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German Pages [195] Year 2014
gestaltet. Das Buch stellt die in Deutschland vertretenen Spielarten – vom konfessionellen Religionsunterricht bis zu religionskundlichen Ansätzen – in vergleichbarer Weise vor; außerdem kommen Modelle ausgewählter europäischer Länder (England, Schweiz) zur Sprache. So werden für die Diskussion um die zukünftige Gestalt des Religionsunterrichts unerlässliche Informationen und Anregungen geboten. Wer über die Zukunft des Religionsunterrichts mitreden will, findet hier die erforderlichen Informationen und Anregungen in griffiger Form.
BERND SCHRÖDER geb. 1965, Dr. phil., ist Professor für Praktische Theologie mit den Schwerpunkten Religionspädagogik und Bildungsforschung an der Theologischen Fakultät der Universität Göttingen.
ISBN 978-3-7887-2789-5
9 783788 727895
RELIGIONSUNTERRICHT – WOHIN?
Religionsunterricht sehr unterschiedlich organisiert und
BERND SCHRÖDER (HG.)
Schon innerhalb Deutschlands, erst recht in Europa, wird
BERND SCHRÖDER (HG.)
RELIGIONSUNTERRICHT – WOHIN? MODELLE SEINER ORGANISATION UND DIDAKTISCHEN STRUKTUR
Bernd Schröder (Hg.)
Religionsunterricht – wohin? Modelle seiner Organisation und didaktischen Struktur
Vandenhoeck Ruprecht Neukirchener & Theologie
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2014 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlaggestaltung: Andreas Sonnhüter, Düsseldorf unter Verwendung einer Zeichnung von Jonas Nagel DTP: Margret Lessner Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-50178-4
Inhalt Inhalt
Bernd Schröder Einleitung ............................................................................................
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Teil 1 Organisationsmodelle und didaktische Konzepte von Religionsunterricht Joachim Weinhardt Konfessionell-kooperativer Religionsunterricht in Baden-Württemberg .......................................................................
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Katja Boehme Fächergruppe Religionsunterricht in interreligiöser Kooperation .....
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Hans-Ulrich Keßler Religionsunterricht für alle in evangelischer Verantwortung – der Hamburger Weg .......................................................................
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Eva-Maria Kenngott Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde in Brandenburg ............
57
Manfred Spieß Biblische Geschichte auf allgemein-christlicher Grundlage in Bremen ............................................................................................
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Johannes Rudolf Kilchsperger „Neugier auf das, was sie nicht glauben“ Das neue Schulfach Religion und Kultur im Kanton Zürich .............
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L. Philip Barnes Multireligiöser Religionsunterricht in England .................................. 105
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Inhalt
Teil 2 Perspektiven Rolf Bade Stellung des Religionsunterrichts und Anregungen zu seiner Weiterentwicklung aus der Perspektive staatlicher Verantwortung .. 117 Kerstin Gäfgen-Track Zur Zukunft des Religionsunterrichts aus einer evangelisch-kirchlichen Perspektive .................................. 125 Rudolf Tammeus Ökumenische Perspektiven Zur Fortschreibung des Religionsunterrichts aus der Sicht eines Fachleiters Evangelische Religion an Gymnasien ................... 135 Hans-Michael Heinig Religionsunterricht nach Art. 7.3 des Grundgesetzes – Rechtslage und Spielräume ............................................................. 141 Rudolf Englert Konfessioneller Religionsunterricht – zehn Thesen zum besseren Verständnis ......................................... 155 Bernd Schröder Was heißt Konfessionalität des Religionsunterrichts heute? Eine evangelische Stimme ................................................................. 163 Ausblick Bernd Schröder Auf dem Weg zu einer zukünftigen Gestalt des Religionsunterrichts – methodische Überlegungen ........................... 181 Bernd Schröder / Rudolf Tammeus Wünschenswerte Schritte zur Weiterentwicklung des Religionsunterrichts – Thesen ........................................................... 193
Bernd Schröder
Einleitung Seit der Reformation, also seit beinahe 500 Jahren, wird Religion in Deutschland nach Konfessionen getrennt unterrichtet: In Gymnasien geschah dies bis Anfang des 19. Jahrhunderts im Rahmen von konfessionsverschiedenen Schulen, in den nicht-gymnasialen Schulformen war dies sogar bis in die 1960er Jahre hinein die Regel. Seitdem wird Religionsunterricht im Rahmen einer Schule, die als solche weder Lehrkräfte noch Schülerinnen und Schüler nach Konfessionszugehörigkeit sortiert, nämlich in der sog. (christlichen) Gemeinschaftsschule, erteilt. Schülerinnen und Schüler finden sich nur für den Fachunterricht Religion nach Konfession zusammen.1 Das Grundgesetz, 1949 in Kraft getreten, aber in seinen Formulierungen und Rechtsvorstellungen der Weimarer Reichsverfassung von 1919 verpflichtet, ist vor diesem schul- und unterrichtsgeschichtlichen Hintergrund formuliert: Die Väter des Grundgesetzes konnten sich nicht vorstellen, dass Religionsunterricht anders als „evangelisch“, „römischkatholisch“ oder „jüdisch“ erteilt werden könnte. Zugleich aber waren sie tolerant genug, um weder Schülerinnen oder Schüler noch Lehrerinnen oder Lehrer zur Erteilung eines solchen Religionsunterrichts „in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften“ (Art. 7.3 GG) zu verpflichten. Mit seiner rechtlichen Konstruktion (Art. 7.3 GG) und mit seiner Intention, die Herkunftsreligion der Schülerinnen und Schüler im Medium schulischen Lernens wissenschaftsbasiert zu vertiefen und kritisch zu fördern, trägt schulischer Religionsunterricht den tatsächlichen Religionszugehörigkeiten in der Bevölkerung und dem entsprechenden elterlichen Erziehungswillen Rechnung: Es gibt evangelischen, katholischen, jüdischen u.a. Religionsunterricht, weil und sofern die Bürgerinnen und Bürger evangelisch, katholisch, jüdisch u.a. „sind“ und ihre schulpflichtigen Kinder entsprechend erziehen und erzogen sehen möchten. Anders gesagt: In der Erteilung von und in der Teilnahme am schulischen Religionsunterricht kommt sowohl die Freiheit zu ihrem Recht, die eigene Religiosität auch im öffentlichen Raum der Schule zum Ausdruck zu bringen und fördern zu lassen (die sog. positive Religionsfreiheit), als auch der staatliche Wille, religiöse Orientierungen der Bürger nicht zu manipulieren oder zu beschränken (sog. negative Religionsfreiheit). 1
Vgl. die ausführlichere Darstellung bei Rainer Lachmann und Bernd Schröder (Hg.), Geschichte des evangelischen Religionsunterrichts in Deutschland. Ein Studienbuch, Neukirchen-Vluyn 2007, sowie dies. (Hg.), Geschichte des evangelischen Religionsunterrichts in Deutschland. Quellen, Neukirchen-Vluyn 2010.
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In den gut sechzig Jahren seit Inkrafttreten des Grundgesetzes hat sich nicht dieser Rechtsrahmen und auch nicht dieser staatliche Wille geändert, wohl aber haben sich in den Bundesländern und Schulformen unter dem Dach von Art. 7.3 GG bzw. von Art. 141 GG verschiedene Praxen des Religionsunterrichts entwickelt.2 Insbesondere hat sich die religiöse Landschaft in der – seit beinahe 25 Jahren um die frühere Deutsche Demokratische Republik erweiterten – Bundesrepublik Deutschland gewandelt. Aus der Fülle der Beobachtungen und Interpretationen, die diesen Wandlungen aus Religionssoziologie, Theologie, Religionswissenschaft zuteilwerden,3 möchte ich vier m.E. nachhaltig wirksame Veränderungen benennen: Erstens: Die Zahl derer, die Mitglied entweder einer evangelischen Landeskirche oder eines Bistums der römisch-katholischen Kirche oder einer anderen christlichen Kirche sind, liegt noch bei etwa 60% der Bevölkerung; doch die Zahl der Konfessionslosen und auch die Zahl der kirchendistanzierten, d.h. zu der Konfessionskirche, in der sie getauft wurden, auf Abstand gegangenen Menschen steigt. Konfessionalität ist für eine wachsende Zahl von Menschen keine Orientierungsmarke ihrer Lebensführung und -deutung mehr. Das reduziert einerseits die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die für die Teilnahme am Religionsunterricht ihrer Konfession in Frage kommen, und wirft andererseits die Frage auf, wie der Religionsunterricht und seine Alternativfächer mit der wachsenden Zahl konfessionsloser Schülerinnen und Schüler umgehen können: Sollten sie gleichwohl einer religiösen Bildung, vorzugsweise i.S. einer Information über Religionen und einer Auseinandersetzung mit Religionen, teilhaftig werden oder sind sie säkular, also ohne Berührung mit der Welt der Religionen, zu unterrichten? Verkompliziert wird diese konzeptionelle Frage durch folgende religionssoziologisch immer deutlicher umrissene Auskunft: Es gibt nicht „die Konfessionslosen“, sondern unter diesen schmucklosen Begriff fallen Menschen unterschiedlichster Haltung zwischen militantem Atheismus einerseits und einer im Grunde religionsfreundlich-interessierten Unsicherheit in daseins- und wertorientierenden Fragen andererseits. Zweitens: Immer deutlicher wird sichtbar, dass die Bundesrepublik Deutschland Heimat für Menschen verschiedener Religionszugehörigkeit ist: Ca. vier Millionen Muslime überwiegend türkisch-sunnitischer Prä2
Dazu die Übersichten von Martin Rothgangel und Bernd Schröder (Hg.), Religionsunterricht in den Ländern der Bundesrepublik. Empirische Daten – Kontexte – Entwicklungen, Leipzig 2009, sowie Bernd Schröder und Michael Wermke (Hg.), Religionsdidaktik zwischen Schulformspezifik und Inklusion. Bestandsaufnahmen und Herausforderungen, Leipzig 2013. 3 Aus der Fülle der Literatur sei hier nur genannt: Jahrbuch der Religionspädagogik [JRP] 30 (2014): Religionspädagogik in der Transformationskrise. Ausblicke auf die Zukunft religiöser Bildung, Neukirchen-Vluyn 2014.
Einleitung
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gung mit vielfältigen kulturellen und ‚konfessionellen‘ Hintergründen, eine – in Anbetracht der Schoah überaus erfreuliche – Wiederbelebung jüdischer Gemeinden und innerjüdischer Pluralität, die Zuwanderung von Menschen hinduistischer und buddhistischer Prägung aus Indien und Südostasien, durch die „Green-Card“ (seit 2002) bzw. „Blue-Card“ (seit 2012) gefördert und zunehmend sogar gefordert, sind lediglich Beispiele. Hinzu kommt, dass Schülerinnen und Schüler durch Reisen, Austauschprogramme und neue Medien in immer stärkerem Maße mit Menschen nicht-christlicher Orientierung in Kontakt kommen. Dadurch wird Orientierungs- und Sprachfähigkeit angesichts religiöser Vielfalt zu einem Desiderat, dem aus religiösem, aber auch aus einem allgemein-gesellschaftlichen Interesse immer größeres Gewicht zukommt. Diese religiöse Vielfalt bildet sich in Schulen vielerorts noch recht lautlos und unscheinbar ab, speziell in Ballungsräumen wie Berlin, Hamburg, Rhein-Ruhr, Rhein-Main usw. ist sie indes unübersehbar. Somit steht die Frage im Raum, wie den vielfältig religiösen Schülern eine ihnen entsprechende religiöse Unterrichtung zuteilwerden kann: Soll es Religionsunterricht in einer Mehrzahl der Konfessionen bzw. Religionen geben, der nebeneinander und ggf. in Kooperation erteilt wird, oder einen Religionsunterricht, der Schülerinnen und Schüler unterschiedlicher religiöser Beheimatung zusammenführt? Mit der Einführung des muslimischen Religionsunterrichts in Bundesländern wie Berlin (2001), Nordrhein-Westfalen (2012) und Niedersachsen (2013) und entsprechender Planungen in Bayern, Baden-Württemberg und Hessen ist zunächst einmal eine Weichenstellung im Sinne von Art. 7.3 GG erfolgt: Solange die Zahl der signifikanten Religionen und Konfessionen überschaubar bleibt, bejaht der Staat die Einrichtung einer Mehrzahl entsprechender Religionsunterrichte. Drittens: Im Raum der Europäischen Union ist das deutsche Modell von Religionsunterricht in konfessionskirchlicher Mitverantwortung ein Solitär.4 Österreich, Rumänien und Finnland kennen ähnliche Strukturen wie Deutschland, doch viele andere Länder realisieren andere Organisationsmodelle religiöser Bildung. Darunter ist ein Modell besonders erwähnenswert: England (in den 1970er Jahren), Norwegen und Schweden (in den 1990er Jahren), derzeit auch etliche Kantone der Schweiz, zuletzt Zürich (in den 2000er Jahren), haben sich für ein primär informatives, mehreren Religionen gleichgewichtig Rechnung tragendes Modell entschieden, das mal durch das Zusammenwirken von Staat und mehreren Religionsgemeinschaften verantwortet wird (so in England), mal allein vom Staat (so in den anderen genannten Ländern).
4 Bernd Schröder, Religionsunterricht in Europa, in: Religionspädagogisches Kompendium, hg. von Martin Rothgangel, Gottfried Adam und Rainer Lachmann, Göttingen 7., grundlegend neu bearbeitete und ergänzte A. 2012, 175-190.
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Die Frage nach der Form des Religionsunterrichts muss nicht nach Mehrheiten entschieden werden. Unser Modell hat (wie jedes andere auch) eine bestimmte Geschichte und hat auch pädagogisch-theologisch Vieles für sich; doch solche europäischen Entwicklungen markieren einen erhöhten Legitimationsbedarf. Viertens: Unter denjenigen Schülerinnen und Schülern, die durch Taufe, Beschneidung oder entsprechende Initiationsakte Mitglied einer Religionsgemeinschaft sind und als solche am entsprechenden Religionsunterricht teilnehmen, nimmt die Selbstverständlichkeit dieser Mitgliedschaft, die Zustimmung zu den kanonischen Überzeugungen und die Partizipation an den religionsgemeinschaftlichen Vollzügen, die (zeitliche) Konstanz und (sachliche) Klarheit der eigenen religiösen Positionierung ab: Die Religion des Einzelnen oszilliert in verschiedener Hinsicht, sie bleibt – nicht nur, aber eben auch unter Schülerinnen und Schülern – in der Schwebe. Konkurrierende Plausibilitätsmuster und ein dadurch stets mitlaufender Zweifel an der je eigenen religiösen Überzeugung, abnehmende soziale Kontrolle der religionsgemeinschaftlichen Zugehörigkeit bzw. sogar deren Umkehrung in Richtung eines „Zwang[s] zur Häresie“ (Peter L. Berger) und eine hohe Zerstreuungswirkung einer freiheitlichen, pluralen Gesellschaft tragen dazu bei. Dies verändert einerseits Zielsetzung und Aufgabe des Religionsunterrichts: Er muss und kann sich – anders etwa als noch in den späten 1960er Jahren – nicht länger auf kritische Hinterfragung von Religion konzentrieren, sondern hat in Betracht zu ziehen, wie überhaupt Erfahrungen mit Religion anzubahnen sind, auf die sich jene kritische Reflexion beziehen könnte. Und er muss bedenken, wie im Rahmen der staatlichen Schule positiv-religionsfreundliche Anstöße zur Förderung entsprechender Religiosität gegeben werden können – etwa durch performative Elemente im Unterricht oder durch Religion im Schulleben. Im Idealfall gelingt es ihm, sowohl die Herkunftsreligion zu vertiefen und zu stabilisieren als auch die religionsfreundlich grundierte, aber gleichwohl kritische Auseinandersetzung mit Religionen aufzunehmen. Andererseits wirft jene Konstellation ein Grundfrage auf, auf die vorderhand der Gesetzgeber, eigentlich indes die Gesellschaft als artikulationsfähiges Ganzes eine Antwort finden muss: Wollen sie mit Hilfe des Religionsunterrichts (wie im Übrigen auch mit jedem anderen Fachunterricht) ein positives Verhältnis zu dessen Gegenstand aufbauen bzw. erhalten? Wünschen sie Bürgerinnen und Bürger, deren Daseins- und Wertorientierung in (verschiedenen) geschichtlich gewachsenen Religionen verwurzelt ist oder richtet sich ihr Streben auf eine Haltung der Neutralität oder sogar der religionsfreien Lebensführung und -deutung? Rückgang konfessioneller Orientierungskraft, Multireligiosität als Herausforderung, Entwicklungen im europäischen Maßstab, Veränderungen
Einleitung
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in der religiösen Partizipation markieren vier große Herausforderungen gesellschaftlicher Art, die den Religionsunterricht betreffen. Angesichts ihrer steht die Frage im Raum, in welche Richtung der Religionsunterricht fortgeschrieben werden sollte. Im Großen und Ganzen kommen dabei vier Szenarien in Betracht – jedes dieser Szenarien entspricht einem bestimmten Modus des Umgangs mit (religiöser) Pluralität.5 Szenario 1: Beibehaltung, Ausbau und regionale Flexibilisierung bestehender Strukturen – Pluralismusfähigkeit im Modus der Ausdifferenzierung und Regionalisierung Art. 7.3 sowie Art. 141 GG und die einschlägigen Landesschulgesetze erlauben prinzipiell in hinreichendem Maße die religionsunterrichtliche Thematisierung und organisatorische Aufnahme religiös-weltanschaulicher Pluralität. Eine Anpassung und Fortentwicklung der bestehenden Verhältnisse sollte insofern erfolgen, als − für die wachsende Zahl konfessionsloser Schüler/innen konsequent von Klasse 1-12 ein Ersatz- oder Alternativfach „Ethik“ angeboten wird, dessen Lehrkräfte in ordentlich ausgebauten, didaktisch akzentuierten Studiengängen qualifiziert werden, − neben evangelischen und katholischen Religionsunterricht der muslimische Religionsunterricht als Regelangebot tritt. Die entsprechenden Ausbildungsstrukturen für Lehrkräfte wurden in den Nuller Jahren des 21. Jahrhunderts etabliert; etwa ab 2025 wird muslimischer Religionsunterricht Abiturfach sein können, − in den Bundesländern und Regionen je nach Merkmalen der dortigen religiösen Landschaft verschiedene Akzente gesetzt werden (Regionalisierung): vom konventionellen Nebeneinander mehrerer Religionsunterrichte zzgl. Ethikunterricht über die enge konfessionelle Kooperation bis hin einem interreligiös-kooperativen Verhältnis der verschiedenen Religionsunterrichte, − sowohl die verschieden konfessionellen Religionsunterricht(e) als auch der Ethikunterricht (!) der Behandlung anderer Religionen und Weltanschauungen, die entweder deutschlandweit und bzw. oder global relevant sind, inhaltlich mehr Raum gewähren und Lehrkräfte daraufhin entsprechend besser qualifiziert werden. Für dieses Modell spricht seine theoretisch-religionspädagogische, seine rechtliche und schulpraktische Bewährtheit, zudem die der religiösen Pluralität entsprechende Differenziertheit und Komplexität. Nicht zuletzt steht dieses Modell einer Weiterentwicklung im Sinne eines der beiden 5 Die Beschreibung der Szenarien folgt meinem Beitrag: Pluralismusfähigkeit. Religionsunterricht vor der Herausforderung religiös-weltanschaulicher Pluralität, in: Gemeinsam lernen. Weggefährtinnen und Weggefährten im Gespräch mit HansMartin Lübking, hg. von Ulrich Walter in Gemeinschaft mit dem Kollegium des Pädagogischen Instituts der EKvW, Gütersloh 2013, 153-181, hier 164-169.
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folgenden Szenarien nicht im Wege. Und eine weitere Stärke dieses Modells besteht darin, dem Erhalt und Aufbau bestehender Ligaturen der Schülerinnen und Schüler eine prioritäre Rolle zuzuschreiben. Schwierigkeiten bestehen darin, dass die inter-konfessionelle und interreligiöse Kommunikation im Klassenverband wenig gefordert und gefördert werden; zudem darin, dass die spezielle Konstruktion des Religionsunterrichts als religionsgemeinschaftlich mitbestimmtes Fach der staatlichen Schule von Menschen mit Religionsdistanz kaum mehr verstanden wird. Mit diesem Modell würde der deutschsprachig-finnische Weg eines positionell verantworteten Religionsunterrichts fortgeschrieben und pluralitätsfreundlich weiterentwickelt. Szenario 2: Religionsunterricht gegliedert nach Religionen, nicht Konfessionen – Pluralismusfähigkeit im Modus der Elementarisierung Auch dieses Modell hält an den bestehenden rechtlichen Rahmenbedingungen fest; es würde die Pluralitätsfähigkeit des Modells nicht im Modus der Regionalisierung und weiteren Ausdifferenzierung unterstreichen, sondern durch eine Reduktion der Zahl religionsunterrichtlicher Angebote – und zwar namentlich auf christlicher Seite. Denn so wie die verschiedenen Strömungen des Islam – von der Schia bis hin zum Alevitentum – und des Judentums – von der Orthodoxie bis zu Reform-Judentum und Rekonstruktionismus – nur in Form eines einzigen muslimischen bzw. jüdischen Religionsunterrichts in der staatlichen Schule vertreten sind, so würden auch die Konfessionen des Christentums – von den verschiedenen orthodoxen Kirchen bis hin zu Protestantismus und Freikirchentum – in einem Fach „christlicher (ökumenischer) Religionsunterricht“ zusammengefasst.6 Für diese Option spricht, dass die Ökumenizität des Religionsunterrichts vielerorts zu einer erheblichen schulorganisatorischen Entlastung führen würde: In Bundesländern bzw. Regionen mit relativ hoher Kirchenmitgliedschaftsquote stünden nurmehr christlicher und Ethikunterricht nebeneinander. Dieser Weg würde ansonsten die didaktischen und rechtlichen Chancen von Szenario 1 erhalten. Allerdings käme zu den Schwierigkeiten, auf die Szenario 1 stieße, diejenige hinzu, dass es de facto ein solches ökumenisches Christentum nicht gibt und infolgedessen beide großen Kirchen mitsamt den orthodo6
Eine weitreichende konzeptionelle Ausarbeitung hat ein solcher ökumenischer Religionsunterricht – u.a. vor dem Hintergrund gemeindepädagogischer Ansätze „ökumenischen Lernens“ – bereits in den 1990er Jahren erfahren; exemplarisch sei verwiesen auf Rainer Lachmann, Religionspädagogische Spuren. Konzepte und Konkretionen für einen zukunftsfähigen Religionsunterricht, (2000) Jena, 2., erw. A. 2002, und Uwe Böhm, Ökumenische Didaktik, Göttingen 2001. Vgl. jüngst die „Würzburger Erklärung“ vom Deutschen Katecheten-Verein (DKV) und von der Arbeitsgemeinschaft evangelischer Erzieherinnen und Erzieher in Deutschland (aeed; 4./5. April 2014).
Einleitung
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xen und freikirchlichen Kirchen eine dramatisch vertiefte Abstimmung zu entwickeln und notwendigerweise in hohem Maße füreinander einzutreten hätten – ganz abgesehen davon, dass beide Kirchen sich zu einer solchen prinzipiellen Ökumenisierung des Religionsunterrichts bislang nicht in der Lage sehen. Nicht zuletzt müsste auf diese Weise gerade die in Deutschland nach wie vor am stärksten vertretene Religion die größten Einbußen an Differenziertheit und Kongruenz (zwischen elterlicher religiöser Erziehung und Religionsunterricht) hinnehmen. Die Etablierung eines christlichen (ökumenischen)Religionsunterrichts wäre, wenn ich recht sehe, international ein Sonderfall. Szenario 3: Umbau in Richtung eines multireligiösen Religionsunterrichts – Pluralismusfähigkeit im Modus der vereinten Verschiedenheit Dieses Szenario erhält einerseits die bisherige rechtliche Konstruktion des Religionsunterrichts als res mixta und die damit verbundenen didaktischen und zivilgesellschaftlichen Chancen, sucht aber zugleich dem steigenden Verständigungsbedarf in einer multireligiösen Gesellschaft und Schule prioritär Rechnung zu tragen. Religionsunterricht wird demnach prinzipiell Schülerinnen und Schülern verschiedenen Bekenntnisses in einer Lerngruppe erteilt; die Lehrkraft ist weiterhin konfessionell ausgewiesen und wird nach entsprechender theologisch-religionspädagogischer Ausbildung von ihrer Religionsgemeinschaft mit der Erteilung von Unterricht beauftragt. Die Positionalität des Religionsunterrichts wird insofern nach wie vor gewährleistet – zum einen über die Lehrkraft, zum anderen über die Schüler/innen. Aufgelöst wird indes die Leitvorstellung einer konfessionell homogenen Lerngruppe und einer Kongruenz zwischen der Konfession des Religionslehrers bzw. der Religionslehrerin einerseits, den Schülerinnen und Schülern andererseits. De facto wird eine konfessionsgemischte Schülergruppe im Laufe ihrer Schullaufbahn von Lehrkräften unterschiedlichen Bekenntnisses unterrichtet – idealerweise so, dass jede Schülerin bzw. jeder Schüler binnen zehn Schuljahren römisch-katholischen, evangelischen, muslimischen und evtl. sogar jüdischen Religionslehrenden begegnet. Ein solcher multireligiöser Unterricht wäre für die Teilnahme konfessionsloser Schülerinnen und Schüler offen, doch er könnte sie im Sinne von Art. 7.3 GG nicht zur Teilnahme verpflichten; nach wie vor müsste ein Recht auf Abmeldung gewährleistet und ein nicht-religiöses Ersatzoder Alternativfach vorgehalten werden. Der daseins- und wertorientierende Unterricht fände somit auch in diesem Modell nicht prinzipiell im Klassenverband statt. Dieses Modell setzt auf eine starke Pluralität, d.h. auf ein artikulationsfähiges religiöses Selbstverständnis verschieden-religiöser Schüler und eine entsprechend differenzsensible Lehrerschaft; unter diesen Bedingungen fördert es Identität und Verständigung. Es kann seine Fruchtbarkeit insbesondere in Gegenden und Schuleinzugsgebieten entfalten, de-
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ren Bevölkerung in eine Mehrzahl von Religions- und Konfessionszugehörigkeiten gegliedert ist – dort wo Konfessionslose einen großen oder gar maßgeblichen Anteil an der Bevölkerung haben oder religiöse Pluralität auf Grund hoher Kirchenmitgliedschaftsquoten kaum erfahrbar ist, läuft dieses Modell hingegen ins Leere. Auch dann, wenn tatsächlich Unbestimmtheit und Vagheit die religiöse Position der Schülerinnen bzw. Schüler kennzeichnen, kann es sich nur schwerlich fruchtbar entfalten. Schwierigkeiten bestehen zudem darin, dass religiös gebundene Schüler in diesem Modell – gegen den Richtungssinn der grundgesetzlichen Regelungen – keine Gewähr auf Religionsunterricht „ihres“ Bekenntnisses haben, dass somit gerade Minderheiten Gefahr laufen, von Lehrkräften der Mehrheitsreligion unterrichtet zu werden, und dass die Lehrkräfte auf Grund der vorhandenen Ausbildungsstrukturen und Qualifikationsstandards nur evangelischen, katholischen, muslimischen und – selten – jüdischen Bekenntnisses sein können, eine Abbildung der tatsächlichen religiösen Pluralität in der Lehrerschaft bis auf Weiteres unwahrscheinlich bzw. ausgeschlossen ist. Mit diesem Szenario würde eine Adaption des sog. Hamburger Modells in der Fläche erprobt; der englische Religionsunterricht würde beliehen, allerdings an zwei gravierenden Punkten variiert, denn – anders als dort – würde hierzulande die Konfessionalität der Lehrenden weiterhin vorausgesetzt und konfessionslose Schüler würden voraussichtlich nicht teilnehmen. Szenario 4: Grundlegender Neuentwurf eines allgemeinen Religionsund Weltanschauungsunterrichts – Pluralismusfähigkeit im Modus der Neutralisierung Eine Koppelung zwischen religiöser Bildung in der Schule und Religionszugehörigkeit von Schülern und/oder Lehrern gilt in diesem Modell als unangemessen: Das schulische Bildungsangebot in Sachen Religion soll vielmehr für ausnahmslos alle Schüler/innen und für qualifizierte Lehrkräfte unabhängig von deren persönlicher Orientierung zugänglich sein. Es behandelt deshalb den Gegenstand Religion möglichst neutral, kritisch-reflektierend, diskursiv – u.a. so, dass religiös gebundene Schülerinnen und Schüler sowie einschlägige Quellentexte ihre Innenperspektive einbringen, die religiös ungebundenen Schülerinnen bzw. Schüler und religionswissenschaftliche Texte hingegen die Außenperspektive. Für dieses Modell sprechen v.a. seine schulorganisatorische Einfachheit – hier und m.E. nur hier wäre Religionsunterricht im Klassenverband möglich –, die pädagogische und fachliche Gleichförmigkeit eines solchen (allgemeinen) Religions- und Weltanschauungsunterrichts mit allen übrigen Schulfächern, nicht zuletzt die Pluralitätsfreundlichkeit seiner Anlage in einem ganz bestimmten Sinn: In dieser Unterrichtsform kom-
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men auch die Religionsgemeinschaften potentiell zu ihrem Recht, die nur in Gestalt eines einzelnen Schülers in der Schule vertreten sind. Schwierigkeiten liegen darin, dass dieser Unterricht den Bestandsschutz des Grundgesetzes verliert und einen vollständigen Bruch mit dem geschichtlich gewachsenen Modell grenzbewusster Kooperation von Religionsgemeinschaften und Staat darstellt. Die Realisierung dieses Modells ließe die gesamte Struktur der Religionslehrer-Bildung, die bislang in konfessionell-theologischen universitären Einrichtungen erfolgt, und die kirchliche Infrastruktur zur Förderung des Religionsunterrichts obsolet werden (von den kirchlichen Lehrkräften über die kirchenkreislichen und landeskirchlichen Schulbeauftragten und ihre Referate bis hin zu Mediotheken). Die Bundesländer müssten also stattdessen neue, religionswissenschaftlich akzentuierte Strukturen aufbauen. Zudem ist ungeklärt, wer in diesem Fall die inhaltliche Ausrichtung des Unterrichts festlegt und kontrolliert. Mutmaßlich müsste der Staat selbst aktiv in die Bemessung von Religionskritik und Religionsfreundlichkeit, letztlich in die Bewertung von Religionen eintreten; auf diese Weise würde eine der großen Stärken der grundgesetzlichen Regelung, nämlich die Selbstbegrenzung des Staates in Fragen der Religion und der existentiellen Daseins- und Wertorientierung, aufgegeben. Mit diesem Modell würde ein in Deutschland bisher gemiedener Weg beschritten; Pate stünden die Umstellungsprozesse im Kanton Zürich, in Norwegen und Schweden. Noch einmal: Alle vier Szenarien suchen den angemessenen Umgang mit religiöser Pluralität und Uneindeutigkeit; sie sehen vier verschiedene Wege vor: Ausdifferenzierung und Regionalisierung (1), Elementarisierung (2), vereinte Verschiedenheit (3) oder Neutralisierung von Religion (4). Vor diesem Hintergrund stellt der vorliegende Band die wichtigsten in Deutschland derzeit praktizierten Modelle sowie zwei exemplarisch ausgewählte europäische Lesarten von Religionsunterricht vor Augen (Teil 1). Selbstredend gibt es zu jedem dieser Modelle Literatur. Der Sinn dieser Zusammenstellung liegt angesichts dessen darin, die breite Diskussion und einschlägige Forschung zusammenzuführen. Indem alle Artikel einer ähnlichen Struktur folgen, sollen die Lesenden zügig in die Lage versetzt werden, vergleichende Beobachtungen anzustellen, zielgerichtete Anfragen zu entwickeln oder auch eigene Prioritäten zu identifizieren. Zu dieser Urteilsbildung trägt darüber hinaus bei, dass anschließend verschiedene Plädoyers für eine Weiterentwicklung des Religionsunterrichts folgen. Sie repräsentieren eine staatliche und eine evangelischlandeskirchliche Perspektive, die Sichtweise eines erfahrenen Religionslehrers und eines Juristen, die Position eines katholischen sowie eines evangelischen Universitäts-Religionspädagogen (Teil 2).
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Am Ende steht ein Verfahrensvorschlag und eine thetische Skizze möglicher nächster Schritte, die – exemplarisch auf das Land Niedersachsen bezogen – gangbar sind. Die angestrebte vergleichbare Struktur der Beiträge in Teil 1 stellt sich wie folgt dar: 1. 2. 3. 4. 5.
Einleitendes Geschichte und Genese des Konzepts Anliegen sowie organisatorische bzw. didaktische Grundlagen Einblicke in die Praxis Diskussion Entwicklungsaufgaben und Plädoyer Weiterführende Literatur
Die Beiträge zu diesem Buch sind – mit Ausnahme der beiden Texte im Ausblick – zuvor in einer öffentlichen Vorlesungsreihe mit dem Titel „Religionsunterricht wohin?“ präsentiert und diskutiert worden, die im Sommersemester 2013 an der Theologischen Fakultät der Georg-AugustUniversität Göttingen stattfand.7 Die Reihe wurde vom dortigen Lehrstuhl für Praktische Theologie mit Schwerpunkt Religionspädagogik verantwortet, sie wurde mitgetragen und gefördert von der Bildungsabteilung des Landeskirchenamtes der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers und vom Studienseminar für das Lehramt an Gymnasien Göttingen. In diesen Institutionen arbeiten Menschen, die sich in der einen oder anderen Weise um das Zustandekommen des Ganzen verdient gemacht haben: Florian Dinger, Dr. Monika Fuchs, Oberlandeskirchenrätin Dr. Kerstin Gäfgen-Track, Mathias Hartewieg, Oberstudiendirektorin Brunhilde Juraschek, Studiendirektor Rudolf Tammeus und Constanze Wimmel. Den Satz des Buches hat – mit gewohnter Zuverlässigkeit – Frau Margret Lessner besorgt. Allen Genannten sowie nicht zuletzt den Vortragenden bzw. Autorinnen und Autoren danke ich herzlich. Göttingen, Frühjahr 2014
Bernd Schröder
7 Der Titel der Veranstaltung wie des Buches verweist mit Bedacht zurück auf den Band „Religionsunterricht – wohin? Neue Stimmen zum Religionsunterricht an öffentlichen Schulen, hg. von Klaus Wegenast, Gütersloh 1971. Der gegenwärtige Diskurs knüpft in vielerlei Hinsicht an ähnliche Debatten während der „Reformdekade“ vor vierzig Jahren an (vgl. Folkert Rickers und Bernd Schröder [Hg.], 1968 und die Religionspädagogik, Neukirchen-Vluyn 2010).
Teil 1 Organisationsmodelle und didaktische Konzepte von Religionsunterricht
Joachim Weinhardt
Konfessionell-kooperativer Religionsunterricht in Baden-Württemberg Konfessionell-kooperativer Religionsunterricht in Baden-Württemberg
Ist der konfessionell-kooperative Religionsunterricht, wie er in BadenWürttemberg im Jahr 2005 institutionalisiert und 2009 novelliert wurde, als erster Schritt auf dem Weg zum ökumenischen Religionsunterricht anzusehen? Nein, er ist vielmehr eine Form von ökumenischem Religionsunterricht par excellence. Gerade weil er nicht mono-konfessionell, aber eben auch nicht unkonfessionell, sondern vielmehr konfessionellkooperativ ausgerichtet ist, kann seine Ökumenizität strukturell nicht gesteigert werden. Konfessionell-kooperativer Religionsunterricht (KRU) ist daher kein erster oder zweiter Schritt zu wahrhaft ökumenischem Religionsunterricht, sondern er ist wahrhaft ökumenischer Religionsunterricht. Jeder Schritt, der von KRU aus in irgendeine Richtung weiterführen wollte, würde von Konfessionalität und Ökumenizität gleichermaßen fortschreiten. Diese Sätze gilt es im Folgenden zu begründen. Wir betrachten zu diesem Zweck zunächst die Struktur des südwestdeutschen Modells (1), danach seine praktische Umsetzung, wie sie von der wissenschaftlichen Evaluationskommission angetroffen wurde (2) und schließlich die Modifikationen, die 2009 (nur teilweise) auf Empfehlung des Evaluationsteams eingeführt wurden (3). Danach wird es möglich sein, die Eingangsthese zu rechtfertigen. 1. Der Modellversuch Konfessionelle Kooperation im Religionsunterricht (KRU) von 2005 Vom 1. März 2005 datiert die KRU-Vereinbarung zwischen der Evangelischen Landeskirche in Baden, der Evangelischen Landeskirche in Württemberg, der Erzdiözese Freiburg und der Diözese RottenburgStuttgart.1 Der Vereinbarungstext formuliert die Zielvorstellungen des KRU. Sie bestehen darin, − „ein vertieftes Bewusstsein der eigenen Konfession zu schaffen, − die ökumenische Offenheit der Kirchen erfahrbar zu machen und
1 Konfessionelle Kooperation im Religionsunterricht an allgemein bildenden Schulen. Vereinbarung zwischen der Evangelischen Landeskirche in Baden, der Evangelischen Landeskirche in Württemberg, der Erzdiözese Freiburg und der Diözese Rottenburg-Stuttgart vom 1. März 2005, Stuttgart 2005 (im Folgenden zitiert als: Vereinbarung I, 2005).
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− den Schülerinnen und Schülern beider Konfessionen die authentische Begegnung mit der anderen Konfession zu ermöglichen.“2 Im Rahmen von KRU werden gemischt-konfessionelle Lerngruppen gebildet, und zwar für die Dauer von ein bis drei Schuljahren. Die Standardzeiträume sind in der Grundschule die Klassen 1 und 2, in der Sekundarstufe I die Klassen 5 und 6, 7 bis 9, in Werkrealschulen auch noch die Klasse 10. An Realschulen und Gymnasien gelten als Standardzeiträume die Klassen 5/6, 7/8, 9/10. Grundsätzlich werden an der gymnasialen Oberstufe konfessionell-kooperative Neigungskurse genehmigt. Mehr als einen Standardzeitraum lang soll kein Schüler bzw. keine Schülerin in der Sekundarstufe I an KRU teilnehmen. In jedem Standardzeitraum werden die Schüler im Wechsel von einer evangelischen und einer katholischen Lehrkraft unterrichtet. Konkrete Vorgaben über die Häufigkeit und den Zeitpunkt des Wechsels wurden 2005 nicht gemacht. An diesem Punkt kam es 2009 zu einer Änderung. Wollte sich eine Schule am Modellversuch beteiligen, so hatte sie ein mehrstufiges Antragsverfahren einzuhalten: − Zunächst müssen in den Fachkonferenzen Evangelische Religion und Katholische Religion einstimmige Beschlüsse zur Beantragung von KRU gefasst, − dann ein gemeinsamer Unterrichtsplan erarbeitet werden. − Die beteiligten Lehrkräfte erklären sich dazu bereit, im Falle eines positiven Bescheids eine Fortbildungsveranstaltung zu besuchen; − die Schulleitung beantragt, wenn sie mit dem Antrag der Fachkonferenzen einverstanden ist, über die Schuldekanate beim Oberkirchenrat und beim Ordinariat die Genehmigung zur Teilnahme der Schule am Modellversuch. − Die evangelischen und katholischen Schuldekanate geben eine gemeinsame Empfehlung an ihre vorgesetzten Behörden ab; − die Ordinariate und Oberkirchenräte genehmigen die Anträge auf Einrichtung von KRU an einer Schule im Einvernehmen, wenn alle Bedingungen erfüllt sind. − Spätestens zum Schuljahresbeginn sind die Eltern der kooperierenden Lerngruppen über die Einführung von KRU zu informieren. Dieses aufwändige Verfahren wurde 2009 vereinfacht. Dem Vereinbarungstext schließt sich für jede allgemein bildende Schulart ein Verbindlicher Rahmen für den konfessionell-kooperativ erteilten Religionsunterricht an. Er schreibt vor, dass für die Lehrkräfte beim Unterricht die Bildungsstandards des konfessionellen Religionsunterrichtes ihrer eigenen Konfession maßgebend sind. Darüber hinaus werden einzelne Mindeststandards aus den Bildungsplänen beider Konfessionen festgeschrieben, die erreicht werden müssen.3 2 3
Ebd., 5. Ebd., 9 (GS), 13 (HS), 19 (RS), 25 (GY).
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Nach dem verbindlichen Rahmen von 2005 galt KRU für evangelische Kinder als evangelischer Unterricht, für katholische Schülerinnen und Schüler als katholischer Religionsunterricht. Im Zeugnis erschien jeweils die Konfession des betreffenden Kindes mit dem Zusatz „Der Religionsunterricht wurde konfessionell-kooperativ erteilt.“4 Auch diese Regel wurde 2009 geändert. Bis zum Start des Modellversuches im September 2005/06 hatten landesweit 342 Schulen die Einführung von KRU beantragt. Die Grundschulen stellten dabei die weit überwiegende Mehrheit (234 gegenüber 62 Haupt-, 19 Realschulen und 27 Gymnasien). Die Zahl der teilnehmenden Schulen steigerte sich im Lauf der drei Jahre, auf die der Versuch befristet war. Im badischen Landesteil gab es 2005/06 165 Anträge, von denen 24 abgelehnt wurden, 2007/08 hingegen 251 Anträge, die alle genehmigt wurden. Im württembergischen Landesteil stieg die Zahl der Anträge in ähnlicher Weise. Für den Beginn des Schuljahres 2008/09 durften nur noch solche Schulen Anträge stellen, die schon vorher KRU eingeführt hatten. Bei den hier genannten Zahlen handelt es sich um die kooperierenden Schulen. Die Zahl der kooperierenden Unterrichtsgruppen ist bedeutend höher.5 2. Die Evaluation des Modellversuches KRU Die wissenschaftliche Begleitung des KRU-Projektes war ebenfalls in der Vereinbarung von 2005 festgeschrieben.6 Die Evaluation dauerte von Februar 2006 bis August 2008. Besucht wurden Klassen und Lerngruppen an Grund-, Haupt- und Realschulen sowie Gymnasien, die im September 2005 mit KRU begonnen hatten. Von Freiburg, Karlsruhe, Tübingen und Weingarten aus arbeitete in jeder Region des Landes je ein Team, bestehend aus einer abgeordneten Lehrkraft, einem Hochschulprofessor und zahlreichen Hilfskräften.7 Die Evaluationsinstrumente waren: − Unterrichtsbesuche in 40 Modellschulen; − offene Interviews mit den Lehrkräften im Anschluss an die besuchten Unterrichtsstunden;
4
Ebd., 8, 12, 18, 24. Birgit Hoppe, Konfessionell-kooperativer Religionsunterricht. Geschichtlicher Kontext, Organisationsformen, Zukunftsperspektiven, Saarbrücken 2008, 105f. 6 Vereinbarung I (s.o. Anm. 1), 5. 7 Die Zeitschiene ist im veröffentlichten Evaluationsbericht abgedruckt: Lothar Kuld, Friedrich Schweitzer, Werner Tzscheetzsch und Joachim Weinhardt (Hg.), Im Religionsunterricht zusammenarbeiten. Evaluation des konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts in Baden-Württemberg, Stuttgart 2009, 21f. 5
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− halboffene Gruppeninterviews mit den Schülern, die im Unterricht besucht worden waren, und zwar zu Beginn eines Standardzeitraumes und gegen Ende desselben; − halboffene Einzelinterviews mit den Lehrkräften der besuchten Schulen; − ein Fragebogen an alle Lehrkräfte, die im Schuljahr 2005/06 und 2006/07 KRU unterrichteten (Rücklauf: 57%, 544 von 960); − ein Fragebogen an alle Eltern der Kinder in Klassen, in welchen das Evaluationsteam Unterrichtsbeobachtungen durchführte (Rücklauf: 53,7%, 198 von 344); − Vergleichstests bei Kindern am Ende von Klasse 2 bzw. von Klasse 6 in den besuchten Schulen und bei ca. 12 Vergleichsgruppen pro Schulart an Schulen mit konfessionellem Religionsunterricht.8 Das Gesamtergebnis der Evaluation lautete: „In den Grundsätzen und Zielen halten wir die Vereinbarung der vier Kirchenleitungen aus Baden und Württemberg für richtungsweisend [...]. Die drei Hauptziele − ein vertieftes Bewusstsein der eigenen Konfession zu schaffen; − die ökumenische Offenheit der Kirche erfahrbar zu machen sowie − die authentische Begegnung mit der anderen Konfession zu ermöglichen, sind für den interkonfessionellen Dialog von bleibender Bedeutung. Doch auch eine gute und tragfähige Basis für die Zusammenarbeit muss auf der Basis der Evaluationsergebnisse nochmals bedacht und gegebenenfalls modifiziert werden.“9
Vier Optimierungsvorschläge beziehen sich direkt auf die Vereinbarung von 2005, drei weitere geben Empfehlungen, die in der Vereinbarung keinen unmittelbaren Anknüpfungspunkt haben. Es handelt sich um die folgenden Anregungen: (1) In der Grundschule soll ein Wechsel der Lehrkraft während des Schuljahres festgeschrieben werden.10 (2) Wenn es an einzelnen Schulen in einer Klassenstufe mehr als eine KRU-Gruppe gibt, dann sollen diese zeitlich parallel gelegt werden, um die Kooperationsmöglichkeiten noch zu vervielfältigen.11 8
Kuld u.a. (Hg.), Evaluation (s.o. Anm. 7), 17-20. Kuld u.a. (Hg.), Evaluation (s.o. Anm. 7), 218f. Vgl. Birgit Hoppe und Joachim Weinhardt, Unterrichtsbeobachtungen und schulische Realisierung von konfessionell-kooperativem Religionsunterricht, in: Kuld u.a. (Hg.), Evaluation (s.o. Anm. 7), 23-71, hier 65: „Die beobachteten KRU-Stunden zeigen, dass Schritte auf die Vereinbarungsziele hin gemacht werden [...]. Aber diese Schritte erfolgen nicht automatisch, wenn nur erst einmal KRU an einer Schule eingeführt worden ist. KRU eröffnet große Chancen für Lehrer- und Schülerschaft, stellt aber auch neue Anforderungen an die Lehrkräfte, die diese Studie zur Kenntnis gebracht hat und die nun strukturell und individuell bearbeitet werden müssen, sei es durch Angebote von Teilnahme an Fortbildungsveranstaltungen, durch Verankerung von KRU in den Studienordnungen und anderes mehr“. 10 Kuld u.a. (Hg.), Evaluation (s.o. Anm. 7), 219-222. 11 Ebd., 223. 9
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(3) Um das Genehmigungsverfahren zu verschlanken, sollen die Genehmigungen von den Schuldekanen – unter Wahrung des Überprüfungsrechtes der Kirchenleitungen – ausgesprochen werden. Folgeanträge sollen in vereinfachter Form gestellt werden können.12 (4) An Hauptschulen sollen keine jahrgangsübergreifenden KRUGruppen gebildet werden, um disziplinarische Probleme zu vermeiden und eine vertrauensvolle Gruppenatmosphäre zu ermöglichen. (5) Das Fortbildungsangebot für bereits ausgebildete Lehrkräfte soll erweitert werden. In den Studienordnungen soll KRU zukünftig als Kernthema verankert werden. Die Intensität des theologischen Fachstudiums soll an den Pädagogischen Hochschulen verstärkt werden.13 (6) Die Lehrerfortbildungen sollen schulartspezifisch organisiert werden, um vor allem Primarstufenlehrkräften den Umgang mit volkskirchlicher Religiosität im Unterricht zu erleichtern.14 (7) Um die Motivation der KRU-Lehrkräfte auf ihrem hohen Niveau zu halten, soll KRU weiterhin ein Wahlmodell bleiben, zu dem niemand verpflichtet werden darf. Der Wunsch nach Ausweitung von KRU über die bisher möglichen zwei Jahre in der Sekundarstufe ist deutlich. Die Plausibilität der Vorschläge (2) bis (5) und (7) dürfte ohne weiteres einsichtig sein. Hingegen war Vorschlag (1) Gegenstand heftiger Kontroversen, als er in kirchlichen und schulischen Gremien diskutiert wurde. Besonders in Klasse 1, so lautete der Hauptkritikpunkt, brauchen die Kinder feste Bezugspersonen, so dass ein Lehrerwechsel im Schuljahr aus pädagogischen Gründen abzulehnen sei. Die kritisierte Empfehlung (1) wurde vom Evaluationsteam dadurch begründet, dass bezüglich des Vereinbarungszieles „authentische Begegnung mit der anderen Konfession“ ein strukturelles Problem von KRU zu beobachten war. Den Begriff „authentische Begegnung“ verstehen wir hier im Anschluss an den Evaluationsbericht so: „Authentisch ist eine interkonfessionelle Begegnung dann, wenn eine Konfession von den ihr angehörigen Interaktionspartnern so dargestellt wird, dass die Anderskonfessionellen sie verhältnismäßig vollständig und unverzerrt wahrnehmen können und wenn die Darstellungsweise außerdem so geartet ist, dass keine direkt oder indirekt abqualifizierenden Impulse bezüglich der anderen Konfession mitkommuniziert werden.“15
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Ebd., 224. Ebd., 225f. 14 Ebd., 226f. 15 Hoppe/Weinhardt, Unterrichtsbeobachtungen (s.o. Anm. 9), 60. Man könnte den Begriff „authentische Begegnung“ selbstverständlich auch anders definieren, so dass eine solche etwa auch dort stattfände, wo Katholiken oder Protestanten die je Anderskonfessionellen polemisch bekämpfen. Die obige Definition entspricht aber dem Geist der Vereinbarung für KRU. 13
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Eine solche Authentizität setzt voraus, dass die Lehrkräfte die anderskonfessionellen Schüler angemessen wahrnehmen und in ihrer – ihnen selbst fremden – Konfession achten.16 Genau an diesem Punkt zeigte sich das erwähnte Problem. Die meisten KRU-Lehrertandems verteilten nämlich die Arbeit unter sich so, dass konfessionsspezifische Inhalte von der Lehrkraft unterrichtet wurden, die selbst der jeweiligen Konfession angehörte. Beispielsweise behandelten die Protestanten das Thema „Reformation“, die Katholiken „Heilige“. Damit war zwar ein Aspekt von Authentizität gesichert – der nämlich, dass nicht solche Fehler in der Präsentation eines konfessionsspezifischen Inhaltes auftreten, die durch mangelnde Erfahrung einer Lehrkraft mit der ihr fremden Konfession des Unterrichtsthemas verursacht werden. Auf der anderen Seite zeigte es sich, dass die konfessionelle Identität der fremdkonfessionellen Schüler nicht angemessen berücksichtigt wurde, weil sich die Lehrkraft nicht hinreichend in die fremde Konfession der Schüler hineinversetzen konnte. Sehr anschaulich wurde dies bei der Beobachtung und Analyse von mehreren Unterrichtsstunden zum Thema Heilige. Das Evaluationsteam konnte insgesamt sechs Stunden an allen Schularten zu diesem Thema protokollieren.17 Am prägnantesten fiel eine Grundschulstunde zum Thema Die Heilige Maria aus. In dieser Stunde: − wurde der konfessionell gemischten Gruppe affirmativ vermittelt, dass Maria bei ihrem Tod direkt in den Himmel aufgenommen worden sei; − wurden die Kinder dazu ermutigt, „zu der Maria [zu] kommen und [zu] sagen: Maria beschütz uns und leg bei Jesus ein gutes Wort für uns ein, damit es uns gut geht“; − singen die Kinder mit der Lehrerin ein Lied mit dem Vers: Maria, „Du nimmst Gott und Jesus in deinen Schutz“. Wohl gemerkt: Die betreffende Lehrkraft war sich bewusst, dass sie auch evangelische Kinder vor sich hatte. Sie versuchte sogar explizit, ihnen gerecht zu werden, indem sie bei dem Bild einer Schutzmantelmadonna, das an alle Schüler ausgeteilt wurde, die Krone auf dem Haupt der Gottesmutter wegretuschiert hatte. Dadurch sollte ein zu stark katholischer Zug im Unterricht vermieden werden, den sie den evangelischen Kindern nicht zumuten wollte.18 Dieser Befund ist kein Einzelfall – auch bei zwei anderen der sechs Heiligenstunden gab es vergleichbare Beobachtungen19 – und kann nur so interpretiert werden: Einer hochmotivierten Lehrerin, die einen methodisch vorbildhaften Unterricht durchführt und die sich der didaktischen Problematik einer konfessionell gemischten Gruppe durchaus stellt, ge16 17 18 19
Ebd. Ebd., 50-56. Ebd., 50f. (aus dem Nachgespräch zur gehaltenen Unterrichtsstunde). Ebd., 51-54.
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lang es doch nicht, so weit hinter ihre eigene Konfession zurückzutreten, dass sie die Differenz zwischen evangelisch und katholisch vollständig überblicken konnte. Dies spricht nicht gegen die betreffenden Kolleginnen und Kollegen, sondern zeigt eher ein strukturelles Problem an. Dass eine Heiligenstunde am Gymnasium nicht in dieselbe Falle geriet,20 liegt vermutlich zum einen daran, dass in Baden-Württemberg die fachwissenschaftliche Ausbildung der Gymnasiallehrkräfte einen weit höheren Stellenwert hat als die von Lehrerinnen und Lehrern an Grund-, Hauptund Realschulen. Höher aber dürfte zu veranschlagen sein, dass die gymnasiale Stunde im team teaching unterrichtet wurde. Wenn die persönliche Prägung beider Lehrkräfte bei der Vorbereitung einer KRUStunde präsent ist, werden sie viel leichter schon vorab bemerken, welche Selbstverständlichkeiten noch immer unreflektiert geblieben sind, um dann in einen weiteren Reflexionsprozess einzutreten. Die protokollierten Grundschulstunden zum Thema Heilige dürften nur die Spitze eines Eisberges enthüllt haben. Denn bei den Vergleichstests zeigte es sich, dass 48,6% der evangelischen Kinder, die an KRU teilgenommen haben, der Meinung sind „Wir können zu Maria beten“. Dagegen kreuzten diese Aussage nur 28,9% der evangelischen Kinder an, die konfessionellen Religionsunterricht besucht hatten. Wir können nicht annehmen, dass diese erhebliche Differenz auf jeweils nur wenige Stunden im KRU zum Thema zurückzuführen sind. Vielmehr wird hier die gelebte Religiosität während des ganzen Standardzeitraumes eine Rolle spielen. Dass evangelische Kinder mit KRU katholisierende Meinungen übernehmen, kann wohl teilweise als einfacher Mitnahmeeffekt verstanden werden. Aber Grundschulkinder vergewissern sich ihrer Konfession auch über die Identifikation mit den Lehrkräften: „Ich gehöre zu Herrn X. Also bin ich katholisch.“21 Eine analoge Urteilsbildung könnte lauten: „Ich gehöre zu Frau Y. Frau Y betet zu Maria. Also können wir zu Maria beten“. Daher wäre es in diesem Standardzeitraum am besten, wenn stets beide Lehrkräfte im Unterricht präsent wären und auch die unterschiedliche gelebte Religion erfahrbar würde. Da sich dies aus finanziellen Gründen nicht so leicht durchsetzen lassen wird, sollte wenigstens ein Lehrerwechsel innerhalb eines Schuljahres stattfinden, um es allen Schülern zu ermöglichen, eine Beziehung zur Lehrkraft ihrer eigenen Konfession aufzubauen.22 Noch besser wäre vermutlich ein noch häufigerer Wechsel, so dass das Lehrertandem – und damit die gleichkonfessionelle Bezugsperson – fest im Bewusstsein aller Schülerinnen und Schüler präsent wäre.
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Ebd., 42f., 54-56. Kuld u.a. (Hg.), Evalutation (s.o. Anm. 7), 220f. 22 Eine ausführliche Begründung für den Lehrerwechsel in der Primarstufe findet sich ebd., 219-222. 21
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3. KRU nach der Novellierung (2009) der Vereinbarung von 2005 Der Evaluationsbericht zum Modellversuch KRU wurde innerkirchlich lebhaft diskutiert. Die wichtigsten Verbesserungsvorschläge wurden aufgenommen. Sie finden sich alle im novellierten Verbindlichen Rahmen für die einzelnen Schularten wieder. (1) In allen Schularten soll ein Wechsel der Lehrkraft zur Hälfte des Schuljahres eintreten.23 An dieser Stelle ist die Novellierung noch weiter gegangen als der Vorschlag des Evaluationsberichts, der sich nur auf die Grundschule bezogen hatte. (2) Der Vorschlag im Evaluationsbericht, mehrere in einer Klassenstufe stattfindende KRU-Lerngruppen auf dasselbe Zeitfenster zu legen, wurde nicht in die Novellierung aufgenommen. (3) Entsprechend den Evaluationsempfehlungen wurde das Antragsverfahren für Schulen erleichtert, wenn ihnen schon früher einmal KRU genehmigt worden war.24 (4) Das empfohlene Verbot von jahrgangsübergreifenden Lerngruppen an Hauptschulen wurde nicht festgeschrieben. (5) Die Empfehlung, das Fortbildungsangebot für KRU-Lehrkräfte zu verbessern, wurde aufgenommen.25 (6) Der Vorschlag, die Fortbildungen schulartspezifisch anzulegen, schlägt sich in der Novellierung nicht nieder. (7) KRU bleibt weiterhin ein Wahlmodell. Das Antragsverfahren ist vereinfacht, die Fortbildungen werden, wie unter (5) beschrieben, stärker gewichtet. Nach wie vor kann ein und derselbe Jahrgang nur in einem Standardzeitraum in Sekundarstufe I an KRU teilnehmen. Darüber hinaus gab es aber noch weitere, zum Teil weitreichende Veränderungen des Verbindlichen Rahmens, die nicht auf den Evaluationsbericht zurückgehen. 23 Vgl. Konfessionelle Kooperation im Religionsunterricht an allgemein bildenden Schulen. Vereinbarung zwischen der Evangelischen Landeskirche in Baden, der Evangelischen Landeskirche in Württemberg, der Erzdiözese Freiburg und der Diözese Rottenburg-Stuttgart vom 1. März 2005, Novellierung Verbindliche Rahmen vom 1. August 2009, Stuttgart 2009, 12, 16, 22, 28. 24 Ebd., 12, 16, 21f., 27f.: „Bei Folgeanträgen kann auf bereits vorgelegte Unterrichtspläne verwiesen werden. Zu dokumentieren sind der erneute Beschluss der Fachkonferenzen sowie die Formen und die Entwicklung der bisherigen Zusammenarbeit. Bei Änderung der Lehrkräftekonstellation ist ein neuer Unterrichtsplan erforderlich“. – Die Empfehlung des Evaluationsberichtes ging etwas weiter. 25 Ebd., 12, 16, 22, 28: „Die Lehrkräfte, die Religionsunterricht konfessionellkooperativ durchführen, verstehen sich und arbeiten als ein Team. Sie müssen sich für diese Aufgabe qualifizieren. Solche Qualifikationen sind die Teilnahme an Einführungstagen und begleitender Fortbildung“. – Dies ist als Verpflichtung für die Lehrkräfte formuliert, impliziert aber auch eine Selbstverpflichtung der Kirchenleitungen zu einem verbesserten Angebot von Fortbildungen. – Die Betonung des Teamcharakters der Lehrkräfte nimmt wohl auch die o. S. 24f. beschriebenen Erfahrungen auf.
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(8) Die Eltern werden nicht mehr wie zuvor am Beginn eines Schuljahres lediglich darüber informiert, dass KRU stattfinden wird. Sie müssen vielmehr schon vorher ihr Einverständnis dazu erklären. In welcher Weise dies geschehen soll, ist nicht festgelegt.26 (9) Es erscheint im Zeugnis bei der Religionsnote jetzt nicht mehr die Konfession der Schülerinnen und Schüler, sondern die der Lehrkraft, die im jeweiligen Schulhalbjahr unterrichtet hat.27 KRU ist jetzt also nicht mehr gleichzeitig evangelischer Religionsunterricht für evangelische Kinder und katholischer Religionsunterricht für katholische Kinder. Die letzten beiden Veränderungen gehen auf juristische Überlegungen zurück. Diese Modifikation des KRU-Modells, vor allem die am heftigsten als störend empfundene Vorschrift eines Lehrerwechsels zum Schulhalbjahr, haben in den Jahren nach der Novellierung nicht zu einem verringerten Interesse an KRU geführt, soweit sich dies an den Antragszahlen in der folgenden Tabelle ablesen lässt:
Tabelle 1: Entwicklung der Anträge auf Erteilung von KRU an Schulen im Bereich der badischen Landeskirche28 26
Ebd., 12, 16, 22, 28. Ebd., 16f., 22f., 28. Beim verbindlichen Rahmen für die Grundschule ist etwas offener formuliert: „Im Schulbericht der Grundschule wird eine Aussage über den Religionsunterricht gemacht. Es ist darauf zu verweisen, dass er konfessionellkooperativ erteilt wurde“ (ebd., 12). 28 Für die Mitteilung der Tabelle danke ich Schuldekan Manfred Kuhn vom Evangelischen Oberkirchenrat in Karlsruhe. – In den belegten Jahren war es zur Schließung von Schulstandorten mit KRU gekommen, so dass die Zahl der Neuanträge größer ist als die jeweilige Differenz zum Vorjahr. In Einzelfällen wurde ein Antrag abgelehnt, weil die rechtlichen Voraussetzungen für eine Genehmigung nicht vorlagen. 27
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4. Schluss Zum Schluss soll die eingangs aufgeworfene These von der nicht steigerbaren Ökumenizität von KRU noch einmal reflektiert werden. Dazu gehen wir zunächst von dem Begriff Ökumene aus. Die regulative Idee der sog. ökumenischen Bewegung besteht in der dogmatischen Aussage von der Einheit der christlichen Kirche. Diese Aussage und die daraus resultierenden religiösen Empfindungen werden, wenigstens grosso modo, von allen christlichen Konfessionen geteilt. Nachdem über lange Zeiträume hinweg immer wieder die Hoffnung aufgekeimt war, dass sich getrennte Kirchen wiedervereinen könnten – seien es die orthodoxe und die römisch-katholische, seien es die römische und die evangelischen – , dürfte diese Leitvorstellung inzwischen obsolet geworden sein.29 Was möglich und machbar zu sein scheint, ist eine Gemeinschaft von weiterhin separat organisierten Kirchen, wie sie etwa unter den reformierten, unierten und lutherischen Kirchen besteht, welche die Leuenberger Konkordie unterzeichnet haben. Die Leuenberger Konkordie hat die einst kirchentrennenden Differenzen zum historischbiografischen Profil der verschiedenen beteiligten Konfessionen herabgestuft, und die Kirchengemeinschaft ist so weitgehend, dass man gegebenenfalls durch den Umzug von einem Bundesland in ein anderes gleich automatisch auch die Konfession wechselt. Eine solche weitgehende Kirchengemeinschaft erscheint zwischen der römischen und den evangelischen Kirchen zur Zeit nicht als realisierbar, auch wenn es etwa in der einst kirchentrennenden Frage nach der authentischen Beschreibung der Rechtfertigung des Menschen coram Deo inzwischen einen Lehrkonsens geben mag. Dafür klaffen die Positionen der katholischen und der protestantischen Kirchen in weiteren wichtigen Fragen nach wie vor so weit auseinander, dass eine Überbrückung nicht denkbar ist. Die Formel von der „versöhnten Verschiedenheit“ stellt für die Gegenwart eher ein rhetorisches Pflaster für eine kirchliche Wunde dar als eine realisierbare Option für die nähere Zukunft. Wie soll der Religionsunterricht mit diesem Tatbestand umgehen? Prinzipiell kann er zwei Absichten verfolgen. Im einen Fall ist er so ökumenisch, wie die ökumenische Bewegung zurzeit fortgeschritten ist. Dann wird er von evangelischen und katholischen Lehrkräften gemeinsam durchgeführt, welche konfessionell gemischte Gruppen unterrichten. Inhalte dieses ÖRU werden sein: − konfessionelle Gemeinsamkeiten, − konfessionelle Differenzen, − der dogmatische Satz von der Einheit der Kirche und − die Gründe für den faktischen Zustand der Ökumene. 29 Die Wiedervereinigung kleinerer protestantischer Kirchen, die sich einmal von einer der evangelischen Hauptkonfessionen getrennt haben, wie etwa in den Niederlanden oder in Großbritannien, ist nicht Gegenstand dieser Überlegungen.
