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German Pages 462 [465]
Forschungen zum Alten Testament 2. Reihe Herausgegeben von Bernd Janowski (Tübingen) • Mark S. Smith (New York) Hermann Spieckermann (Göttingen)
23
Gönke Eberhardt
JHWH und die Unterwelt Spuren einer Kompetenzausweitung JHWHs im Alten Testament
Mohr Siebeck
geboren 1975; Studium der Evangelischen Theologie in Heidelberg, Cambridge (UK) und Tübingen; 2000-2003 Wissenschaftliche Angestellte an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen; 2006 Promotion; derzeit freie Mitarbeit an alttestamentlichen Publikationsprojekten. G Ö N K E EBERHARDT,
978-3-16-157841-0 Unveränderte eBook-Ausgabe 2019 ISBN 978-3-16-149306-5 ISSN 1611-4914 (Forschungen zum Alten Testament, 2. Reihe) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2007 Mohr Siebeck Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Guide-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Held in Rottenburg gebunden.
Vorwort Die vorliegende Untersuchung wurde im Sommersemester 2006 von der Evangelisch-theologischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen als Dissertation angenommen und von mir für den Druck geringfügig überarbeitet. An erster Stelle danken möchte ich Herrn Prof. Dr. Bernd Janowski, der die Entstehung dieser Arbeit angeregt, mich durch Rat und Kritik angespornt und auch nach meinem Weggang aus Tübingen in vielfacher Weise unterstützt hat. Ihm sowie Herrn Prof. Dr. Mark S. Smith und Herrn Prof. Dr. Hermann Spieckermann sei außerdem gedankt für die Aufnahme in die Reihe Forschungen zum Alten Testament II. Herrn Dr. Henning Ziebritzki wie auch Frau Tanja Mix danke ich für die gute verlegerische Betreuung. Herrn Prof. Dr. Erhard Blum danke ich nicht allein für die Übernahme des Zweitgutachtens, sondern auch für seine hilfreichen Hinweise für die Überarbeitimg. Darüber hinaus verdanke ich Hinweise und Anregungen zahlreichen Gesprächspartnern, unter denen ich an dieser Stelle besonders Frau Dr. Kathrin Liess hervorheben möchte. Mein Dank gilt zudem der Landesgraduiertenforderung Baden-Württemberg, die dafür gesorgt hat, dass die Arbeit trotz meiner ,Familienpause' ab 2003 weiterhin in gesicherten Verhältnissen fertiggestellt werden konnte. Und er gilt all denen, die sich um meine Versorgung mit Literatur während dieser Zeit besonders verdient gemacht haben: Elisabeth Fuhrer, Annette Krüger sowie weiteren Mitarbeitern am Lehrstuhl Prof. Janowski, vor allem aber meinem Mann Dr. Joachim Eberhardt, der außerdem die Korrekturen übernommen und viele Urlaubstage und Wochenenden investiert hat, um mir ein konzentriertes Arbeiten zu ermöglichen. Er und unsere drei während der Promotionszeit geborenen Kinder haben am Wachstum der Arbeit intensiv teilgenommen und es mit großer Selbstverständlichkeit unterstützt - jeder, und sei er noch so klein, auf seine Weise. Meine Eltern haben dem Ganzen den Boden bereitet. So widme ich dieses Buch meiner Familie. Erlangen, im Mai 2007
Gönke Eberhardt
Inhaltsverzeichnis Vorwort
V
Einleitung I. P r o b l e m s t e l l u n g
1
II. F o r s c h u n g s ü b e r b l i c k
3
1. JHWH beherrscht die Unterwelt von Anfang an 2. JHWH füllt ein Machtvakuum in der Scheol aus 3. JHWH „hat nichts damit zu tun und will nichts damit zu tun haben"
3 9 15
4. JHWH übernimmt chthonische Kompetenzen anderer Gottheiten oder Mächte .... 19 III. A u f b a u und M e t h o d e der Arbeit
32
Erster Hauptteil
JHWH, Scheol und ,der Rest der Welt' - die Ebene der Kosmologie Vorbemerkung Abschnitt
A: JHWHs
Am 9,1-4;
36 Wirken in der
Ps 139 undHi
JHWH-Ferne:
14,13-17
I. Erweiterter E i n f l u s s b e r e i c h : D i e fünfte A m o s v i s i o n
37 37
1. Text und Übersetzung
37
2. Textstruktur
45
3. Literarische Einheitlichkeit
47
a) Die Spannungen in V.l
47
b) Das Konditionalsatzgefüge V.2-4a
49
a) Die Spannung zwischen V.laß und V.4a
50
ß) Länge und Aufbau der Vision
51
Y) Die Terminologie
51
VIII
Inhaltsverzeichnis 6) Die Syntax
52
e) Hymnischer Charakter und kosmologische Dimension
53
c) Der abschließende Vers 4b
58
Exkurs 1: Der Zusammenhang der fünften Vision mit den übrigen Amosvisionen d) Fazit 4. Traditionen, Motive und Bedeutung
61 66 66
a) Grundbestand und erste Ergänzung: Am 9,1.4b
66
b) Das Konditionalsatzgefüge Am 9,2-4a
74
a) Unterwelt und Himmel
75
ß) Karmelgipfei und Meeresgrund
85
y) Gefangenschaft
94
c) Schlussfolgerungen 5. JHWH und Scheol in Am 9,2
II. Erweiterter Bewegungsspielraum: Ps 139
96 98
103
1. Text und Übersetzung
103
2. Textstruktur
109
3. Traditionen, Motive und Bedeutung a) Teil I: JHWH kennt den Beter bis ins Innerste (V.lb-6)
113 113
a) Erkennen in Sinn und Bewegung (V.lb-3)
113
ß) Die ,Form' des Erkennens (V.4f.)
116
y) ZU wunderbare Erkenntnis (V.6) b) Teil II: Die Nähe des Schöpfers zum Geschöpf (V.7-18) a) Keine Zuflucht vor JHWH (V.7-12)
118 119 119
ß) JHWH hat den Beter geschaffen (V. 13-16)
130
Y) Kostbare Gedanken und Erwachen in Gottes Nähe (V.17f.)
138
c) Teil III: JHWH und der Beter gegen die Gottlosen, und Abschluss (V.19-22.23f.)
141
a) Aufruf an JHWH, die Gottlosen zu töten (V.19f.)
141
ß) Verhältnis Gottlose - Beter (V.21f.)
142
Y) Bitte um Prüfung und Leitung (V.23f.)
143
Exkurs 2: Das Setting von Psalm 139 4. JHWH und Scheol in Ps 139,8
147 153
a) Der Eigenwert der Aussagen von JHWHs Präsenz in der Scheol
153
b) Der theologische Fortschritt' von Ps 139,8 gegenüber Am 9 , 2 ^ a
155
III. Erweiterter Verfiigungsrahmen: Hi 14,13-17
157
1. Text, Übersetzung und Kontext
158
2. JHWH und Scheol in Hi 14,13-15
162
Inhaltsverzeichnis
IX
a) Die Scheol als JHWH-ferner Raum
162
b) JHWHs Macht über den Lebenden in der Totenwelt
163
c) Bedeutung und Funktion von V.14aa
164
d) JHWHs Verfügungsmacht über die Scheol
167
IV. Erste Zwischenbilanz: JHWH als Universalgott
172
Abschnitt B: Die Unterwelt in Sichtweite: Hi 38,17 und 26,5f. sowie Prov 15,11
177
I. Ein Blick auf die Tore der Scheol: Hi 38,17
177
1. Text, Übersetzung und Kontext
177
2. JHWH und Scheol in Hi 38,17
180
a) Ein Element unter vielen
180
b) Die Tore des Todes und der Finsternis
181
c) Die ,Randlage' der Scheol
182
d) ,Aufgedecktheit' als Sichtbarkeit
183
II. JHWHs überlegene Sicht auf die Scheol und ihre Bewohner: Hi 26,5f.
187
1. Text, Übersetzung und Kontext
187
2. JHWH und Scheol in Hi 26,5f.
191
a) Das Beben der Refaim
191
b) Die Blöße der Scheol
194
III. Der Einblick des göttlichen Richters: Prov 15,11
198
1. Text, Übersetzung und Kontext
198
2. Prov 15,11 als Teil einer theologisierenden Redaktion?
200
a) Allgemeine Überlegungen
200
b) Das konkrete Problem in Prov 15,11
203
a) Kontextverbindungen
203
ß) Terminologie
204
y) Fazit
205
3. JHWH und Scheol in Prov 15,11
205
a) Noch einmal: die Machtfrage
205
b) JHWHs Solarisierung als Ansatzpunkt
208
IV. Zweite Zwischenbilanz: universaler und solarer Charakter JHWHs.. 213
X
Inhaltsverzeichnis
Zweiter Hauptteil
JHWH, Scheol und die Toten - die Ebene der ,Soteriologie' Vorbemerkung
220
Abschnitt A: JHWH rettet aus der Unterwelt: die Individualpsalmen, Ps 68,20f. und Hos 13,14
222
I. Unterwelt der Lebenden und der Toten: die Individualpsalmen
222
1. Die Unterscheidung zwischen ,Unterwelt der Lebenden' und ,Unterwelt der Toten'
222
a) Wie kommt man hinein?
226
b) Kommt man wieder heraus?
227
2. Die Macht des Rettenden
229
3. Die religionsgeschichtliche Position der Individualpsalmen
232
II. Ansatzpunkt fur JHWHs Kompetenzausweitung: Ps 68,20f.
237
1. Text, Übersetzung und Kontext
237
2. JHWH und Scheol in Ps 68,20f.
238
a) Torhüter oder Retter?
238
b) V.20f. als Grundlage für eine soteriologische .Relecture'
241
c) V.21 als Grundlage für eine kosmologische ,Relecture' 3. Ergebnis
III. Entscheidungsfreiheit des Mächtigeren: Hos 13,12-14,1
242 242
243
1. Text und Übersetzung
243
2. Struktur, Komposition und Datierung
248
a) Textstruktur
248
b) Einheitlichkeit und Ursprünglichkeit von V.14
252
Exkurs 3: Das Verhältnis von Hos 13,12-14,1 zu Am 9,1-4 c) Herkunft des Abschnitts 3. Traditionen, Motive und Bedeutung
252 257 258
a) Efraims Schuld: 13,12
258
b) Die scheiternde Geburt: 13,13
262
c) Keine Rettung vor Scheol und Tod: 13,14
267
а) Die klassische Alternative: Drohung oder Verheißung?
268
ß) Loskauf und Auslösung: zur Terminologie von V.14a
270
y) Scheol, Tod und ihre Werkzeuge in V.14
275
б) Rettung als Mitleid bzw. Selbstbeherrschung
278
d) Wildesel und Wüstenwind 13,15
279
Inhaltsverzeichnis
XI
a) Efraim als Wildesel unter Brüdern
279
ß) Der ausdörrende und .plündernde' Ostwind
280
e) Kriegerisches Ende: 14,1
284
a) Das büßende Samaria
284
ß) Das kriegerische Wüten
286
4. JHWH und Scheol in Hos 13,14
287
IV. Dritte Zwischenbilanz: Rettungsvorstellungen als Ansatzpunkt für JHWHs Kompetenzausweitung Abschnitt B: JHWH „führt in die Unterwelt und wieder Hos 6,1-3; I Sam 2,1-10; Dtn 32,39; II Reg 5,7 und ihre Voraussetzungen
290 herauf": 292
I. JHWH ,fuhrt' in die Unterwelt - allgemeine Vorstellungen
292
II. Der ,vorübergehende' Tod als pädagogische Maßnahme
296
III. Not und Rettung aus einer Hand: Hos 6,1-3
299
1. Text, Übersetzung und Struktur
299
2. Gattungsfrage, Kontext und Datierung
301
3. JHWH und Scheol in Hos 6,1-3
304
a) Zur Auferweckungsdeutung
304
b) Das Motiv des strafenden und sich erbarmenden Gottes
307
IV. Herr über das menschliche Auf und Ab: I Sam 2,1-10
312
1. Text und Übersetzung...
312
2. Struktur und Gattung
314
3. Kontextbezüge, Entstehung und Datierung
317
a) Nachträgliche Einfügung in den Kontext
317
b) Literarische Schichten?
318
c) Literarische , Verwandte' und kleinere Erweiterungen des Psalms 4. JHWH und Scheol in I Sam 2,6
322 332
a) Zur Auferweckungsdeutung
333
b) Rettung aus dem Tod im Leben
335
c) Der Grundsatzcharakter von I Sam 2,6
337
V. Herr über Tod und Leben Israel: Dtn 32,39
341
1. Text und Übersetzung von Dtn 32,39
341
2. Gattung, Datierung und literarische Einheitlichkeit des Moseliedes
341
3. JHWH und der Monotheismus in Dtn 32,39
346
Inhaltsverzeichnis
XII
VI. Herr über Krankheit und Heilung: II Reg 5,7
354
1. Text, Übersetzung und Kontext
354
2. Einheitlichkeit und Datierung
355
3. JHWH und Scheol in II Reg 5,7 a) Der Heilungskontext
357 357
b) Töten und lebendig machen: Göttliche Fähigkeit oder JHWHs Spezifikum?...359 c) Inhaltliche und zeitliche Verwandtschaft von II Reg 5,7 mit Dtn 32,39 und I Sam 2,6
360
VII. Vierte Zwischenbilanz: Der strafende und rettende Gott
361
Abschnitt C: Erweiterte Schutzgottvorstellungen: Die Grabinschrift 3 von Hirbet el-Köm und die Silberamulette von Ketef Hinnom
366
I. Rettung aus dem physischen Tod? Die Grabinschrift 3 von Hirbet el-Köm
366
1. Text und Übersetzung
366
2. JHWH und Scheol in der Grabinschrift
367
a) Segenswunsch oder Segens,bericht' in Z.2?
368
b) Die Bedeutung von Rettungsaussage und Handdarstellung
369
II. Licht in der Finsternis der Scheol? Die Amulette von Ketef Hinnom..375 1. Die Datierungsfrage
376
2. Der Wortlaut der Zeilen 11-14 von Amulett 1
378
3. Die uneindeutige Beziehung zwischen Text und (Grab-)Kontext
381
III. Fünfte Zwischenbilanz: JHWH als Schutzgott „bis ins Grab"
388
Ergebnis und Ausblick I. Vier Entwicklungsstränge
393
II. Diverse Faktoren
396
III. Ein fehlender Schlusspunkt
398
Übersicht der Ergebnisse
401
Literaturverzeichnis
403
Stellenregister
441
Sachregister
447
Einleitung „...Wie vermochtest du es, in den Hades hinabzusteigen, wo die Toten wohnen, die sinnberaubten, die Schatten der müde gewordenen Sterblichen?" Homer, Odyssee, XI, 475f.
I. Problemstellung Das Interesse der alttestamentlichen Forschung an den Vorstellungen von Tod und Unterwelt in Israel1 und im gesamten Alten Orient hat in den letzten Jahren merklich zugenommen.2 In diesem Zusammenhang hat sich eine These etabliert, die in jüngerer Zeit zunehmend an Bedeutung gewonnen hat: das ist die These von der Kompetenzausweitung JHWHs auf die Unterwelt. Sie greift bereits auf Ansätze der früheren Forschung zurück, hat aber erst vor dem Hintergrund der jüngeren Monotheismusdebatte und der Forschungen zur Solarisierung JHWHs Gestalt angenommen. Diese These zu überprüfen, war das ursprüngliche Ziel meiner Arbeit; die Modifikation einiger Argumente und die Skizze von vier Einzelentwicklungen im Gottesbild Israels sind das Ergebnis. Eine - nicht immer ausgesprochene - Grundlage der These von JHWHs Kompetenzausweitung und ihrer forschungsgeschichtlichen Vorläufer ist die Inhomogenität und Verschiedenartigkeit der alttestamentlichen Aussagen über JHWH in seinem Verhältnis zur Unterwelt oder zu den Toten. Insbesondere zwei Vorstellungen lassen sich hier einander gegenüberstellen: 1 „Israel" ist in dieser Arbeit ausschließlich umfassend gebraucht; die Teilstaaten werden mit „Nord-" bzw. „Südreich" bezeichnet. 2 S. z.B. die Auswahlbibliographie bei CRÜSEMANN, Fragen, 345ff. Anm. 1. Dieser Trend zeigt sich auch außerhalb der alttestamentlichen Wissenschaft, vgl. das Projekt einer .kulturwissenschaftlichen Thanatologie' von ASSMANN / TRAUZETTEL, Tod. S. ferner dazu ASSMANN, Tod).
2
Einleitung
Auf der einen Seite stehen Texte wie Jes 38,18f.; Ps 6,6; 30,9-11; 88,6. 11-13 und 115,17f., die offenbar die Vorstellung einer Beziehungslosigkeit zwischen JHWH und den Toten, und zugleich auch zwischen JHWH und der Unterwelt zum Ausdruck bringen. Ps 88,6: •>ajpn QTIS3 "Dp O ^ n ins "TO on")?T :njM TPn nam
Unter den Toten bin ich ein Freigelassener, wie Erschlagene, die im Grab liegen, an die du nicht mehr denkst, denn sie sind von deiner Hand abgeschnitten.
Dieser und vergleichbaren Aussagen stehen auf der anderen Seite solche gegenüber, in denen von ,Abgeschnittenheit' keine Rede ist, sondern vielmehr von Gottes Zugriff auf die Unterwelt (Am 9,2) oder gar seiner Präsenz in der Scheol (Ps 139,8):3 Am 9,2: ViKsh nnrr'ON Wenn sie einbrechen in die Scheol: •rtjpn v r DS)n von dort wird meine Hand sie holen, crnsän i^jt-•Kl Und wenn sie aufsteigen zum Himmel: :DT")iK nein von dort werde ich sie herunterbringen.
Die Vorstellung von JHWHs Zugriffsmöglichkeit auf die Scheol wird in der Forschung in der Regel später angesetzt als die Vorstellung von der Scheol als Raum, der von Gottes Hand abgeschnitten ist (wiewohl letztere auch in späten Texten wie etwa Ps 88 repräsentiert ist). Aus diesem ,Machtgewinn', für den klassischerweise vor allem die Texte Hos 13,14; Am 9,2 und Ps 139,8 als Belege herangezogen werden, entsteht die Frage, was für eine Entwicklung sich dazwischen' vollzogen hat, welcher Art JHWHs ,„Weg' in die Unterwelt" (Uehlinger) war. Ist er von einem unterweltsfernen Gott zu einem Gott auch der Toten geworden? Hat JHWH im Laufe der Zeit Macht über die Scheol gewonnen? Hat er mit der Herrschaft über die Scheol auch Funktionen eines Totengottes übernommen? Oder ist vielmehr von der Konstanz im Verhältnis von JHWH und Scheol auszugehen und beruht die Annahme eines Machtgewinns auf einem Irrtum? Die bislang gegebenen unterschiedlichen Antworten auf solcherlei Fragen werden im folgenden Überblick dargestellt.
3
Für die Begriffsanalyse von „Scheol", dem hebräischen Wort für Unterwelt, „das sich konstant jeder etymologischen Herleitung entzieht" (PODELLA, Totenrituale, 545), verweise ich auf die entsprechenden Wörterbuch- und Lexikoneinträge.
II.
Forschungsüberblick
3
II. Forschungsüberblick Meistenteils hat man sich in der christlichen Exegese den alttestamentlichen (und gelegentlich den altorientalischen) Vorstellungen von Tod und Unterwelt im Blick auf die Entstehung des Auferstehungsgedankens gewidmet. Sofern nicht einfach nach ,Vorläufern' von Auferstehungsvorstellungen, sondern dezidiert nach einer Entwicklungslinie in der alttestamentlichen Theologiegeschichte gesucht wurde, hat man sich in der älteren Forschung meist auf eine chronologisch geordnete Sammlung von Texten beschränkt, während die Fragen nach möglichen Ursachen, Faktoren und dergleichen keine große Beachtung fanden. Anders verhält es sich in der jüngeren Forschung, in deren Rahmen aus der Frage nach ebendiesen Faktoren und Ansatzpunkten die These der Kompetenzausweitung erwachsen ist.4 Insgesamt lassen sich unter den Arbeiten, die sich mit dem Verhältnis von JHWH und dem Tod bzw. der Scheol auch religionsgeschichtlich auseinandersetzen, hauptsächlich vier verschiedene Typen ausmachen. Diese sollen anhand einer Auswahl von Untersuchungen im folgenden dargestellt werden, wobei die einzelnen Positionen innerhalb der Typen sachlich und daher nicht immer chronologisch geordnet sind: 1. 2. 3. 4.
JHWH JHWH JHWH JHWH
beherrscht die Unterwelt von Anfang an füllt ein Machtvakuum in der Scheol aus „hat nichts damit zu tun und will nichts damit zu tun haben" übernimmt chthonische Kompetenzen anderer Gottheiten oder Mächte
1. JHWH beherrscht die Unterwelt von Anfang an
Hartmut Gese beschreibt in seinem Aufsatz „Der Tod im Alten Testament" von 1977 eine dreistufige Entwicklung, die von der Vorstellung von JHWH als dem Gott des Lebens über den Gedanken eines ewigen Lebens bis hin zum christlichen Auferstehungsgedanken reicht. Dabei rechnet er die Scheol bereits in der ersten Stufe dieser Entwicklung JHWHs Eigentum' zu. Nach Geses Darstellung gehören die Toten zwar zu JHWHs Herrschaftsbereich (anstatt zu dem einer chthonischen Gottheit), sind aber von seiner Offenbarung ausgeschlossen, weil sich diese nur an das Kollektiv des Volkes Israel, nicht aber an das Individuum richtet, das mit seinem Tod aus diesem Kollektiv herausfallt. Heil gibt es im Tod nicht, sondern nur durch die Teilhabe an der „Israel-Existenz" in der Welt der
4
S o z . B . AVERY-PECK / NEUSNER ( H g . ) , D e a t h .
4
Einleitung
Lebenden.5 Durch diesen Mangel wird der Mensch schließlich auf die Transzendenz Gottes verwiesen und vollzieht einen ,ontologischen Offenbarungsschritt', 6 welcher zur zweiten Stufe, der Vorstellung vom ewigen Leben, führt 7 und schließlich zur dritten Stufe, dem Auferstehungsgedanken, der im ,neutestamentlichen Ereignis' sein Telos erreicht.8 Die gesamte Entwicklung beschreibt Gese als „drei Stufen des Alten Testaments im Verhältnis zum Tod".9 Dies sind für ihn Stufen einer Offenbarungsgeschichte, ein sukzessiver Durchbruch der Transzendenz, der im christlichen Auferstehungsgedanken seinen Ziel- und Endpunkt hat. Inwieweit diese Stufen als Etappen einer religionsgeschichtlichen Entwicklung zu verstehen sind, sagt Gese nicht explizit; die Rede von ,Stufen', ,Schritten' etc. legt eine entsprechende Interpretation allerdings nahe. Ähnlich wie Gese geht Jacob Kremer in seinem Aufsatz „Tod und Errettung aus dem Tod" von 1998 davon aus, dass die Vorstellung von JHWHs Herrschaft über die Unterwelt „schon früh", d.h. auf jeden Fall in vorexilischer Zeit existierte.10 Die Frage, ob davor eine andere Vorstellung von JHWHs Verhältnis zur Unterwelt beherrschend war, thematisiert er nicht, zumal er alle unterweltsbezogenen Texte des Alten Testaments mehr oder weniger in diese Vorstellung einbettet, so dass für die Rekonstruktion einer , früheren' Vorstellung schlicht kein Material mehr übrig bleibt. Daher kommt seine Position der Annahme einer JHWH-beherrschten Scheol „von Anfang an" sehr nahe.11 Wie Gese schlägt Kremer den Bogen von der ,frühen' Zeit über alttestamentliche Auferweckungsvorstellungen (Ez 37) bis zur neutesta5
S. bes. GESE, Tod, 39-41. Er sieht diese erste Stufe in Texten wie Dtn 32,39;
I Sam 2,6; Ps 18,5f.; 88,5-8.11-13; 115,17f. repräsentiert. 6
GESE, T o d , 4 2 .
7
Diese findet Gese u.a. in Hi 19,25-27; Ps 16; 73; 49; 139: GESE, Tod, 43^t9. Alttestamentlich ist der Auferstehungsgedanke nach Gese in Ez 37; Jes 25; TrJes; Dan; Ps 22 und allgemein in der Apokalyptik belegt: GESE, Tod, 4 9 - 5 3 . 8
9
GESE, T o d , 3 8 .
10
KREMER, Tod, 238f. Als ,frühen' Beispieltext zieht er Ps 49,16 heran. Ein ähnlich vereinheitlichendes Bild zeigt sich auch bei WAARDENBURG, „Leben verlieren", das allerdings auf der synchronischen Anlage seiner Überlegungen beruht, bei der eine Entwicklung des israelitischen Todesverständnisses naturgemäß nicht in den Blick gerät. Waardenburg konstatiert eine alttestamentliche Gottesvorstellung, nach der „Gott alle Widersprüche in sich aufnimmt und bewältigt. Es gibt keine gesonderten Götter des Lebens und des Todes, sondern Jahwe ist Herr und Meister beider Mächtigkeiten. [...] Heil und Unheil, Leben und Tod werden verstanden als dem Menschen, seinem eigenen Tun gemäß, zugemessenes Teil." (WAARDENBURG, „Leben verlieren", 48). 11
II.
Forschungsüberblick
5
mentlichen Auferstehungshoffnung. Im Unterschied zu diesem versteht er allerdings die biblische Rede vom Tod zu großen Teilen bildhaft und löst die (auch inneralttestamentlichen) Widersprüche zwischen den unterschiedlichen Textaussagen durch ein metaphorisches Textverständnis auf. 12 Die Rede vom Tod bezeichnet für ihn im Alten wie im Neuen Testament durchgehend das „Symptom eines tieferen Todes [...], nämlich der Trennung von JHWH als dem Quell des Lebens [...]". 13 Diese Vereinheitlichung ist schon deswegen problematisch, weil zwar etliche, aber längst nicht alle biblischen Aussagen über den Tod bildhaft sind. 14 Auch ist der Unterschied festzuhalten zwischen der bildhaften Rede über den Tod und der Rede vom Tod als Bild für etwas anderes (z.B. die Not des Beters in den Klagepsalmen). Es kommt hinzu, dass Kremer die bildhaften Aussagen übersetzt in andere, die ihrerseits wenig aussagekräftig sind, und zwar im Blick auf das Alte wie auch das Neue Testament: So stellt er beispielsweise im Zusammenhang mit Jesu Auferweckung fest, das Verb eyeipu werde „in übertragener Weise verwendet [...], um die jede menschliche Vorstellung übersteigende Errettung des Toten aus dem Bereich des Todes metaphorisch auszusprechen." 15 Kremer verzichtet darauf zu erklären, was „die Errettung des Toten aus dem Bereich des Todes" denn ihrerseits nichtmetaphorisch bedeutet. Unlängst hat Frank Crüsemann in seinem Aufsatz „Rhetorische Fragen!?" von 2003 ebenfalls die These vertreten, dass die Vorstellung von JHWHs Herrschaft über die Scheol bereits sehr früh existierte. Und wie Kremer kommt er für die Begründung seiner These nicht um die Vereinheitlichung der verschiedenen alttestamentlichen Texte herum. Ich gehe darauf an dieser Stelle etwas ausführlicher ein. Für Crüsemann „gehört" mit dem Aufkommen der JHWH-Monolatrie, die er „in die Zeit Elias und der einschlägigen Konflikte des 9. Jhs." v.Chr. datiert, „die Macht über den Tod unaufhebbar zum Gottesbild", denn: „Ging es darum, alle Not mit diesem Gott zu verbinden, musste das Rettung auch aus der Not des Todes bedeuten." 16 Die dafür nötigen Funk12
KREMER, Tod, 244f. Zur Bildhaftigkeit der alttestamentlichen Rede vom Tod vgl. KRIEG, Todesbilder, bes. den Hauptteil 142ff. 13
KREMER, T o d , 2 3 8 .
14
Vgl. die Rede von der Unreinheit der Toten: Lev 21,1; Num 5,2; 6,7 etc. oder die Rekurse auf Totenriten: Lev 19,28.31; 20,6.27; Dtn 18,10f.; I Sam 28,3ff.; II Reg 21,6; 23,24; Sir 30,18; Bar 6,27. 15
KREMER, T o d , 2 4 2 .
16
CRÜSEMANN, Fragen, 359f.
6
Einleitung
tionen und Kompetenzen übernahm JHWH vom Totengott Mot.17 In diesem Punkt kommt, wie noch deutlich werden wird, Crüsemanns These von einer Kompetenzübernahme der zu untersuchenden „Kompetenzausweitungsthese" in gewisser Hinsicht nahe. Allerdings grenzt Crüsemann selbst sich von letzterer deutlich ab, indem er das religionsgeschichtliche Geschehen gewissermaßen ,vortextlich' ansetzt und die unterschiedlichen alttestamentlichen Passagen und Formulierungen - ähnlich wie Kremer aus vereinheitlichender Perspektive betrachtet. Was dem ,entscheidenden Durchbruch' im JHWH-Glauben vorausgelegen haben könnte - wann immer ein solcher zeitlich anzusetzen wäre - , lässt sich mit diesem methodischen Ansatz aus den biblischen Texten nicht mehr ermitteln. Insofern lässt sich auch Crüsemanns Position der Kategorie „JHWH beherrscht die Unterwelt von Anfang an" zuordnen. Abgesehen von der Selbstverständlichkeit, mit der Crüsemann von der sofortigen Durchsetzung oder auch nur der frühen theologischen , Breitenwirkung' der JHWH-Alleinverehrung im 9.Jh. ausgeht, ist sein Postulat vor allem deswegen problematisch, weil es ausschließlich einer logischen Überlegung im Sinne eines kohärenten Gottes- und Weltbildes entspringt (und weiter nicht begründet wird), während Crüsemann sich in anderem Zusammenhang vehement gegen die Applikation neuzeitlich-logischer Kategorien auf die biblische „Sprach- und Denkwelt" richtet.18 Dass nun die vermeintlich mit der Monolatrie entstandene Notwendigkeit von JHWHs unbegrenzter Macht ,sofort', d.h. ab dem Aufkommen der Monolatrie, erfüllt wird durch die tatsächliche Existenz einer Vorstellung von JHWHs Macht über Scheol und Tod, begründet Crüsemann pauschal mit dem Verweis auf die „nicht zu vereinheitlichenden"19 Texte, die von Entrückungen, von Totenerweckungen20 und vom Baum des Lebens, von der Verheißung ewigen Lebens, von JHWHs Macht über die Scheol,21 der „Unzerstörbarkeit der Gottesgemeinschaft" und - im Psalter - von der 17
CRÜSEMANN, Fragen, 359.
18
AaO 3 5 2 - 3 5 6 .
19
AaO 359.
20
Im Blick auf die Berichte von den Totenerweckungen formuliert CRÜSEMANN,
aaO 359f.: „Es ist sicher kein Zufall, dass in den Erzählungen über die Zeit Elias und Elisas derart häufig und massiv von einem todüberwindenden Handeln Gottes erzählt wird. Das war unerlässlich, sollte wirklich diese eine Gottheit allein für alles zuständig sein." Sollte diese Feststellung als Begründung dienen für die These, dass die Vorstellung von JHWHs Macht über den Tod ab dem 9.Jh. v.Chr. tatsächlich existierte, beruht sie allerdings auf einer Verwechslung von „Zeit des Erzählers" und „erzählter Zeit". 21
Für letztere führt er I Sam 2,6; Am 9,2 und Ps 139 als Beispiele an: aaO 3 4 8 .
II.
Forschungsüberblick
7
Rettung aus dem Tod sprechen,22 sowie mit dem Hinweis auf die Inschriften von Hirbet el-Köm und Hirbet Bet-Layy und die Silberamulette von Ketef Hinnom.23 Zwar erwähnt Criisemann mitunter die Entstehungsdaten der von ihm angeführten Texte und epigraphischen Funde (niemals allerdings die zahlreichen nachexilischen Daten), geht aber unbekümmert davon aus, dass diese sehr inhomogenen, vor- und nachexilischen Vorstellungen und Motive auch für das 9.Jh. v.Chr. angesetzt werden können. Dass sich der zeitlichen Vereinheitlichung auch eine inhaltliche hinzugesellt, zeigt sich nicht zuletzt an seiner Deutung von Ps 88, dem Ausgangspunkt seiner Argumentation, dessen vermutlich exilisches oder nachexilisches Entstehungsdatum er wohlweislich unerwähnt lässt. Anhand der Verse 11—1324 sucht Criisemann den breiten Konsens der neueren Forschung über die vorexilische Vorstellung von der Scheol als gottesfernem Raum aufzubrechen. Seines Erachtens sind vor allem anhand der Gebetssituation die in diesen Versen gestellten Fragen nicht rhetorisch zu verstehen, sondern vielmehr als positiver Rekurs auf „eine Potenz" JHWHs zur Auferweckung der Toten25 - und damit zur Befreiung des ,toten' Beters aus der Situation, in die er durch JHWHs Handeln gekommen ist. Für Criisemann ist nach Sprache und Bildhaftigkeit des Psalms der Beter in nichts mehr unterschieden von den physisch Gestorbenen. Die Unterscheidung zwischen der Todeserfahrung des „unter den Toten" lebenden Beters und dem Dasein der physisch Gestorbenen, von der mit Christoph Barth die meisten Exegeten ausgehen,26 entspringe einem rein naturwissenschaftlich-neuzeitlichen Denken, das nicht in den Psalm eingetragen werden dürfe. „Beides ist Todesmacht, beides wird gleich benannt und gleich beschrieben." Daraus schließt Crüsemann, dass die „Auferweckung", derer 22 CRÜSEMANN, Fragen, 358f.: All diese Texte sind nicht „in eine einlinige zeitliche Folge zu bringen". Das ist zwar zutreffend, erlaubt es aber dennoch nicht, sie sämtlich in einen Argumentationstopf zu werfen. 23 Zu diesen s.u. Abschnitt C im zweiten Hauptteil. Es sei lediglich vorweggenommen, dass die Inschriften von Hirbet Bet-Layy keine Grabinschriften im eigentlichen Sinne sind, sondern vermutlich von Flüchtlingen stammen, die sich eine Zeitlang im Grab versteckt hielten. 24 „Für die Toten solltest du ein Wunder tun, / oder werden Rephaim aufstehen, dich zu preisen? Sela // 12 Wird erzählt im Grab deine Güte, / deine Treue im Abaddon? // 13 Wird bekannt in der Finsternis dein Wunder, / und deine Gerechtigkeit im Land des Vergessens?" 25 CRÜSEMANN, Fragen, 351: „Warum so gefragt wird, liegt auf der Hand: So und nicht anders müsste ja Gottes Handeln an ihm oder ihr aussehen." S. ferner aaO 360. 26 Vgl. z.B. JANOWSKI, Die Toten, bes. 218ff. Zum Entwurf von Chr. Barth s.u. Abschnitt A: 1.1 im zweiten Hauptteil.
