der Sprecher diese Position nicht zu eigen macht.

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Philosophenschulen gerade bei der Frage der Determination und des fatum durchaus nicht einig sind, werden von der stoischen fatum-Lehre abweichende Meinungen411 hier nicht thematisiert. 3. Mit den beiden Partizipien adseverans und comprobans wird die Philosophen angeblich eigene Art der Diskussionsführung beschrieben. Diese ist einerseits gekennzeichnet durch Nachdruck und das Vertrauen auf die Richtigkeit der eigenen Positionen (adseverans), andererseits durch eine Fülle plausibler Argumente für die eigenen Lehrsätze (comprobans). 4. Die Verben eripere („entreißen“) und arguere („bloßstellen“) illustrieren, mit welcher Heftigkeit und Verve die Philosophen in der argumentativen Auseinandersetzung und beim Werben um Zustimmung für ihre eigenen Thesen zu Werke gehen.412 Die folgende Stelle (nat. 1,59,5) schließlich, die bereits im Zusammenhang mit Arnobius’ Aussagen zur Rhetorik betrachtet wurde,413 ist auch für seine Einschätzung bezüglich der Philosophen aufschlussreich: cum de rebus agitur ab ostentatione summotis, quid dicatur, spectandum est, non quali amoenitate dicatur, nec quid aures commulceat, sed quas adferat audientibus utilitates; maxime cum sciamus etiam quosdam sapientiae deditos non tantum abiecisse sermonis cultum, verum etiam, cum possent ornatius atque uberius eloqui, trivialem studio humilitatem secutos, ne conrumperent scilicet gravitatis rigorem et sophistica se potius ostentatione iactarent.

Während der Sprecher darlegt, dass bei der Verhandlung von Dingen, die der auf äußere Wirkung berechneten Darstellung entzogen sind, Inhalt und Nutzen, nicht aber der Stil zu betrachten sind, bindet er pagane Philosophen in seine Argumentation ein: Einige von diesen hätten nicht nur auf Redeschmuck (sermonis cultum) verzichtet, sondern hätten absichtlich eine schlichte und niedrige Ausdrucksweise verfolgt, obwohl sie deutlich prunkvoller hätten reden können. Dies hätten sie getan, um einerseits nicht die würdevolle Strenge ihrer Inhalte zu beeinträchtigen, andererseits aber um sich nicht selbst mit spitzfindiger Prahlerei in den Vordergrund zu stellen. Somit werden Nichtchristen als nachahmenswerte Vorbilder eingeführt, die durch ihr praktisches Verhalten dem Postulat des Verteidigers zusätzliches Gewicht verleihen. Nicht näher spezifiziert ist, um welche Philosophenschule(n) es sich handelt,414 vielleicht mit dem Ziel, die Ausführungen nicht für bestimmte „Lager“ weniger akzeptabel zu machen. Allerdings birgt die Passage auch einen subtilen Vorwurf in sich: Zwar sind einige Philosophen so verfahren, wie oben geschildert. Daraus darf man aber doch wohl schließen, dass viele ihrer „Kollegen“ anders handeln, dass sie sich also zum 411 Vgl. z.B. Cic. fat. 39: cum duae sententiae fuissent veterum philosophorum, una eorum, qui censerent omnia ita fato fieri, ut id fatum vim necessitatis adferret, [...] altera eorum, quibus viderentur sine ullo fato esse animorum motus voluntarii [...]. 412 Vgl. hierzu auch nat. 2,10 (behandelt auf S. 141). 413 S. oben, S. 86ff. 414 Vgl. hierzu oben, S. 86, Anm. 264.

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einen durchaus um Redeschmuck bemühen und dadurch die würdevolle Strenge ihrer Inhalte gefährden und zum anderen auch Gefahr laufen, sich in prahlerischer Selbstdarstellung zu verlieren. Der „Berufsstand“ der Philosophen erscheint mithin in der Sicht des Sprechers als von den Gefahren der übertriebenen Rhetorik besonders gefährdet. 2.2.5 Philosophen als Bürgen für die bzw. partielle Teilhaber an der christlichen Wahrheit An einigen Stellen werden Philosophen thematisiert, die sich entweder bereits dem christlichen Glauben angeschlossen haben oder die in ihren Lehren partiell Wahrheiten des Christentums bzw. Irrtümer der traditionellen griechischrömischen Religion benannt haben und demnach in gewisser Weise als Autoritäten fungieren. In nat. 2,5,3, einer Passage, die schon oben (S. 97f.) im Zusammenhang mit der Rhetorik untersucht worden ist, führt der Sprecher verschiedene seiner Meinung nach trifftige Gründe für die Richtigkeit des christlichen Glaubens an.415 Unter anderem macht er dabei Folgendes geltend: quod tam magnis ingeniis praediti oratores, grammatici, rhetores, consulti iuris ac medici, philosophiae etiam secreta rimantes magisteria haec expetunt spretis quibus paulo ante fidebant

Personen, die angesehene, hohen Intellekt erfordernde Berufe ausüben, bemühen sich jetzt um die Lehren des Christentums (magisteria haec),416 während sie diejenigen Dinge, auf die sie noch vor kurzem vertrauten, nunmehr geringschätzen. Unabhängig vom genauen Verständnis der Ausdrücke philosophiae etiam secreta rimantes und spretis quibus paulo ante fidebant417 bringt der Sprecher zum Ausdruck, dass die Beschäftigung mit der Philosophie zugunsten der Beschäftigung mit der christlichen Lehre auch und gerade bei sehr klugen Leuten (tam magnis ingeniis praediti) zurücktritt. Eine zusätzliche Pointe dürfte ferner darin bestehen, dass nun unter anderem die Philosophen bzw. Philosophie-Interessierten nicht mehr wie gewöhnlich anderen Ratschläge erteilen, sondern ihrerseits nach christlichen Unterweisungen verlangen. Eine ganz besondere Art philosophischer sapientia und eine wichtige Erkenntnis werden in 2,52,4f. Platon zugestanden:

415 Nat. 2,5,2: nonne vel haec saltem fidem vobis faciunt argumenta credendi etc. 416 Anders Justin, der in 1 apol. 10,5 gerade hervorhebt, dass kein einziger Mensch von der Erkenntnis des Glaubens und des Heilsweges ausgeschlossen ist (καὶ ὑπὲρ πάντων ἀνθρώπων ἡγούμεθα εἶναι τὸ μὴ εἴργεσθαι ταῦτα μανθάνειν, ἀλλὰ καὶ προτρέπεσθαι ἐπὶ ταῦτα); vgl. ferner die Ausführungen bei GÖRGEMANNS (1989) 617. Zu den soziologischen Umwälzungen unter den Christen im 3. und 4. Jahrhundert vgl. z.B. JONES (1971) 342ff. 417 Vgl. hierzu oben, S. 97 mit Anm. 296.

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nonne fieri potis est, ut exorti homines ita sint nec ad deum primum nativitatis eorum referatur auctoritas? 5. quid enim putamus habuisse rationis Platonem illum magnum pie sancteque sapientem, cum hominis fictionem deo removit a maximo et ad minores nescio quos transtulit […] quam quod hominis fabricam indignam esse rebatur deo nec rei flaccidae fictionem magnitudini eius et eminentiae convenire?

Jener große Philosoph, so der Sprecher, sei auf fromme und heilige Art weise gewesen bzw. habe insofern fromm und heilig philosophiert, als er die Schöpfung des Menschen nicht dem höchsten Gott zugeschrieben habe, da er sie als nicht mit dessen Größe und Erhabenheit vereinbar angesehen habe.418 Auch in 1,18,1f., wo das Nomen sapiens zum ersten Mal innerhalb von Adversus nationes verwendet wird, kommen Philosophen als Autoritäten ins Spiel: quod si verum est istud et est exploratum et cognitum, ecfervescere deos ira et huiusmodi motu, perturbatione iactari, immortales et perpetui non sunt nec in divinitatis alicuius existimatione ponendi. 2. ubi enim est ullus, sicut sapientibus videtur, adfectus, ibi esse necesse est passionem; ubi passio sita est, perturbationem consentaneum est consequi; ubi perturbatio est, ibi dolor et aegritudo est; ubi dolor et aegritudo est, imminutioni et corruptioni iam locus est; quae duo si vexant, adest vicinus interitus, mors omnia finiens et cunctis adimens sentientibus vitam.

Der Sprecher tritt in diesem Zusammenhang dem paganen Vorwurf entgegen, die Götter zürnten den Christen und suchten deshalb die Welt schlimmer heim als in früheren Zeiten. Wenn die Götter aber tatsächlich zornig seien und derartige Emotionen (motus, perturbationes) empfänden, dann seien sie weder unsterblich noch eigne ihnen Göttlichkeit.419 Diese Einschätzung versucht er durch eine Art Kausalkette zu stützen, die folgendermaßen dargestellt werden kann: adfectus  passio  perturbatio420  dolor et aegritudo  imminutio et corruptio  interitus/mors Aus dem (hypothetischen) Ausgangsbefund [„Die Götter sind zur Emotion (adfectus) fähig.“] wird über vier Zwischenstufen zum mit zwei Attributen versehenen Tod übergeleitet. Als Gewährsleute für die Richtigkeit dieser Überlegungen werden in einem kurzen Vergleichssatz (sicut sapientibus videtur) Philosophen angeführt, ohne dass Namen oder bestimmte Schulen genannt würden. Formal auffällig ist, dass Arnobius hier einen Modus der knappen, beinahe monotonen Darle418 Lob erfährt Platon u.a. auch in nat. 2,36,2, wo er als Plato ille divinus bezeichnet wird. Vgl. ferner GIERLICH (1985) 308 („Die Hochschätzung Platons zeigt sich in Arnobs Werk immer wieder“) und ARMISEN-MARCHETTI (2018) XVf. – Zum Lob, das Cicero für seine theologischen Ausführungen erhält, vgl. S. 102f. 419 Zum Thema des Götterzornes in der antiken Philosophie und zur Problematik des aus dem AT stammenden Konzeptes eines strafenden Gottes sowie zu den diesbezüglichen Lösungsversuchen christlicher Autoren vgl. u.a. GIERLICH (1985) 42ff., zur ira dei bei Arnobius und Lactanz OTÓN SOBRINO (2001). Vgl. ferner die Behandlung der obigen Textpassage unten auf S. 255f. 420 Zur Differenzierung zwischen adfectus, passio und perturbatio vgl. POHLENZ (1990) 218f. und (1992) 447.

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gung verwendet, wie er sich auch in paganen philosophischen Schriften findet. Zum Vergleich sei eine Passage aus Ciceros Tusculanen angeführt, in der bemerkenswerterweise ebenfalls Affekte und Emotionen (allerdings beim Menschen) thematisiert sind: sed de omni animi, ut ego posui, perturbatione, morbo, ut Graeci volunt, explicabo. et primo, si placet, Stoicorum more agamus, qui breviter astringere solent argumenta; deinde nostro instituto vagabimur. qui fortis est, idem est fidens […]. qui autem est fidens, is profecto non extimescit; discrepat enim a timendo confidere. atqui, in quem cadit aegritudo, in eundem timor […]. at nemo sapiens nisi fortis: non cadet ergo in sapientem aegritudo. praeterea necesse est, qui fortis sit, eundem esse magni animi; qui magni animi sit, invictum; qui invictus sit, eum res humanas despicere atque infra se positas arbitrari.421

Der arnobianische Sprecher verweist also an dieser Stelle nicht nur explizit darauf, dass seine These auf einem philosophisch allgemein akzeptierten Grundsatz basiert, sondern er bedient sich auch einer monoton, aber dadurch umso objektiver und unwiderlegbarer klingenden, typisch philosophischen Diktion. Erst wenn die Beweiskette beim zentralen Begriff „Tod“ angelangt ist, greift er zu amplifizierenden Attributen („alles beendend“; „allen fühlenden Wesen das Leben wegnehmend“). Forschungsgeschichtlich bezeichnend ist die ihre Kommentierung des Kapitels 1,18 abschließende Bemerkung von GABRIELE GIERLICH: „Mir scheint Arnob hier jedoch eher der Lehre der Stoa oder des Epikureismus zu folgen, da er selbst Platon [andernorts] in diesem Punkt Inkonsequenz vorwirft […].“422 Deutlich erkennbar ist das quellenkundliche Interesse an den Ausführungen des Autors; es soll deutlich gemacht werden, welcher Schule er gefolgt sei. Die entgegengesetzte Möglichkeit, dass Arnobius nicht von einer bestimmten Schultradition abhängt, sondern sich souverän eines Elementes aus dem Fundus der paganen Philosophie bedient, wird nicht thematisiert. Einen Grund für die sehr allgemein gehaltene Angabe sicut sapientibus videtur könnte man vielleicht auch darin sehen, dass nicht durch die Nennung konkreter Philosophenschulen die Beweiskraft des Argumentes für diejenigen paganen Rezipienten zweifelhaft werden soll, die eben jenen Schulen nicht angehören. Ähnliche philosophische Lehrsätze aus dem Bereich der Theologie kommen auch in nat. 6,2,2f. zur Sprache: sed – quod magnarum est mentium – pari pendere cunctos lance et individuas cunctis benevolentias exhibere. 3. caduci enim generis et infirmitatis humanae est contrariis agere, eosque, quos tangat adfectio, pati, dolere, deminui sapientium scita et pronuntiata definiunt nec posse aliter fieri, quin legibus mortalitatis adstricti sint, qui sint ullis perturbationibus mancipati.

Götter, die diese Bezeichnung verdienten, müssten sich allen gegenüber gerecht und gleichermaßen wohlwollend verhalten, während Parteilichkeit und in sich inkonsequentes Verhalten Zeichen von Vergänglichkeit und Schwäche, mithin 421 Cic. Tusc. 3,13ff. = SVF 3, S. 150,33ff. (Test. 570). Als besonders typisch gerade für die Stoa bezeichnet Cicero diesen Stil in fin. 3,26: consectaria me Stoicorum brevia et acuta delectant. 422 GIERLICH (1985) 47.

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also typisch menschlich sei. Diese gewissermaßen charakterlichen Unterschiede resultieren jedoch aus ontologischen Differenzen: Menschen, so ist zu ergänzen, handeln so, weil sie sich von Emotionen leiten lassen. Wer aber Emotionen empfindet, leidet, empfindet Schmerz, wird geschwächt und ist zwangsläufig der Sterblichkeit unterworfen – im Gegensatz zu „wahren Göttern“.423 Diesen Zusammenhang führt der Sprecher aber nicht als eigenen Gedanken an, sondern er schöpft ihn aus den Lehrsätzen und logischen Grundsätzen424 der Philosophen, wobei deren Bezeichnung als sapientes die Glaubwürdigkeit ihrer Thesen stützen dürfte. Allerdings werden – methodisch konsequent – die Inhalte dieser Thesen wiederum nicht als sicheres, verlässliches Wissen, sondern als thetische Behauptung (definiunt) kategorisiert.425 Als Autoritäten werden Philosophen auch in nat. 3,30,1 angeführt: nam quid de ipso dicemus Iove, quem solem esse dictitavere sapientes, agitantem pinnatos currus turba consequente divorum, aethera nonnulli flagrantem vi flammea atque ardoris inextinguibili vastitate? quod si liquet et constat, nullus ergo omnino est vobis auctoribus Iuppiter, qui patre editus Saturno atque Ope matre, ut genitoris evaderet rabiem, in Cretensium finibus memoratur esse celatus.

Juppiter wurde, so der Sprecher, von Philosophen immer wieder mit der Sonne gleichgesetzt;426 er wurde als Lenker eines geflügelten Wagens bezeichnet, dem eine Schar von Göttern folge.427 Wenn diese Ansicht zutreffe, dann könne der Juppiter der Mythologie, der in Kreta versteckte Sohn des Saturn, nicht existieren. Hier ist die Bezeichnung sapientes allem Anschein nach ohne Polemik oder Ironie verwendet,428 was nur konsequent ist: Wenn der Sprecher eine Meinung von Philosophen zur Stützung seiner eigenen Argumentation miteinbezieht, dürften als sapientes bezeichnete Gewährsleute bei den paganen Gesprächspartnern mehr Autorität genießen, als wenn sie neutral als philosophi benannt würden. Festzuhalten bleibt aber, dass die Philosophen, auch wenn sie eine für den Apologeten nützliche These vorgebracht haben, eindeutig der paganen Sphäre zugerechnet werden (vobis auctoribus), vermutlich jedoch auch zur Steigerung der persuasiven Wirkung des Argumentes. Interessant ist in dieser Passage ferner Arnobius’ methodische Konsequenz: Wie gesehen,429 hält der Sprecher Philosophen mehrfach vor, sie besäßen kein 423 Zum Problem „wahrer Götter“ bei Arnobius vgl. unten, Anm. 465 auf S. 152. 424 Zu dieser Bedeutung von pronuntiatum i.S. von ἀξίωμα vgl. ThLL 10,2,2, Sp. 1929, s.v. pronuntiatum. 425 Vgl. hierzu auch oben, Kap. 2.2.4 „Methodik und Verlässlichkeit der Aussagen von Philosophen“. 426 CHAMPEAUX (2007) 127 ad loc. nennt mit Verweis auf Macrobius (Sat. 1,23,1f.) Cornificius. Zu Juppiter bei Arnobius ausführlich CHAMPEAUX (2018) 23ff. 427 So etwa in Platons Phaidros (246 e 4–247 a 1): ὁ μὲν δὴ μέγας ἡγεμὼν ἐν οὐρανῷ Ζεύς, ἐλαύνων πτηνὸν ἅρμα, πρῶτος πορεύεται, διακοσμῶν πάντα καὶ ἐπιμελούμενος· τῷ δ’ ἕπεται στρατιὰ θεῶν τε καὶ δαιμόνων, κατὰ ἕνδεκα μέρη κεκοσμημένη. 428 Es sei denn, man geht davon aus, dass die Gleichsetzung Juppiters und der Sonne in den Augen des Sprechers so töricht ist, dass keine verbalen Ironiesignale notwendig sind. 429 Vgl. oben, Kap. 2.2.4 „Methodik und Verlässlichkeit der Aussagen von Philosophen“.

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sicheres Wissen, sondern verteidigten nur Spekulationen. Weniger konfrontativ, aber in der skeptischen Einschätzung analog verfährt er auch in der vorliegenden Stelle mit dem Philosophem von Juppiter als der Sonne bzw. als Lenker eines geflügelten Himmelswagens: Obwohl diese Anschauung für seine Argumentation nützlich ist, akzeptiert er sie nicht uneingeschränkt, sondern restringiert ihre Gültigkeit durch eine doppelte Kautel (quod si liquet et constat). Auch in nat. 7,28,13 beruft sich der Sprecher vorsichtig auf pagane Philosophen: nam si verum est, ut ab sapientibus creditur, incorporales hos esse nec validitatis alicuius eminentia sublevari, inanis apud hos odor est […].

Nachdem der Verteidiger bei der Behandlung von Opfern das Problem diskutiert hat, dass Düfte von verschiedenen Wesen als ganz unterschiedlich empfunden werden,430 hebt er die Frage auf eine höhere Ebene: Opferdüfte könnten für „wahre“ Götter keinerlei Reiz bieten, weil diese – folgt man den Philosophen – als dem menschlichen Sein enthobene, körperlose Entitäten nicht über Sinnesorgane verfügen und mithin diese Düfte gar nicht wahrzunehmen vermögen. Abermals schöpft der Sprecher also ein wichtiges Element für seine Argumentation aus dem Fundus philosophischer Lehrmeinungen; doch wie an anderen Stellen schränkt er dessen Gültigkeit durch den Zusatz „wenn es wahr ist“ ab. Nur in Form einer praeteritio finden Philosophen schließlich in nat. 7,19,3 Erwähnung: sapientium virorum non advocabo sententias, qui risum nequeunt continere, cum discrima sexuum diis audiunt immortalibus attributa: unoquoque ab hominum quaero, an ipse apud se credat sibique ipse persuadeat distinctum esse deorum genus, mares ac feminas hos esse et ad generandos fetus convenientium membrorum dispositione formatos?

Zur Klärung der Frage, ob Götter im anthropomorphen Sinne in männliche und weibliche unterteilt werden können und ob sie über Fortpflanzungsorgane verfügen, verzichtet der Sprecher ausdrücklich darauf, die Lehrmeinungen von Philosophen gleichwie von Sachverständigen in einem Prozess zur Hilfe zu rufen.431 Diese würden nämlich – mit dieser naiven Frage konfrontiert – in schallendes Gelächter ausbrechen. Stattdessen will der Sprecher jeden einzelnen Menschen fragen, ob er selbst wirklich dieser unhaltbaren Überzeugung sei. Diese Passage ist in zweifacher Hinsicht aufschlussreich für das Bild, welches in Adversus nationes von Philosophen gezeichnet wird: Zum einen lässt sie erkennen, dass philosophischen Lehrmeinungen prinzipiell eine gewisse persuasive Kraft zugebilligt wird, die sich in diesem konkreten Fall mit sachlicher Richtigkeit verbindet; gleichwohl greift der Sprecher auf dieses Wirkungspotenzial hier nur indirekt – eben in Form einer praeteritio – zu. Zum anderen wird deutlich, dass Philosophen unter den Heiden eine Art intellektuellen Primat einnehmen. In der 430 Nat. 7,28,7f.: et unde novissime scitis, an si odorum suavitate capiuntur, eadem sint eis iucunda quae vobis et parili sensu vestras mulceant adficiantque naturas? nonne fieri potis est, ut, quae vobis adferunt voluptatem, contra illis aspera videantur et tristia? 431 Zu dieser Bedeutung vgl. ThLL 1, Sp. 893f., s.v. advoco I B a.

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vorliegenden Streitfrage der Geschlechtlichkeit von Göttern wären sie gewissermaßen überqualifiziert: Selbstverständlich haben sie dieses Problem geistig durchdrungen und sind zur richtigen Ansicht gelangt; dies gelingt aber nach Ansicht des Sprechers in dieser Frage jedem Menschen, sofern er seine Meinung noch einmal kritisch durchdenkt.432 2.2.6 Nennung von Philosophen ohne explizite Wertung Im Rahmen eines eigentümlichen arnobianischen Höhlengleichnisses, in dem die Bedeutung von Sinneserfahrungen nachgewiesen und die Existenz apriorischen Wissens in der menschlichen Seele widerlegt werden soll,433 finden sich die folgenden Ausführungen (nat. 2,21,1): nunc, quoniam imagini praeparavimus sedem, accipiamus deinceps mox aliquem natum [et] in loci illius hospitium, quod habeat rem nullam et sit inane ac vacuum, Platonica licet aut Pythagorea progenie aut horum alicuius, qui acuminis perhibentur fuisse divini aut ex deum responsis sapientissimi nuncupati.

Als Versuchsperson wird ein Baby eines Platonikers oder Pythagoreers ausgewählt, oder auch eines Mannes von denen, die, wie man sagt, göttlichen Scharfsinn besaßen oder infolge von Göttersprüchen als die weisesten bezeichnet wurden. Beim letzten Kolon liegt der Gedanke an Sokrates nahe, der bekanntlich vom delphischen Orakel als der weiseste Mensch bezeichnet wurde, freilich gerade aufgrund seiner Einsicht, über keinerlei Wissen zu verfügen.434 Hier wird das Adjektiv sapiens also besonders hintergründig verwendet: Durch die im gleichen Zusammenhang genannten Platoniker und Pythagoreer wird die Bedeutung „Philosoph“ aktiviert. Und Sokrates darf ja auch in der Tat als Philosoph par excellence gelten. Doch gerade ihm lässt sich nicht der gleiche Vorwurf wie vielen anderen Philosophen machen: Er behauptet nicht, etwas zu wissen, sondern ist sich der Defizienz seines und menschlichen Wissens im Allgemeinen aufs Deutlichste bewusst. Eine weitere Facette gewinnt das Bild, welches der arnobianische Sprecher von den Philosophen entwirft, durch die folgende Aussage (nat. 2,29,3): quis est enim hominum, quamvis ille sit indolis infamia semper atque ignominiosa fugientis, qui, cum dici exaudiat viris ab sapientibus maxime immortalis animas esse nec fatorum esse obnoxias legibus, non in omnia flagitia praeceps se ruat, non securus, intrepidus res obeat atque adgrediatur inlicitas […]?

Im Zuge der Argumentation gegen die These, die menschliche Seele sei per se unsterblich,435 thematisiert der Sprecher moralische Implikationen dieser Annah432 Vgl. hierzu auch die Behandlung von nat. 7,36 im Exkurs unten (S. 155). 433 Vgl. hierzu auch BLUMENBERG (1996) 315ff. und ARMISEN-MARCHETTI (2009). 434 Plat. apol. 21 a 4ff.: [sc. Χαιρεφῶν] καὶ δή ποτε καὶ εἰς Δελφοὺς ἐλθὼν ἐτόλμησε τοῦτο μαντεύσασθαι […] ἤρετο γὰρ δὴ εἴ τις ἐμοῦ εἴη σοφώτερος. ἀνεῖλεν οὖν ἡ Πυθία μηδένα σοφώτερον εἶναι. […] ἐγὼ δέ, ὥσπερ οὖν οὐκ οἶδα, οὐδὲ οἴομαι. 435 Vgl. hierzu oben, S. 119ff.

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me: Von einem offensichtlich pessimistischen Menschenbild ausgehend, vermutet er, dass auch ein Mensch, der alles meide, was ihm Schande und einen schlechten Ruf einbringen könnte, sofort alle möglichen Schandtaten begehe, wenn er von überaus weisen Männern höre, dass die Seelen unsterblich seien. Aus Sicht des Sprechers hindert also nur die Angst vor Strafe die Menschen daran, Böses zu tun;436 wenn die Seele aber unsterblich und nicht dem fatum unterworfen ist, kann ihr nichts geschehen, und Strafe ist auf dieser Ebene nicht möglich. Auch in diesem Kontext erscheint der Ausdruck viri sapientes maxime437 ambig: In der Sicht ihrer Rezipienten gelten Unsterblichkeit der Seele verfechtende Philosophen sicherlich als im höchsten Maße weise und fungieren als wichtige Autoritäten. Von einer christlichen Warte aus aber könnte man kritisieren, dass gerade solche Geistesgrößen hätten voraussehen müssen, zu welchen moralisch-ethischen Problemen die Vorstellung einer unsterblichen Seele führt. Zum anderen könnte man aus demselben Grund (ihre fehlende Sensibilität für die unangenehmen gesellschaftlichen Konsequenzen der These) zweifeln, ob es sich bei ihnen wirklich um weise Männer handelt. Ohne erkennbare Kritik hingegen wird sapientes als Synonym für philosophi in nat. 2,52,3 verwendet, wo Meinungen verschiedener Philosophen über die Herkunft des Menschen referiert werden: nam et videmus alios ex sapientibus dicere tellurem esse hominum matrem, aquam tum alios, aerium spiritum his alios iungere, solem vero nonnullos esse horum opificem et ex ignibus animatos eius vitali agitatione motari.

Dass hier aus der Fülle möglicher Ausdrucksweisen gerade sapientes gewählt worden ist, könnte darin begründet sein, dass der Sprecher etwas später in 2,53,1 eine eigene Ansicht, die er als christlichen Glaubensgegenstand ausgibt, thetisch vorträgt: dass der Seele eine mittlere Qualität eigne (ergo cum haec ita sint, non absone neque inaniter credimus mediae qualitatis esse animas hominum utpote ab rebus non principalibus editas). Diese Meinung erscheint umso akzeptabler, wenn die Rezipienten sich zuvor vergegenwärtigt haben, dass verschiedene Philosophen, die doch als weise gelten, zum Teil kaum akzeptable Thesen über die Natur und Herkunft des Menschen geäußert haben.438 Erhellend ist schließlich, wie der Sprecher mit der Antwort einiger Philosophen auf die Frage verfährt, woher die Übel der Welt stammen (nat. 2,55,3):

436 Von hier aus ließen sich einige Parallelen zu den Thesen ziehen, welche Sophisten in platonischen Dialogen vertreten, z.B. Kallikles im Gorgias, und zur Gyges-Erzählung in der Politeia (II, 359 c 6ff.), aber auch zu Ansichten „konservativer“ paganer Theologie; vgl. z.B. Aischyl. Eum. 699 (es spricht Athene): τίς γὰρ δεδοικὼς μηδὲν ἔνδικος βροτῶν; 437 Auch VON BESNARD (1842) 71, BRYCE/CAMPBELL (1895) 95 und MCCRACKEN (1949a) 142 verbinden maxime mit sapientes; LAURENTI (1962) 61 hingegen übersetzt „proprio dai sapienti“; ähnlich AMATA (2000) 172 („proprio da uomini saggi“) und ARMISEN-MARCHETTI (2018) 31 („précisément les sages“). 438 Vgl. nat. 2,52,1: ac ne tamen vobis tantummodo censeatis coniecturis uti ac suspicionibus licere [...]. – Zur doxographischen Verortung der einzelnen Ansichten vgl. GIERLICH (1985) 306f. ad loc. und ARMISEN-MARCHETTI (2018) 208f. ad loc.

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„mala ergo“, dicetis, „unde sunt haec omnia?“ „ex elementis“ inquiunt „et ex eorum inaequabilitate“ sapientes. quod fieri qui possit, ut, quae sensum et iudicium non habent, malitiosa esse perhibeantur et noxia aut non ille sit potius malitiosus et noxius, qui res pessimas et nocentissimas futuras in alicuius operis adsumpsit effectum, eorum est, qui adserunt, pervidere.

Auffällig weit sind die zusammengehörenden Elemente inquiunt und sapientes voneinander getrennt. Doch mit der so gerahmten Ansicht der Philosophen, die Übel der Welt rührten von der Ungleichheit der Elemente her, setzt sich der Verteidiger gar nicht inhaltlich auseinander. Vielmehr begnügt er sich damit, den logischen Schwachpunkt anzusprechen und einen möglichen Gegenentwurf zu formulieren, um dann die Klärung dieser Probleme den Verfechtern dieser Ansicht zu überlassen. Vielleicht verrät auch hier wieder die Wahl des substantivierten Adjektivs sapientes eine gewisse Ironie: Wenn es weise Philosophen waren, welche die Elemententheorie aufgestellt haben, dürften sich die Rezipienten umso mehr wundern, dass diesen Koryphäen die vom Sprecher aufgezeigte logische Schwäche des Ansatzes nicht aufgefallen ist. 2.2.7 Philosophen und Christen Eine Konfrontation von sapientes viri mit der Lehre Christi erleben wir in nat. 1,65,6: stolidissimas res loquitur et fatua dona [sc. Christus] promittit? ridete ut sapientes vos viri et in suis erroribus fatuitantem relinquite volutari!

Der Sprecher ist empört darüber, dass Christi Heilsangebot von einigen nicht nur nicht angenommen, sondern sogar heftig bekämpft wird.439 In diesem Zusammenhang schlägt er „angemessenere“ Reaktionen vor und rät zum Beispiel den Gegnern, Christus zu verlachen, wenn er ihrer Meinung nach Torheiten von sich gebe und närrische Geschenke verspreche. Hierbei erscheint der begründende Einschub ut sapientes vos viri doppelbödig: Fasst man ihn positiv auf, so stellt er einen Aufruf zur Mäßigung dar, bei dem die vermeintliche Weisheit der Adressaten, die auch aus philosophischen Kenntnissen herrühren könnte, etwas Positives, Zivilisierendes ist: „Da ihr ja weise Männer seid, genügt es doch, den Gegner auszulachen. Zu körperlicher Gewalt braucht man sich nicht herabzulassen!“ Versteht man ihn aber negativ-ironisch, so wird die vermeintliche sapientia als Faktor entlarvt, der dazu führt, dass sich einige fälschlich im Recht wähnen, und der somit eine Erkenntnis des wahren, christlichen Heilsweges obstruiert.440 Aufschlussreich für das Verhältnis von Philosophen und Christen ist auch nat. 2,8,1f.: 439 Nat. 1,65,5: quaenam est ista crudelitas […] nuntiatorem muneris et portitorem tanti non tantum verborum maledictionibus scindere, verum etiam bello gravi atque omnibus persequi telorum effusionibus et ruinis? 440 Dieses Thema klingt schon in nat. 1,1,1 an: qui se plurimum sapere suis persuasionibus credunt [...]. Vgl. hierzu unten, S. 197.

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Teil I: Studien zur Bewertung paganer Wissensfelder durch Arnobius et quoniam ridere nostram fidem consuestis atque ipsam credulitatem facetiis iocularibus lancinare, dicite, o festivi et meraco sapientiae tincti et saturi potu, estne operis in vita negotiosum aliquod atque actuosum genus, quod non fide praeeunte suscipiant, sumant atque adgrediantur actores? 2. peregrinamini, navigatis non domum vos credentes peractis negotiationibus remeaturos?

Die Gegner, die spöttisch als „vom reinen Trank der Weisheit gefärbt und gesättigt“ bezeichnet werden, verlachen den christlichen Glauben (nostram fidem) und setzen der vermeintlichen Leichtgläubigkeit der Christen mit Scherzen zu. Hier benennt der Verteidiger einen deutlichen Kontrast zwischen dem Glauben der Christen, der diesen als solcher bewusst ist (im Sinne eines Vertrauens auf nicht beweisbare Gegebenheiten), und der vermeintlichen Weisheit der paganen Adressaten. Doch auch deren Handlungen, so der Sprecher, lassen erkennen, dass sie auf einer Art von Vertrauen beruhen, das im Voraus geschenkt wird (fide praeeunte): So sei ja z.B. davon auszugehen, dass jeder, der eine Seereise unternehme, dies nur tue, weil er glaube, wieder zurückzukehren (vos credentes [...] remeaturos).441 An diesem Punkt nun hat der Sprecher die für die weitere Argumentation wichtige Gleichsetzung von fides und credere vollzogen. Denn gerade die zeitgenössischen Philosophen bzw. philosophisch Gebildeten glaubten ebenfalls (2,9,1f.): nonne vestrum, quicumque est, huic vel illi credit auctoribus? non, quod sibi persuaserit quis verum dici ab altero, velut quadam fidei astipulatione tutatur? 2. qui cunctorum originem esse dicit aut aquam, non Thaleti aut Heraclito credit?

