Resilienznarrative im Alten Testament 3161611446, 9783161611445, 9783161611452

Der Begriff der Resilienz, der selbst kein Begriff der alttestamentlichen Quellensprache ist, hat in den letzten Jahren

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Titel
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Judith Gärtner/Cornelia Richter — Der (post-)moderne Begriff der Resilienz und die jüdisch-christliche Tradition
Pentateuch
Ute Neumann-Gorsolke — Kain in der Krise. Überlegungen zum Verhältnis von Resilienz und Gewalt am Beispiel von Gen 4
Alexandra Grund-Wittenberg — „Ja, ich kenne seine Schmerzen“ (Ex 3,7). Der empathische Gott des Exodus und die Bewältigung von Krisen
Jan Dietrich — Formen der Resilienz im Buch Levitikus
Prophetie
Christopher G. Frechette — The Power, People, Place, and Plan of YHWH. Isaiah as Resilience Narrative
Michaela Bauks — Kollektive Resilienz. Überlegungen zur Geburtsmetaphorik in Jes 40–66
Christl M. Maier — Kein Balsam in Gilead? Potentiale für Resilienz in Klagetexten des Jeremiabuches
Anja Klein — Resilience and Restoration. Dimensions of Resilience in Ezekiel’s Prophecies of Restoration
Psalmen
Friedhelm Hartenstein — Jenseits von Sünde und Schuld. Zur Bewältigung des unerklärlichen Leidens in den Psalmen 6,13 und 22
Christian Frevel — „Du machtest mich stark wie einen Wildstier“ (Ps 92,11). Resilienzmuster in den Psalmen
Bernd Janowski — Der Angst widerstehen. Psalm 22 und der Resilienzbegriff
Martin Rösel — Verstärkendes Übersetzen. Der Septuaginta-Psalter als Zusage und Trost am Beispiel von Ps 22(21)
Andreas Wagner — Psalmen als Einübungstexte für Resilienz
Amy C. Cottrill — Reading the Psalms through the Lens of Creative Resilience
Frühjüdische Schriften
Beate Ego — „Sei getrost, Gott wird dich gewiss bald heilen, sei getrost!“ (Tob 5,10). Die Tobitgeschichte als Beispiel einer Resilienzerzählung
Interdisziplinäre Perspektiven
Lennart Lehmhaus — Rabbinische Resilienz und resiliente Rabbinen? Strategien des Umgangs mit Krankheit, Krisen und Katastrophen in der talmudischen Literatur der Spätantike
Stephanie Wodianka — Aufklärung und Resilienz. Zur Widerstandskraft des Erzählens in Voltaires „Candide“ (1759)
Martina Kumlehn — Exodus: biographisch – literarisch – biblisch. Fluchtgeschichten als narrative Resilienzressource in religiösen Bildungsprozessen
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Stellenregister
Sachregister
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Resilienznarrative im Alten Testament
 3161611446, 9783161611445, 9783161611452

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Forschungen zum Alten Testament Herausgegeben von

Konrad Schmid (Zürich) ∙ Mark S. Smith (Princeton) Hermann Spieckermann (Göttingen) ∙ Andrew Teeter (Harvard)

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Resilienznarrative im Alten Testament Herausgegeben von

Judith Gärtner und Barbara Schmitz

Mohr Siebeck

Judith Gärtner, geboren 1972; Studium der Ev. Theologie in Münster, Jerusalem und Marburg; 2005 Promotion; 2011 Habilitation; 2013−2014 Professorin für Altes Testament und Antikes Judentum an der Universität Osnabrück; seit 2014 Professorin für Altes Testament an der Universität Rostock. Barbara Schmitz, geboren 1975; Studium der Kath. Theologie in Passau, Jerusalem und Münster; 2004 Promotion; 2007 Habilitation; 2009−2010 Professorin für Exegese und Theologie des Alten Testaments an der Technischen Universität Dortmund; seit 2011 Professorin für Altes Testament und biblisch-orientalische Sprachen an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg.

ISBN 978-3-16-161144-5 / eISBN 978-3-16-161145-2 DOI 10.1628/978-3-16-161145-2 ISSN 0940-4155 / eISSN 2568-8359 (Forschungen zum Alten Testament) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbib­ liographie; detaillierte bibliographische Daten sind über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden. Printed in Germany.

Vorwort Der Begriff der Resilienz, der selbst kein Begriff der alttestamentlichen Quellensprache ist, hat in den letzten Jahren als Interpretationskategorie biblischer Überlieferung zunehmende Beachtung gefunden, um vor allem Ergebnisse aus der Psychologie für das Verständnis alttestamentlicher Texte fruchtbar zu machen. Unter der Themenstellung „Resilienznarrative im Alten Testament“ führen die im vorliegenden Band zusammengestellten Artikel diese Fragestellung weiter. Sie dokumentieren die Ergebnisse einer internationalen Fachtagung, die vom 30. Januar bis 01. Februar 2020 im Rahmen der DFG Forschungsgruppe 2686 „Resilienz in Religion und Spiritualität. Aushalten und Gestalten von Ohnmacht, Angst und Sorge“ sowie in Kooperation mit dem Lehrstuhl für Altes Testament und biblisch-orientalische Sprachen der Katholisch-Theologischen Fakultät der Julius-Maximilians-Universität Würzburg in Rostock stattfand. Die hier vielfältig untersuchten Resilienznarrative bilden den methodischen und inhaltlichen Fokus des Bandes. Dabei treten die unterschiedlichen methodologischen Zugänge – narratologische, literarhistorische, kulturanthropologische sowie rezeptionsgeschichtliche – in einen fruchtbaren Dialog über das Potential von Resilienz als Erschließungskategorie alttestamentlicher Texte ein. Unser besonderer Dank gilt den Herausgebern der Reihe „Forschungen zum Alten Testament“ Konrad Schmid, Mark S. Smith, Hermann Spieckermann und Andrew Teeter für die Aufnahme des Bandes. Für die sehr gute und jeder Zeit hilfreiche Betreuung des Verlags Mohr Siebeck bei der Drucklegung danken wir Elena Müller, Ilse König und Tobias Stäbler. Dem Rostocker Team Kerstin Lemm, Margarethe Kelm, Mirja Petersen, Juliette Strößner und Lina Wilhelm danken wir herzlich für das sorgfältige und geduldige Korrekturlesen sowie das Vereinheitlichen der Manuskripte. Rostock, Würzburg im August 21

Judith Gärtner Barbara Schmitz

Inhaltsverzeichnis Vorwort .............................................................................................................. V Judith Gärtner/Cornelia Richter Der (post-)moderne Begriff der Resilienz und die jüdisch-christliche Tradition .............................................................................................................. 1

Pentateuch Ute Neumann-Gorsolke Kain in der Krise. Überlegungen zum Verhältnis von Resilienz und Gewalt am Beispiel von Gen 4 .......................................................................................................... 25 Alexandra Grund-Wittenberg „Ja, ich kenne seine Schmerzen“ (Ex 3,7). Der empathische Gott des Exodus und die Bewältigung von Krisen ................ 43 Jan Dietrich Formen der Resilienz im Buch Levitikus .......................................................... 69

Prophetie Christopher G. Frechette The Power, People, Place, and Plan of YHWH. Isaiah as Resilience Narrative ........................................................................... 89 Michaela Bauks Kollektive Resilienz. Überlegungen zur Geburtsmetaphorik in Jes 40–66 ....................................... 111 Christl M. Maier Kein Balsam in Gilead? Potentiale für Resilienz in Klagetexten des Jeremiabuches ............................ 131

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Inhaltsverzeichnis

 

Anja Klein Resilience and Restoration. Dimensions of Resilience in Ezekiel’s Prophecies of Restoration .................. 147

Psalmen Friedhelm Hartenstein Jenseits von Sünde und Schuld. Zur Bewältigung des unerklärlichen Leidens in den Psalmen 6, 13 und 22.............................................................................................................. 167 Christian Frevel „Du machtest mich stark wie einen Wildstier“ (Ps 92,11). Resilienzmuster in den Psalmen ...................................................................... 203 Bernd Janowski Der Angst widerstehen. Psalm 22 und der Resilienzbegriff .................................................................. 237 Martin Rösel Verstärkendes Übersetzen. Der Septuaginta-Psalter als Zusage und Trost am Beispiel von Ps 22(21) ......................................................................................................... 269 Andreas Wagner Psalmen als Einübungstexte für Resilienz....................................................... 291 Amy C. Cottrill Reading the Psalms through the Lens of Creative Resilience ......................... 305

Frühjüdische Schriften Beate Ego „Sei getrost, Gott wird dich gewiss bald heilen, sei getrost!“ (Tob 5,10). Die Tobitgeschichte als Beispiel einer Resilienzerzählung ............................. 331

Inhaltsverzeichnis

IX

Interdisziplinäre Perspektiven Lennart Lehmhaus Rabbinische Resilienz und resiliente Rabbinen? Strategien des Umgangs mit Krankheit, Krisen und Katastrophen in der talmudischen Literatur der Spätantike................................................... 355 Stephanie Wodianka Aufklärung und Resilienz. Zur Widerstandskraft des Erzählens in Voltaires „Candide“ (1759)............... 385 Martina Kumlehn Exodus: biographisch – literarisch – biblisch. Fluchtgeschichten als narrative Resilienzressource in religiösen Bildungsprozessen........................................................................................... 401 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren........................................................ 419 Stellenregister.................................................................................................. 421 Sachregister ..................................................................................................... 435

Der (post-)moderne Begriff der Resilienz und die jüdisch-christliche Tradition1 Judith Gärtner/Cornelia Richter I. Resilienzkonzepte und -theorien Der seit den 1970er Jahren durch Emmy E. Werner in die Forschung eingebrachte Begriff der Resilienz hat eine rasante und interdisziplinär breit gefächerte Karriere gemacht:2 Mit ihren Langzeitstudien The Children of Kauai (1971), Kauai’s Children Come of Age (1977) und Vulnerable but Invincible. A Longitudinal Study of Resilient Children and Youth (1982) hat Emmy E. Werner Resilienz erstmals über die folgenden drei Schutzfaktoren zu bestimmen gesucht: „Protective factors within the individual, […] within the family […], within the community“.3 Während der Resilienzbegriff zunächst eingeführt wurde, um ressourcenorientiert nach den stärkenden Überlebensstrategien von Menschen in schweren Krisenerfahrungen zu fragen,4 ist er im Laufe der inzwischen 50-jährigen Forschung zunehmend zu einem neoliberalen, ökonomischen Denkmustern verpflichteten, präventiven Strategiebegriff geworden, der eine breite Streuung über die allgemein zugängliche Ratgeberliteratur gefunden hat: „Unter Resilienz wird die Fähigkeit von Menschen verstanden,

                                                             1 Die Arbeit an diesem Aufsatz ist ermöglicht durch die 2019–2022 von der DFG geförderte Forschungsgruppe DFG-FOR 2686 „Resilienz in Religion und Spiritualität“ (Projektnummer 348851031), angesiedelt am Bonner transdisziplinären Forschungszentrum „Resilience and the Humanities“. 2 Die besten Forschungsübersichten finden sich bei: WINK, RÜDIGER (Hg.), Multidisziplinäre Perspektiven der Resilienzforschung, Wiesbaden: Springer 2016; für den theologischen Kontext vgl. RICHTER, CORNELIA/BLANK, JENNIFER, Resilienz im Kontext von Theologie und Kirche. Eine kurze Einführung in den Stand der Forschung, in: Cornelia Richter/Uta Pohl-Patalong (Hg.), Resilienz – Problemanzeige und Sehnsuchtsbegriff, in: Themenheft PrTh 51/2 (2016), 69–74; aus Sicht der katholischen Theologie nun auch: VOGT, MARKUS/SCHNEIDER, MARTIN, Zauberwort Resilienz. Analysen zum interdisziplinären Gehalt eines schillernden Begriffs, in: Dies. (Hg.), Theologische und ethische Dimensionen von Resilienz, in: Themenheft MThZ 67/3 (2016), 180–194. 3 EMMY E. WERNER, Resilience and Recovery. Findings from the Kauai Longitudinal Study, in: Research, Policy and Practice in Children’s Mental Health 19/1 (2005), 11–14. 4 Darin ist der Resilienzbegriff eng verwandt mit dem Begriff der Salutogenese: Vgl. ANTONOVSKY, AARON, Health, Stress and Coping, San Francisco: Jossey-Bass 1979.

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Judith Gärtner/Cornelia Richter

Krisen im Lebenszyklus unter Rückgriff auf soziale und persönliche Ressourcen zu meistern und als Anlass für Entwicklung zu nutzen“5 oder etwas kürzer: Resilienz meint „Handlungs- und Orientierungsmuster, die Individuen in der Konfrontation mit und der Bewältigung von widrigen Lebensumständen herausbilden“6. Auf der Ebene intensiver Grundlagenforschung ist dieses Resilienzverständnis aus mindestens drei voneinander unabhängigen, einigermaßen parallel verlaufenden und einander mindestens indirekt beeinflussenden Forschungslinien erwachsen: Erstens durch die Forschung in den medizinisch-naturwissenschaftlichen Fächern der Neurologie, Biochemie, Psychiatrie und Psychologie, die Resilienz naturalistisch enggeführt definiert über die Relation von Input (Resilienzund Stressfaktoren) und Output (Resilienz im Sinne eines geringen Ausmaßes an psychischen und psychosomatischen Störungen bei/nach Konfrontation mit Stressoren). Im Ergebnis wird Resilienz hier mit Lazarus/Folkman auf „positives Appraisal/Reappraisal“ reduziert, 7 d.h. auf die positive kognitiv-emotionale Bewertung bedrohlicher Stimuli, gegebenenfalls unter Inhibition von interferierenden Appraisalprozessen oder anderen Distraktoren. Zweitens durch die Forschung in pädagogischen und entwicklungspsychologischen Studien, für die Resilienz zu einem durch und durch positiven Begriff der Kinder- und Jugendförderung wurde: Resilienz wird hier mit Emmy E. Werner einerseits, Luthar/Zelazo8 andererseits über das Zusammenwirken der beiden Komponenten „Risiken und positive [...] Bewältigung“ erschlossen.9 Drittens durch die etwas jüngere Forschung in den Sozialwissenschaften, die Resilienz nicht primär als anthropologisch-individuelles Phänomen untersucht, sondern als kollektives Gruppenphänomen, z.B. einer Stadtbevölkerung nach einer Naturkatastrophe:

                                                             5 WELTER-ENDERLIN, ROSMARIE/HILDENBRAND, BRUNO (Hg.), Resilienz – Gedeihen trotz widriger Umstände, Heidelberg: Carl-Auer 2006, 13. 6 HILDENBRAND, BRUNO, Resilienz, Krise und Krisenbewältigung, in: Rosmarie WelterEnderlin/Ders. (Hg.), Resilienz – Gedeihen trotz widriger Umstände, Heidelberg: Carl-Auer 4 2012, 205. 7 LAZARUS, RICHARD S./FOLKMAN, SUSAN, Stress, Appraisal and Coping, New York: Springer Publishing Company 1984/102006; KALISCH, RAFFAEL/MÜLLER, MARIANNE B./TÜSCHE, OLIVER, A Conceptual Framework for the Neurobiological Study of Resilience, in: Behavioral and Brain Sciences 38 (2015), e92, DOI 10.1017/S0140525X1400082X. 8 LUTHAR, SUNIYA S./ZELAZO, LAUREL B., Research on Resilience. An Integrative Review, in: Suniya S. Luthar (Hg.), Resilience and Vulnerability. Adaptation in the Context of Childhood Adversities, Cambridge: Cambridge University Press 2003, 510–549. 9 RÖNNAU-BÖSE, MAIKE/FRÖHLICH-GILDHOFF, KLAUS, Resilienz und Resilienzförderung über die Lebensspanne, Stuttgart: Kohlhammer 2015, 11.

Der (post-)moderne Begriff der Resilienz

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Resilienz ist als „Prozess transformativer Autogenese“ fokussiert „auf die Störungstoleranz oder auch Fehlertoleranz von – wie auch immer näher zu bezeichnenden – sozialen ‚Einheiten‘. Ohne an dieser Stelle in eine etymologisch und philologisch vertiefte Analyse des Begriffs der Toleranz einsteigen zu können, lässt sich […] festhalten, dass mit diesem Begriff ein bestimmtes Maß an Flexibilität bzw. Veränderungsoffenheit, Dynamik und ‚interner‘ Mobilität umschrieben werden soll, welches es entsprechenden ‚Einheiten‘ ermöglicht, sog. ‚existenzbedrohenden‘ Herausforderungen zu begegnen.“10

Es steht völlig außer Zweifel, dass alle genannten Forschungslinien zu Detailklärung und theoretischer Fundierung des Resilienzbegriffs in außerordentlich hilfreicher Weise beigetragen haben. Dennoch ist der Resilienzbegriff in seinen primär präventiv orientierten, strategischen Begriffsvarianten vor allem in Politikwissenschaften und zum Teil in der Philosophie der grundsätzlichen Kritik unterzogen worden. Resilienz gilt dort nicht länger als eine unbedingt erstrebenswerte anthropologische und kollektive Strategie zur Krisenbewältigung, sondern gerade umgekehrt als eine politisch-ökonomische Strategie zur Stillstellung kritischen politisch-sozialen Handelns: Jan Slaby betont, „dass die meisten Resilienzprogramme Elitendiskurse sind. Resilient werden sollen diejenigen, welche absehbar die Nachteile einer ungerechten Verteilung von Ressourcen oder von Macht erleiden. Die Imagination von resilient communities zielt zumeist auf das Management prekärer Bevölkerungsgruppen durch ausgewählte Führungspersonen bzw. stakeholder.“11 Das „Idealbild des resilienten Subjekts“ sei charakterisiert durch eine „grundlegende Verletzlichkeit, die bereits mit der Lebendigkeit als solcher gesetzt ist und daher als unverrückbar gilt. Zu leben heißt verletzlich, das heißt konstitutiv gefährdet und prekär zu sein. Das ist der biopolitische Nullpunkt des Resilienzdenkens“.12

Die problematische Folgewirkung sieht Slaby in den drei Konsequenzen (1) einer „Halbierung des Handlungsvermögens“, (2) der „Entpolitisierung des Subjekts“ und (3) der Verknüpfung von Resilienz und „katastrophische[m] Imaginären“.13 Spätestens mit dieser Kritik hat der Resilienzbegriff daher seine „naive Unschuld“ verloren, weil sein kritisches problematisch-subversives Potential deutlich wurde. Die Theologie hat sich in diesen Resilienzdiskurs entsprechend ihrer Disziplinen an unterschiedlichen Stellen eingeschaltet. Dabei lassen sich zwei Richtungen in der theologischen Diskussion aufzeigen: Zum einen wird Resilienz als eine der christlichen Tradition seit jeher inhärente, durchwegs positiv

                                                             10 ENDREß, MARTIN/RAMPP, BENJAMIN, Resilienz als Prozess transformativer Autogenese. Schritte zu einer soziologischen Theorie, in: Behemoth. A Journal on Civilisation 7/2 (2014), 73–102, 77; vgl. ENDREß, MARTIN/MAURER, ANDREA, Resilienz im Sozialen. Theoretische und empirische Analysen, Wiesbaden: Springer 2015. 11 SLABY, JAN, Kritik der Resilienz, in: Philipp Wüschner/Frauke A. Kurbacher (Hg.), Was ist Haltung? Begriffsbestimmung, Positionen, Anschlüsse, Würzburg: Königshausen u. Neumann 2016, 273–298, 284. 12 SLABY, Kritik der Resilienz, 285. 13 SLABY, Kritik der Resilienz, 287.

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Judith Gärtner/Cornelia Richter

konnotierte Kraft verstanden, die es nun für den aktuellen Resilienzdiskurs fruchtbar zu machen gelte: Resilienz wird z.B. von Sedmak mit Titus 2012 bestimmt als „the capacity, when faced with hardship and difficulty to cope actively using religious resources, to resist the destruction of one’s spiritual competencies and to construct something positive in line with larger theological goals.“14 Ausgearbeitet als Konzept „epistemischer Resilienz“ definiert Sedmak Resilienz dann in ontologischer Hinsicht als „eine emergente, innere Kraft zum Guten“, die sich „durch epistemische Grundakte wie Denken, Glauben, Erinnern“ speise.15 Zum anderen ist der Resilienzdiskurs primär kritisch aufgenommen worden, weil vor dem Hintergrund von Seelsorge und Kasualpraxis sehr viel stärker die dem Resilienzbegriff inhärente Ambivalenz gesehen wurde und die kulturtheoretische und hermeneutische Sinnprozessualität höher bewertet wird als jede biologistische oder ontologische Fundierung. Im Unterschied zu jedem naiv verharmlosenden Umgang mit Resilienz geht das Bonner Resilienzprojekt16 daher von der umgekehrt akzentuierten These aus, dass Resilienz und Krise zumindest im Kontext individueller existentieller Krisen in einem intrinsischen Verweis- und Entwicklungszusammenhang stehen und Resilienz daher selbst ein Krisenphänomen par excellence ist: Abschieds- und Verlusterfahrung, Erfahrungen von Vernachlässigung, Gewalt und Missbrauch, Krankheit und Lebenseinschränkung, Exklusion und Einsamkeit, Tod und Trauer sind Erfahrungen, auf die wir mit Ohnmacht und Angst reagieren. Ob sich ein Mensch in solchen Krisen als resilient erweist oder nicht, lässt sich erst im Nachhinein feststellen – also zu einem Zeitpunkt, zu dem der Preis für die eigene Resilienz im Zweifelsfall bereits bitter bezahlt ist. In Übereinstimmung mit den stärker prozessorientierten Resilienztheorien und der interdisziplinär gewonnenen Einsicht in die bio-psycho-soziale Interaktion der vielfältigen beteiligten Faktoren ist Resilienz in dieser Perspektive immer noch eine den Menschen stärkende, begrüßenswerte Fähigkeit. Aber weil ihre Wahrnehmung, möglicherweise sogar ihre Ausbildung nicht zu trennen ist vom Erleben einer schweren Lebenskrise, trägt sie deren tiefe Ambivalenz in sich. Deshalb gilt es, nicht nur Strategien der Krisenüberwindung zu thematisieren, sondern auch Modi des Aushaltens und Gestaltens von Phänomenen der Ohnmacht und Angst.17

Dieser Ansatz teilt zwar erstens mit der Ausgangsdefinition von Emmy E. Werner das Bestreben, ressourcenorientiert nach denjenigen Faktoren zu fragen, die Menschen in existentiellen Krisenerfahrungen möglicherweise zu stützen

                                                             14 TITUS, CRAIG S., Resilience and the Virtue of Fortitude. Aquinas in Dialogue with Psychosocial Sciences, Washington D.C.: Catholic University of America Press 2006, 28. 15 SEDMAK, CLEMENS, Innerlichkeit und Kraft. Studie über epistemische Resilienz (Forschungen zur europäischen Geistesgeschichte 14), Freiburg i.Br.: Herder 2013, 2. 16 Vgl. DFG Forschungsgruppe 2686 „Resilienz in Religion und Spiritualität. Aushalten und Gestalten von Ohnmacht, Angst und Sorge“ der Universität Bonn. 17 RICHTER, CORNELIA, Einleitung: Ohnmacht und Angst aushalten. Zu Kritik und Ergänzung dominant aktiver Resilienzfaktoren, in: Dies. (Hg.), Ohnmacht und Angst aushalten. Kritik der Resilienz in Theologie und Philosophie (Religion und Gesundheit 1), Stuttgart: Kohlhammer 2017, 9–29, 12. Ein ausführlicherer Forschungsüberblick findet sich bei: RICHTER/BLANK, Resilienz im Kontext von Kirche und Theologie, 69–74.

Der (post-)moderne Begriff der Resilienz

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und zu stärken vermögen; zweitens schließt dieser Ansatz an die interdisziplinären Forschungsergebnisse an, um Resilienzbegriff und -phänomen so exakt als möglich bestimmen zu können; aber drittens wird Resilienz nicht als krisenunabhängiges, präventives Phänomen verstanden, sondern als mit bedrückenden Erfahrungen behaftetes reaktives Phänomen: Resilienz ist als neu zu gewinnende, auszuhaltende und gestaltende „Freiheit“ in der Krise, aber nicht als Krisenfreiheit zu verstehen.

II. Resilienz und Trauma in der Exegese In der biblischen Exegese wird der Resilienzdiskurs bisher nur an wenigen Stellen als ein eigener Diskurs geführt. Vielmehr läuft er bisher meist ‚im Windschatten‘ der seit einigen Jahren intensiv geführten Diskussion um Traumatheorien als hermeneutischer Zugang zu biblischen Texten mit.18 Allerdings haben der Resilienzdiskurs, seine Grundlagen und Definitionen nur teilweise Überschneidungen mit dem Traumadiskurs. Der Traumadiskurs stellt die Wahrnehmung und Verarbeitung traumatischer Ereignisse in das Zentrum. Da das Erleben traumatischer Situationen immer von multifaktoriellen und kulturspezifischen Faktoren geprägt ist, hat sich dieser Diskurs von Anfang an durch seinen interdisziplinären Zugang ausgezeichnet. Im Blick waren psychologische, physiologische und soziale Traumata, ebenso wie ihre Reflexionen in Literatur und Kunst. Ausgelöst wurde das exegetische Interesse an der Traumaforschung im US-amerikanischen Bereich vor allem durch die Untersuchungen zu kriegsbedingten Leiden der Vietnamvete-

                                                             18 Vgl. u.a. BECKER, EVE-MARIE/DOCHHORN, JAN/HOLT, ELSE K. (Hg.), Trauma and Traumatization in Individual and Collective Dimensions. Insights from Biblical Studies and Beyond (SANt 2), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014; BECKER, EVE-MARIE, ‚Trauma Studies‘ and Exegesis. Challenges, Limits and Prospects, in: Dies./Jan Dochhorn/Else K. Holt (Hg.), Trauma and Traumatization in Individual and Collective Dimensions. Insights from Biblical Studies and Beyond (Studia Aarhusiana Neotestamentica 2), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014, 15–29; BOASE, ELIZABETH/FRECHETTE, CHRISTOPHER G., Bible through the Lens of Trauma (Semia Studies 86), Atlanta: SBL 2016; BOASE, ELIZABETH/FRECHETTE, CHRISTOPHER G., Defining „Trauma“ as a Useful Lens for Biblical Interpretation, in: Dies. (Hg.), Bible through the Lens of Trauma (Semia Studies 86), Atlanta: SBL 2016, 1–23; POSER, RUTH, Das Ezechielbuch als Trauma-Literatur (VT.S 154), Leiden: Brill 2012, 59–61; O’CONNOR, KATHLEEN M., How Trauma Studies Can Contribute to Old Testament Studies, in: Eve-Marie Becker/Jan Dochhorn/Else K. Holt (Hg.), Trauma and Traumatization in Individual and Collective Dimensions. Insights from Biblical Studies and Beyond (Studia Aarhusiana Neotestamentica 2), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014, 210–222.

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Judith Gärtner/Cornelia Richter

ranen, die letztlich 1980 dazu führte, die Diagnose Post-Traumatic-Stress-Disorder (PTSD/PTBS) in das offizielle Handbuch seelischer Erkrankungen aufzunehmen.19 Definiert wird ein psychologisches Trauma als vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt.20

Um die traumatische Erfahrung aber in die eigene Lebensgeschichte integrieren zu können, wird in der therapeutischen Begleitung traumatisierter Personen die Konstruktion einer Traumaerzählung stärker in den Vordergrund gerückt.21 Da sich aber durch die Dissoziation das Erlebte der Erinnerung und damit des sprachlichen Ausdrucks entzieht, ist die Konstruktion einer solchen Traumaerzählung ein paradoxer Vorgang. Denn zum einen beinhaltet eine solche Traumaerzählung die Gefühle und Erfahrungen des Ereignisses, sodass die Person erneute Deutungshoheit über das Ereignete gewinnt. Zum anderen aber ist die traumatische Erfahrung nur fragmentarisch zugänglich, sodass die Traumaerzählung auch die Unmöglichkeit des vollständigen Ausdrucks einer solchen Erfahrung beinhalten muss.22 Somit resümieren Frechette und Boase, dass gerade die Fähigkeit, solche Paradoxien zu bewahren, verhindert, dass eine Traumaerzählung in die Banalität abrutscht.23 Da jedes individuelle Trauma auch zugleich soziale Auswirkungen hat und zudem Ereignisse (wie Krieg, Terror, Naturkatastrophen) nicht nur den Einzelnen, sondern eine soziale Gruppe betrifft, ist die Traumaforschung zunehmend auch in das Interessensfeld der Sozialwissenschaften gerückt. Im Fokus stehen

                                                             19 Vgl. zur Geschichte der Traumaforschung weiter den Überblick bei POSER, Ezechiel, 59–61 sowie VAN DER KOLK, BESSEL A./WEISAETH, LARS/VAN DER HART, ONNO, History of Trauma in Psychiatry, in: Bessel A. van der Kolk/Alexander C. McFarlane/Lars Weisaeth (Hg.), Traumatic Stress. The Effects of Overwhelming Experience on Mind, Body, and Society, New York: Guilford 2007, 47–74 und HERMAN, JUDITH L., Trauma and Recovery. The Aftermath of Violence – From Domestic Abuse to Political Terror, rev. ed., New York: Basic Books 1997, 7–32.  20 FISCHER, GOTTFRIED/RIEDESSER, PETER, Lehrbuch der Psychotraumatologie, München/Basel: Ernst Reinhardt 32003, 82.375. Man spricht hier von einer sog. Freeze-, Einfrierbzw. Lähmungsreaktion, und Fragment-Reaktion, die durch Dissoziation und Rückzug eine Erinnerung und damit das Herstellen einer kohärenten Erzählung verhindern, um das Opfer vor einem psychischen Kollaps zu schützen. Vgl. hierzu ausführlich POSER, Ezechiel, 62. 21 Vgl. z.B. GARBER, DAVID G., Trauma Theory and Biblical Studies, in: Currents in Biblical Research 14/1 (2015), 24–44; CRASKE, MICHELLE G., Cognitive-Behavioral Therapy (Theories of Psychotherapy Series Washington), Washington D.C.: American Psychological Association 2010, 39–47; KAUFFMAN, JEFFREY (Hg.), Loss of the Assumptive World. A Theory of Traumatic Loss, New York: Routledge 2002 oder HERMAN, Trauma and Recovery. 22 Vgl. HERMAN, Trauma and Recovery, 155. 23 Vgl. BOASE/FRECHETTE, Defining „Trauma“, 6.

Der (post-)moderne Begriff der Resilienz

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hier Ereignisse, die gesellschaftliche Gruppierungen in ihrer Identität bedrohen und zu den oben beschriebenen Diskrepanzerlebnissen führen. Im Unterschied zum individuellen Trauma sind die Beschreibungen und Definitionen eines kollektiven Traumas weniger konsensuell.24 Im Fokus steht entweder das die Gemeinschaft bedrohende Ereignis selbst25 oder die für die Gemeinschaft notwendige identitätsstiftende Konstruktion der Traumaerzählung.26 Die Traumaforschung hat daher die Frage nach Resilienz und die Entstehung von Resilienzfaktoren stets im Blick gehabt. Allerdings geht es ihr nicht eigens um Resilienz. In ihrem Interesse steht das Trauma als Diagnose und damit folgerichtig der Umgang mit diesem. Resilienz gerät für sie deswegen dann in den Blick, wenn es um den Umgang mit traumatischen Ereignissen geht. So werden z.B. eine Wiedereingliederung in das gesellschaftliche Leben oder eine heilende, weil paradoxe Traumaerzählung als Resilienzphänomene beschrieben. Insofern wird das Erlangen von Resilienz als Überwinden der durch das traumatische Ereignis ausgelösten Folgen beschrieben und somit mit der Integration des traumatischen Erlebnisses in die Lebensgeschichte gleichgesetzt. Unterbestimmt bleiben hier aber sowohl die Genese als auch die Entstehung von Resilienzfaktoren selbst. Um aber die Resilienzfaktoren selbst in den Blick zu nehmen, ist es notwendig, den Begriff des Traumas durch den Begriff der Krise zu weiten, da nicht nur traumatische Ereignisse, sondern Krisenerfahrungen allgemein resiliente Reaktionen ausbilden, verstärken oder gar blockieren können.

III. Resilienzfaktoren und ihre Erweiterung In Abgrenzung zum Traumadiskurs ist daher an den gängigen Resilienzfaktoren sowie an deren Kritik und Erweiterung anzusetzen. Dazu ist erstens die Differenzierung der Resilienzfaktoren insgesamt in den Blick zu nehmen. Die in der Literatur weithin üblichen, in dieser oder ähnlicher Reihenfolge genannten, Resilienzfaktoren sind einerseits primär aktiv konnotierte Fähigkeitsbegriffe, d.h. an individuell zu erwerbenden Leistungen orientierte Begriffe wie angemessene Selbst- und Fremdwahrnehmung, positive Selbstwirksamkeitserwartung, soziale Kompetenz im Sinne der Fähigkeit, Konflikte lösen zu können, adäquater Selbstbehauptung, der Fähigkeit, Unterstützung einholen zu können, der Fähigkeit zu Selbstregulation und -steuerung; diese basieren auf subjektiver Autonomie sowie/bzw. auf der Fähigkeit, Herausforderungen an-

                                                             24

Vgl. BOASE/FRECHETTE, Defining „Trauma“, 8–10. Vgl. hierzu z.B. ERIKSON, KAI, A New Species of Trouble. Explorations in Disaster, Trauma, and Community, New York: W.W. Norton & Company 1994. 26 Vgl. z.B. ALEXANDER, JEFFREY C., Trauma. A Social Theory, Cambridge: Polity 2012. 25

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zunehmen und mit aktiven Bewältigungskompetenzen zu bearbeiten. Andererseits beziehen sich die Resilienzfaktoren auf eher mental und emotional bestimmte Reflexions- und Haltungsfaktoren [Arbeitsbegriff] wie Vertrauen, Kohärenz und Sinngebung sowie Religion und Spiritualität. Interessanterweise wird diese zweite Dimension bisher in den diagnostischen Fragebögen meist ohne die erforderliche religionsspezifische kategoriale Differenzierung und ebenso meist ohne eine hinreichend konkrete inhaltliche Bestimmung in einem Atemzug mit der ersten Dimension genannt, sodass bereits hier auffällig ist, dass die gänzlich unterschiedlichen subjektivitätstheoretischen und epistemologischen Begriffs- und Befähigungsperspektiven vergleichsweise wenig Beachtung finden. Während die erste Dimension der Resilienzfaktoren auf kompetenztheoretische Rezeptions- und Aktionsmuster bezogen ist, die sich noch sehr stark mit bio-psycho-sozialen Komponenten aufschlüsseln lassen und daher selbstverständlich der Analyse durch v.a. Neurowissenschaften, klinischer Psychologie und Soziologie bedürfen, erfordert die zweite Dimension eine eher kultur- und sinntheoretische, hermeneutische Analyse unter Einschluss historischer, philosophischer, psychologisch-therapeutischer, religions- und spiritualitätstheoretischer und theologischer Perspektiven, mit denen sich nicht nur die Begrifflichkeiten ändern, sondern auch Prämissen, Untersuchungsmethoden, Konsequenzen methodischer Praxis und wissenschaftlichen Outputs sowie der Transferbereiche. Um die Resilienzfaktoren daher differenzierter erfassen zu können, sind sie auf ihre Funktionalität, Dysfunktionalität und A-Funktionalität von Resilienzfaktoren zu befragen: Die primär aktiv konnotierten Befähigungs-/Fähigkeitsbegriffe, die primär an individuell zu erwerbenden Leistungen orientiert sind, sind ohne Zweifel wertvolle und relevante Resilienzfaktoren. Sie haben im täglichen Leben bestimmte Funktionen bzw. sind mit bestimmten Funktionen verbunden, ohne die wir weder in individueller Selbstbestimmung noch in kollektiver Gemeinschaft mit dem nötigen Gemeinsinn leben könnten. In klinischer Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie wird freilich jeweils nicht nur die Funktionalität, sondern auch die durch zu hohe oder zu niedrige Intensität beeinträchtigte oder gar gestörte Funktionalität bearbeitet, die bis zur komplexen Dysfunktionalität reichen kann. Wenn in bestimmten psychischen Erkrankungen wie z.B. Borderline-Störungen oder Schizophrenie keine Kohärenz der eigenen Selbst- und Fremdwahrnehmung hergestellt werden kann, ist deren Funktionalität freilich nicht nur unter dem Aspekt einer zu behebenden Störung zu bearbeiten, sondern auch unter dem Aspekt der Sortierung, Sondierung und Justierung anderer Funktionalitäten. Denn das, was als „normale“ Funktionalität gilt, ist erstens nicht per se die „beste“ Funktionalität und zweitens nicht eine selbstverständlich gegebene, eindeutig zu definierende Funktionalität. In der Konsequenz bedeutet dies das vorsichtige interdisziplinäre Ausloten des Spektrums spezifischer Funktionalitäten und Dysfunktionalitäten in krisenhaf-

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ten Lebenserfahrungen. In diesem Zusammenhang ist dann die mit dem Vulnerabiltätsbegriff verbundene Diskussion kritisch einzubeziehen.27 So hat Jochen Sautermeister darauf aufmerksam gemacht, dass sich „lebensweltlich betrachtet daher weder die Resilienzdiskurse noch Resilienzpraktiken ohne die Kategorien der Vulnerabilität und der Hoffnung begreifen“ lassen28 und dafür plädiert „Resilienz als eine vulnerabilitätsbewusste und krisensensible Perspektive für Identitätsbildung und Identitätsarbeitsfähigkeit“29 zu begreifen. Dies gilt umso mehr als den primär aktiv konnotierten Leistungsbegriffen der Resilienzfaktoren aus religiös-spiritueller Perspektive eine Vielzahl mediopassiver und passiver Faktoren an die Seite gestellt werden müssen, weil die Funktionalität zahlreicher religiös-spiritueller Vorstellungen, Haltungen und Handlungen nicht in der Steigerung aktiver und autonomer Befähigung besteht, sondern umgekehrt im (stufenlos dosierbaren) Abgeben dieser Befähigung: Das Gebet ist z.B. zwar eine aktive Handlung und Haltung, die eine konkrete lebenspraktische Funktion im Leben der Gläubigen erfüllt, z.B. danken, loben, bitten, klagen etc., seine Pointe besteht aber darin, das Lebensgeschick in beglückenden wie bedrückenden oder gar quälenden Erfahrungen an Gott als höhere, übergeordnete und auf keine Funktion zu reduzierende Kraft abzugeben. Auch das Bewusstsein für die Schöpfung als das Leben einfassenden kosmologischen Rahmen, der Anfang und Ende, Licht und Finsternis, Heil und Unheil in sich enthält, kann als Referenz dienen für die im letzten Sinne aufgehobene menschliche Funktionalität. Diese steht gerade nicht den individuellsozialen Verantwortlichkeiten des Menschen und seiner evolutionär zu verstehenden Einbettung in die Natur gegenüber, sondern ist hinzutretender Ausdruck dankbaren Empfangens, gestaltenden Handelns sowie hoffender Akzeptanz. Der besondere „Witz“ an dieser Art des „Abgebens nach oben“ besteht schließlich darin, dass die mit dem Gottesnamen verbundene Instanz ihrerseits strikt a-funktional vorgestellt und gedacht wird. Nur unter Wahrung der strikten A-Funktionalität Gottes kann die religiöse Beziehung zu Gott im Christentum eine für das individuelle Leben funktionale, z.B. tröstende, Rolle spielen.30

                                                             27 Vgl. FUCHS, THOMAS, Existenzielle Vulnerabilität. Ansätze zu einer Psychopathologie der Grenzsituationen, in: Sonja Rinofner-Kreidl/Harald A. Wiltsche (Hg.), Karl Jaspers’ Allgemeine Psychopathologie zwischen Wissenschaft, Philosophie und Praxis, Würzburg: Königshausen u. Neumann 2008, 95–107. 28 SAUTERMEISTER, JOCHEN, Resilienz zwischen Selbstoptimierung und Identitätsbildung, in: MThZ 67/3 (2016), 209–223, 212. 29 Vgl. dazu ausführlicher SAUTERMEISTER, Resilienz, 217–220. 30 Vgl. hierzu OPALKA, KATHARINA, „Das Geheimnis des religiösen Menschen vor sich selbst“. Die Demut als Vollzug des Reiches Gottes – eine narrativitäts- und performativitätstheoretische Relecture Albrecht Ritschls, Diss. Univ. Bonn, eingereicht im September 2019.

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IV. Herausforderungen für die Zusammenarbeit in der Theologie Der Resilienzbegriff ist sicherlich kein quellensprachlicher Begriff und kann daher nicht umstandslos in die jüdisch-christlichen Schriften und Traditionen eingezeichnet werden.31 Jede einfache „Übersetzung“ und Inanspruchnahme antiker Traditionen als Vorläufer oder gar Vormodell des heutigen Resilienzbegriffs ist eine unsachgemäße Verkürzung. Sehr wohl möglich ist aber die Analyse zentraler Traditionstexte auf die in ihnen artikulierte Spannbreite von institutionalisierter Religion, individueller Religiosität und ggf. freieren Formen von Spiritualität. Das in der christlichen Theologie an zentralen Texten entwickelte, wissenschaftstheoretisch fundierte und religionskritische Reflexionsraster macht ja erst das Potential der Analyse gegenwärtiger religiöser und spiritueller Bedürfnisse und Dynamiken deutlich. Dazu bedarf es allerdings der Analyse konkreter Vorstellungen und religiöser Artikulationen, normativer und identitätsstiftender Narrative, Traditionen und Riten in Religion (eine Gemeinschaft, die Traditionen, Riten und Texte teilt) und Spiritualität (dynamische, hybride und fluide Prozesse der Selbstvergewisserung im Horizont des Gesamt des Lebens, die religiös und nicht-religiös beschrieben werden können). Diese dürfen zudem nicht einfach unkritisch und normativ postulierend gelesen werden, sondern müssen methodisch korrekt und hermeneutisch-kritisch auf die darin verarbeiteten religiös-spirituellen und theologischen Narrative, Prämissen und dogmatischen Normativitäten befragt werden. Aus alttestamentlicher Sicht ist daher zu fragen, welche Funktion den alttestamentlichen Texten im Resilienzdiskurs zukommt. David Carr32 hat die Literaturproduktion des Alten Testaments insgesamt als Verarbeitung von politischen Krisen, insbesondere des babylonischen Exils, begriffen. Resilienz wird in diesem Kontext als das Überwinden der Krise durch die literarische Bearbeitung der eigenen Traditionen sowie einer Neuausrichtung der identitätsstiftenden Überlieferungen verstanden.33 Allerdings lassen sich bei einem solchen pauschalen Zugriff auf die biblische Überlieferung die oben dargelegten entscheidenden Fragen nach der Bestimmung von Resilienzfaktoren sowie ihrer Entstehung und Wirkung nicht einholen. Daher ist die These von David Carr durch die exegetische Auseinandersetzung mit den jeweiligen Texten selbst zu

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Vgl. hierzu CARR, DAVID M., Holy Resilience. The Bible’s Traumatic Origins, New Haven: Yale University Press 2014 und SEDMAK, Innerlichkeit und Kraft, 2013. 32 Vgl. CARR, Holy Resilience. 33 Vgl. DIETRICH, JAN, Trauma and Traumatization in Individual and Collective Dimensions. Insights from Biblical Studies and Beyond, in: Eve-Marie Becker/Jan Dochhorn/Else K. Holt (Hg.), Trauma and Traumatization in Individual and Collective Dimensions. Insights from Biblical Studies and Beyond (Studia Aarhusiana Neotestamentica 2), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014, 145–161 sowie DUBOVSKÝ, PETER/MARKL, DOMINIK/SONNET, JEAN-PIERRE (Hg.), The Fall of Jerusalem and the Rise of the Torah (FAT 107), Tübingen: Mohr Siebeck 2016, 6.

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prüfen. Zu fragen ist also, ob und inwiefern alttestamentliche Texte als Resilienznarrative beschrieben werden können. Denn nicht jeder alttestamentliche Text, der eine Not schildert, muss zwangsläufig ein Resilienznarrativ darstellen. Deswegen wird es notwendig sein, mit Hilfe historischer, exegetischer und literaturwissenschaftlicher Methodik Kriterien zu erarbeiten, um Resilienz-relevante Narrative ausweisen und von nicht-Resilienz-relevanten Narrativen unterscheiden zu können. Für diese Frage ist zunächst der Begriff „Narrativ“, wie er hier verwendet wird, zu schärfen. Dabei ist der Begriff des „Narrativ“ als ein heuristischer Begriff im Spannungsfeld von Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaft auszudifferenzieren. In Anlehnung an die Erzählforschung (z.B. Koschorke, Mauz/Peng-Keller)34 werden mit dem Begriff „Narrativ“ auf einer elementaren Ebene Erzählschemata bezeichnet, die als generalisierende Schemabildungen und textuelle Tiefenstrukturen das mündliche oder schriftliche Erzählen von Resilienzerfahrungen leiten. Diese Schemata sind genauer als sinnstiftende und die Resilienzerfahrung systematisierende bzw. evaluierende Erzählformulare zu bestimmen, die unterhalb der Erzähloberfläche von narrativen Texten im weitesten Sinne liegen. Sie sind in den unterschiedlichsten Gattungen von tradierten und/oder spontanen Selbst- und Fremdnarrationen, meditativen und argumentativen (Selbst-)Reflexionen, Gebeten, liturgischen Gesängen, mündlichen Äußerungen in Gesprächen, Interviews etc. zu finden. Ihre Orientierungsleistung liegt zunächst im Zur-Sprache-Bringen des erlebten Leids, womit eine Reinterpretationen der Krisenerfahrung möglich wird, sodass ein Spannungsfeld von Optionen des Aushaltens bis hin zu Optionen des Gestaltens der Ohnmachtserfahrungen entsteht. Vom Begriff des Narrativs ist der Begriff der Narration zu unterscheiden. Er stellt den weitergehenden Begriff dar. Dabei ist „der Begriff ‚Erzählung‘/‚narration‘ kein fest definierter Gattungsbegriff. Vielmehr variiert die

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Vgl. KOSCHORKE, ALBRECHT, Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie, Frankfurt a.M.: Fischer 32012 sowie in Abgrenzung die stärker vom Strukturalismus beeinflussten narratologischen Konzepte von HUBER, MARTIN/SCHMID, WOLF (Hg.), Grundthemen der Literaturwissenschaft. Erzählen, Berlin: de Gruyter 2018 oder SCHMID, WOLF, Elemente der Narratologie, Berlin u.a.: de Gruyter 22008. Vgl. darüber hinaus den Überblick NÜNNING, ANSGAR/NÜNNING, VERA (Hg.), Neue Ansätze in der Erzähltheorie (Handbücher zum literaturwissenschaftlichen Studium 4), Trier: WVT 2002. Zur Frage nach Narratologie und antiken Texten vgl. DE JONG, IRENE J. F., Narratology and Classics. A Practical Guide, Oxford: Oxford University Press 2014 sowie SCHMITZ, THOMAS A., Moderne Literaturtheorie und antike Texte. Eine Einführung, Darmstadt: WBG 2 2006. Zur Diskussion um Resilienz relevante Narrative vgl. MAUZ, ANDREAS/PENG-KELLER, SIMON (Hg.), Sterbenarrative. Hermeneutische Erkundungen des Erzählens am und vom Lebensende (Studies in Spiritual Care 4), Berlin: de Gruyter 2018.

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Definition von ‚Erzählung‘/‚narration‘ je nach Autor und Theorie“35. Daher ist die minimalistische Definition von Mieke Bal: „A text is a finite, structured whole composed of language signs ... a narrative text is a text in which an agent relates (‚tells‘) a story in a particular medium“36 eine hilfreiche Orientierung. Unter Narration ist die konkrete Ausgestaltung eines Narrativs in einem Text bzw. einer Selbsterzählung zu verstehen. D.h. die Narration variiert, transformiert und verändert ein Narrativ je nach ihren kulturellen, sozialen etc. Bedingungen. Ebenso ist umgekehrt die Narration von den sie bestimmenden Narrativen geprägt, d.h. es gibt keine Narration, die völlig frei wäre von expliziten oder impliziten Narrativen. Seine Bedeutung, die die inhaltliche Seite des Textes sowie das Verstehen impliziert, kann eben nicht von der Frage nach seiner Funktion für situativ unterschiedliche Kontexte abstrahiert werden. Dabei ist nun auffallend, dass sich diese Frage nach der Funktion des Textes im Bereich der Literaturwissenschaften kaum findet.37 Anders hingegen sieht es in den poststrukturalistischen Ansätzen aus. Hier ist mit Ansgar Nünning festzuhalten, dass „das Narrative nicht bloß eine literarische Form, sondern ein kognitiver Modus der Selbst- und Wirklichkeitserfahrung sowie der kulturellen und sozialen Wirklichkeitskonstruktion ist.“38 Dieses vor allem in den poststrukturalistischen Ansätzen formulierte Bewusstsein für die Bedeutung von Narrativen für die kulturellen und sozialen Wirklichkeitskonstruktionen wird in den kulturwissenschaftlichen Ansätzen diskutiert. Insofern können Narrative also literaturwissenschaftlich nach ihren Erzählpragmatiken sowie kulturwissenschaftlich nach ihren Funktionen für die Kommunikationsgemeinschaft befragt werden.39 Mit Norman Ächtler sind Narrative aus ihren soziokulturellen und historischen Kontexten heraus funktional zu begreifen, indem sie im Rahmen von Kommunikationsprozessen auf die Stiftung individueller und kollektiver Narrativität zielen.40 Dabei stiften sie Kohärenz von kontingenten Wirklichkeitserfahrungen und ermöglichen somit diese zur Sprache zu bringen und damit zu deuten. Für die Frage nach den Resilienznarrativen im Alten Testament ist daher entscheidend, Texte nicht auf

                                                             35 Vgl. hierzu PRINCE, GERALD, A Dictionary of Narratology, Lincoln/London: University of Nebraska Press 1987, 57–60. 36 BAL, MIEKE, On Story-Telling. Essays in Narratology, Sonoma CA: Polebridge 1991, 5. 37 Vgl. zu einer kritischen Auseinandersetzung des Narrativbegriffs STRUVE, KAREN, Wildes Wissen in der „Encyclopédie“. Koloniale Alterität, Wissen und Narration in der französischen Aufklärung. Berlin/Boston: de Gruyter 2020. 38 NÜNNING, ANSGAR, Wie Erzählungen Kulturen erzeugen. Prämissen, Konzepte und Perspektiven für eine kulturwissenschaftliche Narratologie, in: Alexandra Strohmaier (Hg.), Kultur – Wissen – Narration. Perspektiven transdisziplinärer Erzählforschung für die Kulturwissenschaften, Berlin: Transcript 2013, 15–35, 33. 39 Vgl. hierzu OPALKA, Geheimnis. 40 ÄCHTLER, NORMAN, Was ist ein Narrativ? Begriffsgeschichtliche Überlegungen anlässlich der aktuellen Europa-Debatte, in: KulturPoetik 14/2 (2014), 244–268, 259.

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ihre formale Beschaffenheit zu reduzieren, sondern Narrative über ihre Funktionalität in ihren multiplen Kontexten, wie z.B. den historischen, kulturellen und wirkungsgeschichtlichen, zu erfassen.41 Als ein Beispiel für Resilienznarrative im Alten Testament können die Klagepsalmen betrachtet werden, da an ihnen ein literarisches und damit bereits reflektiertes und paradigmatisches Beispiel für das Spannungsfeld von Aushalten und Gestalten von Ohnmachtserfahrungen aufgezeigt werden kann. Als Gebetstexte inszenieren sie paradigmatisch eine Kommunikationssituation akuter Not, in der das Sprecher-Ich sich Hilfe suchend an die Gottheit wendet. Inhaltlich bieten die Klagegebete ein äußerst reichhaltiges und bis in die Gegenwart ungebrochenes attraktives Reservoir in Form und Inhalt, indem sie ermöglichen, die Sinnlosigkeit des Erlebten zur Sprache zu bringen.42 Dabei ist hervorzuheben, dass die Sprache der Klage vielschichtig ist. In ihr wird noch die Unmittelbarkeit der Krisenerfahrung durch emotionale Ausdrücke, wie z.B. das Schreien (z.B. Ps 22,3), als auch durch die Not reflektierende Deutungen (Ps 22,5f) zum Ausdruck gebracht. Daher wird im Klagen ein Prozess freigesetzt, in dem das Ringen um Lebenssinn narrative Kohärenz erzeugt. Dies geschieht vor allem durch die Spannung zwischen den Klagen und der Notschilderung einerseits sowie dem in der Vergangenheit formulierten Vertrauensbekenntnis meist am Ende des Gebets andererseits. Auf diese Weise sind die Klageelemente und die Notschilderung als Rückblick auf die Krise gestaltet (Rechberger).43 Inszeniert wird somit im Prozess der Klage die Transformation des Sprecher-Ichs durch die Krise hindurch, in dem ein Ringen um Sinn und

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Vgl. hierzu weiter KOSCHORKE, Wahrheit und Erfindung, 111–202. Vgl. SCHMIDT, JOCHEN, Seelische Krankheit und Klage. Vom Denken und Bewältigen des Leidens an der Zeit, in: Michael Roth/Jochen Schmidt (Hg.), Gesundheit. Humanwissenschaftliche, historische und theologische Aspekte (Theologie – Kultur – Hermeneutik 10), Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2008, 127–147, JANOWSKI, BERND, Das erschöpfte Selbst. Zur Semantik der Depression in den Psalmen und im Ijobbuch, in: Johannes Schnocks (Hg.), „Wer lässt uns Gutes sehen?“ (Ps 4,7). Internationale Studien zu Klagen in den Psalmen. Zum Gedenken an Frank-Lothar Hossfeld (HBS 85), Freiburg i.Br.: Herder 2016, 95–143, FRECHETTE, CHRISTOPHER G., A Healing Function of the Violent Language against Enemies in the Psalms, in: Eve-Marie Becker/Jan Dochhorn/Else K. Holt (Hg.), Trauma and Traumatization in Individual and Collective Dimensions. Insights from Biblical Studies and Beyond (Studia Aarhusiana Neotestamentica 2), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014, 71–84, MANDOLFO, CARLEEN, Psalm 88 and the Holocaust: Lament in Search of a Divine Response, in: Bibl.Interpr. 15/2 (2007), 151–170. FLESHER, LEANN S./DEMPSEY, CAROL J./BODA, MARK J. (Hg.), Why?... How Long? Studies on Voice(s) of Lamentation Rooted in Biblical Hebrew Poetry (Library of Hebrew Bible/Old Testament Studies 552), New York u.a.: Bloomsbury T&T 2014. 43 Vgl. RECHBERGER, UWE, Von der Klage zum Lob. Studien zum „Stimmungsumschwung“ in den Psalmen (WMANT 133), Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 2012. 42

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Kohärenz der Lebensgeschichte deutlich wird.44 Diese vor allem in den Klagen zum Ausdruck gebrachte narrative Selbstdarstellung des paradigmatischen Sprecher-Ichs eröffnet eine identitätsvergewissernde und auch identitätsformierende Selbst- und Weltwahrnehmung im Ringen um die Sinnhaftigkeit des erfahrenen Leids. Damit wird insbesondere durch die Ausdrucksform der Klage ein Perspektivwechsel auf die Not eröffnet, um die Krisenerfahrung in das Selbstbild integrieren zu können. Somit liegt das resilienzrelevante Potential der Klage darin, dass ein Ringen um Sinn und Kohärenz ermöglicht wird, sodass bisher fremde Perspektiven und Haltungen auf die eigene Situation eingenommen werden können. Insofern können im Klagegebet Ressourcen zur Reinterpretation der eigenen Notsituation aktiviert werden. In diesem Sinn sollte die Frage nach Resilienznarrativen im Alten Testament auf der Rostocker Tagung weiter konkretisiert werden. Dazu ist es notwendig, die Verschiedenheit der alttestamentlichen Literaturen ebenso zu berücksichtigen wie unterschiedliche methodische Zugänge zu erproben. Die vorliegenden Beiträge setzten dabei an unterschiedlichen methodischen und hermeneutischen Zugängen an. Vier Problemhorizonte treten hier in den Vordergrund, um der Frage nachzugehen, ob und inwiefern Resilienznarrative im Alten Testament beschrieben werden können. Dabei handelt es sich erstens um den Resilienzdiskurs und die Frage nach den Definitionen von Resilienz für die alttestamentlichen Texte, wie sie in den Beiträgen von Christian Frevel und Friedhelm Hartenstein im Mittelpunkt stehen. Dabei setzt der Beitrag von Christian Frevel bei einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Resilienzdiskurs selbst an und entwickelt von dort eine produktive Rezeption der Resilienzmetapher für die Psalmen. Den Psalter beschreibt Frevel als „Schule der Resilienz, die im Vollzug die textuelle Ressource, die stilisierten paradigmatischen Zeugnisse fremder Resilienz, tradiert und reflektiert sowie zur Quelle der eigenen Resilienz transformiert.“ (S. 230) Friedhelm Hartenstein setzt bei der Resilienzkritik an, um die Frage nach der Bewältigung des unerklärlichen Leids in den Psalmen 6, 13 und 22 vor dem Hintergrund der kulturwissenschaftlichen Debatte um den Umgang mit Nichtsinnhaftem so zu entfalten, dass Resilienz als Interpretationskategorie für alttestamentliche Texte stets im Kontext ihrer unauflösbaren Spannung zum Trauma zu betrachten sei. Die von ihm untersuchten Psalmen zeigen eine „intellektuelle Bearbeitung der Gottesnot in nachexilischer Zeit im Rahmen des schöpfungstheologischen Monotheismus“ auf, indem unter Verzicht auf den Schuld-Strafe-Zusammenhang „die Sprach- und Handlungsmacht der Leidenden zur Probe auf das Sinnversprechen“ werden, dass nur ein Gott ist, der allein

                                                             44 LOTTES, GÜNTHER, Erinnerungskulturen zwischen Psychologie und Kulturwissenschaft, in: Günter Oesterle (Hg.), Erinnerung, Gedächtnis, Wissen. Studien zur kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung (Formen der Erinnerung 26), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005, 163–184.

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auf den Schrei der Leidenden reagieren kann. „Thauma ‚Wunder‘ und Trauma ‚Wunde‘ heben einander nicht auf.“ (S. 197). Zweitens tritt die Narratologie als Methode in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung. Auf der Basis narratologischer Methodik geht Beate Ego der Frage nach, wie die Tobit Erzählung als Resilienznarration verstanden werden kann, indem die individuelle als auch kollektive Resilienzressource mit einem elaborierten Set von literarischen Mitteln als Identifikationspotential präsentiert wird. (S. 336) Zudem diskutiert Ego die narratologisch entscheidende Differenz zwischen der Tobiterzählung als Resilienznarration und dem der Erzählung zugrunde liegenden Narrativ, wobei sie letzteres als das Grundvertrauen auf Gottes helfende Kraft beschreibt, die denen zuteilwird, die sich ihrerseits durch einen integren Lebenswandel auszeichnen. Andreas Wagner fragt ähnlich wie Beate Ego nach den identifikationsstiftenden Aspekten, durch die Beter bzw. Leser durch die Rezeption des Textes eine resilienzstärkende Wirkung erfahren. Dazu untersucht Wagner den Richtungswechsel der Sprachhaltung (Du-Ich-Er-Rede), wodurch resilienzstärkende Dimensionen der Texte eröffnet werden. Der Beitrag von Ute Neumann-Gorsolke setzt bei den Erzählstrategien an. Sie zeigt auf, wie am Beispiel der Erzählung vom Brudermord in Gen 4 mittels Erzählstrategien und Figurenkonstellationen die Inszenierung von Krisen, Scheitern und Möglichkeiten ihrer Überwindung entfaltet werden. Augenmerk liegt auf dem in der Klage formulierten reflexiven Moment der eigenen Lebenssituation, in der diese in all ihrer Negativität zum Ausdruck gebracht werden kann, wodurch ein resilienter Umgang mit der Krise eröffnet wird. Auch Stephanie Wodianka geht in ihrem Beitrag der Frage nach, inwieweit das Erzählen selbst in Voltaires Candide eine aufgeklärte Resilienzstrategie darstellt. Dabei hebt sie drei Aspekte hervor. Erstens macht das intradiegetische Erzählen selbst widerständig, ist ein Ausdruck gegen die eigene Ohnmacht und eröffnet eine Perspektive die eigene Leidens-Sicht zu relativieren. Zweitens entsteht Resilienz darüber hinaus auch durch die Rezeption des Erzählten, indem die Leser das Erzählte mit ihrer außerliterarischen Wirklichkeit verknüpfen und drittens denkt das Erzählen das Persönlichkeitsideal der Sensibilité des 18. Jahrhunderts mit. Drittens setzen die Beiträge bei dem Verständnis von Resilienz als Krisenphänomen an und erproben die literarische Ausgestaltung des Spannungsverhältnisses von Aushalten und Gestalten an den Texten. Bernd Janowski entfaltet in diesem Sinn das Resilienzpotential von Ps 22, indem er der Grundfrage nachgeht, wie der Angst von Gott verlassen zu sein, widerstanden werden kann. Dazu profiliert er im Wesentlichen drei Aspekte. Fokussiert werden a) die Anthropologie der Klage, durch die radikal die Leiderfahrung zur Sprache gebracht werden kann, b) der Akt der Erinnerung, durch den im Rekurs auf die Heilsgeschichte und die eigene Geburt, die konkrete Krise in einen übergeord-

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neten kollektiven Horizont eingeordnet werden kann, c) das Wunder der Rettung und das Vertrauensbekenntnis als Weg aus der Krise, das im Text angelegt ist und als antizipierendes Faktum in Erscheinung tritt. Der Beitrag von Martin Rösel widmet sich dem Phänomen des Übersetzens von Psalmen im LXX-Psalter als ein resilienzbefördernder Vorgang, indem er ein hermeneutisches pattern profiliert, durch das die Zuversicht auf Gottes Eingreifen und heilvolle Gegenwart im Übersetzungsvorgang verstärkt und ausdifferenziert wird, während gleichzeitig Aussagen gemieden werden, die Gottes Nähe in Frage stellen oder negative Taten mit ihm verbinden. (S. 285) Durch diese Verstärkung der positiven Elemente des Gottesbildes kann der griechische Psalter als sekundäre Aktivierung der Ressourcen zur Interpretation eigener Notsituationen verstanden werden. Auch der Beitrag von Alexandra Grund-Wittenberg setzt beim Gottesbild an. Ihr geht es anhand von Beispielerzählungen aus dem Exodusbuch (Ex 2,23– 25: auf dem Weg zum Dornbusch; 3,7–10: Offenbarung am Dornbusch; 6,2– 8: Erkenntnis Gottes im bundestheologischen Horizont) darum, Empathie als Resilienzfaktor herauszustellen. Diese Texte versteht sie als Beispieltexte für ein empathisches Gottesbild, in denen das Hinsehen, Hören, Kennen und Verstehen Gottes in Krisensituationen so artikuliert wird, dass sich im Rezipieren des Erzählten das Wissen um die Zuverlässigkeit, und Vertrauenswürdigkeit, aber auch zugleich die Unverfügbarkeit des rettenden Gottes konkretisiert und für die eigene Gegenwart öffnet. Christopher Frechette untersucht Dimensionen von Resilienz im entstehenden Großjesajabuch am Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr. aufgrund der Kompositionsstruktur und Semantik, durch die lebensfeindliche Grundannahmen zerstreut und durch lebensdienliche ersetzt werden. In diesem Zusammenhang bieten die Knechte eine Identitätsfigur für die Rezipienten, indem sie ihre rituellen und ethischen Visionen eines von der Gerechtigkeit JHWHs bestimmten Gemeinwesens als Gegenentwurf zur erlebten Realität inszenieren. Ihrer eigenen erlebten politischen und sozialen Ohnmachtserfahrung setzen sie das ambivalente Gottesbild im Jesajabuch entgegen, das JHWH als einzigwirkmächtig, und zwar sowohl strafend und gewalttätig als auch als mitfühlend und zugewandt zeichnet. Der Beitrag von Michaela Bauks setzt ebenfalls im Jesajabuch an und profiliert das Geburtsmotiv als metaphorisches Miniaturwerk eines Resilienznarrativs, da es die Spannung von Überwinden und Aushalten der individuellen Krise als Metapher einer kollektiven Krise abbildet und Gott zugleich als mächtiger Krieger und in mütterlicher Liebe zugewandt auftritt. Dabei bleibt die Haltung der Rezipienten nicht rein passivisch. Vielmehr ist sie als mediopassivisch in dem Sinn zu beschreiben, dass durch die Vergegenwärtigung des Geburtsmotivs die Vertrauensgewissheit in die Zukunft wiedergewonnen werden kann, aber auch muss.

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Martina Kumlehn richtet aus religionspädagogischer Sicht den Blick auf die Exoduserzählung. Dabei geht es ihr um die Ausbildung einer narrativen Identität durch Perspektivwechsel, indem im Geflecht der lebensdeutenden Erzählungen eines anderen die Möglichkeiten des eigenen In-der-Welt-Seins erweitert, kritisch in Frage gestellt werden und zu einer Umerzählung des eigenen Lebens anregen. (S. 410) So können Bildungsprozesse eine Verschränkung biografischer, literarischer und biblischer Erzählkontexte zum Thema Flucht und der darin gesetzten Grunderfahrung in einem vielstimmigen Resonanzraum zum Ausprobieren neuer Deutungs- und Wahrnehmungsmodi anregen. Lennart Lehmhaus geht der Frage nach Resilienz-relevanten Antworten auf kollektive wie individuelle Krisenerfahrungen in der rabbinischen Literatur nach und zeichnet hier ein vielgestaltiges Bild. Die einzelnen Erzählungen changieren zwischen dem Leben mit der Krankheit als bedingungsloses Aushalten und dem aktiven Gestalten des Leidens. Dabei ist den untersuchten Episoden gemeinsam, dass sie beschreiben, wie Austausch, Kommunikation und die Begegnung zentral für die Integration der Leid- und Krisenerfahrung in den breiteren Kontext sozialer, kultureller und religiöser Interaktionen sind, die selbst wichtige Resilienzressourcen darstellen. (S. 382)

Viertens schließlich wird die Verhältnisbestimmung zwischen den beiden Interpretationskategorien Resilienz und Trauma diskutiert. Christl Maier lotet dazu in ihrem Aufsatz zu den Klagen im Jeremiabuch eine kritische Verhältnisbestimmung zwischen den beiden Intepretationskategorien Resilienznarrativ und Traumaliteratur aus, indem sie die Klagediskurse im Jeremiabuch mit den Klagen des Psalters ins Gespräch bringt. Insgesamt bewertet sie das Jeremiabuch als „Meistererzählung über ein kulturelles Trauma“ des Exils, die die Wunden des Verlustes bewusst offenhält, während es gerade Aufgabe eines Resilienznarrativs wäre, die Wunden zu schließen und die Leserschaft in eine Distanzierung von der Krise und in ihre Bearbeitung einzuüben. Zugleich aber profiliert sie in den Klagediskursen des Jeremiabuches ein Resilienzpotential, das zum einen in der Notschilderung selbst liegt. Zum anderen wird in der Deutung der Katastrophe der strafende Gott durch das Mitleiden Gottes ergänzt, sodass ein Festhalten an der Gottesbeziehung sowie eine Heilung des Leids zumindest implizit intendiert ist. Anja Klein bearbeitet anhand des Ezechielbuches ebenfalls die Frage nach der Verhältnisbestimmung von Traumaliteratur und Resilienznarrativ, indem sie anhand der literarischen Entwicklung des Ezechielbuchs einen Umgang mit der Krise nachzeichnet. Dazu setzt sie bei den Restaurationshoffnungen am Buchende an und profiliert anhand der von Sedmak herausgestellten Aspekte für eine epistemische Resilienz, „Denken, Erinnern und Glauben“, eine literarische Bearbeitung des Traumas durch die Transformation der eigenen prophetischen Tradition, wie die Rückkehr JHWHs, der neue Bund oder die Tempelvisionen.

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Die Bedeutung der feministischen Hermeneutik von Klagepsalmen für den Umgang mit Leidenserfahrungen entfaltet Amy Cottrill am Beispiel von Ps 102. Ihr Ausgangspunkt ist die Traumaforschung, vor deren Hintergrund sie die verkörperten Leidenserfahrungen im Kontext der den Psalmen zugrundeliegenden patriarchalen Umwelt ausführt. Der starke Fokus auf Körperlichkeit, auf enfleshed selfhood, ermöglicht den Leidenden selbst eine Sprache ihrer Verletztheit und damit eine Deutungshoheit über ihren Körper. Sie spricht daher von einem kreativen Resilienzpotential dieser Psalmen, das in der Ambivalenz einer Hermeneutik des Verdachts und der Ermöglichung, das eigene Leid zur Sprache zu bringen, besteht. Jan Dietrich eruiert in seinem Beitrag Formen der Resilienz im Buch Levitikus als Überwindung von Krisen und Widrigkeiten durch die eigenen Gesundungskräfte, sodass gerade kein Trauma entsteht. Diese sieht er im Ästhetisieren, in der Moralisierung der Gemeinschaft durch die Funktion von identitätsstiftenden Geboten sowie in gesellschaftlichen und individuellen Krisenritualen (Lev 18–20), die Schuld oder Widrigkeiten mit ritueller Erkenntnisund Handlungskompetenz begegnen (Lev 4–5; 12–16, 26). Mit diesem Tableau unterschiedlicher methodischer und hermeneutischer Zugänge sowie der unterschiedlichen Literaturen zeigen die Beiträge auf, wie die zum Teil fiktionalen und hochgradig bildhaften religiösen Texte den Umgang mit der Krise inszenieren und sich im Spannungsfeld von Aushalten und Gestalten ihre Potentiale und Grenzen als Resilienznarrative entfalten.

Literaturverzeichnis ÄCHTLER, NORMAN, Was ist ein Narrativ? Begriffsgeschichtliche Überlegungen anlässlich der aktuellen Europa-Debatte, in: KulturPoetik 14/2 (2014), 244–268. ALEXANDER, JEFFREY C., Trauma: A Social Theory, Cambridge: Polity 2012. ANTONOVSKY, AARON, Health, Stress and Coping, San Francisco: Jossey-Bass 1979. BAL, MIEKE, On Story-Telling. Essays in Narratology, Sonoma CA: Polebridge 1991. BECKER, EVE-MARIE/DOCHHORN, JAN/HOLT, ELSE K. (Hg.), Trauma and Traumatization in Individual and Collective Dimensions. Insights from Biblical Studies and Beyond (Studia Aarhusiana Neotestamentica 2), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014. BECKER, EVE-MARIE, ‚Trauma Studies‘ and Exegesis. Challenges, Limits and Prospects, in: Dies./Jan Dochhorn/Else K. Holt (Hg.), Trauma and Traumatization in Individual and Collective Dimensions. Insights from Biblical Studies and Beyond (Studia Aarhusiana Neotestamentica 2), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014, 15–29. BOASE, ELIZABETH/FRECHETTE, CHRISTOPHER G. (Hg.), Bible through the Lens of Trauma (Semia Studies 86), Atlanta: SBL 2016. BOASE, ELIZABETH/ FRECHETTE, CHRISTOPHER G., Defining „Trauma“ as a Useful Lens for Biblical Interpretation, in: Dies. (Hg.), Bible through the Lens of Trauma (Semia Studies 86), Atlanta: SBL 2016, 1–23. CARR, DAVID M., Holy Resilience. The Bible’s Traumatic Origins, New Haven: Yale University Press 2014.

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Pentateuch

Kain in der Krise Überlegungen zum Verhältnis von Resilienz und Gewalt am Beispiel von Gen 4 Ute Neumann-Gorsolke Die Anfangskapitel der Genesis stellen als Eingangstor zu den Schriften der hebräischen Bibel/des christlichen Alten Testaments „nichts weniger als eine magna carta der biblischen Anthropologie“1 dar, denen eine kaum zu überschätzende Bedeutung beigemessen werden kann. Diese vielfältigen Geschichten sind mythologisch geprägte Narrative, die die Ambivalenzen des menschlichen Lebens von ihrem urzeitlichen Ursprung her zu verstehen suchen und von daher für die Gegenwart der Verfasserinnen „handlungsbegründend und -leitend“2 sein wollen. Dabei sind für den nicht-priesterlichen Erzählstrang (Gen 2−4; 6−9*) anthropologisch zugespitzte Krisengeschichten kennzeichnend, die Aspekte der conditio humana wie die Kenntnis von Gut und Böse und ihre ambivalente Auswirkungen für das menschliche Leben begründen3 und gleichzeitig in ihrer Steigerung4 die göttlich in Gang gesetzte Sintflut plausibilisieren. Die Geschichte vom Brudermord Kains in Gen 4 thematisiert die Erfahrung unerklärlicher Nicht-Anerkennung durch Gott als menschliche Identitätskrise,

                                                             1 JANOWSKI, BERND, Anthropologie des Alten Testaments. Grundfragen-Kontexte-Themenfelder. Mit Quellenanhang und zahlreichen Abbildungen, Tübingen: Mohr Siebeck 2019, 408. 2 HARTENSTEIN, FRIEDHELM, Das Ende als Anfang: Die biblische Sintfluterzählung, in: Hans-Joachim Simm, (Hg.), Aspekte der Bibel. Themen, Figuren, Motive. Freiburg i.Br./ Basel/Wien: Herder 2017, 48−64, hier: 50. 3 Vgl. dazu z.B. HARTENSTEIN, FRIEDHELM, „Und sie erkannten, dass sie nackt waren …“ (Gen 3,7). Beobachtungen zur Anthropologie der Paradieserzählung, in: EvTh 65 (2005), 277−293. 4 Vgl. JANOWSKI, BERND, Jenseits von Eden. Gen 4,1−16 und die nichtpriesterliche Urgeschichte (2003), in: Ders., Beiträge zur Theologie des Alten Testaments, Bd. 3: Der Gott des Lebens, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 2003, 134−155, hier: 153.

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Ute Neumann-Gorsolke

die Kain – offenbar unreflektiert (?) − durch tödliche Gewalt gegen seinen Bruder zu überwinden sucht. Erst die Konfrontation mit seiner Blutschuld und Verfluchung durch Gott nötigt ihn zur Reflexion seiner Lebenssituation und der Erkenntnis, dass er seine Schuld allein nicht mehr zu bewältigen vermag. Diese Selbsteinsicht mündet darin, dass Gott/JHWH ihm trotz Schuld eine, gegenüber den ersten Menschen geminderte, Lebensperspektive eröffnet.5 Damit kontrastiert Gen 4 m.E. unterschiedliche Ansätze der Krisenbewältigung, die den Menschen einmal in sich gefangen, zum anderen als Existenz coram Deo zeigen. Indem im Folgenden die Erzähl- und Handlungsstruktur von Gen 4 nachgezeichnet wird, soll im Kontext dieses Bandes ein Beitrag zu der Frage versucht werden, „in welcher Weise die zum Teil fiktionalen und hochgradig bildhaften religiösen Texte den Umgang mit der Krise inszenieren und sich im Spannungsfeld von Aushalten und Gestalten, d.h. von aktiv über mediopassivisch zu passiv, verorten lassen“6. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Gen 4 sich in seiner literarischen Form von schon vorliegenden Beispielen alttestamentlicher Resilienzforschung abhebt, weil hier menschliche Krisenerfahrung und ihre Bewältigungsstrategien nicht in Form eines selbstreflexiven Diskurses geschehen, der – wie z.B. Judith Gärtner es für Ps 22 anschaulich gemacht hat7 – als wiedergewonnene Sprachfähigkeit die differenzierte Wahrnehmung der persönlichen Not und die Kontextualisierung der eigenen Lebenssituation ermöglicht und auf diese Weise Anknüpfungspunkte für Vertrauen und Identität eröffnet. Sondern in Gen 4 liegt eine typische alttestamentliche Erzählung vor, die als „erzählte“ Handlung einerseits Gefühle und Beweggründe in Handlungen und Dialogen „ver-

                                                             5 Der anschließende Kainitenstammbaum zeigt dann die Kainiten als Städtebauer, Musiker und Schmiede – also als Kulturträger. 6 GÄRTNER, JUDITH/RICHTER, CORNELIA, Der (post-)moderne Begriff der Resilienz und die jüdisch-christliche Tradition, in: Judith Gärtner/Barbara Schmitz (Hg.), Resilienznarrative im Alten Testament (FAT 156), Tübingen: Mohr Siebeck 2022, 18. Vgl. auch RICHTER, CORNELIA, Einleitung: Ohnmacht und Angst aushalten. Zu Kritik und Ergänzung dominant aktiver Resilienzfaktoren, in: Dies. (Hg.), Ohnmacht und Angst aushalten. Kritik der Resilienz in Theologie und Philosophie (Religion und Gesundheit 1), Stuttgart: Kohlhammer 2017, 9−30, hier: 17. 7 GÄRTNER, JUDITH, Lebensstark aus der Klage. Traditionen der Hebräischen Bibel in der Perspektive von Resilienz am Beispiel von Ps 22, in: PrTh 51 (2016), 75−81.

Kain in der Krise

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steckt“ kommuniziert und andererseits durch die charakteristischen Leerstellen8 gerade ihre besondere Fokussierung erhält. Erzählstrategie und Figurenkonstellation des Textes zu untersuchen, sind daher für die Frage nach der „Inszenierung der Krise“ und dem Scheitern wie den Möglichkeiten ihrer Überwindung wesentlich.

I. Gen 4 − Eine anthropologische Krisengeschichte Gen 4 lässt sich in zwei Erzählbögen gliedern, die sich formal und inhaltlich unterscheiden: V. 1−8* entfalten in Form erzählter Handlung die Krise Kains, die mit der Tötung des Bruders endet, während die V. 9−15 im Dialog zwischen JHWH und Kain die Schuld und Verfluchung Kains thematisieren. In V. 16 bildet der Fortgang Kains den erzählerischen Abschluss. 1. Kains Krise (Gen 4,1−8*) Dieser erste Teil gliedert sich in die Exposition (V. 1−2), die „Krise“ (V. 3−5) und letztlich die Tötung der Bruders (V. 8b) als Reaktion Kains. Eingefügt ist in V. 6−8a die m.E. sekundäre Warnung JHWHs9, die diese Krise anthropologisch auf Kain zuspitzt und erzählerisch retardierende Funktion hat10.

                                                             8

Wie die Rezeptions- und Auslegungstradition zeigt, wurden diese Leerstellen, z.B. warum JHWH Kains Gabe nicht ansieht und woran Kain dies erkennt, sehr unterschiedlich mit Erklärungen gefüllt. S. dazu auch im Folgenden. 9 Die V. 6f. – und vielleicht auch der V. 8a (s. dazu GERTZ, JAN CHRISTIAN, Das erste Buch Mose [Genesis]. Die Urgeschichte Gen 1−11 [ATD 1], Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2018, 150 mit Anm. 4) gehören wahrscheinlich nicht zum Erstbestand (vgl. auch z.B. WESTERMANN, CLAUS, Genesis. Kap. 1−11 [BK I/1], Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 1974, 406–410; SCHÜLE, ANDREAS, Prolog der hebräischen Bibel. Der literar- und theologiegeschichtliche Diskurs der Urgeschichte [Gen 1−11] [AThANT 86], Zürich: Theologischer Verlag 2006, 195ff.), da sie einerseits den klaren Aufbau der Erzählung unterbrechen, und als Gottesrede eine Hinwendung zu Kain zeigen, die die Erzählung in diesem Teil gerade verneint. Andererseits ist diese Gottesrede aus ‚bekanntem Material‘ (V. 6 als Wiederholung von V. 5b in Frageform; V. 7b nimmt Gen 3,16 auf) und aus ‚kryptisch‘-komprimierter weisheitlicher Rede (V. 7a) geformt, die mit ‫ חטאת‬und ‫ רבץ‬singuläre Vokabeln/Vorstellungen in die Urgeschichte einführt. Dabei ist m.E. die Intention dieser Verse deutlich: Sie dienen der Warnung Gottes an Kain, die das Unbehagen, dass Gottes unerklärliche Haltung Anlass für Kains Tat ist, in den Hintergrund rückt, und die gleichzeitig, indem sie Kain Handlungsalternativen und deren Folgen vor Augen führt, Kains Tat schwerwiegender erscheinen lässt, da er ausdrücklich von Gott gewarnt worden war. S. zu V. 7a unten Anm. 13. 10 Vgl. JANOWSKI, Eden, 142.

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Ute Neumann-Gorsolke

Exposition (V. 1−2) 1 Und der Mensch, er erkannte Ewa, seine Frau, und sie wurde schwanger und sie gebar den Kain (Qayin), und sie sagte: Ich habe erworben/erschaffen einen Mann mit JHWH. 2 Und sie gebar nochmals, seinen Bruder, den Abel (Hæbæl); und Abel wurde ein Kleinviehhirte und Kain wurde ein Ackerbauer.

Krise (V. 3−5) 3 Und es geschah nach einiger Zeit, da brachte Kain JHWH von den Früchten des Ackerbodens eine Gabe. 4 Und Abel – auch er – brachte von den Erstlingen seines Kleinviehs und von ihrem Fett; und JHWH schaute auf Abel und auf seine Gabe. 5 Aber auf Kain und auf seine Gabe schaute er nicht; Und sehr heiß überkam es Kain, und sein Angesicht fiel/sein Blick senkte sich.

Warnung JHWHs (V. 6−7) 6 Und JHWH sprach zu Kain: Warum ist es dir heiß überkommen und warum ist dein Angesicht gefallen/hat sich dein Blick gesenkt? 7 Ist es nicht so: Wenn du es gut/richtig machst11: (dann folgt) Erheben (des Angesichts)12, Wenn du nicht gut/richtig machst: an der Pforte/am Eingang zur Sünde ist dann einer, der (dort) lagert.13 Nach dir steht sein Verlangen, doch du wirst/sollst über ihn herrschen.

                                                             11 WILLI, THOMAS, Der Ort von Gen 4,1−16 innerhalb der hebräischen Geschichtsschreibung, in: Alexander Rofé/Yair Zachovitch (Hg.), I.L. Seeligmann Volume. Essays on the Bible and the Ancient World (FS I.L. Seeligmann) Bd. 3, Jerusalem: E. Rubinstein 1983, 99−113, hier: 102 mit Anm. 11, und JANOWSKI, Eden, 142, geben die Kausativform mit „wenn du es gut sein lässt“ wieder und betonen dadurch das geforderte Aushalten/Erdulden der göttlichen Handlung. Vgl. dazu HÖVER-JOHAG, INGEBORG, Art. ‫ טוב‬ṭôḇ, ThWAT, Bd. 3 (1982) 315−339, hier: 324, die das ‫ תיטיב‬in Gen 4,7 „(i)m Sinne des richtigen, der Situation entsprechenden Verhaltens“ versteht. 12 Vgl. dazu Spr 18,5: Hier wird der Frevler mit dem Erheben des Angesichts (durch den Richtenden) – zu Unrecht − ins Recht gesetzt und ihm wird Anerkennung zuteil, vgl. auch PLÖGER, OTTO, Sprüche Salomos. Proverbia (BK XVII), Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 1984, 211, der von Begnadigung spricht, die mit dem Aufrichten des Angesichts hier gemeint sei. 13 Der V. 7 ist in seiner Gesamtheit wie in seinen Einzelteilen ein notorisch schwieriger, ja „dunkler“ Vers, der zu sehr unterschiedlichen Übersetzungsvorschlägen geführt hat (vgl. dazu JACOB, BENNO, Das Buch Genesis [1934], Nachdruck, Stuttgart: Calwer 2000, 138− 140; JANOWSKI, Eden), von denen aber keiner bislang eine allgemeine Anerkennung erhielt. M.E. zeigt sich in V. 7a eine weisheitliche Redeweise: Es werden Kain alternative Handlungskonzepte vorgestellt, die durch das einleitende „Ist es nicht so, wenn…“ als allgemein einsichtige Regeln erscheinen. Die angeschlossenen Bedingungssätze in 7aα und aβ formulieren parallel und direkt auf Kain als den Angeredeten zugeschnitten: „wenn du es richtig/nicht richtig machst, ….“, ohne konkret auf den Erzählzusammenhang einzugehen (ganz

Kain in der Krise

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Gewaltsame Reaktion Kains (V. 8) 8 (Und Kain sagte zu seinem Bruder …) und es geschah, als sie auf dem Feld waren, da erhob sich Kain gegen Abel, seinen Bruder, und tötete ihn.

In der Exposition V. 1f. werden mit „Qayin/Kain“ und „Hæbæl/Abel“ die Protagonisten der Geschichte eingeführt und ihre Berufe genannt14, wobei hier, wie auch im Folgenden, Kain und seine Handlungsweise im Zentrum stehen15, sodass man mit Fug und Recht Gen 4 als eine Kaingeschichte lesen kann. Diese Perspektive wird auch durch die Erzählweise unterstrichen: Während in V. 1a alles in der Form bekannter genealogischer Aussagen bleibt16, die für Gen 4,17ff. kennzeichnend sind, kommentiert Ewa, die Mutter alles Lebendigen (Gen 3,20), diesen ersten Gründungsakt „jenseits von Eden“ in V. 1b in einem Gen 2,23 vergleichbaren „Jubelruf“17 und hebt neben ihrer

                                                             anders als die Septuaginta). Der Nachsatz/die Folge erscheint als stark verkürzte, ja kryptische Redeweise, deren direkter Bezug auf Kain oder zu der Kainerzählung ebenfalls nicht explizit ist und eher als allgemeiner Weisheitssatz erscheint. Der Infinitiv cs ‫„ שׂאת‬Erheben“ fügt sich gut, wie schon oft gesehen wurde (vgl. z.B. FISCHER, GEORG, Genesis 1−11 [HThKAT], Freiburg i.Br.: Herder 2018, 288), zum „Fallen des Angesichts“ in V. 5f. Die sehr verkürzte Redeweise lässt allerdings offen, wer das „Erheben“ initiiert. Von Spr 18,5 („Erheben [‫ ]שׂאת‬des Angesichts des Frevlers ist nicht gut, um zu beugen den Gerechten im Gericht“) legt sich m.E. nahe, dass hier das Erheben durch Gott als Zeichen göttlicher Gnade und Anerkennung eher gemeint ist als das eigene Heben des Angesichts als „Zeichen des Wohlbefindens“ (vgl. FABRY, HANS-JOSEF/FREEDMAN, DAVID NOEL/WILLOUGHBY, B.E., Art. ‫ נשׂא‬nāśā’, ThWAT, Bd. 5 [1986] 626−643, hier: 640; FISCHER, Genesis, 289). Der zweite Nachsatz ist – in Abweichung zu der gängigen Vorstellung, dass hier die Sünde Subjekt ist und sich daher Probleme mit dem mask. Partizip und den ebenfalls mask. Suffixen ergeben (vgl. GERTZ, Genesis, 162−166; s. aber die komplexe Erklärung bei HARDMEIER, CHRISTOF/OTT, KONRAD, Naturethik und biblische Schöpfungserzählung. Ein diskurstheoretischer und narrativ-hermeneutischer Brückenschlag, Stuttgart: Kohlhammer 2015, 306 mit Anm. 340) – m.E. auch als Teil eines allgemein weisheitlichen Satzes zu verstehen: „Wer nicht richtig handelt, ist (wie) einer, der an der Pforte/dem Tor zur Sünde lagert. Hier wird also metaphorisch-räumlich gedacht: Wer nicht recht handelt, steht an der Schwelle, eine Sünde zu begehen. Zu so einem könnte Kain werden, („nach dir steht sein Verlangen“), doch sollte sich Kain – so die Mahnung – nicht verführen lassen, sondern über diesen herrschen. 14 Wie GERTZ, Genesis, 159 richtig herausstellt, gibt der Text keinen Anhalt dafür, dass hier ein „Urkonflikt zwischen einer bäuerlichen und nomadischen Lebensweise“ den Hintergrund der Erzählung bilde. 15 Vgl. auch die Sicht, dass mit Kain die Linie Adams weitergeführt wird, schon weil er als Ackerbauer bezeichnet wird (so WILLI, Ort, 100). 16 Vgl. SCHÜLE, Prolog, 180. 17 So auch WESTERMANN, Genesis, 394; JACOB, Genesis, 135; GERTZ, Genesis, 158. Vgl. zu Gen 4,1 ausführlich NEUMANN-GORSOLKE, UTE, Das ICH des Menschen in den Erzählungen der Urgeschichte – Überlegungen zu Gen 2−3 und 4, in: Andreas Wagner/Jürgen van

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eigenen18 die besondere Bedeutung Kains hervor: „Ich habe erworben/erschaffen einen Mann mit (der Hilfe?) JHWHs“. Trotz der ungewöhnlichen und viel diskutierten Ausdrucksweise19 ist offensichtlich, dass das Prädikat ‫ קניתי‬auf den Namen ‫ קין‬Bezug nimmt und eine ätiologische Beziehung herstellen will. Da das Verb ‫ קנה‬sowohl „erwerben“/ „erkaufen“ (‫קנה‬1) als auch „erschaffen“ (‫קנה‬2) – nur mit Subjekt „Gott“ – bedeuten kann,20 kann beides mitgehört werden in einer Art semantischer Überblendung, die deutlich macht, dass einerseits hier „Gott auch außerhalb des Gartens Eden am Werk“ und andererseits Ewa „mitbeteiligt an der Schöpfung ist“21 und das Leben weitergibt (vgl. Gen 3,16). Dass das Hervorbringen Kains eng mit der Schöpfermacht JHWHs zusammengedacht ist, unterstreicht ebenfalls das ‫„ את־יהוה‬mit“ (als Präp.) – der Hilfe /JHWH(s) − am Ende des Satzes, das gleichwohl grammatisch schwierig bleibt22. Zudem bleibt in V. 1b „erstaunlich“ – wie Gertz konstatiert ‒, „dass bei der Geburt eines Knaben von einem ’īš ‚Mann‘ die Rede ist“23. Ist schon der zukünftige Mann im Blick, der das menschliche Geschlecht weiterführen wird24, oder der rechtsfähige Mann, der sich seiner Schuld/Strafe JHWH gegenüber stellen muss? Gerade in seiner Eigenart hebt V. 1 die besondere Stellung Kains in Gen 4 hervor. Die Erzählung fokussiert sich auf diesen „Mann“ Kain, während die Geburt Abels ohne den Rekurs auf den ersten Menschen, also den Vater, angeschlossen wird.25 Noch vor seinem Namen wird die Verwandtschaftsbeziehung zu Kain − „seinen Bruder“ – genannt,26 erst dann folgt der sprechende Name: Das Bruderverhältnis bildet damit den Ausgangspunkt der Erzählung, weniger

                                                             Oorschot (Hg.), Individualität und Selbstreflexion in den Literaturen des Alten Testaments (VWGTh 48), Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2017, 117−135, hier: 128−131. 18 Vgl. dazu FISCHER, Genesis, 280f. 19 Vgl. NEUMANN-GORSOLKE, ICH des Menschen, 129−131 und GERTZ, Genesis, 157f. 20 Vgl. zum Zusammenwirken von Gott und Mensch bei der Erschaffung eines Menschen Ps 139,13. 21 WILLI, Ort, 100. 22 S. u.a. WILLI, Ort, 100 Anm. 4; NEUMANN-GORSOLKE, ICH des Menschen, 129, und GERTZ, Genesis, 158. 23 GERTZ, Genesis, 157f. Benno Jacob übersetzt „Männliches“ (JACOB, Genesis, 134). 24 So WESTERMANN, Genesis, 396; vgl. auch WILLI, Ort, 100: „Weil es nun diesen Mann gibt, auf dem die Hoffnung liegt, verblasst die Gestalt Adams. Seine Rolle wird von Kain ausgefüllt“. 25 Die Erklärung, Abel sei als Zwilling zu Kain zu sehen und deshalb fehle der sonst typische Rekurs auf den Vater, ist m.E. von Gen 25,24f. und 38,5 her nicht zu belegen. 26 FISCHER, Genesis, 281 betont zu Recht, dass hier erstmalig das Wort „Bruder“ fällt und das Thema Geschwisterlichkeit in den Blick kommt, an dem anthropologischen Konflikte entfaltet werden können.

Kain in der Krise

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die Person des Bruders, der durch den Namen Abel – hebr. ‫„ הֶ בֶ ל‬Hauch“ − ja schon auf „Vergehen“ hin angelegt ist. Abel ist „nur in seiner Beziehung zu Kain in den Blick genommen. […] Abel bleibt auffällig konturlos, seine einzige Bedeutung in der Erzählung besteht darin, von seinem Bruder getötet zu werden.“27 Die Priorität Kains setzt sich auch im folgenden Abschnitt V. 3−5 fort, denn auch bei der Gabe für JHWH ist es zuerst die „Hauptfigur“28 Kain, der Ackerbauer, der die Früchte des Ackerbodens bringt, während V. 4 betont, dass Abel, der Kleinviehhirte, „auch er“, im Anschluss daran von den Erstlingen seines Kleinviehs und von ihrem Fett JHWH darbringt. Betrachtet man die V. 1−5, so zeigt sich auf der Satzebene zwar eine „mehrfache Nennung der Namen in enger Abfolge“29 und in chiastischer Struktur,30 auf der Erzählebene aber gibt es keine Beziehung oder Interaktion zwischen den beiden Brüdern. Von diesem Anfang her ist daher das Verständnis von Gen 4 als „Konflikt zwischen den Brüdern“31 fraglich. Die V. 3−5 entfalten vielmehr eine Situation, die sich für Kain als existentielle Krise zeigt, die sich nicht aus der Konstellation zu seinem Bruder, sondern zu JHWH ergibt: Denn während JHWH auf die Gabe (‫ ) ִמנְ חָ ה‬Abels schaut (‫)שָׁ עָ ה‬, schaut er nicht auf Kain und seine Gabe (V. 5a). Einher mit der Kürze der Szene gehen verschiedene, immer wieder diskutierte Fragen: „Um welche Art der Darbringungen handelt es sich? Woran hat Kain erkannt, dass Jhwh ihn und seine Gabe anders als Abel und dessen Gabe nicht angesehen hat. Weshalb hat Jhwh den Kain und seine Gabe nicht angesehen?“32 Dies sind Fragen, die der Text – im Gegensatz zur Rezeptions- und Auslegungsgeschichte ‒ nicht beantwortet!33 Mit C. Westermann kann man daher festhalten: „Daß Gott das Opfer Kains nicht ansah, ist […]weder auf seine Gesinnung noch auf ein falsches Opfer noch auf eine falsche Art des Opfers zurückzuführen. Es ist vielmehr das Unabänderliche damit ausgesagt, daß so etwas geschieht“34. D.h. Kain sieht sich mit einer ihm unerklärlichen göttlichen

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GERTZ, Genesis, 159, GERTZ, Genesis, 160. 29 FISCHER, Genesis, 278. Vgl. dort auch die Graphik zur Verkettung der Namen. 30 Vgl. dazu ARNETH, MARTIN, Durch Adams Fall ist ganz verderbt…. Studien zur Entstehung der alttestamentlichen Urgeschichte (FRLANT 217), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, 150−152; GERTZ, Genesis, 160. 31 GERTZ, Genesis, 156, vgl. auch JANOWSKI, Eden, 270 u.ö. 32 GERTZ, Genesis, 160. 33 Vgl. dazu die bei GERTZ, Genesis, 160f. aufgeführten Erklärungsversuche für das Nicht-Anschauen der Gabe Kains durch JHWH. 34 WESTERMANN, Genesis, 403. 28

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Ungerechtigkeit konfrontiert, weil JHWH seine Gabe von Feldfrüchten nicht annimmt und „stattdessen die Gabe des Bruders bevorzugt, der dafür – anders als Kain – nicht vergleichbar gearbeitet hat“35. Um die Herausforderung zu ermessen, die diese Situation für Kain bedeutet, ist ein Blick auf die Semantik von V. 4f. hilfreich: Die V. 4f. verwenden keine spezielle Opferterminologie, sondern das unspezifische ‫ בוא‬Hi. „bringen“ und den allgemeinen Begriff ‫„ ִמנְ חָ ה‬Gabe/Huldigungsgabe“, das sowohl die Übergabe eines Geschenks an einen Höhergestellten als auch an Gott bezeichnen kann,36 d.h. „die Huldigung durch Kain und Abel … war ein ‚Hineinbringen‘ von Gaben, aber kein Opfer im engeren Sinne […]“37. Das „Schauen“ JHWHs wird mit dem eher seltenen Verb (‫ )שָׁ עָ ה‬ausgedrückt, das im Qal nur 12-mal belegt ist. Nach Lundblom wird ‫ שָׁ עָ ה‬oft in hierarchischen Beziehungen verwendet und „versteht sich meist als aufmerksame Sorge und Achtsamkeit oder, wenn die Beziehung als eher böswillig denn wohlwollend geartet ist, als Unaufmerksamkeit oder ähnlich Unheilvolles: Die Aufmerksamkeit kann sich steigern bis zu dem Punkt, an dem sie für den Betroffenen bedrückend wird“38. Gerade letzteres ist für die Belege mit Subjekt Gott, dann mit Präp. ‫ ִמן‬, dominierend, wie die Stellen Hi 7,19; 14,6 und Ps 39,14 zeigen. Gottes Schauen kann zu einer Belastung für den Menschen werden und ihn quälen. So fordert Hiob, dass Gott den Menschen in seiner begrenzten Zeit in Ruhe lassen solle: „…so blicke weg von ihm, so dass er Ruhe hat, damit er wie ein Tagelöhner seinen Tag genießen kann!“ (Hi 14,6). Positiv konnotiert ist das göttliche Schauen nur in Gen 4,4f.: Hier geht es nach Lundblom um göttliche Aufmerksamkeit, „die dem einzelnen Freude bringt“39. Da Gen 4,4 nicht von Freude spricht, mag diese Interpretation eventuell ex negativo motiviert sein; aus den genannten Stellen ist m.E. durchaus zu erheben, dass das Schauen Gottes die Beziehung betrifft, in der sich der Mensch zu Gott befindet und die seine gesamte Existenz – negativ oder auch positiv – umgreift. Vielleicht kann man Gen 4,4f. auch vor dem Hintergrund zahlreicher Psalmworte verstehen, in denen der Beter darum bittet, Gott möge

                                                             35

HARTENSTEIN, FRIEDHELM, Die Zumutung des barmherzigen Gottes. Die Theologie des Jonabuches im Licht der Urgeschichte Gen 1−11, in: Angelika Berlejung/Raik Heckl, Ex oriente Lux. Studien zur Theologie des Alten Testaments (FS R. Lux) (Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte 39), Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2012, 435−455, hier: 449. 36 Vgl. WILLI-PLEIN, INA, Opfer und Kult im alttestamentlichen Israel. Textbefragungen und Zwischenergebnisse, (SBS 153), Stuttgart: Katholisches Bibelwerk 1993, 79−85; so auch FISCHER, Genesis, 283. 37 WILLI-PLEIN, Opfer, 84. 38 LUNDBOM, JACK R., Art. ‫ שׁעה‬šāꜥāh, ThWAT, Bd. 8 (1995), 348−350; hier: 349. 39 LUNDBOM, šāꜥāh, 350.

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„herschauen“, um z.B. dem (sozialen) Tod zu entfliehen (z.B. ‫ נבט‬Hi in Ps 13,4) oder sein Angesicht zuwenden, weil die Zuwendung Gottes Heil und Leben verheißt (vgl. Ps 104,29).40 Dem Schauen/Nicht-Schauen Gottes auf Abel resp. Kain kommt eine existentielle Bedeutung zu. Dem entspricht auch V. 5b, der zeigt, dass das „Nicht-Schauen“ Gottes Kains Lebensgefühl bis hin in seine Körperhaltung verändert: „Und sehr heiß überkam es Kain, und sein Gesicht fiel/der Blick senkte sich“. In den Kommentaren wird dieses „Heißwerden“ Kains oft sofort auf das Bruderverhältnis bezogen: „Man sieht förmlich, wie die Zuwendung zum Bruder erstirbt und der Haß ihn in Besitz nimmt“ – so zitiert Gertz hier Chr. Levin41. Doch weder von Zuwendung noch von Hass dem Bruder gegenüber spricht der Text. Das absolute ‫ חָ ָרה‬+ ‫( ְל‬ohne ‫„ אף‬Zorn“) bezeichnet nach B. Jacob „von Ärger, Gram, Bitterkeit, Trauer (aber nicht Zornesglut, […]) ergriffen werden“42 und beschreibt die Gemütsverfassung Kains, bleibt dagegen in seiner Richtung uneindeutig. M.E. legt sich aufgrund der Situation eher eine Semantik nahe, die an Verbitterung oder Verzweiflung43 − unterstrichen durch das „sehr“44 − denken lässt und die Möglichkeit eröffnet, „daß Gott das eigentliche Objekt“45 dieser Emotion ist. Die verzweifelte Stimmung und Lebenshaltung Kains spiegelt sich darüber hinaus geradezu „verkörpert“ wider, indem sein „Gesicht fällt“, er also den Blick niedergeschlagen nach unten zum Boden wendet – eine Geste, die

                                                             40

In diesen Zusammenhang gehört auch das Erscheinen des Beters vor JHWHs Angesicht, wie z.B. in Ps 42,2f., vgl. hierzu HARTENSTEIN, FRIEDHELM, Das Angesicht JHWHs. Studien zu seinem höfischen und kultischen Bedeutungshintergrund in den Psalmen und in Exodus 32−34 (FAT 55), Tübingen: Mohr Siebeck 2008. 41 GERTZ, Genesis, 162. 42 JACOB, Genesis, 138. Für dieses Verständnis spricht auch die Version der Septuaginta, die das absolute ‫ חָ ָר ה‬+ ‫ ְל‬sehr unterschiedlich wiedergibt, für Gen 4,5 aber kein Äquivalent für „zornig sein“ wählt, sondern ἐλύπησεν τὸν Καιν λίαν „er (Gott) betrübte Kain sehr“ und dadurch den Grund für die Betrübung Kains hervorhebt. Diesen Hinweis verdanke ich Martin Rösel, Rostock. 43 Vgl. LUNDBLOM, šāꜥāh, 350. Vgl. dazu auch FISCHER, Genesis, 285 mit dem Hinweis auf Peschitta und TgNeof. 44 Vgl. FISCHER, Genesis, 285. 45 FREEDMAN, DAVID N./LUNDBLOM, JACK R, Art. ‫ חרה‬ḥārāh, ThWAT, Bd. 3 (1982) 182−188, hier: 188.

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Staubli/Schroer als Ausdruck von Depression beschreiben,46 und die auch Abbruch von Beziehungen47 indizieren kann. Kain ist mit seinen negativen Emotionen, seiner Verzweiflung/Verbitterung, dass seine Gabe „vergeblich“ war und die Zuwendung JHWHs nicht sein Leben zu fundieren scheint, allein. Selbst eine Klagemöglichkeit Kains gegen Gott ist nach der Erzählstruktur des Textes nicht möglich, da JHWH nicht auf Kain schaut. Kain ist in dieser Lebenskrise auf sich gestellt und „auf Dauer niedergeschlagen und frustriert“, worin – wie Gertz schreibt – „die eigentliche Gefahr“ besteht48: „(Und Kain sagte [es?] seinem Bruder Abel)…und es geschah, als sie auf dem Feld waren, da erhob sich Kain gegen Abel, seinen Bruder, und tötete ihn“(V. 8b).

Auch hier ist der Text denkbar kurz und gibt weder Motiv noch weitere Emotionen preis. Ist Abel der berühmte Stachel im Fleisch, der Kain immer vor Augen führt, was ihm vorenthalten blieb? Ist es Neid auf den Bruder, der Kain zu dieser Tat veranlasst?49 Will er den Zeugen seiner erfahrenen Beschämung durch JHWHs Nicht-Schauen eliminieren, um seine Beschämung damit auszulöschen? Ist die Gewalt gegen den Bruder das Ventil, um die Erfahrung unverständlicher Ungleichbehandlung und tief empfundener Herabsetzung aus seinem Leben zu löschen? Der Text lässt diese Fragen „unbarmherzig“ offen und liefert nur die brutalen Fakten: Auf dem freien Feld, der Ort, „wo die Tat nicht gesehen wird und der Hilferuf nicht gehört wird“50, tötet er seinen Bruder.51 Denn Kain kann und will offensichtlich die Situation nicht fatalistisch hinnehmen oder aushalten, er lehnt sich auf gegen die erfahrene Ungerechtigkeit. Kann „Zorn als Entschiedenheit und kraftvoller Widerspruch gegen Adversität“52 ein konstruktiver erster Schritt aus dem ihm widerfahrenen Schicksal

                                                             46

Vgl. STAUBLI, THOMAS/SCHROER, SILVIA, Menschenbilder der Bibel, Ostfildern: Patmos 2014, 160. 47 Vgl. FREVEL, CHRISTIAN, Art. Körper, Handbuch theologischer Grundbegriffe zum Alten und Neuen Testament (52016), 297−301, hier: 298. 48 GERTZ, Genesis, 162. 49 Andere Brüder-Neid-Geschichten, wie Josef oder Jakob/Esau legen die Gründe für den geschwisterlichen Neid dagegen offen. 50 JACOB, Genesis, 140. 51 „Gerade eben darin liegt das Erschreckende und urgeschichtlich Typische der Szene: Das Erleben, grundlos zurückgesetzt zu sein, der daraus folgende Zorn, die daraus geborene Missetat…“ (GERTZ, Genesis, 167). 52 SEDMAK, CLEMENS, Strukturen der Widerstandskraft in der „Philokalia“, in: Ders./Małgorzata Bogaczyk-Vormayr (Hg.), Patristik und Resilienz: Frühchristliche Einsichten in die Seelenkraft, Berlin/München/Boston: de Gruyter 2015, 255−275, hier: 260.

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sein,53 so bleibt Kain in Gen 4 in seiner Verzweiflung gefangen. Sein Impuls, die Situation zu verändern, beginnt nicht bei sich selbst, positioniert nicht ihn selbst neu in seiner sozialen Welt, sondern er entwickelt nur destruktive Kraft, die sich nach außen gegen seinen Bruder richtet. Kains Lebens- und Identitätskrise, sein Versuch der Selbstbehauptung führt zur Krise des sozialen und familiären Miteinanders: Gen 4 beschreibt damit den Einbruch von Gewalttat selbst in enge menschliche, nämlich familiäre Beziehungen. Gewalttat/Tötung werden dadurch im Kontext der Urgeschichte zur möglichen Form menschlichen Umgangs, die jedoch auch Folgen für Kain haben wird. Oder, wie A. Schüle formuliert: „Im Falle Kains bedeutet dies, dass es nicht das abgelehnte Opfer ist, an dem sein Leben scheitert, wohl aber seine Unfähigkeit, damit in nicht-destruktiver Weise umzugehen.“54 Die in den Erzählablauf m.E. später eingefügte Gottesrede55 an Kain in V. 6f. (8a) spitzt diese Situation zu, indem die wiederum überraschende Zuwendung Gottes Kain verschiedene Handlungsoptionen eröffnet und auf diese Weise auch die Möglichkeit der Reflexion seiner Situation gibt. Da Kain unbeeindruckt von der göttlichen Anrede handelt, wird sein Verhalten, dass er die Zurücksetzung eben nicht auf sich beruhen lassen kann,56 als „Sünde“ qualifiziert, und die göttliche Abgründigkeit als Grund seiner Verzweiflung und Bitternis tritt in den Hintergrund. Die V. 6f. setzen damit Kain und sein Handeln in den Fokus. Mit der Handlungsklimax in V. 8b endet der erste Handlungsbogen, doch so ist die Kaingeschichte noch nicht an ihr Ziel gelangt. Denn jetzt, geradezu in Umkehrung der Ausgangssituation, wendet sich JHWH Kain und seiner Tat zu und unterzieht ihn einem intensiven Verhör.

                                                             53 Vgl. dazu die Auffassung von Resilienz des französischen Philosophen Boris Cyrulnik, der sie als Widerstand gegen Schicksalhaftes versteht, vgl. SEDMAK, CLEMENS/ BOGACZYKVORMAYR, MAŁGORZATA, Altchristliche Resilienzlehre, in: Ders./Ders. (Hg.), Patristik und Resilienz: Frühchristliche Einsichten in die Seelenkraft, Berlin/München/Boston: de Gruyter 2015, 1−10, hier: 2. 54 SCHÜLE, ANDREAS, Die Urgeschichte (Genesis 1−11) (ZBK.), Zürich: Theologischer Verlag 2009, 91. 55 Vgl. dazu oben die Anm. 9 und 13. 56 Auch das Aushalten und Durchstehen der Situation kann als Form der Resilienz aufgefasst werden, vgl. dazu den Vergleich mit der stoischen Affektenlehre bei SCHÜLE, Urgeschichte, 91.

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2. Kains Verhör durch JHWH und die neue Perspektive: Leben trotz Schuld (Gen 4,9−16) Verhör durch JHWH und Fluchstrafe 9 Und JHWH sagte zu Kain: Wo ist Abel, dein Bruder? Und er sagte: Ich weiß (es) nicht. Bin ich der Hütende meines Bruders? 10 Und er sagte: Was hast du getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir aus dem Erdboden! 11 Und nun: Verflucht bist du, fort vom Ackerboden, der seinen Mund aufgetan hat, um aufzunehmen das Blut deines Bruders von deiner Hand! 12 Wenn du den Ackerboden bebaust, wird er nicht fortfahren, dir seine Kraft zu geben, unstet und flüchtig wirst du sein auf der Erde.

Kains Klage 13 Und Kain sagte zu JHWH: Meine Schuld/Strafe ist zu groß, um sie zu tragen. 14 Siehe, du vertreibst mich heute von der Oberfläche des Ackerbodens und von deinem Angesicht werde ich mich verbergen und ich werde sein unstet und flüchtig auf der Erde und es wird so sein: jeder, der mich findet, wird mich töten

Schutz JHWHs 15 Und JHWH sagte ihm: Darum: jeder, der Kain tötet, siebenfach wird er (Kain) gerächt werden, und JHWH machte dem Kain ein Zeichen, damit nicht jeder, der ihn fände, ihn erschlüge. 16 Und Kain ging heraus/weg vom Angesicht JHWHs, und er wohnte im Lande Nod, östlich von Eden.

Die Konfrontation mit seiner Tat erfolgt durch die göttliche Anrede an Kain. Doch wird nicht das Vergehen direkt thematisiert, sondern JHWH spricht Kain auf seinen Bruder an: Wo ist Abel, dein Bruder (V. 9a). Die göttliche Wo-Frage erweist sich hier wie in Gen 3,957 (als Frage an den ersten Menschen: Wo bist du?) als hintergründig,58 weil sie hier wie da nicht auf den Aufenthaltsort Abels zielt, sondern Kain die Möglichkeit eröffnet, sich zu seinem Totschlag an seinem Bruder zu verhalten. Doch im Unterschied zu Gen 3,9ff. bleibt Kain mit seiner Antwort auf der vordergründigen Ebene und verweigert sich eines Geständnisses: Ich weiß (es) nicht. Bin ich der Hütende meines Bruders? (V. 9b). Insbesondere die Gegen-Frage59 Kains weist nun gerade auf das, was ein Brüderverhältnis ausmachen sollte: Fürsorge und Achtsamkeit füreinander. So thematisiert hier Kain indirekt seine Schuld und erkennt sich selbst: Er war nicht der Hüter und hat seine Bruderpflicht als Erstgeborener nicht erfüllt.

                                                             57 Auf die schon oft bemerkten Parallelen zu Gen 3,9ff. kann in diesem Zusammenhang nicht eingegangen werden, da sie vor allem für die Gesamtperspektive der nicht-priesterlichen Urgeschichte relevant sind. 58 WILLI, Ort, 104 versteht sie zu Recht als maieutische Frage, durch die Kain „zum erstenmal eine Ahnung seiner eigenen Situation bekommt“. 59 Vgl. FISCHER, Genesis, 295.

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Die Beweisführung aber übernimmt JHWH selbst (V. 10) und wartet keine Antwort mehr ab: „Weil einer da ist, der das Blut des Erschlagenen schreien hört, gibt es für den Totschläger kein Ausweichen vor der Frage: ‚Was hast du getan?‘“60 Denn mit ‫ צָ עַ ק‬appellieren die Opfer eines Gewaltverbrechens an Gott, ihnen Gerechtigkeit zu verschaffen.61 Angesichts dieser Gottesaussage mag ein Eingeständnis Kains überflüssig erscheinen. Es ist aber doch auffällig, dass hier eine erzählerische Leerstelle bleibt und Kains Schuldeingeständnis ausbleibt. Vielleicht ist das auch ein Grund, warum der Straffluch JHWHs Kain als Person trifft und eine Steigerung zu Gen 3 darstellt: „Der Fluch trifft nicht mehr nur den Ackerboden, sondern den schuldig gewordenen Menschen, und aus der Mühsal der Arbeit des Ackerbauern wird die Ertraglosigkeit des Ackerbodens“62. Ist damit seine Existenz als Ackerbauer vorbei und eine Ernährung – und natürlich auch Opfergaben – unmöglich, so ist für Kains Existenz der letztgenannte Aspekt des Fluches einschneidend: „unstet und flüchtig wirst du auf der Erde sein!“ Während Kain in der Ausgangsszene (V. 1−5) auf sich selbst beschränkt bleibt, wird der Text jetzt – in dieser konfrontativen Dialogsituation ‒, in Form der Leid-Klage63 Kains an Gott, weitergeführt (V. 13f.). Das geschieht in der „klassischen“ Abfolge von Ich-Klage, Gott (Du)-Klage, „Feind“-Klage, in der Kain die unterschiedlichen Folgen des Fluches zur Sprache bringen und verdeutlichen kann. Und Kain sagte zu JHWH: Größer ist meine Schuld als mein Tragen(können). Siehe, du hast mich heute von der Oberfläche des Ackerbodens vertrieben und vor deinem Angesicht werde ich verborgen sein, und ich werde unstet und rastlos auf der Erde leben und jeder, der mich findet, wird mich töten (können).

Kains Klage berührt alle Bereiche seines Lebens, wobei die Ertraglosigkeit des Ackerbodens nicht explizit zur Sprache kommt, sondern die Lebensfundierende Gottesbeziehung und die sozialen Beziehungen im Vordergrund stehen. Zentral in der Ich-Klage ist der Begriff ‫עָ וֹן‬, der die beiden Aspekte „Schuld“ und „Strafe“ abdeckt und eben hier von Kain verwendet wird – als einziger Schuldbegriff in der gesamten Geschichte. Kain reflektiert also sowohl seine Blutschuld, die er mit dem Mord an seinem Bruder auf sich geladen hat, als auch die Folgen dieser seiner Tat, die mit der Verfluchung gegeben sind. Es ist das erste Mal, dass er sich zu seiner Tat und ihren Folgen verhält und beides in

                                                             60

WESTERMANN, Genesis, 415. Vgl. GERTZ, Genesis, 168f. 62 GERTZ, Genesis, 170. 63 Vgl. GERTZ, Genesis, 171. 61

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ein Verhältnis zu sich bringt und einordnet und zur Selbsterkenntnis kommt: Beides zu tragen, das übersteigt seine Kraft. In der Du/Gott-Klage expliziert er die Bedeutung des Fluches: Das Vertriebenwerden vom Ackerboden entzieht ihm die Lebensgrundlage und stellt eine schwerwiegendere Strafe als die Vertreibung aus dem Garten Eden dar, doch noch schwerwiegender ist, dass Kain vor Gott verborgen64 sein wird – also in der Gottesferne leben muss und ihm damit Lebensfülle und der Trost Gottes verwehrt bleiben. (Und damit festgeschrieben wird, was vielleicht nur eine zufällige und einmalige (!) Erfahrung gewesen ist). In der Feindklage legt Kain dar, dass sein unstetes Leben auch bedeutet, dass er ohne soziale Bindung sein wird – also dem sozialen Tod anheimfiele – und er als sozial Entwurzelter dazu vogelfrei, d.h. von jedermann jederzeit zu morden sei. Kain antizipiert sozusagen die Tötungssituation, die er selbst mit seinem Bruder – als Täter! – erlebt hat. Indem Kain in der Klage die breit gefächerten Zusammenhänge von Schuld und Strafe und die Bedeutung für sein Leben vor Gott ausbreitet, zeigt sich seine Verunsicherung und Furcht, seine Identität als Mensch zu verlieren. Die Klage ist hier das stilistische Mittel der Selbstreflexion und Selbsterkenntnis coram Deo: Die Gewalttat gegen den Bruder wird als falscher Weg entlarvt, im Sinne des Resilienzgedankens das Gleichgewicht im eigenen Leben wieder herstellen zu wollen. Denn diese Gewalttat ist an sich und in der Folge nur destruktiv und verschärft die Unsicherheiten des Lebens, schafft aber keine Handlungsmacht oder Gestaltungsfreiheit für die Zukunft. Kain kann an seiner Situation nichts (mehr) verändern, sondern präsentiert sich in seiner Hilflosigkeit Gott, weil er nur noch den geistlichen, sozialen und physischen Tod als Zukunft sieht. Dadurch ist nicht die Last des Schuldtragens genommen, aber die eigene hilflose Lebenslage schonungslos coram Deo dargelegt und ihm abschließend anvertraut. Und JHWH gewährt ihm eine Lebensmöglichkeit. „Der Mann, der Jhwhs grundlose Bevorzugung des Bruders nicht zu akzeptieren vermochte, wird seinerseits grundlos unter Jhwhs Schutz gestellt.“65 Die Ansage einer siebenfachen Ahndung soll als „abwehrende Maßnahme“66 mögliche Mörder Kains abschrecken; ein Schutz-Zeichen soll einer

                                                             64 Möglich ist eine Übersetzung mit „ich werde vor dir fliehen“, sodass ein strafender Gott gemeint sein könnte. Mit GERTZ, Genesis, 151.171 ist wohl von „verborgen sein vor Gott“ (vgl. auch JANOWSKI, Eden, 271) auszugehen, das dem V. 16 entspricht: Der Ort Kains wird ein Ort der Gottesferne sein. 65 GERTZ, Genesis, 172. 66 FISCHER, Genesis, 304.

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Tötung durch jedermann wehren.67 Das heißt nicht, dass für Kain alles „gut“ wird, es gibt keine Rückkehr in das bisherige Leben: Er muss im Niemandsland (Nod) außerhalb von Eden wohnen, fern von Gott; dahin hat ihn seine Gewalttat gebracht. Aber: er darf leben trotz seiner Schuld!

II. Fazit Gen 4 ist als zweistufige Krisengeschichte Kains „inszeniert“: 1. Das unerklärliche Nicht-Schauen Gottes führt – angesichts des göttlichen Schauens auf Abel und seine Gabe – zu einer Krise der Verzweiflung bei Kain, die er nicht aus sich heraus zu bewältigen vermag. Die durch Verzweiflung ausgelöste Identitätskrise wird nicht in konstruktive Impulse des Widerstands gegen die empfundene Heraussetzung überführt und auch nicht − wie V. 6f. als Option nahelegen − in Gleichmut ertragen („wenn du es richtig machst“), sondern führt ihn zur mörderischen Gewalttat gegen seinen Bruder und damit zur Zerstörung der engsten menschlichen Beziehung. Auf diese Weise wird einerseits Gewalttat/Mord als zutiefst anthropologische Handlungsoption beschrieben und fundiert (Urgeschichte!), gleichzeitig aber auch Gewalttat/Mord (=Blutschuld) als Möglichkeit, Lebenskrisen zu überwinden resp. die eigene Identität wieder zu erlangen – selbst wenn sie aus dem unerklärlichen Handeln Gottes herrühren! ‒ ad absurdum geführt. Denn − wie 2. das konfrontative Verhör Kains vor JHWH darstellt – ist der Schrei des Blutes/die Ahnung der Blutschuld bei Gott als Garant der Gerechtigkeit aufgehoben, sodass das Handeln/Morden Kains nicht ungeahndet bleibt. Damit verschärft sich die existentielle Krise Kains, die nun zum Verlust von Lebensgrundlage, Gottesgegenwart und jeglicher sozialer Integration – bis hin zur Verfolgung als Mörder – führt. Erst als Kain in der Klage die Schwere seiner Schuld und Strafe (Begriff ‫ )!עָ וֹן‬coram Deo darzulegen vermag und sie sich selbst vor Augen führt und damit seine Angewiesenheit und Hilflosigkeit vor Gott bringt, verändert sich seine Situation: JHWH weist ihm trotz seiner Schuld eine Lebensperspektive auf, indem er ihn vor mörderischen Zugriffen schützt und die Möglichkeit einer sozialen Integration eröffnet – wenn auch „jenseits von Eden“. Damit ist nicht

                                                             67

GERTZ, Genesis, 172, resümiert zu Recht: „So erblickt die umfassende Ordnung des Lebens durch das Recht, zweifellos die bedeutendste menschliche Kultur überhaupt, als Schutzzeichen des Brudermörders das Licht der Welt“.

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die in der nicht-priesterlichen Darstellung thematisierte zunehmende Gottesferne der Menschen relativiert, aber angedeutet, dass der Weg aus der tiefsten Krise menschlicher Existenz mit der Wahrnehmung und Darlegung der eigenen Schuld und Angewiesenheit coram Deo beginnt.

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„Ja, ich kenne seine Schmerzen“ (Ex 3,7) Der empathische Gott des Exodus und die Bewältigung von Krisen Alexandra Grund-Wittenberg I know times have been challenging, especially the last several months. The grief, sorrow, and pain. The worries and the struggles. But we’ve also witnessed your courage, your resilience, and the generosity of your spirit. KAMALA HARRIS

Das Leben in der Krise scheint zur neuen Normalität geworden zu sein: Auf die 2009 anhebende Finanz- folgte ab 2015 die sog. Flüchtlings- und 2020 die Coronakrise, auf die in Zukunft vom Klimawandel verursachte, noch dramatischere Krisensituationen folgen dürften. Im Zusammenhang fortwährender vermeinter und tatsächlicher Krisen wenden sich im Umfeld der Psychologie angesiedelte Disziplinen zunehmend der Frage zu, welche Ressourcen Menschen schwere Belastungen besser zu bewältigen helfen, nicht zuletzt, um Empfehlungen für deren präventive und therapeutische Bewältigung aussprechen zu können. Die Resilienzforschung1 fragt danach, welche Widerstandsressourcen „Menschen dazu befähigen, potenziell krankmachende Einflüsse zu bewältigen, ohne zu erkranken.“2 Sie ist seit den 1970er Jahren zunehmend ausdifferenziert und interdisziplinär diskutiert worden.3

                                                             1 Die Umschreibungen von Resilienz sind nahezu zahllos, vgl. etwa die 16 bei UNKRIG, ERICH R., Mandate der Führung 4.0. Agilität – Resilienz – Vitalität, Wiesbaden: Springer 2020, 142f. versammelten Definitionen. 2 REIMANN, SWANTJE/HAMMELSTEIN, PHILIPP, Ressourcenorientierte Ansätze, in: Philipp Hammelstein/Babette Renneberg (Hg.), Gesundheitspsychologie, Berlin/Heidelberg: Springer 2006, 15; die Definition ist an den einschlägigen Forschungen von Antonovsky angelehnt. 3 Für einen Überblick s. RICHTER, CORNELIA, Einleitung: Ohnmacht und Angst aushalten. Zu Kritik und Ergänzung dominant aktiver Resilienzfaktoren, in: Dies. (Hg.), Ohnmacht und Angst aushalten. Kritik der Resilienz in Theologie und Philosophie (Religion und Geschichte 1), Stuttgart: Kohlhammer 2017, 9–29; in Bezug auf die Hebräische Bibel s. v.a.

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Aus schweren Krisen unbeschadet oder gar unverändert hervorzugehen, ist nun in der Regel weder möglich noch vielleicht auch wünschenswert. Der als psychologische Verstehens- und Bewältigungshilfe gemeinte Resilienzbegriff gerät, missverstanden, daher leicht in ein falsches Licht: Wer in Folge einer schweren Krise dennoch erkrankt, dem fehlte es nach diesem Missverständnis an Resilienz; Krankheit kann dann als Defizit, Gesundheit als Leistung gedeutet werden. Zu Recht wurden dominant aktive Konzepte von Resilienz, nicht zuletzt von Seiten der Theologie, daher auch der Kritik unterzogen und die Ambivalenz von Resilienz als eines Krisenphänomens hervorgehoben.4 Warum manche Menschen auch schwerste Schicksalsschläge oder Traumata, an denen andere zerbrechen, ohne erkennbare Erkrankungen überstehen, bleibt oft rätselhaft, kontingent und unverfügbar. In Folge schwerer Lebenskrisen oder Traumata nicht zu erkranken, sondern im beschädigten Leben dennoch gut weiterleben zu können, hat aus der Perspektive eines christlich-theologischen Deutungsrahmens den Charakter einer unverfügbaren Gabe. Dabei ist die Frage, welche Ressourcen in Christentum und Judentum bei der Bewältigung schwerer Krisen hilfreich sein können, nicht neu; zu nennen wären hier sogleich das Aussprechen von Sorge, Angst und Leiden in Klage und Fürbitte in gottesdienstlichen Kontexten, die Pflege von Diskursen, die Sterblichkeit, Tod, Krankheit und Leiden in umfassende Sinngefüge einzubetten vermögen, die Etablierung verlässlicher Gemeinschaft u.v.m. Und so bringt Richter für eine theologische Perspektivierung von Resilienz in Anschlag: „Phänomene der vorsprachlichen bis kognitiv reflektierten Artikulation in Schrei und Klage, Phänomene der affektiven Involviertheit und der Empathie, Phänomene des Loslassens, der Hingabe und des Überlassens sowie Phänomene der Selbstsorge wie Fürsorge für Andere, die wiederum den unabdingbaren sozialen Resonanzraum für Artikulation, Empathie und Selbsttransformation bilden“.5 Grundlage für einen bibelwissenschaftlichen Beitrag zur Diskussion ist gewiss, dass weite Teile der Hebräischen Bibel aus den Erfahrungen schwerer

                                                             CARR, DAVID M., Holy Resilience. The Bibleʼs Traumatic Origins, New Haven CT: Yale University Press 2014; GÄRTNER, JUDITH, Art. Resilienz, in: Bernd Janowski/Jan Dietrich/Alexandra Grund-Wittenberg/Ute Neumann-Gorsolke (Hg.), Handbuch Alttestamentliche Anthropologie, Tübingen: Mohr Siebeck 2021 (im Druck). 4 RICHTER, Ohnmacht, 11, weist zu Recht auf Resilienz als „Wellness- und Sehnsuchtsbegriff [...] dessen neoliberales Optimierungspotential neben der Ökonomie auch die Politik mit großem Interesse zur Kenntnis genommen hat“; vgl. passim. 5 RICHTER, Ohnmacht, 20.

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kultureller oder individueller Krisen hervorgegangen sind und ihre Bewältigung explizit thematisieren.6 Die Kraft der Lektüre solcher Texte in Lebenskrisen sollte freilich nicht überschätzt werden. Konstruktive Gottes-, Selbstund Weltverhältnisse, die sich in Zeiten einer schweren Not als tragfähig erweisen, entstehen nicht allein durch die Lektüre biblischer Erzählungen, sondern in langfristigen, oft tiefgreifenden biographischen Prozessen. Texte der Hebräischen Bibel können nur Deutungsangebote bereithalten und historische Bewältigungsmodelle beschreiben. Da die Einbindung in empathische Beziehungen vielfach als Ressource der Krisenbewältigung genannt wird, bietet es sich für einen genuin theologischen Beitrag an, nach der Bedeutung der Vorstellung eines mitfühlenden Gottes in der Hebräischen Bibel zu fragen.7 Immerhin zeichnen viele alttestamentliche Texte das Bild eines Gottes, der Leiden sieht und die Not der Menschen kennt. Nach einführenden Überlegungen zur Bedeutung von Empathie möchte ich daher erkunden, wie sich JHWH in zentralen Texten der Exoduserzählung Israel von Anfang an als Leiden wahrnehmender und empathischer Gott präsentiert, und wo dieses Gottesbild im weiteren kanonischen Zusammenhang nachhallt.

I. Mitleid, Mitgefühl, Empathie Mitleid, Mitleiden, Mitgefühl und Empathie wurden als Grundthemen von Theologie und Humanwissenschaften in jüngerer Zeit so intensiv diskutiert, dass ihre Tragweite hier unmöglich mit ein paar Strichen nachgezeichnet werden kann.8 All diese Begriffe wecken ambivalente Assoziationen: Mitgefühl spricht man am Grabe aus; Mitleid wird von Bemitleideten als herablassend verstanden, da es der Hilfsbereitschaft ermangelt und aus einer abgesicherten Position geäußert wird; Mitleiden sucht zwar auf Augenhöhe mit Leidenden zu

                                                             6

Vgl. hierzu bes. CARR, Resilience. Die psychologische Bedeutung des Gottesbildes am ambivalenten Beispiel der Scham und des prüfenden Blickes Gottes arbeitet differenziert WAGNER-RAU, ULRIKE, Religiöse Spielarten der Scham, in: Alexandra Grund-Wittenberg/Ruth Poser (Hg.), Die verborgene Macht der Scham. Ehre, Scham und Schuld im alten Israel, in seinem Umfeld und in der gegenwärtigen Lebenswelt (BThSt 173), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2018, 255– 260, heraus. 8 So ist Mitleid etwa Thema von Jahrbuch für Biblische Theologie 30 (2015) und im Vorwort der Herausgebenden anscheinend als ein Dachbegriff für Mitleid, Mitleiden, Mitgefühl und Empathie verwendet und zudem die Themenkomplexe Barmherzigkeit und Erbarmen hinzugenommen, vgl. LEPPIN, VOLKER/VOLLENWEIDER, SAMUEL, Vorwort, in: Irmtraud Fischer u.a. (Hg.), Mitleid und Mitleiden (Jahrbuch für Biblische Theologie 30 [2015]), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2018, Vf. 7

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kommen, droht aber eine hilfreiche Distanz zu verlieren und der Gefahr der Überidentifikation zu erliegen und, selbst hilflos, in den Schmerz hinüberzugleiten. Empathie9 hat zwar einen fast technischen Klang, hat sich aber in der jüngeren (pastoral-)psychologischen Diskussion etabliert10 als eine in Krisensituationen hilfreiche und tragfähige Haltung der Einfühlung, die die fremde wie eigene Perspektive und Identität sowohl zu verstehen als auch zu schützen weiß. In der Nähe zum Empathiebegriff anzusiedeln, aber auch deutlich davon zu unterscheiden, ist auch das zuletzt vieldiskutierte Konzept der „Resonanz“ des Soziologen Hartmut Rosa.11 Im einfühlsamen Kontakt zwischen Menschen entsteht „das Gefühl der Verbundenheit, [...] auf das Menschen so grundsätzlich angewiesen sind wie auf Nahrung“12. Solche resonanten Zustände, in denen jemand sich vom Anderen ‚gefühlt’ und in Verbindung weiß, machen empathische Beziehungen im Kern aus. Sie sind deshalb von Bedeutung, weil Menschen sich darin vergewissern, dass ihre eigene Erfahrungswelt als ein klares Bild in der Erfahrungswelt eines Anderen existiert.13 Auf dem Boden von empathischen Beziehungen entsteht die Fähigkeit von Menschen, sich in sich selbst einzufühlen und mit sich in verständnisvollem innerem Dialog zu bleiben,14 was in Situationen der Krise zur gelingenden Selbst-Sorge und zur Erhaltung eines Kohärenzgefühls führen

                                                             9 Zur Begriffsgeschichte: GÖHLSDORF, NOVINA, Empathie, in: Falko Schmieder/Georg Toepfer (Hg.), Wörter aus der Fremde. Begriffsgeschichte als Übersetzungsgeschichte, Berlin: Kadmos 2018, 88–95. 10 Für eine differenzierte Einschätzung vgl. etwa SCHULT, MAIKE, „Von Amts wegen barmherzig“? Empathie und Tabu(-bruch) im Pfarrberuf, in: Karl-Dieter Johannsmeyer/Gabriela Lehmann-Carli/Hilmar Preuß (Hg.): Empathie im Umgang mit dem Tabu(bruch). Kommunikative und narrative Strategien (Ost-West-Express. Kultur und Übersetzung 19), Berlin: Frank & Timme 2014, 162.173–176; Dies., „Alles nur Fassade“? Tabubrüche und Empathiehürden in den Professionsberufen, in: Dies./Gabriela Lehmann-Carli/Betty Johannsmeyer/Karl-Dieter Johannsmeyer (Hg.): Zerreißproben: Trauma – Tabu – EmpathieHürden (Ost-West-Express. Kultur und Übersetzung 27), Berlin: Frank & Timme 2017, 268–272. 11 Die Resonanz-Theorie (vgl. bes. ROSA, HARTMUT, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin: Suhrkamp 42016, passim) wurde in jüngerer Zeit auch in theologischen Zusammenhängen viel diskutiert, zumal Rosa nicht nur die Bedeutung „horizontaler“, sondern auch „vertikaler“ Resonanzachsen hervorgehoben und damit religiöse Resonanzerfahrungen auch für soziologische Zusammenhänge ins Spiel gebracht hat. Zu „Resonanz“ in entwicklungspsychologischer Hinsicht s. BAUER, JOACHIM, Wie wir werden, wer wir sind. Die Entstehung des menschlichen Selbst durch Resonanz, München: Karl Blessing 2019, passim. 12 STAEMMLER, FRANK-M., Empathie in der Psychotherapie aus neuer Perspektive, Kassel: Univ. Diss. 2009, 237. 13 Vgl. STAEMMLER, Empathie, 237. 14 Vgl. STAEMMLER, Empathie, 230f.

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kann, auch wenn dies das grundlegende Bedürfnis nach resonanten Beziehungen zu anderen Menschen nicht ersetzt. Zum Motivkomplex eines empathischen Gottes gehört gewiss auch die Rede von JHWHs Erbarmen und Mitleid, die z.B. H. Spieckermann am Leitwort ‫ ָרחַ ם‬pi. ‚Mitleid haben‘ und ‫ נחם‬ni. ‚sich etwas gereuen lassen‘, M. Franz ebenfalls am Leitwort ‫ ָרחַ ם‬pi. mit einem Fokus auf der Gnadenformel Ex 34,6f. und I. Fischer am Leitwort ‫‚ חוּס‬Mitleid haben’ mit besonderem Blick auf das Jonabuch entwickelt haben.15 Darüber hinaus hat B. Janowski am Beispiel von ‫ עָ צַ ב‬hitp. ‚Schmerz empfinden‘ und ‫ נחם‬ni. ‚sich etwas gereuen lassen‘ in Gen 6,5–8 JHWH als empathischen Gott zu verstehen gegeben und sich dabei zu recht kritisch mit dem sog. Apathieaxiom auseinandergesetzt.16 Bei den genannten Ausdrücken handelt es sich um indirekte, reflexive Repräsentation von Emotionen im emotiven Modus.17 Im Folgenden wird davon ausgegangen, dass Empathie sich zudem in genauem Hinsehen, Zuhören, Kennen und Verstehen der Situation eines anderen artikuliert und im Zusammenhang von Literatur mindestens auch dadurch charakterisiert wird, dass Wahrnehmen und Verstehen der emotionalen Situation eines anderen thematisiert wird. Daher stehen im Folgenden Passagen im Vordergrund, in denen JHWH Israels Leiden und Bedrängnis sieht, hört, versteht und helfend eingreift. Nichtpriesterliche und Priesterliche Erzählungen von Moses ersten Begegnungen mit JHWH erzählen, wie sich der rettende Gott dem charismatischen Leader des unterdrückten Volks vorstellt. Bei Schlüsselabschnitten der Hebräischen Bibel

                                                             15 Vgl. SPIECKERMANN, HERMANN, Gottes erbarmungsvolle Liebe in der Zeit des Zweiten Tempels, in: Irmtraud Fischer u.a. (Hg.), Mitleid und Mitleiden (Jahrbuch für Biblische Theologie 30 [2015]), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2018, 31–48.; FISCHER, IRMTRAUD, „... und mir sollte nicht leid sein ...?“. Über die Facetten von Gottes Mitleid im Jonabuch, in: Irmtraud Fischer u.a. (Hg.), Mitleid und Mitleiden (Jahrbuch für Biblische Theologie 30 [2015]), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2018, 89–108; FRANZ, MATTHIAS, Barmherzigkeit im Namen Gottes. Die Selbstvorstellung Jhwhs in Ex 33–34, in: Irmtraud Fischer u.a. (Hg.), Mitleid und Mitleiden (Jahrbuch für Biblische Theologie 30 [2015]), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2018, 75–88. 16 Vgl. JANOWSKI, BERND, Die Empathie des Schöpfergottes. Gen 6,5–8,22 und das Apathie-Axiom, in: Irmtraud Fischer u.a. (Hg.), Mitleid und Mitleiden, Jahrbuch für Biblische Theologie 30, 2015, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2018, 49–74. 17 Vgl. dazu KEPPER, MARTINA, Wie sagt man, was man fühlt? Linguistische Bemerkungen zur Frage der Interrelation von Sprache und Gefühl am biblischen Wortfeld „Scham“, in: Alexandra Grund-Wittenberg/Ruth Poser (Hg.), Die verborgene Macht der Scham. Ehre, Scham und Schuld im alten Israel, in seinem Umfeld und in der gegenwärtigen Lebenswelt (BThSt 173), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2018, 36–40.

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wie Ex 2,23–25; 3,7–10 und 6,2–8 müssen freilich zahlreiche Aspekte der verzweigten literaturgeschichtlichen Diskussion und des Gesamtverständnisses außer Acht bleiben.

II. Wahrnehmungen des Exodusgottes Was JHWH sieht, lässt ihn von den ersten Kapiteln der Hebräischen Bibel an nicht unbehelligt: In der nichtpriesterlichen Flutgeschichte bereitet ihm seine Wahrnehmung (Gen 6,5: ‫ ) ָראָה‬der menschlichen Bosheit Schmerz (Gen 6,6 ‫ עָ צַ ב‬hitp.). Auch wenn dieser ihn veranlasst, die Flut kommen zu lassen – in „seinem Gericht leidet Gott selbst mit.“18 Für Israel hingegen präsentiert sich JHWH sogleich als ein Gott, der seinem Volk ungefragt zu Hilfe eilt. Aus den vorangegangenen Abschnitten der Exoduserzählung wissen die Lesenden von Israels Leiden unter einem Pharao, der aus machtpolitischen Erwägungen bereits Säuglinge hatte ermorden lassen; sie konnten sich dabei mit Israel identifizieren und Mitgefühl mit ihm aufbauen. Die im Folgenden behandelten Abschnitte Ex 2,23–25; 3,7–10 und 6,2–8 zeigen den Lesenden nun, auf welche Weise auch JHWH Israels Leiden wahrnimmt und Hilfe ankündigt. 1. Auf dem Weg zum Dornbusch: Ex 2,23–25 Der offenbar aus nichtpriesterlichen (Ex 2,23aα) und priesterlichen (Ex 2,23aβb–25) Elementen bestehende Passus Ex 2,23–25 bereitet im kanonischen Zusammenhang die sich anschließende nichtpriesterliche Dornbuschszene aus Erzählerperspektive vor: 23 Und im Verlauf jener langen Zeit starb der König von Ägypten, und die Israeliten stöhnten (‫ אָנַח‬ni.) wegen der Arbeit und schrien (‫)צָ עַ ק‬, und ihr Schreien (‫ )שַׁ וְ עָ ָת֛ם‬stieg von der Arbeit auf zu Gott. 24 Und Gott hörte (‫ )שָׁ מַ ע‬ihr Seufzen (‫) ַנאֲקָ ָת֑ם‬, und Gott gedachte (‫ )זָכַ ר‬seines Bundes mit Abraham, Isaak und Jakob. 25 Und Gott sah die Israeliten (‫) ָראָה‬, und Gott wusste (‫ י ַָדע‬q.).19

Dieser wichtige Scharniertext leitet innerhalb des priesterlichen Erzählzusammenhangs über zu Ex 6,2–8, schließt aber synchron zugleich zu Ex 3,7–10

                                                             18 FUHS, HANS FERDINAND, Art. ‫ ָראָה‬, Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament 7 (1993), 257; vgl. JANOWSKI, Empathie, 52–63. 19 Es gibt zwar auch gute Gründe, ‫ י ַָדע‬hier mit „sich jemandes annehmen“ oder „sich kümmern“19 zu übersetzen, vgl. OSWALD, WOLFGANG/UTZSCHNEIDER, HELMUT, Exodus 1–15 (Internationaler Exegetischer Kommentar zum Alten Testament), Stuttgart: Kohlhammer 2013, 110, doch wird hier eine für das Hebräische transparente Übersetzung angestrebt.

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auf.20 Ex 2,24f. gebraucht mit ‫שָׁ מַ ע‬, ‫ ָראָה‬und ‫ י ַָדע‬die gleichen Verben wie Ex 3,7. Lediglich ‫‚ זָכַ ר‬sich erinnern‘ / ‚gedenken‘ fehlt in Ex 3,7, begegnet aber dann in Ex 6,5 wieder.21 In Ex 6,2–8 wiederum ist zwar von JHWHs Hören (‫ )שָׁ מַ ע‬und Gedenken (‫ )זָכַ ר‬die Rede (6,5), aber nicht mehr von seinem Sehen (‫ ָראָה‬q.) oder Erkennen (‫ י ַָדע‬q.). Ex 6,2–8 spricht wiederum nur noch von Gottes Erscheinen (‫ ָראָה‬ni., 6,3) und Sich-Kundtun (‫ י ַָדע‬hi., 6,3), und davon, dass nun Israel JHWH erkennen soll (‫ י ַָדע‬q., 6,7). Offenbar soll auf JHWHs Sehen, Hören, Erkennen und Gedenken in Ex 2,23–25 und 3,7 ab Ex 6,2–8 Israels Sehen, Hören und Erkennen JHWHs folgen: Die Beziehung von JHWH und Israel wird von JHWH begründet, ist im Folgenden aber nicht ohne wechselseitige Wahrnehmung und Anerkennung denkbar. Was bedeuten hier aber im Einzelnen die Verben ‫זָכַ ר‬, ‫ ָראָה‬, ‫ שָׁ מַ ע‬und ‫י ַָדע‬, die Gottes Wahrnehmen und Handeln beschreiben? a) Das Verb ‫ זָכַ ר‬wird gerne mit „gedenken“ übersetzt, bezieht sich jedoch nicht allein auf einen kognitiven Vorgang und auf Vergangenes, sondern auf ein handlungsbereites „Denken an“: Jemandes zu gedenken ist zugleich auch Zuwendung zu einer Person, und damit elementare Voraussetzung von Beziehungen.22 Gottes Gedenken begegnet bereits an zentraler Stelle in der priesterlichen Flutgeschichte: Gott gedenkt des Noah (Gen 8,1) und lässt die Flut abschwellen, Gott stiftet nach der Flut den Bogen in den Wolken als Zeichen, das ihn an den Noahbund erinnern soll (Gen 9,15): „Wie ‫ זָכַ ר‬+ Subj. Mensch meint auch ‫ זָכַ ר‬+ Subj. JHWH eine tiefe Anteilnahme dessen, der gedenkt (Gott), am Geschick dessen, an den gedacht wird (Mensch/Israel).“23 Zwar hat P zuvor nicht explizit von einem Bundesschluss mit Jakob erzählt, doch richtete El

                                                             20 Vgl. GREENBERG, MOSHE, Understanding Exodus. A Holistic Commentary on Exodus 1–11, Eugene: Cascade 22013, 81; SCHMID, Erzväter, 193f. u.a. 21 Literaturgeschichtlich ist es wahrscheinlich, dass der priesterliche Einschub nichtpriesterliche und priesterliche Darstellungen miteinander verknüpft; vgl. zur Abhängigkeitsrichtung auch BLUM, ERHARD, Die literarische Verbindung von Erzvätern und Exodus. Ein Gespräch mit neueren Endredaktionshypothesen, in: Jan Christian Gertz/Konrad Schmid/Markus Witte (Hg.), Abschied vom Jahwisten. Die Komposition des Hexateuch in der jüngsten Diskussion (BZAW 315), Berlin u.a.: de Gruyter 2002, 124–127. 22 Vgl. hierzu u.a. SCHOTTROFF, WILLY, „Gedenken“ im alten Orient und im Alten Testament. Die Wurzel zākar im semitischen Sprachkreis (WMANT 15), Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 21967, 115 u. passim; GRUND, ALEXANDRA, Die Entstehung des Sabbats. Seine Bedeutung für Israels Zeitkonzept und Erinnerungskultur (FAT 75), Tübingen: Mohr Siebeck 2011, 163f.182–187; JANOWSKI, BERND, Schöpferische Erinnerung. Zum „Gedenken Gottes“ in der biblischen Fluterzählung, in: Ders. (Hg.), Die Welt als Schöpfung (Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 4), Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 2008, 172– 198, 174–176 u. passim. 23 JANOWSKI, Erinnerung, 196.

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Schaddaj in Gen 17,4–10 mit Abraham und seinen Nachkommen einen Bund auf, in Gen 17,19.21 explizit auch mit Isaak. Die Trias von Sehen, Hören und Wissen Gottes verbindet Ex 2,24f. und Ex 3,7. Dabei steht die theologische Redeweise über Sinneswahrnehmungen in Wechselbeziehung zur anthropologischen.24 Bereits hierbei führen Hören und Sehen25 auf unterschiedliche Weise zur Einsicht und können nicht gegeneinander ausgespielt werden: Beim Sehen geht es um eine ‚mit eigenen Augen‘ zustande kommende, daher meist unabweisbare Einsicht26 – eine Einsicht also, die auf verlässlichere Weise zustande gekommen ist als durch Hören allein, da das Hören sich oft auf Worte und Ansichten anderer bezieht.27 „Es scheint sich um eine weiter verbreitete anthropologische Gegebenheit zu handeln, wenn ‚Sehen‘ metaphorisch i.S.v. ‚Einsehen, Verstehen‘ gebraucht werden kann, die Verben des Hörens dagegen i.S.v. ‚Zuhören, Gehorchen‘.“28

b) Sieht Gott eine Not, bedeutet es gleichermaßen, dass er versteht; dies leitet in der Regel auch sein helfendes Eingreifen ein: „Wenn JHWH die Not und das Elend des Einzelnen wie des Volkes ansieht, ereignet sich im Akt der Wahrnehmung seine personale Zuwendung und Hilfe, ist die Not bereits gewendet“.29 Dass JHWH den Mord an Unschuldigen sieht (‫) ָראָה‬, veranlasst ihn zum Handeln (2Kön 9,26 u.a.).30

                                                             24

In diesem Kontext sind daher auch die jüngeren Forschungen zu Sinneswahrnehmungen und ihrer Metaphorik in der Hebräischen Bibel zu beachten, vgl. also etwa AVRAHAMI, YAEL, The Senses of Scripture. Sensory Perception in the Hebrew Bible (The Library of Hebrew Bible/Old Testament Studies 545), London u.a.: Bloomsbury 2014; TILFORD, NICOLE L., Sensing World, Sensing Wisdom. The Cognitive Foundation of Biblical Metaphors (Ancient Israel and Its Literature 31), Atlanta: SBL 2017. 25 Zur Auseinandersetzung mit der Konstruktion des antiken Griechenlands als eine Kultur des Sehens und Israel als einer Kultur des Hörens bei BOMAN, THORLEIF, Das hebräische Denken im Vergleich mit dem griechischen, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 51968, passim, und ähnlich KRAUS, HANS-JOACHIM, Hören und Sehen in der althebräischen Tradition, in: Ders., Biblisch-theologische Aufsätze, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 1972, 89– 94 s. v.a. JANOWSKI, BERND, Anthropologie des Alten Testaments. Grundfragen – Kontexte – Themenfelder, Tübingen: Mohr Siebeck 2019, 148.286 ff; AVRAHAMI, Senses, 223–276. 26 Vgl. dazu etwa SAVRAN, GEORGE, Seeing is Believing. On the Relative Priority of Visual and Verbal Perception of the Divine, in: Bibl.Inerpr. 17 (2009), 320–361; TILFORD, Sensing, 51.58–63.66f. u. passim 27 Vgl. TILFORD, Sensing, 73f.90. 28 RÜTERSWÖRDEN, UDO, Art. ‫שָׁ מַ ע‬, in: Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament 8 (1995), 260. 29 FUHS, ‫ ָראָה‬, 255f. 30 Für unrecht Handelnde hat JHWHs prüfendes Sehen freilich eine kritische Bedeutung: Die Vorstellung, dass JHWH Unrecht, Unterdrückung und Götzendienst ansieht, entstammt dabei dem „Sprach- und Vorstellungsbereich des Gerichtswesens“; FUHS, ‫ ָראָה‬, 255f. Der in der Höhe thronende Gott „überschaut alles bis in die Tiefen (Ps 113,6), bis hin zu den Enden der Erde (Ijob 28,24; vgl. 28,27), kennt den Menschen von seiner Urgestalt an (Ps 139,16;

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c) Geht es beim Hören anthropologisch nur selten um die reine Sinneswahrnehmung, sondern vielmehr um Zuhören und Beherzigen, so bezieht sich im theologischen Gebrauch ‫ שָׁ מַ ע אֶ ל‬absolut oder mit Akk.-Objekt i.d.R. auf die Erhörung einer Person oder ihrer Bitte.31 Auch beim Hören Gottes geht es darum, dass Gott zuhört und erhört: Aus dem Zuhören folgt in der Regel ein helfendes Handeln. d) Das Verb ‫ י ַָדע‬q. ‚wissen, erkennen‘ beschreibt ebenfalls nicht nur ein kognitives Vermögen, sondern das vertrauensvolle, auch intime Kennen. Dass JHWH Israel nach Am 3,2 ‚erkannt‘ hat, begründet sein besonderes Verhältnis zu ihm und ist gleichbedeutend mit Erwählung und Verantwortung. Ähnlich vertraute Beziehungen initiiert JHWH auch zu Personen wie Abraham, Mose und David (Gen 18,18 f; Ex 33,12.17; Dtn 34,10; Jer 1,5; 2Sam 7,20 = 2 Chr 17,18) oder dem Propheten Jeremia, den er bereits im Mutterleib kennt (‫י ַָדע‬ q.) und zum Propheten für die Nationen bestimmt (Jer 1,5).32 Was aber nimmt Gott hier wahr? ‫ שַׁ וְ עָ ה‬ist ein v.a. in individuellen Klageliedern des Psalters gebrauchter Terminus für den Schrei nach Hilfe zu Gott.33 Das Seufzen (‫)נְ אָקָ ה‬, das JHWH nach 2,24 hört (vgl. ‫ אָנַח‬ni. in V. 23; vgl. ferner ‫ שָׁ מַ ע‬+ ‫ נְ אָקָ ה‬auch in Ex 6,5), ist sonst das Seufzen oder Stöhnen von Menschen, die von Feinden bedrängt (Ri 2,18) oder tödlich verwundet sind (Ez 30,24). ‫ צָ עַ ק‬bezeichnet den Notschrei der Entrechteten, der auf irgendeinen Rechtshelfer zielt; doch ansonsten hat aus Israels Perspektive der Notschrei keinen expliziten Adressaten. Dass Israel wegen seiner Arbeit schreit, nicht schon zuvor wegen der erlebten Grausamkeit des Kindermordes, überrascht freilich: So wurde Israels Schreien von Ibn Ezra an der größeren Skrupellosigkeit des neuen Pharaos festgemacht, doch Greenberg weist zurecht darauf hin, dass die aktuelle Unterdrückung nicht an die Gräueltaten eines Kindermordes heranreicht – eher werde die Möglichkeit der Rückkehr des Totschlägers Moses plausibilisiert.34

                                                             vgl. 1Sam 16,7; Ijob 10,4), schaut auf die Niedrigen (Ps 138,6); niemand kann sich seinem Blick entziehen (Jer 23,4)“; FUHS, ‫ ָראָה‬, 255f. 31 Gen 16,11; 21,17; 30,17.22; Dtn 3,26; 9,19; 10,10; Ri 9,7; 1 Kön 8,52; 2 Kön 13,4; Jer 11,11; 14,12; 29,12; Ps 69,34; Dan 9,17; Neh 1,6; vgl. hierzu RÜTERSWÖRDEN, ‫שָׁ מַ ע‬, 260. 32 Der wissende Gott ist zugleich auch der Prüfer und Richter verborgener Taten, also auch von Israels Vergehen (Am 5,12; Hos 5,3; Ez 11,5) oder von Moabs Überheblichkeit (Jer 48,30); vgl. hierzu im Einzelnen BOTTERWECK, G. JOHANNES, Art. ‫י ַָדע‬, in: Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament 3 (1982), 499. 33 Vgl. 2Sam 22,7; Ps 5,3; 18,7; 22,25; 28,2; 31,23; 34,16; 39,13; 40,2; 102,2; 119,147; 145,19; vgl. Lam 3,56; Hi 36,19; ‫ שַׁ וְ עָ ה‬wird oft mit ‫ ְשׁ ַמ֤ע‬kombiniert, so in 2Sam. 22,7 par. Ps 18,7; 28,2; 31,23; 40,2; 145,19. 34 Vgl. GREENBERG, Exodus, 42 m. fn. 64.