8
Einleitung
der Beter JHWH für mächtig halte (Dip in V.ll), für alle Toten gelte, die , lebenden Toten' und die ,toten Toten' sozusagen. Mit dieser Einschätzung lässt Crüsemann allerdings erstens außer Acht, dass die Rede von der Todeserfahrung des Beters in Ps 88 durchaus keine reine Identifikation des Beters mit den physisch Gestorbenen darstellt, sondern gebrochen ist durch die Rede von der Nähe zum Tod (V.4.16), durch Vergleich mit den Toten (V.5f.) und auch durch das adversative waw in V.14, mit dem sich der Beter von den Toten absetzt, deren Dasein er in V. 11-13 beschreibt. Zweitens wäre, selbst wenn Crüsemann mit seiner Deutung der Fragen in Ps 88,11-13 als positivem Ausdruck einer „Potenz" JHWHs Recht hätte, immer noch fraglich, ob man deswegen diesen Text als Beispiel für die Vorstellung von JHWHs Macht zur Auferweckung der physisch Gestorbenen heranziehen dürfte. Denn Crüsemanns Hauptargument für seine Interpretation der Verse ist - die vermeintliche Identität von gebenden Toten' und ,toten Toten' hin oder her - die spezifische Situation des Beters - und der ist in der Gebetssituation definitiv noch am Leben.27 Drittens verzichtet Crüsemann darauf zu erklären, wie die Aussage über die Abgeschnittenheit der Toten von V.6 (s.o. S. 1) zu verstehen ist, wenn die Verse 11-13 mit einer Macht JHWHs zur Auferweckung der Toten rechnen. Ebenso fallen die übrigen alttestamentlichen Aussagen über die JHWH-Ferne der Scheol (Jes 38,11 etc.) aus seiner Argumentation heraus.28 Trotz ihrer grundsätzlich verschiedenen Herangehensweise zeichnen die drei Studien ein ähnliches Bild: JHWH ist und war ,von Anfang an', d.h. ab dem Zeitpunkt seiner Verehrung bzw. einer sehr früh angesetzten Alleinverehrung, Herr der Scheol. Während bei Kremer die Unterschiede in den alttestamentlichen Verhältnisbestimmungen von JHWH und Scheol einer Metaphorisierung zum Opfer fallen und damit der diachrone Aspekt obsolet wird, leitet Gese die durchgehende Machtstellung JHWHs in der 27
„Wenn der oder die Betende sich bereits in der Macht des Todes sieht, muss Gottes Eingriff diese Macht überwinden. Genauer: Gott mtlsste sein eigenes Handeln, das diesen Zustand herbeigeführt hat, rückgängig machen. Nur wenn Gott an Toten Wunder tut, tun kann und tun wird, nur wenn Gott zum Schweigen Gebrachte neu zum Loben und Danken bringt, nur dann kann auch das hier betende Ich wieder dazu gehören." ( C R Ü S E M A N N , Fragen, 351). Diese Vorstellung dem Beter im Blick auf,endgültig' Verstorbene zuzuschreiben, kommt einer petitio principii gleich. 28 Kritik an Crüsemanns Position im Blick auf Ps 88 äußert auch Psalm 88, 65f.
SCHLEGEL,
II.
Forschungsüberblick
9
Scheol aus dessen anfanglichem Exklusivitätsanspruch ab: Weil JHWH neben sich keine anderen Mächte duldet, kann es keine Unterweltsgötter geben, die ihm seinen Rang streitig machen könnten, bzw. keinen Machtbereich, der außerhalb des seinen läge. Crüsemanns Position ist in etwa eine Kombination der beiden: Wie Gese leitet auch er JHWHs Macht über Tod und Unterwelt aus einem von ihm sehr früh angesetzten Alleinverehrungsanspruch ab, entledigt sich aber gleichzeitig - wie Kremer mittels Textvereinheitlichung der Notwendigkeit, die Diversität der Aussagen über JHWH und Scheol religionsgeschichtlich zu erklären. Kremers und Crüsemanns jeweilige Methoden der Vereinheitlichung haben sich bei genauerem Hinsehen bereits als problematisch erwiesen. Doch ist auch Geses Position nicht ohne Schwierigkeiten, weil - wie weder Kremer noch Crüsemann überzeugend widerlegen konnten - eine Herrschaft JHWHs über die Scheol aus vielen Texten eben gerade nicht hervorgeht, sondern eher das Gegenteil der Fall zu sein scheint. Die dialektische Hilfskonstruktion, die Scheol unterstehe zwar JHWH, sei aber dennoch ein Ort der Gottesferne, ist religionsgeschichtlich schwierig zu rechtfertigen, zumal die Offenbarungsvorstellung ,an das Kollektiv', die Gese zugrundelegt, für die Frühzeit Israels bzw. für das 9.Jh. v.Chr. fragwürdig ist. Wenn aber, pointiert ausgedrückt, aufgrund der Diversität der Texte die Scheol nicht von Anfang an der Machtbereich JHWHs sein kann und aufgrund von JHWHs Exklusivitätsanspruch nicht derjenige anderer Gottheiten sein , darf,29 was ist sie dann? Diese Frage beantwortet der zweite der genannten Ansätze mit einem ,Machtvakuum' in der Scheol. 2. JHWHfüllt ein Machtvakuum in der Scheol aus
Hans-Walter Wolff zeichnet in seinem Aufsatz „Der Tod im Alten Testament" von 1971 ein gänzlich anderes Bild von der Unterwelt als die bisherigen Autoren, nämlich das Bild einer Leerstelle: 30 „Der Tod ist einerseits als ein Raum gnadenloser Gottesferne beschrieben, in den Jahwe nicht mehr hineinwirken kann, andererseits fehlt aber auch dem Tod jede eigene Mächtigkeit, mit der er gegen Jahwe antreten könnte. So hat die Entmythisierung des Todes
29 Dieses ,darf im Sinne der Annahme, der Ausschließlichkeitsanspruch JHWHs sei von Anfang an gegeben (Gese) bzw. habe bereits sehr früh eine breite Wirkung entfaltet (Crüsemann), ist seinerseits hochgradig problematisch, wird aber auch von dem im folgenden dargestellten Ansatz vorausgesetzt. 30
WOLFF, T o d , 6 5 ; v g l . DERS., A n t h r o p o l o g i e ,
158f., WÄCHTER, Art. SiKÜ, 908.
1 6 2 ; f e r n e r PREUSS, T h e o l o g i e
2,
10
Einleitung
zunächst ein merkwürdiges theologisches Vakuum geschaffen. Nur mit tastenden Schritten wagen sich Zeugen des Jahweglaubens in diese Leere vor."
Diese Leere wird tastend gefüllt durch die Vorstellung von einer andauernden Gemeinschaft mit Gott, die als eine dritte Möglichkeit „zwischen diesem Leben und der Totenwelt" steht, 31 so wie Wolff sie in Ps 73,23ff. eröffnet sieht. Wo jedoch Raum für diese Gemeinschaft ist, für wen und unter welchen Umständen sie erwartet werden kann, geht aus seinen Überlegungen nicht hervor. 32 In eine ähnliche Richtung geht Gisela Kittel. Sie beschreibt in ihrer Monographie „Befreit aus dem Rachen des Todes" von 1999 einen „Entdekkungs- und Lernprozeß" im israelitischen Todes- und Unterweltsverständnis und schlägt dabei ebenfalls einen Bogen von der Vorstellung einer JHWH-fernen Scheol bis hin zur Ausbildung christlicher Auferstehungsgedanken. Im Blick auf das Gottesbild der Anfangszeit kommt sie zu dem Ergebnis: 33 „[...] JHWH ist ein Gott des Lebens. Er hat mit der Todeswelt, dem Ort des Schweigens und der Finsternis, nichts zu tun. Auf der anderen Seite kann er den Bereich des Todes aber auch nicht irgendwelchen Todesgottheiten und Mächten überlassen. Denn er ist allein Gott, der in seinem Exklusivitätsanspruch keine anderen Gottheiten neben sich duldet. So ist das Reich des Todes in Israel ein merkwürdig unbesetzter Raum. JHWH reicht mit seiner helfenden Hand nicht in ihn hinüber; es gibt aber auch keine anderen Gottheiten und gottähnlichen Wesen, die diesen Raum beherrschen."
Die allmähliche ,Entdeckung', dass JHWHs Macht sich auch auf die Unterwelt erstreckt, skizziert und illustriert Kittel mit Hilfe verschiedener alttestamentlicher Texte, die sie unterschiedlichen , Schritten' hin zur Vorstellung von JHWHs Macht über Tod und Unterwelt zuordnet. Auf vier von diesen ,Schritten' geht sie näher ein, will sie jedoch nicht uneingeschränkt als chronologische Abfolge oder das Alte Testament durchgängig
31
32
WOLFF, T o d , 6 7 .
Wolffs Position ist unlängst aufgegriffen worden von STAHL, Gott, 109f., mit der These, „daß wenigstens ab dem 7.Jh. v.Chr. Menschen in Juda daran geglaubt haben und damit gestorben sind, daß Jahwe sehr wohl in den Bereich des Todes hineinwirkt." Als Belege für diese Annahme nennt Stahl Ps 189,7f.; Am 9,lf. und die Varianten des Aaronitischen Segens auf den Silberamuletten von Ketef Hinnom. 33 KITTEL, Befreit, 91f.; vgl. aaO 12: „Weil die Todeswelt alles das ausmacht, was nicht zu Gott gehört, eben deshalb kann er mit ihr nichts zu tun haben." (Im Original kursiv).
II.
Forschungsüberblick
11
prägende Entwicklung verstanden wissen.34 Stattdessen betont sie die Vielstimmigkeit des Alten Testaments im Blick auf die Todes- und Unterweltsvorstellungen, von denen einige von der Apokalyptik aufgegriffen und weiterentwickelt wurden und die die Basis für die neutestamentlichen Auferstehungsvorstellungen bilden. Die von Kittel geschilderten Schritte hin zur Vorstellung von JHWHs Macht über Tod und Unterwelt sind: - die Vorstellung von JHWH als dem Gott, der vom Tod errettet (Psalmen), - der nachexilische Gedanke einer Gottesgemeinschaft über den Tod hinaus (Hi 19; Ps 73; 49; 139 u.ö.), - das Weiterdenken der Vorstellung von JHWH als schöpferischem Gott in die Richtung, dass der Schöpfer auch Totes neu zu beleben vermag (Ez 37; Jes 26), - die Vorstellung von der Vernichtung des Todes durch JHWH (Jes 25).
So berechtigt der Hinweis auf Vielstimmigkeit und die implizite Voraussetzung paralleler Entwicklungen in eine ähnliche Richtung auch sind: Indem Kittel sich mit dieser Feststellung bescheidet, behält ihre Studie den Charakter einer Aufzählung. Das liegt nicht nur an ihrer Zurückhaltung darin, die einzelnen , Schritte' zeitlich zueinander in Beziehung zu setzen, sondern auch an dem überwiegenden Verzicht darauf, mögliche Hintergründe oder Faktoren für den postulierten „Lernprozeß" zu benennen. Die Anlage ihrer Untersuchung blendet religionsgeschichtliche Momente weitgehend aus und beschränkt sich auf den rein theologisch zu verstehenden Hinweis auf „die Schöpferkraft Gottes"35 als Triebkraft der Entwicklung(en). Ausschlaggebend ist der für sie mit dem JHWH-Glauben verbundene Ausschließlichkeitsanspruch: „Die JHWH-Offenbarung selbst drängt darauf hin, auch den Raum der Scheol in Beschlag zu nehmen" 36 - eine Überlegung, die dem Konzept Geses nahesteht, auf den Kittel sich an anderer Stelle ausdrücklich beruft.37 Für die religionsgeschichtliche Frage nach dem sich wandelnden Verhältnis von JHWH zur Scheol bleiben demnach eine Reihe von Fragen offen. Auf einige dieser Fragen war bereits 1986 Hildegard Gollinger in ihrem leider wenig rezipierten Aufsatz „,Wenn einer stirbt, lebt er dann wieder auf?' (Ijob 14,14)" eingegangen. Ihre Position ist den Ansätzen Wolffs und Kittels verwandt, jedoch in der Rekonstruktion einer denkbaren Ent34
AaO 9 2 - 1 0 2 . Die .Schritte' sind ähnlich, indes nicht zu verwechseln, mit Kittels Kategorisierung der Texte durch die Kapitelüberschriften aaO 2 4 - 8 9 . 35 36 37
AaO 90. AaO 97. AaO 92.
12
Einleitung
wicklung des Todes- und Unterweltsverständnisses deutlich präziser. Auch sie beschreibt eine den neutestamentlichen Auferstehungsvorstellungen vorausgehende Entwicklung, deren Anfangspunkt ein „Machtvakuum" in Tod und Totenreich bildet. Beide „gelten als von Gott abgeschnitten, ohne ihrerseits über Eigenständigkeit zu verfugen". JHWH wird „ausschließlich als Gott der Lebenden, als lebendiger und lebenspendender Gott profiliert, der nach den ältesten Überlieferungen mit Tod und Totenwelt nichts zu tun hat."38 Wie Kittel geht Gollinger von einer Entwicklung, genauer gesagt: von mehreren Entwicklungen auf unterschiedlichen Ebenen aus.39 So zählt sie das frühe Machtvakuum, das mit der Zeit aufgefüllt werden kann, zu den Elementen aus vorexilischer Zeit, „die unter veränderten Lebensbedingungen zum Weiterdenken über den Tod hinaus anregen müssen". 40 Zu diesen gehören für sie außerdem der durch die Scheolvorstellung implizierte Gedanke von einem Rest menschlicher Identität auch nach dem Tod und die Deutung des Lebens als Gemeinschaft mit Gott, welche mit der Zeit die Frage der Treue Gottes aufwirft, insbesondere, als der TunErgehen-Zusammenhang seine Selbstverständlichkeit verliert. Darüber hinaus nennt sie vier weitere Impulse für eine Weiterentwicklung der Todesvorstellungen: erstens die Berichte von Totenerweckungen im Elijaund Elischazyklus, zweitens die Berichte von der Entrückung Henochs und der Himmelfahrt Elijas, drittens die Vorstellung von JHWHs Macht, die auch an der Unterwelt keine Grenze findet (mit Verweis auf Am 9,2), und schließlich viertens das Weiterdenken der Vorstellung von JHWH als „Quelle des Lebens" auf ihre Implikationen für das Todesverständnis hin.41 Doch bleibt es nach Gollinger in diesen Fällen zunächst bei .Elementen' und ,Impulsen', und so konstatiert sie für die gesamte vorexilische Zeit das gänzliche Fehlen einer Jenseitsvorstellung, was sie mit dem Bild JHWHs als eines geschichtlich handelnden Gottes und dem ,Kollektivdenken' Israels erklärt.42 Für die nachexilische Zeit benennt sie drei zunächst unverbundene Ansätze der Weiterentwicklung, die Anfang des 2.Jh. v.Chr. 38
GOLLINGER, „Wenn einer stirbt...", 14.
39
Vgl. zur Problematik einer einlinigen Entwicklung bzw. Anschauung FRIEDMAN /
OVERTON, D e a t h , 5 5 f . ; MARTIN-ACHARD, A r t . R e s u r r e c t i o n , 6 8 3 ; DERS.,
Remarques,
304ff., sowie die Formulierung Zengers: „es ließen sich manche .denkerischen Anläufe' nachzeichnen, in denen die israelitische Theologie an die rätselhafte Türe des Todes klopfte, ehe sich das Tor in der spätalttestamentlichen Zeit öffnete." (ZENGER, Psalmen 2, 203). 40
GOLLINGER, „Wenn einer stirbt...", 14.
41
AaO 14ff.
42
AaO 22.
II.
Forschungsüberblick
13
zu einer expliziten Auferstehungsvorstellung fuhren und auf die genannten vorexilischen Elemente aufbauen. Das sind die Ausweitung der Vorstellung von der Allmacht Gottes, die „Individualisierung des Denkens", welche das Geschick und damit auch den Tod des Einzelnen in den Vordergrund rückt, und die Vorstellung von einer Gottesgemeinschaft über den Tod hinaus, für die auch sie auf Ps 73 verweist.43 Die ältesten konkreten Auferstehungszeugnisse findet Gollinger mit Jes 26,19 und Dan 12,1-3 in der alttestamentlichen Apokalyptik, in den Makkabäerbüchern und der Sapientia Salomonis sowie weiteren zwischentestamentarischen Schriften.44 Noch für die Zeit Jesu konstatiert sie eine Vielfalt von Jenseitshoffnungen und Auferstehungsvorstellungen, die sich „zur selben Zeit in unterschiedlichen, ja sogar gegenläufigen Entwürfen artikulieren, die auch untereinander kombinierbar sind."45 Wie Geses Modell basiert Wolfis, Kittels und Gollingers Annahme, die Scheol sei ein „ein merkwürdiges theologisches Vakuum", auf der Voraussetzung, dass JHWHs Exklusivitätsanspruch für den gesamten Zeitraum der Religionsgeschichte Israels galt und von maßgeblicher Bedeutung war für die Verhältnisbestimmung von JHWH und Scheol. Diese Annahme eines ursprünglichen bzw. eines schon in frühen Zeiten so weitreichenden Exklusivitätsanspruches JHWHs (sei es ein monolatrischer, sei es ein monotheistischer Anspruch) ist jedoch nach den Ergebnissen der neueren Monotheismusforschung nicht mehr haltbar:46 Damit wird auch die Schlussfolgerung hinfällig, dass JHWH von Anfang an Herr der Scheol oder die Unterwelt bis zu ihrer ,Inbesitznahme' durch JHWH ein unbesetzter Raum war. Der deuteronomistische und deuterojesajanische Imperativ der Einzigkeit JHWHs bedeutet keinen religionsgeschichtlichen Indikativ für die vorstaatliche Epoche, auch nicht für die frühe und mittlere Königszeit. Derselbe Einwand betrifft auch die Überlegungen Crüsemanns. Hinzu kommt, dass die Existenz von Totenpflege und Nekromantie in Israel durch die Ergebnisse von Exegese und Archäologie inzwischen als weitgehend unbestritten gelten kann.47 43 44 45
AaO 22ff. AaO 26ff. AaO 38.
46
Die „Erosion der tragenden Voraussetzungen" für die Frühdatierung des Alleinverehrungsanspruchs hat u.a. Köckert beschrieben: DERS., Gott, 15Iff. 47
V g l . FRIEDMAN / OVERTON, D e a t h , 3 6 - 4 6 . Z u E i n z e l h e i t e n s. d a s v o n
Herbert
NIEHR herausgegebene Themenheft „Der Umgang mit dem Tod in Israel und Juda", ThQ 177 (1997), und darüber hinaus PODELLA, Totenrituale, 5 3 5 - 5 3 7 . Keineswegs
14
Einleitung
Wenn aber nun ein weitreichender Exklusivitätsanspruch JHWHs nicht in die Frühzeit fallt oder wenn man die Möglichkeit religionsgeschichtlicher Analogien zwischen Israel und seiner Umwelt berücksichtigen will (oder beides), dann wäre der nächstliegende Gedanke, dass die Unterwelt lange Zeit mit JHWH-fremder Macht - oder Mächten - assoziiert wurde.48 Möglicherweise handelt es sich bei der Scheol um einen Machtbereich, der auch in Israel zunächst entweder als selbständig' mächtig49 oder als von machtvollen Größen beherrscht gedacht wurde. So ist einerseits denkbar, dass die ,Todesmacht' der Scheol als einer mehr oder weniger personifizierten Größe zugeordnet war, welche JHWH gegenüber oder in irgendeiner Form abseits von ihm stand.50 In Analogie zu Vorstellungen aus der Umwelt Israels ist andererseits denkbar, dass es bestimmte ,todesmächtige' Größen gab, Götter, Dämonen oder vergöttlichte Ahnen, die für die Unterwelt gewissermaßen ,zuständig' waren. Mit dieser noch sehr vagen Überlegung tritt die Möglichkeit einer Kompetenzverschiebung von fremden Unterweltsgrößen oder -mächten auf JHWH in Erscheinung, die in den bislang dargestellten Modellen deswegen keine Rolle spielt, weil für Israel dort schlicht keine JHWH-fremden Unterweltsinstanzen vorausgesetzt werden (von Crüsemanns Position abgesehen). Gleichwohl ist natürlich mit der Annahme, es habe solche Instanzen gegeben, eine tatsächliche Verlagerung von Unterweltskompetenzen auf JHWH noch nicht hinreichend belegt. Das zeigt das folgende Modell.
unbestritten ist dagegen die Existenz von Totenkulten; vgl. den knappen Forschungsüberblick bei BLOCH-SMITH, Death, sowie die etwas ausführlichere Diskussion bei LEWIS, HOW Far, 186ff.; vgl. auch PODELLA, Art. Ahnen/Ahnenverehrung, 227f. (M. Lit.). Anders B.B. SCHMIDT, Dead, mit seiner These, Nekromantie und Ahnenverehrung hätten aufgrund von assyrischen und babylonischen Fremdeinflüssen erst seit der Regierungszeit Manasses in Israel Fuß gefasst (s. dort auch weitere Literatur zum Thema). Zur begrifflichen Unterscheidung von Totenkult (Verehrung), Totenpflege (Versorgung) und Nekromantie s. PODELLA, Totenrituale, 532f. 48 Das impliziert übrigens auch Kittels Terminologie; obwohl sie eigentlich anderer Meinung ist: So spricht sie von der Scheol als einem Machtbereich außerhalb der Reichweite Gottes, in den JHWHs Herrschaft „eindringen" und ihm „entreißen" musste, „was sie [die Scheol, G.E.] sich als Beute angeeignet hatte". Auch ist die Rede von einer „Todesmacht", die JHWH überwindet, so KITTEL, Befreit, 92 bzw. 93 f. Ähnliches impliziert auch Wolffs Rede von der „Entmythisierung des Todes" (s.o.). 49 Vgl. BARTH, Errettung, 53-72; bes. 70ff. 50 Vgl. Jes 5,14; 14,9; 28,15; Hos 13,14; Ps 49,16; Prov 1,12 etc.
II.
Forschungsüberblick
15
3. JHWH „ hat nichts damit zu tun und will nichts damit zu tun haben " In Victor Maags Untersuchung „Tod und Jenseits nach dem Alten Testament" von 1964 bildet die Scheol einen eigenen Machtbereich, sie gilt dem Verfasser jedoch als ein rein kanaanäisches Element, mit dem Israel ursprünglich nichts zu tun hat.51 Auch sein Konzept ist deutlich abgeleitet aus einem genuinen Ausschließlichkeitsanspruch des JHWH-Glaubens: 52 „Zu den am längsten beiseite geschobenen und darum vom Jahwäglauben lange nicht durchgestalteten kanaanäischen Elementen gehören die Vorstellungen von Tod und postmortalem Dasein. Für die Jahwä verehrenden Stämme der Steppenzeit hatten diese Fragen kein Gewicht besessen. Nomaden haben normalerweise kein religiöses Verhältnis zum Tod, weil ihre Migrationen sie von den Grabstätten ihrer Ahnen zu trennen pflegen. Darum war Jahwä von Haus aus im buchstäblichen Sinn ein „Gott der Lebenden und nicht der Toten" gewesen. Und als sich nach der Einschmelzung der kanaanäischen Bauernbevölkerung in den israelitischen Volkskörper die Frage stellte, wie sich Jahwä zum sedentären Vorstellungskreis von Tod und Totenwelt und den damit verbundenen Riten verhalten werde, war die Antwort: Jahwä hat nichts damit zu tun und will nichts damit zu tun haben."
Nach Maag gibt es zwar die Vorstellung von einer gewissen Weiterexistenz der Totengeister, auf der auch die alttestamentlichen Zeugnisse der Totenbeschwörung und die Rede vom Versammeln „zu den Vätern" etc. basieren, aber das Totenbrauchtum selbst gilt als unrein. In der Auseinandersetzung mit dem Totenbrauchtum der Kanaanäer wird dieses zunächst als säkular „in eine merkwürdige Zwielichtigkeit verdrängt".53 In der Apokalyptik dann verschmelzen alle Antagonisten JHWHs mit dem Herrn der Scheol zu einem einzigen Symbolkomplex, sie werden zum Wesensaspekt des Satanischen. Die Scheol wird zur Hölle, der Auferstehungsglaube ist „mit einer Steigerung der Gottesferne zur Hölle verbunden."54 Das bedeutet: Die religionsgeschichtliche Entwicklung von der Gottesferne der Toten hin zur Gottesnähe geht an der Scheol vorbei. 55
51 Eine ähnliche Überlegung deutet WERLITZ, Scheol, 48f. an, der aber im Gegensatz zu Maag für die exilisch-nachexilische Zeit einen „Machtgewinn Gottes auch über die Scheol" annimmt. Ähnlich auch KELLERMANN, Überwindung, 260f.273f. 52
53
MAAG, T o d , 1 8 1 .
AaO 182. 54 AaO 195f. 55 Eine weniger differenzierte Form dieser These stellen die (deutlich älteren) Überlegungen von KROLL, Gott, 324ff., dar. Die atl. Texte, die auch JHWHs Zugriffsmöglichkeit auf die Unterwelt oder seine Präsenz daselbst insinuieren, wie Ps 139,8, haben s.E. „[m]it einer allmählichen Wandlung des Jenseitsglaubens [...] nichts zu tun" (aaO 326).
16
Einleitung
Maags These basiert wesentlich auf einer Gegenüberstellung von israelitischen und kanaanäischen Todes- und Gottesvorstellungen, wobei dabei das hervorstechende Merkmal des israelitischen Gottesbildes wiederum der Exklusivitätsanspruch JHWHs ist, der eine Integration von kanaanäischen Todesvorstellungen verbietet. Wie sich schon das Postulat eines solchen frühen Exklusivitätsanspruchs als problematisch erwiesen hat, so gilt auch für die deuteronomistische Dichotomie Israel-Kanaan, dass sie in dieser Form als religionsgeschichtliches Faktum nicht mehr haltbar ist,56 auch wenn sie lange Zeit in der Forschung die religionsgeschichtliche Einordnung Israels bestimmt hat. So war es ein beliebtes Verfahren, aus einer nomadischen Vorzeit Israels vermeintliche israelitische Propria wie JHWHs Ausschließlichkeitsanspruch57 und das Bilderverbot58 etc. abzuleiten, die dann später in der Auseinandersetzung mit der kanaanäischen Kulturlandreligion zunehmend korrumpiert wurden. Entsprechend ordnet auch Maag die „gottlose Unterwelt" Israels ein. Auch abgesehen von den Schwierigkeiten einer Israel-Kanaan-Dichotomie erscheint es fragwürdig, dass sich die JHWH-Religion vor der Konfrontation mit fremden Vorstellungen (ob nun mit kanaanäischen oder anderen) nicht wirklich mit dem Tod auseinandergesetzt haben sollte:59 Es müsste erst nachgewiesen werden, dass die gänzliche Vernachlässigung des Todesproblems religionssoziologisch plausibel60 und überdies tatsäch56
So die opinio communis der neueren Forschung; exemplarisch bei KOCKERT, Gott, 161f. dort auch weitere Literatur. Vgl. zudem KEEL, Preis. 57 Im Sinne einer ausschließlichen Bindung an Israel bzw. die Stämme findet sich eine solche Ableitung des Ausschließlichkeitsanspruchs z.B. bei ALT, Gott; sowie in von Rads Rekurs auf Alts Vätergotthypothese: VON RAD, Theologie I, 20ff.; vgl. zudem auch W.H. SCHMIDT, Glaube, 102. MAAG steht in der Tradition der Altschen und von Radschen Konzeption, vgl. STOLZ, Einführung, 63f. Zur Genese der Vorstellung vom nomadischen Ursprung des Monotheismus s. KÖCKERT, Gott, 147 m. Anm. 54; sowie STOLZ, Monotheismus in Israel, 155-163. S. auch die kritischen Stellungnahmen bei KNAUF, History, 37; LOHFINK, Geschichte, 13f. 58
S o z . B . BERNHARDT, G o t t .
59
Entfernt vertritt auch Healey die These einer mangelnden Auseinandersetzung, wenngleich er sie nicht mit dem Nomadentum in Verbindung bringt: „Im allgemeinen jedenfalls scheint das Leben jenseits des Grabes von den Hebräern vernachlässigt worden zu sein" (HEALEY, Land, 102). Mit dieser Formulierung schließt Healey im Gegensatz zu Maag allerdings nicht aus, dass durchaus ein Totenbrauchtum im Zusammenhang mit der Grabpflege existiert haben kann. 60
Vgl. PODELLA, Grundzüge, 71: „[...] daß die Israeliten und ihre Theologen sich keine Gedanken um Tod und Jenseits gemacht, die Unterwelt nicht zum Gegenstand theologischer Reflexion erhoben hätten, wäre kulturhistorisch singulär."
II.
Forschungsüberblick
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lieh ein typisch nomadisches Element ist. Wahrscheinlicher ist, dass auch innerhalb der Gruppen, die JHWH verehrten, Todes- und Unterweltsvorstellungen - wie auch immer sie geartet sein mochten - von Anfang an ihren Platz hatten. Dies berücksichtigt der Ansatz Bernhard Längs. Lang unterscheidet in seinem Artikel „Leben nach dem Tod" von 1995 fünf aufeinanderfolgende Phasen, von denen namentlich die ersten beiden für das Ausgangsproblem von Bedeutung sind.61 Während der ersten Phase herrschen „vorkanonische Vorstellungen":62 Hier gilt auch für Israel die Scheol als von vergöttlichten Toten (D'H^K in I Sam 28,13) und Unterweltsgöttern bewohnt und von Mot beherrscht. Ahnenkult und Ahnenverehrung spielen eine große Rolle, ein Ausschließlichkeitsanspruch JHWHs hingegen ganz und gar nicht. Dieses unproblematische Nebeneinander von JHWH und Unterweltsmächten währt indes nicht lange: In der zweiten Phase werden exklusivistische Faktoren wirksam, die auf die Forderung nach der Alleinverehrung JHWHs durch eine religiöse Minderheit zurückgehen und erstmals greifbar werden in der Kultreform Hiskijas um 700 (Ex 22,17.28), um sich mit Joschija (623 v.Chr.) noch zu verschärfen (Dtn 18,11 und II Reg 23,24). Ahnenkult und Totenbeschwörung werden von einer religiösen Minderheit, der „Jerusalemer ,Orthodoxie'", 63 verboten, wobei sich dessenungeachtet die Praxis des Ahnenkultes während der gesamten Königszeit hält.64 Mit diesem Verbot versinken die Toten in einem Zustand der Trost- und Bedeutungslosigkeit, denn ,,[d]ie Jahweallein-Idee [...] raubt den Toten ihre Götter. [...] Um die Toten kümmern sich weder der Gott Israels noch die Götter der Unterwelt",65 da JHWH und die Toten nach wie vor voneinander getrennt bleiben und die Unterweltsgötter aus der offiziellen Theologie verbannt sind. Erst mit weiteren Entwicklungen werden diese trüben Aussichten gedanklich überwunden: unter dem Einfluss des Zoroastrismus mit apokalyptischen Hoffnungen auf ,ein diesseitiges Leben nach dem Tod' (Phase 3), mit den Vorstellungen von einer Aufnahme der Seelengeister der Gerechten in den Himmel (nicht die Scheol [!]; Phase 4) und den unterschiedlichen Auffassungen der
61
Ähnlich auch: LANG / MCDANNELL, Himmel, 17-43; vgl. LANG, Afterlife, 12-23; DERS. Life, 144-156. 62 LANG, Art. Leben nach dem Tod, 599. 63 AaO 600. 64 Ähnlich vermutet NIEHR, Aspekte, 3f., eine Ahnenkultpraxis trotz der Verbote „bis weit in die nachexilische Zeit". 65 LANG / MCDANNELL, Himmel, 27; vgl. LANG, Auferstehung, 3f.