Wer einer bestimmten Meinung anhängt, so der Verteidiger, glaubt also gewissen Gewährsleuten, und wer von der Wahrheit einer Ansicht überzeugt ist, schützt sie mit einer Art von völliger Zustimmung und treuem Zutrauen. Derjenige zum Beispiel, der den Urgrund der Dinge (die ἀρχή) in Feuer oder Wasser sieht, glaubt Heraklit bzw. Thales.442 Durch diese Anschauung wird den Apostrophierten jede Eigenständigkeit im philosophischen Denken abgesprochen. Der Sprecher thematisiert nicht die Möglichkeit, dass einige eigenständig zum selben Ergebnis wie z.B. Thales oder Heraklit gekommen sein könnten, sondern stellt es so dar, als folgten seine Gegner unreflektiert einer fremden autoritativen Meinung. Diese zunächst nicht offen artikulierte Ansicht schlägt sich jedoch kurz darauf in Form der folgenden vergleichenden Feststellung nieder (2,10,2): cum igitur comperti nihil habeatis et cogniti omniaque illa, quae scribitis et librorum comprehenditis milibus, credulitate adseveretis duce, quaenam haec est iudicatio tam iniusta, ut nostram derideatis fidem, quam vos habere conspicitis nostra cum credulitate communem?

Angesichts des Umstandes, dass die Gegner überhaupt kein sicheres Wissen besäßen und alles, was sie niederschrieben, nur aus bloßem Glauben aufzeichneten, 441 Ähnlich auch Theophil. Autol. 1,8: τίς δύναται διαπερᾶσαι τὴν θάλασσαν, ἐὰν μὴ πρῶτον ἑαυτὸν πιστεύσῃ τῷ πλοίῳ καὶ τῷ κυβερνήτῃ; 442 Die jeweiligen Urgründe und die sie postulierenden Philosophen sind dabei chiastisch angeordnet. – Zur Darstellung des Thales in der frühchristlichen Literatur vgl. SCHWAB (2012); zur oben behandelten Stelle ebd. S. 148ff.

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erscheint es dem Verteidiger äußerst ungerecht, dass die Heiden den christlichen Glauben verlachen, obwohl sie selbst sich doch ebenfalls in dem Zustand befänden, den sie den Christen als Leichtgläubigkeit ankreideten. Der Gedanke von der intellektuellen Unselbständigkeit der paganen Philosophierenden und die Auffassung von Philosophie als Glaube an die Lehrmeinungen von Autoritäten rahmen also die Aussage und werden dadurch in ihrer Wichtigkeit betont. Das naheliegende Argument, es komme darauf an, welchen Autoritäten man folge, wird im unmittelbaren Anschluss (für den konkreten Fall) entkräftet (2,10,3): sed sapientibus vos viris omnibusque instructis disciplinarum generibus creditis, nempe illis, qui nihil sciscunt nec pronuntiant unum, qui pro suis sententiis bella cum adversantibus conserunt et pervicacia semper digladiantur hostili, qui, cum alter alterius labefactant, destruunt convelluntque decreta, cuncta incerta fecerunt nec posse aliquid sciri ex ipsa dissensione monstrarunt.

In der Sicht ihrer Anhänger handelt es sich bei den Inauguratoren von Philosophemen um weise, allseits gebildete Männer. Diese Auffassung wird jedoch gleich dadurch konterkariert, dass verschiedene typische Verhaltensweisen dieser Männer geschildert werden, die alle auf den Punkt abzielen, dass zwischen den einzelnen Schulen große Streitigkeiten herrschen,443 welche hier mit einer auffällig dichten Militärmetaphorik geschildert werden. Die ach so weisen Männer können sich nicht auf eine gemeinsame Ansicht einigen und haben eben durch ihre abweichenden Meinungen gezeigt, dass man nichts wissen kann. Nun aber wird ein erstaunlicher Argumentationsschritt vollzogen (2,11,1): sed officiant haec nihil, quae impediant plurimum, quominus eis credere atque auscultare debeatis: et quid est, quod in hac parte aut vos plurimum habeatis aut nos minus? vos Platoni, vos Cronio [coni. Ursinus : Plotino coni. Gelenius : crotonio P B]444, vos Numenio vel cui libuerit creditis: nos credimus et adquiescimus Christo.

Wenn man aber über diese negativen Punkte hinwegsehe und den Gegnern zugestehe, dass sie den Philosophen glauben und ihren Worten lauschen, so haben die Heiden auf diesem Gebiet, wie in Form einer rhetorischen Frage ausgedrückt wird, keinen Vorteil und die Christen kein Defizit. Dass dennoch beide Handlungen nicht ganz miteinander vergleichbar sind, wird im unmittelbar folgenden Satz klar: Die Apostrophierten glauben Platon, den Neuplatonikern Kronios und Numenios oder irgendeinem beliebigen Philosophen; die Christen glauben (an) Christus und finden Ruhe in ihm. Einem bloßen Glauben ohne weitere Konsequenzen an einen pluralistisch-beliebigen Philosophen auf paganer Seite steht also der

443 Eine gewollte Ambiguität könnte in dem Ausdruck nihil sciscunt vorliegen: Wie der weitere Verlauf zeigt, ist sciscere hier im Sinne von „genehmigen, für etwas stimmen, anerkennen“ verwendet. Zunächst könnte bei den Rezipienten aber auch die Bedeutung „erforschen, in Erfahrung bringen“ im prägnanten Sinne aktiviert werden: Philosophen trieben dann zwar großen Aufwand, brächten aber letztlich doch nichts wirklich in Erfahrung. 444 Überlieferungsbefund und Konjekturen dieser Stelle werden von GIERLICH (1985) 198 ad loc. ausführlich diskutiert.

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Teil I: Studien zur Bewertung paganer Wissensfelder durch Arnobius

Glaube an Christus allein, der zur inneren Ruhe führt, auf christlicher Seite gegenüber. Der Sprecher fährt folgendermaßen fort (nat. 2,11,2–4): iniquitas haec quanta est, ut, cum utrique auctoribus stemus sitque nobis et vobis unum et socium credere, vobis velitis dari, quod ita ab illis dicatur, accipere, nos ea, quae proferuntur a Christo, audire et spectare nolitis? atquin si causas causis, partes partibus voluerimus aequare, magis nos valemus ostendere, quid in Christo fuerimus secuti, quam in philosophis quid vos. 3. ac nos quidem in illo secuti haec sumus: opera illius magnifica potentissimasque virtutes, quas variis edidit exhibuitque miraculis [...]. 4. vos in philosophis virtutes secuti quas estis, ut magis vos illis quam nos Christo oportuerit credere?

Der Verteidiger sieht in der Ungleichbehandlung von Christen und philosophisch orientierten Nichtchristen eine große Ungerechtigkeit: Beide Gruppen berufen sich auf Autoritäten, und es ist ihnen gemeinsam, dass sie glauben (und nicht etwa wissen). Dennoch gelte dieses zumindest auf den ersten Blick gleiche Verfahren nicht als für beide legitim. Obwohl im darauf folgenden Satz durch die beiden Polyptota causas causis, partes partibus der Eindruck einer weitgehenden Parallelität noch verstärkt wird, lassen sich in dem Teilsatz vobis velitis dari, quod ita ab illis dicatur, accipere, nos ea, quae proferuntur a Christo, audire et spectare nolitis doch einige Unterschiede benennen: Von den Philosophen werden Dinge gesagt, von Christus jedoch werden sie (her)vorgebracht.445 Das Verb accipere wiederum bezeichnet nur in recht allgemeiner Weise ein Empfangen oder Akzeptieren; den Christen dagegen stehen mit Hören und Betrachten zwei konkrete Möglichkeiten offen, Christi Wirken zu rezipieren und zugleich auch zu verifizieren. Demgemäß argumentiert der Sprecher, die Christen könnten eher zeigen, was sie in Christus erreicht hätten, als dies die Heiden bezüglich der Philosophen vermöchten. Konkretisiert wird dies an Jesu Taten und als virtutes bezeichneten übermenschlichen Fähigkeiten, die er durch verschiedene Wunder gezeigt hat. Den Gesprächspartnern jedoch wird in Form einer rhetorischen Frage vorgehalten, dass ihnen keine virtutes zuteil geworden seien, die sie dazu berechtigten, sich selbst gegenüber den Philosophen in höherem Maße zum Glauben verpflichtet zu sehen, als die Christen sich gegenüber Christus verpflichtet sähen. Bemerkenswert an dieser Argumentation ist zweierlei: Der Sprecher begnügt sich zumindest vorläufig damit, zu zeigen, dass die Gegner keine stärkere Legitimation für ihren Glauben haben als die Christen, obwohl er mit Verweis auf die schon angesprochenen Wunder zeigen könnte, dass es die Christen sind, die auf einer solideren „Faktenbasis“ glauben können. Zum anderen versetzt er den Philosophen dennoch einen schweren Schlag, indem er im Rahmen einer sog. fallacia aequivocationis446 implizit eine Polysemie ausnutzt: Durch den Kontext macht der Verteidiger deutlich, dass er mit virtutes übermenschliche Fähigkeiten bzw. die sich aus diesen ergebenden Wunder meint. Im Zusammenhang mit Philosophen 445 Das Verb proferre könnte verwendet worden sein, um absichtlich Ambiguität zu erzeugen, insofern es sowohl „äußern“ als auch „hervorbringen, kreieren“ bedeuten kann. 446 Diese Argumentationstechnik behandelt z.B. Aristoteles in seinen Sophistischen Widerlegungen als [λόγος] παρὰ [...] τὴν ὁμωνυμίαν (4, 165 b 30).

2. „Die“ Philosophie und „die“ Philosophen in Adversus nationes

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aber wird auch die Bedeutung „Vorzüge, Tugenden“ evoziert, und hierbei handelt es sich sozusagen um eine „Kernkompetenz“ der (antiken) Philosophen.447 Gerade auf dem Gebiet der virtutes werden nun also die Verdienste der Philosophen in Zweifel gezogen. Nachdem im Anschluss hieran in einer Passage verschiedene Natur- und Heilwunder Christi aufgezählt worden sind, denen die Philosophen nichts Vergleichbares entgegenzusetzen haben, konzentriert sich der Verteidiger wieder auf die Philosophen selbst (2,11,5f.):448 Ihre charakterliche Tadellosigkeit (morum [...] integritate laudabiles) wird genauso wenig bestritten wie ihre umfassende wissenschaftliche Bildung (omni genere studiorum et disciplinarum paratos). Hierbei werden mit der Rhetorik, der Logik und Dialektik, der Arithmetik449, Musik sowie der Geometrie fünf der Sieben freien Künste genannt; da man die Grammatik unter die Rhetorik subsumiert sehen könnte, fehlt offenkundig nur die Astronomie. Doch gerade ihr Fehlen fügt sich gut in das sonstige Bild ein: Den Philosophen werden keine Kenntnisse in den eigentlichen philosophischen „Kernthemen“ wie z.B. Kosmologie, Theologie, Metaphysik, Ontologie oder Ethik und Moral zugesprochen. Daher stelle ihre Beherrschung bloßer formaler Argumentationstechniken (enthymemata, syllogismi resque aliae similes) keine Garantie dafür dar, dass die Philosophen über die Wahrheit verfügten oder in ihren Ansichten über äußerst ungewisse Dinge Glauben verdienten. Der Vergleich oder gar Wettkampf zwischen Personen dürfe nicht mit Blick auf ihre Beredsamkeit entschieden werden, sondern das Kriterium müsse die wunderwirkende Kraft der vollbrachten Taten sein.450 Mit dieser thetischen Feststellung vollzieht der Sprecher einen argumentativen Quantensprung: Statt etwa einer rhetorisch ausgefeilten Darstellung eine schlichte, aber wahrheitsgemäße entgegenzustellen, eröffnet er eine Antithese zwischen der Rhetorik bzw. Argumentationskunst einerseits und der Fähigkeit, Wunder zu wirken, auf der anderen Seite. Es wird mithin keine Sachauseinandersetzung mehr geführt, es werden keine Argumente der Gegenseite inhaltlich entkräftet, sondern allein Jesu Fähigkeit, Wunder zu wirken, erweist die paganen Philosophen als unterlegen.451 Auch in nat. 2,13,1 nimmt die Argumentation ihren Ausgang von einer wahrgenommenen ungerechtfertigten Ungleichbehandlung: 447 Vgl. z.B. STEMMER (1998), ferner nat. 2,30 (S. 119f.). 448 Da der im Folgenden behandelte Text auf S. 94ff. bereits unter einer anderen Fragestellung betrachtet wurde, wird hier auf die Wiedergabe des lateinischen Wortlautes verzichtet. 449 Sofern sich die Wendung de numerorum generibus nicht etwa auf Metrik oder rhetorische Klauseltechnik bezieht, dürfte damit ein Gebiet der Mathematik bezeichnet sein. Vgl. hierzu auch S. 94. 450 Nat. 2,11,6: personarum contentio non est eloquentiae viribus, set gestorum operum virtute pendenda. ille est dicendus auctor bonus, qui sermonem candidule prompsit, sed qui, quod pollicetur, divinorum operum prosequitur sponsione. 451 Völlig konsequent erscheint daher die unmittelbare Fortsetzung in 2,12,1: Nicht einmal Christus selbst hätte mit Argumenten/Beweisen und „Mutmaßungsspitzfindigkeiten“ (argumenta und suspicionum argutiae) seine Zuhörer für sich gewinnen können.

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Teil I: Studien zur Bewertung paganer Wissensfelder durch Arnobius interea tamen, o isti, qui admiramini, qui stupetis doctorum et philosophiae scita, ita non iniustissimum ducitis inequitare, inludere tamquam stulta nobis et bruta dicentibus, cum vel ea vel talia repperiamini et vos dicere, quae nobis dici pronuntiarique ridetis?

Unter Zuhilfenahme zahlreicher Synonympaare452 richtet der Sprecher eine rhetorische Frage an seine Gegner. Diese bewunderten zwar voller Inbrunst die Lehrsätze der Philosophie, verhöhnten und verspotteten jedoch die Christen, als äußerten diese Torheiten, obwohl man doch herausfinden könne, dass die Heiden ihrerseits dieselben oder zumindest ähnliche Dinge äußerten. Bemerkenswert ist, dass durch die Wendung vel talia präsent gehalten wird, dass die hier diskutierten Ansichten der Christen und die ihrer Gegner eben doch nur ähnlich, aber nicht ganz identisch sind. Es bleibt noch zu fragen, welche Personen hier als explizite Adressaten fungieren. Aufgrund des weiteren Argumentationsverlaufs und der Wendung isti, qui admiramini, qui stupetis doctorum et philosophiae scita erscheint es plausibel, hier an „Philosophierezipienten“ zu denken, also an Menschen, die nicht etwa eigene philosophische Anschauungen entwickeln und argumentativ entfalten, sondern nur die Ansichten anerkannter Autoritäten verinnerlicht haben, selbst jedoch unfähig sind, die darin nach Meinung des Sprechers enthaltenen Parallelen zum christlichen Glauben zu erkennen. Auf einen ganz bestimmten Philosophen bezieht ein Großteil der Forschung die folgende Stelle (nat. 2,64,1f.): „patet“, inquit [sc. Christus], „omnibus fons vitae neque ab iure potandi quisquam prohibetur aut pellitur.“ 2. si tibi fastidium tantum est, ut oblati respuas beneficium muneris, quinimmo si tantum sapientia praevales, ut ea, quae offeruntur a Christo, ludum atque ineptias nomines

Auch an dieser Stelle, für die die communis opinio davon ausgeht, dass mit dem Personalpronomen tibi der Neuplatoniker Porphyrios angesprochen wird,453 erscheint die sapientia der Philosophen in schlechtem Licht, umso mehr, als sie ein Pendant zu dem negativ denotierten Substantiv fastidium darstellt: Obwohl die Quelle des Lebens und der Trunk aus ihr allen Menschen offenstehe, versteige sich der Apostrophierte aus überdrüssigem Stolz dazu, das angebotene Geschenk der Erlösung leichthin von sich zu weisen; ja aufgrund seiner vermeintlichen Überlegenheit, die aus seiner philosophischen Weisheit resultiere, bezeichne er das, was Christus den Menschen anbietet, als Kinderspiel und unangemessene Torheit (ludum atque ineptias). Gerade seine sapientia also verstellt Porphyrios bzw. dem angesprochenen Gegner den Blick für das wahre Potenzial der christlichen Heilsbotschaft. Schließlich werden „aufklärerische“ Konsequenzen philosophischer Forschung in nat. 3,36,1f. thematisiert, wobei ein Bezug zu den Christen hergestellt wird: 452 admiramini/stupetis; doctorum/philosophiae; inequitare/inludere; stulta/bruta; dici pronuntiarique. 453 Vgl. hierzu Kap. 4.2.3 der Prolegomena.

2. „Die“ Philosophie und „die“ Philosophen in Adversus nationes

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si totidem nos modis totidemque sententiis deorum vestrorum subrueremus fidem, nulli esset dubium, quin ira et rabie concitati ignes, feras et gladios atque alia postularetis suppliciorum in nos genera, quibus sitim soletis vestram nostri sanguinis adpetitione proluere. 2. cum vero per vos ipsos prope omnis gens numinum sub ostentatione tollatur ingeniorum atque doctrinae, audetis intendere nostri nominis causa res humanas ab diis premi [...].

In nat. 3,35 waren verschiedene naturphilosophische Theorien über die Beschaffenheit der Welt und des Kosmos referiert worden, aus denen resultierte, dass weder Himmelskörper noch die Erde Götter sind,454 worin der Sprecher eine vielfältige Unterminierung des paganen Glaubens sieht. Wenn die Christen so handelten, erscheint es ihm nicht zweifelhaft, dass sie von den Heiden aufs Grausamste verfolgt würden. Dann wird aber noch einmal deutlich gemacht, dass es die Apostrophierten selbst sind (per vos ipsos), die durch die Zurschaustellung ihres intellektuellen Könnens und ihrer philosophischen Bildung beinahe alle göttlichen Mächte getilgt haben. Hierbei sind drei Beobachtungen festzuhalten: 1. In der Darstellung des Sprechers sind Philosophen radikalere Kritiker der paganen Götter als die Christen. 2. Philosophen werden eindeutig der paganen Sphäre zugeordnet; an dieser Stelle werden die apostrophierten paganen Gegner sogar mit ihnen identifiziert (per vos ipsos). 3. Implizit legen die Ausführungen einen a-maiore-Schluss nahe: Wenn die Philosophen schon lange vielfältige heftige Angriffe auf die tradierten Götterkonzepte lancieren und dennoch keinen Repressalien ausgesetzt sind, dann verdienen die Christen, die doch laut dem Sprecher das pagane Pantheon weniger drastisch angreifen, eine solche Behandlung erst recht nicht. Der Umgang der antiken paganen Gesellschaft mit Philosophen stellt also gewissermaßen ein nachahmenswertes Paradigma für den Umgang mit den Christen dar. 2.3 ERGEBNIS In Adversus nationes finden sich vielfach Äußerungen über „die“ Philosophie und „die“ Philosophen im Allgemeinen, wobei die Lexeme philosophia/philosophus, sapientia/sapiens und doctrina/doctus verwendet werden. Als Themen der Philosophie werden Theologie, Physik und Metaphysik, Logik sowie Ethik und Moral genannt; Bereiche wie Eudämonie und Politik werden nicht unter „Philosophie“ subsumiert. Die Philosophie verfeinert laut dem Sprecher bzw. Arnobius ebenso wie die Medizin und die übrigen Künste das menschliche Leben, hat aber nicht von allem Anbeginn an existiert, sondern ist historisch gesehen recht jung. Obwohl sie ge454 Nat. 3,35,4: quo constituto ac posito summa omnis illuc redit, ut neque sol deus sit neque luna neque aether, tellus et cetera. sunt enim partes mundi, non specialia numinum nomina. Vgl. dazu oben, S. 115.

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Teil I: Studien zur Bewertung paganer Wissensfelder durch Arnobius

wisse Spezialkenntnisse vermittelt, kann sie zentrale Fragen und Probleme aus den Bereichen Kosmologie und Ontologie nicht zufriedenstellend klären, so dass sie in einer umfassenderen Sicht – sozusagen im göttlichen Maßstab – als Torheit gelten muss. Während man diesen Vorwurf nun allem menschlichen Erkenntnisstreben machen muss, ist die Philosophie insbesondere deshalb zu kritisieren, weil Philosophen sich nicht – der Qualität ihrer Urteile (mehr oder minder gut begründete Vermutungen, jedoch kein sicheres Wissen) entsprechend – in Debatten zügeln, sondern mit großem Selbstbewusstsein auftreten. In einer besonders schwierigen Lage befindet sich die Philosophie aber im Hinblick auf ihren Nutzen für die Seele: Mittels Formulierungen, die Ciceros Preis der Philosophie im fünften Buch der Tusculanen evozieren, schildert der Sprecher seine Ansicht, die Philosophie (an dieser Stelle implizit auf Ethik und Moralphilosophie verengt) verliere ihre Daseinsberechtigung, wenn die Seele des Menschen unvergänglich wäre und mithin in der Unterwelt keine Strafe für böses Verhalten im Diesseits erleiden müsste. Wenn die Seele aber doch vergänglich sei, dann lohne es sich nicht, ein tugendhaftes Leben nach Maßgabe der von der Philosophie vermittelten Sittlichkeit zu führen, da es ja keine Belohnung im Jenseits geben könne. Aus dem Fortgang der entsprechenden Passage ergibt sich aber schließlich doch noch (zumindest aus paganer Sicht) eine Funktion für die Philosophie: Da sich die menschliche Seele von Natur aus in einem Schwebezustand (medietas) zwischen Unsterblichkeit und Vergänglichkeit befindet, kann die Philosophie unter Umständen den Menschen doch helfen, nämlich indem sie ihre Seelen reinigt und von Lasterhaftigkeit befreit. Diese Leistung wird aber nur unter Vorbehalt (si verum est) formuliert; außerdem ist zu bedenken, dass die Verleihung der Unsterblichkeit an das Anerkennen des höchsten Gottes, wie ihn Christus offenbart, als Bedingung geknüpft ist. Ferner erschien es denkbar, falls für nat. 3,12,2f. nicht eine ironische Sprechhaltung anzunehmen ist, auch die allegorische Deutung von Texten, die von gewissen „Lehrern eines tieferen Verständnisses“ (altioris intellegentiae doctores) betrieben wird, als Leistung der Philosophie zu betrachten. Somit würde die auch von Philosophen betriebene Allegorese das wahre Verständis einiger Produkte menschlicher Schaffenskraft fördern; allerdings ist zu bedenken, dass der Verteidiger andernorts die allegorische Deutung paganer Mythen heftig kritisiert. Schließlich ist auf nat. 3,15 hinzuweisen, wo mit sapientia die pagane Philosophie wohl zumindest partiell gemeint sein dürfte. Diese „Weisheit“ führt zwar in der Sicht der Heiden zu umfassendem theologischen Wissen, verleitet in Wirklichkeit aber zu anmaßendem Hochmut und herablassendem Desinteresse gegenüber der wahren christlichen Offenbarung, während sie die Heiden nicht einmal dafür sensibilisiert hat, dass ihre althergebrachten theologischen Anschauungen völlig unhaltbar sind. Von den Philosophen selbst wird meist kein besonders vorteilhaftes Bild gezeichnet: Zwar wird ihnen an einer Stelle charakterliche Untadeligkeit attestiert. Doch sie halten sich selbst zwar allein für die weisesten Menschen, kämpfen aber täglich mit ihren eigenen Begierden und zeigen gerade dadurch, wie anfällig die menschliche Natur für Laster ist. Und noch an einer anderen Stelle sind es „philo-

2. „Die“ Philosophie und „die“ Philosophen in Adversus nationes

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sophisch-kluge und tapfere Männer“ (sapientes et fortes viri), die unter dem Einfluss erotischer Begierde ihre ethischen Maximen preisgeben. Schließlich wird an einer Stelle indirekt Kritik an ihrem äußeren Gebaren geübt, indem der Bart einer Statue spöttisch als „so dicht wie der eines Philosophen“ (philosophae densitatis) bezeichnet wird. Zur Methodik der Philosophen, die an einer Stelle gelehrte Männer mit herausragenden geistigen Fähigkeiten genannt werden, äußert sich der Sprecher mehrfach: Unter diesen lägen die verschiedenen Parteien und Schulen miteinander im Wettstreit und könnten für ihre jeweiligen Standpunkte plausible Beweisgründe anführen. Gerade was die Beschaffenheit der Seele betreffe, gingen die Meinungen weit auseinander; der wichtigste Gewährsmann aber, in dem man wohl Christus sehen darf, habe die Wahrheit über diesen Punkt geoffenbart, so dass ihm ein absoluter Primat vor den einzelnen Philosophenmeinungen zukomme. Allgemein wird die Schwäche und Unwissenheit der Menschen und damit auch der Philosophen als so ausgeprägt dargestellt, dass sie selbst dann, wenn sie etwas Wahres gesagt haben, sich dieses Umstandes nicht sicher sein können. Philosophen, die sich dem Schicksal entzogen fühlen, weil sie ein asketisches Leben führen, werden in einem Atemzug mit Magiern und etruskischen Opferritualen genannt, eine Zusammenstellung, aus welcher die Fruchtlosigkeit gewisser Philosophenbemühungen um Unsterblichkeit umso deutlicher wird: Nur vom christlichen Gott kann aus Sicht des Sprechers die Unsterblichkeit der Seele erlangt werden. Eine interessante Facette wird dem Philosophenbild in nat. 7,10 hinzugefügt: In humoristischer Ausdrucksweise werden dort die Diskussionslust der Philosophen sowie die Verve und Inbrunst verdeutlicht, mit der sie ihre Ansichten verteidigen. Durch die Verwendung des Ausdrucks universus ille doctissimorum chorus wird hier allerdings aus argumentationstaktischen Gründen eine sonst häufig negierte Geschlossenheit unter den Philosophen vermittelt, selbst wenn man darin nur die Anhänger eben dieser einen Ansicht erkennen möchte. Schließlich spendet der Sprecher einigen Philosophen noch ein methodisches Lob: Sie hätten rhetorischen Putz absichtlich aufgegeben und hätten schlicht formuliert, um die würdevolle Strenge ihrer Inhalte nicht zu beeinträchtigen. Umgekehrt lässt sich hieraus jedoch schließen, dass viele ihrer Berufsgenossen anders verfahren, sich also durchaus um eine stilistisch ausgefeilte Darstellung bemühen und somit die wünschenswerte Konzentration auf den Inhalt vermissen lassen. Philosophen werden in Adversus nationes jedoch auch zuweilen als Bürgen für die Richtigkeit des Christentums oder die Falschheit paganer Ansichten angeführt. So wird etwa an einer Stelle darauf hingewiesen, dass unter anderen Honoratioren des intellektuellen Lebens auch Philosophen (oder an Philosophie Interessierte) ihre früheren Überzeugungen aufgegeben hätten, so dass das Christentum aus ihrer Reputation einen Beweis für seine Rationalität gewinnen kann. Mehrfach werden überdies Philosophen als Gewährsleute für Sachverhalte angeführt, die für die Argumentation des Sprechers nützlich sind; hierin kann man einen Ansatz arnobianischer Chrêsis sehen, da ja selektiv-kritisch auf Teilwahrheiten der paganen Philosophie zugegriffen wird, um in christlicher Sicht verfehlte Ansich-

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ten zu widerlegen. Dabei werden diese Anschauungen der Philosophen aber immer als Meinungen oder Überzeugungen gekennzeichnet, niemals als sicheres, absolut verlässliches Wissen. Dennoch genießen die Philosophen unter den Heiden den intellektuellen Primat, und ihren Lehrmeinungen eignet prinzipiell ein gewisses persuasives Potenzial. An einigen Stellen werden jedoch auch Philosophen oder Weise genannt, ohne explizit als Teilautoritäten oder Zeugen angeführt zu werden; zuweilen erscheint ihre Bezeichnung als sapientes aber fast spöttisch, da ihre Thesen gerade nicht von Rationalität oder Weitsicht zeugen. Intensiv wird ferner das Verhältnis von Philosophen und Christen in Adversus nationes thematisiert. Hierbei konstatiert bzw. konstruiert der Sprecher zwar zunächst weitgehende Parallelen: Beide Personengruppen glauben den Worten von Autoritäten, die Christen den Worten Jesu, die Philosophen zum Beispiel denen von Thales, Heraklit, Platon oder Numenios. Die Philosophen, die über keinerlei sicheres Wissen verfügen und noch dazu untereinander in heftigem Streit liegen, sind sich dieses Umstandes aber gar nicht bewusst, sondern kreiden im Gegenteil den Christen ihre vermeintliche Leichtgläubigkeit (credulitas) an, eine Ungleichbehandlung, über die sich der Sprecher heftig empört. Diese Empörung erscheint ihm umso begründeter, da Philosophen zwar charakterlich untadelig und umfassend gebildet sein mögen, aber durch die Fähigkeit Christi, Wunder zu wirken, als prinzipiell unterlegen erwiesen werden. Dennoch lässt sich bei einem ganz konkret apostrophierten Philosophen, den die Forschung meist als den Neuplatoniker Porphyrios identifiziert, beobachten, dass er gerade durch seine Weisheit bzw. die daraus resultierende Arroganz und Hybris daran gehindert wird, die heilbringenden Gaben Christi zu erkennen. Hinzuweisen ist schließlich noch auf eine Stelle, in der philosophische und christliche Götterkritik miteinander verglichen werden, wobei die Philosophen vom Sprecher als deutlich radikalere Kritiker bezeichnet werden, die aber keinen Repressalien ausgesetzt seien. Implizit könnte man darin einen Vorschlag sehen, wie die pagane Welt angemessener und gerechter mit den Christen umgehen könnte. 2.4 EXKURS: SAPIENTIA BEI MENSCH UND GOTT Wie bei der Behandlung von nat. 2,6 deutlich wurde, sieht der Sprecher einen Zusammenhang zwischen Philosophie, menschlicher Weisheit und göttlichem Wissen.455 Daher erscheint es zur Komplettierung des Bildes lohnenswert, abschließend noch zu untersuchen, wie in Adversus nationes die Begriffe sapientia bzw. sapiens im Zusammenhang mit Menschen, dem christlichen Gott und den paganen Göttern an denjenigen Stellen verwendet werden, die nicht im engeren Sinne mit Philosophie befasst sind.

455 Nat. 2,6,3: sapientiam hominis stultitiam esse apud deum primum. Vgl. hierzu oben, S. 117.

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2.4.1 Menschliche sapientia Die in nat. 2,12 apostrophierten Gegner haben nichts von der Ausbreitung des Christentums erfahren und haben dieser Entwicklung und darin einzuordnenden Einzelereignissen auch kein Interesse entgegengebracht.456 Stattdessen nennen sie das, was in Wirklichkeit Stolz und aufgeblasene Eitelkeit ist, „Weisheit“ (2,12,5: quod typhus est, sapientiam vocatis). Es ist gut möglich, dass die vermeintliche Weisheit, die dem vom Sprecher unterstellten Desinteresse zugrunde liegt, hier entweder die Philosophie direkt bezeichnen soll oder dass damit eine „Weisheit“ gemeint ist, die aus der Philosophie resultiert. Jedenfalls wird das Substantiv sapientia an dieser Stelle als unzutreffende Bezeichnung einer falschen Geisteshaltung entlarvt. Der Begriff sapiens kann auch dazu verwendet werden, eine implizite Kritik an Philosophen zu formulieren, wie nat. 2,51,4f. zeigt: nam si scire est illud, quod ipse tu videris aut cognoveris, animo continere, nihil eorum, quae adseritis, potestis vos dicere aliquando vidisse, id est, animas sede ab supera et regione descendere. 5. suspicione ergo utimini, non cognitionis expressae fide. […] ergo qui suspicatur, non tenet nec in lumine positus cognitionis incedit. quodsi verum et fixum est, apud rectos et sapientissimos iudices et ista vestra, qua fiditis, pro ignoratione est habenda suspicio.

Während er die Ansichten seiner Gegner bezüglich der Herkunft der menschlichen Seele attackiert, greift der Sprecher auf eine Definition von „wissen“ als „etwas gesehen oder erkannt haben“ zurück. Da aber keiner der Gegner jemals gesehen habe, dass die Seelen von einem höheren Ort zur Erde herabgekommen seien, handele es sich bei diesem Philosophem lediglich um eine Vermutung.457 Als unzweifelhaft und unumstößlich jedoch betrachtet der Verteidiger deren Bewertung: Vor aufrichtigen und überaus weisen Richtern (apud rectos et sapientissimos iudices) müsse die Vermutung, auf welche die Heiden vertrauten, als Unkenntnis gelten. Die sprachliche Pointe liegt hierbei darin, dass die bloße Meinung der Philosophen, die häufig als sapientes bezeichnet werden, laut dem Sprecher von Männern richtig eingeordnet wird, die in seiner Sicht als sapientes in höchstem Maße gelten dürfen. Abermals wird also klar, wie fragwürdig die gebräuchliche Bezeichnung sapiens als Synonym für philosophus ist. Bei der Behandlung des phrygischen Mythos des Wesens Agdestis, das von Dionysos entmannt worden sein soll, wirft der Sprecher die folgenden Fragen bezüglich des Vorgehens der Götter auf (nat. 5,12): 456 2,12,3ff.: non distulerunt tamen res patrias linquere et veritati coalescere Christianae. viderant enim currum Simonis magi et quadrigas igneas Petri ore difflatas et nominato Christo evanuisse; quae omnia vos gesta neque scitis neque scire voluistis neque umquam vobis necessaria iudicastis. 457 GIERLICH (1985) 303 macht in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, dass man gerade den Christen vorgeworfen habe, sie beriefen sich ausschließlich auf den Glauben und schätzten wissenschaftliche Forschung gering; vgl. z.B. Origenes’ Referat der Polemik des Kelsos in Cels. 1,9 ([sc. Κέλσος] φησὶ δέ τινας μηδὲ βουλομένους διδόναι ἢ λαμβάνειν λόγον, περὶ ὧν πιστεύουσι, χρῆσθαι τῷ „μὴ ἐξέταζε, ἀλλὰ πίστευσον“ καὶ „ἡ πίστις σου σώσει σε.“). Ebd. weiterführende Literatur.