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Ein solcher ökumenischer Religionsunterricht ist unter dem Titel KRU realisiert. Wollte man dagegen einwenden, dass ein noch ökumenischerer Religionsunterricht dann bestehe, wenn eine konfessionell gemischte Lerngruppe auch ohne Lehrerwechsel durch nur eine Lehrkraft der beteiligten Konfessionen unterrichtet werde, dann zeigen die oben mitgeteilten Unterrichtsbeobachtungen, dass diese Vorstellung realitätsfern ist. Im anderen Fall könnte der ökumenische Religionsunterricht sich als Speerspitze der ökumenischen Bewegung verstehen wollen. Im staatlichen Rahmen könnte versucht werden, die Vereinheitlichung der Kirchen schneller herbeizuführen, als die kirchlichen Gremien sich dazu in der Lage sehen. Es besteht kein Zweifel daran, dass nicht wenige der an KRU beteiligten Lehrkräfte,30 aber auch andere ein solches Verständnis von ökumenischem Religionsunterricht favorisieren. Nun könnte man im evangelischen Raum durchaus mit dem allgemeinen Priestertum aller Gläubigen argumentieren (oder im katholischen mit dem Glaubenssinn des Kirchenvolks)31, um das Recht oder gar die Notwendigkeit dafür zu begründen, dass die evangelischen und katholischen Lehrkräfte im Schuldienst die kirchlichen Institutionen und Gremien auf dem Weg zur Einheit der Kirchen zu überholen versuchen. Aber dieses Vorhaben wäre unvernünftig. Denn die Differenzen zwischen den konfessionellen Kirchentümern lassen sich im Klassenraum nicht auflösen. Auch wenn es einen ökumenischen Religionsunterricht gäbe, für den die konfessionellen Differenzen nicht existieren, für den es nur auf das Gemeinsame ankäme – die derart unterrichteten Schülerinnen und Schüler wären damit ungenügend vorbereitet auf die religiöse Realität außerhalb der Schule. Denn in dieser außerschulischen Realität gibt es noch immer einen Papst in Rom, der darauf bestehen würde, und eine Deutsche Bischofskonferenz, die dessen Weisung vertreten müsste, dass etwa evangelische Pfarrerinnen keine Abendmahlsfeier leiten können. Und über den in der römischen Kirche nicht gebotenen, aber doch zugelassenen und faktisch betriebenen Heiligenkult oder über die gleichrangige Autorität von Schrift und Tradition in dieser Kirche werden evangelische Christen auch nicht einfach hinwegsehen können. Ein ökumenischer Religionsun-
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Rainer Isak, Anton Roeder und Werner Tzscheetzsch, Wie Lehrerinnen und Lehrer die konfessionelle Kooperation wahrnehmen, in: Kuld u.a. (Hg.), Evaluation (s.o. Anm. 7), (169-184), 183f. 31 Reinhard Marx, Wir herrschen nicht! Kardinäle sollen keine Kirchenfürsten sein – und das Fegefeuer gibt es wirklich: Ein Gespräch mit dem Erzbischof von München, Reinhard Marx, der von Oktober an Papst Franziskus berät, in: Zeit-online (www.zeit.de/2013/38/kardinal-reinhard-marx-berater-papst, vom 12. Sep. 2013): „Wir Katholiken glauben, jeder Gläubige nimmt teil am Priesteramt, am Königsamt, am Prophetenamt Christi. Jeder, das heißt: nicht nur die Bischöfe, nicht nur die Priester. Es wäre ein Rückschlag für die Kirche, wenn auch nur der Anschein entstünde, dass wir die Gläubigen quasi als Untertanen behandeln und wir ihnen erst mal Bescheid geben müssen, weil sie selber nicht klug genug sind“.
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terricht, der die Konfessionsunterschiede selbständig eliminieren würde, wäre also realitätsfremd, ein Wolkenkuckucksheim. Selbstverständlich ist damit nichts gegen ein Selbstverständnis von evangelischen und katholischen Lehrkräften gesagt, das durch eine starke Sehnsucht nach der Einheit der Kirchen geprägt ist. Wenn es gelänge, diese Sehnsucht an die nachwachsende Generation der Christen weiterzugeben, wäre damit ein sehr hohes Niveau von unterrichtlichem Handeln erreicht. Aber Sehnsucht entsteht nur dort, wo Kenntnisse über den Ist-Zustand vorhanden sind. Konfessionelle Differenzen müssen also in einem christlichen Religionsunterricht benannt und erklärt werden, und dies kann nur geschehen, wenn Vertreter beider (oder mehrerer) Konfessionen am Unterricht beteiligt sind. Weiterführende Literatur: Martin Heckel, Neue Formen des Religionsunterrichts? Konfessionell – unkonfessionell – interreligiös – bikonfessionell – „für alle“ – konfessionell-kooperativ? in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 6, hg. v. Klaus Schlaich, Tübingen 2013, 379418. Birgit Hoppe, Konfessionell-kooperativer Religionsunterricht. Geschichtlicher Kontext, Organisationsformen, Zukunftsperspektiven, Saarbrücken 2008. Sabine Pemsel-Maier, Marc Weinhardt und Joachim Weinhardt in Zusammenarbeit mit Birgitta Heim, Konfessionell-kooperativer Religionsunterricht als Herausforderung. Eine empirische Studie zu einem Pilotprojekt im Lehramtsstudium, Stuttgart 2011. Sabine Pemsel-Maier und Joachim Weinhardt, „Das Bewusstsein für meinen Glauben habe ich erst während des Studiums entwickelt.“ Konfessionell-kooperativer Religionsunterricht als Herausforderung für das Lehramtsstudium in Deutschland, in: Thomas Krobath und Georg Ritzer (Hg.), ReligionslehrerInnenausbildung über konfessionelle Grenzen hinweg, Wien 2014 (im Druck). Sabine Pemsel-Maier, Konfessionell-kooperativer Religionsunterricht. Mehr als konfessionelle Kooperation in der Schule, in: Ökumenische Rundschau (ÖR) 63 (2014), Heft 1, 27-37. Friedrich Schweitzer, Albert Biesinger, Jörg Conrad und Matthias Gronover, Dialogischer Religionsunterricht. Analyse und Praxis konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts im Jugendalter, Freiburg i.Br. 2006.
Dr. Joachim Weinhardt ist Professor für Systematische Theologie am Institut für Evangelische Theologie der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe.
Katja Boehme
Fächergruppe Religionsunterricht in interreligiöser Kooperation In der Bundesrepublik Deutschland hat religiöse Bildung einen konkreten Ort in der Schule: Im staatlich eingerichteten und von den Religionsgemeinschaften verantworteten Religionsunterricht nach Art. 7.3 GG findet die positive Religionsfreiheit nach Art. 4 GG ihre bildungsrelevante Umsetzung. Selbst die Ausnahmeklausel in Art. 141 GG, die so genannte „Bremer Klausel“, bestätigt den in der Bundesrepublik Deutschland zwischen positiver und negativer Religionsfreiheit weit aufgespannten Begriff der Religionsfreiheit, der das deutsche Staats-Kirche-Verhältnis vom französischen laizistischen Staat ebenso unterscheidet wie von einer Staatskirche in England. Umso erstaunlicher ist es, dass sowohl das staatskritische Potenzial des Religionsunterrichts, wie es durch den Art. 7.3 GG zum Ausdruck kommt, als auch die positive Religionsfreiheit, wie Deutschland sie ausdrücklich und europaweit in besonderer Weise ermöglicht (vgl. Art. 4 GG), in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit an gebührender Wertschätzung zu verlieren scheint. An der Debatte um den Religionsunterricht ist abzulesen, dass immer weniger den Kirchen und Religionsgemeinschaften, sondern vielmehr dem Staat zugetraut wird, religiöse und ethische Werte zu vermitteln. Wäre dies der Fall, würde der Staat sich anmaßen, die religiöse Bildung seiner Bürger und Bürgerinnen zu übernehmen und als Folge seine weltanschauliche Neutralität verlassen. Höbe der Staat sein genuin eigenes Interesse am bekenntnisorientierten Religionsunterricht auf, wäre die in Art. 4.1 GG verbürgte positive Religionsfreiheit in der Schule in Frage gestellt. Denn der Staat hat aufgrund seines Verfassungsrechtsbegriffs, „der deutlich macht, dass der Staat keine neutrale Religionskunde, sondern einen bekenntnisgebundenen Religionsunterricht wünscht, ein genuin eigenes Interesse an religiöser Bildung und ermöglicht damit die Befähigung zur Ausübung der in Art. 4.1 GG verbürgten positiven Religionsfreiheit.“1 Mit anderen Worten: Die Frage nach der Zukunft des konfessionellen Religionsunterrichts ist zweifellos eine Frage nach der Zukunft der positiven Religionsfreiheit im Raum der Schule.2 1 Thomas Meckel, Religionsunterricht im Recht. Perspektiven des katholischen Kirchenrechts und des deutschen Staatskirchenrechts, Paderborn u.a. 2011, 268. 2 Vgl. Katja Boehme, Religiöse Bildung der Zukunft – konfessionell oder interreligiös?, in: Martin Hailer, Hans-Bernhard Petermann und Herbert Stettberger (Hg.), Bildung – Religion – Säkularität, Heidelberg 2013, 293-311, 294ff.
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1. Geschichte und Genese des Konzepts Schon 1969 hatte auf Anregung von Karl Ernst Nipkow das ComeniusInstitut und in der Folge Friedrich Schweitzer und andere, zunächst v.a. evangelische Religionspädagogen einen Vorschlag eingebracht,3 der den Anspruch der positiven Religionsfreiheit in der Auseinandersetzung mit der eigenen (religiösen) Weltsicht und ihrer differenzierten Vertiefung einlöst und zugleich die gesellschaftlich dringende Aufgabe der Aneignung von Kompetenzen interreligiöser Kommunikationsfähigkeit durch die Begegnung mit anderen religiösen Bekenntnissen bzw. Standpunkten erfüllt, indem die Fächer des Religionsunterricht der verschiedenen Bekenntnisse mit dem Alternativfach Ethik / Philosophie in einer Fächergruppe organisiert sind, die miteinander in zeitlich begrenzte Kooperationsphasen treten. Dieses Konzept, das differenziertes und integratives Lernen miteinander verbindet, wurde 1994 von der EKD in ihrer Denkschrift „Identität und Verständigung“ als zukünftiges Modell des Religionsunterrichts empfohlen.4 Bei diesem Modell handelt es sich der EKD zufolge um einen „Lernbereich in Form einer Fächergruppe […], in dem die Fächer evangelische Religion, katholische Religion, Ethik (bzw. Philosophie oder Werte und Normen) und – je nach den regionalen Gegebenheiten – auch orthodoxer, jüdischer und gegebenenfalls islamischer Religionsunterricht in eine bestimmte, geregelte Beziehung zueinander treten. Die geltende rechtliche Stellung und Zuordnung der Fächer in der Fächergruppe bleibt davon unberührt.“5 2. Zum Konzept und zur Organisation der Kooperierenden Fächergruppe Im Jahr 1998 und – dann mit Entwürfen zu seiner konkreten didaktischen Umsetzung – im Jahr 2000 griffen das Erzbischöfliche Ordinariat Berlin und das Konsistorium der Evangelischen Kirche in BerlinBrandenburg diesen Vorschlag der EKD auf.6 Der von den beiden Kir3
Vgl. die Darstellung bei Christoph Th. Scheilke, Von Religion lernen heute. Befunde und Perspektiven in Schule, Gemeinde und Kirche, Münster 2003. 4 Vgl. Evangelische Kirche in Deutschland, Identität und Verständigung. Standort und Perspektiven des Religionsunterrichts in der Pluralität; eine Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 1994, 91f. 5 Evangelische Kirche in Deutschland, Religiöse Bildung in der Schule. Beschluss zum Religionsunterricht der 9. Synode der EKD (23.-25. Mai 1997, Friedrichroda) 1997. Vgl. die Darstellung in: Katja Boehme, Interreligiöses Begegnungslernen in der Lehrerbildung. Zum Konzept der Kooperierenden Fächergruppe in der Hochschuldidaktik, in: dies. (Hg.), „Wer ist der Mensch?“ Anthropologie im interreligiösen Lernen und Lehren (Religionspädagogische Gespräche zwischen Juden, Christen und Muslimen 4), Berlin 2013, 233-253, 240f. 6 Vgl. Konsistorium der EKD Berlin-Brandenburg / Erzbischöfliches Ordinariat Berlin, Eine Fächergruppe religiöser, philosophisch-ethischer und weltanschaulicher Bildung, in: Matthias Hahn, Christoph Hartmann, Detlev Kahl u.a. (Hg.), Religiöse
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chen Berlins vorgelegte Entwurf lässt in einer ersten Phase (Phase 1) Schüler und Schülerinnen in den Fächern Katholischer, Evangelischer, ggf. Islamischer Religionsunterricht, Ethik / Philosophie und Lebenskunde zu einem zuvor festgelegten gemeinsamen Thema im Umfang einer Unterrichtseinheit getrennt lernen.7 Auf diese Differenzierungsphase des getrennten Fachunterrichts folgen die eigentlichen beiden Kooperationsphasen: die der gegenseitigen Präsentation in einem Forum aller beteiligten Schülerinnen und Schüler (Phase 2) und die eines Austauschs (bzw. der Diskussion) in kleinen, gemischten Gruppen (Phase 3). Eine Reflexionsphase in der eigenen Lerngruppe (Phase 4) schließt die fächerverbindende Kooperation in der Fächergruppe ab.8 Dieses Konzept, das Nipkow rückblickend als „neues Paradigma Ende der 60er Jahre“9 bezeichnete, sollte für alle Schularten und mindestens vom Zeitpunkt der Religionsmündigkeit der Schülerinnen und Schüler an realisiert und schon durch den Religionsunterricht der Grundschule vorbereitet werden.10 Die Berliner Kirchen präzisierten die Organisation des Konzepts durch den Vorschlag einer „Mindestverpflichtung“ im Umfang von etwa einem Viertel der Unterrichtszeit des Schuljahres für Themen und Arbeitsphasen in Kooperation.11 Ziel einer solchermaßen regelmäßig angedachten Kooperation dieser wertorientierenden Fächer sollte es sein, „verschiedene Grundüberzeugungen und Weltsichten, Religionen und Bekenntnisse, Glaube und Atheismus reflektiert und systematisch miteinander ins Gespräch“12 zu bringen. Dass bei einem solchen Modell Schülerinnen und Schülern verstärkt die Möglichkeit geboten wird, den respektvollen und angstfreien Umgang untereinander einzuüben und sich weitere Kompetenzen interkultureller und interreligiöser Kommunikationsfähigkeit, wie z.B. Perspektivenwechsel, Empathiefähigkeit, Gesprächsvariabilität und AmbiguitätstoleBildung und religionskundliches Lernen in ostdeutschen Schulen. Dokumente konfessioneller Kooperation, Münster 2000, 189-193. 7 Das Fach Lebenskunde der Humanistischen Union stellt eine Besonderheit des Bildungsangebots in Berlin dar, während der Jüdische Religionsunterricht als wichtiger Partner im Konzept hier unerwähnt blieb. 8 Vgl. zu folgenden Ausführungen Katja Boehme, Abrahams Gastfreundschaft als Metapher für interreligiöses Lernen in der Schule, in: Der andere Abraham. Theologische und didaktische Reflexionen eines Klassikers (Religionspädagogische Gespräche zwischen Juden, Christen und Muslimen 2), Berlin 2011, 217-245, 234-237. 9 Karl Ernst Nipkow, Der Weg der Fächergruppe mit einem dialogorientierten, mehrseitig kooperierenden evangelischen Religionsunterricht, in: Wolfram Weiße und Folkert Doedens, Wahrheit und Dialog. Theologische Grundlagen und Impulse gegenwärtiger Religionspädagogik, Münster 2002, 89-106, 89. 10 Ebd., 90. 11 Vgl. Konsistorium der EKD Berlin-Brandenburg / Erzbischöfliches Ordinariat Berlin, www.alles-wissen-wollen.de oder: Leben mit Sinn und Verstand 2. Über Wahrheit streiten. Kooperation in der Fächergruppe religiöser, philosophischethischer und weltanschaulicher Bildung 2000. 12 Ebd.
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ranz anzueignen,13 lässt darauf hoffen, dass „die interreligiös initiierten Lernprozesse letztlich auch zu den gewünschten Haltungen und Handlungskompetenzen führen“.14 3. Zur Praxis der Kooperierenden Fächergruppe 3.1 Die Fächergruppe in den Bundesländern Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein Mit dem sogenannten Pflichtbereich der Fächer Katholische Religion, Evangelische Religion und Ethik (Philosophie) fand das Konzept einer eigenständigen Fächergruppe mit stärkerer „fachlicher Kooperation“ im Jahr 1996 mit der Möglichkeit, dass die jeweilig eigenständigen Fächer Evangelische Religion, Katholische Religion und Philosophie von der Grundschule an bis zur Sekundarstufe II zeitweise auch als Fächergruppe angeboten werden können, Eingang in das Schulgesetz Mecklenburg-Vorpommerns.15 Auch in Sachsen-Anhalt sieht das Schulgesetz vor, dass Evangelischer und Katholischer Religionsunterricht und Ethikunterricht in einem Wahlpflichtbereich organisiert werden.16 In diesem Bundesland erstellte im Jahr 1998 eine vom Kultusministerium bestellte wissenschaftliche Arbeitsgruppe eine Expertise zur Zukunft ethischer und religiöser Bildung an den Schulen des Landes Sachsen-Anhalt, die den – wie es dort heißt – „Grundgedanken“ einer kooperierenden Fächergruppe aufgreift.17 Schleswig-Holstein sprach sich 1997 in einem Erlass für eine enge Kooperation der drei Fächer des Evangelischen und Katholischen Religionsunterrichts und des Philosophieunterrichts aus, indem es diese Fächer „einer Fächergruppe zugeordnet [hat], die sich mit den Grundlagen, Bedingungen und Möglichkeiten menschlicher Existenz beschäftigt.“18 13
Vgl. Katja Baur (Hg.), Zu Gast bei Abraham. Ein Kompendium zur interreligiösen Kompetenzbildung, Stuttgart 2007, 39; Mirjam Schambeck, Interreligiöse Kompetenz. Basiswissen für Studium, Ausbildung und Beruf, Göttingen, Stuttgart 2013, 54ff.; Joachim Willems, Interreligiöse Kompetenz. Theologische Grundlagen – Konzeptualisierungen – Unterrichtsmethoden, Wiesbaden 2011, 168f. 14 Monika Tautz, Interreligiöses Lernen im Religionsunterricht. Menschen und Ethos im Islam und Christentum, Stuttgart 2007, 414. 15 Vgl. das Schulgesetz für das Land Mecklenburg-Vorpommern (Schulgesetz – SchulG M-V) vom 13. Februar 2006, geändert durch Gesetz vom 16.2.2009, § 7 (3). 16 Schulgesetz des Landes Sachsen-Anhalt (SchulG LSA) in der Fassung vom 11. August 2005, letzte berücksichtigte Änderung vom 18. Januar 2011. 17 Vgl. Kultusministerium des Landes Sachsen-Anhalt: Ethik- und Religionsunterricht in der Schule mit Zukunft. Expertise einer Arbeitsgruppe zur Zukunft ethischer und religiöser Bildung an den Schulen des Landes Sachsen-Anhalt, in: Michael Domsgen, Matthias Hahn, Gisela Raupach-Strey (Hg.), Religions- und Ethikunterricht in der Schule mit Zukunft, Bad Heilbrunn/Obb. 2003, 15-76, 53. 18 Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Kultur Landes SchleswigHolstein: Kooperation in der Fächergruppe Evangelische Religion, Katholische Religion und Philosophie. Runderlass vom 7. Mai 1997 - III 310-343.30-1- 1997, 261.
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Mit diesen schulrechtlichen Vorgaben einer Kooperation von Evangelischem und Katholischen Religionsunterricht und Ethik- bzw. Philosophieunterricht sind die drei Bundesländer Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein und Sachsen-Anhalt schon weit vorangeschritten. Jedoch sehen diese bislang noch keine erweiterte Kooperation mit weiteren Fächern des Religionsunterrichts anderer Glaubensgemeinschaften vor.19 3.2 Zur Praxis der Fächergruppe in interreligiöser Kooperation Inzwischen findet dieses integrative Bildungsangebot durch phasenweise Kooperation sowohl bei evangelischen als auch katholischen Religionspädagogen breite Unterstützung.20 Aber eine fächerverbindende Didaktik über eine Zusammenarbeit der Fächer des Evangelischen oder Katholischen Religionsunterrichts und des Ethikunterrichts hinaus mit anderen Fächern des (z.B. des Jüdischen oder Islamischen) Religionsunterrichts wurde bisher nur im Ansatz entworfen.21 Jedoch weisen Initiativen, wie die der Diözese Osnabrück, seit dem Schuljahr 2012/13 eine Drei-Religionen-Grundschule in Osnabrück einzurichten und zu unterhalten,22 oder die Forderung von evangelischen und islamischen Religionspädagogen in Nordrhein-Westfalen, dort eine fächerverbindende Kooperation der Fächer des Ev. und Kath. Religionsunterrichts und Ethik auf den Islam. Religionsunterricht zu erweitern23 oder Modellversuche zu interreligiösen fächerverbindenden Kooperationsphasen in der Schule und in der Lehrerinnen- und Lehrerausbildung, wie sie unter der Schirmherrschaft des baden-württembergischen Ministerpräsidenten von der Pädagogischen Hochschule Heidelberg initiiert und begleitet werden (s.u.), in die richtige Richtung einer zukünftigen Etablierung und praktischen Verstetigung dieses Konzepts.
19 Dennoch verdienen erste Überlegungen in Schleswig-Holstein Aufmerksamkeit, wie der seit dem Schuljahr 2007/8 dort erteilte Islamische Religionsunterricht in eine Fächergruppe eingebunden werden kann; vgl. Karlheinz Einsle und Holger Hammerich, Religion unterrichten in Schleswig-Holstein, in: Martin Rothgangel und Bernd Schröder (Hg.), Evangelischer Religionsunterricht in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland. Empirische Daten – Kontexte – Entwicklungen, Leipzig 2009, 347360, 359. 20 Vgl. z.B. von ev. Seite: Karl Ernst Nipkow, Friedrich Schweitzer, Klaus-Joachim Ziller, Christian Kahrs; von kath. Seite: Werner Simon, Andrea Biernath, Johannes Brune, Harald Schwillus, Katja Boehme, Max Bernlochner; von Seiten des Fachs Philosophie/Ethik: Hans-Bernhard Petermann u.a. 21 Vgl. dazu die weiterführenden Literaturangaben am Ende des Beitrags. 22 Vgl. www.bistum-osnabrueck.de/bildung/drei-religionen-grundschule.html (Zugriff am 25.9.2013). 23 Vgl. www.interreligiones.de (Zugriff am 25.9.2013).
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3.2.1 Zum Schulprojekt in der Freiburger Staudinger-Gesamtschule im Schuljahr 2002/03 Erstmals als wissenschaftlich begleitetes Schulprojekt wurde die Kooperierende Fächergruppe an der Staudinger-Gesamtschule in Freiburg im Schuljahr 2002/2003 durchgeführt.24 Hier hatten sich eine evangelische Religionslehrerin, ein katholischer Religionslehrer und eine Ethiklehrerin dazu bereitgefunden, mit Schülerinnen und Schülern der neunten Jahrgangsstufe an einem Projekt der Kooperierenden Fächergruppe teilzunehmen. Da zu diesem Zeitpunkt der Islamische Religionsunterricht nicht einmal probeweise in Baden-Württemberg eingerichtet war, wurde mit dem Einverständnis der beiden Kirchenbehörden und der Schulleitung für die fünf muslimischen Schülerinnen und Schüler eine Gruppenarbeit zum islamischen Religionsunterricht unter der Leitung eines Islamwissenschaftlers eingerichtet.25 Die beteiligten Lehrerinnen und Lehrer einigten sich auf ein im Lehrplan der Klassenstufe verankertes Thema, das jedes menschliche Dasein bestimmt und zu dem jede Konfession und jede Religion spezifische Vorstellungen vertritt: „Hoffnung über den Tod hinaus“. Als weitere Unterrichtseinheit wurde im zweiten Schulhalbjahr das Thema „Gewissen, Schuld und Vergebung“ gewählt. Die Forumsphase (2. Phase) wurde insofern modifiziert, als zwei Foren bereits schon nach drei Doppelstunden veranstaltet wurden, um den Dialog untereinander zu forcieren. Es zeigte sich, dass die Motivation der Schülerinnen und Schüler stieg, umso mehr Gestaltungsfreiheit ihnen ermöglicht wurde. Am wenigsten angeregt, die Standpunkte als ihre eigenen zu vertreten, waren die Schülerinnen und Schüler aus den Lerngruppen, in denen zuvor vermehrt Frontalunterricht zu beobachten war. In der Phase der Diskussionsrunden (3. Phase) in den gemischten Gruppen zeichnete sich zunehmend eine größere Bereitschaft zu einer inhaltlichen Auseinandersetzung ab. In der sich jeweils anfügenden Reflexion (4. Phase) stand für die Schülerinnen und Schüler jedoch erneut ihre eigene Methodenkompetenz im Vordergrund. Dass das Konzept bei den Schülerinnen und Schülern trotz in Zukunft noch auszuräumender organisatorischer Mängel grundsätzlich große Zustimmung fand, zeigt zusammenfassend folgende Schüleraussage zur ersten Durchführungsphase: „Wir fanden die Vorbereitung und das freie Arbeiten sehr gut und effektiv. Das Forum war aber zu chaotisch; es hätte vielleicht etwas besser organisiert werden können. Auch war das Aufgabenblatt zu lang. Interessant war für uns, etwas Neues über 24
Das Schulprojekt fand unter der Leitung der Vf. statt und wurde von Studierenden der Kath. Theologie/Religionspädagogik der PH Freiburg begleitet. Vgl. Katja Boehme, Dorothea Eisele, Interreligiöser Religionsunterricht, in: Reinhard Kiste, Paul Schwarzenau und Udo Tworuschka, Wegmarken der Transzendenz. Interreligiöse Aspekte des Pilgerns, Balve 2004, 307-313. 25 Die Leitung übernahm Imran Schröter M.A. Vgl. ders., Das Modell der kooperierenden Fächergruppe als möglicher Rahmen für islamischen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen in Deutschland, unveröff. wiss. Hausarbeit, Pädagogische Hochschule Freiburg, Erziehungswissenschaft, 2005.
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andere Kulturen und deren Denken über das Leben nach dem Tod zu erfahren. Wir würden uns freuen, wenn wir so etwas wiederholen könnten.“ Jan, Johannes, Susanna, Mira, alle 9e26
3.2.2 Zum Schulprojekt in Mannheim im Schuljahr 2012/13 Im Schuljahr 2012/13 wurde in Mannheim jeweils eine Unterrichtsgruppe der 5. bzw. 6. Klassenstufe des Jüdischen, Katholischen, Evangelischen und Islamischen Religionsunterrichts sowie des Ethikunterrichts aus drei verschiedenen Schulen unterschiedlicher Schularten in einer Kooperierenden Fächergruppe vernetzt.27 Für die 1. Phase des getrennten Unterrichts zum Thema „Abraham“ wurde den Lehrerinnen und Lehrern Unterrichtsmaterial zur Verfügung gestellt, das von authentischen Religionspädagoginnen der Bekenntnisse zuvor erstellt worden war. Die Jüdische Gemeinde in Mannheim lud die insgesamt 113 Schülerinnen und Schüler mit ihren Lehrerinnen und Lehrern am 10. Juli 2013 in ihre Räume ein, wo die Schüler einen Vormittag lang in bunt gemischten Gruppen an den teils von den Schülern, teils von den Lehrenden vorbereiteten Stationen didaktisch motiviert miteinander ins Gespräch kamen (2. Phase) – eine Aufgabe, die von einer Seminargruppe Studierender der Fächer Katholische Theologie und Evangelische Theologie der PH Heidelberg begleitet wurde.28 Die 3. Phase des Konzepts, miteinander in Austausch zu treten, war somit in die zweite Phase integriert. Aus der Sicht der beobachtenden Studierenden hätte ein eigener Austausch in den gemischten Schülergruppen zu einer intensiveren Vertiefung des Themas geführt. Die nach dem Projekttag im eigenen Religions- bzw. Ethikunterricht erfolgte Reflexion der Schülerinnen und Schüler schloss mit einem Fragebogen zur Erhebung ihrer interreligiösen Kompetenzen ab, der neben anderen Untersuchungsinstrumenten zur Zeit ausgewertet wird.29
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Zitiert nach: Benno Schlindwein, Hoffnung über den Tod hinaus, in: argus. staudinger gesamtschule freiburg-berichte-infos-meinungen-visionen Schuljahr 2002/03, März 2003, 8. 27 Es nahmen teil: 10 SuS des Jüd. RU (Kl. 4-6): Frau Susanne Benizri-Wedde, Karl-Friedrich-Gymnasium, Mannheim; 27 SuS des Isl. RU (Kl. 5): Herr Selim Gider, Humboldt-Werkrealschule, Mannheim; 22 SuS des Ev. RU (Kl. 5): Frau Dr. Cornelia Weber; und 21 SuS des Kath. RU (Kl. 5): Frau Anne Kriebel und 20 SuS des EthikU (Kl. 6): Frau Iris Link, alle am Carl-Benz-Gymnasium, Ladenburg. 28 Vgl. den Dokumentarfilm zum Projekt unter: www.youtube.com/watch?v=6V42 wyft0mk&feature=youtu.be (Zugriff am 19.2.2014). 29 Die Ergebnisse der in diesem Beitrag genannten Projekte werden z.Zt. von der Vf. in einer mit DFG-Mitteln geförderten Forschungsarbeit „Zur Modellbildung und Begründung einer Didaktik des fächerverbindenden interreligiösen Lernens anhand der Kooperierenden Fächergruppe“ für die Veröffentlichung vorbereitet.
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3.2.3 Die Kooperierende Fächergruppe in der Lehrerinnen- und Lehrerausbildung Dieses für die Schule entwickelte Modell der Kooperierenden Fächergruppe hat nun das Institut für Philosophie und Theologie der PH Heidelberg aufgegriffen und für die Religions- und Ethiklehrerausbildung adaptiert.30 Seit dem Sommersemester 2011 bietet das Institut diese Organisationsform einmal im Studienjahr auf hochschuldidaktischer Ebene in Kooperation mit der Hochschule für Jüdische Studien, Heidelberg, und dem Institut für Islamische Theologie der PH Karlsruhe an.31 Damit hat das Institut in Kooperation mit anderen Bildungseinrichtungen der Lehrer- und Lehrerinnenausbildung ein bundesweit einmaliges Projekt des „Interreligiösen Begegnungslernens“ für die Umsetzung in der Schule eingerichtet, das mit einem Zertifikat abgeschlossen werden kann.32 Es qualifiziert zukünftige Religions- und Ethiklehrerinnen und -lehrer dazu, bei Schülerinnen und Schülern unterschiedlicher religiöser und kultureller Herkunft Kompetenzen interreligiöser Verständigung und Toleranz anzubahnen, indem diese (religions-)pädagogisch dazu angeregt werden, miteinander statt übereinander zu sprechen.33 Darüber hinaus ist dieses Angebot des Instituts für Philosophie und Theologie der PH Heidelberg mit der Tagungsreihe der „Religionspädagogischen Gespräche von Juden, Christen und Muslimen“ vernetzt, die als staatlich anerkannte Lehrer- und Lehrerinnenfortbildung seit 2013 in jedem Frühjahr an der Hochschule für Jüdische Studien und der PH Heidelberg angeboten wird.34 4. Diskussion und Entwicklungsaufgaben Sowohl von katholischer als auch evangelischer Seite wird angemahnt, dass für die Weiterentwicklung des Konzepts der Kooperierenden Fächergruppe nicht nur einige Rechtsfragen zu klären sind. Wie Christoph Scheilke betont, müssen „auch lehrplantechnische, didaktische und pädagogisch organisatorische Probleme […] noch weiter im Detail ausge30
Vgl. zu folgenden Ausführungen Boehme, Begegnungslernen (s.o. Anm. 5). Im WS 12/13 konnte zudem mit Herrn Ismael Kaplan ein Lehrauftrag der Alevitischen Religionslehre hinzugewonnen werden. 32 Vgl. http://www.ph-heidelberg.de/institut-fuer-philosophie-und-theologie/studium /zusatzqualifikation-interreligioeses-begegnungslernen.html (Zugriff am 19.2.2014). 33 Vgl. Katja Boehme und Sarah Brodhäcker, „Das Beste war, dass wir ins Gespräch gekommen sind…“. Zu den Ergebnissen einer Evaluation der Kooperierenden Fächergruppe in der Lehrerausbildung, in: Boehme (Hg.), Mensch (s.o. Anm. 5), 255275. 34 Die Reihe wird von Harry Harun Behr, Universität Erlangen-Nürnberg, Katja Boehme, PH Heidelberg, Daniel Krochmalnik, HfJS, Heidelberg, und Bernd Schröder, Universität Göttingen, verantwortet. Aktuelle Angebote unter: http://www.weiterbildung-ph.de und www.zikk.eu/Lehrerfortbildung.html. 31
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lotet werden; dazu einen Modellversuch einzurichten, wäre deshalb so nötig wie hilfreich.“35 Einige dieser Entwicklungsaufgaben, die z.Zt. in einem von der DFG finanzierten Forschungsvorhaben aufgearbeitet werden,36 sollen hier kurz genannt werden: 4.1 Rechtsfragen Soll die Kooperierende Fächergruppe in der Schule eingeführt werden, dann „müssen die den Religionsunterricht verantwortenden Kirchen und Religionsgemeinschaften Kooperationsphasen nach dem Modell der Kooperativen Fächergruppe einerseits zustimmen und andererseits mit den politischen Vertreter(inne)n der jeweiligen Bundesländer die rechtlichen Voraussetzungen für deren probeweise bzw. dauerhafte und flächendeckende Umsetzung im Schulalltag schaffen.“37 Dringender Klärung bedarf es dabei des bereits 1969 von der Fachkommission des Comenius-Instituts eingebrachten Vorschlags, die zu einer Fächergruppe zusammengefassten Fächer als „Wahlpflichtbereich“ einzurichten, was seit Anfang der Konzeptentwicklung von evangelischer Seite vertreten wird.38 Dieser Vorschlag findet aber aufgrund des unterschiedlichen Konfessionalitätsprinzips des Katholischen Religionsunterrichts keine Zustimmung in der katholischen Religionspädagogik und wird vermutlich auch kein Einverständnis auf Seiten islamischer oder jüdischer Religionspädagogen erhalten.39 Hier sind über die rechtlichen Fragen hinaus auch pädagogische Begründungen in die Diskussion einzubringen, warum die Berücksichtigung und Beibehaltung der Konfessionsgruppen sinnvoll ist.40 4.2 Lehrplantechnische und (hochschul-)didaktische Fragen Im Rahmen des Konzepts der Kooperierenden Fächergruppe gelingt die Initiierung von (interreligiösen) themenbezogenen Gesprächen zwischen Schülerinnen und Schülern besser, wenn Themen ausgesucht werden, bei denen konfessionelle bzw. religiöse Unterschiede erkennbar sind.41 Daher besteht eine der Entwicklungsaufgaben dieses Modells darin, einerseits für Themen der fächerverbindenden Kooperation Unterrichtsmate35 Scheilke, Religion (s.o. Anm. 3), 250. Vgl. ebenso Werner Simon, Werterziehung und religiöse Bildung in einem kulturell und religiös pluralen Kontext, in: Christlichpädagogische Blätter 118 (2005), 242-245, 244. 36 Vgl. Anm. 28. 37 Max Bernlochner, Interkulturell-interreligiöse Kompetenz. Positionen und Perspektiven interreligiösen Lernens im Blick auf den Islam, Paderborn u.a. 2013, 343. 38 Vgl. Nipkow, Fächergruppe (s.o. Anm. 9), 94. 39 Zur Diskussion vgl. Katja Boehme, Die Kooperative Fächergruppe, in: Katechetische Blätter 127 (2002), 375-387, 380. 40 Zur pädagogischen Begründung vgl. Werner Simon, Erzieherisch-bildende Aufgaben des schulischen Religionsunterrichts. Religionspädagogische Perspektiven, in: Lebendige Katechese 21 (1999), 40-46, 43. 41 Vgl. Boehme/Eisele, Interreligiöser Religionsunterricht (s.o. Anm. 24), 311.
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rialien zu erstellen, andererseits Vorschläge für Kooperationsthemen in Bildungsplänen zu benennen. Eine mögliche Einführung dieses Konzepts „erfordert darüber hinaus eine Anpassung der Studienordnungen an den die Religionslehrkräfte ausbildenden Hochschulen und Universitäten. Denn auch in die jeweiligen theologischen Studiengängen müssen konsequenterweise verpflichtende Phasen der fach- bzw. konfessions- und religionsübergreifenden Kooperation integriert werden.“42 4.3 Pädagogisch-organisatorische Fragen In der kritischen Reflexion des Projekts der Kooperierenden Fächergruppe an der Staudinger Gesamtschule in Freiburg wurde von den Lehrerinnen und Lehrern geäußert, dass das Projekt der Kooperierenden Fächergruppe hohe Anforderungen an alle Beteiligten stelle. Für die beteiligten Lehrerinnen und Lehrer bedeutete dies die Bereitschaft, sich den Anforderungen des fächerverbindenden Arbeitens fachlich zu stellen, geeignete Themen auszuwählen, im Rahmen der Unterrichtseinheiten die jeweiligen Unterschiede und Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten und nach dem Konzept der Kooperierenden Fächergruppe aufzubereiten. Ebenso war die Bereitschaft zu einer engen Kooperation mit den Kolleginnen und Kollegen erforderlich.43 Das Projekt war zudem eine besondere Herausforderung für die Methodenkompetenz sowie für die soziale und die personale Kompetenz der Schüler und Schülerinnen. Eigenständiges Arbeiten in Gruppen, Präsentieren mittels verschiedener Medien und Kommunikationsfähigkeiten unterschiedlichster Art bildeten die Voraussetzungen für ein Gelingen gerade der Forumsphasen.44 Diese Herausforderungen offenbaren jedoch zugleich auch den eindeutigen pädagogischen Mehrwert, den die Kooperierende Fächergruppe durch ihre praktischen Anforderungen für die fachliche, soziale und personale Kompetenzentwicklung der Beteiligten erbringt. Und zweifellos werden in Zukunft Unterrichtsmaterialien, die für eine solche fächerverbindende Kooperation entwickelt werden,45 fachliche und organisatorische Absprachen zwischen den beteiligten Lehrerinnen und Lehrern erheblich erleichtern. 4.4 Finanzierungsfragen Bereits das Berliner Positionspapier von 2000 reagierte auf den Einwand, dass dieses Modell der religiösen und ethischen Bildung Mehrkosten verursache, mit der Feststellung, dass „bereits die jetzt eingesetzten 42
Bernlochner, Kompetenz (s.o. Anm. 37), 343. Kursivsetzung im Original. Vgl. Boehme/Eisele, Interreligiöser Religionsunterricht (s.o. Anm. 24), 312f. Vgl. Bernlochner, Kompetenz (s.o. Anm. 37), 342. 44 Vgl. Boehme/Eisele, Interreligiöser Religionsunterricht (s.o. Anm. 24), 312f. 45 Zurzeit werden von einem Autorenteam und der Vf. Unterrichtsmaterialien zum Thema „Abraham“ für die 5. bzw. 6. Klassenstufe entwickelt. 43
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Mittel […] bei anderer Organisation leicht der doppelten Zahl von Schülerinnen und Schülern zugute kommen“46 könnte. Zusätzliches Personal wird für dieses Konzept des interreligiösen Lernens nicht benötigt, zumal es durch die unterschiedlich möglichen Fächerkombinationen der Kooperation flexibel auf die jeweils konkreten Gegebenheiten der lokalen Schule reagieren kann. 5. Plädoyer und Erhebung des Mehrwerts der Kooperierenden Fächergruppe Die Auswertung des Hochschulprojekts vom Sommersemester 2011, an dem 98 Studierende aus vier Hochschulen (PH Heidelberg, Hochschule für Jüdische Studien, PH Karlsruhe und PH Freiburg) aus den fünf Veranstaltungen der Jüdischen Religionslehre, der Katholischen und Evangelischen Theologie/Religionspädagogik, des Erweiterungsfachs Islamische Theologie/Religionspädagogik und des Fachs Philosophie/Ethik teilnahmen, lässt bereits jetzt den vielseitigen Mehrwert dieses Modells des Interreligiösen Begegnungslernens für die Lehrerausbildung erkennen und deswegen auch für die Umsetzung in der Schule erwarten:47 − Pragmatischer und pädagogischer Mehrwert: Fast alle (87,2%) der 78 Studierenden, die an der Befragung teilnahmen, haben offensichtlich so positive Erfahrungen mit der Kooperationsveranstaltung im Sommersemester 2011 gemacht, dass sie es begrüßen würden, wenn das Konzept der Kooperierenden Fächergruppe in der Religions- und Ethiklehrerausbildung zum festen Bestandteil des Lehrprogramms werden würde. Auch für die Schule können sich mehr als drei Viertel der Studierenden (76,9%) ein solches Konzept der Begegnung zwischen den Schulfächern der religiösen und ethischen Bildung, wie sie es in der Hochschule erlebt haben, in der Schule gut vorstellen. − Mehrwert durch Lernzuwachs im eigenen Fachstudium: Unabhängig von Fachsemester und Alter äußerte ein beachtenswerter Teil der Studierenden auf die Frage, zu welchen Konfessionen, Religionen und philosophischen Ansätze sie in der Phase der Aus46 Konsistorium der EKD Berlin-Brandenburg / Erzbischöfliches Ordinariat Berlin, www. alles-wissen-wollen.de oder: Leben mit Sinn und Verstand 1. Die Schule braucht Religionsunterricht und andere Fächer religiöser, philosophisch-ethischer und weltanschaulicher Bildung 2000. 47 Der folgende Abschnitt resümiert den Beitrag von Boehme/Brodhäcker (s.o. Anm. 3). Vgl. zum Mehrwert bereits des konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts Sabine Pemsel-Maier, Ein Schritt auf dem Weg in die Zukunft: Konfessionellkooperativer Religionsunterricht in Baden-Württemberg, in: Christine Lehmann, Harry Noormann, Heiko Lamprecht und Martin Schmidt-Kortenbusch (Hg.), Zukunftsfähige Schule – Zukunftsfähiger Religionsunterricht. Herausforderungen an Schule, Politik und Kirche, Jena 2011, 89-102, 94ff.
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stellung und Präsentation Erkenntnisse gewonnen haben, signifikant „viel“ über die eigene Religion gelernt zu haben. Das gilt selbst für die Studierenden, deren Fach keine Bekenntnisorientierung erfordert, d.h. für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Fachs Ethik an der PH Heidelberg und für die Universitätsstudierenden der unterschiedlichsten Fachrichtungen, die den Teilnehmerkreis der Veranstaltung aus der Hochschule für Jüdische Studien ausmachten. Daraus ließe sich für die interreligiöse Kooperation der Schluss ziehen, dass eine Begegnung mit Personen anderer Bekenntnisse oder Anschauungen für den Zugewinn an Erkenntnissen über die eigene Religion bzw. eigene Weltanschauung besonders anregend ist. Mehrwert durch Interesse an anderen Religionen: Auf die Frage, über welche Konfessionen, Religionen und philosophische Ansätze die Studierenden gerne noch mehr erfahren würden, ist der Wunsch nach Erkenntniszuwachs in Bezug auf das Judentum (32%) und den Islam (35%) besonders häufig mit „viel“ angegeben worden, während immerhin „noch etwas mehr“ Wissen über das katholische und evangelische Christentum von einem Drittel der Teilnehmer gewünscht wurde, unabhängig davon, in welchem Fachsemester sie sich jeweils befinden. Mehrwert durch Bereicherung im Dialog: Ebenso stimmten zwei Drittel (66,6%) aller Studierenden der Aussage zu, dass sie durch ihre Teilnahme an den Diskussionsgruppen „Verschiedenheit oder Anderssein […] als Bereicherung erfahren“ haben. Auffällig ist, dass sich vergleichsweise vor allem viele Universitätsstudierende aus der auswärtigen Veranstaltung der Hochschule für Jüdische Studien, nämlich 84%, diesbezüglich positiv äußerten und die Bereicherung durch die Begegnung (und damit auch mit den PHStudierenden) schätzen. Mehrwert durch höhere Lernmotivation: Unabhängig davon, welches Fach sie studieren, gaben mehr als zwei Drittel (68,4%) der Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Kooperationsprojekts an, dass sie sich durch die Begegnung mit Studierenden anderer Fächer religiöser bzw. ethischer Bildung intensiver mit dem Thema ihrer Veranstaltung befasst haben, als sie es in einer herkömmlichen Hochschulveranstaltung getan hätten. Sie stimmten dieser Aussage ganz (35,5%) oder „in etwa“ (32,9%) zu. Nur die Studierenden der islamischen Religionspädagogik waren nur zur Hälfte davon überzeugt, dass sie sich durch die Kooperationsveranstaltung mehr mit dem Thema ihrer Veranstaltung befasst haben, als sie es sonst getan hätten. Insgesamt lässt dieses Ergebnis aber einen positiven Rückschluss auf die höhere Effizienz fächerverbindenden Arbeitens zu. Mehrwert durch Erkenntniszuwachs der eigenen Defizite: Auch führt eine Kooperationsveranstaltung offensichtlich dazu, dass
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mehr als die Hälfte der Studierenden angeben, durch die Begegnung mit Studierenden anderer Fächer und ethischer Bildung „deutlich“ die eigenen Defizite bzgl. des Wissens über ihr eigenes Fach wahrgenommen zu haben. Auch hieraus kann geschlossen werden, dass ein solches Begegnungsmodell wie das der Kooperierenden Fächergruppe dazu motiviert, sich mit den Inhalten seines eigenen Studienfachs vertiefter zu beschäftigen. − Mehrwert durch vertieftes Bewusstwerden des eigenen (religiösen) Standortes: Fast drei Viertel aller Studierenden (70,5%) gaben an, durch die Begegnung mit Studierenden anderer Fächer religiöser bzw. ethischer Bildung sich über den Standort ihres eigenen religiösen Bekenntnisses bzw. ihrer eigenen philosophischen Weltanschauung bewusster geworden zu sein. 30,8% stimmten dieser Aussage sogar ohne Einschränkung, 39,7% mit „stimmt in etwa“ zu. Die in diesem Beitrag beschriebenen Projekte Interreligiösen Begegnungslernens in der Schule und Hochschule zeigen bereits, dass die Fächer des bekenntnisorientierten Religionsunterrichts und ihre Alternativfächer Philosophie bzw. Ethik für die Anbahnung interreligiöser wie interkultureller Kompetenzen hervorragende Voraussetzungen bieten. Diese auszubilden gelingt umso mehr, wenn die Fächer mit ihren Themen auch ihr eigenes Proprium, ihre eigene Hermeneutik sowie die eigene (Religions-)didaktik über ihre Akteure miteinander ins Gespräch bringen. Ein solches Interreligiöses Begegnungslernen nach dem Konzept der Kooperierenden Fächergruppe kann ein „‚Königsweg‘ für interreligiöses Lernen“48 sein, auf dem bereits Schülerinnen und Schüler „Komparative Theologie“49 praktizieren und sich gegenseitig im Sinne eines „reziproken Inklusivismus“50 wertzuschätzen lernen – aber das wird an anderer Stelle weiter vertieft.51 Weiterführende Literatur: Bernlochner, Max, Interkulturell-interreligiöse Kompetenz. Positionen und Perspektiven interreligiösen Lernens im Blick auf den Islam. (Beiträge zur komparativen Theologie 13), Paderborn 2013. Boehme, Katja, Abrahams Gastfreundschaft als Metapher für interreligiöses Lernen in der Schule, in: Der andere Abraham. Theologische und didaktische Reflexionen eines Klassikers (Religionspädagogische Gespräche zwischen Juden, Christen und Muslimen 2), Berlin 2011, 217-245.
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Stephan Leimgruber, Interreligiöses Lernen, Neuausg., München 2007, 21. Vgl. Klaus von Stosch, Komparative Theologie als Wegweiser in der Welt der Religionen, Paderborn 2012, 332-338. 50 Vgl. Reinhold Bernhardt, Ende des Dialogs? Die Begegnung der Religionen und ihre theologische Reflexion, Zürich 2005, 212. 51 Vgl. Anm. 29. 49
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Katja Boehme
Boehme, Katja (Hg.), „Wer ist der Mensch?“ Anthropologie im interreligiösen Lernen und Lehren (Religionspädagogische Gespräche zwischen Juden, Christen und Muslimen 4), Berlin 2013. Kahrs, Christian, Öffentliche Bildung privater Religion. Plädoyer für einen „Fachbereich Religion“ – obligatorisch für alle (Religionspädagogik in pluraler Gesellschaft 13), Freiburg i.Br. 2009. Nipkow, Karl Ernst, Grundlagen und Profil eines zukunftsfähigen Religionsunterrichts angesichts religiöser Heterogenität, in: Christine Lehmann, Harry Noormann, Heiko Lamprecht und Martin Schmidt-Kortenbusch (Hg.), Zukunftsfähige Schule – Zukunftsfähiger Religionsunterricht. Herausforderungen an Schule, Politik und Kirche, Jena 2011, 69-88. Schwillus, Harald, Religionsunterricht im Dialog. Der katholische Religionsunterricht auf dem Weg zur Vernetzung mit seinen affinen Fächern (Bamberger theologische Studien 23), Frankfurt a.M. u.a. 2004. Simon, Werner, Kooperation in der Fächergruppe. Anregungen und Impulse aus ostdeutschen Bundesländern, in: Matthias Bahr, Ulrich Kropac, Mirjam Schambeck und Georg Hilger (Hg.), Subjektwerdung und religiöses Lernen. Für eine Religionspädagogik, die den Menschen ernst nimmt, München 2005, 218-228.
Dr. Katja Boehme ist Professorin für Katholische Theologie / Religionspädagogik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg.
Hans-Ulrich Keßler
Religionsunterricht für alle in evangelischer Verantwortung – der Hamburger Weg Religionsun terricht für alle in evangelischer Verantwortung
Szene auf dem Hamburger Kirchentag im Mai 2013: Rund 300 Menschen sind in die Kirche in St. Georg direkt hinter dem Hauptbahnhof gekommen. Auf dem Podium sitzen außer den Vertretern der muslimischen Verbände Hamburgs und der Nordkirche auch vier Jugendliche, die bis vor kurzem an ihrer Schule den „Religionsunterricht für alle“ besucht haben. Neben einer Alevitin und einer Atheistin sind auch zwei muslimische junge Frauen Podiumsgäste. Die Besucher und Besucherinnen der Veranstaltung diskutieren mit ihnen. Ein Mann, er deklariert sich selbst als Religionslehrer, sein Akzent verrät ihn als tendenziell Süddeutschen, lotet die Grenzen des „RU für alle“ aus und fragt: „Was passiert eigentlich, wenn ich als Lehrer nicht einverstanden bin mit islamischen Überzeugungen? Muss ich dann die Faust in der Tasche lassen?“ Eine der beiden muslimischen Schülerinnen auf dem Podium reagiert: „Ehrlich gesagt“, beginnt sie, „ich finde, Sie müssen nicht nur im Religionsunterricht die Faust in der Tasche lassen. Gerade auch religiöse Meinungsunterschiede sollte man immer durch Reden austragen. Das haben wir jedenfalls in unserem Religionsunterricht gelernt – und praktiziert!“ Zugegeben: Die Szene ist plakativ! Eine vergleichbare Szene wäre auch auf jedem anderen Kirchentag möglich und hätte dort Entstehungsbedingungen, die von denen in Hamburg völlig verschieden sind. Umgekehrt wären auch auf einem Hamburger Kirchentag Schüler und Schülerinnen gleich welchen Glaubens vorstellbar, die es durchaus angebracht fänden, hier und da mal eine Faust aus der Tasche zu ziehen. Nicht in Abrede stellen lässt sich jedoch Folgendes: Das Statement der zitierten Muslima auf dem Hamburger Kirchentag ist tatsächlich auch Ergebnis religiöser Bildung unter Hamburger Bedingungen. Der Nachweis könnte geführt werden, weil diese Schülerin zu einer Schülergruppe gehört, deren religiöse Entwicklung über längere Zeit durch die Universität der Freien und Hansestadt Hamburg (UHH) und das PädagogischTheologische Institut der Nordkirche (PTI) begleitet worden ist. Darzustellen, wie diese Hamburger Bedingungen aussehen, ist Ziel der folgenden Ausführungen. 1. Zur historischen Genese des Konzepts Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs traf die katholische Kirche eine für Hamburg folgenreiche Entscheidung: Angesichts des verhältnismäßig kleinen katholischen Bevölkerungsanteils in Hamburg entschloss
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Hans-Ulrich Keßler
sich das Bistum dazu, auf eine staatsvertraglich abgesicherte Einführung eines konfessionellen RU in Hamburg zu verzichten. Stattdessen wurde und wird in Hamburg ein katholisches Schulwesen entwickelt, an dem gerade auch katholische Schülerinnen und Schüler durch eine katholisch geprägte Schulkultur für ihre Minderheitensituation gestärkt werden. Ergebnis dieser Entscheidung war, dass es an Hamburger Schulen nach dem Zweiten Weltkrieg nur einen einzigen Religionsunterricht gab: nämlich den evangelischen. An diesem Unterricht nahmen, mehr oder weniger notgedrungen, ab den 50er Jahren alle Schülerinnen und Schüler Hamburgs teil. Weil nun nicht alle katholischen Eltern ihre Kinder an die katholischen Privatschulen gaben, saßen von Anfang an im evangelischen Unterricht auch katholische Schüler und Schülerinnen – ein für die 50er Jahre durchaus bemerkenswerter Vorgang, der damals eine vielleicht ähnliche Gefühlsqualität hatte wie heute die Vorstellung, Kinder und Jugendliche aller Religionen gemeinsam zu unterrichten. Mit Beginn der Anwerbung damals sogenannter „Gastarbeiter“ in den 60er Jahren und des Nachzugs ihrer Familien nach Deutschland, verstärkte sich diese „Ökumenisierung“ des Hamburger evangelischen Religionsunterrichts: Zunächst vor allem italienische Kinder katholischen Glaubens nahmen am Religionsunterricht unter Leitung eines evangelischen Lehrers, einer evangelischen Lehrerin teil. Gleiches galt wenige Jahre später für griechische Kinder orthodoxen Glaubens und noch ein wenig später für türkische Kinder muslimischen Glaubens. Spätestens Anfang der 70er Jahre war die Schülerschaft im Hamburger evangelischen Religionsunterricht religiös und kulturell äußerst bunt geworden – und zwar genau so bunt wie die Hamburger Schülerschaft insgesamt. In den frühen 70er Jahren begann das pädagogische Institut der Hamburgischen Kirche, von Anfang an in enger Zusammenarbeit mit der Universität Hamburg, langsam aber sicher auf diese Situation zu reagieren, indem Materialien zu den in den Klassenzimmern vertretenen Religionen gesammelt, erstellt und verteilt wurden. In den 80er Jahren wurde endgültig deutlich, dass die grundsätzlichen bildungstheoretischen und konkreten didaktischen Fragen, die mit der multireligiösen Regelsituation in Hamburger Klassenzimmern gestellt waren, nicht durch Material allein beantwortet werden konnten. Diese Einsicht führte dazu, dass sich auf Hamburger Staatsgebiet unter Federführung des PTI und der UHH langsam aber sicher das Modell eines „Religionsunterrichts für alle in evangelischer Verantwortung“ entwickelte: In diesem Modell wurde die vormals den Umständen geschuldete bunte Mischung der Schülerschaft zum intentional verfolgten Programm für den Religionsunterricht und zur bewusst gewollten Voraussetzung des sich mit dem RU in Hamburg verbindenden, im damaligen pädagogischen Jargon, „Globalziels“: die dialogische Entwicklung einer selbstverantworteten, mündigen Religiosität. Der Erhalt des Klassenverbandes im Religionsunterricht war nun nicht mehr dem Fehlen einer ka-
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tholischen oder anderen Alternative geschuldet, sondern Voraussetzung für das pädagogische Programm des „Religionsunterrichts für alle“. Den in den 80er und 90er Jahren in Hamburg für die konzeptionelle Entwicklung des RU Verantwortlichen an der UHH und im PTI war sehr schnell klar: Wird die Erteilung von Religionsunterricht im Klassenverband zum Programm und die Entwicklung einer dialogfähigen Religiosität zum Ziel, darf die Verantwortung der Inhalte dieses Religionsunterrichts nicht hinter dem dialogischen Anspruch zurückbleiben. Diese Einsicht stieß jedoch an grundgesetzliche Grenzen, denen zufolge, wenigstens in der damals mehrheitsfähigen Auslegung, die Inhalte des Religionsunterrichts von einer einzigen Religionsgemeinschaft zu verantworten waren, die die Übereinstimmung mit den Grundsätzen dieser bestimmten Religionsgemeinschaft zu garantieren hatte. Aus diesem anscheinenden Widerspruch zwischen Anspruch an dialogische Verantwortung der Inhalte einerseits und grundgesetzlichen Grenzen andererseits führte Ende der 90er Jahre die Gründung des sog. „GIR“, des Gesprächskreises interreligiöser RU, heraus: Unbeschadet der grundgesetzlich verankerten Verantwortung der Nordelbischen Kirche für die Inhalte des RU führten UHH und PTI im GIR Vertreterinnen und Vertreter vieler Religionen zusammen, um dort unter Beteiligung der Bildungsbehörde gemeinsam Materialien zu erarbeiten, vorhandene Materialien zu sichten, Lehr- bzw. Rahmenpläne zu schreiben und didaktische Grundsätze für den „RU für alle“ aufzustellen. Verbindliche Entscheidungen zu Vorlagen aus dem GIR wurden und werden in der Gemischten Kommission von Land und Kirche gefällt. Der GIR arbeitet noch heute in regelmäßigen Sitzungen im PTI. Diese Konstruktion des Religionsunterrichts in Hamburg wurde durch ein Rechtsgutachten „Über die Vereinbarkeit des Hamburger Modells eines ‚Religionsunterricht für alle im evangelischer Verantwortung‘ mit Artikel 7 Abs. 3 GG“ vom 15. Januar 2001 von Professor Dr. jur. Christoph Link1 geprüft. Ergebnis der gutachterlichen Prüfung war, dass der Hamburger Weg sich nicht außerhalb des Gewährleistungsbereichs von Artikel 7 Abs. 3 GG befindet – eine Bewertung, die wiederum eine kritische Akzeptanz dieses Weges für Hamburg durch die EKD ermöglichte. Im Jahr 2013 entstanden neue Rahmenbedingungen für dieses Konzept eines „Religionsunterrichts für alle in evangelischer Verantwortung“. Der bereits 2007 formulierte Wille des damaligen Ersten Bürgermeisters Stadt Hamburg, Ole von Beust (CDU), Verträge zwischen der Freien und Hansestadt Hamburg einerseits und dem DITIB-Landesverband Hamburg, der „SCHURA – Rat der Islamischen Gemeinschaften in 1
Dieses Gutachten ist eingegangen in den Beitrag: Christoph Link, Konfessioneller Religionsunterricht in einer gewandelten sozialen Wirklichkeit? Zur Verfassungskonformität des Hamburger Religionsunterrichts „für alle“, in: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 46 (2001), 257-285.
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Hamburg“ und dem „Verband der Islamischen Kulturzentren“ sowie der „Alevitischen Gemeinde Deutschland e.V.“ andererseits zu schließen, schloss die Anerkennung der genannten Verbänden als Religionsgemeinschaften im Sinne des Grundgesetzes ein. Dieser Wille machte Gespräche zwischen der (damals) Nordelbischen Kirche, den genannten Verbänden und der Freien und Hansestadt Hamburg notwendig, um zu klären, wie mit der bestehenden Praxis eines „Religionsunterrichts für alle“ weiter zu verfahren sei. Im April 2012 steckte die Kirchenleitung der Nordelbischen Kirche auf der Basis umfangreicher multilateraler Gespräche den Rahmen für eine mögliche Weiterentwicklung des Konzepts ab: Sie bekräftigte ihr bleibendes Interesse daran, den „Religionsunterricht für alle in evangelischer Verantwortung“ in Hamburg auch unter veränderten Bedingungen im engen Kontakt mit anderen Religionen und ihren Vertreterinnen und Vertretern weiterzuentwickeln. Ziel dieser Weiterentwicklung sollte nach dem damals formulierten Willen der Kirchenleitung sein, „eine Verantwortungsstruktur für die Inhalte des Religionsunterrichts im Rahmen von Artikel 7 Absatz 3 GG zu definieren, die − sowohl alle Religionsgemeinschaften i.S. des Grundgesetzes gleichberechtigt am Religionsunterricht beteiligt − als auch eine gemeinsame Beschulung von Schülerinnen und Schülern unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit ermöglicht, um so die bestehende dialogische Form des Religionsunterrichtes zu erhalten.“2
Diesen Rahmen nahmen die muslimischen Verbände, die alevitische Gemeinde und die Stadt Hamburg auf und formulierten im Sommer 2012 annähernd gleichlautend in Artikel 6 ihrer Verträge: „Die Vertragsparteien sind sich einig in der Anerkennung der Bedeutung, des Wertes und der Chancen des an den staatlichen Schulen der Freien und Hansestadt Hamburg erteilten Religionsunterrichts in gemischtkonfessionellen Klassenverbänden und Lerngruppen. Sie streben deshalb im Rahmen von Artikel 7 Absatz 3 des Grundgesetzes eine Weiterentwicklung an, deren Ziel es ist, eine Verantwortungsstruktur für die Inhalte des Religionsunterrichts im Rahmen von Artikel 7 Absatz 3 des Grundgesetzes zu schaffen, die sowohl alle Religionsgemeinschaften im verfassungsrechtlichen Sinne gleichberechtigt am Religionsunterricht beteiligt, als auch einen gemeinsamen Unterricht von Schülerinnen und Schülern unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit ermöglicht, um so die bestehende dialogische Form des Religionsunterrichtes zu erhalten.“3 2 So die Formulierung im Protokoll der Kirchenleitung der Nordelbischen Kirche vom 12.4.2012. 3 S. die Vertragstexte unter http://www.hamburg.de/pressearchiv-fhh/3551764/ 2012-08-14-sk-vertrag.html (1.12.2013); in Absatz (2) desselben Artikels ist festgehalten: „Ungeachtet des Absatzes 1 anerkennt die Freie und Hansestadt Hamburg das Recht der islamischen Religionsgemeinschaften, bei Vorliegen aller gesetzlichen Voraussetzungen die Erteilung eines besonderen islamischen Religionsunterrichts nach Artikel 7 Absatz 3 des Grundgesetzes verlangen zu können.“
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Im Sommer 2013 erklärte die Jüdische Gemeinde Hamburg, sich ebenfalls in dem gesetzten Rahmen an der Weiterentwicklung des „Religionsunterrichts für alle“ beteiligen zu wollen, so dass nun – mit Ausnahme der römisch-katholischen Kirche – alle hamburgischen Religionsgemeinschaften im Sinne des Grundgesetzes nach Wegen suchen, religiöse Bildung an Hamburger Schulen gemeinsam zu konzeptionieren und gleichberechtigt zu verantworten. Ob dies gelingt bzw. wie dies gelingen könnte, soll im Rahmen einer fünfjährigen Entwicklungs- und Erprobungsphase in theologischer, pädagogischer, juristischer und schulorganisatorischer Hinsicht geprüft werden. Die Verfassungsgemäßheit der sich gegenwärtig entwickelnden Konstruktion soll noch während der Erprobungsphase durch ein weiteres Rechtsgutachten untersucht werden.4 2. Der Hamburger „RU für alle“: didaktische Grundlagen Die didaktischen Grundlagen, die der oben genannte „Gesprächskreis interreligiöser Religionsunterricht (GIR)“ in den 90er Jahren für den Religionsunterricht in Hamburg erarbeitet hat, sind nach wie vor Bestandteil der hamburgischen RU-Rahmenpläne. Sie sollen nach dem Willen aller an der Weiterentwicklung beteiligten Religionen und Religionsgemeinschaften auch in Zukunft in einer differenzierten Form religiöse Bildung an Hamburger Schulen prägen. Eine gegenüber den Rahmenplänen überarbeitete, vorläufig konsensfähige Formulierung dieser Grundsätze lautet: „Schülerorientierung: Der Unterricht nimmt im Erfahrungs- und Verstehenshorizont der Schülerinnen und Schüler die Frage nach Glaube und Gott, nach dem Sinn des Lebens, nach Liebe und Wahrheit, nach Gerechtigkeit und Frieden, nach Kriterien und Normen für verantwortliches Handeln auf. Die Schülerinnen und Schüler bringen ihre Perspektiven ein und gehen individuelle Lernwege. Der Religionsunterricht schützt und fördert dabei die kulturelle und religiöse Identität der Kinder und Jugendlichen und beachtet die Vielfalt in der Klasse und der Gesellschaft. Traditionsorientierung: Der Unterricht macht die Schülerinnen und Schüler mit wesentlichen Inhalten von Judentum, Christentum, Islam, Buddhismus, Hinduismus und weiteren Religionen bekannt. In religiösen Traditionen und lebendigen Glaubensüberzeugungen sind Möglichkeiten der Selbst- und Weltdeutung sowie Aufforderungen zu verantwortlichem Handeln angelegt. Deshalb werden sie in einen wechselseitigen Erschließungszusammenhang mit den Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler gebracht. Dialogorientierung: In einem offenen Dialog bringen die Schülerinnen und Schüler ihre religiösen Fragen und Überzeugungen zur Sprache. Sie entwickeln und schärfen im Austausch miteinander die eigenen Positionen. Auch die Lehrerinnen und Lehrer bringen ihre Überzeugungen pädagogisch verantwortet und ohne Dominanz ein. Die 4
Vgl. zu den Details der angedachten Rechtskonstruktion eines weiterentwickelten „RU für alle“ Bernd-Michael Haese, Zum Stand des Religionsunterrichts für alle in Hamburg, in: ZPT 65 (2013), 15-24.
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Pluralität von Positionen wird dabei geachtet, was eine vertrauensvolle Unterrichtsatmosphäre voraussetzt. Authentizität: Religiöse Traditionen werden nicht in neutraler religionswissenschaftlicher Perspektive, sondern aus der Innensicht, also entsprechend ihrem Selbstverständnis und in ihrer Bedeutsamkeit für die Schülerinnen und Schüler thematisiert. Wissenschaftsorientierung: Ziele und Inhalte des Unterrichts sind der Religionspädagogik, der Theologie und verwandten Wissenschaften verantwortet.“5
Diese didaktischen Grundlagen machen deutlich: Das Ungewöhnliche des „Religionsunterrichts für alle“ liegt nicht in seiner methodischdidaktischen Gestaltung, denen ja, jedenfalls sofern es um evangelischen Religionsunterricht geht, kaum widersprochen werden kann.6 Ungewöhnlich am Hamburger RU ist auch nicht die Realität in den Klassenzimmern: Dass religiöse Pluralität und Multikulturalität nicht aus den Klassenzimmern in ganz Deutschland auszieht, wenn der oder die Religionslehrer bzw. die -lehrerin einzieht, ist empirischer Fakt. Das Ungewöhnliche am Hamburger Weg in seiner gegenwärtigen Gestalt ist vielmehr der Versuch, dieser Situation im Klassenzimmer dadurch gerecht zu werden, dass in ihm ein typisch protestantisches7 Wahrheitsbewusstsein, demzufolge sich persönliche Verbindlichkeit religiöser Überzeugungen und Wissen um deren z.B. biographische Relativität komplementär zueinander verhalten, nicht nur für die Person des Lehrers bzw. der Lehrerin, sondern für die gesamte Lerngruppe programmatisch in Anspruch genommen wird – ganz gleich, welcher Religion deren Mitglieder sich selbst zurechnen. Damit kommt in diesem Religionsunterricht ein religiöses Wahrheitsbewusstsein zum Zuge, das sowohl im Protestantismus tief verwurzelt ist als auch in unserer Gesellschaft ein hohes Maß an Plausibilität besitzt.8
5 So die Formulierung im „Nachwort der Herausgeber“ zu einer Materialreihe, die vom PTI der Nordkirche, dem Landesinstitut der FHH und der Akademie der Weltreligionen an der UHH gemeinsam herausgegeben und ab dem Frühjahr 2014 unter dem Titel „Interreligiös-dialogisches Lernen“ im Kösel Verlag erscheinen wird. 6 Einzig das Prinzip der Authentizität aktualisiert sich im „RU für alle“ vielleicht mit einer anderen Deutlichkeit als in anderen Formen des Religionsunterrichts in Deutschland, insofern diese Perspektive bereits in die Arbeit an den Rahmenplänen etc. einfließt (s.o. zum GIR). Allerdings zeigen gerade auch die neueren Materialien für den RU ein hohes Bemühen, alle behandelten Religionen entsprechend ihren jeweiligen Selbstverständnissen zum Zuge kommen zu lassen. 7 Dieses „typische protestantische Wahrheitsbewusstsein“ ist nicht im Gegensatz zu dem anderer Religionen formuliert. Vielmehr geht es darum wahrzunehmen, dass der Wahrheitsbegriff, mit dem der „RU für alle“ arbeitet, einen guten Ort in der Tradition protestantischer Theologie findet. 8 Vgl. Anm. 5.