18
Einleitung
Pharisäer, Sadduzäer, der Weisheit, Philos und der Essener zum Leben nach dem Tod (Phase 5). Lang beschreibt wie Maag eine Form der Kompetenzausweitung (in den Phasen 3-5), die sich auf JHWHs Fürsorge für die Toten bezieht, nicht hingegen auf den räumlichen Bereich der Unterwelt. JHWHs Fürsorge geht wie bei Maag an der Unterwelt vorbei; der Abstand zwischen ihm und der Scheol wird eher noch vergrößert.66 Anders als bei Maag jedoch ist hier die Scheol kein ,kanaanäisches Element', sondern wird anfangs auch in Israel als von JHWH-fremden Größen beherrschter Raum verstanden, der erst nachträglich seiner Mächte entleert und damit gewissermaßen zu einem ,theologischen Vakuum' erklärt wird. Diese ,Evakuierung' der Scheol wird von Lang explizit mit der Entstehung des Monotheismus in Verbindung gebracht, indem sie auf eine JHWH-allein-Bewegung und die klassischen Kultreformen zurückgeführt wird. Dass ein Wegfall bestimmter Kompetenzen (der Unterweltsgottheiten) ohne eine Kompetenzverschiebung sich nicht wirklich hätte durchsetzen können, wird berücksichtigt durch Längs Überlegung, dass auf dem Lande die Ahnenkultpraxis fortbestand, während innerhalb der eigentlichen Trägerkreise der theologischen Reform die Vorstellung von einer absoluten Gottesferne der Toten nicht von langer Dauer war und schließlich anderen Vorstellungen wich. Wie jedoch in der Zwischenzeit der Umgang mit den Toten innerhalb dieser Minderheit ausgesehen haben könnte, lässt Lang offen. Ebenso haben Aussagen über JHWHs Reichweite in die Scheol hinein wie Am 9,2 und Ps 139,8 in der von Lang beschriebenen Entwicklung keinen Platz und werden folgerichtig (im Sinne seiner thematischen Zielsetzung) auch nicht erwähnt. Wie aber ist der Entwicklung die in diesen Texten vorausgesetzte Machtausweitung JHWHs auf die Scheol zuzuordnen? Spiegeln Am 9,2 und Ps 139 etc. die Vorstellungen einer von der „Jerusalemer Orthodoxie" verschiedenen Gruppierung wieder? Oder handelt es sich bei diesen Texten um eine kosmologische gegenüber einer ,soteriologischen' Kompetenzausweitung?67 Ist die darin anklingende Ausweitung von JHWHs Machtbereich auf die Scheol unabhängig von seiner Fürsorge für die Toten, so wie es auch das Modell von Gollinger nahe legt, das von separaten Entwicklungen in eine ähnliche Richtung ausgeht? Oder sind JHWHs
66
Zu den (hauptsächlich außer- und nachalttestamentlichen) Jenseitsvorstellungen,
die ohne Unterweltsvorstellungen auskommen (Phasen 3 - 5 ) , s. LANG, Verwandlung; DERS., Himmel. 67
Zum Gebrauch des Begriffes „soteriologisch" in dieser Arbeit s. den Beginn des
zweiten Hauptteils.
II.
Forschungsüberblick
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Fürsorge für die Toten und die Rede von seiner ,Hand an der Scheol' doch stärker miteinander in Verbindung zu bringen? Letzteres legt das folgende Modell nahe. 4. JHWH übernimmt chthonische Kompetenzen anderer Gottheiten oder Mächte Das vierte Modell, das hier vorgestellt wird, ist die These von JHWHs Kompetenzausweitung auf die Unterwelt in ihrer jüngeren Gestalt, auch wenn in den einzelnen Untersuchungen der Begriff der Kompetenzausweitung nicht unbedingt gebraucht wird.68 Mit der Annahme, dass JHWH Macht über die Unterwelt gewinne, die er vorher nicht besessen habe, ähnelt dieses vierte Modell dem zweiten, das als ,ältere' Kompetenzausweitungsthese aufgefasst werden mag (insofern es vornehmlich durch frühere Arbeiten repräsentiert wird). Das jüngere' unterscheidet sich vom ,älteren' Modell darin, dass es für die Anfangsperiode nicht von einem theologischen Vakuum' in der Scheol ausgeht, sondern von einem Machtbereich, der auch nach israelitischen (nicht allein ,kanaanäischen') Vorstellungen anderweitig besetzt ist. Mit dieser Annahme wiederum ergeben sich insbesondere Übereinstimmungen zu den Überlegungen Crüsemanns (JHWH übernimmt seine Unterweltskompetenzen von Mot) und Längs (die Unterwelt ist bis zu ihrer ,Evakuierung' von vergöttlichten Toten und Unterweltsgöttern bewohnt und von Mot beherrscht). Wie sehr das vierte, jüngere' Modell dem zweiten, ,älteren' verwandt ist, zeigen die Überlegungen von Walter Dietrich aus den Jahren 1999 und 2000, in denen er eine zeitlich nicht näher bestimmte Entwicklung skizziert, die sich im wesentlichen nur in der Frage des Machtvakuums von der von Gollinger beschriebenen unterscheidet.69 Dietrich nämlich geht für die frühen Scheolvorstellungen davon aus, dass die Unterwelt zunächst jenseits der Grenzen von JHWHs Macht lag und ihm daher nicht zugänglich war (Ps 30,10 und Ps 88,6.11). Da aber der Tod für Israel „eine gewaltige Macht" darstellte, suchte man „Zugänge zu diesem Bereich auf andere Weise, an Jhwh vorbei, zu eröffnen" 70 - beispielsweise durch Nekromantie, religiöse Verehrung von Terafim, Kult-
68
Ansatzweise vertritt die These auch W.H. SCHMIDT, Glaube, 417ff.; bes. 422. DIETRICH, Grenzen; vgl. zum folgenden auch DERS. / LINK, Die dunklen Seiten, 160-167, bes. 164ff.; DERS. / VOLLENWEIDER, Art. Tod II, bes. 585f.590. 69
70
DIETRICH, G r e n z e n , 4 6 .
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Einleitung
mähler mit den Toten und Totenopfer.71 In späterer Zeit wurden JHWH und die Unterwelt einander angenähert, und zwar durch einen ,Umdenkungsprozess', der vor allem von zwei Faktoren begünstigt wurde: zum einen von dem Gedanken, dass dem Tod seine Macht über den Menschen von JHWH zugemessen wird,72 zum anderen von der Vorstellung, dass JHWH einzelne Menschen wie Henoch und Elija endgültig dem Tod entziehen kann. Die Entrückungsvorstellung habe sich schließlich zur persönlichen Hoffnung auf eine solche „Auslösung" ausgeweitet (Ps 16; 49 und 73).73 An anderer Stelle weist Dietrich auf zwei weitere Faktoren hin: auf die Vorstellung von der Weiterexistenz der Toten in der Scheol und auf den Glauben an die grenzenlose Liebe und Gerechtigkeit Gottes als Voraussetzung für die Rettung aus dem Tod, wie sie in den individuellen Klagepsalmen thematisiert wird und einen ersten Kulminationspunkt in Ez 37 findet.74 Ergebnis dieser mit dem Verbot der alten Praktiken einhergehenden Entwicklung war schließlich ein Auferstehungsglaube, wie er sich nicht erst in den zwischentestamentarischen und den neutestamentlichen Schriften, sondern bereits in der alttestamentlichen Apokalyptik (Jes 25f. und Dan 12) artikulierte, ohne dass aber dort „die alten Anschauungen von der Gottesferne und Endgültigkeit des Todes" aufgegeben worden wären. Die Übereinstimmungen mit Gollingers (noch stärker differenzierten) Position sind unschwer zu erkennen: Sie liegen nicht allein in der Annahme einer mehrschichtigen Entwicklung des Todesverständnisses, die mit der Gottesferne der Scheol beginnt und in spätere Auferstehungsvorstellungen mündet, sondern finden sich auch im Blick auf die jeweiligen Faktoren.75 71
AaO 46f.
72
V g l . PERLITT, T o d , 2 1 7 .
73
DIETRICH, Grenzen, 48. DIETRICH, Leben, 94f. 75 Ähnliches gilt für den Entwurf von BIEBERSTEIN, Weg, 14-16, (ähnlich DERS., Leben, 9f.), der, auf Gollingers Studie zurückgreifend, eine Entwicklung in drei Phasen rekonstruiert: 1. Eine hauptsächlich vorexilische, aber auch in nachexilische Zeit hineinreichende Phase der Totenverehrung im Bereich der familiären Religion. JHWH als Gott der Lebenden hat mit den Toten nichts zu tun (DERS., Leben, 9). 2. Eine schwerpunktmäßig nachexilische Phase der Verdrängung der Totenverehrung unter monolatrischem Einfluss. 3. Eine nachexilische Phase der Integration der Toten in die JHWH-Verehrung und eine Ausweitung der Zuständigkeit JHWHs auch auf die Unterwelt. Bieberstein benennt als Faktoren dieser Entwicklung den „Trend zur Universalisierung" für den kosmologischen Machtbereich JHWHs und die ungelöste Frage nach der individuellen Vergeltung. Anknüpfungspunkte für den Prozess waren die Vorstellung eines von JHWH 74
II.
Forschungsüberblick
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Eine direkte ,Auseinandersetzung' JHWHs mit ihm fremden Unterweltsgrößen vertritt Dietrich zwar nicht ausdrücklich, die These ist jedoch implizit enthalten in seiner Annahme einer Verdrängung der mantischen und magischen Zugänge zur ,gewaltigen Macht' der Scheol, die mit JHWHs wachsender Fürsorge für die Toten einherging. In dieser Hinsicht deutlicher wird Thomas Podella, der explizit eine Übertragung von Unterweltsfunktionen anderer Götter auf JHWH nennt. Sein Aufsatz „Grundzüge alttestamentlicher Jenseitsvorstellungen" von 1988 nimmt nicht nur zeitlich, sondern auch inhaltlich eine Mittelposition zwischen denen von Maag und Lang ein und lässt sich als einer der ersten Belege für die jüngere Kompetenzausweitungsthese sehen. Wie Lang beobachtet auch Podella eine „Depotenzierung der Unterwelt", die in exklusivistischen Tendenzen begründet ist, betrachtet diese aber stärker im Licht der Gegenüberstellung von israelitisch-nomadischen Vorstellungen und kanaanäischer Kulturlandreligion (vgl. Maag).76 Entsprechend macht er drei Faktoren der Depotenzierung aus: Das ist erstens die Entwicklung des Monotheismus, zweitens die Notwendigkeit einer Ablehnung oder „Interpretatio israelitica" der konkurrierenden ugaritischen Baalverehrung, und drittens das personale Gotteskonzept Israels, welches ein göttliches Geschichtshandeln und das Konzept des Bundes (mit ausschließlicher Bindung) umfasst. 77 Anders als bei Maag und Lang, dagegen ebenso wie später bei Crüsemann geht bei Podella die Depotenzierung der Scheol einher mit einer unmittelbaren Übertragung chthonischer Funktionen auf JHWH,78 ohne dass gewährten ewigen Gedenkens an die Verschnittenen (Jes 56,5), die Vorstellung einer über den Tod hinaus bestehenden Gottesgemeinschaft (Ps 73), das in den Psalmen begegnende Motiv der Rettung aus Todesnot und die Aussagen zur Restitution des Volkes (Hos 6; Ez 37; Jes 26; Dan 12; II Makk 7). 76 „Rein hypothetisch sei die Frage gestellt, ob nicht die Konsolidierung der nomadischen Einwanderer zu einem Volk gleichzeitig eine Reduktion der Außenbeziehungen unumgänglich macht, um selbst identifizierbar zu bleiben?", fragt PODELLA, Grundzüge, 7 2 f . S. a u c h DERS. a a O 8 9 . 77
PODELLA, Grundzüge, 72. AaO 72f. Eine ähnliche Überlegung findet sich bei HERRMANN, Triumph, und DERS., Theologie, 100-102. Herrmann nimmt an, dass auch Israel analog zur Totengottverehrung in Ugarit eine Totengottheit namens Mot kannte, und verweist u.a. auf I S a m 5 , l l . Nach Herrmann setzt ab dem 9. bzw. 8.Jh. v.Chr. eine Ausweitung von JHWHs Kompetenzbereich auf die Unterwelt ein, die als ein neues Element in der Prophetie auftaucht, insonderheit bei Arnos und Hosea. Hier übernimmt JHWH sukzessive Funktionen und Eigenschaften Baals, darunter auch dessen Kampf mit dem Totengott 78
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Einleitung
dieser allerdings zum Herrscher der Unterwelt, zum Herrn der Toten oder zum in der Scheol lokalisierbaren Gott avancierte.79 Denn wo tatsächlich von der Rettung aus dem Tod durch JHWH die Rede ist, gehe es nicht um die Ausübung einer Unterweltsherrschaft, sondern um „die Überwindung eines als Tod begriffenen Verlustes sozialer und kultischer Bezüge des Einzelnen."80 Dieser ,als Tod begriffene Verlust' bildet den diesseitigen Bereich der Unterwelt - im Unterschied zum jenseitigen, der für den Menschen erst mit dem physischen Tod erreicht wird. Die so gefasste Unterscheidung zweier Unterweltsbereiche,81 ebenjene Unterscheidung, die Crüsemann vehement ablehnt, ist charakteristisch für Podellas Konzept: JHWHs neugewonnener Handlungsbereich umfasst lediglich den diesseitigen Bereich der Scheol, während eine Herrschaft über den jenseitigen Bereich gewissermaßen nicht existiert (wodurch man sich an die These vom theologischen Vakuum' erinnert fühlt):82 „Allem Anschein nach hat es nach dem kanonischen Textzeugnis eine personalisiert gedachte, eigenmächtige Unterwelt nicht gegeben. [...] Wenn die Unterwelt thematisiert wird, so nur in ihrer diesseitigen Erstreckung unter gleichzeitiger Betonung, dass sie Jahwes Präsenz- und Zugriffsmöglichkeiten nicht entzogen ist."
Zugespitzt formuliert, laufen Podellas Überlegungen auf eine partielle Kompetenzausweitung JHWHs hinaus: auf die Übertragung von Unterweltskompetenzen auf JHWH, beschränkt auf den diesseitigen Bereich der Scheol und die gebenden Toten'.
Mot. Analog zu Baal besiegt JHWH Mot und erhält schließlich die Rechte des Totengottes (endgültig dann in der Eschatologie). Die These ist allerdings aus mehreren Gründen problematisch: 1. Analogien zwischen Ugarit und Israel sind aufgrund des zeitlichen und räumlichen Abstandes sorgfältig zu prüfen - insbesondere in diesem Fall, da ein mythologischer Hintergrund des Konflikts zwischen Gott und Tod im Alten Testament kaum sichtbar wird (vgl. M.S. SMITH, Origins, 130). 2. Alle Belege dafür, dass JHWH mit der Totenwelt nichts zu tun habe, müssten vor dem 9./8.Jh. entstanden sein, was insbesondere für die Psalmen und die Jesajatexte undenkbar ist. 3. Wenn JHWH tatsächlich analog zu Baal mit Mot gekämpft haben sollte, so hätte er auch - ebenfalls analog zu Baal - sterben müssen (HERRMANN, Implikationen, 115, umgeht dieses Problem, indem er eine „Transformation" dieses Elements annimmt). Zudem handelt es sich um einen zyklisch wiederholten Kampf, der folglich nicht mit einem einmaligen und endgültigen Sieg enden kann. 79 PODELLA, Grundzüge, 73.77f.; vgl. auch die ähnlichen Überlegungen bei ZENGER, Israel, 145. 80 PODELLA, Grundzüge, 77. 81 Zu dieser Unterscheidung s.u. Abschnitt A: I. im zweiten Hauptteil. 82 PODELLA, Grundzüge, 89. Hervorhebung von mir. S. dazu auch aaO 78f.
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Mit etwas anderer Akzentuierung begegnen einige dieser Überlegungen in Podellas Aufsatz „Totenrituale" von 2002 erneut. Dabei tritt die Vorstellung von einer diesseitigen Unterwelt in den Hintergrund zugunsten einer Unterscheidung zwischen Peripherie und Zentrum, in deren Rahmen die Unterwelt die „Negativfolie" zum Jerusalemer Tempel bildet.83 Die Entwicklung wird nun folgendermaßen beschrieben: Zunächst hatte JHWH als ursprünglicher Berg- und Wettergott im Rahmen der offiziellen Theologie mit der Unterwelt nichts zu tun; der Umgang mit den Toten war der Privatreligion vorbehalten. Elemente der offiziellen JHWH-Verehrung wurden zwar durchaus in den privaten Umgang mit den Toten eingetragen, nicht jedoch umgekehrt.84 Mit Am 9,1-4 taucht im 8.Jh. v.Chr. der Gedanke auf, JHWHs Reichweite erstrecke sich auf alle Bereiche des Kosmos, einschließlich der Unterwelt,85 die als äußerste Peripherie im Gegensatz zum räumlichen bzw. kultischen Zentrum wahrgenommen wird. Im 7.Jh. v.Chr. beginnt der nur begrenzt erfolgreiche Versuch der offiziellen Theologie deuteronomisch-deuteronomistischer Prägung, Tod und Jenseitsvorstellungen aus der Familienreligion zu verdrängen, während zugleich die Familien im Rahmen desselben dtn-dtr Programms zum zentralen Träger der nationalen Erinnerung, des .kollektiven Gedächtnisses' werden.86 Diese Annäherung von familiärer und offizieller Religion87 wiederum bildet die Voraussetzung dafür, dass „ab dem 3Jh. v.Chr. die individuelle Todes- und Jenseitsproblematik nun auch explizit auf der Textebene greifbar wird" - so beispielsweise in Ps 16,10; 49,16; 73,24; Ez 37,1-14 und in der Jesaja-Apokalypse. Ein Faktor für diese letzte Entwicklung war die Exilserfahrung, durch die sich die Frage nach der Reichweite von JHWHs Macht, die mit der religiösen Topographie von Peripherie und Zentrum aufgeworfen worden war, verschärft stellte.88 So bereitete die nachexilische Zionstheologie mit dem Gedanken der durch die Tora konstituierten Nähe JHWHs zu Israel auf dem (zentralen) Zion den Weg für die Vorstellung einer den Tod überdauernden Gottesnähe, die
83
Zu diesseitigen' Aspekten der Scheol s. indes PODELLA, Totenrituale, 546-550. PODELLA, Totenrituale, 556f. verweist hier auf die Inschriften von Hirbet el-Köm und Hirbet Bet-Layy. S. auch aaO 551 f. 85 AaO 551 f. 86 AaO 541.544f.557. 87 „Annäherung der Religionsschichten": AaO 557. 88 AaO 552-555.558f. 84
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Einleitung
sich am Tora-Gehorsam entscheidet. 89 Zunehmend wird der Tod als Übergangsstadium zu einer neuen Existenzform begriffen. 90 Die Unterscheidung zwischen ,kanonischer Theologie' und Privatreligion spielt für die Frage der Kompetenzausweitung auch andernorts eine wichtige Rolle. So verortet Herbert Niehr in seinem Aufsatz „Aspekte des Totengedenkens im Juda der Königszeit" von 1998 ähnlich wie Lang und später Podella Totenkult und Totenpflege vor allem im Bereich der familiären Frömmigkeit. 91 Und auch für ihn geht die maßgebliche Veränderung vom königszeitlichen Jerusalem aus, wobei sich ihm zufolge die Verehrung von Ahnenbildern „bis weit in die nachexilische Zeit" erstreckt. 92 Im Unterschied zu Lang aber und vergleichbar mit Podella, verbindet Niehr die Depotenzierung der Unterwelt nicht mit einer abnehmenden, sondern mit einer wachsenden Verbindung zwischen JHWH und den Toten auch in der Unterwelt (nicht nur an ihr vorbei) - und zwar zunächst auf der Ebene des königlichen Totenkultes, da seines Erachtens „die JHWHVerehrung in Jerusalem in den Bereich des Königtums gehörte." 93 Diese Verbindung schlug sich auch in einer räumlichen Nähe der königlichen Gräber zum JHWH-Tempel nieder. In Korrelation zu einer wachsenden JHWH-Verehrung unter den Königstreuen, also Beamten und loyalen Familien, spielte in diesen Kreisen auch die Vorstellung einer Verbindung zwischen JHWH und den Toten zunehmend eine Rolle, 94 wofür nach Niehr auch die Grabinschrift 3 von Hirbet el-Köm und die als Grabbeigaben verwendeten Silberamulette von Ketef Hinnom sprechen. Unterweltsgötter wie Molek und Mot werden nun langsam von JHWH zurückgedrängt, indem er „Verfügungsgewalt über die Unterwelt und ihre Bewohner" erlangte, 95 ohne jedoch selbst zum Herrscher der Unterwelt oder in ihr angesiedelt zu werden 96 - auch darin stimmt Niehr mit Podella überein. So
89 90
AaO 558f. AaO 560.
91
NIEHR, A s p e k t e , 3.
92
AaO 3 f.
93
A a O 10f.; vgl. NIEHR, H i m m e l . . . , 6 7 .
94
NIEHR, A s p e k t e , 11.
95
NIEHR, A s p e k t e , 11 m. A n m . 5 7 , w o er A m 9 , 2 ; H o s 1 3 , 1 4 ; H i 1 l , 7 f . ; P s 1 3 9 , 8 als
Belege angibt. 96 NIEHR, Aspekte, 11. Zu der Möglichkeit einer Identifikation von JHWH und Molek vgl. in der älteren Forschung BUBER, Königtum Gottes; IRSIGLER, Gottesgericht; in
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gehörten mit der Zeit nicht nur die verstorbenen Könige in die Nähe des JHWH-Tempels, sondern „[...] auch für die anderen Toten gilt, daß JHWH-Tempel und Wohnort der Toten nicht einfach beziehungslos nebeneinanderstanden. Es ist vielmehr das Mythologem von der Lage der Unterwelt am Göttersitz zur berücksichtigen, welches sich auch für Jerusalem nachweisen läßt. Dazu gehört, daß der Zion als Göttersitz konzipiert ist und das Hinnomtal, westlich von Jerusalem, in dem während der Königszeit Opfer für den Unterweltsgott Molek dargebracht worden waren, als Haftpunkt für die Unterwelt bestimmt wurde." 97
Hauptsächlich in nachexilischer Zeit fand nach Niehr ein weiterer Wandel statt, der, durch das Aufkommen des Monotheismus und machtpolitische Interessen der Führungsschicht motiviert, in einer Marginalisierung der Toten und ihrer Stellung im Leben der Familie und der Ortsgemeinschaft bestand.98 Während für Lang die zahlreichen Verbote (z.B. der Totenspeisung, der Kultmähler, der Nekromantie) die vorexilische Triebkraft der von ihm postulierten Depotenzierung der Scheol darstellen, sind sie nach Niehr Bestandteil einer nachexilischen Entwicklung, die, wenn man seinen Gedanken weiterspinnt, wohl deswegen nicht in ein theologisches Vakuum' mündete, weil sie JHWHs Fürsorge für die Toten zeitlich bereits voraussetzte. Die Silberamulette von Ketef Hinnom haben in der Diskussion das Augenmerk auf eine weitere religionsgeschichtliche Entwicklung gelenkt, die neben dem Spannungsverhältnis von offizieller und Privatreligion eine wesentliche Rolle für die angenommene Kompetenzausweitung JHWHs gespielt haben könnte: die Solarisierung JHWHs. Christoph Uehlinger hatte in seinem Aufsatz zur Joschijanischen Kultreform von 1995 die Solarisierung als einen neuen Faktor für die Entwicklung in der Frage nach dem Verhältnis von JHWH und der Scheol ins Spiel gebracht mit der Überlegung, „[...] dass Jahwe dann im 6.Jh. jüngerer Zeit: DAY, Yahweh, 192. Day kommt zu dem Schluss, dass es gerade Moleks Eigenschaft als Unterweltsgott sei, die eine Identifikation verbiete. 97
98
NIEHR, a a O , 11.
NIEHR, Aspekte, 12f. Zu den machtpolitischen Interessen hinter einer solchen Entwicklung vgl. auch FRIEDMAN / OVERTON, Death, 48ff. Den Autoren zufolge richteten sich priesterliche Kreise, die sie mit den Autoren der von ihnen in die Zeit Hiskijas datierten Priesterschrift identifizieren, gegen die Ahnenverehrung und bestimmte (vornehmlich im ländlichen Bereich vertretene) Vorstellungen von einer Weiterexistenz nach dem Tod, da dieser Bereich ihrem Einfluss entzogen war; vgl. BLOCH-SMITH, Burial Practices, 150f.; M.S. SMITH, Yahweh, 221f.
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sogar im Begriff zu sein scheint, die Totenwelt in seinen Kompetenzbereich zu integrieren",99 obwohl er ursprünglich keine Beziehung zu ihr hatte. Uehlinger deutet an, dass dieser Prozess Teil einer größeren Entwicklung ist, die er mit dem Begriff „Kompetenzausweitung" belegt.100 Als maßgebliche Voraussetzung dieser Ausweitung betrachtet Uehlinger die Integration solarer Aspekte in das Gotteskonzept spätestens ab dem 8.Jh. v.Chr.101 Als Beleg für den Zusammenhang von Solarisierung und JHWHs Unterweltskompetenzen nennt Uehlinger die Amulette von Ketef Hinnom, die seines Erachtens eine Erlösungshoffnung dokumentieren, die mit der Vorstellung verbunden ist, dass JHWH ,Licht zurückbringt'. Ein entsprechendes Wirken JHWHs für Verstorbene musste diesen „zwangsläufig in Konkurrenz zu herkömmlichen Gottheiten der Unterwelt (evtl. mlk?) führen." 102 Einen ähnlichen Gedanken notiert 2001 Angelika Berlejung in vergleichbar knapper Form wie Uehlinger, allerdings mit der Einschränkung, dass die Silberamulette frühestens in das 5.Jh. v.Chr. zu datieren seien.103 Uehlingers Gedanke einer Kompetenzausweitung, deren einer maßgeblicher Faktor die Solarisierung JHWHs ist, wurde unter anderem von Matthias Albani aufgegriffen, wobei dieser aufgrund der Radikalität seiner Schlussfolgerungen eher eine Außenseiterposition in der Forschimg einnimmt. Albanis Hauptthese betrifft nicht primär den Prozess der Kompetenzausweitung - in diesem Punkt schließt er sich vollständig Uehlinger an und führt dessen Überlegungen fort - , sondern besteht in der Annahme, dass es bereits in vorexilischer Zeit konkrete Auferstehungshoffnungen in Israel/ Juda gegeben habe. Für diese Annahme nennt Albani vier Gründe: 1. Das hohe Alter der auch vor- und außeralttestamentlich belegten Theodizeefrage, aus dem er den Schluss zieht, dass „die Frage nach einem Leben jenseits des Todes in der
99
UEHLINGER, Kultreform, 68. AaO 67. Der Begriff „Kompetenzausweitung" findet sich in anderem (verwandten) Zusammenhang auch schon früher, z.B. bei ZENGER, Art. Mose..., 335. 101 Ähnlich unlängst auch BERLEJUNG, Was kommt nach dem Tod?, 3f. Sie geht offenbar gleichzeitig vom Glauben an eine Unterweltsgottheit im polytheistischen vorexilischen Israel und von einer dem JHWH-Glauben eigenen Vorstellung eines ,Gottesvakuums' in der Scheol aus. 102 Ebd. 103 BERLEJUNG, Tod, 489f. Sie nimmt nicht explizit auf Uehlinger Bezug. 100
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Gemeinschaft mit JHWH auch in vorexilischer Zeit ein eminentes religiöses Anliegen gewesen sein [dürfte]." 104 2. Das „leidenschaftliche Ringen um Erlösung und Rettung von Krankheit und Tod durch JHWH" in den Individualpsalmen. 105 3. Die Solarisierung JHWHs in vorexilischer Zeit. Hier schließt sich Albani Uehlingers These an, dass JHWH im Gefolge der Solarisierung Macht über die Unterwelt gewonnen habe (unter Hinweis auf Am 9,2; Ps 22,30; 139,7ff. und Prov 15,11),106 und fuhrt diese noch weiter mit der Überlegung: „Es erscheint angesichts dessen unwahrscheinlich, daß die in Ägypten und Kanaan mit der Königstheologie verbundenen [sie] solare Auferstehungshoffnung nicht auch in der solarisierten königlichen JHWH-Religion der vorexilischen Zeit eine Rolle gespielt haben soll [,..]." 107 Seine Textauslegungen im zweiten Teil mit der starken Betonung solarer Aspekte zeigen deutlich, wie sehr Albani Uehlingers These radikalisiert. 4. Die Rezeption der königstheologischen Vorstellung von der Gottessohnschaft des Herrschers. 108 In diesem Punkt liegt eine gewisse Nähe zum Ansatz von Niehr. Albani schließt aus der alttestamentlichen Rede von der Gottessohnschaft des Herrschers in Analogie zu ägyptischen und ,kanaanäischen' Texten darauf, „daß man zumindest auch den israelitischen Königen eine ewige postmortale Existenz bei JHWH zubilligte", 109 die im Verlauf der weiteren Entwicklung demokratisiert wurde.
Da Albani neben der Solarisierung noch drei weitere Gründe für die vorexilische Existenz von Auferstehungsvorstellungen in Israel nennt, die vor allem auf Parallelisierungen mit außerisraelitischen, älteren Vorstellungen beruhen, ist anzunehmen, dass er für die Zeit vor der Solarisierung von Auferstehungsvorstellungen in Israel ausgeht, die zwar mit dem JHWHGlauben verbunden, jedoch zunächst von seinen späteren Unterweltskompetenzen in der Scheol unabhängig waren. Im Bereich des Königtums spricht Albani nicht von solaren, sondern astralen Auferstehungshoffnungen, betont aber im zweiten Teil gern solare und zugleich königstheologische Aspekte ein und desselben Textes (z.B. I Sam 2,1-10). Wie sich solare und astrale Vorstellungen zueinander verhalten, bleibt offen. Die nächste Entwicklungsstufe ist nach Albani durch eine Verdrängung der astralen königlichen Auferstehungsvorstellung und des königlichen Ahnenkultes aus der offiziellen Religion gekennzeichnet, die in die Exilszeit fällt und vor allem auf monotheistische Tendenzen zurückzuführen ist. Sie erklärt die Spärlichkeit der alttestamentlichen Belege für eine Auferste104
ALBANI, Problematik, 22-24, Zitat: 24. AaO 24f. 106 AaO 25-28. 107 AaO 25-29, Zitat: 28f. 108 AaO 29-33. 109 AaO 29. 105
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hungshoffnung.110 Trotz der Verdrängung bleibt der Kern, also die Hoffnung auf eine postmortale Weiterexistenz in der himmlischen Umgebung JHWHs, erhalten und wird demokratisiert.111 Neben einer Reihe kritikwürdiger Einzelaspekte (die zum großen Teil an anderer Stelle in dieser Arbeit noch zur Sprache kommen werden) und der gelegentlichen argumentativen Unschärfe besteht das Hauptproblem von Albanis Untersuchung in der unbekümmerten Parallelisierung diverser altorientalischer Texte bzw. Motive. Nicht nur die räumliche und zeitliche Distanz zwischen Texten und Motiven bleibt vielfach unberücksichtigt, sondern auch die Frage, inwieweit der Rekurs auf eine ,fremde' Tradition Rückschlüsse auf den theologischen Hintergrund zulässt. 112 Auch lassen die von Albani genannten alttestamentlichen Belegtexte durchaus nicht immer so deutlich die von ihm postulierten Vorstellungen erkennen - oder auch nur eine eindeutige Verhaftung „in ägyptischen und kanaanäischen Anschauungen". Das gilt beispielsweise für die von ihm für die Auferstehung des Königs angeführten Texte Ri 5,20; Ps 89,6-9; 103,20; Jes 14,13 und Dan 12,3113 wie auch für den von ihm königstheologisch interpretierten Text I Sam 2,1-10, auf den ich gleichfalls an späterer Stelle noch eingehen werde.114
110
AaO 36. AaO 30.36.53. 112 So betrachtet Albani die Notiz über Jakobs Einbalsamierung und Beweinen Gen 50,2f. als „ein deutliches Zeugnis" für die Bekanntheit ägyptischer Vorstellungen von einer postmortalen astralen Wiedergeburt (DERS., Problematik, 33-36), überschätzt dabei aber massiv den Aussagewert dieser Verse. Denn wenn der ägyptische Brauch des Einbalsamierens von Toten in Israel/Palästina bekannt war und in der Josefsnovelle seinen Niederschlag gefunden hat, bedeutet dies noch längst nicht, dass man sämtliche dahinter stehenden ägyptischen Theologoumena übernommen hatte (vgl. die Notiz von GÖRG, Art. Begräbnis, 263, zu den ägyptischen und ägyptisierenden Grabbeigaben in Ketef Hinnom) und diese in der judäischen Königsideologie wirksam wurden. Die Breite der vorexilischen Astralisierungstendenzen in Palästina und im altorientalischen Raum überhaupt (s. dazu GGG passim [Sachregister]) spricht nicht dafür, dass so vielschichtige Konzepte wie die ägyptischen Jenseitsvorstellungen (die ihrerseits keine konstante Größe bilden) lückenlos und unverändert kopiert wurden. 113 ALBANI, Problematik, 29f. ""ALBANI, Problematik, 37ff. Zu diesem Text s.u. Abschnitt B: IV. In demselben Zusammenhang nennt er auch Hos 6,1-3 (dazu s.u. Abschnitt B: III) und die Entrükkungsnotizen bzw. -berichte Gen 5 , 2 4 ; II Reg 2 , 1 - 1 8 . (ALBANI, aaO 4 4 - 4 6 ) . 111
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Deutlich zurückhaltender in seinen religionsgeschichtlichen Schlussfolgerungen ist der Ansatz Bernd Janowskis, der zugleich eine Art Kritik und Synthese der bisherigen Diskussion darstellt. Im selben Jahr wie Albani hat Janowski in seinem Aufsatz „Die Toten loben JHWH nicht" den Entwurf einer Entwicklung vorgelegt, der ebenfalls die Kompetenzausweitungsthese in ihrer jüngeren Gestalt aufgreift und weiterfuhrt.115 Sein Modell bündelt viele der bisherigen Überlegungen zum ,Machtgewinn' JHWHs in der Scheol, führt sie weiter und steht unter dem bereits von Uehlinger verwendeten, hier programmatisch vertretenen Leitbegriff der Kompetenzausweitung.116 Der damit bezeichnete Prozess vollzog sich Janowski zufolge etwa zwischen dem Ende des 8.Jh. v.Chr. bis zum Anfang des 6Jh. v.Chr.,117 setzte sich durch weitere Entwicklungsstufen fort und mündete schließlich in die erst in hellenistischer Zeit entstandene Vorstellung einer Beziehung aller Toten zu JHWH und dem Aufkommen einer Auferstehungshoffnung. 118 Auch für Janowski steht die Distanz von JHWH und Scheol am Anfang der Entwicklung, und auch er bringt diese Distanz ursächlich in Zusammenhang mit dem Umstand, dass die Scheol durch Ahnenkult, Totenpflege und Nekromantie gewissermaßen schon anderweitig besetzt war. Diese sakrale Konnotation der Unterwelt galt allerdings nur für den Bereich der privaten und familiären Frömmigkeit, während für die offizielle Theologie in der Scheol eher ein theologisches Vakuum' beziehungsweise die zerstörerische Macht des Todes als eine rätselhafte Möglichkeit' herrschten.119 JHWH galt als Gott des Lebens, von dem die Toten in der Scheol getrennt waren. Diese Trennung wurde jedoch nicht aufrecht erhalten; so wurden in den Individualpsalmen JHWH, das Sterben und der Tod unmittelbar in einen Zusammenhang gebracht, ohne dass dadurch JHWH zum Totengott geworden wäre. Diese Entwicklung wurde möglich durch zwei korrelierende Prozesse, die ,Entdivinisierung' der Scheol (die möglicherweise auch im Zusammenhang steht mit den Exklusivierungstendenzen seit der Zeit Joschijas, vgl. Lang) und die Übernahme der dadurch ,frei-
115
JANOWSKI, Die Toten, 226ff. Ausführlicher und mit mehr Nachdruck vertreten, begegnet seine These später in: DERS., Konfliktgespräche, 229ff., sowie in: D E R S . Sehnsucht (2006), 36ff. 116 JANOWSKI, Die Toten, 229. 117 AaO 229. 118 AaO 231. 119 AaO 228, in Anlehung an eine Formulierung von Zenger.