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Teil I: Studien zur Bewertung paganer Wissensfelder durch Arnobius hocine de diis quisquam vel exigua dixerit eorum opinione pollutus? aut si talibus occupati sunt negotiis, cogitationibus, curis, quisquam eos sapiens aut deos esse crediderit aut inmortalium saltem in numero conputaverit?

Auch jemand, der von den paganen Göttern nur eine ungefähre Vorstellung habe, könne wohl solches kaum über sie sagen. Wenn sie sich aber wirklich mit solchen Geschäften, Überlegungen und Sorgen beschäftigten, dann könne kein sapiens diese Wesen für Götter oder auch nur unsterblich halten. Obwohl sich vergleichbare Überlegungen z.B. bei dem Vorsokratiker Xenophanes finden lassen,458 wird man sapiens, da dieses Argument auf möglichst breite Wirkung zielt und im weiteren Kontext nirgendwo von Philosophen die Rede ist, hier am besten als „jemand mit gesundem Menschenverstand“ auffassen. Somit dürfte hier indirekt den Rezipienten ein Kompliment gemacht sein: Jeder Zuhörer bzw. Leser, der den Sachverhalt genauer durchdenkt, wird sich der Meinung des Verteidigers anschließen können und sich demnach ebenfalls als sapiens betrachten dürfen. Im umfassenden Sinne verwendet begegnet sapientia in nat. 6,16,1: itaque immemores et obliti simulacrorum substantiae atque originis quae sit hominis, rationale animal et sapientiae munere consiliique donatum coctilibus testis succumbitis, aeris lamminas adoratis, elephantorum ab dentibus secundas poscitis valetudines […] et, cum pateat, luceat, rebus fieri verba cum brutis, exaudiri vos remini ipsique vos ultro credulitatis vacuae circumscriptione traducitis.

Im Zuge seiner Kritik an paganen Götterbildern und Kultgegenständen macht der Sprecher auf einen bemerkenswerten Zwiespalt aufmerksam: Obwohl es ganz evident sei, dass es sich um unbelebte Materie und leblose Gegenstände handele, glaubten die Heiden, bei ihnen Gehör zu finden, und betrögen sich somit selbst. Dies sei umso unbegreiflicher, als man doch das jeweilige Material und die Herkunft der Objekte kenne und die Menschen doch vielfältige Geistesgaben besäßen, ein Sachverhalt, der gleich dreifach entfaltet wird: Der Mensch sei ein vernunftbegabtes Wesen (rationale animal), und er sei mit der Gabe der Weisheit sowie der besonnenen, zu planerischem Denken fähigen Klugheit beschenkt (sapientiae munere consiliique donatum). Hier ist sapientia also nicht als Synonym für philosophia verwendet, sondern bezeichnet ein generelleres intellektuelles Vermögen des Menschen. Eine inhaltliche Pointe liegt vor in rebus […] verba cum brutis: Trotz allen intellektuellen Potenzials, über das die Heiden aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Spezies „Mensch“ prinzipiell verfügen müssten, erkennen sie nicht, dass es sich bei Kultobjekten um „stockdumme“459 Gegenstände handelt. Wohl im Sinne von „richtiges Urteilsvermögen“ wird sapientia auch in nat. 7,30,4 verwendet:

458 Xenophanes: 21 B 11 D./K.: πάντα θεοῖσ’ ἀνέθηκαν Ὅμηρος θ’ Ἡσίοδός τε, / ὅσσα παρ’ ἀνθρώποισιν ὀνείδεα καὶ ψόγος ἐστίν, / κλέπτειν μοιχεύειν τε καὶ ἀλλήλους ἀπατεύειν; 21 B 12 D./K.: ὡς πλεῖστ(α) ἐφθέγξαντο θεῶν ἀθεμίστια ἔργα, / κλέπτειν μοιχεύειν τε καὶ ἀλλήλους ἀπατεύειν. 459 So GEORGES (2013) s.v. 1. brutus II 2.

2. „Die“ Philosophie und „die“ Philosophen in Adversus nationes

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non nobis est sermo cum hominibus rationis expertibus neque quibus non sit communis intellegentiae veritas: inest et vobis sapientia, inest sensus, verumque nos dicere apud vos ipsi interiore iudicio scitis.

In der Sicht des Sprechers stellt ein Trankopfer für eine Gottheit einen heftigen Affront dar: Es gebe kaum eine größere Schande als zu glauben, Götter würden gnädig, wenn man ihnen Wein gebe, oder man erweise ihnen große Ehre, wenn man ein paar Tropfen Wein auf glühende Kohlen träufle.460 Das müssten doch auch die Gesprächspartner einsehen, denn die Christen unterhielten sich doch nicht mit Leuten, die weder Vernunft noch die durch die allgemeine Erkenntnisfähigkeit gewinnbare Wahrheit461 besäßen. Im Gegenteil: Auch ihnen – ebenso wie den Christen – wohne Weisheit oder Vernunft inne, und sie wüssten aufgrund ihres inneren Urteils, dass die Christen die Wahrheit sagten. Eine wichtige Möglichkeit, welche die sapientia eröffnet, ist also das Erkennen der Defizienz eigener Ansichten bzw. das Akzeptieren des Umstands, dass der Diskussionspartner die richtige Meinung vertritt. 2.4.2 Göttliche sapientia 2.4.2.1 sapientia des christlichen Gottes Die absolute Wertigkeit des Adjektivs sapiens illustriert nat. 2,46,1f.: sed procul haec abeat [...] tam immanis et scelerata persuasio, ut ille salus rerum deus, omnium virtutum caput, benignitatis et columen atque, ut eum laudibus extollamus humanis, sapientissimus, iustus, perfecta omnia faciens et integritatis suae conservantia mensiones, 2. aut aliquid fecerit claudum et quod minus esset a recto […].

Das Attribut „der weiseste“ gebührt dem christlichen Gott; man muss sich aber bei dieser Prädikation darüber im Klaren sein, dass es sich bei ihr um ein Lob aus der (beschränkten) menschlichen Sphäre handelt. Dem wahren, transzendenten Wesen Gottes wird also selbst der Superlativ von sapiens nicht gerecht.462 Eine wichtige Ergänzung zu nat. 2,46,1f. stellt der folgende Text (nat. 3,19,1ff.) dar:

460 Nat. 7,30,3: et quae gravior infligi contumelia dis potest, quam si eos credas accepto mero propitios fieri aut honorem existimes habitum his magnum, si modo vini exigui rores super vividam ieceris atque instillaveris prunam? 461 Vgl. BRYCE/CAMPBELL (1895) 339f.: „common understanding“. MCCRACKEN (1949a) 469 hingegen übersetzt communis intellegentiae veritas mit „a capacity for truth as it is commonly understood“, und LAURENTI (1962) 231 sowie AMATA (2000) 396 formulieren: „vero discernimento naturale“. FRAGU (2010) 52 übersetzt: „qui nʼont pas en commun avec nous une intelligence véritable“, VON BESNARD (1842) 199: „denen der Erkenntniß Wahrheit nicht gemeinsam ist“. 462 Auf die Andersartigkeit des lactanzischen Begriffes von sapientia als Allwissenheit Gottes weist GIERLICH (1985) 295 ad loc. hin; vgl. ferner THOMAS (1959).

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Teil I: Studien zur Bewertung paganer Wissensfelder durch Arnobius ac si nostri animi motum non recusatis audire, tantum abest, ut nos deo corporalia liniamenta tribuamus, ut animorum etiam decora ipsasque virtutes, quibus eminere vix concessum est paucis, tantae rei vereamur adscribere. 2. quis enim deum dixerit fortem, constantem, frugi, sapientem? […] humana sunt haec bona et ex oppositione vitiorum existimationem meruerunt habere laudabilem. […] 3. quicquid de deo dixeris, quicquid tacitae mentis cogitatione conceperis, in humanum transilit et corrumpitur sensum, nec habeat propriae significationis notam, quod nostris dicitur verbis atque ad negotia humana compositis.

In 2,46,1f. war Gott mit verschiedenen ehrenden Titeln und Attributen belegt worden, unter anderem mit den Adjektiven sapientissimus und iustus, wobei aber betont worden war, dass es sich um menschliche Lobesworte handele (ut eum laudibus extollamus humanis). In 3,19 aber betont der Sprecher, dass die Christen, für die er unter Verwendung der ersten Person Plural spricht, soweit davon entfernt seien, Gott körperliche Züge zuzuschreiben, dass sie sich sogar scheuten, ihm geistige Vorzüge zuzuweisen, durch welche nur wenige Menschen hervorragten.463 Niemand nämlich, so fährt der Sprecher in Form einer rhetorischen Frage fort, dürfte Gott wohl stark, standhaft, anständig oder weise nennen, da diese vorteilhaften Eigenschaften der menschlichen Sphäre entstammten und nur deshalb ehrenvoll seien, da sie das Gegenteil der entsprechenden Fehler darstellten. Es lässt sich also erkennen, dass an dieser Stelle – entsprechend dem übergeordneten Argumentationsziel, zu zeigen, dass Götter keine (physischen) menschlichen Attribute haben können – eine rigidere semantische Beschränkung vorgenommen wird, die den Gebrauch des Adjektivs sapiens in Bezug auf Gott nun nicht mehr mit einer Kautel billigt, sondern ihn ganz verwirft. Dies gilt allerdings nicht nur für die Qualität „weise“: Jede Aussage über Gott, ja sogar jeder nicht das Stadium phonetischer Realisierung erreichende Gedanke über Gott bleibt der menschlichen Sphäre verhaftet und genügt somit nicht für eine treffende Prädikation Gottes, weil jeder Gedanke in menschlichen Begriffen konzipiert wird, welche wiederum nur für menschliche Belange geschaffen sind.464 2.4.2.2 sapientia paganer Götter Bezüglich der sapientia wahrer Götter465 ist u.a. die folgende Stelle (nat. 1,23,1f.) aufschlussreich: 463 CHAMPEAUX (2007) 84 ad loc. betont zu Recht, dass sich die ganze Passage gegen stoische Gottesvorstellungen wendet. Vgl. etwa Cic. leg. 1,25 (virtus eadem in homine ac deo est; aus dem Munde der Dialogfigur Marcus), Sen. epist. 95,36 und Orig. Cels. 6,48 (τὴν αὐτὴν ἀρετὴν λέγοντες ἀνθρώπου καὶ θεοῦ οἱ ἀπὸ τῆς Στοᾶς φιλόσοφοι). 464 Nat. 3,19,3: nihil de illo posse mortali oratione depromi. 465 Das Konzept, das Arnobius von paganen Göttern hat, ist ein vieldiskutiertes Problem, wohl auch deshalb, weil die Sprecher-persona je nach Argumentationszusammenhang diesbezüglich verschiedene (auch nur hypothetische) Positionen einnimmt. Vgl. z.B. LAURIN (1954) 171 („lui-même semble parfois [...] admettre l’existence [des dieux païens], mais ce n’est, de toute évidence, que pour les besoins de sa défense du christianisme“) und QUASTEN (1964) 389f. („In some passages [...] he seems sure that they cannot exist, in others doubtful. [...] Of course in all these passages it remains doubtful whether the author expresses his personal

2. „Die“ Philosophie und „die“ Philosophen in Adversus nationes

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ceterum dii veri [B2 : vestri P B1] et qui habere, qui ferre nominis huius auctoritatem condigni sunt, neque irascuntur neque indignantur neque quod alteri noceat insidiosis machinationibus construunt. 2. etenim re vera est impium et sacrilegia cuncta transcendens sapientem illam credere beatissimamque naturam magnum aliquid putare, si se sibi aliquis adulatoria humilitate summittat.

Wahre Götter empfänden keine negativen Emotionen und wollten niemandem hinterhältig schaden. Es sei sogar äußerst frevelhaft, zu glauben, Götter legten Wert auf Demutsbezeugungen (und ließen aufgrund solcher Gesten von ihren eventuellen Strafabsichten ab). Die Erklärung für diesen Gleichmut gegenüber menschlichem Verhalten liefern die Attribute der Götter: Ihnen eigne ein weises und überaus glückliches Wesen (sapientem […] beatissimamque naturam). An der vorliegenden Stelle, an der (wahre) Götter in Adversus nationes überhaupt zum ersten Mal mit dem Wortfeld sapientia/sapiens in Verbindung gebracht werden, erfahren sie also eine uneingeschränkte Qualifizierung als „weise“. Etwas anders stellt sich der Befund in nat. 6,2,1 dar: ut enim noscatis, quid de isto nomine sentiamus iudiciique simus cuius, existimamus nos eos – si modo dii certi sunt, ut eadem rursus satiateque dicantur – cunctarum esse debere perfectarumque virtutum, sapientes, iustos, graves – si modo nulla est culpa, quod eos laudibus adcumulamus humanis

Der Sprecher will definieren, was Christen unter dem Begriff dii certi verstehen, den er für eine Auszeichnung hält.466 Dabei hebt er durch den Einschub ut eadem rursus satiateque dicantur hervor, dass er ein kohärentes Konzept in dieser Frage vertritt: Solche Götter müssten alle Tugenden in Vollendung besitzen. Beispielhalber werden nun drei Eigenschaften genannt, von denen allerdings Weisheit (sapientes) und Gerechtigkeit (iustos) als Tugenden im eigentlichen Sinne gelten können, während die ernste Würde (graves) zwar eine im traditionellen römischen und auch im christlichen Wertekanon anerkennenswerte Eigenschaft, aber keine Tugend darstellt. Der Verteidiger schiebt aber einen relativierenden Konditionalsatz hinterher: Diese Aussage gelte nur, falls es keine Verfehlung sei, die dii certi mit menschlichen Lobesworten zu überhäufen. Auch hier werden also wieder Vorbehalte gegen die Attribuierung transzendenter Entitäten mit menschlichen conviction or merely concedes something for the sake of the argument.“). Vgl. z.B. nat. 1,28,5: patrem veneramur illorum, per quem, si sunt, esse [...] coeperunt. – Zur Forschungsdebatte vgl. u.a. MCCRACKEN (1949a) 30ff., BURGER (1970) 72ff., VAN DER PUTTEN (1971b), JUFRESA (1973), SIMMONS (1995) 174ff. und CHAMPEAUX (2018) 331ff. Plausibel erscheint die u.a. von SIMMONS (1995) 175 vorgeschlagene Differenzierung zwischen den „Göttern“ der paganen religiösen Literatur und den göttlichen Wesen der platonischen Tradition. Die aus der Literatur und dem Kult bekannten anthropomorphen „Götter“ verdienten diese Bezeichnung u.a. aufgrund ihrer Affekte und ihres unmoralischen Verhaltens nicht. Zumindest denkbar erscheine es aber für Arnobius, dass es affektlose Entitäten gebe, die in ihrem Wesen und Verhalten dem christlichen Gott ähnelten; diese dürften dann, falls sie wirklich existieren sollten, als „wahre Götter“ bezeichnet werden. – Die Frage, ob bei Arnobius eine spezifisch afrikanische pagane Religiosität eine Rolle spiele, wird von FASCE (1980) und SIMMONS (1995) 184ff. bejaht, von CHAMPEAUX (2015) 49 hingegen verneint. 466 Nat. 6,1,3: si modo dii certi sint et nominis huius eminentia praediti […].

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Teil I: Studien zur Bewertung paganer Wissensfelder durch Arnobius

(also sowohl von Menschen ausgesprochenen als auch für Menschen passenden) Eigenschaften artikuliert; sie wiegen aber bei weitem nicht so schwer wie bei der Anwendung derselben Frage auf den christlichen Gott in nat. 3,19. Zur Frage, ob transzendente Wesen mit dem Attribut „weise“ beschrieben werden dürfen, muss auch die folgende Passage (nat. 3,28,2) berücksichtigt werden: ubinam, quaeso, est illud, quod ab omni perturbationis adfectu dii procul amoti sunt, quod lenes, placidi, mites, quod in genere virtutis unito perfectionis apicem atque ipsius retinent sapientiae summitatem?

Der Sprecher rekurriert auf eine pagane philosophische Ansicht, die er in leicht ungehaltenem Ton (ubinam, quaeso) in Erinnerung ruft. Es handelt sich dabei um das epikureische Philosophem von der Affektlosigkeit der Götter,467 die freundlich und mild seien und zudem in vollendeter Tugend absolute Perfektion sowie das Höchstmaß an Weisheit besäßen. Diese Passage stellt allerdings keinen Widerspruch zu den beiden oben in 2.4.2.1 behandelten Texten dar: An jenen Stellen nämlich wird die Möglichkeit, adäquate Aussagen über die sapientia des christlichen Gottes zu treffen, problematisiert (nat. 2,46) oder sogar ganz verworfen (nat. 3,19). Abgesehen davon, dass an der aktuellen Stelle ein paganes theologisches Philosophem referiert wird, betont der sich ergebende Befund gerade den prinzipiellen Unterschied zwischen den paganen Göttern und dem christlichen Gott: Dadurch dass man den Göttern ein Höchstmaß an Weisheit zugestanden hat, hat man sie implizit der menschlichen Sphäre zugeordnet, indem man eine menschliche Eigenschaft in größerem Maßstab auf sie projiziert hat. Gerade die ihnen zugestandene sapientiae summitas könnte also als Beweis für ihre nur im uneigentlichen Sinne postulierbare „Göttlichkeit“ betrachtet werden.468 Ganz unbefangen wird das Verhalten von (wahren) Göttern dem Maßstab der sapientia in nat. 7,8,5ff. unterworfen: hoc est enim proprium numinum: liberales venias et concessiones habere gratuitas. 6. quod si fieri non potest, sapientius multo est pertinaciter eos in offensione durare quam munerum corruptione mitescere. 7. crescit enim multitudo peccantium, cum redimendi peccati spes datur, et facile itur ad culpas, ubi est venalis ignoscentium gratia.

Unmittelbar vorausgeschickt hatte der Sprecher seine Ansicht, Götter müssten, wenn es denn überhaupt recht sei, ihnen Emotionen zuzuschreiben, ihren Zorn ohne Gegenleistung aufgeben.469 Wenn dies aber nicht geschehen könne, dann sei es viel vernünftiger, wenn sie verärgert blieben, als wenn sie sich durch Gaben bestechen ließen, da, wie in Form einer allgemeinen Feststellung angefügt wird, sich umso mehr Leute verfehlen, wenn Hoffnung auf Wiedergutmachung besteht und Verzeihung/erneute Gunst erkauft werden kann. Im Gegensatz zu anderen 467 Vgl. z.B. ERLER (1994) 150. 468 Zu Euhemeros wiederum und seiner Rolle bei Arnobius vgl. S. 294 mit Anm. 437. 469 Nat. 7,8,4: atquin ego rebar deos, si modo rectum est credere, quod motibus exagitentur irarum, sine ullis praemiis nullisque mercedibus iras atque animos ponere et peccatoribus delicta donare.

2. „Die“ Philosophie und „die“ Philosophen in Adversus nationes

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Stellen also, wo Zweifel geäußert worden waren, ob man die paganen Götter überhaupt mit Attributen wie sapientia belegen dürfe oder ob diese deren Wesen nicht gerecht würden, wird hier das Verhalten der Götter als sogar nach menschlichen Maßstäben wenig vernünftig bloßgestellt. Eine letzte einschlägige Stelle zur möglichen Weisheit von Göttern findet sich in nat. 7,36,5: nos inconveniens ducimus, quin immo incredibile iudicamus eos, qui gradibus mille genus omne virtutum perfectionis transierint summitate, in voluptatibus habere atque in deliciis esse res eas, quas homo sapiens rideat et quae non aliis videantur continere aliquid gratiae quam infantibus parvulis et trivialiter et populariter institutis.

Unter Rekurs auf mehrere zuvor kritisierte Aspekte der paganen Kultpraxis (u.a. das Theater)470 und Gottesvorstellung betont der Verteidiger, dass es aus christlicher Sicht unschicklich, ja sogar unglaublich sei, dass Götter, die jede Art von (menschlichen) Tugenden um tausend Stufen in absoluter Vollkommenheit überschritten, an denjenigen Dingen Gefallen finden könnten, über die ein Weiser lache und die nur kleinen Kindern und unzureichend Gebildeten angenehm erschienen. Auch hier wird also die immense Überlegenheit der Götter gegenüber den Menschen hervorgehoben, aus der beinahe eine Unbeschreibbarkeit resultiert. Dieser Befund ist mit einem argumentum a minore verbunden: Wenn schon ein weiser Mensch über die Kultpraktiken nur lachen kann, um wieviel mehr müssen sie dann einem unermesslich weiseren Gott lächerlich erscheinen? Der homo sapiens, in dem man vielleicht einen Philosophen sehen darf, dient also einerseits als Maßstab für die paganen Götter; andererseits ist er aber wieder aus der Gruppe der Menschen als intellektuell besonders leistungsfähig herausgehoben.471 2.4.3 Fazit des Exkurses Obwohl sich hinter der „Weisheit“ der Menschen zuweilen bloße aufgeblasene Eitelkeit verbirgt, können überaus weise Richter (sapientissimi iudices) manche philosophische Überzeugung als nichtig entlarven, so dass die Fragwürdigkeit des Sprachgebrauchs, in dem sich sapientes als Synonym für philosophi findet, erkennbar wird. An einigen Stellen wird hingegen deutlich, dass sapientia auch im Sinne von „Erkenntnisvermögen“, „richtiges Urteilsvermögen“, „gesunder Menschenverstand“ gebraucht wird, so dass prinzipiell jeder Mensch, der Sachverhalte intellektuell durchdringt und die Falschheit paganer Anschauungen erkennt, sich als sapiens fühlen kann. Für die allgemeine Semantik des Adjektivs sapiens und auch für dessen Superlativ ist zu bedenken, dass es sich dabei nur um ein menschliches und damit defizitäres Lobeswort handelt, wie der Sprecher hervorhebt. An einer Stelle verwendet er das Adjektiv im Superlativ in Bezug auf den christlichen Gott mit ei470 Vgl. hierzu unten, S. 167f. 471 Vgl. hierzu auch die Besprechung von nat. 7,19 oben auf S. 136.

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Teil I: Studien zur Bewertung paganer Wissensfelder durch Arnobius

nem erläuternden Kommentar; an einer anderen Stelle verwirft er seinen Gebrauch im Blick auf den christlichen Gott in Form einer rhetorischen Frage. An der ersten Stelle innerhalb von Adversus nationes jedoch, an der (vom christlichen Gott verschiedene) „wahre Götter“ (dii veri) mit dem Wortfeld sapientia/sapiens in Verbindung gebracht werden, wird ihnen ohne Restriktion ein weises Wesen zugeschrieben; bei einer späteren Nennung von dii certi hingegen wird eine Einschränkung formuliert. Im Referat des epikureischen Philosophems von der Affektlosigkeit der Götter wird diesen ein Höchstmaß an Weisheit zugestanden; vielleicht soll aber gerade durch diese menschliche Attribuierung ihre nach Meinung des Sprechers nicht im eigentlichen Sinne behauptbare Göttlichkeit bloßgestellt werden. Andernorts wiederum werden pagane Götter bezüglich ihrer sapientia beurteilt, ohne dass die Adäquatheit dieses Begriffes diskutiert würde; ja ihr Verhalten wird sogar als nach menschlichen Begriffen wenig vernünftig erwiesen. Schließlich finden sich göttliche und menschliche sapientia auch in einem argumentum a minore miteinander verbunden: Wenn schon einem weisen Menschen die paganen Kultpraktiken lächerlich erscheinen, dann muss, so der Sprecher, eine tausendfach weisere Gottheit zweifellos zur selben Bewertung gelangen.

3. DICHTUNG UND DICHTER IN ADVERSUS NATIONES 3.1 STAND DER FORSCHUNG Die zentrale Bedeutung der Dichtung für das Geistesleben der Antike steht außer Frage. Bekanntermaßen nahm die Lektüre poetischer Werke im Bildungsgang eines Römers der Oberschicht breiten Raum ein, sowohl beim grammaticus, wo man neben Homer, Euripides und Menander Vergil und Terenz las,472 als auch bei der rhetorischen Ausbildung, in deren Rahmen etwa die aufmerksamkeitssteigernde Wirkung eines in die Rede eingestreuten Verses hervorgehoben473 und die Lektüre poetischer Texte empfohlen wurde.474 Auch die Bedeutung, die (qualitativ hochwertiger) Dichtung im öffentlichen wie im privaten Leben traditionell zugebilligt wurde, kann kaum hoch genug veranschlagt werden.475 Doch sind die Dichter schon seit den für uns fassbaren Anfängen der abendländischen Literatur auch dem Vorwurf ausgesetzt, sie verbreiteten mitunter Unwahres – ja die Musen selbst, Quell jeder Inspiration, stellen sich in Hesiods Theogonie als Instanz vor, die nicht nur Wahres, sondern auch viel Lügenhaftes, dem Wahren nur Ähnliches zu sagen vermöge.476 Aus der Fiktionalität der Inhalte lässt sich freilich leicht der Vorwurf ableiten, Dichter verbreiteten Lügen über die von ihnen behandelten Themen – eine offene Flanke, die etwa die philosophische Mythenkritik mit großer Verve attackierte;477 doch auch Poeten selbst griffen auf diesen Gedanken zurück, um sich gegen Vorgänger abzugrenzen,478 und förderten dadurch seine Topisierung.479 472 Vgl. z.B. FUHRMANN (1994) 82. 473 Rhet. Her. 1,6,10. 474 Vgl. etwa Quint. inst. 10,1,27f.: plurimum dicit oratori conferre Theophrastus lectionem poetarum multique eius iudicium sequuntur, neque inmerito. namque ab his in rebus spiritus et in verbis sublimitas et in adfectibus motus omnis et in personis decor petitur, […] ideoque in hac lectione Cicero requiescendum putat. meminerimus tamen non per omnia poetas esse oratori sequendos nec libertate verborum nec licentia figurarum. 475 Eine Vielzahl von Belegen ließe sich beispielshalber Ciceros Rede Pro Archia entnehmen. 476 Hes. theog. 27ff.: „ἴδμεν ψεύδεα πολλὰ λέγειν ἐτύμοισιν ὁμοῖα, / ἴδμεν δ’, εὖτ’ ἐθέλωμεν, ἀληθέα γηρύσασθαι.“ / ὣς ἔφασαν κοῦραι μεγάλου Διὸς ἀρτιέπειαι. Vgl. ferner Horaz, der in der Ars poetica das Vorgehen eines begabten Dichters folgendermaßen schildert (151f.): atque ita mentitur, sic veris falsa remiscet, / primo ne medium, medio ne discrepet imum. 477 Z.B. Xenophan. 21 B 1,21f. D./K. (pikanterweise in metrischer Form: οὔτι μάχας διέπων Τιτήνων οὐδὲ Γιγάντων / οὐδέ Κενταύρων, πλάσματα τῶν προτέρων). Zu Platons vielschichtigem Verhältnis zur Poesie vgl. z.B. DALFEN (1974), der auch Platons Zeitgenossen miteinbezieht, sowie die Beiträge in dem Sammelband Plato and the Poets von DESTRÉE/HERRMANN (2011). 478 Z.B. Stesichoros (192 PMG DAVIS = Plat. Phaidr. 243 a 8–b 1: οὐκ ἔστ’ ἔτυμος λόγος οὗτος, / οὐδ’ ἔβας ἐν νηυσὶν ἐϋσσέλμοις / οὐδ’ ἵκεο Πέργαμα Τροίας), Pindar (z.B. O. 1,28ff.: ἦ θαύματα πολλά, καί πού τι καὶ βροτῶν / φάτις ὑπὲρ τὸν ἀλαθῆ λόγον / δεδαιδαλμένοι

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Teil I: Studien zur Bewertung paganer Wissensfelder durch Arnobius

So erscheint es nicht erstaunlich, dass die frühen Christen zunächst die pagane Dichtung aufgrund ihrer großenteils mythisch-erotischen Inhalte kategorisch ablehnten. Clemens von Alexandrien (ca. 150–ca. 215) wirft den Heiden Gottlosigkeit vor, da sie den Himmel zu einer Bühne gemacht hätten und das Göttliche ihnen zum Schauspiel geworden sei; dabei hätten sie die wahre Gottesfurcht durch Aberglauben „travestiert“. Ebendort fordert er auch Homer auf, seinen Gesang zu beenden, da er nicht gut sei, sondern zu Ehebruch und „Hurerei“ auffordere.480 Auch noch Ambrosius von Mailand (339–397) spricht von den „Sirenen der Dichtung“, die „anscheinend gleichsam am felsigen Strand dieses Lebens einen angenehmen, aber tödlichen Gesang ertönen lassen, um die Jugend in ihren Bann zu schlagen“.481 Diese Vorbehalte sind umso verständlicher angesichts des psychagogischen Potenzials sowie der Autorität und Einprägsamkeit metrisch gestalteter Sprache.482 Lactanz (ca. 250–ca. 320) etwa thematisiert, dass u.a. ein Gedicht bzw. Lied den Geist fesseln und in eine beliebige Richtung wenden kann. Da nun gebildete christliche Konvertiten an wohlklingende und ausgefeilte Dichtung gewohnt seien, sollten sie Loblieder auf Gott (dei laudes) singen und hören; dies sei das wahre Vergnügen (voluptas vera).483 Auch während und nach der Herausbildung einer spezifisch christlichen Poesie484 ist es christlichen Dichtern ein dringendes Anliegen, die prinzipielle Differenz ihrer Dichtung gegenüber der paganen deutlich zu machen: So kontrastiert der in konstantinischer Zeit lebende Bibelepiker Juvencus den lange währenden Ruhm paganer Gedichte, die Taten von Menschen aus alter Zeit lügnerisch darstellten (mendacia nectunt), mit der „unsterblichen Zierde“, die er selbst erhalten

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ψεύδεσι ποικίλοις ἐξαπατῶντι μῦθοι; ferner O. 7,20f.: ἐθελήσω τοῖσιν ἐξ ἀρχᾶς ἀπὸ Τλαπολέμου / ξυνὸν ἀγγέλλων διορθῶσαι λόγον), Ovid [am. 3,6,17: prodigiosa loquor, veterum mendacia vatum; fast. 6,253: valeant mendacia vatum, wo sich BÖMER (1958) 354 jedoch für die Übersetzung „Erdichtung“ ausspricht] sowie Aetna 23f. (quicquid et antiquum iactata est fabula carmen? / fortius ignotas molimur pectore curas); 78f. (atque inter cineres Ditis pallentia regna / † mentiti vates); 571f. (currimus atque avidi veteris mendacia famae / eruimus). Zur Rezeption dieses Topos vgl. z.B. die Beiträge in den Sammelbänden Die Dichter lügen, nicht. Über Erkenntnis, Literatur und Leser von HILMES/MATHY (1995) sowie „Dichter lügen“ von RÖTTGERS/SCHMITZ-EMANS (2001). Clem. protr. 58,4ff. Ambr. fid. 3,1,4. Bemerkenswert ist auch die Einschätzung Friedrich Nietzsches in Die fröhliche Wissenschaft, 2. Buch, Nr. 84: „ohne den Vers war man nichts, durch den Vers wurde man beinahe ein Gott. Ein solches Grundgefühl läßt sich nicht mehr ausrotten – und noch jetzt, nach jahrtausendelanger Arbeit in der Bekämpfung solchen Aberglaubens, wird auch der Weiseste von uns gelegentlich zum Narren des Rhythmus, sei es auch nur darin, daß er einen Gedanken als wahrer empfindet, wenn er eine metrische Form hat und mit einem göttlichen Hopsasa daherkommt. [Es ist] für eine Wahrheit gefährlicher, wenn der Dichter ihr zustimmt, als wenn er ihr widerspricht!“ [zitiert nach: Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft („La gaya scienza“), mit einem Nachwort von Alfred Baeumler, Stuttgart 61976, 101f.]. Lact. inst. 6,21,4ff. Zu ihrer Genese sowie ihren Produktions- und Rezeptionsbedingungen vgl. etwa HERZOG (1975) und (1997), GNILKA (1979), FONTAINE (1981), FUHRMANN (1994) 213ff. und VON ALBRECHT (2003) 1043ff.