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Alexandra Grund-Wittenberg

Auch wenn darüber hinaus über Gottes Gefühlsregungen oder eine innere Anteilnahme nicht explizit berichtet wird: Die kurzen, prägnanten Formulierungen von 2,25 beschreiben umfassend, dass Gott die Not der Israeliten wahrnimmt, dass er sie und ihre gesamte Situation genau versteht, dass er mitfühlt mit denen, mit denen auch die Lesenden bereits mitfühlten, und dass er – das geht über reine Empathie noch hinaus – zu tatkräftiger Hilfe bereit ist. 2. Offenbarung am Dornbusch: Die Gottesrede in Ex 3,7–10 Bei der Erzählung von der Offenbarung am Dornbusch, einer der bekanntesten und meistausgelegten Stellen der Hebräischen Bibel, soll im Folgenden der Blick nur kurz auf den Kontext der hier besonders interessierenden Verse Ex 3,7–10 gerichtet werden. Es gibt verschiedene Ebenen der Gliederung von Ex 3,1–4,17, die miteinander konkurrieren: Eine orientiert sich an abwechselnden Wortfeldern, eine an sechs Bildern bzw. Szenen und eine an den Einwänden des Mose und Antworten Gottes.35 Für unseren Zusammenhang genügt der Vermerk, dass der Erzählabschnitt Ex 3,1–6 hinführt zur programmatischen Gottesrede Ex 3,7–10, an die sich der Dialogteil Ex 3,11–4,17 anschließt. Bereits die erste Annäherung von Gott und Mose in Ex 3,1–6 ist charakteristisch: Der Rückblick auf Gottes Zugehen auf Mose enthüllt ihn als jemand, der ganz bedacht, einfühlend und mit persönlichem Interesse dem Menschen begegnet. Schrittweise, in kleinen Stufen steigernd, kommt er näher und offenbart sich immer tiefer.36 7 Und JHWH sprach: Ich habe die Demütigung (‫ )ע ֳִנ֥י‬meines Volkes (‫ )עַ ִ ֖מּ י‬in Ägypten gesehen, ja gesehen (‫ ) ָראָה‬und seinen Notschrei (‫ ) ְצעָ קָ ה‬wegen seiner Antreiber habe ich gehört (‫)שָׁ מַ ע‬. ֖ ַ ‫ )י‬seine Schmerzen (‫ב יו‬ ָֽ ‫א‬ ֹ ‫)מַ ְכ‬. Ja37, ich kenne (‫ָד ְע ִתּי‬ 8 Und so bin ich herabgekommen (‫)וָאֵ ֵ ֞ר ד‬, um es aus der Hand Ägyptens zu retten (‫ נָצַ ל‬hi.) und es aus diesem Land heraufzuführen (‫ עָ לָ ה‬hi.) in ein gutes und weites Land, in ein Land, das von Milch und Honig fließt, an den Ort des Kanaaniters, Hetiters, Amoriters, Perisiters, Hewiters und Jebusiters.

                                                             35

Vgl. hierzu u.a. FISCHER, GEORG, Exodus 3–4 „revisited“. Impulse für die 13. Tagung des Kolloquiums „Theorie der Exegese“ in Neuendettelsau, 5.–7. März 2010, in: Ders., Die Anfänge der Bibel. Studien zu Genesis und Exodus (Stuttgarter Biblische Aufsatzbände 49), Stuttgart: Katholisches Bibelwerk 2011, 197; DOHMEN, CHRISTOPH, Exodus 1–18 (HThKAT), Freiburg i.Br. u.a.: Herder 2015, 142f. 36 FISCHER, GEORG, Gottes Offenbarung am Dornbusch (Ex 3f), in: Ders., Die Anfänge der Bibel. Studien zu Genesis und Exodus (SBAB 49), Stuttgart: Katholisches Bibelwerk 2011, 187; vgl. ähnlich OSWALD/UTZSCHNEIDER, Exodus, 113. 37 Zur Diskussion von deiktischem oder emphatischem s. SCHMIDT, WERNER H., Exodus 1,1–6,30 (BK II/1), Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 1988, 104.

„Ja, ich kenne seine Schmerzen“ (Ex 3,7)

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Und nun siehe38: Das Notgeschrei (‫ ) ְצעָ קָ ה‬der Israeliten ist zu mir gekommen; und ich habe auch die Bedrängnis (‫ ) ֔ ַלּ חַ ץ‬gesehen (‫) ָראָה‬, mit der Ägypten sie bedrängt (‫)לָ חַ ץ‬. 10 Und nun geh hin, ich will dich zum Pharao schicken. Führe mein Volk, die Israeliten, aus Ägypten heraus. 9

Literargeschichtlich sind V. 9f. als dtr. Anfügungen anzusehen; auf synchroner Ebene ist V. 7f. ein Rückblick, V. 9f. ein Vorblick. V. 7 und 9 sind durch ‫ְצעָ קָ ה‬ und ‫ ָראָה‬miteinander verknüpft, zugleich aber auch syntaktisch und semantisch variiert: V. 7: mein Volk – V. 9: die Israeliten; V. 7: Demütigung – V. 9 Bedrängnis.39 In V. 7 wird Israel zum ersten Mal in der Hebräischen Bibel als ‫ עַ ִ ֖מּי‬bzw. als JHWHs Volk bezeichnet,40 noch bevor JHWH sie als Israel anspricht.41 Zwar wird an Abraham, Isaak und Jakob, aber nicht an eine Bundesverpflichtung JHWHs erinnert; insofern gründet sich die erfolgte Annahme als Volk in V. 7 nicht primär auf JHWHs vorgängiger Verpflichtung und erst recht nicht auf Vorleistungen Israels, sondern zuallererst darauf, dass JHWH Israels Leiden wahrnimmt:42 „So entsprang die personale Bindung JHWHs an gerade dieses Volk einzig seinem Mitleid und Erbarmen“43. V. 7f. beschreibt JHWHs Wahrnehmung des Leidens Israels mit der oben zu Ex 2,24f. bereits besprochenen Trias der Sinne Sehen, Hören, Kennen. Entscheidend ist aber wiederum nicht nur wie, sondern auch was JHWH wahrnimmt, nämlich das Elend, das Notgeschrei und die Schmerzen. Die detaillierte Aufzählung unterstreicht JHWHs genauen Blick für die vielen Einzelaspekte der Not: Er erkennt die Demütigung (‫ )ע ֳִנ֥י‬und damit auch die seelischen Schmerzen der Herabwürdigung durch Mächtigere, die die körperliche und materielle Not erheblich verschlimmert. Die Formulierung erinnert an Gen 16,11, wonach JHWH die Demütigung Hagars gehört hat (‫מ ע יְ הוָ ֖ה אֶ ל־‬ ֥ ַ ָ‫ִ ֽכּי־שׁ‬ ‫)עָ נְ יֵ ֽ  ְך‬.44 Sehr konkret an die Erhörung des Notschreis (‫ ) ְצעָ קָ ה‬Israels in Ex 3,7 erinnern im weiteren kanonischen Verlauf die Passagen des Bundesbuchs Ex 22,20.21–23.25–26:

                                                             38

Zur Übersetzung s. SCHMIDT, Exodus 1,1–6,30, 104. Zur Struktur von V. 7–9 vgl. Greenberg, Exodus, 61.80.82. 40 Vgl. DOHMEN, Exodus, 151. 41 Vgl. ALBERTZ, RAINER, Exodus 1–18 (ZBK 2.1), Zürich: Theologischer Verlag 2012, 39

80. 42 Vgl. OSWALD/UTZSCHNEIDER, Exodus, 126: „die eigentliche, wirkmächtige Beziehung zwischen Volk und Gott kommt aber erst durch dessen unmittelbare Wahrnehmungsbereitschaft zustande“; vgl. GREENBERG, Exodus, 81: „The effect is a one-sided emphasis“. 43 ALBERTZ, Exodus, 80. 44 Vgl. im weiteren kanonischen Verlauf die ähnlichen Formulierungen: 1Sam 1,11: ‫ִאם־‬ ‫א ה ִת ְר ֶא ֣ה בָּ ע ֳִנ ֣י‬ ֹ ֥ ‫ ; ָר‬Ps 9,14: ‫ ; ְר ֵא ֣ה עָ ֭נְ יִ י‬Ps 25,18: ‫ ְר ֵא ֣ה עָ ֭נְ יִ י‬u.a.

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20 Einen Fremden sollst du nicht bedrängen und nicht bedrängen ( ֶ‫) ְלחָ צ‬, seid ihr doch selbst Fremde gewesen im Land Ägypten. 21 Jegliche Witwe oder Waise sollt ihr nicht demütigen (‫) ְתעַ נּֽ וּן‬. 22 Wenn du sie dennoch erniedrigst (‫)עַ נֵּ ֥ה ְתעַ נֶּ ֖ה‬ und sie zu mir schreien (‫)צָ עַ ק יִ ְצעַ ק‬, werde ich ihr Schreien (ֹ‫ )צַ עֲקָ ֽתו‬hören (‫)שָׁ מַ ע‬, 23 dann wird mein Zorn entbrennen, und ich werde euch töten mit dem Schwert, sodass eure Frauen Witwen und eure Kinder Waisen werden. 25 Wenn du den Mantel deines Nächsten zum Pfand nimmst, sollst du ihm diesen vor Sonnenuntergang zurückgeben. 26 Denn er ist seine einzige Decke, die Bekleidung für seine Haut. Worin sonst soll er sich schlafen legen? Und wenn er zu mir schreit (‫)יִ ְצ ַע ֣ק‬, werde ich es hören (‫ ;)שָׁ מַ ע‬denn ich bin gnädig.

JHWH hört auch über den Exodus hinaus den Notschrei und schreitet richterlich-rettend für Entrechtete ein. Wo Gerichtsinstitutionen versagen, rechnet die Hebräische Bibel mit der Intervention Gottes, doch bleibt diese zugleich auch der Maßstab für menschliche Gerechtigkeit. Auch in Ex 3,7f. ist nicht von einem an JHWH gerichteten Gebet, sondern nur vom Notschrei gesprochen; daher ist es zu weit gegriffen, von einer Erhörung zu sprechen.45 Schließlich nimmt JHWH auch die Gewalt der Antreiber (‫שׂיו‬ ָ ֔ ְ‫) ֽ ֹנ ג‬, somit auch die Täterseite und die politische Dimension des Geschehens wahr (vgl. V. 9). JHWH erkennt und versteht die Situation des leidenden Volkes, spricht sie aus und solidarisiert sich mit ihm. Er bleibt dabei aber nicht stehen, sondern schreitet zu tatkräftiger Hilfe: „Er macht sich ihren Schmerz zu eigen, fühlt mit und stellt sich auf ihre Seite. Gott läßt es nicht auf dem Beobachten und Wissen beruhen, er geht über zum Handeln.“46 Ähnlich wie beim Turmbau (Gen 11,5.7) oder wegen des Zetergeschreis über Sodom (Gen 18,20f), steigt JHWH hinab.47 Gott kommt von weit oben nach tief unten und will Israel heraufführen (‫ עָ לָ ה‬hi.). Gewiss kann auch konkret an die Heraufführung ins gebirgige Israel und zuvor in die gebirgige Sinairegion gemeint sein. Es geht aber auch um die Gegenbewegung: Gott kommt herunter, um Menschen aus der Erniedrigung nach oben zu führen. „Insofern ist der Exodus theologisch „mit dem Motiv der Kondeszendenz, des Herabsteigens Gottes, verbunden. Dieser eigentlich in der Christologie beheimatete theologische Begriff wird in V. 8 narrativ dargestellt.“48

                                                             45

OSWALD/UTZSCHNEIDER, Exodus, 126; ALBERTZ, Exodus, 65 mit Anm. 20. FISCHER, Offenbarung, 189. 47 Vgl. im weiteren Verlauf: Ex 19,11.18.20; 34,5; Num 11,7.25; 2Sam 22,10 // Ps 18,10; Jes 31,4; Neh 9,13) und dazu DOHMEN, Exodus, 152. 48 OSWALD/UTZSCHNEIDER, Exodus, 126. 46

„Ja, ich kenne seine Schmerzen“ (Ex 3,7)

55

Damit belässt JHWH es nicht beim Retten (‫ נָצַ ל‬hi.) aus der Gewalt der Unterdrücker, sondern gibt die Zusage einer konkreten Hoffnungsperspektive: Gott wollte damit von Beginn an dafür sorgen, dass die von der Unterdrückung Ägyptens Befreiten einen neuen Lebensraum erhielten, in dem sie in Freiheit würden leben können. Und wenn dieser Lebensraum auch noch überschwänglich als ein Land beschrieben wird, ‚in dem Milch und Honig fließen‘, dann soll damit den bei karger Kost gehaltenen Fronarbeitern die Möglichkeit eines von wirtschaftlichen und sozialen Nöten unbeschwerten Lebens im Überfluss vor Augen gemalt werden.49

Die Herausführung ist nicht zu trennen von der Hineinführung in das verheißene Land. Die Freiheit ist nicht nur Freiheit von der Gewalt und Übermacht der Ägypter, sondern eine Freiheit zum Leben im von JHWH geschenkten Land. 3. Erkenntnis Gottes in bundestheologischem Horizont: Ex 6,2–8 Zwar wurde Ex 6,2–7,7 in literargeschichtlicher Hinsicht oft gerne als Dublette der nichtpriesterlichen Berufungserzählung bezeichnet, doch kommt auch die neuere literargeschichtliche Forschung mittlerweile zu anderen Ergebnissen.50 Immerhin ist dieser Abschnitt auf eine bereits erfolgte Vorstellung des Mose angewiesen51 und antwortet im Endtext auf Pharaos Verweigerung des Auszugs im vorangegangenen Abschnitt Ex 5,1–6,1. Im priesterlichen Erzählzusammenhang setzt Ex 6,2–7,7 wichtige theologische Akzente als Eröffnung der priesterlichen Exodus-Erzählung. Wie in priesterlichen Texten üblich, sind die erzählerischen Momente höchst sparsam eingesetzt: Im deutlichen Kontrast zu Ex 3,1–4,17 ist Ex 6,2–8 nicht dialogisch strukturiert, sondern präsentiert, nach knapper Einleitung an Mose und ohne weitere Angaben zu den Umständen, eine theologische Gottesrede. Der Text lautet: 2 Da redete Gott zu Mose und sprach zu ihm: Ich bin JHWH. 3 Ich bin Abraham, Isaak und Jakob erschienen als El Schaddaj; aber mit meinem Namen Jahwe habe ich mich ihnen nicht zu erkennen gegeben (‫י ַָדע‬ hi.). 4 Ich habe auch52 meinen Bund mit ihnen aufgerichtet,

                                                             49

ALBERTZ, Exodus, 81. Vgl. etwa SCHMID, Erzväter, 195–202 u.a. 51 Vgl. OSWALD/UTZSCHNEIDER, Exodus, v.a. 164f.169f; DOHMEN, Exodus, 192; vgl. bereits MAGONET, JONATHAN, The Rhetoric of God: Exodus 6.2–8, in: JSOT 27 (1983), 57. Auf die vieldiskutierte Frage nach der Funktion von Ex 6,2–8 innerhalb der P-Texte und in literargeschichtlicher Hinsicht kann an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden. 52 Zum ungewöhnlichen ‫ וְ ֨ ַג ם‬in V.4 und V.6 s. LEIBOWITZ, NEHAMA, New Studies in Shemot. Exodus, Jerusalem: Eliner Library 1996, 119–121. 50

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Alexandra Grund-Wittenberg ihnen das Land Kanaan zu geben, das Land ihrer Fremdlingschaft, in dem sie sich als Fremdlinge aufgehalten haben. 5 Ich, ja ich53 habe das Seufzen der Israeliten gehört (‫)שָׁ מַ ע‬, die Ägypten zur Arbeit zwingt, und ich habe an meinen Bund gedacht (‫)זָכַ ר‬. 6 Darum sage zu den Israelitinnen und Israeliten: Ich bin JHWH, und ich werde euch herausführen, weg von den Lastarbeiten der Ägypter, euch aus ihrer Arbeit herausreißen und werde euch auslösen mit ausgestrecktem Arm und großen Gerichten. 7 Und ich will euch mir zum Volk annehmen und euch Gott werden. Und ihr werdet erkennen (‫ י ַָדע‬q.), dass ich JHWH, euer Gott, bin, der euch herausführt unter den Lastarbeiten der Ägypter hinweg. 8 Ich werde euch in das Land bringen, um dessentwillen ich meine Hand erhoben habe, dass ich es Abraham, Isaak und Jakob gebe, und ich werde es euch zum Eigentum geben. Ich bin JHWH.

Auf die für priesterliche Texte typische narrative Einleitung V. 2a folgt mit V. 2b–8 eine Gottesrede, die einerseits linear, nämlich in zwei Teile, gegliedert ist: in einen Rückblick V. 2b–6 und einen Vorblick V. 6–8. Andererseits ist Ex 6,2–8 zugleich konzentrisch aufgebaut54 und zudem geprägt von weiteren wiederkehrenden Elementen (siehe Tabellen 1 und 2). Die äußere Rahmung ist gekennzeichnet durch die zusätzlich in V. 6 und 7 genannte Selbstvorstellungsformel „Ich bin JHWH“ (‫( )א ֲִנ֥י יְ הוָ ֽה‬A/A'''), der erste innere Rahmen (B/B') durch den Bezug auf die Väter Abraham, Isaak und Jakob, der zweite innere Rahmen (C/C') durch das Motiv „Land geben für“ ‫נָתַ ן‬ ‫( ֶ֫א ֶרץ ְל‬die priesterliche Terminologie für die Landgabe) und der dritte innere Rahmen (D/D') durch das Stichwort „hinausführen aus den Lastarbeiten Ägyptens“ (‫ יָצָ א ִמתַּ ֙חַ ת ֙ ִס ְב ֹ֣לת ִמ ְצ ַ ֔ר יִ ם‬hi.), die priesterliche Terminologie für das Exodusgeschehen. Die jeweils doppelte bzw. mehrfache Nennung unterstreicht zugleich die Bedeutung der Themen Selbstvorstellung bzw. Identität JHWHs, Be-

                                                             53 Zur verstärkenden Funktion von ‫ וְ גַ ֣ם‬hier s. DIESEL, ANJA ANGELA, „Ich bin Jahwe“. Der Aufstieg der Ich-bin-Jahwe-Aussage zum Schlüsselwort des alttestamentlichen Monotheismus (WMANT 110), Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 2006, 104. 54 Eine konzentrische Struktur sehen, wenn auch an einigen Stellen abweichend, ebenfalls LEIBOWITZ, Shemot 116 f; MAGONET, Rhetoric, 56–67; MAGONET, JONATHAN, A Response to ‚The Literary Structure of Exodus 6.2–8‘ by Pierre Auffret, in: JSOT 27 (1983), 73 f; SCHMID, Erzväter, 260 f sowie SCHMIDT, Exodus 1,1–6,30, 285; DIESEL, Jahwe, 98–105; auch AUFFRET, PIERRE, The Literary Structure of Exodus 6.2–8, in: JSOT 27 (1983), 46–54 erkennt eine, freilich überkomplizierte und nicht überzeugende konzentrische Struktur. Auch SCHMID, Erzväter, 260 f und SCHMIDT, Exodus 1,1–6,30, 285 f sehen die Bundesformel als Zentrum des Textes.

57

„Ja, ich kenne seine Schmerzen“ (Ex 3,7)

Tabelle 1: Zur Struktur von Ex 6,2–8 (deutsch) 2 3

Ich JHWH Abraham, Isaak, Jakob

A B erkennen

geben Land für 6

Ich JHWH hinausführen aus den Lastarbeiten Ägyptens Ich werde euch mir zum Volk nehmen und ich werde euch Gott sein

7

Ich JHWH erkennen hinausführen aus den Lastarbeiten Ägyptens geben Land für Abraham, Isaak, Jakob Ich JHWH

8

C A‘ D E A‘‘ D C‘ B‘ A‘‘

Tabelle 2: Zur Struktur von Ex 6,2–8 (hebräisch) ‫א ֲִנ֥י יְ הוָ ֽה‬

2 3

A B

‫קב‬ ֹ֑ ‫ע‬ ֲ ‫הם ְליִ ְצ ָח֖ק וּֽ ְל ַי‬ ֥ ָ ‫ְלאַ ְב ָר‬ ‫י ַָדע‬ ‫נָתַ ן ֶ֫א ֶרץ ְל‬ ‫א ֲִנ֥י יְ הוָ ֽה‬

6 ‫ יָצָ א ִמתַּ ֙חַ ת ֙ ִס ְב ֹ֣לת ִמ ְצ ַ ֔ריִ ם‬hi. ‫אֹלה֑ים‬ ִ ‫ל‬ ֽ ֵ ‫֥יתי לָ ֶכ֖ם‬ ִ ‫וְ לָ קַ ְח ִ ֨תּי אֶ ְת ֶכ֥ם ִלי ֙ ְל ֔ ָעם וְ הָ ִי‬

7

‫א ֲִנ֥י יְ הוָ ֽה‬

C A‘ D E A‘‘

‫י ַָדע‬ ‫ יָצָ א ִמתַּ ֙חַ ת ֙ ִס ְב ֹ֣לת ִמ ְצ ַ ֔ריִ ם‬hi. ‫נָתַ ן ֶ֫א ֶרץ ְל‬

8

‫הם‬ ֥ ָ ‫קב ְליִ ְצ ָח֖ק ְלאַ ְב ָר‬ ֹ֑ ‫ע‬ ֲ ‫וּֽ ְל ַי‬ ‫א ֲִנ֥י יְ הוָ ֽה‬

D C‘ B‘ A‘‘

zug auf die Väter, Exodus und Landgabe. Die zentrale Stellung hat freilich die zweiteilige Bundesformel in V. 7 (E). Die – im Unterschied zu 3,7–10 hier so betonte – Bedeutung des Bundes55 wird zudem durch das sich ebenfalls wiederholte, wenn auch sich nicht in die konzentrische Struktur einfügende, Stichwort „mein Bund“ (֙ ‫יתי‬ ִ ‫ ; ְבּ ִר‬V. 4.5) hervorgehoben. Um die Bedeutung der Selbstvorstellung JHWHs zu unterstreichen, wird auch die Erkenntnis JHWHs durch Israel zweifach genannt (‫י ַָדע‬.; V. 3.7). Besonderes Gewicht liegt zu-

                                                             55

Vgl. GREENBERG, Exodus, 85.113.

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Alexandra Grund-Wittenberg

gleich auf der vier Mal begegnenden Selbstvorstellungsformel, deren Bedeutung changiert.56 In zentraler Stellung in V. 7 wird die Selbstvorstellungsformel mit der Erkenntnisformel gepaart und, als „Dreingabe“ zur üblichen Form, mit „euer Gott“ kombiniert. Das formale und inhaltliche Zentrum bildet V. 7 und darin die aus der dtr. Tradition stammende (Dtn 26,17f; 29,12; u.ö.) zweiseitige Bundesformel gepaart mit der Erkenntnisformel. Auf beides, VolkWerdung und Erkenntnis57 Gottes läuft der Exodus nach P hinaus: In Ex 6,7a wird die Konstitution Israels als JHWHs angekündigt, im Exodus nimmt sie ihren Lauf.58 Die Herausführung zielt auf die Erkenntnis, dass JHWH ein herausführender Gott ist und einen dauerhaften, zweiseitigen Bund mit Israel konstituiert. Wesentlich ist, dass die Selbstvorstellung Gottes unter dem Namen JHWH aufs Engste verknüpft ist mit den in V. 6–8 angekündigten sieben59 Akten an Israel: 1) ‫ יָצָ א‬hi. hinausführen, 2) ‫ נָצַ ל‬hi. herausreißen60, 3) ‫ גָּאַל‬auslösen61, 4) ‫ ְל ֔ ָע ם לָ קַ ְח‬zum Volk nehmen62, 5) ‫אֹלה ים‬ ִ֑ ‫ל‬ ֽ ֵ ‫ הַ ָיּה‬ihnen Gott sein, 6) ‫ בּוֹא‬hi. [ins Land] bringen und 7) ‫נָתַ ן ֶ֫א ֶרץ ְל‬ ihnen Land [zum Eigentum] geben.63 Gott wird nicht von Menschen in einer Eigenschaften-

                                                             56 Vgl. LEIBOWITZ, Shemot, 122–124; GREENBERG, Exodus, 103f; DIESEL, Jahwe, 106– 112. LEIBOWITZ macht zudem auf die Korrespondenz von viermaliger Selbstvorstellung und Tetragrammaton aufmerksam: LEIBOWITZ, Shemot, 118. 57 Zur Bedeutung der Erkenntnis s. auch LEIBOWITZ, Shemot, 125f; vgl. GRUND-WITTENBERG, Transformation, 53f. 58 Erst nach dem Exodus wird Israel zum ersten Mal in P als ‫ ֔ ָע ם‬Volk bezeichnet, nämlich in Ex 16,30. Ex 6,2–8 und Ex 16*P sind aber nicht nur durch den terminologischen Gebrauch von ‫ ֔ ָע ם‬miteinander verbunden (Ex 6,7a; 16,30), sondern auch durch das Motiv der Erkenntnis JHWHs (Ex 6,7b; 16,12b). Schließlich wird in Ex 16,12a auch die Folge der Erhörungen Israels durch JHWH fortgeführt, der nun anstelle des Seufzens das Murren der Israelit*innen hört und erhört, s. hierzu GRUND, Entstehung, 251f; zu Ex 16 vgl. GRUND, Entstehung, 238– 257. 59 Dabei ist, wie GREENBERG, Exodus, 135, vermerkt, vermutlich kein Zufall, dass diese sieben (‫ )שֶׁ בַ ע‬Handlungsformen JHWHs mit einer bekräftigenden Selbstvorstellungsformel (V. 8), gewissermaßen einem Schwur (‫ ) ְשׁבֻ עָ ה‬JHWHs, abgeschlossen werden. 60 Das Herausreißen Israels (‫ נָצַ ל‬hi.) spannt einen Rückbezug auf Ex 3,8 sowie auf die Klage des Mose 5,23, vgl. hierzu ALBERTZ, Exodus, 125. 61 Der oft zu vergeistigt mit erlösen übersetzte Begriff ‫גָּאַל‬, der den Freikauf eines verarmten, unter fremde Herrschaft geratenen Verwandten bezeichnet, verdeutlicht, dass Israel aus einem fremden Herrschaftsbereich freigekauft wird, um nun zu JHWH zu gehören. 62 Die singuläre Formulierung: ‫ ְל ֔ ָע ם לָ קַ ְח‬in V.7 betont die Aktivität Gottes und Passivität Israels bei der Annahme als Gottesvolk (vgl. auch „herausreißen ‫ נָצַ ל‬hi. in V.6). Die Ankündigung, dass Israel JHWHs Volk ist, ist erst in 16,31 als erfüllt erkennbar. 63 Vgl. OSWALD/UTZSCHNEIDER, Exodus, 165; DOHMEN, Exodus, 206.

„Ja, ich kenne seine Schmerzen“ (Ex 3,7)

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lehre definiert, sondern JHWH identifiziert sich vielmehr selbst in sieben konkreten Hand֣ ִ ‫ הַ מּ‬unterstreicht dabei: „JHWH war wesenlungsweisen. Die partizipiale Formulierung ‫וֹצ יא‬ haft ihr Befreier“.64

Für aktuelle religionstheologische Diskussionen ist die inklusive priesterliche Offenbarungstheorie gewiss bemerkenswert, die die Selbigkeit Gottes unter verschiedenen Namen betont. Das priesterliche Konzept bietet „eine durchdachte Offenbarungstheologie, die ihm ermöglichte, die Partikularität JHWHs als Gott Israels mit der Universalität des Schöpfergottes in Form eines exklusiven Monotheismus zusammenzudenken“65. Es wäre schön, wenn sich ein Konzept, wonach „auch die Götter der Völker und die ihrer Familien in den verschiedenen Offenbarungsgestalten JHWHs aufgehoben“66 waren, sich noch sicherer am Text ausweisen ließe. Im Unterschied zu Ex 3,7–10 tritt hier die Erhörung auf der Grundlage des Bundes mit Abraham, Isaak und Jakob deutlich hervor, der explizit mit Abraham in Gen 17 aufgerichtet worden war (vgl. hier wie dort die Terminologie „meinen Bund aufrichten“).67 Und wie schon in den priesterlichen Texten Gen 8,1; 9,15f; Ex 2,24 ist auch in Ex 6,5 das Bundesgedenken JHWHs ein heilvolles Gedenken.68 Für unseren Zusammenhang ist wiederum von besonderer Bedeutung, dass auch bei P nicht allein der Bundesgedanke JHWH zum Einschreiten bewegt, sondern, wie bereits in Ex 2,24 (ebenfalls ‫ שָׁ מַ ע‬+ ‫ )נְ אָקָ ה‬betont, das Ächzen der Israelitinnen und Israeliten. Bereits oben zu Ex 2,24 wurde unterstrichen, dass auch P JHWHs Hören auf das Stöhnen oder Seufzen bedrängter und notleidender (vgl. etwa Ri 2,18; Ez 30,24) und hier zudem zu Arbeit gezwungener Menschen unterstreicht. Der Terminus ‫ב ָדה‬ ֹ ‫ע‬ ֲ in Ex 6,6 ist „zunächst der für die Sklavenarbeit (Ex 1,14; 2,23; 6,6.9) gebrauchte Ausdruck, er bekommt [...] als Dienst am Heiligtum eine neue, positive Bedeutung als gottes-dienstlicher Terminus“.69 Israel wird aus dem Dienst für die Ägypter herausgelöst, Ziel des Auszugs ist der Dienst für das Begegnungszelt bzw. am Heiligtum – die Transformation der Arbeit von der Sklavenarbeit zum Gottes-Dienst. Auch hier geht es nicht nur um „Freiheit von“, sondern auch um „Freiheit zu“, nicht nur um Heraus-, sondern auch um Hineinführung, nicht nur um die Befreiung von knechtlicher Arbeit, sondern zu einer erfüllenden Aufgabe. Und auch hier gibt

                                                             64

ALBERTZ, Exodus, 125. ALBERTZ, Exodus, 124. 66 ALBERTZ, Exodus, 124. 67 Vgl. ALBERTZ, Exodus, 124. 68 Vgl. hierzu im Einzelnen JANOWSKI, Erinnerung, 185–197. 69 GRUND, Entstehung, 263; vgl. Ex 27,19; ferner 30,16; zum Dienst der Leviten s. Ex 38,21. 65

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JHWH die für die Überwindung von Leid so wichtige Hoffnungsperspektive mit der Landverheißung.70 So beeindruckend und ausgefeilt die Gottesrede an Mose ist, so ernüchternd ist freilich die Reaktion Israels in Ex 6,9: Und Mose redete so zu den Israeliten, doch hörten sie nicht auf Mose, aus Kleinmut und der harten Arbeit wegen.

Nechama Leibowitz formuliert hierzu treffend: No trace of faith and trust; not even misgiving or even argument. Simply: ‘They would not listen’. They were so downtrodden and crushed by persecution that they were unable to tune in even to the message of immediate relief and release from bondage, not to speak of the grander and remoter themes of Homeland and Divine Kingship.71

Der realistische Blick der Erzählung geht über den Gemütszustand geschundener Menschen nicht hinweg. Angesichts dieser ersten Reaktion Israels auf JHWHs Plan verwundert es fast, dass das Volk am Ende dennoch im Land der Verheißung angelangt. Israel lässt sich herausführen, ohne sich freilich dem Mose oder dem herausführenden Gott gänzlich anvertrauen zu können, im Gegenteil: Vor und nach der Herausführung aus Ägypten werden immer wieder Widerspruch und Beschwerden laut; brüchiges Vertrauen und Widerstände werden von der Auszugserzählung nicht verdrängt, sondern thematisiert. Das in den Abschnitten zuvor von Lesenden aufgebaute Mitgefühl mit Israel wird bestätigt und verstärkt durch das Vorbild, das der Exodusgott gibt. Auf diese Ur-Erfahrung Israels mit einem empathischen Gott gründet sich im weiteren kanonischen Verlauf das Vertrauen in JHWH als einen Gott, der sieht, hört und weiß, ein Vertrauen, auf das hin sich Israel in individuellen und kollektiven Krisen an JHWH wendet und dabei immer wieder die Erfahrung macht, dass JHWH auf Gebet antwortet.

III. Ein Gott, der Leiden sieht und hört: Der weitere kanonische Zusammenhang Im kanonischen Zusammenhang stellt sich JHWH Israel vor als ein Gott, der noch ohne explizit an ihn gerichtetes Gebet den Notschrei seines Volkes wahrnimmt und ihm zu Hilfe eilt. Die im Exodus erfahrene Hilfe spiegelt sich im

                                                             70 Nachdem die Mehrungsverheißung von Gen 17,5f. sich für Israel nach Ex 1,7 bereits teilerfüllt hat, kündigt V.8 die Erfüllung der Abraham gegebenen Landverheißung (vgl. Gen 17,8) an. Der verheißene dauerhafte Landbesitz wurde ab exilischer Zeit in Konflikten um konkurrierende Landansprüche immer wichtiger; vgl. hierzu ALBERTZ, Exodus, 126. 71 LEIBOWITZ, Shemot, 127.

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kanonischen Zusammenhang der Hebräischen Bibel im Vertrauen auf JHWH als Gott, der sieht, hört und weiß. Exemplarisch sowohl für Psalm- als auch für narrative Texte steht die legendarische Erzählung von Erkrankung, Gebet, Erhörung und Heilung König Hiskias in 2Kön 20,1–11 (par Jes 38,1–22), in der JHWH explizit beschrieben wird als Gott, der hört (‫ )שָׁ מַ ע‬und sieht (‫) ָראָה‬. König Hiskia gerät in eine lebensgefährliche gesundheitliche Krise, die noch dadurch verschärft wird, dass ihm der Prophet Jesaja im Namen JHWHs bereits den bevorstehenden Tod prognostiziert. Dann aber erhält Jesaja ein Wort JHWHs: 5 Kehr um und sprich zu Hiskijahu, dem Fürsten meines Volks: So spricht der JHWH, der Gott Davids, deines Vorfahren: Ich habe dein Gebet gehört (‫)שָׁ מַ ע‬, deine Tränen habe ich gesehen (‫) ָראָה‬. Sieh, ich mache dich gesund; am dritten Tag wirst du hinaufgehen in das Haus JHWHs.

Das Hören des Gebets und das Sehen der Tränen antwortet auf Hiskias Bitte zu hören und zu sehen in 2Kön 19,16 par und ist, ähnlich wie in Ex 2,24 und 3,7, mit einer konkreten Zusage der Hilfe verbunden. Die Gewissheit, dass JHWH (er-)hört oder (er-)hört hat, findet sich außer in Erzähltexten72 besonders in den Psalmen.73 Besonders das Aussprechen der Klage wurde bereits als wichtiges Element der Krisenbewältigung erkannt.74 Freilich ist zu beachten, dass das Gattungselement der (Ich-, Gott-, Feind-)Klage in den Klageliedern des Einzelnen nicht das bestimmende pragmatische Strukturelement ist, sondern vielmehr die Bitte: In ihr werden Wünsche und Bedürfnisse, was aus der Notsituation hinausführen kann, von den Betroffenen explizit artikuliert – ein wichtiges Element, um eine Perspektive über die Not hinaus zu gewinnen.

                                                             72

In Erzähltexten, die von Gebetserhörungen berichten, geht JHWHs Hören mit konkreter Hilfe zusammen. Gott sagt Abraham in Gen 17,20 Erhörung in Bezug auf Ismael zu, was für diesen konkret Segen, Fruchtbarkeit und Mehrung zu einem großen Volk bedeutet; vgl. ferner 1Kön 8,45.49; 9,3; 2Kön 22,19; Jer 7,16; Ez 8,18; Jona 2,3; Mi 7,7; Spr 15,29; Hi 22,27; 2Chr 7,12; 33,13; 34,27. 73 Ps 4,2; 5,3f; 6,7.9f; 17,1.3.6; 18, 7.29; 22,26; 30,6.11f.; 61,2; 66,18f; 116,1 – hier geht es zugleich meist um die Einlösung von Gelübden. 74 Vgl. SCHMIDT, JOCHEN, Ohnmacht und Klage. Selbstermächtigung in Ausweglosigkeit, in: Cornelia Richter (Hg.), Ohnmacht und Angst aushalten. Kritik der Resilienz in Theologie und Philosophie (Religion und Geschichte 1), Stuttgart: Kohlhammer 2017, 107–117, passim; mit Bezug auf Psalmen 116f. Beim Hinweis auf den „Umschwung von der Klage in das Lob“ (SCHMIDT, Ohnmacht, 117) übergeht er wie viele die Bedeutung der für die Gattung konstitutiven Bitte.

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Besonders eng ist die Verbindung von Gottes Wahrnehmung der Notleidenden und seinem Handeln zu ihren Gunsten auch in Ps 34. Bereits V. 7 bekräftigt, dass JHWH den Hilferuf eines Elenden gehört (‫ )שָׁ מַ ע‬und ihn errettet hat (‫) ָישַׁ ע‬, und nach V. 16 sind JHWHs Augen und Ohren beim Hilferuf (‫ )שַׁ וְ עָ ה‬der Gerechten. Paradigmatisch wird der Zusammenhang von JHWHs hörendem und befreiendem Handeln in V. 18–20 formuliert: 18 Schreien sie (‫)צָ עַ ק‬, hört es (‫ )שָׁ מַ ע‬JHWH, und er befreit (‫ נָצַ ל‬hi.) sie aus allen ihren Nöten. ֵ ‫)נִ ְשׁ ְבּ ֵר‬, 19 Nahe ist JHWH denen, die zerbrochenen Herzens sind (‫י־ל ֑ב‬ und denen, die zerschlagenen Geistes sind (‫וּח‬ ַ ‫י־ר‬ ֥ ֵ‫) ַדּ ְכּא‬, hilft er (‫) ָישַׁ ע‬. 20 Zahlreich sind die Leiden des Gerechten, doch aus allem befreit (‫ נָצַ ל‬hi.) ihn JHWH. 18a Hören auf (‫ )שָׁ מַ ע‬Schreien (‫ – )צָ עַ ק‬b Befreien (‫ נָצַ ל‬hi.) 19a Nähe (‫ – )קָ ֣רוֹב‬b Retten (‫ ָישַׁ ע‬hi.) 20a Unheil des Gerechten – b Befreien (‫ נָצַ ל‬hi.)

V. 18–20 sind durch das Stichwort ‫ נָצַ ל‬hi. (vgl. Ex 6,7) verklammert, an zentrale Stelle rückt dadurch V. 19 mit dem Parallelismus von ‫ קָ ֣רוֹב‬und ‫ ָישַׁ ע‬: Auf das Zetergeschrei Entrechteter (‫צָ עַ ק‬, vgl. Ex 3,7.9) hört JHWH nicht nur „von Ferne“, sondern hilft durch sein Nahesein Menschen, die in ihrem Selbst fragil geworden sind (‫י־ל ֑ב‬ ֵ ‫)נִ ְשׁ ְבּ ֵר‬, und deren Gemüt zerschlagen ist (‫וּח‬ ַ ‫י־ר‬ ֥ ֵ‫) ַדּ ְכּא‬. Beim Stichwort ‚Nähe‘ ‫ קָ ֣רוֹב‬klingt die Nähe von Verwandten und Gefährten (vgl. etwa Hi 19,14: ‫ ) ְקרוֹבַ י‬mit an. Nicht weniger bedeutend ist auch in den Psalmen Gottes Sehen: Die Zusage, dass JHWH sieht (‫„ ) ָראָה‬wird in berichtender und beschreibender Form zum festen Motiv des Klage- und Bittliedes der Gemeinde (Klgl 1,9.11.20; 3,36.50.60; Neh 9,9; Dan 9,18), aber auch des Dankliedes (Ps 106,44; Klgl. 3,59) und weitet sich schließlich zur eschatologischen Adventsbitte (Jes 63,15; vgl. Ps 80,15).“75 Dass JHWH sieht, ist in etwa in Jes 57,18 verbunden mit der Zusage von Heilung, Leitung und Trost: Ihre Wege habe ich gesehen (‫) ָראָה‬, und ich werde sie heilen. Und ich werde sie leiten und es ihnen mit Tröstungen zurückgeben, ihm und ihren Trauernden.

Dass JHWH schließlich ein wissender Gott ist, unterstreicht bereits das hermeneutisch bedeutsame Proömium des Psalters in Ps 1: Nach Ps 1,6 kennt (‫)י ַָדע‬ JHWH den Weg der Gerechten.76 Die Hebräische Bibel zeigt JHWH somit immer wieder als personalen Gott, der genau hinhört, hinsieht und weiß, wie es

                                                             75 76

FUHS, ‫ ָראָה‬, 256. Nach Nah 1,7f. kennt JHWH die, die ihm vertrauen.

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Menschen geht, die Trost und Hilfe benötigen. Fast immer ist dies unmittelbar mit seinem Helfen verbunden. Auf dieser Grundlage basiert eine „Theologie des Pathos Gottes“77, die zuerst Abraham Joshua Heschel in der Dissertation explizit formuliert78 und die später auf ähnliche Weise u.a. Jürgen Moltmann79 für die christliche Gottesrede fruchtbar gemacht hat.

IV. Ausblick Texten, die den biblischen Gott als empathischen Gott zu sehen lehren, stehen in der Hebräischen Bibel auch andere zur Seite, die JHWH als wenig einfühlsam zeichnen. Gewiss basiert es auf hermeneutischen Voraussetzungen und Entscheidungen, an erstere anzuschließen und nicht an letztere. Ausweg, Rettung und neue Perspektive stellen sich in der Exoduserzählung für Israel unverhofft ein. Besonders in eine Situation der Spätmoderne hinein spricht das Erzählmotiv von Ex 2,23, dass Israel in seiner Not Geschrei erhebt, ohne zu wissen, an wen es sich damit eigentlich wendet. Dem Mose tritt eine für ihn zunächst namenlose Gottheit entgegen, die Israels Urahnen 400 Jahre zuvor zwar noch vertraut war, der jetzigen Generation aber unbekannt ist. Israel lernt die Gottheit erst noch kennen, die zu befreien vermag aus ausweglos scheinendem Leiden unter einem über Leichen gehenden Unterdrückungsstaat. Mit der Offenbarung des Gottesnamens im weiteren Verlauf von Ex 3,1–4,17 konkretisiert sich das Wissen sowohl um Zuverlässigkeit und Vertrauenswürdigkeit als auch Unverfügbarkeit des rettenden Gottes. Auch nach dem Vertrautwerden mit diesem Gott müssen Krisen und Nöte weiterhin bewältigt werden. Die kanonische Erzählung wird nicht zuletzt deshalb von Generation zu Generation erzählt, um den Blick immer wieder offen zu halten für rettende Erfahrungen dieses unverfügbaren Gottes in der je eigenen Gegenwart. Ex 6,2–8 formuliert mit dem zentralen Bundesmotiv auf den ersten Blick eher ein Modell einer generationenübergreifend stabilen Gottesbeziehung: Mit der zweiseitigen Bundesformel wird eine von JHWH getragene, unverbrüchliche, auf wechselseitige Anerkennung zielende Beziehung formuliert. Dennoch wirkt auch das Bundesgedenken Gottes merkwürdig fragil und kontingent: An-

                                                             77

OSWALD/UTZSCHNEIDER, Exodus, 110. HESCHEL, ABRAHAM JOSHUA, Die Prophetie, Kraków: Nakł. Polskiej Akad. Umieje̜ tności 1936, 143; HESCHEL, ABRAHAM JOSHUA, The Prophets, New York u.a.: Harper & Row 1962, 223. 79 Vgl. MOLTMANN, JÜRGEN, Der gekreuzigte Gott. Das Kreuz Christi als Grund und Kritik christlicher Theologie, München: Christian Kaiser 1976, 255ff. 78

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gesichts des in Ägypten bereits erlittenen Leides steht die Frage im Raum, warum JHWH erst jetzt seines mit den Erzeltern geschlossenen Bundes gedenkt. Auf die Frage, warum Israel in Ägypten versklavt wurde, wird in der Hebräischen Bibel keine Antwort gegeben.80 Auf eine voreilige Sinnkonstruktion zu verzichten, kann eine eigene Art der Sinnfindung sein. Vertrauen benötigt nicht immer Antworten, die fides qua vermag über weite Strecken auch ohne fides quae zu bestehen. Ein ewiger Bund übersteht auch eine Durststrecke von 400 Jahren ohne erzählenswerte Gotteserfahrung. In den besprochenen Texten werden Leiden und Schmerzen weder übersehen, noch übergangen, noch verdrängt. Sie werden wahrgenommen und thematisiert. Doch bleibt JHWH nicht stehen bei der Wahrnehmung des Leidens, sondern findet eine konkrete Lösung und realisiert diese aktiv, nämlich als politische Befreiung aus einer unerträglichen Unterdrückungssituation. Israel hat genug erlitten, es muss nicht weiter aushalten, was nicht mehr auszuhalten ist.81 Gott als Figur in der Erzählung hat Vorbildcharakter. Im Volk des Leiden sehenden und rettend eingreifenden Gottes erstehen nach den Erzählungen der Hebräischen Bibel Menschen, die wie er sehen, erkennen und handeln. So begründet Esther im gleichnamigen Buch ihre Intervention zugunsten ihres Volkes beim persischen König mit den Worten: Denn wie könnte ich das Unglück mitansehen (‫) ָראָה‬, das mein Volk treffen soll? Und wie könnte ich die Vernichtung derer mitansehen (‫) ָראָה‬, die gleicher Herkunft sind wie ich? (Esth 8,6)

Auch dass Israel selbst die næpæš des Sklaven kennt, verpflichtet zum befreienden Handeln an den eigenen Sklaven (Ex 23,9). Ein Gott, der das Leiden Unterdrückter ansieht und ihren Schmerz kennt, hält den Blick offen sowohl für menschliche Verletzungsoffenheit und Verletzungsmacht als auch für unverhoffte, unverfügbare und transzendente Ressourcen zur Bewältigung erlittenen Leids. Das Bild eines mitfühlenden Gottes steht in der Hebräischen Bibel an zentraler Stelle.

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Vgl. GREENBERG, Exodus, 44f. Zur Kritik eines das „Aushalten“ in der Krise betonenden Resilienzkonzepts vgl. bes. WENDEL, SASKIA, Resilienz – Diskursive, machtbesetzte und performative Körperpraxis, in: Cornelia Richter (Hg.), Ohnmacht und Angst aushalten. Kritik der Resilienz in Theologie und Philosophie (Religion und Geschichte 1), Stuttgart: Kohlhammer 2017, 142: „Erschöpfte sich Resilienz im Aushalten von Krisen, dann eignete sie sich auch als Herrschaftstechnik, als Instrument einer Systemstabilisierung. Wer aushalten kann, kommt vielleicht irgendwann gar nicht mehr auf die Idee, dass es zum puren Aushalten noch eine Alternative geben könnte, nämlich das Aufsprengen der Zustände, die zum Aushalten zwingen [...]“. Das Exodusmotiv erinnert beständig daran, nach politischen Auswegen aus menschengemachten Krisen zu suchen. 81

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Formen der Resilienz im Buch Levitikus Jan Dietrich Begriffsklärungen In den letzten Jahren haben vermehrt Begriffe zur gesellschaftlichen und psychologischen Problembewältigung in die Geisteswissenschaften und zum Teil auch in die alttestamentliche Wissenschaft Eingang gefunden. Krise, Katastrophe, Desaster, Trauma und Resilienz sind die bekanntesten, wobei Krise, Katastrophe und Desaster eher die Außenperspektive, Resilienz und Trauma die gesellschaftliche, kulturelle oder psychologische Innenperspektive abdecken.1 Begriffsgeschichtlich ist Resilienz wohl der jüngste der genannten Termini,2 heuristisch gesehen halte ich ihn für mindestens ebenso interessant wie den

                                                             1 Zu Katastrophen und den Formen ihrer Bewältigung im Alten Testament und Alten Orient vgl. den Sammelband BERLEJUNG, ANGELIKA (Hg.), Disaster and Relief Management. Katastrophen und ihre Bewältigung (FAT 81), Tübingen: Mohr Siebeck 2012, in dem ich einen Beitrag aus kulturhistorischer Perspektive beigesteuert habe, vgl. DIETRICH, JAN, Katastrophen im Altertum aus kulturanthropologischer und kulturphilosophischer Perspektive, in: Berlejung, Disaster, 85–116. Zu den Studien über Traumata im Alten Testament und Alten Orient siehe im Folgenden. 2 Der Begriff scheint in den frühen 70er Jahren als Fachterminus vor allem von Emmy Werner in die entwicklungspsychologische und von Crawford Stanley Holling in die ökologische Forschung eingebracht worden zu sein, WERNER, EMMY E./BIERMAN, JESSIE M./FRENCH, FERN E., The Children of Kauai. A Longitudinal Study from the Prenatal Period to Age Ten, Honululu: University of Hawaii Press 1971; vgl. WERNER, EMMY E./SMITH, RUTH S., Vulnerable but Invincible. A Longitudinal Study of Resilient Children and Youth, New York: Adams, Bannister and Cox 1989; HOLLING, CRAWFORD S., Resilience and Stability of Ecological Systems, in: Annual Review of Ecology and Systematics 4 (1973), 1– 23. Seine Ursprünge gehen bis in das Lateinische zurück und haben sich von dort über das Mittelfranzösische im Englischen und Deutschen etabliert (vgl. ALEXANDER, DAVID E., Resilience and Disaster Risk Reduction: An Etymological Journey, in: Natural Hazards and Earth System Sciences Discussions 13 [2013], 2707–2716). Für einen Forschungsüberblick vgl. RICHTER, CORNELIA/BLANK, JENNIFER, Resilienz im Kontext von Theologie und Kirche. Eine kurze Einführung in den Stand der Forschung, in: Cornelia Richter/Uta Pohl-Patalong (Hg.), Resilienz – Problemanzeige und Sehnsuchtsbegriff, in: Themenheft PrTh 51/2 (2016), 69–74; WINK, RÜDIGER (Hg.), Multidisziplinäre Perspektiven der Resilienzforschung, Wiesbaden: Springer 2016.

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Begriff Trauma, wenn es darum geht, mithilfe von modernen Begriffskategorien die alttestamentlichen Texte neu und besser zu verstehen als zuvor. Warum sollte der Begriff Resilienz für die alttestamentliche Wissenschaft mindestens ebenso interessant sein wie der Begriff Trauma, vielleicht sogar interessanter? Vor allem der Terminus Trauma hat in den letzten Jahren Einzug in die Bibelwissenschaften gehalten, und wir sollten uns klarmachen, dass Resilienz und Trauma sich ausschließende Gegenbegriffe darstellen, während der Komplementärbegriff zur Resilienz nicht Trauma, sondern Vulnerabilität ist.3 Wo Resilienz, da kein (den Menschen sprachlos und verstört zurücklassendes) Trauma.4 Wo (extremes) Trauma, da keine Resilienz. Wer Resilienz neu gewinnt, überwindet ein möglicherweise bestehendes Trauma.

Die Begriffe Leid, Vulnerabilität und Trauma sind zu unterscheiden, und insbesondere die ipsissima vox des Traumas ist nur schwer zu eruieren. Trauma bezeichnet eine Verwundung, die der Mensch mit seinen Eigenkräften nicht oder nur schwer heilen kann, eine Verwundung, der Mensch und Gesellschaft erst einmal sprachlos und verstört gegenüberstehen, eine Verwundung, die, psychoanalytisch gesprochen, so tief geht, dass sie unterdrückt wird und nur noch im Unterbewusstsein präsent ist, sich aber immer wieder (auf neurotische Weise) Hintertüren ins Bewusstsein sucht, vor allem durch die psychischen Mechanismen von Übertragung, Rationalisierung und Reaktionsbildung. Das Problem dabei: Die Menschen des alten Israel können wir nicht mehr auf die

                                                             3 Vgl. SAUTERMEISTER, JOCHEN, Resilienz zwischen Selbstoptimierung und Identitätsbildung, in: MThZ 67 (2016), 212; SEDMAK, CLEMENS, Innerlichkeit und Kraft. Studie über epistemische Resilienz (Forschungen zur europäischen Geistesgeschichte), Freiburg i.Br.: Herder 2013, 34 sowie differenzierend und problematisierend MANYENA, SIAMBABALA B., The Concept of Resilience Revisited, in: Disasters 30 (2006), 433–450. Zum Phänomen der Vulnerabilität aus psychopathologischer Sicht vgl. FUCHS, THOMAS, Ansätze zu einer Psychopathologie der Grenzsituationen, in: Sonja Rinofner-Kreidl/Harald A. Wiltsche (Hg.), Karl Jaspers’ Allgemeine Psychopathologie zwischen Wissenschaft, Philosophie und Praxis, Mainz: Königshausen & Neumann 2008, 95–108. 4 Ein gesellschaftskritisches Hauptproblem beim Fokus auf Resilienz als einer positiven Kraft liegt darin, dass das gesellschaftskritische Potential des Traumabegriffs leichtfertig übergangen wird. Zur Kritik an einem allzu behaglich verstandenen Resilienzphänomen vgl. SLABY, JAN, Kritik der Resilienz, in: Philipp Wüschner/Frauke A. Kurbacher (Hg.), Was ist Haltung? Begriffsbestimmung, Positionen, Anschlüsse, Würzburg: Königshausen & Neumann 2016, 273–298. Demgegenüber sollte stets im Blick gehalten werden, dass aktivierte Resilienz stets auf eine vorhandene Krise verweist, vgl. RICHTER, CORNELIA, Einleitung: Ohnmacht und Angst aushalten. Zu Kritik und Ergänzung dominant aktiver Resilienzfaktoren, in: Dies. (Hg.), Ohnmacht und Angst aushalten. Kritik der Resilienz in Theologie und Philosophie (Religion und Gesundheit 1), Stuttgart: Kohlhammer 2017, 12.

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Freud’sche Couch legen, und die alttestamentlichen Schriften allesamt als traumatische Zeugnisse der Exilzeit zu deuten,5 halte ich für problematisch, jedenfalls solange wir den Begriff Trauma nicht bagatellisieren wollen. Weder gehe ich davon aus, dass die alttestamentlichen Schriften sprachlose, verwirrte und verstörte Zeugnisse darstellen – stattdessen sind sie sprachlich und sachlich durchdachte, oftmals hochästhetische Schriften. Noch gehe ich mit Freud und anderen davon aus, dass die alttestamentlichen Schriften allesamt unterdrückte Neurosen darstellen, die ihren Weg in bewusste Schriftform durch Übertragung, Rationalisierung oder Reaktionsbildung gefunden hätten. Ich halte solche Thesen im Einzelfall für untersuchungswert, aber insgesamt für schwierig, und die auswertbare Quellenbasis dazu für schmal.6 Wollte man den Begriff Trauma auf sinnvolle Weise verwenden, dann am ehesten in dem unspezifischen, etymologisch durchaus passenden Sinn von „Verwundung“, ohne damit eine solch tiefgehende psychologische Störung im Blick zu haben, dass sie sprachlich nicht verarbeitet werden kann. In diesem Fall ließe sich allerdings statt Trauma auch der Begriff Vulnerabilität verwenden, der meines Erachtens den Komplementärbegriff zum Begriff Resilienz darstellt. Der Blick auf das feine Verhältnis zwischen Verwundbarkeit und Resilienz scheint mir insgesamt zielführender zu sein als die Verwendung des Begriffs Trauma, um die alttestamentlichen Schriften kulturhistorisch sensibel zu verstehen und um nicht Gefahr zu laufen, die alttestamentlichen Schriften auf anachronistische Weise zu psychologisieren.

                                                             5 In nicht unproblematischer Nähe zu dieser Position sehe ich durchaus CARR, DAVID M., Holy Resilience: The Bible’s Traumatic Origins, New Haven: Yale University Press 2014. 6 In einem früheren Text habe ich den Versuch unternommen, einige ausgesuchte altorientalische Texte auf kulturelle Traumata hin zu untersuchen (vgl. DIETRICH, JAN, Cultural Traumata in the Ancient Near East, in: Eve-Marie Becker/Jan Dochhorn/Else K. Holt [Hg.], Trauma and Traumatization in Individual and Collective Dimensions. Insights from Biblical Studies and Beyond [Studia Aarhusiana Neotestamentica 2], Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014, 145–161.), und dabei Quellen in den Blick genommen, die (1) katastrophale Ereignisse spiegeln und (2) sich im kulturellen Gedächtnis auf eine Weise niedergeschlagen haben, dass (3) die geschlagenen Wunden kulturhistorisch nicht geheilt sind, sondern (4) versteckt, wegerklärt, rationalisiert, domestiziert oder auf andere Weise neutralisiert wurden, beispielsweise durch die genannten psychischen Mechanismen der Unterdrückung, Übertragung, Rationalisierung oder Reaktionsbildung. Zu kulturellen Traumata vgl. den Definitionsversuch von ALEXANDER, JEFFREY C., Towards a Theory of Cultural Trauma, in: Ders., Cultural Trauma and Collective Identity, Berkeley: University of California Press 2004, 1: „Cultural trauma occurs when members of a collectivity feel they have been subjected to a horrendous event that leaves indelible marks upon their group consciousness, marking their memories forever and changing their future identity in fundamental and irrevocable ways.“ (Hervorhebung im Original); vgl. auch SZTOMPKA, PIOTR, Cultural Trauma: The Other Face of Social Change, in: European Journal of Social Theory 3 (2000), 455.

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Dass der Begriff Resilienz zu einem Modebegriff aufgestiegen ist7 und nicht Parallelbegriffe wie Frustrationstoleranz und Salutogenese, liegt zum einen sicherlich darin, dass der Begriff Resilienz auch auf andere als menschliche Bereiche anwendbar ist, zum Beispiel auf die Physik und das Bauwesen, und dass er für den allgemeinmenschlichen Sprachgebrauch über eine behaglichere Ästhetik und Eingängigkeit verfügt als sperrige Fachbegriffe wie Frustrationstoleranz und Salutogenese. Seine Kernbedeutung ist ‚Elastizität‘ im wörtlichen wie im übertragenen Sinne,8 also die Fähigkeit, mit Druck von außen fertig zu werden, ohne Schaden zu nehmen. [...] Ingenieure bezeichnen damit Baustoffe, die sich unter Belastung vorübergehend verformen, statt zu brechen, Psychologen die Fähigkeit, Stress zu bewältigen, Mediziner das schnelle Regenerationsvermögen von Organen. [...] Was genau damit jeweils gemeint ist, ob Widerstands-, Anpassungs-, Rückbildungs- oder Regenerationsfähigkeit, bleibt allerdings im Ungefähren.9

Im Folgenden möchte ich den Begriff Resilienz folgendermaßen verstehen: Resilienz ist der Umgang mit Widrigkeiten, Krisen und Katastrophen auf der Basis von grundsätzlicher menschlicher Vulnerabilität, und zwar so, dass der Mensch auf Krisen und Katastrophen mit seinen intrinsischen Gesundungskräften antwortet, die Krise überwindet und kein Trauma entsteht.10 Der nicht orthodoxe Psychoanalytiker und jüdische Denker Erich Fromm spricht, ohne den Begriff Resilienz schon zu kennen, von einem „dem Menschen innewohnende[n] Streben nach Gesundung“11 in individueller wie gesellschaftlicher Hinsicht. Clemens Sedmak spricht in seinem Buch „Innerlichkeit und Kraft“ von der Resilienz als der „Fähigkeit, auch unter widrigen Umständen zu gedeihen und zu wachsen.“12 Wenn also der Mensch auf Krisen und Katastrophen

                                                             7 Vgl. ANDERSON, BEN, What Kind of Thing is Resilience?, in: Politics 35 (2015), 60; SEDMAK, Innerlichkeit, 22; WHITE, NATHAN H./COOK, CHRISTOPHER C. H., Introduction: Biblical and Theological Visions of Resilience, in: Dies. (Hg.), Biblical and Theological Visions of Resilience. Pastoral and Clinical Insights, London/New York: Routledge 2019, 2. 8 Vgl. lateinisch resilire „zurückspringen“. 9 Stehaufmännchen. Die erstaunliche Karriere des Wortes Resilienz, FAZ vom 17. April 2019, S. N 4 (Autorenkürzel: kri). Vgl. auch SEDMAK, Innerlichkeit, 16, und zum Begriff des Stehaufmännchens a.a.O., 17. 10 Vgl. auch SEDMAK, Innerlichkeit, 34: „Epistemische Resilienz ist die von innen her kommende Kraft, eingedenk der eigenen Verwundbarkeit mit Druck auf Identität und Integrität umgehen zu können.“ Vgl. auch WHITE/COOK, Visions, 1, die gleich zu Beginn Resilienz anthropologisch als „positive human adaptation despite adversity“ fassen. 11 FROMM, ERICH, Von der Kunst des Zuhörens. Therapeutische Aspekte der Psychoanalyse, hg. v. Rainer Funk, GA 12, München: DVA 1999, 296. 12 SEDMAK, Innerlichkeit, 16.

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mit dem „Gebrauch der eigenen Kräfte“13 antworten kann, dann vermag er, negativ gesprochen, Traumata vorzubeugen und, positiv gesprochen, auch angesichts von Widrigkeiten psychisch gesund und produktiv zu bleiben, das heißt aus seinen eigenen inneren Kräften heraus zu schöpfen14 – wobei diese inneren Kräfte durch individuelle Religiosität und Teilhabe an einer Religionsgemeinschaft gefördert oder gemindert werden können. Formen der Resilienz im Buch Levitikus Was bedeuten diese Erkenntnisse für das Buch Levitikus? Hinter diesem Buch können wir keinen einzelnen Autor wahrnehmen, dem wir Resilienz zuschreiben oder aberkennen könnten. Stattdessen haben wir es mit Traditionsliteratur zu tun, bei der wir davon ausgehen, dass mehrere Hände, auf welche Weise auch immer, am Werk gewesen sind und dass die vorhandenen Texte allgemeine kulturelle Vorstellungen spiegeln oder etablieren wollen. Deshalb müssen wir Resilienz in unserem Fall vornehmlich als ein soziales Phänomen in den Blick nehmen, das sich in den biblischen Texten niederschlägt. Tatsächlich ist ja Resilienz nicht nur ein individuelles, sondern auch ein Phänomen, das Gruppen und Gemeinschaften betrifft.15 Widrigkeiten werden in das kulturelle Weltbild auf eine Weise einbezogen, dass Sinn entsteht und Resilienz erzeugt wird. Im Anschluss an frühere Überlegungen zum kulturellen Umgang mit Katastrophen16 möchte ich im Folgenden auf drei Strategien zum resilienten Umgang mit Widrigkeiten eingehen und diese Strategien auf das Buch Levitikus hin befragen: das Ästhetisieren, das Moralisieren und das Erzeugen von ritueller Performanz.

                                                             13 FROMM, Psychoanalyse, 59. Zur Unterscheidung zwischen abwehrenden und befördernden Kräften der Resilienz („protective and promotive factors“) vgl. WHITE/COOK, Visions, 4f. 14 Zu einer Übersicht über die verschiedenen Versuche Erich Fromms, in seinen Werken die dem Menschen innewohnenden Gesundungskräfte zu beschreiben und auf den Begriff zu bringen vgl. FUNK, RAINER, Das Leben selbst ist eine Kunst. Einführung in Leben und Werk von Erich Fromm, Freiburg i.Br.: Herder 2018, 112–130. Zur Bedeutung Erich Fromms für die alttestamentliche Wissenschaft vgl. DIETRICH, JAN, Erich Fromm in Hebrew Bible Research. With a Side Glance at Religious Studies, in: Rainer Funk/Neil McLaughlin (Hg.), Towards a Human Science. The Relevance of Erich Fromm for Today, Gießen: Psychosozial-Verlag 2015, 259–279. 15 Vgl. etwa SEDMAK, Innerlichkeit, 27f: „Ein soziales System kann ‚resilient‘ genannt werden, wenn es mit Desastern und katastrophischen Ereignissen so umzugehen vermag, dass die Auswirkungen der Kalamitäten gemildert und aufgrund entsprechender Wiederherstellungsanstrengungen die Disruption auf ein Minimum gehalten werden kann.“ 16 Vgl. DIETRICH, Katastrophen.

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I. Zur Ästhetik von Katastrophen im Buch Levitikus Die ästhetische Darstellung gehört zu resilienten Umgangsweisen mit Krisen und Katastrophen, auch wenn eine ästhetische Überhöhung des Schrecklichen traumatisch Getroffenen zuwider sein mag.17 Kulturgeschichtlich ist die Fähigkeit zur Ästhetisierung von Krisen und Katastrophen für die Überlebenskraft einer Kultur – für ihre soziale Resilienz – äußerst relevant. Mit den poetisch wundervollen und hochästhetischen Klageliedern über den Untergang Israels liegen bekannte Beispiele für schriftstellerische Ästhetisierungen des Schrecklichen im Alten Testament vor.18 Auch für ätiologische Zwecke werden Katastrophen in schöne Erzählungen integriert, zum Beispiel wenn die Sage vom Untergang Sodoms (Gen 19) dazu dient, die Salzkristalle am Toten Meer zu erklären. In Lev 26,36–37 wird eine „posttraumatische Belastungsstörung“ auf höchst poetische Weise zur Sprache gebracht. Hier heißt es: Lev 26,36f. (36) Und die Übriggebliebenen unter euch: Verzagtheit werde ich in ihr Herz bringen in den Ländern ihrer Feinde. Dann wird sie das Geräusch eines wehenden Blattes verfolgen und sie werden fliehen vor dem Schwert, und sie werden fallen, obwohl es keinen Verfolger gibt. (37) Dann werden sie stürzen, ein jeder über seinen Nächsten wie vor einem Schwert, obwohl es keinen Verfolger gibt, und es wird für euch keine Standhaftigkeit vor euren Feinden geben.

Von einer Schwäche im Herzen heimgesucht zu werden, sodass man sogar vor dem Geräusch eines wehenden Blattes erschrickt, bedeutet, dass die Schrecken des Unheils so deutliche traumatische Spuren im Inneren des Menschen hinterlassen, dass ein normales Leben unmöglich wird und die eigene Frustrationstoleranz schon angesichts alltäglicher Normalitäten und angesichts normalerweise leicht zu tolerierender Widrigkeiten zusammenbricht. Neben dem

                                                             17

Zur Ästhetik des Bösen und Schrecklichen vgl. etwa PRAZ, MARIO, Liebe, Tod und Teufel. Die schwarze Romantik, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1963; BOHRER, KARL-HEINZ, Die Ästhetik des Schreckens. Die pessimistische Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk, München: Hanser 1978; FRÖMMING, URTE UNDINE, Naturkatastrophen. Kulturelle Deutung und Verarbeitung, Frankfurt a.M.: campus 2006, 162–169; neuerdings vgl. ALT, PETER-ANDRE, Ästhetik des Bösen, München: C.H. Beck 2010. Zur Ästhetik des Todes im Alten Testament vgl. KRIEG, MATTHIAS, Todesbilder im Alten Testament oder „wie die Alten den Tod gebildet“ (AThANT 73), Zürich: Theologischer Verlag Zürich 1988, 629– 635. 18 In Bezug auf die Klagelieder wird gerne mit dem Trauma-Begriff hantiert, vgl. für viele BOASE, ELIZABETH, Fragmented Voices. Collective Identity and Traumatization in Lamentations, in: Dies./Christopher G. Frechette (Hg.), Bible through the Lens of Trauma, Atlanta: SBL 2016, 49–66; JANZEN, DAVID, Traumatic Speech and the Rejection of Narrative in Lamentations, in: White/Cook, Visions, 58–69, für eine Problematisierung vgl. DIETRICH, Traumata, 149–152.

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Bild vom Erschrecken vor dem Geräusch eines wehenden Blattes ist auch das anschließende Bild vom Übereinanderstürzen vor einem Schwert, das einen gar nicht verfolgt, dazu geeignet, die traumatisierte Imaginationskraft bei zerbrochener Resilienz zu beschreiben,19 die dazu führt, dass unnötige, aber angstbasierte Handlungen20 zwanghaft durchgeführt werden, die den traumatisierten Menschen am Ende gar nicht mehr durch äußere Widrigkeiten, sondern wegen der eigenen zerbrochenen Resilienz durch selbstzerstörerische Akte zugrunde richten. Der obengenannte Text ist Teil des Fluchabschnitts von Lev 26. Dieser Fluchabschnitt ist ungefähr doppelt so lang wie die Segensverheißungen zuvor und beschreibt die Übel „detaillierter, plastischer und damit eindrucksvoller“21 als den Segen. Interessant für Fragen zum Umgang mit Trauma und Resilienz sind die Beschreibungen, die nicht äußeres Übel, sondern psychische Schrecknisse in den Blick nehmen, und diese Schrecknisse unter dem Begriff „Entsetzen“ ( ‫ בֶּ הָ לָ ה‬V. 16) zusammenfassen. Die Bilder vom inneren Entsetzen vor einem wehenden Blatt und vom Stürzen vor einem imaginierten Schwert sind poetische Bilder, die mit der Ästhetik des Schreckens arbeiten und Traumata zu einem literarischen Topos werden lassen. Ein tatsächliches Trauma im strengen Sinne hat für die Schreiber dieses Textes möglicherweise gar nicht bestanden. Ich meine also nicht, dass die Schreiber dieses Textes selbst unter einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden oder sie bei Zeitgenossen diagnostizieren. Falls sie selbst jemals unter einer solchen gelitten haben sollten, hilft ihnen dieser Text, eine solche zu überwinden. Falls sie an traumatisierte Leser schreiben, soll dieser Text helfen, durch ein Zur-Sprache-Bringen der Belastungsstörung das Trauma zu verstehen und zu überwinden. Vor allem aber bleibt der Text bei der Beschreibung des traumatisierten Zustandes nicht stehen. Wichtig und interessant zu sehen ist, dass der letzte Abschnitt mit den V. 40–45 in Aussicht stellt, wie die Katastrophe aufgefangen und produktiv mit ihr umgegangen werden kann: Durch das Bekennen der eigenen Schuld (V. 40) und das Demütigen des eigenen Herzens (V. 41) wird ein Neuanfang möglich, bei dem Gott des Bundes mit Israel gedenkt und das Volk nicht völlig vernichtet. Das Bekennen der eigenen

                                                             19 Ich meine damit nicht, dass die Schreiber dieses Textes selbst unter einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden würden, siehe dazu im Folgenden. 20 Zur Bedeutung von Angst und Angstbewältigung angesichts von Katastrophen vgl. ANGEL, HANS-FERDIAND, Der religiöse Mensch in Katastrophenzeiten. Religionspädagogische Perspektiven kollektiver Elendsphänomene (RSTh 48), Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang 1996, 564ff. 21 HIEKE, THOMAS, Levitikus, Bd. 2: 16–27, (HThKAT), Freiburg i.Br.: Herder 2014, 1074.

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Schuld (inklusive der Schuld der Vorväter) ermöglicht einen aktiven, handlungsorientierten Umgang mit den Widerfahrnissen des Lebens; das Demütigen des Herzens ermöglicht die aktive Einübung einer neuen inneren Haltung, die auf die inneren Verwundungen zu antworten vermag. Der Aufbau von Resilienz erfolgt durch die Schaffung von neuen rituellen und bewusstseinsverändernden Handlungsoptionen. Indem die Schreiber diese Option nicht nur für die Zukunft in Aussicht stellen, sondern sie schon am Sinai „urzeitlich“ verankern, versichern sie sich ihrer Gültigkeit und tatsächlichen Durchführbarkeit als einer realen, von Gott selbst eingerichteten und von Beginn an zugesagten Resonanzoption. Dadurch wird „ein Paradigma geschaffen, das sich nicht nur auf die geschichtlichen Ereignisse des 6. Jahrhunderts v. Chr. in Jerusalem und Babylon anwenden lässt, sondern auch auf spätere Situationen und wohl auch auf den einzelnen Menschen vor Gott.“22 Darüber hinaus ist zu beachten, dass in V. 12 der zugesagte Bund die einzige Verheißung ist, die in dem langen Fluchabschnitt nicht in ihr Gegenteil verkehrt wird.23 Das heißt: Durch alle Katastrophen hindurch bleibt eine sichere Grundlage bestehen; der Bund Gottes gilt verlässlich und unabhängig von allen Sünden und traumatischen Ereignissen – eine in die Gründungszeit Israels verlegte Versicherung, die dem späteren Leser innere Kraft und Stärke auch angesichts von Katastrophen geben soll.

II. Zur Moralisierung von Gemeinschaft im Buch Levitikus Ein wesentlicher Faktor für gesellschaftliche Resilienz ist die Ausbildung eines Gemeinschaftssinnes.24 Eine Gemeinschaft ist dann resilient, wenn sie durch moralische Gebote in ihrem Zusammenhalt so gestärkt wird, dass sie mit Krisenphänomen umzugehen vermag. Schon das Verständnis von Katastrophen als göttliche Strafe verfügt über eine moralische und religiöse Erklärungs- und Bewältigungskraft. Lev 26, der eben besprochene Text, stellt bei Vertragsbruch Katastrophen verschiedenster Art in Form von Flüchen in Aussicht. Diese Flüche erklären vergangene Katastrophen und sichern im Rahmen einer politischmoralischen Theologie die Einhaltung des Vertrags (inklusive aller göttlichen

                                                             22

HIEKE, Levitikus, 1096. Dieses Paradigma gilt „vor den Augen der Nationen“ (V. 45) und damit „als Paradigma für alle Menschen“ (a.a.O., 1098. Hervorhebung im Original). 23 Vgl. HIEKE, Levitikus, 1095. 24 Gemeint ist damit „die Kultivierung sozialer Interessen und sozialer Kompetenzen.“ SEDMAK, Innerlichkeit, 30. Zum Begriff Gemeinschaftssinn vgl. SEDMAK, a.a.O., 28.

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Vorschriften) und damit das wesentliche religiöse Identitätsmerkmal der nachexilischen Kultgemeinschaft. Die Katastrophe des Exils geht nicht auf den blinden Zufall der Geschichte zurück, ist nicht das undeutbare Schicksal der Kontingenz, sondern erklärbar als Strafe Gottes. Die Bedeutung dieses Erklärungsmusters zur Schaffung von Resilienz kann kaum überschätzt werden. Hinter dem „Zufall“ sind die strafenden Hände Gottes spürbar. Damit wird Kontingenz in „Sinn“ verwandelt, die Katastrophe in das eigene Weltbild eingeholt und dieses Weltbild enttäuschungsresistent und wetterfest gemacht. Wenn es in Lev 26 heißt, dass Gott den „Duft der Beruhigung“ nicht mehr riechen wird (V. 31), dann liegt eine Resilienz vernichtende Drohung angesichts des antiken Gottes- und Weltverständnisses vor, nach dem eine bestehende, resonante Gottesbeziehung entscheidend für das menschliche Gelingen des Lebens ist. Indem die Katastrophe jedoch als gestörte Beziehung, als Strafe Gottes, verstanden wird, können Antworten gefunden werden, die den Menschen auch in und nach der Katastrophe aktiv sein lassen, um eine die Katastrophe bewältigende, das heißt gelingende Gottesbeziehung wiederherzustellen. In Lev 26 und anderen Texten geht die Strafe Gottes auf menschliches Fehlverhalten zurück, ein Fehlverhalten, das erkannt, vermieden und behoben werden will. Hier liegt der Fokus auf hausgemachten moralischen und religiösen Gefahren. Nur kurz sei erwähnt, dass die Inzest-Tabus in Lev 18 und 20 Regeln für das Familien- und Clanleben geben, die Abgrenzung zu fremden Gruppen erleichtern und den emotionalen wie rechtlich-sozialen Zusammenhalt von Familie, Clan und Gemeinschaft insgesamt stärken wollen,25 indem sie eine klare Rollenzuweisung favorisieren und dabei die Überkreuzung von Familienstrukturen, Rivalitätskonstellationen sowie Beziehungen ohne Chance auf Nachkommenschaft untersagen.26 Ebenfalls nur kurz sei erwähnt, dass in Lev 19 die Vorgaben zur Einhaltung des Sabbats, zur Alten- und Elternehrung, zur Nächsten- und Fremdenliebe und zur konstruktiven Zurechtweisung des Mitbürgers ebenso wie die Verbote der Fremdgötterverehrung, der Lüge, des Betrugs und

                                                             25

Vgl. HIEKE, Levitikus, 654 und passim, FECHTER, FRIEDRICH, Die Familie in der Nachexilszeit. Untersuchungen zur Bedeutung der Verwandtschaft in ausgewählten Texten des Alten Testaments (BZAW 264), Berlin/New York: De Gruyter 1998, sowie anthropologisch LÉVY-STRAUSS, CLAUDE, Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993 [1949]. 26 Vgl. HIEKE, Levitikus, 667 mit Hinweis auf MELCHER, SARAH J., The Holiness Code and Human Sexuality, in: Robert L. Brawley (Hg.), Biblical Ethics and Homosexuality. Listening to Scripture, Louisville: Westminster John Knox 1996, 99; EILBERG-SCHWARTZ, HOWARD, The Savage in Judaism. An Anthropology of Israelite Religion and Ancient Judaism, Bloomington: Indiana University Press 1990, 183.

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des Diebstahls, der Nachlese auf dem Feld und der Unterdrückung des Schwachen, der ungerechten Rechtsprechung, des Bruderhasses, der Rache und der Fälschung von Maßeinheiten den Zusammenhalt der Gesellschaft und das heißt immer auch soziale Resilienz stärken wollen. Spezifischer soll es im Folgenden werden, wenn es darum geht, wie Rituale Resilienz stärken.

III. Gesellschaftliche und individuelle Krisenrituale Gerade im Buch Levitikus werden Wege an die Hand gegeben, um mit Problemen und Krisen fertig zu werden und eine relativ hohe Frustrationstoleranz einzuüben, indem Ambivalenzen, Probleme und Krisenphänomene mithilfe von Ritualen in relativ enttäuschungsfeste Systementwürfe integriert werden. Krisenrituale27 sind resilienzorientierte „Kontingenzbewältigungsstrategien“28 im Falle von Krisen und Katastrophen.29 Peter Sloterdijk hat in seinem Aufsatz Das Zeug zur Macht vom gekonnten Nichtkönnen gesprochen und die These aufgestellt, dass alles, was nicht in der Macht des Menschen liege, „im Schutz von Ritualen mehr oder weniger routiniert“ überstanden werden kann: Nehmen Sie an, die Sintflut fällt unter Blitz und Donner vom Himmel auf Ihr Blätterdach, dann können Sie, wenn sich das Unwetter überhaupt überstehen lässt, es besser überstehen, wenn Sie ein Lied für den Wettergott rezitieren. Es ist nicht wichtig, dass Sie selber Wetter machen können – auch die modernen Kompetenzen reichen noch nicht ganz bis dorthin –, sondern dass Sie eine Technik kennen, bei schlechtem Wetter in Form zu bleiben; es muss in ihrer Kompetenz liegen, auch dann etwas tun zu können, wenn man ansonsten nichts tun

                                                             27 Zum Phänomen des Krisenrituals im Alten Orient vgl. SALLABERGER, WALTHER, Art. Ritual. A, in: Reallexikon der Assyriologie und Vorderasiatischen Archäologie 11 (2007), 427. Rein begrifflich gilt es, idealtypisch zwischen einer Katastrophe und einer Krise zu unterscheiden. Die Katastrophe hat etwas Endgültiges und Entschiedenes, bei der Krise ist noch nichts entschieden: Anders als die erfahrungsgemäß plötzlich eintretende Katastrophe ist die Krise gewachsen, wächst weiter, und der Ausgang des krisenhaften Zustands ist noch offen. Erst das Ende zeigt, ob es katastrophal oder glücklich sein wird. Doch was für die Katastrophe gilt, trifft auch auf die „extreme kollektive Krise“ zu: „Unter einer extremen kollektiven Krise verstehe ich die öffentliche Wahrnehmung einer plötzlich in Erscheinung tretenden gravierenden Problemsituation oder -entwicklung, die mit den üblichen Problemlösungstechnik[en] nicht bewältigt werden kann und auf allen gesellschaftlichen Ebenen der Bearbeitung bedarf.“ (GEENEN, ELKE M., Kollektive Krisen. Katastrophe, Terror, Revolution – Gemeinsamkeiten und Unterschiede, in: Lars Clausen/Elke M. Geenen/Elísio Macamo [Hg.], Entsetzliche soziale Prozesse. Theorie und Empirie der Katastrophen, Münster: LIT 2003, 5) 28 Vgl. den Begriff „Kontingenzbewältigungspraxis“ bei LÜBBE, HERMANN, Fortschritt als Orientierungsproblem. Aufklärung in der Gegenwart, Freiburg i.Br.: Rombach 1975, 177. 29 Zum Folgenden vgl. meinen Aufsatz DIETRICH, Katastrophen, 105ff.

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kann. Nur wer weiß, was man tut, wenn nichts zu machen ist, verfügt über hinreichend effiziente weiterlaufende Lebensspiele, die ihm dabei helfen, nicht in auflösende Panik oder seelentötende Starre zu verfallen.30

Krisenrituale ermöglichen einen Erkenntnisgewinn, der Krisen und Katastrophen verständlich und behandelbar macht. Die Rituale in Lev 4–5 und 12–16 ermöglichen es, die Ursachen von Widrigkeiten entweder in moralischem Fehlverhalten oder in Schieflagen des Körper- und Weltbildes zu finden, gleichwie ob diese Fehler und Schieflagen nun in Hautkrankheiten, Ausfluss oder moralischen Fehlern bestehen. Erkenntnis in diesem Bereich erlaubt es, Handlungskompetenz zu gewinnen, erlaubt es also, aktiv zu werden und auf die Schieflage so einzuwirken, dass das ursprüngliche Weltbild und ein Gefühl von Orientierung und Sicherheit wiederhergestellt werden kann. Im Buch Levitikus sind es ganz spezifische Rituale, die diese Rolle übernehmen. Die Sünd- und Schuldopfer, wie sie in Lev 4–5, aber auch in Lev 12–16 beschrieben werden, geben nicht einfach gedankenlose Antworten auf äußere Widrigkeiten, sondern weisen epistemische Relevanz auf und stärken innere Resilienz durch erkenntnisgebundene Rituale.31 Epistemische Relevanz zeigt schon der Schuldopferbegriff ‫אָ שָׁ ם‬, der ähnlich wie der Sündopferbegriff ‫חַ טָּ את‬ den rituellen Umgang mit einer unabsichtlich begangenen Schuld bezeichnet, „die bewusst wird“ und wo „es darum geht, dass den Menschen bewusst wird, dass etwas vorgefallen ist, das die heilvolle Beziehung zu Gott stört bzw. das von Gott trennt.“32 Wichtig für die Frage nach Resilienz ist dabei, dass die bewusstgewordene Sünde nicht in einem Fehlverhalten begründet sein muss, sondern auch in Widrigkeiten jenseits subjektiver Schuld33 bestehen kann. Zur

                                                             30

SLOTERDIJK, PETER, Das Zeug zur Macht: Bemerkungen zum Design als Modernisierung von Kompetenz, in: Ders., Der ästhetische Imperativ. Schriften zur Kunst. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Peter Weibel, Hamburg: Suhrkamp 22007, 145f. Vgl. auch LÜBBE, Fortschritt, 179: „Religiöse Praxis als Praxis der Kontingenzbewältigung stabilisiert angesichts der absoluten Differenz zwischen dem, dessen wir mächtig sind, und dem, dessen wir nicht mächtig sind, und sie stabilisiert überdies angesichts fortdauernder Unsicherheit über den Grenzlinienverlauf.“ 31 Vgl. grundlegend zum epistemischen Gehalt biblischer Rituale JOHNSON, DRU, Knowledge by Ritual. A Biblical Prolegomenon to Sacramental Theology (Journal of Theological Interpretation Supplement 13), Winona Lake: Eisenbrauns 2016. 32 HIEKE, Levitikus, 85. Auch beim Begriff ‫ חַ טָּ את‬kann man den Fokus auf das legen, „what happens in the human heart and mind“ (KIUCHI, NOBUYOSHI, A Study of Ḥāṭā’ and Ḥaṭṭā’ṯ in Leviticus 4–5 (FAT 2/2), Tübingen: Mohr Siebeck 2003, 30). Zusätzlich bezieht sich das ‫חַ טָּ את‬-Opfer in Lev 5 auf die Fälle, bei denen die Sünde vor dem Sünder (zunächst) „verborgen“ ist, dann aber ins Bewusstsein tritt (Lev 5,2–4). 33 Zum Phänomen objektiver Schuld nach Rechtstexten und rechtsrelevanten Erzählungen auch außerhalb des Buches Levitikus wie Ex 21,28–32; Dtn 21,1–9 oder 2 Sam 21,1–9 vgl. DIETRICH, JAN, Kollektive Schuld und Haftung. Religions- und rechtsgeschichtliche

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Resilienz gehört es, mit Widrigkeiten des Lebens aller Art umzugehen, sowohl mit solchen, die in eigenem Fehlverhalten begründet liegen, aber auch mit denjenigen Kontingenzen des Lebens fertig zu werden, die „einfach so“ und objektiv den Menschen treffen, wie beispielsweise Ausfluss und Hautkrankheiten. Sünd- und Schuldopfer gewähren deshalb ganz realistisch den Aufbau von Resilienz auch in solchen Krisensituationen, für die der Mensch selbst gar nichts kann.34 Damit hängt zusammen, dass sich das Schuldbewusstsein entweder auf eine konkrete Schuld beziehen oder aber auch im Ungefähren verbleiben kann. Lev 5,1–4.15f. und 20–26 nennen spezifische Fehlhandlungen, während das Vorkommen allgemeiner Sündenbegriffe in Kapitel 4 sowie in 5,17–19 die Schuld im Ungefähren belässt. Zu den Widrigkeiten des Lebens gehört es eben auch, dass man bei einigen den Grund konkret benennen kann, bei anderen jedoch nicht, und auch in diesen Fällen ist es wichtig, „bei schlechtem Wetter in Form zu bleiben“,35 selbst wenn die Ursache des Schlechtwetters nicht deutlich vor Augen steht. Sünd- und Schuldopfer ermöglichen rituelle „Schlechtwetter-Antworten“ auf konkret bekannte wie auch nur ungefähr erahnte Schuldphänomene und stärken auf beiden Ebenen menschliche Resilienz.36 Darüber hinaus werden mit dem Sünd- und Schuldopfer zwei Widrigkeiten zugleich behoben, denn es werden rituelle Antwortmöglichkeiten an die Hand

                                                             Studien zum Sündenkuhritus des Deuteronomiums und zu verwandten Texten (Orientalische Religionen in der Antike 4), Tübingen: Mohr Siebeck 2010, bes. 283–300 (Lit.). 34 „,Schuld‘ entsteht nicht nur aus böser Absicht, sondern auch objektiv durch Verkettung unglücklicher Umstände, durch mangelndes Wissen, fehlende Vorsicht usw.“ (HIEKE, Levitikus, 86f.). Sünd- und Schuldopfer beziehen sich eben auch auf Widrigkeiten des Lebens, „wo es überhaupt nicht um moralische Fragen und Verfehlungen geht, sondern um andere Störungen der Kommunikation zwischen Mensch und Gott, die sogar durch Vorgänge eintreten können, die der Mensch überhaupt nicht verantworten kann, aber auch nicht muss – dennoch lösen sie Verunsicherung und Schuldbewusstsein aus.“ (a.a.O., 290) 35 SLOTERDIJK, Macht, 145. 36 Dass Ritualtexte, zu denen auch die biblischen Texte über Sünd- und Schuldopferrituale zählen, durch eine textferne und irreführende Leseweise auch neurotische Fixierungen auf Sünde und Schuld bei Lesern und Gemeinschaften im Denken und Handeln auslösen oder stärken können, die nicht lebensfördernde und Resilienz festigende, sondern Lebenskraft raubende Auswirkungen haben, sei zumindest angemerkt. Diese Möglichkeit ist jedoch nicht gleichzusetzen mit der klassisch-orthodoxen psychoanalytischen These, dass hinter jedem religiös-rituellen Verhalten eine Zwangsneurose stehe (oder dass hinter jedem Ritualtext neurotische Verfasser stünden). Die klassische orthodoxe Psychoanalyse war stets in der Gefahr, religiöse Rituale mit individuellen Zwangsneurosen nicht nur zu vergleichen, sondern gleichzusetzen und sprach von Religion als „universelle Zwangsneurose“ oder „allgemein menschliche Zwangsneurose“, vgl. FREUD, SIGMUND, Zwangshandlungen und Religionsübungen, GW 7 (41966) [1907], bes. 138f.; vgl. Ders., Die Zukunft einer Illusion, GW 14 (1948) [1927], bes. 367.

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gegeben, die den Zusammenhalt der Gemeinschaft stärken, aber auch solche, die die Resilienz des Einzelnen stärken. Mit dem Schuldopfer kann sowohl eine zwischenmenschliche Schuld gegenüber dem Mitmenschen im materiellen Sinne beglichen als auch die gefährdete Gottesbeziehung des Einzelnen wiederhergestellt werden. Hier werden soziale und religiöse Antworten auf Disruption bereitgestellt, die soziale wie individuelle Resilienz gleichzeitig stärken. Die Abschlussformel zu den Sünd- und Schuldopfern macht mit ihrer Hervorhebung von Versöhnung und Vergebung schließlich deutlich, dass der betroffene Mensch Versöhnung und Vergebung erfährt und damit in sozialer Hinsicht in die Kultgemeinschaft wieder eingegliedert und in individueller Hinsicht in die heilvolle Gottesbeziehung reintegriert wird. Das Sündopfer von Lev 4–5 ermöglicht nicht nur rituellen Handlungsgewinn bei individuellen Problemfällen, sondern auch bei kollektiven. Im Falle unbeabsichtigter Fehlleistungen des Hohepriesters, der ganzen Gemeinde und von Entscheidungsträgern gewähren Rituale Entlastungen für die gesamte Gemeinschaft und ihre Funktionsträger. Noch deutlicher wird die gemeinschaftsstärkende Rolle der Rituale beim Großen Versöhnungstag. Dieses Ritual dient dem Aufbau von sozialer Resilienz, indem gravierende Gefährdungen der Gemeinschaft einmal im Jahr rituell beseitigt werden und ein jährlicher Neuanfang ohne Altlasten möglich wird. In keinem anderen alttestamentlichen Ritualtext werden in zwei Versen alle wesentlichen Hauptbegriffe für Gefährdungen und Fehlleistungen summarisch genannt, sodass sich die Kultgemeinde einmal im Jahr von „Sünde an sich“ entlasten kann: „von den Unreinheiten der Israeliten und von ihren Freveltaten nach all ihren Sünden“ (V. 16) bzw. indem Aaron „alle Schuld der Israeliten und alle ihre Freveltaten, nach allen ihren Sünden“ (V. 21) über dem Sündenbock bekennt, auf den Kopf des Sündenbocks legt und wie eine materia peccans von Tempel und Gemeinde weg in die Wüste entsendet. Es liegen hier auf der Endtextebene37 Deutungen für die Ritualhandlungen vor, die in diesem Umfang für biblische Ritualhandlungen bemerkenswert sind. Die vier verwendeten Hauptbegriffe umfassen dabei alle denkbaren Gefährdungen. ‫ טֻ ְמאָ ה‬bezeichnet die physisch-miasmatischen Unreinheiten, die das

                                                             37 Es handelt sich bei den Versen, die neben der Verunreinigung und rituellen Reinigung des Tempels den Aspekt der moralischen Verfehlung und Versöhnung hervorheben, um Hinzufügungen durch Schreiber, die den Geist des Heiligkeitsgesetzes atmen, vgl. etwa NIHAN, CHRISTOPHE, From Priestly Torah to Pentateuch. A Study in the Composition of the Book of Leviticus (FAT 2/25), Tübingen: Mohr Siebeck 2007, 360f. Ohnehin wird in exilischnachexilischer Zeit vielen alttestamentlichen Opfern verstärkt „sühnende Qualität“ zugeschrieben, vgl. JANOWSKI, BERND, Anthropologie des Alten Testaments. Grundfragen – Kontexte – Themenfelder, Tübingen: Mohr Siebeck 2019, 441.

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Heiligtum, aber auch den Menschen objektiv betreffen; ‫„ פֶּ שַׁ ע‬Frevel“, ‫עָ וֹן‬ „Schuld“ und ‫„ חַ טָּ את‬Sünde“ sind Oberbegriffe für menschliche Verfehlungen religiöser oder sozialer Art, die von Gott trennen und das mitmenschliche Leben gefährden.38 Indem der Priester diese Sünden über dem Sündenbock sprachsymbolisch bekennt und auf den Kopf des Sündenbockes handlungssymbolisch legt, entsteht ein Sprach- und Handlungsgewinn, der den Menschen gerade nicht traumatisch verstört zurücklässt, sondern resilient hervortreten lässt. Es lässt sich über die Gefährdungen sprechen, man kann sie sprachlich einfangen und man kann sich durch das Bekenntnis zu ihnen in eine identitätsbedachte, selbstkritische Beziehung zu ihnen setzen39 und sie schlussendlich auch handlungssymbolisch „beseitigen“. Die Gefährdung wird in ihrer sprachlichen und materiellen Erscheinungsform sichtbar und rituell behandelbar. Die Konkretisierung des Unheils bedeutet, dass die Widrigkeiten als Sünde benannt und öffentlich sichtbar vor aller Augen entfernt werden können. Das konkret benennbare und fassbare Übel wird durch einen performativen Vorgang auf den Sündenbock überführt, der als Trägertier das Unheil eliminiert. Am Ende zeigt der Hohepriester, indem er sich neue Kleider anzieht, den gereinigten und vom Übel befreiten Zustand von Tempel und Volk auch körpersymbolisch an. Die Ritualvorgaben von Lev 12–15 dienen ebenfalls der Aufrechterhaltung von Resilienz, indem sie unverschuldet auftretenden Verunsicherungen entgegenwirken40 und Orientierung und Sicherheit wiederherstellen helfen. Sei es die Verunsicherung bei der Geburt eines Kindes, die mit großem Blutverlust und hoher Sterblichkeitsrate für Frau und Kind einhergeht (Lev 12), sei es im Falle von Gefährdungen und Verunsicherungen durch Hautkrankheiten und

                                                             38 Vgl. etwa KNIERIM, ROLF, Die Hauptbegriffe für Sünde im Alten Testament, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1965; vgl. KIEFER, JÖRN, Sünde/Sünder (AT), in: Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www.wibilex.de), Stuttgart 2017. Zu typischen Ausdrücken vgl. LAM, JOSEPH, Patterns of Sin in the Hebrew Bible. Metaphor, Culture, and the Making of a Religious Concept, Oxford: Oxford University Press 2016. 39 Mir scheint, dass dies geschieht, ohne ihre Bedeutung, ihr Gewicht und ihre Ernsthaftigkeit zu schmälern. Anders beispielsweise HIEKE, Levitikus, 887f., der annimmt, dass die mit voller Absicht begangenen, das heißt mit „erhobener Hand“ begangenen Verfehlungen durch das Bekenntnis zu unabsichtlichen, aus Versehen geschehenen Verfehlungen reduziert und sühnbar werden. Von dieser konkreten Unterscheidung und Terminologie steht allerdings nichts im Text. Vielleicht ist es die mit dem Bekenntnis einhergehende bewusste Aneignung und Reue, die die absichtsvollen Vergehen sühnbar macht, ohne sie zu leichter verzeihlichen zu reduzieren. 40 Zur rituellen Begegnung von Verunsicherungen in diesen Texten vgl. auch HIEKE, Levitikus, passim sowie Ders., Opfer und Liebe Gottes im Buch Levitikus, in: Manfred Oeming (Hg.), Ahavah. Die Liebe Gottes im Alten Testament (Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte 55), Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2018, 139–141.

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Schimmelbefall an Häusern (Lev 13–14), sei es durch beunruhigenden Ausfluss von Körperflüssigkeiten (Lev 15): Immer werden rituelle Handlungsmöglichkeiten an die Hand gegeben, die zu Entlastungen, zur performativen Wiederherstellung von Körper-, Stadt- und Weltbildern führen, Orientierungs- und Sicherheitsgefühl wiederherstellen und nicht einfach ein zwanghafter Ausdruck neurotischer Symptome sind. Die Rituale werden jeweils durch eine Diagnose seitens eines Ritualexperten eingeleitet (durch einen Priester), und damit wird Erkenntnisgewinn erlangt: ein erster Schritt für den Aufbau von Resilienz, indem man sich über das Faktum der Gefährdung klar wird und denkerisch „erhebt“. Der dadurch erlangte Handlungsgewinn wiederum ermöglicht es, der jeweiligen Gefährdung nicht verstört gegenüberzustehen, sondern die Gefährdungen ernst zu nehmen, sie symbolisch anzuzeigen und handlungskompetent zu beantworten.41 Dadurch wird zum einen die Gemeinschaft in ihrer sozialen Resilienz gestärkt, zum anderen auch die betroffene Person in ihrer individuellen. Letztere kann in Kenntnis des Ritualtextes die Wiedereingliederung in die Kultgemeinschaft stets im Blick haben, um den Übergang von der Gefährdung zur Wiedereingliederung bewusst wahrzunehmen, aktiv mitzugestalten und am Ende durch ein Opfer die Wiedereingliederung in die Gemeinschaft ebenso wie die Wiederherstellung der eigenen Kultfähigkeit performativ anzuzeigen. Fassen wir zusammen: In Lev 18–20 stärkt das Buch Levitikus soziale Resilienz mithilfe von identitätsstiftenden und den Zusammenhalt bewahrenden Geboten. In Lev 26 erklärt es eingetroffene Katastrophen und eröffnet Wege, um zukünftige Krisen als personale Beziehungsstörung zu verstehen, die grundsätzlich behoben und in eine gelingende Beziehung verwandelt werden können. Lev 4–5; 12–16 geben Möglichkeiten an die Hand, um bei individuellen und kollektiven Gefährdungen, bei subjektiver Schuld und objektiven Verunsicherungen, bei konkret benennbaren Problemen und bei nur ungefähr erahnten Gefahren nicht verstört zurückzubleiben, sondern rituelle Erkenntnis-

                                                             41 Dieser Handlungsgewinn geht beim priesterschriftlichen Tieropferritual bzw. beim priesterschriftlichen Sündenbockritual allerdings auf Kosten des domestizierten Ritualtieres, das selbst keine Resilienz gewinnt, sondern – ob auf der fiktiven Textebene oder in der Realität – getötet bzw. aus der Gemeinschaft ausgestoßen/eliminiert wird. (In Lev 14,7 wird der zweite Vogel indessen nicht ausgestoßen/eliminiert, sondern freigelassen.) Eine Diskussion über dahinterstehende etwaige Ängste und Aggressionen kann an dieser Stelle nicht erfolgen, vgl. jedoch vor allem GIRARD, RENÉ, Das Heilige und die Gewalt, Düsseldorf: Patmos 2006. Wichtig scheint mir in diesem Zusammenhang, zwischen anthropologisch vorgegebenen, dem Menschen inhärenten gewalttätigen Leidenschaften einerseits (die von Girard einseitig hervorgehoben werden) und reaktiven Gefühlen und Verhaltensweisen andererseits zu unterscheiden (vgl. in Bezug auf Dtn 21,1–9 DIETRICH, Schuld, 328–332; in Bezug auf die Rachepsalmen DERS., Erich Fromm, 271).

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und Handlungskompetenz auch angesichts von Gefährdungen, Krisen und Katastrophen zu bewahren. Hartmut Rosa schreibt in seinem Buch Resonanz: „Wer seinen Resonanzdraht zur Welt auf eine einzige Achse konzentriert, verfügt im Falle ihres krisenhaften Verstummens über keine Ersatzquellen und deshalb über keine oder wenig Resilienz.“42 Bei der Priesterschrift ist man erstaunt über die verschiedenen Pfade, die das Buch betritt, um vergangene Katastrophen zu erklären und mit zukünftigen Gefährdungen aller Art umzugehen.

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Prophetie

The Power, People, Place, and Plan of YHWH Isaiah as Resilience Narrative Christopher G. Frechette Resilience is, according to Michael Ungar, “the capacity of both individuals and their environments to interact in ways that optimize developmental processes. … These processes occur, however, only when the individual’s social ecology … has the capacity to provide resources in ways that are culturally meaningful.”1 The present essay explores evidence in the book of Isaiah that its near-final form supported resilience for the book’s audience around the end of the fifth century BCE by contributing to such a social environment and the resilient interaction that it fostered. In applying Ungar’s explanation of resilience to this context, we may understand “optimizing developmental processes” broadly as fostering wellbeing. The editors of the present volume invited contributors to discuss resilience narratives by recognizing resilience in psychological terms convergent with Ungar’s explanation, as a process that enables people to cope with crises that become dominated by frictions in understandings of self and world.2 Such a process of resilience is dynamic, ambivalent, and interactive. It is dynamic in that it involves an activation of mind, brain, and body that enhances wellbeing in the face of frictions that disorient the person’s sense of self and world. In other words, the coping involved does not simply happen, as if the person is surrounded by a kind of protective shield. Resilience is ambivalent in that multiple, and sometimes competing, inclinations or needs may emerge in the person during the crisis and need to be addressed by the coping process. Finally,

                                                             1

Michael Ungar, “Resilience, Trauma, Context, and Culture,” Trauma Violence Abuse 14 (2013): 256. For a concise review of research on resilience from a psychological perspective see Kirsten Birkett, Resilience: A Spiritual Project, Latimer Studies 84 (London, UK: The Latimer Trust, 2016), 5–18. 2 Judith Gärtner and Cornelia Richter, “Der (post-)moderne Begriff der Resilienz und die jüdisch-christliche Tradition,” in Resilienznarrative im Alten Testament, ed. Judith Gärtner and Barbara Schmitz, FAT 156 (Tübingen: Mohr Siebeck, 2022), 1–21.

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Christopher G. Frechette

resilience is interactive. Coping does not occur merely by the activation of certain traits of personality or character that the person may possess. Rather it involves interaction with an array of social factors, which may include individuals and groups, and other environment factors, which may include texts and other symbols. The interaction shapes the trajectory of the coping process. Within this understanding of resilience, words and images become resilience narratives if they serve as narrative motifs or textual schemas that interpret the crisis by symbolizing meaning and organizing experience in ways that support endurance and wellbeing. Resilience narratives are resources for meaning making with respect to an experience of crisis, and this crisis may involve the world of the narrative as well as both implied and actual readers. The present essay considers the capacity of elements of the narrative to support actual readers in symbolizing and organizing an experience of crisis and so promote endurance and wellbeing. Such symbolizing and organizing produces meaning, but in a manner that is not confined to linear or propositional logic and that does not promise simple answers. Moreover, since resilience as a process of coping is inherently dynamic and ambivalent, it follows that, in symbolizing and organizing experience, resilience narratives might demonstrate plasticity and ambiguity of meaning. When elements in the narrative seem to contradict each other, a coherent poetic rationale may emerge when recognizing how different elements may address different needs in the audience and how all elements may function within a larger symbolic program.3 In considering biblical texts as resilience narratives, it is fruitful to draw attention to their capacity to affect deeply held assumptions, what cognitive behavior theorists call “core beliefs.” Operating largely out of awareness, such assumptions serve as filters through which the stream of ongoing experience passes, producing feelings and thoughts. Such assumptions affect one’s overall sense of meaning. Highly stressful experiences tend to produce toxic assumptions about self, others, world, and future. Specifically, the self may be seen as not having dignity, agency, identity, or solidarity with others, including God, all of whom may be seen as untrustworthy. The future may seem hopeless.

                                                             3 For the function of such a program from a psychological perspective, see Christopher G. Frechette, “Two Biblical Motifs of Divine Violence as Resources for Meaning-Making in Engaging Self-Blame and Rage after Traumatization,” PastPsy 66 (2017): 244–248. For a brief exploration of the book of Jeremiah as such a program, see Frechette, “The Old Testament as Controlled Substance: How Insights from Trauma Studies Reveal Healing Capacities in Potentially Harmful Texts,” Interp. 69 (2015): 29–32.

The Power, People, Place, and Plan of YHWH

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Even when a person carries assumptions that support wellbeing, intense stress can shatter them and give rise to others that are toxic.4 This essay explores dimensions of how the near-final form of the book of Isaiah comprised a complex textual schema, a symbolic program that would have functioned as a resilience narrative for its Judean audience around the end of the fifth century BCE, in part by its capacity to diffuse toxic assumptions and replace them with assumptions that support wellbeing. After discussing various stressors contributing to the audience’s psychological crisis, the discussion addresses the following three questions. Recognizing that Isaiah’s symbolic program includes some imagery that portrays YHWH as violent and punishing, and other imagery that portrays YHWH as compassionate and saving, how might such a seemingly ambiguous combination have enabled the text to address the audience’s ambivalent needs for reinterpreting toxic assumptions? Are there indicators in the text that suggest its ability to foster the social construction of meaning in the audience in a dynamic and interactive way? Within such a social process, how might key imagery of YHWH’s power, people, place, and plan have bolstered the believability of the text’s claims about YHWH’s authority over meaning?

I. The Crisis Faced by YHWH’s Servants Who Tremble at His Word The majority of redaction-critical scholars recognize four major phases in the history of the composition of Isaiah:5 the first in the late eighth century BCE; the second in the late seventh century; the third during the exilic period; and the fourth in or near Jerusalem after the reconstitution of the temple cult (515 BCE). The final phase likely developed in multiple moments, with later ones being related to Nehemiah’s program of reconstruction during the mid-fifth century, and the almost-final form being complete by the early fourth century. There is some consensus that the final phase introduced the chapters conventionally known as Trito-Isaiah (chs. [55]56–66), the second half of DeuteroIsaiah (chs. 49–54), the book’s superscription along with some portion of its initial chapters, and additional texts. The present discussion focuses on the context in which the near-final form of the book would have been used around the

                                                             4

Ronnie Janoff-Bulman, Shattered Assumptions: Towards a New Psychology of Trauma (New York: Free Press, 1992). 5 Ulrich Berges, “Isaiah: Structure, Themes, and Contested Issues,” in The Oxford Handbook of the Prophets, ed. Carolyn J. Sharp (New York: Oxford University Press, 2016), 159– 165.

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end of the fifth century, with attention to elements likely added in the final phase. Major factors contributing to the psychological crisis faced by the writers and their audience included: conflict between those book’s writers/intended audience and their YHWH-worshipping opponents; Jehud’s current political and economic situation under the Persians; and the collective effects of generations of successive historical devastations inflicted by the nations. An attempt to understand this crisis benefits from considering the interplay among multiple dimensions of the audience’s experience, including symbolic/mythic/ritual, material/economic, social, and ethical dimensions. Isaiah shares central aspects of the symbolic/mythical world attested in other biblical traditions. In that symbolic world, relationship to YHWH was central, and that relationship was constructed largely through ethical and ritual performance that relied on enduring institutionalized social contexts. As Bernd Janowski demonstrates, Old Testament anthropology is unitary and radically relational, interweaving bodily, social, and theological dimensions; the pre-eminent determinant is relationship to YHWH.6 Convergent with this view, Jon Levenson has demonstrated that relationship to YHWH is cultivated in a symbolic way through active observance of YHWH’s ritual and ethical instruction, a combination that he calls “liturgy in a broad sense.”7 A fundamentally communal enterprise, such observance made believable in the liturgical present the love that YHWH expressed in the mythic past by choosing Israel and creating her to be YHWH’s people. Moreover, Levenson has emphasized that such observance also was understood to move YHWH to enact mastery over the chaos that threatened YHWH’s people and so to protect them from that chaos – even if the manifestation of that mastery was portrayed as deferred to an eschatological future. Both Janowski and Levenson highlight the persistent tension within which YHWH-worshipers lived in relationship to YHWH – honestly expressing anger and protest over suffering, while being drawn to a stance of awe and praise in YHWH’s presence and hoping for his actual intervention. That presence was experienced as simultaneously loving and awe-inspiring, in a way not fully comprehensible. The construction of this relational identity occurred within dynamic social and ritual contexts in which people could “metabolize” their experiences of psychological stress, while cultivating relationship to the loving yet not fully comprehensible YHWH. In this way, such contexts facilitated resilience. The combination of stress factors experienced by the fifth-

                                                             6 Bernd Janowski, Arguing with God: A Theological Anthropology of the Psalms, trans. Armin Siedlecki (Louisville, KY: Westminster John Knox, 2013). 7 Jon D. Levenson, Creation and the Persistence of Evil: The Jewish Drama of Divine Omnipotence (Princeton, NJ: Princeton University Press, 1994), see esp. xvi–xxvi.

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century writers of Isaiah and their audience would have strained people’s capacity to engage in such metabolizing. The work of scholars including Joseph Blenkinsopp, Wim Beuken, and Ulrich Berges suggests that the terms “servants” and “tremblers” introduced into the text of Isaiah in its fourth phase of composition create an identification between the writers responsible for this phase and their intended audience.8 (Henceforth, “servant-tremblers” will be used to refer collectively to Isaiah’s late-fifth-century writers and audience.) This is the heritage of the servants of the LORD and their vindication from me, says the LORD…. I will bring forth descendants from Jacob, and from Judah inheritors of my mountain; my chosen shall inherit it, and my servants shall settle there…. But this is the one to whom I will look, to the humble and contrite in spirit, who trembles at my word…. Hear the word of the LORD, you who tremble at his word. (Isa 54:17c; 65:9; 66:2b; 66:5a) 9

Those who call themselves “the servants of YHWH” (‫“ )עַ ְב ֵדי יְ הוָה‬who tremble at his word” (ֹ‫ל־דּבָ רו‬ ְ ֶ‫ח ֵר ִדים א‬ ֲ ַ‫ )ה‬understand themselves over against a group of opponents (Isa 66:5b-d). Yet, the social identity of the two groups has been disputed. Paul Hanson proposed a post-exilic community divided in a battle for the temple between priestly establishment and eschatologically-oriented prophetic visionaries.10 Brooks Schramm’s critique of this unnuanced division has been generally accepted; it is difficult to imagine a redaction of the near-final form of Isaiah being successfully completed by a completely marginalized

                                                             8 Joseph Blenkinsopp, “The ‘Servants of the Lord’,” Proceedings of the Irish Biblical Association 7 (1983): 1–23; Blenkinsopp, “The Servant and the Servants in Isaiah and the Formation of the Book,” in Writing and Reading the Scroll of Isaiah: Studies of an Interpretive Tradition, ed. Craig C. Broyles and Craig A. Evans (Leiden: Brill, 1997), 155–175; Blenkinsopp, Isaiah 56–66: A New Translation with Introduction and Commentary. AB 19b (New York: Doubleday, 2003), 51–54; W. A. M. Beuken, “The Main Theme of Trito-Isaiah: ‘The Servants of YHWH’,” JSOT 47 (1990): 67–87; Ulrich Berges, “Who Were the Servants? A Comparative Inquiry in the Book of Isaiah and the Psalms,” in Past, Present, Future: The Deuteronomistic History and the Prophets, ed. Johannes Cornelis de Moor and H. F. Van Rooy (Leiden: Brill, 2000), 1–18; Berges, “Trito-Isaiah and the Reforms of Ezra/Nehemiah: Consent or Conflict?” Biblica 98 (2017): 173–190. 9 All English biblical translations are taken from the NRSV, unless otherwise indicated. 10 Paul D. Hanson, The Dawn of Apocalyptic: The Historical and Sociological Roots of Jewish Apocalyptic Eschatology (Philadelphia: Fortress, 1979).

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group.11 Berges has offered a more nuanced proposal.12 He argues that the writers were Levitical singers and poets who had gone into exile in 587 and eventually returned to Jerusalem. While recognizing a serious conflict between the writers and the more powerful priestly classes of the temple, Berges argues for the writers’ ongoing participation in temple activity, despite being excluded from direct service at the altar. After a conflict with the Zadokites and the Aaronides in which they failed to gain priestly status, these singers remained temple musicians and so continued to benefit from the temple. The material/economic dimension of the servant-tremblers’ crisis combines general economic stress that many in Jehud faced under the Persian Empire, with the specific stressors experienced by those among the servant-tremblers who experienced added hardship as a result of rejection by temple authorities. The Persian-period economy entailed a system of high taxation, high rates of interest, exorbitant penalties on defaulted loans, and arbitrary land-grants to elites who took advantage of the poor.13 Persian tax policy required payment in coin and could have catastrophic consequences: “Most small farmers were forced to pledge their sons and daughters, their fields, vineyards and houses, indeed, even to sell their own children as slaves.”14 Among the writers’ sympathetic audience would have been some who found themselves deprived of their civic status and their land because of being excommunicated from the temple by the opponents in power.15 To understand the servant-tremblers as including a wider audience than the writers helps to explain the dire economic situation reflected in the text. In Isaiah 58:6–7, injunctions to loosen bonds of injustice, free the oppressed, feed the hungry, and clothe the naked imply that conditions of injustice, oppression, and poverty had become a significant problem. Isaiah 59 portrays a situation of dire injustice:

                                                             11

Brooks Schramm, The Opponents of Third Isaiah: Reconstructing the Cultic History of the Restoration. JSOT.S 193 (Sheffield, UK: Sheffield, 1995). 12 Ulrich Berges, “‘Singt dem Herrn ein neues Lied’: Zu den Trägerkreisen von Jesajabuch und Psalter,” in Trägerkreise in den Psalmen, ed. Frank-Lothar Hossfeld, Johannes Bremer, and Till Magnus Steiner (Göttingen: V&R Unipress, 2017), 11–18; Berges, “TritoIsaiah,” 190. 13 Choon-Leong Seow, Ecclesiastes: A New Translation with Introduction and Commentary, AB 18C (New York: Doubleday, 1997), 23–31. 14 Ulrich Berges, The Book of Isaiah: Its Composition and Final Form, trans. Millard C. Lind, Hebrew Bible Monographs 46 (Sheffield, UK: Sheffield Phoenix, 2012), 416–417. 15 “We deduce from Ezra 10:8 that banning involved not only exclusion from cultic participation but forfeiture of civic status and (presumably immovable) property, a situation which would also help to explain the frequent reference in these chapters to the poverty, misery and insecurity of the devout minority, also known as ‘mourners’” (Blenkinsopp, “Servants,” 169).

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Their feet run to evil, and they rush to shed innocent blood … Therefore justice is far from us, and righteousness does not reach us; we wait for light, and lo! there is darkness; and for brightness, but we walk in gloom … We all growl like bears; like doves we moan mournfully. We wait for justice, but there is none; for salvation, but it is far from us. (Isa 59:7, 9, 11)

The writers do not claim innocence, but they accept the imperative of striving to live justly (Isa 59:12). Following immediately upon the dire injustices described in chapter 59, in Isaiah 60–62 Berges observes a shift in stance from Deutero-Isaiah, “The previous commitment to liberation from Babylon and the Diaspora (cp. 42:7; 49:9) has now been transformed into a battle for liberation from economic oppression.”16 Isaiah 60 confronts the underlying issue of setting right a variety of social wrongs.17 Concerning the core verses of this section, Isaiah 61:1–3, which promise good news for the oppressed, binding up of the brokenhearted, liberty to captives, and release to prisoners, Berges concludes, “These verses are not about what will one day take place in the near or distant future, but about the concrete transformation of unjust living conditions.”18 Berges sees in the continuation of the passage (Isa 61:4–9) a compelling response to the objection – likely raised among the economically marginalized members of the book’s audience – that a restored cultic center in Zion would only benefit those serving in the cult: In answer to this skepticism Trito-Isaiah emphasizes that Zion as the cultic center of the nations would mean that the poor and oppressed would be liberated and that foreigners would call them “priests of YHWH” and “servants of our God.” They would no longer serve the foreigners; instead the foreigners would be their herdsmen and tend their vineyards!19

The ideal future vision of Isaiah 65 implies a reversal of present circumstances (esp. Isa 65:22a, 23a). The servant-tremblers would have experienced stress related to their symbolic/mythic/ritual world because of multiple factors. The most obvious of

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Ulrich Berges, “Kingship and Servanthood in the Book of Isaiah,” in The Book of Isaiah: Enduring Questions Answered Anew: Essays Honoring Joseph Blenkinsopp and His Contribution to the Study of Isaiah, ed. Richard J. Bautch and J. Todd Hibbard (Grand Rapids, MI: Eerdmans, 2014), 176. 17 Blenkinsopp, Isaiah 56–66, 218. 18 Berges, Book of Isaiah, 417. 19 Berges, Book of Isaiah, 418.

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these is the erosion of two key traditional institutions in Israel, both of which had been understood as enduring symbols of YHWH’s capacity to master chaos on behalf of Israel: the end of the Davidic monarchy, and the degraded status of Zion and its temple, the central symbolic location of communication with YHWH. In addition, the injunction to observe the Sabbath in Isaiah 58:13–14 suggests that its neglect had become a significant concern. Seow has observed that the competitive commercial atmosphere created under Persian rule, with its developing monetary economy, likely prompted some Jews, spurred by competition from Gentiles, to disregard the Sabbath.20 The servant-tremblers’ YHWH-worshipping opponents controlled temple operations, and the very fact that they wielded such power would have suggested implicitly that they did so with YHWH’s authority. Yet, they violated the servant-tremblers’ convictions in several respects and thereby added not only to the ritual dimension of the servant-tremblers’ crisis, but to its ethical and social dimensions, as well. Those in control of the temple accepted a situation in which temple activity was not independent but required the Persian king’s approval, whose authority over the temple was expressed in the prayers and sacrifices offered there for the royal family.21 This situation violated the sovereignty of YHWH over Zion, a central theme throughout the book of Isaiah. Berges suggests that along with agreeing to Persian terms for rebuilding the temple and making its ongoing activity subservient to the Persian king, the opponents likely were allowing syncretistic activities to find their way into service at the altar.22 Through the temple economy, those in power would have benefitted from the exploitive economic situation under the Persians.23 Employing sharp juxtapositions, Isaiah 66:3 portrays how, even while doing legitimate cultic activities, the opponents also commit egregious cultic and social offenses. Berges’s translation of this verse inserts parenthetical remarks that clarify this logic, e.g., “the person who slaughters a bull (in the house of Yahweh) kills a human being (at the same time).”24 In addition, the opponents are implicated for failing to provide leadership that should have ensured social and economic justice (Isa 56:9–12). The opponents amplified the social dimension of the servant-tremblers’ crisis in two ways. Against the implied views of their opponents, Isaiah 56:1–8 expresses the servant-tremblers’ views about YHWH’s intention that the social

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Seow, Ecclesiastes, 23. Ezra 6:10; Blenkinsopp, Isaiah 56–66, 47. 22 Berges, Book of Isaiah, 490. 23 “The temple became increasingly the domain of the priesthood and ruling elite; and the temple under Persian rule became rapidly profitable” (Berges, Book of Isaiah, 487). 24 Isaiah 66:3a; Berges, Book of Isaiah, 491. 21

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reality of post-exilic Israel should include eunuchs and foreigners, all people willing to serve YHWH as the only God. This stance suggests that such people were already being welcomed into social and ritual fellowship by the servanttremblers, an inclusivity that the opponents would have denounced. As already discussed, the opponents restricted the servant-tremblers’ access to temple activity by reducing the status of the Levitical singers and by completely excluding others. Both types of exclusion would have stressed the servant-tremblers in their efforts to construct community in relationship with YHWH and in line with what they believed to be YHWH’s word/design. The combination of these stresses easily would have prompted a crisis of meaning involving toxic assumptions along the following lines: harsh poverty and social and ritual exclusion that resonated with generations of devastating collective stresses fostering assumptions of the self as lacking dignity and solidarity with others and YHWH; and an inability to improve their situation that eroded assumptions that their efforts matter, fostering instead assumptions that they lacked agency. Cumulative stresses with material/economic, social, ethical, and symbolic/ritual dimensions would likely have undermined their identity as “YHWH’s people” and their fundamental trust in YHWH, upon whom their identity and sense of meaning and hope depended.

II. Isaiah as Resilience Narrative Trito-Isaiah envisions that YHWH will save Israel by transforming Jerusalem into a center from which YHWH’s glory will be manifest to the whole world; all nations will be attracted to acknowledge and serve YHWH, but YHWH’s enemies, including people from Israel and from the nations, will be destroyed. This vision was positioned within the complex symbolic program of the entire near-final form of the book. To demonstrate the capacity of this program to help Isaiah’s late-fifth-century audience cope with the stresses described above, the following discussion offers two lines of evidence. It first outlines the mechanisms by which some major elements of Isaiah’s complex symbolic program were able to address toxic assumptions about self and world. Then it suggests connections between Isaiah’s symbolic program and the book’s liturgical (i.e., social, ritual, and ethical) performance that point to its effectiveness for helping its audience cope with stress.

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Re-interpreting Toxic Assumptions Isaiah includes multiple images of YHWH judging and punishing Israel, with whom the servant-tremblers would have identified. Yet, this judgment and punishment are consistently contextualized within YHWH’s larger purpose of reconciling with Israel. For instance, Isaiah 1–2 weaves imagery of judgment on Israel and punishment as purification together with emphasis on both Israel’s filial relationship with YHWH and injunctions to return to YHWH, who will grant reconciliation and salvation.25 For the servant-tremblers, such imagery provided an interpretive lens for making sense of their own present experience of suffering as well as Israel’s history of suffering at the hands of the nations; it did so in a manner capable of diffusing the toxic assumptions discussed above. In Trito-Isaiah the servant-tremblers’ ongoing suffering is portrayed as a result of YHWH’s judgment on them; their suffering would continue until sufficient conversion had taken place. Reflecting a situation in which the servant-tremblers were becoming disillusioned at the delay of YHWH’s salvation, the accusations and exhortations in Isaiah 56:9–59:21 were intended to motivate YHWH-worshippers to turn away from the sin so that they might experience YHWH’s salvation (Isa 57:13b).26 Such interpretation of suffering as punishment resulting from the people’s failure to heed YHWH’s plea to turn away from evil echoes other passages (e.g., Isa 9:8–21). Isaiah’s portrayal of divine judgment and punishment on Israel would have served a resilient function. Regarding stress among the servant-tremblers linked both to the memory of historical devastations and to their present oppression, this punishment imagery would have addressed symbolically two psychic needs. When intense stress prompts an experience of chaos, there is a psychic need for a perception of order. Asserting that the chaos constitutes punishment brought about by one’s own fault not only provides a rationale to explain why the events occurred, it also asserts the subject’s agency when experiences of overwhelming force have severely diminished that agency. Thus, in asserting fault the servant-tremblers also assert their agency, both in present solidarity with each other and in collective identity with their ancestors. Moreover, when humans are violated by others, the toxic assumptions that result can

                                                             25 This imagery includes: “I reared children and brought them up, but they have rebelled against me” (Isa 1:2b); “I will turn my hand against you; I will smelt away your dross as with lye and remove all your alloy. … Zion shall be redeemed by justice, and those in her who repent, by righteousness. But rebels and sinners shall be destroyed together, and those who forsake the LORD shall be consumed” (1:25, 27–28); “O house of Jacob, come, let us walk in the light of the LORD!” (Isa 2:5). Moreover, Berges argues that all of Isaiah 1–4 were added during the fourth phase of the book’s composition (Book of Isaiah, 39–40). 26 Berges, Book of Isaiah, 434–435.

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be cemented in place by the image of the perpetrators preserved in memory, as discussed below. By making human agents of oppression (past and present) into mere instruments of divine agency, the imagery undermines the power of those human actors to continue to imbue those stressful events with toxic meaning for the servant-tremblers. The reverse imagery, that of YHWH punishing oppressors, also had the capacity to alleviate toxic assumptions resulting from stress. Because humans recognize each other as agents of meaning, when a human agent intentionally violates others, the very fact of the violation suggests two assumptions that are toxic: that the victims deserve such violation because they lack dignity; and that the victims became vulnerable to such violation because others, including God, either have violated the victims or allowed violations to occur, and so cannot be trusted – solidarity with these others becomes eroded. Directly related to the devastation that Assyria and Babylon enacted on Israel, Isaiah contains imagery of YHWH punishing both empires. After announcing the use of Assyria as YHWH’s implement to punish Israel (Isa 8:5–10), the text declares YHWH’s punishment of Assyria for their arrogance (Isa 10:5–7, 16, 24–25). Isaiah 47:1–6 portrays YHWH’s punishment of Babylon for destroying Zion.27 To the extent that the servant-tremblers understood their present situation in continuity with that historical suffering, these images would have undercut the potential of the memory of those destructions to foster the toxic assumptions noted above. Regarding the servant-tremblers’ opponents, Isaiah 65–66 portrays YHWH’s judgment against them. Therefore thus says the Lord GOD: My servants shall eat, but you shall be hungry; my servants shall drink, but you shall be thirsty; my servants shall rejoice, but you shall be put to shame; my servants shall sing for gladness of heart, but you shall cry out for pain of heart, and shall wail for anguish of spirit. You shall leave your name to my chosen to use as a curse, and the Lord GOD will put you to death; but to his servants he will give a different name. (Isa 65:13–15)

                                                             27

For an interpretation of the healing function of this text, see Christopher G. Frechette, “Daughter Babylon Raped and Bereaved (Isaiah 47): Symbolic Violence and Meaning-Making in Recovery from Trauma,” in Bible Through the Lens of Trauma, ed. Elizabeth Boase and Christopher G. Frechette, Semeia Studies 86 (Atlanta, GA: Society of Biblical Literature, 2016), 67–83.

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The intensity of Isaiah’s imagery expressing both punishment of Israel and the destruction of the opponents, along with all evildoers, is striking – especially the image of YHWH covered in blood after defeating his enemies (Isa 63:1– 6), and the book’s final verse (Isa 66:24). Such intensity has a function in a resilience narrative. Since the intensity and duration of the violation can make toxic assumptions resulting from stress deeply internalized and resistant to change, for a narrative text to reinterpret them, it must be compelling, a quality that can depend on several factors. The intensity of the dramatic, violent imagery of God’s destroying perpetrators of violations against the servant-tremblers enhances its capacity to undermine the toxic meaning internalized in connection with the memory of being violated. This violent imagery also facilitates expression and validation of intense and disturbing feelings associated with the crisis, such as rage, so that the toxic assumptions linked to them can be believably delegitimated. Isaiah’s imagery of the human agents of oppression being destroyed, incapacitated, or shamed expresses symbolically that the oppressive actions were wrong, and consequently any toxic meaning that may have resulted for the servant-tremblers is also wrong. An ambiguity emerges from these two types of imagery: YHWH punishes the subject for sin by using human agents, but also punishes those agents for their actions. This ambiguity supports Isaiah as resilience narrative because it corresponds to the subjects’ ambiguous needs just described. To resolve any ambiguity about YHWH’s positive regard for the servant-tremblers, the symbolic program of Isaiah affirms that YHWH’s compassion and desire for favorable relationship with YHWH’s people is primary. Isaiah repeatedly subordinates images of YHWH’s punishment to the ultimate goal of restoring favorable relationship with them, as seen in Isaiah 1–2, already discussed, and in additional key passages. Isaiah 12 portrays Israel’s punishment as subordinate to their ultimate comfort and salvation. Trito-Isaiah also contextualizes YHWH’s past punishment of Israel/the servant-tremblers within the larger purpose of healing and reconciliation, and it assures the servant-tremblers that YHWH will give them the comfort promised in Isaiah 40:1 (Isa 57:17–18; Isa 66:13). Moreover, Isaiah’s symbolic program undercuts toxic assumptions linked to images of the nations perpetrating violence on Israel by reversing such imagery in positive ways. In this regard, the key image is that of the nations coming to Zion not to destroy or oppress, but peaceably, to recognize and serve YHWH (e.g., Isa 2:1–5; 60:3), and to serve and support Israel (e.g., Isa 60:4–18).

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The Servant-tremblers’ Social Construction of Meaning Meaning-making is fundamentally a social process, and the final form of Isaiah would have supported the servant-tremblers in constructing a social context in which to appropriate the book’s symbolic program and so find solidarity with one another in coping with stress. As Judith Herman has articulated, when stress confuses one’s sense of meaning, including what is right and wrong, the supportive presence of trusted, empathetic persons can serve two functions that support stressed persons in coping: providing safety that allows them to tolerate authentic but disturbing feelings linked to internalized toxic assumptions; and providing a compass that helps to orient them as they sort through internal confusion regarding meaning.28 Experiencing social solidarity through empathy and trust is a key factor that can make new interpretations of toxic assumptions compelling. As noted above, calling themselves “servants of YHWH who tremble at his word” created an identity shared by Isaiah’s fifth-century writers and their sympathetic audience. The following discussion demonstrates the capacity of the text of Isaiah to bolster that identity and the confidence in YHWH’s authority over meaning that goes with it. Three key factors contributed to the servant-tremblers’ construction of identity and meaning: their enactment of the Isaianic texts, their identification of those texts with YHWH’s powerful word, and their claim to the same legitimating labels as their opponents. The servant-tremblers’ performance of the book may be conceived as liturgy in a broad sense, involving their collective commitment to enacting its ethical and ritual vision, which presumably was supported by some form of ritualized engagement with each other in space and time. Such shared commitment and ritual activity would have created a social context in which to “metabolize” the stresses that the servant-tremblers experienced. There is reason to believe that the book’s contents were proclaimed aloud ritually by the servant-tremblers (whether from memory or written texts), and that at least some parts were likely sung. Much of Isaiah is in the form of poetic speech, and it is likely that the fifth-century writers were, as already noted, a group of Levitical singers. The book includes numerous predictions of singing and imperatives to sing or make music, in addition to imagery involving hearing YHWH’s word.29 The identification “YHWH’s servants who trem-

                                                            

28 Judith Lewis Herman, Trauma and Recovery: The Aftermath of Violence – from Domestic Abuse to Political Terror, Rev. ed. (New York: BasicBooks, 1997), 155–195. 29 Images of singing and making music include ‫( זמר‬Isa 12:2); ‫( נגן‬Isa 38:20); ‫( ענה‬Isa 27:2); ‫( רנן‬Isa 12:6; 24:14; 26:19; 35:6; 42:11; 44:23; 49:13; 52:8; 54:1; 65:14); and ‫שׁיר‬ (Isa 26:1; 30:29; 42:10). Multiple passages describe hearing (‫ )שׁמע‬YHWH’s word (e.g., Isa 1:2; 29:18; 30:21; 33:13; 34:1; 39:5; 43:9; 44:1; 48:1, 14–16; 66:5).

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ble at his word” invites imaginative association of the servant-tremblers’ performance of the Isaianic texts with the book’s rich imagery of YHWH’s word: YHWH’s speaking, vividly portrayed in Isaiah 6; the word that emanates from Jerusalem and is received by all peoples, as envisioned in Isaiah 2:3; the word depicted in Isaiah 50:4 being given by YHWH to the servant to speak to the weary, a role to which the servant-tremblers have become heirs; and the durability, efficaciousness, and dynamic capacity of YHWH’s spoken word, as described in Isaiah 40:7–8, 45:23, and 55:10–11. The power of the terms “servants” and “tremblers” for creating group identity is enhanced by the fact that those same designations were claimed as legitimating labels by other fifth-century YHWH-worshippers – including those responsible for Ezra-Nehemiah – who rejected core views expressed in Isaiah. Blenkinsopp has suggested that the term “tremblers” as it appears in Trito-Isaiah and in Ezra (9:4; 10:3) refers to the same group over time.30 Contrary to this view, Berges makes a compelling argument that Trito-Isaiah is appropriating “tremblers” and “servants” in a way that links both terms to the writers’ position regarding post-exilic Israelite identity; their position is founded on YHWH’s word and open to including all nations, thus differing from the exclusivist position of Ezra-Nehemiah, whose claim to status as servants and tremblers is founded on adherence to the Torah of Moses.31 When a supportive social group seeks to establish the believability of an interpretation, it often appeals to an accepted authority, as does Isaiah. In seeking to establish YHWH as the authority for their claims to meaning, however, the fifth-century writers faced the challenge of making a compelling case for YHWH’s authority, given that they and so many of their ancestors in faith lacked material power. Divine authority in ancient Near Eastern cultures was traditionally linked to demonstrations of material power, especially military victories achieved in service of a given deity. Israel’s history of devastations by the nations and the servant-tremblers’ present situation subject to the Persians and to the priestly classes in charge of the Temple would have militated against the servant-tremblers’ attempts to claim YHWH’s authority for their interpretations. Bolstering the case for YHWH’s authority over their identity and meaning, Isaiah employs four key images in organizing and symbolizing the crisis: the power, people, place, and plan of YHWH. Isaiah asserts YHWH’s unrivaled power over all creation and supports the credibility of this assertion in numerous ways. As already discussed, Isaiah paints a vivid picture of YHWH’s dynamic, durable, and effective word, and

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Blenkinsopp, Isaiah 56–66, 51–54. Berges, “Who Were the Servants,”15–18; Berges, “Trito-Isaiah,” 179–180; Berges, Book of Isaiah, 486–488. 31

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presents YHWH as controlling human agents to punish both the nations and YHWH’s own people, including the servant-tremblers’ opponents. A key basis for the book’s assertion of YHWH’s power was advanced during the book’s third phase of composition, as Dominik Markl has argued, when DeuteroIsaiah responded to the exiles’ psychological wounds with a strong message of resilience, “inventing” the one and only God of the universe and “killing” the Babylonian deities.32 The motif of “YHWH’s word” links the emerging content of what became the book of Isaiah with the mythic imagery of YHWH’s power to create and to control events.33 Adapting traditional mythic imagery and asserting that YHWH predicted events, Isaiah “proves” YHWH’s power over events that have already happened and uses the fact of their occurrence as leverage for asserting YHWH’s power over all events – including future ones – and their meaning.34 In light of Isaiah 1:1, which places the vision (‫ )חָ זוֹן‬that constitutes the entire book in the period of the late-eighth-century Judean kings, the book’s representation of events that had occurred up to the fifth century alongside judgments by YHWH confirms YHWH’s agency in all the suffering as well as saving events experienced by Israel/the servant-tremblers. Whether or not texts that seem to predict specific devastations – like that of the Kingdom of Israel by the Assyrians and that of Babylon by the Persians, or the exiles’ return to Jerusalem – were actually proclaimed prior to those events, to the fifth-century audience they represented evidence of YHWH’s power.35 In addition to being portrayed as either instruments or objects of YHWH’s punishment, “people” in Isaiah symbolizes YHWH’s power over meaning in that only by recognizing and serving YHWH do people find life and meaning; they become “YHWH’s people.” The imagery of Jerusalem’s repopulation by her “children” who are brought to her from among the nations asserts YHWH’s power in the face of the memory of the devastation and exile of prior generations of Israelites, as well as the present diaspora (Isa 49:14–26; 60:9). In addition, such imagery, combined with that of Zion as an exceedingly fertile

                                                             32 Dominik Markl, “The Babylonian Exile as the Birth Trauma of Monotheism,” Biblica 101 (2020): 19–23. 33 See, e.g., 41:25–27; 42:8–9; 43:11–13; 44:7–8, 26–28; 45:19; 46:8–11; 48:4–5; 55:10– 11. 34 Mythic imagery includes YHWH engaging in cosmic battle (e.g., Isa 13:4; 30:26–33; 42:13; 44:16–17), and in creation and causing world events (e.g., Isa 40:12–31; 42:5, 14–17, 24–25; 43:15–21; 44:24–28; 45:6–8, 12–13, 18–19). 35 See, e.g., Isa 5:26–30; 6:10–13; 7:17–25; 8:5–8; 9:8–12; 10:5–6; 41:11.

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mother (Isa 54:1–10), asserts YHWH’s power to bring back to life, to “resurrect” Jacob, who by many cultural indicators had died.36 In sharp contrast to Ezra-Nehemiah’s restrictive concept, the Isaianic servant-tremblers envisioned post-exilic Israel as expanding out from ancestral Israel so that the children of Zion will include all people willing to serve YHWH, while excluding any Israelites, even priests, who violate YHWH’s ethical and ritual laws.37 While in some places Isaiah portrays the nations as subservient to ancestral Israel, Isaiah 61, with its theme of priesthood, defines the relationship between Israel and the nations theologically, affirming the special priestly identity of ancestral Israel, and by virtue of that identity mediating YHWH to the nations.38 That Isaiah envisions the nations relating to YHWH by attraction rather than coercion is especially apparent in Isaiah 2:1–4. Jeffrey Cooley has demonstrated that this passage depicts the nations streaming to Jerusalem because they recognize it as the place where they gain access to mysterious divine knowledge that is superior to that available through Mesopotamian mantic practices.39 In contrast to Mesopotamian divination, which was employed to legitimize military conquest, the nations will find in Zion secret divine knowledge that “will not be used to propagate wars of conquest that will result in peace but will, rather, propagate peace directly without conflict.”40 Jerusalem/Zion is the place that expresses symbolically YHWH’s power over events and authority over meaning, despite its servant-trembler inhabitants’ lack of present material power. The inclusion of substantial lament in Trito-Isaiah would have helped the servant-tremblers validate their distress over the present distressed state of Zion, a constant reminder of the end of both the Davidic monarchy and the material power associated with it (Isa 59:5–19; 63:7–64:11). Isaiah, unlike Ezekiel, does not anticipate a renewed Davidic kingship or any human king, but claims that YHWH has already begun a process of reigning in Jerusalem. This shift undermines the cultural assumption

                                                             36

Jon D. Levenson, “The Widow Re-Wed, Her Children Restored,” in Resurrection and the Restoration of Israel: The Ultimate Victory of the God of Life (New Haven: Yale University Press, 2006), 142–155. 37 “That the limits of the people of God at the beginning and the end of Isa. 56–66 (56:1– 8; 66:18–23) are enlarged to the favour of all those who accept YHWH as their only God constitutes the outright logical consequence of the preaching found in Isa. 40–55,” (Berges, “Who were the servants,” 4–5). 38 See, esp., Isaiah 61:4–9; Berges, Book of Isaiah, 398–399. 39 Jeffrey L. Cooley, “Creation and Divination in Isaiah 2:1–4,” in Laws of Heaven – Laws of Nature: Legal Interpretations of Cosmic Phenomena in the Ancient World, ed. Konrad Schmid and Christoph Uehlinger (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2016), 102– 122. 40 Cooley, “Creation and Divination,” 104.

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that material power is necessary to legitimate claims about meaning. YHWH’s sovereignty over Zion, as demonstrated in the return of exiles and the rebuilding of city and temple, legitimates Isaiah’s interpretations. Moreover, a key motif is the contrast in portrayals of Babylon (being brought down and shamed) and of Jerusalem (being lifted up and glorified) that points to Jerusalem as the center from which the dawn of a reversal of Israel’s history of suffering is occurring.41 Isaiah locates its interpretations of events within YHWH’s “plan” (‫;עֵ צָ ה‬ ‫)יעץ‬, a narrative motif that holds and organizes Israel’s past, present, and future. Supported by the arguments for YHWH’s power over all people discussed above, the plan motif in Isaiah asserts a divine rationale, a wisdom that provides a basis upon which the servant-tremblers can construct meaning and identity. The superior divine wisdom that, according to Isaiah 2:1–5, the nations recognize in Zion is enacted concretely in YHWH’s plan of events portrayed throughout the book. The plan motif is elaborated in Isaiah 46:8–10 (NRSV amended by author): 8

Remember this and consider, recall it to mind, you transgressors, 9 remember the former things of old; for I am God, and there is no other; I am God, and there is no one like me, 10 declaring the end from the beginning and from ancient times things not yet done, saying, “My plan (‫ )עֲצָ ִתי‬shall stand, and I will fulfill my intention.”

The plan unfolds as a process declared from the beginning of creation and revealed in the eighth century to the prophet Isaiah in the vision that is the book (Isa 1:1). The process will lead to YHWH’s universal power established over all peoples as manifested in Zion: all YHWH’s people (including the nations) will serve YHWH in peace, YHWH’s opponents will disappear, and the suffering of YHWH’s people will end. The wicked incorrectly assume that YHWH can plan only good for them (Isa 5:19). The plans of the nations are futile (Isa 8:10; 19:2–3; 36:5; 47:13). YHWH’s plan unfolds in the oracles against the nations (Isa 14:26), and Berges argues that Isaiah 24–27, the so-

                                                             41

See, e.g., imagery of Babylon being brought down and shamed (Isa 14:11–15; 47:1– 7), and imagery of Jerusalem being lifted up and glorified (Isa 2:1–5; 60:1–22; 66:10–13). Berges suggests that the contrast between the exaltation of YHWH’s holy mountain and the bringing down of Moab in Isaiah 25 reflects a universalizing of the contrast between Jerusalem and Babylon (Book of Isaiah, 161–163).

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called “Isaian Apocalypse” with its robust vision of YHWH’s ultimate universal reign, picks up the theme of Babylon from those oracles and elevates it to a “world level.”42 Berges suggests that the writers saw the defeat of the Babylonians by Xerxes in 482 as further proof of YHWH’s power in history, and at that time inserted these four chapters, which had already become a unit.43 In it, the speaker praises YHWH for “wonderful plans (‫ )עֵ צוֹת‬you have carried out; from ancient times, reliable truth” (Isa 25:1).44 Isaiah anchors its symbolic program, including these four images, in the servant-tremblers’ liturgy, including ritual and ethical performance of YHWH’s word expressed in the Isaianic texts and centered on Jerusalem. Similar to the way early Christ-believers enacted their belief that salvation in Christ had already been accomplished but not yet fulfilled, the servant-tremblers performed their conviction that in Jerusalem YHWH’s plan of unfolding universal reign had already begun and eventually would be fully realized. They linked that full realization to their ability to live justly, to worship rightly, and to turn away from sin (Isa 56:1–8; 57:13–21; 58:1–14). Moreover, they were to petition YHWH (Isa 63:15–64:12), doing so without rest “until he establishes Jerusalem and makes it renowned throughout the earth” (Isa 62:7). To refer to themselves as “those who tremble (‫ )חרד‬at YHWH’s word” would have helped the servants not only by asserting their claim to legitimacy over against their opponents. In addition, it would have helped them cope with stress by echoing the book’s ambiguous use of the image of “trembling.” Isaiah uses that image in ways that express terror, the alleviation of terror, and awe/joy. The trembling of terror is associated with YHWH’s judgment: ‫חרד‬ (“tremble,” “shake”) in Isaiah 10:29, 19:16, and 32:11; and ‫“( פַּ חַ ד‬trembling,” “terror”) in Isaiah 2:10, 19, 21. In Isaiah 12:2 the speaker affirms that the assurance of YHWH’s salvation has removed the need to tremble with fear (‫;פחד‬ “tremble,” “shiver”), and Isaiah 44:8 employs the same verb in assuring the audience that they need not tremble with fear because YHWH is saving them. The trembling of awe/joy is associated with YHWH’s salvation. The coastlands and ends of the earth tremble in awe (‫ )חרד‬witnessing YHWH’s defeat of foreign gods who cannot refute YHWH’s claim to have caused the events involving Cyrus (Isa 41:1–5). When seeing her children brought back to her, Zion will see and be radiant; she will tremble with joy (‫ ;וּפָ חַ ד וְ ָרחַ ב ְלבָ בֵ ְך‬Isa 60:5). If the book of Isaiah was understood by the servants as “YHWH’s word” and was performed ritually, then “trembling at YHWH’s word” can be ambiguous in tone, reflecting ritualized performance of terror over judgment, on the one

                                                             42

Berges, Book of Isaiah, 162. Berges, Book of Isaiah, 162–163. 44 Translation adapted from Berges, Book of Isaiah, 163. 43

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hand, and awe/joy over salvation, on the other. Thus, the image of trembling would have provided the audience a way of holding the tension between the stress prompted by the present crisis and memory of past destructions understood as judgment, and the awe, relief, and joy evoked by the affirmation of YHWH’s unfolding salvation. Isaiah does not leave this tension unresolved. The book prioritizes YHWH’s desire for the servant-tremblers’ salvation, as already noted, and it also presents numerous images that invite belief, trust, and hope.45 In that context the image of “trembling” could help the audience cope with their stress by means of catharsis linked to interpretation. It allowed their present stress to resonate with the trembling of terror.46 The book’s affirmation of YHWH’s unfolding salvation and its assurance of salvation for those who tremble at YHWH’s word, however, provided an imaginative means for the audience to allow their own fears to shift toward a stance of exhilarated awe. This use of trembling is similar to the cathartic function of the violent apocalyptic imagery in the book of Revelation as proposed by Adela Yarbro Collins.47 She argued: “The task of Revelation was to overcome the unbearable tension perceived by the author between what was and what ought to have been.”48 This was achieved, in part, by evoking in the audience fears linked to their present struggle and projecting them onto a cosmic screen where the meaning of their struggle is affirmed and its favorable resolution is assured.49

                                                             45 For instance: believing/having faith (‫ )אמן‬in YHWH (Isa 7:9; 28:16; 43:10); trusting in YHWH (Isa 12:2; 26:4; 32:17; 36:4–22 [negative example refuted by Hezekiah’s response]; 50:10); waiting/hoping (‫ )קוה‬in YHWH (Isa 8:17; 25:9; 26:8; 33:2; 40:29–31; 49:23). 46 Whether the servant-tremblers experienced physical trembling as part of their ritual performance is difficult to know, but at a minimum their identification as tremblers suggests the possibility. If they did so, for those who may have experienced a traumatic level of stress, the research of psychologist Peter Levine into physiological responses of all mammals to overwhelming threats invites consideration that such trembling could have had a physiological capacity to release effects of that stress, i.e., the energy that had been retained in their bodies because of constriction resulting from not feeling safe to express it in fight or flight. See Peter A. Levine, In an Unspoken Voice: How the Body Releases Trauma and Restores Goodness (Berkeley, CA: North Atlantic Books, 2010). 47 Adela Yarbro Collins, Crisis and Catharsis: The Power of the Apocalypse (Philadelphia: Westminster, 1984). This study, in effect, presents Revelation as a resilience narrative. 48 Collins, Crisis and Catharsis, 141. 49 Collins, Crisis and Catharsis, 153.