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3. Einblicke in die Praxis: Empirische Daten und Materialien Eine Abfrage der zuständigen Behörde an allen Hamburger Schulen, die für Ende 2011 in der Gemischten Kommission vereinbart worden war, dokumentiert folgende Situation für den Hamburger Religionsunterricht9: 3.1 Grundschule An rund 90% der Hamburger Grundschulen werden die Vorgaben der Kontingentstundentafel für die Erteilung von RU eingehalten. Die Abmeldequote vom RU liegt in diesem Bereich bei 0,8% – das entspricht 48 Kindern für ganz Hamburg. 70% des Religionsunterrichts werden fachfremd erteilt. Diese hohe Quote ist durch das Klassenlehrerprinzip in der Grundschule verursacht. Die Anwendung dieses Prinzips auf den RU fördert einerseits die intendierten religiösen Lernprozesse, weil die hohe Bindung der Schülerinnen und Schüler an ihre vertraute Lehrerin bzw. ihren vertrauten Lehrer in ihnen zum Zuge kommen kann. Andererseits stellt die genannte Quote vor nicht zu unterschätzende Aufgaben im Bereich der Qualitätsentwicklung, denen sich das Landesinstitut und das PTI zurzeit durch eine hohe Zahl an Fortbildungen sowie durch die Einrichtung von Weiterbildungskursen stellen. Weitere QE-Maßnahmen sind angedacht. 3.2 Stadtteilschule Die Hamburger Schulgesetznovelle vom 1.8.2010 vereinigte Haupt-, Real- und Gesamtschulen zu sog. Stadtteilschulen. Diese Vereinigung stellte die beteiligten Schulen vor große Herausforderungen, die in kürzester Zeit zu bewältigen waren. Die Abfrage zum RU fällt in den Stadtteilschulen in die Zeit der Bewältigung dieser Herausforderungen. So unterliegen die Abfrageergebnisse starken Verzerrungen. Mit diesem Vorbehalt lassen sich folgende Tendenzen in Bezug auf diesen Schultyp beschreiben: Die Vorgaben der Kontingentstundentafel für die Erteilung von RU werden an den Stadtteilschulen teilweise deutlich unterschritten. Bei der überwiegenden Mehrheit der Schulen ist aber eine verlässliche Praxis, die die unterschiedlichen Vorgaben für die ursprünglichen Schultypen an die neue Situation anpasst, bereits erreicht. Die Quote der Erteilung von RU durch Lehrende mit Fakultas steigt tendenziell mit jedem Jahrgang. In der Jahrgangsstufe 10 liegt sie bei über 40%. Die Abmeldequote vom 9
Die im Folgenden genannten Zahlen werden im Herbst 2013 durch eine zweite Umfrage überprüft. An einigen Stellen bestehen aus Perspektive von Staat und Kirche Unsicherheiten, ob die Fragestellungen der Abfrage von den zuständigen Schulleitungen im Sinne der Fragenden verstanden worden sind. Eine gewisse Vorsicht in der Deutung der Zahlen ist insofern bis zur Vorlage der Ergebnisse der zweiten Umfrage angebracht.
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RU liegt in der 5. und 6. Klasse bei 1,1%. Das Wahlverhalten der Stadtteilschülerinnen und -schüler zwischen RU und Philosophie kann aus den vorliegenden Daten nicht verlässlich erhoben werden. Hier wird die geplante zweite Abfrage im Jahr 2013 eine Klärung bringen. 3.3 Gymnasium Hamburger Gymnasien erfüllen im Bereich der 5. und 6. Klasse die Vorgaben der Kontingentstundentafel zur Erteilung des RU zu über 93%. Im weiteren Verlauf erreichen 12 Schulen nicht die vorgesehenen 6 Wochenstunden für die Jahrgänge 7 bis 10. Die Abmeldequote vom RU in den Klassen 5 und 6 liegt wie in der Stadtteilschule ebenfalls bei 1,1%. Ab Klasse 7 liegt die Quote fachfremden Unterrichts bei rund 5%. Bei aller Vorläufigkeit der erhobenen Zahlen kann festgestellt werden: Der „RU für alle“ stößt insbesondere bei den Schüler/innen auf eine hohe Akzeptanz. Die Abmeldezahlen sind extrem gering. Die für 2013 geplante Abfrage wird zeigen, ob der bestehende Eindruck, dass das Wahlverhalten der Schülerinnen und Schüler in aller Regel zugunsten des „RU für alle“ ausschlägt, der Wirklichkeit entspricht. Wie die in diesen Zahlen repräsentierte Praxis aussieht, führt exemplarisch der Film „Im Dialog lernen – von Forschung begleitet“10 vor Augen. Er zeigt den Religionsunterricht in Hamburg aus verschiedenen Perspektiven: Dorothea Grießbach, Mitarbeiterin der UHH, begleitete im Rahmen des internationalen Forschungsprojektes REDCo eine Schulklasse des Gymnasiums Wilhelmsburg filmisch. Auch Materialien zum „RU für alle“ können über den genannten Link abgerufen werden. Hinzuweisen ist noch auf eine Materialreihe für interreligiösen und dialogischen Religionsunterricht, die das Landesinstitut der Freien und Hansestadt Hamburg, die Akademie der Weltreligionen an der UHH und das PTI gemeinsam herausgeben. Unter Begleitung eines Beirats, in dem alle Religionsgemeinschaften auf Hamburger Staatsgebiet sowie Vertreter/innen weiterer Religionen repräsentiert sind, werden ab 2014 jährlich mehrere Hefte erscheinen, die von interreligiös aufgestellten Autorinnen- und Autoren-Teams erstellt werden. 4. Zur Frage der Positionalität im Hamburger „RU für alle“ Der Hamburger Weg im Religionsunterricht ist in den vergangenen Jahren ausführlich dokumentiert und diskutiert worden.11 Diese Diskussion kann und soll an dieser Stelle nicht wiederholt werden. Vielmehr soll – sozusagen exemplarisch – im Folgenden der Frage der Konfessionalität 10
Der Film ist zugänglich unter: http://pti.nordkirche.de/material/index.html. Er darf im Seminar bzw. Unterricht vorgeführt werden (Zugriff am 19.2.2014). 11 Vgl. dazu insbesondere das REDCo-Projekt der UHH unter http://www.redco.unihamburg.de/web/3480/3481/index.html (Zugriff am 19.2.2014).
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bzw. Positionalität in Bezug auf den „RU für alle“ nachgegangen werden. Auf dem Hintergrund der Erfahrungen mit der nationalsozialistischen Diktatur hatten die Väter und Mütter des Grundgesetzes ein elementares Interesse daran, weltanschauliche Fragen nicht zu privatisieren, sondern im öffentlichen Bildungsdiskurs zu verorten. Mit der Entscheidung, die Verantwortung für die Inhalte religiöser Bildung an Religionsgemeinschaften zu delegieren, gelang ihnen diese Verortung, ohne die Verpflichtung zur weltanschaulichen Neutralität des Staates aufzugeben. Die besondere Pointe dieser Konstruktion liegt in dem Rückzug des Staates aus der Verantwortung für die Inhalte religiöser Bildungsprozesse, um deren unterrichtliche Erarbeitung in einer klaren Positionalität12 zu ermöglichen. Umgekehrt liegt in der Positionalität der Gestaltung religiöser Bildungsprozesse der einzige Grund, warum der Staat die inhaltliche Verantwortung für dieselben nicht wieder an sich zieht.13 Dieser juristische Begriff von Positionalität in Auslegung von Art. 7.3 GG steht neben einem pädagogischen Positionalitätsbegriff, der sich aus einem Bildungsbegriff herleitet, dessen Gehalt an dieser Stelle nur unvollkommen mit Adjektiven wie emanzipatorisch oder aufklärerisch beschrieben werden soll. Beide Begriffe sind nicht deckungsgleich, weil sie in verschiedenen Diskursen beheimatet sind und dort ein je eigenes Interesse verfolgen müssen. In juristischen Argumentationen verbindet sich, wie oben geschildert, mit dem Begriff der Positionalität die Vorstellung einer Grenze staatlicher Verantwortung in Bezug auf religiöse Inhalte in schulischen Bildungsprozessen. Das Terrain jenseits dieser Grenzziehung wird in juristischen Argumentationen von den Glaubensinhalten der jeweiligen Religionsgemeinschaft her beschrieben. So stellt das Bundesverfassungsgericht fest: Aufgabe des RU ist es, die „Glaubenssätze der jeweiligen Religionsgemeinschaft […] als bestehende Wahrheiten zu vermitteln […].“14 Es handle sich beim Religionsunterricht um „ein auf Wissensvermittlung gerichtetes, an den höheren Schulen sogar wissenschaftliches Fach […], das in die Lehre eines Bekenntnisses einführt, vergleichenden Hinweisen offenbleibt und zugleich Gelegenheit bietet, mit den Schülern grundsätzliche Lebensfragen zu erörtern.“15
Diese Sätze, die in ihrem juristischen Kontext exakt das leisten, was dort zu leisten ist, wirken, probeweise transferiert in pädagogische Zusammenhänge, seltsam antiquiert oder uninformiert: Schon der undifferenzierte Rekurs auf den Vermittlungsbegriff würde die zitierten Sätze, wä12
Vgl. dazu Artikel 149 WRV, in der bereits von „Positivität“ gesprochen wird. Vgl. dazu z.B. Peter Unruh, Bundesverfassungsrecht, Baden-Baden 22012, 250. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE) 74 (1987), 244-256, hier 252. 15 Zitiert nach http://www.bundesverfassungsgericht.de/pressemitteilungen/ethik. html (Zugriff am 3.12.2013). 13 14
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ren sie Teil eines pädagogischen Diskurses, als nicht auf der Höhe der Zeit befindlich entlarven. In religionspädagogischen Argumentationen verbindet sich mit dem Positionalitätsbegriff die Vorstellung, Schülerinnen und Schüler auf dem Weg zu einer eigenen Position in Sachen Weltanschauung zu begleiten, sie dabei u.a. auch durch exemplarische Benennung von Positionen der Lehrpersonen zur Positionsfindung herauszufordern. Dieser religionspädagogische Positionalitätsbegriff, der sowohl von Religionslehrenden selbst als auch in aktuellen fachdidaktischen Veröffentlichungen16 in Anschlag gebracht wird, unterscheidet sich in aller Regel nur unwesentlich von demjenigen, den Lehrende anderer Fächer wie z.B. Philosophielehrende für sich in Anspruch nehmen. Dieses Fehlen einer Differenz im Positionalitätsbegriff von RU- und Philosophielehrenden wäre in juristischen Diskursen als eine Problemanzeige zu werten: die Notwendigkeit der beschriebenen Grenzziehung zwischen staatlicher und religionsgemeinschaftlicher Inhaltsverantwortung wäre durch sie in Frage gestellt. In pädagogischen Diskursen dagegen ist das Fehlen dieser Differenz ein Gewinn, zeigt sich doch gerade durch das Fehlen, dass das Fach Religionsunterricht die Lernbeziehung von Lehrer/innen und Schüler/innen im Rahmen allgemein akzeptierter und verbindlicher unterrichtlicher Standards beschreiben kann. Die Darstellung der Differenz zwischen juristischem und religionspädagogischem Positionalitätsbegriff entschlüsselt die Frage nach der Positionalität bzw. Konfessionalität des „RU für alle“ als Spezialfall einer allgemeinen Fragestellung. Denn in religionspädagogischer Hinsicht nimmt der „RU für alle“ für sich keinen anderen Positionalitätsbegriff in Anspruch als jeder andere schulische Religionsunterricht. Anders als bei jedem anderen Religionsunterricht wird jedoch beim „RU für alle“ dieser religionspädagogische Positionalitätsbegriff einer besonderen juristischen Prüfung unterworfen – ein Vorgang, der der besonderen Begründungsbedürftigkeit jeder Veränderung des bisher Üblichen entspricht und daher als legitim zu betrachten ist, der aber nicht die Frage erledigt, ob eigentlich der jeder anderen Form des schulischen Religionsunterrichts zugrunde liegende religionspädagogische Positionalitätsbegriff mit dem zitierten juristischen Begriff identisch ist. In der Diskussion des Positionalitätsbegriffs am Beispiel des „RU für alle“ – so das Fazit der hier vertretenen Auffassung – zeigt sich die Not16 Vgl. etwa Bernd Schröder, Religionspädagogik, Tübingen 2012, 534: „Entgegen einem verbreiteten Missverständnis ist somit zu betonen, dass einem Religionsunterricht im Sinne von Art. 7.3 GG nicht an der Pflege von Konfessionalismus gelegen ist, also an einer rechthaberischen Handhabung der eigenen Überzeugungen, sondern an transparenter Positionalität, die einem ‚religiösen Gedankenerzeugungsprozeß‘ (Friedrich Schleiermacher) im offenen und zugleich engagierten Dialog zugute kommt.“ Bei Schleiermacher ist als Subjekt des „Gedankenerzeugungsprozesses“ der jeweils glaubende Mensch selbst gedacht.
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wendigkeit einer interdisziplinären Aufarbeitung des Positionalitätsbegriffs, die bisher für alle Formen des Religionsunterrichts noch nicht vollzogen wurde. Um eine solche Aufarbeitung zu leisten, könnte es sinnvoll sein, folgender Frage nachzugehen: Könnte der religionspädagogische Positionalitätsbegriff angemessen als eine Art schulischer Realisierung der protestantischen Einsicht in die Selbstzuständigkeit eines jeden Menschen für die Gestaltung seines Gottesverhältnisses expliziert werden? Und wäre folglich im religionspädagogischen Positionalitätsbegriff eine Art methodisch-didaktischer Repräsentanz protestantischen Selbstverständnisses, demzufolge Lehrende (wie Pastor/innen auch) nicht die Rolle von Ver-Mittler/innen eines bestimmten Gottesverhältnisses einnehmen können oder dürfen, zu sehen? Könnten die gestellten Fragen mit Ja beantwortet werden, wäre eine Deckungsgleichheit von religionspädagogischem und juristischem Positionalitätsbegriff denkbar, der „RU für alle“ als protestantisches Programm erkennbar und dessen Verfassungsgemäßheit darstellbar. 5. Plädoyer Anders als noch vor vielleicht dreißig oder vierzig Jahren vertreten heute nur noch wenige Menschen die Auffassung, dass Religion aus dem Leben von Menschen verschwindet. Religion boomt – wenn auch nicht durchgehend in ihren traditionell institutionalisierten Formen, so doch in vielen Kulturbereichen und in konkreten Lebensvollzügen von Menschen. Sie gestaltet sich innerhalb und außerhalb der traditionellen Institutionen höchst individuell als eine Melange aus Texten, Bildwelten und Symbolen althergebrachter Religionen und aus faszinierenden und erschreckenden Elementen erlebter Gegenwart. Religion ist alltäglich – nicht nur im Außen der Medien, sondern, wenn man den empirischen Untersuchungen zum Thema trauen darf, auch im Innen der Menschen. Mit dem Boom von Religion verbindet sich mehrheitlich zugleich ein, unter Umständen intuitives Bewusstsein von Relativität: Dass die eigene Religiosität einem, mit Peter Berger gesprochen, häretischen Imperativ17 und bzw. oder einer eigenen Konstruktion entspringt: das Bewusstsein dafür scheint ein typisches Merkmal gegenwärtiger Religiosität (nicht nur) in Deutschland geworden zu sein, das – und auch das ist bemerkenswert – die persönlich erlebte Verbindlichkeit der eigenen Überzeugungen zumeist nicht beschädigt. Zugleich bringt diese relativitätsbewusste Religiosität als Schattenseite ihren eigenen Übersprung im Fundamentalismus hervor: Fundamentalisten und Fundamentalistinnen sind nicht in der Lage, Relativität und Ver17
Peter L. Berger, Der Zwang zur Häresie: Religion in der pluralistischen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1980.
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bindlichkeit als komplementäre Bewegungen des Glaubens zu entschlüsseln. Dass gerade weil Gott selbst auch im Glauben nicht „ergriffen“ und in einen persönlichen Besitz überführt werden kann, das eigene Glauben vorläufig bleiben muss und dadurch seinen Charakter als Akt des Vertrauens gewinnt, erschließt sich ihnen nicht. Die Differenz zwischen dem eigenen Glauben und der geglaubten Transzendenz selbst können sie nicht konstruktiv in die eigene Religiosität integrieren. Diese Differenz bleibt, wo sie überhaupt gesehen oder erlebt wird, eine Bedrohung, die auf die eine oder andere Weise aus der Welt geräumt werden muss. Die Etablierung einer relativitätsbewussten Religiosität als Regelfall religiösen Selbstverständnisses von Menschen in Deutschland und anderswo in Kombination mit ihrer Schattenseite im Fundamentalismus hat eine Art „kategorischen Imperativ für religiöse Bildung“ entstehen lassen, der vielleicht so formuliert werden könnte: „Lebe deine Religiosität stets so, dass du deren Verbindlichkeit für dich selbst auch allen anderen für die ihre zumindest konzedierst.“ Der „RU für alle“ in Hamburg stellt sich diesem kategorischen Imperativ für religiöse Bildung programmatisch: Er inszeniert den Raum, in dem Schülerinnen und Schüler sich in das Einwechseln dieses kategorischen Imperativs in die Münze alltäglicher Handlungs- und Begegnungsvollzüge einüben können. Er ist der Raum, in dem – gerade weil es nicht um religionskundliche, sondern um höchst engagierte, positionelle Lernprozesse geht – die Komplementarität von Verbindlichkeit und Relativität in Glaubensdingen erlebt und erlitten werden kann. Er ist der Ort, an dem Schule für die Bildung einer dialogfähigen, sozialverträglichen Religiosität sorgt, indem sie die multikulturelle Normalsituation des Schulhofs und anderer Lebensorte von Schülerinnen und Schülern nicht in eine künstliche religiöse Monokultur auflöst. Er bearbeitet damit eine Aufgabe, die nach Überzeugung des Europarats zu den wesentlichen Kompetenzen für das Zusammenleben von Menschen in Europa gehört: die Fähigkeit zu einem souveränen Umgang mit kultureller und religiöser Diversität. Weiterführende Literatur: Landesinstitut für Lehrerbildung / Pädagogisch-Theologisches Institut / Akademie für Weltreligionen (Hg.), Interreligiös-dialogisches Lernen, Bd. 1ff., München 2014ff.
Hans-Ulrich Keßler ist Direktor des Pädagogisch-Theologischen Instituts der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland („Nordkirche“).
Eva-Maria Kenngott
Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde in Brandenburg Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde in Brandenburg
Das Schulfach Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde (LER) ist kein Neuling mehr in der deutschen Bildungslandschaft. Der grundständige Studiengang LER, der deutlich später als das Schulfach etabliert wurde, feierte im Jahr 2013 bereits sein zehnjähriges Bestehen. Dies gibt Anlass zu Rückblende und Zukunftsorientierung. Einen ersten Eindruck, um was für ein Fach es sich bei LER handelt, kann man aus der Rede beim Festakt zum fünfjährigen Bestehen des Studiengangs an der Universität Potsdam gewinnen. Die Festrednerin war Marianne Birthler, ehemalige Bildungsministerin im Land Brandenburg und federführend bei der Einführung von LER. Sie erinnerte an den Beginn des Faches an den runden Tischen in der ehemaligen DDR: „Ich möchte Sie auf eine kleine Reise und Zeitreise mitnehmen – in die DDR der späten 80er Jahre, eine Reise hin zu den Tischen, um die sich wache Menschen versammelt hatten, die sich um die Zukunft ihrer Kinder Sorgen machten. Diese Tische befanden sich in kirchlichen Räumen, aber auch in Küchen und Wohnzimmern. Wir hatten die DDR-Schulen so satt: die genormte Weltanschauung, die Geschichtslügen und das Freund-Feind-Denken, die Militarisierung der Erziehung, die Dominanz des Kollektivs, die Ausgrenzung alles Religiösen, den Frontalunterricht, den mangelnden Respekt vor der Individualität von Kindern und Jugendlichen, die Ausgrenzung Behinderter, den Generalverdacht gegenüber originellen und unabhängigen Lebensstilen, die genormten Anforderungen und Maßstäbe, die Ausgrenzung und Diskriminierung von Kindern und Jugendlichen aus politischen Gründen [...]“.1
Man wird die Geschichte des Faches LER nicht verstehen, ohne diese spezifische Konstellation seiner Entstehung in der Wendezeit zu berücksichtigen. Auf sie werde ich im folgenden Kapitel eingehen. LER als erstes und einziges religionskundliches Schulfach in Deutschland ist freilich nicht nur historisch betrachtet ein Sonderfall im Unterricht über Religion. LER ist gewissermaßen auch ein konzeptioneller Sonderfall. Hier wurde ein Unterricht konzipiert, der a) Religion(en) bekenntnisneutral thematisiert und b) religiöse Orientierungen im Zusammenhang mit Fragen der Lebensführung und mit moralischen Fragestellungen zur Sprache bringt.
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Marianne Birthler, Festrede zum Fünfjährigen Bestehen des Studiengangs LER an der Universität Potsdam am 13.11.2008, in: http://www.uni-potsdam.de/db/ler/ getdata.php?ID=58 (Zugriff am 3.11.2013), 1f.
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1. Geschichte und Genese des Konzepts Ein Arbeitstitel sollte es sein, so berichtete Marianne Birthler: „Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde“ 2, doch der umständliche Name des Faches ist bis heute mit der Präzisierung Religionskunde geblieben (s.u.). Es war wohl auch der Name „Gott und die Welt“ im Gespräch, was angesichts des öffentlichen Streits, den das Fach LER ausgelöst hat, einen gewissen Charme gehabt hätte. Es wäre dann ein Streit um „Gott und die Welt“ gewesen.3 Die Wurzeln des Faches LER liegen, wie aus Marianne Birthlers Schilderung eindrücklich hervorgeht, in der Zeit der Wende. Mit LER verbunden ist die Kritik an der sozialistisch geprägten Bildung mit den ihr eigenen Ausschlussmechanismen gemäß politischer Willfährigkeit, dem positivistischen Weltbild und den szientistischen Verengungen, die Fragen der Orientierung im Leben systematisch aus der Schule verbannten. Waren doch solche Fragen unter sozialistischen Vorzeichen schon längst beantwortet und die Pluralität von Antworten und deren Abwägung nicht erwünscht. Auf die Frage, um was für ein Fach es sich bei LER handelt, muss deshalb ganz grundlegend festgehalten werden: Die Initiatorinnen und Initiatoren von LER zielten auf eine Bildungsreform und wollten den Diskurs über zentrale Lebensfragen im schulischen Fächerkanon verankert wissen. Warum das Land Brandenburg in Sachen Unterricht über Religion einen gänzlich neuen Weg beschritten hat, hat wiederum zunächst historische Gründe: Die Kirchenzugehörigkeitsquote im Land war nach vierzig Jahren Sozialismus so gering, dass die Einführung konfessionellen Religionsunterricht gemäß Art. 7 des Grundgesetzes nicht als alternativlos erschien. Die politische Konstellation im Land Brandenburg zu Beginn der 90er Jahre mit der Bildungsministerin Marianne Birthler in einer Ampelkoalition tat ein Übriges hinzu. In dieser Zeit wurden die beiden Grundpfeiler des Faches entwickelt, die bis heute von Bedeutung sind: die Integration aller Schülerinnen bzw. Schüler und die integrative Bearbeitung von Fragen der Lebensgestaltung. In dem neuen Unterrichtsfach sollten Kinder und Jugendliche unterschiedlicher Herkunft und mit unterschiedlichen Orientierungen miteinander ins Gespräch kommen. Pro2
Ebd., 4. Auch Imma Hillerich, die lange Zeit die Einführung von LER im Brandenburgischen Bildungsministerium begleitet hat, erzählt die Geschichte von „Gott und die Welt“: „‚Gott und die Welt’ sollte es eigentlich heißen, dieses neue, auf Orientierung in einer unübersichtlich gewordenen Gesellschaft angelegte Fach – und ‚Lebensgestaltung – Ethik – Religion’ war damals nur der spröde Arbeitstitel, so berichtet Marianne Birthler.“ So Imma Hillerich, Bildungspolitik und Religion: Die Diskussion um das Schulfach LER in Brandenburg, in: Manfred Brocker, Hartmut Behr und Mathias Hildebrandt (Hg.), Religion – Staat – Politik. Zur Rolle der Religion in der nationalen und internationalen Politik, Wiesbaden 2003, 199-220, hier 199. 3
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grammatisch fand dieser Anspruch in dem Motto „Gemeinsam leben lernen“ seinen Ausdruck.4 Die Zeitrechnung für LER begann im Jahr 1992. Es wurde ein Modellversuch ins Leben gerufen, der drei Jahre dauerte und an 44 Schulen im Land Brandenburg durchgeführt wurde.5 Dem Modellversuch waren Gespräche und Auseinandersetzungen mit den Kirchen vorausgegangen, die sich unterschiedlich zu einer Mitarbeit im Modellversuch positionierten. Aus Marianne Birthlers Schilderung der beginnenden Auseinandersetzung mit den Kirchen klingt viel Enttäuschung mit – war sie doch selber in der ehemaligen DDR Katechetin gewesen und der Kirche verbunden: „Es gehört für mich zu den großen Enttäuschungen der letzten 20 Jahre, dass die Kirchen sich gegenüber diesem gemeinsamen Unterrichtsfach von Anfang an äußerst distanziert zeigten. In den Monaten seit dem Sommer 1990 hatte sich viel verändert, und Innovationen aus dem Osten hatten es schwer gegenüber den althergebrachten Verfahrensweisen und Üblichkeiten des Westens. Die zunächst mit großen Zugeständnissen erkaufte Bereitschaft der Kirchen, sich zu beteiligen, konzentrierte sich von Anfang an darauf, innerhalb des Faches den eigenen Anteil zu sichern und zu vergrößern. Die Chance, innerhalb eines solchen Unterrichtsangebots als Kirchen zu Gesprächspartnern nicht nur der christlich sozialisierten, sondern aller Kinder oder Jugendlicher zu werden, wurde so vertan.“6
Die katholische Kirche hatte sich dazu entschlossen, nicht beim Modellversuch mitzuarbeiten, so dass sich als einziger kirchlicher Partner die evangelische Kirche beteiligte. Die Grundkonstruktion des Faches war kompliziert, denn es gab eine Koppelung von Integrations- und Differenzierungsphase, wobei LER-Lehrende und Religionslehrende zusammenarbeiteten.7 Der Modellversuch wurde in drei Berichten ausgewertet, darunter ein Bericht der wissenschaftlichen Begleitung, die federführend Achim Leschinsky durchgeführt hatte, ein Bericht der Projektgruppe, die den Modellversuch am damaligen Pädagogischen Landesinstitut verantwortlich entwickelt und gestaltet hatte, sowie ein Bericht der Evangelischen Kirche. Die Berichte unterschieden sich zwar deutlich in Schwerpunktsetzung und Bewertung des Modellversuchs, Einigkeit bestand jedoch da4
„Gemeinsam leben lernen“ war ein Leitgedanke des Grundsatzpapiers, das die erste Brandenburgische Bildungsministerin Marianne Birthler im Jahr 1991 im Hinblick auf den geplanten Lernbereich „Lebensgestaltung – Ethik – Religion“ herausgab. Vgl. Wolfgang Edelstein, Karl E. Grözinger, Sabine Gruehn, Imma Hillerich, Bärbel Kirsch, Achim Leschinsky, Jürgen Lott und Fritz Oser, Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde. Zur Grundlegung eines neuen Schulfachs. Analysen und Empfehlungen, Weinheim / Basel 2001, 25ff. 5 Ebd. 28. 6 Birthler, Festrede (s.o. Anm. 1), 4. 7 In der sogenannten Integrationsphase fand in Verantwortung der LER-Lehrkräfte (und in Zusammenarbeit mit Religionslehrkräften) gemeinsamer LER-Unterricht statt; in der Differenzierungsphase konnte zwischen Lebensgestaltung – Ethik und evangelischem Religionsunterricht gewählt werden. Beide Phasen sollten zu je 50% stattfinden. Vgl. Edelstein u.a., Lebensgestaltung (s.o. Anm. 4), 28.
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rin, dass sich die Aufteilung in Integrations- und Differenzierungsphase nicht bewährt habe. Die Enttäuschung der Evangelischen Kirche darüber liest sich so: „Aus der geforderten Bekenntnisneutralität der Integrationsphase von LER leitete man vielmehr ab, daß die Entscheidungskompetenz allein auf der Seite der staatlichen Lehrkraft liege [...]. Die kirchlichen Lehrkräfte wurden in die Rolle des Eindringlings gedrängt, der den Klassenverband aufsprengt und die Kontinuität des Unterrichtsgeschehens in Frage stellt.“8
Mehrheitlich wurde der Modellversuch positiv bewertet, wenn auch die wissenschaftliche Begleitung dem Fach bescheinigte, dass der Unterricht zu stark in der L-Dimension verbleibe und die ethische und religionskundliche Dimension jeweils zu untergewichtig seien. Der Unterricht habe eine therapeutische Schlagseite.9 Dieser Vorbehalt begleitete LER über viele Jahre; das Manko wurde im nächsten Forschungsbericht erneut konstatiert.10 Im Jahre 1996 wurde das Fach „Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde“ dann als neues Schulfach im Land Brandenburg eingeführt. Damit setzte sich das Land auch von den anderen ostdeutschen Bundesländern ab, in denen der konfessionelle Unterricht etabliert wurde, flankiert von einem werteorientierten Fach, meist „Ethik“. Die Umbenennung von „Religion“ in „Religionskunde“ sollte deutlich machen, dass in diesem Unterricht über Religionen informiert werden solle und der Staat nicht in irgendeiner Form religiöse Unterweisung betreiben wolle. Das Fach LER solle „bekenntnisfrei, religiös und weltanschaulich neutral unterrichtet“ werden.11 Mit der Einführung des Faches im Jahr 1996 brach ein Sturm über das Land Brandenburg herein, den es wohl noch bei keiner Einführung eines Schulfaches, das zudem im Umfang ja relativ klein ist, gegeben hatte. Es fand eine Bundestagsdebatte statt, es gab Artikelserien in den Zeitungen und schließlich wurde bald nach der Verabschiedung des Schulgesetzes eine Normenkontrollklage gegen die Bestimmungen zum Fach LER und zum Religionsunterricht 8
Wolfgang Huber, Wenn der Staat selbst die Wertevermittlung in die Hand nimmt. Die Staatsdistanz der Vorwendezeit und die erstaunliche Staatsgläubigkeit heute, in: Frankfurter Rundschau vom 26.1.1996, Nr. 22, 18. Angelika Peter, die damalige Bildungsministerin Brandenburgs, antwortete, ebenfalls in der Frankfurter Rundschau, auf Wolfgang Huber mit dem Artikel: Ist Brandenburg verpflichtet, Religion im Stundenplan zu verankern?, in: Frankfurter Rundschau vom 15.2.1996, Nr. 39, 19. 9 Achim Leschinsky, Vorleben oder Nachdenken? Bericht der wissenschaftlichen Begleitung über den Modellversuch zum Lernbereich „Lebensgestaltung – Ethik – Religion“, Frankfurt a.M. 1996, 190ff. 10 Sabine Gruehn und Frauke Thebis verweisen u.a. darauf, dass es den Lehrerinnen und Lehrern häufig nicht gelinge, die religionskundliche Dimension in den LERUnterricht zu integrieren. Vgl. Sabine Gruehn und Frauke Thebis, Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde. Eine empirische Untersuchung zum Entwicklungsstand und zu den Perspektiven eines neuen Unterrichtsfachs, Potsdam 2002, 144f. 11 Gesetz über die Schulen im Land Brandenburg vom 2.8.2002, zuletzt geändert am 5.12.2013, §11, Abs. 3 (zitiert nach http://www.bravors.brandenburg.de/sixcms/ detail.php?gsid=land_bb_bravors_01.c.47195.de#11 (Zugriff am 3.11.2013).
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beim Bundesverfassungsgericht eingereicht. Im Kern des Verfahrens in Karlsruhe lag die Problemstellung, ob Brandenburg verpflichtet ist, Religionsunterricht als allgemeinbildendes Schulfach einzuführen. Das Land Brandenburg nahm für sich die grundrechtlichen Regelungen nach Art. 141 in Anspruch, wonach Religionsunterricht gemäß Art. 7 in einem Land nicht erteilt zu werden braucht, wo am 1.1.1949 eine andere landesrechtliche Regelung bestand.12 Die folgenden Stationen der Geschichte von LER sind schnell erzählt, denn sie sind von der konsequenten Einführung des Faches und seiner Konsolidierung geprägt. Daran änderte auch der Vergleich, der vor dem Bundesverfassungsgericht im Jahr 2002 erzielt wurde, nichts. Letztendlich wurde die Einführung des Faches LER im Nachhinein bestätigt und gleichzeitig die Stellung des (freiwilligen) Religionsunterrichts gestärkt. Seit dem Jahr 2001 wird LER auch in den Klassen 5 und 6 – sie gehören im Land Brandenburg noch zur Primarstufe – schrittweise eingeführt. Seit dem Wintersemester 2003/04 gibt es schließlich den grundständigen Studiengang LER an der Universität Potsdam. LER ist ein normales Schulfach geworden. 2. Organisation, Anliegen und Konzeption im Zusammenhang verwandter Schulfächer Der LER-Unterricht findet in den Klassen 7 und 8 zweistündig statt, in den Klassen 9 und 10 einstündig. In den Klassen 5 und 6 wird LER ebenfalls einstündig unterrichtet. Die Abmeldung vom LER-Unterricht ist gemäß § 11,3 des Brandenburgischen Schulgesetzes möglich.13 Ferner sind dort die Ziele des Faches LER festgeschrieben: „Das Fach Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde soll Schülerinnen und Schüler in besonderem Maße darin unterstützen, ihr Leben selbstbestimmt und verantwortlich zu gestalten, und ihnen helfen, sich in einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft mit ihren vielfältigen Wertvorstellungen und Sinnangeboten zunehmend eigenständig und urteilsfähig zu orientieren. Das Fach dient der Vermittlung von Grundlagen für eine wertorientierte Lebensgestaltung, von Wissen über Traditionen philosophischer Ethik und Grundsätzen ethischer Urteilsbildung sowie über Religionen und Weltanschauungen.“14
Bei dieser Einordnung des Faches wird deutlich, wie sehr auf eine selbstbestimmte und verantwortliche Lebensführung in einer pluralistischen Gesellschaft abgezielt wird. „Ethik“ und „Religionskunde“ sind gleichsam die Vehikel zu einer pluralismustauglichen Autonomie. Wie nicht anders zu erwarten, gibt es Verschiebungen bei der Bestimmung des Anliegens des Faches LER zwischen den Dokumenten, die im Laufe der Jahre auf verschiedenen Ebenen erstellt wurden. Dies ist weder beim 12 13 14
Hillerich, Bildungspolitik (s.o. Anm. 3), 202. BbgSchulG §11,3 (s.o. Anm. 11). BbgSchulG §11,2 (s.o. Anm. 11).
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Religionsunterricht noch beim Ethikunterricht anders. Gleichzeitig zeugen die Veröffentlichungen zur Konzeption des Faches vom Stand des jeweiligen Problembewusstseins und von den Anforderungen, die sich an LER sowie an verwandte Fächer richten, beispielsweise die Erarbeitung eines Kompetenzmodells. Herausragend wichtig für die Entwicklung von LER war das Gutachten des wissenschaftlichen Beirats von LER, das im Jahr 2001 veröffentlicht wurde. An diesem Gutachten ist Einiges bemerkenswert. Zunächst ist es Ausdruck einer Besorgnis im Hinblick auf die Fachentwicklung in den ersten Jahren. Es hatte sich gezeigt, dass insbesondere eine der Grundideen von LER, Lebens- und Orientierungsfragen von Jugendlichen integrativ im Unterricht zu behandeln, äußerst anspruchsvoll war und in der Unterrichtspraxis schwierig umzusetzen. Das Ergebnis der empirischen Erforschung von LER-Unterricht war ja mehrmals gewesen, dass die L-Dimension des Faches zu starkes Übergewicht habe. Aus dieser Sicht ist das Gutachten als Korrektur der Fachentwicklung der ersten Jahre zu betrachten. Es ist gleichzeitig mit großer Sympathie für die zentralen Anliegen des Faches geschrieben. Schließlich ist das Gutachten von über das Fach hinausweisender Bedeutung. Hier wurden Denk-, Argumentations- und Handlungslogiken bestimmt, die sich im Spektrum der Sinn-, Orientierungs- und Wertefragen – sprich: all der Fragen, die sowohl im Religions- also auch im Ethikunterricht relevant sind – als ineinander verschlungene Lebensfragen stellen. Die Grundannahme der Konzeption stammt von Fritz Oser, einem der Mitverfasser des Gutachtens, und wurzelt im genetischen Strukturalismus, wie er maßgeblich von Piaget und Kohlberg entwickelt wurde. Demnach kommt in LER die Eigenlogik verschiedener Wissensbereiche zum Tragen. Diese Eigenlogiken nennen die Autoren „Basisstrukturen“ und definieren sie folgendermaßen: „Basisstrukturen sind plausible Netze von grundlegenden Inhalten bzw. Handlungsweisen, die einen Wissensbereich bestimmen.“15 Diese grundlegenden Inhalte und Handlungsweisen bilden nicht vorrangig wissenschaftliche Disziplinen ab, sondern Modi des Fragens, Argumentierens, Denkens bzw. Handelns, kurz: der Weltbegegnung.16 Die Eigenlogiken kreisen um drei Zentren: Im Falle der „Ethik“ ist das die Dichotomie „Moralität als inneres oder äußeres Regelsystem“ versus „Un-Moralität als innere oder gesellschaftliche Anomie“, im Falle der „Religionskunde“ „Aufgeschlossenheit / Interesse für Religionen“ versus „Gleichgültigkeit gegenüber und Abscheu vor allem Religiösen (Abwehr)“, im Falle der „Lebensgestaltung“ „Konstruktion und Verfolgung 15
Edelstein u.a., Lebensgestaltung (s.o. Anm. 4), 77. Jahre später hat Jürgen Baumert in einer vielfach zitierten Überlegung vier Modi der Weltbegegnung unterschieden, die durchaus Ähnlichkeiten aufweist (s.u.). Jürgen Baumert, Deutschland im internationalen Bildungsvergleich, in: Nelson Killius, Jürgen Kluge und Linda Reisch, Die Zukunft der Bildung, Frankfurt a.M. 2002, 100150, hier 106ff. 16
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eines Lebensziels“ versus „Flucht, Scheitern, Sinnlosigkeit und Ekel“.17 Mit der Formulierung eines inneren Kerns mit einem positiven und negativen Pol versuchen die Autorinnen und Autoren die innere Logik der Struktur zu bestimmen, über deren jeweilige spezifische Formulierung sich sicherlich trefflich streiten lässt. Die These ist, dass Fragen und Antworten nach Identität, Moral und Religion – denn um diese geht es – sich in eigensinnigen Mustern zum Ausdruck bringen. Im Falle der Ethik gehören hierzu bspw. die Bestimmung und Überprüfung normativer Prämissen; im Falle der Lebensgestaltung bspw. die Frage, was für ein Mensch jemand sein will und welche Alternativen für kurz- und längerfristige Ziele zur Verfügung stehen; im Falle der Religion der Transzendenzbezug, dem bspw. durch eine bestimmte Lebensführung Ausdruck verliehen wird. Menschen können sich in Freiheit in positivem oder negativem Bezug zu sich selbst, gegenüber anderen oder in Bezug auf Transzendenz verorten bzw. handeln.18 Die zentrale „Botschaft“ des Gutachtervorschlags – die unterschiedlichen Logiken der Konzepte von Identität, Moral und Religion – wurde leider häufig missverstanden bzw. abgelehnt. Ein naheliegendes Missverständnis liegt darin begründet, dass durch die Basisstrukturen nun drei Bereiche festgelegt wurden, was die integrative Unterrichtsgestaltung behindern könnte. Fachwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern wiederum ist der Vorschlag zu wenig auf die Bezugsdisziplinen bezogen, denn zumindest die Basisstrukturen „Lebensgestaltung“ und „Ethik“ basieren eher auf entwicklungspsychologischen Erkenntnissen zur Identitäts- und Moralentwicklung.19 Die spezifische Formulierung einer Entwicklungs- bzw. Lernperspektive in der Tradition von Lawrence Kohlberg ist ein weiterer Stein des Anstoßes. Gerade in der Philosophiedidaktik wurden Argumentationstechniken für den Unterricht erarbeitet, die eher als Gegenentwurf zum Kohlbergschen moralpädagogischen Programm verstanden werden. Die Verankerung des Konzepts in der Tradition des genetischen Strukturalismus ist freilich, auch bei Distanz zu dieser Tradition, kein unüberwindliches Hindernis, die Produktivität des Konzepts auch für die verwandten Schulfächer fruchtbar zu machen. Denn der Vorschlag zielt auf die „Entwirrung“ praktischer Le17 Die Kerne der drei Basisstrukturen finden sich in der jeweiligen Abbildung. Vgl. Edelstein u.a., Lebensgestaltung (s.o. Anm. 4), 86, 90, 93. 18 Ich hoffe, dass ich hiermit nachgeholt habe, was Kramer bislang vermisst hat: eine differenzierte Darstellung des dichotomen Kerns und der Logik des Konzepts. Vgl. Jens Kramer, Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde im Land Brandenburg, in: ZPT 65 (2013), 4-14, hier 10. 19 Leider sind die Basisstrukturen nicht nach einer einheitlichen Leitlinie verfasst: Die religionskundliche Basisstruktur ist an einer spezifischen religionswissenschaftlichen Perspektive orientiert und reformuliert eine phänomenologische Perspektive auf Religion(en), indem allgemeine Merkmale von Religionen benannt werden.
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bensfragen, die auch dort zum Bestand relevanter Fragestellungen gehören. Die analytische Differenzierung verschiedener Rationalitäten ist eine Anregung, die auch von ganz anderer Seite in die Diskussion eingebracht wurde. So unterbreitete Jürgen Baumert im Kontext der Diskussion um die PISA-Studie den Vorschlag, den Bildungskanon vor dem Hintergrund unterschiedlicher Rationalitätsformen neu zu denken. Neben der „kognitiv-instrumentelle(n) Modellierung der Welt“ und der „ästhetischexpressive(n) Begegnung und Gestaltung“ sieht er die „normativevaluative Auseinandersetzung mit Wirtschaft und Gesellschaft“ und diejenige Rationalitätsform, die den Fokus auf das Leben und seine Bedingungen als Ganzes richtet und die Baumert als „Probleme konstitutiver Rationalität“ beschreibt.20 Baumert verortet Fragen nach dem Sinn, nach dem Woher und Wohin der Welt und des Lebens in der Philosophie und Religion. Auch hier wird – hierin liegt die Verwandtschaft zum Konzept der „Basisstrukturen“ – nach einer inneren Logik von Weltzugängen gefragt. Für LER relevant ist hierbei die Unterscheidung in konstitutive und normative Fragen. Sie findet sich schon im Kantschen Katalog der zentralen Fragen: „Was soll ich tun?“ und „Was darf ich hoffen?“ Die Konsequenzen dieser Art von Argumentation sind für den Religionsbzw. Ethikunterricht einerseits und für LER andererseits graduell unterschiedlich. Für den Religions- und Ethikunterricht ergibt sich hieraus die Konzentration auf ein Proprium des Faches. Demnach wäre die vorrangige Funktion von Religionsunterricht in der Auseinandersetzung mit konstitutiven Fragen des Lebens zu sehen und nicht etwa, wie häufig in der Debatte um den Religionsunterricht zu beobachten, in der Wertebildung. Dies bedeutet freilich weder, dass Werteorientierungen nicht ein Teil des Religionsunterrichts sind, noch, dass sie nicht ein Ergebnis von Religionsunterricht sein können. Wertebildung ist allerdings in dieser Optik nicht das primäre Ziel des Religionsunterrichts. Der LER-Unterricht profitiert von der Logik der Basisstrukturen hingegen anders: Hier sollten Themen mit drei unterschiedlichen Fokussierungen behandelt werden. So kann ein Computerspiel, das gerade „in“ ist, nach der in ihm verwendeten religiösen Symbolik befragt werden oder nach den ethischen Konsequenzen bspw. mit der Frage, mit welchen Maßstäben virtuelle Gewaltanwendung zu bewerten ist. Schließlich sind unter einem identitätstheoretischem Blickwinkel die Fragen von Selbstwirksamkeit oder Kooperation mit andern spannend und inwiefern sich diese vom „richtigen Leben“ unterscheiden. Entscheidend an dieser Herangehensweise ist, dass die drei genannten Optiken als gleichwertig fachrelevant betrachtet werden. Dies bedeutet im Unterschied zu den werteorientierten Fächern aus dem Bereich Philosophie/Ethik, dass die religionskundliche Perspektive mit bearbeitet wird und im Unterschied 20
Baumert, Deutschland (s.o. Anm. 16), 113.
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zum Religionsunterricht, dass Problemstellungen nicht aus einer vorwiegend religionsbezogenen Optik fokussiert werden. In den Rahmenlehrplänen des Faches spiegeln sich der Stand der Fachentwicklung sowie die jeweiligen Problemstellungen wider. Mit dem Schuljahr 1994/95 wurden die „Hinweise zum Unterricht im Modellversuch – Lernbereich Lebensgestaltung – Ethik – Religion“ in Kraft gesetzt. Dieser Lehrplan wurde vielfach kritisiert wegen seiner Zentrierung aller religions- und weltanschauungsbezogenen Themenstellungen in einem Lernfeld, dem Lernfeld 5. Er fiel damit hinter die Grundlagen des Faches zurück, als deren wesentlicher Baustein die integrative Bearbeitung von jugendrelevanten Fragestellungen betrachtet werden kann. Nach mehreren Zwischenschritten gilt seit dem 1. August 2008 für die Grundschule sowie für die Sekundarstufe I jeweils ein kompetenzorientierter Rahmenlehrplan, in dem das Konzept der „Basisstrukturen“, jedenfalls oberflächlich, verankert ist.21 Den zurzeit gültigen Rahmenlehrplänen werden in absehbarer Zeit – im Rahmen einer generellen Überarbeitung der Rahmenlehrpläne in Berlin und Brandenburg – neue Lehrpläne folgen, so dass an dieser Stelle auf eine tiefere Analyse verzichtet werden kann. Als im Fach LER anzustrebende Kompetenzen werden im Rahmenlehrplan für die Sekundarstufe I „allgemeine Lebensgestaltungskompetenzen“ ausgewiesen.22 Unter die Lebensgestaltungskompetenzen werden nach nicht ersichtlichen Kriterien verschiedene Aspekte aus den drei Dimensionen des Faches subsummiert. Problematisch an dieser Vorgehensweise ist zweierlei: Alle im Bereich der schulischen Bildung Tätigen erhoffen sich von schulischer Bildung, dass sie etwas dazu beitragen mögen, dass Schülerinnen und Schüler lernen, ihr Leben eigenständig zu gestalten. Zu fragen wäre demnach, was genau welches Schulfach hierzu beizutragen vermag. „Lebensgestaltungskompetenzen“ als Ziel eines Schulfaches zu benennen, ist deshalb gleichzeitig übergeneralisiert und unterkomplex. Die Kompetenzorientierung ist zu allgemein und zu wenig fachbezogen; gleichzeitig ist sie zu wenig strukturiert, als dass sie eine das Lehren und Lernen im Fach LER orientierende Funktion einnehmen könnte. 3. Einblicke in die Praxis Das Fach LER wurde von der Brandenburgischen Landesregierung mit großer Stringenz etabliert. Hierzu gehörte die step-by-step-Einführung in der Sekundarstufe I, später auch in den Klassen fünf und sechs sowie die 21 Das Konzept findet sich im „Rahmenlehrplan für die Sekundarstufe I. Jahrgangsstufen 7-10. Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde“, Potsdam 2008, 42ff., sowie im „Rahmenlehrplan Grundschule. Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde“, Potsdam 2008, 22ff.; beide leicht zugänglich über: http://bildungsserver.berlinbrandenburg.de/rahmenlehrplaene.html (Zugriff am 3.11.2013). 22 Vgl. Rahmenlehrplan für die Sekundarstufe I (s.o. Anm. 21), 13.
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zunehmende Präsenz des Faches an den Schulen seit dem Jahr 1996. Ferner waren die Lehrerausbildung sowie die Evaluation des Faches und die Entwicklung von Handreichungen im Blick administrativen Handelns. Die Einführung des Faches wurde durch eine Evaluation und durch ein hochkarätiges Gutachterteam unterstützt (s.o.). Auf der Ebene der unmittelbaren unterrichtlichen Unterstützung der Lehrkräfte ist über das Fach LER hinaus die Handreichung zur Leistungsbewertung bemerkenswert.23 Hier wurden neue Wege für die Leistungsbewertung wie bspw. Portfolioarbeit sowie Selbst- und Gruppeneinschätzungen vorgeführt, die bis heute innovativ sind. Als Arbeitsgrundlage für den religionskundlichen Teil des Faches entstand unter der Federführung von Karl E. Grözinger ein sechsbändiges Werk mit einführendem Charakter und kommentierten Texten für den religionskundlichen Unterricht. Dabei wurden Judentum, Christentum, Islam, Hinduismus/Buddhismus, Esoterik und Atheismus berücksichtigt. Das Ziel der Bände ist es, Quellen aus religionswissenschaftlicher Perspektive aufzubereiten und mit einem Lebensweltbezug zu verknüpfen. Dabei „wird der Quellen-Text aus seiner religionsspezifischen Ausdrucksweise in eine nichtreligiöse allgemeinmenschliche Sprache übersetzt und an moderne Lebensweltsituationen herangeführt, um so als ein Gesprächsvotum für eine vergleichende Wertediskussion dienen zu können – sei es in der Diskussion im Klassenzimmer, im Seminar, Kolleg oder zur persönlichen Orientierung.“24
Die positiven Impulse für das Fach dauerten an bis in das neue Jahrtausend hinein, wo mit der Einführung des grundständigen Studiums an der Universität Potsdam noch einmal nachdrücklich die Bedeutung, die das Land dem Fach beimaß, unterstrichen wurde. Seit 2008 gehen die Absolvent/innen in das Referendariat und tragen damit zu einer „Verjüngungskur“ für das Fach bei. Im Schuljahr 2008/09 wurde LER zu fast hundert Prozent in den entsprechenden Klassenstufen an den Brandenburgischen Schulen unterrichtet. Dabei legte das Land lange Zeit ein besonderes Augenmerk auf die Qualifizierung von Lehrkräften. Sie wurden vor der Einführung des grundständigen Studiengangs berufsbegleitend in zwei- bzw. dreijährigen Erweiterungsstudiengängen qualifiziert, die ab 1996 in Kooperation mit der Universität Potsdam angeboten wurden.25 Das Fach durfte nur 23 Pädagogisches Landesinstitut Brandenburg (Hg.) / Ingvar Sigurgeirsson (Autor), Begleitende multikriteriale Leistungsbewertung. Methoden der Leistungsbewertung für LER und andere Unterrichtsfächer (Handreichungen Heft 29), LudwigsfeldeStruveshof 2001. 24 Karl E Grözinger (Hg.), Religionen und Weltanschauungen. 1. Judentum: Werte, Normen, Fragen in Judentum, Christentum, Islam, Hinduismus / Buddhismus, Esoterik und Atheismus, Berlin 2009, 8. Auch die weiteren Bände sind 2009 beim Berliner Wissenschafts-Verlag erschienen. 25 Seit dem Sommersemester 2000 wurde auch an der Universität Potsdam LER als Erweiterungsstudiengang angeboten.
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von Lehrkräften unterrichtet werden, die zumindest das Grundstudium absolviert hatten.26 Leider weicht das verantwortliche Ministerium seit einigen Jahren von der langjährigen Praxis ab, in LER nur ausgebildete Lehrkräfte einzusetzen. Dies macht sich insbesondere in der Grundschule, Klasse 5 und 6, bemerkbar, wo 56,6% fachfremder Unterricht erteilt wird;27 an Oberschulen und Gesamtschulen sind es 36,8% bzw. 36,7%, an Gymnasien 27% und an Förderschulen 45,8%. Die Zahlen der Abmeldungen vom LER-Unterricht sind, je nach Schulform, unterschiedlich hoch: Sie betrugen in Grundschulen 9,3%, in Oberschulen 2,3%, in Gesamtschulen 2,7%, in Förderschulen 0,5% und waren in Gymnasien mit 20,5% am höchsten.28 Insgesamt betrachtet liegt die Quote der Abmeldungen mit 9,2% im einstelligen Bereich, was für das Fach insgesamt ein durchaus ansehnlicher Erfolg ist. Alles in allem wurde die Einführungsphase trotz des politischen Gegenwinds gut gemeistert. Bei der langfristigen Etablierung des Faches scheint das Land Brandenburg allerdings nicht den langen Atem zu haben, der für die Verstetigung und Weiterentwicklung dieses innovativen Faches notwendig ist. 4. Diskussion Das Fach LER hatte in der Einführungsphase offenbar ein erhebliches Erregungspotential. Denn die öffentliche Debatte zeichnete sich durch markante Zuspitzungen, Zuschreibungen, Ängste, Empfindlichkeiten und radikalisierte Problemwahrnehmungen aus. Die Auseinandersetzung um LER in den Medien vor und während der Einführung war von zwei Grundsatzfragen geprägt. Es wurde zum einen infrage gestellt, ob der Staat die Werteerziehung selbst in die Hand nehmen dürfe. Der damalige Bischof von Berlin-Brandenburg Wolfgang Huber eröffnete im Januar 1996 – also mehrere Monate vor In-Kraft-treten des Brandenburgischen Schulgesetzes – eine Artikelserie in der Frankfurter Rundschau mit genau dieser Problemstellung.29 Zum anderen wurde über den religionskundlichen Bestandteil des Faches debattiert.30 26
Lehrkräfte, die in der ehemaligen DDR das Fach „Staatsbürgerkunde“ unterrichtet hatten, wurden nicht zum Studium zugelassen. 27 Die Zahlen stammen aus dem Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg (e-mail vom 24.5.2013) und betreffen den Stand für das Schuljahr 2011/12. 28 Auch diese Zahlen wurden mir vom Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg (e-mail vom 24.5.2013) mitgeteilt und betreffen den Stand für das Schuljahr 2009/10. 29 Huber, Wertevermittlung (s.o. Anm. 8) 30 Wolfgang Hubers Artikel in der Frankfurter Rundschau (s.o. Anm. 6) bündelte zentrale Argumente der LER-Gegner. Erwähnenswert sind auch die Auseinandersetzungen in der ZEIT 1998/99 (Eckhard Nordhofen, Bei uns bleibt Er tot, in: DIE
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Nach den totalitären Regimen des 20. Jahrhunderts ist die öffentlich geäußerte Befürchtung gegenüber vermeintlichen staatlichen Lebensanleitungen durchaus nachvollziehbar. Im historischen Rückblick war deshalb der Vorwurf der Indoktrination bzw. der staatlichen Bevormundung eine verständliche Reaktion gegenüber dem neuen ostdeutschen Fach. Für die Protagonistinnen und Protagonisten des Faches LER, die sich für das Fach und gerade gegen die sozialistische Staatsdoktrin engagiert hatten, war dieser Vorwurf freilich besonders schmerzlich. Die Gefahr staatlicher Einflussnahme ist zwar nicht von der Hand zu weisen, gilt aber mitnichten nur für das Fach LER. Sie betrifft in ähnlicher Weise auch andere Spielarten des Ethikunterrichts, die auch damals schon in den Stundentafeln verankert waren, und wird immer dann virulent, wenn Ethikunterricht den schmalen Grat zwischen praktischer Relevanz und ethischer Reflexion verlässt. Bildung auf dem Feld der Moral ist gefährdet im Hinblick auf Übertheoretisierung und moralische Belehrung. LER ist hierbei kein Sonderfall, auch wenn die therapeutische Schlagseite in den Anfangsjahren ein Teil der Fachgeschichte ist. Sie ist deshalb aber noch lange kein Fachspezifikum. Das Abgleiten von ethischer Bildung in Handlungsanleitung ist eine der Klippen für jeden Unterricht, in dem menschliches Handeln auf seine moralische Richtigkeit hin überprüft wird, z.B. auch im Religionsunterricht. Die Polemik gegen religionskundlichen Unterricht wurzelte auf der Sachebene in der Zuschreibung, dass Religionsunterricht aus der Binnenperspektive der jeweiligen Konfession oder Religion erteilt werde, während religionskundlicher Unterricht aus der neutralen „objektiven“, von der Religionswissenschaft induzierten Außensicht erfolge. Die Außensicht wurde hierbei als defizitär erachtet, die angemessene Durchdringung des religiösen Erfahrungsraums wurde allein der Binnenperspektive zugetraut. Die damaligen Befürworter des Faches vertraten demgegenüber die Position, dass Vertreterinnen und Vertreter aus dem Feld der Religionen, damals war häufig die Rede von authentischen Vertretern, in den Unterricht eingeladen werden sollten. Auf diese Weise sollten Binnensichten in den Unterricht eingespielt werden. Die Zuspitzung der Debatte auf das simplifizierende Muster von Binnenvs. Außenperspektive zementierte für lange Zeit die Gegnerschaft von konfessionellem Religionsunterricht vs. religionskundlichen Unterricht im Rahmen von LER. Jenseits dieser schul- und bildungspolitisch prekäZEIT Nr. 53 vom 22.12.1998, 41; Ulrike Brunotte, In LER hat auch ER seinen Platz, in: DIE ZEIT Nr. 3 vom 14.1.1999, 33) sowie – mit einem Einblick in die Wahrnehmungen auf wissenschaftlicher Seite – die Debatte in der „Neuen Sammlung“ 2000/ 2001: Henning Schluß, LER – Nie war kritisieren so einfach wie heute, in: Neue Sammlung 40 (2000), 313-336; Friedrich Schweitzer, Ist kritisieren wirklich „so einfach“? Nachdenkliche Bemerkungen zu dem Beitrag von Henning Schluß über die LER-Diskussion, in: Neue Sammlung 41(2001), 139-145; Henning Schluß, Vom Einfachen, das schwer zu machen ist. Eine Antwort auf Friedrich Schweitzer, in: Neue Sammlung 41 (2001), 393-397.
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ren Folgen ist das Argument jedoch auch auf der Sachebene hoch problematisch, was sich in aller Kürze auf drei Ebenen verorten lässt: 1.) erhebt gerade die empirische Religionswissenschaft – besonders in qualitativen Studien – die Binnenperspektive religiöser Akteure; 2.) unterschlägt die genannte Zuschreibung, dass religiöse Akteure sich kultureller Semantiken bedienen, die erforscht und „erkundet“ werden können und kein „Geheimwissen“ darstellen,31 und 3.) verschränken sich auch im konfessionellen Religionsunterricht als bildendem Fach Teilnehmerund Beobachterperspektiven.32 Zwischenzeitlich ist die Debatte um einen religionskundlichen Unterricht deutlich differenzierter geworden, was u.a. dem zunehmenden Interesse an religiöser Bildung für alle Schülerinnen und Schüler zuzuschreiben ist, auch der säkularen, indifferenten oder auch Angehöriger kleinerer Religionsgemeinschaften. LER ist in dieser Perspektive Teil einer Suche nach einer angemessenen religiösen Bildung unter dem Vorzeichen zunehmender religiöser Pluralisierung auf dem europäischen Kontinent. Wenngleich religionskundlicher Unterricht nur in Teilen Europas, v.a. in Nordeuropa, England und zunehmend in der Schweiz praktiziert wird, so ist doch eine gewisse Gelassenheit in die Debatte eingezogen. Dies betrifft sowohl die Frage von Binnen- und Außenperspektive als auch diejenige nach der persönlichen Bedeutung von Religion für die Orientierung der Lernenden auch im Rahmen eines religionskundlichen Unterrichts.33 5. Plädoyer und Entwicklungsaufgaben Das Fach LER hat sich zwischenzeitlich im Kanon der Wertefächer etabliert.34 Es hatte innovativen Charakter auf mehreren Ebenen:
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Vgl. hierzu Anne Koch, Die fünf beliebtesten üblen Nachreden auf Religionswissenschaft, in: Eva-Maria Glasbrenner und Christian Hackbarth-Johnson (Hg.), Einheit der Wirklichkeiten. Festschrift anlässlich des 60. Geburtstags von Michael von Brück, München 2009, 339-353, hier 341f. 32 Bernhard Dressler macht diese Unterscheidung in vielen Texten stark. Vgl. z.B. Bernhard Dressler, Darstellung und Mitteilung. Religionsdidaktik nach dem Traditionsabbruch, in: Thomas Klie und Silke Leonhard (Hg.), Schauplatz Religion. Grundzüge einer performativen Religionspädagogik, Leipzig 2003, 152-165, hier 159. 33 Die Auseinandersetzung um die sinnvolle Konzeptionalisierung einer Religionskunde findet auch in einem aktuellen Band statt, in dem allerdings die Konfliktlinien in moderatem Diskurs dargestellt werden: Dominik Helbling, Ulrich Kropač, Monika Jakobs und Stephan Leimgruber (Hg.), Konfessioneller und bekenntnisunabhängiger Religionsunterricht. Eine Verhältnisbestimmung am Beispiel Schweiz, Zürich 2013. 34 Dies ist schön zu sehen in dem Band von Marie-Luise Raters (Hg.), Werte in Religion und Ethik. Modelle des interdisziplinären Werteunterrichts in Deutschland und der Schweiz, Dresden 2011, darin Eva-Maria Kenngott, Das Fach Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde – ein ehrgeiziges Projekt, 89-98.
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Erstens: Mit LER hat das Bundesland Brandenburg einen neuen Weg auf dem Feld der Bildungs- und Religionspolitik beschritten. Das „alte“ bundesdeutsche Modell von Religionsunterricht nach Art. 7 des Grundgesetzes wurde nicht aufgegriffen bzw. modifiziert.35 Auch die bislang gängige Praxis eines Ersatz- bzw. Alternativfaches aus dem Bereich Philosophie / Ethik wurde zugunsten eines allgemeinbildenden Faches mit religionskundlichen Anteilen für alle Schüler/innen neu geordnet. Zweitens: Gleichzeitig hat das Land den Impuls aus der Wendezeit fortgeführt und eigensinnig gegen alle politischen Widerstände einen neuen Lernbereich etabliert, der bewusst gegen die westdeutsche Tradition mit ihrem volkskirchlichen Hintergrund gestellt wurde. Drittens: Mit der Ausgestaltung des Faches auf der wissenschaftlichen Ebene, die durch das Gutachterteam erfolgte, wurde ebenfalls Neuland beschritten. Dies in mehrfachem Sinne: Das Konzept der „Basisstrukturen“ differenziert das weite Feld der praktischen Lebensfragen in dreifacher Hinsicht als Identitätsfragen, ethische Problemstellungen und religiöse Diskurse und Praxen. Diese Strukturierung soll den unterrichtlichen Umgang mit komplexen Problemstellungen erleichtern. Gleichzeitig stehen bei diesen Überlegungen nicht die Bezugsdisziplinen mit den jeweiligen wissenschaftlichen Eigenlogiken im Vordergrund, sondern die pädagogische Frage nach dem Aufbau von Identität und der Entwicklung moralischer Handlungskompetenz. Leider wurde ein solch pädagogisch-entwicklungspsychologisches Modell nicht für die Religionskunde erarbeitet und sollte noch entwickelt werden. Auch ein differenziertes Kompetenzmodell für LER steht noch aus. Hierbei sind die Dimensionen a) in ihrer Eigenlogik und b) mit Bezug aufeinander darzustellen. Ein erster Vorschlag zur Grundlegung eines Kompetenzmodells liegt vor.36 Die im Fach anzustrebenden Kompetenzen sind demnach differenziert in Selbstbestimmungskompetenz (L-Dimension), moralische Urteils- und Handlungskompetenz (E-Dimension) und hermeneutische Kompetenz (R-Dimension). Überschneidungen zwischen den Dimensionen gibt es auf mehreren Ebenen, wobei der Fähigkeit zur Partizipation wohl die höchste Bedeutung zugesprochen werden sollte. Zur Partizipationskompetenz gehört, dass Menschen mit unterschiedlichen Lebensentwürfen und religiösen Orientierungen lernen, nicht unkritisch und relativierend, sondern friedlich und schiedlich zu35 Von einer Modifizierung ist zu sprechen, wenn man in Betracht zieht, dass die Abmeldung von LER in Brandenburg möglich und gängige Praxis ist (s. Abschnitt 3); von einer Abkehr ist zu sprechen, wenn man einerseits die juristische Auseinandersetzung um die Berufung Brandenburgs auf Art. 141 betrachtet und andererseits die bildungspolitische Wirkung des Faches. LER gilt als religionskundliches Fach mit dem Anspruch, religiöse Bildung für alle Schüler/innen anzubieten. 36 Eva-Maria Kenngott, Wozu Religion in der Schule? Religionskunde im Schulfach LER, in: dies. und Lothar Kuld (Hg.), Religion verstehen lernen, Neuorientierungen religiöser Bildung, Münster 2012, 60-79.
