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Pedro Barceló (Hg.) Religiöser Fundamentalismus in der römischen Kaiserzeit
POTSDAMER ALTERTUMSWISSENSCHAFTLICHE BEITRÄGE (PAwB) Herausgegeben von Pedro Barceló (Potsdam), Peter Riemer (Saarbrücken), Jörg Rüpke (Erfurt) und John Scheid (Paris) –––– Band 29
Pedro Barceló (Hg.)
Religiöser Fundamentalismus in der römischen Kaiserzeit
Franz Steiner Verlag Stuttgart 2010
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-09444-3 Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. © 2010 Franz Steiner Verlag, Stuttgart Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Printed in Germany
INHALTSVERZEICHNIS Vorwort
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JÖRG RÜPKE Radikale im öffentlichen Dienst. Status und Individualisierung unter römischen Priestern republikanischer Zeit
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CHRISTIANE KUNST Die Priester der Kybele
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JAIME ALVAR Henotheismus und Essentialismus in den Kulten der orientalischen Götter
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PETER HERZ Gab es eine religiöse Grundüberzeugung?
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BABETT EDELMANN „Wie kommt der Kaiser zu den Göttern?“ Was die Kaiserapotheose über religiöse Grundeinstellungen antiker Kulturen offenbart
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PETER EICH Theismus und Fanatismus. Überlegungen zur Entstehung, Bedeutung und Konfliktträchtigkeit des sogenannten heidnischen Monotheismus im zweiten und dritten Jahrhundert n. Chr.
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PEDRO BARCELÓ Fundamentalistische Tendenzen in Heidentum und Christentum des vierten Jahrhunderts
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MANFRED CLAUSS Der Weg zur Wahrheit kostet Leben. Zum frühchristlichen Selbstverständnis
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JOHANN EV. HAFNER Vom Lehrhaus zum Lehramt. Häresie-Begriff und Glaubensregel als Ursprünge des christlichen Fundamentalismus
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Inhaltsverzeichnis
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BERTRAM BLUM Die Unvereinbarkeit von Fundamentalismus und Christentum. Anmerkungen aus theologisch-praktischer Sicht
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EIKE FABER Armut als Ideal. Der Fundamentalismus der Wohlhabenden
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ALMUTH LOTZ Religiöse Intoleranz und Gewalt in der Spätantike
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JOHANNES HAHN „Ausgemerzt werden muß der Irrglaube!“ Zur Ideologie und Praxis christlicher Gewalt gegen pagane Kulte
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Autorenverzeichnis
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VORWORT Die hier gesammelten Beiträge sind das Ergebnis einer am 20. und 21. Oktober 2008 anlässlich des zehnjährigen Bestehens der „Potsdamer Altertumswissenschaftlichen Beiträge (PAwB)“ an der Universität Potsdam veranstalteten Fachtagung zum Thema „Religiöser Fundamentalismus in der römischen Kaiserzeit“. Zweifellos hat eine derartige Thematik, in deren Zentrum das Wortfeld Fundamentalismus steht, spätestens seit den Ereignissen vom 11. September 2001 eine besondere Sprengkraft erhalten. Meist wird sie heute mit den radikalen Strömungen innerhalb des Islams in Zusammenhang gebracht, während vergleichbare Tendenzen, die in anderen Religionen ebenso beheimatet sind oder in den vergangenen Epochen zutage traten, dagegen weitgehend ausgeblendet werden. Hinzu kommt, dass in den letzten Jahren unter dem Eindruck weiterer, vordergründig religiös motivierter Attentate (London, Madrid, etc.) eine inflationäre Verwendung des Fundamentalismusbegriffs aufgekommen ist, der zunehmend als Erklärungsmodell für irrationale Handlungsweisen verstanden wird, was allzu oft stereotype Vereinfachungen oder vorschnelle Vorurteile nach sich ziehen. Fanatismus, kompromisslose Gewaltanwendung, Radikalismus und Terrorismus sind die Schlagwörter, die den Begriff aktuell konnotieren und prägen. Eine unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten geführte Kontroverse um den religiösen Fundamentalismus ist zwar von der Dominanz solcher Deutungsmuster nicht frei, doch ist sie gerade deswegen notwendiger denn je. Nachdenken und Aufklärung über die Wurzeln und Wirkung fundamentalistischer Einstellungen in den verschiedenen Epochen der Vergangenheit sind der einzige Weg zu einer Versachlichung der Thematik. Eine wesentliche Voraussetzung für den sachgemäßen Umgang mit der Fundamentalismusproblematik bleibt die Erforschung ihrer Ursprünge, die bis in das griechisch-römische Altertum zurückreichen. Während der römischen Kaiserzeit hat sich diese Problematik aufgrund der gewaltsamen Durchsetzung konkurrierender religiöser Systeme (Christentum, Heidentum) erstmals besonders zugespitzt. Das zentrale Anliegen unserer Tagung war die Frage, inwiefern die gängigen Vorstellungen von Fundamentalismus auf das Altertum anwendbar sind, die Fundamentalismus als eine Haltung verstehen, die ihre Anhänger dazu bewegt, vorgeblich göttliche Mandate kritiklos auszuführen. Ferner war zu untersuchen, ob den folgenschweren religiösen und kultischen Veränderungen sowie den Machtkämpfen um die religiöse Vorherrschaft, die sich in der römischen Kaiserzeit vollzogen haben, ein paradigmatischer Erklärungswert für das Verständnis der späteren Entwicklung des Fundamentalismus zukommt. Um der Komplexität des hier untersuchten Phänomens gerecht zu werden, wurde auf jede eingrenzende Vorgabe verzichtet, damit den unterschiedlichsten
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Vorwort
Aspekten der altertumswissenschaftlichen Forschung sowie der Spannbreite ihrer Perspektiven, Methoden und Fragestellungen freier Raum gewährt werden konnte. Das thematische Spektrum der einzelnen Beiträge reicht folglich von der Auseinandersetzung um Grundbegriffe, individuelle Haltungen, theologische Positionierungen bis zu regionalen und inhaltlichen Konfliktlagen zwischen antagonistischen religiösen Gruppierungen unter Einbeziehung der Rolle des Staates. In der Summe geben sie Rechenschaft über wesentliche Aspekte der spätantiken Religionsausübung und können somit dazu beitragen, die darin involvierten fundamentalistischen Konfliktpotentiale zu erkennen. Die ersten beiden Arbeiten befassen sich mit dem Verständnis von Kultkollegien. Während Jörg Rüpke in seinem Beitrag mittels ausgewählter Beispiele die Radikalisierung traditioneller Priesterrollen im republikanischen Rom beleuchtet, untersucht Christiane Kunst den Kybelekult, der sich trotz der radikalen Selbstrepräsentation seiner fremdartig wirkenden Priesterschaft als integraler Bestandteil des römischen Staatskultes erweist. Jaime Alvar liefert unter Verweis auf die Bedeutung des Essentialismus und Henotheismus als soziokulturelle Phänomene ein Tableau der orientalischen Götterwelt unter Einbeziehung der Mechanismen ihrer Integration und ihrer sozialen Akzeptanz innerhalb des Imperiums. Vor dem Hintergrund der Fundamentalismusdiskussion und unter Aufbietung einer reichen Materialfülle wendet sich Peter Herz der Frage zu, ob die Menschen der Antike eine religiöse Grundüberzeugung kannten, die sich aus theologischen Wurzeln speiste oder ihren Ursprung in der jeweiligen Kultur hatte. Babett Edelmann versucht ausgehend von der Wortkomponente „Fundament“ die Architektur der Kaiserapotheose zu deuten und bietet dabei eine kulturübergreifende Auseinandersetzung mit den Ursprüngen religiöser Bildsprache und Symbolik. Den Spannungsbogen zwischen Christentum und paganen Theologien und Philosophien, der im Kontext des religiösen Fanatismusphänomens entsteht, umreißt Peter Eich, um einen Beitrag zur Genese und zum Stellenwert des „heidnischen Monotheismus“ zu leisten. Eingedenk dieser Erkenntnisse fragt Pedro Barceló für das vierte nachchristliche Jahrhundert nach den fundamentalistischen Tendenzen in Heidentum und Christentum, die unter Heranziehung ausgewählter Beispiele in ihrer Außendarstellung und öffentlichen Wirksamkeit beleuchtet werden. Ausgehend von der christlichen Wahrheitsauffassung zeigt Manfred Clauss das frühchristliche Selbstverständnis auf, wobei auf das Spannungsverhältnis zwischen Häresie und Orthodoxie eingegangen und das darin innewohnende Gewaltpotential offen gelegt wird. Den Häresiebegriff aufgreifend, wendet sich Johann Ev. Hafner unter Heranziehung der Glaubensregel (regula) den Wurzeln des christlichen Fundamentalismus zu und zeichnet damit ein einprägsames Bild frühchristlicher Glaubensausrichtung. Daran anknüpfend versucht Bertram Blum aus theologisch praktischer Perspektive Divergenzen zwischen Evangelium und Fundamentalismus nachzuweisen, um seine These von der Unvereinbarkeit von Fundamentalismus und Christentum zu untermauern. Eike Faber charakterisiert anhand ausgewählter Beispiele die Lebensweise christlicher Einsiedler, um aus den gewonnenen Erkenntnissen das spätantike Phänomen der Askese als Fundamentalismus der Wohlhabenden zu deuten. Die letzten zwei Beiträge kreisen um das Problemfeld
9 Fundamentalismus und Gewalt. Während Almuth Lotz in ihrem Beitrag die Frage aufwirft, inwiefern sich das Quellenmaterial über konfessionelle Auseinandersetzungen dazu eignet, repräsentative Aussagen über Weiträumigkeit und Wirkungsgrad von religiös motivierter Gewalt in der Spätantike zu treffen, erörtert Johannes Hahn auf der Grundlage regionaler Schriftquellen sowie archäologischer und bildlicher Zeugnisse die ideologischen Prämissen und praktischen Folgen christlicher Gewalt gegen pagane Kulte. Mir bleibt abschließend die angenehme Aufgabe, allen Autoren herzlich für ihre Beiträge zu danken, die in diesem Tagungsband nun vorgelegt werden. Pedro Barceló
Potsdam, Dezember 2009
RADIKALE IM ÖFFENTLICHEN DIENST STATUS UND INDIVIDUALISIERUNG UNTER RÖMISCHEN PRIESTERN REPUBLIKANISCHER ZEIT Jörg Rüpke, Erfurt 1 EINFÜHRUNG Aus der Vielzahl normal erscheinender magistratischer und priesterlicher „Karrieren“ in der uns historisch zugänglichen römischen Republik des dritten bis ersten Jahrhunderts v. Chr. ragen einige Fälle heraus, die eine überraschende und oft isoliert bleibende Radikalisierung traditioneller Priesterrollen erkennen lassen. Ich möchte diese Fälle, die ich in einer früheren Arbeit als Belege für die „Flüssigkeit“ und Anpassungsfähigkeit von „Sakralrecht“ – einem aus genau diesem Grunde wenig geeigneten Begriff – benutzt habe, 1 erneut kurz vorstellen, ergänzen und auf zwei andere Dimensionen aufmerksam machen, die weitreichende Konsequenzen für unser Verständnis spätrepublikanischer Religion haben. Ausgangspunkt für die erneute Durchsicht des Materials ist ein Versäumnis, auf das R. Baudry in seiner soeben bei J.-M. David in Paris entstandenen Dissertation 2 aufmerksam gemacht hat: Die Vernachlässigung des Faktors „Patriziat“ für die späte Republik. Während sich jene Arbeit ganz auf die magistratische Karriere konzentriert, seien hier die genannten Radikalisierungen bei Priestern, bei sacerdotes publici unter dieser Status-Perspektive neu interpretiert. 2 NEUINTERPRETATIONEN VON PRIESTERROLLEN Die Ereignisse, die die Basis meiner Überlegungen bilden, lassen sich in drei Gruppen zusammenfassen. Der vor allem in monatlichen Routineritualen an den Iden und in einigen jährlich begangenen Kultakten tätige Flamen Dialis, aber auch die beiden anderen flamines maiores, nämlich der Flamen Martialis und der Flamen Quirinalis – je nach einem Gott (Iuppiter, Mars, Quirinus) benannt, aber nicht auf deren Kult beschränkt – unterlagen einer Fülle von Verhaltensvorschriften. In der antiquarischen Überlieferung sind entsprechende Nachrichten auf den Flamen Dialis kon1 2
RÜPKE, Fasti sacerdotum, 1569–86 (im Folgenden mit FS = Fasti sacerdotum und Nummer der Biographie zitiert). Die Arbeit wurde 2008 abgeschlossen und ist noch nicht publiziert.
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Jörg Rüpke
zentriert oder gar projiziert; der Buntschriftsteller Aulus Gellius bietet in seinen Noctes Atticae die ausführlichste Liste. 3 Die Sanktionen bei Nichteinhaltung von Verhaltensvorschriften waren durchweg hart: Der Flamen Dialis hätte demnach in der ständigen Gefahr gestanden, sein Amt zu verlieren. Umso erstaunlicher ist es, dass die Zahl der historisch dokumentierten Fälle von Amtsenthebungen sehr gering ist. Die umfassendste Quelle dazu stellt eine kurze Passage in der Memorabiliensammlung des Valerius Maximus dar: Consimili ratione P. Cloelius Siculus, M. Cornelius Cethegus, C. Claudius propter exta parum curiose admota [deorum inmortalium aris uariis temporibus bellisque diuersis] flaminio abire iussi sunt coactique etiam. at Q. Sulpicio inter sacrificandum e capite apex prolapsus idem sacerdotium abstulit [...] 4 „In gleicher Logik wurden P. Cloelius Siculus, M. Cornelius Cethegus, und C. Claudius wegen allzu elaborierter Präsentation von Eingeweiden […] geheißen, ja gezwungen vom Flaminat abzudanken. Aber dem Q. Sulpicius entriß der während des Opfers herabgefallene Apex dasselbe Priestertum […]“
Die Parallelüberlieferung für zwei der vier von Valerius Maximus genannten Personen legt nahe, dass die Liste chronologisch geordnet ist: 5 M. Cornelius Cethegus musste nach Plutarch (Marc. 5,3 f.) im Jahr 223 abdanken; C. Claudius, ein Flamen Dialis, erfuhr nach Livius im Jahr 211 (26,23,8) das gleiche Schicksal 6 – die Begründung dafür entspricht in ihrer Unklarheit derjenigen bei Valerius Maximus, der für diese Nachrichten durchaus auf Livius zurückgegriffen haben könnte: quod exta perperam dederat – „weil er die Eingeweide fehlerhaft dargebracht hatte“. Dass Q. Sulpicius chronologisch in das Innere dieser Reihe gehört, bezeugt die schon genannte Plutarchstelle: Die erzwungene Abdankung aufgrund des Verlustes des Apex identifiziert Sulpicius als Flamen Dialis, da sich der Flamen Dialis ohne die Kopfbedeckung des Apex nicht im Freien aufhalten durfte. 7 Das Ereignis gehört in dieselbe Zeit wie die Absetzung des Cethegus und ist etwa auf 223 v. Chr. zu datieren. 8 Da es nur jeweils einen Flamen Dialis gab, dürfte der Zeitgenosse Cethegus Flamen Martialis oder Quirinalis gewesen sein;9 dasselbe ist für P. Cloelius Siculus, wohl der Vorgänger, anzunehmen. 10 Versucht man diese in einem ganz kurzen Zeitraum auftretenden Fälle zusammenzufassen, lassen sie sich als eine Radikalisierung von außen beschreiben: Durch eine genaue Beobachtung wird das Amt prekär gemacht. Ist die Ursache im 3 4
Gell. 10,15. Val. Max. 1,1,4 f. Möglicherweise beziehen sich die Horazverse hinc apicem rapax / Fortuna cum stridore acuto / sustulit, hic posuisse gaudet (carm. 1,34,14–16) auf den letztgenannten Vorfall und nicht, wie die Horazkommentatoren annehmen, auf zeitgenössische (O. WILI) oder mythische Fälle von Königsstürzen (NISBET, HUBBARD). 5 KLOSE, Priesterfasten, 27 f. 6 FS Nr. 1159. 7 Gell. 10,15,17. 8 FS Nr. 3176. 9 FS Nr. 1317. 10 FS Nr. 1272.
Radikale im öffentlichen Dienst
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Neid derjenigen zu suchen, die um die knappen Positionen konkurrieren? Die zweite Fallgruppe spricht gegen eine solche Interpretation: Schon im Jahr 242 v. Chr. gab es einen Konflikt, der einen Flamen betraf. Es handelte sich um den Flamen Martialis A. Postumius Albinus, der als Magistrat – er war Konsul – Rom zur Kriegführung verlassen wollte. Der Pontifex maximus setzte gegen ihn durch, dass Albinus in Rom zu bleiben habe. 11 Vergleichbare Fälle folgten. Nach Livius 12 stoppte im Jahr 215 Q. Fabius Maximus Verrucosus „Cunctator“ die Konsulwahlen, als der Flamen Martialis M. Aemilius Regillus gemeinsam mit einem Mitbewerber die Stimmen der centuria praerogativa erhalten hatte. Fabius wies auf die Probleme eines Flamen als Konsuls mit Kriegsaufgaben hin, konnte aber offensichtlich keinen eindeutigen Ausschluss des Kandidaten erreichen. 13 Die Konfliktkonstellation setzte sich fort. C. Valerius Flaccus, auf den gleich noch einmal zu sprechen zu kommen ist, musste sich das Recht auf einen Senatssitz und städtische Ämter erst erkämpfen, bekleidete aber schließlich die Ädilität und die städtische Prätur. 14 Probleme, die sich ergaben, wurden konstruktiv beseitigt: Dass Gaius bei der Wahl zum Aedil als Flamen Dialis keinen Eid leisten konnte,15 wurde durch die Eidesleistung seines Bruders neutralisiert. 16 Das löste nicht die grundsätzlichen Probleme des Verhältnisses dieser Priesterämter zu politischmilitärischer Magistraturen. Im Jahr 189 wurde dem neugewählten Prätor Q. Fabius Pictor untersagt, die Stadt zu verlassen, so dass er sich mit der städtischen Prätur begnügen musste. 17 Im Jahr 131 v. Chr. versagte der Pontifex maximus und Konsularkollege P. Licinius Crassus Dives Mucianus dem Flamen Martialis L. Valerius L. f. L. n. Flaccus die Übernahme einer Provinz. 18 Eine ähnliche Konstellation kennen wir noch aus der Kaiserzeit, als es dem Flamen Dialis und Suffektkonsul von 10 n. Chr., Servius Cornelius Lentulus Maluginensis, aufgrund auguraler und oberpontifikaler Einsprüche nicht gelang, im Jahr 22 n. Chr. Prokonsul von Asia zu werden. 19 Man hat diese Konflikte mit Recht als Konflikte zwischen zwei Systemen und als politische Instrumentalisierung dieser Konfliktlinien mit antipatrizischer Spitze gesehen. 20 Tenor der politischen Interpretationen ist die schwerwiegende Behinderung, die sich aus der Übernahme eines solchen Priesteramtes ergibt. Entsprechend werden auch zwei weitere Vorfälle aus dem Beginn des zweiten Jahr11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Siehe Liv. per. 19; Val. Max. 1,1,2; FS Nr. 2817. Liv. 24,7,12. FS Nr. 525. FS Nr. 3393; Liv. 27,8–10; 31,50,6–9; 39,45,2–4. Plut. q. R. 44; Paul. Fest. 92,25 L. Liv. 31,50,6–9. FS Nr. 1599; Liv. 37,51,1–7. FS Nr. 3395 und 2236 (PM); Cic. Phil. 11,18. FS Nr. 1349; Tac. ann. 3,58f.71. Die Diskussion hat SIMÓN, Flamen Dialis, bes. 195–206, aufgearbeitet und bewertet, so daß ich hier auf die Nennung der umfangreichen und vielfach wenig originellen Literatur verzichten kann.
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Jörg Rüpke
hunderts v. Chr. zugeordnet: Erstmals wurden nämlich männliche Personen gegen ihren Willen in ein Priesteramt berufen: Dies wurde im Jahr 209 gegen Gaius Valerius Flaccus mit Erfolg durchgesetzt, mit unerwartetem und langfristigem Erfolg sogar: Flaccus bewährte sich als Flamen Dialis hervorragend. 21 Das gelang nicht immer. Im Jahr 180 scheiterte der Versuch, L. Cornelius Dolabella gegen dessen Willen zum Rex sacrorum zu ernennen. 22 Auf dieser Linie wird die Bestimmung eines kränkelnden Angehörigen der Cornelii Scipiones zum Flamen Dialis im Jahr 174 – es handelte sich um P. Cornelius P. f. P. n. Scipio, 23 als folgerichtig angesehen 24 und als wenig wahrscheinlich betrachtet, dass sich C. Iulius Caesar selbst um das Flaminat, das er zwar nicht antrat, aber auch für den Rest seines Lebens nicht besetzt sah, 25 bemüht haben könnte. 26 Zweifel an einer solchen Bewertung lässt ein dritter Falltyp aufkommen. Der Salier P. Cornelius Scipio Africanus unterbrach eine militärische Operation in Kleinasien für die Zeit der stadtrömischen Salierriten im März 191 v. Chr. (republikanischer Kalender) und legte eine Marschpause von 30 oder 31 Tagen für sein Heer ein. 27 Als Begründung führte er an, dass er an den Tagen, an denen ancilia moventur, die Schilde von den Saliern tanzend durch die Stadt bewegt wurden, als Salier nicht weitermarschieren dürfe. 28 Ganz offensichtlich haben wir es auch mit ganz individuellen Motivlagen zu tun. Diese dürfen aber systemische Erklärungen nicht ausblenden, denen zunächst das Interesse gelten muss. 21 22 23 24 25 26
FS Nr. 3393; Liv. 27,8,4–10; Val. Max. 6,9,3. Liv. 40,42,8–11. FS Nr. 1371; ILS 4; Liv. 41,28,7 (mit Pränomen Cn.). SIMÓN, Flamen Dialis, 199. Siehe FS Nr. 2003 mit ausführlicher Argumentation. SIMÓN, Flamen Dialis, 212: „era demasiado joven para una elección autónoma que, además, le imponía fuertes constricciones en la vida pública y privada.“ Dagegen meine Bewertung in FS Nr. 2003. 27 Polyb. 21,13,7–14 (im Rückgriff auf Herakleides von Byzantion): [. . .] καταλαβὼν τοὺς ῾Ρωμαίους μένοντας ἐπὶ τῆς στρατοπεδείας, οὗ πρῶτον κατεσκήνωσαν ἀπὸ τῆς διαβάσεως [. . .] (10) αἴτιον δʹ ἦν καὶ τοῦ μένειν τὸ στρατόπεδον ἐπὶ τῆς πρώτης παρεμβολῆς καὶ τοῦ κεχωρίσθαι τὸν Πόπλιον ἀπὸ τῶν δυνάμεων τὸ σάλιον εἶναι τὸν προειρημένον ἄνδρα. τοῦτο δʹ ἔστιν, (11) καθάπερ ἡμῖν ἐν τοῖς περὶ τῆς πολιτείας εἴρηται, τῶν τριῶν ἕν σῦστημα, διʹ ὧν συμβαίνει τὰς ἐπιφανεστάτας θυσίας ἐν τῇ ῾Ρώμῃ συντελεῖσθαι τοῖς θεοῖς; (12) [. . .] τριακονθήμερον μὴ μεταβαίνειν κατὰ τὸν καιρὸν τῆς θυσίας, ἐν ᾗ ἂν χώρᾳ καταληφθῶσιν [οἱ σάλιοι οὗτοι]. (13) οἳ καὶ τότε συνέβη γενέσθαι Ποπλίω; τῆς γὰρ δυνάμεως μελλούσης περαιοῦσθαι κατέλαβεν αὐτὸν οὗτος ὁ χρόνος, ὥστε μὴ δύνασθαι μεταβαλεῖν τὴν χώραν. (14) διὸ συνέβη τόν τε Σκιπίωνα χωρισθῆναι τῶν στρατοπέδων καὶ μεῖναι κατὰ τὴν Εὐρώπην, τὰς δὲ δυνάμεις περαιωτείσας μένειν ἐπὶ τῶν ὑποκειμένων καὶ μὴ δύνασθαι πράττειν τῶν ἑξῆς μηθέν, προσαναδεχομένας τὸν προειρημένον ἄνδρα. Der Text weist an der entscheidenden Stelle nach Vermutung der meisten Herausgeber (CASAUBONIUS 1609; BUETTNER–WOBST 1904; PATON 1926) aus anderen Gründen eine Lücke auf. 28 Liv. 37,33,6f.: Stativa deinde ad Hellespontum aliquamdiu habuerunt, quia dies forte, quibus ancilia moventur, religiosi ad iter inciderant. (7) idem dies P. Scipionem propiore etiam religione, quia salius erat, diiunxerant ab exercitu; causaque et is ipse morae erat, dum consequeretur.
Radikale im öffentlichen Dienst
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3 PATRIZISCHE PRIESTERSCHAFTEN Es dürfte kein Zufall sein, dass wir uns mit den genannten Vorfällen insbesondere in den Jahrzehnten vor der lex Villia annalis und damit in einer Epoche bewegen, in der eine Systematisierung der magistratischen Laufbahn erfolgte. Die Klärung des Charakters öffentlicher Ämter betraf auch religiöse Rollen, sacerdotia. Aber die Beschränkungen auf ganz wenige Rollen sind auffällig, die Maßnahmen überraschend, scheitern eher oder scheinen gar nach hinten loszugehen. Insbesondere die ältere Forschung hat völlig zu Recht gesehen, dass die Vorfälle auf einer Konfliktlinie von Patriziern und Plebejern verlaufen. Wie relevant diese Linie im religiösen Bereich noch ist, zeigt die Übertragung des mit der lex Ogulnia im Jahr 300 v. Chr. eingeführten Prinzips der wenigstens hälftigen Besetzung der großen Kollegien mit Plebejern – und zugleich die Bewahrung einer patrizischen Minorität, die dicht an die Hälfte heranreicht – bei der Neueinrichtung des Kollegiums der Tresviri epulonum im Jahr 196. 29 Neben zwei Volkstribunen dürfte P. Manlius ein Patrizier gewesen sein. 30 Für die zuvor besprochenen Fälle ist zunächst einmal an die Einführung der (wenn auch modifizierten) Volkswahl des Pontifex maximus in der zweiten Hälfte des dritten Jahrhunderts zu erinnern, 31 der sich im Jahr 209 die vermutlich erste Volkswahl und erste Wahl eines Plebejers zum Curio maximus anschloss. 32 Der Pontifex maximus, der spätestens seit der Systematisierung der Priesterschaften durch die lex Ogulnia zunehmende Autorität gewann, war der entscheidende Akteur in fast allen Fällen. Seit 243 und bis 221 amtierte der erste bekannte Plebejer in diesem Amt, L. Caecilius Metellus, in dessen Amtszeit die für die Zeit von 241 bis etwa 221 genannten Konflikte fielen. Es war dann erneut der seit 213 und bis 183 amtierende Plebejer P. Licinius Crassus Dives, der für die meisten weiteren genannten Konflikte verantwortlich war. Die Sequenz der Konfliktthemen ist nicht ohne Interesse. Zunächst ging es um die Regelung des für Rom völlig neuen Problems der Provinzverwaltung; die hier gefundene Lösung – Ausschluss langfristiger Abwesenheit für die exklusiv patrizischen Priesterschaften der Flamines (maiores) (und natürlich Reges sacrorum) – hielt sich trotz wiederholter individueller Proteste. Der zweite Konflikt betraf das Kernstück der Priesterämter, ihre Lebenslänglichkeit. Am Beispiel des Exils von Auguren noch im ersten Jahrhundert und später thematisiert, 33 traf die rigorose Beobachtung ritueller Details dieses Selbstverständnis ins Herz. Dass wir von keinen weiteren Fällen wissen, zeigt das Scheitern dieses Versuchs, doch blieb eine Beschädigung übrig. Wenn Livius im Falle des C. Valerius Flaccus davon spricht, dass der so positive Charakterwandel zu einer Wiederaufnahme der 29 Zum näheren (religions-)politischen Kontext s. RÜPKE, Kalender und Öffentlichkeit, 319– 330. 30 FS Nr. 2342; die Hypothese wird von BAUDRY übernommen. 31 Die Wahl erfolgte durch eine Wahlversammlung (comitia) von ausgelosten 17 der 35 tribus (das Verfahren beschreibt Cic. leg. agr. 2,16–18). 32 Liv. 27,8,1–3. 33 Z.B. für Sulla, FS Nr. 1390 mit weiterer Literatur.
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Jörg Rüpke
alten Sitte geführt habe, dem Flamen einen Senatssitz zuzugestehen, der durch die indignitas der früheren Flamines verlorengegangen sei,34 so könnte man dieses – wenn man Historizität unterstellt – auf die Ereignisse der 220er Jahre beziehen. Der – nach einem patrizischen Zwischenspiel – oberpontifikale Nachfolger des Metellus, Crassus, eröffnet mit den Ernennungen wider Willen einen anderen Konfliktbereich. Auch hier lohnt genaues Hinsehen. Livius betont für das Jahr 209 nicht den Widerstand des Kandidaten (den man aus coacti flaminis herauslesen kann, aber nicht muss), sondern sein fehlendes Ansehen in der cognatischen Verwandtschaft (das sich auch gegen seine Ernennung gerichtet haben kann). Die Ernennung muss im Kontext einer anderen noch ausstehenden Ernennung, nämlich eines Rex sacrorum, gesehen werden. M. Marcius war mit hoher Wahrscheinlichkeit durch den ersten plebejischen Pontifex maximus in den späten 240er oder 230er Jahren zum ersten plebejischen Rex sacrorum ernannt worden – eine Darstellung dieses Vorganges fehlt leider. 35 Diese Öffnung ließ sich aber nicht durchhalten, nach einer zweijährigen Vakanz – Marcius war 210 gestorben – wurden nur noch Patrizier ernannt. Ebenfalls im Jahr 209 war der erste plebejische Curio Maximus gewählt worden, ein C. Mamilius Atellus, der 207 bereits die Prätur erlangte, 36 und zwar mit der Verwaltung Siziliens; hier wird die Rolle des Ortsprinzips, der Bindung an Rom, in der Verteilung von Priesterschaften deutlich: Mögliche Abwesenheit erlaubte auch einen Plebejer. Der im Jahr 208 inaugurierte Rex Cn. Cornelius Dolabella war jung, gerade erst Monetalis gewesen, und blieb 28 Jahre im Amt. 37 Im Jahr 205 gab es erneut eine Vakanz, als der bis zum Konsulat gelangte Flamen Martialis M. Aemilius Regillus 38 starb. Erst 204 v. Chr. wurde Ti. Veturius Philo als sein Nachfolger ernannt, Bruder des Konsuls von 206 und vielleicht schon in höherem Alter, da er vermutlich schon bald nach der Jahrhundertwende einen Nachfolger fand. 39 Alter, fehlende Ämter wie die Vakanz (deren Länge sich nicht schätzen lässt, der Jahreswechsel bietet nur einen Anhaltspunkt) signalisieren Konflikte in der Besetzung. Wenn der Nachfolger P. Quinctilius Varus mit dem Prätor des Jahres 203 identisch war, wäre er, da der Flamen erst 169 starb, sehr alt geworden; es liegt näher an einen Sohn zu denken, der entsprechend jung war, aber – trotz der Möglichkeiten – kein Amt erreichte. 40 Deutlich wird hier also wieder eine Routine, die sich auch in den 180er Jahren in der Ernennung eines jungen Scipio zum Flamen Dialis wie in dem Ernennungsversuch des Dolabella zum Rex sacrorum niederschlägt: Immerhin handelt es sich bei diesem um den Sohn des verstorbenen Rex sacrorum. Seine Ablehnung ist weniger systemisch als tatsächlich individuell zu werten. Wie die erzwungenen Abdankungen der 220er Jahre sind die erzwunge34 Liv. 27,8,7: huius famae consensu elatus ad iustam fiduciam sui rem intermissam per multos annos ob indignitatem flaminum priorum repetivit, ut in senatum introiret. 35 FS Nr. 2368. 36 FS Nr. 2334. 37 FS Nr. 1322. 38 FS Nr. 525. 39 FS Nr. 3481. 40 So FS Nr. 2868.
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nen Besetzungen und Streitigkeiten über die Qualität der Besetzungen eine relativ kurze Episode um das Jahr 210 herum. Beide Fälle sind nicht individuell, sondern systemisch, als Konflikt zwischen Patriziern und Plebejern zu deuten. Die nun entstandene Konstellation legt nicht nahe, dass die Flaminate gefürchtete Ämter waren: Übergänge auf Kinder waren ebenso üblich wie die Nominierung vielversprechender Personen, auch dem jungen Caesar wird man das in der familiären Konstellation unterstellen dürfen, ohne sich den Vorwurf eines vaticinium ex eventu einzuhandeln. Und es spricht viel dafür, dass das nicht grundlos war. Die exklusiv patrizischen Ämter – die großen Flaminate, der Rex, aber auch die Zugehörigkeit zu den Saliern – boten jene Privilegien, an denen Prestige hing: Sie vermittelten eine lebenslange hohe Sichtbarkeit durch ihre ungewöhnliche Dienstkleidung, ihre Privilegien – das Recht auf einen kurulischen Stuhl, einen Liktor – wie das häufige Auftreten in der Öffentlichkeit: mehrmals im Monat oder einen ganzen Monat pro Jahr lang bewegten sie sich im politischen und religiösen Zentrum der Stadt, dies alles in deutlichem Unterschied zu anderen, auch Plebejern offenstehenden Priesterschaften. 41 Möglicherweise galt schon in der späten Republik die für die Kaiserzeit nachweisbare Struktur, mit dem Erreichen höherer magistratischer Ämter oder Priesterämter auszuscheiden; das prosopographische Material erlaubt eine Erhärtung dieser These nicht, der Fall des Prätors und Saliers Furius Bibaculus spricht sogar dagegen. 42 Unter dieser hypothetischen Voraussetzung hätte die Sodalität der Salier mit ihrer kurzen Amtszeit einer Vielzahl von Patriziern eine frühe Priesterschaft erlaubt; dass Augustus nicht nur das Patriziat erweiterte, sondern auch die Zahl der Salier durch die Einrichtung einer zweiten Sodalität, die Salii Collini neben die Salii Palatini stellte, vergrößerte, spricht für einen solchen Zusammenhang. Auch hier gilt es, das Hypothetische der Argumentation zu betonen: Es fehlen schlicht Belege für eine Zweiteilung der Salier vor Augustus. Sollte die Doppelung älter sein, würde sie freilich die Wahrscheinlichkeit der Versorgung aller Patrizier noch einmal wesentlich erhöhen. Dachte man nicht an die ökonomischen Potenziale der Tätigkeit in der Provinz, waren die Einschränkungen in den genannten Priesterschaften durchaus erträglich. Zudem begannen diese Privilegien ein bis zwei Jahrzehnte vor dem Konsulatsalter. Wer würde die W2-Stelle nach dem Abitur mit der Hoffnung auf den W3-Ruf mit fünfundvierzig Jahren vertauschen wollen? Eine althistorische Verengung auf politische Karrieren unterstelle ich nicht grundlos. Die zuletzt genannte individuelle Perspektive hat aber auch eine systemische Seite. Fragt man sich, was auch in der einheitlichen Nobilität der Republik seit dem dritten Jahrhundert den Anteil der Patrizier an hohen Ämtern, insbesondere dem Konsulat, ihr Monopol auf bestimmte Funktionen wie das Interregnum, und was schließlich die julianisch-augusteische Erweiterung und Aufwertung des Patriziates mit ihrer enormen Diskriminierung der Karrieren begründete, bildet ihre 41 Zur durchaus beschränkten Sichtbarkeit anderer Priesterschaften siehe: RÜPKE, Römische Priester in der Öffentlichkeit, 2005. 42 FS Nr. 1781; Val. Max. 1,1,9.
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religiöse Sonderrolle das härteste Argument, wie kontrovers auch immer die Frage der Auspizien diskutiert wurde. 43 Medial vermittelt wurde dieses Argument durch die wenigen exklusiv patrizischen Ämter, und dauerhaft und unzweifelhaft sichtbar waren davon nur die genannten Priesterschaften. Um den patrizischen Anteil in den Kollegien konnte man wissen, ja musste man im Blick auf die Priesterwahlen ebenso wissen wie bei den Konsul- und anderen Wahlen. Die Sichtbarkeit und die besondere Qualität der religiösen Ämter fanden ihren Ausdruck auch in einer sonst unbekannten Form, in der Einbeziehung von Frauen. Für die Regina sacrorum und die Flaminicae, die Ehefrauen der großen Flamines, muss das nicht argumentiert werden. Für die Salier sind wir auf eine sehr dünne Überlieferung angewiesen; aber F. Glinister hat auf einer Tagung in Lampeter 44 wahrscheinlich gemacht, dass mit den Salias virgines in einem Cincius zugeschriebenen Zitat des Festus 45 patrizische Mädchen in Priesterqualität gemeint sind. In der von mir aufgewiesenen Parallelität wäre zu überlegen, ob der von Cincius verwendete Begriff conducticiae mit dem in matrimonium ducere als bewussten sprachlichen Anklang zusammenzubringen ist, das natürlich auch für die per confarreationem geschlossene Ehe gilt. Es ist wichtig sich klarzumachen, dass diese Ehe für die Frau auch plebejischer Herkunft galt, sie – anders formuliert – zur Patrizierin machte. 46 4 UND DIE PLEBEJER? Ich könnte an dieser Stelle schließen. Aber meine positive Argumentation lässt sich noch durch eine negative erhärten. Spätestens die Rede von den Frauen hat eine Lücke in der Materialvorstellung deutlich gemacht. Es gibt noch eine weitere lebenslängliche Priesterschaft mit hoher Sichtbarkeit, die – aus anderen Gründen – von allen Ämtern ausgeschlossen ist, nämlich die virgines Vestae, die Vestalinnen. Wo bisher die Priester durch ihre Ernennung in den Blick gekommen sind, ist es bei den Vestalinnen die Entfernung aus dem Amt im gruseligen Ritual des Lebendigbegrabens, die in vielen Fällen die Namen in die Überlieferung gebracht hat – das gilt von der mythischen Zeit bis in das spätantike Briefcorpus des Symmachus, der noch Ende des vierten Jahrhunderts die Vestalinnenjagd zu einer der verbliebenen Aufgaben des Pontifikalkollegiums macht. 47 H. Cancik-Lindemaier hat die Bedrohung durch die – häufig in Todesurteilen endenden – Prozesse we-
43 Dazu Liv. 10,7,9f. 44 „Virgins for Hire? The Saliae”, Lampeter 29 August 2008; die Publikation wird von John Richardson und Federico Santangelo vorbereitet. 45 Fest. 439,18 L. 46 Dazu ausführlich demnächst BAUDRY in Rückgriff auf eine These von RÜPKE , Domi militiae. 47 Symm. epist. 9,108f. und 147f. Siehe WISSOWA, Vestalinnenfrevel.
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gen incestus als ein Grundmerkmal des sechsköpfigen Vestalinnenkollegiums herausgestellt, das durch kein rechtliches Privileg wirklich kompensiert wurde. 48 Was in den Jahren vor dem Zweiten Punischen Krieg ein plebejischer Pontifex maximus über einige Jahre hinweg – am Ende vergeblich – an den patrizischen Flamines maiores zu zeigen versuchte, wird an den Virgines über mehr als ein halbes Jahrtausend hinweg inszeniert: das Prekäre, das Immer-Gefährdete der sacerdotalen Qualität. Das lässt nun nach dem Status der Vestalinnen fragen. Die Antwort findet sich nicht in den jüngsten einschlägigen Monographien, 49 aber der prosopographische Befund ist eindeutig: Über die gesamte republikanische Zeit hinweg, beginnend mit den mythischen Namen, dominieren unter den Vestalinnen die Plebejerinnen, sicher zwölf von siebzehn. Die zeitliche Verteilung der Ausnahmen ist interessant. Die früheste bildet die um 205 zur Vestalin gemachte Aemilia, die 178 als Vestalis maxima ihren Dienst versah und das aus Nachlässigkeit erloschene Feuer einer Jüngeren auf wunderbare Weise wieder entzündete. 50 Patrizierin wird sie durch die Hypothese F. Münzers, der in ihr die älteste Tochter des späteren Pontifex maximus M. Aemilius Lepidus 51 sah. 52 Die Annahme, dass diese Jüngere ebenfalls Patrizierin gewesen sei, 53 ist völlig unbegründet. Gesichert ist der patrizische Status für die Tochter (oder, nach einer weniger wahrscheinlicheren Tradition, Schwester) des Triumphators und Konsuls von 143 v. Chr., Ap. Claudius C. f. Ap. n. Pulcher, Claudia. 54 Wohl patrizisch war auch die 114 v. Chr. hingerichtete Aemilia; 55 eine plebejische Aemilia in einer solchen Position zu sehen, wäre für das späte zweite Jahrhundert noch ungewöhnlich. Dieses Argument gilt aber in keiner Weise für die Vestalin Fabia, die im Jahr 73 wegen incestus mit Sergius Catilina angeklagt, aber freigesprochen wurde. 56 Bei dieser Halbschwester von Ciceros Frau Terentia könnte es sich durchaus um eine Plebejerin gehandelt haben, ja herausragende patrizische Familienzweige bieten sich hier kaum noch an. Damit wäre aber die einzige mögliche Patrizierin aus dem Kreis der für die späten siebziger Jahre vollständig bekannten Virgines Vestales weggefallen: Für Popillia, Perpennia, Fonteia, Licinia und Arruntia, die fünf anderen, kann man eine solche Zugehörigkeit sicher ausschließen. 57 Im ersten Jahrhundert, aber vermutlich auch bis zum Ende des dritten Jahrhunderts v. Chr., waren die Virgines Plebejerinnen. Zu einer ersten Ausnahme 48 CANCIK-LINDEMAIER, Kultische Privilegierung und gesellschaftliche Realität, 10; zur politischen Dimension des Prozesses von 114/3 v. Chr. ebd., 8. 49 WILDFANG, Rom's Vestal Virgins; SCHULTZ, Women's relgiious activity in the Roman Republic; TAKÁCZ, Vestal Virgins, Sibyls, and Matrons. 50 FS Nr. 490 mit den Belegen; der datierte Bericht des Livius (Liv. per. 41; Obseq. 8) nennt keinen Namen. 51 FS Nr. 507. 52 MÜNZER, Römische Adelsparteien und Adelsfamilien, 173–6; MÜNZER 1963, 199–203. 53 SAQUETE Las vírgenes Vestales, 64; gefolgt von RÜPKE, FS Nr. 130. 54 FS Nr. 1152. 55 FS Nr. 491. 56 FS Nr. 1577. 57 Die Namen sind aus der Teilnehmerliste für das Inaugurationsbankett des Jahres 70 v. Chr. im Pontifikalkollegium bekannt: Macr. Sat. 3,13,11.
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könnte es im Kontext der schon näher beleuchteten Tätigkeit des Crassus am Ende des dritten Jahrhunderts gekommen sein; gegen Ende des zweiten Jahrhunderts, vielleicht mit der Hinrichtung des Jahres 114, wurden diese Ausnahmen beendet. Dazu passen die in der Folgezeit, etwa durch die Lex Papia systematisierten Regeln, die uns Gellius in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts n. Chr. überliefert. (11) Sed Papiam legem inuenimus, qua caueretur, ut pontificis maximi arbitratu uirgines e populo uinginti legantur sortitioque in contione ex eo numero fiat et, cuius uirginis ducta erit, ut eam pontifex maximus capiat eaque Vestae fiat. (12) sed ea sortitio ex lege Papia non necessaria nunc uideri solet. nam si quis honesto loco natus adeat pontificem maximum atque offerat ad sacerdotium filiam suam, cuius dumtaxat saluis religionum obseruationibus ratio haberi possit, gratia Papiae legis per senatum fit. 58 „Aber wir haben die Lex Papia eingesehen, in der geregelt wurde, dass nach dem Gutdünken des Pontifex maximus zwanzig Jungfrauen aus dem Volk gewählt werden und unter ihnen in einer öffentlichen Versammlung ein Losverfahren stattfindet und dass der Pontifex maximus diejenige, deren Los gezogen wurde, „ergreift“ und zur Dienerin der Vesta macht. (12) Aber gemäß der Lex Papia erscheint dieses Losverfahren jetzt nicht mehr notwendig. Denn wenn jemand von ehrenhafter Herkunft auf den Pontifex maximus zugeht und ihm seine Tochter für das Priesteramt anbietet – wenn sie nur unter allen religiösen Observanzen wählbar ist –, so wird sie nach dem Papischen Gesetz durch den Senat zur Vestalin gemacht.“
Das Gesetz richtet sich gegen die uneingeschränkte Verfügungsgewalt des Pontifex maximus bei der Bestimmung der virgines Vestae. Er wird verpflichtet, eine zwanzig Namen umfassende Kandidatenliste zu erstellen – anders kann man das pontificis maximi arbitratu uirgines e populo uiginti legantur (§ 11) nicht verstehen –, aus welcher in einer contio, einer öffentlichen Versammlung, ein Mädchen als künftige Vestalin ausgelost wird; der Text legt nahe, dass sich auf den Losen die Namen der Väter der Kandidatinnen befanden. Das Mädchen wurde dann vom Pontifex maximus durch die rituelle captio zur Vestalin gemacht. Sucht man nach Spuren der durch die Captio der Aemilia angezeigten Konflikte, findet man sie in einem Detail, das Gellius kurz vor seiner Behandlung des Papischen Gesetzes – zusammenhanglos – überliefert: Danach stand es Schwestern von Vestalinnen sowie Töchtern und Verlobten von verschiedenen Priestern frei, die Kandidatur abzulehnen: […] eam cuius soror ad id sacerdotium lecta est, excusationem mereri aiunt; item cuius pater flamen aut augur aut XVuirum sacris faciundis aut VIIuirum epulonum aut Salius est. (7) sponsae quoque pontificis et tubicinis sacrorum filiae uacatio a sacerdotio ista tribui solet. 59 „[…] wessen Schwester zu dieser Priesterschaft erwählt wurde, diese, heißt es, hat Immunität erworben; ebenso diejenige, deren Vater Flamen, Augur, Quindecimvir sacris faciundis, Septemvir epulonum oder Salier ist. (7) Auch der Verlobten eines Pontifex und der Tochter eines Tubicen sacrorum pflegt man eine Freistellung von diesem Priesteramt zu geben.“
58 Gell. 1,12,11f. 59 Gell. 1,12,6f.
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Die Erwähnung der Väter im Rang eines Flamen oder Salius weist den Weg: Priester, aber vor allem Patrizier sind familiär nicht betroffen. Das konzentriert die Auswahl auf plebejische Familien. Ex negativo wird in jedem Vestalinnenprozess die Überlegenheit der Patrizier vorgeführt. Das Radikale legitimiert auch hier das System. Das führt auf die Fälle vom Ende des dritten und Anfang des zweiten Jahrhunderts v. Chr. zurück. Innovatives individuelles Handeln sehen wir nicht nur bei den plebejischen Pontifices maximi. Auch auf Seiten der Patrizier sehen wir Individuen, die eine religiöse Rolle nicht mehr in traditioneller Weise interpretieren, sondern sich als spezifisch religiöse Rolle aneignen. Ob sie dabei vor dem Hintergrund einer tadellosen religiösen Rolle die Vereinbarkeit mit politischen Ämtern einfordern oder ihre besondere religiöse Verpflichtung auch gegen eine politische Rolle betonen, die kollektivierende Außensicht bleibt die gleiche: Die religiöse Fundierung des römischen Gemeinwesens wird im Patriziat auf Dauer gestellt – weit über die Republik hinaus, wenn man an die Vestalinnenprozesse denkt. Im religiösen Sinne müssen Radikale im öffentlichen Dienst sein, nicht allein, aber in ausreichender Anzahl. BIBLIOGRAPHIE CANCIK-LINDEMAIER, H.: Kultische Privilegierung und gesellschaftliche Realität: Ein Beitrag zur Sozialgeschichte der Virgines Vestae, in: Saeculum 41 (1990), 1–16. KLOSE, A. : Römische Priesterfasten 1., Trebnitz i. Schl. 1910. MÜNZER, F.: Römische Adelsparteien und Adelsfamilien [2. unv. Aufl. 1963], Stuttgart 1920. RÜPKE, J.: Domi militiae: Die religiöse Konstruktion des Krieges in Rom, Stuttgart 1990. Kalender und Öffentlichkeit: Die Geschichte der Repräsentation und religiösen Qualifikation von Zeit in Rom, in: RGVV 40, Berlin 1995. Fasti sacerdotum: Die Mitglieder der Priesterschaften und das sakrale Funktionspersonal römischer, griechischer, orientalischer und jüdisch-christlicher Kulte in der Stadt Rom von 300 v. Chr. bis 499 n. Chr., in: Potsdamer altertumswissenschaftliche Beiträge 12/1–3. 3 Bde., Stuttgart 2005. Römische Priester in der Öffentlichkeit, in: W. Eck, M. Heil (Hg.), Senatores populi Romani: Realität und mediale Präsentation einer Führungsschicht. Kolloquium der Prosopographia Imperii Romani vom 11.–13. Juni 2004. Heidelberger Althistorische Beiträge und Epigraphische Studien 40, Stuttgart 2005, 283–293. SAQUETE, J. C.: Las vírgenes Vestales: Un sacerdocio femenino en la religión pública romana, Madrid 2000. SCHULTZ, C. E.: Women's religious activity in the Roman Republic, Chapel Hill 2006. SIMÓN, F. M.: Flamen Dialis: El sacerdote de Júpiter en la religión romana, Madrid 1996. TAKÁCS, S. A.: Vestal Virgins, Sibyls, and Matrons: Women in Roman Religion, Austin 2008. WILDFANG, R. L.: Rom's Vestal Virgins: A study of Rome's vestal priestesses in the late Republic and early Empire, London 2006. WISSOWA, G.: Vestalinnenfrevel, in: ARW 22 (1923/4), 201–214.
DIE PRIESTER DER KYBELE Christiane Kunst, Osnabrück „Ich sehe sie noch wie gestern mit ihren salbentriefenden Haaren und blaß geschminkten Gesichtern, schlaff mit weibischem Gang durch die Gassen und Gäßchen Karthagos gehen und sich selbst bei den Kleinhändlern ihren schmählichen Unterhalt auftreiben [...]“ 1 , schreibt Augustin über die Kybelepriester, deren Habitus noch im 5. Jahrhundert auffällig und anstößig schien. Zugegebenermaßen handelt es sich um die polemische Darstellung eines Christen, aber sie steht in einer langen Tradition von Herabsetzungen der Kybelepriesterschaft in den literarischen Quellen. In krassem Gegensatz dazu entfaltet die Göttin seit ihrer Einführung in Rom als Magna Deorum Mater Idea am Ende des dritten vorchristlichen Jahrhunderts immense Bedeutung im öffentlichen Kult und kann als staatstragend angesehen werden. Die erhaltenen archäologischen Selbstzeugnisse der Kultanhänger und Priester grenzen sich auffällig vom pejorativen literarischen Diskurs dadurch ab, daß letztere sich selbstbewußt und stolz, ausgestattet mit den Insignien und Gerätschaften ihrer Priesterschaft, abbilden lassen. 2 Von den verschiedenen Priestern der Kybele 3 haben vor allem die Galli, die Kastratenpriester 4 , das literarische Bild des Kults geprägt. Sie werden als Männer porträtiert, die in keiner Weise dem römischen Männlichkeitsideal eines vir bonus entsprechen. Im Gegenteil, herausgeputzt wie es nur für Frauen statthaft war, verkörpern sie alles, was dem römischen Mann – zumindest der Oberschicht – suspekt, wenn nicht gar widerlich ist. Die negative Beurteilung entzündet sich vor allem an den orgiastischen Praktiken während der großen Prozessionen für die 1 2
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Aug. civ. 7,26: qui usque in hesternum diem madidis capillis facie dealbata, fluentibus membris incessu femineo per plateas uicosque Carthaginis etiam a propolis unde turpiter uiuerent exigebant. Die Zahl der Denkmale ist sehr klein, was verschiedene Gründe haben kann. Möglicherweise wurden einige der Darstellungen als Frauen identifiziert oder auch in christlicher Zeit bewußt vernichtet. Vgl. S. HALES: Looking for Eunuchs. The Galli and Attis in Roman Art, in: M. Toher (Hg.), Eunuchs in Antiquity and Beyond, University of Wales Press, 2002, 8–102; zu einer Materialaufnahme vgl. F. M. MÜLLER: Zu Attributen, Schmuck und Trachtbestandteilen der orientalischen Priester der Kybele. Archäologische und literarische Quellen zu Galli und Archigalli, unpubl. Diplomarbeit, Innsbruck 2003. Zu cannophoroi, dendrophoroi/hastiferi, ballatores Cybelae, sacerdotes vgl. M. BEARD: The Roman and The Foreign. The Cult of the Great Mother in Imperial Rome, in: N. Thomas – C. Humphrey (Hg.), Shamanism, History, and the State, Ann Arbor 1994, 164–190; G. THOMAS: Magna Mater and Attis, ANRW II 17,3 (1984), 1500–1535, 1528ff. THOMAS, Magna Mater (wie Anm. 3), 1526 spricht den Galli den Priesterstatus allerdings ab und hält sie nur für untergeordnetes Kultpersonal.
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Göttin. Unter dem Eindruck peitschender Musik geißelten sich die Galli und fügten sich blutende Verletzungen zu, während sie rhythmische Tänze aufführten. Mit langen gekräuselten Haaren 5 , geschminkt 6 , nach schweren Salben duftend und in prächtigen Gewändern, die von den Beobachtern fast ausnahmslos als Frauenkleider identifiziert werden, zogen sie durch die Städte des Imperiums. Schon im ältesten römischen Zeugnis einer Prozession der Göttin wird das Unbehagen über das zum furor gesteigerte Ritual thematisiert, das Furcht und Schrecken bei den Zuschauern auszulösen vermochte. 7 Auch die Selbstkastrationen wurden öffentlich vollzogen. Wie, so muß man sich fragen, war die radikale Haltung der Galli integrierbar in den römischen Kosmos mit seiner engen Verflechtung von Religion und Politik? Wie konnte der Kult bei dieser Ausgestaltung überhaupt staatstragend sein? Es ist häufig versucht worden, die unübersehbar paradoxe Situation der Galli durch eine Zweiteilung des Kults in einen phrygischen und einen römischen Teil zu erklären. Da sich diese Deutung jedoch, wie ich zunächst zeigen werde, nicht aufrecht erhalten läßt, müssen die Irritationen der Autoren erneut einer genaueren Analyse unterzogen werden, um eine Antwort auf die gestellte Frage zu erhalten. DIE ANGEBLICHE ZWEITEILUNG DES KULTS Als erster hat Dionysios von Halicarnassus am Ende des 1. Jahrhunderts v. Chr. (nach 23 v. Chr. 8 ) eine strenge Trennung zwischen einem römischen und einem phrygischen Kult der Magna Mater/Kybele postuliert: „worüber ich mich am meisten gewundert habe, daß, ungeachtet der vielen zusammenströmenden Fremden, deren Pflicht es ist, ihre angestammten Götter nach Sitte ihrer Herkunftsländer zu verehren, die Stadt [Rom] dennoch keine fremden Gewohnheiten, wie doch viele Städte schon, öffentlich nachahmte, sondern wenn je, den Orakeln zufolge, fremde Riten eingeführt wurden, sie nach ihren eigenen Sitten feiert, und – ein Beweis dafür ist die Opferweihe der idäischen Mutter – alle abergläubischen Fabeln verwirft. Denn jährlich weihen ihr die Praetoren Opfer und Kampfspiele nach römischer Sitte. Ihre Priester aber sind ein Phryger und eine Phrygerin. Diese ziehen, die Brust mit kleinen Bildchen umhängt, in der Stadt umher und tragen das Bild der Gottheit, erbetteln, ihrer Sitte gemäß, Almosen für die Göttermutter, werden in den Hochgesängen der Allmutter von den Mitfolgenden mit Flöten begleitet und schlagen das Tympanon. Gehorsam dem Befehl und der Verordnung des Senats zieht keiner von den einheimischen Römern durch die Stadt, im bunten Gewand, Gaben erheischend und bläst die Flöte und keiner begeht das Fest der Göttin mit phrygischem Gepränge. So gewis-
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Das lange Haar als Signet der Galli vgl. Ov. ars 1,505–508; Lukian pod. 113–116; Verg. Aen. 12,100; Apul. 8,24,2; Plaut. rud. 377: „am besten wär’s ich ließe mir die Haare stehen und spielte den Propheten“ (capillum promittam optimumst occipiamque hariolari). Die Haare werden beim Tanz auffällig geschüttelt vgl. Ov. fast. 4,244; Varro, Men. frg. 132; Apul. met. 8,27,3; Arnob. 2,41. Apul. met. 8,27,1. Luc. 2,609. 624; Ov. fast. 4,190. Vgl. Cass. Dio 54,2,3.
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senhaft enthält sich diese Stadt ausländischer Gebräuche im Bezug auf die Götter und groß ist ihre Aversion gegen jede Zurschaustellung, die nicht mit Wohlanstand verbunden ist.“ 9
Der römische Kult beschränkte sich nach Dionysios auf das Opfer des Prätors und die (seit 194 v. Chr. eingerichteten) ludi megalenses 10 (4.–10. April). Dem phrygischen fremden Kult ordnet der Autor dagegen die rhythmische Musik sowie die anstößigen Galluspriester zu. Abgesehen von der Tatsache, daß unter dem Epitheton „phrygisch“ auch griechische Elemente subsumiert wurden 11 , hat diese dichotomische Interpretation der neuzeitlichen Forschung den Weg gewiesen. 12 Insbesondere im Gefolge von F. Cumont 13 ist wiederholt betont worden, der Senat habe die wahren Ausmaße des Kultes nicht gekannt 14 und daher zur Schadensbegrenzung versucht, dem orgiastischen Treiben durch eine Trennung in einen öffentlichen Magna Mater Kult und einen streng reglementierten phrygisch determinierten Kybelekult Einhalt zu gebieten. 15 Nur an einem einzigen Tag im Jahr habe eine Prozession außerhalb des Tempels stattfinden dürfen, auf den ansonsten der Kult nach phrygischer Sitte begrenzt gewesen sei. Kein Römer und
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Dion. Hal. ant. 2,19,3–5: καὶ ὃ πάντων μάλιστα ἔγωγε τεθαύμακα, καίπερ μυρίων ὅσων εἰς τὴν πόλιν ἐληλυθότων ἐθνῶν, οἷς πολλὴ ἀνάγκη σέβειν τοὺς πατρίους θεοὺς τοῖς οἴκοθεν νομίμοις, οὐδενὸς εἰς ζῆλον ἐλήλυθε τῶν ξενικῶν ἐπιτηδευμάτων ἡ πόλις δημοσίᾳ ὃ πολλαῖς ἤδη συνέβη παθεῖν, ἀλλὰ καὶ εἴ τινα κατὰ χρησμοὺς ἐπεισηγάγετο ἱερά, τοῖς ἑαυτῆς αὐτὰ τιμᾷ νομίμοις ἅπασαν ἐκβαλοῦσα τερθρείαν μυθικήν, ὥσπερ τ` τῆς Ἰδαιας θεᾶς ἱερά. θυσίας μὲν γὰρ αὐτῇ καὶ ἀγῶνας ἄγουσιν ἀνὰ πᾶν ἔτος οἱ στρατηγοὶ κατὰ τοὺς Ῥωμαίων νόμους, ἱερᾶται δὲ αὐτῆς ἀνὴρ φρὺξ καὶ γυνὴ φρυγία καὶ περιάγουσιν ἀνὰ τὴν πόλιν οὗτοι μητραγυρτοῦντες, ὥσπερ αὐτοῖς ἔθος, τύπους τε περικείμενοι τοῖς στήθεσι καὶ καταυλούμενοι πρὸς τῶν ἑπομένων τὰ μητρῷα μέλη καὶ τύμπανα κροτοῦντες· Ῥωμαίων δὲ τῶν αὐθιγενῶν οὔτε μητραγυρτῶν τις οὔτε καταυλούμενος πορεύεται διὰ τῆς πόλεως ποικίλην ἐνδεδυκὼς στολὴν οὔτε· ὀργιάζει τὴν θεὸν τοῖς φρυγίοις ὀργιασμοῖς κατὰ νόμον καὶ ψήφισμα βουλῆς. οὕτως εὐλαβῶς ἡ πόλις ἔχει πρὸς τὰ οὐκ ἐπιχώρια ἔθη περὶ θεῶν καὶ πάντα ὀττεύεται τῦφον, ᾧ μὴ πρόςεστι τὸ εὐπρεπές. Dazu F. BERNSTEIN: Ludi Publici. Untersuchungen zur Entstehung und Entwicklung der öffentlichen Spiele im republikanischen Rom, Stuttgart 1998 (Historia Einzelschriften 119), 187ff. Zum Festkalender der Kybelefeiern im Jahr 354 n. Chr. vgl. CIL I² p. 260. Zum Amalgam von kleinasiatischen (Kleidung) und griechischen Elementen (Zug, Musik, Sprache) vgl. L. ROLLER: In Search of God the Mother. The Cult of Anatolian Cybele, Berkley et al 1999, 293ff. Zuletzt hat Mary Beard die grundsätzliche Fremdheit der Priesterschaft betont und in ihr eine Projektionsfläche zur Diskussion und Konstruktion römischer Identität ausgemacht, vgl. BEARD, The Roman (wie Anm. 3). F. CUMONT: Die orientalischen Religionen im römischen Heidentum: Vorlesungen am Collège de France, Leipzig 1910, 62ff. Etwa THOMAS, Magna Mater (wie Anm. 3), 1504; F. BÖMER: Kybele in Rom. Die Geschichte ihres Kultes als politisches Phänomen, MDAI(R) 71 (1964) 130–151, 132; M. J. VERMASEREN: Cybele and Attis. The Myth and the Cult, London 1977, 94; H. H. SCULLARD: Festivals and Ceremonies of the Roman Republic, London 1981, 98–99. THOMAS, Magna Mater (wie Anm. 3), 1504.
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kein Sklave habe an den Riten teilnehmen, vor allem aber kein Kultamt bekleiden dürfen. 16 Erst allmählich hätten sich diese Beschränkungen gelockert. EIN KULT, NICHT ZWEI Eine derartige Absonderung läßt sich für den Kult keineswegs stichhaltig nachweisen. Erstens war die Senatsaristokratie in religiösen Fragen alles andere als naiv. Die Senatoren hatten sich nicht einmal gescheut in den Zeiten des Punischen Krieges Menschenopfer vorzunehmen. Vor dem Hintergrund anderer extrovertierter Priesterauftritte wie die der Salier oder Luperci wirkt das beeindruckende Ritual der großen Göttin weit weniger exotisch. Gegen die Unkenntnis des Senats und für eine sorgfältige Vorbereitung der Unternehmung spricht zudem die virtuos choreographierte Einholung der Göttin in den Jahren 205/204 v. Chr. 17 Zweitens läßt sich eine ostentative aristokratische Vereinnahmung des Kults 18 in der Folgezeit beobachten, die Teil aristokratischer Selbstrepräsentation wurde. Beispielsweise saßen die Senatoren bei den szenischen Spielen zu Ehren der Göttin erstmals getrennt von den übrigen Zuschauern. 19 Insbesondere die Patrizier, die in den Jahren des Punischen Krieges 20 einen erneuten Aufschwung erfuhren, kamen zu gemeinsamen Mahlzeiten zusammen 21 , die der Selbstrepräsentation in einem Maße dienten, daß sie seit 161 v. Chr. unter die Luxusgesetze fielen. 22 Sodalitates (Cic. Cato 45) wurden gegründet, um die gemeinsamen Gelage zu veranstalten. 23 Die kurulischen Ädilen im 2. Jahrhundert v. Chr. haben zudem wieder16 Dion. Hal. ant. 2,19,4f.; Val. Max. 7,7,6; Obseq. 44a. 17 Liv. 29,10. Hierzu H. BERNEDER: Magna Mater, Kult und Sibyllinen. Kulttransfer und annalistische Geschichtsfiktion, Innsbruck 2004; J. N. BREMMER: Slow Cybele’s Arrival, in: J. N. Bremmer, N. M. Horsfall (Hg.), Roman Myth and Mythography. Bulletin Supplement 52, London 1987, 105–111; E. S. GRUEN: The Advent of the Magna Mater, in: ders., Studies in Greek Culture and Roman Policy, Cincinnati Classical Studies, N.S. 7, Leiden – New York – Kopenhagen – Köln 1990, 5–33; T. KÖVES: Zum Empfang der Magna Mater in Rom, Historia 12 (1963), 321–347. 18 Einige behaupteten trojanischen Ursprungs zu sein. P. LAMBRECHT: Cybèle, divinité ètrangère ou nationale? Bulletin de la Société belge d’anthropologie et de Préhistoire 62 (1951), 44– 60. 19 Cic. Har. Resp. 12,24; Val. Max. 12,4,3. 20 P. BARCELÓ: Hannibal, Stuttgart 2004, 211. 21 Cic. Cato mairo 13.45; Gell. 2,24,2;18,2,11; Ov. fast. 4,353f.; Fast. Praen. (CIL 1² p. 135) zum 4. April: Ludi M.d. M.I. Megalensia vocantur quod ea dea Megale appellatur. Nobilium mutitationes cenarum solitae sunt frequenter fieri, quod Mater Magna ex libris Sibyllinis arcessita locum mutavit ex Phrygia Romam. 22 M. BEARD – J. NORTH – S. PRICE (Hg.): Religions of Rome 1, Cambridge 1998, 84. Vgl. E. BALTRUSCH: Regimen morum. Die Reglementierung des Privatlebens der Senatoren und Ritter in der römischen Republik und frühen Kaiserzeit, München 1988 (Vestigia 41), 82. 23 Möglicherweise wurden die mutitationes cenarum als Gegengewicht zu den Bewirtungen plebeischer Familien anläßlich der Ceralia geschaffen, zumal die Megalasia vom 4.–10. April unmittelbar vor letzteren am 19. April lagen, die wiederum seit dem 3. Jh. bereits am 12. April ihren Anfang nahmen.
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holt ihre Aufwendungen für die Megalesia durch entsprechende Münzprägungen ins öffentliche Gedächtnis gerufen und damit offenbar ihre Wahlchancen zu verbessern gesucht. 24 Drittens: Kybele wird von Anfang an als römische Gottheit wahrgenommen, 25 die durch ihre Herkunft vom Berg Ida Teil der trojanisch-römischen Vergangenheit ist. Es entspricht ohnehin römischen Gepflogenheiten Neues zu traditionalisieren. Entsprechend galt Magna Mater als in die römische Sphäre zurückgeholt. Eine Aufspaltung in eine römisch-trojanische und eine phrygische Gottheit hätte einen erheblichen Authentizitätsverlust für eine Göttin bedeutet, die nichts Geringeres zu vollbringen hatte, als den Sieg im Krieg gegen die Karthager zu ermöglichen. Im Gegensatz zu anderen „fremden“ Kulten wurde Kybele innerhalb des Pomeriums, ab 191 v. Chr. in einem neu erbauten Tempel in unmittelbarer Nähe zu ihrer bisherigen Gastgeberin, der Göttin Victoria, untergebracht. 26 Die römisch-trojanische Identität der Göttin wurde insbesondere von Augustus herausgestrichen (dazu gleich mehr), etwa beim Wiederaufbau des 3 n. Chr. abgebrannten Tempels in Tuffgestein. 27 Dennoch ist kaum anzunehmen, daß die augusteischen Dichter Ovid 28 oder Vergil 29 ihre Darstellung der Magna Mater als persönliche Schutzgottheit des Aeneas erst erfunden haben sollen. 30 Dionysios‘ Zeugnis, auf dem die Trennung eines römischen und eines „fremden“ Kults basiert, ist vielmehr im Rahmen seiner Konstruktion römischer Religion zu sehen, die er als frei von fremden Kultpraktiken charakterisiert. Letzteres sieht er als Verdienst der Oberschicht und Erfolgsgeheimnis römischer Politik.31 Eine Aufspaltung der Rituale ist hingegen schon für Dionysios‘ Gegenwart nicht wahrscheinlich, denn sein Zeitgenosse Ovid präsentiert die Galli als fest etablier-
24 Zu den Prägungen vgl. M. BIEBER: The Images of Cybele in Roman Coins and Sculptures, in: Hommages à M. Renard, Bd. 3, Brüssel 1969, 29–40, 30–32. Die für die Spiele verantwortlichen Ädilen in der Zeit zwischen der Einführung und der Reorganisation unter Augustus stammen vorwiegend aus den sieben einflußreichsten gentes, vgl. THOMAS, Magna Mater (wie Anm. 3), 1513. 25 T. P. WISEMAN: Cybele, Virgil and Augustus in Poetry and Politics in the Age of Augustus, in: T. Woodman, D. West (Hg.), Cambridge 1984, 117–128; BEARD, The Roman (wie Anm. 3). 26 P. PENSABENE: Scavi nell'area del tempio della Vittoria e del santuario della Magna Mater sul Palatino, Archeologia Laziale 9 (1988), 54–67. 27 P. ZANKER: Augustus und die Macht der Bilder, München ²1990, 115. 28 Ov. fast. 4,272. 29 Verg. Aen. 9,77ff. 30 Die Rettung der Stadt Sestos vor römischer Plünderung 190/89 v. Chr. durch zwei Galli, die als Emissäre ins römische Lager gekommen waren (Liv. 37,9,9; Pol. 20(21),6,7), basierte auf der trojanischen Verbindung. 31 Zum religionspolitischen Programm des Dionysios, der die Römer als die besseren und frommeren Griechen versteht, die sich gegen die östliche Verweichlichung gestellt haben, vgl. H. CANCIK: The Reception of Greek Cults in Rome. A Precondition of the Emergence of an „Imperial Religion“, ARG 1 (1999), 161–173.
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ten Teil stadtrömischer Festkultur. 32 Der Kybele/Magna Mater Tempel auf dem Palatin war Mittelpunkt wichtiger kultischer Aktivitäten 33 , die seit dem Principat zunehmend im öffentlichen Raum vollzogen wurden. Der Tempel lag jedoch keineswegs an der städtischen Peripherie, sondern die Göttin bezog ihren Wohnsitz von Beginn an in der Nachbarschaft bedeutender Aristokraten, die später vom Kaiser in andere Viertel verdrängt wurden. Somit residierten die Göttin und ihre Priester durchgängig im Zentrum der Macht.34 Ciceros Aussage, die Priester dürften nur an einem einzigen Tag durch Rom ziehen, um Bettelgaben zu sammeln 35 , ist häufig als Beschränkung angesehen worden. Sie richtet sich jedoch nicht gegen den Kult, sondern gegen eine Ausweitung der Praxis auf andere Kulte. 36 Bei Caesars Tod gab es wenigstens zwei Tage, an denen die Galli ihre Riten im öffentlichen Stadtraum zelebrierten: Zu Beginn der Megalesia 37 am 4. April wurde die Statue der Göttin in Verbindung mit Bettelgängen in einem Umzug umhergetragen. 38 Diese Kybeleprozession war Vorlage für Lucrez’ Darstellung der pompa. 39 K. Summers hat schlüssig gezeigt, daß Lucrez’ Prozession einen römisch geprägten Kultakt widergibt, den der Dichter selbst erlebt hatte. 40 Der zweite Termin, der 27. März, war meines Erachtens von Anfang an öffentlich 41 und eng mit dem Attiskult verbunden, dessen Existenz sich auf dem Palatin archäologisch für die früheste Phase des Kybeletempels nachweisen läßt. 42 Unter Aufsicht der Quindecimvirn wurde das Kultbild der Göttin zusammen mit anderem Kultgerät vom Tempel zum Bach Almo gefahren und einem Reinigungsritual unterzogen. 43 32 D. ŠTERBENC ERKER: Ovids Fastenkommentar und Dionysios von Halikarnassos’ Antiquitates Romanae 1–2, in: J. Rüpke (Hg.), Antike Religionsgeschichte in räumlicher Perspektive, Tübingen 2007, 135–139, 137. 33 Varro (Men. 150) erwähnt die Bekränzung der Göttin im Tempel durch den Ädilen. 34 WISEMAN, Cybele (wie Anm. 25). 35 Cic. leg. 2,9,22 (2,16,40). 36 Andererseits wäre eine Beschränkung wiederum nicht so ungewöhnlich, da auch andere römische Kulte auf einen einzigen Tag begrenzt sind. 37 Für diesen Tag ist die Feierlichkeit bei Ovid (fast. 4,333) notiert. 38 Ov. fast. 4,350; Lucr. 2,626f.; Cic. leg. 2,9,22 (2,16,40). 39 Lucr. 2,600–60. 40 K. SUMMERS: Lucretius‘ Roman Cybele, in: E. N. Lane (Hg.), Cybele and Related cults. Essays in Memory of M. J. Vermaseren, Religions in the Greco-Roman World , Leiden 1996, 337–365. 41 BÖMER, Kybele (wie Anm. 14), 145 datiert die Aufnahme des Festes in den Staatskalender erst auf die frühaugusteische Zeit und siedelt es zuvor im Tempel an. M. E. sprechen die Ereignisse von 38 v. Chr. (Cass. Dio 48,43,4ff.) dagegen, vgl. S. 34. 42 Das belegen die zahlreichen Votivstatuen aus Terracotta aus den Grabungen am Magna Mater Tempel, vgl. P. ROMANELLI: Magna Mater e Attis sul Palatino, Homm. J. Bayet, Brüssel 1964 (Collection Latomus 70), 619–629. Varro, so Augustin (civ. 7,25), erwähnt Attis dagegen nicht. 43 Lucan. phars. 1,601. Zu den Märzfeierlichketen vgl. D. FISHWICK: The Cannophoroi and the March Festival of Magna Mater, TAPhA 97 (1966), 193–202; Ov. fast. 4,338. Ovid subsumiert das Reinigungsritual – möglicherweise aus dramaturgischen Gründen – jedoch unter den Megalesia.
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Es ist wiederholt behauptet worden, die Megalesia seien für Sklaven und Fremde tabu gewesen 44 und daher ein Ort zur Herstellung (national)römischer Identität. Beleg hierfür ist letztlich H. Diels These, Sklaven seien von sibyllinischen Festakten ausgeschlossen gewesen. Da wir es aber mit nicht mehr als einer Zusammenschau verschiedener Quellen zutun haben, läßt sich H. Diels Ansicht bei genauerer Prüfung nicht halten.45 Zudem legt Dionysios‘ Formulierung der sich verweigernden „einheimischen Römer“ (᾿Ρωμαίων δὲ τῶν αῦθιγενῶν) nahe, daß sehr wohl römische Bürger aktiv an den sogenannten phrygischen Riten teilnahmen, auch wenn er diese Gruppe als Römer zweiter Klasse einstuft, eben als nicht römisch geboren – was Freigelassene ebenso wie Neubürger, Italiker oder Provinzialrömer umfassen kann – oder aber vermeintlich nicht „echte“ Römer als Kultteilnehmer abqualifiziert. Schon zwei Generationen vor Dionoysios waren sogar unter den Galli meines Erachtens römische Bürger zu finden. 46 GRÜNDE FÜR DIE ABLEHNUNG Trotz der Feststellung, daß es keinen zweigeteilten Kult gab und die Galli in den Staatskult der Kybele/Magna Mater integriert waren, ist nicht zu übersehen, daß das Verhältnis zu den Priestern der Kybele problematisch bleibt oder besser gesagt, daß die literarischen Quellen zumindest eine kritische Distanz der Oberschicht ihnen gegenüber spiegeln. 47 Die negative Beurteilung richtet sich auf drei Hauptbereiche: Erstens das äußere Erscheinungsbild der Priester und ihr Verhalten, zweitens ihre Unaufrichtigkeit, drittens die Kastration. Alle drei Aspekte scheinen die Herrschaftsordnung selbst zu unterlaufen. 48
44 G. SANDERS: Kybele und Attis, in: M. J. Vermaseren (Hg.), Die orientalischen Religionen im Römerreich, Leiden 1981 (EPRO 93), 264–297, 276f.; THOMAS, Magna Mater (wie Anm. 3), 1515; BEARD – NORTH – PRICE, Religions (wie Anm. 22), 97. 45 Zu ihrer Widerlegung vgl. S. KRAUTER: Bürgerrecht und Kultteilnahme. Politische und Kultische Rechte und Pflichten in Griechischen Poleis, Rom und antikem Judentum, Berlin 2004, 120f. 46 Genucius, der vor 77 v. Chr. in den Nachlaß eines Freigelassenen des Naevius Surdinus als Erbe eingesetzt worden war, muß römischer Bürger gewesen sein. Abgesehen von der mangelnden Erbfähigkeit eines fremden Sklaven ist auch der eingliedrige Name in diesem Fall ein latinisches nomen gentile, vgl. W. SCHULZ: Zur Geschichte lateinischer Eigennamen, um eine Berichtigungsliste erweiterter Nachdruck, Zürich Hildesheim 1991, 110. Zunächst bestätigte der zuständige Prätor Cn. Orestes (77 v. Chr.) auch seinen Anspruch. Allerdings hob der Konsular und Senatsvorsitzende Mamercus Aemilius Lepidus diesen Entscheid per Dekret zugunsten des Naevius Surdinus später auf. Vgl. Val. Max. 7,7,6. 47 Beispiele sind: Lucr. 2,610–28; Ov. fast. 4,179–88, 243f.; Ov. ars 1, 505–508; Sen. vita beata 26,8; Mart. 3,81; Iuv. 6, 511–16; Apul. met. 8, 24,2. 27f.; Tert. apol. 25,3; Prud. perist. 10,1061ff; zur Prozession: Aug. civ. 2,4; 2,7. 48 BEARD, The Roman (wie Anm. 3), 178.
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DAS ÄUßERE ERSCHEINUNGSBILD Das äußere Erscheinungsbild löste, wie eingangs erwähnt, Befremden aus. Es steht der römischen Ideologie des pater und seiner Autorität entgegen, auf deren Unantastbarkeit die politische und soziale Hierarchie im römischen Staat basierte. 49 Da nach römischer Auffassung nicht der Anatomie die wesentliche Unterscheidungsfunktion der Geschlechter zukam, war die soziale Bestätigung des Geschlechts von zentraler Bedeutung. Der Mann der Elite, der vir bonus, hatte sich durch äußere körperliche Zeichen als Mann zu präsentieren und so von Frauen wie sozial niedriger stehenden Männern abzugrenzen. Stets drohten ihm Verweichlichung und Effiminierung 50 sowie der Verlust des Lebensatems. Nach antiker Auffassung wurde Luft in Blut und dieses schließlich in Sperma verwandelt. 51 Die Herrschaftsfähigkeit des Mannes hing von der Bewahrung seiner Männlichkeit ab. Zentral für diesen Herrschaftsanspruch war seine lebensspendende Kraft für Haus und Hof – ein Konzept, das sich im häuslichen Kult des väterlichen Genius verdichtet. 52 Die Kybelepriester behandelten ihren Körper nach Aussage der Quellen wie Frauen, 53 trugen prächtige Kleider 54 , schminkten und frisierten sich aufwendig und markierten sich durch Schmuck 55 und Tätowierungen. 56 49 C. KUNST : Römische Adoption. Zur Strategie einer Familienorganisation, Hennef 2005, 31. 50 C. KUNST: Wenn Frauen Bärte haben. Geschlechtertransgressionen in Rom, in: E. Hartmann, U. Hartmann, K. Pietzner (Hg.), Geschlechterdefinitionen und Geschlechtergrenzen in der Antike, Stuttgart 2007, 247–261. 51 A. ROUSSELLE: Der Ursprung der Keuschheit, Stuttgart 1989, 25; Galen de usu partium 4,190,16. 52 L. LATTE: Römische Religionsgeschichte, München ²1967, Ndr. 1976 (HdA V,4), 103. 53 Schon Varro (Men. 119f.) spricht wiederholt von der „venustas“ der Priester, eine Eigenschaft, die an sich Frauen zu verkörpern hatten (vgl. KUNST, Bärte [wie Anm. 50]; Firm. Mat. de err. prof. rel. 4,2–3). 54 Rhet. Her. 4,49,62: „Um einen dem Neid auszuliefern, z.B. auf folgende Weise: ‚Dieser Mann da, der mit seinem Reichtum umherwirft wie Gallus aus Phrygien oder irgendein Wahrsager, der, niedergedrückt und beladen mit Gold, schreit und sich verrückt gebärdet’“ (ut in invidiam adducat, hoc modo: „iste, qui divitias suas iactant, sicut Gallus e Phrygia aut ariolus quispiam, depressus et oneratus auro clamat et delerat"); Varro Men. 119–121; Verg. Aen. 9, 614–7; Apul. met 8,27,1. Die Gewänder werden immer wieder als Frauenkleider identifiziert: „sacerdotes tunicis muliebris“ (die Priester in Frauengewändern) Carm. ad sen. 9 (4. Jh. n. Chr.). 55 Zur Markierungsfunktion von Schmuck siehe C. KUNST: ornamenta uxoria. Badges of Rank or Jewellery of Roman Wives?, The Medieval History Journal 8,1 (2005), 127–142; Varro (Men. 121) erwähnt eine Krone mit Edelsteinen; Arnob. 2,41: „hat er uns etwa deswegen Seelen geschickt, damit sie auf die göttliche Würde und das göttliche Gewicht vergessend Gemmen und Steinchen und Perlen zum Verlust der Keuschheit kaufen, sie sich um den Hals hängen, sich die Ohrläppchen durchstechen, mit Binden ihre Stirn kleiner aussehen lassen, Schminke für das Aussehen ihrer Körper suchen, mit Glanz ihre Augen umschatten, sich nicht schämen, für die Schönheit des Gemächts die Haare mit dem Brenneisen zu kräuseln, die Haut des Körpers zu glätten, mit entblößtem Knie einherzuschreiten und mit jeder anderen Pflege die Kraft der Männlichkeit sowohl darzustellen, als auch in der Art und Anmut von Frauen zu erweichen?“ (idcirco animas misit, ut divini ponderis et gravitatis oblitae gemmas
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Schon die republikanischen Darstellungen changieren zwischen Ehrfurcht und Grauen. Auffällig sind die Rationalisierungsbemühungen, eine offenbar anerkannte Priesterschaft, die den leitenden Sittenkodex des mos maiorum konterkarierte, verständlich zu machen. Die Göttin wird wiederholt als Trägerin römischer Wertvorstellungen präsentiert. 57 Lucrez läßt durchblicken, daß die Galli der Vergegenwärtigung einer Strafmaßnahme der Göttin für die Verletzung sittlicher Normen dienten. 58 Die Weiblichkeit der Priester wurde damit zugleich als Männlichkeitsreferenz entwertet. Demgegenüber gewinnt spätestens seit augusteischer Zeit die Selbstbestraftungskategorie als Vergegenwärtigung der (Selbst)bestrafung des Attis an Bedeutung. 59 Catull betont die notwendige Entfremdung eines Dieners der Kybele von Heimat (patria/domus), Familie und allen gültigen Sozialbeziehungen 60 und sieht den Gallus ein großes persönliches Opfer bringen. 61 Wiederholt wurde die Gleichsetzung mit einem Priester der Kybele auch dazu benutzt, einen Gegner abzuqualifizieren – sei es ihn als Fremden zu stigmatisieren oder als weibischen Mann. 62 Vergil zeigt dagegen deutlich, daß die Herabsetzungskategorien ambivalent sein können. Aeneas wird an zwei Stellen von (barbarischen) Gegnern mit einem Kybelepriester verglichen und dabei beträchtlich in seiner Männlichkeit unterschätzt. 63 Daraus läßt sich folgern, dass die Priester der Kybele nicht sind, was sie auf den ersten Blick zu sein scheinen: Im Gegenteil, sie können sehr gefährlich werden. Damit spiegeln sie das Wesen ihrer Gottheit.
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lapillos margaritas castitatis dispendio conpararent, innecterent his colla, lannas pertunderent aurium, imminuerent frontes limbis, conspiciendis quaererent corporibus fucos, fuligine oculos obumbrarent, nec in formis erubescerent masculorum calamistris vibrare caesariem, cutem corporis levigare, incedere poplitibus nudis omnique alio cultu vigorem virilitatis et exponere et in habitum feminarum deliciasque molliri?). Prud. perist 10, 1074–1090. Zu Lukrez vgl. R. M. WILHELM: Cybele: The Great Mother of Augustan Order, Vergilius 34 (1988), 77–101, 86; R. W. SHARPLES: Cybele and Loyalty to Parents, LCM 10 (1985), 133– 134. Lucr. 2,614ff.: „Die Galli werden hinzugefügt, weil die Verächter der Mutter und die sich den Eltern nicht immer/ Dankbar hätten erzeigt, nicht wert mehr seien zu achten,/ Lebende Nachkommenschaft in des Lichtes Gefilde zu führen.“ (Gallos attribuunt, quia, numen qui violarint Matris et ingrati genitoribus inventi sint,/ Significare volunt indignos esse putandos,/ vivam progeniem qui in oras luminis edant). Ovid fast. 4, 230f. (Selbststrafe), Plut. adv. Colot. 1127 nennt die Geißelung als Strafe für Verfehlungen. Zum Selbstbestrafungskomplex in Analogie zu Attis vgl. auch G. M. SANDERS: Gallos, RAC VIII (1972), 984–1034, 995. Catull 63,59ff. Dies bleibt bis zu Iulian (or. 5,165–166a) eine gängige Haltung. Zuerst bei Plautus, Poen. 1297; 1302; 1316f.; Truc. 601f.; Verg. Aen. 9,614–20; 12,97–100. Verg. Aen. 4,215–17; 9,614–2. Zu weiteren Herabsetzungen WISEMAN, Cybele (wie Anm. 25).
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UNAUFRICHTIGKEIT Vermutlich aufgrund der beschriebenen Ambivalenz wird den Galli gerade in den satirischen wie christlichen Texten Unaufrichtigkeit unterstellt,64 Zweifel an ihrer göttlichen Hingabe geäußert 65 und ihnen stattdessen die Kommerzialisierung der Gottesbeziehung mit dem Ziel einer ausschweifenden Lebensführung vorgeworfen. 66 Ihre priesterliche Performanz, insbesondere die von ihnen geübte Prophetie, diente angeblich dazu, die leichtgläubige Bevölkerung zu täuschen und milde Gaben einzusammeln. 67 Die überwältigende Spendenbereitschaft der Kultgemeinde wird immer wieder herausgestellt. Zwei Aspekte spielen für diese Deutung der Unaufrichtigkeit eine Rolle. Zum einen der scheel betrachtete radikale Anspruch der Göttin an ihre Diener, die sich ihr durch die Opferung ihrer Zeugungskraft ausliefern.68 Aus römischer Sicht wirkt dieser Rigorismus bedrohlich. Die Gottesbeziehung tritt in eine gefährliche Konkurrenz zu anderen sozialen Referenzsystemen wie Familie oder res publica, aber auch zur traditionellen von der Elite getragenen theozentrischen Kultausübung. Die Priester der Kybele sind eine Inversion des traditionellen römischen Priestertypus. 69 Rein äußerlich unterscheidet sie das prächtige zeremonielle Gewand. Sie sind auch keine Wohltäter, sondern Empfänger von Gaben der Gläubigen. 70 Der Dialog mit der Göttin 71 ist nicht rational geprägt, sondern manifestiert
64 Unaufrichtigkeit wird bereits in den griechischen Texten thematisiert, vgl. L. E. ROLLER: The Ideology of the Eunuch Priest, The Ideology of the Eunuch Priest, Gender and History 9 (1997), 542–59 (Ndr. in: M. Wyke, (Hg.), Gender and the Body in the Ancient Mediterranean, Oxford 1998, 118–135, 122). 65 Typisch hierfür das Epigramm Martials (3,81), in dem er dem Priester einen doppelten Regelbruch vorwirft: dieser benimmt sich wie ein Mann, indem er mit einer Frau sexuell verkehrt und bricht zugleich Kybele die Treue, vgl. BEARD, The Roman (wie Anm. 3), 175. 66 Zum Vorwurf eines ausschweifenden Lebens vgl. M. BABO: Zu Apul. „Met.“ 8,26, Mnemosyne 50 (1997), 81–85. 67 Apul. met. 8,27ff.; Iuv. 6,511–521; Lucr. 2,622: „Die in den undankbaren und gottlosen Herzen des Volkes/ Schrecken erregen und Angst vor der Göttin geheiligtem Namen“ (ingratos animos atque impia pectora volgi/ conterrere metu quae possint numine divae). Eine syrische Inschrift dokumentiert, daß ein Kybelepriester aus dem Erlös seiner Heischegänge der Göttin einen Altar stiftete (Bull. Corr. Hell. 21, 1897, 60). Letzteres mag in erster Linie ein Phänomen der fahrenden Bettelpriester im Dienst der Kybele gewesen sein, läßt sich aber für uns nicht verifizieren. 68 Die unberechenbare Herrin der unbezähmbaren Natur verlangt ein Zeichen unbedingter Hingabe. Andererseits erlangt Attis durch sein Opfer aber auch die Unsterblichkeit, worin die Galli ihm vermutlich nacheifern. 69 Zur Priesterrolle vgl. M. BEARD: Priesthood in the Roman Republic, in: dies. – J. A. North (Hg.), Pagan Priests. Religion and Power in the Ancient World, London 1990, 19–48 und R. L. GORDON: The Veil of Power. Emperors, Sacrificers and Benefactors, in: ibid., 235–255. 70 GORDON, Veil of Power (wie Anm. 69), 246; BEARD, The Roman (wie Anm. 3), 176. 71 V.-E. HIRSCHMANN: Horrenda Secta: Untersuchungen zum frühchristlichen Montanismus und seinen Verbindungen zur paganen Religion Phrygiens, Stuttgart 2005 (Historia Einzelschriften 179), 99.
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sich im Verlust der Rationalität, in der Trance.72 Der Körper selbst wird zum Ort des Rituals. 73 Das Opfer ist ein befleckendes. 74 Nicht nur das eigene Blut wird vergossen; am dies sanguinis wird auch der Altar der Göttin mit Blut besprengt. 75 Problematisch scheint zudem die prophetische Gabe der Priester gewesen zu sein. Zu ihren öffentlichen Auftritten im Rahmen einer pompa gehörte ein durch Musik und Tanz erzeugter Trancezustand, 76 in dem die Galli neben Selbstbestrafungen, Geißelung und Ritzen der Haut, prophetische Aussagen im Namen der Göttin trafen. 77 Bereits Ende des 2. Jahrhunderts v. Chr. zeichnen sich Konflikte über die Aneignung und Ausdeutung von Kybeleprophezeiungen durch ihre Priester ab. 78 Die Aristokratie hatte ihre persönliche Sieghaftigkeit eng mit Kybele/Magna Mater verbunden. Noch 190 v. Chr. hatten zwei Galli im Auftrag der Oberpriester der Kybele aus dem Heiligtum im galatischen Pessinus dem vorrückenden General patrizischer Herkunft, Cn. Manlius Vulso, den militärischen Sieg gegen die Galater vorhergesagt. 79 Auch die Wiederherstellung des Tempels nach einem Brand 111 v. Chr. durch einen Metellus – Caprarius oder Numidicus – zeigt diese Verbundenheit, da die Restaurierung üblicherweise von einem Triumphator aus der Kriegsbeute vorgenommen wird. 80 Im Zusammenhang damit steht möglicherwei72 Zur Trance vgl. SANDERS, Gallos (wie Anm. 59), 994. Zwei Galli als Emissäre der Stadt Sestos werden ausdrücklich von Livius (37,9,9) als in Ekstase (fanatici) befindlich charakterisiert, als sie im Namen der Göttin um Verschonung der Stadt bitten. 73 Römische Priester hatten intakt zu sein (vgl. BEARD, The Roman [wie Anm. 3] 165, Anm. 6), eine Einstellung, die sich allmählich, ab dem 4. Jh., auch die christlichen Kirchen aneigneten. Die Galli schlossen sich durch die Kastration somit von jedem anderen römischen Priesteramt aus, vgl. SANDERS, Gallos (wie Anm. 59), 1017. 74 BEARD, The Roman (wie Anm. 3). 75 Der Sinn des seit dem 2. Jh. n. Chr. populären Tauroboliums, des Stieropfers, besteht ebenfalls darin, sich durch Bedecken mit Blut zu reinigen. Wahrscheinlich wird das Fleisch des Tieres roh verzehrt, vgl. Lukian od. 116. Zum Taurobolium vgl. R. DUTHOY: The taurobolium. Its Evolution and Terminology, Leiden 1969 (EPRO 10), jetzt auch J. ALVAR: Romanising Oriental Gods. Myth. Salvation and Ethics in the Cults of Cybele, Isis and Mithras, Leiden 2008 (Religions in the Graeco-Roman World 165), 261ff. 76 Zur Unempfindlichkeit der Galli gegen die selbst auferlegten Schmerzen vgl. Apul. met. 8,28,2; Iambl. de myst. 3,4, Ov. Ibis 453f.; Sen. Ag. 689; ep. 108,7; vita beata 13,3, vgl. auch H. HEPDING: Attis, Seine Mythen und sein Kult, Gießen 1903, 158f. und H. GRAILLOT: Le culte de Cybèle, mère des dieux, Paris 1912 (Bibl. des Ecoles franç. d‘ Athènes et de Rome 107), 295–7. 77 Das früheste Zeugnis findet sich bei Plautus (Truc. 601–602): „Sieh, wie er mit den Zähnen fletscht, sich auf den Schenkel schlägt./ Er treibt am Ende gar Wahrsagerkünste, daß er selbst sich Schläge gibt“ (hoc vide! Dentibus frendit, icit femur;/ num obsecro nam hariolust qui ipsus se verberat?); Plaut. rud. 375–77; weitere Belege bei Lucr. 2,641f.; Lucan. Phars. I, 558f.; Liv. 37,9,9; Sen. vita beata 13,3; Iuv. 6,511–521; Apul. met. 27,3. 78 BÖMER, Kybele (wie Anm. 14), 132f. sieht dagegen eine völlige Ignoranz gegen den Kult. 79 Pol. 21,37,5, vgl. auch Liv. 37,18,10. 80 Zu Tempelweihungen vgl. A. ZIOLKOWSKI: The Temples of Mid-Republican Rome and their Historical and Topographical Context, Rom 1992. Möglicherweise hat Q. Metellus Numidicus (cos. 109 v. Chr.) für den Wiederaufbau gesorgt und diesen aus seiner africanischen Kriegsbeute finanziert, nachdem er möglicherweise entsprechende vota für einen Sieg gegen
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se der Auftritt des Oberpriesters (Battakes) aus Pessinus in Rom im Jahr 103 v. Chr., der ebenfalls einen römischen Sieg verkündete, woraufhin der Senat einen Tempel und Kultakte für die Göttin versprach. Als Battakes jedoch vor der Volksversammlung sprechen wollte, hinderte ihn der Volkstribun A. Pompeius daran und kanzelte den Priester, unter Hinweis auf sein prächtiges Äußeres, rüde als Bettler und Scharlatan (ἀγυρτής) ab. 81 Battakes reagierte prompt mit einer Verfluchung, deren Wirkung niemand in Zweifel ziehen konnte, als der hochmütige Tribun kurze Zeit später an einem Fieber starb. 82 Das charismatische Wirken des Priesters, 83 der offenbar auf eine nur zu bereite Anhängerschaft stieß, läßt sich auch an der Nachricht von der Ausweisung eines Sklaven aus dem Haushalt des Q. Servilius Caepio (Konsul im Jahr 106) ablesen, der sich im Dienst der Mater Ideae kastriert hatte.84 Tiefgreifender war jedoch, daß Gaius Marius, inimicus des Numidicus, die Prophezeiung des Battakes auf sich und seine Siege gegen die Germanen in Südgallien und Norditalien (102/101 v. Chr.) bezog und damit vermutlich für einige Aufregung sorgte. 85 Bei Ausbruch des Bürgerkriegs zwischen Caesar und Pompeius traten die Galli ebenfalls prophetisch in Erscheinung.86 Nach Caesars Tod begründete der junge Oktavian sein Vorgehen 43 v. Chr. gegen den rechtmäßigen Konsul und erfolgreichen General Marcus Antonius 87 erneut mit einem Rückgriff auf Magna Mater – wie eine Truppenprägung zeigt – und suggerierte mit dem Hinweis auf die Sibylle eine existenzielle Bedrohung Roms, vergleichbar jener, die zur Einführung des Kults geführt hatte. 88 Im Triumviratsjahr 38 v. Chr. kam
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Jughurta geleistet hatte. Es spricht aber auch nichts gegen C. Metellus Caprarius, dem im Jahr 101 v. Chr. ein Triumph für seine Erfolge in Thrakien zugebilligt wurde, so daß er den Tempel dezidiert aus seiner Kriegsbeute finanzierte. 102 v. Chr. war er zusammen mit Numidicus Censor, vgl. Vell. 2,8,2. Diod. 36,13. Nach drei (Diodor) bzw. sieben Tage (Plutarch), vgl. Diod. 36,13; Plut. Mar. 17,9–11; ROLLER, Search of God (wie Anm. 11), 290. Schon Plautus (Poen. 1297; 1302) verweist auf die große Anziehungskraft der prunkvollen Gewänder auf die einfachen Bürger Roms. Obsequens 44a. Plut. Marius 31,1; Vgl. auch den Denar des C. Fabius (102 v.Chr.), der auf den marianischen Sieg Bezug nimmt (Crawford RRC 320). Als Marius 98/97 v. Chr. in eine politische Krise geriet, versuchte er durch eine Pilgerfahrt nach Kleinasien, seine Beziehung zur Göttin erneut zu intensivieren (Plut. ibid). Lucan. phars. 1,556f.: crinemque rotantes / sanguineum populis ulularunt tristia Galli („die blutigen Locken schwingend heulten Unheil den Völkern die Galli“). Antonius war nach der Schlacht von Pharsalus 48 v. Chr. in einem von zwei Löwen gezogenen Triumphwagen durch Rom gefahren, und hatte sich damit als Günstling der Kybele präsentiert, vgl. Plin. h. nat. 8,55. Crawford RRC 491f. Der Aureus wird flankiert von einem eindrücklichen Prodigium [die Göttin wandte sich von Ost nach West], vgl. Cass. Dio 31,33,3, das sich dem Konsul Vibius Pansa offenbarte, ihm aber Unglück verhieß. BIEBER, Images of Kybele (wie Anm. 24), 32 deutet die Sibylle auf dem Avers dagegen als Venus Genetrix.