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III. Concluding Observations Isaiah employed images of YHWH as loving and compassionate, yet violent and punishing, in ways that allowed its audience to address ambiguous needs in reinterpreting toxic assumptions about self and world that would have been prompted by their various stresses. These stresses combined material and social factors, with mythic, ritual, and ethical ones. Two factors help to explain the effectiveness of Isaiah as resilience narrative. Through its social, ritual, and ethical performance the text supported construction of social identity as “YHWH’s servants who tremble at his word” by drawing on Isaiah’s rich imagery of YHWH’s word, and using “tremble” ambiguously to facilitate catharsis linked to interpretation. In order to assert the authority of YHWH over meaning, despite the servants’ apparent lack of material power, the text employed images of YHWH’s power, people, place, and plan for organizing and symbolizing stress in ways that would have bolstered the case for that authority. Seeing Isaiah as a resilience narrative highlights its symbolic and interpretive function for the servant-tremblers and so calls into question Göran Eidevall’s post-colonial characterization of how the book portrays YHWH’s universal reign.50 Eidevall criticizes Isaiah’s vision for simply turning the tables on oppressive empires, becoming the “empire that strikes back.”51 Although the book portrays a vision in which the world’s submission to YHWH around a geopolitical center is accomplished partly in violent ways, the symbolic function of those portrayals becomes apparent when we recognize that the servants had no access to material means to accomplish such violence or any reasonable hope of ever having it. In contrast to a worldview in which “might makes right” and meaning is determined by material power, Isaiah embodies the interpretive power of the word as independent of material coercion. This power is actualized in social and ritual contexts and grounded in fundamental ethical values and in relationship to YHWH.

                                                             50

Göran Eidevall, “Propagandistic Constructions of Empires in the Book of Isaiah,” in Divination, Politics, and Ancient Near Eastern Empires, ed. Alan Lenzi and Jonathan Stökl, Ancient Near Eastern Monographs 7 (Atlanta: Society of Biblical Literature, 2014), 109– 128. 51 Eidevall, “Propagandistic Constructions,” 128.

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Kollektive Resilienz Überlegungen zur Geburtsmetaphorik in Jes 40–66 Michaela Bauks I. Einleitung Wenn Resilienz als „Kultur der Widerstandskraft“1 definiert ist, bietet das in Jes 40,1 beginnende „Trostbuch“ ein Resilienznarrativ erster Ordnung. Es ist wiederholt hervorgehoben worden, dass es sich mit dem Begriff der Resilienz um keinen antiken Quellenbegriff handelt, sondern um eine moderne Beschreibung der Verarbeitungsstrategien von individueller oder kollektiver Kontingenz- und Katastrophenerfahrung. Meine Eingangsfrage lautet: Lässt sich die Eröffnung ‫חמוּ עַ ִמּי י ֹאמַ ר אֱֹלהֵ יכֶ ם׃‬ ֲ ‫חמוּ ַנ‬ ֲ ‫„ ַנ‬Tröstet, tröstet mein Volk, spricht euer Gott“ in Jes 40,1 nicht als eine Art quellensprachliches Pendant zu dem modernen Begriff der Resilienz begreifen? Bekanntlich deckt das Verb ‫ נחם‬ein unerwartet breites Bedeutungsspektrum ab. Denn es reicht über das deutsche Verständnis von „trösten (pi.)2 bzw. getröstet werden“ (pu.)3 weit hinaus, indem es über „bereuen/sich etwas gereuen lassen“ bzw. „sich trösten lassen/getröstet werden/Mitleid haben/Leid tragen um jemanden (nif.4; hit.), sich erbarmen“ (nif.) bis hin zu „sich Erleichterung verschaffen/sich rächen“ (nif.5; hit.) bedeutet. Das hebräische Verb beschreibt also die Erfahrung der Erleichterung einer existenziellen Negativerfahrung in Form von Rache, Reue, Trost oder auch Mitleid.6 In der deutschen Lexik schließen die Wortfelder „bereuen“

                                                             1

SEDMAK, CLEMENS, Innerlichkeit und Kraft. Studie über epistemische Resilienz (Forschungen zur europäischen Geistesgeschichte), Freiburg i.Br.: Herder 2013, 1. 2 Jes 12,1; 22,4; 40,1; 49,13; 51,3.12.19; 52,9; 61,2; 66,13. 3 Jes 54,11; 66,13. 4 Jes 57,6. 5 Jes 1,24. 6 Vgl. RIEDE, PETER, Art. Trost, Tröster, trösten, § 1 (Wissenschaftliches Bibellexikon im Internet), https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/36214/ (Zugriff 8.8.19); vgl. DERS., Trost, der ins Leben führt. Ein Beitrag zum Menschen- und Gottesverständnis des

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und „trösten“ „den emotionalen Bereich (Veränderung in den Empfindungen dessen, der bereut oder tröstet), verbunden mit faktischer Ineffizienz ein: Reue über etwas, was schon geschehen ist oder nicht geändert werden kann; Trost für den, dem man nicht wirksam helfen kann“.7 Das hebräische Verb lässt indes ein weitaus performativeres Verständnis erkennen: Es beschreibt unabhängig von der konkreten Bedeutung des Bereuens oder Tröstens die Einflussnahme auf eine Situation [...], indem man den Verlauf der Dinge ändert, sich von einer Verpflichtung löst oder von einer Handlung abläßt, wenn es sich um etwas Gegenwärtiges handelt; die Entscheidung wird beeinflußt, wenn es sich um etwas Zukünftiges handelt; die Konsequenzen einer Handlung nimmt man an oder hilft, sie anzunehmen, oder man löst sich im Gegenteil affektiv von ihnen, wenn es sich um etwas Vergangenes handelt.8

Das hebräische Verb bezeichnet zwar – je nach Stamm – unterschiedliche Modi; allen Modi ist jedoch gemeinsam, dass sie Prozesse wie Entscheidung – Effekt oder Emotion – Affekt als unlösbar miteinander verbunden denken. Es geht um das Schaffen von Erleichterung in notvoller Lage und somit um Resilienz.9

II. Das Verb ‫ נחם‬in Jes 40–66 Zuerst einmal richtet sich der ‫נחם‬-Akt in Jes 40,1 an das „Volk“ (Israel-Jakob), dann aber auch an Jerusalem (Jes 40,1f) sowie in weiteren Texten DeuteroJesajas an die Tochter Zion, deren Trümmern Gott tröstend begegnet und deren Wüste in Eden bzw. in den Garten des HERRN verwandelt wird, woraus das Lob der JHWH-Treuen erwächst (vgl. Jes 51,3). Was ursprünglich ganz konkret und materiell auf die Stadt (und metonymisch auf ihre Bewohner) bezogen ist, hat, wie z.B. der (sek.) Hymnus in Jes 49,13 als Endpunkt des zweiten, kollektiv gestalteten Gottesknechtslieds (49,1–6) anzeigt, Auswirkungen auf

                                                             Alten Testaments (BThSt 138), Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 2013, 5 aufbauend auf JEDie Reue Gottes (BThSt 31), Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 21997, 15f. 7 SIMIAN-YOFRE, HORACIO, Art. ‫נחם‬, in: Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament 5 (1986), 366–384, hier 367. 8 SIMIAN-YOFRE, HORACIO, Art. ‫נחם‬, in: Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament 5 (1986), 366–384, hier 369. 9 Vgl. RIEDE, Trost, 9f. Insofern wäre die etymologische Ableitung von arab. naḥama „heftig atmen, wieder atmen können, aufatmen“ durchaus schlüssig (vgl. JEREMIAS, Reue, 15f). REMIAS, JÖRG,

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„Himmel, Erde und Berge“, und somit auf den Kosmos insgesamt.10 Die Erleichterung betrifft folglich Schöpfung und Geschichte gleichermaßen. Der Faden ist in dem wohl redaktionellen Gedicht in Jes 51,1–8 mit V. 311 nochmals aufgenommen, dessen Grundaussage, dass JHWH Jerusalem/Zion die/in den Trümmern getröstet hat, auch in Jes 52,912 begegnet. Jes 52,7–10 dürfte ursprünglicher Bestandteil des deuterojesajanischen Zyklus’ sein und damit derselben literarischen Ebene angehören wie Jes 40,1–11, dessen Abschluss es bildet.13 Das Gedicht in Jes 52 handelt von der Rückkehr JHWHs nach Jerusalem. 7 Wie schön sind auf den Bergen die Füße des Boten, Der Heil verkündet, gute Nachricht bringt, Rettung verkündet; Der zu Zion sagt: König ward dein Gott! 8 Horch, deine Wächter, sie erheben die Stimme, allesamt jubeln sie, Denn Auge in Auge sehen sie, wie Jahwe zurückkehrt zum Zion. 9 Brecht in Jubel aus, jauchzt allesamt, ihr Trümmer Jerusalems! Denn getröstet hat Jahwe sein Volk, Jerusalem erlöst. 10 Entblößt hat Jahwe seinen heiligen Arm vor den Augen aller Völker, Und es sehen alle Enden der Welt die Rettungstat unsres Gottes.14

Beide Texte (Jes 51,3 und 52,9) stellen die Tragweite des göttlichen Heilshandelns in einen erweiterten, kosmischen Rahmen. Es stellt sich nun die Frage, wer an dem Heil partizipiert? Jes 51,3 richtet sich an diejenigen, die JHWH oder ‫ צֶ ֶדק‬nachjagen (s. V. 1). Das Nomen übersetzt H.-J. Hermisson an dieser Stelle faktitiv mit „Heil“. Es geht darin um die JHWH-Bezogenheit, einen Appell an Israels Glauben.15 Die Verbindung der Eltern Abraham und Sara in 51,2 mit einer Neuschöpfung Zions in V. 3 wirkt auf den ersten Blick etwas konstruiert, erschließt sich aber von Jes 49,14f.21 her wegen der Parallelisierung von Kinderlosigkeit und Verödung Zions. Dass Zion am Abrahamsegen partizipiert, wird zur wichtigsten Voraussetzung für die Tröstung/Erleichterung der

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Vgl. HERMISSON, HANS-JOACHIM, Deuterojesaja 45,8–49,13 (BK XI/2), NeukirchenVluyn: Neukirchener 2003, 340–342; er sieht darin den Auftrag des Gottesknechts Israel (als Zionsgemeinde) gegenüber den Völkern im Angesicht der Weltöffentlichkeit, den der redaktionell ergänzte Hymnus auf den Kosmos ausweitet (387–389). 11 ָ‫בתֶ יה‬ ֹ ‫„ ִכּי־נִ חַ ם יְ הוָה ִציּוֹן נִ חַ ם כָּ ל־חָ ְר‬Denn getröstet hat Jahwe Zion, getröstet all ihre Trümmer, Und hat ihre Wüste zu Eden gemacht“ die Übersetzung stammt aus HERMISSON, HANS-JOACHIM, Deuterojesaja 49,14–55,13 (BK XI/3), Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 2017, 152. 12 ‫„ ִפּ ְצחוּ ַר נְּ נוּ י ְַח ָדּו חָ ְרבוֹת יְ רוּשָׁ לָ ִם ִכּ י־נִ חַ ם יְ הוָה עַ מּוֹ גָּאַל יְ רוּשָׁ לָ ִם‬Brecht in Jubel aus, jauchzt allesamt, ihr Trümmer Jerusalems! Denn getröstet hat Jahwe sein Volk, Jerusalem erlöst“; die Übersetzung stammt aus HERMISSON, Deuterojesaja 49,14–55,13, 200. 13 Vgl. HERMISSON, Deuterojesaja 49,14–55,13, 213–215 im Kontext des Imperativgedichts Jes 51,9–23; 52,1–12, dessen vierte von fünf Strophen Jes 52,7–10 bilden. 14 Die Übersetzung stammt aus HERMISSON, Deuterojesaja 49,14–55,13, 199f. 15 Vgl. HERMISSON, Deuterojesaja 49,14–55,13, 167.

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Gottesstadt. Zudem ist die Verheißung in 51,3 paradiesisch gezeichnet und führt darin über reinen Bevölkerungszuwachs (Jes 49,14ff) hinaus.16 Jes 52,11f. weitet den Adressatenkreis nochmals weiter aus, indem es an die Exulanten in Babylon gerichtet ist.17 Der uns später noch beschäftigende Text Jes 66,12–14 schafft mit den „Zionskindern“ einen völlig neuen Adressatenkreis. Von besonderem Interesse ist hier Vers 13 „Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet; ja, ihr sollt an Jerusalem getröstet werden“ in der viel zitierten Übersetzung der Lutherbibel (2017). Dem mütterlichen Zug des göttlichen Schaffens von Erleichterung entspricht der Befund, dass das hebräische Wort für Erbarmen als Pluralform (Jes 49,1318) die übertragene Bedeutung des hebräischen Primärnomens ‫ֶרחֶ ם‬ „Gebärmutter“ darstellt (s. Jes 46,3f). So wundert es nicht, dass der tröstende und erbarmende Gott im Jesajabuch wiederholt mütterlich gezeichnet ist (Jes 42,14; 49,15). Das ‫נחם‬-Geschehen kann alternativ in der Vorstellung des Pflanzens (Jes 61,3) und Sprossens (Jes 66,14) geschildert werden. Da mit dem Vorgang der formatio (Zeugung) wie auch der emersio weitverbreitete Vorstellungen altorientalischer Anthropogonien vorliegen, hat die göttliche ‫נחם‬Handlung auch hier eine kosmische Dimensionierung.19 Es geht um eine „Neuschöpfung“, die das „Aufblühen“ von Menschen in neuen Lebensbezügen in Aussicht stellt. Ich fasse zusammen: Die Erleichterung der Not (Resilienz) ist geschildert in Motiven von Schöpfung und Geburt. Das tröstende Handeln Gottes ist als unabdingliche Folge des Gerichtshandelns geschildert, das Gott an seinem abtrünnig gewordenen Volk vollzogen hat. Während z.B. die Klagelieder diesen schwierig zu deutenden, ambivalen-

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Vgl. HERMISSON, Deuterojesaja 49,14–55,13, 174f. Hermisson hält diese Verse (52,1f.7–12) für ursprünglich deuterojesajanisch (Vgl. HERMISSON, Deuterojesaja 49,14–55,13, 220), während Berges V. 11 f, dessen Motive keine Parallele in Jes 40,1–11 finden, für sekundär hält und sie im Anschluss an 51,9 visionär auslegt: „Wenn JHWH als siegreicher Held zu seiner Stadt und Braut zurückkehrt, dann soll das für die noch in Babel und unter den Völkern lebenden Kinder Zions das Zeichen sein, sich nun auch auf den Rückweg zu machen“ (BERGES, ULRICH, Jesaja 49–54 [HThKAT], Freiburg i.Br.: Herder 2015, 194). 18 Nomen und Verb begegnen in Jes 49,10.13.15; 54,7.8.10; 55,7; 60,10; 63,7.15; vgl. dazu BERGES, Jesaja 49–54, 309. 19 Vgl. KEEL, OTHMAR/SCHROER, SILVIA, Schöpfung. Biblische Theologien im Kontext altorientalischer Religionen, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht/Fribourg: Universitätsverlag 2002, 108–121; vgl. ZGOLL, ANNETTE, Welt, Götter und Menschen in den Schöpfungsentwürfen des antiken Mesopotamien, in: Konrad Schmid (Hg.), Schöpfung (ThTh 4; utb 3514), Tübingen: Mohr Siebeck 2012, 40–57; vgl. BAUKS, MICHAELA, Genesis 1–4 (BK I/1), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021, ad Gen 1,9 (in Vorbereitung). 17

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ten Zug Gottes im Anklagemodus reflektieren und das Hadern des „gerichteten“ Menschen mit seinem Kriegsschicksal thematisieren, setzen Deutero- und Trito-Jesaja Gottes Berechtigung für die Durchführung des Strafgerichts deutlich voraus (s. z.B. Jes 40,2).20 Zwar reflektiert Jes 40,1–11 auch, ob sich die Trostverkündigung überhaupt lohnt, doch deutet die Frage nach dem schöpferischen Handeln des Trösters (V. 12–41) bereits an, dass seine Unvergleichbarkeit und Stärke ihn zur besten Quelle macht, die sich ein Volk in seinem Leid erhoffen kann.21 Die kosmischen Anleihen bereiten einen universalisierenden Bezug vor, der die göttliche Zuwendung über Israel hinaus adressiert. Im Zentrum des Trostes steht das Harren auf Gott, da er den Menschen neue Kraft gibt (Jes 40,31). Im Kontext unseres modernen Denkens wirkt der Zusammenhang von Trösten und Strafen erst einmal paradox; einem hebräisch denkenden Menschen dürfte die Zusammenschau jedoch vertraut sein, ist diese Spannung doch typisch für das hebräische Verb ‫נחם‬, dessen polyseme Bedeutung auf äußerst verschiedene Arten eines Sich-Erleichterung-Verschaffens verweist.

III. Resilienz in der Sprache der Geburtsmetaphorik in Jes 40–66 1. Zum Verständnis der Metapher nach Paul Ricœur Das ‫נחם‬-Handeln Gottes ist also wiederholt als Geburtsmetapher dargestellt. Metapher sei hier mit Paul Ricœur in ihrer poetischen Funktion zu verstehen: einerseits geht es ihr darum in „Rede sinnstiftend zu wirken, Erfahrungs- und Wirklichkeitsbereiche zur Sprache zu bringen, die danach verlangen, gesagt zu werden“.22 Andererseits ist ihr Anliegen hervorzuheben, Existenz neu zu beschreiben und darin resilienzfähig zu werden. Eine Metapher vermag mehr als nur eine semantische Lücke zu schließen, die die Lexik einer jeden Sprache kennt. Metapher ist schöpferisch, indem sie nicht etwa Ähnlichkeit zwischen dem konkreten und übertragenen Sinn nachzeichnet, sondern diesen Sinn erst zu stiften hilft. Metapher ist „eine semantische Neuerung, die keinen Status in der festgelegten Sprache hat und nur in der inkonsistenten Attribution eines

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Das Ende des Strafgerichts ist in der Sprache von Arbeitsrecht, Kult und Strafrecht vermittelt; vgl. RIEDE, Trost, 66f. 21 Vgl. BERGES, ULRICH/BEUCKEN, WILLEM A. M., Das Buch Jesaja. Eine Einführung (utb 4647), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2016, 136–139. 22 RICŒUR, PAUL, Stellung und Funktion der Metapher in der biblischen Sprache, in: EvTh Sonderheft (1974), 45–70. Vgl. dazu BAUMANN, GERLINDE, Liebe und Gewalt. Die Ehe als Metapher für das Verhältnis JHWH – Israel in den Prophetenbüchern (SBS 186), Stuttgart: Katholisches Bibelwerk 2000, bes. 39–45.

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ungewohnten Prädikats besteht“.23 Metapher ist der „einkalkulierte Fehler“, dessen „wörtliche Falschheit“ zugleich „Bestandteil der metaphorischen Wahrheit [ist] [...] Die wörtliche Falschheit besteht in der falschen Zuweisung (miss assignment) eines Etiketts, die metaphorische Wahrheit in der Neu-Zuweisung (re-assignment) durch Übertragung desselben Etiketts.“24 Diese Definition von Metapher voraussetzend, möchte ich mich nun der Geburtsmetaphorik in Texten in Jes 40–66 zuwenden und untersuchen, wie der Topos der Geburt in den verschiedenen ‫נחם‬-Kontexten Deutero- (bzw. Trito-) Jesajas zum Einsatz kommt. Für Metaphern typisch steht das Motiv in der konstruktiven Spannung, dass der Geburtsvorgang zwar nicht mit Israels Katastrophenerfahrung identisch ist, doch als ähnlich wahrgenommen und in der Umund Ausdeutung für die Weiterverarbeitung der historischen Katastrophe verwendet werden kann. Da Geburt in den Rahmen der metaphorischen Verwendung von Weiblichkeit, Ehe, Sexualität oder Frau/Tochter Zion gehört und in prophetischen Texten25 häufig begegnet, lässt sich das Geburtsmotiv (in Parallele zum Schöpfungsmotiv) zu den „Wurzelmetaphern“26 zählen, die untergeordnete Metaphern sammeln und dabei neue Gedankenstränge prägen. Ricœur redet bevorzugt von „ausgeführten Metaphern“, d.h. von der narrativen Entfaltung metaphorischer Aussagen. Es ist nicht etwa nach Metaphern im Text zu

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RICŒUR, Stellung, 48. RICŒUR, Stellung, 53–55. Drei Merkmale charakterisieren die Metapher nach Ricœur: sie leben von der semantischen Innovation, haben heuristische Funktion und bekommen darin eine ontologische Qualität und sie formen zudem ein Miniaturwerk, das seine eigene narrative Kraft entwickelt; vgl. dazu WEINGÄRTNER, MARTINA, Die Impertinenz Jakobs. Eine relecture der Jakobserzählung vor einer text- und metapherntheoretischen Hermeneutik Paul Ricœurs (WMANT 165), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2021, 221–231. 25 Weibliche Metaphern sind in Jesajatexten verbreitet: der Stolz und die Arroganz der Töchter Zions lässt sie vor Gott in Ungnade fallen (vgl. Jes 2,11–17; 3,16–4,1); vgl. DARR, KATHERYN PFISTERER, Isaiah’s Vision and the Family of God, Louisville: Westminster John Knox 1994, 89–90; vgl. BAUMANN, Liebe, bes. 183–211. 26 RICŒUR, Stellung, 64; vgl. auch LAKOFF, GEORGE/TURNER, MARK, More than Cool Reason. A Field Guide to Poetic Metaphor, Chicago: University Press, 1989, 89: „birth is arrival“ ist eine „basic conceptual metaphor“ (zusammen mit dem Bootmotiv als „image metaphor“); s. weiterhin BAUMANN, Liebe, 41 zur „Wurzelmetapher“ bei Ricœur und der Ehemetaphorik „als eine Art Dach, unter dem sich unterschiedliche Vorstellungen versammeln, die unter Umständen noch einmal auf verschiedenen Ebenen angesiedelt werden können.“ Vgl. z.B. die Teilmetapher der Kindheit (Ez 16) oder der Schwestern (Ez 23), wobei alttestamentliche Sexualität stets durch Metaphern (‫„ ידע‬erkennen, sexuell miteinander verkehren“) oder Euphemismen (‫„ רגל‬Fuß bzw. Genitalbereich“) zum Ausdruck gebracht ist, was sie von der allgemeinen Metaphorik unterscheidet (ebd. 42f). In diesem Beitrag geht es nicht um die Ehemetaphorik, sondern um die Geburtsmetaphorik als eine weitere Wurzelmetapher (vgl. BAUMANN, Liebe, 206 f zum Motiv). 24

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suchen, sondern der Text selbst als Metapher zu bestimmen und zu analysieren.27 2. Die Geburtsmetapher in Jesaja 40–66 Nun begegnet „Geburt“ in Jesaja zuerst als Beschreibung von Krise, lenkt sie doch den Blick anstelle auf die freudige Erwartung vielmehr auf den möglicherweise tragischen Ausgang des Geburtsvorgangs. When birth is used as a metaphor to describe crisis, the concept of birth is re-described. Applying to birth the concept of crisis and not the concept of new beginnings, for example, puts a certain twist on birth (Hervorhebung M.B.) because it highlights the possibility of tragedy and death and focuses on the threshold between life and death rather than on joyful expectation.28

Die genannte „Verdrehung“ (twist)29 schafft einen völlig neuen Zusammenhang, indem Geburt nicht zuerst auf „Anfang“ und „neues Leben“, sondern auf Geburtsschmerz und Gefahr verweist. Bereits die Gartenerzählung in Gen 2–3 zeichnet Geburt in dem ätiologischen Strafspruch der Frau in einer pejorativen Perspektive (Gen 3,16), um so die Ambivalenz der conditio humana zu unterstreichen.30 Geburt als Krisis-Metapher ist vor allem in prophetischen Texten verbreitet und zielt auf die Frau und ihren potenziellen Tod im Kindbett.31 Nicht der gesamte Geburtsvorgang, sondern das Kreißen wie der Moment der Entbindung stehen im Fokus als die Phase, in der Mutter und Kind in existenzieller Weise aufeinander angewiesen sind.32 Erstaunlicherweise sind die stets kollektiv verwendeten Geburtspassagen der Prophetentexte viel detailreicher

                                                             27 Vgl. RICŒUR, Stellung, 64 – er legt das an Gleichnissen dar; vgl. dazu WEINGÄRTNER, Impertinenz, 231–241. 28 BERGMANN, CLAUDIA D., Childbirth as a Metaphor for Crisis. Evidence from the Ancient Near East, the Hebrew Bible, and 1QH XI, 1–18 (BZAW 382), Berlin: De Gruyter 2008, 6. 29 Vgl. dazu RICŒUR, PAUL, La métaphore et la sémantique du discours, in: Ders., La métaphore vive, Paris: Seuil 1975, 125–127 mit Rekurs auf Max Blacks Konzept des metaphorical twist. 30 Zum Geburtsmotiv als Krisenmetapher vgl. ausführlich BAUKS, MICHAELA, Pain in Childbirth – Gen 3:16 in Inner-Biblical Exegesis, in: Dies./ Saul M. Olyan (Hg.), Pain and Its Representation in Biblical Texts, Post-Biblical Texts, and Other Materials of the Ancient Eastern Mediterranean (FAT II/130), Tübingen: Mohr Siebeck 2021. 31 Vgl. HÄUSL, MARIA, Geburt – Kampf um Leben und gegen den Tod. Atl. Vorstellungen und Rituale für Mutter und Kind am Anfang des Lebens, in: Bernhard Heininger (Hg.), An den Schwellen des Lebens – Zur Geschlechterdifferenz in Ritualen des Übergangs (Geschlecht – Symbol – Religion 5), Münster: LIT 2008, 119–134, 128. Sie zitiert als Ausnahmen Hos 13,13 und Jes 37,3. 32 Vgl. BERGMANN, Childbirth, 8.

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in ihren Beschreibungen als die motivisch verwandten Erzähltexte des Pentateuch.33 Wortstämme wie ‫„ ציר‬Geburtswehen“ oder „Schaden, Kränkung“34, ‫חבל‬3 pi. „Wehen haben, kreißen“35 oder ‫„ חֵ בֶ ל‬Wehen“36 und ‫„ ִחיל‬kreißen, in Wehen liegen, sich winden“37 sind vielfach belegt. Der häufig begegnende Vergleich „wie eine Frau in Wehen“ (‫ כ‬+ ‫ )יּוֹלֵ ָדה‬dient meist dazu, Angst und Entsetzen der Menschen angesichts von Krieg zu beschreiben. Insbesondere Prophetensprüche benutzen die Geburtsmotivik, um Trauma- und Katastrophenerfahrungen zu thematisieren.38 Dass die Geburtsmetapher in besonderer Weise zur Krisenbeschreibung geeignet ist, leuchtet ein, ist doch der Geburtsvorgang weder aufzuhalten, noch zu umgehen und stets ein Grenzvorgang zwischen Leben und Tod: (a) the birth process is unstoppable once it is underway, (b) there is no other option for the woman undergoing childbirth than to bear the child, and (c) childbirth is a situation where mother and child can be at a crossroads between life and death, which is especially but not exclusively true for ancient societies.39

Geburt steht also für existenzielle Verwundbarkeit und Ausgeliefertsein, was den Vergleich „wie eine Gebärende“ zu einem feststehenden Ausdruck der Krise schlechthin macht40, der je nach Kontext einen unterschiedlichen Fokus erhält.41

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Vgl. bereits SCHARBERT, JOACHIM, Der Schmerz im Alten Testament (BBB 8), Bonn: Hanstein 1955, 17–27. 34 Vgl. 1Sam 4,19; Jes 13,8; 21,3; Dan 10,16. 35 Ps 7,15; Hi 39,3; Jes 29,17; 66,7. 36 Vgl. im Vergleich + ‫יּוֹלֵ ָדה‬: Jes 13,8; 26,17; Jer 13,21; 22,23; 49,24; Hos 13,3. 37 Vgl. im Vergleich + ‫יּוֹלֵ ָדה‬: Jes 26,17f; Jer 6,24; 22,23; 50,43; Mic 4,9 f; Ps 48,7; Sir 48,19. 38 S. z.B. DARR, Isaiah’s Vision, 102: “the psychological anguish and physiological reactions of persons facing impending doom, or anticipating the destruction of others”; vgl. HÄUSL, MARIA, Bilder der Not. Weiblichkeits- und Geschlechtermetaphorik im Buch Jeremia (HBS 37), Freiburg i.Br.: Herder 2003, 104–109. 39 BERGMANN, Childbirth, 68. 40 S. z.B. Ez 21,11–12 u.a. als Beschreibung des Kreißens); vgl. HILLERS, DELBERT R., A Convention in Hebrew Literature: The Reaction to Bad News, ZAW 77 (1965), 86–90; vgl. BERGMANN, Childbirth, 68–71 (zur Forschungsgeschichte), 71–81 (zu Jes 42,14 etc.). Kalmanofsky interpretiert die Geburtsmetaphorik als „horror text“(vgl. KALMANOFSKY, AMY, Israel’s Baby: The Horror of Childbirth in the Biblical Prophets, in: Bibl.Interpr. 16 [2008], 60–82). 41 Vgl. HÄUSL, Bilder der Not, 101 zu Jes 26,17–18, 37,3, 42,14 und 66,7–9 (vgl. auch Hos 13,13 und Mi 5,2); BAUKS, Pain in Childbirth, 41–44.

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3. Geburt als Metapher der Restauration In Bezug auf Gott als Subjekt ist das Geburtsmotiv aber häufig auch zu einer positiven Aussage gewendet. Gott ist in Psalmen wiederholt als Kreißende beschrieben (vgl. auch Ps 90,2; 20,10)42 oder als vertrauenswürdige Hebamme, die die Nabelschnur kappt (Ps 71,5–6).43 Jes 42,13–14 ist der einzige prophetische Text, in dem der Vergleich „wie eine Gebärende“ auf Gott bezogen und positiv konnotiert ist.44 13 JHWH als Held zieht er aus, als Kriegsmann weckt er die Kampfeslust, erhebt den Schlachtruf, ja gellt das Feldgeschrei, über seine Feinde erweist er sich heldenreich. 14 Ich habe geschwiegen seit langem, bin still, halte an mich, wie eine Gebärende stöhne ich [nun], schnaube und schnappe nach Luft zugleich.45

Die Verse stehen in dem psalmenartigen Kontext von Jes 42,10–1746 und schließen an den Lobaufruf „Singt dem Herrn ein neues Lied“ (V. 10) an. An die Stelle menschlicher Panik tritt hier göttlicher Handlungswille, der Heil in

                                                             42 Das Verb ‫ גיח‬begegnet häufig parallel zu ‫( ֶרחֶ ם‬vgl. Hi 38,8 in Bezug auf das Meer; Ps 22,10 ‫גחה‬, ‫גיח‬/‫)גוּח‬. S. dazu BESTER, DÖRTE, Körperbilder in den Psalmen. Studien zu Ps 22 und anverwandten Texten (FAT II/24), Tübingen: Mohr Siebeck 2007, 134; sie betont in Bezug auf ‫ ילד‬pi. fem., dass Gott hier personal als Hebamme gezeichnet ist und nicht als Mutterleib (136); vgl. Hi 10,18; Ps 71,6 und die anschließende Anm. 43. 43 Zu ‫(„ גזה‬vom Mutterleib) abtrennen“, d.h. die Nabelschnur abschneiden als typischer Akt einer Hebamme vgl. Ps 71,6 (hap. leg.) im Duktus einer unbedingten Vertrauensaussage; s. dazu BESTER, Körperbilder, 141–144, und GROHMANN, MARIANNE, Der Anfang des Lebens. Anthropologische Aspekte der Rede von Geburt im Alten Testament, in: Bernd Janowski/Kathrin Liess (Hg.), Der Mensch im Alten Israel. Neue Forschungen zur alttestamentlichen Anthropologie (HBS 59), Freiburg i.Br.: Herder 2009, 365–399, 380–382 zum Motiv „Gott als Hebamme“ in Jes 66,9; Mi 4,10; s. auch CLAASSENS, L. JULIANA M., Mourner, Mother, Midwife. Reimagining God’s Delivering Presence in the Old Testament, Louisville: Westminster John 2012, 71–75 zu Ps 22,10 und 71,6. 44 Zum Thema mütterlicher Güte bezogen auf Gott, der Israel/Jakob vom Mutterschoß an unterhält, vgl. Jes 46,3–4; Jes 49,14–15 vergleicht Gottes Beziehung zu Zion mit einer Frau, die ihr Baby nicht vergisst; vgl. DARR, Isaiah’s Vision, 104–105.110; vgl. DARR, KATHERYN PFISTERER, Like Warrior, like Woman: Destruction and Deliverance in Isaiah 42:10–17, in: CBQ 49 (1987), 560–571, und MAIER, CHRISTL, Daughter Zion, Mother Zion. Gender, Space, and the Sacred in Ancient Israel, Minneapolis: Fortress, 2008, 164–167 zu 49,14–21; vgl. CLAASSENS, Mourner, Mother, Midwife, 49–51 zu Jes 42,13–14. 45 Übersetzung BERGES, ULRICH, Jesaja 40–48 (HThKAT), Freiburg i.Br.: Herder 2008, 248; noch eindeutiger ist die Übersetzung von BLENKINSOPP, JOSEPH, Isaiah 40–55 (Anchor Bible 19/2), New York: Doubleday 2002, 213: 14 „Too long have I held my peace, / kept silent and held myself back; / but now I cry out like a woman giving birth, / breathlessly panting.“ 46 Vgl. BLENKINSOPP, Isaiah 40–55, 214; vgl. DARR, Isaiah’s Vision, 104–105; vgl. BERGES, Jesaja 40–48, 252f., der in Jes 42,13–43,13 eine neue Texteinheit beginnen lässt.

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Umkehr des Negativen in Aussicht stellt (V. 16). Der Vergleich mit der Gebärenden zielt nicht auf überkommenden Schmerz, sondern auf ein gezieltes Durchbrechen vorausgehender Inaktivität. Auf die drei Verben der Zurückhaltung und des Inaktivseins folgen in V. 14 drei „Hörverben“, die das mächtige Agieren Gottes am Menschen im Bild des Geburtsvorgangs beschreiben (vgl. V. 15f). Die drei hapax legomena ‫„ אֶ ְפעֶ ה‬Stöhnen“, ‫„ נשׁם‬schnauben“ und ‫שׁאף‬ „nach Luft schnappen“ formen eine Alliteration, die den Geburtsakt vielleicht sogar onomatopoetisch nachvollzieht.47 Mit dem wehenartigen Schreien und Schnaufen ist verdeutlicht, dass das göttliche Innehalten in Aktivität umschlägt. JHWH scheint zuerst den Geburtsprozess zurückhalten zu wollen. Doch wie bereits gesagt, lässt dieser sich nicht aufhalten und führt – in diesem Kontext – zur Errichtung einer radikal neuen Welt.48 Man könnte die Passage aber auch anders interpretieren: Wie Gott seine Aktivität gegenüber dem Gottesvolk bewusst zurückgenommen hat, so kann er seine Meinung ändern und wieder schöpferisch aktiv werden zu dessen Gunsten.49 Wie dem auch sei, an die Stelle der gefrorenen Metapher des Kreißens als Beschreibung von Angst und Entsetzen (s.o. Anm. 35–37) tritt hier die Umdeutung des Kreißens als ein Neuaufbruch.50 Auch in Trito-Jesaja findet das Geburtsmotiv positive Verwendung und passt sich perfekt ein in die Präsentation Jerusalems bzw. Zions, die als Raum und als Frau, die Bewohnerschaft verkörpernd, dargestellt sind. Maßgeblich für unser Thema ist das die verschiedenen Traditionen des Jesajabuches aufnehmende Schlusskapitel, und zwar Jes 66,7–9.12–13, ein Epilog, der Mutterschaft und ‫נחם‬-Handeln (V. 13f.) in einen unmittelbaren Zusammenhang stellt. 5 Hört das Wort Jhwhs ihr, die ihr seinem Wort entgegen zittert: Es sagen eure Brüder, die euch hassen, die euch verstoßen um meines Namens willen: ‚Verherrliche sich Jhwh, dass wir auf eure Freude (herab) sehen!’ Doch sie werden zu Schanden. [...] 7 Ehe sie [Jerusalem V. 10.13/Zion V. 8] kreiste (‫)חיל‬, hat sie (schon) geboren (‫)ילד‬, ehe ihr eine Wehe kam (‫)חבל‬, hat sie ein Männliches geboren (‫ מלט‬hif.)51.

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Vgl. DARR, Like Warrior, like Woman, 567–568. Vgl. BERGMANN, Childbirth, 141–142. 49 Vgl. BERGES, Jesaja 40–48, 256–257. 50 Vgl. zum Übergang von gefrorenen, ein Trauma bezeichnenden Metapher in eine innovative Heilungsmetapher CLAASSENS, L. JULIANA, Zwischen unerträglichem Schmerz und Verheißung neuen Lebens: Trauma-Hermeneutik der Geburtsmetaphorik in der Schriftprophetie, in: Dies./Irmtraud Fischer (Hg.), Prophetie (Die Bibel und die Frauen 1.2), Stuttgart: Kohlhammer 2019, 258–272, bes. 265–269 zu Jes 26,16 (konventionelle Metapher) und Jes 42,13f. und 66,6–9 (Heilungsmetapher). 51 Das Verb bedeutet im nif. „entkommen, entrinnen“ bzw. „entrissen werden“ (Jes 49,24f.) oder „verschont bleiben (Jes 48,8 mit Lokativ) im pi. auch „Eier legen, brüten“ (Jes 48

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8 Wer hat Gleiches gehört? Wer hat solches gesehen? Kreist man mit einem Land an einem einzigen Tag, oder wird ein Volk mit einem Mal geboren? Denn gekreist, schon geboren hat Zion ihre Kinder. 9 Werde ich durchbrechen (‫ שׁבר‬hif. hap. leg. von ‫ שׁבר‬hervorbrechen; vgl. Jes 37,3b), aber nicht gebären lassen (‫ ילד‬hif.) – spricht Jhwh – oder werde ich, der ich gebären lasse, (wieder) verschließen (‫ – ?)עצר‬hat dein Gott gesprochen. 10 Freut euch mit Jerusalem, jauchzt über sie, alle, die sie lieben, jubelt mit ihr (in) Jubel, alle, die über sie trauern, 11 damit ihr saugt und satt werdet an der Brust (‫שׁד‬ ֹ ; hier ‫שּׁד‬ ֹ ) ihrer Tröstungen (‫)תַּ נְ חֻ מוֹת‬, damit ihr schlürft und euch labt an der Brust (‫ זִּ יז‬hap. leg.) ihres Kabod. 12 Denn so hat Jhwh gesprochen: Siehe, ich lenke wie einen Strom Schalom zu ihr (hin) und wie einen überflutenden Bach Nationen-Kabod, dass ihr saugen werdet (‫ !)ינק‬Auf (der) Seite werdet ihr getragen und auf Knien geschaukelt. 13 Wie jemand, den seine Mutter tröstet (‫ נחם‬pi.; vgl. 61,2), so werde ich euch trösten. Und in Jerusalem werdet ihr getröstet (‫ נחם‬pu.; vgl. 54,11). 14 Und ihr werdet sehen und euer Herz jubeln, und eure Gebeine sprossen wie das Grün auf, und an seinen Knechten zeigt sich die Hand Jhwhs und seinen Feinden zürnt er.52

J. Gärtner53 betont jedoch die Begrenzung des Adressatenkreises, dem die hier zitierte Verheißung gilt: Die Schlüsselbegriffe des Abschnitts lauten ‫„ כבד‬gewichtig sein“ (V. 5.11.12)54, ‫„ ראה‬sehen“ (V. 5.8.14) und ‫„ שׂמח‬sich freuen“ (V. 5.10) und suggerieren, dass die ironische Petition der „Feinde“ in V. 5 sich nicht realisieren wird. Stattdessen erwartet die „Zionskinder“ Jubel, während den Feinden Gottes Zorn zugedacht ist (V. 14). Am Ende des Jesajabuchs ist erstmals zum Ausdruck gebracht, dass Zion „neue Kinder“ gebiert, anders als

                                                             34,15) und im hif. „ausstoßen, gebären“ (Jes 66,7 und H 3,9); vgl. dazu auch MAIER, CHRISTL, Zion’s Body as a Site of God’s Motherhood in Isaiah 66: 7–14, in: Mark J. Boda/Carol J. Dempsey/LeAnn S. Flesher (Hg.), Daughter Zion. Her Portrait, her Response, Atlanta: SBL 2012, 225–242, hier 231. 52 Die Übersetzung stammt aus GÄRTNER, JUDITH, Jesaja 66 und Sacharja 14 als Summe der Prophetie. Eine traditions- und redaktionsgeschichtliche Untersuchung zum Abschluss des Jesaja- und des Zwölfprophetenbuches (WMANT 114), Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 2006, 19. Sie lässt den Textabschnitt wegen der Leitworte ‫ כבד‬in V. 5.11.12, ‫ ראה‬in V. 5.8.14 und ‫ מחהשׂ‬in V. 5.10 in V. 5 beginnen; anders LAU, WOLFGANG, Schriftgelehrte Prophetie in Jesaja 56–66. Eine Untersuchung zu den literarischen Bezügen in den letzten elf Kapiteln des Jesajabuches (BZAW 225), Berlin: De Gruyter 1994, 126–134; er rechnet V. 7–14a dem ersten Tradentenkreis zu. 53 Vgl. GÄRTNER, Jesaja 66, 25–38; vgl. BEUKEN, WILLEM A. M., The Main Theme of Trito-Isaiah: The ‚Servant of YHWH‘, in: JSOT 47 (1990), 67–87, bes. 83 im Rekurs auf Jes 65,13; vgl. BERGES/DE BEUKEN, Jesaja, 222–224 und MAIER, Daughter Zion, 204. 54 Anders sieht MAIER, Zion’s Body, 238f. an dieser Stelle eine tempelkritische Konnotation.

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in Jes 40–55.60–62, wo es um die Rückführung der Exulanten und deren Integration und Aufnahme geht.55 J. Blenkinsopp sieht in Jes 66,7–14 eine Einheit, die die (neuen) Knechte (V. 14; vgl. 65,18–23) als Adressaten der Verheißung über Jerusalem präsentiert und sich bestens aus Jes 54,1–17b erklären lässt.56 Wichtig ist festzuhalten, dass die Neuankömmlinge am Zion in V. 12 nicht einfach mit den Rückkehrern aus dem Exil gleichgesetzt werden können, wenn auch die Rede von dem „Nationen-Kabod“ eine universale Dimension anzuzeigen scheint. Es entsteht eine neue Gruppe. Der Trost ergibt sich aus dem mütterlichen Handeln Gottes (V. 13), und der mütterliche Schoß wird zum eigentlichen Ort göttlicher Aktivität (vgl. Jer 1,5; Ps 139,13). Er steht für göttliche Fürsorge und Schutz (Ps 22,10)57 wie auch für Gottes schöpferisches Tun, auf das in dem Vergleich des Sprossens von Grünem in V. 14 angespielt ist. Anders als in Jes 42,13f. funktioniert die Geburtsmetaphorik hier nicht auf der Basis von Vergleichen. Der Text formt hier Metaphern, deren Gehalt gerade nicht auf der Hand liegt, da ein eindeutiges tertium comparationis fehlt (vgl. „satt werden an der Brust ihrer Tröstungen/Ehrerweise“ in V. 11). Das Blending von nährender Brust und Tröstung bzw. Ehrerweis ergibt sich letztlich erst unter Hinzuziehung der anderen jesajanischen Traditionen zu Mutterschaft und Restauration, auf die diese „Summe der Theologie“ (J. Gärtner) zurückgreift. Diese Traditionen schildern Zion sowohl als Säugling (Jes 60,16) als auch als Mutter, deren Kinder entweder aus der Ferne zurückkehren (Jes 60,4.9) oder von den anderen Völkern aus der Diaspora heimgebracht werden (Jes 49,22).58 Im Zentrum steht die Aussage, dass Frau-Gott (Mutter) ihren Säugling/Zögling nicht vergisst (49,15).59 Nun grenzt aber der in Jes 66 geschilderte Geburtsakt an ein Wunder, denn die Geburt Zions ereignet sich einerseits ohne Kreißen oder Wehen und gebiert

                                                             55

Vgl. MAIER, Zion’s Body, 231.237. Vgl. BLENKINSOPP, JOSEPH, Isaiah 56–66 (Anchor Bible 19/3), New York: Doubleday 2003, 304–305 mit Hinweis auf die Parallelisierung von Knechten und Feinden (V. 14); vgl. MAIER, Zion’s Body, 228–229, die in V. 7–9 das Prophetenwort ausmacht, das in V. 10–14 eine Kommentierung erfährt; s. auch MAIER, Daughter Zion, 171–180. 57 Vgl. BESTER, Körperbilder, 147–150 vergleicht Gottes mütterlichen Akt des Tröstens in Jes 66,12b–13 mit dem Mutterleib als Ort des Vertrauens („Urvertrauen“); wenn das Baby aus dem Leib hervorbricht (‫גיח‬/‫ ;גוח‬vgl. Hi 38,8), ist das Bild in Ps 22,10 mit dem Legen an die mütterliche Brust (‫ל־שׁ ֵדי‬ ְ ַ‫ )ע‬parallelisiert und dadurch noch verstärkt. 58 Vgl. GÄRTNER, Jesaja 66, 30. 59 Darr schlägt vor, dass Zion auch in Jes 66,7–14 nur „for a brief moment“ unfruchtbar, verlassen, aber letztlich versöhnt sei – vgl. Jes 54,1–17 (DARR, Isaiah’s Vision, 177–182), was mir den zentralen Punkt der Argumentation aber nicht zu treffen scheint. 56

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andererseits ein ganzes Kollektiv im Laufe eines einzigen Tages. Die synonymen Parallelismen in V. 8–9 bringen dies in Form von rhetorischen Fragen klar zum Ausdruck. Entgegen dem Kreißen des Volks, das nur Wind gebiert (Jes 26,18) oder dem Tag der Bedrängnis (‫)יוֹם־צָ ָרה‬, an dem die Kinder zwar bis zum Muttermund (‫ )עַ ד־מַ ְשׁבֵּ ר‬kommen, aber es an der Kraft fehlt, sie zu gebären (Jes 37,3), bringt Zion die Kinder hier mit Gottes Hilfe (vgl. V. 9 mit den Verben im hif.) in spektakulärer Weise zur Welt (Jes 66,7).60 Sie ist nicht mehr die verlassene Frau (Jes 54,1–8) oder Tochter (Jes 52,2; 62,11), deren Leib verschlossen oder unfähig ist zu gebären (54,1). Nein, schon vor dem Einsetzen des natürlichen Geburtsvorgangs sind die Kinder da, nicht vereinzelt, sondern als ein ganzes Volk. Der Vergleich in 66,13 stilisiert schließlich Gott selbst als die tröstende Mutter61 des erwählten Volks in Jerusalem. Zion und JHWH stehen nämlich nicht einfach parallel zueinander, sondern sind ineinander verwoben.62 Die Metaphern von der „Brust der Tröstungen“ bzw. der „Brust des Kabod“ in 66,11 legen eine Identifizierung von Gott und Zion nahe. Auch in V. 9 ist Gott in seiner Hebammenfunktion als Garant des mütterlichen Schoßes herausgestellt. Gott lässt gebären, sei es als Schöpfer oder als Hebamme, die den Geburtsvorgang unterstützt.63 C. Maier hat ausgeführt, dass Zion in diesem Text sowohl räumlich als Stadt wie auch als Individuum gezeichnet ist. Es geht in der Raumvorstellung nämlich nicht nur konkret um die neu erbaute und wiederbelebte Stadt (perceived space), sondern auch um den idealen, von Gott gewährten Lebensraum (con-

                                                             60 Möglicherweise greift Jes 66,1–16 auf die vorliegenden Traditionen in Jes 37,3b und 26,18 bewusst zurück, zumal nur in Jes 66,9 und 37,3 die Wurzel ‫ שׁבר‬im Geburtskontext begegnet (das hap.leg. ‫„ מַ ְשׁבֵּ ר‬Muttermund“ findet sich in 2Kön 19,3/Jes 37,3 und Hos 13,13); vgl. DARR, Isaiah’s Vision, 206–210.223. Bewusste Anspielungen auch auf Gen 3,16 und 4,1 anzunehmen, erscheint mir übertrieben, da sich keinerlei semantische Hinweise finden lassen. 61 Gottes Mutterschaft begegnet in Jes 42,14; 45,10 und 49,15 (vgl. MAIER, Daughter Zion, 203), vgl. Num 11,12; vgl. Dtn 32,18. 62 Vgl. FISCHER, IRMTRAUD, Das Buch Jesaja: Das Buch der weiblichen Metaphern, in: Luise Schottroff/Marie-Theres Wacker (Hg.), Kompendium Feministische Bibelauslegung, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 1998, 246–257, 249.256; vgl. GÄRTNER, Jesaja 66, 28; MAIER, Daughter Zion, 203–205; vgl. RIEDE, Trost, 84f. 63 MAIER, Daughter Zion, 232: The „relationship between God and Zion is not explicitly stated, yet verse 9 characterizes the Deity as master of the womb in the role of a midwife who assists in a smooth birth. Interestingly, God is not named as either the father of the infants or the husband of female Zion.“

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ceived space) gepaart mit der Erinnerung selbst erfahrener mütterlicher Zuwendung (lived space). Dieses Zusammenspiel bereitet den Prozess des Gelingens in der Krise und ihrer Bewältigung vor.64 Jes 66,11f. hebt hervor, dass die Verheißungen, dass Zion von der Milch der Nationen und fremder Könige lebt (Jes 60,16; vgl. 49,20–23), bereits erfüllt sind. Zion ist nicht mehr nur Ort, sondern auch Symbol der Rettung. Die Stadt ist nicht nur Adressatin der Verheißung, sondern deren Mediatorin: Die Präposition ‫ ב‬+ Jerusalem versteht sich einerseits in dem Sinne von „in Jerusalem werdet ihr getröstet“. Sie lässt sich andererseits aber auch instrumental übersetzen im Sinne von „durch bzw. dank Jerusalem werdet ihr getröstet“.65 In dieser Ansicht unterscheidet sich Jes 66,7–14 (vgl. Jes 65,8–16) von Jes 54,1–10, den letzten Text, den ich untersuchen möchte. 1 Juble, du Unfruchtbare, die nicht gebar, brich in Jubel aus und jauchze, die nicht in Wehen lag, Denn zahlreicher sind die Söhne der Einsamen/Verödeten66 als die Söhne der Verheirateten, spricht Jahwe. [...] 4 Fürchte dich nicht!, denn du wirst nicht zuschanden, schäm dich nicht!, denn du wirst nicht beschämt, Denn die Schande deiner Jugend wirst du vergessen und der Schmach deiner Witwenschaft nicht mehr gedenken, 5 Denn der dich heiratet ist dein Schöpfer, Jahwe Zebaoth ist sein Name! Und dein Erlöser ist der Heilige Israels, Gott der ganzen Erde wird er genannt! 6 Denn wie eine verlassene Frau, eine tief gekränkte, hat dich Jahwe gerufen, Und die Frau der Jugend – kann sie denn verstoßen werden?, spricht dein Gott. 7 In einem kleinen Augenblick hab‘ ich dich verlassen, und in großem Erbarmen (‫)רחם‬ sammle ich dich. 8 In flutendem Zorn verbarg ich mein Antlitz einen Augenblick vor dir, Aber in ewiger Huld erbarm‘ ich mich (‫ )רחם‬deiner, spricht dein Erlöser Jahwe. 9 ´Wie in den Tagen’ Noahs ist das bei mir: Da ich schwor, dass die Wasser Noahs nicht gehen werden wieder über die Erde, So hab’ ich geschworen, dir nicht zu zürnen und dich nicht zu schelten.67

                                                             64

Vgl. MAIER, Daughter Zion, 204; vgl. 10–17.227 zu Henri Lefebvres Einteilung in „the geographical dimension of space – with its cultural evaluation or ideology and with the human experience of space“; vgl. SPANS, ANDREA, Die Stadtfrau Zion im Zentrum der Welt: Exegese und Theologie von Jes 60–62 (BBB 175), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015, 367–372 zur räumlichen (JHWH’s Gegenwart) und sozialen (Gottes Rettung) Ausgestaltung der Figur. 65 MAIER, Daughter Zion, 235; MAIER, Zion’s Body, 335f. Zions Körper ist „a site and a sign of imagination“. 66 BERGES, Jesaja 49–54, 295 verweist darauf, dass das part. sg. fem. von ‫„ שׁמם‬Verödete“ in übertragener Bedeutung auch in der Tamar-Erzählung in 2Sam 13,20 als terminus technicus für eine verstoßene Frau begegnet, so dass Zion hier als eine Art Kontrastfigur gezeichnet ist, die nicht verkümmert, sondern neubelebt wird. 67 Übersetzung HERMISSON, Deuterojesaja, 49,14–55,13, 471.

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Dieser Epilog des Buchs Deuterojesaja68 beschreibt Zion als „Mutterstadt und Repräsentantin Israels“.69 Sie ist die von Gott verlassene (vgl. Jes 49,14), verwitwete und unfruchtbare Frau – also defizitär und schutzlos. Anders als es der kinderlosen Witwe Babel ergeht (Jes 47,9.15), kehrt jedoch JHWH als Löser (V. 5) zu ihr, der Frau der Jugend (V. 6), zurück und bedauert, eine Weile sein Angesicht von ihr abgewendet zu haben (V. 6.8; vgl. der fehlende Scheidebrief in 50,1). Sie ist somit nicht einfach nur Frau, sondern die Frau JHWHs.70 Der Text erinnert an die unfruchtbare Sara, die zur Garantin eines großen Volkes wird und die Unfruchtbarkeit mit Gottes Hilfe überwindet (Jes 51,1–2).71 Die sich in 54,9 anschließenden Anspielungen an die Fluterzählung72 (V. 9) lenken das Verständnis zusätzlich: „In flutendem Zorn“ verstoßen (V. 8), wandelt sich Gott wie nach der Flut, indem er schwört, Zion nicht mehr zu zürnen oder zu schelten (vgl. Gen 8,21). Der Text mündet im Zuspruch ewiger Gnade (Hermisson: „Huld“), die sich in unendlichem Kinderreichtum äußert (V. 1). Die Heilszusage von V. 10 ist also anders als in Jes 66 unkonditioniert.73 Deutlich ist, dass „die Ehe zwischen JHWH und seiner ‚Frau’ in einem anderen Licht als in den Unheilsprophezeiungen von Jeremia und Hosea“ erscheint, indem Gott in dieser Selbstaussage selbst als für die (Ehe)Krise verantwortlich gezeichnet ist.74 Nicht Schuld und Strafe, sondern die Überwindung der Krise stehen hier im Zentrum.

                                                             68

BERGES, Jesaja 49–54, 290f. datiert den Text in das 5. Jahrhundert v. Chr. und sieht seine Zielrichtung darin, die Traditionen von Gottesknecht und Leidensfrau Zion miteinander zu verbinden. Bereits Blenkinsopp bezeichnet Jes 66,7–14 als Epilog zu Jes 56–66 wie auch Jes 54,1–17 diese Funktion in Bezug auf Jes 40–54 übernimmt (vgl. BLENKINSOPP, Isaiah 56–66, 293; s. MAIER, Daughter Zion, 201f.). Anders zählt Hermisson Jes 54,1–10 mit Ausnahme von V. 5 zum ursprünglichen Bestand (vgl. HERMISSON, Deuterojesaja 49,14–55,13, 485). 69 HERMISSON, Deuterojesaja, 49,14–55,13, 492. 70 Vgl. dazu BAUMANN, Liebe, 185.191f. mit Hinweis auf Jes 50,1 (fehlender Scheidebrief; anders Jer 3,8). 71 Vgl. HERMISSON, Deuterojesaja, 49,14–55,13, 490. 72 Berges, Jesaja 49–54, 313f. setzt wegen des Bundesmotivs in V. 10 eine größere Nähe zur P-Version voraus. 73 Vgl. VAN RUITEN, JACQUES, Eve’s Pain in Childbearing? Interpretations of Gen 3:16a in Biblical and Early Jewish Texts, in: Gerald P. Luttikhuizen (Hg.), Eve’s Children. The Biblical Stories Retold and Interpreted in Jewish and Christian Traditions (Themes in Biblical Narrative 5), Leiden: Brill 2003, 3–26, 9–11 in einer Betrachtung von Jes 65,23 und Gen 3,16, da in Jes 65,25 auf die Schlange von Gen 3,14b angespielt ist. 74 BAUMANN, Liebe, 194.

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IV. Schluss Das Geburtsmotiv als eine „ausführende Metapher“ im Sinne Paul Ricœurs ist in den oben zitierten Texten von der Schöpfungsmotivik nicht zu trennen und erhält somit eine positive Konnotation. Beide Themenfelder begegnen gemeinsam als göttliche Aktivität, wobei es der Geburtsmotivik obliegt, das Dynamische und Prozesshafte zu unterstreichen, welches das in Jes 40 einsetzende Restaurationshandeln Gottes qualifiziert, während Schöpfung für die göttliche Verlässlichkeit seit der Urzeit steht. In die Kombination von Schöpfung und Geburt ist die Aussicht auf die (bevorstehende) Befreiung aus der Katastrophe eingetragen, ohne jedoch zu verschweigen, dass der Weg ein beschwerlicher ist.75 Geburt ist eine dafür sehr geeignete Metapher. Das Motiv subsummiert verschiedene untergeordnete Aspekte wie das kreißende Gebären (Gen 42,12– 16), das Leben bewahrende Stillen und Versorgen (Jes 49,18–23; 66,7–13) oder das umsichtige Stützen und Begleiten einer Hebamme (Jes 66,9) und prägt darin neue theologische Linien aus: So vergleicht der Einwurf in Jes 49,15 Gottes Treue zum Gottesvolk mit dem Erbarmen einer Frau gegenüber ihrem Säugling, Zion. Die sich anschließende Heilszusage richtet sich gegen die Klage von Frau Zion, eine kinderlose und unfruchtbare Frau zu sein (V. 14). Sie zielt auf die Aufnahme der Heimkehrenden, die die Stadt „adoptieren“ soll (V. 17–21). Das voranstehende Gottesknechtslied erweitert das Konzept um den Gedanken, dass JHWH seinen Knecht Israel bereits „vom Mutterschoß berufen und beim Namen genannt hat“, ja sogar „vom Mutterschoß geformt hat“ (49,1.5), so dass – trotz aller Skepsis – die Restauration zu erwarten ist.76 In Jes 51,17–23 ist Zion als die Mutter der Bewohner gezeichnet. Jes 52,1–2.7 führt Zion als Tochter ein und JHWH als ihren König. Jes 54,1–6 nimmt das Motiv der unfruchtbaren, verstoßenen und verwitweten Frau Zion auf, um sie aber als JHWHs Frau zu rehabilitieren.

                                                             75

Vgl. CLAASSENS, Mourner, Mother, Midwife, 51f. BERGES, Jesaja 49–54, 30: Knecht Israel und Zion formen ein Doppelbild, in dem sie das „frühnachexilische Gottesvolk unter den zentralen Perspektiven von ‚Heimkehr’ und ‚Ankunft’ repräsentieren. [...] Die nach Zion Heimkehrenden sind der Knecht und werden für die Völker zum Licht (V. 6), denn durch ihren Auszug geben sie Zeugnis von JHWHs Rettungswillen und seiner Rettungsmacht.“ Er datiert Jes 49 in die Zeit um 520 v. Chr. (30f.), wobei 49,14–21 zum ältesten Teil zählen dürfte (vgl. HERMISSON, Deuterojesaja, 49,14– 55,13, 9.16.18), strittig ist aber, ob zum Propheten gehörig. 76

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In Jes 66,5–14 begegnet in metaphorischer Sprache ein Vexierbild von Mutter Zion, Schöpfergott und göttlicher Hebamme, die die Geburt von neuen Zionskindern ermöglichen, die Zuwendung aber auf eine bestimmte Gruppe reduzieren. In dem Trostbuch, das in Jes 40,1 beginnt und in Jes 66 endet, bildet das Geburtmotiv ein metaphorisches Miniaturwerk, das im Buchkontext zu einem Resilienznarrativ ausgestaltet ist. Charakteristisch für das Motiv ist die Spannung von Überwindung und Aushalten der individuellen Krise (Geburt) als Metapher einer kollektiven politischen Krise (Zerstörung Jerusalems), im Zuge derer Gott als mächtiger Krieger und in (mütterlicher) Liebe und Zuwendung auftritt. Gottes Macht angesichts von Israels Verhalten stößt an Grenzen und lässt ihn ohnmächtig zu Strafhandlungen greifen. Doch dank seiner Liebe kommt es zu einer Neukodierung seiner Macht: Insbesondere die weiblichen Metaphern in den Jesaja-Texten halten dazu an, die göttliche Macht neu zu denken, indem – wie in Jes 42,13f. – (militärische) Stärke und mütterliche Zuwendung kombiniert werden. Stärke und Verletzlichkeit gehen hier zusammen.77 Es kommt zu Ansätzen dessen, was Catherine Keller als „counter-imperial ecology of love“ bezeichnet.78 In ähnlicher Weise funktioniert auch das Motiv von Gott als Hebamme, das die Ambivalenz von Geburt weiterhin reflektiert, Gott aber schützend eingreifen lässt. Dieses paradox wirkende Verhältnis von Fürsorge und Macht ist in dem weiten Bedeutungsspektrum des Verbs ‫ נחם‬perfekt abgebildet. Dieses bezeichnet gleichermaßen die Erfahrung von Krise sowie die Suche ihrer Überwindung. Beides geschieht nicht nur durch göttliches Eingreifen, sondern prozesshaft in dem Zusammenspiel von Reue, Schuld, Strafe und Trost. Die Beschreibung der göttlichen Rolle in dem Resilienzgeschehen ist weder „a-funktional“ noch ein „Abgeben nach oben“, sondern begleitet den Weg der Heilung dank der Vergegenwärtigung der „Perspektive der zweiten Person“, d.h. „das In-Kontakt-Treten mit einer beziehungsfähigen Macht“.79 Wie die Schöpfungsanleihen zeigen, ist Gott in der Funktion des Schöpfers und Welterhalters einerseits ein Bezugspunkt in der Vergangenheit, der in die Gegenwart hineinreicht. Andererseits erinnert das Geburtsmotiv daran, dass die Vertrauensgewissheit neu erworben werden muss

                                                             77

Vgl. CLAASSENS, Mourner, Mother, Midwife, 55f. KELLER, CATHERINE, God and Power. Counter-Apocalyptic Journeys, Minneapolis: Fortress 2005, 116, die sie mit dem religiösen Universalismus der ersten Christen verbindet; zur Aufnahme des Konzepts vgl. CLAASSENS, Mourner, Mother, Midwife, 62. 79 SEDMAK, Innerlichkeit, 279. Die Offenbarung Gottes erfolgt im Modus der Normativität, ein Wissen, das zum Handeln führt und die Gottesbeziehung strukturiert und die eigene Existenz als heterozentrisch erfahren lässt und darin kosmisch rückbindet (280–287). 78

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und der Weg der Resilienz gleich der ambivalenten Erfahrung einer Geburt prozesshaft und als Auf und Ab zu durchschreiten ist.

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Kollektive Resilienz

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Michaela Bauks

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Kein Balsam in Gilead? Potentiale für Resilienz in Klagetexten des Jeremiabuches Christl M. Maier Im Mittelpunkt des Jeremiabuches steht bekanntermaßen die Eroberung und Zerstörung Jerusalems durch das neubabylonische Heer im Jahr 587 v. Chr. und damit der Untergang des Königreiches Judas. Dieses Ereignis wird zwar nur kurz in Jer 39,1–10 und in einem Anhang in Jer 52 erzählt, aber es bildet den Fluchtpunkt aller Unheilsankündigungen, Schuldaufweise, Klagen, Symbolhandlungen und Erzählungen über den Propheten.1 Die militärische Niederlage brachte nicht nur Tod und Leid über weite Teile der judäischen Bevölkerung, sondern bedeutete auch das Ende der davidischen Monarchie und stellte den bisherigen Glauben an die Unverwundbarkeit der Stadt Jerusalem und ihres Tempels in Frage. Dass ein derartiger Zusammenbruch traumatisierend auf die Gemeinschaft und ihre Individuen wirken kann, erscheint nur zu verständlich. Für die Interpretation biblischer Schriften aus der Perspektive der Traumaforschung bildet daher das Jeremiabuch, neben den Klageliedern und dem Ezechielbuch, ein interessantes Studienobjekt.2 Das Jeremiabuch fasst das Grauen des Belagerungskrieges, der militärischen Niederlage und der Deportation von Bevölkerungsgruppen in dramatische Bilder und bietet sehr verschiedene bis konträre Deutungen. Eine von der

                                                             1

Vgl. STULMAN, LOUIS, Jeremiah as a Polyphonic Response to Suffering, in: John Kaltner/Ders. (Hg.), Inspired Speech. Prophecies in the Ancient Near East. Essays in Honor of Herbert B. Huffmon, London/New York: T&T Clark 2004, 302–318. Stulman versteht das Buch als komplexe und vielgestaltige theologische Antwort auf diese Tragödie. 2 Erste Studien dazu sind O’CONNOR, KATHLEEN M., Jeremiah. Pain and Promise, Minneapolis: Fortress 2011; FRECHETTE, CHRISTOPHER G., The Old Testament as Controlled Substance. How Insights from Trauma Studies Reveal Healing Capacities in Potentially Harmful Texts, in: Interp. 69 (2015), 20–34, bes. 29–33; CLAASSENS, L. JULIANA, Jeremiah. The Traumatized Prophet, in: Louis Stulman/Edward Silver (Hg.), Oxford Handbook to Jeremiah, Oxford: Oxford University Press 2021, 358–373. Vgl. auch GARBER, DAVID G. JR., Trauma Theory and Biblical Studies, in: CRBS 14 (2015), 24–44; BOASE, ELISABETH/FRECHETTE, CHRISTOPHER G. (Hg.), Bible through the Lens of Trauma (Semeia Studies 86), Atlanta: SBL 2016.

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Christl M. Maier

Traumaforschung inspirierte Interpretation wertet das Chaos im Buch – die fehlende Struktur, den Wechsel der Stimmen, die Brüche in der Rhetorik, die gegensätzlichen Argumentationen – als Ausdruck fragmentierter Erinnerung,3 als Versuch, das kollektive Trauma in Worte zu fassen und für die Nachgeborenen so darzustellen, dass Täter- und Opferperspektiven zu einem gewissen Ausgleich gebracht werden.4 Demzufolge bildet das Jeremiabuch eine Meistererzählung über ein kulturelles Trauma, die sich für die Gesamtgemeinschaft als akzeptabel erwiesen hat und das kulturelle Gedächtnis des antiken Israel prägt. Kennzeichen einer solchen Meistererzählung – das haben Studien zu kollektiven Traumata herausgestellt5 – ist gerade nicht eine eindimensionale Erklärung des Ereignisses, sondern eine unausgeglichene Aufnahme verschiedener Opfer- und Täterperspektiven sowie konkurrierender Geschichtsdeutungen. Wenn ich, dem Thema dieses Bandes entsprechend, der Frage nachgehe, inwiefern diese Prophetenschrift Resilienznarrative beinhaltet, so verstehe ich Resilienz, analog zu Trauma, wie Judith Gärtner und Cornelia Richter als ein Krisenphänomen, das höchst ambivalent ist und auf bedrückende Erfahrungen reagiert.6 Dabei verwende ich „Resilienznarrativ“ als einen heuristischen Begriff und orientiere mich an der von den beiden Kolleginnen vorgetragenen Definition. Resilienznarrative sind demnach Erzählschemata […], die als generalisierende Schemabildungen und textuelle Tiefenstrukturen das mündliche oder schriftliche Erzählen von Resilienzerfahrungen leiten. […] Ihre Orientierungsleistung liegt zunächst im Zur-Sprache-Bringen des erlebten Leids, durch das

                                                             3

Vgl. O’CONNOR, Jeremiah, 22–27; CLAASSENS, The Traumatized Prophet, 359. Vgl. MAIER, CHRISTL M., Wer schreibt Geschichte? Ein kulturelles Trauma und seine Träger im Jeremiabuch, in: VT 70 (2020), 67–82. 5 Vgl. ALEXANDER, JEFFREY C. u.a., Cultural Trauma and Collective Identity, Berkeley: University of California Press 2004. 6 Vgl. GÄRTNER, JUDITH/RICHTER, CORNELIA, Der (post-)moderne Begriff der Resilienz und die jüdisch-christliche Tradition, in: Judith Gärtner/Barbara Schmitz (Hg.), Resilienznarrative im Alten Testament (FAT 156), Tübingen: Mohr Siebeck 2022, 4f. Ähnlich wie bei der Interpretation des Jeremiabuches aus der Perspektive der Traumaforschung gilt auch für die Frage nach Hinweisen auf Resilienzfaktoren, dass im Blick auf kollektive Phänomene durchaus Unterschiede zu denjenigen Charakteristika auftauchen können, die anhand von individuellen Fällen gewonnen wurden. Eine sehr allgemeine Definition von Resilienz bietet CARR, DAVID M., Holy Resilience. The Bible’s Traumatic Origins, New Haven: Yale University Press 2014. Er versteht die biblischen Schriften als „written deposit of centuries of survival of suffering, communal resilience“ (CARR, Holy Resilience, 6). In seiner Studie deutet er zentrale theologische Vorstellungen wie den Monotheismus und den gekreuzigten Erlöser als Antwort auf kulturelle Traumata. 4

Kein Balsam in Gilead?

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Reinterpretationen der Krisenerfahrung möglich wird, sodass ein Spannungsfeld von Optionen des Aushaltens bis hin zu Optionen des Gestaltens von Ohnmachtserfahrungen entsteht.7

Bisherige Studien zu Resilienznarrativen sind vor allem bei Klagetexten der Hebräischen Bibel fündig geworden. Beispielsweise hat Judith Gärtner in Ps 22 fünf Aspekte herausgearbeitet, die auf Resilienz hinweisen.8 Auch die fünf Kapitel der Klagelieder werden häufig als Überlebensliteratur interpretiert, die Ohnmachtserfahrungen im Spannungsfeld von Aushalten und Gestalten schildern.9 Daher stellt mein Beitrag zunächst verschiedene Formen der Klage im Jeremiabuch vor und argumentiert, dass solche Klagen in ihrem jeweiligen Kontext analysiert werden müssen, um ihre Funktion und mögliche Resilienzfaktoren zu erheben. Diese Art der Analyse wende ich danach auf zwei Beispieltexte, Jer 4,13–22 und 8,14–9,2, an und versuche zu klären, ob und inwiefern diese Texte als Resilienznarrative verstanden werden können.

I. Klagetexte im Jeremiabuch Der Rezeptionsgeschichte gilt Jeremia als der klagende Prophet par excellence. Die Kapitel 2–20 des Buches enthalten auffällig viele Klagen und lassen verschiedene Stimmen zu Wort kommen, die nur aufgrund von Form, Adressierung und Inhalt bestimmten Sprecherinnen oder Sprechern zuzuordnen sind.

                                                             7

GÄRTNER/RICHTER, Begriff der Resilienz, 11. Vgl. GÄRTNER, JUDITH, Lebensstark aus der Klage. Traditionen der Hebräischen Bibel in der Perspektive von Resilienz am Beispiel von Ps 22, in: ZPrTh 51 (2016), 75–81, bes. 80f. Diese sind (1) die Sprachfähigkeit des Beters bzw. der Beterin, die Not zu benennen, (2) das Festhalten an der Beziehung zu Gott, (3) die Fähigkeit, Facetten der Not zu differenzieren, (4) eine eigene Kontextualisierung (Kollektividentität, Geschöpflichkeit, erfahrene Rettung) sowie (5) Hinweise darauf, dass der Beter bzw. die Beterin lebensstark aus der Klage hervorgeht. Zur Funktion der Klage vgl. auch FRECHETTE, CHRISTOPHER G., A Healing Function of the Violent Language against Enemies in the Psalms, in: Eve-Marie Becker/Jan Dochhorn/Else K. Holt (Hg.), Trauma and Traumatization in Individual and Collective Dimensions. Insights from Biblical Studies and Beyond (Studia Aarhusiana Neotestamentica 2), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014, 71–84. 9 Vgl. LINAFELT, TOD, Surviving Lamentations. Catastrophe, Lament, and Protest in the Afterlife of a Biblical Book, Chicago: The University of Chicago Press 2000; O’CONNOR, KATHLEEN M., Lamentations and the Tears of the World, Maryknoll, NY: Orbis Books 2002; FLESHER, LEANN S./DEMPSEY, CAROL J./BODA, MARK J. (Hg.), Why?... How Long? Studies on Voice(s) of Lamentation Rooted in Biblical Hebrew Poetry (Library of Hebrew Bible/Old Testament Studies 552), New York u.a.: Bloomsbury T&T Clark 2014. Den Zusammenhang von Klage und Resilienz thematisieren auch die Beiträge von Christian Frevel und Bernd Janowski in diesem Band. 8

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Christl M. Maier

Bereits die erste Teilsammlung in Jer 2,1–4,2 schildert eine verbale Auseinandersetzung zwischen dem Volk und Gott über die Frage, wer für das Unheil verantwortlich sei. Nach der klagenden Frage des Volkes in 3,5 „Wird er [d.h. Gott] ewig zürnen? Wird er für immer (den Zorn) bewahren?“ fordert der Prophet seine Adressatenschaft dreimal auf, zu JHWH zurückzukehren (3,12. 14.22). Das kollektive Bußgebet in Jer 3,22b–25 signalisiert, dass das Volk dieser Aufforderung nachkommt.10 Inmitten der überwiegend vom Propheten artikulierten Ankündigungen eines waffenstarrenden Feindes aus dem Norden in Jer 4–10 werden weitere Klagerufe der verängstigten Bevölkerung laut (3,21; 4,8.13; 5,19; 6,4; 8,14–16), die meist in der Figur einer jungen Frau personifiziert wird (4,31; 6,23.26; 7,29).11 In 9,16 ruft Gott die Bevölkerung auf, professionelle Klagefrauen herbeizurufen und allen Töchtern die Totenklage zu lehren, deren Wortlaut zitiert wird (9,18.20). Diese Klagen entsprechen zwar formal nicht den Klagepsalmen, bieten aber einzelne Elemente dieser Gattung, z.B. Weherufe und wozuFragen; gelegentlich sind sie im Qinah-Metrum der Totenklage formuliert. Die bekanntesten Beispiele von Klagen finden sich in den Klagegebeten Jeremias in Jer 11–20, die mit ihrem jeweiligen Kontext eng verbunden und so angeordnet sind, dass sich eine inhaltliche Klimax ergibt. Erfahren die ersten beiden Gebete in 11,18–12,6 und 15,10–21, in denen sich der Prophet bei Gott über seine Gegner beklagt, noch eine Erwiderung, so schweigt die göttliche Stimme zu den folgenden Klagen und Jeremia steigert seine Vorwürfe gegen Gott (15,10–21; 17,12–18; 18,18–23; 20,7–13).12 Diese zunehmende Distanz zu seinem Auftraggeber führt in 20,14–18 zu Jeremias völliger Verzweiflung und seiner Verfluchung der eigenen Geburt, die die Zurückweisung seiner Berufung „von Mutterleib an“ (1,10) signalisiert. Der Prophet jedenfalls geht alles andere als lebensstark aus seinem Klagediskurs mit JHWH hervor. Vielmehr präsentiert sich der mit Gott ringende Jeremia als unschuldig leidender Gerechter, dessen Welt im Chaos versinkt und dessen Leiden nicht durch sein eigenes Fehlverhalten erklärt werden kann.13

                                                             10

Vgl. BODA, MARK J., „Uttering Precious Rather Than Worthless Words“. Divine Patience and Impatience with Lament in Isaiah and Jeremiah, in: LeAnn S. Flesher/Carol J. Dempsey/Ders. (Hg.), Studies on Voice(s), 83–99, 94. 11 Sie wird mit den Titeln ‫( בת־ציון‬4,31; 6,2.23) oder ‫( בת־עמי‬4,11; 6,26; 8,11.19–23; 9,6; 14,17) bezeichnet. Klagerufe in Verbindung mit einer als Frau personifizierten Stadt bzw. Gemeinschaft finden sich auch in den Fremdvölkerworten (46,12; 48,37–39). 12 So auch BODA, Divine Patience, 96f. 13 So auch STULMAN, Jeremiah as a Polyphonic Response, 308–311; ähnlich FRECHETTE, The Old Testament as Controlled Substance, 30.

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Inmitten der Auseinandersetzung Jeremias mit Gott begegnen auch zwei kollektive Klagen über eine Dürre und über die Belagerung Jerusalems (Jer 14,1–15,4). Beide werden vom Propheten im Namen JHWHs abgewiesen, so dass auch hier keine Besserung des Verhältnisses zu Gott in Sicht ist.14 Eine tröstliche Antwort finden dagegen die Klagen Rahels und Efraims (Jer 31,15; 31,18f.) und das Weinen der Frau Zion (30,15; 31,9) in den Heilsverheißungen des sog. Trostbüchleins in Jer 30–31. Ich greife im Folgenden zwei Szenen aus Jer 4–10 heraus, um zu zeigen, dass Klagediskurse trotz analoger Struktur verschiedene Funktionen haben und nicht jede Klage als Resilienznarrativ gelesen werden kann.

II. Klage als Ausdruck der Not in Jer 4,13–22 Jer 4–10 lässt sich als dramatischer Text verstehen, der mittels verschiedener Stimmen den feindlichen Angriff auf Jerusalem eindrucksvoll re-inszeniert und zugleich begründet. Jer 4,13–22 bildet dabei eine Szene, die mit ‫ ִהנֵּה‬einsetzt und bis 4,22 reicht, da die visionsartige Schilderung der verwüsteten Erde in 4,23 mit einem Ortswechsel eine neue Szene einleitet. Zunächst kündigt Jeremia den Feind an und beschreibt ihn einerseits konkret als feindliches Heer, andererseits metaphorisch als Naturphänomen (Gewölk, Sturmwind) und Raubvogel (Geier), um seine Gefährlichkeit zu betonen. 13a

Siehe, wie Gewölk steigt er herauf und wie Sturmwind seine Wagen, leichter als Geier sind seine Pferde.

Darauf antwortet eine Wir-Stimme mit einem Weheruf, der rhetorisch deren eigenen Untergang vorwegnimmt: 13b

„Wehe uns, denn wir sind vernichtet.“

Dann wendet sich der Prophet an die als Frau personifizierte Stadt, was im hebräischen Text durch feminine Verbformen und Suffixe erkennbar ist: 14

Wasche dein Herz rein vom Bösen, Jerusalem, damit dir geholfen wird. Wie lange noch soll dein frevlerisches Planen in deinem Innern wohnen?

                                                             14 Vgl. FOHRER, GEORG, Abgewiesene Klage und untersagte Fürbitte in Jer 14,2–15,2, in: Lothar Ruppert u.a. (Hg.), Künder des Wortes. Beiträge zur Theologie der Propheten. Josef Schreiner zum 60. Geburtstag, Würzburg: Echter 1982, 77–86. Dagegen erkennt Boda in Jer 14,1–15,4 den Übergang von der klassischen Volksklage zum Bußgebet, den er noch in die vorexilische Zeit datiert. Vgl. BODA, MARK J., From Complaint to Contrition. Peering through the Liturgical Window of Jer 14,1–15,4, in: ZAW 113 (2001), 186–197.

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Christl M. Maier

Sodann zitiert Jeremia einen Ruf, der von Dan und vom Gebirge Efraim – also von Juda aus betrachtet vom Norden her – erschallt und eine beobachtende Außenperspektive darstellt: 15

Ja, eine Stimme verkündet von Dan und lässt Unheil hören vom Gebirge Efraim: 16 „Ruft es den Völkern in Erinnerung, siehe15! Lasst (es) hören gegen Jerusalem: Belagerer sind aus fernem Land gekommen; sie erhoben ihre Stimme über die Städte Judas. 17a Wie Feldwachen haben sie sie (= Jerusalem) umstellt, ringsum.“

Der folgende Halbvers ist durch die Zitationsformel ‫ נאם־יהוה‬als Gottesrede ausgewiesen, die das geschilderte Geschehen begründet: 17b

Ja, gegen mich war sie widerspenstig, Spruch JHWHs.

Dieser Vorwurf wird in einer direkten Adressierung des weiblichen Kollektivs bestätigt und im Sinne des Tun-Ergehen-Zusammenhangs weiter ausgeführt, wobei hier Jeremia oder JHWH als Sprecher in Frage kommen: 18 Dein (fem.) Weg und deine Taten haben dir dies eingebracht.16 Dergestalt (ist) deine Bosheit, dass es bitter ist, dass es dich ins Herz trifft.

Auf diesen Vorwurf antwortet eine einzelne Stimme mit einer längeren Klage: 19

Mein Leib, mein Leib, ich muss mich winden17 – die Wände meines Herzens, es tost in mir mein Herz, ich kann nicht still bleiben. Denn ich habe den Schall des Horns gehört [...]18, Kriegsgeschrei. 20 Zusammenbruch um Zusammenbruch wird ausgerufen, denn verwüstet ist das ganze Land. Plötzlich sind meine Zelte verwüstet,

                                                             15

Der Vorschlag in BHS, Benjamin oder Juda seien ursprünglich neben Jerusalem als Adressaten genannt, ist von den antiken Versionen nicht gedeckt. LXX repräsentiert MT und liest ἥκασιν „sie sind gekommen“ nach „siehe“, was dem Satz mehr Sinn verleiht. 16 ‫ עשו‬ist als Infinitiv absolutus vokalisiert; wahrscheinlich ist danach die finite Form ‫ תעשו‬ausgefallen, vgl. die Parallele in Jer 7,5; 22,4. Das Targum liest eine qatal-Form; manche Handschriften verwenden die übliche Form des Infinitivs ‫עָ ֹשׂה‬. 17 Das Ketiv bietet den Kohortativ sing. Qal von ‫ חיל‬I/‫ חול‬II „kreißen“, der durch LXX und Vulgata gestützt wird. Das Qere liest den Kohortativ sing. Hif. von ‫„ יחל‬warten, harren auf“. 18 ‫ נפשי‬ist eine Glosse, die die Umvokalisierung von ‫( שמעתי‬vgl. Qere) verursacht. So auch MCKANE, WILLIAM, A Critical and Exegetical Commentary on Jeremiah, Bd. 1: I– XXV (ICC 24), Edinburgh: T&T Clark 1986, 104; WANKE, GUNTHER, Jeremia. Teilband 1: Jeremia 1,1–25,14 (ZBK 20.1), Zürich: Theologischer Verlag 1995, 63. Der Textsinn verändert sich dadurch nicht; es wird nur das Ich betont.

Kein Balsam in Gilead?

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im Nu meine Zeltdecken. 21 Wie lange noch muss ich die Standarte sehen, muss ich den Schall des Horns hören?

Auf diese Klage erwidert Gott: 22

Ja, närrisch ist mein Volk, mich kennen sie nicht; törichte Kinder sind sie und unverständig [sind sie]19! Klug genug sind sie, Böses zu tun, aber sie verstehen nicht, Gutes zu tun.

Die Identifikation des Sprechers von 4,19–21 ist umstritten, manche hören hier den Propheten selbst klagen.20 Meines Erachtens verweisen das in V. 19a gebrauchte Verb ‫ חיל‬I „kreißen, sich in Geburtsschmerzen winden“ (Ketiv) und die Metapher des verwüsteten Zeltes eher auf die weibliche Stadt, die zudem unmittelbar vorher zweimal genannt ist (V. 14.16).21 Die Metapher der gebärenden Frau beschreibt im Jeremiabuch auch in 4,31 und 6,24 die Todesangst der in Jerusalem eingeschlossenen Bevölkerung und wird sonst häufiger in Verbindung mit dem Kriegsgeschehen gebraucht.22 Das Stichwort ‫„ שֶׁ בֶ ר‬Zusammenbruch“ kennzeichnet noch in 8,11.21; 10,19 und 14,17 das Schicksal des als Tochter personifizierten Volkes. In Jer 2–13 wird Jerusalems Körper mehrfach als beschmutzt, in Aufruhr oder sogar verwundet beschrieben: In der hier vorliegenden Szene ist dreimal von ihrem Herzen die Rede, das voller Bosheit ist (V. 14.18) und wie das aufgewühlte Meer tost (V. 19), außerdem

                                                             19 In eckige Klammern gesetzte Wörter in der Übersetzung haben in LXX kein Äquivalent und gehören zur späteren Ausbaustufe der masoretischen Texttradition; vgl. STIPP, HERMANN-JOSEF, Das masoretische und alexandrinische Sondergut des Jeremiabuches. Textgeschichtlicher Rang, Eigenarten, Triebkräfte (OBO 136), Freiburg i.Br.: Universitätsverlag/Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1994, 109–144. 20 So z.B. POLK, TIMOTHY, The Prophetic Persona. Jeremiah and the Language of the Self (JSOT.S 32), Sheffield, UK: JSOT 1984, 50–52; BODA, Divine Patience, 94. 21 Vgl. MAIER, CHRISTL M., Die Klage der Tochter Zion. Ein Beitrag zur Weiblichkeitsmetaphorik im Jeremiabuch, in: BThZ 15 (1998), 176–189; ähnlich LEE, NANCY C., The Singers of Lamentations. Cities under Siege, from Ur to Jerusalem to Sarajevo (Bibl.Interpr.S. 60), Leiden: Brill 2002, 56–58; KORPEL, MARJO C. A., Who is Speaking in Jeremiah 4:19–22? The Contribution of Unit Delimitation to an Old Problem, in: VT 59 (2009), 88– 98, 97f. 22 Vgl. CLAASSENS, L. JULIANA, „Like a Woman in Labor.“ Gender, Postcolonial, Queer and Trauma Perspectives on the Book of Jeremiah, in: Christl M. Maier/Carolyn J. Sharp (Hg.), Prophecy and Power. Jeremiah in Feminist and Postcolonial Perspective (Library of Hebrew Bible/Old Testament Studies 577), New York u.a.: Bloomsbury T&T Clark 2013, 117–132.

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von ihrem Leib, der sich in Schmerzen windet (V. 19). Der Körper der personifizierten Stadt wird somit als Raum kollektiver Bosheit und Schauplatz kriegerischer Zerstörung inszeniert. Die Klagen in V. 13b und V. 19–2123 haben im vorgestellten Kontext eine doppelte rhetorische Funktion: Als Erwiderung auf die Unheilsankündigung bestätigen sie deren Eintreffen. In ihrer Schilderung von Angst und Not drücken sie außerdem die Erfahrungen der Opfer dieses Krieges aus. Sie sind damit wichtige Marker für die Rhetorik der Texte und die in ihnen zum Ausdruck gebrachte Stimmung. Vergleicht man die Klage in Jer 4,19–21 mit den Passagen der Klagelieder, in denen Jerusalem selbst zu Wort kommt, oder mit individuellen Klagepsalmen, so zeigen sich charakteristische Unterschiede. Die in Jer 4 klagende Figur beschreibt nur ihre eigene verzweifelte Situation, sie spricht weder über den Feind noch wendet sie sich Gott zu, es fehlt also die bei Klagepsalmen übliche trianguläre Struktur. Sie äußert kein Vertrauensbekenntnis und verweist nicht auf die Wendung ihrer Not oder den sog. „Stimmungsumschwung“. Damit fehlen immerhin vier der fünf Hinweise auf Resilienz, die Judith Gärtner an Ps 22 herausgearbeitet hat: Die Klagenden halten weder an der Beziehung zu Gott fest oder erwarten Hilfe von ihm, noch entwickeln sie eine Dynamik von Aushalten und Gestalten der Not. Anders als der Beter von Ps 22 geht das klagende weibliche Kollektiv in Jer 4–10 gerade nicht lebensstark aus der Klage hervor, sondern ist verzweifelt und dem Tode nahe. Übereinstimmend konfrontieren Jeremia und Gott die weibliche Gestalt mit Vorwürfen, so dass der feindliche Angriff gegen sie implizit als ihrem bösen Handeln adäquates Ergehen erscheint. Auch antwortet Gott auf die Klage in 4,19–21 nicht mit Trost, sondern mit einer weiteren Anklage, die geradezu resignativ wirkt und damit die Unfähigkeit Jerusalems unterstreicht, sich zu bessern und umzukehren (4,22). So bleibt allein die Schilderung der Not als (vager) Hinweis auf Resilienz übrig. An dieser Stelle wird in methodischer Hinsicht deutlich, dass es auch darauf ankommt, in welcher Weise bzw. Weite „Resilienz“ definiert wird. Jochen Schmidt beispielsweise bezeichnet bereits die Klage über die eigene Situation als Resilienzfaktor, weil sie ein „Akt der Selbstdeutung des Leidenden“24 sei: „Klage ist insofern Selbstermächtigung, als sie es erlaubt, durch Artikulation des Leidens Abstand zum Erlittenen zu gewinnen.“25 Das ist jedoch nicht immer der Fall, denn die Einbettung dieser Klage Jerusalems in den

                                                             23

Dabei ist es unerheblich, ob die Klagen echte oder fingierte Zitate darstellen. SCHMIDT, JOCHEN, Ohnmacht und Klage. Selbstermächtigung in Ausweglosigkeit, in: Cornelia Richter (Hg.), Ohnmacht und Angst aushalten. Kritik der Resilienz in Theologie und Philosophie (Religion und Gesundheit 1), Stuttgart: Kohlhammer 2017, 107–117, 115. 25 SCHMIDT, Ohnmacht und Klage, 113. 24

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Kontext liefert eine Deutung der Not, die eine harsche, von außen herangetragene Abwertung der Leidenden beinhaltet. So stellt sich die Frage, für welchen Adressatenkreis dieser Abschnitt aus dem Jeremiabuch ein Resilienznarrativ bietet. Bevor ich ihr weiter nachgehe, stelle ich einen zweiten Text vor, an dem sich die Arbeit an der Deutung der Katastrophe differenzieren lässt.

III. Ist geteiltes Leid halbes Leid (Jer 8,14–9,2)? Eine weitere Szene des dramatischen Geschehens setzt in Jer 8,14 mit der Rede einer Wir-Stimme ein, wechselt in 8,18 in eine Ich-Klage und wird durch die Zitationsformel in 9,2 abgeschlossen. Auch hier werden die sprechenden Personen nicht namentlich genannt und müssen daher aus Kontext und Inhalt erschlossen werden. Zunächst schildert eine Wir-Stimme die eigene Not mit klagendem Unterton: 14a Wozu sitzen wir da? Sammelt euch und lasst uns hineingehen in die befestigten Städte und uns dort still verhalten, 14b denn JHWH, unser Gott, hat uns umkommen lassen. Er tränkte uns mit Giftwasser, weil wir gegen JHWH gesündigt haben.26 15 Man hofft auf Frieden, doch da ist nichts Gutes, auf eine Zeit der Heilung, doch siehe: plötzlicher Schrecken. 16a Von Dan her ist das Schnauben seiner Pferde zu hören27, vom Klang des Wieherns seiner Starken erbebt das ganze Land. 16b Sie kamen und fraßen das Land und sein Gut, die Stadt und die sie bewohnen.

Die hier Klagenden fliehen in die befestigten Städte. Ihre Hoffnung auf Frieden hat sich zerschlagen, denn der Feind rückt unaufhaltsam von Norden heran. Erneut wird er konkret als Streitwagenheer beschrieben. Die Verse 14b und 16b fallen durch ihre Prosa und perfektive Verbformen auf und sind daher als Nachträge ersichtlich, die das Geschehen im Rückblick deuten. In dieser Deutung wird der Feind als fressendes Raubtier metaphorisch überhöht und die Feindbedrohung als Bestrafung durch die eigene Gottheit verstanden: Das Trinken von Giftwasser (‫ )מי־ראש‬macht, vergleichbar dem Eifersuchtsordal in Num 5,11–31, die aktuellen Vergehen sichtbar. In V. 14b gesteht des Volkes

                                                             26 Eingerückte, kursive Aussagen sind wahrscheinlich später hinzugefügt, vgl. jeweils die Auslegung zur Stelle. 27 Die Verbform ‫ נִ ְשׁמַ ע‬der 3. Person masc. sing. qatal Nif. (vgl. 3,21; 9,18; 31,15; 42,6) ist zwar inkongruent zum fem. Nomen ‫נחרה‬, aber aufgrund der Formelhaftigkeit verständlich. LXX deutet ‫ נשמע‬als 1. Person plur. jiqtol „wir werden hören“ und übersetzt die folgenden Verben ebenfalls futurisch.

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Stimme die eigene Schuld unumwunden ein, was rhetorisch einer Anerkennung des Geschehens als Strafe gleichkommt. In V. 17 folgt nun eine direkt an das Volk adressierte Aussage, die im Masoretischen Text mittels Zitationsformel als Gotteswort ausgewiesen ist. 17

Ja, siehe, ich sende euch Schlangen, Giftschlangen, für die es keine Beschwörung gibt, so dass sie euch beißen [Spruch JHWHs] – unheilbar28.

Diese Ankündigung JHWHs ist nur vor dem Hintergrund der Erzählung von der ehernen Schlange in der Wüste (Num 21,4–9) verständlich. Sie deutet erneut den Untergang Jerusalems als Strafe Gottes. Im Gegensatz zur ehernen Schlange, deren Anblick die Giftschlangen-Bisse heilt, betont der Vers jedoch, dieses Mal werde es keine Heilung geben. Die Ich-Rede wird danach weitergeführt als Klage, die ihrerseits Klagen des als Tochter personifizierten Volkes zitiert: 18

Kummer ist aufgestiegen in mir, mein Herz ist krank. Siehe, ein Laut, [der Hilferuf] der Tochter, meines Volkes, vom weiten29 Land:

19a

„Ist JHWH nicht in Zion oder ist ihr König nicht in ihr?“ 19b Warum haben sie mich erzürnt durch ihre Götterbilder, durch Nichtigkeiten der Fremde? 20 „Vorüber ist die Ernte, zu Ende ist der Sommer, doch uns wurde nicht geholfen.“ 21 Über den Zusammenbruch der Tochter, meines Volkes [bin ich zerbrochen], bin ich bedrückt, hat mich Entsetzen ergriffen. 22 Ist kein Balsam in Gilead oder ist kein Arzt dort? Ja, warum wuchs kein neues Fleisch über die Wunde der Tochter, meines Volkes? 23 Wäre doch30 mein Kopf Wasser und mein Auge eine Quelle von Tränen, so würde ich Tag und Nacht beweinen die Erschlagenen der Tochter meines Volkes. 9,1a Gäbe man mir in der Steppe ein Nachtlager für Wanderer,

                                                             Das Wort ‫יתי‬ ִ ִ‫„ מַ ְב ִליג‬meine Erheiterung“ zu Beginn von V. 18 MT ergibt keinen Sinn. Mit BHS und in Anlehnung an LXX ist ‫„ ִמ ְבּ ִלי גְ הׄ ת‬ohne Heilung“ zu lesen, was noch zu V. 17 gehört und wohl durch die prämasoretische Zufügung der Zitationsformel an die falsche Stelle geriet; vgl. MCKANE, Jeremiah, 194; die Zuordnung zu V. 18 und die Identifikation Jeremias als Sprecher vertreten FINSTERBUSCH, KARIN/JACOBY, NORBERT, MT-Jeremia und LXX-Jeremia 1–24. Synoptische Übersetzung und Analyse der Kommunikationsstruktur (WMANT 145), Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 2016, 118. 29 Die Wendung ‫ מארץ מרחקים‬begegnet nur hier und in Jes 33,17 im Sinne von „weitem Land“. Vom unmittelbaren Kontext her ist an die hintersten Winkel des Landes Juda gedacht. Das Lexem ‫ מרחק‬bezeichnet im Singular das ferne Land (4,16; 5,15; 6,20; 31,10). LXX, Vulgata und Peschitta haben aufgrund ihres späteren Blickwinkels das ferne Land des Exils vor Augen. Vgl. MCKANE, Jeremiah, 195. 30 Die Wendung ‫ מי־יתן‬leitet einen Wunschsatz ein; vgl. 9,1; GK § 151b; FINSTERBUSCH/ JACOBY, MT-Jeremia 1–24, 119. 28

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so würde ich mein Volk verlassen und von ihnen weggehen. Denn sie alle sind Ehebrecher, eine Versammlung von Treulosen. 2a Sie spannten ihre Zunge als ihren Bogen, Lüge und nicht Wahrhaftigkeit sind stark geworden im Land. 2b Denn von Bosheit zu Bosheit sind sie ausgezogen, aber mich haben sie nicht erkannt – [Spruch JHWHs].

Auch hier ist die Identifikation des Sprechers umstritten. Einige Exegetinnen und Exegeten weisen die Klage dem Propheten zu mit dem Argument, Weinen und Mitleid passten nicht zu dem im Jeremiabuch zürnenden und strafenden Gott.31 Demgegenüber ist zu betonen, dass biblische Texte Gott häufig anthropomorph, emotional und verletzbar, darstellen.32 Eine genauere Analyse von Jer 8,18–9,2 lässt erkennen, dass die Klage ursprünglich wahrscheinlich die Stimme des Propheten repräsentierte, während der vorliegende Masoretische Text eindeutig Gott als Sprecher ausweist (vgl. die Zitationsformel in 8,17 und 9,2).33 Da sich die Aussage „ich sende euch Giftschlangen“ in V. 17 nur auf JHWHs Handeln beziehen kann und in V. 18 kein Sprecherwechsel erfolgt, ist auch 8,18–9,2 Gottesrede. Die klagende Frage in V. 19b macht ebenfalls nur in Gottes Mund Sinn. Weil sie das Zitat des Volkes unterbricht und den Standardvorwurf der exilischen Buchredaktion, die Verehrung fremder Gottheiten, erhebt, ist sie als Nachtrag ersichtlich. Da die Aussagen in Jer 9,2aα.b ebenfalls in Prosa gehalten sind und für die exilische Buchredaktion typische Gedanken – mangelnde Gotteserkenntnis und die pauschale Schuldzuweisung an das Volk – einbringen, erweisen auch sie sich als sekundär. Im Grundtext zitiert somit ein einzelner Sprecher die Klage des Volkes und stimmt selbst in diese Klage ein, bekundet seine Anteilnahme und signalisiert durch den Wunsch wegzugehen, dass der Anblick des geschundenen Volkes für ihn unerträglich ist. Da der Prophet auch Jer 14,17f. klagend auf die Ankündigung des Feindes aus dem Norden reagiert, ist es wahrscheinlich, dass der Text ursprünglich Jeremias Mitleiden mit dem Volk ausdrückte. Durch die

                                                             31 Vgl. HENDERSON, JOSEPH M., Who Weeps in Jer VIII 23 (IX 1)? Identifying Dramatic Speakers in the Poetry of Jeremiah, in: VT 52 (2002), 191–206, bes. 198; FINSTERBUSCH, KARIN, Unterbrochene JHWH-Rede. Anmerkungen zu einem rhetorischen Phänomen in Jeremia, in: BZ 60 (2016), 1–13, 9. 32 Vgl. z.B. JEREMIAS, JÖRG, Der Zorn Gottes im Alten Testament. Das biblische Israel zwischen Verwerfung und Erwählung (BThSt 104), Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 2 2011; JANOWSKI, BERND, Der Schmerz Gottes. Zu einem wichtigen Zug im biblischen Gottesbild, in: Michaela Bauks/Saul M. Olyan (Hg.), Pain in Biblical Texts, and Other Materials of the Ancient Mediterranean (FAT II/130), Tübingen: Mohr Siebeck 2021, 125–144. 33 Mit Blick auf den vorliegenden Text betonen O’CONNOR, Jeremiah, 61–63 und FRECHETTE, The Old Testament as Controlled Substance, 31 das kaum entwirrbare Ineinander verschiedener Stimmen.

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später hinzugefügten Begründungen, die das Unheil als Strafe JHWHs gegen das Volk deuten, wird jedoch Gott zum Sprecher der Klage und als über den Zustand seines Volkes weinend charakterisiert.34 Jedenfalls bestätigen die späteren Tradenten des hebräischen Textes diese Identifikation, indem sie die Aussagen von 8,17 und 9,2 mittels der Zitationsformel als Gotteswort ausweisen. Im Blick auf die bereits genannten Resilienzfaktoren eröffnet schon die Trauer des Propheten über den Zusammenbruch des Volkes und sein Mitleid mit den Opfern für den Adressatenkreis die Option einer Distanzierung von der kompromisslosen Unheilsankündigung. So kann die Frage, ob es kein Balsam in Gilead oder keinen Arzt gebe (8,22) als implizite Bitte um Gottes Einschreiten gelesen werden. Auch in Jer 4,10 und 14,13 nimmt der Prophet das Volk explizit gegenüber der göttlichen Anklage in Schutz. Andererseits wird Jeremia dreimal ausdrücklich verboten, für das Volk Fürbitte einzulegen (7,16; 11,14; 14,11). Ähnlich ambivalent wie die Charakterisierung des Verhältnisses Jeremias zum Volk ist auch die Wirkung der redaktionellen Ergänzungen in 8,14–9,2. Das Schuldbekenntnis des Volkes in 8,14b anerkennt die eigene Verantwortung der Klagenden für das Geschehen und weist damit einen Weg aus der Klage. Gleichzeitig erscheint die pauschale Schuldzuschreibung in 8,19b und 9,2b jedoch kaum geeignet, deren tiefere Selbsterkenntnis zu befördern. Immerhin verweist die Charakterisierung Gottes als vom Leid seines Volkes berührt, betroffen und mitleidend auf die Möglichkeit eines positiven Ausgangs der Suche nach einem Arzt (8,22): JHWH, der Juda und Jerusalem zerschlagen hat, kann sie auch wieder heilen, wenn sein Erbarmen geweckt ist. Hier scheint zumindest ein Aspekt von Resilienz auf: das Festhalten an der Beziehung zu Gott in der Hoffnung, dass er sich seinem zerschlagenen und bedrängten Volk wieder zuwende. Bemerkenswert an dieser sukzessiv erfolgten Deutung der Katastrophe ist, dass die exilischen Tradenten der Charakterisierung JHWHs als eines strafenden Gottes diejenige des klagenden und mitleidenden Gottes zur Seite stellten. Im Vergleich mit der Rolle JHWHs als zorniger Ehemann in Jer 2–3 und als gewalttätiger, sein Volk zerstörender Krieger in Jer 4–10 signalisiert das Bild des weinenden, mitleidenden Gottes eine Wende im Verhältnis zum Volk.35 Ein

                                                             34

Auch O’CONNOR, Jeremiah, 63–65 deutet Jer 8,18–9,2 als Klage des weinenden Gottes. Deren altorientalische Tradition beleuchtet ROBERTS, J. J. M., The Motif of the Weeping God in Jeremiah and Its Background in the Lament Tradition of the Ancient Near East, in: OTE 5 (1992), 361–374. 35 Vgl. O’CONNOR, KATHLEEN M., The Tears of God and Divine Character in Jeremiah 2–9, in: Tod Linafelt/Timothy K. Beal (Hg.), God in the Fray. A Tribute to Walter Brueggemann, Minneapolis: Fortress 1998, 172–185, bes. 183f.

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Teil der jüdischen Rezeptionsgeschichte greift dieses Porträt auf, wenn z.B. der Midrasch zu den Klageliedern Verse aus Jer 8,18–9,2 zitiert, um Gottes Zuwendung und Vergebungsbereitschaft zu betonen.36

IV. Fazit: Viel Trauma, wenig Resilienz Die Frage, ob in Klagediskursen des Jeremiabuches Resilienznarrative zu finden sind, kann nur mit „Ja, aber“ beantwortet werden. Zwar ist unstrittig, dass ein Teil der Bevölkerung Judas den Untergang von Stadt und Staat sowie das Exil überlebte und in nachexilischer Zeit Jerusalem wiederaufbaute.37 Diese Menschen, unter ihnen die Tradenten des Jeremiabuches, haben offensichtlich ihren Glauben an JHWH bewahrt und sich insoweit resilient erwiesen, als sie über die Katastrophe schreiben und in gewisser Weise Verantwortung dafür übernehmen konnten. Gleichzeitig ist von einem Resilienznarrativ zu erwarten, dass es seine Leserschaft in eine Distanzierung von der Krise und deren Bearbeitung einübt. Im Blick auf das gesamte Jeremiabuch überwiegt jedoch die facettenreiche Schilderung der Situation der Opfer von Krieg und Deportation. Angesichts der massiven Schuldaufweise bei nur wenigen Schuldbekenntnissen, angesichts des in seinem Ringen mit Gott letztlich verzweifelnden Propheten und angesichts der Schuldzuweisung an ganz Juda und Jerusalem mit Ausnahme der unter Jojachin nach Babylonien Deportierten38 erscheinen mir die wenigen, in Jer 4,13–22 und 8,14–9,2 erkennbaren, Hinweise auf Resilienz

                                                             36 Vgl. EkhaR zu Klgl 1,16a mit Verweis auf Jer 8,23 und EkhaR zu Klgl 3,20 mit Verweis auf Jer 9,1, diskutiert in SCHMIED, MAREIKE, (An)Klage Gottes. Transformationen der Gottesbilder im Midrasch zu den Klageliedern, Diss. masch. Marburg 2018, 288–290 und 295–297. Außerdem LINK, CHRISTIAN/DIETRICH, WALTER, Die dunklen Seiten Gottes, Bd. 2: Allmacht und Ohnmacht, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 42015, 279–285 („Gottes Leiden an seinem Volk“). 37 Vgl. FREVEL, CHRISTIAN, Geschichte Israels (KStTh 2), Stuttgart: Kohlhammer 22018, 345–354. 38 Vgl. die Feigenkorb-Vision Jer 24,1–10. Sie bezeichnet die unter König Jojachin bereits 597 v. Chr. deportierten Oberschichtsgruppe rückblickend als ‫„ גלות יהודה‬die judäische Gola“ (24,5) und verheißt ihnen die Rückkehr in ihre Heimat. Der Text leugnet nicht nur eine zweite Deportation nach 587 (gegen Jer 29,7.9f.), sondern auch eine Restbesiedlung Judas in exilischer Zeit (gegen 40,7–13). Mit zahlreichen literarischen Bezügen auf unterschiedliche Texte und einem singulären Geschichtsbild ist er wohl erst in das vierte Jahrhundert v. Chr. zu datieren. Vgl. WANKE, Jeremia 1,1–25,14, 223; STIPP, HERMANN-JOSEF, Jeremia 24. Geschichtsbild und historischer Ort, in: Ders., Studien zum Jeremiabuch. Text und Tradition (FAT 96), Tübingen: Mohr Siebeck 2015, 348–378.

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als zu gering, um das Jeremiabuch insgesamt als Resilienznarrativ zu interpretieren. Mit anderen Worten: Die Deutung des Jeremiabuches als einer Meistererzählung über ein kulturelles Trauma, die die Kontroversen zwischen den beteiligten Gruppen darstellt, die Wunde des Verlustes offenhält und gerade nicht schließen will, erscheint mir plausibler als das Buch zu einem Resilienznarrativ, einer Erzählung vom Überleben und Verarbeiten der Katastrophe, zu erklären. Dieses im Blick auf das Thema dieses Bandes verhaltene Ergebnis zeigt auch, dass wir in Zukunft Ansätze der Trauma- und der Resilienzforschung methodisch stärker miteinander ins Gespräch bringen sollten, um deren Relevanz für die Interpretation biblischer Texte noch genauer fassen zu können.

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Resilience and Restoration Dimensions of Resilience in Ezekiel’s Prophecies of Restoration Anja Klein I. Introduction If there is one book in the Hebrew Bible that deals with crisis, it is the Prophet Ezekiel. All forty-eight chapters of the book revolve around the destruction of Jerusalem in 587 BCE and the ensuing Babylonian exile, which led Ruth Poser to describe the whole book as “trauma literature”.1 In the following contribution, however, I would like to change perspective and ask if the book does not also comprise elements of a resilience narrative, drawing on the idea that resilience represents “a crisis phenomenon par excellence”.2 This understanding has been developed in a number of recent publications,3 and it is also central to the approach of the Bonn interdisciplinary research group “Religion and Spirituality”.4 The question arises how this modern category can be made fruitful for the interpretation of the Hebrew Bible. There is no term for resilience in Biblical

                                                             1 Ruth Poser, Das Ezechielbuch als Trauma-Literatur, VT.S 154 (Leiden/Boston: Brill, 2012). 2 Cornelia Richter, “Einleitung: Ohnmacht und Angst aushalten: Zur Kritik und Ergänzung dominant aktiver Resilienzfaktoren,” in Ohnmacht und Angst aushalten: Kritik der Resilienz in Theologie und Philosophie, ed. Cornelia Richter (Stuttgart: Kohlhammer, 2017), 9–29, 12. 3 See for example Bruno Hildenbrand, who speaks of action and orientation patterns that individuals develop in coping with adverse circumstances (“Resilienz, Krise und Krisenbewältigung,” in Resilienz – Gedeihen trotz widriger Umstände, ed. Rosemarie WelterEnderlin/Bruno Hildenbrand [Heidelberg: Carl-Auer, 2006], 205–229, 205), or Jochen Sautermeister, who understands resilience as a perspective that is born from the insight of vulnerability in crisis (“Resilienz zwischen Selbstoptimierung und Identitätsausbildung,” MThZ 67/3 [2016]: 209–223, 217–220). 4 See Judith Gärtner and Cornelia Richter, “Der (post-)moderne Begriff der Resilienz und die jüdisch-christliche Tradition,” in Resilienznarrative im Alten Testament, ed. Judith Gärtner and Barbara Schmitz, FAT 156 (Tübingen: Mohr Siebeck, 2022).

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Hebrew, but the ancient texts comprise key words and images that can be systematised and interpreted using the methodological framework of resilience theory. When it comes to the book of Ezekiel, the obvious starting point are the prophecies of restoration in Ezek 34–48 that sketch out a comprehensive idea of the future salvation, when the people will safely be reunited with their god. For the purpose of discussion, the paper comprises two parts. The argument starts from a literary analysis of selected restoration prophecies that represent possible images of resilience in the prophetic narrative. I will not be able to present the redactional-critical assessment in full, but will rely on my previous research on Ezekiel’s salvation prophecies and other studies on the book, assuming that the texts have a longer history of literary growth.5 In a second step, I want to resume the question if the book of Ezekiel can be described as a resilience narrative by asking how these literary images foster resilience. Framing this part with Clemens Sedmak’s idea of “epistemic resilience”,6 I will show that the images build up resilience through three activities that allow the audience of the prophetic narrative to develop identity and agency. Therein, the restoration prophecies in the book of Ezekiel prove to be a resilience narrative of Second Temple Judaism.

II. Images of Resilience In the book of Ezekiel, prophecies of salvation mainly occupy the third part in chaps. 34–48. In the following, I will focus on Hebrew key terms and motifs that are related to well-being and safety, as well as on texts that speak of enhancing the capacities of the people to overcome trauma and to foster life. These criteria suggest four texts or text groups in particular: the return of the deity in the vision of the new temple (Ezek 43:1–9), the vision of the healing stream in 47:1–12, the covenant of šālôm in 34:25–30 and 37:25–28, and the gift of the spirit in 37:1–14 and 36:26–28. Yet I want to start with the symbolic action in 24:15–25 that describes how the prophet experiences the loss of the temple. This sign act illustrates the central trauma of the book and serves as a dark foil for the restoration prophecies in the following.

                                                             5

Anja Klein, Schriftauslegung im Ezechielbuch: Redaktionsgeschichtliche Untersuchungen zu Ez 34–39, BZAW 391 (Berlin/New York: de Gruyter, 2018). I have proposed that the book mainly developed from the end of the 5th century up to the beginning of the 2nd century BCE, see the literary-historical assessment ibid., 403–409. 6 Clemens Sedmak, Innerlichkeit und Kraft: Studie über espistemische Resilienz, Forschungen zur europäischen Geistesgeschichte 14 (Freiburg i.Br./Basel/Wien: Herder, 2013). On the term “epistemic resilience” see especially ibid., 33–42.

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1. The Dark Foil: The Traumatised Prophet in Ezek 24 The symbolic action in Ezek 24:15–25 concludes the judgment prophecies in the first part of the book (chaps. 1–24) and illustrates the central trauma: the loss of the first temple in Jerusalem. The original account in 24:15–21, 247 narrates how Yhwh engages the prophet in a sign act, in which Ezekiel receives the divine announcement that he will be deprived of “the delight of your eyes” (24:16: ‫)אֶ ת־מַ ְחמַ ד עֵ ינֶיָך‬. This expression, a construct relationship with the noun ‫ מַ ְחמָ ד‬in construct state and the noun ‫ עַ יִ ן‬in absolute state, describes a favoured and treasured possession;8 its loss will be rapid and unexpected, as shown by the following adverbial ‫ ְבּמַ גֵּפָ ה‬that denotes a sudden “blow”. A later author has identified the treasured possession in 24:18 with the prophet’s wife,9 but the preceding ban on engaging in mourning rituals (24:17) already suggests that the loss relates to a close family member. With the ban on mourning, the prophet is denied any pattern of behaviour that could provide a sense of relief and orientation: “The pain is intensified in that it must remain bottled up instead of trickling away in the reassuring routine of cultural behavior (…).”10 In the original interpretation of the prophet’s action, Yhwh announces to the house of Israel that he will profane the sanctuary that he describes further as “the delight of your eyes and your desire” (24:21: ‫מַ ְחמַ ד עֵ ינֵיכֶ ם וּמַ ְחמַ ל‬ ‫)נ ְַפ ְשׁכֶ ם‬. The resumption of the key term ‫ מַ ְחמָ ד‬shows that the comparison point of the symbolic action is the loss of the temple as cultic centre that is likened to the loss of a close family member. In being denied the comforting routine of mourning practices, the prophet prefigures how the people will be affected by the destruction of the temple: It is a numbing blow that must not be softened. As a historic event, the Babylonian invasion of 587 BCE that culminated in the desecration of the temple must have been a traumatic event by itself, and the prophetic tradition interpreted the severance of the cultic relationship with Yhwh as a punishment for the people’s transgressions. However, with the ban on mourning, the author of Ezek 24:15–21, 24 compounds the punishment11

                                                             7 On the analysis see Karl-Friedrich Pohlmann, Der Prophet Hesekiel/Ezechiel: Kapitel 20–48, ATD 22, 2 (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2001), 350–353, 358–360. 8 The expression has only two parallels in the Hebrew Bible outside Ezek 24; while 1 Kgs 20:6 (‫ )כָּ ל־מַ ְחמַ ד עֵ ינֶיָך‬speaks of the loss of precious personal possessions, the expression ֲ ַ‫ )מ‬refers to the Zion and thus attests to the use in connection with the in Lam 2:4 (‫חמַ ֵדּי־עָ יִ ן‬ cult in Jerusalem (see also Isa 64:10). 9 The mention of the wife’s death in 24:18 (‫ )וַתָּ מָ ת ִא ְשׁ ִתּי‬is missing in the Greek Codex Vaticanus and Pap. 967, which suggests a later addition (see Pohlmann, Hesekiel 20–48, 358 FN 50). 10 Leslie C. Allen, Ezekiel 40–48, WBC 29 (Dallas: Word Books, 1990), 60. 11 Paul Joyce, Ezekiel: A Commentary (London/New York: T&T Clark, 2008), 168.

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and aggravates the trauma, excluding any possibility of healing. In a theological perspective, Yhwh appears as a God, who punishes his people by exposing them to trauma and denying them any agency that would allow them to come to terms with the catastrophe.12 As a symbolic action, Ezek 24 forges a bridge to the cycle of sign acts in Ezek 4–5 that illustrate the coming judgement for the land, yet it addresses a different audience. While the remainder of the people in the land were abandoned to the judgement at the beginning of the book, the first group of exiles in Babylon had been safe from the invasion of Jerusalem. Yet the loss of the temple equally compromises the relationship to their God. There are a few texts that seem to address this problem, such as the idea that Yhwh’s glory leaves the temple before its destruction and appears to the prophet in Babylon (Ezek 1–3; 11), or the promise in 11:16 that Yhwh has become a “little” sanctuary to his people in exile and diaspora. However, the symbolic action in Ezek 24 takes a central position in the composition of the book, as it stands at the end of the judgement prophecies (1–24) and leads over to the oracles against foreign nations (25–32), before the salvation prophecies set in. At this compositional “crossroads”, the prophet serves as a model for the central trauma in the book, the loss of the ritually mediated access to Yhwh in the Jerusalem cult. The audience of the book was expected to identify with the prophet and similarly experience the numbing pain of the trauma.13 As I will show in the following, against this negative foil the restoration prophecies in chaps. 34–48 can be read as promises of resilience that restore the people’s agency and reestablish their relationship with Yhwh. 2. The Return of the Deity in Ezek 43 The central trauma in Ezek 24 is taken up in the account of the return of the deity in 43:1–9, which belongs to the literary core of the vision of the new temple (chaps. 40–48). After being relocated to the new city, the prophet sees how the glory of Yhwh returns from the east and fills the house (43:5: ‫וְ ִהנֵּה‬

                                                             12

The traumatising effect of Yhwh’s command has previously been noted; see Jacqueline E. Lapsley, “A Feeling for God: Emotions and Moral Formation in Ezekiel 24:15–27,” in Character Ethics and the Old Testament: Moral Dimensions of Scripture, ed. Carroll R. M. Daniel and Jacqueline E. Lapsley (Louisville/London: Westminster John Knox, 2007), 93– 102, 96, who argues that in Ezek 24 everything is prohibited that “might provide a framework within which the prophet could assign meaning to his wife’s death”. Similarly, Poser, Ezechielbuch, 470, comments that Yhwh denies both the prophet and the exiles the engagement with and the integration of the terrors that they had experienced. 13 On the traumatised prophet as a literary phenomenon in the book of Ezekiel see Poser, Ezechielbuch, 50–55, 650–652.

Resilience and Restoration

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‫)מָ לֵ א ְכבוֹד־יְ הוָה הַ בָּ יִ ת‬. The return to the new sanctuary culminates in the promise that Yhwh will reside among his people forever (43:7a: ‫אֶ ְשׁכָּ ן־שָׁ ם‬ ‫) ְבּתוְֹך ְבּנֵי־יִ ְשׂ ָראֵ ל ְלעוֹלָ ם‬. Likely a later addition, the continuation in vv. 7b–9

redefines Yhwh’s presence among his people, which is now made subject to conditions.14 The house of Israel shall no more defile Yhwh’s holy name (43:7b: ‫)וְ ל ֹא יְ טַ ְמּאוּ עוֹד בֵּ ית־יִ ְשׂ ָראֵ ל שֵׁ ם קָ ְד ִשׁי‬, which, according to vv. 8–9 is a question of spatial separation: The successful new sanctuary-sharing community will be characterised by the people “keeping away” from Yhwh (43:9: ‫חקוּ … ִממֶּ נִּ י‬ ֲ ‫ )יְ ַר‬the inadmissible offerings and their inappropriate behaviour (“whoring”). Several motifs in this vision account reflect dimensions of resilience: First, the return of the glory of Yhwh in Ezek 43 corresponds to its departure from the sanctuary in the first part of the book (Ezek 8–11). This narrative ark establishes a sense of cohesion, while the promise of the divine presence as everlasting (43:7, 9: ‫ ) ְלעוֹלָ ם‬adds the assurance of inviolability. Secondly, this assurance is conveyed as part of a visionary experience of the new temple and its surroundings, which allows the audience to see through the prophet’s eyes. With Poser, the vision account could be understood as the imagination of a safe space (“Imagination eines ‘sicheren Ortes’”), which, however, carries the ambivalence of a trauma not yet overcome.15 I would rather follow Sedmak’s work and interpret the temple vision as the imagination of an alternative to present reality that enables the people to develop agency and scope.16 Identifying with the prophet’s first-person narrative allows the readership to virtually walk through the new city and being assured of Yhwh’s presence that is now “forever”. Thirdly, the motif that Yhwh’s glory fills the house in Ezek 43:5 recalls two scenes, which can be considered founding narratives in biblical history: While in Exod 40:34, the glory of Yhwh inhabits the Sinai sanctuary (‫וּכבוֹד‬ ְ ‫)יְ הוָה מָ לֵ א אֶ ת־הַ ִמּ ְשׁכָּ ן‬, the account in 1 Kgs 8:11 recounts the initial indwelling of Yhwh’s glory in the Davidic temple (‫) ִכּי־מָ לֵ א ְכבוֹד־יְ הוָה אֶ ת־בֵּ ית יְ הוָה‬. These allusions clearly foster a sense of identity as the new salvation is related to previous founding events in the history of Yhwh and his people. Finally, the continuation in 43:7b–9 complements the resilience of the people with the resilience of the deity: In looking back, Yhwh has identified the violation of his

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On the secondary character of 43:7b–9 see Thilo A. Rudnig, Heilig und Profan: Redaktionskritische Studien zu Ez 40–48, BZAW 287 (Berlin/New York: de Gruyter, 2000), 85; further Klein, Schriftauslegung, 192–193. 15 Poser, Ezechielbuch, 615–637, especially 627–637. She argues that the temple vision shows elements of regression and does not (yet) contribute to a successful trauma synthesis, ibid., 631–633. 16 Sedmak, Innerlichkeit, 232–233.

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personal space as a major cause for the catastrophe (43:8). Yet from now on, the layout of the new sanctuary will provide for appropriate boundaries between holy (Yhwh’s space) and profane (the people’s space),17 thus safeguarding the divine name from future defilation (47:9). In summary, Ezek 43:1– 7a(9) reveals itself as a key text for the study of resilience in the book, as it reverts the central trauma from Ezek 24 and provides for a new, controlled relationship between humans and the divine. Through a new founding act, the renewed cultic presence of Yhwh among his people will be both everlasting and inviolable. 3. The Healing Stream in Ezek 47 Despite the clear separation between Yhwh’s space and the space of the people in the new sanctuary, Yhwh does not remain closed off; rather, the emergence of the temple stream in Ezek 47:1–12 can be understood as Yhwh’s presence emanating into the realm of land and people.18 The core of the vision account in 47:1, 8*, 9ab, bb, 12a19 describes how the prophet is led back by the man to the entrance of the sanctuary, where he sees waters flowing forth from under the threshold (47:1). The man explains that the waters are flowing in southeasterly direction into the Dead Sea, where the waters will be healed (47:8: ‫ הַ מָּ יִ ם‬20‫)וְ נִ ְר ְפּאוּ‬. The salvific effect leads to the multiplication of the fish in the waters, and they will bring life to everywhere, where the stream flows (47:9ab, bb). A later author supplements allusions to the priestly creation account by illustrating the life in the waters with the image that the stream will swarm with ֹ ‫כָ ל־נֶפֶ שׁ חַ יָּה אֲשֶׁ ר־יִ ְשׁ‬, cf. ‫ נֶפֶ שׁ חַ י‬in Gen 1:20, 21, living creatures (47:9aa: ‫רץ‬ and see the verb ‫ שׁרץ‬in Gen 1:20, 21).21 The account finishes with the description of the fruit trees that will grow at both sides of the waters and offer a source of food to the people all the year round (47:12).

                                                             17 On the significance of these two categories for the vision of the new temple see the comprehensive study by Thilo A. Rudnig (see FN 14); further Poser, Ezechielbuch, 615– 616, 622–627. From the perspective of landscape architecture, I-Chun Kuo also demonstrates that the whole of the new city in Ezek 40–48 is designed as a “resilient” landscape (Reading the Landscape of Ezek 40–48: A Theology of Resilience [PhD diss., University of Edinburgh, 2018]). 18 See Poser, Ezechielbuch, 33. 19 On the analysis see Rudnig, Heilig, 167–175. 20 Following the ketib reading; the qere form ‫ וְ נִ ְרפּוּ‬shows an elision of the ʾālep, on the form see GKC 75oo. 21 Similarly, Rudning, Heilig, 173, 175, points out priestly terminology in Ezek 47:9 and 47:10 (‫) ְל ִמינָה‬.

Resilience and Restoration

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The idea of a life-giving stream emanating in Zion or the sanctuary has a number of parallels in other prophetic books such as Isa 33:21, Joel 4:18, Zech 14:8 and Ps 46:5. Thereby, the closest parallel are the “living waters” (‫ )מַ יִ ם־חַ יִּ ים‬in Zech 14:8 that will flow out from Jerusalem on the day for Yhwh (14:1: ‫)יוֹם־בָּ א לַ יהוָה‬. This life-fostering function of the waters corresponds to the motif in Ezek 47:9 that the stream will bring life to wherever it flows, and it shares in the idea that Yhwh’s presence in the city fosters life. What is, however, unique in Ezekiel’s temple vision is the healing function of the waters, phrased with the Hebrew verbal root ‫( רפא‬47:8, see also 47:9, 11; 47:12: ‫) ְתּרוּפָ ה‬. In the Hebrew Bible, this verb is generally used “with reference to restoring a wrong, sick, broken or deficient condition to its original and proper state.”22 Especially in priestly texts, however, the verb acquires a meaning that shifts from healing in a strict sense to being whole, denoting a change from an unclean or defective state to being clean or complete.23 Assuming this meaning, the verb leads to a further dimension of resilience in Ezek 47, suggesting that the temple stream is a divine agent that transforms the Dead Sea and the land to foster life (47:9: ‫כּל אֲשֶׁ ר־יָבוֹא שָׁ מָּ ה הַ נָּחַ ל‬ ֹ ‫)וָחָ י‬. A later author adds to the picture by supplementing the notion that the leaves of the trees at the sides of the stream will serve for healing purposes (47:12b: ‫)וְ עָ לֵ הוּ ִל ְתרוּפָ ה‬, providing a constant supply of the divine life-fostering agency.24 Thus, the prophetic tradition of the (temple) stream has been reworked in Ezek 47 to illustrate Yhwh’s powers to create a life-sustaining habitat; this new order will allow both the land and the people to thrive in a state of completeness and protect them from further harm. 4. The Covenant of Šālôm in Ezek 34 and 37 The Hebrew word that comes closest to the idea of resilience is the noun ‫שָׁ לוֹם‬ that is mostly – but rather inadequately – translated with “peace”. It is a relational term that leads to a “profoundly positive concept associated with the notion of intactness, wholeness, and well-being, of the world and of humanity”.25 In the book of Ezekiel, there are two salvation oracles that promise a covenant of šālôm (‫ ) ְבּ ִרית שָׁ לוֹם‬that will foster the well-being of the people in the land: Ezek 34:25–30 and 37:25–28.26 It has long been seen that both oracles

                                                             M. L. Brown, “‫ ָרפָ א‬,” Theological Dictionary of the Old Testament 1: 593–602, 597. See Brown, “‫ ָרפָ א‬,” 1: 599, with reference to Ezek 47:8, 9, 11, 12. 24 On the secondary character of v. 12b that stands unconnected after the conclusion in v.12a see Rudnig, Heilig, 172. 25 F. J. Stendebach, “‫שָׁ לוֹם‬,” Theological Dictionary of the Old Testament 15: 13–49, 19. 26 On the analysis see Klein, Schriftauslegung, 169–179. 22 23

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are modelled on the blessings of the holiness code in Lev 26 and represent an intriguing case of innerbiblical exegesis.27 The first oracle in 34:25–30 comprises a later continuation in the so-called shepherd chapter 34 and promises that Yhwh will cut a covenant of šālôm with his people (34:25: ‫וְ כָ ַר ִתּי לָ הֶ ם‬ ‫) ְבּ ִרית שָׁ לוֹם‬. The covenant promises provide that Yhwh will banish the wild beasts from the land, so that the people shall live in safety (‫ )לָ בֶ טַ ח‬and will even be able to sleep in the woods (34:25–30). Their provision is secured through seasonal fruit crop and periodic rainfalls, which are further described as a downpour of blessing (34:26: ‫)גִּ ְשׁמֵ י ְב ָרכָ ה יִ ְהיוּ‬. Thus, what will be “no more” (‫ )ל ֹא עוֹד‬is the threat from enemies and beasts, and the peril of starvation, so that the people will dwell in safety (34:27, 28: ‫)לָ בֶ טַ ח‬. The idea of the covenant of šālôm is then taken up in the later oracle 37:25–28 that now specifies the covenantal relationship further as “everlasting”, emphasising both durability and inviolability of the future salvation (37:26: ‫) ְבּ ִרית עוֹלָ ם‬.28 The oracle continues the exegesis of Lev 26, but it focuses on two of the blessings: The priestly idea of reproductive multiplication and Yhwh’s commitment to set his dwelling place in the middle of his people forever (37:26, 27: ‫– ) ְלעוֹלָ ם‬ a promise that in the composition of the book foreshadows the return of the deity in the temple vision 43:1–7a(9). The key promise of well-being (‫ )שָׁ לוֹם‬in Ezek 34 and 37 also refers back to the judgement prophecies in the first part of the book, where Yhwh announces that the people shall seek šālôm in vain (7:25: ‫וּב ְקשׁוּ שָׁ לוֹם וָאָ יִ ן‬ ִ ). Now, with the inset of salvation, Yhwh once again holds out the prospect of well-being, but the restoration goes beyond the promise to return to the pre-trauma conditions. Rather, the covenant blessings in 34:25–30 and 37:25–28 picture life in a Schlauraffen Land29 that is characterised by the complete absence of any threat to life and the end of deprivation and starvation. While restoration in Ezek 34 foregrounds the provision of basic needs such as safe living spaces, nutrition and blessings from above (‫) ְבּ ָרכָ ה‬, the later oracle in Ezek 37 focuses

                                                             27

See Walther Zimmerli, Ezekiel 2: A Commentary on the Book oft he Prophet Ezekiel: Chapters 25–48, Hermeneia (Philadelphia: Fortress, 1983), 220–221; Allen, Ezekiel 20–48, 163, 194, and the synopsis in Dieter Baltzer, Ezechiel und Deuterojesaja: Berührungen in der Heilserwartung der beiden großen Exilspropheten, BZAW 121 (Berlin/New York: de Gruyter, 1971), 156–160; with a focus on innerbiblical exegesis further Klein, Schriftauslegung, 184–190. 28 See Zimmerli, Ezekiel 2, 276: “the sustained duration of that which has been promised anew by God.” 29 See Poser, Ezechielbuch, 513, who uses this comparison for the images at the end of Ezek 34 (“die schlaraffenlandartigen Bilder gegen Ende des Kapitels“).

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on the relational aspect of ‫שָׁ לוֹם‬. It is Yhwh’s renewed presence in the sanctuary, which is the basis for the covenantal relationship with his people that takes shape in a comprehensive and irrevocable state of well-being. 5. The (New) Spirit in Ezek 37 and 36 Unarguably the most powerful image of resilience in Ezekiel’s prophecies of ַ . restoration is the promise of the spirit, expressed by the Hebrew noun ‫רוּח‬ There are a number of texts across the book, in which the spirit features as a powerful agent that enhances the capabilities of the people (Ezek 11:19–20; 36:26–28; 37:1–14 [39:29]30). In diachronic perspective, the spirit first appears in the original vision of the dead bones in 37:1–6*,31 when the prophet is relocated to a valley that is filled with bones, a powerful image for death and desperation (37:1). That this vision is about the matter of life and death is further confirmed by Yhwh asking the prophet if these bones can live (37:3: ‫ה ִת ְחיֶינָה‬ ֲ ‫ ;)הָ עֲצָ מוֹת הָ אֵ לֶּ ה‬a question that the prophet wisely plays back to the omnipotent deity (37:3: ָ‫דנָי יְ הוִ ה אַ תָּ ה י ָָד ְעתּ‬ ֹ ‫א‬ ֲ ). Yhwh then promises that he will bring ַ ‫אֲנִ י מֵ ִביא בָ כֶ ם‬ spirit into the bones, revivifying them in the process (37:5: ‫רוּח‬ ‫וִ ְחיִ יתֶ ם‬, cf. 37:6). The perfect consecutivum ‫ וִ ְחיִ יתֶ ם‬shows clearly that the spirit is the powerful agent, by which Yhwh will bestow the power to live. In this original form, the vision account is not about bodily resurrection, but it visualises the metaphorical restoration of Israel in exile.32 The spirit proves to be a powerful image of resilience, as the visionary account allows the audience to experience through the eyes of the prophet how Yhwh transforms his people from death to life. This image of resilience is further taken up in the continuation 37:11–14, where, however, restoration is now linked with the promise of

                                                             30 While the spirit is attested in the Masoretic text of 39:29 (‫ת־רוּחי‬ ִ ֶ‫)שָׁ פַ ְכ ִתּי א‬, the variant reading of the LXX (ἐξέχεα τὸν θυμόν μου) suggests that the verse originally spoke of Yhwh pouring out his wrath. The later reordering of the chapter sequence towards the MT order most likely led to the change in the Masoretic version that was now meant to refer back to the pouring out of the spirit in 37:1–14; see Johan Lust, “The Final Text and Textual Criticism: Ez 39,28,” in Ezekiel and His Book: Textual and Literary Criticism and their Interrelation, BEThL 74 (Leuven: Leuven University Press, 1986), 48–54, 53; Peter Schwagmeier, Untersuchungen zu Textgeschichte und Entstehung des Ezechielbuches in masoretischer und griechischer Überlieferung (PhD diss., University of Zürich, 2004), 285–286, 293–296, and Klein, Schriftauslegung, 144–145. 31 On the analysis of the vision account 37:1–14 see Klein, Schriftauslegung, 270–285. 32 See Klein, Schriftauslegung, 283–284, arguing especially for the vision addressing the group of the first golah. A figurative interpretation of the core vision in 37:1–10 has also been put forward by Stefan Ohnesorge, Jahwe gestaltet sein Volk neu: zur Sicht der Zukunft Israels nach Ez 11, 14-21; 20, 1-44; 36, 16-38; 37, 1-14. 15-28, fzb 64 (Würzburg: Echter, 1991), 328–329, and Pohlmann, Ezechiel 20–48, 497–499.

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the new exodus. Only after Yhwh has brought up the people from the metaphorical death in exile, (37:12: “from their graves”, ‫יתי אֶ ְתכֶ ם‬ ִ ֵ‫וְ הַ עֲל‬ ‫ ) ִמ ִקּ ְברוֹתֵ יכֶ ם‬and returned them to their homeland, will he pour out his spirit within them, so that they shall live (37:14: ‫רוּחי בָ כֶ ם וִ ְחיִ יתֶ ם‬ ִ ‫)וְ נָתַ ִתּי‬. The transformation to new life is complemented by the promise that Yhwh will let his people come to rest on their land (37:14: ‫)וְ ִהנּ ְַח ִתּי אֶ ְתכֶ ם עַ ל־אַ ְדמַ ְתכֶ ם‬, another powerful image for a state of well-being, brought about by the spirit. A slightly different picture of the spirit as an image of resilience emerges in the promise of the new heart and the new spirit in Ezek 36:26–28. This promise is part of a longer oracle of salvation in 36:23bb–32 that due to the witness of the Greek Papyrus 967 can be classified as one of the latest additions to the book.33 It first takes up the promise of one heart in Ezek 11:19–20* (11:19aa: ‫)וְ נָתַ ִתּי לָ הֶ ם לֵ ב אֶ חָ ד‬,34 but develops the prophecy further with the idea that Yhwh will give both a new heart and a new spirit in the inward parts of his ֲ ‫רוּח‬ ַ ְ‫)וְ נָתַ ִתּי לָ כֶ ם לֵ ב חָ ָדשׁ ו‬. The procedure people (36:26a: ‫ח ָדשָׁ ה אֶ תֵּ ן ְבּ ִק ְר ְבּכֶ ם‬ is described in terms of a transplant, since the new heart shall replace the heart of stone (36:26b; see 11:19b), while the new spirit is Yhwh’s own spirit that he will put into the human interior (36:27: ‫ת־רוּחי אֶ תֵּ ן ְבּ ִק ְר ְבּכֶ ם‬ ִ ֶ‫)וְ א‬. This “an35 thropological overhaul” will enable the people to live life according to the divine will as laid down by the law (36:27). The concluding covenant formula in 36:28 shows that God’s action ultimately aims to establish a new covenant between himself and his people, recalling the promise in Jer 31.36 For the purpose of discussion, I would like to focus on the salvation oracle in Ezek 36 that represents the endpoint of the exegetical process. The prophecy

                                                             33 On the text-historical assessment of Papyrus 967 see Johan Lust, “Ezekiel 36–40 in the Oldest Greek Manuscript,” CBQ 42 (1981): 517–533, and the comprehensive study by Peter Schwagmeier (see FN 30). 34 The promise of the new spirit in 11:19ab most likely represents a later supplementation that aligns the promise with 36:26–28; see Klein, Schriftauslegung, 90–96; previously Christoph Levin, Die Verheißung des neuen Bundes in ihrem theologiegeschichtlichen Zusammenhang ausgelegt, FRLANT 137 (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1985), 207, 211, and Ohnesorge, Jahwe, 47–48. 35 Klein, Schriftauslegung, 84 (“anthropologische Instandsetzung”). 36 It has long been seen that the covenant in Ezek 36:26–28 draws heavily on the promise of the new covenant in Jer 31:31–34; on the innerbiblical exegesis see already George A. Cooke, A Critical and Exegetical Commentary on the Book of Ezekiel, ICC (Edinburgh: T&T Clark, 1936), 391: “Ezekiel’s conception corresponds to Jeremiah’s new covenant, in which Jahveh’s law is bestowed inwardly, and written on the heart.” Further Zimmerli, Ezekiel 2, 248–249; Daniel I. Block, The Book of Ezekiel: Chapters 25–48, NICOT (Grand Rapids: Eerdmans, 1998), 356; Schwagmeier, Untersuchungen, 318–321; Klein, Schriftauslegung, 99–106.

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comprises different dimensions of resilience. First, the Hebrew noun ‫ קֶ ֶרב‬denotes the human core or interior that is made up by two components: the heart (‫לֵ ב‬/‫ )לֵ בָ ב‬as the vital, affective, noetic, and voluntative centre of the human person, and the spirit (‫רוּח‬ ַ ) that epitomises the dynamic power of life.37 The idea of the new heart of flesh can best be understood as a novel interior disposition that is responsive to the divine will, as opposed to the hardened heart that in biblical history denotes the people’s disobedience.38 The gift of the new spirit complements the responsiveness with the “constructive source of energy that underlies and renews life”;39 it is Yhwh’s own spirit that bestows life and agency into his people. The deity thus takes measures to make any further transgressions – and thus a repetition of the trauma – impossible, as the new interior enables the people to maintain the covenant standards. However, the gift of a responsive heart and a new directional will also suggests an inner disposition that can react to or bounce back in response to a crisis. In this respect, the divine creation of the new interior in Ezek 36:26–28 comes close to what Sedmak describes as “epistemic resilience”: a strength that is nurtured by interior resources and a power for the better that builds the capacities to withstand destructive adversities.40 In Sedmak’s work, these powers of interiority are also marked by a strong sense of identity and agency,41 which again resembles the biblical understanding of the inner core that enables the people to maintain the new covenant. There is one decisive difference, though: Sedmak understands resilience as a dynamic process of interaction and as something that can be learned, taught, and appropriated over time.42 Yet the new interiority in Ezekiel’s oracle of salvation is neither nurtured nor developed in a process of empowerment, but it is something that is – rather intrusively – implemented from

                                                             37

See Hans W. Wolff, Anthropologie des Alten Testaments (München: Kaiser, 41984), 69–95; further Heinz-Josef Fabry, “‫לֵ ב‬,” Theological Dictionary of the Old Testament 7: 399–437; and Sven Tengström, “‫רוּח‬ ַ ,” Theological Dictionary of the Old Testament 13: 365–396. 38 See Fabry, “‫לֵ ב‬,” 7: 427–429. 39 Ruth Poser, “No Words: The Book of Ezekiel as Trauma Literature and a Response to Exile,” in The Bible through the Lens of Trauma, ed. Elizabeth Boase and Christopher G. Frechette (Atlanta: SBL, 2016), 27–48, 41. See also Zimmerli, Ezekiel 2, 249, who speaks about “a power which gives a man strength to do new things”. 40 See the definition in Sedmak, Innerlichkeit, 2: “Epistemische Resilienz ist Widerstandskraft, die sich aus dem Inneren speist; sie ist eine ‘Kraft zum Guten’, die sich inneren Ressourcen des Menschen verdankt und sich gegen zerstörerische Widrigkeiten stemmt.“ 41 See Sedmak, Innerlichkeit, 33–41. 42 Sedmak, Innerlichkeit, 21–22.

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the outside. The prophecy describes a form of resilience that is completely dependent on Yhwh’s initiative and envisages a new creation of the inner human core.

III. Ezekiel: A Resilience Narrative? The initial question was if the book of Ezekiel comprises elements of a resilience narrative and the first answer is positive. There are several key terms such ַ , ‫לֵ ב‬, ‫בֶּ טַ ח‬, ‫ ְלעוֹלָ ם‬, ‫רפה‬, ‫ ְבּ ָרכָ ה‬, ‫ ְבּ ִרית‬, and ‫ שָׁ לוֹם‬that lead to as ‫חיח‬, ‫קֶ ֶרב‬, ‫רוּח‬ images of resilience. As part of the prophetic narrative, these images foster both identity and agency, which have been recognized as important building blocks of resilience.43 Moreover, I have shown that the understanding of epistemic resilience in the work of Clemens Sedmak reveals new meanings for the interpretation of the prophecies in Ezek 36:26–28. It is one discernment of redaction historical research that any later addition in a text or a text corpus should be considered in conjunction with the previous redactional layer(s). It thus seems promising to apply Sedmak’s concept of epistemic resilience as a heuristic framework to all the examples, asking if this allows us to gather a systematic idea of resilience in Ezekiel’s restoration prophecies. Central to Sedmak’s approach is the identification of three epistemic activities that shape interiority: thinking, remembering, and believing.44 The first activity, thinking, describes the ability to make meaning by interrelating ideas with each other; it fosters resilience, as humans are not restricted by present realities, but they can develop a utopia as an alternative to the present that “tames” adversities and fosters agency.45 First, the dimension of meaning making resonates with the overall composition of the prophetic book. The restoration prophecies in Ezek 34–48 are written as counter images to the judgement prophecies in chaps. 1–24 and can thus be understood as an attempt to make meaning of the catastrophe in 587 BCE by inscribing the events into Israel’s history with their God. Second, there are several images of restoration that

                                                             43

See Sedmak, Innerlichkeit, 15–42, further Christopher G. Frechette and Elizabeth Boase, “Defining ‘Trauma’ as a Useful Lens for Biblical Interpretation,” in The Bible through the Lens of Trauma, ed. Elizabeth Boase and Christopher G. Frechette (Atlanta: SBL, 2016), 1–23, 15; Robert J. Schreiter, “Reading Biblical Texts through the Lens of Resilience,” in The Bible through the Lens of Trauma, ed. Elizabeth Boase and Christopher G. Frechette (Atlanta: SBL, 2016), 193–207, 195–197, and Sautermeister, “Resilienz,” 218– 219. 44 Sedmak, Innerlichkeit, 226–292. 45 Sedmak, Innerlichkeit, 230–240.

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show characteristics of a utopia. As mentioned before, the vision of the new temple fosters resilience by imagining an alternate Jerusalem that contrasts with the diminished state of the city in exilic and post-exilic times. Similarly, the vision of the revivification of the bones counters the reality of life in exile and diaspora, and offers a perspective by promising empowerment and return to the homeland. The literary genre of a vision facilitates the appropriation of the resilience potential, as the readership can experience the alternate future through the eyes of the prophet, who functions as an identification figure. However, utopian features also appear in the promise of the covenant of šālôm (Ezek 34:25–20; 37:25–28) that is characterised by the complete absence of any threat or hardship, or in the miraculous “healing” of the Dead Sea through the life-restoring temple stream in 47:1–12. The second of Sedmak’s epistemic activities, remembering, can be defined as the ability to integrate new experiences and events in relation to previous points of reference; knowledge of the past offers orientation patterns to interpret the present and deal with adversities.46 When it comes to remembering the past, the first association is not with the restoration in Ezek 34–48, but with the historical reviews in chaps. 16, 20, and 23 that represent powerful examples of a collective memory.47 Yet it has long been seen that the salvation prophecies in chaps. 34–48 are characteristic for their drawing on previous prophetic tradition within and outside the book.48 As I have demonstrated, the vision about the return of Yhwh’s glory into the new temple in 43:1–7a(9) alludes to the foundational events in 1 Kgs 8 and Exod 40, the healing temple stream in Ezek 47:1–12 develops a well-known prophetic motif, and the covenant of šālôm in 34:25–20 and 37:25–28 takes up the covenant blessings in Lev 26. Finally, the promise of a new heart and a new spirit in Ezek 36:26–28 is shaped on the new covenant in Jer 31 and develops the earlier prophecy in Ezek 11:19– 20. Furthermore, salvation in Ezekiel is contrasted distinctly with the past, using the previous history as a negative point of reference throughout (see ‫ל ֹא‬ ‫עוֹד‬, 34:28, 29; 43:7).49 This demonstrates that the future restoration does not negate the previous history between Yhwh and his people, but the new salvation develops the existing literary tradition and thus affirms the identity of the people, who have a previous history with their God.

                                                             46

Sedmak, Innerlichkeit, 257–271. On the analysis of these historical reviews see Thomas Krüger, Geschichtskonzepte im Ezechielbuch, BZAW 180 (Berlin/New York: de Gruyter, 1986). 48 On this literary phenomenon see Klein, Schriftauslegung, and the review of scholarship ibid., 17–23. 49 See further 34:10, 22; 36:12, 14, 15, 30; 37:22, 23; 39:7, 28, 29; 45:8. 47

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Thirdly, Sedmak introduces the activity of believing, which fosters resilience through life in a “2nd person perspective” that bestows a divine counterpart.50 This definition resonates in several respects with restoration in the book of Ezekiel, which is first of all delivered in form of a prophetic message. In this specific communication situation, the audience find themselves continuously addressed, which means that they are required to position themselves and engage with the divine word – it is impossible for them not to communicate. Next, resilience in the book of Ezekiel is a relational concept, as the people are always addressed as the people of Yhwh. Thus, the loss of the temple in Jerusalem represents the central trauma, as it entails the loss of the cultically mediated access to their God, while the return of Yhwh’s glory to the new temple is the central image of restoration that reestablishes the central relationship with the divine. Yhwh, however, is not a counterpart that engages in discussion on equal terms, but he figures as a source of both promises and expectations from the outside. As a consequence, both the identity and the agency of the people is “heterocentric”51 in the respect that the prophetic building blocks of resilience are owed to and constituted by the divine counterpart alone. This is made crystal clear in the promise of the new heart and the new spirit in Ezek 36:26–28 that in effect describes the creation of a new personal core; being one of the latest additions, it can be ascribed a programmatic function for the idea of restoration in the book. From a modern perspective on trauma and resilience, it might be more desirable to engage with the human in their present condition rather than creating a new person by exchanging their inner core. Yet the prophetic oracle attests to a worldview, in which the human life and the world the people find themselves in are completely dependent on the divine – life outside the relationship with Yhwh is unimaginable.52 Resilience in the book of Ezekiel is thus first of all a gift: the capacities to engage with adversities and bounce back, develop perspectives and hopes, are not available for humankind to achieve or build up by their own efforts. Rather, identity and agency are bestowed by the God of Israel, who addresses his people throughout and lets them experience the new salvation through his chosen prophet.

                                                             50

See Sedmak, Innerlichkeit, 275–281 (“die zweite Person Perspektive“), and further ibid., 271–292. 51 On the term see Sedmak, Innerlichkeit, 284, who, however, uses it with reference to identity only. 52 This experience comes close to what Friedrich Schleiermacher has described as “the feeling of absolute dependence” (The Christian Faith. Third Edition. With an Introduction by Paul T. Nimmo [London: Bloomsbury T&T Clark, 2016], 17), which he characterises further as “the consciousness of being absolutely dependent, or, which is the same thing, of being in relation with God” (ibid., 17).