3. Dichtung und Dichter in Adversus nationes

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werde, da Gegenstand seines Gedichtes die lebensspendenden Taten (vitalia gesta) Christi seien, die keinerlei Vorwurf der Falschheit treffe.485 Paulinus von Nola (ca. 354–431) behauptet in einem Gedicht, Gott verbiete es, sich mit mythischem Schrifttum (fabulos[ae] litter[ae]) zu beschäftigen, damit man stattdessen seinen Geboten gehorche und sein Licht sehe; dieses aber würden u.a. die Erfindungen der Dichter verdunkeln (figmenta vatum nubilant), die das Herz mit Falschem vertraut machten, ohne etwas zur Rettung oder Erkenntnis der Wahrheit beizutragen.486 Schließlich sei noch Sedulius († um 450) genannt, der zahlreiche Gegensätze zwischen der paganen und seiner eigenen Dichtung namhaft macht: Die paganen Dichter trügen ihre Erfindungen (figmenta) mit großem stilistischen Aufwand vor, obwohl die Inhalte gottlos seien, Verbrechen in Erinnerung brächten und größtenteils Lügen (mendacia) darstellten. Er selbst hingegen sei an die Gesänge Davids gewohnt und daran, in heiligem Reigen ehrfürchtig zu stehen und himmlische Dinge mit sanften Worten zu besingen. Demnach gebe es keinen Grund, die berühmten Wundertaten des heilbringenden Christus zu verschweigen (cur [...] clara salutiferi taceam miracula Christi?) und das „Werk der Wahrheit“ nicht in Angriff zu nehmen.487 Während Untersuchungen zu Arnobius’ Zitations- und Paraphrasepraxis im Bezug auf einzelne Dichter bereits vorgelegt worden sind – so zu Lukrez,488 zu Vergil489, zu Horaz490 und zu Ovid491, stand die Haltung des Autors gegenüber Dichtern und Dichtung im Allgemeinen bislang selten im Fokus der Forschung. GERARD ELLSPERMANN kommt in seiner Untersuchung „The attitude of the early Christian Latin writers toward pagan literature and learning“ nur kurz auf diesen Themenbereich zu sprechen, konstatiert aber zu Recht, dass Arnobius einerseits Dichter und das Theater scharf aufgrund ihrer Verknüpfung mit der paganen Mythologie attackiert, andererseits aber Mythen nicht nur als Produkt der Dichter klassifiziert, sondern als viel weiter verbreitetes bzw. tiefer verwurzeltes Phänomen der antiken Kultur begreift.492 Ferner hat LOUIS J. SWIFT einen Beitrag mit dem Titel „Arnobius and Lactantius: Two Views of the Pagan Poets“ vorgelegt, in dem er sich jedoch nach der Eingangsbemerkung „There is little effort [in Arnobius] to appreciate the merits of literary form in pagan literature, to find the truth hidden in error, or to assume good will on the part of his adversaries“493 485 Iuvenc. praef. 15ff. 486 Paul. Nol. carm. 10,33ff. 487 Sedul. carm. pasch. 1,17ff. (hieraus die lat. Zitate) und op. pasch. 1,1 (cum poetarum studiosa consuetudo gentilium fabulosi carminis nugas nobilium commendet pompa verborum […]: cur ego […] mirabiles Christi salubresque virtutes pressa voce reticeam, cum veritatis opus arripere et fidelis instrumento sermonis dona debeam caelestis gratiae non tacere?). 488 Vgl. hierzu S. 112, Anm. 349. 489 SANTORELLI (1989), ANTOLINI (2000) und FREUND (2000) 255ff.; ältere Literatur ist ebd. S. 262ff. mit Anm. 7 verzeichnet. 490 RAPISARDA (1946) 242f. 491 HAGENDAHL (1937b), RAPISARDA (1946) 253, Anm. 2, LE BONNIEC (1982b), TUPET (1982), CHAMPEAUX (1994) und ANTOLINI (2000). 492 ELLSPERMANN (1949) 55.57ff. 493 SWIFT (1965) 439.

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Teil I: Studien zur Bewertung paganer Wissensfelder durch Arnobius

vornehmlich Arnobius’ Kritik an allegorischer und euhemeristischer Mythenerklärung widmet.494 Im Folgenden soll daher Arnobius’495 Haltung gegenüber Dichtern und Dichtung sowie seine Einschätzung ihrer Wirkungspotenziale auf einer breiteren Materialbasis dargestellt werden. 3.2 DAS ANSEHEN VON DICHTERN IN DER PAGANEN GESELLSCHAFT Einen Eindruck von der allgemeinen Wertschätzung, die Dichter in ihrer paganen Umwelt genießen, vermittelt eine Passage aus nat. 2,19,4f.: quae si secum animae divinis ex regionibus adtulissent et esset necessarium scire omnis, ea iamdudum in omni orbe tractarent neque ullum hominum repperiretur genus, quod non esset his omnibus aequaliter atque uniformiter eruditum. 5. nunc vero in mundo quotusquisque est musicus, dialecticus et geometres, quotus orator, poeta, grammaticus? ex quo apparet, ut saepius dictum est, inventa haec esse locorum necessitate ac temporum, neque divinas, eruditas advolavisse huc animas, quod neque omnes doctae sint neque discere omnes possint, ut sint in his plurimae acuminis obtunsioris et bardi et ad discendi studium plagarum coercitione cogantur.

Dieser Text, der auch schon bei der Behandlung der Rhetorik betrachtet wurde,496 ist in einem Argumentationsgang situiert, der sich gegen die These von der Göttlichkeit und unbedingten Unsterblichkeit der menschlichen Seele wendet. Dass die Seelen nicht etwa aus göttlichen Gefilden (divinis ex regionibus) apriorisches Wissen mit sich gebracht hätten, werde gerade daraus deutlich, dass nur sehr wenige Menschen über besonderes – in den Augen mancher göttlich anmutendes – Wissen und Können verfügen, wie unter anderem auch Dichter. Hierdurch wird ein Wirken als Dichter demnach als etwas durchaus Besonderes qualifiziert, wozu es überdurchschnittlicher Fähigkeiten bedarf; gleichwohl bleibt Dichtung dennoch ein rein menschliches Produkt. Hervorzuheben ist, dass aus der oben genannten Reihe neben dem „Musiker“ gerade der Dichter traditionell eine Art übermenschliche Aura für sich in Anspruch nehmen darf, die aus seiner Inspiration von göttlichen Instanzen herrührt und sogar in dem Substantiv vates lexikalisiert worden ist. Von einer solchen Konzeption finden sich im obigen Text jedoch keine Spuren.497 In denselben Gedankengang eingebettet ist auch die folgende Passage, die die Relevanz der menschlichen Existenz insgesamt einem kosmischen Maßstab unterwirft (2,38,1f.):

494 STUDER (1997) 361 behauptet en passant, Arnobius habe „von der lateinischen Dichtung, vor allem eines Ovid und eines Vergil [gelebt]“, führt dafür jedoch keine Belege an. 495 Vgl. jedoch hierzu Kap. 4.2.2 der Prolegomena. 496 S. 100f. 497 Das Substantiv vates benutzt Arnobius meistens in der Bedeutung „Seher/Wahrsager“ (vgl. z.B. nat. 1,24,2: haruspices [...], coniectores, harioli, vates); allerdings wird es in 4,25 mit Bezug auf Homer, in 5,26 mit Bezug auf Orpheus verwendet.

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quid enim prodest mundo, ut ab rebus incipiam seriis, maximos reges hic esse? quid tyrannos, quid dominos, quid innumeras alias atque amplissimas potestates? quid rei militaris experientissimos duces [...]? 2. quid oratores, grammaticos, poetas?

Der Annahme der Gegner, das Dasein des Menschen habe einen gottgewollten, teleologischen Grund,498 wird in Form einer rhetorischen Frage entgegengehalten, dass die Welt keinerlei Nutzen von der Existenz der Menschen habe, ungeachtet der jeweiligen Tätigkeiten der einzelnen Individuen: Überaus große Könige seien ebenso irrelevant wie bedeutendste Machthaber, Militärs, Redner, Grammatiker und Dichter. Hiermit wird den Poeten zwar Bedeutung im Vergleich mit der Weite des Kosmos abgesprochen; doch gerade aus der offenkundig positiven menschlich-alltäglichen Einschätzung des Dichterberufs499 gewinnt das argumentum a maiore seine Kraft: Wenn schon die Existenz von Dichtern nur ein Akzidens für die Welt darstellt, wie unbedeutend ist dann erst das Leben „gewöhnlicher“ Menschen! 3.3 INHALTE VON DICHTUNG Dichter und die Wirkung ihrer Produkte werden u.a. in nat. 3,11,3f. thematisiert: miseriarum omnium causa vos estis, vos deos impellitis, vos excitatis infestare omnibus malis terras et nova quaeque cotidie struere, quibus ulcisci se possint tot a vobis iniuriis et maledictionibus exasperati: 4. maledictionibus, inquam, et iniuriis, quas partim fabulis turpibus, partim opinionibus indecoris, quas vestri theologi, quas poetae, quas ipsi vos quoque ignominiosis celebratis in ritibus [...].

Entsprechend der dem gesamten Werk zugrunde liegenden Intention, nachzuweisen, dass die gegen die Christen erhobenen Vorwürfe in Wahrheit gegen die Heiden zu richten seien, bezichtigt der Sprecher seine paganen Adressaten, die Verursacher aller Probleme zu sein: Sie seien es, die die Götter provozierten, so dass diese sich für erlittene Ungerechtigkeiten und Schmähungen rächen müssten. Propagiert würden diese kompromittierenden Erzählungen und Meinungen von den paganen Theologen und Dichtern, aber auch von den apostrophierten Heiden im Allgemeinen (ipsi vos quoque). Obgleich das Substantiv poetae selbst kein Attribut aufweist, wird es durch die Rahmung mittels zweier Pronomina der zweiten Person (vestri und vos) klar der paganen Sphäre zugewiesen. Dichter werden auch in einer bemerkenswerten Szene in Buch 4 genannt: Aus dem Umstand, dass in der Mythologie zuweilen mit einer Gottheit mehrere Genealogien und/oder Sujets assoziiert sind, gewinnt der Sprecher ein Argument gegen den paganen Götterkult, das er zu einer bizarren Szenerie ausgestaltet: Vorausgesetzt, die Christen entschlössen sich, etwa Athene/Minerva zu verehren, dann stel-

498 Nat. 2,37,2: „[...] idcirco huc animas tamquam in colonias aliquas deus omnipotens misit.“ 499 Zur antiklimaktischen Organisation dieser Aufzählung, welche die Dichter aber dennoch an einer noch ehrenhaften Position eingruppiert, vgl. Anm. 309 auf S. 101.

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le sich die Frage, welche Minerva denn nun genau zu verehren sei.500 Nachdem die verschiedenen Minerven untereinander in Streit geraten sind, bringt eine von ihnen das folgende Argument vor (nat. 4,16): immo, inquiet quinta Minerva, [...] desiste igitur nomen iuris tibi adsciscere non tui. nam Minervam me esse genitore ex Pallante procreatam testis omnis est poetarum chorus, qui Palladem me nuncupat derivato a patre cognomine.

Die „fünfte Minerva“501 beruft sich darauf, dass der ganze Reigen der Dichter bezeugen könne, dass sie, die von Pallas, dem Sohn des Pandion, gezeugte, die wahre Minerva sei. Hier werden Dichter also abermals als engstens mit dem paganen Götterglauben verbunden dargestellt. Dass Minerva hier über die Produzenten gerade derjenigen literarischen Werke spricht, in denen sie selbst thematisiert wird, stellt eine gelungene Pointe dar. Allerdings ist gerade diese Minerva – als vermeintliche Verführerin und Mörderin ihres eigenen Vaters – noch mit ganz besonderer Amoralität behaftet, wie ihr von der „zweiten Minerva“ vorgehalten wird,502 so dass die Dichter durch ihr Zeugnis für eine äußerst zweifelhafte Gestalt noch zusätzlich negativ konnotiert werden. Wichtig für das Verhältnis der Dichter zur übrigen paganen Gesellschaft ist der folgende Passus (nat. 4,32), der mit einer fiktiven Entgegnung auf den vom Sprecher erhobenen Vorwurf beginnt, die Götter würden von den Heiden in schwerwiegender Weise verletzt:503 sed poetarum, inquiunt, figmenta sunt haec omnia et ad voluptatem [coni. Gelenius : voluntatem P] compositae lusiones. non est quidem credibile homines minime [coni. Ursinus : minus P] brutos et vetustatis remotissimae vestigatores aut non eas inseruisse suis carminibus fabulas, quae in notionibus hominum superessent atque in auribus collocatae, aut ipsos sibi tantum licentiosi voluisse iuris adsciscere, ut confingerent per stultitiam res eas, quae nec ab insania procul essent remotae et quae illis ab dis metum et periculum possent ab hominibus comparare. sed concedamus, ut dicitis, deformitatum tantarum concinnatores esse atque inventores poetas [...].

Der Anfang des Textes ist – abgesehen von dem Überlieferungsproblem voluptas vs. voluntas, das aber semantisch keinen allzu großen Unterschied verursacht – unproblematisch: Die Interlocutoren wehren den Vorwurf einer „gesamtgesell500 Nat. 4,16: fingite nos enim vel auctoritate commotos vel violentia terroris vestri induxisse in animum Minervam verbi causa sacris vobis sollemnibus et ritu velle adorare volgato: si, cum divinas apparamus res adgredi […], Minervae omnes advolent ac de istius nominis possessione certantes poscant sibi singulae apparatum illum sacrorum reddi [...]. 501 Diese Passage ist vor dem Hintergrund von Cic. nat. deor. 3,59 zu lesen, wo fünf verschiedene Minerven mit jeweils unterschiedlicher Genealogie genannt werden. Über die „fünfte Minerva“ wird dort berichtet, sie habe ihren Vater Pallas getötet, als dieser versucht habe, „ihre Jungfräulichkeit zu verletzen“ (quinta Pallantis, quae patrem dicitur interemisse virginitatem suam violare conantem). 502 Nat. 4,16: quid dicis, inquiet secunda haec audiens, ergone Minervium nomen tu feres parricida petulans et ex amoris incesti contaminatione polluta, quae, dum te fucis atque artibus excolis meretriciis, etiam patris in te mentem furialibus plane cupiditatibus excitasti? 503 4,31: audetis abnuere in delictis tam gravibus violari semper a vobis deos, cum in levioribus causis irasci eos ipsi cum pernicie saepius confiteamini civitatis?

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schaftlichen“ Götterverunglimpfung dadurch ab, dass sie entsprechende Aussagen als Erfindungen von Dichtern, die als unterhaltsame Spielereien gedacht seien, kategorisieren und so deren Wirkungsbereich relativieren. Der Verteidiger scheint jedoch anderer Meinung zu sein, da er erst im letzten Satz in Form eines argumentationstaktischen Zugeständnisses (concedamus, ut dicitis, [...] esse) die These übernimmt, die Dichter hätten die entsprechenden schändlichen Erzählungen selbst „ausgeheckt“. Zuvor wird jedoch ein anderer Hergang entworfen: Die Dichter, keineswegs bzw. kaum törichte Menschen, die sich um die Aufhellung einer weit zurückliegenden Zeit bemühten, hätten jene Erzählungen bereits vorgefunden und sie dann in ihre eigenen Gedichte eingefügt.504 Unwahrscheinlich sei hingegen, dass die Dichter sich das Recht herausgenommen hätten, aus Dummheit Geschichten zu erfinden, die an Wahnsinn grenzten und ihren Urhebern von Seiten der Götter Furcht, von Seiten der Menschen Gefahr einbringen konnten. Unabhängig vom wirklichen Autor der diskutierten figmenta wird ihr Inhalt also deutlich als unsinnig, ja gefährlich qualifiziert.505 Während sich die Interlocutoren in der vorherigen Passage von den Dichtern in gewisser Weise distanzierten, beschreibt der Sprecher nun einen anderen Umgang der Heiden mit ihren Poeten (4,34): ipse ille Iuppiter, cuius vos nomen effari non sine metu decuit et totius corporis concussione, amasio captus ab uxore describitur confiteri culpas suas, et velut demens ac nescius, quas amiculas coniugi, quas uxori anteposuerit pelices, obduratus inverecundia publicare: vos, talia qui extulere prodigia, poetarum esse principes atque reges divinis ingeniis praeditos, capita esse memoratis sanctissima […].

Der Verteidiger empört sich darüber, dass man in der Dichtung beschrieben finde, wie Juppiter gleichsam von Sinnen die Vielzahl seiner Liebschaften eingestehe, obwohl doch eigentlich schon allein sein Name nur unter größten Bedenken ausgesprochen werden dürfte. Doch anstatt zu protestieren, schrieben die Heiden gerade den dafür verantwortlichen Dichtern sogar den Primat, ein geradezu übermenschliches Talent und eine Aura besonderer Reverenz zu. Implizit bezieht sich der Sprecher hier auf eine Passage aus der Ilias,506 in der Hera ihren Gatten mit Hilfe eines Liebesgürtels der Aphrodite verführt, um ihr Eintreten für die Trojaner vor ihm verheimlichen zu können (14,292ff.). In der Tat führt Zeus – psychologisch vielleicht etwas ungeschickt – einen ganzen Katalog von Göttinnen und Frauen auf, die er zwar auch begehrt habe, aber nicht so sehr, wie er jetzt gerade 504 Unklar bleibt im lateinischen Text, ob der Relativsatz quae [...] collocatae beschreibend aufzufassen ist oder eine Absicht („damit sie ...“) ausdrückt. – MCCRACKEN (1949b) 43 hingegen schlägt die folgende Textgestaltung vor: non est quidem credibile homines minus brutos et vetustatis remotissimae vestigatores aut [non] eas inseruisse suis carminibus fabulas quae in notionibus hominum superessent atque in auribus collocatae aut ipsos sibi licentiosi voluisse iuris adsciscere. 505 Konsequent formuliert der Sprecher im Folgenden, dass auch zu große Nachsicht gegenüber solchen Aussagen negative Folgen habe (nat. 4,32): immunes tamen ab deorum maletractatione nec sic estis, qui aut talia cessatis maleficia vindicare […]. quisquis enim patitur peccare peccantem, is vires sumministrat audaciae […]. 506 Namentlich wird Homer in Adversus nationes nirgends genannt.

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Hera begehre.507 Die Situation wird allerdings etwas missverständlich dargestellt: Ohne Kenntnis des Praetextes würde man den Ausdruck amasio captus ab uxore doch wohl verstehen im Sinne von „als Liebhaber von seiner Ehefrau ertappt“, obwohl eigentlich etwas proleptisch gemeint ist: „von seiner Ehefrau verführt, so dass er ihr Liebhaber wurde“. Der Sprecher eröffnet also durch seine ambige Formulierung sogar für eine Dichterpassage, in der Zeus/Juppiter ungewöhnlicherweise seiner Frau treu ist, die Möglichkeit, sie als Beweis für die Unmoral der Götter bzw. für die von Dichtern erfundenen Verleumdungen zu lesen. Im Anschluss hieran fährt der Sprecher folgendermaßen fort (nat. 4,35): sed poetis tantummodo licere voluistis indignas de dis fabulas et flagitiosa ludibria comminisci? quid pantomimi vestri, quid histriones, quid illa mimorum atque exoleti generis multitudo? nonne ad usum quaestus sui abutuntur dis vestris et lenocinia voluptatum ex iniuriis adtrahunt contumeliisque divinis?

Er wehrt sich gegen den möglichen Einwand, unwürdige Erzählungen und schändliche Possen über Götter seien nur das Produkt von Dichtern, mithin nur ein marginales Phänomen der paganen griechisch-römischen Zivilisation: Auch Schauspieler aller Art beschäftigten sich mit derartigen Sujets und verdienten mit Hilfe schmählichen Unrechts gegenüber den Göttern ihren Lebensunterhalt. Auch in nat. 5,1 wird die Frage diskutiert, inwieweit alleine die Dichter Produzenten nachteiliger Göttererzählungen seien: esto: ab ludentibus poetis cuncta illa sint prodita et [lacunam sign. REIFFERSCHEID : inlata add. MARCHESI] immortalibus diis probra. quid? illa, quae historiae continent graves, seriae, curiosae quaeque in arcanis mysteriis traditis, poetarum sunt excogitata lascivia?

Zuerst konzediert der Sprecher vorläufig, all jene lästerlichen Geschichten seien von fabulierenden508 Dichtern berichtet bzw. überliefert und den Göttern, die hier in erhabener Form als immortales bezeichnet werden, zugemutet worden. In Form einer rhetorischen Frage stellt er diesen probra nun aber ebenfalls blasphemische Inhalte ernster Geschichtswerke und geheimer Mysterienkulte zur Seite, die man kaum als von der Zügellosigkeit der Dichter erdacht bezeichnen könne, wobei das Substantiv lascivia mindestens assoziativ auch auf die beschriebene Ausschweifung einer paganen Gottheit anspielen könnte. Abermals werden blasphemische mythische Erzählungen also mit Dichtern aufs Engste verknüpft, aber nicht als allein deren Spezifikum dargestellt. Dieser Befund steht ganz im Einklang mit dem übergeordneten Argumentationsziel, zu zeigen, dass „die“ pagane Zivilisation insgesamt von Erzählungen und Denkfiguren durchdrungen sei, die einer wahren göttlichen Macht völlig unangemessen seien.

507 Il. 14,315ff.: „οὐ γάρ πώ ποτέ μ’ ὧδε θεᾶς ἔρος οὐδὲ γυναικός / θυμὸν ἐνὶ στήθεσσι περιπροχυθεὶς ἐδάμασσεν, / οὐδ’ ὁπότ’ ἠρασάμην Ἰξιονίης ἀλοχοίο, / [...] οὐδ’ ὅτε περ Δανάης καλλισφύρου Ἀκρισιώνης, / [...] οὐδ’ ὅτε περ Σεμέλης, οὐδ’ Ἀλκμήνης ἐνὶ Θήβηι, / [...] οὐδ’ ὅτε Δήμητρος καλλιπλοκάμοιο ἀνάσσης, / [...] οὐδὲ σέʼ αὐτῆς, / ὥς σεο νῦν ἔραμαι καί με γλυκὺς ἵμερος αἱρεῖ.“ 508 Zu dieser Bedeutung von ludere vgl. ThLL 7, Sp. 1774, s.v. ludere I A 2 a α.

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3.4 BEZEICHNUNGEN UND PRÄSENTATIONSKONTEXTE FÜR DICHTUNG509 3.4.1 carmen Das Substantiv carmen wird nur an zwei Stellen innerhalb von Adversus nationes klar in der Bedeutung „Gedicht/literarisches Produkt“ verwendet: Abgesehen von der oben (S. 162) besprochenen Passage 4,32510 begegnet es in 4,26, wo die Episode thematisiert wird, als Saturn sich in ein Pferd verwandelt, um Rhea über seinen Ehebruch hinwegzutäuschen – mit dem empörten Hinweis, dies werde ja nicht in den Gedichten der Christen angezeigt.511 In 5,19 jedoch werden mit den carmina des Orpheus bereits Gedichte angesprochen, die im Zusammenhang mit Mysterien stehen und eigentlich nicht der Sphäre gewöhnlicher literarischer Erzeugnisse angehören. Doch auch sie stellen ein Zeugnis anthropomorpher und demnach unangemessener Erzählungen über Götter dar; einen zusätzlichen Tadel erteilt der Sprecher an dieser Stelle dem thrakischen Sänger noch dadurch, dass er dessen Handlung mit dem Prädikat „er gab preis“ (prodidit) bezeichnet, nachdem er zuvor den Inhalt der Bacchanalien als „geheime und zu verschweigende Sache“ (arcana et tacenda res) charakterisiert hat. Im Sinne von „schicksalsverkündende Orakel“ dürften die in 7,48,5 genannten fatalia carmina zu verstehen sein, denen als eine von zwei Möglichkeiten (aut […] aut) angelastet wird, sie hätten zutreffende Prophezeiungen weit verfehlt und besäßen zumindest für die Gegenwart des Sprechers keinerlei Nutzen mehr.512 Eine interessante Nuance der Semantik von carmen zeigt 4,34: Hier konstruiert der Sprecher einen Gegensatz zwischen der juristischen Verfolgung von Schmähgedichten (carmen malum [...], quo fama alterius coinquinetur et vita), mit denen Personen des öffentlichen Lebens attackiert werden, und der Straflosigkeit, die bei Verunglimpfung von Göttern herrsche. Gerade diese letztere vollziehe sich jedoch auch im Medium der Poesie.513 In der Bedeutung „(bei paganen Magiern gebräuchliche) Zaubergesänge“ wiederum wird carmen an den ersten beiden Stellen gebraucht, wo dieses Substantiv in Adversus nationes überhaupt 509 Nicht verwendet werden von Arnobius die Substantive poesis und poema, vgl. den von BERKOWITZ (1967) vorgelegten Index. 510 Nat. 4,32: non est quidem credibile homines minime [coni. Ursinus : minus P] brutos et vetustatis remotissimae vestigatores aut non eas inseruisse suis carminibus fabulas [...]. 511 4,26: numquid senex Saturnus iamdudum obsitus canis atque annorum vetustate iam frigidus nostris carminibus indicatur ab uxore in adulterio comprehensus induisse formam feri et sub pecoris specie hinnitibus evolavisse iactatis? – Vgl. etwa Verg. georg. 3,92ff.: talis et ipse iubam cervice effundit equina / coniugis adventu pernix Saturnus, et altum / Pelion hinnitu fugiens implevit acuto. 512 7,48,5: aut [...] aut fatalia dicenda sunt carmina multum veris aberravisse praesagiis, cum remedium ab his datum non deinceps cunctis, sed auxilio fuisse uni tantum reperiatur aetati. 513 4,35: sed poetis tantummodo licere voluistis indignas de dis fabulas et flagitiosa ludibria comminisci?

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auftritt;514 vorstellbar wäre, dass dadurch bei den Rezipienten ein von Anfang an eher skeptisch-negativer Verständnishorizont für dieses Wort konstituiert wird. 3.4.2 fabula Das Substantiv fabula wird von Arnobius in einem recht weiten Bedeutungsspektrum verwendet, jedoch fast immer durch den Kontext oder explizite Attribute abgewertet. Dabei werden fabulae unterschiedlich mit Dichtern assoziiert: Zum einen werden dadurch die mythischen Inhalte von Gedichten bezeichnet,515 zum anderen Theaterstücke, innerhalb deren die entsprechenden Sujets visualisiert werden.516 Eine Mittelstellung zwischen einer Bezeichnung für den Stoff und für die Präsentationsform nimmt die Verwendung in 7,33,5 ein, wo der Sprecher ironisch fragt, ob Magna Mater ruhiger werde, wenn sie sehe, dass die alte fabula des Attis von Schauspielern erneuert werde. Auch in einem allgemeineren Sinn verwendet Arnobius fabula immer wieder für pagane Mythen und unglaubhafte Erzählungen.517 Einen Sonderfall stellt 5,22 dar, wo fabula wohl als „Gegenstand einer Erzählung“ (bezogen auf Juppiter) aufzufassen ist.518 Auch schriftlich fixierte Ausformungen sind dabei mit eingeschlossen.519 Darüber hinaus bringt der Sprecher auch Wahrsager mit diesem Substantiv in Verbindung;520 und auch Erzählungen aus dem jüdischen Kulturkreis, womit wohl Passagen des Alten Testamentes gemeint sind, die Gott anthropomorphisieren, werden durch diese Bezeichnung abqualifiziert.521

514 515 516 517 518

1,43,3 und 1,52,3; vgl. hierzu die Ausführungen unten, S. 304ff. bzw. 320f. 4,32.35. 4,36: theatra […], in quibus infamiae numinum propudiosis cotidie publicantur in fabulis. 1,57,4; 3,11,4; 4,30.35; 5,1.12 (zwei relevante Stellen).34.35. 5,22: Alcmena, Electra, Latona, Laodamia, mille aliae virgines ac mille matres cumque illis Catamitus puer pudoris spoliatus est honestate: eadem ubique est Iuppiter fabula [...]. 519 5,1 (in secundo Antiatis libro – ne quis forte nos aestimet concinnare per calumnias crimina – talis perscripta est fabula); 5,35 (omnesne has fabulas existimetis id est singulas totas ambifarias ac bilingues et versipellibus esse scriptas modis [...]?); 5,44 (sed si fabulas has vultis more esse allegorico scriptas, quid ceteris fiet, quas non videmus posse versuras in huiusmodi cogi?). 520 1,24,2, vgl. unten, S. 263. 521 3,12,2; vgl. hierzu oben, S. 122.

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3.4.3 Theater Das Theater – durch seine Einbettung in religiös-kultische Kontexte für Christen ohnehin höchst problematisch522 – erfährt im Werk des Arnobius durchgehend harsche Kritik, ist es doch in seinen Augen ein Ort, an dem gotteslästerliche Werke von Dichtern zum Vergnügen der Zuschauer aufgeführt werden.523 Im Zusammenhang mit der Empörung darüber, dass christliche Schriften verbrannt werden, postuliert der Sprecher gar, die Heiden hätten, um der impietas entgegenzuwirken, vielmehr ihre eigenen Schriften verbrennen und ihre Theater niederreißen müssen.524 Geradezu absurd erscheint es dem Sprecher, dass die Heiden glaubten, die Götter empfänden Freude an Theateraufführungen oder ließen sich in ihrem Zorn durch sie besänftigen: Dies könne angesichts des transzendentalen Charakters echter Götter von vorneherein a minore ausgeschlossen werden, da ja schon vernünftige Menschen derartigen Vergnügungen nichts abgewinnen könnten.525 Noch unsinniger werde diese Annahme jedoch, wenn man die möglichen Reaktionen ganz konkreter Götter und Heroen auf bestimmte Dramen bedenke, in denen sie unvorteilhaft dargestellt werden, etwa die Reaktion Juppiters bei der Aufführung des plautinischen Amphitruo oder diejenige des Herakles, wenn entsprechende sophokleische oder euripideische Tragödien aufgeführt werden.526 Dennoch feierten die Heiden diejenigen, die sich in diesem Rahmen über die Götter lustig machten, ja sie beschenkten sie sogar großzügig und befreiten sie

522 Zu dem vielbehandelten Themenkomplex „Theater/spectacula und frühes Christentum“ seien genannt: WEISMANN (1972; Bezugnahmen auf Arnobius sind auf S. 221 aufgelistet), JÜRGENS (1972; zu Arnobius vgl. den Index auf S. 271), SCHNUSENBERG (1981), die auf den S. 35f. Arnobius kurz thematisiert, SALLMANN (1990) und PIEPENBRINK (2005) 294ff. – Für Arnobius’ Heimatstadt bzw. Wirkungsstätte Sicca Veneria ist ein Theaterbau archäologisch nachgewiesen, vgl. ENNABLI (1976) 834. 523 Nat. 4,25 (Epicharm habe berichtet, dass Mars Spartaner sei, Sophokles hingegen, dass er in Thrakien geboren sei); 4,36 (heiligste Götter würden von Possenreißern lächerlich gemacht – unter großer Begeisterung des Publikums); 5,13 (die von den Theatern behauptete schändliche Liebe der Magna Mater) und 5,42 (Taten und Schicksal des Attis). 524 4,36: quod si haberet vos aliqua vestris pro religionibus indignatio, has potius litteras vos exurere debuistis olim, libros istos demoliri, dissolvere theatra haec potius, in quibus infamiae numinum propudiosis cotidie publicantur in fabulis. nam nostra quidem scripta cur ignibus meruerunt dari? 525 7,36,5: vos [...] theatralibus ludis persuasum habetis deos et delectari et adfici irasque aliquando conceptas eorum satisfactione molliri; nos inconveniens ducimus, quin immo incredibile iudicamus eos, qui gradibus mille genus omne virtutum perfectionis transierint summitate, in voluptatibus habere atque in deliciis esse res eas, quas homo sapiens rideat [...]. Vgl. zu dieser Stelle auch oben, S. 155. 526 7,33,1ff. Konkret benannt werden in § 7 die Trachinierinnen des Sophokles, in denen sich der Alkide selbst verbrennt, und der Herakles des Euripides, in dem der Heros im Wahn seine Frau Megara und die mit ihr gezeugten Kinder umbringt.

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von allerlei Verpflichtungen – ein Vorgehen, das nach Einschätzung des Sprechers auf keine Weise wiedergutgemacht werden kann.527 3.5 ERGEBNIS Der Sprecher greift die allgemeine Wertschätzung, die Dichter in „der“ paganen Gesellschaft erfahren, auf und hebt hervor, dass nur recht wenigen diese Begabung eignet; diese zunächst vorteilhaft wirkende Einschätzung findet sich jedoch innerhalb eines Argumentationsganges, der die Göttlichkeit der menschlichen Seele und damit verbundenes apriorisches Wissen negiert. Dichter genießen also eine Sonderstellung unter den Menschen, haben jedoch keinen besonderen Bezug zum Göttlichen. Im kosmischen Maßstab ist ihre Existenz genauso irrelevant wie diejenige von Königen, Feldherren und anderen herausgehobenen „Berufsgruppen“. Durchgehend werden die Dichter in Adversus nationes als Propagandisten und Zeugen der paganen Mythologie angeführt, von denen sich die Heiden aus Frömmigkeit eigentlich distanzieren müssten; doch im Gegenteil preisen sie gerade die Schöpfer der anstößigsten Erzählungen. Auch wenn die Heiden es zuweilen behaupten, sind laut dem Sprecher nicht nur die Dichter für derartige Mythen verantwortlich: Eventuell haben jene solche Erzählungen bereits vorgefunden und nur in ihre Werke integriert. Aber auch von allerlei Schauspielern werden sie zu ihren Zwecken ausgeschlachtet, und auch in historischen Werken und in den Mysterienkulten finden sich derartige Erzählungen, so dass – ganz im Einklang mit dem übergeordneten Argumentationsziel – in Arnobius’ Darstellung die pagane Zivilisation insgesamt von verwerflichen Göttererzählungen durchdrungen erscheint. Für die Substantive carmen und fabula, in denen sich Dichtung manifestiert, ließ sich innerhalb von Adversus nationes ein recht weites Bedeutungsspektrum konstatieren, wobei jedoch die meisten Belege negative Konnotationen aufwiesen oder pejorativ kontextualisiert waren. Das Theater schließlich, in dem die gotteslästerlichen Produkte von Dichtern zum Vergnügen der Zuschauer in einem anderen Medium visualisiert werden, wird vom Apologeten durchgängig negativ bewertet; ja der Sprecher fordert sogar – als Reaktion auf die Verbrennung christlicher Schriften – dessen Zerstörung als wahrhaft wirkungsvolle Maßnahme zur Tilgung der impietas. Vor diesem Hintergrund ist es für ihn unverständlich, dass die Heiden den Protagonisten des Theaters besondere Privilegien zubilligen und der Ansicht sind, derartige Veranstaltungen könnten den Göttern gefallen oder sie besänftigen. 527 4,36: quod nullis possit satisfactionibus expiari, exoletis atque inrisoribus numinum dona instituuntur et munera, ab officiis otium publicis, immunitas et vacatio cum coronis. Hierin sieht SALLMANN (1990) 253 einen Versuch des Arnobius, [sc. durch Anstachelung des Neides auf jene Privilegien] „die Massen seiner (heidnischen) Leser doch noch für sich zu gewinnen, und natürlich seine Glaubensgenossen“.