30
Einleitung
gewordenen' Kompetenzen durch JHWH (vgl. Podella).120 Unter anderem in dieser Korrelation liegt Janowskis Plädoyer für den Begriff der Kompetenzausweitung begründet. Weitere Indizien für diese Übernahme von ursprünglich JHWH-fremden Kompetenzen findet Janowski neben den Rettungsaussagen der Individualpsalmen in der Grabinschrift 3 von Hirbet el-Köm und den (solar konnotierten) Silberamuletten von Ketef Hinnom; als weitere Hinweise darauf erwägt er zudem die Erweckungserzählungen der Königebücher (I Reg 17,17-24; II Reg 4,8-37; vgl. II Reg 13,20f.), die Entrückungsaussagen (II Reg 2,1-18; vgl. Gen 5,24) sowie die späten Texte Ps 49,16 und 73,24.121 Die weiteren Entwicklungen, die Entwicklung der weisheitlichen Vorstellung von Unsterblichkeit' in der Perserzeit (Hi 19,25f. und Ps 73) und die „Überschreitung der Todesgrenze" in der Apokalyptik der hellenistischen Zeit, die Janowski zu einem späteren Zeitpunkt ausführlicher beschreibt,122 geschehen bereits im Gefolge der eigentlichen Kompetenzausweitung und betreffen primär das Verhältnis JHWHs zum Menschen, weniger das Verhältnis JHWHs zur Scheol. Auch Janowski geht von einer Entwicklung aus, für die mehrere Faktoren maßgeblich waren, und zwar in erster Linie „die Entwicklung zum Monotheismus, die Krise des Tun-Ergehen-Zusammenhangs und die wachsende Bedeutung der Klage- und Danklieder des einzelnen mit ihrer neuen Sprache vom Tod/Todesgeschick (,Todesmetaphorik')." 123 Einen Janowskis Position verwandten, in seiner Grundstruktur allerdings stärker an Lang orientierten Ansatz hat 2004 Kathrin Liess in ihrer Dissertation „Der Weg des Lebens" vertreten.124 Sie behält das Stufenschema von Lang bei, relativiert es jedoch, indem sie daraufhinweist, dass sich die Vorstellungen von der Scheol als Bereich eigener Sakralität nicht einfach verdrängen ließen, während es umgekehrt auch keine vollständige Trennung von JHWH und Scheol gab. Dafür weist auch sie auf die Grab120 Einen vergleichbaren Dreischritt von erstens: Distanz zwischen JHWH und Scheol, zweitens: Depotenzierung der Unterwelt durch Verdrängung und drittens: ,Annäherung' von JHWH und den Toten, postuliert Bieberstein in seinem neueren Entwurf von 2003 (BIEBERSTEIN, Leben, bes. 9). Im Unterschied zu Janowski betrachtet Bieberstein die Rettungsaussagen der Individualpsalmen aber nicht als Indiz, sondern lediglich als Ansatzpunkt für JHWHs Kompetenzausweitung (Bieberstein gebraucht den Begriff nicht selbst). 121 Vgl. auch JANOWSKI, Konfliktgespräche, 342ff. 122 AaO 337ff. 123 JANOWSKI, Die Toten, 234f.; s. auch DERS., Konfliktgespräche, 339f. 124
LIESS, W e g , 2 9 4 - 3 2 2 .
II.
31
Forschungsüberblick
inschrift 3 von Hirbet el-Köm und die Silberamulette von Ketef Hinnom hin. Auch sie rekonstruiert eine im Spannungsfeld von offizieller und privater Religion zu verortende Entwicklung, die sich ab dem 8Jh. v.Chr. vollzog. Als Ansatzpunkte für die .Überwindung der Todesgrenze' nennt sie, ähnlich wie Janowski, erstens die „in den Prozeß der Kompetenzausweitung JHWHs gehörenden" alttestamentlichen Unterweltsaussagen, zweitens die alttestamentlichen Entrückungs- und Auferweckungsberichte bzw. -aussagen, drittens das spezifische Todesverständnis der Psalmen, insbesondere der Klage- und Danklieder des einzelnen (und darüber hinaus der Weisheitspsalmen 49 und 73 und des Vertrauensliedes Ps 16) und schließlich viertens die „Bildworte über die Neubelebung und -Schöpfung des Volkes Israel", Hos 6,1-3 und Ez 37,1—14.125 Diese Texte bereiteten die apokalyptische Auferstehungshoffnung vor, neben der sich zusätzlich die weisheitliche Hoffnung auf eine Unsterblichkeit der Seele ausbildete. Unter den Faktoren der Gesamtentwicklung hebt Liess ebenfalls die Entwicklung des Monotheismus und die Krise des Tun-Ergehen-Zusammenhangs hervor. Eine dem in Grundzügen verwandte Position haben 2005 auch Martin Leuenberger und mit Blick auf Ps 88 Juliane Schlegel vertreten.126 Zuletzt sei noch eingegangen auf den Aufsatz „Keine Flucht vor Gott" von 2004, in welchem Hubert Irsigler ebenfalls einen Zusammenhang zwischen Solarisierung und Kompetenzausweitung postuliert, aber im Gegensatz zu den zuvor Genannten nicht primär unter Verweis auf die Silberamulette von Ketef Hinnom und die Grabinschrift 3 von Hirbet el-Köm, sondern anhand zweier alttestamentlicher Texte: Am 9,1-4 und Ps 139. Ihm zufolge hat JHWH im 8.Jh. v.Chr. „im Kontext seiner für Arnos charakteristischen Rolle als verfolgender und strafender Richter insbesondere auch mit Hilfe bzw. in Analogie zu bekannten Sonnengottfunktionen seine Wirkmacht und seine Zugriffskompetenz explizit auf die Scheol, die Unterwelt mit ihrer Konnotation der (mythischen) Todesmacht ausgedehnt" und „zur Durchbrechung einer sonstigen ,main-stream'-Vorstellung [...] geführt: dass nämlich die Totenwelt außerhalb der Interessen- und Wirkungssphäre JHWHs liege".127 Den Ansatzpunkt dieser Entwicklung lokalisiert Irsigler bereits in der beginnenden Durchsetzung der alleinigen JHWH-Verehrung im 9Jh. v.Chr., in deren Zusammenhang JHWH in 125
LIESS, Weg, 3 1 3 - 3 1 6 .
126
LEUENBERGER, „Gnade", 353ff.; IRSIGLER, Flucht, 206f.
127
SCHLEGEL,
Psalm
8 8 , 75FF.
32
Einleitung
Konkurrenz zu Mot treten musste.128 Auf die Schwierigkeiten solcher Annahmen bin ich bereits im Zusammenhang mit der , älteren Kompetenzausweitungsthese' resp. der Idee eines theologischen Vakuums eingegangen. Auf Irsiglers Argumente hinsichtlich der fünften Amosvision und des Psalms komme ich im einzelnen in den folgenden Kapiteln zurück. Damit bin ich bei Aufbau und Methode der vorliegenden Arbeit.
III. Aufbau und Methode der Arbeit Bislang ist die jüngere' Kompetenzausweitungsthese auf relativ knappe Entwürfe oder gar Randbemerkungen in anderen Zusammenhängen beschränkt geblieben und hat noch keine eigene Überprüfung oder systematische Erfassung um ihrer selbst willen erfahren.129 Nichtsdestoweniger ist sie zum Teil bereits in einem Maße rezipiert bzw. weitergeführt worden, das nicht in allen Fällen ihrer Vorläufigkeit Rechnung trägt. So setzt Ernst-Joachim Waschke in seinem Artikel „Auferstehung" eine „kosmopolitische Erweiterung des Herrschaftsbereiches JHWHs" bereits selbstverständlich und unkommentiert als einen Faktor für die Entwicklung einer Auferstehungshoffnung voraus.130 Ein entsprechend genauerer Blick auf die jüngere' Kompetenzausweitungsthese scheint mir gerade angesichts ihrer wachsenden Attraktivität ein lohnendes Unterfangen zu sein. Dies ist das Ziel der vorliegenden Untersuchung, wobei unterwegs und am Ende - so viel sei vorweggenommen immer noch eine ganze Reihe von Fragezeichen übrig bleiben und nicht wenige neu hinzukommen werden. Andererseits mag es auch zu den Aufgaben einer Überprüfung gehören, Fragezeichen zu setzen oder zu belassen, wo größere Sicherheit (noch) nicht gewonnen werden kann. Ein Wort zur Terminologie: In der Literatur gehen Begriffe wie „Macht", „Funktionen", „Kompetenzen" durcheinander, wobei die ältere Forschung vorzugsweise von „Macht" spricht, die jüngere meist von „Kompetenzen". All diese Begriffe haben, je nach Text und Fragestellung, ihre Berechtigung, wie sich in den beiden Hauptteilen der Arbeit zeigen wird, und
128
129
IRSIGLER, F l u c h t , 2 0 7 .
Vgl. JANOWSKI, Sehnsucht (2004), 442 Anm. 56. WASCHKE, Art. Auferstehung I.2., 915. Auch in der Darstellung bei HLEKE, Sichtweisen, 21.45ff., hat die These ihren selbstverständlich anmutenden Platz. 130
III. Auflau und Methode der Arbeit
33
werden entsprechend gebraucht. Wo im folgenden von „Kompetenzausweitung" die Rede ist, geschieht dies in Anlehnung an den bereits etablierten Wortgebrauch und in Übereinstimmung mit dem landläufigen Verständnis von „Kompetenz" und beschreibt allgemein einen Zugewinn an Fähigkeiten und/oder Zuständigkeiten. Zum Vorgehen: Den maßgeblichen Ansatzpunkt für das Procedere bilden die Texte, auf die sich die jüngere Kompetenzausweitungsthese', aber auch die übrigen Modelle gründen. Fast ausnahmslos wird in den unterschiedlichen religionsgeschichtlichen Rekonstruktionen auf eine Fülle von alttestamentlichen Texten als Belege verwiesen (wobei zuweilen schon deutlich wurde, dass die Texte nicht immer tatsächlich als Belege für das taugen, wofür sie in Anspruch genommen werden). Hier muss im Hinblick auf ein Mindestmaß an exegetischer Gründlichkeit notwendigerweise eine Beschränkung erfolgen. Da die Anfange und ersten Stufen der Entwicklung am wenigsten sicher sind, im Unterschied zur Genese der späteren ,echten' Auferstehungshoffnungen, über deren späte Entstehung weitgehende Einigkeit besteht (Crüsemann und Albani ausgenommen), liegt meines Erachtens die Notwendigkeit der Überprüfung vor allem im vorapokalyptischen Bereich, so dass im folgenden die ,klassischen Auferstehungstexte' in Jes 25f. und Dan 12 ausgeklammert bleiben. Was die ersten Entwicklungsstufen betrifft, so haben sich für die meisten bisherigen Entwürfe Hos 13,14; Am 9,2 und Ps 139,8 als Kardinaltexte erwiesen, die inzwischen geradezu als klassische Hinweise auf JHWHs ,Macht' in der oder auch über die Unterwelt gelten. Ihnen sind daher in dieser Arbeit besonders ausführliche Abschnitte gewidmet, um ihren normativen Status angemessen überprüfen zu können. Da sie für die Rekonstruktion einer religionsgeschichtlichen Entwicklung jedoch nicht ausreichen, werden daneben noch andere Texte wie Dtn 32,39; I Sam 2,6; Prov 15,11 und Hos 6,1-3 Beachtung finden. Im Blick auf die letztgenannten Texte fallt auf, dass viele der für die Frage nach den alttestamentlichen Verhältnisbestimmungen von „JHWH und Scheol" relevanten Texte exegetische Problemfalle sind. In nicht wenigen Fällen besteht dabei ein unübersehbarer Kausalzusammenhang zwischen dem theologischen Potential der Texte und der Hitze der Debatte. Der Schwerpunkt dieser Arbeit liegt, wie der Untertitel deutlich macht, auf den alttestamentlichen Texten. Da aber gerade in den jüngeren Entwürfen (z.B. bei Uehlinger, Berlejung, Niehr, Janowski, Liess) inzwischen auch epigraphische Zeugnisse, namentlich die Grabinschrift 3 von Hirbet el-Köm und die Silberamulette von Ketef Hinnom, eine wachsende Rolle
34
Einleitung
spielen, soll auch auf diese an entsprechender Stelle eingegangen werden. Insgesamt ist bei der Behandlung der Texte keine Vollständigkeit angestrebt; für einen kompendienartigen Überblick über Todesvorstellungen in Israel, alttestamentliche Unterweltsterminologie etc. verweise ich insbesondere auf den 2002 erschienen Band zu Tod, Unterwelt und Leben nach dem Tod von Philip S. Johnston. 131 Mir dienten als Auswahlkriterium zum einen die Bedeutung der Texte in der gegenwärtigen Forschung und zum anderen ihre Relevanz für die Beantwortung der Frage, inwieweit sich die jüngere Kompetenzausweitungsthese als zutreffend erweist. Dabei geht es vornehmlich um das Verhältnis von JHWH und der Unterwelt und nur in zweiter Instanz um die Beziehung JHWHs zu den Toten. Daher finden beispielsweise die Entrückungsaussagen Gen 5,24 und II Reg 2,1-18 nur wenig Beachtung, weil sie den physischen Tod und die Scheol lediglich „überspringen". 132 Der Aufbau der Untersuchung ergibt sich nicht aus einer Punkt-fürPunkt-Überprüfung der Kompetenzausweitungsthese, ihrer Einzelargumente und ihrer Belegtexte, sondern orientiert sich an meinen eigenen Überlegungen zur Frage der Kompetenzausweitung JHWHs auf die Unterwelt. Insofern bildet das Inhaltsverzeichnis zugleich eine stichpunktartige Kurzform der Abschlussthese. Kern dieser These, wenngleich keineswegs ein neuer Gedanke (s.o.), ist die Existenz mehrerer, teilweise unabhängiger, teilweise interdependenter Entwicklungen auf unterschiedlichen Ebenen. Es sind dabei die verschiedenen Ebenen unter zwei Hauptaspekten zusammengefasst: der Kosmologie und der ,Soteriologie'. Dies dient haupsächlich der Übersichtlichkeit und soll keinesfalls eine Polarität der beiden Bereiche insinuieren. Im Unterschied zu dieser Einteilung der Ebenen in zwei Bereiche, die zwei Untersuchungsblöcken entspricht, durchzieht die Frage nach den Faktoren der Entwicklung die gesamte Arbeit. Von besonderer Bedeutung sind dabei die folgenden beiden: das Verhältnis von Kompetenzausweitung und Monotheismus sowie das Verhältnis von Kompetenzausweitung und Solarisierung. Ein kurzes Kapitel zu Ergebnis und Ausblick schließt die Untersuchung ab.
131
JOHNSTON, Shades. Darüber hinaus s. TROMP, Conceptions, sowie KRIEG, Todesbilder (Hauptteil); WÄCHTER, Tod. 132
UEHLINGER, T o t e n e r w e c k u n g e n , 17.
Erster Hauptteil
JHWH, Scheol und ,der Rest der Welt' - die Ebene der Kosmologie
Vorbemerkung „Eine gute Bemerkung über das sehr Bekannte ist es eigentlich, was den wahren Witz ausmacht. Eine Bemerkung über das weniger Bekannte, wenn sie auch sehr gut ist, frappiert bei weitem nicht so..." Lichtenberg, Sudelbücher, K 200
Dass die Frage des Verhältnisses von JHWH und Scheol eine Frage der Kosmologie ist, liegt insofern auf der Hand, als mit Scheol meistens ein bestimmter Bereich im oder außerhalb des Kosmos (dazu s.u.) bezeichnet ist. Das wird am deutlichsten sichtbar an zweien jener Texte, die sich als klassische Belege für JHWHs Macht über die Unterwelt etablieren konnten: die Verse Am 9,2 und Ps 139,8. Beide Verse sind gewissermaßen in eine kosmologische Gesamtschau eingebettet. Ob und inwieweit sie tatsächlich JHWHs Macht über die Scheol dokumentieren, bildet den Ausgangspunkt für diesen ersten Abschnitt des ersten Hauptteils. Anhand dieser zwei Texte werde ich meine Thesen entwickeln und mit Hilfe weiterer, weniger zentraler Texte differenzieren. Ähnliches gilt für den zweiten Hauptteil zur ,Soteriologie': Den Ausgangspunkt bildet dort der Vers Hos 13,14, der gleichfalls zu den klassischen Belegen zählt. Unabhängig von diesen drei „Klassikern" in ihrem Kontext sollen im ersten Hauptteil aber auch vier weitere Texte Beachtung finden, die für den Untersuchungszusammenhang von Belang sind und alle aus der Weisheitsliteratur stammen. Es handelt sich um Hi 14,13-17; 26,5f.; 38,17 sowie Prov 15,11. Wie sich zeigen wird, repräsentieren Am 9,1-4; Ps 139 und Hi 14,13-17 ein ähnliches Konzept von JHWH und Scheol, die übrigen drei Texte ein weiteres.
Abschnitt A
JHWHs Wirken in der JHWH-Ferne: Am 9,1-4; Ps 139 und Hi 14,13-17 I. Erweiterter Einflussbereich: Die fünfte Amosvision 1. Text und Übersetzung 'riK-nx ' i r i n n p t n natan-^a 333 -rtnpsrr ^n =•307! wfsTi o'jis «¡¡»na d»S3X> Bn,inK"! ¡nnx a i n a 03 c r 6 o i r r 6 ttrSa on1? bixöa nnrr-DK Düjsn osin o^psin iSst-dki :OTnlK Döp W3!T"n» ( m s : n ; „Deckplatte", „Gnadenthron"), beruht wohl auf einer Metathesis der letzten zwei Buchstaben oder dient als Bezugnahme auf Jerusalem (vgl. KOENEN, Bethel, 171). Die Lesart 6uoi.aaTTipi.oi> („Altar") ist auf das vorangegangene 6uoi.aoTTipi.oi> im selben Vers zurückzuführen und vermutlich ein Lesefehler oder eine Interpretation. Letzteres gilt auch für die Lesarten cardinem, oLKoöo^r^a bzw. eirl tö Kißuptov; Vgl. dazu RUDOLPH, KAT XIII/2, 241. 25 Ex 25,31ff.; 37,17ff. u.ö. Seltener bezeichnet es die Landschaft Kafitor bzw. die Kaftoriter: Gen 10,14; Dtn 2,23; Am 9,7 u.ö. 26
Vgl. auch GB, 360f.; HALAT 2, 496. Das Wort bezeichnet wohl ursprünglich etwas FruchtfÖrmiges, vgl. GB, ebd.; HOFFMANN, Versuche, 124. 27 1 Reg 7,16—20.31,41f.; II Reg 25,17; II Chr 4,12f.; Jer 52,22. 28 Noch weniger wahrscheinlich ist, dass es hier um einen der „Knäufe" an den Goldenen Leuchtern geht, zumal ein solcher Schlag eher die Leuchter umwerfen als die Schwellen zum Beben bringen würde. Dass die Wortwahl nach einem „catchword principle" erfolgte und eine Verbindung mit den Philistern in V.7 ("rtnasp ür'ntfbs) herstellen sollte (HAMMERSHAIMB, Arnos, 131; COGGINS, NCBC, 152; PAUL, Hermeneia,
I. Erweiterter Einflussbereich:
Die fünfte
Amosvision
41
Singular merkwürdig, zumal U n a s n determiniert ist. Eine kollektive Deutung überzeugt nicht. 29 Um welchen der beiden Säulenknäufe sollte es hier gehen? Mays vermutet, dass es sich um das Kapitell der zentralen, tragenden Säule handelt, 30 es ist aber die Existenz einer solchen für die zeitgenössischen Tempel bislang nicht archäologisch nachgewiesen.31 Die Alternativinterpretationen bleiben ebenfalls unsicher. 32 Man wird sich damit begnügen müssen, ein nicht näher bestimmtes Bauelement des Tempels anzunehmen. Eine bauliche Verbindung zwischen "linasri und den Schwellen kann vermutet werden, 33 ist aber nicht zwingend, da möglicherweise auch das Dröhnen des Schlages die Schwellen zum Beben bringen kann, so wie es die Stimmen der Seraphim in Jes 6,4 tun. 34 Als Übersetzung dient in dieser Arbeit behelfsmäßig „Knauf*. laa 3 0 Während der Wortlaut von V.laa 1 " 2 beibehalten werden kann, 35 scheint mir beim zweiten Imperativ die Konjektur tijna ü??S3S „ich werde sie in einem Erdbeben töten" unvermeidbar. 36 Die erste Schwierigkeit des masoretischen Textes ergibt sich aus der Bedeutung der Phrase. Die Kombination von asa und tixna ist sonst im Alten Testament unbekannt. DS331 kann als Substantiv (DBS31) vokalisiert werden, 37 wobei dann an eine Wendung wie „ihre Gewinnsucht komme über sie" 38 zu denken wäre. Dazu würde man allerdings bei Bio2 wohl ein Suffix der dritten Person Plural erwarten statt eines nachfolgenden und zudem deutet die Satzstruktur eher auf eine finite Verbform. Im Anschluss an LXX wird gelegentlich „zerbrechen" übersetzt und als Objekt des Zer-
276), ist wohl zu bezweifeln. Die Überlegung von ZALCMAN, Philistines, 481-486, Am 9,1-4 sei zunächst ein Orakel gegen die Philister gewesen, vermag nicht zu überzeugen. Er übersetzt V.lact 2 : „Smite Crete and let the Sippites quake" (aaO 484). 29 Eine solche vertreten HARPER, ICC, 188; HAMMERSHAIMB, Arnos, 131. 30 MAYS, OTL, 153; vgl. PAUL, Hermeneia, 274f. Ähnlich auch HARPER, ICC, 188. 31 JEREMIAS, Heiligtum, 250; DERS., „Zwei Jahre...", 188. RUDOLPH, KAT XIII/2, 241, vermutet einen .distributiven' Plural, der sich auf mehrere tragende Säulen bezieht; vgl. VAN DER WOUDE, Arnos - Obadja - Jona, 101, der als Bezugsobjekt die Kapitelle von Säulen vermutet, die (wie Jachin und Boaz in Jerusalem) den Eingang flankieren. 32 So z.B. die Vermutung von GESE, Komposition, 103 Anm. 26, es handle sich um eine Bezeichnung für „die Spitze des Tempels, sozusagen [...] das Akroterion, den obersten Teil der Tempelfassade". 33
MATHIAS, B e o b a c h t u n g e n , 1 6 8 .
34
V g l . SCHART, E n t s t e h u n g , 121 f. m . A n m . 6 3 .
35
Vgl. unten S. 43ff. So erstmals VOLZ, Rez. Elhorst, 291 Anm. 1; ferner REVENTLOW, Amt, 48 u.a.; Wenig wahrscheinlich ist hingegen die Konjektur von SZABÖ, Problems, 507f. mit der Übersetzung „their wealth ended in poverty". Einen Überblick über die älteren Konjekturen bietet HARPER, ICC, 187. Den masoretischen Text behält beispielsweise BERGLER, Visionen, 450f. bei, ebenso WEIMAR, Schluß, 65, der aber laa 3 .ß (bei ihm: lay) literarkritisch ausscheidet. Auch RIEDE, Erbarmen, 165-167.209-232, plädierte kürzlich für die Beibehaltung von MT. 37 Entsprechend die Vulgata: avaritia. 38 Vgl. analog Jos 2,19; Ri 9,57; I Sam 25,39; I Reg 2,37.44; 8,32 // II Chr 5,23; Ps 7,17; Ez 9,10; 11,21; 16,43; 17,19; 22,31; 33,4; Joel 4,4.7; Ob 1,15. 36
42
Abschnitt A: JHWHs Wirken in der
JHWH-Ferne
brechens entweder ,die Köpfe aller' 39 oder nnasri 4 0 oder aber trapn vermutet. 41 Bei den letzten beiden Deutungen wird jedoch das Suffix oirnnio in seinem Bezug problematisch. 42 Die von der ursprünglichen Bedeutung von »ä3 „(einen Faden) abschneiden" 43 ausgehende Übersetzung „den Kopf abschneiden" wird hier ebenfalls nicht zutreffen: 44 Erstens wäre die Präposition 3 deplaziert und das Suffix von 0US31 schwer zu erklären. 45 Zweitens ergäbe das nachfolgende 31HK 3"tn3 QlT"]nKl wenig Sinn, weil nämlich dann sowohl die erste als auch die zweite Handlung ein Töten mit Messer oder Schwert darstellten. Dass es sich bei 9,laa 3 und 9,laß um einen synonymen Parallelismus handelt, 46 ist aufgrund der Bedeutung von Dirnnxi auszuschließen. Was also dann? Für BS3 mit personalem Objekt ist die Bedeutung „töten" (i.S.v. „den Lebensfaden abschneiden") belegt, und zwar im Qal wie im Piel, vgl. Hi 6,9; 27,8 und Jes 38,12. 47 Für 0K13 bleiben dann drei Möglichkeiten übrig, von denen die ersten beiden jedoch ausscheiden: a) Der Vorschlag, analog zur Gegenüberstellung von I r i n « und rPOiO in Dtn 11,12; Jes 46,10; Hi 8,7; 42,12 und Koh 7,8 BfKla als Führungsschicht und DnnnKi als den Rest der Bevölkerung zu verstehen, 48 überzeugt nicht, da bei Arnos TFIN statt ITBN"] steht. Überdies lässt die Struktur von Am 9,laß analog zu 3"ina für EKna eher das Werkzeug des Tötens erwarten.
39
DEISSLER, G o t t , 2 4 .
40
HAMMERSHAIMB, Arnos, 131. WASCHKE, Vision, 441. HARPER, ICC, 188, vermutet als Objekt etwas allgemeiner .Teile des Tempels'. 41
42
V g l . PAUL, H e r m e n e i a , 2 7 6 ; IRSIGLER, F l u c h t , 1 9 1 . S. d a g e g e n BARTCZEK, P r o -
phetie, 80. 43 Vgl. NOWACK, Propheten, 156. CATHCART, RÖ'S, 393f., vermutet eine Verbindung von SIS3 und arabisch bada 'a, „schneiden" und Altsüdarabisch bd\ „schneiden", „tödlich in der Schlacht verwunden", „mit dem Schwert erschlagen"; vgl. dazu auch W. W. MÜLLER, Beiträge, 307. Cathcart kommt zu der Übersetzung „slay" („erschlagen"), wobei das Bedeutungsspektrum über das Töten mit dem Schwert hinausgeht. Er verweist auf dieselbe oder ähnliche Bedeutung von JJÄ3 auch in Joel 2,8 und Hiob 27,8. Die passivische Bedeutung, die er hier voraussetzt: „They attack through the midst of the missiles, they are not slain" ist allerdings von der Verbform her nicht gerechtfertigt. 44 So die Übersetzung von REIMER, Recht, 206.207. 45 Das hat dazu geführt, dass Präposition und/oder Suffix z.T. gestrichen wurden; vgl. BHS: OKT JJS3K; sowie BARTCZEK, Prophetie, 84, der B und 3 für Reste eines nicht erhaltenen dazwischenstehenden Wortes hält. MAAG, Text 45, liest TFJNA J)S3«. Die obigen Einwände gelten auch für die von MATHIAS, Beobachtungen, 173f. vorgeschlagene Deutung, tftn beziehe sich auf JHWH, das Abschneiden bezeichne das Ende der Gottesbeziehung. 46 So FUHS, Sehen, 180f., der daraus den Schluss zieht, dass es sich in 9,laa 3 um eine Kriegshandlung handeln müsse. Er übersetzt: „ich zerschlage ihrer aller K o p f . 47
V g l . a u c h IRSIGLER, F l u c h t , 1 9 0 ; JEREMIAS, A T D 2 4 , 2 , 1 2 2 A n m . 2 ; FLEISCHER i n :
DAHMEN / FLEISCHER, N S K . A T 2 3 / 2 , 2 6 0 . 48
PAUL, Hermeneia, 276 m. Anm. 27 und 28.
I. Erweiterter Einflussbereich: Die fünfte Amosvision
43
b) Dem entspricht der Vorschlag von Horst, Q^S ®tna DBS3K1 zu lesen und „Ich bringe sie alle um mit Gift" zu übersetzen.49 Wieder aufgenommen wurde diese Erwägung von Cathcart 50 mit dem Argument, die Abfolge von Gift und Schwert in Am 9,1 entspreche der Abfolge von (Gift-)Schlange und Schwert in Am 9,3f., und auch sonst sei im Alten Testament die Gottesstrafe mit Gift nicht unüblich.51 Schließlich entspreche auch das hebräische Wortfeld «Inj und OK" in Am 9,1-3 dem ugaritischen Vokabular ntk, nhs und hmt in KTU 1.100, insofern ugaritisch Ami und hebräisch nnn verwandt seien und nnn mit tfjn in Dtn 32,33 parallel stünde.52 Aber: 1. Dass und ttfra ein Wortfeld bilden, das dem entsprechenden ugaritischen Wortfeld ähnlich ist, ist erwartbar. Dass auch jftn im Sinne von Gift Teil dieses Wortfeldes sein kann, zeigen Dtn 32,33 und Hi 20,16 (• , jns"ilin). Allerdings werden in den entsprechenden Texten tfnj und Bin nie direkt aufeinander bezogen. 2. Überall im Alten Testament, wo äfsi „Gift" als Strafmittel begegnet, wird tfKT durch andere Wörter näher bestimmt: Darunter haben das G^na'DKl in Hi 20,16 und in Thr 3,5.19 metaphorischen Charakter; die Bedeutung von ENI ergibt sich erst aus dem Zusammenhang. In den übrigen Belegen, J e r 8 , 1 4 ; 9,14 und 23,15, steht i h n im Rahmen einer Status-constructus-Verbindung: ÖKT^n. In Am 9,1 ist dagegen die Bedeutung von tÖKl als „Gift" durch den Kontext nicht eindeutig bestimmt, und der Zusammenhang mit tfnj in V.3 liegt keineswegs auf der Hand - erst recht nicht, wenn man V.3 einer späteren literarischen Schicht zuweist (s.u.). 3. Giftigkeit ist keine hervorgehobene Qualität des mythischen Meerungeheuers, von dem hier die Rede ist.53 Und selbst wenn der Biss der Meerschlange in V.3 giftig sein sollte, 54 ist er doch nur eine Variante von ftinfen, eine Flucht zu vereiteln, während es in V.laa 3 um den allerersten Schlag geht. 4. Die Visionseinleitung, wie Cathcart sie rekonstruiert: JHWH stehend auf dem Altar und auf die Kapitelle schlagend,55 steht überdies in keinem sinnvollen Zusammenhang mit der Androhung eines Giftanschlags. c) Die ersten beiden Deutungsmöglichkeiten scheiden so aus. Sinnvoll ist meines Erachtens nur die Konjektur Slina, „mit/in einem Erdbeben" (vgl. Am 1,1), die bereits von zahlreichen Exegeten vertreten wird.56 Gelegentlich wird argumentiert, dass durch diese Konjektur der Wiederholung der Wurzel (¡¡in in laa 2 und laa 3 eine ähnliche Bedeutung zukomme wie dem Wortspiel yp und y g in Am 8,1 f. 57 Allerdings handelt es sich in 9,laa 2 und 9,laa 3 um die Wiederkehr derselben Wurzel, was in 8,1 f. nicht der Fall ist. Es liegt also kein Wortspiel vor, sondern das HÖST1! von vorher wird mit dem Dira 49
HORST, Visionsschilderungen, 441 m. Anm. 7; vgl. auch WOLFF, B K XIV/2, 386.
CATHCART, RÖ'S, 3 9 3 - 3 9 6 , bes. 394. Cathcart verweist hier auf Jer 8,17 (Giftschlangen); 8,14; 9,14; 23,15 (vergiftetes Wasser); Dtn 32,24. Die Abfolge von Gift und Schwert sei auch in Jer 9,14f. zu finden: 50 51
CATHCART, RÖ'S,
394f.
52
CATHCART, RÖ'S,
53
Vgl. HAMMERSHAIMB, Arnos, 132. Dies nimmt auch JEREMIAS, Heiligtum, 249, an.
54
395.
55
CATHCART, RÖ'S,
56
Zuerst VOLZ, Rez. Elhorst, 291 Anm. 1; vgl. MORGENSTERN, Amos-Studies, 116;
393.