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es aufgrund von Prophezeiungen einiger Kybelepriester 89 zu ernsthaften Verwerfungen. Bürger griffen die Steuereintreiber an, die Hütte des Romulus auf dem Palatin brannte nieder. 90 Als man die Sibyllinischen Bücher befragte, wurde die Anweisung erteilt, „die Statue solle ans Meer heruntergebracht und in seinem Wasser gereinigt werden“. 91 Panik brach aus, als die Statue länger als erwartet unter Wasser blieb. 92 Augustus setzte alles daran, diese Quelle potentieller Störung zu neutralisieren und eine exklusive persönliche Beziehung zu Magna Mater herauszustellen. 93 Die Siegeserwartung an die Göttin wurde in eine Heilserwartung umgedeutet und allein auf den Princeps und sein Haus bezogen. Im weiteren Principat ist eine enge Symbiose zwischen Princeps und Magna Mater/Kybele zu beobachten. 94 Regelmäßig firmierte die Kaiserin seit Livia in der Rolle gerade dieser Gottheit. Augustus und seine Nachfolger haben auch in anderen Bereichen versucht, die Prophetie zu monopolisieren. Dieser Anspruch ließ sich nicht konfliktfrei gegenüber der Aristokratie durchsetzen, die sich nur schwer damit abfinden konnte, etwas verboten zu bekommen, was der Kaiser selbst praktizierte. 95 Aus allem was wir wissen, gelang es nicht seherische Praktiken zu unterdrücken. Die Vorgänge zeigen aber eindrücklich, wie empfindlich die Oberschicht auf Konkurrenz in diesem Bereich reagierte. Die Prophezeiungen – insbesondere der umherziehenden Kybelepriester – stellten entsprechend einen wenig kontrollierbaren Unsicherheitsfaktor für die Eliten dar.
89 Cass. Dio 48,43,4: „Einige behaupteten erfüllt vom Geiste der Göttermutter (κάτοχοι), die Himmlische zürne den Bürgern“ (κάτοχοί τέ τινες ἐκ τῆς Μητρὸς τῶν θεῶν γενόμενοι ὀργίζεσθαί σφισι τὴν θεòν ἔφασαν). 90 In unmittelbarer Nähe des Kybeletempels gelegen. 91 Cass. Dio 48,43,5: καὶ τὸ ἄγαλμα ἐπί τε τὴν θάλασσαν καταχθῆναι καὶ τῶ ὕδατι αὐτῆς καθαρθῆναι προσταξάντων. 92 Cass. Dio 48,43,6. Ein weiterer zeitlich nicht einzuordnender Vorfall, der von Sueton (Aug. 68) kolportiert wird, spiegelt ebenfalls die Grenzsituation der Galli. Bei einem nicht näher spezifizierten Anlaß rief man einem Gallus – vielleicht nur einem Gallusdarsteller – zu: „siehst Du nicht, wie dieser Kinäde mit dem Finger die Welt regiert!“ (videsne, ut cinaedus orbem digito temperat). Das Publikum bezog den Ausspruch auf Augustus und kommentierte ihn mit Applaus. 93 Zu Augustus’ enger Beziehung zu Aeneas sowie einer weitgehenden Trojanisierung der Göttin in dieser Zeit vgl. BÖMER, Kybele (wie Anm. 14) und WISEMAN, Cybele (wie Anm. 25). Hinzu kommen die Stärkung der claudischen Komponente bei der Einholung der Göttin 204 v. Chr. und die bewußte Wahl des Wohnsitzes zwischen Apoll und Magna Mater. 94 Für Aeneas ist sie eine Heils- und Schutzgöttin. WILHELM, Great Mother (wie Anm. 57), 80 betont, daß Kybele in Vergils Aeneis die Zivilisation von Ost nach West bringt, was zu dem Prodigium des Jahres 43 v. Chr. (vgl. Anm. 88) paßt; BÖMER, Kybele (wie Anm. 14); I. BECHER: Der Kult der Magna Mater in Augusteischer Zeit, Klio 73 (1991), 157–170. 95 M. T. FÖGEN: Die Enteignung der Wahrsager. Studien zum kaiserlichen Wissensmonopol in der Spätantike, Frankfurt 1997 (1. Aufl. 1993), 138ff.
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DIE KASTRATION: ZWISCHEN BEWUNDERUNG UND ABSCHEU Die bizarrste Praxis der Galli war sicher ihre Selbstkastration. Nun war das Eunuchenwesen kein antikes Randphänomen, obgleich eher Sklaven als Freie davon betroffen waren. Es lassen sich jedoch auch Belege für selbst beauftragte Kastrationen anbringen. 96 Seit Domitians Zeit waren Kastrationen im Imperium wiederholt verboten worden, 97 ohne daß davon eigenhändige Kastration tangiert gewesen wäre. 98 Das Gesetz kümmerte sich nur um Operationen durch einen Zweiten. 99 Die Kastration der Kybelepriester bestand in einer Ablation der Hoden mit einer Tonscherbe, 100 ein Verfahren, das im Gegensatz zu anderen – so Plinius – relativ ungefährlich gewesen zu sein scheint. 101 Immer wieder wird auf die angeblichen Folgen aus der Kastration – hohe Stimmen 102 , besonders jugendliches Äußeres 103 , weibliche Formen oder mädchenhaftes Benehmen – Bezug genommen. Da die Priester ihre Amputation erst nach der Pubertät vornahmen, ist das entworfene Bild nur bedingt gültig. Die während der Pubertät erworbenen äußerlichen männlichen Merkmale des Körpers gingen keineswegs verloren, da die Nebenniere weiterhin männliche Hormone erzeugte. Auch ihr Begehren war mit dem Schnitt nicht unbedingt erloschen, noch ihre Fähigkeit zur Erektion.104 Das war in 96 P. GUYOT: Eunuchen als Sklaven und Freigelassene in der griechisch römischen Antike, Stuttgart 1980 (Stuttgarter Beiträge zur Geschichte und Politik 14), 25. Sen. quaest. 7,31,3 aus sexueller Begierde. 97 Domitian stellte zunächst die unfreiwillige Kastration unter Strafe, Hadrian ließ die freiwillige folgen, vgl. Guyot (wie Anm. 96), 26ff. 98 Bis in die Spätantike wird sie in aller Öffentlichkeit praktiziert. Zu Belegen vgl. SANDERS, Gallos (wie Anm. 59), 1004. 99 Zudem wurden nach wie vor Eunuchen ins Reich eingeführt, so daß diese Gesetze nicht grundsätzlich gegen kastrierte Männer gerichtet waren. Ihre rechtliche Stellung war jedoch problematisch. So wurden Sie spätestens ab dem 1. Jh. v. Chr. als nicht erbberechtigt angesehen. Andererseits scheint die Moderne weit mehr Probleme mit der Kastration zu haben als die Antike selbst. So ist der Eingriff für die Archigalli in der Kaiserzeit immer wieder negiert worden, weil man Kastration offenbar als unschicklich und unvereinbar mit sozialem Prestige wahrnahm. J. CARCOPINO: Attidea II. Galles et archigalle, Mélanges d’archaéologie et d’histoire 40 (1923), 237–324, 267–299, hält die von Plinius berichtete Darstellung eines Kybelepriesters durch den spätklassischen Maler Parrhasios (um 400 v. Chr., Plin. n. 35,70) für unmöglich und schließt daher aus der Existenz des Bildes, daß der Abgebildete nicht kastriert gewesen sein kann. 100 Iuv. 6,513; Mart. 3,81. GRAILLOT, culte de Cybéle (wie Anm. 76), 290–297. 101 Plin. nat. 35,46.165: „Daß die Priester der Göttermutter, Galli genannt, sich mit einer Scherbe von samischem Geschirr, und nur damit, ohne Gefahr kastrieren, wollen wir M. Caelius glauben“ (Samia testa Matris deum sacerdotes, qui Galli vocantur, virilitatem amputare nec aliter citra perniciem, M. Caelio credamus) cf. Plin. nat. 11, 109.261. Üblicherweise waren Kastrationen äußerst gefährlich. Zu einer Sterblichkeitsrate von fast 97% vgl. BEARD, The Roman (wie Anm. 3), Anm. 30. 102 fractae voces (Apul. Met. 8,26,2); Iuv. 2,111; cf. Sen. Epist. 66,53; Anth. Lat. no. 108/109 Riese; Claud. in Eutr. 1,261f. (verba fracta, tremula vox). 103 Varro Men. 119: aetas quae adulescentium („welch’ jugendfrisches Alter“). 104 C. RIEGRE: Die Castration in rechtlicher, socialer und vitaler Hinsicht, Frankfurt/M. 1900, 80.
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der Antike durchaus bekannt. 105 Am ausführlichsten geht Basilius von Ankyra im 4. Jahrhundert auf diesen Umstand unter Einbeziehung medizinischer Quellen ein und rät Frauen vom Umgang mit Eunuchen ab. 106 Damit deckt sich auch die den Eunuchen immer wieder zugeschriebene Lüsternheit, die sie zu Liebhabern beiderlei Geschlechts mache. 107 Für die Galli macht Lukian dies explizit. Die Kastration wurde jedoch zunächst als Symbol für die Bestrafung der Untreue des Attis durch Kybele verstanden und daher als Mittel zur Sicherstellung persönlicher Keuschheit gewertet. 108 Sexuelle Aktivität von Galli galt den Betrachtern als Verrat an der Göttin. 109 Im 2. und 3. Jahrhundert sind wiederholt Selbstkastrationen von Christen aus dem Keuschheitsmotiv nachweisbar, eine Praxis, die seitens der Kirche allmählich zurückgedrängt wurde.110 Aus der direkten Konkurrenz um die Heilserwartung flossen schließlich extrem feindliche christliche Texte, die das barbarische Element der Galli betonen und sich des traditionellen Arsenals von Herabsetzung bedienten. Die Bildquellen betonen dagegen einen anderen Aspekt der Kastration, nämlich die Angleichung der Priester an den mythischen Attis 111 , dessen Unsterblichkeit über den Weg dieses Selbstopfers führte. Der Vorsitzende des Kults wurde im zweiten Jahrhundert nicht nur als Archigallus, sondern auch als Attis populi Romani bezeichnet. 112 Diese Deutung mag es auch der Elite erleichtert haben, sich Kybele nach ihrer eigenen Verdrängung durch die Kaiser allmählich wieder anzueignen. Neben Solidaritätsbekundungen für das Kaiserhaus avancierte der Ritus der Taurobolia zu einem Initiationsritus eingebunden in eine persönliche Heilserwartung an die Göttin. 113 Im Klima spätantiker Obsession der Elite mit dem eigenen Körper114 105 D. F. CANER: The Practice and Prohibition of Self-Castration in Early Christianity, Vigiliae Christianae 51, 1997, 396–415. 106 MPG 30,669ff., Iuv. 6,365ff. (der Eunuch als Liebhaber); Martial 6,2 (der Eunuch als Ehebrecher); Sen. frg. 51 (Haase) in longam securamque libidinem exsectus spado; zum gesteigerten sexuellen Appetit vgl. W. STEVENSON: The Rise of Eunuchs in Greco-Roman Antiquity, Journal of the History of Sexuality 5 (1995), 495–511. 107 STEVENSON, Eunuchs (wie Anm. 106), 495–511; speziell zu den Galli vgl GRAILLOT, culte de Cybéle (wie Anm. 76) 317f. Lukian, dea Syr. 22: „Die Frauen lieben die Galli mit der größten Leidenschaft, die Gallen lieben hinwieder die Frauen bis zum Rasendwerden; und die Männer sind so wenig eifersüchtig darüber, daß diese Art von Verhältnis vielmehr für eine sehr heilige Sache bei ihnen angesehen wird“ (γυναῖκες Γάλλων ἐπιθυμέουσι, καὶ γυναιξὶ Γάλλοι ἐπιμαίνονται, ζηλοτυπέει δὲ οὐδεὶς, ἀλλά σφισι τὸ χρῆμα κάρτα ἱρὸν νομίζονοιν).
108 Allein als Keuschheitsmittel, um den priesterlichen Dienst rein zu versehen, sieht es A. D. NOCK: Eunuchs in Ancient Religion, ARW 33 (1925), 25–33 (Ndr. in: ders. (Hg.), Essays about Religion and the Ancient World, Oxford, 2 Bde., I, 176–194). 109 Martial 3,81. 110 Ein Verbot erfolgte auf dem Konzil von Nicaea 325 n. Chr., vgl. CANER, Practice and Prohibition (wie Anm. 105). 111 SANDERS, Gallos (wie Anm. 59), 994f. 112 CIL VI 2183 = ILS 4161. Die Diskussion um die Beschneidung dieser Männer ist notorisch. Vgl. ROUSSELLE, Keuschheit (wie Anm. 51), 167ff. 113 Vgl. HA Elag. 7,1–2; A. v. DOMSZEWSKI: Magna Mater in Latin Inscriptions, JRS 1 (1911), 50–56, sieht die Pest in den Markomannenkriegen als Motor für diese Praxis, vgl. CIL XIV
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scheint auch die Kastration einen neuen Wert erhalten zu haben. Der Verzicht auf die Zeugungskraft bewahrte nämlich den reinen Lebensatem, der nicht länger durch Sperma übertragen wurde: „Wenn aber die Göttermutter den Attis, ihren eigenen Liebhaber, verstümmelt, so beruft die obere selige Natur der überweltlichen ewigen Dinge die männliche Kraft der Seele zu sich“, äußert Hippolyt. 115 DEUTUNG DER PRIESTER Was leistet dieser Befund nun für die Deutung der Kybelepriester? Die Galli sind nicht, was sie scheinen. Sie maskieren sich – das zeigt auch der archäologische Befund – lediglich als Frauen. 116 Sie verzichteten nicht auf ihre Männlichkeit, sondern auf ihre Zeugungskraft. Die Göttin hat vielmehr Priester von doppeltem Geschlecht. 117 Ähnlich wie die Vestalinnen 118 sparten die Priester ihre Fruchtbarkeit auf, um sie einem Größeren zur Verfügung zu stellen. 119 Wahrscheinlich ha-
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40; Im Taurobolium ist eine Verflechtung von Kaiserkult und persönlichem Heil zu erkennen, wobei letzteres in Konkurrenz zur christlichen Heilserwartung getreten sein muß, denn das Taurobolium wurde mitunter auch als Wiedergeburt begriffen, vgl. einen Altar aus dem Jahr 376 n. Chr. (CIL VI 510 = ILS 4152: in aeternum renatus). P. BROWN: Die Keuschheit der Engel. Sexuelle Entsagung, Askese und Körperlichkeit im frühen Christentum, München – Wien 1991 (The Body and Society. Men, Women and Sexual Renunciation in Early Christianity, New York 1988). Hippolyt, refutatio omnium haeresium 5,7,13: ἠ μήτηρ τῶν θεῶν ἀποκόψῃ τὸν Ἄττιν ‐ καὶ αὐτὴ τοῦτον ἔχουσα ἐρώμενον ‐, ἡ τῶν ὑπερκοσμίων, φησί, καὶ αἰωνίων ἄνω μακαρία φύσις τὴν ἀρρενικὴν δύναμιν τῆς ψυχῆς ἀνακαλεῖται πρὸς αὑτήν· Zu Elagabal HA Elag. 7,1–2. So auch der archäologische Befund, vgl. HALES, Looking for Eunuchs (wie Anm. 2). Verkleidung ist eine Maskierung, so wie die ganze Prozession in severischer Zeit karnevaleske Züge trägt (Herod. 1,10,5). Bei Lukian (de Syr. 51) erhalten die Priester im Austausch für ihre abgetrennten Geschlechtsteile, die sie in ein Haus werfen – was Glück bringen soll – Frauenkleider. E. NEUMANN: The Great Mother, New York 1955 (Bollinger Series 47), 275 nennt die Große Göttin eine Herrscherin über Gegensätze. M. E. gehören Leben und Tod, Frau und Mann hierher. Denn dem Mythos entsprechend geht Kybele aus einem kastrierten Mann hervor. Die Ambivalenz der Geschlechter könnte noch ein weiteres Phänomen betonen, das aber nur von einer einzigen Quelle bezeugt wird. Firmicus Maternus (de err. Prof. rel. 4,2) verweist auf eine Phase der Tempelprostitution vor der Kastration, wobei die Priesteranwärter die Rolle von Frauen im Geschlechtsakt einnahmen. I. STAHLMANN: Der gefesselte Sexus. Weibliche Keuschheit und Askese im Westen des Römischen Reiches, Berlin 1997, 132ff. SANDERS, Gallos (wie Anm. 59), 998; C. CLEMEN: Lukians Schrift über die Syrische Göttin, Alter Orient 37, H. 3/4, 1938, 55f.; E. FEHRLE: Die kultische Keuschheit im Altertum, Gießen 1910 (Ndr. 1966 = Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten 6), 111; zu anderen Deutungsversuchen vgl. SANDERS, Gallos (wie Anm. 59), 1006f. Zur Beschwörung der Fruchtbarkeit mögen auch die von Frauen errichteten Weihealtäre gehören. Im Rahmen der Kastration hat die jeweilige Dame die vires eines namentlich erwähnten Gallus in Empfang genommen und stellvertretend für die Göttin (im Altar?) deponiert, vgl. die Weihung aus Lactora in Aquitanien vom 24. März 239 n. Chr. (dies sanguinis): Valeria Gemina vires escepit
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ben sie sich auch nicht des sexuellen Verkehrs enthalten. 120 Sie sind so ambivalent wie die Göttin selbst. Die pejorativen paganen Quellen entstammen fast ausnahmslos der Gattung der Satire und stellen die Zwiespältigkeit der Galli bewußt einseitig dar. ZUSAMMENFASSUNG Der Kybelekult war nicht nur weit verbreitet, er war ein integraler Bestandteil des Staatskults und erfreute sich von Beginn seiner Einführung in Rom großer Beliebtheit. Seine Priesterschaft, in Gestalt der kastrierten Galli, provozierte jedoch traditionelle (elitäre) Vorstellungen von Herrschaft, sei es durch eine betont feminine Selbstdarstellung, die Gestaltung der Gottesbeziehung oder die Ausübung der Prophetie. Bei aller Ablehnung des Habitus seitens der Oberschicht 121 war die Kastration ein sehr ernstgenommenes Ritual, das immer wieder neu gedeutet wurde. 122 Gerade der inversive Aspekt machte Kybele aber zu einer idealen Partnerin der Mächtigen. 123 Ich sehe keinen Gegensatz zwischen der als Heilsbringerin und Retterin präsentierten Gottheit und ihrer angeblich allgemein verachteten Priesterschaft. Im Gegenteil, die Wildheit der Priester repräsentiert die Unbändigkeit und damit Macht der Kybele 124 , aber auch ihren universalen Anspruch, symbolisiert durch die Aufgabe der die Welt ordnenden Geschlechtskategorie. Eine fortschreitende Inkorporation der Prozessionen in den offiziellen Kult, sei es in den römischen Staatskult oder in die Poliskulte125 der Städte und Gemeinden des Imperi-
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Eutychetis (CIL XIII 510) und eine Weihung aus Alzey vom 11. Nov. 237 n. Chr.: M(atri) D(eum) M(agnae) et [v]iribus Patrici Cybelici. Paccatia Paccata filia Pacati Pacatini d(ecurionis) c(ivitatis) Tr(evororum) consumata per Servandium Maternum s(acerdotem) D(eum) M(atris) III Idum Novembrium Perpetuo et C[or]ne[li]an[o] (co(n)s(ulibus) (“Geweiht der Magna Mater und der Zeugungskraft des Patricius Cybelicus. Paccatia Paccata, die Tochter des Pacatus Pacatinus, Stadtrat aus der Gemeinde Trier, nach Empfang an Stelle des Servandius Maternus, Priester der Göttermutter, am 3. Tag der Iden des November im Konsulatsjahr von Perpetuus und Cornelianus“), W. BOPPERT: Götterpfeiler und Magna Mater Kult. Überlegungen zu neuen Votivtafeln aus dem Vicus von Alzey, Mainzer Archäologische Zeitschrift 7 (2008). Vgl. hierzu auch W. SICKERMANN: Mysteriengemeinde und Öffentlichkeit. Integration von Mysterienkulten in die lokalen Panthea in Gallien und Germanien, in: J. Rüpke (Hg.), Gruppenreligionen im römischen Reich, Tübingen 2007 (Studien und Texte zu Antike und Christentum 43), 127–160, 138. Neben Firmicus Maternus (wie Anm. 117) spricht Augustin (civ. 2,7) von Tempelprostitution. Auch Tibull 1,4,68ff. könnte eine solche Interpretation nahelegen. Zu bedenken ist hier auch das Genre der negativen Quellen: Satiren, Schelmenromane. Zur Aktualität der Frage in der Spätantike vgl. M. KUEFLER: The Manly Eunuch. Masculinity, Gender Ambiguity and Christian Ideology in Late Antiquity, Chicago 2001, 245ff. Eine gemeinsame Präsentation von kaiserlichen Schätzen und Reichtümern der Kybele (Herod. 1,10,5) bringt diese Verbindung symbolisch zum Ausdruck. Die Galli begegnen der Göttin mit religiöser Scheu, vgl. SANDERS, Gallos (wie Anm. 59), 992. DOMASZEWSKI zur Ausbreitung des Kults im Rahmen der Municipalstrukturen.
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ums 126 , mag zudem eine romanisierte Deutung 127 des Kults gefördert haben. Das Kultpersonal wurde definitiv römisch und hatte Anteil an der lokalen Elite. Mit Abscheu stellt Prudentius 128 zu Beginn des 5. Jahrhunderts fest, daß römische Adlige barfuß der Prozession der Magna Mater folgten. Man kann hierin auch Tendenzen eines in der Spätantike entstehenden paganen Fundamentalismus erkennen. Im Gegensatz dazu haben die Principes seit augusteischer Zeit dezidierte Strategien der Inkorporation der Gottheit entwickelt, so etwa durch die Einbeziehung zunächst ausgesparter Teile des Kults (Attis), die Transponierung von Kulthandlungen und deren Bindung an den Kaiserkult (Taurobolium) sowie die Monopolisierung der Beziehung zur Göttin. Die radikale Selbstrepräsentation der Priesterschaft blieb unverändert.
126 GORDON, Veil of Power (wie Anm. 69), 246. 127 HALES, Looking for Eunuchs (wie Anm. 2) hat bei den Selbstzeugnissen der Priester auf die fließende Grenze zwischen Sterblichkeit und Göttlichkeit in der Darstellung verwiesen. Der Charakter des Taurobolium und die heftige Kritik des Christentums, das in direkter Konkurrenz zur Kybele stand, deutet daraufhin, daß der Kult seine Anhänger diesem Heil (ab dem 3. Jh.) näher brachte. So verstummen die kritischen paganen Stimmen weitgehend. Für ein Beispiel einer romanisierten Interpretation vgl. Julian or. 168C, der den von den Salii vollzogenen Ritus als Teil der Märzfeierlichkeiten für Kybele und Attis einordnet. 128 Perist. 10,154f.
HENOTHEISMUS UND ESSENTIALISMUS IN DEN KULTEN DER ORIENTALISCHEN GÖTTER 1 Jaime Alvar, Madrid Für mich bedeutet es eine große Herausforderung, meine Überlegungen zur komplexen Morphologie antiker Religionen in diesem Sammelband darzulegen, in dem wesentlich kompetentere Stimmen zu Wort kommen. Die nachfolgenden Gedanken beschränken sich auf die spezifischen Kulte orientalischer Götter im Imperium Romanum, ein Phänomen, das in den letzten Jahren Gegenstand intensiver Forschungen gewesen ist und gegenwärtig eine grundlegende Revision erfährt. So wurde insbesondere das Heilspotential als eigentlicher Kern dieser Kulte stärker akzentuiert. Die kontroverse Diskussion des Themas macht es notwendig, zunächst die eigene Position zu konturieren um anschließend die Entwicklungsbedingungen orientalischer Kulte während der römischen Kaiserzeit in den Blick zu nehmen. Der letzte Abschnitt widmet sich dem Problem, inwieweit fundamentalistische Verhaltensweisen oder Tendenzen hin zu monotheistischen Glaubensvorstellungen existieren, oder inwieweit es reicht sich diesen Fragen ausschließlich aus der Perspektive des „Henotheismus“ anzunähern, einer spezifischen Wahrnehmungsweise des religiösen Phänomens. Selbstverständlich kann die Angelegenheit hier nicht restlos geklärt werden. So möchte ich den Raum nutzen, um meine Gedanken vorzustellen und den Leser in das Konzept des Essentialismus einzuführen. 1 FRAGESTELLUNG Um die Übersichtlichkeit meiner Überlegungen zu gewährleisten, beabsichtige ich zunächst die zugrundeliegenden Konzepte für die im Aufsatztitel verwendeten Termini jeweils einzeln vorzustellen mit dem Ziel, den Platz zwischen den in dieser Publikation behandelten Themen fruchtbar zu machen. a) Einleitend einige Bemerkungen zum Konzept der „orientalischen Götter“. In jüngster Zeit verbinden sich mit dem Problem lebhafte Diskussionen. Das Modell geht auf F. Cumont zurück, der in der Ausgabe seines bekannten Werks Les religions orientales dans le paganisme romain aus dem Jahr 1929 seine Überle1
Diese Arbeit ergibt sich aus den Forschungen innerhalb der Forschungsgruppe „Historiografía e Historia de las Religiones“ der Universität Carlos III de Madrid, und wurde von der Comunidad Autónoma in Madrid finanziert.
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gungen präsentiert. 2 Die Bezeichnung „orientalische Götter“ bezieht sich auf die Herkunft der verehrten Gottheiten dieser Kulte. Aus dieser Bestimmung folgt, dass sich das Phänomen semantisch nicht gleichsetzen lässt mit Begriffen wie „orientalische Religionen“ oder „Mysterienkulte“ 3 : Die Unangemessenheit des ersten liegt in der fehlenden Berücksichtigung der Gesamtheit orientalischer Religionen, die sich im Imperium Romanum ausbreiteten und sich strukturell in die römische Religion integrieren konnten. Dieser zweite Aspekt ist keinesfalls nebensächlich für das Problem, das hier generell verhandelt wird. Aus meiner Sicht bildet die römische Religion eine einheitliche Realität – wenn auch facettenreich – ein amalganes Gebilde, nicht zusammengesetzt aus Aneinanderreihungen, wie eine Mehrheit von Forschern in der Postmoderne 4 behauptet. Entscheidend ist, dass es sich nicht um eine Anzahl von Religionen handelt, die aus dem Orient kommen und in Rom weiterentwickelt wurden, sondern um die Aufnahme einiger Götter orientalischen Ursprungs, deren Kulte für den Gebrauch einer durch die Herrschaft des römischen Imperiums unterworfenen Bevölkerung neu ausgerichtet und im Schoß der römischen Religion angepasst wurden.5 Auch wenn die Argumente J. B. Rives’ von meinem abweichen, folge ich ihm in der Feststellung “the impression we get from the sources is that people thought 2
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Die erste Ausgabe ist von 1906 und die zweite von 1909. Um die historiographischen Bedingungen kennen zulernen, siehe G. Casadio: Franz Cumont, Historien des religions et citoyen du monde, in: Imago Antiquitatis. Religions et iconographie du monde romain. Mélanges offerts´à Robert Turcan, Paris 1999, S. 161– 165; außerdem ist auch unumgänglich die Ausgabe von C. Bonnet und van Haeperen: Introduction historiographique, in: F. Cumont (Hg.), Les religions orientales dans le paganisme romain, Turín 2006, XI– LXXIV; auch gelesen werden kann C. Bonnet: Repenser les religions orientales. Un chantier interdisciplinaire et international, in: C. Bonnet – J. Rüpke – P. Scarpi (Hg.), Religions orientales-culti misterici. Neuen Perspektiven- nouvelles perspectives-prospettive nuove, PAWB 16, Stuttgart 2006, 7; ibid., V. Pirenne-Delforge, P. Scarpi: Les cultes à mystères. Introduzione, 159; C. Bonnet: Le „Grand atelier de la Science“. F. Cumont et l'Altertumswissenschaft. Héritages et émancipations. Des études universitaires à la fin de la première guerre mondiale (1888– 1923), BHPAH 41, Turnhout 2006. Das kann man nachlesen im Sammelwerk von C. BONNET, J. RÜPKE und P. SCARPI, in der vorherigen Fußnote zitiert, auch: C. BONNET – A. BENDLIN (Hg.), Les „religions orientales“. Approaches historiographiques / Die „orientalischen Religionen“ im Lichte der Forschungsgeschichte, Archiv für Religionsgeschichte 8 (2006), 151– 273. Ein anderer Ansatz ist in T. J. WELLMAN: Ancient Mysteria and Modern Mystery Cults, Religion and Theology 12.3–4 (2006), 308–348, wo er die Schwächen der konzeptuellen Konstruktion hinter dem Schild „Mysterienkulte“ äußert Ich verstehe durchaus, dass man zum Beispiel über „die Religionen von Rom“ nicht im Plural reden kann, auch nicht, wenn es der Titel eines der wichtigsten Kompendien des Jahres ist: M. BEARD – J. NORTH – S. PRICE (Hg.): Religions of Rome, 2 Vol., Cambridge 1998. siehe G. CASADIO: Studying Religious Traditions Between the Orient and the Occident: Modernism vs. Postmodernism, in: Ch. Kleine (Hg.), Unterwegs. Neue Pfade in der Religionswissenschaft. Festschrift für Michael Pye zum 65. Geburtstag, München 2004, 119–135. Aus verschiedenen Blickwinkeln, siehe N. BELAYCHE: Deae Suriae sacrum. La romanité des cultes „orientaux”, RHR 124.3 (2000), 565 –592 und J. ALVAR: Romanising Oriental Gods. Myth, Salvation and Ethics in the Cults of Cybele, Isis and Mithras, RGRW 165, Leiden – Boston 2008
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not so much in terms of ‘different religions’, as we might today, but simple of varying local customs with regard to the gods.” 6 Auch er verteidigt die Verwendung der Einzahl gegenüber der Mehrzahl. Zum zweiten Begriff der „Mysterienkulte“: Dieser hat Kritik erzeugt, weil die Götter orientalischer Herkunft nicht mit denen in den Initiations- und Mysterienritualen 7 verehrten Göttern korrespondierten. De facto existierte eine viel höhere Anzahl von orientalischen Göttern, die Akzeptanz in Rom genossen, als andere Kulte, die sich über die Mysterien und Initiationsriten artikulierten. Überdies sind gerade die bedeutsamsten Initiationsriten – die großen Mysterien von Eleusis 8 – nicht „orientalisch“, entsprechend verbietet sich der Austausch der konzeptionellen Kategorien methodisch. 9 Dabei müssen wir mit der Schwierigkeit umgehen, dass die Bezeichnungen in den Quellen offen lassen, auf welchen Kult der Autor konkret Bezug nimmt. Die Mysterien, die Initiationsreligionen oder die orientalischen Götter bilden ein einzigartiges Ensemble, das anderen göttlichen Gruppierungen des Paganismus scheinbar homogen gegenübergestellt werden kann. 10 Kurzum, die Absicht meiner knappen Analyse der Bezeichnung für die integrierten orientalischen Götter ist das Folgende: Ich meine, dass Isis, Magna Mater und Mithras jeweils das zentrale Element äußerst komplexer Zyklen und Umwelten bilden, in die eine Integration weiterer Gottheiten oder übernatürlicher Wesen stattfindet. b) Das zweite hier zu konturierende Konzept ist der „Essenzialismus“. Das Modell eignet sich aus meiner Sicht ausgesprochen, weil das religiöse Phänomen des Fundamentalismus durch diese Linse äußerst plausibel erfasst werden kann. Im Grunde bezieht sich der Fundamentalismus substanziell auf eine ebenso individuelle wie auch kollektive Verhaltensweise, die Bezug nimmt auf eine Religionslehre, religiöse Taten und die Position im persönlichen Leben. 11 Fundamen6 7
J. B. RIVES: Religion in the Roman Empire, Oxford 2007, 4–7. G. SFAMENI GASPARRO: Misteri e culti orientali. Un problema storico-religioso, in: C. Bonnet – J. Rüpke – P. Scarpi (Hg,), Religions orientales-culti misterici, 181–210. 8 M. B. COSMOPOULOS (Hg.): Greek Mysteries. The Archaeology and Ritual of Ancient Greek Secret Cults, London 2003; Insbesondere die Beiträge von C. SOURVINOU-INWOOD, S. 25 und von K. CLINTON, 50. 9 P. SCARPI, Le religioni dei misteri, Vol. 2, Samotracia, Andania, Iside, Cibele e Attis hg. v. Fondazione Lorenzo Valla/Arnoldo Mondadori, Mailand 2002, siehe den Gesichtspunkt, der in der Einleitung entwickelt wird. 10 Ich weise auf die Diskussion, die ich entwickelte in: J. ALVAR: Promenade por un campo de ruinas. Religiones orientales y cultos mistericos. El poder de los conceptos y el valor de la taxonomía, in: C. Bonnet – V. Perenne- Delforge – D. Praet (Hg.), Les religions orientales. Cent ans après Cumont. Bilan historique et historiographique. Brüssel – Rom 2009, im Druck. 11 So wird es entwickelt in der Auswertung von B. ALTEMEYER – B. HUNSBERGER (Hg.): Authoritarianism, Religious Fundamentalism, Quest, and Prejudice, International Journal for the Psychology of Religion 2. 2 (1992), S. 113–133; L. A. KIRKPATRICK: Fundamentalism, Christian orthodoxy, and intrinsic religious orientation as predictors of discriminatory attitudes, Journal for the Scientific Study of Religion 32. 3 (1993), S. 256–268; Personal author, compiler, or editor name(s); click on any author to run a new search on that name. B. HUNSBERGER: Religion and Prejudice. The Role of Religious Fundamentalism, Quest, and Right-
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talistisches Verhalten benötigt dabei einen Orientierungsrahmen, der das Repertoire von Begründungen für das Handeln bereitstellt. Dieses Referenzelement ist in der Regel ein charakteristisches heiliges Buch. Folgerichtig ist der Fundamentalismus mit den so genannten „Buchreligionen“ verbunden, die Ursprung und Inhalte auf göttliche Offenbarung zurückführen. Die spezifische Fragestellung des Fundamentalismus in der römischen Gesellschaft antwortet auf die Wahrnehmung des Religiösen durch unsere Zugehörigkeit eines kulturellen Systems, das um eine Offenbarungsreligion kreist. Es existiert nichts Gleichartiges in der römischen Welt mit Ausnahme des Judentums, das den Ursprung der anderen Religionen mit fundamentalistischem Potential bildet. 12 Die fundamentalistische Lesart der Religion erzeugt Intoleranz gegenüber den übrigen Glaubensvorstellungen, obgleich die Ursprünge der Intoleranz nicht ausschließlich mit dem Fundamentalismus verbunden werden dürfen. Der Siegeszug des Christentums stellt ein klares Beispiel religiöser Intoleranz dar. Der Vergleich mit der eigenen vorangegangen Verfolgung erscheint unzulässig, war sie doch rein politisch motiviert. 13 Zunächst müssen wir für unseren Zweck bestimmen, ob der Ausgangspunkt identifiziert werden kann, von dem aus sich Fundamentalismen konstruieren lassen, die die Abweichung in Bezug auf den echten Kern anklagten und die Rückkehr zu verlorenen religiösen Fundamenten einforderten. Gestützt auf die kollektive Erinnerung, die die Verbindungen für die Rückkehr zum verlorenen Element bereitstellt, wird das Andenken an die wahre Substanz postuliert. Literarische Texte und Bilder fungieren als Gedächtnisstütze.
Wing Authoritarianism, Journal of Social Issues 51.2 (1995), 113–129; B. LAYTHE – D. FINKEL – L. A. KIRKPATRICK (Hg.): Predicting Prejudice from Religious Fundamentalism and Right-Wing Authoritarienism. A Multiple-Regression Approach, Journal for the Scientific Study of Religion 40.1 (2002), 1–10. Erhellend ist das bekannte Buch von T. MEYER: Fundamentalismus. Aufstand gegen die Moderne. Reinbek bei Hamburg 1989 = Identity mania: fundamentalism and the politicization of cultural differences, London – N. York 2001, der das Politische des Fundamentalismus betont, das heißt, die Instrumentalisierung der Religion als Machtinstrument. 12 So wird es in einer Arbeit ausgedrückt von J. SCHEID: Le fondamentalisme dans la religion romaine (Ve, s.av.–IIIe s.apr.J.-C.). Quelques réflexions sur un concept inappropié, in: P. Barceló – J. J. Ferrer – I. Rodriguez (Hg.), Fundamentalismo político religioso: De la Antigüedad a la Edad Moderna. II Coloquio Internacional del grupo europeo Religión, Poder, Monarquía = Politischer und religiöser Fundamentalismus. Von der Antike bis zur Moderne, Castellón 2003, 13–22, verteidigt die Existenz der integristischen Verhaltensweise in der römischen Kaiserzeit; wie man sieht, gibt es Probleme mit dem Inhalt, den wir den Begriffen geben. 13 A. H. AMSTRONG: The Way and the Ways. Religious Tolerance and Intolerance in the Fourth Century a. D., Vigiliae Christianae 38.1 (1984), 1–17; P. BARCELÓ: Fundamentalismo pagano y fundamentalismo cristiano en el siglo IV, in: DERS. – J. J. Ferrer – I. Rodriguez (Hg.), Fundamentalismo político religioso. De la Antigüedad a la Edad Moderna. II Coloquio Internacional del grupo europeo Religión, Poder, Monarquía = Politischer und religiöser Fundamentalismus . Von der Antike bis zur Moderne, Castellón 2003, 43–61.
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Allerdings ist es inkonsistent, den Fundamentalismus durch Deutung der ikonographischen Repräsentationen zu untersuchen, entsprechend muss sich der Blick auf die textuelle Information richten: Die Kontroverse über die Existenz liturgischer Texte in den Kulten orientalischer Götter umfasst lediglich einen Bestandteil des Problems. So muss entsprechend des oben aufgeführten Kriteriums die Abwesenheit fundamentalistischen Potentials für diese Kulte postuliert werden, da Texte der „Offenbarung“ fehlen. Andererseits wird die Existenz liturgischer Texte nahe gelegt – trotz anderslautenden Urteils der Positivisten – direkt durch die Repräsentation des Wächteramts der heiligen Bücher, dem hierogrammateus des Isis-Kults. 14 Indirekt erschließt sich ihr Vorhandensein aus dem Vorliegen liturgischer pseudomiträischer Schriften, die die Existenz früherer Modelle des Mithraskults andeuten. 15 Da aber die Charakteristika der zerstörten Texte unbekannt bleiben, ist es unzulässig ihnen das Potential fundamentalistischer Lektüre zu unterstellen. Der Befund legt die Schlussfolge nahe, dass Kulte orientalischer Götter fundamentalistisches Verhalten nicht begünstigten, unbeachtet der gegenwärtigen Diskussionen zu diesem Punkt. Der nächste Komplex betrifft die Frage, ob die römische Religion während der Republik fundamentalistische Tendenzen gegenüber religiösen Neuerungen aufwies, die durch die Inkorporierung von peregrina sacra nach Rom kamen. Die Frage scheint berechtigt in Anbetracht gewaltsamer Verfolgungen bestimmter Kulte, die in den literarischen Quellen dokumentiert sind. Das berühmteste Beispiel stellt das inschriftlich erhaltene Senatus consultum de Bacchanalibus aus dem Jahr 186 v. Chr. 16 dar. Auffällig ebenso die Restriktionen, denen der Kult der Magna Mater unterliegt, die Einführung in Rom begleitet von einer Fülle religiöser und rechtlicher Genehmigungen. 17 Vergessen wir auch nicht die gewaltsamen 14 Apul., Met XI, 17; Clem. Alex., Stromateis VI, 4, 36; OGIS I. 65, Ins. 4, 69, 74; 90, In. 7; vgl. FR. PREISIGKE: Wörterbuch der griechischen Papyruskunden, Berlin 1931, t. III S. 377; W. OTTO: Priester und Tempel im Hellenistischen Ägypten I, Leipzig 1905–1908, 88ff.; Diod. (I,87,7), erwähnt die Übergabe eines Buches, in dem die Vorschriften des Kultes vorgegeben waren, im Heiligtum von Tebas. Dieser Spezialist zum Isis-Kult erscheint in einem bekannten Relief im Vatikan: z. B. R. MERKELBACH, Isis Regina - Zeus Sarapis. Die griechisch- ägyptische Religion nach den Quellen dargestellt, Stuttgart – Leipzig 1995, 45 und in Pompej: V. TRAN TAM TINH: Essai sur le culte d'Isis à Pompéi, Paris 1964, V, 2. 15 Ihre Existenz ist inhärent laut der Argumentationen der Leitsätze von R. BECK: The Religion of the Mithras Cult in the Roman Empire. Mysteries of the Unconquered Sun, Oxford 2006, 2. Über die angeblich mitraischen liturgischen Texte, siehe: J. ALVAR: Romanisind Oriental Gods, 377 – 378; J. ALVAR – R. GORDON: Magic and Mithraism, in: R. GORDON – F. MARCO (Hg.), Magical Practice in the Latin West. Papers from International Conference held at the University of Zaragoza, 30 Sept.– 1 Okt. 2005, Leiden – Boston 2009. 16 CIL I, 2, 581; XXXIX, 8–19. Wie man weiß, erschien das Dekret auf einer Tafel aus Bronze, die 1640 in der Ortschaft von Tiriolo, Italien, gefunden wurde. Heute befindet sie sich im Kunsthistorischen Museum von Wien. Der möglicherweise systematischste Bericht ist der von J. M. PAILLER: Bacchanalia. La répression de 186 av. J.-C. à Rome et en Italia. Vestiges, images, tradition, BEFAR 270, Rom 1988. 17 J. ALVAR: Escenografia para una recepción divina. La introducción de Civeles en Roma, Dialogues d'Histoire Ancienne 20.1 (1994), 149–169.
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Maßnahmen gegen Isis und die Nilkulte, die sich in den letzten Jahren der Republik bis zur endgültigen Zerstörung des Isis-Heiligtums auf dem Marsfeld zurzeit des Kaisers Tiberius wiederholten. 18 Die Beispiele mögen genügen. Meiner Überzeugung nach handelt es sich bei diesen Beispielen nicht um Manifestationen einer fundamentalistischen Motivlage innerhalb der römischen Religion, wird doch weder die Neulektüre der ursprünglichen religiösen Praktiken noch die Rettung der eigenen Tradition vor der Bedrohung neuer Kulte gefordert. Vielmehr erscheinen sie als Versuch die virulenten politischen Konflikte, die den Staat in dieser Periode erschüttern, den religiösen Innovationen zuzuschreiben. Derartige politisch-religiöse Verfolgung können hier unberücksichtigt bleiben, leisten sie doch für die Erhellung des hier verhandelten Problems keinen Beitrag. Zurückkehrend zum Ausgangspunkt, möchte ich ausdrücklich betonen, dass für die Kulte orientalischer Götter die grundlegenden Prämissen für fundamentalistisches Verhalten fehlen. Wir besitzen hinreichende Informationen um die These bezüglich der Existenz spezifischer Referenzelemente aufrechtzuerhalten, unter anderem in den Texten und der Ikonographie. Diese Materialien erlauben die Rekonstruktion der Essenz dieser Kulte und des Wiederkehrenden frei von Dogmen, jedoch in der lokalen Ausprägung. In der Tat zeichnet sich die Ikonographie im gesamten Imperium durch ihre Homogenität aus, trotz der Differenzen und spezifischen Präferenzen, die einzelne für den Mithraismus relevante Orte voneinander unterscheiden, offenkundig in den untersuchten kulturellen Varianten. 19 Der Verlust der Texte der verschiedenen Kulte, von deren Existenz ich überzeugt bin, nötigt den Wissenschaftler die indirekten literarischen Informationen zu konsultieren, die auf die Essenz der einzelnen religiösen Komplexe verweisen, beispielsweise die Hinweise in den Werken Plutarchs oder dem aufschlussreichen Buch XI der Metamorphosis von Apuleius, vorausgesetzt man begreift diese Werke als Äußerungen religiöser Bezeugung. Es besteht die Möglichkeit, dass die auf dieser Informationsgrundlage basierenden Konzepte ein wenig sonderbar scheinen, jedoch handelt es sich um das einzig verfügbare Material sich dem religiösen Inhalt dieser Kulte zu nähern.
18 Die Ruhestörungen geschahen während des 1. Jahrhunderts v. Chr., während dieser Zeit nutzten die politischen Faktionen, oft durch die collegia, den Kult der Isis aus. So zum Beispiel in den unglücklichen Episoden mit Clodius in der Hauptrolle. F. COARELLI: Isis Capitolina, Clodio e i mercati di schiavi, in: Alessandria e il mondo ellenistico-romano. Studi in onore di A. Adriani, III, Rom 1984, 461ff. Der Konsul Aemilius Paullus greift mit der Axt in der Hand die Tore des Tempels an, dessen Zertrümmerung vom Senat zwei Jahre zuvor angeordnet worden war (Val. Max, 1, 3, 4, ) Agrippa verstieß den Kult vom Pomerium im Jahr 21 (Cass. Dio LIV, 6, 6,), und Tiberius zerstörte den Tempel und verstieß die Isisanhänger aus Rom ( Suet. Tib. XXXVI, 1 Joseph. AJ XVIII, 65–80, wo die Episode von Decius Mundus und der Affäre des Iseum geschildert wird. Die treffendste Forschung ist die von M. MALAISE: Les conditions de pénétration et de difusión des cultes égyptiens en Italia, EPROER 23, Leiden 1972, 377ff. 19 A. SCHOFIELD: The Search for Iconographic Variation in Roman Mithraism, Religion 25.1 (1995), 51–66, der die lokalen Variationen nicht als Zeichen theologischer Varianten sondern als Folge der Durchlässigkeit von Darstellungen und ihre Makler verteidigt.
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Ob nun gut oder schlecht, die Annahmen, die sich aus diesen Texten ableiten lassen, ermöglichen das Verständnis der wichtigsten Elemente, die von Priestern und Gläubigen als Mittelpunkt ihres Glaubens betrachtet wurden. Die zeitgenössischen Texte und Bilder, die diesen Menschen das Wissen bereitstellte, das Gegenstand unserer Untersuchung ist, erkennen wir nur aus der Ferne. Dieses Wissen befähigte sie, die Essenz ihrer Kulte zu erfassen und ihre „essentialistischen“ Verhaltensweisen zu stabilisieren, die sich klar von fundamentalistischen unterscheiden. Ohne Zweifel erlauben die liturgischen Texte und Ikonographie die Identifikation und Einsicht in die konzeptionelle Essenz dieser Kulte. Die Funktion des Priesters würde entsprechend dieser Lesart in der Aktivierung des Essentialismus durch Wachsamkeit gegenüber diesem einem integrativen Bestandteil einer einheitlichen Wirklichkeit bestehen. 20 c) Das dritte im Titel erwähnte Konzept des „Henotheismus“ benötigt keine umfassende Vorstellung an dieser Stelle, kann doch auf mehrere Beiträge in diesem Band verwiesen werden. Der Vorschlag, eine henotheistische Tendenz für den klassischen Paganismus anzunehmen, findet zunehmend Akzeptanz. 21 Die Ursache dieser gebührenden Wiederaufnahme liegt in der vermutlich nicht gänzlich unschuldigen Evolutionstheorie der Religion, die den Monotheismus als fortschrittlicheres Stadium und entsprechend andere Glaubensvorstellungen – auch den Henotheismus – lediglich als Vorstufen zu einem komplexen Modell begreift. Diese spezifische Idee (Argumentation) geht auf die Konfessionalisten (estudiosos confessionales) zu Beginn des 20. Jahrhunderts zurück und wird ebenfalls im Werk von F. Cumont rezipiert. Obgleich unsere Kenntnis des Phänomens der Erfahrung des Transzendenten wesentlich differenzierter ist, hat sich bisher keine grundsätzliche Abkehr vom evolutionistischen Modell vollzogen. Allerdings trägt die Ablehnung strenger Linearität diesem Informationsgewinn Rechnung. Der Henotheismus figuriert als dominante Tendenz im spätantiken Paganismus, oftmals kenntlich in dem Epithet hypsistos. 22 Das Vorhandensein dieses 20 In der Tat ist das Priestertum an der Erhaltung eines potenten Kultes interessiert, um eine angemessene soziale Präsens zu haben, J. ALVAR: Integración social de esclavos y dependientes en la Península Ibérica a través de los cultos mistéricos. Religion et anthropologie de l'esclavage et des formes de dépendence. Actes du XXéme Colloque du GIREA. Besaçon, 4– 6 nov. 1993, Paris 1994, 275–293; idem: El archigalato, in: L. Hernández – J. Alvar (Hg.), Jerarquías religiosas y control social en el mundo antiguo. Actas del XXVII Congreso Internacional GIREA-ARYS IX, Valladolid 2004, S. 453–458. 21 Der Begriff wurde verbreitet durch M. MÜLLER: Lectures on the Origin and Growth of Religion. As Illustrated by the Religions of India, London 1879, S. 266, der ihn übernommen hat von F. W. J. VON SCHELLING, Autor eines berühmten Vortrags über die Mysterien von Samothrake ( Über die Gottheiten von Samothrake, 1815); sein aktueller Erfolg dank des Beitrages von H. S. VERSNEL: Inconsistencies in Greek and Roman Religion 1. Ter Unus. Isis, Dionysos, Hermes. Three Studies in Henotheism, SGRR 6, Leiden 1990, S. 25–28. 22 N. BELAYCHE: Contribution à l’étude du sentiment religieux dans les provinces orientales de l’Empire Romain aux premiers siècles de notre ère. Les divinités „hýpsistos“. Archéologie analytique des inscriptions, unveröffentlichte Doktorarbeit, París 1984; S. MITCHELL: The cult of Theos Hypsistos between Pagan, Jews, and Christians, in: P. Athanassiadi – M. Frede
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Beinamens steht radikal in Widerspruch zu angeblich monotheistischen Tendenzen, die von zahlreichen Forschern behauptet werden, die sich gleichsam auf die Wiederentdeckung des Konfessionalismus als Gegenstand der Religionsgeschichte beziehen. 23 Bekanntlich bezeichnet der Begriff „Henotheismus“ die persönliche Bevorzugung eines Gottes gegenüber den übrigen Göttern, kurz: der Gläubige richtet seine Gebete an das göttliche Wesen, das ihm aufgrund seines Vermögens am besten geeignet erscheint, um das persönliche Anliegen zu erfüllen. Obschon eine spezifische Aufmerksamkeit gegenüber den übrigen Göttern vorhanden ist, den Kapazitäten, die sich ihnen zuschreiben lassen, glaubt der wahre Henotheismus an einen Gott, dessen Kompetenzen universell sind und, dass entsprechend übrigen Gottheiten jenseits des Einen ebenso des Respekt und der Verehrung würdig sind. Diese aus der antiken Konzeption des Übernatürlichen abgeleitete Vorstellung, die im gesamten indoeuropäischen Raum und insbesondere in der Entwicklung des römischen Glaubens eine weitverbreitete Linie darstellt, steht im Gegensatz zur arabischen Welt, die die Vernichtung oder mindestens die Ablehnung fremder Götter postuliert. Diese allgemeine Entwicklung ist es, die die Herausbildung monotheistischer Tendenzen aus dem Schoß der eigentlichen römischen Religion grundlegend erschwert. Ich meine im Gegenteil, dass infolge des Siegs des Christentums und der Durchsetzung seines Pseudomonotheismus, die Historiker nach Vorläufern suchen, gleich ob reale oder fiktive, so wie J. L. Borges einst feststellte, dass jeder große Schöpfer sein eigenes Vorleben schafft. 24 Doch die Vorläufer des christlichen Monotheismus finden sich nicht in den religiösen Entwicklungen des römischen Paganismus. 2 VORLÄUFER DES HENOTHEISMUS Offensichtlich traten die henotheistischen Tendenzen nicht sprunghaft hervor. In der charakteristischen paganen Tradition finden sich Hinweise, die gleich einem Katalysator verstärkend wirken bezüglich der Erschaffung dieser neuen Wirklichkeit. Dabei setzte beispielsweise das Vorhandensein von Schutzgöttern in den civitates oder in den Familien die Auswahl einer Gottheit unter den Übrigen des (Hg.), Pagan Monotheism in Late Antiquity, Oxford 1999, 81–148; M. EDWARDS: Pagan and Christian Montheism in the Age of Constantine, in: S. Swain – M. Edwards (Hg.), Approaching Late Antiquity. The Transformations from Early to Late Empire, Oxford 2004, 211–234; N. BELAYCHE: Hypsistos. Une voie d’exaltation des dieux dans le polythéisme gréco-romain, ARG 7 (2005), 34–55. 23 Siehe u. a. G. FOWDEN: Empire to Commonwealth. Consequences of Monotheism in Late Antiquity, Princeton 1993; E. DEPALMA DIGESER: The Making of a Christian Empire. Lactantius and Rome, Ithaca London 2000; L. C. SCHNNEIDER: Beyond Monotheism. A Theology of Multiplicity, London 2008, 39–52, analysiert die Ursprünge des Monotheismus in der griechischen Philosophie mit vielen Vorurteilen. In diesem Sinn, ist der Nachdruck von Werken bemerkenswert, wie von H. FORMBY: Monotheism. The Primitive Religion of the City of Rome. A Historical Investigation, Kessinger Publishing, 2003. 24 „Un gran escritor crea a asus precursores. Los crea y de algún modo los justifica.“, J. L. Borges: Otras inquisiciones, 1937–1952, Buenos Aires, 1952.
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polytheistischen Systems voraus. Die Herausbildung der Suprematie eines Gottes geht einher mit dem ausdrücklichen Bezug auf das lokale Kriterium dieser Gottheiten – ein Phänomen, dem ich mich im folgenden Abschnitt widmen werde, nämlich über die Art, wie die Konstruktion der mythischen Systeme sich lokal teils heftig einander widersprechen. Diese Aufgabe der Vereinheitlichung und Kohärenz prägte einen Teil des intellektuellen Schaffens und ist bereits bei Homer, Hesiod und Plutarch präsent. Auf der anderen Seite begründete die Entwicklung eines neuartigen politischen Modells seit Alexander dem Großen ein gewandeltes Raumkonzept, das gegenüber den Grenzen der alten poleis und der lokalen Götter auf einer höheren Ebene lag: Es wirkte zu Gunsten einer universellen Wahrnehmung des politischen und schließlich auch religiösen Raums. Letztendlich lässt sich von einer Art Globalisierung sprechen. Diese neue fiktive Ordnung, geschaffen mittels der kartographierten Welt seit der Durchsetzung des römisch-imperialen Modells, erforderte eine Restrukturierung des Olymps und der verbleibenden Räume jenseits der Welt (extramundanos). Die Reform implizierte eine veränderte Rangordnung im Bereich des Übersinnlichen und die Integration der Götter und weiterer Entitäten, die bis dato außerhalb der griechisch-römischen Tradition standen. Spezifische Erscheinung des Phänomens äußert sich in im Auftauchen von Gottheiten wie Isis oder Serapis, die der Größe des Schicksals gleichgültig begegneten. Sie wurden entsprechend der synkretistischen Praxis eingebettet in den limitierten Raum des traditionellen Systems des Transzendenten, sprich: sie gerieten in Wettstreit zu der Hierarchie des Olymp. 25 Die neuen Götter gewannen zunehmendes Gewicht im Zuge der Entfaltung von Vorstellungen individueller Rettung: Sie boten als Grundbestandteil ihres Auftrags den Gläubigen die erforderliche Fürsorge mit ihren Erlösungsangeboten. Bevor jedoch die Frage nach dem Schlüssel zur Erforschung der Essenz der Kulte orientalischer Götter gestellt wird, möchte ich zunächst eine der wichtigsten Innovationen in Verbindung mit der archäologischen Lokalisierung und dem Ort ihrer Verehrung vorstellen. Anschließend gerät das Problem des Jenseits im Kontext dieser Überlegungen in den Blick. 3 DIE SCHNITTSTELLE ZWISCHEN ESSENTIALISMUS UND HENOTHEISMUS – VON LOKALEN ZU UNIVERSALEN GOTTHEITEN Zur Wiederholung: Ich behaupte, dass mit dem Henotheismus eine Haltung des Gläubigen einhergeht, die sich aus seiner sozialen und kulturellen(Umwelt ableitet und nicht Ergebnis individueller Entscheidungen ist, obgleich dem Einzelnen selbst die Auswahl der Gottheit obliegt, die den Vorrang gegenüber den Übrigen genießen soll, als bevorzugte Förderin der persönlichen Interessen. Der Henotheismus ist definitiv ein soziokulturelles Phänomen, das auf den Menschen wirkt. Lucius (Met. XI. 2.1) flehte unbestimmt zu der Gottheit, die die Macht besaß das Schicksal zu bezwingen. Ihm erschien Isis und sprach: „Ich bin die einzi25 J. ALVAR: Romanising Oriental Gods, 123–124.
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ge Gottheit, die die ganze Welt in verschiedenen Weisen, abwechselnden Riten und verschiedenen Namen anfleht“ (cuius numen unicum multiformi specie, ritu vario, nomine multiiugo totus veneratus orbis). Der Begriff „Essentialismus“ bezeichnet die spezifische Lesart der Experten für die je eigene Religion, um eine gewisse Homogenität zu pflegen oder zu stabilisieren, eine Praxis, die für die Kulte nichtlokaler Gottheiten untypisch ist. Es handelt sich um ein höchstinteressantes Problem, da die Kulte der so genannten orientalischen Götter einen religiösen Wandel enormen Ausmaßes voraussetzen. Tatsächlich kennzeichnete den griechisch-römischen Paganismus, dass der Gott anhand seines Namens, der auf dem Ort seiner Verehrung Bezug nimmt, identifiziert wurde. Das Ergebnis dieser Praxis war, dass sich die Kulte in unterschiedlicher Weise ausprägten je nach Familie und Ort, obwohl nominell überall dieselbe Gottheit verehrt wurde. Das bedeutet, dass die Eigenarten der lokalen Gottheiten von dem Gläubigen und dem Ort der Verehrung abhingen. Entsprechend bildet jeder lokale Gott seine eigene Identität, obgleich er mit anderen Göttern den Namen teilt. Eine Besonderheit lokaler Götter begegnet in ihrer mimetischen Fähigkeit, da der lokale Unterschied die universellen Gemeinsamkeiten beschränkt auf die konstruktive formalisierende aussagende und identifizierende Kraft des Namens. Anders gesagt, wird ein gemeinsamer Nenner dank des performativen Potentials des Worts, sprich des göttlichen Namens begründet. Diese Synkretismen, deren Substanzen und Dimensionen Bestandteile individueller Deutung sind, werden überaus begünstigt durch die Individuen, die in Kontakt mit lokalen Gottheiten gleichen Namens treten. Auf diese Weise kann jeder Einzelne der verehrten Gottheit die Qualitäten zuschreiben, die er ausgehend von der persönlichen Erfahrung erwartet. Entsprechend gestaltet es sich mithin so schwierig das Feld der Synkretismen zu durchdringen, außerhalb der Feststellung vermeintlicher Gleichartigkeiten, die auf die Dauer unbefriedigend sind, denn – wie es in den Identifizierungen Herodots vorkommt – begrenzen sie die Synkretismen auf ein Randphänomen ohne in die viel komplexere Dimension dieser Erklärungen einzudringen. 26 Im Gegenteil, die Gottheiten orientalischen Ursprungs, gleich ob hellenisiert oder romanisiert, bewahren einen substanziellen Kern unabhängig von der Stätte, an der sie verehrt werden. Mindestens zwei Gründe können dafür angeführt werden, die bereits Beachtung fanden. Zum einen besaßen die Verantwortlichen des Kults das Interesse eine spezifische Homogenität zu bewahren, die es erlaubte am 26 F. DUNAND – P. LEVEQUE (Hg.): Les syncrétismes dans les religions de l’antiquité, EPROER, 46, Leiden 1975; C. STEWART – R. SHAW (Hg.): Syncretism/Anti-syncretism. The Politics of Religious Synthesis, London N. York 1994, S. 1–26; C. BONNET – A. MOTTE (Hg.): Les syncrétismes religieux dans le monde méditerranéen antique. Actes du Colloque international en l’honneur de Franz Cumont à l’occasion du cinquantième anniversaire de sa mort (Rome Accademia Belgica, 25–27 sept. 1997), Brüssel 1999. Für einen weiteren Überblick, siehe die interessanten Überlegungen von E. THOMASSEN: Musings on ‘Syncretism’, in: Ch. Kleine (Hg.), Unterwegs. Neue Pfade in der Religionswissenschaft. Festschrift für Michael Pye zum 65. Geburtstag = New Paths in the Study of Religions. Festschrift in Honour of Michael Pye on his 65th birthday, München 2004, S. 137–148.
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Korpus des Glaubens teilzunehmen, erkennbar in jedem Winkel des Imperiums. Zum zweiten besteht die Besonderheit dieser Götter, dass sie nicht nur zu einem Ort gehört haben, sondern gleichsam für sich die gleiche universelle Verehrung einforderten. Es ist diese Kombination impliziter Vorteile, die für die Begünstigten in der Regel unbewusst sind oder außerhalb ihres Wissens liegen, die den Ursprung essentialistischen – nicht fundamentalistischen – Verhaltens bilden. Charakteristisch für den Essentialismus ist die Entwicklung von Zentripetalkräften. Vom Euphrat bis nach Carrawburgh: Mithras war der gleiche Gott und die Gläubigen fanden einen gemeinsamen Raum für seine Anbetung in den Mithräen an jedem beliebigen Ort des Imperiums. Der Händler, der sein Gelübde gegenüber der Göttin Isis im Heiligtum von Emporion erfüllen wollte, begegnet keinen grundsätzlichen Unterschieden gegenüber dem Votivakt, den er früher in Leptis Magna oder Alexandria vollzogen hätte. Allerdings zeitigt das Fehlen hierarchischer Strukturen oder fester ritueller Prinzipien eine zentrifugale Tendenz, die bedeutend ist im Hinblick auf die verschiedenen Kultpraktiken, die durch die Entfernung vom Verteilungszentrum – Rom oder ein anderer Ort –, durch autochthone Substrate, durch soziale Netzwerke der Kultförderer in den jeweiligen Regionen verschärft werden. Diese örtlichen Riten stehen nicht im Zusammenhang mit den lokalen Göttern der älteren Tradition, weil der Gott ontologisch der Gleiche bleibt, unabhängig von der rituellen Praxis, die sich zunehmend vom Kern distanziert. Im Mithraskult ist das Auftreten spezieller Themen in bestimmten Regionen nachweisbar, beispielsweise im Gebiet von Pannonien an der mittleren Donau die Ikonographie des Wunders des Wassers; für den Isiskult lassen sich für einige Heiligtümer sehr unterschiedliche charakteristische ästhetische Tendenzen beobachten, aufgrund der Präsenz ägyptischer oder ägyptisierender Elemente: Während das Iseum Campense stärker „ägyptisiert“ 27 ist, erinnert im Iseum in Baelo Claudio nichts an ein nilotisches Umfeld. 28 Die Texte und Bildnisse sind somit grundlegend für die Erhaltung der „Essenz“ für den jeweiligen Kult, unabhängig von den unterschiedlichen Ausprägungen, die die Eigenart des jeweiligen Orts spiegeln. 4 DIE NEUEN JENSEITS-GLAUBENSRICHTUNGEN Wie bereits angedeutet, tritt uns mit diesem Komplex ein Phänomen großer Bedeutung entgegen, das für das Verständnis der religiösen Veränderungen, das den römischen Paganismus wie die Folgen der Romanisierung der orientalischen Götter umschließen wird, instruktiv ist. Gemeint ist die Ausbreitung einer neuen Jen-
27 K. LEMBKE: Das Iseum Campense in Rom. Studie über den Isiskult unter Domitian, Archäologie und Geschichte, Heidelberg 1994. 28 J. ALVAR – E. MUÑIZ: Les cultes égyptiens dans les provinieses romaines d´Hispanie, in: L. Bricault (Hg.), Isis en Occident. Actes du IIème Colloque International sur les Études Isiaques, Lyon III, Mai 2002, RGRW 151, Leiden – Boston 2004, 74–76.
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seitsvorstellung, eine Idee, in der sich in äußerst intensiver Weise der symbolische Kern des Essentialismus der neuen Kulte verdichtet. 29 Zusammen mit dieser Zeit und dem späten und römischen Hellenismus geht der Siegeszug einer neuen Konfiguration von Glaubensformen einher, die sich auf das Leben im Jenseits beziehen und von der Überzeugung geleitet sind, dass ein Individuum über das eigene existenzielle Verhalten in sein zukünftiges jenseitiges Leben stark eingreifen kann. Um das Erlernen der richtigen Verhaltensweisen zu erleichtern, entwickelten sich in den neuen Kulten Ansätze einer Lehre des ethischen strengen Prinzipienwahrers mit dem Ziel, die Anhänger sowohl von der Philosophie als auch Religion ausgehend zu orientieren. 30 Es bleibt schwer zu bestimmen, ob die neuen Kulte die aufkommenden Unruhen beförderten oder ob sie gerade erfolgreich sind durch die Kompensation negativer Lehrstellen der traditionellen Religion. Die Gleichzeitigkeit der Expansion und der ersten Zeugnisse dieses Wunsches nach persönlicher Erlösung erschweren die Unterscheidung; indes höchst wahrscheinlich sind beide Phänomene miteinander assoziiert. In jedem Fall sind es ausgerechnet die neuen Kulte, die zunächst verfolgt und anschließend durch die politische Ordnung privilegiert werden, die die Jenseitsvorstellungen begünstigen und die Unruhen verursachen. Zahlreich begannen die Bewohner des Imperiums eine besondere Neigung gegenüber den neuen Gottheiten zu verspüren, die ethische Leitlinien, Heilspotential außerhalb des fatum und seelisches Wohlergehen post mortem versprachen. Die traditionellen Götter sind gegenüber der Unerbittlichkeit des fatum machtlos, der Grund, warum sie nicht mit den neuen religiösen Angeboten in diesem Bereich konkurrieren können. Entsprechend haben sie keine Schwierigkeit sich im Raum der alten Gottheiten der griechisch-römischen Welt zu etablieren, die nicht verdrängt werden sollen. Keine der Gruppen beansprucht exklusive Kompetenzen, vielmehr ergänzen und erneuern sie den Raum der Reichsreligion, nicht als parallele oder marginale Religionen, sondern als innovative Elemente des einzigartigen Netzes der römischen Religion. Die Akzeptanz dieser Neuerungen gestaltete sich nicht ohne Schwierigkeiten. Bestimmte reaktionäre Gelehrte widersetzten sich ihnen, da die bisherige religiöse Ordnung einer Änderung unterzogen wurde. Die Denunzierung der neuen Glaubensvorstellungen als Aberglauben der Alten durch das traditionelle System offenbart die Schwächen, die es gegenüber den Bedürfnissen seiner Anhänger besitzt. 31 Doch trotz des intellektuellen Widerstands und der staatlichen Machtfülle behielt die Ausbreitung ihre Dynamik bis zur Überwindung der anfänglichen Be29 J. ALVAR: Romanising Oriental Gods, S. 122ff. 30 Über die ethischen Aspekte der orientalischen Kulte, siehe J. ALVAR: Romanising Oriental Gods, Kapitel 3. 31 Ich habe den Vorgang der Ablehnung und später Aufnahme der orientalischen Kulte in Rom in meinem Artikel entwickelt, siehe: J. ALVAR: Marginalidad e integración en los cultos histéricos. Heterodoxos, reformadores y marginados en la Antigüedad Clásica, in: F. Gascó – J. Alvar (Hg.), Sevilla 1991, 71–90; die Verbindung zwischen tadelswerten ethischen Verhaltensweisen und intellektuellen Kritiken gegen dem Isis-Kult in J. ALVAR, Romanising Oriental Gods, 177–192.
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harrlichkeit des Gegners. Im Zuge dieser Rollenumkehr wurden die integrativen Kräfte offenkundig, die neuen Kulte traten in den Dienst des imperialen Systems. 32 Es bereitete der Mehrheit der Gesellschaft keine größeren Schwierigkeiten die neuen Gottheiten zu rezipieren, entsprach es doch dem zeitgenössischen Erfahrungshorizont, dass die Gottheit der eigenen Stadt nur eine unter vielen war. Gleichwohl besaß jede Familie im Bereich des Haushalts einen Schutzgott, der im spezifischen Kult besondere Verehrung fand. Die Verbreitung der dem Schicksal gegenüber gleichgültigen Gottheiten erleichterte ihre Aufnahme in die Kultschreine der Familien (lararium), was Bronzestatuetten der Isis oder Magna Mater bezeugen, die in Hausanlagen gefunden wurden. 33 Diese Praxis fassen wir heute im Terminus „Henotheismus“: Zur Wiederholung: das bedeutet nicht die Ausschließung der übrigen Götter, sondern lediglich die persönliche Präferenz für eine bestimmte Gottheit, der besondere Qualitäten aus welchen Gründen auch immer zugeschrieben werden. Das ursprüngliche Schöpfungspotential (potencia demiurgica), das sie über die Reihe der übrigen erhob wie in den Fällen der Magna Mater oder des Mithras; das Vermögen alle numinosen und göttlichen Kräfte zu integrieren, wie es in dem Epithet Myrionyma zum Ausdruck kommt; die Erlösungskraft, die den Gläubigen endgültig in die Obhut dieser Gottheiten führen, wie die Julian ebenso die lanx von Parabiago für die Magna Mater oder Apuleius für Isis belegen. Wie ich schon erwähnte, bedeutet dies nicht die Ausschließung der restlichen Götter, sondern eine persönliche Neigung zu der Gottheit, die man aus verschiedenen Gründen als am angemessensten hielt. Das heißt entweder wegen seiner originalen demiurgischen Potenz, die sie über die restlichen Wesen erhebt, wie zum Beispiel Magna Mater 34 oder Mitra, wegen der Fähigkeit, alle numinicas und göttliche Kräfte zu integrieren, wie man durch dem Beinamen Myrionyma 35 äu32 J. ALVAR: Los misterios en la construcción de un marco ideológico para el Imperio, in: F. Marco – F. Pina – J. Remesal (Hg.), Religión y propaganda política en el mundo romano, Barcelona 2002, 71–81. 33 Zur Bedeutung der Idee reichen die vielen Beispiele von Pompejanischen Altären im Kapitel 3 von J. P. DESCOEUDRES: Pompei Revisited. The Life and Death of a Roman Rown, Sydney 1994; für die iberische Halbinsel gilt J. ALVAR – E. MUÑIZ: Cultes égyptiens en Hispanie, 89. 34 Magna Mater demiurg: „Die Mutter der Götter ist die Göttin die das Leben erschuf (tsogonos) , daher nennt man sie Mutter; andererseits Atis [ist] der Handwerker (demiourgos) von dem was man erschafft und von dem was man vernichtet, daher die Erzählung seines Fundes neben dem Fluss Galo, denn der Galo vertritt die Milchstraße.“: Sobre los dioses y el mundo, IV, 8: cf. Juliano Or. V, 165 b–c y 166 a–b. 35 L. BRICAULT: Myrionymi. Les éplicléses grecques et latines d’Isis, de Sarapis et d’Anubis, Stuttgart-Leipzig 1996. Dieser Beiname ist eine Ansicht des Isis-Kult Henotheismus, die man in den Verwünschungstexten schätzt, siehe E. MUÑIZ: Himnos a Isis, Madrid 2006; H. KOCKELMANN, Praising the goddess. A comparative and annotated re-edition of six demotic hymns and praises addressed to Isis, Berlin – N. York 2008. Als Beispiel Himnos de Isidoro (I, 25–26, SEG VIII, 548–551: „Meine Dame, ich werde nicht aufhören, deine Macht zu singen, unsterbliche Retterin, die mit den vielen Namen, die mächtigste Isis.“) oder die Aretalogie von Kyrene SEG IX, 192= Totti nº 4= RICIS 701/0103: „Der guten Fortuna. Geheiligt
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ßerte, oder wegen seiner soterischen Kraft, die den Gläubigen zu dem endgültigen Gebiet der Götter führte, wie Juliano 36 und die Lanx von Parabiago 37 für Magna Mater oder Apuleyo für Isis 38 bezeugen. 5 FAZIT Die orientalischen Götter, deren Einführung von Exklusion, Repression und Marginalisierung begleitet wurde, passten sich an und verwandelten sich in nützliche Instrumente der politischen Macht. Diese handelten aus dem Kalkül heraus auch die Völker zu integrieren, die durch das herkömmliche System des öffentlichen Euergetismus nicht mehr erreicht werden konnten. Entsprechend boten die orientalischen Götter ein geeignetes religiöses Modell für ihre umfassende Wiedereingliederung. In diesem Sinne wirkten nicht alle Götter, die ihre Wurzeln in den orientalischen Grenzgebieten des Imperium Romanum hatten, auf die gleiche Weise oder Intensität. Die spezifischen Mechanismen ihrer Verbreitung und sozialen Akzeptanz belegen ihre Bedeutung für die Erfolge der Herrschaftsträger. Äußerst anschaulich das Beispiel der Provinz Dacia, wo eine vollkommene Abhängigkeit des Mithras, der Isis oder Magna Mater mit den Bestimmungen der römischen Administration nachgewiesen werden kann, während andere orientalische Gottheiten ausschließlich durch die Aktivitäten der Menschen geprägt bleiben, die aus dem Kulturkreis des Orients ihre lokalen Götter verlagerten. Die Neuerungen im Bereich des Religiösen begünstigten die Auswahl neuer Götter, die Antworten für aufkeimende Sorgen zur Verfügung stellten. Ihre Ausweitung im gesamten Kaiserreich führte zur Herausbildung spezifischer Varianten für Isis und Serapis durch den neocoro Agatodemo. Ich, Isis, einzige Königin der Zeit, des Meeres und der Erde, bewache ich die Grenzen, mit dem Zepter in der Hand und als Einzige (Gottheit). Alle nennen mich allerhöchste Göttin, die größte zwischen den Göttern des Himmels.“ 36 „Tras este símbolo en que el rey Atis detiene el infinito mediante una mutilación, los dioses nos ordenan mutilar también en nosotros mismos el infinito y, separándonos de ello, ascender hacia lo limitado y uniforme y, si es posible, hacia el propio Uno; tras lo cual, en todo caso, deben seguir la Hilarias“.(Or. V, 169c). Ebenso: „Pero cuando detiene su progreso hacia el infinito y ordena lo desordenado por medio de la simpatía que le lleva al círculo equinoccial, donde el gran Helios gobierna la medida última de su limitado movimiento, la diosa, contenta, lo atrae hacia sí, mejor dicho, lo retiene junto a sí“ (Or. V, 171 c: J. García Blanco, BCG, 1981). 37 J. ALVAR: Romanising Oriental Gods, 139–140. 38 „Tu vida será feliz y gloriosa bajo mi amparo, y cuando, llegando al término de tu existencia, bajes a los infiernos, también allí, en el hemisferio subterráneo, como me estás viendo ahora, volverás a verme brillante entre las tinieblas del Aqueronte y soberana en las profundas moradas del Estigio; y tú, aposentado ya en los Campos Elisios, serás asiduo devoto de mi divinidad protectora. Y si tu escrupulosa obediencia, tus piadosos servicios y tu castidad inviolable te hacen digno de mi divina protección, verás también que sólo yo tengo atribuciones para prolongar tu vida más allá de los límites fijados por tu destino ( fato tuo)“ (Trad. L. RUBIO, BCH, Madrid 1983).
Henotheismus und Essentialismus in den Kulten der orientalischen Götter
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der jeweiligen Kulte. Gleichwohl blieb die Essenz der Kulte festgefügt dank der Verbreitung der Inhalte, vermittelt in den heiligen Schriften nebst einer homogenen Ikonographie und – ebenso unentbehrlich – dank einer wirksamen rituellen Lehre, wie sie uns in literarischen Texten sowie faszinierenden kultischen Räumen – wie im Falle von Panóias in Portugal – entgegentreten. Die kultische Essenz prägt das religiöse Denken der Gläubigen, die den Primat des eigenen Gottes gegenüber den Übrigen postulieren. Während sich die Riten mit Hilfe einer tiefen mystischen Erfahrung, wie sie der Initiationsprozess darstellt, einfügen, scheint die Festigung des Glaubens an die Überlegenheit jener Gottheit, von der man auserwählt wurde, unverzichtbar. 39 Dies intensiviert sich in dem Bewusstsein der Zugehörigkeit zu einer exklusiven, sich verkleinernden Gruppe. Sie beanspruchte von ihren Mitgliedern Geheimhaltung des aus der einzelnen religiösen Erfahrung erworbenen Wissens. Dies sind die wesentlichen Bestandteile, die den religiösen Essentialismus stabilisieren und den Henotheismus als Überzeugung prägen. Nichts davon erlaubt die Annahme monotheistischer Tendenzen, ein Glaubenskonzept, das der griechischrömischen Religion vollkommen fremd ist. De facto impliziert die Christianisierung des Mittelmeerraums gleichzeitig die Paganisierung dieses Glaubens: Dessen göttlicher Raum wird von übernatürlichen Wesen, Engeln, Dämonen und Heiligen erobert, die einer breiten sozialen Mehrheit als Ausflucht dienen, aufgrund ihrer Unfähigkeit sich eine nur von einem einzigen Gott bewohnte übernatürliche Welt vorzustellen.
39 A. J. M. WEDDERBURN: The Soteriology of the Mysteries and Pauline Baptismal Theology, Novum Testamentum 29. 1 (1987), 53–72; J. ALVAR: Pablo, los ‘misterios’ y la salvación, in: E. Muñiz (Hg.), Himnos a Isis, Córdoba 2006, 331–357.
GAB ES EINE RELIGIÖSE GRUNDÜBERZEUGUNG? Peter Herz, Regensburg Ich möchte für meinen Beitrag eine Doppelstrategie wählen. Dabei werde ich zwar den aktuell politisch sehr aufgeladenen Begriff ‚Fundamentalismus’ als terminologischen Ausgangspunkt meiner Überlegungen nehmen, ihn aber gleichzeitig etwas entschärfen und umorientieren, indem ich mich bemühe, die zu offensichtlichen tagespolitischen Bezüge weitestgehend zu ignorieren. Fundamentalismus bedeutet in meiner Vorstellungswelt vor allem die Reduzierung von durchaus komplizierten theologischen Gedankenkonstruktionen auf sehr einfache, fast holzschnittartige Wahrheiten, die dann dank der Schlichtheit ihrer Gedankenführung auch für etwas naivere Gemüter einsichtig sind. Um mich beim Nachdenken etwas inspirieren zu lassen, habe ich bei meiner Vorbereitung unter anderem zu zwei sehr materialreichen Werken gegriffen, die üblicherweise nicht zum Handwerkszeug eines Altertumswissenschaftlers gehören. Dennoch haben sie mir geholfen, den sehr intellektuellen oder kopfbestimmten Zugang eines Wissenschaftlers zu einer solchen Fragestellung zu vermeiden und auf eine Denkebene zu gelangen, die einem solchen Problem angemessener ist. Bei den beiden Werken handelt es sich um das große Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens 1 und das Märchenlexikon. 2 Vor allem das zweite Werk entpuppte sich als wahre Fundgrube für Anregungen, da es Märchenmotive aus den unterschiedlichsten kulturellen Traditionen miteinander verglich. Damit konnte ich auch etwas der methodischen Gefahr entgehen, die auf Leute lauert, die zu sehr in der europäisch-christlichen Geistestradition verhaftet sind. Ein sicherlich fundamentales Grundgefühl, aus dem sich religiöse Überzeugungen entwickelten, war gewiss die menschliche Angst oder, um es etwas anders zu formulieren, das tiefsitzende Gefühl einer permanenten Unsicherheit oder Bedrohtheit, das dumpfe Wissen, daß man als Mensch höchst schwach war und daher machtlos den irrationalen und unverständlichen Einwirkungen unbekannter und schon aus diesem Grunde gefährlicher Mächte ausgeliefert war. 3
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Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens I–X, Berlin – Leipzig 1927–1942 (ND Berlin 1987) = HdA. W. SCHERF: Das Märchenlexikon I.II, München 1995 (ND 2007). Zur Angst als religiösem Motiv vgl. P. DINZELBACHER, in: Metzler Lexikon Religion 1, Stuttgart 1999, 58–61 s.v. Angst/Schrecken.
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1. RELIGIÖSE PLÄTZE UND GRENZEN Ein typischer Ort, an dem der Mensch auf solche unbekannten Mächte treffen konnte, waren Weggabelungen oder -kreuzungen, die sogenannten Drei- oder Vierwege. 4 Je nach dem kulturellen Umfeld stellte man sich die dort wirkenden und zunächst völlig gestaltlosen Mächte in unterschiedlicher Form vor. Im germanisch-keltischen Bereich wurden in römischer Zeit die dort herrschenden Kräfte als Gruppen von weiblichen Gottheiten, die Triviae et Quadriviae, personalisiert. 5 Im italischen Raum wurde die regionale Variante dieses religiösen Glaubens hingegen durch die Lares viales oder Lares compitales repräsentiert, die für uns in der Regel bestenfalls in der Variante der kaiserzeitlichen Lares Augusti und damit des Herrscherkultes interessant sind. 6 Auch im deutschen Märchen wird das Wissen, daß sich genau an diesen Stellen unheimliche und für den Menschen gefahrbringende Mächte manifestieren konnten, noch sehr deutlich. Denn am Dreiweg begegnet der einsame Wanderer regelmäßig dem Teufel oder zumindest einem unheimlichen Fremden, der versucht, einen ahnungslosen Zeitgenossen zu für ihn gefährlichen Dingen zu verführen. Doch auch in der gehobenen Literatur der Antike ist dieses Wissen nicht unbedingt untergegangen, denn genau an einer solchen Stelle mußte sich zum Beispiel der Sage nach der Heros Herakles zwischen Tugend und Wohlleben entscheiden. 7 Gewisse Hinweise auf die vorchristlichen Vorstellungen, die an einem solchen Ort ansetzten, werden später in einem christlich-mittelalterlichen Kontext faßbar, wenn Bischof Burchard von Worms rügt (Dekr. 19 S. 193 C): observasti calendas januarias ritu paganorum, ut .. in bivio sedisti supra taurinam cutem, ut et ibi futura tibi intelligeres. „Du hast nach dem Ritus der Heiden die Kalenden des Januar befolgt, indem du an einer Weggabelung auf einem Stierfell gesessen hast, um dort für dich die Zukunft zu verstehen “. 8 Hier haben wir sogar eine zweifache Entscheidungssituation, da sowohl der Wechsel des Jahres als auch der Wechsel der Wegrichtung ansteht. 9
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HdA V, 1933, 516–529 s.v. Kreuzweg. Zuletzt zu den Matronen: W. SPICKERMANN: Germania inferior. Religionsgeschichte des römischen Germanien II, Tübingen 2008, 189–194. Dazu zuletzt J. LOTT: The neighborhoods of Augustan Rome, Cambridge 2004. Diese auf den Sophisten Prodikos zurückgehende Geschichte findet sich bei Xen. Mem. 2,21 tradiert. Vgl. R. WINTON: Herodotus, Thucydides and the sophists, in: Ch. Rowe – M. Schofield (Hg.), Greek and Roman political thought, Cambridge 2000, 89–121, bes. 90 f. HdA II, 1927, 1322–1327, bes. 1323 s.v. Fell II. Für die von den Christen heftig bekämpften Riten der Januarkalenden vgl. u.a. D. BAUDY: Strenarum commercium. Über Geschenke und Glückwünsche zum römischen Neujahrsfest, RhM 130 (1987), 1–28. M. R. SALZMANN: On Roman Time. The codex-calender of 354 and the rhythms of urban life in late antiquity, Berkeley, Los Angeles 1990, 240 f. mit Hinweis aus M. MESNIL: La fête des kalends de janvier dans l'Empire romain. Etude d'un rituel de nouvel an, Brussels 1970.
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Ein weiterer Bereich mit gesteigerter religiöser Bedeutung wird von der Schwelle und der Tür eines Hauses repräsentiert.10 Hier findet sich ein erster Übergang zwischen dem engsten umschlossenen und damit auch geschützten Raum, in den sich die von Gefahren bedrohte menschliche Existenz zurückziehen konnte. Die sich hier manifestierende Grenzziehung zwischen Drinnen und Draußen finden wir in der religiösen Vorstellungswelt der Römer in mehreren Varianten, die von Zentrum des römischen Lebens ihren Ausgang nehmen. Die erste relevante Grenze nach dem eigentlichen Haus wird durch das pomerium gestellt, wo sich die rituelle Grenze zwischen den nicht nur staatsrechtlich relevanten Bereichen ‚domi’ und ‚militiae’ manifestiert. 11 Die nächste relevante Grenzlinie wäre dann die Linie zwischen dem ager Romanus und dem ager peregrinus. 12 Dabei ist zu beachten, daß die Trennungslinie zwischen den Bereichen ‚domi’ et ‚militiae’ nicht nur für das römische Staatsgebiet insgesamt, sondern im Prinzip für jede nach römischem Recht konstituierte Gemeinde gültig war.13 Diese Trennung zwischen den beiden Sphären wird z.B. deutlich, wenn man die Positionierung der jeweiligen Gräberfelder beachtet. Aufschlußreich für die Situation in der alten Stadt Rom ist dabei eine Gruppe von Feierlichkeiten, die man unter dem Titel ‚Rituelle Abwehr von Gefahren an den Grenzen des ager Romanus’ zusammenfassen könnte. Die Entstehungszeit dieser Feierlichkeiten führt uns in eine sehr frühe Phase der römischen Geschichte zurück, also eine Zeit, in der die Stadtgemeinde der Römer nur über ein räumlich sehr eingeschränktes Territorium herrschte. 14 1. Fest der Ambarvalia gegen Ende Mai, zu dem Strabon ausführt: „jedenfalls gibt es zwischen dem fünften und sechsten der Steine, die die Meilen von Rom angeben, einen Ort, der Festi genannt wird: den erklärte man für die Grenze des damaligen Landes der Römer, und dort, sowie an mehreren anderen als Grenze betrachteten Orten, halten die Priester (ίερομνήμονες) an ein und demselben Tag ein Opferfest ab, das man Ambarvia nennt“. 15
10 Zu den vielen Tabus, die mit der Schwelle eines Hauses oder Tempels verbunden sein können, vgl. HdA VII, 1936, 1509–1543 s.v. Schwelle; O. HAID: Tür und Türschwelle, RGA2 31 (2006), 316–323 mit weiterführender Literatur. 11 J. RÜPKE: Die Religion der Römer. Eine Einführung, München 2001, 179 f. 12 In diesem Fall lassen sich aus den Nachrichten zur Rolle der fetiales einige Informationen zur religiösen Bedeutung der Grenzlinie gewinnen. Vgl. u.a. A. WATSON: International law in archaic Rome. War and religion, Baltimore 1993. 13 Deutlich wird dies bei der formalen Begründung einer colonia, wenn der dazu bestimmte conditor mit einem Pflug die künftigen Grenzen der städtischen Siedlung festlegte. 14 Nach A. ALFÖLDI: Das frühe Rom und die Latiner, Darmstadt 1977, 263–269 u. 515–520 (Anmerkungen). 15 Strab. 5,3,2 [230]. Die globale Übersetzung ‚Priester’, die von RADT in seiner StrabonAusgabe geboten wird, unterschlägt dabei, daß es sich bei den ᾿ίερομνήμονες᾿ um die pontifices handelt.
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Demnach brachten die pontifices an einer Stelle zwischen dem 5. und 6. Meilenstein – dies ist vom Forum Romanum aus gerechnet – ein nicht genauer spezifiziertes Opfer dar. 16 Da aber an einem einzigen Tag an unterschiedlichen Orten Opfer dargebracht werden konnten, für die man jeweils einen Ortswechsel vornehmen mußte, unterstreicht dies recht unmißverständlich, wie klein damals das Territorium des römischen Staates war. Bei der Prozession, die mit diesen Opfern verbunden war und bei der sich die Priester von einem Opferort zum nächsten bewegten, handelt es sich daher im Prinzip um nichts anderes als eine rituelle Feldumschreitung zum Schutz der Grenzen. 2. Fest für die Dea Dia durch die alte sodalitas der Arvalbrüder (fratres arvales von arva) am 5. Stein der Via Campana. Dabei war dieses Fest mit einer sogenannten lustratio agri verbunden, wobei ager hier die Bedeutung ‚Territorium’ hat. 17 Man darf in diesem Fall auch auf das Wort peregrinus = ‚Fremder’ hinweisen, das jemand bezeichnet, der jenseits oder außerhalb des ager (Romanus) lebt. 3. Fest der Terminalia am 23. Februar, die am 6. Stein der Via Laurentina gefeiert wurden. 18 4. Fest der Fortuna muliebris am 4. Meilenstein der Via Latina, weil dort angeblich tödliche Gefahren für die Stadt abgewehrt worden waren (6. Juli). 19 5. Fest der Robigalia am 5. Meilenstein der Via Claudia in Richtung Fidenae und Veii (25. April). Dabei wurden durch den Priester (flamen) des alten Gottes Quirinus die Götter Mars und Robigus (Getreiderost) angerufen. 20 Mit den beiden Orten Fidenae und Veii werden gleichzeitig zwei Nachbargemeinden angesprochen, die in der frühen Phase der res publica Romana zu den gefährlichsten Gegnern des jungen Staates zählten. 21 16 Wo sich die Opferstätten im einzelnen befanden, ist nicht bekannt. Man kann lediglich durch den Bezug auf die Meilensteine vermuten, daß es sich um Punkte an den jeweiligen Ausfallstraßen der Stadt Rom handelte. Warum gerade die pontifices hier ausdrücklich als Opfernde genannt werden, läßt sich nicht eindeutig klären. Diskussionswürdig scheint die folgende Erklärung. Da der pontifex maximus viele der religiösen Pflichten des alten Königs fortführte, könnte diese Akte der religiösen Grenzsicherung früher zum Aufgabenbereich des alten rex gehört haben. Wir scheinen hier eine alte Konzeption des Königsamtes fassen zu können, in der der Monarch eine physische Verantwortung für die Sicherung seines Gebietes hatte. Vgl. dazu auch S.P MORRIS: The sacrifice of Astyanax. Near eastern contributions to the siege of Troy, in: J. B. Carter – S. P. Morris (Hg.), The ages of Homer. A tribute to Emily Townsend Vermeule, Austin/Texas 1995, 221–245, bes. 234ff. mit dem Opfer von Familienmitgliedern durch einen König. 17 Lustratio betont die Entsühnung des ager Romanus, wodurch die vorhandene kultische Verunreinigung beseitigt wurde. Vgl. ALFÖLDI, Frühes Rom, 265f. Vgl. auch J. RÜPKE: Domi militiae. Die religiöse Konstruktion des Krieges in Rom, Stuttgart 1990. 18 InsIt XIII,2 p. 414–415 mit den antiken Quellen. 19 InsIt XIII,2 p. 479 mit den antiken Quellen. Vgl. auch G. WISSOWA: Religion und Kultus der Römer, München 1912 (ND München 1971), 258. 20 InsIt XIII,2 p. 448–449, wobei die Nähe zu den Feierlichkeiten der Vinalia (23. April) und der Floralia (28. April – 3. Mai) zu beachten wäre.
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Es geht hier zwar vordergründig vor allem um den Schutz des Ackerlandes vor Gefahren, wobei hier zwar der Getreiderost genannt, aber wohl in Wirklichkeit der Feind von jenseits der Grenzen und seine für die Römer schädlichen Handlungen gemeint sind. Das Fest der Robigalia ist einer der wenigen Fälle, in denen wir von kultischen Aktivitäten des flamen Quirinalis wissen, was ebenfalls für das hohe Alter dieser Zeremonie zu sprechen scheint. Dabei könnte man den Getreiderost eventuell allgemein als Schädigung der Feldfrucht verstehen, die durch magische Praktiken hervorgerufen werden konnte. 22 Welche religiöse Konzeption steht aber hinter solchen Opfern und den damit verknüpften Kulthandlungen? Wir verstehen unter dem Begriff der Bedrohung vor allem die physische Bedrohung, also vor allem eine Bedrohung mit Waffengewalt, vergessen dabei aber, daß es auch eine Bedrohung durch religiöse oder magische Praktiken geben konnte. In den Zwölftafelgesetzen ist eine solche Vorstellung noch sehr real, denn dort heißt es: [...] non et legum ipsarum in XII tabulis verba sunt ‚qui fruges excantass{e}t’ et alibi ‚qui malum carmen incantassit’? „Stehen auf den Zwölf Tafeln nicht auch die Worte eben der Bestimmungen ‚Wer Feldfrüchte mit Zaubergesang (aus dem Acker) herausgehext hat’ und an anderer Stelle ‚Wer (auf jemand) ein böses Lied abgesungen hat, um ihn zu verhexen [...]?’“ 23
Man könnte also fast sagen, daß die priesterlichen Vertreter des römischen Staates bedrohlichen Manipulationen durch die Anwendung eigener Beschwörungen entgegentreten wollten. Auch die moderne Zeit kennt durchaus vergleichbare Formen der Grenzsicherung, die heute allerdings am ehesten folkloristische Züge aufweisen. 24 Dazu kann man eine ganze Serie von sogenannten Feld- oder Gemarkungsbegehungen rechnen, bei denen man die Grenzen der Gemeinde abschreitet und bei wichtigen Punkten der Grenze (Bäume, große Steine, Wegkreuzungen) verharrt, um gewissermaßen deren genauen Verlauf zu memorieren. In einigen Gemeinden wurde dies auch noch in den Formen einer Prozession durchgeführt, also in einer Form, die den ursprünglich religiösen Charakter eines solchen Aktes noch in Ansätzen erkennen läßt. Es handelt sich um eine ganze Gruppe von Kulthandlungen, um den eigenen umfriedeten Lebensraum vor dem Eindringen fremder und daher a priori feindli21 Zu diesem Teil der römischen Geschichte T. J. CORNELL: The beginnings of Rome. Italy and Rome from the Bronze Age to the Punic Wars (c. 1000 – 264 B.C.), London 1995, 251f. für die auspicia. 22 Für den Bereich Magie und Landwirtschaft vgl. auch A. MASTROCINQUE: Magia agraria nell'impero cristiano, Mediterraneo antico 7,2 (2004), 795–836. 23 Vgl. D. FLACH: Das Zwölftafelgesetz, herausgegeben, übersetzt und kommentiert in Zusammenarbeit mit A. Flach, Darmstadt 2004, 126 zu einem bei Plin. n.h. 28,17–18 überlieferten Fragment. Das ‚cantare’ dürfte wenig mit einem heutigen ‚singen’ zu schaffen haben, sondern beschreibt wohl eher die rhythmische und versgebundene Sprache eines solchen Zauberspruches. 24 HdA III, 1927, 1137–1157 s.v. Grenze, Rain, Grenzstein.
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cher Mächte zu schützen. In dieselbe Richtung scheinen auch die bekannten Handlungen der archaischen sodalitates der salii zu zielen, die meines Erachtens den abwehrenden Charakter dieser Handlungen unterstreichen: 25 Equirria (27. Februar). 26 Natalis Martis (1. März). Gesichert ist die Teilnahme der salii durch Ov. fast. 3,259f. (quis mihi nunc dicet, quare caelestia Martis/ arma ferant Salii Mamuriumque canant?) sowie Lyd. mens. 3,22 (πρώτη τοῦ Μαρτὶου μένος, καθ᾿ ἤνκαί τὰ ὄπλα ἔτι καὶ νῦν ᾿Ρωμαίοις ἔθος κινεῖν[...]) 9. März: Ein etwas unsicherer Termin, da er nur durch eine späte Notiz bei Philocalus (Arm, ancilia movent(ur)) gesichert ist. 27 Equirria (14. März) Teilnahme der salii gesichert durch Varro l.L. 6,49; Fest. Epit. 117 L.; Plut. Numa 13,6; Lyd. mens. 4,49. Quinquatrus (19. März) Gesichert neben der Notiz in den Fasti Praenestini (Ins.It. XIII,2 p. 123: [Sali] faciunt in comitio saltu [adstantibus po]ntificibus et trib(unis) celer(um) auch durch Lyd. mens. 4,55 (ἧν τοὺς Σαλίους άποπίθεσθαι τὰ διοπετῆ ὄπλα ἄτινα ὰκάλουν άγκίλια). Tubilustrium (23. März) Lyd. mens. 4,60 (...κίνησις τῶν ὅπλων). 28 Armilustrium (19. Oktober) Lyd. mens. 4,141 (...εἰργούσης τὴν κίνησιν τῶν ὅπλων ἐπὶ τῷ τοῦ ῎ Αρεος πεδίῳ.). 29
Sogar der inschriftlich überlieferte archaische Text des Arvalliedes könnte durchaus in diese Kategorie der abwehrenden Kulthandlungen eingeordnet werden. 30 Dabei ordnet die Positionierung des Haines der Arvalbrüder an der Via Ostiensis diese Zeremonie durchaus in die Gruppe der Grenzschutzhandlungen ein. CFA 100 Z. 30 ff. (J. 218): 30 [...] deinde subsellis marmoreis consed(erunt) et panes laureat(os) per public(os) partiti sunt; ibi omnes l[omenta] 31 cum rapinis acceperunt et deas unguentaverunt, et aedes clusa e(st); omnes foras exierunt. Ibi sacerdotes 25 Zu den salii vgl. DNP 10, 2001, 1249–1251 s.v. Salii 2. Vgl. auch E. HEINZEL: Über den Urspung der Salier, in: F. Blakolmer – K. R. Krierer u.a. (Hg.), Fremde Zeiten. Festschrift für Jürgen Borchhardt zum 60. Geburtstag am 25. Februar 1996, Wien – Köln 1996, Band II, 197–212. 26 InsIt XIII,2 p. 416–417. 27 InsIt XIII,2 p. 243. 28 InsIt XIII,2 p. 429–430. 29 InsIt XIII,2 p. 523–524 mit den antiken Quellen. 30 J. SCHEID: Recherches archéologique à la Magliana. Commentarii fratrum arvalium qui supersunt. Les copies épigraphiques des protocolles annuels de la confrérie arvale (21 av. J.-C. – 304 ap. J.-C.), Paris 1998, 295f. = CFA 100 a 32–38.