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Es finden sich bei Arnobius also keinerlei Ansatzpunkte für eine vom christlichen Standpunkt aus positive Würdigung oder gar Nutzung der Dichtung und ihrer psychagogischen Möglichkeiten, wobei zwischen „mythosaffinen“ Gattungen wie etwa Epos und Tragödie und „weniger mythologischen“ Gattungen wie etwa Lehrgedicht nicht differenziert wird. Und auch eine etwaige Kontrastierung paganer Poesie mit dichterisch-hymnischen Passagen aus dem AT oder NT unterbleibt gänzlich.528

528 In nat. 4,26 (numquid senex Saturnus iamdudum obsitus canis atque annorum vetustate iam frigidus nostris carminibus indicatur ab uxore in adulterio comprehensus induisse formam feri et sub pecoris specie hinnitibus evolavisse iactatis?) dürfte die Verwendung des Possessivpronomens noster in der rhetorischen Frage der Absicht geschuldet sein, zu verdeutlichen, dass die bewussten Gedichte eben gerade nicht von Christen verfasst wurden; sie stellt aber kaum einen Hinweis auf christliche Poesie dar.

4. ERGEBNISSE Den Ausgangspunkt für die vorangegangenen Untersuchungen bildete die Frage, wie in Adversus nationes pagane Bildungsgüter und Wissensfelder bewertet werden und ob sich Ansätze der Chrêsis auch bei Arnobius von Sicca finden lassen. Um dies zu klären, wurden alle relevanten Textstellen analysiert, in denen explizite Aussagen getroffen werden über (1) Rhetorik, Grammatik und Sprachrichtigkeit, (2) Philosophie und Philosophen sowie (3) Dichtung und Dichter. Da in den Prolegomena, Kap. 4.2.2 deutlich gemacht wurde, dass der Sprecher von Adversus nationes nicht explizit mit dem Autor Arnobius identifiziert wird, ist nicht auszuschließen, dass mit einer Sprecher- bzw. Verteidiger-persona zu rechnen ist, die je nach Argumentationszusammenhang Äußerungen eventuell anders nuanciert, als es der historische Arnobius vielleicht getan hätte. Dennoch ist nicht damit zu rechnen, dass aus der persona des Sprechers heraus Aussagen getroffen oder Meinungen vertreten werden, die Grundüberzeugungen des Autors widersprechen.529 Die wichtigsten Punkte sollen hier noch einmal aufgegriffen und zu einem Gesamtbild zusammengeführt werden; für detailliertere Beobachtungen sei auf die jeweiligen Zusammenfassungen der einzelnen Kapitel verwiesen. Bezüglich der einzelnen Wissensgebiete ergaben sich deutliche Unterschiede in der Bewertung: Die Wichtigkeit der Bereiche Rhetorik, Grammatik und Sprachrichtigkeit wird relativiert, insofern sie als dem Inhalt einer Aussage untergeordnet betrachtet werden; dies gilt umso mehr, als etwa sprachliche Korrektheit aus Sicht des Verteidigers nur das Ergebnis der Befolgung arbiträrer menschlicher Konventionen ist. Einige Philosophen hätten gar absichtlich einen niedrigen Stil für ihre Werke gewählt, um nicht von deren Inhalt abzulenken. Umgekehrt garantiert laut Arnobius die Beherrschung jener Fähigkeiten keineswegs Kompetenz in metaphysischen Fragen. Im Vergleich mit den von Christus durch Worte gewirkten Wundern ist für den Sprecher freilich jede rhetorische Kunst kategorisch unterlegen. Dennoch wird maßvoller und angemessener Redeschmuck an keiner Stelle in Adversus nationes getadelt. Kritisiert bzw. als überflüssig bezeichnet werden vielmehr seine unangemessenen Auswüchse, wie sie etwa in dem sprachlichen Bild der „Schminke“ (fucus) anschaulich werden, da die Wahrheit niemals nach Derartigem gestrebt habe. Auch ist sich Arnobius bzw. der Sprecher durchaus der negativen Wirkungsmacht bewusst, welche die Beredsamkeit entwickeln kann, wenn sie für die falschen Zwecke eingesetzt wird. Für juristische Auseinandersetzungen aber wird der Rhetorik an zwei Stellen ausdrücklich ein Platz zugestanden, was angesichts der literarischen Gestaltung von Adversus nationes als 529 Ausgenommen hiervon sind sprachlich klar markierte argumentationstaktische Übernahmen paganer Positionen, wie sie z.B. in 2,69,1 durch ut interim concedam, in 4,32 durch sed concedamus signalisiert werden.

4. Ergebnisse

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Gerichtsrede äußerst bedeutsam erscheint. Schließlich wird mit Cicero der traditionelle Exponent der römischen Beredsamkeit genannt, in dessen Werk sich laut dem Sprecher vollkommen richtige theologisch-philosophische Meinungen finden lassen, der aber leider von den Heiden primär als Stilvorbild studiert werde. Anhand seines Œuvres wird jedoch deutlich gemacht, dass sich inhaltliche Wahrheit und ansprechende äußere Form, mithin maßvoll und sachgerecht eingesetzte Rhetorisierung, keineswegs ausschließen. In Adversus nationes wird also kein expliziter Aufruf zu einer spezifisch christlichen Nutzung der paganen Rhetorik und Grammatik artikuliert, aber es findet sich auch keine Aussage, die einem solchen Konzept fundamental entgegenstünde. Die Philosophie und „die“ Philosophen, die oftmals als Kollektive angesprochen werden, obgleich andererseits auch die in ihren Reihen heftig tobenden Kämpfe aufgegriffen werden, werden von Arnobius in ganz unterschiedlicher Weise in die Argumentation eingebunden: Auch die Philosophie sei, wie die Rhetorik, eine von Menschen entwickelte Kunstfertigkeit, die nicht etwa auf göttliche Inspiration zurückgehe. Bei Arnobius werden Theologie, Physik, Metaphysik und Ontologie, Logik sowie Ethik und Moral als ihre Themen genannt; Fragen der Politik oder der persönlichen Eudämonie werden ihr nicht zugerechnet. Die Philosophen, so der Sprecher, können trotz ihrer zahlreichen Debatten und der ausgefeilten Definitionstechniken keine echten Antworten auf Fragen der Kosmologie und Ontologie geben, sondern nur Vermutungen äußern. Dass jedoch die Seele durch die Philosophie gereinigt werden könne, wie die pagane Umwelt glaube, wird vom Sprecher zumindest für möglich gehalten; dies hat für ihn jedoch nur nachgeordnete Relevanz, da die Seele aus ihrem Status einer bedingten Unsterblichkeit (medietas) nur durch das gnädige Geschenk des christlichen Gottes, um dessen Erkenntnis man sich bemühen müsse, zu echter Unsterblichkeit gelangen könne. Große Gefahr wohne der oft als „Weisheit“ (sapientia) bezeichneten Philosophie insofern inne, als sie die Heiden unter Umständen zu einer falschen Gewissheit und dadurch zu Hochmut und Desinteresse gegenüber der christlichen Wahrheit, dem einzigen Heilsweg, führe. Ihre Repräsentanten werden ganz unterschiedlich porträtiert: Einmal werden sie als moralisch untadelige und allseits gebildete Männer bezeichnet, in anderen Passagen sieht man gerade sie mit größter Mühe gegen ihre eigenen Leidenschaften ankämpfen. Auch eine leise Kritik an einer gewissen Tendenz zu äußerer Selbstinszenierung wird mit Blick auf den „Philosophenbart“ artikuliert. Zwar wird in einer vergleichenden Gegenüberstellung klar, dass Christus den paganen Philosophen kategorial überlegen ist, insofern er den Menschen virtutes in Form von Wundern gezeigt hat und ihnen – im Gegensatz zu den verschiedenen Philosophenschulen – u.a. die wahre Natur der Seele geoffenbart hat. Dennoch können auch Philosophen zur Förderung des Renommees bzw. der Glaubwürdigkeit der christlichen Lehre dienen: zum einen, wenn auf konkrete Individuen geblickt wird, die sich von der Philosophie ab- und dem als höherwertig und „wahrer“ empfundenen Christentum zugewendet haben; zum anderen, wenn der Sprecher aus ihren Lehren Philosopheme aufgreift und namhaft macht, die der Stützung seiner eigenen Argumentation dienen und die aus christlicher Sicht ent-

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Teil I: Studien zur Bewertung paganer Wissensfelder durch Arnobius

weder Teilerkenntnisse der Wahrheit oder zumindest Falsifizierungen paganer irriger Anschauungen darstellen. Dabei postuliert der Sprecher sogar, die Philosophen seien radikalere Kritiker des traditionellen Glaubens als die Christen. Auch im Falle der Philosophie wird also keine Chrêsis-Theorie expliziert, aber der Sprecher führt praktisch vor, wie eine christliche Nutzung paganer Philosopheme vollzogen werden kann. Dem Wissensfeld Dichtung jedoch kann der Sprecher keinen einzigen positiven Aspekt abgewinnen: Zwar genießen Dichter in ihrer paganen Umwelt große Anerkennung; doch sie propagieren in ihren Werken die pagane Mythologie und damit höchst anstößige und echten Göttern äußerst unangemessene Erzählungen. Ihre in carmina und Theaterstücken präsentierten „blasphemischen Erzeugnisse“ werden vom Apologeten durchgängig negativ bewertet; sie – und nicht etwa die christliche Religion – seien Ausdruck einer wahren impietas, die sich jedoch nicht auf die Werke von Dichtern beschränke, sondern „die“ pagane Zivilisation insgesamt durchziehe, so dass sich einige Rezipienten an die platonische Dichterkritik erinnert fühlen könnten. Vielleicht auch aufgrund der thematisch-gattungsmäßigen Anlage von Adversus nationes unterbleibt ein Blick auf „weniger mythologische“ Gattungen wie etwa das pagane Lehrgedicht. Dass Arnobiusʼ Sprache, wie schon lange gesehen wurde, zahlreiche Poetismen und insbesondere Anklänge an Lukrez aufweist, dem wegen seiner philosophischen Religionskritik ohnehin eine Sonderrolle innerhalb der lateinischen Poesie zukommt, steht zu den vorgetragenen Beobachtungen in keinerlei Widerspruch: Immer kritisiert der Sprecher die Inhalte paganer Dichtung, nie ihre formale Gestaltung. Es überrascht daher nicht, dass sich bei Arnobius keine Texte finden, in denen er explizit über eine Chrêsis paganer Dichtung reflektiert oder dieses Verfahren thematisiert. Sie beinhaltet für ihn anscheinend auch keine positiven Ansätze oder Teilwahrheiten der christlichen Lehre. Allerdings können – wie etwa das Beispiel der fünf Minerven zeigt, die miteinander in Streit geraten – aus poetischen Texten sehr wohl Argumente für die Inkonsequenz und Irrationalität paganer religiöser Anschauungen und somit letztlich zugunsten des christlichen Glaubens gewonnen werden.

TEIL II: STUDIEN ZUR NUTZUNG PAGANER WISSENSFELDER: ARNOBIUS’ APOLOGETISCHE TECHNIK

EINFÜHRUNG Nachdem im ersten Hauptteil herausgearbeitet worden ist, in welcher Weise Arnobius die paganen Wissensfelder (1) Rhetorik, Grammatik und Sprachrichtigkeit, (2) Philosophie und (3) Dichtung bewertet bzw. seine Verteidiger-persona diese bewerten lässt, widmet sich der zweite Hauptteil der vorliegenden Untersuchung der Frage, inwiefern und in welcher Weise er selbst bei der Entwicklung seiner Gedanken und Argumente in concreto auf deren Wirkungspotenziale zurückgreift, wobei der Schwerpunkt auf der Untersuchung der Rhetorik und Argumentationsweise liegen soll. Wie schon an anderer Stelle ausgeführt, wird der Umstand, dass Arnobius als Rhetor wirkte, in der Sekundärliteratur in der Regel nur entschuldigend angeführt, um über vermeintliche ästhetische Mängel seines Werkes (wie etwa als zu zahlreich empfundene rhetorische Fragen oder vermeintlich zu lange Beispielreihen) hinwegzutrösten;1 eine ausführliche dieses Faktum ernstnehmende Würdigung der literarischen Gestaltung des Werkes unter funktionalen Gesichtspunkten ist bislang noch nicht vorgelegt worden.2 Gerade eine derartige Betrachtung unter rheto1 2

S. oben, S. 74. In dieser Hinsicht unergiebig ist auch das Kapitel „Arnobius the Rhetor“ in SIMMONS (1995) 113ff.; DERS. formuliert jedoch ebd. S. 164, Anm. 4: „A study of the influence of the Roman rhetorical tradition upon Arnobius would admirably repay itself.“ WLOSOK (1989a) 373 bezeichnet eine „Darstellung der rhetorischen Strategie und Taktik samt Widerlegungsformen und Argumentationsweise [des Arnobius]“ als Desiderat, und auch LE BONNIEC (1982a) 91 glaubt: „Il vaudrait la peine dʼétudier dans le détail les procédés du polemiste“; ähnlich auch TORNAU (2018) 71f. – Ansätze einer rhetorischen Betrachtung finden sich allerdings bei COLOMBO (1930). DERS. behauptet ebd. auf S. 15f., einzelne Passagen des Werkes könnten als Deklamationen aufgefasst werden; und auf den S. 28–45 vollzieht er kursorisch den Aufbau des ersten Buches sowie den Zusammenhang einzelner Abschnitte nach, ohne jedoch auf die Gattung „Gerichtsrede“ einzugehen. LOPETEGUI SEMPERENA (2017) benennt auf den S. 52–64 einige Argumentationstechniken, die im ersten Buch von Adversus nationes eingesetzt werden. Sie weist ebd. S. 68 en passant darauf hin, dass Adversus nationes charakteristische Elemente des genus iudiciale enthält; insgesamt aber betrachtet sie das Werk als im Rahmen und Ton einer philosophischen Debatte präsentiert bzw. gehalten (ebd. S. 53.64 und passim). VICIANO (1993) zeigt auf, in welche Traditionen die von Arnobius verwendeten rhetorischen und grammatischen Termini einzuordnen sind. KISS (2007) referiert die Ergebnisse seiner auf Ungarisch verfassten, als PDF veröffentlichten Dissertation, die Gemeinsamkeiten zwischen Apuleius und Arnobius illustriert. Ebd. S. 205f. nennt er fiktive Reden, ekphrastische Darstellungen sowie die Einbeziehung des Publikums bei Arnobius als mögliche Einflüsse der Zweiten Sophistik. KISS bilanziert ebd. S. 206: „Ich konnte mit Beispielen belegen, dass der Apologet die Mittel der Zweiten Sophistik konsequent benutzt und sie nach gut durchdachten Prinzipien anwendet.“ SANTORELLI (2013) schließlich untersucht, mit welchen rhetorischen Mitteln Arnobius das pagane Pantheon und insbesondere Juppiter der Lächerlichkeit preisgibt. – Sehr gehaltvoll sind allerdings die Bemerkungen zur literarischen Rahmung des Wer-

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Teil II: Studien zur Nutzung paganer Wissensfelder

risch-forensischen Kriterien dürfte aber äußerst gewinnbringend und für das Verständnis der Schrift in hohem Maße förderlich sein, da Arnobius ja selbst, wie in Kap. 4.2 der Prolegomena gezeigt worden ist, die Fiktion einer weitgehend iudicialen Kommunikationssituation gewählt hat.3 Dass das Werk vom Grundcharakter her eine Apologie ist, konvergiert einerseits mit dem juristischen Rahmen; durch die Beschäftigung mit theologisch-philosophischen Themen ist andererseits (mit aller gebotenen Vorsicht) leicht eine Brücke zum Genos philosophischer Schriften zu schlagen.4 Nun haben aber gerade in den letzten Jahrzehnten rhetorische Untersuchungen verschiedener Art viel zum Verständnis von Gerichtsreden, aber auch von philosophischen Schriften v.a. Ciceros beigetragen, denen bis weit ins 20. Jahrhundert vorgeworfen wurde, sie seien in ihrer Gedankenführung verworren oder zuweilen sachlich fehlerhaft.5 Sehr anregend sind in dieser Hinsicht z.B. die sich auf die Reden konzentrierenden Arbeiten von CHRISTOFF NEUMEISTER, CARL JOACHIM CLASSEN, WILFRIED STROH und STEVEN M. CERUTTI6 sowie die sich den Philoso-

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kes und zu typisch iudicialen von Arnobius verwendeten Elementen, die FÖLLINGER (1999) 13–16 ihren Überlegungen zur Rolle philosophischer Theorien bei Arnobius voranstellt. – SOLLENA (2016) wiederum hat eine Studie vorgelegt, in der „il rapporto tra la dimensione apologetica e la struttura teologica“ (S. 9) des ersten Buches von Adversus nationes untersucht wird. Schon MAYER erkennt in seiner Grazer Dissertation von 1939, in der er verschiedene Ausprägungen der rhetorischen Technik der refutatio katalogartig darstellt, auf S. 6f. einen Zusammenhang zwischen juristischen refutationes und den von Arnobius verwendeten an; in Absetzung von älteren Überblickswerken zu rhetorischen Argumentationsformen, die ihre Beispiele primär aus Ciceros Gerichtsreden schöpfen, hält er jedoch zu Recht auch andere Formen für möglich („quamvis Arnobius praecepta iudicialis generis dicendi haud ignoret eaque praecepta ex refutationibus eluceant, tamen maior libertas et diversitas quaedam in refutationibus componendis negari non potest.“). DERS. beurteilt ebd. S. 121 Arnobiusʼ Widerlegungstechniken zwar als wirkungsvoll, fällt aber ein negatives ästhetisches Urteil: „Optime ei contingit, ut animos permoveat, quamvis nonnumquam nimia copia refutationis formarum similium defatigamur. Nonnullis locis etiam nos nimii squaloris taedet, quem e narrationibus, mysteriis aliisque rebus cum cultu deorum conexis promit, quo certe effectum refutationis augere voluerat. At eo subsidio nimis utitur.“ Vgl. ferner ebd. S. 125f.: „Adnotandum autem est intemperantiam quandam, ut supra dixi, apud eum inveniri. Neque negare possumus nonnullas sententias parum apte assumptas videri et effectum refutationum deminui oportere, cum non sine gaudio squalorem undique confert et animum in sordidissimas res intendit.“ HAGENDAHL (1983) 37 bemerkt en passant: „In Arnob hören wir, vielleicht deutlicher als in Apuleius und Tertullian, ein Echo der forensischen Beredsamkeit, die Afrikas Glorie war.“ Eine gewisse Wesensverwandtschaft zwischen den Schriften u.a. des Arnobius und Ciceros Dialogen steht schon für Hieronymus außer Frage, wie aus dessen epist. 70,5,2 hervorgeht (septem libros adversus gentes Arnobius edidit totidemque discipulus eius Lactantius [...]; quos si legere volueris, dialogorum Ciceronis ἐπιτομὴν repperies). Vgl. z.B. die Dokumentation der Forschungsgeschichte bei GAWLICK/GÖRLER (1994) 1026. NEUMEISTER (1964), CLASSEN (1973, 1979, 1982, 1985; ergänzt durch den Aufsatz von 1991 zu Gerichtsreden als „Dialog mit drei Beteiligten“, gezeigt an Reden des Demosthenes und Aischines), STROH (1975), CERUTTI (1996). – Im Übrigen ist die Bedeutung der Rhetorik – nicht zuletzt dank der sog. Mainzer Schule – auch wieder ein zentraler Gegenstand der modernen juristischen Forschung geworden, vgl. z.B. STROUX (1949), VIEHWEG (1969), STRUCK

Einführung

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phica widmenden Untersuchungen von MALCOM SCHOFIELD, BRAD INWOOD und JÜRGEN LEONHARDT,7 um nur einige zu nennen. Mit ähnlicher Methodik analysierte in jüngerer Zeit CHRISTIAN TORNAU sehr erhellend Augustins Argumentationstechnik in De civitate dei, indem er die Gestaltung und Gedankenführung eher in den großen Zügen betrachtete.8 Bis auf die Ebene des Einzelsatzes und der Wortwahl hinab untersuchten hingegen NORBERT BLÖßNER und JOCHEN SAUER philosophische Texte Ciceros, ebenfalls der Grundüberzeugung folgend, dass sich Ciceros Anwaltskunst auch in der Gestaltung seiner Philosophica niederschlage.9 All diesen Untersuchungen verdankt die vorliegende Arbeit vielfache methodische Anregungen. Dass diese Überlegungen jedoch nicht womöglich etwas Wesensfremdes sind, was den antiken Texten ohne sachliche Berechtigung übergestülpt würde, wird z.B. in einer Passage aus De oratore deutlich: Hier lässt Cicero die Dialogfigur Antonius einen Vergleich zwischen nichtforensischen Belangen und Gerichtsreden vollziehen, in dem sozusagen die „Abwärtskompatibilität“ der juristischen Beredsamkeit herausgestellt wird: Diese sei die schwierigste Form der Eloquenz aufgrund der Unberechenbarkeit der Reaktionen des Gegners und der Richter.10 Hieraus lässt sich folgern, dass ein Vorteil literarisierter philosophischtheologischer Debatten gerade darin besteht, dass der Autor die Reaktionen und Äußerungen aller Dialogteilnehmer planen und seinen jeweiligen Intentionen entsprechend formen kann.11

(1971), O’BARR (1982), PERELMAN (1982) und die weiteren Beiträge des Sammelbandes „Rhetorische Rechtstheorie“ von BALLWEG/SEIBERT (1982), GRÖSCHNER (1982), VON SCHLIEFFEN (1990) und (2007), GAST (2006) sowie HAFT (2007). MARTINEAU (1994) stellt die Elemente antiker Gerichtsreden und die für diese jeweils geforderten Qualitäten nicht nur, aber primär für ein juristisch tätiges Publikum dar. 7 SCHOFIELD (1986), INWOOD (1990) und LEONHARDT (1999). 8 TORNAU (2006). – Untersuchungen zur Argumentationskunst Tertullians wiederum haben u.a. SIDER (1971), ECKERT (1993) und DUNN (2008) vorgelegt. Vgl. auch die allgemeine Einschätzung von CAMERON (1991) 3: „At the very least, we might expect to see a greater stress on its [= des Christentums] rhetorical strategies [...]. It has barely been noticed as yet what an extraordinarily suitable field early Christianity provides for this kind of inquiry.“ 9 BLÖßNER (2001) sowie SAUER (2007). 10 Cic. de orat. 2,72: omnium ceterarum rerum oratio, mihi crede, ludus est homini non hebeti neque inexercitato nec communium litterarum et politioris humanitatis experti; in causarum contentionibus magnum est quoddam opus atque haud sciam an de humanis operibus longe maximum: in quibus vis oratoris plerumque ab imperitis exitu et victoria iudicatur; ubi adest armatus adversarius, qui sit et feriendus et repellendus; ubi saepe is, qui rei dominus futurus est, alienus atque iratus aut etiam amicus adversario et inimicus tibi est. 11 Wie LEONHARDT (1999) 91 gezeigt hat, lässt sich aus Cic. fin. 2,17 kein echter Gegensatz zwischen forensischer und philosophischer Rhetorik ableiten; die letztere zeichnet sich lediglich durch größere Subtilität aus: obsequar igitur voluntati tuae dicamque, si potero, rhetorice, sed hac rhetorica philosophorum, non nostra illa forensi, quam necesse est, cum populariter loquatur, esse interdum paulo hebetiorem.

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Teil II: Studien zur Nutzung paganer Wissensfelder

Etwas anders ponderiert begegnet der Gedanke im fünften Buch der Tusculanen:12 Hier heißt es, Charakteristikum eines scharfsinnig Erörternden sei es, nicht darauf zu schauen, was ein jeder [tatsächlich und konkret] sage, sondern darauf, was ein jeder [eigentlich] sagen müsste. Erst durch scharfsinnige und sachgerechte Gestaltung also könnten Argumente und die dahinterstehenden Philosopheme ihr volles Potenzial entfalten. Dies schließt jedoch, wie etwa TORNAU hervorhebt,13 auch mit ein, dass mögliche Einwände des Gegners vorweggenommen werden bzw. Gegenargumente formuliert und entkräftet werden sollten, die vielleicht die Richter gefunden hätten, ohne dass sie die gegnerische Partei vorgebracht hätte.14 Wenn es sich aber um literarisierte, also nur fiktive Dialoge bzw. Reden handelt, ist freilich immer damit zu rechnen, dass dem Gegner Positionen zugeschrieben werden, die dieser vielleicht gar nicht hätte vertreten wollen.15 Cicero betont überdies z.B. in seinem Alterswerk Topica, das dem Juristen Gaius Trebatius gewidmet ist, mehrfach, dass die Mechanismen der Argumentauf12 Cic. Tusc. 5,28: acute autem disputantis illud est, non quid quisque dicat, sed quid cuique dicendum sit, videre. 13 TORNAU (2006) 108 mit Anm. 7. 14 Diesen Anspruch, das Spektrum aller möglichen Einwände ausgeschöpft und ggf. über den intellektuellen Horizont der Gegner hinaus gedacht zu haben, artikuliert z.B. Lactanz in inst. 3,30,9: dissolutis religionibus universis et omnibus, quaecumque in earum defensionem dici vel solebant vel poterant, refutatis […] ad veram nobis religionem sapientiamque veniendum est; ferner ebd. 5,4,1: ut omnibus ingenii mei viribus accusatores iustitiae refutarem, non ut contra hos scriberem, qui paucis verbis obteri poterant, sed ut omnes, qui ubique idem operis efficiunt aut effecerunt, uno semel impetu profligarem. Vgl. hierzu auch TORNAU (2006) 110f., der zusätzlich noch auf die Würdigung eingeht, die Euseb diesbezüglich des Origenes ausspricht (Hierocl. 1: παραγαγὼν συλλήβδην, ὅσα εἰς τὴν αὐτὴν ὑπόθεσιν παντί τῳ εἴρηταί τε καὶ εἰρήσεται, προλαβὼν διελύσατο). – Cum grano salis hiermit vergleichbar ist vielleicht sogar Thomas Manns (jedoch auf Erzählungen bezogene) Einschätzung, „nur das Gründliche [sei] wahrhaft unterhaltend“ [zit. nach: Der Zauberberg. Roman, hrsg. und textkritisch durchgesehen von M. Neumann (Thomas Mann, Große kommentierte Frankfurter Ausgabe: Werke – Briefe – Tagebücher. 5.1), Frankfurt a.M. 2002, 10]. 15 Hierin sieht Quintilian eine Gefahr für die Effektivität des rhetorischen Trainings (inst. 5,13,42): declamatores vero inprimis sunt admonendi, ne contradictiones eas ponant, quibus facillime responderi possit, neu sibi stultum adversarium fingant. Anschließend (ebd. 5,13,43) wird dieser Gedanke anhand einer Anekdote noch einmal ins Komische gewendet (aiunt Accium interrogatum, cur causas non ageret, cum apud eum in tragoediis tanta vis esset [optime respondendi], hanc reddidisse rationem, quod illic ea dicerentur, quae ipse vellet, in foro dicturi adversarii essent, quae minime vellet). Eben dies illustriert die Vorteile und Gefahren fiktionaler Diskussionen aufs Schönste. – Aus einer anderen Perspektive lässt sich die Relation zwischen „echter“ und literarisierter Kontroversdiskussion auch mit derjenigen vergleichen, die Aristoteles in seiner Poetik zwischen Historiographie und Dichtung feststellt, insofern seiner Meinung nach die Dichtung Kausalitäten klarer zum Ausdruck bringt, als dies die Geschichtsschreibung vermag, indem sie das Geschilderte von allen bloß akzidentiellen Merkmalen reinigt (Aristot. poet. 9, 1451 a 36ff.: φανερὸν δὲ ἐκ τῶν εἰρημένων καὶ ὅτι οὐ τὸ τὰ γενόμενα λέγειν, τοῦτο ποιητοῦ ἔργον ἐστίν, ἀλλ’ οἷα ἂν γένοιτο καὶ τὰ δυνατὰ κατὰ τὸ εἰκὸς ἢ τὸ ἀναγκαῖον. [...] διὸ καὶ φιλοσοφώτερον καὶ σπουδαιότερον ποίησις ἱστορίας ἐστίν· ἡ μὲν γὰρ ποίησις μᾶλλον τὰ καθόλου, ἡ δ’ ἱστορία τὰ καθ’ ἕκαστον λέγει. ἔστιν δὲ καθόλου μέν, τῷ ποίῳ τὰ ποῖα ἄττα συμβαίνει λέγειν ἢ πράττειν κατὰ τὸ εἰκὸς ἢ τὸ ἀναγκαῖον).

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findung und des persuasiv wirksamen Argumentierens für Redner, Philosophen und Rechtsgelehrte dieselben seien, wenngleich damit zu rechnen sei, dass unterschiedliche Argumenttypen in den verschiedenen Kontexten unterschiedlich wirksam sein können.16 Im Folgenden soll also untersucht werden, wie Arnobius in concreto in seinem Werk Adversus nationes gegen das Heidentum und für den christlichen Glauben Position bezieht und welche Mechanismen seinen Ausführungen Überzeugungskraft verleihen bzw. die Darstellung beeinflussen. Es soll sozusagen die innere Logik sichtbar gemacht werden, welche den Autor dazu bewogen haben mag, die von den Rezipienten zu verzeichnenden konkreten Gestaltungsentscheidungen zu treffen. Wenn hierbei von „innerer Logik“ gesprochen wird, so ist damit eine wesentliche These der folgenden Untersuchungen schon angerissen, nämlich dass Adversus nationes eben nicht das weitgehend unreflektierte und deshalb qualitativ minderwertige Machwerk eines „fanatische[n] Schreier[s]“ bzw. „flüchtigen Agitationsredners“17 darstellt, sondern einen planvoll gestalteten18 und intel16 Cic. top. 41 (similitudo sequitur, quae late patet, sed oratoribus et philosophis magis quam vobis [sc. iuris peritis]. etsi enim omnes loci sunt omnium disputationum ad argumenta suppeditanda, tamen aliis disputationibus abundantius occurrunt, aliis angustius. itaque genera tibi nota sint; ubi autem eis utare, quaestiones ipsae te admonebunt), 51 (est igitur magna ex parte locus hic oratorius non modo non iuris consultorum, sed ne philosophorum quidem), 65 (toto igitur loco causarum explicato ex earum differentia in magnis quidem causis vel oratorum vel philosophorum magna argumentorum suppetit copia; in vestris [sc. iuris peritorum] autem si non uberior, at fortasse subtilior), 66 (licebit igitur diligenter argumentorum cognitis locis non modo oratoribus et philosophis, sed iuris etiam peritis copiose de consultationibus suis disputare). – Ein möglicher Einwand gegen die grundsätzliche Vergleichbarkeit von Gerichtsrede und Dialog ist inzwischen auch dadurch ausgeräumt worden, dass die Kriterien „hierarchiefreier Austausch unterschiedlicher Positionen“ und „Ergebnisoffenheit des inszenierten Gesprächs“ nicht mehr zwangsläufig als gattungskonstituierende Kriterien des Dialoges betrachtet werden, vgl. FÖLLINGER/MÜLLER (2013) 1f. 17 So NORDEN (1958) 605, Anm. 1 bzw. JÜLICHER (1896) 1206. HAGENDAHL (1958) 29 spricht von Arnobiusʼ „acknowledged haste, carelessness“, QUASTEN (1964) 384 behauptet: „The work bears every mark of hastiness“, konzediert jedoch ebd. S. 385: „the composition as a whole does not lack organic unity.“ Auch SITTE (1970) II glaubt, eine Analyse des Werkes eröffne „überall Spuren der Eile und Mangel an durchdachter Beweisführung“, und ebd. S. 56 spricht er von der Arnobius seiner Meinung nach „zu Recht vorgeworfenen Unordnung und Oberflächlichkeit“. ALTANER/STUIBER (1978) 183f. behaupten: „[Sein Werk] hat Arnobius rein als Rhetor geschrieben; nirgends zeigt er sich gründlich in seiner Beweisführung“. Ganz anders CONTRERAS (1980) 1019: „He demonstrates [...] a thoroughness in the discussion of a topic as only few Fathers do.“ GIERLICH (1985) IV spricht von einem „hastige[n], kaum gegliederte[n] Entwurf“. STRACHEY (1958) 227 hingegen vermutet: „[the treatise] is very long [...] and its writing almost certainly occupied several years.“ Vgl. ferner LÖFSTEDT (1917) 7: „Der Stil des Arnobius ist durchweg rhetorisch, entbehrt aber den Geist, der unbedingt notwendig ist, um einer stark rhetorisierenden Darstellung den Charakter wirklicher Kunst zu verleihen. Aus dem Mangel an schöpferischem Geist erklärt sich auch seine aussergewöhnlich grosse Vorliebe für Wiederholungen und für stereotype oder sehr ähnliche Ausdrücke.“ Gegen NORDENS o.g. Einschätzung wendet sich OPELT (1975) 173, die nach ihrer Analyse des Schimpfwortgebrauchs des Apologeten zu dem Ergebnis kommt, dass Polemik bei ihm „immer in den Dienst der Sache“ trete und dabei „nicht so häufig, wie man a priori annehmen