WEISER, A T D 2 4 , 181 A n m . 2 ; MAAG, T e x t , 4 5 ; REVENTLOW, A m t , 4 8 ; RUDOLPH, K A T
XIII/2, 242 u.a. 57
S o ROTTZOLL, Studien, 9 8 ; vgl. REVENTLOW, A m t , 4 9 ; FUHS, S e h e n , 1 8 0 .
44
Abschnitt A: JHWHs Wirken in der JHWH-Ferne
erklärend aufgegriffen. Für diese Lösung spricht auch die spätere Einfügung der Doxologie 9,5f., womit wohl an ein Erdbeben angeknüpft wird, das nicht auf die Schwellen des Tempels beschränkt ist. Vermutlich handelt es sich bei nfKia um einen Schreibfehler. 58 Was das Subjekt der Handlung betrifft, so ermöglicht der Vorschlag, Piel Part. Pass. zu lesen,59 zwar die Beibehaltung des Konsonantenbestandes, ergibt aber insgesamt eine unwahrscheinliche syntaktische Konstruktion. Das Satzgefüge (insbesondere die Fortsetzung in der 1. Pers. Sing, in laß) wie auch der Inhalt lassen vermuten, dass dieser Versteil nicht den ersten Imperativ fortsetzt, sondern die Ankündigung des göttlichen Strafhandelns in der ersten Person Singular beginnt.60 Nimmt man an, dass die Verbform ursprünglich BJJS3K lautete,61 lässt sich die Entstehung der masoretischen Lesart mit einer Verwechslung der Buchstaben X und 1 im Althebräischen erklären. 3bß d Statt das zweite Gtip auszulassen62 oder hier und in V.4 mit LXX (EKEL) Qffl zu lesen,63 kann MT beibehalten werden, denn analog zur Konstruktion in V.3aß bezieht sich ]0 in V.3b.4a auf Q3Ö31 bzw. oranni, auch wenn sich im Gegensatz zur Kombination von • d a mit npb die entsprechende Zusammenstellung von ya mit "¡03 und 3~in sonst nirgends findet. 64 Oifa in V.3b.4a ist wegen seiner Signalfunktion als ursprünglich zu betrachten: Seine Repetition hebt die Ausweglosigkeit der Fluchtversuche klimaktisch hervor. 65 4aa
e
' M b kann beibehalten werden.66
f
Hier wird statt on , 3 , K (L) die häufige Lesart Dn , 2 , k zugrundegelegt.
58
Für FUHS, Sehen, 181, ist die KonjekturTFSNAeine „unerlaubte Texterleichterung, die eine bestehende Spannung überdeckt." Diese Spannung besteht für ihn zwischen dem von ihm als „Kriegshandlung" beschriebenen Inhalt von 9,laa 3 -ß und dem Beben in 9,laa 2 (aaO 180f.). Abgesehen davon, dass seine Deutung auf der noch zu diskutierenden Umstellung des "iax'1 hinter O'spn basiert, handelt es sich entgegen Fuhs' Meinung in 9,laa 3 -ß keineswegs um einen synonymen Parallelismus und damit in V.9,laa 3 ebensowenig zwingend um eine Kriegshandlung. Überdies ist die Bedeutung von 9,laa 3 MT so unsicher, dass sich aus ihr schwerlich eine .zuverlässige' Spannung zum Vorhergehenden herauslesen lässt. Und schließlich löst Fuhs selbst die von ihm postulierte Spannung auf, indem er kurzerhand den gesamten Text ab iraon als redaktionelle Hinzufügung streicht (aaO 183); vgl. auch die Diskussion dieser Theorie bei ROTTZOLL, Studien, 98. 59
JEREMIAS, A T D 2 4 , 2 , 1 2 2 A n m . 2 ; MAYS, O T L , 1 5 1 ; RUDOLPH, K A T X I I I / 2 , 2 4 2 .
60
Vgl. mit der genannten Umstellung von LÖK'I: BHK; BHS; WEISER, ATD 24, 181; VOLZ, Rez. Elhorst, 291 Anm. 1. Volz erwägt als Alternative zu 0JJ33K auch • ¡uns. 61 Auch 0CS3K oder »S?K (Piel) ist denkbar. Ohne Suffix: MAAG, Text, 45; WOLFF, BK XIV/2, 386 u.a. 62 MAAG, Text, 45. "JEREMIAS, A T D 2 4 , 2 , 1 2 2 ; REIMER, R e c h t , 2 0 9 m . A n m . 7 9 2 ; HAMMERSHAIMB,
Arnos, 133; WEISER, ATD 24, 131 Anm. 4. u.a.; vgl. WOLFF, BK XIV/2, 385f. 64 n n und ]D werden lediglich kombiniert im Sinne von „töten von" + Objekt der Person: II Sam 10,18; Est 3,13; I Chr 19,18; II Chr 21,4. 65 Vgl. WOLFF, BK XIV/2, 386; BARTCZEK, Prophetie, 87; auch RUDOLPH, KAT XIII/2, 242. 66
BARTCZEK, P r o p h e t i e , 8 7 f . ; RUDOLPH, K A T X I I I / 2 , 2 4 0 ; WOLFF, B K X I V / 2 , 3 8 5 f .
I. Erweiterter
2.
Einflussbereich:
Die fünfte
45
Amosvision
Textstruktur
Die Struktur der fünften Amosvision lässt sich folgendermaßen veranschaulichen: 1 aa Beschreibung der Vision im Ich-Bericht, Redeeinleitung laa 2 ff. Direkte Rede laa 2 Aufforderung an den Propheten laa 3 -ß JHWHs ,konkrete' Vernichtungsabsicht lb Allgemeine Feststellung: kein Entrinnen 2-4a Konkretion: 0Ö3.. .OK 2a 2b 3a 3b 4a
Scheol Himmel Karmelgipfel Meeresgrund Gefangenschaft
JHWHs Hand holt JHWH bringt hinunter JHWH sucht und holt JHWH befiehlt, Schlange beißt JHWH befiehlt, Schwert tötet
Tod vergebl.
Flucht
vergebl. bzw. Tod
Flucht
4b JHWHs allgemeine' Vernichtungsabsicht
Die Vision gliedert sich in zwei Teile: den Visionsbericht mit Redeeinleitung und die Gottesrede als Hauptteil. Beide werden von einer Inclusio, ••nx in V.l und V.4, zusammengehalten. Mit 9,1a3, d.h. mit der konjizierten Verbform in der ersten Person Singular, beginnt ein Abschnitt, in dem der Vernichtungswille Gottes zum Ausdruck kommt. V.laa 3 -b bildet dabei durch die Imperfektformen einen Zusammenhang. V.laa 3 -aß ist chiastisch aufgebaut, wobei das jeweils erste und letzte Wort (Verb in der ersten Person Singular und Akkusativobjekt) am mittleren (Dativobjekt mit a) ,gespiegelt' werden.67 (Da dies wie auch die Wiederholung der Wurzel ttfsn in laa 3 auf einer Konjektur beruht, sollte dem jedoch nicht allzu großes Gewicht beigemessen werden.) V.Iba und V.lbß bilden einen synonymen Parallelismus membrorum reinsten Wassers;68 vib und ort1? wiederholen sich;69 der Figura etymologica von V.Iba entspricht in V.lbß der Anklang von tS^B an '
v r
Die folgenden fünf Konditionalsätze in den Versen 2-4a bilden durch das sich wiederholende D'iin . . . DK einen geschlossenen Block. Sie weisen großenteils Endreime auf und stehen sämtlich im Imperfekt, wobei bei den letzten drei Sätzen der jeweilige Hauptsatz zweigliedrig ist und auf das
67
V g l . BERGLER, „ M a u e r " , 4 5 1 A n m . 2 2 ; WASCHKE, V i s i o n , 4 4 0 ; s o w i e
REIMER,
Recht, 206. 68 Vgl. auch WASCHKE, Vision, 439. 69 Nogalskis These, dass sich on1? auf "nns?n und •1Qpn zurückbeziehe, vermag inhaltlich nicht zu überzeugen: NOGALSKI, Precursors, 27.29.
46
Abschnitt A: JHWHs Wirken in der
JHWH-Ferne
Imperfekt ein Perfekt consecutivum folgt. Die ersten beiden Sätze, 2a und 2b, sind parallel gebaut und bilden wie 3ab ein Paar: bwti und crcsi als tiefste Tiefe und höchste Höhe werden einander gegenübergestellt; dem korrespondieren in umgekehrter Reihenfolge die Höhe des OKI und die Tiefe des DVt In 3aß wird zudem das npb aus 2aß wieder aufgegriffen, das ,5,SJ aus 3ba weist auf den Abschluss 4bß außerhalb der Konditionalsätze. Während diese ersten vier Konditionalsätze deutlich hyperbolischen Charakter haben, gilt dies nicht für den fünften. 70 Überhaupt fallt dieser inhaltlich scheinbar aus der Reihe heraus, da das Gehen in Gefangenschaft weder etwas mit dem kosmologischen Horizont der ersten vier Verse zu tun hat71 noch einen Ort beschreibt, der als Versteck vor JHWH oder Fluchtmöglichkeit ernsthaft in Frage käme.72 Das wird auch durch das Gegenüber von "TS? "IMI? und Orr T N ^ E S deutlich (wer sich „im Angesicht seiner Feinde" befindet, ist wohl kaum unsichtbar vor Gott). Der Zusammenhang mit den übrigen vier Konditionalsätzen wird jedoch durch das DtöO ... DK hergestellt; darüber hinaus ist V.4a syntaktisch an den vorhergehenden V.3b angeschlossen, nämlich durch die in beiden Sätzen parallele Konstruktion ...TiK niSX. Vor allem aber bildet V.4a die inhaltliche Klimax der fünf Konditionalsätze, denn während zunächst nur von Ergreifen, Herunterstoßen und Heraussuchen der Flüchtigen die Rede ist, wird spätestens mit V.4a der Tod der Verfolgten evoziert. Ob der Schlangenbiss von V.3b (Wortspiel von onan und OSttiH) auch schon als tödlich gedacht ist, geht aus dem Text nicht hervor, da lediglich von Beißen gesprochen wird.73 Insgesamt gibt der Konditionalblock die Ankündigung von JHWHs Strafhandeln ohne Möglichkeit des Entrinnens aus V.l spiegelbildlich wieder; so bildet der Abschnitt laa 3 -4aß das Schema: Tod (laa 3 -ß) - vergebliche Flucht (lb) // vergebliche Flucht (2-3a.[3b?]) - Tod (3b?/4a).74 Der Tod durch das Schwert (3"in und J~in) bezeichnet in V.lb.4b unterschiedliche Vorgänge (s.u.). Den Abschluss bildet das Verkünden von JHWHs Vernichtungsabsicht in 4b, die diesmal allgemeiner ausfallt als in V.l. Hin1? bildet dabei ein
70
M i t BERGLER, „ M a u e r " , 4 5 2 ; a n d e r s WASCHKE, V i s i o n , 4 3 9 .
71
Vgl. WOLFF, BK XIV/2, 392: Der Satz geht „aus dem Bereich des Kosmos in den Lauf der menschlichen Geschichte über". 72 Anders WASCHKE, Vision, 439. 73 Explizit vom Tod durch den Schlangenbiss sprechen PAUL, Hermeneia, 278f.; und CATHCART, RÖ'S, 74
394.
V g l . WASCHKE, V i s i o n , 4 3 9 .
I. Erweiterter
Einflussbereich:
Die fünfte
Amosvision
47
Wortspiel mit dem tiSJT aus V.l, was jedoch nicht sonderlich auffallt, da die beiden Verse auf der Endtextebene recht weit auseinander stehen. Am 9,1-4 bildet also einen Textzusammenhang, bei dem die einzelnen Abschnitte durch verschiedene kompositioneile Elemente und Stichwortbezüge miteinander verklammert sind. Hier stellt sich nun die Frage nach der literarischen Einheitlichkeit. 3. Literarische
Einheitlichkeit
Wie bereits die Textkritik gezeigt hat, sehen etliche Exegeten sich durch die inhaltlichen Eigentümlichkeiten des Textes veranlasst, ihm mit ausgeprägtem Misstrauen zu begegnen, sogar ihm einen ,nicht mehr abzustreitenden desolaten Zustand' oder Ähnliches zu attestieren.75 Diese Skepsis gegenüber dem überlieferten Textbestand setzt sich in literarkritischen und redaktionsgeschichtlichen Untersuchungen zum Text fort, wobei immerhin Am 9,1 bzw. sein rekonstruierter Grundbestand weitgehend einhellig als Grundschicht der fünften Vision betrachtet wird.76 Nur selten wird die fünfte Vision insgesamt Arnos abgesprochen.77 Der folgende Abschnitt geht diesen literarkritischen Fragen nach.78 a) Die Spannungen in V. 1
Die Einleitung der fünften Vision, lOK»! narran-1?:} 3S3 ^lirnK '¡yyn, knüpft durch Wortwahl und Satzstellung an die vorangegangenen Visionseinleitungen an und markiert auf diese Weise den Neueinsatz nach dem Abschnitt Am 8,4-15. Dabei weist sie zwar charakteristische Unterschiede gegenüber den übrigen Visionseinleitungen auf, jedoch in sich keine
75
So BARTCZEK, Prophetie,
81 u.a.; vgl. auch den Überblick bei MATHIAS,
B e o b a c h t u n g e n , 150FF. 76
Eine Ausnahme bildet die These von Bartczek, lediglich die voneinander unabhängigen Abschnitte laa 3 -ß und 9,1b—4 seien authentisch. Demgegenüber sei laa 1 - 2 eine spätere Hinzufügung, so dass eine fünfte Vision ursprünglich nicht existiert habe: BARTCZEK, Prophetie, 7 1 - 9 0 , bes. 90. Umgekehrt reduziert z.B. LESCOW, Amosbuch, 26f., den Grundbestand der fünften Vision auf 9,laa, und nimmt an, dass der Grundbestand des fünften Völkerspruchs ursprünglich der Schluss der fünften Vision gewesen sei. 77
D i e s t u n KÖHLMOOS, A r n o s 9 , 1 - 4 ,
1 6 9 - 1 7 8 ; WASCHKE, V i s i o n , 4 3 4 ^ 4 4 5 ; FRITZ,
Amosbuch, 109-124, bes. 110. 78 Dass „der Nachweis, dass vv. 2 - 4 eine weitere Fortschreibung von 9,1 darstellen, [...] nicht mehr geführt werden" müsse (so KÖHLMOOS, Am 9,1-4, 171), scheint mir eine zu optimistische Einschätzung.
48
Abschnitt A: JHWHs Wirken in der
JHWH-Ferne
besonderen Spannungen oder Schwierigkeiten. 79 Die sich in der Forschung findenden literarkritischen Änderungsvorschläge basieren ausschließlich auf inhaltlichen Gründen, und werden in dem Abschnitt zum Zusammenhang der fünften mit den übrigen vier Visionen diskutiert werden. Für die gegenwärtige Fragestellung sind andere Besonderheiten von V.l von Bedeutung, die im folgenden näher beleuchtet werden sollen. 1) Die auffalligste Besonderheit ist der scheinbare Widerspruch zwischen V.laa 3 (D^s orna oysa«) und V.laß (rinx anna on-nron) - ob mit der Konjektur DJJSa« oder ohne: Wenn alle getötet werden, wer bleibt dann noch übrig (OirnnK), um dem Schwert zum Opfer zu fallen? Hatte man noch in der älteren Forschung gelegentlich V.laß als Einschub betrachtet, wird inzwischen im Anschluss an Hartmut Gese diese Diskrepanz vielfach als Stilmittel verstanden und als „irreale Synchorese" bezeichnet. 80 Dieses Stilmittel besteht nach Gese darin, dass „eine Drohung dadurch gesteigert [wird], dass eine Ausnahme, die in der Drohung aber garnicht [sie] als möglich ins Auge gefasst wird, auch mit einer entsprechenden Drohung bedacht wird". 81 In der Tat wäre wohl der gemeinte Inhalt präziser wiedergegeben mit: „Ich will sie in einem Beben töten, alle, und selbst wenn etwas von ihnen übrigbliebe, wollte ich es mit dem Schwert töten". Dass diese Eventualität nicht mit einem OK-Satz ausgedrückt ist, mag zugunsten des Chiasmus von V.laa 3 und V.laß geschehen sein. Es besteht jedenfalls kein Grund, einen der beiden Halbverse als redaktionelle Zufügung zu tilgen. 82 2) Ein weiteres Problem bilden die Suffixe in V.laa 3 , aufgrund derer Bartczek und Weimar V.laa 3 -aß als nachträglichen Einschub betrachten. Während Bartczek den Abschnitt als authentisches Amoswort einschätzt, betrachtet Weimar ihn (dort: 1 ay) als Bestandteil einer spätnachexilischen 79
Zur syntaktischen Konstruktion der Einleitung s. BEHRENS, Visionsschilderungen, 54.98. 80 S. GESE, Verständnis, 436f. Im Anschluss an Gese u.a. RUDOLPH, KAT XIII/2, 244 A n m . 8 ; FUHS, S e h e n , 1 7 8 ; BERGLER, M a u e r , 4 5 1 A n m . 2 2 u . a . BARTCZEK, P r o p h e t i e ,
81, geht sogar so weit, das Stilmittel der irrealen Synchorese als selbständiges Argument fllr die genuine Zusammengehörigkeit von 9,laa 3 und 9,laß zu werten (die er wiederum als einen späteren Zusatz betrachtet: aaO 85.90). Anders TALMON, Signification, 802, der •nnnK als die Nachkommen „aller" deutet. Das logische Problem bleibt damit allerdings bestehen. 81
GESE, V e r s t ä n d n i s , 4 3 7 .
82
Vgl. den ähnlichen Sachverhalt in Mi 6,14.
I. Erweiterter Einflussbereich: Die fünfte
Amosvision
49
Textschicht, die im Zusammenhang mit der übergreifenden Redaktion des Zwölfprophetenbuchs steht. 83 Beide weisen zur Begründung auf die „Beziehungslosigkeit der Suffixe" in V.laa 3 hin.84 Die literarkritische Tilgung auch von V.laß begründet Bartczek mit der Zusammengehörigkeit von V.laa 3 und V.laß, Weimar weist umgekehrt auf die „formale Inkongruenz der beiden chiastisch angeordneten Stichen" durch den Wechsel vom Imperativ DSJSai zur ersten Person n n x hin sowie auf die Spannung zwischen rinx anna on-nran zu V.lb. 8 5 Allerdings erübrigt sich die ,formale Inkongruenz' mit der hier vertretenen Konjektur oasax, und eine inhaltliche Spannung von V.laß gegenüber V.lb vermag ich nicht zu erkennen. Was die Suffixe betrifft, so erlaubt der Umstand, dass die mit ihnen bezeichneten Menschen zuvor nicht näher bezeichnet worden sind, kaum die Schlussfolgerung, es müsse sich hier um eine nachträgliche Zufügung handeln. Damit geben auch sie keine Hinweise auf eine sekundäre Herkunft der Verse laa 3 und/oder laß oder V.lb. Insgesamt lassen sich also literarkritische Schichtungen innerhalb von V.l nicht wahrscheinlich machen. 86 b) Das Konditionalsatzgefüge V.2—4a Zunehmend werden in der Forschung die Konditionalsätze in den Versen 2-4a als nachträgliche Zufügung zu 9,1 betrachtet. 87 Der Gedanke ist unter anderem deswegen naheliegend, weil sich das Konditionalsatzgefüge als geschlossener Block leicht aus seinem Kontext herauslösen lässt. Dabei besteht allerdings kein deutlicher Bruch zwischen den Versen 1 und 2, wie des öfteren behauptet wird. 88 Vielmehr dienen die Verse 2-4a der Exemplifizierung von lb. Größer ist dagegen die Spannung zwischen 4b und dem Vorigen, einschließlich V.l, denn JHWHs Absicht, seine Augen zum Bösen, nicht zum Guten auf „sie" zu richten, geht sachlich dem angekündigten Strafhandeln voraus. Der sentenzenhafte Charakter von 4b, der 83
WEIMAR, Schluß, 92-94. Bartczek separiert laa 1 2 von lb, während nach WEIMAR, Schluß, 64f., lb direkt an laa 2 (bei ihm laß) angeschlossen werden kann. 84 WEIMAR, Schluß, 64f.; vgl. BARTCZEK, Prophetie, 82f. 85 WEIMAR, Schluß, 64f. 86 Ebenso IRSIGLER, Flucht, 192. 87 MORGENSTERN, Studies, 109; PFEIFFER, R.H., Introduction, 583 (eschatologische Ausmalung); ROTTZOLL, Studien, 101 u.a. 88 Einen .formalen Bruch' konstatieren z.B. WILLI-PLEIN, Vorformen, 52; FUHS, Sehen, 178. Dieser besteht für beide aber offenbar lediglich im Wechsel vom Parallelismus membrorum in lb (bei Fuhs: le.h) zum Konditionalsatzgefüge. Ob das „Bruch" genannt werden sollte, darf bezweifelt werden.
50
Abschnitt A: JHWHs Wirken in der
JHWH-Ferne
durch die inhaltliche Umkehrung einer geläufigen Wendung entsteht, die normalerweise Heil signalisiert (s.u.), hebt seine relative Selbständigkeit noch hervor. Nun ist die leichte Isolierbarkeit von 2-4a allein natürlich kein hinreichendes Argument für den sekundären Ursprung des Konditionalblocks. Es gibt jedoch andere Gründe, die dafür sprechen, dass die Verse 2-4a nachträglich zu V.l hinzugefügt bzw. späten Ursprungs sind: Die Spannung zwischen V.l aß und V.4a, die Länge und der Aufbau der Vision im Vergleich zu den übrigen, sowie ihre Terminologie, Syntax und der hymnische Charakter des Konditionalblocks. a) Die Spannung zwischen V.l aß und V.4a Sowohl V.laß als auch V.4a thematisieren den Tod durch das Schwert und gebrauchen die Wörter 3~in und rin. Die glatte spiegelbildliche Abfolge der Themen ,Tod durch das Schwert' - ,vergebliche Flucht' - ,vergebliche Flucht' - ,Tod durch das Schwert' im überlieferten Text 89 darf jedoch nicht über die Unebenheit hinwegtäuschen, die mit diesem wiederholten Gebrauch von 3"in und a~in verbunden ist: Während das Erschlagen mit dem Schwert in V.laß die unmittelbar auf das Erdbeben folgende Maßnahme JHWHs darstellt, ist es in V.4a eine von fünf Varianten, mit denen JHWH auf eine denkbare Flucht reagiert.90 Dass allerdings die Verse 2-4a völlig im Widerspruch zu V.l stünden, da sie eine Flucht voraussetzten, die nach V.lb ausgeschlossen ist, wie Morgenstern annimmt, ist nicht der Fall.91 Denn die Verse 2-4a fungieren in diesem Kontext als Explikation von lb, und gerade JHWHs Verhindern einer möglichen Flucht ist der Anknüpfungspunkt. Entsprechend werden auch in 2-4a nicht verschiedene ,Todesarten' geschildert, sondern zunächst das Erreichen der Flüchtlinge, das „Packen" und „Herunterholen". Und am Ende steht - trotz der genannten Unebenheit korrespondierend mit laß - der Tod durch das Schwert. Dass das Schwert in V.4a eine selbständige Größe ist, die JHWHs Befehl gehorcht, während es in V.laß nicht mehr als ein Instrument in seiner Hand darstellt, ist insofern nur bedingt von Bedeutung, als derlei unter89
S.o.S. 45. Ähnlich bereits MORGENSTERN, Amos-Studies, 111; vgl. auch BARTCZEK, Prophetie, 85. Mit dieser Feststellung erübrigt sich auch die These von Rottzoll, es handle sich bei 9,laß lediglich um ein „Versatzstück des von Am 9,1b bis Am 9,4a reichenden, redaktionell zugesetzten Textblocks", was er mit der „fast wörtliche[n] Wiederkehr der Worte am Ende von Am 9,4a" begründet: ROTTZOLL, Studien, 96. 91 MORGENSTERN, Amos-Studies, 110. WEIMAR, Schluß, 66, spricht etwas zurückhaltender von einer ,recht lockeren Beziehung' zwischen lb und 2-4a. 90
I. Erweiterter
Einflussbereich:
Die fünfte
Amosvision
51
schiedliche Vorstellungen durchaus ineinander greifen können.92 So ist nicht immer eindeutig, wie das von JHWH strafend eingesetzte Schwert vorzustellen ist.93 Das gilt auch für Am 9,1 und 9,4a. Trotzdem mag der Umstand, dass das Erschlagen mit dem Schwert in den Versen laß und 4a unterschiedlichen Situationen zugehört, daraufhindeuten, dass beide Verse auch unterschiedlichen literarischen Schichten zugehören. ß) Länge und Aufbau der Vision
Der Konditionalblock verlängert die fünfte Vision deutlich im Verhältnis zu den übrigen94 und hat in ihnen auch keine strukturellen Entsprechungen. Geht man davon aus, dass die fünf Amosvisionen einen ursprünglichen Zusammenhang gebildet haben (s.u.), so würde eine Streichung des Konditionalblocks deren Ähnlichkeit noch verstärken. Diese Beobachtung sollte allerdings nicht als entscheidendes Argument fungieren, da das erste Ziel nicht eine ,Textkosmetik' ist, mit der die Visionen möglichst genau einander angeglichen werden (wie es bei V.l oft genug der Fall ist). y) Die
Terminologie
1) inn (9,2): Bereits Lohr hat daraufhingewiesen, dass "inn ausschließlich in jüngeren Texten zu finden ist,95 und zwar (neben Am 9,2) in Hi 24,16; Ez 8,8 und 12,5.7.12; (Jon 1,13: im Sinne von: „rudern"). Neben "inn kommen außerdem die Verbwurzeln X3n, tisn, ~inc bei Arnos nicht weiter vor96 und deuten gleichfalls auf eine spätere Entstehung des Textblocks.
92
Entsprechend unterschiedliche Vorstellungen zeigen sich auch im übrigen AT. So ist von JHWHs Schwert die Rede, das er, anthropomorph vorgestellt, aus der Scheide zieht (Ez 21,8.10), schleift (Dtn 32,41), blinken lässt (Ez 32,10), anderen in die Hand gibt (Ez 30,24f.) usf. Das Schwert kann auch mythische Züge tragen, so z.B. in Jes 27,1. Dem stehen Schilderungen eines Schwertes gegenüber, über das JHWH Gewalt hat, das er aber nicht selbst führt: zum einen das selbständig agierende Schwert (Gen 3,24; Jer 12,12 (?); 47,6; 49,37), zum anderen das von JHWH gesandte Schwert der feindlichen Mächte. Auch hier liegen teilweise mythische Konnotationen vor (Gen 3,24; Jes 34,5f.?). 93 Vgl. auch KAISER, Art. s i n , 171. 94
Ebenso BEHRENS, Visionsschilderungen, 100; vgl. WILLI-PLEIN, Vorformen, 48. LOHR, Untersuchungen, 14. Er hält aus dem Komplex 2 - 4 a allerdings lediglich V.2 für sekundär. 96 Vgl. WASCHKE, Vision, 442 (oan ist ein Druckfehler). Dass aber npb und T P Hif. bei Arnos nur in anderer Bedeutungsnuance belegt seien, wie Waschke ebenda bemerkt, ist aufgrund der sehr geläufigen Bedeutungen der Wörter in Am 9,2-4a kein zugkräftiges Argument für eine nichtamosische Herkunft der Verse bzw. der gesamten Vision. Auch 95
52
Abschnitt A: JHWHs Wirken in der
JHWH-Ferne
2) •fpn bzw. -Qffl (9,4a): Die Redewendung ^ ( a ) -f?n begegnet neben Am 9,4 fast ausschließlich in exilisch-nachexilischen Texten: 97 Dtn 28,41; Jes 46,2; Jer 20,6; Jer 22,22; Jer 30,16; Thr 1,5.18; Ez 12,11; 30,17.18, wobei in Thr 1,5 zudem die Rede ist vom „gefangen Einhergehen vor den Feinden" (~i3",aa1?). Von den übrigen Belegen für "ati sind alle, in denen es um Israel oder Juda geht, deutlich später als das 8. Jh., 98 und die meisten dieser Texte haben ihren historischen Anhaltspunkt im babylonischen Exil. 99 Bei Arnos werden sonst für denselben Sachverhalt die Wurzel nb] und ihre Derivate verwendet. 100 Lediglich in Am 4,10, ebenfalls wohl kaum einem Text aus dem 8.Jh., begegnet noch 3) Hin ... DrPTK ^sb: Niederlage oder Tod im Angesicht der Feinde sind geläufige Vorstellungen im Alten Testament. Vom Tod durch das Schwert im Angesicht der Feinde ist dagegen eher selten die Rede. Entsprechende Formulierungen begegnen außer in Am 9,4 lediglich im Heiligkeitsgesetz (Lev 26,7.8) und in Jer 15,9 und 19,7. Dabei geht es in Lev 26 um die Feinde des Gottesvolkes, die vor seinen Augen durch das Schwert fallen (Ss3),101 während es bei Jeremia und Arnos umgekehrt das Volk JHWHs ist, das dieser vor den Augen der Feinde dem Schwert preisgibt (]na: Jer 15,9), durch das Schwert fallen lässt (^a: Hif.: Jer 19,7), oder das zu töten er dem Schwert befiehlt ( a n n : Am 9,4). Möglicherweise handelt es sich hier, beim Tod des Gottesvolkes durch das Schwert im Angesicht seiner Feinde, um eine exilische Neuprägung. 6) Die Syntax Nach Ina Willi-Plein ist für eine logische Verhältnisbestimmung wie in Am 9,2-4a die syntaktische Konstruktion DK mit Nachsatz sonst nicht bei Arnos zu finden, sondern stattdessen eine Parataxe mit Partizip (5,3) oder anreihendem i (5,19). 102 Nun haben Am 5,3 und 5,19 allerdings eine andere dass «¡nan und 9,3 nicht von demselben Verfasser wie 5,19 stammen könne, weil es um eine andere Schlange gehe, ist m.E. nicht überzeugend. 97 Eine Ausnahme bildet Nah 3,10. 98
Dtn 28,41; II Chr 6,37; 28,17; 29,8f.; Esr 2,1; 3,8; 8,35; 9,7; Neh l,2f.; 7,6; 8,17; Jes 49,24f.; Jer 15,2; 20,6; Jer 22,22; 30,10.16; 46,27; Thr 1,5.18; Ez 12,11; Hab 1,9. 99 Vgl. auch WASCHKE, Vision, 443. JEREMIAS, ATD 24,2, 126 Anm. 13, führt dies als denkbares Argument für eine spätere Entstehung von 3^ta an. 100
Vgl. WASCHKE, Vision, 443; WILLI-PLEIN, Vorformen, 53. In Am 1,15 wird N%2 ebenfalls mit l ^ n konstruiert. 101
Vgl. aber Lev 26,37, wo Israel geschlagen wird vor den Augen seiner Feinde.
102
WILLI-PLEIN, V o r f o r m e n , 5 2 .