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32 clusi, succincti, libellis acceptis, carmen descindentes tripodaverunt in verba haec: “Enos Lases iuvate, 33 [e]nos Lases iuvate, enos Lases iuvate! Neve lue rue Marma sins in currere (!) in pleores, neve lue rue Marmar 34 [si]ns in currere in pleores, neve lue rue Marmar sins incurrere in pleores! Satur fu, fere Mars! Limen 35 [sa]l[i], sta berber! Satur fu, fere Mars! Limen sali, sta berber! Satur fu, fere Mars! Limen sali, sta berber! 36 [Sem]unis alternei advocapit conctos, semunis alternei advocapit conctos, semunis alternei advocapit 37 [cunct]os! Enos Marmor iuvato, enos Marmor iuvato, enos Mamor iuvato! Triumpe, triumpe, trium38 [pe, tri]umpe!“ Post tripodationem deinde signo dato publici introier(unt) et libellos receperunt.
Eine Reihe von Fragen drängt sich bei diesem Text auf. Warum zum Beispiel mußten die Staatssklaven (servi) publici, die für die sodalitas tätig waren, während der Zeremonie den offensichtlich abgeschlossenen Raum (et aedes clusa e(st) und clusi, succincti [...]), in dem das Lied vorgetragen wurde, verlassen? Hätte ihre Anwesenheit möglicherweise die beschwörende Wirkung des carmen arvale beeinträchtigen können? Man hat sich wohl viel zu oft durch die Betonung des Wortes ‚carmen’ verleiten lassen, den hier wahrscheinlich anzunehmenden beschwörenden Charakter dieser Zeremonie zu mißachten, der meines Erachtens auch durch die dreifache, also affirmative, Wiederholung der entscheidenden Passagen angedeutet wird. 31 Auch die Art der Darbietung, die mit einem feierlichen Tanz im Dreischritt (tripodatio) verbunden war, kann durchaus als Form des kultischen Tanzes interpretiert werden. 32 Bisher haben wir die Grenze gewissermaßen eindimensional als Linie im Gelände gesehen. Doch im römischen Verständnis konnten auch Stadtmauern in ih31 R. MEHRLEIN: RAC IV (1959), 269–310 s.v. ‚Drei’ bietet eine Fülle an Material zur religiösen Bedeutung der Zahl Drei. Unter dem Stichwort der „lustralen Kulthandlungen“ erwähnt MEHRLEIN 285f., daß die drei Opfertiere dreimal um die zu entsühnende Bürgerschaft bzw. Feldmark herumgeführt wurden. Vgl. auch E. F. KNUCHEL: Die Umwandlung in Kult, Magie und Rechtsbrauch (= Schriften der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde 15), 1919. E. TAVENNER: Three as a magic number in Latin literature, TAPhA 47 (1916), 117–143. 32 Zu kultischen Tänzen vgl. R. NEDOMA: RGA2 30 (2005), 285–289 s.v. Tanz. Liv. 1,20,4 erwähnt auch für die salii das tripudium. Vgl. auch NEDOMA 286: „Deutlich andere Funktion hat das mit Waffengetöse verbundene tripudium der Bataver und ihrer Verbündeten unmittelbar vor Kampfbeginn (ita illis mos Tac. hist. V,17,3; vgl. Plut. Mar. 19,4 über die Ambronen a. 102 v.Chr.).“ Es scheint, daß das tripudium fast als Sammelbezeichnung für eine größere Gruppe an Waffentänzen angesehen werden kann. Vgl. auch M. P. SPEIDEL: Ancient Germanic Warriors. Warrior styles from Trajan's column to Icelandic sagas, London 2004.
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rer Funktion als religiöse Grenze verstanden werden. Für eine solche Vermutung sprechen unter anderem die Institutionen des Gaius (2,8): Sanctae quoque res, velut muri et portae, quoddammodo divini iuris sunt = „Auch die unverletzlichen Sachen, wie zum Beispiel Mauern und Tore, fallen in gewisser Weise unter das göttliche Recht“. 33 Aus dem christlichen Kontext möchte ich nur zwei Beispiele nennen, die sich aber unschwer vermehren ließen. Als im Jahre 626 die Awaren die Stadt Konstantinopel belagerten, während gleichzeitig Kaiser Heraklios im Osten des Reiches gegen die Sassaniden kämpfen mußte, schien eine Situation gekommen, in der die Einnahme der Stadt durch die Feinde fast unvermeidbar schien. 34 Anschließend schrieb man die wundersame Rettung der Hauptstadt aus dieser Gefahr dem Wirken der ‚panhagia theotokos’ zu. Deren wunderwirkende Ikone, in der sie sich greifbar für die Gläubigen manifestierte, war während der Belagerung in einer feierlichen Prozession auf den Mauern der belagerten Stadt herumgetragen worden. 35 Auch das Beispiel des heiligen Bischofs Jakob von Nisibis ist von Interesse. Nachdem er bei der Verteidigung seiner Bischofsstadt Nisibis gegen den Angriff des Großkönigs Shapur II. durch seine Präsenz Wunder bewirkt hatte, 36 die zur Abwehr der Angreifer führten, wurde er nach seinem Tode durch sein Grab in der Bischofskirche in der Vorstellung der Nisibener zum physischen Garanten ihrer Sicherheit. Als später im Jahre 363 Kaiser Iovianus die Stadt kampflos an die Perser übergeben mußte, wurde dies in der Darstellung des Gennadius (Liber de scriptoribus ecclesiasticis I = PL 58.1059) unter anderem durch die Entfernung seiner sterblichen Überreste, man könnte auch sagen, seiner Reliquien, aus der Stadt, die von Iulianus Apostata angeordnet worden war, erklärt. 37 2. DAS BERÜHREN ANDERER MENSCHEN Die bekannte und zugleich amüsante Episode des Zusammentreffens von Valeria, der Tochter des Valerius Mesalla, und Cornelius Sulla ist geeignet, die Ambivalenz dieser Vorstellungen etwas zu verdeutlichen. 38 Nach dieser von Plutarch tra33 Gaius, Institutiones. Die Institutionen des Gaius, herausgegeben, übersetzt und kommentiert von U.Manthe, Darmstadt 2004, 115. 34 W. E. KAEGI: Heraclius, emperor of Byzantium, Cambridge 2003, 136–139. 35 Zu dieser Episode und ihrer Deutung vgl. ebenso J. HOWARD-JOHNSTON: The siege of Constantinople in 626, in: C. Mango – G. Dagron (Hg.), Constantinople and its hinterland, Aldershot 1995, 131–142, bes. 141 nach Theodoros Synkellos 308, 29–40 zur Rolle der Maria von Blachernae = East Rome, Sasanian Persia and the end of antiquity. Historiographical and historical studies, Aldershot 2006. 36 Theod. h.e. 2,30,8 ff. 37 M. H. DODGEON – S. N. C.LIEU (Hg.), The Roman Eastern Frontier and the Persian Wars AD 226–363. A documentary history, London – New York 1991, 171. 38 Plut. Sull. 35,4.
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dierten Episode wollte die junge Frau unbedingt den dictator Sulla kennenlernen. Sie näherte sich ihm daher während eines Theaterbesuchs und zupfte dabei, als sie hinter ihm vorbeiging, etwas Wolle vom Gewand des Sulla. Als er sie deswegen ansprach, erklärte sie ihm, sie wolle auf diesem Wege etwa Anteil an seinem Glück gewinnen: „Οὐδέν“, ἔφη, „δεινόν, αὐτόκρατορ, ἀλλὰ βούλομαι τῆς ῆς μικρὸν εὐτυχίας μεταλαβεῖν.“ 39 „Es ist nichts von Bedeutung, imperator, aber auch ich möchte etwas an deiner Glückhaftigkeit teilhaben.“
Ob ‚Imperator’ die korrekte Anrede für den dictator Sulla war, ist alles andere als sicher. Dabei muß man allerdings so gerecht sein und zugestehen, daß Plutarch nicht unbedingt ein Spezialist für römisches Verfassungsrecht war und diese Episode auch nicht exakt datierbar ist, denn wir können lediglich davon ausgehen, daß Sullas bisherige Ehefrau Caecilia Metella zu diesem Zeitpunkt verstorben war. Da es für Valeria bereits die zweite Ehe war, können wir auch davon ausgehen, daß sie kein kleines Mädchen mehr war. 40 Natürlich könnte man jetzt sagen, dies war eine sehr primitive Methode, einen fremden Mann kennenzulernen, und so interpretiert es offensichtlich auch unser Gewährsmann Plutarch, der sich in seiner moralischen Entrüstung über das ungehörige Verhalten, das Valeria in der Öffentlichkeit zeigte, nur schwer zurückhalten kann. Plutarch muß zwar anschließend eingestehen, daß Valeria Messalina später, das heißt als sie die Ehefrau Sullas geworden war, eine durchaus sittsame und vornehme Frau war ([...] τὰ μάλιστα σώφρονα καὶ γενναίαν […]), doch er kann trotzdem mit Bezug auf das Verhalten Sullas nicht den folgenden Kommentar unterdrücken „[...] doch der Anfang des Verhältnisses war weder fein noch vernünftig, da er sich wie ein Knabe durch Augenspiel und Koketterie einfangen ließ, wodurch oft die schimpflichsten und ungehemmtesten Leidenschaften erregt werden.“ Doch wenn wir uns unreflektiert einer solchen Bewertung anschließen würden, würden wir eine wichtige religiöse Dimension dieses Verhaltens unterschlagen. Denn der Glaube, durch einen unmittelbaren, das heißt körperlichen, Kontakt eine intimere Beziehung zu einer anderen Person herstellen zu können oder, wie in diesem Fall, sogar an der Fülle ihres persönlichen Glückes (εὐτυχία, felicitas) partizipieren zu können, scheint ebenfalls zum religiösen Grundwissen der Menschen zu gehören und dies nicht nur in unserer eigenen religiösen Tradition. Denn was sonst steckt hinter dem Glauben, man könnte durch den Besitz oder auch nur durch das Berühren von bestimmten Gegenständen, die man in einem religiösen Kontext auch als Reliquie bezeichnen könnte, etwas erreichen? Hier
39 Mit dem Begriff εὐτυχία ist eindeutig die lateinische felicitas gemeint, was für die Konzeption diese Begriffs von Interesse sein dürfte. Vgl. E. WISTRAND: Felicitas imperatoria, Göteborg 1987. 40 DNP XII,1 p. 1088 s.v. Valeria 3 datiert die Heirat ins Jahr 80. Vgl. Plut. Sulla 35,5–36,1.
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genügt es völlig, an die aktuelle religiöse Hysterie um die Verehrung des heiligen Pater Pio oder das bekannte Blut von San Gennaro in Neapel zu erinnern. Doch wie sieht es aus, wenn wir den christlichen Kulturkreis verlassen und uns in anderen Religionen umsehen? Ich verfolge immer mit einer gewissen Faszination Fernsehaufzeichnungen aus dem Irak und dem Iran, die zeigen, wie gläubige Schiiten große Wegstrecken bei ihrer Pilgerschaft zu den Grabstätten der großen Imane zurücklegen, nur um dort nach einem Gebet voller Ehrfurcht das Grab etwa Alis oder Husseins berühren zu können. 41 Dieses Verhalten scheint deutlich mehr zu sein als eine stumpfsinnige Wiederholung von religiösen Praktiken, die bereits seit langer Zeit eingeschliffen waren. Denn wir dürfen wohl feststellen, daß solche Traditionen in diesem Kulturkreis immer noch sehr lebendig sind und sich gewissermaßen jederzeit und dann an neuen Objekten erneut manifestieren können. Denn die Formen der religiösen Verehrung, die sich in den letzten noch nicht einmal zwanzig Jahren am Grab des Ajatollah Khomeni in der persischen Stadt Ghom entwickelt haben, unterscheiden sich nicht grundsätzlich von den traditionellen Verehrungsformen, die in Kerbala oder Nadschaf seit Jahrhunderten üblich sind. Dabei maße ich mir nicht an, aus der Distanz entscheiden zu können, was bei der aktuellen Verehrung des Ajatollah Khomeini lediglich politisch gesteuertes Kalkül seiner Anhänger oder wirkliche in der Bevölkerung verankerte religiöse Überzeugung ist. Warum aber berühren die gläubigen Schiiten überhaupt die Grabstätten der toten Imane oder, um es etwas anders zu formulieren, warum streben sie danach, einen möglichst engen Kontakt zu den Überresten dieser verehrten Personen zu erreichen? Es scheint hier ein nicht besonders stark differenziertes Gefühl sichtbar zu werden, durch einen direkten körperlichen Kontakt an der Macht einer anderen Person teilzuhaben, die einen zum Beispiel schützen kann. Mir fällt als das augenfälligste Beispiel das Kleinkind ein, das sich ängstlich an den Körper seiner Mutter oder seines Vaters schmiegt, weil es sich fürchtet. In einer deutlich abgeschwächten, möglicherweise sogar transformierten Form scheinen sich diese Vorstellungen auch noch in unserer Umwelt konserviert zu haben. Denn wie anders können wir das fanatische Bestreben vieler Menschen erklären, den Körper eines großen Sportlers oder Popstars zu berühren oder we-
41 Der Problemkreis der Pilgerschaft hat in den letzten Jahren vermehrt die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. Vgl. u.a. S. COLEMAN – J. ELSNER (Hg.): Pilgrimage. Past and present. Sacred travel and sacred space in the world religions, London 1995. J. ELSNER – I. RUTHERFORD (Hg.): Pilgrimage in Graeco-Roman and early Christian antiquity, Oxford 2005. B. BITTON – A. SHKELONY: Encountering the sacred. The debate on Christian pilgrimage in late antiquity, Berkeley – Los Angeles – London 2005. G. FRANK: The memory of the eyes. Pilgrims to living saints in Christian Late Antiquity, Berkeley – Los Angeles 2000. D. FRANKFURTER (Hg.): Pilgrimage and holy space in late antique Egypt, Leiden – Boston – Köln 1998. Gute Hinweise zum Pilgertum in Teilen der islamischen Welt liefert J. R. OESTERLE: Kalifat und Königtum. Herrschaftsrepräsentation der Fatimiden, Ottonen und frühen Salier an religiösen Hochfesten, Darmstadt 2009, 259ff.
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nigstens einen Gegenstand, den der Verehrte getragen oder auch nur berührt hatte, in seinen Besitz zu bekommen und nach Hause zu entführen? Auch hier behelfen wir uns mit einer meines Erachtens unzulässigen Rationalisierung der Deutung, die viele unterschwellig vorhandene Aspekte eines solchen Verhaltens entweder bis zur Lächerlichkeit herabspielt oder gar zu ignorieren versucht. Nach den gültigen Erklärungsmodellen fehlt fanatischen Sportanhängern in der Regel die notwendige intellektuelle Abgeklärtheit und mit dem Sozialverhalten pubertierender weiblicher Teenager sollen sich gefälligst die Soziologen oder Jugendpsychologen beschäftigen, aber bitte keine ernsthaften Wissenschaftler. Man muß allerdings lediglich dieselben Vorgänge in einen ‚anderen’ sozialen oder religiösen Kontext transferieren, dann verwandeln sich diese offenkundig fast pathologischen Störungen des Sozialverhaltens mit einem Schlag in sehr respektable Manifestationen religiöser Überzeugungen. Denn das vorher so sehr kritisierte Verhalten liegt im Prinzip auf demselben konzeptionellen Niveau wie weitverbreitete religiöse Vorstellungen, die erst unlängst bei der Inthronisierung eines Papstes wieder erkennbar wurden. Denn nach der volkstümlichen Überzeugung macht nicht die erfolgreiche Wahl durch die Kardinäle im Konklave einen Papst wirklich zum Papst, dies wäre ein Vorgang, der sich ganz in unserer modernen Vorstellungswelt (und der Dogmatik) bewegen würde. Sondern der entscheidende Akt wäre das Anlegen seines Palliums, das in der Nacht zuvor auf dem Grab des Apostelfürsten Petrus gelegen hatte, technisch gesehen also im Prinzip derselbe Vorgang wie bei der Schaffung einer Kontaktreliquie. Die Kraft, die den Überresten des in seinem Grab ruhenden Apostel Petrus eigen war, würde durch diesen Akt auf das Pallium des neuen Papstes übertragen und gewissermaßen dessen eigene Macht begründen. 42 Auch die katholische Priesterweihe in successione Petri mit dem Handauflegen kann zwanglos in diese Vorstellungswelt eingeordnet werden. Die an solchen Reliquien haftenden Kräfte konnte man jederzeit durch ihren Transfer an einen anderen Ort verlagern, was sich zum Beispiel an der Übertragung der sterblichen Überreste des mythischen Helden Orestes von Tegea nach Sparta zeigt. 43 In historischer Zeit gab es eine ähnliche Tradition mit Gegenständen, die angeblich aus dem Besitz des großen Alexander stammten. 44 42 Ich danke meinem Kollegen Andreas Merkt für die notwendigen Hintergrundinformationen. 43 B. MCCAULEY: Heroes and power: the politics of bone transferal, in: R. Hägg (Hg.), Ancient Greek hero cult. Proceedings of the Fifth International Seminar on Ancient Greek Cult, Stockholm 1999, 85–98; G. L .HUXLEY: Bones for Orestes, GRBS 20 (1979), 145–148. H. A. SHAPIRO: Cult warfare: the Dioskouroi between Sparta and Athens, in: R. Hägg (Hg.), Ancient Greek hero cult. Proceedings of the Fifth International Seminar on Ancient Greek Cult, Stockholm 1999, 99–107. 44 Besonders sinnträchtig ist der Mantel des großen Makedonen, den Mithradates von Pontus in seinem Besitz hatte (vgl. zu seiner Alexanderanknüpfung C. BOHM: Imitatio Alexandri im Hellenismus. Untersuchungen zum politischen Nachwirken Alexanders des Großen in hochund späthellenistischen Monarchien, München 1989, 153–191) und der möglicherweise später von Pompeius getragen wurde (A. KÜHNEN: Die imitatio Alexandri in der römischen Politik. (1. Jh. v.Chr. – 3. Jh. n.Chr.), Münster 2008, 70. Vgl. auch E. M. ANSON: Eumenes of Cardia. A Greek among Macedonians, Leiden 2004, 150–152 mit weiterem Material.
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An diesem in der Antike niemals ausformulierten, aber dennoch überall greifbaren Glauben von der Wirkungskraft bestimmter Gegenstände hat auch die Durchsetzung des christlichen Glaubens keine grundsätzlichen Änderungen bewirkt. Selbst wenn es die frühen Christen nicht unbedingt wahrhaben wollten und daher dieses energisch abstritten, sie waren in den religiösen Grundüberzeugungen eindeutig Kinder ihrer eigenen Zeit. Deutlich wird dies bei der Hinrichtung des Bischofs Cyprianus von Karthago, bei der die Zuschauer anschließend ihre Tücher in das Blut des Märtyrers tauchten, weil sie sich davon versprachen, damit etwas an seiner unter Beweis gestellten Macht, man könnte auch sagen, an seinem jetzt etablierten besonders engen Kontakt zu Gott, partizipieren zu können. 45 Der großräumige und gezielte Transfer von Reliquien, für den nicht nur das christliche Mittelalter eine Fülle an Material bietet, stellt damit nur eine durchaus konsequente Fortentwicklung dieses Gedankes dar. 46 Doch damit scheinen die Anregungen, die sich aus dieser Episode mit Sulla gewinnen lassen, noch bei weitem nicht erschöpft zu sein. Denn wir haben bisher nur den Aspekt gesehen, daß man durch solche Kontakte für sich etwas Positives gewinnen konnte. Doch es gibt auch eine zweite Seite dieses Problems, ebensogut konnte man sich aber auch durch solche Kontakte selbst schädigen oder verunreinigen. Die häufigste Art einer solchen Verunreinigung war der Kontakt mit dem Tod, wobei es zunächst unerheblich war, ob es sterbende Menschen oder Tiere waren oder die Überreste von bereits verstorbenen Lebewesen. 47 Auch in diesem Fall dürfte Sulla für solche Dinge sehr empfänglich gewesen sein. Denn als seine Ehefrau Caecilia Metella im Sterben lag, schickte er ihr den Scheidebrief zu und ließ sie anschließend aus seinem eigenen Haus in ein anderes Gebäude überführen, wo sie dann schließlich verstarb. Damit hatte er sich vor den Reinigungsritualen schützen wollen, denen er anschließend als augur unterworfen gewesen wäre, weil er in Kontakt mit einer Leiche gekommen war beziehungsweise weil sein Haus durch den Tod eines Familienangehörigen rituell verunreinigt worden war. 48 45 Vgl. W. H. C. FREND: Martyrdom and persecution in the early Church. A study of a conflict from the Maccabees to Donatus, Oxford 1965, 427 nach Acta proconsularia 5. Vgl. auch das Material im HdA I (1927), 1434–1442 s.v. Blut. 46 Zum Reliquienkult in Mittelalter: B. KÖTTING: Der frühchristliche Reliquienkult und die Bestattung im Kirchengebäude, Köln – Opladen 1965. A. LEGNER: Reliquien in Kunst und Kult zwischen Antike und Aufklärung, Darmstadt 1995. 47 Für den griechischen Bereich vgl. R. PARKER: Miasma. Pollution and purification in early Greek religion, Oxford 1983, 32–73 zu ‘birth and death’. Vgl. auch H. W. ATTRIDGE: Pollution, sin, atonement, salvation, in: S.I.Johnston (Hg.), Ancient religions, Cambridge/Mass. – London 2007, 71–83. 48 Plut. Sulla 35,2. Zur Religiosität des Sulla, der sich als besonderer Liebling der Göttin Venus (Epaphroditeios) verstand, vgl. A. KEAVENEY: Sulla. The last Republican, London – Sydney 1982, 83, 95 u.ö., Ders., Sulla and the gods, in: C. Deroux (Hg.), Studies in Latin literature and Roman history III, Bruxelles 1979, 44–79. Diese Einzelheiten gehen möglicherweise auf die zwanzigbändige Autobiographie des Sulla zurück, die postum von seinem Vertrauten und Testamentsvollstrecker Lucullus herausgegeben wurde. A. KEAVENEY: Lucullus. A life, Lon-
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Ein solches Vermeiden von Kontakten mit dem Tod in seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen stellt kein Einzelfall dar, denn auch Augustus und Tiberius verhielten sich ähnlich. Dies wissen wir etwa durch das Verhalten des Augustus beim Begräbnis seines Freundes Agrippa, der im März des Jahres 12 v. Chr. während der Feiern der Quinquatrus in Campanien verstorben war. 49 Während der laudatio funebris des Augustus war die Leiche des Agrippa auf dem Forum Romanum auf den rostra aufgebahrt, wobei Cassius Dio die unter religiösen Gesichtspunkten interessante Einzelheit meldet, daß man dabei einen Vorhang aufgezogen habe, der in diesem Moment den Leichnam vor den Augen des Augustus verbarg. Dieses Verhalten läßt sich am ehesten durch die neue Rolle des Augustus als pontifex maximus erklären, denn er war gerade erst am 5. März 12 v. Chr. in dieses Amt gewählt worden. Offensichtlich war es einigen der hohen römischen Priester (pontifices, augures) untersagt, Leichen zu sehen oder gar zu berühren, oder sie mußten sich anschließend einem umständlichen rituellen Reinigungsprozeß unterwerfen. Was hier gewissermaßen als Nebenprodukt sichtbar zu werden scheint, ist die Notwendigkeit, auch die laudatio funebris und ihre religiöse Funktion neu zu bewerten. Eine solche Leichenrede, in der vor allem die Leistungen des Verstorbenen herausgestellt wurden, wäre in unseren Augen nicht unbedingt ein religiöser Akt, bei dem ein solches Verhalten notwendig wäre. Wenn man allerdings berücksichtigt, wer das eigentliche Publikum dieser laudatio war, dann ergibt sich ein etwas anderes Bild. Die eigentliche Zielgruppe der laudatio waren nämlich die Ahnen des Verstorbenen, die man sich repräsentiert durch ihre imagines als anwesend vorstellte. 50 Dio kannte die Erklärung nicht aus eigenem Wissen, da er wahrscheinlich zu keinem der vier großen Priesterkollegien Roms gehörte. 51 Dennoch war er in der Lage, einige der Erklärungen zu referieren, die zu seiner Zeit im Umlauf waren. don 1992, 37. Zu diesem Werk vgl. G. PASCUCCI: I Commentarii di Silla, in: Atti del Convegno 'Gli storiografi latini tramandati in frammenti, Urbino 1975, 283–296; I. CALABRI: I Commentarii di Silla come fonte storica, MAL 8 A III, 5 (1950), 245–302; E. VALGIGLIO: L'Autobiografia di Silla nelle biografie di Plutarco, in: Atti del Convegno 'Gli storiografi latini tramandati in frammenti, Urbino 1975, 245–281. 49 Dio 54,28,3 f.; Sen. Consolatio ad Marciam 15,3. Vgl. J.-M. RODDAZ: Marcus Agrippa, Rom 1984, 486–488 zum Begräbnis des Agrippa. Vgl. auch M. LEMOSSE: Mort et 'lustratio' à propos de Dion Cassius LIV, 28, 4, RHD (1968), 519–524. 50 Vgl. H. I. FLOWER: Ancestor masks and aristocratic power in Roman culture, Oxford 1996, die allerdings in ihrer Studie die religiösen Implikationen eines solchen Begräbnisses etwas unterschätzt. 51 L. SCHUMACHER: Prosopographische Untersuchungen zur Besetzung der vier hohen römischen Priesterkollegien im Zeitalter der Antonine und der Severer (96 – 235 n.Chr.), Diss. Mainz 1973, liefert keinen Hinweis auf Cassius Dio. Interessant ist, daß wir bisher solche Verbote lediglich für die pontifices und augures kennen, während die quindecimviri sacris faciundis und die septemviri epulonum davon nicht betroffen gewesen zu sein scheinen. Ich vermag nicht zu entscheiden, ob dieses lediglich ein Resultat unserer Quellenlage ist oder ob eine solche Verunreinigung bei diesen Priestern keine speziellen Auswirkungen auf die Ausübung ihrer priesterlichen Aufgaben gehabt hätte.
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Nach seiner Ansicht war es Augustus weder verboten gewesen, eine Leiche zu sehen, weil er pontifex maximus war noch weil er zu diesem Zeitpunkt die Pflichten eines censor erfüllen mußte. Dabei fügt Dio für das Amt des censor das interessante Detail an: [...] πλὴν ἂν τὸ τέλος ταῖς ἀπογραφαῖς μέλλη ἐπάξειν ἂν γάρ τινα πινα πρὸ τοῦ καθαρσίου ἴδη, ἀνάδαστα τὰ πραχθέντα αὐτῷ πάντα γίγνεται. „[...] außer wenn er eben dabei ist den Census abzuschließen. Erblickt er nämlich vor der Reinigung einen Toten, 52 dann muß seine ganze Arbeit von neuem durchgeführt werden.“ (angepaßt nach Veh).
Weiteres Material zu dieser Frage findet sich bei Seneca. Dieser berichtet aus dem Jahre 23 n. Chr. für das Begräbnis von Drusus II, dem Sohn des Tiberius, die folgenden interessanten Details. Seneca, Consolatio ad Marciam 15,3: [scil. Ti. Caesar] ipse tamen pro rostris laudavit filium stetitque in conspectu posito corpore, interiecto tantummodo velamento, quod pontificis oculos a funere arceret. „dennoch hielt er [scil. Tiberius Caesar] von den rostra die laudatio (funebris) für den Sohn, während der Leichnam vor seinen Augen aufgebahrt war, zwischen ihnen nur ein Tuch, das die Augen des pontifex (maximus ?) vor [dem Anblick] des Toten [zutreffender wohl: des Begräbnisses] schützen sollte.“
Aus diesem Grund rügte Tiberius auch das Verhalten seines Adoptivsohnes Germanicus, der während des Sommerfeldzuges des Jahres 15 n. Chr. bei der Bestattung der gefallenen Römer im saltus Teutoburgensis persönlich Hand angelegt hatte: quod Tiberio haud probatum [...] neque imperatorem auguratu et vetustissimis caeremoniis praeditum adtrectare feralia debuisse. „dies wurde von Tiberius nicht gebilligt [...] [denn] ein Feldherr, der durch das Augurat und unter den altehrwürdigsten Zeremonien ausgestattet worden war, hätte die Überreste von Verstorbenen nicht berühren dürfen.“ 53
Bei einer genaueren Interpretation dieser sehr problematischen Stelle werden die hier zu Grunde liegenden religiösen Probleme etwas deutlicher. Eindeutig ist die Bedeutung von augur, denn dies war Germanicus möglicherweise bereits seit dem Jahre 2 n. Chr., 54 doch auf was bezieht sich die Formulierung ‚vetustissimis cae52 Mit dem Begriff ʹκαθαρσίςʹ ist wahrscheinlich die Darbringung der suovotaurilia gemeint, mit der die lustratio populi Romani abgeschlossen wurde. 53 Tac. ann. 1,62,2. 54 J. Rüpke: Fasti sacerdotum. Die Mitglieder der Priesterschaften und das sakrale Funktionspersonal römischer, griechischer, orientalischer und jüdisch-christlicher Kulte in der Stadt Rom von 300 v.Chr. bis 499 n.Chr., Stuttgart 2005, 1060 f. Nr. 2006 vermutet, daß Germanicus den Augurat erst im Jahre 6 n.Chr. erhielt, als er quaestor war. Da aber der augur Lucius Caesar im August 2 n.Chr. verstorben war, spricht an sich nichts gegen die Vermutung, daß Germanicus als das älteste männliche Mitglied der Herrscherfamilie, das noch ohne eine Mit-
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remoniis praeditum’? Ist dies lediglich auf sein Priestertum als augur zu beziehen (inauguratio) oder muß diese Spezifizierung auch auf imperator bezogen werden? Der Titel imperator ist in diesem Kontext mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht technisch zu verstehen. Denn nach unserem Kenntnisstand hatte Germanicus zu dem Zeitpunkt, an dem er das Schlachtfeld besuchte, wahrscheinlich noch keine imperatorische acclamatio empfangen. 55 Dietmar Kienast hat zwar in der römischen Kaisertabelle für Germanicus bereits unter dem Jahr 9 n. Chr. mit einem Fragezeichen eine imperatorische acclamatio registriert, doch dies scheint mir eher unwahrscheinlich, da Germanicus zu diesem Zeitpunkt wohl noch kein eigenständiges imperium besaß, sondern bestenfalls legatus Augusti war. 56 Mit Sicherheit verfügte Germanicus erst seit dem Jahre 13 n. Chr. über ein vollwertiges imperium proconsulare und war damit also prinzipiell berechtigt, persönlich imperatorische acclamationes zu empfangen. 57 Es muß allerdings unsicher bleiben, wann genau er eine solche acclamatio erhalten haben könnte, da wir nicht genau sagen können, ob er bereits zu Lebzeiten des Augustus erstmals akklamiert wurde, was mir insgesamt eher unwahrscheinlich scheint. 58 Sicherlich erhielt er eine solche acclamatio erst am Ende des Jahres 15 n. Chr. nach seiner Rückkehr aus dem rechtsrheinischen Germanien und diese acclamatio berechtigte ihn dann auch, am 26. Mai 17 n. Chr. seinen triumphus in Rom zu feiern. 59 Der Besitz eines solchen vollberechtigten imperium bedeutet aber auch, daß eine eigene lex curiata verabschiedet worden war, die ihn mit einem vollwertigen imperium (cum auspiciis) ausgestattet hatte. 60 Dabei könnte das ehrwürdige Alter der dafür zuständigen comitia curiata durchaus die taciteische Formulierung ‚vetustissimis caeremoniis’ rechtfertigen. 61
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gliedschaft in den amplissima collegia war, jetzt seine Stelle übernahm. Germanicus war zu diesem Zeitpunkt (* 24. Mai 15 v.Chr.) bereits 17 Jahre alt. Die möglicherweise religiösen Aspekte des imperator sind noch nicht geklärt. Vgl. B. LINKE: Von der Verwandtschaft zum Staat. Die Entstehung politischer Organisationsformen in der frührömischen Geschichte, Stuttgart 1995, 124–131 für die religiöse Aspekte der römischen Könige und mit Verweis auf den imperator triumphans als sichtbar gewordene Erscheinungsform des Iuppiter Optimus Maximus. D. KIENAST: Grundzüge einer römischen Kaiserchronologie, 2. durchgesehene und erweiterte Aufl. Darmstadt 1996, 80. F. HURLET: Le collègue du prince sous Auguste et Tibère, Paris 1997, 163–208, 168ff. zieht sogar mit gewissen Zweifeln das Jahr 9 n.Chr. in Betracht. R. SYME: History in Ovid, Oxford 1978, 56ff. vermutet dies, doch sind unsere Informationen zu den römischen Operationen vor dem Herbst/Winter 14/15 n.Chr. viel zu dürftig, um hier etwas endgültig entscheiden zu können. R. WOLTERS: Integrum equitem equosque ... media in Germania fore. Der Germanicusfeldzug im Jahre 16 n.Chr., in: J.-S. Kühlborn u.a. (Hg.), Rom auf dem Weg nach Germanien. Geostrategie, Vormarschstraßen und Logistik. Internationales Kolloquium in Delbrück-Anreppen vom 4. bis 6. November 2004, Mainz 2008, 237–251. Zum Kampf um die Kontrolle der auspicia während der Ständekämpfe, vgl. CORNELL: Beginnings of Rome 304–305. H. S. VERSNELL: Triumphus. An inquiry into the origins, development and meaning of the Roman triumph, Leiden 1970, 304–355. Zur Rolle der comitia curiata vgl. zuletzt Ch. J. SMITH: The Roman clan. The gens from ancient ideology to modern anthropology, Cambridge 2006, 184–234, bes. 223f.
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Wie ist aber eine solche Verunreinigung technisch zu verstehen? Gehen wir von den auspicia aus, dann beinhalteten die auspicia das Recht, man könnte auch fast sagen die Pflicht, zu einer direkten und ständigen Kommunikation zwischen dem Inhaber dieses Rechtes und den Göttern. 62 Es betrifft also die ‚priesterliche’ Funktion eines Imperiumsträgers, die hier angesprochen wird, womit dann auch gleichzeitig eine mögliche Erklärung für ein solches Verbot bei den pontifices und augures geliefert wird. Eine rituelle Verunreinigung macht diese Personen wahrscheinlich unfähig, ihren Kommunikationsverpflichtungen nachzukommen oder um es in andere Worte zu fassen, etwa Opfer darzubringen oder den Willen der Götter zu erforschen. 63 Mit einem solchen Erklärungsmodell gelangen wir aber dann in einen Bereich, in dem es von solchen Verboten nur so wimmelt. Denn wenn wir die aus der griechischen Religion hinlänglich bekannten und auf Inschriften tradierten leges sacrae nehmen, die den Zugang zu unterschiedlichen Heiligtümern regeln, dann werden wir allenthalben mit entsprechenden Verboten konfrontiert. Zu den häufigsten Quellen von möglichen Befleckungen gehörten vorhergegangener Geschlechtsverkehr, Menstruation, Geburt eines Kindes, Abtreibung, Kontakt mit einer Leiche oder der Verzehr von bestimmten, das heißt kultisch verbotenen, Speisen. In einigen Quellen wird festgelegt, wie lange diese Verunreinigung andauerte beziehungsweise durch welche Reinigungsriten man sich davon befreien mußte, bevor man als gereinigter Gläubiger wieder das Heiligtum betreten durfte. Oder um dieses Verbot auf eine andere Sprachebene zu transferieren, bevor man wieder mit den Göttern kommunizieren durfte. 64 Besonders häufig und zugleich aufwendig waren die griechischen Riten bei Kontakten mit toten Menschen und bei der Befreiung von einer Blutschuld, wobei kein erkennbarer Unterschied zwischen dem Totschlag und dem heimtückischen Mord bestand. Ähnliche Reinheitsvorschriften sind in reicher Zahl aus dem Judentum bekannt. 65 Es genügt dazu, wenn man das Evangelium des Lukas (10.30–32) mit der Episode heranzieht, in dem das Gleichnis mit dem barmherzigen Samariters geschildert wird.
62 J. LINDERSI: The auspices and the struggle of the orders, in: W. Eder (Hg.), Staat und Staatlichkeit in der frühen Republik, Stuttgart 1990, 34–48 (= Roman questions. Selected papers), Stuttgart 1995, 560–574 + addenda 674–675. 63 Diese Notwendigkeit zur Kommunikation könnte vielleicht auch erklären, warum uns vergleichbare Verboten für die xv-viri sacris faciundis und die vii-viri epulonum fehlen, da diese andere Aufgaben hatten. 64 Neben PARKER, Miasma vgl. auch die Sammlungen von J. V. PROTT – L.ZIEHEN: Leges Greacorum sacrae e titulis collectae ediderunt et explanaverunt I.P. et L.Z., Leipzig 1896–1906 (ND Chicago 1988). E. LUPU: Greek sacred law. A collection of new documents, Leiden – Boston 2005. M. H. JAMESON – D. R .JORDAN – R. D. KOTANSKY (Hg.): A Lex Sacra from Selinous, Durham/N.C. 1993. 65 J. MILGROM: Leviticus 1–16. A new translation with introduction and commentary, New York – London – Toronto 1991, 226ff. zu den Reinigungsopfern, bes. 270–278 zu den Reinigungen nach Kontakt mit einer Leiche.
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„(30) [...] Ein Mann ging von Jerusalem nach Jericho hinab und wurde von Räubern überfallen. Sie plünderten ihn aus und schlugen ihn nieder; dann gingen sie weg und ließen ihn halbtot liegen. (31) Zufällig ging ein Priester denselben Weg herab; er sah ihn und ging weiter. (32) Auch ein Levit kam zu der Stelle; er sah ihn und ging weiter.“
Dieses oft kommentierte Gleichnis ist natürlich mit einer deutlichen Polemik gegen die überlieferten jüdischen Kulttraditionen verfaßt worden, wobei mit keinem Wort auf die Motivation des Priesters und des Leviten eingegangen wird. Die Erklärung ist ganz einfach: beide wollten sich vor einer Verunreinigung mit menschlichen Blut oder einer Leiche schützen, da sie sonst rituell verunreinigt und für den Dienst im Tempel disqualifiziert gewesen wären. Da im Falle des Priesters gesagt wird, er steige (von Jerusalem) herab, hätte er wieder den gesamten Weg nach Jerusalem zurücklegen müssen, denn das jetzt notwendige Reinigungsopfer hätte wahrscheinlich nur im Tempel von Jerusalem dargebracht werden können. 66 Ein ganz spezieller Aspekt der kultischen Verunreinigung läßt sich im griechischen Bereich in Athen fassen, müßte aber noch gesondert verfolgt werden. 67 In Athen war der archon basileus für die Verfolgung von Tötungsdelikten zuständig. Die Eltern beziehungsweise die Verwandten der getöteten Person klagten den Täter beim basileus an, der als erste Maßnahme dem Angeklagten untersagte, bis zum Tag des Urteils die Agora und die heiligen Stätten in Attika zu betreten. 68 Erst am Tage der Verhandlung durfte der Angeklagte den Tempel betreten, in dem sich der basileus seine Verteidigungsrede anhörte. Dabei wurden je nach der Art des Tötungsdeliktes (Absicht, Unfall, Körperverletzung mit Todesfolge) oder dem bürgerlichen Stand des dabei getöteten Menschen (Bürger, Metoike, Fremder, Sklave) unterschiedliche Tagungsorte gewählt. In dem Fall, daß der Angeklagte bereits wegen anderer Taten exiliert war und daher nicht ohne Gefahr für sein Leben attischen Boden betreten durfte, durfte er sogar seine Verteidigungsrede von einem Schiff aus halten, das sich dafür der Küste Attikas näherte. Der entscheidende Faktor, der zum Ausschluß des Angeklagten von allen religiös relevanten Orten, zu denen auch die Agora gehörte, führte, war die allgemein verbreitete Vorstellung, daß er durch seine Blutschuld kultisch unrein geworden war. Wenn man ihn also in diesem Zustand nicht daran gehindert hätte, einen religiös abgegrenzten Bereich wie einen Tempel zu betreten, dann hätte er die Gottheit, der dieser Tempel geweiht war, gegen die gesamte Gemeinschaft der Bürger aufgebracht. Erst durch die Entscheidung des archon basileus konnte der Zustand der kultischen Verunreinigung für den Angeklagten beendet werden. Dies 66 G. SCHNEIDER: Das Evangelium nach Lukas. Ökumenischer Taschenbuch – Kommentar zum Neuen Testament 3/1, 2. Aufl. Gütersloh – Würzburg 1984, 248–249 geht auf diese Motive mit keinem Wort ein. 67 Kultische Verunreinigung nach einer Bluttat: vgl. PARKER, Miasma, 370–374. 68 Das Verbot des megarischen Psephismas, daß die Megarer nicht die Agora betreten durften, bedeutete, daß diese Gemeinde kollektiv wegen der vorgeblichen Verletzung der ‚hiera orgas’ der eleusinischen Gottheiten zu Tempelräubern und damit zu kultisch befleckten Personen erklärt worden war. Für das megarische Psephisma und seine religiösen Nebenbedeutungen vgl. G. E. M. DE STE. CROIX: The Origins of the Peloponnesian War, London 1972, 254–289 u. 397f.
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konnte entweder durch einen Schuldspruch und die anschließende Bestrafung geschehen, durch die der Frevel gesühnt und aus der Welt geschafft wurde, aber auch durch die offizielle Befreiung von der Anklage. 69 Unter dem Aspekt der religiösen Unversehrtheit eines Territoriums gewinnt auch die Vertreibung der Peisistratiden im späten 6. Jh. einen zusätzlichen Aspekt. 70 Auch das spätere Verbot, ‚Tyrannen’ in der Erde Attikas beizusetzen, geht in eine vergleichbare Richtung. 71 Die Argumentation, die wahrscheinlich einem solchen Schritt vorausging, läßt sich relativ einfach nachvollziehen. Ebenso wie die Gräber von Heroen als Schutzmaßnahme des heimatlichen Bodens gegen äußere Bedrohungen angesehen wurden, konnte die Existenz solcher Gräber, in denen die Angehörigen einer verfluchten Familie ruhten, in den Kategorien einer religiösen Befleckung des heiligen Bodens des Heimatlandes und damit als Gefahr interpretiert werden. 72 Besonders sinnfällig wird diese Vorstellung im Falle von Athen bei der Translation der sterblichen Überreste des Heros Theseus von der Insel Skyros nach Athen. 73 In eine ähnliche Richtung scheinen auch die Bemühungen der Lakedaimonier zu zielen, die nicht nur ihren Heros Orestes aus Tegea nach Sparta brachten (siehe oben), sondern auch ihre außerhalb von Lakonien verstorbenen Herrscher selbst unter schwierigsten Umständen in die Heimat brachten. 74
69 P. CARLIER: La royauté en Grèce avant Alexandre, Straßburg 1984, 337–350 für die Rolle des athenischen Königs bei Strafverfahren. 70 Zur Vertreibung der Peisistratiden vgl. K.-W. WELWEI: Athen. Vom neolithischen Siedlungsplatz zur archaischen Großpolis, Darmstadt 1992, 264, der vor allem die rechtlichen Aspekte in den Vordergrund rückt. Für die religiöse Schuld einer gesamten Familie vgl. PARKER, Miasma 201 u. 206 (Peisistratiden). Man kann hier auch auf kylonischen Frevel der Alkmaioniden verweisen, die immer wieder in der politischen Diskussion thematisiert wurde, vgl. K.-W. WELWEI: Das klassische Athen. Demokratie und Machtpolitik im 5. und 4. Jahrhundert, Darmstadt 1999, 3. 71 M. OSTWALD: From popular sovereignty to the sovereignty of law. Law, society, and politicy in Fifth-Century Athens, Berkeley 1986, 402f. für die Verfolgung einiger der 400, denen nach ihrer Hinrichtung das Begräbnis in Attika versagt wurde (vgl. [Plut.] X orat. (834 a–b)) und deren Nachkommen auf alle Zeiten verbannt sein sollten. 72 Die Argumentation, mit der man Selbstmördern oder anderen Personen, die man als befleckt anssah, die Bestattung in ‚geweihter’ Erde untersagte, geht in eine vergleichbare Richtung. HdA VII (1936), 1627–1633 s.v. Selbstmörder. 73 Vgl. Plut. Kimon 8.5–6; Plut. Theseus 26.1–4 mit der Legende der Auffindung und der Translation. Vgl. auch H.J.WALKER: Theseus and Athens, Oxford 1995. C.CALAME: Thésée et l'imaginaire athénien. Legende et culte en Grèce antique, Lausanne 1996. Weiterhin lesenswert B.CURRIE: Pindar and the cult of heroes, Oxford 2005 mit weiterführender Literatur. 74 Zur religiösen Rolle des spartanischen Königs: CARLIER, Royauté, 292–301. Interessant ist, welche Mühen man aufwandte, außerhalb Spartas verstorbene König in die Heimat zurückzubringen. So wurde der Leichnam des Agesilaos konserviert und dann aus Ägypten nach Sparta überführt, wobei Plut. Ages. 40,3 lediglich erwähnt, dies sei spartanische Sitte, ohne sich zu eventuellen religiösen Gründen zu äußern. P.CARTLEDGE: Agesilaos and the crisis of Sparta, Baltimore 1987, 331–343 verweist (235ff.) auf Xen. Lak. pol. 15,9, wonach die toten Könige wie Heroen geehrt werden. Weiteres Material bei S.REBENICH: Xenophon, Die Verfassung der Spartaner, Darmstadt 1998, 142 Anm. 192.
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3. TOD, NACHLEBEN UND DIE MACHT DER AHNEN Ganz ohne Zweifel stellt der Tod ein einschneidendes soziales Ereignis dar, wobei ich in diesem Fall weniger an den unmittelbar von einem solchen Schicksalsschlag betroffenen Menschen denke, sondern eher an die Folgen für sein näheres familiäres und gesellschaftliches Umfeld. Die Zahl der rituellen Handlungen, die für die Zeit bis zum Begräbnis überliefert wird, ist in allen Kulturen enorm groß und unterstreicht, welche Bedeutung der richtige Umgang mit den Toten für die Menschen hatte. 75 Doch die Probleme mit den Verstorbenen waren mit dem Begräbnis noch nicht beendet, denn wir können feststellen, daß anschließend immer noch eine Kommunikation zwischen der Welt der Toten und der Lebenden stattfand. Man könnte auch sagen, daß die Macht der Toten immer noch in die Welt der Lebenden hineinreichte. Das typischste Beispiel wäre die Macht der eigenen Ahnen, die auch weiterhin am Schicksal ihrer Nachkommen Anteil nahmen. Dabei läßt sich generell feststellen, daß der Glaube weit verbreitet war, daß ausgewählte Tote selbst nach ihrem Ableben noch durchaus aktiv am Schicksal der Nachgeborenen partizipieren konnten und wollten. 76 Besonders verbreitet ist dabei die Vorstellung, daß die Toten unsichtbar an einem gemeinsamen Essen mit ihren Nachkommen partizipieren könnten. Dazu genügt es, wenn man die elaborierten Anweisungen betrachtet, die uns in einigen Inschriften überliefert werden. 77 Eine besondere (römische) Form der Teilhabe der Ahnen am Leben ihrer Nachkommen liefert die Parade der imagines bei der pompa funebris römischer Adelsfamilien. Dabei scheint die gängige Interpretation, daß die Zerstörung einer imago beziehungsweise das staatliche Verbot, in Zukunft die imago eines Verurteilten nicht mehr in einer pompa funebris zu zeigen, vor allem unter dem Aspekt der senatorischen Selbstdarstellung zu sehen sei, etwas zu einseitig. In einem solchen Fall werden die unterliegenden religiösen Implikationen nicht ausreichend berücksichtigt. 78
75 Material für die Totenriten: HdA VIII (1937), 970–985 s.v. Tod, sowie A.HULTGARD, RGA2 20 (2002), 472–477 s.v. Mythische Stätten, Tod und Jenseits. Vgl. daneben auch M.CAROLL: Spirits of the dead. Roman funerary commemoration in Western Europe, Oxford 2006. S.SCHRUMPF: Bestattung und Bestattungswesen im römischen Reich. Ablauf, soziale Dimensionen und ökonomische Bedeutung der Totenfürsorge im lateinischen Westen, Göttingen 2006. 76 Vgl. etwa E. KISTLER: Die ‚Opferrinne-Zeremonie’. Bankettideologie am Grab, Orientalisierung und Formierung einer Adelsgesellschaft in Athen, Stuttgart 1998. 77 Vgl. dazu die Bestimmungen im sogenannten Testament des Lingonen (CIL XIII 5708 = ILS 8379) u. die ausgesuchten Ehren für den Verstorbenen bei J. D'AARMS: Memory, money, and status at Misenum. Three new inscriptions from the collegium of the Augustales, JRS 90 (2000), 126–144. 78 W. ECK – A. CABALLOS RUFINO – F. FERNANDEZ: Das senatus consultum de Cn. Pisone patre, München 1996, 194–197 zu den Zeilen 75–82 mit der Anordnung, die Statuen des Calpurnius Piso zu zerstören und in Zukunft seine imago nicht mehr in einer pompa funebris zu zeigen.
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Besonders symbolträchtig war dabei der Einsatz eines leeren Stuhles oder Sessels, der als Platzhalter für den Toten diente, wobei man durchaus die Hoffnung hegte, daß dessen früher unter Beweis gestellte Macht auch jetzt noch weiterwirken würde. Es genügt dabei, an die gut dokumentierten Beispiele Alexander des Großen, 79 des dictator Caesar 80 oder des Germanicus 81 zu erinnern. Natürlich kennen wir Menschen des 20. und 21. Jh. keinen Herrscherkult mehr, zumindest wenn wir das Glück haben, in den westlichen Demokratien leben zu dürfen, denn wir stehen ja intellektuell meilenweit über solchen mentalen Exzessen. Wenn man sich aber einmal mit einem wachen Auge umsieht, dann sieht das Bild plötzlich ganz anders aus, denn gewisse Phänomene lassen sich in leicht abgewandelter Form auch in unserer Welt immer noch nachweisen, wobei die religiöse Bewertung oft nicht einfach ist. Dazu einige eher zufällige Beobachtungen, die natürlich einer systematischen Untersuchung bedürftig sind. In vielen Eliteeinheiten der ehemaligen Roten Armee fanden sich in der Schlafsälen der Mannschaften freie Betten, die mit frischen Blumen und dem Bild eines gefallenen Helden der Sowjetunion geschmückt waren, der früher in dieser Truppe gedient hatte. Warum aber geschah dies? Handelt es sich um ein eher mechanisches Anknüpfen an alte Rituale, die lediglich an immer noch unterschwellig vorhandene religiöse Vorstellungen andocken, um so das Gemeinschaftsgefühl der Einheit zu fördern? Man darf in diesem Zusammenhang auch daran erinnern, daß das Bild des Parteivorsitzenden Lenin oder Stalin fast übergangslos an die Stelle des Heiligenbildes in der Herrgottsecke des sowjetischen Bauernhauses trat oder daß man die Leichname verstorbener Parteivorsitzender einbalsamierte, um sie anschließend der Öffentlichkeit zu präsentieren. 82 Im ehemaligen Betzenbergstadion in Kaiserslautern wird auch heute noch der Sitzplatz von Fritz Walter, des berühmtesten Spielers des Vereins 1. FC Kaiserslautern, für ihn freigehalten, obwohl er bereits seit einigen Jahren verstorben ist. Zumindest an diesem Beispiel wird recht deutlich, daß die möglicherweise unterschwellig vorhandene Hoffnung, der verehrte Tote könne selbst aus seinem Grab noch etwas für seinen Verein bewirken, sich nicht unbedingt realisiert, denn der Verein stand in der letzten Saison vorübergehend kurz vor dem Abstieg in die 3. Liga. Unter den vielen mit den Toten verbundenen Konzeptionen scheint eine Vorstellung allerdings besonders verbreitet und wirkkräftig zu sein. Denn die Toten scheinen sehr oft die Rolle eines Sendboten zwischen der Welt der noch lebenden Menschen und den unheimlichen Kräften übernommen zu haben, die man sich in 79 Vgl. A. B. BOSWORTH: Augustus, The Res Gestae and Hellenistic theories of apotheosis, JRS (1999), 1–18. 80 Zum goldenen Thron Caesars vgl. St. WEINSTOCK: Divus Julius, Oxford 1971, 282–286. 81 Dazu vgl. Tac. ann. 2,83,1. 82 N. TUMARKIN: Lenin lives! The Lenin cult in Soviet Russia, Cambridge/Mass. 1983. O. B. RADER: Grab und Herrschaft. Politischer Totenkult von Alexander dem Großen bis Lenin, München 2003.
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der Unterwelt vorstellte, also dem eigentlichen Lebensraum der Toten. Diese Vorstellung unterstreicht eine bekannte Inschrift aus dem italischen Ort Tuder. 83 Ein verärgerter Gemeindesklave hatte den gesamten Stadtrat verflucht, indem er die Namen der Mitglieder den Unterweltsgöttern empfahl, sie also verfluchte. Die seltsame Auswahl der verfluchten Personen macht wahrscheinlich, daß ihm der Stadtrat zuvor seine Freilassung verweigert hatte. 84 Diese Tat war wahrscheinlich von einem anderen Sklaven, möglicherweise sogar dem hier als Dedikanten aufgeführten L. Cancrius Primigenius, den lokalen Behörden verraten worden und der schuldige Sklave war hingerichtet worden: Pro salute coloniae et ordinis decurionum et populi Tudertis Iovi opt(imo) max(imo) custodi conservatori, quod is sceleratissimi servi publici infando latrocinio defixa monumentis ordinis decurionum nomina numine suo eruit ac vindicavit et metu periculorum coloniam civesque liberavit. L.Cancrius Clementis l. Primigenius sexvir et Augustalis et Flavialis primus omnium his honoribus ab ordine donatus votum solvit. „Für das Wohlergehen der Kolonie und des Ratsherrenstandes und des Volkes von Tuder dem mächtigsten und größten Iuppiter, dem Wächter und Bewahrer, weil er das nichswürdige Verbrechen des allerverbrecherischsten Gemeindesklaven, der die Namen (der Mitglieder) des Ratsherrenstandes an den Gräbern angebracht hatte [d.h. er hatte sie den Unterweltsgöttern empfohlen = verflucht], durch seine göttliche Kraft aufdeckte und rächte und die Kolonie und ihre Bürger von der Furcht vor Gefahren befreite. 85 Lucius Cancrius Primigenius, der Freigelassene des Clemens, sevir Augustalis und Flavialis, der als erster überhaupt mit diesen Ehren vom Stadtrat beschenkt wurde, hat sein Gelübde eingelöst.“
4. WOODOO Wenn man einmal die vielen Tabus und Verbote, unter denen der bedauernswerte flamen Dialis der Römer zu leiden hatte, unter einer kulturvergleichenden Perspektive betrachtet, 86 dann entsteht zumindest vor meinen Augen das Bild einer völlig verängstigten Welt, in der magische Praktiken wie das Vernageln oder Verhexen einer Person als allgemein vorhandene Bedrohung eingestuft wurden. 87 Dazu einige Vorschriften: 83 CIL XI 4639 = ILS 3001. 84 Zum Procedere bei der Freilassung von servi publici vgl. die entsprechenden Passagen in der Lex Irnitana. J. GONZALEZ: The Lex Irnitana. A new copy of the Flavian municipal law, JRS 76 (1986), 147–243, bes. 171, Abschnitt 72. 85 Die seltsame Formulierung ‚metu ... coloniam civesque liberavit’ widerspricht auf den ersten Blick der antiken Vorstellung, nach der eine Gemeinde identisch mit der Gemeinschaft ihrer Bürger war. Wenn man allerdings colonia als die Gemeinschaft aller Menschen versteht, die in Tuder lebten, also auch die incolae, eventuell sogar die servi, dann wird eine solche Formulierung durchaus sinnvoll. 86 Literatur zum Flamen Dialis und seinen Tabus: F. MARCO SIMON: Flamen Dialis. El sacerdote de Júpiter en la religion romana, Madrid 1996. 87 HdA III (1927), 1827–1920 s.v. Hexe sowie VIII (1937), 1570–1584 s.v. verhexen, 1584– 1588 s.v. Verhexung.
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Peter Herz 11: Capillum Dialis, nisi qui liber homo est, non detondet. „Das Haar des Dialis darf nur ein freier Mann abscheren.“ 12: Capram et in carnem incoctam et hederam et fabam neque tangere Diali mos est neque nominare. „Es ist Sitte, daß der (flamen) Dialis eine Ziege oder Efeu oder eine Bohne weder berühren noch den Namen aussprechen darf. Dieses [Verbot] gilt auch für das zubereitete Fleisch einer Ziege.“ 88
Die Gründe für solche Verbote und die auch sehr eigenartige Auswahl der verbotenen Gegenstände oder Tiere werden bei Gellius leider nicht genannt, was uns allerdings nicht am Nachdenken hindern sollte. 89 14: Pedes lecti, in quo cubat, luto tenui circumlitos esse oportet et de eo lecto trinoctium continuum non decubat neque in eo lecto cubare alium fas est neque ***. „Die Füße des Bettes, in dem er schläft, müssen auf dem bloßen Lehmboden stehen und er darf sich keinen ununterbrochenen Zeitraum von drei Tagen von diesem Bett entfernt schlafen legen und es ist keinem anderen erlaubt, in diesem Bett zu schlafen [...].“
Warum aber wurde überhaupt ein solches Verbot ausgesprochen? Warum war es so zwingend notwendig, daß der flamen jederzeit innerhalb seines Hauses (oder innerhalb des pomerium?) greifbar war, um eventuell notwendige Opfer darbringen zu können? Muß man eventuell für die Forderung nach seiner physischen Präsenz eine Erklärung aus dem Bereich der Magie heranziehen? Könnte es sich hier um eine sehr archaische Form des Königtums handeln, wobei dann immer noch die Frage zu prüfen wäre, was von den alten (das heißt religiösen) Kompetenzen des römischen rex im flamen Dialis weiterlebte. Vielleicht könnte die Betonung der 'drei Nächte' einen ersten Hinweis auf die tieferen Gründe liefern, da das trinoctium auch bei der in klassischer Zeit obsolet gewordenen manus-Ehe von Bedeutung war. 90 Demnach mußte eine römische Ehefrau, wenn sie effektiv verhindern wollte, daß sie in die Gewalt oder manus 88 ‚Benennen’ bedeutet ‚anrufen’ und meint damit eine Form der religiösen Aktivierung. Vgl. generell HdA VI (1935), 950–961 s.v. Name. Ein sehr zentraler Punkt war dabei, daß man den exakten Namen der Gottheit kannte und natürlich auch korrekt aussprechen konnte, die man anrufen wollte. Deutlich wird dies bei den Epiklesen der vielen niedergermanischen Matronen, für die wir höchst unterschiedliche Namensformen kennen. Teilweise mußte man dabei sogar spezielle Buchstaben einführen, um die einheimische Phonetik einigermaßend angemessen in eine lateinische Graphie zu übertragen. 89 Für die Anhänger des Pythagoras wird gemeldet, ihnen sei der Verzehr von Bohnen untersagt. Vgl. PARKER, Miasma 359 Anm. 13. M. DETIENNE: La cuisine de Pythagore, Archive de sociologie des religions 29 (1970), 141–162. HdA VIII (1937), 156–234 s.v. speisen, Speise. 90 Zum trinoctium vgl. M. KASER: Das römische Privatrecht I. Das altrömische, das vorklassische und klassische Recht, 2. neubearbeitete Auflage, München 1971, 78 mit Bezug auf das Zwölftafelrecht 6,4. S.TREGGIARI: Roman marriage. Iusti Coniuges from the time of Cicero to the time of Ulpian, Oxford 1991, 17–21, die u.a. Gell. 3,2,12–13 zitiert. Vgl. auch H. J. WOLFF: Trinoctium, TR 16 (1939), 145–183.
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ihres Mannes kam, innerhalb eines Kalenderjahres mindestens drei zusammenhängende Nächte außerhalb seines Hauses verbringen. Man könnte daher an eine Erklärung denken, daß der flamen Dialis auf die Dauer nur innerhalb seines eigenen Hauses effektiv vor dem schädlichen Einfluß magischer Riten geschützt war, mit denen man Gewalt über ihn gewinnen konnte. Dabei erinnert die Notwendigkeit eines direkten Kontaktes mit dem Erdboden etwas an den Mythos von den Giganten, die ihre übermenschlichen Kräfte durch den direkten Kontakt mit dem Erdboden = ihrer Mutter Ge schöpften. 91 15: Ungium Dialis et capilli segmina subter arborem felicem terra operiuntur. „Der Fingernagel des Dialis und die abgeschnittenen Haare sollen unter einem glückhaften Baum in der Erde begraben werden.“ 92
Diese von Gellius referierten Vorschriften gehören auf den ersten flüchtigen Blick in die Kategorie ‚bizarr’ und ‚unverständlich’. 93 Doch sie sind nicht so singulär wie es scheinen mag, denn die Zahl der Verbote oder Tabus scheint in den antiken Religionen generell sehr hoch gewesen zu sein, wobei lediglich die Ungleichgewichtigkeit in unserer schriftlichen Quellenüberlieferung ein gewisses Vorherrschen der jüdisch-christlichen Traditionen mit sich gebracht hat. Ein Teil der Befürchtungen, die solchen Verboten zu Grunde lagen, wird deutlicher, wenn man das rituelle Vergraben von Fingernägeln und abgeschnittene Haare 94 unter einem ‚arbor felix’ betrachtet. Denn damit erschließen sich uns diese Verbote erst allmählich in ihrer tieferen Bedeutung. Dabei muß man sich zunächst einmal vor Augen halten, daß solche körperlichen Dinge oftmals bei magischen Riten verwendet wurden, weil man durch ihren gezielten Einsatz Macht und Einfluß auf die Person und den Willen ihres ursprünglichen Trägers erlangen konnte. 95 Auch das frühe Christentum ist nicht allzuweit von solchen Vorstellungen entfernt. 96 Man darf in diesem Zusammenhang auch durchaus das Wort ‚Woodoo’ in die Diskussion einführen, was den zu Grunde liegenden religiösen Vorstellungen
91 Zur antiken Konzeption der Giganten vgl. DNP IV (1998), 1066–1069 s.v. Giganten. 92 Was in der Terminologie der Römer ein glücklicher oder glückbringender Baum (arbor felix) war, bleibt für uns relativ unklar. Von den einschlägigen Schriften des Veranius und des Tarquitius Priscus zu den ‚arbores felices et infelices’ kennen wir kurze Auszüge aus Macr. Sat. 3,20,2 f. Vgl. Ch. GUITTARD: Objects sacrés, objects magiques. Le rituel des fétiaux, in: Ch. Delattre (Hg.), Objets sacrés, objects magiques de l'antiquité au moyen âge, Paris 2007, 11– 21, bes. 17 Anm. 40. 93 Gell. 10,15. 94 HdA II (1927), 1500–1507 s.v. Fingernagel u. III, 1927, 1239–1287 s.v. Haar. 95 Vgl. auch T. ABUSCH – K. VAN DER TOORN (Hg.): Mesopotamian magic. Textual, historical and interpretative perspectives, Groningen 1999; T. ABUSCH: Mesopotamian witchcraft. Toward a history and understanding of Babylonian witchcraft beliefs and literature, Leiden – Boston – Köln 2002. 96 B. KOLLMANN: Jesus und die Christen als Wundertäter. Studien zu Magie, Medizin und Schmanismus in Antike und Christentum, Göttingen 1996.
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schlagartig einen afro-amerikanisch-karibischen Touch geben würde. 97 Dies eröffnet uns auch einen gewissen Zugang zu einer alten Glaubenswelt, die uns heute weitgehend fremd geworden ist. Denn die Vorstellung durch den Einsatz magischer Praktiken Einfluß oder Macht über andere Personen oder Dinge gewinnen zu können, scheint sehr alt zu sein. Man darf in diesem Zusammenhang auf die Deutung der neolithischen Wandmalereien verweisen, für die sich die Interpretation als Jagdzauber inzwischen durchgesetzt hat. Gerade wenn es darum ging, die Gunst eines angebeteten Partners, in der Regel des anderen Geschlechtes, für sich zu gewinnen, scheint der Einsatz besonderer Mittel besonders verbreitet gewesen zu sein. 98 Die Tatsache, daß sich solche Praktiken in sehr unterschiedlichen kulturellen oder religiösen Kontexten nachweisen lassen, unterstreicht, daß es sich dabei um ein elementares menschliches Bedürfnis handelt. Kehren wir jetzt zum Ausgangspunkt meines Beitrages zurück und konfrontieren uns erneut mit der Ausgangsfrage. Gab es etwas, was man als religiöse Grundüberzeugung bezeichnen könnte, ohne das man diese Überzeugung mit einem speziellen theologisch definierten Glauben oder einem festen kulturellen Kontext verknüpfen müßte? Ich glaube ja. Die Beispiele, die ich hier eher unsystematisch vorgestellt habe, sind nicht das Resultat einer gründlichen und systematischen Suche, sondern repräsentieren eher Zufallsfunde oder Lesefrüchte. Sie scheinen allerdings geeignet zu sein, als Ausgangspunkt für weiterreichende Studien zu dienen.
97 Zum Woodoo vgl. C. A. FARAONE: Binding and burying the forces of evil. The defensive use of ‘Voodoo Dolls’ in ancient Greece, CA 70 (1991), 165–205. Ähnliche Verhaltensmuster lassen sich beim verbreiteten Ritual des Sündenbocks nachweisen. Dazu vgl. u.a. B. JANOWSKI: RGG4 VII (2004), 1902f. s.v. Sündenbock. R. SCHLESIER: RGG4 VI (2003), 1264– 1266 s.v. Pharmakos (varmakõY). J. BREMMER: Scapegoat rituals in ancient Greece, HSCPh 87 (1983), 299– 320; B. MCLEAN: On the revision of scapegoat terminology, Numen 37 (1990), 168–173. D. D. HUGHES: Human sacrifice in ancient Greece, London – New York 1991. 98 C. A. FARAONE: Ancient Greek love magic, Cambridge/Mass. – London 1999.
„WIE KOMMT DER KAISER ZU DEN GÖTTERN?“ WAS DIE KAISERAPOTHEOSE ÜBER RELIGIÖSE GRUNDEINSTELLUNGEN ANTIKER KULTUREN OFFENBART Babett Edelmann, Regensburg Im Jahr 1909 erschien in den USA erstmals eine Publikationsreihe, die den Namen The Fundamentals. A Testimony to the Truth trug. 1 Im ersten Band dieser Schriften befassten sich Gelehrte, Theologen und Prediger mit den Fundamenten des christlichen Glaubens, so beispielsweise The Virgin Birth of Christ, The Deity of Christ, The Purposes of Incarnation oder The Proof of the Living God. Zum „ismus“, also zur Glaubensrichtung und zur geistigen Strömung, entwickelte sich diese Bewegung erst 1920, als – bei kirchenpolitischen Richtungsstreitigkeiten – die Vertreter des konservativen Flügels der amerikanischen Baptistenkirche sich selbst im Rekurs auf die Schriftenreihe als fundamentalists bezeichneten. Zunächst blieb dieser Terminus allerdings eine charakterisierende Selbstbezeichnung und war längst noch kein Begriff, mit dem man einen Anhänger einer extremen Grundhaltung diffamieren konnte. Vergleicht man die Aussagen in den Fundamentals von 1909 mit den späteren Ansichten der christlichen Fundamentalisten, so erscheinen erstere relativ moderat. Nichtsdestotrotz legten sie im wörtlichen wie im übertragenen Sinne die Fundamente für die späteren Entwicklungen fundamentalistischer Kreise, die sich durch radikale, ja militante Ablehnung von moderner Theologie und von Säkularisierungstendenzen innerhalb von Kultur und Gesellschaft auszeichneten. Eine recht paradigmatische Struktur lässt sich anhand dieser Entwicklungen erkennen: Der Versuch, religiöse Eckpfeiler zu definieren, führt durch eine Verknüpfung von religiösen mit politischen oder gesellschaftlich relevanten Bezügen zu einer Dogmatisierung unumstößlicher Wahrheiten. Denn die Auseinandersetzung, die mit dem Erscheinen der Fundamentals 1909 begann, entzündete sich – wie bereits im Titel deutlich wird – an dem Begriff der truth, der Wahrheit. Daran anknüpfend soll im Folgenden der Frage nachgegangen werden, ob es diese Suche nach der Wahrheit und damit verbundene Tendenzen zur Radikalisierung auch in der polytheistischen römischen Religion gab. Im Mittelpunkt meiner Untersuchung steht dabei eine religiöse Erscheinung, die mit Beginn der Kaiser1
The Fundamentals. A Testimony to the Truth, Volume I, Testimony Publishing Company, Chigaco/ Ill. 1909 (Repr. edited with an introduction by G. M. Marsden, New York – London 1988).
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zeit zentrale Bedeutung gewann, gleichzeitig aber wesentlich ältere, auch nichtrömische Kulturschichten in sich trug: die Kaiserapotheose. Es wird zu zeigen sein, dass sich seit der Mitte des ersten vorchristlichen Jahrhunderts die Sichtweise auf das Phänomen der Apotheose von Menschen politisch motiviert veränderte: Es kam durch Caesar und Augustus zu einer Theologisierung der Apotheose.2 Diese Theologisierung lässt sich aus den Ritualen und Zeremonien bei der Kaiserapotheose im ersten und zweiten Jahrhundert herauslesen. Damit einhergehend konnten Zweifler an diesem Phänomen nicht nur wegen der Verletzung einer gesellschaftlichen, sondern auch einer religiösen Norm stigmatisiert und belangt werden. Die Kaiserapotheose wurde gleichermaßen zu einem fundamentum religionis wie zu einem fundamentum rei publicae. Die politischen Folgen dieser Entwicklung waren weitreichend. Um das Phänomen der Vergöttlichung von Menschen historisch und religionsgeschichtlich richtig einordnen zu können, seien zwei kurze Vorbemerkungen zu den politischen und philosophischen Voraussetzungen der Apotheose in Rom an den Beginn der Ausführungen gestellt. Die Idee einer Vergöttlichung von Menschen war in der römischen Vorstellungswelt durch die Person des Stadtgründers Romulus zwar im mythologischen Gedächtnis verankert, in der politischen Realität der Republik allerdings tabuisiert. Obwohl auch die Zeit der Republik jene Phänomene der Grenzüberschreitung zwischen Menschen und Göttern kannte – zu nennen wäre an dieser Stelle nur exemplarisch die Rolle des Triumphators oder die religiös begründete Sonderstellung der Patrizier – blieben alle Versuche, eine religiös legitimierte Sonderstellung innerhalb der herrschenden Adelsschicht zu konstituieren, ohne langanhaltende Wirkung. Zwar veränderte der griechische Einfluss im zweiten und ersten Jahrhundert v. Chr. das römische Denken partiell, aber letztlich schaffte erst die Einrichtung der Monarchie die Notwendigkeit und die Voraussetzung einer auch im religiösen Bereich angesiedelten Legitimation. Auf der politischen Seite stellte also die Wandlung zur Monarchie die Prädisposition der Herrscherapotheose dar. Auf der theologisch-philosophischen Seite war die Ausgangslage schwieriger, da es keine einheitliche Vorstellungswelt von der menschlichen Seele oder dem jenseitigen Leben gab. Zahlreiche Aussagen philosophischer Schriften, aber auch Grabinschriften vermitteln den Eindruck, dass eine Existenz jenseitiger Welten vielfach grundsätzlich abgelehnt wurde. 3 Dort wo man eine jenseitige Welt bejahte, herrschte in der Frage des Weiterlebens der Seele und der jenseitigen Existenz des Menschen ein gewisser Eklektizismus vor. Grundlegend für den Apotheoseglauben war die platonische Vorstel2
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Auf dieses Vorbild weist auch Appian hin, wenn er schreibt: „[…] Octavian […] ließ Caesar göttliche Ehren zuteil werden. Von jenem Vorbilde ausgehend erweisen heutzutage die Römer dem jeweiligen Inhaber des Amtes bei seinem Tode die gleiche Auszeichnung, es sei denn, dass er tyrannisch regierte oder sich sonst Tadel zuzog.“ (Appian b.c. 2, 148). Vgl. T.PEKÁRY: Mors perpetua est, 87–103.
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lung, die Seele habe eine göttliche Herkunft und damit einen besonderen Wert und werde aus diesem Grund als unsterblich erachtet. Diesem Gedankengang folgend, verlässt die Seele beim Tod den Körper wie ein Vogel, der zum Himmel empor fliegt. Als Konsequenz dieses Denkens kann im ciceronischen Werk der Körper zum Kerker der Seele werden, dem sie nicht ohne äußeres Zutun und Hilfe entkommen kann. 4 Der zweite philosophische Gedanke, der der Kaiserapotheose zugrunde liegt, ist jener der Verbindung von der menschlichen Seele mit den Sternen. Auch hier kann Cicero als Gewährsmann des Denkens seiner Zeit gelten. Die Gestirne – so Cicero in de natura deorum – müssen als beseelte Wesen betrachtet werden, die aufgrund ihrer besonderen Beschaffenheit unter die Götter zu rechnen sind. 5 Das Ziel des tugendhaften menschlichen Lebens müsse es sein, zu den Sternen, also zu den Göttern zu gelangen, um dort das ewige Leben zu genießen. Dies geschehe – so Cicero in seinem bekannten Wort des Somnium Scipionis – all denjenigen, die das Vaterland bewahrt, ihm geholfen und es gefördert haben 6 . Hier fließt der Leistungsgedanke in die Apotheose-Theologie ein. Dabei darf man aber nicht dem Trugschluss erliegen, jeder Mensch habe die Möglichkeit gehabt, durch Leistung Göttlichkeit zu erlangen, denn die Leistung, die zur Göttlichkeit führte, resultierte aus einer besonderen Transzendenz bestimmter Menschen. Diese lag wiederum im Bereich des Göttlichen begründet, sei es durch göttliche Erwählung oder Zeugung. Diese politischen wie philosophischen Voraussetzungen wurden mit Beginn der Kaiserzeit in eine Form gegossen, die für die nächsten drei Jahrhunderte mehr oder weniger stabil blieb. In der Forschungsdiskussion um dieses Thema, die bis zu Bickermanns grundlegendem Aufsatz über die Kaiserapotheose aus dem Jahr 1929 zurückreicht, 7 standen vornehmlich die zeremoniellen Abläufe im Vordergrund und man versuchte die religiösen Hintergründe der Kaiserapotheose aus dem Zeremoniell heraus zu erklären, indem man die einschlägigen überlieferten Quellen entweder akzeptierte oder ablehnte. 8 Dabei kreiste man hauptsächlich um Detailfragen: Ab wann setzte der Adlerflug ein? Zeichnet Cassius Dio nicht doch eher das Bild seiner eigenen severischen Zeit, wenn er die Apotheose des Augustus beschreibt? Welche Rolle spielte der Schwurzeuge? Sind nicht die griechischen Quellen die glaubwürdigeren, da die lateinischen das für jeden Römer ohnehin Offensichtliche vernachlässigen? Und schließlich räumte die historische Forschung dem Problem der Doppelbestattung viel Raum ein, ohne eine wirklich befriedigende Antwort auf die Frage zu finden, warum bei manchen Kaisern das Bild im funus publicum, bei anderen der Leichnam, bei dritten (Augustus) beides mitgeführt und öffentlich verbrannt wurde. 4 5 6 7 8
Vgl. U.VOLP: Unsterblichkeit der Seele, 128–133. Cic. nat. deorum 2, 39 und 42; vgl. W. ORTH: Verstorbene werden zu Sternen, 148–166, hier 154f. Cic. de rep. 6, 13. E. BICKERMANN: Die römische Kaiserapotheose, 1–34. Vgl. u.a. W. KIERDORF: „Funus“ und „consecratio“, 43–69.
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All diese Diskussionen vernachlässigten das theologische Grundgerüst und konzentrierten sich zu stark auf das Zeremoniell. Vor allem aber wurde stets das Vorbild Caesars vernachlässigt. 9 Dies geschah teils bewusst, 10 teils weil man in den Ereignissen nach Caesars Tod keine strukturierte Planung sondern eine Reaktion auf herrschendes Chaos sah. Man übersah dabei, dass die antiken Vorstellungen von der Vergöttlichung Caesars nicht nur in den 40er und 30er Jahren des ersten Jahrhunderts v. Chr. geprägt wurden. Caesars Apotheose wurde von Augustus von dem Erscheinen des sidus Iulium im Sommer 44 v. Chr. an bis zu seinem Tod 14 n. Chr. als Prototyp der eigenen Apotheose dargestellt und propagiert. Zwei einschlägige Stellen bei Ovid – in den Metamorphosen und in den Fasten – geben uns einen Eindruck, wie die Vergöttlichung Caesars in der augusteischen Propaganda transportiert wurde: 11 Ov. met. 15, 840–851 […] hanc animam interea caeso de corpore raptam / fac iubar, ut semper Capitolia nostra forumque / divus ab excelsa prospectet Iulius aede!' / Vix ea fatus erat, medi cum sede senatus / constitit alma Venus nulli cernenda suique / Caesaris eripuit membris nec in aera solvi / passa recentem animam caelestibus intulit astris / dumque tulit, lumen capere atque ignescere sensit / emisitque sinu: luna volat altius illa / flammiferumque trahens spatioso limite crinem / stella micat […] „ ,[…] Du aber entreiße inzwischen dem gemordeten Körper die Seele und mache sie zum strahlenden Licht, damit der göttliche Iulius vom erhöhten Hause aus immer auf mein Kapitol und das Forum herabblickt.‘ Kaum hatte er dies gesprochen, da stand schon die mütterliche Venus, von keinem gesehen, mitten im Saal des Senats. Sie entreißt die Seele ihres Caesars Leib, duldet nicht, dass die noch frische Seele sich in Luft auflöst und trägt sie zu den himmlischen Sternen. Während sie sie trägt, spürt sie, wie sie Licht fängt und in Flammen aufgeht, und entlässt sie aus dem Bausch (ihres Gewandes). Höher als der Mond fliegt diese und zieht einen Schweif von Flammen weithin hinter sich her. Wie ein Stern glänzt sie […]“
Ganz ähnlich liest sich Ovids Darstellung der Apotheose Caesars in den Fasti: Ov. fast. 3, 697–704 praeteriturus eram gladios in principe fixos, / cum sic a castis Vesta locuta focis: / ‘ne dubita meminisse: meus fuit ille sacerdos; / sacrilegae telis me petiere manus. / ipsa virum rapui simulacraque nuda reliqui: / quae cecidit ferro, Caesaris umbra fuit.’ / ille quidem caelo positus Iovis atria vidit, / et tenet in magno templa dicata foro;
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Hier ist grundsätzlich auch der These Chantraines zuzustimmen, der betont: „Die bisherigen Untersuchungen […] haben nicht die Phänomene des 1. Jh. gebührend herangezogen oder gar die Bräuche und Vorschriften der römischen Republik unter die Lupe genommen. Bei einem konservativen Volk, wie es die Römer waren, ist dieser Ansatz nicht nur legitim, er ist geboten.“ (H. CHANTRAINE: „Doppelbestattungen“ römischer Kaiser, 71–85, hier 79). 10 I. GRADEL – P. KARANASTASSI: Roman Apotheosis, 197. 11 Vgl. auch L. VOIT: Caesars Apotheose, 49–56.
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„Schweigen wollte ich schon von den Dolchen, die Caesar durchbohrten, / Als vom heiligen Herd Vesta das Folgende sprach: / ‚Zaudere nicht, daran zu erinnern! Mein Priester war jener, / Mich griff die frevelnde Hand mit ihrem Dolch damals an! / Ich entrückte den Mann, nur ein leeres Bild ließ ich ihnen: / Was durch die Dolche fiel, war Caesars Schatten ja nur!‘ / Er stieg zum Himmel auf, sah dort Iupiters Haus und besitzt nun / Einen Tempel; man hat ihn auf dem Forum geweiht.“ 12
Die Sternwerdung und damit Apotheose Caesars geschieht durch den expliziten Willen und das Eingreifen der Götter. Die Seele kann sich nicht selbst aus dem Kerker des Körpers befreien, sie muss durch göttliches Eingreifen entrissen werden. Die bildliche Darstellung des sidus Iulium setzte diesen Prozess göttlichen Eingreifens in ein allgemein verständliches Symbol um. Wir lesen später in Servius’ Vergil-Kommentar, dass Augustus die Öffentlichkeit erst von dieser Deutung des Kometen überzeugen musste, da auch andere Interpretationen im Raum standen. Ihm war es aber wichtig, dieses Bild von der Apotheose Caesars im öffentlichen Gedächtnis zu verankern, auch wenn er in seiner Autobiographie eher den Anschein erweckte, die Initiative sei vom Volk ausgegangen. Die Münzen mit dem sidus Iulium und das Anbringen des Sternensymbols an den Statuen Caesars zeigen deutlich die Verbildlichung einer zum Standard erhobenen Theologie. Dieser Linie in der Frage der Kaiserapotheose blieb Augustus nun auch in den Jahren seiner Regentschaft und in der Planung seines eigenen Todes treu. Soweit es in den Quellen fassbar ist, zeichneten die einschlägigen pro-augusteischen Autoren die Erhebung des Augustus zu den Sternen vor: Sowohl Vergil 13 als auch Ovid 14 sahen für Augustus einen Platz unter den Sternen voraus 15 und das astro-
12 Übersetzung nach Publius Ovidius Naso: Fasti. Festkalender, Lateinisch-deutsch. Auf der Grundlage der Ausgabe von Wolfgang Gerlach neu übers. und hrsg. von N. Holzberg, Düsseldorf 1995, 137. 13 Verg. georg. 1, 24–36: tuque adeo, quem mox quae sint habitura deorum / concilia incertum est, urbisne invisere, Caesar, / terrarumque velis curam, et te maximus orbis / auctorem frugum tempestatumque potentem / accipiat cingens materna tempora myrto; / an deus immensi venias maris ac tua nautae / numina sola colant, tibi serviat ultima Thule, / teque sibi generum Tethys emat omnibus undis; / anne novum tardis sidus te mensibus addas, / qua locus Erigonen inter Chelasque sequentis / panditur (ipse tibi iam bracchia contrahit ardens / Scorpius et caeli iusta plus parte reliquit); / quidquid eris […]„Vor allem auch du, von dem wir nicht wissen, in welchen Rat der Götter er bald eintritt, ob du, Caesar, lieber Städte besuchen und Länder beschirmen willst und dich der riesige Erdkreis als Spender der Feldfrucht und Herrscher über Wind und Wetter empfängt […] oder magst du dich als neues Gestirn den langsamen Monaten zugesellen, dort, wo sich der Raum zwischen Erigone und den ihr folgenden Skorpionenscheren öffnet […]“ 14 Ov. met. 15, 838–440: futuri / temporis aetatem venturorumque nepotum / prospiciens prolem sancta de coniuge natam ferre simul nomenque suum curasque iubebit, / nec nisi cum senior meritis aequaverit annos, / aetherias sedes cognataque sidera tanget. „[…] In die Zukunft und die Zeit der Enkel vorausblickend, wird er den von der keuschen Gattin geborenen Nachkommen seinen Namen und seine Sorgen mittragen lassen und erst, wenn er als älterer Mann die Jahre des Vaters übertroffen hat, die himmlischen Hallen und die ihm verwandten Sterne erreichen.“ 15 ORTH, Verstorbene werden zu Sternen, 162f.
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nomische Werk des Manilius 16 sah ihn auf direktem Weg zurück in die Milchstraße, aus der er auch zur Erde herabgestiegen war. Gleichzeitig wurde aber auch die Idee des göttlichen Eingreifens bei der Apotheose weiterhin nach außen propagiert. Allerdings – und dies muss stärker als bisher in der Forschung geschehen betont werden – ist eine Veränderung der Bildsprache erkennbar: Der Larenaltar von 7 v. Chr. mit der Darstellung der Himmelfahrt Caesars auf einem Wagen und einem über ihm schwebendem Adler lenkte erstmals das Augenmerk auf einen neuen Seelenträger. 17 Der Adler, bereits seit den 20er Jahren v. Chr. als Herrschaftssymbol mit der Person des ersten Princeps und seiner Familie verbunden, tritt hier erstmals als Vogel der Kaiserapotheose in Erscheinung. Zwar findet sich weiterhin auf Münzen – beispielsweise aus Lyon, wo noch nach dem Tod des Tiberius der Stern als Apotheosesymbol dargestellt ist 18 – die Idee der als Stern aufsteigenden Seele, der Adler scheint aber seit Augustus bei den Herrschern der julisch-claudischen Dynastie Favorit geworden zu sein. Abgesehen von seiner positiv besetzen Bedeutung als Götter- und Herrschervogel konnte man wohl mit Hilfe dieses Bildes vom aufsteigenden Adler die zeusgewollte Apotheose am besten ausdrücken. Der Adler als pars pro toto des Zeus verkörperte hier jene Rolle, die Venus bei der Apotheose Caesars spielte. Zugleich war das Motiv des Adlers als Seelenträger in der antiken Kultur ein allgemein verständliches und nachvollziehbares. Anklänge an den Ganymed-Mythos schienen durchaus erwünscht. Das Entscheidende war wohl nicht das Transportmittel, sondern die Tatsache, dass durch den Transporteur der göttliche Wille und das göttliche Eingreifen ersichtlich werden musste. So entpuppt sich der Streit um die Beschreibung der Apotheose des Augustus in der Forschung als ein lässlicher. Die verschiedenen Beschreibungen und Darstellungen zeigen letztlich dieselbe Botschaft: Der Herrscher wird von den Göttern entrückt. 19 Offensichtlich ist hier in Ansätzen ein Prozess nachvollziehbar, in dem sich eine akzeptierte und gültige (Lehr-)Meinung zur Apotheose verstorbener Herrscher herauskristallisierte. Den Anfangspunkt bildete Caesar, dessen Apotheose zumindest nachträglich von Augustus persönlich als Katasterismos stilisiert wurde. Während der Lebzeiten des Augustus blieb dieses Konzept virulent, wurde aber von anderen Vorstellungen, wie dem Adler, ergänzt. Welches Konzept Au16 Manil. 1, 799–802: descendit caelo caelumque replebit, / quod reget, Augustus, socio per signa Tonante, / cernet et in coetu divum magnumque Quirinum / altius aetherii quam candet circulus orbis.; vgl. auch ORTH, Verstorbene werden zu Sternen, 163 Anm. 45. 17 Vgl. Abb. 1. 18 RIC I 103, Nr. 1. 19 Ein wenig beachteter Beleg in diesem Zusammenhang ist die Beschreibung der AugustusEntrückung in der Aratos-Übersetzung des Germanicus (Germanici Caesaris Aratea 558–560: hic, Auguste, tuum genitali corpore numen / attonitas inter gentis patriamque paventem / in caelum tulit et maternis reddidit astris.) Als erster flamen des divus Augustus und Familienmitglied kann Germanicus doch als besonders verlässlicher Zeuge gelten: Demnach wurde Augustus nach seiner Konsekration auf dem Körper des Capricornus, seines Sternzeichens, in den Himmel entrückt und den mütterlichen Sternen beigestellt – hier wird also wiederum der Bezug zu Venus hergestellt.
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gustus selbst für seine consecratio vorgesehen hatte, lässt sich nicht mehr feststellen, weil es mehrere Überlieferungsstränge gibt: den Adler bei Cassius Dio, den Capricornus bei Germanicus, den Stern im Münzbild (Lyon), das aufsteigende Bild bei Sueton. In jedem Fall scheint das Verdikt des Tacitus, 20 Augustus habe den Göttern nichts an Ehrungen vorbehalten und wollte im Götterbild von Flamines und Priestern verehrt werden, eindeutig zu belegen, dass die Anweisung, wie die genaue Verehrung der divi auszusehen hatte, von Augustus selbst kam. Schauen wir ein Stück in die Zukunft: Selbst noch beim Tod des Tiberius scheint der Katasterismos Thema gewesen zu sein, wenn man sich die unmittelbar nach dem Ableben des Tiberius geprägten Münzen aus Lyon betrachtet, wo man wohl vorschnell mit einer Apotheose rechnete und Münzen – nach dem Vorbild von 14 n. Chr. – mit dem Bildnis des Tiberius und zwei Sternen (für die divi Augustus und Tiberius) prägen ließ. Nach kurzer Zeit wurde allerdings das Bild des Tiberius durch das des Augustus ersetzt, die beiden Sterne blieben und müssen nun wohl als Symbol für Caesar und Augustus gedeutet werden. 21 Spätestens mit Claudius und Titus hat sich dann aber wohl der Adler als Seelenträger durchgesetzt, haben wir doch zumindest in der bildlichen Darstellung klare Hinweise darauf. 22 Im zweiten Jahrhundert gehörte der Adler schließlich zum Standardrepertoire. Wichtig scheint dabei gewesen zu sein, dass das Eingreifen der Götter nach dem Vorbild Caesars betont wurde. So wie Venus die Seele Caesars dem toten Körper entriss, so konnte das Bild des Adlers eine eindeutige Assoziation mit dem göttlichen Willen herstellen. Es blieb damit auch kein Zweifel, dass die Erhebung zum Staatsgott ein Akt göttlichen Willens war, den der Senat bestätigte. Hier wurde folglich ein neues religiöses Raster geschaffen, auf dessen Basis die nachfolgenden Herrscher vergöttlicht wurden. Dass dies keine Randnotiz römischer Politik war, zeigt schon die Tatsache, dass innerhalb von etwa zwei Jahrhunderten etwa 20 divi vom Senat anerkannt und z.T. bis in das 5. Jahrhundert hinein verehrt werden. Dies lässt zumindest jenes Elfenbeindiptychon aus dem 5. Jahrhundert mit der Darstellung der Apotheose des Antoninus Pius vermuten, das auf eine bestehende religiöse Infrastruktur dieses Kultes über drei Jahrhunderte hindeutet. 23 Diese Kultstiftungen verlangten ein theologisches Fundament, das
20 Tac. ann. 1, 10, 6: Nihil deorum honoribus relictum, cum se templis et effigie numinum per flamines et sacerdotes coli vellet. „Nichts sei den Göttern an Ehrungen vorbehalten, da er in Tempeln und im Götterbild durch Flamines und Priester verehrt werden wollte.“ 21 Vgl. H. MATTINGLY: Some Historical Roman Coins, 37–42; Catalogue des monnaies de l’empire Romain, Bd. II De Tibère à Néron, hrsg. von J.-B. Giard, Paris 1988, 60, Pl. XI, Nr. 1–7. 22 Vgl. Abb. 2. 23 Vgl. Abb. 3. Zur Diskussion um die Darstellung vgl. P. ZANKER: Die Apotheose der römischen Kaiser, 62ff; R. DELBRUECK: Die Consulardiptychen und verwandte Denkmäler, 227– 230 (Nr. 59). Nach Delbrueck war der Anlass der Schaffung des Diptychons die Übernahme eines Priesteramtes für den divus Antoninus Pius und die Ausrichtung damit verbundener
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wir heute leider nur aus der Beschreibung des Zeremoniells oder der bildlichen Darstellung erschließen können. Dabei darf man wohl nicht davon ausgehen, dass dieses Fundament sehr rigide gehandhabt wurde, im Gegenteil. Das Apotheoseverfahren muss äußerst flexibel gewesen sein, musste es doch auch auf schwierige Situationen reagieren können, beispielsweise, wenn die Leiche des Herrschers fehlte oder bereits in der Provinz verbrannt worden war. Hier wird nun ein grundsätzliches Charakteristikum der kaiserzeitlichen Religion deutlich: Die theologische Oberinstanz war der Kaiser. Das Apotheoseritual oblag seinem persönlichen Gestaltungswillen; er entschied, wer konsekriert wurde und wohl auch wie – als Beispiele seien hier nur die Kaiserschwester Drusilla oder der Kurzzeitkaiser Pertinax genannt. Es ist fraglich, ob der Kaiser dies in seiner Funktion als pontifex maximus entschied. Viel eher scheint er in seiner Funktion als Herrscher entschieden zu haben. Anders als in der Republik war die senatorische Elite von diesem Vorgang nahezu ausgeschlossen. Insofern zeigt sich bereits mit Augustus, wie die theologische Meinungsbildung in den engsten Zirkel des Herrschers verlagert und von dort aus medial propagiert wurde. Vor diesem Hintergrund erschließt sich auch die bereits von Bickermann aufgeworfene und bis in die Gegenwart hinein diskutierte Frage, ob der Senat nur die Göttlichkeit des Herrschers legalisierte, indem er ihm einen Kult einrichtete – ähnlich der römischen Kurie, die einen Heiligen kanonisiert – oder – wie Gradel erst kürzlich im Thesaurus cultus et rituum antiquorum 24 betonte – der Senat den neuen Gott tatsächlich aus eigener Macht schuf. Vor dem Hintergrund des stets mit der consecratio verbundenen Seelenaufstiegs mit Hilfe eines göttlichen Vehikels, also der eindeutig göttlichen Auswahl und Bekräftigung des Apotheoseaktes, muss der Senat wohl eher in der Rolle einer anerkennenden und nicht einer erschaffenden Instanz gesehen werden. 25 Was geschah aber nun, wenn die theologische und die politische Sphäre kollidierten? Lassen sich also Entwicklungen, wie sie in der Diskussion um die fundamentals stattgefunden haben, auch im Kontext der Kaiserapotheose feststellen? Kurz: Gibt es einen Weg vom fundamentum zum Fundamentalismus? Beharrten die Kaiser also auf ihrer Lehrmeinung und setzten diese mit Gewalt durch? Welche Gegenbewegungen können wir fassen, die sich ganz bewusst gegen die offizielle Lehrmeinung des römischen Staates richteten? Man hat unter anderem aus dem Briefwechsel des Plinius mit Trajan geschlossen, dass der Kaiserkult und damit auch der Glaube an die Transzendenz des verstorbenen Herrschers nicht im religiösen Sinne verpflichtend gewesen seiSpiele. Allerdings ist der Bezug zu Antoninus Pius zwar plausibel, aber nicht eindeutig belegbar. 24 ThesCRA II, 196f; vgl. auch I. GRADEL: Emperor Worship and Roman Religion, 288–291. 25 Dafür spricht auch eine Grabinschrift aus flavischer Zeit (CIL VI 21521), in der der Verstorbene zurückkehrt und seinem trauernden Verwandten erzählt, er sei nun ein Gott (deus) und Venus habe ihn als Stern in den Himmel getragen. Hier ist die Kaiserapotheose in den Volksglauben eingegangen, nur dass es im Fall dieses Verstorbenen eben keine Kulteinrichtung durch den Senat gab. Klar ist aber, nicht der Senat entschied über den Seelenaufstieg, sondern die Götter, der Senat richtet lediglich den Kult ein.
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en, sondern dass es hierbei in erster Linie darum ging, das religiöse Ritual aus Opfern, Gelübden, Prozessionen, Hymnen etc. korrekt durchzuführen und den Vollzug nach Rom zu melden. Die Teilnahme am Kaiserkult wird in der Literatur vielfach als soziale Verpflichtung verstanden und ihre Verweigerung als Angriff auf ein fundamentum rei publicae. Der eigene Glaube, die individuelle religiöse Überzeugung, sei davon nicht berührt gewesen und sei auch vom römischen Staat nicht kontrolliert worden. 26 Dieser Annahme widerspricht der bei Tacitus geschilderte Fall des Publius Clodius Thrasea Paetus. 27 Die causa Thrasea wird von Tacitus vor dem Hintergrund der senatorischen Opposition gegen das Regime Neros geschildert. Thrasea, Anhänger der stoischen Weltanschauung, wird als Inbegriff des tugendhaften Senators präsentiert, der letztlich lieber den Tod wählte als die Freiheit seines Denkens aufzugeben. 28 Sein Verhalten wird in der Regel als politische Opposition gedeutet. Thrasea, der aus dem oberitalischen Padua stammte, 29 war im Jahr 56 n. Chr. für einige Monate Konsul gewesen und Mitglied im Kollegium der Quindecimviri. Er war ein äußerst konservativer, den mores maiorum verpflichteter Senator, für den der Bruch mit Nero wohl mit dem Mord an Agrippina begann. 30 Danach begab er sich sukzessive in eine Art innere Emigration und nahm schließlich gar nicht mehr am politischen Leben teil. Dies bedeutete allerdings auch, dass er seine religiösen Pflichten als Senator wie als Priester nicht mehr erfüllte. Die Anklagepunkte, die schließlich im Prozess gegen ihn vorgebracht wurden, 31 lassen sich in zwei Kategorien einteilen: Zum einen warf man ihm die Vernachlässigung seiner bürgerlich-politischen Pflichten als Senator vor und zum anderen die Missachtung seiner religiösen Pflichten als Priester aber auch als Bürger. Zur ersten Kategorie gehörte, dass er drei Jahre lang die Kurie nicht betreten habe, was als aufrührerisches Verhalten gedeutet wurde. In der zweiten Kategorie warf man ihm vor, er lege den Treueid auf den Kaiser nicht ab, er nehme nicht an den Gelübden teil, obwohl er der Priesterschaft der Quindecimviri angehöre, und er opfere nicht für das Wohl des Princeps. Die darüber hinaus vorgebrachten Anklagepunkte fallen nun ganz eindeutig in den Bereich des persönlichen Glaubens: Thrasea glaube nicht an die Göttlichkeit der Poppaea und schwöre nicht auf die Verordnungen des
26 So konstatierte aktuell Richard Gordon in seinem Aufsatz über superstitio in der späten Republik und in der Kaiserzeit im Hinblick auf die Christen, ihre Schuld habe in ihrer Verweigerungshaltung gelegen, Opfer zu vollziehen und als Mitglieder der Gemeinschaft zu handeln: „The reason for this refusal, including their belief in a different sort of god to whom sacrifice was unacceptable, were not at issue.” (R. GORDON: Superstitio, 90). 27 Tac. ann. 16, 21. 28 So wundert es auch nicht, dass er zum Vorbild der liberalen Bewegungen des 19. Jh. werden konnte. Vgl. W. A. SCHMIDT: Geschichte der Denk- und Glaubensfreiheit, 88. 29 Vgl. R. SYME: A Political Group, 568–587. 30 Tac. ann. 14, 12, 1. 31 Tac. ann. 16, 22.