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sammen zu leben. Schon in den Anfangszeiten von LER war ein solches Lernen von Partizipation zum Programm erhoben worden. Das Motto lautete „Gemeinsam leben lernen“ und erweist sich angesichts zunehmender gesellschaftlicher Pluralisierung als erstaunlich tragfähig. Weiterführende Literatur: Wolfgang Edelstein, Karl E. Grözinger, Sabine Gruehn, Imma Hillerich, Bärbel Kirsch, Achim Leschinsky, Jürgen Lott und Fritz Oser, Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde. Zur Grundlegung eines neuen Schulfachs. Analysen und Empfehlungen, Weinheim/Basel 2001. Eva-Maria Kenngott, Wozu Religion in der Schule? Religionskunde im Schulfach LER, in: Dies. und Lothar Kuld (Hg.), Religion verstehen lernen, Neuorientierungen religiöser Bildung, Münster 2012, 60-79. Jens Kramer, Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde im Land Brandenburg, in: ZPT 65 (2013), 4-14. Achim Leschinsky und Sabine Gruehn, LER – eine Reforminitiative auf dem Weg zu einer realitätsgerechten Aufgabenstellung, in: Neue Sammlung 41 (2001), 369392. Jürgen Lott, Wie hast du’s mit der Religion? Das neue Schulfach Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde (LER) und die Werteerziehung in der Schule, Gütersloh 1998.
Dr. Eva-Maria Kenngott ist Vertreterin der Professur für Religionspädagogik am Institut für Religionswissenschaft und Religionspädagogik der Universität Bremen.
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Biblische Geschichte auf allgemein-christlicher Grundlage in Bremen Dass es in dem kleinsten Bundesland Deutschlands mit dem Unterricht in „Biblischer Geschichte“1 einen besonderen Religionsunterricht gibt, der in seinen Rahmenbedingungen erheblich von den anderen Bundesländern abweicht, ist längst nicht jedem geläufig. In den Diskussionen um Neuorientierungen des Faches seit den neunziger Jahren tauchte zwar der Begriff „Bremer Klausel“ öfter auf, wenn es darum ging, Sondersituationen jenseits der gängigen Grundgesetzregelungen für den bekenntnisgebundenen Unterricht (Art. 7.3 GG) aufzuzeigen. Doch was steckt hinter diesem geheimnisvoll klingenden Begriff? Ist es ‚nur’ eine juristische Formel aus der Anfangszeit der Bundesrepublik? Warum benutzt man in Bremen heute noch den alten Ausdruck „Biblische Geschichte“ für den Religionsunterricht? Liegt hier ein spezielles – vielleicht bisher verkanntes – pädagogisches Konzept vor? Im Folgenden gehe ich zunächst auf einige Aspekte aus der Geschichte des Faches ein, die sich als besonders prägend erwiesen haben und deren Wirkungen auch heute noch spürbar sind. Weiter stehen Gegenwartsfragen im Fokus, die vorrangig mit der Konfessionalität des Unterrichts und der Lehrkräfte, der Pluralität der Gesellschaft und dem Einbezug der Religionsgemeinschaften zu tun haben. Die Diskussion dieser Fragen ist sowohl für Bremen, aber auch künftig für die bundesdeutsche Orientierung des Religionsunterrichts von großer Bedeutung. 1. Von den Anfängen bis zur sog. Bremer Klausel Der Terminus „Biblische Geschichte“ lässt sich bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgen. Auf einige Schwerpunkte der Entwicklung bis zur Einführung des Grundgesetzes im Jahre 1949 sei eingegangen. 1.1 Reformorientierte Anfänge im 18./19. Jahrhundert Für den Beginn des Biblischen Geschichtsunterrichts in Bremen trifft genau die Einschätzung zu, die Bernd Schröder für die Entwicklung der Schule im 18. Jahrhundert so charakterisiert hat: „Die Obrigkeit beziehungsweise der Staat übernimmt zunehmend deutlich aus eigenem, gesellschaftlichen Interesse (also nicht mehr auf Veranlassung der Kirche) 1
Durch die Verankerung in der Bremer Landesverfassung Art. 32 (seit 1947) ist der Begriff auch heute noch in Gebrauch.
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Verantwortung für Schule [...].“2 Die Pastoren Häfeli und Ewald gelten als Begründer des Bremer Bibelgeschichtsunterrichts. Im Auftrag des Rats der Stadt gründeten sie eine Schule für „junge Bürger beyder Confessionen“3. Hinter dieser Schulgründung stand das manifeste Interesse der Stadtregierung, im Bildungswesen – und damit auch in der Gesellschaft – die spalterischen Effekte der innerevangelischen Konfessionen der Lutheraner und der Reformierten zu beseitigen.4 Deren Differenzen wirkten sich in mannigfacher Hinsicht in der Öffentlichkeit aus und störten den Stadtfrieden. Es war vor allem der theologisch versierte Gymnasialprofessor Johann Smidt (1773-1857), der als junger Ratsherr (und späterer Bürgermeister) eine Union der evangelischen Konfessionen anstrebte (die allerdings nie erreicht wurde). Die Initiativen der Pastoren Häfeli und Ewald verdienen das Prädikat „reformorientiert“, weil mit der Neuorientierung des Religionsunterrichts an der Privatschule sowohl in schulpädagogischer als auch in religionspädagogischer Hinsicht Neuland betreten wurde. Johann Ludwig Ewald, der vor seiner Berufung als Pastor nach Bremen im Fürstentum Detmold-Lippe kirchenleitend tätig war, brachte ein Konzept der „Bibelgeschichte“ mit, das er nun praktisch umsetzen konnte. Sein Kollege Johann Caspar Häfeli, gebürtiger Schweizer, unterstützte die Schulgründung und brachte zusammen mit Ewald pädagogisches Gedankengut von Pestalozzi ein.5 Das religionspädagogische Konzept gründete im Vorrang der (erzählten) Bibelgeschichte für den Unterricht und zielte auf einen Ausschluss der traditionellen Inhalte wie Katechismus und anderer dogmatischer Texte. Die Unzufriedenheit mit der bisherigen Religionsvermittlung muss sehr groß gewesen sein; Ewald geißelt in seinen Schriften das ausgedehnte Memorieren von Gebeten, Versen und Katechismusinhalten als ein „Einpfropfen unverstandener Inhalte“6. Seine Intentionen waren nicht primär von liberalaufklärerischen Gedanken beeinflusst, sondern stärker vom Erziehungs2
Bernd Schröder, Religionspädagogik, Tübingen 2012, 86. Johann Ludwig Ewald und Johann Caspar Häfeli, Vorstellung an Bremens patriotische und edelgesinnte Bürger die Errichtung einer Bürgerschule betreffend, Bremen 1798, 5. 4 Die Anzahl der Katholiken im damaligen Bremen war so gering, dass sie schulmäßig nicht ins Gewicht fiel. 5 Die Tatsache, dass es seit dem 19. Jahrhundert in etlichen Schweizer Kantonen das staatlich verantwortete Schulfach „Biblische Geschichte“ gab – teilweise bis in unsere Gegenwart gibt –, ist überraschenderweise noch nicht bildungshistorisch gewürdigt worden. Die Verbindungen der Bremer Nestoren Ewald und Häfeli in die Schweiz dürften maßgeblich zu dieser vergleichbaren Entwicklung des Faches beigetragen haben! 6 Über Ewalds Biografie und sein theologisch-pädagogisches Wirken informiert ausführlich: Hans-Martin Kirn, Deutsche Spätaufklärung und Pietismus. Ihr Verhältnis im Rahmen kirchlich-bürgerlicher Reform bei Johann Ludwig Ewald (17481822), Göttingen 1998, 120. Ich verdanke meinem Bremer Kollegen Tilmann Hannemann eine instruktive Aufklärung über diesen Teil Bremischer Kirchengeschichte. 3
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ideal des Pietismus, welches der biblischen Erzählung zutraute, den Weg zum Herzen der Kinder zu finden, um dann sittlich positiv zu wirken. Die religionspädagogische Neuorientierung wurde allmählich auch auf die übrigen kirchlichen und städtischen Schulen übertragen. Wesentlich war dies dem Einwirken des langjährigen Bürgermeisters Smidt zu verdanken. Inwieweit die lutherischen Kirchengemeinden – allen voran die Domgemeinde – die Eliminierung des Katechismuslernens aus der Schule duldeten, ist nicht bekannt.7 Ähnlich dem von Ewald und Häfeli geförderten Konzept der „Bibelgeschichte“ entstanden (auch anderenorts in Deutschland) im 19. Jahrhundert Erzählbücher zur biblischen Geschichte, die sowohl im Unterricht als auch in der häuslichen Erziehung Verwendung fanden. Bekannt wurden auch über Bremen hinaus die 1879 von Bremer Autoren herausgegebenen „Erzählungen aus der biblischen Geschichte“8. Mit der Herausgabe dieses biblischen Erzählwerks stellte man Lehrkräften vorbereitetes Erzählgut zur Verfügung. Die schulische Arbeit mit der Vollbibel wurde damals aus Kostengründen nicht in Betracht gezogen, darüber hinaus wollte man den Schulkindern die in der Bibel nicht selten vorkommenden sexuellen und erotischen Stellen ‚ersparen’.9 Einige Jahrzehnte später reichte das ‚Müller-Reddersen’ genannte Erzählwerk den kirchlichen und städtischen Bildungsschichten nicht mehr aus. Eine breit besetzte Fachkommission – der neben Theologen und Philologen auch zwei Augenärzte zur Beratung in Schriftfragen angehörten – erarbeitete eine „Bremer Schulbibel“, die – schulisch angepasste – Bibeltexte enthielt, zudem mit Sachtexten und Kartenmaterial ausgestattet war.10 Diese Bremer Schulbibel fand in ganz Deutschland Verbreitung und wurde lange für den Religionsunterricht genutzt.11 7
Die evangelische Kirche in Bremen war nie (bis auf eine kurze Ausnahme in den vierziger Jahren) episkopal organisiert. Auch heute noch sind die einzelnen Gemeinden in Fragen der Lehre und des Glaubens weitgehend autonom. 8 Verfasst von Conrad Müller und Heinrich Otto Reddersen. – Die Initiative zur Gestaltung dieses Unterrichtswerks ging wohl hauptsächlich von August Lüben aus, der seit 1858 Direktor des neu gegründeten Lehrerseminars in Bremen war. Lüben pflegte u.a. gute Kontakte zu dem Pädagogen Adolph Diesterweg, der einen Allgemeinen Religionsunterricht für die Schule empfahl. 9 Christine Reents spricht von einer „Desexualisierung der Bibel“; Christine Reents und Christoph Melchior, Die Geschichte der Kinder- und Schulbibel. Evangelisch – katholisch – jüdisch (Arbeiten zur Religionspädagogik 48), Göttingen 2011, 250. 10 Schulbibel. Die Bibel im Auszug für die Jugend in Schule und Haus bearbeitet im Auftrage der Bremischen Bibelgesellschaft, Bremen 1894. – Auf die religionsdidaktischen Mängel der Erzählbücher hat wenig später auch Richard Kabisch aufmerksam gemacht. Er präferiert die neueren Schulbibeln, oft auch „Biblisches Lesebuch“ genannt. In Bezug auf die Thematisierung von Sexualität teilt Kabisch ausdrücklich die Ablehnung der Vollbibel im Schulunterricht. – Richard Kabisch, Wie lehren wir Religion? Versuch einer Methodik des evangelischen Religionsunterrichts für alle Schulen auf psychologischer Grundlage, Göttingen (1910) 51920, 198f. 11 Im 19. Jh. war „Biblische Geschichte“ der didaktische Leitfaden des Bremer Religionsunterrichts, als Fachname wurde der Begriff erst seit dem Lehrplan von 1916
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1.2 „Religionsunterricht gehört abgeschafft“: Der Bremer Schulstreit von 1905 In der bremischen Bildungsgeschichte ist der Schulstreit des Jahres 1905 um den Religionsunterricht eine bedeutende Zäsur. Die Lehrerschaft war seit Ende des 19. Jahrhunderts stärker emanzipiert und hatte sich vielfach sozial-liberalen Anschauungen zugewandt. Mehrmals hatten Lehrkräfte bei der staatlichen Unterrichtskommission Verbesserungen im Bereich des Religionsunterrichts angemahnt. Offenkundig war dieser Unterricht in traditionellen Inhalten und Methoden festgefahren, an denen letztlich auch die mehr als fünfzehn Auflagen der Bremer Schulbibel nichts zu ändern vermochten.12 Reformvorschläge gab es bereits 1894 vom damaligen Bremer Lehrerverein, man forderte eine deutliche Erweiterung des inhaltlichen Spektrums durch Lebensbilder sowie historische und kulturelle Aspekte. Insbesondere legte man Wert auf eine Verstärkung der ethisch-moralischen Erziehung im Fach Religion. Diese Veränderungsvorschläge wurden behördlich über lange Zeit konsequent ignoriert. Der Ärger zahlreicher Lehrkräfte, deren reformpädagogische Ideen nicht zum Zuge kommen konnten, suchte sich schließlich jenseits von Reformvorschlägen ein anderes Ventil. Sie veröffentlichten eine Denkschrift mit dem Titel „Religionsunterricht oder nicht?“ und überreichten diese auch der Schulbehörde mit dem konkreten Antrag: „Hohe Behörde möge verfügen, daß der Religionsunterricht abgeschafft werde.“ In dieser Schrift wurden starke Angriffe auf den Religionsunterricht vorgebracht: Religion sei Privatsache und habe in der Schule nicht zu suchen, das Christentum passe nicht in die wissenschaftlich geprägte Welt und die Bibel habe keine pädagogische Relevanz. Hauptsächlich griff man die Kirche an, welche die Lehrer der staatlichen Schule immer noch als ihre „Diener“ ansehe.13 Weil bekannte Bremer Pädagogen wie Fritz Gansberg und Heinrich bzw. Wilhelm Scharrelmann die Denkschrift maßgeblich geprägt hatten, wurde diese Schrift europaweit bekannt und erhielt viel Zustimmung. In Bremen ging dieser ‚Schuss’ jedoch nach hinten los: Die aufwieglerischen Lehrer erhielten für ihre unbotmäßige Aktion ein Disziplinarverfahren. Etliche wurden strafversetzt. An den schulischen Bedingungen des Religionsunterrichts wurde nichts geändert. Die alten Lehrpläne von 1898 blieben weiterhin in Kraft und wurden auch 1911 und 1916 nur unwesentlich fortgeschrieben. Der Bremer Schulstreit jener Jahre belegt, dass auch in der Freien Hansestadt Bremen die Allianz von Thron und Altar noch gefestigt war, welche jedoch auch eine brisante Mischung an Zündstoff für gesellschaftliche Auseinandersetzungen enthielt. gebräuchlich. 12 Im Lehrplan von 1898 war festgelegt: „Der Unterricht beginnt mit Gesang und Gebet“. 13 Ausführlich dazu: Peter C. Bloth, Die Bremer Reformpädagogik im Streit um den Religionsunterricht, Dortmund 1961.
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1.3 Biblische Geschichte auf „allgemein christlicher Grundlage“ – der Kompromiss in der Landesverfassung von 1947 Die Landesverfassung Bremens legt in Artikel 32 fest: „Die allgemein bildenden öffentlichen Schulen sind Gemeinschaftsschulen mit bekenntnismäßig nicht gebundenem Unterricht in Biblischer Geschichte auf allgemein christlicher Grundlage. Unterricht in Biblischer Geschichte wird nur von Lehrern erteilt, die sich dazu bereit erklärt haben. Über die Teilnahme der Kinder an diesem Unterricht entscheiden die Erziehungsberechtigten.“
Die Entstehungsgeschichte dieses Artikels ist geprägt von überaus turbulenten Interessenskonflikten, die damals in breiter Öffentlichkeit ausgetragen wurden. In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg wurde auch in Bremen um eine neue Landesverfassung gerungen. Erstmals sollte in der neuen Verfassung auch der Religionsunterricht abgesichert werden.14 Über die künftige Gestalt der religiösen Unterweisung in Bremens Schulen gerieten sich Politiker und Kirchenleute lange Zeit heftig in die Haare. Starke Kräfte der CDU und aus den Kirchen forderten die Einführung eines Religionsunterrichts in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften, also die Mitwirkung der Kirchen in der Schule. Die meisten anderen Bundesländer planten ähnliche Regelungen. Dagegen opponierte die SPD, die sich eher für bekenntnisfreien Unterricht einsetzte. Der gesellschaftliche Streit war so heftig, dass die Bremische Evangelische Kirche sogar eine Ablehnung der Landesverfassung für den Fall anstrebte, dass kein Bekenntnisbezug in die Verfassung aufgenommen wurde. Es gelang dem altgedienten, liberalen Politiker Theodor Spitta, Senator und Bürgermeister, die streitenden Parteien zur Einigung auf eine Kompromissformel zu bringen. Diese Kompromissformel für Artikel 32 enthielt einerseits die alte Fachbezeichnung „Biblische Geschichte“ mit dem Zusatz „bekenntnismäßig nicht gebunden“, andererseits eine besondere Kennzeichnung „auf allgemein christlicher Grundlage“. Der Verweis auf die fehlende bekenntnismäßige Bindung sollte vor allem die Sozialdemokraten zur Zustimmung bewegen, denn diese wollten keine kirchliche Mitwirkung in den 14 Die Bremer Landesverfassung von 1920 enthielt überhaupt keine Hinweise auf das Schulwesen, also auch nicht auf den Religionsunterricht. Anders jedoch die Weimarer Reichsverfassung (WRV; 1919), welche den RU „in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der betreffenden Religionsgesellschaft“ (Art. 149) vorsah. Rückblickend stellt sich die Frage, ob dann nicht in jener Zeit auch für Bremen diese Reichsverfassung bezüglich des Religionsunterrichts galt. Das Berliner Reichsgericht stellte 1920 eine Anfrage an den Bremer Senat, ob es in Bremen auch Religionsunterricht im Sinne der WRV gäbe. Die Bremer Antwort war knapp und gipfelte in dem vieldeutigen Satz: „Durch Bremens Schulen weht ein protestantischer Geist!“ Mit dieser Antwort gab sich Berlin zufrieden.
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Schulen Bremens.15 Die Betonung der allgemein christlichen Grundlage sollte die Christdemokraten und die Kirchen zur Zustimmung bewegen, die eine fehlende Grundorientierung des Faches beklagt hatten. Mit diesen Bemühungen erreichte Theodor Spitta eine breite Zustimmung der Parteien für die Landesverfassung. 1.4 Die „Bremer Klausel“ im Grundgesetz von 1949 – ein ‚föderaler Rettungsanker’ für Bremens Religionsunterricht Wenngleich der Kompromiss die Wogen in Bremen geglättet hatte, so drohte jedoch von anderer Seite neues Ungemach. In Bonn arbeiteten die Vertreter des Parlamentarischen Rates am neuen Grundgesetz. Bezüglich der Schul- und Religionsunterrichtsregelungen schloss man sich eng an die alten Vorgaben der Weimarer Reichsverfassung an und plante einen Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften. Eine solche Regelung hatte man jedoch in Bremen gerade mit viel Vehemenz verhindert! Im Jahre 1948 wurde eine – hochkarätig mit Senatoren besetzte – Bremer Delegation nach Bonn geschickt. In Gesprächen mit den Parlamentariern bemühten sie sich, die geplante Religionsunterrichtsregelung für Bremen auszuschließen. Positives Gehör fanden sie bei Theodor Heuss, dem späteren Bundespräsidenten. Heuss zeigte sich von den Bremer Argumenten beeindruckt; die Abgesandten hatten den Parlamentariern von einer alt-ehrwürdigen, hanseatischen Tradition, die es zu bewahren gelte, vorgeschwärmt.16 Gemeint war der Unterricht in Biblischer Geschichte. Theodor Heuss unterstützte das Bremer Anliegen unter dem Gesichtspunkt der föderalen Vielfalt in der entstehenden Bundesrepublik und setzte sich für eine Ausnahmeregelung im Grundgesetz ein. Diese fand dann in Artikel 141 des Grundgesetzes Gestalt: „Artikel 7 Absatz 3 Satz 1 findet keine Anwendung in einem Lande, in dem am 1. Januar 1949 eine andere landesrechtliche Regelung bestand“. Bremen war zwar nicht direkt genannt, jedoch konkret gemeint, und konnte so seine andere Landesregelung behalten. – Die Bremer Delegation ist zufrieden nach Hause gefahren, denn sie hatte durch die „Bremer Klausel“ die drohende Mitwirkung der Kirchen beim schulischen Religionsunterricht im Lande abgewendet.
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Eine derartige Mitwirkung, wie sie von der CDU gefordert wurde, hätte Folgendes umfasst: Mitgestaltung der Lehrpläne, kirchliche Beauftragung der Lehrkräfte, Lehrbuchauswahl, Unterrichtsvisitationen. 16 Man sparte nicht mit überaus kräftigen Argumenten, wie folgendes Zitat von Senator Ehlers belegt: „Das ist die Facon, nach der unsere Urgroßväter selig geworden sind und nach der auch wir selig werden wollen“ (Vgl. Theodor Spitta, Kommentar zur bremischen Verfassung von 1947, Bremen 1960, 85).
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2. Religionsunterricht oder nicht? Die ungelöste Identitätsfrage Die Frage nach dem Charakter des Bremer Unterrichts ist schon seit Ende des 19. Jahrhunderts virulent. Allerdings wurde sie nie klar und grundsätzlich beantwortet. Die ungelösten Probleme kamen immer wieder zum Vorschein und wurden sogar Gegenstand höchstrichterlicher Entscheidungen. 2.1 Kirchliche Begehrlichkeiten und richterliche Klarstellungen Ein weiteres Mal machte der Religionsunterricht in Bremen in Jahren 1963 bis 1965 Schlagzeilen, als die Bremische Evangelische Kirche öffentlich einforderte, der Unterricht in Biblischer Geschichte müsse als ‚protestantischer Gesinnungsunterricht’ verstanden und praktiziert werden. Die Kirche sah sich gestützt durch eine neue Verfassungsinterpretation, die der Alt-Bürgermeister Theodor Spitta vorgelegt hatte. Mit Nachdruck wurden Ansprüche auf eine Beteiligung an der Planung des Unterrichts gestellt, selbst die „Trias“ wurde postuliert: Für evangelische Kinder sollte evangelischer Unterricht von evangelischen Lehrern erteilt werden. Auch die Katholische Kirche setzte sich für diese Interpretation ein.17 Gemeinsam traten sie vor den Staatsgerichtshof und klagten das ‚protestantische’ Verständnis des Biblischen Geschichtsunterrichts ein. Die Verfassungsrichter wiesen diese Auffassung zurück und legten in einer „authentischen Interpretation“18 ihre Gründe dar. Der Wortlaut der Landesverfassung sei eindeutig, dort sei nicht von evangelischem Unterricht die Rede; im Jahre 1947 habe man auch die katholischen Schüler im Auge gehabt und die bekenntnismäßige Offenheit des Faches auch auf diese ausgeweitet. Die allgemein christliche Grundlage sei nicht einengend zu verstehen, sondern verweise auf das, „was aller christlichen Welt gemeinsam ist“19. Der Unterricht bezwecke keine religiöse oder weltanschauliche Unterweisung der Kinder – mit diesen Formulierungen bestätigen die Richter den undogmatischen Charakter des Faches. Ausdrücklich wird auch darauf verwiesen, dass in diesem Fach keine „antireligiöse Unterweisung“ betrieben werden dürfe. Rückblickend betrachtet zeigen diese Streitigkeiten der sechziger Jahre, dass es in Bremen nie wirklich Einigkeit bei der Konzipierung und Durchführung dieses Unterrichts gab. Dass die bremische Politik seit 1949 durch massive Intervention in Bonn die Mitwirkung der Religionsgemeinschaften in der Schule ausgeschlossen hat, war ein bildungspoliti17
Zu jener Zeit besuchten die meisten katholischen Kinder den Unterricht in den katholischen Bekenntnisschulen. Die katholische Kirche forderte im gleichen Zusammenhang eine bessere Finanzierung ihrer Schulen. Ein eigener katholischer Religionsunterricht an den staatlichen Schulen wurde nicht angestrebt. 18 Entscheidung des Staatsgerichtshofs der Freien Hansestadt Bremen vom 23. Oktober 1965. 19 Entscheidung (s.o. Anm. 18), 17. Damit schlossen sich die Richter den Formulierungen des Bremer Pädagogen Hinrich Wulff an.
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scher Alleingang in Deutschland. Allerdings hat sich die Politik in Bremen in den fünfziger und sechziger Jahren so gut wie gar nicht konstruktiv und konzeptionell dieser übernommenen Aufgabe gestellt. Es wurde keine Didaktik des Faches erarbeitet, auch wurde nie ein eigenes Schulbuch entwickelt. Die Lehrkräfte, die an Bremens Hochschule ausgebildet waren, arbeiteten mit den Materialien, die auch in der evangelischen Lehre anderer Bundesländer benutzt wurden. Die Stoffpläne lehnten sich an vergleichbare Pläne des konfessionellen RU an, jedoch fehlten konfessionsspezifische und katechetische Inhalte. Der Unterschied zu den anderen Bundesländern markierte sich besonders durch die fehlende kirchliche Mitwirkung. So verwundert es nicht, dass es angesichts dieser Konzeptionslosigkeit schließlich zu Eruptionen kam, die den Stadtfrieden längere Zeit (mal wieder) störten. 2.2 Der Weg zu einem modernen Religionsunterricht In den ersten Jahren nach dem Urteil des Staatsgerichtshofes (1965) trat eine längere Pause ein, was die Fortentwicklung des Faches betrifft. Im Zuge der allgemeinen Revision der Lehrpläne in Deutschland seit den siebziger Jahren wurden auch in Bremen staatlicherseits Arbeitsgruppen gebildet, die neue Curricula erarbeiteten. In religionspädagogischer Hinsicht lehnte man sich an die Konzeption des lernzielorientierten Unterrichts an, wie sie von Siegfried Vierzig und Horst Heinemann entwickelt wurde. Die inzwischen von der Bremischen Evangelischen Kirche neu eingerichtete Religionspädagogische Arbeitsstelle (RPA) wurde in dieser Hinsicht stark unterstützend tätig.20 Man vereinbarte mit dem Kasseler Institut, das von Siegfried Vierzig geleitet wurde, die gemeinsame Herausgabe der religionspädagogischen Zeitschrift „informationen zum religionsunterricht“, gekoppelt mit einer spezifischen bremischen Beilage.21 Mit erheblichem Einsatz an personellen und finanziellen Ressourcen, ergänzt durch Lehrerfortbildungskurse, leistete die Bremische Evangelische Kirche eine fachliche Unterstützung für die Lehrkräfte an Bremens Schulen. Das inhaltliche Profil des Unterrichts in Biblischer Geschichte wurde der zeitgemäßen religionspädagogischen Entwicklung angepasst. Die Themen waren sowohl problemorientiert als auch bibel- und religionsbezogen. Nach wie vor gab es kein eigenes Bremer Lehrbuch für das Fach. Die Lehrkräfte nutzen evangelische oder katholische Religionsbücher, die von der staatlichen Lehrbuchkommission zugelassen waren.22 20 Die Einrichtung dieser Arbeitsstelle geschah 1970 auf Drängen von Lehrkräften, die sich Hilfe suchend an die Kirche gewandt hatten. 21 Diese Fachzeitschrift war deutschlandweit verbreitet und erschien bis 1978. 22 So war lange Zeit z.B. das „Kursbuch Religion“ (Sekundarstufe I) in all seinen Auflagen ein weit verbreitetes Buch; in der Grundschule waren teilweise auch die Religionsbücher von Hubertus Halbfas in Gebrauch. Die Schulbuchliste ermöglichte durch ein breites Angebot den Einsatz von Büchern in ökumenischer Ausgewogenheit.
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In der Gymnasialen Oberstufe wurde das Fach „Religionskunde“ genannt und mit Plänen für Grund- und Leistungskurse ausgestattet. In mancher Hinsicht kann man die siebziger Jahre als eine positive Entwicklungsdekade für den Bremer Religionsunterricht sehen. Einen wesentlichen Anteil daran haben die Lehrkräfte, die sich in hohem Maß für Weiterentwicklungen einsetzten und in den Schulen unterstützend tätig waren. Dieser Entwicklung wurde jedoch im Jahre 1975 durch eine schulbehördliche Maßnahme großer Schaden zugefügt: Man reduzierte den bis dahin zweistündig zu erteilenden Unterricht um die Hälfte! Durch Veränderungen in der Fächertafel wurden die weggenommenen Stunden u.a. den Naturwissenschaften zugeschlagen. Diese Maßnahme trug entscheidend zur Abwertung des Faches in Bremens Bildungslandschaft bei. Hinzu kam die Sondersituation, was die Leistungsbeurteilung beim Fach Biblische Geschichte betraf; das Fach wurde in der Grundschule und in der Sekundarstufe I nicht benotet. In den Zeugnissen wurde lediglich vermerkt: teilgenommen bzw. nicht teilgenommen.23 Diese Situation stieß bei Schülern wie auch bei Lehrkräften zunehmend auf Unverständnis. Es sollte jedoch noch Jahrzehnte dauern, bis für alle Schuljahre die Benotung dieses Faches eingeführt wurde. Im Jahre 1977 begann an der Universität Bremen die Ausbildung von Religionslehrkräften für das Schulfach in Bremen. Dieser Ausbildungsgang war nicht auf eine christliche Konfession bezogen, sondern stellte die Religionswissenschaft und die Erziehungswissenschaft in den Vordergrund. Inhalte der christlichen Theologie waren stark vertreten; so entsprach man der allgemein christlichen Grundlage des Artikels 32 der Landesverfassung.24 3. Ein ungeliebtes Kind Die beiden folgenden Jahrzehnte, die 80er und 90er Jahre, waren gekennzeichnet von unterschiedlichen Entwicklungen. Dabei spielten auch die administrativen Veränderungen im Schulwesen, die in immer rascherem Wechsel erfolgten, eine bedeutende Rolle. Die Erarbeitung von Lehrplänen wurde fortgesetzt und die Lehrerfortbildung im Fach Biblische Geschichte wurde eine Zeit lang sogar durch jährliche Fachtage im 23
Dieses Schicksal teilte der Biblische Geschichtsunterricht zeitweise mit dem Fach Gemeinschaftskunde (Politische Bildung). Beide Fächer wurden früher – ob zu Recht oder Unrecht, sei hier dahingestellt – als „Gesinnungsfächer“ angesehen. Bei der Gemeinschaftskunde führte die Bildungsbehörde 1974 die Benotung ein, bei Biblischer Geschichte – auf Drängen der Lehrerschaft – erst ab 2003! 24 Dazu mehr bei Jürgen Lott und Anita Schröder-Klein, Religion unterrichten in Bremen, in: Martin Rothgangel und Bernd Schröder (Hg.), Evangelischer Religionsunterricht in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland. Empirische Daten – Kontexte – Entwicklungen, Leipzig 2009, 111-127.
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Landesinstitut für Schule gestützt. Auf der anderen Seite wurden jedoch immer größere Mängel und Unzulänglichkeiten offenbar, die ihre Gründe auch im defizitären System des Bremer Religionsunterrichts haben. Immer mehr Schulen grenzten das Fach Biblische Geschichte aus, indem sie es jahrgangsweise oder gar völlig beseitigten. Auf Nachfragen erklärten die Schulleitungen dies oft mit dem Argument der fehlenden Fachlehrkräfte. Andererseits konnte man keine Bemühungen der Schulen erkennen, die auf dem ‚Markt’ vorhandenen Fachlehrkräfte einzustellen. Die Schulbehörde Bremens überließ das Fach größtenteils dem ‚freien Spiel der Kräfte’. In der Folge wuchs der Unterrichtsausfall enorm an und wurde vielfach zum Regelfall. Nicht selten führte eine antikirchliche Haltung von Schulleitungen zu einer Ablehnung des Faches und damit zum Wegfall in der Schule. Die Schulbehörde erfragte mehrfach auf Druck der Bürgerschaft die Unterrichtserteilung und musste immer wieder erschütternde Ergebnisse vorlegen: Der Unterrichtsausfall belief sich in der Sekundarstufe I teilweise auf bis zu 80 Prozent!25 Hier zeigt sich deutlich das administrative Dilemma des Bremer Unterrichts in Biblischer Geschichte: Einerseits muss der Staat irgendwie den Auftrag der Landesverfassung erfüllen, andererseits wird er dieser Aufgabe nicht wirklich gerecht. Als grundsätzlicher Mangel ist zu beklagen, dass der bremische Staat sich – abgesehen von der Lehrerausbildung – kein wirksames Instrument der Planung und Kontrolle zugelegt hat, etwa in Form einer Fachabteilung in der Schulbehörde. Aus der Fachlehrerschaft und von den Kirchen wurde immer häufiger öffentlich scharfe Kritik an diesen Missständen laut. Im Jahre 1992 wurde durch den damaligen Bürgermeister Wedemeier ein Arbeitskreis berufen, in dem die Bildungsbehörde, die christlichen Kirchen, die Ausbildungsinstitutionen Universität und Landesinstitut sowie Vertreter der Fachlehrerschaft Mitglied waren.26 Mehrmals im Jahr trat dieser Arbeitskreis zusammen und beriet aktuelle sowie grundsätzliche Themen um den Fachunterricht. Zwar gelang es den Beratenden nicht, die grundlegende Misere des Faches in der Schule zu ändern, jedoch konnten nach 18-jähriger Tätigkeit einige Arbeitsergebnisse vorgezeigt werden.27
25
Häufig wurden (und werden!) die nicht erteilten Religionsstunden anderen Fächern oder Klassenlehrerstunden zugeteilt. Auch das ergaben behördliche Umfragen. 26 Dass der Bürgermeister die Federführung in diesem Arbeitskreis hatte, ist einer besonderen Konstellation in Bremen zu verdanken: Der Bürgermeister ist qua Amt gleichzeitig „Senator für kirchliche Angelegenheiten“. 27 Nach mehreren Wechseln in der Administration endete der Arbeitskreis im Jahre 2010. Es wurde kein Abschlussbericht verabschiedet. Jedoch hat die Fachlehrergemeinschaft eine eigene Bilanz dieser Tätigkeit vorgelegt: http://reli-bremen.de/pdfdateien-reli/Bilanz-BGU-Arbeitskreis-Bremen-Web.pdf (Zugriff am 20.9.2013).
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4. Alternativen gesucht – Philosophie und Islamkunde Dass es in Deutschland inzwischen Alternativ- bzw. Ersatzfächer für den konfessionellen Religionsunterricht gab, regte auch in Bremen entsprechende Überlegungen an. Denn die Abmeldemöglichkeit für das Fach Biblische Geschichte (BGU) war nur unzureichend geregelt. Daraus ergab sich oft eine nicht zufrieden stellende Randstundensituation für das Fach. Um den vom BGU abgemeldeten Schülerinnen und Schülern eine Unterrichtsalternative anzubieten, wurde ab 1995 Philosophie als Schulfach eingeführt. Nur an wenigen Schulen der Sekundarstufe gelang ein harmonisches Miteinander der Fächer, wenn beiderseits Fachlehrkräfte da waren, die auch kooperierten. Vielfach entwickelte sich jedoch ein Alleingang: Mehr und mehr Schulen unterrichteten ausschließlich Philosophie. Schon zu Beginn der Planungen für ein Alternativfach (seit 1989) – anfangs war die Bezeichnung „Ethik“ im Gespräch – gab es auch von mehreren Seiten deutliche Kritik. Der Religionspädagoge Gert Otto bezweifelte die Sinnhaftigkeit dieses Unternehmens: „Für ganz abwegig halten wir Überlegungen, in Bremen analog zu anderen Bundesländern „Ethik“-Unterricht als Alternative einzuführen“. Bremen sei ja selbst eine Alternative zum konfessionellen Religionsunterricht. Der Professor aus Mainz plädierte für Weiterentwicklungen: „Insofern steht der Typus des Bremer Religionsunterrichts näher bei einem „Ethik“Unterricht, näher bei einem Allgemeinen Religionsunterricht als jede andere existierende Lösung [...]. Diesen Schritt sollte man gehen. In Bremen wäre die Wendung zum „Ethik“-Unterricht nichts anderes als ein Rückschritt“.28 Auch aus Kreisen der Fachlehrerschaft regte sich Widerstand. Die Lehrkräfte waren es von je her gewohnt, im Fach Biblische Geschichte alle Schülerinnen und Schüler einer Klasse gemeinsam zu unterrichten. Die Einführung eines Alternativfaches stellte diesen gemeinsamen Unterricht in Frage und verursachte schulorganisatorisch neue, bisher nicht bekannte Planungszwänge. Lehrplanmäßig orientierte sich das Fach zunächst an den Plänen von Schleswig-Holstein und an der Praktischen Philosophie in Nordrhein-Westfalen. Inzwischen liegen – wie auch bei Biblischer Geschichte – neuere, kompetenzorientierte Bildungspläne vor.29 28
Gert Otto, Religionspädagogische Zukunftsperspektiven: Religion oder Ethik? in: Hans-Heinrich Rogge (Hg.), Fachtag Religion – Ethik. Fachtag am Wissenschaftlichen Institut für Schulpraxis am 27. Februar 1991, Bremen 1991, 17-42, hier 39. Gert Otto war mit der Bremer Situation sehr vertraut. Seit Ende der Sechziger Jahre hat er mehrfach zur Fragen der Bremer Konzeption Stellung bezogen. Sein Schüler Jürgen Lott war von 1977-2011 Professor für Religionspädagogik an der Universität Bremen. 29 Philosophie. Bildungsplan für das Gymnasium, Jahrgangsstufe 5-7, hg. vom Senator für Bildung und Wissenschaft der Freien Hansestadt Bremen, Bremen 2007; http://www.lis.bremen.de/sixcms/media.php/13/07-08-23_phil_gy.pdf (Zugriff am 21.9.2013).
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Um den Wünschen der islamischen Gemeinschaften im Land Bremen entgegenzukommen, wurde im Jahre 2003 ein Schulversuch mit der Bezeichnung „Islamkunde“ eingeführt.30 Die besondere Situation Bremens lässt an den staatlichen Schulen keinen bekenntnisgebundenen Unterricht zu, daher wurde das Fach nicht ‚Islamunterricht’ genannt. Vorausgegangen waren längere Beratungen eines Runden Tisches, an dem, neben vierzehn muslimischen Gemeinden, Bürgermeister Henning Scherf und die Schulbehörde beteiligt waren. Auch die christlichen Kirchen wurden hinzugezogen, weil Islamkunde in gewisser Weise im Fächerverbund mit Biblischer Geschichte und Philosophie koordiniert war. Die Einführung dieses Schulversuchs an einer Schule geschah unter großem Medieninteresse.31 An einem Schulzentrum der Sekundarstufe I wurden die drei Fächer schrittweise ausgebaut. Sowohl die Schule als auch die Schulbehörde sprachen von einem ‚Erfolgsmodell’ und strebten eine Ausweitung auf andere Stadtteile an. Diese Absichten wurden jedoch nach einigen Jahren nicht mehr umgesetzt, weil seitens anderer (bildungs-)politischer Entscheidungsträger die separate Islamkunde nicht mehr erwünscht war. Vertreter der Sozialdemokraten waren der Auffassung, dass ein gemeinsamer Religionsunterricht eher der Integration der Muslime diene. So verschwand der viel gelobte Schulversuch. In der Folgezeit äußerten jedoch muslimische Gemeinschaften in Bremen – wie z.B. die Schura32 – verschiedentlich Interesse an islamischem Unterricht in der Schule. Die starken bundesweiten Aktivitäten in dieser Hinsicht erregten Aufmerksamkeit, vor allem auch die staatsvertraglichen Regelungen, die für Hamburg besondere Möglichkeiten der islamischen Mitwirkung im Religionsunterricht für alle vorsahen. Unterstützung fanden die Muslime für ihren Wunsch nur bei der CDU. Diese plädierte in der Bürgerschaft für die künftige Einführung konfessionell getrennten Religionsunterrichts, wie es auch in vielen anderen Bundesländern üblich ist. Eine politische Mehrheit für diese Intentionen war und ist jedoch nicht in Sicht. Im Aufstieg und im raschen Fall des Schulversuchs ‚Islamkunde’ in Bremen zeigen sich symptomatisch die strukturellen Mängel, durch die Bremens Umgang mit diesen Fächern behaftet ist. Die bildungspolitische Konzeptionslosigkeit in diesem Bereich ist beängstigend groß. Unverständlich bleibt auch die Tatsache, dass das Land weder die Fachleute der eigenen Universität noch Kapazitäten von außerhalb zur Beratung hinzu gezogen hat. Es ist ferner verwunderlich, dass seitens der Kirchen 30
Manfred Spieß, Islamkunde an Bremens Schulen. Modellprojekt vor dem Anfang, in: Die Brücke, H. 2, 2001; www.die-bruecke.uni-bremen.de (Zugriff am 21.9.2013). 31 Dabei wurde von den Medien besonders hervorgehoben, dass die Fachlehrerin für Islamkunde kein Kopftuch trug! 32 Die Schura Bremen ist ein Dachverband islamischer Gemeinschaften im Lande Bremen. Der Verband wurde 2006 gegründet und ist ins Vereinsregister eingetragen als „Schura Islamische Religionsgemeinschaft Bremen e.V.“.
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und der anderen Religionsgemeinschaften seit einigen Jahren keine öffentliche Kritik an diesen Zuständen mehr wahrnehmbar ist. So lautet die deprimierende Einschätzung, die sich aus den jahrzehntelangen Erfahrungen des Autors ergibt: Im ‚freien Spiel der Kräfte’ besitzt die religiöse Bildung in der Schule Bremens offensichtlich keine wirksame Lobby. 5. Gegenwartsprobleme und Zukunftsfragen Zu den stärker diskutierten Themen um den Bremer Religionsunterricht gehört auch die Frage nach der Qualifikation und Position der Lehrkräfte für diesen Unterricht. Im Kontext eines gerichtlich bedeutsamen Falles zeigen sich unterschiedliche Auffassungen. Seit 2008 werden in Bremen von Seiten der Grünen neue Überlegungen zur Umgestaltung des Biblischen Geschichtsunterrichts laut, die auch Spuren im Koalitionsvertrag hinterlassen haben. 5.1 Rolle und Selbstverständnis der Lehrkräfte Eine Zugehörigkeit zu einer christlichen Kirche ist keine Voraussetzung für die Erteilung des Unterrichts in Biblischer Geschichte/Religionskunde in Bremen. Eine neue Situation trat jedoch im Jahre 2004 ein: Am Fall einer Lehramtsanwärterin, die an der Universität Bremen ihren Abschluss im Fach Religionskunde erworben hatte, entzündete sich eine intensive Debatte. Die Bewerberin war Muslima und trug Kopftuch. Im Streit um die Kopftuchfrage spielte auch die Aufgabe als Fachlehrkraft für Religionskunde eine gewisse Rolle, das war allerdings nicht Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens. Jedoch erörterten die Richter diese Fragen und ließen erkennen, dass sie einer bekenntnisneutralen, religionskundlichen Auslegung den Vorzug gaben.33 Die Frage der Anstellung im Referendariat wurde schließlich durch das Bundesverwaltungsgericht endgültig positiv geklärt. Die christlichen Kirchen in Bremen waren der Auffassung, dass nur Lehrkräfte mit christlichem Hintergrund für die Erteilung dieses Unterrichts geeignet seien. Sie sahen sich gestützt durch ein Gutachten von Prof. Dr. Martin Rothgangel, welches den Bremer Religionsunterricht näher bei einem christlichen Religionsunterricht – ökumenisch orientiert – ansiedelt. Aus diesem Grund plädierte Rothgangel für eine christliche Positionalität der Lehrkräfte, diese sei bei Muslimen in dieser Weise ja nicht gegeben.34
33
VG Bremen vom 19. Mai 2005 – Az: 6 V 760/05. Für eine gründliche Erörterung dieser Frage, die hier nicht vorgenommen werden kann, sei ausdrücklich verwiesen auf: Martin Rothgangel, Religionspädagogisches Gutachten zur Erteilung des „Unterrichts in Biblischer Geschichte auf allgemein christlicher Grundlage“ durch Mitglieder nichtchristlicher Religionsgemeinschaften, in: Theo-Web. Zeitschrift für Religionspädagogik 5 (2006), H.1, 39-64, hier 60. 34
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Eine andere Position wurde seitens der Universität Bremen vertreten. Ein von ihr in Auftrag gegebenes juristisches Gutachten von Prof. Dr. Ralf Poscher votierte deutlich für eine religionskundliche Auffassung des Bremer Unterrichts. Weil Bremens Biblischer Geschichtsunterricht kein Religionsunterricht im Sinne des Grundgesetzes sei, könne die Bekenntnisorientierung der Lehrkraft nicht zum Einstellungskriterium gemacht werden. Im Hinblick auf die Lehrkräfte sei eine konfessionelle Bindung nicht nötig, ausschlaggebend seien die professionelle Ausbildung und die pädagogische Eignung.35 Die staatliche Seite tendierte eher zur offeneren Auslegung, wie sie von der Universität vorgebracht wurde, und sagte zu, dass allein Ausbildung und Eignung als Kriterien herangezogen würden. Nach diesen Grundsätzen wird auch heute verfahren. 5.2 Der Bremer Religionsunterricht vor neuen Herausforderungen Seit dem Jahre 2008 gibt es politische Bestrebungen der Grünen im Land Bremen, die Grundlagen des Religionsunterrichts dahingehend zu verbreitern, dass Kinder aller Glaubensrichtungen und Weltanschauungen in einem Fach gemeinsam lernen. Zu diesem Zweck wurde sogar eine Änderung der Landesverfassung ins Auge gefasst. Entsprechende Beschlüsse lösten Diskussionen in der Öffentlichkeit aus. Befürworter und Gegner tummelten sich im Blätterwald Bremens und tauschten Argumente aus. Dreh- und Angelpunkt blieb schließlich die Frage der Änderung der Landesverfassung. Aus ganz unterschiedlichen Gründen wurde dieses Ansinnen abgelehnt: Die Kirchen wollten die christliche Grundlage des Faches nicht zugunsten einer ‚allgemein religiösen’ Grundlage aufgeben. Die CDU plädierte für eine Verstärkung des christlichen Ansatzes auf dem Boden der Verfassung, neben einem Einsatz für Islamunterricht. Die Sozialdemokraten waren über den bildungspolitischen Alleingang ihres grünen Koalitionspartners nicht erbaut, konnten sich selbst aber nicht auf eine Stellungnahme einigen. Mit dem Umweg über Wahlprogramme wurden schließlich im Jahre 2009 im Koalitionsvertrag von SPD und Grünen folgende Kernpunkte vereinbart: „Alle Schülerinnen und Schüler [sollen] einen Unterricht erhalten, der die Geschichte der Religionen, ihre großen Erzählungen, ihre Fragen, ihre Kritik und ihre bis heute fortdauernde Wirkung zum Gegenstand hat.“ Dieser Satz trägt die Handschrift der Grünen und zeigt die Tendenz zur Einführung eines religionskundlichen Unterrichts für alle. Was die Religionsgemeinschaften betrifft, so sieht der Koalitionsvertrag vor: „Ein Beirat bei der Senatorin für Bildung und Wissenschaft mit Beteiligung der großen Religionsgemeinschaften soll die Entwicklung die35
Ralf Poscher, Gutachten zur Rechtsnatur des Unterrichts in Biblischer Geschichte auf allgemein christlicher Grundlage nach Art. 32 Brem. Verf. und den bekenntnismäßigen Anforderungen an seine Lehrkräfte (im Auftrag der Universität Bremen) 2006; im Internet: http://tinyurl.com/qex8hj4 (Zugriff am 21.9.2013).
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ses Unterrichts begleiten.“ Mit diesem Vorschlag gehen Bremens Politiker deutlich über die bisherigen Regelungen hinaus. Der neue Plan bezieht auf eine bisher nicht gekannte Weise die großen Religionsgemeinschaften (Plural!) ein. Diese stünden, wenn sie denn die Aufgabe übernähmen, vor einer einmaligen Aufgabe: gemeinsam Verantwortung für einen schulischen Religionsunterricht zu übernehmen. Von einer Änderung der Landesverfassung ist nicht mehr die Rede. Die Koalitionspolitiker gehen – mit viel Optimismus – wohl davon aus, dass ihr Plan auf dem Boden des Artikels 32 zu verwirklichen ist. Jedoch steht eine Umsetzung – zwei Jahre nach dem Koalitionsvertrag – noch in weiter Ferne. Die großen Religionsgemeinschaften haben den Ruf zwar gehört, jedoch noch keine Stellung zu diesem Vorhaben genommen. Große Begeisterung scheint dort nicht vorhanden zu sein. Die jüdische Gemeinde und die muslimischen Vereinigungen haben sicherlich Schwierigkeiten, eine gemeinsame Konzeption auf allgemein christlicher Grundlage zu erstellen – was durchaus nachvollziehbar ist! Auch in der Bildungspolitik geht man mit diesem Thema noch überaus vorsichtig um und vermeidet öffentliche Stellungnahmen. Eine Namensänderung für das Fach ist längst überfällig. Man darf gespannt sein, ob eine Reform des Biblischen Geschichtsunterrichts – irgendwann – wirklich begonnen wird!? Weiterführende Literatur: Jürgen Lott und Anita Schröder-Klein, Religion unterrichten in Bremen, in: Martin Rothgangel und Bernd Schröder (Hg.), Evangelischer Religionsunterricht in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland. Empirische Daten – Kontexte – Entwicklungen, Leipzig 2009, 111-127. Manfred Spieß, Religionsunterricht oder nicht? Der Biblische Geschichtsunterricht im Land Bremen, in: Jürgen Lott (Hg.), Religion – warum und wozu in der Schule, Weinheim 1992, 81-102.
Dr. Manfred Spieß war langjährig Fachlehrer für Biblische Geschichte in Bremen, ist seit 1992 Wissenschaftlicher Mitarbeiter bzw. Lektor in der Ausbildung von Religionslehrkräften an der Universität Bremen und Vorsitzender des Fachverbandes der Religionslehrkräfte im Land Bremen.
Johannes Rudolf Kilchsperger
„Neugier auf das, was sie nicht glauben“. Das neue Schulfach Religion und Kultur im Kanton Zürich Religion und Kultur im Kanton Zürich
Der Kanton Zürich ist seit ein paar Jahren dabei, ein obligatorisches Schulfach Religion und Kultur vom ersten bis zum achten Schuljahr einzuführen, an dem Schülerinnen und Schüler ungeachtet ihrer religiösen Zugehörigkeit teilnehmen. 1. Geschichte und Genese Die Einrichtung eines neuen Faches ist meist Anzeichen von gesellschaftlichen Veränderungen oder Schwächen schulischer Bildung. Das ist auch im Falle des neuen Schulfachs Religion und Kultur an der Zürcher Volksschule nicht anders. „Religion und Kultur“ entspringt einerseits dem Zeitgeist, anderseits ist es ein Antwortversuch auf einen schon lange prekären und unterschätzten Unterrichtsbereich. Man mag das Säkularisierungsparadigma beurteilen, wie man will,1 auf kulturelle Selbstverständlichkeiten wie religiöse Zuordnung, Zugehörigkeit und Bildung kann sich die Schule kaum mehr stützen. Dieser Prozess hat insbesondere in den protestantischen Schweizer Kantonen wie Bern, Genf, Waadt und Zürich schon seit langem eingesetzt. Religiöses Bildungsvakuum Selbst an den Zürcher Gymnasien, wo reformierter Religionsunterricht traditionell nur im 7.-9. Schuljahr (bis zum Zeitpunkt der traditionellen kirchlichen Konfirmation) überhaupt vorgesehen war, ist der Religionsunterricht in der Gegenwart unter großen Druck geraten, weil dieses Freifach von Schülerinnen und Schülern oft kaum noch gewählt wird.2 Religion hatte allerdings auch in der Zürcher Volksschule seit langem einen schlechten Stand, welcher mit deren Geschichte und in jüngster Zeit mit dem Rückgang der reformierten Kirche, der ursprünglichen Landeskirche – wenn auch lange unbemerkt – zusehends problematisch empfunden wurde. Man kann durchaus von einem religiösen Bildungsvakuum im Kanton Zürich sprechen.
1
Vgl. kritisch Hans Joas, Führt Modernisierung zur Säkularisierung? in: ders., Glauben als Option, Freiburg i.Br. 2012, 23-42; ders., Wellen der Säkularisierung, in: ebd., 66-85. 2 An einzelnen Gymnasien konnte sich Religionslehre immerhin als wählbares Maturfach etablieren.
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Säkularisierung („Traditionsabbruch“) Zweifellos kann man irreversible Veränderungen in der Gesellschaft mit dem Stichwort Säkularisierung benennen und diskutieren, muss dies aber differenzieren.3 Die Religionssoziologie betont die Individualisierung und Pluralisierung der Schweizer Gesellschaft in Bezug auf Religion und Religionen.4 Individualisierung: „Befremdung von innen“ Die Rede vom „Traditionsabbruch“ mag kulturpessimistisch bestimmt sein. Mit dem Aufbrechen konfessioneller Milieus und konfessioneller Durchmischung ist eine Individualisierung einhergegangen, die sich als kirchlich-religiöse Distanzierung auswirkt. Religiöse Tradition scheint zunehmend mit Befremdung verbunden zu werden. Individualisierung als moderne Errungenschaft führt zu Verunsicherung und Fragen nach kulturellem Selbstverständnis und Orientierung. Pluralisierung: „Befremdung von außen“ Demographische Veränderungen wirken sich in einem Kleinstaat wie der Schweiz markanter aus als in großen Ländern wie z.B. Deutschland.5 Migrationsbewegungen und Globalisierung führen vor Augen, dass das Ausblenden von Religion in der Gesellschaft nicht selbstverständlich ist. Vor allem Migranten mit muslimischem und tamilischem Hintergrund wird eine religiöse Zugehörigkeit zugeschrieben, auch wenn deren faktische Bedeutung damit stark überschätzt wird. Neuere sozialwissenschaftliche Forschungen untersuchen, welche Rolle Religionen in den Lebenswelten von Jugendlichen tatsächlich spielen und wie diese damit umgehen.6 Die Einwanderung aus Ex-Jugoslawien in den 90er Jahren wird vor allem als sprunghafte Zunahme muslimischer Bevölkerung verzeichnet. Dabei wird oft geradezu ungläubig zur Kenntnis genommen, dass die „Zwingli-Stadt“ Zürich bereits mehr katholische als evangelisch3
Vgl. Martin Baumann und Jörg Stolz, Eine Schweiz – viele Religionen. Chancen und Risiken des Zusammenlebens, Bielefeld 2007. 4 Christoph Bochinger, Religionen, Staat, Gesellschaft. Die Schweiz zwischen Säkularisierung und religiöser Vielfalt, Zürich 2012. 5 „Im Jahr 2012 haben 2.335.000 Personen bzw. 34,7% der ständigen Wohnbevölkerung im Alter von 15 und mehr Jahren in der Schweiz einen Migrationshintergrund. Ein Drittel der Personen mit Migrationshintergrund (36,5%) besitzt die Schweizer Staatsangehörigkeit (853.000 Personen).“ Bundesamt für Statistik 2013 http:// www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/themen/01/07/blank/key/04.html (Zugriff am 12.8.2013). 6 NFP 58 Themenheft III: Religion in der Schule, Religiosität von Jugendlichen und Grenzziehungsprozesse in einer religiös pluralen Schweiz. Forschungsresultate aus ausgewählten Projekten des Nationalen Forschungsprogramms „Religionsgemeinschaften, Staat und Gesellschaft“ (NFP 58).
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reformierte Einwohner hat.7 Mit der Globalisierung und unübersehbaren Integration von Einwohnerinnen und Einwohnern aus aller Welt, auch muslimischer und anderer Religion, wird die Befremdung von innen durch Befremdung von außen verstärkt. „Neugier auf das, was sie nicht glauben“ Nicht zuletzt ist in der Gegenwart generell ein neues Interesse von Menschen an Religionen zu konstatieren im Sinne einer „Neugier auf das, was sie nicht glauben“ (Hans Joas). Es gibt ein weithin ungestilltes wie unverbrauchtes Interesse, das dem durch Privatisierung schwer greifbar gewordenen Phänomen der Religion entgegengebracht wird. Reisetourismus und Globalisierung führen zu Begegnungen mit Religionen in allen Ecken der Erde, was mitunter eine Tendenz zur Exotisierung des Religiösen mit sich bringt. Lernort Kirche Die evangelisch-reformierte Landeskirche des Kantons Zürich hat wie andere reformierte Kantonalkirchen auf die Krise kirchlicher Sozialisation reagiert und in den vergangenen Jahren mit großem Aufwand ein „Religionspädagogisches Gesamtkonzept (rpg)“ entwickelt.8 Neue Gefäße und Formen kirchlichen Unterrichts wurden mit bemerkenswertem Aufwand und Erfolg ausgebaut. Damit hat die reformierte Kirche nachvollzogen, wofür die katholische Kirche in der Zürcher Diaspora9 von je her mit besonderer Aufmerksamkeit besorgt war: eine elementare kirchliche Sozialisation der Heranwachsenden zu ermöglichen. Mit dem Ziel kirchlicher „Beheimatung“10 (nach dem Wegbrechen traditioneller Formen wie Sonntagsschule und Kinderlehre bzw. Jugendgottesdienst) ist 7
http://www.stadt-zuerich.ch/content/prd/de/index/statistik/publikationsdatenbank/ webartikel/2012-10-02_Zuerich-nicht-laenger-die-Zwingli-Stadt.html (Zugriff am 11.8.2013). 8 Aufwachsen – aufbrechen. Religionspädagogisches Gesamtkonzept, Zürich 2 2010. http://www.rpg-zh.ch/downloads/uebersicht/konzepte/rpg-gesamtkonzept /kon100701 rpgfu.pdf (Zugriff am 12.8.2013). Vgl. Thomas Schlag und Rahel Voirol-Sturzenegger, Weit entfernt … oder näher als vermutet? Zum Stand der Religionspädagogik in der Schweiz und im Kanton Zürich, in: Theo-Web. Zeitschrift für Religionspädagogik 10 (2011), H.2, 69-79. Auch: Thomas Schlag, Schulische und kirchliche religiöse Bildung im Kanton Zürich. Entwicklungen – Spannungen – Perspektiven, in: Dominik Helbling, Ulrich Kropač, Monika Jakobs und Stephan Leimgruber (Hg.), Konfessioneller und bekenntnisunabhängiger Religionsunterricht. Eine Verhältnisbestimmung am Beispiel Schweiz, Zürich 2013, 87-10. 9 Auch die katholischen Fachstellen leisten aufgrund aktueller Veränderungen grundlegende Konzeptarbeit: http://www.religionspaedagogikzh.ch/index.php?&na= 4,1,0,0,d (Zugriff am 12.8.2013). 10 „Beheimatung und Begleitung“ sind wiederkehrende Leitworte im Religionspädagogischen Gesamtkonzept der Landeskirche. http://www.rpg-zh.ch/startseite/ aeltere-startseiten-news/religionspaedagogisches-gesamtkonzept (Zugriff am 11.8.2013).
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die Wahrnehmung religiöser Bildung in gewissem Sinne „kirchlicher“ geworden. Kurz zuvor hatten Staat und Kirchen noch versucht, das Fach Biblische Geschichte an den Primarschulen zu stärken. Nun konnten selbst Fachlehrkräfte ohne Primarlehrerpatent Biblische Geschichte erteilen. Dieses Fach bekam mancherorts unter der Hand einen katechetischen Charakter, auch wenn dies nicht die Absicht war und es innerhalb der Schule zusätzlich marginalisierte. 2. Anliegen und Grundlagen Konfessionsfreiheit in Kirche und Schule Um die Implementierung des Faches Religion und Kultur im Kanton Zürich begreifen und einordnen zu können, werfen wir einen Blick auf die lokale Schultradition.11 Die Züricher Volksschule ist 1832 im Ringen zwischen Liberalismus und kirchlichem Konservativismus entstanden. Zweck und Inhalt der „Religionsbildung“ wurden im entsprechenden Gesetz folgendermaßen umschrieben: „Biblische Geschichte im Auszuge; Weckung und Entwicklung sittlicher Gefühle und Begriffe als Vorbereitung auf den kirchlichen Religionsunterricht“.12 Im Zuge des Kulturkampfes wurde 1879 den Schulgemeinden sogar das Recht zugestanden, die Einstellung des Religionsunterrichts in ihrer Schule beschließen zu können.13 Und der Schweizer Lehrerverein forderte im selben Jahr: „Die einseitig konfessionellen Dogmen sind […] auszuschliessen; es ist nur das den Konfessionen Gemeinsame zu verwerten. Den richtigen Stoff bieten: Das Leben Jesu, das Natur- und Menschenleben, die Religions- und Weltgeschichte und die Poesie.“14 Das waren keineswegs nur antikirchliche Töne. Wie in anderen Schweizer Landeskirchen wurde in der Zürcher Landeskirche 1869 „Bekenntnisfreiheit“ beschlossen.15 Als die katholische Kirche im Kanton Zürich im Jahre 1963 endlich öffentlich-rechtlich anerkannt wurde, hieß es im Lehrplan entspre11
Vgl. auch Urs Hardegger, „Wer die Schule hat, der hat das Volk.“ Zum Verhältnis der Volksschule zur Religion und Kirche, in: Daniel Tröhler und Urs Hardegger (Hg.), Zukunft bilden. Die Geschichte der Volksschule des Kantons Zürich, Zürich 2008, 40-53. 12 § 4 Gesetz für die Organisation der Volksschule (1832) zitiert nach: Anna-Verena Fries, „Das religiöse Gefühl ist ein kräftiges Erziehungsmittel“. Zur Säkularisierung des Fachs Religion, Referat, Vierte Arbeitstagung der Arbeitsgruppe Kultur- und Sozialwissenschaften an Pädagogischen Hochschulen, Säkularisierte Schule und die Bedeutung von Bekenntnis und Berufung, Freitag, 11. Juni 2010, 3 http:// www.lehrplanforschung.ch/wp-content/uploads/2011/08/2010-S%C3%A4kularisierung-des-Fachs-Religion1.pdf (Zugriff am 9.8.2013). 13 Ebd., 5. 14 Ebd., 6. 15 Selbst die Verwendung des Apostolischen Glaubensbekenntnisses im Gottesdienst wurde freigegeben.