/ . Erweiterter
Einflussbereich:
Die fünfte
Amosvision
53
Zielrichtung als Am 9,2-4a: Während der Konditionalblock eine Kombination von Hyperbeln ist im Sinne von: „und selbst für den unwahrscheinlichen Fall, dass...", hat Am 5,3 Zahlenspruchcharakter: Hier handelt es sich um eine reale Drohung, keine Hyperbel. Am 5,19 wiederum bezeichnet einen Vergleich, eingeleitet durch " I Ö K 3 . Ein solcher Vergleich erlaubt keine Konstruktion mit n«.103 Zwar weist stattdessen Am 6,9 eine Konstruktion und ein logisches Verhältnis auf, das dem von Am 9,2-4a vergleichbar ist, doch handelt es sich dort wohl kaum um ein authentisches Amoswort.104 So ist in der Tat die syntaktische Konstruktion von Am 9,24a mit keinem weiteren Text für Arnos zu belegen. Da jedoch auch kein Amostext zu finden ist, der eine solche Konstruktion möglich oder nötig machte, ist das syntaktische Argument nur ein schwaches. e) Hymnischer
Charakter und kosmologische
Dimension
Am 9,2-4a weist deutlich hymnische Züge auf, wenngleich es sich um den Inhalt einer JHWH-Rede und dazu noch um eine Drohung handelt.105 Nicht zuletzt die Nähe des Textes zu Ps 139 zeigt, dass die Aussage, nirgends könne man sich vor JHWH verbergen, keineswegs im Gegensatz zum hymnischen Lobpreis Gottes steht. Vergleichbare kosmologische Schilderungen finden sich im Amosbuch sonst nur noch in den doxologischen Abschnitten 4,13; 5,8f. und 9,5f. sowie in 8,12, also ausschließlich in nachträglich eingefügten Texten.106 Auch von der Scheol ist nirgends sonst
103 Logische Konstruktionen, die mit Am 5,19 vergleichbar sind, finden sich auch in Jes 17,5f.; 65,8 ('S bzw. -«fto und verbindendes 1). 104 Vgl. JEREMIAS, ATD 24,2, 85. Anders urteilt WILLI-PLEIN, Vorformen, 43 - weswegen umso erstaunlicher ist, dass sie Am 6,9 nicht in ihre Überlegungen miteinbezieht. 105 Vgl. auch WILLI-PLEIN, Vorformen, 53. Sie geht von einem selbständigen hymnischen Stück aus, das ins Amosbuch eingefügt wurde, hebt dabei aber auch die Verbindungen zum authentischen „Amosgut" hervor; vgl. auch FUHS, Sehen, 178f.; BERGLER, „Mauer", 452. 106 Vgl. hier v.a. WILLI-PLEIN, Vorformen, 53, nach der die Bilder den Umfang der Szenerie von 9,1 durchbrächen und bei Arnos sonst nicht „entfernt" begegneten. Zudem würde auf die mythischen Motive in Am 9,2-4a erst in späten Texten des AT Bezug genommen. Daran anschließend BERGLER, „Mauer", 453. WASCHKE, Vision, 438, stellt im Anschluss an Willi-Plein fest: „Für die hier abgewandelte ,viergliedrige Allformel' lassen sich nur Belege beibringen, die eindeutig jünger sind als Arnos", und verweist auf Ps 139,8f.; Hi 1 l,8f.; Sirach 1,3. Vom Gebrauch einer solchen ,Allformel' sprechen auch
HORST, B K X V I / I , 170; W . GROSS, Gottesnähe, 7 8 . 8 0 ; WOLFF, B K X I V / 2 , 3 9 2 , und
KRASOVEC, Polare Ausdrucksweise, 238f. Ihren Traditionshaftpunkt vermutet Wolff in weisheitlichen Kontexten (Hi 1 l,8f.: Himmel - Unterwelt - Erde - Meer, ...; dreigliedrig
54
Abschnitt A: JHWHs Wirken in der
JHWH-Ferne
im Amosbuch die Rede. Willi-Plein hat darauf hingewiesen, dass die Mehrzahl entsprechender Stellen später sei als die Prophetie des Arnos, und verweist auf Jes 28,14-18; Jes 7,11; Dtn 32,22; Jes 14,9 sowie Hi 11,8.107 Zwar könnte die Vorstellung vom Sich-Bergen in der Totenwelt erstmalig bei Arnos aufgetaucht sein. Dennoch bleibt der weite kosmologische Horizont des Konditionalblocks auffällig. Grundsätzlich sind solche „Nur-hier-und-sonst-nirgends"-Argumente in der Literarkritik insofern problematisch, als in einem Fall wie dem des Buches Arnos der Textbestand nicht sonderlich groß und daher das Vergleichsmaterial relativ beschränkt ist.108 Was zu einigen Hapaxlegomena bei Arnos sowie zur Syntax und zum hymnischen Charakter von 9,2-4a gesagt worden ist, darf demnach als Argument für eine spätere Herkunft des Textes nicht überbewertet werden. Nichtsdestoweniger ist die Häufung solcher Besonderheiten gegenüber gewöhnlich als „authentisch" geltenden Amostexten bemerkenswert und wirkt als erstes Indiz für eine spätere Entstehung des Konditionalblocks. Hinzu kommen die bereits dargestellten Spannungen zwischen Am 9,laß und Am 9,4a, die Überlänge gegenüber den übrigen Visionen und die sichtbar exilisch-nachexilische Terminologie für die Gefangenschaft. So erlauben die Argumente in ihrer Gesamtheit meines Erachtens keinen anderen Schluss, als dass das Konditionalsatzgefüge Am 9,2-4a eine nachträgliche Ergänzung zum Grundbestand der Vision darstellt,109 die später als Am 9,1 ist und vermutlich aus exilischer oder nachexilischer Zeit stammt.110 Die Hinzufügung der Doxologie
Sir 1,3: Himmel - Erde - Meer): vgl. zu den mehrgliedrigen Formeln auch KRÜGER, Himmel..., 65ff. Anders JEREMIAS, Heiligtum, 256 Anm. 49. 107 WILLI-PLEIN, Vorformen, 52f. Sie erklärt kurzerhand die Kosmologie von 2-4a für „zur Zeit des Arnos noch nicht denkbar". 108
Ebenso MATHIAS, Beobachtungen, 164. Zu diesem Ergebnis kommen u.a. WILLI-PLEIN, Vorformen, 53; FUHS, Sehen, 179. Auch nach Reimer sind die Verse 9,2-4a geschlossen eingefügt worden, allerdings zunächst an la. Die Verse lb und 4b seien eine noch spätere Ergänzung, die sich durch die Suffixe vom Text abhöben und durch die „Kampfszenerie" einen Bezug zu Am 2 , 1 3 - 1 6 aufwiesen. Die Konditionalsätze schlössen besser an die „irreale Synchorese" in 9 , l a a 3 an (er meint aber wohl 9,laa 3 -ß): REIMER, Recht, 209. 110 KOENEN, Bethel, 169f. Anm. 99, argumentiert, V.4 (sc. 4a) spreche gegen die Abfassung in exilischer Zeit, denn ,,[i]n der Exilszeit konnte man kaum sagen, daß es kein Exil geben wird". Allerdings ergibt V.4a in exilisch-nachexilischer Zeit sehr wohl einen Sinn durch den unerwarteten Ausgang (s.u. Deutung c), dass die Strafe noch über die Gefangenschaft hinausgeht. 109
I. Erweiterter Einflussbereich: Die fünfte
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Am 9,5f. dürfte noch späteren Datums sein,111 weil andernfalls der Hinweis auf die Flucht zum Himmel in Am 9,2 vor dem Hintergrund von JHWHs ,Wohnungsbau' in 9,6a diese noch merkwürdiger erscheinen lässt, als sie - Hyperbel hin oder her - ohnehin schon ist (s.u.). Auch wäre es in dem Fall rhetorisch wirkungsvoller gewesen, die Doxologie durch (oder im Sinne von) 2-4a fortzusetzen, statt ihr den Konditionalblock voranzustellen.112 Ist die Doxologie Am 9,5f. später eingefügt, spricht dies für ein exilisches Datum des Konditionalsatzgefüges. Zur literarischen Integrität: Bei Am 9,2-4a handelt es sich um einen weitgehend literarisch einheitlichen Einschub, obwohl auch innerhalb des Konditionalblocks immer wieder literarische Schichtungen vermutet werden. So werden die Verse 3-4a zuweilen später als V.2 datiert. Als Indizien dafür gelten die Verschiedenheit im Metrum bzw. in der Gliederzahl zwischen den Versen 2 und 3-4, 113 sodann die „wesentlich bessere metrische Strukturierung von Am 9,2".114 Auch wird darauf verwiesen, Arnos 9,3-4 enthalte im Gegensatz zu Am 9,2 sprachliche und inhaltliche Bezüge zum Rest des Amosbuches: Karmel (1,2), Augen JHWHs (9,4b), Schlange (5,19) und Gefangenschaft (1,15).115 Es lässt sich jedoch einwenden, dass die metrische Verschiedenheit auch Stilmittel oder inhaltlich bedingt sein kann.116 Im übrigen gibt es Stichwortverbindungen zu anderen, als ur-
111 Vgl. WILLI-PLEIN, Vorformen, 54.65; SCHART, Fifth Vision, 56-58. PAAS, Seeing, argumentiert für die genuine strukturelle Einheit (dabei nicht unbedingt die amosische Verfasserschaft) von Am 9,1-4 und 9,5f. (aaO 261.272f.). Die von ihm zur Begründung genannten Verbindungslinien zwischen den Versen lassen sich jedoch ebenso durch die nachträgliche Anfügung der Doxologie erklären. 112 Anders dagegen HARTENSTEIN, Wolkendunkel, 156, der die Möglichkeit einer „Kohärenz der kosmischen Symbolik" (im Original kursiv) postuliert, und zwar vor dem Hintergrund einer mit dem Heiligtum von Bet-El verbundenen Vorstellung von einem .kosmischen Band' zwischen Himmel und Erde (aaO 156ff.). 113 WEIMAR, Schluß, 66. Für ihn gehören das von ihm literarkritisch ausgeschiedene 9,laa 3 -ß (bei ihm: 9,lay) und 9,3-4a derselben Redaktionsschicht an. 114 ROTTZOLL, Studien, 103, geht wie Weimar davon aus, dass die Verse 3-4 in Anlehnung an V.2 formuliert sind. Für ihn gehört Am 9,2 mit 5,1 laa(.23?); 6,5b zur dritten Redaktion des Amosbuches und ist eine chronistische Hinzufügung. Am 9,3.4 rechnet er zusammen mit den letzten drei Wörtern von Am 9,1 zur vierten und letzten Bearbeitungsschicht des Amosbuches (aaO 290). 115 ROTTZOLL, Studien, 102. 116 Vgl. JEREMIAS, Heiligtum, 255.
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Abschnitt A: JHWHs Wirken in der
JHWH-Ferne
sprünglich geltenden Amostexten auch in 9,2,' 17 und der dortige Verweis auf die Hand Gottes dürfte auch zu den inhaltlichen Verbindungen zum restlichen Amosbuch zu rechnen sein. Was schließlich die Querverbindungen von 9,3-4 zu anderen Amostexten betrifft, so bezieht sich Siran in Am 9,3 und Am 5,19 auf verschiedene Schlangen. Umgekehrt ist der Rekurs auf die Gefangenschaft in Am 1,15 und Am 9,4 in der Begriffswahl verschieden, inhaltlich aber vergleichbar. Beides deutet nicht unbedingt auf beabsichtigte „Verbindungen" hin. Damit taugen Metrum und Querverbindungen nicht als Beweis für eine literarische Uneinheitlichkeit des Konditionalblocks. Ob die häufiger im Amosbuch begegnende Fünferstruktur des Konditionalblocks als Argument für seine Ursprünglichkeit gelten kann, ist umstritten, sie unterstützt aber zumindest die These seiner Einheitlichkeit.118
117
T (1,8; 5,19; 7,7), npb (5,11.12; 6,13; 7,15); Wz. vbs (3,5; 7,1; 8,10[?]); Wz. TV (3,11); Am 6,2, wo ebenfalls "IT und Otfin vorkommen, ist vermutlich sekundär. 118 Anders IRSIGLER, Flucht, 193f., der 9,4a für einen späteren Zusatz zum vorexilischen Grundbestand der Vision und die Fünferstruktur im Anschluss an Paas für das Produkt einer (noch vorexilischen) Redaktion hält. Während BERGLER, „Mauer", 452, von einer nachträglichen Zufllgung des Komplexes 9,2—4a ausgeht, der die Fünfzahl der Visionen en miniature reflektiere, ähnlich wie es mit der Siebenzahl in 2,14-16 geschehe, betrachtet z.B. AULD, Arnos, 21, die Fünferstruktur von 2 - 4 a als Indiz für ihre Ursprünglichkeit. Gern wird auch darauf verwiesen, dass die Fünfzahl der Visionen der ursprünglichen Fünfzahl der Völkersprüche korrespondiere: WEIMAR, Schluß, 95, rechnet beides zum Grundbestand des Amosbuches. Entsprechend werden die fünfte Vision und der fünfte Völkerspruch (Israelstrophe, Am 2,6-16) miteinander in Beziehung gesetzt: So bemerkt WOLFF, BK XIV/2, 388, in den Visionen wie den Völkersprüchen stehe eine konkret-geschichtliche Drohung am Ende. WASCHKE, Vision, 441, konstatiert eine „thematische Affinität" durch die Gemeinsamkeit bezüglich des unabwendbaren Gerichts und des Bebens («f»n; piB Hif.) der Schwellen in 9,1 bzw. des Wagens in 2,13. ROTTZOLL, Studien, 99, erklärt Am 2,14-16 für konzeptionell von der fünften Vision abhängig (vgl. die gemeinsame Verwendung der Wurzeln 013 und B^O in den Versen 9,1b und 2,13-16). Die Parallelisierung von Visionen und Völkersprüchen ist inzwischen so geläufig, dass selbst Bergler trotz seiner Eliminierung der dritten und fünften Vision aus dem Grundbestand der Visionen die Parallelität von Völkersprüchen und Visionen aufrechterhalten möchte, so dass er für denkbar erklärt, dass ursprünglich nur drei Völkersprüche existierten (BERGLER, „Mauer", 465 m. Anm. 73). Dass die Fünfgliedrigkeit auf die literarische Einheit des Konditionalblocks hindeute, meinen auch Jeremias und Bergler, die aber hinsichtlich seiner Ursprünglichkeit zu konträren Urteilen gelangen. Überlegungen zur Fünferstruktur in weiteren Amostexten bei GESE, Komposition, 105ff. Auch er weist auf die Fünferstruktur „als Kleinform" in den Versen 2 - 4 a hin, ohne aber literarkritisch damit zu argumentieren. S. zur Diskussion auch MATHIAS, Beobachtungen, 152ff.
I. Erweiterter
Einflussbereich:
Die fünfte
Amosvision
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Ob es sich bei der Phrase "TJ; "typ in V.3 um einen Einschub handelt,119 ist schwer zu entscheiden. Denkbare Hinweise wären die ,metrische Überfiillung' des Verses,120 möglicherweise auch die Stellung im Satz.121 Kein Argument für die nachträgliche Einfügung ist dagegen der vermeintliche Gegensatz von Singular und Plural von in V.3 und V.4.122 Erstens beruht er auf der Punktierung, die auch falsch sein könnte. Zweitens - und damit wird „Erstens" obsolet - besitzen beide Wendungen idiomatischen Charakter. So begegnet D1© + in derselben Bedeutung wie bei Am 9,4 ausschließlich mit dem Singular TJ?.123 Umgekehrt findet sich die Wendung "ron + yv ausschließlich mit dem Dual T?- 124 Dass also die Unterscheidung zwischen Plural und Singular in den Versen 3 und 4 „kaum auf vormasoretische Tradition zurückgehen" kann,125 ist unzutreffend. 126 Zusammengefasst: Die Hinweise auf eine nachträgliche Einfügung der Wendung nasa in Am 9,3 sind relativ dürftig. Geht man davon aus, dass sie eingefügt wurde, um die Verse 2-4a mit dem Kontext zu verbinden, setzt dies voraus, dass sie zuvor einen selbständigen Zusammenhang gebildet haben, der en bloc eingefugt wurde. Eine solche Selbständigkeit ist aber unmittelbar aus dem Text nicht erkennbar. Damit spricht eine Vielzahl von Argumenten dafür, dass es sich bei dem Konditionalblock Am 9,2-4a um einen literarisch vollständigen oder weitestgehend einheitlichen Block handelt, der gegenüber 9,1 sekundär ist127 119
S o z . B . IRSIGLER, F l u c h t ,
1 9 3 ; JEREMIAS, A T D 2 4 , 2 ; WOLFF, B K X I V / 2 ,
386;
REIMER, Recht, 2 0 9 Anm. 791; SCHART, Entstehung, 85. 120
WOLFF, BK XIV/2, 386, vgl. auch SCHART, Entstehung, 85 m. Anm. 126. Dagegen
WEIMAR, Schluß, 67 Anm. 29. 121
So BARTCZEK, Prophetie, 87, demzufolge aufgrund von Jes 1,16 und Jer 16,17
auch hier die Phrase am Ende des Satzes zu erwarten wäre. Allerdings spricht der sonstige Gebrauch von IMS bei Amos nicht zwingend dafür. 122
D i e s e n f ü h r e n an: WOLFF, B K X I V / 2 , 3 8 6 ; BARTCZEK, P r o p h e t i e , 8 7 ; SCHART,
Entstehung, 85 Anm. 126. 123
Gen 44,21; Jer 24,6; 40,4.
124
Ps 31,23; Jes 1,16; Jer 16,17; Jon 2,5; vgl. Ps 36,2 (VTJJ IM1? ffri^) und Ps 101,7
Ora -tu1?). 125
SCHART, Entstehung, 85 Anm. 126.
126
Auch der Umstand, dass "T» "i??8 nach i n o Ni. auch in Jer 16,17 begegne, ist kein
Argument für eine nachträgliche Einfügung, zumal "ino Ni. in Jer 16,17 mit 'JS^a kombiniert wird, während y s "UM zum nächsten Satzglied bzw. zu p s Nif. gehört. 127
Vgl. dazu die bei MATHIAS, Beobachtungen, 153 Anm. 19 genannte Literatur;
f e r n e r FLEISCHER in: DAHMEN / FLEISCHER, N S K . A T 2 3 / 2 , 2 6 1 f.
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Abschnitt A: JHWHs Wirken in der
JHWH-Ferne
und vermutlich aus (spät-)exilischer Zeit stammt. Welchen Stellenwert hat dann V.4b? Gelegentlich wird davon ausgegangen, dass dieser Stichos die ursprüngliche Fortsetzung von 9,1 gebildet habe, bevor 9,2-4a eingefugt worden sei. Bildeten demnach V.l und V.4b ursprünglich eine Einheit? c) Der abschließende Vers 4b V.4b klingt im Gesamtzusammenhang nachgeschoben (s.o.), lässt aber sich gut an V.lb anfügen. Die Frage, inwieweit Wortlaut und Motivik von V.4b auf ein späteres Entstehungsdatum als das von V.l hindeuten, wird kontrovers diskutiert. So ist nach Fuhs das in V.4b verwendete rhetorische Mittel, eine geläufige Vorstellung in ihr Gegenteil zu verkehren, ein Indiz für die Authentizität des Verses. 128 Umgekehrt wird es aber auch angeführt, um den sekundären Charakter von Am 9,4b zu belegen. Darüber hinaus passt Waschke zufolge der Gebrauch von aits und Hin nicht zur Gesamtbotschaft des Arnos. Schart verankert die Gegenüberstellung dieser beiden Begriffe in einer bestimmten Stufe der Dodekaprophetonredaktion, 129 der er Am 9,4b zuordnet 130 - und ebenso Am 7,9 und 8,3. 131 Diese Zuschreibung von Am 7,9; 8,3 und 9,4b zu ein und derselben Redaktionsschicht hat auch aus anderen, von Schart nicht genannten Gründen viel für sich: Liest man Am 9,1 und 9,4b direkt hintereinander, ergibt sich in der Gottesrede die ,Tempus'folge Imperfekt - Perfekt consecutivum. Eine vergleichbare Abfolge findet sich auch in der dritten und vierten Vision: Hier ist die unmittelbare göttliche Absicht im Partizip bzw. Imperfekt geschildert (DD und ^DiK'K'b in 7,8; «ppilTK1? in 8,2), die ,zweite Stufe' wird dann im Perf. cons. angeschlossen OatfJl [parallel zur Imperfektform « T T ] und •'nnpi in 7,9; i ' r ' r n ] in 8,3). Zwar hat Am 9,4b im Unterschied zu 7,9; 8,3 eher den Charakter eine Unterschrift als den einer Erläuterung, dennoch handelt es sich in allen drei Fällen um eine Explikation der Dro-
128
Er verweist hier auf Am 3,1 f.; 5,18ff. Dabei geht er im Anschluss an Weiser davon aus, dass die ursprüngliche Position von V. 4b hinter Am 9,7 zu vermuten ist, während Am 9 , l - 4 a eine spätere ZufÜgung zu V. 4b darstelle: FUHS, Sehen, 179. 129 SCHART, Entstehung, 139; vgl. DERS., Fifth Vision, 47ff. 130 SCHART, Entstehung, 85. 131 Letztere werden häufiger in der Forschung als sekundär betrachtet; vgl. z.B. WEISER, A T D 2 4 , 1 8 5 . 1 8 7 . JEREMIAS, Interrelationship, 1 7 9 - 1 8 1 , s i e h t in A m 7 , 9 e i n e
Brücke zu 7,10-17 und beobachtet zudem hoseanischen Einfluss. Er vermutet, das Amosbuch habe nie ohne 7,10-17 und die Brücke 7,9 existiert. CLEMENTS, Arnos, 49-64, bes. 59 u. 62f„ hält dagegen 7,9 für früher als 7,10-17 und betrachtet beide Texte als Interpretationen der dritten Amosvision.
I. Erweiterter Einflussbereich: Die fünfte
Amosvision
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hung. So ist gut vorstellbar, dass es sich um drei Texte derselben Bearbeitungsschicht handelt. 132 Betrachtet man als jeweilige Grundschichten der letzten drei Visionen Am 7,7-8; 8,1-2 und 9,1, so korrespondiert 9,1b den Versen 7,3.6.8 und 8,2: Überall bildet eine negative Aussage den Abschluss der ursprünglichen Vision: Auf das zweimalige rrnn kb, „Es soll nicht geschehen" (Am 7,3.6), folgt das zweimalige ib TU» "fi» s ] , qitrt6, „Ich will nicht mehr an ihm vorübergehen" (Am 7,8 und 8,2). Kulminationspunkt der 03 cnS c i r / x b „Nicht wird fliehen gesamten Reihe ist t r S s an1? von ihnen ein Fliehender, und nicht soll entkommen von ihnen ein Flüchtling" (Am 9,1b). 133 Auch die Länge der jeweiligen Visionen stimmt in diesem Fall ungefähr überein. Es ist demnach anzunehmen, dass V.4b vor V.2-4a an die fünfte Vision angefugt wurde. 134 Dafür spricht auch die Datierung. Die Erweiterung V.9,4b ist nicht später als spätvorexilisch anzusetzen, da verschiedene Jeremiatexte von diesem Vers abhängig sind: 135 In Am 9,4b wird eine ursprünglich positive Wendung ins Negative verkehrt,136 indem naiaS K'bl Hin1? den verheißungsvollen Satzanfang unerwartet fortsetzt. Gegenüber der vergleichsweise häufigen Formulierung „sein Angesicht richten auf/gegen jemanden" 137 findet sich die Kon-
132 Anders MATHIAS, Beobachtungen, 165, der Am 7,9; 8,3 und 9,2-4 auf dieselbe redaktionelle Stufe stellt. 133 Die Überlegung von MAAG, Text, 47, dass es in den ersten vier Visionen um die Unaufschiebbarkeit des Gerichts gehe, in Vision 5 dagegen um seine Unentrinnbarkeit, ist insofern unzutreffend, als die ersten beiden Visionen gerade eine Aufschiebbarkeit bezeugen, die dann in der dritten und vierten Vision aufgehoben wird. Präsent ist das Gericht hingegen erst in der fünften Vision. 134 Anders REIMER, Recht, 209f., nach dem Am 9,1b und 4b eine noch spätere Redaktion als 9,2-4a darstellen. 135 BEYERLIN, Reflexe, 68-83.89; anders MORGENSTERN, Amos-Studies, 111 u.a. BACKHAUS, „So lege ich Feuer...", 83f. nimmt darüber hinaus an, dass Jer 46,5f. u.a. auf Am 9,1b anspielt. Dafür sprechen nach WEIMAR, Schluß, 67, die Kongruenz des Metrums und Aufnahme der Negation «B. Nach ROTTZOLL, Studien, 103f., wiederum handelt es sich aufgrund des eigenen .geistigen und sprachlichen Hintergrundes' von Am 9,4b gegenüber V.l und der engen Beziehung von V.4b zum Jeremiabuch um eine sekundäre Fortsetzung von Am 9,1, bevor 9,2-4a eingefügt wurde. 136 Vgl. WILLI-PLEIN, Vorformen, 54. Zur positiven Rede vom .Richten der Augen auf
j e m a n d e n ' s. G e n 4 4 , 2 1 ; J e r 3 9 , 1 2 ; 4 0 , 4 . 137
Die ausschließlich negativ gebrauchten Konstruktionen CO + n:s + bs und CTÖ + n?s + kommen nur bei Ezechiel vor und beziehen sich stets auf das Angesicht des Propheten (Ez 29,2; 35,2 bzw. Ez 6,2; 13,17; 21,7; 25,2; 28,21; 38,2). Auch B-tp + n?Si + ? wird ausschließlich negativ gebraucht (Lev 20,5; Jer 21,10; 44,11; Ez 14,8; 15,7), bezieht
60
Abschnitt
A: JHWHs Wirken in der
JHWH-Ferne
struktion o,ic + + ~b neben Am 9,4b nur noch in der Verheißung Jer24,6, wobei die Formulierung ...~b orp^l! "TS "nntn jeweils identisch ist.138 Besondere Beachtung verdienen ferner Jer 21,10; 44,1 lf. und 44,27: In allen drei Texten richten sich JHWHs Augen oder sein wachsamer Blick zum Bösen (Hin1?) gegen oder auf etwas. In Jer 21,10 und Jer 44,27 wird das Böse überdies dem Guten gegenübergestellt: raitsS nSi nan1?. Die Feststellung, es tue einer „Böses und nicht Gutes", findet sich nur sechsmal im Alten Testament,139 dabei die Formulierung rniti1? kVi ausschließlich bei Jeremia und Arnos:140 Hier, wie auch in Jer 44,11 f., richten sich JHWHs Angesicht oder Auge, Wort oder Wachsamkeit gegen das eigene Volk.141 Auffällig ist in Jer 44 ebenfalls die Rede vom Schwert, vom Rest und von der Vernichtung aller. Die Umkehrung bzw. eine unerwartete Interpretation geläufiger Vorstellungen oder Formulierungen findet sich häufiger im Amosbuch.142 Wo sie nicht auf den Autor der Grundschicht zurückzufuhren ist, geht sie vermutlich auf eine entsprechende „Amos-Schule" zurück. Demgegenüber bewegen sich die Jeremiatexte weitgehend innerhalb sprachlicher Konventionen: So ist JHWHs unheilvolle Absicht in Jer 21,10 und 44,11 eingebunden in die üblicherweise negative Konstruktion D'Ö + n:a + 2 (vgl. Anm. 136), während Jer 24,6 ¡"Dia1? mit einer normalerweise positiven Formulierung verknüpft. Allerdings ist Jer 24,6 gewissermaßen ,überkonventionell': Da die Konstruktion O'to + mit dem Objekt der Person bereits an sich positiv konnotiert ist, bedarf sie eigentlich nicht der Ergänzung durch raia1?. Diese Ergänzung ist jedoch durchaus sinnvoll, wenn die Redeweise bereits ,pervertiert', also z.B. mit Hin1?, gebraucht worden ist - wie es bei Arnos der Fall ist. Außerhalb der sprachlichen Konventionen liegt Jer 44,27 mit der Kombination von Dn^i: t p ö und raiü1? x'Si ninb, worin eine Ähnlichkeit des
sich aber auf Gott. Ähnlich auch die Konstruktion Wz. yiJ + 71» + 3 (Ez 14,8; 15,7 u.ö); Vgl. VAN DER WOUDE, Art. O'JB, 451 f. 138
der
Das gilt auch für die griechische Übersetzung (mit Ausnahme des Alexandrinus,
to TTPOOCOTTOV
statt tou; 66B).
II. Erweiterter
Bewegungsspielraum:
Ps 139
115
In Entsprechung zu den Wortbeziehungen in Ps 139,2 dient auch in V.3 "OTrbsi als Oberbegriff für THK.64 Hier ist die Zusammenfassung noch deutlicher zu erkennen als im vorigen Vers, da die inhaltliche Nähe der Begriffe noch größer ist: rnx begegnet im Perfekt noch in Hi 34,8, ansonsten ausschließlich im Partizip. Das von derselben Wurzel stammende rnx bezeichnet im Alten Testament vielfach den Lebensweg oder Lebenswandel eines Menschen, namentlich in der weisheitlichen Literatur.65 Eine vergleichbare Bedeutung findet sich für an verschiedenen Stellen.66 rnk und "|~n werden andernorts auch parallel, synonym oder antithetisch gebraucht.67 Die Gegenüberstellung von , rnx und rJzm in V.3 ergibt vor allem dann einen Sinn, wenn man für syi die Bedeutung des aramäischen Wortes, „sich lagern", annimmt (s.o.). Mit dieser Bedeutung wäre aramäisch JJin in Ps 139,3 ein Hapaxlegomenon (vgl. das hebräische in Lev 18,23 und 20,16). Dass JHWH alle Wege, den Lebens,wandel' des Menschen kennt, ist ein Gedanke, der sich auch andernorts findet, so in Hi 13,27, wo diese Kenntnis, das zeigen Terminologie und Kontext, nicht sonderlich positiv bewertet wird68 - im Gegensatz zu Texten wie Ps 1,6 oder Ps 142,4. Auf den positiven oder negativen Klang des ersten Absatzes von Ps 139 komme ich noch zurück.
die er getan hat (nto), und für seine Ratschlüsse „von ferne" (pirnn niäJ?). Jer 31,3 spricht davon, dass Gott von ferne erschienen sei. Umgekehrt ist in Hi 36,25 davon die Rede, der Mensch könne Gottes Wundertaten nur „von ferne" sehen - wiederum ein Hinweis auf die große Distanz zwischen beiden. 64 Sitzen, Aufstehen und Gehen finden sich als partes pro toto ftlr die verschiedenen Lebenslagen auch in Dtn 6,7; 11,19 (vgl. auch Jes 37,28). 65 Ps 119,101.104.128; Prov 2,8; 5,6; 8,20; 10,17; 12,28; 15,24; 17,23; vgl. Hi 8,13; 13,27; 19,8; 22,15; 34,8; Ps 16,11; 17,4; Prov 1,19; Jes 2,13; 2,20; 40,4; sowie Jes 26,7 u.ö. S. auch SCHÜNGEL-STRAUMANN, Gattung, 43. 66 Zum weisheitlichen Motiv „Weg des Lebens" s. LIESS, Weg, 237ff. 67 Parallel bzw. synonym: Ps 25,4; 27,11; Prov 2,8.20; 3,6; 4,14; 9,15; Jes 2,3; 30,11; 40,14; Joel 2,7; Mi 4,2. Antithetisch Prov 2,13; 12,28; 15,9. 68 Ähnlich das Zitat dieser Stelle in Hi 33,11; vgl. auch Hi 23,10; 31,4; 34,21. Hi 34,22 verweist zudem auf die Unmöglichkeit, sich vor JHWH in Dunkelheit und Finsternis zu verstecken. In Hi 14,16, stellt JHWHs Schrittezählen eine - negativ konnotierte? - Überwachung Hiobs dar, die aber durch Nichtbeachtung der Sünden (nlDÖn-«1? 'nKQn-1?») relativiert wird (zu diesem Text s.u. Abschnitt A: III. dieses Hauptteils).
116
Abschnitt A: JHWHs Wirken in der JHWH-Ferne
ß) Die , Form' des Erkennens (V.4f.) In den folgenden Versen wird JHWHs Wissen über den Beter begründet. JHWH weiß, was im Beter vor sich geht, noch bevor dieser zu sprechen beginnt. Er umschließt den Beter von vorn, von hinten und - durch das Handauflegen - von oben. In V.4, der ebenfalls eine Reihe von Assonanzen enthält, wird der Gottesname wiederholt, und es begegnet erneut der Schlüsselbegriff BT: Der Topos der Kenntnis von Worten ist selten im Alten Testament. Er findet sich noch in Hi 23,5 - ebenfalls in der Kombination von BT und dem aramäischen, für Hiob typischen Wort o ^ p . Hier allerdings wünscht sich Hiob die Kenntnis von JHWHs (antwortenden) Worten. Sehr indirekt begegnet der Gedanke, JHWH kenne die Worte der Menschen, in Jer 29,23 ("n"! und BT). In diesem Zusammenhang taucht in Ps 139,4 mit paiS erneut ein Wort mit Symbolcharakter auf: 'ptfl'? ist, indem es den Ort des physischen Ursprungs der Worte benennt, ein Schüsselbegriff für menschliche Rede - und damit Gesinnung - überhaupt. 69 Die Worte liegen auf oder unter der Zunge; 70 und gelegentlich wirkt die Zunge beinahe wie eine selbständige Größe. 71 Während V.4 keine eindeutige Wertung des Geschilderten enthält, ist eine solche in V.5 durchaus erkennbar. 72 TS hat keine schützenden Aspekte, sondern bedeutet im ursprünglichen Sinne „zusammenschnüren, belagern" - ist also eindeutig negativ konnotiert. 73 Was das Handauflegen in V.5b angeht, so muss eine positive oder negative Bedeutung aus dem Kontext erschlossen werden. Um eine Segens- oder Schiedsgeste wie in Gen 48,14. 17 bzw. Hi 9,33 handelt es sich in Ps 139,5 wohl kaum; 74 bei Hiob steht im übrigen T rrttf, nicht «]? rvffl.75 Und auch die Texte, die von der Hand 65
In dieser Weise wird das Wort vielfach in den Psalmen und den Proverbien verwendet; vgl. Ps 10,7; 12,4; 31,21; 34,14; 37,30; 52,4.6; 73,9; 140,12; Prov 10,31; 15,4; 25,15 u.ö.; vgl. auch Hi 6,30. 70 Auf der Zunge: II Sam 23,2; Prov 31,26; darunter: Hi 20,12; Ps 10,7; 66,17. In II Sam 23,2 ist die Rede davon, dass das Wort (n^n) JHWHs auf der Zunge Davids sei. 71 Ps 51,16; 52,4.6 u.ö. 72 So auch W. GROSS, Gottesnähe, 76. 73 BRIGGS, ICC, 496, ändern das Wort aufgrund seines negativen Klanges und lesen „Thou dost watch me". Sollte dieses in der Deutung so problematische Wort „um des Reimes willen", d.h. für die Assonanz mit V.3 gewählt worden sein (Assonanzen zwischen ' r n x und l i n s ; n n t und •orns)? 74 Anders ZENGER, Morgenröte, 248. 75 Zur Schreibweise von ra? vgl. BARR, Spellings, 114ff., bes. 118f.