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divus Augustus und des divus Iulius – auch dies implizierte, dass Thrasea nicht an die Göttlichkeit beider glaube. 32 Dass es sich bei dem gesamten Prozess sehr wohl auch um eine Überprüfung persönlicher religiöser Einstellungen handelte, verdeutlicht eine Szene, die Tacitus im Zusammenhang des Prozesses gegen den Mitangeklagten Thraseas, einen Mann namens Borea Soranus, schildert. Man zog nämlich die Tochter des Soranus vor Gericht und warf ihr – im Zusammenhang mit den Anschuldigungen gegen ihren Vater – vor, magische Beschwörungen abgehalten zu haben, offensichtlich, um dem Kaiser zu schaden. Sie gestand die Kontakte zu den Magiern, beharrte aber tränenreich darauf, dies wäre nur geschehen, um ihrem Vater zu helfen. Ihre dramatische Aussage endet mit den Worten „Ich habe nie vom Princeps anders gesprochen als von jemandem, der zu den Göttern gehört“ (inter numina fuit). 33 Es wird klar, dass auch hier der Vorwurf im Raum stand, sie erkenne die Göttlichkeit des Herrschers nicht an. 34 Zudem weist die Verbindung zu den Magiern auf den Vorwurf der superstitio hin, das heißt, das hier dargestellte religiöse Verhalten fiel aus dem akzeptierten Rahmen der römischen Religion heraus. Die Göttlichkeit des Herrschers – vor allem aber der divi – war folglich fest im religiösen Kanon verankert. Eine weitere Episode, die wesentlich früher angesetzt werden muss und die möglicherweise die Reaktion nicht-römischer und nicht-polytheistischer Kreise auf die Selbstvergöttlichungstendenzen der römischen Kaiser zeigt, überliefert Flavius Iosephus. 35 Im Jahr 4 v.Chr., kurz vor dem Tod des Herodes, kam es in Jerusalem zu einem Volksaufstand. Eine kleine Gruppe um zwei beim Volk beliebte Rabbis beschloss, in einem zerstörerischen Akt die – wie es bei Iosephus heißt – „Ehre Gottes zu verteidigen“: 36 „Herodes nämlich hatte über dem großen Tempeltor einen goldenen Adler aufstellen lassen, und eben diesen rieten die Schriftgelehrten herunterzureißen, indem sie hinzufügten, auch wenn Gefahr damit verbunden sein sollte, so sei es doch ehrenvoll, für das väterliche Gesetz zu sterben.“ 37
32 Tac. ann. 16, 22, 3: eiusdem animi est Poppaeam divam non credere, cuius in acta divi Augusti et divi Iuli non iurare. „Dieselbe Gesinnung liegt vor, wenn er an die Göttlichkeit Poppaeas nicht glauben, wie wenn er auf die Verordnungen des göttlichen Augustus und des göttlichen Iulius nicht schwören will.“ 33 Tac. ann. 16, 31, 2: nulla mihi principis mentio nisi inter numina fuit. „[…] ich habe nie vom Princeps anders gesprochen als von jemandem, der zu den Göttern gehört.“ 34 Tac. ann. 16, 33, 2. Zur innerrömischen Opposition vgl. vor diesem Hintergrund auch Tac. ann. 1, 10 (Augustus); 12, 69 und 13, 2 (Claudius). Vgl. darüber hinaus Plut. Rom. 28, 10, der seine Kritik an der Kaiserapotheose in die Geschichte um die Entrückung des Romulus einbindet. 35 Ios. bell. Iud. 1, 648–655 und ant. Iud. 17, 148–164. 36 Ios. bell. Iud. 1, 649f. 37 Ebd. In den ant. Iud. wird die Motivation der Aufständischen wie folgt beschrieben: „Die erwähnten Gesetzeslehrer erklärten daher, der Adler müsse entfernt werden, und wenn auch manchen dabei der Tod ereilen würde, so müssten doch Männer, die für den Schutz der väter-
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Die mit solchen Worten aufgehetzte Masse zog zum Tempeltor und riss den goldenen Adler herunter, um ihn dann vollends zu zerstören. Herodes war außer sich und maß der Sache eine große Bedeutung zu, wie es bei Iosephus heißt. Er ließ die Aufrührer gefangen nehmen und über ihre Motive befragen. Sie verteidigten sich mit den Worten, sie hätten das Haus Gottes in Schutz genommen. Es sollte ihnen nichts nützen: Herodes ließ sie bei lebendigem Leib verbrennen. 38 Das Bild des Adlers wird im griechischen Text als anathema, Weihgeschenk, bezeichnet, es war außen am Tempeltor angebracht, diente also sicherlich nicht als Objekt einer wie auch immer gearteten Verehrung. Die Berufung auf das zweite Gebot durch die Aufrührer erscheint also schon vor diesem Hintergrund zweifelhaft. Noch zweifelhafter wird es, wenn man bedenkt, dass Darstellungen von Tieren auch im Tempel Salomons und an dessen Thron angebracht waren.39 Auch die Provinzialprägungen aus der Zeit Herodes des Großen zeigen auf der Vorderseite einen stehenden Adler und auf der Rückseite ein Füllhorn mit dem Namen des Königs Herodes. 40 Die Literatur hat vielfach die Begründung des Flavius Iosephus, der Adler habe gegen das zweite Gebot verstoßen, abgelehnt und in dem zerstörerischen Akt viel eher ein Aufbegehren gegen die Romfreundlichkeit des Herodes gesehen. Der Adler wurde dabei als Symbol einer römischen Legion und Loyalitätsbezeugung gegenüber der römischen Macht schlechthin gedeutet und als solches als Affront gegen jüdisches Empfinden. 41 Genügt aber die Annahme, es handle sich hier um ein politisch-militärisches Symbol des römischen Staates? 42 Erregte der goldene Adler des Herodes den Volkszorn möglicherweise nicht viel eher, weil er als Annäherung des römischen Klientelfürsten an religiöse Vorstellungen seines römischen Herren Augustus aufgefasst wurde? Zumindest scheint die Radikalität der jüdischen Reaktion dafür zu sprechen, dass hier ihr religiöses Grundempfinden erheblich getroffen war. Die politisch-militärische Erklärung jedenfalls scheint in diesem Fall zu schwach. 43 Dass vor allem für die Christen die Apotheose der verstorbenen Herrscher eine religiöse Provokation darstellte, liegt auf der Hand. In ihren Augen gab es nur einen Gott, keine divi, und in ihren Augen konnte auch nur einer, nämlich Jesus Christus, für sich das Privileg beanspruchen, nach dem Tod in den Himmel zu-
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lichen Gesetze in den Tod gingen, das für viel schöner halten als alle Freuden des Lebens, weil sie sich dadurch ewigen Nachruhm erwürben und für alle Zeiten ein ehrenvolles Andenken sicherten. […] Zudem liege ein großer Trost darin, bei gefahrvollen Unternehmungen sein Leben zu lassen, weil dann auch die gesamten Verwandten, Männer wie Frauen, an dem Ruhm ihren Anteil hätten.“ (Ios. ant. Iud. 17, 152–154). Ios. ant. Iud. 17, 167. Vgl. F. CANCIANI – G. PETTINATO: Salomons Thron, 88–108. RPC 4909; vgl. J. W. VAN HENTEN: Ruler or God?, 275. Vgl. u.a. E. M. SMALLWOOD: The Jews under Roman Rule, 99; U. BAUMANN: Rom und die Juden, 226f. mit Anm. 128. Vgl. VAN HENTEN, Ruler or God?, 271–278. Auch die Parallelen zu den Ereignissen um die Herrschaft des Caligula 39–41 n. Chr. sind nach Ansicht der Autorin hier noch zu wenig berücksichtigt worden.
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rückgekehrt zu sein. Die Kaiservergöttlichung erschien ihnen lasterhaft und bot für zahlreiche Angriffe Raum. Die drei folgenden Quellen sollen dies exemplarisch verdeutlichen: Justin der Märtyrer, Erste Apologie, 21 τί γὰρ λέγομεν τὴν Ἀριάδνην καὶ τοὺς ὁμοίως αὐτῇ κατηστερίσθαι λεγομένους; καὶ τί γὰρ τοὺς ἀποθνήσκοντας παρʹ ὑμῖν αὐτοκράτορας, ἀεὶ ἀπαθανατίζεσθαι ἀξιοῦντες καὶ ὀμνύντα τινὰ προάγετε ἑωρακέναι ἐκ τῆς πυρᾶς ἀνερχόμενον εἰς τὸν οὐρανὸν τὸν κατακαέντα Καίσαρα; […] ἀπαθανατίζεσθαι δὲ ἡμεῖς μόνους δεδιδάγμεθα τοὺς ὁσίως καὶ ἐναρέτως ἐγγὺς θεῷ βιοῦντας, κολάζεσθαι δὲ τοὺς ἀδίκως καὶ μὴ μεταβάλλοντας ἐν αἰωνίῳ πυρὶ πιστεύομεν. „Was sollen wir noch von Ariadne sagen und denen, welche die Sage, wie sie, unter die Sterne versetzt hat? Und was von den unter euch dahinsterbenden Herrschern, die ihr immer für wert haltet, unter die Unsterblichen versetzt zu werden, so dass ihr einen vorführt, der schwört, er habe den verbrannten Kaiser vom Scheiterhaufen zum Himmel auffahren sehen? 44 […] Zur seligen Unsterblichkeit aber gelangen nach unserer Lehre nur die, welche in heiligem und tugendhaftem Leben Gott nahe kommen; wer aber ungerecht lebt und sich nicht bekehrt, der wird gemäß unserem Glauben in ewigem Feuer gestraft.“ Tertullian, Apologeticum, 21, 30f. Licuerit et Christo commentari divinitatem, rem propriam, non qua rupices et adhuc feros homines multitudini tot numinum demerendorum attonitos efficiendo ad humanitatem temperaret, quod Numa, sed qu[i]a iam expolitos et ipsa urbanitate deceptos in agnitionem veritatis ocularet. Quaerite igitur, si vera est ista divinitas Christi, si ea est, qua cognita ad bonum quis reformatur, sequitur ut falsae renuntietur, comperta inprimis illa omni ratione, quae delitiscens sub nominibus et imaginibus mortuorum quibusdam signis et miraculis et oraculis fidem divinitatis operatur. „Es dürfte auch wohl Christus freigestanden haben, Erklärungen über die Gottheit, sein Eigentum, zu geben, nicht in der Weise, das er ganz ungebildete und noch wilde Menschen durch eine so große Anzahl Gottheiten, deren Wohlwollen zu gewinnen sei, gleichsam verblüfft machte und sie so zur Zivilisation heranbildete, wie Numa es tat, sondern wie einer, der schon zivilisierten und durch Überbildung in die Irre geführten Menschen die Augen zur Erkenntnis öffnet. Untersuchet also, ob diese Gottheit eine wahre sei. Wenn sie das ist, so folgt aus ihrer Erkenntnis, dass man der falschen entsagen muss, nachdem man vor allem jene in ihrer ganzen Art genau kennen gelernt hat, die, unter Namen und Bildern von Verstorbenen versteckt, durch gewisse Zeichen, Wunder und Orakel den Glauben an ihre Göttlichkeit hervorzurufen sucht.“
44 Der Bericht des Justin ist bei der Untersuchung des Apotheoserituals bisher noch zu wenig beachtet worden. Er spricht noch um das Jahr 150 n. Chr. vom Schwurzeugen, der bislang als Phänomen des frühen ersten Jahrhunderts angesehen wurde.
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Tertullian, De spectaculis, 30 quid admirer? quid rideam? ubi gaudeam, ubi exultem, tot spectans reges, qui in caelum recepti nuntiabantur, cum Iove ipso et ipsis suis testibus in imis tenebris congemescentes? item praesides persecutores dominici nominis saevioribus quam ipsi flammis saevierunt insultantes contra Christianos liquescentes? quos praeterea? sapientes illos philosophos coram discipulis suis una conflagrantibus erubescentes, quibus nihil ad deum pertinere suadebant, quibus animas aut nullas aut non in pristina corpora redituras adfirmabant? etiam poetas non ad Rhadamanthi nec ad Minonis, sed ad inopinati Christi tribunal palpitantes? „Was wird da [bei der Wiederkunft des Herrn] der Gegenstand meines Staunens, meines Lachens sein? Wo der Ort meiner Freude, meines Frohlockens? Wenn ich so viele und so mächtige Könige, von welchen es hieß, sie seien in den Himmel aufgenommen, in Gesellschaft des Jupiter und ihrer Zeugen 45 selbst in der äußersten Finsternis seufzen sehe; wenn so viele Statthalter, die Verfolger des Namens des Herrn, in schrecklicheren Flammen, als die, womit sie höhnend gegen die Christen wüteten, zergehen; wenn außerdem jene weisen Philosophen mit ihren Schülern, welchen sie einredeten, Gott bekümmere sich um nichts, welchen sie lehrten, man habe keine Seele, oder sie werde gar nicht oder doch nicht in die früheren Körper zurückkehren – wenn sie mitsamt ihren Schülern und von ihnen beschämt im Feuer brennen, und die Poeten nicht vor dem Richterstuhl des Rhadamantus oder Minos, sondern wider Erwarten vor dem Richterstuhl Christi stehen und zittern!“
Als Fazit lässt sich konstatieren, dass bereits mit Augustus eine Theologisierung der Kaiserapotheose stattfindet, die als relativ stabiles religiöses Konstrukt bis ins dritte Jahrhundert weiterbesteht. Der Glaube an die Apotheose der verstorbenen Mitglieder des Herrscherhauses ist keine reine Loyalitätsbekundung, wie der Fall des Thrasea Paetus oder die Darstellung der Kaiserapotheose des Antoninus Pius noch im 5. Jahrhundert zeigen. Auch auf Seiten der römischen Autorität wird die Kaiserapotheose als mehr als nur Loyalitätsbekundung verstanden; man verlangt im Zweifelsfall auch das persönliche Bekenntnis zu den divi. Es wird mehr als eine passive Teilnahme am Kaiserkult erwartet, nämlich das aktive Glaubensbekenntnis. Die Kaiserapotheose stößt bei religiös anders orientierten, monotheistischen Gruppen auf starken Widerstand. Im Falle der jüdischen und der christlichen Religion speist sich der Widerspruch zur Kaiserapotheose aus der Tatsache, dass es jeweils zwei einander diametral gegenüberstehende und sich ausschließende Fundamente gibt, die als wahr anerkannt werden. Das folgende Laktanz-Zitat drückt diesen Gegensatz aus und führt uns zurück zum Anfangspunkt, nämlich der Frage nach der Wahrheit: […] religio veri cultus est, superstitio falsi. […] superstitiosi ergo qui multos ac falsos deos colunt, nos autem religiosi qui uni et vero deo supplicamus. „Religion ist die Verehrung von dem, was wahr ist, und superstitio von dem, was falsch ist. […] ‚abergläubisch‘ sind also die, die viele und falsche Götter verehren, ‚religiös‘ gilt für uns, die zu dem einen und wahren Gott beten.“ 46
45 Die behaupten, ihre Himmelfahrt gesehen zu haben. 46 Lact., Inst. div. 4, 28, 11; 16.
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„Wie kommt der Kaiser zu den Göttern?“
ABBILDUNGEN Darstellungen der Apotheose Caesars
Abb 1. Larenaltar, Rom Vatikan (Inv.Nr. 1115) , ca. 7 v.Chr. (Abb. nach ach PAUL ZANKER: Der Larenaltar im Belvedere des Vatikans, MDAI(R) 76 (1969), 205–218.)
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Kaiserapotheose mit Adler (Claudius und Titus)
Abb. 2 Kameo, Apotheose des Claudius auf einem Adler, ca. 54 n.Chr., Bibliothèque Nationale Paris (Abb. nach WOLF-RÜDIGER MEGOW: Kameen von Augustus bis Alexander Severus, Berlin 1987, Taf. 27,1.)
Apotheose des Titus auf einem Adler, Rom, Titusbogen (DAI Rom Inst. Neg. Nr. 79.2635, Foto Schwanke) (Abb. nach ACHIM LICHTENBERGER: „Auf Adlerflügeln“. Über den Adler als Träger des lebenden Kaisers, 184, in: N. Kreutz u.a. (Hgg.): Tekmeria. Archäologische Zeugnisse in ihrer kulturhistorischen und politischen Dimension, Münster 2006, 183– 204.)
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Elfenbeindiptychon, 5. Jh. n.Chr.
Abb. 3: Elfenbeindiptychon mit Darstellung einer Kaiserapotheose (Antoninus Pius?) aus dem 5. Jh., British Museum, London (Abb. nach: RICHARD DELBRUECK: Die Consulardiptychen und verwandte Denkmäler. Bd. 2: Tafeln, Berlin 1929, Nr. 59.)
THEISMUS UND FANATISMUS ÜBERLEGUNGEN ZUR ENTSTEHUNG, BEDEUTUNG UND KONFLIKTTRÄCHTIGKEIT DES SOGENANNTEN HEIDNISCHEN MONOTHEISMUS IM ZWEITEN UND DRITTEN JAHRHUNDERT N. CHR. Peter Eich, Potsdam Der Terminus „Monotheismus“ hat in den letzten Jahrzehnten eine beachtliche Akzent- und Inhaltsverschiebung erfahren. Während in der Beschäftigung mit den ehemals gerade in stolzem Selbstverständnis als monotheistisch aufgefaßten Religionen der Sinn einer solchen Etikettierung immer mehr in Frage gestellt wird, wurde der Begriff von der Forschung andererseits auf religiöse Vorstellungen ausgedehnt, die früher eher schon paradigmatisch für Vielgötterei gestanden haben: „Pagane“ 1 religiöse Überzeugungen des zweiten, dritten und vierten Jahrhunderts nach Christus. Akzeptiert man diese Extension des Wortfeldes, so erweist sich eben jene Phase antiker, römischer oder vielleicht besser imperialer Geschichte als Blüte „monotheistischer“ Vorstellungen, die in besonderem Maße im Fokus des Potsdamer Kolloquiums gestanden hat, dessen Akten hier vorliegen. Zugleich ist diese Phase in besonderem Maße durch religiösen Zelotismus gekennzeichnet. Sicher hat es religiösen Fanatismus in der griechisch-römischen Welt auch schon zuvor gegeben, etwa bei dem Aufflackern religiöser Unduldsamkeit in Athen nach dem Ausbruch der Seuche, die die Stadt seit 430 v. Chr. heimsuchte, 2 oder wenn in Rom in Ausnahmesituationen Menschenopfer vollzogen wurden. 3 Doch scheint mir unbestreitbar, daß die Christenverfolgungen seit Valerian in ihrem Ausmaß und ihrer Systematik ebenso wie dann später die Kaisergesetze gegen Häretiker oder Pagane 4 auf diesem Gebiet eine neue Qualität bedeuteten. In den letzten Jahren standen jedoch eher christliche Verhaltensmuster und christliche Ansprüche im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, wenn das Thema „Fundamentalismus“, wenn auch unter anderen Bezeichnungen, untersucht wurde. R. MacMullen hat 2008 eine Studie über Fanatismus publiziert und dabei fast nur
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Den Begriff „pagan“ verwende ich, trotz seiner notorischen Schwäche, Homogenität vorzuspiegeln, im folgenden faute de mieux. A. RUBEL: Stadt in Angst. Religion und Politik in Athen während des Peloponnesischen Krieges, Diss. Darmstadt 2000. G. KYLE: Spectacles of Death in Ancient Rome, London 1998, 36ff. Eine Kontextualisierung der Gesetze gegen „Pagane” bietet der Beitrag von J. HAHN in diesem Band.
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christliche und jüdische Beispiele behandelt.5 Schon zuvor hatte J. J. O’Donnel die These aufgestellt, pagane Religionsformen hätten sich jedenfalls de facto von der oder den christlich-jüdischen durch ihre Toleranz unterschieden. 6 Mit diesen Thesen korrespondiert die schon angesprochene Neu- und Höherbewertung „monotheistischer“ Strömungen in der großen Zahl der paganen Kulte, und zwar auch schon bezüglich des zweiten und dritten Jahrhunderts, denen ich mich hier speziell widmen werde, auch wenn angesichts der Quellenlage auf Material aus dem vierten Jahrhundert nicht ganz verzichtet werden kann. Die erste Hochphase religiöser Konflikte im Imperium Romanum soll also zugleich eine Blüte des Monotheismus gewesen sein; doch gilt der pagane Monotheismus als tolerant, während die nun nicht mehr in gleicher Weise als monotheistisch eingeschätzten Religionen Christentum und Judentum mit Fanatismus assoziiert werden. Alte Gewißheiten, die über Generationen zum Bestand historischer Kenntnisse gehörten, sind damit nicht nur in Frage gestellt, sondern scheinen regelrecht in ihr Gegenteil verkehrt zu werden. Diese Verschiebungen in den früher anerkannten Bezugshorizonten scheint mir Anlaß genug, diesen Problemkreis: Fanatismus und unterschiedliche Ausprägungen des Theismus, noch einmal in das Blickfeld zu rücken. Insbesondere werden die Genese und Bedeutung des sogenannten heidnischen Monotheismus neu ausgeleuchtet werden, da bei dieser relativ jungen Forschungskategorie meines Erachtens der Schlüssel zu den neuen Bewertungen der spätkaiserzeitlichen religiösen Orientierungen zu suchen ist. Allerdings bedarf es vor dem Eintreten in die Analyse noch einiger methodischer und methodologischer Einschränkungen oder Verklammerungen. Die folgenden Darlegungen können und wollen erstens im Rahmen eines einzelnen Beitrages keine umfassende neue Diskussion der relevanten Quellen und Fragen bieten: Dazu bedürfte es einer substantiellen Monographie. Vielmehr sollen primär quellenkritische Aspekte wieder stärker in den Fokus der Debatte gerückt werden, Aspekte, die natürlich allen an den jeweiligen Forschungsdebatten Beteiligten bekannt sind, die aber in den konkreten Kontroversen, wie mir scheint, nicht immer noch genügend berücksichtigt werden. Fragen der Repräsentativität unserer Überlieferung haben jedoch beachtliche Auswirkungen gerade für die Bewertung von so strittigen Themen, wie es etwa der „religiöse Fanatismus“ ist. Sodann muß das epistemologische Instrumentarium erweitert werden: Die Junktur „heidnischer Monotheismus“ war wegen ihrer provokativen Untertöne gut geeignet, die Debatte zu entfachen, doch kann ein solches Konzept, wie unten noch einmal betont werden wird, einer kritischen Analyse nur bedingt standhalten. Der Terminus Henotheismus und seine variablen Inhalte, die wegen ihrer Vielschichtigkeit gleichermaßen problematisch wie wegen ihres grundsätzlichen Potentials unverzichtbar sind, 5 6
R. MACMULLEN: The Problem of Fanaticism, in : C. Brélaz – P. Ducrey (Hg.), Securitité collective et ordre public dans les sociétés anciennes, Genf u. a. 2008, 246ff. J. J. O’DONNELL: The Demise of Paganism, Traditio 39 (1979), 45ff., 51ff. Solche Sympathiebekundungen gegenüber den paganen Religionen reichen aber natürlich viel weiter zurück. Siehe den Überblick über die Forschungsgeschichte von H. LEPPIN: Zum Wandel des spätantiken Heidentums, Millennium 1 (2004), 59ff.
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werden in besonderem Maße zu Akzentträgern werden. Schließlich wird die Debatte um das kognitive Phänomen der Ambivalenztoleranz in den unterschiedlichen Theismuskonzepten kreisen. 7 Die Untersuchung wird dabei in folgenden Schritten verlaufen. Der erste Abschnitt beinhaltet zur Hinführung einige Feststellungen zu Entstehungsgeschichte und -bedingungen der vielfach beobachteten, vorgeblich „monotheistischen“ Grundstimmung im späten Prinzipat. Zugleich bietet diese Hinführung die Möglichkeit zu einer knappen Diskussion von Henotheismus-Konzepten in der Forschung. Im Anschluß werde ich auf eine besonders scharf ausgetragene Forschungsdebatte zum Verhältnis von Christentum und paganen Theologien und Philosophien eingehen, die die Vorteile des Henotheismus-Konzepts zur Evidenz bringen wird. Anhand dieser Kontroverse wird schließlich die Repräsentativität der Überlieferung analysiert werden, eine Diskussion, die das unabdingbare Substrat der „Monotheismus“-Debatte bildet. Die Analyse kehrt dann zum Schluß zu dem Phänomen des religiösen Fanatismus zurück. 1. POLYTHEISMUS, MONOTHEISMUS, HENOTHEISMUS Der Eine und die Vielen – diese Thematik wird in der Beschäftigung mit antiken Religionen immer wieder lebhaft diskutiert. Erinnert sei nur an die Debatte zwischen E. Hornung und J. Assmann bezüglich Ägyptens oder S. Parpolas und B. Porters hinsichtlich Assyriens oder die sich wandelnde Einschätzung des jüdischen Glaubens in den letzten Jahrzehnten. 8 Die klaren Konturen, die die Begriffe Monotheismus und Polytheismus suggerieren, existieren in den meisten Fällen nicht. Daß wir in der griechisch-römischen Antike nicht einfach mit simpel gestrickten binären Konstruktionen, also Antagonismen von Vielgötterei und der Verehrung eines einzelnen Gottes konfrontiert werden, ist unbestritten. Das Verhältnis des Einen zu den Vielen war eigentlich stets komplexer, als es die gegenseitigen Polemiken erkennen lassen. Dies gilt zwar in besonderem Maße für das zweite, dritte und frühe vierte nachchristliche Jahrhundert, die hier im Mittelpunkt stehen werden. Doch wäre es verfehlt, erst diese Phase imperialer Geschichte als 7 8
Der Terminus Theismus wird hier nicht stringent in dem vorherrschenden Sinne verwandt, der diesen Begriff mit transzendenten Gottesvorstellungen assoziiert. Dagegen wird die Konnotation einer personalen Gotteskonzeption stärker, wenn auch nicht exklusiv gewichtet. I. ASSMANN: Monotheismus und Kosmotheismus, Heidelberg 1993; E. HORNUNG: Der Eine und die Vielen, Darmstadt 62005; S. PARPOLA: Monotheism in Ancient Assyria, in: B. N. Porter (Hg.), One God or Many? Concepts of Divinity in the Ancient World, (Transactions of the Casco Bay Assyriological Institute 1) Casco Bay 2000, 165ff.; B. N. PORTER: The Anxiety of Multiplicity. Concepts of Divinity as One and Many in Ancient Assyria, in: ebd. 211ff. Zur Diskussion der ägyptischen Befunde, speziell des solaren Kultes, siehe J. BAINES: Egyptian Deities in Context. Multiplicity, Unity, and the Problem of Change, in: ebd. 9ff., der allerdings henotheistische Züge marginalisiert. Doch siehe M. L. WEST: Towards Monotheism, in: P. Athanassiadi – M. Frede (Hg.), Pagan Monotheism in Late Antiquity, Oxford 1999, 21ff., 22ff; M. KREBERNIK – J. VAN OORSCHOT (Hg.): Polytheismus und Monotheismus in den Religionen des Vorderen. Orients, Münster 2002.
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Arena einer sich wandelnden Konzeptualisierung von Gottesvorstellungen in der griechisch-römischen Mittelmeerwelt anzusehen. Die Anfänge dieser Entwicklung reichen weit zurück. Tatsächlich sind schon der griechische und der römische Pantheon, beziehungsweise, im griechischen Fall, die Konglomerate von Religionsformen, die sich in der griechischen Lebenswelt vorfinden, jedenfalls nach einem Teil der literarischen Quellen zu schließen, einheitlicher strukturiert gewesen, als es etwa die christliche Tradition mit ihrer Verspottung der heidnischen Heterogenität vermuten läßt.9 Da die Götter von Hellas und Rom auch heute noch in vielen Darstellungen sinnbildlich für das Phänomen Polytheismus stehen und diese Tradition auch im zweiten und dritten Jahrhundert n. Chr. das Kaiserreich noch stark prägte, erscheint es sinnvoll, das Phänomen Polytheismus und die Beschränkungen dieses Konzeptes anhand der Entwicklungslinien dieser beiden „Religionen“ zunächst knapp in den Blick zu nehmen. Daß damit nicht zugleich auch Aussagen über alle anderen antiken, mediterranen Gottesvorstellungen von Spanien bis Syrien getroffen werden können, ist eine wichtige SelbstVergewisserung. Aber anders als exemplarisch kann die Untersuchung hier ohnedies nicht fortschreiten. Die „Homerische Welt“ gilt sicher vielen Menschen als der Inbegriff eines Polytheismus. Doch was ist Polytheismus? Die Ilias jedenfalls zeichnet ein Bild der Götterwelt, in der Zeus eine überragende Stellung einnimmt und andere Götter gelegentlich auf den Status von Befehlsempfängern degradiert werden. 10 Dies ist ein Derivat einer typischen Konstellation mittelöstlicher Götterhimmel. 11 Auch mittelöstliche Quellen beschreiben bisweilen einen „Polytheismus“, der von einer Vorstellung, in der nur ein Gott von Engeln, Thronen und Mächten umgeben ist, nicht mehr allzu weit entfernt ist. 12 In noch höherem Maße kann Zeus bei manchen späteren Autoren zum Inbegriff des Göttlichen werden, von denen Aischylos der bekannteste, aber nicht der einzige ist.13 H. S. Versnel hat in den letzten Jahren in mehreren einflußreichen Studien den Terminus Henotheismus in die altertumskundliche Debatte zurückgeführt. 14 Ein im neunzehnten Jahrhundert typi9 Siehe dazu etwa R. M. GRANT: Gods and the One God, Philadelphia, Penn. 1986, 19ff. 10 W. BURKERT: Die orientalisierende Epoche in der griechischen Religion und Literatur, (Sitzungsberichte der Heidelb. Akad. der Wiss., Phil.-hist. Kl. 1984.1) Heidelberg 1984; WEST, Monotheism (wie Anm. 8), 22ff. 11 Ebd. 12 Siehe dazu etwa S. A. GELLER: The God of the Covenant, in: B. N. Porter (Hg.), One God or Many? Concepts of Divinity in the Ancient World, (Transactions of the Casco Bay Assyriological Institute 1) Casco Bay 2000, 273ff. 13 Siehe die Materialzusammenstellung von H. LLOYD-JONES: Zeus in Aischylus, JHS 76 (1956), 55ff.; cf. M. THEUNISSEN: Pindar. Menschenlos und Wende der Zeit, München 2000, 338ff. zu Pindar. 14 H. S. VERSNEL: TER UNUS. Isis, Dionysos and Hermes: Three Studies in Henotheism. Inconsistencies in Greek and Roman Religion I, Leiden 1990; ders.: Transition and Reversal in Myth and Ritual: Inconsistencies in Greek and Roman Religion II, Leiden u. a. 1992; ders.: Thrice One. Three Greek Experiments in Oneness, in: B. N. Porter (Hg.), One God or Many? Concepts of Divinity in the Ancient World, (Transactions of the Casco Bay Assyriological Institute 1) Casco Bay 2000, 79ff.
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sches Verständnis dieses Terminus hat er dabei jedoch nicht wieder aufgegriffen: 15 Hier wurde mit Henotheismus eine Religionsausprägung bezeichnet, in der es eine Hierarchie von mehreren Göttern gibt, aber einem Gott eine überaus dominante Position an der Spitze dieser Hierarchie zugeschrieben wird, so daß sich eine gewisse Einheit in der Vielheit abzuzeichnen beginnt. 16 In der klarsten Ausprägung einer solchen Vorstellungswelt können die anderen Götter zu bloßen Kräften des einen Kraftzentrums herabsinken. Im religiösen Leben der griechischen Welt ist es jedoch außerhalb von (intellektuellen und räumlichen) Randbezirken dazu nicht gekommen; ich gehe hier nicht auf die Naturphilosophie ein, deren Fragmente ohnedies schwer zu deuten sind. 17 Selbst Platon und Aristoteles und ihre Schüler haben die klassische griechische Welt und die Partizipienten an der Mehrheitskultur nicht massiv in ihren Vorstellungen beeinflußt. 18 Hier angelegte Formen des Glaubens an einen, von den Göttern in Mythos und Ritual aber klar geschiedenen Gott haben sicher die religiöse Landschaft nicht zeitig nachhaltig verändert. 19 Doch auch der überaus dominante Zeus des Epos und auch späterer Autoren läßt sich so nicht in der kultischen Realität des Alltags nachweisen.20 Immer wieder haben Studien der letzten Jahre auf diese Differenz zwischen Literatur und inschriftlich-archäologischen Befunden aufmerksam gemacht. 21 Die kultische Dimension griechischen Lebens mit ihren Opfergaben und Inschriften zeigt einen lebendigen, ausgeprägten Polytheismus im ursprünglichen Sinn des Wortes. Auf eine Erklärung hierfür, sicher eine unter mehreren, ist mit unterschiedlicher Gewichtung immer wieder aufmerksam gemacht worden: Das henotheistische Bild des Götterhimmels stammte aus monarchischen Gesellschaften, hierhin, vielleicht auch noch in die „homerische“ Welt, fügt es sich; literarisch konnte es auch im folgenden rezipiert werden. In die „Polis-Religion“, um stellvertretend ein bekanntes Forschungskonstrukt zu wählen, ließ es sich kultisch, 15 Anders WEST, Monotheism (wie Anm. 8), 24, dessen Darstellung in dem Band, in dem sie erschienen ist, allerdings wie ein Fremdkörper wirkt. 16 Gespiegelt findet sich diese These bei S. FREUD: Studienausgabe 9: Fragen der Gesellschaft und Ursprünge der Religion, A. Mitscherlich u. a. (Hg.), Frankfurt/M. 2000 (= Der Mann Moses und die monotheistische Religion. Drei Abhandlungen 1934–1938 [1939], 455–581) 573 Anm. 1. 17 H. S. VERSNEL, Thrice one (wie Anm. 14), 88ff. 18 Vgl. die mutatis mutandis übertragbare Analyse von P. SCHOLZ: Der Philosoph und die Politik. Die Ausbildung der philosophischen Lebensform und die Entwicklung des Verhältnisses von Philosophie und Politik im 4. und 3. Jahrhundert, (Frankfurter althistorische Beiträge 2) Stuttgart 1998, 362. 19 Zwischen einer Rezeption von philosophischem Gedankengut im Drama und einer realen Beeinflussung lebensweltlicher Orientierungsmuster scheint mir noch eine beachtliche Differenz zu liegen. Contra S. HUMPHREYS: Dynamics of the Greek „Breakthrough“: the Dialogue between Philosophy and Religion, in: dies. (Hg.), The Strangeness of Gods. Historical Perspectives on the Interpretation of Athenian Religion, Oxford 2004, 51ff. 20 Siehe etwa die exzellente Fallstudie von R. PARKER: Polytheism and Society in Athens, Oxford 2005. 21 Paradigmatisch ist etwa E. KEARNS: The Gods in Homeric Epics, in: R. Fowler (Hg.), The Cambridge Companion to Homer, Cambridge, Mass. 2004, 59ff.
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also nicht abstrakt oder aus individueller Perspektive, weit schlechter integrieren. 22 Auf diesen Punkt werde ich noch zurückkommen. Nur ganz knapp sei hier darauf verwiesen, daß die Konstellation in Rom nicht vollständig unterschiedlich war – trotz markanter Differenzen in Kultausübung und in den dahinter stehenden Bezugshorizonten. Die Bürgerreligion der res publica war aufgrund von monarchischen Elementen in deren „Verfassung“ (dem Magistratenapparat) prinzipiell nicht in gleicher Weise empfindlich gegen die kultische Verehrung eines monarchischen Gottes, etwa Jupiter Optimus Maximus. 23 Doch zeigen sich die Spuren eines ausgeprägten Henotheismus im wesentlichen an den vorhersehbaren Stellen: im Epos, das starken griechischen Einflüssen unterlag, 24 oder bei philosophisch interessierten Schriftstellern. 25 Ansonsten treten im realen Kult durchaus eher die polytheistischen und das heißt auch polykratischen Elemente des Götterhimmels in den Vordergrund. 26 Die hellenistische Welt weist auf diesem Feld neue Ansätze auf, deren Kategorisierung vor allem H. S. Versnel zu verdanken ist. 27 H. S. Versnel operiert mit einem anderen, alternativen Henotheismus-Konzept. Er definiert Henotheismus als eine spezielle Verehrung einer Gottheit, die jeweils in konkreten Kontexten als einzigartig überlegen, außerhalb dieser jedoch nicht als einzige Gottheit angesehen wird. Gemeint ist jedoch nicht Monolatrie. Andere Gottheiten konnten trotz des für uns anders lautenden Bekenntnisses eis theos durchaus auch Verehrung erfahren, sei es sogar im gleichen Atemzug, in einer Dreiheit, oder in einer anderen, späteren religiös motivierten Handlung. 28 Die eine, „höchste“ oder nur „sehr hohe“ Gottheit wurde gegenüber der religiösen Außenwelt nicht mit klaren Konturen versehen. Sie war jedenfalls nicht zwingend identisch mit der hierarchischen Spitze des traditionellen Götterhimmels, wie in dem zuvor beschriebenen Modell, sondern konnte variieren. Typisch war diese Form henotheistischer Verehrung für 22 Siehe jetzt vor allem B. LINKE: Zeus als Gott der Ordnung, in: K. Freitag – P. Funke – M. Haake (Hg.), Kult – Politik – Ethnos. Überregionale Heiligtümer im Spannungsfeld von Kult und Politik, Stuttgart 2006, 89ff. Zur Begrifflichkeit siehe C. SOURVINOU-INWOOD: What is Polis Religion?, in: R. G. A. Buxton (Hg.), Oxford Readings in Greek Religion, Oxford 2000, 13ff.; DIES.: Further Aspects of Polis Religion, ebd. 38ff. 23 Vgl. etwa die Nähe des siegreichen Feldherrn zu Jupiter während des Triumphes: T. ITGENSHORST: Tota illa pompa. Der Triumph in der römischen Republik. Göttingen 2005, 212f. 24 D. FEENEY: The History of Roman Religion in Roman Historiography and Epic, in: J. Rüpke (Hg.), A Companion to Roman Religion, London 2007, 129ff. Siehe auch Ov. Fast. 1, 85f. mit A. E. COOLEY: Beyond Rome and Latium: Roman Religion in the Age of Augustus, in: C. E. Schultz – P. B. Harvey (Hg.), Religion in Republican Italy, Cambridge 2006, 228ff., 242ff. 25 Siehe A. MASTROCINQUE: Creating One’s Own Religion: Intellectual Choices, in: J. Rüpke (Hg.), A Companion to Roman Religion, London 2007, 378ff. 26 Scipios enger Kontakt mit Jupiter (Liv. 26, 19, 5) mag zu den Facetten dieses Politikers gehört haben, die seinen Standesgenossen suspekt waren. 27 H. S. VERSNEL, TER UNUS (wie Anm. 14); DERS., Thrice one (wie Anm. 14), speziell 129ff. Zu der Bedeutung des Terminus hypsistos in diesem Kontext siehe N. BELAYCHE: De la polysémie des épiclèses, in: dies. u. a. (Hg.), Nommer les dieux. Théonymes, épithètes, épiclèses dans l’antiquité, Turnhout 2005, 427ff. 28 H. S. VERSNEL, Thrice one (wie Anm. 14), 147ff. mit Literaturangaben.
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Gottheiten wie Isis oder Sarapis, der auch mit Zeus verbunden werden konnte; aber auch ganz andere Gottheiten konnten in das Zentrum dieser Form von kultischer Aufmerksamkeit rücken. 29 Eine solche Verehrung „einer“ Gottheit war im Grunde einer persönlichen Wahl geschuldet. Charakteristisch für Anhänger einer solchen Verehrung einer einzigartig wirksamen, aber nicht einzig existierenden Gottheit war nach H. S. Versnel die Fähigkeit der Gläubigen, von den offensichtlich bestehenden Problemen dieses Konzepts zu abstrahieren. Wie kann eine Gottheit „die Eine“ sein und doch Teil der Vielen, ohne daß wenigstens eine klare Hierarchie erstellt würde? Nach H. S. Versnel wurden die Spannungen zwischen mono und poly simpel nicht zu Ende gedacht oder schlicht ausgehalten. Ich kann hier nicht in die Details gehen, aber H. S. Versnels Resultate korrespondieren mit meinen eigenen, auf anderen Wegen und unter Heranziehung anderer Leitautoren erzielten Ergebnissen, daß Ambivalenztoleranz eines der wichtigsten Merkmale speziell griechischer Religiosität gewesen ist. 30 Diese synkretistische, auf Klarheit verzichtende Form einer Verehrung von Einheit setzte im Prä-Hellenismus ein und wurde im Hellenismus zu einer signifikanten Größe im religiösen Feld, ganz sicher unter dem Einfluß religiöser Vorstellungen gerade aus dem Nahen Osten oder Ägypten. 31 Diese einzelnen Fäden können hier aber nicht verfolgt werden. Wichtig und erklärungsbedürftig ist das Erscheinen dieser Form des Henotheismus oder sein Bedeutungszuwachs seit jenen Tagen griechischer Kultur, in denen die Monarchie die entscheidende Form, politische Systeme zu organisieren, geworden ist, ohne daß eine einheitliche Universalmonarchie die unterschiedlichen griechischen Lebenswirklichkeiten dominiert hätte. Dieser Aspekt wird unten wieder aufgegriffen werden. Die eigentliche Blüte aller Tendenzen, an die Stelle heterogener Vielfalt des Übersinnlichen ein variabel gestaltetes, aber stärker einheitliches Prinzip zu setzen, ist in der griechisch-römischen Mittelmeerwelt jedoch die Kaiserzeit. Generell läßt sich im römischen Reich in unterschiedlichen Religionen und auf unterschiedlichen Ebenen eine Tendenz zur Hierarchisierung in den Gottesvorstellungen und Verehrungsformen erkennen. Dies zeigt sich etwa, wie G. Schörner demonstriert hat, in der Gestaltung der Votive im griechisch/kleinasiatischen Raum 32 oder in der wachsenden Bedeutung „heiliger Männer“ unterschiedlichsten
29 H. S. VERSNEL, TER UNUS (wie Anm. 14); DERS., Thrice one (wie Anm. 14). 30 Gottesbild und Wahrnehmung. Phänomenologische Studien zu Ambivalenzen früher griechischer Gottesdarstellung, (Potsdamer altertumswissenschaftliche Beiträge) Stuttgart, wohl 2010. 31 H. S. VERSNEL, Thrice one (wie Anm. 14), 152ff.; eine Spielart dieses Vorstellungsmodus konnte in „communautés religieuses“ auftreten: Vgl. jetzt vor allem N. BELAYCHE – S. C. MINOUNI (Hg.): Les communautés religieuses dans le monde gréco-romaine. Essais de définitions, Turnhout 2003. 32 G. SCHÖRNER: Votive im römischen Griechenland. Untersuchungen zur späthellenistischen und kaiserzeitlichen Kunst- und Religionsgeschichte, (Altertumswissenschaftliches Kolloquium 7) Stuttgart 2003, mit den Parallelen in angrenzenden Regionen.
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Status’ als Mediatoren. 33 Doch betraf diese Entwicklung nicht nur die Vermittlung des Übersinnlichen, sondern auch seine Gestaltung. Die ägyptischen Zauberpapyri, 34 unterschiedliche, lose 35 als gnostisch bezeichnete Gruppierungen oder auch einige hermetische Texte 36 fügen sich dieser Tendenz. Daneben tritt die Orientierung auf das Eine, eine „reduktive“ Theologie, markanter denn je in mehreren philosophischen Schulen hervor, am deutlichsten bei den Platonikern, aber auch bei Stoikern, 37 ohne daß dabei jedoch die Ausschließlichkeit des Einen formuliert worden wäre. 38 Soweit diese Philosophien überhaupt als theistisch zu bezeichnen sind, stellen sie vom Konkreten abstrahierende Formen des Henotheismus dar. Die henotheistischen Vorstellungen, wie sie H. S. Versnel beschrieben hat, bleiben ebenfalls weiterhin greifbar. Doch auch das ältere, zuerst beschriebene Henotheismus-Modell tritt wieder klarer hervor. 39 Zeus etwa kann von Dion Chrysostomos als eigentlicher Innbegriff des Herrschers angesprochen werden. 40 Einzelne dieser Glaubensformen waren immer noch auf bestimmte Ethnien und assimilierte Personengruppen beschränkt oder auf eine geringe Zahl von Adepten. Doch gingen viele dieser Gruppierungen bereits weiter und konstruierten überethnische Konzeptionen des Göttlichen. Dies gilt vor allem für philosophische Richtungen, soweit sie den traditionellen Göttern noch irgendeinen
33 LEPPIN, Wandel (wie Anm. 6), 71ff.; J. HAHN: Der Philosoph und die Gesellschaft. Selbstverständnis, öffentliches Auftreten und populäre Erwartungen in der hohen Kaiserzeit, (HABES 7) Stuttgart 1989, 192ff. 34 F. GRAF: Gottesnähe und Schadenzauber. Die Magie in der griechisch-römischen Welt, München 1996, 133ff. 35 Daß dieser Terminus höchstens eine vage Klammer darstellen kann, dürfte allgemein akzeptiert sein: Cf. etwa Ch. MARKSCHIES: Die Gnosis, München 2001. 36 R. VAN DEN BROEK – G. QUISPEL: Corpus Hermeticum, Amsterdam 1996, 17f. 37 M. FREDE: Monotheism and Pagan Philosophy in Later Antiquity, in: ders. – P. Athanassiadi (Hg.), Pagan Monotheism in Late Antiquity, Oxford 1999, 41ff., 51f. 38 Entsprechend bleibt der Terminus „Monotheismus“ auch als Charakterisierung der Vorstellungen eines Porphyrius problematisch. Siehe etwa A. SMITH: Porphyry: Scope for Reassessment: in: G. Karamanolis – A. Sheppard (Hg.), Studies on Porphyry, (BICS Suppl. 98) London 2007, 7ff., 10: “They, like most philosophers, happily accepted the standard practices of traditional religion”, natürlich zu ihren eigenen Zwecken und unter ihren speziellen Vorbehalten; cf. G. CLARK: Augustine’s Porphyry and the Universal Way of Salvation, ebd. 127ff.; T. ALEKNIENÉ: Les „dieux et demons” dans le traité 1 (C. 7, 19–20) de Plotin, Hermes 135 (2007), 482ff. Iamblichos wird man kaum als Monotheist bezeichnen können. 39 Siehe etwa die Belege für den theos hypsistos – Kult bei S. MITCHELL: The Cult of Theos Hypsistos between Pagans, Jews, and Christians, in: P. Athanassiadi – M. Frede (Hg.), Pagan Monotheism in Late Antiquity, Oxford 1999, 81ff. und dazu die wichtigen Klarstellungen von M. STEIN, Rez. von M. Frede – P. Athanassiadi 1999, http://www.plekos.unimuenchen.de/2001/rathanassiadi.html. Zu dem monarchischen Jupiter der Kaiserzeit siehe etwa A. STARBATTY: Kaiser und Gott in den Panegyrici Latini, Antike und Abendland 53 (2007), 141ff. 40 Dion. Or. 12. Sicher liegen viele der dort ausgearbeiteten Charakterisierungen schon in der Hymne des Kleanthes vor (J. C. THOM: Cleanthes’ Hymn to Zeus, Tübingen 2005), doch war dies ein philosophischer Text, dessen Wirkung auf die Mehrheit der Gläubigen wir nicht erkennen können.
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ontologischen Status zubilligten, 41 gnostische Gruppen und synkretistische solare Kulte. 42 Das Christentum nahm aufgrund seiner („monotheistischen“) Exklusivität einen Sonderstatus ein, erfüllte aber potentiell die gleiche Funktion einer universalen Integration. Wie läßt sich diese Entwicklung erklären? Sicher nicht ganz und gar mit einem einheitlichen Modell, das von Britannien bis Syrien, von Atargatis bis Nehalennia alle Phänomene zu deuten vermag. Doch lassen sich vielleicht wichtige gesellschaftliche Kontexte ausmachen, die die religiösen Strömungen mitbestimmten und ihnen einen gewissen Rahmen verliehen. Wie gesehen, lassen sich henotheistische Konstruktionen der übersinnlichen Welt häufig in monarchischen Gesellschaften finden, deren irdische Monarchen mit den jeweiligen Himmelsherrschern eine enge kognitive Verbindung eingingen, da sie vom Götterhimmel ebenso legitimiert wurden, wie sie der Imaginationsgabe der Untertanen und Gläubigen durch ihre auf die Gottheit und die Gottheiten bezogene Selbstdarstellung wichtige Stützen lieferten. Die Götterhimmel waren dann häufiger patriarchalisch (und gelegentlich matriarchalisch) hierarchisch aufgebaut. In der griechisch-römischen Kernwelt konnten sich solche monarchischen Kulte zunächst nicht durchsetzen, soweit es ihre Umsetzung in konkrete, stereotype Handlungsmuster: den Kult, betraf: Polykratische politische Systeme suchten solche evidenten Problemfelder, wie das der Natürlichkeit der Monarchie, eher rituell einzuhegen. Die hellenistische Welt brachte mit ihrer dauerhaften Etablierung des monarchischen Prinzips in einer griechischen Welt, wenn auch auf uraltem monarchischen Kulturboden, Veränderungen mit sich. 43 Der Herrscherkult trug zu einer Etablierung monarchisch konstruierter Kultformen in griechischen Städten und politischen Verbünden bei. Doch während in Ägypten und in Vorderasien die Verquickung von königlicher Herrschaft, kosmischer Ordnung und ihren himmlischen Garanten sich aufgrund einer uralten Tradition als unproblematisch erwies, zeigte sich die griechische Kernwelt des Hellenismus, auch der Eliten, häufig sperriger, langsamer in der Adaption; die Parallelität wichtiger monarchischer Zentren wird dazu wesentlich beigetragen haben. Für römische, italische, aber auch romanisierte Städte im Westen des Imperiums läßt sich Analoges vermuten. Erst mit der als dauerhaft empfundenen Etablierung des römischen universalen Kaisertums war die Monarchie als Herrschaftsprinzip wohl endgültig in den Lebenswelten vieler griechisch-römischer Städte verankert. 44 Und es ist im Grunde
41 Vgl. die Anm. 38 genannte Literatur. 42 W. FAUTH: Helios Megistos: zur synkretistischen Theologie der Spätantike, Leiden 1995; S. BERRENS: Sonnenkult und Kaisertum von den Severern bis zu Constantin I (193 – 337 n. Chr.), (Historia Einzelschr. 185), Stuttgart 2004. 43 Siehe neben H. S. VERSNEL, TER UNUS (wie Anm. 14) und DERS., Thrice one (wie Anm. 14) B. EDELMANN: Religiöse Herrschaftslegitimation in der Antike. Die religiöse Legitimation orientalisch-ägyptischer und griechisch-hellenistischer Herrscher im Vergleich, (Pharos. Studien zur griechisch-römischen Antike; Bd. XX) St. Katharinen 2007. 44 Zur Komplexität dieses Prozesses siehe jetzt etwa G. SCHÖRNER: Opferritual und Opferdarstellung: Zur Strukturierung der Zentrum-Peripherie-Relation in Kleinasien, in: H. Cancik u.
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seit dem zweiten Jahrhundert nach Christus, daß jene Tendenzen in den Quellen offener zutage treten, die heute als paganer Monotheismus bezeichnet werden. 45 Diese knapp skizzierten Beobachtungen deuten eine gewisse Beziehung zwischen den Hierarchien auf Himmel und Erde an, zwischen der Wahrnehmung der himmlischen und irdischen Herrscher. 46 Aber ist dieses Erklärungsmuster nicht viel zu simpel und vereinheitlicht, was in Wirklichkeit durch Heterogenität gekennzeichnet war? Diese Kritik wäre sicher berechtigt, wenn das zitierte Erklärungsmuster in doppelter Weise absolut gesetzt werden würde. Doch beansprucht es weder, universell religiöse Vorstellungswelten und ihre Entwicklung zu beschreiben; die ägyptisch-vorderasiatische Welt etwa scheint komplexer, wenn auch, wie oben schon angedeutet, vielleicht nicht völlig andersgeartet.47 Ebensowenig ist anzunehmen, daß die monarchische Konzeptualisierung der Götterwelt das gesamte römische Reich osmotisch durchzogen hat; hier müssen wir mit einer Vielzahl von Abstufungen rechnen. Zentren der mediterranen Welt etwa werden (soweit sie nicht wie Rom artifiziell ältere Traditionen hochhielten) stärkere Spuren der Transformation aufgewiesen haben; Peripheriezonen werden dagegen möglicherweise gar keine Veränderungen erlebt haben. Aber die hypothetisch formulierte Reziprozität zwischen Himmel und Erde wäre andererseits auch nicht historisch völlig isoliert. Eine Analyse traditionaler Gesellschaften jüngerer Zeit hat interessante Parallelen zu der hier aufgestellten These aufgezeigt. In einer einflußreichen Studie hatte Don Handelman 1990 die Gestaltung gemeinschaftlicher Festlichkeiten in solchen Systemen als Spiegel der jeweiligen gesellschaftlichen Verfaßtheit gedeutet. 48 Handelman schreibt: “Different logics of design in the constitution of public events index social orders that themselves are organized in radically different ways.” 49 Konkret beschreibt Handelman drei Typen von Gesellschaften und drei Formen von „public events“, die die jeweilige soziale Organisation kondensiert in sich aufnähmen und dann wiederum nach außen deutlich machten. In Stammesgesellschaften formten die Feste noch in sehr ursprünglicher Form das Verhalten von Festteilnehmern. In eher traditional-hierarchischen Gesellschaften reflektierten „public events“ etwa in Vergleichen und Kontrasten die bestehenden sozialen Realitäten. Zentralisierte, bürokratische Staaten dagegen neigten dazu, in ihren öffentlichen Festen und sie grundierenden Erzählungen ein Idealbild ihrer
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a. (Hg.), Zentralität und Religion. Zur Formierung urbaner Zentren im Imperium Romanum, Tübingen 2006, 69ff. Siehe besonders P. ATHANASSIADI – M. FREDE: Pagan Monotheism in Late Antiquity, Oxford 1999. Vgl. auch P. BARCELÓ: Monoteismo y monarquía en el Imperio Romano, in: C. Rabassa – R. Stepper (Hg.), Heilige Herrscher, göttliche Monarchien. Erstes Internationales Kolloquium der Forschungsgruppe Religion, Macht, Monarchie, (Coll. Humanitas 10) Castellón 2003, 17ff. Vgl. Anm. 8. Siehe EDELMANN, Herrschaftslegitimation (wie Anm. 43), 21ff., speziell 32ff.; 38ff. für einen Überblick über die erkennbar werdenden Strategien von Herrschern, sich in den jeweiligen göttlichen Kosmos einzufügen. D. HANDELMAN: Models and Mirrors. Towards an Anthropology of Public Events, New York u. a. 1990. D. HANDELMAN, Models (wie Anm. 48), 7.
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Gesellschaft nach außen zu projizieren. 50 Es ist dieses Phänomen, daß in Ritualen und Diskursen ein Idealbild einer auf dem Pfeiler einer stark zentralisierten Regierung beruhenden Gesellschaft repräsentiert wird, das sich auch in der entwickelten Universalmonarchie Rom zeigt. Daß dies eine universelle Erscheinung aller zentralisierten und in Ansätzen bürokratisierten Monarchien war, wäre eine unzulässige Übertreibung. Bezüglich der imperialen römischen Entwicklung bestätigen Handelmans Beobachtungen aber die hier schon geäußerte Vermutung. Wir sehen das in den Himmel projizierte Idealbild der Monarchie dann besonders deutlich in den himmlischen Hofdarstellungen der spätrömischen Zeit, in denen Engel zu Bürokraten werden. 51 Schon zuvor gewannen (neben dem Christentum) die unterschiedlichen beschriebenen Henotheismus-Modelle immer mehr an Bedeutung, teils in unbestimmter, teils in klar monarchisch konstruierter, teils in jener philosophischen Form, die die Götter eher zu didaktischen Medien reduzierte. Wenn diese Überlegungen stimmen, so haben wir es im zweiten und dritten Jahrhundert n. Chr. weniger mit einer bewußten Hinwendung vieler paganer Gruppen zum Monotheismus (ein Begriff der ohnedies sehr problematisch ist) zu tun, als mit einer Formung kultischer Verehrungsformen und breitenwirksam gedachter Diskurse durch die sich bürokratisierende römische Monarchie speziell seit der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts. Don Handelmans Spiegeltheorie gibt aber zugleich einen weiteren wichtigen Anhaltspunkt vor, wie das Phänomen einer Stärkung henotheistischer Glaubensvorstellungen (in der beschriebenen Form) vielleicht gesamtgesellschaftlich zu gewichten ist. Denn „public events“ sind nicht einfach alle Formen von eigentlich privaten Zusammenschlüssen ab einer bestimmten Zahl von Teilnehmern. Sie sollten, jedenfalls in Ansätzen, noch eine gesamtgesellschaftliche Relevanz aufweisen; die soziale Ordnung ist ihr Bezugsrahmen. Mehrere der Gruppierungen, bezüglich derer es Hinweise auf ein Erstarken henotheistischer Vorstellungen gibt, weisen denn auch gewisse Gemeinsamkeiten auf. Dion etwa hielt seine 12. Rede in Olympia vor einem großen Publikum, mit eindeutigen Bezügen zu Traians Dakerkriegen. Der imperiale Kontext ist hier wie in anderen henotheistischen Diskursen der Kaiserzeit deutlich. 52 Wichtiger aber ist eine andere Beobachtung. Speziell jene Gemeinschaften, die einen integrierenden, umfassenden Glauben formulierten, resultierten nicht einfach aus dem Siegeszug einer traditionellen mediterranen Religion, auch wenn sie solche älteren Kulte noch anerkannten oder in sich aufzunehmen trachteten; zumindest die Ausbreitung solcher Vorstellungen und Konzeptualisierungen hatte erheblich von der Existenz des einheitlichen Rechtsraums Rom profitiert. 53 Es überrascht daher nicht, daß sie strukturell in
50 D. HANDELMAN, Models (wie Anm. 48), 23ff.; 41ff.; 49ff. 51 CHR. KELLY: Ruling the Later Roman Empire, Cambridge 2004. 52 Siehe dazu H. D. BETZ: God Concept and Cultic Image: the Argument in Dio Chrysosthom’s Oratio 12 (Olympikos), in: N. Marinatos (Hg.), Deus Praesens. Epiphanies in the Ancient World, ICS 29 (2004), 131ff. 53 Cf. etwa K. CLARKE: Between Geography and History. Hellenistic Constructions of the Roman World, Oxford 1999 zur Stoa. Am wenigsten gelten die obigen Ausführungen für die
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engerem Kontakt mit dieser Matrix standen. Dies gilt auch für die großen philosophischen Gedankengebäude – eine kleinere Zahl von Intellektuellen reflektierte, sicher in Fortschreibung bestehender Anlagen, die gesamtgesellschaftliche Entwicklung des Imperiums in ihren Diskursen. 54 Solche Glaubensvorstellungen hatten nur noch wenig mit „Polisreligionen“ und ähnlichen Kultgemeinschaften des traditionellen Zuschnittes gemeinsam. Ihre „public events“ waren im Grunde „imperial events“. Einer der beiden Pole der gewähnten Thematik ist damit skizziert. Diese Darstellung bietet den Hintergrund für die folgende Rückkehr zum Thema „Fanatismus“. 2. DIALOG UND STREIT IM DRITTEN UND FRÜHEN VIERTEN JAHRHUNDERT War diese in der Hohen Kaiserzeit erkennbar werdende Tendenz zu henotheistischen Glaubensformen in ganz unterschiedlichen religiösen Ausprägungen der Nährboden für die sich im dritten Jahrhundert vollziehende Verschärfung der religiösen Spannungen im Reich? Daß die Koinzidenz auf Kausalität beruht, ist keineswegs zwingend. H. S. Versnel hat, wie bereits angesprochen, darauf verwiesen, daß die Anhänger der von ihm analysierten Henotheismus-Ausprägung mit erstaunlichen Schwankungen in den Erklärungen und beachtlichen Diskrepanzen in den eigenen Leitmotiven offenbar gut leben konnten. 55 Ganz Ähnliches gilt für das andere skizzierte Henotheismus-Modell, das mit seiner klarer gefaßten hierarchischen Struktur eine Art patriarchalische Himmelsmonarchie einholen sollte. Die diversen in solchen Konstruktionen verehrten höchsten Gottheiten waren zunächst auch bei kaiserlicher Bevorzugung keineswegs exklusiv konzipiert; vielmehr bestand hier offenbar erhebliches Assimilations- und Adaptionspotential, das sich auf die lange Erfahrung mit den interpretationes graecae und romanae stützen konnte. Damit bildet sich nun kurzfristig in Inversion des zuerst skizzierten Szenarios die Möglichkeit ab, daß die Hinwendung zu einer größeren Betonung des Prinzips des Einen im Vergleich zu der Wirkmacht der Vielen ein harmonisches Zusammenkommen der religiösen Gruppen sogar hätte fördern, ja der Religiosität im Reich auch jenseits des Kaiserkultes eine größere organische Kohärenz hätte verleihen können. Eine heftig geführte Forschungskontroverse der letzten Jahre verdeutlich jedoch die Problematik einer solchen unkritischen Annahme über die doch sehr vielgestaltige religiöse Welt der Kaiserzeit, einer Annahme, die von wenigen prominenten Vertretern einiger Glaubensrichtungen auf hermetischen Vorstellungen; aber sie dürften auch am stärksten von ägyptischen Traditionen geprägt sein. 54 Siehe jetzt etwa E. DEPALMA DIGESER, Christian or Hellene? The Great Persecution and the Problem of Identity, in: dies. – R. M. Frakes (Hg.), Religious Identity in Late Antiquity, Toronto 2006, 36ff. 55 H. S. VERSNEL, TER UNUS (wie Anm. 14), 1ff.; DERS., Thrice one (wie Anm. 14).
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die Gesamtheit der religiös Aktiven schließt und dabei zudem Unterschiede auch innerhalb der einzelnen Gruppen nivelliert. Die angesprochene Kontroverse geht zurück auf eine Forschergruppe, für die Michael Frede und seine Beiträge der letzten Jahre stellvertretend stehen. 56 Diese Forschungsrichtung schreibt sich zunächst ein in eine der generell sicher notwendigen, zyklischen Wiederentdeckungen der paganen Religionen und Philosophien, die immer wieder vom siegreichen Christentum in der Rezeption der antiken Geschichte zu einem trüben Schattendasein verurteilt worden sind. Doch aus einer durch Quellenforschung abgestützten Neubewertung paganer Vitalität geriet der Versuch einer viel weitergehenden Ehrenrettung, die in ihrer gegen das Christentum gerichteten Stoßkraft sicher als spektakulär anzusehen ist. M. Frede kommt, nachdem er einen Überblick über die oben schon skizzierten theistischen Tendenzen und kaiserzeitlichen Philosophien gegeben hat, zu dem Schluß, daß die pagane Welt den reineren Monotheismus repräsentiert habe. 57 Das kaiserzeitliche Christentum wird dabei einem dominant aufgefaßten Platonismus untergeordnet. 58 Diese Deutung läuft darauf hinaus, daß sich einzig wesentliche Strömungen des Christentums aus Unkenntnis dem nun naheliegenden philosophisch-religiösen Kompromiß verschlossen und eine nicht zu begründende Exklusivität auf der Basis ihrer irrationalen personalen Dreieinigkeit reklamiert hätten. Monotheismus an sich sei also nicht Ursache für Fanatismus, eher im Gegenteil – ganz speziell die christliche, ihrerseits (wegen der Trinitätslehre, die aber nach einzelnen Vertretern dieser Richtung in ihrer klarsten Ausformulierung stark von Porphyrios beeinflußt sein soll) 59 eher bedingt monotheistische Religion sei dann der zu Fanatismus anregende Fremdkörper gewesen. Die Probleme einer solchen Darstellung sind evident. Hier wird eine einleitende Skizze über einige intellektuelle Strömungen argumentativ mit der Wirklichkeit in allen ihren Facetten gleichgesetzt. Tatsächlich waren etwa die Unterschiede in den Kernthesen von Christen und Platonikern viel größer, als Frede und seine Mitstreiter glauben machen wollen. Mark Edwards hat mit besonderer Schärfe auf diese Schwächen hingewiesen. Hen, Nous und Seele in der Darstellung der Neuplatoniker lassen sich keineswegs ohne weiteres zu einer Antizipation der Dreieinigkeit umdeuten. 60 Und etwa für die zentrale Bedeutung Christi läßt neuplatonisches Philosophieren keinen Platz. Sicher haben christliche Denker immer wieder auf philosophisches Gedankengut zurückgriffen, um ihre Ideen in die Konzepte und das Soziolekt der Gebildeten einzubetten. Doch waren, wie et56 ATHANASSIADI – FREDE, Pagan Monotheism (wie Anm. 45); M. FREDE: Celsus’ Attack on the Christians, in: T. D. Barnes – Griffin (Hg.), Philosophia togata II. Plato and Aristotle at Rome, Oxford 1997, 218ff. 57 ATHANASSIADI – M. FREDE, Pagan Monotheism (wie Anm. 45). 58 M. FREDE, Attack (wie Anm. 56), 220: “Christian doctrine […] looks very much like a form of Platonism”. 59 J. DILLON: Logos and Trinity: Patterns of Platonist Influence on Early Christianity, in: G. Vesey (Hg.), The Philosophy in Christianity, Cambridge 1989, 1ff.; D. S. POTTER: The Roman Empire at Bay AD 180 – 395, London 2004, 326ff. 60 M. EDWARDS: Pagan and Christian Monotheism in the Age of Constantine, in: ders. – S. Swain, (Hg.), Approaching Late Antiquity, Oxford 2004, 211ff.
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wa Ilaria Ramelli 61 betont, die Fundamente dieser Arbeiten stets christlich, mittelbzw. neuplatonische Einfärbungen hatten nur sekundäre Bedeutung. Auch sind zwischen beiden Seiten, philosophisch gebildeten Paganen und christlichen Theologen, wuchtige Polemiken ausgetauscht worden, die eben auf solche, den Beteiligten als entscheidend geltende Unterschiede abzielten. Von Celsus bis Sossianus Hierocles sind Platoniker dem Christentum mit Feindseligkeit begegnet. 62 Heutige Neubewertungen scheinen demgegenüber wenig überzeugend. Doch ist dies nicht die einzige Vereinfachung, die Frede vornimmt, um zu seinen Ergebnissen zu kommen. Auch das sehr unbefangene Operieren mit dem Begriff „paganer Monotheismus“, der als gegeben vorausgesetzt wird, ist im Grunde irreführend. Selbst wenn man Plotin und Porphyrios als Monotheisten ansehen mag – und schon dies ist meines Erachtens eine problematische Charakterisierung 63 –, kann die platonische „underworld“ kaum mehr unter dieser Überschrift eingeordnet werden. 64 Bei den anderen oben als henotheistisch charakterisierten religiösen Bewegungen stand die Einzigartigkeit Gottes keineswegs in gleicher Weise im Vordergrund der Weltanschauung wie bei den ehemals von der Forschung (und sich selbst) ausschließlich als monotheistisch konzipierten Religionen Judentum und Christentum. Zur Charakterisierung dieser ist der Terminus in die Kritik geraten. Mir scheint es unglücklich, den Begriff nun kontrazyklisch für Religionen oder Glaubenssysteme einführen zu wollen, die in der Regel das Prädikat „göttlich“ nicht auf ein einziges Phänomen beschränkten oder auch offen traditionalistische Göttervorstellungen zu integrieren suchten, während sein Sinn für die ihrem Selbstverständnis nach monotheistischen Religionen angezweifelt wird. Zum Teil handelt es sich bei den angeblich monotheistischen Vorstellungen auch gar nicht um religiöse Positionen, sondern um genuin philosophische. Zum Teil wurde in der vorhergehenden Diskussion schon darauf verwiesen, daß der vorgebliche Monotheismus besser unter dem Rubrum Henotheismus eingeordnet werden sollte. Partiell ist das Resultat der geistigen Gärung des dritten Jahrhunderts aber auch nur ein, wie D. Potter formuliert hat, alternativer Polytheismus. 65 Der neue Monotheismus-Begriff schein mir daher irreführend zu sein. Schließlich 61 I. L. E. RAMELLI: Christian Soteriology and Christian Platonism. Origines, Gregory of Nyssa and the Biblical and Philosophical Basis of the Doctrine of Apokatastasis, v. Chr 61 (2007), 313ff. 62 Eine Schlüsselpassage zum Verständnis der diocletianischen Christenverfolgung bleibt Lact. DI 5, 2. Ob sich die dortigen Ausführungen auf Porphyrios beziehen, ist umstritten. Vgl. E. DIGESER: Lactantius, Porphyry, and the Debate over Religious Toleration, JRS 88 (1998), 129ff. und contra T. D. BARNES: Monotheist’s All, Phoenix 55 (2001), 141ff., 156ff. mit einer sehr wörtlichen Deutung der Passage. In jedem Falle trugen Porphyrios’ Schriften gegen die Christen, wohl zeitnah zur Verfolgung verfaßt (T. D. BARNES: Scholarship or Propaganda? Porphyry “against the Christians” and its Historical Setting, BICS 39 (1994), 53ff.), zu der Stimmung bei, die ein solches Vorgehen auch unter Eliten rechtfertigte. 63 Vgl. Anm. 38. Auch das Suffix -theismus kann meines Erachtens nicht als selbstverständliche Qualifizierung gelten. Siehe Anm. 7. 64 M. EDWARDS, Christian Monotheism (wie Anm. 60). Zum Begriff „Platonische Unterwelt“ siehe J. M. DILLON: The Middle Platonists, Ithaca, New York 1977, etwa 384. 65 POTTER, Roman Empire (wie Anm. 59), 323ff.; 329ff.
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gehen Frede und seine Mitstreiter nicht auf die Frage ein, ob die von ihnen zitierten Quellen eigentlich für größere Teile der imperialen Bevölkerung als repräsentativ gelten können. Frede und Athanassiadi kommentieren, ein sehr substantieller Teil der paganen Bevölkerung sei schon im zweiten und dritten Jahrhundert Monotheisten gewesen. 66 Dabei marginalisieren sie andere Gruppen, indem sie die ignorieren; dies ist sicher eine Folge der veränderten Überlieferungssituation, die es einzukalkulieren gilt. 3. INCERTI UND UNSICHTBARE Wie viele Menschen der antiken Mittelmeerwelt lasen eigentlich religiöse oder philosophische Schriften wie die eines Porphyrios oder auch Origines, nahmen sie nicht nur zur Kenntnis, sondern vollzogen Argumentationen auch nach? Diese Frage ist heute nicht mehr mit Sicherheit zu beantworten. Man wird aber kaum fehlgehen, wenn man die philosophischen „Schulen“ in ihrem Kern als doch sehr begrenzte Gruppierungen sieht. 67 Aber auch die Zahl der Christen, die nicht Schlagworte, sondern Gedankengebäude wiedergeben konnten, wird nicht allzu hoch gewesen: Die Beschäftigung mit den Lehrgedanken von Autoren wie den genannten setzte unter anderem eine erhebliche Muße voraus. Mir scheint daher, daß die Rezeption apologetischer oder auch polemischer Traktate sich auf beiden Seiten auf eine eher überschaubare Zahl von Intellektuellen beschränkte, die den Umgang mit komplexen Texten gewohnt waren. 68 Daneben gab es eine Anzahl von Intellektuellen, die mit dem Christentum experimentierten und an Debatten lebhaft teilnahmen, jedoch nicht zu einer endgültigen und vollständigen Konversion bereit waren. Einige der lapsi des dritten Jahrhunderts kann man vielleicht einem solchen Personenkreis zuweisen; doch bleibt diese Gruppe noch im wesentlichen schattenhaft. Als erkennbar werdende Individuen begegnen solche Suchenden in größerer Zahl erst im vierten Jahrhundert in den Quellen. M. Kahlos hat diese Gruppe kürzlich incerti benannt und ihre Bedeutung hervorgehoben. 69 Nun stammen viele der von ihr aufgelisteten incerti aus der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts, in der unter dem dominierenden 66 ATHANASSIADI – FREDE, Pagan Monotheism (wie Anm. 45), 20. 67 Siehe auch J. SCHEID, Religion romaine et spiritualité, ARG 5 (2003), 198ff. 68 Für eine (etwas zu skeptische) Diskussion polemischer Schriften auf „paganer“ Seite siehe M. EDWARDS: Porphyry and the Christians, in: G. Karamanolis – A. Sheppard (Hg.), Studies on Porphyry, (BICS Suppl. 98) London 2007, 111ff. Christliche Intellektuelle schalteten erst im vierten Jahrhundert dauerhaft von Apologetik auf Polemik um; doch als wesentlich deklarierte Grundpfeiler paganen Glaubens – so etwa die diversen materiellen Repräsentationen des Göttlichen – wurden auch schon vorher scharf angegriffen. Siehe vor allem Ch. CLERC: Les théories relatives au culte des images chez les auteurs grecs du IIe siècle après J.-C., Paris 1915; T. PEKARY: Imago res mortua est. Untersuchungen zur Ablehnung der bildenden Künste in der Antike, (Habes 38) Stuttgart 2002; A. BESANÇON: Image interdite: une histoire intellectuelle de l’iconoclasme, Paris 2000. 69 M. KAHLOS: Debate and Dialogue. Christian and Pagan Cultures, Ashgate 2007.
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christlichen Einfluß monotheistische Glaubensvorstellungen in der Tat markant an Boden gewannen. 70 Rückschlüsse auf das zweite und dritte Jahrhundert läßt die religiöse Koine dieser Zeit aber nur bedingt zu. Doch betrachtet man die uns bekannten Beispiele für incerti des vierten Jahrhunderts, Autoren wie Ausonius oder Synesius 71 oder Korrespondenzpartner von Augustinus, so wird deutlich, daß auch bezüglich dieser Zeit dieses Konzept nur eine geringe Zahl von oft auch sozial prominenten Intellektuellen einschließt. Die Diskussion konzentriert sich damit zu stark auf Gruppierungen, die uns durch literarische Zeugnisse bekannt geworden sind. Denn spätestens seit der Mitte des dritten Jahrhunderts nimmt die Zahl der uns bekannten Inschriften generell ab, und auch archäologisch lassen sich Anhänger der alten Kulte (ebenso wie Christen) in dieser Zeit seltener nachweisen, auch in Folge genereller Auswirkungen der militärischen Lage des Imperiums. 72 Um ein ausgewogeneres Bild gesellschaftlicher Strömungen zeichnen zu können, müssen aber auch jene Schichten in die Diskussion einbezogen werden, die sich weniger als literarisch bezeugte Intellektuelle oder auch gar nicht in unserer reduzierten Quellenlandschaft abbilden. Zwei größere Gruppen sind hier noch zu nennen. 1. Wir haben, wie gerade angesprochen, wachsend weniger Selbstzeugnisse für Anhänger der alten städtischen oder auf dem Territorium von Städten gelegene Kulte. Das impliziert aber wohl kaum, daß diese Kulte schon im späten zweiten oder dritten Jahrhundert wirklich ihre integrierende Kraft verloren hätten. Pagane wie christliche Intellektuelle sprechen oft mit plumper Verachtung von den Anbetern der Idole als von einer törichten Menge ohne Einsicht. 73 Es ist immer schwer, aus solchen Polemiken die Überzeugung gesellschaftlicher Gruppierungen zu rekonstruieren. Diese Zeugnisse belegen aber immerhin, daß die Anhänger der alten Kulte noch eine sehr substantielle, vielleicht zusammengenommen die größte Gruppe der religiös Aktiven bildete. Noch im vierten Jahrhundert zeigen viele städtische Kulte der mediterranen Kernwelt ebenso wie kultische Gruppierungen, die sich um ländliche Heiligtümer scharten, vitale Aktivität. 74 Diese Kulte waren 70 M. R. SALZMAN: Religious Koine and Religious Dissent in the Fourth Century, in: J. Rüpke (Hg.), A Companion to Roman Religion, London 2007, 109ff. 71 Zu Synesius siehe etwa T. SCHMITT: Die Bekehrung des Synesios von Kyrene, München 2001; Ausonius: H. SIVAN: Ausonius of Bordeaux. Genesis of a Gallic Aristocracy, New York 1993. 72 H. LEPPIN: Old Religions Transformed. Religions and Religious Policy from Decius to Constantine, in: J. Rüpke (Hg.), A Companion to Roman Religion, London 2007, 96ff; G. ALFÖLDY: Die Krise des Imperium Romanum und die Religion Roms, in: W. Eck (Hg.), Religion und Gesellschaft in der römischen Kaiserzeit, Wien 1989, 53ff. Allgemein zur Überlieferungssituation siehe etwa CHR. WITSCHEL – B. BORG: Veränderungen im Repräsentationsverhalten der römischen Eliten während des 3. Jh. n. Chr., in: G. Alföldy – S. Panciera (Hg.), Inschriftliche Denkmäler als Medien der Selbstdarstellung in der römischen Welt, Stuttgart 2001, 47ff.; R. DUNCAN-JONES: Economic Change and the Transition to Late Antiquity, in: M. Edwards – S. Swain (Hg.), Approaching Late Antiquity, Oxford 2004, 20ff. 73 Siehe die Anm. 68 genannte Literatur. 74 S. MITCHELL: A History of the Later Roman Empire AD 284 – 641, 2007, 226ff. mit der Literatur und wichtigen methodischen Überlegungen zur Repräsentativität der Quellen, spe-
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immer der Inbegriff des Polytheismus gewesen. 75 Mochten ihre Anhänger in den „imperial events“ an dem Zug der Zeit in Richtung auf einen Henotheismus teilhaben, an ihren kultischen Handlungen werden sie aufgrund des traditionellen Zuschnitts solcher Verehrungsformen festgehalten haben. Die Menschen, die diesen traditionellen Kulten anhingen, vollzogen ihre religio in der hergebrachten Weise in ihren Kultstätten; die Umgestaltung der sakralen Topographie in den Städten des Mittelmeerraums ist erst in der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts vollzogen worden, und war auch dann noch ein Prozeß. 76 Für die Anhänger der traditionellen, „städtischen“ Gottheiten war ihre religiöse Praxis in hohem Maße verortet, ihre religiöse Identität ausgelagert in materielle Symbolik, Heiligtümer und Bilder. 77 Auch nachdem in vielen Städten Christen die alten Kultstätten neuen Verfügungsformen zugeführt hatten, wird man noch mit einer längeren Fortexistenz alter Kulthandlungen im Schattenmodus rechnen müssen. Die Gegenseite porträtiert diese Vertreter der „Idolatrie“ sehr unvorteilhaft, und vielleicht kann man jenseits von Polemik feststellen, daß wir unter diesen Personengruppen auch und gerade bildungsferne Schichten vermuten dürfen. Daß Römische Reich hatte seit dem zweiten Jahrhundert viele Veränderungen erfahren, die Welt transformierte sich. Eliten waren mobil, sozial wie geographisch. 78 Die angesprochenen Schichten waren im Vergleich dazu eher statisch – eben dies bedingte in ihren Kulthandlungen ihren „Polytheismus“ wesentlich mit. 79 Es überrascht nicht, wenn solche Gruppierungen in einer Transformationszeit mit großer Leidenschaft an den überkommenen identitären Mustern festhielten. 80 Die Tetrarchen wähnten sich in ihrer gegen die Christen gerichteten Politik mit diesen Gruppen im Einklang, 81 und Eusebius läßt die Deutung zu, daß dieser Glaube vielleicht überzogen, aber nicht ganz falsch war. Das auch aus politischen Gründen, aus dem Glauben an eine utilitas publica heraus eingeleitete gewaltsame Homogenitätsstreben der Zentrale stand den gerade angesprochenen Befürchtungen eines potentiellen Identitätsverlustes breiterer Schichten auch sicher nicht ganz fern. Umgekehrt wird man auch eine größere Zahl von Christen postulieren dürfen, die nicht an philosophischen Einsprengseln in der christlichen Lehre, dem Spiel der Gebildeten mit dem Traditionsgut oder dem Versuch im Stile eines Laktanz nachzuweisen, das Christentum stehe im Grunde im Einklang mit der Weisheitslehre der Antike, interessiert waren, sondern die klare Vorgaben über das Trennende beider Gruppierungen suchten. Die zahlreichen Gewaltakte, die von Christen nach der
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ziell der archäologischen Überlieferung; POTTER 2004 (wie Anm. 59), 485ff.; SALZMAN 2007 (wie Anm. 70); LEPPIN, Wandel (wie Anm. 6); J. HAHN: Gewalt und religiöser Konflikt. Studien zu den Auseinandersetzungen zwischen Christen, Heiden und Juden im Osten des Römischen Reichs (von Konstantin bis Theodosius II.), (Klio Beih. N. F. 8) Berlin 2004. Siehe oben Anm. 20. LEPPIN, Wandel (wie Anm. 6), speziell 66. Zu dieser Verortung siehe COOLEY, Roman Religion (wie Anm. 24). J. B. RIVES: Religion in the Roman Empire, London 2007, 105ff. RIVES, Religion (wie Anm. 78), 132ff. Vgl. dazu SCHEID, Religion romaine (wie Anm. 67). POTTER, Roman Empire (wie Anm. 59), 337ff.
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„Constantinischen Wende“ gegen pagane Kulte begangen wurden, legen dies nahe. 82 Solche Christen, deren Glaube auf Unterweisung durch die Eltern und Gemeinden beruhte, also im wesentlichen mündlich vermittelt war, wären von den Thesen, das Christentum sei dem Platonismus sehr ähnlich gewesen, schockiert gewesen. Und für ihren Glauben dürfte eine solche Vermutung auch einfach unzutreffend sein – erneut scheinen mir hier die literarischen Zirkel in der Forschung überrepräsentiert. 2. Aber gab es sicher auch eine größere Zahl von Mitgliedern einer erweiterten Elite, die wohl die Zeitströmung registrierten, alle übersinnlichen (um nicht zu sagen: transzendenten) Vorstellungen auf ein höchstes Prinzip zurückzuführen, die aber – im Gegensatz zu den oben angesprochenen incerti – wohl kaum bereit oder in der Lage waren, die Argumente über dessen Natur stets ganz und ausführlich nachzuvollziehen. M. Frede und seine Mitstreiter haben alle diese Personen unten den jeweiligen Überschriften Hermetiker, Platoniker et cetera verbucht.83 Doch ganz abgesehen davon, daß wir über die Größe dieser Gruppen wenig sagen können, tritt noch ein anderes Problem hinzu. Schloß man sich solchen Glaubenswelten wirklich ein für alle Mal an? War es nicht möglich, daß mobile Mitglieder einer erweiterten Elite an unterschiedlichen Orten in unterschiedlicher Form mit dem Göttlichen in Kontakt zu treten suchten? In der hohen Kaiserzeit war dies selbst für römische Statthalter und ihr Personal normal gewesen, die überall im Reich für lokale Gottheiten Altäre errichteten. Mir scheint es wahrscheinlich zu sein, daß sich hinter den Befunden aus dem hohen und späten Prinzipat eine weitere Gruppe von Personen verbirgt, die unsere Quellen jedoch nicht namentlich nennen. Sie waren bereit, an einen höchsten Gott zu glauben, ohne diesen Gott jedoch scharf gegen andere Gottheiten abzugrenzen. 84 Eine einmalige definitorische Beschränkung ihres Gottesbildes nahmen sie nicht vor. Auch der christliche Gott konnte von ihnen verehrt werden: Solche Pseudo-Christen begegnen im vierten Jahrhundert speziell in den Attacken prominenter Bischöfe. 85 Doch muß es auch schon im dritten Jahrhundert und auch außerhalb des christlichen Orbits solche Personen mit wechselnden Bekenntnissen gegeben haben, die absichtlich oder aus Unvermögen darauf verzichteten, ihren heterogenen Glaubensmustern einen einheitlichen, und sei es überwölbenden synkretistischen Rahmen zu geben. Ähnlich wie die Henotheisten in H. S. Versnels Modell waren sie bereit, an einen Gott oder ein höchstes Prinzip zu glauben, doch ohne ihre Position zu Ende zu denken: Ambivalenztoleranz war, wie angesprochen, für die mediterranen Religionen durchaus typisch. 86 Doch anders als die von H. S. Versnel untersuchten Henotheisten werden solche Gläubige ihre Vorstellungen nicht in einem Bekenntnis („es gibt nur einen Gott“) fixiert haben. Die neuplatonische Philoso82 Cf. die Materialzusammenstellung von HAHN, Gewalt (wie Anm. 74), der allerdings zu Recht darauf verweist, daß vorgeblich religiöse Gewalt eine Vielzahl von Ursachen haben konnte und zudem immer aus einer reichen Matrix lokaler Umstände entstand. 83 ATHANASSIADI – FREDE, Pagan Monotheism (wie Anm. 45). 84 SALZMAN, Religious Koine (wie Anm. 70). 85 KAHLOS, Debate and Dialogue (wie Anm. 69), 42ff. 86 Vgl. Anm. 30.
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phie der Zeit liefert für solche Versuche, die eigenen unscharfen Vorstellungen einzuholen, oftmals vermutlich nur Sprachmaterial, nicht festgefügte Glaubenssätze. Mit Monotheismus im eigentlichen Sinne des Wortes hat eine solche abwartende, suchende Position nur sehr bedingt etwas zu tun, zumal sich Gläubige dieser Art wohl kaum den Anforderungen des Staatskultes widersetzt haben dürften, der auch noch im frühen vierten Jahrhundert den klassischen Polytheismus widerspiegelte. 4. FUNDAMENTALISMUS UND KANON Kommen wir nun abschließend zurück zu dem Phänomen des Fanatismus. Die massiven Christenverfolgungen unter Valerian und den Tetrarchen sind ohne eine gewisse Sympathie für dieses Unterfangen bei Teilen der Bewohner der östlichen Provinzen wohl nicht denkbar, die nach der Annahme der Kaiser und dem Zeugnis christlicher Zeitgenossen Anhänger der traditionellen Kulte waren: 87 Die Kaiser haben ihre Absichten nicht einfach allen Bewohnern des Reichs aufgezwungen. Bei solchen Unterstützern wird man mit einem Gefühl der Bedrohung in simplen identitären Strukturen zu rechnen haben, verstärkt durch die Transformationsprozesse der Zeit. Wenn ich diese Gruppen als bildungsfern anspreche, dann aber nur insofern, als sie nicht regelmäßig philosophische Schriften konsultiert haben dürften. 88 Umgekehrt zeigen frühe Martyrien und auch handfeste Streitigkeiten untereinander und mit Anhängern fremder Kulte, daß es auch auf christlicher Seite erhebliches Potential für fanatische Positionen jenseits komplexer theologischer Streitfragen gab, in denen also gerade als elementar empfundene Differenzen im Vordergrund standen. 89 Ganz auf der anderen Seite des Spektrums stehen intensive Kontroversen der intellektuellen Elite über die Natur dessen, was sie jeweils Gott nannten, und den richtigen Modus der Verehrung. 90 Zwischen diesen Polen hat es aber eine Vielzahl von weit weniger deutlich religiös festgelegten Gruppierungen gegeben, so Anhänger henotheistischer Überzeugungen variabler Art oder von synkretistischen Kulten. Zu diesen Gruppierungen zählten aber auch Schwankende, die unter anderem auch von Christentum oder Platonismus mehr oder minder stark beeinflußt sein konnten, aber nie dogmatisch wurden und keine Exklusivität formulierten oder akzeptierten. Diese noch Bedeutung Suchenden waren ebenso wie viele gnostische und vergleichbare Gruppen sehr wahrscheinlich leichter bereit, auf dem Boden des Glaubens an ein höchstes göttliches Prinzip religiöse Kompromisse zu schließen. Sonst wären die Auseinandersetzungen der Zeit auch noch viel heftiger geworden. Hier also trug die Tendenz, in den Theismus-Konstruktionen eher das Eine als das Viele zu betonen, eher zur Toleranz bei, eine Toleranz, die zumindest imperiale Züge trug. Es ist an den beiden 87 88 89 90
POTTER, Roman Empire (wie Anm. 59) 337ff. Cf. auch die Beobachtungen von SCHEID, Religion romaine (wie Anm. 67). Siehe etwa den Beitrag von M. CLAUSS in diesem Band. Siehe oben Anm. 62.
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Rändern, an denen diese Toleranz nicht griff, und zwar bei Christen wie Paganen. Bei den hier vorsichtig als bildungsfern bezeichneten Schichten wurden schon Erklärungsversuche unternommen. Auf dem gegenüberliegenden Pol wirkten aber ganz andere Mechanismen. Hier war es gerade die intensive Kenntnis der Schriften, die zu dem unbedingten Festhalten an der eigenen Position führte. Und zwar waren diese Schriften nicht einfach Bildungsgüter, sondern auch auf paganer Seite schon in Ansätzen kanonisierte (philosophische) Schriften, die nicht beliebig verändert und angepaßt, sondern mit dem Anspruch auf Wahrheit interpretiert wurden, und zwar von institutionalisierten Interpreten. Plotin, Porphyrios und andere Philosophen können nicht mehr ohne weiteres als Privatmänner betrachtet werden; ihre Prominenz machte sie zu markant hervortretenden Vorkämpfern paganer Glaubensvorstellungen. Weder die philosophische noch die jüdisch-christliche Tradition ließ daher ein Abgleiten in Beliebigkeit zu. Die Kanonisierung von Schriften ließ natürlich grundsätzlich deren weitere Interpretation zu – dies soll hier sicher nicht bestritten werden. Aber die für die anderen religiösen Gruppierungen, die sich nicht oder weit weniger auf kanonisierte Schriften stützten beziehungsweise deren Schriften aufgrund ihres allegorischen Charakters weit mehr Deutungsspielraum ließen, charakteristische Ambivalenztoleranz ging bei doktrinären Intellektuellen wie bei den Christen durch die Kanonisierung des Wortes in stärkerem Ausmaß verloren. Religiöser Fanatismus aber schlug dann in dauerhafte intensive Gewalt um, wenn sich die Staatsgewalt den beiden angedeuteten Rändern näherte: Die Kaiser suchten im dritten Jahrhundert die Nähe zu den Gemeinden auch im Kult in einer vorher ungekannten Weise; und pagane Philosophen sollen Diocletian bei seiner Entscheidung für eine Verfolgung mitbeeinflußt haben. 91 Und seit Constantius II. und der allmählichen Entstehung einer Staatskirche verbinden sich umgekehrt Staatsgewalt und Auslegungshoheit nun in christlichem Zeichen. 92 Dieser Verlust an Ambivalenztoleranz bewirkte eine Erhöhung des Konfliktpotentials.
91 Lact. DI 5, 2. 92 P. BARCELÓ: Constantius II. und seine Zeit. Die Anfänge des Staatskirchentums, Stuttgart 2004.
FUNDAMENTALISTISCHE TENDENZEN IN HEIDENTUM UND CHRISTENTUM DES VIERTEN JAHRHUNDERTS Pedro Barceló, Potsdam Die polytheistische römische Religion (genau genommen müssten wir die Pluralform verwenden, um sie sachgerecht zu umschreiben) besaß kein heiliges Buch, das als Wegweiser oder als Inspirationsquelle diente. Auch kannte sie weder Offenbarung noch Dogmen. Im Mittelpunkt des Kultes standen Opferhandlungen und Rituale, die von Priesterkollegien veranstaltet wurden, die sich aus den Reihen der höchsten Amtsträger des Staates rekrutierten. Diese Ausgangslage macht es beinahe unmöglich, unsere gängigen Vorstellungen von Fundamentalismus auf die römische Religion zu übertragen; es sei denn, man würde die peinlich genaue Erfüllung ihrer säkularen Rituale in diesem Sinne deuten. 1 Aus heutiger Sicht verstehen wir unter Fundamentalismus den Primat einer außerhalb jeder kritischen Diskussion stehenden Religion über politische, ökonomische und soziale Belange. 2 Er äußert sich in der strikten Befolgung göttlicher Mandate, die in heiligen Texten offenbart wurden, die unter Verzicht auf wissenschaftliche Exegesemethoden wortwörtlich ausgelegt und von den Adepten zum Maßstab ihres Handelns erhoben werden. Natürlich ist das Phänomen des Fundamentalismus unendlich komplexer als jede noch so zutreffende Definition zu erfassen vermag. Es greift weit über die Motiv- und Deutungsebene hinaus, indem es die Lebenswelt der Betroffenen berührt, die Frage nach dem Umgang mit anderen Religionen stellt und die Einstellung zu Zwang, Verboten, Repression und Gewalt thematisiert. Um diese letztgenannten Facetten kreisen die folgenden Überlegungen. Ihre Absicht ist es, ein Arbeitsfeld zu beschreiben, das sich aus dem Vergleich der politischen Grundeinstellungen mit den religiösen Verhaltensnormen des 4. Jahrhunderts ergibt – der Epoche, die wie keine andere vom Mitund Gegeneinander der heidnischen und der christlichen Religion geprägt ist. Eine derartige Vorgehensweise eröffnet dem Historiker die Sicht auf den militanten Kampf um die Vorherrschaft sowie die gewaltsame Durchsetzung konkurrierender religiöser Systeme innerhalb eines gemeinsamen Bezugsrahmens, nämlich des 1
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J. SCHEID: Le fondamentalisme dans la religion romaine (V s. av. – III s. apr. J.-C.). Quelques reflexions sur un concept inappropie, in: P. Barceló u. a. (Hg.), Fundamentalismo político y religioso: De la Antigüedad a la edad moderna, II. Intern. Koll. der Forschungsgruppe Potestas, Castellón 2003, 13–22. Vgl. etwa H. NEUHAUS (Hg.), Fundamentalismus. Erscheinungsformen in Vergangenheit und Gegenwart, Erlanger Forschungen Reihe A, Geisteswissenschaften Bd. 108, Erlangen 2005; B. TIBI: Der religiöse Fundamentalismus. Im Übergang zum 21. Jahrhundert, Mannheim 1995.
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römischen Staates, der als Agens und Plattform dieser Auseinandersetzung fungiert und durch diesen Transformationsprozess nachhaltig verändert wird. Zwei methodische Einschränkungen sind angebracht. Erstens: Die nachfolgenden Ausführungen werden nicht den Blick auf den inneren Kern der heidnischen oder der christlichen Religion richten, sondern anhand ausgewählter offizieller Verlautbarungen primär ihre Außendarstellung und öffentliche Wirksamkeit betrachten und dabei die zwischen beiden Systemen vorhandenen Schnittmengen vermessen. Zweitens: Es werden lediglich die von der Regierung ausgegebenen religionspolitischen Direktiven zugrunde gelegt, um jenen Trends nachzugehen, die eine reichsweite Wirkung entfalteten. Äußerungen der Vertreter der religiösen Gemeinschaften bleiben, bis auf einige wenige Ausnahmen, dagegen unberücksichtigt. Eine Analyse und Auswertung der reichlich vorhandenen Zeugnisse dieser Autorengruppe 3 würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen. I. Die römische Religion gilt gegenüber fremden Kulten als weitgehend liberal. Doch wie bei den meisten Verallgemeinerungen trifft diese Sichtweise nur bedingt zu. Es gibt genug Beispiele für das Gegenteil. Dafür war die unauflösliche Verzahnung der staatlichen mit den kultischen Institutionen verantwortlich. Die Götter bildeten einen wesentlichen Bestandteil des politischen Systems, weil sie die Existenz und die Wohlfahrt des Staates garantierten. Daraus ergab sich eine Symbiose zwischen der politischen Gemeinschaft und der sie tragenden Kultgemeinde. 4 Allerdings war das römische Pantheon keineswegs abgeschlossen. Es befand sich in einem ständigen Wandel, was letztlich mit dem Prozess der Reichsbildung zusammenhing. Rom importierte aus seinen Provinzen zahlreiche Götter und Riten. Die meisten von ihnen wurden allmählich in den Kultalltag eingegliedert, womit dieser die lokalen Grenzen überwand und eine universale Geltung entfaltete. Eine derartig bereitwillige Aufnahme fremder Kulte ist Ausweis für die Integrationsfähigkeit der römischen Religion, die keinen monolithischen Block bildete, sondern sich als ein komplexes System der rituellen, politischen 3
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Zu den religiös motivierten Konflikten in einigen Städten der östlichen Reichshälfte wie Alexandria, Antiochia oder Gaza vgl. J. HAHN: Gewalt und religiöser Konflikt. Studien zu den Auseinandersetzungen zwischen Christen, Heiden und Juden im Osten des Römischen Reiches (von Konstantin bis Theodosius II.), Berlin 2004. Cic., leg. II 8,19 bringt diese Reziprozität prägnant auf den Punkt, wenn er formuliert: Ad divos adeunto caste, pietatem adhibento, opes amovento. Qui secus facit, deus ipse vindex erit. Separatim nemo habessit deos neve novos neve advenas nisi publice adscitos; privatim colunto quos rite a patribus cultos acceperit („Vor die Götter trete man rein, bringe fromme Gesinnung mit, halte äußere Pracht fern. Wer anders handelt, den wird der Gott selbst bestrafen. Für sich allein soll niemand Götter haben, weder neue noch auswärtige, außer solchen die von Staats wegen eingeführt sind. Zu Hause erweise man nur Göttern Verehrung, die man nach Brauch von den Vätern ererbt hat.”) Allgemein zur römischen Religion J. RÜPKE: Die Religion der Römer. Eine Einführung, München 2001.