Resilience and Restoration

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These reflections demonstrate clearly that the restoration prophecies in the book of Ezekiel qualify as a resilience narrative. Yet the historical-critical perspective requires some further thoughts about the historical situation, for which these texts were written. In her seminal contribution, Poser argues that the basic composition of the book (“in seiner Grundanlage”) should be dated close to the narrated time and thus suggests a dating around 570–540 BCE.53 The idea of a basic composition is, however, not explored any further, but Poser takes the traumatological analysis of the book as evidence for the dating and indirectly as proof for its general literary unity.54 Proceeding from a redaction historical model of the book, I have chosen a different starting point and consider the images of resilience in the light of a longer literary development. In this perspective, the cultivation of resilience emerges as a productive literary discourse, in which the ancient authors have constantly supplemented, reworked and developed images that foster identity and agency.55 If we assume, however, that most of the restoration prophecies originated much later than their narrative setting in the sixth century BCE, this raises the question of an adequate understanding of trauma and resilience in the prophetic book. Not only are the actual writings in some parts centuries removed from the circumstances that they describe, but there is also some agreement that the historic events were less dramatic and wide-reaching than how they are reflected in the writings of the Hebrew Bible.56 It thus seems more appropriate to assume a “hermeneutics of trauma”57 that does not deny the traumatic origins of the prophetic book in the sixth century, but acknowledges that in its literary form, we deal with a constructed or literary trauma. The significance of the Babylonian invasion and exile lies in the fact that these events turned into literary ciphers that have proven identity-establishing for biblical Judaism in the centuries to follow.58

                                                             53

See Poser, Ezechielbuch, 669–670, quotation ibid., 670. For example, Poser considers gaps and repetitions to be specific characteristics of trauma literature (see Poser, “No Words,” 39–40), while traditionally, these features have been taken as evidence for literary growth. 55 This fits with Sedmak’s observation that resilience is not a fixed feature, but connected with the ability to develop (see Sedmak, Innerlichkeit, 20: “Entwicklungsfähigkeit”). 56 See the contributions in Anne Katrine de Hemmer Gudme and Ingrid Hjelm (ed.), Myths of Exile: History and Metaphor in the Hebrew Bible, Copenhagen International Seminar (London/New York: Routledge, 2015). 57 On this idea see Frechette and Boase, “Defining ‘Trauma’”, 14, who argue: “biblical scholars may apply a hermeneutics of trauma also to texts that contain themes or other features related to trauma but for which an actual historical trauma is uncertain. (…) interpreters may use insights from contemporary trauma studies to interpret characters in relation to situations of trauma as constructed in the world of the biblical text” (emphasis added). 58 See Klein, Schriftauslegung, 403–406. 54

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The historical events remained significant, as they could be actualised in the form of literary concepts that related to the experiences of being cut off from the Second Temple cult in Jerusalem and being under constant foreign dominion in Persian and Hellenistic times. In the same way, the restoration prophecies in Ezekiel foster resilience by offering a literary identity for the assumed audience in post-exilic times; the readership could identify with the members of the first gola, who survived the catastrophe and with whom Yhwh wants to make a fresh start.59 Coming back to Sedmak, the prophecies offer an alternative to life in the worldwide diaspora and thus open up perspectives of hope and orientation. The phenomenon might best be described as a literary performance of resilience that in the images of the exilic prophet fosters life in the diaspora by promising identity and agency. These building blocks of resilience could be appropriated by the ancient audience of the book and still remain relevant for present readers who feel themselves addressed by the prophetic oracles. One of the latest supplementations in the book, the promise of the new covenant in Ezek 36:26–28 emphasises in an exemplary way that resilience in Ezekiel is a relational concept. Resilience is available for the people only as a gift from their God Yhwh, who in the (redaction-historical) end means well for them.

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                                                             59

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Resilience and Restoration

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Psalmen

Jenseits von Sünde und Schuld Zur Bewältigung des unerklärlichen Leidens in den Psalmen 6, 13 und 22 Friedhelm Hartenstein Die folgenden Überlegungen dienen vor allem dem Zweck, aus Sicht der alttestamentlichen Exegese punktuell zu prüfen, inwieweit der inzwischen auch in öffentlichen Diskursen etablierte unscharfe Begriff der „Resilienz“ geeignet sein kann, Phänomene der biblischen Texte zu beschreiben und besser zu verstehen. Es soll dabei zugleich exemplarisch betrachtet werden, welcher interdisziplinäre Gewinn aus der Anwendung der Kategorie der „Resilienz“ innerhalb der theologischen Fächer, aber auch über die Theologie hinaus zu erwarten ist. Dazu möchte ich mich zunächst in ein Gespräch vor allem mit der Praktischen Theologie und der hermeneutischen Philosophie begeben, um Leitlinien für den zweiten, zwischen Hermeneutik und Exegese vermittelnden Teil zu gewinnen. Der dritte Teil wird dann konkret am Beispiel einiger Psalmen und ihrer Funktion im Psalter aufzeigen, wie sich dort feststellbare Strategien der Bewältigung von unverständlichem Leid als Formen existentieller und gerade so auch intellektueller „Resilienz“ verstehen lassen.

I. „Resilienz“: Interdisziplinäre hermeneutische Vorklärungen 1. Anregungen aus der Praktischen Theologie: Der Resilienzbegriff und die unaufhebbare Spannung von Trauma und Resilienz Für die Frage nach der Anwendbarkeit des Begriffs der „Resilienz“ auf Texte des Alten Testaments muss zunächst geklärt werden, wie der vieldeutige „Karriere“-Begriff dann verstanden werden soll und worin der von ihm zu erwartende Erkenntnisgewinn liegen könnte: Für die interdisziplinäre Verständigung zwischen Kultur- und Naturwissenschaften ebenso wie für diejenige der theologischen Disziplinen untereinander und in der Exegese selbst. Letztere würde das Konzept Resilienz zunächst nicht als eine naheliegende Interpretationskategorie wählen, jedenfalls nicht für ihre primär historisch deskriptiven Zugangsweisen. Der Begriff könnte sich aber dann als fruchtbar erweisen, wenn

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Friedhelm Hartenstein

sich zeigen ließe, dass es in den biblischen Texten Ausdrucksformen/Symbolbildungen gibt, die den mit dem „Resilienz“-Begriff bezeichneten und erschlossenen Phänomenen nahestehen und diese rückwirkend auch aus ungewohntem Blickwinkel beleuchten können. Wenn es bei der vor allem als psychische Widerstandsfähigkeit erfassten „Resilienz“ mit Rebecca Böhme allgemeiner um eine systemische Kraft zur Kompensation etwa eines Unfalls, einer Gewalttat oder einer Naturkatastrophe geht, kurz: um die „Fähigkeit eines Systems [...], nach einer Störung wieder in seine Ausgangsposition zurückzukehren und dabei die gleiche Funktion, Struktur oder Identität zu behalten“1, so erscheint eine solche formale Definition vermutlich (zu) sehr allein von der „Lösung“ eines Problems oder der Behebung einer Krise her gedacht. Völlig zu Recht hat daher die Marburger praktische Theologin Maike Schult vergleichbare Definitionen aus dem Bereich der Psychologie und Seelsorge kritisiert und mit dem Ziel weiterer Klärung zwei Punkte benannt, die ich im Folgenden hermeneutisch aufnehmen und aus exegetischer Sicht vertiefen möchte:2 – Zum einen verweist sie darauf, dass die Verwendung des Resilienz-Begriffs vielfältige Metaphorisierungen aufweist, die es – etwa mit Tom Levold3 – ideologiekritisch zu analysieren gilt (es geht bei der teils konventionell gewordenen Sprache der Resilienz oft um allenfalls halb bewusste normative Codierungen z.B. optimistischer Wachstumsbilder wie „posttraumatische Reifung“ etc.). – Zum anderen betont Schult im Blick auf Probleme der christlichen Seelsorge, dass man den zunächst nicht aus sich selbst heraus evidenten Zusammenhang der aus Klinik und Therapie stammenden Konzepte Resilienz und Trauma vor allem als ein spannungsvolles Oppositionspaar und so als Grundanfrage an eine theologische wie philosophische Hermeneutik weiterdenken sollte. Zugleich gilt es aber, beides auch als komplementär d.h. vermutlich sachlich naheliegend – als unauflösbare Spannung – aufeinander bezogen wahrzunehmen. Das zwischen Trauma und Resilienz bestehende Spannungsverhältnis lässt sich nämlich niemals bruchlos durch affirmierende Denk- oder Wunsch-Figuren – auch nicht durch theologisch zentrale Deutungsmuster wie „Versöhnung“ – „aufheben“, „lösen“ oder „heilen“. Es gibt hier keine Aufhebung im

                                                             1 BÖHME, REBECCA, Resilienz. Die psychische Widerstandskraft (C.H. Beck Wissen), München: C.H. Beck 2019, 8. 2 Vgl. SCHULT, MAIKE, „Unkraut vergeht nicht.“ Resilienz und posttraumatische Reifung, in: Cornelia Richter (Hg.), Ohnmacht und Angst aushalten. Kritik der Resilienz in Theologie und Philosophie (Religion und Gesundheit 1), Stuttgart: Kohlhammer 2017, 183– 196. 3 LEVOLD, TOM, Metaphern der Resilienz, in: Rosmarie Welter-Enderlin/Bruno Hildenbrand (Hg.), Resilienz – Gedeihen trotz widriger Umstände, Heidelberg: Carl Auer 2006, 230–254.

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Sinne eines auf Ausgleich zielenden dialektischen Denkens. Dass dies manchen wünschenswert erscheint, weil man verstörende Erfahrungen von Ordnungs- und Symbolbrüchen überwinden möchte, ist nicht nur ein individualpsychologisches Phänomen. Dieser tiefe Wunsch verweist auf grundlegende Prozesse kultureller Sinnbildung, etwa auf die vielfältigen „Symbolisierungen“ des Bösen bzw. Nicht-Sinnhaften.4 Kulturelle Artikulationen dessen, was sich aufgrund seiner Negativität jeder kohärenten Repräsentation verweigert, stellen – z.B. in der „,tragischen Trias‘ von Leid, Schuld und Tod“5 – für manche Theoretiker sogar den Quellpunkt jeder Kulturarbeit als Absicherung der Verlässlichkeit der Welt im Angesicht ihrer Bedrohung dar. Resilienz und Trauma erweisen sich aber wie angedeutet für Schult nicht nur als antagonistische, sondern auch als komplementäre lebens- und kulturwissenschaftlich relevante Deutungsmuster, die alltägliche Orientierungskraft entfalten und damit auf einen weiteren – auch für die Einspielung biblischer Texte – wichtigen Punkt verweisen: Die notwendige Überkreuzung von lebensweltlicher Praxis und theoretischen Umgangsweisen bei solchen Phänomenen, die niemals restlos erklärt oder bewältigt werden, vor allem dem Trauma: „Eine Grunderfahrung, die sich nun allerdings nicht einfach regulieren, wegoptimieren oder aus der Welt reden lässt.“6 2. Anregungen aus der Philosophie: „Resilienz“ als hermeneutische Praxis des sinnvollen Umgangs mit dem Nicht-Sinn Im Licht einer philosophischen Hermeneutik lässt sich der unaufhebbare Gegensatz zwischen Trauma und Resilienz m.E. am deutlichsten in die Debatte über den praktischen wie theoretischen Umgang mit Nicht-Sinnhaftem einzeichnen. Die Polarität von Resilienz und Trauma erscheint als Konkretion genau dieses Problems, dem der Philosoph Emil Angehrn unter dem Titel „Sinn und Nicht-Sinn“ eine umfangreiche Monographie gewidmet hat.7 Er nimmt dabei mehrfach auf den Phänomenbereich des Traumas Bezug, um das Extrem eines Erlebens zu beschreiben, das weder individuell noch kollektiv assimilierbar ist (Lévinas: l’inassumable8): Die Folgen traumatischer Erfahrungen sind

                                                             4 Vgl. RICŒUR, PAUL, Symbolik des Bösen. Phänomenologie der Schuld II, Freiburg i.Br./München: Karl Alber 1971 (frz. 1960). 5 So mit Blick auf V. E. Frankl SCHULT, MAIKE, Sinnfragen in der Seelsorge: Viktor E. Frankl als Impulsgeber in der Poimenik, in: Dietrich Korsch (Hg.), Die heilende Kraft des Sinns. Viktor E. Frankl in philosophischer, theologischer und therapeutischer Betrachtung (Religion und Gesundheit 2), Stuttgart: Kohlhammer 2018, 83–101. 6 SCHULT, „Unkraut vergeht nicht“, 187 (zum Trauma). 7 ANGEHRN, EMIL, Sinn und Nicht-Sinn. Das Verstehen des Menschen (PhU 25), Tübingen: Mohr Siebeck 2010. 8 Dazu ANGEHRN, Sinn und Nicht-Sinn, 316: „Mit besondere Emphase hat E. Lévinas diesen Gedanken ausformuliert. Das Leiden, in gesteigerter Form das sinnlose Leiden, ist

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oft der Zusammenbruch von Kohärenz, die Fragmentierung der Identität und der Verlust von Sprachfähigkeit.9 Leiden und Sinnentzug sind daher im Trauma unlösbar miteinander verbunden.10 Für die konkrete hermeneutische Auseinandersetzung mit dem Negativen, die man im Licht der Fragestellung dieses Beitrags vielleicht als eine Form „denkender Resilienz“ ansehen kann (Angehrn erwähnt den Resilienz-Begriff bezeichnenderweise nicht), scheint es mir entscheidend, dass es keinerlei Idealwege, keine von allen zu befolgenden Verhaltens- oder Auseinandersetzungsformen geben kann. Vielmehr liegt es im Wesen des „Traumatischen“ zunächst eine Singularität zu erschaffen, eine gewissermaßen außersoziale (daher sinn-lose) und „ent-weltlichte“ Situation (weil auch die Lebenswelt mit ihren ständigen Sinnanmutungen heruntergedimmt wird). Nicht zufällig gehen viele der heute diskutierten therapeutischen wie denkerischen Modelle zum „Weiterleben“ aus dem Zivilisationsbruch der Konzentrationslager hervor. An zwei Beispielen jüdischer Überlebender möchte ich kurz verdeutlichen, wie vielfältig das unbedingt als solches zu achtende individuelle Reagieren sein kann – gemeinsam ist beiden Zeugnissen die Verbindung mit dem Wort „Sinn“: a) In einem erschütternden Text über den im Lager erlebten Jom Kippur, bei dem die traditionellen Schuldbekenntnisse gesprochen wurden, schreibt Eli Wiesel: „Seit Gott über seine Schöpfung das Urteil sprach, geschah es sicher zum ersten Mal, daß sich die Opfer auf die Brust schlugen und sich der Verbrechen ihrer Henker beschuldigten. Warum haben wir Sünden und Vergehen auf uns genommen, die zu begehen niemand unter uns je den Drang noch die Möglichkeit gehabt hätte? Fühlten wir uns trotz allem schuldig? Das war einfacher. Besser zu glauben, daß unsere Strafen einen Sinn, wir sie also verdient

                                                             die absolute Gegeninstanz zum Denken und Verstehen: es ist das schlechthin nicht Annehmbare und nicht Assimilierbare (,l’inassumable‘), dasjenige, was sich der Bewusstseinssynthesis nicht nur entzieht, sondern direkt widersetzt – die ‚Bestreitung und Verweigerung des Sinns.‘“ (nach LÉVINAS, EMMANUEL Das sinnlose Leiden, in: Ders., Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen, München: Hanser 1995, 117–131, 117). 9 Vgl. als altägyptisches ikonographisches Zeugnis solcher Verstörung im Angesicht der Zerstörung ein Relief am Luxortempel, das wohl in den Kontext der Schlacht von Kadesch gehört (1274 v.Chr.) und – entgegen jeder üblicher Schlachtrhetorik, wie sie sonst in Bild und Inschrift transportiert wurde – folgendes zeigt: „Dargestellt ist eine total verwüstete Landschaft: rechts auf einem Hügel eine zerstörte Stadt mit offenen und umgestürzten Toren, zerfallenden Ziegelmauern; links davon breitet sich eine völlig tote Gegend aus, mit abgehauenen und entwurzelten Bäumen und Sträuchern. Nirgends regt sich Leben, selbst tote Feinde erblickt man nicht, wie sie sonst in wirrem Durcheinander zu ägyptischen Kampfszenen gehören. Trostlose Öde herrscht in diesem Bild [...].“ Keine Worte/Schriftzeichen, die ansonsten immer zu Schlachtenreliefs gehören, erläutern die ganz atypische Szenerie einer traumatischen Landschaft; vgl. HORNUNG, ERIK, Geist der Pharaonenzeit, München: dtv 1992, 27–30 (mit Abb. 3), Zitat ebd. 10 ANGEHRN, Sinn und Nicht-Sinn, 317.

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hatten. An den grausamen, aber gerechten Gott zu glauben, war besser, als an nichts zu glauben.“11

Es kehrt sich hier die entlastende Symbolik des Jom Kippur auf entsetzliche Weise um. Und doch – so der Text – habe es für die „wir“, die im Lager ihre Schuld bekannten, keinen anderen „Sinn“-Halt gegeben: Eine unaufhebbar situativ gebundene gemeinsame Handlung in extremis, die in der Annäherung eines vorsichtigen Verstehens zumindest von außen fassbar wird: Dort, wo eigentlich die größte Entlastung durch eine rituelle Beseitigung von Sünde und Schuld erfahren werden soll12, kommt es zur höchsten Belastung der menschlichen Akteure, die freilich allein auf diese Weise überhaupt eine gewisse Aktionsmacht (wenigstens der Deutung) zurückgewinnen. Dabei entsteht im Raum jenes spezifischen Sinns von Tradition und Ritual zusätzlich zur (psycho-)somatischen auch eine symbolische Verwundung, die für die direkt Betroffenen vermutlich nicht mehr vergehen kann und wird. b) Der Wiener Arzt Viktor E. Frankl, der für die neue Debatte um Resilienz in der christlichen Seelsorge eine wichtige Rolle spielt13, entwickelte sehr bewusst ein Konzept der Verallgemeinerung der furchtbaren Erlebnisse im Lager. Mit dem Begriff der „Trotzmacht des Geistes“ unterstreicht er seine Annahme, Menschen seien „fähig, sich über die Situation zu stellen, diese für sich um- und neu zu deuten und in einem schöpferischen Akt der Sinngebung auch in einer Situation sinnlosen Leidens das Gefühl des Ausgeliefertseins zu überwinden“.14 Illustriert wird dies von Frankl mit einem Mann im Lager, der sein Leiden als ein „Opfer“ für einen geliebten Menschen verstand, das jenem dasselbe Leiden ersparen sollte: „Und ich erzählte ihnen von jenem Kameraden, der zu Beginn seines Lageraufenthalts dem Himmel einen Pakt angetragen hatte: sein Leiden und sein Sterben möge dem von ihm so

                                                             11 WIESEL, ELIE, Gesang der Toten. Erinnerungen und Zeugnis, Freiburg i.Br. u.a.: Herder 1987 (frz. 1967), 41. 12 Siehe zu Lev 16 und der Bedeutung des Ritus am Jom Kippur im alten Israel JANOWSKI, BERND, Sühne als Heilsgeschehen. Studien zur Sühnetheologie der Priesterschrift und zur Wurzel KPR im Alten Orient und im Alten Testament (WMANT 55), Neukirchen: Neukirchener 22000, 265–276; JÜRGENS, BENEDIKT, Heiligkeit und Versöhnung. Levitikus 16 in seinem literarischen Kontext (HBS 28), Freiburg i.Br. u.a.: Herder 2001; HIEKE, THOMAS, Levitikus 16–27 (HThK), Freiburg i.Br. u.a.: Herder 2014, 557–611. 13 Vgl. den Sammelband von KORSCH, DIETRICH (Hg.), Die heilende Kraft des Sinns. Viktor E. Frankl in philosophischer, theologischer und therapeutischer Betrachtung (Religion und Gesundheit 2), Stuttgart: Kohlhammer 2018. 14 SCHULT, Sinnfragen in der Seelsorge, 94.

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geliebten Menschen einen qualvollen Tod ersparen. Für diesen Mann war Leiden und Sterben nicht sinnlos, sondern – als Opfer – voll tiefsten Sinnes geworden. Ohne Sinn wollte er nicht leiden und sterben; ohne Sinn aber wollten wir es alle nicht!“15

An beiden Beispielen lässt sich beobachten, dass die Kategorie des „Sinns“, der hier von Individuen in unvertretbarer Weise für ein Verhalten gegenüber dem absolut Sinn-Widrigen gebraucht wird, durchlässig werden kann hin auf eine allgemeinere – eben darin doch wieder in einen gemeinsamen „Raum des Sinns“ eingefügten – Symbolbestand: Die Versöhnung am Jom Kippur, das stellvertretende Opfer. Auch die von Frankl betonte ethische „Aufgabe“, die jeder Tag und jede Situation auf ihre Weise stellen, ist als solche gerade nachvollziehbar und der Kommunikation im Raum des Sinns zugänglich – freilich nur unter voller Akzeptanz der darin bleibend manifesten Bruchlinien. Emil Angehrn plädiert daher – auf philosophisch-hermeneutischer Ebene gut mit Schult vergleichbar – für die Akzeptanz der Grenzen des Verstehens, die spätestens beim Widerlager des „physischen Leids“, der Vulnerabilität jedes Menschen als Leib, ein Faktum sind.16 Vom Verbleiben in der Stummheit über den Protest bis hin zu Formen denkerischer Einholung, etwa als Rationalisierung im Sinne von Sünde und Schuld oder als affirmierende spekulative „Versöhnung“ von Sinn und Nicht-Sinn, reichen die Möglichkeiten des Umgangs mit dem Sinn-Widrigen. Angehrn präferiert daher einsichtig eine denkende Praxis der Integration im Bewusstsein des dauerhaft Nicht-Integrierbaren. Dass die Möglichkeiten des Umgangs mit dem, was sich jeder Repräsentation verweigert, jenseits der konkreten historisch und kulturell spezifischen Semantiken vermutlich nicht beliebig sind, erweist sich an den vielen „Berührungsflächen“ zwischen ihnen. So sind etwa die schon in der Antike entwickelten Deutungsmuster der Tragik, der Klage und Anklage oder der kosmogonischen Mythen die das „unde malum“ ätiologisch erzählen, unabhängig von konkreten genealogischen Zusammenhängen immer wieder „erfunden“ worden. Als besonders elementare Form der Rückkehr zur eigenen Stimme aus der Stummheit des Entsetzens, die niemals bruchlos möglich ist, erweist sich individuell wie kollektiv die Erzählung. Sie ist freilich kein Allheilmittel und es ist ja gerade ein Charakteristikum der Erfahrung des Traumatischen, dass die Fähigkeit zur narrativen Sinnbildung nachhaltig gestört, wenn nicht zerstört sein kann. Dennoch sind es mimetische Muster des Erzählens die individuell

                                                             15 FRANKL, ... trotzdem Ja zum Leben sagen. Und ausgewählte Briefe 1945–1949. Gesammelte Werke 1, Wien u.a.: Böhlau 2005, 109 (zitiert nach SCHULT, Sinnfragen in der Seelsorge, 94). 16 Vgl. ADORNO, THEODOR W., Negative Dialektik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1966, 201: „Das leibhafte Moment meldet der Erkenntnis an, daß Leiden nicht sein, daß es anders werden solle. ,Weh spricht: Vergeh!‘“ Siehe dazu ANGEHRN, Sinn und Nicht-Sinn, 319.

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wie kulturell elementare Ausdrucksformen bereitstellen, welche dem Leiden das ihm zustehende Gehör verschaffen können. Solche Erzählungen, so fragmentarisch und inkohärent sie bleiben mögen, genügen dabei einfach als solche bereits den Mindestanforderungen einer Sinnbildung gegenüber dem Verbleiben in der Sprachlosigkeit, der oft soziale Teilnahmslosigkeit korrespondiert. Jedes Leiden hat – so Adorno – „ein Recht auf Ausdruck“17, vom animalischen Schrei bis hin zur denkerisch ausbalancierten Theodizee. Auch die gesellschaftliche Erinnerungskultur, die das Gedächtnis der Opfer erzählend präsent hält, zählt dazu: „Leidenserinnerung und anamnetische Solidarität sind Weisen, Sinnloses in den Horizont sinnhafter Verständigung einzufügen und es weder nur abzuwehren oder zu rationalisieren noch in seiner Bild- und Sprachlosigkeit stehen zu lassen.“18

Hier liegt die Anknüpfung an biblische Text- und Sprachmuster jedenfalls für die Theologie nahe. Allgemeiner ist auf kulturelle Medien der Re-Orientierung zu verweisen. Richard Rorty nennt dafür z.B. die massive ethische Wirkung des Romans „Onkel Toms Hütte“ für die Bewusstseinsbildung zur Sklavenbefreiung in den USA; vermutlich hängt sie gerade mit dem fiktionalen Charakter zusammen, der die faktische Wahrheit poetisch und paradigmatisch erträglich gestaltete.19 Dennoch sollte man keine zu großen Erwartungen an eine tatsächlich dauerhafte „Integrationskraft“ kultureller Bemühungen in dieser Hinsicht hegen. Es geht daher wie beim individuellen Überleben und Weiterleben vor allem um die niemals nachlassende Anstrengung, am Verstehenwollen auch dann noch festzuhalten, wenn das Verstehen selbst brüchig werden muss oder völlig aussetzt. Kulturelle Arbeit an diesen Grenzen – auch der zur Barbarei – ist ebenso lebens- bzw. zivilisationsnotwendig wie leider auch immer wieder zum Scheitern verurteilt: „Dabei gehört es zur Herausforderung kultureller Arbeit, auch das Nichtverstandene, ja, das Nichtassimilierbare, Nichtrepräsentierbare und Nichterzählbare nicht einfach auszuschließen, sondern es als Anderes im Horizont sinnhafter Verständigung zu erinnern und zu reflektieren. Nicht Sinnloses in Sinn zu verklären, ist die Aufgabe und wahre Leistung der Interpretation im Umgang mit Bösem und Leiden. Vielmehr geht es darum, es als Negatives – als dasjenige, was wir nicht wollen und nicht begreifen können – im Horizont unseres

                                                             17 ADORNO, Negative Dialektik, 27: „Das Bedürfnis Leiden beredt werden zu lassen, ist Bedingung aller Wahrheit. Denn Leiden ist Objektivität, die auf dem Subjekt lastet; was es als sein Subjektivstes erfährt, sein Ausdruck, ist objektiv vermittelt.“ Vgl. a.a.O., 353: „das perennierende Leiden hat so viel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen; darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz ließe kein Gedicht mehr sich schreiben.“ Vgl. ANGEHRN, Sinn und Nicht-Sinn, 325. 18 ANGEHRN, Sinn und Nicht-Sinn, 326. 19 RORTY, RICHARD, Kontingenz, Ironie und Solidarität (stw 981), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992 (engl. 1989), 229–304 (zur Orientierungsleistung durch Literatur), 229: „Solche Bücher helfen uns zu sehen, wie soziale Verhaltensweisen, die wir für selbstverständlich hielten, uns grausam gemacht haben.“ (vgl. ANGEHRN, Sinn und Nicht-Sinn, 326).

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Verstehens zu bedenken, um in solcher Weise ein sinnvolles Verhältnis selbst zum Sinnlosen und Sinnwidrigen herstellen zu können.“20

Auch für die Frage einer „gelingenden“ Förderung der Wachstumsbedingungen für Prozesse sog. „posttraumatischer Reifung“ bei konkreten Einzelnen betont Maike Schulz kritisch deren letztendlichen Ausnahmecharakter und Unverfügbarkeit:21 „Posttraumatische Reife ist keine Abwehrgröße im Sinne eines ,Abpralls‘ und kein ,Zurückspringen‘ in einen ,Normalzustand‘. Die Reifung bleibt an die Erfahrung der Krise gekoppelt und das Trauma mit Verlusten verbunden. Was immer nach einer Traumatisierung reifen, heilen, und (zu)wachsen mag – die Narbe bleibt.“22

Für die Arbeit der individuellen wie kollektiven Selbstdeutung unter Anerkennung des sich dauerhaft Verweigernden, ist schließlich auch ein Ausgriff auf „Transzendentes“ naheliegend, wenn auch nicht notwendig. Gemeint sind dabei mittlere Horizonte von Symboliken einer Ordnung oder ein unthematisch umgreifender Welthorizont, der als „Gott“ interpretiert werden kann, aber nicht muss. Solche Ausgriffe auf Transzendenz, können von den Betroffenen und ihrer Sinngemeinschaft oft nur „verwundet“ und daher fundamental als fraglich beibehalten werden. Mit Adorno speist sich eine solche Transzendenz allein aus der Immanenz des Leidens: „Kein Licht ist auf den Menschen und Dingen, in dem nicht Transzendenz widerschiene. Untilgbar am Widerstand gegen die fungible Welt des Tauschs ist der des Auges, das nicht will, daß die Farben der Welt zunichte werden. Im Schein verspricht sich das Scheinlose.“23

Ähnlich beschließt Volker Gerhardt sein Buch „Der Sinn des Sinns“: Er betont, unter Bezug auf Hiobs Klage, dass die Erde sein Blut nicht bedecken möge (Hi 16,18) und seine Worte für immer in Stein gegraben überdauern sollen (Hi 19,23), den in der letzten Verzweiflung des Leidens erfolgenden Ausgriff des Menschen auf ein Ganzes (des Sinns) in Form eines Rufs nach Erhörung: „Eine der ältesten Klagen der Menschheit und die letzten Worte von Opfern einer der Gegenwart noch unheimlich nahen Politik machen bewusst, dass sich selbst noch in einer als ungeheuerlich anzusehenden Lage auf ein Ganzes hoffen lässt. Auch wenn es in seiner ge-

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ANGEHRN, Sinn und Nicht-Sinn, 333. Mit FOOKEN: „erwartungswidrig“ (Dies., Resilienz und posttraumatische Reifung, in: Andreas Maercker, Posttraumatische Belastungsstörungen, Berlin u.a.: Springer 42013, 7193, 72), zitiert nach SCHULT, „Unkraut vergeht nicht“, 195. 22 SCHULT, „Unkraut vergeht nicht“, 196. 23 ADORNO, Negative Dialektik, 394–395; vgl. den Schlussabschnitt seiner Minima Moralia (Bibliothek Suhrkamp), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1951, 333: „Zum Ende. – Philosophie, wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu verantworten ist, wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten. Erkenntnis hat kein Licht, als das von der Erlösung her auf die Welt scheint“ (vgl. ANGEHRN, Sinn und Nicht-Sinn, 333). 21

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schichtlichen Form nur das Minimum ist: Man setzt darauf, dass die Verzweiflung vernommen wird. Die Hoffnung, gehört zu werden, kann nicht ohne die Erwartung sein, Verständnis zu finden. Aber was kann daran liegen, wenn es im Ganzen keine Bedeutung hat? Das Ganze ist selbst in der äußersten Verzweiflung keine Illusion. Es hat die Bedeutung, die noch den Schmerz, die Tränen und die Klage möglich macht. Der geschundene Leib äußert sich in seiner gequälten Seele, die nach ihresgleichen nur rufen kann, weil sie mit ihnen, selbst über die größten Unterschiede hinweg, in einem Sinn verbunden ist. Es ist ein verständiger Sinn, auch wenn er nur Zuwendung, Hilfe, Rettung bedeutet. In diesem Sinn, der, was immer er meinen und wie immer er begriffen werden mag, liegt die Bedeutung der Welt. In ihr bleibt der Mensch befangen, solange er bei Bewusstsein ist. Und solange er sich darin nicht selbst aufgibt, setzt er auf diesen Sinn, in dem er sich mit seinesgleichen selbst versteht – sie mögen ihm noch so fremd geworden sein.“24

Auch hier wird das Recht auf Artikulation der eigenen Verletzungen deshalb hervorgehoben, weil darin ein Appell an alle erklingt, die unmittelbare Verletzlichkeit jedes Individuums an Leib und Person zu verinnerlichen und darauf als Mitgeschöpf mitfühlend zu „antworten“ und zu handeln. Diese von Gerhardt mit Blick auf das Buch Hiob artikulierte, nicht nur kulturelle, sondern auch existentielle Rückbindung des Philosophen an die anregende Bildlichkeit biblischer Texte und das sich in ihnen manifestierende metaphorische Denken fordert das Gespräch über die Fachgrenzen hinweg. Bezieht man also praktische wie theoretische Gesichtspunkte aufeinander, wie es Schult und Angehrn anstoßen, so scheint der Beitrag einer biblischen Exegese, die nicht allein beim Historischen verweilt, sondern die in den alttestamentlichen Texten verarbeiteten Grundtatsachen des Lebens herausstellt,25 zum Resilienz-Thema zumindest wichtige Konkretionen beitragen zu können. Zu ihnen gehört nicht zuletzt die Jesus-Christus-Geschichte der Evangelien, die sich im Licht von Trauma und Resilienz neu erschließen könnte:26 Ein Paradigma dafür ist sicher die narrative Sequenz der Deutungsaussetzung im Trauma des Kreuzestodes wie im Thauma (Wunder27) des Ereignisses, das als

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GERHARDT, VOLKER, Der Sinn des Sinns. Versuch über das Göttliche, München: C.H. Beck 2014, 340; für theologische Kritik einer (zu) ungebrochenen Rede vom „Sinn“ aus der Perspektive dialektischer Theologie vgl. SAUTER, GERHARD, Was heißt: nach Sinn fragen? Eine theologisch-philosophische Orientierung (Kaiser Traktate), München: Kaiser 1982. 25 Vgl. dazu nun JANOWSKI, BERND, Anthropologie des Alten Testaments, Tübingen: Mohr Siebeck 2019. 26 In eine ähnliche Richtung gehen die (grenz-)hermeneutischen Erwägungen von STOELLGER, PHILIPP, Deutung der Passion als Passion der Deutung. Zur Dialektik und Rhetorik der Deutungen des Todes Jesu, in: Jörg Frey/Jens Schröter (Hg.), Deutungen des Todes Jesu (WUNT 181), Tübingen: Mohr Siebeck 2005, 577–607. 27 Vgl. zur alttestamentlichen Rede vom „Wunder“ HARTENSTEIN, FRIEDHELM, Wunder im Alten Testament. Zur theologischen Begrifflichkeit für das Außerordentliche in der Hebräischen Bibel (pl’, pälä’ und nifla’ot), in: Ders., Die bleibende Bedeutung des Alten Testaments. Zur Relevanz des ersten Kanonteils für Theologie und Kirche (BThSt 165), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2016, 269–307.

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Auferstehung bzw. Auferweckung in den „Raum des Sinns“ geholt wurde, das aber diesen Raum nur überschneidet, nicht jedoch in ihm aufgeht. Eine mich gerade in dieser Hinsicht überraschende biblische Konkretion möchte ich nun noch anhand des Psalters zur Diskussion stellen: Es geht um die Überschreitung bzw. Unterlaufung des Schuld-Strafe-Paradigmas im Blick auf die letzte Möglichkeit des Anrufs der leidenden Kreatur an den barmherzigen Schöpfer als eine genuine Ausdrucksform des biblischen Monotheismus.

II. Theologische und anthropologische Voraussetzungen zum Verständnis nachexilischer Rettungserzählungen des Psalters Bevor ich genauer an drei Psalmen in ihren Kontexten demonstriere, welche, wie ich denke, bewussten Strategien zur Bewältigung des Nicht-Sinnhaften darin sichtbar werden, müssen einige exegetische und theologiehistorische Voraussetzungen benannt werden. Beim „cri de cœur“, dem Schrei der Kreatur, die ganz auf ihre Leiblichkeit zurückgeworfen ist, geht es nicht mehr um „Konfliktgespräche mit Gott“, die eine Auseinandersetzung suchen, sondern um einen deutlich basaleren Appell an den Schöpfer: Seine Grundlage ist insofern „jenseits von Schuld und Sühne“ angesiedelt. Die einschlägigen Psalmen lassen keinerlei Rationalisierung von Leid als Strafe wegen Übertretungen erkennen, obgleich indirekt deutlich wird, dass sie diese selbstverständlich kennen (vgl. III.3 zu Ps 6). Sie schweigen auffallend von menschlicher Fehlbarkeit und Verfehlung, wie sie ein gleichzeitiges Gebet wie Ps 51 ganz grundsätzlich benennt und daraus theologische Schlussfolgerungen im Sinn der fortgeschrittenen Schriftprophetie zieht.28 Wenn man alttestamentliche Menschenbilder über die Relation zum Leib als Person, zur Sozialität und zum Kosmos versteht29, so tritt in den Beispielen Ps 6; 13 und 22 vor allem ersteres, das unerklärlich leidende Geschöpf, in den Vordergrund. Die reflektierte Beschäftigung mit dieser Dimension menschlicher Erfahrung ist ein Kennzeichen nachexilischer Literatur v.a. weisheitlicher Prägung.30 Neben dem Psalter hat die Thematik natürlich vor allem im Buch

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Vgl. dazu HARTENSTEIN, FRIEDHELM, Gott als Horizont des Menschen. Nachprophetische Anthropologie in Psalm 51 und 139, in: Rüdiger Lux/Ernst-Joachim Waschke (Hg.), Die unwiderstehliche Wahrheit (ABG 23), Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2006, 491– 512. 29 Siehe dazu JANOWSKI, Anthropologie des Alten Testaments, 135–224 (II: Elemente des Personbegriffs), 315–403 (V: Aspekte der Welterfahrung). 30 Vgl. dazu z.B. die Beiträge in SAUR, MARKUS (Hg.), Die theologische Bedeutung der alttestamentlichen Weisheitsliteratur (BThSt 125), Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 2012.

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Hiob, teils aber auch in Kohelet einen genuinen Ort. Ich benenne dazu drei wichtige Gesichtspunkte der neueren Psalmenforschung: a) Die in vielem noch Neuland erschließende Psalterforschung trägt zur klaren Aufdeckung der reflektierenden Auseinandersetzung mit dem sinnlosen Leid in den nachexilischen Literaturen des Alten Testaments bei. Sie achtet neben der traditionellen Einzelpsalmuntersuchung (Genre, Topik) vor allem auf die Abfolge der Psalmen im masoretischen Psalter, die nicht nur zufällig oder lose nebeneinanderstehen, sondern einen kompositorischen Willen erkennen lassen.31 Der Psalter als Großbuch ist aus verschiedenen Teileinheiten zusammengestellt, die zwar unterschiedliche Herkunft und Alter haben, aber wahrscheinlich mit der Absicht einer Ablauflesung angeordnet wurden. Ihre Intention kann v.a. anhand von Leitwortverknüpfungen rekonstruiert werden. Für das Thema dieses Beitrags fällt dabei auf, dass Ps 6 und 13 sowie Ps 22 jeweils an bestimmten strukturell und inhaltlich wichtigen Stellen der Teilkompositionen Ps 3–14 und 15–24 platziert sind (s. III.). b) Theologiegeschichtlich ist die Einsicht in die langzeitig verlässliche Zuneigung des monotheistischen Schöpfergottes JHWH zu seinen Geschöpfen (Einzelne, Israel, Völkerwelt, nichtmenschliche Welt) eine prägende Grundlage der nachexilischen Theologien. Die in der sog. Gnadenformel aus Ex 34,6f. auf den Begriff gebrachte Asymmetrie zwischen Zorn und Gnade findet sich in einer überraschend breiten Streuung in den Texten der werdenden Hebräischen Bibel wieder (als direkte oder indirekte Referenzgröße – beides lässt sich an charakteristischen Stichworten ablesen).32 Besonders das in der Metaphorik von Elternschaft ausgedrückte unmittelbare „Erbarmen“ JHWHs (raḥamīm), der dem von ihm Erschaffenen in verwandtschaftlicher Solidarität zugetan ist, wird zu einem Schlüsselwort der Literatur des frühen Judentums (auch in den Texten vom Toten Meer). Damit geht eine Einhegung der lange Zeit prägenden Rede vom göttlichen Zorn einher. Dieser wird dabei nicht einfach sistiert, sondern als vom göttlichen Gnaden- und Gemeinschaftswillen überformt benannt. Damit ist es weitgehend unmöglich, vom Zorn und Gericht ohne das Widerlager der Gnade zu sprechen. c) Schließlich ist in der jüngeren Forschung immer deutlicher erkannt worden, dass ein wichtiger (und für den Psalter entscheidender) „Sitz im Le-

                                                            

31 Als Überblick über die Forschung und die Methodik kann folgender Sammelband dienen: ZENGER, ERICH (Hg.), The Composition of the Book of Psalms. Colloquium Biblicum Lovaniense 2008 (BEThL 238), Leuven u.a.: Peeters 2010. 32 Zur Gnadenformel vgl. grundlegend SPIECKERMANN, HERMANN, „Barmherzig und gnädig ist der Herr...“, in: Ders., Gottes Liebe zu Israel. Studien zur Theologie des Alten Testaments (FAT 33), Tübingen: Mohr Siebeck, 2001, 3–19; weiterführend ist FRANZ, MATTHIAS, Der barmherzige und gnädige Gott. Die Gnadenrede vom Sinai (Exodus 34,6– 7) und ihre Parallelen im Alten Testament und seiner Umwelt (BWANT 160), Stuttgart: Kohlhammer 2003.

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ben“ wie „in der Literatur“ für die Entstehung solcher theologischer Einsichten, die eine große Reichweite beanspruchen, der Ritus der Toda ist.33 Beim „Dankopfer“ als Ritus mit dem zentralen Sprechakt des „Dankliedes“ handelt es sich, wie lange erkannt wurde, um den am besten fassbaren kultischen Vollzug, der hinter vielen Texten des Psalters als religiöse und soziale Praxis steht. Das gilt sowohl für den vermutlichen Überlieferungskontext von Klagetexten im Zusammenhang der Dankfeier wie für die Danklieder selbst, in denen häufig Klagen zitiert werden, um im Licht der gewendeten Not die Feier der Errettung zu deuten. Für die Toda als Textmuster, das ausschließlich für die Reintegration von Einzelnen in die liturgische Gemeinschaft belegt ist, sind drei wichtige Elemente theologisch relevant, weil sie eine Quelle der Reflexion über die Überwindung von Unheil durch Veröffentlichung und Versprachlichung darstellen:34 – Die Danklieder adressieren JHWH als die allein das Unheil wendende Macht („Du“-Anrede). Sie tun dies in der Gewissheit einer konkret erfahrenen Rettung aus größter Not (Feindbedrohung, soziale Isolation durch Krankheit oder Rechtsnot, Todesnähe) und feiern die Rückkehr ins Leben der Gruppe wie überhaupt den Wiedereintritt in das geschöpfliche „Land der Lebenden“. Dazu ist auch die rituelle Feier des Opfers als integrierende Mahlgemeinschaft wesentlich. – Auf der Ebene der Sprechakte ist eine „Rettungserzählung“ (in 3. Person) des Individuums gegenüber JHWH und vor den Ohren der mitfeiernden Gruppe der entscheidende Punkt: In ihr wird die Wende vom Tod zum Leben, von der Dissoziation in sozialer und kosmischer Hinsicht zur (Re-)Zentrierung eines Selbst gefeiert, an dem konkret all das erneut geschah, worauf sich bereits die Väter (das Volk Israel) und viele Einzelne zuvor berufen haben. Insofern kommt der Rettungserzählung (häufig mit dem Verb spr pi.) die entscheidende Vermittlung zwischen den traditionellen Bekenntnissen zum Heilshandeln JHWHs und ihrer je aktuellen Aneignung zu. Die Toda wird geradezu als höchster Ausdruck des Lebens vor JHWH verstanden, sie wird durch den

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Siehe dazu JANOWSKI, BERND, Konfliktgespräche mit Gott. Eine Anthropologie der Psalmen, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 22006, 264–305 (zum Dankpsalm Ps 30); ders., Dankbarkeit. Ein anthropologischer Grundbegriff im Spiegel der Toda-Psalmen, in: Ders., Der Gott des Lebens. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 3, NeukirchenVluyn: Neukirchener 2003, 267–312. Theologisch weiterführend GÄRTNER, JUDITH, Vom Tod zum Leben. Das Danklied als Ort theologischer Reflexion, in: ThLZ 143 (2018), 1211– 1226. 34 Zur Toda (individuelles Danklied) siehe schon GUNKEL, HERMANN/BEGRICH, JOACHIM, Einleitung in die Psalmen. Die Gattungen der religiösen Lyrik Israels (HKAT Ergänzungsband zur II. Abteilung), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1933, 265–292 (§ 7: Die Danklieder des Einzelnen); CRÜSEMANN, FRANK, Studien zur Formgeschichte von Hymnus und Danklied in Israel (WMANT 32), Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 1969, 210–284, bes. 263–281 (zur Formensprache).

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Schöpfer allererst ermöglicht, der das dankbare Lob der Geschöpfe als Resonanz seines Handelns will. – Diese Rettungserzählungen der Toda sind zugleich zentrale Medien theologischer Reflexion. In ihnen wird Tradition auf ihre Gültigkeit geprüft und bilden sich neue grundsätzliche Aussagen über das Gotteshandeln heraus (diese wirken teils wie „Wesensaussagen“, wobei man sie nicht onto-theologisch missverstehen sollte, sondern ihren je konkreten Erfahrungsbezug mithören muss). Interessanterweise werden die Rettungserzählungen oft nicht bruchlos versprachlicht oder, anders gesagt, formal und inhaltlich kohärent artikuliert. Ganz im Gegenteil macht es gerade ihre Fähigkeit zur Integration des Nicht-Integrierbaren aus, dass sie Brüche mittransportieren und präsent halten. So finden solche Elemente menschlicher Erfahrung, die sich per se zunächst der Repräsentation verweigern, wie die Todesnähe und die Schreckensstarre der Kreatur, hier ihren Ort. Ich demonstriere das am Musterbeispiel eines Danklieds, Psalm 30. In V.5f. fordert der Feiernde nach seiner Erzählung von der Rettung aus der Todesnähe das Auditorium zum Einstimmen auf, und zwar im Blick auf eine doppelte Sentenz: 5 Spielt JHWH, ihr seine Frommen und dankt zum Gedenken seiner Heiligkeit, 6 denn einen Augenblick – in seinem Zorn, ein Leben lang – in seinem Wohlgefallen, am Abend übernachtet Weinen, aber am Morgen: Jubel!

Hier kommen – in der Opposition der erfahrenen Zeiten, die der Differenz zwischen Gotteszeit und Menschenzeit entsprechen – grundsätzliche emotionale und interpretative Elemente zur Sprache: Weinen und Jubel sowie Zorn und Gnade (vgl. analog auf die Geschichte übertragen in Ps 90; 102; 126; Jes 54). Auf diese bekenntnishaften Sätze folgt die Bestätigung an der individuellen Erfahrung, sozusagen der Realitätsbeweis. Er wird durch den einzelnen Geretteten erneut – nun aber im Licht des zuvor formulierten Bekenntnisses – als eine Erzählung der schockartigen Transformation des eigenen Selbst dargeboten, die eine tiefe existentielle Neubeschreibung einschließt: 7 Ich aber hatte gedacht in meiner Sorglosigkeit: „Nicht kann ich wanken (Verb mōṭ) für fernste Zeit!“ 8 JHWH, in deinem Wohlgefallen hast du (mich) gestellt auf Berge von Stärke, (dann jedoch) hast du dein Gesicht verborgen und ich war schreckensstarr (Verb bhl).

Diese Aussagen über den persönlich erfahrenen plötzlichen kreatürlichen Schrecken (Verb bhl, s. III.3) sind wieder an JHWH gerichtet („Du“-Anrede): Sie spiegeln eine tiefere Notwendigkeit, aufgrund derer die Rettung durch Gott erfolgt ist. Denn die zweite Rettungserzählung in Ps 30 (erster Durchgang: V.1–6; zweiter Durchgang: V.7–13) ist ganz im Bewusstsein dessen angelegt, dass es gute Gründe für den Schöpfer gibt, sein Geschöpf nicht der Macht des Todes zu überlassen. Dieser will das Leben und vor allem dessen größte Intensität im Schöpferlob. Ps 30 weist hierzu auch eine argumentative Seite auf (in-

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sofern fällt er unter das Paradigma des „Konfliktgesprächs“): Im sog. argumentum ad deum („Was für ein Gewinn ist an meinem Blut, wenn ich hinabsteige in die Grube? Dankt dir Staub, macht er deine Treue bekannt?“ V.10) wird der volle Einsatz des eigenen Lebens in der Klage deutlich. Die nackte Existenz ist das letzte Pfand, wenn sich der Betende in Todesangst an JHWH wendet, dessen Identität als „Gott der Lebendigen“ dann ebenfalls auf dem Spiel steht (s. III.3 zu Ps 6). Die Metapher des göttlichen Zorns aus der Sentenz in V.5 wird in diesem Licht vollends vom Konnex von Schuld und Strafe abgekoppelt (es findet sich in Ps 30 keinerlei Begrifflichkeit für „Sünde“). Die Rhythmisierung des Wechsels von Zorn (kurz) und Wohlgefallen (ein Leben lang), die in V.5 als Deutung laut wurde, „kosmisiert“ gewissermaßen den Zorn und bindet ihn so in eine höhere Ebene der Ordnung ein, in den Zyklus des geschöpflichen Lebens. Daher erscheint der letzte Hilfeschrei der Kreatur als alles entscheidend: der Gott, der das Leben als Gegenüber will, muss darauf reagieren. Die Kategorie des „Zorns“ nimmt – wie in Hiob und anderen Texten – den Charakter einer basal lebensbedrohlichen und in keiner Weise rational entschlüsselbaren Erfahrung an. Von ihr kann nur hinterher von den Überbzw. Weiterlebenden erzählt werden; überwunden ist sie freilich nicht, sondern verweist gerade in den Rettungserzählungen auf die Erfahrung elementarer Undeutbarkeit. Ähnliches wäre auch zur hier ebenfalls einschlägigen positiven Kategorie des „Wunders“ bzw. der „Wundertaten“ JHWHs zu sagen.35 Wie die Erfahrung der fundamentalen Bedrohung des Lebens, die theologisch als Zorn erfasst wird, ohne Strafe zu sein, ist auch die streng theozentrische Aussage vom „Wunderhandeln“ JHWHs von einer kognitiven Undurchdringlichkeit geprägt, die sich ebenfalls in jede Erzählung einer – menschliche Möglichkeiten weit überschreitenden – Rettung einschreibt. „Schreckensstarre“ im Angesicht des Todes und „Wundererfahrung“ im Angesicht der Errettung sind daher komplementäre Grenzbegriffe der Anthropologie (und Theologie) der Psalmen, die nur retrospektiv benannt, aber nicht völlig durchdrungen werden können. In den Rettungserzählungen, die sie anstoßen, hinterlassen sie „Lücken“, die auf Erfahrungen zurückweisen, bei denen jede Deutung aussetzt. In dieser Hinsicht bleiben die „Wunden“ in der Erzählung präsent und werden doch allein im Licht des „Wunders“ sichtbar. Beides wird – in der fragilen Folge von Trauma und Thauma – als zunächst NichtSinnhaftes deutlich. Durch die Reintegration der Geretteten in die soziale/symbolische und kosmische Ordnung erhält es gewissermaßen einen immer nur auf Widerruf „geliehenen“ Sinn. Es geht niemals um vollständige Verwandlung sinnlosen Leidens in einem „happy end“, sondern um die bleibende Kopräsenz von Lebensbedrohung im Licht von Lebensbejahung – jeweils gedeutet als un-

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Vgl. dazu HARTENSTEIN, Wunder im Alten Testament.

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verfügbares Handeln Gottes, der das Leben will. Allein in der konkreten Erfahrung seiner Geschöpfe wird dies immer wieder neu bestätigt und von daher erhofft.

III. Zur Bewältigung des unerklärlichen Leidens in den Psalmen 6, 13 und 22 1. Ein Durchgang durch die Psalmen 6, 13 und 22 in ihrem Psalterkontext Dem zuvor (vgl. II.) genannten Deutungsansatz könnte man entgegenhalten, dass Psalmen, in denen keine Thematisierung von Sünde und Schuld vorkommt und die sich ganz auf die unerklärliche Abwendung Gottes (mit und ohne explizitem Hinweis auf dessen Zorn) konzentrieren, auch auf sehr alte Traditionen zurückgreifen könnten. So findet sich z.B. in der Gebetsüberlieferung der Keilschriftkulturen erst ab der Wende vom 3. zum 2. Jt. v.Chr. die ausdrückliche Interpretation göttlicher Verborgenheit nach dem Muster der Strafe für Vergehen.36 Für die über tausend Jahre später entstandenen Psalmen Israels könnte man in diesem Licht annehmen, dass auch unter ihnen ältere Gebete zu finden sind, die angesichts des Gotteszorns noch ohne Strafparadigma bleiben. Jedoch zeigen fast alle einschlägigen Psalmen intertextuelle Verbindungen zur exilisch-nachexilischen Literatur, die es fraglich erscheinen lassen, ob darin wirklich in einer religionsgeschichtlich ursprünglicheren Weise von der bleibenden Opakheit des Zorns JHWHs die Rede ist.37 Letzteres ist vor allem dann fast auszuschließen, wenn man – wie oben angedeutet – die Grenzen der Einzelpsalmexegese überschreitet und auf die kompositionellen Zusammenhänge des masoretischen Psalters blickt. Offenbar nicht zufällig sind in den intentional gereihten Psalmengruppen auch solche Texte eingebaut, die gerade Unerklärbares festhalten und dem praktischen Gebrauch wie der theologischen Arbeit am Sinn anbieten.

                                                             36 Vgl. dazu z.B. BOTTÉRO, JEAN, Religion in Ancient Mesopotamia, Chicago/London: University of Chicago Press 2001, 188: „Sin, the disobedience of divine will, of which we have lists of dozens of examples in all realms of behavior, was at the very center of religious consciousness of the Mesopotamians beginning at the latest at the turn of the third millenium, and it remained there until the very end. It appeared almost everywhere, in particular in prayers, alongside mention of the gods’ ,anger‘ (kimiltu, uzzu, etc.), which it provoked.“ 37 Zum Thema des Gotteszorns in den Psalmen vgl. z.B. JEREMIAS, JÖRG, Der Zorn Gottes im Alten Testament. Das biblische Israel zwischen Verwerfung und Erwählung (BThSt 104), Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 2009, 15–29; WÄLCHLI, STEFAN H., Gottes Zorn in den Psalmen. Eine Studie zur Rede vom Zorn Gottes in den Psalmen im Kontext des Alten Testamentes und des Alten Orients (OBO 244), Fribourg: Academic/Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012 (mit nützlicher Typologie der Redeweisen vom Zorn JHWHs).

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2. Die Psalmenkomposition Psalm 3–14 Die erste Teilkomposition Ps 3–14 weist einen dreiteiligen thematischen Aufbau auf, der in linearer Leseabfolge gelesen werden kann, aber auch auf ein Zentrum (Ps 8 [+ 9/10]) bezogen ist, um das sich wie bei einem Altar-Triptychon zwei „Flügel“ gruppieren:38 Tabelle 1: Ps 3–4, 5–6, 7

„Vorderer Flügel“

Ps 8 (+ 9/10)

Kern/Gelenktext(e)

Ps 11, 12, 13, 14

„Hinterer Flügel“

Diese weithin anerkannte Struktur lässt sich vor allem anhand von internen Bezügen der Psalmengruppe begründen, die durch Stichwortverbindungen angezeigt sind. a) Ein Hauptthema der Psalmengruppe ist die Durchsetzung der „Gerechtigkeit“ JHWHs als Retter und Richter. Das wird an individuellen Stimmen (Psalmen des Einzelnen) durchgespielt, wobei wie sonst im Psalter deren Ergehen, Hoffen und Beten immer auch durchlässig sind für die Erfahrungen Israels (explizit in den Randpsalmen 3,9 und 14,7, wo ausdrücklich vom „Volk“ [‘am] JHWHs gesprochen wird). Diese beiden Rahmenpsalmen sind weiter durch die Stichworte „Heil/Rettung“ (ješū‘ā[tā]) und durch symmetrische Gegnerzitate verbunden (Ps 3,3; 14,1). In ihnen wird die Handlungsfähigkeit und -bereitschaft JHWHs bestritten: ’ēn ’ælōhīm „es ist kein Gott!“ Genau dieser These der Gegner und der mit ihr verbundenen Theodizeefrage widerspricht die Psalmenkomposition 3–14 im Ganzen, indem sie vor allem die Hoffnung auf die Gerechtigkeit (Gottes) und ihre Erfahrbarkeit hervorhebt. Sie tut das angesichts vielfältiger Nöte der Beter, die als Belagerte, Verfolgte, unschuldig Angeklagte, vom Tod Bedrohte und Unterdrückte/Arme vor Augen treten. b) Auffallend ist, dass alle Psalmen der Gruppe das Motiv der Feinde enthalten:39 Im ersten „Flügel“, der Reihe Ps 3–7, wird das v.a. in der Sprache

                                                             38 Zu diesem Abschnitt vgl. eingehender HARTENSTEIN, FRIEDHELM, „Schaffe mir Recht, JHWH!“ (Psalm 7,9). Zum theologischen und anthropologischen Profil der Teilkomposition Psalm 3–14, in: Erich Zenger (Hg.), The Composition of the Book of Psalms. Colloquium Biblicum Lovaniense 2008 (BEThL 238), Leuven u.a.: Peeters 2010, 229–258. 39 Zur Typologie der Feinde in den Psalmen vgl. grundlegend KEEL, OTHMAR, Feinde und Gottesleugner. Studien zum Image der Widersacher in den Individualpsalmen (SBM 7), Stuttgart: Katholisches Bibelwerk 1969; zur Metaphorik RIEDE, PETER, Im Netz des Jägers. Studien zur Feindmetaphorik der Individualpsalmen (WMANT 85), Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 2000; zur theologischen Bedeutung HARTENSTEIN, FRIEDHELM, „Damit nicht spricht mein Feind: Ich habe ihn vernichtet!“ (Psalm 13,5). Zur theologischen Funktion der Feindbilder in den Psalmen Israels, in: Michael Moxter/Markus Firchow (Hg.), Feindschaft.

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antagonistischer Gegner („Feind von außen“) ausgedrückt (ṣar „Widersacher/Rebell“ und ’ōjēb „Feind“). In den beiden Eckpsalmen des ersten „Flügels“ findet sich aber auch schon der Feindbegriff, der dann den zweiten „Flügel“ Ps 11–14 ganz beherrscht: rāšā‘ „Frevler“ (3,8 und 7,10). Er ist im Gegensatz zum antagonistischen Feind ein „innerer Gegner“. Mit ihm kommt die (weisheitliche) Frage nach der rechten Lebensführung und deren Auswirkung auf die von JHWH gesetzte Weltordnung in den Blick. Die Bedrohung durch die „Frevler“ ist so unheimlich, weil sie die Nächsten betreffen kann und auch vor der eigenen Beziehung zu JHWH nicht Halt macht. Das zeigt sich in Ps 3– 14 auch daran, dass hier die Feinde und v.a. die Frevler in ausführlichen „Reden“ zu Wort kommen, welche die Beter demotivieren, erniedrigen und zuletzt zum Abfall von Gott verführen wollen (Ps 3,3; 4,7; 11,1; 12,5; 13,5; 14,1). Am ausführlichsten wird das in der zweiten Hälfte des großen Doppelpsalms Ps 9/10 behandelt, der als späteste Zutat der Komposition aus hellenistischer Zeit als neues Zentrum hinter Ps 8 (die frühere Mitte) platziert wurde (vgl. Ps 10,4.6.11.13).40 In der viel längeren Teilkomposition Ps 15–24 finden sich dagegen außer einem ganz knappen Feindzitat in Ps 22,9, auf das unten noch einzugehen ist (s. III.5), keine derartigen Gegnerreden. Ihre Häufigkeit in Ps 3–14 verweist auf die diskursive Struktur der Textreihe, in der die Infragestellung der Zuwendung Gottes und seiner Handlungsbereitschaft mit tiefem Ernst durchgespielt wird. c) Das verdeutlicht ein weiteres „Leitmotiv“ der Psalmenkomposition: In den Psalmen 3,8; 7,7; 9,20; 10,12 ertönt wie ein Orgelpunkt die Bitte qūmā JHWH! „Steh auf, JHWH!“ Und in der Not größter Anfechtung kündigt Gott in Ps 12,6 daraufhin an: ‘attā ’āqūm jōmar JHWH „Jetzt stehe ich auf! – spricht JHWH!“ Dieses einzige Gotteswort der Psalmengruppe unterbricht das unheimliche Schweigen und die Erfahrung der Abwesenheit JHWHs angesichts vielfältiger spiritueller wie sozialer Not. Liest man im Licht dieser Verbindungslinien die Psalmen 3–7 hintereinander ergeben sich weitere Hinweise auf eine intendierte Abfolge (siehe Tabelle 2). Zusammengefasst zeigt sich hier eine zeitliche wie räumliche Sequenz, in der die besondere Position von Ps 6 auffällt. In Ps 3–7 folgen Hinweise auf den Wechsel zwischen der „Nacht“ als der bedrohlichen Zeit der Klage und dem Morgen als der Zeit, für die traditionell Rettung erwartet wird, aufeinander. In Ps 7,12 gipfelt das in dem Satz „Gott ist ein gerechter Richter und ein [um der

                                                             Theologische und philosophische Perspektiven (MThSt 117), Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2013, 19–39. 40 Zu Ps 9/10 und die in Ps 10 enthaltenen zumeist „inneren Monologe“ des Frevlers vgl. jetzt NEUBERT, CAROLIN, Affirmation und Anfechtung. Untersuchungen zu den Reden der Gegner in den Psalmen (HBS 93), Freiburg i.Br. u.a.: Herder 2019, 77–179.

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Friedhelm Hartenstein

Tabelle 2: Die lineare Abfolge des „vorderen Flügels“ Ps 3–7 und die Position von Ps 6 Ps 6,7

Ps 7,12

Bewahrung Bewahrung Erwartung durch die Nacht durch die Nacht des Gotteshindurch hindurch kontakts am Morgen Ps 3,5 Ps 5,8 Ps 4,6.7

Tiefste Not in der Nacht

JHWHs Handeln als Retter/Richter zu jeder Zeit

Ps 6,6

Ps 7,8.18

Fern des Heiligtums, aber im Kontakt mit Gott: Zentrumssymbolik (vertikal): Heiliger Berg

Bedrohung durch die denkbar größte Gottesferne (Totenreich): Dort kein Lob/ Gotteskontakt Zentrumssymbolik: (vertikal): Tiefe

Ankündigung von Lob/Dank angesichts der (bereits erfahrenen?) Restitution der Gerechtigkeit des Beters: Zentrumssymbolik: (vertikal): Höhe

Ps 3,6

Ps 4,9

Außerhalb des Heiligtums, aber darauf ausgerichtet (horizontal): Ort des Opfers, Ort der erwarteten Audienz (Segen)

Ps 5,4

Im Heiligtum, unmittelbar vor der Gottesbegegnung. Zentrumssymbolik (horizontal): Haus, heiliger Palast/Tempel

Gerechtigkeit willen] zürnender Gott an jedem Tag/zu jeder Zeit!“.41 Doch zuvor fällt Ps 6 aus diesem Rhythmus von Bedrohung und Bewahrung heraus. In ihm wird die Nacht zur Zeit der scheinbar endlosen Todesnähe und Gottesferne (Ps 6,6.7–8). Ps 3–5 und Ps 7 setzen dagegen auf die Möglichkeit und Wirklichkeit der Gottesnähe am Heiligtum (3,5; 4,6.7; 5,8; 7,8.18) und auf die Durchsetzung der Gerechtigkeit durch den thronenden JHWH „in der Höhe“ (7,8), die der „Tiefe“ der Unterwelt in Ps 6,6 entgegengesetzt wird. 3. Psalm 6: Bitte um Umkehr/Rückkehr des Gottes des Lebens Der erste Bußpsalm der christlichen Tradition ist ein bemerkenswerter Text.42 Er ist kein reiner Klagepsalm, sondern nimmt auch andere Elemente auf: Am besten lässt er sich über eine Dreiteilung entschlüsseln: I: V.2–4, II: V.5–8, III: V.9–11. Im ersten Teil (V.2–4) bittet das betende Ich gleich als erstes JHWH darum, „nicht im Zorn“ zurechtgewiesen und gezüchtigt zu werden (V.2).

                                                             41

Zu Psalm 7 vgl. JANOWSKI, BERND, JHWH, der Richter – ein rettender Gott. Psalm 7 und das Motiv des Gottesgerichts, in: Ders., Die rettende Gerechtigkeit. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 2, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 1999, 92–124 sowie die Auslegung des 7. Psalms in HARTENSTEIN, FRIEDHELM/JANOWSKI, BERND, Psalmen (BK 15/1.1–4), Neukirchen-Vluyn: Neukirchener/Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012– 2018, 254–289 (JANOWSKI). 42 Zu ihm vgl. KUCKHOFF, ANTONIUS, Psalm 6 und die Bitten im Psalter. Ein paradigmatisches Bitt- und Klagegebet im Horizont des Gesamtpsalters (BBB 160), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011 sowie die Auslegung des 6. Psalms in HARTENSTEIN/JANOWSKI, Psalmen, BK 15/1.1–4, 202–253 (HARTENSTEIN).

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Schon dieser Einstieg verdeutlicht, dass hier um den eigentlich zu erwartendem Konnex mit eigener Schuld gewusst, aber bewusst auf ihn verzichtet wird. Das zeigen die Formulierungsparallelen in Ps 38,2 (mit expliziter Begründung wegen der Verfehlungen) und Jer 10,24, wo um eine angemessene Strafe („mit rechtem Maß“) gebeten wird. Die folgende Begründung für die Bitte um Gottes gnädige Zuwendung in Ps 6,3 hat oft dazu veranlasst, hier Krankheit im Hintergrund anzunehmen: Heile mich, JHWH, denn sehr erschreckt worden (bhl Nif.) sind meine Gebeine, und mein Leben ist sehr erschreckt worden (bhl Nif.).

Zweimal gebraucht der Psalm hier das oben (s. II.) bereits zu Ps 30,7–8 erwähnte Wort bhl „schreckensstarr sein“. Wie es der große Schöpfungspsalm 104 zeigt, ist dabei an die unmittelbare Todesnähe zu denken (V.29):43 Du verbirgst dein Angesicht, sie (die Geschöpfe) werden erschreckt (bhl Nif.). Du nimmst ihren Atem weg, sie scheiden dahin und kehren zu ihrem Staub zurück.

Diese Erfahrungen an der Grenze von Tod und Leben stellt der kollektive Weisheitspsalm 90 – anders als Ps 6, der das bewusst verschweigt – mit Zorn und Schuld zusammen (V.7f.): 7 Denn wir sind vergangen durch deinen Zorn und durch deine Zornglut sind wir erschreckt worden (bhl Nif.). 8 Du hast unsere Verschuldungen vor dich gestellt [...].

In diesem Assoziationsfeld steht Ps 6 und spitzt die Not ganz auf die kreatürliche Dimension der Gottesferne am Rand des Todes zu. Deshalb liegt aller Ton auf der Bitte nach der Rückkehr/Umkehr Gottes, mit der der zweite Teil des Psalms (V.5–8) eröffnet wird (V.5): Kehre zurück, JHWH, errette mein Leben, schaffe mir Rettung um deiner Güte willen!“

Die Bitte um Umkehr (šūb) enthält zwei Elemente: ein direktional-lokales (aus der Ferne Zurückkommen) und ein qualitativ-relationales (Wiederaufnahme der Beziehung wie zuvor).44 Genau so ist die zentrale Bitte des Psalms auch auf die Rückkehr JHWHs zu Israel und zum Zion angesichts des Exilsgeschicks transparent. Begründet wird sie in V.6 mit dem Argument, dass in der Totenwelt niemand mehr Gottes lobend und dankend „gedenken“ kann: Sie ist der pure Gegenort zum Lebensmittelpunkt des Tempels (das sog. argumentum

                                                             43 Siehe zu Ps 104,29 KRÜGER, THOMAS, „Kosmo-theologie“ zwischen Mythos und Erfahrung. Psalm 104 im Horizont alttestamentlicher und altorientalischer „Schöpfungs“-Konzepte”, in. Ders., Kritische Weisheit. Studien zur weisheitlichen Traditionskritik im Alten Testament, Zürich: Pano 1997, 91–120, 102. 44 Vgl. zu dieser doppelten Semantik von šūb EHRING, CHRISTINA, Die Rückkehr JHWHs. Traditions- und religionsgeschichtliche Untersuchungen zu Jesaja 40,1–11, Jesaja 52,7–10 und verwandten Texten (WMANT 116), Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 2007, 84–86.

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ad deum findet sich noch in Ps 30,10; 88,12f.; 115,17f.; Jes 38,18f. und frühjüdischen Texten, s.o. II.). Mit ihm wird der harte Gegensatz zwischen Leben und Tod benannt, der nur durch die elementarste Gottesbeziehung, nämlich die zwischen Schöpfer und Geschöpf, aus Barmherzigkeit überwunden werden kann. Darin ist Ps 6 ein nachexilischer monotheistischer Psalm. Die in Ps 6,7– 8 dringlich anschließende Notschilderung beschreibt das „Zerfließen“ des Beters auf seinem Bett in der Flut seiner Tränen. Und erst hier – vgl. dann auch gleich zu Ps 13 – ist die Rede von den Feinden. Sie ist im Aufbau der Klage (V.2–8) klar nachrangig zur Not der Gottesferne, auch wenn letztere lebensweltlich vermutlich vor allem an der Bedrängung durch Widersacher abgelesen wurde (V.8). Der dritte Teil (V.9–11) wendet sich dann überraschend ganz den „Übeltätern“ zu. Die Stimmung des Psalms hat sich wie häufig in Klageliedern von der Tiefe der Not zur Höhe der Rettungsgewissheit gewandelt. Dreimal benennt das betende „Ich“ die Rettung durch JHWH (V.9f.): 9 Weicht von mir, all ihr Übeltäter, denn gehört hat JHWH die Stimme meines Weinens, 10 gehört hat JHWH mein Flehen, JHWH – mein Bittgebet nimmt er an!

An diese neue Zugehörigkeit zu Gott schließen sich Feindverwünschungen an, die auffallend an die Hauptstichworte „schreckensstarr“ und „umkehren“ aus dem Psalm anknüpfen (V.11): Es müssen beschämt und sehr erschreckt (bhl Nif.) werden alle meine Feinde, sie müssen umkehren (šūb), beschämt werden – auf der Stelle!

Was ist hier am Ende des Psalms intendiert? Ist es bloße Vergeltung und der Triumph des Geretteten über seine Peiniger? Oder liegt in der gezielten Wiederaufnahme der anthropologischen wie theologischen Leitworte bhl und šūb auch die Absicht einer „Lehre“? Wenn die Feinde selbst die Erfahrung des kreatürlichen Schreckens machen, könnten sie vielleicht zum Beter und so auch zu JHWH umkehren und würden dabei die Erfahrung der Scham der Wahrheit über sich selbst machen, um von dort aus anders und sozial bewusster zu handeln.45 Ps 6 wäre in dieser Lesart, zu der ich tendiere, auch ein Psalm der (weisheitlichen) Lebensorientierung. Ähnlich verhält es sich mit dem in der Komposition an genau vergleichbarem Ort stehenden Ps 13, für Hermann Gunkel ein „Muster“ eines Klagelieds des Einzelnen.

                                                             45 Vgl. zu Ps 6 in diesem Sinn STICHER, CLAUDIA, Die Rettung der Guten durch Gott und die Selbstzerstörung der Bösen. Ein theologisches Denkmuster in den Psalmen (BBB 137), Berlin/Wien: Philo 2002, 74–84.

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4. Psalm 13: Appell an den Gott der Weltordnung Wie bereits gesagt (s. III.2) ist der „hintere Flügel“ der Teilkomposition Ps 3– 14 von der Thematik der „inneren Krise“ durch die Macht der Frevler bestimmt. Die Textfolge baut dabei ein Szenario des gesellschaftlichen Chaos auf, das „sintflutreife“ Dimensionen annimmt (so besonders in Ps 14, dem letzten Psalm der Gruppe, in dem wie in Gen 6–9 die Abweichung „aller“ von der gerechten Ordnung festgestellt wird).46 Die Frevler stehen dabei den Gerechten gegenüber, die sozial wie spirituell als ohnmächtig, mittellos und schutzbedürftig gezeichnet werden (Ps 12,6 und 14,6). Auch die Psalmenfolge 11–14 zeigt eine starke Vernetzung ihrer Texte (vgl. Tabelle 3). Im Gegensatz zu den Psalmen 3–7 wird das inhärente Weltbild der Textgruppe nun klar ins Universale entgrenzt: Betont wird die Position des Königsgottes JHWH im Himmel (der Begriff šāmajim findet sich dagegen nicht in Ps 3–7). In der Himmelshöhe befindet sich JHWHs Thron, von dem aus er umfassend über die Weltordnung wacht. Die Psalmen 11–14 halten an dieser Wachsamkeit Gottes fest, betonen aber auch die Gefahr der Gottesferne, wie sie mit der nachexilischen Herausstellung des himmlischen Wohnsitzes verbunden ist. Der Machtzuwachs des Gottes Israels als monotheistischer Schöpfer und Erhalter der Gesamtwirklichkeit enthält auch das Problem, ihn als entrückt zu erfahren – gerade angesichts der Frevler, die aufgrund ihrer Reden („Es ist kein Gott“, vgl. Ps 3,9 und 14,1, vgl. 10,4) die Hoffnung der Benachteiligten unterminieren. Auch diese Sequenz folgt einer räumlichen und zeitlichen Logik: Ps 11 und 14 verorten JHWH primär im Himmel, von dem aus er die Erde im Blick hat. Ps 12 konzentriert sich ganz auf die Erde und die dortigen Verhältnisse der Ungerechtigkeit und der Selbstermächtigung der Frevler. JHWH kündigt direkt an, gegen diese Verhältnisse vorzugehen („Jetzt stehe ich auf!“ Ps 12,6, s. III.2). So eröffnet sich die Erwartung einer nahen Wende. Doch in Ps 13 geht der Blick vorher noch einmal ganz in die Tiefen der Todesbedrohung, aus der der Beter nach Rettung ruft. Seine Not ist im Wortsinn „theologisch“, was sie von Ps 11–12 und 14 unterscheidet. Es geht um Gottes undeutbare Abwesenheit und sein Vergessen (Ps 13,2, vgl. auch Ps 22,2 s. III.5). Der Schluss von Ps 13 antizipiert dabei die Rettung, ohne dass sie schon sicher wäre. So wechselt die Psalmenfolge von der engen Relation Beter – JHWH in Ps 13 zur großen Bühne der Geschichte in Ps 14. Es kündigt sich ein „Endgericht“ analog zur Sintflut an, bei dem „vom Zion her“ die „Rettung Israels“ kommt, damit nicht die Gegner, sondern die Gerechten am Ende „jubeln“ werden (vgl. jeweils gīl „jubeln [im Lobdank am Tempel] in Ps 13,6 und 14,7, vgl. 9,3, s.u.). Was genau ist dabei die Funktion von Ps 13 in der Abfolge der Teilkomposition? Sie lässt sich zunächst anhand des Stichworts vom „Sehen“ JHWHs vom

                                                             46

Vgl. zu den Querbeziehungen in Ps 11–14 HARTENSTEIN, „Schaffe mir Recht, JHWH!“, 249–253.

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Tabelle 3: Die lineare Abfolge des „hinteren Flügels“ Ps 11–14 und die Position von Ps 13 Ps 11

Ps 12

Ps 13

Ps 14

JHWH schaut ständig vom himmlischen Thron auf die Menschen und prüft sie (11,4).

Dringliche Bitten: Die Frevler ermächtigen sich selbst: Sie sehen keinen Herrn über sich (12,2f.).

Der Beter bittet um Gottes erneutes Sehen, damit die Feinde nicht „jubeln“, wenn die Weltordnung mit dem Tod des Beters ins Wanken gerät. (13,4f.).

JHWH hat vom himmlischen Thron auf die Menschen geschaut und nach Einsichtigen gesucht: Aber es gibt keinen (14,2f.).

JHWH kündigt sein Einschreiten für die Bedrohten an (12,6).

JHWHs Einschreiten ist am Ende gewiss.

Vertrauen auf Gottes Gerechtigkeit

Offene Situation: Not und Vertrauen

Offene Situation: Tod und Leben

Raum: Himmel – Erde (– Tempel)

Raum: Erde (– Himmel)

Raum: Erde – Unterwelt (– Tempel)

Vertrauen auf Gottes endgültige Rechtshilfe Raum: Himmel – Erde und Zion

Zeit: Gegenwart

Zeit: Zukunft

Zeit: Gegenwart

Zeit: Zukunft

Himmel her demonstrieren, das mit verschiedenen Verben ausgedrückt wird: ḥzh „schauen“ // bḥn „prüfen“ (Ps 11,4) korrespondiert šqp hi. „hinblicken“ // r’h „sehen“ (Ps 14,2). Jeweils handelt es sich nicht um emotionslose Blicke, sondern um das zum Handeln drängende Hinschauen Gottes mit der Absicht, Gerechtigkeit herzustellen. Grundsätzlicher noch als die Frage der gestörten Sozialordnung in Ps 12 und 14 ist dann der dritte Beleg zum „Sehen“ Gottes in Ps 11–14 in Ps 13,4: 4 Blicke doch her, antworte mir JHWH, mein Gott, 5 Lass leuchten meine Augen, damit ich nicht zum Tod entschlafe!

Die Zuwendung des verborgenen Gottes wird zuallererst als persönlicher Blickkontakt erbeten (nbṭ hi.). Dieses Sehen ist in sich schon der entscheidende Akt, der den Beter aus der Todesfinsternis in die Helligkeit des Lebenslichts zurückholt (Ps 13,5: „Lass leuchten meine Augen, damit ich nicht zum Tod entschlafe!“). Das ist kosmische Metaphorik, die den Gegensatz von Licht und Finsternis, von Leben und Tod, evoziert.47 Analog zu Ps 6 vor Ps 7 steht auch Ps 13 an vorletzter Position der Reihe vor dem Höhepunkt der Wiederherstel-

                                                             47 Siehe dazu JANOWSKI, BERND, Das Licht des Lebens. Zur Lichtmetaphorik in den Psalmen, in: Ders., Die Welt als Schöpfung. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 4, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 2008, 221–248.

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lung der Weltordnung in Ps 14. Und wie Ps 6 schweigt er von Sünde und Verfehlung. Auch in ihm geht es nicht um die Frage der Ahndung von Vergehen, sondern um die Grundfesten der kosmischen Ordnung. Das Thema wird paradigmatisch an der kreatürlichen Lebensbedrohung des einzelnen Menschen durchgespielt. In den nachexilischen Psalmen 11–14 geht es ja, trotz der Rede von der „Gesamtheit“ (14,3) und ihrer Auflösung („Nichtiges redet ein Mann mit seinem Nächsten“ 12,3), immer auch um das Leben eines jeden Einzelnen: Gottes Blick vom himmlischem Thron gilt den benē ’ādām, den „Menschenkindern“ (Ps 11,4 mit Bezug auf Ps 8,5: „Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst und ein einzelner Mensch [bæn ’ādām], dass du nach ihm ausschaust? [Verb pqd]“48). In Ps 13 wird diese kosmische Reichweite der Rede vom Menschen bei näherem Hinsehen noch deutlicher markiert. Der Psalm zeigt bekanntlich den klassischen Aufbau eines individuellen Klagepsalms.49 Er weicht jedoch insofern von der üblichen Motivik ab, als seine Not dezidiert wie in Ps 6 die der Gottverlassenheit ist (s.u. zu Ps 22). Ps 13 besteht aus drei Teilen: I: V.2–3: Anrufung und Klage, II: V.4–5: Bitten, III: V.6: Vertrauen als Antizipation der Rettung oder als Rückblick auf die gewendete Not. Die Gottesnot als das zentrale Thema lässt sich an der zweifachen Wiederholung der Sequenz Gott – Ich – Feind in der Klage (V.2–3) und den dieser genau entsprechenden Bitten (V.4–5) feststellen. Wie in Ps 6 spielt der „Feind“ eine nach- und untergeordnete Rolle. Das eigentliche Geschehen des Psalms spielt sich wie in Ps 6 in der intimen Konzentration auf den als abwesend erfahrenen JHWH und den deshalb vom Tod bedrohten Beter ab. Anders als in Ps 6 und seinen Parallelen ist es in Ps 13 aber nicht das sog. argumentum ad deum (die Toten können Gott nicht loben), mit dem das sofortige Eingreifen JHWHs erreicht werden soll. Ps 13 thematisiert stattdessen die Frage nach der Stabilität der Weltordnung (Ps 13,5): Damit nicht sagen kann mein Feind: ,Ich habe ihn vernichtet!‘, (damit nicht) meine Widersacher jubeln (gīl), weil ich ins Wanken geraten bin (mōṭ Nif.)!

Das Stichwort des „Wankens“ hat primär kosmische Konnotationen; es ist nicht neutral (wie z.B. rāʻaš „beben“), sondern trägt oft eine theologische Betonung:50 Nach Ps 93,1–2, einem der wenigen älteren Jerusalemer Psalmen aus vorexilischer Zeit, gehört es zur positiven Qualität der Weltordnung: Ja, fest steht der Erdkreis, er kann nicht wanken (bal timmōṭ Nif.). Fest steht dein Thron von einst her, von fernster Zeit her bist du!

                                                             48 Für die Auslegung von Ps 8 vgl. HARTENSTEIN/JANOWSKI, Psalmen, BK 15/1.1–4, 290ff. (JANOWSKI). 49 Siehe etwa die Zusammenfassung der formalen Elemente und der thematischen Linien von Ps 13 bei JANOWSKI, Konfliktgespräche mit Gott, 56–57. 50 Siehe dazu JEREMIAS, JÖRG, Die Erde „wankt“, in: Ders., Studien zur Theologie des Alten Testaments (FAT 99), Tübingen: Mohr Siebeck 2015, 229–240.

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Das nimmt auch der nachexilische Schöpfungspsalm Ps 104,5 auf: Er hat gegründet die Erde auf ihren Fundamenten, nicht kann sie wanken (bal timmōṭ) für fernste Zeit und immer!

Nach dem Zionspsalm Ps 46, wieder mit vorexilischen Wurzeln, garantiert die Anwesenheit JHWHs in Jerusalem, dass die Gottesstadt nicht wankt (Ps 46,6): „Gott ist in ihrer Mitte, sie kann nicht wanken (bal timmōṭ), es hilft ihr Gott beim Morgenanbruch!“ Die feststehende Rede vom „nicht Wankenkönnen“ gehört offensichtlich zum alten Traditionsgut der unerschütterlichen Weltregierung JHWHs. Wenn nun aber Menschen für sich selbst beanspruchen, „nicht wanken zu können“ wie oben (2) am Beispiel von Ps 30 benannt (V.7: „Ich aber dachte in meiner Sorglosigkeit: ,Ich kann nicht wanken [bal ’æmmōṭ] für fernste Zeit!“), so erscheint das als Hybris. Ps 30,8 verweist ja sogleich darauf, dass Gott den Menschen augenblicklich „schreckensstarr“ werden lassen kann (s.o. II.). Andererseits gibt es – und das liegt ganz in der Logik des kosmischen Arguments – das Versprechen, dass JHWH die „Gerechtigkeit als Weltordnung“ (ṣedāqā) nicht nur eingerichtet hat, sondern aktiv an ihr weiterwirkt.51 In ihr zeigt sich sozusagen der Schöpferwille zum „Sinn“ der Welt – deshalb die Bitte von Ps 13, dass JHWH den Beter nicht „zum Tod entschlafen lassen darf“. Die Pointe ist gerade keine eigennützige, sondern sie betrifft die allgemeinste Ebene, indem sie die Gottheit Gottes herausfordert V.5): „(damit nicht) meine Widersacher jubeln (jāgīlū), weil ich in’s Wanken geraten bin (’æmmōṭ)!“ Der an sich kultische (bei der Toda vonseiten der Geretteten) ertönende „Jubel“ (gīl) der Feinde wäre Ausdruck dafür, dass JHWH das Chaos zuließe und sich selbst widerspräche – ein Antigottesdienst, den er nicht wollen kann. Stattdessen wird am Ende der Jubel des Herzens des Beters stehen (erneut gīl). Der JHWH entsprechende Dankgottesdienst kann weitergehen (Ps 13,6):52 Ich aber, auf deine Gemeinschaftstreue/Gnade habe ich vertraut! Es juble (gīl) mein Herz über deine Rettung(stat)! Ich will singen JHWH, denn er hat es mir gewendet!

Dass diese Interpretation Ps 13 gerecht wird, kann schließlich vollends daraus abgeleitet werden, dass – wie bereits vermerkt – der zweite Teil des späten Ps 9/10, Ps 10, mehrfach Ps 13 zitiert, um die Gerechten zu destabilisieren. Der Frevler brüstet sich in seinem Inneren in Ps 10,6 unter Aufnahme von Ps 13,5:

                                                             51 Für das Alte Testament immer noch nützlich ist dazu SCHMID, HANS HEINRICH, Gerechtigkeit als Weltordnung. Hintergrund und Geschichte des alttestamentlichen Gerechtigkeitsbegriffs (BHTh 40), Tübingen: Mohr Siebeck 1968; für Altägypten vgl. das wirkmächtige Buch von ASSMANN, JAN, Ma’at. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im Alten Ägypten, München: C.H. Beck 1990. 52 Vgl. zur Motivik des Jubelns in den Psalmen ABART, CHRISTINE, Lebensfreude und Gottesjubel. Studien zu physisch erlebter Freude in den Psalmen (WMANT 142), Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 2015, 251–287 (zu gīl „jauchzen“), bes. 252–263 zu Ps 13.

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Nicht kann ich wanken [bal ’æmmōṭ], Generation um Generation, die ich nicht im Unglück bin!

In Ps 10,11 werden dann auch die Klagen und Bitten aus Ps 13,2.4 aufgenommen und ihre Grundlage verneint: „Vergessen hat Gott (vgl. Ps 13,2a), hat verborgen sein Angesicht (vgl. Ps 13,2b), nicht sieht er (mehr) (Ps 13,4) für ewig!“

Damit wird auch jenes letzte Vertrauen auf den Schöpfer, der das Leben will, destruiert, das Ps 13 in der Abfolge der Reihe Ps 11–14 zum Ausdruck bringt. Angesichts von Todesbedrohung und der darin wahrgenommenen Abwendung Gottes fordert Ps 13 nichts weniger als die „Bedeutung der Welt“ (Volker Gerhardt) ein (s.o. I.). Er schreit nicht in ein gleichgültiges Nichts hinaus, sondern artikuliert mit dem kreatürlichen Ruf nach Sinn im Angesicht der Vernichtung einen letzten Appell an den Gott der Weltordnung. Dessen Gottheit steht auf dem Spiel, wenn er sich nicht wieder zuwendet. Der cri de cœur (s.o. II.) hat also auch biblisch sein eigenes Recht. Er verlangt nach der Einlösung des Versprechens der Welt in ihrem Beziehungsgefüge und ihrer Transzendenz. In Bezug auf beides finden sich Menschen immer schon vor. Ob und wie der Ruf erhört wird, liegt nicht in ihrer Macht. Aber er verlangt nach einer konkret erfahrbaren Wende zum Guten, die Ps 13 wie die meisten Klagepsalmen imaginiert (s.o. zu V.6).53 In christlicher Perspektive wird das vor allem in der Rezeption von Ps 22 deutlich. Diesem Psalm wende ich mich nun abschließend noch zu. 5. Psalm 22 in der Teilkomposition Ps 15–24: Rekurs auf den persönlichen Schöpfer als Überwindung der Gottesferne Nur ganz kurz soll am Ende darauf hingewiesen werden, dass sich auch in der zweiten Teilkomposition des Psalters, Ps 15–24, zu der viel geforscht wird, ein Gebet findet, in dem „jenseits von Sünde und Schuld“ aus Gottverlassenheit zu JHWH gerufen wird. Es handelt sich um Ps 22, die „Blaupause“ für die narrative Gestaltung der synoptischen Passionserzählung.54 Er erfüllt im Aufbau von

                                                             53 Es gibt freilich auch noch Ps 88, der bis ans Ende in der Verwundung zum Tode verbleibt und so den Appell an den Gott des Lebens noch verstärkt – auch das ein Zeugnis der Bandbreite an Erfahrungen, die den Psalter prägen. Zu Ps 88 siehe JANOWSKI, Konfliktgespräche mit Gott, 231–250; ausführlich SCHNOCKS, JOHANNES, Rettung und Neuschöpfung. Studien zur alttestamentlichen Grundlegung einer gesamtbiblischen Theologie der Auferstehung (BBB 158), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009, 56–160; HARTENSTEIN, Wunder im Alten Testament, 302–305. 54 Zur Rezeption von Ps 22 im Markusevangelium vgl. jetzt JANOWSKI, BERND, „Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen?“ Zur Rezeption der Psalmen in der Markuspassion, in: Ders., Leben in Gottes Gegenwart. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 7, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 2021, 169–200.

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Ps 15–24 eine ähnliche Aufgabe wie Ps 6 und 13 in Ps 3–14. Zur Struktur der Psalmengruppe sei nur das Nötigste angedeutet.55 Die überlieferte Endkomposition hat einen klar erkennbaren konzentrischen Aufbau, der in drei Ringen um den Kerntext Ps 19 herum gelegt ist: A Ps 15 (Eingangsliturgie) B Ps 16 (Vertrauenslied) C Ps 17 (Bittgebet um Hilfe) D Ps 18 (Königs[dank]lied) E Ps 19 (Schöpfungs- und Tora-Psalm) D’ Ps 20–21 (Königsbitt- und Danklieder) C’ Ps 22 (Bittgebet um Hilfe) B’ Ps 23 (Vertrauenslied) A’ Ps 24 (Eingangsliturgie)

Deutlich ist dabei, dass dieser Aufbau das Ergebnis einer mehrstufigen Wachstumsgeschichte in der Zeit des zweiten Tempels ist. Wahrscheinlich stand am Anfang bereits ein Rahmen aus zwei Vertrauensliedern (Ps 16 und 23), der um die zweifache Abfolge eines Bitt- und Dankliedes (Ps 17–18 und 20–21) herum gelegt wurde. Der ältere Kern des Ganzen war dabei ein kleiner „Cluster“ aus Königsgebeten aus staatlicher Zeit (Grundfassungen von Ps 18; 20; 21). Diese erste Fassung war vom tempeltheologischen Vertrauen auf JHWH geprägt, der seinem König (David als dem exemplarischen Gerechten) durch alle Gefahr beistehen wird. Die königs- wie tempelbezogene Hoffnung der nachexilischen Zeit wurde dann dadurch erweitert, dass Ps 22,1–27 als ein Bitt- und Danklied eines schuldlos leidenden Gerechten zwischen Ps 21 und 23 eingestellt wurde. Dadurch geriet Ps 20 (das Bittlied für den König) in die Zentrumsposition: Ps 16 (Vertrauenslied) Ps 17 (Bittgebet angesichts der Frevler) Ps 18 (Königs-Danklied) Ps 20 (Königs-Bittgebet) Ps 21 (Königs-Danklied) Ps 22,1–27 (königsbezogen gelesen: Klage/Dank des exemplarisch Leidenden) Ps 23 (Vertrauenslied)

Zwei weitere Ergänzungen führten schließlich zur vorliegenden Überlieferungsgestalt der Teilkomposition: In einer spätperserzeitlichen/frühhellenistischen Ausbaustufe wurden die ethisch(-eschatologisch) ausgerichteten Psalmen 15 und 24 als neuer äußerer Rahmen angefügt; außerdem wurde auch Ps

                                                             55 Für eine eingehende kompositions- wie redaktionskritische und theologiegeschichtliche Analyse der Teilkomposition Ps 15–24 und von Ps 22 in diesem Kontext vgl. demnächst HARTENSTEIN, FRIEDHELM, „Nun weiß ich, dass JHWH seinem Gesalbten hilft!“ (Psalm 20,7). Die Teilkomposition Psalm 15–24: Struktur, Themen und Entstehung, in: Ders., Gottesbegegnung. Studien zu Psalmen, Psalter und Kult (FAT), Tübingen: Mohr Siebeck 2022 (in Vorbereitung).

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22 um die universale Heilserwartung am Ende erweitert (V.28–32). Schließlich setzte man in fortgeschrittener hellenistischer Zeit noch den weisheitlichen Torapsalm Ps 19 als neues Zentrum in die Mitte (ähnlich wie das in derselben Periode auch mit Ps 9/10 als neuem Zentrum der Teilkomposition Ps 3–14 geschehen war, s.o. III.2). Inhaltlich verlagerten sich durch jede Erweiterung die Tendenzen der Psalmenfolge 15–24. Die Grundlagen hielten sich dabei durch: Es geht um die Königsfigur des „Gesalbten“ JHWHs, die als eine spirituelle wie politische Erfahrungs- und Erwartungsgröße dient, mit der sich die „wir“ (betendes Israel) identifizierten und so die Gewissheit gewannen, dass JHWH seine Erwählten in allen Anfechtungen am Ende bewahren würde. Dazu dienten auch die Gebote als Lebensorientierung (vgl. Ps 15 und 24 und Ps 19). Wie lässt sich in diesem gewachsenen Gefüge die Einfügung von Ps 22 und die damit verbundene besondere Absicht genauer verstehen? Ps 22 ist von seiner Gesamtform her ein am Ende eschatologisch ausgeweitetes Danklied.56 Ihm kommt schon allein durch seine Länge, aber auch seinen besonderen Inhalt ein exemplarischer Charakter für die Errettung der Gerechten zu. Der Beter – das unterscheidet ihn von fast allen Psalmen der Reihe Ps 15–24 – ist wie gesagt keine explizit königliche Gestalt, sondern ein unschuldig Leidender und Verfolgter wie Jeremia oder der Knecht aus dem zweiten Teil des Jesajabuchs. Er wird deshalb zur Projektionsfläche für alle Armen und Unterdrückten, denen angekündigt wird, dass sie bei JHWH satt werden und aufleben (vgl. Ps 22,25.27). Wie Ps 6 und 13 schweigt auch Ps 22 völlig von menschlicher Schuld. Was den Beter trifft, seine „eigentliche Not“, ist auch hier eine unerklärliche Gottverlassenheit bzw. Gottesferne (vgl. rḥq „fern sein“ in Ps 22,2.12.20 als Leitwort); unerklärlich um so mehr, als Ps 22,2 – wie Ps 13,4 – von der intensiven persönlichen Gottesbeziehung geprägt ist, die das vorausgehende Vertrauen bestimmt hat (vgl. die Anreden ’ēlī bzw. ’ælōhāj „mein Gott“).57 Der lange Text beginnt mit dem dominanten Klageteil in zwei Durchgängen Ps 22,2–22 (I: V.2–12, II: V.13–22). V.22 ist ein Gelenkvers mit einer mehrdeutigen Erhörungsaussage. Daran schließt sich der ebenfalls zweiteilige

                                                             56 Aus der Fülle der Literatur seien nur genannt IRSIGLER, HUBERT, Psalm 22: Endgestalt, Bedeutung, Funktion, in: Josef Schreiner (Hg.), Beiträge zur Psalmenforschung: Psalm 2 und 22 (fzb 60), Würzburg: Echter 1988, 193–239 (für textgeschichtliche und strukturelle Aspekte); BESTER, DÖRTE, Körperbilder in den Psalmen. Studien zu Psalm 22 und verwandten Texten (FAT II/24), Tübingen: Mohr Siebeck 2007 (monographische Untersuchung der Leibmetaphorik in Ps 22); JANOWSKI, Konfliktgespräche mit Gott, 347–354. 57 Zur persönlichen Gottesbeziehung bzw. „Frömmigkeit“ im Alten Testament im Kontext des Alten Orients vgl. immer noch VORLÄNDER, HERMANN, Mein Gott. Die Vorstellungen vom persönlichen Gott im Alten Orient und im Alten Testaments (AOAT 23), Kevelaer: Butzon & Bercker/Neukirchen: Neukirchener 1975; ALBERTZ, RAINER, Persönliche Frömmigkeit und offizielle Religion. Religionsinterner Pluralismus in Israel und Babylon (CThM 9), Stuttgart: Calwer 1978.

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Dankliedteil in Ps 22,23–32 an (I: V.23–27, II: V.28–32). Wie auch die Psalmen 6 und 13 endet Ps 22 mit einem Rückblick auf die gewendete Not, der in diesem Fall deutlich das oben (II.) benannte rituelle Setting der Toda am Heiligtum evoziert (vgl. V.23 die Selbstaufforderung zum „Erzählen“ [spr Pi.] der Rettung vor JHWH und der Gemeinde, V.24 die Lobaufforderung an die Versammelten, V.27ff. der Ausblick auf das Heil der Armen und aller Welt [V.27ff.]). Mein Fokus liegt ganz auf dem ersten Klageteil (V.1–12), weil sich in ihm ein vergleichbares Argumentationsmuster wie in Ps 6 und 13 zeigt, das für den Psalterkontext, in dem es auftaucht, eine prägende Wirkung hat. Ps 22 beginnt wie gesagt mit der Klage über den totalen Abbruch des Gotteskontakts ohne jede Schuld des betenden „Ich“ (V.2f.): 2 Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen, fern (rāḥōq) meiner Rettung sind die Worte meines Schreiens!58 3 Mein Gott, ich rufe am Tag, aber du antwortest nicht, und in der Nacht, aber da ist keine Ruhe für mich!

Diesem Schrei der Gottverlassenheit, der wie in Ps 6 und 13 zuerst als Gottund Ichklage artikuliert wird, steht in V.4–6 sogleich eine zweiteilige Vertrauensaussage gegenüber, die sich aber als schwankender Boden herausstellt, auf dem der Beter in seiner spezifischen „Gottesnot“ keinen Halt mehr gewinnt: a) JHWH über Israels Lobgesängen: 4 Du aber bist heilig (qādōš), thronend (über) den Lobgesängen Israels! b) Das Vertrauen der Väter auf Rettung: 5 Auf dich haben unsere Väter vertraut (bṭḥ), sie haben vertraut (bṭḥ), und du hast sie befreit! (plṭ). 6 Zu dir haben sie geschrien und konnten entkommen, auf dich haben sie vertraut (bṭḥ) und wurden nicht zuschanden!

Über dem in tiefste Tiefen zurückgestoßenen Beter thront nach V.4 der „heilige Gott“ weit über den Dank- und Lobgottesdiensten Israels, also vermutlich auch hier im Himmel. „Heiligkeit“ (Wurzel qdš) kommt dabei ambivalent zur Sprache. Sie trennt ja auf grundsätzliche Weise JHWH von den Menschen (vgl. Jes 6). Die mit ihr verbundene Distanz kann aber rituell (und ethisch) überbrückt werden. Dem Beter von Ps 22 ist dieser Weg jedoch verschlossen. Der Bruch der persönlichen Gottesbeziehung schließt ihn von den Lobgesängen Israels (tehīllōt) aus. Was das bedeutet entfaltet der zweite Teil der nicht mehr belastbaren Vertrauensaussage: Dreimal fällt in V.5 das Stichwort des „Vertrauens“ (Verb bṭḥ), das die Haltung der Väter(generationen) Israels ausmachte. Sie „vertrauten“ auf JHWHs Rettungsmacht (etwa beim Exodus, in der Wüste,

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Die den Psalm prägende Konzentration auf die Gottesbeziehung „jenseits von Schuld und Sünde“ könnte freilich im Licht des griechischen Psalms 21 (MT 22) wieder fraglich werden, denn dieser hat in V.2 eine Sündenaussage, die dem Psalm im Ganzen ein anderes Gesicht verleiht: „Weit weg von meiner Rettung sind die Worte meiner Verfehlungen (paráptoma).“ Ob hier eine andere hebräische Version oder ein Textproblem im Hintergrund stehen oder aber, ob die Änderung bewusst erfolgte, lässt sich nicht eindeutig entscheiden (in Qumran ist Ps 22,2 nicht erhalten).

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der Landgabe), sie schrien zu ihm, wenn sie in Feindes- und Hungersnot gerieten und sie wurden von Gott befreit (plṭ). Dem einzelnen unerklärlich in die Gottesferne versetzten Beter sind die Heilsnarrative Israels nicht mehr zugänglich. Gott selbst hat ihn vom Ort ihrer Vergegenwärtigung, dem Tempel, ausgeschlossen. Die Möglichkeit der Toda ist ihm gerade verwehrt (sie wird dann in der zweiten Hälfte des Psalms um so grundsätzlicher ausgeweitet). Das betende „Ich“ ist ganz auf sich selbst geworfen. Wie in Ps 6 und 13 folgt nach Gott- und Ichklage auch in Ps 22 erst an nachgeordneter Stelle die Not durch die Feinde. Es ist die eigene soziale Umgebung, die den Beter schmäht und verhöhnt. Letzteres wird im einzigen Feindzitat in Ps 15–24 (s. III.2) betont: 7 Ich aber – ein Wurm und kein Mensch, eine Schmähung der Leute und verachtet beim Volk. 8 Alle, die mich sehen, spotten über mich, höhnen mit der Lippe, schütteln das Haupt: 9 „Wälze es auf JHWH! – der soll ihn befreien (plṭ), soll ihn herausreißen, wenn er Gefallen an ihm hat!“

In den Augen seiner Umgebung ist der Beter kein Mensch mehr, sondern nur noch das Objekt herabwürdigender Rede in Spott und Demoralisierung. Damit ist in Ps 22 betonter als in Ps 6 und 13 jede soziale Erhörung verwehrt. Ganz bewusst wird im Gegnerzitat die in der schwankenden Vertrauensaussage von V.4f. enthaltene Dimension des Ausschlusses aus dem Kreis derer, die sich als Israel identifizieren und von den kollektiven Heilsnarrativen leben, noch einmal verstärkt: Das Stichwort der Rettungserfahrungen der „Väter“ (plṭ „befreien“) wird allein dem Beter aufgelastet, indem JHWHs „Gefallen“ an ihm ausdrücklich in Zweifel gezogen wird. Zugleich zeigt die doppelte Isolation des Beters (nicht nur durch JHWH, auch durch seine unmittelbare Mitwelt verstoßen), dass alles ausschließlich bei Gott liegt. Der Beter hat keine Handlungsmöglichkeit außer dem cri de cœur. Deshalb schließt sich an die Klagen der vollkommenen Zurückweisung durch Gott und Gemeinde sogleich eine zweite Vertrauensaussage an. In ihr erscheint erneut das Stichwort bṭḥ „vertrauen“ aus der dem Beter nicht mehr zugänglichen Identifikation mit den Väternarrativen (vgl. V.5–6): 10 Ja, du bist es, der mich hervorgezogen hat aus dem Mutterleib, der mich vertrauen ließ (bṭḥ Hif.) auf den Brüsten meiner Mutter! 11 Auf dich bin ich geworfen vom Mutterschoß an, vom Leib meiner Mutter her bist du mein Gott!

An die Stelle der geschichtlichen Erinnerung und der mit ihr (rituell vermittelten) Eingliederung in die Gemeinschaft mit Gott und Mitmenschen tritt nun ähnlich wie in Ps 6 und 13 ein Argument, das JHWH nicht abweisen kann. Es ist erneut ganz grundsätzlicher Natur und in Ps 22 jetzt ausdrücklich schöpfungstheologisch (nach Ps 6 [Kein Lob in der Totenwelt] und 13 [Infragestellung der Weltordnung]): Das persönliche Gottesverhältnis des Beters gründet eben nicht allein in seiner Zugehörigkeit zum erwählten Volk Israel, sondern

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es wurzelt tiefer in der mit der Geburt gestifteten unlöslichen Verwandtschaftsbeziehung zwischen Schöpfer und Geschöpf (V.11): „Vom Leib meiner Mutter her bist du mein Gott!“ JHWH ist neben der leiblichen Mutter, die das Kind zur Welt gebracht hat, der Geburtshelfer bzw. die Hebamme, die dazu verholfen hat, das diese erste Krise eines jungen Lebens glücklich überstanden wurde.59 Daran bindet sich ein Versprechen auf Zukunft hin, auf das der ansonsten wie einst bei seiner Geburt in der Todesnähe wieder völlig „nackte“ Beter von Ps 22 sich beruft:60 „Du bist es, der mich hervorgezogen hat aus dem Mutterleib, der mich vertrauen ließ (bṭḥ Hif.) auf den Brüsten meiner Mutter.“ (V.10). Der alltägliche, aber auch gefährdete Vorgang des Geborenwerdens, der sich jeder eigenen Erinnerung entzieht, stiftet ein Grundverhältnis, das dem von Gott und Weltordnung (vgl. Ps 13) entspricht. Der Appell von Ps 22 richtet sich an den persönlichen Schöpfer in genau gleichsinniger Weise wie der Beter von Ps 13 sein eigenes Schicksal unlöslich mit dem Versprechen der kosmischen Gerechtigkeit verbunden sieht. In der Perspektive altorientalischer Religionsgeschichte ist das einerseits nichts spektakulär Neues. Auch dort ist die persönliche Gottesbeziehung seit der Geburt (verknüpft mit entsprechender Namengebung) ein prägendes Element der Religion auf der Ebene der Familie und des Einzelnen.61 Im frühjüdischen schöpfungstheologischen Monotheismus scheint diese Tradition im Blick auf ihren impliziten theologischen Gehalt neu entfaltet zu werden.62 So

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Vgl. zur Metaphorik von JHWH als Geburtshelfer(in) in Ps 22 GROHMANN, MARIFruchtbarkeit und Geburt in den Psalmen (FAT 53), Tübingen: Mohr Siebeck 2007, 50–69. 60 Vgl. dazu Koh 5,14: „Wie er aus dem Mutterschoß herauskam, nackt kehrt er wieder zurück wie er gekommen ist.“ 61 ALBERTZ, Persönliche Frömmigkeit und offizielle Religion, 42, verweist bereits auf den auch für Ps 22 relevanten Schöpfungsbezug des Einzelnen in den Individualklagen, der freilich theologiegeschichtlich im Licht der heutigen Erkenntnisse zur Entwicklung des frühjüdischen Monotheismus präziser analysiert werden muss: „Die urtümliche, letztlich durch das Erschaffensein begründete Vertrauensbeziehung des einzelnen Menschen zu seinem Gott hält sich in individuellen Notsituationen weit stärker durch als die geschichtliche Beziehung zwischen Jahwe und Israel in einer politisch-militärischen Notlage.“ 62 Auch im Hiobbuch ist die Erwartung der „Lösung“ (Wurzel g’l) aus der nicht verschuldeten Gottesnot am ausdrücklichsten an die schöpfungstheologische Verwandtschaftsmetapher mit ihrer auch emotional grundierten Verpflichtung zu Schutz und Förderung verbunden (vgl. Hi 19,23–27). Zur Auslegung der für die Themastruktur des Hiobbuchs im Ganzen zentralen Stelle vgl. KESSLER, RAINER, „Ich weiß, dass mein Erlöser lebet“. Sozialgeschichtlicher Hintergrund und theologische Bedeutung der Löser-Vorstellung in Hiob 19,25, in: Ders., Gotteserdung. Beiträge zur Hermeneutik und Exegese der Hebräischen Bibel (BWANT 170), Stuttgart: Kohlhammer 2006, 191–206; SCHNOCKS, Rettung und Neuschöpfung, 50–53; MEYER ZUM FELDE, NINA, Hiobs Weg zu seinem persönlichen Gott. Studien zur Interpretation von Psalmen im Hiobbuch (WMANT 160), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020, 201–210. ANNE,

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nimmt der zeitlich nicht weit von Ps 22 entfernte Ps 139, das „Wunder“ der Anwesenheit Gottes am Lebensanfang, die der Erinnerung unzugänglich bleibt, ebenfalls als Anker der Gewissheit in einer ansonsten gefährdeten Gegenwart: 13 Ja, du hast meine Nieren geschaffen, hast mich gewoben im Leib meiner Mutter! 14 Ich will dir danken/dich preisen (jdh Hif.) dafür, dass furchterregend wunderbar ich gemacht bin (pl’ Nif.)! Wunderbar (niplā’īm) sind deine Werke! Ich habe das sehr genau erkannt!

So hat die den ersten Klagedurchgang Ps 22,2–12 beschließende erneute Bitte an JHWH, sich aus der Ferne zum Beter zu bewegen, nun einen belastbaren Grund (V.12): „Sei nicht fern (rḥq Qal) von mir, denn Not/Enge ist nah, denn es ist kein (anderer) Helfer!“ Zwischen der ersten Bitte zur Überwindung der Gottesferne (V.2) und der zweiten (V.12) wird ein gedanklicher Fortschritt erzielt, der sich „jenseits von Sünde und Schuld“ an die einzige Instanz wendet, der zugetraut werden kann, dass sie die durch ihre eigene Abwesenheit entstandene Lücke von Leid und Bedrohung wieder schließt; einfach, indem sie sich belebend bemerkbar macht und so den Kreislauf von Licht, Leben und Loben (s. II.) erneut bestätigt. 6. Resümee zum exegetischen Teil Für die Ausgangsfrage dieses Beitrags, welche Erschließungskraft der Begriff der Resilienz für die alttestamentliche Exegese haben könnte, bestätigt sich nach diesem Durchgang, dass „Resilienz“ ohne Berücksichtigung der Erkenntnisse der Traumaforschung unzureichend bleibt. Es zeigt sich weiter, dass es angesichts der Argumentationsmuster aus Ps 6; 13 und 22 auch zu kurz greift, wenn man allein die jedem Psalm als Sprechakt zugrunde liegende vorausgehende Gotteserfahrung zur Resilienz der biblischen Beter zählt. Dasselbe gilt für die Antizipation des Heils, mit der die meisten Klagepsalmen enden. Hier wäre es fragwürdig, darin bereits eine reibungslose „Lösung“ der Gespräche mit dem abwesenden Gott zu sehen. Wie zu zeigen war, ist die Einfügung von Psalmen ohne Schuld-Strafe-Bezug in die Psalmensammlungen auch ein Statement der intellektuellen Bearbeitung von Gottesnot in nachexilischer Zeit im Rahmen des schöpfungstheologischen Monotheismus. In Ps 6, 13 und 22 wird – angesichts des brüchig gewordenen Sinnversprechens, „dass ein Gott ist“ – die Sprach- und Handlungsmacht der Leidenden zur Probe auf das Sinnversprechen des Ganzen. Bereits unter den Bedingungen der antik-biblischen Theodizee wird ausgedrückt, dass es „am Ende“ ganz allein an Gott liegt, auf den „Schrei des Herzens“ zu reagieren. Und nur hinterher, nach jeder konkreten einzelnen Erfahrung einer Wende zum Guten, lässt sich überhaupt davon sprechen und das niemals bruchlos. Thauma „Wunder“ und Trauma „Wunde“ heben einander nicht auf. Auch die christliche Erinnerung an Jesu Tod und an das sie allererst anstoßende Ereignis, das als Auferweckung gedeutet wurde, trägt

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dieselbe brüchige Signatur. Ein biblisch angeregtes Denken wird die damit verbundene bleibende Fraglichkeit als das Versprechen offenhalten, dass der Schrei nicht ungehört verhallt.

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Jenseits von Sünde und Schuld

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„Du machtest mich stark wie einen Wildstier“ (Ps 92,11) Resilienzmuster in den Psalmen Christian Frevel Der folgende Beitrag besteht aus zwei aufeinander bezogenen und dennoch getrennten Teilen. Der erste Teil versucht in eher theoretischen Reflexionen die Anschlusspunkte biblischer Anthropologie an die gegenwärtigen Resilienzdiskurse zu beschreiben. Er bewegt sich von der kritischen Reflexion des Begriffs hin zu einer produktiven Rezeption der Resilienzmetapher. Der zweite Teil ist eher an Resonanzen des Resilienzdiskurses in der Psalmenlektüre interessiert. Er beginnt mit Überlegungen zur Performativität im Vollzug der Psalmen und erarbeitet dann einen Überblick über die Resilienzsemantik und die daraus gebildeten metaphorischen Netzwerke und Metapherncluster, die als Resilienznarrativ gedeutet werden. Die Resilienzaussagen, die abschließend in sieben Mustern geordnet werden, verstehen sich als resilienzproduktive Muster, die auf die Emergenz von Resilienz im Vollzug der Psalmen ausgerichtet sind und damit die Resilienz der Rezipientinnen und Rezipienten mit der Resilienz der Textwelt verbinden. Abschließend wird der Ertrag in zwei Überlegungen zusammengefasst.

I. Heilige Resilienz oder unheilige Allianz – Eine Einleitung vor dem Hintergrund der Resilienzforschung Der Blick in eine Suchmaschine wie den Google Ngram Viewer kann den Eindruck bestätigen, dass der Begriff Resilienz seit zwei Jahrzehnten in einer Weise boomt wie kaum ein anderer. Resilienz ist ein Modethema und offenbar trifft die Beschäftigung damit im wahrsten Sinne einen wunden Punkt in der Fragilität gegenwärtiger Verfasstheit. Dabei diffundiert die Grundorientierung an der seelischen Gesundheit des Menschen und der Menschheit in alle Bereiche der Soziologie, der Kulturwissenschaften, der Geographie, der Ingenieurwissenschaften und der Lebenswissenschaften. Auf den ersten Blick hat man den Eindruck eines undifferenzierten Überall von Resilienz, denn offenbar wird kein Bereich des Lebens ausgespart und der Begriff überspannt die ganze

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Breite der Phänomene von Strukturen und Systemen, Räumen und Zeiten, Ökonomie und Gesellschaft, Technik und Architektur, vor allem aber das weite Feld der Gesundheit, wo eine gewachsene „Kernkompetenz“ des Begriffs zu liegen scheint. 1. Resilienz und Vulnerabilität – Mehr als nur ein produktiver Gegensatz Was aber ist dann Resilienz? Die Unschärfe des Konzepts ist Teil des Erfolgs und es bedarf kaum großer Anstrengung zu erkennen, dass der Oppositionsbegriff Vulnerabilität den Horizont bildet, vor dem über Resilienz nachgedacht wird. Der Resilienzdiskurs ist auch ein Krisenphänomen, in dem sich die unerlöste Verlorenheit, Fragilität und Ortlosigkeit des Menschen in der Nachmoderne verdichtet. Häufig geht es dabei um die Verheißung einer besseren Welt, in der Resilienz simplifizierend mit Stressresistenz und Widerstandskraft identifiziert wird und Resilienz als wegbegleitendes Ideal gegen die Flut des Widrigen Dämme errichtet. Resilienz wird dabei zu einem Zustand, den man entweder hat oder eben nicht. Der Idealzustand der Resilienz schließt die Krise nicht ein, sondern aus und schafft sich eine Welt, in der Veränderung Schwäche bedeutet. Resilienz wird mit Perfektion verwechselt und zur normativen Instanz figuriert. Resilienz und Vulnerabilität rücken dabei fälschlicherweise in eine diametrale Opposition und schließen sich gegenseitig aus. Resilienz wird verzweckt und verkommt zur stabilisierenden Aufrechterhaltung der Funktionalität: „In einer vermeintlich von Terror und anderen Krisen, Katastrophen und Kriegszuständen dauerhaft heimgesuchten Welt – so der legitimierende Hintergrund-Sound des Resilienz-Dispositivs – soll eine umfassende Widerstandsfähigkeit und Krisenkompetenz zur Kardinaltugend werden.“1 2. Unschärfen der Sehnsucht – Kritik der Resilienz Der akademische Diskurs mag sich noch so anstrengen, die simplen Synonymien und Antonymien durch Differenzierung aufzubrechen und das darin von den verwundeten Gesellschaften sehnsüchtig ergriffene Hoffnungspotenzial zu dämpfen; die Idee der Verbesserung der bestehenden Welt scheint dem Konzept unausrottbar einzuwohnen oder immer wieder darin eingeschrieben zu werden. In diesem Sumpf aus Widerstand und Hoffnung, funktionaler Kontinuität und Veränderung des Bestehenden hat Resilienz lange den Status begrifflicher

                                                             1 SLABY, JAN, Kritik der Resilienz, in: Philipp Wüschner/Frauke A. Kurbacher (Hg.), Was ist Haltung? Begriffsbestimmung, Positionen, Anschlüsse, Würzburg: Königshausen & Neumann 2016, 273–298, 273.

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Innovation verlassen und sich den einer universalen Chiffre erarbeitet. Resilienz ist ein Breitband-2 und Containerbegriff3, ein Trendkonzept4 und ein „Gravitationszentrum internationaler wie interdisziplinärer Forschung“5, kurzum geradezu ein Universalnenner oder ein – wie es immer wieder in der Literatur heißt – Sehnsuchtsbegriff6 und ein „Zauberwort“7, das von Ambivalenzen und Klärungsbedürftigkeit nur so strotzt.8 Inzwischen gehört auch die allgegenwärtige Kritik an der Unschärfe des Konzepts und dem immer weiter diffundierenden Modethema „Resilienz“ zum guten Ton.9 Die besondere Gefährdung Sein und Sollen zu vertauschen, Resilienz zum normativen Konzept zu machen und anstelle des Prozesses nur das Ergebnis zu sehen, verbindet den Resilienzdiskurs mit dem Perfektionierungsdiskurs und sieht sich vergleichbaren Ambivalenzen und Herausforderungen in Theologie und Anthropologie gegenüber.10 Resilienz ist also wie alle Begriffe sicher

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VOGT, MARKUS/SCHNEIDER, MARTIN, Zauberwort Resilienz. Analysen zum interdisziplinären Gehalt eines schillernden Begriffs, in: MThZ 67/3 (2016), 180–194, 181. 3 FRICK, ECKHARD, Die eigene Verwundbarkeit und Hilfsbedürftigkeit spüren – lebensgeschichtliche Verletzungen und konstitutionelle Vulnerabilität, in: Jochen Sautermeister/Tobias Skuban (Hg.), Handbuch psychiatrisches Grundwissen für die Seelsorge, Freiburg i.Br.: Herder 2018, 72–91, 87. 4 WEIß, MATTHIAS/HARTMANN, SILJA/HÖGL, MARTIN, Resilienz als Trendkonzept. Über die Diffusion von Resilienz in Gesellschaft und Wissenschaft, in: Maria Karidi/Martin Schneider/Rebecca Gutwald (Hg.), Resilienz. Interdisziplinäre Perspektiven zu Wandel und Transformation, Wiesbaden: Springer 2018, 13–32. 5 ENDREß, MARTIN/RAMPP, BENJAMIN, Resilienz als Prozess transformativer Autogenese. Schritte zu einer soziologischen Theorie, in: Behemoth 7/2 (2014), 73–102, 74. 6 RICHTER, CORNELIA/POHL-PATALONG, UTA (Hg.), Themenheft Resilienz – Problemanzeige und Sehnsuchtsbegriff, PrTh 51/2 (2016). 7 VOGT/SCHNEIDER, Resilienz. 8 RICHTER, CORNELIA (Hg.), Ohnmacht und Angst aushalten. Kritik der Resilienz in Theologie und Philosophie (Religion und Gesundheit 1), Stuttgart: Kohlhammer 2017; SCHNEIDER, MARTIN/VOGT, MARKUS, Selbsterhaltung – Kontrolle – Lernen. Zu den normativen Dimensionen von Resilienz, in: Maria Karidi/Martin Schneider/Rebecca Gutwald (Hg.), Resilienz. Interdisziplinäre Perspektiven zu Wandel und Transformation, Wiesbaden: Springer 2018, 103–123, 104. 9 RICHTER, CORNELIA/BLANK, JENNIFER, „Resilienz“ im Kontext von Kirche und Theologie. Eine kurze Einführung in den Stand der Forschung, in: PrTh 51/2 (2016), 69–74, 69– 70 sowie die Hinweise bei SLABY, Kritik. 10 FREVEL, CHRISTIAN, „Gib mir das Leben!“ (Jes 38,16) Biblisch-anthropologische Blicke auf die Vervollkommnung des Menschen, in: Thomas Bahne/Katharina Waldner (Hg.), Die Perfektionierung des Menschen? Religiöse und ethische Perspektiven (Vorlesungen des interdisziplinären Forums Religion der Universität Erfurt 13), Münster: Aschendorff 2018, 217–240; VAN OORSCHOT, JÜRGEN/WAGNER, ANDREAS, Perfektion und Perfektibilität in den Literaturen des Alten Testaments. Ein Blick auf Konzepte und Gegenkonzepte in den alttestamentlichen Literaturen (VWGTh 63), Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2020.

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weder harmlos noch unschuldig. Die Ambivalenz im Bereich der Anthropologie lässt sich in zwei Richtungen beschreiben, die sich erneut an der Diastase von Prozess und Ergebnis festmachen: Günther Opp macht darauf aufmerksam, dass die Zuschreibung von individueller Verantwortung, den zum normativen Ideal erhobenen Resilienzvorstellungen zu entsprechen, dann zu Ausgrenzung und Schuldzuschreibungen führen kann, und zwar gerade dann, wenn das Faktum gegebener Vulnerabilität geleugnet wird: „Tendenziell könnten Resilienzvorstellungen die Zuschreibung individueller Verantwortung für die Folgen gesellschaftlich verursachter sozialer Probleme legitimieren.“11 Und Cornelia Richter und Jennifer Blank heben hervor, dass Resilienz ein „hochgradig ambivalenter Begriff [ist], weil sich als resilient nicht nur die sogenannten Opfer von Krisenszenarien erweisen, sondern möglicherweise noch mehr deren Gewinner“.12 Die Camouflage der Resilienz als neoliberaler Strategiebegriff der Prävention, der „nur die Harten in den Garten“ kommen lässt, lässt Resilienz geradezu zum Fetisch verkommen. Selbstsorge und Achtsamkeit werden verzweckt, um die Produktivität des resilienten Subjekts nicht aufzuhalten. 3. Resilienz als Perspektivierung biblischer Anthropologie Vor dem Hintergrund dieser Kritik ist die Frage berechtigt, warum der Diskursraum, der sich mit biblischer Anthropologie beschäftigt, auf den fahrenden Zug der Resilienz aufspringt. Kann das Hineinfahren in die Nebelwand der Unschärfe überhaupt eine Orientierungsfunktion entfalten? Oder ist Resilienz als Konzept durch die Missverständnisse und Ambivalenzen schon so geschädigt oder unscharf, dass man damit besser nicht arbeiten sollte? Drei Gründe sprechen meiner Ansicht nach dafür, sich der Resilienz auch aus der Perspektive der biblischen Anthropologie zu nähern: 1. Das von Relationalität, Resonanz und Responsivität geprägte Konzept der Resilienz stimmt mit der auf Beziehung angelegten Anthropologie des Alten Testaments in vielen Punkten überein. Resilienz kann und sollte als anthropologisches Transversalthema verstanden werden, in dem sich unterschiedliche Diskurse bündeln lassen. Ich nenne nur die Felder Person, Selbst, Reflexion, Perfektionierung, Responsivität, Identität sowie Raumtheorie, Metapher und Tradition. Bei jedem der Themen öffnet sich ein neuer Diskurshorizont gegenwärtiger Debatten in der biblischen Anthropologie.13

                                                             11

OPP, GÜNTHER, Resilienz. Fakt oder Artefakt?, in: Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 86 (2017), 84–87, 86. 12 RICHTER/BLANK, Resilienz, 70; s. auch BUTLER, JUDITH/GAMBETTI, ZEYNEP/SABSAY, LETICIA, Introduction, in: Dies. (Hg.), Vulnerability in Resistance, Durham: Duke University Press 2016, 1–11 mit Hinweis auf den Essay von Sarah Bracke. 13 Ohne hier die gesamte Breite der Diskussionen entfalten zu können, verweise ich exemplarisch auf die Entfaltung anthropologischer Fragestellungen (FREVEL, CHRISTIAN,

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2. Die Beschäftigung mit dem Resilienzdiskurs schließt sehr gut an den Traumadiskurs an, der in den vergangenen drei Jahrzehnten im Bereich der biblischen Theologie und Anthropologie intensiv in verschiedene Richtungen entfaltet wurde und sich dabei zum Megatrend aufgeschwungen hat.14 Meiner Ansicht nach bietet ein sich darauf beziehender Zugang, der Vulnerabilität und Resilienz in ein unlösbares Verhältnis zueinander stellt,15 die Chance, einige Engführungen des Traumadiskurses aufzubrechen, die neben den großen integrativen Leistungen auch unverkennbar sind.16 Diese bestehen zum einen in der Gefahr der Ontologisierung des inzwischen (zu) hegemonialen Traumadiskurses, die bisweilen sogar entweder zu einer nachgelagerten Faktizisierung von Traumata oder umgekehrt zu deren ahistorischer Banalisierung führt. Die heterogene Chiffre Trauma führt zum anderen analog zum Resilienzdiskurs durch die Universalisierung des Zugriffs zu Unschärfen und zu einer Überdeterminierung des Traumatopos. Hier kann der Blick auf Resilienznarrative,

                                                             Die Frage nach dem Menschen. Biblische Anthropologie als wissenschaftliche Aufgabe – eine Standortbestimmung, in: Ders. [Hg.], Biblische Anthropologie. Neue Einsichten aus dem Alten Testament [QD 237], Freiburg i.Br.: Herder 2010, 29–63), die Bernd Janowski kürzlich in seiner Anthropologie meisterhaft gebündelt hat (JANOWSKI, BERND, Anthropologie des Alten Testaments. Grundfragen – Kontexte – Themenfelder, Tübingen: Mohr Siebeck 2019) sowie auf die von Jürgen van Oorschot und Andreas Wagner verantworteten Publikationen der Projektgruppe Anthropologie der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie (VAN OORSCHOT, JÜRGEN/WAGNER, ANDREAS, Anthropologie(n) des Alten Testaments [VWGTh 42], Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 22018) sowie zuletzt VAN OORSCHOT/WAGNER, Perfektion. 14 Aus der Fülle erwähne ich lediglich BOASE, ELIZABETH/FRECHETTE, CHRISTOPHER G. (Hg.), Bible Through the Lens of Trauma (Semeia Studies 86), Atlanta, GA: SBL 2016; GARBER, DAVID G., Trauma Theory and Biblical Studies, in: Currents in Biblical Research 14/1 (2015), 24–44; DIETRICH, JAN, Cultural Traumata in the Ancient Near East, in: EveMarie Becker/Jan Dochhorn/Else Holt (Hg.), Trauma and Traumatization in Individual and Collective Dimensions. Insights from Biblical Studies and Beyond (Studia Aarhusiana Neotestamentica 2), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014, 145–161 und VERDE, DANILO, Trauma, Poetry, and the Body. On the Psalter’s Own Words for Wounds, in: Biblica 101/2 (2020), 208–230. S. zum Folgenden auch die Einleitung in den vorliegenden Band von C. Richter und J. Gärtner. 15 S. dazu SAUTERMEISTER, JOCHEN, Resilienz zwischen Selbstoptimierung und Identitätsbildung, in: MThZ 67/3 (2016), 209–223, 212; BUTLER/GAMBETTI/SABSAY, Introduction, 1. 16 Die durchaus auch kritische Debatte über die Funktionalisierung des Traumadiskurses, die inzwischen in den Kultur- und Sozialwissenschaften und der Pädagogik lebhaft geführt wird (z.B. bei KANSTEINER, WULF, Menschheitstrauma, Holocausttrauma, kulturelles Trauma. Eine kritische Genealogie der philosophischen, psychologischen und kulturwissenschaftlichen Traumaforschung seit 1945, in: Friedrich Jaeger/Burkhard Liebsch [Hg.], Handbuch der Kulturwissenschaften. Band 1: Grundlagen und Schlüsselbegriffe, Stuttgart: Metzler 2016, 109–138), ist im Bereich der Bibelwissenschaften noch nicht recht angekommen.

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Resilienzfaktoren und die performative Emergenz von Resilienz als Korrektiv fungieren, das zur Schärfung beider Konzeptwelten im Bereich der biblischen Anthropologie beitragen kann. Die Monopolisierung des Zugriffs auf biblische Narrative über das Traumakonzept führt bisweilen zu einem aus soteriologischer Perspektive nicht unproblematischen (post-)modernen Geschichtsbild, das in der Gefahr steht, das Nicht-Sein-Sollen der Brüche und Leiden zu verabsolutieren. Die Krise wird zum attrahierenden Leitbegriff und in der Attraktivität der Krise scheint der Sinn der Geschichte auf. Die einseitige Ausrichtung am Versagen der sozialen, politischen und individuellen Ordnungsstrukturen (Stichwort Pathologisierung) bzw. der nachhaltig determinierenden Kraft des Traumas und die damit verbundene Entlastung des Subjekts, das das Trauma primär erleidet, birgt die Gefahr das Veränderungspotenzial des Subjekts gar nicht erst einzufordern – ein Moment, das vielleicht im Resilienzdiskurs zu stark gemacht wird. In dem relationalen Bezug von Vulnerabilität und Resilienz kann es umgekehrt nicht darum gehen, die eine Ontologisierung oder auch normative Pädagogisierung durch die andere zu ersetzen.17 3. Obwohl es eine Fülle an Resilienzliteratur sowohl in Bahnhofs- wie auch in Universitätsbuchhandlungen gibt und der Resilienzdiskurs schon lange in der Theologie angekommen ist, scheint mir – wenn ich nicht einen wesentlichen Teil der Literatur übersehen habe – der Zusammenhang von Religion und Resilienz noch untererforscht. Zwar wird das Thema gelegentlich explizit gemacht,18 aber vor allem im Kontext der Wechselwirkungen von Religion und Gesundheit thematisiert.19 Es ist vollkommen naheliegend die Gottesbeziehung des Einzelnen, aber auch die eines Kollektivs einzubeziehen, wenn die Einsicht zutreffend ist, dass soziale Beziehungen für resiliente Beziehungsprozesse unverzichtbar sind und Resilienz auf Relationalität und Resonanz aufruht. Über die Bibel kann man an Erkenntnisse der Literaturwissenschaft anschließen, die den Formularcharakter von Resilienznarrationen, den Zusammenhang von stabilisierendem und destabilisierendem Erzählen und Reflektieren der Selbstund Fremdwahrnehmung und schließlich die Funktion von resilienzproduktiven Metaphern betreffen. Aufgrund der Besonderheiten biblischer Literatur eröffnet sich damit zugleich eine Perspektive des Zusammenspiels von individu-

                                                             17

Zu diesen Gefahren s. BUTLER/GAMBETTI/SABSAY, Introduction, 4–6. SEDMAK, CLEMENS, „Die rechte Sorge“. Resilienz und der Umgang mit Angst, in: ThPQ 165/4 (2017), 356–363; RICHTER/BLANK, Resilienz. 19 RICHTER, CORNELIA (Hg.), An den Grenzen des Messbaren. Die Kraft von Religion und Spiritualität in Lebenskrisen (Religion und Gesundheit 3), Stuttgart: Kohlhammer 2021. Der Ansatz der DFG-Forschungsgruppe 2686 (Resilienz in Religion und Spiritualität. Aushalten und Gestalten von Ohnmacht, Angst und Sorge), woher auch der vorliegende Band stammt, geht weit darüber hinaus, s. die Einleitung in diesem Band. 18

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eller und kollektiver Resilienz, denn – wie unter anderem von David Carr betont wird – die in der Literatur gespiegelten Kommunikationsprozesse lassen sich nicht individualistisch engführen.20 Damit sollte ausreichend unterstrichen sein, dass es nicht um ein bloßes „in der Bibel gibt es auch Resilienz“ geht, sondern dass der Resilienzdiskurs produktiv mit den Texten unter anthropologisch-soziologischer Rücksicht ins Gespräch gebracht werden kann.21 Dem kommt entgegen, dass Resilienz in der Gegenwart als dynamisches Meta-Konzept begriffen werden kann, das gerade davon lebt, dass es nicht durch definitorische Einschränkungen begrenzt ist. Mit Martin Endreß und Benjamin Rampp kann Resilienz offen als das, „was als Resilienzstrategie und Resilienzressource im jeweiligen soziohistorischen Kontext gedeutet und codiert wird“,22 bestimmt werden. 4. Lesen schafft Resilienz – Beten auch Mit der These des Beitrags, dass sich poetische Texte wie die Psalmen und die Klagelieder als Resilienzressourcen verstehen lassen und als solche in Geschichte und Gegenwart genutzt wurden, verbinden sich zwei ineinander übergehende, aber heuristisch unterschiedene Rezeptionskontexte: Zum einen die in den Texten selbst vorgestellten Sprecher mit den Erstlesern und impliziten Lesern als Rezeptionskontext der Psalmen als biblische Texte (Resilienz der Textsubjekte); zum anderen diejenigen, die Psalmen als Gebrauchstexte und Formulare bis in die Gegenwart hinein in sehr unterschiedlichen Rezeptionsweisen etwa im persönlichen Gebet, im Stundengebet der Kirche, im Gottesdienst oder in der Bibellektüre nutzen (Resilienz der Rezeptionssubjekte). Die These hat zwei Grundvoraussetzungen, die hier nicht näher entfaltet werden sollen, nämlich a) die Ausgangsvermutung der Schrift, dass positive Gottesbeziehungen resilient machen, und b) dass die biblische Textwelt als grundsätzlich lebensweltbezogen begriffen wird und dass diese Vermutung auch die Rezipientinnen und Rezipienten der Gegenwart einschließt.

                                                             20 CARR, DAVID M., Holy Resilience. The Bible’s Traumatic Origins, New Haven: Yale University Press 2014, 9. 21 Damit soll zugleich angedeutet sein, dass sich Resilienznarrative keinesfalls nur im Psalter oder in poetischen Texten finden, auf die die folgenden Überlegungen bezogen sind. Ein Bespiel, wie etwa Resilienz und Ethik zusammenfinden, entfaltet ERBELE-KÜSTER, DOROTHEA, Verführung zum Guten. Biblisch-theologische Erkundungen zwischen Ethik und Ästhetik (Theologische Interventionen 3), Stuttgart: Kohlhammer 2019. Andere Beispiele finden sich etwa in Bibel heute 55/2 (2019) oder im vorliegenden Band. 22 ENDREß, MARTIN/RAMPP, BENJAMIN, Resilienz als Perspektive auf gesellschaftliche Prozesse. Auf dem Weg zu einer soziologischen Theorie, in: Martin Endreß/Andrea Maurer (Hg.), Resilienz im Sozialen. Theoretische und empirische Analysen, Wiesbaden: Springer 2015, 33–56, 45.

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5. Resilienzdynamiken zwischen Reaktion und Prävention Im Blick auf die gegenwärtige Gemengelage der Hochkonjunktur des Resilienzbegriffs ist eine Grundspannung zwischen präventiven und reaktiven Modellen auszumachen. Die beiden Pole sind hier Resistenz und Kompensation; beide sind aber auf ein Disäquilibrium bezogen und verstehen Resilienz als dynamisches Entwicklungsergebnis. Entweder ist Resilienz das aus der Krise und durch die Krise Gewandelte (reaktives Modell) oder das zur Vermeidung des Krisenhaften zum Schutz formierte (präventives Modell). Das iterativ Approximative ist Kennzeichen der Resilienz. Resilienz bleibt – selbst wenn sie durch adaptive Strategien erreicht ist – flüchtig und fragil. Krise kennt ein Danach, aber auch nach der Krise ist vor der Krise. Vulnerabilität und Resilienz sind also nicht voneinander zu trennen23 und vielfach aufeinander bezogen.24 Krise, Katastrophe oder Trauma können in der zyklischen Resilienzdynamik jeweils an unterschiedlicher Stelle stehen, was die Spannung zwischen reaktiven und präventiven Modellen ausmacht. Entweder determiniert die Krise die adaptiven Strategien „von hinten“, sodass diese auf eine Resilienzemergenz gerichtet sind und die negativen Folgen des Ereignisses zu überwinden suchen, oder der Zugriff auf die Krise erfolgt „nach vorne“ als drohende Möglichkeit und katastrophales Potenzial der Entwicklung, vor der das Resilienzmanagement schützen soll. Resilienzstrategien sind dann weniger Bewältigung als Umkehrung der negativen Dynamik, die auf die Krise zuläuft oder diese als Entwicklung einschließt. Die hinter der Unterscheidung stehende Ausgangsvermutung, die Resilienzfaktoren wären im reaktiven Modell anders gelagert als im präventiven, kann zurecht hinterfragt werden. Die Unterscheidung macht am ehesten als heuristische Sinn, da die Kontexte, in denen Resilienz ausgebildet wird, sich unterscheiden. In der Regel wird Resilienz in beiden Fällen als adaptive Strategie begriffen, jedoch ist die Gerichtetheit auf die Kontextbedingungen je eine andere: Im präventiven Modell zielt das Resilienzmanagement auf den Umgang mit Stressoren, die zur Destabilisierung führen können, wobei das Veränderungspotenzial aller Faktoren in den Blick genommen und Entwicklungsstabilität angezielt wird. Im reaktiven Modell ist das auslösende Belastungsmoment der Veränderung durch die Vergangenheit entzogen, daher zielt die adaptive Strategie hier auf die Verarbeitung der negativen Folgen.

                                                             23 KEUL, HILDEGUND, Vulnerabilität und Resilienz. Christlich-theologische Perspektiven, in: MThZ 67/3 (2016), 224–233, 224. Zum Vulnerabilitätsdiskurs und seiner Relevanz in der Theologie s. den Band von THOMAS, GÜNTER/SPRINGHART, HEIKE (Hg.), Exploring Vulnerability, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2017. 24 VERDE, DANILO, The Body Exposed and Other Images of Vulnerability in Psalms 42– 72, in: LouvSt 43/2 (2020), 101–119, 101–102 mit Bezug auf BUTLER, JUDITH, Rethinking Vulnerability and Resistance, in: Dies./Zeynep Gambetti/Leticia Sabsay (Hg.), Vulnerability in Resistance, Durham: Duke University Press 2016, 12–27.

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Der Beschäftigung mit den biblischen Resilienznarrativen und Resilienzstrategien kommt die Unentschiedenheit zwischen dem präventiven und reaktiven Verständnis eigentlich entgegen, da sie unterschiedliche Ebenen der Rezeption überblenden kann: Zum einen die literarische Ebene „eines Beters“, der seine (oft paradigmatisch stilisierte) Krise schildert und im Durchleiden zur Bewältigung derselben kommt, was z.B. im Stimmungsumschwung der Psalmen geschildert wird (Resilienz des Textsubjektes); zum anderen die Ebene des Rezipienten der Texte, der die im Text geschilderte Krise nicht selbst erlebt, diese aber entweder auf seine eigene Situation bezieht oder an der negativen Dynamik im Text die Krise exemplarisch durchlebt und überwindet und so Resilienz im lesenden, sprechenden oder betenden Nachvollzug einübt (Resilienz des Rezeptionssubjektes). Die Texte können daher als Schule der Resilienz begriffen werden, die auch ein präventives Orientierungswissen bereitstellen, durch das die Prognosefähigkeit gegenüber Krisen steigt und damit ihre Unvorhersehbarkeit reduziert wird.25 Werden z.B. die reflektierten Krisen der Klagelieder in den Psalmen als Resilienznarrative gelesen, machen sie genau das, indem sie durch die Potenzierung von Offenheiten die Ambiguitäten und Komplexitäten von urbanen, kollektiven und individuellen Krisen einüben und durch die angeregten Analysemuster die Unvorhersehbarkeit reduzieren. Durch die Konzentration auf die Individualperspektiven eines perfektionierten Lebens kommt die soziale Dimension, die responsive Haltung gegenüber den Krisen der Anderen, kaum in den Blick. Ich werde versuchen die produktive Verunsicherung, die von den Krisen der Anderen ausgeht, in mehrfacher Hinsicht für die Psalmen und die Klagelieder fruchtbar zu machen. Dazu beginne ich mit Überlegungen zum Formularcharakter der Psalmen als Meditations- und Gebetstexte, wende mich dann intensiver der Resilienzsemantik zu und stelle schließlich sieben resilienzproduktive Muster in den Psalmen dar. Eine Bemerkung zur resilienzerzeugenden Empathie beschließt die Überlegungen.

II. Resilienz in den Psalmen – Einübung in positives Denken 1. Resilienz im Formular – Zur Eigenart der Psalmen als Gebetstexte Versteht man dabei Resilienz als Weg zur Erreichung eines Zustands, der durch den bewussten Einschluss von Krisen in den Selbstentwurf einerseits und die

                                                             25 Zu den im Akronym VUKA benannten Aspekten der Krise (Volatilität, Unvorhersehbarkeit, Komplexität und Ambiguität), s. HELLER, JUTTA (Hg.), Resilienz für die VUCAWelt. Individuelle und organisationale Resilienz entwickeln, Wiesbaden: Springer 2018; FATHI, KARIM, Resilienz im Spannungsfeld zwischen Entwicklung und Nachhaltigkeit. Anforderungen an gesellschaftliche Zukunftssicherung im 21. Jahrhundert, Wiesbaden: Springer 2019, 83.

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Resistenz gegen Krisen andererseits gekennzeichnet ist, fallen die Psalmen als Gebetstexte auf. In ihnen wird am Formular ein Paradigma entwickelt, das sich der Betende im Nachvollzug aneignet.26 Indem er sich die Stimme des Psalmenbeters zu eigen macht, vollzieht er die auf der Textebene als erinnerte oder erbetene Resilienz beschriebene Transformation im Selbstvollzug performativ nach. Er nutzt den Text als das, was in der Resilienzforschung als „Ressource der Adaption“27 beschrieben wird. Diesen betenden Vollzug, der adaptive Prozesse auslöst, möchte ich versuchsweise als „performative Resilienz“ bezeichnen. Im betenden Vollzug der Psalmen wird das Selbstbild des Betenden durch Paradigmen der Rettung gestärkt und eine positive Zukunftsorientierung eingeübt, indem das Vertrauen auf die protektiven Mächte, die individuellen Schutzkräfte und die resilienten Strukturen gefestigt wird. Das Entscheidende ist der Selbstvollzug durch Aneignung. Die Bedeutung von Performanz als Trigger für die Emergenz resilienter Strukturen liegt auf der Hand und ist in Psychologie, Soziologie und Anthropologie bereits mehrfach betont worden.28 So verstanden sind die Psalmen ein vielfältiges Resilienznarrativ. Zumindest kann man die Psalmen als vulnerabilitätsbewusste und krisensensible Texte lesen, die auch die Voraussetzung für eine individuelle und kollektive Identitätsarbeit spiegeln.29 Entscheidend dabei ist, dass es gerade nicht darum geht dadurch harmonisierend alles Negative auszublenden und Gott nur als Stütze (Ps 119,116) zu sehen und das Leben als geraden Weg (Spr 23,19) jauchzend vor dem Herrn (Ps 96,1) im Land der Lebenden (Ps 116,9) zu gehen. Im Gegenteil: Es geht darum auch die Klage in dieses Performativ einzubeziehen. Klage ist Protest gegen die Krise, zugleich aber auch das Einüben in das Durchleben und Überstehen von Krisen. Mit der Klage (oder der formularhaften Übernahme der biblischen Klage) bringt sich die Beterin oder der Beter in „eine erste reflexive Distanz“.30 Diese Selbstdistanz ist Voraussetzung für die Selbstdeutung, die als ein iterativer auf die Identitätskonstitution bezogener stabilisierender Aushandlungsprozess begriffen werden kann. Die Klage wird

                                                             26 Zu den rezeptionsästhetischen Hintergründen s. ERBELE-KÜSTER, DOROTHEA, Lesen als Akt des Betens. Eine Rezeptionsästhetik der Psalmen (WMANT 87), Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 2001 und EDER, SIGRID, Identifikationspotenziale in den Psalmen. Emotionen, Metaphern und Textdynamik in den Psalmen 30, 64, 90 und 147 (BBB 183), Göttingen: V&R unipress 2018. 27 LEIPOLD, BERNHARD, Resilienz im Erwachsenenalter, München: Ernst Reinhardt 2015, 64. 28 WULF, CHRISTOPH/ZIRFAS, JÖRG, Performativität, in: Dies. (Hg.), Handbuch Pädagogische Anthropologie, Wiesbaden: Springer 2014, 515–524. 29 SAUTERMEISTER, Resilienz, 209, vgl. 219. 30 GÄRTNER, JUDITH, Lebensstark aus der Klage. Traditionen der Hebräischen Bibel in der Perspektive von Resilienz am Beispiel von Ps 22, in: PrTh 51/2 (2016), 75–81, 75.

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zur Selbstdeutung und ist so auch als Resilienzstrategie zu begreifen.31 „Psalmen sind Zeugnisse gelungener Arbeit am Leiden.“32 Klage nimmt ihren Ausgangspunkt im Nicht-Sein-Sollenden und in der Überzeugung, dass Veränderung möglich ist, sei es, dass die Situation gewandelt wird oder die Wahrnehmung der Situation sich verändert. Klage ist immer schon sprachliche Reflexion und damit Deutung, die das Denken einer Veränderung einschließt. Neben die genannten Aspekte, die eine harmonisierende Selektion ausschließen, tritt ein weiterer, der auch im Folgenden immer mitschwingt, wenn einzelne Aussagen und Semantiken herausgegriffen werden. Das Verständnis als vielfältiges Resilienznarrativ bezieht sich auf den Psalter in seiner Gesamtheit, in seinem Einschluss von tiefsten Krisen und in seinem markanten Weg von der Klage zum universalen Lob. Dabei kommt – was in der Forschung nur wenig Aufmerksamkeit erhält – den Krisen der Anderen und ihren Bewältigungen eine modellhafte Rolle zu. Während der Rezipient der Psalmen sich im betenden Nachvollzug in einer Beobachterposition befindet (die ihn aber durch Identifikation in eine Teilnehmerposition bringt), ist der Beter der Psalmen auf der Textebene in einer Teilnehmerposition (die er unzweifelhaft auch in manchen Texten selbst reflektiert). Die zwei Linien, die ich herausstellen werde, hängen miteinander zusammen und greifen ineinander, sind aber doch grundverschieden: Der lesend-betende Nachvollzug der textuellen Stabilisierungsstrategien und Resilienznarrative führt zu einer Stabilisierung des Rezipienten. Eine davon unterschiedene andere Perspektive ist, dass die existenzielle Verunsicherung durch die Krise der Anderen ausgelöst wird. Interessant scheint nun diese Grundlagenfunktion, die sich aus dem Paradigma Lesen als Akt der adaptiven Resilienz ableitet und dieses durch den intendierten Selbstvollzug intensiviert33, mit Beobachtungen zum Text zu verbinden. Es fällt nämlich auf, dass sich die resilienzerzeugenden Aussagen der Psalmen in einem Rahmen von Mustern bewegen und sich dabei einer spezifischen Resilienzsemantik bedienen. Dem Selbstbild des Beters und dessen Ausrichtung an Gott kommt dabei eine zentrale Bedeutung zu. Selbst wenn Gott auch als Verursacher von Krisen und Traumata in den Blick kommt, überwiegt doch seine Rolle im Prozess der Stabilisierung des Beters oder der Beter. Kennzeichnend für die Psalmen ist die prinzipielle Unabgeschlossenheit der auf die

                                                             31 SCHMIDT, JOCHEN, Ohnmacht und Klage. Selbstermächtigung in Ausweglosigkeit, in: Cornelia Richter (Hg.), Ohnmacht und Angst aushalten. Kritik der Resilienz in Theologie und Philosophie (Religion und Gesundheit 1), Stuttgart: Kohlhammer 2017, 107–117, 115; vgl. SCHMIDT, JOCHEN, Klage. Überlegungen zur Linderung reflexiven Leidens (Religion in Philosophy and Theology 58), Tübingen: Mohr Siebeck 2011, 163–165; GÄRTNER, Lebensstark, 80. 32 SCHMIDT, Ohnmacht, 116. 33 Diesen Punkt des Überblendens der Perspektiven und Vollzüge stellt ERBELE-KÜSTER, Lesen, als Merkmal der Psalmen deutlich heraus.