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lektuell nachvollziehbaren Beitrag zur Rechtfertigung des Christentums bzw. zur Diskreditierung des paganen griechisch-römischen Polytheismus und seiner Kultpraxis. Eine Konsequenz dieser These ist die Erwartung, dass viele bislang in der Sekundärliteratur kritisierte Einzelzüge, aber auch übergreifende Aspekte des Werkes sich werden besser deuten und verstehen lassen.19 Um Arnobiusʼ Argumentationsmethodik möglichst gründlich und differenziert herausarbeiten zu können, werden zwei Zugänge gewählt, die jeweils verschiedene Ebenen und Gesichtspunkte beleuchten: Zunächst soll in Teil II. A anhand des ersten Buches exemplarisch20 untersucht werden, inwieweit die literarikönnte“, begegne. Vgl. auch SCHMID (1960) 267: „Gewiß ist Arnobius ganz und gar Rhetor, aber ein in seiner Art brillanter Rhetor, der seinen rhetorischen Kapricen durchaus nicht willenlos ausgeliefert ist und sich schwerlich zu Gedanken ,hinreißenʻ läßt, die vom Sachlichen her gesehen als völlig deplaciert gelten müßten.“; ferner ebd. S. 279: „Wenn ein Geist wie Arnobius mit rhetorischen Mitteln arbeitet, so heißt das nicht, daß nicht auch er zunächst einmal an die Sache [Kursivierung im Orig.] denkt“. – Zur Frage nach einer sinnvollen Gesamtanlage des Werkes vgl. auch die Diskussion des Hieronymus-Testimoniums epist. 58,10,2 sowie den diesbezüglichen Forschungsüberblick auf S. 76 mit Anm. 219. 18 In Bezug auf Cicero wurde die Frage, ob rhetorische Elemente in philosophische Schriften bewusst eingefügt worden sind, teils vorsichtig bejaht [BLÖßNER (2001) 10, Anm. 18 zu rep. 1,1–3], teils verneint [LEONHARDT (1999) 133 zu De finibus: „Man darf wohl davon ausgehen, daß ihm die hier beobachteten [sc. rhetorischen] Techniken [...] als Gerichtsredner so selbstverständlich geworden waren, daß sie sich ihm bei der Gestaltung der philosophischen Redenpaare ohne große Überlegungen einstellten“; DERS. allerdings ebd. S. 94: „Auch im zweiten Buch De finibus hat Cicero wie in einer Gerichtsrede bewußt mit Täuschungsmanövern und geschickter, zweckgebundener Disposition der Fakten gearbeitet. Ob er sich im Vergleich zu Gerichtsreden hierbei gemäßigt hat [...], bleibt für uns unüberprüfbar [...].“ und S. 126: „Wir müssen uns mit der Tatsache abfinden, daß Cicero auch in seinen philosophischen Reden Täuschungstechniken anwendet, die wir nach unserem Sachverständnis nur in einer Gerichtsrede oder politischen Rede legitim finden, während sie in einer wissenschaftlichen Abhandlung fehl am Platz sind. Es sind [...] keine groben Täuschungsmanöver, sondern eher kleinere, harmlose Argumentationsmanöver [...].“]. – In De oratore 3,78 wiederum lässt Cicero die Figur des Crassus die Bedeutung bewusst eingesetzter Rhetorik für philosophische Debatten sehr hoch veranschlagen: quid enim meus familiaris C. Velleius adferre potest, quam ob rem voluptas sit summum bonum, quod ego non copiosius possim vel tutari, si velim, vel refellere [...] hac dicendi exercitatione, in qua Velleius est rudis, unus quisque nostrum versatus? 19 Selbstverständlich soll jedoch nicht behauptet werden, alle Anstöße ließen sich durch diese Betrachtungsweise erklären bzw. Arnobius seien nie sachliche oder sprachliche Missgriffe in seiner Darstellung unterlaufen. Dennoch dürften sich Verdikte wie etwa das von JÜLICHER (1896) 1206 geäußerte („der Stil zuchtlos und affectiert, überladen mit rhetorischen Figuren und breit, die Gedankenfolge aller Ordnung entbehrend [... Arnobius begeht oft] bedenkliche Missgriffe [...] in Anschuldigung wie Beweisführung“) als unhaltbar erweisen. 20 Das erste Buch bietet sich aufgrund seiner relativen Selbständigkeit und seines geschlossenen Charakters zu einer solchen Analyse besonders an, vgl. COLOMBO (1930) 44 („un discorso apologetico pieno ed esaurito nel disegno e nello sviluppo“), dem sich auch LE BONNIEC (1982a) 25 anschließt („le livre 1 est en lui-même une œuvre complète“). Zwar betont GIERLICH (1985) XIV zu Recht die enge Verbindung der ersten beiden Bücher; von einer „untrennbare[n] Einheit“ (ebd.) zu sprechen, erscheint aber nicht gerechtfertigt: Arnobius bzw. der Sprecher kündigt am Anfang des zweiten Buches selbst den Beginn einer Digression an

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sche Gestaltung von Adversus nationes auf der Makro-Ebene von denjenigen Gesichtspunkten bestimmt ist, die in der antiken Rhetorik unter inventio (Stofffindung, hier konkret: Auffindung relevanten Beweismaterials) und dispositio (Anordnung des Beweismaterials) subsumiert werden,21 wie in größeren Zusammenhängen argumentiert wird und inwieweit sich Züge der konkreten literarischen Gestaltung aus dem Genos der Gerichtsrede heraus verstehen lassen. Eine zentrale These hierbei lautet, dass sich das erste Buch von Adversus nationes als Beleg dafür lesen lässt, dass Arnobius die pagane Gerichtsrede einer christlichen Nutzung zugeführt hat. Hierbei ist – dem Gang der Argumentation folgend und damit zumindest zunächst22 die Rezeptionssituation der ursprünglichen Leser oder ggf. Hörer einnehmend – insbesondere auf die Auswahl, Anordnung und Ponderierung (nat. 2,1,1: ab instituta principaliter defensione deverticulo paulisper facto) und verkündet am Beginn des dritten Buches ihr Ende (3,2,1: nunc ad ordinem revertamur, a quo sumus necessario paulo ante digressi, ne diutius interrupta defensio [...]). MONCEAUX (1963) 248f. wiederum hält es für am wahrscheinlichsten, dass die ersten beiden Bücher als „Apologie“ im eigentlichen Sinne verfasst und der Kirche in Sicca übergeben worden seien, während Arnobius danach die Bücher 3–7 „zu seinem Vergnügen“ als Satire abgefasst habe. MEISER (1908) 4 hingegen geht davon aus, dass Arnobius zunächst nur die ersten vier Bücher verfasst und dem Bischof von Sicca übergeben habe. NORTH (2007) 34f. hält die These für denkbar, dass die ersten beiden Bücher die von Hieronymus genannte Apologie darstellen, wobei es sich bei Buch 2 um einen Exkurs handele, „while books 3–7 were originally an attack on pagan practices less specifically linked to Christianity, written before the conversion of the author, perhaps available in draft at the time of the conversion and never fully revised to stand as part of his new religious testament.“ Anders SIMMONS (1995) 93, Anm. 261: „There is no hard evidence to establish that the books were not written in the sequence in which they appear.“; allerdings formuliert DERS. ebd. S. 123 die These: „the purpose for writing books 1 and 2 is best understood as a recanting of [sc. his own] former beliefs rather than as a Christian apology in a strict sense.“; auch LUCARINI (2005) 164 geht davon aus, dass alle sieben Bücher als zusammenhängende Einheit komponiert und in der uns überlieferten Reihenfolge abgefasst wurden. 21 Hierzu Genaueres in II. A, 2.2 und 2.3. 22 Dass die Analyse jedoch nicht bei einem sequenziellen Vorgehen stehenbleiben kann, versteht sich von selbst. So schon Quint. inst. 10,1,20f.: nec per partes modo scrutandi omnia, sed perlectus liber utique ex integro resumendus, praecipueque oratio, cuius virtutes frequenter ex industria quoque occultantur. saepe enim praeparat, dissimulat, insidiatur orator, eaque in prima parte actionis dicit, quae sunt in summa profutura. itaque suo loco minus placent, adhuc nobis, quare dicta sint, ignorantibus, ideoque erunt cognitis omnibus repetenda. Vgl. dazu die auf die dispositio bezogenen, aber auch für andere Aspekte zutreffenden Ausführungen bei STROH (1975) 17: „dennoch haben wir einen entscheidenden Vorteil, den es mit Energie auszunutzen gilt: Allein darum, weil wir lesen und nicht hören, sind wir der in der Dimension der Zeit stattfindenden Rededisposition nicht so hilflos ausgeliefert wie [der zeitgenössische Hörer]; wir können im Buch zurückschlagen, wir können das in kunstvoller, ,künstlicher‘ Disposition Zusammengefügte, wo nicht gar Verwirrte, mühelos und in beliebiger Zeit vereinzeln und wieder neu anordnen, und es müßte doch sonderbar zugehen, wenn wir dabei nicht zuletzt doch zu einer richtigeren Beurteilung auch vieler Fakten kämen als ein Richter, der in gedrungenem Zeitraum die Disposition des Advokaten nur erleben, nicht ermessen kann.“ Auf diese Diskrepanz macht auch Quintilian bzgl. einer Passage aus Ciceros Pro Milone aufmerksam (inst. 4,2,59): manifestum est, quo modo iudicem fefellerit, quod vix a lectore deprenditur.

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der vorgebrachten Argumente, aber auch der gegnerischen Vorwürfe sowie der ausgewählten Bewertungsmaßstäbe zu achten.23 Ihr spezifischer Persuasionsbeitrag für das jeweils aktuelle Argumentationsziel sowie ihre Verknüpfung untereinander und mit dem näheren Umfeld, aber auch eventuelle Fernbeziehungen von Elementen zueinander sowie die Umsetzung programmatischer Ankündigungen sind dabei zu würdigen. Obgleich auch in diesem Zusammenhang auffällige sprachliche Eigenheiten, die eine persuasive Funktion erfüllen, in die Analyse miteinbezogen werden, soll eben dieser Gesichtspunkt der elocutio (Ausdruck, konkrete Einkleidung eines Gedankens in sprachliche Form)24 in Teil II. B in Form dreier Fallstudien intensiver berücksichtigt werden, indem zentrale Textpassagen eingehend im Blick auf Gedankenführung, Wortwahl und rhythmische Gestaltung analysiert werden. Bei diesen Textpassagen handelt es sich einerseits um Stellen, an denen theologischphilosophische Kernaussagen formuliert werden, so dass damit zu rechnen ist, dass der Autor ganz besondere Sorgfalt auf ihre Gestaltung verwendet hat, zum anderen um eine Verteidigungsrede eines Opfertieres gegenüber Juppiter, in der mithin eine Art von Mise en abyme vorliegt, indem der äußere Rahmen des Gesamtwerkes en miniature für eine Einzelszene wieder aufgenommen wird.25 Im Rahmen dieser Untersuchungen auf der Makro- und Mikro-Ebene ist jeweils auszuloten, ob die vom Autor verwendeten Gestaltungsmittel eher akzidentiellen Charakter aufweisen oder ob sie nicht vielmehr als sachgerecht und im Blick auf die konkrete Argumentationsabsicht sinnvoll ausgewählt betrachtet werden dürfen, inwiefern also Form und Inhalt Diskrepanzen aufweisen oder sich harmonisch zusammenfügen. Somit dürfte dieser zweite Hauptteil konkrete Aufschlüsse zur Chrêsis-Praxis des Arnobius liefern und durch die Einbeziehung dieses bislang wenig beachteten Autors gleichzeitig das Diskussionsfeld weiten. Auch weitreichende Konsequenzen für die Beurteilung des Quellenwertes angeführter Zeugnisse, die pagane Philosopheme, Kultpraktiken o.ä. thematisieren,26 sind zu erwarten.27 23 Es ist ausdrücklich jedoch nicht das Ziel der vorliegenden Studie, zu den einzelnen Elementen zu verzeichnen, ob diese auch bei anderen christlichen Schriftstellern belegbar sind. Dies haben bereits die Kommentare zum ersten Buch von MCCRACKEN (1949a), LE BONNIEC (1982a) und vor allem GIERLICH (1985) in großer Detailgenauigkeit geleistet. SITTE (1970) 60ff. untersucht für Buch I, welche mythologischen Angaben Arnobius aus anderen lateinischen Apologeten geschöpft hat. – Wie oben auf S. 52ff. schon angesprochen, hat SIMMONS (1995) für viele Passagen aus Adversus nationes, auch aus dessen erstem Buch, plausibel gemacht, dass sie auf Vorwürfe des Neuplatonikers Porphyrios gegen das Christentum antworten könnten. Aus den ebd. dargelegten Gründen bieten diese Überlegungen aber keinen methodisch sicheren Vergleichspunkt oder gar eine Ausgangsbasis für die hier vorzunehmende Analyse. 24 Vgl. hierzu unten, S. 365f. 25 Zur Mise en abyme s. z.B. HALLYN (1980), VON WILPERT (2001) 525 und WOLF (2004). 26 Zur Wertschätzung, die Arnobiusʼ Werk als „Steinbruch“ für u.a. religionsgeschichtliche und antiquarische Fragen in der Forschung erfahren hat, vgl. die Prolegomena, S. 8, Anm. 8. 27 Schon FÖLLINGER (1999) 14 ging für Arnobius von einem „rhetorischen Zugriff“ auf Philosopheme aus, und LUBIAN (2014) hat für die Venus militaris in nat. 4,7 bereits plausibel ge-

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Wenn im Folgenden analysiert wird, welcher Techniken und rhetorischer Elemente sich Arnobius im Rahmen seines apologetischen Argumentierens bedient, so ist damit jedoch nicht etwa implizit die These formuliert, der christliche Autor handle unredlich und wende „Tricks“ an, welche aufgedeckt und bloßgestellt werden müssten. Die Nutzung von Rhetorik und Argumentationsstrategien a priori mit Täuschung oder gar Betrug gleichzusetzen, wäre mit Sicherheit verfehlt.28 So weisen z.B. sowohl der Auctor ad Herennium als auch Quintilian ex-

macht, dass Arnobius hier mythologisches Material so sehr nach seinen Argumentationszielen gestaltet, dass man von einer „substantial transfiguration of the original source“ (S. 38) sprechen kann. CHAMPEAUX (2018) 12 urteilt im Blick auf Informationen über pagane Kulte: „Arnobe ne sʼest pas soucié de donner, de chaque divinité, une analyse méthodique et ordonnée: son univers religieux sʼoffre à nous en images fragmentées, dissociées et accentuées jusquʼà la caricature. [...] LʼAduersus nationes nʼest pas une encyclopédie“. Ganz anders die Einschätzungen von BICKEL (1937) 334 („Der antike Wissensstoff kommt bei [Arnobius] zur Vorlage, ohne daß weltanschauliche Glut, missionarer Eifer oder auch nur künstlerische Spontaneität den Quellenstoff umgegossen hätte.“) und KISS (2007) 209 („[Arnobius] schildert die heidnischen Kulte, Mysterien und Riten, die ganze heidnische Welt schlechthin, mit besonderer Sorgfalt, etwa nach Art eines heidnischen Wissenschaftlers.“). PANEGYRES (2019) wiederum hält die arnobianische Darstellung des Verhältnisses zwischen Christen und Nichtchristen für propagandistisch verzerrt, vgl. Teil I, S. 32f. – Vgl. ferner allgemein THURÉN (1997) 587 („Only after a text is de-rhetorized by identification of the functions of the different strategies and devices, can the theology behind it be revealed“) und BLÖßNER (2001) 7 (auf Cicero bezogen: „eine Quellenforschung, die es unterläßt, Argumentationsziel und Argumentationsweise des Autors zu klären und angemessen in Rechnung zu stellen, hat keinen Anhaltspunkt für dessen Umgang mit seinen Quellen. [...] Ciceros Absichten wird niemand darin vermuten, späteren Quellenforschern den authentischen Sinn seiner Vorlagen zu bewahren; vielmehr wird der Autor das von ihm herangezogene Material in den Dienst seiner eigenen darstellerischen und argumentativen Ziele gestellt haben. Dann ist aber vor Rückschlüssen auf dieses Material zu klären, welche Ziele Cicero verfolgt hat, und wie er vorgegangen ist, um sie zu erreichen.“). 28 Dies wird auch nicht dadurch geschwächt, dass Cicero in off. 2,51 es als charakteristisch für Anwälte ansieht, zuweilen dem Plausiblen den Vorzug vor der Wahrheit zu geben: iudicis est semper in causis verum sequi, patroni non numquam veri simile, etiam si minus sit verum, defendere, quod scribere, praesertim cum de philosophia scriberem, non auderem, nisi idem placeret gravissimo Stoicorum Panaetio. Vgl. ferner Cic. Cluent. 139: sed errat vehementer, si quis in orationibus nostris, quas in iudiciis habuimus, auctoritates nostras consignatas se habere arbitratur. omnes enim illae causarum ac temporum sunt, non hominum ipsorum aut patronorum. nam si causae ipsae pro se loqui possent, nemo adhiberet oratorem. nunc adhibemur, ut ea dicamus, non quae auctoritate nostra constituantur, sed quae ex re ipsa causaque ducantur. – Dass Rhetorik jedoch auch in der Antike von einigen als eine „üble Kunst“ bzw. „Täuschungskunst“ definiert wurde, belegen u.a. entsprechende Referate Quintilians (inst. 2,15,2: quidam [sc. rhetoricen] etiam pravitatem quandam artis, id est κακοτεχνίαν, nominaverunt und ebd. 2,15,23: quidam eam neque vim neque scientiam neque artem putaverunt, [...] Athenaeus fallendi artem). Vgl. ferner die Einschätzung, die Cicero den berühmten Redner Antonius äußern lässt: Die Rhetorik stütze sich auf die Lüge, gelange nicht oft zu wahrem Wissen und habe es nur auf die Meinungen oder gar Irrtümer der Zuhörer abgesehen (de orat. 2,30: quae mendacio nixa sit, quae ad scientiam non saepe perveniat, quae opiniones hominum et saepe errores aucupetur).

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plizit darauf hin, dass auch die Wahrheit nach bestimmten Gesichtspunkten plausibel dargestellt werden müsse, da sie sonst unter Umständen kein Gehör finde.29 Schließlich kann, da der Verteidiger sich mit Anklagen in einem literarischen Werk auseinandersetzt, ohnehin z.B. nicht die Frage, welche Vorwürfe in der historischen Entstehungssituation tatsächlich erhoben worden seien, als Maßstab der Wahrhaftigkeit angelegt werden. Aber selbst wenn der Verteidiger auf Vorwürfe antworten sollte, die in der konkreten historischen Situation nicht belegbar sind oder die auch im Werk selbst von den fiktiven Anklägern zuvor nicht expliziert worden sind, ist wieder an das Zeugnis aus Ciceros Tusculanen zu erinnern, das den Erörternden dazu ermahnt, im Interesse der Wahrheitsfindung ggf. gegnerische Positionen selbst (aufrichtig) zu konstruieren bzw. zu formulieren und dann zu widerlegen.30

29 Rhet. Her. 1,9,16 (si vera res erit, nihilominus haec omnia narrando conservanda sunt; nam saepe veritas, nisi haec servata sint, fidem non potest facere) und Quint. inst. 4,2,34: nec quisquam reprensione dignum putet, quod proposuerim eam [sc. narrationem], quae sit tota pro nobis, debere esse veri similem, cum vera sit. sunt enim plurima vera quidem, sed parum credibilia, sicut falsa quoque frequenter veri similia. quare non minus laborandum est, ut iudex, quae vere dicimus, quam, quae fingimus, credat. 30 Vgl. auch TORNAU (2006) 114 zu Augustins De civitate dei: „Es wäre daher ein Mißverständnis, aus der Tatsache, daß Augustinus die gegnerischen Einwände großenteils selbst konstruiert, den Vorwurf der Spiegelfechterei abzuleiten. Vielmehr drückt sich darin die längst bekannte Tatsache aus, daß das Anliegen von De civitate Dei weit über den unmittelbaren Anlaß [...] hinausreicht; [...] Augustinus [mußte] die pagane Polemik allgemeiner fassen als sie in seiner kontingenten historischen Situation vorlag.“

II. A: DIE APOLOGETISCHE ARGUMENTATION IN ADVERSUS NATIONES 1

1. TERMINOLOGIE UND REFERENZRAHMEN Bei der vorzunehmenden Analyse des ersten Buches von Adversus nationes sollen – neben verschiedenen Ansätzen moderner Argumentationstheorien31 – primär rhetoriktheoretische Schriften der Antike Berücksichtigung finden, vor allem Werke Ciceros und Quintilians, insofern sie adäquate Termini für die Beschreibung der vorliegenden Gegebenheiten bieten und sich aus ihnen Einschätzungen bezüglich der Wirkung bestimmter rhetorischer Elemente gewinnen lassen.32 Dieses Verfahren lässt sich durch mindestens zwei Gesichtspunkte legitimieren: Wie wir aus den biographischen Zeugnissen wissen, war Arnobius selbst als Rhetoriklehrer in Sicca Veneria tätig.33 Im rhetorischen Lehrbetrieb um 300 n.Chr. aber waren die Schriften Ciceros und Quintilians weiterhin von einer gewissen Bedeutung,34 so dass Arnobius derartiges Schrifttum wohlvertraut gewesen sein dürfte, auch wenn sich die Betätigungsfelder der Eloquenz gegenüber den Verhältnissen in der späten Republik grundlegend verändert hatten und mit suasoriae und controversiae als Typen der declamatio neue Redegattungen etabliert worden waren.35 Cicero nennt der christliche Autor sogar an einer Stelle explizit als bedeutendsten Vertreter der römischen Beredsamkeit.36 31 Verwiesen sei insbesondere auf PERELMAN (1982), PERELMAN/OLBRECHTS-TYTECA (2004) und KIENPOINTNER (1992). 32 Auch GIERLICH (1985) verweist in ihrem Kommentar zu den ersten beiden Büchern sporadisch auf Stellen aus Quintilian. MULVEY (1908) 14ff. stellte einigen bei Quintilian beschriebenen Tätigkeiten eines grammaticus bzw. Rhetors damit vergleichbare Passagen aus Adversus nationes zur Seite. – Aus der Fülle moderner Darstellungen zum System der antiken Rhetorik und ihrer Terminologie seien genannt: VOLKMANN (1963), HOMMEL (1965), MARTIN (1974) sowie LAUSBERG (2008). 33 Hier. vir. ill. 79,1 (Arnobius sub Diocletiano principe Siccae apud Africam florentissime rhetoricam docuit) und chron. ad 327 p. Chr. (p. 231,14f. HELM) (Arnobius rhetor in Africa clarus habetur. qui cum Siccae ad declamandum iuvenes erudiret […]). 34 Zu Quintilian differenziert ADAMIETZ (1986) 2266: „Gesichert war [Quintilians] Wirkung im Rahmen der rhetorischen Theorie – HALMs ‘Rhetores Latini Minores’ bieten dafür viele Belege –, aber dies war nicht die Art von Erfolg, die sich Q. erhofft hatte. Und selbst in der rhetorischen Ausbildung mußte seine Methode als zu wissenschaftlich, zu wenig den bescheidenen Bedürfnissen der Zeit angemessen erscheinen, eine große Autorität, die bewundert, aber wenig gelesen wird.“ Vgl. hierzu eben Rhet. min. p. 507,9ff. HALM, eine Stelle, die jedoch aus Isidor von Sevilla entnommen ist und somit genau genommen nur den Stand ca. 300 Jahre nach Arnobius dokumentiert: haec autem disciplina [= rhetorica] a Graecis inventa est, a Gorgia, Aristotele, Hermagora, et translata in Latinum a Tullio videlicet et Quintiliano, sed ita copiose, ita varie, ut eam lectori admirari in promptu sit, conprehendere inpossibile. 35 Zu den Deklamationen vgl. z.B. SCHMIDT (1997), der auch weiterführende Literatur verzeichnet. 36 Nat. 3,6,5: Tullius, Romani disertissimus generis, vgl. hierzu oben, S. 102f. Quintilian hingegen wird in Adversus nationes nicht erwähnt. – Lactanz nennt Quintilian allerdings mehrfach

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Teil II. A: Die apologetische Argumentation in Adversus nationes 1

Doch auch wenn eine solche ausdrückliche Bezugnahme fehlte, wäre die Anwendung des Instrumentariums der traditionellen Rhetorik, ihrer Begrifflichkeiten und ihrer Ratschläge auf Arnobius’ Schrift Adversus nationes angemessen. Wie in Arbeiten zur antiken Rhetorik zu Recht häufig betont wird,37 stellen die in den Handbüchern und sonstigen Schriften zur Eloquenz angeführten Vorschriften und namhaft gemachten Empfehlungen keinen „Instant-Baukasten“ dar, mit dessen Hilfe sich – zumindest in einer bestimmten Epoche – eine „gute“ Rede zusammenbasteln ließe. Ein guter und versierter Redner hangelt sich nicht etwa ängstlich an einzelnen, kleinschrittigen Vorschriften entlang, um zu einem veritablen Text zu gelangen, „so daß die Rede sich in ein Mosaik getreulich beachteter rhetorischer praecepta auflösen ließe“.38 Vielmehr hat er die grundsätzlichen psychologischen Mechanismen, welche beim Kommunikationsakt „Rede“ wirksam sind, durchschaut und verinnerlicht, so dass er es versteht, sein Vorgehen – durchaus im Bewusstsein der einzelnen Regeln – jeweils an die aktuelle Situation anzupassen, die vielleicht in einem speziellen Fall sogar das genaue Gegenteil dessen erfordert, was ein rhetorisches Handbuch empfiehlt.39 Hieraus ergibt sich auch, was Lehrschriften zur Beredsamkeit zu leisten imstande sind: Sie bieten gewissermaßen einen Überblick über diejenigen Vorgehensweisen, Arbeitsschritte und Strategien, die in der Regel dabei helfen, einen gewissen Standpunkt erfolgreich zu vertreten, und sie liefern eventuell konkrete, normative Handlungsanweisungen (z.B. „Unterhalte das Publikum!“), die aus allgemeineren Einsichten resultieren (z.B. „Wohlwollen kann durch unterhaltsame Darstellung gewonnen werden.“). Doch gerade aus dem Umstand, dass rhetorische Ratschläge aus der Beobachtung dessen abgeleitet sind, was sich in der Praxis aufgrund anthropologischer Konstanten oder kultureller Gepflogenheiten als in der Regel wirksam erwiesen hat,40 ergibt sich ihr allgemeingültiger Charakter und

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[inst. 1,21,17; 5,7,6f. und 6,23,30 (jeweils mit Bezug auf dessen Declamationes)], und bei Hieronymus finden sich nicht nur vielfältige Bezugnahmen auf den ersten Rhetorikprofessor Europas, sondern der Bethlehemit thematisiert sogar dessen Geltung als normatives Modell für Hilarius von Poitiers (epist. 70,5,3: Hilarius, meorum temporum confessor et episcopus, duodecim Quintiliani libros et stilo imitatus est et numero brevique libello, quem scripsit contra Dioscorum medicum, quid in litteris possit, ostendit). Zur Rezeption der Institutio oratoria bei Lactanz und Hieronymus vgl. DINGEL (2001) 720. Zum Beispiel von NEUMEISTER (1964) 7ff. NEUMEISTER (1964) 7. Treffend und anschaulich hierzu STROH (1975) 12: „die Rhetorik stammt selbst erst von der Beredsamkeit ab und nicht umgekehrt: Kann es also wundernehmen, wenn sich die Mutter von der Tochter nicht beliebig maßregeln läßt?“ – Vgl. ferner Quint. inst. 4,2,85: amentis est enim superstitione praeceptorum contra rationem causae trahi. Ganz ähnlich auch die Einschätzung Augustins hierzu in doctr. chr. 2,XXXVI 54 (et ceterae huiusmodi observationes [...] inventae potius, quod ita se habeant, quam ut ita se haberent, institutae), der ebd. in 4,III 4 Eloquenz sogar als Ursache, nicht als Ergebnis der Erfüllung rhetorischer Regeln ansieht (implent quippe illa [sc. praecepta eloquentiae], quia eloquentes sunt, non adhibent, ut sint eloquentes). Vgl. auch schon Quint. inst. 5,10,120: neque enim artibus editis factum est, ut argumenta inveniremus, sed dicta sunt omnia, antequam praeciperentur, mox ea scriptores observata et conlecta ediderunt.

1. Terminologie und Referenzrahmen

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ihre Anwendbarkeit weit über ihren vielleicht ephemeren Entstehungskontext hinaus, und auch jüngere Schriften können Gestaltungszüge älterer Texte erhellen. Dass daneben auch damit zu rechnen ist, dass konkrete ältere Reden einzelnen Zügen des arnobianischen Werkes gewinnbringend, da illustrierend zur Seite gestellt werden können, braucht angesichts der Bedeutung von exempla für die römische Zivilisation im Allgemeinen und die Ausbildung im Speziellen kaum eigens erwähnt zu werden.41

41 Quint. inst. 12,2,30: quantum enim Graeci praeceptis valent, tantum Romani, quod est maius, exemplis. In Ciceros De oratore hält Sulpicius eine von Antonius vorgetragene Rekapitulation seiner in der Rede Pro Norbano angewandten Taktik für eine nützliche Unterweisung (2,204: quae cum abs te modo commemorarentur, equidem nulla praecepta desiderabam; ipsam tamen istam demonstrationem defensionum tuarum doctrinam esse non mediocrem puto), und zu bedenken ist auch, dass Cicero seine eigenen Reden der Jugend als nachahmenswerte Vorbilder nicht vorenthalten möchte (Att. 4,2,2: acta res est accurate a nobis et, si umquam in dicendo fuimus aliquid aut etiam si numquam alias fuimus, tum profecto doloris magnitudo vim quandam nobis dicendi dedit; itaque oratio iuventuti nostrae deberi non potest; quam tibi, etiam si non desideras, tamen mittam cito und ad Q. fr. 3,1,11: de Calventi Mari oratione quod scribis; miror tibi placere me ad eam rescribere, praesertim cum illam nemo lecturus sit, si ego nihil rescripsero, meam in illum pueri omnes tamquam dictata perdiscant). Vgl. hierzu auch STROH (1975) 21.

2. DIMENSIONEN DER ARGUMENTATIONSANALYSE 2.1 GRUNDLEGENDES Es erscheint naheliegend, dass die Analyse einer Rede bzw. eines argumentierenden Textes ihren Ausgang von der tatsächlichen oder vom Autor intendierten Rezeptionssituation nehmen muss. Konkret bedeutet dies, dass es für das Verständnis eines solchen literarischen Produktes förderlich ist, möglichst genau über seinen politischen und geistesgeschichtlichen Hintergrund informiert zu sein, ferner über die darin involvierten Personen (bei einer Gerichtsrede also Ankläger, Verteidiger, Angeklagter, Richter/Publikum) und ihr Verhältnis untereinander42 sowie über die Rezeptionsumstände.43 Diese Punkte wurden für die Schrift des Arnobius großenteils bereits im Kapitel 4.2 der Prolegomena geprüft, wenngleich man konzedieren muss, dass sich für Adversus nationes zwar all diese Instanzen finden lassen, dass jedoch nicht allzu viel über ihre konkrete Ausgestaltung gesagt werden kann. Grundlegende Dimensionen für die vorzunehmende Argumentationsanalyse sollen, wie schon angekündigt, diejenigen Gesichtspunkte sein, die in der antiken Rhetorik mit den Begriffen inventio und dispositio bezeichnet werden. 2.2 INVENTIO Unter inventio (griechisch: εὕρεσις) versteht man die planmäßige Auffindung derjenigen Punkte und Argumente, die für die zu verhandelnde Sache relevant und vorteilhaft sind.44 Durch Analyse der Sachlage, aber auch des zu erwartenden Publikums bzw. Richtergremiums, seiner intellektuellen Aufnahmefähigkeit, seiner Vorlieben, Abneigungen und Vorurteile muss der Redner sich bemühen, aus der prinzipiell verfügbaren Stoffmenge gerade die für die aktuelle Situation wichtigsten und wirkungsvollsten Elemente auszuwählen. Ein Mittel, auf welches er 42 Cicero lässt in De oratore 2,197f. Antonius ein illustratives Beispiel für eine diesen Gesichtspunkten folgende Analyse geben. 43 Vgl. Quint. inst. 10,1,22: illud vero utilissimum, nosse eas causas, quarum orationes in manus sumpserimus, et, quotiens continget, utrimque habitas legere actiones: ut Demosthenis et Aeschinis inter se contrarias, et Servi Sulpici atque Messalae, quorum alter pro Aufidia, contra dixit alter, et Pollionis et Cassi reo Asprenate aliasque plurimas. Vgl. ferner z.B. NEUMEISTER (1964) 34f. 44 Vgl. etwa Rhet. Her. 1,2,3 und Cic. inv. 1,9 (beide definieren identisch: inventio est excogitatio rerum verarum aut veri similium, quae causam probabilem reddant). Zur inventio und ihrer Behandlung in der antiken Rhetoriklehre vgl. etwa MARTIN (1974) 13ff. und LAUSBERG (2008) §§ 260ff.

2. Dimensionen der Argumentationsanalyse

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bei der inventio zurückgreifen kann, ist die Topik, also die planvolle Suche nach Argumenten an bestimmten „Orten“ (τόποι/loci communes), die sich aus der jeweils zu verhandelnden Angelegenheit ergeben. Im Blick hierauf gilt es im Folgenden zu würdigen, welche Gesichtspunkte und Argumente der Verfasser aus dem Fundus der denkbaren Möglichkeiten ausgewählt hat und inwieweit diese Gestaltungsentscheidungen den Erfordernissen der (fiktionalen) Redesituation Rechnung tragen. 2.3 DISPOSITIO Mit dispositio (griechisch: τάξις) wird die Anordnung des im Laufe der inventio zusammengetragenen Stoffes bezeichnet. Da forensische Reden persuasionsorientiert sind und mithin auf das Überzeugen der Zuhörer abzielen, muss ihre dispositio so erfolgen, dass die in Frage kommenden Argumente möglichst große Überzeugungskraft gewinnen.45 Dieser Arbeitsschritt des Redners kommt auf mehreren Ebenen zum Tragen. Das Ergebnis der dispositio ist nicht nur die Abfolge der „großen“ Bauelemente einer Rede wie etwa exordium, narratio, argumentatio in Form von confirmatio bzw. refutatio sowie peroratio,46 deren Länge und Reihenfolge innerhalb gewisser Grenzen schwanken kann, je nach den konkreten Erfordernissen der zu verhandelnden Angelegenheit.47 Auch innerhalb der einzelnen Redeteile ist eine zielgerichtete Anordnung der einzelnen Gedankengänge und Beweisstränge für das Erreichen der jeweiligen Intention unabdingbar. Hierdurch kann sich ein Unterschied zwischen „primärer“ und „sekundärer Valenz“ ergeben, Größen, die JOCHEN SAUER in einem anderen Zusammenhang so definiert:48 Unter ,primärer Valenz‘ soll die Glaubwürdigkeit einer Proposition selbst – ohne den argumentativen Kontext – verstanden werden. Sie beschreibt damit den Grad an Zustimmung, den die Proposition allein, separiert von der Argumentation, bei der potentiellen Rezipientengruppe erzeugt. Die ,sekundäre Valenz‘ berücksichtigt darüber hinaus den argumentativen Kontext, durch den die primäre Valenz entscheidend verändert werden kann. 45 Vgl. z.B. Rhet. Her. 1,2,3 (dispositio est ordo et distributio rerum, quae demonstrat, quid quibus locis sit conlocandum), Cic. inv. 1,9 (dispositio est rerum inventarum in ordinem distributio) und Quint. inst. 7,1,1 (dispositio [sc. est] utilis rerum ac partium [sc. orationis] in locos distributio). Zur dispositio und ihrer Behandlung in der antiken Rhetoriklehre vgl. z.B. MARTIN (1974) 211ff. und LAUSBERG (2008) §§ 443ff. 46 Diese Abfolge wurde gewissermaßen als natürlich und sich intuitiv ergebend empfunden; vgl. Cic. de orat. 2,307 (nam ut aliquid ante rem dicamus, deinde ut rem exponamus, post ut eam probemus nostris praesidiis confirmandis, contrariis refutandis, deinde ut concludamus atque ita peroremus, hoc dicendi natura ipsa praescribit) und Quint. inst. 2,17,6 (cuius sententiae [sc. dass die Rhetorik keine Kunst darstelle] talis defensio est, quod indocti et barbari et servi, pro se cum locuntur, aliquid dicant simile principio, narrent, probent, refutent et, quod vim habeat epilogi, deprecentur). 47 Allerdings ist auch diese Abweichung von der Norm in den rhetorischen Handbüchern thematisiert worden, insofern dem ordo naturalis der ordo artificiosus gegenübergestellt wird. Vgl. hierzu z.B. STROH (1975) 12ff. 48 SAUER (2007) 28.