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und kulturellen Interaktion begriff. Geprägt von Durchlässigkeit, Synkretismus und Kooperation mit anderen Kulten förderte die römische Religion das Zusammenleben der unterschiedlichsten religiösen Gemeinschaften innerhalb eines überaus heterogenen Reiches und leistete dabei einen Beitrag zu dessen Stabilität. Angesichts dieser Evidenz bleibt zu fragen, wie eine derartig vielseitige religiöse Welt intolerante Einstellungen erzeugen konnte. Dies war immer dann der Fall, wenn von den neuen Kulten Anschläge auf die Sicherheit des Staates beziehungsweise verderbliche moralische Einflüsse auf die geltenden ethischen Normen oder gar eine Zersetzung der gesellschaftlichen Kohärenz befürchtet wurden. Eine Auflistung der Konfliktsituationen zwischen dem römischen Staat und den beanstandeten Kultpraktiken ergibt allerdings, dass die Zahl der Streitpunkte gering war. Es lassen sich nur wenige Fälle von gewaltsamer Konfrontation ausmachen. Unter den berühmtesten Beispielen wären die Verbote der Bacchanalien (186 v. Chr.) oder des Kultes der ägyptischen Göttin Isis (das nur vorübergehend galt) sowie die Strafmaßnahmen gegen die Manichäer und die Christen hervorzuheben. Daneben, wenn auch auf einer anderen Ebene stehend, ereigneten sich gelegentlich Vertreibungen von Sterndeutern, Magiern, Philosophen, Fremden, gelegentlich auch Juden oder Angehörigen anderer Minderheiten aus der Stadt Rom. Diesen wenigen Beispielen von Ablehnung bestimmter im weitesten Sinne religiös konnotierter Personengruppen und Kultgemeinschaften muss die weitaus größere Anzahl von Fällen der freiwilligen Akzeptanz fremder Göttern, wie etwa die Einführung der Mater Magna (Kybele), Sarapis, Mithras und vieler anderer Kulte gegenüber gestellt werden. Die Ablehnung fremder Kulte wurde nicht inhaltlich begründet. Selten wurden die Anhänger der inkriminierten Religionen angeklagt, die falschen Götter zu verehren, sondern eher schon den anerkannten Göttern Roms – den Symbolen der Einheit des Staates – den schuldigen Respekt versagt zu haben. Der Vorwurf lautete, subversive, staatsgefährdende Ziele zu verfolgen. Um gegen eine bestimmte religiöse Gemeinschaft strafrechtlich vorzugehen, nahmen die Behörden nicht ihre Doktrin ins Visier, sondern sie bewerteten vielmehr ihr Gefahrenpotenzial für das Zusammenleben unter dem Dachverband des römischen Staates. Erst wenn diese Kompatibilität gestört war, gingen die Vertreter der Regierung gegen Glaubensgemeinschaften vor. Ihr Blick konzentrierte sich primär auf das Verhalten der Adepten und nicht auf den theologischen Gehalt ihrer aus welchen Gründen auch immer in Verruf geratenen Religion. Dies lässt sich am Beispiel der von Anfang an beargwöhnten Christen beobachten. 5 Die römische Staatsmacht interessierte sich kaum für das Glaubensgut
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Zur Problematik des Begriffs Christenverfolgung vgl. J. VOGT: „Christenverfolgung I (historisch)“, in: Reallexikon für Antike und Christentum, Stuttgart 1954, Sp. 1159–1208; J. WALSH – G. GOTTLIEB: Zur Christenfrage im zweiten Jahrhundert, in: G. Gottlieb – P. Barceló (Hg.), Christen und Heiden in Staat und Gesellschaft des zweiten bis vierten Jahrhunderts. Gedanken und Thesen zu einem schwierigen Verhältnis, München 1992, 53; E. DASSMANN: Ausbreitung, Leben und Lehre der Kirche in den ersten drei Jahrhunderten, Stuttgart 2000, 98.
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der christlichen Gemeinde. 6 Umso mehr zeigte sie sich über das öffentliche Verhalten ihrer Mitglieder besorgt, das als eine schwerwiegende Infragestellung der säkularen Traditionen, die Rom groß gemacht hatten, angesehen wurde. Weil die Christen (sicher nicht alle) den offiziellen Kultveranstaltungen fernblieben und sich weigerten, den Göttern des Reiches und dem Kaiser zu opfern, machten sie sich aus der Sicht der römischen Behörden der Illoyalität gegenüber dem Staat und seiner göttlichen Instanzen verdächtigt. Aus diesem Grunde wurden sie der Verschwörung bezichtigt, was sie zu Feinden der bestehenden Ordnung werden ließ. 7 Daran kann man erkennen, dass ein Kult durchaus als Gefahr eingestuft werden konnte, wenn seine Anhänger die Vorgaben des traditionellen religiösen Systems missachteten, was sie in der Wahrnehmung ihrer Umgebung zu gesellschaftlichen Außenseitern machte. 8 Im Falle der Manichäer kamen noch chauvinistische Ressentiments hinzu. Die Anhänger dieser aus dem Perserreich stammenden religiösen Gemeinschaft waren mit dem Odium behaftet, Agenten einer fremden Macht, also Landesverräter, zu sein. II. Seit Augustus stellte der Kaiserkult eine bewährte Form der sozialen Kommunikation dar, welche die Anerkennung der etablierten Ordnung durch die Beteiligten verstärkte. Forderte ein Herrscher, wie Decius (249–251 n. Chr.), seine Untertanen auf, eine supplicatio (Opfer und Gebet) zu vollziehen, 9 so tat er dies nicht, wie eine auf die Verfolgung der Christen einseitig fixierte Optik sehen möchte, um Dissidenten zu disziplinieren, sondern er handelte in der Absicht, einen Beweis der Solidarität von Seiten der Reichsbevölkerung zu erhalten. Es ging dabei primär um die Erlangung von Zustimmung, weniger um die Ausgrenzung der illoyalen Bürger. Mittels einer derartig groß angelegten Mobilisierung sollte Kon6 7
8 9
Vgl. dazu C. MARKSCHIES: Das antike Christentum. Frömmigkeit, Lebensformen, Institutionen, München 2006. Zur Behandlung der Christen durch die Institutionen des römischen Staates vgl. R. FREUDENBERGER: Das Verhalten der römischen Behörden gegen die Christen im 2. Jahrhundert, dargestellt am Brief des Plinius an Trajan und den Reskripten Trajans und Hadrians, München 1967; K. BRINGMANN: Christentum und römischer Staat im ersten und zweiten Jahrhundert n. Chr., GWU 29 (1978), 1–18; D. FLACH: Die römischen Christenverfolgungen. Gründe und Hintergründe, Historia 48 (1999) 442–464; J. MOLTHAGEN: „Cognitionibus de Christianis interfui numquam“. Das Nichtwissen des Plinius und die Anfänge der Christenprozesse, in: H. HALFMANN – C. SCHÄFER (Hg.), Christen in der nichtchristlichen Welt des römischen Reiches der Kaiserzeit, Pharos 19, St. Katharinen 2005, 116–146; G. CLARK: Christianity and Roman Society, Cambridge 2006. J. WALSH – G. GOTTLIEB: Zur Christenfrage im zweiten Jahrhundert, 21–52. R. SELINGER: Die Religionspolitik des Kaisers Decius. Anatomie einer Christenverfolgung, Frankfurt 1994; J. B. RIVES: The Decree of Decius and the Religion of the Empire, JRS 89 (1999), 135–154; B. BLECKMANN: Zu den Motiven der Christenverfolgung des Decius, in: K.-P. Johne u.a. (Hg.), Deleto paene Imperio Romano. Transformationsprozesse des römischen Reichs im 3. Jahrhundert und ihre Rezeption in der Neuzeit, Stuttgart 2006, 57–72.
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formität demonstriert werden. Der Appell war aus der Sicht der Regierung notwendig, um den vielfältigen Bedrohungen (Einfall fremder Völker, wirtschaftliche Probleme, Abbau der kaiserlichen Autorität durch die vielen Usurpationen, Bürgerkriege), die das Reich erschütterten, durch Stärkung der inneren Geschlossenheit zu begegnen. 10 Nach Ansicht Kaiser Valerians war die ständig wachsende Gemeinschaft der Christen ein Unsicherheitsfaktor und ein Hindernis für die Einheit des Reiches. Daher ließ er sie verfolgen. 11 Als im Jahre 260 n. Chr. im Verlauf eines erfolglosen Feldzuges gegen das Perserreich Kaiser Valerian in Gefangenschaft geriet und bald darauf starb und damit die größte Demütigung erlitt, die jemals einem Kaiser widerfuhr, war ein Tiefpunkt in der römischen Geschichte erreicht. Deshalb sahen nicht wenige Christen in diesem Vorfall eine verdiente göttliche Strafe, während in manchen heidnischen Kreisen den Christen die Schuld am Elend des Imperiums zugewiesen wurde. Eine Neuauflage der Gewalt brachten die von Diocletian zunächst gegen die Manichäer (295 n. Chr.) 12 und dann gegen die Christen erlassenen Edikte (303 n. Chr.) 13 mit sich, die das Ziel anstrebten die religiöse Homogenität des Reiches zu erzwingen. Das tetrarchische Regierungsprogramm beruhte auf einer Identifikation der Herrscher mit der capitolinischen Religion. Abweichungen wurden kriminalisiert, weil sie aus der Sicht der Regierung das religiös legitimierte Fundament des Staates zersetzten und daher die bestehende Ordnung in Frage stellten. Mit dem Verbot des manichäischen und des christlichen Kultes und der damit einhergehenden Bedrängung ihrer Anhänger erreichte die Einschüchterungspolitik des Staates eine bis dahin nicht gekannte Militanz, die sich durch die Überzeugung von der Richtigkeit der eigenen Ansichten legitimierte. Um das übergeordnete Ziel einer Revitalisierung der traditionellen Religion zu erreichen, nahmen die Tetrarchen, wie einige ihrer Vorgänger, gewalttätige Methoden in Kauf, von der Überzeugung geleitet, dass sie dem Staat und der Gesellschaft einen Dienst erwiesen. Die Unversöhnlichkeit gegen bestimmte soziale Gruppen passt allerdings nicht so recht in das politische Programm der Tetrarchie, das integrative und re10 Zur Krise des 3. Jahrhunderts vgl. B. BLECKMANN: Die Reichskrise des III. Jahrhunderts in der spätantiken und byzantinischen Geschichtsschreibung; München 1992; K. STROBEL: Das Imperium Romanum im „3. Jahrhundert“. Modell einer historischen Krise, Stuttgart 1993; G. ALFÖLDY: Die Krise des Imperium Romanum und die Religion Roms, in: W. Eck (Hg.), Religion und Gesellschaft in der Römischen Kaiserzeit (Kölner historische Abhandlungen), Köln – Wien 1989, 53–102; M. SOMMER: Die Soldatenkaiser, Damstadt 2004; G. CLARKE: The Third-Century Christianity, in: A. K. Bowman (Hg.), The Crisis of the Empire, A. D. 193–337, Cambridge Ancient History Bd. 12, Cambridge 2005, 589–671. 11 M. SAGE: The Persecution of Valerian and the Pace of Gallienus, Wiener Studien 17 (1983), 137–159; K.-H. SCHWARTE: Die Christengesetze Valerians, in: W. Eck (Hg.), Religion und Gesellschaft in der Römischen Kaiserzeit (Kölner historische Abhandlungen), Köln – Wien 1989, 103–164. 12 Zum Manichäeredikt vgl. M. T. FÖGEN: Die Enteignung der Wahrsager. Studien zum kaiserlichen Wissensmonopol in der Spätantike, Frankfurt 1993, 26–34. 13 Zur diocletianischen Christenverfolgung vgl. W. PORTMANN: Zu den Motiven der diokletianischen Christenverfolgung, Historia 39 (1990), 212–248.
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formerische Züge aufwies. Die Tetrarchen waren alles andere als übereifrige Fanatiker. Es scheint, dass nicht alle vom Nutzen der Gewaltmaßnahmen überzeugt waren. Teile der Öffentlichkeit waren skeptisch gegenüber einer derart militanten Politik eingestellt. Zumal der enorme staatliche Druck, der gegen die geächteten religiösen Gruppen aufgebaut wurde, weit davon entfernt war, eine Befriedung zu erreichen. Die von den Christen erlittenen Martyrien ließen ihre Glaubensgenossen keineswegs in ihrer Haltung wanken, sondern erzeugten vielerorts die gegenteilige Wirkung, da sie dazu beitrugen, das Bild der Unverwundbarkeit der Verfolgten zu verfestigen. 14 Hierbei begegnen sich zwei rigoristische Strömungen. Sowohl die kaiserliche Regierung als auch die Märtyrer waren von der Richtigkeit der eigenen Überzeugung erfüllt und gingen bis zum Äußersten, indem sie entweder Gewalt ausübten oder erduldeten. Wir verfügen über einen wertvollen Text, der die Spannung einfängt, die auf Seiten der Drahtzieher der gescheiterten Verfolgung herrschte. Es handelt sich um das Edikt von Serdica vom 30. April 311 n. Chr., mit dem Kaiser Galerius nach acht Jahren die Verfolgung der Christen einstellte: Siquidem quadam ratione tanta eosdem christianos voluntas invasisset et tanta stultitia occupasset, ut non illa veterum instituta sequerentur, quae forsitan primum parentes eorundem constituerant, sed pro arbitrio suo atque ut isdem erat libitum, ita sibimet leges facerent quas observarent, et per diversa varios populos congregarent. Denique cum eiusmodi nostra iussio extitisset, ut ad veterum se instituta conferrent, multi periculo subiugati, multi etiam deturbati sunt. Atque cum plurimi in proposito perseverarent ac videremus nec diis eosdem cultum ac religionem debitam exhibere nec christianorum deum observare, contemplatione mitissimae nostrae clementiae intuentes et consuetudinem sempiternam […] in his quoque indulgentiam nostram credidimus porrigendam, ut denuo sint christiani et conventicula sua componant, ita ut ne quid contra disciplinam agant. Per aliam autem epistolam iudicibus significaturi sumus quid debeant observare. Unde iuxta hanc indulgentiam nostram debebundt deum suum orare pro salute nostra et rei publicae et sua, ut undique versum res publica perstet incolumis et securi vivere in sedibus suis possint. 15
14 D. LIEBS: Umwidmung. Nutzung der Justiz zur Werbung für die Sache ihrer Opfer in den Märtyrerprozessen der frühen Christen, in: W. Ameling (Hg.), Märtyrer und Märtyrerakten, Stuttgart 2002, 19–46. 15 Lact, mort. pers. 34,2: „Denn aus irgendeinem Grund hatte ein so starker Eigenwille eben diese Christen erfaßt und so große Torheit von ihnen Besitz ergriffen, daß sie den Gebräuchen der Alten nicht mehr folgten, die vielleicht ihre eigenen Vorfahren eingefürt hatten, sondern ganz nach Gutdünken und Belieben sich Gesetze gaben, um sie zu beachten, und in verschiedenen Gegenden verschiedene Völker zu einer Gemeinschaft vereinigten. Als schließlich von uns der Befehl erging, daß sie zu den Gebräuchen der Alten zurückkehren sollten, wurden viele in Kapitalprozesse verwickelt, viele aber auch vertrieben. Und da die meisten auf ihrem Vorsatz beharrten und wir sahen, daß sie weder den Göttern die gebührende Anbetung und Ehrfurcht angedeihen ließen noch den Gott der Christen verehrten, so haben wir in Anbetracht unserer umfassenden Milde und im Hinblick auf unsere immerwährende Gewohnheit, allen Menschen zu verzeihen, geglaubt, auch diesen unsere bereitwilligste Nachsicht gewähren zu müssen, damit sie wieder Christen sein und ihre Versammlungsstätten wiederaufbauen können. Jedoch so, daß sie nichts gegen die öffentliche Ordnung unternehmen. Durch ein anderes Schreiben aber werden wir den Gerichtsbeamten anzeigen, was sie zu beachten haben. Daher wird es entsprechend unserem Entgegekommen die Pflicht der Christen sein, zu
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Unschwer lässt sich an Hand obiger Sätze die Frustration des Kaisers nachvollziehen, der sich nicht mit seinem Ziel durchsetzen konnte. Galerius erkannte widerwillig, dass es ihm nicht geglückt war, das Christentum auszuschalten. Besonderes Interesse verdient das Argument, das der gescheiterte Verfolger anführt, um die Wende in der kaiserlichen Politik zu rechtfertigen: Da es sich als unmöglich erwiesen hatte, das Christentum zu unterbinden, solle künftig der christliche Ritus so veranstaltet werden, dass seine gottesdienstliche Wirksamkeit voll zur Entfaltung gelange. Offenbar wurde die vorschriftsmäßige Abhaltung eines Kultes, selbst des christlichen, als gewichtiger erachtet als die Abneigung gegen eine ungeliebte Glaubensgemeinschaft. Diese Handlungsweise unterstreicht die in der religiösen Gefühlswelt der Römer tief verwurzelte Vorstellung, dass das Wohlwollen der Götter von der korrekten Ausführung der Rituale abhing; eine Geisteshaltung, die sowohl von den Heiden als auch von den Christen geteilt wurde. Für Galerius waren die vom Glauben der Väter abgefallenen Christen Verblendete, die aus Unvernunft handelten, wie er selbst in seinem Toleranzedikt bekräftigte. Ähnliche Epitheta sollte Constantin wenig später verwenden, nachdem er Rom eingenommen und dabei ein enges Band zum Christengott geknüpft hatte. 16 In einem Brief an den Bischof Caecilian von Karthago bezeichnete Constantin die Gegner der katholischen Kirche, also die Donatisten, als vom Wahnsinn Befallene, die jede Strafe verdienten. 17 διόπερ εἴ τινας τοιούτους ἀνθπώπους ἐν αὐτῇ τῇ μανίᾳ ἐπιμένειν κατίδοις, ἄνευ τινὸς ἀμφιβολίας τοῖς προειρημένοις δικασταῖς πρόσελθε καὶ αὐτὸ τοῦτο προσανένεγκε ὅπως αὐτοῖς παροῦσιν ἐκέλευσα, ἐπιστρέψωσιν· 18
Trotz der prinzipiellen Unterschiede in der Christenfrage zwischen Galerius und Constantin herrschte hinsichtlich der Bewertung religiöser Dissidenz ein Gleichklang der Auffassungen. Das unwirsche und widerwillig abgerungene Zugeständnis des Galerius gegenüber den Christen findet in der gereizten Stimmung Constantins gegen die Donatisten ihre Entsprechung. Constantin forderte den katholischen Bischof Caecilian auf, Disziplinarmaßnahmen gegen Dissidenten zu ergreifen, was dieser allzu gerne tat. Zum ersten Mal stellte ein römischer Kaiser einem christlichen Bischof den staatlichen Apparat zur Verfügung, womit der Verschmelzung von Kirche und Staat Tür und Tor geöffnet wurde. Ein Ergebnis dieihrem Gott zu beten für unser Wohl, für das Wohl des Staates und für ihr eigenes, damit der Staat nach allen Richtungen hin vor Schaden bewahrt bleibe und sie sicher in ihren Wohnsitzen leben können.” 16 P. BARCELÓ: Constantins Visionen: Zwischen Apollo und Christus, in: H. SchlangeSchöningen (Hg.), Konstantin und das Christentum (Neue Wege der Forschung), Darmstadt 2007, 133–149. 17 Zum Donatistenstreit vgl. CH. PIETRI: Das Scheitern der kaiserlichen Reichseinheit in Afrika, in: Ch. Pietri – L. Pietri (Hg.), Das Entstehen der einen Christenheit (250–430), Freiburg – Basel – Wien 1996, S. 242–270. 18 Eus. HE X 6,5: „Wenn du demnach wahrnimmst, daß gewisse Menschen dieser Art in ihrem Wahnsinn beharren, so wende dich ohne Bedenken an die erwähnten Richter und trage die Sache vor, auf daß sie entsprechend der mündlichen Weisung, die ich ihnen gegeben habe, solche Leute zur Umkehr veranlassen.“
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ser Allianz war die wechselseitige Instrumentalisierung beider Institutionen um des gemeinsamen Zieles willen. Dieses sah die Aufhebung der theologischen Divergenzen innerhalb der Kirche vor, um einen für alle Christen verbindlichen Gottesdienst zu stiften. Constantin ‚befahl’ die religiöse Einheit der Christen und drohte allen, die sich dagegen sperrten mit der Wucht der Gesetze. Damit hebt eine Politisierung der Theologie an, die mittelfristig zu einer Theologisierung des Staates führen wird. 19 In einem Brief aus dem Jahr 316 n. Chr., der auf dem Höhepunkt der durch den Donatistenstreit verursachten Spannungen an Celsus, den höchsten Amtsträger der afrikanischen Provinzen, gerichtet ist, können wir die folgenden Beschuldigungen lesen: Cumque satis clareat neminem posse beatudines martyris eo genere conquirere, quod alienum a veritate religionis et incongruum esse videatur, eos quos contra fas et religionem ipsam recognovero reosque violentes conpetentis venerationis deprehendero, sine ulla dubitatione insaniae suae obstinationisque temerariae faciam merita exitia persolvere; scire itaque pro certo quae habere debeant ad plenissimam fidem salute etiam teste invocata, quod tam super plebe quam super clericis his, qui primi sunt, sum diligentissime quaesiturus idque iudicaturus, quod verissimum et religiosissimum esse manifestum sit, demonstraturus etiam hisdem, qui et qualis divinitati cultus abhibendus sit. 20
Ein Vergleich der Sätze Constantins mit denen des Ediktes von Serdica enthüllt uns eine aufschlussreiche Parallele. Der christenfreundliche Constantin bedient sich ähnlicher Argumente wie der christenfeindliche Galerius, um abweichendes Verhalten zu stigmatisieren. Der Geist, den beide Positionen ausstrahlen, konvergiert in einem Dogmatismus, der außerstande ist, abweichende Auffassungen zu akzeptieren. Beide Kaiser, Galerius und Constantin, sind sich ungeachtet der Unterschiede in ihrer konfessionellen Haltung darin einig, den staatlichen Apparat einzusetzen, um das religiöse Verhalten der Staatsbürger zu regulieren. Zu der Forderung nach Kompatibilität mit der traditionellen Religion, welche die Kaiser bis zum Toleranzedikt des Galerius erhoben hatten, wird nach der Durchsetzung des Christentums in constantinischer Zeit das Kriterium der Rechtgläubigkeit hinzukommen, das auf die Überzeugung von der Einzigartigkeit und der ausschließlichen Geltung der eigenen Position gegründet war. Zum Zwecke der religiösen Konsenserzwingung wird man in Zukunft die Macht des Staates 19 Zu den christenfreundlichen Maßnahmen Constantins vgl. J. BLEICKEN: Constantin der Große und die Christen. Überlegungen zur Constantinischen Wende, in: H. Schlange-Schöningen (Hg.), Konstantin und das Christentum (Neue Wege der Forschung), Darmstadt 2007, 64– 108; E. LEHMEIER – G. GOTTLIEB: Kaiser Konstantin und die Kirche. Zur Anfänglichkeit eines Verhältnisses, in: H. Schlange-Schöningen (Hg.), Konstantin und das Christentum (Neue Wege der Forschung), Darmstadt 2007, 150–170. 20 Optatus 34 b: „Denn es ist hinreichend deutlich, daß niemand die Martyrerseligkeit auf eine Weise suchen kann, die der Wahrheit der Religion fremd und unangemessen zu sein scheint. Ich werde veranlassen, daß diejenigen, die ich als Gegner von Recht und Religion erkenne und die ich schuldige finde, die der Religion zustehende Ehre zu beflecken, die entsprechende Strafe für ihren Wahnsinn und ihren verwegenen Starrsinn ohne jeden Zweifel abbüßen. Damit sie sicher wissen, was man als wohlanständigen Glauben haben muß, rufe ich das Heil zum Zeugen an, daß ich Volk und Kleriker, soweit sie zu den höheren Ämtern gehören, untersuchen und so richten werde, wie es der Wahrheit und der Religion deutlich entspricht.“
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aufbieten, um Abweichler zu sanktionieren oder um Anhänger zu belohnen. Die Gesetzgebung der nachconstantinischen Kaiser liefert uns zahlreiche Beispiele hierfür. 21 Sie zeigen uns, wie man auf der einen Seite den ergebenen Parteigängern Privilegien gewährte und auf der anderen Seite drastische Strafen gegen die als Häretiker kriminalisierten Dissidenten verhängte. In der Regierungszeit des Kaisers Constantius II. vollzieht sich ein Paradigmenwechsel Richtung Christentum. Erstmalig werden im Jahr 341 n. Chr. bestimmte Opferpraktiken, die zum Kernbereich der traditionellen Religion Roms gehörten, verboten: Cesset superstitio, sacrificiorum aboleatur insania. Nam quicumque contra legem divi principis parentis nostri et hanc nostrae mansuetudinis iussionem ausus fuerit sacrificia celevrare, competens in eum vindicta et praesens sententia exeratur. 22
Im Jahr 356 n. Chr. erfolgt eine deutliche Verschärfung. Zunächst wird gegen die Abhaltung der heidnischen Kulte massiv vorgegangen 23 und bald darauf die Schließung heidnischer Tempel angeordnet. 24 Parallel zu dieser antiheidnischen Gesetzgebung mehren sich die kaiserlichen Verfügungen, in denen dem christlichen Klerus Immunität und Privilegien gewährt werden. 25 In der Substanz ähnliche Gedankengänge finden sich in der Regierungszeit des zur traditionellen Religion „bekehrten“ Kaisers Julian, der die Wiedergeburt der in die Krise geratenen heidnischen Kulte nach dem Vorbild von Denkweisen und Organisationsformen vorantrieb, die aus der christlichen Kirche entlehnt wurden. Er förderte die Karrieren namhafter Heiden, bevorzugte die für ihre heidnische Gesinnung bekannten Akademien, Rhetorenschulen und sonstige Bildungseinrichtungen und erschwerte im Gegenzug den christlichen Rhetoriklehrern ihre Berufsausübung. Für unsere Fragestellung bedeutsam sind die leidenschaftlichen Aufforderungen, die Julian an die Reichsbevölkerung richtete, um den traditionellen Götterkult zu beleben. Dank des verfügbaren Quellenmaterials können wir zahlreiche Facetten des julianischen Reformprogramms nachzeichnen. Darin nahmen die Maßnahmen, die das Ansehen der Priester mehren sollten, breiten Raum ein. Betrachten wir ein Beispiel aus einen Brief Julians aus dem Jahre 362 n. Chr.: Μηδεὶς οὖν ἱεπεὺς εἰς θέατρον ἐξίτω, μηδὲ (ποιέστω) φίλον θυμελικὸν μηδὲ ἁρματηλάτην, μηδὲ ὀρχητὴς μηδὲ (μῖμος αὐτοῦ) τῇ θὺρᾳ πρισίτω· [...] Ὑπὲρ δὲ τῶν κυνηγεσίων τί δεῖ καὶ λέγειν, ὅσα ταῖς πόλεσιν εἴσω τῶν θεάτρων
21 Für Belege vgl. P. BARCELÓ: Constantius II. und seine Zeit. Die Anfänge des Staatskirchentums, Stuttgart 2004, 78–91. 168–178. 188–197. 22 Cod. Theod. XVI 10,2: „Der Aberglaube höre [augenblicklich] auf, der Wahnsinn der Opfer werde abgetan. Wer nämlich unter Übertretung des Gesetzes des göttlichen Princeps, unseres Vaters, und unter Verletzung dieser Weisung unserer Milde wagen sollte, Opfer darzubringen, wird sich die entsprechende Strafe zuziehen und die Folgen des hier ergangenen Spruches zu fühlen bekommen.” 23 Cod. Theod. XVI 10,6. 24 Cod. Theod. XVI 10,4. 25 P. BARCELÓ, Constantius II. und seine Zeit, 123–126.
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Pedro Barceló συντελεῖται, ὡς ἀφεκτέον τούτων ἐστὶν οὐχ ἱερεῦσι μόνον, ἀλλὰ καὶ παισὶν ἱερέων· 26
Mit der Attitüde des Leiters eines katholischen Priesterseminars wollte Julian die gesellschaftliche Stellung der heidnischen Priester erhöhen und ihre Amtstätigkeit reformieren. Das war ein gemeinsames Bestreben von Heiden und Christen. Beide religiösen Welten konvergierten in einer gemeinsamen ethischen Plattform, die der priesterlichen Amtsausübung sowie der Frage der Rechtgläubigkeit einen zentralen Stellenwert einräumte. Der religiöse Eiferer Julian verachtete die ihm nicht völlig treu ergebenen heidnischen Kultgenossen weit mehr als seine christlichen Widersacher. Nicht viel anders erging es den christlichen Herrschern des constantinischen, valentinianischen oder theodosianischen Hauses bei ihrer Verbitterung gegen christliche Abweichler. Die Verbissenheit Julians erfuhr in der christlichen Welt eine beträchtliche Ausweitung. Die aufkeimende Weltflucht, wie sie das Mönchtum und die Eremiten verkörperten, wurde verstärkt durch eine Zunahme der Askese, der Spiritualität und der moralischen Unnachgiebigkeit, einschließlich eines Hangs zur Körperfeindlichkeit, wie wir beispielsweise anhand der Briefe des Hieronymus an den Mönch Heliodor oder an den jungen Eustachius beobachten können. Es ist bekannt, dass ein strenger Lebenswandel die Vorstufe zu fundamentalistischem Verhalten bilden kann. Zur Forderung nach einem kontemplativen Leben gesellte sich das Postulat der Keuschheit. Damit propagierte die christliche Morallehre Verhaltensformen, die in der Beherrschung der Affekte und der Abkehr von den Begierden des Körpers gipfelten und sich mitunter bis zur Besessenheit steigern konnten. 27 Im Zusammenhang mit der Dogmatisierung der christlichen Doktrin formiert sich eine jenseits der politischen Gewalten stehende klerikale Hierarchie, die immer mehr Befugnisse auf Kosten der staatlichen Institutionen beanspruchen und auch erhalten wird. Neben dem Kaiser werden die Bischöfe in Zukunft die Leitlinien der Religionspolitik des christianisierten Imperiums bestimmen. Ein Edikt des Kaisers Theodosius, das am 27. Februar des Jahres 380 n. Chr. in Tessalonike gegeben wurde, 28 trägt dieser Tatsache Rechnung: 26 Julian, epist. 89 b: „Insbesondere sollen sie alle liederlichen Theatervorführungen meiden, keinen Schauspieler, keinen Wagenlenker zu Freunden wählen, keinen Tänzer oder Mimen ins Haus lassen. Bezüglich der Jagd ist zu sagen, dass sie, wenn sie in den Städten und außerhalb der Theater veranstaltet wird, sie den Priestern und deren Kindern untersagt sein soll.“ 27 Zur Zeit des Hieronymus spielte die Frage der Askese in der Auseinandersetzung mit Pelagius eine gewichtige Rolle, die vielleicht mit der Entwicklung des Manichäismus, der damals einen gewissen Höhepunkt erreichte, in Zusammenhang stand. Das kirchliche wie das staatliche Interesse an der Einheit mühte sich um Integration. Möglicherweise wurden gerade deshalb die älteren Intentionen der Askese nun akzentuiert und verallgemeinert. Dazu grundlegend P.BROWN: Leib und Stadtgemeinschaft, in: Ders., Die Keuschheit der Engel, Sexuelle Entsagung, Askese und Körperlichkeit im frühen Christentum, München 1994, 19–39. 28 Zum Hintergrund des Edikts G. GOTTLIEB – P. BARCELÓ: Das Glaubensedikt des Kaisers Theodosius vom 27. Februar 380: Adressaten und Zielsetzung, in: K. Dietz u. a. (Hg.), Klassisches Altertum, Spätantike und frühes Christentum. A. Lippold zum 65. Geburtstag gewidmet, Würzburg 1993, 409–423.
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Cunctos populos, quos clementiae nostrae regit temperamentum, in tali volumus religione versari, quam divinum Petrum apostolum tradisse Romanis religio usque ad nunc ab ipso insinuata declarant quamque pontificem Damasum sequi claret et Petrum Alexandriae episcopum virum apostolicae sanctitatis, hoc est, ut secumdum aostolicam disciplinam evangelicamque doctrinam patris et filii et spiritus sancti unam deitatem sub parili maiestati et sub pia trinitate credamus. Hanc legem sequentes Christianorum catholicorum nomen iubemos amplecti, reliquos vero dementes vesanosque iudicantes haeretici dogmatis infamiam sustinere nec conciliabula eorum ecclesiarum nomen accipere, divina primum vindicta, post etiam motus nostri, quem ex caelisti arbitrio sumpserimus ultione plectendos. 29
Die theodosianische Verordnung fordert die Staatsbürger auf, der Glaubensrichtung ohne Zurückhaltung zu folgen, die der Kaiser in Einklang mit den maßgeblichen Bischöfen des Reiches vorschreibt. Es handelt sich nicht um eine Einladung, sondern um einen Befehl. Wer zuwiderhandelt, setzt sich der Bestrafung durch das Gesetz aus. Die kaiserliche Regierung zögerte nicht, denen, die die Bestimmungen des Dekrets übergingen, zu drohen: qui divinae legis sanctitatem aut nesciendo confundant aut neglegendo violant et offendunt, sacrilegium committunt. 30 Ohne Zweifel beabsichtigte der Gesetzgeber die Zersplitterung innerhalb der christlichen Kirche zu überwinden. Die Angesprochenen sind jene Christen, die sich aus der Perspektive des Kaisers zu einem schismatischen Glauben bekennen (Donatisten, Arianer, Priscilianer etc.). Darüber hinaus legte die von Theodosius verordnete Direktive nicht nur die Essenz des offiziellen Glaubens fest, sondern appellierte an alle Abtrünnigen, ihn ohne Verzug anzuerkennen. 31 Die unmissverständliche Positionierung des Kaisers machte klar, wie die religiöse Zukunft der Reichsangehörigen auszusehen habe. Häretiker werden von der Staatsgewalt als hostis communis salutis oder sogar als inimici humani generis behandelt. 32
29 Cod. Theod. XVI 1,2: „Alle Völker, über die wir ein mildes und maßvolles Regiment führen, sollen, so ist es unser Wille, in der Religion verharren, die der göttliche Apostel Petrus, wie es der von ihm kundgemachte Glaube bis zum heutigen Tage dartut, den Römern überliefert hat und zu der sich der Pontifex Damasus wie auch Bischof Petrus von Alexandrien, ein Mann von apostolischer Heiligkeit, offensichtlich bekennen; d.h. daß wir gemäß apostolischer Weisung und evangelischer Lehre eine Gottheit Vaters, Sohnes und Hl. Geistes in gleicher Majestät und heiliger Dreifaltigkeit glauben. Nur diejenigen, die diesem Gesetz folgen, sollen, so gebieten wir, katholische Christen heißen dürfen; die übrigen aber, die wir für toll und wahnsinnig halten, haben den Schimpf ketzerischer Lehre zu tragen. Auch dürfen ihre Versammlungsstätten nicht als Kirchen bezeichnet werden. Endlich soll sie vorab die göttliche Vergeltung, dann aber auch unsere Strafgerechtigkeit ereilen, die uns durch himmlisches Urteil übertragen worden ist.“ 30 Cod. Theod. XVI 2,25. 31 Allerdings standen die politische Idee und die theologische Wirklichkeit weit voneinander. Bei den Streitigkeiten zwischen den Homoiousianern und Homoousianern (den strengen Nikäern), später zwischen den Homöern und Anhomöern war die kaiserliche Position keineswegs immer einheitlich gewesen. Übereinstimmung gab es vor allem in dem Bestreben nach Einheit. Vgl. P. BARCELÓ, Constantius II. und seine Zeit, 78–91. 32 Grundlegend zur Positionierung des Kaisers innerhalb eines trinitärisch-monotheistischen Glaubensystems E. PETERSON: Der Monotheismus als politisches Problem: Ein Beitrag zur Geschichte der politischen Theologie im Imperium Romanum, Leipzig 1935.
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Wir beobachten, wie sich eine Rhetorik des Fundamentalismus herausbildet, die ihren Anhängern suggerierte, im Besitz der Wahrheit zu sein. Diese suchten Argumente in sakralen Texten, aus denen sie dogmatische Interpretationen bezogen. Ihre Aufbietung diente oft genug der Rechtfertigung von Gewalt. Ab der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts n. Chr. machen sich ambitionierte und charismatische Bischöfe verstärkt bemerkbar, denen die strikte Einhaltung der christlichen Glaubenslehre oberste Richtschnur war. 33 Sie vertrugen wenig Kritik und zwangen ihre Meinung der christlichen Gemeinschaft, den Nichtchristen, ja selbst dem Kaiser auf. Ambrosius von Mailand liefert eindringliche Beispiele dafür. Wir wollen eines davon näher betrachten. Constantius II. hatte einst den Altar der Victoria aus der römischen Kurie entfernen lassen. Allerdings ließ Julian ihn, nach seiner Abkehr vom Christentum, wieder im Sitzungssaal des Senats aufstellen. Nach der Konsolidierung des Christentums unter den Herrschern der valentinianischen Dynastie ersuchten christliche Senatoren im Bund mit dem römischen Bischof Damasus um die Entfernung des symbolträchtigen Monuments. Der Bitte wurde nach einer hitzigen Diskussion, in welcher Symmachus und Ambrosius als Wortführer auftraten, entsprochen.34 Die Entscheidung erzwang schließlich Ambrosius, der sich im Bewusstsein, den einzigen und wahren Gott zu vertreten, gegen die auf Toleranz und Synkretismus basierende Argumentation der heidnischen Senatoren durchsetzen konnte. Bemerkenswert ist der Diskussionsstil der Kontrahenten. So verwies Symmachus auf die Religionspraxis des christlichen Kaisers Constantius II., um seine Ziele zu untermauern, indem er Kaiser Gratian folgendermaßen ansprach: Accipiat aeternitas vestra alia eiusdem principis facta, quae in usum dignius trahat. Nihil ille decerpsit sacrarum virginum privilegiis, decrevit nobilibus sacerdotia, Romanis caerimoniis non negavit inpensas et per omnes vias aeternae urbis laetum secutus senatum vidit placido ore delubra, legit inscripta fastigiis deorum nomina, percontatus templorum origines est, miratus est conditores cumque alias religiones ipse sequeretur, has servavit imperio. 35
Darauf erwiderte der Mailänder Bischof: Cum omnes homines, qui sub ditione Romana sunt, vobis militent imperatoribus, terrarum atque principibus, tum ipsi vos omnipotenti Deo et sacrae fidei militatis. Aliter enim salus 33 Athanasios und Petrus von Alexandria, Damasus von Rom, Ursacius von Singidunum, Valens von Mursa, Leontius von Antiochia, Acacius von Caesarea, etc. 34 Zum Streit um den Victoriaaltar vgl. K. ROSEN: Fides contra dissimulationem. Ambrosius und Symmachus im Kampf um den Victoriaaltar, in: Jahrbuch für Antike und Christentum 37 (1994), 29–36; W. EVENPOEL: Ambrose vs. Symmachus: Christians and Pagans in AD 384, in: Ancient Society 29 (1998/99), 283–306. 35 Symm., 3. rel. 7: „Eure Ewigkeit soll sich an andere Taten dieses Herrschers halten, die sich geziemender anwenden lassen. Dieser hat den heiligen Jungfrauen keines ihrer Privilegien weggenommen, er hat den Adeligen Priesterämter zugewiesen, er hat den römischen Kulten ihre Zuschüsse nicht verweigert und er ist durch die Straßen der Ewigen Stadt hinter den erfreuten Senatoren einher geschritten. Mit ruhigem Antlitz hat er die Heiligtümer angesehen und die auf den Giebeln eingemeißelten Götternamen gelesen. Er hat nach dem Ursprung der Tempel gefragt, ihre Erbauer bewundert und, obwohl er selbst einer anderen Religion anhing, hat er die unsere dem Reich erhalten.“
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tuta esse non poterit, nisi unusquisque Deum verum, hoc est, Deum christianorum, a quo cuncta reguntur, veraciter colat; ipse enim solus verus est Deus, qui intima mente veneretur: Dii enim gentium daemonia, sicut Scriptura dicit. 36
Während Symmachus argumentierte, bat und erhoffte, sprach Ambrosius apodiktisch, forderte und verlangte. Der Bischof wusste sich von einer höheren Macht durchdrungen, die selbst dem Kaiser Respekt einflößte. Die Überlebenschancen des Heidentums waren damit geschwunden. Noch ging es hier um ein äußerliches Symbol, um die Entfernung eines heidnischen Altars. Doch der nächste Schritt, der in der Argumentation des Ambrosius bereits angelegt war, musste auf die Zerstörung des Altars, auf die Auslöschung des Heidentums abzielen. III. Obwohl die bislang angeführten Beispiele lediglich ein Segment des verfügbaren Materials darstellen, lassen sie uns die Spuren der religiös motivierten Konfliktlagen verfolgen. Daraus wird sichtbar, dass seit dem 3. Jahrhundert n. Chr. und wegen der tief greifenden Krise des Reiches sich bei den Trägern der politischen Macht die Neigung verstärkte, mehr als zuvor in die religiösen Belange der Reichsbevölkerung einzugreifen. Einen Beleg dafür liefert die bekannte Maecenas-Rede des Cassius Dio, in der dem Kaiser folgende Ratschläge erteilt werden: ὥστ᾿ εἴπερ ἀθάνατος ὄντως ἐπιθυμεῖς γενέσθαι, ταῦτά τε οὕτω πρᾶττε, καὶ προσέτι τὸ μὲν θεῖον πάντῃ πάντως αὐτός τε σέβου κατὰ τὰ πάτρια καὶ τοὺς ἄλλοσ τιμᾶν ἀνάγκαζε, τοὺς δὲ δὴ ξενίζοντάς τι περὶ αὐτὸ καὶ μίσει καὶ κόλαζε, μὲ μόνον τῶν θεῶν ἕνεκα, ὧν ὁ καταφρονήδας οὐδ᾿ ἄλλου ἄν τινος προτιμήσειεν, ἀλλ᾿ ὅτι καὶ καινά τινα δαιμόνια οἱ τοιοῦτοι ἀντεσφέποντες πολλοὺς ἀναπείθουσιν ἀλλοτιονομεῖν, κἀκ τούτου καὶ συνμοσίαι καὶ συστασεις ἑταιρεῖαί τε γίγονται, ἅ ἥκιστα μοναρχίᾳ συμφέρει· 37
36 Ambr. Epist. XVII, 1: „Während alle Menschen, die unter römischer Botmäßigkeit leben, Euch, den Kaisern und Herrschern des Erdkreises, dienen, dient Ihr selbst dem allmächtigen Gott und dem heiligen Glauben. Ein sicheres Heil gibt es nur, wenn jeder den wahren Gott, das heißt, den Gott der Christen, der die ganze Welt regiert, aufrichtig verehrt. Er ist allein der wahre Gott, der aus innerstem Herzen angebetet wird. Denn ‚die Götter der Heiden sind Dämonen‘, wie die Schrift sagt. (Psal. XCV, 5)“ 37 Cass. Dio LII 36: „Wenn du daher wirklich unsterblich werden willst, so handle nach meinem Rat, und außerdem verehre nicht nur selbst die Himmelsmacht allenthalben und auf alle Art im Einklang mit den Überlieferungen unserer Väter, sondern zwinge auch alle anderen, sie zu ehren! Diejenigen aber, die unsere Religion etwa durch fremde Riten entstellen wollen, lehne ab und bestrafe sie, nicht nur um der Götter willen, deren Verächter auch keinem anderen Wesen Verehrung erweisen dürfen, sondern weil derartige Menschen, indem sie irgendwelche neuen Gottheiten an Stelle der alten einführen, viele dazu veranlassen, fremde Lebensformen anzunehmen; und daraus entstehen dann Verschwörungen, Parteien und Klubs, was alles einer Monarchie keineswegs nützt.“ J. BLEICKEN: Der politische Standpunkt Dios gegenüber der Monarchie (Die Rede des Maecenas, Buch 52, 14–40), Hermes 90 (1962), 444–467.
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Aus den Notizen des Cassius Dio, die aus der zweiten Dekade des 3. Jahrhunderts n. Chr. stammen, lässt sich ein vermehrtes Interesse seitens der Mächtigen erkennen, die religiöse Ausrichtung der Untertanen zu bestimmen. Von hier aus war es nur ein kurzer durchaus folgerichtiger Schritt, die staatliche Kontrolle auf den Glaubensvollzug auszudehnen. Die Zunahme von militanten Aktionen gegen Minderheiten (Manichäer, Christen, Wahrsager etc.) lässt sich als eine direkte Konsequenz dieser Geisteshaltung begreifen. Im Übergang vom 3. zum 4. Jahrhundert n. Chr. erfuhr der staatliche Autoritarismus eine merkliche Verschärfung. Auf Diocletians Betreiben hin entstanden neue Formen der Herrschaftsausübung und der Herrscherideologie. Als Konsequenz daraus bemühte sich die Regierung, die Beziehungen mit dem Göttlichen zu monopolisieren und reagierte empfindlich auf jede Form von Interferenz. Jene, die sich berufsmäßig mit der Deutung des Schicksals (fatum) befassten, wie etwa die Wahrsager, Magier und Astrologen oder wie die Manichäer und die Christen einem Kult nachgingen, der sich der Kontrolle der Behörden entzog, wurden drastisch bestraft. 38 Der Heide Diocletian wie auch der Christ Valentinian unterschieden sich kaum in ihrer Unnachgiebigkeit gegenüber Gruppen, die als gefährlich für die Gemeinschaft deklariert wurden, wie ein Vergleich ihrer jeweiligen Gesetzgebung belegt. Codex Justinianus IX 18,2: Artem geometriae discere atque exerceri publice intersit. Ars autem mathematica damnabilis interdicta est. Codex Theodosianus IX 16,8: Cesset mathematicorum tractatus. Nam si qui publice aut privatim in die noctuque deprehensus fuerit in cohibito errore versari, capitali sentential feriatur uterque. Neque enim culpa dissimilis est prohibita discere quam docere.
Während im polytheistischen System der Kaiser das ehrwürdige Amt des pontifex maximus versah und sich göttlicher Verehrung erfreute,39 musste er sich im christianisierten Imperium diese Funktion mit der klerikalen Hierarchie teilen. Wenn die ersten christlichen Kaiser auch weiterhin den Oberpontifikat bekleideten (Constantin, Constantius II., Jovian, Valentinian, Valens), so nutzten sie dieses Amt doch nicht mehr in seinem traditionellen Sinngehalt. Gratian und Theodosius legten die Würde des pontifex maximus ab, weil sie zu stark heidnisch konnotiert war, womit sie dazu beitrugen, den Platz des Kaisers in der christlichen Welt neu zu verorten. 40 Im Verlauf des 4. Jahrhunderts n. Chr. vollzog die römische Regierung eine atemberaubende Wende, die von der Verteidigung des Polytheismus bis zur Hingabe an einen monotheistischen Gott reichte. Die zahlreichen gesetzlichen Verfü38 M. T. FÖGEN: Die Enteignung der Wahrsager. Studien zum kaiserlichen Wissensmonopol in der Spätantike, Frankfurt (M.) 1993, 20–53. 222–253. 39 Grundlegend dazu M. CLAUSS: Kaiser und Gott. Herrscherkult im römischen Reich, Stuttgart 1999. 40 R. STEPPER: Zum Verzicht Kaiser Gratians auf den Oberpontifikat, in: C. Rabassa – R. Stepper (Hg.), Heilige Herrscher, Göttliche Monarchien, I. Internat. Koll. der Forschungsgruppe Potestas, Castellón 2002, 39–55.
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gungen aller Kaiser des untersuchten Zeitraums lassen erkennen, wie sehr sich die Anforderungen der Regierung an die Kultpraxis der Untertanen steigerten. Die traditionelle Religion erforderte Opfer und eine sorgfältige Beachtung der Zeremonien. Der öffentliche Kultvollzug durch die Reichsbevölkerung und die Ausführung der vorgeschriebenen Rituale genügten, um die Götter zufrieden zu stellen. Das Christentum forderte mehr und anderes. Von seinen Anhängern forderte es eine ganzheitliche Beteiligung, die über den Kultvollzug hinausging und das gesamte private Verhalten (einschließlich der Gedanken und des Bewusstseins) vereinnahmte. Um es in einem Satz zusammenzufassen: Der heidnische Kult benötigte Adepten. Das Christentum verlangte nach Gläubigen. Wie die vorgelegten Beispiele zeigen, nahm die römische Regierung bestimmte religiöse Gruppierungen aus machtpolitischen Gründen ins Visier, um gesellschaftliche Erosionsprozesse einzudämmen oder die innere Geschlossenheit des Reiches zu stärken. Sie sah die Fundamente des Staates durch abtrünniges Verhalten bedroht und schritt dagegen gewaltsam ein. In ihren Methoden zur Erzwingung der religionspolitischen Homogenität unterschieden sich die heidnischen kaum von den christlichen Herrschern. Neu ist, dass nun christliche Würdenträger sich ungehemmt der Macht des Staates bedienten, um Unterdrückungsmaßnahmen zu rechtfertigen, wenn die aus ihrer Sicht orthodoxen Glaubensgrundlagen in Zweifel gezogen wurden. Im vorconstantinischen Reich stand die römische Religion als Chiffre für Kontinuität, Erfolg und gesellschaftlichen Zusammenhalt. Religiöse Dissidenz galt als Anfechtung des politischen Systems; sie wurde mit polizeilichen Mitteln mehr schlecht als recht im Zaum gehalten. Theologische Argumentationsparadigmen sucht man in dieser Auseinandersetzung vergebens. Es ging dabei um die Bewahrung des Bestehenden und nicht um richtige oder falsche, sondern um die für den Staat nützlichen Götter. Im nachconstantinischen römischen Reich konnten hingegen aufgrund der trinitarisch-monotheistischen Struktur des Christentums mit Hilfe der Theologie Grenzlinien zwischen Dogma und Häresie, zwischen richtig und falsch, zwischen Sünde und Heil gezogen werden. Erstmalig erhalten die Interpreten der Botschaften des einzigen Gottes die Gelegenheit, Glaubenspositionen als politische Waffe einzusetzen. Der christlich-monotheistische Glaube bedeutete Ausschließlichkeit, Konzentration und Selektion zugleich. Im Bewusstsein, den einzig gangbaren Weg zu kennen, wehrte er sich gegen falsche Götter und Irrlehren. Aus diesen Bestrebungen heraus entstand ein Spannungsverhältnis zwischen religiösem Anspruch und Lebenswirklichkeit. Die Überdehnung dieses Anspruches bildete den Nährboden auf dem Fundamentalismus gedeihen konnte. Die Zerstörung des Sarapeions von Alexandria, die Ermordung der heidnischen Gelehrten Hypatia durch fanatisierte Mönche 41 oder die Schließung der wegen ihrer heidnischen Ausrichtung ehrwür-
41 C. MARTÍNEZ MAZA: Hipatia, La estremecedora historia de la última gran filósofa de la Antigüedad y la fascinante ciudad de Alejandría, Madrid 2009.
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digsten Bildungseinrichtung der Alten Welt, der Akademie von Athen, geben exemplarisch davon Zeugnis. 42
42 J. HAHN, Gewalt und religiöser Konflikt, 78–120.
DER WEG ZUR WAHRHEIT KOSTET LEBEN. ZUM FRÜHCHRISTLICHEN SELBSTVERSTÄNDNIS Manfred Clauss, Hennef Um die Wende vom 4. zum 5. Jahrhundert n. Chr. entspann sich ein Streit zwischen den beiden christlichen Theologen Augustinus und Hieronymus um die Auslegung von Galater 2, 11–14. Die Passage behandelt den Streit zwischen Paulus und Petrus hinsichtlich der christlichen Position gegenüber dem jüdischen Zeremonialgesetz und der Frage der Eintracht innerhalb des Christentums. Es geht mir hier allerdings nicht um die Inhalte, sondern um die Form der Auseinandersetzung. Augustinus kritisierte äußerst schroff die Interpretation des Hieronymus und stellte unverhohlen dessen Rechtgläubigkeit öffentlich in Frage, indem er ihn in die Nähe des Origenes rückte. 1 Die Streitigkeiten um die Rechtgläubigkeit des Origenes 2 drohten die Reputation des Hieronymus schwer zu beschädigen, und daher ging dieser auf die Debatte, die Augustinus führen wollte, zunächst nicht ein. Es war ein Streit auf hohem literarischen Niveau und daher waren die Vorwürfe, die man sich gegenseitig an den Kopf warf, noch einigermaßen geistreich. Hieronymus vermutete, Augustinus wolle sich durch die Attacken auf ihn, der damals zweifellos bekannter war, einen Namen machen und sah sein ambitioniertes literarisches Programm der Bibelübersetzungen in Gefahr. Im Gesprächsangebot des Bischofs sah er „ein mit Honig bestrichenes Schwert“, 3 hatte Augustinus den Theologen in Palästina doch als „Anwalt der Lüge“ charakterisiert 4 und, das probateste Mittel der persönlichen Verunglimpfung, wie betont, seine Rechtgläubigkeit in Zweifel gezogen. Dagegen konnte sich Hieronymus am besten wehren, indem er Augustinus seinerseits der Häresie bezichtigte. 5 Die beiden fanden schließlich in Pelagius einen gemeinsamen, selbstverständlich häretischen Gegner und kamen dadurch zu einer einigermaßen sachlichen Diskussion. S. Rebenich hat jüngst die christlichen Vorstellungen von Freund und Feind untersucht und dabei richtig festgestellt, daß ein Ungläubiger niemals der Freund 1 2 3 4 5
Dazu S. REBENICH: Freund und Feind bei Augustin und in der christlichen Spätantike, in: T. Fuhrer (Hg.), Die christlich-philosophischen Diskurse der Spätantike. Texte, Personen, Institutionen, Stuttgart 2008, 11–31, hier 14–16. Hierzu E. A. CLARK: The Origenist controversy. The cultural construction of an early Christian debate, Princeton 1992. Hieronymus, epistula 105, 2. Augustinus, epistula 28, 3. Hierzu A. FÜRST: Augustins Briefwechsel mit Hieronymus, Münster 1999, 170.
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eines Christen werden kann. 6 Er zitiert Ambrosius: „Es darf nicht sein, daß der Glaube um der Freundschaft willen zerstört wird. Denn keiner kann eines Menschen Freund sein, der Gott die Glaubenstreue bricht.“ 7 Aus der Gemeinschaft der Gläubigen, zu der sich die jeweiligen Autoren, wie in diesem Fall Ambrosius, selbstverständlich selbst rechnen, fallen die unterschiedlichen Gruppierungen der Ungläubigen heraus. Freundschaft kann in der christlichen Welt also nur zwischen Christen bestehen. Denn Freunde sind alle die, welche die Wahrheit verkünden, wie es bei Gregor von Nazianz heißt. 8 Nun ist er endlich gefallen, der Begriff, um den es vor allem geht: Wahrheit. Im Bereich der Religion gab es in der vorchristlichen Antike keine dogmatisch geschlossenen Systeme, die universale Geltung beanspruchten und „Wahrheit“ von „Irrlehre“ kanonisch unterschieden. Der pagane philosophische Diskurs über die Wahrheit war nicht religiös determiniert, sondern vernunftgeleitet. Die nichtchristliche Lehre vom Göttlichen war in keiner Weise normativ und jeglicher Glaube undogmatisch. In der heidnisch–antiken Tradition sah man den religiösen Grundkonsens durch kultische Differenzen nicht in Frage gestellt.9 Oder um es mit einem Autor der anderen Art zu sagen: „Jene verehren die vielen falschen Götter auf die gleiche Weise“; so sagt es Augustinus. 10 Der Kirchenhistoriker Socrates überliefert einen Ausspruch des bekannten heidnischen Philosophen Themistios, es habe in der Mitte des 4. Jahrhunderts n. Chr. mehr als 300 verschiedene pagane Kulte gegeben, weil, so dessen Begründung, „Gott auf unterschiedliche Weise verehrt werden möchte.“ 11 Alle diese Götter stellten gleichsam ein Angebot an die Menschen dar, die auf dem Markt der Götter auswählten; je nach Zeit, Geld und Interesse konnte man sich etwa in der einen oder anderen Mysteriengemeinschaft engagieren. Es war eine der Grundüberzeugungen jener Heiden, daß es nicht nur einen Weg zur Erkenntnis des Göttlichen oder zur Wahrheit gebe, wie es der Stadtpräfekt von Rom Symmachus gegen Ende des 4. Jahrhunderts als Replik auf christliche Ansprüche formulierte. 12 Das christliche Wahrheitsverständnis war ein anderes. Man kann es anhand des Spruches verdeutlichen, der sich, wenngleich etwas verändert, im Titel meines Vortrags findet. „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“, so heißt es im Johannesevangelium. 13 Der entscheidende Aspekt ist: Wahrheit wird personalisiert. Ich bin die Wahrheit heißt nämlich in der Diskussion der Christen mit anderen oder untereinander: Ich habe recht. Wahrheit war keine statische Größe mehr. Der christliche Diskurs über die eigene Lehre hatte längst das Modell von der Priorität der Orthodoxie und deren 6 7 8 9 10 11 12 13
S. REBENICH, (Anm. 1) 21. Ambrosius, de officiis 3, 22, 133. Gregor von Nazianz, epistula 100 (GCS 53). Ausführlich H. BROX: Häresie, RAC 13 (1986), 248–297. Augustinus, de utilitate ieiunii 7 und 8, 10 (CCL 46). Socrates, historia ecclesiastica 4, 32. Symmachus, relatio 3, 10. Johannes 14, 6.
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Gegenpol, der Häresie, etabliert. Wahrheit war Orthodoxie und Orthodoxie war Wahrheit. Der wahre Christ war orthodox, allein der Orthodoxe war ein wahrer Christ. Darauf konnten sich gewiß alle Christen verständigen. Hier tut sich jedoch für uns heute ein Problem auf. Wir sprechen – beispielsweise – von Christen, Juden und Heiden. Lassen wir die Heiden einmal beiseite und konzentrieren uns auf Christen und Juden. Wir können die Gruppen unterscheiden, aber damit treffen wir nicht das antike Verständnis, jedenfalls nicht das christliche. Nur die Christen sind die wahren Juden, ihnen stehen die falschen Juden gegenüber, die Juden also, die immer noch nicht begriffen haben, daß der Messias längst gekommen ist. Die Jesus-Anhänger waren Juden und sie blieben aus ihrer Sicht Juden, mochten die anderen Juden dies auch anders sehen und diese Bezeichnung weiter für sich reklamieren. Es dauerte lange, bis sich die Christen nicht mehr als Juden verstanden. Tertullian weist um 200 n. Chr. darauf hin, daß er und seine Gruppe weder bei der Ablehnung bestimmter Speisen, noch im Feiern der Festtage, noch gar der Beschneidung nach, noch durch einen gemeinsamen Namen mit den Juden zusammengehen. 14 Aber noch Augustinus muß 200 Jahre später jene Christen zurechtweisen, die sich noch immer Iudaei, „Juden“, nennen; sie sollten sich lieber „Israel“ nennen und nicht Juden, auch wenn ihnen dieser Name eigentlich zustehe. 15 Für Augustinus war der Begriff „Juden“ als theologische Kategorisierung durchaus tragbar. Der Kirchenvater wußte aber auch, daß „Juden“ eine soziale Kategorie war, von der er sich strikt abgrenzen wollte. Wenn auch die Christen die wahren Juden seien, so konnte dies doch zu vielen Mißverständnissen und Verwechslungen führen, so daß Augustinus den anderen Juden gerne die Bezeichnung überließ. 16 Es ist sicherlich kein Zufall, daß Augustinus diese Klarstellung zu einer Zeit trifft, in der die kaiserlichen Gesetze beginnen, zunehmend Häretiker, Heiden und Juden pauschal zu diskriminieren. 17 Erst die staatlichen Judengesetze brachten die Christen seit dem beginnenden 5. Jahrhundert zu der Erkenntnis, daß sie zwar die wahren Juden seien, dies aber nicht laut sagen sollten. Wir berühren hier einen Kern christlichen Selbstverständnisses. Wahr und falsch sind Kategorien, deren Zuordnung dem rationalen Diskurs entzogen sind. Wahr ist das Eigene, falsch das Fremde. Das Eigene ist wahr, das andere ist falsch. Diese Unterscheidung trifft schließlich auch das Christsein selbst. Es gibt wahre und falsche Christen, was aber theologisch falsch ist, denn es gibt ja nur Christen. Und wer ist Christ? Immer die Mitglieder meiner Gruppe. Es gibt zwar viele, die sich Christen nennen, aber der jeweilige Gesprächspartner bestimmt, wer ein wahrer Christ ist. Noch einmal gefragt: Gibt es falsche Christen? Falsche Christen 14 Tertullian, apologia 21, 2. 15 Augustinus, epistula 196 (CSEL 57, 216–230). 16 Dazu J. D. COHEN: The beginning of Jewishness. Boundaries, varieties, uncertainties, Berkeley u.a. 1999, 32–33. 17 Dazu G. STEMBERGER: Die Verbindung von Juden mit Häretikern in der spätantiken römischen Gesetzgebung, in: M. Hutter u.a. (Hg.), Hairesis, Festschrift für K. Hoheisel zum 65. Geburtstag, Münster 2002, 203–214.
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gibt es selbstverständlich nicht; es sind dann eben keine Christen. Es gibt also Gruppen, die sich Christen nennen, ohne es zu sein. Jede der in unserer Terminologie christlichen Glaubensrichtungen hielt sich für orthodox und die übrigen für häretisch – oder erkannten sie gar nicht als christlich an. Mehrheitsentscheidungen spielen dabei keine Rolle. Nicht etwa die Mehrheit ist orthodox, sondern ich bin es. Nur wenn die staatliche Macht ins Spiel kommt, kann die Orthodoxie definiert und durchgesetzt werden, kann, um bei der Wahrheit zu bleiben, Wahrheit definiert und durchgesetzt werden. Dann kann es passieren, daß diejenigen, die sich dieser staatlich definierten und oktroyierten Wahrheit nicht beugen, ihr Leben lassen müssen. Die Christen sprachen die Sprache der damaligen Zeit und mußten folglich eine Begrifflichkeit für die eigene Sicht der Dinge finden. Dies führte zu einer Inflation des Wahren. Nehmen wir nur das Phänomen Gott. Lange vor der Geburt Jesu war der Kaiser Augustus Gott und Sohn eines Gottes gewesen: deus de deo. Um später Christus zu charakterisieren, fügte man jeweils das wahr hinzu: deus verus de deo vero. Dem Wahren steht das Falsche gegenüber, ja die Welt ist voll vom Falschen. So wie es falsche Götter, falsche Christen, falsche Apostel, falsche Propheten und so fort gibt, gibt es beispielsweise auch falsche Bischöfe, „Pseudobischöfe“ oder wie die älteren Übersetzungen, vom damaligen christlichen Geist geprägt, schreiben „Afterbischöfe“. 18 Orthodoxe werden getauft, die anderen mit Wasser besudelt – und was der Antinomien noch mehr sind. All das sind nicht nur definitorische Phänomene; denn alle diejenigen, die Ketzer, Gotteslästerer, falschen Apostel oder Ränkeschmiede, welche die Wahrheit untergraben, sind wie Schwert, Gift und Pest; darauf wird noch zurückzukommen sein. Wie keine andere antike religiöse Bewegung hat das frühe Christentum „Häresien“ produziert, die von „orthodoxen“ Gegnern als solche bezeichnet und deren Legitimität und Existenz damit bestritten wurde. Von Anfang an vertreten die christlichen Gruppierungen Geltungsansprüche, die sie gegenüber anderen durchsetzen wollen. 19 Die Identitätsansprüche der verschiedenen Gruppen sind mit Herrschaftsansprüchen verbunden, die Abweichungen nicht gelten lassen. Die Orthodoxie bestand auf Identität und Konformität. Jeglicher Form eines Kompromisses stand die in vielen, wahrscheinlich in allen christlichen Gruppierungen verbreitete Überzeugung im Wege, daß es nur eine Wahrheit, folglich nur einen Weg zur Wahrheit, nur eine christliche Kirche, nur einen Körper Christi, nur einen Weg zum Heil gebe. Eine Spaltung, so schreibt Paulinus von Nola und bezieht sich auf Paulus, könne es in diesem Körper nicht geben. 20 Die Konsequenz aus der Tatsache, daß es innerhalb des heute so verstandenen antiken Christentums ebenso viele Gruppierungen gab wie außerhalb des18 Cyprian, epistula 59, 9 = Bibliothek der Kirchenväter Band 60, 226. 19 Dazu C. SCHOLTEN: Psychagogischer Unterricht bei Origenes. Ein Ansatz zum Verständnis des „Sitzes im Leben“ der Entstehung von frühchristlichen theologischen Texten, in: M. Hutter u.a. (Hg.), Hairesis (Anm. 17) 261–280, hier 261. 20 Paulinus von Nola, epistula 24, 15.
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selben, war allerdings keine Anerkennung der Vielfalt, sondern ein Beharren auf der eigenen Position, eine fanatische Rechthaberei, eine Verleumdung aller Andersdenkenden, letzten Endes ein Kampf aller Christen gegen alle. Der Weg der Wahrheit war schmal, sehr schmal, und die Wahrheit hing mitunter an einem einzigen Wort, an einem einzigen Buchstaben, dem richtigen Wort nämlich und dem richtigen Buchstaben. Zu beiden Seiten dieses schmalen Weges taten sich Abgründe auf, denn für die Christen gab es keinen zweiten oder gar dritten Weg, sondern eben nur diesen einen. Die Gefahren, die neben diesem Weg drohen, schildert Gregor von Nazianz anschaulich: „Uns (wahren Christen) aber – denn die Wahrheit zu sagen ist unser Ziel –, uns muß es angst sein, ob es sich wirklich so verhält, wie wir sagen, oder nicht. Der Weg führt nämlich zwischen Abgründen hin, und von ihm abstürzen heißt ohne Frage abstürzen in die Pforten der Hölle. Darum müssen wir sehr auf unsere Worte achthaben, mit Verstand uns äußern und anderen zuhören; gelegentlich müssen wir uns aber von beidem zurückziehen und uns von der Furcht als Richtschnur leiten lassen.“
Das Grundprinzip christlicher Welt- und Gottessicht war die Einheit. „Jeder, der von dieser Einheit abweicht“, so formuliert es der Bischof Cyprian, „muß unbedingt zu den Ketzern gezählt werden.“ 21 Die Einheit der Christen war durch drei Dinge gefährdet, wie Augustinus später klar und präzise formulieren sollte: „Häretiker, Juden und Heiden bilden eine Einheit gegen die Einheit.“ 22 Und auch hier kommt Augustinus nicht aus seinem christlichen Denkschema heraus. Weil Einheit eine zentrale Forderung der Orthodoxie ist, kann man sich den Gegner nicht anders als einheitlich vorstellen. So steht man dann gedanklich sehr schnell allein gegen den Rest der Welt. Wenn eine Religion für sich beansprucht im alleinigen Besitz der Wahrheit zu sein, ist es unmöglich, sich mit ihr argumentativ auseinanderzusetzen. Dies wiederum macht die heutige historische Betrachtung schwierig, zu deren elementarem Rüstzeug das logische Argument gehört. Aber mögen andere auch Argumente bringen, schreibt Tertullian, die Wahrheit wird siegen. 23 Gegen die Wahrheit gibt es keine Argumente, was häufig genug bedeutet, daß nicht argumentiert, sondern diffamiert wird. Typisch für die Wortwahl christlicher Diskussion sind die kompromißlose Direktheit und die aggressive Schärfe, zu der die moralische und intellektuelle Diskriminierung gehört. Die anderen sind moralisch verwerflich und strohdumm. Denn das Leugnen der Wahrheit zeigt Unverstand, demonstriert Hartnäckigkeit, und diese Hartnäckigkeit wird das typische Kennzeichen der Unbelehrbaren: Ketzer, Schismatiker, Häretiker, Heiden und Juden. Tatian beispielsweise wirft den heidnischen Mythen mangelnde Konsistenz und Logik vor. Dies erläutert er an einem Bespiel und zieht dabei den DemeterMythos, aufgrund der Eleusinischen Mysterien sicherlich einer der bekanntesten der Antike, heran. Als ihre Tochter Persephone durch den Gott Hades entführt worden war, machte Demeter die Erde unfruchtbar, bis Zeus einwilligte, daß Per21 Cyprian, epistula 74, 11. 22 Augustinus, sermo 62 (PL 38, 423). 23 Tertullian, adversus Praxean 26, 3.
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sephone zwei Drittel des Jahres wieder bei der Mutter zubringen dürfe. Diese Demeter galt als Göttin des Ackerbaus und Wohltäterin für alle Menschen. „Warum hat sie sich denn nicht schon vor dem Verlust ihrer Tochter als Wohltäterin der Menschen bestätigt?“, fragt Tatian. 24 Ob er die Frage, weshalb Gott so lange gewartet hat, bis er seinen Sohn, den Messias, schickte, verstanden hätte? Ein weiterer Wesenszug christlicher Argumentation besteht darin, für viele Dinge gleichsam ein Eigentumsrecht einzufordern. Gibt es christliche Motive, Denkstrukturen oder Handlungsweisen auch anderswo, handelt es sich dabei um Diebstahl. Clemens von Alexandria weist in einer Auseinandersetzung mit dem griechischen Mythos zunächst einmal generell daraufhin, daß Griechen gewohnheitsmäßig geistigen Diebstahl betrieben haben und betreiben. 25 Wenn die Griechen alles klauen, dann fällt es nicht schwer zu beweisen, daß sie auch vor den Weisheiten der Bibel, die ja als älter als die griechischen Mythen betrachtet worden sind, nicht Halt gemacht haben. „Es läßt sich nachweisen, daß sie (Griechen) nicht nur ihre Lehren von den Barbaren nehmen, sondern auch die wunderbaren Taten, die bei uns von alter Zeit her aufgrund der göttlichen Macht durch heilig lebende Männer zu unserer Bekehrung vollführt wurden, mit den unglaubhaften Erzählungen der griechischen Mythologie nachahmen.“ 26
Wer auch immer, und sei es nur annäherungsweise mit dem Christentum in Berührung kam, übernahm dessen jüdisches Erbe, das auserwählte Volk zu sein, die Wahrheit allein und ausschließlich gefunden zu haben, von Feinden und vom Bösen umgeben zu sein. Christliche Gruppierungen grenzten sich von gnostischchristlichen, jüdisch-christlichen, sonstigen christlichen und heidnischen Gruppierungen ab. Christsein hieß, Feinde zu haben, Gegner zu haben. Es lag nicht an Tertullian, daß er so viele Schriften hinterließ, die vom „dagegen“ – adversus und contra – geprägt waren. Aus der Aufteilung in wahr und falsch folgt unverzüglich diejenige in Freund und Feind. Der Ausschließlichkeitsanspruch der christlichen Wahrheit führte dazu, alle Feinde dieser Wahrheit auszugrenzen, alle inimici veritatis: Häretiker, Juden und Heiden. Es gab auf der einen Seite die Christen, die wahren Christen, und auf der anderen adversarii, hostes, inimici: den Feind schlechthin. Es ist vor allem die Sprache, welche die Auseinandersetzung um den wahren Glauben so unverwechselbar macht. Augustinus ist ein Meister der verbalen Diskriminierung: „Es werden diejenigen, die in der Kirche Christi ungesunden und verkehrten Ansichten huldigen, zu Häretikern, wenn sie sich der Zurechtweisung, die sie zum Gesunden und Richtigen zurückführen möchte, hartnäckig widersetzen und ihre verderben- und todbringenden Lehren nicht aufgeben wollen.“ 27 24 Tatian 9, 4. 25 Vgl. S. VANDERHEIJDEN: Mythos zwischen Aberglaube und Philosophie in den Stromateis des Clemens von Alexandrien, in: R. v. Haehling (Hg.), Griechische Mythologie und frühes Christentum, Darmstadt 2005, 295–310, hier 308. 26 Clemens, stromateis 6, 28, 1. 27 Augustinus, de civitate dei 18, 51.
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Den falschen Christen kann man alles erdenkbar Schlechte vorwerfen. Nur eine kleine Blütenlese aus Cyprians Briefen: Die falschen Christen unterschlagen Geld, schänden Jungfrauen, brechen Ehen; glaubt man Cyprian, war übrigens Ehebruch eine der Lieblingsbeschäftigungen der Pseudobischöfe. Paulus hatte mit dieser unheiligen Litanei im Römerbrief angefangen: „Die“, in diesem Fall meint er Juden und Heiden, Cyprian wird dies später auf die Ketzer ausweiten, 28 „sind erfüllt mit jeglicher Art von Ungerechtigkeit, Schlechtigkeit, Habsucht, Bosheit, voll von Neid, Mord, Streit, Betrug, Arglist; sie sind Ohrenbläser, Verleumder, Gottesfeinde, Gewalttäter, Hochmütige, Prahler, Erfinder von Bosheiten.“ 29 Aus der Aufteilung in wahr und falsch folgt, wie betont, diejenige in Freund und Feind. „Niemals“, so schreibt wiederum Cyprian, „kann es eine Gemeinschaft geben zwischen Glauben und Unglauben. Wer nicht mit Christus ist, wer ein Widersacher Christi, wer ein Feind seiner Einheit und seines Friedens ist, der kann nicht zu uns gehören.“ 30 Wer sich außerhalb der Kirche stellte, wer also der Kirche verloren ging, ging auch des ewigen Heils verlustig. Und im Sinne moderner Politiker argumentierte bereits Cyprian, daran trügen die wahren Christen keine Schuld. 31 Wir leben in einer Zeit, die sich, um eine Krankheit herauszugreifen, den Kampf gegen den Krebs zum Ziel gesetzt hat. Der Krebs muß ausgerottet werden, am besten mit Stumpf und Stiel. Alle, die nicht Christen sind, sind krank, ansteckend und unheilbar krank. Auf der persönlichen Ebene gilt die Handlungsweise eines Paulinus von Nola, für den jeder, der ihm nicht in Christus verbunden war, als Feind galt, von dem man sich wie von einem kranken Körperteil trennen mußte. 32 Der Staat, dem Römer 13 eine wunderbare Waffe bereitgestellt hatte, besaß andere Möglichkeiten als das ‚mit Dir spiele ich nicht mehr’ des Paulinus. 33 Zunächst versuchte man den Irrenden auf den rechten Pfad zurückzuführen, reichte man dem religiös Kranken geistliche Heilmittel. In seiner Streitschrift „Gegen Eunomius“ betont Gregor von Nyssa jedoch, daß der Wunsch, allen Kranken Heilmittel zu gewähren, bei unheilbar Kranken nutzlos sei, ja bisweilen sogar als Auslöser schlimmerer Krankheiten angesehen werden müsse. 34 Krebszellen wie Häretiker bekämpft man, indem man sie vernichtet. Die Palette staatlicher Repression gegen Häretiker beispielsweise ist lang: Beschlagnahme von Häusern und Kirchen, Versammlungsverbot, Verbannung, Verbot von Amtsweihen, von Werbung und Unterricht sowie von Kirchenbau, Bücherverbrennung, Verlust diverser Bürgerrechte, Geldstrafe, Aufenthaltsbeschränkung, Todesstrafe. Allein die Masse der Häretiker – und Steuerzahler – bewahrte sie vor der Anwendung des zuletzt genannten Mittels.
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Cyprian, epistula 67. Römer 1, 30–32. Cyprian, epistula 59, 20. Cyprian, epistula 59, 8. Paulinus von Nola, epistula 1, 5. H.-H. SCHREY: Gewalt. Gewaltlosigkeit, TRE 13 (1984), 170–171. Gregor von Nyssa, contra Eunomium 1, 3–4.
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Wann immer Cyprian auf die anderen zu sprechen kommt, seien es die Heiden, Juden oder – noch schlimmer – die falschen Christen, dann wünscht er das Feuer über sie. Wenn solche falschen Martyrer verbrennen oder den Tieren vorgeworfen werden, ist dies das passende Schicksal für den falschen Glauben. 35 Dieser Christ, den Cyprian repräsentiert, lebt immer noch in einer feindlichen Umwelt. Es gibt kein Friedensangebot, keinen Kompromiß für diese anderen, sondern offene Freude über jeden, der ausgerottet wird; diese Grundvorstellung prägt das Denken des afrikanischen Bischofs. 36 Wir müssen uns generell vor Augen halten, daß die Gewißheit um die eigene Wahrheit mit höchster Aggressivität gegenüber allen anderen einhergeht. Für die Christen um 200 n. Chr. blieb allerdings das Verbrennen der anderen weitgehend ein frommer Wunsch. 200 Jahre später war dies anders. Nun konnten Christen die Gotteshäuser der Juden, der falschen Juden, anzünden, wie es im Jahre 388 n. Chr. in Callinicum geschah. 37 So etwas konnte man allerdings auch als Brandstiftung bezeichnen, und so nannte es der Kaiser Theodosius und forderte die Bestrafung der Täter und den Wiederaufbau der Synagoge auf Kosten des Bischofs, der zur Brandstiftung aufgerufen hatte. Auf vorsätzliche Brandstiftung stand übrigens die Todesstrafe. Allerdings hatte Theodosius die Rechnung ohne den Bischof von Mailand Ambrosius gemacht. Man sollte dem Bischof übrigens kein mangelndes Rechtsgefühl vorwerfen, wie dies heute gelegentlich geschieht; 38 ein Bischof hat immer recht. Und wenn ein Unrecht gegen Gott geschieht, hat er dreimal recht. Bestrafung der Brandstiftung an einer jüdischen Synagoge ist Unrecht gegen Gott, denn die Juden sind ja selbst Schuld, daß es sie noch gibt. Die Brandstiftung von Callinicum beseitigte ein falsches Gotteshaus der falschen Juden. Wäre der Bischof verurteilt worden, wobei es im konkreten Fall um eine Geldbuße ging, wäre er für Ambrosius ein Martyrer gewesen und der Kaiser zwangsläufig ein Gegner Christi. Christen waren stets von Gegnern umgeben. War ihnen zunächst die Welt generell fremd oder gar feind, 39 so waren es lange Zeit die Heiden, die ihnen feindlich gegenüberstanden, wie die Christen nicht müde wurden zu formulieren. Als das Christentum sich immer stärker der staatlichen Unterstützung erfreuen konnte, waren es konkurrierende christliche Gruppen, welche die jeweils anderen als Gegner begriffen. Als Beispiel zitiere ich Passagen aus einer Rede Gregors von Nazianz über den Heiligen Geist, in der er sich mit einer bestimmten Gruppe von Häretikern auseinandersetzt. Diese zeichnen sich durch ein Übermaß an Gottlosigkeit aus, handeln gesetzwidrig, sind erbärmliche Kreaturen, Irre, Sünder, tun 35 Cyprian, de unitate ecclesiae 17. 36 Cyprian, de unitate ecclesiae 14. 37 Vgl. ausführlich K. GROß-ALBENHAUSEN: Imperator christianissimus. Der christliche Kaiser bei Ambrosius und Johannes Chrysostomus, Frankfurt am Main 1999, 99–112. 38 A. DIEHLE: Zum Streit um den Altar der Viktoria, in: W. den Boer – P. G. van der Nat – C. M. J. Sicking – J. C. M. van Winden (Hg.), Romanitas et Christianitas, Amsterdam – London 1973, 89, sieht in der Argumentation des Ambrosius „erschütternde Bekundungen mangelnden Rechtsgefühls“. 39 Vgl. M. CLAUSS: Christen – Bürger einer anderen Welt, Trier 2008.
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Böses, halten es mit der jüdischen Weisheit, phantasieren sich alte Possen und Fabeln über Gott zusammen, sind schändlich, stumpfsinnig und nicht bei Verstand; ihre vorgeblichen Argumente sind Haarspaltereien, nichts anderes als überflüssiges Geschwätz. Es sind immer die anderen, welche die Streithähne sind, die verzweifelt gegen Offensichtliches ankämpfen und die Wahrheit verfehlen. Gregor von Nazianz ist sicher, den Sieg davonzutragen, und fragt daher: „Warum sollen wir euch menschenfreundlich behandeln?“ Gregors Gegner benimmt sich „wie ein besonders wütender Eber [...] der ins offene Messer läuft, bis er den Todesstoß empfängt.“ 40 Die christologische Diskussion war eine Auseinandersetzung, in der es durchaus auch im Wortsinn um Leben und Tod ging. Diese christliche Feindschaft, die Feindschaft eines Christen gegen jeden anderen, ging über den Tod hinaus. Der bereits genannte Hieronymus lag auch mit Rufinus überkreuz; beide bezichtigten sich gegenseitig der origenistischen Häresie. Noch als Rufinus längst gestorben war, schäumte Hieronymus gegen den Skorpion, das grunzende Schwein, die fette Sau, das schwachsinnige Weib. 41 Ein ganzes Buch der christlichen Freude über den Tod der anderen bietet Laktanz mit seinem Werk über die Todesarten der Verfolger. Ich zitiere einige Sätze über den Tod des Galerius, wahrscheinlich der schlimmste aller antiken Kaiser: „Es bilden sich Würmer im Leibe. Der Geruch dringt nicht nur durch den Palast, sondern verbreitet sich über die ganze Stadt. Und das ist auch kein Wunder, denn die Ausgänge des Afters und des Harns waren schon nicht mehr zu unterscheiden. Galerius wird von Würmern zerfressen und unter unerträglichen Schmerzen löst sich der Leib in Fäulnis auf. An das sich auflösende Gesäß werden gekochte Tierchen in warmen Zustand gelegt. Bei der Wegnahme des Verbandes quoll ein unschätzbarer Schwarm hervor, doch hatte das in der Zersetzung der Eingeweide so fruchtbare Übel eine noch weit größere Fülle hervorgebracht. Die Krankheit hatte bereits den Teilen des Körpers ihr Aussehen genommen. Der obere Teil bis zur Wunde war zusammengeschrumpft. Der untere Teil hatte nicht mehr die Gestalt der Füße, sondern war nach Art von Schläuchen aufgetrieben und auseinandergegangen.“
Und auch der Tod des Arius unter dem Stichwort „Der Ketzer platzt in der Kloake“ ist Erbauung und Unterweisung von der spezifisch christlichen orthodoxen Art. 42 Der Haß der einzelnen christlichen Gruppierungen auf die aus ihrer Sicht heterodoxen Christen oder die Heiden war grenzenlos, wahrscheinlich der gegen heterodoxe noch größer. 43 „Ein guter Einfall“, so schreibt Sozomenos, „war es, die arianischen Soldaten des Gainas im Jahre 400 in Konstantinopel umzubringen.“ 44 40 Gregor von Nazianz, sermo 31; die wörtlich zitierte Stelle: 31, 20. 41 Vgl. S. REBENICH: Hieronymus und sein Kreis. Prosopographische und sozialgeschichtliche Untersuchungen, Stuttgart 1992, 198–200. 42 Dazu H.-G. BECK: Vom Umgang mit Ketzern. Der Glaube der kleinen Leute und die Macht der Theologen, München 1993. 43 Dies beobachtete auch Ammianus Marcellinus (22, 5, 4) als er feststellte, „daß keine wilden Tiere den Menschen so gefährlich sind wie die meisten Christen in ihrem tödlichen Haß aufeinander.“ 44 Sozomenos, historia ecclesiastica 8, 4, 16.
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Ein letztes Beispiel für diese Art des Umgangs der Orthodoxie mit der Häresie: Gregor von Tours schildert den Tod einer arianischen Königin. 45 Der Mord basiert auf der Gewohnheit, daß die Herrscher aus einem anderen Abendmahlskelch tranken als das gemeine Volk. So wird Gift in den Abendmahlskelch der Königin geschüttet, diese trinkt nach der Wandlung und stirbt. Eine Ketzerin weniger, kann man mit Gregor von Tours erfreut feststellen. 46
45 Gregor von Tours, historiarum libri 3, 31. 46 In der Diskussion, für deren anregende Beiträge ich mich bedanke, kam die Frage nach den Folgen der von mir dargestellten literarisch–intellektuellen Auseinandersetzung im Alltag christlicher Gemeinden auf. Dies verweist auf ein Forschungsfeld, in dem die Arbeit wohl erst noch zu leisten ist; dies sage ich trotz einer Studie wie derjenigen von J. HAHN: Gewalt und religiöser Konflikt. Studien zu den Auseinandersetzungen zwischen Christen, Heiden und Juden im Osten des Römischen Reiches (von Konstantin bis Theodosius II.), Berlin 2004, welche das tatsächlich vorhandene Konfliktpotential verharmlost. Weitaus realistischer in der Einschätzung scheint mir eine Sichtweise wie diejenige R. MACMULLENS: The problem of fanaticism, in: P. Ducrey (Hg.), Sécurité collective et ordre public dans les sociétés anciennes, Genf 2008, 227–251. Ich verweise nur auf wenige Beispiele, welche die ganz alltägliche Konfliktsituation verdeutlichen: Sozomenos erwähnt die große Bedeutung des Gesangs für die Verbreitung der jeweiligen dogmatischen Anschauungen (historia ecclesiastica 6, 25, 4– 6). Er gesteht zwar zu, daß sämtliche Lieder dem Lobpreis Gottes gedient hätten, bemerkt aber kritisch, sie seien sowohl von den Männern beim Gelage als auch von den Frauen an ihren Webstühlen gesungen worden. Kirchliche Lieder gehörten zum Alltag und wurden genutzt, um die Vorstellungen der eigenen Gruppe, auf eine knappe Formel gebracht, überall zu verbreiten. Als sich derartige Hymnen bei allen Glaubensrichtungen durchgesetzt hatten, kam es zu einem regelrechten Sängerstreit – der durchaus in Handgreiflichkeiten münden konnte. Sozomenos überliefert einen der knappen arianischen Verse, der als Herausforderung an die anderen gemeint war (historia ecclesiastica 8, 7, 3): „Wo sind denn die, die predigen, die drei sind eine Macht?“ Zu der hinter der Frage stehenden Aufforderung zur Prügelei ließen sich diese „anderen“ nicht zweimal bitten, und so gab es beispielsweise um 400 n Chr. in Konstantinopel bei einer entsprechenden Schlägerei mehrere Tote. Im Alltag wurde längst nicht nur inhaltlich, sondern eher mit Namen oder auch mit Gesten argumentiert. Als der Nicaener Meletius nach Antiochien kam, strömten sowohl Arianer wie Nicaener zusammen, um einen Mann zu hören, dem der Ruf großer Beredsamkeit vorausging. Zunächst hielt sich Miletius bei Fragen der Ethik auf, um dann doch mit aller Deutlichkeit zu erklären, der Sohn sei gleichen Wesens wie der Vater. Bei der folgenden Schlägerei hielt ihm einer seiner Gegner den Mund zu. Daraufhin brachte Miletius seine Überzeugung mit der Hand zum Ausdruck (Sozomenos, historia ecclesiastica 4, 28, 7): „Er streckte nur drei Finger sichtbar in die Höhe, dann legte er sie wieder zusammen und erhob nur den einen, um mit dieser Geste der Menge anzudeuten, was er dachte, aber auszusprechen gehindert wurde.“ Ein letztes Beispiel: Mag Malalas auch stark verallgemeinern, wenn er die folgende Begebenheit für alle Kinder voraussetzt, seine Erzählung verdeutlicht aber, wie die Christen zum Haß erziehen konnten. In Palästina sei es Sitte gewesen, so schreibt er, daß die Kinder nach der Bibellesung auf die Straße gezogen seien, um Steine auf Synagogen und Häuser der Juden zu werfen (excerpta de insidiis 171).
VOM LEHRHAUS ZUM LEHRAMT HÄRESIE-BEGRIFF UND GLAUBENSREGEL ALS URSPRÜNGE DES CHRISTLICHEN FUNDAMENTALISMUS Johann Ev. Hafner, Potsdam 1. DAS CHRISTENTUM BAUT AUF RACHSUCHT (P. SLOTERDIJK) Wie in dem guten Krimi „Ein Mann sieht rot“ beginnt auch die europäische Geistesgeschichte mit dem Zorn über die zu Unrecht getöteten Opfer: Achill fordert die Göttin auf, seinen Zorn hinaus zu singen. P. Sloterdijk vermutet in seinem Buch „Zorn und Zeit“, dass die europäische Kultur mitsamt ihren Religionen von dem Affekt angetrieben wird, sich angesichts eines schlimmen Vorfalls entschlossen einer Sache zu widmen. Der Held oder der Prophet wird von seinem innersten Organ, dem thymos, aus dem Zerstreuten und Bedenklichen zur großen Handlung empor gerissen. 1 Bei den Griechen wurde dies nicht als innerseelische Reaktion, sondern als Begabung mit der Kraft der Götter gesehen, die den Menschen wie ein Kraftgeist (genius) begleitet. Der Mensch agiert daher nicht frei, sondern reagiert innerhalb einer Reaktionskette aus Beleidigung und Satisfaktion, Untat und Tat. Die eigentlichen Agenten sind P. Sloterdijk zufolge „thymotische Ensembles“: Völker, Gruppen, Massen, Traditionen. Sie bilden sich als Stressgemeinschaften, die ein gemeinsames Anliegen verbindet, das wiederum von anderen Gruppen gefährdet wird. Dabei müsse stets vorausgesetzt bleiben, dass die Güter der eigenen Gruppe (die eigene Religion, die eigene Nation, die eigene Sprache und neuerdings: der Besitz der Aufklärung gegenüber den Kulturen, welche diese noch vor sich haben) höher bewertet werden als die der anderen. Die Ensembles sorgen dafür, dass diese Spannung von Innen und Außen aufrecht erhalten wird und nicht durch eine gleichwertige Anerkennungsethik oder Intersubjektivitätstheorie eingeebnet wird. So kann sich ein soziales System von seiner Umwelt nicht nur unterscheiden, sondern über sie erheben. 2 Die Überhebung geht einher mit einer Steigerung der Empfindlichkeit. Stolzkulturen kultivieren vor allem Verfahren zum Ausgleich des gekränkten Stolzes: „Wir verlangen Genugtuung!“ Sie nehmen in Kauf, bei anderen gefürchtet oder unbeliebt zu sein, ja erst ein scharfes Gefälle aus Rücksichtnahme und Rücksichtslosigkeit ermöglicht es einer Gemeinschaft, sich als Wir zu fühlen. „Auf dem Feld des Kampfs um Anerkennung wird 1 2
P. SLOTERDIJK: Zorn und Zeit, Frankfurt 2006, 24. Nicht zu Unrecht hat das Christentum den Kern aller Leidenschaft als superbia, Stolz auf das Eigene, bestimmt. Sie motivierte Augustinus zufolge Adam und Eva zur Ursünde.
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der Mensch zu einem surrealen Tier, das für einen bunten Fetzen, eine Fahne, einen Kelch sein Leben riskiert.“ 3 In der urbanen Gesellschaft wurde – P. Sloterdijk zufolge – diese unbändige Kraft zur Zivilcourage herab gemindert. Dennoch wird auch in der wohlstandsverwöhnten Moderne, wo sich die Aufregung legt, wieder Empörung importiert, indem man durch Verweis auf vergangenes Leid, auf gegenwärtiges Leid der Dritten Welt oder zukünftiges Leid der von den Zivilisationsfolgen betroffenen Nachwelt verweist. 4 Offensichtlich besteht ein nie ganz zu befriedigendes Entrüstungspotential. Islamisten befeuern ihren Furor mit der Erinnerung an die Kränkungen des Westens; der Streit um Palästina motiviert sich aus dem Zorn über den Verlust der Hoheit über diesen Landstreifen. Kollektive Traumata halten eine Gemeinschaft zusammen und werden durch Gedächtnisriten reinszeniert. Tatsächlich lassen sich fast alle Fundamentalismen derzeit als Rückgabeforderungen erzählen. Vergessen wird als Verrat an der Würde der Gemeinschaft denunziert. Anders als der Körper, der Wunden schließt, speichern Gemeinschaften ihre Wut, um sie bei Gelegenheit auszulassen. Wie sonst sind z.B. die Ressentiments im ehemaligen Jugoslawien zu erklären, nachdem in Sarajewo bereits über Jahrzehnte die Religionen und Ethnien bürgerlich zusammen gelebt haben? Soziale Systeme können eben nicht vergessen. P. Sloterdijk wirft insbesondere dem Christentum vor, die Leiden der Welt in Form von Gottes Unrechtsgedächtnis zu speichern und bei Bedarf, spätestens beim Endgericht, wieder zu verhandeln. Leid wird perenniert und mit der Zeit zum Zorn. So wurde die abendländische Kultur zu einem Gesamtunternehmen der Beschwerde (vornehm: der Kritik), das heißt der Weigerung, sich mit dem Erlittenen abzufinden. Das Christentum – und später der zweite thymotische Komplex, der Kommunismus – seien schuld, dass die Zeit nicht heilt, sondern dass menschliche Unzufriedenheitsgefühle immer wieder aufgewühlt wurden. 5
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P. SLOTERDIJK, Zorn und Zeit, 40. Wo Stolz gepflegt wird, ist Scham nicht weit. Der Schamhafte pflegt ein hohes Selbstbild von sich, das er selbst unterboten hat oder das von anderen verletzt wurde. Nicht die Verletzung selber, sondern die dadurch entgangene Achtung der anderen beschämt ihn. Der Grund für die gefühlte Überheblichkeit der anderen zu sein – auch wenn diese als Mitleid und Generosität getarnt ist – löst die eigentliche Scham aus. Um mit Nietzsche zu sprechen: Das Christentum ist die Religion der Schwachen, die ihre Scham über ihre Gebrechlichkeit mit „rachsüchtiger Demut“ kaschieren. P. Sloterdijk revitalisiert Nietzsches Lehre vom Machtwillen für die heutige Zeit. Zur Kritik des Empörungsimports vgl. O. MARQUARD: Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart 1981. Vgl. P. SLOTERDIJK, Zorn und Zeit, 352–356. Allerdings kann Gott, gerade um seiner Transzendenz willen, nicht einfachhin – wie es P. Sloterdijk wortreich behauptet – als Depot für die aufgeschobenen Rachegelüste der Menschen fungieren, denn dies würde ihn zur allzu durchsichtigen Verlängerung eigener Bedürfnisse herabstufen. Stattdessen muss Gott mehr sein als das, was Menschen von ihm erwarten. Dazu gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder er potenziert die menschlichen Racheforderungen, etwa indem er sich mehr Ungerechtigkeit merkt, als den Menschen bewusst ist (Erbsünde), oder er depotenziert die menschlichen Racheforderungen, indem er vergibt (Gnade). Das nennt das Neue Testament die „größere Gerechtig-
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So rhetorisch berückend P. Sloterdijks Religionsgeschichte daherkommt, so sehr bleibt sie doch einem einfachen Schema verhaftet: Die Geschichte wird von Sentimenten angetrieben: Hass und Neid nach außen und Solidarität, Fraktionszwang, Bruderliebe nach innen. Im Folgenden möchte ich eine alternative Deutung der Entstehung des christlichen „Fundamentalismus in der Kaiserzeit“ bieten. Sie lässt sich meines Erachtens nicht mit den Kategorien der Sozialpsychologie beschreiben, sondern muss feiner aufgelöst werden, indem man fragt, auf welcher semantischen Grundlage der Zorn gegen Häretiker und die Sanftmut gegen Rechtgläubige entstehen. 2. ZWEI WEGE: WELTABLEHNUNG UND WELTRELATIVIERUNG Ganz allgemein muss man mit P. Sloterdijk, der hier Nietzsche aufnimmt, zugeben: Religionen reden die Welt schlecht. Sie verkünden das Dysangelium von der Verfallenheit des Irdischen, sei es, dass es im Paradies einmal besser war, sei es, dass es aus nichts anderem denn aus häwäl, peccatum originale, dukkha, Leiden besteht. 6 Die Spiegelung an einer jenseitigen Welt erlaubt es den Menschen, die faktisch vorfindliche Welt kritisch zu sehen: Unrecht zu identifizieren, das Schicksal nicht hinzunehmen und Anliegen vor Gott zu bringen. Magie und Bittgebet sind insofern der Anfang von Religiosität, denn sie diskriminieren die Immanenz vor einer besseren Transzendenz, sei diese von Göttern bewohnt, sei sie nur ein höherer Zustand. Dieser weltablehnende Grundzug der Religion im Allgemeinen wurde erst sichtbar, als das Christentum mit anderen Hochreligionen verglichen wurde, meines Erachtens erst durch den hinduphilen Schopenhauer, der in der Weltverneinung die eigentliche Erlösung sah, dann durch Nietzsche, der sie als ein subtiles Mittel der Frustrationsabsorption interpretierte. Aus der Weltablehnung ergeben sich zwei ganz unterschiedliche Wege in der Religionsgeschichte. – Treibt man sie zu weit, verlieren die religiösen Zeichen, die einen Teil dieser Welt bilden, ihre Aussagekraft. Die Riten, Götterbilder und Texte werden zu vagen Andeutungen des Transzendenten. Die Gegenwart Gottes äußert sich nur in Rätseln und unscharfen Spiegelungen. Daher kann es in Religionen mit radikaler Weltablehnung keinen Besitz der Wahrheit geben, allenfalls eine unablässige Annäherung durch Weisheitssuche. Fundamentalismus beschränkt sich dann auf die Behauptung, nichts in dieser Welt sei endgültig und eindeutig. – Treibt man die Weltablehnung nicht ganz so weit, behalten die religiösen Zeichen ihre Auskunftsfähigkeit. Sie beanspruchen, die Eigenschaften und die Willensbekundungen des Göttlichen clare et distincte wiedergeben zu können. Reli-
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keit“, mit der dem ab 17 Uhr arbeitenden Tagelöhner ebenso viel gezahlt wird wie dem ab 9 Uhr arbeitenden. Vgl. S. NIKÂYA I, 134, zit. in: A. Bock-Raming (Hg.): Die Reden des Buddha, Wiesbaden 2006, 201: „Leiden allein ist’s das entsteht, Leiden besteht und Leiden vergeht.“; vgl. auch Mahâvagga I,1 ff., zit. in: ebd., 87.