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chend: „Im Unterricht in Biblischer Geschichte und Sittenlehre müssen alle konfessionellen Besonderheiten zurücktreten, so dass er von Angehörigen aller Bekenntnisse ohne Beeinträchtigung ihrer Glaubens- und Gewissensfreiheit besucht werden kann.“16 Biblische Geschichte war somit kein konfessioneller Religionsunterricht an der Volksschule, selbst wenn er faktisch lange Zeit ausschließlich von Kindern reformierter Konfession besucht wurde.17 Im Jahr 1991 wurde nach langen Diskussionen auf Druck des Staates auf der Sekundarstufe I ein Konfessionell-kooperativer Religionsunterricht (KOKORU) eingerichtet.18 Das Modell der konfessionellen Kooperation hat die Schule nicht wirklich weitergebracht und hat sich als Übergangsmodell erwiesen. Wenige Jahre später beschloss der Bildungsrat, ein Fach Religion und Kultur zu konzipieren. Dies hat die Regierung nicht davon abgehalten, im Sommer 2003 im Rahmen eines übergreifenden Sparprogramms anzuordnen, dass die Schulgemeinden das Fach Biblische Geschichte auf der Primarstufe selber bezahlen müssen, wenn sie es weiterhin anbieten. Die Reaktionen auf diesen Beschluss hat wohl nicht nur die Regierung überrascht: In kurzer Zeit wurde mit einer Rekordzahl von Unterschriften eine Volksinitiative eingereicht, welche die Weiterführung von Biblischer Geschichte im Kanton Zürich verlangte. Viele Schulgemeinden haben den Unterricht in Biblischer Geschichte auf eigene Kosten weitergeführt. Offenbar hat das Volk dem Schulfach mehr Bedeutung zugetraut als die Regierung, und auch die Bildungsdirektion hat den Stand und die Substanz des Faches an vielen Schulen unterschätzt. In der Folge legte die Regierung dem Parlament einen Gegenvorschlag vor: Auf der Primarstufe solle (wie auf der Sekundarstufe der Konfessionell-kooperative Religionsunterricht) das Fach Biblische Geschichte durch ein obligatorisches Fach Religion und Kultur abgelöst werden. Es kommt einem politischen Wunder gleich, dass der Kantonsrat, das Parlament, am 22. März 2007 diesem Gegenvorschlag der Regierung für ein obligatorisches Fach Religion und Kultur mit überwältigendem Mehr von 104:11 Stimmen aus allen Fraktionen zustimmte und die Volksinitiative für die Weiterführung des Faches Biblische Geschichte darauf hin vom Initiativkomitee zurückgezogen wurde. Schulischer Religionsunterricht im Kanton Zürich basiert seit je auf Vorstellungen von Bekenntnisfreiheit in Schule und Kirche (!). Die Schweizer Gesetzgebung und Rechtsprechung gewichtet die positive wie die 16
Zitiert nach Fries, Säkularisierung (s.o. Anm. 12). Erst in den letzten Jahrzehnten haben gewöhnlich auch die katholischen Kinder teilgenommen (gelegentlich auch muslimische Kinder, auch Kinder eines Imams oder von Vorstandsmitgliedern islamischer Organisationen). 18 Ich erinnere mich, wie der legendäre Erziehungsdirektor [= Kultusminister] Alfred Gilgen Verantwortliche der Kirchen an einer Tagung mit einem flammenden Votum aufforderte, die Chance zu ergreifen, sonst riskiere die Kirche, von der Schule zu fliegen. 17
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negative Religionsfreiheit aufgrund der Konfessionsstreitigkeiten in der Schweizer Geschichte hoch und schließt jeden Zwang, „religiösem Unterricht zu folgen“, explizit aus.19 Dass sich der Kanton Zürich für einen obligatorischen Unterricht Religion und Kultur entschieden hat und sich dafür auf einen breiten Konsens abstützen kann, dürfte in dieser protestantischen Sicht von Bekenntnisunabhängigkeit schulischer Bildung begründet liegen. Grundzüge des Faches Religion und Kultur Die amtierende Bildungsdirektorin Regine Aeppli hat für die Zielrichtung des Faches wiederholt die Formel Erkenntnis statt Bekenntnis verwendet. Die Beschäftigung mit den „religiösen und kulturellen Wurzeln der Gesellschaft, in der sie leben,“ soll Heranwachsende dazu befähigen, „sich mit Menschen anderer Religion und Kulturen zu verständigen“ und „deren Lebens- und Werthaltungen“ zu achten.20 Während dem Unterricht auf der Sekundarstufe I von vornherein ein Weltreligionen-Modell zugrunde gelegt wurde, wird auf der Primarstufe verlangt, dass ein Schwerpunkt „auf Überlieferungen des Christentums als der die Gesellschaft im Kanton Zürich und ihre Wertvorstellungen prägenden Religion“ (sic) liegen soll.21 Man spürt hier nicht nur das Gewicht der Tradition, sondern auch politische Rücksichten, die kritisch reflektiert und didaktisch verantwortet umgesetzt werden müssen. Immerhin wird auch für die Primarstufe gefordert: „Das Fach vermittelt ebenso Kenntnisse über andere Religionen und Kulturen, die in der Lebenswelt der Kinder sichtbar und erfahrbar sind.“22 Der Lehrplan versucht die Falle, dem Christentum (als gewissermaßen einheimischer Religion) die (fremden) „anderen Religionen“ entgegenzusetzen, zu vermeiden. Deshalb stellt er zwei didaktische Leitfragen, an denen sich das Fach orientiert: „Welche Kenntnisse christlicher Traditionen und Werte brauchen Kinder, um die Gesellschaft, in der sie leben, zu verstehen und sich in ihr zurechtzufinden? Welche Kenntnisse verschiedener Religionen brauchen Kinder, um Menschen verschiedener Religionszugehörigkeit und kultureller Herkunft in unserer Gesellschaft zu respektieren und sich in einer globalisierten Welt zurechtzufinden?“23
Das Fach hat somit eine kulturhermeneutische Aufgabe. Dabei ist es weder auf einen essentialistischen Kulturbegriff24 noch auf ein Konzept von Transkulturalität25 festzulegen. Ebenso wenig basiert es auf einer künst19
Bundesverfassung, Art. 15 Abs. 3 und 4. Lehrplan Religion und Kultur. Ergänzung zum Lehrplan für die Volksschule des Kantons Zürich, Zürich 2008, 4f. (auch Download: www.vsa.zh.ch). 21 Ebd., 5. 22 Ebd. 23 Ebd., 4. 24 So der gelegentliche Vorwurf von ethnologischer Seite. 25 Wolfgang Welsch, Was ist eigentlich Transkulturalität?, in: Lucyna Darowska, Thomas Lüttenberg und Claudia Machold (Hg.), Hochschule als transkultureller Raum? Kultur, Bildung und Differenz in der Universität, Bielefeld 2010, 39-66. 20
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lichen Aequidistanz gegenüber den Religionen, vielmehr auf einer „Gleichwertigkeit“26, welche eine Bevorzugung oder Abwertung ausschließt. Es dient dem Umgang mit gesellschaftlicher Vielfalt und der Verständigung. Religion und Kultur ist nicht einfach ein interreligiöser Religionsunterricht, kann jedoch sehr wohl zu interreligiösem und interkulturellem Lernen beitragen. Mit seiner Fokussierung auf Religion und Religionen ist das Fach auch nicht einfach interkulturelle Pädagogik und nimmt doch deren Anliegen auf. Der Unterricht im Fach Religion und Kultur kann Kindern helfen, sich in der Gesellschaft zu orientieren, um an ihr zu partizipieren und eigene Zugehörigkeiten selbstbewusst wahrzunehmen. Als Richtziel wird eine „Kompetenz im Umgang mit religiösen Fragen und Traditionen“ angestrebt, die in vier Aspekten entfaltet wird: Wahrnehmung, Wissen und Verstehen, Orientierung, Verständigung.27 Es geht um Religious Literacy28: die Fähigkeit, religiöse Aspekte überhaupt als solche zu erkennen, zu benennen und zu erläutern. Dazu ist es notwendig, die Sprache dafür zu entwickeln, Grundbegriffe (religiöse wie metasprachliche) zu erschließen, Sachverhalte zu unterscheiden (und zu differenzieren), Fremdheit und Vertrautheit zu reflektieren. Heranwachsende sollen sich mit Menschen mit ihren Zugehörigkeiten und Überzeugungen verständigen können: an ihren Anliegen Anteil nehmen und ihnen Fragen stellen. „Schülerinnen und Schüler sollen ihre Lebenswelt und die Werte, von denen sie geprägt und bestimmt ist, kennen lernen und Handlungsweisen, die sich von den eigenen unterscheiden, einordnen können.“29 Dies erfordert Kenntnisse, die sich von traditioneller religiöser Erziehung markant unterscheiden. Im Blick des Faches ist nicht primär die eigene religiöse Sozialisation der Kinder in ihren Familien und Religionsgemeinschaften, vielmehr die Erfahrungen, die Heranwachsende darüber hinaus mit religiöser Kultur in der Gesellschaft und mit religiöser Sozialisation im Umfeld anderer machen. Insofern ist darauf zu achten, wie Kinder, die ohne religiöse Sozialisation aufwachsen, Verständnis für religiös-kulturelle Aspekte und religiöse Äußerungen erwerben und umgekehrt religiös aufwachsende Kinder Verständnis für Außenwahrnehmungen religiöser Praxis und religiöser Vorstellungen gewinnen. Die Bezeichnung des Faches Religion und Kultur verleitet gelegentlich, die beiden Begriffe Religion und Kultur additiv zu deuten. Das Fachkonzept geht jedoch von Religion als Aspekt von Kultur aus. Es ist in gewissem Sinn ein Ausdruck des cultural turn. 26
Lehrplan Religion und Kultur (s.o. Anm. 20), 6 und 18. Ebd., 4 und 17. 28 Vgl. auch den Begriff „illiteracy regarding religion“: American Academy of Religion, Guidelines for Teaching About Religion in K-12 Public Schools in the United States, Atlanta GA 2010 http://www.aarweb.org/sites/default/files/pdfs/ Publications/epublications/AARK-12CurriculumGuidelines.pdf (Zugriff am 11.8.2013). 29 Lehrplan Religion und Kultur (s.o. Anm. 20), 5. 27
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Sachlichkeit besteht nicht einfach in Objektivierung. Bei der Erweiterung des Horizontes können eigene Sichtweisen und die Begrenzung der Lebenswelt bewusst werden. Religiöse Vorstellungen und Praktiken werden nicht einfach plausibel. In diesem Fach wird gewissermaßen auch Befremdung gelernt. Vergleichen ist im Fach Religion und Kultur nicht nur eine wissenschaftliche Methode, sondern vor allem eine didaktische Möglichkeit: Fremdes mit dem Bezug auf Bekanntes zu erschließen und im Vertrauten und (scheinbar) Bekannten auch Fremdes zu erkennen. Pragmatische Rahmenvorgaben Der Bildungsrat hat die Vorgaben für das Fach pragmatisch festgelegt: Wie bisher für Biblische Geschichte steht für Religion und Kultur auf der Primarstufe in der Stundentafel von der 1. bis zur 6. Klasse eine Wochenlektion zur Verfügung. Wie vorher für den Konfessionellkooperativen Religionsunterricht werden auf der Sekundarstufe im 7. Schuljahr zwei Wochenlektionen, im 8. Schuljahr noch eine Lektion pro Woche eingeräumt. Die bisherigen Projekttage im 9. Schuljahr entfallen. Wie andere Fächer wird das Fach Religion und Kultur im Zeugnis ab der 4. Klasse benotet.30 Es handelt sich um ein obligatorisches Fach. Im Unterschied zum Unterricht in Biblischer Geschichte und zum Konfessionell-kooperativen Religionsunterricht gibt es für Religion und Kultur keine Abmeldemöglichkeit. 3. Realisation und Praxis Einführung in den Schulen Die Schulen hatten die Auflage, bis zum Schuljahr 2011/2012 mit der Einführung des Faches zu beginnen. Nach Plan sollte die Einführung auf der Primarstufe 2016 abgeschlossen sein; auf der Sekundarstufe ist dies in den meisten Schulen bereits der Fall. Die Lehrberechtigung für das Fach muss in der Aus- oder Weiterbildung an der Pädagogischen Hochschule erworben werden. Von den Studierenden wird die Fachausbildung Religion und Kultur gut angenommen. Mehr als die Hälfte der abgehenden Primarlehrerinnen und -lehrer der PH Zürich belegen freiwillig Fachdidaktik Religion und Kultur – zusätzlich zu ihrem Pflichtpensum31 – und erwerben die Lehrbefähigung für dieses in der Schule einstündig dotierte Fach. Immerhin jeder vierte oder fünfte Studierende der Sekun30 Reglement über die Ausstellung der Schulzeugnisse (Zeugnisreglement) vom 1. Sept. 2008, § 6. 31 Studierende der Primarstufe können zu ihren sieben regulären Schulfächern zusätzlich Religion und Kultur als achtes Fach wählen. (Sie erwerben damit mehr ECTS-Kreditpunkte, als sie für ihren Bachelor-Ausweis bräuchten.)
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darstufe I belegt Religion und Kultur als eines von regulär vier Studienfächern.32 In den Jahren 2008 bis 2013 haben sich rund 2500 Primarlehrerinnen und -lehrer in berufsbegleitenden Weiterbildungen für das Fach Religion und Kultur nachqualifiziert. Für die Sekundarstufe I haben rund 200 Lehrerinnen und Lehrer in einem aufwändigeren Verfahren die Lehrberechtigung erworben.33 Es handelt sich um eines der größten Weiterbildungsprogramme der Pädagogischen Hochschule Zürich. Die Resonanz des Faches deutet darauf hin, dass das Interesse an Religion in unserer Zeit liegt. An manchen Schulen scheint Religion und Kultur bei Schülerinnen und Schülern wie Lehrpersonen ein beliebtes Fach zu sein. Gleichwohl ist die Versorgung mit qualifizierten Lehrpersonen nicht an allen Schulen erreicht. Schwer abzuschätzen ist, ob der Unterricht tatsächlich immer dem Lehrplan entsprechend erteilt wird oder faktisch als Klassenstunde (für Lebenskunde, Klassenrat und dergleichen) verwendet wird. Mancherorts besteht die Gefahr, dass das Fachprofil durch Lehrpersonen ohne Fachausbildung unterlaufen wird. Von Seiten der Eltern wurde die Einführung des Faches weitgehend problemlos zur Kenntnis genommen. Bisher sind keine juristischen Einsprachen von Eltern gegen das Fach bekanntgeworden. Die Bildungsdirektion des Kantons Zürich ist entschlossen, das Obligatorium bei Bedarf auch vor Gericht zu vertreten, was bisher nicht nötig geworden ist.34 Lehrmittelentwicklung „Blickpunkte“ Zu Beginn der Einführungsphase lag noch kein für das neue Fach entwickeltes Lehrmittel vor, was bei Lehrpersonen Unsicherheit und Ungeduld auslöste. Dass lebendige Unterrichtspraxis der Lehrmittelschaffung voranging, bestätigt jedoch, dass das Fach in der Schule angekommen ist. 2013 liegt das in Eile und unter Hochdruck erarbeitete Lehrwerk unter dem Titel „Blickpunkt“ vollständig vor. Diese Lehrmittel zeigen nun den Schülerinnen und Schülern, Lehrerinnen und Lehrern, aber auch den Eltern, worum es in Religion und Kultur geht und was es in diesem Fach zu lernen gibt.35 32
Studierende der Sekundarstufe wählen vier Studienfächer. Die Fachausbildung Religion und Kultur ist gewöhnlich im Studienaufbau als vierter Fachstudiengang Teil des Masterstudiums. 33 Bis 2012 standen diese Weiterbildungen auf besonderes Gesuch auch Pfarrerinnen und Pfarrern und anderen Fachlehrpersonen für Konfessionell-kooperativen Religionsunterricht offen. Inzwischen werden nur noch Lehrpersonen mit regulären Stufendiplomen zugelassen. 34 Der Entscheid des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Straßburg zum Ethik-Unterricht in Berlin 2009 konnte beim Start des Faches Religion und Kultur noch nicht erwartet werden und dürfte inzwischen rechtliche Klarheit geschaffen haben. 35 Das Lehrwerk Blickpunkt 1 bis 3 wurde im Auftrag der kantonalen Lehrmittel-
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„Was in der Lebenswelt sichtbar und erfahrbar ist“: Blickpunkte als Programm Zwei Poster veranschaulichen Anliegen und Vorgehen des Faches:
Poster zu Blickpunkt 1
Ein Wimmelbild zeigt einen Ausschnitt aus einem städtischen Viertel. Darin gibt es zahlreiche Details zu entdecken: Spuren vielfältiger religiöser Kultur und religiösen Lebens. In der Alltagswelt gilt es Unscheinbares und Merkwürdiges in den Blick zu nehmen. Das Fach hat es mit kulturell Vorfindlichem zu tun! Dieses gilt es zu beschreiben, zu befragen und zu erläutern, zu ordnen und zuzuordnen. Man muss unterscheiden und differenzieren. Nicht alles, was kulturell bedeutsam ist, muss religiös gedeutet werden. Die Unterscheidung von Religiösem und Profanem ist elementar und doch nicht banal.
kommission vom staatlichen Lehrmittelverlag Zürich zusammen mit der PH Zürich entwickelt; alle drei Bände des Schülerbuches erschienen 2013. Weiterführende Hinweise zum Lehrmittel auf der Website des Verlags: http://www.lehrmittelverlagzuerich.ch/LehrmittelSites/BlickpunktReligionundKultur/%C3%9CberdasLehrmittel/ tabid/708/language/de-CH/Default.aspx (Zugriff am 14.2.2014).
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Poster zu Blickpunkt 1
Entdecken – sammeln – ordnen – vernetzen Auf einem zweiten Poster erscheint ein Schulzimmer, in dem Gegenstände aus der Welt der Religionen, aber auch des Alltags zu einer Ausstellung geordnet werden. Bezeichnend ist, dass dies als unabgeschlossener Prozess gezeigt wird. Man kann fragen und erläutern, recherchieren und kommentieren. Das Ziel ist nicht, alles sauber etikettiert in Vitrinen unterzubringen, bei der Betrachtung der Dinge aber doch Begriffe, Kategorien und Sachverstand zu gewinnen, um sich zu orientieren, Verbindungen zu sehen, weitere Fragen zu stellen und Entdeckungen zu machen. Die Dinge erscheinen hier ausgestellt wie in einer Art Museum. Gerade weil die Schule religiöse Praxis nicht selber pflegen kann, gilt es nach den originalen Kontexten zu fragen und sind Bezüge zu Vergangenheit und Gegenwart notwendig. Was als beliebiges Sammelsurium daherkommen mag, verweist auf Lebensbereiche und Situationen, die in der Gesellschaft von ganz unterschiedlicher Relevanz und Bedeutung sind. Was dem einen Kind skurril, exotisch oder unheimlich vorkommen mag, kann anderen vertraut und persönlich bedeutsam sein. Was in einer Tradition heilig ist, ist für andere irrelevant oder irritierend. Wer sich auskennt, kann sich besser orientieren, Fragen stellen, Sachverhalte differenzieren, Zusammenhänge herstellen und Verhältnisse besser einschätzen.
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Wahrnehmen und zeigen – kennen und wiedererkennen Das Lehrwerk Blickpunkt macht Kinder auf ihre Umgebung aufmerksam. Es setzt bei dem ein, was in Wohnungen, unterwegs auf dem Schulweg oder anderswo, auch auf Reisen, begegnen kann, aber übersehen wird oder unverständlich bleibt, wenn man nichts damit verbindet. Das Schülerbuch für die ersten Klassen stellt gleich zu Beginn die lapidare Frage: Was ist das? Die Kinder erhalten im Laufe der ersten Unterrichtsjahre „Blickpunkt“-Karten, die sie sammeln und nach verschiedenen Gesichtspunkten ordnen. Sie können sich und andern damit zeigen, erläutern und erzählen, was sie lernen und gelernt haben. Religionen in der Gesellschaft: Vielfalt der Religionen im regionalen Bezug Auf der Primarstufe werden die großen Religionen zwar als Bezugsrahmen eingeführt. Erst im Schülerbuch der Sekundarstufe finden sich ganze Kapitel zu den einzelnen Weltreligionen. Die Religionen werden nicht systematisch oder enzyklopädisch abgehandelt, vielmehr fokussiert auf Personen, Orte, Gegenstände, Anlässe und zentrale Konzepte. Jede Religion hat ihre Geschichte, in der sie – wie oft auch ihre Angehörigen – in die Schweiz eingewandert ist. Reportagen geben Einblicke in Momente religiösen Lebens. Porträts stellen Jugendliche, Erwachsene, Familien vor und wie sie ihre religiöse Zugehörigkeit zeigen und verstehen. Orientierungswissen wird in Lehrtafeln zu zentralen Themen und in Erläuterungen wichtiger Begriffe zusammengefasst. Ganzseitige Kunstbilder zu jeder Religion betonen das Ästhetische religiös-kultureller Gestaltung. Der lebensweltliche Bezug der Religionen wird betont, ebenso die Vielfalt innerhalb der Traditionen. Religion ist auch Teil gesellschaftlicher aktueller Auseinandersetzungen und Debatten. Sachlichkeit schließt Streitigkeit nicht aus, vielmehr ein und führt zur Nachdenklichkeit. Übergreifende Themen beziehen sich auf Fragen und Spannungsmomente sowie auf den gesellschaftlichen Umgang damit: − Spuren religiöser Traditionen im Alltag − Wie Menschen sich zu Religion und Glauben äußern − Lebensstile: Kleidung und Ernährung − Religion in den Medien − Konflikte um Religion(en) − Nachdenken über Religion und Wissenschaft, Glauben und Wissen
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4. Diskussion „Religious Literacy” oder „Illiteracy regarding Religion” Religion und Kultur ist „ein junges Fach“.36 Das berechtigt zu Versuchen und Irrtümern. Es ermutigt zu Experimenten und Ungewohntem. Es erweckt aber auch Skepsis und Kritik. Es bedarf der Klärung und geduldigen Verständigung. Der Bildungsrat hat vor über zehn Jahren eine Kommission mit der Konzeptarbeit beauftragt und diese inzwischen in eine ständige Kontaktgruppe überführt. Teaching about religion, wie das gängige Zauberwort lautet,37 soll nicht ohne oder gegen die Religionen und Religionsgemeinschaften etabliert werden. Vertreterinnen und Vertreter der Religionsgemeinschaften, auf ihr Betreiben auch die Vereinigung der Freidenker, wurden ins Boot geholt und tragen mit kritischem Engagement zum Fach bei. Zentral war ebenso, die Perspektiven von Fachexperten einzuholen und fruchtbar zu machen. Klar ist, dass ein Schulfach wissenschaftlich fundiert und breit abgestützt sein muss, ebenso klar, dass es nicht einfach eine Anwendung einer akademischen Disziplin sein kann. Die Frage der Bezugswissenschaft ist nur im Plural zu beantworten, soll das Fach nicht dem akademischen Diskurs und einer fachwissenschaftlich fragmentierten Optik verfallen. Ein religionskundliches Fach braucht den Kontakt zu Religionsgemeinschaften wie auch eine gesunde Distanz, gilt es doch zu beachten, dass das Fach im Hinblick auf denjenigen Bevölkerungsteil gebildet wurde, der in der Schweizer Gesellschaft weiterhin zunimmt: Konfessionslose, mögen sie religiös distanziert, religionslos oder was auch immer sein. In der Schule wie in der Gesellschaft ist die Auseinandersetzung mit Religion nicht nur aus religiöser Sicht und religiösem Interesse gefragt. Das Fach Religion und Kultur muss dies berücksichtigen, wenn es der illiteracy regarding religion38 begegnen soll. Dem Fach wird mit einem gewissen Recht „Oberflächlichkeit“ vorgeworfen, weil es nicht die großen Fragen und Lehren, die Inhalte der Religionen, ins Zentrum stellt, vielmehr von deren kultureller Erscheinung ausgeht. Man mag darin auch eine Bescheidung sehen. Wenn Religion und Kultur nur schon dazu beiträgt, zu respektieren, wie sich Menschen religiös oder nicht religiös verstehen, wie sie damit mehr oder weniger, so oder anders ihr Leben gestalten, und wenn Heranwachsende Respekt gewinnen vor religiösen Fragen und Aspekten kultureller Gestaltung und Überlieferung, wäre doch schon viel gewonnen. 36
Der diesem Aufsatz zugrunde liegende, durch den Veranstalter vorgegebene Vortragstitel hieß: „Religion und Kultur – ein junges Fach im Kanton Zürich“. Vgl. Geoff Teece, Is it learning about and from religions, religion or religious education? And is it any wonder some teachers don’t get it?, in: British Journal of Religious Education 32 (2010), No. 2, 93-103. 38 Siehe American Academy, Guidelines (s.o. Anm. 28). 37
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Das Fach Religion und Kultur weckt hohe Ansprüche, zu hohe bisweilen. Es muss in den Schulen ankommen, ohne sein Anliegen kleiner zu machen, als es ist.39 Es darf die Schülerinnen und Schüler, vor allem auch die Unterrichtenden nicht überfordern. Die Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen kann nur in beschränktem Maß Fachkenntnisse vermitteln. Lehrerinnen und Lehrer sind in Religion und Kultur ohnehin keine Besserwisser; sie sind bestenfalls vorbildlich Interessierte, die mit Sachverstand, Bewusstheit und Sorgfalt mit religiösen Fragen und Traditionen umgehen, inner- und außerhalb des Unterricht mindestens so viel lernen wie ihre Schülerinnen und Schüler und dadurch zum Lernen anleiten und anspornen. 5. Entwicklungsaufgaben In der bisherigen Fachentwicklung wurde die grundlegende Konzeption des Faches, die Struktur der Aus- und Weiterbildung von Lehrerinnen und Lehrern, die Bereitstellung der ersten Lehrmittelgeneration geleistet. Nun steht die Konsolidierung an: Was heißt Lernen in diesem Fach? Wie wird mit den Lehrmitteln gearbeitet? Welche Themen bewähren sich und welche Arbeitsweisen erweisen sich als ergiebig? Was lernen Schülerinnen und Schüler in diesem Fach und wie wird dies sichtbar? Wie lassen sich Leistungen in diesem Fach angemessen beurteilen, und was kann das Fach zu einer individualisierenden Lern- und Beurteilungskultur in der Schule beitragen? Wie können Schülerinnen und Schüler ihr Vorwissen einbringen und welche Rolle spielen ihre Herkunft, Vorerfahrungen und Voreinstellungen? Wie lassen sich Lehrerinnen und Lehrer, wie lassen sich Schulen im Ausbilden einer Lernkultur und im Knüpfen von Beziehungsnetzen unterstützen? Wie lassen sich fächerübergreifende und fächerverbindende Chancen und Möglichkeiten realisieren und profilieren? Wie lässt sich das Zürcher Schulfach sinnvoll mit den Entwicklungen in anderen Kantonen verbinden?40 Unterrichtsforschung ist wie 39
Mit Grund hat der Dachverband Schweizer Lehrerinnen und Lehrer LCH gefordert, Unterricht über Religion dürfe weder zu „Briefträgergeografie der Religionen“ noch „vulgärpsychologischer Lebenshilfe“ verkürzt werden. Vgl. Die öffentliche Schule und die Religionen. Position der Geschäftsleitung LCH zum Stellenwert der Religionen im Bildungsauftrag und im Schulbetrieb, 22. Oktober 2007 http://www.lch.ch/dms-static/c825aae9-bb3f-4620-a5bc-a80ee5db78eb/081215LCH SchuleundReligionen.pdf (Zugriff am 12.8.2013). 40 Derzeit wird mit dem Projekt Lehrplan 21 ein gemeinsamer Lehrplan für die Kantone der deutschsprachigen Schweiz vorbereitet, in welchem innerhalb des Fachbereichs Natur – Mensch – Gesellschaft ein Unterrichtsbereich Ethik – Religionen – Gemeinschaft vorgesehen ist: http://lehrplan.ch/. Vgl. Dominik Helbling und Johannes Rudolf Kilchsperger, Religion im Rahmen des Lehrplans 21, in: Helbling/Kropač/Jakobs/Leimgruber (Hg.), Konfessioneller Religionsunterricht (s.o. Anm. 8), 51-70.
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fachdidaktische Entwicklungsarbeit voranzutreiben. Die laufende Professionalisierung der Fachdidaktiken verlangt einem „jungen Fach“ viel an Nachholbedarf ab. Es kann von anderen Fächern profitieren und mit seiner Fachdidaktik auch offene und kritische Fragen stellen. Weiterführende Literatur: PH Zürich Ausbildung (Hg.), Fachwegleitung Religion und Kultur Sekundarstufe I, Zürich [Version 2013] (Download http://stud.phzh.ch/Documents/stud.phzh.ch /Sek1/Vollzeit/Sek1_H09_ReligionKultur.pdf; Zugriff am 14.2.2014). Dominik Helbling, Ulrich Kropač, Monika Jakoks und Stephan Leimgruber (Hg.), Konfessioneller und bekenntnisunabhängiger Religionsunterricht. Eine Verhältnisbestimmung am Beispiel Schweiz, Zürich 2013. Johannes Rudolf Kilchsperger und Matthias Pfeiffer, Mit Menschen verschiedener Religionen und Kulturen zusammenleben. Religion und Kultur im Kanton Zürich, in: Marie-Luise Raters (Hg.), Werte in Religion und Ethik. Modelle des interdisziplinären Werteunterrichts in Deutschland, Österreich und der Schweiz, Dresden 2010. Ralph Kunz, Matthias Pfeiffer, Katharina Frank-Spörri und Jozsef Fuisz (Hg.), Religion und Kultur – ein Schulfach für alle?, Zürich 2005.
Johannes Rudolf Kilchsperger, lic. phil., ist Dozent und Fachbereichsleiter für Religion und Kultur an der Pädagogischen Hochschule Zürich.
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Multireligiöser Religionsunterricht in England Das zentrale Anliegen dieses Essays1 ist es, einen kurzen einführenden Überblick über ideelle Hintergründe und die Praxis des Religionsunterrichts in England zu geben sowie diejenigen Kräfte und Einflüsse zu identifizieren, die seinen Charakter und seine Gestalt geprägt haben und noch immer bestimmen. 1. Vorgeschichte Religionsunterricht hat schon immer eine recht prominente, wenn auch nicht selten kontroverse Rolle in der britischen Bildungsdebatte eingenommen. Bis zur erstmaligen Einführung eines landesweit geltenden Lehrplans, des sog. „National Curriculum“ von 1988, die mit der damaligen Reform des Schulgesetzes („Education Reform Act“, 1988) im Zusammenhang stand, war Religionsunterricht das einzige Fach, dessen Erteilung in englischen und walisischen Schulen gesetzlich geregelt war. Erstmals hatte das Grundschulgesetz von 1870 („Elementary Education Act“) die Erteilung von Religionsunterricht, damals noch „Religious Instruction“ genannt, festgeschrieben. Doch schon damals hatte die „Cowper-Temple“Klausel – benannt nach dem Parlamentsabgeordneten, der sie zur Abstimmung gestellt hatte – dafür gesorgt, dass dieser Unterricht in öffentlichen Schulen (im Unterschied zu den kirchlichen Schulen) ohne Bindung an eine bestimmte Konfession erteilt wurde. Das nächste nationale Schulgesetz, der „Education Act“ von 1944, unterstrich die Unterscheidung zwischen öffentlichen Schulen, die unter der Obhut der jeweiligen örtlichen Schulbehörde („Local Education Authority“, LEA) stehen, und privaten Schulen (sog. voluntary schools), also solchen Schulen, die vor allem von den Kirchen bzw. ihnen nahestehenden Vereinen gegründet und getragen werden. Dieses Gesetz ermöglichte weiterhin die volle staatliche Refinanzierung kirchlicher Schulen – allerdings unter der Bedingung, dass die Schulen, die diese staatliche Finanzierung in Anspruch nehmen, auch die staatlichen Vorgaben für Religionspolitik und Religionsunterricht akzeptieren (also etwa wie die staatlichen Schulen nicht-konfessionellen Religionsunterricht erteilen). Allen anderen kirchlichen Schulen, die keine oder nur eine anteilige staatliche Finanzierung in Anspruch nehmen (sog. voluntary aided schools, darunter einige anglikanische, hauptsächlich jedoch römisch1
Für die Übersetzung ins Deutsche danke ich Constanze A. Wimmel und Florian Dinger, beide Göttingen.
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katholische Schulen), räumte das Gesetz das Recht ein, Religion weiterhin in konfessionell gebundener Weise zu unterrichten. Das Gesetz schrieb zudem fest, dass Religionsunterricht sowohl in staatlichen als auch in (voll refinanzierten) kirchlichen Schulen nach einem sog. übereinstimmend vereinbarten Lehrplan („Agreed Syllabus“) erteilt werden soll. Ein solcher Lehrplan sollte entweder von der jeweiligen örtlichen Schulbehörde selbst entwickelt werden oder aber von der Schulbehörde eines anderen Schulbezirks adaptiert werden dürfen. Um einen solchen übereinstimmend vereinbarten Lehrplan zu erstellen, sollte die Schulbehörde für ihren Bezirk eine Lehrplan-Konferenz einberufen, die sich aus Angehörigen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen zusammensetzt: Eine Teilgruppe rekrutiert sich aus Vertretern der Church of England, eine weitere aus Vertretern sog. „anderer Konfessionen“ (einschließlich nicht-christlicher Religionen), eine dritte aus Vertretern der örtlichen Schulbehörde und eine vierte aus der Lehrerschaft bzw. aus den sie vertretenden Organisationen. In den Lehrplan sollte nichts aufgenommen werden dürfen, was nicht die Zustimmung aller vier Gruppen fand – deshalb die Bezeichnung „übereinstimmend vereinbarter Lehrplan“ („Agreed Syllabus“). Die nach diesem Modus entstandenen Lehrpläne der frühen Nachkriegszeit lassen erkennen, dass der Religionsunterricht aller Schultypen darauf angelegt war, den christlichen Glauben zu fördern und zu bekräftigen. So hielt beispielsweise der Lehrplan des Bezirks Cambridge (Cambridge Agreed Syllabus) aus dem Jahr 1949 fest, Religionsunterricht ziele darauf, „den Kindern eine Erfahrung Gottes, seiner Kirche und seines Wortes, zu ermöglichen, eine Erfahrung, die auf Gottesdienst, Gemeinschaft und Dienst beruhe“. Indem man das Christentum im schulischen Unterricht in einem weiten, nicht an eine bestimmte Konfession gebundenen Sinne vermittelte, hoffte man, den jungen Menschen christliche Überzeugungen und Werte mitzugeben und somit eine feste moralische Basis für ihr späteres Leben zu schaffen. 2. Konzeptioneller Umbruch zum multireligiösen Unterricht in den 1970er Jahren Bereits in den 1960er Jahren stellt sich die Situation des Religionsunterrichts gänzlich anders dar. Ökonomische, soziale und geistige Einflüsse trugen zur Entstehung einer völlig neuen kulturellen Situation bei, durch die traditionelle Autoritäten und Institutionen herausgefordert wurden. So kam es zu einer radikalen Neubewertung der Ziele schulischer Bildung im Allgemeinen und des Religionsunterrichts im Besonderen. Im Hintergrund dieser Neuorientierung standen im Falle des Religionsunterrichts die rückläufige Unterstützung institutionalisierter Religion, das Hinterfragen traditioneller christlicher Überzeugungen und Werte (das zum Teil von christlichen Theologen selbst initiiert wurde) und, als Fol-
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ge der Nachkriegsimmigration aus den ehemaligen Kolonien, ein wachsendes Bewusstsein für die multireligiöse Natur des modernen Großbritanniens. Auch innerhalb des Religionsunterrichts selbst erhoben sich kritische Stimmen gegen die Dominanz einer orthodoxen Auslegung des Christentums und überhaupt gegen die Idee, dass die Schule dazu beitragen solle, den Glauben zu nähren. Folgerichtig schlug der sog. Schulrat („Schools Council“) 1971 in seinem berühmt gewordenen „Arbeitspapier 36: Religionsunterricht in der weiterführenden Schule“2 eine neue, nicht-konfessionelle Ausrichtung des Religionsunterrichts vor. Diese Publikation stieß eine Revolution im britischen Religionsunterricht an, indem sie forderte, die explizite Förderung des christlichen Glaubens in allen staatlichen und privaten Schulen zu beenden und stattdessen multireligiösen Unterricht einzuführen. Die zentralen Ideen des „Working Paper 36“ lassen sich in folgenden Punkten zusammenfassen: Erstens: Der sog. konfessionelle bzw. „dogmatische“ Ansatz des Religionsunterrichts wird als Versuch der „intellektuellen und kultischen Indoktrination“ verstanden. Konfessioneller Religionsunterricht gilt demnach zwangsläufig als indoktrinierender Unterricht. Das Ziel, den christlichen Glauben zu fördern, gilt als nicht kompatibel mit pädagogischen Prinzipien. Zweitens: Das Papier bringt die Überzeugung zum Ausdruck, dass allein ein multireligiöser, phänomenologischer Ansatz des Religionsunterrichts für eine religiös und moralisch zunehmend vielfältige Gesellschaft angemessen ist. Drittens: Moralische Erziehung soll von religiöser Erziehung unterschieden werden und in der Schule einen eigenständigen Platz finden. Das „Working Paper 36“ folgte so der philosophischen Mode der damaligen Zeit und behauptete, Religion könne keine tragfähige Grundlage für Moral bieten; deshalb müsse moralische Erziehung unabhängig und außerhalb von Religionsunterricht erfolgen. Viertens: „Working Paper 36“ drängt auf die Einführung eines sog. undogmatischen, phänomenologischen Ansatzes von Religionsunterricht. Inspiriert war diese Forderung von der damaligen Religionsphänomenologie. Ein solcher phänomenologischer Religionsunterricht zeichnet sich nach Meinung der Autoren des Arbeitspapiers durch seine „Offenheit“ und seine Förderung von Empathie aus. Durch die Förderung von Vorstellungskraft und Empathie werden Menschen demnach in die Lage versetzt, ihre eigene Situation zu transzendieren und kreativ in die Subjektivität anderer einzutauchen. Auf diese Weise fördere der Religionsunterricht religiöse Toleranz und trage dazu bei, die Schüler auf das Leben in einer multikulturellen, multiethnischen Gesellschaft vorzubereiten. Im Laufe der folgenden zwei Dekaden wurde britischer Religionsunterricht weithin zu einem multireligiösen Unterricht, in dem Religionen in 2
Schools Council: Working Paper 36: Religious education in secondary schools, London 1971.
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der Regel themenbezogen unterrichtet wurden. Jede Religion wurde anhand solcher Kategorien wie „Gründer“, „Sakralbauten“, „heilige Schriften“, „Feste“ usw. erschlossen und klassifiziert. Die Schülerinnen und Schüler wurden in diesem Unterricht dazu angehalten, ihre eigenen (religiösen) Voraussetzungen beiseite zu legen und imaginativ in die religiösen Erfahrungen Anderer einzutauchen – soweit zumindest die Idealvorstellung. Für die meisten Schüler jedoch wurde der Religionsunterricht so zu einer Reise durch eine Reihe verschiedener Religionen und religiöser Phänomene, die sie als wenig ansprechend und oberflächlich empfanden. 3. Konzeptionelle Weichenstellungen 1988 wurden im Rahmen des „Education Reform Act“3 neue gesetzliche Regelungen für den Religionsunterricht verabschiedet. Das Fach wurde in drei kurzen Absätzen des Schulgesetzes, näherhin in den Kapiteln 8 sowie 84-88 behandelt. Größtenteils wiederholen diese Abschnitte die Bestimmungen des Schulgesetzes von 1944, so erklären sie etwa Religionsunterricht weiterhin für „obligatorisch“ und garantieren das elterliche Recht, ihr Kind nicht an diesem Unterricht teilnehmen zu lassen. Darüber hinaus werden indes weitere Maßgaben festgeschrieben. So soll erstens jeder Lehrplan („Agreed Syllabus“) dem Umstand Rechnung tragen, dass die religiösen Traditionen Großbritanniens im Wesentlichen christlich sind („the fact that the religious traditions in Great Britain are in the main Christian“), zugleich aber auch die Lehren und Praxen der anderen wesentlichen, in Großbritannien vertretenen Religionen („the other principal religions represented in Great Britain”) berücksichtigen. Zweitens soll Religionsunterricht in öffentlichen Schulen konfessionslos sein; unbeschadet dessen bleibt Information über konfessionelle Unterschiede erlaubt. Drittens wird in jedem Schulbezirk ein Ständiger Rat für Religionsunterricht („Standing Advisory Council for Religious Education [SACRE])“ eingeführt und mit weitreichenden Kompetenzen ausgestattet. So soll dieser Rat beispielsweise bevollmächtigt sein, per Ausnahmeregelung für einzelne Schulen die Vorschrift aufzuheben, derzufolge der obligatorische gemeinsame Gottesdienst in Schulen im weitesten Sinne christlich sein soll („the broadly Christian character of collective worship“); weiterhin soll der Ständige Rat von der örtlichen Schulbehörde verlangen dürfen, dass diese eine Lehrplankommission („Agreed Syllabus Conference“) einberuft, um die örtlichen Lehrpläne alle fünf Jahre zu überprüfen. Und schließlich, viertens, soll diejenige Teilkommission der Lehrplankommission, in der die religiösen Gemeinschaften außerhalb der anglikanischen Kirche repräsentiert sind, Vertre3
1988 Education Reform Act; siehe http://www.legislation.gov.uk/ukpga/1988/ 40/contents (Zugriff am 14.2.2014).
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ter der wesentlichen nicht-christlichen Religionen, die in der Gegend vertreten sind, einbeziehen. Nachdem dieses reformierte Schulgesetz in Kraft getreten war, konzentrierte sich die religionspädagogische Debatte auf die Auslegung einzelner Bestimmungen, insbesondere auf die Frage, was es eigentlich heiße, dass die religiösen Traditionen Großbritanniens im Wesentlichen christlich seien, und was genau es bedeute, die anderen wesentlichen, im Land vertretenen Religionen im Religionsunterricht zu berücksichtigen. Professor John Hull, damaliger Herausgeber des British Journal of Religious Education und einer der angesehensten Vertreter der professionellen Religionspädagogen, verstand die Forderung des Schulgesetzes, wonach Lehrpläne die Lehren und Praktiken der anderen wesentlichen Religionen in Großbritannien berücksichtigen sollten, als nachträgliche Legitimation für den multireligiösen Religionsunterricht, der schon seit etwa zwei Jahrzehnten in Großbritannien praktiziert werde. Er forderte, schulischer Religionsunterricht dürfe weder allein christlich fundiert („Christian-based“) noch allein auf das Christentum bezogen („Christian -centered“) sein – eine insofern bemerkenswerte Forderung, als das Schulgesetz doch gerade vorschreibt, dass die Lehrpläne den ‚im Wesentlichen christlichen‘ Traditionen Großbritanniens Rechnung zu tragen hätten. Seiner Meinung nach bedeutet die gesetzliche Vorgabe, „die Lehren und Praxen der anderen wesentlichen Religionen [zu] berücksichtigen“, dass kein Lehrplan der Rechtslage genüge, der nicht die Lehre und Praxis verschiedener wichtiger Religionen thematisiert, insbesondere Buddhismus, Christentum, Hinduismus, Islam, Judentum und Sikhismus.4 Unter dem Einfluss von Hull und anderen etablierte sich schnell der Standpunkt unter Religionspädagogen und -lehrern, dass der schulische Religionsunterricht diese sechs Religionen zu thematisieren habe. 1994 erhielt diese Auffassung halboffizielle Unterstützung durch die Veröffentlichung zweier Modell-Lehrpläne durch die staatliche „Lehrplan- und Evaluationsbehörde“ („School Curriculum and Assessment Authority“): Der erste dieser Lehrpläne, „Lebende Religionen heute“ („Living Faiths Today“), war phänomenologisch angelegt; der zweite, „Fragen und Antworten“ („Questions and Teachings“), konzentrierte sich auf die religiöse Praxis. Diese Modell-Lehrpläne wurden später ersetzt durch einen nationalen Rahmenlehrplan (der allerdings nicht verbindlich ist; „Non-Statutory National Framework“, 2004)5. Dieser legt zwar weiterhin den Schwerpunkt auf das Studium der sechs Hauptreligionen, empfiehlt darüber hinaus aber das Unterrichten weiterer Traditionen, wie etwa „Bahaitum, Jainismus und Zoroastrismus“ sowie „säkula4
John M. Hull, ‘The Transmission of Religious Prejudice’, in: British Journal of Religious Education 14 (1992), 69-72. 5 Qualifications and Curriculum Authority, Religious Education – Non-Statutory National Framework, London 2004.
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rer Philosophien wie dem Humanismus“. Der Rahmenlehrplan greift zudem eine Unterscheidung auf, die ursprünglich in den 1990er Jahren von Michael Grimmitt ausgearbeitet worden war, diejenige zwischen „etwas über Religion lernen“ („learning about religion“) und „von Religion lernen“ („learning from religion“). Die Frage, wie Religion und religiöse Phänomene in Schulen gelehrt und den Schülern präsentiert werden sollen, ist seitdem Gegenstand vielfältiger Debatten. Im Zuge dessen wurde eine Reihe unterrichtlicher Zugänge entworfen, einige davon in Verbindung mit einschlägigen Forschungsprojekten. Die wichtigsten und einflussreichsten sind der phänomenologische Ansatz nach Ninian Smart und Michael Grimmitt,6 der interpretierende Ansatz von Robert Jackson7 und der Ansatz des „concept cracking“ von Trevor Cooling8. Aktuelle Forschungen zeigen, dass Lehrer in der Regel eine Reihe verschiedener Zugänge anwenden, wobei sie oftmals Aspekte der einzelnen Ansätze kombinieren. Zudem benutzen Lehrkräfte eine Mehrzahl an Lehrbüchern, die sie typischerweise durch selbst erstelltes Lehrmaterial ergänzen. Tatsächlich existiert ein umfangreiches Korpus empirischer Untersuchungen zum schulischen Religionsunterricht in Großbritannien, das aber in diesem Kontext unmöglich zusammengefasst werden kann. Der führende Forscher auf diesem Gebiet ist Professor Leslie Francis, der seit den 1980er Jahren vor allem quantitativ-empirische Studien erstellt hat.9 Ein Großteil seiner Arbeit konzentriert sich auf die Herausarbeitung individueller Unterschiede in der Haltung gegenüber Religion während Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter. Außerdem widmet er sich der Frage nach der Besonderheit kirchlicher bzw. konfessioneller Schulen, sowohl innerhalb des staatlich refinanzierten als auch innerhalb des freiwillig unterstützten Sektors des Schulwesens. Sehr allgemein formuliert, stützt seine empirische Arbeit die These, dass Religion und religiöses Engagement positiv zur moralischen, sozialen und spirituellen Entwicklung der Schüler beitragen. 4. Jüngste Entwicklungen Ein starker Trend im Blick auf die Entwicklung des britischen Religionsunterrichts geht hin zu einer zunehmenden Zentralisierung. Neben die offizielle Beratung und Steuerung von Religionsunterricht (etwa durch das Non-Statutory National Framework) tritt die Anwendung von Inspektions- und Überprüfungssystemen. Das Fach nähert sich immer wei6
Grundlegend ist Michael Grimmitt, What can I do in RE?, Great Wakering 1973. Robert Jackson, Religious Education: An Interpretive approach, London 1997. 8 Trevor Cooling, Concept Cracking: Exploring Christian beliefs in school, Nottingham 1994. 9 Etwa Leslie Francis, The Values Debate. A voice from the pupils, London 2001. 7
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ter einer Position, die derjenigen anderer Fächer des „National Curriculum“ entspricht. Ein Vergleich der Lehrpläne verschiedener Schulbezirke zeigt, dass die meisten – trotz des Rechts auf lokale Selbstbestimmung – einen weitestgehend ähnlichen Inhalt haben. Eine signifikante Ausnahme ist die Stadt Birmingham. Entgegen der Empfehlung des Rahmenlehrplans sieht der Lehrplan für den Religionsunterricht in Birmingham aus dem Jahr 2007 nicht die Behandlung von sechs Religionen, sondern eben nur die Behandlung der Religionen vor, die im lokalen Kontext pädagogisch und religiös relevant sind. Dies sind weniger als jene sechs. Das Hauptaugenmerk des Lehrplans von Birmingham liegt auf der individuellen Förderung der Schülerinnen und Schüler und darauf, durch die Thematisierung verschiedener Religionen eine Reihe für wünschenswert erachteter Handlungsdispositionen bei den Schülern zu entwickeln. Dieser Lehrplan stellt somit den ersten ernstzunehmendem Versuch dar, die Erkenntnisse der Tugendethik für den Religionsunterricht in England und Wales fruchtbar zu machen. Der Ansatz der Tugendethik korreliert hier mit dem Ziel des Lehrplans, einen Beitrag zur Entwicklung der ganzen Person der Schülerin bzw. des Schülers zu leisten. Der Lehrplan bekräftigt, dass spirituelle und moralische Entwicklung – was immer diese Begriffe genau bezeichnen mögen – das ganze Kind betreffen und seine bzw. ihre Fähigkeiten und sozialen Beziehungen fördern sollen. Deshalb strebt der Lehrplan kognitive, affektive und motivationale Ergebnisse an; er will zudem bestimmte Fähigkeiten und für wünschenswert erachtete Formen des Gemeinschaftslebens fördern. Ein weiterer entscheidender Einfluss auf den Religionsunterricht in England ist die größer werdende Vielfalt der Schulformen, etwa durch den Ausbau von „Schulen mit religiösem Charakter“, von privaten Schulen und Lehranstalten, die alle von den Bestimmungen der Lehrpläne ausgenommen sind, die von der örtlichen Schulbehörde erlassen werden. Die zwei größten Anbieter religiöser schulischer Ausbildung in England, die anglikanische Kirche (Church of England) und die römisch-katholische Kirche haben das Prinzip des „Surplus“ in ihre Lehrplan-Richtlinien aufgenommen. Das heißt, sie wollen sicherstellen, dass der Religionsunterricht an ihren Schulen alle Ziele des nationalen Rahmenlehrplans erreicht, darüber hinaus aber in einen größeren Rahmen religiöser Bildung eingerückt wird, der das religiöse Lernen der Schülerinnen und Schüler in Einklang mit dem Bekenntnis des jeweiligen Schulträgers zu bringen und zu unterstützen versucht. 5. Stärken und Schwächen Was sind nun Stärken bzw. Schwächen des englischen Religionsunterrichts? Eine gravierende Schwäche besteht darin, dass der Religionsunterricht es ausweislich der vorhandenen empirischen Studien zumeist
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nicht schafft, das Interesse der Schüler zu wecken. So zeigt beispielsweise eine groß angelegte Umfrage unter Schülern, durchgeführt 2004 von Dr. Penny Jennings,10 dass nur 29% der Schüler Religionsunterricht interessant finden; nur 16% glauben, dass er ihnen hilft, über ihre eigene Identität nachzudenken, und 53% finden den Religionsunterricht schlicht langweilig. Zusammenfassend stellt Jennings fest: „Der Großteil der Schüler hat nicht das Gefühl, dass der Religionsunterricht relevant ist für ihre spirituelle oder moralische Entwicklung.“ Ein Grund für diese ernüchternde Bestandsaufnahme von Religionsunterricht ist wohl darin zu sehen, dass er zu moralischer Erziehung und zu Themen, die Moral betreffen, auf Distanz gegangen ist und sich fast ausschließlich auf religiöse Phänomene konzentriert. Dadurch hat sich der englische Religionsunterricht von der Lebenswelt der Schüler entfernt. Wenn Religion keine Verbindung mehr zum aufkommenden moralischen Idealismus junger Erwachsener sucht, ist es leicht vorhersehbar, dass diese ihn oft als uninteressant und irrelevant betrachten. Ein unglückseliges Erbe des „Working Paper 36“ und des Aufkommens eines multireligiösen Ansatzes von Religionsunterricht ist in dem Umstand zu sehen, dass ganze Generationen von Religionspädagogen kritiklos die Annahme übernommen haben, religiöse Erziehung, insbesondere christliche Erziehung sei nicht mit einer wahrhaft liberalen Erziehung in Einklang zu bringen. Konfessionalismus jedweder Art wird von vielen als indoktrinierend angesehen. Diese Assoziation ist aus mehreren Gründen, die hier jedoch nicht weiter ausgeführt werden können, nicht überzeugend. Es ist philosophisch durchaus plausibel anzunehmen, dass es Formen christlicher Erziehung geben kann, die das Ziel verfolgen, sowohl zum Glauben einzuladen und diesen zu bekräftigen als auch die Autonomie und moralische Integrität des Individuums zu respektieren. Christlicher Konfessionalismus kann sehr wohl offen, kritisch, dialogisch und engagiert sein. Eine weitere wesentliche Schwäche des englischen Religionsunterrichts besteht darin, dass er es versäumt hat, die Frage nach „religiöser Wahrheit“ und besonders die Tatsache, dass es in unseren post-kolonialen, liberalen, demokratischen Gesellschaften verschiedene und gegensätzliche Versionen religiöser Wahrheit gibt, zu thematisieren. Historisch gesehen hat post-konfessioneller Religionsunterricht in England nur solche pädagogischen Ansätze und unterrichtlichen Zugänge entwickelt, die davon ausgehen, dass alle Religionen gleich gültig sind und dass die Frage der religiösen Wahrheit zwischen Individuen zu strittig ist, um sie in öffentlichen Schulen erörtern zu können. Die Gesellschaft konfrontiert junge Menschen jedoch in jedem Fall mit einem reichhaltigen Kaleidoskop religiöser Ideen und Praktiken. Der englische Religionsunterricht
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Penny Jennings, Cornwall Religious Education Survey: Final report, Truro 2004.
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hat eindeutig darin versagt, den Schülerinnen und Schülern zu helfen, eine kritische Perspektive zu entwickeln, die sowohl die Wahrheitsansprüche ernst nimmt, die von den Religionen erhoben werden, um ihre Überzeugungen und Praktiken zu unterstreichen, als auch relevante Kenntnisse und Kriterien zu vermitteln, mit deren Hilfe solche Ansprüche beurteilt werden können. Schüler müssen mit den nötigen Fähigkeiten ausgestattet werden, um religiöse Phänomene reflektieren und bewerten zu können. Eines der Ziele des Religionsunterrichts besteht selbstverständlich darin, Schülerinnen und Schülern zu ermöglichen, verantwortungs- und respektvoll inmitten eines von religiöser und moralischer Vielfalt geprägten Umfeldes zu leben. Dazu gehört auch die Bereitstellung der Mittel, um Vorurteile und Intoleranz anfechten und überwinden zu können. Es gibt jedoch keinen Beweis dafür, dass der post-koloniale Religionsunterricht in England in dieser Hinsicht erfolgreich gewesen wäre. Zum Schluss seien gleichwohl noch einige Stärken des englischen Religionsunterrichts genannt. Der Umstand, dass alle Schülerinnen und Schüler (mit Ausnahme derer, deren Eltern Einspruch erheben) in der Schule Religionsunterricht belegen müssen, ist als ein positiver Aspekt anzusehen. Dies stellt sicher, dass die meisten Schülerinnen und Schüler eine gewisse Vertrautheit mit der Natur und Vielfalt von Religion sowie einen gewissen Grad an religiöser Bildung erlangen. Die Existenz verschiedener Schulformen mit unterschiedlichen Leitbildern von Religionsunterricht ist ebenfalls positiv. Diese Vielfalt schafft Räume für Innovation, für Experimente sowie für die Umsetzung kreativer Ideen. Sie hat den Effekt, neue Denkweisen und pädagogische Zugänge anzuregen; außerdem reduziert sie die Macht und den Einfluss des Staates, namentlich die potenzielle Gefahr der Einschränkung von Gedankenfreiheit und der Nutzung öffentlicher Einrichtungen für die Implementierung staatlicher Ideologien. Weiterführende Literatur: L. Philip Barnes (ed.), Debates in Religious Education, Abingdon 2012. L. Philip Barnes et al., Does Religious Education Work? A Multi-Dimensional Investigation, London 2013. L. Philip Barnes, Education, Religion and Diversity: Developing a new model of religious education, Abingdon 2014. Michael Grimmitt (ed.), Pedagogies of Religious Education, Great Wakering 2000.
Dr. L. Philip Barnes ist Hochschuldozent für Religionspädagogik und Theologische Bildung am „King’s College” in London.
Teil 2 Perspektiven
Rolf Bade
Stellung des Religionsunterrichts und Anregungen zu seiner Weiterentwicklung aus der Perspektive staatlicher Verantwortung Stellung des Religionsunterrichts
Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland garantiert das Recht auf Glaubens- und Religionsfreiheit. Der konfessionelle Religionsunterricht als ordentliches Unterrichtsfach stellt nach Artikel 7 GG für den Bereich der Schule eine der Konkretionen dieses verfassungsmäßig garantierten Rechts dar. Hierauf beruht in der überwiegenden Zahl der Länder der Bundesrepublik die schulische Ausgestaltung der Glaubensund Religionsfreiheit im Rahmen der landeseigenen Schulgesetzgebung (Ausnahmen: Berlin, Brandenburg, Bremen; Sonderrolle: Hamburg). Die Teilnahme am Religionsunterricht ist ebenso Ausdruck dieser Freiheit wie die Nichtteilnahme am Religionsunterricht aus Gewissensgründen; sprachlich etwas verkürzt wird in diesem Zusammenhang von der „positiven“ und „negativen Religionsfreiheit“ gesprochen. Um der Glaubens- und Religionsfreiheit willen werden in Niedersachsen in der Schule deshalb zwei „Bildungswege“ vorgehalten, die in ihrer Ausgestaltung rechtlich und organisatorisch gleichwertig sein müssen und die für die Schülerinnen und Schüler zu keiner Ungleichbehandlung bei der Wahrnehmung des einen oder des anderen Weges führen dürfen. Diese beiden Wege sind in Niedersachsen gekennzeichnet durch zwei Unterrichtsfächer, den konfessionellen Religionsunterricht und den Unterricht Werte und Normen, in der gymnasialen Oberstufe neben Werte und Normen auch Philosophie. Beide Wege sind bis heute aber noch nicht vollumfänglich ausgestaltet. So ist das Fach Werte und Normen nach dem Niedersächsischen Schulgesetz sowie den einschlägigen untergesetzlichen Regelungen in der Grundschule noch nicht als Unterrichtsfach eingeführt und kann das Fach in der Qualifikationsphase der gymnasialen Oberstufe sowie in der Abiturprüfung noch nicht als Abiturprüfungsfach auf erhöhtem Anforderungsniveau gewählt werden. Der konfessionelle Religionsunterricht ist nicht nur ein evangelischer oder katholischer Religionsunterricht, sondern auch ein jüdischer, orthodoxer und in Zukunft – nach der Entscheidung der Landesregierung vom 16.4.2013 ab dem 1.8.2013 aufsteigend in der Grundschule, ab dem 1.8.2014 aufsteigend im Sekundarbereich I der allgemein bildenden Schulen – auch ein islamischer Religionsunterricht. Der prinzipielle Anspruch der Humanistischen Union auf Einrichtung eines eigenen Weltanschauungsunterrichts spielt aktuell in Niedersachsen noch keine Rolle. Die Teilnehmerzahlen am evangelischen und katholischen Religionsunterricht einschließlich seiner konfessionell-kooperativen Gestalt sind – je
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nach Schulform und Schulstufe zwar unterschiedlich intensiv ausgeprägt – im laufenden Schuljahr 2012/13 insgesamt deutlich höher als die Teilnehmerzahlen am Unterricht Werte und Normen. Die Unterrichtsversorgung ist im Landesdurchschnitt zufriedenstellend, wenngleich an einzelnen Schulen der Religionsunterricht noch immer in zu hohem Umfang ausfällt und das Fach evangelische Religion für bestimmte Schulformen bei den Lehrereinstellungen weiterhin als Mangelfach eingestuft werden muss. Nicht selten liegt die Ursache für den Unterrichtsausfall aber auch an dem konkreten Unterrichtseinsatz der ausgebildeten Religionslehrkräfte. Gegen die oftmals bei allen in und an Schule Beteiligten vorherrschende Meinung, „Mathematik ist wichtiger als Religion“, hat es das einzige Unterrichtsfach, das aus Verfassungsgründen abgewählt werden kann, nicht leicht. Die Unterrichtsversorgung ist übrigens im Fach evangelische Religion auch deshalb nicht immer auskömmlich, weil es vor allem für die Lehrämter an Gymnasien, an berufsbildenden Schulen und an Sonderschulen zu wenig Studierende der evangelischen Religionspädagogik gibt. Eine nicht unwesentliche Ursache dafür ist auch die Haltung der theologischen Fakultäten in der Sprachenfrage bei der Religionspädagogik, die aus schulischer Sicht kaum nachvollzogen werden kann. Es kann nicht richtig sein, dass Studierwillige vom Studium der Religionspädagogik deshalb abgehalten werden, weil sie zertifizierte Kenntnisse in alten Sprachen, z.B. Latinum oder Graecum, nachweisen müssen, die weder für die Lehrerausbildung noch für die Erteilung des Religionsunterrichts von Relevanz sind. Rechtlich gesehen ist der Religionsunterricht an den niedersächsischen Schulen Pflichtfach von Klasse 1 bis 12 bzw. 13, und in der gymnasialen Oberstufe ist er als Belegung-, Einbringungs- und Abiturprüfungsfach noch nie so umfassend abgesichert gewesen wie gegenwärtig. Gleichwohl korrespondieren die rechtliche Stellung des Religionsunterrichts und seine schulische Wirklichkeit nicht in dem gewollten Maße. Denn die Realisierung des Rechtsanspruchs auf die „positive Religionsfreiheit“ stößt in Schule zunehmend dort an Grenzen, wo Schülerinnen und Schüler verschiedener Religionsgemeinschaften und Weltanschauungen aufeinandertreffen und/oder wo die Zahl der konfessionslosen Schülerinnen und Schüler die Zahl der konfessionell und weltanschaulich gebundenen übersteigt. Die Verschiedenheit stellt Schule an bestimmten Schulstandorten vor Schwierigkeiten, die schulorganisatorisch und schulaufsichtlich immer weniger gelöst werden können. Dies auch deshalb, weil in der Schule mehr und mehr der Wille schwindet, einen den Klassenverband partiell auflösenden, ressourcenintensiven und stundenplanmäßig aufwändigen Religionsunterricht für verschiedene Konfessionen einerseits sowie den Unterricht Werte und Normen andererseits vorzuhalten. Schulen reagieren zunehmend mit schuleigenen Lösungen, die die verfassungsmäßig garantierte Glaubens- und Religionsfreiheit nicht mehr eindeutig und kenntlich abbilden. Dies stellt sich zwar für die Schulen der
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verschiedenen Schulformen noch unterschiedlich ausgeprägt dar, ist aber letztlich überall zu beobachten. Der Religionsunterricht wird in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaft erteilt. Unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechts und dem gesetzlich vorgegebenen Bildungsziel von Schule haben die Religionsgemeinschaften das Recht, sich davon zu überzeugen, ob der Religionsunterricht in Übereinstimmung mit ihren Grundsätzen erteilt wird. Als ordentliches Unterrichtsfach ist der Religionsunterricht Pflichtfach, versetzungsrelevant, wird von staatlich ausgebildeten Lehrkräften erteilt, die von der Religionsgemeinschaft eine Unterrichtserlaubnis erhalten haben, und basiert auf vom Staat in Übereinstimmung mit den Kirchen erlassenen Lehrplänen und zugelassenen Schulbüchern. Nun kann und will das Land nicht von sich aus und ohne Einvernehmen mit den Kirchen den Religionsunterricht weiterentwickeln oder gar in einen Unterricht für alle umgestalten. Diesbezüglich heißt es auch im Koalitionsvertrag der die neue Landesregierung tragenden Mehrheitsfraktionen im Niedersächsischen Landtag, dass der Religionsunterricht „im Dialog mit den Kirchen weiterentwickelt werden“ soll. Doch in welche Richtung? Nach den Wahlprogrammaussagen des kleineren Koalitionspartners eher in Richtung eines im Klassenverband für alle Schülerinnen und Schüler erteilten Unterrichts, durch den sie in die verschiedenen Religionen und Weltanschauungen sowie in die in der Gesellschaft wirksamen Wertvorstellungen und Normen eingeführt werden. Hierzu müsste aber nicht nur das Schulgesetz in den §§ 124 bis 128 NSchG grundlegend geändert werden. Zuvor wäre auch zu prüfen, ob ein solcher Unterricht in Übereinstimmung mit dem in Artikel 7 in Verbindung mit Artikel 4 GG grundgelegten Verfassungsgedanken der „positiven“ und „negativen Religionsfreiheit“ stünde. Der Gedanke des kleineren Koalitionspartners hat keinen Eingang gefunden in den Koalitionsvertrag, und der größere Koalitionspartner hat schon verdeutlicht, dass eine Abschaffung des Religionsunterrichts in seiner jetzigen Rechtsform für ihn nicht zur Debatte steht. Gleichwohl wünschen beide Koalitionspartner den Dialog mit den Kirchen über die Weiterentwicklung des Religionsunterrichts. Es wäre sicherlich weiterführend, wenn die Kirchen von sich aus entsprechende Vorstellungen entwickeln und möglichst gemeinsame Vorschläge in die Diskussion einbringen könnten. Wie für Schule insgesamt das Bildungsziel der Pluralitätsfähigkeit, also das Erlernen des gekonnten Umgangs mit Verschiedenheit, an Bedeutung gewinnt, so gilt dieses auch für den Religionsunterricht, der im Übrigen aufgrund seines Gegenstands besonders geeignet ist, das Bildungsziel der Pluralitätsfähigkeit zu fördern. Ohne seine verfassungsmäßige Grundlage in Frage und ihn in seiner konfessionellen Gestalt in der Schule zur Diskussion stellen zu wollen, scheint es angesichts der zunehmenden Pluralität und kulturellen Vielfalt
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in Gesellschaft und Schule in der Tat aber geboten, den rechtlichen Rahmen für den Religionsunterricht weiterzuentwickeln und eine Antwort zu finden auf die beschriebenen Alltagsprobleme mit diesem Unterricht. Hierzu einige Gedankenanstöße: 1. Ausgangspunkt aller Neuüberlegungen sollte im Sinne der „positiven Religionsfreiheit“ der konfessionelle Religionsunterricht deshalb bleiben, weil er sich mit seiner je eigenen Antwort auf die religiöse Wahrheitsfrage hervorhebt und auch unterscheidet. Hier wird es keine Einebnungen geben können, keinen Verzicht auf diese, die Existenz betreffende Antwort und keine Reduktion auf z.B. religionskundliche Kenntnisse, gemeinsame übergreifende ethische Inhalte oder unterschiedslose Riten, Feiern und Vollzüge. Das Genannte gehört alles zur Schule dazu, die Beantwortung der religiösen Wahrheitsfrage aber beschreibt die Differenz, die Konfessionalität, die bei aller Gemeinsamkeit auch zur Geltung kommen muss, um die subjektbezogene Auseinandersetzung mit ihr im konfessionellen Religionsunterricht als Teil des Bildungskanons von Schule zu gewährleisten. Insoweit braucht Bildung Religion. 2. Weil aber der konfessionelle Religionsunterricht auch ein einladender, offener Religionsunterricht, damit seitens der Schülerschaft bereits jetzt schon in Teilen ein plural zusammengesetzter Religionsunterricht ist, ermöglicht die je eigene Antwort auf die religiöse Wahrheitsfrage den christlichen Konfessionen, die diese in großer Übereinstimmung bei Wahrung bestimmter Differenzen geben können, ein gemeinsames Vorgehen. Der von der evangelischen und katholischen Kirche in Zusammenarbeit mit dem Land auf den Weg gebrachte konfessionellkooperative Religionsunterricht könnte sozusagen als „christlicher Religionsunterricht“ in den Schulen aller Schulformen und in allen Schuljahrgängen eher zum üblichen Fall und der getrennte Religionsunterricht dieser beiden Konfessionen eher zum besonderen Fall dort werden, wo die Schülerzahlen dieses schuljahrgangsbezogen, aus Sicht der Konzeption der Kerncurricula ggf. auch auf zwei Schuljahrgänge bezogen, erlauben. Die gegenwärtigen Erlassbestimmungen für den konfessionellkooperativen Religionsunterricht wären mit Bezug auf die ökumenischen Gemeinsamkeiten weiterzuentwickeln. Mit Blick auf die Berücksichtigung der jeweils eigenen konfessionellen Inhalte bei der Erteilung des Unterrichts, den erforderlichen wechselseitigen Einsatz der evangelischen und katholischen Religionslehrkräfte in diesem Unterricht sowie die Dokumentation des Unterrichts auf dem Zeugnis, sind die Erlassvorgaben bereits zukunftstauglich. Die fachbezogenen Kerncurricula und Einheitlichen Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung zeigen den gemeinsamen Weg bei Wahrung notwendiger „konfessioneller Fenster“ deutlich auf, müssten aber, von beiden Seiten gemeinsam verantwortet, noch fortgeschrieben werden. Bestimmte Schulformen oder Schulstufen wie die berufsbildenden Schulen, die Förderschulen oder die gymnasiale
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Oberstufe kommen im Übrigen jetzt schon ohne einen durchgehenden konfessionell-kooperativen Religionsunterricht nicht mehr aus. 3. Phasen der Begegnung und des gemeinsamen Unterrichts zwischen dem evangelisch und katholisch verantworteten konfessionell-kooperativen Religionsunterricht, zu dem auch der orthodoxe Religionsunterricht hinzutreten könnte, sowie dem jüdischen oder dem islamischen Religionsunterricht werden eher auf wenige Schulstandorte nicht nur aus quantitativen, sondern auch aus qualitativen Gründen zunächst beschränkt bleiben müssen. Gleichwohl könnten sie zeitlich befristet modellhaft und systematisch erprobt werden mit Zustimmung der beteiligten Religionsgemeinschaften. Solche Modelle könnten sich orientieren an den didaktischen Prinzipien der Schülerorientierung, der Traditions-orientierung, der Authentizität und der dialogischen Offenheit und könnten sich auf ein gemeinsam verabredetes Thema beziehen, dass zeitgleich im getrennten, phasenweise auch gemeinsamen Unterricht behandelt würde und deren Ergebnisse gemeinsam zusammengefasst, ggf. auch präsentiert würden. Das „Hamburger Modell“ bietet in dieser Hinsicht Anregungen, wenngleich es aus Rechtsgründen nicht auf Niedersachsen übertragen werden kann. In solchen Modellen wäre weiterhin der konfessionsgebundene, nicht der religionskundliche Denkansatz leitend. Solche Modellversuche könnten auf Antrag der Schule nach Zustimmung der Religionsgemeinschaften vom Land genehmigt werden. Falls von den beiden Kirchen und den anderen Religionsgemeinschaften gewollt, wäre es auch denkbar, dass mit Unterstützung des Landes für solche Modelle geeignete Unterrichtseinheiten entwickelt und den Schulen vorgestellt werden. 4. Immer wieder wird die Schulbehörde mit der Frage aus Schulen konfrontiert, ob die Möglichkeit eröffnet werden kann, in schulischen Einstiegsphasen – z.B. nach dem Wechsel vom Elementar- in den Grundschulbereich oder von der Grundschule in die ersten beiden Schuljahrgänge der weiterführenden allgemein bildenden Schulen – oder bei einem besonders schwierigen sozialen Umfeld von Schule dann, wenn es nachweislich zu komplexen Gruppenbildungen und Findungsprozessen kommt, den Rechtsanspruch der Schülerinnen und Schüler auf die Erteilung des konfessionellen Religionsunterrichts bzw. des Unterrichts Werte und Normen zeitlich befristet zugunsten eines gemeinsamen Unterrichts zurückzustellen, um Gruppenfindungen und Gruppenstabilitäten umfassend zu ermöglichen und zu fördern. Der leitende Gesichtspunkt der Anfrage der Schulen ist dabei ein pädagogischer, begründet in der besonderen Situation der Lerngruppen. Der Gedanke des zeitlich befristet gemeinsamen Unterrichts soll nach Aussagen der anfragenden Schulen insbesondere der Förderung des Bildungsziels der Pluralitätsfähigkeit sowie des Dialogs angesichts der kulturellen Vielfalt dienen und hierauf eine organisatorische Antwort darstellen. Die Antwort der Schulbehörde
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ist unter Verweis auf die Rechtslage negativ. Allerdings ist auch bekannt, dass Schulen insbesondere bestimmter Schulformen diesbezügliche Fragen schon nicht mehr stellen, sondern, in der Regel unter großem Einverständnis der schulischen Gremien auch einschließlich der Fachkonferenzen Religion und Werte und Normen, entsprechend verfahren. Der Forderung, in diesen Schulen über die Schulaufsicht die Rechtslage durchzusetzen, wird zwar entsprochen. Doch die an diesen Schulen konfrontative Gegenüberstellung von Konfessionalität und Pädagogik hilft letztlich dem Anliegen des Religionsunterrichts an diesen Schulen nur bedingt weiter. Aus Sicht der Schulbehörde müsste deshalb über die angedeutete Problematik gesprochen werden. Inwieweit die beiden großen Kirchen, denn rein quantitativ gesehen geht es in erster Linie um den evangelischen und den katholischen Religionsunterricht, hier Gesprächsund Handlungsbedarf sehen, ist von ihnen zu entscheiden. 5. Wer sich aus Gewissensgründen vom Religionsunterricht abmeldet, darf nicht ,durch die Hintertür‘ dem Anliegen des konfessionellen Religionsunterrichts wieder zugeführt werden. Hier ist das Recht der sog. negativen Religionsfreiheit zu achten und zu respektieren. Und Schülerinnen und Schüler, die keiner Religionsgemeinschaft angehören und auf Grund eigener Entscheidung an keinem Religionsunterricht teilnehmen, müssen an dem vom Staat vorgesehen Unterricht Werte und Normen teilnehmen, um sich mit den in unserer Zivilgesellschaft vorherrschenden Wertvorstellungen und Normen auseinanderzusetzen und in sie eingeführt zu werden. Die Alternative ‚Religionsunterricht oder Freistunde‘ entspricht nicht dem Bildungsziel von Schule. Deshalb sollte geprüft und mit den Religionsgemeinschaften erörtert werden, ob die Verpflichtung zur Teilnahme am Unterricht Werte und Normen nach § 128 NSchG nicht erst ab dem 5., sondern auch bereits ab dem 1. Schuljahrgang zu gelten hat. 6. Die Durchführung des Religionsunterrichts liegt in erster Linie in der pädagogischen Verantwortung der Religionslehrkraft. Diese ist jedoch nicht nur gebunden an die landeseinheitlichen Vorgaben wie z.B. die Lehrpläne (Kerncurricula), Stundentafeln, Prüfungsbestimmungen etc., sondern auch an die Beschlüsse der Fachkonferenz etwa mit Bezug auf das schuleigene Kerncurriculum, das Gewichtungsverhältnis von schriftlichen Lernkontrollen und Mitarbeit im Unterricht, die Anzahl und Formen der Leistungsüberprüfungen etc. Der Zusammenarbeit der Religionslehrkräfte in der Fachkonferenz kommt von daher eine ebenso entscheidende Bedeutung zu wie der Zusammenarbeit der verschiedenen Fachkonferenzen. Obwohl rechtlich auch anders organisierbar, ist die eine Fachkonferenz „Religion“, oder auch die eine Fachkonferenz „Religion und Werte und Normen“, an Schulen inzwischen üblich. Diese Form der Zusammenarbeit bietet die Möglichkeit, bei Wahrung der inhaltlichen Verschiedenheit Gemeinsamkeit und Differenz beim schulei-
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genen Curriculum, bei der Stundenplangestaltung oder bei den Vorschlägen zum Lehrereinsatz ebenso einvernehmlich zu erarbeiten und zu organisieren wie die Mitwirkung bei der Gestaltung des Schulprogramms und der religiösen Feste, Feiern und Riten in der Schule gemeinsam wahrzunehmen. Dem Anliegen der verschiedenen Fächer dieser Fächergruppe kann in der innerschulischen Auseinandersetzung um Programm, Personal und Mittel auf diese Weise deutlich mehr Gewicht verliehen werden. Zusammenfassend: Eingedenk des geltenden Verfassungsauftrags wird die Antwort auf die zunehmende Pluralisierung und kulturelle Vielfalt, auch Säkularisierung in unserer Gesellschaft nicht in dem Ersatz des konfessionellen Religionsunterrichts durch einen religionskundlichen Unterricht für alle in der Schule bestehen können, sondern nur in einem Mehr an religiöser Bildung und interreligiöser Verständigung. Zwar fußen religiöse Bildung und interreligiöse Verständigung zentral auf der theologisch unterschiedlichen Beantwortung der religiösen Wahrheitsfrage, und diese muss bei aller Gemeinsamkeit kenntlich bleiben. Die Kenntlichkeit sollte aber zunehmend in Gemeinsamkeit zum Ausdruck gebracht werden. Um der religiösen Bildung und interreligiösen Verständigung sowie des Bildungsziels der allgemeinen und der religiösen Pluralitätsfähigkeit willen sollte mit Blick auf den Religionsunterricht zukünftig nicht der jeweilige Behauptungswille, sondern das grundlegende gemeinsame religionspädagogische Anliegen leitend sein, dabei aber das „konfessionelle bzw. religiöse Fenster“ mit der je eigenen Perspektive offen zu halten und nicht zu schließen. Mit anderen Worten: So viel Gemeinsamkeit wie möglich, so wenig Differenz wie nötig! Ministerialrat Rolf Bade war bis 2013 langjährig Referatsleiter im niedersächsischen Kultusministerium, Hannover, mit Zuständigkeit für Gymnasien, Gesamtschulen, Deutsche Schulen im Ausland und für zentrale Prüfungen sowie Religionsunterricht aller Schulformen. Zudem war und ist er Synodaler der Hannoverschen Landeskirche und Vorsitzender des Bildungsausschusses dieser Kirche.