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Stabilisierung und Destabilisierung hin reflektierten Prozesse. Resilienz ist dabei als ein variabler und kontextabhängiger, dynamischer Anpassungs- und Entwicklungsprozess zu verstehen. Das macht die spezifische transformative Dynamik der Gebetstexte aus. Wie die personale Identität ist Resilienz auch im Psalter als Prozessgröße zu bestimmen, „die sich durch Interaktionsprozesse dynamisch ausbildet, niemals im Lebenslauf abgeschlossen“34 ist. Der transformierenden und stabilisierenden Kraft des Gottesverhältnisses kommt dabei in den Psalmen eine entscheidende Rolle zu. Da Resilienz als Prozessgröße verstanden wird, nehmen die Psalmen häufig die Zeitspanne in den Blick, bis eine Transformation bewirkt ist und sich Resilienz einstellt. Ausharren, Vertrauen, Zuversicht und Hoffnung sind dabei zentral.35 Das gilt auf der Ebene der Psalmen wie auf der Ebene des Psalters. „Von der Klage zum Lob“ beschreibt als Orientierung die Tendenz in den Einzelpsalmen, im Psalter selbst und im diachronen Wachstum der Psalmen. Bevor ich sieben Resilienzmodelle vorstelle, möchte ich an einigen Beispielen deutlich machen, dass diese Form der Resilienzproduktion durch textuelle Adaption bereits im Psalter an vielen Stellen angelegt ist. Das Paradigma der rettenden Gerechtigkeit Gottes stellt der Psalter selbst immer wieder vor Augen.36 Sie wird klagend ersehnt oder dankbar bejubelt, jedenfalls steht Gottes die Ordnung stabilisierendes Handeln im Zentrum und wird in vielfältiger Form adressiert (z.B. Ps 6,2–3; 94,21–22; 103,8–10; 107,10–16; 144,10–11 u.ö.). Als Phänomen der Textwelt bleibt das Paradigma dabei primär auf der Ebene des Textes und geht nicht auf die Ebene der Rezeption und Aneignung über. Doch der Psalter greift an vielen Stellen über die Beschreibungsebene hinaus und nimmt das Paradigma der Rezeption in den Blick; meistens implizit, aber auch an mehreren Stellen explizit. Einige Beispiele: a) Nachvollzug als Modell der Lebensgestaltung Die doppelte Sprechrichtung kennzeichnet das weisheitlich geprägte Danklied in Ps 32.37 Mit dem Stichwort „Weisheit“ ist schon das Feld genannt, in dem

                                                             34

SAUTERMEISTER, Resilienz, 218. Zur Bedeutung der Hoffnung s. auch SAUTERMEISTER, Resilienz, 212; SAUTERMEISTER, JOCHEN, Selbstgestaltung und Sinnsuche unter fragilen Bedingungen, in: Maria Karidi/Martin Schneider/Rebecca Gutwald (Hg.), Resilienz. Interdisziplinäre Perspektiven zu Wandel und Transformation, Wiesbaden: Springer 2018, 127–140, 129. 36 Vgl. neben vielen anderen JANOWSKI, BERND, Die rettende Gerechtigkeit. Zum Gerechtigkeitsdiskurs in den Psalmen, in: Reinhard Achenbach (Hg.), „Gerechtigkeit und Recht zu üben“ (Gen 18,19). Studien zur altorientalischen und biblischen Rechtsgeschichte, zur Religionsgeschichte Israels und zur Religionssoziologie. Festschrift für Eckart Otto zum 65. Geburtstag (BZAR 13), Wiesbaden: Harrassowitz 2010, 362–376. 37 Im Folgenden geht es nicht um eine Exegese von Ps 32. S dazu neben den Kommentaren jüngst ausführlich BARBIERO, GIANNI, Psalm 32. Die Freude der Vergebung, in: Sandra Hübenthal/Melanie Peetz (Hg.), Ästhetik, sinnlicher Genuss und gute Manieren. Ein 35

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die als Lebenskunst verstandene Resilienz zum religiös reflektierten Alltagswissen gerinnt. Der Beter adressiert Gott in der Rückschau und gibt so Zeugnis davon, dass Gott ihn auf sein Sündenbekenntnis hin errettet hat, weshalb er mit zwei ‫אשׁרי‬-Seligpreisungen für diejenigen beginnt, die offen mit ihrer Schuld umgehen und Vergebung annehmen können. Die Wende hin zum Sündenbekenntnis in V. 5 wird als Selbstzitat des Beters eingeführt: „[Meine Sünde will ich dir kundtun und meine Schuld nicht zudecken.] Ich sprach: Ich will um meinetwillen YHWH meine Vergehen bekennen.“ (Ps 32,5) Nach dem berichtenden „und du hast mir die Schuld meiner Sünden aufgehoben“ (‫ואתה נשׂאת‬ ‫ )עון חטאתי‬folgt ein weisheitlicher Einschub in V. 6, der häufig als sekundär erachtet wird,38 was aber vielleicht gar nicht nötig ist. Gerade für die Frage, wie auf der Textebene eine Handlungsanweisung gegeben wird, um Resilienz zu erzeugen, ist der Zusammenhang von V. 6 und V. 7 zentral. V. 6 leitet einen ‫ על־זאת‬Grundsatz aus der zuvor geschilderten Rettung des Beters ab: „Darum soll jeder Fromme zu dir beten […]“ (‫)יתפלל כל־חסיד אליך‬, wenn er in eine Krise gerät, die ihm den Halt nimmt und ihn zu fluten droht („[…] solange du dich finden lässt. Fluten hohe Wasser heran, ihn werden sie nicht erreichen.“39). Belässt man V. 6 im Text, dann leitet er das Zitat des empfohlenen Bittgebetes ein: „Du bist Bergungsort für mich, vor der Enge bewahrst du mich, mit Rettungsjubel umgibst du mich – Sela.“ (‫אתה סתר לי מצר תצרני רני פלט‬ ‫)תסובבני סלה‬. Die Gegenüberstellung von schützender Bergung (‫ )סתר‬und Bedrängnis (‫ )צר‬ist ebenso typisch wie der exaltierende befreite Jubel (‫)רן‬, der den Geretteten wie eine Aura umgibt. Man muss das nicht Resilienz nennen, aber man kann es: Die Gottesbeziehung festigt den Beter auf der Grundlage eines stabilisierenden Vertrauens in die rettende Gerechtigkeit Gottes, die der Beter nicht selbst leisten kann. Die Nähe des „du hüllst mich in Jubel“ zu dem anderen Spitzensatz des verwandten Ps 30 ist offensichtlich.40 Dort heißt es im

                                                             biblisches Menü in 25 Gängen. Festschrift für Hans-Winfried Jüngling SJ (ÖBS 50), Berlin: Peter Lang 2018, 147–170. Der Akzent liegt auf dem weisheitlich reflexiven Moment der Aneignung im Vollzug. Den u.a. mithilfe der Metaphern konstituierten Transfer zwischen der Textwelt und den Rezipienten betont jüngst auch BOTHA, PHIL J., Psalm 32. A SocialScientific Investigation, in: OTE 32/1 (2019), 12–31. 38 HOSSFELD, FRANK-LOTHAR/ZENGER, ERICH, Die Psalmen I. Psalm 1–50 (NEB 23,1), Würzburg: Echter 1993, 204. 39 Übersetzung aus der EÜ 2016. Der Inf. cs. gefolgt von ‫ ַרק‬ist schwer zu verstehen und am besten mit „in der Zeit des Findens“ wiederzugeben. Da das eine Abwesenheit Gottes impliziert, scheint mir das einerseits im Kontext eine wenig optimale Lösung. Andererseits ist die Bereitschaft den Text zu den beiden Substantiven ‫ מצוק‬und ‫ מצור‬zu ändern aufgrund der fehlenden Zeugnisse in den Versionen begrenzt. 40 Zur Einbindung von Ps 32 in die Kleinkomposition zuletzt WEBER, BEAT, Die Psalmen 25–34 in den Qumran-Handschriften und im Masoretischen Text. Untersuchungen zu Textgestalt, Überlieferung und Komposition, in: ZAW 132/4 (2020), 521–541 (und in einem noch unpublizierten Beitrag zum Gedenken an Erich Zenger). Zu Ps 30 und seinen „Identifikationspotenzialen“ ausführlich EDER, Identifikationspotenziale, 99–176.

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Anschluss an das Bittgebet in V. 11: „Höre mich, YHWH, und erbarme dich meiner, YHWH, sei du mir Helfer“, und darauffolgend im Stimmungsumschwung in V. 12: „Du hast mein Klagen in Tanzen verwandelt. Du hast mir das Trauergewand gelöst und mich mit Freude umgürtet.“ Typisch ist die metaphorische Innen-Außen-Korrespondenz,41 die durch die gewechselte Kleidung und den „Freudengürtel“ zum Ausdruck kommt. Das Trauergewand (‫)שׂק‬ ist die Außenhülle, die durch das mit dem Gürtel metonymisch angezeigte Obergewand der Freude (‫ )שׂמחה‬ersetzt wird. Dass das Öffnen (‫ )פתח‬anstelle des Ausziehens steht, dürfte kein Zufall, sondern ein gezieltes Einspielen der resilienten Raumkonzeption (s.u.) sein. Die Trauerklage krümmt den Körper zur Erde hin, der Tanz richtet auf und weitet. Alles zielt auf Wandlung (‫)חפך‬, man könnte auch stärker mit Verkehrung oder Umsturz übersetzen. Im Unterschied zu Ps 30,12 wird in Ps 32,6 „jeder Fromme“ aufgefordert sich im sprechenden Nachvollzug des Gebets dem Geretteten anzugleichen und dadurch adaptiv die imaginierte oder tatsächliche Notsituation zum Positiven zu wenden. Damit ist ein Identifikationsmuster geschaffen, das im Psalm selbst reflektiert wird. Es findet auf der Textebene eine Codierung statt, die über Vertrauen und Zuversicht eine Resilienz produziert, die Gott als Garanten hinter sich weiß. Das wird in einem weiteren eingeschobenen Zitat in Ps 32,8 als Unterweisung und Weg gekennzeichnet.42 Versteht man die Aussage als Zitat der personifizierten Weisheit, dann charakterisiert sie auf der Textebene den empfohlenen Nachvollzug als Modell, das zum Schutz der Person und zur rechten Gerichtetheit ihres Handelns führt, was wiederum in der abschließenden Rede V. 9–10 einem Kollektiv gegenüber als Modell gekennzeichnet wird. b) Zeugnisse als paradigmatische Sprechakte Immer wieder gibt es in den Psalmen Lebenszeugnisse von Geretteten, die die Gottesbeziehung als Kraftquelle schildern und die Rezipientinnen und Rezipienten einladen, ebenfalls durch die Bindung an Gott Resilienz zu erzeugen. Immer wieder gibt es dabei eine Aufforderung zur sprechaktbezogenen Autostabilisierung: „Frohlocken und deiner sich freuen sollen alle, die dich suchen. Die deine Rettung lieben, sollen immer sagen: ‚Groß ist YHWH.‘“ (Ps 40,17) Diese Aufforderung findet sich gleichlautend dreimal im Psalter (Ps 35,27;

                                                             41 Z.B. Ps 22,13–19, wo aus dem „buffered“ ein „porous“ self wird. Am Ende der Klage in V. 19 sind sukzessive alle Grenzen aufgelöst. 42 In dem nicht markierten Zitat bleibt der Sprecher offen. In Frage kommen ein im Psalm nicht benannter Weisheitslehrer, dessen Unterweisung mehr oder minder aus dem Nichts käme, Gott, der im Psalm zuvor direkt angeredet wurde, oder – was aufgrund des Inhalts naheliegt, aber seltener in Erwägung gezogen wird – die personifizierte Weisheit.

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70,5).43 Dadurch werden die Rezipienten Teil des Gebetsprozesses und auch der im Textverlauf beschriebenen Wiederherstellung des bedrängten Beters; kurz: Sie werden zum Resilienzmodell. Eine ähnliche Funktion übernimmt das zitierte Danklied des schuldlos angeklagten Beters in dem bereits in der Einleitung erwähnten Ps 69, dessen Situation von Schmach, Schande, Gesichtsverlust und schmerzlicher Gottferne bestimmt wird und der die Wahrnehmung der Anderen sogar als argumentum ad Deum benutzt: „Nicht sollen durch mich [mein Ergehen] die zuschanden werden, die auf dich hoffen mein Herr, YHWH Zebaoth, nicht durch mich die beschämt werden, die dich suchen, Gott Israels.“ (Ps 69,7) Die Selbstwahrnehmung als Paradigma zeigt sich dann auch im Dankgebet, das die Armen adressiert: „Seht [es], ihr Armen, und freut euch, die ihr Gott sucht, euer Herz lebe auf. Denn YHWH ist einer, der auf die Besitzlosen hört, und seine Gefangenen missachtet er nicht!“ (Ps 69,33–34)44 Mit der Orientierung an Gottes Handeln wird den Anderen – in diesem Fall den Gebeugten (‫)ענוים‬45 – das Schicksal des Geretteten als Resilienzquelle angeboten, das die Depression umkehrt und das „Herz aufleben lässt“ (‫)ויחי לבב‬.46 Anthropologisch ist gerade das Herz ein Resilienzort, an dem Lebenskraft, Zuversicht und Widerstandsfähigkeit ebenso festgemacht werden wie die Depression und Perspektivlosigkeit (Ps 13,3; 15,2; 22,15.27; 27,14; 73,21.26; 109,22 u.ö.).47 Das Beispiel der Geretteten soll den Rezipienten zur Resilienz verhelfen, Zeiten der Gottferne unbeschadet zu überstehen. c) Anamnetische Resilienz als Autostabilisierung Gerade durch den Sprechrichtungswechsel, der von YHWH als Adressaten zu Dritten oder „den Anderen“ wechselt, wird der nachbetende Rezipient oder die

                                                             43 Zur Diskussion des Phänomens in der Forschungsgeschichte und seiner Erklärung als Mischung von Tradition und Redaktion s. HOSSFELD, FRANK-LOTHAR/ZENGER, ERICH, Psalmen 51–100 (HThKAT), Freiburg i.Br.: Herder 2000, 283–285. 44 Übersetzung von Erich Zenger, in HOSSFELD/ZENGER, Psalmen 51–100, 261. Der Aufforderungscharakter ist im MT nicht so deutlich wie in der hier gewählten Übersetzung. 45 S. dazu GROENEWALD, ALPHONSO, Psalms 69:33–34 in the Light of the Poor in the Psalter as a Whole, in: Verbum et Ecclesia 28/2 (2007), 425–441 und zu Ps 69 ausführlich GROENEWALD, ALPHONSO, Psalm 69. Its Structure, Redaction and Composition (ATM 18), Münster: Lit 2003. 46 Sehr ähnlich zu Ps 69,33 ist Ps 22,27, was vielleicht die dreistufige Wachstumshypothese stützt, s. HOSSFELD/ZENGER, Psalmen 51–100, 267–268. 47 Einen Überblick gibt JANOWSKI, BERND, Konfliktgespräche mit Gott. Eine Anthropologie der Psalmen, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 52019, 167–170; JANOWSKI, BERND, Das Herz – ein Beziehungsorgan. Zum Personverständnis des Alten Testaments, in: Ders./Christoph Schwöbel (Hg.), Dimensionen der Leiblichkeit. Theologische Zugänge. Beiträge aus Theologie und Psychosomatischer Medizin (Theologie interdisziplinär 16), Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 2015, 1–45; JANOWSKI, Anthropologie, 148–156.

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Rezipientin mit hineingenommen in die Konstellation, aus der Resilienz erwachsen kann. Das zeigt das dichte Beispiel von Ps 115, der wegen des feierlichen Grundtons und der liturgischen Assoziation in der Forschung als Formular gedeutet wurde. In Ps 115 zeigt sich, dass die Integration des Lesers vielleicht nicht die erste Intention der Komposition ist, aber sich im Rezeptionsprozess durchaus einstellt. Dort werden nacheinander „Israel“, „das Haus Aaron“ und „alle YHWH Fürchtenden“ angesprochen und gleichlautend aufgefordert: „Vertraut auf YHWH, er ist ihr Schild und ihre Hilfe.“ (Ps 115,9– 11) Gott sagt den Segen, den der Mensch sich nicht selbst geben kann, in seiner Treue zu (viermaliges ‫ ברך‬in V. 12–13 zurückgebunden an das anamnetische Gedenken [‫ ]זכר‬Gottes). Segen ist – zumindest im theologischen Gehalt – eine von Gott gewährte Resilienz. Gott sagt im Segen den Schutz zu, den der Mensch sich nicht selbst geben kann. Voraussetzung von Seiten des Beters ist lediglich das Vertrauen (‫ בטח‬in V. 9.10.11) in das umfassend gelingende Gute, das in Gottes Wesen (V. 1 ‫ )חסד ואמת‬gründet. Das Gelingen steht in seiner Macht (V. 3 ‫)כל אשׁר־חפץ עשׂה‬, was sich in der von ihm ausgehenden guten Schöpfung ablesen lässt (V. 15 ‫)ברוכים אתם ליהוה עשׂה‬. Gott wird dann zum Garanten der Stabilität und zum Hort der Resilienz, wenn die Selbstsorge durch Vertrauen abgelöst wird. Es nimmt nicht wunder, dass der Psalm gerade in V. 14–15 universal „die Kleinen mit den Großen“ (V. 13 ‫)הקטנים עם־הגדלים‬ in der 2. Person Plural anspricht und ihnen Dauer und Bestand zusagt (V. 14 ‫)יסף יהוה עליכם עליכם ועל־בניכם‬. Erst die Beziehung zu dem „allein das Leben fördernden und schützenden Gott“48 schafft die Resilienz, der weder das der Schöpfung entgegenstehende Chaos noch dessen Vertreter, die Widersacher, etwas anhaben können. Der unmittelbare Textduktus des Psalms zielt auf die Aaroniden, das Volk Israel und die Frommen, doch geht er im Paradigma des Vertrauens weit darüber hinaus und öffnet sich für den Nachvollzug, in dem sich der zugesagte Segen performativ in der Aufgabe der Selbstsorge vollzieht. Nur weil Gott Garant des Segens ist, kann die anamnetische Struktur eine autostabilisierende Funktion entfalten. Das soll an Beispieltexten zunächst reichen und hat bereits einen Einblick in die Resilienzsemantik und die Resilienzstrukturen gegeben, denen sich die beiden folgenden Abschnitte widmen. Es sollte deutlich geworden sein, dass sich die Psalmen in der Dimension des Nachvollzugs als Formulare zur Selbstbestärkung verstehen lassen. Vulnerabilität wird dabei nicht ausgeblendet, sondern stellt im Gegenteil oft die mobilisierende Kraft dar, die eine Richtung vorgibt, aus der sich Resilienz ergibt oder entwickelt wird. Vulnerabilität wird nicht ignoriert, aber durch positive Codierung in Resilienz gewandelt. Die Aufgabe der Selbstsorge und das Vertrauen in Gott werden als Ressource aktiviert, das Selbstbild so zu verändern, dass es Halt und Stabilität in Krisen findet.

                                                             48

HOSSFELD, FRANK-LOTHAR/ZENGER, ERICH, Psalmen 101–150 (HThKAT), Freiburg i.Br.: Herder 2008, 279.

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2. Resilienzsemantik und konzeptuelle Metaphorik Versteht man Resilienz von der Zielperspektive her, also dem dynamischen Entwicklungsergebnis, das die Kompensation von Krisen und die Resistenz dagegen einschließt, ist es zunächst einmal kein Nachteil, dass der Begriff objektsprachlich kein Äquivalent besitzt. Dennoch dürfte das Ergebnis der adaptiven Strategien sich semantisch fassen lassen mit Begriffen wie etwa ‫שׁלום‬ „Heil, Frieden, Sicherheit, Gesundheit, Stabilität, Vollständigkeit“, ‫נוח‬/‫דומיה‬ „Ruhe, Stille“, ‫„ כון‬fest stehen“, aber auch – da die Relationalität des Personseins soziale Resonanzen und die Einbettung in gesellschaftliche Kontexte einschließt – mit dem statusbezogenen Konzept ‫„ כבוד‬Ehre, Anerkennung“ bzw. ‫„ זכרון‬Erinnerung, Anamnese“. Wirft man nur einen flüchtigen Blick auf die Antonyme, so wird schnell deutlich, dass Krisen mit dem Verlust von Halt, Richtung und Ort verbunden sind. In das Feld gehören etwa zuallererst das richtungslose Wanken der Schritte (‫ מוט‬N-Stamm), die mit Erschrecken verbundene verstörende Unordnung (‫ בהל‬N-Stamm), das Beschämen und die Schande (‫בושׁ‬, ‫ כלם‬H-Stamm), das Vergessen (‫ )שׁכח‬etc. Im Hintergrund steht häufig eine diametrale Raumordnung, die horizontal Zentrum (Resilienz) und Peripherie (Krise), zum Teil auch Innen und Außen gegeneinanderstellt, vor allem aber vertikal konnotiert ist und Resilienz mit oben respektive hoch und Krise mit unten respektive tief verbindet. Entsprechend lassen sich folgende konzeptuelle Metaphern ableiten: RESILIENZ IST MITTE, RESILIENZ IST OBEN, RESILIENZ IST UNBEGRENZT, RESILIENZ IST INNEN. Interessant ist dabei, dass die Wahrnehmung von Resilienz punktuell und statisch ist: RESILIENZ IST STABIL oder RESILIENZ IST UNBEWEGLICH. Wenn eine Bewegung hinzukommt, ist auch diese tendenziell statisch und nicht dynamisch: RESILIENZ IST GERADE. Die stabilisierte Person beschreibt sich als aufgerichtet (‫ קום‬Η-Stamm), erhöht (‫ רום‬Η-Stamm) oder auf einem ebenen oder geebneten Weg (‫ ישׁר‬GStamm, H-Stamm); die destabilisierte hingegen als niedergedrückt (‫ ענו‬und ‫ ענה‬N-Stamm), gekrümmt (‫כפף‬, ‫)שׁחח‬, in die Tiefe gezogen (‫)מצלה‬, zum Boden hin aufgelöst (‫ שׁיח‬tD-Stamm), versunken (‫ )טבע‬oder hingeschüttet (‫שׁפח‬ N-Stamm). Ebenfalls arbeiten mit der Orientierung im Raum die Metaphern, die Resilienz mit entgrenztem Raum, Weite, Entfaltungsmöglichkeiten (‫מרחב‬, ‫ רחב‬H-Stamm); die Krise hingegen als Enge (‫צר‬, ‫צרר‬, ‫)מצור‬, Bedrückung (‫ )לחץ‬und Bedrängnis (‫מצוקה‬, ‫ )מועקה‬beschreiben.49 Holst spricht angesichts des dichten Netzwerks von Raummetaphern zu Recht von einem terminologischen Cluster, „that makes up what cognitive linguists would call a conceptual

                                                             49

S. zur Raumkategorie in diesem Kontext bereits JANOWSKI, BERND, „Du hast meine Füße auf weiten Raum gestellt“ (Psalm 31,9). Gott, Mensch und Raum im Alten Testament, in: Frank-Lothar Hossfeld/Ludger Schwienhorst-Schönberger (Hg.), Das Manna fällt auch heute noch. Beiträge zur Geschichte und Theologie des Alten, Ersten Testaments (HBS 44), Freiburg i.Br.: Herder 2004, 312–339.

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metaphor“.50 VULNERABILITÄT UND RESILIENZ SIND RÄUME, die entweder begrenzt oder entgrenzt sind. Entsprechend: NOT IST ENGE und RETTUNG IST WEITE. In den gleichen Kontext gehört auch die Metapher des Weges,51 der eine Richtung hat und gekennzeichnet ist durch feste bzw. fest gemachte Schritte (‫תמך‬, ‫ כון‬D-Stamm), die nicht wanken (‫ מוט‬N-Stamm, ‫)מעד‬, abschweifen, zurückweichen oder irre gehen (‫תעה‬, ‫ עות‬D-Stamm, ‫שׁגה‬, ‫סוג‬, ‫)נטה‬. Resilienz ist fest, eingebunden und geordnet; Krise hingegen aufgelöst, abgekoppelt und chaotisch. Am stärksten sind hier die Metaphern der Burg (‫מצודה‬, ‫)משׂגב‬, der Festung und Zuflucht (‫מחסה‬, ‫מעוז‬, ‫חסה‬, ‫סתר‬, ‫פלט‬, ‫כסה‬, ‫)מצור‬, des unverrückbaren Felsens (‫ )צור‬und des jeden Angriff abwehrenden Schildes (‫)מגן‬. Zur Resilienzsemantik gehören daneben die Verben ‫„ יסד‬gegründet“ und ‫„ כון‬festgemacht“, die für die Personenmitte, das Herz, ausgesagt werden, die Stärke (‫ )עז‬oder das „stützen“ und „stärken“ (‫ אמץ‬D-Stamm); die hingegen dezentrierte Person ist „abgeschnitten“ (‫ גזר‬N-Stamm, ‫ כרת‬N-Stamm). Die gefestigte Person ist verwurzelt (‫ שׁרשׁ‬H-Stamm), gepflanzt (‫שׁתל‬, ‫ ;)נטע‬die destabilisierte hingegen ausgerissen (‫)כרת‬, entwurzelt (‫ שׁרשׁ‬D-Stamm). Schließlich greift der hell/dunkel-Gegensatz. Die Krise verdunkelt (‫)קדר‬, führt ins Finstere (‫)שׁחך‬, etwa die Grube oder Zisterne (‫)בור‬, oder den Todesschatten (‫ ;)צלמות‬die stabilisierte Person hingegen beschreibt den Zustand ihrer Resilienz als Glanz (‫עלז‬, ‫ זהל‬H-Stamm), als eine Leuchte (‫נר‬, ‫ אור‬H-Stamm), ihr Gesicht erstrahlt (‫נגה‬, ‫ )נהר‬etc. BEDRÄNGNIS IST DUNKEL und BEFREIUNG IST LICHT. Der Hinweis auf die Innen-Außen-Korrespondenz unterstreicht die Dimension der Körperlichkeit in der Konzeptualisierung von Resilienz im Psalter. Hier treffen sich der Diskurs um tiefe Innerlichkeit, das nach Innen hin abgeschlossene und doch responsive Selbst, und die Einsicht der kognitiven Linguistik, dass die allermeisten Metaphern die Domäne des Körpers als Ausgangspunkt nutzen. Darin zeigt sich zugleich die enge Bezogenheit auf die Vulnerabilitätsmetaphorik,52 ein Zusammenhang, der sich sicher noch vertiefen ließe. Die Gegenüberstellung von Krise (Destabilisierung) und Resilienz (Stabilisierung) macht schon deutlich, dass sich sowohl reaktive als auch präventive Aspekte in den Psalmen wiederfinden lassen, also Aussagen, die eine Katastrophe zu überwinden und zu verarbeiten suchen, und solche, die sie zuvorderst zu verhindern suchen, indem sie sie klar vor Augen stellen und nach Resilienz-

                                                             50 HOLST, SØREN, Psalmists in Cramped and Open Spaces. A Cognitive Perspective on the Theology of Psalms, in: SJOT 28/2 (2014), 266–279, 269. Zur konzeptuellen Metaphorik HOLST, Psalmists, 272. 51 Vgl. dazu WAAIJMAN, KEES, The Way. Rootmetaphor for Spirituality – A Biblical Exploration, in: Studies in Spirituality 13 (2003), 63–79 und umfassend ZEHNDER, MARKUS, Wegmetaphorik im Alten Testament. Eine semantische Untersuchung der alttestamentlichen und altorientalischen Weg-Lexeme mit besonderer Berücksichtigung ihrer metaphorischen Verwendung (BZAW 268), Berlin: De Gruyter 1999. 52 Dazu VERDE, Trauma; VERDE, Body, 110–114.

„Du machtest mich stark wie einen Wildstier“ (Ps 92,11)

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räumen suchen. Was in der Zusammenstellung der Resilienzsemantik aufscheint, ist die ungeheure Dichte der Metaphern, die auf die Erzeugung von Resilienz im Psalter zielen. Die Verkettung, die auf der Ebene des Gesamtpsalters noch hinzukommt und durch die semantische Fokussierung nur bedingt in den Blick geraten kann, verstärkt das Phänomen. Die Bedeutung verketteter Metaphern, die belastbare Netze von Metaphern knüpfen, ist gerade in der jüngeren Metaphernforschung herausgestellt worden.53 Diese Verclusterung von Metaphern, die insbesondere für die prozessuale performative Resilienz von großer Bedeutung ist, verdient weitere analytische Aufmerksamkeit, die hier zugunsten der Paradigmatik der noch folgenden sieben Modelle zurückgestellt wird. Selektiver Überblick über die Resilienz- und Krisensemantik Synonyme – Antonyme

Oben/Hoch – Unten/Tief

Stabilisierung ‫„ שׁלום‬Heil, Frieden, Sicherheit, Gesundheit, Stabilität, Vollständigkeit“, ‫„ נוח‬Ruhe“, ‫„ דומיה‬Ruhe, Stille“, ‫„ כון‬fest stehen“, ‫ישׁב‬ ‫„ כבוד‬Ehre, Anerkennung“, ‫„ זכרון‬Erinnerung, Anamnese“ ‫( קום‬Η-Stamm) „aufgerichtet“, ‫( רום‬Η-Stamm) „erhöht“, ‫( ישׁר‬G-Stamm, H-Stamm) „auf

einem ebenen oder geebneten Weg“

Raum Weit – Eng

‫מרחב‬, ‫( רחב‬H-Stamm) „entgrenzter Raum, Weite, Entfaltungsmöglichkeiten“, ‫„ פנה‬weiten“, ‫„ פתח‬öffnen“

Destabilisierung ‫( מוט‬N-Stamm) „richtungsloses Wanken der Schritte“, ‫( בהל‬N-Stamm) „mit Erschrecken verbundene verstörende Unordnung“, ‫בושׁ‬, ‫( כלם‬H-Stamm) „Beschämen, Schande“, ‫„ נתץ‬herausreißen“, ‫„ שׁכח‬vergessen“ ‫ענו‬, ‫( ענה‬N-Stamm) „niedergedrückt“, ‫כפף‬, ‫„ שׁחח‬gekrümmt“, ‫„ מצלה‬in die Tiefe gezogen“, ‫( שׁיח‬tD-Stamm) „zum Boden hin aufgelöst“, ‫„ טבע‬versunken“, ‫( שׁפך‬N-Stamm) „hingeschüttet“ ‫צר‬, ‫צרר‬, ‫„ מצור‬Enge“, ‫„לחץ‬Bedrückung“, ‫מצוקה‬, ‫מועקה‬, ‫„ מוסר‬Bedrängnis, Fesseln“

                                                             53

VAN WOLDE, ELLEN, A Network of Conventional and Deliberate Metaphors in Psalm 22, in: JSOT 44/4 (2020), 642–666, 642.648.665 am Beispiel von Ps 22; LABAHN, ANTJE/VERDE, DANILO (Hg.), Networks of Metaphors in the Hebrew Bible (BEThL 309), Leuven: Peeters 2020 diskutieren das Phänomen in einem breiteren Kontext der Metaphernforschung. Am Beispiel von Ps 102 in Verbindung mit conceptual blending und Netzwerktheorien arbeitet KRAINER, ANTONIA, Gottesbilder in Psalm 102. Netzwerke von Metaphern = Metaphors for God in Ps 102 as Networks, in: Protokolle zur Bibel 29/1 (2020), 1–25, 5–6.24; und als Perspektive gegenwärtiger Metaphernforschung KÖVECSES, ZOLTÁN, Ten Lectures on Figurative Meaning-Making. The Role of Body and Context (Distinguished Lectures in Cognitive Linguistics 9), Leiden: Brill 2019, 21.

222 Weg Gerade – Gekrümmt

Innen – Außen Fest – Aufgelöst

Herz Fest – Aufgelöst

Christian Frevel ‫תמך‬, ‫( כון‬D-Stamm) „fest gemachte Schritte“, ‫( מוט‬NStamm), ‫(„ מעד‬nicht) wanken“, ‫תעה‬, ‫( עות‬D-Stamm), ‫שׁגה‬, ‫סוג‬, ‫(„ נטה‬nicht) abschweifen,

(nicht) zurückweichen, (nicht) irre gehen“ ‫מצודה‬, ‫„ משׂגב‬Burg“, ‫מחסה‬, ‫מעוז‬, ‫חסה‬, ‫סתר‬, ‫פלט‬, ‫כסה‬, ‫„ מצור‬Festung, Zuflucht“, ‫„ צור‬unverrückbarer Felsen“, ‫„ מגן‬jeden Angriff abwehrender Schild“ ‫„ יסד‬gegründet“, ‫„ כון‬festgemacht“, ‫„ עז‬Stärke“, ‫( אמץ‬D-Stamm) „stützen, stärken“

‫„ נטה‬abbiegen“, ‫„ סור‬abweichen“

‫( שׁיח‬tD-Stamm) „zum Boden hin

aufgelöst“,

‫( מסס‬N-Stamm) „zerfließen“, ‫( שׁפך‬N-Stamm) „hingeschüttet“, ‫„ דלף‬zerfließen“ ‫( מסס‬N-Stamm) „zerfließen“, ‫„ ירא‬fürchten“, ‫( שׁבר‬N-Stamm) „zerbrochen

sein“,

‫( סחר‬tD-Stamm) „hämmern, heftig

klopfen“,

‫„ חמם‬warm sein“, ‫„ חול‬zittern“, ‫„ עטף‬schwach werden“, ‫( נכה‬H-Stamm) „geschlagen/er-

Eingebunden – Abgekoppelt

‫( שׁרשׁ‬H-Stamm) „verwurzelt“, ‫שׁתל‬, ‫„ נטע‬gepflanzt“

Hell – Dunkel

‫עלז‬, ‫( זהל‬H-Stamm) „Glanz“, ‫נר‬, ‫( אור‬H-Stamm) „Leuchte“, ‫נגה‬, ‫„ נהר‬Gesicht erstrahlen“

schlagen“, ‫„ יבשׁ‬vertrocknen“, ‫„ חלל‬durchbohrt werden“, ‫( שׁמם‬tD-Stamm) „erstarrt sein“ ‫( גזר‬N-Stamm), ‫( כרת‬N-Stamm) „abgeschnitten“, ‫„ כרת‬ausgerissen“, ‫( שׁרשׁ‬tD-Stamm) „entwurzelt“ ‫„ קדר‬verdunkeln“, ‫„ שׁחך‬ins Finstere führen“, ‫„ בור‬Grube, Zisterne“, ‫„ צלמות‬Todesschatten“

3. Resilienzmodelle im Psalter Die Modelle, die im Folgenden vorgestellt werden, wollen – wie die dafür gegebenen Beispiele – nicht erschöpfend, sondern exemplarisch sein. Ihre Trennung ist ohnehin nur heuristisch sinnvoll, denn die Strategien oder Modelle greifen wie so oft eng ineinander, überlagern und ergänzen sich. Sie erweisen sich dennoch gerade in ihrer Idealtypik als hilfreich, um den Psalter als Resilienzressource zu erschließen. a) Resilienz durch göttlichen Schutz b) Resilienz durch Befähigung und Befreiung c) Stabilisierung durch Entängstigung und Zuversicht

„Du machtest mich stark wie einen Wildstier“ (Ps 92,11)

d) e) f) g)

223

Autostabilisierung des Beters Stabilisierung durch das Tun der Tora Freude als Ausdruck vollkommener Resilienz Stabilisierung durch Reflexion und Aktivierung von Traditionswissen

Im Folgenden werden die sieben Modelle kurz durchgegangen und mit einigen exemplarischen Belegen erläutert.54 a) Resilienz durch göttlichen Schutz Sieht man von dem vorausgesetzten Vertrauen und der Bitte ab, kommen Sicherheit und Stabilität in diesem recht häufigen Muster gerade nicht von innen, sondern werden von Gott garantiert. Semantisch zielen die Aussagen auf eine Hülle, eine umgebende Mauer, eine Burg, ein Schild, bedeckende Flügel etc. Indem das Äußere geschützt wird, wird das Innere stabilisiert. Beispiele: Ps 7,11 Ps 31,3 Ps 31,21 Ps 59,10

Ps 18,2–3

Ps 62,6–8

„Mein Schild über mir ist Gott.“55 „Sei mir ein schützender Fels, eine feste Burg, um mich zu retten.“ „Du verbirgst sie im Verborgenen deines Angesichts vor dem Zusammenrotten der Menschen. Du verbirgst sie in einer Hütte dem Streit der Zungen.“ „Meine Stärke, zu dir will ich mich halten, denn Gott ist meine Schutzburg.“ (Vgl. V. 18 und V. 12: „Dir will ich aufspielen, denn Gott ist meine Schutzburg“, vgl. ‫דנָי‬ ֹ ‫א‬ ֲ ‫ מָ גִ ֵנּנוּ‬V. 12.)56 „Ich will dich lieben, YHWH, meine Stärke, YHWH, mein Felsen, meine Festung, mein Retter, mein Gott, mein Fels, in dem ich mich berge, mein Schild und ein Horn meiner Hilfe, meine Feste.“ „Gewiss/doch zu Gott werde ruhig meine Seele/mein Leben, denn von ihm kommt meine Hoffnung. Gewiss/doch er, er ist mein Fels und meine Rettung, meine Schutzburg, so dass ich nicht wanke. Auf Gott ruht mein Heil und meine Ehre, Fels meiner Macht/meines Schutzes ist er, meine Zuflucht ist in Gott.“

Der Beter wird den Widersachern durch den Schutz Gottes entzogen, die somit vergeblich auf ihn anstürmen, ihn bedrohen oder zu Fall bringen wollen. So fühlt sich der Beter von Gott auf einen schützenden Berg gestellt oder auf einen Felsen gehoben: Ps 30,8

„YHWH, in deiner Gunst stelltest du mich auf einen mächtigen Berg.“57

                                                             54

Übersetzungen Ps 51–150 nach Zenger (HThKAT). Die Beispiele aus Ps 1–50 sind eigene Übersetzungen. 55 Unter der Voraussetzung der Änderung des ‫ על‬in ‫עלי‬, was aber recht üblich ist. 56 Mit einer Reihe von Handschriften die LXX und der Targum. 57 MT: „Hingestellt auf meiner Berge Macht“, LXX τῷ κάλλει μου. Der schwierige Text hat zu allerlei Spekulationen Anlass gegeben (‫ = הרר‬Denkkraft, Einbildungskraft, etc.). B. Janowski und C. Hardmeier sprechen zurecht von Grenzerfahrungen. Nimmt man

224 Ps 27,5–6a

Christian Frevel „Denn er versteckt mich in seiner Hütte an einem Tag des Unheils; er verbirgt mich im Bergenden seines Zeltes, auf einen Fels erhöht er mich. Und dann – mein Haupt wird hoch sein über meinen Feinden, die mich umgeben.“

Wie in dem letzten Zitat wird mehrfach der Tempel, Zion oder die ummauerte Stadt Jerusalem zur schützenden Burg, zur Kraftquelle und zum Zufluchtsort, wie etwa in Ps 91,1–2 wieder mit dem typischen Zitat des Traditionswissens (s.u. Modell g): Ps 91,1–2

Ps 52,10

„Als einer, der im Schutz des Höchsten wohnt, im Schatten des Allmächtigen nächtigt, spreche ich zu JHWH: ‚Meine Zuflucht und meine Felsenburg, mein Gott, auf den ich vertraue.‘“ „Ich aber bin wie ein grünender Ölbaum im Hause Gottes, ich vertraue auf die Güte Gottes für immer und ewig.“

Eng anschließend an die Sicherheit im Tempel sind die utopischen Bilder, in denen eine gesicherte Existenz in vollkommener Fülle möglich ist und die so dem Beter Halt und Orientierung geben: die Zedern und Palmen in den Vorhöfen (Ps 92,13–14), der an Wasserbächen gepflanzte Baum (Ps 1,3), der Ruheplatz am Wasser (Ps 23,2) etc. b) Resilienz durch Befähigung und Befreiung Auch das zweite Modell arbeitet intensiv mit Raumkategorien, allerdings stärker mit Bildern einer befreienden Entgrenzung als mit der schützenden Begrenzung. Resilienz ist hier eine Befähigung, den Weg mit Gott ungehindert zu gehen oder von dem Zugriff der Feinde befreit zu sein. Gott schafft dem Beter einen weiten oder geweiteten Raum zur Entfaltung: Ps 4,2 Ps 18

Ps 25,15.17

Ps 31,9

„In meinem Rufen antworte mir, mein Gott, meine Gerechtigkeit. In der Enge hast du mir weit gemacht. Sei mir gnädig und höre mein Bittgebet.“ „Er ließ mich hinausgehen ins Weite.“ (18,20) „Denn mit dir überrenne ich Streitscharen und mit meinem Gott überspringe ich Mauern.“ (18,30) „Der Gott hat mich mit Stärke umgürtet und er machte meinen Weg vollkommen.“ (18,33) „Er macht meine Füße wie Hinden, und auf meine Höhen stellt er mich.“ (18,34) „Du machst weit meinen Schritt unter mir, meine Knöchel wanken nicht.“ (18,37) „Meine Augen sind beständig auf YHWH gerichtet; denn er ließ herausgehen von dem Netz meine Füße.“ „Die Engen meines Herzens sollen weit werden, aus meiner Bedrückung lässt er mich herausgehen.“ „Du hast mich nicht ausgeliefert in die Hand des Feindes. Du lässt meine Füße in weitem Raum stehen.“

                                                             Ps 27,5 als Parallele, ergibt sich auch für Ps 30,8 eine die Enge vollkommen entgrenzende Raumaussage.

„Du machtest mich stark wie einen Wildstier“ (Ps 92,11)

225

Ist hier schon die Wegmetapher im entgrenzten Raum ein Bild der Resilienz, so wird dies durch die Metapher der „festen Schritte“ oder der Schritte, „die nicht wanken“, noch unterstrichen: Ps 40,3

Ps 119,133 Ps 37,23 Ps 17,5

„Er ließ mich heraufgehen aus der Grube der Zerstörung. Aus Schlamm und Morast. Und er ließ aufstehen auf einen Felsen meine Füße. Er hat festgemacht meine Schritte.“ „Meine Schritte mache fest durch deinen Spruch.“ „Von YHWH wurde das Schreiten des starken Mannes festgemacht. Und ihm gefällt sein Weg.“ „Meine Schritte gehen auf deinen Pfaden, nicht wanken meine Sohlen.“

Mehrfach ist dieses Bild verbunden mit der Tora als Richtschnur. Die Gebote werden zur orientierenden Begrenzung des Weges, der im Bild ohne Abweichung, zielgerichtet und ungekrümmt in die unbegrenzte Zukunft mit Gott geht. Tora ist hier – die Betonung ist nur gegen das stete Vorurteil gegenüber dem Gesetz notwendig – gerade nicht einengend, sondern in die gesicherte Zukunft führend: Ps 37,22.31 Ps 16,8 Ps 119,5–6

„Der Mund des Gerechten murmelt die Weisheit und seine Zunge redet recht.“ „Die Tora seines Gottes ist in seinem Herzen. Nicht wanken seine Schritte.“ „Ich habe YHWH beständig mir gegenüber. Ja, er ist meine Rechte. Ich wanke nicht.“ „Oh, dass doch fest seien meine Wege, zu befolgen deine Gesetze! Dann werde ich nicht zuschanden werden, wenn ich blicke auf alle deine Gebote.“

c) Stabilisierung durch Entängstigung und Zuversicht Zur Krise gehören Unvorhersehbarkeit, sich der Kontrolle entziehende Komplexität und Ambiguität. Sie lösen Angst und Verunsicherung ebenso aus. Darauf bezogen sind der Trost, die Schaffung von Zuversicht, die Bereitstellung neuer Perspektiven, und die Bestärkung Krisen bewältigen zu können. Die Aufforderung „fürchte dich nicht“ ist wie das „hoffe auf den Herrn“ (Ps 27,14) ein Weg, der in eine gesteigerte Resilienz mündet, wenn sich der Beter darauf einlässt: Ps 23,4 Ps 91,5–6

„Auch wenn ich gehe in der Todesschattenschlucht, fürchte ich kein Unheil, denn du bist mit mir, dein Stab und dein Stock, sie sind mein Trost.“ „Nicht brauchst du dich zu fürchten vor einem Schrecken in der Nacht, vor einem Pfeil, der daherfliegt am Tage, vor der Pest, die in der Finsternis umhergeht, vor der Seuche, die verwüstet am Mittag.“

Dem weiten Raum steht die Enge der Krise diametral gegenüber, sodass auch hier Bilder des Vertrauens und der Zuversicht neue Perspektiven im Raum eröffnen. Wenn das Herz weit gemacht wurde, waren zwar auch schon die „inneren Räume“ im Spiel, doch gibt es weitere Texte, die die Stabilisierung durch Vertrauen, Ruhe und Kräftigung im Inneren verorten und die emergente, innere Kraft zum Guten nutzen:

226 Ps 62,2–3

Ps 28,7

Ps 27,1

Christian Frevel „Gewiss/doch zu Gott hin wird ruhig meine Seele/mein Leben, von ihm kommt meine Rettung. Gewiss/doch er, er ist mein Fels und meine Rettung, meine Schutzburg, so dass ich nicht zu sehr wanke.“ „YHWH ist meine Stärke, mein Schild. Auf ihm ist das Vertrauen meines Herzens und mir wurde geholfen und mein Herz jubelt und mein Lied preist ihn.“ „YHWH ist mein Licht und meine Rettung. Vor wem soll ich mich fürchten? YHWH ist ein Schutz meines Lebens. Vor wem soll ich zittern?“

Zur Krise gehören Unberechenbarkeit und Kontrollverlust. Damit umgehen zu lernen und nicht dem Wahn zu verfallen, alles zu jeder Zeit kontrollieren zu können, reflektieren auch die Beter in den Psalmen. Die Zeit der Unruhe und Verunsicherung wird durch die Entwicklung von Hoffnung, Vertrauen und Geduld stabilisiert: Ps 42,6

Ps 56,4–5

„Was bist du betrübt, mein Selbst, und aufgebracht in mir? Warte auf Gott, denn ich werde ihm noch danken, der Hilfe meines Angesichts [und meinem Gott].“ (Vgl. Ps 42,12; 43,5.) „Am Tag, da ich mich fürchte, vertraue ich auf dich. Auf Gott, dessen Wort ich lobpreise, auf Gott habe ich mein Vertrauen gesetzt, so fürchte ich mich nicht: Was kann Fleisch mir antun?“ (Vgl. Ps 56,12; 118,6.)

d) Autostabilisierung des Beters durch Selbstbindung an Gott In den letzten Stellen wurde die aktive Rolle des Beters im Prozess der Stabilisierung deutlich. Der innere Monolog, die Selbstbefragung und die aktive Auseinandersetzung mit der eigenen Situation sind der Ausgangspunkt der Krisenbewältigung. Das Gottesverhältnis ist dabei ein entscheidender Faktor und die Selbstvergewisserung des Beters führt zu einer Autostabilisierung. Die notwendige Selbstdistanz führt zur lenkenden Selbstdeutung, die zu einer Stabilisierung führt. Ich schließe in diesem Muster an das in dem Vorbereitungspapier genannte Konzept einer „epistemischen Resilienz“ an, die sich nach Clemens Sedmak „durch epistemische Grundakte wie Denken, Glauben, Erinnern“58 speist: Ps 42,6

Ps 131,2

Ps 56,10 Ps 16,2.7–8

„Was bist du betrübt, mein Selbst, und aufgebracht in mir? Warte auf Gott, denn ich werde ihm noch danken, der Hilfe meines Angesichts [und meinem Gott].“ (Vgl. Ps 42,12; 43,5 [fast gleichlautend].) „Vielmehr habe ich geglättet und habe ich zur Stille gebracht meine Seele. Wie ein gestilltes Kind bei seiner Mutter, wie das gestillte Kind bei mir – so ist meine Seele.“ „Am Tag, da ich dich rufe, dies weiß ich, dass Gott für mich ist.“ „Es spricht [mein Selbst] zu YHWH: ‚Mein Herr, du bist mein Gutes, nichts über dich hinaus.‘“ „Ich segne YHWH, der mich selbst in der Nacht beraten

                                                             58

SEDMAK, CLEMENS, Innerlichkeit und Kraft. Studie über epistemische Resilienz (Forschungen zur europäischen Geistesgeschichte 14), Freiburg i.Br.: Herder 2016, 2.

„Du machtest mich stark wie einen Wildstier“ (Ps 92,11)

227

hat, er hat meine Nieren unterwiesen. Ich habe YHWH beständig mir gegenüber. Ja, er ist meine Rechte. Ich wanke nicht.“

Immer wieder finden sich wie im letzten Beispiel solche Autostabilisierungen als Selbstbestärkungen, oft unter Hinzunahme von Traditionswissen (s.u. Modell g). Die Sprechrichtung ist dabei nicht das Entscheidende, sondern das performative Moment des Sprechens selbst, durch das das sprechende Subjekt eine Stärkung erfährt. e) Stabilisierung durch das Tun der Tora In vielen Beispielen wurde bereits deutlich, dass das Gottesverhältnis durch Vertrauen und Hoffnung gestärkt werden kann. Die performativen Äußerungen von Klage und Lob spielen dabei eine große Rolle. Neben die in Klage, Bitte, Lob und Dank gefasste Gottesbeziehung tritt die Tora als Orientierungsgröße, die ebenfalls schon in vielen Beispielen als „Wort, Gebot, Recht, Weisung, Gesetz, Weg etc.“ präsent war. Die Tora ist dabei lebensspendende und lebensermöglichende Größe, deren Tun resilient macht. Das wird mit Metaphern sowie Emotionen wie Freude und Jubel verbunden und mit Lichtmetaphern verknüpft: Ps 19,9 Ps 112

„Die Befehle YHWHs sind recht. Sie erfreuen das Herz. Das Gebot YHWHs ist lauter, es erleuchtet die Augen.“ „Selig der Mann, der JHWH fürchtet, der an seinen Geboten sehr Gefallen hat.“ (112,1) „Wohlstand und Reichtum sind in seinem Hause und seine Gerechtigkeit besteht auf Dauer. Aufgestrahlt ist er in der Finsternis als Licht den Geraden, als gnädig und barmherzig und gerecht. Glücklich der Mann, der gnädig ist und (ohne Zins) leiht, der seine Angelegenheiten ordnet nach dem Recht. Ja, in Ewigkeit wird er nicht wanken, zu einem Gedenken der Ewigkeit wird der Gerechte sein.“ (112,3–6) „Gestützt ist sein Herz, er fürchtet sich nicht, bis er herabsieht auf seine Bedränger.“ (112,8)

Besonders in Ps 1 und Ps 119 wird neben dem Gottesverhältnis die Funktion der Tora in dem Prozess der Autostabilisierung reflektiert. Die Tora ist dabei Kumulation des Orientierungswissens, Richtgröße und Stabilisator, wenn sich der Beter darauf ausrichtet und einlässt: Ps 119,6

„Dann werde ich nicht zuschanden werden, wenn ich blicke auf alle deine Gebote.“ Ps 119,32.45 „Den Weg deiner Gebote will ich laufen, denn du machst weit mein Herz.“ „Und ich werde wandeln in die Weite, denn deine Anordnungen habe ich gesucht.“ Ps 119,80 „Es werde mein Herz vollkommen durch deine Gesetze, damit ich nicht zuschanden werde.“ Ps 119,47–50 „Und ich werde mich ergötzen an deinen Geboten, die ich liebe. Und ich werde erheben meine Hände zu deinen Geboten, die ich liebe, und ich werde meditieren über deine Gesetze. Gedenke des Wortes an deinen Knecht, auf

228

Ps 119,105

Christian Frevel dass du mich hast warten lassen. Dies ist mein Trost in meinem Elend, dass dein Spruch mich belebt hat.“ „Eine Leuchte für meinen Fuß ist dein Wort und ein Licht für meinen Pfad.“

f) Freude als Ausdruck von Resilienz So, wie die Tränen und das Seufzen Ausdruck der Krise sind, sind das Lachen und die Freude Ausdruck neuer Sicherheit und Stabilität nach der Überwindung der Krise (Ps 126). Aber nicht nur das: In der Resilienzforschung wird die Wechselwirkung von positiven Emotionen und Resilienz immer wieder herausgestellt.59 Freude, Lachen und Jubel sind sowohl eine Folge der Resilienz als auch eine Resilienzressource. Mit dem Jubel setzt sich der Beter von den Feinden und Widersachern ab, die außer der Schadenfreude über das Ergehen des Beters keine echte Freude empfinden können und daher zuschanden werden. Positive Emotionen befördern die positive Entwicklung der Person, richten die psychischen Stärken auf und stabilisieren die für die Resilienz so zentralen sozialen Beziehungen. Sie tragen damit signifikant zur Resilienz bei. Auch in den Psalmen wird dieser Zusammenhang gesehen: Ps 32,7 Ps 13,6 Ps 30,12 Ps 5,12–13

Ps 63,8–9 Ps 64,11a Ps 37,4

„Du bist Schutz für mich vor der Enge, du bewahrst mich, mit Rettungsjubel umgibst du mich. Sela.“ „Ich vertraue auf deine Liebe, mein Herz jubelt über deine Rettung. Ich will YHWH singen, denn er hat Gutes an mir getan.“ „Du hast mein Klagen in Tanzen verwandelt. Du hast mir das Trauergewand gelöst und mich mit Freude umgürtet.“ „Es sollen sich freuen alle, die sich in dir bergen, auf immer sollen sie jubeln. [Denn] Du beschützt sie und sie sollen über dich frohlocken, die deinen Namen lieben. Denn du segnest den Gerechten, YHWH, wie mit einem Schutzschild des Wohlgefallens bekrönst du ihn.“ „Denn/Ja, du bist mir zur Hilfe geworden, und im Schatten deiner Flügel juble ich. Es hängt meine Seele/mein Leben an dir, es hält mich fest deine Rechte.“ „Es freute/freue sich der Gerechte über JHWH und suchte/suche Zuflucht bei ihm.“ „Erquicke dich an YHWH und er gibt dir, was dein Herz begehrt.“

g) Stabilisierung durch Reflexion und Aktivierung von Traditionswissen Krisen „beinhalten daher ein hohes Maß an Nicht-Wissen“.60 Wenn das richtig ist, dürfte außer Frage stehen, dass die Schaffung und Organisation von Wissen resilienzproduktiv ist und die Prognosefähigkeit gegenüber Krisen auszeichnet. Die Erhöhung der Ambiguitätstoleranz kann ebenfalls als resilienzverstärkendes Potenzial verstanden werden. Es ist auffallend, dass die Aktivierung

                                                             59 ROLFE, MIRJAM, Positive Psychologie und organisationale Resilienz. Stürmische Zeiten besser meistern (Positive Psychologie kompakt), Wiesbaden: Springer 2018, 118– 120. 60 FATHI, Resilienz, 83.

„Du machtest mich stark wie einen Wildstier“ (Ps 92,11)

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von Traditionswissen immer wieder zur Stabilisierung eingesetzt oder empfohlen wird. Das kann durch markierte oder unmarkierte Zitate geschehen (z.B. Ps 22,4–6). So werden die Unsicherheit und Unberechenbarkeit, die die krisenhafte Situation auszeichnen, durch den reflexiven „epistemischen Grundakt“ des Erinnerns stabilisiert. Die aktive Rolle, die der Beter im Aufrufen der Ressourcen einnimmt, ist entscheidend für eine Festigung resilienter Strukturen: Ps 77,11–12 „Da sprach ich: Mein Siechtum ist dies, dass die Rechte des Höchsten sich geändert hat. Ich gedenke der JHWH-Taten, ja, ich will an dein Wunderwirken von Urzeiten denken.“ Ps 27,8–9 „In Bezug auf dich spricht mein Herz: ‚Suchet mein Angesicht!‘ Dein Angesicht, YHWH, suche ich. Verbirg nicht dein Angesicht vor mir, lass deinen Knecht im Zorn nicht abweichen. Du bist meine Hilfe geworden. Verstoße mich nicht und verlass mich nicht, Gott meines Heils.“ Ps 116,4–7 „Und ich will anrufen den Namen JHWHs: Ach, JHWH, rette mein Leben! Gnädig ist JWHH und gerecht und unser Gott ist ein Erbarmer, ein Hüter von Unerfahrenen ist JHWH; ich war niedrig, und er brachte mir Hilfe. Kehre zurück mein Leben zu deiner Ruhe, denn JHWH hat an dir gehandelt.“ Ps 118,4–5 „Sprechen sollen die JHWH-Fürchtigen: Ja, in Ewigkeit währt seine Liebe. Aus der Bedrängnis rief ich JH, mich erhörte und führte ins Weite JH.“ Ps 119,52 „Ich habe gedacht deiner Rechtsentscheide von Ewigkeit her, JHWH, und ich habe Trost gefunden.“

An dieser Stelle möchte ich den Bogen zu einem Text aus den Klageliedern schlagen, den ich an anderer Stelle als „Erfindung der Theologie“ bezeichnet habe.61 Der Beter in Klgl 3 beschreibt seine schwere Gotteskrise, die ihn krank gemacht und an den Rand des Abgrunds gebracht hat. Am Tiefpunkt negiert er jegliche Zukunft und Hoffnung (Klgl 3,18). In der Situationsanalyse erkennt der Beter die destruktiven, selbstverstärkenden Kräfte der Krise. Er überwindet die Sprachlosigkeit im Leid durch Reflexion und durch den kognitiven Aufruf des Traditionswissens.62 Er schafft sich neue Ressourcen durch den Rückgriff auf die Tradition und findet so zu neuer Resilienz: Klgl 3,21–24 „Dies lasse ich in meinen Verstand zurückkehren, deshalb hoffe ich: Die Gnadenerweise YHWHs sind nicht vollständig noch sind seine Erbarmungen zu Ende. Neu sind sie jeden Morgen, groß ist deine Treue. ‚Mein Anteil ist YHWH‘, spreche ich, deshalb hoffe ich auf ihn.“

                                                             61 Siehe ausführlicher FREVEL, CHRISTIAN, Die Klagelieder (NSK.AT 20/1), Stuttgart: Katholisches Bibelwerk 2017, 216–230; FREVEL, CHRISTIAN, Gott in der Krise. Die Komposition der Klagelieder als Modell kollektiver Krisenbewältigung, in: Ders., Im Lesen verstehen. Studien zu Theologie und Exegese (BZAW 482), Berlin: De Gruyter 2017, 155– 176, 169–171. 62 Zum Zusammenhang von Erinnerung und Traumabewältigung u.a. PEDERSON, ANN u.a., Remembrance and Resilience. How the Bodyself Responds to Trauma, in: Zygon 53/4 (2018), 1018–1035.

230

Christian Frevel

Die Anspielung auf die Gnadenformel und das Insistieren auf der in Gott gründenden und daher zur Gnade hin offenen Geschichte geben dem Beter, der sich zuvor als vollkommen fassungslos beschrieben hat, einen neuen Rahmen. Besonders markant ist hier der Umstand, dass die Reflexion des Traditionswissens den Beter zu dem Schlusszitat anleitet, das die neu geschaffene Beziehung performativ als begründete Hoffnung vollzieht. In nuce ist damit erneut das Modell beschrieben, wie die Bildung resilienter Strukturen durch rekursive Relationierung auch jenseits traumatischer Erstarrung stimuliert, wenn nicht sogar erzeugt werden kann.

III. Der Psalter als Zeugnis, Quelle und Schule der Resilienz – Ertrag In den sieben Mustern der adaptiven Strategien zur Erzeugung, Verstärkung oder Erhaltung von Resilienz wurde bewusst nicht zwischen präventiven und reaktiven Aspekten unterschieden. Es sollte deutlich geworden sein, dass die Texte, selbst wenn sie selbst eine Reaktion auf eine Krise schildern, im lesenden Nachvollzug auch ein präventives Moment entfalten können. Der Text – so die Hauptthese des Durchgangs – kann als Resilienzressource aktiviert werden und es zeigt sich, dass das Bewusstsein davon nicht erst in der späteren Rezeption der Psalmen entwickelt worden ist, sondern dem Psalter als Leseund Meditationsbuch63 bereits eingeschrieben war. Die Psalmen – und nicht nur die hier zur Anschauung isolierten Verse – sind als Paradigmen eine Resilienzressource, die als Ganze einen Resilienznarrativ bildet, der, wenn man so will, in dem Tor zum Psalter, in Ps 1 vorgezeichnet ist.64 Der Psalter ist eine Schule der Resilienz, die im Vollzug die textuelle Ressource, die stilisierten paradigmatischen Zeugnisse fremder Resilienz, tradiert und reflektiert sowie zur Quelle eigener Resilienz transformiert. Die Untersuchung förderte eine spezifische Resilienzsemantik zutage, die sich in den differenzierten Mustern gleichermaßen oder leicht kontextuell angepasst wiederfindet. Auffallend war dabei nicht nur die Breite der Termini, sondern auch der Zusammenhang von Resilienz und Raum. Durch die polaren Muster in der Resilienzsemantik, die oft Oppositionspaare bilden, erwies sich das Feld der Resilienzaussagen als außergewöhnlich breit und gattungsübergreifend.

                                                             63

Zu den Kategorien s. die Übersicht bei BADER, GÜNTER, Psalterspiel. Skizze einer Theologie des Psalters (HUTh 54), Tübingen: Mohr Siebeck 2009, 27. 64 Zur Funktion als Öffnung und Summe s. JANOWSKI, BERND, Freude an der Tora. Psalm 1 als Tor zum Psalter, in: EvTh 67 (2007), 18–31 und als Lebenskunst im rezeptionsästhetischen Nachvollzug ERBELE-KÜSTER, Verführung, 89–109.

„Du machtest mich stark wie einen Wildstier“ (Ps 92,11)

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Zwei zusammenfassende Beobachtungen seien zu den sieben Modellen noch erwähnt: Die erste ist, dass sich die stärksten Resilienzaussagen nicht ausschließlich aber überwiegend in den ersten Davidpsaltern finden. Hier, wo auch die Klage im Vergleich zum Gesamtpsalter dominiert, stehen die meisten bestärkenden Zusagen und Aufforderungen zum performativen Nachvollzug. Mit Blick auf den kanonischen Psalter befinden sich gerade hier die Strukturen, aus denen innere Stärke emergiert, aus der heraus das universale Lob formuliert ist, das den Psalter beendet. Das unterstreicht noch einmal den engen Zusammenhang von Krise und Resilienz. Die zweite Beobachtung ist noch subtiler, da sie eine diachrone Linie unterstellt, die im vorliegenden Zusammenhang aufgrund des explorativen Charakters der Untersuchung nicht dargestellt werden konnte. Die Rückgriffe auf das Traditionswissen, das Einspielen der Rettungserfahrungen und der Zitate etwa der Gnadenformel oder der sogenannten „Heilsorakel“ stehen nicht am Anfang der Entwicklung, sondern setzen schon eine gewisse Verdichtung der Tradition voraus. Das zeigt schon die Verteilung dieser Rückgriffe innerhalb des Psalters. Darin eröffnet sich eine zunehmende Reflexivität der Tradition, die bereits den Traditionsgebrauch in die Traditionsbildung mit einschließt. Das Orientierungswissen wird als solches reflektiert und sein Gebrauch exemplarisch implementiert. Es wäre lohnend, diesem Zug von Tradition weiter nachzugehen.

IV. Die Krise der Anderen – Ein Ausblick Martin Schneider und Markus Vogt haben 2017 in einem Artikel mit dem Titel „Responsible Resilience“ vor dem Hintergrund einer Ethik der Responsivität (Bernhard Waldenfels) deutlich gemacht, dass das Moment sich von Krisen betreffen zu lassen und auf sie zu antworten als eine normative Dimension im Resilienzdiskurs begriffen werden kann.65 Resilienz soll und kann nicht die Ausbildung stoischer Monaden zum Ziel haben, die sich von nichts und niemandem mehr aus der Ruhe bringen lassen und darin universal krisenresistent sind. Krisen beunruhigen – auch die Krisen der Anderen – und das ist ein wichtiges Moment, das m.E. im derzeitigen Resilienzdiskurs noch unterbewertet ist. Biblisch gesehen ist das Moment durchaus vorhanden und sogar zentral, wie ein Blick in die Klagelieder zeigt, wo es u.a. um den Zusammenhang von urbaner und individueller Resilienz geht. Wenn der Sprecher von Klgl 3 durch den textuellen Bezug die Tränen Zions empathisch aufnimmt und mitweint, beginnt die Bewältigung des kollektiven Traumas durch die paradigmatische Zuversicht Einzelner. An der Resilienz anderer kann ebenso gelernt werden

                                                             65 SCHNEIDER, MARTIN/VOGT, MARKUS, Responsible Resilience. Rekonstruktion der Normativität von Resilienz auf Basis einer responsiven Ethik, in: GAIA – Ecological Perspectives for Science and Society 26/1 (2017), 174–181, 180.

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wie an der Krise der Anderen. Darin ist die Bibel eine unschätzbare textuelle Ressource für die religiös motivierte Erzeugung von Resilienz.

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Der Angst widerstehen Psalm 22 und der Resilienzbegriff Bernd Janowski Friedhelm Hartenstein zum 60. Geburtstag

I. Phänomenologie der Angst – Vorbemerkungen Angst ist ein starkes und komplexes Gefühl. Es ist so stark, dass es den Körper ergreift und selbst körperlich ist.1 Die leibliche Codierung der Angst lässt sich durch zahlreiche Sprachbilder belegen, so wenn wir davon sprechen, dass die Angst unser Herz schneller schlagen oder gar aussetzen lässt, dass die Knie weich werden und der Schritt versagt, der Puls zu jagen beginnt, die Haare sich sträuben, Kälte uns befällt und über den Rücken jagt und doch zugleich der Schweiß ausbricht, der Atem stockt oder im Gegenteil heftig anschwillt, ringend mit dem abschnürenden Gefühl im Hals, das Kopf und Körper zu trennen droht, die Augen aufgerissen werden und die Pupillen sich schreckhaft weiten, die Glieder schlottern oder sich krampfartig verspannen.2

                                                              Mit den folgenden Überlegungen grüße ich F. Hartenstein, dem ich seit einem Vierteljahrhundert freundschaftlich verbunden bin, herzlich zu seinem runden Geburtstag. Für die kommenden Jahre wünsche ich ihm Gottes Segen und die nötige Muße bei der Verfolgung seiner Arbeitsvorhaben. 1 Zu den medizinischen, psychologischen und philosophischen Aspekten der Angst s. BÖSCH, MICHAEL, Art. Angst, in: NHPhG 1 (2011), 155–163 und DOMSCHKE, KATHARINA, Angst in der Kunst. Ikonografie einer Grundemotion, Stuttgart: Kohlhammer 2019, 13–23. Angst ist nicht nur eine negative Grundemotion, sondern auch ein Gefühl, das für Mensch und Tier eine Grundvoraussetzung für das Überleben ist. 2 BÖHME, HARTMUT, Leibliche und kulturelle Codierungen der Angst, in: Große Gefühle. Bausteine menschlichen Verhaltens, hg. vom ZDF-Studio (st 3230), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, 218. Zu den Symptomen der Angst s. auch DOMSCHKE, Angst 14–16.

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Paul Klee, Angstausbruch II (1939)

Die negative Grundemotion der Angst hat Paul Klee (1879–1940) in einer Federzeichnung festgehalten, die die durch Krankheit verursachte Desintegration des Körpers durch eine neue Bildidee zur Anschauung bringt. „Angst“, so schreibt J. Ringleben dazu, wird hier Form als Verlust von Zusammenhalt, als gestalteter Verfall. Daß Einheit als verlorene in ihrem Zersetztwerden durch die Angst noch irgendwie präsent ist – eben als formaler Rahmen der ängstigenden Erfahrung ihres Verlustes –, das wird durch dreierlei evoziert: 1. den unsichtbaren Gesamtumriss der Teilfragmente, die sich so ordnen, dass sie nach außen optisch die Begrenzung des Blattes wiederholen, das heißt sie bilden etwa ein Rechteck; 2. durch die formale Verwandtschaft in der Linienführung der einzelnen Fragmentumrisse; und 3. schließlich durch gegenständliche Anklänge an das angstvoll verzerrte Gesicht rechts oben und die Hand, der sich auch ein Arm zuordnen lässt, darunter. [...] Das Gesicht – in exzentrischer Position – mit seinen aufgerissenen Augen und Mund scheint verzweifelt auf das Entgleiten seiner selbständig gewordenen Körperteile zu starren.3

Auch im Alten Testament und im Alten Orient wird die Angst als körperliche Desintegration (Leibsphäre) geschildert und bis zur Auflösung der Person und ihrer sozialen Bindungen (Sozialsphäre) gesteigert. Typische Merkmale sind physische Unruhe, erhöhte Herzfrequenz, Erbleichen, Aufstellen der Haare,

                                                             3

RINGLEBEN, JOACHIM, Dornenkrone und Purpurmantel. Zu Bildern von Grünewald bis Paul Klee (Insel-Bücherei 1159), Frankfurt a.M.: Insel 1996, 56. Im selben Jahr 1939 hat Klee auch das Aquarell Angstausbruch III gemalt, s. dazu Domschke, Angst, 92f.

Der Angst widerstehen

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Atembeschwerden, Schwitzen, Schreien, Schreckhaftigkeit, Fluchtreflex und anderes mehr:4 –

physische Unruhe (Gen 42,28; Ex 19,16; Ex 15,15; Ps 48,7; Ex 20,18; Jes 7,2; Ex 15,14; Dtn 2,25 u.a.) erhöhte Herzfrequenz (Ps 38,11; Hi 37,1) Erbleichen (Nah 2,11; Dan 5,6.9) sich aufstellende Haare (Ez 27,35; Hi 4,14f) Unfähigkeit, sich zu bewegen (Ex 15,16; Jes 13,7; Ez 7,27), zu atmen (Dan 10,17b; Jos 2,11), zu sprechen (Jer 4,9; Ps 48,6; Dan 10,15), zu denken (Dan 5,6; Jer 21,3f.) (unfreiwillige) Entleerung des Darms/der Blase (Hi 18,11; Ez 21,12) nervöser Magen (Hab 3,16; Jer 4,19) Trennung der Gebeine (Ps 22,15) trockener Mund (Ps 22,16) Schreien (Jer 4,31; Jes 26,17) veränderter Gesichtsausdruck (Jes 13,8; Gen 42,28) Fluchtreflex (Ps 48,5–8; Jer 26,21)

– – – –

– – – – – – –

Die Semantik der Auflösung und des Zerfließens einerseits und des Vertrocknens und Verdorrens andererseits ist charakteristisch für die Angstbilder biblischer und nachbiblischer Individualpsalmen. Der locus classicus ist Ps 22. Der Begriff „Angst“ (‫„ צָ ָרה‬Bedrängnis, Not“)5 findet sich mit V. 12 dabei an einer Stelle – nämlich am Übergang von der Vertrauensäußerung II (V. 10–12) zur Klage III (V. 13–19) –, die für den Gebetsprozess einschneidend ist.

                                                             4

S. dazu den Überblick bei JANOWSKI, BERND, Anthropologie des Alten Testaments. Grundfragen – Kontexte – Themenfelder, Tübingen: Mohr Siebeck 2019, 168–171 (mit der dort genannten Lit.) sowie die ausführliche kognitiv-linguistische Untersuchung von KIPFER, SARAH, Angst, Furcht und Schrecken. Eine kognitiv-linguistische Untersuchung einer Emotion im Biblischen Hebräisch, in: JNWSL 42 (2016), 15–79. Zu vergleichbaren Texten aus Mesopotamien und Ugarit s. JANOWSKI, Anthropologie, 606–608.642. 5 Abgeleitet von ‫„ צָ ַרר‬eng, zusammengedrängt sein“, s. dazu FABRY, HEINZ-JOSEF, Art. ṣar usw., in: ThWAT 6 (1989), 1113–1122.

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II. Angsterfahrung und Angstbewältigung in Psalm 22 1. Formale Aspekte a) Text und Komposition Ps 22 ist ein dichter und beziehungsreicher Text.6 Nach der Überschrift (V. 1) setzt er mit einem Klagelied des Einzelnen (V. 2–22) ein, das an seinem Scheitelpunkt in V. 22b in ein Dankversprechen (V. 23–27) und einen eschatologischen Schluss (V. 28–32) übergeht. Die Textgrenze zwischen Klage und Lob (V. 22/23) ist identisch mit der Sachgrenze zwischen erlebter Gottesferne und erhoffter Gottesnähe und darum der markanteste Einschnitt im gesamten Gebetsprozess:7

                                                             6

Zu Ps 22 s. außer den Kommentaren (HOSSFELD, FRANK-LOTHAR/ZENGER, ERICH, Psalm 1–50 (NEB.AT 29), Würzburg: Echter 1993; WEBER, BEAT, Werkbuch Psalmen 1. Die Psalmen 1–72, Stuttgart/Berlin/Köln: Kohlhammer 2001, 120–125 u.a.) noch GESE, HARTMUT, Psalm 22 und das Neue Testament. Der älteste Bericht vom Tode Jesu und die Entstehung des Herrenmahles, in: ders., Vom Sinai zum Zion. Alttestamentliche Beiträge zur biblischen Theologie (BEvTh 64), München: Kaiser 1974, 180–201; FUCHS, OTTMAR, Die Klage als Gebet. Eine theologische Besinnung am Beispiel des Psalms 22, München: Kösel 1982; IRSIGLER, HUBERT, Psalm 22. Endgestalt, Bedeutung und Funktion, in: Josef Schreiner (Hg.), Beiträge zur Psalmenforschung. Ps 2 und 22 (fzb 60), Würzburg: Echter 1988, 193–239; SPIECKERMANN, HERMANN, Heilsgegenwart. Eine Theologie der Psalmen (FRLANT 148), Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht 1989, 239–253; RIEDE, PETER, Im Netz des Jägers. Studien zur Feindmetaphorik der Individualpsalmen (WMANT 85), Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 2000, 221–230.307–313; BAUKS, MICHAELA, Die Feinde des Psalmisten und die Freunde Ijobs. Untersuchungen zur Freund-Klage im Alten Testament am Beispiel von Psalm 22 (SBS 203), Stuttgart: Kath. Bibelwerk 2004, 14–54.95–103.150– 173; BESTER, DÖRTE, Körperbilder in den Psalmen. Studien zu Psalm 22 und verwandten Texten (FAT II/24), Tübingen: Mohr Siebeck 2007; RECHBERGER, UWE, Von der Klage zum Lob. Studien zum „Stimmungsumschwung“ in den Psalmen (WMANT 133), Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 2012; GÄRTNER, JUDITH, Lebensstark aus der Klage. Traditionen der Hebräischen Bibel in der Perspektive von Resilienz am Beispiel von Ps 22, in: PrTh 51 (2016), 75–81; JANOWKSI BERND, Konfliktgespräche mit Gott. Eine Anthropologie der Psalmen, Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht 52019, 76–81.348–365; Ders., „Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen?“ Zur Rezeption der Psalmen in der Markuspassion, in: ZThK 11 (2019), 371–401 und die Beiträge, in: SÄNGER, DIETER (Hg.), Psalm 22 und die Passionsgeschichten der Evangelien (BThSt 88), Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 2007. 7 Im Folgenden wird nur auf ausgewählte Textprobleme eingegangen, s. dazu ausführlich GESE, Psalm 22 182f; IRSIGLER, Psalm 22 194–198; JANOWSKI, Konfliktgespräche, 348– 350; BESTER, Körperbilder 47–76 und RECHBERGER, Klage 148–151. Zur nachexilischen Datierung von Ps 22 s. IRSIGLER, Psalm 22 219–221.221–225.

Der Angst widerstehen

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Überschrift Für den Musikmeister. Nach „Die Hindin der Morgenröte.“8 Ein Psalm Davids.

1

Klage I + Doppelte Invocatio Mein Gott, mein Gott, wozu9 hast du mich verlassen, fern von meiner Rettung, den Worten meines Schreiens?10 Mein Gott, ich rufe bei Tag, aber du antwortest nicht, und bei Nacht, doch es gibt keine Ruhe11 für mich.

2 3

Vertrauensäußerung 4

Du aber (bist) heilig, thronend auf den Lobgesängen Israels.12 Auf dich vertrauten unsere Väter, sie vertrauten, und du rettetest sie. Zu dir schrien sie und wurden gerettet, auf dich vertrauten sie und wurden nicht zuschanden.

5 6

Klage II 7

Ich aber – ein Wurm und kein Mensch, ein Gespött von Menschen und verachtet vom Volk. Alle, die mich sehen, spotten über mich, sie verziehen die Lippe, schütteln den Kopf: „Wälze (es) auf JHWH!“, „Er soll ihn retten, er soll ihn herausreißen, denn er hat Gefallen an ihm!“13

8 9

Vertrauensäußerung (mit Bitte V. 12) 10 Ja, du bist es, der mich aus dem Mutterleib zog, der mir Vertrauen einflößte an den Brüsten meiner Mutter! 11 Auf dich bin ich geworfen vom Mutterschoß an,

                                                             Auf der Ebene der Endgestalt von Ps 22 hat die Korrelation von ‫( אַ יֶּלֶ ת‬im Syntagma ‫„ אַ יֶּלֶ ת הַ שַּׁ חַ ר‬Die Hindin der Morgenröte“ V. 1) und ‫א יָלוּת‬ ֱ „Stärke“ (V. 20b) eine den Sinn 8

des Textes erschließende Bedeutung, s. dazu JANOWSKI, BERND „Die Hindin der Morgenröte“ (Ps 22,1). Ein Beitrag zum Verständnis der Psalmenüberschriften, in: Ders., Das hörende Herz. Beiträge zur Theologie und Anthropologie des Alten Testaments 6, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2018, 293–344, 318–327. 9 In der Regel wird ‫ לָ מָ ה‬mit „warum“ übersetzt, s. dazu die Diskussion bei BESTER, Körperbilder 47–54 (die mit „warum“ übersetzt) und JANOWSKI, „Mein Gott“, 392 mit Anm. 98. 10 Möglich ist auch die Übersetzung: „Fern von meiner Rettung sind die Worte meines Schreiens“, vgl. BESTER, Körperbilder 54. 11 Zum Verständnis von ‫דוּמיָּה‬ ִ s. BESTER, Körperbilder 110–112. 12 Zur ungewöhnlichen Aussage von V. 4b s. unten 255. 13 Zu dem mit dem Übergang von der 2. Person („wälze“) zur 3. Person („er soll ...“) verbundenen Perspektivenwechsel s. BESTER, Körperbilder, 57.

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Bernd Janowski

vom Leib meiner Mutter her bist du mein Gott! 12 Sei nicht fern von mir, denn die Not ist nah, denn, es gibt keinen Helfer!

Klage III 13 Umgeben haben mich viele Stiere, die Starken Basans haben mich umstellt. 14 Aufgerissen haben sie gegen mich ihr Maul – ein Löwe, reißend und brüllend. 15 Wie Wasser bin ich ausgeschüttet, und getrennt haben sich alle meine Gebeine, geworden ist mein Herz wie Wachs, zerflossen in meinem Inneren. 16 Trocken wie eine (Ton-)Scherbe ist meine Kraft,14 und meine Zunge klebt mir am Gaumen, und in den Staub des Todes legst du mich. 17 Fürwahr, umgeben haben mich Hunde, eine Rotte von Übeltätern hat mich umkreist wie der Löwe – meine Hände und Füße.15 18 Ich kann zählen alle meine Gebeine, sie aber blicken her, sehen auf mich (herab). 19 Sie teilen meine Kleider unter sich, und über mein Gewand werfen sie das Los.

Bitte + Invocatio 20 Aber du, JHWH, sei nicht fern, meine Stärke, zu meiner Hilfe eile herbei! 21 Entreiß doch dem Schwert mein Leben, aus der Pranke des Hundes meine Einzige! 22 Rette mich aus dem Maul des Löwen und vor den Hörnern der Wildstiere – du hast mir geantwortet!16

Dankversprechen 23 Ich will erzählen deinen Namen meinen Brüdern, inmitten der Gemeinde will ich dich loben:

                                                             14 Zu dem Vorschlag, das masoretische ‫כּ ִחי‬ ֹ („meine Kraft“) in ‫„( ִח ִכּי‬mein Gaumen“) zu ändern (so etwa SPIECKERMANN, Heilsgegenwart, 240), s. BESTER, Körperbilder 61f. 15 V. 17b ist eine klassische crux interpretum, die aber verständlich zu machen ist, nämlich als Bild für die totale – „Hände und Füße“ (oben/unten) – Handlungsunfähigkeit des bedrängten Beters, s. dazu BESTER, Körperbilder, 63–70. 16 Die Suffixkonjugation ‫„ עֲנִ יתָ נִ י‬du hast mir geantwortet“ wird von IRSIGLER, Psalm 22, 195 nicht als primär betrachtet, s. dazu aber RECHBERGER, Klage, 150 mit Anm. 17; 191– 202. Zur abweichenden Textüberlieferung von ‫ עֲנִ יתָ נִ י‬in der LXX, in der Peschitta und bei Symmachus s. BESTER, Körperbilder 71f. und BONS, EBERHARD, Die Septuaginta-Version von Psalm 22, in: Dieter Sänger (Hg.), Psalm 22 und die Passionsgeschichten der Evangelien, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 2007, 22–24.

Der Angst widerstehen

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24 „Die ihr JHWH fürchtet, lobt ihn, aller Same Jakobs, ehrt ihn, und erschauert vor ihm, aller Same Israels! 25 Denn nicht hat er verachtet und nicht verabscheut das Elend des Armen, und nicht hat er sein Angesicht vor ihm verborgen, und auf sein Schreien zu ihm hat er gehört. 26 Von dir kommt mein Lobpreis in großer Gemeinde, meine Gelübde erfülle ich vor denen, die ihn fürchten. 27 Essen sollen Arme und satt werden, loben sollen JHWH, die ihn suchen! Aufleben soll euer Herz für immer!“17

Eschatologischer Schluss 28 Es sollen gedenken und umkehren zu JHWH alle Enden der Erde, und niederfallen vor deinem Angesicht alle Geschlechter der Völker! 29 Denn JHWH gehört die Königsherrschaft, und er ist Herrscher über die Völker. 30 Gegessen haben und (verehrend) niedergefallen sind alle Fetten der Erde, vor seinem Angesicht sollen sich beugen alle, die in den Staub hinabgestiegen sind, und der sein Leben nicht bewahrt hat.18 31 Nachkommenschaft wird ihm dienen, erzählen soll man von Adonaj dem Geschlecht derer, 32 die kommen werden. Verkünden soll man seine Gerechtigkeit dem Volk, das noch nicht geboren wird, denn er hat (es) getan!

In seinen beiden Teilen – dem Klagelied V. 2–22 und dem Dankversprechen V. 23–27 (+ eschatologischem Schluss V. 28–32) – durchmisst der leidende Beter den langen und dramatischen Weg von der Gottesferne (Todeserfahrung) zur Gottesnähe (Lebenszuversicht).19 Der Klageliedteil (V. 2–22) enthält dabei drei Klagegänge: I. V. 2–6, II. V. 7–12 und III: V. 13–22. Die beiden ersten Klagegänge sind so aufgebaut, dass auf die Klage jeweils eine Vertrauensäußerung folgt (V. 4–6 / V. 10–12 mit abschließender Bitte in V. 12). Während die erste Vertrauensäußerung JHWH als Königsgott sowie als Väter- und Exodusgott prädiziert (V. 4–6), also heilsgeschichtlich orientiert ist, wechselt die zweite Vertrauensäußerung auf die biographische Ebene, indem JHWH als

                                                             17 Mit IRSIGLER, Psalm 22, 200–202.215f. gehe ich davon aus, dass V. 24–27 als „Lobdurchführung zum Versprechen V. 23, d.h. als Zitat der versprochenen Lobrede“ (201) zu verstehen sind. 18 Zu den Textproblemen von V. 30 s. BESTER, Körperbilder, 74f. 19 Vgl. IRSIGLER, Psalm 22, 213–215.

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persönlicher Gott angesprochen wird, der den Beter seit dessen Geburt schützend umgibt (V. 10–12). Der dritte Klagegang (V. 13–19) enthält demgegenüber etwas Neues, weil er am Ende statt in eine abermalige Vertrauensäußerung in eine – gegenüber V. 12 – gesteigerte Bitte um Rettung durch JHWH mündet (V. 20–22), die ihrerseits die Basis für den anschließenden Dank (V. 23–27) sowie den eschatologischen Schluss (V. 28–32) ist. „So wird Ps 22 zum Formular eines umfassenden Gebetsprozesses, der aus der Tiefe und Enge der Klage in die Höhe und Weite des Lobs führen soll“20. b) Kommunikationsstruktur Die Klagelieder des Einzelnen gewähren, sprechaktanalytisch gelesen, nicht nur einen Einblick in die Kommunikationsstruktur, sondern auch in das soziale Umfeld dieser Gebete. Das Musterbeispiel dafür ist Ps 13: 1

Für den Musikmeister. Ein Psalm Davids.

Überschrift

2

Wie lange, JHWH, vergisst du mich auf Dauer? Wie lange verbirgst du dein Gesicht vor mir? Wie lange soll ich Sorgen tragen in meiner ‫נֶפֶ שׁ‬, Kummer in meinem Herzen Tag für Tag? Wie lange erhebt sich mein Feind über mich?

Klage + Invocatio

Blick doch her, erhöre mich, JHWH, mein Gott! Mach hell meine Augen, damit ich nicht zum Tod entschlafe, damit mein Feind nicht behauptet: „Ich habe ihn überwältigt!“, meine Gegner nicht jubeln, dass ich wanke!

Bitte

Aber ich – auf deine Güte habe ich vertraut, mein Herz juble über deine Rettung: „Singen will ich JHWH, dass er an mir gehandelt hat!“21

Vertrauensäußerung

3

4

5

6

Lobversprechen

Die einzelnen Gattungselemente sind klar erkennbar und in der Anlage des Psalms aufeinander bezogen. Die dreiteilige Klage – Gott-Klage, Ich-Klage, Feind-Klage (V. 2f) – ist stilistisch durch vier Wie lange-Fragen gestaltet, wobei die Not des Beters unter drei Aspekten erscheint:

                                                             20

IRSIGLER, Psalm 22, 214f., vgl. 221–225. Zu diesem Text s. IRSIGLER, Psalm-Rede als Handlungs-, Wirk- und Auslegungsprozeß, in: Klaus Seybold/Erich Zenger (Hg.), Neue Wege der Psalmenforschung (HBS 1), Freiburg i.Br. u.a.: Herder 1994, 63–104, 76–88; JANOWSKI, Konfliktgespräche, 56–84 und SCHNOCKS, JOHANNES, Psalmen (UTB 3473), Paderborn: Schöningh 2014, 46–49. 21

Der Angst widerstehen

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– im Blick auf JHWH als Entzug seiner Gegenwart („vergessen“ // „Gesicht verbergen“) (V. 2) – im Blick auf den Beter als Tragen von „Sorgen“ in seiner ‫ נֶפֶ שׁ‬// von „Kummer“ in seinem Herzen (V. 3a) – im Blick auf den Feind als Überwältigung und Vernichtung des Beters (V. 3b)

Damit erweist sich das Klagelied des Einzelnen als anthropologischer Grundtext, der in seinen Sprechakten die Situation des leidenden Beters umfassend thematisiert. Es stellt den Menschen nicht als isoliertes Ich, als eine, fensterlose Monade‘, sondern als ein Wesen dar, das in die grundlegenden Konstellationen Gott, Welt und Mitmensch/en eingebunden ist und in diesen Bezügen handelt und lebt (konstellativer Personbegriff).22 Auch in Ps 22 sind die einzelnen Gattungselemente klar erkennbar und über die Wortfelder der Gottesferne und der Gottesnähe23 vielfältig aufeinander bezogen. Entscheidend dafür, dass es sich dabei um ein Gebet handelt, ist die dialogische Kommunikationssituation zwischen Gott und Mensch.24 Diese Situation zeigt sich an den Sprechrichtungen und den beteiligten Kommunikationspartnern: Klage I

Sprechrichtung/ Kommunikationspartner

2 3

Gott → Beter Beter → Gott

Gott-Klage + Invocatio Gott-Klage

Vertrauensäußerung 4 5

Vertrauensäußerung Vertrauensäußerung

6

Vertrauensäußerung

Beter → Gott Väter Israels → Gott (b: Gott → Väter Israels) Väter Israels → Gott

Klage II 7 8 9

Ich-Klage Feind-Klage Feind-Klage

Beter Feinde → Beter Feinde → Beter

Vertrauensäußerung 10 11 12

Vertrauensäußerung Vertrauensäußerung Bitte

Gott → Beter Beter → Gott Beter → Gott

                                                             22 S. dazu Janowski, Konfliktgespräche, 36; Ders, Anthropologie, 29f.31f. und Schnocks, Psalmen, 95–97. 23 S. dazu im Folgenden. 24 S. dazu IRSIGLER, Psalm 22, 213–216.238 (Tabelle) und JANOWSKI, Anthropologie, 291–294 mit der dort genannten Lit.

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Klage III 13 14 15 16 17 18 19

Feind-Klage Feind-Klage Ich-Klage Ich-Klage (b: Gott-Klage) Feind-Klage (b: Ich-Klage) Ich-Klage (a) / Feind-Klage (b) Feind-Klage

Feinde → Beter Feinde → Beter Beter Beter (b: Gott → Beter) Feinde → Beter a: Beter / b: Feinde → Beter Feinde → Beter

Bitte + Invocatio Bitte Bitte

Beter → Gott Beter → Gott Beter → Gott

Bitte 20 21 22

Wie Ps 22 paradigmatisch zeigt, kommt im Gebet die persönliche Erfahrung von Anfeindung, Krankheit und Rechtsnot zur Sprache, die der Beter macht bzw. gemacht hat und von der er errettet zu werden hofft. Der Betende ist der klagende, bittende und dankende Mensch, der sich dem göttlichen Du zuwendet und der dabei „ich“ sagt.25 „Diese Bedingung des Dialogs“, so hat es der Sprachwissenschaftler E. Benveniste (1902–1976) formuliert, „ist es, welche die Person konstituiert, denn sie impliziert umgekehrt, daß ich zu einem du werde in der Anrede desjenigen, der sich seinerseits als ich bezeichnet“26. Signifikant für die Bedeutung von Ps 22,2–22 sind schließlich die Wortfelder der erfahrenen Gottesferne und der erhofften Gottesnähe: erfahrene Gottesferne verlassen (‫ )עָ זַב‬+ Subj. JHWH fern (‫ ) ָרחוֹק‬von meiner Rettung (‫)ישׁוּעָ ה‬ nicht antworten (‫ )עָ נָה‬+ Subj. JHWH keine Ruhe (‫דוּמיָּה‬ ִ ) + Subj. Beter die Angst ist nahe (‫) ְק רוֹבָ ה‬ kein Helfer (‫ עָ זַר‬Ptz.)

2a 2b 3a 3b 12a 12b, vgl. 20b

erhoffte Gottesnähe retten (‫ פלט‬pi.) + Subj. JHWH gerettet werden (‫ מלט‬nif.) nicht zuschanden werden (‫)בוֹשׁ‬

5b.9a 6a 6b

                                                             25 Zum „Ich“ in den Psalmen s. WILKE, ALEXA F., „Ich aber!“ – Identität und Sprache im Gebet des Psalters, in: Florian Wilk (Hg.), Identität und Sprache. Prozesse jüdischer und christlicher Identitätsbildung im Rahmen der Antike (BThSt 174), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2018, 98–100. 26 BENVENISTE, EMILE, Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, München: De Gruyter 1974, 289 (Hervorhebung im Original).

Der Angst widerstehen herausreißen (‫ נצל‬hif.) + Subj. JHWH nicht fern sein (‫) ָרחַ ק‬ meine Stärke (‫איָלוּת‬ ֱ ) meine Hilfe (‫)עֶ ְז ָרה‬ retten (‫ ישׁע‬hif.) + Subj. JHWH antworten (‫ )עָ נָה‬+ Subj. JHWH

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9b.21 12a.20a 20b, vgl. 1 (‫) אַ יֶּלֶ ת‬ 20b, vgl. 12b 22a, vgl. 2b 22b, vgl. 3a

In seiner Anlage bringt das Klagelied V. 2–22, das in V. 22b („du hast mir geantwortet“) zum Dankversprechen (V. 23–27) und zur eschatologischen Coda (V. 28–32) übergeht, die Tiefe der Gottverlassenheit des Beters und dessen Angewiesenheit auf die Rettung durch JHWH zum Ausdruck. Wie der Angst, von Gott verlassen zu sein, widerstanden werden kann – das ist das Thema von Ps 22. Für dessen Analyse ist ein Rekurs auf den Resilienzbegriff27 hilfreich. 2. Thematische Aspekte Im Blick auf den Versuch, Ps 22 als Resilienztext zu lesen, sind vorab zwei Bemerkungen zu machen. Zum einen ist Resilienz ein metasprachlicher Begriff, der erstmals in der Psychologie der 1970er Jahre auftauchte und nach und nach von anderen Wissenschaften adaptiert wurde.28 Zum anderen ist Resilienz ein schillernder Begriff, dessen Leistungsfähigkeit davon abhängt, wie sehr er der Eigenart der jeweiligen Krisenerfahrung(en) gerecht wird. Dem Wortsinn nach meint „Resilienz“ (abgeleitet von lat. resilire „zurückspringen, abprallen“) die psychische Widerstandskraft, „die Individuen in der Konfrontation mit und der Bewältigung von widrigen Lebensumständen herausbilden“29. Im

                                                             27 Zum Thema „Resilienz“ s. den einleitenden Beitrag von GÄRTNER, JUDITH/RICHTER, CORNELIA, Der (post-)moderne Begriff der Resilienz und die jüdisch-christliche Tradition, mit der dort genannten Lit., ferner die Überblicke bei RICHTER, CORNELIA/BLANK, JENNIFER, „Resilienz“ im Kontext von Kirche und Theologie. Eine kurze Einführung in den Stand der Forschung, in: PrTh 51 (2016), 69–74 und BÖHME, REBECCA, Resilienz. Die psychische Widerstandskraft, München: C.H. Beck 2019. 28 S. dazu etwa BÖHME, Resilienz, 9–11. 29 HILDENBRAND, BRUNO, Resilienz, Krise und Krisenbewältigung, in: Rosemarie Welter Enderlin/Bruno Hildenbrand (Hg.), Resilienz – Gedeihen trotz widriger Umstände, Heidelberg: Carl-Auer 42012, 205, s. dazu auch RICHTER/BLANK, Resilienz, 69–74 und Böhme, die zu Recht einschränkt, dass „die Beschreibung der Resilienz als ,Widerstandsfähigkeit‘ eigentlich fehlleitend [ist] – denn der Begriff ,Widerstand‘ impliziert ein hartes Gegen-etwas-Ankämpfen, während es sich bei der Resilienz vielmehr um sanfte Flexibilität und Anpassungsfähigkeit handelt. Trotzdem werde ich das Synonym ,Widerständigkeit‘ [...] verwenden, im Sinne einer auf Dauer den Widrigkeiten trotzen-den Psyche. Wir wollen hier ,Resilienz‘ als die Erhaltung oder zügige Wiederherstellung der psychischen Gesundheit

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Anschluss an die Ausführungen von J. Gärtner und C. Richter ist hinzuzufügen, dass Resilienz, weil sie „nicht zu trennen ist vom Erleben einer schweren Lebenskrise, [...] deren tiefe Ambivalenz in sich (trägt)“30. Das aber bedeutet, dass Resilienz nicht ein krisenunabhängiges, sondern ein „mit bedrückenden Erfahrungen behaftetes reaktives Phänomen (ist): Resilienz ist als neu zu gewinnende, auszuhaltende und gestaltende ,Freiheit‘ in der Krise, aber nicht als Krisenfreiheit zu verstehen“31. Vor diesem Hintergrund soll Ps 22 als Resilienztext gelesen werden. In Aufnahme der Formulierung des Tagungsthemas „Zwischen Aushalten und Gestalten“ mache ich dabei einen zweifachen Durchgang durch den Text, indem zunächst die Erfahrung der Gottesferne (Klagen I–III: V. 2f.7–9.13–19, Abschließende Bitte: V. 20–22) und danach die Hoffnung auf Gottesnähe (Vertrauensäußerungen I–II: V. 4–6.10–12, Dankversprechen: V. 23–27) thematisiert werden. Mit der Überschrift (V. 1) wird eine zusätzliche Ebene eröffnet, die dem im Korpus von Ps 22 artikulierten Gebetsprozess einen weiteren, für das Thema „Resilienz“ aufschlussreichen Aspekt hinzufügt. Denn hier tritt mit der „Hindin der Morgenröte“ ein Tier auf, das aufgrund seiner Scheu und Verletzlichkeit dem menschlichen Gefährdungsbewusstsein einen elementaren Anknüpfungspunkt gibt. Jedenfalls wird der Leser schon mit V. 1 hellhörig auf das, was der folgende Text dann detailliert entfaltet. a) Die Erfahrung der Gottesferne α) Erster und Zweiter Klagegang (V. 2f.7–9) Wie das Musterbeispiel Ps 13 zeigt, haben die Klagelieder des Einzelnen einen klar strukturierten Aufbau mit den Elementen Klage, Bitte, Vertrauensäußerung, Schuld-/Unschuldsbekenntnis und Lobversprechen.32 Die Abfolge dieser Elemente ist variabel, und so ist es auch im Fall von Ps 22,2–22 mit seinen Klagen (V. 2f.7–9.13–19), Vertrauensäußerungen (V. 4–6.10–11) und Bitten

                                                             nach einem traumatischen Erlebnis oder während adverser Lebensumstände definieren“ (BÖHME, Resilienz, 8). 30 GÄRTNER/RICHTER, Begriff der Resilienz, 4. 31 GÄRTNER/RICHTER, Begriff der Resilienz, 5 (Hervorhebung von mir), vgl. SCHULT, MAIKE, „Unkraut vergeht nicht“. Resilienz und posttraumatische Reifung, in: Cornelia Richter (Hg.), Ohnmacht und Angst aushalten. Kritik der Resilienz in Theologie und Philosophie (Religion und Gesundheit 1), Stuttgart: Kohlhammer 2017, 196: „Posttraumatische Reife ist keine Abwehrgröße im Sinne eines ,Abpralls‘ und kein ,Zurückspringen‘ in einen ,Normalzustand‘. Die Reifung bleibt an die Erfahrung der Krise gekoppelt und das Trauma mit Verlusten verbunden. Was immer nach einer Traumatisierung reifen, heilen, und (zu)wachsen mag – die Narbe bleibt“. 32 S. dazu oben 244f. und JANOWSKI, Konfliktgespräche, 39–46.

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(V. 12.20–22). Nach einer die persönliche Gottesbeziehung hervorhebenden doppelten Invocatio33 beginnt der Text in V. 2f. mit dem Zentralmotiv der Gottesferne und seinem Leitwort ‫„ רחק‬fern sein“ (V. 2b, jeweils negiert in V. 12a.20a): 2 3

Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen (‫)עָ זַב‬, fern (‫ ) ָרחוֹק‬von meiner Rettung, den Worten meines Schreiens? Mein Gott, ich rufe bei Tag, aber du antwortest (‫ )עָ נָה‬nicht, ִ ) für mich. und bei Nacht, doch es gibt keine Ruhe (‫דוּמיָּה‬

Verstärkt wird das Motiv der Gottesferne34 durch die Aussage, dass Gott den Beter „verlassen“ hat (V. 2a), dass er ihm nicht „antwortet“, so dass er keine Ruhe“ findet (V. 3) und die Not „nah“ (‫ ) ְקרוֹבָ ה‬ist (V. 12a). Worin die Gottverlassenheit des Beters ihren Grund hat, wird nicht gesagt, sondern nur, dass sie den „Kern seiner Not aus[macht] und [...] motivierender Hintergrund aller weiteren Noterfahrungen [ist]“35. Diese Noterfahrungen werden gleich in der zweiten Klage konkreter benannt: 7 8 9

Ich aber – ein Wurm und kein Mensch, ein Gespött von Menschen und verachtet vom Volk. Alle, die mich sehen, spotten über mich, sie verziehen die Lippe, schütteln den Kopf: „Wälze (es) auf JHWH!“, „Er soll ihn retten, er soll ihn herausreißen, denn er hat Gefallen an ihm!“

Zu beachten sind dabei die Textstruktursignale: Während V. 2f. mit der doppelten Invocatio „Mein Gott, mein Gott“ einsetzt, beginnt V. 7–9 mit dem selbstständigen Personalpronomen „ich“ (‫)אָ ֹנ ִכי‬, das nach dem göttlichen „du“ (‫ )אַ תָּ ה‬der Vertrauensäußerung I und vor dem göttlichen „du“ (‫ )אַ תָּ ה‬der Vertrauensäußerung II die Situation des Beters in den Blick rückt. Während der dritte Klagegang (V. 13–19) dann mit einem neuen Subjekt („viele Stiere“) beginnt, kehrt die abschließende Bitte (V. 20–22) mit dem adversativ eingeführten „du“ (‫ )אַ תָּ ה‬wieder zur Anrede Gottes zurück:36 2 4

Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen Du aber (‫ )וְ אַ תָּ ה‬bist heilig (:: „ich“ 3, „sie“ 18b–19)

Klage I + doppelte Invocatio Vertrauensäußerung I

                                                             33 Die syntaktische Stellung des Vokativs „mein Gott“ „treibt in Verbindung mit der rhetorischen Stilfigur der Wiederholung die Expressivität der Anrede auf die Spitze“ (FUCHS, Klage, 70), vgl. GÄRTNER, Lebensstark, 77f. 34 S. dazu auch IRSIGLER, Psalm 22, 199.222 und BESTER, Körperbilder, 112f. 35 IRSIGLER, Psalm 22, 212. 36 Vgl. IRSIGLER, Psalm 22, 204.

250 7 10 13 20

Bernd Janowski Ich aber (‫ – )וְ אָ ֹנ ִכי‬ein Wurm und kein Mensch (:: „sie“ 5f.) Ja, du (‫ ) ִכּי־אַ תָּ ה‬bist es, der mich aus dem Mutterleib zog (:: Spötter 8f.) Umgeben haben mich viele Stiere Aber du (‫)וְ אַ תָּ ה‬, JHWH, sei nicht fern

Klage II Vertrauensäußerung II Klage III Bitte + Invocatio

Zur Gottverlassenheit des Beters, mit der der Psalm beginnt (V. 2f.), tritt in V. 7f. die Erfahrung der Entmenschlichung („ein Wurm und kein Mensch“)37 und des Gespötts hinzu, die in den Schmähungen seiner Mitmenschen gipfelt (V. 9).38 Mit der Selbstwahrnehmung des Beters als „Wurm“ wird, wie J. Gärtner zu Recht bemerkt, „deutlich, dass der soziale Tod nicht vom körperlichen Leid zu trennen ist“39. Dieser Aspekt, d.h. die Leibsphäre des Beters, rückt dann im dritten Klagegang in den Vordergrund. Darüber hinaus taucht nach V. 2b das Motiv der „Rettung“ auf, das den gesamten Klageteil durchzieht (V. 5b.6a.9.12b.20b.21a.22a)40 und das, da die Mitmenschen jede Empathie schuldig bleiben, die Angewiesenheit des Beters auf Gottes Eingreifen überdeutlich macht. β) Dritter Klagegang (V. 13–19) Wegen der Schwere der Noterfahrung ist es verständlich, dass der Beter nach seiner ersten, heilsgeschichtlich orientierten Vertrauensäußerung (V. 4–6), mit der er sich die Heiligkeit JHWHs und das Gottvertrauen der Väter Israels in Erinnerung ruft,41 wieder in die Klage zurückfällt (V. 7–9). Erstaunlich aber ist, dass er dies auch nach seiner zweiten, biographisch und schöpfungstheologisch gefärbten Vertrauensäußerung (V. 10–12) tut und dabei intensiver klagt als zuvor (V. 13–19). Ist sein Vertrauen, so mag man fragen, so schwach, dass es (noch) nicht trägt? Eine reibungslose Bewältigung der Angst wird der Schwere der erlebten Not allerdings nicht gerecht, denn „der Weg aus einer

                                                             37 Nach RIEDE, Netz, 307–313 steht der Wurm für die Notsituation des Beters: „Im Staub sich windend, zu Boden gedrückt, ohne aufrecht gehen zu können, hineingestellt in die Welt der Verwesung und des Todes, ist er einsam, isoliert.“ (310), vgl. Ders., Im Spiegel der Tiere. Studien zum Verhältnis von Mensch und Tier im alten Israel (OBO 187), Freiburg, Schweiz: Universitätsverlag/Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002, 51–54 und BESTER, Körperbilder, 120–122. 38 Die Verletzungsmacht der Gegner kommt in V. 7b–9 in ihrer Mimik, Gestik und Sprache unverhohlen zum Ausdruck, s. dazu BESTER, Körperbilder, 122–130 und grundsätzlich JANOWSKI, Anthropologie, 202–204.279–283. 39 GÄRTNER, Lebensstark, 78. 40 S. dazu die tabellarische Übersicht oben 246f. 41 S. dazu unten 255f.

251

Der Angst widerstehen

Traumatisierung ist steinig, mühsam und lang“42, und Zuversicht braucht Zeit, unter Umständen viel Zeit. Auf diesem langen und steinigen Weg können neue Angstbilder aufsteigen, die den Leidenden lähmen und zurückwerfen. In Ps 22,13–19 sind es Bilder, die einen engen Zusammenhang zwischen seinem geschundenen Körper (Gebeine, Herz, Zunge, Gaumen, Hände, Füße) und der vertrauten Natur- und Kulturwelt (wilde Tiere, Wasser, Wachs, Tonscherbe, Staub des Todes) herstellen. Charakteristisch ist dabei die Verschränkung von Leib- und Sozialsphäre: Sozialsphäre: Feindbilder (wilde Tiere)

Bild-/Themenfelder

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Stiere Starke Basans

Umgeben haben mich viele Stiere, die Starken Basans haben mich umstellt Aufgerissen haben sie gegen mich ihr Maul – ein Löwe, reißend und brüllend.

14

Löwe

Leibsphäre: Körperbilder (flüssig/trocken) 15

Wie Wasser bin ich ausgeschüttet, und getrennt haben sich alle meine Gebeine, geworden ist mein Herz wie Wachs, zerflossen in meinem Inneren. Trocken wie eine (Ton-)Scherbe ist meine (Lebens-)Kraft, und meine Zunge klebt mir am Gaumen, und in den Staub des Todes legst du mich.

16

Wasser Gebeine Herz → Wachs Tonscherbe Zunge, Gaumen Todesstaub

Leibsphäre und Sozialsphäre Fürwahr (‫) ִכּי‬, umgeben haben mich Hunde, eine Rotte von Übeltätern hat mich umkreist wie der Löwe – meine Hände und Füße. Ich kann zählen alle meine Gebeine, sie aber blicken her, sehen auf mich (herab). Sie teilen meine Kleider unter sich, und über mein Gewand werfen sie das Los.

17

18 19

Hunde Rotte von Übeltätern Löwe, Hände, Füße Gebeine Akte sozialer Missachtung

In der Feindklage V. 13f. werden die Feinde zunächst als Stier(e) und Löwe, d.h. als „das stärkste Repräsentationspaar der nicht menschlichen næpæšWelt“43 gezeichnet. Beide Tierarten sind für den Beter aber „nicht in erster

                                                             42

FISCHER, IRMTRAUD, Psalmen mit Trauma-Hermeneutik lesen, in: Zeitschrift für Integrative Gestaltpädagogik und Seelsorge 93 (2019), 39. 43 GESE, Psalm 22, 188. In den Individualpsalmen werden die Feinde nie mit Haustieren, sondern immer mit Raub- und Wildtieren (Löwe, Stier, [Paria-]Hund, Schlange, Biene) verglichen, s. dazu KEEL, OTHMAR Die Welt der altorientalischen Bildsymbolik und das Alte Testament. Am Beispiel der Psalmen, Göttingen; Vandenhoeck & Ruprecht 51996, 75–78; JANOWSKI, Konfliktgespräche, 117–124; RIEDE, Netz, 183.213f.221–230 und MÓRICZ, NI-

252

Bernd Janowski

Linie Exemplare einer zoologischen Spezies, sondern Träger bestimmter Kräfte und Mächte“44. Ihre Bedrohlichkeit wird als kreisendes Umringen (V. 13, vgl. Ps 59,7.15), als Maulaufsperren (V. 14a) und als Reißen und Brüllen (V. 14b) dargestellt. Der Beter fasst damit sein Erleben in Worte, einem aggressiven Überwältigungswillen ausgeliefert zu sein. Im Sinn einer – beabsichtigten – Überlappung der Feindbilder45 geht dann die Ich-Klage von V. 15f. zur Semantik der Auflösung und des Vertrocknens über.46 Besonders eindrücklich ist dabei die Aussage von der Trennung der Gebeine und vom Zerfließen des Herzens (V. 15).47 Denn sie zeigt, dass die Person buchstäblich in ihre Einzelteile zerfällt, die jetzt – wie in P. Klees Zeichnung Angstausbruch II48 – unverbunden nebeneinander liegen (V. 16). In V. 17–19 schließlich wird die – durch ‫„ ִכּי‬fürwahr“ eingeführte und damit auf V. 13–16 zurück bezogene – Klage noch einmal gesteigert, weil die IchKlage V. 17b.18a von der Feindklage V. 17a.18b–19 gerahmt und auf diese Weise eine Verschränkung der Leibsphäre (Hände, Füße, Gebeine des Beters) und der Sozialsphäre (Umkreisen, spöttisches Blicken, Verteilen der Kleider)

                                                             KOLETT,

„Rette mich vor dem Rachen des Löwen und vor den Hörnern der Büffel!“ Tiergestaltigkeit Gottes in Ps 22, in: Petra Verebics u.a. (Hg.), Ein pralles Leben (FS J. Hausmann) (Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte 56), Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2017, 109–133. Speziell zum Feindbild „Löwe“ s. STRAWN, BRENT A., Lion Hunting in the Psalms. Iconography and Images for God, the Self, and the Enemy, in: Izaak J. de Hulster/Brent A. Strawn/Ryan P. Bonfiglio (Hg.), Iconographic Exegesis of the Hebrew Bible/Old Testament. An Introduction to Its Method and Practice, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015, 255–257. 44 KEEL, OTHMAR, Feinde und Gottesleugner. Studien zum Image der Widersacher in den Individualpsalmen (Stuttgarter biblische Monographien 7), Stuttgart: Kath. Bibelwerk 1969, 73. 45 Das ist ein charakteristischer Zug der Individualpsalmen, s. dazu JANOWSKI, Gott, 181–192. 46 S. dazu JANOWSKI, Konfliktgespräche, 217f. und BESTER, Körperbilder, 165– 185.201–220. Zur Rezeption von Ps 22,15f. in den Texten vom Toten Meer s. JANOWSKI, Konfliktgespräche, 218 und ausführlich OMERZU, HEIKE, Die Rezeption von Ps 22 im Judentum zur Zeit des Zweiten Tempels, in: Dieter Sänger (Hg.), Psalm 22 und die Passionsgeschichte der Evangelien, 55–67. Von „hingeschütteten Gliedmaßen“ einer unter Depression leidenden Person ist auch im mesopotamischen „Bann-Lösungs“-Ritual BAM 234,7f. die Rede: „(wenn) während er unter Völlegefühl leidet, seine Gliedmaßen immer wieder „hingeschüttet“ sind (šapāku Ntn), (und) er das ein und das andere Mal aufschreckt; (wenn) er bei Tag und bei Nacht nicht schlafen kann; (wenn) er immer wieder schreckliche Träume sieht (und) Lähmungszustände bekommt“, s. dazu JANOWSKI, Anthropologie, 608f. 47 Das Herz ist der Körperteil, der am häufigsten mit Angst und Schrecken in Verbindung gebracht wird, s. dazu KIPFER, Angst, 39–45.49–53. 48 S. dazu oben 238.

253

Der Angst widerstehen

herbeigeführt wird. Da das Kleid als ‚soziale Haut‘ ein elementares Persönlichkeitszeichen (identity marker) ist,49 besiegelt seine Verteilung unter die Gegner des Beters dessen soziale Vernichtung. Der Text hat diese Auflösung der Person bereits in V. 16b („und in den Staub des Todes legst du mich“) zum Ausdruck gebracht50 und Gott als Akteur hinter diesem Geschehen ausgemacht. Mit der Schilderung seines Elends „will der Betende Gott auf diese Not aufmerksam machen, darauf, daß es ums Ganze geht“51. γ) Abschließende Bitte (V. 20–22) Die intensive Bitte um JHWHs Eingreifen (V. 20–22), die in V. 20a den Vetiִ ַ‫„ א‬sei nicht ferne!“ von V. 12a aufnimmt, kommt also „in der tiv ‫ל־תּ ְרחָ ק‬ höchsten Krise“52. Wieder wird der Adressat dabei mit adversativem „aber du“ eingeführt (vgl. V. 4.10)53 und der Vokativ JHWH in V. 20b vom Vokativ „meine Stärke (‫ “) ֱאיָלוּת‬aufgenommen und weitergeführt, der seinerseits auf der Endtextebene mit der Wendung „Hindin der Morgenröte“ (‫ )אַ יֶּלֶ ת הַ שַּׁ חַ ר‬in der Überschrift V. 1 korrespondiert:54 20

Aber du, JHWH, sei nicht fern, meine Stärke, zu meiner Hilfe eile herbei! Entreiß doch dem Schwert mein Leben, aus der Pranke des Hundes meine Einzige! Rette mich aus dem Maul des Löwen und vor den Hörnern der Wildstiere – du hast mir geantwortet!

21 22

Feinde Hund Löwe Wildstiere

Diese Bitte ist noch ganz von der Feind- und Tiermetaphorik der Klage III geprägt. Umso abrupter wirkt deshalb die Wendung „du hast mir geantwortet“ (‫ )עֲנִ יתָ נִ י‬in V. 22b, die traditionell mit dem Ausdruck „Stimmungsumschwung“ belegt wird. Dieser Ausdruck suggeriert, dass die Wende von der Klage zum Lob plötzlich kommt und ein von außen initiiertes Geschehen („priesterliches Heilsorakel“) ist.55 Demgegenüber ist davon auszugehen, dass der Beter angesichts der Spannung zwischen Gottesferne und Gottesnähe von der Hoffnung

                                                             49

S. dazu JANOWSKI, Anthropologie, 210–212, ferner BESTER, Körperbilder 231–234 und GÄRTNER, Lebensstark, 79. Zur Rezeption dieses Motivs in Mk 15,24 s. JANOWSKI, „Mein Gott“, 397. 50 S. dazu BESTER, Körperbilder, 212–216. 51 FUCHS, Klage, 109, vgl. IRSIGLER, Psalm 22, 204. 52 FUCHS, Klage, 109. 53 S. dazu oben 249f. 54 S. dazu unten 241. 55 S. dazu die Kritik von JANOWSKI, Konfliktgespräche, 76–84, ferner BESTER, Körperbilder, 241–244 und RECHBERGER, Klage, 215–229.

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getragen wird, dass Gott gerade in dieser Not nahe ist und die erhoffte Rettung herbeiführt.56 Gegenüber der einleitenden Klage über das Schweigen Gottes (V. 3) ist damit ein Kontrapunkt gesetzt, der mit O. Fuchs als antizipiertes Faktum bezeichnet werden kann: Die Antwort Jahwes ist [...] schon ausgesprochen, alles andere ist eine nur noch zu erlebende Folge dieses Beschlusses. Aus der Perspektive des Beters liegt damit ein Perfectum confidentiae oder propheticum vor, aus der Perspektive des handelnden Gottes ein Perfekt des sicheren Futurs. Der beschlossenen Sicherheit der zukünftigen Rettung entspricht die vertrauensvolle Gewißheit der erhofften Erhörung.57

In diesen neu eröffneten Raum der Gewissheit tritt der Beter mit dem Aussprechen dieser Gewissheit („du hast mir geantwortet“ V. 22b) ebenso vertrauenswie erwartungsvoll ein. Das ist das Thema des anschließenden Dankversprechens V. 23–27.58 b) Die Hoffnung auf Gottesnähe Die Klagen und Vertrauensäußerungen von V. 2–19 werden, wie wir gesehen haben, nicht einfach durch die Bitte von V. 20–22 überwunden und gleichsam ad acta gelegt. Vielmehr wachsen die Momente des Vertrauens (V. 4–6.10–12) im Fortgang des Betens weiter und münden schließlich in den Sprechakt der abschließenden Bitte ein. Welcher Art aber, so müssen wir fragen, sind diese Momente des Vertrauens und durch welche Faktoren werden sie beeinflusst? Wir kommen damit auf das Thema „Resilienz“ im engeren Sinn zurück. α) Erste und Zweite Vertrauensäußerung (V. 4–6.10–12) Wie die Resilienzforschung zeigt, wird die Fähigkeit zur Resilienz durch eine komplexe „Kombination von Veranlagung und Erfahrung“59 gefördert und unterstützt. Im Blick auf die Psalmen ist es natürlich nicht möglich, den Faktor „Veranlagung des Beters/der Beterin“ zu konkretisieren. Anders steht es dagegen mit der Erfahrung bzw. Erinnerung. Erinnerungen aber sind ambivalent, denn sie können belasten und lähmen60 oder beglücken und befreien. Von einer

                                                             56

Vgl. auch FUCHS, Klage, 98. MARKSCHIES, CHRISTOPH, „Ich aber vertraue auf dich, Herr!“ Vertrauensäußerungen als Grundmotiv in den Klageliedern des Einzelnen, in: ZAW 103 (1991), 386–398 spricht in diesem Zusammenhang von einem „gezielten Vertrauensparadigma“, vgl. JANOWSKI, Konfliktgespräche, 81. 57 FUCHS, Klage, 184. 58 S. dazu unten 261f. 59 BÖHME, Resilienz, 31. 60 Beispiele dafür sind die traumatischen Erinnerungen an die Zerstörung Jerusalems/des Tempels (Thr; Ps 74; 137 u.a.), an eine Vergewaltigung (Gen 34; 2 Sam 13,1–22 u.a.) oder

Der Angst widerstehen

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beglückenden Erinnerung und ihrer resilienten Kraft spricht der Beter in der Vertrauensäußerung V. 4–6: Gegenwart: Heiligkeit JHWHs / Lobgesänge Israels als Gottesthron 4

Du aber (‫ )וְ אַ תָּ ה‬bist heilig, thronend auf den Lobgesängen Israels.

Vergangenheit: Vertrauen der Väter → Rettung durch JHWH 5 6

Auf dich vertrauten unsere Väter, sie vertrauten, und du rettetest sie. Zu dir schrien sie und wurden gerettet, auf dich vertrauten sie und wurden nicht zuschanden.

Dieser Text enthält eine Gegenwartsaussage (V. 4) und eine Vergangenheitsaussage (V. 5f.). Der in V. 2f. artikulierten Erfahrung der Gottesferne61 wird in V. 4 mit dem Gottesprädikat „heilig“ (‫קָ דוֹשׁ‬, vgl. Jes 6,3 u.ö.) und der singulären Wendung „thronend auf den Lobgesängen Israels“ (‫)יוֹשֵׁ ב ְתּ ִהלּוֹת יִ ְשׂ ָראֵ ל‬ zunächst eine Vertrauensaussage gegenüber gestellt, die mit dem adversativ eingeführten göttlichen „Du“ (‫ )וְ אַ תָּ ה‬einen deutlichen Kontrapunkt setzt. Die zweite Prädikation „thronend auf den Lobgesängen Israels“ liest sich wie eine Entsprechung zum Gottestitel „Der Kerubenthroner“ (‫ ֹישֵׁ ב הַ ְכּ ֻר ִבים‬1 Sam 4,4; 2 Sam 6,2; Ps 80,2 u.ö.) und seinen königs- und tempeltheologischen Implikationen.62 An die Stelle der Keruben sind die Lobgesänge Israels getreten, die nunmehr den Gottesthron ,tragen‘ und damit die Königsherrschaft JHWHs kultisch vergegenwärtigen.63 Daran schließt in V. 5f. die heilsgeschichtliche Erinnerung an die Väter Israels an, die auf JHWH vertrauten (‫ בָּ טַ ח‬V. 5.6b, vgl.

                                                             an Verletzungen verbaler und physischer Art (Schmähung, Demütigung, Entehrung u.a.), s. dazu CARR, DAVID M., Holy Resilience. The Bible’s Traumatic Origins, New Haven/London: Yale University Press 2014. Zur These von D. Carr, die Literaturwerdung des Alten Testaments insgesamt als das Ergebnis der Verarbeitung politischer Krisen und traumatischer Erfahrungen zu verstehen, s. zu Recht die kritischen Bemerkungen von GÄRTNER / RICHTER, Begriff der Resilienz, 10f. Zu den kulturellen Traumata im Alten Orient und in Ägypten s. DIETRICH, JAN, Cultural Traumata in the Ancient Near East, in: Eve-Marie Becker/Jan Dochhorn/Else K. Holt (Hg.), Trauma and Traumatization in Individual and Collective Dimensions. Insights from Biblical Studies and Beyond (Studia Aarhusiana Neotestamentica 2), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014, 145–161. 61 S. dazu oben 248–254. 62 S. dazu JANOWSKI, BERND, Keruben und Zion. Thesen zur Entstehung der Zionstradition, in: Ders., Gottes Gegenwart in Israel. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 1, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 22004, 247–280. 63 Nach HOSSFELD / ZENGER, Psalm 1–50, 149 (Hossfeld) wird hier „der alte Titel des unsichtbaren ‚Kerubenthrones‘ im salomonischen Tempel [...] spiritualisierend umgebildet“.

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V. 10b), zu ihm schrien (‫זָעַ ק‬, vgl. Ex 2,23!)64 und gerettet wurden (‫ פלט‬pi. V. 5b, ‫ מלת‬nif. V. 6a). So wird im Akt der Erinnerung „die Heilsgeschichte ein Teil des individuellen Ich“65, dessen Noterfahrung damit in einen übergreifenden Horizont gerückt wird. Mit dem Fokus auf dem Vertrauen der Väter und dem Rettungshandeln Gottes wird dem leidenden Beter eine andere, hoffnungsvolle Perspektive eröffnet. Der Beter erinnert sich aber nicht nur an die Rettung Israels in Ägypten, sondern, wie V. 10f. zeigt, auch an seine eigene Geburt:66 10 Ja, du (‫ )אַ תָּ ה‬bist es, der mich aus dem Mutterleib zog, der mir Vertrauen einflößte an den Brüsten meiner Mutter! 11 Auf dich bin ich geworfen vom Mutterschoß an, vom Leib meiner Mutter her bist du (‫ )אַ תָּ ה‬mein Gott! 12 Sei nicht fern von mir, denn die Not ist nah, denn, es gibt keinen Helfer!

Unmittelbar vor dieser schöpfungstheologisch orientierten Vertrauensäußerung steht die Klage II (V. 7–9), die mit einem Feindzitat endet: 9

„Wälze (es) auf JHWH!“, „Er soll ihn retten, er soll ihn herausreißen (‫ נצל‬hif.), denn er hat Gefallen an ihm!“

Aber wird JHWH den Beter „herausreißen“, weil er Gefallen an ihm hat (V. 9b), oder bleibt es dabei, dass es für ihn keinen „Helfer“ gibt, wie es kategorisch in V. 12b heißt? Für den Beter ist das (noch) nicht zu beantworten, weil die Not nah ist (V. 12a) und sie ihm nach V. 13–19 buchstäblich auf den Leib rückt.67 Stattdessen erinnert er sich an den Tag seiner Geburt, als JHWH ihn aus dem Mutterleib „herauszog“ (‫ גָחָ ה‬V. 10a) und ihm „Vertrauen“ an den Brüsten seiner Mutter einflößte (‫ בָּ טַ ח‬Ptz. hif. V. 10b). Nimmt man V. 11 hinzu, so wird der Zusammenhang zwischen Anthropologie (Geschöpflichkeit)

                                                             Diese Umbildung dürfte in den Zusammenhang der tiefgreifenden Transformation des Kults gehören, die in den Psalmen an vielen anderen Stellen zu beobachten ist, s. dazu JANOWSKI, BERND, „Mein Schlachtopfer ist ein zerbrochener Geist“ (Ps 51,19). Zur Transformation des Opfers in den Psalmen, in: Ruth Ebach/Martin Leuenberger (Hg.), Tradition(en) im alten Israel. Konstruktion, Transmission und Transformation (FAT 127), Tübingen: Mohr Siebeck 2019, 207–232. 64 S. dazu JANOWSKI, BERND, Schöpferische Erinnerung. Zum „Gedenken Gottes“ in der biblischen Fluterzählung, in: Ders., Die Welt als Schöpfung. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 4, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 2008, 181–183. 65 RECHBERGER, Klage, 313, vgl. IRSIGLER, Psalm 22, 209.211 und GÄRTNER, Lebensstark, 80f. 66 S. dazu BESTER, Körperbilder, 131–159 und GROHMANN, MARIANNE, Fruchtbarkeit und Geburt in den Psalmen (FAT 53), Tübingen: Mohr Siebeck 2007, 52–69. 67 S. dazu oben 250–253.

Der Angst widerstehen

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und Theologie (Gott als Hebamme) vollends deutlich. Das Kind, das Gott aus dem Mutterleib herauszieht, wird damit nicht nur in die Eltern-, sondern auch in die Gottesbeziehung hineingeboren, wodurch ein lebenslanges Vertrauensverhältnis begründet und in der persönlichen Gottesbezeichnung „mein Gott“ (V. 2f.11) wachgehalten wird: Die Entstehung des Menschen im Mutterleib, die Geburt und die weitere Entwicklung sind ein von Gott begleiteter Vorgang. Göttliches und menschliches Handeln gehen ineinander über. Das betende Ich holt die eigene Geburt in die Lebensgeschichte, macht sie zum Bild für sein Verhältnis zu Gott. Geborgensein im Mutterleib und Bewahrung bei der Geburt dienen als Bilder für das Vertrauen zu Gott.68

Dieses Ur-Vertrauen ist auch nach Ps 71,5f. eine Kraft, die die lebenslange Beziehung des Beters zu seinem Gott begründet und trägt: 5 6

Denn du bist meine Hoffnung, mein Herr, JHWH, meine Sicherheit seit meiner Jugendzeit. Auf dich habe ich mich gestützt vom Mutterleib an, vom Inneren meiner Mutter hast du mich abgeschnitten, durch dich ist mein Lobpreis beständig.69

Es gibt also einen engen Zusammenhang zwischen Erinnerung und Resilienz. Der folgende Exkurs geht dem noch etwas genauer nach.

                                                             68

GROHMANN, MARIANNE, Der Anfang des Lebens. Anthropologische Aspekte der Rede von Geburt im Alten Testament, in: Bernd Janowski/Kathrin Liess (Hg.), Der Mensch im alten Israel. Neue Forschungen zur alttestamentlichen Anthropologie (HBS 59), Freiburg i.Br./Basel/Wien: Herder 2009, 381f., vgl. Dies., Fruchtbarkeit, 67f.; BESTER, Körperbilder, 133–136 und JANOWSKI, Anthropologie, 68f. 69 S. dazu GROHMANN, Fruchtbarkeit, 58–64 und BESTER, Körperbilder, 141–144. Noch weiter zurück, nämlich bis zur Erschaffung im Mutterleib durch Gott, geht der Beter nach Ps 139,13–18 zurück, s. dazu JANOWSKI, Anthropologie, 59–64.

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Exkurs: Resilienz und Erinnerung Nicht jede Erinnerung ist heilsam und beruhigend, aber jede ist ein verflüssigter Prozess, in dem Vergangenes aktualisiert wird. Es handelt sich um einen kontextabhängigen und kommunikativen, d.h. intersubjektiven Vorgang, in welchem Menschen Bilder der Vergangenheit vergegenwärtigen und sich ihrer Zukunft vergewissern.70

Außer in Ps 22,10f. und Ps 71,5f. spielt auch in anderen Individualpsalmen die Erinnerung eine Rolle und ist von ihrer resilienten Kraft die Rede.71 So beginnt die erste Strophe (V. 2–6) des Klagegebets Ps 42/4372 mit einem Tiervergleich (V. 2), der die existentielle Not des Beters in ein eindrückliches Sehnsuchtsbild (lechzende Hirschkuh) fasst, und dieses Bild in jedem der fünf Verse mit Wasserbildern (Wasserbäche/Durst/Tränen/Ausschütten/Zerfließen)73 fortsetzt: Klage (= Situation der trostlosen Gegenwart) 2 3 4

Wie eine Hirschkuh lechzt an Wasserbächen, so lechzt mein Leben (‫ )נֶפֶ שׁ‬nach dir, Gott. Es dürstet mein Leben (‫ )נֶפֶ שׁ‬nach Gott, dem lebendigen Gott: wann werde ich kommen und ‹sehen› das Gesicht Gottes? Es wurden mir meine Tränen (zu) Brot bei Tag und bei Nacht, wenn man zu mir sagt den ganzen Tag: „Wo ist dein Gott?“

                                                             70 TANNER, JAKOB, Art. Erinnern/Vergessen, in: Stefan Jordan (Hg.), Grundbegriffe der Geschichtswissenschaft, Stuttgart: Reclam 2019, 77-81, 77. 71 S. dazu SCHOTTROFF, WILLY, „Gedenken“ im Alten Orient und im Alten Testament. Die Wurzel zākar im semitischen Sprachkreis (WMANT 15), Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 21967, 130–132.177–181; Rechberger, Klage, 313–316 und Grund, Aexandra, „Des Gerechten gedenkt man zum Segen“ (Prov 10,7). Motive der Erinnerungsarbeit in Israel vom sozialen bis zum kultischen Gedächtnis, in: Dies., Lebenswelt und Gemeinschaft. Beiträge zur Anthropologie des Alten Testaments (BThSt 183), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020, 158–173. Geschichtstheologische Rückblicke, die in diesem Zusammenhang relevant sind, finden sich auch Volksklagen wie Ps 44,2–4; 74,12–17; 80,9–14; 83,10–13; 85,2–4 u.a., s. dazu EMMENDÖRFFER, MICHAEL, Der ferne Gott. Eine Untersuchung der alttestamentlichen Volksklagelieder vor dem Hintergrund der mesopotamischen Literatur (FAT 21), Tübingen: Mohr Siebeck 1998, 107–113 u.ö. und KLEIN, ANJA, Geschichte und Gebet Die Rezeption der biblischen Geschichte in den Psalmen des Alten Testaments (FAT 94), Tübingen: Mohr Siebeck 2014, 182f. u.ö. 72 S. dazu JANOWSKI, BERND, Die lebendige ‫נֶפֶ שׁ‬. Das Alte Testament und die Frage nach der „Seele“, in: Ders., Der nahe und der ferne Gott. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 5, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 2014, 101–105 und zuletzt RIEGERT, SARAH, Die „Ich-Sphäre“ des Beters. Eine anthropologische Untersuchung zur Selbstreflexion des Beters am Beispiel von Ps 42/43 (FRLANT 275), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020, 58–163. 73 Zum „Zerfließen“ der ‫ נֶפֶ שׁ‬s. JANOWSKI, Die lebendige ‫נֶפֶ שׁ‬, 103f.

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Erinnerung (= Rückblick auf die heilvolle Vergangenheit) 5

Daran74 denke ich (‫)זָכַ ר‬ und schütte aus mein Leben (‫ )נֶפֶ שׁ‬in/bei mir, dass ich ‹im Kreis der Edlen› zum Haus Gottes zog unter der Stimme des Jubels und Dankes einer feiernden Schar.

Hoffnung (= Sehnsucht nach dem rettenden Gott) 6

Was zerfließt du, mein Leben (‫)נֶפֶ שׁ‬, und was begehrst du auf gegen mich? Harre auf Gott, denn ich werde ihm wieder danken, der Rettung ‹meines› Gesichts ‹und› meinem Gott. (Ps 42,2–6)

Zunächst wird in V. 2–4 die Ferne Gottes und das Dürsten des Beters bzw. seiner ‫ נֶפֶ שׁ‬nach Gott thematisiert. Dabei wird die Not des Beters, die durch die Spottfrage seiner Umgebung „Wo ist dein Gott“ (V. 4b) noch gesteigert wird, in ein existentielles Bild gefasst, wonach sein Hunger nach einem gotterfüllten Leben durch Tränen ‚gestillt‘ wird. Mit V. 5 ändert sich die Situation, weil sich der Beter jetzt an vergangene Zeiten erinnert (‫)זָכַ ר‬, als er in der Gemeinschaft der Tempel-Wallfahrer die Nähe Gottes erlebt hatte. Mit dieser Erinnerung hält er fest, was an der heilvollen Vergangenheit (V. 5) für die trostlose Gegenwart (V. 2–4) bedeutsam ist – nämlich die Nähe des lebendigen Gottes –, um zu einer Neubestimmung seiner Situation coram Deo zu finden. Diese Neubestimmung äußert sich in den Fragen von V. 6a, mit denen der Beter seine ‫ נֶפֶ שׁ‬als Gegenüber anspricht („du“) und sie auffordert, auf Gott zu harren, für dessen Rettung sie ihm wieder dankbar sein wird (V. 6b, vgl. V. 5b). So gelangt die lechzende (V. 2), dürstende (V. 3) und klagende ‫( נֶפֶ שׁ‬V. 5ab) an einen Punkt oder besser: an einen Ort, an dem die Trostlosigkeit der Gegenwart überwunden und die Rettung durch den lebendigen Gott erfahren wird. Die Erinnerung an JHWH und seine heilvollen Taten begegnet darüber hinaus in dem Vertrauensgebet Ps 63,7 (im Kontext von V. 6–8) sowie in dem Klagegebet Ps 77,11–13 (mit anschließendem hymnischen Geschichtsrückblick V. 14–21). Nach Ps 63 ist der Tempel der Ort der „Sättigung“ des Lebens (vgl. V. 3, ferner Ps 16,11; 17,15; 65,5). Auf ihn und seinen Gott richten sich die nächtlichen Gedanken des Beters (‫ זָכַ ר‬// ‫ הָ גָה‬V. 7), der sich nach der schützenden Nähe JHWHs verzehrt (V. 1–4) und der über dessen Hilfe jubelt: 6

Wie mit Milch und Fett sättigt sich meine Lebenskraft (‫)נֶפֶ שׁ‬, und mit jubelnden Lippen preist (‫ הלל‬pi.) (dich) mein Mund.

                                                             74

tion.

‫ אֵ לֶּ ה‬hat eine kataphorische, d.h. auf den anschließenden ‫ ִכּ י‬-Satz verweisende Funk-

260 7 8

Bernd Janowski

Wenn ich auf meinem Lager an dich dachte (‫)זָכַ ר‬, in Nachtwachen über dich nachsann (‫)הָ גָה‬: Ja, du bist mir zur Hilfe geworden, und im Schatten deiner Flügel will ich jubeln. (Ps 63,6–9)75

11 Da sprach ich: Meine Krankheit ist dies, dass die Rechte des Höchsten sich geändert hat. 12 Ich will die Großtaten JHs in Erinnerung rufen (‫ זכר‬hif.), gewiss, gedenken (‫ )זָכַ ר‬will ich an dein Wunderwirken von Urzeit her, 13 ich will nachsinnen (‫ )הָ גָה‬über dein ganzes Wirken, ַ ‫) ִשׂ‬. (Ps 77,11–13)76 ja, deine Taten will ich bedenken (‫יח‬

Noch dramatischer wird die Not des von Feinden verfolgten und wie ein ausgetrocknetes Land erschöpften Beters in Ps 143 gezeichnet: er sieht sich bereits im Totenreich (V. 3, vgl. Ps 88,4ff.) und beschreibt den Zusammenbruch seines Lebenswillens („Geist“ // „Herz“ V. 4). In dieser kritischen Lage erinnert er an die früheren Heilstaten JHWHs (V. 5), erhebt seine Hände zum Gebet (V. 6) und bittet JHWH um Antwort (V. 7ff). 3

4 5

6

Ja, ein Feind hat meine Lebenskraft (‫ )נֶפֶ שׁ‬verfolgt, er trat mein Leben (‫ )חַ יָּה‬zu Boden, er versetzte mich in tiefe Finsternis wie längst Verstorbene Und da verzagte mein (Lebens-)Geist (‫רוּח‬ ַ ) über mich, in meinem Inneren erstarrte mein Herz (‫)לֵ ב‬. Ich dachte (‫ )זָכַ ר‬an die Tage von früher, ich sann (‫ )הָ גָה‬über dein ganzes Tun nach, erwog das Werk deiner Hände. Zu dir hin habe ich meine Hände ausgebreitet, ich selbst bin wie die erschöpfte Erde vor dir. (Ps 143,3–6)77

Die psychische Widerstandskraft (Resilienz) wird in all diesen Texten (Ps 22,10f; 42,5; 63,7; 71,5f.; 77,12f.; 143,5) durch den Akt der Erinnerung – an die (früheren) Heilstaten JHWHs, an den (gemeinsamen) Besuch im Tempel

                                                             75

Zu diesem Text s. außer den Kommentaren noch LIESS, KATHRIN, Der Weg des Lebens. Psalm 16 und das Lebens- und Todesverständnis der Individualpsalmen (FAT II/5), Tübingen: Mohr Siebeck 2004, 267f. 76 S. dazu HOSSFELD, FRANK-LOTHAR/ZENGER, ERICH, Die Psalmen II. Psalm 51–100 (NEB.AT 40), Würzburg: Echter 2002, 437 (Hossfeld); WEBER, BEAT, Werkbuch Psalmen 2. Die Psalmen 73–150, Stuttgart/Berlin/Köln: Kohlhammer 2003, 42 (mit einer alternativen Übersetzung von V. 11a) und Riegert, „Ich-Sphäre“, 227–236. Zur Selbstreflexion des Beters s. auch V. 4 (ohne Beziehungsumschwung) und V. 5–7 (mit Beziehungsumschwung). 77 S. dazu HOSSFELD, FRANK-LOTHAR/ZENGER, ERICH, Die Psalmen III. Psalm 101–150 (NEB.AT 41), Würzburg: Echter 2012, 864 (Hossfeld).

Der Angst widerstehen

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oder an den von Gott begleiteten Vorgang der eigenen Geburt – in Gang gebracht.78 Es braucht allerdings Zeit, bis sie ihre heilsame Wirkung entfaltet und die Narben sich schließen. β) Dankversprechen (V. 23–27) Nach dem Weg durch die Höhen und Tiefen der eigenen Existenz, den der Beter in Ps 22,2–22 zurückgelegt hat, gelangt er mit V. 22b an einen Punkt, an dem die resiliente Kraft der Erinnerung mit ihren kollektiven und individuellen Vertrauensmotiven (V. 4–6.10–12) offenbar trägt und situationsverändernd wirkt.79 Wie sehr sich die Situation für den Beter verändert hat, zeigt das in der kultischen Gemeinde abgelegte Dankversprechen V. 23–27.80 Dieses Versprechen ist „nicht Danksagung für ein schon erhaltenes heilversprechendes Orakel, sondern Gelübde“81, das in V. 23 durch das Pronomen der 2. Pers. m. Sg. für Gott („deinen Namen“, „dich“) an den Klageliedteil zurückgebunden ist. Diesen Rückbezug belegt besonders V. 25, der die Semantik der Elendsschilderung von V. 2f.7–9 explizit aufnimmt und ins Gegenteil verkehrt:82 Denn nicht hat er verachtet und nicht verabscheut das Elend des Armen, und nicht hat er sein Angesicht vor ihm verborgen, und auf sein Schreien zu ihm hat er gehört.

vgl. 7b (Volk: „verachten“)

vgl. 3a (Gott: „nicht antworten“)

So lobt der Gerettete seinen Gott, lädt die JHWH-Fürchtigen zu einem Mahlopfer ein und fordert sie wie in V. 24a zum Gotteslob auf: 26 Von dir kommt mein Lobpreis (‫ ) ְתּ ִהלָּ ה‬in großer Gemeinde, meine Gelübde (‫ )נְ ָד ִרים‬erfülle ich vor denen, die ihn fürchten. 27 Essen (‫ )אָ כַ ל‬sollen Arme und satt werden (‫ שׂבע‬nif.), loben (‫ הלל‬pi.) sollen JHWH, die ihn suchen! Aufleben (‫ )חָ יָה‬soll euer Herz (‫ )לֵ ב‬für immer!“

                                                             78

Mutatis mutandis gilt dies auch für Klgl 1–5 und dabei besonders für Klgl 1,7 und 3,19–21, s. dazu BERGES, ULRICH, Klagelieder (HThKAT), Freiburg i.Br./Basel/Wien: 2002, 104f.195–198. 79 Vgl. IRSIGLER, Psalm 22, 199 und GÄRTNER, Lebensstark, 80. Zu V. 22b s. oben 253f. 80 S. dazu auch oben 243 mit Anm. 18. 81 IRSIGLER, Psalm 22, 222f., vgl. TITA, HUBERT, Gelübde als Bekenntnis. Eine Studie zu den Gelübden im Alten Testament (OBO 181), Freiburg, Schweiz: Universitätsverlag/ Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001, 139–149. 82 Vgl. IRSIGLER, Psalm 22, 200–202.

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Mit dem Sättigungsmotiv von V. 27a („essen“ → „satt werden“) erreicht das Dankversprechen seine Klimax. Denn es bildet einen bis ins Leibliche gehenden Kontrast zu den Körperbildern von V. 15f.18a83 und bringt in Verbindung mit dem Herz-Motiv von V. 27b („aufleben soll euer Herz“) die durch die Gottesnähe geschenkte Lebensfülle eindrücklich zur Geltung.84 Da das Herz – das nach V. 15b aufgrund der aggressiven Feindbedrängnis wie Wachs geworden ist und im Inneren des Beters zerfließt – das Zentralorgan des Menschen ist,85 ist mit seinem erhofften „Aufleben“ (‫ )חָ יָה‬mehr als eine körperliche Genesung gemeint. Es geht um den „ganzen Menschen“,86 d.h. um die Person in leiblicher wie in sozialer Hinsicht. In dem Wunsch, dass das Herz der „Armen“ für immer „aufleben“ möge und dass ihnen dies in der Mahlgemeinschaft mit dem geretteten Beter widerfährt, gipfelt das Resilienznarrativ von Ps 22.

III. Der Angst widerstehen – Resümee Versuchen wir abschließend, die Hauptergebnisse zu bündeln und auf das Rahmenthema „Resilienz“ zu beziehen. Es sind im Wesentlichen drei Aspekte, die dabei ausschlaggebend sind.

                                                             83

Vgl. GÄRTNER, Lebensstark, 80. In weiten Teilen der älteren Psalmenforschung wird das Sättigungsmotiv dagegen auf das Spirituelle verengt und überdies die soziale Dimension der Mahlgemeinschaft nicht gesehen, s. als Beispiel DELITZSCH, FRANZ, Die Psalmen, Giessen/Basel: Brunnen 2005 (Nachdr. der 5. Aufl. 1894), 237: „[...] deutlich ist, daß dieser Segen in etwas viel Höherem besteht, als in dem materiellen Vorteil, den die Teilnahme am Genusse von Tieropfern gewährt; das Opfer ist geistlich aufgefaßt, so daß die Aeußerlichkeit desselben wie zum bloßen Bilde seines Wesens herabgesetzt ist, es handelt sich um eine geistliche Nießung von geistlichen ewigen Folgen.“ 84 S. dazu auch HOSSFELD/ZENGER, Psalm 1–50, 150f. (Hossfeld); BESTER, Körperbilder, 252–256 und zur Stärkung des Herzens durch Essen und Trinken Dies., Körperbilder 256–258. Das Motiv der Sättigung ist auch sonst im Kontext eines Kultmahls belegt (Ps 65,6) und begegnet darüber hinaus im Zusammenhang des Durstmotivs in Ps 42,3; 63,2– 4 u.ö., s. dazu JANOWSKI, næpæš, 107f. 85 S. dazu ausführlich JANOWSKI, Das Herz – ein Beziehungsorgan. Zum Personverständnis des Alten Testaments, in: Ders., Das hörende Herz. Beiträge zur Theologie und Anthropologie des Alten Testaments 6, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2018, 31–75 und DERS, Anthropologie, 148–157. 86 Es ist deshalb zu wenig, wenn BAETHGEN, FRIEDRICH, Die Psalmen (HK II/2), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 31904, 66 meint, dass „Herz so viel wie Mut“ bedeute. Zum Ausdruck „ganzer Mensch“ s. JANOWSKI, Konfliktgespräche, 44 u.ö. und Ders., Anthropologie, 30–32.519 u.ö.

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1. Die Anthropologie der Klage Es gehört zur Eigenart der Individualpsalmen, dass sie die Mechanismen der Gewalt nicht verschweigen, sondern schonungslos als von konkreten Menschen ausgehende Aktionen sozialer Missachtung aufdecken und Gegenbilder der Anerkennung entwerfen. Angesichts der Übermacht des Leidens, dem die Beter ausgesetzt sind, bewahren sie die Opfer davor, sprachlos und apathisch zu werden – gerade auch gegenüber Gott. Buchstäblich nichts, was im Leben des Beters an Not und Leid begegnet, fällt aus der Gottesbeziehung heraus, alles wird in diese hineingenommen und dort zum Thema gemacht. Dieser Grundzug zeigt sich besonders am Umgang mit der Leben/Tod-Problematik. „Leben“ ist das Prinzip der verknüpfenden, personalen Identität und soziale Gemeinschaft stiftenden Kraft. Die Klagelieder des Einzelnen bezeichnen ein solches Leben als „gerecht“ und bringen dies mittels einer Semantik zum Ausdruck, die die Eingebundenheit des Einzelnen in die Sozialsphäre in den Blick nimmt. „Tod“ dagegen ist das Prinzip des alles auflösenden und isolierenden Zerfalls. Die Klagelieder bezeichnen ein solches Leben als „todesbefallen“ und bringen dies mittels einer Semantik zum Ausdruck, die den Körper des Einzelnen, also die Leibsphäre in den Blick nimmt. Leibsphäre und Sozialsphäre sind eng aufeinander bezogen.87 Deshalb kann das Leben schon vor dem biologischen Tod enden, wenn sich die sozialen Bindungen lockern und Kräfte auf den Plan treten, die die Klagelieder in der Gestalt des Feindes verorten.88 2. Der Akt der Erinnerung An diesem Punkt der leiblichen und sozialen Desintegration setzen die Individualpsalmen an. Die Frage aber ist, wie der Prozess der Wiedergewinnung der körperlichen und sozialen Integrität in Gang kommt und welche Faktoren ihn unterstützen. Das können, wie die Resilienzforschung zeigt, persönliche Veranlagungen, frühkindliche Erfahrungen, sozioökonomische Faktoren und anderes mehr sein.89 In der Regel ist die Resilienz genannte Widerstandskraft kein monokausales, sondern ein multifaktorielles Phänomen, das von Kultur zu Kultur variiert. Der Versuch, Resilienznarrative in den Psalmen auszumachen, muss deshalb auf die spezifisch biblischen Faktoren achten, die den Betroffenen in die

                                                             87 S. dazu grundsätzlich JANOWSKI, Anthropologie, 137–182.183–224, vgl. GÄRTNER, Lebensstark, 80f. 88 Zur Rolle des Feindes in den Individualpsalmen s. JANOWSKI, Konfliktgespräche, 98– 124 und umfassend RIEDE, Netz. 89 S. dazu die Übersicht bei BÖHME, Resilienz, 31–55.

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Lage versetzen, widrige Lebensumstände auszuhalten und zu überwinden. Zu diesen Faktoren zählen in Ps 22,2–22 die beiden Vertrauensäußerungen V. 4– 6 und V. 10–12. Die eine ist heilsgeschichtlich, die andere ist biographisch orientiert. Beide aber gehen zurück in die Vergangenheit und finden im Vertrauen der Väter (V. 5f.) wie im Handeln Gottes bei der Geburt (V. 10f.) Situationen vor, die lebensrettend und lebensstärkend sind. Die resiliente Kraft der Erinnerung kommt auch in Ps 42/43 zum Ausdruck, wenn der bedrängte Beter seiner trostlosen Gegenwart (V. 2–4) den Rückblick auf die heilvolle Vergangenheit gegenüberstellt (V. 5) und sich erneut seinem Gott zuwendet (V. 6). Die Erinnerung an die Rettung Israels in Ägypten bzw. an die früheren Taten JHWHs (Ps 22,4ff, vgl. Ps 44,2ff.; 74,12ff.; 77,11ff. u.a.), an Gottes Hilfe bei der eigenen Geburt (Ps 22,10ff., vgl. Ps 71,5f.; 139,13ff.) und an die gemeinsame Wallfahrt zum Heiligtum (Ps 42,5) sind existentielle Grundsituationen, die für das Resilienznarrativ in den Psalmen charakteristisch sind.90 3. Das Wunder der Rettung Mit den Vertrauensäußerungen von Ps 22,4–6.10–12 und dem Rückblick auf die heilvolle Vergangenheit in Ps 42,5 ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg aus der Not getan, die entscheidende Wende steht aber noch aus. Und zwar deswegen, weil der Weg aus einer Traumatisierung steinig und lang ist bzw. sein kann.91 So belegt die abschließende Bitte in Ps 22,20–22 mit ihren aggressiven Tierbildern,92 aber auch der Rückblick auf die heilvolle Vergangenheit in Ps 42,5 und anderen Texten mit ihrem klagenden „Ausschütten“ der ‫ נֶפֶ שׁ‬des Beters,93 wie tiefgreifend die Erfahrung der Gottesferne ist. Dennoch sprechen die Texte explizit von einer Lebenswende, die an ein Wunder grenzt. Die Psalmenforschung hat diese Wende, die außer in Ps 22,22b auch in Ps 3,8; 6,8f.; 13,6; 57,7f. u.ö. begegnet, als „Stimmungsumschwung“ bezeichnet.94 Damit ist nicht ein plötzliches und von außen initiiertes Geschehen („priesterliches Heilsorakel“) gemeint, sondern ein Sachverhalt, der in der Struktur des Textes angelegt ist und als „antizipiertes Faktum“ in Erscheinung tritt.95 Im Dankversprechen Ps 22,23–27 wird dieses Faktum erlebnismäßig ,nachgeholt‘, indem der Beter realisiert, dass und wie Gott die Wende herbei-

                                                             90

S. dazu auch oben 247f. Vgl. FISCHER, Psalmen, 39. 92 S. dazu oben 253. 93 S. dazu oben 258f. 94 S. dazu RECHBERGER, Klage, 133–147. 95 S. dazu oben 253f. 91

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geführt hat (V. 25). An diesem Handeln Gottes lässt er die Kultgemeinde teilhaben, indem er sie zum sättigenden und das „Herz“ stärkenden Mahl einlädt (V. 26f.). So sieht sich am Ende der durch die Erfahrungen der Gottesferne und Feindbedrängnis geschundene Beter in leiblicher wie in sozialer Hinsicht rehabilitiert und kann den Schritt ins neue Leben wagen.96

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                                                             96

Vgl. GÄRTNER, Lebensstark, 81. Der Artikel ist als Vortrag auf der internationalen Fachtagung "Resilienz im Alten Testament vom 30.01.-01.02.2020 in Rostock gehalten worden und in überarbeiteter Fassung in B. Janowski, Leben in Gottes Gegenwart. Beiträge zur Theologie und Anthropologie des Alten Testaments 7, Neukirchen-Vluyn 2021 erschienen.