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gionen mit relativer Weltdistanzierung formulieren schärfere Grenzen zwischen Wahrheit und Irrtum, zwischen Gott und Götzen. Wo immer es zu religiösen Konflikten kommt, spielt diese Dimension eine Rolle. Denn nur in Systemen mit relativer Weltablehnung, wo sich die Fähigkeit erhalten hat, religiöse Zeichen eindeutig zu verwenden, kann eine polemogene Differenz zwischen wahrem und falschem Gott, zwischen Weissagung und Wahrsagern, zwischen Orthodoxie und Häresie, zwischen wahrer Kirche und Schismatikern erzeugt werden. Im Folgenden soll die Entwicklung der christlichen Zeichen von einer anfänglichen Vieldeutigkeit zur Eindeutigkeit nachgezeichnet werden. 3. DIE WEGGABELUNG MITTE DES 2. JAHRHUNDERTS Das Christentum stand im Jahre 150 n.d.Z. an der geschichtlichen Weggabelung, ob es den Weg radikaler oder den Weg relativer Weltablehnung gehen wird. Religionswissenschaftlich gesprochen entschied sich damals, ob sich das Christentum zu einer „kalten“, inklusiven, gelassenen oder zu einer „heißen“, exklusiven, offensiven Religion weiterentwickeln würde (Abb. 1). In der Patristik war es seit jeher ein Rätsel, weshalb der christliche Philosoph Justin (+ 166) ein Lehrhaus in Rom betrieb und dort 20 Jahre lang parallel zum Lehrhaus des christlichen Gnostikers Valentinus (+ ca. 170) seinen Schulbetrieb unterhielt. Er erwähnt Valentinus nur einmal en passant bei der Aufzählung einer Ketzerliste (Dial. 35) und in seinem von mir rekonstruierten Syntagma. 7 Sein Kollege dagegen, der Lyoner Bischof Irenäus, wandte seine ganze Kraft auf um die fünf Bücher „Adversus haereses“ gegen die Valentinianer und seine Schüler, die Ptolemäer, sowie freie gnostische Wanderprediger zu verfassen; und dies in einem aggressiven Ton, den man in der christlichen Literatur nur aus den spätneutestamentlichen Pastoralbriefen (zum Beispiel 1Petr) kannte. Dies verwundert umso mehr, als Irenäus einer wackeren Gemeinde weitab von Rom in Lyon und Vienne vorstand und nur flüchtige Kontakte mit Gnostikern hatte. Irenäus bringt um 180 bereits alle Argumente des institutionellen Kirchenchristentums in Stellung: Bischofssukzession, petrinische Tradition, Kanon des NTs, Glaubensbekenntnisse, 8 traditio apostolica und vor allem eine strenge Sohnes-Christologie. Das sind die wesentlichen Elemente, mit denen sich später das Kirchenchristentum von ande7
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Syn-tagma = Zusammenstellung von Positionen, wahrscheinlich eine Liste von Steckbriefen über den inakzeptablen Lebenswandel von Häretikern. Zur Rekonstruktion des justinischen Syntagma, der ersten Ketzerliste des Christentums, vgl. J. EV. HAFNER: Selbstdefinition des Christentums. Ein systemtheoretischer Zugang zur frühchristlichen Ausgrenzung der Gnosis, Freiburg i. Br. 2003, 296–308. Sein Schüler Hippolyt dokumentiert in der Apostolikê paradosis (um 215) das dreigliedrige Glaubensbekenntnis, allerdings noch in Frageform und damit in enger Verbindung zu den Taufsymbolen. Die dogmatische Entwicklung läuft m.E. über die regulae des Irenäus (in Aussageform!) zur erstmals belegten Form bei Marcellus von Ancyra um 340. Vgl. J. N. D. KELLY: Altchristliche Glaubensbekenntnisse. Geschichte und Theologie, Göttingen 1972, 106.
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ren Religionen und Konfessionen absetzen und fortsetzen wird. Bei Justin in Rom spielen diese Argumente kaum eine Rolle, obwohl er sich mit Philosophen und mit Juden kaum auseinandersetzt; er vertritt noch eine recht weiche LogosChristologie und versucht sie mit moralischen Aufrufen plausibel zu machen, anstatt sie mit dogmatischen Argumenten durchzusetzen. Justin war noch häresieblind, Irenäus war bereits häresieallergisch. Wie kommt es, dass innerhalb von so kurzer Zeit das liberale Lehrhaus des Justin, wo das freie philosophische Gespräch Vorbild war, in den Hintergrund und stattdessen das dogmatisch harte Lehramt bei Irenäus in den Vordergrund tritt? Offensichtlich hat das Christentum ruckartig ein Immunsystem aufgebaut, das es ihm erlaubt, Konkurrenten von außen abzufangen und innen unaufgebbare Fundamente zu definieren. Ja, die Grenzlinie von Außen und Innen des Christentums wird erst in diesen Jahren klar gezogen. Ich kann nicht auf alle Details der lehramtlichen Entwicklung eingehen, sondern will nur eines herausgreifen: den Begriff der Orthodoxie bzw. der Häresie. 4. JUSTINISCHES UND VALENTINISCHES LEHRHAUS Justin verstand sich selbst als christlicher Philosoph, 9 der seinen Schülern die Kontinuität von allgemeiner Geistesgeschichte, vor allem des Mittelplatonismus, und den Offenbarungen des Christentums aufzeigen wollte. Als lehrendes Mitglied der Stadtgesellschaft sah er sich in der Pflicht, eine allgemeingültige Religions-, Geistes- und Rechtsphilosophie zu entwickeln, die „natürliche, rationale Theologie, der Monotheismus des einen wahren Gottes, des ewigen Gesetzgebers und Richters unsterblicher freier Geister und Seelen und sein ewiges Gesetz für die rationale Legalität von Ethik, Ökonomik und Politik.“ 10 Dies geschah in ständiger Absetzung von der volkstümlichen Religiosität. Alles Mythologische und Rituelle im Christentum habe seinen Sinn in vernünftiger Sittlichkeit. Der Vorwurf des primitiven Aberglaubens wurde von Tacitus, Plinius, Sueton und Galen erhoben und um 170 vom Philosophen Kelsos als systematischer Angriff formuliert. Autoren, die versuchten, diese Vorwürfe zu entkräften, werden in der Patristik unter dem Titel „Verteidiger“, Apologeten zusammengefasst. Glaubt man den Acta Iustini, 11 lebte Justin in einer Wohnung „oberhalb der 9
Justins Selbstverständnis als Ex-Platoniker ermächtigt ihn, sich an bestimmten Stellen von Positionen des Platonismus abzusetzen oder besser: sie zu vollenden; allem voran die platonischen Seelenlehre, die er durch seine Logosmetaphysik ersetzt. Vgl. E. VON IVANKA: Plato christianus. Übernahme und Umgestaltung des Platonismus durch die Väter, Einsiedeln 1964, 95f. 10 A. DEMPF: Religionssoziologie der Christenheit. Zur Typologie christlicher Gemeinschaftsbildungen, München - Wien 1972, 28. 11 Die „Acta Iustini“ berichten vom Verhör durch den Stadtpräfekten. Ihre Redaktion, wahrscheinlich aus dem 4. Jahrhundert, hat nur Einleitung und Schluss verändert. Aus seiner schlichten Gestalt und aus dem Verzicht auf starke hagiographische Rhetorik kann man die historische Zuverlässigkeit des Dokuments hoch einschätzen. So ergeben sich an Details:
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Bäder des Timothinus“, wo er seine Hörer versammelte. 12 Die Lehrer in Rom kannten sich, wahrscheinlich über den Austausch der Schüler, die als Gasthörer verschiedene Häuser besuchten, oder über Disputationen der Lehrer selber (vergleiche Justins Disput mit Kreszens). Justin muss den zeitgleich lehrenden Valentinus wenigstens mittelbar gekannt haben (wie er auch den zeitgleichen Markion kannte). Und deshalb stellt er diese spekulativen, gnostischen Christen in eine Reihe mit den landläufigen Philosophenschulen (Abb. 2). 13 Irenäus steht bereits vor einer stupenden Menge an literarischen Erzeugnissen, die von den Valentinianern im Umlauf waren. 14 Sie waren das Resultat eines produktiven Vorlesungsbetriebs, der wie folgt aussah: Je nach Professionalisierungsgrad gab es feste Vorlesungen (zum Mitschreiben) 15 und Diskussionsstunden für einen erlesenen Schülerkreis oder öffentliche Darbietungen zu Themen allgemeinen Interesses. Die Valentinianer bildeten wie anständige scholae keine Geheimzirkel, sondern waren öffentlich und ein dem Christentum integraler Bestandteil, eine im wahrsten Sinn konkurrente, mitlaufende Alternative. „Integral“ meint hier, dass ein Christ nicht zu subversiven Treffen die Gemeinde verlassen musste, um auf die Valentinianer zu treffen. Vielmehr saßen sie im Gottesdienst neben ihm, nannten sich ebenfalls Christen, lasen die gleichen Schriften und unterschieden sich im Lebenswandel kaum von den Christen. Die Trennwand hic haereticus – hic fidelis war noch nicht hochgezogen. Wie in jedem Universitätsbetrieb waren die Valentinianer untereinander stark in Schulmeinungen verzweigt. Irenäus verspottet den Valentinschüler Secundus, weil er sich „nach noch Gnostischerem ausstreckt“. 16 Tertullian mokiert sich über die Differenzen unter den valentinianischen Zweigen, indem er sie mit der damals üblichen Nomenklatur für institutionelle Lehrstühle („kathedrae“, „officia“, „scholae“) bezeichnet. 17 Auch wenn sich eine formelle Spaltung des Valentinianismus nicht nachweisen lässt, wird man davon ausgehen müssen, dass er ein äußerst disparates Erscheinungsbild bot.
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Prozess und Tod zwischen 163 und 167, seine Mitangeklagten waren kleinasiatische Christen, wahrscheinlich alle Sklaven, keine Bürger, das Verfahren diente zur Feststellung des christlichen Bekenntnisses durch einfache Interrogation (nicht durch das Testen der Bereitschaft zu opfern), der Verhörende Präfekt war als Stoiker bekannt. Vgl. R. FREUNDENBERGER: Die Acta Justini als historisches Dokument, in: Karlmann Beyschlag - Gottfried Maron - Eberhard Wölfel (Hg.), Humanitas – Christianitas, Witten 1968, 24–31. Zusammen mit sechs seiner Schüler erlitt er unter dem Präfekten Quintus Junius Rusticus 163–168 das Martyrium. Markioniten, Valentinianer, Basilidianer, Saturnilianer und andere „führen sich auf wie solche, die sich für Philosophen halten“. Dial. 35,6 (eigene Übersetzung). Vgl. Adv. haer. 1,20,1. Vgl. W. BOUSSET: Jüdisch-christlicher Schulbetrieb in Alexandria und Rom. Literarische Untersuchungen zu Philo und Clemens von Alexandrien, Justin und Irenäus, Göttingen (1. Auflage 1915) 1975, 5. Adv. haer. 1,11,2. „Katheder“ gab es nur für Rhetorik und Platonstudien in Rom und Athen. Vgl. H. I. MARROU: Geschichte der Erziehung im klassischen Altertum, Freiburg/München 1957, 554f.
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Der lose Zusammenhang der valentinianischen Schule, ihr vages Bezugnehmen auf einen Ursprung und das schnelle Auseinanderdriften in Interpretationszweige ist ein Symptom dafür, dass sie nicht über ein Zentraldogma, eine regula verfügte. Sie unterschied nicht in Offenbarung und Theologie; sie schrieb die Offenbarung durch Reflexion fort, anstatt Offenbarung durch Reflexion zu begrenzen. Ihre Reflexion vermochte noch nicht Distanz zum Gegenstand zu halten. Ich halte die Offenbarungsinflation und die damit einhergehende Verkomplizierung der gnostischen Systeme für einen Grund ihres Verschwindens im dritten Jahrhundert. 5. IRENÄUS’ ANGRIFF 5.1 Bündelung der Vielfalt Irenäus strengt sich sichtbar an, in dem Gewirr der Texte eine einheitliche Verschwörung, eine Wurzelhäresie zu entdecken. Die Valentinianer traten wohl meist als Schriftdeuter (des damals noch offenen Kanons) auf, um ihre TiefenInterpretationen als neue Offenbarungen zu vertreten (Exegese über die Seele, JohAkr). Man muss sich die Schwierigkeit vorstellen, vor welcher der Lyoner Bischof stand: Ihm liegt ein Text vor oder er hört einen Vortrag, der von religiösen Dingen handelt. Für den Fall, dass der Text keine Hinweise aus dem leicht identifizierbaren Sophia-Mythos 18 (Gnosis, Demiurg, Horos, Kenoma) enthält: wie soll er erkennen, ob dieser Text Philosophie, Poesie oder gnostische Häresie ist? Hierzu genügt die Verwendung von einfachen Suchbegriffen (handelt der Vortrag von „Gott“, „Christus“, oder „Erlösung“?) nicht, er muss schärfere Begriffsunterscheidungen vornehmen, um sie als Sonde verwenden zu können, zum Beispiel welcher Gott: Gott-Schöpfer, Gott-Bythos oder Gott-Vater? Welcher Christus: Christus-Horos, Christus-Pneuma, Christus-Jesus? Wie bei einem Radar muss das Raster fein genug sein, damit sich orthodoxer und abweichender Begriffsgebrauch auseinander halten lassen; es muss aber so einfach sein, dass es handhabbar bleibt. 19 Bereits ein weniggliedriges Raster kann dies leisten. Hierzu 18 Das ist die gnostische Grunderzählung von der Selbstentfaltung Gottes in 12 (auch 30 oder 365) Emanationen, vom Fall des jüngsten Äons „Sophia“ aus dem göttlichen Machtbereich (Pleroma), der Entstehung der Welt aus den Ausscheidungen der ausgestoßenen Sophia und der Wiedereinholung Sophias durch den Grenzäon Christus. 19 Ein gutes Beispiel ist Adv. haer. 3,1,2: „Sie alle [Apostel und die Evangelisten] haben uns überliefert, daß es einen einzigen Gott, den Schöpfer des Himmels und der Erde, gibt, vom Gesetz und den Propheten verkündigt, und einen einzigen Christus, Gottes Sohn.“ Die Sanktion wird gleich mitformuliert: „Wer ihnen widerspricht, der verachtet die Freunde Gottes, verachtet aber auch den Herrn selbst und verachtet auch den Vater, und er hat sich selbst gerichtet [...].“ Dagegen sind Irenäus’ Zusammenfassungen der apostolischen Lehre (z.B. 1,10,1; 2,30,9) bereits eigenständige materiale Bekenntnisse. Sie dienen der Selbstvergewisserung nach innen und sind zu groß, um noch eine heuristische Funktion nach außen zu besitzen. Würde Irenäus seine Glaubensregeln als Begriffssonden einsetzen, würde er die kirchli-
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verbindet der Kirchenvater einige Glieder mittels Identifikation (=) bzw. Negation (≠), beispielsweise Gott = Schöpfer = Vater, Christus = Soter ≠ Horos, Erlösung = Auferstehung ≠ Erkenntnis. So vermochte Irenäus die fein abgestuften Emanationsreihen 20 des ptolemäischen Mythos aufzulösen. Die Gnostiker sahen sich zur „Erfindung“ immer neuer Reihen ermächtigt, da sie ihre Erkenntnisse (meist aus einer Tiefeninterpretation der Schrift gewonnen) nicht als Resultat eines gedanklichen Schlusses verstanden, sondern als Aktivität des Geistfunkens. Gnosis ist das Aufblitzen der Wahrheit, ist Evidenz ohne Diskursivität. Dagegen denunzierten sie die schrittweise und methodische Wahrheitssuche der Philosophen als Wiederholung des Irrtums von Sophia. Irenäus steht also vor einem systematischen Grundproblem, das die kirchliche Theologie bis heute begleitet, wenn sie sich frei flottierender Religiosität zuwendet: Es geht darum, die Vielfalt aufzulisten, 21 aber darüber hinaus ihre Einheit als Glaubensabweichung darzustellen. Er bemerkt, dass er sich die Systematik nicht von der Gegenposition diktieren lassen darf, sondern ein eigenes Fundament formulieren muss: In Buch 2 nehmen die Bemühungen zu, die eigene Wahrheitsfindung zu begründen (2,25–28). In Buch 3 22 und 4 23 versucht er, das eigene Material aufzuarbeiten, indem er jeweils mit einem riesigen Aufwand an Schriftbelegen das richtige Gottesbild, das richtige Christusbild, das richtige Geschichtsbild beweist. Bei aller Konfusion, die der Lyoner Bischof vorführt, trägt sich ein Leitmo-
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che Einheit innen auflösen. Irenäus weiß, dass es auch innerhalb der Rechtgläubigen Unterschiede geben dürfen muss. Diese „Reihen“ sind keineswegs linear, sondern verzweigen sich und vereinen sich wieder. Die komplizierteste von ihnen lautet: Monogenes/Nous=Logos=Anthropos=Horos=Soter= Christos=Jesus. Weil der Mythos in mehreren Akten erzählt wird und auf mehreren Ebenen spielt, müsste man diese Kette eigentlich als Gebilde aus Schleifen darstellen. Die Ketten der Gnostiker konnten beliebig lang sein, weil durch den Emanationsgedanken ein Kettenglied verlängert werden konnte, ohne dass damit volle Identität ausgesagt war. Das Emanierte ist mit seinem Ursprung weder identisch noch different, es ist das Selbe als Anderes. Die ausführlichen Referate in „Adversus haereses 1“ veranlassen Tertullian zur bewundernden Bezeichnung des Irenäus als „omnium doctrinarum curiosissimus explorator“ (Adversus Valentinianos 5,1 = SC 280, 88). Tertullian verwendet Irenäus’ Häresiologie vor allem als eine kenntnisreiche Dokumentation, ohne die widerlegenden Teile (Adv. haer. 2) zu würdigen. Das liegt zum einen an Tertullians konzentrierterem Stil (Adv. haer. ist 15,5 mal so lang wie Adv. Val.!), zum anderen an Irenäus’ Hang zur detailreichen Darstellung und breiten Schriftbelegung. Als Gliederung lässt sich allenfalls die Materialanordnung erkennen: Zuerst werden die gnostischen Systeme dargestellt, dann werden sie widerlegt. Dass sich die Widerlegung selbst noch einmal in einen reaktiven Teil (Buch 2), wo Irenäus einzelne Argumente abarbeitet, und in einen eher explikativen Teil (Bücher 4 und 5), wo er das kirchliche Material aufarbeitet, gliedern lässt, ist wohl eher aus dem Nacheinander der Themen und Dokumente zu erklären als aus dem Systemwillen des Irenäus. Er hat offensichtlich immer nachträglich gegliedert, bevor er einen neuen Band herausgab. Vgl. Adv. haer. 3 praef. „Das apologetische, exegetische und spekulative Arsenal, das Irenäus zur Verfügung steht, mutet in seiner Fülle wie ein Fluß an, der so viel Wasser führt, daß er hier und da auch über die Ufer tritt. Die Menge ist für Irenäus interessanter und überzeugender als eine Ordnung und Gliederung. Selbst eine Grobgliederung fehlt [...]“ N. BROX: Einleitung zu Buch 4, in: Fontes Christiani Bd. 8, Freiburg u.a. 1995, 7–10, hier 9.
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tiv durch alle Diskussionen durch: die Glaubensregel. Sie wird von ihm eingefügt, wo immer es sich anbietet. An ihr, und weniger an ausführlichen Schriftbelegen und anti-häretischen Repliken, kann man Irenäus’ eigenes System ablesen. Das System beobachtet sich selbst, während es anderes beobachtet. Sie ist die fortlaufende Selbstreferenz bei der Behandlung des Fremden. Die System-UmweltDifferenz wird im System reproduziert, und damit wird erst Identität produziert. Vor dieser Reproduktion gibt es gar keine Identität, sondern nur fremde, falsche Argumente und die Reaktion darauf. Mittels der Glaubensregel wird das Verhältnis umgedreht: Die eigenen Antworten werden als das Vorgängige gesetzt, zu dem die Häresien nur Abweichungen sind. Die Fremdreferenz wird als Teilmoment der Selbstreferenz eingezogen. Erst im Laufe von „Adversus haereses“ formiert sich diese Einsicht: Nicht die Häresie definiert, was orthodox ist, sondern die Orthodoxie bestimmt, was als häretisch zu gelten hat. Irenäus will mit „Adversus haereses“ alles bieten: das häretische Material, das orthodoxe Material und – das ist entscheidend – die Anwendungsregeln, wie das eine auf das andere zu beziehen sei. Damit erst wird das Christentum als religiöses Wissen totalisierend und universal. 5.2 Von den Personen zu den Texten Die Häresieempfindlichkeit verdankt sich dem Fortschritt im theologischen Vermögen, mit dem man zunehmend häretische Systeme von irregeleiteten Personen unterschied. Weil der in Rom lehrende Samaritaner Justin sein Wissen von Jesus Christus noch auf persönliche Erinnerungen der Apostel stützte, sah er in abweichenden Meinungen nur Erinnerungsfehler, die man Personen zurechnen konnte. Justins Kritik richtete sich auf die falsche Weitertradierung eines intakten Anfangswissens (spermata tou logou), sowohl bei den Philosophen, die die Logosoffenbarung an Platon durch eigenbrötlerisches und sektiererisches Nachdenken (hairesis!) entstellten, als auch bei den Juden, die durch Falschpropheten vom offiziellen Judentum abfielen. 24 Das Häretische war nicht die Schulbildung, sondern die „Nicht-Schulbildung“, aufgrund derer man sich weigerte, sich in den Strom des vom Logos geoffenbarten religiösen Menschheitswissens einzuordnen. Man trug noch den Namen der Schule („Platoniker“ oder „Christ“), driftete aber bereits in Eigenmeinungen ab. Deshalb übersieht Justin Häresie als Häresie und sieht nur Häretiker. Ketzerpolemik entwickelt sich also nicht dort, wo Häresie auftritt, sondern wo Häresie als Häresie identifiziert wird. Dies wiederum setzt Beobachtungsfähigkeit voraus. Das heißt: Es müssen Situationen vorliegen, in denen zwischen der Predigt einer häretischen Person und der häretischen Lehre differenziert werden kann. Die Zurechnung darf nicht mehr vollständig auf die Personen zurücklaufen, sondern muss sich durch breitere Anschlüsse verselbständigen und stabilisieren, sei es, dass ein häretischer Prediger mit Empfehlungs-
24 Vgl. Dial. 62,4 und 80,4.
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schreiben anderer auftritt, sei es, dass er auf Vorgänger (Erzketzer) zurückgeführt werden kann. Wo Texte auf Texte treffen – und sich nicht mehr Personen gegenseitig korrigieren können – entfällt die Möglichkeit, sich unmittelbar über die Differenz von Gesagtem und Gemeintem zu verständigen. Und es entfällt die Möglichkeit, die Äußerung dem anderen unmittelbar und ad personam anzupassen. Der „Dialog“ zwischen Texten muss wenigstens eine Weile ohne transzendentale Konsensfiktion laufen, wenn die Grenzen der Verständigung zugleich das Thema der Verständigung sind. Dann wird das Paradox deutlich, dass man sich über die Grenzen (oder auch über konstitutive Bedingungen) der Verständigung nicht verständigen kann. Geschähe dies, wäre die Grenze bereits überschritten (bzw. man müsste die Bedingungen der Bedingungsdiskussion diskutieren). Wenn man aber die Grenzen vom Inhaltlichen ins Formale verlegt, kann man wenigstens abgrenzen, worüber bzw. wann man nicht verhandeln will.25 Man regelt damit die Abbruchs- und Wiederaufnahmebedingungen der Kommunikation, anstatt dem Konsens über Konsensfähigkeit der Beteiligten nachzulaufen. Der Anlass für Häretisierung liegt demnach formal darin, dass man über bestimmte Behauptungen nicht mehr dialogisieren kann, weil Systeme nicht mit Individuen und Einzelfällen kommunizieren, sondern allein auf die Wiederverwendbarkeit des Geschriebenen achten. Je organisierter also ein System, desto mehr muss man es beim Wort nehmen und seine Äußerungen als Entscheidung, als nicht-revidierbare Meinung behandeln. Kurz: Mit Häretikern kann man reden, über Häresie lässt sich jedoch nicht reden. Häresie ist die Anzeige eines Systems, dass es etwas anderes nicht „verstehen“ kann und will. An der häresiologischen Fortentwicklung von Justin zu Irenäus wird dies deutlich: Justin hielt noch jeden Menschen für jederzeit häresieund orthodoxiefähig. Irenäus dagegen war illusionslos, die Häretiker waren auf für ihn unverständliche Weise verbohrt. 6. DER FRÜHCHRISTLICHE HÄRESIEBEGRIFF Im philosophischen Sprachgebrauch konnte hairesis einfach „Schulmeinung“ oder „Überzeugung“ bedeuten. Kompendien „Peri haireseôn“ listen verschiedene Lehren auf und vergleichen sie. Die daraus ersichtliche Tatsache, dass verschiedene Schulen die Wahrheit für sich beanspruchten, führte zunehmend zu einer pejorativen Verwendung von hairesis. Für das junge Christentum kam die negative Konnotation schneller, weil es die Vielfalt der antiken Kulte und Philosophien als Zersplitterung deutete und sich selbst vor diesem Hintergrund als einfache und einheitliche Wahrheit verstand. Ein Blick auf den neutestamentlichen Häresie-Begriff zeigt, dass dies erst in den späten Texten geschieht. Dreimal taucht er in den neutestamentlichen Schriften auf (1Kor 11,18; Gal 5,20; 2Petr 2,1). In allen drei Fällen wird die Spaltung 25 Je nach Organisationsform kann man über Bussschweigen, Rednerlisten und Lehrverbote auch festlegen, wer über etwas nicht reden darf.
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der Gemeinde kritisiert. Dabei werden die falschen Lehrer angegriffen, die „falschen Lehren“ stehen noch im Hintergrund. Die Häresie ist noch stark vermischt mit ihrem sozialen Erscheinungsbild. Paulus ermahnt die Korinther dazu, die Gemeindeeinheit besonders beim Herrenmahl nicht durch Parteiungen zu entstellen. In den Pastoralbriefen finden die Auseinandersetzungen mit den Häretikern als Streit von Personen, nicht als Exklusion von Systemen statt. Häretiker sind zunächst heterodisdaskalountes. Man nimmt zwar eine grundsätzliche lehrhafte Abweichung wahr, aber man beantwortet sie noch nicht dogmatisch, sondern disziplinär. Was immer in den Pastoralbriefen an „Glaubensregeln“ formuliert wird, es bleibt an katechetische und liturgische Kontexte gebunden 26 und findet in den überschaubaren Strukturen von „Häusern“ statt. Haus meint hier kein Lehrhaus, sondern den Ort des familiären Lebens und der Erziehung. Wenn didaskalein als paideuein verstanden wurde, so war die falsche Lehre im Umkehrschluss das Resultat falscher Erziehung. Die Authentizität der Lehre hängt deshalb noch stark an der Vertrauenswürdigkeit der verkündigenden Personen: Nur wer bewährter Hausvater ist, der gibt die wahre Lehre auch verlässlich weiter. Wo das nicht der Fall ist, können „Häuser“ als Ganzes abfallen. Allein der zweite Petrusbrief, von der Anlage her eine anithäretische Schrift, verwendet annähernd einen dogmatischen Häresiebegriff. Auch wenn die Datierung von 2Petr extrem schwankt (zwischen dem Jahr 75 bei K. Berger und der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts bei Ph. Vielhauer), herrscht die einheitliche Meinung, dass die adressierte Gemeinde bereits vor dem nachapostolischen Problem der Traditionssicherung steht („Bedenkt vor allem dies: Keine Prophetie der Schrift darf eigenmächtig ausgelegt werden“). 27 Die Verbreiter der Irrlehren, früher pseudoprophêtai und heute pseudodidaskaloi, werden in 2Petr 2,1–22 nach allen Regeln der Kunst diskreditiert (Sklaven ihrer Begierden: fresssüchtig, vernunftlos, verlogen, geil, gierig, kotze-fressende Köter, 28 suhlende Säue) und ihre Verdammtheit wird vorhergesagt. Der Autor deutet die Irrlehren selbst nur zusammenfassend an: Sie leugnen den Herrn, indem sie sich in die Genüsse der Welt verstricken lassen. Entscheidend ist die Tatsache, dass 2Petr die Häresie bereits als Schriftinterpretation beobachtet und nicht nur als ungeordnete Geisterfahrung. In 2Petr ist das häresiologische Problem voll entfaltet, es wird aber noch keiner Lösung zugeführt, sondern durch harsche Personalisierungen überdeckt. 29 26 So das Ergebnis der Untersuchung E. SCHLARB: Die gesunde Lehre. Häresie und Wahrheit im Spiegel der Pastoralbriefe, Marburg 1990, 358: „Daraus ergibt sich auch, daß die Pastoralbriefe kein System im Sinne einer umfassenden Glaubenslehre oder gar die weitere Ausgestaltung paulinischer Theologoumena hin zu solch einem ‚System‘ übermitteln.“ 27 K. RUDOLPH: Die Gnosis, Göttingen (3. Auflage) 1994, 328 vermutet hinter den Häretikern des Judas- und des Zweiten Petrusbriefes schon die „großen gnostischen Schulbildungen“ des 2. Jahrhunderts. 28 Pikanterweise wird diese Stelle fast wörtlich im gnostischen Evangelium der Wahrheit 33,15f. zitiert, um die Hörer vom Abfall aus der Erkenntnis zu warnen. 29 Obwohl es sich nahegelegt hätte, verwendet der Autor keinerlei Amts- oder Sukzessionstheologie. Nachapostolische Presbyter oder Bischöfe werden nicht genannt. „Das mag vielleicht daran liegen, daß 2Petr Fälle kennt, wo die Bischöfe selber der Gnosis nahestehen.“ H.-M.
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Als erster identifiziert Justin30 Häretiker als eigene Gruppe. Aber er verwendet den Begriff noch sehr unspezifisch, 31 weil er in Schulflügeln denkt: didaskalia, didagma, dogma, doxa, mathêma werden für die philosophischen, die jüdischen und die christlichen Lehren gleichermaßen gebraucht. 32 Justin bewegt sich noch im antiken Rahmen, wo verschiedene Schulen mit verschiedenen Meinungen nach demselben suchen: nach der Wahrheit, auch nach der Wahrheit über Gott. Die Häresien seit Bestehen des Christentums sind folglich auch nicht allein Häresien innerhalb des Christentums. Justin versucht, die Vielzahl der Häresien zu personalisieren, indem er sie auf drei Schulhäupter zurückführt: Simon, seinen Schüler Menander und Markion (vgl. 1 Apol. 26 und 56). Sie führen das Dämonenwerk fort, das bisher in den antiken Mythen beschrieben wurde. Allen dreien wirft er vor, was Philosophen auch an den Mythen kritisierten, nämlich die Vermischung von Göttlichem und Menschlichem. Alle drei seien als Messiasse oder Götter aufgetreten. Justin greift die damals gängige Erzketzer-Figur auf, erweitert aber das Schema in die Vergangenheit hinein. Er datiert den Ursprung christlicher Häresie letztlich bei einem samaritanischen Magier, Simon, der in Apg 8 eher beiläufig erwähnt wird. Häresie kam Justin zufolge nicht aus dem Christentum, sondern ist Allgemeingut der Menschen und nicht zurechenbar auf eine bestimmte Religion. 33 Über diese universalisierte Verwendung findet Justin haireseis denn auch im Judentum: „Sadduzäer, Genisten, Meristen, Galiläer, Hellenianer, Phari-
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SCHENKE – K. M. FISCHER: Einleitung in die Schriften des Neuen Testaments Bd. 2, Berlin Gütersloh 1979, 327. „C’est l’oeuvre de Justin qui est le premier témoin d’une description unifiante de l’erreur, qui sert par la suite de cadre et d’instrument à la polémique. En même temps s’affirme le souci de distinguer diverses doctrines erronées, de les nommer et de les plier à un schéma historiographique qui permette à la fois de les construire comme objet de connaissance et de dénoncer leur altérité.“ A. LE BOULLEC: La notion d’hérésie dans la littérature grecque IIe–IIIe siècles, Bd. 1: De Justin à Irénée, Paris 1985, 35. Einen schlagenden Beweis für die nichtdiskriminierende Verwendung von hairesis bietet Dial. 108,2. Darin wirft Justin den Juden vor, das Christentum als eine häretische Gruppe um den galiläischen Lehrer Jesus diskreditiert zu haben. Ein Gegenbeweis? Das einzige von Irenäus überlieferte Justin-Fragment lautet: „Treffend sagte Justinus, daß niemals vor der Ankunft des Herrn Satan gewagt hat, Gott zu lästern, da ihm seine Verdammnis noch nicht bekannt war, weil dies nur in Parabeln und Allegorien von den Propheten über ihn so verkündet war. Nach der Ankunft des Herrn aber erfuhr er aus den Worten Christi und der Apostel deutlich, daß das ewige Feuer dem bereitet ist, der mit freiem Willen von Gott sich abwendet, und allen, die ohne Buße in der Apostasie verharren. Durch solche Menschen nun lästert er den Gott, dem das Gericht zusteht, da er ja schon verdammt ist [...]“ [Übersetzung Ernst Klebba (= BKV 4/2) Kempten - München 1912, 223] Adv. haer. 5,26,2. Dieses Zitat wird herangezogen, um die These zu stützen, Häresie gebe es erst seit Christus. Aber erstens ist nicht klar, wo das „Zitat“ endet. Zweitens paßt dieses „Zitat“ sehr gut in Irenäus’ Konzept von Heilsgeschichte und sehr schlecht in Justins Konzept von Satan. Es gibt bei Justin vielmehr die Tendenz, die Herrschaft des Teufels und der Dämonen seit der Geburt Christi als gebrochen anzusehen. Vgl. Dial. 85,1f.; 2Apol. 6,6. Satan habe nicht nur Christus versucht, sondern bereits Adam über Gott belogen. Vgl. Dial. 103,6. Justin belegt die Überlegenheit des Christentums mit der Tatsache, daß es im Gegensatz zum Judentum in allen Völkern verbreitet sei.
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säer und Baptisten“ 34 fallen ebenso unter diese Kategorie wie die christlichen Gruppen „Markianer, Valentinianer, Basilidianer, Saturnilianer“. 35 Für Justin ist Häresie ein Fehler auf der allgemeinmenschlichen Suche nach Wahrheit. 36 Der Häresie-Begriff erhält eine neue Dimension, weil nicht mehr nur die heidnische Umwelt als zerspalten gilt, sondern auch in den Reihen der Gläubigen Spaltungen vorkommen. Was bislang nur als disziplinarisches Problem wahrgenommen wurde, wird bei Irenäus als dogmatisches Problem formuliert und damit personenunabhängig. Erst bei Irenäus differenziert sich der Häresie- deutlich vom Schismabegriff ab. 37 Dem Lyoner Bischof geht es weniger um die Einmütigkeit von Personen, als vielmehr um die Einheit der Wahrheit. Im Kampf gegen die Gnosis greift Irenäus zwar zum Mittel der Kontaktverweigerung, 38 aber er ahnt, dass dies auch zum Gegenteil führen kann, wenn sich Häresie in der Sozialform von separaten Treffen erhält. Häresie bekämpft man effektiv nicht mit der Exkommunikation von Personen, sondern mit der Exkommunikation von Lehren. An der irenäischen Bearbeitung des Syntagmas von Justin lässt sich sehen, wie er die Liste aus Personengruppen und Schulen, die bei Justin noch in den großen Strom des Heidentums eingeordnet sind, zu einer eigenen systematischen Größe herauslöst: der „sogenannten“ (pseudonymen) Gnosis. Sie wird zum Dachbegriff für seine Konstruktion: Zunächst versucht er wie Justin, eine Genealogie aufzubauen: 39 Alle Häretiker lassen sich auf Simon (geleitet von Satan) zurückführen. Weil er aber bemerkt, dass die Valentinianer nicht eine 34 Dial. 80,4. 35 Dial. 35,6. 36 Bemerkungen zum falschen Leben (Unsittlichkeit) und zu falschen Methoden (Götzenopfer) umgeben die angegebene Stelle. 37 „Adversus haereses“ 4,33,7 definiert: „Iudicabit autem et omnes eos, qui sunt extra veritatem, hoc est qui sunt extra ecclesiam.“ Die wahre Lehre und die kirchliche Einheit werden hier gemeinsam genannt, aber nicht identifiziert. Justiziabel gemäß der Heilsordnung ist zunächst die Häresie (extra veritatem), welche in Tatfolge Schisma (extra ecclesiam) nach sich zieht. 38 Adv. haer. 3,15,2 berichtet, die Valentinianer beschwerten sich darüber, dass sie grundlos von den anderen Christen gemieden würden. In Adv. haer. 1,16,3 empfiehlt er dem Leser, solche Lehren zu „katathematisieren“: „Wir müssen auf großen und weiten Abstand zu ihnen gehen.“ 39 Irenäus übernimmt deshalb im Laufe seines fünfbändigen Werkes eine neue Logik: In Buch 1 konstruiert er eine häretische Genealogie, allerdings ohne Erfolg. In Buch 2 behandelt er die Valentinianer unter den Themen „Pleroma“, „Schöpfung“, „Äonen/Zahlen“, „Demiurg“. In Buch 3 behandelt er die Abweichungen zu den Themen „Tradition“, „Schrift“, „Gott, der Schöpfer“, „Christus, der Menschgewordene“, in Buch 4 zu „jüdisches Gesetz“, „Erwählung und Sünde“, in Buch 5 zu „Auferstehung“, „Rekapitulation“ und „Millenium“. Die Themen werden immer „kernchristlicher“ und im Gegenzug werden die Häresien immer stärker nach der orthodoxen Bekenntnissystematik strukturiert. Der Systematisierungswille reißt Irenäus bisweilen mit sich fort: Weil es systematisch fünf apostolische Autoren gibt, muß es auch die entsprechenden Leugner dazu geben. Irenäus erwähnt Johannes- und Paulus-Ablehner, die man ganz sicher nicht im gnostischen Lager zu suchen hat. Wenn diese Parteien nicht gänzlich erfunden sind, denkt er vielleicht an Anti-Montanisten (Montanisten bevorzugten Joh) und Anti-Markioniten (Markion bevorzugte Paulus). Beide aber wären eher auf Seiten der Orthodoxie zu finden.
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Form fortgesetzten Heidentums, sondern eine Form des Christentums selbst sind, durchbricht Irenäus das von Justin übernommene successio-Schema: Der Virus lauert im Organismus! Sie lassen sich nicht in eine geradlinige häretische Erbfolge einordnen, weil sie sowohl einen Zweig der simonianischen Wurzel (Adv. haer. 1,23–31) als auch die Wurzel für weitere Zweige bilden (Adv. haer. 1,11– 12), die wiederum Altes variieren. Der Stammbaum wird überkomplex. Deshalb entscheidet sich Irenäus dafür, exemplarisch zu arbeiten. Ab Buch 2 stehen die Valentinianer für die gesamte Häresie: „Das alles paßt genausogut gegen die Anhänger Markions, Simons und Menanders sowie auf alle, die ebenfalls eine Trennung vornehmen wollen zwischen unserer Schöpfung hier und dem Vater [...] das ist alles zugleich gegen die Anhänger des Saturninus, des Basilides, des Karpokrates und der übrigen Gnostiker gesagt, die ganz ähnliche Lehren vertreten.“ 40
Auch wenn Irenäus beim Vergleich mit den Basilidianern 41 die Valentinianer für gemäßigter hält, so gelten diese ihm doch als diejenige Richtung, deren regula an Blasphemie „super omnes“ steht. 42 Bei ihnen findet er die zentrale hypothesis, argumentatio aller Häresie. Wie Irenäus unter den verschiedenen christlichen Gemeinden die christliche regula sucht, so sucht er die regula erroris bei den hydraköpfigen Valentinianern. Die Valentinianer sind endgültig zum Valentinianismus geworden. Damit löst Irenäus das Hauptproblem der Häresiologie: Einerseits sind die Gegner heillos untereinander zerstritten, andererseits sind sie ein Gegner, der Gegner der einen Kirche. Irenäus hat nicht nur die Komplexität der Häretiker auf die Kontingenz der Häresie reduziert, er hat auch das Dilemma gesehen, dass diese Häresie aus der Kirche kam und also eine Abweichung des Eigenen darstellt. Deshalb muss die Häresie eine Negation der eigenen Position sein (Justin dachte sie noch als Deformation allgemeiner Religiosität). Alle Häresien begehen in den Augen Irenäus’ einen Irrtum, aber dieser Irrtum ist Widerspruch zur Lehre der Kirche. Häresie ist nicht einfach Andersheit (subkonträrer Widerspruch), sondern Negativität (konträrer Widerspruch). 43 7. DER URSPRUNG DES FUNDAMENTALISMUS: REGULA ALS FUNDAMENT Man muss sich daher von der Vorstellung freimachen, der rechte Glaube sei eine seit Christus vorhandene Wissensform des Christentums, die Häresie dagegen eine späte Entartung, die durch die Anstrengung der Kirchenväter überwunden wurde. Die Redewendung, dass „sich eine Wissensform gegen eine andere durchsetzt”, ist missverständlich, weil sie insinuiert, bereits bestehende Formen würden 40 41 42 43
Adv. haer. 2,31,1. Vgl. auch 4 praef. 1: „[...] wer sie widerlegt, der widerlegt alle Häresie.“ Vgl. Adv. haer. 2,31,1. Vgl. Adv. haer. 4 praef. 3. A. Le Boulluec spricht vom Wechsel der Häresie als Andersheit (alterité) zur Häresie als Negation (négativité). Vgl. A. LE BOULLEC: La notion d’hérésie, 184–188.
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einander so lange bekämpfen, bis eine über die andere siegt. Dass das für das orthodoxe Christentum nicht zutrifft, zeigt sich schon daran, dass sich die Inhalte und Formen der Orthodoxie (Schriftenkanon, Aposteltradition, Bischofsstruktur, Glaubensregel, Theologie) erst mit den häretischen Kämpfen des 2. Jahrhunderts herauszukristallisieren beginnen und nicht als Begründung schon verwendet werden können. Niemand kann bis ca. 180 sagen, wer Theologie zu treiben berechtigt ist (Lehrer, Apostel, Laien?), welche Schriften in welchem Maße gelten (Altes Testament versus Neues Testament), wo Theologie anfängt und Offenbarung aufhört (Neues Testament versus Apokryphen). Das Immunsystem des Christentums wurde aktiviert, als in den christlichen Gemeinden und sogar Lehrhäusern Christen verkehrten, welche biblische Begriffe wie „Christus“, „Retter“, „Vater“, „Weisheit“ verwendeten, sie aber unter Bezugnahme auf Sondererkenntnisse und Geheimlehren mit Zusatzbedeutungen versahen. Wollte man die gnostischen Texte häretisieren, konnte man nicht einfach Schriftbeweise gegen sie führen, wie es noch Justin getan hatte, denn auch die Gegenseite argumentierte mit Schrifttexten. Deshalb entwickelt das kirchenchristliche System ein weiteres Element: die Glaubensformeln. Sie treten bei Irenäus (regula veritatis), Tertullian (regula fidei) und Clemens (regula ecclesiastica), 150 Jahre vor dem ersten Konzil, erstmals auf. Die angeblichen Glaubensregeln der Valentinianer, welche manche Forschern gefunden zu haben glauben (zum Beispiel Harnack), übernehmen in allen Fällen die Perspektive der kirchlichen Häresiologen, die mit allen Mitteln die „Gnosis“ als einen einheitlichen Gegner konstruierten. Seit den Funden von Nag Hammadi 44 dürfte klar sein, dass diese Systematisierungen nicht das Selbstverständnis der Gnostiker wiedergeben und Fremdbeschreibungen sind. Wo Irenäus vom angeblichen Credo der Valentinianer schreibt, benutzt er bezeichnenderweise stets den Plural: dogmata contraria, doctrinae, sententiae. 45 Dagegen wird der Begriff, wo er sich auf die Orthodoxie bezieht, spezifisch und singulär verwendet: regula veritatis (ipsa), regula iudicii, haec regula. 46 Die regula der Gnostiker – das ist ja sein schärfstes Argument – besteht aus vielen widersprüchlichen Lehren, Sätzen, Behauptungen. Wenn er von gnostischen regulae spricht, dann nur im ironischen Sinne. Eine regula fidei („hypothesis“) ist ein „operating concept“, 47 mit dem Irenäus strittige Fragen nach innen und nach außen flexibel entscheidet: die Einheit des Glaubens, dann seine Apostolizität (regula veritatis), ein andermal seine Vernünftigkeit (regula veritatis). Es geht darin nicht nur um Inhalte, sondern um das Umschalten von einem essentialistischen auf ein funktionalistisches Vorgehen, von Was- auf Wie-Fragen. Der Begriff „regula/hypothesis“ bedeutet im 2. Jahr44 Die 13 Papyruskodizes aus dem 4. Jahrhundert mit u.a. gnostischen Texten, die ins 2. Jahrhundert zurückreichen. 45 Vgl. Adv. haer. 1,21,5; 1,31,3; 3,11,3; 3,16,6. Außer in Adv. haer. 2 praef 2, wo regula für das Gesamtgebäude der Gnostiker steht. 46 Vgl. Adv. haer. 1,9,4; 1,22,1; 2,27,1; 2,28,1; 3,2,1; 3,11,1; 3,15,1; 3,16,1; 4,35,4. 47 P. HEFNER: Theological Methodology and St. Irenaeus, in: The Journal of Religion 44 (Oktober 1964) 294–309, hier 296.
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hundert denn auch ‚Grundbestand‘, ‚sachlicher Kern‘, ‚Substanz‘ und noch nicht – wie Mitte des 4. Jahrhunderts (zum Beispiel bei Markell von Ankyra und Cyrill von Jerusalem) – ‚Bekenntnis‘, ‚Symbol‘ oder ‚Credo‘. 48 Damit versetzt sich Irenäus in die Lage, den Gegnern ein System zu unterstellen und ein eigenes Gesamtsystem dagegenzustellen. 49 Dabei ist er nicht an bestimmte Formulierungen gebunden, macht aber bestimmte Formulierungen verbindlich, indem er sie in die regula einbaut. Darüber hinaus kann er das gesamte Christentum als ein Ganzes behandeln. Systemtheoretisch gesprochen: Der unübersichtliche Komplex aus alttestamentlichen und neutestamentlichen Schriften, aus Vater, Sohn, Logos, Geist und Jesus, aus Lehrer-, Presbyter- und Bischofsamt wird durch eine ‚Grundannahme‘ zusammengehalten und operationalisierbar. 50 Die am meisten entfaltete Erwähnung der Regel findet sich in Epideixis 99f.: „Man darf nicht Gott, den Vater, verschieden von unserem Schöpfer denken, wie die Häretiker meinen; sie verschmähen Gott, den Seienden, und zum Götzen machen sie das Nichtseiende; sie schaffen sich auch einen Vater, hoch erhaben über unseren Schöpfer; sie meinen, damit etwas Größeres als die Wahrheit gefunden zu haben. So sind alle gottlos und lästern ihren Schöpfer und Vater, wie wir in der ‘Widerlegung und Entlarvung der fälschlich so benannten Gnosis’ gezeigt haben. Andere wieder verachten die Herabkunft des Sohnes Gottes und die Heilsordnung seiner Fleischwerdung, von der die Apostel verkündigt und die Propheten vorhergesagt haben, daß damit die Vollendung unseres Menschseins stattfinden sollte, wie wir dir in wenigen Sätzen gezeigt haben. Auch solche Leute müssen zu den Ungläubigen gerechnet werden. Andere wieder nehmen die Geschenke des Geistes nicht an und weisen die prophetische Gabe von sich, durch deren Empfang der Mensch das Leben in Gott hervorbringt. Das sind die, die Jesaja meint: ‚Denn sie sollen werden‘, sagt er, ‚wie ein Terebinthe, deren Laub abgefallen ist, und wie ein Garten, dem es an Wasser fehlt‘ (Jes 1,30). Solche sind nun Gott nichts wert, da sie keine Frucht bringen können. [100.] So ist die Irrlehre, die diese drei Punkte unseres (Tauf-)Siegels betrifft, weit von der Wahrheit abgewichen; entweder schätzen (die Häretiker) den Vater zu gering ein, oder sie nehmen den Sohn nicht an, indem sie gegen die Heilsordnung seiner Fleischwerdung reden, 48 Zu diesem Ergebnis kommt H. VON CAMPENHAUSEN: Das Bekenntnis Eusebs von Caesarea, in: ders., Urchristliches und Altkirchliches. Vorträge und Aufsätze, Tübingen 1979, 278–299, hier 288–291. 49 „[...] the Fragestellung which illumines his entire work: one system of organism or ‘hypothesis’ of the truth is pitted against another as the most adequate key for interpreting the divine revelation.“ P. HEFNER: Theological Methodology and St. Irenaeus, 304. 50 Die irenäische Regel enthält in loser Zusammenstellung acht Behauptungen:1) die Unteilbarkeit Gottes (der Vater ist der Schöpfer), 2) die Einzigkeit Gottes (keine anderen Äonen), 3) die Identität des alttestamentlichen und des Gottes Christi (kein Demiurg), 4) die Unteilbarkeit Jesu Christi (Soter, Christus, Logos, Eingeborener, Jesus sind einer), 5) die Inkarnation Jesu Christi (nicht nur Erleuchtung der Welt), 6) die Einheit der Offenbarungsgeschichte (Prophetie und Christusgeschehen), 7) die Auferstehung des Fleisches und die leibliche Auferstehung Christi, 8) das Gericht über alle (nicht nur über die Psychiker). Nicht in jeder Fassung werden alle Glaubenssätze aufgeführt, sondern sie werden in verschieden Versionen zusammen gestellt. Vgl. nur Adv. haer. 1,10,1; 3,4,2 und 2,27,2.
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oder sie empfangen den Geist nicht, das heißt, sie verachten die Prophetie. Vor allen solchen Leuten aber müssen wir uns hüten und ihren Sitten uns entziehen, wenn wir wirklich Gott gefällig sein und von ihm die Erlösung erlangen wollen.“
Irenäus macht deutlich, dass jede Glaubensaussage zugleich das Verbot einer Unglaubensaussage ist. Der gesamte Text ist erst vollständig, wenn er sein Gegenteil ausschließt. Die drei Glaubensartikel lesen sich dann so: – – –
Schöpfung (nicht Äonenfall) durch den Vater (nicht durch den Demiurgen), der Gott ist (und nicht der Bythos), Fleischwerdung (nicht Emanation) des Sohnes (nicht eines Äon) nach der Heilsordnung (nicht nach einer Pleromasystematik) zur Vollendung des Menschen (nicht zur Beruhigung der Äonen), Gabe (nicht Versprengtheit) des Geistes (nicht von Pneumateilchen), der schon durch Propheten gesprochen hat (nicht erst seit Christus) und immer noch spricht (nicht nur durch Spekulation). 51
Jede Behauptung, welche ihr Gegenteil definiert und ausschließt, wird also durch ihr Gegenteil mitdefiniert. Die Glaubensgegenstände der Orthodoxie sind begrenzt (definiert) durch die Ablehnung ihrer Ausweitung. Die regula fungiert als Komplexitätsreduktionsanweisung und wird geradezu zur Allzweckwaffe gegen alle Subtilitäten der Gnostiker. Sie bildet den Kern der Fundamentalisierung des Christentums, aus dem später allerlei Exklusionen abgeleitet werden können. SCHLUSS: DREI REAKTIONSMÖGLICHKEITEN Nach dem Wissenssoziologen P. L. Berger stellte das Christentum seit jeher eine dissonante Glaubensüberzeugung dar. Christen waren Leute, die paradoxe Behauptungen aufstellten – Menschwerdung Gottes und Erlösung durch Kreuzesleiden – und die sich damit in kognitive Dissonanz zu ihrer Umwelt begaben. Sie wurden von den Nachbarn als Naivlinge angesehen, die es nicht besser wissen, oder als Engstirnige, die es besser wissen müssten. Paulus hat dieser Situation seiner Gemeinde in Korinth bekanntlich Ausdruck verliehen: Wir aber predigen den gekreuzigten Christus, „den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit“ (1Kor 1,23). Einem Gläubigen aber, welcher ein dissonantes Bekenntnis vertritt, bleiben – in der holzschnittartigen Typisierung Bergers – drei Reaktionsmöglichkeiten: 52 1. kognitives Verhandeln: Man versucht, die eigene Überzeugung in den Kategorien der Mehrheitskultur auszudrücken, zum Beispiel indem Christus als 51 Die Hochschätzung der Prophetie erfüllt eine antignostische und eine promontanistische Funktion: Sie soll einerseits die Ablehnung des Alten Testaments verhindern, andererseits die Ablehnung prophetischer Charismen. 52 P. L. BERGER: Sehnsucht nach Sinn, Frankfurt am Main/New York 1994, 47–51.
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Verkörperung des universalen Logos gedeutet wird und sein Kreuz als Metapher für die vier Weltgegenden. Justin hat dies mit seiner Logos-Lehre unternommen. 2. kognitive Kapitulation, zum Beispiel indem die christliche Botschaft insgesamt in eine andere Botschaft transformiert wird. Es gehe gar nicht um die Vollendung des biblischen Bundes, sondern um eine ganz neue Offenbarung eines bisher unbekannten Gottes. Die valentinianische Gnosis ist diesen Weg gegangen, indem sie verkündete, der Gott der hebräischen Bibel sei nicht der wahre Gott, sondern der Gegner des Vaters Christi. 3. kognitive Verschanzung, zum Beispiel indem sich eine Religion in ein Ghetto zurückzieht und Kommunikationssperren aufbaut um die Kompromittierung der eigenen Botschaft zu verhindern. Das Kirchenchristentum hat – beginnend mit Irenäus – über die regula den Kanon festgelegt, die Auslegungsberechtigung an Ämter gebunden und Devianzen innerhalb des Systems definiert. Auch wenn es eine Geschichte im Konjunktiv nicht gibt, kann man spekulieren, ob das Christentum mit den Optionen 1 und 2 besser gefahren wäre. Hätte es den gnostischen Weg gewählt, wäre es wie der Valentinianismus in die weltanschauliche Ursuppe des römischen Reiches ein- und darin untergegangen. Seine eigenen Texte wären in der Deutungsinflation unverbindlich geworden. Hätte es den justinischen Weg gewählt und wäre es die Liaison mit der philosophischen Ethik eingegangen, wäre es über kurz oder lang durch andere, weniger voraussetzungsreiche Moralbegründungen (zum Beispiel Stoa oder Epikureismus) ersetzt worden. Die Wahl von Option 3, das Ziehen einer scharfen Grenze zwischen Offenbarung und Spekulation, hat dem Christentum erst die Basis gegeben, von der aus es den Zusammenhalt unterschiedlicher Gemeinden bestimmen konnte. Freilich stellt sich die Frage, ob die Schaffung eines materialen Grundbestandes nur mit dem Mittel einer ebenso scharfen Grenze zwischen Orthodoxie und Häresie erreicht werden konnte. Hätte man die regulae ohne Ausschlusswerte formulieren, also nur Gemeinsamkeiten auflisten können? 53 Hätten die Bischöfe nicht besser die disparate Vielfalt von Auslegungen zulassen sollen, wie es das rabbinische Judentum geradezu zur Methode gemacht hat? Aus moderner Sicht erscheint uns das als die dialogischere und weniger intransigente und weniger ‚fundamentalistische‘ Alternative. Allerdings muss man sich in Erinnerung rufen, was damals auf dem Spiel stand. Es ging in der Auseinandersetzung mit der Gnosis nicht nur um Feinheiten der Anwendung biblischer Weisungen, sondern um die Bibel selbst. Sie drohte, in das alte Testament des bösen Demiurgen und die gute Nachricht vom gnädigen Vater, in Oberflächensinn und Tiefenbedeutung auseinanderzubrechen und in zu-
53 Gegen B. HÄGGLUND: Die Bedeutung der ‚regula fidei‘ als Grundlage theologischer Aussagen, in: Studia Theologica 12 (1958), 1–44, hier 3f., der Harnacks These, dass „nur das antihäretisch interpretierte Symbol als ‚regula fidei‘ gelten konnte“, als ein Missverständnis abqualifiziert.
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sätzliche Briefe (Rheginus, Jakobus, Eugnostos), 54 Geheimschriften (Apokryphon des Johannes), 55 Apokalpysen (Paulus, Jakobus, Adam, Petrus), 56 Evangelien (Thomas, Philippus, Evangelium der Wahrheit), 57 Apostelgeschichten 58 und Predigten 59 zu inflationieren. Ohne das Fundament der regula wäre die christliche Bibel nicht zustande gekommen. Gerade der systematische ‚Fundamentalismus‘ – das sollte diese Studie hinlänglich gezeigt haben – hat den Furor von den Personen weg und zu Positionen hin gelenkt. Viele unmenschliche Auswüchse des christlichen Fundamentalismus hätten vermieden werden können, wenn man sich dieser Zielrichtung erinnert hätte.
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Nag Hammadi I,4; I,2; III,3; NH II,1. NH V,2; V,3; V,4 ; V,5; VII,3. NH II,2; II,3; I,3. NH VI,1. NH II,6; IX,3.
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ABBILDUNGEN
Abb. 1: Christliche Autoren im 2. Jahrhundert. Die oberen zehn werden der Orthodoxie, die unteren elf häretischen Richtungen zugerechnet.
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Abb. 2: Frühchristliche Quellen und die Begegnungsmöglichkeiten ihrer Autoren in Rom
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DIE UNVEREINBARKEIT VON FUNDAMENTALISMUS UND CHRISTENTUM ANMERKUNGEN AUS THEOLOGISCH-PRAKTISCHER SICHT Bertram Blum, Eichstätt Dieses Thema wirkt vor der Programmatik dieser Tagung und dem, was bisher dargelegt wurde, auf den ersten Blick eher unrealistisch. In der Tat stellt sich die Frage, wie man im Blick auf die Kirchengeschichte eine solche Formulierung wählen kann, wo doch diese Geschichte belegt, dass zumindest phasenweise Fundamentalismus und praktische Ausgestaltung des Christentums durchaus vereinbar waren. Aber ist das alles? Die Geschichte des Christentums ist nicht nur Glaubensgeschichte, sie ist ebenso politische Geschichte, sie ist Geschichte von Menschen. Und wo es Menschen gibt, gibt es Stückwerk, gibt es Versagen und falsche Wege. Davon trägt die Kirche ein großes Paket auf dem Rücken. Das Wissen darum setze ich bei meinen Überlegungen einfach voraus. Nachdem ich aber nicht in erster Linie als Historiker, sondern als Theologe bei dieser Tagung sprechen soll, Theologen aber gewohnt sind, mit mehreren Wirklichkeiten umzugehen, gestatten Sie mir, aus theologisch-praktischer Perspektive ein paar grundsätzliche Gedanken zu Ihrer Thematik anzufügen. Dass ich mich überhaupt in diesen erlauchten Kreis von Wissenschaftlern gewagt habe, verschuldet allein mein alter Freund Pedro Barceló, der keine meiner Ausreden akzeptierte. Nach kurzem Zögern habe ich mich darauf eingelassen, weil es zu meinen alltäglichen Erfahrungen als Verantwortlicher für die Katholische Erwachsenenbildung in Deutschland gehört, in meiner Kirche im Spannungsfeld von Innovation und Beharrungsvermögen bildungspolitisch zu agieren. Ohne Ausrichtung am Ideal, gleichsam am Kern der christlichen Botschaft, könnte ich die Realität nicht bewältigen. Dabei bewege ich mich ganz nah an der Linie des „Aggiornamento“, einem Leitbegriff von Papst Johannes XXIII. für das Zweite Vatikanische Konzil, nach dem die Antworten auf die Herausforderungen der jeweiligen Gegenwart nur durch eine Besinnung auf die Grundlagen, die Grundlagen des Glaubens, zu finden sind. Wenn ich mein Thema formuliert habe „Die Unvereinbarkeit von Fundamentalismus und Christentum“, dann bin ich mir der Unschärfe durchaus bewusst. „Christentum“ ist natürlich ein sehr weiter Begriff, der zum ersten Mal von Ignatius von Antiochien gebraucht, 1 in einem universalen Verständnis das umschreibt, 1
Vgl. Lexikon für Theologie und Kirche (LTHK), Christentum, Bd. 2, Freiburg 2006, 1105.
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was Heilslehre, Lebenspraxis und Anhängerschaft dieser Religion ausmacht. Dazu gehört natürlich das ganze Spektrum von Entwicklungen und Fehlentwicklungen einer zweitausendjährigen Geschichte. Ich verwende den Begriff Christentum im Sinn von Christusbekenntnis und Christusglauben, reduziere ihn quasi auf sein Kraftzentrum und komme so zur Überzeugung, dass christlicher Glaube und Fundamentalismus sich ausschließen. Dies möchte ich im Folgenden belegen. So werde ich kurz den Begriff und die Ursachen für Fundamentalismus aus meiner Sicht zu klären versuchen und dann einige programmatische Grundlinien des christlichen Glaubens darlegen, die Christentum und Fundamentalismus grundsätzlich ausschließen, auch wenn die Praxis oft anders aussieht. 1. ZUM BEGRIFF FUNDAMENTALISMUS Zur Begriffsklärung ist in diesem Zusammenhang ein Blick in die aktuelle Ausgabe des Lexikons für Theologie und Kirche hilfreich. Dort heißt es: „Fundamentalismus ist eine Erscheinung im Bereich weltanschaulicher Systeme, die beanspruchen, unter Rückbezug auf verbindliche Grundlagen die Wirklichkeit zu deuten, zu werten und zu ordnen. Obwohl weltanschauliche Fundamente gewöhnlich für unterschiedliche Interpretationsmodelle offen sind (zum Beispiel Weltschöpfung durch Gott im Modell des Sechs-Tage-Werkes oder Evolutionstheorie), identifiziert der Fundamentalismus ein bestimmtes Deutungsmodell mit dem Fundament selbst. Fundamentalismus findet sich daher überall dort, wo eine Grundinterpretation der Realität angeboten wird.“ 2 Historisch gründet der Begriff in einer Selbstbezeichnung amerikanischer Protestanten, die 1910 bis 1915 die Schriftenreihe „The Fundamentals“ herausgaben. „In den Schriften wurden fünf unaufgebbare ‚Fundamentals’ (Fundamente) vertreten: die Inspiration und Irrtumslosigkeit der Bibel, die Gottheit Jesu Christi, seine jungfräuliche Zeugung, sein stellvertretendes Sühnopfer am Kreuz sowie seine leibliche Auferstehung und Wiederkunft.“ 3 Hierzulande ist Fundamentalismus als eine zunächst protestantische Erscheinung erst nach dem Zweiten Weltkrieg im kirchlich-theologischen Vokabular aufgetaucht. Er wird verknüpft mit streng konservativer, biblisch orientierter, in der Tradition des Pietismus stehender Frömmigkeit. Diese Position fasst die Aussagen der Bibel weitgehend wörtlich auf, lehnt die historisch-kritische Methode der Exegese ab, ebenso wie eine Neuinterpretation des Glaubens in der jeweiligen Zeit. „Die Haltung zur Bibel wird denn auch das eigentliche Markenzeichen des protestantischen Fundamentalismus.“ 4 In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts konzentrierte sich die Auseinandersetzung
2 3 4
LTHK, Fundamentalismus, Bd. 4, Freiburg 2006, 224. W. BEINERT: Christentum und Fundamentalismus, Nettetal 1992, 30. Ebd.
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vor allem auf die naturwissenschaftlichen Theorien von der Evolution und der Abstammung des Menschen, denen man den Kreationismus entgegensetzte. Im Bereich des Katholizismus finden wir diesbezüglich eine andere Perspektive. Hier wurden in der Folge von Reformation und innerkirchlicher Reform als Garanten der altkirchlichen Lehre Tradition und Stärkung des Papsttums herausgestellt. So wird seit dem 19. Jahrhundert bis in die Zeit des Zweiten Vaticanums Traditionalismus als Festhalten an alten Traditionen im Kampf gegen jede Neuerung in Theologie, Ritus oder Liturgie, und Integralismus als Allzuständigkeit von Prinzipien der katholischen Glaubenslehre für die Fragen des privaten und öffentlichen Lebens, als die katholischen Erscheinungsformen des Fundamentalismus, bezeichnet. „Bezeichnend für die integralistische Haltung ist u. a. der Kampf gegen die Religionsfreiheit oder den Ökumenismus, das Misstrauen gegen die Menschenrechte oder den Dialog mit den anderen Religionen.“ 5 Auch der Klerikalismus ist als eine Form des Integralismus zu verstehen. In anthropologischer Perspektive gehört zu den Grundaufgaben eines jeden Menschen die Antwort auf die Frage, wie er in einer sich wandelnden Lebenswelt einen sich durchhaltenden Lebenssinn finden kann. Wo er sich der aus Freiheit und in Verantwortung gestalteten Suche nach dem Sinn durch die Verankerung in einer unhinterfragbaren gottgegebenen Ordnung entziehen möchte, dort droht die Versuchung des Fundamentalismus. Dessen psychologische Wurzel ist die Angst, die durch ein umfassendes Streben nach Sicherheit behoben werden soll. Fundamentalismus manifestiert sich in scharfen Scheidungen zum Beispiel auf moralischem Gebiet in Rigorismus, auf erkenntnistheoretischem Gebiet in Dogmatismus, auf gruppendynamischem Gebiet in elitärem Denken oder im Bereich der Transzendenz im Kampf Gott gegen Satan. „Gruppierungen, die sich unter solchen Perspektiven bilden, zeichnen sich, ungeachtet unterschiedlicher inhaltlicher Füllungen ihrer Intentionen im einzelnen durch ideologische Gemeinsamkeiten aus, wie geschlossenes Weltbild, ungeschichtliches Denken, Ablehnung der modernen Welt, Wissenschaftsskepsis, politischer Ultrakonservatismus, Verschwörungstheorien, Drang zu weltanschaulicher Revolution durch psychologisch ausgefeilte Missionierungsstrategien.“ 6 Nach außen schotten sie sich durch kompromisslose Distanzierung von Andersdenkenden ab. Rationale Diskurse werden abgelehnt. Im Innern sind solche Gruppierungen autoritär strukturiert, fordern von den Mitgliedern absoluten Gehorsam und rückhaltlose Identifizierung mit den Gruppenidealen. T. Meyer bringt den Begriff auf den Punkt: „Fundamentalismus ist eine willkürliche Abschließungsbewegung, die als immanente Gegentendenz zum modernen Prozess der generellen Öffnung des Denkens, des Handelns, der Lebensformen und des Gemeinwesens absolute Gewissheit, festen Halt, verlässliche Geborgenheit und unbezweifelbare Orientierung durch irrationale Verdammung aller Alternativen zurückbringen soll.“ 7 5 6 7
Ebd., 32. LTHK, Bd. 4, 224. T. MEYER (Hg.): Fundamentalismus in der modernen Welt, Frankfurt am Main 1989, 244.
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Fundamentalismus hat also wesentlich mit Umbrüchen zu tun. Da Umbrüche verunsichern, erhoffen sich viele dann Halt von Weltanschauungen, die auf wenigen fundamentalen Prinzipien beruhen und einfache Lösungen für komplexe Probleme versprechen. Im religiösen Bereich lässt die Verunsicherung viele ihr Heil in einfachen, klaren, unabänderlichen Wahrheiten und Verhaltensregeln suchen. Zum Problem wird die Rückbesinnung auf die Fundamente der Religion dort, wo zugleich jede ernsthafte und differenzierte Auseinandersetzung mit den Herausforderungen der Gegenwart als „Anpassung an den Zeitgeist“ verurteilt wird, wo Aufklärung und Wissenschaft generell abgelehnt, die Notwendigkeit eines rational verantworteten Glaubens bestritten und gar versucht wird, die absolut gesetzte eigene religiöse Wahrheit gegenüber Andersdenkenden militant durchzusetzen. So ist Fundamentalismus eine Geisteshaltung, welche die eigene Position in vereinfachten und nicht abänderbaren Anschauungen darstellt. Er ist ein spezifisches Reaktionsmuster religiöser Menschen auf die Krise der Religion in der Moderne. Diese Moderne entzieht der Religion die staatlichen und zunehmend auch die gesellschaftlichen Sanktionsinstrumente zur Durchsetzung ihrer Geltungsansprüche. Religion wird – wie vieles – in die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen gelegt. Die damit verbundene Verunsicherung wird als besonders erschütternd erlebt, und das Verlangen nach Sicherheit wird entsprechend groß. Es muss also nicht wundern, dass der Fundamentalismus derzeit stärker wird, denn Fundamentalismus ist ein Krisenphänomen – und die Krisen nehmen zu durch wirtschaftliche Probleme, durch Überbevölkerung, durch Wertverlust in der Konfrontation mit fremder Kultur und Religion. Seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts traten in allen Weltreligionen und religiösen Bewegungen religiöspolitische Protestbewegungen in den Blick der Öffentlichkeit, auf die der Begriff des Fundamentalismus übertragen wurde. „Bei unterschiedlichen inhaltlichen Programmen ist ihnen gemeinsam die Verkündigung einer als Fundament der jeweiligen Religion ausgegebenen, selektiv rekonstruierten heiligen Tradition, deren Inkraftsetzung in Staat und Familie die als krisenhaft erfahrene Situation (sittlicher Werteverfall, Verlust der religiösen Identität, Armut) heilen soll. In globaler Perspektive erscheinen diese Bewegungen als kämpferischer Versuch, die im Zuge der Modernisierung eingetretene Liberalisierung, Säkularisierung und funktionale Differenzierung des sozialen Lebens aufzuheben, zugunsten einer einheitlichen sakralen Orientierung, ohne dem historisch gewachsenen religiösen Pluralismus Rechnung zu tragen.“ 8 Toleranz hat in diesem Bemühen keine Chance. Sie würde nur die eigene Position schwächen! Fundamentalistische Strömungen finden sich in allen kirchlichen Epochen, zum Beispiel in Gnosis, Pietismus, Integralismus, Traditionalismus, Antimodernismus oder Katholischer Restauration. Sie sind auch heute wieder weit verbreitet in Gruppen, die oft untereinander vernetzt sind. Im reformatorischen Raum werden sie meist mit dem Sammelnamen „evangelikal“ belegt, mit dem grundlegenden Kennzeichen der Ablehnung jeder Bibelkritik. Analog dazu wird für den rö8
LTHK, Bd. 4, 225.
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misch-katholischen Bereich gelegentlich der Begriff „katholikal“ gebraucht mit der subtilen oder offenen Ablehnung des Zweiten Vatikanischen Konzils. Eine große Rolle spielen derzeit charismatische Gruppen. 2. PROGRAMMATISCHE GRUNDLINIEN DES CHRISTLICHEN GLAUBENS Eine theologische Bewertung des christlichen Fundamentalismus muss ausgehen von der Analyse des christlichen Glaubens. Dieser ist als Haltung ein grenzenloses Vertrauen auf die Güte Gottes, das zwar keine Sicherheit gegen die Wechselfälle des Lebens, wohl aber die Gewissheit des guten Ausgangs dort gibt, wo sich jemand dem Willen Gottes anvertraut und sein Leben an der befreienden Botschaft von der Heilstat Jesu Christi ausrichtet. Das angstgeleitete Streben des Fundamentalismus nach Sicherheit entpuppt sich dagegen als objektive Glaubensunfähigkeit. Soviel zum Grundsätzlichen. Im Folgenden sollen programmatische Grundlinien des christlichen Glaubens aufgezeigt werden, welche die Unvereinbarkeit von Fundamentalismus und Christentum unter biblischem Aspekt, systematisch-theologisch und in der Perspektive des Zweiten Vatikanischen Konzils belegen. 2.1 Biblisch Schon im Alten Testament findet man in der für Israel grundlegenden Heilserfahrung des Exodus aus Ägypten die Befreiungsurkunde. Das Bewusstsein der Freiheit Jahwes, aus der Befreiungserfahrung des Exodus erwachsen, wurde für Israels genuines Verständnis von Gott, Welt und Geschichte konstitutiv. Vor jedem der Zehn Gebote am Sinai steht die Formel „Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus. Du sollst […].“ 9 Diese Befreiungstat des alttestamentlichen Gottes Jahwe prägt den Glauben des Volkes Israel und damit des Judentums bis heute. „Allerdings schiebt sich im Lauf der Jahrhunderte das Gesetz zwischen sie und den konkreten Menschen. Erst Jesus von Nazareth lebt wieder vor, welche Implikationen die Freiheit der Kinder Gottes hat“, 10 indem er sich aus den gesellschaftlichen Zwängen seiner Zeit löst. Im Neuen Testament und in Jesu Verkündigung wird das alttestamentliche Verständnis der Freiheit Gottes und seines Wirkens vorausgesetzt. Die Botschaft des Evangeliums ist die Botschaft von Jesus dem Christus, der die Wahrheit ist. Wer fragt, was die Wahrheit sei, erhält die Antwort Jesu: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“ 11 Da diese Wahrheit identisch mit Gottes unerschöpfli9 Exodus 20,2 ff.; Deuteronomium 5,6 ff. 10 W. BEINERT: Der „katholische“ Fundamentalismus und die Freiheitsbotschaft der Kirche, in: ders. (Hg.), „Katholischer“ Fundamentalismus: Häretische Gruppen in der Kirche?, Regensburg 1991, 52–114, 76. 11 Johannes 14,6.
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cher Fülle ist, kann es in dieser Welt immer nur Annäherungen an diese Wahrheit geben. Die Grundaussage des Christentums ist ohne Zweifel die Osterbotschaft, d.h. die Aussage, dass durch Tod und Auferstehung Jesu die Welt erlöst ist. Aus ihr heraus erst entfaltet sich christlicher Glaube. Folgende Bibelstellen aus dem Neuen Testament belegen diese Grundaussage: Höchste Bedeutung hat die Feststellung, die Paulus so formuliert: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit. Bleibt daher fest und lasst Euch nicht von neuem das Joch der Knechtschaft auferlegen!“ 12 Dieser Satz ist nichts anderes als die positive Fassung der Erlösungsaussage. „Erlösen“ bedeutet an sich nur die Feststellung, dass irgendwelche Fesseln abgestreift worden sind. Was dann kommt, darüber schweigt der Begriff. Paulus gibt die fehlende Auskunft: die Freiheit. Gerade die Botschaft von der Freiheit nach dem Galaterbrief des Apostels Paulus kann deshalb als die Mitte des Evangeliums diagnostiziert werden. Christlicher Glaube ist demnach ausgerichtet auf die zentrale Botschaft der Erlösung und Befreiung durch Jesus Christus. Eine weitere Schlüsselstelle finden wir im Lukasevangelium, wo Jesus sich in der Synagoge von Nazaret mit dem Text aus Jesaja 61 identifiziert: „Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe.“ 13
Hier wird bereits die Umwertung der Werte durch den christlichen Glauben greifbar, der die Schwachen und Randständigen in den Mittelpunkt stellt. Oder im Johannesevangelium, wo es heißt: „Da sagte er zu den Juden, die an ihn glaubten: Wenn ihr in meinem Wort bleibt, seid ihr wirklich meine Jünger. Dann werdet ihr die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch befreien“. 14 Anzuführen ist in diesem Zusammenhang auch der Satz aus dem Römerbrief: „Denn das Gesetz des Geistes und des Lebens in Christus Jesus hat dich frei gemacht vom Gesetz der Sünde und des Todes“ 15 oder aus dem zweiten Korintherbrief: „Der Herr aber ist der Geist, und wo der Geist des Herrn wirkt, da ist Freiheit“. 16 Von diesen biblischen Aussagen ausgehend sind alle institutionellen Vorgaben je neu nach Sachgerechtigkeit und Zeitgemäßheit zu befragen. Und diese Aussagen belegen: Das Christentum ist seinem Wesen nach eine Befreiungsbotschaft. Fundamentalistische Tendenzen sind damit grundsätzlich ausgeschlossen.
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Galater 5,1. Lukas 4,18. Johannes 8,31. Römer 8,2. 2 Kor 3,17.
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2.2 Systematisch – theologisch Versucht man, die programmatischen Grundlinien des Christentums systematischtheologisch weiter zu ziehen, dann ist festzustellen, dass im Laufe der Kirchengeschichte der Glaube in viele Formeln gefasst worden ist. Sie stehen in der Bibel, in den Glaubensbekenntnissen, den Dogmen, den lehramtlichen Aussagen in theologischen Werken und Katechismen. Der nähere Blick erweist, dass diese Formeln nicht nur zahlenmäßig viele sind, sondern auch außerordentlich vielgestaltig sein können. Dies ist die Konsequenz der Erkenntnis, dass dieser Glaube immer wieder menschliches Fassungsvermögen übersteigt und in die individuelle Erfahrungswelt zu übersetzen und zu vermitteln ist. So ist in das Verzeichnis der biblischen Bücher nicht nur ein Evangelium aufgenommen worden, sondern deren vier, auf jeweilige Situationen hin, zum Teil aufeinander aufbauend. Auch die Paulusbriefe sind situationsorientiert geschrieben und dokumentieren eine Entwicklung der Theologie. Immer wieder haben die Christen neu versucht, Bekenntnistexte aufzustellen. Die Dogmen kennen ein Fortschreiten, Verdeutlichung, Neuformulierungen. Als Ordnungsprinzip ist dafür eine letzte Autorität notwendig, ein Lehramt, das die zentralen Daten des Glaubens bewahrt, quasi die Fundamente pflegt, welche für die Identität des Glaubens unabdingbar sind. Im Christentum kann man über Gott diskutieren, man kann über ihn reden, man kann sogar mit ihm reden. Die Gott-Ebenbildlichkeit der christlich-jüdischen Glaubenstradition, die aus der jüdischen Religionsphilosophie entwickelte Anthropologie der Mündigkeit und Partnerschaft, der auf dem dialogischen DenkenM. Bubers aufbauende Gedanke E. Michels vom Menschen als „Partner Gottes“17 , der die Idee der Partnerschaft von einem ursprünglichen Personalismus her begreift, bringen Gott nahe, lassen mit ihm in Kontakt treten, ermöglichen Menschenwürde, Beziehungsfähigkeit und Menschenrechte. Dagegen ist im Islam Allah unendlich fern. Es geht also darum, die unfassbare Wirklichkeit annähernd zu erfassen und zu vermitteln. Schon Thomas von Aquin hat gesehen: „Der Akt des Glaubenden richtet sich nicht auf den Glaubenssatz, sondern auf die Sache, die er meint.“ 18 So können sich die Sätze ändern, ohne dass diese Änderung den Inhalt berührt. Der tiefste Grund dafür liegt in der Erkenntnis, dass der christliche Glaube ursprünglich auf eine Person ausgerichtet ist und nicht in erster Linie ein Lehrsystem anzielt. Deshalb gibt Jesus im Johannesevangelium auf die Frage nach der Wahrheit die Antwort: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“ 19 Der Blick auf das christliche Gottesbild und seine verschiedenen Aspekte schließt fundamentalistisches Denken aus. „Die Grundaussage christlicher Theologie ist die Trinitätslehre. Damit bekennt sie sich zu einem Gott, der nicht in statischer Einsamkeit existiert, sondern der seine Wesenseinheit als Vielfalt lebt.“ 20 17 18 19 20
Vgl. E. MICHEL: Der Partner Gottes, Heidelberg 1946. Thomas von Aquin, Summa theologica II, 1,2 ad 2. Johannes 14,6. BEINERT, Der „katholische Fundamentalismus“, 73.
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Dieses Verständnis von Gott ist dialogisch und kommunikativ. Wenn die Schöpfung Gottes Spur aufweist und wenn der Mensch Ebenbild Gottes ist, dann gehört die Pluralität in allen Dimensionen zu ihr. „Auch das Verhältnis zwischen Fundamentalismus und Christologie erscheint problematisch. Die Hauptkategorien des Fundamentalismus sind Herrlichkeit, Herrschaft, Triumph im Zeichen Christi.“ 21 Was dabei fehlt, ist eine wirkliche Kreuzestheologie mit ihrer dramatischen menschlichen Dimension. „Unvereinbar erscheint das fundamentalistische Denken auch mit der Pneumatologie.“ 22 Zu den Grundaussagen des Neuen Testamentes gehört, dass der Heilige Geist stets in der Kirche gegenwärtig ist und dass sich dies auch darin zeigt, dass er sie den Weg zur Wahrheit über Christus führt. 23 Das bedeutet unterwegs sein, Prozess, Entwicklung und Berücksichtigung der äußeren Rahmenbedingungen. Die Kirche kann sich daher nicht als Eigentümer der Wahrheit verstehen, vielmehr hat Wahrheit eine eschatologische Komponente, indem wir uns nur auf dem Weg zur Fülle der Wahrheit befinden. Fundamentalisten dagegen sind schon am Ziel. Insofern brauchen sie nicht mehr den Geist Gottes. Weiter ist zu fragen, ob fundamentalistisches Denken im Rahmen der katholischen Gnadenlehre verbleibt. „Seine Tendenz zur Verabsolutierung und Monopolisierung des Heilswegs schließt ein, dass die Wege der Gnade Gottes berechenbar und evident sind.“ 24 Danach kann es kein Heil außerhalb der katholischen Kirche geben. Demgegenüber war sich genuin katholisches Denken immer bewusst, dass Gott in seiner Souveränität das Heil allen Menschen schenken will und seine Gnade auch jeweils den Weg findet, auf dem er seinen Willen durchsetzt. Ein letzter Aspekt in diesem Zusammenhang: Die Betonung der Rationalität des Glaubens nach katholischer Lehre hat ihre Auswirkung auf die kirchliche Sendung. Das wissenschaftliche Programm des Anselm von Canterbury fides quaerens intellectum, der Glaube, der nach Einsicht sucht, folgt dem Wort des Augustinus Credo, ut intelligam, ich glaube, damit ich einsehen kann. 25 Hier wird ein Glaube umschrieben, der intellektuell durchdrungen werden will, der zum Verständnis gebracht werden soll und der auf der Einsicht aufbaut, dass erst die Glaubenserfahrung wahre Erkenntnis der göttlichen Dinge ermöglicht. Dagegen wird bei den Fundamentalisten Identität die Alternative zur Relevanz – das aber ist das Ende jeder Mission. Wie soll anderen Menschen effizient die Botschaft des Evangeliums vermittelt werden, wenn sie ihnen nicht einsichtig gemacht werden kann? Der „Missionsauftrag“ Jesu im Matthäusevangelium: „Darum geht zu allen Völkern, und macht alle Menschen zu meinen Jüngern“ 26 setzt nicht nur räumliche, sondern mehr noch geistige Beweglichkeit voraus. Nichts anderes sagt der Begriff Inkulturation, der das wechselseitige Verhältnis 21 22 23 24 25 26
Ebd., 74. Ebd. Vgl. Johannes 16,13. BEINERT, Der „katholische Fundamentalismus“, 74. Vgl. LTHK, Fides quaerens intellectum, Bd. 3, 1275. Matthäus, 28,19.
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von christlicher Botschaft bzw. Evangelium und der Vielfalt der Kulturen in einer globalisierten Welt beschreibt. 27 2.3 Die Perspektive des Zweiten Vatikanischen Konzils Das Ereignis, das für die Zukunftsfähigkeit der Kirche steht und fundamentalistischen Tendenzen durch seine Programmatik jeglichen Boden entzieht, ist das Zweite Vatikanische Konzil (1962 – 1965). Dieses bedeutendste Kirchenereignis des 20. Jahrhunderts bedarf in seiner Dynamik immer noch der endgültigen Umsetzung. Drei Grundlinien dieses Konzils führe ich hier zur Begründung meiner These an. Eine erste Grundlinie ist das Verständnis der Kirche als Volk Gottes unterwegs durch die Zeit. Vor jeder Umschreibung einer hierarchischen Ordnung definiert das Konzil im Rückgriff auf den alttestamentlichen Volk-Gottes-Gedanken die Kirche als etwas Dynamisches, als Bewegung durch die Geschichte, die in ihrer eschatologischen Dimension bereits zeichenhaft für die Vollendung steht.28 Die Gemeinschaft der Glaubenden ist ein Volk von grundsätzlich Gleichen, die vor jeder Unterscheidung in Ämter und Dienstfunktionen am Ganzen durch Taufe und Firmung mit gleicher Würde ausgestattet sind. 29 Diese Gemeinschaft besteht also aus einer Vielzahl von Menschen, die mit einer Vielzahl von Geistesgaben ausgestattet sind und die ihre je eigene Individualität und Prägung in das Ganze einbringen. Sie ist ferner auf dem Weg durch die Zeit, also noch nicht am Ziel, sondern geht diesem Ziel in der Geschichte und durch die Geschichte entgegen. Um dieses Ziel zu erreichen, bedarf es als zweite Grundlinie nach der Pastoralkonstitution des Konzils der Zeitgenossenschaft der Kirche: „Zur Erfüllung dieses ihres Auftrags obliegt der Kirche allzeit die Pflicht, nach den Zeichen der Zeit zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten. So kann sie dann in einer jeweils einer Generation angemessenen Weise auf die bleibenden Fragen der Menschen nach dem Sinn des gegenwärtigen und des zukünftigen Lebens und nach dem Verhältnis beider zueinander Antwort geben. Es gilt also, die Welt, in der wir leben, ihre Erwartungen, Bestrebungen und ihren oft dramatischen Charakter zu erfassen und zu verstehen.“ 30
Von der Grundlage des Glaubens her, dem Evangelium, müssen also die „Zeichen der Zeit“ jeweils gedeutet werden, um die eigene Identität zu schärfen, das notwendige Handeln daran auszurichten und die Herausforderungen der Gegenwart bestehen zu können. Dies ist ein stetiger Prozess, der Freiheit voraussetzt. Ein solcher Freiheitsprozess ist für Fundamentalisten eine Horrorvision!
27 Vgl. LTHK, Inkulturation, Bd. 5, 504. 28 Vgl. ZWEITES VATIKANISCHES KONZIL, Lumen Gentium 9, in: K. Rahner, H. Vorgrimler (Hg.), Kleines Konzilskompendium, Freiburg 1969, 132f. 29 Vgl. ebd., 163. 30 ZWEITES VATIKANISCHES KONZIL, Gaudium et Spes, 4, in: Rahner, Vorgrimler (Hg.), Kleines Konzilskompendium, Freiburg 1969, 451.
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Die dritte Grundlinie ist der dialogische Charakter der Kirche, der sowohl Voraussetzung für den Volk-Gottes-Gedanken wie auch für die Zeitgenossenschaft ist. Dieser dialogische Grundcharakter, wie er in Gaudium et Spes 36 umschrieben wird, zieht sich durch eine Vielzahl der Dokumente des Konzils. Bezugspunkt dafür ist die konkrete Wirklichkeit der Welt, mit der die Wahrheit des Glaubens in Wechselwirkung steht. Voraussetzung für einen fruchtbaren Dialog ist die Anerkennung der Autonomie der irdischen Wirklichkeiten durch die Kirche: „Wenn wir unter Autonomie der irdischen Wirklichkeiten verstehen, dass die geschaffenen Dinge und auch die Gesellschaften ihre eigenen Gesetze und Werte haben, dann ist es durchaus berechtigt, diese Autonomie zu fordern. Das ist nicht nur eine Forderung der Menschen unserer Zeit, sondern entspricht auch dem Willen des Schöpfers. Durch ihr Geschaffensein selber haben alle Einzelwirklichkeiten ihren festen Eigenstand, ihre eigene Wahrheit, ihre eigene Gutheit sowie ihre Eigengesetzlichkeiten und ihre eigenen Ordnungen, die der Mensch unter Anerkennung der den einzelnen Wissenschaften und Techniken eigenen Methode achten muss.“ 31
Im Hinblick auf diese Realität ist die Botschaft jeweils zu aktualisieren und in konkretes Handeln umzusetzen. Dies fordert vom Einzelnen, in eigener Freiheit und Verantwortung vor seinem Gewissen abzuwägen, was in der jeweiligen Situation richtig ist. So sind auch verschiedene Wege und Lösungen möglich. Nicht umsonst nennt man die Pastoralkonstitution des Konzils eine „Magna Charta katholischen Wirklichkeitssinns“ – und sie ist für Fundamentalisten ebenfalls nicht nachvollziehbar. 3. FAZIT: DIE UNVEREINBARKEIT VON FUNDAMENTALISMUS UND CHRISTENTUM Die „christliche Botschaft ist, kurz zusammengefasst, die Botschaft von der göttlichen Befreiung zur universalen Freiheit des Menschen und damit von der Absage Gottes an alle Totalitarismen, Partikularismen, Regressionen und verzweckenden [sic] Ideologien. Von der Exoduserfahrung, deren Niederschlag das Erste Testament prägt, bis zur Christuserfahrung, die Paulus im Zweiten Testament als Erfahrung der „Befreiung zur Freiheit“ zusammenfasst (Galater 5,1), versteht sich die biblische Religion als Ruf zur Freiheit für alle Menschen, die von den Anhängern lebenspraktisch realisiert werden muss (Galater 5,13).“ 32
Von Anfang an war klar, dass die Offenbarungsreligion Christentum zwei Pole verbinden musste, wenn sie die Menschen erreichen wollte: Sachtreue und Zeitgerechtigkeit. Das heißt, die Fundamente der Welt- und Lebensdeutung des Christentums müssen unverfälscht bleiben, sonst verliert es seine Identität. Andererseits muss die Heilsbotschaft zeitgerecht weitergegeben werden. Sie ist so zu vermitteln, dass dem Individuum in seiner Einmaligkeit klar wird, selbst von der Sache betroffen zu sein. 31 Ebd., 482. 32 W.BEINERT: Befreiende Wahrheit. Die Botschaft des Christentums für das neue Jahrhundert, in: Stimmen der Zeit (4/2002), 264.
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Die Christen haben von Anfang an gewusst, dass sie das nicht aus eigener Kraft, sondern nur mit dem Heiligen Geist schaffen, der in die Wahrheit einführt. 33 Ihrem Wesen nach ist die christliche Botschaft also geschichtlich und pneumatisch. Der Geburtsfehler des christlichen Fundamentalismus liegt darin, dass er sich dieser Tatsache nicht stellt. Fundamentalismus ist, so gesehen, unvereinbar mit den Fundamenten des christlich-biblischen Glaubensgehaltes. Die Kernbotschaft des Evangeliums und die Kernaussagen des Fundamentalismus stehen also in einem diametralen Gegensatz, weil: – – – –
das Evangelium die Freiheit der Kinder Gottes verkündet; der Fundamentalismus dagegen Flucht vor der Freiheit bedeutet, das Evangelium Plädoyer für eine Liebe ist, die nicht ausgrenzt; der Fundamentalismus dagegen die Weite der Liebe verweigert, das Evangelium sagt „Fürchtet Euch nicht!“; der Fundamentalismus aber geradezu die Inkarnation der Angst ist, das Evangelium die Option für die absolute Zukunft bedeutet; der Fundamentalismus dagegen in das Gewesene lenkt und die Fenster wieder schließt, die Papst Johannes XXIII. mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil für die Kirche geöffnet hat.
Ein Denken und Handeln, das andere Menschen ausgrenzt, diskriminiert oder missachtet, ist zutiefst unchristlich und unvereinbar mit dem Glauben. Alle Menschen sind an Würde gleich, darum darf niemand sich absolut setzen. Natürlich wird niemand in Abrede stellen, dass diese Offenheit Beliebigkeit werden kann, dass Befreiung Schrankenlosigkeit und Weltzuwendung Weltverfallenheit werden kann. Deshalb bedarf es der Leitung, welche die Tradition wahrt, die in Zweifelsfragen Orientierung gibt, die in der Pluralität die notwendige Einheit wahrt. Das aber hat nichts mit Fundamentalismus zu tun, sondern mit Pflege der Fundamente, mit Orientierung an den Grundlagen. Freiheit ist nie ohne Risiko, auch der Glaube ist es niemals. Aber beide lassen sich wagen, wenn sie getragen sind von Liebe und Verantwortung, die in der Gnade Gottes gründet. Darum kann es Pluralität und Vielgestaltigkeit in der Kirche geben, und es muss sie auch geben, soll nicht wieder das Joch der Knechtschaft die Ordnung der Freiheit ablösen. Diese Freiheit zu bewältigen, bedarf es aber Kompetenzen, die erworben werden müssen: Die Fähigkeit zum Dialog, dessen Voraussetzungen das Wissen um die eigene Position, der Gebrauch der Vernunft und die entsprechende Gesprächsfähigkeit sind. Wo diese Kompetenzen fehlen, wo Mangel an Bildung herrscht, dort öffnet sich das Einfallstor des Fundamentalismus. Deshalb gehört Bildung zu den Kernaufgaben der Kirche, gerade in der heutigen pluralen und säkularisierten Welt. Und damit wäre ich dann wieder bei meinem Geschäft der Erwachsenenbildung!
33 Vgl. Johannes 16,13.
ARMUT ALS IDEAL DER FUNDAMENTALISMUS DER WOHLHABENDEN Eike Faber, Potsdam In einem Brief an Eustochius gibt der Kirchenvater Hieronymus dem Adressaten eine Beschreibung der verschiedenen Mönchstypen Ägyptens. 1 Hieronymus unterscheidet zwischen Coenobiten, Anachoreten und remnuoth. 2 Die Letztgenannten beschreibt Hieronymus als wären sie Vagabunden, deren Lebensweise frei von Zwängen und Autoritäten er vehement mißbilligt. Die Coenobiten bieten in ihrem strukturierten Zusammenleben und der Unterstellung unter eine Obrigkeit aus Mitbrüdern den Gegenentwurf, den Hieronymus in den schönsten und harmonischsten Farben ausmalt und somit dezidiert lobt. Gewissermaßen als Nachsatz nennt Hieronymus auch die Anachoreten, unter ihnen besonders Antonius (von Alexandrien) und Paulus von Theben. 3 Diese wenigen Zeilen und die Beschäftigung mit den von Hieronymus angesprochenen Anachoreten beziehungsweise Asketen boten den Anstoß zur Überlegung, daß Askese – ein selbstgewähltes Leben in Armut – nur für die Besitzenden eine sinnerfüllte Lebensweise darstellen kann. Ausgehend von älteren paganen Konzepten der Mäßigung, wird im folgenden die Lebensweise christlicher Einsiedler kritisch betrachtet werden. 1 2 3
Hieron. ep. 22,34–36. Zu dieser Bezeichnung und sauhes als volkssprachlicher Bezeichnung der Coenobiten vgl. SPIEGELBERG, koptische Mönchsnamen, der beides als koptischen Ursprungs deutet. Hieron., ep. 22,36: ad tertium genus veniam, quis Anachoretas vocant; qui et de Coenobiis exeuntes, excepto pane et sale, ad deserta nihil perferunt amplius. Huius vitae auctor Paulus, illustrator Antonius; et ut ad superiora conscendam, princeps Ioannes Baptista fuit. Talem vero virum Ieremias quoque Propheta describit, dicens ‚Bonum est viro cum portaverit iugum ab adolescentia sua. Sedenit solitarius, et tacebit, quoniam sustulit super se iugum, et dabit percutient se maxillam: saturabitur opprobriis, quia non in sempitermum abiciet Dominus’ (Thren. 27 ff.) Horum laborum et conversationem in carne non carnis, alio tempore, si volueris, explicabo. - „Doch noch ein Wort über die dritte Klasse, die Anachoreten. Sie verlassen die Klöster und nehmen außer Brot und Salz nichts mit in die Wüste. Diese Lebensweise geht auf Paulus zurück, während Antonius sie der Allgemeinheit bekanntmachte. Will ich noch weiter zurückgehen, so ist eigentlich Johannes der Täufer ihr Begründer. Einen solchen Einsiedler schildert auch der Prophet Jeremias in den Worten: ‚Es ist gut für den Mann, wenn er von Jugend auf sein Joch getragen hat. Einsam wird er dasitzen und schweigen, weil er sein Joch auf sich genommen hat. Dem, der ihn schlägt, wird er die Wange hinhalten. Er wird gesättigt mit Schmach; denn der Herr verwirft nicht auf ewig (Klagel 3,27f., 30f.).‘ Ein anderes Mal, wenn Du willst, will ich Dir von ihren Kämpfen und ihrem Leben, das ein Leben im Fleische, aber nicht des Fleisches ist, berichten.“
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Die Idee der Mäßigung war der Antike nicht fremd, wenngleich dionysische Festumzüge oder ekstatische Mysterienkulte zum Teil das Gegenteil nahezulegen scheinen. Wem es an der Fähigkeit mangelte, die eigenen Begierden zu zügeln, der wurde dafür (verbal) gemaßregelt. Als Beispiel dürfte ein Zitat zu den Trinkgewohnheiten des Kaisers Galerius ausreichen: 4 „Übrigens war Galerius derart der Trunksucht verfallen, daß er im Rausch Dinge befahl, die nicht ausgeführt werden durften. Auf Vorhaltungen seines Praefecten hin verfügte er, daß niemand seine Befehle nach einer Mahlzeit ausführen dürfe.“ (Origo Constantini 11) 5
Ob man nun diesen Passus der Origo Constantini dem heidnischen Autor oder dem späteren christlichen Redaktor zuschreibt, ist unerheblich; klar wird, daß solches Verhalten eines Kaisers unwürdig war – ja selbst dann unwürdig gewesen wäre, wenn es seine Regierungsfähigkeit nicht beeinträchtigt hätte, was bei Galerius eindeutig der Fall war. Soweit mir bekannt ist, unterblieben unter den Anhängern der alten Kulte die Übertreibung der Bedürfnislosigkeit und die Übersteigerung der Mäßigung. 6 Auch im frühen Christentum war das einfache Leben positiv konnotiert. Luxus (Kleidung, Behausung), 7 Verschwendung (Essen, Trinken), außerehelicher Sexualverkehr und ähnliches wurden als Verirrungen abgelehnt. Dennoch lautete eines der zentralen Anliegen: „Unser tägliches Brot gib uns heute.“ (Mt 6,9–13). 8 Diese ‚Versorgungsleistung‘ wurde selbstverständlich auch vom christlichen Gott eingefordert: Die neue Religion versprach (und verspricht) Antworten auch auf alltägliche, praktische Probleme. Dabei gehört die Erwartung des täglichen Brotes auf Erden ebenso zum Christentum wie der feste Glaube an das Leben nach dem Tode. Diesen ‚Forderungen‘ der Gläubigen entspricht die Anforderung an sie, verbindliche Regeln einzuhalten, die Zehn Gebote. Gegenüber diesem quid pro quo ist alles Weitere nachrangig.