Kerstin Gäfgen-Track
Zur Zukunft des Religionsunterrichts aus einer evangelisch-kirchlichen Perspektive1 Zukunft des Religionsunterrichts
Der Religionsunterricht als ein Seismograph des Verhältnisses von Staat und Kirche Der säkulare Staat, der bei einer grundsätzlichen Trennung von Staat und Kirche dennoch auf die Kirchen, Religionen und Weltanschauungen in Fragen von Wahrheit, Sinn und Orientierung bei der Begründung von Recht und Ethik zurückgreifen kann, hat seine Wurzeln nicht allein in der Aufklärung. Luther war vielmehr als Theologe der erste, der die Trennung von Staat und Kirche konstruktiv zu denken begann. Er entwickelte dafür die komplexe Denkfigur der Rede von den zwei Reichen und Regimenten, die zugleich als theologische Grundlage für die dennoch zunächst weiter gegebene enge Verflechtung mit den politischen Machthabern diente. Luther und andere Reformatoren wussten darum, wie notwendig und letztlich entscheidend der Beitrag politischer Machthaber und einflussreicher Personen der Gesellschaft zur gesellschaftlichen und kirchlichen Durchsetzung der Reformation war. Aus dieser historischen Konstellation heraus gibt es bis heute in Deutschland eine grundsätzliche Trennung zwischen Kirche und Staat, und zugleich versteht sich Kirche als mitverantwortlich für das Gelingen gesellschaftlichen Zusammenlebens und leistet dazu aktiv ihren Beitrag. Die sich im Laufe der Zeit immer weiter ausdifferenzierte Denkfigur des „säkularen Staates“ für die Unterscheidung von Staat und Religion kann gleichzeitig die Funktion von Religion und Religionsgemeinschaften für die Zivilgesellschaft bejahen. Art. 7.3 GG schreibt fest, dass der säkulare und damit religiös neutrale Staat das Recht auf religiöse Bildung (positive Religionsfreiheit) selbst nicht gewähren kann, weil er damit seine eigenen – säkularen – Grundlagen verletzen würde. Um das Recht auf religiöse Bildung von Kindern und Jugendlichen zu gewährleisten, ist der konfessionelle Religionsunterricht grundrechtlich geschützt und wird durch den Staat jeweils gemeinsam mit einer Religionsgemeinschaft (res mixta) verantwortet. Damit ist auch der konfessionelle Religionsunterricht in der komplexen Denkfigur eines säkularen Staates, der gleichzeitig die zivilgesellschaftliche Funktion von Religion und Religionsgemeinschaften bejaht und fördert, verortet. Der konfessionelle Religionsunterricht, insofern er von 1
Das für die Ringvorlesung erarbeitete Manuskript konnte für die Veröffentlichung nur geringfügig überarbeitet werden. Nur wenige Literaturhinweise wurden ergänzt.
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Staat und Religionsgemeinschaft gemeinsam verantwortet wird, ist das konkrete Modell dieser auch das Grundgesetz prägenden Denkfigur. Damit wird Schule zu einem Ort, an dem die Stellung von Religion in einer Gesellschaft wesentlich erkennbar ist. Anders gesagt: Der Religionsunterricht ist Seismograph für das Verhältnis von Staat und Kirche ebenso wie für die Stellung von Religion in einer Gesellschaft. Wenn die Religion aus der Schule gedrängt wird, verlieren die Kirchen, aber auch zukünftig die muslimischen Gemeinschaften und Verbände ein entscheidendes Element ihrer öffentlich wahrnehmbaren Gestalt. Die Diskussion, ob die Schule den Religionsunterricht braucht, führt letztlich zur Frage, ob die Gesellschaft die Kirchen braucht, wenn der Staat als Institution selbst weltanschaulich und religiös neutral ist. Dabei sind zwei Überlegungen entscheidend: Ist die Begründung eines Staates allein rechtspositivistisch denkbar, ohne dass es in einer Gesellschaft prägende Religionen und Weltanschauungen gibt, die die Gestalt eines Staates und sein Selbstverständnis wesentlich mitprägen? Die Menschen, die die Gesellschaft bilden, sind in der Regel weltanschaulich und religiös gebunden, und damit gilt es umzugehen. Von daher kann der säkulare Staat grundsätzlich zu seiner Begründung auch auf die Religion zurückgreifen. Für diese Begründung ist Ernst-Wolfgang Böckenförde2 prägend. Jürgen Habermas3 geht in seiner Argumentation davon aus, dass die Zivilgesellschaft religiös gebundene Menschen und darüber hinaus Religionsgemeinschaften brauche, die die Funktion wahrnehmen, für die Mitglieder einer Religionsgemeinschaft den Dialog zu organisieren, den Konsens zu suchen und die gemeinsame Verantwortungsübernahme zu fördern. Wenn, wie zu Beginn der französischen Bewegung des Laizismus geschehen, die Schule der Ort wird, an dem die Religion zuerst aus der Gesellschaft gedrängt wird, dann sehe ich Gedanken von Jürgen Habermas aufgreifend deutlich eine „entgleisende Säkularität“4 in unserer Gesellschaft als eine realistische Möglichkeit. Habermas warnt eindringlich vor einer solchen „entgleisenden Säkularität“, die selbst zerstörerisch wird, gerade aufgrund der entgrenzten wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Globalisierung. Eine „entgleisende Säkularität“, die vergisst, dass auch ein säkularer Staat von Menschen lebt, die einen Wertekonsens bejahen, die eine Orientierung für ihr Leben besitzen, die Wahrheitsfrage stellen und zum ethischen Handeln motiviert sind. Damit haben die Religionen eine Funktion im säkularen Staat, genauer eine Funktion für die Bürge2
Grundlegend Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der säkularisierte Staat. Sein Charakter, seine Rechtfertigung und seine Probleme im 21. Jahrhundert (Themenband der Carl Friedrich von Siemens Stiftung 86), München 2007, und ders., Recht, Staat, Freiheit, Frankfurt a.M. 2006. 3 Ebenfalls grundlegend Jürgen Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a.M. 2005; ders., Nachmetaphysisches Denken II. Aufsätze und Repliken, Frankfurt a.M. 2012, und ders. und Joseph Ratzinger, Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion, Freiburg i.Br. 2005. 4 Siehe z.B Habermas/Ratzinger, Dialektik (s.o. Anm. 3), 16f.
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rinnen und Bürger und damit sind sie öffentlich, auch öffentlich wahrnehmbar. Eine im säkularen Staat öffentliche Religion ist viel weniger anfällig für Radikalismen und Fundamentalismen. So ist das Ziel, die Funktion von Religion im säkularen Staat grundsätzlich nicht mehr zu fördern und schließlich zu unterbinden, nicht die Vollendung des säkularen Staates; vielmehr ebnet sie den Weg vom säkularen Staat zum laizistischen Staat, beginnend in der Schule. Religionen und Weltanschauungen im schulischen Kontext Der Religionsunterricht leistet einen nicht zu überschätzenden Beitrag dazu, dass sich im säkularen Staat Religion diskursiv und von ihrem zivilgesellschaftlichen Engagement her bewährt bzw. bewähren muss. Das sog. Böckenförde-Theorem gilt auch für die Schule: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“5 Auch die öffentliche Schule lebt von Voraussetzungen, die sie selbst weder garantieren kann noch geschaffen hat. Das Niedersächsische Schulgesetz benennt sie: „Die Schule soll […] die Persönlichkeit der Schülerinnen und Schüler auf der Grundlage des Christentums, des europäischen Humanismus und der Ideen der liberalen, demokratischen und sozialen Freiheitsbewegungen weiterentwickeln.“6 Überlegungen, das Schulgesetz in § 2 nicht mehr auch vom Christentum her zu begründen, würde die Frage heraufbeschwören, was an die Stelle der Begründung des Bildungsauftrages auch aus dem Christentum heraus treten sollte und könnte. Schule soll grundlegend, so will es das Schulgesetz, auch Werte, Sinn und Orientierung vermitteln, und sie braucht für ihre Arbeit zumindest einen elementaren Werte- und Normenkonsens (Wahrhaftigkeit, Gemeinsinn, Gewaltfreiheit etc.), der für die Arbeit an der Schule verbindlich ist, und darüber hinaus eine Orientierung an Werten und Normen, die den Schülerinnen und Schülern vermittelt werden sollen. Diese Werte und Normen kann „Schule“ aber nicht aus sich selbst generieren, sondern sie ist auf andere Quellen und Begründungen angewiesen, nicht zuletzt das Christentum. Schule braucht zudem ein Selbstverständnis von Bildung und Erziehung, denn gute Schule ist mehr als ein funktionierendes System der Kompetenzvermittlung. Wenn sie dies sein will, braucht sie auch einen kompetenten Umgang mit religiösen Fragen, dafür braucht sie Kompetenz in Sachen Religion und Weltanschauung, um so auch den Dialog der Schülerinnen und Schüler über ihre unterschiedlichen religiösen und weltanschaulichen Standpunkte zu ermöglichen. Religion ist aus Schule auch deshalb nicht wegzudenken, weil sie Teil der Identität von Schülerinnen und Schülern, Lehrkräften und Mitarbeiten5
Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, jetzt in: ders., Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt a.M. 52013, 112. 6 NSchG § 2.
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den sowie der Eltern ist. Auch die sich plural verstehende Schule ist auf die Persönlichkeit und Identität aller an ihr Beteiligten angewiesen, sonst wird Pluralität zur Überforderung. Grundsätzliche Überlegungen zum Religionsunterricht Für die evangelischen Landeskirchen in Niedersachsen ist es selbstverständlich, dass der Religionsunterricht schulischer Unterricht und keinesfalls kirchlicher Unterricht an Schule ist. In Niedersachsen werden nur ca. 2 bis 3% aller evangelischen Religionsstunden durch kirchliche Kräfte erteilt. Dies macht deutlich, Religionsunterricht ist staatliche Aufgabe als Teil des schulischen Bildungsauftrages und nicht Grenzüberschreitung von Kirche in den Bereich der Schule. Der Religionsunterricht begründet sich aus dem Bildungsauftrag der öffentlichen Schule. Bildung braucht Religion. Die religiöse Frage ist Teil der Bildungsbiographie eines jeden Menschen, sie muss – ggf. auch ablehnend gegenüber einer religiösen Bindung – geklärt werden. Wenn der Religionsunterricht im Bildungsauftrag der Schule begründet ist, bedeutet dies für die evangelischen Landeskirchen, dass der Religionsunterricht keinesfalls aus der Selbsterhaltung von Kirche heraus legitimiert werden kann und soll. Der Religionsunterricht hat keine Funktion für Kirche, insofern er der Identitätsbildung und des Kompetenzerwerbs in religiösen und weltanschaulichen Fragen der Schülerinnen und Schülern dient. Religionsunterricht hat seinen Ort an öffentlicher Schule nicht um der Kirche und ihrer Zukunft willen, sondern um der Schülerinnen und Schüler willen und um des Gelingens von Schule als ganzer willen. Der Religionsunterricht ist aber auch an der Schule zu gewährleisten um der notwendigen Funktion der Religion im säkularen Staat willen, die mit dem kirchlichen Öffentlichkeitsauftrag korrespondiert. Der Staat sollte es umgekehrt tolerieren, dass bei dem einzelnen Schüler oder der einzelnen Schülerin der Religionsunterricht einen Beitrag dazu leistet, dass sich dieser für ein bestimmtes religiöses Bekenntnis entscheidet. Das Verständnis von Religionsunterricht als res mixta von Staat und Kirche wird keineswegs infrage gestellt. Evangelische Kirche engagiert sich von ihrem eigenem Bildungsverständnis her grundsätzlich für das Gelingen von Bildung in Schule und Hochschule. Sie engagiert sich im Besonderen für den Religionsunterricht, weil für ihn – weiterhin gut begründbar – die Bindung an ein Bekenntnis und damit auch die Lehre und Praxis einer Religionsgemeinschaft konstitutiv ist. Daraus ergibt sich für die evangelische Kirche eine vierfache Aufgabe: − Sie ist Anwältin des Religionsunterrichts zugunsten der Schülerinnen und Schüler, − sie trägt ihren Teil zu einer kritischen selbstreflexiven und wissenschaftlichen Standards entsprechenden Theologie und insbesondere Religionspädagogik bei,
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− sie eröffnet den Schulen die notwendigen Räume, um die religiöse Praxis kennenzulernen, und − sie fördert und unterstützt die Religionslehrkräfte. Die Stärke des Religionsunterrichts an der Schule hängt nicht zuletzt an der Unterstützung der Lehrkräfte durch Kirche und Kirchengemeinden vor Ort ab. Die gelebte Religion der Religionslehrerin bzw. des Religionslehrers braucht die kirchliche Gemeinschaft, die ein wesentliches Kennzeichen des christlichen Glaubens darstellt. Zur Zukunft des Religionsunterrichts Das brandenburgische Modell eines gemeinsamen Unterrichtes „Lebenskunde, Ethik, Religionskunde (LER)“, ein religionskundlicher Unterricht oder ein „Werte und Normen“-Unterricht für alle gilt vielen Schulleitungen und auch Schulvorständen als angemessener und dialogfähiger. Das wird einerseits vielfach mit dem Bemühen um Inklusion begründet, andererseits mit dem Bestreben, den konfessionellen Religionsunterricht als nicht mehr zeitgemäß oder als kirchliches Privileg aus den Schulen zu drängen. Es gibt aber bislang keinen Nachweis, dass ein „Unterricht für alle“, der religionskundliche, weltanschauliche, ethische und lebenskundliche Fragen behandelt, die Inklusion signifikant verstärkt und den Dialog zwischen den Schülerinnen und Schülern dezidiert fördert. Die hier vertretene Position geht davon aus, dass Menschen ihre eigene Religion im Dialog immer nur dann zeigen können, wenn sie sie kennen, verstehen und argumentativ zur Sprache bringen können. Es gibt keine positionslose, neutrale Religion, die eine Lehrkraft dann „neutral“ vorstellen könnte. Jede Lehrkraft wird auch bei einem religionskundlichen Ansatz immer ihre eigene religiöse oder weltanschauliche Überzeugung mit einbringen bzw. bewusst oder unbewusst aus der Perspektive ihrer eigenen religiösen oder weltanschaulichen Position die eigene oder andere Positionen darstellen. Es gibt keine Religion ohne Bekenntnis und ohne die Frage nach der Wahrheit und dem Heil. Religion ergreift den Menschen immer existentiell und ist nie nur intellektuelle Übung. Der Religion in ihrer Eigenart kann nur ein konfessioneller oder „religiöser“ Religionsunterricht Rechnung tragen. Ein Religionskundeunterricht kann dem Proprium von Religion nicht gerecht werden. Die Bildung über Religion ist nur ein Teil von religiöser Bildung, die Bildung in Religion ist. Der Versuch, einen „Religions(kunde)- und Werte-Unterricht für alle“ zu entwickeln und wie in Berlin diesen wertegebundenen Unterricht staatlich allein zu verantworten und nicht als res mixta zu begreifen, impliziert, dass der Staat, der dieses Bestreben von Schulen gegenwärtig – ob bewusst, wäre noch zu klären – toleriert, sich an seinen eigenen säkularen Grundlagen vergreift und auch das durch das Grundgesetz geschützte Recht (Art. 7.3) auf positive Religionsfreiheit und damit religiöse Bildung an öffentlicher Schule untergräbt.
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Deshalb halten die evangelischen Landeskirchen in Niedersachen an einem Religionsunterricht auf der Basis von Art 7.3 GG fest und sind zugleich bereit, diesen weiterzuentwickeln, an Veränderungen der gegenwärtigen Bedingungen und der schulorganisatorischen Gestaltung mitzuarbeiten. Für einen Religionsunterricht auf Basis von Art. 7.3 GG sind konstitutiv: − die Mitverantwortung der Religionsgemeinschaft; − die Bindung an ein konkretes religiöses Bekenntnis („Positionalität“) und eine bestimmte religiöse Praxis; − eine gewisse Größe7 und Stabilität der Religionsgemeinschaft; − die Bejahung des säkularen Staates durch die Religionsgemeinschaft und aktive Mitwirkung der Religionsgemeinschaft in der Zivilgesellschaft; − eine kritische, selbstreflexive und wissenschaftlich verantwortete Theologie der jeweiligen Religion und speziell eine theologisch, pädagogisch, didaktisch und methodisch ebenso verantwortete Religionspädagogik; − das Stellen der Wahrheitsfrage ebenso wie Einsicht in ihre bleibende Unabgeschlossenheit ebenso wie die Frage nach dem Heil und das Eröffnen einer Daseins- und Handlungsorientierung; − die Förderung der Toleranz und des Dialogs zwischen den Religionen und Weltanschauungen, auch an der Schule und hier zusätzlich die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit anderen Fächern und die Mitarbeit im Rahmen der Schulkultur; − die Förderung zivilgesellschaftlichen Engagements und − die Identität von gelebter und gelehrter Religion bei der Lehrerin oder dem Lehrer. Wenn diese für einen Religionsunterricht an öffentlicher Schule konstitutiven Punkte erfüllt werden, kann der Religionsunterricht in seiner konkreten Gestalt einen unverzichtbaren Beitrag zur religiösen Bildung von Schülerinnen und Schülern, zur Gestaltung der Schulkultur und für die Funktion von Religion im säkularen Staat leisten. Gerade die verantwortete Positionalität des Religionsunterrichts schafft Transparenz und gewährleistet Authentizität. Wie immer sich der Religionsunterricht weiterentwickeln wird, ein allein staatlich verantworteter Werte- und Normenunterricht für alle und damit ohne eine Abwahlmöglichkeit, der auch eine religiöse Bildung leisten soll, wäre die schlechteste Möglichkeit und ist aus kirchlicher Sicht um der religiösen Bildung von Schülerinnen und Schülern auf jeden Fall abzulehnen. Nach Einschätzung der evangelischen Landeskirchen wird das Land Niedersachsen in nächster Zukunft gemeinsam mit den Kirchen auf ein 7
Eine Präzisierung ist hier schwer vorzunehmen. Es ist unabhängig vom Anteil an der Gesamtbevölkerung ein jüdischer Religionsunterricht anzubieten, aber ob ein speziell mennonitischer Religionsunterricht (wie in Hessen möglich) erteilt werden sollte oder ob Schülerinnen und Schüler bewusst am Fach evangelische Religion teilnehmen sollten, wäre ggf. genau zu prüfen.
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Zwei- bis Drei-Säulen-Modell für den Religionsunterricht zugehen und dafür das Einvernehmen mit den Kirchen ebenso wie mit dem Zentralrat der Juden und den Zusammenschlüssen der muslimischen Gemeinschaften suchen. Der evangelische und der katholische Religionsunterricht werden zumeist8 als konfessionell-kooperativer Religionsunterricht9 geführt werden (erste Säule) und der Werte- und Normen-Unterricht bildet die zweite Säule. Dies wird jeweils von Klasse 1-12 oder 13 gedacht. An den Schulen, an denen genügend Schülerinnen und Schüler muslimischen Bekenntnisses unterrichtet werden, wird islamischer Religionsunterricht als dritte Säule ein- bzw. durchgeführt werden. An einigen Standorten wird es auch selbstverständlich jüdischen Religionsunterricht geben, der auf besondere Weise zu fördern ist. Ein solches Zwei- bis Drei-Säulen-Modell einschließlich der Möglichkeit des jüdischen Religionsunterrichts ist schulorganisatorisch möglich und widerspricht auch nicht dem Gedanken der Inklusion. Denn der Gedanke der Inklusion wäre überzogen, wenn er keine Differenzierungen, auch außerhalb des Klassenverbandes, und keine Wahlmöglichkeit beinhalten würde. Der konfessionell-kooperative Religionsunterricht Zwischen Evangelisch und Katholisch sind Differenzen, auch in der Frömmigkeitspraxis, aus guten theologischen Gründen überwunden oder werden immer mehr nivelliert, vielmehr noch werden sie in ihrer Bedeutung marginal angesichts der Herausforderungen an das Christentum auch durch die anderen Weltreligionen. Evangelisch und katholisch: Es bleiben zwei Religionsgemeinschaften und zwei Bekenntnisse bei hoher Übereinstimmung in der Lehre und in der Praxis. Evangelisch und katholisch: Es eint beide Konfessionen mehr, als sie trennt. Beide sind dem Wahrheitsanspruch Jesu Christi und dem biblischen Zeugnis verpflichtet. Beide haben die drei altkirchlichen Bekenntnisse als eine gemeinsame Bekenntnisgrundlage. Das niedersächsische Modell der konfessionellen Kooperation trägt den ökumenischen Gemeinsamkeiten Rechnung und ist der Weg, evangelische und katholische Schülerinnen und Schüler gemeinsam zu unterrichten. Der konfessionell-kooperative Religionsunterricht ist entweder primär evangelischer oder katholischer Religionsunterricht, so dass geklärt ist, 8
Es wird selbstverständlich weiterhin Schulen geben, die evangelischen und katholischen Religionsunterricht nicht konfessionell-kooperativ erteilen werden, weil es von der konfessionellen Zusammensetzung der Schülerinnen und Schüler sinnvoll und möglich ist. 9 Zum niedersächsischen Modell des konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts s. Regelungen für den Religionsunterricht und den Unterricht Werte und Normen, RdErl. d. MK v. 10.5.2011 – 33-82105 – VORIS 22410. Diese und weitere für den Religionsunterricht maßgeblichen Bestimmungen sind dokumentiert in: Katholisches Büro Niedersachsen und Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen (Hg.), Religionsunterricht in Niedersachsen. Dokumente – Erklärungen – Handreichungen, Hannover 2012, hier 10-19.
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um den Religionsunterricht welcher Konfession es sich handelt, bei großer Offenheit für die jeweils andere Konfession und deren Bekenntnis. Dieses Modell der „Gastfreundschaft“ (Hans Schmid, Winfried Verburg10 u.a.) oder der „Fenster zur anderen Konfession“ wahrt eine klare Konfessionalität des Unterrichts sowohl durch das Bekenntnis der Lehrkraft als auch durch das Curriculum. D.h. die spezifische Konfessionalität des Religionsunterrichtes wird zukünftig noch mehr verstärkt über die Person der Lehrkraft zu denken sein, während im Curriculum zukünftig schwerpunktmäßig die Gemeinsamkeiten aufgriffen werden, ohne die konfessionellen Unterschiede zu verwischen oder zu verschweigen. Damit ist die Konfessionalität der Lehrkraft zu stärken und macht sich die Konfessionalität der christlichen Religion im Kontext von Schule stärker an der gelebten als an der gelehrten Konfession fest. Zur Frage nach einen religiös-kooperativen Religionsunterricht Das Gemeinsame der Religionen wird, wenn es nicht religionskundlich betrachtet wird, von verschiedenen Ansätzen her gesucht. Zentral ist dabei zumeist die Suche nach einem Konsens, der basale Einsichten in das, was der Mensch sei bzw. worin „das Menschliche“ begründet sei, auch das Religiöse im Menschen, formuliert oder der basale ethische Sätze in allen Religionen erhebt. Daraus entwickeln sich verschiedene Ansätze wie der der civil religion, der des „Weltethos“ von Hans Küng11 oder der überkonfessionellen/interreligiösen Ästhetik und Ethik. Der Weg über die interreligiöse Ästhetik und Ethik ist für Schule ein reizvoller Weg. Seinen Ausgangspunkt in Fragen von interreligiösen Feiern in der Schule nehmend greifen Thomas Schlag, Thomas Klie und Ralph Kunz Überlegungen von Rudolf Bohren auf, um von der Ästhetik, also der Wahrnehmung, zur Ethik zu gelangen und damit letztlich auch wieder zum Projekt „Weltethos“. Ziel dieser Bemühungen ist immer die Bildung für und im Dialog, für gemeinsames Handeln und Toleranz. Aber Toleranz fängt nach meiner Überzeugung erst dort an, wo die Wahrheitsfrage aus Gründen der Toleranz nicht ausgeblendet wird, sondern bewusst im Dialog kontrovers aufgegriffen wird. Alle Religionen vertreten sowohl einen Wahrheits- wie einen Heilsanspruch und genau in dieser phänomenologischen Gemeinsamkeit liegt in der konkreten Formulierung dieses Wahrheits- und Heilsanspruchs das bleibend und fundamental Trennende. Bei aller Gemeinsamkeit in der Ethik und Ästhetik in den unterschiedlichen Religionen bleibt ein unterschiedliches Bekenntnis. Es gibt nicht wie in der christlichen Religion eine gemeinsame „Heilige Schrift“, die Bibel, und dazu zumindest eine gemeinsame altkirchliche Bekenntnisbasis. Im Hinblick auf Schule und Gesellschaft 10
Hans Schmidt und Winfried Verburg (Hg.), Gastfreundschaft. Ein Modell für den konfessionellen Religionsunterricht der Zukunft, München 2010. 11 Hans Küng, Projekt Weltethos, München 1990, und ders. (Hg.), Dokumentation zum Weltethos, München 2002.
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müssten sich die Religionen auf eine aktive Toleranz gegenüber den jeweils anderen Religionen verständigen im Sinne eines Verzichts auf einen „Überzeugungszwang“ (Eilert Herms). Dazu kommen tiefgreifende Unterschiede zwischen der Theologie und Religionspädagogik des islamischen und des christlichen Religionsunterrichts. Schließlich ist letztlich noch offen, ob „der Islam“ als Religionsgemeinschaft bereit ist, ähnlich wie die Kirchen eine Funktion im Staat und insbesondere in Zivilgesellschaft wahrzunehmen, oder ob er sich darauf konzentrieren wird, primär Freiräume ebenso wie Handlungsspielräume für sich zu eröffnen (Gefängnisseelsorge, Schulen, Kindertagesstätten, Rundfunkbeiräte etc.) und weniger ein zivilgesellschaftliches Engagement für andere zu entwickeln, die auch nicht der muslimischen Religion angehören können. Ob es grundsätzlich möglich wäre, unter Aufnahme und Wahrung der oben genannten Prämissen, gerade auch im Hinblick auf die Fragen von Wahrheit, Heil und Toleranz Modelle von Zusammenarbeit, vielleicht Kooperation von Religionen im Rahmen des schulischen Religionsunterrichts zu entwickeln, ist gegenwärtig zumindest noch offen. Schluss Schule ist für die evangelischen Kirchen ein eminent wichtiger Ort; zuletzt weil er sie weg von der Binnenorientierung als Kirche führt. Schule ist ein Ort, an dem Kirchen die Grenze zur Welt überschreiten, und die Grenze ist nicht nur der Ort der Erkenntnis (Paul Tillich), sondern auch der Erfahrung Gottes. Der Religionsunterricht leistet dafür primär eine kognitive Auseinandersetzung von einem authentisch vorgetragenen Standpunkt her, weil für die eigene Identität Sinn, Wahrheit und Orientierung ebenso unverzichtbar sind wie für das zivilgesellschaftliche Engagement, von dem die Zukunft unserer Gesellschaft abhängt. Dr. Kerstin Gäfgen-Track ist als Oberlandeskirchenrätin Leiterin der Abteilung 4 „Bildung, Schule, Kinder und Jugend“ des Landeskirchenamtes der Evangelischlutherischen Landeskirche Hannovers und Bevollmächtigte der Konföderation Evangelischer Kirchen in Niedersachsen in Schulangelegenheiten.
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Ökumenische Perspektiven. Zur Fortschreibung des Religionsunterrichts aus der Sicht eines Fachleiters Evangelische Religion an Gymnasien Ökumenische Perspektiven
Religionsunterricht in Niedersachsen heute – das ist ein weites Feld! Wenn man nur wenig Platz dafür hat, kann man keinen Anspruch auf Vollständigkeit erwarten. Man muss Schwerpunkte setzen. Meine Perspektive ist dabei die des Religionslehrers und des Fachleiters für Evangelische Religion. Zunächst einige Zahlen: Nach offiziellen Angaben des Ministeriums1 nahmen 2011 53,2% aller Schülerinnen und Schüler am evangelischen Religionsunterricht teil, 11,3% am katholischen, 13,1% am konfessionell-kooperativen und 0,3% am islamischen Religionsunterricht – bisher nur in einigen Grundschulen. 16,4% besuchten den Unterricht Werte und Normen (inklusive Philosophie). Diese Zahlen deuten auf eine insgesamt recht stabile Situation des evangelischen und katholischen Religionsunterrichts hin. Jahr für Jahr sind sie aber leicht rückläufig. Die Teilnehmerzahlen für den Unterricht Werte und Normen steigen entsprechend. Wenn man die Grundschulen aus der Statistik herausrechnet, lagen die Zahlen für Werte und Normen 2011 für die Sek. I bei 22,5% und für die Sek. II sogar bei 38,5%. Der Religionsunterricht ist durch Staatsverträge, Gesetze, Erlasse und Verordnungen so gut abgesichert wie kein anderes Fach. Er ist als einziges Schulfach sogar durch das Grundgesetz garantiert. Aber auch inhaltlich hat sich in den letzten Jahren viel getan. Es gibt seit 2006 bundesweit gültige „Einheitliche Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung“ und für Niedersachsen neue Kerncurricula für alle Schularten und -stufen. Erstmals sind die Kompetenzen und Inhalte größtenteils zwischen dem evangelischen und katholischen Religionsunterricht abgestimmt. Festzuhalten ist ferner, dass Religionsunterricht in Niedersachsen ein zweistündiges Pflichtfach für alle Klassenstufen in allen allgemeinbildenden Schulen ist. Dies gilt ebenso für die gymnasiale Oberstufe. Religion kann selbstverständlich auch als Abiturprüfungsfach gewählt werden. Die Praxis des Religionsunterrichts sieht in den verschiedenen Schulformen allerdings sehr unterschiedlich aus. Ich richte meinen Blick deshalb im Folgenden auf die Gymnasien und Gesamtschulen und hier schwerpunktmäßig auf den evangelischen Religionsunterricht. Als AusVgl. Niedersächsisches Kultusministerium, Die niedersächsischen allgemeinbildenden Schulen in Zahlen. Stand: Schuljahr 2011/12. 1
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bilder von Religionslehrkräften habe ich im Laufe von mehr als 20 Jahren an immerhin zehn Gymnasien und drei Gesamtschulen in Südniedersachsen Erfahrungen gesammelt, die mich zu dem Urteil kommen lassen: Was de jure für den Religionsunterricht gilt, ist de facto keineswegs schulische Wirklichkeit. Da ist zunächst einmal der Unterrichtsausfall. Vom Ministerium wird er offiziell nicht erhoben. Deshalb taucht er in der Statistik auch nicht auf. Der Religionsunterricht wird aber nach wie vor in den Schulen überproportional gekürzt. Häufig fällt er im 7. oder 8. Jahrgang mit Hinweis auf den Konfirmanden- bzw. Firmunterricht aus. Manchmal wird er auch nur einstündig oder halbjährlich erteilt. In Göttingen und Umgebung liegt der Unterrichtsausfall weniger am Mangel an Religionslehrkräften als vielmehr an ihrem ungleichmäßigen Unterrichtseinsatz. Die an einer Schule tätigen Religionslehrkräfte werden häufig nicht mit etwa der Hälfte ihrer Stundenzahl im Fach Evangelische Religion eingesetzt, sondern überproportional in ihrem anderen Fach. Von den meisten Eltern wird dieser Ausfall toleriert, allemal wenn er mit der Erteilung von Mathematik, Fremdsprachen oder Naturwissenschaften begründet wird. Dass „Bildung Religion braucht“ – so der treffende Slogan der hannoverschen Landeskirche – ist keineswegs schulischer Common Sense und er trifft auch nicht mehr die gesamtgesellschaftliche Stimmungslage. Im Gegenteil: Es mehren sich die Stimmen, die Religion aus der öffentlichen Schule verdrängen und ins Private abschieben wollen. Als zweiten Problembereich möchte ich die Abiturrelevanz des Faches Religion ansprechen. Von der Rolle eines Faches im Abitur hängt nämlich maßgeblich dessen Renommee ab. Laut Statistik für 2012 liegt sie für evangelische Religion bei 9,4% und für katholische Religion bei 3,9%, insgesamt also bei 13,3%. Auf den ersten Blick sind auch das gar nicht so schlechte Zahlen. Sie wurden natürlich v.a. dadurch erreicht, dass es hervorragende Lehrkräfte in der gymnasialen Oberstufe gibt, aber auch weil die Schülerinnen und Schüler ihre Belegverpflichtungen auch im Fach der anderen Konfession erfüllen können. Vierstündige Religionskurse kommen an manchen Schulen überhaupt nur deshalb noch zustande. Auch die Kooperation zwischen den Schulen in Göttingen spielt dabei eine wichtige Rolle. Auffällig ist aber, dass Religion sehr viel häufiger als mündliches denn als schriftliches Prüfungsfach gewählt wird. Mehr als doppelt so viel Lernende entscheiden sich für Religion als fünftes mündliches Prüfungsfach. Ich gebe zu bedenken, dass auch die Schriftlichkeit im Abitur für das Ansehen eines Faches wichtig ist. Glücklicherweise unterstützen kirchliche Fortbildungskurse die Vorbereitung der Lehrkräfte auf das schriftliche Zentralabitur. Am problematischsten finde ich in diesem Zusammenhang allerdings, dass Religion in einigen Schulen überhaupt nicht mehr als Abiturprüfungsfach gewählt werden kann, weder auf grundlegendem noch auf erhöhtem Niveau. Daran sind nicht die ministeriellen Vorgaben schuld. Häufig hängt es von der Einstellung der jeweiligen Schulleitung zum Fach Religion ab. Hier
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könnten Fachgruppen noch stärker in ihrer „Lobbyarbeit“ für das Abiturfach Religion unterstützt werden. Doch nun zum wichtigsten Problemfeld: der Konfessionalität des Religionsunterrichts. Aus unterschiedlichen Gründen wird sie in den Schulen gegenwärtig in Frage gestellt. Für die einen wirft sie zu viele organisatorische Probleme auf, andere können mit konfessionellen Prägungen und Unterschieden immer weniger anfangen. Die pädagogisch Orientierten möchten ihre Lerngruppen nicht trennen, kirchlich Engagierte drängen auf eine stärkere ökumenische Ausrichtung des Religionsunterrichts. Eine konsequente konfessionelle Trennung gibt es nur noch an wenigen Schulen. Viele machen von den begrenzten Möglichkeiten eines konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts Gebrauch. Sie begrüßen den Verzicht auf ein spezielles Antragsverfahren für den konfessionellkooperativen Unterricht durch die beiden Kirchen. Die offiziellen statistischen Zahlen bilden die Realität aber nicht mehr ab. Immer weniger sind damit einverstanden, dass die konfessionelle Kooperation auf die Hälfte der Schuljahrgänge beschränkt ist. Sie weichen in der Schulpraxis häufig vom juristisch korrekten Verfahren ab. Deshalb besteht Handlungsbedarf in Sachen konfessioneller Kooperation im Religionsunterricht! Zunächst und v.a. müssen – meiner Meinung nach – die zeitlichen Einschränkungen und die bürokratischen Hürden für den konfessionell-kooperativen Religionsunterricht fallen. Er hat sich in mehr als 12 Jahren an den Schulen in Niedersachsen zunehmend etabliert. In einigen Schulformen – wie Grundschulen und Berufsschulen – ist er bereits weitgehend die Regel. Es ist nicht mehr vermittelbar, dass konfessionell-kooperativ nur in der Hälfte der Schuljahrgänge unterrichtet werden darf. „Gemeinsamkeiten stärken und Unterschieden gerecht werden“, so haben die Tübinger Religionspädagogen Friedrich Schweitzer und Albert Biesinger die Zielsetzung für ihre empirische Untersuchung zum konfessionell-kooperativen Religionsunterricht in Württemberg treffend zusammengefasst. Auch sie kommen aufgrund ihrer wissenschaftlichen Erhebung zu der Empfehlung: „Aus unserer Sicht ist eine Fortsetzung des konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts unbedingt empfehlenswert.“2 In den niedersächsischen Verlautbarungen wird immer wieder betont, dass die Unterschiede zwischen evangelisch und katholisch dabei nicht verwischt werden sollen. Das ist durchaus zutreffend, aber mir wäre mindestens ebenso wichtig, im ökumenischen Sinn auch das Gemeinsame zu betonen. In den neuen Kerncurricula für evangelische und katholische Religion stimmen die prozessbezogenen und die inhaltsbezogenen Kompetenzen weitgehend überein. Das theologisch Trennende spielt religionsunterrichtlich häufig nur eine geringe Rolle. Die curri2
Friedrich Schweitzer, Albert Biesinger, Jörg Conrad und Matthias Gronover, Dialogischer Religionsunterricht. Analyse und Praxis konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts im Jugendalter, Freiburg i.Br. 2006, 205.
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cularen Voraussetzungen für einen gemeinsamen Unterricht sind weitgehend erfüllt. Die genannten Tübinger Religionspädagogen – der eine übrigens evangelisch, der andere katholisch – weisen ferner darauf hin, dass das kooperative Modell nicht nur auf den christlichen Bereich beschränkt werden muss. Sie stellen fest: „Insbesondere dort, wo die Angehörigen unterschiedlicher Religionen wie etwa in der Schule ihren Alltag miteinander teilen, kann es nicht einleuchten, wenn die Religion der anderen bloß in deren Abwesenheit unterrichtet wird.“3 Es darf auf gar keinen Fall der Eindruck entstehen, dass die evangelisch-katholische Zusammenarbeit einen auf interreligiöses Lernen angelegten Unterricht ersetzen könne. Im Gegenteil, sie kann in multireligiöser Perspektive auch als Modell für die Zusammenarbeit mit dem jüdischen und ggf. auch dem islamischen Religionsunterricht dienen. Dazu bedarf es allerdings einer eigenen Didaktik, die auf die besonderen Voraussetzungen und Zielsetzungen eines solchen Unterrichts zugeschnitten ist. Anknüpfungspunkte gibt es hinreichend in der religionsdidaktischen Diskussion zum interreligiösen Lernen der letzten Jahre. Eventuell können wir auch von dem Hamburger Modell eines „Religionsunterricht(s) für alle in evangelischer Verantwortung“ etwas lernen, in Niedersachsen dann gerne auch in konfessionell-kooperativer, vielleicht sogar in multireligiöser Verantwortung. Für immer mehr Menschen scheint in dieser Situation ein religionskundlicher Unterricht für alle oder eine Werteerziehung der sinnvollste Weg. In Brandenburg ist er mit „Lebensgestaltung – Ethik – Religion“ (LER) bereits seit Jahren Praxis, in Berlin gibt es seit dem Schuljahr 2006/2007 das Pflichtfach Ethik. In Niedersachsen sind zuletzt Bündnis 90 / Die Grünen für einen solchen Unterricht mit der Bezeichnung „Religionen und Weltanschauungen“ eingetreten. Konfessioneller Religionsunterricht wird dann vom Pflichtfach zum wählbaren Zusatzangebot herabgestuft. Ich halte diesen Weg für falsch, weil er die spezifische Art religiöser Bildung nicht berücksichtigt. Religion lernt man eben nicht, indem man vermeintlich objektiv darüber spricht; man lernt sie vielmehr durch einen Wechsel von Eigen- und Fremdperspektive. Der Marburger Religionspädagoge Bernhard Dressler hat es auf den Punkt gebracht: „Religiöse Bildungsprozesse stehen vor dem didaktischen Problem, wie religiöse Kommunikation und Kommunikation über religiöse Kommunikation – Teilnahme und Beobachtung, Binnenperspektive und Außenperspektive – in ein wechselseitiges Erschließungsverhältnis zu bringen sind.“4 Ein staatliches, alle Religionen und Weltanschauungen umfassendes Pflichtfach muss aufgrund unserer Verfassung aber weltanschaulich neutral bleiben. Es kann deshalb über Religion nur aus der Vogel-, nicht aber
3
Ebd., 176. Vortrag vor niedersächsischen Schulleiterinnen und Schulleitern an Gymnasien am 04.10.2012 in Loccum. 4
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aus der Beteiligungsperspektive sprechen. Diese ist aber für religiöse Bildung wichtig. Ich schließe mit meiner Vision von Religionsunterricht. Zuweilen habe ich ihn als Religionslehrer erlebt, besonders dann, wenn ich gleichzeitig Klassenlehrer war. Dann sind alle Schülerinnen und Schüler einer Lerngruppe im Religionsunterricht freiwillig zusammen geblieben. Die prinzipielle Offenheit des Evangelischen Religionsunterrichts in Niedersachsen für alle Schülerinnen und Schüler ermöglicht das. Natürlich haben wir gegenseitig unsere Gotteshäuser besucht und auch andere religiös relevante Stätten wie diakonische Einrichtungen und Friedhöfe. Wir haben von unseren Festen erzählt, warum und wie wir sie feiern. Und wir haben über unseren Glauben gesprochen, darüber eben, woran wir „unser Herz hängen“. Dabei wurde dann deutlich, „dass jeder Mensch auf irgendeine Weise, bewusst oder unbewusst, einen Mittelpunkt im Leben hat, einen Wert, der ihm ‚absolut wichtig‘ ist: die Liebe und die Nächstenliebe, der Genuss und die Solidarität, die Musik, die Kunst, das Kino oder der Sport. Eine Bindung an etwas subjektiv ‚Heiliges‘ haben die Menschen längst, ‚Religion‘ ist immer schon da. (Im Religionsunterricht tauschen) sich unterschiedliche Menschen – kirchliche, unkirchliche, Atheisten, Muslime – nicht (nur) über die Bibel, den Koran oder Ludwig Feuerbach (aus), sondern (v.a.) über ihren persönlichen Lebensglauben, ihre Ideen, ihre Hoffnungen, ihre Enttäuschungen, ihre Ängste. Vielleicht feiern sie dann sogar miteinander – auch rituell –, (und ich füge hinzu: nicht vereinnahmend, sondern das je Eigene achtend). Die christliche Rechtfertigungsbotschaft kann (in diesen Religionsunterricht) als Denkanstoß eingebracht werden, als befreiendes Lebensdeutungsangebot, als Befreiung vor allem Rechthaben-Müssen.“5 Studiendirektor Rudolf Tammeus war bis zu seiner Pensionierung 2013 Fachleiter für Evangelische Religion am Studienseminar Göttingen für das Lehramt an Gymnasien sowie Lehrer für die Fächer Evangelische Religion, Deutsch und Pädagogik am Hainberg-Gymnasium in Göttingen.
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Zitiert nach http://www.landeskirche-hannovers.de/evlka-de/presse-und-medien /frontnews/2012/09/22 (Zugriff am 14.2.2014).
Hans Michael Heinig
Religionsunterricht nach Art. 7.3 des Grundgesetzes –Religionsunterricht Rechtslage und Spielräume nach Art. 7.3 des Grundgesetzes 1. Religionsrechtliche Legitimationsnarrative Jede Nation hat eine religionsrechtliche Urerfahrung, die den Umgang des Staates mit den Religionen seiner Bürger in besonderer Weise prägt. In den USA ist es die Geschichte der aus religiösen Gründen verfolgten Auswanderer, in Frankreich ist es die Revolutionserfahrung mit einer reaktionären Haltung der Kirche und in Deutschland ist es der konfessionelle Bürgerkrieg, der zwei gleich starke Religionsparteien auf Reichsebene zu der Einsicht gezwungen hat, dass kooperative Koexistenz nottut. Keine Partei sollte die andere dominieren oder marginalisieren (itio in partes). Die Wahrheitsfrage wurde im Reich suspendiert, aus der politischen Sphäre zurückgedrängt und den Religionsparteien selbst überantwortet. Diese Koexistenz zweier Parteien im Reich erfolgte zunächst noch territorial geschieden, allmählich dann aber auch in den jeweiligen Territorialstaaten. Diese für das deutsche Staatskirchenrecht zentrale Erfahrung wird im Laufe der Zeit angereichert durch weitere prägende Momente: Für die katholische Kirche bis heute traumatisch ist der Kulturkampf unter Bismarck, für die evangelische Kirche bis heute prägend ist der Kirchenkampf im Nationalsozialismus. Beide standen im Zeichen des Ringens um Freiheit und Unabhängigkeit des kirchlichen Wirkens im öffentlichen Raum. Die wesentlichen Elemente unseres Religionsverfassungsrechts in Deutschland sind durch diese historischen Wegmarken gezeichnet: die zentrale Stellung religiöser Korporationen, die „Neutralität“ des Staates in Religionsfragen, die Gleichberechtigung der Religionen und ihre Unabhängigkeit vom Staat sowie die Freiheit zur öffentlichen Entfaltung entsprechend dem religiösen Selbstverständnis. 2. Religionsunterricht im Lichte der religionsverfassungsrechtlichen Systementscheidung des Grundgesetzes 2.1 Ein kurzer Blick auf den Verfassungstext Auch der von der Verfassung in Art. 7.3 GG garantierte konfessionelle Religionsunterricht wird durch diese Grundprinzipien imprägniert. Schauen wir uns zunächst den Textbefund im Grundgesetz an. In Artikel 7.2 und 3 GG heißt es:
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„(2) Die Erziehungsberechtigten haben das Recht, über die Teilnahme des Kindes am Religionsunterricht zu bestimmen. (3) Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach. Unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechtes wird der Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt. Kein Lehrer darf gegen seinen Willen verpflichtet werden, Religionsunterricht zu erteilen.“
Eine territoriale Ausnahmebestimmung sieht das Grundgesetz für Bremen vor. Art. 141 GG besagt: „Artikel 7 Absatz 3 Satz 1 findet keine Anwendung in einem Lande, in dem am 1. Januar 1949 eine andere landesrechtliche Regelung bestand.“ Die Norm ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auch auf Berlin anwendbar.1 Ob die Norm hingegen auch in den fünf neuen Ländern greift, ist verfassungsgerichtlich nicht abschließend geklärt. In Brandenburg gilt ein vor dem Bundesverfassungsgericht geschlossener Vergleich.2 In den anderen neuen Bundesländern wird der Religionsunterricht zumindest landesverfassungsrechtlich und/oder staatskirchenvertraglich garantiert.3 2.2 Religionsunterricht als Verfassungsbegriff Doch was meint eigentlich „Religionsunterricht“ im verfassungsrechtlichen Sinne? Was für eine Art Lehrveranstaltung wird bundesverfassungsrechtlich durch Art. 7.2 und 3 GG geregelt? Hierzu hat das Bundesverfassungsgericht 1987 sehr ausführlich Stellung bezogen. Es handelt sich um die einzige Entscheidung aus Karlsruhe, in der inhaltlich Auskunft gegeben wird, was unter dem Begriff Religionsunterricht im rechtstechnischen Sinne zu verstehen ist. Deshalb sei aus der Entscheidung im Folgenden ausführlicher zitiert. Denn nur auf der Grundlage der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist es sinnvoll, sich Gedanken zu politischen Gestaltungsspielräumen zu machen. Schließlich gilt das Grundgesetz seit Etablierung des Bundesverfassungsgerichts in den Worten Rudolf Smends „nunmehr praktisch so, wie das Bundesverfassungsgericht es auslegt, und die Literatur kommentiert es in diesem Sinne.“4 Also – was versteht das Bundesverfassungsgericht unter Religionsunterricht und welche verfassungsrechtlichen Schlussfolgerungen zieht es? „Art. 7 Abs. 2 und 3 GG haben den Religionsunterricht in Fortführung der Regelungen der Weimarer Reichsverfassung zu einem Bestandteil der Unterrichtsarbeit im 1
BVerwG, NVwZ 2000, 922-926 (= Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht). Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE) 74 (1987), 244-256. 3 Ausführlich in Katharina Lander, Ein neuer Kulturkampf? Eine verfassungsrechtliche Untersuchung zum schulrechtlichen Sonderweg Brandenburgs mit Schwerpunkt auf der Auslegung des Art. 141 GG. Zugleich ein Beitrag zu Verortung des Art. 7 Abs. 3 Satz 1 im staatsvertraglichen System des Grundgesetzes, Bonn 2006, 13ff., hier 23; siehe auch Martin Heckel, Der Rechtsstatus des Religionsunterrichts im pluralistischen Verfassungssystem, Tübingen 2002, 2ff. 4 Rudolf Smend, Das Bundesverfassungsgericht, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, Berlin 31994, 581-593, hier 582. 2
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Rahmen der staatlichen Schulorganisation erhoben [...]. Gleichzeitig verweisen sie ihn in den Verantwortungsbereich der Kirchen, wenn sie seine inhaltliche Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften gebieten. Der Religionsunterricht gehört daher zu den sogenannten gemeinsamen Angelegenheiten von Staat und Kirche, bei denen die Verantwortungsbereiche beider Institutionen eng miteinander verknüpft sind. Ungeachtet der sich daraus ergebenden Pflicht zur Kooperation und gegenseitigen Rücksichtnahme müssen die jeweiligen Zuständigkeiten streng voneinander geschieden werden. [...] Die Erklärung des Religionsunterrichts zum ordentlichen Lehrfach in Art. 7 Abs. 3 Satz 1 GG stellt klar, daß seine Erteilung staatliche Aufgabe und Angelegenheit ist; er ist staatlichem Schulrecht und staatlicher Schulaufsicht unterworfen. Seine Einrichtung als Pflichtfach ist für den Schulträger obligatorisch; der Staat muß gewährleisten, daß er ein Unterrichtsfach mit derselben Stellung und Behandlung wie andere ordentliche Lehrfächer ist. Sein Pflichtfachcharakter entfällt nicht dadurch, daß Art. 7 Abs. 2 GG ein Recht zur Abmeldung einräumt. Diese Befreiungsmöglichkeit hebt ihn zwar aus den übrigen Pflichtfächern heraus, macht ihn aber nicht zu einem Wahlfach im Sinne der allgemeinen schulrechtlichen Terminologie [...]. [...] Seine Sonderstellung gegenüber anderen Fächern gewinnt der Religionsunterricht aus dem Übereinstimmungsgebot des Art. 7 Abs. 3 Satz 2 GG. Dieses ist so zu verstehen, daß er in ‚konfessioneller Positivität und Gebundenheit’ zu erteilen ist [...]. Er ist keine überkonfessionelle vergleichende Betrachtung religiöser Lehren, nicht bloße Morallehre, Sittenunterricht, historisierende und relativierende Religionskunde, Religions- oder Bibelgeschichte. Sein Gegenstand ist vielmehr der Bekenntnisinhalt, nämlich die Glaubenssätze der jeweiligen Religionsgemeinschaft. Diese als bestehende Wahrheiten zu vermitteln ist seine Aufgabe [...]. Dafür, wie dies zu geschehen hat, sind grundsätzlich die Vorstellungen der Kirchen über Inhalt und Ziel der Lehrveranstaltung maßgeblich. Ändert sich deren Verständnis vom Religionsunterricht, muß der religiös neutrale Staat dies hinnehmen. Er ist jedoch nicht verpflichtet, jede denkbare Definition der Religionsgemeinschaften als verbindlich anzuerkennen. Die Grenze ist durch den Verfassungsbegriff ‚Religionsunterricht’ gezogen [...]. Auch wenn dieser Begriff nicht in jeder Hinsicht festgelegt ist, sondern wie der übrige Inhalt der Verfassung ‚in die Zeit hinein offen’ bleiben muß, um die Lösung von zeitbezogenen und damit wandelbaren Problemen zu gewährleisten [...], verbietet sich eine Veränderung des Fachs in seiner besonderen Prägung, also in seinem verfassungsrechtlich bestimmten Kern. Deshalb wäre eine Gestaltung des Unterrichts als allgemeine Konfessionskunde vom Begriff des Religionsunterrichts nicht mehr gedeckt und fiele daher auch nicht unter die institutionelle Garantie des Art. 7 Abs. 3 Satz 1 GG. Andererseits kann das Verlangen, der Unterricht müsse ein ‚dogmatischer’ sein, zumindest heute nicht mehr so verstanden werden, daß er ausschließlich der Verkündigung und Glaubensunterweisung diene. Er wird vielmehr auch als ein auf Wissensvermittlung gerichtetes, an den höheren Schulen sogar wissenschaftliches Fach angesehen, das in die Lehre eines Bekenntnisses einführt, vergleichenden Hinweisen offenbleibt und zugleich Gelegenheit bietet, mit dem Schüler grundsätzliche Lebensfragen zu erörtern [...]. Seine Ausrichtung an den Glaubenssätzen der jeweiligen Konfession ist der unveränderliche Rahmen, den die Verfassung vorgibt. Innerhalb dieses Rahmens können die Religionsgemeinschaften ihre pädagogischen Vorstellungen über Inhalt und Ziel des Religionsunterrichts entwickeln, denen der Staat aufgrund des Übereinstimmungsgebots des Art. 7 Abs. 3 Satz 2 GG Rechnung tragen muß.“5 5
BVerfGE 74 (1987), 244-256, hier 251f.
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2.3 Religionsunterricht als Teil der religionsverfassungsrechtlichen Systementscheidung Ein so verstandener Religionsunterricht fügt sich auf das Trefflichste in die religionsverfassungsrechtliche Systementscheidungen des Grundgesetzes, wie sie eingangs skizziert wurden: 6 − Indem die Erteilung von Religionsunterricht in öffentlichen Schulen als ordentliches Lehrfach vorgeschrieben wird, zeigt die Verfassung, dass Religion ihren Ort im öffentlichen Raum, auch dem staatlich verfassten, hat und nicht aus dem espace public verdrängt werden soll. − Indem Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der jeweiligen Religionsgemeinschaft erteilt wird, bleibt garantiert, dass eine demokratische Mehrheit nicht über religiöse Minderheiten bestimmen darf, soweit deren religiöse Lehre betroffen ist. Zugleich erklärt sich der religiös-weltanschaulich neutrale Staat für inkompetent in originär religiösen Dingen. Er kennt, so Art. 137 Abs. 1 WRV, eben keine Staatskirche und auch keine Staatsreligion oder antireligiöse Staatsweltanschauung. Deshalb ist er auf einen religiösen Kooperationspartner angewiesen. − In der Regelung zum Religionsunterricht verschränken sich damit sachbereichsspezifisch Aspekte der Öffentlichkeit und der Freiheit von Religion, eine Verschränkung, die auch das sonstige Staatskirchenrecht prägt. Art. 7.1 und 5 GG machen die öffentliche Schule im Volksschulbereich zur Regelschule und bieten zugleich die verfassungsrechtliche Grundlage für den gesetzlichen Schulzwang. Unter diesen Voraussetzungen dokumentiert der Religionsunterricht die Freiheit zur Religion – zur Religion auch im öffentlichen Raum. Der Religionsunterricht verarbeitet die durch den staatlichen Zwang tangierten religiösen Interessen, etwa das vom Erziehungsrecht der Eltern geschützte Interesse an einem Moment religiöser Sozialisation in der schulischen Bildungsbiographie. Vor dem Hintergrund von Schulzwang und dem Vorrang eines öffentlichen Volksschulwesens ist es zur grundrechtlichen „Kompensation“ staatlichen Zwangs nur konsequent, dass a) die Eltern einen grundrechtlichen Anspruch gegenüber dem Staat haben, Religionsunterricht einzurichten, so sie einer geeigneten und kooperationswilligen Religionsgemeinschaft angehören, b) Religionsgemeinschaften als Treuhänder dieser Rechte gleichfalls in diesem Sinne anspruchsberechtigt sind und c) der Staat Unternehmer des Religionsunterrichts ist und ihm deshalb obliegt, das Seine zur Durchführung des Unterrichts beizutragen, d.h. Personal zu stellen, im Vorfeld Rahmenbedingungen für deren Ausbildung sicherzustellen, den Religionsunterricht in der Unterrichtsplanung angemessen zu berücksichtigen, alle Kosten zu tragen usw. Zugleich zeichnet nicht der 6
Hans Michael Heinig, Religionsunterricht aus juristischer Sicht, in: epdDokumentation 2/2009, 47-50.
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Staat für die religiösen und theologischen Inhalte verantwortlich. Er gibt einen Rahmen allgemeiner Erziehungsziele vor, in den sich der Religionsunterricht einzupassen hat, und definiert Mindeststandards für die Ausbildung von Religionslehrern. Doch die Kompetenz zur spezifisch religiösen Füllung des Rahmens ist ausschließlich den Religionsgemeinschaften zugewiesen. Die Freiheitlichkeit des Modells kommt schließlich auch zum Ausdruck, wenn man fragt, wer zum Besuch des Religionsunterrichts verpflichtet ist: nur die Mitglieder der jeweiligen Religionsgemeinschaften, denen zudem die Möglichkeit der Abmeldung eingeräumt ist.7 3. Diversifizierung und Alternativen – ein Überblick 3.1 Das herkömmliche Modell des Religionsunterrichts unter Druck Die aufgezeigten Prinzipien eines bekenntnisgebundenen Religionsunterrichts haben sich mit der Weimarer Republik ausgebildet und in der Bundesrepublik lange Zeit bewährt. Doch in letzter Zeit mehren sich Anfragen an das tradierte Modell. Drei Entwicklungen zeichnen hierfür verantwortlich: Phänomene der Entchristlichung, vor allem im Osten Deutschlands und in den Ballungsräumen, das verstärkte Aufkommen des Islam sowie eine generelle religiöse Pluralisierung und Säkularisierung. Alle drei Entwicklungen haben das bisherige Modell des Religionsunterrichts in öffentlichen Schulen unter Druck gesetzt und die Frage nach Alternativen aufgeworfen. Hierbei wird man sehr genau unterscheiden müssen zwischen der Frage nach denkbaren alternativen Modellen, in der Schule Kenntnisse über Religion sowie grundlegende Lebens- und Wertorientierungen zu vermitteln, nach deren Vor- und Nachteilen, den bisherigen Antworten zu dieser Frage (also konkret realisierten Alternativen) und dem verfassungsrechtlichen Rahmen für solche Antworten. Das deutsche Staatskirchenrecht ist entgegen anderslautenden Behauptungen im Allgemeinen auf die Bedingungen einer forcierten religiösen Pluralität eingestellt. Freiheit, Gleichheit, Öffentlichkeit und Trennung von Staat und organisierter Religion sind die Grundpfeiler dieses pluralismustauglichen Religionsrechts.8 Für den Religionsunterricht im Besonderen mag auf den ersten Blick anderes gelten. Er ist vom Herkommen her erkennbar auf die Bedingungen 7
Zu diesen rechtlichen Eckpunkten im Überblick etwa Gerhard Robbers, in: Christian Starck (Hg.), Kommentar zum Grundgesetz (begründet von Hermann von Mangoldt, fortgeführt von Friedrich Klein), München 62010, Art. 7 Rn. 115-161; Peter Unruh, Religionsverfassungsrecht, Baden-Baden 2009, 239-263; Michael Germann, in: Beck-Onlinekommentar Grundgesetz, Art. 7 Rn. 43-70; Uta Hildebrandt, Das Grundrecht auf Religionsunterricht, Tübingen 2000, 217-221. 8 Vgl. nur Christian Waldhoff, Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität, Gutachten D zum 68. Deutschen Juristentag, München 2010.