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Teil II. A: Die apologetische Argumentation in Adversus nationes 1

Schließlich ist damit zu rechnen, dass selbst in Perioden und Einzelsätzen die Regeln der Syntax und der Pragmatik so ausgenutzt werden, dass die Aussageintention in der bestmöglichen Weise untermauert wird, obgleich damit dann schon der Bereich der elocutio, der konkreten sprachlichen Einkleidung, tangiert ist. Die überaus große Bedeutung, welche antike Redner und Redetheoretiker der dispositio beimaßen, wird unter anderem aus Ciceros Schrift Brutus deutlich (§ 139), wo durch die Verwendung von Militärmetaphorik zugleich die Aspekte „Schlagkraft“ und „Orientierung auf den Sieg hin“ angesprochen sind: omnia veniebant Antonio in mentem; eaque suo quaeque loco, ubi plurimum proficere et valere possent, ut ab imperatore equites, pedites, levis armatura, sic ab illo in maxime opportunis orationis partibus conlocabantur.49

Die dispositio ist also (verstanden im Sinne eines Nomen actionis) ein äußerst wichtiger Arbeitsschritt beim Verfassen einer Rede, und im Sinne eines Nomen rei actae aufgefasst stellt sie gleichsam das Fundament einer gelungenen Rede dar. Nun ist es aber Konsens unter allen antiken Rhetoriklehrern, dass – zumindest in der forensischen Rede – Eloquenz gerade dann unwirksam wird und der Absicht des Redners sogar schadet, wenn die Rezipienten ihrer gewahr werden,50 weil diese in ihrer Anwendung unter Umständen einen gefährlichen Angriff auf ihre Fähigkeit zur Wahrheitsfindung sehen.51 Am besten, d.h. am zielführendsten setzt also derjenige die Beredsamkeit ein, der durch seine Kunstfertigkeit sogar über den artifiziellen Charakter seiner Äußerungen hinwegzutäuschen vermag, gewissermaßen ein „Pygmalion der Rhetorik“, für dessen Reden dann ebenfalls gelten würde: ars latet arte sua.52 Hieraus erhellt, dass die dispositio für die Rezipienten

49 Dieselbe Militärmetaphorik findet sich bei Quint. inst. 7,10,13 (si multiplices causae erunt, quis ordo faciendus, quae testimonia tabulaeve cuiusque generis in actione recitandae, quae reservandae. haec est velut imperatoria virtus copias suas partim ad casus proeliorum retinentis, partim per castella tuenda custodiendasve urbes [...] mari denique ac terra dividentis), der den kunstgerechten Aufbau einer Rede jedoch auch zum Bau eines Hauses und zur Gestaltung u.a. des menschlichen Körpers in Beziehung setzt (inst. 7 prooem. 1f.: ut opera extruentibus satis non est saxa atque materiam et cetera aedificanti utilia congerere, nisi disponendis eis conlocandisque artificium manus adhibeatur: sic in dicendo quamlibet abundans rerum copia cumulum tantum habeat atque congestum, nisi illas eadem dispositio in ordinem digestas atque inter se commissas devinxerit. [...] neque enim quamquam fusis omnibus membris statua sit nisi conlocetur, et si quam in corporibus nostris aliorumve animalium permutes et transferas, licet habeat eadem omnia, prodigium sit tamen. et artus etiam leviter loco moti perdunt, quo viguerunt, usum). Weitere Stellen bei STROH (1975) 9, Anm. 12. 50 Anders liegen die Verhältnisse bei epideiktischen Reden, bei denen der Rezipient etwa nach Aristoteles ein Betrachter der Kunstfertigkeit ist (rhet. 1,3, 1358 b 6). 51 Vgl. z.B. Quint. inst. 10,1,20: oratio, cuius virtutes frequenter ex industria quoque occultantur. – Einen Überblick über die Theorie und Geschichte dieses Grundsatzes (dissimulatio artis) bietet etwa NEUMEISTER (1964) 130ff. 52 Vgl. Ovid, met. 10,252. – Dazu passt gut, dass Quintilian berichtet, dass in Ciceros De oratore gerade Antonius, der seine Kunstfertigkeit habe verheimlichen wollen, den „technischkunstmäßigen“ Charakter der Rhetorik leugne (inst. 2,17,5f.: quidam naturalem esse rhetoricen volunt, et tamen adiuvari exercitatione non diffitentur, ut in libris Ciceronis de Oratore

2. Dimensionen der Argumentationsanalyse

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nicht allzu leicht erkennbar sein darf, wenn der Erfolg der Rede nicht gefährdet werden soll.53 Da sie aber gewissermaßen der logische Ariadnefaden ist, der durch zuweilen komplexe Redegebilde hindurchführt, postuliert CHRISTOFF NEUMEISTER zu Recht: Die organische Einheit und durchdachte Gliederung der Rede wird also vor dem Hörer oft absichtlich verborgen. Auch aus diesem Grund fordert sie eine ganz andere Interpretationsmethode als irgendein anderes literarisches Werk. Der Interpret muß hier nämlich gerade das als seine Hauptaufgabe ansehen: die verborgene Ordnung, den taktischen Plan, der hinter den scheinbar lose und assoziativ aufeinanderfolgenden Gedanken steht, ans Tageslicht zu bringen. Dabei genügt es keineswegs, die ja doch nur ganz äußerliche Gliederung der Rede in Redeteile und Abschnitte zu registrieren. Was vielmehr interpretatorisch herausgebracht werden muß, ist der Charakter der Rede als planvoller Redeprozeß.54

dicit Antonius observationem quandam esse, non artem. quod non ideo, ut pro vero accipiamus, est positum, sed ut Antonii persona servetur, qui dissimulator artis fuit). 53 Vgl. hierzu speziell zu Arnobius JAKOBI (2002) 63: „Die seit Hieronymus, ep. 62,2, geäußerte Kritik an dem von Anfang an diffusen Aufbau des Werkes verkennt die rhetorische Taktik der refutatio: Ausgangspunkt, aber nicht – wie A.’ in bewußter occultatio formulierte partitio vermuten läßt – Hauptgegenstand ist die Apologie [...].“ 54 NEUMEISTER (1964) 82.

3. ARNOBIUSʼ ARGUMENTATIONSFÜHRUNG UND APOLOGETISCHE TECHNIK IN ADVERSUS NATIONES 1 Zur Orientierung sei die folgende thematische Grobgliederung des ersten Buches vorgeschlagen:55

1,1–2,2

Einleitung: die gegen die Christen erhobenen Vorwürfe; Skizzierung der anzuwendenden Methodik; Vorwegnahme des Ergebnisses der Untersuchung

2,3–7

Von den Gegnern behauptete Veränderungen im Weltgefüge und Katastrophen56

8–16

Erklärungsansätze zur Ursache der Übel; Diskussion der Angemessenheit dieser (anthropozentrischen) Bezeichnung. Die Christen könnten nicht die Ursache der Übel sein wg. deren fehlender Kontinuität und Synchronität

17–24

Zorn von Göttern und ihre Möglichkeiten, sich an den Christen zu rächen

25–35

Was für einen Grund gebe es, den Christen zu zürnen? Charakterisierung des christlichen Gottes und der christlichen Religion; Vergleich mit „exotischen“ Religionen. Pagane Götter als Diener bzw. Kinder Gottes; Hymnus auf den christlichen Gott. Ablehnung einer Diskussion mit Atheisten und Atomisten; naturgegebene Kenntnis des höchsten Gottes bei allen Lebewesen und sogar bei Unbelebtem

55 LE BONNIEC (1982a) 121–129 gliedert folgendermaßen: 1–24: „Les chrétiens sont-ils responsables de tous les maux?“ (1–6: „Réfutation de lʼaccusation païenne“; 7–12: „Le problème du mal“; 13–16: „Si les chrétiens sont coupables, la conduite des dieux est incompréhensible“; 17–24: „La colère des dieux“); 25–35: „Le Dieu des chrétiens est le Dieu suprême“ (25–28: „Injustice des persécutions“; 29–33: „Louanges du Dieu suprême, Maître de toutes choses“; 34–35: „Jupiter n’est pas le Dieu éternel“); 36–65: „Le Christ, son enseignement, ses miracles“ (36–41: „Le double scandale de sa naissance et de sa crucifixion“; 42–53: „Les miracles du Christ“; 54–57: „Authenticité de ses miracles“; 58–59: „Le grief dʼignorance et dʼinculture“; 60–63: „Le mystère de lʼIncarnation“; 64–65: „Conclusion en forme dʼinvective“). Die von GIERLICH (1985) 1–3 vorgenommene Grobgliederung („I Die Christen werden angeklagt, sie seien an allem Übel schuld (1)“ und „II Der Vorwurf wird zurückgewiesen“ [Kap. 2–65]) ist zu allgemein, um hilfreich zu sein; die ebd. vorgenommene feinere Untergliederung führt wiederum großenteils jeweils einzelne Kapitel auf und verliert so größere Blöcke aus dem Blick. 56 Um die Übersichtlichkeit zu erhöhen, sind in dieser und den weiteren Tabellen Standpunkte der paganen Gegner kursiviert.

3. Argumentationsführung und apologetische Technik in nat. 1: Kap. 1,1–2,2

195

36–53

Nach Meinung der Heiden verehren die Christen einen Menschen, der evtl. ein Magier war. Auch andere Götter hätten viele Menschen geheilt. Jesus wirkte aber ohne Heilmittel, und er übertrug sogar anderen seine Macht

54–59

Die Heiden bestreiten die Faktizität der Heilwunder Christi. Zeugen und Beweise für deren Faktizität; Diskussion über die Stilistik der Heiligen Schrift

60–63

Warum hätte Christus Menschengestalt annehmen sollen?

64–65

Es gäbe viele andere, gegen die die Heiden einschreiten könnten. Warum attackieren sie gerade Christus bzw. die Christen?

3.1 BAUELEMENT 1: KAP. 1,1–2,2 In Adversus nationes 1,1,1–1,2,2 wird die grundlegende und den weiteren Verlauf des Werkes bestimmende Kommunikationssituation konstituiert und exponiert.57 Der Sprecher sieht sich gezwungen, Vorwürfen entgegenzutreten, die gegen die Gemeinschaft der Christen erhoben worden sind. Er kündigt an, welche Methodik im Folgenden Anwendung finden soll, und nimmt das Ergebnis der durchzuführenden Untersuchung bereits vorweg. Über die Gruppe der Christen werden von Seiten einiger Leute drei Behauptungen geäußert: ist die Welt zugrunde gegangen. Seit der Existenz der Christen auf Erden

ist das Menschengeschlecht durch vielfältige Übel58 heimgesucht worden. sind die Himmlischen aus der Welt vertrieben worden.

57 Aufgrund der besonderen Exponiertheit und Bedeutung dieses Abschnittes wird seine sprachliche Gestaltung eingehender analysiert werden als die des restlichen ersten Buches. 58 Eine Untersuchung über „Das Uebel in der Welt nach der Lehre des Arnobius“ hat SCHULZE (1896) vorgelegt. Diese etwas mehr als vierzig Seiten umfassende Dissertation trennt jedoch nicht zwischen den den Christen von Seiten der Heiden angelasteten Übeln wie z.B. Dürren, Seuchen u.ä. und Begriffen wie criminationes, invidia oder odium, mit denen der Verteidiger schlechte Verhaltensweisen der Gegner beschreibt. In Verkennung der Tatsache, dass aus argumentationstaktischen Gründen verschiedene Auffassungen ins Feld geführt werden können, urteilt SCHULZE ebd. S. 42: „Er steht nicht da als ein Denker ersten Ranges. Uns begegneten oft widerstreitende Anschauungen, die nebeneinander herliefen, ohne ausgeglichen zu werden. […] Er zeigt, wie unfertig die Gedankenwelt der christlichen Kirchenlehre war, bevor der Riesengeist eines Augustin alle Mannigfaltigkeit und alle Gegensätze zu einem gewaltigen System zusammenschmiedete.“

196

Teil II. A: Die apologetische Argumentation in Adversus nationes 1

Gegen diese Behauptungen will sich der Sprecher wenden, damit nicht der falsche Eindruck einer etwaigen Überlegenheit dieser Leute entstehe. Eine explizite Selbstvorstellung des Sprechers oder eine Apostrophe an Richter erfolgt nicht. Die dispositio des Abschnittes 1,1–2,2 lässt sich schematisch folgendermaßen darstellen:  Vorwürfe von Gegnern, deren Person und Vortragsweise charakterisiert wird 1) Untergang der Welt 2) Heimsuchung durch Übel 3) Vertreibung der Götter  Entschluss des Sprechers zur Verteidigung (inkl. Selbstcharakterisierung), gefolgt von der Wirkungsabsicht  Aussage des Sprechers: Die Anklage wäre überaus schwerwiegend und die Christen (inkl. Sprecher) hassenswert, wenn die Vorwürfe 1’) Abweichen der Welt von ihren Gesetzen 3’) Vertreibung der Götter 2’) Heimsuchung durch Übel zuträfen.  Thema der folgenden Untersuchung inkl. methodischer Leitlinien  Vorwegnahme des Ergebnisses Obwohl zwar, wie oben gesehen, keine explizite Vorstellung der Gegner und des Sprechers erfolgt, ist die Informationsabfolge im ersten Kapitel so strukturiert, dass den Rezipienten59 rasch eine (deutlich negative) Charakterisierung der Ankläger und eine (implizit positive) Charakterisierung des Verteidigers präsentiert werden. Auffällig ist, dass nach dem Mittelteil des Kapitels die gegnerischen Vorwürfe in etwas veränderter Gestalt wiederholt werden, wobei sich der Sprecher ihnen für den Fall ihrer objektiven Verifizierbarkeit anschließt. Weiter unten wird zu untersuchen sein, ob die Veränderung in der Darbietungsform nur den sprachlichen Ausdruck betrifft oder ob auch inhaltliche Verschiebungen zu verzeichnen sind.60 Sollte Letzteres der Fall sein, so dürfte es wohl berechtigt sein, 59 Wie der Begriff „Rezipienten“ hier und im Folgenden gemeint ist, ist in Kap. 4.2 der Prolegomena erläutert. 60 Es ist also zu fragen, ob bei beiden Ausdrucksvarianten die gleiche Extension gewahrt bleibt; vgl. hierzu allgemein z.B. SAUER (2007) 45, Anm. 94: „Gleiche Extension [bzw. Extensionalität] bezeichnet die Austauschbarkeit eines Ausdrucks mit einem anderen, ohne dass sich der Wahrheitswert des Satzes ändert. [...] Die Entscheidung, ob die Extensionalität im entsprechenden Kontext gegeben ist, liegt im Bereich der Interpretation.“ Eine recht weitgehende, doch m.E. treffende Einschätzung äußern zu diesem Konzept PERELMAN/OLBRECHTSTYTECA (2004) 209: „Die Wahl von sprachlichen Bezeichnungen zum Ausdruck der Gedanken hat fast immer argumentative Bedeutung. So kann man etwa nur dann, wenn man zugleich bewußt oder unbewußt eine argumentative Absicht ausblendet, die Ansicht gelten lassen, es gebe Synonyme“. – Dass antiken Rednern das Phänomen der Extensionalitätsverände-

3. Argumentationsführung und apologetische Technik in nat. 1: Kap. 1,1–2,2

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im Mittelteil eine Art bewusst eingeschobenes retardierendes Element zu sehen, das es überhaupt erst ermöglicht, die vorgebrachten Anklagepunkte in modifizierter Form ein weiteres Mal aufzugreifen. Zur konkreten Ausgestaltung: Der Sprecher erklärt, er habe beschlossen, gegen die geäußerten Vorwürfe vorzugehen, soweit es seine Begabung und die Mittelmäßigkeit seiner Redegabe zuließen (statui pro captu ac mediocritate sermonis contraire).61 Angesichts der (partiell wohl auch als topisch zu betrachtenden) Wahl des Substantivs mediocritas ist offenkundig, dass er seine eigene Begabung als nicht übermäßig groß verstanden wissen will. Der Sprecher präsentiert sich demnach an dieser Schlüsselstelle des Werkes voller Bescheidenheit, und die rhetorische Qualität seiner folgenden Ausführungen charakterisiert er als mäßig.62 Bei den Gegnern ist ein starkes Auseinanderklaffen von Selbsteinschätzung und Außenwirkung zu bemerken: In ihren eigenen Augen sind sie äußerst einsichtig und verständig (se plurimum sapere), wobei der Sprecher die Festigkeit, aber auch Subjektivität dieser Meinung durch die Verwendung zweier Begriffe hervorhebt, die bloßes persönliches Glauben bezeichnen: suis persuasionibus credunt. Doch sie handeln im Wahn, im Rausch und führen sich dabei auf, als ob sie ihr Wissen direkt einem Orakel entnommen hätten. Auffällig ist, dass mit bacchari und quiddam promptum ex oraculo dicere zweimal sprachlich auf die pagane Vorstellungswelt rekurriert wird. Sehr wirkungsvoll ist, dass diese Infinitive von comperi abhängen, so dass der Sprecher hier (formal betrachtet) nicht selbst diese Bewertung vornimmt, sondern sie als bereits von anderen vollzogen referiert, wodurch sie – von seiner Person gelöst – mehr Objektivität gewinnt. Ein weiterer rung durch die Wahl von Synonymen bewusst war, dokumentiert z.B. Quintilian (inst. 8,4,1: prima est igitur amplificandi vel minuendi species in ipso rei nomine, ut cum eum, qui sit caesus, „occisum“, eum, qui sit improbus, „latronem“ contraque eum, qui pulsavit, „attigisse“, qui vulneravit, „laesisse“ dicimus; ferner ebd. 4,2,77: verbis elevare quaedam licebit: luxuria liberalitatis, avaritia parsimoniae, neglegentia simplicitatis nomine lenietur sowie 5,13,26: pro sordido parcum, pro maledico liberum dicere licebit). Dieser Weg zur Gewinnung von Argumenten durch Verwendung sinnverschiebender „Synonyme“ wird als locus a multiplici appellatione bezeichnet, vgl. LAUSBERG (2008) § 392. Als gängige, auch von ihm selbst geübte Praxis charakterisiert dieses Vorgehen Antonius in Ciceros De oratore (2,109: quantum uterque nostrum potuit, omni copia dicendi dilatavit, quid esset maiestatem minuere). – Die Bedeutung von Synonymen im Bereich der Erotik macht z.B. Ovid klar, vgl. etwa kontrastierend ars 2,660f. (sit „gracilis“, macie quae male viva sua est; / dic „habilem“, quaecumque brevis, quae turgida, „plenam“) und rem. 327f. („turgida“, si plena est, si fusca est, „nigra“ vocetur; / in gracili „macies“ crimen habere potest.). 61 Zu dieser Stelle siehe auch S. 107. – Bemerkenswert ist, dass hier ein Anklang an diejenigen Worte vorliegt, mit denen Velleius Paterculus seine eigene bescheidene Rolle im Vergleich zu den „übermenschlichen Taten“ des Tiberius in Germanien beschreibt (2,104,3: missus cum eo [sc. Tib. Caesare] praefectus equitum in Germaniam [...] caelestissimorum eius operum per annos continuos VIIII praefectus aut legatus spectator, tum pro captu mediocritatis meae adiutor fui). 62 Dies ist allerdings im Zusammenhang mit dem Gedanken zu sehen, dass der christliche Glaube aufgrund seiner Vorzüge gar nicht unterliegen kann, sofern nur irgendjemand das Wort für ihn ergreift; vgl. unten, S. 199.

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Teil II. A: Die apologetische Argumentation in Adversus nationes 1

Schlag gegen die Glaubwürdigkeit der Gegner erfolgt, indem ihre Gesamthaltung als Missgunst (invidia63) und ihre Vorwürfe als böswillig, schikanös und ränkevoll (calumniosas [...] criminationes64) bezeichnet werden. Überdies lassen sich den Anklägern zwei entlarvende Fehleinschätzungen ankreiden, die ihre Autorität ebenfalls schwächen dürften: a) Sie selbst meinen unter Umständen, dass sie etwas Bedeutendes sagen, während sie doch nur Triviales ansprechen: ne [...] illi sibi videantur, popularia dum verba depromunt, magnum aliquid dicere […]. Dieser Gedanke ist auch sprachlich sehr wirkungsvoll ausgestaltet: ei Vernachlässigung der Subjunktion dum, deren späte Positionierung ein Hyperbaton verursacht, ist in den beiden letzten Kola die Reihenfolge Adjektiv – Nomen/Pronomen – Verb zu beobachten. Während aber die Wortarten korrespondieren, steht die Semantik jeweils in starker Antithese: Was den Anklägern als magnum erscheint, ist in Wirklichkeit populare; was sie für etwas von Bedeutung (aliquid im prägnanten Sinne) halten, sind noch nicht einmal Gedankengänge oder auch nur gehaltvolle Sentenzen, sondern bloße Wörter (verba), und schließlich ergibt sich eine Divergenz zwischen dem eher neutralen dicere und dem Verb depromere, das entweder ein (oft) mühevolles Herbeischaffen oder ein Entlehnen65 evoziert, jedenfalls nicht gerade die Assoziation souveränen Handelns weckt.66 Auch die Abfolge der Kola ist für die Widersacher ungünstig: Durch die Mittelstellung von popularia dum verba depromunt ist der Rezipient schon über die wahre Natur ihrer Ausführungen informiert, bevor er ihre eigene Einschätzung magnum aliquid dicere erfährt, die in dieser Endstellung umso deplatzierter wirkt. Dafür, dass seine Sicht des Sachverhaltes dem Publikum auch wirklich in angemessener Intensität zur Kenntnis kommt, sorgt der Sprecher im Übrigen auch durch die Verwendung einer Klausel (vḗrbă dēprṓmu̐ nt) vom Typ P 1 γ67, die einen Einschnitt markiert und durch diese Retardation dem Gesagten umso mehr Gewicht verleiht. b) Sie schätzen die Sache, die sie attackieren, völlig falsch ein: Wenn sich die Christen von derartigen Prozessen fernhielten, dächten die Ankläger, der christliche Glaube sei aufgrund seiner eigenen Fehlerhaftigkeit widerlegt worden, nicht – wie es der Wahrheit entspräche – aufgrund des Schweigens der (potenziellen) 63 Das Verhalten der Gegner wird auch z.B. von Cicero in Pro Cluentio 88 als invidia beschrieben (hodierno die primum veritas vocem contra invidiam his iudicibus freta miserit). 64 Hierbei ist zu bedenken, dass calumnia sogar ein Terminus der römischen Rechtssprache ist, mit dem „die wissentlich grundlose und schikanöse Erhebung von Klagen und Anklagen“ [SCHIEMANN (1997) 950] bezeichnet wurde, wodurch sich der Ankläger selbst strafbar machte; vgl. MOMMSEN (1955) 491ff. 65 Vgl. ThLL 5,1, Sp. 615f., s.v. depromo. 66 Diese Konnotation wird für das Verbum simplex in nat. 1,25,3 durch den Kontext noch verstärkt: quid, o participes rationis audetis homines proloqui, quid effutire, quid promere temerariae vocis desperatione temptatis? 67 Zum Klauselrhythmus bei Arnobius und zur Nomenklatur, die in der vorliegenden Arbeit zu seiner Analyse verwendet wird, s. Teil II. B, S. 366ff.

3. Argumentationsführung und apologetische Technik in nat. 1: Kap. 1,1–2,2

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Verteidiger.68 Implizit wertet der Sprecher in dieser Hypothese seine eigene Rolle ab und die Bedeutung des christlichen Glaubens auf: Dieser kann aufgrund der ihm eigenen Vorzüge und Qualitäten zwangsläufig nicht unterliegen, wenn jemand das Wort für ihn ergreift; umgekehrt bedeutet dies, dass der Person des Verteidigers nur sekundäre Bedeutung zukommt.69 Die jeweils für sich schon bezeichnenden Charakterisierungen gewinnen noch mehr Kontur, wenn man sie miteinander vergleicht: Während der Verteidiger seine Eloquenz als nur mittelmäßig darstellt und seine Parteinahme im aktuellen Prozess als eher notgedrungene, der Sache geschuldete Pflichthandlung schildert, werden die Ankläger als Akteure gezeichnet, die, von Selbstüberhebung und Missgunst getrieben, unter vielfacher Verkennung der Sachlage handeln und dabei trotz ihrer vermeintlich tiefschürfenden Einsichten nur Triviales hervorbringen. Gegenüber den Widersachern werden also in mehrfacher Hinsicht negative Emotionen evoziert, wohingegen das bescheidene Auftreten des Verteidigers dazu geeignet sein dürfte, ihm Sympathien zu gewinnen. Wie oben schon angedeutet, wird die Artikulations- und Vortragsmethode der Gegner mit Verben ausgedrückt, die der Sphäre des Rauschhaft-Ekstatischen angehören:70 insanire, bacchari et velut quiddam promptum ex oraculo dicere.71 Damit stellt sie das genaue Gegenteil einer nüchternen, sachorientierten, klug durchdachten Vorgehensweise dar. Im Verlauf des ersten Kapitels kommen die zentralen Vorwürfe gegen die Christen zweimal zur Sprache, einmal als abhängige Aussage der Gegner und einmal im Referat des Verteidigers. Dass hierbei zweimal derselbe Komplex angesprochen wird, ist schon durch die Verwendung des Demonstrativpronomens [accusationem] istam ausgedrückt, wodurch beim zweiten Aufgreifen auf das erste verwiesen wird. Es bietet sich daher an, beide Versionen zu vergleichen:

68 Nat. 1,1,2: si nos talibus continuerimus ab litibus, obtinuisse se causam putent victam sui vitio, non adsertorum silentio destitutam. Nicht vergessen darf man hierbei allerdings, dass in Christenprozessen ja gerade schon das Eingeständnis, selbst Christ zu sein (das nomen Christianum), für Schuldspruch und u.U. Hinrichtung ausreichte [vgl. z.B. KUNKEL (1968) 121f.], was das Schweigen vieler potenzieller Verteidiger menschlich verständlich macht. Zu den Rechtsgrundlagen der Christenverfolgungen in den ersten beiden Jahrhunderten vgl. z.B. WLOSOK (1990) und ECKERT (1993) 12ff. 69 Dies stellt einen wichtigen komplementären Gesichtspunkt dar für die Beurteilung der „rhetorischen Mittelmäßigkeit“ (1,1,2: pro captu ac mediocritate sermonis), die sich der Verteidiger zuschreibt. 70 Vgl. auch MCCRACKEN (1949a) 269. 71 DEPALMA DIGESER (2006) 37 hält hierin einen Bezug auf tatsächlich kursierende antichristliche bzw. antichristlich deutbare Orakel für möglich; SIMMONS (1995) 10 sieht hier Porphyrios als Gegner angesprochen und geht von einer Bezugnahme auf dessen Schrift De philosophia ex oraculis haurienda aus. Vgl. zu diesem Themenkomplex oben, S. 51ff.

200

Teil II. A: Die apologetische Argumentation in Adversus nationes 1

abhängige Aussage der Gegner

Referat der Vorwürfe

postquam esse in mundo Christiana si apud nos esse constiterit causas, gens coepit, (Einleitung) per quas (Einleitung’) terrarum orbem perisse, (1)

suis mundus aberravit ab legibus, (1’)

multiformibus malis affectum esse genus exterminati sunt dii longe, (3’) humanum, (2) ipsos etiam caelites derelictis curis sol- examina tanta maerorum mortalium lemnibus, quibus quondam solebant in- inportata sunt saeculis. (2’) visere res nostras, terrarum ab regionibus exterminatos (3) Schon bei oberflächlicher Betrachtung fällt auf, dass alle Elemente der ersten Version auch in der zweiten Version enthalten sind (je ein Einleitungsteil und drei Konsequenzen), dass aber die Konsequenz 2 im Referat des Sprechers erst an dritter Position auftritt. Bei den jeweils einleitenden Elementen lässt sich eine deutliche Modifizierung feststellen: Während in der Aussage der Gegner ein temporaler Zusammenhang zwischen Christentum und aktuellen Problemen behauptet wird (postquam), wird im Referat der Konnex als ein kausaler dargestellt, dessen Gültigkeit zudem bislang noch gar nicht bewiesen ist (si apud nos esse constiterit causas, per quas). Es liegt nahe, als Motiv dieser Abwandlung die sich dadurch für den Sprecher ergebende bessere Argumentationsbasis anzusehen: Einen kausalen Zusammenhang zu beweisen, ist wesentlich schwieriger, als ein temporales Nacheinander zu schildern. Durch diese Formulierung legt der Sprecher die Ankläger also auf eine (für sie argumentativ schwierigere) Aussage fest, die jene gar nicht getroffen hatten. Auch bei der Konsequenz (1) finden sich Unterschiede: Die Ankläger sprechen hyperbolisch davon, dass die Welt bereits untergegangen sei; in der Wiedergabe des Verteidigers jedoch besteht der Vorwurf darin, dass die Welt „von ihren Gesetzen abgewichen“ sei. Auch dadurch wird ein für die Ankläger schwierigeres Beweisziel konstituiert: Zwar könnte man Naturkatastrophen, Kriege und Ähnliches hyperbolisch durchaus als Weltuntergang bezeichnen, und dass derartige Dinge stattgefunden haben, ließe sich leicht in Erinnerung bringen. Viel schwieriger hingegen erscheint es, zu beweisen, dass diese durchaus bedrückenden Ereignisse nicht ebenfalls einen Platz im Weltgefüge haben, dass sie also nicht in irgendeiner Weise in den (für Menschen ohnehin schwer durchschaubaren) Gesetzen des Weltlaufes enthalten sein könnten. Vergleicht man die Konsequenzen (2) und (2’), die durch auffällige m-Alliterationen bei semantisch ungefähr vergleichbaren Kernbegriffen (multiformibus malis – maerorum mortalium) verbunden sind, sind zwei spezifisch christliche

3. Argumentationsführung und apologetische Technik in nat. 1: Kap. 1,1–2,2

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Umwertungen zu verzeichnen: Die vielgestaltigen Übel (multiformibus malis) stellen in der Sicht des Sprechers Prüfungen dar, die in Kümmernissen sterblicher Menschen bestehen (examina tanta maerorum mortalium).72 Zum anderen ist nicht das Menschengeschlecht überhaupt damit geplagt (affectum esse genus humanum), sondern diese Dinge sind dem Diesseits auferlegt (inportata sunt saeculis). Angesichts der christlichen Geringschätzung alles Weltlichen könnte man in dieser Akzentuierung eine Entschärfung des zunächst vorgebrachten Vorwurfs sehen. Schließlich bleibt noch Konsequenz (3) zu betrachten: Auffällig ist bereits, dass diese Konsequenz in der Darstellung des Sprechers mit nur vier Wörtern die kürzeste und in der Mitte positioniert ist, während sie im Munde der Ankläger bei weitem die längste war und durch die Endstellung zusätzliches Gewicht gewann. Gemeinsam ist beiden Versionen der Verbalbegriff exterminare; die Unterschiede jedoch sind immens. So divergieren sie schon bei der Benennung der Aktanten: Das Patiens wird von den Heiden mit dem erhaben-poetischen Substantiv caelites („die Himmlischen“) ausgedrückt, während der Verteidiger das schlichtere Nomen dii gebraucht. Sodann fehlt das Element der Sorge um die menschlichen Angelegenheiten, das die Gegner den Himmlischen zuschreiben (derelictis curis sollemnibus, quibus quondam solebant invisere res nostras),73 in der zweiten Version völlig, wodurch aus naheliegenden Gründen implizit eine solche Intervention paganer Götter negiert wird. Schließlich fehlt bei der Wiederaufnahme eine Separativangabe, wie sie in der ersten Version die Formulierung terrarum ab regionibus darstellte, so dass die Anklage, die Götter seien weit vertrieben, viel unbestimmter (von wo vertrieben? Aus dem Himmel? Aus dem menschlichen Bewusstsein oder der literarischen Praxis?) und dadurch argumentativ schwerer vertretbar erscheint. Es lässt sich also bilanzieren, dass zwischen den beiden Versionen der Anklagen gegen die Christen in allen Elementen deutliche Unterschiede zu verzeichnen sind, die jeweils die argumentative Position der Ankläger schwächen bzw. diejenige des Verteidigers stärken. Zudem sind mindestens zwei spezifisch christliche Umdeutungen vorgenommen worden. Es bleibt der folgenden Analyse vorbehalten, zu bestimmen, welche Version der Vorwürfe die Rede in ihrem weiteren Fortgang zu widerlegen suchen wird. Ermöglicht wird diese Neuakzentierung, die beim ersten Rezipieren vielleicht gar nicht allzu sehr auffällt, durch eine geschickte Disposition auf der Mikro-

72 Allerdings könnte mortalium auch als Attribut zu saeculis aufgefasst werden, und examina könnte auch als „Schwärme“ gedeutet werden. 73 Gerade durch die poetische Diktion wird dieses Argument der paganen Gegner aber auch schon in der ersten Version geschwächt: Eben dadurch werden bei den Rezipienten die allseits bekannten literarischen Darstellungen vom durch menschliches Fehlverhalten verursachten Weggang gesellschaftsstabilisierender göttlicher Mächte wie Αἰδώς und Νέμεσις (Hes. erg. 197ff.) sowie insbesondere der Δίκη (Arat. 96–136) evoziert; auch der etwa bei Catull (64,405ff.) geschilderte Rückzug aller Götter aus der menschlichen Sphäre wird aufgerufen. Somit wird deutlich, dass es sich um einen Vorwurf handelt, den sich die Heiden schon lange selbst gegenseitig gemacht haben.