II. Erweiterter
Bewegungsspielraum:
Ps 139
117
Gottes auf dem Propheten sprechen (Ez 1,3 und 3,22; ebenfalls T), haben mit Ps 139,5 keine wirkliche Gemeinsamkeit.76 Zwar ist in Ps 139,5 diese Geste wie dort Ausdruck eines Machtgefälles, aber Gottes Hand über dem Propheten bedeutet zugleich den Zwang zur prophetischen Tätigkeit, während in Ps 139,5 kein Zwang oder erzwungenes Verhalten erkennbar sind: JHWH kennt das Verhalten des Beters, aber er bestimmt es nicht.77 Von JHWHs schützender *]? über (bv) einem Menschen ist lediglich in Ex 33,22 die Rede.78 Doch entspricht JHWHs Handauflegen in Ps 139,5 vermutlich eher der bedrückenden Hand (*]?) Gottes über/auf (bä) Hiob von Hi 13,21 als der schützenden Hand über Mose.79 Dies legt vor allem der Zusammenhang mit der Belagerung in 5a nahe, umso mehr, als JTtö auch andernorts im Belagerungskontext begegnet.80 Bereits in diesem Vers zeichnet sich ab, dass es keine Richtung gibt, in die der Beter vor JHWH entkommen könnte; der Fluchtgedanke wird schon mit dem Topos des Belagerns evoziert.81 Wohl kaum sind in 5a mit D~tj?i -lirtK Himmelsrichtungen82 oder „alle vier Grundrichtungen" 83 gemeint. Zwei sind nicht vier, und man sollte die bipolare Struktur eines Merismus nicht beliebig multiplizieren, zumal „(nach) vorn" und „(nach) hinten" die primären Bewegungsrichtungen darstellen, insbesondere im Bildzusammenhang des Weges (vgl. V.3). Insofern kann die Belagerung als vollständig aufgefasst werden. Und die Hand, die von oben auf dem Beter lastet,84 versperrt schließlich die letzte Richtung - obwohl ,oben' nicht einmal mehr einen realen Fluchtweg darstellt. Der Beter ist in der Horizontalen und in der Vertikalen von JHWH eingeschlossen.85
76
S. WAGNER, Theologie, 135. Es geht nicht um einen Berufungszusammenhang, dem der Beter in V . 7 - 1 2 zu entfliehen sucht, wie S. WAGNER, Theologie, 135f. vorsichtig erwägt. 78 "]3ip kann in diesem Zusammenhang nur Schutz bedeuten. 79 Zur negativen Deutung dieser Wendung s. auch W. GROSS, Gottesnähe, 75f. 80 Ps 3,7; vgl. auch - allerdings mit anderen Konstruktionen - Ps 17,11; 48,13f. 81 Vgl. S. WAGNER, Theologie, 135f.; GLENN, Exposition, 162. 82 So HOLMAN, Analysis, 45, unter Berufung auf Hi 18,20. Dass es, wie SCHÜNGELSTRAUMANN, Gattung, 43 Anm. 40, annimmt, eigentlich um Westen und Osten und wie in Hi 18,20 um ein Gericht gehe, ist m.E. aus Ps 139,5 nicht ersichtlich. 83 KRASOVEC, Polare Ausdrucksweise, 236; ähnlich DAHOOD, AncB, 287. 84 Eine Belastung zeigt auch der Gebrauch von rra in Ex 21,22.30; Num 12,11; Ruth 3,15; vgl. die Redewendung 2b rvtf I Sam 4,20 u.ö. 85 Vgl. W. GROSS, Von YHWH belagert, 177. 77
118
Abschnitt A: JHWHs Wirken in der
JHWH-Ferne
y) Zu wunderbare Erkenntnis (V. 6) Der erste Teil schließt mit dem Ausruf des Beters über die wunderbare und unfassbare Erkenntnis JHWHs. Dafür, dass diese mit run gemeint ist, spricht das Attribut "W1?? (V.6), ist doch Wz. K^s mit allen Derivaten typisch für Taten oder Attribute JHWHs.86 Nicht zuletzt deswegen ist jetzt von einer negativen Bewertung nichts mehr zu spüren; Wz. xbs und verwandte Begriffe sind in der Regel positiv konnotiert. Auch Nif. hat - besonders im Blick auf die Hoheit JHWHs oder seines Namens - positiven Charakter.87 Trotz alledem hat V.6 nicht den Klang uneingeschränkten Jubels, sondern es dominiert der Hinweis auf das mangelnde Fassungsvermögen des Beters angesichts der zu wunderbaren, nicht zu bewältigenden Kenntnis JHWHs.88 Ein solcher Verweis auf die Unfassbarkeit, die Unerträglichkeit (Wz. ba1) von JHWHs Hoheit oder Gedanken findet sich auch in anderen alttestamentlichen Texten. 89 Damit schließt der erste Teil des Psalms. Alle sechs Verse leisten eine Verhältnisbestimmung von JHWH und dem Beter. Es geht um des Beters Erkanntwerden durch den, der ihn im Innersten durchschaut, der ihn umgreift und einschließt. Und es geht um die Unfassbarkeit dieser Erkenntnis für den Erkannten. Wohl kaum lässt sich daher im Blick auf den Inhalt des ersten Teiles von ,Allwissenheit' Gottes sprechen.90 Der Beter ist nicht 86
Der griechische Text liest - wie auch in V.14 - Oauiiaotou. Auch vom Namen Gottes wird gesagt, er sei (zu) wunderbar ('S 1 ??): Ri 13,18. 87 Vgl. Jes 2,11.17; 12,4; 33,5, so auch Ps 148,13; ähnlich Prov 18,10f. 88 Ähnlich WÜRTHWEIN, Erwägungen, 191; vgl. GLENN, Exposition, 173. 89 Vgl. Hi 31,23 u.ö. Auch in Hi 42,2f. bekennt wie in Ps 139,6 der Beter, dass Gottes Fähigkeiten und Ratschlüsse seiner Erkenntnis verschlossen bleiben und zu wunderbar für ihn sind: , 3rap...nK ,l ?2. Die zwei weiteren zentralen Elemente, Können und Kennen, sind in beiden Texten einander unterschiedlich zugeordnet: Während es in Ps 139,6 die Erkenntnis ( n i n ) Gottes ist, die der Beter nicht bewältigen kann ("731K"«1?), ist es in Hi 42,2f. seine eigene Erkenntnis(-fähigkeit) ( n j n ) , die JHWHs Können *») nicht zu erfassen vermag. Dennoch sind die jeweiligen Gesamtaussagen sehr ähnlich; vgl. SCHÜNGEL-STRAUMANN, G a t t u n g , 4 6 m . A n m . 8 6 . 90
So z.B. KRASOVEC, Polare Ausdrucksweise, 225; Chr. MAIER, Beziehungsweisen, 174 (für den gesamten Psalm; für V . l - 6 spricht sie von „Allgegenwart"); KITTEL, KAT XIII, 419 u.a. Vgl. die Kritik von W. GROSS, Von YHWH belagert, 176: Ähnliche Zurückhaltung erweist sich auch im Blick auf den weiteren Text als geboten, für den vielfach die Kategorien Allgegenwart und Allwirksamkeit bemüht werden (Kittel, Weiser, Kraäovec u.a.). S. WAGNER, Theologie, 133, spricht beispielsweise von „Jahwes Omniscienz, Omnipotenz und Ubiquität". Nach HÜBNER, Psalm 139, 139f., gilt der Psalm „in der kirchlichen Tradition als locus classicus für die biblische Auffassung von
II. Erweiterter
Bewegungsspielraum:
Ps 139
119
,alles'. 91 Wenn JHWH ihn kennt, ist das wunderbar und unbegreiflich, aber keine Allwissenheit. Über den Charakter dieser Verhältnisbestimmung, ob sie nun einen positiven oder negativen Gesamtklang habe, wird in der Forschung kontrovers diskutiert.92 Das ist nicht erstaunlich, da zumindest die ersten vier Verse für beide Deutungen offen sind. Eindeutig ist dagegen der negative Klang in V.5, der von der Demutsgeste in V.6 vielleicht abgeschwächt, nicht jedoch aufgehoben wird. Insofern V.5 zur Begründung der Verse l b 3 gehört und negativ konnotiert ist, ist denkbar, dass der negative Klang gewissermaßen rückwirkend auf das Vorangegangene ,abfärbt'. 93 Eher noch ist aber meines Erachtens an der Offenheit des Anfangs festzuhalten. Möglicherweise liegt es gar nicht in der Intention des Psalms, einen eindeutig positiven oder negativen Klang von vornherein festzulegen. b) Teil II: Die Nähe des Schöpfers zum Geschöpf (V. 7-18) a) Keine Zuflucht vor JHWH (V. 7-12) 1) Keine Zuflucht im Kosmos (V. 7-10) Ab V.7 wird hyperbolisch ausbuchstabiert, was bislang nur angedeutet wurde (V.5): die Unmöglichkeit, vor JHWH zu fliehen. V.7 setzt direkt mit der entscheidenden rhetorischen Frage nach dem , Wohin' ein: 7a und 7b, mit ihrem charakteristischen Wechsel von k und n,94 beginnen beide mit n:x, wobei das jeweils Folgende, ^nna bzw. rnax ^pJSB, chiastisch angeordnet ist. "f?n und rna werden auch andernorts parallel oder im selben Zusammenhang gebraucht.95 r r o entspricht dabei präzise dem, was in V.5 anklingt, insofern es nicht wie 013 die Flucht vor einer Gefahr bezeichGottes Allwissenheit, Allgegenwärtigkeit und Allwirksamkeit". Hübner selbst übernimmt ebenfalls diese Kategorien, die in der älteren Exegese selbstverständlich sind (Briggs, R. Kittel, Gunkel, Kraus, Weiser, Pettazoni u.a.), sich aber nach wie vor auch in jüngeren Auslegungen finden (Gerstenberger, Schaefer u.a.). 91 Die Texte, die PETTAZONI, AU-Knowing God, 97ff. als Belege für die Allwissenheit Gottes im Psalter anführt, beziehen sich fast ausschließlich auf die Taten und Gedanken der Menschen. 92 Einen negativen Klang der Verse konstatieren W. GROSS, Von YHWH belagert, 175-178; WEISER, Psalmen, 555; Chr. MAIER, Beziehungsweisen, 176f. u.a.; einen positiven z.B. KILIAN, In Gott geborgen, 99, und GOULDER, Psalms, 243, obwohl auch sie V.5 als negative Aussage betrachten. 93 Vgl. W. GROSS, Gottesnähe, 77; DERS., Von YHWH belagert, 176. 94 Vgl. auch V.8 mit dem Wechsel von K und ¡2. 95 Vgl. Ri 9,21; I Sam 19,12; II Sam 13,37.38; Jer 52,7; Am 7,12.
120
Abschnitt A: JHWHs Wirken in der
JHWH-Ferne
net, sondern die Flucht „aus den angestammten Verhältnissen (Stand, Heimat, Herrschaftsbereich), um als Flüchtling und Emigrant anderswo weiterzuleben".96 Wer einer Belagerung zu entkommen sucht, verlässt im Regelfall ,seine angestammten Verhältnisse'. Wo r r n mit man steht, bezeichnet es die Flucht aus dem Macht- oder Einflussbereich einer bestimmten Person.97 Während ipasn in Ps 139,7 Teil einer festen Redewendung ist und keiner weiteren Diskussion bedarf, ist von einer Flucht vor Gottes Geist sonst im Alten Testament nicht die Rede. In Hi 4,9; 15,30 heißt es immerhin, dass der Gottlose vor dem Hauch von JHWHs Nase oder Mund weichen müsse oder gar durch ihn umkomme.98 Ähnlich wie in V.7 sind auch in V.8 beide Vershälften parallel gebaut, 8b setzt mit dem Kohortativ nysio den Konditionalsatz 8a fort. Auf der lautlichen Ebene fällt neben der Assonanz von D^atö und DO der Wechsel von K und bei den Wortanfängen auf.99 Das nnx Ott? am Ende von 8a lässt zudem noch leise das wiederholte HON von V.7 anklingen. Auch V.8 enthält seltenes Vokabular. p"?0 ist ein Hapaxlegomenon und vermutlich ein aramäisches Lehnwort;100 SJ2T Hif. begegnet nur noch Jes 58,5, im Hof. noch Est 4,3 und Jes 14,11. Dabei ist auch in dem bereits genannten Text Jes 14,11 vom Bett in der Scheol die Rede: Slxtti -nin rran na") 2T f n n n :nci?in 'Y'pppi
Hinabgestürzt in die Scheol sind deine Pracht, der Klang deiner Harfen, Unter dir zum Bett bereitet sind Maden, und Würmer sind deine Decke.
Die Vorstellung vom Bett in der Scheol findet sich auch in Hi 17,13:101 l
n , 3 SiKtÖ mpK'a« Wenn ich [noch so lange] wartete: Die Scheol ist mein Haus, ^Bis-1 'rnsn "^ttfna in der Finsternis habe ich mein Bett ausgebreitet.
96
SCHWERTNER, Art. OI:, 4 8 .
97
G e n 1 6 , 6 . 8 ; 3 5 , 1 . 7 ; E x 2 , 1 5 ; Ri 1 1 , 3 ; I S a m 2 1 , 1 1 ; I R e g 2 , 7 ; 1 2 , 2 par I I Chr 1 0 , 2 ;
Ps 3,1; Ps 57,1; vgl. II Sam 15,14. Dasselbe gilt auch für Jon 1,3.10, wo von der Flucht des Propheten vor JHWH die Rede ist. 98
Vgl. II Sam 22,16 par Ps 18,16. Der Begriff der Spiritualisierung (S. WAGNER,
Theologie, 137) scheint mir hier nicht angebracht. 99 SCHONGEL-STRAUMANN, Gattung, 43 Anm. 47, erwägt aufgrund des Wechsels von N und Ii, es habe statt "jan ursprünglich ^pti gestanden, das dann einer dogmatischen Korrektur zum Opfer gefallen sei. Da sie die dogmatischen Gründe nicht wirklich überprüft, wirkt ihr Vorschlag eher wie eine Schönheitskorrektur. 100 So auch SCHUNGEL-STRAUMANN, Gattung, 43 Anm. 45; GOULDER, Psalms, 244. 101
Vgl. auch Hi 21,26.
II. Erweiterter
Bewegungsspielraum:
Ps 139
121
Dem Bild vom Bett verwandt ist die Vorstellung vom Tod als Schlaf, die beispielsweise in Hi 14,1 lf. begegnet.102 Obwohl beide Vorstellungen demselben Motivbereich angehören, sind sie doch insofern zu unterscheiden, als das Bereiten des Bettes noch zu den Vorbereitungen auf den Schlaf gehört und nicht mit ihm identisch ist. Ps 139,8 spricht also nicht von einem Menschen, der bereits im Todesschlaf liegt, sondern die Vorbereitungen dazu trifft. Wie in Am 9,2 handelt es sich um einen lebenden Menschen, der sich in die Scheol begibt. Während dort aber der Ton auf dem für Lebende normalerweise verschlossenen Zugang („einbrechen") liegt, kommt es in Ps 139,8 stärker darauf an, den Kosmos mit Hilfe mehr oder weniger geläufiger Bilder zu umreißen. Dem entspricht neben der Rede vom „Aufsteigen zum Himmel" und vom „Bett in der Scheol" nicht zuletzt die Reihenfolge der hypothetischen Fluchtorte in Ps 139,7-12: Der Text setzt nicht ein mit der Flucht zum vermeintlich ,JHWH-fernsten' Ort, der Scheol, sondern mit einer Bewegung zum Himmel - wie es häufig der Fall ist bei Texten, die den Kosmos über seine verschiedenen (Rand-) Bereiche in seiner Gesamtheit erfassen wollen. Markantester Unterschied zu Am 9,2 ist jedoch der Umstand, dass in Ps 139 nicht allein von JHWHs Zugriffsmöglichkeit an den betreffenden Orten, sondern explizit von seiner Präsenz die Rede ist. Ich komme an späterer Stelle darauf zurück. Die Verse 9-10 führen mit ihren Kohortativ- und Imperfektformen den konditionalen Zusammenhang weiter. Neben der Vertikalen , Himmel Unterwelt' geht die hypothetische Fluchtbewegung nun in eine neue Dimension im Raum, in die Horizontale.103 Die „Flügel der Morgenröte" sind zwar ein im Alten Testament nahezu einzigartiges Bild, aber durchaus nicht so abwegig, dass seine Authentizität in Zweifel gezogen werden müsste.104 Dabei geht es nicht um eine mythische Gottheit, die sich normalerweise der Flügel bedient.105 Wenn es in Israel eine mythische Vor-
102
Vgl. Jer 51,39.57. In Ps 103,11 f. findet sich eine Kombination von Himmel und Erde, Osten (nnrp) und Westen (ans;p), in Hi 11,7-9 sind Himmel, Unterwelt, Erde und Meer einander gegenübergestellt - jedesmal dienen die Bereiche als Paradigmen für Höhe, Tiefe, Länge, Breite der göttlichen Gnade bzw. Weisheit. 103
104
KÖHLER, Morgenröte, 56f. betrachtet Ps 139,9 als .fragwürdigen Beleg' für nno. Anders S. WAGNER, Theologie, 138: „Yam und Sahar sind kanaanäische Gottheiten, und die majestätische Sonne [...] bedeutetet nach altorientalischer Überzeugung eine mächtige Gottheit, der man sich vor nachstellenden Göttern hypothetisch durchaus anvertrauen könnte. Überdies wäre Schamasch zugleich eine Himmels- und Unterwelts105
122
Abschnitt A: JHWHs Wirken in der JHWH-Ferne
Stellung von der Morgenröte gegeben haben sollte - und sei es als ,kanaanäisches Erbe' -, 1 0 6 ist hier eine solche nicht unmittelbar erkennbar.107 Vielmehr sind die „Flügel der Morgenröte" zuerst ein poetisches Bild wie auch die „Wimpern der Morgenröte" in Hi 3,8 und 41,10. Sodann verweist das Verbum K03 auf eine mögliche Deutung von Ps 139,9: Vom „Heben der Flügel" wird sonst nur noch in Ez 10,16.19 und 11,22 gesprochen, wo davon die Rede ist, dass die Keruben ihre - eigenen - Flügel höben, um sich fortzubewegen.108 Das Heben der Flügel der Morgenröte in Ps 139,9 ließe sich entsprechend am ehesten so verstehen, dass es sich zwar nicht wie bei den Keruben um das Bewegen eigener Gliedmaßen handelt, wohl aber, technisch ausgedrückt, um den Gebrauch eines Fortbewegungsmittels. Das verwiese auf die Funktion der Flügel als Fluchtmittel.109 Vermutlich schwingt zudem noch die Vorstellung von den „Säumen der Erde" (yixn niS33) mit, welcher der Gedanke von der Erde als einem aufgespannten Tuch zugrunde liegt (vgl. Hi 26,7). Diese „Säume" werden in Hi 38,12f. von der Morgenröte ergriffen (tnx vgl. Nil] in Ps 139,9), um die Frevler herauszuschütteln.110 Der Dual in Ps 139,9 stellt allerdings das Bild vom Flügelpaar eindeutig in den Vordergrund. Dennoch kann man davon ausgehen, dass es in V. 9 um den äußeren Rand der Erde im Osten geht,111 wie es auch die Gegenüberstellung mit dem Ende des (westlichen) Meeres nahelegt (das - anders als der Meeresgrund in Am 9,3 - in diesem Zusammenhang gleichfalls keine mythische Konnotation aufweist).112 Denn die Interpretation als Bewegung von Osten gottheit." Auch CROSEMANN, Meditation, 360, spricht von ,Himmelsgöttern', ,Totengott', Meer und Morgenröte als Gottheiten. 106 Vgl. GOULDER, Psalms, 243, demzufolge die Morgenröte, eine ursprünglich kanaanäische Gottheit, in Ps 139 immer noch als eine niedere Macht gilt. S. auch PARKER, Art. Shahar, 754f. 107
108
Ä h n l i c h KRAUS, B K X V / 2 , 1 0 9 8 .
Vgl. Jakobs Heben seiner Füße Gen 29,1. WEISER, ATD 15, 553, und ähnlich GUNKEL, Psalmen, 591 u.a. heben die von Flügeln verliehene Schnelligkeit hervor; vgl. DUHM, KHC XIV, 457. 110 Bemerkenswert ist zudem die Kontextähnlichkeit: Auch in Hi 38,2-18 wird der Kosmos in seiner Tiefe und Breite umrissen, und die Rede von den „Säumen der Erde" schließt unmittelbar an einen Abschnitt von den äußeren Begrenzungen des Meeres (V.8-11) an. 1,1 Auch PARKER, Art. Shahar, 755, versteht die „Flügel der Morgenröte" als Bezeichnung für den äußersten Osten. 112 Anders SCHÜNGEL-STRAUMANN, Gattung, 48, mit ihrer Vermutung, dass mit Unterwelt, Meer, Finsternis polemisch auf,klassische Chaosmächte' rekurriert werde. WEISER, ATD 15, 555f., spricht von einer Flucht zu fremden Göttern oder mit magischen 109
II. Erweiterter Bewegungsspielraum:
Ps 139
123 113
nach Westen mit Hilfe der wörtlich verstandenen Flügel der Morgenröte entspringt wohl eher dem Kopernikanischen Weltbild als den zeitgenössischen Vorstellungen, weil eine solche Bewegung im Gegensatz zum Sonnenlauf nicht zu erkennen ist. Vielmehr taucht die Morgenröte am Morgen im Osten auf und verschwindet dann. Wiewohl eine Himmelserscheinung, gehört sie lediglich zum Grenzbereich zwischen Himmel und Erde. So ist meines Erachtens in V.9a und 9b von unterschiedlichen Vorgängen die Rede, wie es auch in V.8 der Fall ist - und wie es wohl auch den damaligen kosmologischen Vorstellungen entspricht. V. 9a thematisiert folglich eher einen hypothetischen „Aufenthalt" des Beters im äußersten Osten als eine Bewegung von dort weg. Dem wird auch dadurch kein Abbruch getan, dass "TO normalerweise nicht zur Bezeichnung des Ortes, sondern des Zeitpunkts des Sonnenaufgangs verwendet wird. 114 Den Ort bezeichnet, wenn nicht D"lp steht, sondern er über die Sonnenbewegung definiert wird, rnra „Aufgang", rnra wird gelegentlich auch er gegenübergestellt. 115 Ähnliches trifft für irnnK zu. Abgesehen von der eher selten vertretenen Bedeutung als „Rest" 116 bezeichnet ¡"HnK meist ein zeitliches Ende. In Ps 65,6, einem Text, der wie Ps 139,9 auf das räumliche Ende (der Welt) abhebt, steht nicht r n n « , sondern fp. 1 1 7
So geht es wie in V.8 auch in V.9 darum, den Kosmos anhand seiner Ausdehnung zu erfassen, diesmal nicht in der Vertikalen, sondern in der Horizontalen.118 Damit ergibt sich hier, im Gegensatz zu Am 9,2-4a, das sich
Mitteln (den Flügeln der Morgenröte), die vom Beter abgelehnt werde. PRESSLER, Certainty, 93, stellt (unter Berufung auf den Sonnenlauf) Ost und West als Orte des Lebens und des Todes einander gegenüber. 113 Vgl. GUNKEL, Psalmen, 591; HOLMAN, Structure, 309; DAHOOD, AncB, 289. Diese Deutung klingt auch an bei GERSTENBERGER, FOTL XV, 403. IRSIGLER, Flucht, 222f., vermutet auch hier, d.h. für die Verse 8f., wie bei Am 9,2f. eine Beschreibung des m y thisch-empirischen Sonnenlaufs', ohne allerdings ein dezidiert solares Gottesbild für Ps 139 zu vertreten (vgl. aaO 223f.). Letzteres tut dagegen nachdrücklich ALBANI, Problematik, 28, unter Verweis auf ägyptische Vorstellungen. 114 Gen 19,15; 32,25.27; Jos 6,15; Ri 19,25; Neh 4,15; Hos 10,15; Jon 4,7 u.ö. 115 Dtn 3,27; Jos 11,3; 19,34; I Reg 7,25 par II Chr 4,4; I Chr 9,24; Sach 14,4; vgl. Am 8,12. Das in Ps 107,2 beruht wohl auf einem Schreibfehler. 116 Den Umstand, dass es sich hier um denselben Begriff handelt wie in Am 9,1, sollte man nicht überbewerten, da Am 9,1 einer anderen literarischen Schicht zugehört als der eigentliche „Paralleltext" zu Ps 139,7ff.: Am 9,2-4a. 117 Vgl. auch Ps 61,3; Ps 72,8; Sach 9,10. 118 Dabei klingt in der Rede vom „Heben" bzw. „Sich niederlassen" durchaus noch die Bewegung in der Vertikalen an.
124
Abschnitt
A: JHWHs Wirken in der
JHWH-Ferne
auf die Vertikale beschränkt,119 eine gewisse räumliche Vollständigkeit, selbst wenn die Nord-Süd-Dimension fehlt. Die untypische Wortwahl zur Umschreibung von Ost und West (intö und lT~iniike I T ]3 so auch, wer hinabsteigt in die Scheol: :rf?sr tib er wird nicht wieder heraufsteigen. Irr;?1? Tis) aiö^K'b 10 Nicht wird er zurückkehren mehr zu seinem Haus, :inpa Iii) laT^KVl und nicht wird ihn kennen mehr sein Ort.
Dagegen besteht ftir den Menschen, der sich in der Unterwelt der Lebenden befindet, durchaus noch die Möglichkeit zur Rettung, zum , Heraufgeholtwerden aus der Scheol'. Wer sich dort befindet, ist nicht von JHWHs Hand, d.h. Handeln, abgeschnitten.21 Ist aber die Grenze des physischen Todes einmal überschritten, dann ist die Verbindung zu JHWH endgültig gekappt, die Hoffnung auf Rettung nichtig.22 „Wer da hat, dem wird gegeben", möchte man assoziieren: Nur wer noch einen Funken Leben in sich trägt, kann nach dieser Vorstellung von JHWH neu belebt und aus der Scheol heraufgeholt werden. Und was für die Beschreibung der Lebensminderung als Tod gilt, gilt in ähnlicher Weise auch für die Rede von der Rettung vom bzw. aus dem
18
19
V g l . BARTH, E r r e t t u n g , 9 2 ; BERLEJUNG, T o d , 4 8 7 .
Auch Ps 80,19 argumentiert so, obwohl von der Unterwelt nicht die Rede ist. Vgl. auch Hi 14,10.12; Jes 26,14. Die entgegengesetzte Aussage in Jes 26,19 bezieht sich bildhaft auf die Restitution Israels, s. z.B. WILDBERGER, BK X/2, 995. Andere Deutungen streichen den Vers aus dem ursprünglichen Text (dazu ebd.). Zu Hi 7,9 im Kontext anderer Vergänglichkeitsklagen bei Hiob und zu ihrem Appellcharakter s. VAN OORSCHOT, Menschenbild, 326-328. 21 S. auch LIESS, Weg, 326f. 22 Zu den Berichten über Totenauferweckungen I Reg 17; II Reg 4 s. unten S. 374. Diese spielen hier insofern keine Rolle, als sie einem anderen Vorstellungs-, Traditionsund Bildbereich zugehören. Ein Wirken JHWHs ist in II Reg 4 nicht zu erkennen; in I Reg 17 nur mittelbar. Auch ist der Vorstellungsbereich der Unterwelt in beiden Beispielen völlig ausgeklammert. Stattdessen liegt der Ton darauf, dass verlorenes Leben in einen Körper wieder zurückkehren kann. 20
228
Abschnitt A: JHWH rettet aus der Unterwelt
Tod: Insofern die Todeserfahrung des Bedrängten real ist, ist auch die Rettungserfahrung real.23 Entsprechend fasst Christoph Barth zusammen: 24 „Die Errettung vom Tode, speziell: die Errettung aus Tod, Scheol, Grube und Wasser, ist eine Ausdrucksform für den Vorgang, der sonst meistens als Errettung von Feinden, aus Not und Bedrängnis usw. dargestellt wird. Diese Ausdrucksform bezieht sich auf alle Arten der Bedrängnis, ursprünglich vielleicht nur auf Krankheit. Ihre Verwendung ist im Dankliede literarische Tradition geworden; im Klagelied war sie der Freiheit des Dichters überlassen."
Zugleich aber trifft hinsichtlich des Bildhaften für die Rettungserfahrung dasselbe zu, was oben von der Notschilderung gesagt wurde: Unabhängig vom - nach unserem Verständnis - tatsächlichen' Aufenthaltsort des Beters zum Zeitpunkt seiner Rettung wird mit den verschiedenen Begriffen für Unterwelt und Grab wie mit dem für die Rettungsaussagen charakteristischen nbu Hif. „heraufholen" der lokale Aspekt der Unterwelt aufgegriffen, wodurch auch der Rettungsaussage zumindest teilweise bildhafter Charakter verliehen wird. Beispiele dafür sind etwa Ps 30,4 und 71,20:25 Ps 30,4 lautet: 'ÖSJ
ir^sn rnrr Hi2~,"l")i,a 'JrPTl
JHWH, du hast heraufgeholt aus der Scheol meine napces, du hast mich aufleben lassen weg von denen, die hinabsteigen in die Zisterne.26
Ps 71,20 knüpft an die V.19 abschließende Frage an: wer ist wie du?"
^ D,n'?K, „Gott,
rrtsni nian nfts 'Jirx-in -itfK Der du mich hast sehen lassen viel Not und Übles, T'nri belebe mich wieder, fjNn nionnpi und aus den Tiefen der Erde ¡'J^sri aiBfn hole mich wieder herauf.27
Wenn auch in diesen Texten terminologisch nicht unterschieden wird zwischen der Unterwelt der Toten und der Unterwelt der Lebenden, so ist doch evident, dass die Rettung aus dem ,partiellen' Aufenthalt in der Scheol bzw. aus der Scheol der Lebenden nicht einfach mit der Auferweckung eines Gestorbenen, d.h. der Rettung aus der Scheol der Toten identifiziert werden darf. 23
BARTH, Errettung, 9 4 .
24
BARTH, Errettung, 115f.
25
S. dazu auch JANOWSKI, „DU hast...", 327ff. Ketib. Qere lautet: „weg von meinem Hinabsteigen zur Zisterne". Qere. Ketib liest statt ^¡TKin und ,:l*nn Suffix der 1. Pers. PI.
26 27
I. Unterwelt der Lebenden und der Toten: die Individualpsalmen
229
Was bedeutet das für das Verhältnis von JHWH und Scheol? Auch in den Rettungsaussagen der Individualpsalmen wird, wenn auch in gänzlich anderer Weise als in den kosmologischen Texten, JHWH die Fähigkeit zugesprochen, an Lebenden in der Scheol machtvoll zu handeln.28 Welcher Art ist diese Macht? 2. Die Macht des Rettenden Wie in Am 9,1-4; Hi 14,13-17 und Ps 139 wird auch in den Individualpsalmen die Trennung der Toten von JHWH nicht infrage gestellt, sondern vorausgesetzt und zum Teil noch extra hervorgehoben - in Ps 30 (Endtext) sogar gewissermaßen in einem Atemzug. Wie dort richtet sich JHWHs Handeln auf lebende Menschen, die (indes aus anderen Gründen als in den ,kosmologischen' Texten) in die Scheol gelangt sind. Wenngleich dieses Handeln in erster Linie darin besteht, die Menschen aus der Scheol herauszuholen, und nicht darin, über einen längeren Zeitraum dort zu wirken, kann man dies als Machtausübung JHWHs in der Scheol auffassen. Sie beschränkt sich dabei auf die Scheol der Lebenden. Die Frage, ob diese Macht JHWHs in der Unterwelt der Lebenden zugleich eine Macht über sie darstellt, lässt sich nicht eindeutig beantworten, sondern ist meines Erachtens eine über die Textaussagen hinausgehende Frage der Darstellung. So existieren in der Forschung unterschiedliche Darstellungen, die sich letztlich auf ein und denselben Sachverhalt beziehen, ihn aber unterschiedlich beschreiben. So formuliert Podella: 29 „Jahwe rettet aus der in seinen Herrschaftsbereich sich hinein erstreckenden Unterwelt, nicht aus der Unterwelt als solcher. Mit der Unterscheidung der Unterwelt in eine jenseitige und eine diesseitige Form entscheidet sich auch das Verhältnis Jahwes zur eigentlichen Todesmacht selbst." Diese Feststellung impliziert eine bestimmte Schnittmenge von Unterwelt und JHWHs Machtbereich, wobei die Schnittmenge eindeutig nicht die Gesamtheit der Scheol umfasst, sondern - in der hier gebrauchten Terminologie - der Unterwelt der Lebenden entspricht. Zugleich impliziert Podellas Formulierung JHWHs Macht über die Unterwelt der Lebenden als einen bestimmten (nicht ausschließlich räumlich vorzustellenden) Bereich.
28 Es sei daran erinnert, dass Hi 14,13-17 gegen den Augenschein nicht auf diese Vorstellung des Heraufgeholtwerdens durch JHWH rekurriert. Denn Hiob ersehnt mit dem Verstecktwerden in der Scheol nicht ein Aufenthalt in der Scheol, der durch Lebensminderung zustandekommt: In solch einem Zustand der Lebensminderung befindet sich Hiob schon, den braucht er nicht erst zu erbitten. 29 PODELLA, Grundzüge, 79.
230
Abschnitt A: JHWH rettet aus der
Unterwelt
Anders bringt Perlitt diesen Sachverhalt zum Ausdruck, 30 indem er nicht von einem Bereich der Unterwelt spricht, der sich in JHWHs Macht- oder Herrschaftsbereich hineinerstreckt, sondern davon, dass JHWH die Todessphäre zurückdrängen, sie aufhalten könne. Diese Darstellung insinuiert keine Schnittmenge, sondern zwei widerstreitende Größen, von denen die eine größere Macht besitzt als die andere, aber deswegen nicht automatisch den Machtbereich der anderen (oder auch nur einen Teil davon) übernimmt. Beide Interpretationen, Podellas wie Perlitts, sind meines Erachtens gleichermaßen möglich. D a s s s i c h d i e F r a g e , o b J H W H s M a c h t in der U n t e r w e l t der L e b e n d e n z u g l e i c h s e i n e M a c h t über
d i e U n t e r w e l t der L e b e n d e n v o r a u s s e t z t o d e r i m -
p l i z i e r t , n i c h t e i n d e u t i g b e a n t w o r t e n lässt, h a t s e i n e n H a u p t g r u n d darin, d a s s i n d e n b e t r e f f e n d e n T e x t e n d a s V e r h ä l t n i s J H W H s zur U n t e r w e l t ( a l s e i n e m bestimmten räumlichen oder Macht-Bereich) eine
untergeordnete
R o l l e s p i e l t i m V e r g l e i c h z u J H W H s V e r h ä l t n i s z u d e n darin b e f i n d l i c h e n M e n s c h e n : 3 1 V o n v i e l größerer B e d e u t u n g a l s d i e
theologisch-abstrakte
F r a g e n a c h der H e r r s c h e r g e w a l t ü b e r e i n e n b e s t i m m t e n B e r e i c h ist, d e r Gebetssituation entsprechend, J H W H s Verfügungsgewalt über d e n Beter oder allgemeiner: J H W H s Macht über die M e n s c h e n , die sich aufgrund ihrer N o t s i t u a t i o n i n der S c h e o l (der L e b e n d e n ) b e f i n d e n u n d f ü r d i e er s i c h als , Quelle des Lebens' erweisen kann.32 Folgerichtig beziehen sich die Verben, mit denen das Retten bezeichnet wird, in den meisten Fällen auch grammatisch vorrangig auf den Beter, und zwar als transitive Verben mit Suffix, das als Akkusativobjekt fungiert. 33 Deutlich seltener wird im Alten Testament JHWHs Handeln an der Unterwelt als an einer selbständig agierenden Größe geschildert, wie zum Beispiel im Vorgang des Loskaufens (rns). 3 4 Für d i e d e n T e x t e n z u g r u n d e l i e g e n d e V o r s t e l l u n g b e d e u t e t d a s f o l g e n d e s :
30
31
PERLITT, T o d , 2 1 6 f .