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zweier Volkskirchen zugeschnitten. Die Aufteilung eines Klassenverbandes in konfessionelle Gruppen setzt voraus, dass eine hinreichende kritische „Masse“ an Religionszugehörigen vorhanden ist, also die Pluralität und die Zahl der Nichtgläubigen überschaubar bleibt. Es wundert deshalb nicht, dass der Religionsunterricht in seiner traditionellen Form gerade im Osten und in den Großstädten unter Legitimationszwang gerät. Seine verfassungsrechtliche Verankerung wird hierdurch freilich nicht berührt. Er ist gerade deshalb durch das Grundgesetz garantiert, weil er nicht Gegenstand des schnelllebigen politischen Tagesgeschäfts werden sollte, sondern nur durch den verfassungsändernden Gesetzgeber, also durch Zweidrittel-Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat, in seinem Wesen verändert werden kann. Welche Alternativen zum klassischen Religionsunterricht bestehen aber? Schon bislang zeigt ein näherer Blick in die Bundesländer eine ausgesprochen vielfältige Palette an Ausgestaltungen. Meines Erachtens sollte man die Debatte über diese Ausgestaltungen tunlichst nicht auf Rechtsfragen verkürzen, sondern im Zentrum müssen rechts-, religions- und bildungspolitische Überlegungen stehen. Doch völlig losgelöst vom Recht kann man solche Gestaltungsfragen natürlich nicht diskutieren. 3.2 Varianten und Alternativen im geltenden Recht a) Die profilierteste Alternative finden wir gegenwärtig in Berlin. Berlin hat wegen der Exemption von Art. 7.3 GG durch Art. 141 GG einen weit größeren rechtlichen Spielraum bei der Ausgestaltung der religiösen Bildung in der Schule als die allermeisten anderen Länder. Seit 2006 schreibt das Schulgesetz des Landes für die Jahrgangstufen 7 bis 10 einen für alle Schülerinnen und Schüler verpflichtenden Ethikunterricht vor, dessen Ziel u.a die konstruktive Auseinandersetzung „mit unterschiedlichen Wert- und Sinnangeboten“ ist und der deshalb Kenntnisse über „die großen Weltreligionen“ vermitteln soll. Die Möglichkeit, den Ethikunterricht durch den Religionsunterricht zu ersetzen, ist nicht vorgesehen. In der Wahrnehmung der Kirchen tritt der Ethikunterricht damit in direkte Konkurrenz zum mit Berliner Sonderheiten angebotenen Religionsunterricht. Religionsunterricht ist in Berlin nicht ordentliches Lehrfach, sondern „Sache der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften“ (§ 13 Abs. 1 S. 1 SchulG Berlin). Schüler müssen sich für ihn anmelden, das Lehrpersonal wird von den Religionsgemeinschaften beauftragt. Der Staat stellt lediglich „Unterrichtsräume mit Licht und Heizung“, wie es in einer älteren Gesetzesfassung hieß. Das Land übernimmt freilich einen Großteil der Personalkosten. b) In gewisser Weise verwandt ist das Brandenburger Modell mit dem Fach „Lebenskunde – Ethik – Religion“. Auch hier soll „religiös neutral“ Wissen über Religionen und Weltanschauungen vermittelt werden. Doch besteht (nach zähem politischem und verfassungsrechtlichem Ringen)
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zugleich die Möglichkeit, sich zugunsten des Religionsunterrichts von LER befreien zu lassen.9 c) Anhaltend schwierig gestaltet sich die Einrichtung eines ordentlichen islamischen Religionsunterrichts. Anfangs zeigten sich insbesondere die Kultusverwaltungen in den Ländern skeptisch, inzwischen liegt das Hauptproblem darin, dass die Mehrzahl der Muslime in Deutschland die ihnen obliegende Organisation in geeignete Religionsgemeinschaften nicht über jeden verfassungsrechtlichen Zweifel erhaben zustande gebracht hat. Zahlreiche Länder haben deshalb neue Wege beschritten und einen außerhalb des Art. 7.3 GG angesiedelten islamkundlichen Unterricht eingeführt, der aber wesentliche Elemente eines islamischen Religionsunterrichts aufnimmt. Als religiöser Kooperationspartner dienen dabei unterschiedliche Organisationen.10 d) Neue Wege geht nun in Sachen islamischer Religionsunterricht das Land Nordrhein-Westfalen. Dort wurde das für die Etablierung islamischer Theologie an staatlichen Universitäten zunächst entwickelte Beiratsmodell auf den Religionsunterricht übertragen. Das Land Hessen hingegen hat angekündigt, zwei Verbände als Religionsgesellschaften anzuerkennen und in Kooperation mit diesen einen regulären islamischen Religionsunterricht einzurichten. Skeptisch macht dabei, dass die der Entscheidung zugrundeliegenden Rechtsgutachten der Öffentlichkeit auch auf Nachfrage nicht zugänglich gemacht werden. e) Als weiteres Modell sei schließlich kurz auch noch auf Hamburg verwiesen, wo im Rahmen des Art. 7.3 GG die evangelische Kirche einen „Religionsunterricht für alle“ eingeführt hat. Hier soll die Quadratur des Kreises gelingen: ein konfessioneller Unterricht, der zugleich für alle Schülerinnen und Schüler offen ist. f) Das Hamburger Modell soll zukünftig nach dem Willen der Kirche, muslimischer Verbände und der Senatsverwaltung erweitert werden zu einem sowohl von muslimischen Verbänden wie der evangelischen Kirche getragenen gemeinsamen Religionsunterricht „für alle“.11 g) In Bremen wird seit Ende des 18. Jahrhunderts ein bekenntnismäßig nicht gebundener Unterricht in biblischer Geschichte auf allgemein christlicher Grundlage erteilt. Art. 141 GG führt zur Nichtanwendung des Art. 7.3 GG. Bei der Weiterentwicklung des Faches wird zukünftig muslimischen Verbänden Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. h) Unterhalb der Schwelle eines solchen dann „interreligiösen Religionsunterrichts“ gibt es verschiedene Formen der interkonfessionellen Öffnung und Kooperation im Religionsunterricht trotz Nichtbestehen
9
BVerfGE 104 (2001), 305-310. Im Überblick Waldhoff, Religionskonflikte (s.o. Anm. 8), D 92-D 107. 11 Art. 6 des Vertrages zwischen der Freien und Hansestadt Hamburg, dem DITIBLandesverband Hamburg, SCHURA – Rat der Islamischen Gemeinschaften in Hamburg und dem Verband der Islamischen Kulturzentren vom 13. November 2012. 10
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einer Kirchengemeinschaft. So gibt es etwa in Baden-Württemberg das Model eines konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts.12 4. Diversifizierung und Alternativen – eine Würdigung In der Gesamtschau ist damit eine eigentümliche Diversifizierung der Formen, in denen schulische Bildung über Religion vermittelt wird, zu beobachten. Berlin und Brandenburg praktizieren eine Religionskunde für alle, die evangelische Kirche veranstaltet in Hamburg einen Religionsunterricht für alle, demnächst zusammen mit muslimischen Verbänden, und Elemente eines islamischen Religionsunterrichts haben sich außerhalb des verfassungsrechtlichen Rahmens etabliert. Diese Entwicklung dokumentiert, dass der Religionsunterricht nach Art. 7.3 GG erheblichen zentrifugalen Kräften ausgesetzt ist. Zwei grundlegende Alternativen zum überkommenen Modell des Religionsunterrichts zeichnen sich ab: der konfessionelle wandelt sich in einen interkonfessionellen, ja interreligiösen Unterricht oder dem Unterricht in konfessioneller Bindung wird ein überkonfessioneller Unterricht (also Ethik und Religionskunde) zur Seite gestellt bzw. ersterer durch letzteren ersetzt resp. verdrängt. Wie sind nun solche Alternativmodelle bundesverfassungsrechtlich am Maßstab des Art. 7.3 GG zu bewerten? 4.1 Interkonfessioneller und interreligiöser Religionsunterricht Erkennbar zurückhaltend ist das verfassungsrechtliche Schrifttum, wenn es um interkonfessionellen oder gar interreligiösen Religionsunterricht geht.13 Ich zitierte eingangs ausführlich das Bundesverfassungsgericht, das völlig zutreffend dargelegt hat, dass die Konfessionsbindung konstitutiv für den Religionsunterricht im Verfassungssinne ist. Sie steht gerade nicht zur Disposition der Religionsgemeinschaften oder gar des Staates. Martin Heckel drückt es ebenso klar wie harsch aus: Der Religionsunterricht ist kein Experimentierfeld für eine staatliche „Ersatzvornahme“ ausbleibender ökumenischer Fortschritte.14 12
Instruktiv dazu Stefan Mückl, Konfessionalität des Religionsunterrichts im Wandel?, in: Geritt Manssen, Monika Jachmann und Christoph Gröpel (Hg.), Nach geltendem Verfassungsrecht, Festschrift für Udo Steiner, Stuttgart 2009, 543-562. 13 Martin Heckel, Neue Formen des Religionsunterrichts?, in: ders., Gesammelte Schriften VI, Tübingen 2013, 379-418; Michael Frisch, Grundsätzliches und Aktuelles zur Garantie des Religionsunterrichts im Grundgesetz, in: ZevKR 49 (2004), 589638; Karl-Hermann Kästner, Religiöse Bildung und Erziehung in der öffentlichen Schule, in: ders., Gesammelte Schriften, Tübingen 2011, 235-282; Karl-Hermann Kästner, Die Konfessionalität des Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen zwischen Religionspädagogik und Jurisprudenz, in: ebd., 339-354; Mückl, Konfessionalität (s.o. Anm. 12); Unruh, Religionsverfassungsrecht (s.o. Anm. 7), 250f. 14 Heckel, Formen (s.o. Anm. 13), 409.
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Drei Argumente streiten verfassungsrechtlich für eine solch rigide Positionierung: − Art. 7.2 und 3 S. 2 GG (also die Abmeldemöglichkeit und die Freiheit, als Lehrer keinen Religionsunterricht erteilen zu müssen) setzen die Konfessionsbindung des Religionsunterrichts voraus. − Die in Art. 7.3 GG vorgesehene Mitwirkung von Religionsgemeinschaften ist im religiös-weltanschaulich neutralen Staat nur geboten, wenn man den Unterricht als einen in konfessioneller Bindung begreift. − Art. 141 GG zielte gerade darauf, als Ausnahme den überkonfessionellen Unterricht in Bremen bundesverfassungsrechtlich abzusichern. Art. 7.3 GG setzt die Offenheit des säkularen Staates für die Religionen seiner Bürgerinnen und Bürger voraus und schützt in dieser Offenheit das jeweilige religiöse Selbstverständnis vor religiöser Fremdbestimmung durch den Staat oder eine religiöse Gemeinschaft, der die jeweiligen Schülerinnen und Schüler nicht angehören. Zugleich dient Religionsunterricht jedenfalls immer auch der Beheimatung in der eigenen religiösen Tradition. Deshalb räumt Art. 7.3 GG den Religionsgemeinschaften nicht das Recht ein, ihren Unterricht in Religionskunde für alle umzuwandeln. Die in der Norm erwähnten Grundsätze sollen die Entfaltung und Erfahrung des spezifischen Bekenntnisses schützen. Die Ausbildung gemeinsamer Religionsunterrichts-Grundsätze bekenntnisverschiedener Religionsgemeinschaften genügt diesen Anforderungen nicht. Folglich bietet Art. 7.3 GG auch keinen Raum für einen echten „ökumenischen“ Religionsunterricht, solange die theologischen Differenzen zwischen der römischkatholischen Kirche und den Gliedkirchen der EKD als kirchentrennend beschrieben werden. Das bisherige Hamburger Modell des Religionsunterrichts für alle in evangelischer Verantwortung bewegt sich nur dann im Rahmen des Art. 7.3 GG, wenn die verfassungsrechtlich geforderte Konfessionsbindung noch darstellbar ist.15 Die für die Zukunft ins Auge gefasste geteilte Verantwortung zwischen evangelischer Kirche und muslimischen Verbänden für den gleichen Religionsunterricht kann es von Verfassungs wegen nicht geben. Der unlängst geschlossene Vertrag zwischen der Freien und Hansestadt Hamburg mit muslimischen Verbänden bewegt sich insoweit, entgegen dem Vertragswortlaut,16 außerhalb des Art. 7.3 GG. Auch die Kooperation zwischen römisch-katholischer und evangelischer Kirche, wie sie etwa in Baden-Württemberg praktiziert wird, steht unter verfassungsrechtlichen Bedingungen: Ein „ökumenischer“ Religionsunterricht kann nur durch einen wechselseitig eingeräumten Gaststatus rea15
Christoph Link, Konfessioneller Religionsunterricht in einer gewandelten Wirklichkeit?, in: ZevKR 46 (2001), 257-285. 16 Vertrag, Art. 6 (s.o. Anm. 11).
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lisiert werden. Eltern müssen über die Beschulung durch fremdreligiöses Personal vorab informiert werden. Im Zeugnis muss die konfessionsprägende und damit verantwortliche Religionsgemeinschaft ausgewiesen sein. Den Religionsgemeinschaften muss eine Vetoposition für einzelne Kooperationsprojekte zukommen. Das Initiativrecht für die einzelnen konkreten Kooperationsprojekte sollte nicht nur bei Schule, sondern auch bei den durch Art. 7.3 GG berechtigten Eltern und Religionsgemeinschaften liegen.17 Jenseits des Art. 7.3 GG sind zudem, wie für Hamburg geplant, andere Formen der religiösen Bildungsvermittlung unter Einbezug und Beteiligung von Religionsgemeinschaften (interreligiöser Religionsunterricht für alle). Solche Formen sind nicht per se verfassungswidrig, wenn die betroffenen Gemeinschaften freiwillig mitwirken. Auch für die Schülerinnen und Schüler müsste ein solcher Unterricht zum Schutz ihrer Religionsfreiheit als freiwilliges Schulfach ausgestaltet sein. Die verfassungsrechtlichen Bindungen des Art. 7.3 GG entfallen freilich (kein Status als ordentliches Lehrfach, Staat ist nicht zwingend Unternehmer, trägt folglich auch nicht notwendig die Kosten, verantwortet nicht von Verfassungs wegen die Lehrerausbildung). Gerade im Kontrast zu solchen vermeintlichen Innovationsansätzen zeigt sich, dass der Religionsunterricht in seiner überkommenen Form einen besonderen Schutz für die negative Religionsfreiheit, das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaft und die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates gewährleistet. Bei der Beteiligung von Religionsgemeinschaften an Formen der religiösen Bildungsvermittlung jenseits des Art. 7.3 GG drohen diese überkommenen Schutzinstrumente und die involvierte Rechtsgüter Schaden zu nehmen. 4.2 Religionskunde/Ethik als ordentliches Lehrfach neben dem Religionsunterricht Modelle eines interkonfessionellen, gar interreligiösen Religionsunterrichts sehen sich also gravierenden verfassungsrechtlichen Anfragen ausgesetzt. Wie steht es dann aber alternativ um die Einrichtung eines allgemeinen religionskundlichen bzw. Ethikunterrichts für alle Schülerinnen und Schüler gemeinsam? Wäre ein solches Schulfach neben dem Religionsunterricht verfassungsrechtlich zulässig? Im rechtswissenschaftlichen Schrifttum werden Zweifel angemeldet, da schädliche Auswirkungen auf das Institut des Religionsunterrichts befürchtet werden.18 Das Bundesverwaltungsgericht hat hingegen in einem obiter dictum festgehalten, dass Ethik nicht nur als Ersatzfach, sondern auch als Schulfach für alle zulässig sei.19 Das Bundesverfassungsgericht schließlich sah 17
Mückl, Konfessionalität (s.o. Anm. 12). Frisch, Garantie (s.o. Anm. 13). 19 Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwGE) 107 (1998), 75-95, hier 84. 18
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im Berliner Modell keine Verletzung der Religionsfreiheit der Schüler und der Elternrechte.20 Die Entscheidungsbegründung lässt sich zu großen Teilen auch auf solche Länder übertragen, in denen Art. 7.3 GG gilt. Zumindest wird man nicht mit zweierlei Standards argumentieren können je nachdem, ob es sich um Ethik/Religionskunde als Ersatzfach für den Religionsunterricht oder Ethik/Religionskunde als reguläres Fach neben dem etwaig besuchten Religionsunterricht handelt: Wenn in der Debatte um die Zulässigkeit eines Ersatzfaches Ethik/Religionskunde betont wird, dass eine wertneutrale, aber keineswegs wertfreie ethischer Unterweisung dem Staat frei stehe und dessen religiös-weltanschauliche Neutralität nicht verletze,21 muss das auch für ein Pflichtfach Ethik /Religionskunde gelten. Wenn Ethik/Religionskunde „gleichwertig, wenn auch nicht gleichartig“22 wie der Religionsunterricht ist, lässt sich auch nicht ohne weiteres ein Konkurrenzverhältnis zum Religionsunterricht postulieren. Gleichwohl hat der Staat auf die Einrichtungsgarantie des konfessionellen Religionsunterrichts Rücksicht zu nehmen. Im schulischen Bildungsbereich genießen die Länder wegen des in Art. 7.1 GG verankerten Erziehungsauftrags der Schule grundsätzlich einen weiten Gestaltungsspielraum. Freilich gehen von einem allgemeinem Ethik- und Religionskundeunterricht andere „Gefahren“ für religiöse Eltern- und Schülerrechte sowie Neutralitätspflichten des Staates aus als von einem bloßen Ersatzfach. Für die konkrete verfassungsrechtliche Bewertung sind auch die Zwecke und Funktionen des konfessionellen Religionsunterrichts in den Blick zu nehmen, um etwaige Kongruenzen, Spannungen, Folgeeffekte zu identifizieren. Als potentielle Zwecke und Funktionen des konfessionellen Religionsunterrichts lassen sich ausmachen: − die Befriedigung religiöser Interessen der Schüler und Eltern (Inkulturation in bestimmte religiöse Kultur, religiöse Beheimatung, Vertrautmachen mit religiösem Traditionsbestand, Glaubensstärkung, religiöse Erziehung), − Entfaltungsmöglichkeiten der Religionsgemeinschaften (Mission, Festigung der Mitgliederbindung), − die Wertevermittlung im Interesse des Gemeinwohls (Rücksicht auf andere, Toleranz, Ausbildung ethischen Urteilsvermögens), − ein Beitrag zur religiösen Bildung (Kenntnisse über Kulturgeschichte des Christentums und über die anderen Weltreligionen), − eine schulpolitische Funktion im Ringen um Dominanz öffentlicher Schulformen (Befriedungs- und Ausgleichsfunktion im langen Kampf um die öffentliche Konfessionsschule und deren Ersetzung 20
Kammerentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGK) 10 (2007), 423-435 = BVerfG, NVwZ 2008, 72-75. 21 Frisch, Garantie (s.o. Anm. 13), 614. 22 Frisch, Garantie (s.o. Anm. 13), 615.
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durch christliche Gemeinschaftsschulen; wichtige Bedeutung des Religionsunterrichts für die hohe Akzeptanz der öffentlichen Schule und die geringe Bedeutung religiöser Ersatzschulen), − Teil eines Gesamtkonzepts öffentlicher Religion, das die Sozialproduktivität der Religionen stimulieren und destruktive Dynamiken einhegen soll (formative Kraft und Fundamentalismusprophylaxe der Normative der Freiheit und Öffentlichkeit). In der Zusammenschau ergibt sich kein eindeutiges Komplementärverhältnis von Religionsunterricht einerseits und Ethik/Religionskunde andererseits; deshalb sind Rückwirkungen eines allgemein verbindlichen Schulfachs Ethik/Religionskunde auf das Institut des Religionsunterrichts zu erwarten. Andererseits folgt aus der Institutsgarantie nicht zwingend, dass der Staat sich eines allgemein verbindlichen Religionskunde- und Ethikunterrichts zu enthalten hätte. Für eine verfassungsrechtliche Bewertung wird man deshalb die konkreten Umstände in den einzelnen Bundesländern jeweils genauer in den Blick nehmen müssen. Eine optimierte Zweckerfüllung unter veränderten religionssoziologischen Verhältnissen dürfte gerade durch intelligente Mischung aus Elementen des klassischen konfessionellen Religionsunterrichts sowie projektbezogener interreligiöser Kooperation unter Einschluss eines Ersatzfaches Ethik/Religionskunde zu erreichen sein. Denn es entspricht verfassungspolitischer Klugheit, den Religionsunterricht nicht einfach aufzugeben oder an den Rand zu drängen. Warum, will ich durch einen längeren Exkurs zu Jürgen Habermas veranschaulichen: Er führt uns zu der Frage, wie religiöse Gemeinschaften in der Moderne mit der Spannung zwischen religiöser Selbstbehauptung und gesellschaftlich erwarteten Anpassungsleistungen der Religionsgemeinschaften an die Bedingungen einer säkularen politischen Ordnung der Freien und Gleichen umgehen. 5. Verfassungstheoretischer Ausblick: der modernitätstheoretische Mehrwert des Religionsunterrichts Jürgen Habermas betont in seinen Schriften zutreffend, dass sich die liberaldemokratische Ordnung westlicher Staaten nichtreligiösen, nachmetaphysischen Begründungen verdankt. Einer besonderen religiösen Begründung bedarf der demokratische Verfassungsstaat nicht. Zugleich hat Habermas immer wieder darauf hingewiesen, dass ein solches Modell nachmetaphysischer, allgemeinverbindlicher politischer Ordnung auf „entgegenkommende Lebensformen“23 angewiesen ist. Habermas verteidigt also den säkularen Selbststand einer liberaldemokratischen Herrschaftsordnung und plädiert zugleich dafür, Religion in der Öffentlichkeit zu verorten. Habermas sieht die öffentliche Funktion der Religion 23
Jürgen Habermas, Treffen Hegels Einwände gegen Kant auf die Diskursethik zu? in: ders., Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt 1991, 9-30, hier 25.
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auf zwei Ebenen. Zum einen bildet Religion ein „dichtere[s] Geflecht kultureller Wertorientierung“24 aus, als die freiheitliche Demokratie selbst mit ihren formalen Prozeduren zu vermitteln vermag. Das religiöse Ethos kann Menschen auf besondere Weise motivieren, über sich selbst hinauszudenken, sich als Autoren des für alle geltenden Rechts aktiv einzubringen und in diesem Sinne gute Demokraten zu sein. Zum anderen sieht Habermas in der Religion und ihren Theologumena (etwa Schuld und Erlösung, Rechtfertigung und Gnade, Person und Werk, Schöpfung und Geschöpflichkeit) nicht ausgeschöpfte Potentiale für politische Verständigungsprozesse innerhalb der säkularen Verfassungsordnung. Freilich kann Religion diese öffentliche Funktion angesichts des factum brutum religiöser Vielfalt, der Pluralität menschlicher Vorstellungen vom gelingenden Leben, laut Habermas nur einnehmen, wenn sie sich auf die Bedingungen der Moderne einstellt. Den Gläubigen wird eine dreifache Reflexionsleistung abverlangt: Ich zitiere aus der Friedenspreisrede 2001: „Das religiöse Bewusstsein muss erstens die kognitiv dissonante Begegnung mit anderen Konfessionen und anderen Religionen verarbeiten. Es muss sich zweitens auf die Autorität von Wissenschaften einstellen [...]. Schließlich muss es sich auf die Prämissen des Verfassungsstaates einlassen, die sich aus einer profanen Moral begründen.“25 Die Religion muss sich mit anderen Worten so aufstellen, dass sie den Anhängern ermöglicht, trotz partikularer religiöser Identität (als Protestant, Muslima, Jude, Atheistin), anderen Bürgerinnen und Bürgern im politischen Raum als gleichberechtigt zu begegnen und die sich daraus ergebenen Begrenzungen, die partielle Suspendierung der religiösen Wahrheitsfrage, zu verinnerlichen. Das ist, wie wir aus historischer Erfahrung wissen, ein überaus anspruchsvoller Prozess. Für die Gläubigen ist die mit der säkularen Rechtsordnung verbundene Einschränkung der praktischen Wirksamkeit ihrer Glaubenswahrheiten immer auch eine Zumutung. Diese Zumutung wird deutlich gemildert, wenn sich die Religionen „die normativen Grundlagen des liberalen Staates [...] unter eigenen Prämissen aneignen“, wie Habermas schreibt. „Die erforderliche Rollendifferenzierung zwischen Gemeindemitglied und Gesellschaftsbürger muss aus der Sicht der Religion selbst überzeugend begründet werden, wenn nicht Loyalitätskonflikte weiter schwelen sollen“, so Habermas.26 Zu den nach Habermas den Religionskulturen abverlangten Doppelprozessen der religiösen Inkulturation (und der für diese prognostizierte Nachhaltigkeit in den Wertorientierungen) und zugleich der selbstkriti24 Jürgen Habermas, Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates?, in: ders., Zwischen Naturalismus und Religion, Frankfurt 2005, 106-118, hier 111. 25 Jürgen Habermas, Glauben und Wissen, Frankfurt 2001, 14. 26 Jürgen Habermas, Religiöse Toleranz als Schrittmacher kultureller Rechte, in: ders., Naturalismus, 258-278, hier 268 f.
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schen theologischen Reflexion kann der Religionsunterricht in öffentlichen Schulen und seine akademische Begleitung durch die Religionspädagogik einen wichtigen Beitrag leisten, der von einem Schulfach Ethik und Religionskunde für alle gerade nicht ausginge. Soweit ein solcher Beitrag zu erwarten ist, entspricht der Religionsunterricht im Sinne des Art. 7.3 GG auch unter gewandelten gesellschaftlichen Verhältnissen wohlverstandenen gesellschaftspolitischen Eigeninteressen selbst derjenigen, die religiös unmusikalisch sind. Der Religionsunterricht wird sich gewandelten religionssoziologischen Bedingungen und daraus resultierenden pädagogischen Anforderungen anpassen müssen. Das Verfassungsrecht bietet dafür Spielraum. Wer hingegen den Religionsunterricht ganz abschaffen oder wesentlich marginalisieren will, beschädigt den modernitätstheoretischen Mehrwert religiöser Bildung in der öffentlichen Schule, ohne ihn kompensieren zu können. Dr. iur. Hans Michael Heinig ist Professor für Öffentliches Recht, insb. Kirchenund Staatskirchenrecht, und geschäftsführender Direktor des Instituts für Öffentliches Recht an der Juristischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen, sowie Leiter des Kirchenrechtlichen Instituts der EKD mit Sitz in Göttingen.
Rudolf Englert
Konfessioneller Religionsunterricht – zehn Thesen zum besseren Verständnis I. Hat sich der konfessionelle Religionsunterricht überlebt? – Entwicklungen 1. Religiöse Pluralität führt zu einer Aufwertung von Religion als schulischem Bildungsgegenstand; sie führt gleichzeitig aber auch zu einer Infragestellung der spezifischen Form konfessionellen Religionsunterrichts. In Deutschland ist kein Schulfach so häufig Gegenstand von Anfragen, Kritik und Bestreitungen gewesen wie der Religionsunterricht. Schon vor mehr als hundert Jahren gab es Forderungen nach seiner Abschaffung.1 Eine solche Fundamentalopposition ist mittlerweile eher selten geworden. Kaum jemand bestreitet heute, dass Religion ein Gegenstand schulischer Bildung sein muss. Die Auffassung, Schule muss sich der Auseinandersetzung mit religiösen Fragen stellen, hat durch die Zunahme religiöser Pluralität offensichtlich an Plausibilität gewonnen. Gleichzeitig aber lässt die religiöse Pluralisierung vielen Menschen die Form konfessionellen Religionsunterrichts offenbar als unzeitgemäß und veraltet erscheinen. 2. Konfessionell ist der gegenwärtige Religionsunterricht in Deutschland nicht im Sinne seiner Zielsetzung, sondern im Sinne seines Ausgangspunktes bzw. seines Bezugsrahmens. Die in den meisten Teilen der Bundesrepublik etablierte Form konfessionellen Religionsunterrichts nach Art. 7.3 GG hat sich in den mehr als sechzig Jahren ihres Bestehens erheblich gewandelt. Empirische Befunde zum Aufgabenverständnis der gegenwärtigen Religionslehrerinnen und -lehrer zeigen sehr deutlich: Das wesentliche Ziel evangelischen wie katholischen Religionsunterrichts ist heute nicht mehr die Vermittlung des Glaubens der Kirche, sondern die Stärkung der religiösen Orientierungsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler.2 Konfessionell ist dieser Religionsunterricht nicht mehr, weil er Kinder und Jugendliche zur Anerkennung eines bestimmten Bekenntnisses führen will (Zielsetzung); 1
Vgl. Karl Ernst Nipkow und Friedrich Schweitzer, Religionspädagogik. Texte zur evangelischen Erziehungs- und Bildungsverantwortung seit der Reformation, 19. und 20. Jahrhundert (2/1), Gütersloh 1994, 171-179. 2 Vgl. Andreas Feige und Werner Tzscheetzsch, Christlicher Religionsunterricht im religionsneutralen Staat?, Stuttgart 2005, 12.
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konfessionell ist er vielmehr insofern, als er die Auseinandersetzung mit den Traditionen einer bestimmten Religionsgemeinschaft für die auch heute ergiebigste Grundlage religiöser Bildung und Kompetenzentwicklung hält (Ausgangspunkt bzw. Bezugsrahmen). 3. Ein moderner Religionsunterricht konfessionellen Typs hat sich in mehrfacher Hinsicht über das anfängliche Konfessionalitätsmodell hinausentwickelt. − Er setzt die Relevanz religiöser Traditionen nicht mehr voraus, sondern prüft sie in Auseinandersetzung mit den Lebensfragen heutiger Schülerinnen und Schüler; von daher ist er in hohem Maße welthaltig, lebensbezogen und gegenwartsorientiert. − Er unterzieht die von ihm als Bezugsrahmen gewählte religiöse Tradition (z.B. das Christentum evangelischer oder katholischer Ausprägung) immer wieder auch Vergleichen mit alternativen Orientierungsmustern, sowohl anderer Religionen und Weltanschauungen als auch gesellschaftlich vorfindlicher Sinnkonzepte; das heißt, er ist offen auch für die Auseinandersetzung mit andersreligiösen, religionskritischen oder säkularen Zeugnissen und Positionen. − Er definiert seine Ziele nicht mehr von den Interessen der Religionsgemeinschaften, sondern von den Interessen der Schülerinnen und Schüler her. Es geht ihm in der Hauptsache nicht mehr um die Aneignung eines bestimmten vorgegebenen Bekenntnisses, sondern um die Ausbildung eines eigenen Orientierungsvermögens – um die Entwicklung von Kompetenzen, die für den Umgang mit jedweder Art von Religion und darüber hinaus für den Umgang mit jedweder Art grundlegender Lebens- und Sinnfragen von Belang sind. 4. Im Zusammenhang mit dem Wandel seiner Inhalte und Zielsetzungen bedarf der konfessionelle Religionsunterricht auch eines Wandels seiner organisatorischen Gestalt; dieser Wandel hätte in Richtung eines von beiden großen christlichen Kirchen gemeinsam verantworteten Religionsunterrichts zu gehen. Auch in seiner organisatorischen Gestalt hat sich der konfessionelle Religionsunterricht bereits gewandelt; und er ist in diesem Punkt noch weiter entwicklungsfähig. So heißt konfessioneller Religionsunterricht heute nicht mehr zwangsläufig: Religionsunterricht in monokonfessionellen Lerngruppen. Beide großen christlichen Kirchen haben Möglichkeiten zu unterschiedlichen Formen konfessioneller Kooperation geschaffen,3 so dass beispielsweise evangelische Religionslehrerinnen und -lehrer auch katholische Schülerinnen und Schüler oder katholische Religionslehre3
Vgl. Friedrich Schweitzer und Albert Biesinger, Gemeinsamkeiten stärken – Unterschieden gerecht werden. Erfahrungen und Perspektiven zum konfessionellkooperativen Religionsunterricht, Freiburg und Gütersloh 2002.
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rinnen und -lehrer auch evangelische Schülerinnen und Schüler unterrichten können. In Zukunft müssten meines Erachtens noch mutigere Schritte gewagt werden in Richtung eines Religionsunterrichts, der wirklich von beiden christlichen Kirchen gemeinsam verantwortet wird. Auch ein solcher Religionsunterricht wäre aus meiner Sicht bekenntnisorientiert und in diesem Sinne konfessionell. II. Was kann der konfessionelle Religionsunterricht besonders gut? – Abgrenzungen 5. Der konfessionelle Religionsunterricht will über Religionen nicht nur informieren, sondern lädt die Schülerinnen und Schüler ein, sich mit dem Anspruch konkreter religiöser Traditionen auseinanderzusetzen und diese Begegnung als Gelegenheit zu einer kritischen Selbstbefragung zu begreifen. Religiöse Orientierungsfähigkeit kommt nicht schon da zustande, wo man vieles kennt und manches weiß, sondern erst da, wo man sich aufgefordert fühlt, selbst Stellung zu nehmen, und allmählich fähig wird, sich selbst zurechtzufinden und zu positionieren. Religionen wollen den Menschen nicht lassen, wie er ist, sondern für Erfahrungen sensibilisieren, die ihn über sich hinausführen: ihn öffnen für das Geheimnis der Welt.4 Sie wollen ihn einladen, die Welt im Lichte dieser Erfahrungen zu deuten und ihn daran erinnern: Aus dieser Perspektive verbietet es sich, der Not des Anderen teilnahmslos gegenüberzustehen, mit der Schöpfung achtlos umzugehen, Glück und Gelingen für die zwangsläufigen Früchte eigenen Bemühens zu halten, die Hoffnung ganz aufzugeben ... Wer Religionen verstehen will, muss diesen Anspruch wenigstens vernommen haben, auch wenn er ihn für sich selbst vielleicht zurückweist. Konfessioneller Religionsunterricht fordert die Schülerinnen und Schüler heraus, sich mit der Botschaft und dem Anspruch einer konkreten Religion kritisch auseinanderzusetzen, sich dabei aber auch ihrerseits von dieser Botschaft und diesem Anspruch her befragen zu lassen. Wo Religionsunterricht sachkundlich angelegt ist und Religionen analytisch auf Distanz gehalten werden, kann eine solche Form persönlicher Auseinandersetzung nur schwer in Gang kommen. 6. Ein moderner Religionsunterricht evangelischer oder katholischer Prägung hat hermeneutische und theologische Implikationen, die interreligiös nicht konsensfähig sind. Auch wenn die großen Religionen eine Reihe von Grundinspirationen teilen, ist ihr Zugang zum Geheimnis der Welt und ihr Verständnis der 4
Vgl. Eberhard Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen 61992.
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Beziehung zwischen Mensch und Gott im Einzelnen doch sehr verschieden. Dies gilt auch für den Umgang mit dem, was der jeweiligen Religion in besonderer Weise als heilig, verbindlich oder verpflichtend erscheint. Im evangelischen und katholischen Religionsunterricht hat sich eine Form des Umgangs mit „heiligen Texten“, geprägten Ritualen und überlieferten Überzeugungen ausgebildet, die man als „traditionskritisch“ bezeichnen kann (vgl. z.B. das Konzept der „Elementarisierung“5 im evangelischen oder das Konzept der „Korrelationsdidaktik“6 im katholischen Religionsunterricht). Dabei sollen die Traditionen einer Religion und die Gegenwartserfahrungen der Schülerinnen und Schüler zu einer Begegnung „auf Augenhöhe“ zusammengeführt werden. Religiöse Traditionen sollen also nicht einfach vermittelt, sondern auf ihre Gegenwartsrelevanz hin kritisch befragt und für Formen individueller Aneignung und Verarbeitung verfügbar gemacht werden; ja, sie sollen in diesem Prozess in gewisser Weise sogar produktiv weiterentwickelt werden.7 Ein solches didaktisches Konzept hat weitreichende hermeneutische und theologische Implikationen, die zwischen den Religionen keineswegs konsensfähig sind. Würde Religionsunterricht interreligiös angelegt, müsste diese didaktische Leitidee eines kritisch-produktiven Dialogs wohl preisgegeben werden – genauso wie wohl auch didaktische Prinzipien aufgegeben werden müssten, die sich in anderen Religionen besonders bewährt haben. 7. Anders als gemeindepädagogische bzw. katechetische Bemühungen hat es der konfessionelle Religionsunterricht nicht mit an ihrem Glauben arbeitenden Kirchenmitgliedern zu tun, sondern mit an ihrer Orientierungsfähigkeit arbeitenden Schülerinnen und Schülern. Der Typus des konfessionellen Religionsunterrichts darf nicht, wie es immer wieder geschieht, mit einem „katechetischen“ Ansatz identifiziert werden. Der Umgang mit religiösen Traditionen ist im Religionsunterricht der öffentlichen Schulen nicht derselbe wie im Kontext der kirchlichen Katechese. Die Kirche ist die Kommunikationsgemeinschaft des Glaubens, in der dieser Glaube gelebt, gefeiert und tradiert wird. Die säkulare Schule hingegen ist ein Teil des öffentlichen Bildungswesens, für das dieser Glaube zunächst einmal ein Teil des kulturellen Erbes ist. Die Akteure im Raum von Schule sind nicht an ihrem Glauben arbeitende Kirchenmitglieder, sondern an ihrer Orientierungsfähigkeit arbeitende Schülerinnen und Schüler. Im Religionsunterricht wird eine religiöse Tradition in einen unterrichtstauglichen Bildungsgegenstand transfor5
Vgl. Friedrich Schweitzer, Elementarisierung im Religionsunterricht, NeukirchenVluyn 2003. Vgl. Rudolf Englert, Religionspädagogische Grundfragen. Anstöße zur Urteilsbildung, Stuttgart 22008, 122-158. 7 Vgl. Norbert Mette und Matthias Sellmann, Religionsunterricht als Ort der Theologie, Freiburg i.Br. 2012. 6
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miert und in dieser Form den Schülerinnen und Schülern als Ressource für die Entwicklung ihrer religiösen Orientierungsfähigkeit angeboten. Insofern ist auch ein konfessioneller Religionsunterricht eben kein Ort religiöser Praxis oder kirchlichen Lebens, sondern ein Ort pädagogischdidaktischer Arbeit.8 III. Worin könnte der Religionsunterricht noch besser werden? – Beobachtungen 8. In der gegenwärtigen Praxis konfessionellen Religionsunterrichts gibt es die Tendenz, den Schülerinnen und Schülern einen möglichst gut begehbaren Zugang zu religiösen Traditionen zu eröffnen – und dabei in Kauf zu nehmen, dass der Eigenanspruch und die Andersheit dieser Traditionen in den Hintergrund treten. Das Muster, nach dem religiöse Tradition und heutige Lebenswelt im gegenwärtigen Religionsunterricht miteinander ins Gespräch gebracht werden, ist nach aktuellen Untersuchungen nur selten die kritische Konfrontation, sondern meist die schlichte Analogie.9 So soll etwa gezeigt werden: Was Schülerinnen und Schüler heute erleben, haben auch biblische Figuren in dieser oder jener Situation schon erlebt: Eifersucht und Rivalität, Freundschaft und Solidarität, Wut und Verzweiflung, Glück und Sehnsucht. Auf diese Weise lassen sich Identifikationsmöglichkeiten eröffnen, die den Schülerinnen und Schülern deutlich machen: Die religiösen Traditionen sind bis heute von Interesse, insofern sie etwa in Gestalt biblischer Erzählzusammenhänge elementare menschliche Grundsituationen ansprechen. Wenn dieses didaktische Muster der Analogiebildung aber einseitig in den Vordergrund tritt, droht die Gefahr, dass der Eigenanspruch und die produktive Anstößigkeit religiöser Traditionen zu kurz kommen. Ob zum Beispiele prophetische Texte nicht vielleicht auch als Anfrage an die heute im Umlauf befindlichen Vorstellungen von Gerechtigkeit zu lesen wären oder ob sich die jesuanische Bergpredigt nicht geradezu als Gegen-Vision zu unseren eigenen Lebensperspektiven verstehen ließe, spielt dann keine oder kaum eine Rolle mehr. Von daher wäre gezielt darüber nachzudenken, wie auch das an religiösen Traditionen eher Fremde, vielleicht sogar Befremdende, und das in 8
S. dazu auch Burkard Porzelt, „Wer wechselt, wandelt sich.“ Schulische Transformation des Religiösen im Spiegel einer Lehrererzählung, in: Religionspädagogische Beiträge 58/2007, 53-60. 9 Vgl. Rudolf Englert, Wie kommen Schüler/innen ins Gespräch mit religiösen Traditionen? Eine Untersuchung religionsdidaktischer Inszenierungsstrategien, in: Ulrich Riegel und Klaas Macha (Hg.), Videobasierte Kompetenzforschung in den Fachdidaktiken, Münster 2013, 259ff.; ausführlicher dazu demnächst: Rudolf Englert, Elisabeth Hennecke und Markus Kämmerling, Innenansichten des Religionsunterrichts, München 2014.
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ihnen steckende kritische Potential didaktisch angemessen in den Blick gebracht werden können.10 9. Gegenwärtige Religionslehrerinnen und -lehrer tendieren dazu, ihre Rolle so zu interpretieren, dass sowohl die Dimension der „Zeugenschaft“ (für den Lebenswert christlichen Glaubens) als auch die Dimension der Expertenschaft (für eine fachlich fundierte Theologie) dabei zurücktreten. Zum Rollenverständnis gerade jüngerer Religionslehrerinnen und -lehrer gehört offenbar, in der Grundschule noch deutlicher als in den weiterführenden Schulen, dass sie sich im Unterricht nicht nur mit ihrer eigenen Überzeugung, sondern überhaupt mit eigenen inhaltlichen Eingaben stark zurückhalten.11 Das heißt ihre Zurückhaltung gilt nicht nur für bekenntnisartige Statements, bei denen sich der Lehrer mit seinem eigenen Glaubensstandpunkt in den Unterricht einbringt, sondern auch für die fachliche Expertise, bei der es beispielsweise um sachkundliche Hintergründe, vertiefende Erklärungen oder perspektivische Weitungen usw. geht. Im Durchschnitt investieren die Lehrer und Lehrerinnen für die Klärung methodischer und organisatorischer Fragen mehr Zeit als für die Präsentation eigener inhaltlicher Impulse. Gerade im konfessionellen Religionsunterricht, in dem der Lehrer bzw. die Lehrerin auch als eine Art „native guide“ in einem für viele Schülerinnen und Schüler weitgehend fremden Terrain fungiert, erschwert eine solche Zurückhaltung die fachliche Auseinandersetzung. Untersuchungen zeigen, dass die Bedeutung des Lehrers als eines Modells fachlicher Kompetenz und persönlichen Involviertseins nicht unterschätzt werden darf und dass es unsinnig ist, alle vom Lehrer ausgehenden Formen der Anleitung pauschal als „Instruktivismus“ zu diskreditieren.12 Von daher ist es an der Zeit, die Rolle des Religionslehrers in einem modernen konfessionellen Religionsunterricht erneut zu diskutieren.
10 Vgl. dazu Rudolf Englert, Ulrich Schwab, Friedrich Schweitzer und Hans-Georg Ziebertz (Hg.), Welche Religionspädagogik ist pluralitätsfähig? Kontroversen um einen Leitbegriff, Freiburg i.Br. 2012, 149-171 (Diskussionsbeiträge von Lothar Kuld und Bernhard Grümme). 11 Vgl. Englert, Inszenierungsstrategien (s.o. Anm. 9), 257ff. 12 Vgl. John Hattie, Lernen sichtbar machen. Überarbeitete deutschsprachige Ausgabe von „Visible Learning“, Baltmannsweiler 2013, 242ff.; Hans Mendl, Warum Instruktion nicht unanständig ist, in: Katechetische Blätter 135 (2010), 316-321; Rudolf Englert, Ein Lehrer, der lehrt – schockierend? Über das Potential der viel geschmähten Instruktion, in: Katechetische Blätter 135 (2010), 330-336.
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10. Es gibt in der Praxis konfessionellen Religionsunterrichts eine deutliche Tendenz, den Umgang mit der Tradition christlichen Glaubens zu versachkundlichen. In der Praxis gegenwärtigen Religionsunterrichts finden sich noch zu wenige Reihen und Stunden, von denen sich sagen lässt: Hier wird der Dialog zwischen dem, was Kindern und Jugendlichen wichtig ist, und dem, was für die christliche Tradition wichtig ist, so intensiv geführt, dass die Schülerinnen und Schüler einen wirklichen Orientierungsgewinn dabei erzielen.13 Dies hat verschiedene Gründe: 1. Nicht selten wird, etwa bei der Bearbeitung eher lebenskundlicher Themen, auf den vertieften Einbezug religiöser Traditionen von vornherein verzichtet. 2. Immer häufiger werden religiöse Traditionen auch im konfessionellen Religionsunterricht eher im Stil sachkundlicher Information als im Stil diskursiver Auseinandersetzung zum Thema gemacht. 3. Da, wo das Gespräch mit religiösen Traditionen tatsächlich gesucht wird, bleibt dieses vielfach eher flach – so dass weder die Lebensoptionen der Schüler/innen von religiösen Zeugnissen her angefragt werden, noch umgekehrt diese Zeugnisse von den Schülerinnen und Schüler einer wirklich ernsthaften Kritik unterzogen würden. Das Grundproblem konfessionellen Religionsunterrichts ist und bleibt offensichtlich die Frage: Wie lässt sich die Erfahrung vermitteln, dass uns religiöse Traditionen auch in einer weitgehend post-traditionalen Gesellschaft etwas zu sagen haben? Diese Frage kann nicht von der Religionsdidaktik allein, sondern nur in der Zusammenarbeit einer insgesamt gegenwartsbezogenen und relevanzstarken Theologie weiterführend bearbeitet werden. Dr. Rudolf Englert ist Professor für Religionspädagogik am Institut für Katholische Theologie der Universität Duisburg-Essen.
13
Vgl. demnächst Englert/Hennecke/Kämmerling, Innenansichten (s.o. Anm. 9).
Bernd Schröder
Was heißt Konfessionalität des Religionsunterrichts heute? Eine evangelische Stimme Konfessionalität des Religionsunterrichts
Schaut man auf die Landschaft des Religionsunterrichts in Europa, lassen sich cum grano salis zwei Tendenzen erkennen.1 In vielen europäischen Ländern wird angesichts wachsender religiöser Pluralität, vor allem aber wachsender Konfessionslosigkeit eine Haltung der Indifferenz, der Äquidistanz, der bloß kulturell induzierten Interessiertheit an Aufklärung in Sachen Religion angenommen. Es geht demzufolge im Religionsunterricht nicht um die Arbeit an der individuellen Ligatur, sondern um den Aufbau von Orientierungswissen, das möglichst allen Schülerinnen und Schülern zuteilwerden soll: Pluralitätsfähigkeit wird in diesem Fall gewonnen durch Information und Neutralisierung persönlicher Ligaturen. Zugespitzt formuliert sind Konfessionslose der prototypische Lerner dieses Unterrichts; religiöse Bindung wird zur exklusiven Aufgabe der Religionsgemeinschaften, wird privat. In Deutschland wird demgegenüber nach wie vor versucht, Religionsunterricht von einer als gegeben angenommenen religiösen Bindung her zu entwerfen. Diese vorhandene religiöse Ligatur soll gestärkt, primär intellektuell geklärt und vertieft, sowie innerhalb des Religionsunterrichts der eigenen Konfession wie durch Kooperation mit benachbarten Religionsunterrichten dialogisch und tolerant geöffnet werden: Pluralitätsfähigkeit soll durch Aufklärung und Kommunikation der Ligaturen erzielt werden. Konfessionslose werden de jure gesondert bzw. ohne Religionsunterricht beschult; religiöse Bindungen werden öffentlich kommuniziert und durchgebildet. Ich sehe in dieser Unterscheidung das Schibboleth (Ri 12) einer Reform des Religionsunterrichts – alles andere sind Details. In Anbetracht dessen soll hier nach der religionspädagogischen Bedeutung jener „Ligatur“ bzw. Konfessionalität gefragt werden. 1. Warum nach der Bedeutung des konfessionellen Religionsunterrichts fragen? Bei der Frage nach der Zukunft des Religionsunterrichts spielt der Blick auf die Lebensbedingungen unserer modernen Gesellschaft eine erstaun1
Differenzierter, aber gleichwohl noch im Überblick dargelegt etwa bei Bernd Schröder, Religionsunterricht in Europa, in: Martin Rothgangel, Gottfried Adam und Rainer Lachmann (Hg.), Religionspädagogisches Kompendium, Göttingen 7., grundlegend neu bearbeitete und ergänzte A. 2012, 175-190.
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lich begrenzte Rolle. Häufig werden lediglich religiöse Pluralisierung und Individualisierung sowie – deutlich nachgeordnet – der Trend zur Konfessionslosigkeit rezipiert, gerne und oft als Motive für eine multireligiöse Weitung des Faches, sei es in Richtung eines multireligiösen Religionsunterrichts für alle, sei es in Richtung einer Religionskunde. Demgegenüber sollen hier in gedrängter Kürze drei andere religionspädagogisch und religiös relevante Momente modernen Lebens in Erinnerung gerufen werden: − die innere Vielfalt jeder der in Deutschland präsenten Weltreligionen, die für die jeweiligen Religionsangehörigen eine erheblich stärkere Rolle spielt als für diejenigen, die Religion von außen betrachten, − die latente Entplausibilisierung religiöser Wahrheiten und Perspektiven in der modernen Welt, vor allem durch drei tiefenwirksame intellektuelle und wissenssoziologisch prägende Maßstäbe (Vernunft, Naturwissenschaft-Technik, Ökonomisierung-Effizienzstreben), − die Depotenzierung von Religion als Prägefaktor der Lebensführung Einzelner durch Strukturmomente moderner Lebenswelt (Differenzierung in Subsysteme mit eigenen Verhaltensregeln, Beschleunigung, Medialisierung, Mobilität). Wenn man „Religion“ in einem dergestalt pluralen, latent religionskritischen Kontext sowohl eine gesellschaftlich konstruktive als auch existentiell tragfähige Rolle zuschreibt und sie deshalb in der Schule thematisiert sehen möchte, dann muss das darauf bezogene Fach − differenzsensible, der Komplexität von Religionen angemessen komplexe Antworten ermöglichen (statt zu vereinfachen) − religions- und bindungsfreundlich grundiert werden (statt Indifferenz verstärkend) − relational (im Sinne von: sich-selbst-in-Beziehung-setzend, existentiell relevant) angelegt werden (statt bloß distanzierend-informativ). Unbeschadet dessen bleibt Religion als Unterrichtsfach an schulische Standards gebunden; Religionsunterricht soll Religion einer methodisch ausgewiesenen, von wissenschaftsbasierter Information genährten, auf Orientierung und kritische Auseinandersetzung zielenden Reflexion zuführen. 2. Was kann „Konfessionalität“ des Religionsunterrichts heute heißen? Zwei Bemerkungen vorab: Eine Bemerkung zur Sprache: Kein grundlegender Rechtstext zum Religionsunterricht – weder das Grundgesetz noch die Schulgesetze der Länder – spricht von „konfessionellem“ Religionsunterricht. Der Ausdruck
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lässt gottesdienstliches Bekennen assoziieren und ein Streben nach Affirmation traditioneller Konfessionskirchen, gerade so, als ob es um eine einseitig theologisch bestimmte, „missionarisch“ ausgerichtete Veranstaltung ginge. Um die pädagogische Herausforderung deutlich zu machen, um die es bei der Frage nach der Zukunft des Religionsunterrichts geht, bevorzuge ich die Rede von der Ligatur (s.o.) bzw. vom transparent-positionellen Religionsunterricht. Pointen dessen sind die existentielle Ausrichtung des Unterrichtsgeschehens und das „Commitment“ (etwa: verbindliches Engagement) der Lehrenden. Eine Bemerkung zur Sache: Die Rede vom konfessionellen RU betont die differentia spezifica zu anderen, entweder religionskundlich oder ethisch akzentuierten Formen des Unterrichts. So richtig und wichtig diese Unterscheidung ist, so muss doch klar sein, dass sie in der Unterrichtspraxis zeitlich wie sachlich keineswegs durchgängig, sondern nur gelegentlich zur Geltung kommt – empiriegestützt hält Rudolf Englert angesichts jüngster Unterrichtsbeoachtungen fest: „Dass ein Religionslehrer von seinem eigenen Glauben erzählt oder sonstwie bekenntnishaft gesprochen hätte, kam so gut wie nicht vor. […] Es ist [sogar] auch ausgesprochen selten, dass ein Lehrer seine theologische Expertise einbringt und fachlich erklärt, ‚was Christen glauben‘.“2 Auch Religionsunterricht gemäß Art. 7.3 GG ist demnach de facto zu weiten Teilen „normaler“, d.h. informierend, diskursiv und auf Selbsttätigkeit der Schülerinnen und Schülern angelegter Unterricht.3 Es geht beim Argumentieren zugunsten von transparent-positionellem Religionsunterricht gemäß Art 7.3 GG also nicht um einen „ganz anderen“ Unterricht, sondern um die Fragen, − ob die explizit religiöse Positionierung von Lehrern und Schülern (im Sinne der positiven Religionsfreiheit) als Ausnahme a) legal und b) didaktisch wünschenswert ist, − ob Religionsunterricht im öffentlichen Raum konstruktiv-förderlich auf die Entwicklung bzw. Festigung einer bestimmten religiösen Identität bezogen sein darf. 2.1 Keine Neutralität des Religionsunterrichts, sondern Akzeptanz und Förderung vorhandener religiöser Ligaturen Selbstredend ist Religionsunterricht darauf verpflichtet, adäquate Sachinformation zu geben und zu erschließen, wenn es um die Darstellung reli2
Rudolf Englert, Der Religionslehrer – Zeuge des Glaubens oder Experte für Religion? in: RpB 68 / 2012, 77-88, 85 und 86. 3 Dementsprechend verfolgen Religionslehrende weithin das Ziel, „[to] give information about different religions and churches“ (79,8%) und „[to] support students to shape their own identity on the basis of religious values“ (72,5%) – nur relativ wenige bejahen „teaching religion” (47,3%). Ulrich Riegel und Hans-Georg Ziebertz, Germany: Teachers of religious education – mediating diversity, in: dies. (eds.): How Teachers in Europe teach Religion. An International Empirical Study in 16 Countries, Münster 2009, 69-80, 74f.
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giöser Sachverhalte, insbesondere auch, wenn es um die Darstellung anderer Religionen geht, doch er macht keinen Hehl daraus, dass er – mutatis mutandis – als evangelischer Religionsunterricht aus evangelischer Perspektive erteilt wird. Und er verdeutlicht damit exemplarisch für alle Fächer, dass kein Gegenstand perspektivlos unterrichtet werden kann. Dahinter verbirgt sich eine Richtungsentscheidung im Blick auf Herkunft und Gefälle des Faches: Religion wird in der Schule nicht allein deshalb Thema, weil es Gegenstand einer Wissenschaft ist, die die Schule propädeutisch erschließen will, und nicht allein deshalb, weil es Religionen in Deutschland gibt, die aus geschichtlichen, kulturkundlichen oder gesellschaftlichen Gründen, etwa um der Förderung von Toleranz und Friedfertigkeit willen, behandelt werden sollen, sondern weil religiöse Daseins- und Wertorientierungen am weitesten verbreitet, für die Einzelnen oftmals tatsächlich prägend, gesellschaftlich konstruktiv und deshalb staatlicherseits geschützt sind. Dass der Religionsunterricht „in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaft“ (Art. 7.3 GG) erteilt wird, trägt diesem Umstand Rechnung. Anders gesagt: Es gibt sog. konfessionellen, transparent-positionellen Religionsunterricht, weil und solange es eine hinreichend große Zahl von Menschen gibt, die sich als Mitglieder einer Religionsgemeinschaft öffentlich zu erkennen geben (wollen). Deshalb soll Religion nicht bloß informierend, sondern bei aller kommunikativen Offenheit affirmierend – eben in „konfessioneller Positivität und Gebundenheit“4 – unterrichtet werden. Nicht die Förderung von Äquidistanz oder dauerhafter Distanznahme zu konkreten Religionen ist Intention des Religionsunterrichts, sondern die Aufrechterhaltung und Vertiefung der als gegeben angenommenen religiösen Bindung. Dies ist das Anliegen des Religionsunterrichts als eines ordentlichen schulischen Lehrfaches, nicht als verlängerter Arm der Kirche. Der Staat und unser Gemeinwesen haben Interesse daran, dass Menschen sich im Rahmen aufgeklärter Religion orientieren. Wer teilnimmt (etwa als Konfessionsloser), ist bereit, sich dieser Affirmation auszusetzen und sich mit ihr auseinanderzusetzen. In dieser Hinsicht ähnelt der Religionsunterricht dem Deutschunterricht: Deutsch als Muttersprache wird vorausgesetzt und affirmiert; Ziel ist, sich gewandter, kundiger, differenzierter ausdrücken zu können – der Weg dorthin schließt Kritik keineswegs aus. Rechtlich trägt die Konfessionalität des Religionsunterrichts der positiven Religionsfreiheit nach Art. 4 GG Rechnung.
4
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 25.2.1987. Vgl. dazu den Beitrag von Hans Michael Heinig in diesem Band, Abschnitt 2.2.
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2.2 Transparentes „commitment“ (der Schülerinnen und Schüler) und der Religionslehrerinnen und -lehrer Weiterhin bedeutet „Konfessionaliät“, dass weder die Schülerinnen und Schüler noch die Religionslehrerinnen und -lehrer ein unverbindliches Verhältnis zur Religion haben bzw. haben sollten. Zumal für die Lehrenden gilt: Sie gehören einer „real existierenden“ Religionsgemeinschaft an und vertreten – transparent für Schüler, Eltern, Schulleitung und Religionsgemeinschaft(en) – je bestimmte Positionen, dies allerdings, evangelisch gesprochen: in aller Freiheit, d.h. in Bindung an wissenschaftliche Redlichkeit, Gewissen und den Grundsatz der Authentizität, aber unter Wahrung des „Zusammenhang[s] mit Zeugnis und Dienst der Kirche“5. Die Lehrenden fungieren somit über ihre Rolle als Lehrende hinaus als „role-model“, als Anwälte einer konkret gelebten Religion, als „committed people“ – nicht als neutral und äquidistant. Auf beides kommt es an: auf das commitment und dessen Transparenz. In dieser Hinsicht ähnelt der Religionsunterricht dem Musik-, Kunstoder Sportunterricht: Auch dort wird erwartet, dass die Lehrkräfte selbst musikalisch, künstlerisch, sportlich aktiv sind, dass sie Freude und Begeisterung wecken, Teilhabe anbieten und sich nicht auf scheinbar „neutrale“ musik-, kunst- oder sportwissenschaftliche Informationen zurückziehen. Rechtlich kommt diese transparente Positionalität in der kirchlichen Beauftragung und Rückenstärkung zur Geltung (vocatio, missio) – und darin, dass „kein Lehrer […] gegen seinen Willen verpflichtet werden [darf], Religionsunterricht zu erteilen“ (Art. 7.2 GG). 2.3 Akzent auf vertieftem Verstehen der jeweiligen Herkunftsreligion Drittens meint Konfessionalität des Religionsunterrichts: Das Erschließen der Herkunftsreligion derer, die als Angehörige einer Religionsgemeinschaft den entsprechenden Religionsunterricht besuchen, steht sachlich wie zeitlich im Zentrum. Evangelischer Religionsunterricht verwendet somit am meisten Zeit, intellektuelle und didaktische Energie, Differenzierungskraft auf die Erschließung des Christentums, in der Regel der evangelischen Lesart christlicher Religion. Die Anliegen dabei sind nicht Horizontverengung und Engstirnigkeit, sondern der didaktische Gewinn liegt in der hinreichend tiefschürfenden, intensiven und kompetenten Auseinandersetzung. Darin besteht, im Vergleich zu einem religionskundlichen Angebot, das eine Vielzahl von Religionen gleichermaßen – und das heißt häufig: gleichermaßen kursorisch – behandelt, ein entscheidender Vorzug des sog. konfessionellen Religionsunterrichts. In Abwandlung eines berühmten religionswissen5 Zu verfassungsrechtlichen Fragen des Religionsunterrichts. Stellungnahme der Kommission I der EKD [1971], in: Die Denkschriften der EKD 4/1: Bildung und Erziehung, hg. vom Kirchenamt der EKD, Gütersloh 1987, 56-63, hier 60.
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schaftlichen Diktums, dem ich nicht widerspreche, möchte ich sagen: „Wer viele Religionen ein bisschen kennt, kennt keine.“6 In dieser Hinsicht ähnelt der RU dem Geschichtsunterricht: Er ist gut beraten, europäische oder außereuropäische Geschichte einzubeziehen, wird aber im Kern um der Vertiefung willen etwa deutsche Geschichte oder die eines anderen Landes behandeln. Rechtlich gesehen gibt diese Prioritätensetzung der „Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaft“ Ausdruck (Art. 7.3 GG). 2.4 Brückenschlag zur gelebten Religion Religionsunterricht „konfessionell“ zu erteilen bedeutet viertens, legitimer- und legalerweise auf religiöse Erfahrungen, auf Praktiken und Deutungen einer bestimmten Religionsgemeinschaft Bezug zu nehmen und – unter Maßgabe der Freiwilligkeit und sofern dies unter schulischen Bedingungen überhaupt realisierbar ist – an religiöser Praxis teilzunehmen. Das mag vereinzelt im Unterricht geschehen, häufiger im Schulleben oder in der Nachbarschaft von Schule und Gemeinde. Wo diese Teilhabe im schulischen Rahmen erfolgt, ,weist sie nicht ein‘, sondern bleibt sie auf mitlaufende, kritische Reflexivität verpflichtet. In dieser Hinsicht ähnelt der Religionsunterricht dem Musikunterricht, der das Musizieren einschließt und durchaus auch auf das Schulorchester, die Schülerband u.ä. positiv Bezug nimmt. Rechtlich gesehen ist es die positive Religionsfreiheit, die dies legitimiert. 2.5 Anerkennung der Grenzen staatlicher Erziehungsvollmacht Konfessionalität bedeutet fünftens, dass der Staat, konkret: das Kultusministerium, die Schulbehörde oder die Schulleitung, darauf verzichten, im Bereich der religiös-weltanschaulichen Erziehung die normativen Fixpunkte vorzugeben. Als Resultat selbstkritischer Sichtung entsprechender Grenzüberschreitungen in der deutschen Geschichte (cuius regio, eius religio als Grundsatz von Augsburger Religionsfriede und Westfälischem Friedensschluss; 19. Jh.; Nationalsozialismus) versagt sich der Staat solche Übergriffe; er gibt stattdessen außerschulischen Institutionen, denen seine Bürger ausweislich ihrer Mitgliedschaft darin vertrauen, Raum, um bestehende Orientierungen fortzuschreiben und durch kritische Auseinandersetzung zu stärken. Indem er Religionsunterricht als res mixta betreibt, hält der Staat seine „Selbstbegrenzung“7 bewusst. 6 „Wer nur eine Religion kennt, kennt keine; wer nicht geduldig und aufrichtig die anderen Weltreligionen geprüft hat, kann nicht wissen, was das Christentum wirklich ist" (Max Muller, 1876) – hier zitiert nach Michael von Brück, Religionswissenschaft und interkulturelle Theologie, in: EvTh 52 (1992), 245-261. 7 Karl Ernst Nipkow, Bildung als Lebensbegleitung und Erneuerung, Gütersloh
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In dieser Hinsicht ist der Religionsunterricht ein analogieloses Fach – in allen anderen Fächern beansprucht der Staat unter Zuhilfenahme pädagogischer Vernunft ungebrochen Definitionsmacht über Inhalte und Ziele. Rechtlich trägt die Konfessionalität des RU insofern dem Ende der Staatskirche (Art. 140 GG i.V. mit Art. 137 WRV) und der weltanschaulichen Neutralität des Staates (Art. 3.3 und 33.3 GG) Rechnung. 2.6 Ja zur Heterogenität in der Lerngruppe Konfessioneller bzw. transparent-positioneller Religionsunterricht ist nicht mit der Favorisierung einer homogenen Lerngruppe gleichzusetzen. Dass der Religionsunterricht in konfessioneller Gebundenheit erteilt wird, legt in erster Linie Rechenschaft ab über die Lehrenden und einen guten Teil des Inhalts, ist aber keine Auflage für die Schülerschaft – wer bereit ist, sich mit der jeweiligen Ligatur auseinanderzusetzen, kann, jedenfalls aus evangelischer Perspektive, selbstverständlich am jeweiligen Religionsunterricht teilnehmen, ohne damit das Recht bzw. die Pflicht zu erwirken, dass die konfessionelle Signatur des Faches generell aufzubrechen ist. In der Regel nehmen deshalb „Konfessionslose“, Muslime, Freikirchlicher usw. nicht selten am evangelischen Religionsunterricht teil – und das ist auch gut so. Denn es geht nicht um Ghettoisierung oder Milieubildung, sondern um identitätsstiftendes Lernen – in Affirmation und Abgrenzung, in Dialog und Zuspitzung. Rechtlich gesehen ist die Heterogenität der Schülerschaft im RU nicht staatlichem Recht geschuldet,8 sondern der rechtsverbindlichen Erklärung der jeweiligen Religionsgemeinschaft. Die Evangelische Kirche in Deutschland hat Schülern der Sekundarstufe II bereits 1974 „die geordnete Möglichkeit erhalten bzw. eröffnet […], auch an Kursen eines anderen Bekenntnisses als des eigenen teilzunehmen“; 1994 wurde der evangelische Religionsunterricht aller Schulstufen für die Teilnahme von Schülern aller religiösen Orientierungen geöffnet, ohne damit seine konfessionelle Gebundenheit preiszugeben.9 (1990) 21992, 435. 8 „Die geordnete Teilnahme von Schülern einer anderen Konfession am Religionsunterricht ist daher verfassungsrechtlich unbedenklich, solange der Unterricht dadurch nicht seine besondere Prägung als konfessionell gebundene Veranstaltung verliert“ (Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 25.2.1987). 9 „Entschließung des Rates der EKD zum Religionsunterricht in der Sekundarstufe II“ vom 19.10.1974 (in: Die Denkschriften der EKD 4/1, hg. vom Kirchenamt der EKD, Gütersloh 1987, 89f.), bekräftigt in: „Religion und Allgemeine Hochschulreife. […] Eine Stellungnahme des Rates der EKD, Hannover 2004, 10, sowie Identität und Verständigung […], hg. vom Kirchenamt der EKD, Gütersloh 1994, 66. Zur Rechtslage siehe Bernd Schröder, Religionspädagogik, Tübingen 2012, 300f. Vgl. katholischerseits die Initiative des Deutschen Katecheten-Vereins zur sog. Gastfreundschaft (Hans Schmid und Winfried Verburg [Hg.], Gastfreundschaft: ein Modell für den konfessionellen Religionsunterricht der Zukunft, München 2010).