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Verstärkendes Übersetzen Der Septuaginta-Psalter als Zusage und Trost am Beispiel von Ps 22(21) Martin Rösel In Ihrem Arbeitspapier zur Vorbereitung der Rostocker Tagung haben Judith Gärtner und Cornelia Richter sehr anschaulich die Herausforderungen beschrieben, die dann entstehen, wenn ein moderner Begriff wie der der Resilienz auf die biblische Literatur angewendet wird. Als sinnvolles Beispiel für Resilienznarrative im Alten Testament werden die Klagepsalmen genannt, „da in ihnen ein literarisches und damit bereits reflektiertes und paradigmatisches Beispiel für das Spannungsfeld von Aushalten und Gestalten von Ohnmachtserfahrungen aufgezeigt werden kann“;1 „im Klagegebet [können die] Ressourcen zur Reinterpretation der eigenen Notsituation aktiviert werden“.2 Dieser Spur der Aktivierung eines Textes als hilfreiche Ressource soll in diesem Beitrag weiter nachgegangen werden. Dabei ergeben sich aber durch die Wahl der griechischen Bibel als Textgrundlage erweiterte Fragestellungen. Zum einen lässt sich die Septuaginta3 als Ganze so verstehen, dass sie Texte aktiviert. Sie bringt nämlich die grundlegenden Überlieferungen Israels in einer neuen Sprache und einer veränderten historischen und kulturellen Situation neu zu Gehör und will auf diese Weise etwas wie religiöse Gewissheit vermitteln. Allerdings haben die einzelnen Übersetzer sehr unterschiedliche Strategien zur angemessenen Wiedergabe der hebräischen Texte angewendet, von strikter Bewahrung des Ausgangstextes, so dass die Übersetzung erratisch fremd wirkte, bis hin zur Re-formulierung, bei der die Bindung an das hebräische Original sehr locker gehandhabt wurde.

                                                             1 GÄRTNER, JUDITH/RICHTER, CORNELIA, Der (post-)moderne Begriff der Resilienz und die jüdisch-christliche Tradition, in: Gärtner, Judith/Schmitz, Barbara (Hg.), Resilienznarrative im Alten Testament (FAT 156), Tübingen: Mohr Siebeck 2022, 1–21, 13. 2 GÄRTNER /RICHTER, Resilienz, 14. 3 Ich verwende den Begriff für die gesamte Sammlung der übersetzten Schriften der hebräischen Bibel samt der sog. Apokryphen, nicht nur für die Übersetzung des Pentateuchs.

270

Martin Rösel

Innerhalb dieses Spektrums ist die Übersetzung der Psalmen als stark am Ausgangstext orientierte Wiedergabe zu verstehen, die sich in der Regel um eine genaue Entsprechung von Elementen des Ausgangstextes in der Zielsprache bemüht hat.4 Dennoch lassen sich eine ganze Reihe von wichtigen inhaltlichen Differenzen zwischen hebräischem und griechischem Psalter feststellen. Sie sind auf unterschiedliche Faktoren zurückzuführen: Auch wenn die Vorlage der Übersetzung dem heutigen masoretischen Text sehr nahe steht,5 gibt es doch eine Reihe von Fällen, in denen mit Differenzen im hebräischen Text zu rechnen ist. In anderen Fällen hat der Übersetzer den vorhandenen Konsonantentext irrtümlich oder bewusst anders verstanden als später die masoretischen Vokalisierer. Ein weiterer Grund für inhaltliche Differenzen ist das mitunter seltene oder aufgrund metaphorischer Ausdrucksweise schwer verständliche Vokabular der hebräischen Psalmen, das den Übersetzer an die Grenzen seiner Sprachkenntnisse brachte und zu Neuformulierungen nötigte. Schließlich hatte er die Tendenz, verschiedene hebräische Begriffe nicht jeweils konkordant wiederzugeben, sondern durch einen umfassenden griechischen Begriff zusammenzufassen; das ist besonders deutlich beim Vokabular für das Gesetz und die Gesetzlosigkeit.6 Durch solche Phänomene entsteht das methodische Problem, dass nicht immer eindeutig zu sagen ist, welche Abweichungen vom Übersetzer tatsächlich intendiert waren, welche bereits in der Vorlage stattfanden oder welche nur

                                                             4 PIETERSMA, ALBERT, To the Reader of Psalms, in: Ders. (Hg.), A New English Translation of the Septuagint. And the Other Greek Translations Traditionally Included under that Title. The Psalms, New York/Oxford: Oxford University Press 2000, 542. Vgl. aber AITKEN, JAMES K., Psalms, in: Ders. (Hg.), The T&T Clark Companion to the Septuagint (Bloomsbury Companions), London: Bloomsbury T&T Clark 2015, 320–334, und BONS, EBERHARD, Der Septuaginta-Psalter. Übersetzung, Interpretation, Korrektur, in: Martin Karrer/Wolfgang Kraus/Martin Meiser (Hg.), Die Septuaginta – Texte, Kontexte, Lebenswelten (WUNT 219), Tübingen: Mohr Siebeck 2008, 450–470, die mehr eigene Aussageintentionen des Psalmenübersetzers akzeptieren als Pietersma das tut. 5 S. dazu DORIVAL, GILLES, David, Jésus et la reine Esther. Recherches sur le Psaume 21 (22 TM)(Collection de la Revue des études juives 25), Paris u.a.: Peeters 2002, 14f. Gegenüber dem hier zugrunde gelegten griechischen Text der Ausgabe von Rahlfs macht Dorival in vier Fällen Differenzen deutlich, die alle in LXX.D notiert sind. Für die Argumentation dieses Aufsatzes ist nur die Zufügung von πρὸς σέ „zu Dir“ in V. 3 von Bedeutung. 6 OLOFSSON, STAFFAN, Law and Lawbreaking in the LXX Psalms – A Case of Theological Exegesis, in: Erich Zenger (Hg.), Der Septuaginta-Psalter. Sprachliche und theologische Aspekte (HBS 32), Freiburg i.Br.: Herder 2001, 291–330.

Verstärkendes Übersetzen

271

durch unsere heutige Rezeption entstehen.7 Doch da das Gesamtbild als Ergebnis dieser Untersuchung überraschend eindeutig werden wird, muss nicht jede Einzelstelle die vollständige Beweislast tragen. Die üblichen Einleitungsfragen zu den griechischen Psalmen sind nicht eindeutig zu klären, denn Datierung und Lokalisierung sind strittig.8 Mir selbst scheint eine Übersetzung in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts in Alexandria am wahrscheinlichsten zu sein, weil die Pentateuch-Übersetzung vorausgesetzt wird und sich Parallelen zur Sprache der Papyri finden9.

I. Psalm 22 (LXX: 21) Im Folgenden werde ich zunächst Psalm 22(21) in den Blick nehmen, weil für diesen Psalm bereits eine Befragung auf die Resilienz-Problematik vorgelegt wurde10 und er im Verlauf unserer Tagung eine wichtige Rolle spielt. ‫שּ חַ ר‬ ַ ֗ ַ‫לַ ְמ נַצֵּ ַח עַ ל־אַ יֶּלֶ ת ה‬

21,1

Εἰς τὸ τέλος, ὑπὲρ τῆς ἀντιλήμψεως τῆς ἑωθινῆς·

Bereits die Überschrift des Psalms zeigt bemerkenswerte Differenzen11. Statt „Für den Chormeister. Nach der Weise ‚Hindin der Morgenröte‘“12 liest die

                                                             7

Diese Problematik habe ich mehrfach behandelt, vgl. zuletzt RÖSEL, MARTIN, Eine Theologie der Septuaginta? Präzisierungen und Pointierungen, in: Frank Ueberschaer/Thomas Wagner/Jonathan M. Robker (Hg.), Theologie und Textgeschichte. Septuaginta und Masoretischer Text als Äußerungen theologischer Reflexion (WUNT 407), Tübingen: Mohr Siebeck 2018, 25–43. 8 AITKEN, Psalms, 321–323. 9 Mit BONS, EBERHARD/BRUCKER, RALPH, 4.1 Psalmoi / Das Buch der Psalmen, in: Siegfried Kreuzer (Hg.), Handbuch zur Septuaginta, Bd. 1: Einleitung in die Septuaginta, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2016, 333–353, 346f. 10 GÄRTNER, JUDITH, Lebensstark aus der Klage. Traditionen der Hebräischen Bibel in der Perspektive der Resilienz am Beispiel von Ps 22, in: PrTh 51 (2016), 75–81. 11 Zur Interpretation von Ps 21 (LXX) vgl. FABRY, HEINZ-JOSEF, Die Wirkungsgeschichte des Psalms 22, in: Josef Schreiner (Hg.), Beiträge zur Psalmenforschung, Psalm 2 und 22 (fzb 60), Würzburg: Echter 1988, 279–317; BONS, EBERHARD, Die Septuaginta-Version von Psalm 22, in: Dieter Sänger (Hg.), Psalm 22 und die Passionsgeschichten der Evangelien (BThSt 88), Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 2007, 12–32 und DERS., Psalm 21(22), in: Martin Karrer/Wolfgang Kraus (Hg.), Septuaginta Deutsch. Erläuterungen und Kommentare zum griechischen Alten Testament (LXX.E), Stuttgart: Dt. Bibelgesellschaft 2011, 1553–1557. 12 Übersetzungen des hebräischen Textes wurden – sofern nicht anders gekennzeichnet – der Zürcher Bibel entnommen, die der LXX stammen aus LXX.D.

272

Martin Rösel

LXX: „auf das Ende hin, über den Beistand am Morgen“. In den griechischen Psalmen wird ‫ לַ ְמנַצֵּ ַח‬standardmäßig mit εἰς τὸ τέλος wiedergegeben, womit wohl eine eschatologische Leserichtung vorgegeben wird.13 Im Hintergrund steht eine Ableitung vom Nomen ‫„ נצח‬Dauer“, der offenbar musikalisch geprägte Fachterminus ‫ לַ ְמנַצֵּ ַח‬wurde nicht verstanden. Interessanter noch ist die Wiedergabe von ‫„ אַ יֶּלֶ ת‬Hirschkuh“ durch ἀντίλημψις „Hilfe“. Offenbar hat der Übersetzer das Wort mit dem seltenen ‫„ ֱאיָלוּת‬Hilfe“ in Verbindung gebracht,14 das später im Psalm in V. 20 verwendet wurde. ‫ָלוּתי‬ ִ ‫אי‬ ֱ ‫ל־תּ ְרחָ ק‬ ִ ַ‫וְ אַ תָּ ה יְ הוָה א‬

21,20

‫ְל עֶ ְז ָר ִתי חוּשָׁ ה׃‬

Du aber, HERR, sei nicht fern, meine Stärke, eile mir zu Hilfe.

σὺ δέ, κύριε, μὴ μακρύνῃς τὴν βοήθειάν μου, εἰς τὴν ἀντίλημψίν μου πρόσχες. Du aber, Herr, lass meine Hilfe nicht fern sein, achte darauf, mir beizustehen.

ἀντίλημψις steht in diesem Vers für ‫ ֱאיָלוּת ;עֶ זְ ָרה‬wurde dagegen mit βοήθεια übersetzt. Durch die so veränderte Überschrift wird das Vorverständnis des gesamten Psalms geprägt: Es geht um Gottes Hilfe, dies unter Aufnahme des bekannten Motivs von Gottes erneuerter Präsenz am Morgen. So entsteht zum einen durch V. 1+20 eine neue Klammer mit dem Leitwort „Hilfe“ ἀντίλημψις als Thema des Psalms. Zum anderen wird bereits durch dieses Vorzeichen die bekannte Anrufung in V. 2, warum Gott den Beter verlassen habe, entschärft.15 Der Übersetzer geht jedoch noch einen Schritt weiter und modifiziert auch V. 2: ‫עז ְַב תָּ נִ י‬ ֲ ‫אֵ ִל י אֵ ִל י לָ מָ ה‬ ‫אג ִָתי׃‬ ֲ ַ‫ָרחוֹק ִמ ישׁוּעָ ִתי ִדּ ְב ֵר י שׁ‬

21,2

ὁ θεὸς ὁ θεός μου πρόσχες μοι ἵνα τί ἐγκατέλιπές με μακρὰν ἀπὸ τῆς σωτηρίας μου οἱ λόγοι τῶν παραπτωμάτων μου

                                                             13 Dazu RÖSEL, MARTIN, Die Psalmüberschriften des Septuagintapsalters, in: Ders., Tradition and Innovation. English and German Studies on the Septuagint (SBL.SCSt 70), Atlanta: SBL 2018, 221–249, 235–237. DORIVAL, David, 18, nimmt demgegenüber an, dass die Übersetzer wohl nicht wussten, was die Überschrift zu bedeuten habe. 14 In 18(17),34 und 29(28),9 hat er die wörtliche Übersetzung ἔλαφος gewählt. 15 Vgl. dazu BEENTJES, PANCRATIUS, „God, mijn God, sla acht op mij“. De Griekse vertaling van Psalm 22, in: Marcel Poorthuis (Hg.), Mijn god, mijn god, waarom hebt gij mij verlaten: een interdisciplinaire bundel over psalm 22, Baarn: Ten Have 1997, 55–61,60: „Alles weist darauf hin, dass der griechische Übersetzer fand, dass das hebräische Original Gott zu scharf anfasst, indem er unmittelbar mit der Tür ins Haus fällt: ‚Warum hast du mich verlassen?‘“ (meine Übersetzung).

Verstärkendes Übersetzen

273

Statt: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen, bist fern meiner Rettung, den Worten meiner Klage?“ lautet die griechische Version: „Gott, mein Gott, achte auf mich. Warum hast du mich verlassen? Weit weg von meiner Rettung sind die Worte meiner Verfehlungen.“ Über den hebräischen Text hinaus steht πρόσχες μοι, „achte auf mich“, was sich offenkundig ebenfalls V. 20 verdankt, dort steht πρόσχες für den Imperativ ‫„ חוּשָׁ ה‬eile!“16 Im zweiten Teil von Vers 2 fehlt überdies die Aussage, dass Gott dem Beter fern ist.17 Der veränderte Text entstand wohl dadurch, dass statt des Nomens ‫„ ְשׁאָ גָה‬Schreien“ ‫„ ְשׁגִ יאָ ה‬Irrtum“ gelesen und wie in 19(18),3 mit παράπτωμα übersetzt wurde,18 zudem wurde das syntaktische Gefüge des Stichos verändert. So entsteht ein Sündenbekenntnis, durch das die Notlage des Beters von Beginn an erklärbar wird. Ein Weiteres kommt hinzu: Die Aussage von der Gottesferne (‫ ָרחוֹק‬/‫)רחק‬ gehört zu den strukturierenden Leitgedanken des hebräischen Psalms, sie begegnet noch in V. 12 und 20.19 Interessanterweise wird sie an beiden Stellen ebenfalls nicht wörtlich übersetzt. In V. 12 wird ‫ל־תּ ְרחַ ק ִממֶּ נִּ י‬ ִ ַ‫„ א‬Sei nicht fern von mir“ mit μὴ ἀποστῇς ἀπ᾽ ἐμοῦ „weiche nicht von mir“, übersetzt, was gerade Gottes Gegenwart voraussetzt. In V. 20 wird das syntaktische Gefüge verändert, statt ‫ָלוּתי‬ ִ ‫אי‬ ֱ ‫ל־תּ ְרחָ ק‬ ִ ַ‫„ א‬sei nicht fern, meine Stärke“ steht im Akkusativ μὴ μακρύνῃς τὴν βοήθειάν μου „lass meine Hilfe nicht fern sein“, erneut wird so die Aussage vermieden, dass Gott fern sein könnte. Damit ist einer der zentralen Vorwürfe des Psalms gegen Gott aus dem Text herausübersetzt worden.

                                                             16

BAUKS, MICHAELA, Die Feinde des Psalmisten und die Freunde Ijobs. Untersuchungen zur Freund-Klage im Alten Testament am Beispiel von Ps 22, Zugl.: Strasbourg, Univ. Habil.-Schr., 2003, (SBS 203), Stuttgart: Kath. Bibelwerk 2004, 15 möchte πρόσχες μοι als „gliederungstechnisch bedingte Ergänzung“ streichen. 17 Hier in V. 2 ist allerdings der hebräische Text nicht eindeutig verständlich: Ist Gott fern (‫ ) ָרחוֹק‬von der Rettung des Beters (so die oben wiedergegebene Zürcher Übersetzung, vgl. auch HOSSFELD, FRANK-LOTHAR/ZENGER, ERICH, Die Psalmen (NEB 29), Würzburg: Echter 1993, 147–149; GÄRTNER, Lebensstark, 77) oder ist die Rettung des Beters fern? Das legt die wörtlichere Übersetzung bei WEBER, BEAT, Werkbuch Psalmen, Bd. 1: Die Psalmen 1 bis 72, Stuttgart: Kohlhammer 2001, 120, ähnlich BAUKS, Feinde, 14, nahe. In V. 12+20 sind die Bezüge auf Gott eindeutiger. 18 BONS, LXX.E, 1554; FABRY, Wirkungsgeschichte, 282. In 31(32),3 wurde aber das wörtlichere κράζειν zur Wiedergabe verwendet. 19 GÄRTNER, Lebensstark, 77

274

Martin Rösel ‫ל ֹא תַ עֲנֶ ֑ה‬ ֣ ְ‫ֱֹֽלה י אֶ ְק ָר֣א י֖וֹמָ ם ו‬ ַ֗ ‫א‬

21,3

Mein Gott, ich rufe bei Tag, doch du antwortest nicht,

ὁ θεός μου, κεκράξομαι ἡμέρας πρὸς σέ20, καὶ οὐκ εἰσακούσῃ, Mein Gott, bei Tag werde ich zu dir schreien, und du wirst (es) nicht anhören,

In V. 3 ist zunächst das Plus πρὸς σέ des griechischen Textes gegenüber dem hebräischen zu notieren, der Beter sagt, dass er den ganzen Tag „zu dir“ rufen werde; der Anredecharakter wird demnach verstärkt. Zudem wird ein weiteres Leitwort in den hebräischen Text eingeführt: die Bitte um Gottes Antwort (‫)ענה‬, die zu Beginn der Klage vermisst wird. In V. 22 erfolgt aber Gottes Antwort als Markierung für den Stimmungsumschwung, ebenfalls markiert mit ‫ענה‬. In der griechischen Übersetzung wird „antworten“ in V. 3 nicht ganz wörtlich mit εἰσακούω „erhören“ wiedergegeben, das sonst meist für ‫„ שׁמע‬hören“ steht.21 In V. 22 wurde aber ‫„ עֲנִ יתָ נִ י‬du hast mir geantwortet“ nicht wörtlich übersetzt, sondern mit τὴν ταπείνωσίν μου „meine Erniedrigung“ wiedergegeben; offenbar abgeleitet vom Nomen ‫עָ נְ יִ י‬, vgl. Ps 9,14.22 So entsteht die schwierige Aussage, dass die Niedrigkeit des Beters vor den Hörnern der Einhörner errettet werden soll; das Leitwort des hebräischen Textes geht verloren. Die Aussage ist m.E. nur verständlich, wenn man berücksichtigt, dass das Wortfeld ταπεινόω „erniedrigen“ mit dem zugehörigen Adjektiv und Nomen ταπεινός und ταπείνωσις „Erniedrigung/Demut“ zu den zentralen Begriffen des Übersetzers gehört.23 Die Worte stehen für eine große Zahl von hebräischen Äquivalenten und werden als Abstraktion für verschiedene konkrete Begriffe des hebräischen Textes verstanden. Sie drücken u.a. die demütige Haltung des Beters aus, die dann von Gott belohnt wird (z.B. 34[33],19 für ‫ַדּכָּ א‬

                                                             20 πρὸς σέ fehlt in der Ausgabe von Rahlfs und daher auch in LXX.D, es ist aber so gut bezeugt, dass es als urspünglich gelten kann, vgl. DORIVAL, David, 14. 21 Es lässt sich überlegen, ob die Wiedergabe von ‫ ענה‬mit εἰσ-/ἐπακούω, eher „hören“ statt „antworten“, sich der Gebetssituation in Alexandria verdankt, in der kein kultisch vermitteltes Antworten wie im Tempel möglich ist. Ein Hinweis darauf ist vielleicht auch in 34(33), 16: Gottes Ohren sind bei ihren Gebeten (εἰς δέησιν αὐτῶν), nicht bei ihrem Schreien (‫)אֶ ל־שַׁ וְ עָ ָ ֽת ם‬. 22 Vgl. Ps 119(118),21, wo ‫ עֲנִ יתָ נִ י‬angemessen mit ἐπήκουσάς μου übersetzt wurden, im gleichen Psalm wurde der identische Konsonantenbestand, masoretisch punktiert als ‫ ִענִּ יתָ נִ י‬, mit ἐταπείνωσάς με wiedergegeben. S. auch BONS, Septuaginta-Version, 23f. 23 Dazu GZELLA, HOLGER, Lebenszeit und Ewigkeit. Studien zur Eschatologie und Anthropologie des Septuaginta-Psalters (BBB 134), Berlin: Philo 2002, 309–312.

Verstärkendes Übersetzen

275

„zerschlagen“). Im Kontext von V. 21 und 22 steht „meine Erniedrigung“ parallel zu „meine Seele“ und „meine einzige“ (V. 21) und zu „rette mich“ am Anfang des Verses.24 ‫ִכּ י ל ֹא־בָ זָה וְ ל ֹא ִשׁ קַּ ץ עֱנוּת עָ נִ י‬

21,25

ֹ‫וּבשַׁ וְּ עו‬ ְ ‫ֹא־ה ְס ִתּיר פָּ נָיו ִממֶּ נּוּ‬ ִ ‫וְ ל‬ ‫אֵ לָ יו שָׁ מֵ ַע׃‬

Denn er hat nicht verachtet noch verabscheut des Elenden Elend, hat sein Angesicht nicht vor ihm verborgen, und da er schrie, erhörte er ihn.

ὅτι οὐκ ἐξουδένωσεν οὐδὲ προσώχθισεν τῇ δεήσει τοῦ πτωχοῦ οὐδὲ ἀπέστρεψεν τὸ πρόσωπον αὐτοῦ ἀπ᾽ ἐμοῦ καὶ ἐν τῷ κεκραγέναι με πρὸς αὐτὸν εἰσήκουσέν μου Denn weder verachtete noch verabscheute er das Flehen des Armen noch wandte er sein Angesicht von mir ab, und wenn ich zu ihm schrie, hörte er mich an.

Allerdings entsteht im griechischen Text eine neue Beziehung, denn die mit V. 3 (καὶ οὐκ εἰσακούσῃ, „du wirst nicht erhören“) korrespondierende Aussage εἰσήκουσέν μου „du hast mich erhört“ erfolgt etwas später in V. 25; hier steht nun εἰσακούω „erhören“ für ‫„ שׁמע‬hören“. Der Vers wurde zudem insofern modifiziert, als zweimal gegen den hebräischen Text die 1.Sg. gelesen wurde, so dass die Aussage auf den Beter selbst zielt, ihn in das Geschehen mit hineinnimmt: Gott hat zwar sein Angesicht abgewendet, aber er hat ihn dann (in seiner Niedrigkeit) erhört. Der Stimmungsumschwung wurde also auf V. 25 verschoben.25 So entsteht eine neue Gliederungsstruktur des Psalms: In V. 20 wird durch die Wiederholung von πρόσχες aus V. 2 die Bitte erneuert, ab V. 23 wird das Gotteslob des Beters geschildert, das durch die erfahrene Erhörung in V. 25 begründet ist und weiteres Loben in der Gemeinde motiviert (V. 26ff.). Dabei fällt in V. 25 eine weitere Akzentuierung auf, denn Gott hat nicht das Elend des Armen gesehen, sondern sein Gebet erhört.26 V. 25 erhält damit eine zentrale Bedeutung für den Psalm.

                                                             24 Weitere Belege bei RÖSEL, MARTIN, Septuaginta-Anthropologie, in: Bernd Janowski u.a. (Hg.), Handbuch Alttestamentliche Anthropologie, Mohr Siebeck: Tübingen 2022 (im Druck). 25 Mit BONS, Septuaginta-Version, 24f. BAUKS, Feinde, 161 übersieht diese Verschiebung, wenn sie schreibt, dass die Übersetzung von V. 22 „den gesamten Sprechakt der Klage verändert und den dramaturgisch angelegten Stimmungsumschwung, der für die hebräische Textstruktur wesentlich ist, geradezu zerstört“. 26 Diese Übersetzung kann im Kontext mit 34(33),16 gesehen werden, wo ebenfalls die Gewissheit ausgedrückt wird, dass Gott die Gebete (δέησις für ‫„ שַׁ וְ עָ ה‬Schreien“) erhört; δέησις steht für eine Vielzahl hebräischer Äquivalente, vgl. 6,10 ‫ ְתּ ִחנָּה‬, 16(15),1 ‫ ִרנָּה‬, ֲ ַ‫תּ‬, 66(65),19 ‫ ְתּ ִפלָּ ה‬, 102(101),1 ַ‫ ִשׂיח‬. 28(27),2 ‫חנוּן‬

276

Martin Rösel ‫בתֵ ינוּ‬ ֹ ‫א‬ ֲ ‫ְבּ ָך בָּ ְטחוּ‬ ‫בָּ ְטחוּ ו ְַתּ פַ ְלּטֵ מוֹ׃‬

21,5

Auf dich vertrauten unsere Vorfahren, sie vertrauten, und du hast sie befreit.

‫אֵ לֶ יָך ָז עֲקוּ וְ נִ ְמלָ טוּ ְבּ ָך בָ ְטחוּ‬

21,6

Zu dir schrien sie, und sie wurden gerettet, auf dich vertrauten sie

ἐπὶ σοὶ ἤλπισαν οἱ πατέρες ἡμῶν ἤλπισαν καὶ ἐρρύσω αὐτούς Auf dich haben unsere Väter gehofft, sie haben gehofft, und du hast sie errettet. πρὸς σὲ ἐκέκραξαν καὶ ἐσώθησαν ἐπὶ σοὶ ἤλπισαν Zu dir haben sie geschrien, und sie wurden gerettet; auf dich haben sie gehofft

Über diese Veränderungen hinaus lassen sich noch weitere Modifikationen bzw. neue Akzente feststellen: Besonders wichtig, weil für die Arbeitsweise des Übersetzers typisch, ist die Verwendung des Wortfeldes ἐλπίζω/ἐλπίς „hoffen/Hoffnung“, das für eine ganze Reihe von hebräischen Äquivalenten stehen kann.27 Es begegnet zuerst in V. 5 zur Wiedergabe von ‫„ בָּ טַ ח‬vertrauen“; die Väter haben auf Gott vertraut, der sie errettet hat. Mit ῥύομαι „retten“ für ‫ פלט‬pi. „retten“ hat der Übersetzer dann einen weiteren seiner Zentralbegriffe verwendet. Im folgenden V. 6 wurde dann ‫ מלט‬ni. mit σῴζω „retten“ wiedergegeben;28 der Rückblick auf die Väter in V. 5+6 belegt Gottes Rettung für diejenigen, die auf ihn hoffen. ‫ֹגּל אֶ ל־יְ הוָה יְ פַ ְלּטֵ הוּ י ִַצּ ילֵ הוּ ִכּי‬ ֹ‫חָ פֵ ץ בּו‬

21,9

ἤλπισεν ἐπὶ κύριον ῥυσάσθω αὐτόν σωσάτω αὐτόν ὅτι θέλει αὐτόν

Die drei zentralen Begriffe werden nun in V. 9 wieder aufgenommen, wobei erneut der Sinn des Ausgangstextes verändert wird: Statt dass die Spötter sagen: „Wälze es auf den HERRN. Der rette ihn, er befreie ihn, er hat ja Gefallen an ihm“ liest die griechische Übersetzung: „Er hat auf den Herrn gehofft, der

                                                             27 BONS, EBERHARD, Psalm 31 – Rettung als Paradigma. Eine synchron-leserorientierte Analyse (FTS 48), Frankfurt a.M.: Knecht 1994, 268–270. Das Verbum ἐλπίζειν wurde in den griechischen Psalmen deutlich häufiger verwendet als im hebräischen Psalter, vgl. dazu etwa AEJMELAEUS, ANNELI, Faith, Hope and Interpretation. A Lexical and Syntactical Study of the Semantic Field of Hope in the Greek Psalter, in: Peter W. Flint (Hg.), Studies in the Hebrew Bible, Qumran, and the Septuagint presented to Eugene Ulrich (VT.S 101), Leiden: Brill 2006, 360–376; vgl. bereits BERTRAM, GEORG, Praeparatio Evangelica in der Septuaginta, in: VT 7 (1957), 225–249, 237. 28 Zur Verwendung von σῴζειν als zentralem Begriff der Psalmen-Übersetzung vgl. bereits FLASHAR, MARTIN, Exegetische Studien zum Septuagintapsalter, in: ZAW (1912), 81– 116; 161–189; 241–268: 163–165.

Verstärkendes Übersetzen

277

soll ihn erretten; der soll ihn retten.“ Sogar die Spötter bestätigen demnach, dass der Beter sich so verhält, wie es die vorbildlichen Väter getan haben.29 ‫ל־שׁ ֵדי ִא ִמּ י׃‬ ְ ַ‫יח י ע‬ ִ ‫מַ ְב ִט‬

21,10b

(Du) … hast mich geborgen an den Brüsten meiner Mutter

ἡ ἐλπίς μου ἀπὸ μαστῶν τῆς μητρός μου (Du bist)… meine Hoffnung seit den Brüsten meiner Mutter.

Die Hoffnung des Beters wird in V. 10 ein weiteres Mal ausgedrückt, vom Säuglingsalter an hat er seine ἐλπίς auf Gott gesetzt; der hebräische Text sagt demgegenüber, dass Gott ihn den Brüsten seiner Mutter anvertraut habe. Da auch in der Wiederholung der Bitte in V. 21+22 die Imperative ῥῦσαι (für ‫ )הַ ִצּילָ ה‬und σῶσόν με (für ‫הוֹשׁיעֵ נִ י‬ ִ ) verwendet wurden, wird der Psalm in der griechischen Fassung nun durch die Wortfelder der Hoffnung und Rettung bestimmt.30 Am Ende des Psalms ist schließlich eine weitere Akzentverschiebung zu beobachten: Oben war bereits darauf hingewiesen worden, dass sich der Beter selbst als Demütigen versteht (V. 22), dessen Schreien von Gott erhört wird wie das Beten der Armen (V. 25). Diese Gewissheit wird in V. 27 auch hinsichtlich der Bedürftigen (πένητες für ‫ ) ֲענָוִ ים‬generalisiert, denn ihrer aller Herzen (3. Person) werden für immer leben; der hebräische Text hat an dieser Stelle eine Anrede in der zweiten Person. ‫ל־יוֹר ֵדי עָ פָ ר וְ נ ְַפ שׁוֹ ל ֹא‬ ְ ָ‫יִ ְכ ְרעוּ כּ‬ ‫ִחיָּה׃‬ ‫ז ֶַרע יַעַ ְב ֶד נּוּ‬

21,30b

21,31

ἐνώπιον αὐτοῦ προπεσοῦνται πάντες οἱ καταβαίνοντες εἰς τὴν γῆν καὶ ἡ ψυχή μου αὐτῷ ζῇ καὶ τὸ σπέρμα μου δουλεύσει αὐτῷ

Wichtiger noch ist eine weitere Veränderung am Ende von V. 30: Während der hebräische Text das schwierige ‫ וְ נ ְַפשׁוֹ ל ֹא ִחיָּה׃ ז ֶַרע יַעַ ְב ֶדנּוּ‬liest (wörtlich: „und

                                                             Wahrscheinlich konnte der Übersetzer den im Kontext schwierigen Imperativ ‫ ֹגּל‬nicht zuordnen und hat daher eine freie Wiedergabe gewählt, vgl. BONS, LXX.E., 1555, vgl. 37(36).5, wo ἀποκάλυψον zur Wiedergabe von ‫ גּוֹל‬steht. AUSTERMANN, FRANK, Von der Tora zum Nomos. Untersuchungen zur Übersetzungsweise und Interpretation im Septuaginta-Psalter (Mitteilungen des Septuaginta-Unternehmens 27), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003, 85 konstatiert, dass der Übersetzer die Bildhaftigkeit des Hebräischen erkannt und geschickt mit „hoffen auf“ übersetzt hat. 30 Dazu auch BONS, Septuaginta-Version, 29–31. Ähnlich GZELLA, Lebenszeit, 146. 29

278

Martin Rösel

sein Leben hat er nicht bewahrt [AK], eine Nachkommenschaft wird ihm dienen [PK]“),31 dessen Bezüge nicht eindeutig sind, hat die LXX die Aussage erneut auf den Beter bezogen: „Und meine Seele lebt in ihm (Indikativ Präsens) und meine Nachkommenschaft wird ihm dienen“ (Indikativ Futur; offenbar wurde ‫ לֹא‬zu ֹ‫ לו‬verlesen, vgl. BHS). Möglicherweise drückt sich hier die Hoffnung auf Auferstehung bzw. ewiges Leben aus,32 die aber andernorts deutlicher wird.33 Jedenfalls schließt der griechische Psalm mit einem eschatologischen Ausblick auf die Gottesgemeinschaft der Nachkommen des Beters. Fasst man die Beobachtungen zusammen, so wird deutlich, dass der griechische Text die tröstenden Aspekte des hebräischen verstärkt und die verstörenden reduziert.34 Aussagen vom Fernsein Gottes werden abgemildert, die Hoffnung auf Gottes Gebetserhörung wird verstärkt zum Ausdruck gebracht, dies auch durch die Vereinheitlichung der Begrifflichkeit. Zudem gibt die erweiterte Überschrift einen hermeneutischen Schlüssel vor, und die verstärkte Verwendung der 1. Person erleichtert das Akzeptieren des Textes als eigenes Gebet.35 Die Aktivierung eines Textes als hilfreiche Ressource, von der oben die Rede war, wird demnach im griechischen Psalm erleichtert.

II. Gott als Helfer Viele der an Psalm 22 gemachten Beobachtungen lassen sich an anderen Psalmen wiederholen, das betrifft besonders die Terminologie der Hoffnung und

                                                             31

In der Zürcher Bibel bleibt der Text unübersetzt; Luther 2017 übersetzt frei: „und ihr Leben nicht konnten erhalten. Er wird Nachkommen haben, die ihm dienen…“. HOSSFELD/ZENGER, Psalmen, 148 sehen den Text als dogmatisch korrigierende Glosse an. Vgl. BAUKS, Feinde, 164f. zum Übersetzungsproblem. 32 FABRY, Wirkungsgeschichte, 285; SCHAPER, JOACHIM., Eschatology in the Greek Psalter (WUNT II 76), Tübingen: Mohr Siebeck 1995, 50–52; bei GZELLA, Lebenszeit, 285, Anm. 897 zustimmend aufgenommen. 33 V.a. Ps 17(18), dazu SCHMITT, ARMIN, Ps 16,8–11 als Zeugnis der Auferstehung in der Apg, in: BZ 17 (1973), 229–248, SCHAPER, Eschatology, 48–50 und GZELLA, Lebenszeit, 229–253. 34 Vgl. das etwas hemdsärmelige Urteil von BEENTJES, Mijn God, 60: Der griechische Psalm sei frommer (vromer). BAUKS, Feinde, 169 konstatiert die theologische Veränderung und Nivellierung der Gott-Klage, die im Psalm durch die Entlastung Gottes eingetreten ist. 35 FABRY, Wirkungsgeschichte, 284 spricht von der „größeren Unmittelbarkeit zu Gott“.

Verstärkendes Übersetzen

279

Rettung.36 Eine Besonderheit des griechischen Psalters lässt sich dabei am Umgang mit Epitheta Gottes erkennen: Wie in anderen poetischen Texten findet sich mehrfach die Gottesbezeichnung ‫„ צוּר‬Fels“, für die z.B. in Dtn 32 keine wörtliche Entsprechung steht, sondern θεός „Gott“.37 In den Psalmen wird ein anderes Wortfeld zur Wiedergabe gewählt, das der Hilfe und Unterstützung.38 Das lässt sich besonders gut an der Anrufung in Ps 18(17),3 ablesen:39 ‫וּמפַ ְל ִטי‬ ְ ‫צוּד ִת י‬ ָ ‫וּמ‬ ְ ‫יְ הוָה סַ ְל ִע י‬

17,3

‫ח סֶ ה־בּוֹ מָ גִ נִּ י‬ ֱ ֶ‫צוּר י א‬ ִ ‫אֵ ִל י‬ ‫וְ קֶ ֶרן־יִ ְשׁ ִע י ִמ ְשׂגּ ִַבּי׃‬

κύριος στερέωμά μου καὶ καταφυγή μου καὶ ῥύστης μου ὁ θεός μου βοηθός μου καὶ ἐλπιῶ ἐπ᾽ αὐτόν ὑπερασπιστής μου καὶ κέρας σωτηρίας μου ἀντιλήμπτωρ μου

Aus „Der HERR ist mein Fels, meine Festung und mein Retter, mein Gott, mein Hort, bei dem ich Zuflucht suche, mein Schild und das Horn meiner Hilfe, meine Burg.“ wird im griechischen Text: „Der Herr ist meine Feste und meine Zuflucht und mein Erretter, mein Gott ist mein Helfer, und hoffen will ich auf ihn, (er ist) mein Beschützer und das Horn meiner Rettung, mein Beistand!“ Aus ‫„ סֶ לַ ע‬Fels“ wird στερέωμα, das von Gen 1,6 her (als Übersetzung von ‫יע‬ ַ ‫ ) ָר ִ ֖ק‬mit der Verlässlichkeit des geschaffenen Firmaments konnotiert ist. ‫צוּדה‬ ָ ‫„ ְמ‬Burg, Festung“ wird durch καταφυγή „Schutzort, Zuflucht“ recht

                                                             36 Die folgenden Abschnitte führen Gedanken fort, die ich bereits andernorts vorgetragen habe: RÖSEL, MARTIN, Die Existenz des Beters vor Gott (Ps 39[38]). Anthropologische Akzentsetzungen im LXX-Psalter, in: Eberhard Bons u.a. (Hg.), Die Septuaginta – Themen, Manuskripte, Wirkungen (WUNT 444), Tübingen: Mohr Siebeck 2020, 401–419. 37 Dtn 32,4.13.15.18.30.31.37. Vgl. dazu RÖSEL, MARTIN, Vorlage oder Interpretation? Zur Übersetzung von Gottesaussagen in der Septuaginta des Deuteronomiums, in: Sebastian Grätz/Axel Graupner/Jörg Lanckau (Hg.), Ein Freund des Wortes. Festschrift Udo Rüterswörden, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2019, 250–262. Anders aber PETERS, MELVIN K. H., Revisiting the Rock: Tsur as a Translation of Elohim in Deuteronomy and Beyond, in: Johann Cook/Hermann-Josef Stipp (Hg.), Text-Critical and Hermeneutical Studies in the Septuagint (VT.S 157), Leiden: Brill 2012, 37–51. 38 S. dazu bereits FLASHAR, Studien, 243f. Grundlegend sind auch: OLOFSSON, STAFFAN, God is my Rock. A Study of Translation Technique and Theological Exegesis in the Septuagint, (CB.OT 31), Stockholm: Almqvist & Wiksell 1990; BONS, EBERHARD, The Noun βοηθός as a Divine Title. Prolegomena to a future HTLS article, in: Eberhard Bons/Ralph Brucker/Jan Joosten (Hg.), The Reception of Septuagint Words in Jewish-Hellenistic and Christian Literature (WUNT II 367), Tübingen: Mohr Siebeck 2014, 53–66. 39 S. auch Ps 144(143),2: ἀντιλήμπτωρ μου καὶ ῥύστης μου, ὑπερασπιστής μου, καὶ ἐπʼ αὐτῷ ἤλπισα ([er ist] mein Beistand und mein Erretter, mein Beschützer; und auf ihn habe ich meine Hoffnung gesetzt) für ‫יתי‬ ִ ‫וּמ פַ ְל ִטי ִל י מָ גִ נִּ י וּבוֹ חָ ִס‬ ְ ‫( ִמ ְשׂ גּ ִַבּ י‬meine Burg und mein Retter, mein Schild, bei dem ich Zuflucht suche), hier erneut mit Verwendung von ἐλπίζω.

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Martin Rösel

wörtlich wiedergegeben,40 ebenso ‫וּמפַ ְל ִטי‬ ְ „mein Retter“ durch ῥύστης μου. Für ‫„ צוּר‬Fels“ steht allerdings βοηθός μου „mein Helfer“, für ‫„ מָ גֵן‬Schild“ steht ὑπερασπιστής „Beschützer“ und für ‫„ ִמ ְשׂגָּב‬schützende Höhe“ steht ἀντιλήμπτωρ „Helfer/Beschützer“. Hinzu kommt, dass das Verbum ‫חסה‬ „bergen“ mit ἐλπίζω übersetzt wurde, was oben bereits als einer der Zentralbegriffe des Übersetzers benannt worden war. Von den genannten Begriffen ist βοηθός der am häufigsten gebrauchte, er steht für eine ganze Reihe hebräischer Äquivalente, für ‫„ ִמ ְשׂגָּב‬Burg“ (9,10), ‫„ עֶ ְז ָרה‬Hilfe“ 27(26),9, ‫„ עֹ ז‬Stärke“ 59(58),18, ‫„ מָ עוֹז‬Festung“ 52(51),9, ‫מַ ְחסֶ ה‬ „Schutzort“ 62(61),9, ‫„ סֵ תֶ ר‬Schutz“ 119(118),114; in 119(118),6 wurde es ergänzt. Ein vergleichbares Bild gibt es für ἀντιλήμπτωρ „Beschützer“, das bei insgesamt 19 Vorkommen in der LXX 16-mal in den Psalmen begegnet41 und für dieselben hebräischen Äquivalente wie βοηθός stehen kann.42 Hinzu kommen 13 Belege für das Verb ἀντιλαμβάνομαι, wobei Ps 139(138),13 besonders aufschlussreich ist: ‫ְתּ סֻ כֵּ נִ י ְבּבֶ טֶ ן ִא ִמּי׃‬

138,13

κύριε ἀντελάβου μου ἐκ γαστρὸς μητρός μου

Aus „du hast mich im Leib meiner Mutter gewoben“ wird die Anrufung: „Herr, Du hast mir geholfen vom Leib meiner Mutter an“ (s. oben zu 22[21],10). Ein wiederum ähnlicher Befund ergibt sich für ὑπερασπιστής „Beschützer“, das bei 20 Vorkommen insgesamt 17-mal im Psalter steht und dieselben hebräischen Lexeme von „Fels“ bis „Festung“ übersetzt, mit einem Schwerpunkt bei der Wiedergabe von ‫„ מָ גֵן‬Schild“. Auch ῥύστης „Retter“ wird fast ausnahmslos nur in den Psalmen verwendet (fünf Vorkommen, davon einmal in 3Makk 7,23), der zugehörige Imperativ ῥῦσαί „rette!“ steht bei 32 Vorkommen 23-mal in den Psalmen. Auffällig ist bei diesem Befund, dass die verwendeten Übersetzungen das aktive, persönliche Handeln Gottes aussagen (Helfer, Retter, Schützer), nicht einen statischen Schutzaspekt, wie ihn die metaphorische Sprache der hebräischen Psalmen vorgibt. Das wird beispielsweise in Ps 71(70),3 deutlich, wo der hebräische Text die Bitte hat:

                                                             40 Vom griechischen Pentateuch her hat καταφυγή die Konnotationen der Asylstädte, vgl. Num 35,27f.; von Ex 17,5 her wurde es für Gott verwendet, dort zur freien Wiedergabe von ‫„ נֵס‬Feldzeichen“. 41 Zählung nach Hatch-Redpath s.v. 42 Zusätzlich steht ἀντιλήμπτωρ noch für das Vb. ‫משׁך‬, vgl. 109(108),12 in der Verbinֹ „Gutes tun“. dung ‫משֵׁ ְך חָ סֶ ד‬

Verstärkendes Übersetzen ‫היֵה ִל י ְלצוּר מָ עוֹן לָ בוֹא תָּ ִמיד‬ ֱ

70,3

‫הוֹשׁ יעֵ נִ י ִכּי־סַ ְל ִעי‬ ִ ‫ִצ וִּ יתָ ְל‬ ‫צוּד ִת י אָ תָּ ה׃‬ ָ ‫וּמ‬ ְ

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γενοῦ μοι εἰς θεὸν ὑπερασπιστὴν καὶ εἰς τόπον ὀχυρὸν τοῦ σῶσαί με ὅτι στερέωμά μου καὶ καταφυγή μου εἶ σύ

„Sei mir ein Fels, eine Wohnung, zu der ich immer kommen kann. Du hast zugesagt, mir zu helfen, denn du bist mein Fels und meine Burg.“ Die LXX hat demgegenüber: Werde mir zu einem Beschützergott (εἰς θεὸν ὑπερασπιστήν) und zu einem befestigten Ort, um mich zu retten, denn meine Feste und meine Zuflucht bist du. Der Übersetzer hat offenbar die schwierige Wendung ָ‫לָ בוֹא תָּ ִמיד ִצוִּ ית‬, wörtlich: „um dorthin immer einzugehen hast du befohlen“, nicht auflösen können43 und frei mit einer seiner zentralen Vorstellungen wiedergegeben. Dabei hat er sich wahrscheinlich im Folgenden am parallelen Vers Ps 31(30),3 orientiert. Die statischen Aussagen über Gott als Zuflucht wurden zwar wiedergegeben, aber durch die freie Wiedergabe „Beschützergott“ unter das Vorzeichen des aktiven göttlichen Handelns gestellt. Zu dem Befund passt, dass das Lexem καταφυγή, das eigentlich hervorragend zur Wiedergabe der vielfältigen Aussagen über Gott als Schutzort geeignet gewesen wäre, vergleichsweise selten verwendet wurde (14-mal, man beachte zum Vergleich die Häufigkeit von ἀντιλήμπτωρ oder ὑπερασπιστής). Dazu passt auch, dass das Nomen ‫„ יֵשַׁ ע‬Hilfe“ nur in der Hälfte der Fälle mit σωτηρία „Rettung“ übersetzt wurde, in den anderen Fällen steht das aktive σωτήρ „Retter“, vgl. Ps 27(26),1: Aus ‫אוֹרי וְ יִ ְשׁ ִעי‬ ִ ‫„ יְ הוָה‬Der HERR ist mein Licht und meine Rettung“ wird κύριος φωτισμός μου καὶ σωτήρ μου „Der Herr ist meine Erleuchtung und mein Retter“, wobei hier eine Verbindung von Erkenntnis und Rettung entsteht.44 Die besondere Bedeutung der Erkenntnis für den Psalmübersetzer drückt sich unter anderem auch darin aus, dass elf Psalmen mit συνέσεως „Verstehen“ überschrieben sind, was ‫„ מַ ְשׂ ִכּיל‬Unterweisung/ Weisheitslied“ übersetzt; die Psalmen zielen demnach auf das (eschatologische) Verstehen.45 Vervollständigt wird das Bild dadurch, dass das oft verwendete Verbum ‫„ חסה‬Schutz suchen, sich bergen“ oft mit ἐλπίζω übersetzt wurde, vgl. 5,12; 7,2; 16(15),1; 31(30),2 u.ö., auch auf diese Weise wird der personale oder relationale Aspekt betont.

                                                             43

So SIFFER-WIEDERHOLD, NATALIE, Psalm 70, LXX.E, 1691–1964, 1692. Mit GZELLA, Lebenszeit, 141. 45 RÖSEL, Psalmüberschriften, 233–235. 44

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Als Ergebnis dieses Überblicks lässt sich folglich festhalten, dass der Übersetzer bei der Wiedergabe metaphorischer bzw. figurativer Aussagen46 über Gott die Dimension des aktiven Handelns und Eingreifens Gottes betont; das Gottesbild wird gewissermaßen dynamisiert. Es ist zu vermuten, dass dies die Zuversicht darüber steigern konnte, dass Gott tatsächlich für den Beter eintritt.

III. Gottes Nähe Im letzten Teil soll der Blick auf verschiedene Phänomene gerichtet werden, die ebenfalls dazu geeignet waren, das Vertrauen der Betenden in Gottes Nähe und sein heilvolles Handeln zu betonen. Neben den bisher vorgeführten Akzentsetzungen, die durch die spezifische Wortwahl geschehen sind, lässt sich auch ein Phänomen feststellen, das Holger Gzella „Erzählperspektive des Rückblicks“ genannt hat.47 Der Psalmen-Übersetzer stand ja vor dem Problem, die notorisch schwierigen hebräischen Verbalformen mit ihrem Ineinander von Tempus- und Aspekt-Informationen in das striktere griechische System zu übertragen. Das führte an vielen Stellen zu Vereindeutigungen: So wird in 34(33),8 der gesamte Vers im Indikativ Futur übersetzt: ‫יראָ יו‬ ֵ ‫חנֶה מַ ְלאַ ְך־יְ הוָה סָ ִב יב ִל‬ ֹ ‫וַיְ חַ ְלּצֵ ם‬

33,8

παρεμβαλεῖ ἄγγελος κυρίου κύκλῳ τῶν φοβουμένων αὐτὸν καὶ ῥύσεται αὐτούς

Der hebräische Text hat eine Kombination aus Partizip und Narrativ: „Der Bote des Herrn lagert sich um die, die ihn fürchten, und er rettet sie“. Die griechische Übersetzung lautet demgegenüber: „Ein Engel des Herrn wird sich rings um die lagern, die ihn fürchten, und wird sie erretten“. Im Gegenzug kann auch ein ganzer Vers rückblickend im Aorist formuliert werden, um auf diese Weise zu betonen, dass Gott tatsächlich sieht und die Gerechtigkeit der Betenden anerkennt, vgl. 11(10),7:48

                                                             46

Vgl. zum Problem auch VERGARI, ROMINA, Translation Techniques and Interpretative Phenomena in the Greek Version of the Hebrew Bible: A Study of the Figurative Use of the Noun ‫‚ צֵ ל‬Shadow‘, in: Quaderni di Linguistica e Studi Orientali / Working Papers in Linguistics and Orientral Studies 1 (2015), 179–203, zu creative translations der Schatten- und Schutz-Metaphorik. 47 GZELLA, Lebenszeit, 126–185. 48 Die Beispiele lassen sich vermehren, vgl. 4,2: Gott hat auf mich gehört; Aorist statt Imperativ; 10,17(9,38): Er hat auf ihr Herz geachtet, Aorist statt PK, 16(15),3: Er hat an den Heiligen alles wunderbar gemacht.

Verstärkendes Übersetzen ‫ִכּ י־צַ ִדּ יק יְ הוָה ְצ ָד קוֹת אָ הֵ ב‬

10,7

ֹ‫חזוּ פָ נֵימו‬ ֱ ‫יָשָׁ ר ֶי‬

Denn der HERR ist gerecht, er liebt gerechte Taten; die Aufrichtigen werden sein Angesicht schauen

283

ὅτι δίκαιος κύριος καὶ δικαιοσύνας ἠγάπησεν, εὐθύτητα εἶδεν τὸ πρόσωπον αὐτοῦ Denn gerecht ist der Herr, und Gerechtigkeit hat er geliebt, Aufrichtigkeit hat sein Angesicht gesehen

Diese Übersetzungsweise ist stark vom Kontext des jeweiligen Psalms abhängig, daher lässt sie sich nicht überall finden.49 Zu beobachten ist auch, dass der Übersetzer ähnlich wie in Ps 22(21) bei einigen Psalmen dazu bereit war, nicht nur die Struktur des Psalms zu modifizieren, sondern auch die Aussage zu verändern.50 Das lässt sich etwa in Ps 39(38) zeigen, der durch die Einfügung des griechisch geprägten Leitwortes ὑπόστασις neu ausgerichtet wird: Das Dasein des Beters wird hier nicht in Frage gestellt, sondern es wird ausdrücklich betont: „Meine Existenz kommt von Dir!“ (καὶ ἡ ὑπόστασίς μου παρὰ σοῦ ἐστιν für ‫תּוֹחַ ְל ִתּי ְלָך ִהיא‬, „meine Hoffnung ist allein bei dir“, V. 8). Menschliches Leiden wird nach dem griechischen Ps 38 verstehbar als Strafe für Gesetzesübertretung und als Erziehungsmaßnahme Gottes, die aber seine grundsätzliche Zugewandtheit nicht in Frage stellt. Damit ist dann auch das menschliche Erschrecken über die Endlichkeit des Lebens umsonst oder fruchtlos. Der Psalm pointiert demnach den Aspekt der Zuversicht im Leben coram deo. Interessanterweise wird hier in V. 7 ein intertextueller Verweis auf die Vorstellung der Gottebenbildlichkeit in Gen 1 in den griechischen Text eingetragen (μέντοιγε ἐν εἰκόνι διαπορεύεται ἄνθρωπος für ‫ְך־אישׁ‬ ִ ֶ‫ְך־בּצֶ לֶ ם ִ ֽי ְתהַ לּ‬ ְ ַ‫)א‬, der Mensch lebt als Ebenbild Gottes, was menschliche Skepsis überwindet.51 Die bisher zusammengestellten Textphänomene konvergieren darin, dass sie inhaltliche Verschiebungen bei Aussagen über das Gottesbild beinhalten. Sie ergänzen damit das Bild, das sich ergibt, wenn man sich mit theologischen Aussagen des griechischen Psalters im engeren Sinne beschäftigt. Dafür sei nur an einige wenige Spitzenaussagen erinnert:

                                                             Aber vgl. z.B. Ps 17(16),6, wo der Aorist ὅτι ἐπήκουσάς μου ὁ θεός die Bitte motiviert, während der hebräische Text nur den Wunsch ‫ ִכי־תַ ֲענֵנִ י אֵ ל‬in der PK hat. 50 Dieses Phänomen kommt leider bei vielen Anmerkungen in LXX.E nicht in den Blick, weil die Erläuterungen auf der Ebene des Einzelverses bzw. eines isolierten Textproblems bleiben und nicht die Auswirkungen auf die Gesamtstruktur und -aussage des Psalms in den Blick nehmen. 51 Vgl. dazu den in Anm. 34 genannten Aufsatz, in dem eine Exegese von Ps 38(LXX) vorgetragen wird. S. auch die sehr detaillierte Studie von GAUTHIER, RANDALL X., Psalms 38 and 145 of the Old Greek Version (VT.S 166), Leiden u.a.: Brill 2014, 117–228. 49

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Martin Rösel ‫ֱֹלהים שׁוֹפֵ ט צַ ִדּיק‬ ִ ‫א‬

7,12

‫וְ אֵ ל ֹזעֵ ם ְבּכָ ל־יוֹם׃‬

Gott ist ein gerechter Richter und ein Gott, der täglich zürnt.

ὁ θεὸς κριτὴς δίκαιος καὶ ἰσχυρὸς καὶ μακρόθυμος μὴ ὀργὴν ἐπάγων καθ᾽ ἑκάστην ἡμέραν Gott ist ein gerechter Richter, stark und langmütig, der nicht jeden Tag (seinen) Zorn aufkommen lässt.

In Ps 7,12 wird die Aussage des hebräischen Textes ins Gegenteil verkehrt zu „Gott ist ein gerechter, starker und langmütiger Richter, der nicht jeden Tag (seinen) Zorn aufkommen lässt“, wobei nicht nur eine Verlesung von ‫ וְ אֵ ל‬zu ‫ אַ ל‬stattfand, sondern auch eine Erweiterung des Textes durch ein Zitat aus der sog. Gnadenformel Ex 34,6.52   ‫אַ תָּ ה אֵ ל׃‬

89,2f.

‫ד־דּכָּ א‬ ַ ַ‫תָּ שֵׁ ב אֱנוֹשׁ ע‬

[ἀπὸ τοῦ αἰῶνος ἕως τοῦ αἰῶνος]…σὺ εἶ μὴ ἀποστρέψῃς ἄνθρωπον εἰς ταπείνωσιν

Auch in Ps 90(89),2 wird die Qualifikation Gottes entscheidend verändert. Der hebräische Text betont, dass Gott von Ewigkeit her ist und die Menschen zum Staub zurückkehren lässt, er betont demnach die Schöpfermacht Gottes und die Endlichkeit des Menschen.53 Der griechische Übersetzer hat den Text anders segmentiert und erneut ‫ אֵ ל‬und ‫ אַ ל‬anders gelesen: „… von Ewigkeit bis in Ewigkeit bist du. Führe den Menschen nicht fort in die Erniedrigung.“ Weitere Beispiele für solche Modifikationen finden sich z.B. in Ps 9,21, wo die LXX statt „JHWH, lege Furcht auf sie“ (‫מוֹרה לָ הֶ ם‬ ָ ‫ ) ִשׁיתָ ה יְ הוָה‬die heilvolle Zuwendung Gottes erbittet: „Herr, gib ihnen (den Völkern) einen Gesetzgeber!“ (κατάστησον κύριε νομοθέτην ἐπ᾽ αὐτούς). Am Ende von Ps 39(38),14 wird Gott nicht aufgefordert, vom Beter wegzublicken, damit der

                                                             52

S. dazu BONS, Psalm 7, LXX.E, 1513f., der auf das singuläre Vorkommen von ἰσχυρός im Psalter hinweist, allerdings nicht auf den intertextuellen Bezug zur Gnadenformel eingeht. Zur Rezeptionsgeschichte der Gnadenformel s. DOZEMAN, THOMAS B., Inner-Biblical Interpretation of Yahweh’s Gracious and Compassionate Character, in: JBL 108 (1989), 207–223, auch SPIECKERMANN, HERMANN, „Barmherzig und gnädig ist der Herr…“, in: ZAW 102 (1990), 1–18. 53 HOSSFELD, FRANK-LOTHAR/ZENGER, ERICH, Psalmen 51–100 (HThKAT), Freiburg i.Br.: Herder 2000, 610

Verstärkendes Übersetzen

285

sich wieder freuen kann (‫)הָ שַׁ ע ִממֶּ נִּ י וְ אַ ְב ִליגָה‬. Stattdessen wird Gott um Erleichterung gebeten „gewähre mir, dass ich mich erhole“ (ἄνες μοι ἵνα ἀναψύξω).54 Wie in Psalm 22(21) wird Gottes Nähe erbeten. Schließlich ist als weitere Dimension zu nennen, dass der Übersetzer an verschiedenen Stellen die Hoffnung auf Auferstehung in den griechischen Psalmtext eingetragen hat, dies besonders deutlich in Ps 15(16),55 möglicherweise auch in 1,5.56 Mit Holger Gzella kann der LXX-Psalter damit als Weisung zum Weg des ewigen Lebens verstanden werden, der Text hat eine anthropologischeschatologische Doppelperspektive erhalten.57

IV. Ertrag Ich komme damit zum Schluss. Weitere Themen ließen sich nennen, etwa die durchgängige Intellektualisierung des griechischen Psalters oder das Phänomen der Nomothesierung, das in Ps 9 zu beobachten war.58 Schon im hebräischen Psalter ist ja zu beobachten, dass die Schilderungen der Not offenbar immer unkonkreter werden, um mehr Betenden zu erlauben, sich mit ihren eigenen Erfahrungen im Gebet wiederzufinden. Diese Entwicklung ist im griechischen Psalter weiter fortgeführt worden, Gewalttaten, Lügen, betrügerisches Handeln werden seltener konkret benannt, stattdessen unter dem Oberbegriff „Gesetzlosigkeit“ (ἀνομία) summiert, so dass es dem frommen Beter leicht fällt, sich davon zu distanzieren59. Festzuhalten ist jedenfalls, dass es eine ganze Reihe von Stellen gibt, an denen die griechische Übersetzung deutlicher als der hebräische Ausgangstext die Zuversicht auf Gottes Eingreifen und heilvolle Gegenwart verstärkt. Im Gegenzug werden Aussagen gemieden, die Gottes Nähe in Frage stellen oder negative Taten mit ihm verbinden. Differenzen dieser Art sind so häufig, dass

                                                             54

S. neben der oben zu Ps 39(38) genannten Literatur auch SIEGERT, FOLKER, Zwischen hebräischer Bibel und Altem Testament. Eine Einführung in die Septuaginta (MJS 9), Münster: LIT 2001, 170. 55 SCHMITT, Ps 16,8 –11, 232–243 und GZELLA, Lebenszeit, 92–111. 56 SCHAPER, Eschatology, 46–48. 57 GZELLA, Lebenszeit, 360–362. 58 RÖSEL, MARTIN, Nomothesie. Zum Gesetzesverständnis der Septuaginta, in: HeinzJosef Fabry/Dieter Böhler (Hg.), Im Brennpunkt: Die Septuaginta, Bd. 3: Studien zur Theologie, Anthropologie, Ekklesiologie, Eschatologie und Liturgie der griechischen Bibel (BWANT 174), Stuttgart: Kohlhammer 2007, 132–150. Für die Psalmen vgl. bereits FLASHAR, Studien, 165–171. 59 Vgl. dazu Abschnitt 3.3 des in Anm. 23 genannten Beitrags und OLOFSSON, Law, 291– 330.

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Martin Rösel

Zufälle der Textüberlieferung wie abweichende Vorlagen oder unterschiedliche Vokalisationstraditionen zur Erklärung ausscheiden und man daher von einem durchgängigen hermeneutischen pattern sprechen kann. Dieses Interpretationsmuster fügt sich m.E. gut in die eingangs genannten Überlegungen zu Resilienznarrativen im Alten Testament. Der griechische Psalter kann als sekundäre Aktivierung der Ressourcen zur Interpretation eigener Notsituationen verstanden werden. An vielen Stellen vermindert er Zweifel und verstärkt Gewissheiten. Dies geschieht auch dadurch, dass durch intertextuelle Bezugnahmen sowohl Not-, als auch Rettungserfahrungen in die Geschichte des Gottesvolkes eingezeichnet werden. Mit der durchgängigen Orientierung am Nomos wird zudem eine Leitidee zur Ausrichtung des eigenen Lebens wie zum Verstehen negativer Erlebnisse angeboten. Und selbst wenn man diese Phänomene nicht im strikten Sinne als Resilienznarrative verstehen möchte, hat die Untersuchung zumindest ergeben, dass die Frage nach Resilienzphänomenen eine wichtige heuristische Dimension hat, die geeignet ist, mögliche Motivationen des Übersetzers zu rekonstruieren. Ein letzter Aspekt: In rezeptionsgeschichtlicher Perspektive kommt möglicherweise der Septuaginta-Übersetzung der Psalmen eine größere Bedeutung zu als dem hebräischen Original. Der griechische Psalter ist nicht nur Grundlage für liturgische Texte und Gebete der orthodoxen Kirchen, sondern auch der lateinischen Christenheit. Denn die Frömmigkeit und Liturgie prägenden Psalmübersetzungen des Hieronymus, Psalterium Romanum60 und Psalterium Gallicanum sind auf der Basis der Septuaginta entstanden. Bis heute haben Vulgata-Ausgaben zwei Versionen der Psalmen, neben dem Psalterium Gallicanum noch das Psalterium iuxta Hebraeos, das aber in der Liturgie nicht verwendet wurde – und seinerseits auch nicht frei ist von Einflüssen älterer Lesarten. Schon diese Wirkungsgeschichte macht die Beschäftigung mit dem LXX-Psalter sinnvoll, legte er doch die Grundlage für tröstende Gebete bis in die Gegenwart hinein.

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                                                             60

Hier ist strittig, ob und in welchem Umfang Hieronymus an diesem Text gearbeitet hat, s. ALLGEIER, ARTHUR, Die erste Psalmenübersetzung des Heiligen Hieronymus und das Psalterium Romanum, Biblica 12 (1931), 447–482, 481f.; s. auch SIEGERT, Zwischen hebräischer Bibel, 308–310.

Verstärkendes Übersetzen

287

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Psalmen als Einübungstexte für Resilienz Andreas Wagner I. Zur besonderen Rolle der Psalmen als häufig angewandte Texte im Kontext des kirchlichen und praktisch-theologischen Resilienz-Diskurses Gerne möchte ich meine Überlegungen beginnen mit dem Hinweis auf die Selbstverständlichkeit, mit der die Psalmen einerseits und das Thema Resilienz andererseits im kirchlichen und praktisch-theologischen Diskurs verbunden sind. Wo immer und wie auch immer „Resilienz“ aufgenommen wird, ist es zu den Psalmen nicht weit. 1. Beim Thematisieren von Resilienz im kirchlichen Seelsorge- und Gottesdienst-Kontext spielen die Psalmen eine herausragende Rolle. Die beliebte Google-Recherche ergibt sofort einschlägige Treffer, hier nur eine Auswahl: – In einer im Netz veröffentlichten BA-Arbeit von Lara Maria Vetter: Religion und Resilienz. Sicher, stark und selbstbewusst! Wie religiöse Bildung in der Kita Kinder stark macht, Bachelorarbeit 2015 (PH/EH Ludwigsburg), hebt die Verfasserin (neben Ex 2) aus dem AT bes. Ps 139 hervor und geht auf sein Resilienzpotenzial ein.1 – In einem Gottesdienstentwurf zum Sonntag des Frauenwerks 2017 mit dem Titel „Hinfallen, Aufstehen, Krone richten, Weitergehen“. Ein Gottesdienst über Resilienz – Was kann mir helfen, seelische Widerstandskraft zu entwickeln, zusammengestellt von Ulrike Wenneborg, werden – natürlich, möchte man fast sagen – für die alttestamentliche Lesung ausschließlich Psalmen aufgeboten: Verse aus Psalm 4; 22; 23; 25; 30; 38; 69; 130.2 – In einem im Netz abrufbaren Rundfunkbeitrag aus der Reihe „Anstöße SWR1 RP/Morgengruß SWR4 RP wird unter Rückgriff auf Ps 127 über Resilienz als „die seelische Widerstandskraft“ gehandelt.3 Es ließen sich viele weitere Beispiele anführen. 2. Nicht anders sieht die Sachlage aus, wenn man nach Seelsorge-Publikationen Ausschau hält, in denen Resilienz und biblische Texte eine Rolle spielen. Das fängt schon bei wegweisenden Publikationen zum Thema an, wie Peter Bukowskis Monographie Die Bibel ins Gespräch bringen: Erwägungen zu

                                                             1 https://kidoks.bsz-bw.de/frontdoor/deliver/index/docId/796/file/Bachelorarbeit_Lara_ Maria_Vetter.pdf [20.12.2020]. 2 https://www.emk-frauen.de/pdfs/GD_FW_2017_Resilienz.pdf [20.12.2020]. 3 https://www.kirche-im-swr.de/?page=manuskripte&id=11208 [20.12.2020].

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einer Grundfrage der Seelsorge.4 Klagepsalmen werden in diesen Zusammenhängen immer wieder aufgenommen,5 ebenso Vertrauenstexte wie Ps 23. Auch beim Thema „Traumaforschung und Psalmen“ drängen sich Psalmen sofort auf.6 Die Psalmen stehen also beim praktischen Aufgreifen des Themas Resilienz weit vorne. Das ist einem weitgehend intuitiven Zugriff geschuldet. Es stellt sich die Frage: Woran liegt das?

II. Der Psalter als die kleine Biblia Die Einschätzung, der Psalter sei eigentlich als eine kleine Biblia aufzufassen, ist in jüngerer Zeit wieder verstärkt als Charakterisierung des Psalters aufgenommen worden. Insbesondere Bernd Janowski hat diesen Gedanken Luthers noch einmal – am Ende des 20. Jahrhunderts, in einer völlig veränderten theologisch-exegetischen Grundsituation gegenüber dem 16. Jahrhundert – auf seinen bedeutsamen Gehalt hin beleuchtet.7 Der Psalter als die kleine Biblia funktioniert wie ein Brennspiegel der Themen des Alten Testaments: In den Psalter sind nahezu alle Themen der übrigen Bücher und Texte des AT hineingezogen und verwoben. Vieles, was durch Lektüre von anderen AT-Texten aufgeschlossen werden kann, vieles auch, was später im NT wieder eine Rolle spielt. Gerade diese vom NT auf das AT zurückgreifende Deutekraft hat der christlichen Rezeption des Psalters ungemein aufgeholfen und den Psalter zur attraktivsten Kurzfassung des AT gemacht. Die Attraktivität der kleinen Biblia, also des Psalters, resultiert aber nicht nur aus der Themenfülle. Der Reiz der Psalmen liegt natürlich auch an den vielgestaltigen Zugängen zu theologischen Einsichten, an speziellen idiogra-

                                                             4

BUKOWSKI, PETER, Die Bibel ins Gespräch bringen. Erwägungen zu einer Grundfrage der Seelsorge, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 1994. 5 Vgl. WAGENSOMMER, GEORG, Klagepsalmen und Seelsorge. Der Psalter als Ausdruck persönlicher Frömmigkeit und Sprachhilfe für kranke Menschen (Schriftenreihe der Evangelischen Fachhochschule Freiburg, Bd. 4), Münster: Lit 1998. 6 Vgl. MÓRICZ, NIKOLETT, „Wie die Verwundeten derer du nicht mehr gedenkst“. Zur Phänomenologie des Traumas in den Psalmen 22, 88, 107 und 137 (FRLANT 282), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021; MÓRICZ, NIKOLETT/ERBELE-KÜSTER, DOROTHEA/ OEMING, MANFRED (Hg), Alttestamentliche Exegese im Lichte der Traumaforschung (HUTh), Tübingen: Mohr Siebeck 2022 (im Druck). 7 JANOWSKI, BERND, Die „Kleine Biblia“. Zur Bedeutung der Psalmen für eine Theologie des Alten Testaments, in: Ders., Die rettende Gerechtigkeit (Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 2) Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 1999, 125–164.

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phischen Aussagen von Einzelpsalmen, an der Erschließungskraft der Psalmentexte für existenzielle und grundsätzliche Probleme in der Beziehung zu Gott u.v.a.m.8 Gerne aber würde ich diesen thematisch-inhaltlichen Fokus bei dem Blick auf das Resilienzpotenzial und die Resilienzeigenschaften der Psalmen ergänzen und vertiefen durch ein weiteres Moment, eine weitere Text- und Qualitätseigenschaft der Psalmen, die die Attraktivität der Psalmen für die Rezeption ebenso bestimmt wie die Themen und Inhalte: Die sprachliche Seite der kleinen Biblia.

III. Die sprachliche Seite der kleinen Biblia Bei den oben genannten Bemühungen um den Einbezug der Psalmen in die Resilienzproblematik ist festzuhalten, dass es eigentlich immer um Resilienzstärkung geht.9 Ich möchte in diesem Zusammenhang der Beobachtung Gewicht verleihen, dass hier nicht nur die inhaltliche Verdichtung des Psalters ein Rolle spielt, sondern auch ihr sprachliches Gewand. 1. Poesie Wichtig für die Wirkung der Psalmen ist die poetische Gestaltung, vor allem ihre Prägung durch den Parallelismus membrorum.10 Anders als narrative Texte führt die Prägung durch den Parallelismus dazu, dass ein Gedanke inhaltlich in zwei- bis dreifacher Ausgestaltung vorgeführt wird, alle Rezipierenden also in den Gedankenstrom der Psalmentexte in der Regel doppelt hineingenommen werden. Es entsteht so ein dynamischer Verständnisraum, in den die Rezipienten von der Dichtungsform des Parallelismus her sofort hineinverwoben werden. Redundanz und Dynamik in der Redundanz entfalten auch beim

                                                             8

JANOWSKI, BERND, Konfliktgespräche mit Gott. Eine Anthropologie der Psalmen, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 52019 [12003]; WAGNER, ANDREAS, Beten und Bekennen. Über Psalmen, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 2008; WAGNER, ANDREAS, Gebet, Liturgie, Gesang, in: Walter Dietrich (Hg.), Die Welt der Hebräischen Bibel. Umfeld – Inhalte – Grundthemen, Stuttgart: Kohlhammer 22021, 284–298. 9 Auf Resilienzstärkung zielen etliche Publikationen aus Pädagogik und Psychologie, vgl. OPP, GÜNTHER/FINGERLE, MICHAEL (Hg.), Was Kinder stärkt. Erziehung zwischen Risiko und Resilienz, München: Reinhardt 2007; WUNSCH, ALBERT, Mit mehr Selbst zum stabilen ICH! Resilienz als Basis der Persönlichkeitsbildung, Heidelberg: Springer Spektrum 2013; ZANDER, MARGHERITA, Handbuch Resilienzförderung, Wiesbaden: VS 2011. 10 WATSON, WILFRED G. E., Classical Hebrew Poetry. A Guide to Its Techniques (JSOT.S 26), Sheffield, UK: JSOT 21984 (11984) [Reprint der 2. Aufl. London 2005]; SEYBOLD, KLAUS, Poetik der Psalmen (Poetologische Studien zum Alten Testament 1), Stuttgart: Kohlhammer 2003; WAGNER, ANDREAS (Hg.), Parallelismus membrorum (OBO 224), Fribourg: Academy/Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007.

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intuitiven Verstehen von Nicht-Experten ihre Wirkung. Ebenso transportiert sich die Wirkung auch in Übersetzungen sofort, da es sich beim Parallelismus membrorum weithin um ein gut übersetzbares inhaltliches und nicht sprachgebundenes Phänomen des Hebräischen handelt: „Die drei zentralen noetischen [= die Noetik, die Denklehre, Erkenntnislehre, die Grundsätze des Denkens betreffend, vgl. Noesis = geistiges Wahrnehmen, Denken u.ä.] Leistungen des Parallelismus sind [...]: a) Die hohe Plastizität der Aussage durch bi- bzw. multiperspektiv dargebotene Tatbestände; b) die Möglichkeit, die bi- bzw. multiperspektiv dargebotenen Tatbestände in komplementäre, antithetische oder additive Beziehungen zu setzen; c) die Eröffnung eines Erkenntnisraumes, in dem sich das Verstehen hin und her bewegen kann und das damit eine dynamische Dimension hat.“11

Neben diesen voran beschriebenen Effekten spielt die poetische Formung im Parallelismus membrorum für das Memorieren der Psalmen eine große Rolle. Auswendig gelernte Psalmen haben oft lebenslange Nachhaltigkeit, gerade die Seelsorge, nicht zuletzt die Altersseelsorge, knüpft an diese Sachlage häufig an. 2. Beziehungskonstitution Von großer Relevanz ist der Gebetscharakter vieler Psalmen, der sich in verschiedenen Gattungen durchaus unterschiedlich ausgestaltet. Große Gattungen wie etwa die Klagelieder besitzen z.T. konstitutive Elemente, die vor allem über eine explizite Anrede für ein Gebet kennzeichnend sind. Ps 70,2 6 Ps 3,2

Gott, mich zu retten, Jahwe, mir zu Hilfe, eile! [...] Ich aber bin arm und elend. Gott, eile zu mir, meine Hilfe und mein Retter bist du, Jahwe, säume nicht! Jahwe, wie zahlreich sind meine Feinde [...]

Die direkte Anrede oder Bitte an Gott, also die Du-Anrede, verbalisiert in der sprachlich direktesten möglichen Weise die Beziehung zwischen lesender, rezipierender, betender Person und Gott, und dies mit einer klaren Eindeutigkeit. In narrativer Kommunikation sind die Kommunikationspartner viel weniger gut und klar konturiert: Aus vielen narrativen Äußerungen und Texten sind

                                                             11 WAGNER, ANDREAS, Der Parallelismus membrorum zwischen poetischer Form und Denkfigur, in: Ders. (Hg.), Parallelismus membrorum (OBO 224), Fribourg: Academy/Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, 1–26, hier 16.

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etwa die Adressaten nicht zu erschließen, so etwa in den alttestamentlichen narrativen Großtexten wie Pentateuch und Geschichtsbüchern.12 Die Bedeutung dieser klaren Kommunikationssituation in den meisten Psalmen kann m.E. kaum überschätzt werden. Das sich zu Gott wendende lesende oder betende „Ich“ wird, anders als beim Narrativ, in einer expliziten Weise qua Ich-Präsenz und explizit vorhandener Anrede in die Kommunikation eingebunden und ausgerichtet. Beide, das „ich“ und Gott konstituieren bei jedem Lesen und/oder „Nach-Denken“ des Psalmentextes eine klare Kommunikationssituation. Zudem wird, anders als beim Narrativ, der immer eine Erzähldistanz erzeugt, durch das vorgegebene „Ich“ der Psalmen ein Identifikationsanker für die Rezipierenden geworfen: Jedes den Psalm „nach“-lesende/-betende „Ich“ wird unmittelbar in den Sprachvorgang des Psalms hineingezogen, sodass es sich dem Identifikationsvorgang kaum entziehen kann. In der sprachlichen Kommunikation tut sich dabei eine interpersonale Relation auf, die auf eine Beziehungsdimension verweist. Bei den vielen sprachphilosophischen und linguistischen Versuchen, das sprachliche Kommunizieren zu verstehen und zu analysieren, hat sich immer wieder gezeigt, dass alleine durch das Aufrechterhalten des sprachlichen Kontakts, also des Konstituierens einer Kommunikationsebene, durch das äußere oder innere Sprechen, auch eine Kontakt-Beziehung besteht. Vor allem Roman Jakobson hat auf diese Dimension der Sprache hingewiesen. Ein Kontakt muss noch nicht im Vollsinn einer Beziehung die gegenseitige Kenntnis, Vertrautheit im Umgang, Streitfähigkeit u.v.m. einschliessen. Aber eine (personale) Beziehung ohne kommunikativen Kontakt ist schwer denkbar. Im Extremfall kann eine solche sprachliche Beziehung konstituiert werden, ohne dass es zum Inhaltsaustausch in der Kommunikation kommt. Jakobson zitiert eine wunderbare Passage aus einem Text von Dorothy Parker (1893– 1967), um das phatische Kommunizieren zu veranschaulichen:

                                                             12

Bei den Psalmen ist es so, dass der Text immer wieder gelesen bzw. gebetet wird, innerlich leise oder äußerlich laut, der Kommunikationseffekt ergibt sich dabei immer wieder (neu). Es geht hier nicht um die Kommunikation des Textverfassers mit Gott, sondern der Kommunikation, der rezipierenden Person, die nicht anders kann, als sich per Lesen/Sprechen in die entsprechende Kommunikationssituation hineinzubegeben. Wie mit einer Art kommunikativer Präsupposition wird von daher Gott zum Kommunikationspartner in dieser Situation. Das ist völlig anders bei narrativen Texten, bei denen die den Text verfassende Person (oder die Texttradierenden) immer wieder in ein Adressaten-„Off“ kommunizieren, denn niemand weiß ja genau, wer einen narrativen Text gerade liest. Diese Kommunikationssituation ist also viel offener, unbestimmter.

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‚So‘, sagte der junge Mann. ‚So‘, sagte sie. ‚So, da wären wir also‘, sagte er. ‚Da wären wir also‘, sagte sie, ‚nicht wahr?‘ ‚Das meine ich auch‘, sagte er, ‚ja, da wären wir‘. ‚So‘, sagte sie. ‚So‘, sagte er, ‚so‘.13

Die phatische Kommunikationsfähigkeit „ist die erste, die das Kleinkind erwirbt; es neigt dazu, Kommunikation herzustellen, bevor es informative Kommunikation senden oder empfangen kann“14. Die phatische Dimension der Kommunikation ist bei jeder sprachlichen Äußerung vorhanden und bildet auch in semantisch komplexen Texten eine eigene Bedeutungsdimension. M.E. spielt diese faktische Beziehungskonstitution zwischen dem betenden Ich der Psalmen und Gott eine extrem große Rolle bei der Anwendung der Psalmen im Rahmen der Resilienzthematik: Durch das Gebet wird das betende Ich Gott als Kommunikationspartner quasi „an die Hand“ gegeben. Ein positives Gottesbild vorausgesetzt, wie wir es ja gerade in den allermeisten Palmen finden, wirkt dieses „an die Hand geben“ lebensstärkend. In den nachfolgenden Abschnitten wird dieser Prozess noch einmal genauer erläutert; zuvor sind noch einige weitere Bausteine für die Gesamtargumentation zusammenzutragen. Die Frage des Verhältnisses von Sprache und Beziehung wird momentan als neues Forschungsfeld in der Sprachwissenschaft erschlossen. Wegweisend ist der Titel einer einschlägigen und großangelegten Publikation von Angelika Linke und Juliane Schröter, Sprache und Beziehung, Berlin: De Gruyter 2017. Auch Linke und Schröter halten fest, dass die zentralen Grundmodelle der Sprach- und Kommunikationstheorie für das Thema „Beziehung“ anschlussfähig sind. Sie weisen auf eine Diskussionslinie von Humboldt über Buber und Benveniste zu Bakhtin und Linell hin15, stellen aber am Ende ihres Forschungsüberblicks fest, dass wenige Vertiefungen und Studien vorliegen, die das Forschungsfeld linguistisch vergleichend oder in Einzelstudien bisher erschlossen hätten. So findet sich z.B. keine vergleichende „Grammatik der Anrede“, die für unsere Frage nach den konstitutiven Elementen eines Gebets hilfreich wäre; auch Einzelstudien zu diesem Thema gibt es bislang keine, auch nicht für das Hebräische. Höflichkeit wäre hier ein wichtiges Beobachtungsfeld,16 auch Nähe und Distanz, gerade im Kontext von Resilienzüberlegungen.

                                                             13

Dorothy Parker nach: JAKOBSON, ROMAN, Linguistik und Poetik, in: Elmar Holenstein/Tarcisius Schelbert (Hg.), Roman Jakobson Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2016, 83–121, hier 91. 14 JAKOBSON, Linguistik, 91. 15 Vgl. LINKE, ANGELIKA/SCHRÖTER, JULIANE, Sprache in Beziehungen – Beziehungen in Sprache. Überlegungen zur Konstitution eines linguistischen Forschungsfeldes, in: Dies. (Hg.), Sprache und Beziehung (Linguistik – Impulse & Tendenzen 69), Berlin: De Gruyter 2017, 6. 16 Vgl. Annäherungen an das Thema „Höflichkeit“ in: WAGNER, ANDREAS, Annäherungen an den israelitischen Hofstil, in: Rolf Gundlach/Andrea Klug (Hg.), Der ägyptische Hof

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Wie verhält sich das genau mit einem Vokativ im Hebräischen, mit der Gottesanrede in der 2. Sg. oder im Imperativ Sg.? Je nachdem, wie ich diese Frage beantworte, ist auch die durch den Nachvollzug eines Psalmentextes realisierte Kommunikation und Beziehung in einer bestimmten Weise gelagert. Bin ich mit der Anrede „Jahwe“ genauso nah wie mit der Anrede „Elohim“? In Ps 70,2 stehen beide nebeneinander, in vielen anderen Psalmen gibt es nur das eine oder das andere. Sind hier zum Vergleich Anreden an höhergestellte Persönlichkeiten (König) oder eher familiäre Vertrautheit heranzuziehen? Gehört das Adonaij Jahwe in dieses Themenfeld? Die Linguistik spielt uns für dieses neue Forschungsfeld sofort die Frage kultureller bzw. einzelsprachlicher Unterschiede zu. Das soll folgende Seitenüberlegung kurz verdeutlichen: Seitenüberlegung zur Konstitution der Beziehungsebene durch die Kommunikation im Du: Möglicherweise verstärken Elemente der Zielsprache wie des Deutschen bei der Übersetzung der Gottesanrede den Effekt der Vertrautheit. Im Deutschen stehen zwei Anredeformen zur Verfügung: Du und Sie. Das Du steht für die persönlichere, intimere Anrede, das Sie für die distanziertere, höfliche, öffentlich-offizielle Anrede. Es wäre sicher einmal der intensiveren Untersuchung wert, wie sich die Anredeverhältnisse im Hebräischen und in verwandten Sprachen genau verhalten, ob und wie hier soziale Differenzierungen eine Rolle spielen. Die Gottesanrede in den Psalmen läuft über Vokative und über Verbformen der 2. Pers. Sg., ein „Sie“ als Ansprachemöglichkeit gibt es im Hebräischen nicht, aber möglicherweise gibt es hier andere Techniken und Verfahrensweisen, um Differenzierungen einzubringen.17 Im Deutschen jedenfalls klingt durch die sprachlich korrekte Übersetzung der 2. Pers einer hebräischen Anredeform ein sehr vertraulicher Ton an, da ja im Deutschen der Gebrauch der 2. Pers. Sg. den Verzicht auf die 2. Pers. Pl. bedeutet und damit eine Intimitätsdimension einspielt, die das Hebräische nicht hat. Mit Gott auf „Du und Du“ zu sein, das ist dann schon was und drückt in der Übersetzung noch mehr Nähe aus als vielleicht im hebräischen Text.

Aus all dem ist mit Blick auf die Resilienzproblematik festzuhalten: Insbesondere die Psalmen mit Anredeformen führen eine klare Kommunikationssituation und eine Beziehung herbei, die relational bestimmt ist von den beiden Kommunikationsteilnehmenden Gott und der betenden Person. Über das Platzhalter-„Ich“ des Psalms wird jede rezipierende Person sofort in die Kommunikationssituation des Psalms und damit in die Beziehung hineingenommen. Eine solche Beziehung ist nach Linke und Schröter durch zwei Elemente bestimmt:

                                                             des Neuen Reiches. Seine Gesellschaft und Kultur im Spannungsfeld zwischen Innen- und Außenpolitik. Akten des Internationalen Kolloquiums vom 27.–29. Mai 2002 an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (Königtum, Staat und Gesellschaft früher Hochkulturen 2), Wiesbaden: Harrassowitz 2006, 217–230. 17 Vgl. COETZEE, JOHAN H., Politeness Strategies in the so-called ‚Enemy Psalms‘: An Inquiry into Israelite Prayer Rhetoric, in: Stanley E. Porter u.a. (Hg.), Rhetorical Criticism and the Bible (JSNT.S 195), London/New York: Sheffield 2002, 209–236.

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[...] zum einen durch [...] die wahrnehmbare, manifeste Interaktionspraxis der Beteiligten, die immer auch durch deren Interaktionsgeschichte geprägt ist und sowohl sprachliche wie nicht-sprachliche Komponenten umfasst; zum anderen durch ein eher reflexives Element, und zwar durch die mehr oder weniger bewusste Erfahrung, Auffassung und Deutung der gemeinsamen vergangenen und gegenwärtigen Interaktion durch die an ihr Beteiligten.18

Eine gemeinsame Geschichte zwischen Gott und Mensch und deren Reflexion manifestieren und verbinden sich in der Praxis des Psalmenlesens/-betens. 3. Was passiert noch in den Psalmen? Nun finden sich in vielen Psalmen, in denen eine Anrede und oder Formen der 2. Sg. diese beziehungshafte Kommunikationssituation herstellen, Aussagen und Verse, die wie quer zu dem stehen, was ich bisher erläutert habe: Ps 3,9 Ps 28,8 Ps 37,39 Ps 74,12

Bei Jahwe ist die Hilfe Jahwe ist (die) Stärke seines Volkes, Stärke und Hilfe für seinen Gesalbten. Jahwe hilft den Gerechten, er ist ihre Stärke in der Not. Gott ist ja mein König von alters her, der alle Hilfe tut, die auf Erden geschieht.

In all diesen Versen, die sich noch leicht vermehren ließen, findet sich keine Anrede an Gott, kein Vokativ, keine 2. Sg., kein Imperativ. Der Aussagemodus ist hier ein anderer: Es wird über Gott in der 3. Pers. gesprochen. Von der Lektüre oder dem Sprechen dieser Verse herkommend, würde niemand sofort an eine Gebetssituation denken. Die Formulierung in der 3. Pers. erzwingt eine andere Sprech- und Rezeptionshaltung.19 Ich habe an anderer Stelle auf dieses Phänomen aufmerksam gemacht20 und will hier die wesentlichen Ergebnisse noch einmal zusammenfassen. Zunächst zu Ps 3: Ps 3 [1 Überschrift] 2 Jahwe, wie zahlreich sind meine Feinde 3 Viele sprechen von mir: Es gibt kein Hilfe für ihn bei Gott. Sela 4 Du aber, Jahwe, bist ein Schild vor mir, bist meine Ehre und der, der mein Haupt erhöht.

 

I. Anrede II. Notschilderung III. Bekenntnis der Zuversicht/Vertrauensäußerung

 

                                                             18

LINKE/SCHRÖTER, Sprache, 15. Beobachtungen und Anstöße, dieses Phänomen weiterzuverfolgen, verdanke ich Diethelm Michel, vgl. MICHEL, DIETHELM, Israels Glaube im Wandel. Einführung in die Forschung am Alten Testament, Berlin: Die Spur 1968 (21971), 217. 20 Das Nachfolgende daher nach: WAGNER, Beten, 3–21, hier bes. 10–14. 19

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Rufe ich laut zu Jahwe, so antwortet er mir von seinem heiligen Berge. Ich liege und schlafe ein, ich erwache, denn Jahwe stützt mich. Ich brauche mich nicht vor Zehntausendes Volks zu fürchten, die sich um mich gelagert haben. Steh auf, Jahwe, hilf mir, mein Gott. Ja, du hast alle meine Feinde auf die Backe geschlagen, hast die Zähne der Frevler zerbrochen. Bei Jahwe ist die Hilfe, über deinem Volk ist dein Segen.

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V. Bitte VI. Stimmungsumschwung

Zu beobachten ist hier, dass mehrere Wechsel der Rederichtung vorliegen, von der Du-Anrede in V. 1–4 wechselt in V. 5 und V. 6 die betende Person in das Reden über Jahwe, ebenso V. 9; dieser letzte Sprechrichtungswechsel hat im Psalm besondere Bedeutung, weil in diesem Teil das Ziel des Beters bereits erreicht ist und der Beter von der erfahrenen Rettung ausgehen kann: V. 8b: Sprechen zu Jahwe in Du-Form V. 9a: Sprechen über Jahwe in Er-Form V. 9b: Sprechen zu Jahwe in Du-Form

Anders als in anderen Psalmen, in denen ein solcher Sprechrichtungswechsel durch einen vorausgesetzten Sprecherrollenwechsel ausgelöst ist, lässt sich eine solche Erklärung für Ps 3 nicht geben. In Ps 2 etwa gibt es etliche Sprecherwechsel, die durch teils markierte, teils unmarkierte unterschiedliche Sprecherrollen verursacht sind.21 Hier in Ps 3 gibt es keine Anzeichen für einen Sprecherrollenwechsel. Warum wechselt also in Ps 3 die Sprechrichtung? Was passiert beim Wechsel der Sprechrichtung? Ich will dabei zunächst von dem Wechsel V. 8b/9a/9b ausgehen. In den V. 1–4.(7).8a wird die Anrede-Form (2. Pers.) gebraucht, um Jahwe direkt anzusprechen; als Kommunikationssituation ergibt sich daher das Sprechen zwischen dem Beter von Ps 3 und Gott – als typische Gebetssituation. Verändert sich die Rederichtung von der 2. in die 3. Pers., dann verändert sich auch die Kommunikationssituation, und das mitten im Text: Es liegt nun nicht mehr eine Anredesituation vor, sondern ein Reden über Gott, das eine andere Sprechhaltung und eine Veränderung der Aussage bedingt.22

                                                             21 Vgl. WAGNER, ANDREAS, Die Stellung der Sprechakttheorie in Hebraistik und Exegese, in: André Lemaire (Hg.), International Organization for the Study of the Old Testament. Congress Volume Basel 2001 (VT.S 92), Leiden: Brill 2002, 55–83, hier 74–75. 22 Die unterschiedlichen Kommunikationsebenen sind auch gesehen worden von RUWE, ANDREAS, Die Psalmen zum Betrachten, Studieren und Vorlesen. Eine textanalytische Übersetzung, Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2012. Ruwe hebt die Kommunikationsebenen

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Die Klage von Ps 3 ist zunächst erfahrungsbezogen zu verstehen; bedrückende Erfahrungen, die der Beter gemacht hat, werden über den gebetshaften Klageteil des Psalms zum Ausdruck gebracht; Ps 3 ist dabei nicht so zu verstehen, dass hier ein individueller und einzigartiger Klagebericht vorliegt, sondern es sind formulierte Klageerfahrungen, denen sich jedes Individuum, das ähnliche Erfahrungen gemacht hat, den Text nachsprechend anschließen kann. Die Gebetshaltung ist davon nicht betroffen. Die Klagen werden Jahwe gegenüber ausgesprochen. An die Klage schließt sich nun, ebenfalls in der Du-Anrede, das Lob des Beters an, der Rettung erfahren hat oder Rettung vorwegnehmend reflektiert – wie man auch mit dem Stimmungsumschwung umgehen will. In dem Wechsel der Sprechrichtung greifen wir den Umschlag von der gebetshaft formulierten und zu Gott gesprochenen persönlichen Erfahrung zu dem Sprechen über Gott, das lehrhaft und bekenntnishaft wirkt. Solche Beobachtungen wie an Ps 3 lassen sich an anderen Psalmen ebenso machen wie auf der Ebene des Psalters, die Sprechrichtungen wechseln sich ab, ohne ein Zeichen für Inkohärenz zu sein.

IV. Folgerungen für die Frage nach Resilienzstärkung, bes. aus III. 3 Worin liegt nun die Relevanz des Sprechrichtungswechsels für die Resilienzproblematik? – Da Texte wie Ps 3 ganzhafte Textgebilde darstellen und nicht nur eine Ansammlung von Einzelversen sind, gehen in das Ganze einer Psalmendichtung die Aussagen der einzelnen Verse und ihrer unterschiedlichen Sprechhaltungen ein. Oben habe ich die Metapher des „Gewands“ gebraucht, um die sprachliche Gestaltungsseite der Psalmen neben der semantisch-inhaltlichen Ebene zu beschreiben. Ich will dieses Bild eines Gewebes noch einmal aufnehmen, um meine abschließende These deutlich zu machen. In das Ganze des Textes fließen also Aussagen der 2. Pers – Reden zu Gott – und Aussagen in der 3. Pers. – Reden über Gott – ein. Das Ganze des Textes, so formulieren es die Auslegenden – mit Recht – durchgängig, wird nicht als

                                                             in den Psalmen mit unterschiedlichen Farben im Druckbild hervor. Das Buch enthält leider keinen Kommentarteil zu den Psalmenübersetzungen; bei Ps 3 kommt Ruwe in V. 9 zu anderen Einschätzungen, weil er z.B. V. 9a Bei Jahwe ist die Hilfe als Gebet versteht (obwohl V. 9a nach meinem Dafürhalten keine direkte Anrede darstellt). Aber ein Blick in dieses Buch ist hilfreich, um die Vielfalt der Kommunikationsebenen im gesamten Psalter wahrzunehmen.

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uneinheitlicher, literarkritisch brüchiger Text wahrgenommen, sondern als einheitlicher Klagetext mit auffälligen stilistischen Elementen.23 Um im Bild des Gewebes zu bleiben: Wenn wir ein mit Schuss- und Kettfaden gewirktes Gewebe annehmen, so sind beide Sprechrichtungen im Ganzen eines Psalms verwoben. Anders als in unseren Stilgewohnheiten ist das in der hebräischen (oder anderen nordwestsemitischen Dichtungskonventionen) ohne weiteres möglich und entspricht einer Neigung zur Multiperspektivität.24 Durch den Anteil der beiden Sprechrichtungen ergeben sich Muster, wodurch in dieser Hinsicht kein Psalm dem anderen gleicht, denn Anzahl, Verhältnis und Stellung der zu beiden Sprechrichtungen gehörenden Verse sind je unterschiedlich. Aber die Gewebeart macht deutlich: In das Gebet sind nun die Aussagen über Jahwe hineinverwoben, sie werden nicht separiert wahrgenommen, sondern nur im Rahmen des Gewebes in der Ausrichtung des Textganzen als Gebet. Die lehrhaften Elemente, die Aussagen in 3. Pers. über Jahwe, werden in die Beziehungsebene hineingezogen. Indem sie etwas über das Wesen, die Geschichte, den Charakter des Kommunikationspartners Gott einbringen, tauchen sie die sich in der Psalmenlektüre bildende Beziehung in ein bestimmtes Licht: Jahwes Hilfe, seine Zuwendung, seine Beistandsabsicht von Alters her u.a.m. scheinen auf. Diese Elemente in 3. Pers., um noch einmal die Begrifflichkeit von Linke und Schröter aufzugreifen25, manifestieren etwas aus der Interaktionsgeschichte zwischen Gott und Mensch; in der über die Sprache greifbaren Beziehung manifestiert sich Wissen über einen der Kommunikationspartner (das, was über Jahwe gesagt wird). Es ergibt sich ein Geschehen der Aneignung von Gotteswissen im beziehungskonstituierenden Beten. Noch akzentuierter gesagt: Im Lesen kann sich Gottesbegegnung ereignen, die beziehungskonstituierend und beziehungsstabilisierend ist. Zudem wird durch das Einspielen der Elemente in 3. Pers. in der sprachlichen Interaktion das reflexive Element verstärkt, das die Psalmen bleibend zu einem Reservoir an Gotteswissen macht.26

                                                            

23 Vgl. hier stellvertretend für die Diskurse zur Auslegung von Ps 3: HOSSFELD, FRANKLOTHAR/ZENGER, ERICH, Die Psalmen. I. Psalm 1–50 (NEB.AT 29), Würzburg: Echter 1993, 55–58; Seybold, Klaus, Die Psalmen (HAT I/15), Tübingen: Mohr Siehbeck 1996; 34–36; HARTENSTEIN, FRIEDHELM/JANOWSKI, BERND, Die Psalmen (BK XV/1, Lieferungen 2 und 3), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015/2019, S. 135–161. 24 WAGNER, ANDREAS, Dichten und Denken. Zum Verständnis des ‚Personenwechsels‘ in alttestamentlicher, ugaritischer und verwandter Literatur, in: Ders./Manfred Kropp (Hg.), Schnittpunkt Ugarit (Nordostafrikanisch-westasiatische Studien 2), Frankfurt a.M. [u.a.]: Lang 1999, 271–283. 25 Vgl. Zitat bei Anm. 18. 26 Man kann schwanken, ob die Passagen mit 3. Pers dazu dienen, die Erfahrungen eines Beters zu verallgemeinern, so der Gedankengang von MICHEL, Israels Glaube (s. Anm. 19) oder ob sie dazu dienen, (aus der Tradition stammende) Erfahrungen dem Betenden nahezubringen, dafür würde ich plädieren.

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Durch jeden sprachlichen Nachvollzug, auch in Übersetzungen, werden alle diese Vorgänge lebendig und führen zu den beschriebenen kommunikativen Effekten, intuitiv, ohne dass dies den Sprachteilnehmenden bewusst ist. Genau diese Effekte dürften die eingangs zitierten Beispiele und die hohe Wertschätzung, die Psalmen im Resilienzdiskurs mit Recht erfahren, erklären. Bei dem Prozess der Resilienzstärkung durch Psalmen spielt also nicht nur der Perspektivenwechsel auf existenzielle Situationen wie auf die Not in den Klagepsalmen eine Rolle,27 sondern auch der Richtungswechsel der Sprechhaltung, der Beziehung und epistemische Elemente bei den Kommunikationspartnern Gott und Mensch verbindet.

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                                                             27

So GÄRTNER, JUDITH/RICHTER, CORNELIA, Der (post-)moderne Begriff der Resilienz und die jüdisch-christliche Tradition, GÄRTNER, JUDITH/RICHTER, CORNELIA, Der (post-)moderne Begriff der Resilienz und die jüdisch-christliche Tradition, in: Gärtner, Judith/Schmitz, Barbara (Hg.), Resilienznarrative im Alten Testament (FAT 156), Tübingen: Mohr Siebeck 2022, 1–21. 14.

Psalmen als Einübungstexte für Resilienz

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Reading the Psalms through the Lens of Creative Resilience Amy C. Cottrill I. Introduction1 This article explores the experience of suffering from feminist theological perspective, a topic that continues to be of considerable importance in feminist and womanist scholarship.2 Recently, theology informed by trauma studies has contributed to the ways we think not only about the moments in which people experience suffering, but the ways people live with the embodied “open wound” that remains after a traumatic event.3 The experience of suffering and trauma brings into sharp relief a number of important issues for feminist thinkers, issues especially related to concepts of selfhood, agency, power, the authority of emotion and feeling, and relationship with community and God. The questions guiding my inquiry into these matters are: How is suffering imagined

                                                             1

This article draws upon a previously published essay, “The Traumatized ‘I’ in Psalm 102: A Feminist Biblical Theology of Suffering,” in After Exegesis: Feminist Biblical Theology, Essays in Honor of Carol A. Newsom, eds. Jacqueline Lapsley and Patricia Tull (Waco, TX: Baylor University Press, 2015), 171–186. Baylor University Press has generously given permission to use portions of the earlier essay. 2 See, for example, Emilie M. Townes, ed., A Troubling in my Soul: Womanist Perspectives on Evil and Suffering (Maryknoll, NY: Orbis, 1993); Katie Geneva Cannon, Emilie M. Townes, and Angela D. Sims, eds., Womanist Theological Ethics: A Reader (Louisville, KY: Westminster John Knox, 2011); Robin Ryan, God and the Mystery of Human Suffering: A Theological Conversation Across the Ages (New York: Paulist, 2011); Kwok Pui-lan, ed., Hope Abundant: Third World and Indigenous Women’s Theology (Maryknoll, NY: Orbis Books, 2010); Kristine M. Rankka, Women and the Value of Suffering: An Aw(e)ful Rowing Toward God (Collegeville, MN: Liturgical Press, 1998). 3 Shelly Rambo, Spirit and Trauma: A Theology of Remaining (Louisville, KY: Westminster John Knox, 2010), 7. See also Serene Jones, Trauma and Grace: Theology in a Ruptured World (Louisville, KY: Westminster John Knox, 2009); Jennifer Beste, God and the Victim: Traumatic Intrusions on Grace and Freedom (New York: Oxford University Press, 2007); Cynthia Hess, Sites of Violence, Sites of Grace: Christian Nonviolence and the Traumatized Self (Lanham, MD: Lexington Books, 2009).

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and addressed theologically within the Hebrew Bible? What resources does the Hebrew Bible offer to those who suffer and experience trauma? How might feminist theologians, scholars, and lay people critique, affirm, and creatively appropriate those biblical resources today? The lament psalms of the individual are a primary resource of the Hebrew Bible for theological response to the experience of evil and suffering. It should come as no surprise that the experience of suffering in the laments is portrayed within the patriarchal structures of the ancient culture(s) from which they emerged. For feminists today, these patriarchal assumptions rankle. Yet the laments also offer an indispensable model of enfleshed, embodied expression in the context of suffering, a mode of communication that is, at once, authoritative for the psalmist, highly valued by God, and redemptive for the community. The laments provide an important language of embodiment, a vital articulation of enfleshed selfhood, for those who suffer. That the body matters so much in the lament psalms should not be missed by modern feminist readers of the Bible. The following discussion unfolds in three stages. First, I orient readers to previous feminist treatment of the psalms that will contextualize this discussion. Second, I discuss the body in light of current considerations of selfhood, embodiment, and theology. Third, I analyze one psalm in particular, Ps 102, paying particular attention to the embodied suffering of the psalmist through a feminist lens. Ps 102 provides feminist thinkers with an embodied mode of address to God and community in the context of suffering and trauma. My analysis of Ps 102 is heavily reliant upon theological considerations of the experience of trauma, especially the ways that both communal and individual trauma – both of which are depicted in this psalm – are experienced within and through the body. Ps 102 provides a vital theological resource for exploring how one survives, how one remains in the world, after encounters with overwhelming suffering.

II. Feminist Treatment of the Psalms The Psalms have been enormously important in the liturgical and devotional lives of Jewish and Christian women for centuries.4 Though a full discussion

                                                             4 Several works deserve mention. For brief discussion of the influence of the Psalms in the prayers of Jewish women, see Nina Beth Cardin, “Recalling Women’s Prayers,” USQR 43 (1989): 113–118. For discussion of the role of the psalms in the devotional practices of Christian women, see especially Suzanne Trill, “‘Speaking to God in his Phrase and Word’: Women’s Use of the Psalms in Early Modern England,” in The Nature of Religious Language:

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of the history of women’s usages of the psalms is beyond the scope of this article, some examples are useful. For instance, Suzanne Trill describes the central importance of the psalms in the education of Protestant women in early modern England. Male children often had access to other literature as they grew because they had greater educational opportunities than female children, so the psalms often remained among the few formative texts in women’s educational experience.5 Moreover, “ideal” women of this period were steeped in the language of the psalms. Biographies of exemplary women of the time made note of the subject’s devotional use of the psalms and her ability to use the language of the psalms in her everyday speech.6 Though the devotional manuals of the day were authored by men and encouraged a submissive form of female selfhood, women often used the psalms to resist patriarchal control of their lives and construct meaning for the most intimately female experiences of their embodied lives, including birth and miscarriage.7 This example of women’s use of the psalms illustrates one way, among many others, that the language of the psalms has been for women a location in which to create selfhood. The psalms have been, simultaneously, a powerful theological tool through which women were shaped into the ideal of the age and through which women also exerted agency and power over their social and embodied lives.8 Despite the vitality of the psalms in the devotional lives of women, the footprint of feminist treatments of psalms within the vast literature of psalms scholarship is shallow. What has been written thus far can helpfully be grouped into two categories, treatments characterized by a hermeneutic of suspicion and

                                                             A Colloquium, ed. Stanley E. Porter (Sheffield, UK: Sheffield, 1996), 269–283; Linda Phyllis Austern, “‘For Musicke is the Handmaid of the Lord’: Women, Psalms, and Domestic MusicMaking in Early Modern England,” in Psalms in the Early Modern World, eds. David L. Orvis, Kari Boyd McBride, and Linda Phyllis Austern (Farnham, England: Ashgate, 2011), 77–114; Lissa M. Wray Beal, “Mary Anne Schimmel Pennick: A Nineteenth-Century Woman as PsalmReader” in Recovering Nineteenth-Century Women Interpreters of the Bible, eds. Marion Ann Taylor and Christiana De Groot (Leiden: Brill, 2007), 81–98. See also Melody Knowles, “Feminist Interpretation of the Psalms,” in The Oxford Handbook of the Psalms, ed. William P. Brown (Oxford: Oxford University Press, 2014), 424–436. 5 Trill, “Speaking to God,” 273. 6 Trill, “Speaking to God,” 273. 7 Trill, “Speaking to God,” 275–276. 8 It is also important to recognize recent attempts to adapt the language of the Psalms for an explicitly female audience. See especially, Marchiene Vroon Rienstra, Swallow’s Nest: A Feminine Reading of the Psalms (Grand Rapids, MI: Eerdmans, 1992).

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those characterized by a hermeneutic of retrieval.9 Both types of interpretations have yielded important insights into the worldview and assumptions of the psalms. The treatments typified by the hermeneutics of suspicion have described the ways the psalms, including the laments of the individual, are deeply embedded in the patriarchal world from which they emerged. As Beth LaNeel Tanner says, “Certainly it is not the faint-of-heart feminist that dares to tread here in the Psalms.”10 Indeed, the laments are governed by a theological worldview steeped in patriarchal culture and values. Analyzing the construction of masculinity in the psalms, David Clines demonstrates how the psalmist’s piety exemplifies aggressive dominance and reflects a culture of masculine warfare prized by the surrounding culture.11 The psalms depict and rhetorically reinforce a world that favors androcentric notions of social honor and shame as well as images of a warrior God.12 In contrast, recuperative feminist treatments of the psalms have explored female metaphors and images of God,13

                                                             9 See Linda Day and Carolyn Pressler’s use of these terms in the introduction to Engaging the Bible in a Gendered World, eds. Linda Day and Carolyn Pressler (Louisville, KY: Westminster John Knox, 2006), xvii. 10 Beth LaNeel Tanner, “Hearing the Cries Unspoken: An Intertextual-Feminist Reading of Psalm 109,” in Wisdom and Psalms: A Feminist Companion to the Bible, eds. Athalya Brenner and Carole Fontaine (Sheffield, UK: Sheffield, 1998), 295. See also Nancy R. Bowen, “A Fairy Tale Wedding? A Feminist Intertextual Reading of Psalm 45” in A God So Near: Essays on Old Testament Theology in Honor of Patrick D. Miller, eds. Nancy R. Bowen and Brent A. Strawn (Winona Lake, IN: Eisenbrauns, 2003), 53–72. One of Bowen’s final conclusions is particularly striking: “My work with this psalm leads me to suggest that it may be appropriate to omit Psalm 45 from our acts of corporate worship.” Bowen, “A Fairy Tale Wedding?,” 70–71. 11 David Clines, “The Book of Psalms, Where Men are Men: On the Gender of Hebrew Piety,” (paper presented at the Annual Meeting of the SBL, Philadelphia, PA, November 2005). 12 In another study, I explored the discourse of honor and shame, and the Psalmist’s presentation of self and God in battle imagery, as well as the aggressive violence of some of the language of the psalms. Amy C. Cottrill, Language, Power, and Identity in the Lament Psalms of the Individual (London: T&T Clark, 2008), 58–99; 138–156. I agree with Clines’ general construal of the ideal masculine self as exhibiting these qualities of dominance and control. See also Cynthia R. Chapman, The Gendered Language of Warfare in the IsraeliteAssyrian Encounter, HSM 62 (Winona Lake, IN: Eisenbrauns, 2004) for a discussion of the ideals of masculinity in warfare language, specifically. 13 See especially Nancy L. Declaissé-Walford, “Psalms,” in Women’s Bible Commentary: Revised and Updated, eds. Carol A. Newsom, Sharon H. Ringe, and Jacqueline E. Lapsley (Louisville, KY: Westminster John Knox, 2012), 221–231; Lisa W. Davison, “‘My Soul is Like the Weaned Child That is With Me’: The Psalms and the Feminine Voice,” Horizons in Biblical Theology 23 (2001): 155–167.

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the possibility of female authorship of some of the prayers,14 and the dialogic nature of the lament psalms that includes subversive voices that challenge powerful, official, and exclusive theological messages.15 Perhaps most important for this study is the attention psalms scholars have given to the laments as a voice for those who suffer.16 As Melody Knowles recognizes, “voice” is an especially important concept in feminist scholarship, serving as a symbol of effective and powerful selfhood.17 Indeed, there is a productive conversation to be had between feminist scholars and scholars of lament regarding “voice.” The ways in which trauma resists and overwhelms voice and language is a common theme in the studies of trauma and suffering.18 The laments, though, provide a voice, words that might give shape and form to an overwhelming experience, assisting the disempowered to reassert their personhood through language. That function of providing voice, a language for expression of personhood and construction of self in the midst of trauma, is an aspect of the laments that should resonate significantly for feminists. My own feeling is that a hermeneutic of suspicion combined with a hermeneutic of retrieval can be an effective and empowering method of reading the laments through a feminist lens. Without abandoning our critical eyes, feminists can also employ creative resiliency to read the laments, as so many who have not found themselves directly addressed by the Bible have done in the

                                                             14

See Patrick D. Miller, “Things Too Wonderful: Prayers of Women in the Old Testament,” in Biblische Theologie und gesellschaftlicher Wandel: für Norbert Lohfink SJ, eds. Georg Braulik, Walter Gross, and Sean McEvenue (Freiburg i.Br.: Herder, 1993), 237–251. Mark Zvi Brettler has also explored the ways women may have used the psalms in the ritual life of ancient Israel: “Women and Psalms: Toward an Understanding of the Role of Women’s Prayer in the Israelite Cult,” in Gender and Law in the Hebrew Bible and the Ancient Near East, eds. Victor H. Matthews, Bernard M. Levinson, and Tikva Frymer-Kensky (Sheffield, UK: Sheffield, 1998), 25–56. 15 See Carleen Mandolfo, “Finding their Voices: Sanctioned Subversion in Psalms of Lament,” Horizons in Biblical Theology 24 (2002): 27–52. 16 See especially Nancy C. Lee, Lyrics of Lament: From Tragedy to Transformation (Minneapolis, MN: Fortress, 2010). 17 Knowles, “Feminist Interpretation of the Psalms,” 6. 18 See especially, David Morris, “About Suffering: Voice, Genre, and Moral Community,” in Social Suffering, eds. Arthur Kleinman, Veena Das, and Margaret Lock (Berkeley: University of California Press, 2007), 25–46; Elaine Scarry, The Body in Pain: The Making and Unmaking of the World (Oxford: Oxford University Press, 1985); Melissa JohnstonBarrett, “Making Space: Silence, Voice, and Suffering,” Word and World 25.3 (2005): 328– 337.

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past.19 A hermeneutic of “creative resiliency” need not ignore the deeply patriarchal nature of the psalms. Rather, employing such an approach may enable readers to fully acknowledge the context in which the rhetoric of the laments was formed while we also recognizing that the potential of texts far outstrips the context in which they originated and that the effects of particular textual interpretations are as significant as the historical context in which a text was written.20 In this spirit of creative resiliency, I add another layer to the conversation of feminist interpretation of the psalms that concentrates on the bodily, enfleshed representation of the psalmist as a matter of vital interest for the feminist readers. If, as Knowles cogently observes, the voice of the psalmist is important for feminist readers, the body of the psalmist is also critically important. The psalmist’s body is her way of entering into conversation with God, her entrypoint into theological discourse. The laments do not offer a disembodied voice of despair, but a fully human, corporeal being, experiencing and feeling the world, her community, and her relationship with God through her body.21 Though I do not assume that the historical psalmist of Ps 102 is female, or that the psalm was written for use by women specifically, the laments are important for feminists because of what counts as authoritative experience in one’s address to God and the community – the embodied experience of the psalmist is

                                                             19

For an example of such creative resiliency in the use of the Bible, see Cheryl A. KirkDuggan, “African-American Spirituals: Confronting and Exorcising Evil through Song,” in A Troubling in my Soul: Womanist Perspectives on Evil and Suffering, ed. Emilie M. Townes (Maryknoll, NY: Orbis Books, 1993), 150–171. 20 Toril Moi says, as quoted by Suzanne Trill, “[t]here is not, unfortunately, such a thing as an intrinsically feminist text.” Toril Moi, “Feminist Literary Criticism,” in Modern Literary Theory: A Comparative Introduction, eds. Ann Jefferson, David Robey, and David Forgacs; 2nd ed. (London: Batsford, 1986), 220. As Trill observes, “texts can be read, re-read, resisted and reinterpreted in numerous conflicting ways.” (Trill, “Speaking to God,” 282). Origins of texts in particular context may not be as important for feminist interpreters as the ways texts can be employed in certain circumstances to resist patriarchal assumptions and sexism. 21 I assume that, as with most biblical texts, the ideal reader for the ancient composers and compilers was male, though women no doubt prayed the psalms and have done so since their composition. In my other treatments of the psalms, I used a male pronoun to refer to the psalmist, rather than employing the cumbersome combined-gender pronouns (“him/her,” “he/she”) in reference to the psalmist. Here, however, I employ female pronouns because my intent is to distance my interpretation of the psalms from the composers’ ideals, to the extent that we can know them. In other words, I want my language to enable me and my reader to think of the psalmist as someone other than the ideal supplicant of the original composers. Therefore, I use female pronouns in this article in reference to the psalmist.

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an authoritative discourse in these texts. As a category of experience, the language of the body is of vital theological interest for feminist readers and the laments offer a model of enfleshed selfhood for modern use.

III. The Body and the Laments One striking aspect of the lament psalms is how thoroughly embodied these prayers are.22 The laments often include lengthy and descriptive accounts of the bodily experience of the psalmist.23 My treatment of the language of the suffering body in the laments is greatly assisted by discussions of the body in feminist theology.24 It is no surprise that the body has emerged as such an important element of feminist theological thought. The female body has been maligned, blamed, abused, scorned, raped, ignored, controlled, silenced, and diminished. Much of this treatment has been supported and informed by Western philosophical and religious teachings, in which the male body has been assumed to be the template, and the female body the derivative. One key assumption undergirding much of the marginalization of women’s bodies is rooted in the Cartesian dualistic self, which has contributed to the privileging of the rational (male) mind over the emotional (female) body. Feminist theology has brought the body into theological focus, providing the tools to understand and redress this situation. The critique of the dualistic heritage of Cartesian philosophy comes from scholars in numerous fields. As metaphor theorists and philosophers George Lakoff and Mark Johnson assert,

                                                             22 See Cottrill, Language, Power, and Identity, 29–57; Susanne Gillmayr-Bucher, “Body Images in the Psalms,” JSOT 28.3 (2004): 301–326; Johan H. Coetzee, “‘Yet Thou Hast Made Him Little Less Than God’: Reading Psalm 8 from a Bodily Perspective,” in My Words Are Lovely: Studies in the Rhetoric of the Psalms, eds. Robert L. Foster and David M. Howard (London: T&T Clark, 2008), 91–106. The portrayal of the body is receiving important critical attention in biblical scholarship. See S. Tamar Kamionkowski and Wonil Kim, eds., Bodies, Embodiment, and Theology of the Hebrew Bible, The Library of Hebrew Bible/Old Testament Studies 465 (London: T&T Clark, 2010). 23 See, for example, Pss 6, 22, 38, 3, 69. 24 See esp. Lisa Isherwood and Elizabeth Stuart, Introducing Body Theology (Sheffield, UK: Sheffield, 1998).

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… there is no Cartesian dualistic person, with a mind separate from and independent of the body, sharing the exact same disembodied transcendent reason with everyone else, and capable of knowing everything about his or her mind simply by self-reflection. Rather, the mind is inherently embodied, reason is shaped by the body.25

For Lakoff and Johnson, the embodiment of the mind is cause for total reconstruction of the project of philosophy, a project that has been based on assumptions of body and mind that they now believe to be incorrect.26 The challenge is to create methodologies and approaches to thoughtful consideration of human experience that integrate what has been inaccurately conceived as separate categories of mind and body. As a result of changing paradigms of selfhood, we (scholars and interpreters) are learning new modes of interpretation and interest in the body is proliferating in numerous disciplines.27 Janet Trisk observes, A loss of confidence in previously established categories of thinking may be one reason for the extraordinary explosion of interest in the body from such diverse quarters as philosophy, queer theory, ecological enquiry and theology. In particular, feminist and womanist theory has directed attention to the embodied nature of the human subject, and how ignoring this embodied nature has worked against women.28

As old paradigms fall away, there is new interest in considering the role of the body and the feelings and emotions that are pre-conscious yet live in the feelings, emotions, and sensations of the body. What does it mean to interpret experience from an enfleshed perspective that assumes that the embodied self has important information to offer as a way of encountering the world, information that should be of value to God and one’s community?

                                                             25 George Lakoff and Mark Johnson, Philosophy in the Flesh: The Embodied Mind and its Challenge to Western Thought (New York: Basic Books, 1999), 5. See also trauma theorist Bessel van der Kolk: “Brain, body, and mind are inextricably linked, and it is only for heuristic reasons that we can still speak of them as if they constitute separate entities. Alterations in any one of these three will intimately affect the other two.” Bessel van der Kolk, “The Body Keeps the Score: Approaches to the Psychobiology of Posttraumatic Stress Disorder,” in Traumatic Stress: The Effects of Overwhelming Experience on Mind, Body, and Society, eds. Bessel A. van der Kolk, Alexander C. McFarlane, and Lars Weisaeth (New York: The Guilford, 1996), 216. 26 Lakoff and Johnson, Philosophy in the Flesh, 7. 27 For one of the most sophisticated and useful examinations of the new stage of discussion of the body in the post-modern era, the difficulty of defining the body, and the residual influence of dualisms even amidst the critique of Cartesian thought, see Sarah Coakley, ed., Religion and the Body (Cambridge: Cambridge University Press, 1997), 1–12. 28 Janet Trisk, “Embodied Subjects,” Journal of Theology for Southern Africa 117 (2003): 40.

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Fortunately, the psalms have a great deal to offer as feminist thinkers navigate these new waters of embodied awareness and notions of embodied selfhood precisely because they do not operate with a dualistic framework. Simply put, the body matters in the laments and the laments offer a way to envision an alternative kind of embodied selfhood. Without over-simplifying the complexity of selfhood in the Hebrew Bible, it is clear that the psalms reflect an embodied and socially integrated notion of the self, one that does not reflect the mind/body dualism that has been so detrimental to women’s embodied lives and that may be of assistance to us as we chart new territory in the exploration of the self.29 In the following discussion of Ps 102 my intent is to re-embody psalms interpretation, to “feel with” the psalmist, to recognize the voice and body of the psalmist and to hear the body as an authoritative source of intelligence. Attentiveness to the body of the psalmist trains our reading practices to see and hear the enfleshed experience of the psalmist in her prayer.30 My interpretation intermingles discussion of feminist theology of suffering and trauma and embodiment, questions of selfhood and authority, and close examination of Psalm 102 with all of these issues in mind.

IV. The Bodily Experience of Suffering: Ps 102:1–12 1

A prayer of the needy one when he is faint and pours his plea before YHWH.31

                                                             29 Concepts of selfhood in the Hebrew Bible are diverse and complex, as recent studies reveal. As notions of selfhood in the modern world change, so do our insights into the concept of the self in ancient texts. Studies of the Hebrew Bible have much to contribute to this conversation. As Carol Newsom observes: “[T]he ‘self’ – moral and otherwise – has become a subject of intense research in fields as diverse as neuroscience, cultural history, philosophy, theology, psychology, and anthropology. If biblical studies were to reinvigorate its own examination of the self constructed in the Hebrew Bible and early Judaism, which of these fields might provide helpful conversation partners? And what might our field contribute to an interdisciplinary conversation?” Carol A. Newsom, “Models of Moral Self: Hebrew Bible and Second Temple Judaism,” JBL 131.1 (2012): 5–6. For further discussion of the notion of self in the Hebrew Bible, see also Robert A. Di Vito, “Old Testament Anthropology and the Construction of Personal Identity,” CBQ 6.2 (1999): 217–238. 30 See also theologian Marcia W. Mount Shoop’s work on the critical importance of reembodying Christian theology and practice: “In a re-embodied faith, bodies flourish, they are attended to, and they are heard. Feeling trains our ears for stories, poetics, and metaphors of embodied experience.” Marcia W. Mount Shoop, Let the Bones Dance: Embodiment and the Body of Christ (Louisville, KY: Westminster John Knox, 2010), 26. 31 All translations are the author’s.

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YHWH, hear my prayer, let my cry come before you. 3 Do not hide your face from me in my time of distress; turn your ear to me, when I cry, answer me quickly. 4 For my days have vanished like smoke, and my bones are burned like a hearth. 5 My body is stricken and withered like grass, because I forget to eat my food; 6 Because of the sound of my groaning, my bones show through my skin. 7 I am like a great owl in the wilderness, an owl among the ruins. 8 I lie awake, I am like a lone bird on a roof. 9 All day my enemies revile me; Those who deride me use my name as a curse. 10 For I have eaten ashes like bread, and my drink I mix with tears. 11 Because of your wrath and your fury, for you have lifted me up and cast me away. 12 My days lengthen like a shadow; I wither like grass.

This psalmist begins her prayer with the experience of her body. The first six verses of this psalm are a descriptive accounting of bodily experience. The body is the basis of the psalmist’s prayer to God, the basis of her understanding of herself and her presentation of herself to God and community. The portrait of the suffering body is extensive and painful, and also quite similar to the portrayal of the suffering body in the other lament psalms of the individual.32 The superscription identifies this prayer as one of a “lowly” (‫ )עָ נִ י‬person, a person in need, a designation often employed in the laments of the individual and signifies the humble, needy circumstances in which the psalmist exists.33 The psalmist is wasted (‫טף‬ ֹ֑ ‫ע‬ ֲ ‫ ַי‬, v. 1); she weeps (literally, “[I] mix my drink with tears,” ‫ ִבּ ְב ִכי‬, v. 10), groans (‫ת י‬ ֑ ִ ָ‫אַ נְ ח‬, v. 6), and withers (‫יִּ בַ שׁ‬, v. 5, 12). In these six verses the psalmist relates two distinguishable categories of bodily

                                                             32

As Andrew Witt observes, many of the phrases of Ps 102 are directly paralleled in other laments of the individual. Andrew Witt, “Hearing Psalm 102 within the Context of the Hebrew Psalter,” VT 62 (2012): 594. The formulaic nature of the Ps 102 is an indication of its embeddedness in the rituals and worldview of its composers. 33 Only Pss 88 and 102 are iterations in the voice of the lowly (‫ )עָ נִ י‬person, though the psalmist describes himself as afflicted elsewhere: 22:25; 25:16; 34:6; 69:30; 70:6; 86:1; 109:22.

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experience: 1.) diminishment, ephemerality, and vulnerability, and 2.) abandonment and marginalization. In the first category, the psalmist experiences her body as withering (‫)יִּ בַ שׁ‬ like grass (v. 5). The psalmist’s withered, exhausted body is weakened such that she can’t feed herself (v. 5). In the next section of the psalm, the psalmist returns to the imagery of eating, explaining that when she does eat, it is as if she eats ashes and not bread (v. 10). This theme resumes in v. 12 with a more comprehensive reference to her withering existence: “My days are like a lengthening shadow; I wither (‫ ) ִאיבָ שׁ‬like grass.” That the psalmist is too weak to eat is a way of explaining her physical symptoms, possibly related to illness or impending death, but it is also language of impaired agency on a larger scale. The psalmist’s description of herself in these verses resonates with observations theologian Serene Jones makes about the diminished agency trauma victims often experience: “trauma survivors can lose confidence that they are effective actors in the world, because, in the original event, they experience just the opposite: a state of frozen powerlessness (italics original).”34 Jones’s discussion of the experience of trauma victims could easily describe the speaker in Ps 102. The psalmist feels her body to be impaired to the point of ineffectiveness. Relatedly, in v. 4 the psalmist portrays her body as ephemeral and fleeting: “For my days have vanished (‫ )כָ לוּ‬like smoke (‫) ְבעָ שָׁ ן‬.” Similarly, in v. 12, the psalmist says that her days “lengthen (‫ )נָט֑ וּי‬like a shadow (‫) ְכּצֵ ל‬.” The days of her physical existence are inconsequential, intangible like smoke and shadow, almost a trick of the light. On one level, the image of days vanishing is about the rapid approach of death; the psalmist feels her time on earth is short. The image of days like smoke can also be read another way, however, as an expression of powerlessness. The intangibility of her days, contrasted with the withering body, all contribute to a portrait of intangibility and impermanence, as if the psalmist wonders if her physical existence is real, concrete, and perceptible to others. Though images of the self as smoke and shadow do not necessarily connote pain, as, for instance, in imagery of weaponry elsewhere in the laments, this language of ephemerality is not an insignificant expression of fleetingness and dissipation.35 The second line in v. 4 contributes to and clarifies the physical sensation, the lived experience of feeling as inconsequential as smoke: “my

                                                             34

Jones, Trauma and Grace, 17. See, for instance, the use of weaponry imagery that threatens the psalmist in other lament psalms: 7:13; 7:14; 11:2; 37:14–15; 7:13. 35

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bones (‫ )וְ עַ ְצמוֹתַ י‬are charred (‫ )נִ חָ רוּ‬like a hearth (‫) ְכּמוֹ־קֵ ד‬.” The psalmist’s experience of ephemerality is felt like burning; the smoke that represents her powerlessness is generated by the psalmist’s charred bones. The “punch” of this image of fleetingness is in the second line, which is not a simple reiteration of the first line of the verse, but an intensification of the image that articulates the agony of the psalmist’s bodily existence. The fleetingness of the smoke is a symptom of her deeper, perhaps less externally visible pain; her existence is an excruciating hell as the psalmist’s body burns from the inside out. Imagery of bones is not only about pain, but about intense physical vulnerability.36 Normally, bones provide to the human body structure, capacity, and the possibility of agency. In Ps 102, the psalmist feels her structure to be painfully unstable and vulnerable. Not only are the psalmist’s bones burning, but they show through the skin: “From the sound of my groaning, my bones show through my skin (v. 6).”37 Here, the bones convey painful physical vulnerability and lack of protection. The bones that create the skeletal order of her physical existence are threatened and exposed. This image of bodily exposure is also a symbol of the feeling of lack of protection, vulnerability that she also feels in the social realm in the next section of the prayer. The second category of body imagery is physical abandonment and social marginalization. In this category, the physical experience of the psalmist mixes with her social experience. The feelings of compromised structure, vulnerability, lack of agency that the psalmist feels in her body extend in the next section of the psalm to her social environment. Images of social marginalization dominate these verses, another experience that may be understood best in light of modern studies of trauma. Serene Jones notes that another frequent consequence of trauma is “a sense of isolation from others and from their primary communities of affection and care (italics original).”38 Again, this social and physical isolation is readily apparent in the psalmists’ self-description in Ps 102. When she is in the company of others, it is mostly the object of disdain and mockery, reviled by her enemies (‫ )אוֹיְ ָב ֑י‬and used as a curse (v. 9). It is not just the psalmist’s enemies who mock her, which might be expected. In vv. 10–11, the psalmist clearly understands God to be directly involved in her suffering. God casts her away and makes her the object of anger: “For I have eaten ashes like bread, and my drink I mix with tears; because of your wrath (‫ )זַעַ ְמָך‬and your fury (‫)וְ ִק ְצ ֶפּ ָ֑ך‬, for you have lifted me up and cast me far

                                                             36 References to bones occur in fifteen passages in the book of Psalms, mostly in the laments of the individual, including Pss 6:3; 22:15, 18; 31:11; 35:10; 38:4; 42:11; 51:10; 102:4, 6; 109:18; 141:7. See Cottrill, Language, Power, and Identity, 36. 37 See also Ps 22 for a similar image of bones showing through the skin. 38 Jones, Trauma and Grace, 18.

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away (vv.10–11).” The question of the psalmist’s understanding of God will be discussed more fully below, but it should be recognized here that her sense of God’s active role in her suffering is clear. Though the act of prayer itself seems to reflect the psalmist’s confidence in God’s continuing receptivity, the psalmist also asserts that God is an agent in her suffering. All of the psalmist’s relationships, divine and human, are unstable and in flux, contributing to her profound and total feeling of social and physical abandonment. The psalmist’s sense of isolation is so intense that the boundaries between death and life begin to blur. The images of the psalmist in v. 7 as an owl (‫) ְקאַ ת‬ ֳ ), is indicative in the wilderness (‫) ִמ ְד ָבּ ֑ר‬, a lone bird (‫ )כוֹס‬in the ruins (‫ח ָרבוֹת‬ of the psalmist’s understanding of her life as on the brink of nothingness, the precariousness of her physical and emotional existence. The image is repeated ֵ ‫) ְכּ ִצפּוֹר‬ and intensified in the next verse. Again, she is like a “lone bird (‫בּוֹדד‬ on a roof (‫( ”)עַ ל־גָּג‬v. 8). As William Brown describes, the birds mentioned in these verses are particularly associated with locations of devastation.39 Trauma theorist Judith Herman, describes the experience of trauma victims in a way that makes clear the significance of this imagery in this context: Traumatized people feel utterly abandoned, utterly alone, cast out of the human and divine systems of care and protection that sustain life. Thereafter, a sense of alienation, of disconnection, pervades every relationship, from the most intimate familial bonds to the most abstract affiliations of community and religion. When trust is lost, traumatized people feel that they belong more to the dead than to the living.40

The psalmist is distanced from every relationship, source of emotional and physical care, utterly alone (‫בּוֹדד‬ ֵ ). She is a creature of the ruins, a resident of a wasteland as close to death as is possible while still drawing breath. The authority of the psalmist’s prayer, the foundation upon which the psalmist comes before God and community, is her bodily experience. Her starting point, her way of entry into prayer is her physical experience. She is confident that this information about her body is relevant and important, the foundation upon which her address to God will be heard. The body has meaning and significance for the psalmist and her evident belief is that this experience will be important to God. Importantly, though the psalmist begins her prayer with a thorough depiction of her personal bodily experience, the language of the body is not only an expression of an individual’s physical pain. The psalmist clearly

                                                             39

William P. Brown, Seeing the Psalms: A Theology of Metaphor (Louisville, KY: Westminster John Knox, 2002), 146. 40 Judith Herman, Trauma and Recovery: The Aftermath of Violence – from Domestic Abuse to Political Terror (New York: Basic Books, 1977), 52.

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sees a connection between her physical and social experience; her bodily experience is also a way of talking about her social experience. The psalmist envisions her physical life as deeply embedded in her social world in which she lives. This individual operates with a thoroughly embodied sense of self, and that physical experience is informed by her physical surroundings and local community, the relationships, divine and human, that create the potential for her to thrive. The body is never just a language of the individual in this psalm, but also a language of the relational. In the next section of the psalm, the alienation and marginalization evident in the psalmist’s physical experience connects to the experience of the politically traumatized Zion.

V. Communal Trauma and the Suffering Self: Ps 102:13–23 13 But you, YHWH, are enthroned forever; your fame endures throughout the ages. 14 You will rise and take pity on Zion, for it is time to be compassionate to her; the time has come. 15 Your servants take delight in its stones, and pity its dust. 16 The nations will fear the name of YHWH, all the kings of the earth, your glory. 17 For YHWH has built Zion; he has appeared in all his glory. 18 He has turned to the prayer of the destitute, and has not despised their prayer. 19 May this be written down for a coming generation, so that people yet to be created may praise YHWH. 20 For he looks down from his holy height. YHWH beholds the earth from the heavens, 21 to hear the groans of the prisoner, to free those condemned to death; 22 to announce in Zion the name of YHWH, his praises in Jerusalem, 23 when the nations gather together, the kingdoms to serve YHWH.

Perhaps the most discussed aspect of this psalm in previous scholarly treatments is the abrupt shift from the elements that typify lament psalms of the individual to the Zion elements of the psalm.41 What are the Zion elements

                                                             41

It falls outside the bounds of this article to discuss the various theories about Ps 102’s composition. For further discussion see Robert C. Culley, “Psalm 102: A Complaint with a

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doing in this psalm? Why the shift from matters that seem relevant to an individual on her death bed, to matters that are more of a large-scale political events related to Zion? There is a thematic connection in v. 18; the psalmist refers to herself as the destitute (‫)הָ עַ ְר ָע ֑ר‬, recalling the portrayal of physical and social diminishment in the previous sections.42 Yet at least one scholar has recommended that we remove these verses from the psalm because the inclusion of Zion elements in a lament psalm is so strange from the perspective of form criticism.43 Feminist thinkers familiar with the phrase “the personal is political” may be less disturbed by the combination of personal lament and Zion themes in Ps 102.44 “The personal is political” captures a central theme of modern feminist thought, that the individual often experiences the injustices and ills of the larger social environment in her personal life and in her body. In like manner, the boundaries between individual and communal break down in this psalm. In Ps 102, the social disease of an alienated community is reflected in the language of the suffering body; the desire for restored community is felt like an illness in the body. From a feminist perspective, this psalm witnesses to a kind of integrated individual/communal personhood, informed by the authority of embodiment. Increasingly, the political is understood not as something that is external to the body and mind of the individual, but an aspect of lived existence that takes up residence in the bodies of individuals. In fact, trauma theorists are increasingly discussing the ways that the body is affected by overwhelming violence, whether experienced by individuals or communities, such that cognitive functioning is sometimes permanently altered.45 In other words, communal situa-

                                                             Difference,” Semeia 62 (1993): 19–35; Frank Lothar Hossfeld and Erich Zenger, A Commentary on Psalms 101–150, vol. 3 of Psalms, trans. Linda M. Maloney (Minneapolis, MN.: Fortress, 2011), 18–29; Hans-Joachim Kraus, Psalms 60–150: A Continental Commentary, trans. Hilton C. Oswald (Minneapolis, MN: Fortress, 1993), 281–287. 42 See Hossfeld and Zenger for further discussion of thematic connections between vv. 1–12 and vv. 13–23. (Hossfeld and Zenger, Psalms 3, 21). 43 See Andrew Witt’s discussion of the history of the discussion of the compositional problems related to Ps 102. Witt, “Hearing Psalm 102,” 585. 44 The first usage of this phrase is unknown, but the popularity of the term is often credited to Carol Hanisch, who gave a speech in 1969 entitled “The Personal is Political.” The speech was published in Shulamith Firestone and Anne Koedt’s edited volume Notes from the Second Year: Women’s Liberation (New York: Radical Feminism, 1970). 45 As Rambo describes, “With the rise of neurobiological studies of trauma at the turn of the twenty-first century, we can more accurately track the ways in which overwhelming expe-

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tions and political structures are not “out there” in some other plane of existence, but take up residence in our bodies. As trauma theorist Arlene Audergon says of our understanding of the self in light of the experience of trauma, “An orientation is required that is at once personal, communal and political.”46 In many ways, Psalm 102 reflects such an orientation. The trauma of Zion connects the psalmist not only to her local community, but to the political situation of her nation as a whole. The psalmist’s bodily experience becomes a way of talking about feeling of social isolation and communal marginalization, and also the political situation of Zion. It is not just the psalmist’s vulnerability within her community that causes her pain in her body, but it is the condition of the community itself. The language of the body in this psalm is a rich, multivalent discourse, a language that the psalmist clearly believes authorizes her experience before God, and also reflects her deep embeddedness in her community and the political situation of her nation. What is of particular interest to the psalmist in vv. 13–23 differs from the previous section (vv. 1–12), however. God’s responsibility for and to the psalmist’s experience of suffering is a theme in the previous section (vv. 1– 12), but it dominates the second section (vv. 13–23). Further, at least on the surface, the psalmist’s understanding of God in these sections is dissimilar. In v. 12, as mentioned above, the psalmist understands God to be an agent in her suffering; speaking to God, the psalmist says she eats ashes and drinks tears “because of your wrath and your fury, for you have lifted me up and cast me far away.” The psalmist sees God’s abandonment of her as part of her suffering. In vv. 13–23, the characterization of God is as powerful redeemer of Zion, one who will act on behalf of the destitute, who will strike fear into the hearts of other nations who have not shown compassion to Zion: “The nations will fear the name of YHWH, all the kings of the earth, your glory. For YHWH has built Zion: He has appeared in all his glory (vv.16–17).” In vv. 13–23, God is powerful, compassionate, salvific, and the psalmist approaches God with absolute confidence. In fact, she is so confident that God will save Zion, will act on behalf of the nation’s suffering, that she instructs the listener to write down her assurance, as if for evidence: “May this be written down for a coming generation, that people yet to be created may praise YHWH (v. 19).” The psalmist’s

                                                             riences of violence alter a person’s fundamental biology. Most significant, however, is the research that suggests the body experiences trauma in ways that escape cognitive functioning and awareness. In cases in which the body is responding to extreme levels of stress, areas of the brain shut down.” Rambo, Spirit and Trauma, 21. 46 Arlene Audergon, “Collective Trauma: The Nightmare of History,” Psychotherapy and Politics International 2.1 (2004): 16.

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confidence that God will redeem the suffering of Zion is palpable in her lofty language of God’s mercy and eternality. These portrayals of God seem, on one level, contrary. Is this a God who actively causes suffering or is this a God who practices compassion and redemption of the suffering? According to trauma theorists and theologians, we should expect to see more than a little confusion about the central theological frameworks of those who experience overwhelming pain and suffering: “In the aftermath of violence, persons and communities are challenged to orient themselves in the aftermath of events that shatter familiar frameworks or meaning and trust.”47 The psalmist of Ps 102 does seem to have competing claims about God and she struggles to make them fit into her experience of suffering. The first is that God is, on some level, responsible for her suffering. The second is that God cares deeply about the suffering of Zion and will act for Zion’s redemption. This is not a clear, unified theological expression, but one that witnesses to the fragmentary nature of trauma that explodes easy answers in the context of enduring pain. Though there is tension between these portrayals of God, they are united in the psalmist’s confidence in God’s power, whether to cause suffering or redemption from suffering. What is most interesting, in fact, is not that there are understandings of God that are in tension with one another, but that the psalmist does not frame these understandings of God in a way that we might expect. She does not ask why God has caused her and her community to suffer. The psalmist does not explicitly challenge God’s use of God’s power, or ask the classic theodicy question: How can the goodness of God be reconciled with the experience of evil and suffering in the world? Though the question of God’s abuse of power in causing the psalmist’s suffering rears its head in other psalms, especially Ps 88, the theodicy question does not drive Ps 102. Especially in light of the psalmist’s eloquent articulation of her suffering and her belief in God’s role in it, which we will encounter again in the next section of the prayer, the question is Why isn’t this a prayer that poses the theodicy question? How can the psalmist affirm God’s power to cause and alleviate suffering and not question God’s use of that power in her life? Especially in a situation in which the psalmist feels her agency to be dramatically curtailed, personally and politically, is this failure to hold God accountable for God’s failure to act on her behalf representative of a theology that actually contributes to her ongoing powerlessness? Again, trauma theory provides two insights into these questions that are situated in the experience of ongoing suffering. Though a prayer that celebrates

                                                             47

Rambo, Spirit and Trauma, 15.

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God’s control even of her suffering may seem contradictory and potentially damaging to one who feels herself to be powerless, Jones argues that survivors of trauma often need to believe that their world is intelligible and trustworthy.48 What seems like a relinquishment of agency may in fact be an attempt to create a sense of order in a world that seems fundamentally broken and untrustworthy. To regain agency, survivors of trauma often need to believe the world to be a space that is understandable, that offers them a way of existing that makes sense again. In this light, the psalmist’s assertions of God’s authority and power in her life and in the life of her community is not necessarily a relinquishment of agency that reinforces her powerlessness, but a way of imagining herself as capable of being in the world again, of returning from the ruins and wilderness to reconstruct meaning. Indeed, the idea of God’s enthronement and power causes the psalmist to feel confident in, and even hopeful about, the future, so much so that she wants to communicate her hope to future generations: “May this be written down for a coming generation, that people yet to be created may praise YHWH (v. 19).” The second insight into my question as to why the psalmist does not ask the theodicy question in Ps 102 is actually a comment on the way suffering has often been treated in theological scholarship. According to Rambo, perhaps the most important way that suffering has been treated in theology is via the theodicy question, and theodicy remains a matter of urgent theological interest.49 Trauma theory has expanded the ways theology responds to the question of suffering, however. Those who treat survivors of trauma have found that the “why” of suffering is often not the most helpful approach to healing. In fact, theologians of trauma are often interested in strategies for survival for those who remain, as opposed to reasons and rational understandings of the suffering itself. Even a satisfying answer to the theodicy question does not always assist with the challenge of remaining, of living in the in middle between death and life. In the throes of a traumatic event, perhaps the question is not why we suffer, but how we survive.50 Though the theodicy question remains a vital one,

                                                             48

See Jones, Trauma and Grace, 57. Rambo, Spirit and Trauma, 5. For discussion of the issue of theodicy from a feminist perspective, see Marcel Sarot, “Evil, Tragedy and Feminist Theology: New Impulses for the Ongoing Debate on Theodicy,” Nephrology Dialysis Transplantatio 50.4 (1996): 313–325; Anna Case-Winters, “What Do We Mean When We Affirm that God is All-Powerful?” Encounter 57.3 (1996): 215–230; Catherine Madsen, “Notes on God’s Violence,” Cross Currents 51.2 (2001): 229–256. 50 Of John Calvin’s commentary on the Psalms, Serene Jones observes that Calvin, himself a trauma survivor according to Jones, does not ask the why question with regard to suffering, the question at the heart of the theodicy conundrum: “instead of explaining why 49

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there are other important questions to ask of the experience of suffering, questions that may provide tools for those who suffer: How does one orient one’s self upon the shifting ground of the experience of trauma and live its effects? How does one pray when the ground continues to shift? What are the practices that will lead one who suffers into full personhood again? These questions drive the psalmist in Ps 102. The psalmist finds the possibility of thriving, of agency, for herself and for Zion, in a powerful, capacious, and compassionate God.

VI. The Return to the Body: Ps 102:24–29 24 He drained my strength in midcourse; he shortened my days. 25 I say, “My God, do not take me away in the midst of my days, you whose years go on for generations upon generations. 26 Long ago you established the earth, the heavens are the work of your hands. 27 They will perish, but you will remain; All of them will wear out like a garment; you change them like clothing and they pass away. 28 But you are the same, and your years never end. 29 May the children of your servants dwell safely and their children will be established in your presence.”

The psalmist’s description of her bodily experience returns in the final section of the psalm, connecting the final section with the first: “He51 drained my strength in mid-course; He shortened my days (v. 24).” It is not as pronounced and developed in the first section, but the psalmist’s return to her diminished bodily experience is significant after the highly confident and praise-rich hymn elements of the psalm in vv. 13–23. The psalmist’s confidence in God’s ultimate intention to save the destitute does not undermine the authority of her current painful physical experience, which continues to be one of suffering and diminishment. Again, trauma studies suggests helpful ways to interpret this return to the body in the last section of the psalm, a psalm that could easily have ended with

                                                             they are suffering, he offers them a concrete ‘practice’ to hold their suffering. He lays before them a collective pattern of thinking, acting, and feeling that he believes has the power to soother their mental distress even as they continue to experience the ravaging force of traumatic events.” (Jones, Trauma and Grace, 52). 51 The object of this verse is unclear, though it can be inferred that the psalmist speaks of God here.

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its conclusive and optimistic call for all nations to serve the God of Zion in v. 23. According to Rambo, trauma does not end. The moments of clarity that one may reach, the moments of hope, are always interrupted by the past, often in physical ways. Trauma is not a singular event: “It is an event that continues, that persists in the present. Trauma is what does not go away. It persists in symptoms that live on in the body, in the intrusive fragments of memories that return.”52 The psalmist comes back to the body in pain. One may witness moments of hope, moments of new life, but the memories remain. The return to the bodily experience in the final verses of the psalm leads to proclamation of God’s power and ultimate sway in the conditions of the psalmist’s suffering. In v. 26, the psalmist refers to God as a creator, a new characterization of God in this psalm: “Of old you established the earth, the heavens are the work of your hands.” The final verses explore another aspect of God’s power. In the previous section, God is responsible for the creation and sustainment of Zion: “For YHWH has built Zion; he has appeared in all his glory (v. 17).” In these final verses, God is also responsible for the creation of the entire earth, an extension of the reach of God’s power from the local to the global. The enemies the psalmist encounters are like clothing that will eventually wear out (v. 27), in contrast to God, who is not constrained by time and place and the vicissitudes of human transience: “But you are the same, and your years never end (v. 28).” Also in a similar vein as vv. 13–23, the psalmist does not acknowledge God’s global, creative, enduring power in order to ask the theodicy question: Where is a good and powerful God in the midst of my suffering? The acknowledgment of God’s vast and enduring power is, rather, a reason to hope for future security: “May the children of your servants dwell securely and their offspring endure in your presence (v. 29).” Though creation language is always on some level a discourse of power, it is also a discourse of physical intimacy. In Ps 139:15, for instance, the psalmist uses creation imagery to indicate the special responsibility God has for and over the psalmist’s life: “My bones were not hidden from you. When I was created in secret, I was intricately woven in the recess of the earth.” In Ps 102, God as creator is not only a reference to the psalmist’s understanding of God’s superior power, it is also a claim about God’s ongoing and continuing role in the sustainment of his creation, including the body of the psalmist.53 In talking

                                                             52

Rambo, Spirit and Trauma, 2. See William P. Brown, “Creatio Corporis and the Rhetoric of Defense in Job 10 and Psalm 139,” in God Who Creates: Essays in Honor of W. Sibley Towner, eds. William P. Brown and S. Dean McBride (Grand Rapids, MI: Eerdmans, 2000), 114: “The psalmist’s reflections upon his own genesis constitute the cornerstone of his appeal to God (and neighbor).” 53

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about God’s involvement in the establishment of the earth (v. 26a), and referring to the heavens as the work of God’s hands (v. 26b), the psalmist connects God’s character as creator with her physical safety and the ability of her children to live in safety (v. 29). Creation involves powerful physical intimacy. In fact, the heavens are created by God’s hands, an image of God’s intimate involvement in the construction of the world. God’s intimate relationship with God’s creation is not a reason for passive resignation and submission to suffering for this psalmist. Instead, that relationship of enduring care connects God to the psalmist in the very structure of the places in which she lives, the earth and Zion. Her acknowledgment of God’s power provides the possibility of agency, the expression of hope for the future. That expression of hope does not erase her ongoing experience of physical suffering and trauma but it allows her to remain, even in the uneven landscape of living between suffering and the potential of the future.

VII. Implications and Conclusions The lament psalms offer a language and a set of theological assumptions that place authoritative value on bodily intelligence, especially important in the context of suffering and trauma. That the body in pain matters so much in the lament psalms should not be missed by modern readers of the Bible. The laments provide an important language of embodiment, a vital articulation of enfleshed selfhood, for those who suffer. The lament psalms of the individual are a primary resource of the Hebrew Bible for theological response to the experience of trauma and suffering. Of course, the psalmist’s bodily experience exists within a complex rhetorical world and should be critiqued as well as appreciated. Herein lies the importance of a hermeneutic of creative resiliency, combining a hermeneutic of suspicion with a hermeneutic of retrieval. Yes, the laments reflect patriarchal ideology. Yet as a mode of address, the embodied selfhood represented in the psalmist’s speech emerges as a fleshly authority, a privileged way of knowing the self, the community, and God. One sixteenthcentury interpreter of the psalms said “whereas all other scriptures do teach us what God saith unto us, … [the psalms] do teach us, what we shall saie unto God.”54 Though the psalms may not offer unambiguous language for feminist readers, they offer a significant mode of speech. That is, they may not teach what we shall say, but rather, how we shall say it, with confidence that the

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As quoted in Trill, “Speaking to God,” 272.