Analog für die Unterwelt der Toten entspricht dieser Beobachtung die Unterscheidung von „Gottes Macht und Können" und seiner „Heilstätigkeit" bei AALEN, Begriffe, 31. So geht es Aalen zufolge in den Texten, welche die JHWH-Ferne der Scheol thematisieren, nicht um die Frage nach der Reichweite oder Begrenzung von JHWHs Macht, sondern um sein (Nicht-)Handeln an den Toten. 32 Vgl. die zahlreichen Aussagen darüber, dass JHWH ,am Leben erhalte' bzw. ,belebe'/, lebendig mache'/,am Leben lasse' (rrn Pi., das den Gegensatz zum Sterben(lassen) betont: GERLEMAN, Art. rrn, 552): Dtn 6,24; Neh 9,6; Hi 33,4; 36,6; Ps 41,3; 80,19; 85,7; 119,25.37; 138,7; 143,11 u.ö. (wiederkehrend); Jer 49,11. Zu Hos 6,2 s.u. Vgl. auch Ps 42,9 „Gott meines Lebens"; vgl. GÖRG, Haus, 107f. u.a. 33 S. dazu die Übersicht bei BARTH, Errettung, 98ff. 34 S. auch Hi 5,20 u.ö. Die Rede vom Loskauf wird für die Interpretation von Hos 13,14 von Bedeutung sein. S. dazu Abschnitt A: III. 3. c) ß) dieses Hauptteils.
I. Unterwelt der Lebenden und der Toten: die Individualpsalmen
231
1. JHWHs Macht über den Lebenden bildet einen bzw. den Widerpart zur Macht der Scheol über den Lebenden. Obwohl die Wahrnehmung der eigenen Existenz als ,Leben unter den Toten' meist unter dem lokalen Aspekt umschrieben wird, also als Aufenthalt an Orten, in denen sich Scheol manifestiert, wie Grab, Grube, Wasserfluten etc., beruht die eigentliche Erfahrung des Todes im Leben auf einer Vorstellung von der Unterwelt, derzufolge deren Macht auch in das individuelle Leben diesseits des physischen Todes hineinreicht. Wie bereits festgestellt: Der ,Lebende unter den Toten' muss nicht leibhaftig in seinem Familiengrab sitzen, um sein Dasein als eines „im Grab" zu schildern, sondern der Hintergrund dieser Darstellung ist die Wahrnehmung der eigenen Existenz als in der Gewalt des Todes.35 JHWHs Macht über ihn stellt die ,Gegengewalt' dar, die den Bann der Todesmacht über ihn zu brechen vermag. Dass das Dasein in der Scheol der Lebenden gleichwohl in den meisten Fällen in lokalen Kategorien umschrieben wird, verdankt sich wohl der größeren Anschaulichkeit und Variationsbreite der betreffenden Ausdrucksweise. 2. Die Macht des ,Gottes der Lebenden' über den Lebenden ist in den Rettungsaussagen (bzw. -bitten) grundsätzlich größer vorgestellt als die ,Macht des Todes' über den Lebenden: JHWH vermag den Lebenden der Todesmacht auszuliefern (beispielsweise, indem er sein Angesicht von ihm abwendet, s.o.), kann ihn ihr aber ebenso wieder entziehen - solange der Mensch noch nicht die Schwelle zur Unterwelt der Toten überschritten hat. Solange der Mensch lebt, ist die Macht des ,Gottes des Lebens' über ihn größer als die Macht der Unterwelt über ihn. Daher geht es in den Individualpsalmen auch nicht um den noch ungewissen Ausgang eines Kräftemessens von Scheol und JHWH, sondern lediglich darum, ob JHWH seine Macht im Sinne einer Rettung ausübt, oder ob er den Lebenden so weit der Unterwelt überantwortet, dass dieser schließlich stirbt und damit selbst für JHWH unerreichbar und ohne ,Nutzen' geworden ist (Ps 6,5f.; 30,10f. u.ö.). Die Möglichkeit der Rettung der Toten aus der Unterwelt durch JHWH spielt, dem Genre der Texte entsprechend, in den meisten Fällen keine Rolle. In Ps 30 wird sie indirekt verneint durch den Hinweis auf die Abgeschnittenheit der Verstorbenen von JHWH, ein Argument für die erbetene Rettung. Was haben nun diese Beobachtungen für religionsgeschichtliche Implikationen? 35 M.E. erübrigt sich nicht zuletzt durch diese Vorstellung von der Macht der Scheol die Annahme eines .theologischen Vakuums', das von JHWH ausgefüllt werden konnte.
232
Abschnitt A: JHWH rettet aus der
3. Die religionsgeschichtliche
Position der
Unterwelt
Individualpsalmen
Selbst wenn die Rettungsaussagen in den Individualpsalmen keinen eindeutigen Hinweis auf eine Vorstellung von JHWHs Macht über die Unterwelt der Lebenden (geschweige denn der Toten) bieten - diese aber auch nicht kategorisch ausschließen lassen sie sich dennoch als Hinweise auf eine bestimmte Annäherung von JHWH und Scheol deuten. 36 In engem Zusammenhang mit der Todeserfahrung im Leben steht eine Wahrnehmung, nach der die Macht des Todes auch in das diesseitige Leben hineinreicht. JHWH als Gott der Lebenden kann den Menschen dieser Macht ausliefern, indem er sein Gesicht von ihm abwendet, kann ihn, solange der Mensch noch nicht physisch tot ist, jedoch auch wieder der Macht des Todes entziehen. JHWHs Macht über den Lebenden ist stets größer als die Macht des Todes über denselben. Infolgedessen ist die Macht des Todes über den Lebenden abhängig davon, wieviel Spielraum JHWH ihr einräumt. Diese Wahrnehmung wird in den Individualpsalmen nicht abstrakt und theoretisch wiedergegeben, sondern äußert sich in sehr plastischen Schilderungen von Not und Rettung, die auf bestimmte Unterweltsvorstellungen unter lokalen Gesichtspunkten zurückgreifen. JHWH zieht den Beter aus Wasserfluten, holt ihn aus der Scheol herauf, soll sein Rufen aus dem Grab vernehmen. Das ändert freilich nichts daran, dass JHWHs Macht über die Lebenden deutlich im Vordergrund steht gegenüber seinem Verhältnis zur Scheol. Dieses ist nur insoweit von Bedeutung, als es JHWHs Verhalten dem Beter gegenüber betrifft. Auch wenn die Bedeutung des physischen Todes in diesen Schilderungen durchaus präsent ist, teilweise sogar auf die JHWH-ferne Existenz der (»endgültig') Verstorbenen hingewiesen wird, wird doch terminologisch nicht unterschieden zwischen der Unterwelt der Toten und der Unterwelt der Lebenden. Wird also durch den Rekurs auf bestimmte Unterweltsvorstellungen ein machtvolles Handeln JHWHs in der Scheol angedeutet oder beschrieben, so geschieht dies ohne explizite Einschränkung auf einen bestimmten räumlichen Bereich der Scheol. Die Einschränkung, der JHWHs Handeln unterliegt, bezieht sich lediglich auf eine bestimmte Gruppe, nicht auf einen bestimmten, kosmologisch fixierbaren Bereich. Denn die Unterwelt der Lebenden ist überall dort, wo Menschen nur noch ein vermindertes Dasein diesseits ihres physischen Todes fristen.
36
Janowski, Konfliktgespräche, 231; vgl. aaO 339f.; DERS., Die Toten, 234f.
I. Unterwelt der Lebenden und der Toten: die
Individualpsalmen
233
Damit ist, ähnlich wie in Am 9,1-4; Hi 14,13-17 und Ps 139, die Vorstellung von der JHWH-Ferne der Scheol relativiert bzw. reduziert auf die JHWH-Ferne der Toten in der Scheol. Die Lebenden sind selbst in der Unterwelt für JHWHs machtvolles Handeln erreichbar. Im Unterschied zu der in den drei kosmologischen Texten sichtbaren Annäherung von JHWH und Scheol lässt sich die Vorstellung von JHWHs Fähigkeit, aus der Unterwelt zu retten, wie sie in den Individualpsalmen sichtbar wird, bereits in vorexilische Zeit datieren,37 wobei sie sich zum Teil unverändert bis in die nachexilische Zeit gehalten hat. Die Rede vom ,Heraufholen aus der Unterwelt' könnte demnach auf eine Erweiterung der JHWH zugesprochenen Fähigkeiten und in diesem Sinne auf eine Kompetenzausweitung auf die Unterwelt hindeuten. Allerdings handelt es sich hierbei wiederum nicht um die spezifische Kompetenz eines Totengottes, nicht zuletzt, weil es um das ,Heraufholen' von Lebenden geht. Das Herauslassen von Toten aus dem eigenen Machtbereich zählt erwartungsgemäß nicht zum typischen Verhalten einer Unterweltsgottheit.38 Im übrigen ist nicht mit Sicherheit zu sagen, ob die Vorstellung, dass JHWH als ein Nicht-Unterweltsgott aus der Unterwelt der Lebenden retten könne, tatsächlich eine zu bestimmter Zeit neu hinzugekommene Facette im Gottesbild darstellte (wie es beispielsweise bei den solaren Elementen der Fall ist), oder ein mehr oder weniger genuiner Bestandteil des JHWHGlaubens war. Denn während sich der Beginn der Solarisierung JHWHs relativ gut bestimmten lässt, lässt sich für diese spezifische Rettungsvorstellung kein eindeutiger terminus post quem feststellen, auch wenn sie auf alttestamentlicher Ebene erst mit den Individualpsalmen sichtbar wird. Diese Überlegung spielt deswegen eine Rolle, weil die Rede vom Heraufholen aus der Unterwelt auch außeralttestamentlich belegt ist, so beispielsweise in einem in Ugarit gefundenen babylonischen Klage- und Danklied an Marduk aus dem 13Jh. v.Chr.:39
"Vgl.
Ps 6; Ps
18*; 31
u.a. Zu Ps
1 8 * s. HOSSFELD, in: HOSSFELD /
ZENGER,
N E B . A T 2 9 , 1 2 1 f. 38 Ereäkigal kann mit einem Freilassen der Toten drohen, was ihre Fähigkeit dazu impliziert, aber das Einlösen der Drohung würde die Weltordnung gefährden (TUAT III/4, 777 V . l l f . 2 5 - 2 7 ) . 39 RS 25.460; hier zitiert nach der Übersetzung von DIETRICH / LORETZ in TUAT II/6, 825 (Z. 34—41). S. dazu ferner TUAT III/l, 140-143 und den betreffenden Abschnitt bei LORETZ, Götter..., 191 ff. (m. Forschungsüberblick).
234
Abschnitt A: JHWH rettet aus der Unterwelt
„Der, der mich geschlagen hat, hat sich meiner erbarmt der mich in die Finsternis geführt hat, hat mich gegürtet der mich zerbrochen hat, hat mich davon losgerissen der mich zerstreut hat, hat mich zusammengefügt der mich hingeschüttet hat, hat mich aufgelesen der mich hat fallenlassen, hat mich erhöht! Aus dem Schlund des Todes hat er mich gerissen, aus der Unterwelt hat er mich heraufgeholt!"
Vermutlich lag dieses Gebet dem akkadischen Ludlul bei nemeqi (mit ähnlichen Topoi) vor.40 Zugleich ist aber auch denkbar, dass vergleichbare (nicht ausschließlich an Marduk gerichtete) poetische Texte existierten, in denen es „noch mancherlei gegenseitige Entlehnungen von Gedanken und Einzelformulierungen gegeben haben mag, die für uns heute nicht mehr nachweisbar sind.41 Ein anderer Hymnus an Marduk umschreibt die vom Beter ersehnte Situation nach der Rettung durch seinen Gott mit den Worten:42 „,Marduk kann Tote lebendig machen' mögen sie sagen! Und der Diener, den du [...] verschontest, möge allen Menschen deine Großtaten [kundt]un! Er möge preisen der ihn, als [er] tot war, Licht schauen ließ, ..."
Nicht nur Marduk, auch anderen Gottheiten wird die Fähigkeit zugeschrieben, leidende Menschen aus der Unterwelt heraufzuholen, so zum Beispiel - nicht fernliegend - der Heilgöttin Gula.43 Aus Ägypten ist die Vorstellung bekannt, dass Amun „den, der in der Unterwelt ist", rette.44 Meines Erachtens ist davon auszugehen, dass Israel die Wahrnehmung einer Notsituation im Leben als Dasein in der Unterwelt bereits seit Beginn der Profilierung des JHWH-Glaubens mit seiner religiösen Umwelt teilte. 45 40
Vgl. v.a. Ludlul IV 48ff.73ff.105. Zu Ludlul bei nemeqi in diesem Zusammenhang s. auch SITZLER, Vorwurf, 84ff., und ALBERTZ, Ludlul, 25-53. 41
VON SODEN, in T U A T H I / 1 , 1 4 1 ; v g l . STRAUSS, B K X V I / 2 , 2 9 1 ; WISEMAN, N e i g h -
bours, 83. 42 TUAT II/5, 758 Z.184-187; vgl. auch Z.182. Vgl. ferner das bei WISEMAN, Neighbours, 84, zitierte Lob an Marduk: „He has snatched me from the jaws (mouth) of death / and brought me up from the grave (ersea/underworld)". 43 S. TUAT 11/5,764 Z.179. 44 So in einem Gebet auf einer Votivstele aus Deir el-Medine aus dem 13.Jh. v.Chr. (vgl. ASSMANN, ÄHG, 372-374) und öfter. Es handelt sich um eine stereotype Wendung. 45 Vgl. LIESS, Weg, 329, die in diesem Punkt aus den sprachlichen Verwandtschaften keine religionsgeschichtlichen Schlüsse zieht. Die Auffassung von Krankheit, Leid oder Chaos als ,Tod im Leben' ist außeralttestamentlich gut belegt, vgl. die bei SEYBOLD,
I. Unterwelt der Lebenden und der Toten: die
Individualpsalmen
235
Demzufolge könnten die Vorstellung von JHWH als dem Gott des Lebens und der Gedanke, ebendieser könne die Lebenden aus der als Unterwelt wahrgenommenen Not wieder herausholen, ebenfalls ,von Anfang an' spannungsfrei nebeneinander existiert haben, ohne in Widerstreit miteinander zu treten. Dann hätte die Vorstellung von der JHWH-Ferne der Scheol nicht in Reinform den Ausgangspunkt der religionsgeschichtlichen Entwicklungen gebildet, sondern wäre immer schon gebrochen gewesen durch eine auch außerhalb Israels verbreitete Wahrnehmung von Lebensminderung als Tod und der Erwartung, dass auch ein Nicht-Unterweltsgott, in diesem Fall JHWH, aus diesem Tod herausfuhren könne - ohne dass man von dezidiert chthonischen Kompetenzen reden könnte. Solche sind für JHWH nicht belegt.46 Dass eine solche Erwartung nicht notwendig einen auf die Unterwelt erweiterten Zuständigkeitsbereich voraussetzen musste, zeigt die oben zitierte Zuschreibung des ,Heraufholens' an Marduk, der zur Entstehungszeit des Psalms noch keineswegs die Universalität und Machtfülle besaß, die ihm Mitte des ersten Jahrtausends eignete. Ein solches Nebeneinander der Vorstellungen von JHWH als dem Gott des Lebens und als einem, der Menschen auch aus der Unterwelt der Lebenden heraufzuholen vermag, scheint mir auch deswegen denkbar, weil die Überlegung, JHWH als der Gott des Lebens sei nie auch nur entfernt mit der Unterwelt in Verbindung gebracht worden, eine Kohärenz des ursprünglichen' Gottesbildes und eine Konsequenz hinsichtlich der Ausdrucksweise voraussetzt, wie sie einer dogmatisch-theologischen Monographie angemessen sind, wie sie jedoch für die Anfange der JHWH-Verehrung in ihrem altorientalischen Kontext nicht ernsthaft angenommen werden können. Belegen lässt sich die Annahme eines solchen Nebeneinanders in diesem Gebet, 36, und SITZLER, Vorwurf, 211, genannten Texte; ebenso die von JANOWSKI, Die Toten, 210f., genannten „Sachanalogien" (DERS. aaO 235, geht allerdings von einer „neuen Sprache von Tod/Todesgeschick" in den Individualpsalmen aus). Vgl. ferner Janowskis Verweis auf die entsprechende ägyptische Stilfigur (DERS., Dankbarkeit, 293f.). S. auch DIETRICH, „Gewissen". Ebenfalls außeralttestamentlich belegt ist die Vorstellung von der .Rückkehr zum Leben' mit Hilfe einer Gottheit, die i.d.R. keine Unterweltsgottheit ist. S. dazu RINGGREN, Art. rrrt, 879, und v.a. (im Blick auf den Sonnengott) JANOWSKI, Rettungsgewißheit, 64-68; vgl. den aaO 12lf. zitierten Hymnus an Amun-Re, pBerlin 20377 = ÄHG Nr. 148 B Z.22. Zur Verwandtschaft JHWHs mit SamaS in diesem Punkt s. auch IRSIGLER, Mythos, 26. Zugleich ist auch der Topos „Die Toten loben dich nicht..." als Argument für das Leben des Betenden außeralttestamentlich belegt, so z.B. in dem zweiten oben erwähnten Hymnus an Marduk, TUAT II/5, 756 Z.67-69. 46
V g l . SCHROER, B e o b a c h t u n g e n , 2 9 2 .
236
Abschnitt A: JHWH rettet aus der
Unterwelt
Rahmen allerdings nicht, und ebenso gut ist eine nachträgliche Aufnahme des Motivs der Rettung aus der Unterwelt etwa in der mittleren Königszeit denkbar. Angesichts der diversen altorientalischen Vorstellungen von der Rettung aus der Unterwelt insbesondere durch den Sonnengott47 kann man davon ausgehen, dass die Solarisierung JHWHs in vorexilischer Zeit in jedem Fall eine Verstärkung der Rettungsvorstellungen bewirkt haben wird, sofern diese tatsächlich dem JHWH-Glauben ,von Anfang an' inhärent gewesen sind. Ebenso ist anzunehmen, dass die ersten Verbindungen zwischen JHWH und der Scheol marginal waren und sich vielleicht auf ein unspezifisches Rettungsmotiv beschränkten, dass solche Verbindungen aber mit der Zeit neu entstanden bzw. sich auf unterschiedlichen Ebenen intensivierten. Eine Form der Intensivierung wurde nicht zuletzt möglich durch die Allgemeinheit der Rede von der Rettung aus der Scheol, und zwar dahingehend, dass JHWH grundsätzlich und uneingeschränkt die Fähigkeit zugesprochen werden konnte, aus der Scheol zu retten: Lebende wie Tote. So konnte die ursprüngliche, konzeptionelle Differenzierung zwischen Unterwelt der Lebenden und Unterwelt der Toten in der Rezeption der meisten Individualpsalmen ignoriert oder aufgegeben werden (eine Ausnahme bildet beispielsweise Ps 30 auf der Endtextebene), ohne dass der Wortlaut dem in irgendeiner Weise entgegengestanden hätte.48 Darüber hinaus konnte sich eine entsprechende Weiterentwicklung der Rettungsvorstellungen besonders gut außerhalb der Individualpsalmen vollziehen. Denn während in diesen nach wie vor durch Kontext und Sprechsituation das Augenmerk auf der spezifischen Rettung eines definitiv noch lebenden Menschen liegt, ist dies in anderen Texten durchaus nicht so. Solches trifft beispielsweise zu für die Verse Ps 68,20f., auf die ich im folgenden genauer eingehen möchte.
47
S. JANOWSKI, Rettungsgewißheit, 44 Anm. 129 (m.Lit.), 9 8 - 1 1 2 . Zur Frage der religionsgeschichtlichen Verortung speziell des ,Morgenmotivs' im JHWH-Glauben s. auch den Ausblick aaO 187.189 und bes. 190. 48 Vgl. JANOWSKI, Die Toten..., 231: „Damit war dem Gedanken Bahn gebrochen, daß mit dem Tod nicht alles aus ist."
II. Ansatzpunkt für JHWHs Kompetenzausweitung:
Ps 68,20f.
237
II. Ansatzpunkt für JHWHs Kompetenzausweitung: Ps 68,20f. 1. Text, Übersetzung und Kontext DV e r 'jlK ^ r n 20a Gesegnet sei der Herr Tag für Tag! 13^-onr Er trägt [Last] für uns", urm« - : SKH b der Gott b unserer Rettung. Sela niüöln'p ü1? Ssri 21a Der Gott ist unser, ein Gott für Rettungen, •TIS mrrbl und JHWH Herr gehört :niKSin maS b der Endpunkt für den Tod. 0 20 * Ähnlich auch H. PFEIFFER, Jahwes Kommen, 216.218. Die hier vorgelegte Übersetzung entspricht dem üb eher als die Übersetzungs- und Deutungsvariante „Er legt uns eine Last a u f . DM im Sinne von „Beladen" wird in der Regel mit konstruiert. LXX übersetzt KATCUOSAJOFL „wird Gelingen geben". „Trägt uns" übersetzen z.B. SEYBOLD, HAT 1/15, 262; KRAUS, BK XV/2, 625. Vgl. auch Jes 46,3: hier trägt JHWH das ,Haus Jakob' und den Rest Israels selbst. b Zu SK mit Artikel s. auch Gen 46,3; Dtn 7,9; 10,17; II Sam 22,31.33.48 sowie Ps 18,31.33, vgl. Ps 85,9; Jes 42,5 u.ö.
21
c
Zu dieser Übersetzung s.u.
Text und Bedeutung des gattungskritisch kaum einzuordnenden Psalms 68 sind immer wieder kontrovers diskutiert worden, wobei die beiden hier untersuchten Verse - zumindest im Wortlaut - zu den unproblematischen gehören.1 Sie sind vermutlich der vorexilischen, vermutlich aus der späten Königszeit stammenden Grundschicht des Psalms, V.8-32, zuzurechnen. 2 Die beiden Verse bilden eine kleine Einheit im Gesamtzusammenhang des Psalms, indem V.21 deutlich auf V.20 Bezug nimmt. Zwar werden sie getrennt durch das nbp; das Wort hat jedoch in diesem Text nicht die Funktion, zwischen zwei Abschnitten zu trennen, sondern den Abschnittsanfang hervorzuheben.3 Nimmt man eine neunstrophige Struktur des Psalms an,4 so bilden die Verse den Beginn der sechsten Strophe, in der 1
S. neben den Kommentaren auch die unlängst erschienene Untersuchung bei H. PFEIFFER, Jahwes Kommen, 204ff. Zu diesen Versen s. bes. aaO 230f. 2
HOSSFELD in: HOSSFELD / ZENGER, H T h K . A T , 2 5 0 . SEYBOLD, H A T 1/15,
262,
rekonstruiert dagegen einen akrostichischen Grundtext, der mit den Versen 21.23 beginnt und als „Steinbruch" für den erhaltenen Text benutzt wurde. H. PFEIFFER, Jahwes Kommen, 256f., hält gleichfalls den erhaltenen Text für ein Konglomerat verschiedener Bausteine, die s.E. allerdings aus anderen Texten wie Ri 5 und Dtn 33 stammen. Er datiert Ps 68* in die hellenistische Zeit. 3
4
HOSSFELD in: HOSSFELD / ZENGER, H T h K . A T , 2 5 0 f .
Eine solche besteht in den Strophen 2-4.5-7.8-11.12-15.16-19.20-24.25-28.29-32. 33-36. S. dazu HOSSFELD in: HOSSFELD / ZENGER, HThK.AT, 247; H. PFEIFFER, Jahwes
238
Abschnitt A: JHWH rettet aus der
Unterwelt
Gottes Rettungshandeln an den Betenden dem Töten seiner Feinde gegenübergestellt ist.5 V.20 setzt sich von V.19 ab durch den Wechsel von der 2. Pers. Sing, zur 3. Pers. Sing, und antwortet auf die vorausgehende Beschreibung des Wirkens Gottes, die durch die Anredepassagen in V.8-11.17.19 unterbrochen ist, mit einem Segensruf, der Barak-Formel. Die Barak-Formel von V.20 ist Teil des Hymnenclusters in Ps 65-68 6 und bildet den Auftakt zur Durchfuhrung des Gotteslobes. Der folgende Vers 21 knüpft direkt daran an: Er wiederholt das ^KH und das greift das ttS (Rekurs auf die Gruppe der Preisenden) auf und ebenso die Wurzel JJtö"1 - wie V.20 mit einem Substantiv. Die nachfolgenden Verse setzen die Schilderang von Gottes Wirken fort. 7 Was bedeutet nun Ps 68,20f.? Besitzt JHWH mit den „Endpunkten" Macht über „die Tore der Unterwelt"? 2. JHWH und Scheol in Ps 68,20f. a) Torhüter oder
Retter?
Nach dem gängigen Verständnis bezeichnet der Ausdruck nissin nia1? etwas wie „Auswege vom Tod", dessen Entsprechung sich bereits in LXX mit od öie^oöoi. toO öocvcttou findet. Allerdings begegnet die Bedeutung „Ausgang" für niXSin sonst lediglich in Ez 48,30 und ist an den durch die Ausgänge ,geöffneten' Ort mit einer st.cstr.-Verbindung TJ?n nxsin geknüpft. Dieselbe Konstruktion findet sich in Prov 4,23, wo der Begriff, wie in Ps 68 bildhaft gebraucht, die Quelle des Lebens bezeichnet: C'n nixsin. Im DtrG und ChrG bezeichnet nistsin das Ende einer Grenze bzw. den Ausläufer einer Ebene (plurale Form, singularische Bedeutung); der häufigste Zusammenhang ist hier ein Ausdruck „Ausläufer zu etwas hin"/ „Ende bei etwas", der meist mit he locale, gelegentlich auch mit ausgedrückt wird. Deutet man niKSin analog zu Ez 48,30 auch in Ps 68,21 als „Ausgang", so müsste indes die Präposition b auf den Ort weisen, zu dem hin sich der Kommen, 219f. Anders z.B. FOKKELMAN, Structure, 75 u.ö. (drei Abschnitte, acht Stanzen, sechzehn Strophen). 5
Auch in Ps 68,23 holt - ähnlich wie in Am 9,3 - JHWH die Feinde aus den Meerestiefen, um die Strafe an ihnen zu vollstrecken. 6
7
HOSSFELD in: HOSSFELD / ZENGER, H T h K . A T , 2 5 6 f .
Ausgeprägte strukturelle Verbindungen der Verse zum Psalmkontext sieht AUFFRET, Qe seulement..., 223f.
II. Ansatzpunkt für JHWHs Kompetenzausweitung:
Ps
68,20f.
239
Ausgang öffnet. 8 Das zeigt sich erstens an den entsprechenden Ausdrücken im Wortfeld Tor/Tür; vgl. in Ex 40,5.28 -[SOab nnsn, „Eingang zur Wohnung", I Chr 9,21 nria nna, „Eingang zum Zelt der Begegnung"; I Chr 9,23 m/p-rra1? Dnyfn, „die Tore zum Haus JHWHs"; 9 Ez 40,23.27 „Tor zum inneren Vorhof', und auch metaphorisch Ps 118,20 rnn,i7 „das Tor zu JHWH". Zweitens lässt die Mehrzahl der Belege für nia^/rna1? eine ,Bewegungsrichtung' zum Tod hin erkennen: so II Sam 15,21; Prov 24,11(!); Jes 53,12; Jer 15,2 und 43,11. In den übrigen Fällen steht rna1? in einer syntaktischen Konstruktion, die gar keine Bewegungsrichtung impliziert (Hi 3,21; Jer 18,23 und Ez 31,14). Entsprechend übersetzt Kraus in Ps 68,21: „.. .verfügt über die Wege zum Tod"10 und denkt dabei11 „...an die Herrschaftssphäre der Gottheit Möt [...], die im kultisch-mythischen Akt von Baal ,abgeriegelt' wird. Auf JHWH übertragen: Die Bereiche und Gewalten der Unterwelt hat der Gott Israels, durch geschichtliche Siege als machtvoller Herrscher erwiesen, in seiner Hand".
Ps 68 böte nach dieser Deutung einen Beleg für eine Kompetenzausweitung JHWHs auf die Unterwelt in Auseinandersetzung mit einem Totengott. Diese wäre zudem mit Kraus als Inhalt der Grundschicht des Psalms in die Zeit Sauls zu datieren.12 Allerdings sind damit weder der Sinn von niKSin noch die Bedeutung des Verses in seinem Kontext getroffen. 13 Denn angesichts des sonst üblichen Wortgebrauchs von nixsin enspricht nach meiner Einschätzung die Übersetzung „Endpunkt für den Tod" eher dem ursprünglichen Sinn des hebräischen Textes als „Wege zum Tod" oder „Ausgänge aus dem Tod", zumal sich die Bedeutung als „Weg" oder „Ausweg" auch nicht an weiteren Belegen für „Ausgänge aus dem Tod/der Scheol" erhärten lässt - was zugegebenermaßen auch für die hier vertretene Übersetzung gilt.14 Gleichwohl lässt sich dieser Übersetzung durchaus ein vernünftiger Sinn abgewinnen, der, wie sich zeigen wird, in-
8
Vgl. dagegen HALAT, Lemma b, 483.
9
Auch in II Chr 4,9 ist das rnwS n i r 6 l als „Türen zum H o f deutbar. 10 KRAUS, BK XV/2, 626. 11
AaO 636.
12
AaO 632.
13
Auch die Interpretation von HAUGE, Aspects, 2ff., der vor dem Hintergrund des Prozessionsmotivs in V.25 den Ausdruck in Ps 68,21 als Bezeichnung für den Grenzbereich zwischen Heiligtum bzw. Stadt und dem Außenbereich, hier: zwischen .Rettung' und ,Tod' deutet, trifft m.E. nicht die Bedeutung des Textes. 14 Von den ,Toren der Unterwelt'/,des Todes' ist allerdings durchaus die Rede (s.o.), vgl. Hi 38,17; Ps 9,14; 107,18; Jes 38,10.
240
Abschnitt A: JHWH rettet aus der Unterwelt
haltlich nicht sonderlich weit von der Interpretation „Auswege aus dem Tod" entfernt ist. Die lokale Konnotation von niKSin fügt sich in Ps 68,21 insofern gut in den Kontext ein, als dieser mit seinen Schilderungen JHWHs „Wirkungsstätte" in einem großen Bogen umreißt. Allerdings ist niKSin mab ursprünglich wohl nicht kosmologisch zu verstehen in dem Sinne, dass JHWH ein fest lokalisierbarer Bereich, die Grenzregion zur Unterwelt, eigne und er wie ein Torhüter Eingang und Ausgang bewache. Vielmehr geht es um den räumlich akzentuierten - Endpunkt des Machtbereichs des Todes in dem Sinne, dass JHWH dem Tod Grenzen zu setzen vermag. Das bedeutet nicht, dass es hier um den Endpunkt des Todeszustands der Verstorbenen geht, zumal von solchen und auch der Unterwelt nirgends sonst im Psalm die Rede ist. Zwar nennt Ps 68,7 LXX „die Rebellischen, die in Gräbern wohnen" toue u a p a i u K p a i vovxa.c touq KaxoLKoOvxa; kv io^oli;, die Gott „herausführt" (c&ywv), aber erstens handelt es sich dabei um eine sehr eigene Interpretation des hebräischen Hirns U?t| CH^llO, das die Rebellischen, die in der Dürre bleiben, den Herausgeführten des ersten Versteils gegenüberstellt, und zweitens denkt auch der griechische Text wohl kaum an Tote, sondern vermutlich eher an die rebellische Wüstengeneration während des Exodus.15
Die Rede vom „Endpunkt für den Tod" muss aber nicht nur Rettung aus drohender Todesgefahr bedeuten. 16 So lässt der Kontext keine drohende Todesgefahr erkennen, und der Gebrauch von SJttNDerivaten17 ist ebensowenig ein Hinweis darauf. Vielmehr bezeichnet Wz. Btf1 auch in II Sam 22,3-5; Ps 6,5f.; 18,4ff. u.ö. die Rettung aus einer Situation, die als Tod erfahren wird: das Heraufholen aus der Unterwelt der Lebenden. 18 Auch hier ist wie in den Individualpsalmen eine Situation der Lebensminderung in den Blick genommen, aus der JHWH den oder die Lebenden zu befreien vermag. Dementsprechend bezeichnet der „Endpunkt für den Tod" die von JHWH bestimmte Grenze, an der das eingeschränkte Dasein in der Unterwelt (der Lebenden) endet. Unter der Voraussetzung, dass die Verse 20f. zur vor-
15
V g l . HOSSFELD in: HOSSFELD / ZENGER, H T h K . A T , 2 5 7 .
16
S o z . B . HOSSFELD in: HOSSFELD / ZENGER, H T h K . A T , 2 5 4 .
17
Als Gottesattribut findet sich die Wurzel auch in Ps 65,6: «stf ,nl7i