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Als Zugang zu den älteren paganen Konzepten vom einfachen Leben vgl. VISCHER, Das einfache Leben, besonders 123–5; 153–6. Als Beispiele sollen hier zwei Stellen bei Seneca genügen, ep. 17,5: frugalitas autem paupertas voluntaria est sowie ep. 18,5, in dem Seneca den Rat erteilt, einige Tage ganz arm zu leben, um danach der Frage begegnen zu können, ob die ganze Aufregung, die Angst davor gerechtfertigt sei: Ceterum adeo mihi placet temptare animi tui firmitatem ut e praecepto magnorum virorum tibi quoque praecipiam: interponas aliquot dies quibus contentus minimo ac vilissimo cibo, dura atque horrida veste, dicas tibi ‚hoc est quod timebatur?‘ - „Übrigens bin ich so fest entschlossen, Deine Seelenstärke auf die Probe zu stellen, daß ich der Weisung großer Männer zufolge auch Dir raten darf: Schiebe ein paar Tage ein, an denen Du Dich mit kärglichster und einfachster Kost, mit grober und rauher Kleidung begnügen und zu Dir sprechen magst: ‚Ist es das, wovor man sich fürchtete?‘ “ Igitur Galerius sic ebriosus fuit, ut cum iuberet temulentus ea, quae facienda non essent, a praefecto admonibus constituerit, ne iussa eius aliquis post prandium faceret. Abgesehen von den Priestern der Kybele, vgl. CH. KUNST in diesem Band. Unter Umständen könnte Kaiser Iulian als jemand angesehen werden, der in seinen Bemühungen um eine Neuformierung der heidnischen Priesterschaft Ansätze zu einer Radikalisierung offenbarte; vgl. hierzu BRINGMANN, Kaiser Julian, 129–52. Für einen gelungenen Überblick zu diesem Themenkomplex vgl. LEUTZSCH, Grundbedürfnis. τὸν ἄρτον ἡμῶν τὸν ἐπιούσιον δὸς ἡμῖν σήμερον∙ Vgl. Lk 11,2ff.
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Im Zuge der Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten veränderten sich die Organisationsstrukturen, was langfristig Anpassungen der inhaltlichen Positionen zur Folge hatte. Lektoren, Diakone und Presbyter bekleideten herausgehobene Positionen innerhalb der Gemeinde, Bischöfe führten das Corps der Funktions- und Würdenträger an. Darüber hinaus sollte es im Zuge der Durchsetzung des Christentums als Staatsreligion vom 4.–6. Jahrhundert zur Etablierung reichsweiter Strukturen kommen, die unter anderem in Synoden, den Patriarchaten von Jerusalem, Antiochia, Constantinopel und Alexandria sowie dem römischen Papsttum mündeten. 9 Die Herausbildung von Hierarchien wurde unter anderem deshalb notwendig, weil die Gemeinden zahlenmäßig immer stärker anwuchsen. Je mehr Menschen jedoch dem Glauben angehörten, desto stärker wurden ursprüngliche Maximalpositionen aufgeweicht. Das klassische Beispiel hierfür ist die Anerkennung und Etablierung von Eheschließungen und der ‚Sanktionierung‘ des Kinderwunsches: Die allerersten Christen hatten noch komplett auf eigene Kinder verzichtet, in sicherer Erwartung des Jüngsten Gerichts zu ihren Lebzeiten. Nachdem das Jüngste Gericht sich nicht unmittelbar ereignet hatte und immer mehr Menschen ohne apokalyptische Erwartung zu Christen wurden, benötigte die Kirche eine offizielle Position zu Fortpflanzung und zur Familie – sie fand diese Position in der (kirchlichen) Sanktionierung der Ehe.10 Neupositionierungen wie die zu Sexualität (in der Ehe erlaubt), individuellem Besitz (ebenfalls erlaubt), Staats- und sogar Militärdienst (erlaubt) und ähnlichem mehr bedeuteten aus einer bestimmten Perspektive ein Aufweichen. Einige Gläubige meinten, sie könnten mehr leisten als die genannten ‚Konsenspositionen‘ forderten, und fühlten sich durch die höchste Autorität, das Wort Christi, bestätigt: „Jesus sprach zu ihm: Willst du vollkommen sein, so gehe hin, verkaufe, was du hast, und gib's den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben; und komm und folge mir nach!“ (Mt 19,21) 11
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Vgl. hierzu LORENZ, sechste Jahrhundert, 78–87; BROWN, Western Christendom, 166–89, 434–62; PADBERG, Christianisierung, 9–16, 71–89; MOELLER, Grundzüge, 128–53; EDWARDS, Development of Office, 316–29. 10 Vgl. BROWN, Body and Society, 3–64. 11 Vgl. HARRIES, „Treasures in Heaven“, 56, 65. Parallelstellen des NT zum Zitat: Mt 6,20: θησαυρίζετε δὲ ὑμῖν θησαυροὺς ἐν οὐρανῷ, ὅπου οὔτε σὴς οὔτε βρῶσις ἀφανίζει, καὶ ὅπου κλέπται οὐ διορύσσουσιν οὐδὲ κλέπτουσιν: - „Sammelt euch aber Schätze im Himmel, da sie weder Motten noch Rost fressen und da die Diebe nicht nachgraben noch stehlen.”; Lk 12,33: Πωλήσατε τὰ ὑπάρχοντα ὑμῶν καὶ δότε ἐλεημοσύνην: ποιήσατε ἑαυτοῖς βαλλάντια μὴ παλαιούμενα, θησαυρὸν ἀνέκλειπτον ἐν τοῖς οὐρανοῖς, ὅπου κλέπτης οὐκ ἐγγίζει οὐδὲ σὴς διαφθείρει: - „Verkaufet, was ihr habt, und gebt Almosen. Machet euch Beutel, die nicht veralten, einen Schatz, der nimmer abnimmt, im Himmel, da kein Dieb zukommt, und den keine Motten fressen.“; Lk 18,22: ἀκούσας δὲ ὁ Ἰησοῦς εἶπεν αὐτῷ, Ἔτι ἕν σοι λείπει: πάντα ὅσα ἔχεις πώλησον καὶ διάδος πτωχοῖς, καὶ ἕξεις θησαυρὸν ἐν [τοῖς] οὐρανοῖς, καὶ δεῦρο ἀκολούθει μοι. „Da Jesus das hörte, sprach er zu ihm: Es fehlt dir noch eins. Verkaufe alles, was du hast, und gib's den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben; und komm, folge mir nach!“
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Christus rät an dieser Stelle des Matthäus-Evangeliums einem vermögenden jungen Mann, seinen Besitz abzustoßen und den Ertrag in tätiger Nächstenliebe zu verbrauchen. Es scheint hier einer „zweistufige[n] Ethik“ das Wort geredet zu werden, die eine „schlichtere [Moral]“ von einer „vollkommeneren Moral“ trennt, 12 welche den Verzicht auf weltlichen Besitz und Reichtum bedeutet. 13 Der ideologische Schritt von einer Ablehnung des Besitzes zu weiteren Formen der Weltflucht war nur noch kurz. Wie sich der Entschluß zur Weltflucht lebenspraktisch manifestierte und welche Folgen sie für den Asketen hatte, wird im folgenden anhand der Lebensbeschreibung der jüngeren Melania, Athanasius' Vita Antonii sowie des Symeon Stylites analysiert werden. Es wird dabei deutlich werden, daß Askese Fundamentalismus ist. Es ist jedoch (mit einer Ausnahme) 14 ein Fundamentalismus, der sich gegen den Asketen selbst, nicht gegen Dritte richtet. 15 Der Asket will nicht, daß alle anderen so leben wie er selbst, im Gegenteil. Unseren heutigen, medial geprägten Erwartungen an einen Fundamentalismus, der fanatisch und mit gewaltsamen Mitteln die umfassende, allgemein verbindliche und vollständige Durchsetzung der eigenen Ziele propagiert, entspricht die Askese, so wie sie in den Quellen dargestellt wird, freilich nicht.
12 MARKSCHIES, Christentum, 158. 13 Eine solche Interpretation der Bergpredigt kann sich nicht auf den ‚historischen Jesus‘ berufen, der äußerst disparate Formen der Nachfolge anerkannt hat, vgl. MARKSCHIES, Christentum, 158. 14 Die Ausnahme ist Melania, die so lange fastet und betet, bis sie eine Fehlgeburt erleidet, welche sie freudig aufnimmt; vgl. Gerontius, Vita Melaniae 5. 15 Die Asketen kämpfen unentwegt gegen den Teufel und seine Nachstellungen – nicht jedoch gegen den Staat oder Andersgläubige. Vgl. Athanasius, Vita Antonii 30: Τὸν θεὸν ἄρα μόνον φοβεῖσθαι δεῖ· τοὑτων δὲ καταφρονεῖν, καὶ μηδ᾿ ὅλως αὐτοὺς δεδιέναι. Ἀλλὰ καὶ μᾶλλον ὅσον ταῦτα ποιοῦσιν, ἐπιτείνωμεν ἡμεις τὴν ἄσκησιν κατ᾿ αὐτῶν. Μέγα γὰρ ὅπλον ἐστὶ κατ᾿ αὐτῶν βίος ὀρθὸς, καὶ ἡ πρὸς θεὸν πίστις. Φοβοῦνται γοῦν τῶν ἀσκητῶν τὴν νηστείαν, τὴν ἀργηπνίαν, τὴς εὐχας, τὸ πρᾶον, τὸ ἥσυχον, το ἀφιλάργυρον, τὸ ἀκενόδοξον, τὴν ταπεινοφροςύνην, τὸ φιλόπτωχον, τὰς ἐλεημοσύνας, τὸ ἀόργητον, καὶ προηγουμένως τὴν εἶς τὸν Χριστὸν εὐςέβειαν. Διὰ τοῦτο γὰρ καὶ πάντα ποιοῦσιν, ἴνα μὴ ἔχωσι τοὺς καταπατοῦντας αὐτούς. Ἴσασι γὰρ τὴν κατ᾿ αὐτῶν δοθεῖσαν χάριν τοῖς πιστοῖς παρὰ τοῦ Σωτῆρος, λέγοντος αὐτοῦ· Ἰδοὺ δέδωκα ὑμῖν ἐξουςίαν πατεῖν ἐπάνω ὄφεων καὶ σκορπίων, καὶ ἐπὶ πᾶσαν τὴν δύναμιν τοῦ ἐχθροῦ. – „Man muss also Gott allein fürchten, die Dämonen aber verachten und sich durchaus nicht vor ihnen ängstigen; je mehr sie sich mühen, um so eifriger müssen wir uns gegen sie der Askese befleissigen. Denn ein rechtes Leben und der Glaube an Gott ist eine mächtige Waffe gegen sie. Sie fürchten eben der Asketen Fasten, ihr Wachen, ihre Gebete, das Milde, Ruhige, nicht Geldgierige, ihre Verachtung des leeren Ruhmes, ihre Demut, ihre Liebe zu den Armen, ihre Barmherzigkeit, ihre Sanftmut und besonders ihre Frömmigkeit gegenüber Christus. Deshalb tun sie auch alles, um nicht Menschen zu finden, die sie zertreten. Denn sie wissen, dass vom Heiland den Gläubigen Gnade gegen sie verliehen ist, der da sagt: ‚Siehe, ich habe euch Gewalt gegeben, zu wandeln auf Schlangen und Skorpionen und über jede Macht des Feindes‘.“
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WAS ALSO IST ASKESE? „Askese wird verstanden als Vorwegnahme des wiedergewonnenen paradies(ischen) und engelsgleichen Lebens, gekoppelt mit der Lohnverheißung.“ 16 Ich werde gleich die mannigfaltigen Härten, denen sich Asketinnen und Asketen bei ihrer Umsetzung des engelsgleichen Lebens aussetzten, schildern, möchte jedoch zuvor auf das Element der Distinktion hinweisen, das im Lohnversprechen steckt. Cyprian von Karthago bemerkt zum Lohnversprechen folgendes in einer Lehrschrift über den Jungfrauenstand: 17 „Doch befiehlt der Herr das nicht, sondern ermuntert nur dazu; er legt kein Zwangsjoch auf, weil die Willensentscheidung frei bleibt. Wenn er jedoch sagt, in seines Vaters Haus seien viele Wohnungen, 18 so macht er damit klar, daß es dort bessere Wohnungen gibt. Diesen besseren Wohnungen strebt ihr nach; indem ihr die Begierden des Fleisches zügelt, sichert ihr euch einen größeren Gnadenlohn im Himmel. Gewiß legen alle, die zur göttlichen und väterlichen Gabe der Heilung durch die Taufe gelangen, darin dank der Gnade des heilsamen Bades den alten Menschen ab und werden, erneuert durch den Heiligen Geist, vom Schmutz der alten Befleckung durch die Wiedergeburt gereinigt; doch die größere Heiligkeit und Wirklichkeit der Wiedergeburt kommt euch zu, die ihr nicht länger die fleischlichen und körperlichen Begierden kennt.“ (De habitu virginum 3,23) 19
Innerhalb dieser Deutung werden die Jungfrauen also nach ihrem Tod im Himmel die besseren Wohnungen erhalten – indem Cyprian das vor seiner Gemeinde verspricht und ankündigt, erhöht er umgehend, noch auf Erden, ihr Ansehen. Nach Cyprian wird also durch die Bewahrung der Jungfräulichkeit Vorrang erworben 20 – ich glaube, diesen Mechanismus guten Gewissens auf die Askese im allgemeinen übertragen zu dürfen. Für meine Argumentation bedeutet das, daß diejenigen, die bereits auf Erden eher die besseren Wohnungen bewohnen, diese als Asketen aufgeben, um wiederum Anspruch auf bessere Plätze im Himmel zu erwerben – 16 A. FELBER: Mönchtum, Lexikon der Christlichen Antike, 1999, 261. 17 Als neu gewählter Bischof strebte Cyprian mit dieser Schrift die Disziplinierung der enthaltsam lebenden Frauen seiner Gemeinde an, gleichsam als ersten Schritt, um allgemein stärker Kontrolle ausüben zu können. Zu diesen innergemeindlichen Zielen Cyprians vgl. PIETZNER, Geschlecht, passim. 18 Vgl. Joh. 14,2: ἐν τῇ οἰκίᾳ τοῦ πατρός μου μοναὶ πολλαί εἰσιν: εἰ δὲ μή, εἶπον ἂν ὑμῖν ὅτι πορεύομαι ἑτοιμάσαι τόπον ὑμῖν; - „Im Haus meines Vaters gibt es viele Wohnungen. Wenn es nicht so wäre, hätte ich euch dann gesagt: Ich gehe, um einen Platz für euch vorzubereiten?“ 19 Cyprian, de habitu virginum 3,23: Nec hoc iubet dominus, sed hortatur; nec iugum necessitatis imponit, quando maneat voluntatis arbitrium liberum. Sed cum habitationes multas apud Patrem suum dicat, melioris habitaculi hospitia demonstrat. Habitacula ista meliora vos petitis, carnis desideria castrantes, maioris gratiae praemium in coelestibus obtinetis. Omnes quidem qui ad divinum lavacrum Baptismi sanctificatione perveniunt, hominem illic veteral gratia lavacri salutaris exponunt, et innovato Spiritu sancto, a sordibus contatiognis antiquae iterata naticitate purgantur. Sed naticitatis iteratae vobis maior sanctitas et veritas competit, quibus desideria iam carnis et corporis nulla sunt. 20 Cyprian wird hier zitiert, weil er diesen Mechanismus treffend und kurz beschreibt – es soll also nicht behauptet werden, seine Bemühungen hätten die Attraktivität der continentia aeterna herbeigeführt, vgl. PIETZNER , Geschlecht, 145–7; 150.
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falls ich richtig liege, streben sie also letztlich eine Perpetuierung der bestehenden Zustände an. WIE WIRD MAN ASKET? Zweifellos führte der Weg zum asketischen Dasein für gewöhnlich über ein Erweckungserlebnis. Den bekanntesten Bericht darüber hat Augustinus in seinen Confessiones niedergeschrieben: „Unter einem Feigenbaum warf ich mich zu Boden, ich weiß nicht, wie es kam, und ließ den Tränen freien Lauf […], und vieles sagte ich [Gott], wenn auch nicht gerade mit diesen Worten; der Sinn aber war: »Ach, Herr, wie lange [Ps 6,4]? […] Wie lange noch, wie lange dies ‚Morgen, ja morgen!‘? Warum nicht heute? Warum soll nicht diese Stunde das Ende meiner Schmach sehen« (29) […] Und siehe, da hörte ich aus dem Nachbarhause eine Stimme – war's die eines Knaben, eines Mädchens, ich weiß es nicht –, die im Singsang wiederholte: »Nimm es, lies es; nimm es, lies es (tolle, lege; tolle, lege)« […] Ich unterdrückte die Gewalt der Tränen, erhob mich und wußte [da mir nicht bekannt war, daß Kinder bei irgendeinem Spiel derartiges zu leiern pflegten] keine andere Deutung, als daß mir Gott befehle, das Buch aufzuschlagen und die erste Stelle zu lesen, auf die ich träfe. Denn von Antonius hatte ich gehört, daß er eine Evangelienlesung, zu der er sich wie von ungefähr eingefunden, das Wort nämlich: »Geh, verkaufe alles, was du hast, und gib's den Armen […]« [Mt 19,21], als Mahnung auf sich bezogen und auf diesen Gottesspruch (oraculum) hin sich sogleich bekehrt habe. So kehrte ich denn eilends zu dem Platz zurück, wo […] ich das Buch des Apostels hingelegt hatte, als ich [in den Garten] aufgebrochen war. Ich ergriff es, schlug es auf und las schweigend den Abschnitt, auf den zuerst mein Auge fiel: [...] Weiter wollte ich nicht lesen; es war auch nicht nötig. Denn mit dem Schluß des Satzes flutete alsbald ruhige Gewissheit wie ein Lichtstrom in mein Herz, und alle Schatten der Unentschlossenheit wurden verscheucht.“ 21
21 Aug. Confessiones 8,12,28f.: ego sub quadam fici arbore stravi me nescio quomodo, et dimisi habenas lacrimis, et proruperunt flumina oculorum meorum, acceptabile sacrificium tuum, et non quidem his verbis, sed in hac sententia multa dixi tibi: ‚et tu, domine, usquequo? usquequo, domine, irasceris in finem? ne memor fueris iniquitatum nostrarum antiquarum.‘ sentiebam enim eis me teneri. iactabam voces miserabiles: ‚quamdiu, quamdiu, „cras et cras“? quare non modo? quare non hac hora finis turpitudinis meae?’ (29) […] et ecce audio vocem de vicina domo cum cantu dicentis et crebro repetentis, quasi pueri an puellae, nescio: ‚tolle lege, tolle lege.‘ statimque mutato vultu intentissimus cogitare coepi utrumnam solerent pueri in aliquo genere ludendi cantitare tale aliquid. nec occurrebat omnino audisse me uspiam, repressoque impetu lacrimarum surrexi, nihil aliud interpretans divinitus mihi iuberi nisi ut aperirem codicem et legerem quod primum caput invenissem. audieram enim de Antonio quod ex evangelica lectione cui forte supervenerat admonitus fuerit, tamquam sibi diceretur quod legebatur: ‚vade, vende omnia quae habes, et da pauperibus et habebis thesaurum in caelis; et veni, sequere me,‘ et tali oraculo confestim ad te esse conversum. itaque concitus redii in eum locum ubi sedebat Alypius: ibi enim posueram codicem apostoli cum inde surrexeram. arripui, aperui, et legi in silentio capitulum quo primum coniecti sunt oculi mei: ‚non in comessationibus et ebrietatibus, non in cubilibus et impudicitiis, non in contentione et aemulatione, sed induite dominum Iesum Christum et carnis providentiam ne feceritis in concupiscentiis.‘ nec ultra volui legere nec opus erat. statim quippe cum fine huiusce sententiae quasi luce securitatis infusa cordi meo omnes dubitationis tenebrae diffugerunt.
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In postmodern anmutender, dreifacher Brechung stellt der Kirchenvater die eigene Bekehrungsszene dar: Augustinus′ Vision steht in intertextuellem Zusammenhang mit der literarisch überlieferten Bekehrung des Asketen Antonius, dessen Bekehrungserlebnis wiederum auf Bibelworte zurückging, die er im Vorbeigehen aus einer Kirche schallen hörte. Die Vermittlung dieses Erweckungserlebnisses verlief also von der Bibel zu Antonius, dessen von Athanasius verfasste Lebensbeschreibung Augustinus gelesen hatte, was ihm half, das eigene Bekehrungserlebnis zu verstehen und seinerseits literarisch zu verarbeiten: Er hatte rational die Richtigkeit und Notwendigkeit des enthaltsamen und asketischen Lebens bereits erkannt, sah sich jedoch außerstande diese lebenspraktisch umzusetzen – soll heißen, seine Konkubine war noch bei ihm, er arbeitete noch als städtisch angestellter Rhetoriklehrer und so weiter. Er zog sich in den Garten seines Hauses zurück und ließ seiner Verzweiflung ob der eigenen Schwäche freien Lauf. Augustinus hörte eine Kinderstimme tolle, lege im Singsang wiederholen, „Nimm und lies!“ 22 Daraufhin erinnerte er sich an Antonius, dem das bereits zitierte Jesus-Wort (Mt 19,21) Anstoß zum asketischen Leben war, nahm die Bibel zur Hand, schlug sie aufs Geratewohl auf und las einen Satz – anschließend waren seine Unentschlossenheit und (moralische) Schwäche verschwunden. Augustinus las einen Satz aus dem Römerbrief des Paulus, nämlich: „Nicht in Fressen und Saufen, nicht in Wollust und Unzucht, nicht in Hader und Neid; sondern ziehet an den Herrn Jesus Christus und wartet des Leibes, aber nicht so, daß ihr seinen Begierden verfallt.“ (Röm 13,13–14) 23
Der Bericht über Antonius' Bekehrungserlebnis half also Augustinus, der göttlichen Weisung aus Kindermund richtig Folge zu leisten und verhalf ihm zur nötigen Ausdauer für ein asketisches Leben. Symeon Stylites' Entschluß, sich von der Welt abzuwenden, verlief analog: Er hörte eine Predigt über Lk 6,20–26 und vernahm, daß die Hungernden und Weinenden selig sein würden. Auf die Frage eines Anwesenden, was man tun müsse, um diese Seligkeit zu erlangen „hätte man ihm das Einsiedlerleben angegeben und die hohe Vollkommenheit desselben dargelegt.“24 Eine alternative Möglichkeit ins monastische Leben einzutreten besteht nach Ausweis der Quellen darin, bereits seit dem Kindesalter den Wunsch und die Entschlossenheit dazu zu haben, so daß kein Bekehrungserlebnis mehr notwendig ist. Theodoret berichtet vom Mönch Heliodor, der von seinen 65 Lebensjahren 62 innerhalb desselben Klosters zugebracht haben soll und noch nicht einmal den Anblick von Nutztieren kannte. 25 In der Vita Melaniae ist es nicht die namenge22 Vgl. METZLER, „Nimm und lies“, 345–7, die tolle, lege als Terminus aus der Gerichtssprache deutet. 23 ὡς ἐν ἡμέρᾳ εὐσχημόνως περιπατήσωμεν, μὴ κώμοις καὶ μέθαις, μὴ κοίταις καὶ ἀσελγείαις, μὴ ἔριδι καὶ ζήλῳ: ἀλλὰ ἐνδύσασθε τὸν κύριον Ἰησοῦν Χριστόν, καὶ τῆς σαρκὸς πρόνοιαν μὴ ποιεῖσθε εἰς ἐπιθυμίας. 24 Theodoret, Historia Religiosa 26,3: ποδηγῆσαι αὐτὸν πρὸς τὴν τελείαν τῆς εὐσεβείας ὁδόν. 25 Theodoret, Historia Religiosa 26,4: Ἐλιόδωρος ὀ θαυμάσιος τὴν τών συνοίκων ἡγεμονίαν ἐδέξατο· ὄς πέντε καὶ ἑξήκοντα ἔτη διαβιώσας, δύο καὶ ἑξήκοντα
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bende Heilige selbst, die zur Erlangung der nötigen Hingabe ein Erweckungserlebnis benötigt, sondern deren Ehemann Pinian, der für das Leben seiner Frau betet und für ihre Errettung Keuschheit gelobt. 26 Das Gelübde hat Erfolg, Melania wird wieder gesund, wenn auch nicht durch eine wundersame sofortige Genesung, und beide leben seitdem als Schwester und „Bruder im Herrn“.27 Nach dem Bekehrungserlebnis folgt eine mehr oder weniger konzertierte Aktion, in der der Asket einen Abbruch seiner sozialen Bindungen vollzieht: Der Waise Antonius hatte bereits auf das erste Christus-Wort hin den Großteil seines ererbten Besitzes veräußert und lediglich aus Sorge um die Schwester einen kleinen Teil zurückbehalten. Da besuchte er nochmals „die Kirche und hörte im Evangelium den Herrn sprechen: ‚Sorget euch nicht um das Morgen’ (Mt 6,34); da brachte er es nicht über sich, länger zu warten, sondern er ging hinaus und gab auch den Rest den Bedürftigen. Die Schwester vertraute er bekannten, zuverlässigen Jungfrauen an und brachte sie in einem Jungfrauenhaus zur Erziehung unter; er selbst widmete sich von nun an vor seinem Hause der Askese, hatte acht auf sich und hielt sich strenge.“ 28 Über die Meinung der übrigens namenlos bleibenden Schwester zu ihrem Klosteraufenthalt erfahren wir zunächst nichts, lesen später aber davon, daß sie „in ihrer Jungfräulichkeit zu Jahren gekommen, als Vorsteherin anderer Jungfrauen“ wirkte, was Antonius erfreute. 29 Antonius' Weg ist geradezu paradigmatisch: Er wird zum Asketen berufen, entledigt sich demonstrativ seines Besitzes (den Verkaufserlös nutzt er für karitative Zwecke) und seiner weiteren sozialen Verpflichtungen, indem er die unter seiner Obhut stehende Schwester ins Konvent gibt. Den übrigen Erwartungen der Gesellschaft entgeht Antonius durch Rückzug, zunächst an den Rand des Dorfes, dann in die Wüste. 30
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ἔνδον καθειργμένος διετέλεσεν ἔτη· τρία γὰρ ἔτη παρὰ τοῖς γεγεννηκόσι τραφεὶς, εἰς τὴν ἀγέλην εἰσελήλυθε ταύτην, οὐδὲν τῶν ἐν τῷ βίῳ γιγνομένων θεαςάμενος πώποτε. Ἔφασκε δὲ, μηδ᾿ εἰδέναι τῶν χοίρων, ἢ τῶν ἀλεκτρυόνων, ἢ τῶν ἄλλων τῶν τοιούτων τὸ εἶδος. ‐ „[…] der wundervolle Heliodorus, der fünfundsechzig Jahre lebte und davon zweiundsechzig im Kloster verbrachte. Nur drei Jahre hatte er die Erziehung bei den Eltern genossen und kam dann zu jener Herde, ohne etwas von dem, was in der Welt geschieht, je gesehen zu haben. Er kenne, sagte er, nicht einmal die Schweine oder die Hasen oder sonst ein Tier.“ Vgl. Gerontius, Vita Melaniae 5–6. Gerontius, Vita Melaniae 8. Athanasius, Vita Antonii 3: Ὡς δὲ, πάλιν εἰσελθὼν εἰς τὸ Κυριακὸν, ἤκουσεν ἐν τῷ Εὐαγγελίῳ τοῦ Κυρίου λέγοντος, Μὴ μεριμνήσητε περὶ αὔριον, οὐκ ἀνασχόμενος ἔτι μένειν, ἐξελθὼν διέδωκε κἀκεῖνα τοῖς μετρίοις. Τὴν δὲ ἀδελφὴν παραθέμενος γνωρίσμοις καὶ πισταῖς παρθένοις, δούς τε αὐτὴν εἴς Παρθενῶνα ἀνατρέφεσθαι, αὐτὸς πρὸ τῆς οἰκίας ἐσχολαζελοιτὸν τῇ ἀσκήσει, προςέχων ἑαυτῷ καὶ καρτερικῶς ἑαυτὸν ἄγων. Athanasius, Vita Antonii 54: Ἔχαιρεν οὖν καὶ αὐτός, βλέπων τήν τε τῶν μοναχῶν προθυμίανμ καὶ τὴν ἀδελφὴν γερασασαν ἐν παρθενίᾳμ καθηγουμένην τε καὶ αὐτὴν ἄλλων παρθένων. Athanasius, Vita Antonii 8; 11. Zur Wüste als Ort der Anachorese vgl. A. FELBER, Wüste, in: Lexikon der christlichen Antike, 1999, 382–3.
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WIE SIEHT DAS ASKETISCHE LEBEN AUS? Das normale Dasein des Asketen zeichnete sich durch ausgesprochene Kargheit der materiellen Umstände und Härte der selbstauferlegten Disziplin aus: „[Antonius] wachte so lange, dass er oft sogar die ganze Nacht schlaflos zubrachte, und dies nicht etwa einmal, sondern oft und oft; darüber wunderten sich dann die anderen; Nahrung nahm er einmal des Tages zu sich nach Sonnenuntergang; bisweilen ass er nur alle zwei, oft aber auch bloss alle vier Tage; er lebte von Brot und Salz, als Getränk diente ihm nur Wasser. Von Fleisch und Wein bei ihm nur zu reden, ist überflüssig, da man dergleichen nicht einmal bei den anderen Frommen fand. Zum Schlafen begnügte er sich mit einer Binsenmatte; meist aber legte er sich auf die blosse Erde zur Ruhe nieder. Sich mit Öl zu salben, lehnte er ab.“ 31
Das Zitat beschreibt die Routine, der sich Antonius zu Beginn seines asketischen Lebens unterwarf. Zur Abwesenheit der Körperpflege, 32 Einfachheit der Kleidung 33 und Kost 34 traten, bei Antonius ebenso wie bei den übrigen hier behandel-
31 Athanasius, Vita Antonii 7: ἠγρύπνει γὰρ τοσοῦτον, ὡς πολλάκις καὶ ὅλην τὴν νύκτα διατελεῖν αὐτὸν ἄϋπνον· καὶ τοῦτο δὲ οὔχ ἅπαξ, ἀλλὰ καὶ πλειστάκις ποιῶν ἐωαυμάζετο. ῎Πθιέ τε ἅπαξ τῆς ἡμέρας μετὰ δύσιν ἡλίου. ἦν δ᾿ ὅτε καὶ διὰ δύο, πολλακις δὲ καὶ δυὰ τεσσάρων μετελὰμβανε. Καὶ ἦν αὐτῷ ἡ τροφὴ ἄρτος καὶ ἄλας· καὶ τὸ ποτὸν ὔδωρ μόνον. Περι γὰρ κρεῶν καὶ οἴνου περιττόν ἐστι καὶ λέγειν· ὅπου γε οὐδὲ παρὰ τοῖς ἄλλοις σπουδαίοις ηὑρίσκετό τι τουοῦτον. Εἰς δὲ τὸν ὕπνον ἠρκεῖτο ψιαθίῳ· τὸ δὲ πλεῖστον καὶ ἐπὶ γῆς μόνης κατέκειτο. Ἀλείφεσθαι δὲ ἐλαίῳ παρῃτεῖτο. 32 Vgl. u.a. Gerontius, Vita Melaniae 2; Athanasius, Vita Antonii 7; 93. 33 Vgl. u.a. Gerontius, Vita Melaniae 4; 8; 69; Athanasius, Vita Antonii 7; 91; Gregor von Nyssa, Vita Macrinae p. 406. Anhand einer Anekdote, die Gregor von Tours überliefert (liber vitae patrum 1,5: als der Thron des Frankenkönigs Chilperich bebt, versteht er dieses Zeichen richtig und behandelt den vir Dei Lupicinus ehrerbietig und zuvorkommend) verdeutlicht HARTMANN, Ein alter Mann, den Sinngehalt bzw. die Signifikanz der Bekleidung mit Fellen und Lumpen. Letztlich aus utilitaristischer Perspektive (wie der vorliegende Text) analysiert HARTMANN, Selbststigmatisierung, das Asketentum bzw. Mönchtum im lateinischen Westen. 34 Vgl. u.a. Gerontius, Vita Melaniae 22; Athanasius, Vita Antonii 1; 7; 40; 50; 45: Καὶ γὰρ μέλλων ᾿σθίειν καὶ κοιμᾶσθαι, καὶ ἐπὶ ταῖς ἄλλαις ἀνάγκαις τοῦ ςώματος ἔρχεσθαι, ᾐσχύνετο, τὸ τῆς ψυχῆς λογιζόμενος νοερόν. Πολλάκις γοῦν μετὰ πολολῶν ἄλλων μοναχῶν μέλλων ἐσθίειν, ἀναμνησθεὶς τῆς πνευματικῆς τροφῆς, παρῃτήσατο, καὶ μακρὰν ἀπ᾿ αὐτῶν ἀπῆλθε, νομίζων ἐρυθριᾷν, εἰ βλέποιτο παρ᾿ ἑτέρων ἐσθίων· ἤσθιε μέντοι καθ᾿ ἑαυτὸν διὰ τὴν τοῦ σώματος ἀνάγκην· πολλάκις δὲ καὶ μετὰ τῶν ἀδελφῶν· αἱδούμενος μὲν ἐπὶ τούτοις, παρῥησιαζόμενος δὲ ἐπὶ τοῖς ὑπὲρ ὠφελείας λόγοις. – „Wenn er essen und schlafen wollte oder die übrige Notdurft des Körpers befriedigte, dann schämte er sich, indem er an die geistige Natur der Seele dachte. Wenn er mit vielen anderen Mönchen zusammen essen wollte, dann erinnerte er sich oft seiner geistigen Nahrung, schlug die Speise aus und ging weit weg von ihnen, da er glaubte erröten zu müssen, wenn ihn andere essen sähen. Er aß jedoch allein, weil ihn die Rücksicht auf seinen Körper dazu zwang; oft tat er es auch gemeinsam mit den Brüdern; er schämte sich zwar vor ihnen, tröstete sich aber mit dem Gedanken an seine nützlichen Ermahnungen.“
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ten Asketinnen und Asketen, tägliches Arbeiten, 35 unablässiges Beten und zum Teil langes Wachen. 36 Aufgrund einer unverkennbaren inneren Logik kommt es in allen längeren Berichten von heiligen Asketen zu signifikanten Steigerungen in Härte, Umfang und Frequenz der asketischen Prüfungen: Symeon trat in ein Kloster ein, wo er zehn Jahre lang blieb; im asketischen Wettbewerb übertraf er seine „achtzig Mitkämpfer“ (ὀγδοήκοντα δὲ συναγωνιστὰς), indem er keine zwei Tage, sondern eine ganze Woche fastete. Symeon gürtete sich mit einem rauhen Strick um die Hüften, fügte sich eine blutende, schwärende Wunde zu und ertrug die Schmerzen zehn Tage lang. 37 Aufgrund solcher und weiterer Eskapaden des Klosters verwiesen, saß er fünf Tage am Grunde eines alten Brunnens, wurde von den reuigen Mitbrüdern herausgezogen 38 und zog sich doch nach kurzer Zeit wieder aus dem Kloster zurück. Symeon schloß sich für drei Jahre in einer Hütte am Rande eines Dorfes ein, wo er erstmals den Versuch unternahm, 40 Tage zu fasten, um dem Vorbild von Moses und Elias gleichzukommen. In diesem Versuch, die gesamte Fastenzeit ohne Nahrung zu verbringen, erhielt Symeon Hilfe, unter anderem unterstützte ihn ein gewisser Bassus, der Vorsteher der Landpriesterschaft war (ὃς τηνικαῦτα πολλὰς περώδευσε κώμας τοῖς κατὰ κώμην ἱερεῦσιν ἐπιστατῶν) – Symeon wurde mit Brot und Wasser versorgt in seiner Hütte eingemauert, rührte die Vorräte aber nicht an und konnte sich nach Ablauf der vereinbarten Zeit weder bewegen noch sprechen. Bassus benetzte ihm die Lippen und spendete ihm das Abendmahl. Daraufhin nahm Symeon Kräuter zu sich und Bassus verbreitete die erstaunliche Kunde. 39 Als dies gelang, wurden Symeon die 40 Tage zur Gewohnheit, die er mehr als 28 Jahre beibehielt. „Zeit und Übung“ (ὁ δὲ χρόνος καὶ ἡ μελέτη) erleichterten ihm zunehmend das Fasten, so daß er zunächst einige Tage lang stehend verbrachte, dann zum Sitzen überging und lediglich die letzte Zeit „wie ein Toter“ (ἡμιθανὴς, eigentlich „halbtot“) liegend zubringen mußte. 40 Nach drei Jahren in der Hütte zog Symeon sich auf einen Berg zurück, wo er veranlaßte, durch eine 20 Fuß lange Kette angeschmiedet zu werden. 41 Spätestens ab dieser Zeit wurde Symeon durch den stetigen Anstrom von Pilgern und Kranker, die Heilung erflehten, derart ‚belagert‘, daß er eine Möglichkeit suchte, sich wiederum abzusondern, ohne den Berg zu verlassen. Dazu ließ er eine Säule von sechs Ellen Höhe errich35 Vgl. u.a. Gerontius, Vita Melaniae 26 (Abschreiben christlicher Texte); 29 (Fußwaschungen); 32 (Unterricht); 41 (Krankenpflege); Athanasius, Vita Antonii 3: Εἰργάζετο γοῦν ταῖς χερσὶν, ἀκούσας· ὁ δὲ ἀργὸς μηδὲ ἐσθιέτω· καὶ τὸ μὲν εἰς τὸν ἄρτον, τὸ δὲ εἰς τοὺς δεομένους ἀνήλισκε. - „Dabei beschäftigte er sich mit Handarbeit, da er gehört hatte: ‚Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen‘; einen Teil des Lohnes verbrauchte er für Brot, den anderen verwandte er für die Armen.“ 36 Vgl. u.a. Gerontius, Vita Melaniae 23; Athanasius, Vita Antonii 7. 37 Theodoret, historia religiosa 26,4. 38 Theodoret, historia religiosa 26,5–6. 39 Theodoret, historia religiosa 26,7. 40 Theodoret, historia religiosa 26,9. 41 Theodoret, historia religiosa 26,10.
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ten, die in mehreren Schritten auf zuletzt 36 Ellen erhöht worden ist.42 Um auf der Säule weiterhin sein Fasten betreiben zu können, band er sich an einem eigens befestigten Pfahl an, stand also von nun an die gesamte Zeit. Während er normal aß (das heißt einmal die Woche), begab er sich „in gebeugte Stellung, Gott die Anbetung darbringend.“ Nach 1244 Verbeugungen gab ein Pilger das Zählen auf, da er müde geworden war – der Pilger, nicht Symeon! 43 Taten wie diese entrückten die Asketen derart der menschlichen Sphäre, daß einzelne Pilger es geradezu als Sensation weitertrugen, „daß der heilige Mann Nahrung nehme“, nachdem sie auf einer Leiter stehend durch Augenschein festgestellt hatten, daß Symeon tatsächlich körperliche Gebrechen ertrug und nicht frei von ihnen war. 44
42 Höhenangaben nach Theodoret, Historia religiosa 26,12; davon abweichende Maße und Verweildauer in Antonius, Leben des Heiligen Symeon und der Syrischen Lebensbeschreibung gehen zurück auf verschiedene Stränge der Überlieferung. Für eine Zusammenstellung vgl. Lietzmann, Symeon Stylites, 219. 43 Theodoret, Historia Religiosa 26,20: νῦν μὲν ἐστὼς μέχροι πολλοῦ, νῦν δὲ θαμὰ κατακαμπτόμενος καὶ τῷ θεῷ προσφέρων προσκύνησιν. 44 Vgl. Theodoret, Historia Religiosa 26,21: Ἀφικετό τις ἀπὸ Ῥαβέννης, ἀνὴρ σπουδαῖος καὶ τῇ τοῦ Χριστοῦ διακονίᾳ τετιμημένος. οὖτος τὴν κορυφὴν ἐκείνην καταλαβὼν, εἰπέ μοι ἔφεπρὸς τῆς ἀληθείας αὐτῆς τῆς τὸ τῶν ἀνθρώπων γένος πρὸς ἑαυτὴν ἐπιστρεψάσης, ἄνθρωπος εἶ ἢ ἀςώματος φύσις; δυσχερανάντων δὲ πρὸς τὴν ἐρώτησιν τῶν παρόντων σιγὴν μὲν ἄγειν ᾿κέλευσεν ἅπαντας, πρὸς ἐκεῖνον δὲ ἔφη· Τί δή ποτε ταύτην τὴν πεῦσιν προσήνεγκας; τοῦ δὲ εἰρηκότος ὡς Πάντων θρυλλούντων ἀκούω, ὡς οὕτε ἐσθίεις οὔτε καθεύδεις, ἀνθρώπων δὲ ἑκάτερον ἴδιον· οὐ γὰρ ἄν τις ταύτην ἔχων τὴν φύσιν τροφῆς δίχα καὶ ὕπνου διαβιώσειεν· ἐπιτεωῆναι μὲν τῷ κίονι κλίμακα προςέταξεν, ἀναβῆναι δὲ ἐκεῖνον ἐκέλευσε, καὶ πρῶτον μὲν τὰς χεῖρας καταμαθεῖν, εἶτα εἴσω τοῦ δερματίνου περιβολαίου τὴν χεῖρα βαλεῖν καὶ ἰδεῖν μὴ τοὺς πόδας μόνον, ἀλλὰ καὶ τὸ χαλεπώτατον ἕλκος. ἰδὼν δὲ καὶ θαυμάσας ὁ ἄνθρωπος τὴν τοῦ ἔλκους ὑπερβολὴν καὶ παρ᾿ αὐτοῦ μαθὼν ὡς ἀπολαύει τροφῆς, κατελήλυθεν μὴν ἐκεῖθεν, πρὸς ἐμὲ δὲ ἀφικόμενος διηγήσατο ἅπαντα. - „Es kam ein braver und im Dienste Christi ausgezeichneter Mann aus Rabäna zu ihm. Auf dem Bergrücken angelangt, fragte er: ‚Bei der Wahrheit selbst, welche das Menschengeschlecht bekehrt hat, sage mir, ob du ein Mensch bist oder ein unkörperliches Wesen?‘ Da die anwesenden Pilger über diese Frage sich ungehalten zeigten, gebot er allgemeine Ruhe. Zu jenem aber sprach er: ‚Warum hast du denn diese Frage gestellt?‘ Dieser antwortete: ‚Weil ich alle verkünden höre, dass du weder issest noch schläfst, was doch beides dem Menschen natürlich ist. Und wer diese Natur besitzt, kann ohne Nahrung und Schlaf nicht leben.‘ Da liess er eine Leiter an die Säule anlegen und befahl jenem, heraufzusteigen. Zuerst zeigte er ihm seine Hände, und dann hiess er ihn unter das Gewand von Fellen die Hand stecken und wies ihm letztlich die Füsse mitsamt der schweren Wunde. Mit Staunen besah der Mann das entsetzliche Geschwür und erfuhr dabei auch, dass der Heilige Nahrung nehme. Von dort suchte er mich auf und erzählte mir das ganze Erlebnis.“
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AUSWIRKUNGEN DER ASKESE Ich erspare uns weitere garstige Superlative dieser Art und komme zu den Wirkungen der Askese. 1. Über die körperlichen Auswirkungen der fortdauernden Askese gibt es widersprüchliche Aussagen. Athanasius schreibt dem 105jährigen Antonius einen ausgesprochen gesunden Körper zu. 45 Dagegen litt Symeon an den oben genannten körperlichen Gebrechen; der Asket Eusebius war zahnlos und derart abgemagert, daß er seinen Gürtel am Gewand annähen mußte, um ein Herabrutschen zu verhindern. 46 Bereits die Übungen der jugendlichen Melania waren hart genug, eine lebensbedrohliche Fehlgeburt zu verursachen. 47 Eine derartige Lebensweise war also kaum sehr gesund. 2. Die Asketen sind abgeklärt, mit sich im reinen. Sie wissen im voraus um den Zeitpunkt ihres Todes, bereiten ihre Umgebung darauf vor und sterben gefasst, um dann „zum Himmel empor“ zu steigen. 48 3. Von vielen Asketen sind ausdrücklich Wundertaten bezeugt. Sie wissen um entfernt geschehende Ereignisse, ehe der Bericht darüber zu ihnen dringt.49 Sie treiben Dämonen aus 50 und bewirken die spontane Genesung Kranker und Todkranker. 51 Hier kommt es auf die Formulierung an, da die Asketen natür45 Athanasius, Vita Antonii 67; 93: καὶ ὅμως ἐν πᾶσι διέμεινεν ἀβλαβής. καὶ γὰρ καὶ τοὺς ὀφθαλμοὺς ἀσινεῖς καὶ ὀλοκλήρους εἶχε, βλέπων καλῶς· καὶ τῶν ὁδόντων οὐδὲεἶς ἐξέπεσεν αὐτοῦ· μόνεν δὲ ὐπὸ τὰ οὖλα τετριμμένοι ἐγεγόνεισαν, διὰ τὴν πολλὴν ἠλικίαν τοῦ γέροντος. καὶ τοίς ποσὶ δὲ καὶ ταίς χερσὶν ὐγιὴς διέμεινε, καὶ ὅλως πάντων τῶν ποικίλη τροφῇ καὶ λουτροῖς καὶ διαφόροις ἐνδύμασι χρωμένων φαιδρότερος μᾶλλον αὐτός ἐφαίνετο, καὶ πρὸς ἴσχὸν προθυμότερος. ‐ „[…] gleichwohl blieb [Antonius] in allem unversehrt. Seine Augen waren gesund und untadelig, und er sah gut; von seinen Zähnen fiel auch nicht einer aus; nur am Zahnfleisch waren sie abgenützt, aber wegen des hohen Alters des Greises. Seine Hände und Füsse blieben gesund, und überhaupt erschien er glänzender und kräftiger als alle, die sich mannigfacher Nahrung, der Bäder und verschiedener Gewänder bedienen.“ 46 Theodoret, Historia Religiosa 18: ἐρικνωμένον μὲν ἔχων τὸ πρόσωπον, τεταριχευμένα δὲ ἅπαντα τὰ μέλη τοῦ ςώματος. οὕτω δὲ τοῖς πολλοῖς πόνοις τὸ σῶμα καταδαπάγησεν, ὡς μηδὲ τὴν ζώνην ἐπὶ τῆς ἰξύος μένειν, ἀλλ᾿ ἐπὶ τὰ κάτιο χωρεῖν. οὐ γὰρ ἦν ὅ τι κωλύσειε, κατηνάλωντο δὲ καὶ γλουτοὶ, καὶ παρεῖχον τῄ ζώνῃ ῥᾳδίαν τὴν ἐπὶ τὰ κάτω φοράν. - „Runzelig war sein Gesicht, wie ausgedörrt alle Glieder seines Körpers. So sehr war durch die vielen Mühen der Leib abgezehrt, dass der Gürtel nicht mehr auf den Hüften blieb, sondern herunterfiel. Denn nichts hätte ihn halten können. Gesäss wie Hüftknochen waren geschwunden und gestatteten den leichten Herabfall. Doch er erfand ein Mittel, ihn zu befestigen, er nähte den Gürtel an die Kleider an.“ 47 Vgl. Gerontius, Vita Melaniae 5–6. 48 Vgl. u.a. Gerontius, Vita Melaniae 63–70 (Zitat); Athanasius, Vita Antonii 89–93; Palladius, Historia Lausiaca 10 (Bericht vom Tod des Einsiedlers Pambo, in welchem Melania als Erzählerin auftritt.); Gregor von Nyssa, Vita Macrinae p. 395. 49 Athanasius, Vita Antoniae 59; 60. 50 Vgl. Gerontius, Vita Melaniae 60; Athanasius, Vita Antonii 63–64; 71. 51 Vgl. u.a. Gerontius, Vita Melaniae 61; Athanasius, Vita Antonii 56–58; 61.
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lich als erste darauf hinweisen, nicht sie hätten geheilt, sondern Gott habe das auf ihre Fürbitte hin vollbracht, oder die Heilung sei durch eine bestimmte Reliquie, die sie mitführen, und die Fürbitte des zugehörigen Heiligen bewirkt worden. 52 4. Die überirdische Lebensweise, der Verzicht auf soziale Bindungen und zuvorderst die berichteten Wunder führten dazu, daß die Asketen ein enormes Sozialprestige erwarben (bzw. behielten), was die vielfältigen Kontakte belegen, von denen die Quellen berichten: a) Antonius verkehrte mit Bittstellern, Priestern und Bischöfen, gründete ein Kloster, diskutierte gegen arianische Häretiker und heidnische Philosophen, trat Generälen entgegen und führte einen Briefwechsel mit Constantin dem Großen und dessen Söhnen. 53 Seine Korrespondenz ist angesichts des zuvor bezeugten Analphabetismus 54 ein Beleg für die Verfügbarkeit dienstbarer Geister, Helfer in der Einöde, in die Antonius sich zurückgezogen hatte. b) Melania die Jüngere ist von Geburt Aristokratin, stadtrömische Senatorentochter und, spätestens seit sie das Vermögen ihres Gatten Pinian geerbt hatte, die reichste Privatperson des Römischen Reiches. 55 Sie setzt sich gegen die Erwartungen ihrer Standesgenossen einschließlich ihrer Familie durch und kommt letztlich ihren reproduktiven Pflichten nicht nach. 56 Melania ist mit Sicherheit eine derjenigen Frauen, die durch ihre Witwenschaft und continentia aeterna ihr Leben selbstbestimmt führen konnten – ich erinnere an die Ausführungen zu Cyprian. Sie veräußerte 52 Vgl. Gerontius, Vita Melaniae 61; Athanasius, Vita Antonii 83. Vgl. dazu Joh 14,13–14: καὶ ὅ τι ἂν αἰτήσητε ἐν τῷ ὀνόματί μου τοῦτο ποιήσω, ἵνα δοξασθῇ ὁ πατὴρ ἐν τῷ υἱῷ: (14) ἐάν τι αἰτήσητέ με ἐν τῷ ὀνόματί μου ἐγὼ ποιήσω. – „Alles, um was ihr in meinem Namen bittet, werde ich tun, damit der Vater im Sohn verherrlicht wird. (14) Wenn ihr mich um etwas in meinem Namen bittet, werde ich es tun.“ und Mt 10,8: ἀσθενοῦντας θεραπεύετε, νεκροὺς ἐγείρετε, λεπροὺς καθαρίζετε, δαιμόνια ἐκβάλλετε: δωρεὰν ἐλάβετε, δωρεὰν δότε. - „Heilt Kranke, weckt Tote auf, macht Aussätzige rein, treibt Dämonen aus! Umsonst habt ihr empfangen, umsonst sollt ihr geben.“ 53 Vgl. Athanasius, Vita Antonii passim (Mitmönche); 14 (Klostergründungen); 67 (Priester, Bischöfe); 69–70 (Arianer); 72–80 (Disputation mit heidnischen Philosophen); 85; 86 (Generäle); 81 (Korrespondenz mit Constantin). Zu Bittstellern siehe auch oben, Anm. 50 und 51. 54 Vgl. Athanasius, Vita Antonii 1. 55 Vgl. CURRAN, Pagan City, 298–304. Die in der Vita Melaniae greifbaren Zahlenangaben zu Ausdehnung und Ertrag des Familienbesitzes der Valerii sind in den Standardwerken zur Spätantike die Fixpunkte für die Spitze der Einkommenspyramide, vgl. DEMANDT, Spätantike, 285. 56 Vgl. Palladius, Historia Lausiaca 54,5: καὶ οὕτως πρὸς πάντας ᾿θηριομάχεσε τοὺς συγκλητικοὺς καὶ τὰς ἐλευθεράς κωούοντας αὐτὴν ἐπὶ τῇ ἀποταξίᾳ τῶν λοιπῶν οἴκων. - „Zugleich kämpfte sie [d.h. Melania die Ältere, die Großmutter unserer Asketin] gegen die Senatoren und vornehmen Frauen, die sie [d.h. Melania die Jüngere und Pinian] hindern wollten, auf ihre Güter zu verzichten.“ Zu den gesellschaftlichen Erwartungen vgl. HARRIES, “Treasures in Heaven”, 66; CURRAN, Pagan City, 299–301; CAMERON, Virginity, 195–6.
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ihren Besitz, was Jahrzehnte in Anspruch nahm – unter anderem weil nicht einmal Serena, die Nichte und Adoptivtochter Theodosius' des Großen und Ehefrau des Stilicho, die Summe aufbringen wollte oder konnte, die einem der Paläste angemessen gewesen wäre. 57 Melania verwandte das Geld für mildtätige Zwecke und Klostergründungen auf drei Kontinenten. Sie verkehrte mit kirchlichen Würdenträgern und den weiblichen Angehörigen des Kaiserhauses im Westen und Osten des Reiches; Melania soll von Theodosius II. für dessen Gattin die Erlaubnis erbeten haben, die heiligen Stätten zu besuchen. 58 Dabei unterhielt Melania einen regelrechten Stab, der sie auf ihrem Weg von Rom nach Nordafrika und von dort nach Jerusalem begleitete, und dem unter anderem ihr Biograph Gerontius angehörte. c) „Symeon, den Gewaltigen, das große Wunder des Erdkreises kennen alle Untertanen des Römischen Reiches.“ 59 Um seine Säule herum hatte Symeon „mehr als 200 Schüler“ – gleichzeitig, wenn ich es recht verstehe. Er wurde regelmäßig als Schlichter von Streitfragen jeglicher Art angerufen und erteilte „ganz lebenspraktische Ratschläge“. 60 Der Ruf seiner Lebensführung löste regelrechte Massenkonversionen zum Christentum aus; Iberer, Armenier, Perser und Ismaeliten werden genannt; 61 mit den königlichen Häusern der beiden letztgenannten Völker stand Symeon in Kontakt. Drei römische Kaiser reisten zu Symeon, der auf seiner Säule stehen blieb: Theodosius II. (408–450), Marcian (450–457) und Leon I. (457– 474). 62 Rings um seine Säule und bis hinunter zum Fuß des Berges entstand unter kaiserlicher Beteiligung an Planung und Bau-Ausführung ein Wallfahrtszentrum ersten Ranges mit Pilgerherbergen immensen Ausmaßes. Ein typisches Souvenir waren tönerne Pilgermarken mit Symeons Säule darauf. Solche und andere Symeon-Artikel sind bis Italien gelangt. 63 In allen Fällen wird stereotyp die ‚Artigkeit‘, Bescheidenheit und „Verehrung gegenüber Bischöfen und Priestern“ betont. Worin also äußert sich das Selbstbewußtsein der Asketen, der Habitus, der mit ihrem in den genannten Kontakten manifestierten Einfluß einhergeht? Als Melania von Jerusalem aus zu Kaiserin Eudoxia nach Constaninopel reiste, nutzte sie wie selbstverständlich den cursus 57 Vgl. Gerontius, Vita Melaniae 14. 58 Vgl. Gerontius, Vita Melaniae 56. 59 Theodoret, historia religiosa 26,1: Συμεών τὸν πάνυ, τὸ μέγα θαῦμα τῆς οἰκουμένης, ἴσασι μὲν ἅπαντες οἱ τῆς Ῥωμαίων ἡγεμονίας ὑπήκοοι. 60 MARKSCHIES, Christentum, 2006, 118. Allgemein zur Proskynese/ adoratio als Bestandteil des spätantiken Hofzeremoniells vgl. ALFÖLDI, Repräsentation, passim und KOLB, Herrscherideologie, 38–46. Symeon entzog sich dem Zeremoniell, indem er auf seiner Säule verharrte. 61 Theodoret, historia religiosa 26,11. 62 Vgl. MARKSCHIES, Christentum, 119. 63 Theodoret, historia religiosa 26,11. Vgl. MARKSCHIES, Christentum, 121. Die Pilgermarken hatten etwa die Größe eines Zwanzig-Cent-Stücks.
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publicus. 64 Antonius erhielt einen Brief des Kaisers Constantin und überlegte ernsthaft, diesen nicht zu lesen. 65 Aus den Handlungen spricht deutlich ein Wissen um das eigene Prestige und den zukommenden Rang – und das unabhängig davon, ob die Ereignisse historisch sind oder als literarische Erfindungen gewertet werden. Sollten die Begebenheiten erfunden sein, bilden sie das Maß an Unabhängigkeit ab, welches die Verfasser der Heiligenleben für plausibel hielten. ZUSAMMENFASSUNG Peter Brown hat vielfach die Rolle betont, welche die heiligen Asketen für die spätantiken Dörfer Ägyptens (oder, wie im Fall der ‚Groß-Asketen‘, auch für das Kaiserhaus) als Mittler zum Göttlichen sowie als unbestechliche, unabhängige Autoritäten in weltlichen Angelegenheiten spielten. 66 Analog und in Ergänzung hierzu verstehe hier ich die Asketen als Nachfolger der Märtyrer. Im hier behandelten Zeitraum von 200 Jahren – Cyprian schrieb de habitu Virginum um 249, Symeon Stylites starb 459 – überstand die Kirche die tetrarchische Christenverfolgung und das Christentum wurde Staatsreligion. Im Gefolge dieser Durchsetzung kam es folgerichtig zum Ende der Martyrien. Der Anspruch der Bekenner und Märtyrer auf Vorrang hatte sich auf ihre Bereitschaft gegründet, buchstäblich die Nachfolge Christi anzutreten, indem sie für ihren Glauben starben (beziehungsweise dieses Risiko bewußt in Kauf nahmen, aber nicht mit der Krone des Martyriums ausgestattet wurden – Bekenner). Bekenner beziehungsweise in noch stärkerem Maße die Reliquien der Märtyrer waren wichtige identitätsstiftende Elemente geworden. Die Bereitschaft der Märtyrer, für den Glauben zu sterben, ersetzten die Asketen durch ihre Bereitschaft zum täglichen, lebenslangen Martyrium – sie litten. 67 Dadurch konnten sie glaubhaft die Rolle als Vermittler himmlischer Gunst antreten, welche die Märtyrer bisher innegehabt hatten. Da die Asketen zu Lebzeiten einen solchen Protagonismus innehatten, und sie sich zudem durch ihre radikale Weltflucht glaubhaft vom Irdischen gelöst hatten, konnten sie erfolgreich die Rolle der neutralen Instanz, des Schlichters einnehmen. Paradoxerweise begannen sie so zunehmend, auch einen irdischen Primat einzunehmen, der in die andauernde Heiligenfrömmigkeit münden sollte: „Die Heiligen der antiken Christenheit bündelten Funktionen, die vorher die Gesellschaft als Ganze, ihre Patrone und Obrigkeiten, die paganen Priester und die Individuen ausgeübt hatten. Warum es zu dieser bemerkenswerten Konzentration gekommen ist, wird sich wahrscheinlich nie vollständig klären lassen; die Unsicherheiten, die die poli-
64 Vgl. Gerontius, Vita Melaniae 52. 65 Vgl. Athanasius, Vita Antonii 81. 66 Vgl. BROWN, Holy Man; BROWN, Body and Society. Vgl. auch MARKSCHIES, Christentum, 118–9. Zum Interesse der Kirche bzw. einzelner Bischöfe an Martyrien, die sich außerhalb der Grenzen des Reiches ereignet hatten, vgl. FABER 2008, 663–5. 67 A. FELBER: Mönchtum, in: Lexikon der christlichen Antike, 1999, 261.
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tisch teilweise chaotischen Zeitläufe (Syrien etwa mußte mit starker persischer Bedrohung leben) mit sich brachten, dürfen aber nicht unterschätzt werden.“ 68 Zumindest einzelne Asketen waren fanatisch, sie waren Fundamentalisten. Mit Zweifeln an dieser Meinung räumen Zeugnisse wie das folgende gründlich auf: „Ein fleissiger Mann hatte neben [dem Lager des Asketen Johannes] einen Mandelkern in den Boden gesenkt. Nachdem dieser mit der Zeit zum Baume geworden und ihm Schatten spendete und durch den Anblick Freude machte, liess er ihn umhauen, um keine Erfrischung davon erfahren zu müssen.“ (Theodoret, Historia Religiosa 23) 69
Dieser Johannes benötigte also Jahre um festzustellen, daß dieser Baum ihm Freude bereitete. Und um dann nicht durch sein Erfreuen in der Kontemplation gestört zu werden, läßt er den Baum fällen, statt einfach selbst das Feld zu räumen! Die Askese dieses Mannes besteht darin, sich auf einem steilen Bergkamm dem Nordwind auszusetzen – die Unbillen der Witterung sind also Programm. Trotzdem ist unverständlich, warum er Jahre wartet und dann nicht einfach einige Meter weiter zieht und sich umdreht, um den Baum nicht mehr sehen zu müssen. Aus meinen Ausführungen geht hervor, welches enorme Prestige bekannte Asketen in der Spätantike erreicht haben. Alle genannten „Wettkämpfer“ hatten während ihrer außerordentlichen Prüfungen (ich zögere, uneingeschränkt von Leistungen zu sprechen) Helfer und Begleiter. Damit wird auf eine andere Art das leidige Quellenproblem neu beleuchtet: Über diejenigen Asketinnen und Asketen, die sich tatsächlich allein irgendwohin zurückgezogen haben, hat niemand geschrieben – was sie auch wohl kaum gewollt hätten. Das heißt, zugespitzt gesagt, daß wir, bedingt durch die Quellen, ausschließlich über die ‚Medienprofis‘ unter den Asketen überhaupt etwas sagen können. Unter Umständen sind die hier vorgetragenen Ansichten also schon deshalb wenig relevant, weil alle, die die Askese nur für sich und vor Gott betrieben haben, namenlos geblieben und vergessen worden sind, während diejenigen, deren Lebensgeschichte wir kennen, tatsächlich durch Weltflucht Einfluß gesucht haben. Die geschilderten, äußerst harten Lebensbedingungen machen es jedoch wahrscheinlich, daß niemand den Weg der Askese, der Abkehr von der Gesellschaft und weltlichen Angelegenheiten, nur zu dem Zweck wählte, sich Einfluß zu verschaffen. Es muß nach menschlichem Ermessen die innere Überzeugung von der Richtigkeit dieser Lebensführung hinzugekommen sein. Diese Feststellung ist insofern wichtig, als nicht das harte Leben, das Leiden als solches den Asketen ihren dargestellten Vorrang eintrug, sondern vielmehr die allgemein geteilte Überzeugung der nicht-asketischen, christlichen Umwelt, daß Antonius, Melania und Symeon, um die hier behandelten Beispiele aufzugreifen, ihr leidvolles Leben für sich allein und zu Ehren des gemeinsamen Gottes führten. Entscheidendes
68 MARKSCHIES, Christentum, 119. 69 Ἐπειδὴ γὰρ τις τῶν σπουδαίων ἀμυγδάλην παρ᾿ αὐτὴν ἐφύτευσε τὴν στιβάδα, εἶτα τῷ χρόνῳ δένδρον γιγνομένη, σκιάν τε αὐτῷ παρεϊχε, καὶ τὴν ὄψιν εἰστία, ἀποτμηθῆναι ἐκέλευσεν, ἵνα μηδὲ μιᾶς ἐκεῖθεν ἀπολαύῃ ψυχαγωγίας.
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Kriterium für die Bewertung war und ist also die Aufrichtigkeit der Überzeugung, daß das asketische Leben das einzig richtige sei. Zugespitzt bedeutet das zwingend, daß jemand, der aus purer, existenzieller Not hungert, daraus kein gesellschaftliches oder spirituell-geistiges Kapital schlagen kann, im Gegensatz zu jemandem, der seinen Mitmenschen überzeugend vermittelt, freiwillig und aus Einsicht in die Richtigkeit und Notwendigkeit zu fasten: Wer nichts hat, kann nicht demonstrativen Verzicht üben, um eine veränderte innere Überzeugung öffentlich anzuzeigen. Insofern betrachte ich Askese als den Fundamentalismus der Wohlhabenden. Der zeitgenössische und spätere Einfluß der spätantiken Askese ist unbestreitbar und wurde oben dargestellt. Bereits die Zeitgenossen des vierten und fünften Jahrhunderts haben jedoch – meiner Meinung nach berechtigte – Zweifel daran vorgebracht, ob die Askese allein die beste Annäherung an das vollkommene Christentum sei. Johannes Chrysostomos hat seine Zweifel in folgende Formulierung gekleidet: „Dies ist der Maßstab (κανών) vollkommenen Christentums, dies dessen exakte Definition und höchste, durch nichts zu überbietende Verwirklichung: zu suchen, was der Gemeinschaft nützt; was auch [Paulus] klarstellte, indem er der Mahnung: »Werdet meine Nachfolger!« hinzufügte: »so wie ich Christi [Nachfolger bin]« (1. Korinth 11,1). Denn nichts vermag uns so zu Nachahmern Christi zu machen wie, wenn wir uns um den Nächsten kümmern. Wenn du auch fastest, auf dem nackten Boden schläfst, ja dich sogar erwürgst, dich aber um den Nächsten nicht sorgst, so hast du noch nichts Großes vollbracht, sondern befindest dich mit solchen Leistungen noch in weitem Abstand von diesem Vorbild […].“ (Homilie über 1. Korinther 25,3) 70
BIBLIOGRAPHIE ALFÖLDI, A.: Die monarchische Repräsentation im römischen Kaiserreich, Darmstadt 1970. BAUER, J.B. – HUTTER, M. (Hg.): Lexikon der christlichen Antike, Stuttgart 1999. BRINGMANN, K.: Kaiser Julian, Darmstadt 2004 (Gestalten der Antike). BROWN, P.: The Rise and Function of the Holy Man in Late Antiquity, JRS 61 (1971), 80–101. BROWN, P.: The Cult of the Saints. Its Rise and Function in Latin Christianity, Chicago 1981 (Haskell Lectures on History of Religions, New Series 2). BROWN, P.: The Body and Society. Men, Women and Sexual Renunciation in Early Christianity, New York 1988 (Lectures on the History of Religion, New Series 13). BROWN, P.: The Rise of Western Christendom, Malden, MA/ London ²2003 (Orginalausgabe 1996). CAMERON, AV.: Virginity as Metaphor. Women and the rhetoric of early Christianity, in: dies. (Hg.), History as Text. The Writing of Ancient History, Chapel Hill – London 1990. COX MILLER, P.: Dreams in Late Antiquity. Studies in the Imagination of a Culture, Princeton 1994. 70 Iohannes Chrysostomos, Homilie über 1. Korinther 25,3: Τοῦτο κανὼν χριστιανισμοῦ τοῦ τελειοτάτου, τοῦτο ὅρος ἠκριθωμένος, αὕτη ἡ κορυφὴ ἡ ἀνωτάτω, τὸ τὰ κοινῇ συμφέροντα ζητεῖν. Ὅπερ καὶ αὐτὸς δηλῶν ἐπήγαγε· Καθὼς κἀγὼ Χριστοῦ. Οὐδὲν γὰρ οὕτω δύναται ποιῆσαι μιμητὴν τοῦ Χριστοῦ, ὡς τὸ κήδεσθαι τῶν πλησίων. Ἀλλὰ κἂν νηστεύσῃς, κἂν χαμευνήσῃς κἅν ἀπαγχονήσῃς σαυτὸν, τοῦ δὲ πληςίων μὴπρονοῇς, οὐδὲν μέγα εἰργάσω, ἀλλ᾿ ἔτι πόῤδω ταύτης τῆς εἰκόνος ἕστηκας ταύτα ποιῶν.
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RELIGIÖSE INTOLERANZ UND GEWALT IN DER SPÄTANTIKE Almuth Lotz, Potsdam FUNDAMENTALISMUS, INTOLERANZ UND GEWALT Intoleranz und Gewaltbereitschaft als radikale Ausdrucksformen von fundamentalistischen Glaubenshaltungen begegnen in Geschichte und Gegenwart sowie kulturübergreifend. Ursprünglich seit den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts in den USA durch die Bewegung der presbyterianischen Christen und die unveränderlichen Grundprinzipien ihres Glaubens, die fundamentals, in Abgrenzung zum theologischen Liberalismus und zum Evolutionsgedanken geprägt, benutzen wir den Fundamentalismus-Begriff heute, um extreme bis extremistische Geisteshaltungen und Strömungen sowohl in allen Weltreligionen als auch in Philosophien, säkularen Ideologien und politischen Theorien zu bezeichnen. Dabei ist dem Begriff des Fundamentalismus im populären Sprachgebrauch eine gewisse definitorische Unschärfe zu eigen, da unter ihm häufig nur ungenügend differenziert konservative religiöse Gruppierungen, gewaltbereite Teile von Volksgruppen mit mehr oder weniger religiöser Motivation oder politisch motivierte Terroristen zusammengefasst werden. Die unterschiedlichen Ausprägungen religiöser und politischer Fundamentalismen eint in der Regel ihre doktrinäre Ablehnung von Modernisierungs- und historischen Anpassungsprozessen, naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und pluralistischem Denken. Durch diese sieht man traditionelle Werte und grundsätzliche Prinzipien von Gesellschaft und Religion gefährdet und in orientierungslosen Relativismus und ‚Entartung’ abgleiten. Dieser als Verrat am Gründungsverständnis ihres Glaubens oder ihrer Ideologie verstandenen Entwicklung setzen Fundamentalisten die buchstäbliche Auslegung heiliger Texte und das kompromisslose Festhalten an deren absoluten Wahrheiten entgegen. Der Absolutheitsanspruch fundamentalistischen Denkens geht deshalb einher mit der Qualifizierung der Mitmenschen als Rechtgläubige und Falschgläubige beziehungsweise Freund und Feind und schafft so automatisch ein Potential für innergesellschaftliche Konflikte. Die Fundamentalisten verstehen sich selbst als eine elitäre und von einer höheren Macht berufene Minderheit in einer mehrheitlich feindseligen und im Niedergang befindlichen Umwelt. Ziel fundamentalistischen Denkens und Handelns ist die Errichtung beziehungsweise Aufrechterhaltung einer Theokratie, in der es keine Trennung von Staat und Kirche gibt. Ob fundamentalistische Gruppen in Gewaltbereitschaft und extremistischer Radikalität letztlich legitime Mittel zur Durchsetzung ihrer Glaubenssätze sehen oder nicht, hängt davon ab, in wel-
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chem Umfang sie dem sozialen Frieden als konstitutivem Element der Gesellschaftsordnung Vorrang gegenüber individuellen Überzeugungen einräumen und so gewissermaßen die Relativierung und Beschränkung eigener Ansprüche in Kauf nehmen. Der religiöse Fundamentalismus zeigt sich in seinem radikalen Extrem immer dann, wenn Intoleranz gegenüber Andersgläubigen gezielte Zerstörungen von kultischen Objekten und sakralen Orten und gewalttätige Ausschreitungen gegen Menschen motiviert. Als Beispiele der jüngeren Vergangenheit können hier die Zerstörung der Buddha-Statuen von Bamiyan in Afghanistan durch TalibanMilizen im März 2001 und islamistische Selbstmordattentäter, die sich bei der Ausübung ihrer terroristischen Greueltaten häufig mit dem Ruf „Allāhu akbar“ religiös legitimieren, angeführt werden. 1 Berichte von Intoleranz und Gewalt prägen nun auch das Bild, welches die Quellen über die konfessionellen Auseinandersetzungen des 4. und 5. Jahrhunderts vermitteln. Dem heutigen Betrachter vermittelt sich das Geschehen meist aus der christlichen Perspektive der Kirchenschriftsteller und es drängt sich ihm bei der Lektüre schnell der Eindruck auf, es mit einer Epoche menschlicher Verrohung, der Gewaltexzesse und des Werteverlusts zu tun zu haben. Religiös motivierte Unruhen der Spätantike sind in den zeitgenössischen Darstellungen allgegenwärtig. Sie erfahren hier durch die Dokumentation ihrer Zahl und die Dichte an Informationen eine solche Aufmerksamkeit, wie sie weder den aus Lebensmittelknappheiten erwachsenden Hungerrevolten noch den gewaltsam ausgetragenen Rivalitäten zwischen Zirkusparteien zuteil wird, die A. H. M. Jones als die beiden anderen großen Konfliktfelder der Spätantike beschrieb. 2 Von Konstantin bis Theodosius sind es vor allem die innerkirchlichen Auseinandersetzungen um die bischöfliche Nachfolge in den großen Städten, die von den gewaltbereiten Anhängerschaften konkurrierender Kandidaten zum Anlass für Unruhen und Ausschreitungen genommen werden und in den Quellen die anderweitig verursachten Gewaltausbrüche an Bedeutung fast vollständig zurücktreten lassen. Mit Beginn der 80er Jahre des 4. Jahrhunderts tritt schließlich eine Wende ein, die die bis dahin weitgehend friedliche Koexistenz von Heiden, Juden und Christen in den Städten 3 1
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Zum Ursprung des Fundamentalismus in der evangelikalen Bewegung der USA Ende des 19. Jahrhunderts und der modernen Verwendung des Fundamentalismus-Begriffs vgl. G. KÜENZ4 LEN: Fundamentalismus I: Zum Begriff, RGG 3 (2000), 414, und M. S. HAMILTON: Fundamentalismus II2b: Religionsgeschichtlich: Nordamerika, RGG4 3 (2000), 416–418. A. H. M. Jones typisiert die spätantiken Unruhen nach ihrer Veranlassung durch religiöse Konflikte, durch Versorgungskrisen oder durch Rivalitäten unter Zirkusparteien, vgl. A. H. M. JONES: The Later Roman Empire, Oxford 1964, 694. Die historische Anthropologie fasst die Motive für Gewalt und Aufruhr unter die Komplexe Gier, Hass, Angst, Machttrieb und Religion bzw. Ideologie inzwischen weiter. Vgl. H. v. STIETENCRON: Dem Krieg zugrundeliegende Dispositionen des Menschen, in: H. v. Stietencron – J. Rüpke (Hg.): Töten im Krieg, Freiburg – München 1995, 25–33. So würdigt Ammianus Marcellinus die religionspolitische Haltung Valentinians I., die einer de facto-Tolerierung des Heidentums gleichkam (30,9,5): Postremo hoc moderamine principatus inclaruit, quod inter religionum diversitates medius stetit, nec quemquam inquietavit, neque ut hoc colereter, imperavit aut illud: nec interdictis minacibus subiectorum cervicem
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durch gewalttätige Ausschreitungen des Mobs beendet. Mit der Durchsetzung des Christentums als Staatsreligion richtet sich christliche Aggressivität im späten 4. und frühen 5. Jahrhundert nunmehr zunehmend gegen Heiden und Juden und provoziert nicht selten entsprechende Gegenreaktionen auf Seiten ihrer Opfer. Am härtesten trifft die christliche Intoleranz jedoch Abtrünnige in den eigenen Reihen. 4 Das Verhältnis zwischen Rechtgläubigen, Schismatikern und Häretikern ist in der Folge so schwer belastet und vergiftet, dass sich die gegenseitigen Feindseligkeiten in grausigen Gewaltexzessen Bahn brechen können. Augustinus vermittelt in seinen Berichten über den fast zu Tode gelynchten Bischof von Bagai 403 n. Chr. oder die Ermordung beziehungsweise Verstümmelung zweier Presbyter 412 n. Chr. in Hippo durch Donatisten einen Eindruck von der Schonungs- und Gnadenlosigkeit, die der Umgang miteinander annehmen konnte. 5 Wie müssen wir die spätantiken Schilderungen religiös motivierter Unruhen und gewalttätiger Ausschreitungen gegenüber Andersgläubigen nun einordnen? Lässt sich anhand des uns zur Verfügung stehenden Quellenmaterials tatsächlich ein zuverlässiges und verallgemeinerbares Bild darüber gewinnen, wie weiträumig, wirkungsvoll und in welcher Qualität Gewalt die Auseinandersetzungen zwischen den Religionen einerseits und dem römischen Alltag andererseits bestimmte? Ist das Ausmaß an Gewalt in der Spätantike gar ein charakteristisches Alleinstellungsmerkmal der Epoche, wie es uns die zumeist christlichen Zeitzeugen in ihren Porträts glauben machen wollen, oder prägt ein solches nicht gleichermaßen auch andere geschichtliche Zeiträume? 6
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ad id, quod ipse coluit, inclinabat, sed intemeratas reliquit has partes ut repperit. Zu dieser letzten Phase der Duldung des Heidentums zwischen dem Tod Julians und der Mitte der 80er Jahre des 4. Jahrhunderts siehe G. FOWDEN: Bishops and Temples in the Eastern Roman Empire A.D. 320–435, JThS 29 (1978), 53–78, hier 62. Zur Zunahme der gewalttätigen Ausschreitungen ab den 80er Jahren des 4. Jahrhunderts und zum Paradigmenwechsel von der christlichen Tolerierung des Heidentums hin zur Intoleranz gegenüber Heiden, Juden, Häretikern und Schismatikern siehe R. MARKUS: Patterns of christian intolerance in the fourth century, in: J. Drinkwater – B. Salway (Hg.): Wolf Liebeschuetz Reflected. Essays presented by colleagues, friends, and pupils, London 2007, 51–56. Aug. epp. 185,27 u. 30 (Bagai 403 n. Chr.). 133,1 (Hippo 412 n. Chr.). Ammianus Marcellinus überliefert, Julian habe sich den in Glaubensfragen zerstrittenen Bischöfen gegenüber dahingehend geäußert, dass „keine wilden Tiere den Menschen so feindlich gesonnen wie die meisten Christen einander verhasst seien“ (22,5,4: […] nullas infestas hominibus bestias, ut sunt sibi ferales plerique). P. BROWN: Macht und Rhetorik in der Spätantike. Der Weg zu einem christlichen Imperium, München 1995, 118: „Christliche Streitigkeiten mobilisierten einzelne Glaubensgemeinschaften in den Städten und führten zu größeren Unruhen und zu häufigen Prozessionen und Gegenprozessionen. Im gesamten Imperium bewirkte das christliche Parteiwesen ein merkliches Anwachsen der gewalttätigen Atmosphäre.“ Die Diskussion um die Frage, ob die Gewalt der Spätantike tatsächlich einzigartig und nicht mit anderen Epochen vergleichbar ist, fasst M. Zimmermann in seinem Tagungsbeitrag auf der 2003 ausgetragenen Conference on Shifting Frontiers in Late Antiquity zusammen. Vgl. M. ZIMMERMANN: Violence in Late Antiquity Reconsidered, in: H. A. Drake (Hg.), Violence in Late Antiquity. Perceptions and Practices. Based on papers presented at the fifth biennial
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Die jüngere Forschung wendet sich verstärkt dem Thema der Gewalt in der Antike allgemein und im Besonderen der Bedeutung gewalttätigen Aufruhrs für den Wandlungsprozess von der heidnisch zur christlich geprägten Gesellschaft der Spätantike zu. Hervorzuheben ist hier unter anderen J. Hahns 2004 erschienene ausführliche Untersuchung „Gewalt und religiöser Konflikt“. J. Hahn widmet sich den unterschiedlichen Bedingungen und Einflüssen gesellschaftlicher, wirtschaftlicher, ethnischer und machtpolitischer Art auf die gewaltsamen und in der Interpretation der christlichen Überlieferung in erster Linie religiös motivierten Auseinandersetzungen im oströmischen Reich von Konstantin bis Theodosius II. 7 J. Hahn wie auch andere sind inzwischen eher vorsichtig, die uns in den Quellen vermittelte Sicht auf die Ereignisse unvoreingenommen zu übernehmen und den christlich-heidnischen, von Gewaltausbrüchen orchestrierten Konflikt als den alles entscheidenden Faktor im Prozess der Christianisierung anzunehmen. So ist ferner zu berücksichtigen, dass die patristischen Schilderungen von Tempelzerstörungen und massakrierten Christen doch immer auch den Subtext vom moralischen und tatsächlichen Sieg des Christentums über eine im Niedergang befindliche pagane Welt und von der katholischen Kirche als der neuen starken Autorität im Römischen Reich enthalten. 8 Im Folgenden geht es vor dem Hintergrund des bisher Gesagten nun um die Frage, inwieweit der eingangs beschriebene Fundamentalismus-Begriff sinnvoll auf religiös motivierte und gewaltsam ausgetragene Konflikte, wie sie seit den 80er Jahren des 4. Jahrhunderts vermehrt auftreten, anwendbar und letztlich geeignet
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Conference of Shifting Frontiers in Late Antiquity, University of California March 20–23, 2003, London 2006, 343–357. J. HAHN: Gewalt und religiöser Konflikt. Studien zu den Auseinandersetzungen zwischen Christen, Heiden und Juden im Osten des Römischen Reiches (von Konstantin bis Theodosius II.), Berlin 2004 (Klio-Beihefte N.F. 8). Hierzu u.a. H. A. DRAKE: Gauging Violence in Late Antiquity, in: H. A. Drake (Hg.), Violence in Late Antiquity. Perceptions and Practices. Based on papers presented at the fifth biennial Conference of Shifting Frontiers in Late Antiquity, University of California March 20– 23, 2003, London 2006, 1–11, ebda. 2f.: “Hence, the violence that traditionally characterized this period can no longer be taken for granted. Not that anybody is ready to assert that the violence that fills so much of the narrative of these centuries never occurred – that is not the issue. Rather, the question is whether the previous model of ‘decline and fall’ has conditioned us to emphasize those aspects of this age over indicators suggesting that, while the pace of change may have quickened, it is one that functioned much as others have before and since. Was it a more violent time than, say, Rome in the Late Republic or, for that matter, the United States in the 1960s? Was it, in other words, an age of unique violence?”; 8f.: “[...] the pagan-Christian conflict that long dominated our thinking about the process of Christianization in the Late Antique world. But closer inspection has frequently modified, if not overturned, the conflict model, and this case is no exception. [...] Amelia Brown comes to a similar conclusion for Greece [...]. Both literary sources and archaeology have been interpreted to show a sudden end to pagan cult and the much later new start of Christian cult at festival sites, but with the help of new archaeological discoveries and other literary sources Brown has charted a more gradual shift in the use of these sites – a ‘progressive conversion’ characterized more by competition than conflict.”
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ist, unserem bisherigen Wissen über einschlägige Ereignisse noch neue Aspekte hinzuzufügen. Besonderes Interesse gilt daher den Personen beziehungsweise gesellschaftlichen Gruppierungen, die als Urheber und Träger von Intoleranz und Aggression auf christlicher Seite in Erscheinung treten und eine gewaltsame Eskalation innergesellschaftlicher Spannungen herbeiführen. Wenn wir, wie soeben angedeutet, voraussetzen, dass die willentlich herbeigeführten Gewaltausschreitungen eben nicht nur auf einer vordergründigen Differenz von Christen zu Heiden, Juden, Schismatikern und Häretikern in Glaubensfragen beruhen, sondern in erster Linie Ausdruck vielfältiger, aus dem Prozess der Veränderungen in Kultur, gesellschaftlicher Organisation und wirtschaftlichem Leben resultierender Einflüsse sind, dann muss sich dies auch in der persönlichen Motivation der Initiatoren und Vollstrecker von Intoleranz und Repressalien gegen Andersgläubige widerspiegeln. In welchem Maße haben wir es hier also tatsächlich mit religiösen Überzeugungstätern, wenn man so will: mit radikalen Fundamentalisten, zu tun, deren skrupelloses, vor nichts zurückschreckendes Handeln vor allem Ausdruck eines fanatischen Glaubenseifers ist und die sich als elitäre Vorkämpfer ihrer Religion begreifen? Können wir konkrete Aussagen über den sozialen Hintergrund, das Selbstverständnis und, sofern fassbar, die individuellen Ziele der Akteure machen, die auf eine durch die religiöse Überzeugung bedingte Radikalisierung schließen lassen? Scheint es also gerechtfertigt, christliche Intoleranz und Gewalt in der Spätantike als Ausdruck eines religiösen Fundamentalismus zu interpretieren? Zur Klärung dieses Fragenkomplexes trägt im Besonderen eine Betrachtung der näheren Umstände des Mordes an der Neuplatonikerin Hypatia in Alexandria im März 415 n. Chr. bei. Die Überlieferung, die vor allem durch die um Sachlichkeit bemühte und kenntnisreiche Darstellung des Sokrates Scholastikos geprägt ist, erlaubt uns in diesem Einzelfall einen ungewöhnlich guten Einblick in das Zusammenspiel unterschiedlicher Kräfte, die an der Provokation und grausamen Eskalation eines Konflikts zwischen Bischof Kyrill und dem praefectus Augustalis Orestes beteiligt sind. 9 Häufig thematisieren Kirchenschriftsteller religiöse Unruhen und Gewalttätigkeiten in der primären Absicht, das Martyrium der christlichen Opfer hervorzuheben. Selten sind sie dabei an der differenzierten Analyse von Verantwortlichkeiten oder der genauen personellen Zusammensetzung eines randalierenden Mobs interessiert. Dem entgegen erlauben die Berichte über die Ereignisse in Alexandria, den Mord an Hypatia in einen größeren Zusammenhang zu stellen sowie die Beziehungen und gegenseitigen Abhängigkeiten der am Geschehen beteiligten Personen und Gruppierungen recht genau zu rekonstruieren. 9
Socr. hist. eccl. 7,13–15. Eine weitere wichtige Quelle für die Auseinandersetzungen zwischen Kyrill und Orestes und die Ermordung Hypatias ist der Suda-Artikel zu Hypatia, der sich größtenteils auf den heidnischen Neuplatoniker Damascius stützt, Damasc. vit. Isid. frgg. 102 u. 105 = Suda s.v. Ὑπατία, hrsg. von A. Adler, Leipzig 1935, IV 644–646 = Damascius. The Philosophical History, hrsg. und übers von P. Athanassiadi, Athen 1999, 43A u. 43E. Vgl. ferner Philostorg. hist. eccl. 8,9; Ioh. Mal. 14,12; Ioh. Nikiu. chron. 84–87.
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DER MORD AN HYPATIA UND SEINE HINTERGRÜNDE Die Ermordung der neuplatonischen Philosophin Hypatia durch fanatisierte Parabalani im März 415 n. Chr. in Alexandria ist der tragische Höhepunkt eines längeren Konflikts zwischen Bischof Kyrill und dem praefectus Augustalis Orestes. Im Verlauf der Auseinandersetzung waren der oberste Repräsentant der Katholiken Alexandrias und der Vertreter staatlicher Autorität wiederholt wegen Kompetenzstreitigkeiten aneinandergeraten und hatten auch immer wieder bewusst die Öffentlichkeit gesucht, um dem Gegenspieler den eigenen Machtanspruch zu demonstrieren. Die Auseinandersetzung hatte ihren Ausgang genommen, als Kyrill kurze Zeit nach seiner Wahl ins Bischofsamt 412 n. Chr. als Nachfolger seines Onkels Theophilus die jüdische Gemeinde so provoziert hatte, dass es in der Folge zu einer blutigen Hetzjagd von Juden auf Christen gekommen war. Kyrill reagierte auf dieses Pogrom mit der umgehenden Konfiskation der Synagogen und der Vertreibung der jüdischen Gemeinde aus der Stadt, was Orestes als unangemessene Einmischung in seine amtlichen Belange empfand und zu einem Bericht an den Kaiserhof veranlasste. 10 Die Situation eskalierte weiter, als ein schlagkräftiger Trupp von 500 Mönchen aus der Wüste von Nitria bei einer Demonstration den getauften Orestes zunächst als Heiden verunglimpfte und ihn dann in einem Tumult angriff und schwer verletzte. 11 Mit der Zuspitzung des Konflikts war es schließlich zu einer Polarisierung der alexandrinischen Bevölkerung in Anhänger des Bischofs und solche des Präfekten gekommen, die zu einer brisanten, krawallbreiten Atmosphäre in der Stadt beitrug. Während Kyrill vor allem, aber auch nicht uneingeschränkt, auf die Christen als Parteigänger zählen konnte 12 , die inzwischen die Mehrheit der Stadtbevölkerung ausmachten, fand Orestes vor allem in den Reihen der intellektuellen Oberschicht Unterstützung und suchte hier sowohl zu Heiden als auch Christen Kontakt, die sich trotz ihres unterschiedlichen Glaubens nach wie vor durch das gemeinsame Bildungsideal griechischer paideía einander verbunden fühlten und nun offenbar eine Opposition gegen den machthungrigen Bischof zu schmieden begannen. Eine einflussreiche und hoch angesehene Persönlichkeit in diesem Kreis war Hypatia, die an der Hochschule von Alexandria den Lehrstuhl ihres Vaters Theon übernommen hatte und die zu ihren zahlreichen, von weither nach Alexandria kommenden Schülern auch Christen wie den Bischof Synesios von Kyrene zählen konnte. 13 Obwohl eine Frau, verkörperte Hypatia ein gelehrtes und politisch en10 Soc. hist. eccl. 7,13,9. 11 Ebda. 7,14. 12 Dass der Rückhalt Kyrills unter den Christen nicht uneingeschränkt war, deutet Sokrates an. Wiederholt drängen die Christen ihren Bischof, sich aktiv um eine Aussöhnung mit Orestes zu bemühen (hist. eccl. 7,13,19. 14,10f. 15,4). 13 Eine ausführliche Darstellung des Lebens und Wirkens Hypatias bietet M. DZIELSKA mit ihrer 1995 erschienenen Biographie Hypatia of Alexandria (Harvard University Press). Synesios von Kyrene spricht Hypatia in Epistula 16 mit „Mutter, Schwester, Lehrerin und vor allem Wohltäterin“ an und bringt so seine liebevolle Verehrung für diese zum Ausdruck. Zum Ver-
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gagiertes Philosophentum, dem die Mächtigen die Freiheit der Rede (parrhesía) zustanden. Während der kaiserliche Präfekt Orestes, selbst Christ, den Patriarchen Kyrill für das Pogrom und die endgültige Vertreibung der Juden aus Alexandria verantwortlich machte und maßregelte, schenkte er Hypatia sein Gehör. 14 Um den Einfluss der Heiden zurückzudrängen, wurde von christlicher Seite das Gerücht lanciert, es sei Hypatia, die einer Aussöhnung des ihr ergebenen Orestes mit Kyrill im Wege stehe. 15 Die Anhänger Kyrills verleumdeten Hypatia als eine Hexe und schrieben ihr schwarze Magie zu, durch welche sie angeblich den Atheismus des Orestes bewirkt habe. Als Beleg für die Glaubwürdigkeit ihrer unerhörten Behauptungen diente den Scharfmachern der Hinweis darauf, dass schon Hypatias Vater Theon sich mit Astrologie, Magie und Traumdeutung beschäftigt habe und Astrologen in seinem Haus ein und aus gegangen seien.16 Schließlich war im März 415 n. Chr. eine solche Fanatisierung der alexandrinischen Gemeinde erreicht, dass Parabalani Hypatia aus ihrer Sänfte zerrten, ihr die Kleider vom Leib rissen und sie vor dem Kinaron/Caesareum, einer der Hauptkirchen der Stadt, steinigten. Das grausame Schauspiel fand seinen Höhepunkt, als man den Leichnam mit Tonscherben zerstückelte und anschließend öffentlich verbrannte. 17 Während seiner Auseinandersetzung mit Orestes verfügte Bischof Kyrill über eine ergebene Gefolgschaft aus Klerikern, Mönchen und Parabalani, die sich bereitwillig und ohne jeden moralischen Skrupel als Provokateure und Schlägertrupps gegen die jüdische Gemeinde, den Präfekten und Hypatia einsetzen ließen. Was war für den Bischof und seine Sympathisanten der Motor ihres militanten Handelns – war dies der Glaube an eine göttliche Mission oder spielten hier letztlich sehr viel profanere Gründe eine Rolle?
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hältnis von Synesios und Hypatia und zu dem Einfluss der Philosophin auf die Theologie ihres Schülers siehe S. VOLLENWEIDER: Neuplatonische und christliche Theologie bei Synesios von Kyrene, Göttingen 1985, 15ff. Socr. hist. eccl. 7,15,4. Ebda. Es ist vor allem die sehr späte Quelle des Johannes von Nikiu, welche uns die um den Vorwurf schwarzer Magie gestrickte Verleumdungskampagne gegen Hypatia ausführlich überliefert und daher leicht als ein Teil der sich um die Person der spätantiken Philosophin reich entfaltenden Legendenbildung abgetan werden könnte. Jedoch die knappe und unmissverständliche Bemerkung des Hesychios von Milet, die Astronomie habe letztlich das Schicksal der Hypatia besiegelt, scheint die Version des Johannes zu stützen. Vgl. Ioh. Nikiu chron. 84–87. Ps.-Hesych. 69 = Suda s.v. Ὑπατία (IV 644,7f., hrsg. von A. Adler): Hypatia sei gestorben „aus Neid und weil sie diese [die Alexandriner] an Weisheit übertroffen hat und dies ganz besonders in Hinsicht auf die Astronomie“ (διὰ φθόνον καὶ τὴν ὑπερβάλλουσαν σοφίαν καὶ μάλιστα εἰς τὰ περὶ ἀστρονομίαν). Soc. hist. eccl. 7,15,5. Die einzige Quelle, die ausdrücklich und unmissverständlich Kyrill für die Ermordung Hypatias verantwortlich macht, ist Damasc. vit. Isid. frg. 105 = Suda s.v. Ὑπατία, hrsg. von. A. Adler, Leipzig 1935, IV 644–646 = Athanassiadi, 43E.
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DIE MÖNCHE Etwa 500 Mönche hatten ihre Einsiedeleien im 50 Kilometer von Alexandria entfernten Nitria verlassen und sich Bischof Kyrill zur Verfügung gestellt. Sollte Kyrill selbst die Eremiten als asketische Kampftruppe herbeigerufen haben, was keineswegs durch die Quellen belegt ist, dürften diese umgehend und ohne Zimperlichkeit die vom Bischof in sie gesetzten Erwartungen erfüllt haben. Bei einem ersten Zusammentreffen mit Orestes beschimpfte die Mönchshorde diesen als Heiden und entfachte einen Tumult, in dessen Verlauf der von seiner Leibgarde im Stich gelassene Präfekt durch einen Steinwurf schwer verletzt und nur durch das beherzte Eingreifen der alexandrinischen Bevölkerung gerettet wurde. 18 Während den Asketen der ägyptischen Wüste zu Zeiten des Athanasius und seiner Nachfolger noch die uneingeschränkte Verehrung der Bevölkerung zuteil geworden war, hatte sich diese positive Einschätzung inzwischen in ihr Gegenteil gekehrt. Die ägyptischen Eremiten hatten in der Vergangenheit wiederholt in die Geschicke Alexandrias eingegriffen und sich dabei nicht unbedingt als verlässliche, uneigennützige Koalitionäre ausgezeichnet: Hatten Mönche noch die anfängliche Opposition gegen den arianischen Bischof Georg von Kappadokien (357– 361 n. Chr.) angeführt, so war es nur wenige Jahre später dem arianischen Bischof Lucius (367–378 n. Chr.) gelungen, einige der führenden Eremiten für seinen Kampf gegen die Anhänger des Athanasius zu gewinnen. Dieser Umstand hatte die alexandrinische Bevölkerung so sehr erzürnt, dass Lucius die Mönche schließlich in die nitrische Wüste zurückschicken musste. 19 Kyrill selbst soll als junger Mann sechs Jahre als Asket in Nitria gelebt und gelernt haben. 20 Es könnte sein, dass die Eremiten den Bischof als einen der Ihren ansahen und sich nun mit ihrem Engagement seinem Patronat und seiner Fürsprache unterstellen wollten, in der Hoffnung auf eine künftige Allianz zwischen ihrer lockeren Gemeinschaft und dem mächtigen Kirchenfürsten. Ein Motiv für eine solch klare Parteinahme dürfte in der schweren Krise zu suchen sein, in die das ägyptische Mönchtum um 400 n. Chr. auch durch die Verfolgung und Vertreibung origenistischer Mönche aus der Wüste von Nitria durch Kyrills Onkel und Amtsvorgänger Theophilus geraten war und die im Bewusstsein der Eremiten noch gegenwärtig gewesen sein muss. Eine weitere, aktuelle Gefährdung ging von dem libyschen Nomadenstamm der Maziken aus, welche durch ihre Einfälle in die nitrische Wüste auch die Einsiedeleien in ihrer Existenz bedrohten.21
18 Socr. hist. eccl. 7,14,2ff. Vgl. C. HAAS: Alexandria in Late Antiquity. Topography and Social Conflict, Baltimore – London 1997, 306. Haas äußert sich zu der Frage, ob die Mönche von Kyrill herbeigerufen und gezielt gegen Orestes als Schlägertrupp eingesetzt wurden, eher skeptisch. 19 Ebda., 267. 20 Ebda., 306. 21 Zum Vorgehen des alexandrinischen Bischofs Theophilus gegen die Origenesverehrer unter den nitrischen Mönchen vgl. Hier. epp. 96. 98. 100. Hierzu S. FRANK: Lehrbuch der Geschichte der Alten Kirche, 2. Aufl., Paderborn u.a. 1997, 266f., 369.
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DIE KLERIKER UND PARABALANI Aufgepeitscht und angeführt von dem Lektor Petros lauerte eine Gruppe von „Männern, die erhitzt waren in ihren Sinnen“, Hypatia auf und überfiel sie. Die Umschreibung des Damascius ,θηριώδεις ἄνθρωποι 22 , für die Täter sowie zwei im Jahre 416 n. Chr., wohl in Reaktion auf die Ereignisse in Alexandria erlassene Kaisergesetze, die an den praefectus praetorio Orientis gerichtet waren und die Macht der Parabalani einschränkten, sind nach Meinung R. Kleins als eindeutige Hinweise auf die Mörder der Philosophin zu werten. 23 Die Parabalani wurden als Hilfspersonal des Bischofs zur Betreuung von Kranken aus der Plebs rekrutiert und gehörten zum niederen Klerus. Kyrill verfügte über mehr als 500 Parabalani, die sich als effiziente und zu jeder Zeit einsatzbereite Schlägertruppen bei städtischen Unruhen einsetzen ließen. Die Parabalani folgten Kyrill wohl bedingungslos, garantierte doch der Macht- und Ansehenszuwachs des Bischofs automatisch auch ihre eigene Wohlfahrt. Mit Hypatia beseitigten die Parabalani das Haupthindernis, das Kyrills Verhältnis zu Orestes und somit auch einem größeren politischen Einfluss im Wege zu stehen schien. Als Angehörige des Klerikerstandes profitierten die Parabalani von Vorteilen wie der Befreiung von gewissen munera oder juristischer Immunität. Angehörige der höheren Stände kauften sich wohl um dieser Vergünstigungen willen mit Bestechungsgeldern in den Stand der Parabalani ein, wie die vom Kaiserhof verfügte Neuregelung nahelegt. Da Kyrill auch später noch dafür bekannt war, selbst mit Geldmitteln die Durchsetzung seiner Ziele kräftig befördert zu haben, wird er sich so manch Wohlhabenden in Alexandria durch dessen Aufnahme in die Reihen der Parabalani verpflichtet haben. 24 DER BISCHOF Bischof Kyrill füllt in dem Konflikt mit Orestes ganz die Rolle eines machtbewussten Kirchenfürsten aus. Sein Vorgehen gegen die jüdische Gemeinde und seine direkte Mitverantwortung am Tod Hypatias sind Zeugnis seiner selbstbewussten Ambitionen, nicht nur seelsorgerisch die Führungsrolle in Alexandria zu beanspruchen. Wiederholt wendete sich Kyrill im Verlauf der Auseinandersetzungen brieflich direkt an den Kaiserhof in Konstantinopel, um die ihm von Orestes vorgeworfene Einmischung in dessen Amtsgeschäfte zu rechtfertigen und 22 Damasc. vit. Isid. frg. 105 = Suda s.v. Ὑπατία (IV 645,13, hrsg. v. Adler) = Athanassiadi, 43E. Cod. Theod. 12,12,15 (5. Oktober 416). 16,2,42 (29. September 416). 23 R. KLEIN: Die Ermordung der Philosophin Hypatia, in: R. KLEIN (Hg.), Roma versa per aevum. Ausgewählte Schriften zur heidnischen und christlichen Spätantike, Hildesheim u.a. 1999 (Spudasmata 74), 83 FN 31. 24 Cod. Theod. 16,2,42 (29. September 416 n. Chr.). Zu den die Parabalani nun streng reglementierenden Teilbestimmungen des offenbar in Reaktion auf die Ereignisse in Alexandria erlassenen Gesetzes vgl. R. KLEIN: Die Ermordung der Philosophin Hypatia, 87–89.