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Frühjüdische Schriften

„Sei getrost, Gott wird dich gewiss bald heilen, sei getrost!“ (Tob 5,10)  Die Tobitgeschichte als Beispiel einer Resilienzerzählung Beate Ego I. Einführung „Unter Resilienz wird die Fähigkeit von Menschen verstanden, Krisen im Lebenszyklus unter Rückgriff auf soziale und persönliche Ressourcen zu meistern und als Anlass für Entwicklung zu nutzen“1 – so lautet eine gängige Definition des Begriffes „Resilienz“, der in den letzten Jahren vor allem in pädagogischen, soziologischen sowie psychologischen und psychotherapeutischen Diskursen zunehmend an Bedeutung gewonnen hat.2 Dabei ist das Konzept der „Resilienz“ eng mit dem des „Traumas“ verbunden, insofern beide Diskurse eine gemeinsame Schnittmenge aufweisen. Kann eine traumatische Erfahrung als „vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten“ definiert werden, „das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt“,3 so erscheint „Resilienz“ als ein Potenzial, das sowohl bei der Vorbeugung als auch bei der Behandlung von posttraumatischen Störungen relevant wird.4 Resilienz als psychische Widerstandskraft muss aber nicht notwendigerweise mit traumatischen Erfahrungen verbunden sein; auch andere, weniger schwere krisenhafte Lebenssituationen fordern das Resilienzpotenzial der Betroffenen heraus. Wie verschiedene empirische Studien psychologischer und psychotherapeutischer Provenienz gezeigt haben, kommt dem Akt des Erzählens sowie der Rezeption

                                                             1 WELTER-ENDERLIN, ROSMARIE, Einleitung: Resilienz aus der Sicht von Beratung und Therapie, in: Dies./Bruno Hildenbrand (Hg.), Resilienz – Gedeihen trotz widriger Umstände, Heidelberg: Carl Auer 22008, 7–19, hier: 13. 2 Siehe Judith Gärtner und Cornelia Richter in der Einführung zu diesem Band. 3 So die Definition bei FISCHER, GOTTFRIED/RIEDESSER, PETER, Lehrbuch der Psychotraumatologie, München/Basel: Reinhardt 42009, 84.395. 4 Vgl. z.B. HORN, SARAH H./CHARNEY, DENNIS S./FEDER, ADRIANA, Understanding Resilience: New Approaches for Preventing and Treating PTSD, in: Experimental Neurology 284 (2016), 119–132.

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von Erzählungen in diesem Kontext eine bedeutende Rolle zu. Traumatische Erfahrungen können durch Geschichten verarbeitet werden und die Resilienz einer Erzählgemeinschaft sogar über Generationen hinweg stärken.5 Zudem lassen sich Erzählungen bewusst zur Stärkung von Resilienz in therapeutischen Kontexten einsetzen.6 Während die alttestamentliche Wissenschaft sich in den letzten Jahren intensiv darum bemüht hat, die Traumaforschung für die Exegese der biblischen Texte fruchtbar zu machen,7 wurde der Resilienzdiskurs bislang nur marginal rezipiert. Im Vordergrund stand bislang die Arbeit an den Psalmen;8 die Untersuchung narrativer Texte scheint noch weitgehend ein Desiderat zu sein. Die bislang bedeutsamste Studie in diesem Kontext ist David M. Carrs Werk Holy Resilience. The Bible’s Traumatic Origins, erschienen 2014. Wenngleich der Begriff „resilience“ prominent im Titel erscheint, so spielt er explizit in den eigentlichen Ausführungen des Buches nur eine marginale Rolle. Entscheidend sind hier die Darlegungen des Autors in der Einführung seines Werkes. Auf der Basis eines Zitats aus Aischylos’ Agamemnon, wo erfahrenes Leiden als „violent gift“ charakterisiert wird, kann der Autor formulieren: „Survivors of this ‚violent gift‘ can never leave their suffering completely behind. Some, however, find their growth from it. They develop a deeper resilience and grow in unforeseen ways.“9 David M. Carr scheint hier das Verständnis von „Resilienz“ als eine Fähigkeit, erfahrenes Leiden zu bewältigen, vorauszusetzen; eine „tiefere Resilienz“

                                                             5 Vgl. VERONESE, GUIDO/BAROLA, GIANPIERO, Healing Stories: An Expressive-narrrative Intervention for Strengthening Resilience and Survival Skills in School-aged Child Victims of War and Political Violence in the Gaza Strip, in: Clinical Child Psychology and Psychiatry 23 (2018), 311–332; OLSON, MAREN E. u.a., Sharing Stories to Build Resilience: Articulating the Common Threads that Connect Us, in: Journal of Graduate Medical Education 11 (2019), 340f. 6 Vgl. GARRO, LINDA C., Narrating Troubling Experiences, in: Transcultural Psychiatry 40 (2003), 5–43; SILVERMAN, YEHUDIT, The Story Within. Myth and Fairy Tale in Therapy, in: The Arts in Psychotherapy 31 (2004), 127–135. 7 Wichtige Titel sind: BECKER, EVE-MARIE/DOCHHORN, JAN/HOLT, ELSE K. (Hg.), Trauma and Traumatization in Individual and Collective Dimensions. Insights from Biblical Studies and Beyond (Studia Aarhusiana Neotestamentica 2), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014; BOASE, ELIZABETH/FRECHETTE, CHRISTOPHER G. (Hg.), Bible through the Lens of Trauma (Semeia Studies 38), Atlanta: SBL 2017; CARR, DAVID M., Holy Resilience. The Bible’s Traumatic Origins, New Haven/London: Yale University Press 2014; POSER, RUTH, Das Ezechielbuch als Trauma-Literatur (VT.S 154), Leiden: Brill 2012; zur Geschichte der Traumaforschung vgl. den Überblick bei POSER, Ezechielbuch, 59–61. 8 Vgl. hierzu die Hinweise in der Einführung in diesen Band von GÄRTNER, JUDITH/RICHTER, CORNELIA, Der (post-)moderne Begriff der Resilienz und die jüdisch-christliche Tradition, sowie die Beiträge von Amy C. Cotrill, Friedhelm Hartenstein, Christian Frevel, Bernd Janowski, Martin Rösel und Andreas Wagner. 9 CARR, Resilience, 5.

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wird als eine Steigerungsform derselben beschrieben, wonach eine Leiderfahrung zu einem Wachstum führen kann. In welchem konkreten Bezug diese Aussage zur biblischen Literatur steht, wird hier nicht explizit entfaltet. Der Autor legt aber im Folgenden dar, dass er die Entstehung der meisten biblischen Texte als Reaktion auf traumatische Erfahrungen, die vor allem aus Krieg und Deportation resultieren, deuten kann; dabei werden ältere Traditionen aufgegriffen und umgestaltet. So ist zu vermuten, dass David M. Carr die Literaturwerdung der Bibel insgesamt als Ausdruck einer solchen „tieferen Resilienz“ versteht, da sie nicht nur als Reaktion auf erfahrene Traumata, sondern auch als Versuch der Bewältigung derselben interpretiert werden kann. Nicht Triumph und Sieg steht im Zentrum der biblischen Überlieferung; die Texte erzählen vielmehr vom Leiden Gottes und vom Überleben in der Katastrophe. Vor diesem Hintergrund können die biblischen Texte über alle Zeiten hinweg zu allen sprechen, die selbst Opfer von Gewalt und anderen traumatischen Widerfahrnissen geworden sind. Dies wiederum vermag zu erklären, warum die biblischen Traditionen – im Gegensatz zu den vielen anderen altorientalischen und antiken Texten – die Zeiten in einem lebendigen Traditionsfluss überdauert haben und bis heute existenziell relevant sind. Die Füllung des Begriffes „Resilienz“ im Kontext des biblischen Schrifttums bleibt in den Ausführungen David M. Carrs letztlich sehr allgemein; mit Judith Gärtner und Cornelia Richter lässt er sich so umschreiben: David Carr hat […] die Literaturproduktion des Alten Testaments insgesamt als Verarbeitung von politischen Krisen, insbesondere des babylonischen Exils, begriffen. Resilienz wird in diesem Kontext als das Überwinden der Krise durch literarische Bearbeitung der eigenen Traditionen sowie einer Neuausrichtung der identitätsstiftenden Überlieferungen verstanden.10

Judith Gärtner und Cornelia Richter machen in ihren Ausführungen aber auch darauf aufmerksam, dass David M. Carrs allgemeiner Ansatz in der konkreten exegetischen Arbeit „mit der konkreten Beschaffenheit der jeweiligen Texte selbst“ zu überprüfen ist: Zu fragen ist also, ob und wie alttestamentliche Texte als Resilienznarrative beschrieben werden können. Denn nicht jeder alttestamentliche Text, der eine Not schildert, muss zwangsläufig ein Resilienznarrativ darstellen. Deswegen wird es notwendig sein, mit Hilfe historischer, exegetischer und literaturwissenschaftlicher Methodik Kriterien zu erarbeiten,

                                                             10 GÄRTNER/RICHTER, Resilienz, 10. Vgl. auch die Rezeption des Carr’schen Ansatzes bei SONNET, JEAN-PIERRE, Writing the Disaster. Trauma, Resilience and Fortschreibung, in: Peter Dubovský/Dominique Markl/Jean-Pierre Sonnet (Hg.), The Fall of Jerusalem and the Rise of the Torah (FAT 107), Tübingen: Mohr Siebeck 2016, 349–356. Der Autor spricht hier von „the resilience of writing that contributed to shape the Torah after the fall of Jerusalem“ (349).

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um Resilienz relevante Narrative ausweisen und von nicht-Resilienz relevanten Narrativen unterscheiden zu können.11

Vor diesem Hintergrund hat es sich diese kleine Studie zum Ziel gesetzt, einen konkreten narrativen Text im Kontext des Resilienzdiskurses zu betrachten; aus Gründen, die sich im Laufe meiner Darlegungen entfalten werden, wird im Folgenden die antik-jüdische Tobiterzählung – nach einigen theoretischen Vorüberlegungen (II.) – als ein besonders geeignetes Beispiel für eine Resilienzerzählung vorgestellt (III.). Ein knappes Fazit mit einem Ausblick soll diesen Beitrag abschließen (IV.).

II. Theoretische Vorüberlegungen Als konstruktiver Ausgangspunkt für die Bearbeitung der Thematik erscheinen die Ausführungen in dem Papier, das Judith Gärtner und Cornelia Richter zur Einführung in die Tagung Zwischen Aushalten und Gestalten. Resilienznarrative im Alten Testament (Rostock, 30.1.–1.2.2020) und als Vorbereitung für das Treffen vorgelegt haben. Der „Begriff des Resilienznarrativs“ bezeichnet danach „Erzählschemata“, die als sinnstiftende und die Resilienzerfahrung systematisierende bzw. evaluierende Erzählformulare [zu bestimmen sind und die] unterhalb der Erzähloberfläche von narrativen Texten im weitesten Sinne (in den unterschiedlichsten Gattungen [...]) liegen. Ihre Orientierungsleistung liegt zunächst im Zur-Sprache-Bringen des erlebten Leids, durch das Reinterpretationen der Krisenerfahrung möglich wird, sodass ein Spannungsfeld von Optionen des Aushaltens bis hin zu Optionen des Gestaltens von Ohnmachtserfahrungen entsteht. Vom Begriff des Narrativs ist der Begriff der Narration zu unterscheiden. Er stellt den weitergehenden Begriff dar. [...] Unter Narration ist die konkrete Ausgestaltung eines Narrativs in einem Text bzw. einer Selbsterzählung zu verstehen. D.h. die Narration variiert, transformiert und verändert ein Narrativ je nach ihren kulturellen, sozialen etc. Bedingungen. Ebenso ist umgekehrt die Narration von den sie bestimmenden Narrativen geprägt, d.h. es gibt keine Narration, die völlig frei wäre von expliziten oder impliziten Narrativen.12

                                                             11

GÄRTNER/RICHTER, Resilienz, 11. Zu methodologischen Fragestellungen s.a. BEEVE-MARIE, ‚Trauma Studies‘ and Exegesis. Challenges, Limits and Prospects, in: Dies./Jan Dochhorn/Else K. Holt (Hg.), Trauma and Traumatization in Individual and Collective Dimensions. Insights from Biblical Studies and Beyond (Studia Aarhusiana Neotestamentica 2), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014, 15–30; DIETRICH, JAN, Trauma and Traumatization in Individual and Collective Dimensions. Insights from Biblical Studies and Beyond, in: Eve-Marie Becker/Jan Dochhorn/Else K. Holt (Hg.), Trauma and Traumatization in Individual and Collective Dimensions. Insights from Biblical Studies and Beyond (Studia Aarhusiana Neotestamentica 2), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014, 145– 161, hier: 152‒154. 12 GÄRTNER/RICHTER, Resilienz, 11f. CKER,

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Diese Ausführungen lassen sich weitergehend auf drei Ebenen systematisieren und ergänzen: Ebene 1: Der Begriff „Resilienznarration“ ist zunächst textimmanent im Hinblick auf die Eigenweltlichkeit der Texte13 zu entfalten. Eine Resilienznarration soll im vorliegenden Kontext als eine Erzählung definiert werden, in deren Plot nicht nur die Bewältigung einer krisenhaften Erfahrung erscheint (dies gilt letztlich für eine Vielzahl von Erzählungen), sondern in denen darüber hinaus die mentale Disposition der betroffenen Erzählfiguren in ihrer Dynamik Gegenstand der Erzählung ist. Eine solche Erzählung kann als Ausgestaltung eines generellen Schemas eines Resilienznarrativs verstanden werden. Ebene 2: Insofern in einem Resilienznarrativ das „Zur-Sprache-Bringen des erlebten Leids“ erfolgt, wodurch ein Autor kontingenten Erfahrungen Sinn einzustiften vermag und eine „Orientierungsleistung“ im weitesten Sinne erfolgt, ist auch der Außenweltbezug einer Resilienzerzählung in den Blick zu nehmen. Durch diesen Aspekt stellt sich die Frage nach der Autorenebene der Erzählung und nach den konkreten historischen und lebensweltlichen Hintergründen, die zu einer Literaturproduktion geführt haben. Gerade bei fiktionalen Texten kann es sich allerdings extrem schwierig gestalten, von einer konkreten Erzählung auf die dahinterliegende Produktionsebene zurückzuschließen und verlässliche Angaben zur Lebenswelt der Autoren und ihrer konkreten Probleme zu machen. Ebene 3: Der Außenbezug der Texte beschränkt sich aber nicht nur auf die Text-Autoren-Dimension; vielmehr ist, in Erweiterung des Entwurfes von Judith Gärtner und Cornelia Richter, auch die Text-Rezipienten-Beziehung einer Resilienzerzählung mitzubedenken. Resilienznarrationen können insofern als Resilienzressource dienen, indem sie ihre Rezipienten und Rezipientinnen an ihrem impliziten Resilienznarrativ partizipieren lassen. Dieser Aspekt führt zu einem rezeptionsästhetischen Zugang, insofern vor diesem Hintergrund überlegt werden muss, durch welche sprachlichen Mittel es gelingt, die literarische Welt mit der Welt der Rezipienten und Rezipientinnen zu verknüpfen. Anders gefragt: Welche Identifikationspotenziale bietet eine Erzählung ihren Lesern und Leserinnen an? Auch in diesem Kontext erscheint der Terminus einer „Orientierungsleistung“ hilfreich, da Resilienzerzählungen bei ihren Rezipienten und Rezipientinnen Haltungen generieren können, die letztlich im Hinblick auf den Aufbau ihrer eigenen Resilienz förderlich sind.

                                                             13 Vgl. zu dieser Begrifflichkeit allgemein KOSCHORKE, ALBRECHT, Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer allgemeinen Erzähltheorie (S. Fischer Wissenschaft), Frankfurt a.M.: Fischer 2012, 332–335.

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III. Die Tobiterzählung als Resilienzerzählung Die antik-jüdische Tobiterzählung14, deren Schlussredaktion wahrscheinlich im Zusammenhang mit der Makkabäerkrise steht, die aber älteres Material verarbeitet,15 spielt im Kontext der Thematik „Resilienznarrative“ insofern eine besondere Rolle, als hier das Thema „Resilienz“ zunächst auf der Handlungsebene die Eigenweltlichkeit der Überlieferung betrifft (vgl. Ebene 1). Wenngleich die Erzählung keine Schlüsse darüber zulässt, in welcher konkreten Lebenssituation des Autors oder ihrer Erzählgemeinschaft sie entstanden ist (vgl. Ebene 2), so lässt sich doch zeigen, dass die Geschichte für ihre Leserschaft individuelle und kollektive Resilienzressourcen bereithält, die mit einem elaborierten Set von literarischen Mitteln als Identifikationspotenziale präsentiert

                                                             14 Das Buch Tobit hat eine komplexe Textgeschichte. Neben den aramäischen und hebräischen Fragmenten aus Qumran liegt es in der antiken Überlieferung im Wesentlichen in zwei griechischen Rezensionen vor, im sog. Langtext (G II; Ms. Sinaiticus) sowie im Kurztext (G I; Ms. Alexandrinus; Ms. Vaticanus). Da die Qumrantexte vor allem mit der Langform (G II) übereinstimmen, liegt es nahe – so ein gewisser Forschungskonsens – dieser Textform eine zeitliche Priorität in der Überlieferung einzuräumen. Die Kurzversion (G I) stellt dann eine sekundäre Fassung dar, die ihre Vorlage paraphrasiert und gelegentlich auch glättet. Weitere wichtige Überlieferungen des Textes liegen in lateinischer Sprache vor („Vetus Latina“ und „Vulgata“). Zur Textgeschichte des Tobitbuches s. ausführlich HALLERMAYER, MICHAELA, Text und Überlieferung des Buches Tobit (Deuterocanonical and Cognate Literature Studies 3), Berlin/New York: De Gruyter 2008; s.a. FITZMYER, JOSEPH A., Tobit, in: Magen Broshi u.a. (Hg.), Qumran Cave 4.XIV. Parabiblical Texts 2 (DJD 19), Oxford: Clarendon 1995, 1–76, Tafeln I–X, hier: 3–17; ROBERT HANHART, Text und Textgeschichte des Buches Tobit (AAWG, Philologisch-Historische Klasse Folge 3, Bd. 139/Mitteilungen des Septuaginta-Unternehmens der Akademie der Wissenschaften in Göttingen 17), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1984; WAGNER, CHRISTIAN J., Polyglotte Tobit-Synopse. Griechisch – Lateinisch – Syrisch – Hebräisch – Aramäisch; mit einem Index zu den Tobit Fragmenten vom Toten Meer (AAWG, Philologisch-Historische Klasse Folge 3, Bd. 258 /Mitteilungen des Septuaginta-Unternehmens der Akademie der Wissenschaften in Göttingen 28), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003, XIII–XVI. Die Texte aus der griechischen Tobitüberlieferung orientieren sich weitgehend an der Übersetzung des Buches in Septuaginta Deutsch, s. KRAUS, WOLFGANG /KARRER, MARTIN (Hg.), Septuaginta Deutsch, Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 2009, 635–662. Da der Langtext die älteste und fast vollständige Version der Erzählung repräsentiert (vgl. lediglich die Lacuna in Tob 4,7–18 und Tob 13,7–9), soll diese Überlieferung in diesem Beitrag zum Ausgangspunkt genommen werden. Fehlende Verse wurden aus dem Kurztext ergänzt. 15 Für Einleitungsfragen s. EGO, BEATE, Das Buch Tobit, in: Gerbern S. Oegema (Hg.), Unterweisung in erzählender Form. Einführung zu den jüdischen Schriften aus hellenistischrömischer Zeit (JSHRZ VI/1,2), Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2005, 115–150, hier: 130f.; FITZMYER, JOSEPH A., Tobit (CEJL), Berlin/New York: De Gruyter 2003, 50– 54; ENGEL, HELMUT, Das Buch Tobit, in: Erich Zenger u.a. (Hg.), Einleitung in das Alte Testament (KStTH 1,1), Stuttgart: Kohlhammer 92015, 350–362.

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werden. Somit kann die Tobiterzählung exemplarisch den Außenweltbezug einer solchen Erzählung in rezeptionsästhetischer Hinsicht veranschaulichen (vgl. Ebene 3). 1. Inhaltliche Aspekte: Die Eigenwelt der Erzählung Als Erstes stellt sich die Frage, inwiefern die Tobiterzählung als eine Geschichte verstanden werden kann, die sich auf der Handlungsebene mit dem Thema Resilienz auseinandersetzt. Die beiden Hauptfiguren der Erzählung, Tobit und Sarra, können zunächst geradezu als Anti-Typoi für eine resiliente Lebenshaltung beschrieben werden. Was Tobit anbelangt: Nach einer kurzen Vorstellung dieses Protagonisten, die seine familiäre Einbindung, seine Heimat in Nordgaliläa und seinen historischen Ort als eines Exulanten der assyrischen Gola im 8. Jahrhundert v. Chr. beschreibt (Tob 1,1f.), setzt die Narration damit ein, dass Tobit als Ich-Erzähler von seiner gegenwärtigen Situation als Exulant in Ninive auf sein Leben in seiner galiläischen Heimat zurückblickt (Tob 1,3– 9). Bezeichnend für seine Existenz war seine Frömmigkeit, die sich vor allem darin äußerte, dass er regelmäßig nach Jerusalem wallfahrtete, um dort die in der Tora vorgeschriebenen Abgaben darzubringen. Seine Stammesbrüder dagegen waren vom Hause Davids abgefallen und opferten stattdessen „dem Jungstier, den Jerobeam […] gemacht hatte“ (Tob 1,5). Der Rückgriff auf biblische Motive ist nicht zu übersehen, insofern diese Aussage eine Paraphrasierung von 1 Kön 12,28–32 darstellt, wonach Jerobeam I. (927/26–907) in Dan und Bethel zwei Stierbilder aufstellen ließ, die den Gott JHWH repräsentierten und von den Leuten des Nordreichs verehrt werden sollten. Implizit wird mit diesem Verweis Tobits Schicksal in einen kollektiven Horizont gestellt. Als Teil seines Volkes muss er, obwohl er anscheinend frei von Schuld ist, am Schicksal seiner Brüder (und Schwestern) partizipieren, die wegen ihres Abfalls von Jerusalem als Ort der Gottesverehrung Gottes Strafe in Gestalt des Exils erfahren mussten. Dann wendet sich der Ich-Erzähler Tobits Aufenthalt in Ninive zu. Tob 1,10–22 schildert zunächst allgemein Tobits frommes Leben im Exil, das sich durch Barmherzigkeitstaten auszeichnet; so bekleidet und speist er seine Landsleute und kümmert sich zudem, bei Gefährdung von Leib, Leben und Besitz, um deren würdige Bestattung (Tob 1,16–20; 2,1–8); ja, es gelingt ihm sogar, am Königshof als Fernhandelskaufmann Karriere zu machen (Tob 1,13). Obwohl Flucht und Vertreibung als zutiefst verstörende, wenn nicht sogar traumatisierende Erfahrungen erlebt werden können, finden sich in dieser Darstellung zunächst keinerlei Anzeichen für eine seelische Erschütterung Tobits. Das Blatt soll sich aber schnell wenden: Als Tobit nach der Bestattung der Toten von seinen Nachbarn und seiner Frau verspottet wird und somit in völlige soziale Isolation gerät, stellt er seinen gesamten Lebensentwurf infrage. Es kommt zum Streit der Eheleute. Hanna wirft ihrem Mann vor,

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dass seine Gerechtigkeitstaten in einem deutlichen Widerspruch zu seiner aktuellen Lebenssituation stehen (Tob 2,11–14). Tobit ist nun so betrübt in seinem Schmerz, dass er Gott in einem Bittgebet darum anfleht, ihn von dieser Schmach zu erlösen und sterben zu lassen (Tob 3,1–6). Der Erzähler verweist hier explizit auf den Schmerz Tobits, wenn dieser „sehr betrübt“ (περίλυπος, s. Tob 3,1) sein Gebet spricht und in seiner Klage sagen kann, dass großer Schmerz (λύπη πολλὴ) in ihm ist (Tob 3,6): 1 Und ich wurde sehr betrübt in der Seele und seufzend weinte ich und begann unter Klagen zu beten: 2 Gerecht bist du, Herr, und alle deine Werke (sind) gerecht, und alle deine Wege (sind) Barmherzigkeit und Wahrheit. Du richtest die Welt. 3 Und nun, Herr, gedenke du meiner und sieh (mich an) und strafe mich nicht nach meinen Sünden noch bezüglich meiner unwissentlichen Vergehen noch (wegen der Sünden) meiner Väter. Sie haben vor dir gesündigt, 4 und ich habe auf deine Gebote nicht gehört und du gabst uns dahin zu Plünderung und Gefangenschaft und Tod und zu Sprichwort und Gerede und Schmach bei allen Völkern, unter die du uns zerstreut hast. 5 Und nun sind deine vielen Gerichte wahr, die du aufgrund meiner Sünden an mir tust, weil wir deine Gebote nicht getan haben und nicht in Wahrheit vor dir gewandelt sind. 6 Und nun, nach deinem Wohlgefallen tue mit mir und befiehl, dass mein Geist von mir weggenommen werde, auf dass ich erlöst werde vom Angesicht der Erde und (wieder) Erde werde. Denn es ist besser für mich zu sterben als zu leben, weil ich falsche Schmähungen hören musste [ὀνειδισμοὺς ψευδεῖς ἤκουσα], und großer Schmerz ist mit mir [λύπη πολλὴ μετ᾿ ἐμοῦ]. Herr, befiehl, dass ich erlöst werde von dieser Not, erlöse mich zum ewigen Ort und wende nicht dein Angesicht, Herr, von mir. Denn es ist besser für mich zu sterben, als große Not zu sehen in meinem Leben, und (somit) keine Schmähungen [ὀνειδισμος] (mehr) zu hören.

Es ist interessant, dass Tobit hier ausdrücklich auf die soziale Dimension seines Leids verweist; nicht die Mühen des Exils als solches sind es, die seine psychische Widerstandskraft brechen, sondern vielmehr die soziale Missachtung, die er erfährt. Nicht viel anders verhält es sich bei Sarra, deren Geschichte ebenfalls von der Erfahrung von Leid und Schmerz geprägt ist (Tob 3,7–15). Sieben Männer hat sie in der Hochzeitsnacht wegen eines aggressiven Dämons verloren, der – wohl aus Eifersucht – alle ihre potenziellen Ehemänner tötet (Tob 3,8); auch sie bittet – nachdem sie das Opfer von Hohn und Spott ihrer Mägde geworden ist – Gott in einem Gebet um ihren baldigen Tod. Auch Sarras Schicksal wird mit dem griechischen Terminus λύπη verbunden, denn in der Einleitung zu ihrem Gebet heißt es explizit, dass sie Schmerz in ihrer Seele empfindet (ἐλυπήθη ἐν τῇ ψυχῇ) (Tob 3,10). Sie möchte sich also erhängen und spricht nun unter Weinen folgende Worte: 11b [G]epriesen bist du, barmherziger Gott, und gepriesen (ist) dein Name in Ewigkeiten, und es sollen dich preisen alle deine Werke in Ewigkeit. 12 Und nun habe ich mein Angesicht und meine Augen zu dir erhoben. 13 Befiehl, dass ich von der Erde erlöst werde und dass ich nicht länger Schmähungen hören muss [καὶ μὴ ἀκούειν με μηκέτι ὀνειδισμούς]. 14 Du weißt, Herrscher, dass ich rein bin von jeder Verunreinigung mit einem Mann, 15 und

„Sei getrost, Gott wird dich gewiss bald heilen, sei getrost!“ (Tob 5,10)

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dass ich weder meinen Namen noch den Namen meines Vaters im Lande meiner Gefangenschaft befleckt habe. Ich bin das einzige (Kind) meines Vaters, und er hat kein anderes Kind, dass es ihn beerben könnte, noch hat er einen nahen Bruder oder Verwandten, dass ich mich ihm als Frau erhalten müsste. Schon sieben sind mir umgekommen. Und wozu dient mir noch das Leben? Und wenn es dir nicht gefällt, mich sterben zu lassen, Herr, so höre nun hin auf meine Schmach [κύριε, νῦν εἰσάκουσον ὀνειδισμόν μου].

Auch Sarra erscheint somit als Anti-Typos einer Resilienzfigur, da auch sie in ihrem Schmerz, der wiederum eng mit sozialer Missachtung in Zusammenhang steht, keinen anderen Ausweg als den Tod sehen kann. Der weitere Verlauf der Geschichte ist bekannt und man weiß: Die Lösung all dieser Probleme erfolgt nicht durch die eigene Stärke und Kraft der Protagonisten; vielmehr geben Tobit und Sarra mit ihren Gebeten ihre Handlungsmacht ab. Aber genau aus diesem Moment und im Moment der größten Schwäche eröffnet sich das Rettungsgeschehen, insofern Gott ihre Gebete erhört und den Engel Rafael schickt, durch dessen Aktion sich alles zum Guten wenden soll (Tob 3,16f.). 16 In diesem Augenblick wurde das Gebet der beiden vor der Herrlichkeit Gottes erhört, 17 und Rafael wurde ausgesandt, die beiden zu heilen: Tobit, indem er die weißen Flecken von seinen Augen löste, damit er mit den Augen das Licht Gottes sähe, und Sarra, (die Tochter des) Raguel, indem er sie Tobias, dem Sohn des Tobit, zur Frau gäbe und den bösen Dämon Asmodaios von ihr löste. Denn Tobias stand es zu, sie zu erben, mehr als alle anderen, die sie ehelichen wollten. In jenem Augenblick kehrte Tobit vom Hof zurück in sein Haus, und auch Sarra, (die Tochter) Raguels, stieg aus dem Obergemach herab.

Tobits Sohn Tobias begibt sich auf eine lange Reise, um Geld abzuholen, das sein Vater vor vielen Jahren im fernen Rages deponiert hat; vor seiner Reise wird er von seiner Mutter Hanna tränenreich verabschiedet. Zuvor hat er seinen Reisebegleiter gefunden: den Engel Rafael, der aber inkognito als Jüngling Azarias auftritt (Tob 5,13). Mithilfe der Ratschläge zur Gewinnung von Räucherwerk und Augenmedizin aus einem Fisch, die der Engel Rafael Tobias gibt, kann Sarras Dämon vertrieben werden; so können sie und Tobias eine Ehe eingehen (Tob 6,5–9.14–18; 8,1–3.4–9). Tobias kehrt mit seiner frisch angetrauten Frau von seiner Reise zurück. Hanna, die Mutter, ist überglücklich, als sie ihr Kind wieder in die Arme schließen kann (11,9); schließlich kann Tobias den alten Vater von seiner Blindheit heilen, indem er die Medizin anwendet, deren Herstellung ihm der Engel angewiesen hat (Tob 11,10–14a): 10 Und Tobit stand auf und stolperte mit den Füßen und ging zur Tür des Hofes hinaus. Und Tobias ging auf ihn zu, 11 und die Galle des Fisches war in seiner Hand, und er hauchte in seine Augen und hielt ihn fest und sagte: Sei getrost, Vater. Und er trug ihm die Arznei auf und reichte sie ihm dar. 12.13 Und so schälte er (die weißen Flecken) mit seinen beiden Händen von seinen Augenwinkeln ab. Und er fiel um seinen Hals, 14 und er weinte und sagte zu ihm: Ich kann dich sehen, Kind, das Licht meiner Augen!

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Unmittelbar im Anschluss an diese bewegenden Ereignisse beginnt Tobit in Tob 11,14b, Gott zu preisen. Er begreift sein Schicksal hier als göttliche Züchtigung (vgl. die Verwendung des Verbs μαστιγόω) und jubelt gleichzeitig darüber, dass er seinen Sohn wieder sehen kann (Tob 11,15). Das Motiv der „Züchtigung“ mag für moderne Leserinnen und Leser fremd klingen, zumal Tobit als Individuum auch gar keine Verfehlung oder Schuld zugeschrieben wird; der Begriff ist hier schlichtweg das Interpretament, mit dem Tobit seine eigene Erfahrung von Isolation und Krankheit wiedergibt – ohne die HiobFrage nach dem „Warum“ zu stellen. Als Tobit mit seinem Lobpreis durch die Stadt zieht, bringt er die Erfahrung seiner Heilung auf einen knappen theologischen Begriff: Gott hat sich seiner erbarmt (Tob 11,17a: ἐλεέω). Da Tobit selbst auch Erbarmen gegenüber seinen Mitmenschen gezeigt hat, wird hier implizit der Tun-Ergehen-Zusammenhang formuliert. Schließlich verabschiedet sich der Engel mit einer Rede, in der er zum Lobpreis Gottes aufruft und deutlich macht, dass Gott die Kraft ist, die hinter all diesen wundervollen Ereignissen wirksam war (Tob 12,6.17–20). Mit der Verabschiedung des Engels endet die Kernerzählung. Tobits Geschichte schließt mit einer kurzen Notiz in Tob 14,1b–2: Hier nun erfährt die Leserschaft, dass Tobit, der im Alter von 62 Jahren erblindete, im Alter von 112 Jahren starb und ehrenvoll begraben wurde. Bis zu seinem Tode war sein Leben nach seiner Heilung von barmherzigen Werken geprägt. Im Hinblick auf das Rettungsgeschehen, das den beiden Protagonisten zuteilwird, ist entscheidend, dass die Bewältigung der Krise durch vermittelte göttliche Intervention erfolgt. Das Gebet der Protagonisten mit ihrer vertrauensvollen Hinwendung zu Gott sowie deren integres Handeln bilden dabei aber wichtige Vorbedingungen. Erst nach dem Gebet Tobits sowie dem Sarras entsendet Gott seinen Engel (Tob 3,16f.). Im Hinblick auf das integre Verhalten der Protagonisten ist auf Tobits Lebensweg mit dem Motto „Aufrichtigkeit, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit“ (Tob 1,3) zu verweisen, der am Anfang der Erzählung gleich in zweierlei Hinsicht entfaltet wird: Während seiner Jugend, als Tobit noch im Lande Israel weilt, erweist er sich als treuer Jerusalempilger, der den weiten Weg von Galiläa nach Jerusalem nicht scheut und dort auch die erforderlichen Abgaben errichtet, die auch den Armen zugutekommen (Tob 1,4–8). Im Exil beachtet Tobit die Speisevorschriften (Tob 1,11) und zeigt seine Barmherzigkeit, indem er seine Landsleute mit Nahrung und Kleidung versorgt und sich, bei Gefährdung von Leib, Leben und Besitz, um deren würdige Bestattung kümmert (Tob 1,16–20; 2,1–8). Sarra wiederum beteuert in ihrem Gebet ihre Reinheit und Integrität (Tob 3,14f.). Während Tobit zunächst im Kontext seiner Blindheit und der erfahrenen Schmähungen verzweifelt und mutlos auftritt, zeigen weitere Passagen der Erzählung, dass dieser durchaus auch als eine Figur charakterisiert werden kann, deren innere Haltung als „resilient“ zu beschreiben ist. Im Anschluss an die

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Kernerzählung und die Verabschiedung des Engels folgen nämlich Passagen, die eine theologische Geschichtsschau enthalten. Als Sprecher dieser Abschnitte erscheint wieder Tobit, der nun aus der Perspektive der überwundenen Krise agiert. Der große eschatologische Hymnus Tobits in Tob 13,1–18 besteht aus zwei Teilen: Die Gerichtsdoxologie (Tob 13,1–8) beschäftigt sich mit Israels Existenz in der Diaspora, die letztlich aus seiner Schuld resultiert, und mit Gottes vergebendem und rettendem Handeln. Der zweite Teil Tob 13,8–18 blickt auf den Jubel im Neuen Jerusalem. Von zentraler Bedeutung für das Thema der Resilienz ist zunächst der Beginn des Hymnus, wo Tobit sagen kann: 1 2

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5

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[...] Gepriesen (sei) Gott, der Lebendige, in Ewigkeit und seine Königsherrschaft; denn er züchtigt [μαστιγόω] und erbarmt sich [ἐλεέω], er führt hinab in die Unterwelt unter der Erde, und er führt wieder hinauf aus dem großen Verderben, und nichts ist, das seiner Hand entfliehen kann. Dankt ihm, ihr Kinder Israel, vor den Völkern; denn er hat euch unter sie zerstreut, und hat euch dort doch seine Größe kundgetan! Und erhebt ihn vor allem Lebendigen; denn er ist unser Herr, und er (ist) unser Gott, und er (ist) unser Vater, und er (ist) Gott in alle Ewigkeiten. Er wird euch wegen eurer Unrechtstaten züchtigen [μαστιγόω] und wird sich euer aller erbarmen [ἐλεέω] unter allen Völkern, unter die ihr zerstreut worden seid. Wenn ihr zu ihm zurückkehrt mit eurem ganzen Herzen und mit eurer ganzen Seele, um vor ihm Wahrheit zu üben, dann wird er zu euch zurückkehren und nicht mehr sein Angesicht vor euch verbergen.

Diese Aussage Tobits kann als Ausdruck eines Grundvertrauens verstanden werden. Eine solche Haltung – so Simon Peng-Keller – ist von der „ontologischen Sicherheit“, d.h. „einem grundlegenden Gefühl von Sicherheit und Selbstvertrautheit zu unterscheiden, insofern es sich gerade dort einstellen [kann], wo lebensweltliche Vertrautheiten, die das Gefühl von Sicherheit vermitteln, verloren gehen“.16 Somit kann es als „akzeptierte Verletzlichkeit“17 charakterisiert werden sowie als ein Vertrauen,

                                                             16

PENG-KELLER, SIMON, Grundvertrauen und basales Sicherheitserleben. Versuch einer Differenzierung, in: Ingo Dalferth/Simon Peng-Keller (Hg.), Grundvertrauen. Hermeneutik eines Grenzphänomens, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2013, 209–226, hier: 211. 17 PENG-KELLER, Grundvertrauen, 212 rekurriert hier auf eine Formulierung von Annette Baier, vgl. BAIER, ANNETTE, Vertrauen und seine Grenzen, in: Martin Hartmann/Claus Offe (Hg.), Vertrauen. Die Grundlage des sozialen Zusammenhalts, Frankfurt a. M./New York: Campus 2001, 37–84, hier: 43.

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das sich zwar in der Regel nicht einer bewussten Wahl verdankt und meist auch nicht reflexiv wahrgenommen wird, aber im Unterschied zum kindlichen Vertrauen mit dem Bewusstsein einer Alternative einhergeht und gegen Widerstände durchgehalten wird. Oder noch stärker formuliert: Grundvertrauen bildet sich – als „Mut zum Sein“ oder gemeinsam mit ihm – in der Konfrontation mit dem Vertrauenswidrigen.18

Prinzipiell ist eine solche Haltung als Lebensmodus zu verstehen und nicht auf eine Handlungsdisposition zu reduzieren.19 Wie Simon Peng-Keller deutlich gemacht hat, leuchtet eine solche Haltung als ein nicht spezifisch religiös bestimmter Modus des Lebens auf, aber eine solche Haltung „kann [auch] eine Manifestationsgestalt des Gottesvertrauens darstellen“.20 Diese allgemeinen Ausführungen lassen sich nur unschwer mit Tobits Worten in Verbindung bringen. Insgesamt liegt hier der religiöse Bezug eindeutig auf der Hand. Die Rede von der göttlichen Züchtigung (die hier nun einen konkreten Grund in der Schuld des Volkes hat) verweist darauf, dass Tobit auf eine Erfahrung einer lebensweltlichen Erschütterung rekurriert; das Theologumenon vom göttlichen Erbarmen formuliert dagegen seine Zuversicht und Hoffnung auf eine Wende des Schicksals. Trotz Scheitern wird so ein sinnhafter Zusammenhang der Geschichte seines Volkes deutlich. In einem engen inhaltlichen Bezug dazu folgt der sich unmittelbar anschließende eschatologische Jerusalemhymnus (Tob 13,9–18; V. 9 ist nur im Kurztext erhalten), insofern die Umkehr des Volkes (in Tob 13,6) die Voraussetzung für Gottes erneute Zuwendung zu diesem darstellt. Sie wird in der Wiedererbauung Jerusalems (Tob 13,16f.) und des Tempels (Tob 13,10.16), der Sammlung der Zerstreuten (Tob 13,13) und der Wallfahrt der Völker (Tob 13,11) ihren Ausdruck finden. Tobit äußert den Wunsch, dass in Jerusalem allen Elenden (ταλαίπωρος) Liebe erwiesen werden soll, und schließlich wird die gesamte Stadt von einem eschatologischen Jubel durchzogen sein (Tob 13,14.18). Es sind wunderschöne und eindrückliche Bilder, wenn es heißt, dass die Völker zum Licht Jerusalems strömen und die einzelnen Gebäude der Stadt in ihrem Glanz aus Gold und Edelstein – menschlichen Wesen gleich – Gott mit ihrem Lobgesang preisen: 11 Ein helles Licht wird leuchten bis an alle Grenzen der Erde. Viele Völker werden kommen von ferne zu dir und die Bewohner von allen Enden der Erde zu deinem heiligen Namen, und ihre Geschenke werden sie in ihren Händen halten für den König des Himmels. Generationen für Generationen werden in dir Jubellieder singen, und der Name der Erwählten [bleibt] für die Geschlechter auf ewig. [...] 16 [...] Und die Tore Jerusalems werden mit Saphir und Smaragd erbaut werden und mit Edelstein all deine Mauern.

                                                             18 PENG-KELLER, Grundvertrauen, 213. Der „Mut zum Sein“ geht selbstverständlich auf das gleichnamige, im Jahre 1953 erschienene Werk von Paul Tillich zurück. 19 PENG-KELLER, Grundvertrauen, 213. 20 PENG-KELLER, Grundvertrauen, 226 (kursive Hervorhebung im Original).

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Die Türme Jerusalems werden mit Gold erbaut werden und ihre Zinnen mit reinem Gold. 17 Die Plätze Jerusalems werden mit Rubin gepflastert werden und mit Ophirstein. 18 Und die Tore Jerusalems werden Jubellieder sprechen und alle seine Häuser werden sprechen: „Halleluja. Gepriesen sei der Gott Israels!“ Und als Gesegnete werden sie den heiligen Namen preisen bis in alle Ewigkeit und weiterhin.

Ein weiterer Blick in die Zukunft findet sich schließlich am Ende der Erzählung in Tobits Abschiedsrede in Tob 14,3b–7 – einer Art Testament, wie es auch von den Patriarchen bekannt ist. Tobit versammelt vor seinem Tod Tobias und dessen Kinder um sich und entfaltet vor ihnen eine Geschichtsschau. Die Geschichte Israels wird hier ausgehend vom assyrischen Exil in mehreren Stufen entfaltet: Zunächst steht der Untergang des Assyrerreiches an (Tob 14,3b– 4d), wohingegen die Herrschaft der Meder noch anzudauern scheint (Tob 14,4e–g). Deshalb soll Tobias auch Ninive, seinen gegenwärtigen Wohnort verlassen, und sich in Medien ansiedeln. Dann folgt der Blick auf die Zerstörung Jerusalems und des Tempels und die Exilierung des Volkes durch die Babylonier; interessanterweise spricht der Erzähler hier personal vom Schmerz (λύπη) des Tempels (Tob 14,4h–j). In der Zeit der Perser folgen die Rückkehr aus dem Babylonischen Exil und eine erneute Erbauung des Heiligtums (Tob 14,5a–e); aber erst wenn alle Exilierten, also auch die aus der Gola des Nordreichs, zurückkehren werden, ist Gottes Geschichtsplan abgeschlossen. Dann werden alle Israeliten nach Jerusalem kommen, um dort Gott in seinem Tempel anzubeten, und Israel darf fortan definitiv wieder in Sicherheit in seinem Land wohnen (Tob 14,5d–7). Tobits prophetisch anmutende Ausführungen zur Zukunft Israels in Tob 13,2–18 und 14,4–7 sind durch die Motive „Jerusalem“, „Tempel“ und „Wallfahrt“ nach Jerusalem mit dem Anfang der Geschichte von Tobits Jugendzeit im Land verbunden, bilden aber ein deutliches Gegengewicht: Im Gegensatz zum alten Salomonischen Tempel, zu dem nur einzelne Fromme wie Tobit pilgerten, wird der neue Tempel nun von allen Israeliten besucht (vgl. Tob 13,13; 14,7). Tob 13,11 überbietet dieses Bild noch, insofern nun auch die Völker in das Bild einbezogen werden. Auch wird Jerusalem nun zu einer Stadt, die in einem Land liegt, in dem die Israeliten in Sicherheit wohnen können (Tob 14,7) – diese Qualität hatten das Land und die Stadt zur Zeit Tobits ja nicht. Man kann das Geschichtsbild der Tobiterzählung somit als eine „restaurative Utopie“21 bezeichnen: Elemente der Vergangenheit bilden die Basis für eine Zukunftserwartung, die aber diese transzendiert und einer neuen Qualität zuführt.

                                                             21 Zu diesem Begriff vgl. SCHOLEM, GERSCHOM, Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum, in: Ders., Über einige Grundbegriffe des Judentums, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970, 121–170, hier: 161.

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Mit solchen Hoffnungsbildern vom neuen Jerusalem und einem sicheren Leben der Rückkehrer in ihrer neugewonnenen Heimat setzt Tobit einen Kontrapunkt zu der vormaligen Erfahrung eines defizitären Lebens im Land, das von den Feinden bedroht war, und zur Exilsexistenz Israels. Erst an dieser Stelle der Erzählung erscheint die Figur „Tobit“ nun auch als eine Art „Resilienzträger“, insofern es ihm gelingt, mit seinem Grundvertrauen und seiner Hoffnung einen mentalen Widerstand gegen die lebensmindernden Kräfte im Exil und die damit verbundene Aussichtslosigkeit zu artikulieren. Während Tobit als Reaktion auf die Not seiner Erblindung und Isolation also mit einer Haltung reagierte, die keine Resilienz ausstrahlte, zeigt er nun mit seiner Zuversicht und Hoffnung einen ganz anderen Charakter. Dieser Wandel der Figur Tobits lässt sich durch die Verbindung der Geschichtsschau mit der Haupthandlung der Erzählung verstehen. Sie wird vor allem durch Stichwortverbindungen hergestellt, von denen hier nur die wichtigsten genannt werden können. Ein Schlüsseltext ist Tobits Hymnus in Tob 13,2.5.6a–d*, wo Tobit Gott dafür preist, dass er sein Volk zwar wegen seiner Sünden züchtigt (μαστιγόω), sich aber ihm auch wieder gnädig zuwenden wird (ἐλεέω). Durch die Verwendung des Begriffes μαστιγόω entsteht hier ein intertextueller Bezug zu Tob 11,15, wo Tobit den Begriff μαστιγόω bereits als Deutung seines eigenen Schicksals verwendet hat. Auch der Terminus ἐλεέω in Tob 13,5 verbindet die Aussage vom göttlichen Erbarmen mit dem Plot der Geschichte. In ihrem gemeinsamen Gebet priesen Raguel und seine Frau Gott für seine Barmherzigkeit gegenüber Tobias und Sarra in der Hochzeitsnacht (Tob 8,16f.), und Tobit wiederum konnte die Heilung von seiner Blindheit als Ausdruck des erbarmenden Handelns Gottes verstehen, das er in Ninive öffentlich formuliert (Tob 11,17). Ein weiteres Stichwort, das eine wichtige Rolle für die Verbindung der kollektiven mit der individuellen Sphäre spielt, ist schließlich das des Schmerzes. So kann Tobit in seinem Geschichtsausblick in Tob 14,4 davon sprechen, dass das Haus Gottes in Jerusalem nach der Zerstreuung der Israeliten in die Gefangenschaft „im Schmerz“ (λύπη) sein wird. Das Stichwort „Schmerz“ verweist hier intertextuell sowohl auf das Schicksal Tobits als auch auf das Schicksal Sarras, die beide voller Schmerz ihre Gebete sprachen (vgl. Tob 3,1.6.10). Zudem wünschte Edna ihrer Tochter vor der Hochzeitsnacht, dass Gott ihren Schmerz in Freude verwandeln möge (Tob 7,17). Neben einzelnen Stichwortbezügen wird die individuelle und vergangene Rettungsgeschichte schließlich durch das Motiv des Lichts (bzw. der Dunkelheit) mit der kollektiven und zukünftigen Geschichte des Volkes verbunden. Der erblindete Tobit liegt in der Finsternis des Totenreiches und vermag das Licht Gottes nicht mehr zu schauen (Tob 5,10), Almosengeben aber – so die weisheitliche Sentenz – lässt nicht in die Finsternis eingehen (Tob 4,10; nur im Kurztext belegt). Tobias kann als Licht seiner Eltern bezeichnet werden (Tob 10,5; 11,14), und am Ende

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schaut der alte Tobit auf die künftige Gottesstadt Jerusalem mit ihrer Lichtherrlichkeit (Tob 13,11; siehe auch Tob 13,16f.). Diese einzelnen Motive lassen sich kohärent miteinander verbinden, und so wird im Hinblick auf die Gesamterzählung ein Spannungsbogen aufgebaut. Dieser führt von Tobits Blindheit – also der Finsternis – über das Tun der Barmherzigkeit und Tobits Heilung zum Wiedererblicken des geliebten Sohnes Tobias und zur Hoffnung auf die Lichtherrlichkeit Jerusalems.22 Durch diese Bezüge, die durch die Erzählfigur Tobit in den Redesequenzen selbst hergestellt werden, verwandelt sich seine eigene Geschichte von seiner Krise und Heilung (Tob 2–11) zu einer Art Resilienzressource, insofern er aus der Erfahrung der Vergangenheit, nämlich seiner bereits erfolgten Rettung durch Gott, einen allgemeinen Leitsatz kreieren kann, der dann auch für die Hoffnung auf die künftige Erlösung seines Volkes Anwendung findet. Die primär individuell ausgerichtete Kernerzählung – mit ihrer Dynamik von der Krise zur Heilung und dem Zusammenspiel von göttlicher Strafe und Züchtigung – findet durch diese Stichwortbezüge somit ihre Entsprechung in der Geschichte des gesamten Volkes. Wenn man zwischen einer Resilienzerzählung als der ausformulierten Geschichte und dem Resilienznarrativ als einem darunterliegenden Muster differenzieren möchte, so könnte man das Vertrauen auf Gottes Erbarmen, das trotz der Erfahrung der „Züchtigung“ denen zuteilwird, die sich ihrerseits durch einen integren Lebenswandel auszeichnen, als das „Resilienznarrativ“ der Tobiterzählung definieren. 2. Rezeptionsästhetische Aspekte: Wie kommt die Geschichte zu ihrem Publikum? Die weiterführende Frage, die sich im Zusammenhang mit der Resilienzthematik an dieser Stelle erhebt, lautet: Welche literarischen Mittel werden hier verwendet, um die Rezipientenschaft der Erzählung mit dieser Geschichte zu verbinden und die Geschichte in deren eigene imaginative Welt zu integrieren? Nur wenn diese Verbindung zwischen Text- und Lebenswelt gelingt, wird die Erzählung als Resilienzressource erschlossen werden können. Hier sind mehrere Faktoren zu nennen: 1) Hilfreich sind hier die Ausführungen von Sigrid Eder, die in ihrem Werk Identifikationspotenziale in den Psalmen v.a. auf die Bedeutung von Emotionen hingewiesen hat, über die eine Annäherung zwischen der Textwelt und der Welt der Rezipienten und Rezipientinnen ermöglicht wird. Basis hierfür sei die

                                                             22 Zum Ganzen vgl. EGO, BEATE, „Das Licht Gottes“ – Metaphern in der Tobiterzählung, in: Markus Witte/Sven Behnke (Hg.), The Metaphorical Use of Language in the Deuterocanonical and Cognate Literature (Deuterocanonical and Cognate Literature Yearbook 2014/2015), Berlin: De Gruyter 2015, 59–73.

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„Empathiefähigkeit als anthropologische Konstante“23; denn da, wo „sich Empathie ereignet, da gibt es ein echohaftes Nach- und Mitvollziehen der Gefühle, Gedanken usw. eines Anderen.“24 In der Literaturwissenschaft wird diese Thematik seit einigen Jahren intensiv diskutiert, und es lässt sich hier zusammenfassend sagen: „Wenn wir [...] Romane lesen, sind wir an den Schicksalen der Hauptpersonen affektiv ‚beteiligt‘, wir erleben für sie und mit ihnen Freude, Liebe, Hoffnung und Enttäuschung, Leid und Trauer, und wir machen uns mit ihnen Bilder ihrer Lage, ihrer Chancen und Gefahren.“25 Die Frage, wie eine solche Übertragung funktioniert, ist sehr komplex und sollte keineswegs eindimensional beantwortet werden;26 entscheidend für den hier vorliegenden Kontext ist vielmehr, dass die „Identifikation mit einer literarischen Figur soweit gehen [kann], dass das eigene Selbstverständnis von Leben und Welt erweitert und verändert wird in dem Sinne, dass wir das werden, was wir betrachten.“27 Wer die Tobitgeschichte einmal laut gelesen oder gehört hat, kann die Aussage, dass Emotionen gleichsam von der Erzählung „überspringen“, zustimmen: Es wird oft geweint – sei es, dass der verspottete Tobit allein unter Tränen sein Brot verzehren muss (Tob 2,5), dass Tobit und Sarra unter Weinen ihre Gebete sprechen (Tob 3,1.10) oder dass die Mutter Hanna über die Reise und das Ausbleiben des Sohnes untröstlich ist (Tob 5,18; 10,7) – und es wird gejubelt und gefeiert – man denke nur daran, wie der alte Tobit, der seine Sehkraft wiedererhalten hat, durch die Stadt zieht und alle, die ihn sehen, nur staunen und sich wundern können (Tob 11,16). 2) Auch das „szenische Erzählen“, das in vielen Kapiteln vorherrschend ist, stellt ein Medium dar, das den Abstand zwischen den Erzählfiguren und der Rezipientenschaft verringert, insofern hier erzählte Zeit und Erzählzeit unmittelbar zur Deckung gebracht werden.

                                                             23 EDER, SIGRID, Identifikationspotenziale in den Psalmen. Emotionen, Metaphern und Textdynamik in den Psalmen 30, 64, 90 und 147, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht unipress/Bonn universitypress 2018, 34. 24 So HERMANNS, FRITZ, Empathie. Zu einem Grundbegriff der Hermeneutik, in: Ders./Werner Holly (Hg.), Linguistische Hermeneutik. Theorie und Praxis des Verstehens und Interpretierens (Germanistische Linguistik 272), Tübingen: Niemeyer 2007, 127–172, hier: 143; zitiert bei EDER, Identifikationspotenziale, 35. 25 HERRMANNS, Empathie, 129, zitiert bei EDER, Identifikationspotenziale, 52. 26 Siehe hierzu weiterführend den Beitrag von MELLMANN, KATJA, Gefühlsübertragung. Zur Psychologie emotionaler Textwirkungen, in: Ingrid Kasten (Hg.), Machtvolle Gefühle (Trends in Medieval Philology 24), Berlin/New York: De Gruyter 2010, 107–119. Auf verschiedene Stufen von Identifikationsprozessen verweist MARGOLIN, URI, From Predicates to People like Us. Kinds of Readerly Engagement with Literary Characters, in: Jens Eder/Fotis Jannidis/Ralf Schneider (Hg.), Characters in Fictional Worlds. Understanding Imaginery Beings in Literature, Film, and Other Media, Berlin/Boston: De Gruyter 2011, 400–415. 27 EDER, Identifikationspotenziale, 61.

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3) Des Weiteren ist hier darauf zu verweisen, dass die Geschichte am Anfang die Figur des Tobit in der 1. Pers. Sing. sprechen lässt; es handelt sich somit um eine Ich-Erzählung. Dieses literarische Mittel hebt nun die Distanz zwischen den Leserinnen und Lesern der Erzählung gleichsam auf, da nun jede und jeder gleichsam mit der Stimme Tobits spricht und so in dessen Unheilsgeschichte hineingenommen wird. 4) Dieser Aspekt wird durch die Bittgebete Tobits (Tob 3,2–6) und das Gebet Sarras (Tob 3,11–15), die formal an die Klagepsalmen erinnern, noch verstärkt. Da diese Gebete in direkter Rede wiedergegeben und damit in der 1. Pers. Sing. formuliert sind, zeigen sie nicht nur, dass Psalmen dem Ausdruck persönlicher Leiderfahrung dienen können, sondern sie ermöglichen es den Rezipienten und Rezipientinnen der Erzählung auch, direkt in die Innenwelt der Erzählfiguren einzutauchen. 5) Die Erzählung nimmt ihre Rezipientinnen und Rezipienten aber auch in die Rettungserfahrung der Protagonisten hinein. Im Anschluss an die unbeschadet überstandene Brautnacht kennt die Erzählung nur noch Hymnen (Tob 8,15–17; 11,14f.; vgl. 13,1–18) sowie auch kurze Erzählnotizen, die zum Ausdruck bringen, dass die Protagonisten Gott loben (so Tob 11,15.17; 12,22; 14,2.15). Da auch hier in direkter Rede formuliert wird, kommt diesen Texten im Hinblick auf das ihnen implizite Identifikationspotenzial eine herausragende Bedeutung zu. Diese Texte bilden das direkte Pendant zu den Bittgebeten, und so partizipiert die Leserschaft im Modus des Mit-Betens an der Rettungsdynamik, die der Erzählung inhärent ist. 6) Des Weiteren enthält die Erzählung parakletische Elemente. Eine Schlüsselfunktion nimmt in diesem Kontext die Szene der Begegnung zwischen Tobit und dem Jüngling Azarias ein, hinter dem sich der Engel Rafael verbirgt. Tobit klagt, doch der Engel spricht hier Tobit Mut zu: „Sei getrost, Gott wird dich gewiss bald heilen!“ (Tob 5,10). Durch die Verwendung der 2. Pers. Sing. in der Anrede hat dieser Abschnitt eine Appellstruktur, die gleichsam aus der Erzählung „herausspringt“ und somit die Rezipienten und Rezipientinnen direkt anspricht. 7) Auch der Aufruf zum Gotteslob, wie er in der Abschiedsrede des Engels erscheint, enthält eine solche Appellstruktur. Auch hier werden die Rezipientinnen und Rezipienten durch die Verwendung der 2. Pers. Pl. zu Adressatinnen und Adressaten dieser Rede. Wenn der Engel zudem betont, dass Gott es ist, der hinter all dem wundersamen Geschehen, das die Protagonisten erfahren haben, steht, wird diesen ein Instrumentarium an die Hand gegeben, das das Erfahrene positiv deutet und damit das Abgründige des Geschehens in den Hintergrund treten lässt. All diese Faktoren bilden ein Ensemble, das der Leserschaft Anteil an der Dynamik der Erzählung gibt, die von der Dunkelheit ins Licht, von der Not zur Rettung führt und letztlich auch den Sinn hinter dem Geschehen aufschließt, das auf den ersten Blick undurchschaubar war. Kein anderer als der Gott Israels

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wirkt im Hintergrund des Geschehens, ein Gott, der – um mit Rainer Maria Rilkes Worten zu sprechen – alles Geschehen „unendlich sanft in seinen Händen hält“ (so in seinem Gedicht „Herbst“ aus dem Buch der Bilder [1902]). Von entscheidender Bedeutung im Hinblick auf die Funktion der Erzählung als Resilienzressource ist es nun, dass sich die Leserschaft in ihrer Gegenwart selbst in das zeitliche Koordinatensystem der Tobitgeschichte eintragen kann. Mögen viele Jahrhunderte seit der Assyrerherrschaft vergangen sein (so die Situation der Erst-Adressatinnen und Adressaten), mag auch die Zeit der Entstehung der Geschichte schon viele Generationen zurückliegen (so die Situation der späteren Leserschaft – auch die unsrige) – diejenigen, welche die Geschichte hören, stehen im Kontext des großen Geschichtsplans, den Tobit offenbart hat, in gewisser Art und Weise ebenfalls genau da, wo sich auch Tobit und sein Sohn Tobias und ihre ganze Familie befinden: in einer Zeit, in der die Exilierten noch nicht zurückgekehrt sind und in der die lichtvolle Erbauung Jerusalems und des Tempels noch in der Zukunft liegt. Wie Tobit kann aber die Leserschaft auch auf die erfolgte Rettung (nun in ihrer erzählten Form) zurückblicken und an dem in ihr implizierten Resilienznarrativ partizipieren. Somit kann die eigentliche Tobitgeschichte als ein Beispiel für Gottes rettendes Handeln und seine Macht verstanden werden, das die Hörerschaft der Erzählung dazu ermutigt, auf Gottes Hilfe bei der Durchsetzung seines Geschichtsplans zu vertrauen. Dabei ist bemerkenswert, dass bereits die Erzählung selbst ein Element enthält, das die Wahrheit der Prophezeiungen Tobits bestätigt: Ganz am Ende des Buches, im letzten Vers in Tob 14,15, wird das Motiv der Zerstörung Ninives, das den Auftakt zu den geschichtlichen Ereignissen in Tobits Geschichtsschau (Tob 14,3b–7) bildet, nochmals eingespielt. Hier nämlich wird erzählt, dass Tobias noch vor seinem Tode von der Zerstörung Ninives hörte. So wird Tobias, Tobits Sohn, zum Zeugen für die Zerstörung Ninives, und es wird offensichtlich, dass Gottes eschatologisches Handeln, das Gegenstand von Tobits Geschichtsausblick in Tob 14,3b–7 war, bereits seinen Anfang genommen hat: Auch wenn bis zur Heilszeit mit der Erbauung des eschatologischen Tempels und der Rückkehr aller Exilierten noch Jahrhunderte vergehen sollten – der erste Schritt auf dem Weg zur Durchsetzung der endzeitlichen Ereignisse hat bereits begonnen, und damit ist die Rückkehr aller Exilierten nach Jerusalem und die universale Anbetung des Gottes Israel durch die Völker in greifbare Nähe gerückt! So enthält die Tobiterzählung für ihre Rezipientinnen und Rezipienten sowohl individuelle als auch kollektive Resilienzressourcen.

„Sei getrost, Gott wird dich gewiss bald heilen, sei getrost!“ (Tob 5,10)

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IV. Fazit und Ausblick „Resilienz“, wenngleich kein eigensprachlicher Begriff, spielt in der antik-jüdischen Tobitgeschichte insofern eine bedeutende Rolle, als die Geschichte erzählt, wie die Hauptfiguren Tobias und Sarra mental mit einer krisenhaften Lebenserfahrung umgehen. Tobit und Sarra können zunächst als Anti-Typoi für eine resiliente Haltung charakterisiert werden, aber insbesondere Tobit wird durch seine individuelle Geschichte so verwandelt, dass er angesichts des Exils eine positive, hoffnungsvolle Lebenshaltung entwickeln kann. Neben der „Eigenweltlichkeit des Textes“ ist die Tobitgeschichte als Resilienzerzählung auch insofern interessant, als sie für ihre Leserschaft sowohl individuelle als auch kollektive Resilienzressourcen bereitstellt, die mit einem elaborierten Set von literarischen Mitteln als Identifikationspotenziale präsentiert werden (Emotionen, szenisches Erzählen, Innenschau durch die Verwendung der 1. Pers. Sing.; Appellstruktur etc.). Vor dem Hintergrund der Differenzierung von „Resilienznarration“ und „Resilienznarrativ“ stellt sich abschließend auch die Frage nach dem dieser Erzählung zugrundeliegenden strukturellen Muster. Wenn man der Logik der Erzählung mit dem hier dargestellten Rettungsgeschehen folgt, so ist dies das Grundvertrauen auf Gottes helfende Kraft, die denen zuteilwird, die sich ihrerseits durch einen integren Lebenswandel auszeichnen. Auf der kognitiven Ebene mag dies banal klingen; im Kontext einer existenziellen Krise und in der Situation persönlicher Anfechtung kann eine solche Haltung ein lebensrettender Anker sein.

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Interdisziplinäre Perspektiven

Rabbinische Resilienz und resiliente Rabbinen? Strategien des Umgangs mit Krankheit, Krisen und Katastrophen in der talmudischen Literatur der Spätantike Lennart Lehmhaus Die Ubiquität des Resilienzdiskurses in der (Post)Moderne und seiner neoliberalen und psychologisch-utilitaristischen Ausrichtung, die ausschließlich einen positiven und produktiven Umgang mit Krisenerfahrung oder Trauma fordert, wurde allgemein und auch in diesem Band kritisch evaluiert.1 Der Blick in verschiedene kulturelle Kontexte und daher auch die Perspektive vormoderner biblischer und späterer jüdischer Traditionen zeigt dabei deutlich, dass Resilienz auch komplexer und mit zahlreichen Ambiguitäten versehen gedacht werden kann. Im Hinblick auf die jüdische Geschichte und die zahlreichen kulturellen, literarischen und religiösen Traditionen des Judentums, könnte man durchaus sagen, dass Resilienz bereits seit langem ein Schlüsselkonzept darstellte – noch bevor das Konzept von und der Diskurs über Resilienz in der uns heute bekannten Form überhaupt Gestalt angenommen hatte. Die Geburtsgeschichte des Staates Israel wurde häufig im direkten Anschluss und als Gegenpunkt zur Zerstörungserfahrung der Shoa und begleitet von den Wehen des sogenannten Unabhängigkeitskriegs von 1948 gesehen und somit als Symbol jüdischer Widerständigkeit „trotz allem“ überhöht. Resilienz,

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Die globale ökonomische Krise von 2008 (‚Finanzkrise‘) hat wohl kaum viel Gutes gebracht, sicherlich kein besseres oder transparenteres Finanzsystem. Jedoch öffnete diese Erfahrung vollständig die Resilienzdiskurs-Büchse der Pandora in Form einer Flut von Selbsthilfe-Literatur, einer Masse an professionellen Entwicklungsprogrammen und dem inflationären Gebrauch in allen Bereichen – von der Seelsorge bis zur Kundenbindung, von Nachhaltigkeitsprogrammen bis zur Stadtentwicklung. Zur Kritik, siehe SLABY, JAN, Kritik der Resilienz, in: Philipp Wüschner/Frauke A. Kurbacher (Hg.), Was ist Haltung? Begriffsbestimmung, Positionen, Anschlüsse, Würzburg: Königshausen-Neumann 2016, 273–298; RICHTER, CORNELIA (Hg.), Ohnmacht und Angst aushalten. Kritik der Resilienz in Theologie und Philosophie (Religion und Gesundheit 1), Stuttgart: Kohlhammer 2017; VOGT, MARKUS/SCHNEIDER, MARTIN, Zauberwort Resilienz. Analysen zum interdisziplinären Gehalt eines schillernden Begriffs, in: Dies. (Hg.), Theologische und ethische Dimensionen von Resilienz, MThZ 67,3 (2016), 180–194.

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ohne das Konzept zu gebrauchen, wurde daher vor und nach der Staatsgründung von der zionistischen Bewegung und ihren staatlichen Institutionen strategisch eingesetzt. So wurde etwa selektiv auf religiös-kulturelles Traditionswissen und jüdische historische Erfahrungen zurückgegriffen, deren Fokus auf Stärke, Macht und Widerstand lag: der Exodus und die Landnahme hatten Vorrang vor den bescheidenen Anfängen der rabbinischen Bewegung aus den Ruinen der römischen Eroberung; die heldenhaften Anführer Moses und König David boten sich eher als Vorbilder an als etwa Noah, Hiob oder der ambivalente König Saul; Kämpfer für die jüdische Sache wie Samson, die Makkabäer oder die kleine Gruppe jüdischer Aufständischer in Masada gaben eine bessere Figur ab als die Exilierten in Babylonien.2 In den vergangenen Jahrzehnten wurde das Konzept von und der Diskurs zur Resilienz zumeist mit zwei Traumaerfahrungen auf der individuellen und kollektiven Ebene verbunden. Zum einen stehen individuell-psychologische und kollektive Bewältigungsstrategien im Zentrum der Auseinandersetzung mit der Shoah, die in den ersten Jahrzehnten des jungen Staates vernachlässigt worden war. Zum anderen wird Resilienz häufig thematisiert als Fähigkeit zum Weitermachen trotz der ständigen Bedrohung durch Gewalt, Krieg und Terror für die Bewohner Israels (wie auch derjenigen in Gaza oder im Westjordanland), die im eigentlich schon paradoxen Begriff der „Para-Traumatic-StressDisorder“ pointiert zusammengefasst ist.3

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Schon Theodor Herzl sprach in Der Judenstaat von den neuen Hebräern, die als neue Makkabäer aufstreben werden. Vgl. dazu etwa SHAPIRA, ANAT, The Bible and Israeli Identity, in: AJS Review 28 (2004), 11–41; LIEBMAN, CHARLES S., Civil Religion in Israel: Traditional Judaism and Political Culture in the Jewish State, Berkeley: University of California Press 1983, bes. 81–122; STERN, NEHEMIA, The Social Life of the Samson Saga in Israeli Religious Zionist Rabbinic Discourse, in: CRel 19,2 (2018), 177–200; KAVON, ELI, Hanukkah: the Maccabees in the Zionist Imagination, in: Midstream 1. November 2007, https://www.thefreelibrary.com/Hanukkah: the Maccabees in the Zionist Imagination.a0171811329 (abgerufen am: 20.12.2020). 3 Zur komplexen Auseinandersetzung mit dem Massenmord der Shoah bis in die dritte Generation, siehe etwa LENTIN, RONIT, Israel and the Daughters of the Shoah. Reoccupying the Territories of Silence, New York: Berghahn 2000; FRÖHLICH, MARGRIT/LAPID, YARIV/SCHNEIDER, CHRISTIAN (Hg.), Repräsentationen des Holocaust im Gedächtnis der Generationen. Zur Gegenwartsbedeutung des Holocaust in Israel und Deutschland, Frankfurt a.M.: Brandes&Apsel 2004. Zur Resilienz bei Krieg und Terror, siehe SOLOMON, ZAHAVA, Coping with War-Induced Stress. The Gulf War and the Israeli Response, Dordrecht: Springer 2013; COLE, LEONARD A., Terror. How Israel Has Coped and What America Can Learn, Bloomington: Indiana University Press 2007.

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I. Resilienz und rabbinische Traditionen Resilienz spielte in der langen rabbinischen Auseinandersetzung mit biblischen Texten und weiteren Traditionsstoffen oder historischen Erfahrungen eine prominente Rolle. Dies betrifft sowohl die Grundtendenz der historischen Interpretation im akademischen Diskurs zu talmudisch-jüdischer Geschichte, auf den ich im Folgenden noch näher eingehen werde, als auch rabbinisch-theologische Reflektionen. Traditionelle talmudische Diskurse und spätere rabbinische Kommentare oder Exegese bis in die Gegenwart hinein haben sich auf ganz unterschiedliche Weise mit den zentralen, aber auch oft heiklen und ambivalenten Fragen von Trauma und Resilienz produktiv auseinandergesetzt. Konkrete Beschäftigungen mit dem modernen Konzept der Resilienz finden sich in diversen zeitgenössischen jüdischen Institutionen, in denen sich Rabbiner, ihre Studierenden und andere in den Gemeinden Aktive mit biblischen oder talmudischen Quellen auseinandersetzen, um so ethische, theologische und praktische Antworten oder Ideen für jüdisches Leben heute zu entwickeln. Bildungsinstitutionen, insbesondere Seminare für zukünftige Rabbiner (und Rabbinerinnen) wie im Reformjudentum oder im, besonders in Nordamerika stark vertretenen, Reconstructionist Movement, bieten sogar komplette Trainingsprogramme an, die Titel tragen wie „Trauma, Healing and Resilience Project“ mit dem Ziel des „Fully reckoning with our history involves acknowledging, processing and healing from trauma.“4 Auch das egalitäre Institute for Torah and Talmud Study in New York, Yeshivat Hadar, bietet etwa einen umfassenden Kurs an zum Thema „Resilience and Rebuilding. What Do We Do When It All Falls Apart“, dessen Kursbeschreibung die Motivation und die Ziele zusammenfasst: The destruction of the First and Second Temples were events of cataclysmic proportions that left the Jewish community reeling in its wake. Everything they knew, or thought they knew, had been destroyed, at the hands of foreign rulers, perhaps even sanctioned by God. In this session, we’ll turn to the Talmud to get a window into the different ways the young priests and rabbis responded to this great sadness. As we watch them move through their grief, we’ll hope to learn what their own attempts at resilience can teach us about resilience in our times.5

In dieser kurzen Zusammenfassung zeichnen sich bereits die Leitlinien der folgenden Diskussion ab. Der Beitrag stellt den Versuch dar, das Thema der Resilienz anhand verschiedener spätantiker rabbinischer Traditionen zu beleuchten, die sich mit Erfahrung von Leid, Krisen, Verlust oder Trauma befassen. Dabei lassen sich zwei unterschiedliche, aber oft eng miteinander verbundenen Ebenen ausmachen: die kollektiven oder ethnisch-nationalen Erlebnisse sowie die

                                                             4 https://www.rrc.edu/academics/trauma-healing-and-resilience-project (abgerufen am 20.01.2020). 5 https://www.hadar.org/torah-resource/resilience-and-rebuilding.

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individuelle, persönliche und oft auch verkörperte Dimension. Diese beiden Aspekte dienen im weiteren Verlauf auch als prägnante Strukturelemente dieses Essays.

II. Resilienz und Nation: Das jüdische Volk, Katastrophen und Zerstörung Wie in der Kursbeschreibung der Yeshivat Hadar bereits angesprochen, lassen sich die Rabbinen als Erben einer langen Tradition, aber auch als ihre Neubegründer verstehen, die nach der römischen Zerstörung des Zweiten Tempels in Jerusalem sich neu formieren musste, um dann – quasi wie ein Phönix aus der Asche – über Jahrhunderte hinweg sich zu einer kulturellen und religiösen Kraft zu entwickeln, die das Judentum in der nachtalmudischen Zeit nachhaltig bis heute prägen sollte. Es ist daher wenig verwunderlich, wenn jene formativen Erfahrungen von Verlust und Zerstörung neben biblischen Narrativen wie jenen über Exil und Unterdrückung in Ägypten oder die Tempelzerstörung und Exilierung nach Babylon immer wieder im Fokus der talmudisch-rabbinischen Lehren standen und stehen.6 Viele dieser Interpretationen historischer Ereignisse diskutierten diese jedoch im Rückgriff auf altbekannte, bereits biblisch belegte Muster, die in verschiedenen Beiträgen zu dem vorliegenden Band eine zentrale Rolle spielen.7 Die Niederlage gegen die römischen Streitkräfte, die eine Spur von Verwüstung und Tod hinterließ, sowie insbesondere den Fall Jerusalems, in dessen Zuge der Tempel entweiht, geplündert und zerstört wurde, deuteten verschiedene rabbinische Texte innerhalb des biblisch etablierten Konzepts der Bundestheologie. Demnach sei diese Katastrophe und das Leid auf das sündhafte Verhalten des jüdischen Volkes, die Übertretung der Gebote und die Abkehr von Gott und seinem Bund zurückzuführen, wofür Israel seine gerechte Strafe

                                                             6 Jüdische und insbesondere rabbinische Reaktionen auf die Tempelzerstörung(en) und traumatische Erfahrungen wurden vielfältig untersucht. Beispielhaft sei hingewiesen auf STONE, MICHAEL, Reactions to Destructions of the Second Temple, in: JSJ 12 (1981), 195– 204; COHEN, SHAYE J. D., The Destruction: From Scripture to Midrash, in: Prooftexts 2,1 (1982), 18–39; BOKSER, BARUCH M., Rabbinic Responses to Catastrophe: From Continuity to Discontinuity, in: PAAJR50 (1983), 37–61; JONES, KENNETH R., Jewish Reactions to the Destruction of Jerusalem in A.D. 70. Apocalypses and Related Pseudepigrapha (JSOT.S 151), Leiden: Brill, 2011. Zur Rolle der ersten Tempelzerstörung, Exilierung und weiterer Krisen, siehe die Beiträge in DUBOVSKÝ, PETER /MARKL, DOMINIK/SONNET, JEAN-PIERRE (Hg.), The Fall of Jerusalem and the Rise of the Torah (FAT 107), Tübingen: Mohr Siebeck 2016; und CARR, DAVID M., Holy Resilience. The Bible’s Traumatic Origins, New Haven: Yale University Press 2014. 7 Vgl. insbesondere die Beiträge von A. Grund-Wittenberg und A. Klein zu Bundestheologie und von J. Dietrich und C. Maier zu Katastrophe als Gottesstrafe.

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verdient habe. Insbesondere der Midrasch zu den Klageliedern und verschiedene westlich, palästinisch-talmudische Traditionen zu dieser Episode betonen besonders den Aspekt kollektiver und individueller Schuld, die den römischen Eroberungsfeldzug als Gottesstrafe nach sich gezogen habe.8 Auch im babylonischen Talmud finden sich diverse Anklänge dieses Konzeptes, in denen vor allem aber individuelle moralische Verfehlungen, Selbstüberschätzung oder einfach schwere kulturelle Missverständnisse als Grund für die Zerstörung genannt werden.9 Julia Watts Belser hat zudem in ihrem jüngsten Buch mit dem bezeichnenden Titel Rabbinic Tales of Destruction gekonnt gezeigt, dass nicht allein die Bundestheologie als zentrale Idee oder Perspektive der talmudischen Autoren gesehen werden kann, da diese das Sichtfeld bezüglich anderer Zugänge zu stark einschränke. Im Traktat Gittin des babylonischen Talmuds findet sich etwa ein längerer Erzählzyklus, in dem die oben genannte Vergeltungs- und Strafthese kaum eine Rolle spiele. Als Alternative wendet sich Watts Belser diesen Narrativen zu, in denen sie zahlreiche Anhaltspunkte dafür findet, wie die babylonischen Rabbinen die körperlichen und individuellen Folgen von und Reaktionen auf diese katastrophalen Ereignisse in den Vordergrund stellen. Diese Sichtweise fasst sie in ihrer Einleitung prägnant zusammen: Bavli Gittin’s stories are saturated with sexual violence, slavery, and the brutal corporeal costs of Roman imperial ambition. In these accounts, Roman dominance is etched on Jewish flesh and inscribed in rabbinic memory as an assault on the body and a violation of the land.10

Besonders im ersten Teil des Aufsatzes möchte ich die Gelegenheit nutzen, um mit Julia Watts Belsers Forschungsarbeit, neben einigen anderen, in einen intensiven Dialog zu treten. Dazu sollen bestimmte Elemente der von ihr untersuchten talmudischen Texte, insbesondere zwei oder drei Narrative, im Hinblick und mit Schwerpunkt auf die Erfahrungen von Verletzbarkeit, Trauma und Resilienz näher untersucht werden.11

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Vgl. dazu COHEN, „The Destruction“; HASAN-ROKEM, GALIT, Web of Life: Folklore and Midrash in Rabbinic Literature, Stanford: Stanford University Press 2000; KLAWANS, JONATHAN, Josephus, the Rabbis, and Responses to Catastrophes Ancient and Modern, in: JQR 100,2 (2010), 278–309; KRAEMER, DAVID, Responses to Suffering in Classical Rabbinic Literature, New York: Oxford University Press 1995, v.a. 73–78, 96–98, 140–146, 176–183. 9 Vgl. die Anekdoten über individuelle Verfehlungen in b.Gittin 55b–56a und die Berichte über die Gründe für die Zerstörung von Tur Malka und Betar in b. Gittin 57a. Siehe auch WATTS BELSER, JULIA , Rabbinic Tales of Destruction. Gender, Sex, and Disability in the Ruins of Jerusalem, Oxford: Oxford University Press 2018, 136–143. 10 WATTS BELSER, Tales of Destruction, 2. 11 Weitere wichtige Arbeiten zum Umgang mit Krisen und Leiden sind KRAEMER, Responses to Suffering; MINTZ, ALAN, Hurban: Responses to Catastrophe in Hebrew Literature, Syracuse: Syracuse University Press 1996; und teilweise auch VALLER, SHULAMIT, Sorrow and Distress in the Talmud, Boston: Academic Studies 2011.

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III. Um Hilfe hungern: Entbehrung und Sensibilität als Widerstand und Resilienz Die talmudischen Kompilatoren des Traktats Gittin verstanden sich darauf, ihre Diskurse über Theologie, Nation und Politik im Angesicht der Katastrophe der Eroberung Jerusalems mit markanten und berührenden topoi der Körperlichkeit auszudrücken, die sowohl die Geschlechterverhältnisse bzw. genderDynamiken als auch Aspekte von Krankheit und disability berühren. Diese funktionieren dabei diskursiv auf miteinander verbundenen, aber oftmals auch überraschenden Ebenen. Tatsächlich findet sich in diversen spätantik-jüdischen Traditionen, jedoch besonders ausdrucksstark im Traktat Gittin, eine komplexe Verknüpfung jüdischer Körperlichkeit bzw. jüdischer Körper mit der materiellen Umwelt, insbesondere der Stadt Jerusalem und der umliegenden Landschaft. Das erste hier behandelte Narrativ ist vor der Zerstörung angesiedelt und verknüpft auf außergewöhnliche Weise zwei sehr gegensätzliche Figuren – zum einen Marta bat Boethus, eine Dame aus den reichen Kreisen Jerusalems; zum anderen, R. Tzaddok, ein großer frommer Gelehrter und Asket. Die Geschichte in b. Gittin 56a fokussiert auf die Geschehnisse während der hereinbrechenden Hungersnot, die durch die andauernde römische Belagerung Jerusalems ausgelöst wurde: Marta bat Boethus war eine der reichen Damen Jerusalems. Sie schickte ihren Diener aus mit den Worten: „Geh und bring mir feines Mehl [semida]!“ Doch als er hinausging [in die Stadt], war das feine Mehl bereits ausverkauft. So kam er heim und sprach zu ihr: „Es gibt kein feines Mehl mehr, aber gewöhnliches Mehl gibt es noch.“ Da sagte sie zu ihm: „So geh hinaus und bring mir gewöhnliches Mehl!“ Doch als er hinausging, gab es bereits kein gewöhnliches Mehl mehr. Er kam zurück und sprach zu ihr: „Es gibt kein gewöhnliches Mehl mehr, doch grobes Mehl [gushkera] gibt es wohl noch.“ Da sagte sie zu ihm: „So geh hinaus und bring mir grobes Mehl!“ Doch als er hinausging, gab es bereits kein grobes Mehl mehr. Er kam zurück und sprach zu ihr: „Es gibt kein grobes Mehl mehr, doch Gerstenmehl gibt es wohl noch.“ Da sagte sie zu ihm: „So geh hinaus und bring mir Gerstenmehl!“ Doch wieder einmal, als er hinausging, gab es bereits kein Gerstenmehl mehr. Da hatte sie bereits ihre Schuhe abgestreift und sagte: „Ich werde selbst hinausgehen und schauen, ob ich etwas [zum Essen] finde.“ [Doch draußen auf den Straßen], trat sie in Unrat/Fäkalien, diese blieben an ihrem Fuß und sie starb. R. Yochanan ben Zakkai las/rezitierte über sie daher [den zutreffenden Bibelvers]: „Die weichlichste und verwöhnteste Frau, die noch nie versucht hat, ihren Fuß auf die Erde zu setzen [vor lauter Verwöhntheit und Verweichlichung …] (Deut. 28,56)“. Manche jedoch sagen, [sie sei nicht durch den Unrat/Fäkalien an ihrem Fuß gestorben, sondern] sie habe von den getrockneten Feigen R. Tzaddoks gekostet, wurde von ihrer Sensibilität [durch Ekel] übermannt (‫ )ואיתניסא‬und starb. [Die anonyme Ebene des babylonischen Talmuds erläutert nun die Hintergrundgeschichte für diese These] R. Tzaddok hatte sich ein vierzigjähriges Fasten auferlegt, damit Jerusalem doch nicht zerstört werden würde. Wenn er etwas [Kleines] aß, war es von außen

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sichtbar [in seinem ausgemergelten Körper]. Und um gesund zu sein [trotz des Fastens] brachte man ihm getrocknete Feigen, die er aussaugte und fortwarf. [Und solche eine Feige fand Marta bat Boethus, aß sie und starb]. Als [Marta] dort ihre Seele aushauchte, nahm sie ihr ganzes Gold und Silber, warf es auf den Marktplatz und sagte: „Für was brauche ich das noch?“ Daher steht geschrieben: „Sie werfen ihr Silber auf die Straße [und ihr Gold wird zu Unrat. Ihr Silber und Gold kann sie nicht retten am Tag des Zornes des HERRN. Sie werden damit ihre Gier nicht sättigen und ihren Bauch nicht füllen; denn das war für sie der Anlass, in Schuld zu fallen] (Ezekiel 7,19)“. b. Gittin 56a

Diese Anekdote ist in einem längeren Cluster eingebettet, der zwar nicht von der Kollektivschuld, aber von individuellen Verfehlungen und Streitigkeiten unter den Einwohnern Jerusalems berichtet, die letztlich zum Untergang geführt hätten. Doch unterscheidet sich dieses Narrativ in einigen Dingen, zumal hier zwei Protagonisten von entgegengesetzten Enden der jüdischen Gesellschaft in Jerusalem miteinander in Kontakt kommen (wenn auch nur sehr indirekt) und über diesen kontrastiert werden. Auf der einen Seite finden wir Marta bat Boethus, eine Dame aus der Jerusalemer High Society, deren Gefangensein in ihrem goldenen Käfig durch den Handlungsverlauf sowie die tragikomischen Dialoge zwischen ihr und ihrem Diener betont wird. Auf der anderen Seite präsentiert der Talmud R. Tzaddok, dessen vierzigjährige Askese zu präventiver Sühne und zum Schutz dient und ihm quasi eine selbstbeigebrachte disability in Form seines völlig ausgezehrten Körpers einbringt. Gleichzeitig ist die Erzählung über diese Form spiritueller und körperlicher Gewaltübung im babylonischen Talmud als narrativer und körperlicher Widerstand gegen die römische Belagerung und die Mission der jüdischen Unterwerfung und Zerstörung dargestellt. Die Anekdote über Marta zeigt viele spannende Parallelen mit den biblischen Traditionen des Klagelieds, dessen Autoren sehr eindrucksvolle wie auch lebendige Bilder für die nationale, ethische sowie physische Verwüstung des jüdischen Volkes entworfen haben.12 Im Gegensatz dazu setzt R. Tzaddok die absichtlichen Entbehrungen und seinen eigenen ausgezehrten Körper als ein machtvolles Instrument ein, in dem sich bevorstehender Schmerz und die Zerschlagung des Volkes Israels sowie des Glanzes Jerusalems bereits spiegeln, obwohl die asketische Praktik eigentlich zur Verhinderung ebenjener Zerstörung gedacht ist. Diese Darstellung erinnert uns daran, für antike und auch für gegenwärtige Kontexte, dass Krieg, Besatzung und Unterdrückung nicht allein eine Spur der materiellen Verheerung, der körperlichen Verletzung,

                                                             12

Das talmudische Narrativ nutzt vielen Parallelen auf der Bildebene, etwa in Klagelieder 4,4–5: „Des Säuglings Zunge klebt an seinem Gaumen vor Durst. Kinder betteln um Brot; keiner bricht es ihnen. Die einst Leckerbissen schmausten, verschmachten auf den Straßen. Die einst auf Purpur lagen, klammern sich jetzt an Unrat.“ Vgl. WATTS BELSER, Tales of Destruction, 81–85.

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Versehrung und des Todes hinterlässt. Vielmehr sind Eroberung und Zerstörung im Stande, einer ganzen Nation oder Gemeinschaft und ihren Traditionen solch einen ernsthaften, oftmals irreversiblen Schlag zu versetzen, der sich als Zustand kultureller Invalidität und kollektiver Traumatisierung beschreiben lässt. Für diesen müssen verschiedene soziopolitische, religiöse oder kulturelle Bewältigungsstrategien gefunden oder entworfen werden. R. Tzaddoks Körper fungiert hierbei als Mahnmal und Arena kultureller und politischer Auseinandersetzungen.13 Der Gelehrte und Asket eröffnet eine Möglichkeit resilienten Verhaltens angesichts der Blindheit und Selbstverliebtheit der Jerusalemer im Angesicht der drohenden Katastrophe, indem er den Weg einer bewussten Selbstauszehrung und eine Form der körperlichen disability wählt. Diese wird jedoch zielgerichtet eingesetzt und wird somit zur wahren Quelle geistig-moralischer Überlegenheit und frommer Anstrengung, die den widrigen politischmilitärischen Umständen trotzt und sie letztlich überdauert.14 R. Tzaddoks beispielhaftes Verhalten steht dabei in einem klaren Gegensatz zum schrittweisen und ungewollten disabling Martas durch ihre fehlgeleiteten und überzogenen Ansprüche, die offensichtlich in einer hungernden, belagerten Stadt völlig fehl am Platze sind. Allerdings insistieren die talmudischen Autoren nicht auf einen scharfen Gegensatz zwischen diesen Figuren, den man hier erwarten könnte. Natürlich lobt der Text R. Tzaddoks unermüdlichen Bemühungen und seine Antizipation des Leids, das sein Volk erwartet, durch seine eigene Askese. Doch Marta taucht hier nicht als Antipode auf. Im Gegensatz zu palästinischen Traditionen oder den direkt vorhergehenden Anekdoten im Bavli wird sie nicht als schlecht oder sündhaft dargestellt. Sie kann nicht aus ihrer Haut und ist schier nicht in der Lage, ihre alten Gewohnheiten zu überwinden. Anstatt ihrem Diener Hand-

                                                             13 Vgl. WATTS BELSER, Tales of Destruction, 78: “[…] it laments the tangible loss wrought by Roman conquest and it protests Roman dominance. Even as the rabbis use disability to give visceral expression to the brutality of Roman conquest, they also use the disabled Rabbi Tsadok to resist and resignify the cultural logic of imperial victory, written in and through the flesh.” 14 Askese und selbstauferlegte Armut werden in der rabbinischen Literatur als grundlegend für die Herausbildung einer ethischen Einstellung gesehen, die zu Gottesfurcht und guten Taten führt und damit die Grundlage für (jenseitige) Verdienste bildet. Dieses Konzept unterstreicht, dass Resilienz als Resistenz gegenüber widrigen Umständen (Krankheit, disability, Leid, Armut) nicht nur als Aushalten zu verstehen ist, sondern auch positives und kreatives Potential birgt – und das nicht nur für einen frommen, spirituellen Giganten wie R. Tzaddok, sondern für jedermann. Auch die soziale und politische Reichweite einer solchen Verbindung von Askese und ethischer Praxis wird betont. Vgl. dazu Seder Eliyahu Zuta, Kapitel 5 und die Besprechung in LEHMHAUS, LENNART, Wissen üben – Tora-Studium als/und asketische Praxis im rabbinischen Judentum, in: Almut-Barbara Renger/Alexandra Stellmacher (Hg.), Übungswissen in Religion und Philosophie. Produktion, Weitergabe, Wandel, Münster/Berlin: LIT 2018, 71–108.

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lungsfreiheit zu gewähren und sich mit weniger qualitativen Produkten zu begnügen, bleibt sie in angelernten Handlungsschemata und Machtdynamiken gefangen. Im Sinne der zeitgenössischen Resilienztheorie fehlt es ihr an den richtigen Ressourcen – ihre adaptiven Strategien sind zu langsam und versagen immer wieder aufs Neue. Als sie schließlich bereit ist, über ihren Schatten zu springen und in den sauren Apfel bzw. die vertrocknete Feige zu beißen, verkennt sie bei ihrer Entscheidung fatalerweise ihre eigene Natur. Bei ihrem Entschluss, sich auf eigene Faust zu versorgen, indem sie sich in die Welt bzw. auf die Straße hinaus wagt, übertreibt sie. Sowohl der Konsum von Essensresten als auch das Abstreifen der Schuhe – ein demütiges Symbol der Trauer15 und möglicherweise ein Versuch, sich mit den armen, leidenden anderen Jerusalemern auf eine Ebene zu begeben – sind beide nicht mit ihrer Sensibilität vereinbar und sorgen für ihren schnellen Tod.16 Die ergänzende Meinung im Talmud verknüpft Martas Sterben mit ihrem verzweifelten Konsum der weggeworfenen Überreste jener Feigen, die von R. Tzaddok strategisch während seiner Hungerdiät als minimale Stärkung eingesetzt wurden. Diese Erklärung bietet eine weitere symbolische Auseinandersetzung mit dem Konzept der Resilienz. Wie bereits vorher erwähnt, besteht eine starke bildliche Verbindung zwischen den getrockneten, ausgesaugten Feigen und dem ausgezehrten, fast durchsichtig dünnen Körper des Gelehrten. Beides würde im herkömmlichen Diskurs wahrscheinlich mit Schwäche, Passivität, Hässlichkeit und Ekel verbunden sein, worauf auch die Erklärung für Martas Überkommenwerden hindeutet. In diesem Zusammenhang jedoch verwandeln sich R. Tzaddok und die verschrumpelten Früchte, die ihn am Leben erhalten, zur wahren Quelle der Stärke, Abwehr, Hoffnung und sogar Erneuerung – im Gegensatz zu Schönheit, Reichtum und Opulenz der Jerusalemer Elite. Auch die anschließende Anekdote über die Wiederherstellung von R. Tzaddoks ausgemergeltem Körper verweist auf die Ebene politischen Widerstands und kultureller Resilienz. Das Narrativ in b. Gittin 56a–b spielt nach der listenreichen Flucht R. Yochanan ben Zakkais aus der belagerten Stadt, bei der dieser seinen eigenen Tod vortäuscht.17 So entkommen trifft er schließlich auf

                                                             15 Das Ausziehen der (Leder)Schuhe ist eine Geste der Demut am Fastentag Yom Kippur (Versöhnungstag) und wird ebenfalls als Symbol der während der Trauerzeit und am Trauerund Fastentag des 9. Aws praktiziert, an dem im Judentum den beiden Tempelzerstörungen als Katastrophe gedacht wird. Gleichzeitig erfolgt dies hier als eine Geste gegenüber den verarmten und leidenden Bewohnern Jerusalems. 16 Vgl. dazu Klagelieder 4,7: „Ihre Vornehmen waren reiner als Schnee, weißer als Milch, ihr Leib rosiger als Korallen, saphirgleich ihre Gestalt.“ 17 R. Yochanan ben Zakkai zählt zu den prominentesten rabbinischen Gelehrten dieser Generation und gilt als der Retter und Erneuerer der jüdischen Tradition nach der Katastrophe. Zu seiner spektakulären Flucht aus der belagerten Stadt und seinen Verhandlungen mit den römischen Angreifern, siehe auch die Paralleltexte in Klagelieder Rabba 1,31; Avot de-

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den Belagerer, den Feldherren Vespasian, dem er prophezeit, dass er bald Herrscher Roms werden würde. Als diese „Prophezeiung“ tatsächlich eintritt, gesteht Vespasian dem rabbinischen Gelehrten noch einige Wünsche zur Belohnung zu18: [Vespasian] sagte zu [R. Yochanan ben Zakkai]: „Ich gehe nun [nach Rom, um mein neues Amt als Imperator anzutreten], aber ich werde jemand anderen an meiner statt senden, der die Belagerung Jerusalems fortsetzt]. Doch bevor ich mich aufmache, bitte mich um etwas, das ich dir gewähren kann.“ [Rabban Yoḥanan ben Zakkai] sprach zu ihm: „Gib mir Yavne und die Gelehrten darin, und verschone die Dynastie/Familie von Rabban Gamliel [dem Patriarchen], und schicke mir Ärzte, damit sie R. Tzaddok heilen mögen!“ Rav Yosef rezitierte [den folgenden Bibelvers] über ihn (R. Yochanana ben Zakkai). Und manche sagen, es sei R. Akiva gewesen: „[Ich bin der HERR…] der die Weisen zum Rückzug zwingt und ihr Wissen als närrisch entlarvt“ (Jesaja 44,24–25). [Warum denn dieser Vers? Denn] er hätte zu ihm (Vespasian) sagen sollen, dass er diesmal [alle Juden und Jerusalem] verschonen sollte. Er (R. Yoḥanan) dachte jedoch, dass er (Vespasian) wahrscheinlich nicht alles tun würde. Und dann gäbe es nicht einmal ein kleines Maß an Rettung/Erlösung. Um was bat er [, als er fragte nach] Ärzten, damit sie R. Tzaddok heilen mögen? Am ersten Tag gaben sie ihm Wasser mit [aufgelöster] Kleie zu trinken. Am nächsten Tag [gaben sie ihm] Wasser [gemischt mit] Mehl und Kleie. Und am darauffolgenden Tag [gaben sie ihm] Wasser [gemischt] mit Mehl – bis seine Därme sich Schritt für Schritt geweitet [und an feste Nahrung] gewöhnt hatten. Bab. Talmud b. Gittin 56b

In diesem Teil des Jerusalem-Zyklus wird eine Ätiologie bzw. Entstehungsgeschichte der rabbinischen Bewegung konstruiert, die sich durchaus als Resilienz-Narrativ verstehen lässt. Der Talmud berichtet von der Begegnung zwischen dem Belagerer Vespasian und R. Yoḥanan ben Zakkai, der quasi als Vertreter des jüdischen Volkes fungiert. Dieser große Gelehrte beschränkt sich in seinem Handel mit dem römischen Herrscher auf einige wenige Zugeständnisse, statt das Unmögliche zu versuchen – die Verschonung ganz Israels und

                                                             Rabbi Natan A4 bzw. B 6. Und vgl. NEUSNER, JACOB, A Life of Rabban Yoḥanan ben Zakkai. ca. 180 C.E., Leiden: Brill 21970; SCHÄFER, PETER, Die Flucht Johanan b. Zakkais aus Jerusalem und die Gründung des Lehrhauses in Jabne, in: Wolfgang Haase (Hg.), Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt (ANRW), Teil 2, Bd. 19/2, 1979, 43–101; SALDARINI, ANTHONY, Johanan ben Zakkai’s Escape from Jerusalem: Origin and Development of a Rabbinic Story, in: JSJ 6,2 (1975), 189–204. 18 R. Yoḥanans Flucht und Begegnung mit Vespasian ähnelt stark der (Selbst)Beschreibung des Josephus in seinem Bellum Judaicum (3. Buch). Orakelverheißung des Kaisertums an Vespasian auch bei Sueton belegt Vgl. Sueton, Nero, Vespasian, hrsg. von Hans Martinet (Sammlung Tusculum), Berlin: De Gruyter 2014, 837 (Kap. 5,6). Auch bei Tacitus und Cassius Dio (Römische Geschichte 66,1) finden sich ähnliche Belege. Vgl. dazu HOLLANDER, WILLIAM DEN, Josephus, the Emperors, and the City of Rome. From Hostage to Historian, Leiden: Brill 2004, 93–96; MERKELBACH, REINHOLD, Des Josephus Prophezeiung für Vespasian, in: Ders., Philologica: Ausgewählte kleine Schriften, hg. von Wolfgang Blümel, Stuttgart/Leipzig: Teubner 1997, 525; COHEN, SHAYE J.D., Josephus, Jeremiah, and Polybius, in: History and Theory 21,3 (1982), 366–381.

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Jerusalems zu erbitten. Wohl kalkulierend pickt er sich sozusagen die Rosinen heraus. Er bittet um die Herausgabe jener Gesellschaftsgruppen, die nach der Zerstörung dann das Fundament oder die Säulen der neu zu erbauenden jüdischen Tradition werden sollen: die rabbinischen Gelehrten von Yavneh; die politische Elite des Patriarchenhaushalts (Rabban Gamliel); und zuletzt R. Tzaddok als Vertreter der pietistischen und asketischen Tradition.19 Diese strategische Handlung R. Yoḥanans wird im Text selbst durch einen Bibelvers als ethisch-moralisch höchst umstritten bereits kritisiert. Jedoch liefert die talmudische Diskussion auch eine Begründung für jene Selbstbeschränkung, da der römische Befehlshaber wohl kaum die gesamte Belagerung abgebrochen hätte. Die Bitte R. Yoḥanans um die professionelle Hilfe der Ärzte lässt sich hier auf zwei Ebenen interpretieren. Zum einen wird das Machtgefälle deutlich, da die Heilung R. Tzaddoks vom guten Willen des Kaisers und der nicht-jüdischen Expertise der römischen Ärzte abhängt. Zum anderen jedoch sind es gerade das imperiale Zugeständnis und die medizinische Intervention, durch die der Grundstein für die spirituelle (und politische) Erneuerung der jüdischen Gemeinschaft gelegt wird. Allerdings weist die rabbinische Tradition allzu geradlinige Konzepte physischer Heilung und damit verbundener kultureller Rehabilitation zurück. In der Parallele der R. Yoḥanan-Geschichte im Midrasch Klagelieder Rabba 4,11 wird deutlich, dass die Behandlungsversuche der römischen Ärzte fehlschlagen: „Schwärzer als Ruß sehen sie aus [. . .]“ (Klagelieder 4,8). Rabbi Eliezer, der Sohn Rabbi Tzaddoks sagte: „Könnte ich doch Trost finden – denn obwohl mein Vater noch all die Jahre nach der Zerstörung [Jerusalems und des Tempels] lebte, so erholte sich sein Körper niemals von dem, was passiert war.“ Und er entsprach somit dem, was geschrieben steht: „[. . .] ihre Haut hängt geschrumpft an den Knochen, und sie sind so dürr/trocken wie ein Holzscheit“ (Klagelieder 4,8).

Hier wird unter Rückgriff auf die plastische Beschreibung der Opfer Jerusalems während der Krise vor der ersten Tempelzerstörung und Exilierung in den Klageliedern darauf hingewiesen, dass asketische Antizipation und Widerstand sowie die doch eingetretene Zerstörung nicht spurlos an R. Tzaddok vorüber-

                                                             19 Diese talmudische Episode gilt als ein Grundstein des in der Forschung sogenannten „Yavneh-Mythos“, eine Gründungslegende über einen nahtlosen Übergang mit entwickelten und personell gut ausgestatten Institutionen (Lehrhaus und Patriarchat), der so nie stattgefunden hat, sondern von späteren Autoren in die Anfangszeit der rabbinischen Bewegung zurückprojeziert worden ist. Vgl. COHEN, SHAYE J. D., The Significance of Yavneh: Pharisees, Rabbis, and the End of Jewish Sectarianism, in: HUCA 55 (1984), 27–53; BOYARIN, DANIEL, Anecdotal Evidence: The Yavneh Conundrum, Birkat Hamminim, and the Problem of Talmudic Historiography, in: Alan J. Avery-Peck/Jacob Neusner (Hg.), The Mishna in Contemporary Perspective, Bd. 2, Leiden: Brill 2006, 1–35. Allgemein zur langsamen Entwicklung der rabbinischen Bewegung, siehe HEZSER, CATHERINE, The Social Structure of the Rabbinic Movement in Roman Palestine (TSAJ 66), Tübingen: Mohr Siebeck 1997.

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gegangen sind. Auch wenn er scheinbar physisch geheilt und fähig zum Weiterleben erschien, so hat diese Erfahrung ihn irreversibel geschädigt und verwandelt. Julia Watts Belser hat herausgearbeitet, dass hier eine Engführung oder Metonymie vorliegt zwischen den Narben und Spuren der versehrten jüdischen Körper und der verwundeten und geschliffenen Stadt Jerusalem oder der Landschaft (Flüsse gefüllt mit Blut etc.), die beide für die jüdische Nation und Kultur stehen.20 Hier soll noch eine Beobachtung besonders hervorgehoben werden. R. Tzaddok bleibt trotz oder gerade wegen seiner Frömmigkeit und seines Wertes für die jüdische Gemeinschaft ein Gezeichneter. Sein Zustand der Versehrtheit und disability, die nie mehr zu heilen waren, sind ein hybrides Symbol. Zum einen verkörpern sie Widerstand und Resilienz als selbstgewählte Strategie (Askese) und Resultat – trotz äußerer Erfahrungen weiterleben. Zum anderen wird der asketische Gelehrte zu einem kulturellen Schauplatz oder Mahnmal, dem die Erinnerung an Trauma und Verlust für immer in seinen geschundenen Körper eingeschrieben bleibt.21

IV. Rache als Resilienz – Titus, vom Eroberer zum Erniedrigten Nun widmen wir uns einer weiteren verblüffenden Erzählung im Traktat Gittin, die direkt an die soeben besprochene Passage über R. Yochanans Handel mit Vespasian anschließt. Dieser verabschiedet sich als neuer Herrscher gen Rom und sendet von dort seinen Sohn, den späteren Eroberer Jerusalems, Titus, der bereits in der Eingangsszene mit einem blasphemisch benutzten Bibelvers beschrieben wird (Deut 32,37: Und er wird sagen: Wo sind ihre Götter? Wo ist der Fels, bei dem sie Schutz suchten?), da er sich für den mächtigsten Mann auf Erden hält. Der erfolgreiche Heerführer nimmt in der talmudischen Erzählung nicht einfach Jerusalem nur ein. Vielmehr scheut er nicht davor zurück, im doppelten und dreifachen Sinne in den Tempel und das Allerheiligste einzudringen. In einer drastischen und gewalttätigen Szene, zwingt Titus eine Frau in das Allerheiligste, wo er sie auf einer unter ihnen ausgebreiteten Torarolle penetriert und vergewaltigt. Anschließend zerteilt er noch mit dem Schwert den Vorhang (parokhet) zum Allerheiligsten. Das wundersam hervorsprudelnde Blut deutet der siegestrunkene Feldherr fälschlicherweise als ein Zeichen dafür, dass er den Gott Israels zur Strecke gebracht und seine Wohnstatt für immer vernichtet habe.22 So verfrachtet er die Tempelgerätschaften im

                                                             20

Vgl. WATTS BELSER, Tales of Destruction, 99–134. Zur Sinnhaftigkeit von Leiden und der Leidenserinnerung als Strategie der Integration von scheinbar Sinnlosem und Negativem in einen komplexeren Verstehenszusammenhang, siehe den Beitrag von F. Hartenstein in diesem Band. 22 Vgl. WATTS BELSER, Tales of Destruction, 109–117 und 148–153. Zusätzlich könnte man jene Missinterpretation des „Wunders“ hier als eine satirische Kritik auf die zur Zeit 21

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Vorhang eingeschlagen auf ein Schiff und steuert Richtung Heimat. Als ein Sturm das Schiff bedroht, lässt sich der siegestrunkene Römer zu einer weiteren Gotteslästerung hinreißen. Der Gott Israels, der bereits Pharao und Sissera im Wasser tötete, habe wohl nur Macht über dieses Element, doch an Land könne er ihm, dem großen Feldherrn, nicht das Wasser reichen. Daraufhin verkündet ihm eine göttliche Hallstimme (bat qol), dass eine der niedrigsten Kreaturen in Gottes Schöpfung ihn in seine Grenzen verweisen werde. Hier setzt folgende Anekdote ein: Er (Titus) ging an Land. Da kam eine Mücke daher, die in sein Nasenloch flog und sieben Jahre in seinem Gehirn herumstocherte, herumhackte, stach. Eines Tages ging er (Titus) am Tor einer Schmiede vorbei. Als die Mücke den Lärm des Hämmerns hörte, wurde sie ruhig. (Titus) sagte: „Es gibt ein Heilmittel [für meine Leiden]!“ So ließ er jeden Tag einen Schmied [in seinen Palast] bringen, damit dieser hämmern [und die Mücke beruhigen] sollte. Jedem nichtjüdischen Schmied gab er vier Dinar, während er zu einem jüdischen Schmied sprach: „Es soll dir genügen, dass du deinen Feind so [in Schmerzen] siehst!“ Dreißig Tage tat er dies so. Doch von da an [gewöhnte sich die Mücke daran] und sie hämmerte selbst weiter [in seinem Kopf]. Bab. Talmud b. Gittin 56b

Der Talmud porträtiert den mächtigen Titus hier als Opfer seiner eigenen Arroganz, seiner Blasphemie und Selbstüberschätzung, da er nicht von einer Armee oder durch ein göttliches Wunder, sondern von einer winzigen Mücke qualvoll bestraft wird. So wird hier das Selbstbild von Titus und des römischen Imperiums an sich in Frage und das Machtverhältnis von Groß und Klein auf den Kopf gestellt. Zudem folgt die Art der Strafe der ausgleichenden Gerechtigkeit und dem biblischen und insbesondere rabbinisch zentralen Konzept des Tun-Ergehen-Zusammenhangs nach der Logik des Maß-für-Maß (midda keneged midda).23 Julia Watts Belser hat hier treffend auf die auch körperliche Entsprechung (tit for tat) der Strafe für Titus Verhalten während der Eroberung Jerusalems hingewiesen. Der römische Eroberer, Eindringling in den Tempel

                                                             des babylonischen Talmuds beliebten und bekannten Geschichten über Zeichen und Wunder sehen, die den ersten christlichen römischen Herrschern zuteilwurden. 23 Die Idee des erst auf den zweiten Blick erkennbaren Wertes scheinbar „unnützer“ Schädlinge und Tiere (meist Insekten) findet sich in verschiedenen rabbinischen Traditionen. Vgl. etwa y. Berakhot 9,3 (13c): unterschiedliche Insekten, die als Heilmittel gegen die Stiche oder Bisse anderer Tiere eingesetzt werden können; Alphabet des Ben Sira: Rettung des jungen König Davids durch Spinnen und Wespen. Zur retributiven Gerechtigkeit, siehe YEHOSHUA, AMIR, Measure for Measure in Talmudic Literature and in the Wisdom of Solomon, in: Henning Graf Reventlow/Yair Hoffman (Hg.), Justice and Righteousness. Biblical Themes and their Influence (JSOT.S 137), Sheffield, UK: JSOT 1991, 29–46; EGO, BEATE, God's Justice: the “Measure for Measure” Principle in 2 Maccabees, in: Géza G. Xeravits/József Zsengellér (Hg.), The Books of the Maccabees. History, Theology, Ideology (JSJ Supplement), Leiden: Brill 2007, 141–154.

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und Vergewaltiger erfährt nun eine lange und schmerzvolle Penetration am eigenen Leib.24 Es lässt sich hinzufügen, dass dieses Eindringen der Mücke in den gottgleichen römischen Weltherrscher, sozusagen das verkörperte Allerheiligste des römischen Imperialismus, als Vergeltung der Entweihung des allerhöchsten Heiligtums des judäischen Kultes funktioniert. Ironischerweise ist es ausgerechnet das konstante Hämmern des Schmiedehammers, welches in vielen Kulturen bis heute mit einem furchtbaren Kopfschmerz oder Migräne verbunden wird, das Titus als ein Heilmittel für seine Pein entdeckt. Die Ironie wird noch gesteigert, da der Herrscher nun mit Geld oder Erniedrigung für diese aktive Form der Lärmbelästigung als Therapie bezahlt. Doch die Linderung ist nur ein Intermezzo, da schon bald die Mücke ihre langsame Folter wieder aufnimmt, bis Titus den Tod findet. Doch hier endet die Erzählung nicht, sondern bildet einen zweiten narrativen Höhepunkt: Es wurde gelehrt [in einer außertalmudischen Lehre]: Rabbi Pinchas ben Arova sagte: „Ich bin [zur Zeit von Titus Herrschaft] unter den Oberen Roms gewesen. Als Titus gestorben war, öffnete man seinen Kopf und fand [eine Kreatur] in der Größe eines dror tzippor (Spatz?), die etwa zwei Sela wog.“ Woanders wurde gelehrt, dass [die Kreatur wie] eine ein Jahr alte Taube [groß] war und ungefähr zwei litra [wog]. Abbaye sagte: „Wir kennen eine Tradition [, die besagt, dass] der Mund aus Bronze und die Krallen aus Eisen waren.“ Als Titus im Sterben lag, sprach er: „Verbrennt diesen Mann (mich) und verstreut seine Asche über alle Enden der Meere, damit der Gott der Juden ihn nicht finde und vor Gericht stelle!“ […] Und was ist die Strafe dieses Mannes (i.e. Titus)? Titus [der von seinem Neffen zur Befragung von den Toten aufgeweckt wurde] sprach: Genauso, wie er es für sich befohlen hat. [Doch] jeden Tag wird seine Asche gesammelt, man verurteilt ihn, verbrennt ihn und verstreut ihn über alle Meere.

Die hier ausgebreiteten Lehren lassen sich, wie auch die Episode über die Ärzte für R. Tzaddok, als einen Wink auf die Tradition medizinisch-empirischer öffentlicher Vorführungen verstehen.25 Die Oberen Roms beschließen, der Qual ihres verstorbenen Kaisers auf den Grund zu gehen, indem sie seinen Leichnam gezielt obduzieren. Diese Verfahrensweise war möglicherweise als eine talmudische Karikatur der wissenschaftlichen Neugier und des Forschungsdranges der griechisch-römischen „Leitkultur“ der Eroberer gedacht. Zudem erscheint dieser Eingriff als ein pietätsloser Akt, in dem sich der mangelnde Respekt der Römer vor dem Tod und den Toten selbst im Umgang mit ihrem Herrscher zeigt. Bei dieser Schädelsektion finden sie weder die winzige Mücke noch ein zermartertes Gehirn. Vielmehr scheint die Mücke im Gehirn des Imperators eine

                                                             24

Vgl. Watts Belser, Tales of Destruction, 160–162. Vgl. dazu NUTTON, VIVIAN, Ancient Medicine, London: Routledge 22013, 216, 276– 278, 304. 25

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Transformation zu einer metallischen Kreatur vollzogen zu haben, die in Gewicht und Größe verschiedenen Vögeln entspricht. Dieser Fund lässt sich mit dem Verweis auf die Parallele zwischen dem quälenden Picken/Hacken der Mücke und dem Hämmern der Schmiede erklären, der dem Kaiser zeitweise Linderung verschafft. Denn so wie die Schmiede in ihrer Arbeit Metall verarbeiten und transformieren, so erschafft die Mücke durch ihre jahrelange Folter aus dem Gehirn ein vogelähnliches Gebilde aus Bronze und Eisen. Die spezifische Form dieser Transformation dient hier als weiterer Schlag gegen das römische Imperium und seine Herrschaftssymbole. Ähnlich wie die Mücke können die beiden genannten Vogelarten, der dror tzippor (Spatz?) und die Taube, als eher kleine, gewöhnliche und wenig repräsentative Vertreter ihrer Art gelten. Trotzdem sind es diese unscheinbaren Tiere, die letztlich den siegreichen römischen Adler in die Knie zwingen. Überdies spielt die Taube, wie etwa bei Noah und der Flut, eine zentrale Rolle in der Geschichte der Menschheit und Israels als ein Symbol für das Überleben, Erneuerung und Hoffnung, die wie hier imperiale Zerstörung oder allgemein Katastrophen und Krisen überwindet. Julia Watts Belser konzentriert sich in ihrer Diskussion auf die Perforation durch die Mücke und die Schädelöffnung als Schlüsselmomente: Through striking images of the body as a porous and permeable space, these narratives challenge the notion of Roman- Christian power as sealed and sovereign – imagining the imperial body as vulnerable to divine incursion, open to divine touch.26

Dieses talmudische Narrativ dreht sich offensichtlich nicht um Protagonisten, die im Angesicht der Katastrophe Aspekte der Verletzlichkeit, des Leidens, aber auch der Stärke und der Verarbeitung traumatischer Erfahrungen verkörpern. Ganz im Gegenteil zur ersten Passage konzentriert sich der Talmud hier nicht auf die Resilienz des Protagonisten. Vielmehr lässt sich nicht verleugnen, dass die Autoren an der, oft auch drastischen Darstellung der Qual, des Schmerzes und des körperlichen und seelischen Verfalls des machtvollen römischen Eroberers ihre wahre Freude hatten.27 Es lässt sich an Resilienz durch empowerment denken, wie es in Christian Frevels Beitrag zur Sprache kommt.28 Doch diese bleibt eine in der Retrospektive auf die jüdische Geschichte vollzogene Form der Ermächtigung und Mitwirkung, ein Neu- und Überschreiben dominanter Diskurse. Als eine bewusste Strategie der Autoren

                                                             26

WATTS BELSER, Tales of Destruction, xxxiv. Vgl. WATTS BELSER, Tales of Destruction, 136: “These rabbinic fantasies are expressed in striking corporeal terms: through images of bodily rupture and physical pain, as well as the humiliation and the degradation of the flesh, the unmaking of the imperial body. The Bavli’s Titus tale undercuts the power politics of Roman-Christian authority, asserting that God can and will overturn the seemingly intractable structures of social and political dominance.” 28 Siehe den Beitrag von C. Frevel in diesem Band. 27

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und ihres Publikums vollzieht sich Resilienz hier ganz auf dem Wege der imaginierten Rache.

V. Resilienz, Körperlichkeit und das Individuum Nachdem im Vorhergehenden der Fokus auf der Ebene des Kollektivs, der Nation oder der Gemeinschaft lag, zwar immer durch einzelne Handelnde verkörpert, soll im zweiten Teil dieser Diskussion der Blick auf die persönliche und individuelle Perspektive gelenkt werden. Dabei sollen auch hier die zwei wichtigen Aspekte des Resilienz-Kontinuums beleuchtet werden: zwischen Aushalten und Gestalten. Die folgenden Beispieltexte befassen sich vor allem mit Krisensituation durch Krankheit, disability oder Tod, deren Relevanz im Laufe der Geschichte bedingt durch die conditio humana ähnlich hoch geblieben ist. Im Hinblick auf das Thema der Krankheit finden sich in der rabbinischen Literatur diverse Passagen, die die Heftigkeit und Bösartigkeit körperlicher Beschwerden und pathologischer Zustände betonen und in schillernden Farben zeichnen. So findet sich in verschiedenen talmudischen Quellen die gefürchtete Triade von Leiden, die von den Gelehrten anscheinend als besonders unangenehm und störend empfunden wurde: Magen- und Darmbeschwerden, Kopfschmerzen bzw. Zahnschmerzen und Augenleiden. Die erstgenannten Beschwerden begegnen auch in einem Text, der schlimme Krisen- und Leiderfahrungen auch auf anderen Ebenen als der rein körperlichen ausmacht: Drei [Gruppen von Menschen] müssen das Angesicht [des Purgatoriums in] der Gehenna (‫ )פני גיהנם‬nicht sehen (d.h. durchmachen). Und diese sind es: [Jene, die an] extremer Armut [leiden], [jene, die von den Schmerzen] der Darmkrankheiten (‫[ )וחולי מעיין‬heimgesucht werden], und [jene, die] von Schuldnern [verfolgt werden]. b. Eruvin 41b

Das Leid jener sich mit Armut, Darmbeschwerden oder Schuldeneintreibern Herumplagenden wird demnach als so schrecklich angesehen, dass diese Erfahrung bereits als vollständige Sühne für jegliche Vergehen in dieser Welt zählt. An anderer Stelle betonen rabbinische Quellen, dass viele fromme und große Gelehrte von Armut und chronischer Darmkrankheiten betroffen waren, wie wir im Folgenden noch sehen werden. Die obige Lehre lässt sich durchaus als seine theologisch gefärbte und eschatologisch ausgerichtete Reaktion auf die unleugbare Realität sozialer Härten, Unterdrückung oder körperlichen Leids verstehen, für die es wenig Hoffnung auf unmittelbare Hilfe oder Erlösung gab. Im Hinblick auf Resilienz funktioniert diese Passage durchaus inner-

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halb jenes Paradigmas, das Christian Frevel mit „Entängstigung und Zuversicht“ beschreibt.29 Zwar sind bestimmte Krisen- und Leiderfahrungen in unserer menschlichen Lebenswelt nicht vermeidbar. Doch wird jenen, die davon betroffen sind, zumindest eine positive Folge in Aussicht gestellt und man versichert ihnen einen eschatologischen Mehrwert. Man erspart ihnen die läuternde Strafinstanz der gehenna, da sie ja bereits ihre „Hölle auf Erden“ durchlaufen haben. Weitere Strategien der Resistenz und des Aushaltens finden sich in Anekdoten über Rabbi Yehuda ha-Nasi (Rabbi), dessen Leidensgeschichte unter anderem auch die bereits herausgestellte Härte der Magen- und Darmkrankheiten illustriert.30 Rabbi [Yehuda Ha-Nasi] sagte [zu sich selbst]: Leiden (‫ )ייסורין‬erscheinen kostbar. So akzeptierte er, dreizehn Jahre lang Beschwerden [zu ertragen]: sechs Jahre lang tzamirta (‫ )צמירתא‬und sieben Jahre die tzifduna genannte ‚Entzündungskrankheit‘ (‫)בתצפרנא‬. Andere sagen: Es waren sieben Jahre tzamirta und sechs Jahre lang die tzifduna genannte ‚Entzündungskrankheit‘. Der Stallmeister des Haushalts von Rabbi Yehuda Ha-Nasi war reicher als der König Shapur [von Persien]. Wenn [der Stallmeister] den [unzähligen] Tieren Futter gab, waren ihre Rufe bis zu drei Mil weit zu hören. Es war seine Absicht [, ihnen ihr Futter zu geben und damit ihre lauten Rufe auszulösen] genau dann, wenn Rabbi den Abort betrat [und dort Schmerzen litt, während er sich erleichterte]. Doch trotzdem, röhrte seine Stimme (R. Yehudas) lauter als die Rufe der Tiere und [sogar] die Seeleute auf dem Meer hörten ihn (d.h. R: Yehudas Schmerzensschreie). b. Bava Metzi‘a 85a

Der große Gelehrte Rabbi Yehuda ha-Nasi (Rabbi), der traditionell als Autor der Mischna gilt, wird hier im Kontext eines Frömmigkeitswettbewerbs mit R. Eleazar beschrieben, von dem im Folgenden noch die Rede sein wird. Im Rahmen dieses Kräftemessens akzeptiert R. Yehuda diverse Selbstbeschränkungen und insbesondere körperliche Gebrechen. Diese manifestieren sich in Form von sehr schmerzhaften, chronischen und sogar lebensbedrohlichen Krankheiten.31 Zum einen tzamirta (‫)צמירתא‬, das wahrscheinlich auf Strangurie (Blasenkrampf/schmerzhafte Harnausscheidung] oft verbunden mit Fieberschüben

                                                             29

Vgl. den Beitrag von CHRISTIAN FREVEL, „Du machtest mich stark wie einen Wildstier“ (Ps 92,11). Resilienzmuster in den Psalmen, 225f. in diesem Band. 30 Parallele Traditionen über Rabbis Leiden im palästinischen Talmud (y. Ketubot 12:3 and y. Kilayim 9:3) sprechen dagegen von 13 Jahren schrecklicher Zahnschmerzen, die nur vom verkleideten Propheten Elijah geheilt werden. 31 Die Episode in b. Bava Metzia 85a–b weiß jedoch zu berichten, dass die Leiden R. Yehudas wegen seiner moralischen Verfehlung über ihn kamen. Er sandte ein Kalb, das sich bei ihm versteckte, fort zum Schlachter mit den Worten “denn das ist es, wozu du erschaffen wurdest”. Im Gegensatz dazu sind R. Elazar’s Leiden nicht direkt durch eine Verfehlung ausgelöst.

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hinweist.32 Zum anderen die Krankheit tzifduna33, die an anderer Stelle im Talmud (b. Avoda Zara 28a) als eine schmerzhafte und unter Umständen lebensgefährliche Entzündung beschrieben wird, die „im Mund beginnt und in den Gedärmen endet“.34 Es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, wie diese beiden chronischen und schweren pathologischen Zustände – eine den Harntrakt und die andere den Verdauungstrakt angreifend – R. Yehudas körperlichen Zustand und seine tägliche Routine massiv beeinflussten und behinderten.35 Die Anekdote über den Stallmeister unterstreicht die enormen und scheußlichen Schmerzen samt der unangenehmen Umstände, die er jeden Tag als Teil seiner Hygieneroutine ertragen muss. Sein Leid wird, schon fast poetisch mit der kontrastierenden Metapher der Vielzahl an Tieren verglichen, die in Erwartung ihrer Fütterung ohrenbetäubend rufen, röhren und brüllen. Dennoch übertönen Rabbi Yehudas schmerzerfüllte Schreie vom „stillen Örtchen“ selbst dieses übermächtige Getöse. Ähnlich wie im Rache-Narrativ über Titus, lässt sich das momentum der Resilienz in diesem Text vor allem im Hinblick auf die (imaginierten) Rezipienten begreifen. Einerseits bietet sich die ergreifende Schilderung von R. Yehudas dreizehn Jahre andauernden körperlichen Leiden als Modell und Idealisierung des Aushaltens von Krankheit an, das bereits für sich allein anderen

                                                             32 Vgl. JASTROW, MARCUS, Dictionary of the Targumim, Talmud Bavli,Talmud Yerushalmi and the Midrashic Literature, Jerusalem: Horeb o.J. 2004, 1288; SOKOLOFF, MICHAEL S., A Dictionary of Jewish Babylonian Aramaic of the Talmudic and Geonic Periods, Ramat Gan: Bar Ilan University Press/Baltimore: Johns Hopkins University Press 2002, 961. 33 Das hier im Text auftauchende Wort ‫ צפרנא‬wird sonst nur noch in einer Handschriftenvariante zu b. Avoda Zara 28a für eine Krankheit von R. Yoḥanan benutzt, die gemeinhin unter dem Namen tzifduna/tzofdina (‫צפדינא‬/‫ )ציפדונא‬läuft. Vgl. auch die Handschriftenvarianten zu b.Bava Metzia 85a. 34 Zu den medizinischen Anekdoten über Rabbi Yoḥanan, der von weiblichen Medizinexpertinnen behandelt wird, siehe ILAN, TAL, ‚Stolen Water is Sweet‘: Women and their Stories between Bavli and Yerushalmi, in: Peter Schäfer (Hg.), The Talmud Yerushalmi and Graeco-Roman Culture, Tübingen: Mohr Siebeck 2002, 185–224, hier: 191–195; LEHMHAUS, LENNART, Beyond Dreckapotheke, Between Facts and Feces: Talmudic Recipes and Therapies in Context, in: Matteo Martelli/Lennart Lehmhaus (Hg.), Collecting Recipes. Byzantine and Jewish Pharmacology in Dialogue, Berlin: De Gruyter 2017, 221–254; und LEHMHAUS, LENNART, Vom Körperwissen zum Wissenskörper – rabbinische Diskurse zur menschlichen Physis im Talmud, in: Almut-Barbara Renger/Christoph Wulf (Hg.), Körperwissen: Transfer und Innovation (Paragrana – Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie 25), Berlin: De Gruyter 2016, 255–280. 35 Zum schlimmen Schmerz bei Darmbeschwerden (‘von innen durchbohrt mit einem Dorn’; ‘wie eine Schädelöffnung’), siehe GALEN, De locis affectis I–II/Über das Erkennen erkrankter Körperteile I–II (CMG V/6,1,1), herausgegeben und übersetzt von Florian Gärtner, Berlin: De Gruyter 2015, v.a. 253–259, und 323.

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in ähnlichen Umständen als Hoffnungsanker dienen kann. Andererseits funktioniert das Wissen um die widerwärtigen und eigentlich unerträglichen Schmerzen, die dieser große Gelehrte ertragen lernt, auch auf einer konstruktiven Ebene. Denn, dass R. Yehuda trotz allem das Mammutwerk der MischnaKompilation vollbracht hat und damit zu dieser Ikone der rabbinischen Kultur geworden ist, verweist auf das Vertrauen in die erbaulichen und lindernden Effekte eines Lebens in und für das Studium der Tora – dem Kern rabbinischer Ideologie. Mit R. Yehudas Leidensgeschichte ist eine weitere Episode verbunden, in der sich nochmals eine andere Dimension von ertragenem Leid und Gestaltungsmöglichkeiten angesichts von Krise und Tod aufzeigen lassen. An jenem Tag, an dem R. Yehuda ha-Nasis (genannt: Rabbi) Seele sich zur Ruhe begeben sollte, ordneten die rabbinischen Gelehrten (seine Kollegen und Schüler, die bei ihm waren) ein Fasten an und flehten um Erbarmen. Auch bestimmten sie: „Wer behauptet, Rabbi sei gestorben, werde mit dem Schwert niedergestochen.“ Die Haushälterin von Rabbi stieg auf die Dachterrasse hinauf und sprach: „Die oben [im Himmel] verlangen nach Rabbi, und die hier unten verlangen [ebenfalls] nach Rabbi. Möge es Gottes Wille sein, dass die hier unten über jene dort oben triumphieren.“ Als sie aber sah, wie oft er (Rabbi, der an einer chronischen, schmerzhaften Darmentzündung litt) zur Toilette hinaufstieg, die Tefillin ab- und anlegte, und sich schrecklich quälte (‫)מצטער‬, sprach sie: „Möge es [Gottes]Wille sein, dass jene oben über diese hier unten triumphieren.“ Da aber die Rabbinen nicht schwiegen um Erbarmen zu bitten [was Rabbi schützte und seinen Tod verhinderte], nahm die Haushälterin einen Krug und warf ihn von der Dachterrasse hinab. Da unterbrachen die Rabbinen [vor Schreck kurz ihre Bitten um] Erbarmen, und die Seele Rabbis kehrte zur Ruhe ein. b. Ketubot 104a

Diese Anekdote konzentriert sich auf das nahende Lebensende von R. Yehuda, das seine Schüler mit allen Mitteln verhindern möchten. Gemäß der jüdischen Tradition soll alles, was das Sterben von außen beschleunigt, aber auch jegliche den Tod hinauszögernden Handlungen und Äußerungen vermieden werden. Das schwierige Ausbalancieren zwischen Beschleunigung und Hinauszögern des Todes findet sich in einer eindrücklichen Geschichte. Denn es ist ausgerechnet das Gebet der Gelehrten um Gottes Erbarmen, welches hier Rabbis Tod (unnötig?) hinauszögert und damit sein Leiden, von dem wir bereits sprachen, verlängert. Trotz ihrer Gelehrtheit sind die Schüler so verbunden mit ihrem Lehrer, dass sie den Gedanken an seinen Tod und den damit für sie verbundenen Verlust nicht ertragen können. So ist es schließlich das Mitgefühl der Haushälterin mit dem alten, schwachen und gepeinigten Meister und ihr beherztes Einschreiten, die diesen Kreis des Nicht-Sterben-Lassen-Wollens durchbrechen und den sanften Übergang in den Tod ermöglichen. Resilienz zeigt sich hier in der Figur der Dienerin von R. Yehuda, die sich gegen ihr

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eigenes Leiden durch den Verlust ihres Meisters entscheidet und durch ihre Gnadentat von der Passivität zum aktiven Gestalten übergeht.36

VI. Aktives Leiden Dem im vorhergehenden Abschnitt zuletzt angesprochenen Aspekt der aktiven Adaption und des Gestaltens soll nun anhand einer Passage über R. Yehudas „Konkurrenten“ im in b.Bava Metzia 84b–85b beschriebenen Leidenswettbewerb nachgegangen werden. Die Vorgeschichte der folgenden Episode berichtet von R. Elazar, der sehr selbstkritisch ist und wegen einer Tat, die sich letztlich als korrekt erweist, weiterhin Bedenken wegen seiner moralischen Integrität hat. [Auch nachdem er ein göttliches Zeichen erhalten hatte,] verließ Rabbi Elazar, Sohn von Rabbi Shimon, sich immer noch nicht auf seine [eigene] Meinung [bezüglich einer möglichen fehlerhaften Entscheidung]. Und so nahm er Leiden (yissurin) auf sich [als Sühne für seine möglichen Verfehlungen]. Abends legten seine Diener ihm sechzig weiche Filzmatratzen unter. Doch morgens holten sie [trotzdem] sechzig Behältnisse mit Blut und Eiter (dama we-keva) unter seinem Bett hervor. Am Morgen pflegte seine Frau für ihn sechzig Arten von Brei zuzubereiten, damit er sie äße und gesund werde. Seine Frau erlaubte ihm auch nicht ins Lehrhaus zu gehen, damit ihn die anderen Rabbinen nicht überanstrengten. Am Abend sprach er (R. Elazar) [daher] zu ihnen (wahrscheinlich zu seinen Leiden): „Meine Brüder, meine Freunde, kommt [zu mir]!“ Am Morgen sprach er alsdann: „Geht hinfort wegen der Pflichtverletzung beim Tora-Studium [die ihr mir zufügt, wenn ich nicht ins Lehrhaus gehe]!“ Eines Tages belauschte ihn seine Frau [zufällig dabei]. Da sagte sie zu ihm: „Du bist derjenige, der sie (die Leiden) einlädt. Du hast meines Vaters Geld verschwendet (d.h. ihre Mitgift, die sie für seine Pflege ausgab).“ Sie lehnte sich gegen ihn auf und kehrte zurück in ihres Vaters Haus. [Wundersamerweise wird er trotzdem sehr reich danach und seine Pflege hört nicht auf]. b. Bava Metzi‘a 84b

R. Elazar akzeptiert demnach körperliche Leiden als seine Form der präventiven Sühne für mögliche Verfehlungen, wie sie uns bereits bei R. Tzaddok oder den drei Leidensgruppen begegnete. Neben den physischen Gebrechen findet sich hier auch persönliches Leid und ökonomische Härte als Begleitumstände. R. Yehudas heroisches Aushalten seiner chronischen und arg behindernden Krankheiten entsprach durchaus dem kulturellen Trend in der Spätantike, den Judith Perkins in ihren Arbeiten als the suffering self, prägnant zusammengefasst hat. R. Eleazar hingegen scheint in dieser Episode eigentlich nicht allzu viel zu leiden. Dies überrascht angesichts der sehr plastischen und fast schon

                                                             36

Zu b. BM 85a, siehe KRAEMER, Responses, 157–158.

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grausamen Beschreibung seiner Gebrechen. Jeden Morgen müssen seine Diener 60 Behältnisse voll Blut und Eiter unter ihrem Herrn entsorgen, obwohl dieser auf 60 weichen Betten aus feinsten Stoffen geschlafen hat. So könnte man bis hierhin von einem stoischen Aushalten sprechen. Doch dann erfährt man, dass die Leiden nicht nur von R. Elazar willkommen geheißen werden, sondern er ist sogar in der Lage, sie vollständig zu kontrollieren. Er lädt sie ein und schickt sie wieder fort. Im Übrigen führt seine nach außen offensichtliche Leidenssituation dazu, dass sie für den Betroffenen einen von heutigen Klinikern bei chronischen (Schmerz)Patienten sogenannten „second gain“ mit sich bringen.37 R. Elazar erfährt von seiner Ehefrau und allen Angehörigen seines Haushalts sehr viel Zuwendung, Liebe und Aufmerksamkeit, da sie ihn pflegen, vor unnötigen Belastungen (Dispute mit den Kollegen im Lehrhaus) schützen und mit bestem Essen versorgen. Gerade deshalb wirkt die beschriebene Situation der an- und abschaltbaren Schmerzen bizarr. Im Gegensatz zu den Anekdoten über R. Yehudas beständigen Kampf gegen und sein Aushalten der Pein, nehmen die Gebrechen hier die Gestalt eines „Halbtagsleidens“ an, das als komplementäres „Freizeitvergnügen“ ja nicht R. Eleazars Leben als Toragelehrter in die Quere kommen darf. Die verbitterte Reaktion seiner Ehefrau, die für seine Pflege ihre reiche Mitgift aufwendet und ihn nun verlässt, erscheint daher mehr als verständlich.38 Im Rahmen der vorliegenden Diskussion möchte ich hier nur kurz auf zwei gegenläufige, aber eng miteinander verknüpfte Aspekte dieser Episode hinweisen. Zum einen zielt die lebendige und überbordende Beschreibung der Leidenssituation R. Elazars (d.h. 60 Behälter voll Blut und Eiter) klar auf die Reaktion und das empathische Mitleiden der Rezipienten, das für verschiedene antike und moderne Kontexte wissenschaftlich beschrieben wurde. Es soll Grauen und Schmerz evozieren.39 Gleichzeitig dient die Drastik auch zur Vorbereitung des Überraschungsmoments, wenn man von R. Eleazars beiläufigem Umgang mit den Leiden erfährt und der Horror in eine gewisse Faszination für

                                                             37

Vgl. dazu MORRIS, DAVID B., The Culture of Pain, Berkeley: University of California Press 1993, 57–78 und 174–197. 38 Die zunächst als sozialer und ökonomischer Verlust auftretende Trennung von seiner Familie wandelt sich im Laufe des talmudischen Texts für R. Elazar in einen Gewinn, da er von Seefahrern aus fernen Ländern mit üppigen Geschenken versorgt und mit Reichtümern bedacht wird – im Gegensatz zu R. Yehuda, dessen Schmerzensschreie die Seefahrer zwar hören, aber (im Text) keinerlei Reaktion zeigen. Vgl. dazu SEPTIMUS, ZVI, Revisiting the Fat Rabbis, in: Charlotte Fonrobert u.a. (Hg.), Talmudic Transgressions. Engaging the Work of Daniel Boyarin, Leiden: Brill 2017, 421–456, v.a. 444–454. 39 Vgl. MORRIS, The Culture of Pain, 9–56 und 198–223. Zu den verschiedenen Reaktionen auf Schmerz/Leid zwischen Mitgefühl, Schock und Bewunderung in der Antike, siehe KING, DAVID, Experiencing Pain in Imperial Greek Culture, Oxford: Oxford University Press 2018, 161–236.

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die Selbstdisziplin und Kontrollmacht des Gelehrten umschlägt.40 Zum anderen scheint die Anekdote über R. Eleazars „sportlichen“ Umgang mit der Herausforderung seine nächtlichen Qualen auf ein Phänomen zu verweisen, dass Stephanie Cobb für frühchristliche Märtyrererzählungen untersucht hat. Ihrer Ansicht nach konzentrierten sich spätantike Autoren – im Gegensatz zum späteren, mittelalterlichen Schmerzfokus – gerade auf die Abwesenheit von und die Immunität gegenüber dem Schmerz bei Hinrichtung und Folter, sowohl bei Jesus als auch bei vielen Märtyrern. Neben christologischen Aspekten sei dies auch eine diskursive Strategie gewesen, um die offensichtliche Realität römischer Verfolgung, Gewalt und imperialer Macht zu unterlaufen.41 In R. Elazars Geschichte, die beide Aspekte benutzt, finden sich zwar kaum oder eher indirekte Hinweise auf einen subversiven Diskurs gegenüber politisch-kultureller Machtverhältnisse.42 Vielmehr ergibt sich hier eine überraschende Verflechtung eines schonungslosen Porträts eines verletzlichen und zersetzten Körpers gepaart mit einer Resilienz durch die verblüffende Fähigkeit, diese Leiden nach Belieben zu kontrollieren, wodurch sich für den Protagonisten sogar noch erfreuliche Mehrwerte und sozio-kulturelles Kapital eröffnen.

VII. „Leiden aus Liebe“ und die Frage der ungerechtfertigten Krise Die Akzeptanz oder sogar das aktive Herbeirufen der Leiden bei gleichzeitiger Kontrolle spielten in der Episode über R. Elazar eine zentrale Rolle. In einem anderen talmudischen Traktat über Segenssprüche (b. Berakhot 5a–b) findet sich ein langer Erzählzyklus, der von den von Gott gesandten, sogenannten „Leiden aus Liebe“ handelt, die nicht bewusst herbeigerufen oder kontrolliert werden können, aber umso mehr von frommen und verdienstvollen Gelehrten akzeptiert werden müssen. Jüdische Traditionsquellen und auch der akademische Diskurs haben diese Passage vor allem im Hinblick auf rabbinische The-

                                                             40 Eine ähnlich ambivalente Darstellung findet sich etwa talmudisch (b. Berakhot 61b) bei der Beschreibung des Martyriums von R. Aqivah, dessen Fleisch mit (heißen) Eisenkämmen bearbeitet wird, bevor er verbrannt wird, der aber davon kaum selbst betroffen scheint. 41 Vgl. COBB, STEPHANIE, Divine Deliverance Pain and Painlessness in Early Christian Martyr Texts, Berkeley: University of California Press 2017. Ähnlich sieht es auch MARKSCHIES, CHRISTOPH, Der Schmerz und das Christentum. Symbol für Schmerzbewältigung?, in: Schmerz 21 (2007), 347–352, für das vorkonstantinische Christentum. 42 BOYARIN, DANIEL, Jewish Masochism: Couvade, Castration, and Rabbis in Pain, in: American Imago 51,1 (1994), 3–36, versteht diesen Drang nach Leiden als eine bewusste Strategie partieller Verweiblichung der rabbinischen Gelehrten, die so die maskulin orientierte, „phallische“ Stoßrichtung der hellenistischen Umgebungskultur unterlaufen wollten.

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odizee und die Frage nach dem (ungerechtfertigten) Leiden der Gerechten diskutiert. Der Anfangssatz scheint zunächst ein machtvolles Schutzmittel gegen alle Leiden anzubieten. Rabbi Shimon ben Lakish sagte: Wenn jemand sich mit dem Studium (der Tora) befasst, bleibt er von Leiden verschont (‫ילין הֵ ימֶ נּוּ‬ ִ ‫סּוּרין ְבּ ֵד‬ ִ ִ‫]…[ )י‬

Aber faktisch sind auch jene von Bösem betroffen, die sich mit dem Studium der Tora befassen. Daher rät die Passage anschließend zur intensiven Selbstachtsamkeit, die dem traditionellen Konzept des Tun-Ergehen-Zusammenhangs folgt. Wer etwas Negatives erlebt, soll zunächst gründlich sein eigenes Handeln auf eventuelle Übertretungen oder moralische Fehler hin untersuchen, für die diese als Strafe gedacht sein könnten. Rava, und manche sagen [es war] Rav Ḥisda, sprach: Wenn jemand bemerkt, dass er von Leiden heimgesucht wird, dann soll die Person ihre Taten untersuchen, denn es ist [in der Schrift] gesagt: „Prüfen wir unsre Wege, erforschen wir sie und kehren wir um zum HERRN!“ (Klgl 3,40). Wenn man [die Taten] untersucht hat, doch keine [Verfehlungen] fand, so soll man [die Leiden] einer Pflichtverletzung beim Tora-Studium zuschreiben, denn es heißt [in der Schrift]: „Selig der Mann, den Du, HERR, [mit Leiden] züchtigst und mit deiner Weisung belehrst“ (Psalm 94,12).

Wenn man bei sich keine Schuld findet, nicht einmal kleinste Verfehlungen im eigenen Studium, so richtet sich der Fokus auf eine Erklärung, die väterliche, göttliche Züchtigung und Läuterung in den Mittelpunkt stellt: Und wenn man es also [einer Pflichtverletzung beim Tora-Studium] zuschrieb, aber nicht einmal diese fand, so ist es klar, dass es sich um „Leiden aus Liebe“ (yissurin shel ahava), denn es heißt [in der Schrift]: „Denn, wen der HERR liebt, den züchtigt er, wie ein Vater seinen Sohn, den er gernhat“ (Spr 3,12). Rava sagte im Namen Rav Sechoras und im Namen Rav Hunas: Jedem, an dem der Heilige, gepriesen sei er, Gefallen hat, den drückt er nieder mit Leiden, denn es heißt [in der Schrift]: „Doch der HERR hat Gefallen an dem von Krankheit Zermalmten. Wenn du, Gott, sein Leben als Schuldopfer einsetzt, wird er Nachkommen sehen und lange leben. Was dem HERRN gefällt, wird durch seine Hand gelingen“ (Jesaja 53,10). Man könnte meinen: [Gott hat auch Gefallen an jemandem,] selbst wenn man [die Leiden] nicht mit Liebe/Wohlwollen akzeptiert. Daher heißt es: „Wenn du, Gott, sein Leben als Schuldopfer einsetzt (ibid.).“ So wie ein Schuldopfer bewusst dargebracht werden muss, so müssen auch die Leiden bewusst [angenommen werden].

Der Lohn, der für den zweiten Teil unserer Diskussion nun eine zentrale Rolle spielen wird, verspricht dann Folgendes: Und wenn man [die Leiden bewusst und mit Wohlwollen] annimmt, was ist der Lohn? [Dieser entspricht dem, was der zweite Teil des Verses sagt]: „Er wird Nachkommen sehen und lange leben“ (Jesaja 53,10).

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Überdies, wird auch sein Tora-Studium Bestand haben, denn es heißt [in der Schrift]: „Was dem HERRN gefällt, wird durch seine Hand gelingen“ (Jesaja 53,10).43

Allerdings war den Autoren dieser talmudischen Diskussion (Sugya) durchaus bewusst, dass das wohlwollende Annehmen bzw. das Verstehen von Leiden als Ausdruck der väterlichen Liebe Gottes selbst für modellhafte Gelehrte schwierig war. Darum setzen sie sich intensiv mit dem versprochenen Lohn aus Jesaja 53,10 auseinander, da dieser (Er wird Nachkommen sehen und lange leben) in der Realität längst nicht allen zuteilwird. Ähnlich der Lehre über die Darmkrankheiten, Armut und Schulden als irdisches Purgatorium, wird dann versucht das Schicksal derjenigen Gerechten, deren Kinder starben, in einen theologischen Rahmen der (vorgezogenen) Sühne einzupassen: Ein tanna lehrte vor Rabbi Yoḥanan: Wenn jemand sich mit dem Tora-Studium und Taten der Nächstenliebe/Wohltätigkeit (‫ )גמילות חסדים‬befasst, und doch seine Kinder begraben muss, werden ihm all seine Übertretungen vergeben. Rabbi Yoḥanan sagte: Absolut [gilt so eine Sühnefunktion für] Tora-Studium und Taten der Nächstenliebe/Wohltätigkeit […], aber woher [ist zu belegen, dass dies auch gilt für] „doch er muss seine Kinder begraben?“ Ein Älterer lehrte ihm im Namen von R. Shimon ben Yohai: [Hier und da] ist das Zeichen „Schuld“ (‫)עון‬. Denn es steht hier geschrieben „Mit Gnade und Wahrheit/Treue wird Schuld gesühnt (‫( )בחסד ואמת יכפר עון‬Spr 16,6)“ und es steht dort geschrieben „doch du vergiltst die Schuld der Väter an ihren Söhnen ( ‫ומשלם עון‬ ‫( )אבות אל־חיק בניהם‬Jer 32,18)“. R. Yoḥanan sagte [ablehnend]: Seuchen (v.a. Aussatz) und [Leiden wegen der eigenen] Kinder zählen nicht zu den „Leiden aus Liebe“. b. Berakhot 5a–b

Die anonymen Kompilatoren des Babylonischen Talmuds sind geradezu verblüfft über die harsche Weise, mit der R. Yoḥanan hier das weithin akzeptierte Interpretationsschema von Schuld und Sühne zurückweist, das frühere palästinische Traditionen sowie den ersten Teil dieser Passage dominierte.44 Und [Leiden wegen der eigenen] Kinder zählt nicht zu den „Leiden aus Liebe“? Was sind die Umstände/Hintergründe [dieser Aussage]? Man könnte sagen: Er (R. Yoḥanan) hatte Kinder und sie sind gestorben [und seine Trauer brachte ihn dazu]. Aber sagte nicht R. Yoḥanan selbst [, wenn er andere tröstete]: „Dies ist der Knochen meines zehnten Sohnes!“

                                                             43 Im Anschluss diskutiert diese Talmudpassage erst einmal, wie es „Leiden aus Liebe“ seien können, wenn diese doch dazu führen, dass man in der Ausübung seines Studiums oder anderer religiöser Pflichten (Gebet) empfindlich gestört wird, vgl. dazu R. Elazars Reaktion auf seine Leiden. Schließlich wird jedoch der große Wert als Läuterung für alle inklusive der Gelehrten anerkannt: „Es wurde gelehrt [in einer Baraita]: Rabbi Shimon ben Yoḥai sagte: ‚Der heilige, gepriesen sei er, hat Israel drei kostbare Geschenke gegeben, die alle nur durch Leiden/Gebrechen (yissurin) errungen werden. Und jene sind es: Tora, Eretz Yisrael, und die Kommende Welt.‘“ 44 Für eine ausführliche diachrone Untersuchung dieses Diskurses in den frühen biblischen und palästinischen Traditionen (Mischna, Tosefta, Yerushalmi) und im Bavli, siehe KRAEMER, Responses to Suffering.

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Scheinbar hat R. Yoḥanan seinen zehnten Sohn, oder, wie manche meinen, alle seine zehn Kinder verloren. Solch eine Akkumulation traumatischer Verlusterfahrung würde seine schroffe Zurückweisung einer Glorifizierung der Sühnefunktion des Kindstodes mehr als verständlich machen. Doch ganz im Gegenteil, R. Yoḥanan pflegte einen Knochen seines Kindes mit sich zu führen, um diesen als Resilienz-Tool beim Trösten anderer einzusetzen. R. Yoḥanan verkörpert damit, was J. Gärtner und C. Richter folgendermaßen beschrieben haben: „[...] eine identitätsvergewissernde und auch identitätsformierende Selbst- und Weltwahrnehmung im Ringen um die Sinnhaftigkeit des erfahrenen Leids.“45 Diese Beschreibung R. Yoḥanans blendet jedoch Spannungen und Ambivalenzen nicht aus. Resilienz hat ihren (hohen) Preis. Die folgende Sequenz von Krankheits- und Heilungsnarrativen zeigt deutlich, dass die talmudischen Kompilatoren sich an dem traditionellen, biblisch-rabbinischen Resilienzrezept abarbeiteten. Denn dieses besagt, dass der leidende Gerechte seine Leiden wohlwollend als eine Form göttlicher Charakterveredelung akzeptieren muss, da sie eine Belohnung oder (präventive) Sühne bringt. Diese Idee wird von allen drei Rabbinen auf ihrem Krankenbett explizit angesprochen und zurückgewiesen: [Rabbi Yoḥanans Schüler,] Rabbi Ḥiyya bar Abba, war krank. [Rabbi Yoḥanan] kam zu ihm ִ ִ‫יבין עָ לֶ יָך י‬ ִ ‫ח ִב‬ ֲ )?“ Rabbi Ḥiyya und sprach: „Sind deine Leiden dir lieb und teuer (‫סּוּרין‬ sagte zu ihm: „Ich begrüße weder sie (d.h. die Leiden) noch ihren Lohn!“. Rabbi Yoḥanan sprach zu ihm: „Reich mir deine Hand!“ Rabbi Ḥiyya bar Abba gab ihm seine Hand, und Rabbi Yoḥanan richtete ihn wieder auf [aus seinem Leiden und seiner Krankheit]. Rabbi Yoḥanan war krank. Rabbi Ḥanina kam [auf Krankenbesuch] und fragte: „Sind deine Leiden dir lieb und teuer (‫סּוּרין‬ ִ ִ‫יב ין עָ לֶ יָך י‬ ִ ‫ח ִב‬ ֲ )?“ Rabbi Yoḥanan sagte zu ihm: „Ich begrüße weder sie (d.h. die Leiden) noch ihren Lohn!“. Rabbi Ḥanina sprach: „Reich mir deine Hand!“ Rabbi Yoḥanan gab ihm seine Hand, und Rabbi Hanina richtete ihn wieder auf [aus seinem Leiden und seiner Krankheit]. […] Rabbi Elazar, [ein Schüler Rabbi Yoḥanans], war krank. Als Rabbi Yoḥanan [auf Krankenbesuch] hereinkam, bemerkte er, dass dieser in einem dunklen Raum lag. [Rabbi Yoḥanan] entblößte seinen Arm und ein Lichtschein erfüllte das Haus. Er sah, dass Rabbi Elazar weinte und sprach zu ihm: „Warum weinst du?“ [Und zum Trost fügte er an: „Wenn [du weinst], weil du nicht genügend Tora gelernt hast, so haben wir gelernt: ‚Jemand, der ein kleines oder ein großes [Opfer darbringt, beide erhalten den gleichen Lohn], solange man das Herz dem Himmel zuwendet. [Oder] wenn [du weinst], weil [es Dir an] Lebensunterhalt [mangelt] – nicht jeder erhält Platz an zwei Tischen (d.h. materieller Reichtum und Gelehrsamkeit). Wenn [du aber weinst], weil Kinder [leiden oder gestorben sind]‚ dies ist der Knochen meines zehnten Sohnes!“

Die ersten zwei strukturell fast gleichen Episoden bestätigen aus dem Munde großer Gelehrter, dass sie die Idee der Sühne oder Läuterung durch Leiden

                                                             45

Einführung in diesen Band, 14.