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2.7 Unverzichtbares Erfordernis: Bejahung „reflektierter Positionalität“10 bzw. „reflektierter Toleranz“11 Konfessionelle Bindung der Religionslehrenden bedeutet heute schließlich notwendigerweise: Die eigene konfessionelle Position wird nicht mit der einzig möglichen oder der einzig wahren konfessionellen Position verwechselt. Vielmehr gehört es im Zeichen der Aufklärung zu moderner Religiosität konstitutiv hinzu, dass das eigene „commitment“ um das Anderssein des „commitment“ Anderer weiß und dessen subjektive Authentizität bzw. dessen (konkurrierenden) Wahrheitsanspruch anerkennt. Mit anderen Worten: Der konfessionell gebundene Religionslehrer weiß um die Relativität seiner eigenen Position. Zwar ist eben diese Position für ihn maßgeblich und subjektiv verbindlich; doch unbeschadet dessen anerkennt er – aus Respekt vor dem Anderen, aber eben auch aus theologischer Einsicht – die Positionen Anderer als legitim. Diese Konstellation der Pluralität ist nicht aufhebbar; infolgedessen können – durchaus verschiedene – Positionen dargelegt, argumentativ entfaltet, auch inszeniert werden. Aber es gilt sowohl das (juristische) Überwältigungsverbot wie auch die (pädagogische und theologische) Einsicht in die Unmöglichkeit und Illegitimität der Überwältigung. Eben deshalb kann Konfessionalität, sofern die Religionsgemeinschaften zustimmen, auch so ausgelegt werden, dass Religionslehrende verschiedener Bekenntnisse zyklisch am Unterricht beteiligt werden oder Schüler alternierend an verschieden-konfessionellen Formen des Religionsunterrichts teilnehmen. Rechtlich ist dieses Moment in der negativen Religionsfreiheit verankert (Art. 4 GG). Im Licht dieser sieben Strukturmomente meint Konfessionalität des Religionsunterrichts also nicht − Interesse an einliniger Aneignung kirchlicher „Dogmen“, Stellungnahmen und Positionen oder Pflege von Absolutheitsansprüchen, − Einübung in die Praxis der je eigenen Konfession oder Sozialisation in einem homogenen Milieu, − exklusive Thematisierung christlicher Religion oder Berechtigung zur Indoktrination. Es gelten somit auch für den Religionsunterricht jene drei Prinzipien, die der sog. Beutelsbacher Konsens für die politische Bildung formuliert hat: 10
Michael Hüttenhoff, Der religiöse Pluralismus als Orientierungsproblem, Leipzig 2001, 160-175. 11 Evelyn Krimmer nutzt diesen Begriff, um im Anschluss an Überlegungen von Christoph Schwöbel und Karl Ernst Nipkow zwei Momente festzuhalten: „das Erlangen eines eigenen Standpunktes und das Bewusstmachen desselben“ sowie „die grundlegende Bereitschaft, in eine dialogische Auseinandersetzung mit weltanschaulich Anderspositionierten einzutreten und damit zu akzeptieren, den eigenen Standpunkt gegebenenfalls zu modifizieren und weiterzuentwickeln“ (Evangelischer Religionsunterricht und reflektierte Toleranz, Göttingen 2013, 90).
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„1. Überwältigungsverbot […]; 2. Was in Wissenschaft und Politik [bzw. Religion] kontrovers ist, muss auch im Unterricht kontrovers erscheinen. […] 3. Der Schüler muss in die Lage versetzt werden, eine politische [bzw. religiöse] Situation und seine eigene Interessenlage [bzw. Religiosität] zu analysieren.“12
3. Warum ist die „Übereinstimmung des Religionsunterrichts mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften“ sinnvoll und geboten? 3.1 Sachlich: Vertiefte Auseinandersetzung Allein transparent-positioneller RU erlaubt und ermöglicht es Lehrern wie Schülern, sich in einem solchen Umfang und in einer solchen Intensität auf die Binnenlogik einer Religionsgemeinschaft einzulassen, dass eine gleichermaßen kundige und kritische Auseinandersetzung mit dieser Religionsgemeinschaft, ihren Maßgaben der Lebensführung und ihrer Theologie, möglich wird. Denn nur in einem so konstituierten Unterricht können eigene Erfahrung, existentielles Interesse, intellektuelle Dichte fruchtbar aufeinander bezogen werden. Die derart intensive Befassung mit einer Religion erfolgt exemplarisch. Insofern komplementär der Wechsel in die religionswissenschaftliche Außenperspektive und der Blick auf andere Religionen möglich, erwünscht und erforderlich ist, wird auf diese Weise substantielle vergleichende Arbeit möglich. Demgegenüber wird sowohl am britischen RE als auch an LER kritisiert, dass die Befassung mit den einzelnen Religionen (zu) kurz und (zu) oberflächlich bleibt. 3.2 Lern- und entwicklungspsychologisch: Lernen am Modell / Orientierung am signifikanten Anderen „Der Religionslehrer ist das entscheidende Curriculum des Religionsunterrichts.“13 Fraglos kommt es deshalb in hohem Maße darauf an, dass er oder sie fachlich kompetent, didaktisch geschickt, kommunikativ und beziehungsorientiert arbeitet. Es kommt indes auch auf sein Ethos wie auf seine persönliche Haltung zur Religion an: Achtet er strikt auf Äquidistanz oder hält er selbst gar die persönliche Bindung an eine Religionsgemeinschaft für überflüssig, so wird eben dies zum Subtext des Unterrichts. Steht er indes für eine Religionsgemeinschaft im Modus reflek12
Auch für den Religionsunterricht gilt also uneingeschränkt jenes „Überwältigungsverbot“, das der sog. Beutelsbacher Konsens 1976 für die politische Bildung festgehalten hat. „Es ist nicht erlaubt, den Schüler – mit welchen Mitteln auch immer – im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der ‚Gewinnung eines selbständigen Urteils‘ zu hindern.“ (Hans-Georg Wehling, Konsens à la Beutelsbach, in: Siegfried Schiele und Herbert Schneider [Hg.], Das Konsensproblem in der politischen Bildung, Stuttgart 1977, 179f.) 13 Gottfried Adam, Beruf: Religionslehrer, in: ders. und Rainer Lachmann (Hg.), Religionspädagogisches Kompendium, Göttingen 62003, 163-193, hier 191.
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tierter Positionalität ein, so wird er als Rollenträger wie als Person zum Gegenstand expliziter oder impliziter Auseinandersetzung. Eben dies ist didaktisch gesehen eine Chance. Lernpsychologisch gesprochen wird der Religionslehrende zum „Modell“ für seine Schülerinnen und Schüler, entwicklungspsychologisch dürfte er jedenfalls ein „signifikanter Anderer“ sein. Dies impliziert, dass die Religionslehrenden eben nicht nur als Fachlehrer „gecheckt“ werden, sondern auch auf ihre Authentizität, auf die Glaubwürdigkeit ihres Handelns, auf die existentielle Plausibilität ihrer Argumente. 3.3 Kommunikationstheoretisch: Zwischenmenschliche Kommunikation als Quellort von Überzeugungen Kein geringerer als Friedrich Schleiermacher hielt in seinen „Reden über die Religion“ fest: „Die Religion [kennt] kein anderes Mittel [sc. zu ihrer Verbreitung], als nur dieses, daß sie sich frei äußert und mittheilt“. „Nur so durch die natürlichen Äußerungen des eignen Lebens will sie das Ähnliche aufregen, und wo ihr das nicht gelingt, verschmäht sie stolz jeden fremden Reiz, jedes gewalttätige Verfahren, beruhigt bei der Überzeugung, die Stunde sei noch nicht da, wo sich hier etwas ihr verschwistertes regen könne.“14
Schleiermacher verhielt sich auf Grund dieser Erkenntnis ablehnend gegenüber Religionsunterricht. Will man ihn gleichwohl bejahen, dann ist er als kommunikatives Geschehen zu gestalten, in dem die transparente Positionalität des Lehrenden kein Adiaphoron ist, sondern ein entscheidend wichtiger Faktor. Kommunikation eignet ein persuasiver Grundzug. Moderne Kommunikationstheorien bestätigen dies: Kommunikation lebt von dem, was die Kommunikanten einbringen und in welcher Weise sie dies tun – und zwar unbeschadet der Einsicht, dass selektive Wahrnehmung, Prädispositionen, Störungen Kommunikation beeinflussen.15 Eben deswegen ist die Begegnung mit einem Muslim mehr und anders als das Gespräch über einen authentisch-muslimischen Quellentext. Kommunikationstheoretisch ist Religionsunterricht Arbeit an Ligaturen. 3.4 Rechtlich: Transformation der Herkunftsreligion als Bildungsauftrag Schulische Bildung erschöpft sich nicht in ‚objektiver‘ Information, in Wissens- und Kompetenzaufbau. Vielmehr soll sie „die Persönlichkeit der Schülerinnen und Schüler auf der Grundlage des Christentums, des europäischen Humanismus und der Ideen der liberalen, demokratischen und sozialen Freiheitsbewegungen weiterentwickeln. Erziehung und Unterricht müssen dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland […]entsprechen; die 14
Friedrich Schleiermacher, Reden über die Religion (1793), in: ders., Kritische Gesamtausgabe I/2, Berlin / New York 1984, hier 248. 15 Klaus Schönbach, Verkaufen, Flirten, Führen: Persuasive Kommunikation – ein Überblick, Wiesbaden 22013.
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Schule hat die Wertvorstellungen zu vermitteln, die diesen Verfassungen zugrunde liegen. Die Schülerinnen und Schüler sollen fähig werden, − die Grundrechte für sich und jeden anderen wirksam werden zu lassen […], − nach ethischen Grundsätzen zu handeln sowie religiöse und kulturelle Werte zu erkennen und zu achten, − ihre Beziehungen zu anderen Menschen nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit, der Solidarität und der Toleranz sowie der Gleichberechtigung der Geschlechter zu gestalten […]. Die Schule hat den Schülerinnen und Schülern die dafür erforderlichen Kenntnisse und Fertigkeiten zu vermitteln. […] Die Schule soll Lehrkräften sowie Schülerinnen und Schülern den Erfahrungsraum und die Gestaltungsfreiheit bieten, die zur Erfüllung des Bildungsauftrags erforderlich sind.“16
Im Bereich der religiösen Bildung soll schulische Bildung anknüpfen an die Herkunftsreligion und zu deren Transformation in eine kritisch reflektierte, existentiell tragfähige Form von Religion beitragen. 3.5 Empirisch: Positiver Einfluss des commitment der Lehrenden und seiner Wertschätzung durch die Lernenden Das Commitment der Lehrenden zu ihrem Fach, ihre Religionsfreundlichkeit im Allgemeinen und ihre persönliche Bindung an eine konkret gelebte Religion wirken sich positiv auf das aus, was Schülerinnen und Schüler im Religionsunterricht lernen – nicht auf die Menge ihres Wissens und den Aufbau verfügbarer Kompetenzen, wohl aber auf deren commitment zum Fach, deren Religionsfreundlichkeit und deren Bindungsbereitschaft im Blick auf eine bestimmte Religion. Als Indizien für diese Hypothese können herangezogen werden die Alltagserfahrung, derzufolge Schülerinnen und Schüler rückblickend gerne auf positiv beeindruckende Lehrende als prägende Faktoren verweisen, die Auskunft, dass Studierende der Theologie bei der Wahl ihres Studienfaches sehr häufig von Religionslehrenden bzw. Pfarrern beeinflusst sind, der Umstand, dass Begegnungen mit authentischen Religionsvertretern in Schule und Studium als besonders ‚lehrreich‘ ausgewiesen werden. Folgt man etwa der sog. Hattie-Studie, so ist die Lehrperson ein Faktor des Unterrichtsgeschehens, der immerhin erheblichen Einfluss auf die Effektivität des Unterrichts hat. Besonders wichtige Subfaktoren sind etwa: − dass die Lernenden die Lehrperson für qualitativ gut halten; dies wiederum macht sich daran fest, dass die Lehrenden ihrer Meinung nach „hohe Erwartungen [an die Schüler/innen] haben, [sie] zum Studium ihres Faches ermuntern und […] ihr [...] Fach wertschätzen“, − dass die Lehrenden eine gute Beziehung zu den Lernenden aufbauen und zeigen, „dass ihnen das Lernen eines jeden Einzelnen per16
Niedersächsisches Schulgesetz i.d.F. von 1998, § 2.
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sönlich am Herzen liegt (womit er eine starke Botschaft bezüglich seiner Absichten und Prioritäten vermittelt) und sie Empathie gegenüber den Lernenden haben“ − aber auch die „Klarheit“ der Lehrperson, hier v.a. im Blick auf ihre Instruktionen, didaktischen Arrangements und Einschätzungen zur Sache.17 Generell plädiert John Hattie indes dafür, den „persönlichen und beruflichen Merkmalen“ der Lehrenden keine hohe Bedeutung beizumessen – entscheidend für die Effektivität des Unterrichtens seien sie nicht; vielmehr gelte: „Was Lehrpersonen tun, ist wichtig.“18 Allerdings hat Hattie unter seinen 800 meta-analysierten Studien keine zu daseinsund wertorientierenden Fächern berücksichtigt (da er sich auf englischsprachige Studien, v.a. aus den USA, beschränkt). Er ist primär daran interessiert herauszufinden, was die messbaren Effekte des Lernens verbessert – die Wirkung schulischen Lernens auf „persönliche Einstellungen“ ist nicht Gegenstand seiner Untersuchung.19
Hattie moniert in seiner Einleitung, es werde zu wenig über „Leidenschaft im Bildungswesen“ gesprochen: „Diese Leidenschaft gehört zu den wertvollsten Outcomes der Schulbildung […]. Man braucht mehr als Fachwissen über den Stoff, gekonnte Unterrichtsgestaltung oder engagierte Lernende, um einen Unterschied zu bewirken (auch wenn das alles hilft). Man braucht Liebe zum Stoff, eine ethische, zugewandte Haltung, die mit dem Wunsch verbunden ist, anderen diesen Gefallen am Fach oder gar diese Liebe für das Fach, das man unterrichtet, nahe zu bringen. So kann man ihnen zeigen, dass man als Lehrperson nicht nur unterrichtet, sondern auch selbst lernt“.20 Auf dieser Linie läge m.E. auch, dass die erkennbare Identifikation der Lehrkraft mit einer Sportart, mit einem Musikinstrument oder Stil, mit einer Kunstrichtung, mit einer Religion durchaus effizienzsteigernd und tiefenwirksam fruchtbar sein kann. 3.6 Zusammenfassung Kurzum: Solange Schüler, Eltern und Religionslehrende in signifikantem Maße religiös gebunden sind, halte ich den Religionsunterricht gemäß Art. 7.3 GG für eine zwar missverständliche, aber sachlich angemessene, ja, für die bestmögliche Organisationsform von religiöser Bildung in der Schule. Dabei halte ich die beschriebene „reflektierte Positionalität“ (Michael Hüttenhoff) bzw. „reflektierte Toleranz“ (Evelyn Krimmer) für eine unerlässliche Disposition seitens der Akteure. Erst sie lässt religiöse Bindungen schulreif werden.
17
John Hattie, Lernen sichtbar machen. Überarbeitete deutschsprachige Ausgabe von ‚Visible Learning‘, besorgt von Wolfgang Beywl und Klaus Zierer, Baltmannsweiler 2013, 138.143.151.131. 18 Ders., Lernen 2013, 151 und 26. 19 Ders., Lernen 2013, 7. 20 Ders., Lernen 2013, 29.
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Sinkt die Zahl der religiös gebundenen Schülerinnen und Schüler unter ein kritisches Maß – sagen wir 50% – (was nicht in ferner Zukunft, sondern v.a. in Großstädten heute schon der Fall ist), stehen wir vor einer Wahl: Entweder plädieren wir für dieses Modell als Weg zum Schutz von religiösen Minderheiten (und als Modus der Einladung an nicht religiös Gebundene) oder aber wir geben es zugunsten eines anderen, religionskundlichen Modells auf, um alle Schülerinnen und Schüler mit religiöser Grundinformation zu versorgen – ein Weg, der etwa in Zürich und Norwegen gegangen wurde. 4. Welche Veränderungsbedarfe ergeben sich im Blick auf Religionsunterricht gemäß Art. 7.3 GG? Der Kontext des Religionsunterrichts hat sich seit 1919 bzw. 1949 durchaus dramatisch verändert. Eingangs (Abschnitt 1) habe ich fünf Faktoren genannt; speziell in Schulen wächst darüber hinaus der schulorganisatorische, pädagogisch und in der persönlichen Position der Akteure (!) begründete Druck hin zu einem gemeinsamem Unterricht für konfessionsverschiedene Schülerinnen und Schüler. All diese Momente lassen eine Fortentwicklung des Religionsunterrichts geboten erscheinen. 4.1 Freiraum zur Kontextualisierung / Regionalisierung Da die besagten Faktoren keineswegs bundes- oder auch nur niedersachsenweit in gleichem Maße wirksam sind, sind Regelungen erforderlich, die einerseits verbindende und verbindliche Merkmale von Religionsunterricht in Deutschland festschreiben bzw. festhalten, andererseits aber auch Freiraum geben für die Entwicklung regionaler Modelle. Im Blick auf die Bundesrepublik insgesamt hat diese Diversifizierung längst eingesetzt;21 erforderlich ist sie wohl auch innerhalb einzelner Bundesländer. In Hannover22 sind andere Formen des Religionsunterrichts sinnvoll als im evangelisch dominierten, bürgerlich liberalen Göttingen oder in den katholisch geprägten Landstrichen um Vechta und Hildesheim oder in der noch weithin lutherischen Lüneburger Heide. Mein Plädoyer zielt also darauf, Religionsunterricht auf Landesebene den Freiraum zur Kontextualisierung bzw. Regionalisierung zu geben – zugleich aber „identity marker“ hervorzukehren. Zu diesen identity markern gehört der Bezug auf Art. 7.3 GG.
21
Martin Rothgangel und Bernd Schröder, Evangelischer Religionsunterricht in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland, Leipzig 2009. 22 Die Landeshauptstadt Hannover weist mit Stand vom 30. Juni 2011 einen 34,6%igen evangelischen Bevölkerungsanteil und einen 13,9%-igen katholischen Bevölkerungsanteil aus (Summe: 48,5%).
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4.2 Erweiterte Spielräume zur Artikulation bzw. Klärung der je eigenen Selbstverständnisse Je individueller Schülerinnen und Schüler sich selbst verstehen, je selbstbewusster sie das tun und je weniger konform zu elaborierter Kirchlichkeit resp. Theologie, desto mehr unterrichtliche Zeit und Energie sind für die Artikulation der eigenen Überzeugungen und deren Klärung aufzuwenden. Das gesamte Gefälle religionsdidaktischer Reformen (Symbolisierungsdidaktik, Kinder- und Jugendtheologie, Elementarisierung) zielt zu Recht in diese Richtung. Allerdings erübrigt dies nicht, die je eigenen Überzeugungen vor das Forum theologischer Vernunft zu ziehen und bewährte Interpretamente christlicher Religion einzuspeisen.23 4.3 Erleichterung von interkonfessioneller und -religiöser Begegnung Unter pluralen Bedingungen kann dem Religionsunterricht nicht allein an Vertiefung und Auseinandersetzung mit einer Position gelegen sein, vielmehr an Begegnungen unter Schülern verschiedener Konfessionsund Religionszugehörigkeit − mit der Schwesterkonfession (konfessionelle Kooperation), − mit anderen Religionen, v.a. dem Islam (interreligiöses Lernen), − mit Konfessionslosen (weltanschauliches Lernen). Wir brauchen dafür Regelungen, die es erlauben, konfessionelle und ggf. interreligiöse Kooperation auf Dauer zu stellen, und zugleich gewährleisten, dass Schülerinnen und Schüler in diesen Fällen von Lehrkräften unterschiedlicher Konfession bzw. Religion unterrichtet werden. Wir brauchen dafür Regelungen, die projekthaft-phasenweise gemeinsamen Unterricht innerhalb der Fächergruppe ermöglichen und dafür – möglichst auf curricularer Ebene – für jeden Doppeljahrgang Bausteine entwickeln (etwa 5/6: interkonfessionelle Kooperation; 7/8: interreligiöse Kooperation; 9/10: RU/WuN- bzw. Ethik-Kooperation). 4.4 Nachweis der Funktionalität des Religionsunterrichts für die Schule und für das Gemeinwesen Soll es bei Religionsunterricht nach Art. 7.3 GG bleiben, muss dieser weiterhin versuchen, seine Bedeutsamkeit für die Gesellschaft bzw. Schule deutlich zu machen, näherhin für: − die Vereinbarkeit von (religiöser) Positionalität und Toleranz, − die Förderung gesellschaftlichen Engagements durch Ligaturen, − Lebenshilfe (Seelsorge, Rituale, Unterstützung), − das Miteinander Verschiedener (Inklusion). 23
Bernd Schröder, Die Religion der Schülerinnen und Schüler: Jugendkultur und Religionsunterricht, in: Michael Wermke, Gottfried Adam und Martin Rothgangel (Hg.), Religion in der Sekundarstufe II. Ein Kompendium, Göttingen 2006, 146-166, hier 163-166.
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Wir brauchen Modellversuche inklusiven Religionsunterrichts und Modellversuche des systematischen Ausbaus von „Schulseelsorge“, sowie nicht zuletzt, Modellversuche interreligiöser Verständigung (siehe 3.2). All dies ist ohne großen finanziellen und personellen Aufwand denkbar. 4.5 Didaktik des Umgangs mit Konfessionslosen Je extensiver und intensiver die religionssoziologische Forschung zur Konfessionslosigkeit wird, desto klarer tritt hervor, dass „Konfessionslose“ nicht gleich „Konfessionslose“ sind.24 Zu unterscheiden sind etwa überzeugte Atheisten, zugeschrieben Konfessionslose, angeeignet Konfessionslose, noch nicht Getaufte (oder religiös Zugehörige) und Indifferente. Die letztgenannte ist die wichtigste, weil trendsettende Gruppe: „Konfessionslose empfinden sich weder als defizitär noch halten sie ihre Konfessionslosigkeit in einer modernen Gesellschaft für besonders erklärungsbedürftig.“ Zu konstatieren ist, „dass Religion einfach für die meisten Menschen im Alltagsleben nur eine nachgeordnete, wenn überhaupt eine Bedeutung besitzt. Die Abwendung von den christlichen Kirchen durch einen Austritt ist dementsprechend zumeist die Folge eines schon längerfristigen Verblassens religiöser Bindung.“25 Im Blick auf diese Bevölkerungsgruppen brauchen wir: − didaktische Optionen, um sie im Rahmen des konfessionellen Religionsunterrichts anzusprechen, − einen Ausbau des „Werte & Normen“-Unterrichts von Klasse 1-12, grundständige Fachlehrerbildung und Konzepte der Kooperation innerhalb der Fächergruppe. 4.6 Identifikation tragfähiger gelebter Religion Die angestrebte Tragkraft bestimmter Religion kommt nur zur Geltung, wenn eine attraktive gelebte Religion für Schülerinnen und Schüler erkennbar wird. Dieses Desiderat hat mindestens zwei Ebenen: Einerseits sind seitens der Kirche Formen christlicher Praxis zu fördern, die für Kinder und Jugendliche attraktiv sind und auf die Religionsunterricht somit zu verweisen vermag; andererseits muss Religionsunterricht das Christentum nicht nur als Gefüge theologischer Einsichten, sondern eben auch als Quellort von Lebensstilen ausweisen, damit christliche Religion überhaupt als Modell der Lebensführung dechiffrierbar wird. 24
Themenheft „Zwischen religiöser Indifferenz und militantem Atheismus – Adressaten religionspädagogischen Handelns und Denkens jenseits von verfasster und individueller Religion“, hg. von Monika Jacobs und Bernd Schröder, in: Theo-Web. Zeitschrift für Religionspädagogik 12 (2013), H.1, 8-186. 25 Gert Pickel, Konfessionslose – das ‚Residual‘ des Christentums oder Stütze des neuen Atheismus? in: Theo-Web. Zeitschrift für Religionspädagogik 12 (2013), H.1, 12-31, hier 27f.
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4.7 Ausweitung seines Umfangs (angesichts wachsender Aufgaben) Kaum ein anderes Fach der Schule ist so kommunikativ angelegt wie der Religionsunterricht. Kaum ein anderes Fach ist in gleichem Maße gehalten, einerseits für den Aufbau von Kenntnissen für ein komplexes Fachgebiet (Welt der Religionen), andererseits für existentielle Kommunikation und drittens für schulinterne Kommunikation zu sorgen. Insofern gehört das Plädoyer für eine Ausweitung des Stundenvolumens auf das Tableau bildungspolitischer Forderungen: Dabei ist die Unterlegung durch eine komplementäre Ethik-/Religionskunde-Stunde zu meiden; sinnvoller schiene mir die Ergänzung des ordentlichen Unterrichtsfachvolumens um eine sog. Inter-Stunde, also eine Stunde, die der interkonfessionellen oder interreligiösen Kommunikation dient. 5. Welche Aufgaben ergeben sich daraus für Religionslehreraus-, fort- und -weiterbildung und Religionspädagogik? In Abbreviatur seien fünf Aufgaben benannt: − die Wirksamkeit der persönlichen Haltung etc. im RU empirisch einkreisen, − angehenden Religionslehrenden während der Ausbildung Raum geben für Erfahrung, Engagement, Verantwortungsübernahme in der eigenen Religion (s. 3.5), − ermutigen zum „Commitment“ und Üben im „authentischen Positionieren“, − stärken von Dialog- und Partizipationskompetenz, nicht zuletzt in Gestalt der Einübung interkonfessioneller und interreligiöser Begegnungen, − sensibilisieren für die eigene zu reflektierende Positionalität durch vergleichenden Blick auf Erziehungstraditionen und Unterrichtsmodelle anderer Religionen. Dr. Bernd Schröder ist Professor für Praktische Theologie mit den Schwerpunkten Religionspädagogik und Bildungsforschung an der Theologischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen.
Ausblick
Bernd Schröder
Auf dem Weg zu einer zukünftigen Gestalt des Religionsunterrichts – methodische Überlegungen Auf dem Weg zu einer zukünftigen Gestalt des Religionsunterrichts
1. Modelle Zur Sprache gekommen sind in diesem Band bislang – mit Ausnahme des Beitrags von Katja Boehme – Makromodelle, die in Deutschland oder in Nachbarländern praktiziert werden: Modelle, die einen gewissen Grad wissenschaftlich-konzeptioneller Entfaltung, juristischer Grundierung und (in einem oder mehreren Bundesländern) amtlicher Realisierung gefunden haben. Was die Bundesrepublik angeht, so sind hier sämtliche Makromodelle dokumentiert;1 was Europa angeht, so sind es exemplarisch ausgewählte. Insofern könnte dieses Tableau im Blick auf europäische Länder oder gar im Blick auf andere Weltregionen und Kulturkreise selbstredend komplettiert werden.2 Dringlicher scheint es indes zu sein, die Zusammenstellung um das, was hier Mikromodelle genannt werden soll, zu ergänzen: Modelle, die keine oder nur eine randständige konzeptionelle Darstellung, keine juristische Verankerung und/oder keine offizielle Realisierung aufweisen. In der Regel finden sie lokale Resonanz, d.h. sie spielen in Reformdebatten vor Ort, etwa in einer einzelnen Schule oder einer Region, eine größere Rolle. Eines dieser Mikromodelle, das interreligiöse Lernen in der Fächergruppe, ist oben zur Sprache gekommen; ergänzend hinzuweisen wäre etwa auf die Folgenden:
1 Vgl. zur Lage ansonsten etwa die Übersicht von Michael Meyer-Blanck, Formen des Religionsunterrichts in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland, in: Martin Rothgangel, Gottfried Adam und Rainer Lachmann (Hg.), Religionspädagogisches Kompendium, Göttingen 7., grundlegend neu bearbeitete und ergänzte A. 2012, 160174, Martin Rothgangel und Bernd Schröder (Hg.), Evangelischer Religionsunterricht in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland. Empirische Daten – Kontexte – Entwicklungen, Leipzig 2009, sowie Eva-Maria Kenngott und Lothar Kuld (Hg.), Religion verstehen lernen. Neuorientierungen religiöser Bildung, Münster u.a. 2012 (Ökumenische Religionspädagogik 6). 2 Vgl. die systematisierende Übersicht von Bernd Schröder, Religionsunterricht in Europa, in: Rothgangel/Adam/Lachmann, Kompendium (s.o. Anm. 1), 175-190. Detaillierte Länderberichte sind in Arbeit in der Buchreihe „Religiöse Bildung an Schulen in Europa“. Erschienen ist Teil 1 „Mitteleuropa“, hg. von Martin Jäggle, Martin Rothgangel und Thomas Schlag, Göttingen 2013 (Wiener Forum für Theologie und Religionswissenschaft 5,1).
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1.1 Religionsunterricht mit einladender Öffnung bzw. in „Gastfreundschaft“ für Schülerinnen und Schüler anderer Konfession Die Entscheidung darüber, ob Schüler eines anderen Bekenntnisses beziehungsweise konfessionslose Schüler am Religionsunterricht teilnehmen dürfen, steht nicht dem Staat beziehungsweise der Schule zu, sondern der Religionsgemeinschaft, die den jeweiligen Religionsunterricht verantwortet. „Die geordnete Teilnahme von Schülern einer anderen Konfession am Religionsunterricht ist daher verfassungsrechtlich unbedenklich, solange der Unterricht dadurch nicht seine besondere Prägung als konfessionell gebundene Veranstaltung verliert“ (Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 25.2.1987). Die Evangelische Kirche in Deutschland hat Schülern der Sekundarstufe II bereits 1974 „die geordnete Möglichkeit erhalten bzw. eröffnet […], auch an Kursen eines anderen Bekenntnisses als des eigenen teilzunehmen“; 1994 wurde der evangelische Religionsunterricht aller Schulstufen für die Teilnahme von Schülern aller religiösen Orientierungen geöffnet, ohne damit seine konfessionelle Gebundenheit preiszugeben.3 Von diesem Recht auf Teilnahme wird immer wieder Gebrauch gemacht – Lehrerinnen und Lehrer im evangelischen Religionsunterricht sind somit seit Jahren mental und didaktisch darauf eingestellt, dass nichtevangelische Schülerinnen und Schüler am Unterricht teilnehmen. Auch wenn die römisch-katholische Kirche demgegenüber prinzipiell an der konfessionellen Homogenität des von ihr verantworteten Religionsunterrichts festhält,4 hat sich im römisch-katholischen Religionsunterricht de facto vielfach eine ähnliche Praxis herausgebildet. Der „Deutsche Katechetenverein“ hat vor kurzem unter dem Titel „Gastfreundschaft“ für die praktische Ausweitung und programmatische Grundlegung dieser Öffnung geworben.5 1.2 Religionsunterricht in konfessioneller Kooperation Konfessionelle Kooperation ist, so wie sie in Baden-Württemberg,6 aber auch etwa in Hessen, Niedersachsen,7 z.T. in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein etabliert wurde, eine Makroform (im oben beschriebenen Sinne).8 Darüber ist indes nicht zu vergessen, dass beide Kirchen, 3
Zu den Belegen vgl. den Beitrag von Bernd Schröder in diesem Band, dort FN 8. Deutsche Bischofskonferenz: Die bildende Kraft des Religionsunterrichts. Zur Konfessionalität des katholischen Religionsunterrichts, Bonn 1996. 5 Hans Schmid und Winfried Verburg (Hg.), Gastfreundschaft. Ein Modell für den konfessionellen Religionsunterricht der Zukunft, München 2010. 6 In diesem Band dargestellt von Joachim Weinhardt. 7 Dazu hier die Beiträge von Kerstin Gäfgen-Track und Rolf Bade; en detail der Runderlass des niedersächsischen Kultusministeriums „Regelungen für den Religionsunterricht und den Unterricht Werte und Normen“ vom 10.5.2011, in: Religionsunterricht in Niedersachsen. Dokumente – Erklärungen – Handreichungen, hg. vom Katholischen Büro Niedersachsen und der Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen, Hannover 2012, 10-18. 8 Vgl. die Übersichten bei Katja Boehme, Modelle konfessioneller Kooperation in 4
Auf dem Weg zu einer zukünftigen Gestalt des Religionsunterrichts
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die evangelische wie die römisch-katholische, seit Jahren den Weg für konfessionelle Kooperation auf Mikroebene geebnet haben und dafür werben.9 Ohne jede organisatorische Neuorientierung ist auf dieser Basis je nach Möglichkeit und Neigung vor Ort ein breites Spektrum fächerverbindenden Arbeitens im Unterricht und darüber hinaus möglich; auch didaktische Anregungen liegen vor.10 1.3 Religionsunterricht im Klassenverband Dieses Mikromodell findet in mancher Hinsicht seine theoretische Ausarbeitung im sog. Hamburger Weg; doch ansonsten ist es dort, wo es zur Anwendung kommt, weder juristisch grundgelegt noch offiziell implementiert: Es lebt vielmehr gerade von seinem informellen Charakter.11 Religionsunterricht im Klassenverband wird von einer konfessionell gebundenen Lehrkraft erteilt, allerdings in einer Lerngruppe mit multikonfessioneller bzw. in der Regel multireligiöser Schülerschaft unter Einschluss konfessionsloser Schülerinnen und Schüler. Als leitende Begründung dient in der Regel (zumal in allgemeinbildenden Schulen, namentlich Gesamtschulen) das pädagogische Argument, demzufolge gemeinsames Lernen für das Stabilisieren der Klassengemeinschaft, das Einüben von Verständigung oder die Stimulanz daseins- und wertbezogener Lernprozesse durch Verschiedenheit geboten sei. Allerdings findet sich daneben (insbesondere an berufsbildenden Schulen) eine rein schulorganisatorische Begründung: Demnach erfordern Kapazitätsengpässe (was das Lehrpersonal oder die Räume angeht), organisatorische Notwendigkeiten oder die Marginalität des Faches eine Unterrichtung im Klassenverband. In dieser Gestalt ist es ein problematisches Phänomen, weil es einerseits die rechtliche Vorgaben inoffiziell unterläuft und andererseits weder didaktisch noch qualitativ profiliert wird. 1.4 Rotierender Religionsunterricht Rotierender Religionsunterricht ist konzeptionell entfaltet worden, (bislang) aber nicht rechtlich ausgearbeitet oder offiziell implementiert worden. Seinen Sitz im Leben stellt die Multireligiosität der Schülerschaft Deutschland in der Praxis, in: Schmid/Verburg (Hg.), Gastfreundschaft (s.o. Anm. 5), 102-115, sowie Friedrich Schweitzer, Kooperativer Religionsunterrichts: Stand der Entwicklung – Realisierungsformen und Verbreitung – Zukunftsperspektiven, in: ZPT 65 (2013), 25-33. 9 Die Fülle der Handlungsoptionen beschreibt Deutsche Bischofskonferenz und Evangelische Kirche in Deutschland: Zur Kooperation von Evangelischem und Katholischem Religionsunterricht, Bonn und Hannover 1998; online verfügbar etwa unter http://www.ekd.de/download/konfessionelle_kooperation_1998.pdf (Zugriff am 14.2.2014). 10 Etwa bei Uwe Böhm, Ökumenische Didaktik, Göttingen 2001. 11 Vgl. die Beschreibung der Konstellationen bei Boehme, Modelle (s.o. Anm. 8), 104-109.
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Bernd Schröder
(insbesondere in berufsbildenden Schulen der Rhein-Ruhr-Region) und das daraus abgeleitete Erfordernis interreligiösen Lernens dar: „Die für einen dialogisch-interreligiösen Religionsunterricht […] bevorzugte Organisations- und Gestaltungsform wäre die Einführung des IrRU [= Interreligiöser Religionsunterricht] als eigenständiges Unterrichtsfach nach 7.3 GG […]. Der IrRU würde […] im Klassenverband durchgeführt […] und so in interreligiösen Lerngruppen erfolgen. Der IrRU würde innerhalb einer vorgegebenen schulischen Zeiteinheit (z.B. ein Schuljahr […]) entsprechend der Anzahl der vertretenen Religionsgemeinschaften in […] Phasen mit je spezifisch ausgerichtetem Religionsunterricht unterteilt: ‚Religionsunterricht aus jüdischer Perspektive‘, ‚Religionsunterricht aus islamischer Perspektive‘ und ‚Religionsunterricht aus christlicher Perspektive‘. Die […] zur Verfügung stehenden Lehrkräfte jüdischen, muslimischen und christlichen Glaubens würden nun abwechselnd […] während einer Phase ‚ihre‘ Religion authentisch und konfessionell […] unterrichten. Nach Ende der jeweiligen Phase wechseln die Lehrenden rotationsweise, so dass im Laufe der vorgegebenen schulischen Zeiteinheit jede Lerngruppe den konfessionellen Religionsunterricht der verschiedenen Religionsgemeinschaften erlebt bzw. erfahren hat.“12
1.5 Religionsunterricht nach Themenplan In diesem Fall geht es im Wesentlichen um die Ermöglichung fächerübergreifenden Arbeitens an einem Thema bzw. „Schlüsselproblem“, das explizit oder implizit religiöse Bezüge aufweist. Didaktisch zielt dies auf das Zusammenführen verschiedener Fachkompetenzen, Interessen und Perspektiven auf Lehrer- und Schülerseite; nicht minder bedeutsam ist das Anliegen, Schülerinnen und Schülern projektartig eigenständiges, arbeitsteiliges Lernen zu ermöglichen. An diesem themenorientierten Unterricht können sich, etwa beim Thema „Menschen in der Einen Welt“, verschiedene Fächer, darunter auch der Religionsunterricht bzw. die verschieden-konfessionellen Religionsunterrichte beteiligen. „Das Aufgehen des gesamten Fachunterrichts Religion in einer solche Themenplanarbeit […] lehnen wir jedoch ab.“13 Religionsunterricht nach Themenplan kann indes allerdings auch allein bezogen auf die Fächergruppe der verschieden-konfessionellen Religionsunterrichte unter Einschluss des Alternativfaches „Werte & Normen“ gedacht werden: Der Unterricht erfolgt teils, in sog. Differenzierungsphasen, getrennt „zur Verständigung über die eigene kulturell-religiöse Perspektive und teils, in sog. Integrationsphasen, gemeinsam; „die Absprachen über die […] Themen finden in der gemeinsamen Konferenz der Fächergruppe statt.“14 12
Andreas Obermann, Religion unterrichten zwischen Kirchturm und Minarett: Perspektiven für einen dialogisch-konfessorischen Unterricht der abrahamischen Religionsgemeinschaften an berufsbildenden Schule, Berlin u.a. 2006, hier 345f. 13 Christine Lehmann und Martin Schmidt-Kortenbusch, Thesen zur Themenplanarbeit im Fach Religion, o.O. o.J. 14 Martin Schmidt-Kortenbusch, Pluralisierung der Gesellschaft und konfessioneller Religionsunterricht – Reicht ein „Weiter so“?, in: Christine Lehmann, Harry Noormann, Martin Schmidt-Kortenbusch und Heiko Lamprecht (Hg.), Zukunftsfähige
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1.6 Religionsunterricht als Wahloption in der Fächergruppe In den neuen Bundesländern ist Ethikunterricht rechtlich nicht als Ersatz-, sondern als Alternativfach zum Religionsunterricht konzipiert. Gleichwohl ist ein Wechsel innerhalb der Fächergruppe in der Regel nur zum Halbjahres- oder Schuljahreswechsel möglich; ein Wechsel zwischen evangelischem und römisch-katholischem Religionsunterricht ist nicht vorgesehen. Im Kontext religionspluraler Schulen wird diese Grundstruktur bisweilen auch in den Bundesländern aufgegriffen, in denen Ethikunterricht de jure Ersatzfach für den Religionsunterricht ist. Es wird zudem weitergehend so flexibilisiert, dass Schülerinnen und Schüler – sagen wir: halbjährlich – vor die Wahl zwischen den verschiedenen Religionsunterrichten sowie Ethikunterricht gestellt werden. Mit den Fächern stehen zugleich alternative Halbjahresthemen (die von der gemeinsamen Fachkonferenz festgelegt werden) und Lehrkräfte zur Wahl. Dies lässt sich als eine – konsequent liberale – Lesart der Fächergruppen-Idee interpretieren, die indes von deren Initiatoren gerade nicht intendiert war: 1994 hatte die EKD-Denkschrift „Identität und Verständigung“ das Konzept der Fächergruppe vorgeschlagen, um mit dessen Hilfe die Stellung der beteiligten Fächer im Curriculum zu stärken. Die Fächer der daseins- und wertorientierenden Gruppe konstituieren einen „eigenständigen Pflichtbereich“; unbeschadet dessen handelt es sich um „voneinander unterschiedene Fächer“, die keineswegs inhalts- und zielgleich angelegt sind.15 1.7 Religionsgespräch bzw. Seminarunterricht Für Berufsbildende Schulen sieht das schleswig-holsteinische Schulgesetz (§ 6 Abs. 2) im Laufe von drei Ausbildungsjahren lediglich dreißig Stunden Religionsunterricht bzw. ein sog. „Religionsgespräch“ vor.16 Dies wird so ausgestaltet, dass entweder einmal im Monat eine Einzelstunde oder einmal in jedem zweiten Monat eine Doppelstunde Religionsunterricht erteilt wird; bisweilen kommen alternativ pro Schuljahr zwei Projekttage zur Durchführung.
Schule – zukunftsfähiger Religionsunterricht: Herausforderungen an Schule, Politik und Kirche. FS Hans-Georg Babke, Jena 2011, 153-166, hier 163. 15 Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (Hg.), Identität und Verständigung. Standort und Perspektiven des Religionsunterrichts in der Pluralität. Eine Denkschrift, Hannover 1994, Zitate 80. Zu Genese und Einschätzung vgl. Christoph Scheilke, Von Religion lernen heute, Münster 2003, insbes. 249f. 16 Karlheinz Einsle und Holger Hammerich, Religion unterrichten in SchleswigHolstein, in: Rothgangel/Schröder (Hg.), Evangelischer Religionsunterricht (s.o. Anm. 1), 347-360, 350. Vgl. auch Folkert Doedens, Evangelischer Religionsunterricht in Schleswig-Holstein. Befragung der ReligionslehrerInnen in allen Schularten und Schulstufen, Hamburg / Kiel 2008.
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Verallgemeinerungsfähig erscheint – zumal an Berufsbildenden Schulen – die organisatorisch-didaktische Idee, den Religionsunterricht zu blocken und in Projekt- bzw. Seminarform zu gestalten. Auf diese Weise kann das methodische Spektrum erweitert, der Brückenschlag zu außerschulischen Lernorten erleichtert, die Schülerorientierung verbessert werden.17 Wie weit solche Mikromodelle verbreitet sind und welches didaktische Potential sie entfalten können, ist nicht erhoben bzw. dokumentiert – allerdings ist davon auszugehen, dass sie sich in bestimmten Regionen und Schulformen keineswegs selten finden; insbesondere für den Religionsunterricht mit einladender Öffnung bzw. in „Gastfreundschaft“ für Schülerinnen und Schüler anderer Konfession (1.1), den Religionsunterricht in konfessioneller Kooperation (1.2) und den Religionsunterricht nach Themenplan (1.5) dürfte dies gelten. Ihr Vorhandensein und ihre mutmaßliche Verbreitung belegen somit auf ihre Weise den Veränderungsdruck, der auf dem Religionsunterricht und seinen maßgeblichen Akteuren, den Lehrerinnen und Lehrern, lastet. Er führt nicht zuerst, sondern eher am Ende eines Weges zur Veränderung der offiziellen Rahmenbedingungen. Diese Veränderung sollte indes nicht ‚irgendwie‘ den in der Praxis beobachtbaren Veränderungen folgen, vielmehr im Rückgriff auf religionspädagogische Theoriebildung begründbar sein. In diesem Sinne soll hier ein Weg zur Diskussion gestellt werden, in methodisch ausgewiesener Weise eine Option für die zukünftige Gestalt des Religionsunterrichts zu entwickeln. 2. Methodik der Urteilsfindung Erstaunlicherweise gibt es nicht viele methodische Reflexionen auf die gebotenen Schritte hin zur Urteilsfindung im Blick auf ein religionspädagogisches Problem. Deshalb wird hier ein solcher methodischer Vorschlag aufgegriffen, dessen religionspädagogische Relevanz schon des Öfteren markiert wurde:18 Heinz Eduard Tödts Theorie sittlicher Urteilsfindung.19 Sie umfasst sechs Schritte, denen mutatis mutandis auch im Blick auf ein religionspädagogisches Problem erhellende Kraft zuzuschreiben ist. Die Tödtsche Theorie der Urteilsfindung hat ihrerseits eine Geschichte: Der Heidel17
Hans-Henning Averbeck, Andreas Obermann, Bernd Schröder und Wilhelm Schwendemann, Religionsunterricht an Berufsbildenden Schulen. Herausforderung für die religionspädagogische Theoriebildung, in: BRU-Magazin 47 (2008), 42-50, sowie 48 (2008), 40-50, hier 44f. 18 Vgl. Bernd Schröder, Religionspädagogik, Tübingen 2012, 274-276. 19 Heinz E. Tödt, Versuch einer ethischen Theorie sittlicher Urteilsfindung (1979), in: Perspektiven theologischer Ethik, München 1988, 21-48.
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berger Systematische Theologe hatte sie 1977 erstmals in deutscher Sprache sowie kurz darauf in englischer Sprache veröffentlicht20 und nach kritischer Diskussion, u.a. in der „Zeitschrift für Evangelische Ethik“, überarbeitet.21 Inzwischen wird sie zwar nach wie vor z.T. kritisch gesehen,22 doch dessen ungeachtet hat sie Eingang in einschlägige Lehrbücher und weitere Rezeption gefunden.23 Im Konzert der konzeptionellen Vorstellungen vom Prozess des sittlichen Urteilens liegt die Leistung der Tödtschen Theorie einerseits darin, Urteilsfindung als Zusammenschau unterschiedlicher Kriterien („Sachmomente“) zu würdigen: Sie vollzieht sich – oder besser: sollte sich vollziehen – nicht allein durch individuelle Entscheidung bzw. Rekurs auf das Gewissen (Kritik an Dezisionismus), sondern durch Reflexion auf äußere Gegebenheiten wie Situation / Kontext (Kritik an deduktiver Ethik) und Norm (Kritik an situativer Ethik). Andererseits liegt die Leistung darin, eine operationalisierbare und insofern überprüfbare Anleitung zur Urteilsfindung vorzulegen. Als solche ist seine Theorie bislang ohne Konkurrenz geblieben.24
Insofern das vorgeschlagene Verfahren „in seinen sechs Schritten nicht spezifisch sittlich“ ist,25 eignet es sich prinzipiell zur Übertragung auf andere Fach- und Urteilsgebiete. Im Folgenden soll es im Blick auf die Frage nach der Zukunft des Religionsunterrichts in Abbreviatur durchgespielt werden.26 2.1 Erster Schritt: Identifikation einer Situation als eine, die einen religionspädagogisch begründeten Entscheid verlangt (Tödt: „Wahrnehmung […] und Bestimmung eines Problems als eines sittlichen“) So bedeutsam und schwierig dieser Schritt sonst nicht selten ist – etwa bei der Frage, welche Momente von Schulentwicklung religionspädago20
Heinz E. Tödt, Versuch zu einer Theorie ethischer Urteilsfindung, in: ZEE 21 (1977), 81-93, und ders., Towards a Theory of Making Ethical Judgements, in: The Journal of Religious Ethics 6 (1978), 108-120. 21 Vgl. die Beiträge von Otfried Höffe, Christian Link und Christofer Frey, in: ZEE 22 (1978), 182-213. 22 Martin Honecker, Exkurs: Zur Methode ethischer Urteilsfindung, in: ders., Einführung in die Theologische Ethik. Grundlagen und Grundbegriffe, Berlin / New York 1990, 208-210, Johannes Fischer, Leben aus dem Geist, Zürich 1994, 226-235, sowie Regina Fritz, Ethos und Predigt. Eine ethisch-homiletische Studie zu Konstitution und Kommunikation sittlichen Urteilens, Tübingen 2011, 1-3. 23 Siehe etwa Quellentexte theologischer Ethik von der Alten Kirche bis zur Gegenwart, hg. von Stefan Grotefeld, Matthias Neugebauer, Jean-Daniel Strub und Johannes Fischer, Stuttgart 2006, hier 446-452, oder Monika Fuchs, Bioethische Urteilsbildung im Religionsunterricht. Theoretische Reflexion – empirische Rekonstruktion, Göttingen 2010, 183-204. 24 Die „Methodik ethischer Urteilsbildung“, die Dietz Lange in seiner „Ethik in evangelischer Perspektive. Grundfragen christlicher Lebenspraxis (Göttingen [1992] 2.A. 2002, 519-521), anbietet, und die „Schritte ethischer Urteilsbildung“, die Wilfried Härle in seiner „Ethik“ (Berlin / Boston 2011, 207-227, v.a. 218) empfiehlt, lese ich als Variation bzw. Verfeinerung, nicht als Alternative zu Tödts Entwurf. 25 Honecker, Einführung (s.o. Anm. 22), 209. 26 Die Bezeichnung der sechs Schritte folgt meinen Formulierungen in: Schröder, Religionspädagogik (s.o. Anm. 18), 275f.; sofern H.E. Tödt eine andere Bezeichnung vorschlug, wird diese hier ohne detaillierten Nachweis zitiert.
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gisch relevant und bearbeitungsfähig sind –, so klar zutage liegt die religionspädagogische Dignität der Zukunft des Religionsunterrichts. Zwar gibt es einerseits eine eindeutige, vielfach auf ihre Spielräume hin interpretierte rechtliche Konstellation, andererseits Probleme, diese in der schulischen Praxis konform zu realisieren. Problemanalyse und Entwicklung von Lösungsoptionen werden weder der Rechtswissenschaft noch ‚der Praxis‘, sondern unisono der Religionspädagogik als Aufgabe zugewiesen. Die Leitfrage lautet, ob Religionsunterricht weiterhin im Sinne von Art. 7.3 GG in Übereinstimmung mit den Grundsätzen je einer verfassten Religionsgemeinschaft erteilt werden kann oder ob die Ausgestaltung des Rechtsrahmens in der Praxis oder gar der Rechtsrahmen selbst einer Modifikation bedürfen. Darüber hinaus bedarf der Klärung, in welcher Weise eine Modifikation möglich, sinnvoll oder geboten ist. 2.2 Zweiter Schritt: „Situationsanalyse“ Die Situationsanalyse ist in diesem Band nicht in elaborierter Form erfolgt, doch in Stichworten rekapituliert, lässt sich die Situation wie folgt beschreiben – wobei hinsichtlich des Zusammenspiels der genannten Faktoren eine bemerkenswerte Ungleichzeitigkeit zu beobachten ist: − Dekonfessionalisierung (konkret: rückläufige Quote der Mitgliedschaft in einer der Kirchen bzw. Religionsgemeinschaften, die an der Erteilung von Religionsunterricht mitwirken, und abnehmende Identifikation mit den Gehalten, für die jene Kirche bzw. Religionsgemeinschaften stehen) − Pluralisierung (d.h: steigende Zahl der in der Schülerschaft vertretenen Religionsgemeinschaften bzw. nicht-verfassten Weltanschauungen) − Europäischer Anpassungsdruck auf Religionsunterricht nach Art. 7.3 GG als spezifisch deutsche Organisationsform − Schulorganisatorische Probleme in Form von Unterrichtsausfall, Zusammenlegung von evangelischem und katholischem Religionsunterricht, fachfremd erteiltem Unterricht u.a. − Infragestellung des gesellschaftlichen und privaten Rangs von Ligaturen, auf deren Pflege bzw. Aufbau Religionsunterricht traditionell zielt All diese Entwicklungen werfen zusammengenommen die im ersten Schritt formulierte Frage auf. 2.3 Dritter Schritt: Entwicklung und „Beurteilung von Verhaltensoptionen“ Alternativen zu der durch Art. 7.3 GG gegebenen Form des Religionsunterrichts bedürfen nicht erst der Entwicklung. Sie liegen vielmehr vor. Als Verhaltensoptionen angesichts der Plausibilitätskrise des monokonfessionellen Religionsunterrichts nach Artikel 7.3 GG werden hier zu-
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nächst die in einzelnen Bundesländern und europäischen Ländern bereits praktizierten Organisationstypen und Konzeptionen (Makromodelle) identifiziert, ergänzt um die oben beschriebenen Praxistypen (Mikromodelle). Deren Beurteilung erfolgt grundsätzlich auf vier Ebenen: − erstens auf der Ebene der Konzeption: Lässt das jeweilige Modell einen fachlichen und/oder didaktischen Mehrwert gegenüber dem Ist-Zustand erkennen? − zweitens auf der Ebene der Praxis: Ist es im Klassenraum anwendbar und in einzelnen Lerngruppen und Lernarrangements bewährt? − drittens auf der Ebene des Bezugsgebietes: Gilt das Modell in dem Bundesland bzw. Staat, für das bzw. den es entwickelt wurde, als angemessen und bewährt? − viertens im Blick auf seine Übertrag- bzw. Verallgemeinerbarkeit: Kann das Modell mit Gründen und Erfolgsaussichten auf andere Territorien übertragen werden? In diesem Band erfolgt diese Prüfung allein durch die Autorinnen und Autoren der entsprechenden Beiträge. 2.4 Vierter Schritt: Prüfung der religionspädagogischen Grundsätze und Leitbilder, die durch Verhaltensoptionen aktualisiert werden (Tödt: „Prüfung von Normen, Gütern und Perspektiven“) Religionspädagogik hat in den zurückliegenden Jahren eine beachtliche Zahl grundsätzlicher didaktischer Vorstellungen und Leitideen ausformuliert, die sich weitgehender Akzeptanz erfreuen: Dazu zählen etwa die Subjektorientierung der intendierten Lernprozesse oder auch die Angemessenheit religionspädagogischer Vorschläge für die schulischunterrichtliche Wirklichkeit. Diese Gesichtspunkte sind i.W. aus der Reflexion auf den bestehenden Religionsunterricht nach Art. 7.3 GG entstanden; im Falle der Modifikation der Organisationsform von Religionsunterricht gilt es zu prüfen, ob diese Gesichtspunkte weiterhin Beachtung finden (können). Gewiss sind Zahl und Auswahl dieser Gesichtspunkte sowie die Einschätzung ihrer ‚Erfüllung‘ diskutabel; hier werden probeweise sechzehn solcher Kriterien vorgeschlagen (vgl. die Tabelle auf den beiden Folgeseiten).27 Angewandt werden sie nicht auf die Vielzahl der beschriebenen Makround Mikromodelle, sondern auf die in der Einleitung zu diesem Band herausdestillierten vier Typen der Modifikation von Religionsunterricht. Auch diese Typisierung und deren Einschätzung sind diskutabel.
27
Dabei orientiere ich mich an den in meiner „Religionspädagogik“ (Tübingen 2012) entfalteten Einsichten.
Primär pädagogische Kriterien
Pädagogischtheologische Kriterien
Vorhandensein didaktischer Konzepte Operationalisierbarkeit entsprechender Lehrerbildung Nachvollziehbarkeit für Schulangehörige (und den staatlichen Träger) Förderung allgemeiner Bildungsziele der Schule (etwa Toleranz und Inklusionsbereitschaft)
Bezug zur Praxis gelebter Religion Schülerbasierung und Förderung von Subjektwerdung Akzeptanz unter Religionslehrenden / Entsprechung zu ihrem Selbst- und Berufsverständnis
Kontext-Angemessenheit
PLURALITÄTSFÄHIGKEIT IM MODUS DER …
X
XX
XX
X
X
XX X
X
XX
X
X
X
RUNG
X
XX
X
(SZENARIO 4) X
NEUTRALISIE-
VEREINTEN
VERSCHIEDENHEIT (SZENARIO 3) X
XX
X
X
ELEMENTARISIERUNG (SZENARIO 2)
XX
X
AUSDIFFERENZIERUNG UND REGIONALISIERUNG (SZENARIO 1) XX
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X X
X XX X X
Wissenschaftsbasierung / Respekt vor der Komplexität des Sachgebietes Schulförmigkeit
Realisierbarkeit
X
X
X
XX
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X
X
Rechtskonformität
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X
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Allgemeine Kriterien
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X
X
X
Religionsfreundlichkeit / Ermutigung zur Ligatur Selbstbegrenzung staatlicher Instanzen in weltanschaulich-religiösen Fragen Authentizität (religionsgemeinschaftlicher und persönlicher Selbstverständnisse) Fokussierung der Wahrheitsfrage
Primär theologische Kriterien
X
X
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191
192
Bernd Schröder
2.5 Fünfter Schritt: Klärung der Verallgemeinerbarkeit (Tödt: „Prüfung der sittlich-kommunikativen Verbindlichkeit von Verhaltensoptionen“) Es gehört zu den Erträgen der bisherigen Reformdiskussion(en), dass ein einheitliches Modell von Religionsunterricht für ganz Deutschland (oder sogar die gesamte Europäische Union) weder angemessen noch überhaupt wünschenswert ist: In zu hohem Maße hängt die Gestalt des Religionsunterrichts mit den Gegebenheiten der religiösen Landschaft und der (religions-)pädagogischen Tradition am Ort zusammen. Von daher ist die Verallgemeinerbarkeit – anders als bei ethischen Fragestellungen – auf einer mittleren Ebene zu suchen: Kann ein Modell für eine schulisch relevante Region, in der Regel also ein Bundesland, überzeugen und ist es zugleich unter Berufung auf Art. 7.3 GG zu entfalten? 2.6 Sechster Schritt: Handlungsentscheid (Tödt: „Urteilsentscheid“) Im Zuge eines Gesprächsprozesses im Umfeld der hier dokumentierten Texte haben sich in Abwägung der beschriebenen Kriterien richtungsentscheidende Pflöcke, primär bezogen auf das Bundesland Niedersachsen, ergeben. Nicht zuletzt kam dabei die doppelte Einsicht zur Geltung, dass einerseits der Religionsunterricht im Falle eines „Systemwechsels“, sofern ein solcher überhaupt wünschenswert wäre, des Bestandsschutzes verlustig ginge, der sich aus Artikel 7.3 GG ergibt, und andererseits Änderungen unter Inanspruchnahme von Artikel 7.3 GG wesentlich auf Zustimmungsfähigkeit im Kreis der beteiligten Religionsgemeinschaften angewiesen sind. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint sowohl ein konsequent interreligiös angelegter Religionsunterricht (und zwar auf Grund der Interessen religiöser Minderheiten) als auch ein ökumenischer Religionsunterricht (und zwar auf Grund der Stagnation in der Klärung ökumenischer Konfliktfragen zwischen evangelischer und katholischer Kirche) derzeit als nicht realistisch. Der Handlungsentscheid zielt somit pragmatisch auf die behutsame Weiterentwicklung von Religionsunterricht im Rahmen der bestehenden rechtlichen Ordnung und unter Berücksichtigung regionaler Unterschiede. Diese Schmiegsamkeit weist gleichwohl ein klares Gefälle auf: Religionsunterricht muss einerseits verstärkt auf gelebte Religion (wie sie in den thematisierten Religionsgemeinschaften wie im Schulleben praktiziert wird) Bezug nehmen, andererseits aber inhaltlich, methodisch und sukzessive auch organisatorisch auf Dialog ausgerichtet werden – Dialog mit anderen christlichen Konfessionen, mit den anderen in Deutschland signifikant vertretenen Religionen und schließlich auch mit dem Ethikbzw. „Werte & Normen“-Unterricht, verstanden als Forum der Schülerinnen und Schüler ohne religiöse Daseins- und Wertorientierung. Konkrete Schritte benennen die (dieses Buch) abschließenden Thesen.
Bernd Schröder / Rudolf Tammeus
Wünschenswerte Schritte zur Weiterentwicklung des Religionsunterrichts – Thesen Im Blick auf das – hier exemplarisch in den Blick genommene – Flächenland Niedersachsen haben sich im Anschluss an die in der Einleitung angesprochene Veranstaltung einige elementare, gleichermaßen weiterführend wie realistisch erscheinende Koordinaten für einen zukunftsfähigen Religionsunterricht ergeben. 1. Gesellschaftlich, schulisch und didaktisch angemessen ist ein Religionsunterricht, der nicht nur über Religionen informiert, d.h. wissenschaftsbasiert einschlägiges Wissen und methodische Kompetenz aufbaut, sondern Schülerinnen und Schüler in der Auseinandersetzung mit einem bestimmten religiösen Selbstverständnis über und von Religion lernen lässt. 2. Dieses bestimmte religiöse Selbstverständnis wird mindestens und vorzüglich über die Lehrerin bzw. den Lehrer in den Religionsunterricht eingespielt, weil er/sie Einblick in die Binnenperspektive eines religiösen Selbstverständnisses geben kann, das sich durch viererlei von der Artikulation eines religiösen Selbstverständnisses durch Schülerinnen und Schüler, ehren- oder hauptamtliche Repräsentanten einer Religionsgemeinschaft u.a.m. unterscheidet: − es ist in wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit religionsgemeinschaftlicher Lehre, wissenschaftlicher Theologie und religionswissenschaftlicher Theorie geklärt, − es unterliegt einer Selbstunterscheidung zwischen persönlicher Einschätzung und individuell gelebter Religion einerseits und verallgemeinerbarer Auffassung und religionsgemeinschaftlich gelehrter Religion andererseits, − es ist didaktisch geschult, − es ist transparent, insofern die Lehrperson in der Wahrnehmung ihrer Aufgabe durch staatlich-wissenschaftliche Prüfung wie durch Anerkennung bzw. Beauftragung der Religionsgemeinschaft ausgewiesen ist. 3. Religionsunterricht konfessioneller Prägung im Sinne von Art. 7.3 GG ist vor diesem Hintergrund nicht nur legal, sondern sachlich und didaktisch legitim. 4. Angesichts religionssoziologischer, pädagogischer und schulorganisatorischer Entwicklungen scheint es gleichwohl sinnvoll und geboten zu
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Bernd Schröder / Rudolf Tammeus
sein, möglichst restriktionsfrei Religionsunterricht in konfessioneller Kooperation (gemeint ist: zwischen römisch-katholischer und evangelischer Lesart) zu ermöglichen. 5. Allerdings sollte diese organisatorische Vereinfachung unbedingt mit einer didaktischen Profilierung der Kooperation einhergehen. Denn erst durch das Bewussthalten und Thematisieren von Gemeinsamkeiten und Unterschieden in den Kerncurricula beider Fächer, durch die Erarbeitung spezifischer Ziele und didaktischer Arrangements der Kooperation, durch Entwicklung und Nutzung entsprechender mehrperspektivischer Unterrichtsmaterialien kann Religionsunterricht aus dem Miteinander von Schülerinnen und Schülern verschiedener Konfessionen ‚Honig saugen‘. Einfach gesagt: Konfessionelle Kooperation soll von bloßer Einziehung konfessioneller Differenzierung unterscheidbar sein. 6. Religionsunterricht christlich-konfessioneller Minderheiten ist zu achten, unbeschadet dessen allerdings zur Teilhabe an jener Kooperation einzuladen. 7. Perspektivisch mag konfessionell-kooperativer Religionsunterricht zum Regelfall werden. 8. In jedem Fall soll sich ein christlich verantworteter Religionsunterricht darüber hinaus in Unterrichtseinheiten, punktuellen Begegnungen und Phasen der Kooperation zwischen Lehrkräften und Lerngruppen interreligiös öffnen. Idealerweise legen Lehrpläne der Zukunft solche konfessionellen und interreligiösen Kooperationen Grund, etwa so dass sie für jeden Doppeljahrgang ein ausgearbeitetes Modul für das Lernen mit einem Fachkollegen / einer Fachkollegin und einer anderskonfessionellen bzw. andersreligiösen Lerngruppe anbieten (etwa 5/6 evangelisch-katholisch; 7/8 christlich-muslimisch; 9/10 christlich-jüdisch). 9. Es dient der Sache des so verstandenen Religionsunterrichts, wenn Lehrkräfte verschiedener Konfession und Religion bereits in der Ausbildung phasenweise gemeinsam bzw. voneinander lernen. 10. Für Schülerinnen und Schüler, die keiner Religionsgemeinschaft angehören und sich nicht auf die Teilnahme an einem Religionsunterricht einlassen können oder wollen, sollte, wo die entsprechenden Schülerzahlen erreicht werden, durchgehend, also für alle Jahrgangsstufen, ein Alternativ- bzw. Ersatzfach angeboten werden. 11. Als Lehrkräfte für dieses Alternativ- bzw. Ersatzfach sollten Religionslehrerinnen und -lehrer nicht zur Verfügung stehen.