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so die eigene Autorität gegenüber der des kaiserlichen Beamten zu stärken. Der Kaiserhof reagierte auf diese Schreiben Kyrills nicht und verwies den Bischof durch beredtes Schweigen in seine Grenzen. 25 Kyrill beanspruchte bei Hofe letztlich das, was man der Heidin Hypatia ohne Weiteres zustand: Hypatia fand bei den Mächtigen Gehör und besaß parrhesía, die Freiheit des Wortes. Die Philosophin wurde so zur mächtigsten Konkurrentin des Bischofs von Alexandria, die seinem direkten Zugang zum Kaiser im Wege stand. SCHLUSSFOLGERUNG Die geschilderten Hintergründe zeigen, dass die Ereignisse in Alexandria 414–415 n. Chr. vor allem Ergebnis einer machtpolitischen Konfrontation zwischen Episkopat und kaiserlicher Autorität waren. Die Ermordung Hypatias setzte dem Kräftemessen von Kyrill und Orestes ein vorläufiges Ende. Kyrill traf als Brandstifter die volle moralische Schuld an dem abscheulichen Verbrechen und seine indirekte Verantwortung für das Geschehen schadete dem Ansehen der alexandrinischen Kirche erheblich, wie Sokrates Scholastikos sachlich analysiert. 26 Weder die von Kyrill aufgehetzten Mönche noch die Parabalani engagierten sich in den Auseinandersetzungen aus einer primär religiösen Motivation heraus. Die Eremiten aus der nitrischen Wüste dienten sich Kyrill wahrscheinlich in erster Linie in der Hoffnung an, einen mächtigen Patron zu gewinnen, der sie und ihre traditionelle Lebensform künftig vor Gefahren wie den Einfällen der mazikischen Nomaden bewahren konnte. Die Parabalani handelten ganz zweckrational und waren vor allem auf die Wahrung beziehungsweise Vermehrung eigener Vorteile und Besitzstände bedacht. Diese Fallstudie zeigt meines Erachtens recht deutlich, wie problematisch eine Übertragung des Fundamentalismus-Begriffs auf spätantike Verhältnisse ist. Die Urheber und Träger von Gewalt und Intoleranz in Alexandria zu Beginn des 5. Jahrhunderts sind nicht fanatische Glaubenseiferer, sondern ganz eigennützig auf ihren eigenen Vorteil bedachte Pragmatiker und Machtmenschen, die innerhalb der bestehenden Gesellschaftsordnung zwar in Grenzbereichen der Legalität beziehungsweise in bewusster Übertretung derselben agieren, die bestehende Gesellschaftsordnung selbst aber nicht umstürzen wollen.
25 Sokr. hist. eccl. 7,13,19. 14,8. 26 Ebda. 7,15,6: Τοῦτο οὐ μικρὸν μῶνον Κυρίλλ´ßῳ καὶ τῇ Ἀλεξανδρεω ἐκκληςίᾳ εἰργάσατο´· ἀλλότριον γὰρ παντελωος τῶν φρονούντων τὰ Χριστοῦ φόνοι καὶ μάχαι καὶ τὰ τούτοις παραπλήσια. („Diese Sache brachte eine nicht geringe Schmach, nicht nur über Kyrill, sondern über die ganze Alexandrinische Kirche. Und mit Sicherheit kann nichts weiter vom Geiste des Christentums entfernt sein, als derartige Massaker, Gewalttaten und Misshandlungen zuzulassen!“)
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„AUSGEMERZT WERDEN MUSS DER IRRGLAUBE!“ ZUR IDEOLOGIE UND PRAXIS CHRISTLICHER GEWALT GEGEN PAGANE KULTE IN DER SPÄTANTIKE Johannes Hahn, Münster I. Wenige Jahre nach dem Tode Kaiser Konstantins richtete ein christlicher Autor eine Denkschrift unter dem Titel „Über die Irrtümer der gottlosen Religionen“ an dessen nun regierende Söhne. Darin entlarvte er die Götter der Heiden als zwielichtige Gestalten und die immer noch populären Mysterienkulte als teuflische Nachahmungen von Elementen der christlichen Religion und Heilslehre. Nach einem allgemeinen Aufruf zum christlichen Glauben steigert sich seine Polemik schließlich zu offener Aggression gegen die paganen Kulte. Er fordert – was noch keiner vor ihm getan hatte – die christlichen Kaiser auf, alle nichtchristlichen Kulte auszurotten. Nachdem der Redner, Iulius Firmicus Maternus (übrigens ein frischer Konvertit), die Tempel der Heiden als schlichte Grabstätten, in denen die Asche verbrannter Leichname aufbewahrt würde, und als Orte abscheulicher Kultpraktiken diffamiert hat, äußert er folgendes Verlangen: „Von Grund auf müssen solche Dinge, allerheiligste Kaiser, ausgemerzt und vernichtet werden und sollen durch schärfste Gesetze und Erlasse eurerseits korrigiert werden, damit nicht länger dieser verhängnisvolle irrige Wahn den römischen Erdkreis beflecke, damit nicht länger, was immer einen Mann Gottes zu verderben sucht, auf der Erde herrsche! Diese Menschen wollen zwar nicht und leisten Widerstand und verlangen in hastiger Gier nach ihrem Verderben. Doch kommt den Elenden zu Hilfe, bewahrt sie vor dem Untergang! Dazu hat euch der höchste Gott die Regierung anvertraut, daß durch euch der Streich dieser Wunde geheilt würde. Wir kennen die Gefahr ihrer Freveltat, bekannt sind uns die Strafen für den Irrwahn, aber besser ist, daß ihr sie gegen ihren Willen befreit, als daß ihr sie nach ihrem Willen dem Verderben überlaßt.“ 1
Und wenig später erhebt sich Maternus in rhetorischem Crescendo zu noch konkreteren Forderungen und Ratschlägen an die sacratissimi imperatores: 1
Firm., Err. relig. 16,3: Amputanda sunt haec, sacratissimi imperatores, penitus atque delenda, et seuerissimis edictorum uestrorum legibus corrigenda, ne diutius Romanum orbem praesumptionis istius error funestus immaculet, ne pestiferae consuetudinis conualescat inprobitas, ne quicquit hominem dei conatur perdere diutius in terra dominetur. Nolunt quidam et repugnant et exitium suum prona cupiditate desiderant. Sed subuenite miseris, liberate pereuntes. Ad hoc uobis deus summus commisit imperium ut per uos uulneris istius plaga curetur. Facinoris eorum periculum scimum, erroris notae sunt poenae; sed melius est ut liberetis inuitos quam ut uolentibus concedatis exitium. Hierzu DRAKE, Firmicus Maternus.
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Johannes Hahn „Nur wenig fehlt noch, daß der Teufel durch eure Gesetze vollständig zu Boden gestreckt daliegt, daß die verhängnisvolle Ansteckung des Götzendienstes nach seiner Ausrottung aufhöre. Dieser Giftsaft ist geschwunden und von Tag zu Tag erlischt immer mehr die Wesenheit unheiliger Begierde. Richtet auf das Banner des Glaubens, die Gottheit hat es euch anvertraut. [...] Glückselig seid ihr, die euch Gott an seiner Herrschergewalt hat teilhaben lassen und seinem Machtwillen, die Vernichtung des Götzendienstes und die Zerstörung der heidnischen Tempel hat die gnädige Majestät Christi euren Händen anvertraut [...]. Nehmt weg, nehmt weg ohne Zagen, allerheiligste Kaiser, den Schmuck der Tempel. Diese Götter soll das Feuer der Münzstätte oder die Flamme des Metallbergwerkes schmelzen, alle Weihegeschenke verwendet zu eurem Nutzen und macht sie zu eurem Eigentum. Nach Vernichtung der Tempel seid ihr vermöge der Kraft Gottes zu Höherem fortgeschritten.“ 2
Diese Sätze, um das Jahr 345 n. Chr. formuliert, fallen nur gut 30 Jahre nach dem Ende der letzten und schwersten Christenverfolgung (unter Kaiser Diokletian) und der politischen Hinwendung Kaiser Konstantins zum Christentum: letzteres ein Ereignis, das für alle Zeitgenossen, gerade für die Christen selbst – in diesem Moment eine wenig bedeutende Minorität im Imperium Romanum, völlig überraschend eintrat, aber, wie wir heute wissen, epochale Bedeutung weit über die Spätantike hinaus entfalten sollte. Die Ausführungen des Firmicus Maternus vermögen dabei eine ganze Reihe von Aspekten schlaglichtartig zu illustrieren beziehungsweise anzureißen, die für das hiesige Thema von Relevanz sind und im folgenden nähere Betrachtung verdienten: Das außerordentliche Selbstbewußtsein der unversehens aus der Illegalität und Verfolgung in die Gunst des Kaisertums gerückten Christen; die Diffamierung jahrhundertealter, anerkannter religiöser Praktiken und Traditionen des Heidentums; die Aggressivität und unverhohlene Intoleranz christlicher Repräsentanten und Gruppen; das seitens der Kirche offen angenommene, ja angestrebte und nahezu vorbehaltlose Bündnis mit der kaiserlichen Macht; die Instrumentalisierung des Kaisers, staatlicher Institutionen und exekutiver Mittel zur Durchsetzung der eigenen Ziele, insbesondere die Christianisierung des ganzen Imperiums und seiner Gesellschaft; die Militanz von Konvertiten in der Auseinandersetzung mit Andersgläubigen und schließlich auch die – hier zunächst verbal artikulierte – Gewaltbereitschaft einzelner christlicher Kreise im Umgang mit Andersdenkenden und nicht zuletzt das konkrete und hartnäckig verfolgte Ziel der gänzlichen Zerstörung der materiellen Basis aller paganen Kulte. Alle diese Aspekte und zahlreiche weitere ließen sich ausführlich belegen und abhandeln. Die folgenden Ausführungen können allerdings weder ein umfassendes noch ein repräsentatives Bild der weitgespannten Thematik entwerfen. Die im hier gesteckten Rahmen vorzustellenden und zu diskutierenden Phänomene erlau2
Firm., Err. relig. 20, 7 und 28, 6: Modicum tantum superest ut legibus uestris funditus prostratus diabolus iaceat, ut exstinctae idolatriae pereat funesta contagio. Ueneni huius uirus euanui et per dies singulos substantia profanae cupiditatis exspirat. Erigite ueuillum fidei: uobis hoc diuinitas reseruauit. [...] Tollite tollite securi sacratissimi imperatores ornamenta templorum. Deos istos aut monetae ignis aut metallorum coquat flamma, donaria universa ad utilitatem uestrum dominiumque transferte. Post excidia templorum in maius dei estis uirtute prouecti. [...] Felices quos imperii ac uoluntatis suae deus fecit esse participes! Idololatriae excidium et profanarum aedium ruinam propitium Christi numen uestris manibus reseruauit.
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ben es lediglich, aussagekräftige Ausschnitte aus dem außerordentlich vielschichtigen religionshistorischen und soziopolitischen Transformationsprozeß der Spätantike in den Blick zu nehmen – wobei ich mich im Grunde auf wenige Entwicklungen und Facetten im Jahrhundert nach Konstantin beschränke. Und indem sie versuchen, das Phänomen der Gewaltanwendung, und zwar der christlichen Gewaltanwendung und ihrer Begründungszusammenhänge, zu erfassen und zugleich in ihrer gesellschaftlichen Wirkung auszuleuchten, werden sie zwangsläufig auch ein kritisches Licht auf das Selbstverständnis und Handeln christlicher Kreise in dieser Zeit werfen. Die Heranziehung auch archäologischer und bildlicher Zeugnisse kann verdeutlichen, daß wir es bei radikalen christlichen Äußerungen wie der eingangs zitierten nicht notwendigerweise mit beiläufigen Artikulationen eines allein literarischen christlichen Diskurses über die Bekämpfung des spätantiken Heidentums zu tun haben. Die markante Radikalisierung des öffentlichen Sprechens von göttlicher Wahrheit und von religiöser Auseinandersetzung mit Andersgläubigen fand im christianisierten Imperium vielmehr sehr wohl ihren unmittelbaren Niederschlag im Handeln gegenüber Nichtchristen: In einzelnen Fällen, wie dem im folgenden dokumentierten des oberägyptischen Mönchsvaters Schenute von Atripe, liegt es sogar nahe, unmittelbare Bezüge zwischen faßbarem Denken und konkretem historischen Handeln, im engeren zwischen theologischen Grundüberzeugungen und physischer Gewaltanwendung in der asketischen Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Paganismus herzustellen. Daß mit diesem Fokus, der sich in die weitgefaßte Problemstellung des Sammelbandes einfügt, ein ausgewogenes Bild des Christianisierungsprozesses in Staat und Gesellschaft der Spätantike nicht zu gewinnen ist, auch nicht gewonnen werden soll, ist offensichtlich. Im weiteren sollen drei Themenfelder berührt werden: Zunächst, recht knapp, die Bedeutung der staatlichen Gesetzgebung für die Unterdrückung der heidnischen Kulte bis zum Anfang des 5. Jahrhunderts n. Chr. Die weitergehende Beteiligung der Staatsmacht an der Unterdrückung des Heidentums wird dann nur in einem späteren Zusammenhang noch einmal gestreift werden. Im zweiten Hauptteil möchte ich versuchen, der Bedeutung religiös motivierter Gewalt im asketischen Milieu nachzugehen und hierzu sowohl syrische wie auch ägyptische Überlieferung in den Blick nehmen. Der letzte Hauptteil widmet sich schließlich einem einzigen, spektakulären Ereignis von systematischer Gewaltanwendung gegen pagane Kulte, nämlich in Alexandria in Ägypten im Jahre 392 n. Chr. Hier soll das Geschehen in seinen weiteren religions-, gesellschafts- und machtpolitischen Zusammenhängen und Folgen ausgeleuchtet, mithin die vielfältigen Funktionen von vordergründig religiös motivierter Gewaltanwendung analysiert werden. II . Das Anliegen der Kirche, den christlichen Glauben im Imperium zu verbreiten, die heidnischen Kulte (wie überhaupt konkurrierende religiöse Systeme und
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Glaubensrichtungen) 3 zu verdrängen, ja völlig zu überwinden und dem einen wahren Glauben alleiniges Existenzrecht in Staat und Gesellschaft zu gewinnen, wurde seit der konstantinischen Wende zunehmend zugleich eine selbstgewählte politische Aufgabe des spätantiken Staates. Die christlichen Kaiser seit Konstantin bedienten sich hierbei vornehmlich der Gesetzgebung. Allerdings darf diese, die im Verlaufe des 4. Jahrhunderts n. Chr. der Durchführung paganer Kulte zunehmend Schranken auferlegt – so zunächst bestimmte religiöse Praktiken, dann die Durchführung der für den Kult zentralen blutigen Opfer verbietet, schließlich den Besuch von Tempeln in religiöser Absicht ganz untersagt – in ihrer unmittelbaren Wirkung nicht überschätzt werden. Schon Konstantins antipagane Maßnahmen, die immerhin auch die Zerstörung einzelner Tempel umfaßten, waren weit begrenzter und punktueller, als uns sein Biograph und Historiker, der Bischof Euseb, glauben machen will. 4 Immerhin: Die öffentliche Signalwirkung solcher Eingriffe wie erst recht die der massiven, von diesem Kaiser eingeleiteten Förderung der Kirche war erheblich. Gesetze und Edikte, oft mit wortreichen, moralisierenden Belehrungen versehen, auf den öffentlichen Plätzen der Städte des Reiches verlesen und angeschlagen, deklarierten vor der gesamten Reichsbevölkerung die Verbindung des Kaisers mit der Kirche (nicht aber konkurrierenden, als häretisch diffamierten christlichen Glaubensrichtungen) und propagierten zunehmend die Marginalisierung der alten Kulte und anderer Religionen 5 . Die aggressive, alsbald christlich beeinflußte Rhetorik kaiserlicher Verlautbarungen bedient sich erstmals im Jahre 370 n. Chr. des Begriffs pagani – Heiden – als offizieller Bezeichnung von Altgläubigen oder Polytheisten, und damit eines Wortes, das ursprünglich in christlichen Kreisen als abfälliger Sammelbegriff für die ungebildete, traditionellen Kulten anhängende Landbevölkerung geprägt worden war. Die zunehmende juristi3 4
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Dies gilt erst recht für das in der Spätantike blühende Judentum, das jedenfalls im Osten des Reiches eine bemerkenswerte Blüte erlebte; hierzu WILKEN , John Chrysostom, und zuletzt BOYARIN, Christian Invention . Das virulente Problem der pointiert einseitigen und oft überzogenen eusebianischen Darstellung der konstantinischen Politik ist mittlerweile bekannt; siehe nur BRADBURY, Anti-Pagan Legislation; CAMERON, Vita Constantini; CAMERON – HALL, Eusebius, 242–248. 301–305; CURRAN, Pagan City, 169ff. Siehe aber BARNES, Constantine and Eusebius, 180–186. 210– 255 (hierzu A. CAMERON in JRS 73 (1983), 184–190), der weiterhin von der Existenz eines umfassenden konstantinischen Opferverbotes ausgeht. Die als Anhang zum Buch 16 des Codex Theodosianus (438 n. Chr.) überlieferten 16 bzw. 21 kaiserlichen Verlautbarungen zu Kultfragen der sog. Constitutiones Sirmondianae spiegeln diese moralisierende (und theologisierende) Dimension spätantiker kaiserlicher Religionsgesetzgebung in ihren Praefationes in frappierender Deutlichkeit. Anders als die im Codex Theodosianus bewahrten Religionsgesetze sind die Texte dieser Sammlung vollständig überliefert und nicht um die im Codex regelmäßig entfernten einleitenden Begründungen beraubt worden. Zu den Constitutiones Sirmondianae siehe MATTHEWS, Laying Down the Law, 121–167, bes. 160ff. Ein anderes gutes Beispiel für rein moralisierende Verlaubarungen sind die Edikte Kaiser Julians an die Einwohner von Alexandria und an die Athener: Julian., Ep. 60 Bidez und an die Bostrenser, Ep. 114 Bidez, die beide ausschließlich moralisch-belehrenden Charakters sind.
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sche Verwendung von superstitio – Irrglaube, aber auch illegale religiöse Praxis – für die pagane Religion bzw. Kulte, aber auch für andere Glaubensgruppen, leistete einer verbalen wie tatsächlichen Politik der Illegalisierung aller Nichtchristen weiteren Vorschub. 6 Wenn auch die konsequente Umsetzung vieler Religionsgesetze zweifelhaft ist – Gesetze, die ja nicht so sehr auf der Ebene des Staates als vielmehr in den vielen hundert Gesellschaften des Imperiums mit ihren spezifischen politischen, sozialen und religiösen Konstellationen, und das heißt fast ohne exekutive Möglichkeit der Zentralverwaltung ihre Geltung entfalten mußten –, so war die Richtung des religiösen Zeitgeistes doch unverkennbar. Und allen Reichsbewohnern dürfte bewußt gewesen sein, daß jene „1000 Schrecken der Religionsgesetze“, von denen ein Gesetz dann 100 Jahre nach Konstantin spricht, 7 sich unversehens auch in ihrer Gemeinde weitab vom Kaiserhof in Konstantinopel bewahrheiten konnten, wenn nur ein tatkräftiger Beamter oder ein einflußreicher Bischof mit weitreichenden Beziehungen sich ihrer zu bedienen wußte. 8 Schrecken mußten solche Gesetze, so inkonsequent sie auch formuliert und erlassen und erst recht vor Ort umgesetzt wurden, in der Tat spätestens am Ende des 4. Jahrhunderts n. Chr. verbreiten können: So drohte die Todesstrafe demjenigen, der ein Tieropfer unternahm oder gar die Zukunft befragte, Häretikern die kaum zu überlebende Auspeitschung mit Bleikugeln und der finanzielle Ruin dem Statthalter und seinem Mitarbeiterstab bei exekutiver Untätigkeit.9 Und dennoch: die Wirkung jener Schrecken blieb zweifelhaft. 10 Zwar spricht das entsprechende Gesetz selbst von der drohenden Strafe des Exils, stellt aber anschließend auch fest: „Und sie sündigen ganz ungeniert mit solch frecher Ver6
SALZMAN, Superstitio. Gesetze verwenden ab den 370er Jahren n. Chr. den Begriff pagani, um damit Polytheisten zu markieren (und zu diffamieren); Cod. Theod. 16, 2, 18; 16, 5, 46. Zur Geschichte des Begriffs O´DONNELL, Paganus. 7 Nov. Theod. II, 3,10: Quos non promulgatarum legum mille terrores, non denuntiandi exilii poena compescunt, ut, si emendari non possint, mole saltem criminum et illuvie victimarum discerent abstinere. Sed prorsus ea furoris peccatur audacia, iis improborum conatibus patientia nostra pulsatur, ut si oblivisci cupiat dissimulare non possit. Quamquam igitur amor religionis numquam possit esse securus, quamquam pagana dementia cunctorum suppliciorum acerbitates exposcat, lenitatis tamen memores nobis innatae trabali iussione decrevimus, ut, quicumque pollutis contaminatisque mentibus in sacrificio quolibet in loco fuerit comprehensus, in fortunas eius, in sanguinem ira nostra consurgat. Oportet enim dare nos hanc victimam meliorem ara Christianitatis intacta servata. Siehe auch BROWN, Christianization, 638. 8 Das vielleicht eindrücklichste Beispiel für die eminente Bedeutung solcher Rahmenbedingungen und ihrer spezifischen personellen Konstellationen zu verdankenden Beeinflussung im Sinne einer lokalen Umgestaltung religiöser Verhältnisse bietet die Geschichte Gazas im 4. und am Anfang des 5. Jahrhunderts. Hierzu VON DAM, Paganism; HAHN, Gewalt, 191–222 (mit weiterer Literatur). 9 BROWN, Christianization, 638 mit Nachweisen. Vgl. die systematischen Zusammenstellungen der antipaganen Gesetzgebung bei NOETHLICHS, Maßnahmen und ders., Heidenverfolgung sowie die Analyse der juristischen Behandlung des Opfers als zentraler paganer Handlung von Konstantin bis Justinian durch TROMBLEY, Hellenic Religion, 1–97. 10 MAC MULLEN, Christianity and Paganism, 24 mit Anm. 81.
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rücktheit“. Wenige Jahre zuvor hatte derselbe Kaiser einem Religionsedikt, das unter anderem die Entfernung oder Zerstörung von Kultbildern in Tempeln verlangte, noch die Bemerkung hinzugesetzt: „Wir wissen sehr wohl, daß diese Anordnung schon häufig von uns erlassen und mit Strafdrohungen versehen wurde.“ 11 Ein staatstreuer Bischof wie Augustinus beruhigte seine Gemeinde, daß ungeachtet aller ihrer Zweifel an den antipaganen Gesetzen deren Wirkung doch unbestreitbar sei: „Wie viele Menschen sind doch von ihnen auf dem rechten Weg und hin zum lebendigen Gott geführt worden, ja, werden sogar täglich bekehrt!“ 12 Die in den religiösen Verlautbarungen des Kaisers um sich greifende Sprache der Intoleranz und Oppression beeinflußte aber vor allem die Rahmenbedingungen und das Klima, unter denen gesellschaftliches und politisches Leben auf lokaler Ebene sich abspielte und – wichtiger noch – das Miteinander und die Konkurrenz der hier lebenden Religions- und Glaubensgruppen sich ausgestaltete. 13 III . Der Kampf gegen das verbliebene Heidentum und insbesondere seine Fokussierung auf die materielle Basis der paganen Kulte ist vor allem ein markanter Zug des ägyptischen und des syrischen Mönchtums. Diese Asketen, die ganz wesentlich die Christianisierung des ländlichen Raumes im Osten des Imperiums bewerkstelligten und bei der Landbevölkerung auf tiefverwurzelte pagane Bräuche und noch lebendige ländliche Kulte trafen, suchten bevorzugt sakrale Bezirke und Schreine auf, um sich hier niederzulassen und die Konfrontation mit den dämonischen Kräften des Ortes zu suchen: So lassen uns jedenfalls zeitgenössische Autoren und Verfasser von Heiligenviten wissen, die mit Hingabe die Auseinandersetzungen der Asketen mit den dunklen Mächten schildern und deren Bezwingung gerne als ausschlaggebend für die folgende Bekehrung der umwohnenden bäuerlichen Bevölkerung darstellen. 14 Der Kampf gegen Tempel und Kultbilder wird hierüber zum Leistungsnachweis wahrer göttlicher Berufung und alsbald auch zum hagiographischen Topos: In der Vita des Rabbula von Edessa will sich der junge Mann, der sich eben zur Aufnahme des agõn, also der asketischen Lebensweise, entschlossen hat, gleich als Tempelstürmer beweisen: Seine Attacke auf den Haupttempel seiner Vaterstadt endet auf der Freitreppe vor dem Tempeleingang, wo ihn die Ohrfeige eines 11 Sirm. 12, Z. 26f. (407/8 n. Chr.): Simulacra, si qua etiamnunc in templis fanisque consistunt et quae aliquem ritum vel acceperunt vel accipiunt paganorum, suis sedibus revellantur, cum hoc repetita sciamus saepius sanctione decretum. Zum Problem der zögerlichen Umsetzung kaiserlicher Religionsgesetzgebung in der Spätantike MEYER-ZWIFFELHOFFER, mala desidia iudicum? 12 Cod. Theod. 16,5,63 (425 n. Chr.). 13 ERRINGTON, Religious Legislation; ERRINGTON, Roman Imperial Policy, 233ff. 249ff. (für Theodosius). 14 FREND, Monks; GADDIS, Religious Violence, 208–250; BRAKKE, Demons, 215–223; SARADI, Christianization of Pagan Temples.
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Priesters zum Stehen bringt. Erst Jahrzehnte später, nunmehr zum Bischof von Edessa gewählt, soll Rabbula diesen Plan dann verwirklicht haben. 15 Die Gewaltbereitschaft von Asketen, und dies gerade in Syrien, jedenfalls soweit sie die materielle Präsenz paganer Kulte betraf, war notorisch: Der antiochenische Redner Libanios beklagte das Unwesen, das vorgebliche Mönche im Hinterland Antiochias trieben – also der in der Nähe des Mittelmeers, heute an der Grenze zwischen Türkei und Syrien gelegenen Verwaltungszentrale des römischen Orients –, wo sie ländliche Schreine plünderten und zerstörten und der Landschaft und den Bauern wider das Gesetz ihre Verehrungsorte raubten. 16 Johannes Chrysostomos, vormals junger Kleriker in Antiochia, sammelte als Bischof von Konstantinopel bei den edlen Damen der Reichshauptstadt Gelder ein, um damit Werkzeuge zur Ausstattung von Mönchsgruppen kaufen zu können, die damit in Phönizien, der an Syrien angrenzenden Landschaft, Heiligtümer zerstören sollten. 17 Manche Bischöfe nahmen diese Aufgabe auch selbst in die Hand und leiteten persönlich die Niederbrennung oder Zerstörung von Tempeln in ihrer Diözese. 18 Doch scheint es, als ob die schiere Größe, Monumentalität und Massivität der meisten Tempelbauten eine systematische Niederreißung (anders als eine generationenlange Nutzung als Steinbruch nach ihrer Aufgabe und Profanierung) zunächst ausschloß. Eine bewußte Desakralisierung war allerdings auch mit beschränkten Mitteln möglich, vor allem durch gezielte Zerstörungsmaßnahmen ohne weiteres realisierbar, und dies dürfte in der Mehrzahl der Fälle durch fanatische Christen oder eben, wie es uns auch die Heiligenviten berichten, Asketen geschehen sein. Neben der Zerstörung von Götterstatuen (die sich jedenfalls zumindest ersetzen ließen) gab es auch Möglichkeiten, das bauliche Erscheinungsbild, ja die sakrale Aura und das solemne Antlitz paganer Tempel mit wenigen Hammer- oder Meißelschlägen für jeden Besucher unübersehbar und dauerhaft zu verunstalten. Von solchem zerstörerischen Vorgehen zeugen heute noch ehemals bedeutende Tempelbauten etwa im Niltal. Im weitläufigen Kultkomplex von Dendara (Abb. 1) wurde so der berühmte Hathor-Tempel von (vermutlich) christlichen Bilderstürmern gleichsam systematisch an mehreren Stellen attackiert: In der Eingangshalle des Haupttempels wurden die Kapitelle der gigantischen Säulen über Leitern angegangen, die hier angebrachten meterhohen Gesichtszüge der Hathor flächig zerschlagen und die distinkten Ohren gleichermaßen zertrümmert. (Abb. 2, 3). Doch auch zahlreiche der großformatigen Kultreliefs mit ihren Hieroglyphentexten, welche die Außenwände und Schaumauern des Tempels schmückten, wurden systematisch von Leitern aus mit Werkzeugen bearbeitet und gezielt Götterfiguren und -zeichen vernichtet oder zumindest mit Meißelschlägen beschädigt und somit entweiht (Abb. 4, 5). Eindeutig zielte die Zerstörungswut der 15 BOWERSOCK, Syric Life; GADDIS, Religious Violence 2005, 264–228; DORAN, Stewards, 74. 16 Liban., Or. 30. Hierzu nun WIEMER, Für die Tempel? (mit der älteren Literatur). Zur Rolle von Mönchen bei der gewaltsamen Unterdrückung paganer Kulte im syrischen und ägyptischen Raum siehe FREND, Monks; TROMBLEY, Hellenic Religion; HAHN, Religiöse Landschaft, passim. 17 Theodoret, H.E. 5, 29. 18 FOWDEN, Bischofs and Temples, mit den Belegen.
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Angreifer auf bildliche Darstellungen und Symbole der hier verehrten paganen Gottheiten. Daß sie dabei manche einschlägige Darstellung verschonten, andere Bilder aber, die tatsächlich nicht Götter, sondern Personen wiedergaben, irrtümlich entstellten, spricht nicht für eine intime Kenntnis der altägyptischen Götterwelt seitens der Ikonoklasten, bezeugt aber gerade die schlichte, undifferenziert anti-pagane Absicht der Attacken.19 Kehren wir wieder nach Syrien zurück, so ist es auch hier zunächst kaum möglich, über die Gedankenwelt jener Mönche, die sich in ihrem agõn – asketischen Wettkampf – dem Kampf um ihr Seelenheil hingaben, viel auszusagen: Nur die bewundernden und überhöhenden Texte ihrer Zeitgenossen sind überliefert. Immerhin hat sich die Schrift eines ostsyrischen Asketen, Jakob von Sarug, aus dem späten 5. Jahrhundert n. Chr. bewahrt, die in der Form eines Gedichtes ein Geschichtsbild entwirft, das den Aufstieg der Götzenbilder und ihrer Tempel in vorchristlicher Zeit zum Leitmotiv nimmt und hieraus eine Geschichtstheologie entwickelt: Mit der Geburt des Erlösers setzt eine Heilsgeschichte ein, welche ausschließlich um das Ende der heidnischen Tempel und Götterbilder zentriert ist. Juden und Häretiker werden mit keinem Wort erwähnt. „Nun schreien die Dämonen laut auf vor Furcht [...] und unter den Götterbildern erbebt die Erde bis in ihre Grundfesten. Und sie geraten ins Wanken und fallen alle zur Erde, schmachbedeckt. Ihre Standbilder zittern und stürzen zu Boden, die Säulen bersten. Ihre Priester erröten und Staunen ergreift ihre Anbeter. Ihre Feste verschwinden und Verwüstung macht sich breit auf den Trümmern. Ihre Tempel stehen verlassen und in ihren Palästen nisten die Igel. Ihre Wände sinken zu Boden [...] Es hören auf die Spenden, jedermann flieht von denselben weg, ihre Tempel veröden und ihre Priester fallen der Verachtung anheim. Die Versammlungen lösen sich auf und kein Mensch besucht mehr ihre Feste. [...] Im Dunkel verlieren sich ihre Altäre, und in ihre Baulichkeiten fällt Feuer. Man möchte meinen, daß gleichsam ein Wirbelwind zwischen die Gottlosen gefahren sei und sie in Ruinenhügeln aufgehäuft habe an verschiedenen Orten. Zerschlagen liegen da Stein- und Tonbilder in einem Haufen beisammen und bilden einen Schutthügel, der Gelächter und Spott herausfordert.“
Diese geschichtstheologische Vorstellung wird, und dies ist bemerkenswert, unmittelbar mit dem Wirken Jesu verknüpft: Dieser erscheint als Protagonist der Zerstörung des Heidentums: „Der Sohn Gottes stieg herab, wurde Mensch und zertrümmerte sie. [...] Auf einmal erhebt sich der Schlafende [gemeint ist die Auferstehung Christi], stürzt die Götter und zermalmt die Götzen, zertrümmert die Statuen und wirft die Standbilder zu Boden, zerstört die gemalten Bilder, zerstäubt die gegossenen und vernichtet die Werke von Menschenhand. Er triumphiert über jene, die bisher angebetet wurden, versammelt die Völker und ruft die Nationen herbei, baut Kirchen, errichtet Gotteshäuser, weiht Altäre und gewinnt Gläubige. [...] Er richtet die Schöpfung wieder auf gleich einem Baumeister, nachdem sie ganz zerrüttet war. Zuversichtlich steigt er auf die Trümmer und bringt wieder in Ordnung, was die Herrschaft des Verleumders umgestürzt hat. Auf den Gipfeln der Berge errichtet er Klöster an Stelle der Fortuna-Tempel, und auf den Hügeln baut er Gotteshäuser an Stelle der Götzenheiligtümer, und auf den verlassenen Ruinenstätten richtet er Wohnungen ein für die Einsiedler. Überall, wo früher die lügnerischen Dämonen ihre Gesänge anstimmten, begründet er den Gottesdienst 19 Zu Dendara und den dortigen Zerstörungen siehe die Diskussion bei SAUER, Religious Hatred, 89–103.
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[...] Da, wo man früher teuflischen Lärm hatte hören müssen, vernimmt man jetzt die süßen Klänge des Heiligtums. In alle Winkel [...] dringt sein Licht ein [...] Er räumt auf mit den schmutzigen Festen des Götzendienstes.“ 20
In diesen Sätzen spiegelt sich eine ebenso schlichte wie – muß man wohl formulieren – gewalttätige asketische Vorstellungswelt. Der Kampf gegen Satan und seine Verbündeten, die Dämonen, sonst gerade in Syrien auch in extremer Form gegen die eigene Leiblichkeit gerichtet, wird hier gegen die bildlichen und baulichen Manifestationen der paganen Gottesverehrung geführt. Zuweilen gelingt es der Archäologie, und dies gerade in den ländlichen Regionen Syriens, der gewissermaßen materiellen Realisierung der eben geschilderten Ideologie der Christianisierung heidnischer Heiligtümer – kann sie als Theologie bezeichnet werden? – auf die Spur zu kommen. Denn in Nordsyrien sind, wie sonst in keiner anderen Region des spätantiken Imperiums, im Hinterland der großen Städte Antiochia, Apamae, Emesa, Chalkis, Hierapolis und Edessa zahlreiche Fälle der gewaltsamen Inbesitznahme paganer Kultorte und ihre Umwandlung in christliche Heiligtümer, meist kleine Klosteranlagen mit bescheidenen Kirchen, bezeugt. Auf dem Djebel Srir im Süden des langgestrecken syrischen Kalksteinmassivs, das in der Spätantike eine bemerkenswerte Blüte erlebte, wurde ein kleiner Tempel des Zeus Tourbarachos, der, im 2. Jahrhundert n. Chr. errichtet und bis weit ins 4. Jahrhundert n. Chr. hinein im Betrieb, als Bergheiligtum über die fruchtbare Dana-Ebene hinwegblickte, spätestens Ende des 4. Jahrhunderts n. Chr. von christlichen Asketen in Besitz genommen und – nicht anders als an den ebenfalls archäologisch gut dokumentierten Plätzen auf dem Djebel Sheikh Barakat, bei Qal’at Kalota und bei Burdj Baqirha in der gleichen Region – die vorgefundenen Baulichkeiten neuen Bedürfnissen angepaßt. 21 Es ist sicher kein Zufall, daß im Mittelpunkt des kleinen Konvents, der sich auf dem Djebel Srir etablierte, sich die Säule eines Styliten befand (Abb. 6, 7): Dieser heilige Mann dürfte, ganz so wie wir es wiederholt aus zeitgenössischen Texten über syrische Asketen erfahren, die für eine solche Übernahme eines heiligen Raumes unverzichtbare exorzistische Leistung vollbracht haben, welche dem traditionellen Kult ein abruptes Ende setzte und an dessen Stelle in triumphalistischem Verständnis die Verehrung 20 Jakob von Sarug, Gedicht über den Fall der Götzenbilder (memra 101), hrsg. von P. BEDJAN: Homiliae selectae Mar-Jacobi Sarugensis III, O. Harrassowitz, Leipzig 1909, 795, deutsche Übersetzung bei LANDERSDORFER, Ausgewählte Schriften, 414–416. 21 Zur Zerstörung und Transformation der Tempel von Srir, Qal’at Kalota, Djebel Sheikh Barakat und Burdj Baqirha sowie zu weiteren Fällen in der Antiochene und Apamene siehe TROMBLEY, Hellenic Religion, 263–267 und CALLOT, La christianisation 738–744 (sowie Abbildungen auf 747–749). Das Phänomen der Umwandlung eines Tempels in eine christliche Kirche ist meist quellenkritisch prekär, da in literarischen Quellen propagandistisch aufgeladen, und wohl seltener, als gemeinhin angenommen. Dies gilt erst recht, wenn das Problem der Chronologie – folgte die Christianisierung einer direkten Übernahme oder erfolgte sie erst nach einem langen zeitlichen Hiat, also erst weit nach Erlöschen des Heiligtums? – mit bedacht wird. Hierzu HAHN – EMMEL – GOTTER, “From Temple to Church“, und mit viel Material (insbesondere aus Kilikien) BAYLISS, Temple Conversion.
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des Erlösers begründete. Insbesondere Kleriker und Bischöfe der Region wie Theodoret von Kyrrhos übernahmen es, als Chronisten und Hagiographen solcher Taten zu fungieren und ihrer Zuhörer- und Leserschaft die spirituellen Motive jener unerschrockenen Kämpfer des wahren Glaubens wider das Heidentum zu vermitteln – oder jedenfalls nach eigenen religionspolitischen Vorstellungen auszudeuten. Doch auch pagane Zeitgenossen, diese allerdings zutiefst erschüttert angesichts des für sie kaum faßbaren Geschehens, beobachteten das zerstörerische Wirken christlicher Asketen in der über Jahrhunderte gewachsenen, in der Frömmigkeit der Landbewohner wurzelnden sakralen Landschaft Syriens, wobei diese Zeugen, ohne Verständnis für die Glaubens- und Vorstellungswelt jener radikalen Christen, deren Vorgehen nur als irregeleitete Aggression gegen die traditionelle Götterverehrung, wenn nicht als blinden Vandalismus zu verstehen vermochten. 22 IV . Wir müssen uns über 1.000 km nach Süden, genauer nach Oberägypten begeben, um dem Wirken und vor allem dann auch der Gedankenwelt eines Asketen und Tempelzerstörers ein gutes Stück näherzukommen. Zugleich haben wir uns hierzu ausschließlich koptischen Quellen zuzuwenden, denn über das Wirken des Eremiten und Abtes Schenute von Atripe (Abb. 11) ist nichts aus der griechisch- oder gar lateinischsprachigen Überlieferung bekannt. 23 Eigene Schriften des bedeutenden Klostervorstehers – Schenute leitete in den Jahrzehnten um 400 n. Chr. immerhin eine Klosterorganisation von über 4.000 Mönchen – und eine hagiographische Tradition berichten von den wiederholten Attacken, ja regelrechten Feldzügen dieses radikalen Charismatikers gegen pagane Kulte, Tempel und Götterstatuen sowie deren Anhänger in der weiteren Umgebung seines Klosters und der nahegelegenen Stadt Panopolis. Ein dortiger Notabler namens Gessios, ein Heide oder Kryptoheide, wurde mehrfach von Schenute heimgesucht, sein privates städtisches Anwesen des Nachts überfallartig auf versteckte Götterbilder und Kultgegenstände hin durchsucht, Inventar entwendet und zerschlagen. Doch selbst ganze Tempel wurden von diesem Abt und seinen Mönchen in der Region, auch gegen den erbitterten Widerstand frommer Landbewohner, zerstört und niedergebrannt, vielleicht sogar das große Kultbild des Hauptheiligtums von Panopolis gestürmt und zerschlagen. Nicht einmal römische Statthalter wagten gegen den militanten Gottesmann, der gleichgesinnte Gläubige zu ähnlichem Tun animierte, vorzugehen und ließen, vereinzelt vom christlichen Mob bedroht, Prozesse gegen ihn platzen. 22 Hierzu oben Anm. 16 und URBAINCZYK, Theodoret of Cyrrhus. 23 Zum folgenden EMMEL, Shenute und Panopolis, mit allen Textzeugnissen und EMMEL, Shenoute of Atripe, mit einer teilweise neuen Interpretation (sowie der Publikation zweier wichtiger Fragmente der Schenute-Abhandlung ‚Let our Eyes’). Grundlegend aber immer noch LEIPOLDT, Schenute von Atripe, vgl. zudem HAHN, Gewalt, 223–269. Siehe zuletzt auch den Sammelband GABRA – TAKLA, Christianity and Monastacism, mit einzelnen weiterführenden Beiträgen.
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Schenutes Nachruhm verband sich später eng mit seinen Angriffen auf das Heidentum in Panopolis und Oberägypten. Die Heiligenvita eines etwas jüngeren koptischen Asketen, Moses von Abydos, führt sogar den Teufel als Zeugen an, den sie klagen läßt: „In Panopolis warf mich Schenute hinaus, nahm meine Tempel und machte sie zu Kirchen. Auch meine Heidenkinder hat er mir weggenommen!“ – dies ein Hinweis auf die Nachhaltigkeit von Schenutes Auseinandersetzung mit dem Heidentum. 24 Was sind nun die treibenden Beweggründe für die aggressive Auseinandersetzung des Klostervorstehers mit dem Heidentum und dessen Anhängern? Schenute selbst hat keinerlei geschlossenen Begründungs- oder Legitimationszusammenhang für sein zerstörerisches Vorgehen gegen Tempel und Götterbilder formuliert. So ist es frappierend, mit welcher Selbstverständlichkeit er in dem Brief, den er an den Notabeln Gessios richtet, zwar sein wiederholtes gewaltsames Eindringen und zerstörerisches Wirken in dessen Haus eingehend schildert, dieses Vorgehen aber an keiner Stelle auch nur rhetorisch zu rechtfertigen sucht – wobei noch zu beachten ist, daß dieses Schreiben zur öffentlichen Verbreitung bestimmt war. 25 Doch sollte man von Schenute in dieser Frage vielleicht auch keine tiefgehenden Reflexionen oder gar eine aus komplexen Glaubensgründen abgeleitete differenzierte Rechtfertigung seiner Haltung und Handlungsweise erwarten: In anderen theologisch bedeutsamen Problembereichen bleibt er solche Erklärungen und abgewogene Gedankenführungen gleichermaßen weitgehend schuldig. 26 Der gewalttätige und unversöhnliche Grundzug seines Vorgehens ist zum Teil mit dem Charakter Schenutes zu erklären, dessen Eigenart sich bereits in seiner Leitung seines Klosters deutlich zeigen läßt. Hand in Hand mit diesem Persönlichkeitsbild geht eine überaus einfach strukturierte Religiosität, die letztlich den gleichen gewalttätigen Geist atmet. Ihre Eckpfeiler sind die Begriffe Gehorsam, Sünde, Strafe, Gericht, Vergeltung, Fluch, Böse, Dämonen und Satan. 27 Es ist vor allem die dunkle Seite der menschlichen Natur, die Schenute unablässig im diesseitigen Leben bewegt und von deren Wirken er selbst seine Mönchsgemeinschaft, erst recht aber die Welt vor den Toren seines Klosters befallen sieht. Ebenso wie in seiner Klosterordnung der Strafgedanke bei Vergehen die dominierende Rolle spielt, so beherrschen auch die Begriffe Sünde, Strafe und Vergeltung seine 24 AMELINEAU, Monuments, 682. 689f.; MOUSSA, Coptic Literary Dossier, 78. 83f. 25 EMMEL, Shenute and Panopolis, 103–111; EMMEL, Shenoute of Atripe, 167–178. 26 WEISS, Christologie, 184f.: „Hinweise auf die theologischen Probleme seiner Zeit [...] finden sich nur sehr vereinzelt, und auch dann zumeist nur beiläufige Bemerkungen; thematisch werden diese Probleme fast nirgends abgehandelt.“ Vgl. ORLANDI, Coptic Literature, 801f. Diese Auffassung muß nach den eingehenden Studien von GRILLMEIER, Jesus, sowie angesichts erst jüngst publizierter Schenute-Texte (etwa BEHLMER, Schenute von Atripe) nun sicherlich etwas differenziert werden. 27 Abriß dieser Grundzüge der Frömmigkeit und Theologie Schenutes bei LEIPOLDT, Schenute von Atripe, 74ff. Beachte aber GRILLMEIER, Jesus, sowie zuletzt unter bestimmten Aspekten auch BELL, Shenoute the Great; KRAWIEC, Shenoute and the Women, 26ff.; BRAKKE, Demons, 100–122.
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Sicht des profanen Umfeldes. Geht man diesen und anderen Ansätzen in der Vorstellungswelt Schenutes nach, kommt man einem Verständnis wichtiger Elemente der gelebten Religiosität des Mönches sicher näher – doch auch sie ergeben keine eigentliche Rechtfertigung von Gewaltanwendung gegen Andersgläubige. Schenute vermag bezeichnenderweise mit dem Erlösungsgedanken oder dem Vergebungsgebot nichts anzufangen. Die Person Jesu bedeutet ihm viel als Träger wunderbarer Kräfte, als Medium von Zaubermacht und als Schlüsselfigur des Jüngsten Gerichts. Als Erlöser und als Symbol der Gnade Gottes und der Vergebung von Sünden bleibt der Gottessohn hingegen ohne Konturen. Umgekehrt verbinden sich wahrhaft apokalyptische und grausame Züge mit Jesus, wenn Schenute ihn als Rächer im Kampf gegen Satan schildert. „Der Herr Christus hat bei seinem Kommen den Teufel nach Art eines Alleinherrschers zugrunde gerichtet, daß seine Füße bis zu seinen Schenkeln abgeschlagen wurden, seine Hände bis zu seinen Schultern und die übrigen Glieder seines Leibes; seine Vorder- und Rückseite – er zerschlug alles.“ 28
Es ist, wie Leipoldt pointiert formulierte, eine „sozusagen christuslose Frömmigkeit“, die dieser Mönch vertritt. 29 Fest im Diesseits verwurzelt, sieht Schenute die Notwendigkeit der Durchsetzung von Gerechtigkeit, Strafe und Vergeltung noch im hiesigen Leben und versteht sich selbst als Erfüllungsgehilfen des von ihm antizipierten göttlichen Willens. Vor diesem Hintergrund entfaltet sich Schenutes Selbstverständnis und Wirken als Kämpfer wider die Sünde, Satan und die Dämonen. Satanologie und Dämonologie als wesentliche Bestandteile der Religion Schenutes dürfen nicht überraschen – die Rückführung sündhaften Verhaltens auf personifizierte Mediatoren des Bösen wie überhaupt der Glaube an die Existenz und allgegenwärtige Präsenz von Dämonen sind spirituelles Allgemeingut der Zeit und spielen gerade im Asketentum Ägyptens eine hervorstechende Rolle. 30 Schenutes Kampf gegen heidnische Götterbilder wurzelt so vor allem in seiner Dämonologie. Die Zerstörung von Idolen stellt nicht erst sein Hagiograph, sondern bereits der Mönch selbst als Exorzismus der diesen Statuen innewohnenden Geister dar.31 Und es ist eben dieses Bild – das angesichts des Kreuzes oder der Anrufungen des Erlösers aus einem 28 CHASSINAT, Shenouti, Nr.1, p.18 Z.30–45 = KOSCHORKE et alii, Schenute, 66. 29 LEIPOLDT, Schenute von Atripe, 82. Siehe nun aber mit teils anderer Sicht SCHROEDER, Monastic Bodies, 24ff. 126ff. sowie zuletzt DAVIS, Coptic Christology, 59–85. 30 Siehe DU BOURGUET, Diatribe de Chenoute, 20 mit Hinweisen auf das Fortwirken alten ägyptischen Volksglaubens in der Dämonenvorstellung Schenutes; vgl. BRAKKE, Demons, 104– 113. Man beachte auch die zahlreichen Belege dieser Religiosität in der Historia Lausiaca des Palladios. Siehe weiterhin MÜLLER, Geister, 761ff.; BELL, Shenoute the Great; BRAKKE,, Demons, 157ff. 31 Nr. 25, Opera III, p.85 Z.23 – p.86 Z.14. Zur dämonologischen Deutung des Heidentums durch Schenute siehe VAN DER VLIET, Spätantikes Heidentum, 110f. Die Dominanz der Dämonologie im Denken Schenutes ist auch daraus ersichtlich, daß keine Unterschiede zwischen der Vertreibung von Dämonen aus heidnischen Symbolen oder anderen befallenen Gegenständen oder Lebewesen gemacht werden; siehe etwa die Schilderungen in V. Sinuthii 6. 161 und V. Sinuthii (a) p.439ff.
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paganen Götterbild entweichenden Dämons in seiner ganzen Macht- und Hilflosigkeit –, das die Vorstellungswelt der spätantiken und frühmittelalterlichen Hagiographie beherrscht und so immer wieder in christlichen Texten beschworen und in liebevollem Detail beschrieben wird. Vor allem geht es auch als ausdrucksstarkes Symbol der Macht christlicher Heiliger in die mittelalterliche Kirchenmalerei ein. Gleich mehrere solche exorzistische Szenen sind etwa heute noch in San Marco in Venedig in prachtvollen goldenen Mosaiken zu bewundern (Abb. 8, 9, 10). Schenutes unversöhnliche Haltung gegenüber Heiden scheint allerdings insbesondere auf eine eigentümliche, gleichfalls mit seiner Dämonologie in Zusammenhang stehende Anschauung zurückzugehen. Nach seiner Vorstellung sind Heiden als noch negativer und gefährlicher zu beurteilen als selbst Dämonen; letztere anerkannten doch die Überlegenheit Gottes, stimmten schließlich in seine Verehrung ein und beteten ihn an. Heiden hingegen sind unbelehrbar, sie verweigern sich der Wahrheit und Größe Gottes und beweisen gerade hierin die ganze Verwerflichkeit und untilgbare Sündhaftigkeit ihres Wesens. 32 Da Gott den Menschen mit der Bezwingung des Bösen, aber auch mit der Vernichtung des Dämons beauftragt habe, liegt ein tatsächlich gewaltsames Vorgehen gegen Heiden in der Konsequenz dieses Denkens. 33 Welch hohen Stellenwert die Bekämpfung des Heidentums im Denken und Wirken Schenutes einnimmt, geben die Schriften des Mönchsvaters und seine Vita ohne weiteres zu erkennen. Die programmatische Bedeutung der Vernichtung des Heidentums in der Vorstellungswelt Schenutes läßt sich noch deutlicher aber an einem archäologischen Befund zeigen: der unter Schenute errichteten gewaltigen Kirche seines Klosters. Immer schon wurde der augenfällige Tatbestand vermerkt, daß bei der Errichtung des gewaltigen Baues allenthalben Materialien erheblicher Größe von älteren Bauten wiederverwendet wurden. Die Verwendung von Bauspolien ist nun zwar in dieser Zeit kein seltenes Phänomen. Keine Kirche dürfte allerdings so umfänglich Spolien enthalten, wie das Kloster Schenutes: Das gesamte Mauerwerk scheint aus wiederverwendeten Quadern zu bestehen, die teilweise sorgsam über- und abgearbeitet wurden (Abb. 12). Der Errichtung der Kirche müssen mehrere Bauten zum Opfer gefallen sein, und zwar sowohl solche in ägyptischer Granitarchitektur – ägyptische Flachreliefs und Steine mit Hieroglyphentexten sind an zahlreichen Stellen verbaut – als auch Gebäude klassischer Bauformen aus Kalkstein und Marmor. Der Kirchenbau des Klosters ist damit kaum anders denn als sinnfälliges Symbol des christlichen Triumphes über das Heidentum zu interpretieren, sei dieses altägyptischer oder hellenischer Ausprägung. Seine Errichtung gegen 440 n. Chr. markiert einen Höhepunkt der Entwicklung der Klostergemeinschaft seit
32 Diese Überzeugung wird in Nr. 25, Opera III, p.85 Z.9ff. ausgebreitet; vgl. ORLANDI, Coptic Literature, 68. 33 CHASSINAT, Shenouti, Nr.1, p.16 Z.48–56 = KOSCHORKE et alii, Schenute, 66 ; vgl. BELL, Shenoute the Great.
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ihrer Gründung etwa ein Jahrhundert zuvor.34 Zugleich fällt der Bau in den letzten Lebensabschnitt Schenutes – und hier wohl in eine entscheidende Phase seines Kampfes gegen das Heidentum. Die Vermutung liegt auf der Hand, daß in den Bau Steinmaterialien aus den zahlreichen von Schenute zerstörten Tempeln eingingen. Zudem geben Details des Kirchenbaus unmißverständliche Hinweise darauf, daß das Gotteshaus tatsächlich auch als Symbol des Triumphes über das Heidentum errichtet worden war. Gerade an prominenten, von jedem Gläubigen wahrgenommenen, wenn nicht sogar zu passierenden Stellen wurden offenkundig planvoll Architekturteile heidnischer Provenienz verbaut. Mag dies bei einer Wiederverwendung etwa von Granitsäulen für die Kolonnaden des Hauptschiffes noch angehen, da sich hier schwerlich gleichwertige und problemlose Alternativen anboten, so ist die dezidierte Plazierung von unverwechselbaren Werkstücken paganer Tempelarchitektur an allen Eingangportalen der Kirche nur im Sinne ihrer absichtsvollen Entweihung an kultisch hervorgehobenen Stellen zu deuten (Abb. 13, 14). Die gleiche Absicht ist auch an prominenter Stelle im Fußboden des Mittelschiffes verfolgt worden (Abb. 15). Dort befindet sich, an einer für Prozessionen wie Liturgie im Kircheninneren wichtigen Stelle nahe des Übergangs zu Presbyterium und Trikonchos, ein in kunstvollem Muster zusammengelegter Fußbodenbelag aus wertvollen Steinplatten, dessen Zentrum eine große, übereck gelegte quadratische Platte aus Assuan-Granit bildet, welche Hieroglyphen trägt. Diese ‚heiligen Schriftzeichen’ mußten aufgrund ihrer auffälligen Platzierung bei jedem christlichen Gottesdienst unweigerlich betreten, mithin profaniert werden. Der Sieg des christlichen Glaubens über das Heidentum und seine Mächte der Finsternis ließ sich so in jedem Gottesdienst aufs neue zelebrieren, und Schenute wird es in seinen Predigten, die immer wieder das unheilvolle Wirken dieser Kräfte seinen Zuhörern vor Augen führen, nicht unterlassen haben, solche exorzistischen Implikationen diesen ins Bewußtsein zu rufen. 35 Unlängst konnte nun nachgewiesen werden, daß jene bemerkenswerte GranitPlatte eine Provenienz besitzt, die als kaum weniger programmatisch als ihre neuerliche Verwendung im Mittelschiff der Klosterkirche Schenutes zu bezeichnen ist: Sie stammt aus einem der monumentalen Tempel eines der bedeutendsten Kultorte Ägyptens, Abydos, etwa 50 Kilometer vom Weißen Kloster entfernt. 36 34 BADAWY, Les premieres, 324; vgl. MONNERET DE VILLARD, Les couvants, 18ff.; SCHMITZ, Kloster, 330; GROSSMANN, Christliche Architektur, 532ff. 35 DE BOCK, Matériaux, 49, Abb. 60 (Grundriß, Markierung Ib); CLARKE, Christian Antiquities, 155 mit pl. XLVIII; MONNERET DE VILLARD, Les couvents, 104f. mit Abb. 2 (Grundriß, markiert); DEICHMANN, Spolien, 59. Das Bewußtsein der Profanierung des Glaubens durch Betreten seiner Symbole erhellt Cod. Iust. 1,8,1 von 427 n. Chr., welches die Einarbeitung des Kreuzeszeichen in Pavimenten verbietet: [...] signum salvatoris Christi nemini licere vel in solo vel in silice vel in marmoribus humi positis insculpere vel pingere. 36 Mündliche Mitteilung von Andreas Effland (DAI Kairo), dem ich für diese wie auch die folgende Information sehr verpflichtet bin. Das „Church Documentation Project“ des Yale Egyptological Institute, das nunmehr die Konzession für Achmin und das Weiße Kloster be-
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Dort hatten sich verschiedene Pharaonen von der 1. Dynastie an bestatten und zahlreiche Tempel errichten lassen, die Abydos zu einem der bedeutendsten archäologischen Stätten des alten Ägyptens erheben. Schenute, dessen Wirkungsradius – soweit faßbar – jedenfalls über 100 Kilometer nilabwärts reichte, hatte also auch an diesem mindestens zwei Tagereisen von seinem Kloster entfernten heiligen Ort nilaufwärts in seinem Feldzug gegen alle paganen Kulte in der Region zerstörerisch ‚gewirkt’ und im Anschluß die tonnenschwere Platte aus dem Tempel als Trophäe in die im Bau befindliche Kirche verbringen lassen. An ihrem neuen Ort diente die Platte mit ihrer nach oben gewendeten, den Fußtritten der Gläubigen und Kleriker ausgesetzten Hieroglyphenbeschriftung nun der rituellen Auseinandersetzung mit dem Götzenglauben: Schenutes haßerfüllte Ablehnung der heiligen ägyptischen Schrift, die er in einer eigenen, bewahrt gebliebenen Schrift als Ausdruck heidnischen Aberglaubens heftig attackierte, konnte nun auch im Gottesdienst von allen Beteiligten, Priester wie Gläubigen, zelebriert werden. 37 V. Will man über religiös motivierte Gewalt in der Spätantike sprechen, muß man auch eine Kette von Ereignissen in Alexandria, der Hauptstadt Ägyptens (Abb. 16), in den Blick nehmen, die den Zeitgenossen als das Symbol des gewaltsamen Sieges des Christentums über das Heidentum schlechthin erschien: Die Zerstörung des großen Serapis-Tempels von Alexandria im Jahre 392 n. Chr., unter der Herrschaft Theodosius I., wurde wie kein anderes Geschehen im Konflikt zwischen Christentum und Heidentum in der Spätantike als epochaler Einschnitt, als Wendemarke zum endgültigen Triumph des neuen Glaubens betrachtet. Das Serapeum, das Hauptheiligtum der griechisch-ägyptischen Gottheit Serapis, galt Zeitgenossen neben dem Kapitolstempel in Rom als das schönste und beeindruckendste Heiligtum der Mittelmeerwelt (Abb. 17, 18, 19). 38 Dieses gewaltige Heiligtum fiel im Frühjahr des Jahres 392 n. Chr. dem Angriff eines christlichen Mobs zum Opfer. Doch nicht nur dies: auch das bislang sitzt, schreibt im Preliminary Report of the First Season (2006): “The fabric of the fifthcentury church incorporates a quantity of reused Pharaonic and Roman building materials, some of which bear hieroglyphic inscriptions or scenes. The recording, formal classification, and historical analysis of these earlier materials is an important task for a future season of survey work.” Die Granitplatte ist allerdings für Besucher nicht mehr sichtbar, seitdem ein lokaler Steinmetz (der hierbei zugleich stolz seine Dienstleistungen anpreist) über den alten Bodenbelag einen neuen Steinboden gelegt hat, der nur noch einige Umrisse der alten Steinplatten nachempfindet. 37 YOUNG, Monastic Invective. Die absichtsvolle Verwendung eines mit Hieroglyphen bedeckten Granitpfosten als Türgewände (unten Abb. 14) folgt der gleichen Profanierungsabsicht. 38 Amm. Marc. 22,16,16. Detaillierteste spätantike Schilderung des Komplexes: Rufin., H.E. 11,22ff. Zum Serapeum aus archäologischer Sicht siehe nun MCKENZIE, Glimpsing Alexandria; MCKENZIE – GIBSON – REYES, Reconstructing the Serapeum, und SABOTTKA, Serapeum in Alexandria.
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friedliche Zusammenleben der Religionsgruppen in Alexandria, unter ihnen Juden und nicht-katholische Gruppen, fand damit ein abruptes Ende. All dies geschah auf Betreiben des neuen Bischofs der Stadt, Theophilos (385–412), der sich hierbei das gewandelte religionspolitische Klima zunutze machte: Unlängst waren Verschärfungen der anti-paganen Gesetzgebung erfolgt, ohne daß diese allerdings ein gewaltsames Vorgehen gegen Heiligtümer gestattet hätten. 39 Die bruchstückhafte, zudem hagiographisch überformte Überlieferung gestattet es noch, Theophilos’ Strategie der Provokation der heidnischen Bevölkerungsgruppe nachzuzeichnen. 40 Ausgangspunkt der pogromartigen Auseinandersetzungen zwischen alexandrinischen Christen und Heiden, die dann schließlich in die Zerstörung des Serapeums und weiterer Tempel mündeten, war eine vom Bischof inszenierte Prozession durch die Stadt, bei der heidnische Kultobjekte, die zuvor bei Ausschachtungsarbeiten für eine neue Kirche aus den Trümmern eines vergessenen heidnischen Kultbaues geborgen worden waren, quer durch die Stadt paradiert wurden – zum Ingrimm der Heiden, die diesem Treiben schließlich ein gewaltsames Ende machten. Die nun eskalierenden blutigen Unruhen gaben Anlaß zum Eingreifen – und zum massiven Militäreinsatz – der kaiserlichen Beamten in Alexandria, die offenbar mit Theophilos kooperierten. Denn unversehens rückte jetzt der große Serapis-Tempel in den Brennpunkt des Geschehens, der, vorgeblich von Aufrührern verteidigt, nun gestürmt und zerstört wurde. Angeblich habe hierzu eine Ermächtigung des Theodosius bestanden – eine aus mancherlei Gründen durchsichtige Schutzbehauptung der Akteure. Die christliche Propagandistik bemächtigte sich jedenfalls unmittelbar der Ausdeutung des Geschehens: Während der angeblichen Belagerung des Serapeums seien hier Christen gefoltert und zu Märtyrern geworden; sogar ein Halleluja sei während der Belagerung vom Himmel erklungen. Ein heidnischer Chronist hingegen erklärt, am Heiligtum sei keinerlei Widerstand erfolgt. Doch lassen wir das Geschehen beiseite – wichtig ist an dieser Stelle vor allem, wer die Verantwortung für das Vorgehen gegen und im Serapeum trug. Die wichtigste Quelle, der Kirchenhistoriker Rufin, hält sich in dieser Frage überraschenderweise vornehm zurück, ja er nennt den Namen des Theophilos in seinem ganzen Bericht nicht einmal. Eine kritische Sichtung aller Quellen läßt aber allein den Schluß zu, daß Theophilos, der Bischof der Stadt, als spiritus rector des Geschehens zu gelten hat. Vor allem wird nie, auch nicht aus heidnischer Feder, dem Kaiser selbst die Verantwortung für die verheerenden Vorfälle zugesprochen. Ein weiteres, meines Erachtens entscheidendes Zeugnis für die Deutung der Abläufe kann hier sogar direkt vor Augen geführt werden: eine wenig später in alexandrinischen Kirchen39 Zum genauen Zeitpunkt – Frühjahr 392 n. Chr. –, dem historischen Kontext, insbesondere dem der theodosianischen Religionspolitik, und der Gesetzesgrundlage des Geschehens siehe HAHN, Vetustus error, weiterhin auch HAHN, Gewalt, 78–105. Vgl. auch ERRINGTON, Roman Imperial Policy, 233ff. 40 Ausführliche Diskussion der kirchenhistorischen, hagiographischen u.a. Zeugnisse sowie der historischen Abläufe bei SCHWARTZ, La fin Du Sérapeum; BALDINI, „distruzione“ del Serapeo; HAAS, Alexandria in Late Antiquity, 159–169; HAHN, Gewalt, 81–97; HAHN, Conversion.
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kreisen entstandene Weltchronik auf Papyrus, die fragmentarisch auf uns gekommen ist. 41 Diese bildet den Bischof, mit der Heiligen Schrift in der Hand und von Palmzweigen als Zeichen des Sieges eingerahmt, auf dem Giebel des Serapeums stehend und so gleichermaßen über der darin aufgestellten Kultstatue des Serapis thronend unzweideutig als Triumphator ab (Abb. 20). Die Figur des Theophilos überschaut dabei vom linken Rand des Papyrusblattes zugleich die in einer weiteren Bildvignette, unterhalb des Textrandes, szenisch wiedergegebene Zerstörung desselben Tempels durch anstürmende Christen. Die stolzen Illustrationen des christlichen Chronisten geben zweifelsfrei zu erkennen, wer – jedenfalls in den Kreisen seines mutmaßlichen Auftraggebers, der alexandrinischen Kirche – als federführend und verantwortlich für die Bezwingung des Serapis und die Zerstörung seines Tempels betrachtet wurde und vor allem als der uneingeschränkte Sieger der Konfrontation zwischen Christentum und Heidentum in der Metropole Ägyptens galt. Noch weit aufschlußreicher für die Intensität und die Intentionen des Gewaltausbruches als die soweit dargelegten Abläufe ist dabei das dem Ende des Serapeums folgende Geschehen, so weit es sich aus der literarischen Überlieferung rekonstruieren läßt. 42 Zunächst beschränkte sich das christliche Vorgehen im Kultbezirk des Serapeums nicht auf die minutiös geschilderte Zerstörung des großen Götterbildes. Das Inventar des gewaltigen Tempelkomplexes ging ebenfalls völlig verloren: Die zahllosen Götterbilder und Weihgeschenke aus Edelmetall wurden geraubt, die hinter dem Säulenumgang des Innenhofes, der das Zentralheiligtum umgab (Abb. 18), aufbewahrten berühmten Bibliotheksbestände gingen auf unbekannte Weise zugrunde. Vor allem wurde zur Sicherung des Tempelberges vor heimlicher Wiederaufnahme paganer Kulttätigkeit und ebenso zur Demonstration des Sieges des christlichen Glaubens über die alten Götter eine Kolonie Mönche angesiedelt, was die Heiden weiter erbitterte. Unmittelbar nach der Zerstörung des Serapeums oder wenig später weihte man dort zudem Johannes dem Täufer ein martyrium. Und natürlich inszenierte der Bischof die Niederlegung dieser Reliquien vor den Augen der städtischen Bevölkerung mit einer großen Prozession. Doch dieses spätere symbolträchtige Vorgehen greift den noch unmittelbar mit der Serapeums-Zerstörung verknüpften Maßnahmen voraus. In einer einzigen, aber zuverlässigen (christlichen) Überlieferung findet nämlich Erwähnung, daß noch weitere Tempel Alexandrias nun der Zerstörung anheimfielen, und daß dies durch Einsatz des Militärs unter den beiden höchsten kaiserlichen Beamten Ägyptens geschah. 43 Über diese systematische Profanierung, Plünderung, Umwidmung oder Zerstörung der gesamten paganen Infrastruktur Alexandrias sind wir allerdings ungleich schlechter unterrichtet als über das 41 Publiziert mit vorzüglichen farbigen Abbildungen von BAUER – STRZYGOWSKI, alexandrinische Weltchronik. 42 Siehe hierzu die Literatur mit allen Zeugnissen in Anm. 40. 43 Socr., H.E. 5, 16, 2. Zu dessen Werk WALLRAFF, Kirchenhistoriker Sokrates, zum eigenständigen Bericht des Sokrates über die Zerstörung ebd., 92ff.
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Schicksal von Tempel und Statue des an der urbanen Peripherie gelegenen großen Serapeums. So bleibt in der Gesamtschau wohl nur der Schluß, daß in Alexandria im Jahr 392 n. Chr. eine – bewußt provozierte oder spontan ausgebrochene – Revolte heidnischer Kreise vom alexandrinischen Bischof und den ihm verbündeten kaiserlichen Beamten vor Ort dazu genutzt wurde, unter dem Vorwand der Niederschlagung bürgerkriegsähnlicher Zustände die heidnische Infrastruktur zu zerstören und so dem lokalen Heidentum dauerhaft die kultische Basis zu entziehen. Es fällt schwer, sich die Wirkung dieser Eruption von Gewalt und Zerstörung auf die pagane Bevölkerung auszumalen, die dem Verlust ihrer Heiligtümer fassungslos gegenübergestanden haben muß. Doch sind wir sogar in der Lage, hier für eine Person ein Dutzend knapper Zeugnisse ausfindig zu machen und zum Sprechen zu bringen, nämlich eine Reihe von Epigrammen, die in ihrem Sinngehalt und historischen Aussagewert lange verkannt wurden. Der alexandrinische Dichter Palladas betrauert nämlich gleich in vier Epigrammen in beredten Worten die Umwandlung des städtischen Tyche-Tempels in eine schnöde Taverne: Die Person der Göttin selbst sieht er durch die jüngsten Ereignisse vom Schicksal ereilt und ins Unglück gestürzt, indem sie nun an ihrer alten Wirkstätte als Schwankweib dienen muß statt als Göttin Verehrung zu finden. 44 Den tiefgreifenden Wandel der sakralen Verhältnisse thematisiert Palladas auch am traurigen Los zahlreicher weiterer ehrwürdiger Kultstatuen Alexandrias. Eines seiner Epigramme gilt Statuen olympischer Götter, die „christianisiert“ worden seien – christianoí gegaótes. Offenkundig hatten diese also in einer Kirche Aufstellung gefunden oder schmückten nun ein anderes christliches Bauwerk. Ein ähnliches Schicksal fanden verschiedene Nike-Statuen, die offenbar als Engelfiguren in einem Gotteshaus der Christen neue Funktionen fanden. So liegt der Schluß auf der Hand: Auch Götterstatuen lassen sich bekehren! Doch noch beeindruckender als jene auf das Schicksal gestürzter Götterstatuen verfaßten Gedichte sind persönliche Äußerungen des Palladius: „Hellenen sind wir? Nein, wir sind Hellenenstaub, und setzen noch auf Tote tote Hoffnungen [...] Ach, furchtbar haben sich die Dinge umgekehrt.“ 45 Dabei war die Zerstörung der materiellen Basis der heidnischen Götterverehrung nur ein Ziel, das Theophilos mit der von ihm initiierten Eskalation der Gewalt in Alexandria verfolgte. Es läßt sich zeigen, daß der Bischof eine umfassende Christianisierung des öffentlichen Lebens und der städtischen Identität insgesamt anstrebte. Frappierend ist bei diesen Bestrebungen vor allem die militant-aggressive Haltung, die unter diesem Bischof hervortritt. Dies zeigt bereits die Polarisierung der religiösen Situation in Alexandria zum 44 Hierzu und zur weiteren Analyse der in der Anthologia Palatina bewahrten Epigramme des Palladas – für die Zerstörung des Serapeums und der Kultstatuen einschlägig sind 9,180–183 und 19,90 (Tyche), für weitere relevante Aspekte 10,91f. 175. 441. 528. 773 sowie 16,282 – BOWRA, Converted Olympias; BOWRA, Palladas on Tyche; CAMERON, Palladas and the Nikai; CAMERON, Notes on Palladas, sowie zusammenfassend HAHN, Gewalt, 95–101. 45 Anth. Gr. 9,528 und (Zitat) 10,90, Z.5–7. Der Terminus „Hellen(es)“ verweist dabei einerseits auf bildungsbeflissene Angehörige der traditionellen Eliten und intellektuelle Repräsentanten der Elitekultur (wie Palladius selbst) andererseits auf die damit eng verbundene Identifikation mit den Praktiken althergebrachter Kultausübung der polytheistischen Religion.
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Auftakt der Auseinandersetzungen: Die paganen Kultsymbole, die bei den Freilegungsarbeiten im aufgelassenen Mithraeum ans Licht gekommen waren, wurden, obwohl einem Mysterienkult zugehörig, demonstrativ der Bevölkerung der Stadt vor Augen geführt. Das gesamte Spektrum und die Systematik der Maßregeln nach der Zerstörung der Tempel spiegeln denselben unbezwingbaren Willen des Bischofs zur sakralen wie gesellschaftlichen Machtübernahme in Alexandria. Die heidnischen Kultstatuen werden etwa nicht in aller Stille zerstört oder entfernt, vielmehr in offenbar großer Zahl öffentlich profaniert, ja sogar zur Ausschmückung christlicher Kirchen verwendet. Es sind Siegestrophäen zur Verherrlichung des Christengottes, Symbole des Triumphes der Kirche über das Heidentum. Die Unversöhnlichkeit und aggressive Intoleranz der Kirche gegenüber dem unterlegenen Götterglauben ließ sich kaum besser artikulieren als in einer Maßnahme des Theophilos: Wie ein Kirchenhistoriker berichtet, bewahrte der Bischof eine Statue, die einer Affengottheit (wohl Hermes-Thot), persönlich vor der Zerstörung. Er ließ sie öffentlich aufstellen und bemerkte hierzu, „damit die Heiden später einmal nicht abstreiten können, solche Götter verehrt zu haben.“ 46 Symbolischen Charakter hatten noch weitere Handlungen, die der Zerstörung der Tempel folgten. Wenn wir Rufin glauben dürfen, so wurden Bruchstücke der gewaltigen Kultstatue des Serapis in die verschiedenen Stadtbezirke geschleppt und dort vor zahlreichen Zuschauern verbrannt. Der verbliebene Torso hingegen wurde schließlich im Theater der Stadt, also am zentralen Versammlungsort der Bürgerschaft in Brand gesteckt (Abb. 19). Diese Verbrennung wurde als kultische Handlung zelebriert. Kann man hierin etwas anderes als eine absichtsvoll inszenierte und von zentraler Stelle gesteuerte rituelle Reinigung der Stadt vom heidnischen Irrglauben erblicken? In dieselbe Richtung weist die systematische Zerstörung zahlloser SerapisBüsten im öffentlichen Raum. Offenbar binnen weniger Stunden wurden die Bildnisse, die sich an den Straßen und Wegkreuzungen Alexandrias auf Pfosten befanden, demoliert und durch Kreuzzeichen ersetzt: Die Stadt gehörte jetzt Christus und dem Gott der Christen, nicht aber länger dem Serapis. Ähnliche Symbolkraft hatte die Maßnahme, das heilige Nilometer, mit dem jährlich der Fruchtbarkeit verheißende Anstieg des Nils festgestellt wurde, in eine christliche Kirche zu verbringen: Zuvor war es im Serapeum aufbewahrt worden. Der Christianisierung des urbanen Kultlebens folgte so die Christianisierung der religiösen Identität der Stadt und ihres Erscheinungsbildes. Die Umwandlung der Metropolis Ägyptens in das in späteren Textzeugnissen so gerne apostrophierte „christusliebende Alexandria“ der Spätantike nimmt in den hier skizzierten Vorgängen und Maßnahmen ihren Anfang. 47
46 Socr., H.E. 5,16,12f. 47 IRMSCHER, Alexandria; HAHN, Gewalt, 97ff.
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VI . Die Zerstörung von Götterstatuen wie auch die Plünderung und Zerstörung von Tempeln und sakralen Orten ist kein spezifisches Phänomen der christlichen Spätantike. Verschiedene solcher Fälle sind in der antiken Welt bezeugt – und keineswegs immer mit religiösen Motiven verknüpft, vielmehr sehr häufig auf politische oder ökonomische Intentionen zurückgehend. 48 Die konstantinische Wende und die mit ihr einsetzende Christianisierung der spätantiken Welt setzt allerdings erstmals – jenseits des zwischenstaatlichen Feldes, auf dem Heiligtümer und sakrale Räume oder Symbole bereits im Alten Orient zu Zielen der Kriegführung werden und der gezielten Vernichtung anheimfallen konnten – religiös motivierte Gewalt gegen Andersgläubige und ihre Kultorte auf die öffentliche religiöse und staatliche Agenda. Dabei bedeutete solche Gewaltanwendung im Einzelfall weit mehr als eine auf das religiöse Leben im engeren beschränkte Eskalation, mehr als eine fokussierte Aggression religiöser Fanatiker, der etwa das verhaßte Götterbild eines als Konkurrenz oder Bedrohung empfundenen Kultes zum Opfer fiel (Abb. 21, 22). Immerhin läßt sich zeigen, daß bestimmte Formen und Objekte von religiöser Gewaltanwendung, die in späteren Epochen – im byzantinischen Ikonoklasmus, im Bildersturm der Reformation und anderen – regelmäßig praktiziert wurden, in den religiösen, auch innerchristlichen Auseinandersetzungen der Spätantike bereits allesamt zum Tragen kamen: Die Darstellung des calvinistischen Bildersturms am 20. August 1566 durch Frans Hogenberg (Abb. 23), welche das zeitgenössische Spektrum religiöser Gewaltanwendung in Kirchen paradigmatisch in einem Bild zu vereinen sucht, 49 hätte zweifellos spätantiken Beobachtern des 4. bis 6. Jahrhunderts n. Chr. allenthalben vertraute Motive geboten: In Hogenbergs Darstellung werden Heiligenfiguren mit Seilen von ihren Sockeln gestürzt, über Leitern auch hoch angebrachte Bildnisse erreicht und zerstört. Details zeigen, daß sogar fest eingemauerte Bildwerke aus dem Mauerwerk herausgebrochen und Statuen nach dem Herunterstürzen in Stücke geschlagen werden. In kleineren Szenen werden zudem heilige Bücher zerrissen und Meßgewänder zerfetzt, das Gotteshaus allenthalben nach Götzenbildern und Schriften durchsucht und geplündert, der Altar im Zentrum aber schließlich durch Besteigen und Betreten entweiht. Allein eine abschließende Zerstörung und Niederbrennung des Kultgebäudes wird in diesem Kupferstich der Reformationszeit nicht thematisiert. Daß eine solche aber gleichfalls zu den zeitlos ‚gültigen’ Optionen religiöser Gewalt gegen konkurrierende Kultgemeinschaften und Religionsauffassungen zählt, davon wurde die Weltöffentlichkeit Zeuge, 48 Für einen unlängst bekannt gewordenen, aufschlussreichen, epigraphisch dokumentierten Fall aus Kolyda (Lydien) aus dem 2. Jh. n. Chr. siehe HERRMANN – MALAY, Documents from Lydia, 110–113. Zu Tempelplünderung und Zerschlagung von Göttern aus politischen u.a. Motiven in der griechischen Welt SCHEER, Gottheit, 283–299. 49 Der reformatorische Bildersturm als religiöse Auseinandersetzung fokussiert natürlich die Problematik des religiösen Bildes und damit verknüpfte Ritusfragen, beschränkte sich allerdings im Verlauf der Ereignisse nicht immer hierauf. Weitreichende Darstellungen und Analysen bei SCRIBNER, Bilder und Bildersturm, und BLICKLE, Macht und Ohnmacht.
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als am 6. Dezember 1992 im nordindischen Ayodhya Zehntausende fanatisierter Hindus die dortige, aus dem 16. Jahrhundert stammende Babri-Moschee stürmten und zerstörten. Auf ihren Ruinen wurde unmittelbar danach ein Ram-Schrein errichtet, dies nicht zuletzt in der Absicht, eine Wiedererrichtung der MogulMoschee auszuschließen 50 – dies ein Vorgehen und Kalkül, das frappierend an das Agieren des Theophilos in Alexandria erinnert. Hinter der Zerstörung eines Tempels oder dem Sturz einer Statue verbirgt sich, was in den hiesigen Ausführungen nur mit Blick auf die Situation in Alexandria nach der Schleifung des Serapeums angedeutet werden konnte, allerdings fast immer eine vielschichtige Semantik: Das gewaltsame Vorgehen gegen Heiligtümer und Götterbilder verweist bei näherer Analyse, auch in der Spätantike, regelmäßig zugleich auf soziale, ökonomische und nicht zuletzt politische, das heißt machtpolitische Hintergründe und Intentionen. Dabei ist es zweifellos vor allem der programmatische Ausdruck, der mit jeder solchen spektakulären Tat augenfällig verbunden ist, der die öffentliche Aufmerksamkeit, und dies quer durch die Geschichte, Kulturen und Kontinente, fesselt. Die triumphale Symbolik des Statuensturzes (so auch diejenige Saddam Husseins auf dem Paradiesplatz in Bagdad am 9. April 2003) verweist auf die Beseitigung von Unterdrückung, ob politischer oder religiöser Natur. Doch Attacken auf hervorgehobene Monumente und Symbole einer Glaubensgemeinschaft, wie sie Kultgebäude und Kultstatuen darstellen, vermögen noch weit mehr auszudrücken, gelten sie doch auch oft zugleich Symbolen von weiter reichender, umfassender Bedeutung. Die Sprengung der weltberühmten Buddha-Statuen von Bamiyan im Jahr 2001 durch Taliban und Al Qaida (Abb. 24, 25) erwuchs nicht aus aktuellen religiösen Konflikten: Aber sie richtete sich gleichermaßen gegen eine Religion und Kultur und Gesellschaft, den Buddhismus; gegen die Geschichte und Tradition eines über Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende gewachsenen kulturellen Raumes und seiner multi-ethnischen Bevölkerung; gegen eine hochangesehene, allseits respektierte, wenn auch nicht von allen geteilte Identität; und zudem noch gegen die westliche Öffentlichkeit, die hier, wiewohl meist ohne fundiertes Wissen um die Bedeutung dieser Statuen, doch einen Akt unfaßbarer Barbarei in dieser Zerstörung wahrnahm. Menschen in der Spätantike – und hier besonders Pagane, vor allem Intellektuelle – hatten durchaus Grund, in den auf den zurückliegenden Seiten untersuchten Phänomenen und analysierten Fällen von Aggression und Intoleranz eine umfassend intendierte Vernichtung von Traditionen, Werten und Identität zu erkennen. 50 JÜRGENSMEYER, Koexistenz und Konflikt, mit dem historischen Hintergrund und der Vorgeschichte der Ereignisse von 1992. Der Angriff auf die Moschee erfolgte nach jahrelanger Agitation, landesweiten Prozessionen und mehrfachen Ankündigungen. Die Aktion, bei der sich u.a. die Parteispitze der Bharatiya Janata Party (BJP) einfand, war präzise geplant: Ausgerüstet mit Hämmern, Äxten und Seilen zerstörten die Hindu-Nationalisten zunächst die Absperrungen und machten dann binnen weniger Stunden das muslimische Gotteshaus dem Erdboden gleich. Nach der Sprengung der Kuppeln der Moschee wurde am folgenden Morgen auf ihren Ruinen bereits ein provisorischer Schrein für Gott Ram errichtet. Die landesweit folgenden Unruhen kosteten Tausende von Menschen, vornehmlich Muslime, das Leben.
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ABBILDUNGEN
Abb. 1 (oben): Haupttempel des griechisch-römischen Tempelkomplexes von Dendara in Oberägypten mit den davor liegenden Mauerresten einer Kirche des 6. Jh.s n. Chr. Abb. 2. und 3 (unten): Säulen im Narthex des Haupttempels von Dendara mit beschädigten Reliefs und zerstörten Kapitellen, welche den Kopf der Göttin Hathor zeigen. Rechts: Zeichnerische Rekonstruktion der aufwendigen Zerstörungsarbeit (D. Miles-Williams).
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Abb. 4 (oben): Systematische Zerstörung der figürlichen Darstellungen auf einem Wandrelief des Hathortempels von Dendara, links des Herrschers und seiner Gattin, rechts der Gottheiten Harsomatus (ein Sohn der Hathor) und Isis.
Abb. 5 (unten): Zerstörungen an einem in über 4 m Höhe befindlichen Wandrelief im Tempel von Dendara. Zerstört wurde die Darstellung des Herrschers links, die Göttin Hathor in der Mitte – wobei die seitliche Schlagführung und die nur unregelmäßigen Beschädigungen die schwierige Erreichbarkeit von der angelegten Leiter spiegeln. Der Falkengott Horus rechts wurde, offenbar aus Unkenntnis seiner göttlichen Natur, hingegen verschont.
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Abb. 6 (oben): Das Bergheiligtum auf dem Djebel Srir mit heidnischem Tempel und Altar – Zustand in der römischen Kaiserzeit, ca. 2./3. Jahrhundert n. Chr. Abb. 7 (unten): Das Heiligtum auf dem Djebel Srir als christianisierter Komplex mit Kirche, Stylitensäule und Zweckbauten, Zustand im 5./6. Jahrhundert n. Chr.
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Abb. 8 (oben): Der Hlg. Simon stürzt eine Sol-Statue im Sonnenwagen von ihrer Säule. Mosaik in San Marco, Venedig, 11. Jh.
Abb. 9 (unten): Detail des Mosaiks der Stürzung der Sol-Statue: Ein geflügelter schwarzer Dämon, vielleicht Satan darstellend, versucht die Quadriga mit Sol von hinten festzuhalten.
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Abb. 10 (oben): Vom Hlg. Philipp bekehrte Heiden stürzen eine Statue des Mars von ihrer Säule. Ein Drache, der wohl Satan oder die unheilvolle Macht der paganen Gottheit verkörpert, versucht die Zerstörung zu verhindern. Mosaik in San Marco, Venedig, 11. Jh. Abb. 11 (unten): Grabstele des Apa Schenute, 53 x 31 cm, Ägypten, angeblich aus dem Weißem Kloster, 5./6. Jahrhundert (Museum für Spätantike und Byzantinische Kunst Berlin, Inv.-Nr. 4475).
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Abb. 12 (oben): Das „Weiße Kloster“ (Deir Abiad) bei Panopolis– der erhaltene, von außen festungsähnlich wirkende Kirchenbau aus dem 5. Jahrhundert, in einer jüngeren Aufnahme (Barbara Emmel).
Abb. 13. 14 (unten): Weißes Kloster, Nordportal (links): Die Pfosten sind aus Granitblöcken zusammengefügt, die Kapitelle aus Granit, mit Kehlen versehen. Der dreiteilige Türsturz zeigt in erhöhtem Rahmen je ein Kreuz zu seiten eines Mittelmedaillons mit Kreuz. Über dem Türsturz ein dreiteiliger Kehlstein mit Rundstab. Ein Granitblock dient als Türschwelle. Nordportal der Westseite (rechts): Profilierte Basen und Pfosten aus Granit; links noch Reste eines ägyptischen Reliefs mit Kartuschen. Korinthische Kapitelle aus Kalkstein. Der granitene Türsturz ist Teil eines dorischen Architravs mit guttae
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Abb. 15 (oben): Grundriß der Klosterkirche von Deir Abiad mit Trikonchos und Presbyterium links – und davor, im Mittelschiff im aufwendig gelegten marmornen Fußbodenbelag, eine große, übereck gelegte quadratische Platte aus Assuan-Granit. Ihre Schauseite mit Hieroglyphen ist nach oben gekehrt und so den Tritten der Priester und Gläubigen ausgesetzt. Die tonnenschwere Platte wurde aus einem altägyptischen Tempel aus dem Heiligtumskomplex von Abydos in die Kirche verbracht wurde. Abb. 16 (unten): Alexandria – Plan der Stadt in der Spätantike, mit dem auf einer Akropolis gelegenen Hauptheiligtum des Serapis im Stadtteil Rhakotis im Südwesten der Metropole.
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Abb. 17: Serapis-Büste, Höhe 81 cm, gefunden im Serapeum in Alexandria (GRM 22158). Auf dem Kopf trägt der Gott einen Korb (kálathos) mit Kornähren und geschmückt mit Olivenzweigen; ptolemäische Zeit.
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Abb. 18: Das Serapeum von Alexandria in axiometrischer Rekonstruktion der römischen Phase, nach Errichtung der Säule Diokletians (nach S. Gibson).
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Abb. 19: Hölzerne Statue des Serapis im Griechisch-Römischen Museum von Alexandria (GRM 23352). Diese Sitzstatue (welcher allerdings u.a. der Kalathos oben fehlt) dürfte eine verkleinerte Kopie der berühmten, aus Holz und Elfenbein gefertigten gewaltigen Kultstatue im zentralen Heiligtum des Serapeums-Komplexes in Alexandria darstellen, die bei der Stürmung und Zerstörung des Serapeum 392 n. Chr. in Teile zerschlagen & deren Bruchstücke in verschiedene Viertel der Stadt verschleppt und dort öffentlich verbrannt wurden.
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Abb. 20: Alexandrinische Weltchronik (P. Goleniscev, VI verso): Ereignisse der Jahre 389–395 n. Chr. Oben links (frgm.) Kaiser Theodosius mit seinem Sohn Honorius, darunter Bischof Theophilos mit goldenem Nimbus und bezeichnet ΑΓΙΟΣ ΘEOΦIΛOΣ, „Hlg. Theophilus“, barhäuptig und bärtig mit erhobener Rechten und einer kreuzgeschmückten Bibel in der Linken. Er steht, gerahmt von zwei großen Palmzweigen und so als Triumphator ausgewiesen, auf einem Pedestal, das architektonisch ausgearbeitet rechts noch drei Säulen zeigt sowie in der Mitte einen Giebel und wohl eine polygonale Struktur wiedergeben soll. Unter dem Giebel der Oberkörper einer Figur, die auf dem Haupt mit langen, herabhängenden Locken einen Korb oder Scheffel trägt: der Gott Serapis, dessen Kultstatue hier dargestellt ist. Am unteren Bildrand (frgm.) stürmen Menschen mit erhobenen Armen, wohl Steine o.a. schleudernd, nach rechts gegen ein mit der Beschrift ΣAPAΠEION, „Serapeum“, bezeichnetes Gebäude, das erneut Säulenstellungen, Giebel, darüber ein Dach mit angedeuteter Ziegelstruktur und im Inneren, gerade noch sichtbar, den auf dem Kopf getragenen Korb der Serapis-Kultstatue zeigt: die Zerstörung des Serapeums 392 n. Chr. An der rechten Seite sind noch (oben, frgm.) Kaiser Valentinian und unter ihm knieend der Usurpator Eugenius, der 394 n. Chr. von Kaiser Theodosius in der Schlacht am Frigidus entscheidend geschlagen wurde, zu erkennen (zu Darstellung und Interpretation vgl. Bauer – Strzygowski 1906, Tafel 6 mit Kommentar).
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Abb. 21 (oben): Fresko aus einer Katakombe in Rom mit der Darstellung der Stürzung einer Götterstatue durch Christen, 2./3. Jh.
Abb. 22 (unten): 185 cm große Sitzstatue des Serapis aus einem Heiligtum in Sarsina, Italien, die in der Spätantike mit Hammerschlägen systematisch in kleinste Teile zerschlagen wurde und nun aus über 300 Fragmenten restauriert werden mußte. Weitere Kultbilder aus demselben Heiligtum, so der Kybele, des Attis und – soweit aus den Überresten erschließbar – der Isis und ihres Sohnes Harpokrates wurden gleichfalls in Hunderte von Bruchstücken zerschmettert.
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Abb. 23: Frans Hogenberg, Calvinistischer Bildersturm am 20. August 1566, Kupferstich 56 x 42 cm (Berlin, Kupferstichkabinett). Bildunterschrift: „Nach wenigh Predication / Die Calvinsche Religion / Das Bildersturmen fiengen an / Das nicht ein bildt davon blieb stan / Kap Monstranz, Kilch, auch die Altar / Vnd weß sonst dort vor handen war / Zerbrochen all in kurtzer stundt / Gleich gar vil leuten das ist kundt. // Anno Dnj MDLXVI / XX Augusti.“
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Abb. 24 (oben): Die 35 m hohe kleinere der beiden bei Bamiyan in eine Felswand eingemeißelten Buddha-Kolossalstatuen aus dem 6. Jh. n. Chr., hier in einer im Jahr 1933 anläßlich der archäologischen Erfassung gefertigten Aufnahme. Abb. 25 (unten): Sprengung der kleineren der beiden Buddha-Statuen von Bamiyan durch fundamentalistisch-islamische Taliban und Al Quaida am 12. März 2001.
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AUTORENVERZEICHNIS Prof. Dr. Jaime Alvar Universidad Carlos III de Madrid Instituto Historiografía „Julio Caro Baroja“ C/Madrid 126, 28903 Madrid Spanien [email protected]
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Eike Faber, M.A. Universität Potsdam Historisches Institut Am Neuen Palais 10 14469 Potsdam [email protected]
Prof. Dr. Johann Ev. Hafner Universität Potsdam Institut für Religionswissenschaft Am Neuen Palais 10 14469 Potsdam [email protected]
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Prof. Dr. Peter Herz Universität Regensburg Institut für Geschichte Universitätsstraße 31 93053 Regensburg [email protected]
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Autorenverzeichnis
Prof. Dr. Christiane Kunst Universität Osnabrück Historisches Seminar Schloßstraße 8 49069 Osnabrück [email protected] Prof. Dr. Jörg Rüpke Universität Erfurt Vergleichende Religionswissenschaft Am Hügel 1 99084 Erfurt [email protected]
Dr. Almuth Lotz Universität Potsdam Historisches Institut Am Neuen Palais 10 14469 Potsdam [email protected]
P O T S DA M E R A LT E RT U M S W I S S E N S C H A F T L I C H E B E I T R ÄG E
Herausgegeben von Pedro Barceló, Peter Riemer, Jörg Rüpke und John Scheid.
Franz Steiner Verlag
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Christoph Batsch / Ulrike Egelhaaf-Gaiser / Ruth Stepper (Hg.) Zwischen Krise und Alltag / Conflit et normalité Antike Religionen im Mittelmeerraum / Religions anciennes dans l’espace méditerranéen 1999. 287 S. mit 18 Abb., kt. ISBN 978-3-515-07513-8 Ulrike Egelhaaf-Gaiser Kulträume im römischen Alltag Das Isisbuch des Apuleius und der Ort von Religion im kaiserzeitlichen Rom 2000. 668 S., 20 Taf., geb. ISBN 978-3-515-07766-8 Christiane Kunst / Ulrike Riemer (Hg.) Grenzen der Macht Zur Rolle der römischen Kaiserfrauen 2000. X, 174 S., kt. ISBN 978-3-515-07819-1 Jörg Rüpke (Hg.) Von Göttern und Menschen erzählen Formkonstanzen und Funktionswandel vormoderner Epik 2001. 200 S., kt. ISBN 978-3-515-07851-1 Silke Knippschild „Drum bietet zum Bunde die Hände“ Rechtssymbolische Akte in zwischenstaatlichen Beziehungen im orientalischen und griechisch-römischen Altertum 2002. 223 S. mit 23 Abb., geb. ISBN 978-3-515-08079-8 Christoph Auffarth / Jörg Rüpke (Hg.) ∆Epitomhv th`~ oijkoumevnh~ Studien zur römischen Religion in Antike und Neuzeit. Für Hubert Cancik und Hildegard Cancik-Lindemaier 2002. 284 S. mit 11 Abb., kt. ISBN 978-3-515-08210-5 Ulrike Riemer / Peter Riemer (Hg.) Xenophobie – Philoxenie Vom Umgang mit Fremden in der Antike 2005. XI, 276 S., geb.
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in Vorbereitung Dorothee Elm von der Osten / Jörg Rüpke / Katharina Waldner (Hg.) Texte als Medium und Reflexion von Religion im römischen Reich 2006. 260 S., kt. ISBN 978-3-515-08641-7 Clifford Ando / Jörg Rüpke (Hg.) Religion and Law in Classical and Christian Rome 2006. 176 S., kt. ISBN 978-3-515-08854-1 Corinne Bonnet / Jörg Rüpke / Paolo Scarpi (Hg.) Religions orientales – culti misterici Neue Perspektiven – nouvelles perspectives – prospettive nuove 2006. 269 S. mit 26 Abb., kt. ISBN 978-3-515-08871-8 Andreas Bendlin / Jörg Rüpke (Hg.) Römische Religion im historischen Wandel Diskursentwicklung von Plautus bis Ovid 2009. 199 S., kt. ISBN 978-3-515-08828-2 Virgilio Masciadri Eine Insel im Meer der Geschichten Untersuchungen zu Mythen aus Lemnos 2007. 412 S. mit 6 Abb., kt. ISBN 978-3-515-08818-3 Francesca Prescendi Décrire et comprendre le sacrifice Les réflexions des Romains sur leur propre religion à partir de la littérature antiquaire 2007. 284 S., kt. ISBN 978-3-515-08888-6 Dorothee Elm von der Osten Liebe als Wahnsinn Die Konzeption der Göttin Venus in den Argonautica des Valerius Flaccus 2007. 204 S., kt. ISBN 978-3-515-08958-6 Frederick E. Brenk With Unperfumed Voice Studies in Plutarch, in Greek Literature, Religion and Philosophy, and in the New Testament Background
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