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ablehnen. Selbst R. Yoḥanan, der anscheinend über den Tod seiner Kinder hinweggekommen war und die wundersame Stärke besaß, andere zu trösten und zu heilen, ist nicht bereit, die körperlichen Gebrechen seiner Krankheit als göttliche Züchtigung wohlwollend anzunehmen. Seine außergewöhnlichen Fähigkeiten werden in der längeren dritten Episode betont. Durch das Aufkrempeln seines Ärmels spendet R. Yoḥanan im dunklen Haus seines kranken Schülers, R. Elazar, Licht und Hoffnung. Als er deutlich die negativen Emotionen, das Weinen seines Kollegen, wahrnimmt, öffnet er behände seinen ResilienzWerkzeugkasten, der Sorgen wegen mangelnder Pflichterfüllung beim Studium, materieller Mängel oder sogar wegen [leidender/verstorbener] Kinder mit dem uns bekannten Hinweis auf den Knochen seines zehnten Sohnes hinwegwischen sollte. Doch sein Tröstungsfeuerwerk zündet nicht und die Anekdote erreicht einen Wendepunkt: Rabbi Elazar sagte zu Rabbi Yoḥanan: „Ich weine [nicht wegen mir selbst, sondern] wegen [deiner] Schönheit, die [auch] in der Erde verrotten wird.“ Rabbi Yoḥanan sprach zu ihm: „Darüber hattest du allen Grund zu weinen!“ Und so weinten sie beide zusammen. Währenddessen sagte [Rabbi Yoḥanan] zu ihm: „Sind deine Leiden dir lieb und teuer?“ [Rabbi Elazar] sagte zu ihm: „Ich begrüße weder sie (d.h. die Leiden) noch ihren Lohn!“. Rabbi Yoḥanan sprach zu ihm: „Reich mir deine Hand!“ [Rabbi Elazar] gab ihm seine Hand, und Rabbi Yoḥanan richtete ihn wieder auf [aus seinem Leiden und seiner Krankheit].

R. Elazar offenbart, dass seine tiefe Trauer und sein Kummer nicht von seinen eigenen Lebensumständen herrühren. Ganz im Gegenteil. Der kranke Gelehrte weint um seinen Lehrer, da ihm die Vergänglichkeit menschlicher Existenz bewusst wird. Selbst solch ein vorbildhafter Tröster, der seine persönlichen Krisen und Verluste (tote Kinder) in einen Nutzen für die Gemeinschaft umgemünzt und seine Leiden (scheinbar) mit Wohlwollen akzeptiert hat, wird letztlich ums Leben kommen. Diese Erkenntnis erwischt R. Yoḥanan kalt und er schließt seine Resilienz-Werkzeugkiste, um mit seinem Schüler zu weinen. Das Ende dieser Episode folgt jedoch wieder dem Standard-Muster der anderen Heilungsgeschichten mit der Frage über die Leiden und dem Aufrichten. Daher erscheint es durchaus denkbar, dass R. Yoḥanans Reaktion, indem er in das Weinen und Wehklagen seines Schülers einstimmt, eine sehr ausgeklügelte Form des Trostes ist. Er hat die Situation erkannt und schnell eine weitere Resilienz-Strategie seiner Werkzeugkiste hinzugefügt.

VIII. Conclusio Diese erste Erkundung talmudischer Texte zur Frage der Resilienz hat deutlich gezeigt, dass rabbinische Antworten auf Krisenerfahrungen und die vorgeschlagenen Strategien des Umgangs mit ihnen vielgestaltig und nicht immer geradlinig waren. Die Trigger oder Auslöser bewegten sich dabei in einem

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breiten Spektrum. Katastrophale Ereignisse wie die römische Invasion und nahezu komplette Zerstörung von Land, Volk und Kultur lassen sich als traumatisch verstehen. Diese Ereignisse hinterlassen tiefe Spuren in den rabbinischen Texten wie in R. Tzaddoks versehrtem Körper, der gleichzeitig als Symbol der Hoffnung des Weiterlebens fungiert. Es wird so eine komplexe und durchaus ambivalente Metapher für die Resilienz der verkörperten jüdischen Tradition konstruiert, in der antizipierendes Leiden, Aushalten und Verletzlichkeit als Stärke gelten.46 Spiegelbildlich funktioniert die Erzählung über Titus, dessen Blasphemie und gewalttätiges Eindringen in und Zerstören des Allerheiligsten der jüdischen Religion durch eine lange, qualvolle Zersetzung des römischen Herrschers von innen gerächt wird. Diese beiden intensiven nachträglichen Auseinandersetzungen mit einem negativen Schlüsselmoment der jüdischen Geschichte können durchaus als narrative Formen der Verarbeitung von Trauma/Krise oder der Vergangenheitsbewältigung gelten – als Fanal für Verletzlichkeit und Aushalten oder als retrospektive Resilienz durch Rache.47 Auch in den stärker auf das Individuum abzielenden Episoden zu Krisenerfahrung durch Krankheit und Tod findet sich eine entsprechende Varianz der Erklärungen. Die auf biblischem Fundament fußenden Lehren über Leiden als gerechte Strafe bzw. als göttliche Läuterung, die entweder Verdienst bringen oder eine (präventive) Sühnefunktion besitzen (Darmkrankheiten, Kindstod, R. Elazars Gebrechen), zieht sich durch viele Texte und unterstützt einen Zugang des (bedingungslosen?) Aushaltens. Dieses Reaktionsmuster wird aber auch in verschiedenen Narrativen in Frage gestellt und die rein positive Idee des Leidens erheblich kritisiert (Heilungsepisoden in b.Berakhot 5a–b; Rabbis Tod in b.Ketubot 104a). Die beiden Anekdoten über die sehr unterschiedlich mit Leid umgehenden Gelehrten oszillieren zwischen den Polen des beständigen Kampfes gegen bzw. Leben mit der eigenen Krankheit (R.Yehuda) oder das aktive Gestalten des Leidens (R. Elazar), beides gestützt auf das Tora-Studium und die soziale Gemeinschaft. In allen hier besprochenen Beispieltexten lässt sich nicht zwischen einer funktionalen Resilienz und der Krisenerfahrung unterscheiden, da Vulnerabilität stets als komplementärer Part bzw. Zwilling der Resilienz, zum Teil auch als deren Bedingung, auftritt. Es ist das Ringen um kollektive und individuelle Freiheit, obwohl die Krise eine konstante Begleiterin der jüdischen Erfahrung in der Spätantike zu sein schien. Zudem zeigt sich deutlich, dass die talmudi-

                                                             46 Vgl. dazu RICHTER (Hg.), Ohnmacht und Angst aushalten; und die Einleitung zu diesem Band. 47 Vgl. die Einführung in diesen Band, 10–14 zu Narrativ und Narration, und zur Sinnstiftung durchs Erzählen und Zur-Sprache-bringen des erlebten Leides vgl. den Beitrag von BEATE EGO, 334f. bzw. zur performativen Resilienz die Beiträge von ANDREAS WAGNER, 82f. und CHRISTIAN FREVEL, 212.

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schen Autoren nicht daran interessiert waren, dem Sinnlosen und Unverständlichen unbedingt einen Sinn oder Zweck zuzuschreiben, eher im Gegenteil. Denn die Episoden mit all ihren Unterschieden beschreiben, wie Austausch, Kommunikation und die Begegnung zentral für die Integration der Leid- und Krisenerfahrung in den breiteren Kontext sozialer, kultureller und religiöser Interaktionen sind, die damit selbst wichtige Resilienzressourcen darstellen.

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Aufklärung und Resilienz Zur Widerstandskraft des Erzählens in Voltaires „Candide“ (1759) Stephanie Wodianka Bisher wurde Voltaires Candide fast ausschließlich als aufklärerischer Beitrag zur Theodizee-Frage gelesen, hierzu sind zahlreiche Aufsätze der französischen Literaturwissenschaft erschienen. Hintergrundfolie der Interpretationen ist das Erdbeben von Lissabon, das Voltaire und seine Zeitgenossen wenige Jahre vor dem Verfassen seines conte philosophique1 nachhaltig beeindruckt und der Theodizee-Frage neue Aktualität verliehen hatte. Voltaires Figur Candide steht unter dem Einfluss seines Lehrers Pangloss, der alles Übel wiederholend und formelhaft in der „besten aller möglichen Welten“ verortet. Candide erscheint als philosophiegetränkter Reise- oder Entwicklungsroman, als aufklärerisches Manifest der Infragestellung dogmatischer Sichtweisen, als Abfolge von Heterotopien und Glanzstück parodistischer Weltbetrachtung im 18. Jahrhundert.2 Was können wir an Voltaires Candide Neues oder Anderes entdecken, wenn wir ihn aus der Resilienz-Perspektive betrachten? Erlaubt uns dieser Zugriff etwas an diesem conte philosophique zu sehen, was der Regalmeter füllenden Voltaire-Forschung bisher entgangen ist? Welchen Beitrag kann ein so perspektivierter Zugriff auf diese französische Erzählung über romanistische Interessen hinaus zur resilienzinteressierten Forschung leisten? Die folgenden Ausführungen sind von der These geleitet, dass sich mit der philosophischen Erzählung Candide exemplarisch zeigen lässt, dass Resilienz ein stets historisch, kulturell und situativ zu kontextualisierendes Konzept ist,

                                                             1

Zum literarischen Genre und in seiner Ausprägung bei Voltaire s. RIEGER, DIETMAR, Einführung. Gattungen der Aufklärung: Das Theater und der conte philosophique, in: Ders. (Hg.), 18. Jahrhundert – Theater, conte philosophique und philosophisches Schrifttum, Tübingen: Stauffenburg 2001, 1–16. 2 Unter den jüngeren Publikationen dazu einschlägig KLETTKE, CORNELIA, Heterotopie und Heterologie in Voltaires Candide, in: Cordula Wöbbeking (Hg.), Der maskierte Voltaire – verdeckte Schreibarten und Textstrategien des Aufklärers, Berlin: Frank & Timme 2015.

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das sich auch in kulturellen Artefakten wie der Literatur tiefgründig kristallisiert. Resilienz ist als normierendes Krisenphänomen zu verstehen,3 das im dynamischen Verhältnis zu (anderen) Persönlichkeitsidealen steht, die synchron oder diachron verhandelt werden. Nicht nur die sich wandelnden Erscheinungsformen von Resilienz, sondern auch deren Bewertung und kultureller Status im Verhältnis zu anderen Diskursen und Paradigmen gibt über symbolsystemische Repräsentationen (z.B. in der Literatur) Anlass zu Deutungsversuchen. Zunächst ist aber kurz zu erläutern, inwiefern man überhaupt auf die Idee kommen kann, Voltaires Candide mit der Resilienzthematik in Verbindung zu bringen. Eine erste Antwort kann mit einer kurzen Inhaltsangabe des Textes verbunden werden. Candide wird auf Schloss Thunder-Ten-Tronk in Westfalen geboren und verliebt sich hier in seine Cunégonde. Er glaubt sich unter philosophischer Anleitung seines Lehrers Pangloss in der besten aller möglichen Welten zu Hause. Seine entdeckte Liebe zu Cunégonde hat seine Verbannung vom Schloss zur Folge und von nun an sieht sich Candide einer nicht enden wollenden Reihe von Schicksalsschlägen ausgesetzt. Ohnehin durch den Entzug seiner geliebten Cunégonde angeschlagen, muss er Hunger und Kälte ertragen, bei den Bulgaren Spießruten laufen, Folterung erleiden und geschundene Dörfer durchwandern. Zudem bekommt er Nachricht von Vergewaltigung und Tod seiner geliebten Cunégonde, erlebt das Erdbeben von Lissabon, muss der Hinrichtung seines Lehrers Pangloss beiwohnen, die Ertränkung von Anabaptiste mit ansehen und ertragen, dass die doch nicht ermordete Cunégonde mehrfach von mächtigen Männern als Sexsklavin gehalten wird. Seine Reise von Westfalen und Bulgarien über Holland und England nach Portugal, von dort nach Buenos Aires und über Venedig nach Konstantinopel ist eine schmerzreiche Aneinanderreihung von unbestimmter Hoffnung und Desillusion. Wenn es ein Leid gibt, das Candide selbst nicht erlebt, wird es seinen Nächsten zuteil, und er muss es mit ansehen oder durch Erzählung davon erfahren. Candides Leidensweg besteht nicht nur aus körperlichen, sondern auch aus psychischen Qualen, die sich aus dem Miterleben des Elends und Leids anderer und ständigem Entzug von Hoffnung auf der Suche nach Cunégonde ergeben. Dieser Entzug steigert sich bis zum Ende der Erzählung, an dem nicht etwa eine glückliche Hochzeit steht, sondern eine (Hochzeit) mit der sich als untreu erwiesenen, mittlerweile durch die Blattern entstellten Cunégonde, die selbst nicht weiß, wie hässlich sie ist – und die Candide eigentlich nur aus Trotz ehelicht, um deren Bruder damit zu vergrätzen. Der Liebe zu Cunégonde, die über den Conte hinweg

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Zu den normativen Aspekten von Resilienz s. KARIDI, MARIA/SCHNEIDER, MARREBEACCA (Hg.), Resilienz. Interdisziplinäre Perspektiven zu Wandel und Transformation, Wiesbaden: Springer 2018. Insbes. der Beitrag von SCHNEIDER, MARTIN und VOGT, MARKUS zu „Selbsterhaltung, Kontrolle, Lernen“, 103–123.

TIN/GUTWALD,

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Handlungsmotor und Reisemotivation der Hauptfigur Candide ist, wird am Ende der Boden entzogen – es gibt auch aus der Retrospektive nichts, was dem erlebten Leid Sinn verleihen könnte. Candide überlebt diese Erlebnisse nicht nur, sondern er übersteht sie auch, so dass er am Ende des Romans eine berühmte Maxime formulieren kann: „Il faut cultiver notre jardin“. Über diese Maxime ist bereits viel diskutiert worden. Was bedeutet es, den eigenen, unseren Garten zu bestellen, sich ihm zu widmen? Wie weitreichend ist diese Metapher zu deuten, welche kulturelle Semantik hat der Garten, von dem hier die Rede ist?4 Geht es um ein bodenständiges Tätigsein, das sich der philosophisch-theologischen TheodizeeFrage schlicht entzieht, weil sie nicht zu beantworten ist? Oder um ein Tätigsein, das durch bzw. in der praktischen Arbeit zur Erkenntnis in der TheodizeeFrage verhilft? Geht es primär um das bodenständige Schaffen, oder um die Selbstbeschränkung auf einen Garten im Sinne des hortus conclusus, der einen geschützten Rückzug meint, eine gesellschaftsferne Abkapselung von der Welt? Manche Interpretationen bringen den zu kultivierenden Garten auch mit der Schöpfungsgeschichte in Zusammenhang und sehen im „cultiver notre jardin“ einen Anschluss an den göttlichen Auftrag, sich – unter post-paradiesischen Verhältnissen – die Erde untertan zu machen.5 Auf der narratologischen Ebene des discours wäre Candide von Voltaire also insofern resilienzthematisch relevant, als das „cultiver notre jardin“ der Vorschlag einer Resilienzstrategie wäre, die den Menschen widerstandsfähig macht gegenüber dem Übel in der Welt – oder widerstandsfähig macht gegenüber der Theodizee-Frage, die ihn auf einer sekundären, theologisch-religiösen Ebene anficht. Dass es das aber nicht gewesen sein kann, ergibt sich schon daraus, dass das eben skizzierte Ende der Erzählung uns nicht überzeugt: Die ‚Lösung‘ am Ende

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Foucault verweist auf den kulturellen Symbolcharakter des Gartens als Ort zugleich partieller und universeller Glücksvorstellung: „Le jardin, c’est un tapis où le monde tout entier vient accomplir sa perfection symbolique, et le tapis, c’est une sorte de jardin mobile à travers l’espace. Le jardin, c’est la plus petite parcelle du monde et puis c’est la totalité du monde. Le jardin, c’est, depuis le fond de l’Antiquité, une sorte d’hétérotopie heureuse et universalisante.“ FOUCAULT, MICHEL, Des Espaces Autres, in: Daniel Defert/François Ewald (Hg.), Michel Foucault. Dits et Écrits 1954–1988. Bd. IV, Paris: Gallimard 1994, 759. Dt.: „Der Garten ist ein Teppich, zu dem die ganze Welt kommt, um ihre symbolische Perfektion zu vollenden, und der Teppich ist eine Art mobiler Garten, raumüberschreitend. Der Garten ist die kleinste Parzelle der Welt und zugleich die ganze Welt. Der Garten ist, seit den Anfängen der Antike, eine Art glückliche und universalisierende Heterotopie.“ (Übersetzung S.W.) 5 Zum Garten in Voltaires Candide s. u.a. BOTIIGLIA, WILLIAMS, Candide’s Garden, in: Ders. (Hg.), Voltaire. A Collection of Critical Essays, New Jersey: Prentice-Hall 1968, 87– 111 und PATRICK, HENRY, Sacred and Profane Gardens in Candide, in: Theodore Bestermann (Hg.), Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 176, Genf: Institut et Musée Voltaire 1979, 133–152. Sowie WAGNER, BIRGIT, Gärten und Utopien. Natur- und Glücksvorstellungen in der französischen Spätaufklärung, Wien: Böhlau 1985, 103–125.

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ist gar keine: Das Identifikationspotenzial eines Candide, der Cunégonde trotzig sein im Grund enthöhltes Jawort gibt – Cunégonde liegt körperlich und als Subjekt in Trümmern wie die Stadt Lissabon – und sich mit seinen Leidensgefährten seinem Garten widmet, könnte geringer nicht sein. Voltaire hat dafür gesorgt, dass wir keine Lust haben, Candides Beispiel zu folgen, und die Rede von der besten aller möglichen Welten wird als Resilienzformel über die Erzählung hinweg ebenfalls ad absurdum geführt. Deshalb möchte dieser Beitrag den oberflächlich auf der Hand liegenden Zusammenhang des Candide mit der Resilienzthematik überschreiten und der Frage nach der Resilienz-Relevanz von Voltaires Candide etwas tiefgründiger nachgehen – und dabei zwei Aspekte in den Fokus rücken: Erstens soll gezeigt werden, dass bei der Untersuchung des Candide und wahrscheinlich auch bei anderen Erzähltexten – die Resilienzthematisierung auf verschiedenen narratologischen Ebenen virulent oder manifest werden kann. Ich werde hier unterscheiden zwischen a) dem intradiegetischen Erzählen der Figuren und b) dem Erzählen der Erzählinstanz, das Konsequenzen auf der rezeptionsästhetischen Ebene hat. Diese beiden Ebenen konstituieren einen spezifischen Zusammenhang zwischen Erzählen und Resilienz, die Voltaires Candide nicht nur oberflächlich-thematisch, sondern auch tiefgründig-funktional zur Resilienzerzählung macht. Der zweite Hauptpunkt meines Vortrags widmet sich der Historizität von Resilienzkonzepten. Auch wenn Voltaire den Begriff résilience in unserem Sinne noch nicht kannte und ihn allenfalls als juristischen Begriff benutzt hätte (nämlich im Sinne von Annullierung eines Vertrages), so lässt sein Candide ein historisches Konzept von Resilienz in unserem Sinne erkennen, dessen im Conte verhandelte spezifische Problematik mit dem Begriff der sensibilité verknüpft ist: Jenem Persönlichkeitsideal, das die Aufklärung wie kein anderes prägte. Voltaires Candide ist in dieser Perspektive eine Erzählung, die die individuellen und kollektiven Bedingungen für Resilienz sowie deren Ambivalenz als Persönlichkeits- und Gesellschaftsideal reflektiert.

I. Narrative Erscheinungsweisen von Resilienz: Intradiegetisches Erzählen Candide erweist sich zunächst als anti-resilient. Voltaire lässt ihn als Figur erscheinen, die ihren Leiderfahrungen hilflos ausgeliefert ist. Als Reaktion auf seine Verbannung aus dem „irdischen Paradies“ im westfälischen Schloss Thunder-Ten-Tronck durch den Baron, der Candide beim verbotenen Liebesspiel mit Cunégonde entdeckt hatte, irrt Candide planlos umher, und es gelingt ihm zunächst nicht, sich vor Kälte und Hunger zu schützen. Der sehnsüchtige

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Blick zum Himmel verspricht ebenso wenig Hilfe wie der Blick zurück zum Schloss, in dem er Cunégonde zurücklassen musste: Candide war aus dem irdischen Paradies vertrieben worden und irrte lange ziellos umher. Er weinte, hob die Augen gen Himmel und ließ sie des Öfteren nach dem schönsten aller Schlösser zurückschweifen, das die liebreizendste aller Baronessen barg. Ohne etwas gegessen zu haben, legte er sich mitten auf dem Felde zwischen zwei Ackerfurchen zum Schlafen nieder. Der Schnee fiel in dichten Flocken vom Himmel herab. Ganz erstarrt vor Kälte, ohne einen roten Heller in der Tasche, halbtot vor Hunger und Müdigkeit schleppte sich Candide am nächsten Tage nach Waldberghofftrarbkdickdorff, der nächstgelegenen Stadt.6

Auf die nun folgenden Gewalterfahrungen (Folter bei den Bulgaren) reagiert er gar nicht oder mit Flucht, es gibt eigentlich keine Reaktion und schon gar keinen aktiven Widerstand Candides gegen sein Schicksal. Über weite Teile der Erzählung bestimmt er auch nicht die Richtung seiner Reise, sondern Zeitpunkt und Richtung seiner Weiterreise werden stets von anderen Figuren festgelegt, Candide lässt sich treiben oder mitnehmen. Dreimal im ersten Fünftel der Erzählung fällt er in Ohnmacht, ein kulturell und literarisch hoch codiertes Phänomen. Auf seine besorgte Nachfrage zum Wohlergehen seiner Liebsten Cunégonde bei seinem durch Krankheit entstellten früheren Lehrer Pangloss, der ihm zufällig als Bettler begegnet, muss er hören: ‚Sie ist tot‘, erwiderte der andere. Bei diesen Worten brach Candide ohnmächtig zusammen. Sein Freund brachte ihn mit Hilfe von etwas schlechtem Essig, der sich zufällig in dem Stall befand, wieder zur Besinnung. Candide schlug die Augen auf. ‚Kunigunde ist tot? O du beste aller Welten, wo bist du? Aber an welcher Krankheit ist sie denn gestorben? Etwa gar aus Kummer, weil sie mit ansehen mußte, wie ihr Herr Vater mich mit wuchtigen Fußtritten aus dem schönen Schloß hinauswarf?‘ – ‚Ach nein‘, antwortete Pangloß, ‚bulgarische Soldaten haben ihr den Bauch aufgeschlitzt, nachdem sie so und so viele Male geschändet worden war. Dem Herrn Baron, der sie verteidigen wollte, haben sie den Schädel eingeschlagen, die Frau Baronin ist in Stücke gehackt worden, meinem armen Zögling erging es wie seiner Schwester, und von dem Schloß ist kein Stein mehr auf dem anderen geblieben; keine

                                                             6 VOLTAIRE, Candide oder der Optimismus. Aus dem Französischen von Ilse Lehmann, mit Zeichnungen von Paul Klee, Frankfurt a. M.: Insel 1972, 14f. Das französische Original ist hier und im Folgenden zitiert nach VOLTAIRE, Candide oder der Optimismus, in: Theodore Bestermann u.a. (Hg.), Oeuvres complètes de Voltaire Bd. 48, Oxford: Voltaire Foundation 1968, 269–275 (https://candide.bnf.fr/candide.pdf). S. 5: „Candide, chassé du paradis terrestre, marcha longtemps sans savoir où, pleurant, levant les yeux au ciel, les tournant souvent vers le plus beau des châteaux qui renfermait la plus belle des baronnettes; il se coucha sans souper au milieu des champs entre deux sillons; la neige tombait à gros flocons. Candide, tout transi, se traîna le lendemain vers la ville voisine, qui s’appelle Valdberghoff-trarbk-dikdorff, n’ayant point d’argent, mourant de faim et de lassitude.“

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Scheune, kein Schaf, keine Ente, kein Baum ist übriggeblieben. Aber wir sind gerächt worden, denn die Avaren haben auf einem benachbarten Gut, das einem bulgarischen Edelmann gehörte, ebenso gehaust.‘ Bei diesem Bericht fiel Candide abermals in Ohnmacht.7

Selbst die Hoffnung, Cunégonde könnte aus Liebe zu ihm gestorben sein, wird ausgelöscht, und Candide muss also erfahren, das Cunégonde vergewaltigt und dann ebenso wie alle anderen Bewohner des Schlosses massakriert wurde, bevor das benachbarte Fürstentum der Bulgaren aus Rache demselben Schicksal unterzogen wurde. Seine doppelte Ohnmacht (eine bei der Nachricht von Cunégondes Tod, eine unmittelbar darauf bei der Nachricht des Todes der anderen Schlossbewohner) steht für die Hilflosigkeit angesichts einer Entzugsund Leiderfahrung, die Candides radikale Flucht (des Bewusstseins) oder besser seine radikale Passivität bzw. Nicht-Handlung zur Folge hat: Ohnmächtig wird man ‚gemacht‘, echte Ohnmacht ist nicht als aktive Handlung zu denken. Candide wird kurz darauf zum dritten Mal ohnmächtig, verletzt und begraben von herabstürzenden Trümmern. Eine vierte Ohnmacht fällt ins erste Viertel der Erzählung, diese allerdings betrifft die nun doch noch lebendige Cunégonde, die berichtet, dass sie unerkannt Zeugin der Folter Candides und der Hinrichtung von Pangloss geworden war. Der bevorstehende Feuertod von Pangloss ließ sie das Bewusstsein verlieren. Auffällig ist, dass in den restlichen drei Vierteln der Erzählung keine Ohnmachten mehr vorkommen, die Figuren scheinen nun eine Resilienzstrategie gefunden zu haben.8 Diese Strategie ist, so meine These, das Erzählen, das Reframing ihrer Leiderfahrungen. Geradezu penetrant markiert Voltaire das Erzählen von Leid. Das Prinzip der wiederholten ‚Wiederauferstehung‘ totgeglaubter Figuren, die Candide unvermutet wiedertrifft, gibt vielfach Anlass, sich wechselseitig von den Gewalt- und Leiderfahrungen zu berichten und sich somit auf den neuesten Stand des Elends zu bringen. Nicht nur Cunégonde, auch Pangloss, Martin und Cacambo werden

                                                             7 VOLTAIRE, Candide oder der Optimismus, 23; frz. 11f.: „Elle est morte, reprit l’autre.‘ Candide s’évanouit à ce mot: son ami rappela ses sens avec un peu de mauvais vinaigre qui se trouva par hasard dans l’étable. Candide rouvre les yeux. ‚Cunégonde est morte! Ah! Meilleur des mondes, où êtes-vous ? Mais de quelle maladie est-elle morte? Ne serait-ce point de m’avoir vu chasser du beau château de monsieur son père à grands coups de pied? – Non, dit Pangloss, elle a été éventrée par des soldats bulgares, après avoir été violée autant qu’on peut l’être; ils ont cassé la tête à monsieur le baron, qui voulait la défendre; madame la baronne a été coupée en morceaux; mon pauvre pupille, traité précisément comme sa sœur; et quant au château, il n’est pas resté pierre sur pierre, pas une grange, pas un mouton, pas un canard, pas un arbre; mais nous avons été bien vengés, car les Abares en ont fait autant dans une baronnie voisine qui appartenait à un seigneur bulgare.‘ À ce discours, Candide s’évanouit encore; [...].“ 8 Zum grundsätzlichen Zusammenhang von Ohnmacht und Resilienz s. RICHTER, CORNELIA, Einleitung: Ohnmacht und Angst aushalten. Zur Kritik und Ergänzung dominant aktiver Resilienzfaktoren, in: Dies. (Hg.), Ohnmacht und Angst aushalten. Kritik der Resilienz in Theologie und Philosophie (Religion und Gesundheit 1), Stuttgart: Kohlhammer 2017, 9– 29.

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auf der Basis von Erzählungen tot geglaubt, tauchen dann doch wieder auf und berichten über ihre Erlebnisse des Grauens, um dann wieder Teil des weiteren Geschehens zu werden: Selbst das zusammenfassende Erzählen hat integrative Wirkung und stellt die Figuren als handlungsfähigen Teil der Erzählung wieder her. Gegenüber dem resümierenden Berichten dieser Figuren sticht dabei aber eine Erzählung formal heraus: Die ganze zwei Kapitel umfassende Erzählung der Alten,9 die Candide gesund gepflegt hatte und auch mit ihm und Cunégonde per Schiff in die Neue Welt aufbricht. Wenn sie erzählt, tritt ihre raumgreifende, kommentierende, Kausalität und Zusammenhang betonende Narration im Verhältnis zum skeletthaften Plotbericht der anderen Figuren deutlich hervor. Angestachelt wird ihre Erzählung von der lachenden Behauptung Cunégondes, so viel schlechter als ihr selbst könne es der Alten ja wohl nicht ergangen sein. Sie werden gleich merken, dass Cunégondes Resümee nur in der Sache, nicht aber in der erzählerischen Ausführung beeindruckend ist, denn weniger ‚erzählerisch‘ kann man gar nicht erzählen: “O meine Liebe“, rief sie, „nur wenn Sie von zwei Bulgaren vergewaltigt worden sind, wenn Sie zwei Messerstiche in den Leib versetzt bekamen, wenn zwei Ihrer Schlösser zerstört wurden, wenn zwei Mütter und zwei Väter vor Ihren Augen erwürgt worden sind und zwei Ihrer Geliebten bei einem Autocafé in Ihrer Gegenwart ausgepeitscht wurden – nur dann würde ich einsehen, daß Ihnen der Vorrang gebührt.“10

Die Alte wiederum ist sich der Überlegenheit ihrer Schreckenserlebnisse sicher, und es gelingt ihr, die Bedingung allen schriftlichen wie mündlichen Erzählens zu schaffen: Sie weckt die Neugier ihrer Zuhörer. „Mein gnädiges Fräulein“, entgegnete die Alte, „Sie kennen meine Herkunft nicht, und wenn ich Ihnen mein Hinterteil zeigte, würden Sie anders reden und vorsichtiger mit Ihrem Urteil sein.“ − Diese Bemerkung erweckte in Kunigundes und Candides Herzen eine unbezähmbare Neugier, und die Alte erzählte ihnen nun folgendes:11

                                                             9

Zur Wiederholungsstruktur der Erzählung weiblicher Figuren in „Candide“ s. BETTS, C. J., Exploring Narrative Structures in „Candide“, in: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 314 (1993), 1–131, insbes. 73–87. 10 VOLTAIRE, Candide, 51f.; frz. 31f.: „Hélas ! lui dit-elle, ma bonne, à moins que vous n’ayez été violée par deux Bulgares, que vous n’ayez reçu deux coups de couteau dans le ventre, qu’on n’ait démoli deux de vos châteaux, qu’on n’ait égorgé à vos yeux deux mères et deux pères, et que vous n’ayez vu deux de vos amants fouettés dans un auto-da-fé, je ne vois pas que vous puissiez l’emporter sur moi ajoutez que je suis née baronne avec soixante et douze quartiers, et que j’ai été cuisinière.“ 11 VOLTAIRE, Candide, 52; frz. 32.: „‚Mademoiselle, répondit la vieille, vous ne savez pas quelle est ma naissance; et si je vous montrais mon derrière, vous ne parleriez pas comme vous faites, et vous suspendriez votre jugement.‘ Ce discours fit naître une extrême curiosité dans l’esprit de Cunégonde et de Candide. La vieille leur parla en ces termes.“

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Voltaire gibt der Erzählung der Alten deshalb so viel Raum und gestaltet sie als über das ‚Was‘ hinausgehendes literarisches Binnen-Artefakt, weil er metapoetisch auf die Bedeutung des Erzählens abhebt: Erzählen ist Resilienzstrategie, Erzählen macht widerständig und feit die Erzählenden vor Anfechtung. Zunächst wird diese Position der Alten in Bezug auf die unterhaltende Kraft des Erzählens auf Schiffsreisen in den Mund gelegt: Sie spricht aus Erfahrung (deshalb muss die Alte bei Voltaire alt sein), und sie weiß, dass Erzählen nicht nur Langeweile vertreibt, sondern auch durch Perspektivität die eigene Leidens-Sicht relativiert: „Ich hätte auch niemals von meinem Unglück gesprochen, wenn Sie mich durch Ihre Behauptung nicht etwas verletzt hätten und wenn es nicht üblich wäre, sich auf Seereisen zum Zeitvertreib Geschichten zu erzählen. Und dann, mein gnädiges Fräulein – ich habe Lebenserfahrung und kenne die Welt. Machen Sie sich den Spaß, und lassen Sie sich von jedem der Mitreisenden seine Lebensgeschichte erzählen: wenn auch nur ein einziger darunter ist, der nicht mehr als einmal sein Leben verflucht und sich nicht so und so oft für den allerunglücklichsten Menschen gehalten hat, dann werfen Sie mich kopfüber ins Meer!“ […] Nachdem die schöne Kunigunde die Geschichte der Alten angehört hatte, behandelte sie sie so höflich, wie es einer Frau von Rang und Würden zukommt. Sie ging auf den Vorschlag der Alten ein und forderte alle Mitreisenden nacheinander auf, ihre Erlebnisse zu erzählen. Candide und auch Kunigunde mußten gestehen, daß die Alte recht hatte. […] Während nun jeder seine Geschichte erzählte, fuhr das Schiff dahin und landete schließlich in Buenos Aires.12

Erzählen ist in diesem Sinne eine Resilienz-Strategie, die über die Relativierung eigener Perspektiven und über die Reintegration des Erlebten in allgemeine, überindividuelle Weltläufe funktioniert. Diese Erzähltradition ist zwar traditionsreich, wie die Alte betont, aber sie ist auch fortschrittsträchtig: Sie begleitet das Schiff auf seinem Weg in die Neue Welt. Für diejenigen, die von hier aus noch keine Assoziation zur europäischen Literaturgeschichte haben, winkt Voltaire mit dem Zaunpfahl: Dass Erzählen hilft, die außerliterarische Unordnung wiederherzustellen und den Menschen angesichts von Übel in der Welt widerstandsfähig macht, wissen wir seit Boccaccios Decamerone. Hier sind es die sieben tugendhaften Damen und drei tugendhaften Herren, die den

                                                             12 VOLTAIRE, Candide, 64–66; frz. 40–42: „‚Je ne vous aurais même jamais parlé de mes malheurs, si vous ne m’aviez pas un peu piquée, et s’il n’était d’usage, dans un vaisseau, de conter des histoires pour se désennuyer. Enfin, mademoiselle, j’ai de l’expérience, je connais le monde: donnez-vous un plaisir, engagez chaque passager à vous conter son histoire, et s’il s’en trouve un seul qui n’ait souvent maudit sa vie, qui ne se soit souvent dit à lui-même qu’il était le plus malheureux des hommes, jetez-moi dans la mer la tête la première.‘ […] La belle Cunégonde, ayant entendu l’histoire de la vieille, lui fit toutes les politesses qu’on devait à une personne de son rang et de son mérite. Elle accepta la proposition; elle engagea tous les passagers, l’un après l’autre, à lui conter leurs aventures. Candide et elle avouèrent que la vieille avait raison. […] À mesure que chacun racontait son histoire, le vaisseau avançait.“

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Entschluss fassen, dem pestbedingten gesellschaftlichen und moralischen Verfall auf einen Landsitz bei Florenz zu entfliehen und ihm akzentuiert geordnetes Erzählen (Tageszeit, Ort des Erzählens, Hierarchie, thematische Ordnung, zehn mal zehn Novellen) entgegenzusetzen. Damit das Erzählen als bewährte Resilienzstrategie deutlich wird, beruht die Erzählung der Alten wesentlich auf ihren leidvollen Erfahrungen mit der (ja auch von Boccaccio als Rahmenerzählung genutzten) Pest, die in jeder Hinsicht das durch Erdbeben ausgelöste Elend übertreffe, und natürlich ist es ausgerechnet ein italienischer Kastrat, der die Alte eigentlich vom pestverseuchten Algerien nach Italien bringen sollte: „[…] anstatt mich nach Italien zu bringen, fuhr er mit mir nach Algier und verkaufte mich an den Dey dieses Landes. Kaum war das geschehen, als die Pest, die bereits Afrika, Asien und Europa heimgesucht hatte, in Algier zu wüten begann. Sie haben zwar ein Erdbeben erlebt, gnädiges Fräulein, aber haben Sie jemals die Pest gehabt?“ – „Nein“, antwortete die Baronesse. ‚Hätten Sie sie gehabt‘, versetzte die Alte, „würden Sie zugeben, daß die Pest weit schlimmer ist als ein Erdbeben.“13

Der unmittelbaren Ohnmacht Candides und Cunégondes wird in Voltaires conte philosophique das bewährte novellistische Mittel des Erzählens als kulturell bewährte Resilienzstrategie entgegengesetzt. Dabei wird diese Resilienzstrategie von den intradiegetischen Erzählern vorgeführt und zugleich performativ für die Rezipienten bei der Lektüre von Voltaires conte philosophique erfahrbar – weil Voltaire Erzählweisen verwendet, die den Leser selbst ‚rezeptionsästhetisch resilient‘ machen, wie im Folgenden zu zeigen ist.

II. Ebene der Erzählinstanz: Rezeptionsästhetische Resilienz Im Vergleich mit der ausgeführten Schreckenserzählung der Alten erscheinen die Leidens-Resümees der anderen Figuren eher blass und farblos. Und das, obwohl sie an Gräueln den Erlebnissen der Alten in nichts nachstehen – wer mag schon entscheiden und abwägen, ob Folter, Vergewaltigung, Ertränken, Erhängen, Erdbeben oder Pest den Paragone des Übels gewinnen sollten? Doch woran liegt es, dass uns die Schreckensszenarien des Candide nicht wirklich umhauen, dass wir sie lesen können, ohne wirklich angefasst zu sein? Wir sind bei und nach der Lektüre irritiert, weil wir – resilient lesen! Wir erholen uns schnell von jeder Gräuel-Etappe und lesen weiter, als wären wir immun gegen das vor Augen geführte Übel der Welt. Der Begriff der Resilienz mag zunächst

                                                             13 VOLTAIRE, Candide, 60f., frz. 38: „[…] au lieu de me mener en Italie, il me conduisit à Alger, et me vendit au dey de cette province. À peine fus-je vendue que cette peste qui a fait le tour de l’Afrique, de l’Asie, de l’Europe, se déclara dans Alger avec fureur. Vous avez vu des tremblements de terre; mais, mademoiselle, avez-vous jamais eu la peste ? – Jamais, répondit la baronne. – Si vous l’aviez eue, reprit la vieille, vous avoueriez qu’elle est bien au-dessus d’un tremblement de terre.“

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in Bezug auf fiktionale Erfahrungen unangemessen erscheinen – führt man sich jedoch das Funktionieren bestimmter literarischer Gattungen des Horrors oder des Unheimlichen vor Augen,14 so wird deutlich, dass die Grenzen zwischen fiktionaler und außerliterarischer Welt oftmals auch durch Poetiken des Schlusses nicht vollständig gebändigt werden können, und dass es Phänomene der Rezeption gibt, die uns die eigentlich ja domestizierende (weil von der Wirklichkeit ersten Grades abgegrenzte) Fiktionalität von Leid, Gefahr, Elend kurzfristig oder sogar nachhaltig vergessen machen. Vor dem Hintergrund dieser Beobachtung steht die hier vorgeschlagene Betrachtung der mehr oder minder großen „rezeptionsästhetischen Resilienz“, die vom Leser gefordert bzw. ihm nahegelegt wird, wenn er die Lektüre des Candide überstehen will. Die von Voltaire in Candide evozierte rezeptionsästhetische Resilienz lässt sich erklären durch einen Blick auf die Erzählinstanz in Candide und deren Art und Weise des Erzählens. Diese ist bestimmt durch eine scheinbare Distanz zum Erzählten. Diese Distanz zum Erzählten speist sich zum einen durch Ironie als rhetorische Figur der Distanznahme zum Gesagten, die zu Beginn komisch, später zunehmend bitter ist. Eine solche Ironie bzw. ironische Ästhetisierung ist z.B. in dem Moment zu beobachten, als Candide geschändete Dörfer und verlassene Schlachtfelder durchschreitet: Man kann sich nichts Schöneres, Tüchtigeres, Glänzenderes und Wohlgeordneteres vorstellen als die beiden Armeen! Die Trompeten, Hörner, Trommeln, Querpfeifen und Kanonen vollführten ein wahres Höllenkonzert. Zunächst mähten die Geschütze auf jeder Seite etwa sechstausend Mann nieder; dann befreite das Musketenfeuer die beste aller Welten von neun- bis zehntausend Schurken, die sie bisher verpestet hatten, und endlich waren die Bajonette der zureichende Grund des Todes von einigen tausend Mann. Der Gesamtverlust mochte sich auf etwa dreißigtausend Seelen belaufen. Candide zitterte wie ein Philosoph und versteckte sich während dieser heroischen Schlächterei so gut er konnte.15

Diese Verfahren werden vor allem dann eingesetzt, wenn das erzählte Übel nicht retrospektiv, sondern präsentisch erzählt wird.

                                                             14

Zum Moment der anhaltenden Unentschiedenheit zwischen natürlicher und übernatürlicher Erklärung der Ereignisse in phantastischer Literatur s. grundlegend TODOROV, TZVETAN, Einführung in die fantastische Literatur, Berlin: Klaus Wagenbach 2013 sowie zur Horrorliteratur BRITTNACHER, HANS RICHARD, Ästhetik des Horrors, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994. 15 VOLTAIRE, Candide, 18; frz. 8: „Rien n’était si beau, si leste, si brillant, si bien ordonné que les deux armées. Les trompettes, les fifres, les hautbois, lestambours, les canons, formaient une harmonie telle qu’il n’y en eut jamais en enfer. Les canons renversèrent d’abord à peu près six mille hommes de chaque côté ; ensuite la mousqueterie ôta du meilleur des mondes environ neuf à dix mille coquins qui en infectaient la surface. La baïonnette fut aussi la raison suffisante de la mort de quelques milliers d’hommes. Le tout pouvait bien se monter à une trentaine de mille âmes. Candide, qui tremblait comme un philosophe, se cacha du mieux qu’il put pendant cette boucherie héroïque.“

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Das zweite erzählerische Mittel, mit dem auf rezeptionsästhetischer Ebene Resilienz erzeugt wird, ist das Verfahren der objektivierenden Verknappung und Reduktion auf das Faktische. Dieses Mittel kommt bei Voltaire dann zum Einsatz, wenn Figuren retrospektiv ihre Leiderfahrung erzählen / etwa dann, wenn Candide durch Pangloss vom angenommenen Tod Cunégondes und aller Schlossbewohner berichtet: […] bulgarische Soldaten haben ihr den Bauch aufgeschlitzt, nachdem sie so und so viele Male geschändet worden war. Dem Herrn Baron, der sie verteidigen wollte, haben sie den Schädel eingeschlagen, die Frau Baronin ist in Stücke gehackt worden, meinem armen Zögling erging es wie seiner Schwester, und von dem Schloß ist kein Stein mehr auf dem anderen geblieben; keine Scheune, kein Schaf, keine Ente, kein Baum ist übriggeblieben. Aber wir sind gerächt worden, denn die Avaren haben auf einem benachbarten Gut, das einem bulgarischen Edelmann gehörte, ebenso gehaust.16

Die hier in zwei verschiedenen Verfahren (Ironie und resümierende Verknappung) vorgestellte, von Voltaire evozierte rezeptionsästhetische Resilienz bindet den Leser in die Resilienzthematik ein,17 eine Resilienz-Metalepse im Sinne Gérard Genettes.18 Resilienz ist im Candide somit nicht nur ein binnenfiktionales Phänomen auf der Figurenebene, sondern wird über den Leser mit der außersprachlichen Wirklichkeit, mit außerliterarischen Phänomenen und Diskursen performativ verknüpft. Dieser Spur zur außerliterarischen Wirklichkeit, die Voltaire in seinem Candide legt, soll im Folgenden weiter nachgegangen werden.

III. Zur Historizität von Resilienzkonzepten: Resilienz als Persönlichkeitsideal im 18. Jahrhundert? Wenn die Figuren in Voltaires Candide gegenüber ihrem grauenvollen Schicksal resilient sind und die Erzählinstanz beim Leser rezeptionsästhetische Resilienz erzeugt, so ist zur Deutung der Erscheinungsformen von Resilienz im Conte von grundlegendem Interesse, in welchem Verhältnis sie (als Konzept,

                                                             16 VOLTAIRE, Candide, 23; frz. 11f.: „elle a été éventrée par des soldats bulgares, après avoir été violée autant qu’on peut l’être; ils ont cassé la tête à monsieur le baron, qui voulait la défendre; madame la baronne a été coupée en morceaux; mon pauvre pupille, traité précisément comme sa sœur; et quant au château, il n’est pas resté pierre sur pierre, pas une grange, pas un mouton, pas un canard, pas un arbre; mais nous avons été bien vengés, car les Abares en ont fait autant dans une baronnie voisine qui appartenait à un seigneur bulgare.‘ À ce discours, Candide s’évanouit encore; [...].“ 17 Martha S. Jurkiewicz spricht in Bezug auf Voltaire und Diderot vom „lecteur dans le contexte sympractique“, entfaltet diese Idee aber – trotz des einschlägig scheinenden Titels der Monographie – wenig systematisch – pointiert. JURKIEWICZ, MARTHA S., Le roman des philosophes. Le lecteur comme protagoniste, Berlin: Weidler 2012, 148–157. 18 GENETTE, GÉRARD, Métalepse. De la figure à la fiction, Paris: Éditions du Sueil 2004.

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noch vor dem Begriff) und die Aufklärung überhaupt stehen konnten. Ich strebe im Folgenden entsprechend die Historisierung eines möglicherweise in Candide vorgestellten Resilienzkonzeptes an. Es gibt im 18. Jahrhundert ein Persönlichkeitsideal, das ex negativo mit dem der Resilienz eng verwandt ist: die sensibilité. Sensibilité meint im 18. Jahrhundert bekanntlich nicht einfach eine „Empfindlichkeit“, sondern ist eine Tugend schaffende und bezeugende Wahrnehmungsfähigkeit, die eine moralische, soziale und ästhetische Dimension hat und auch besondere Erkenntnisfähigkeit mit sich bringt.19 Während sensibilité in der ersten Jahrhunderthälfte mit einem regelrechten Gefühlskult verbunden ist (man denke an die comédie larmoyante), wird sie in der zweiten Jahrhunderthälfte zur Rückseite der Raison-Medaille. Sie ist nicht Gegenteil der Raison, sondern deren Voraussetzung, Erkenntnisgegenstand und Ziel. In der zweiten Jahrhunderthälfte will man mit dem Licht der Vernunft das Gefühl erhellen. Nicht um es abzuschaffen, sondern um das programmatisch in der Encyclopédie vorangestellte Ziel der Aufklärung, die Vermehrung des Wissens, der Tugend und des Glücks, auf individueller und kollektiver Ebene voranzubringen. In der Encyclopédie heißt es ganz am Ende des von Jaucourt verfassten Eintrags „sensibilité“, der sich vor allem dem physiologischen Begriffsverständnis widmet: Die Empfindsamkeit des Herzens verleiht eine Art Weisheit in ehrenhaften Dingen und reicht weiter als die rein espritgeleitete Durchdringung. Die empfindsamen Seelen können aus Lebhaftigkeit Fehler begehen, die bedächtige Menschen nicht begehen würden; aber sie machen es durch die Menge der Vorzüge, die sie hervorbringen, wieder wett. Die empfindsamen Seelen haben mehr Dasein als die anderen: Das Gute und das Schlechte vermehrt sich ihnen gegenüber. Die Reflexion schafft den rechtschaffenen Menschen; aber die Empfindsamkeit schafft den tugendhaften. Die Empfindsamkeit ist die Mutter der Menschlichkeit, der Großzügigkeit; sie steigert die Anerkennung, stützt den Esprit und bringt Überzeugung mit sich.20

                                                             19

BAASNER, FRANK, Der Begriff ‚Sensibilité‘ im 18. Jahrhundert. Aufstieg und Niedergang eines Ideals, Heidelberg: Universitätsverlag Winter 1988. 20 Übersetzung S.W. Frz.: „La sensibilité d’âme […] donne une sorte de sagacité sur les choses honnêtes, & va plus loin que la pénétration de l’esprit seul. Les ames sensibles peuvent par vivacité tomber dans des fautes que les hommes à procédés ne commettreroient pas; mais elles l’emportent de beaucoup par la quantité des biens qu’elles produisent. Les âmes sensibles ont plus d’existence que les autres: les biens & les maux se multiplent à leur égard. La réflexion peut faire l’homme de probité; mais la sensibilité fait l’homme vertueux. La sensibilité est la mère de l’humanité, de la générosité; elle sert le mérite, secourt l’esprit, & entraîne la persuasion à sa suite.“ (De Jaucourt, Louis, Art. „Encyclopédie“, in: Denis Diderot/Jean Le Rond D’Alembert: Encyclopédie (1751–1765), Bd. 15, Paris: Briasson 1765, 38–52, hier 52. Zugriff über: [https://fr.wikisource.org/wiki/L%E2%80%99Encyclop%C3% A9die/1re_%C3%A9dition/SENSIBILIT%C3%89]).

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Tiefer erkennende Wahrnehmungsfähigkeit wird also bezahlt mit dem Preis, besonders fehleranfällig zu sein. Und Rousseau lässt Saint Preux in einem berühmten Roman Julie ou La Nouvelle Héloïse beklagen, wie leidensanfällig die sensibilité den Menschen macht: „Oh Julie, welch schicksalhaftes Geschenk des Himmels ist eine empfindsame Seele! Der, der es erhalten hat, muss sich darauf gefasst machen, nur Mühsal und Unglück auf Erden zu haben.“21 Doch der mit sensibilité ausgestattete Mensch ‚hat mehr Existenz‘ als die anderen, er lebt gleichsam intensiver, und was er an Reflexion einbüßt, gewinnt er an Tugend, Menschlichkeit, Großzügigkeit. Sensibilité ist der Ehre zuträglich, führt und rettet den Geist und hält zur Nachahmung an. Ist Resilienz unter dem Vorzeichen dieses sensibilité-Ideals der Aufklärung überhaupt im 18. Jahrhundert als positives Konzept zu denken? Voltaires Candide handelt und argumentiert, so viel steht fest, nicht im Sinne der raison. Sein unmündiger Optimismus, den er seinem Lehrer Pangloss à la Leibniz nachplappert, ist unbelehrbar und resistent gegen jeden empirischen Gegenbeweis. Seine Argumentationen bewegen sich im Zirkelschluss und sind hermetisch gegen jedes vernünftige Argument abgeriegelt, er bewegt sich in einer geschlossenen Weltordnung, in der selbst das schlimmste Widerfahrnis in die ‚beste aller möglichen Welten‘ einsortiert wird. Candide geht aber nicht nur die raison ab, sondern er besitzt auch keine sensibilité. Sensibilité wird in Voltaires Candide durch die multiplen Ohnmachten lediglich kulturell codiert aufgerufen, aber nicht in der Figur Candide verwirklicht. Das stimmt aber nur bis ziemlich genau zur Mitte der Erzählung. Hier nämlich stellt Candide eine Persönlichkeitsveränderung22 unter Beweis: Während er sich zuvor durch Ohnmacht oder Flucht dem Schrecken entzieht, weder Zeitpunkt noch Richtung seiner Reise bestimmt und alle Widerfahrnisse im Sinne des Leibniz’schen Theorems zu erklären sucht, ergreift Candide in El Dorado die Initiative zur Weiterreise nach Europa bzw. nach Venedig, widerspricht dabei seinem Lehrer Pangloss und – weint! Er ist zum ersten Mal explizit „désespéré“, obwohl er zuvor schon genug Anlass dazu gehabt hätte. Oder besser: Obwohl die Erzählinstanz schon genug Anlass gehabt hätte, seine Verzweiflung und seine Hoffnungslosigkeit mit zu erzählen. Candide war deshalb bisher geradezu anti-resilient, weil zur Resilienz im Sinne der Aufklärung die sensibilité unabdingbar ist, die ihm aber bisher abging und die er erst an dieser Stelle

                                                             21 ROUSSEAU, JEAN-JACQUES, Julie ou La Novelle Héloïse, in: Bernard Gagnebinet u.a. (Hg.), Jean Jacques Rousseau. Œuvres complètes, Bd. 2, Paris: Gallimard 1961, 89. Frz.: „O Julie, que c’est un fatal présent du ciel qu’une âme sensible! Celui qui l’a reçu doit s’attendre à n’avoir que peine et douleur sur la terre.“ 22 Zur Frage, ob sich Candide im Laufe der Erzählung verändert bzw. eine Entwicklung im Sinne des Entwicklungsromans durchläuft siehe HOWELLS ROBIN, Does Candide Learn? Genre, Discourse, and Satire in Candide, in: Journal of the Institute of Romance Studies (1996), 145–154.

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der Erzählung langsam zu gewinnen scheint. Zur Resilienz gehört eine Trennbarkeit von Innen und Außen, von äußerer Anfechtung und innerer Stabilität. Candide aber verfügte über diese Trennung nicht, wie die Erzählung gleich zu Beginn postuliert. Er war einfältig, ohne doppelten Boden trug er sein Inneres außen: „Sa physionomie annonçait son âme.“23 – seine Physiognomie war Anzeige seiner Seele. Wenn überhaupt in der ersten Hälfte des Candide von Resilienz zu sprechen ist, dann ist es eine unaufgeklärte, nicht erstrebenswerte. Anders verhält es sich mit der Resilienz, die Candide in der zweiten Hälfte der Erzählung zeigt. Denn er reagiert aktiv auf schmerzhafte Entzugserfahrungen und Enttäuschungen. Er weint, klagt, verzweifelt, fasst Pläne, entwickelt eine Haltung: auch gegen Pangloss, und auch gegenüber seinem Schicksal. Denn gerade dann, als sich seine geliebte Cunégonde als zwar endlich präsent, aber untreu, der Liebe nicht wert und potthässlich erweist, gelingt ihm die Trennung von Innen und Außen. Er heiratet Cunégonde und vollzieht somit äußerlich sein Liebesversprechen, innerlich aber tut er dies aus Trotz. Dass Cunégonde parallel dazu ihr potthässliches Äußeres nicht kennt, unterstreicht die im Gegensatz dazu nun erreichte Impermeabilität von Candides Innen und Außen, die die Voraussetzung für seine nun wirklich Resilienz bedeutende Lebenshaltung ist: „Il faut cultiver notre jardin.“

VI. Aufgeklärte Resilienzstrategie: Furchendes Erzählen Das Bestellen des Gartens, das als Lebensmaxime am Ende der Erzählung steht, verweist zurück auf jenen bestellten Garten, von dem zu Anfang der Erzählung die Rede ist. Dieser erste bestellte Garten ist nicht, wie man meinen könnte und wie bisher in der einschlägigen Forschung oftmals angenommen, das „paradis terrestre“ im Schloss Thunder-ten-Tronkh. Der erste bestellte Garten in Voltaires Erzählung ist jener, auf dem Candide die erste Nacht nach seiner Vertreibung vom Schloss verbringt und der in den Interpretationen der Erzählung eigentlich immer vergessen wird: „il se coucha sans souper au milieu des champs entre deux sillons“24 – er legte sich ohne Abendbrot mitten in die Felder zwischen zwei Ackerfurchen. Zwischen zwei Ackerfurchen auf dem Felde liegt Candide; er liegt, wenn man so will, von Beginn an zwischen den Furchen, zwischen den Zeilen, ist Deutungsobjekt zwischen raison und sensibilité, die er zunächst beide nicht besitzt. Und die Bestellung des Gartens, der sich Candide fortan widmet, bedeutet keine körperliche, tatkräftige, in diesem Sinne ‚bodenständige‘ Arbeit. Davon ist in der Erzählung auch gar nicht die Rede, keine der Figuren nimmt die Harke in die Hand, auch am Schluss nicht. Was Candide und die anderen Figuren tun, ist Erzählen, mündliches Erzählen

                                                             23 24

VOLTAIRE, Candide, Frz.: 2. VOLTAIRE, Candide, Frz.: 5.

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als Resilienzstrategie. „Il faut cultiver notre jardin“ heißt vor diesem Hintergrund Furchen, Zeilen ziehen, Zeilen auf dem unbeschriebenen Blatt, und das mündliche Erzählen ins schriftliche Erzählen zu transformieren. Dieses Furchen vollzieht sich performativ vor den Augen des Rezipienten, mit der Lektüre der verschriftlichten Erzählung – und der Leser sieht somit Candide nun nicht mehr hilflos zwischen sensibilité und raison liegen, sondern aufrecht furchen. Literarisches Erzählen ist bei Voltaire eine aufgeklärte Resilienzstrategie, die das Persönlichkeitsideal der sensibilité mitdenkt.

Literaturverzeichnis BAASNER, FRANK, Der Begriff ‚Sensibilité‘ im 18. Jahrhundert. Aufstieg und Niedergang eines Ideals, Heidelberg: Universitätsverlag Winter 1988. BETTS, C.J., Exploring Narrative Structures in „Candide“, in: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 314 (1993), 1–131. BOTIIGLIA, WILLIAMS, Candide’s Garden, in: Ders. (Hg.) Voltaire. A Collection of Critical Essays, New Jersey: Prentice-Hall 1968. BRITTNACHER, HANS RICHARD, Ästhetik des Horrors, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994. DE JAUCOURT, LOUIS, Art. „Encyclopédie“, in: Denis Diderot/Jean Le Rond D’Alembert, Encyclopédie (1751–1765), Bd. 15, Paris: Briasson 1765, 38–52. Zugriff über: [https://fr.wikisource.org/wiki/L%E2%80%99Encyclop%C3%A9die/1re_%C3%A9dition/SENSIBILIT%C3%89]. FOUCAULT, MICHEL, Des Espaces Autres, in: Daniel Defert/François Ewald (Hg.), Michel Foucault. Dits et Écrits 1954–1988. Bd. IV, Paris: Gallimard 1994. GENETTE, GÉRARD, Métalepse. De la figure à la fiction, Paris: Éditions du Sueil 2004. HOWELLS, ROBIN, Does Candide Learn? Genre, Discourse, and Satire in Candide, in: Journal of the Institute of Romance Studies Institute London (1996), 145–154. JURKIEWICZ, MARTHA S., Le roman des philosophes. Le lecteur comme protagoniste, Berlin: Weidler 2012, 148–157. KARIDI, MARIA/SCHNEIDER, MARTIN/GUTWALD, REBEACCA (Hg.), Resilienz. Interdisziplinäre Perspektiven zu Wandel und Transformation, Wiesbaden: Springer 2018. KLETTKE, CORNELIA, Heterotopie und Heterologie in Voltaires Candide, in: Cordula Wöbbeking (Hg.), Der maskierte Voltaire – verdeckte Schreibarten und Textstrategien des Aufklärers, Berlin: Frank & Timme 2015. PATRICK, HENRY, Sacred and Profane Gardens in Candide, in: Theodore Bestermann (Hg.), Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 176, Genf: Institut et Musée Voltaire 1979. RICHTER, CORNELIA, Einleitung: Ohnmacht und Angst aushalten. Zur Kritik und Ergänzung dominant aktiver Resilienzfaktoren, in: Dies. (Hg.), Ohnmacht und Angst aushalten. Kritik der Resilienz in Theologie und Philosophie (Religion und Gesundheit 1), Stuttgart: Kohlhammer 2017, 9–29. RIEGER, DIETMAR, Einführung. Gattungen der Aufklärung: Das Theater und der conte Philosophique, in: Ders. (Hg.), 18. Jahrhundert – Theater, conte philosophique und philosophisches Schrifttum, Tübingen: Stauffenburg 2001, 1–16. ROUSSEAU, JEAN-JACQUES, Julie ou La Novelle Héloïse, in: Bernard Gagnebinet u.a. (Hg.), Jean Jacques Rousseau. Œuvres complètes, Bd. 2., Paris: Gallimard 1961.

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TODOROV, TZVETAN, Einführung in die fantastische Literatur, Berlin: Klaus Wagenbach 2013. VOLTAIRE, Candide oder der Optimismus. Aus dem Französischen von Ilse Lehmann, mit Zeichnungen von Paul Klee, Frankfurt a. M.: Insel 1972. VOLTAIRE, Candide oder der Optimismus, in: Theodore Bestermann u.a. (Hg.), Oeuvres complètes de Voltaire Bd. 48, Oxford: Voltaire Foundation 1968. Zugriff über: [https://candide.bnf.fr/candide.pdf]. WAGNER, BIRGIT, Gärten und Utopien. Natur- und Glücksvorstellungen in der französischen Spätaufklärung, Wien: Böhlau 1985.

Exodus: biografisch – literarisch – biblisch Fluchtgeschichten als narrative Resilienzressource in religiösen Bildungsprozessen Martina Kumlehn I. Präludium: Resilienzdynamik zwischen Schutz und Stärke Mit einer biografisch grundierten narrativen Sequenz möchte ich leitmotivisch in das Thema Fluchtgeschichten und resilienzorientierte religiöse Bildung einführen.1 Dazu rekurriere ich auf einen Besuch der Ausstellung „Unvergleichlich“ im Bode-Museum in Berlin im November 2017.2 In ihr wurden sakrale Kunstwerke aus Mitteleuropa und afrikanische Kunst durch großzügige Rauminstallationen so in ein spannungsvolles Verhältnis gesetzt, dass das Entdecken von anregenden Bezügen und irritierenden Differenzen gleichermaßen angeregt wurde. Diese Ausstellung besuchte ich zusammen mit einem geflüchteten Mädchen aus Eritrea, das ich über längere Zeit schulisch begleitet habe. Sie lernte zu dem beschriebenen Zeitpunkt seit vier Jahren Deutsch und hatte sich für ihre Facharbeit in der zehnten Klasse das Thema „Deutscher Kolonialismus in Afrika und die Folgen“ ausgesucht. Vor folgender Installation blieben wir lange stehen: Auf der einen Seite ist eine mittelalterliche Madonnenfigur zu sehen, eine von Michel Erhart um 1480 in Ulm geschaffene „Schutzfigur“ aus Keramik. Die Glaubenden bergen sich betend unter Marias Mantel und erhoffen sich, „dass sie Unheil wie Hungersnot, Krieg oder Seuchen von ihnen abwehren“3 möge. Ihr gegenüber steht eine „Kraftfigur“, eine mangaaka, die eine Reaktion auf die traumatischen Erfahrungen der Unterdrückung durch die Kolonialmächte im Kongo darstellt. „Die Figuren sollten helfen, Gerech-

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Vgl. zu einem strukturell ähnlichen Vorgehen SCHULT, MAIKE, „Unkraut vergeht nicht.“ Resilienz und Posttraumatische Reifung, in: Cornelia Richter (Hg.), Ohnmacht und Angst aushalten. Kritik der Resilienz in Theologie und Philosophie (Religion und Gesundheit 1), Stuttgart: Kohlhammer 2017, 183–196, 183. 2 Vgl. den Katalog Unvergleichlich. Kunst aus Afrika im Bode-Museum, hg. von JULIEN CHAPIUS/JONATHAN FINE/PAOLA IVANOV, Berlin: Edition Braus 2017. 3 Katalog Unvergleichlich, 145.

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tigkeit und Ordnung aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig war es ihre Aufgabe, Unheil abzuwehren …“4. Dem Bildhauer stand ein Ritualexperte zur Seite, „welcher der Figur sogenannte ‚Medizinen‘, (bilongo), also wirkkräftige Materialien hinzufügte und ihr Macht verlieh.“5 Nachdem wir diese Figuren betrachtet hatten, formulierte das Mädchen unvermittelt folgenden Satz: „Um zu überleben, braucht man beides: Schutz und Stärke.“ Mir verschlug es den Atem. Denn ich kenne einen Teil ihrer Geschichte: Ihr Vater ist in Eritrea im Gefängnis verschwunden, die Mutter flieht mit drei Töchtern und einem Sohn, in der Wüste kippt ein betrunkener Schlepper mit dem Wagen um und die älteste Tochter stirbt vor den Augen der anderen, die Restfamilie überlebt die Lager in Libyen und die Schlauchbootüberfahrt nach Italien. Über Norditalien kommen sie schließlich nach Deutschland, erst nach Nordrhein-Westfalen dann nach Rostock. Das Mädchen zeigt Facetten posttraumatischer Belastungsstörungen. Sie kann nur bei Licht schlafen, oft auch gar nicht. Sie erzählt jedoch bei Gelegenheit von dem Erlebten, über das ganz Schlimme jedoch nur in Andeutungen. Lernen ist ihr ganz wichtig, auch wenn ihr vieles noch unglaublich schwerfällt. Der Religionsunterricht ist eine besonders große Herausforderung für sie, denn sie ist eritreisch-orthodox und versteht die Bibel weitgehend wörtlich, was auch für das Normensystem von erheblichem Gewicht ist. Vieles im protestantischen Nachdenken über Religion ist ihr eher fremd, aber sie entdeckt zunehmend Freiheitsgrade, die auch für ihren Umgang mit der eigenen stark traditionell bestimmten Religiosität Veränderungen bewirken. Sie hat ein extrem feines Gespür für die Stimmungen anderer und fragt dann auch empathisch nach. Der Zusammenhang von eigener Vulnerabilität, die sich entsprechend dem anderen in seiner Verletzlichkeit nähern kann, scheint hier auf und damit der Zusammenhang von Trauma, Vulnerabilität und möglicher Resilienz als Response-System, das auf existenzielle Erschütterungen situativ und dynamisch in bestimmter Weise zwischen Aushalten und Gestalten reagiert.6 „Man braucht beides: Schutz und Stärke, um zu überleben“. Religiöse Ressourcen werden im Kulturkontakt spannungsreich verknüpft: Die Madonna ist von der religiösen Herkunft eigentlich näher als die magischspirituell aufgeladene Figur aus dem Kongo, aber diese spricht doch nachhaltig an und erlaubt ganz andere Identifikationen, die zur Bearbeitung des Erlebten beitragen können. Vermittelt über die eigene Biografie und ihre Selbstnarrationen werden Erfahrungen und entsprechende Narrative von Ohnmacht und

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Katalog Unvergleichlich, 145. Katalog Unvergleichlich, 145. 6 Vgl. SAUTERMEISTER, JOCHEN, Selbstgestaltung und Sinnsuche unter fragilen Bedingungen. Moralpsychologische und ethische Anmerkungen zum Verhältnis von Resilienz und Identität, in: Maria Karidi/Martin Schneider/Rebecca Gutwald (Hg.), Resilienz. Interdisziplinäre Perspektiven zu Wandel und Transformation, Wiesbaden: Springer 2018, 127–141, 129. 5

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Ausgeliefertsein, Loslassen und Abgeben, Demut und Hoffnung auf göttliche Hilfe sowie Narrative der Ermächtigung, des Sich-Besinnens auf die eigenen Kraftquellen, die eigene Würde mit durchaus auch aggressiven Elementen der Selbstbehauptung miteinander in Beziehung gesetzt. Ob sich in diesem Spannungsfeld „posttraumatische Reifung“7 einstellen kann oder die Traumata irgendwann doch zu noch größeren seelischen Beeinträchtigungen führen, ist offen und wird sich erst ex post zeigen. An diesem exemplarischen Einzelfall wird jedoch schon deutlich, dass es für diesen Prozess nach den unmittelbar bedrohlichen Fluchterfahrungen von großer Relevanz ist, für das Erlebte bei allen Grenzen des traumatisch Eingekapselten und Entzogenen doch einen möglichen Ausdrucksraum zu finden, selbst zu erzählen, was erzählt werden kann, und sich durch Perspektivenwechsel verschiedene Deutungsmöglichkeiten zu erschließen, die das Unsagbare im Resonanzraum verschiedener Ressourcen wie Beziehung, Empathie und starker anderer Erzählungen einschließlich religiöser Resilienznarrative Gestalt finden lassen. Bildungsprozesse im Allgemeinen und religiöse im Besonderen können solche Verarbeitungsprozesse anregen und grenzbewusst unterstützen, um Resilienz zu fördern.

II. Resilienz und religiöse Bildung: Eine grenzbewusste Verhältnisbestimmung im Horizont der Präsenz von Flucht- und Migrationserfahrungen im Bildungssystem Die komplexe Resilienzforschung verweist je nach Diskurszusammenhang auf verschiedene Faktoren, die Resilienz begünstigen können: Kohärenzsinn, Daseinsakzeptanz, Handlungsmächtigkeit, Selbstwirksamkeit, verlässliche Bezugspersonen, Zugehörigkeit zu Gemeinschaften, gute Rhythmen, Kommunikations- und Empathiefähigkeit, Intelligenz, Religiosität und die Fähigkeit, sich Hilfe zu holen (…).8

Dabei wird durchaus davon ausgegangen, „dass Resilienz zu einem großen Teil erlernbar ist“9 bzw. Resilienz wird als „Ziel von Erziehung, Ausbildung und Therapie“10 adressiert. Im Kontext der Rezeption des Resilienzdiskurses in der

                                                             7 Vgl. SCHNEIDER, MARTIN/VOGT, MARKUS, Selbsterhaltung, Kontrolle, Lernen. Zu den normativen Dimensionen von Resilienz, in: Maria Karidi/Martin Schneider/Rebecca Gutwald (Hg.), Resilienz. Interdisziplinäre Perspektiven zu Wandel und Transformation, Wiesbaden: Springer 2018, 103–123, 113. 8 VOGT, MARKUS/SCHNEIDER, MARTIN, Zauberwort Resilienz. Analysen zum interdisziplinären Gehalt eines schillernden Begriffs, in: MThZ (2016), 180–194, 183. 9 VOGT/SCHNEIDER, Zauberwort Resilienz, 184; vgl. auch HÖFLER, MARTHA, Bewältigungskapazität als Bildungsauftrag. Resilienz aus Perspektive der Erwachsenenbildung, in: Rüdiger Wink (Hg.), Multidisziplinäre Perspektiven der Resilienzforschung, Wiesbaden: Springer 2016, 101–121, 110. 10 SCHULT, „Unkraut vergeht nicht“, 187.

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vielfältigen Ratgeberliteratur wird sogar von einem Antrainieren von Widerstandsfähigkeit gesprochen, was an behavioristische Konditionierungsprogramme erinnert.11 Zwischen Training im Sinne der Selbstoptimierung und der allgemeinen Stressbewältigung, Lernen in vielfältigen kognitiven, emotiven und pragmatischen Dimensionen sowie Bildung als existenziell bedeutsamem selbstreflexivem Prozess der individuellen Aneignung von Bildungsgehalten ist jedoch sorgfältig zu unterscheiden und ihr Beitrag zur Ausbildung von Resilienz ebenfalls differenziert in den Blick zu nehmen. Es ist zu fragen, ob Resilienz eine Basiskompetenz darstellt, um mit „Unvorhergesehenem, Störungen, Krisen und Strukturbrüchen fertig zu werden“12 oder ob sie als Teil der Krisenerfahrung selbst begriffen wird und damit eher als ein komplexes dynamisches Kompetenzbündel, das sich situativ und adaptiv an das zu Bewältigende anpasst und sich aus sehr unterschiedlichen Ressourcen speist. Wenn Letzteres angenommen wird, ist sorgfältig zwischen dem zu differenzieren, was in Bildungsprozessen erschlossen, unterstützt und weiterentwickelt werden kann und dem, was Bildungsprozessen vorausgeht oder ihnen nur bedingt oder gar nicht zugänglich ist: wie z.B. genetische Dispositionen, bestimmte Personenmerkmale, ganz frühe Erfahrungen von Bindung oder Nicht-Bindung, die verbunden mit dem Hormon Oxytoxin wesentlich die spätere Fähigkeit zur Stressregulation beeinflussen13 sowie gesellschaftliche Rahmenbedingungen, die reflektiert und kritisiert, aber nicht unmittelbar und schon gar nicht beliebig verändert werden können. Auch Haltungen oder der Habitus einer Person nach Bourdieu sind hinsichtlich ihrer Genese so komplex und oft schon früh erworben, dass sie in Bildungsprozessen nicht einfach umzuformen sind, sondern allenfalls im Anschluss an Vorhandenes allmählich transformiert werden können.14 Resilienzsensible Bildung „zielt damit auf Resilienzkompetenzen und erfolgt habituell, wenn mindestens Überzeugungen, Werthaltungen, Einstellungen, Motivationen und Selbstregulationen im Bildungsprozess thematisch werden.“15

                                                             11

Vgl. dazu exemplarisch aus dem Feld der Ratgeberliteratur PRECHT, ANKE, Wie strick ich mir ein dickes Fell. Das Workbook für Frauen, Stuttgart: Trias 2019. 12 VOGT/SCHNEIDER, Zauberwort Resilienz, 190. 13 Vgl. FOOKEN, INSA, Psychologische Perspektiven der Resilienzforschung, in: Rüdiger Wink (Hg.), Multidisziplinäre Perspektiven der Resilienzforschung, Wiesbaden: Springer 2016, 14–45, 20. 14 Vgl. HEIL, STEFAN /RIEGGER, MANFRED, Der religionspädagogische Habitus. Professionalität und Kompetenzen entwickeln – mit innovativen Konzepten für Studium, Seminar und Beruf, Würzburg: Echter 2017, 20. 15 RIEGGER, MANFRED, Resilienzsensible Bildung. Resilienz als Response-Strategie durch Professionelle Simulation (ProfiS) entwickeln, in: Maria Karidi/Martin Schneider/Rebecca Gutwald (Hg.), Resilienz. Interdisziplinäre Perspektiven zu Wandel und Transformation, Wiesbaden: Springer 2018, 203–228, 218.

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Im Kontext von Resilienz und Glaube oder Resilienz und religiöser Bildung muss ein solches Grenzbewusstsein für das Lernbare bzw. durch selbstreflexive Bildungsprozesse Anzueignende jedoch noch einmal radikal erweitert werden. Zunächst erscheint allerdings die Arbeit am Kohärenzgefühl in Auseinandersetzung mit Fragen der Sinnstiftung bzw. des Sinnabbruchs als wichtiger Beitrag religiöser Bildung zur Stärkung von Resilienz.16 Denn das Kohärenzgefühl baut sich im Laufe des Lebens durch Erfahrungen der Weltwahrnehmung und Gestaltung auf und die zentralen Kategorien der „Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und der Bedeutsamkeit“17 sind genuin bildungsaffin. In religionspädagogischer Perspektive erweist sich das Konstrukt des Kohärenzgefühls darüber hinaus als attraktiv und anschlussfähig, weil es einerseits als universale Struktur angenommen wird und andererseits zugleich als diversitätskompatibel und offen für unterschiedliche religiöse Konkretionen gilt und damit quasi „so etwas wie eine lingua franca einer religionssensiblen Kultur sein“ könnte.18 Allerdings muss dann differenzierter als bisher ausgewiesen werden, wie sich ein christlich religiös fundiertes Kohärenzgefühl darstellt.19 Denn obwohl Antonovsky in seinem Konzept der Salutogenese, das eng mit dem Resilienzdiskurs verbunden ist, die großen existenziellen Fragen aufruft, liegt die Betonung der Funktion des Kohärenzgefühls doch auffällig auf den Akzenten der Ordnungsstiftung, des Erklärens der Welt, des Zutrauens, etwas bewirken zu können.20 Begreift man Religion dagegen als eine symbolisch, rituell, narrativ und diskursiv vermittelte „Kultur des Sich-Verhaltens zum Unverfügbaren“21, dann ist in diese ordnende Funktion unhintergehbar das Bewusstsein eingestiftet, dass sich das Transzendente grundsätzlich der eigenen Verfügung und der vollständigen Erklärbarkeit entzieht. Der religiösen Grundhaltung ist zugleich die Erfahrung vorgängiger Empfänglichkeit eingezeichnet, die dann selbst in die Deutung drängt und symbolisch vermittelt wird. Religiöse Praxis adressiert in der Gestaltung religiöser Kommunikation entsprechend imaginativ eine transzendente Instanz oder einen Sinngrund, vor dem das Außerordentliche, NichtErklärbare, Nicht-Handhabbare, das Fragmentarische, ja auch das absolut

                                                             16 Vgl. SCHNEIDER, MARTIN/VOGT, MARKUS, Glaube, Hoffnung, Liebe als Resilienzfaktoren. Theologisch-ethische Erkundungen, in: MThZ 67 (2016), 195–208, 198. 17 ANTONOVSKY, AARON, Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit, Tübingen: dgvt 1997, 34. 18 GUTTENBERGER, GUDRUN, Religionssensible Schulkultur, in: Dies./Harald SchroeterWittke (Hg.), Religionssensible Schulkultur, Jena: IKS Garamond 2011, 31–50, 36. 19 Vgl. dazu KUMLEHN, MARTINA, Salutogenese in der Religionspädagogik, in: Andreas von Heyl/Konstanze Kemnitzer/Klaus Raschzok (Hg.), Salutogenese im Raum der Kirche. Ein Handbuch, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2015, 441–455. 20 Vgl. ANTONOVSKY, Salutogenese, 34. 21 LÜBBE, HERMANN, Religion nach der Aufklärung, Graz: Styria 1986, 148.

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Sinnwidrige differenzbewusst zum Ausdruck gebracht werden können und damit weder harmonisiert noch in einer „Schweigespirale“22 belassen werden. Es sind entsprechend auch in religiösen Bildungsprozessen „entlastende, (medio-) passive und passivierende Kräfte“ zu thematisieren und Situationen der Anfechtung und des Zweifels „als konstitutive[…] Aufbauelement[e] resilienter Frömmigkeit“ mit zu bedenken.23 Ob sich dann jedoch im Erlernen einer solchen ausdifferenzierten Ausdruckskultur in Lob, Dank und Klage und einer entsprechenden rituellen Praxis tatsächlich Glaube, Daseinsgewissheit, lebenstragendes Vertrauen und Hoffnung wider den Augenschein einstellen, bleibt letztlich dem Bildungsbemühen selbst entzogen. Religiöse Bildung hält entsprechend genau diesen Sinn für das Unverfügbare im Leben offen und erweist gerade darin ihren Beitrag zu einer möglichen vorrangig epistemischen Resilienzsensibilität im Spannungsfeld von Denken, Glauben und Erinnern, freilich ohne ontologische Engführung. Lernende in religiösen Bildungsprozessen müssen ihre eigene Subjektivität im Horizont der religiösen Deutungen von Selbst, Welt und Gott neu und anders sehen lernen und dabei die religiöse Ausdruckskultur als Hilfe für das Selbstverstehen entdecken können.24 Religiöse Bildung lebt dabei ganz wesentlich von dem Perspektivenwechsel zwischen religiöser Rede und dem Reden über Religion.25 Sie sorgt dafür, resilient gegen eine Funktionalisierung religiöser Bildung im Dienste der Resilienz zu werden, denn Religiosität kann Resilienz vor allem dann befördern, wenn sie nicht in dieser Absicht intentional eingesetzt wird. Denn wie Studien zu spiritual care gezeigt haben, funktioniert religiöse Praxis, die funktionalisiert wird, (eher) nicht.26 Anders gesagt: „Bildung ist dann resilienzsensibel, wenn sie nicht nur selbstoptimierend wirkt, sondern intentional in inhaltlicher Auseinandersetzung Menschen und Systeme

                                                             22

Vgl. zu dem Begriff PICKEL, GERT, Ist Reden über Religion religiös? Anmerkungen zur Existenz einer säkularen Schweigespirale, in: Miriam Rose/Michael Wermke (Hg.) Religiöse Rede in postsäkularen Gesellschaften (Studien zur Religiösen Bildung 7), Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2016, 57–88. 23 Vgl. RICHTER, CORNELIA, Einleitung: Ohnmacht und Angst aushalten. Zu Kritik und Ergänzung dominant aktiver Resilienzfaktoren (Religion und Gesundheit 1), in: Dies. (Hg.), Ohnmacht und Angst aushalten: Kritik der Resilienz in Theologie und Philosophie, Stuttgart: Kohlhammer 2017, 9–28, 15f. 24 Vgl. KUMLEHN, MARTINA, Religiöse ‚Suchsprache‘ und christliche Sprachschule im Spannungsfeld von Übersetzung und Transformation. Hermeneutisch-didaktische Perspektiven, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 3 (2014), 261–272. 25 Vgl. DRESSLER, BERNHARD, „Religiös reden“ und „über Religion reden“ lernen – Religionsdidaktik als Didaktik des Perspektivenwechsels, in: Bernhard Grümme/Hartmut Lenhard/Manfred L. Pirner (Hg.), Religionsunterricht neu denken. Innovative Ansätze und Perspektiven der Religionsdidaktik (Religionspädagogik innovativ 1), Stuttgart: Kohlhammer 2012, 68–78. 26 Vgl. DE JONG, THERESIA M., Glaube, Hoffnung, Heilung, in: Psychologie heute (2005), 21–27, 22.

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stärkt, ohne Nichtfunktionales auszuschließen.“27 Zudem gehört es auch zu Prozessen religiöser Bildung, kritisch zwischen resilienzfördernden oder -verhindernden Formen von Religiosität zu unterscheiden, weil Religion selbstverständlich auch krank machen kann. Was eine solche differenzbewusste religiöse Bildung am Ort der Schule bedeuten könnte, soll jetzt anhand der Begegnung mit Geflüchteten, dem Umgang mit dem Thema Flucht und Migration und der Auseinandersetzung mit Resilienznarrationen und -narrativen in diesem Kontext wenigstens noch andeutungsweise konkretisiert werden.28 Die Schule ist für geflüchtete oder immigrierte Kinder und Jugendliche ein sehr wichtiger Ort. Denn nach den oft traumatischen Erlebnissen vor und während der Flucht oder der Einwanderung brauchen sie die Schule, um eine verlässliche, sichere Umgebung zu finden, die die erste und unerlässliche Voraussetzung für die Bewältigung des Traumatischen ist,29 und um erste Perspektiven der Hoffnung auf Zukunft und Teilhabe entwickeln zu können.30 Dies stellt die Schulen ihrerseits vor bedeutsame Herausforderungen, die sie in interkultureller und interreligiöser Perspektive zu bewältigen haben. Es geht im Rahmen der Möglichkeiten der Schule dabei nicht zuletzt darum, auf die Erfahrungen von Fremdheit, Heimatlosigkeit, Entwurzelung, aber auch von großer Hoffnung und Neugier, die keineswegs nur auf die Flüchtlingskinder begrenzt sind, in den Bildungsprozessen angemessen zu reagieren. Dabei ist eine doppelte Perspektive notwendig: Einerseits geht es um die Anstrengungen zur Integration der geflüchteten Kinder, andererseits geht es um die Sensibilisierung für dieses Thema und die Wahrnehmung und

                                                             27

RIEGGER, Resilienzsensible Bildung, 209. Vgl. KUMLEHN, MARTINA, Perspektivenwechsel und narrative Verdichtung: Hermeneutische Zugänge zum Thema Flucht im Religionsunterricht, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 1 (2017), 48–58. 29 Vgl. GROTHE, KLAUS-DIETER, Alles Trauma? Psychische Störungen bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen zwischen Trauma, Flucht und Neuanfang, in: Harry H. Behr/Frank van der Velden (Hg.), Religion, Flucht und Erzählung, Göttingen: Vandenhoeck &Ruprecht Unipress 2018, 37–51 und VAN DER VELDEN, JETTE, Bildungserfahrungen, Flucht und schulischer Erfolg. Zur schulischen Betreuung von minderjährigen Geflüchteten, in: Harry H. Behr/Frank van der Velden (Hg.), Religion, Flucht und Erzählung, Göttingen: Vandenhoeck &Ruprecht Unipress 2018, 53–68; KOHLER-SPIEGEL, HELGA, Ein Schutzschirm für die Seele traumatisierter Kinder. Für einen hilfreichen Umgang mit geflüchteten Kindern im pädagogischen Kontext, in: Annegret Reese-Schnitker/Daniel Bertram/Marcel Franzmann (Hg.), Migration, Flucht und Vertreibung. Theologische Analyse und religionsunterrichtliche Praxis (Religionspädagogik innovativ 23), Stuttgart: Kohlhammer 2018, 123–138. 30 Vgl. VOGEL, DITA/KARAKAŞOĞLU, YASEMIN, Geflüchtete Kinder in Schulen in Deutschland. Eine Einführung, in: Lernende Schule 71 (2015), 4–7 und BURKHARDT-MUßMANN, CLAUDIA/DAMMASCH, FRANK (Hg.), Migration, Flucht und Kindesentwicklung. Das Fremde zwischen Angst, Trauma und Neugier, Frankfurt a.M.: Brandes&Apsel 2016. 28

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Bearbeitung der Fragen, Bedürfnisse und Sorgen, die alle an diesem langwierigen gesellschaftlichen Prozess Beteiligten beschäftigen. Lernende müssen demnach Möglichkeitsräume zum Austausch und zur Auseinandersetzung mit ihren Erfahrungen in diesem Kontext finden. Im Rahmen des Resilienzdiskurses wäre zu konstatieren, dass hier adressatenbezogen differenziert Interventions- und Präventionsanliegen nebeneinanderstehen müssen. Einerseits sind Traumata und schwerste existenzielle Krisen unmittelbar vorausliegend selbst erfahren worden und andererseits soll Resilienz in der Auseinandersetzung mit der Krise der anderen gefördert (und Spuren solcher Krisen auch im Eigenen entdeckt werden), sodass zukünftiges Krisenmanagement und -bewältigung auf anderen gesellschaftlichen Ebenen ermöglicht werden. Entsprechend ist darauf zu achten, dass Bildungsbemühen und notwendige therapeutische Hilfe klar unterschieden werden, die im besten Falle zusammenwirken können. Zugleich ist sicherzustellen, dass keine Trivialisierung oder Einebnung des unmittelbar erlebten Leides des anderen erfolgt, wie der Exeget Thomas Naumann hinsichtlich des Einspeisens von biblischen Fluchtnarrativen im Bildungskontext anmahnt.31 Sensibel ist zudem mit dem Faktor Religion als mitunter „irritierendem Identitätsanker“32 umzugehen, der den Geflüchteten oft als hoch bedeutsame Ressource wichtig ist und sowohl interreligiös als auch im Schulleben überhaupt sorgfältig beachtet und aufgenommen werden muss. Die Entdeckung allerdings, dass uns das vermeintlich Fremde der Fluchterfahrung in das eigene kollektive Gedächtnis und die eigene religiöse Identität deutungsmächtig eingeschrieben ist, kann auch einen wichtigen Bildungsimpuls darstellen. Besonders berührend für Lernende ist in diesem Zusammenhang die Vergegenwärtigung, dass auch die eigenen oder im sozialen Nahraum verorteten Familiengeschichten von Vertreibungs- und Fluchterfahrungen bestimmt sein können.33 Im Osten Deutschlands bieten sich zudem Anschlussstellen im Rahmen der Erfahrung der sogenannten „Wende“ 1989 an, der nicht nur Fluchtbewegungen vorausgegangen sind, sondern die auch im Spannungsfeld von hoffnungsfrohem Aufbruch und grundlegender Identitätsbedrohung und Fremdheitserfahrung erlebt worden ist. Im Folgenden soll skizziert werden, wie eine Auseinandersetzung mit existenziellen Fluchterfahrungen und ihren religiösen Deutungshorizonten in bildender Absicht möglich werden kann. Es geht um eine sowohl retrospektiv als

                                                             31 Vgl. NAUMANN, THOMAS, Flucht als Thema der Bibel. Exegetische Anregungen für eine migrationssensible Bibeldidaktik, in: Theo-Web. Zeitschrift für Religionspaedagogik 16 (2017), 98–110. 32 Vgl. SIMOJOKI, HENRIK, Irritierender Identitätsanker. Die Religiosität von jungen Geflüchteten als Aufgabe und Herausforderung schulischer Bildung, in: Loccumer Pelikan (2016/3), 111–115. 33 Vgl. QUENTMEIER, MANFRED/STUPPERICH, MARTIN/WERNSTEDT, ROLF (Hg.), Vertrieben, geflohen – angekommen? Das Thema Flucht und Vertreibung im Geschichts- und Politikunterricht, Schwalbach: Wochenschau, 2016.

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auch prospektiv ausgerichtete Arbeit an möglichen Resilienzressourcen zwischen Lebensgeschichte, fiktional verdichteten Erzählungen und biblischen Traditionen, hier der Exoduserzählung als Resilienznarration und dem Exodusmotiv als vielfältig rezipiertem und äußerst deutungsmächtigem Resilienznarrativ der Befreiung. Dabei wird vorausgesetzt, dass Resilienznarrative Deutungsmuster sind, „die man um neue Interpretationsangebote bereichern kann und an konkreten Lebensgeschichten differenzieren muss.“34

III. Resilienz und narrative Identität: Literarische Fluchtgeschichten und biblische Exodustraditionen als Resilienzressourcen im Prozess religiöser Bildung Der Resilienzdiskurs ist wesentlich mit Fragen der Identitätsbildung verknüpft. Denn „das ethische Potenzial der Resilienz-Kategorie kann erst dort erschlossen werden, wo es mit der Frage nach den Bedingungen gelingender Identitätsbildung im sozial-ökologischen Raum in Verbindung gebracht wird.“35 Resilienz wird dann als eine „vulnerabilitätsbewusste und krisensensible Perspektive für Identitätsbildung und Identitätsarbeitsfähigkeit“36 verstanden, wobei der fragmentarische Charakter von Identität und die ressourcenbedingte Identitätsarbeit nach Heiner Keupp als ständig zu leistende Passung von Innen und Außen hervorgehoben werden.37 Resilienz kann so auch als „Identitätswahrung“ unter schwierigen Bedingungen reformuliert werden.38 Steigerung von (biografischer) Reflexionsfähigkeit, ein Zentralanliegen von Bildung, wird dabei als ein Faktor von Resilienz betont und zugleich festgehalten, dass „auch identitätsformende Prozesse der Selbstsorge, des Einübens und der Bildung, des existentiellen, moralischen und spirituellen Lernens und der Habitualisierung von entsprechenden Verhaltensweisen, Einstellungen und Lebensstilen zu berücksichtigen“39 sind. Identität als fluides, dynamisches Konstrukt baut sich immer wieder neu in der Weise auf, wie vom eigenen Leben erzählt wird bzw. erzählt werden

                                                             34

SCHULT, „Unkraut vergeht nicht“, 190. SAUTERMEISTER, JOCHEN, Resilienz zwischen Selbstoptimierung und Identitätsbildung, in: MThZ 67 (2016), 209–223, 217 und SAUTERMEISTER, Selbstgestaltung, 130. 36 SAUTERMEISTER, JOCHEN, Resilienz, 219. 37 KEUPP, HEINER, Identitäten – befreit von Identitätszwängen, aber nicht von alltäglicher Identitätsarbeit, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 2 (2012), 100–111. Dazu SAUTERMEISTER, Selbstgestaltung, 133. 38 Vgl. VOGT/SCHNEIDER, Zauberwort Resilienz, 191. 39 SAUTERMEISTER, Selbstgestaltung, 138. 35

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kann.40 Deshalb spricht man aus dieser Perspektive auch von narrativer Identität, die nach Ricœur als ipse-Identität zwischen Wandel und Kohärenz beschrieben wird und sich in Selbstnarrationen äußert.41 Das eigene Leben kann umerzählt und umgedeutet werden. Die Grundfrage der Identitätsbildung „Wer bin ich?“ wird dabei durch mindestens zwei Ansprüche in Bewegung gehalten, nämlich dem Anliegen einerseits, rekonstruktiv zu erfahren, wie ich geworden bin und wie ich mich vor diesem Hintergrund jetzt erlebe, und dem Ansinnen andererseits, prospektiv zu entwerfen, worauf es bei mir vor allem auch in Zukunft ankommen soll. Fluchterfahrungen können, wenn sie zu schwerer traumatischer Dissoziierung führen, zur Folge haben, dass nur noch in „broken narratives“42, also stammelnd, mit Abbrüchen, das Nichtsagbare umkreisend vom eigenen Leben erzählt werden kann. Die meisten Geflüchteten jedoch bringen je nach Rahmen und dem Gefühl des Aufgehobenseins biografische Erzählungen ein. Wichtig ist dabei, dass sie frei entscheiden, was und wann sie erzählen, denn die „Verfügung über die eigene Geschichte und Biographie ist ein wesentliches Element, um wieder Sicherheit in den Lebensbezügen zu gewinnen.“43 Die Ausbildung narrativer Identität ist permanente Positionierungsarbeit. Hermeneutisch zu existieren heißt dann, in dem Geflecht der lebensdeutenden Erzählungen jeweils zu erschließen, inwieweit die Erzählung eines anderen die Möglichkeiten des eigenen In-der-Welt-Seins erweitert, kritisch infrage stellt, zur Umerzählung des eigenen Lebens anregt usw. Fiktionale Erzählungen entwerfen auf diese Weise neue Wahrnehmungsmodi, indem sie dazu auffordern, das Vorfindliche in der ungewöhnlichen oder gar irritierenden Perspektive „zu sehen, wie“44 die Erzählung sie vorschlägt. Wirklichkeit wird neu entworfen und die Rezipienten sind eingeladen, die vorgeschlagene Welt imaginär zu bewohnen, um die eigenen Möglichkeiten in sie hinein zu entwerfen bzw. diese kritisch an ihr zu spiegeln. Sie stellen ein imaginatives Laboratorium der Existenz dar.45

                                                             40

Vgl. KUMLEHN, MARTINA, Leben (anders) erzählen: Narrative Identität als religionspädagogische Bildungsaufgabe, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 2 (2012), 135– 145. 41 Vgl. RICŒUR, PAUL, Das Selbst als ein Anderer, München: Fink 1996, 141–206. 42 Vgl. z.B. BABKA, ANNA/BIDWELL-STEINER, MARLEN/MÜLLER-FUNK, WOLFGANG (Hg.), Narrative im Bruch, Göttingen: Wien University Press 2016. 43 GROTHE, Alles Trauma?, 42. 44 RICŒUR, PAUL, Zeit und Erzählung, Bd. 1: Zeit und historische Erzählung, München: Fink 1988, 197. 45 Vgl. dazu auch STREIB, HEINZ, Erzählte Zeit als Ermöglichung von Identität: Paul Ricœurs Begriff der narrativen Identität und seine Implikationen für die religionspädagogische Rede von Identität und Bildung, in: Dieter Georgi (Hg.), Religion und Gestaltung der Zeit, Kampen: Kok 1994, 181–198.

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Wenn in Bildungsprozessen eine Verschränkung biografischer, literarischer und biblischer Erzählkontexte zum Thema Flucht und der darin gesetzten existenziellen Grunderfahrungen gelingt, kann ein vielstimmiger Resonanzraum entstehen, der die Ausdrucks-, Deutungs- und Gestaltungskompetenz auf diesem Feld erheblich erweitert. Sie stellen zugleich einen Verdichtungs- und einen Schutzraum dar, der gerade bei dem hochemotionalen Thema Flucht bedeutsam sein kann. Es gibt inzwischen eine Fülle von Kinder- und Jugendbüchern, z.B. das preisgekrönte Bilderbuch Akim rennt oder zweisprachige Bilderbücher, die die Rezeption und Versprachlichung von Fluchterfahrungen auch auf dieser Ebene mehrstimmig ermöglichen.46 Im Folgenden wird jedoch ein Gegenwartsroman vorgestellt, der komplex die Arbeit an unserer narrativen Identität in diesem Kontext anregt: Es geht um den Roman Gehen, ging, gegangen von Jenny Erpenbeck.47 Er führt anhand seiner Figuren meisterhaft vor, was es heißt, in Lebensgeschichten anderer verstrickt zu werden, darin des eigenen Lebens neu und anders ansichtig und dadurch zu nachhaltigen Perspektivenwechseln gezwungen zu werden: Ein emeritierter Professor aus Berlin, selbst in einer tiefen Lebenskrise, findet sich von jugendlichen afrikanischen Migranten radikal infrage gestellt und entdeckt das Grausame des perspektivlosen Wartens in den Flüchtlingsunterkünften. Das Motiv des Wartens, des Moratoriums durchzieht den Roman und bietet auch für Jugendliche Identifikationspotenzial. Die Sehnsucht nach Sichtbarwerden, die Frage, ob man sagt, wer man ist und damit Identität preisgibt oder verbirgt, sind weitere Motive, die sich an jugendliches Selbstverständnis anschließen lassen. Zudem rücken das wechselseitige Erzählen der Lebensgeschichte und darüber das schrittweise In-Beziehung-Treten ins Zentrum. Zunächst nähert sich der Professor den jugendlichen Migranten, die er besucht, mit „wissenschaftlich-distanziertem“ Interesse und „sucht“ die richtigen Fragen für den Kontakt: „Wo sind sie aufgewachsen? Welches ist ihre Muttersprache? Welcher Religion gehören sie an? [...] Mit welchem Ziel sind sie aufgebrochen? Wie haben sie Abschied genommen? Wie haben sie sich Europa vorgestellt? Was ist anders? […] Was vermissen sie am meisten?“48 Nähert sich schon dieser Fragenkatalog immer stärker den existenziellen Dimensionen an, muss er doch bald aufgegeben werden, um sich wirklich auf die Erzählungen und Schicksale der anderen einlassen zu können. Der Fragende wird zum Gefragten: „Was ist der Sinn von dem allen? […]

                                                             46 DUBOIS, CLAUDE K., Akim rennt, Frankfurt a.M.: Moritz 62016 und BOIE, KIRSTEN /BIRCK, JAN, Bestimmt wird alles gut, Leipzig: Klett Kinderbuch 2016. Vgl. dazu CRAMER, GABRIELE, Migration und Flucht in Bilder- und Kinderbüchern, in: Annegret Reese-Schnitker/Daniel Bertram/Marcel Franzmann (Hg.), Migration, Flucht und Vertreibung. Theologische Analyse und religionsunterrichtliche Praxis (Religionspädagogik innovativ 23), Stuttgart: Kohlhammer 2018, 233–246. 47 ERPENBECK, JENNY, Gehen, Ging, Gegangen, München: Knaus 62015. 48 ERPENBECK, Gehen, Ging, Gegangen, 52.

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Richard ist nun der, der antworten soll, aber er weiß keine Antwort.“49Aus der Frage nach dem Sinn wird dann die direkte Frage an den atheistisch geprägten Fragesteller: „Glaubst du an Gott? […] Ich verstehe das nicht, wie jemand nicht an Gott glauben kann, sagt der Junge… Gott hat mich gerettet, sagt er, mich hat er gerettet, aber die anderen nicht. Also muss er doch irgendetwas mit mir vorhaben, oder?“50 Diese Rückfragen und Deutungsmuster bringen den Professor durcheinander und sie fordern auch die Leserinnen und Leser zur Auseinandersetzung und Stellungnahme auf. Identitätsverlust und die Suche nach neuer Identitätsvergewisserung ist auf Seiten der Geflüchteten und auf Seiten derer, die ihnen begegnen, wechselseitig verschränkt zu denken und regt intensiv an, die eigenen Entsicherungserfahrungen zu reflektieren und die eingeschliffenen Selbstverständlichkeiten unserer Wirklichkeit zu befragen. Eine Kunst des Sichtbarmachens und der Inszenierung von Perspektivenwechseln stellt auch die narrativ verdichtete Reportage von NAVID KERMANI Einbruch der Wirklichkeit. Auf dem Flüchtlingstreck durch Europa51 dar. Er lenkt die Aufmerksamkeit auf häufig unscheinbare Blickkonstellationen und Gesten, die alles verändern; er zeigt überraschende Perspektiven- und sogar Rollenwechsel zwischen Hilfsbedürftigen und Helfern, er berichtet von Momenten hochgradig irritierter Selbstwahrnehmung im Angesicht des Anderen, von symbolischen Szenarien offener und verschlossener (Hafen)Türen. Zudem bedient er sich – selbst ein kultureller und religiöser Grenzgänger – religiöser Motive: Im Jahr 2015 marschieren die Flüchtlinge durch Europa wie das Volk Israel nach der Flucht aus Ägypten. In Bibelfilmen oder auf Gemälden sieht man dann immer einen großen Menschenpulk mit dem Propheten an der Spitze. Auf der Flucht von Mytilini an der Nordküste sah ich, wie Völker wohl tatsächlich wandern: eine lange, nicht enden wollende Kette von kleinen und kleinsten Grüppchen in unterschiedlichen Abständen und wechselnden Anordnungen, […] Nichts scheint die Gruppen zu verbinden als ihr Ziel.52

Navid Kermani nimmt in seiner Reportage über die Balkanfluchtroute das deutungsmächtigste Narrativ des jüdischen Identitätsverständnisses in Anspruch, ruft dabei seine mediale Formierung auf, die sich ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben hat und kontrastiert sie mit seinen Wahrnehmungen. Denn das, was wir wahrnehmen, zerschlägt all unsere Deutungssicherheiten und fordert dazu heraus, unsere Deutungsmuster selbst noch einmal genauer zu befragen. In diesem Sinne ist das Exodusmotiv direkt aufzunehmen und zwar in einer Weise, die Kermani gar nicht hinreichend als Resonanzraum nutzt. Die Exo-

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ERPENBECK, Gehen, Ging, Gegangen, 81. ERPENBECK, Gehen, Ging, Gegangen, 127. 51 KERMANI, NAVID, Einbruch der Wirklichkeit. Auf dem Flüchtlingstreck durch Europa. Mit dem Magnum-Photographen Moises Saman, München: C.H. Beck 2016. 52 KERMANI, Einbruch der Wirklichkeit, 10. 50

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dusnarration ist hochkomplex und bietet zahlreiche Perspektivenwechsel, ambivalente Zugänge und Identifikationsmöglichkeiten. Es seien nur einige wesentliche Erzählzüge des Plots aufgerufen:53 die Hungersnot in Kanaan als Vorgeschichte und Grund der Einwanderung der Israeliten in Ägypten; das Motiv der wachsenden Zahl und ihre Unterdrückung als Abwehr und Ausdruck der Angst vor „Überfremdung“ (Ex 1,6–22); Mose als liminale Figur zwischen zwei Kulturen, den Israeliten und den Ägyptern (Ex 2,10); Mose als ambivalente Figur des gewaltsamen Widerstands, die selbst fliehen muss; Gottes Befreiungsverheißung und der spannungsvolle, retardierende Weg dorthin inklusive der erzählten Gewalttaten Gottes in den Plagen bis zur Tötung der Erstgeburt; die Schilderung des überstürzten Aufbruchs; die Verbindung mit der identitätsstiftenden Passa-Fest- und Erinnerungskultur und der darin verarbeiteten Frage, was die eigene Identität auf der Flucht und darüber hinaus sichert; der Zusammenhang von Errettung und Dankbarkeit (und sein Brüchigwerden) sowie das Ineinander von gewonnener Freiheit und verlorener Sicherheit; die Angst, der Weg in die Wüste führe in den Tod; die Sehnsucht in der Bedrängnis nach dem Verlorenen und der vermeintlichen alten Sicherheit. Unausweichlich wird die Frage virulent, ob und wie die Perspektive der Gottesbeziehung und der Wunsch nach Sicherung der religiösen Identität die deutende Verarbeitung von Fluchterfahrungen verändert. Die resilienzrelevanten Befreiungs- und Hoffnungsperspektiven einerseits und die Ambivalenzen hinsichtlich des brisanten Verhältnisses von Gewalt und Bewahrung in der Exoduserzählung andererseits sind gleichermaßen hinsichtlich ihrer Bedeutung für unsere Bilder und Vorstellungen von Gott zu befragen. Die Interdependenz von Resilienz und verschiedenen Gottesbildern jedoch wäre ein umfangreiches eigenes Projekt. Der Kern der Exoduserzählung wird jedenfalls zu einem identitätsstiftenden Resilienz- und Begründungsnarrativ, dessen vielfältige Spuren hier nur noch angedeutet werden können: Sie finden sich exemplarisch in der Fremdenethik im Bundesbuch, z.B. in Ex 22,20 „Einen Fremden sollst du nicht bedrücken und sollst ihn nicht bedrängen, denn ihr seid Fremde im Land Ägypten gewesen“,54 und dann natürlich auch in der Tradition des Deuteronomiums

                                                             53 Vgl. zum Folgenden exemplarisch: UTZSCHNEIDER, HELMUT/OSWALD, WOLFGANG, Exodus 1–15, Internationaler Exegetischer Kommentar zum Alten Testament (IEKAT), Stuttgart: Kohlhammer 2013; DOHMEN, CHRISTOPH /EDERER, MATTHIAS, Wie Exodus zum Exodus wurde. Ein Buch und sein Thema, in: Judith Gärtner/Barbara Schmitz (Hg.), Exodus. Rezeptionen in deuterokanonischer und frühjüdischer Literatur, Berlin/Boston: de Gruyter 2016, 1–16; FISCHER, GEORG, Exodus 1–15 – Eine Erzählung, in: Marc Vervenne, Studies in the Book of Exodus. Redaction – Reception – Interpretation, Leuven: University Press 1996, 149–178; FRANK, SABINE, Das Exodusmotiv des Alten Testaments. Religionsgeschichtliche, exegetische sowie systematisch-theologische Grundlagen und fachdidaktische Entfaltungen (Forum Theologie und Pädagogik 10), Münster: LIT 2004. 54 Vgl. dazu GÄRTNER, JUDITH, „[…] denn ihr seid Fremde gewesen im Land Ägypten“ (Ex 22,20). Überlegungen zu Migration im Alten Testament, in: Zeitschrift für Pädagogik

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(6,20–23) im sogenannten kleinen geschichtlichen Credo als Begründung des Haltens der Gebote „Wenn Dich morgen dein Sohn fragt, Was sind das für Vermahnungen, Gebote und Rechte […] so sollst Du Deinem Sohn sagen: Wir waren Knechte des Pharao in Ägypten, und der Herr führte uns aus Ägypten mit mächtiger Hand […]“. Der EKD-Kulturbeauftragte Johann Hinrich Claussen hat das Exodusgeschehen in Resilienzperspektive in seinem Buch Das Buch der Flucht. Die Bibel in 40 Stationen resümiert, ohne den Begriff zu verwenden: Sie haben diese Geschichte wieder und wieder erzählt und das Passahfest gefeiert, um sich davon aufrichten zu lassen und in aller Not wiederzufinden. Es muss sie getröstet und bestärkt haben, dass dies immer schon die Geschichte Israels gewesen ist: aufbrechen, fliehen, verfolgt werden, aber dabei von Gott begleitet und beschützt sein. Das ist die Urgeschichte Israels. Später wurde sie weit über Israel hinaus auch zur Urgeschichte für andere Völker und Verfolgte, die sich danach sehnten, ihren Sklaventreibern und Gewaltherrschern zu entkommen.55

Religiöse Bildungsprozesse können zu vielfältigen Bezügen, Rezeptionen und Adaptionen dieser Resilienzerzählung vor dem Horizont der Gegenwartserfahrungen und im Resonanzraum anderer Erzählungen einladen, aber dass sie selbst in glaubender Perspektive zur Quelle der Resilienz der Rezipienten und Rezipientinnen werden kann, bleibt unverfügbar.

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                                                             und Theologie 1 (2017), 3–13 und MÜLLNER, ILSE, „Du selbst bist fremd in Ägypten gewesen!“ (Dtn 10,19). Das Erste Testament als Migrationsliteratur, in: Annegret Reese-Schnitker/Daniel Bertram und Marcel Franzmann (Hg.), Migration, Flucht und Vertreibung. Theologische Analyse und religionsunterrichtliche Praxis (Religionspädagogik innovativ 23), Stuttgart: Kohlhammer 2018, 39–50. 55 CLAUSSEN, JOHANN HINRICH, Das Buch der Flucht. Die Bibel in 40 Stationen, München: C.H. Beck 2018, 113.

Exodus

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Michaela Bauks Professorin für Altes Testament und Religionsgeschichte am Institut für Evangelische Theologie der Universität Koblenz-Landau. Amy C. Cottrill Associate Professor of Religion am Birmingham-Southern College in Birmingham, Alabama. Jan Dietrich Professor für Literatur- und Religionsgeschichte des Alten Testaments an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Beate Ego Professorin für Exegese und Theologie des Alten Testaments an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum. Christopher G. Frechette Promovierter Theologe im Fach Altes Testament (Harvard University), Autor und auf Kindheitstraumata spezialisierter Therapeut in Massachusetts. Christian Frevel Professor für Altes Testament an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum. Judith Gärtner Professorin für Altes Testament an der Universität Rostock. Alexandra Grund-Wittenberg Professorin für Altes Testament an der Philipps-Universität Marburg. Friedhelm Hartenstein Professor für Altes Testament an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Bernd Janowski Professor em. für Altes Testament an der Eberhard Karls Universität Tübingen.

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Anja Klein Habilitierte Theologin und Senior Lecturer in Hebrew Bible/Old Testament an der School of Divinity der Universität Edinburgh. Martina Kumlehn Professorin für Religionspädagogik an der Universität Rostock. Dr. Lennart Lehmhaus Akademischer Rat am Lehrstuhl für Religionswissenschaft und Judaistik an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Christl M. Maier Professorin für Altes Testament an der Philipps-Universität Marburg. Dr. Ute Neumann-Gorsolke Hochschuldozentin am Institut für Evangelische Theologie der Universität Flensburg mit dem Schwerpunkt Biblische Theologie. Cornelia Richter Professorin für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Martin Rösel Apl. Professor für Altes Testament an der Universität Rostock. Andreas Wagner Professor für Altes Testament an der Universität Bern. Stephanie Wodianka Professorin für französische und italienische Literaturwissenschaft an der Universität Rostock.

Stellenregister Altes Testament Genesis 1 1,6 1,9 1,20 1,21 2,23 2–3 2–4 3 3,7 3,9ff. 3,14b 3,16 3,16a 3,20 4 4,1 4,1a 4,1b 4,1–2 4,1–5 4,1–8 4,3–5 4,4f. 4,5 4,5a 4,5b 4,5f. 4,6 4,6f. 4,6–8a 4,7 4,7a 4,7a 4,7a 4,7b

283 279 114 152 152 29 117 25 37 25 36 125 27, 30, 117,123, 125 125 29 15, 25ff., 29ff., 35, 39 30, 123 29 29f. 27ff. 31, 37 27ff. 27f., 31 32 33 31 27, 33 29 27 27f., 35, 39 27 28 27f. 28 28 27

4,8 4,8a 4,8b 4,9–16 4,9a 4,9b 4,10 4,13f. 4,16 4,17ff. 6–9 6,5 6,5–8 6,6 8,1 8,21 9,15 9,15f. 11,5 11,7 16,11 17 17,4–10 17,5f. 17,8 17,19 17,20 17,21 18,18f. 18,20f. 19 25,24f. 38,5 42,12–16 42,28

29 27, 35 27, 34f. 36 36 36 37 37 38 29 25, 187 48 47 48 49, 59 125 49 59 54 54 53 59 50 60 60 50 61 50 51 54 74 30 30 126 239

Exodus 1,6–22 1,7f.

413 60

422 1,14 2 2,10 2,23 2,23a 2,23–25 2,23ab–25 2,24 2,24f. 2,25 3,1–6 3,1–4,17 3,7 3,7f. 3,7–10 3,8 3,9 3,9f. 3,11–4,17 5,1–6,1 5,23 6,2–7,7 6,2–8 6,2a 6,2b–6 6,2b–8 6,3 6,4 6,5 6,6 6,6–8 6,7 6,7a 6,7b 6,8 6,9 15,14 15,15 15,16 16 16,12a 16,12b 16,30 16,31 17,5 19,16 20,18 21,28–32 22,20

Stellenregister 59 291 413 51, 59, 63, 256 48 16, 47ff. 48 51, 59, 61 49f., 53 52 52 52, 55, 63 49f., 53, 61f. 54 16, 48, 52f., 57, 59 54, 58 54, 62 53 52 55 58 55 16, 48f., 55ff., 63 56 56 56 49, 57 55, 57 49, 51, 57, 59 55f., 58, 59 56, 58 49, 56ff., 62 58 58 58 59f. 239 239 239 58 58 58 58 58 280 239 239 80 53f., 413

22,21–23 22,25–26 23,9 27,19 33,12 33,17 34,6 34,6f. 38,21 40 40,34

53f. 53f. 64 59 51 51 284 47, 177 59 159 151

Levitikus 4 4–5 5 5,1–4 5,2–4 5,15f. 5,17–19 5,20–26 12 12–15 12–16 12–16,26 13–14 14,7 15 16 18 18–20 19 20 20–26 26 26,12 26,16 26,31 26,36f. 26,36–37 26,40 26,40–45 26,41

80 18, 79, 81, 84 79 80 79 80 80 80 83 82 79, 84 18 83 83 83 171 77 18, 83 77 77 80 75ff., 83, 154, 159 76 75 77 74 74 76 75 76

Numeri 5,11–31 21,4–9 35,27f.

140 140 280

423

Stellenregister Deuteronomium 2,25 6,20–23 21,1–9 26,17f. 28,56 29,12 32 32,37 34,10

239 414 80, 83 58 361 58 279 366 51

Josua 2,11

239

Richter 2,18

51, 59

1. Samuel 1,11 4,4 4,19 16,7

53 255 118 51

2. Samuel 6,2 7,20 13,20 21,1–9

255 51 124 80

1. König 8 8,11 12,28–32 20,6

159 151 337 149

2. König 9,26 19,3 19,16 20,1–11

50 123 61 61

Jesaja 1,1 1,2b 1,25 1,27–28 1–2 1–4 2,1–4

103, 105 98 98 98 98, 100 98 104

2,1–5 2,3 2,5 2,10 2,19 2,21 3,59 5,19 6 6,3 7,2 8,5–10 8,10 9,8–21 10,5–7 10,16 10,24–25 10,29 12 12,2 13,7 13,8 14,26 19,2–3 19,16 21,3 24–27 25 25,1 26,16 26,17 26,17–18 26,18 32,11 33,17 33,21 34,15 36,5 37,3 37,3b 38,1–22 38,5 38,18f. 40 40,1 40,1f. 40,1–11 40,2 40,7–8

100, 105 102 98 106 106 106 62 105 102, 194 255 239 99 105 98 99 99 99 106 100 106 239 118, 239 105 105 106 118 105 105 106 120 239 118 123 106 140 153 121 105 117f., 123 121, 123 61 61 186 126 100, 111f., 127 112 113ff. 115 102

424 40,12–41 40,31 40–54 40–55 40–66 41,1–5 42,7 42,10 42,10–17 42,13–14 42,13–43,13 42,14 42,15f. 42,16 44,8 44,24–25 45,23 46,3f. 46,8–10 47,1–6 47,5 47,6 47,8 47,9 47,13 47,15 48,8 49 49,1 49,1–6 49,5 49,9 49,13 49,14 49,14f. 49,14ff. 49,14–21 49,14–26 49,15 49,17–21 49,18–23 49,20–23 49,21 49,22 49,24f. 49–54 50,1 50,4 51,1

Stellenregister 115 115 125 122 116 106 95 119 119f. 119f., 122, 127 119 114, 118, 120 120 120 106 364 102 114, 119 105 99 125 125 125 125 105 125 120 126 126 112 126 95 112, 114 125f. 113, 119 114 126 103 114, 122, 126 126 126 124 113 122 120 91 125 102 113

51,1–2 51,1–8 51,2 51,3 51,9 51,9–23 51,17–23 52 52,1f. 52,1–12 52,1–2,7 52,2 52,7–10 52,7–12 52,9 52,11f. 53,10 54 54,1 54,1–6 54,1–8 54,1–10 54,1–17 54,1–17b 54,5 54,8 54,9 54,10 54,11 54,17c 55,10–11 [55]56–66 56,1–8 56,9–12 56,9–59,21 56–66 57,13b 57,13–21 57,17–18 57,18 58,1–14 58,6–7 58,13–14 59 59,5–19 59,7 59,9 59,11 59,12

125 113 113 112ff. 114 113 113 114 113 126 123 113 114 113 114 377f. 179 123, 125 126 123 104, 124f. 122, 125 122 125 125 125 125 121 93 102 91 96, 104, 106 96 98 104, 125 98 106 100 62 106 94 96 94f. 104 95 95 95 95

425

Stellenregister 60 60,3 60,4 60,5 60,9 60,16 60,4–18 60–62 61 61,1–3 61,2 61,3 61,4–9 62,7 62,11 63,1–6 63,7–64,11 63,15 63,15–64,12 64,10 65 65,8–16 65,9 65,13 65,13–15 65,18–23 65,22a 65,23 65,23a 65,25 65–66 66 66,1–16 66,2b 66,3 66,3a 66,5 66,5a 66,5b–d 66,5–14 66,6–9 66,7 66,7–9 66,7–13 66,7–14 66,7–14a 66,8 66,8–9 66,9

95 100 122 106 103, 122 122, 124 100 95, 122 104 95 121 114 95, 104 106 123 100 104 62 106 149 95 124 93 121 99 122 95 125 95 125 99 122, 125, 127 123 93 96 96 121 93 93 127 120 121, 123 118, 120–122 126 122, 124f. 121 121 123 119, 123, 126

66,10 66,10–14 66,11 66,11f. 66,12 66,12–13 66,12b–13 66,12–14 66,13 66,13f. 66,14 66,18–23 66,24

121 122 121–123 124 121f. 120f. 122 114 100, 114, 122f. 120 114, 121f. 104 100

Jeremia 1,5 1,10 2–3 2,1–4,2 2–13 2–20 3,5 3,8 3,12 3,14 3,21 3,22 3,22b–25 4 4,8 4,9 4,10 4,13 4,13b 4,13–22 4,14 4,16 4,18 4,19 4,19a 4,19–21 4,22 4,23 4,31 4–10 5,19 6,4 6,24 6,26

51, 122 134 143 134 138 133 134 125 134 134 134 134 134 138 134 239 142 134 138 133, 135–137, 144 137f. 137 138 138, 239 137 137f. 138 135 134, 137, 239 134f., 138, 143 134 134 134, 137 134

426 7,5 7,14 7,29 8,11 8,14 8,14b 8,14–16 8,14–9,2 8,16 8,16b 8,17 8,18 8,18–9,2 8,19b 8,21 8,22 8,23 9,1 9,2 9,2ab. 9,2b 9,16 9,17 9,18 9,20 10,19 10,24 11,14 11,18–12,6 11–20 14,1–15,4 14,11 14,13 14,17 14,17f. 14,22 15,10–21 17,12–18 18,18–23 20,7–13 20,14–18 21,3f. 22,4 23,4 24,1–10 24,5 26,21 29,7 29,9f.

Stellenregister 136 142 134 137 139 140, 142 134 133, 139–142, 144 134 140 140–142 139–141 141–143 141f. 137 142 143 143 139, 141f. 142 142 134 134 134 134 137 185 142 134 134 135 142 142 137 142 134 134 134 134 134 134 239 136 51 144 144 239 144 144

30,15 30–31 31 31,9 31,15 31,18f. 31,31–34 32,18 39,1–10 40,7–13 48,30 52

135 135 156, 159 135 135 135 156 378 131 144 51 131

Ezechiel 1–3 1–24 4–5 7,19 7,25 7,27 8–11 11 11,5 11,16 11,19–20 11,19a𝛼 11,19b 16 20 21,11–12 21,12 23 24 24,15–21 24,15–25 24,16 24,17 24,18 24,21 24,24 25–32 27,35 30,24 34 34,25 34,25–20 34,25–30 34,26 34,27

150 149f., 158 150 361 154 239 151 150 51 150 155f., 159 156 156 159, 116 159 118 239 159, 116 149f., 152 149 148f. 149 149 149 149 149 150 239 51, 59 154 154 159 148, 153f., 159 154 154

427

Stellenregister 34,28 34,29 34–48 36 36,23b𝛽–32 36,26a 36,26b 36,26–28 36,27 36,28 37 37,1 37,1–6 37,1–10 37,1–14 37,3 37,5 37,6 37,11–14 37,12 37,14 37,25–28 37,26 37,27 39,29 40–48 43 43,1–7a(9) 43,1–9 43,5 43,7 43,7a 43,7b 43,7b–9 43,8 43,8–9 43,9 47 47,1 47,1–12 47,8 47,9 47,9a𝛼 47,9a𝛽 47,9b𝛽 47,10 47,11 47,12 47,12a

154, 159 159 148, 150, 158f. 156 156 156 156 148, 155–160, 162 156 156 154 155 155 155 148, 155 155 155 155 155 156 156 148, 153f., 159 154 154 155 150, 152 151 152, 154, 159 148, 150f. 150f. 151, 159 151 151 151 152 151 151 153 152 148, 152, 159 152f. 152f. 152 152 152 152 153 152f. 152f.

47,12b

153

Hosea 5,3 13,13

51 117, 118, 123

Joel 4,18

153

Amos 3,2 5,12 9

51 51 183

Micha 4,10 5,2

119 118

Nahum 1,7f. 2,11

62 239

Habakuk 3,16

239

Sacharja 14,1 14,8

153 153

Psalmen 1 1,3 1,5 1,6 2 3 3,1–4 3,1–9 3,2 3,3 3,5 3,6 3,7 3,8 3,8b 3,9 3,9a 3,9b 3–4

62, 227 224 285 62 299 298ff. 299 298f. 294 182f. 184, 299 184, 299 299 183, 264 299 182, 187, 298ff. 299f. 299 182

428 3–5 3–7 3–14 4 4,2 4,6 4,7 4,9 5,4 5,8 5,12 5,12–13 5–6 6

6,2 6,3 6,2–3 6,2–4 6,2–8 6,5 6,5–8 6,6 6,7 6,7–8 6,8 6,8f. 6,9f. 6,9–11 6,11 6,13 6,22 7 7,2 7,7 7,8 7,9 7,10 7,11 7,12 7,18 8 8,5 9 9,3 9,10 9,14

Stellenregister 184 182ff., 187 177, 182f., 187, 192f. 291 224, 282 184 183f. 184 184 184 281 228 182 176f., 180f., 183– 186, 188f., 192– 195, 197 184 185 214 184 186 185 184f. 184 184 184, 186 186 264 186 184, 186 186 14 14 182, 184, 188 281 183 184 182 183 223 183f., 284 184 182f., 189 189 182f., 190, 193, 285 187 280 53, 274

9,20 9,21 10 10,4 10,6 10,11 10,12 10,13 10,17 11 11,1 11,4 11,7 11–12 11–14 12 12,3 12,5 12,6 13

13,2 13,2a 13,2b 13,2–3 13,2–8 13,3 13,3b 13,4 13,4–5 13,5 13,6 13,8 13,9f. 13,9–11 13,11 14 14,1 14,2 14,3 14,6 14,7 15–24 15 15,2 16

183 284 182f., 190, 193 183, 187 183, 190 183,191 183 183 282 182, 187f. 183 188f. 282f. 187 183, 187ff., 191 182, 187f. 189 183 183, 187 176f., 182, 186– 170, 190–197, 244, 248 187, 191, 245 191 191 189, 244 186 217 245 33, 188, 191, 193 189 182f., 188ff. 187, 189ff., 228, 264 186 186 186 186 182, 187ff. 182f., 187 188 189 187 182, 187 177, 183, 191ff., 195 192f., 285 217 192

Stellenregister 16,1 16,2 16,3 16,7–8 16,8 16,11 17,5 17,6 17,15 17–18 18 18,2–3 18,3 18,34 19 19,3 19,9 20 20,10 21 22

22,1 22,1–12 22,1–27 22,2 22,2a 22,2b 22,2f. 22,2–4 22,2–6 22,2–12 22,2–19 22,2–22 22,3 22,3a 22,4 22,4b 22,4f. 22,4–6

281 226 282 226 225 259 225 283 259 192 224 223 279 272 192f. 273 227 192 119 192 15, 26, 133, 138, 176f., 189, 191– 197, 239–250, 262, 278, 283, 285, 291, 316 240, 248, 253, 271f. 194 192 187, 193f., 197, 258f., 272f., 275 249 249, 250 194, 248ff., 255, 257, 261 259, 264 243, 258f. 193, 197 254 193, 240, 243, 246ff., 261, 264 13, 249, 254, 259, 270, 274f. 261 194, 253, 255 241, 259 195 194, 229, 243, 248, 250, 254f., 261, 264

22,5 22,5ab 22,5b 22,5f. 22,6 22,6a 22,6b 22,7b 22,7f. 22,7–9 22,7–12 22,9 22,9b 22,10 22,10a 22,10b 22,10–11 22,10–12

22,11 22,12 22,12a 22,12b 22,13 22,13f. 22,13–16 22,13–19 22,13–22 22,14a 22,14b 22,15 22,15b 22,15f. 22,16 22,16b 22,17a 22,17b 22,17–19 22,18a 22,18b–19 22,20 22,20a 22,20b

429 194, 255, 259, 264, 276 259 250, 256, 259 13, 195, 255, 264 264, 276 250, 256, 259 255, 259 261 250 195, 248ff., 256, 261 243 183, 250, 276 256 119, 122, 196, 253, 277, 280 256 256, 277 248, 256, 260, 264 239, 243f., 248, 250, 254, 256, 258, 261, 264 196, 256f. 193, 197, 239, 243f., 249, 273 249, 253, 256 250, 256 252 251 252 216, 239, 244, 248– 251, 256 193, 243 252 252 217, 239, 252 262 262 239, 252 253 252 242, 252 252 252, 262 252 193, 272f., 275 249, 253 250, 253, 261

430 22,20–22 22,21 22,21a 22,22 22,22a 22,22b 22,23 22,23–27

22,23–32 22,24 22,24a 22,24–27 22,25 22,26f. 22,26ff. 22,27 22,27a 22,27b 22,27ff. 22,28–32 22,30 22,30b 22,31 23 23,2 23,4 24 25 25,15 25,17 25,18 27,1 27,5 27,5–6a 27,8–9 27,9 27,14 28,7 28,8 29,9 30

Stellenregister 244, 248f., 253f., 264 275, 277 250 193, 240, 274, 275, 277 250 240, 247, 254, 264 194, 240, 243, 261, 275 194, 240, 243f., 247f., 254, 261, 264 194 194 261 243 193, 261, 265, 275, 277 265 275 193, 217, 277 262 262 194 193f., 240, 243f., 247 243, 277 277 277 192, 291f. 224 225 192f. 291 224 224 53 226, 281 224 224 229 280 217, 225 226 298 272 178–180, 190, 215, 291

30,1–6 30,2 30,5 30,5f. 30,7 30,7–8 30,7–13 30,8 30,10 30,11 30,12 31,2 31,3 31,9 31,21 32 32,5 32,6 32,7 32,8 32,9–10 34 34,7 34,8 34,16 34,18–20 34,19 35,27 37,4 37,5 37,22 37,23 37,31 37,39 38 38,2 38,11 39 39,7 39,8 39,14 40,3 40,17 42 42,2f. 42,2–6 42,3 42,5 42,6

179 228 180, 190 179 179, 190 185 179 179, 190, 223f. 180, 186 216 216 281 223, 273, 281 224 223 214f. 215 215f. 215, 228 216 216 62 62 282 62, 274f. 62 62, 274 216 228 277 225 225 225 298 291 185 239 283, 285 283 283 32, 284 225 216 258, 264 33 259 262 260, 264 226

Stellenregister 42,12 43 43,5 44 44,2ff. 46 46,5 46,6 48,5–8 48,6 48,7 51 52,9 52,10 56,4–5 56,10 56,12 57,7f. 59,10 59,12 59,18 62,2–3 62,6–8 62,9 63 63,1–4 63,2–4 63,3 63,6–8 63,6–9 63,7 63,8–9 64,11a 65,5 65,6 69 69,7 69,33–34 70,2 70,5 70,6 71,3 71,5–6 71,6 73,21 73,26 74,12 74,12ff. 77,4

226 258, 264 226 62 264 190 153 190 239 239 239 176 280 224 226 226 226 264 223 223 223, 280 226 223 280 259 259 262 259 259 259f. 259f. 228 228 259 262 217, 291 217 217 294, 297 217 294 280f. 119, 257f., 260, 264 119 217 217 298 264 260

77,5–7 77,11–12 77,11–13 77,12f. 77,14–21 80,2 80,15 88 88,4ff. 88,12f. 90 90,2 91,1–2 91,5–6 92,13–14 93,1–2 94,12 94,21–22 96,1 102

102,1 102,1–12 102,4 102,5 102,6 102,7 102,8 102,9 102,10 102,10–11 102,12 102,13–23 102,16–17 102,17 102,18 102,19 102,23 102,24 102,24–29 102,26 102,26a 102,26b 102,27 102,28 102,29 103,8–10 104,5

431 260 229 259f., 264 260 259 255 62 191, 314, 321 260 186 179, 185 119, 284 224 225 224 189 377 214 212 18, 179, 221, 306, 310, 313–316, 318– 323, 324 314 313f., 319f. 315 314f. 314, 316 317 317 316 314f. 316f. 314f., 320 318ff., 323f. 320 324 319 320, 322 324 323 323 324 325 325 324 324 324f. 214 190

432 104,29 106 107,10–16 109,12 109,22 112 112,1 112,3–6 112,8 113,6 115 115,1 115,3 115,9–11 115,10 115,11 115,12–13 115,14–15 115,17f. 116,4–7 116,9 116f. 118,6 118,21 119 119,5–6 119,6 119,32 119,45 119,47–50 119,52 119,80 119,105 119,114 119,116 119,133 126 127 130 131,2 138,6 139 139,13 139,13f. 139,13ff. 139,13–18 139,15 139,16 143

Stellenregister 33, 185 62 214 280 217 227 227 227 227 50 218 218 218 218 218 218 218 218 186 229 212 61 226 274 227 225 227 227 227 227 229 227 228 280 212 225 179, 228 291 291 226 51 197, 291 30, 122, 280 197 264 257 324 50 260

143,3 143,3–6 143,4 143,5 143,6 143,7ff. 144,2 144,10–11

260 260 260 260 260 260 279 214

Hiob 4,14f. 7,19 10,4 10,18 14,6 16,18 18,11 19,14 19,23 19,23–27 28,24 28,27 37,1 38,8

239 32 51 119 32 174 239 62 174 196 50 50 239 119, 122

Proverbien 3,12 16,6 18,5 23,19

377 378 28f. 212

Kohelet 5,14

196

Klagelieder 1,7 1,9 1,11 1,16a 1,20 1–5 2,4 3 3,18 3,19–21 3,20 3,21–24 3,36 3,40

261 62 62 143 62 261 149 229, 231 229 261 143 229 62 377

433

Stellenregister 3,50 3,59 3,60 4,4–5 4,7 4,8

62 62 62 361 363 366

Esther 8,6

64

Daniel 5,6 5,9 9,18 10,15

239 239 62 239

10,16 10,17b

118 239

Esra 6,10 9,4 10,3 10,8

96 102 102 94

Nehemia 9,9

62

2. Chronik 17,18

51

5,13 5,18 6,5–9 6,14–18 7,17 8,1–3 8,4–9 8,15–17 8,16f. 10,5 10,7 11,9 11,10–14a 11,14 11,14f. 11,14b 11,15 11,16 11,17 11,17a 12,6 12,17–20 12,22 13,1–6 13,1–8 13,1–18 13,2 13,2–18

339 346 339 339 344 339 339 347 344 344 346 339 339 344 347 340 340, 344, 347 346 344, 347 340 340 340 347 341 341 341, 347 344 343

Apokryphen Tobit 1,1f. 1,3 1,3–9 1,4–8 1,5 1,10–22 1,11 1,13 1,16–20 2,1–8 2,5 2,11–14 2–11 3,1 3,1–6 3,2–6 3,6 3,7–15 3,8 3,10 3,11–15 3,11b–15 3,14f. 3,16f. 4,7–18 4,10 5,10

337 340 337 340 337 337 340 337 337, 340 337, 340 346 338 345 338, 344, 346 338 347 338, 344 338 338 338,344, 346 347 338f. 340 339f. 336 344 344, 347

434 13,7–9 13,6a–d 13,5 13,6 13,8–18 13,9 13,9–18 13,10 13,11 13,13 13,14 13,16 13,16f. 13,17 13,18 14,1b–2

Stellenregister 336 344 344 342 341 342 342 342 342f., 345 342f. 342 342 342, 345 343 342f. 340

14,2 14,3b–7 14,3b–4d 14,4 14,4e–g 14,4h–j 14,4–7 14,5a–e 14,5d–7 14,7 14,15

347 343, 348 343 344 343 343 343 343 343 343 347f.

3. Makkabäer 7,23

280

Neues Testament Markus 15,24

253

Rabbinische Literatur b. Avoda Zara 28a

372

b. Bava Metzi‘a 84b 84b–85b 85a 85a–b

374 374 371f. 371

b. Berakhot 5a–b 61b

376, 378, 381 376

b. Eruvin 41b

370

b. Gittin 55b–56a

359

56a 56a–b 56b 57a

360f. 364 364f., 367 359

y. Ketubot 12,3 104a

371 373, 381

y. Kilayim 9,3

371

Midraschim Klagelieder Rabba 1,31 364 4,11 365

Sachregister Anthropologie 15, 25, 180, 206, 263 Ambiguität/Ambivalenz 4, 16, 18, 25, 44f., 78, 89–91, 100, 106–108, 114, 117, 127f., 132, 142, 151, 194, 211, 228, 379, 413 Angst 4, 15, 44, 75, 118, 120, 137f., 180, 237–239 argumentum ad deum 180, 185f. 189, 217 Ästhetik 18, 71–75 Ätiologie 30, 74, 117, 172 Aushalten 35, 64, 127, 133, 371, 375, 381 Bedrängnis 47, 51, 53f., 59, 123, 143, 186, 215, 219f., 239, 262, 413 – siehe auch Not Bewältigung 2f., 6, 8, 14, 26, 43-45, 61, 64, 69, 76, 78, 124, 167, 176, 181, 210, 226, 231, 251f., 332f., 340, 362, 407 Beziehung 9, 17, 32, 37, 45-51, 63, 77, 79, 81, 127, 138, 142f., 183, 185f., 193f., 208, 215f., 218, 228, 249, 257, 263, 294–301, 413 – siehe auch Relationalität Bildung 357, 404–408 Böse 25, 32, 136-138, 169, 173, 377 Bund 16f., 48–50, 53, 55-59, 63f., 76, 148, 153–159, 162, 358f. Dank 9, 62, 178f., 184f., 187, 190, 192–194, 261 – siehe auch Toda Deutung 13, 45, 139, 143, 175, 213, 344, 386, 398, 403–409 – siehe auch Selbstdeutung Deutungsangebot 45 Deutungshoheit 6, 18 Deutungsmuster 168f., 172, 412 Dialog 26f., 37, 46, 52, 55, 245f. – siehe auch Gebet

Distanz 17, 46, 142f., 194, 212, 295f., 347, 394 – siehe auch Selbstdistanz Emotionen 2, 8, 13, 33f., 47, 77, 112, 141, 179, 188, 228, 312, 345f. Empathie 16, 43–47, 52, 60, 63, 101, 211, 231 – siehe auch Mitleid Erbarmen, siehe Mitleid Erinnerung 4, 6, 15, 17, 49, 53, 98–107, 124f., 132, 136, 158f., 173, 195-198, 254–261 – siehe auch Tradition Erkenntnis 16, 18, 26, 38, 55–58, 79, 83f., 142, 167, 281, 294, 396 Erwählung 51, 123, 193, 195 Erzählen 6f., 11f., 15–17, 26f., 48, 132, 172f., 178f., 194, 331f., 346, 388, 390–394, 398f., 411 Eschatologie 62, 93, 193, 278, 285, 341f., 348, 371 Exil 10, 17, 71, 77, 91, 94, 103, 105, 122, 141–143, 147, 150, 155f., 159, 161f., 185, 343f. Exodus 16f., 43, 45, 48, 54–64, 156, 194, 356, 409–414 ewig 64, 124f., 134, 151–154, 284 Feinde 37f., 51, 61, 74, 119, 121, 134f., 138, 140, 142, 178, 182f., 186, 188– 190, 195, 251f. – siehe auch Sozial(-sphäre) Feministische Theologie 18, 305–311 Fluch 26f., 36–38, 75f., 134 Flucht 17, 239, 337, 401, 408–413 Frau 83, 116–126, 134–137, 375 Freiheit 5, 38, 55, 59, 248, 382, 402, 413 Freude 32, 216, 228

436

Sachregister

Funktion/Funktionalität 8–10, 12f., 18, 27, 81, 115, 122f., 127, 133, 135, 138, 167f., 187, 204, 382, 388, 406f. Fürbitte 44, 142 Gebet 9, 11, 13f., 54, 60f., 134, 176, 181, 185f., 191f., 209, 294–297 Gebot 18, 76, 83, 193, 225, 414 Geburt 15f., 30, 83, 111, 114–128, 134, 137, 196, 256f. gedenken 49, 59, 63, 179, 185, 218 Gemeinschaft 7f., 10, 12, 18, 44, 73, 76f., 81, 83, 131f., 174, 177f., 190, 195, 259, 263, 362 Gerechtigkeit 16, 32, 34, 37, 39, 54, 62, 78, 135, 171, 182-184, 187f., 190, 192f., 196, 214f., 263, 338, 377 Gericht 48, 52, 54-56, 114f., 177, 179, 187, 341 Geschichte 27–29, 113, 187, 209, 286, 301, 343–345 – siehe auch Narrativ/Resilienznarrativ – Lebensgeschichte 6f., 14, 257 – Heilsgeschichte 15, 256 Gestalten 4f., 11, 83, 133, 138, 248, 374, 381, 402 Gesundheit 44, 61, 72f., 203f. – siehe auch Krankheit Gewalt 4, 16, 25f., 29, 34f., 37–39, 54f., 143, 168, 263, 333, 361, 367, 389f., 413 Glauben 4, 17, 97, 113, 131, 143, 158, 160, 170f., 405f. Gottesbild 16, 45, 282f., 296 Gottesdienst 44, 59, 190, 194, 209, 291 Gottesferne/-nähe 16, 38, 40, 62, 184– 197, 246f., 272f., 285 Heilsgeschichte, siehe Geschichte Identität 7, 9f., 14, 16–18, 25f., 35, 38f., 46, 56, 77, 82f., 90–108, 148, 151, 157–162, 168, 170, 180, 212, 379, 409–413 Klage 9, 13–15, 17f., 34, 36–39, 44, 51, 61f., 74, 114, 126, 131–144, 172– 198, 212f., 244, 248f., 308f., 325, 347

Kohärenz 8, 12, 46, 90, 169f., 173, 179, 405 Kollektiv 2f., 7f., 12, 15–17, 60, 81, 84, 92f., 97f., 101, 111f., 117, 123, 127, 132–138, 159, 169, 172, 174, 185, 195, 231, 336, 344, 356, 362, 408 Kommunikation, siehe Gebet Konstellativer Personbegriff 245 Kontingenz 12, 44, 63, 77f., 80, 111, 335 Körper 18, 33, 53, 79, 82f., 138, 216, 220, 237f., 306, 310–316, 323f., 360, 363, 368 Krankheit 4, 17, 44, 79f., 83, 178, 185, 315, 360, 370–374 – siehe auch Gesundheit Krise 1-5, 7, 9-11, 13-18, 25-40, 43-46, 60-64, 69-80, 83f., 89-97, 100, 102, 107, 117f., 124-127, 132f., 143, 147, 157, 168, 174, 187, 196, 210 – Krisensemantik 219–222 Kult 77, 81, 83, 91, 95f., 149f., 152, 160, 162, 178, 190, 255, 368 Land 55f., 57f. 60, 94, 150, 152f., 156, 178, 343, 367 Leben 3, 25f., 37f., 55, 173, 178, 180, 185f., 263 Lebensgeschichte, siehe Geschichte Leibsphäre 251f., 263, 317 – siehe auch Körper Leid 5, 11, 14f., 17f., 37, 44f., 47f., 53f., 59-64, 70, 75, 92, 98f., 103, 105, 111, 115, 131f., 135, 139, 142, 167, 169-177, 180f., 192f., 197, 208, 213, 229, 263, 283, 332f., 370–382, 386, 390 Licht/Finsternis 188, 220, 227, 344f. Lob 9, 112, 119, 179, 184f., 187, 189, 194f., 197, 227, 244, 255, 275, 347 Mann 28, 30, 38, 143, 305, 309 Metaphorik 16, 50, 111,115–117, 122, 127, 135, 140, 155f., 168, 175, 177, 188, 203, 219–221, 308 Mitleid 17, 45, 47, 53, 91, 100, 111, 107, 114, 124, 126, 141–143, 177, 320f., 375 – siehe auch Empathie

Sachregister Monotheismus 14, 59, 176f., 186f., 196f. Moral 18, 73, 76–79, 374, 377 Mutter 29, 51, 104, 114, 117f., 120– 127, 137, 195–197, 256f., 277, 339 – siehe auch Frau Narrativ 10–18, 25, 54, 56, 61, 89–91, 97, 100, 105, 108, 111, 116, 127, 132f., 135, 139, 143f., 147f., 151, 158, 161, 172, 175, 191, 195, 208, 294f., 334f., 359f., 388, 402f., 410 – siehe auch Resilienz~ Narration 11f., 15, 334f., 402 Negativität 15, 111, 120, 169f., 212 Normativität 10, 168, 204–206, 231 Not 14, 16, 61, 216, 220, 239, 244, 249f., 286 Ohnmacht 4, 11, 13, 15f., 133, 389f. Opfer 31f., 35, 37, 79–81, 83, 96, 132, 138, 142f., 170–174, 178, 184, 261, 377 Panik 79, 119 – siehe auch Angst paradox 6f., 115, 127, 356 Parallelismus membrorum 293f. Pathologisierung 208, 370 Performanz 82f., 112, 203, 212, 216, 218, 295–297, 302, 393, 395 Perspektivwechsel 8f., 14f., 17, 26, 29, 36, 39, 44, 46, 51, 55, 60f., 63, 69, 117, 127, 132, 136, 191, 196, 302, 403, 406, 411 Prävention 1, 3, 5, 43, 206, 210f., 230, 361, 408 Priester 81–83 Prozess/Prozesshaftigkeit 4, 13, 126, 214 Psychologie 2, 5f., 8, 43–46, 69–72, 89–92, 103, 168f., 331 Rache 78, 112, 138, 370 Raum 120, 123, 219–221 Reduktion 211, 278, 395 Relationalität 92, 153, 155, 160, 162, 185, 206, 208, 318 – siehe auch Beziehung

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Religion 8, 10, 196, 208, 405f. Resilienz 1–5, 44, 70f., 168f., 296, 309f., 325, 337, 344, 357, 393f., 397f. – Resilienzbegriff 1, 3–5, 10, 44, 167, 203f., 247, 333f. – Resilienzdiskurs 3f., 14, 355f., 403f. – Resilienzfaktoren 1f., 4–10, 16, 76, 133, 139, 142, 210, 263f., 346f., 403, 409 – Resilienzkritik 3, 44, 168, 204f. – Resilienzkonzept 1–5, 385, 396 – Resilienzmetapher 126f., 208, 219– 222, 381 – Resilienzmodell 210, 222f. – Resilienznarrativ 13, 127, 132f., 143f., 208, 212, 230, 262f., 286, 334f., 345, 349, 364f., 372, 388, 403, 409, 413 – Resilienzressource 15, 17, 228–230, 286, 335, 345, 348, 363, 382, 409 – Resilienzsemantik 221f., 219–222 – Resilienzstrategie 15, 213, 380, 387, 390, 399 Resonanz 46, 84, 206 Responsivität 157, 231 Rettung 16, 63, 113, 124, 175-195, 278–281, 339, 347 – siehe auch Vertrauen Rezeption 335, 345–348, 393–395, 411 – siehe auch Performanz Ritus 16, 18, 73, 76, 79-84, 92, 95-97, 101, 104, 106, 108, 171, 178, 194, 406 Schmerz 43, 46–48, 52–54, 64, 117, 120, 137f., 175, 338f., 344, 369–376 Schöpfung 9, 14, 30, 59, 73, 113–116, 120, 122–124, 126f., 170f., 175–181, 185–187, 190–192, 195–197, 324f. Schrei 13, 15, 36f., 39, 44, 48, 51, 54, 62, 120, 173, 176, 191, 194f., 198, 239, 273 Schuld 3, 14, 18, 26f., 30, 36–40, 50, 76, 79–84, 125, 127, 131, 135, 140, 142f., 169–172, 176, 180–182, 185, 191–194, 196f., 215, 285, 359, 361, 378 Seelsorge 4, 168, 171, 291f.

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Sachregister

Segen 75, 113, 154, 159, 184, 218 sehen 49f., 53, 61–64, 113, 120f., 188 Selbstbild 14, 212f. Selbstdeutung 139, 174, 212f., 226 Selbstdistanz 212, 226 Selbsterkenntnis 38, 142 Selbstreflexion 26, 38 Selbstsorge 44, 206, 218, 409 Selbstvergewisserung 10, 226 Selbstvorstellung Gottes 56–58 – siehe auch Gottesbild sensibilité 15, 396f., 399 Sinn 4, 8, 11, 13f., 44, 64, 71, 73, 76f., 115, 141, 169–176, 180f., 190f., 197, 333, 385, 403, 410 Sinnlosigkeit/Nicht-Sinn 13, 169–174, 176f., 180, 380, 403f. Sintflut 25, 48f., 78, 125, 185, 187 Sozial(-sphäre) 6f., 38, 73f., 81, 178, 251f., 263, 316f., 338f. Sprache 13, 115, 307, 309, 325 Sprachlosigkeit 70, 173, 229, 263 Sprechakt 178, 216f., 245f. Sprechrichtung 298–301, 347 Stimmungsumschwung 138, 216, 253f., 264, 274 Strafe 14, 16f., 30, 36-39, 76f., 115, 125, 127, 140-143, 170, 176, 180f., 185, 197, 283, 345, 358f. Strategie 1, 3f., 15, 26f., 73, 78, 111, 167, 176 – siehe auch Resilienzstrategie Sühne 176, 374, 379f. Sünde 28, 35, 76, 80–83, 170–172, 180f., 189, 191, 197 – siehe auch Schuld Tempel 192, 343, 366f. Theodizee 173, 182, 321f., 376f., 385, 387 Tod 4, 33, 38, 44, 61, 117f., 131, 137f., 169–191, 196f., 263, 315 Toda 178f., 190, 194f., 147 – siehe auch Dank

Tora 102, 227 Tradition 10, 171, 179, 228f., 231, 356 Transformation 13, 17, 44, 59, 95, 156, 179, 212, 369 Transzendenz 64, 174, 191, 405 Trauma 5-7, 14f., 17f., 44, 69–76, 82, 118, 131f., 143f., 147–162, 167–175, 180, 197, 207f., 305f., 309, 315–324, 331–333, 357, 402f., 407f. Trost 9, 38, 62, 111-115, 121-124, 127, 135, 138, 380 Tun-Ergehen-Zusammenhang 136, 340, 367, 377 Übersetzung 269f., 295 Umkehr 35, 120, 184–186, 340 Unverfügbarkeit 174, 179f., 403f. Utopie 158f., 224, 341 Verlust 4, 17, 39, 144, 170, 174, 219, 238, 377, 410 Versöhnung 81, 168, 172 Versöhnungstag/Jom Kippur 81, 170– 172 Vertrauen 8, 13, 15f., 26, 51, 60f., 63f., 119, 127, 138, 188f., 191–196, 218, 254f., 320f., 341f. Verwundung 70f., 76, 118, 131, 171, 174, 364 Verzweiflung 33–35, 39, 134, 138, 143, 174f., 338, 395 Völker 59, 113, 122, 177, 342f. Vulnerabilität 70–72, 204, 218, 316, 381f., 402 weiblich, siehe Frau Wunder 15f., 122, 175, 180, 197, 264, 365 Zion 95f., 99f., 103–106, 112–114, 116, 120–127, 135, 140, 153, 185, 187f., 190, 318–321 Zorn 33f., 54, 121, 124f., 134, 143, 177, 179–181, 184f., 284 Züchtigung 184, 340, 342, 377