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Teil II. A: Die apologetische Argumentation in Adversus nationes 1

Ebene, die zwischen den beiden Versionen einen Abschnitt über die Motive des Verteidigers und seine Intentionen platziert.74 Im Folgenden, so der Sprecher in 1,2,1, soll zum einen die Geisteshaltung, die hinter den oben genannten Vorwürfen steht (opinionis istius mentem), ergründet werden; zum anderen sollen die Vorwürfe präzisiert (hoc, quod dicitur, quale sit) und ihr Wahrheitsgehalt überprüft werden (an sit istud, quod dicitur, verum). Bei der Formulierung des ersten Punktes werden mit dem Substantiv opinio, das in der Regel eine bloß mutmaßende, häufig unbegründete Meinung bezeichnet, und mit dem meist pejorativen Demonstrativpronomen iste zwei Elemente verwendet, durch die der Gegner bzw. seine Position herabgesetzt wird. In diese Passage sind mehrere Hinweise darauf eingearbeitet, wie die Untersuchung ihren Gang nehmen soll: Das Prädikat inspiciamus, durch Anfangsstellung betont, lädt als Hortativ die Zuhörer bzw. die Richter dazu ein, sich an der Analyse zu beteiligen, und legt durch seine Semantik („lasst uns betrachten“) eine höhere Evidenz der im Anschluss angeführten Argumente nahe, als wenn der Sprecher etwa „ich werde erörtern/beweisen/bekräftigen“ o.ä. formuliert hätte. Bei dieser Betrachtung sollen alle zu Auseinandersetzungen führenden Parteiinteressen ausgeblendet werden (summotisque omnibus contentionum studiis), da jene nämlich gewöhnlich dazu führten, dass der Blick auf Sachverhalte verunklart und verstellt werde (quibus obscurari et contegi contemplatio rerum solet). Diese in einem Relativsatz positionierte Behauptung könnte in drei Richtungen gedanklich weiterentwickelt werden: 1) Da dies gewöhnlich so ist, war es auch bislang bei der Auseinandersetzung mit den Christen so; hier wäre also eine Gelegenheit, sich einmal vorurteilsfrei mit deren Ansichten auseinanderzusetzen. Hierin wäre also ein protreptischer Appell angelegt. 2) Wenn sich die Richter in diesem Fall von den – anthropologisch durchaus verständlichen – contentionum studia lösen könnten,75 erfüllten sie ihre Aufgabe besser als die meisten anderen Richter. Diese Dimension ließe sich als (vorweggenommenes) Kompliment an die entscheidende Instanz verstehen. 3) Schließlich ist aber gerade wegen der Verbreitung solcher Voreingenommenheiten nicht auszuschließen, dass auch dieser Prozess einen ungerechten Verlauf nehmen könnte; für diesen Fall wäre nun bereits eine entschuldigende Erklärung formuliert. Mit dem Hortativ inspiciamus vom Kapitelanfang korrespondiert ein weiterer Hortativ am Satzende, der die Konsequenz eines solchen unparteiischen Vorgehens illustriert: momentorum parium examinatione pendamus. Auch hier verknüpft der Verteidiger seine eigene Person mit den Richtern und legt nahe, dass 74 MAYER (1939) 34 will in diesem Kapitel diejenige Argumentationstechnik erkennen, die Quintilian in inst. 5,13,29 behandelt (communia bene adprenduntur non tantum, quia utriusque sunt partis, sed quia plus prosunt respondenti. […] commune qui prior dicit, contrarium facit). Allerdings lässt sich m.E. hier keine solche sog. μέθοδος κατὰ περιτροπήν finden, da der Verteidiger ja nirgends den Anklägern dasjenige Verhalten zuschreibt, das gerade den Christen vorgeworfen wird. 75 MCCRACKEN (1949a) 269 hingegen scheint den Ausdruck nur als Vorsatz des Sprechers aufzufassen und kommentiert: „He soon forgets his intention to be dispassionate.“

3. Argumentationsführung und apologetische Technik in nat. 1: Kap. 1,1–2,2

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beide Instanzen gemeinsam vorgehen und doch wohl auch zu einer gemeinsamen Entscheidung gelangen werden. Nicht ganz leicht zu verstehen ist dabei der Ausdruck momentorum parium examinatione. Der Verteidiger sagt nicht etwa, dass es eine gleichartige (das wäre pari examinatione) oder eine gerechte Untersuchung gebe (iusta oder aequa examinatione), sondern spricht von einer Untersuchung gleich(artig)er Beweggründe oder Beweise. Hiermit dürfte angedeutet werden, dass den argumenta beider Seiten zunächst prinzipiell die gleiche Beweiskraft zugestanden werden soll, bevor dann jedes einzelne geprüft wird. Durch die Anwendung der zuvor genannten, von Unvoreingenommenheit und gemeinsamer Würdigung der Argumente geprägten Methodik muss sich, so dürften die Rezipienten folgern, notwendigerweise ein gerechtes und zutreffendes Urteil ergeben, dem sich alle Parteien zu fügen haben, da es prozessual korrekt zustande gekommen ist. In 1,2,2 schließlich wird das Ergebnis der noch durchzuführenden Untersuchung antizipierend formuliert, wobei das unpersönliche Passiv efficietur den Eindruck nüchterner Objektivität hervorruft und das Adverb profecto zusätzlichen Nachdruck verleiht: Der Vorwurf der Gottlosigkeit (impii) trifft auf die Christen nicht in höherem Maße zu als auf die Heiden. Eben jene sind, so wird sich zeigen, des von ihnen selbst erhobenen Vorwurfes schuldig.76 Dies ist umso unerwarteter, als jene doch von sich verkünden, sie seien Verehrer von Gottheiten (se numinum profitentur esse cultores) und seien althergebrachten und fest verwurzelten religiösen Gepflogenheiten ergeben (inveteratis religionibus77 deditos), wobei die letzte Eigenschaft einen Kontrapunkt zur historischen „Jugend“ des Christentums darstellt, mit dessen Auftreten ja gerade der Beginn zahlreicher Übel von den Heiden verknüpft worden war.78 Wichtig erscheint in diesem Kontext schließlich der Ausdruck rationum consequentium copulatu, der m.E. nicht in einem ganz allgemeinen Sinne zu verstehen ist.79 Vielmehr dürfte er sich konkret auf das Folgende beziehen und eine Art Rezeptionsanweisung darstellen im Sinne von: „durch die Verbindung der nun unmittelbar folgenden Argumente und Überlegungen“. Mithin darf man hierin wohl auch eine Warnung davor sehen, Argumente nur jeweils für sich isoliert zu betrachten, bzw. eine Einladung dazu, die Argumentation in ihren größeren Zügen als komplexe Einheit zu rezipieren und zu würdigen.

76 MAYER (1939) 24 bringt diese Stelle in Verbindung mit demjenigen refutatio-Typus, der zeigt, dass (1) auch dem Gegner bzw. sogar (2) nur dem Gegner der Vorwurf gemacht werden kann, dem der Angeklagte ausgesetzt ist. Sein Verweis auf Quint. inst. 5,13,29 (s. S. 202, Anm. 74) ist jedoch nur für Ausprägung (1) zutreffend. Zusätzlich ist darauf hinzuweisen, dass der Sprecher hier streng genommen keine refutatio durchführt, sondern bereits deren Ergebnis präsentiert. 77 Zum Begriff religio bei Arnobius vgl. MAGAZZÙ (1994). 78 Nat. 1,1,1: postquam esse in mundo Christiana gens coepit, terrarum orbem perisse usw. 79 So aber z.B. MCCRACKEN (1949a) 59 („It will surely be brought out by the juxtaposition of arguments in logical sequence“) und LE BONNIEC (1982a) 133 („un raisonnement conduit avec logique fera apparaître [...]“).

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Teil II. A: Die apologetische Argumentation in Adversus nationes 1

Rhetorische und argumentationstaktische Würdigung Nimmt man den Abschnitt 1,1,1–1,2,2 insgesamt in den Blick, so weist er zahlreiche für ein exordium, den Beginn einer Rede, typische Züge auf:80 Aufgabe des exordium ist bekanntlich, bei den Zuhörern Aufmerksamkeit, Aufnahmefähigkeit und Wohlwollen zu wecken.81 Aufmerksamkeit kann im Allgemeinen u.a. dadurch geweckt werden, dass der Redner ankündigt, er werde über bedeutsame Dinge sprechen, über Themen, die den Staat, die Zuhörer oder die Verehrung der Götter betreffen.82 Dies ist in Adversus nationes 1,1 umgesetzt, ja in zwei Punkten sogar noch übertroffen: Nicht nur der Staat ist – zumindest nach Aussage der Gegner – in Gefahr, sondern die ganze Welt ist bereits zugrunde gegangen (terrarum orbem perisse), und nicht nur die Zuhörer, sondern alle Menschen sind betroffen (affectum esse genus humanum). Aufnahmefähigkeit wird zum einen durch die Weckung von Aufmerksamkeit erreicht,83 zum anderen dadurch, dass man die Hauptpunkte der zu verhandelnden Angelegenheit kurz aufzählt.84 Dies geschieht in nat. 1,1 in Form zweier variierender Trikola, wobei die Dreizahl sich ganz im Einklang mit allgemeinen Empfehlungen der Rhetoren befindet.85 Auch Wohlwollen für die zu vertretende Sache, wofür die antike Rhetorik die vier Ansatzpunkte Sprecher, Gegner, Zuhörer und die Sache selbst nennt,86 wird am Anfang von Adversus nationes nach topischen Regeln gewonnen. Für die ihren Ausgang vom Sprecher nehmende Sympathiegewinnung ist es wichtig, dass der Anschein von Anmaßung vermieden wird,87 und es ist hilfreich, wenn die Zu80 Zum exordium vgl. etwa Rhet. Her. 1,3,4 (exordium est principium orationis, per quod animus auditoris constituitur ad audiendum), Cic. inv. 1,20 (exordium est oratio animum auditoris idonee comparans ad reliquam dictionem) sowie LAUSBERG (2008) §§ 263ff. RIZZI (1993) untersucht die Anfänge verschiedener Apologien des zweiten und dritten Jahrhunderts unter der Fragestellung, wie jeweils das Gegenüber präsentiert wird; dabei bezeichnet er (S. 138ff.) nur nat. 1,1 als exordium (jedoch nicht im engeren terminologisch-forensischen Sinn). 81 Vgl. z.B. Cic. inv. 1,20 (quod eveniet, si eum benivolum, attentum, docilem confecerit), Rhet. Her. 1,4,6 (principium est, cum statim auditoris animum nobis idoneum reddimus ad audiendum. id ita sumitur, ut attentos, ut dociles, ut benivolos auditores habere possimus); Quint. inst. 4,1,5 (id fieri tribus maxime rebus inter auctores plurimos constat, si [sc. auditorem] benevolum, attentum, docilem fecerimus). Ein Verzeichnis der Reihenfolgevarianten dieser Begriffe in unterschiedlichen Schriften zur Rhetorik bietet LAUSBERG (2008) § 267. 82 Vgl. z.B. Rhet. Her. 1,4,7 (attentos habebimus, si pollicebimur nos de rebus magnis, novis, inusitatis verba facturos aut de iis rebus, quae ad rem p. pertineant aut ad eos ipsos, qui audient, aut ad deorum inmortalium religionem). 83 Rhet. Her. 1,4,7: docilis est, qui attente vult audire. 84 Rhet. Her. 1,4,7: dociles auditores habere poterimus, si summam causae breviter exponemus. 85 Rhet. Her. 4,19,26: sed commodissima et absolutissima est [sc. ea exornatio], quae ex tribus constat, hoc pacto: „et inimico proderas et amicum laedebas et tibi non consulebas“. 86 Rhet. Her. 1,4,8 (benivolos auditores facere quattuor modis possumus: ab nostra, ab adversariorum nostrorum, ab auditorum persona et ab rebus ipsis); Cic. inv. 1,22 (benivolentia quattuor ex locis comparatur: ab nostra, ab adversariorum, ab iudicum persona, a causa). 87 Rhet. Her. 1,5,8 (ab nostra persona benivolentiam contrahemus, si nostrum officium sine adrogantia laudabimus), Cic. inv. 1,22 (ab nostra, si de nostris factis et officiis sine arrogantia dicemus).

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hörer zu der Ansicht gelangen, dem Redner sei Unrecht widerfahren.88 Beide Punkte hat der arnobianische Sprecher realisiert und sogar in einem einzigen Satz kondensiert, indem er einerseits die Defizienz seiner rednerischen Fähigkeiten betont (pro captu ac mediocritate sermonis), wodurch sozusagen Sympathie für den „Underdog“ evoziert wird.89 Andererseits aber bezeichnet er die Geisteshaltung seiner Gegner, der entgegenzutreten er sich genötigt sieht, als invidia, also mit einem Begriff, der von Rezipienten in mehreren Bedeutungen verstanden werden kann: Am nächsten liegt in diesem Kontext die Deutung als „gehässiger Vorwurf“ oder „üble Nachrede“, wodurch die Beschuldigungen sogleich als unzutreffend und demnach ungerecht qualifiziert wären. Invidia ließe sich aber unter Umständen auch als Beweggrund der Anklagen sehen, wenn man den Widersachern Neid unterstellte. Hierdurch wäre implizit angedeutet, dass es durchaus Veranlassung gibt, auf die Christen neidisch zu sein, und zwar insofern, als sie über das von Christus geoffenbarte Wissen verfügen. Durch die Attitüde der Ankläger würde dann das Christentum gewissermaßen durch einen Blick von außen indirekt in seinem hohen Wert anerkannt. Expliziert wird das Erleiden von Unrecht dann in der Fortsetzung desselben Satzes: calumniosas dissolvere criminationes. In dieser Formulierung erscheint jedes einzelne Wort mit Bedacht gewählt – d.h. mit einer bewussten Entscheidung gegen ebenfalls prinzipiell verwendbare Synonyme: Das, was die Ankläger vorbringen, wird als criminationes bezeichnet, als Anschuldigungen, wobei diesem Substantiv meist die Konnotation „Anschwärzung“, „Verleumdung“ anhaftet.90 Dass diese Konnotation als aktiviert empfunden wird, ist durch die Beifügung des Adjektivs calumniosas sichergestellt, dessen Bedeutungen „böswillig“, „rechtsverdreherisch“ zugleich unterstreichen, dass die Ausführungen der Ankläger auch einen Affront gegen das Gericht als eine wahrheitssuchende Institution darstellen. Schließlich wird das Verb dissolvere verwendet, wodurch nicht nur ein InZweifel-Ziehen, Schwächen oder Relativieren der Anklagen bezeichnet wird, sondern geradezu ein Auflösen und Zersetzen der Beschuldigungen, so dass am Ende nichts mehr von ihnen übrigbleiben wird. Von der Person der Gegner aus wird Sympathie für den Redner gewonnen, indem deren Verfehlungen angesprochen werden: Der Verteidiger unterstellt ihnen große Selbstüberschätzung, indem er behauptet, sie glaubten, überaus viel zu wissen: se plurimum sapere suis persuasionibus credunt – wobei doch, wie eben in Anm. 89 besprochen, schon der bloße Verdacht dieser Haltung negative 88 Nur allgemein Rhet. Her. 1,5,8 (si nostra incommoda proferemus); konkreter Cic. inv. 1,22 (si crimina inlata et aliquas minus honestas suspiciones iniectas diluemus; si, quae incommoda acciderint aut quae instent difficultates, proferemus). 89 Quint. inst. 4,1,8ff.: ita quaedam in his quoque commendatio tacita, si nos infirmos, imparatos, impares agentium contra ingeniis dixerimus […]; est enim naturalis favor pro laborantibus […]. inde illa veterum circa occultandam eloquentiam simulatio, multum ab hac nostrorum temporum iactatione diversa. vitandum etiam, ne contumeliosi, maligni, superbi, maledici in quemquam hominem ordinemve videamur und ebd. 4,1,33: fiducia ipsa solet opinione adrogantiae laborare. 90 Vgl. ThLL 4, Sp. 1196, s.v. criminatio.

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Folgen hat. Zugleich sind sie natürlich die Verursacher des Unrechtes, das der Sprecher erlitten hat, was die Sympathie ihnen gegenüber schmälert.91 Auch die Art ihrer Vortragsweise, die der Sprecher mit der Sphäre des EkstatischRauschhaften entnommenen Vokabeln charakterisiert, verschlechtert ihre Position (sofern Adressaten und Rezipienten sich diese Einschätzung zu eigen machen), da Nachlässigkeit im Ausdruck und in der Gedankenführung als Missachtung der Richter aufgefasst werden könnte.92 Das Publikum bzw. die Richter werden, so hat es der Sprecher deutlich gemacht (s.o.), unparteiisch und gerecht die vorgebrachten Argumente prüfen und dementsprechend ihr Urteil fällen. Mit Hilfe dieser Prognose gewinnt der Apologet von Seiten der Zuhörer benevolentia für seinen Fall und bewegt sich somit wiederum im Rahmen des tradierten rhetorischen Regelwerkes.93 A causa bzw. re hingegen wird nicht erkennbar um Sympathie geworben.94 Aufschlussreich für die Einschätzung des Sprechers bezüglich der von ihm zu vertretenden Sache ist auch die Gestaltung des exordium insgesamt. In der antiken Rhetoriktheorie werden zwei Typen von exordia unterschieden: zum einen das principium als Normalform des exordium, zum anderen die insinuatio.95 Als Charakteristikum der letzteren gilt, die Aufmerksamkeit der Zuhörer nur indirekt und auf Umwegen, gleichsam unbemerkt zu gewinnen;96 sie ist insbesondere dann 91 Cic. inv. 1,22: in odium ducentur [sc. adversarii], si quod eorum spurce, superbe, crudeliter, malitiose factum proferetur, ganz ähnlich Rhet. Her. 1,5,8: in odium rapiemus, si quid eorum spurce, superbe, perfidiose, crudeliter, confidenter, malitiose, flagitiose factum proferemus. 92 Vgl. Quint. inst. 4,1,57f.: quibusdam in iudiciis […] ipsi iudices exigunt sollicitas et accuratas actiones contemnique se, nisi in dicendo etiam diligentia appareat, credunt, nec doceri tantum, sed etiam delectari volunt. et est difficilis huius rei moderatio: quae tamen ita temperari potest, ut videamur accurate, non callide dicere. Vgl. ferner RIZZI (1993) 138, Anm. 108: „Bacchari è peraltro termine con una precisa connotazione negativa nell’ambito giuridico-religioso della lingua latina.“ – Insgesamt ist bei der Behandlung dieser Punkte laut Quintilian Steigerung bzw. Verminderung geboten (inst. 4,1,15: neque haec dicere sat est, quod datur etiam imperitis; pleraque augenda ac minuenda, ut expediet: hoc enim oratoris est, illa causae), wofür man bei Arnobius einen Ansatz im Bescheidenheitstopos bzgl. der limitierten eigenen Redegabe sehen könnte (nat. 1,1,2: pro captu et mediocritate sermonis). Bezüglich des tadelnswerten und niederträchtigen Verhaltens der Ankläger hingegen dürfte keine Steigerung gegenüber dem wirklich Empfundenen vorliegen, da Arnobius ihr Vorgehen doch wohl tatsächlich so eingeschätzt haben wird. 93 Cic. inv. 1,22: ab auditorum persona benivolentia captabitur, […] si de iis quam honesta existimatio quantaque eorum iudicii et auctoritatis exspectatio sit, ostendetur. Quint. inst. 4,1,16: iudicem conciliabimus nobis non tantum laudando eum […], sed si laudem eius ad utilitatem causae nostrae coniunxerimus, ut adlegemus pro honestis dignitatem illi suam, pro humilibus iustitiam. 94 Cic. inv. 1,22: ab rebus, si nostram causam laudando extollemus, adversariorum causam per contemptionem deprimemus. 95 Vgl. Rhet. Her. 1,4,6: exordiorum duo sunt genera: principium, quod Graece prohemium appellatur, et insinuatio, quae epodos nominatur; Cic. inv. 1,20: exordium in duas partes dividitur, in principium et insinuationem. 96 Vgl. Rhet. Her. 1,7,11: insinuatio eiusmodi debet esse, ut occulte per dissimulationem eadem illa omnia [sc. atque in principio] conficiamus, ut ad eandem commoditatem in dicendi opere

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anzuwenden, wenn der Redner eine anstößige oder heikle Position (turpis causa) vertreten muss.97 Aus dem Verzicht auf ihre Anwendung wird also deutlich, dass der Sprecher sein Anliegen als honesta causa, als ehrenvollen Fall, betrachtet98 und diese Sicht auch vom Richtergremium geteilt sehen möchte. Es gibt aber noch eine weitere Konstellation, in der die Anwendung einer insinuatio auch dann angemessen wäre, wenn es sich objektiv betrachtet um eine honesta causa handelt: falls das Richtergremium unter der Einwirkung der Rede der Gegenpartei den Eindruck gewonnen hat, es handle sich um eine anstößige Sache.99 Eine Verbindung zum genus turpe und eine Art von insinuatio ließen sich jedoch im abschließenden Satz des ersten Kapitels sehen, der hypothetisch konzediert, dass die Christen tatsächlich hassenswert wären, wenn die Vorwürfe gegen sie zuträfen.100 Ein solcher Beginn wird nämlich vom Auctor ad Herennium gerade für das genus turpe empfohlen.101 Allerdings ist Arnobius ja mit Sicherheit davon überzeugt, keine anstößige Sache zu vertreten, und somit könnte seine Aussage als von konkreten rhetorischen praecepta losgelöst erscheinen.102 Vielleicht steckt aber doch eine hintergründige Intention in dieser Aussage: Der Sprecher ist sich sicher, im Laufe seiner Ausführungen die ursprünglich gegen die Christen erhobenen Vorwürfe auf die Heiden umlenken und diese als die wahren Schuldigen erweisen zu können – eine Argumentationsstrategie, die modern häufig als

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venire possimus; Cic. inv. 1,20: insinuatio est oratio quadam dissimulatione et circumitione obscure subiens auditoris animum. Rhet. Her. 1,4,6: sin turpe causae genus erit, insinuatione utendum est und ebd. 1,6,9: cum turpem causam habemus, hoc est, cum ipsa res animum auditoris a nobis alienat. Es sei denn, man wollte hier den bei Rhet. Her. 1,4,6 genannten Fall sehen: sin turpe causae genus erit, insinuatione utendum est […], nisi quid nacti erimus, qua re adversarios criminando benivolentiam captare possimus. Rhet. Her. 1,6,9: cum animus auditoris persuasus esse videtur ab iis, qui ante contra dixerunt. Ebd. ist noch als weitere Möglichkeit, die in diesem Kontext jedoch ausscheidet, Ermüdung der Richter im Laufe des Prozesses genannt: aut cum defessus est eos audiendo, qui ante dixerunt. – Denkbar wäre, dass der Sprecher durch den Verzicht auf diese Art des exordium einerseits implizit für die Richter ein Lob formuliert, indem er seine Rede im Glauben an ihre Unvoreingenommenheit beginnt. Damit eng verbunden wäre jedoch andererseits, dass dadurch den Ausführungen der Gegenpartei und damit auf einer umfassenderen Ebene den Anwürfen gegen das Christentum insgesamt ihre Überzeugungskraft abgesprochen würde. Nat. 1,1,3: neque enim negaverim validissimam esse accusationem istam hostilibusque condignos odiis nos esse, si apud nos esse constiterit causas, per quas suis mundus aberravit ab legibus […]. Rhet. Her. 1,6,9: si causa turpitudinem habebit, exordiri poterimus his rationibus: […] non placere nobis ipsis, quae facta dicantur ab adversariis, et esse indigna aut nefaria; deinde cum diu rem auxerimus, nihil simile a nobis factum ostendemus. Doch formuliert auch Cicero in S. Rosc., einem Fall, der sicherlich nicht dem genus turpe zuzurechnen ist, ähnliche Hypothesen in § 8 (quod si aut causa criminis aut facti suspicio aut quaelibet denique vel minima res reperietur, quam ob rem videantur illi non nihil tamen in deferendo nomine secuti, postremo si praeter eam praedam, quam dixi, quicquam aliud causae inveneritis, non recusamus, quin illorum libidini Sex. Rosci vita dedatur) und § 18 (spero ex hoc ipso non esse obscurum, ad quem suspicio malefici pertineat; verum id, quod adhuc est suspiciosum, nisi perspicuum res ipsa fecerit, hunc adfinem culpae iudicatote).

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retorsio bezeichnet wird.103 Auf lange Sicht wird also die Anklage gegen jene äußerst stichhaltig sein (validissimam esse accusationem), und sie werden zu Recht verhasst sein (hostilibusque condignos odiis […] esse). Letztlich wird also wohl durch das hypothetische Urteil über die Christen, dessen Prämissen dann als falsch erwiesen werden, implizit das Urteil über die Heiden vorweggenommen, und ein eigentlich nur für das genus turpe vorgesehenes Element wird neu und im Interesse des christlichen Glaubens funktionalisiert. Betrachtet man den Anfang von Adversus nationes unter dem Aspekt einiger gemäß der Tradition zu vermeidender Fehler (vitia) bzw. sich aus deren Vermeidung ergebender Qualitäten (virtutes), so ist eine weitgehend positive Bilanz zu ziehen: Weder ist das exordium zu allgemein gehalten, so dass es auch auf andere Fälle problemlos übertragbar wäre,104 noch ist es so formuliert, dass auch die gegnerische Partei es verwenden könnte.105 Auch kann es der Gegner nicht zu seinem Vorteil auslegen,106 und es ist weder unverbunden mit dem Fall107 noch weit hergeholt oder von anderswo entlehnt.108 Ferner kann man ihm – insbesondere nachdem die Doppelung der von den Gegnern vorgebrachten Anschuldigungen als funktional berechtigt erklärt worden ist – nicht übermäßige Länge vorwerfen.109 Ob es schließlich wirkungslos geblieben ist,110 lässt sich, da Rezeptionszeugnisse fehlen, nicht entscheiden; angesichts der zahlreichen jetzt ex negativo herausgearbeiteten virtutes dürfte dies jedoch eher unwahrscheinlich sein. Auch der Übergang vom exordium zum nächsten Strukturelement des ersten Buches von Adversus nationes, dessen Eigenheiten im folgenden Kapitel zu untersuchen sein werden, ist deutlich markiert, indem im Anschluss an das vorweg103 So z.B. WLOSOK (1989a) 368 („Retorsion“), POLLMANN (1997) 107 und JAKOBI (2002) 63. TORNAU (2006) 157, Anm. 185 spricht sich hingegen für den Begriff ἀντικατηγορία aus, da retorsio nicht antik belegt ist. Hierbei kann er sich z.B. auf Quint. inst. 3,10,4 berufen: adiecerunt quidam [...] mutuam accusationem (ἀντικατηγορία vocatur) [...]. id si et ipsum vocari debet ἀντικατηγορία (nam proprio caret nomine), duo genera erunt eius: alterum, quo litigatores idem crimen invicem intentant, alterum, quo aliud atque aliud. 104 Rhet. Her. 1,7,11: vitiosum exordium est, quod in plures causas potest adcommodari, quod vulgare dicitur; Quint. inst. 4,1,71: [sc. exordium,] quod in pluris causas accommodari potest, vulgare dicitur. 105 Rhet. Her. 1,7,11: item vitiosum est, quo nihilo minus adversarius potest uti, quod commune appellatur; Quint. inst. 4,1,71: [sc. exordium,] quo et adversarius uti potest, commune appellatur. 106 Rhet. Her. 1,7,11: item [sc. vitiosum est] illud, quo adversarius ex contrario poterit uti. Quint. inst. 4,1,71: [sc. exordium,] quod adversarius in suam utilitatem deflectere potest, commutabile [sc. appellatur]. 107 Rhet. Her. 1,7,11: quod non ex ipsa causa natum videatur, ut proprie cohaereat cum narratione. Quint. inst. 4,1,71: [sc. exordium,] quod causae non cohaeret, separatum [sc. appellatur]. 108 Quint. inst. 4,1,71: [sc. exordium,] quod aliunde trahitur, translatum [sc. appellatur]. 109 Cic. inv. 1,26: longum est, quod pluribus verbis aut sententiis ultra, quam satis est, producitur; Rhet. Her. 1,7,11: vitiosum est, quod […] nimium longum est. 110 Cic. inv. 1,26: contra praecepta est, quod nihil eorum efficit, quorum causa de exordiis praecepta traduntur. Rhet. Her. 1,7,11: vitiosum est […], quod neque benivolum neque docilem neque adtentum facit auditorem.

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genommene Ergebnis der Untersuchung (ut non impii nos magis, sed illi ipsi reperiantur criminis istius rei […]) in 1,2,3 explizit verbalisiert wird, dass jetzt ein neuer Abschnitt beginnt: ac primum ab his illud familiari et placida oratione perquirimus […]. Hiermit ist das praeceptum erfüllt, das Ende des exordium klar zu markieren111 und so zu gestalten, dass sich das Folgende ungezwungen, aber sachlich konsistent anschließen kann.112 Schließlich leuchtet auch die Gestaltung des Werkanfangs, vom Standpunkt forensischer Praxis aus betrachtet, ein: Adversus nationes beginnt ohne eine praefatio, ohne einleitende Worte, in denen der Autor über seine Person, sein intendiertes Publikum oder seine theologische Position Auskunft erteilt.113 Ein derartiger Werkanfang wäre für eine rein sachbezogene Lehrschrift in der Tat untypisch, da in diesem Genre ja meistens zunächst ein Lehrer-Schüler-Verhältnis etabliert und erläutert wird, worauf sich die Expertise des Verfassers im darzustellenden Wissensgebiet stützt, wie etwa in der praefatio des Auctor ad Herennium gesehen werden kann.114 Verglichen mit Prozessreden jedoch fügen sich die Ge-

111 Quint. inst. 4,1,79: ut non abrupte cadere in narrationem, ita non obscure transcendere est optimum. Derselbe warnt ebd. § 77 jedoch vor übertrieben kunstvoller Gestaltung des Übergangs: illa vero frigida et puerilis est in scholis adfectatio, ut ipse transitus efficiat aliquam utique sententiam et huius velut praestigiae plausum petat, ut Ovidius lascivire in Metamorphosesin solet, quem tamen excusare necessitas potest, res diversissimas in speciem unius corporis colligentem. 112 Vgl. Cic. de orat. 2,325 (conexum autem ita sit principium consequenti orationi, ut non tamquam citharoedi prooemium adfictum aliquid, sed cohaerens cum omni corpore membrum esse videatur. nam non nulli, cum illud meditati ediderunt, sic ad reliqua transeunt, ut audientiam fieri sibi non velle videantur. atque eius modi illa prolusio debet esse, non ut Samnitium, qui vibrant hastas ante pugnam, quibus in pugnando nihil utuntur, sed ut ipsis sententiis, quibus proluserint, vel pugnare possint) und Quint. inst. 4,1,76 (id debebit in principio postremum esse, cui commodissime iungi initium sequentium poterit). 113 Tadel hierfür klingt an bei MONCEAUX (1963) 249 („Brusquement, dès sa première phrase, Arnobe annonce l’objet de son traité.“) und LE BONNIEC (1982a) 195 („Curieusement, le traité débute ex abrupto: pas de titre, pas de préface, aucune allusion aux circonstances de la conversion et de la rédaction […].“). Anders jedoch schon LAURENTI (1962) 1, Anm. 1, der Arnobius’ „procedimento originale“ im apologetischen Charakter des Werkes begründet sieht. – DUVAL (1986) 89 geht jedoch davon aus, dass der maßgebliche Codex P (vgl. Prolegomena, S. 15, Anm. 7) ursprünglich ein weiteres Folium vor dem heutigen Bestand aufgewiesen habe. Ferner vermutet er (ebd. S. 89ff.), dass dieses Folium nicht nur den Titel des Werkes, sondern auch eine praefatio enthalten habe, der Hieronymus seine Informationen über Arnobiusʼ Konversion entnommen habe. Außerdem (ebd. S. 78.99) könne Hieronymus diesbezüglich Informationen aus uns nicht erhaltenen Werken des Lactanz geschöpft haben. AMATA (2000) 81 gibt jedoch in seiner Übersetzung dem ersten Kapitel die Überschrift „Prefazione“, und SANTORELLI (2013) 190 übernimmt diese Bezeichnung. 114 Rhet. Her. 1,1,1: Christian Empire< (Curti Lectures), Wisconsin 1992). Brunner (1933) = Gottfried Brunner, Arnobius ein Zeuge gegen das Weihnachtsfest?, Jahrbuch für Liturgiewissenschaft 13, 1933, 172–181. Bryce/Campbell (1895) = Hamilton Bryce, Hugh Campbell, The Seven Books of Arnobius, Adversus Gentes (Ante-Nicene Christian Library. Translations of the Writings of the Fathers down to A.D. 325. Vol. 19), Edinburgh 1895. Burger (1970) = Christoph Burger, Die theologische Position des älteren Arnobius, Diss. Heidelberg 1970. Burkert (1996) = Walter Burkert, Klassisches Altertum und antikes Christentum. Probleme einer übergreifenden Religionswissenschaft (Hans-Lietzmann-Vorlesungen, hrsg. von Christoph Markschies, Heft 1), Berlin/New York 1996.

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