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German Pages [137] Year 2018
Gisela Klindworth Ludger Kühling (Hg.)
Von der Bewegung zur Organisation und wohin weiter ? 25 Jahre Systemische Gesellschaft
Gisela Klindworth/Ludger Kühling (Hg.)
Von der Bewegung zur Organisation und wohin weiter? 25 Jahre Systemische Gesellschaft
Mit einer Abbildung
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2018, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: René Magritte, Der falsche Spiegel, 1929/akg-images/ VG Bild-Kunst, Bonn 2018 Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-40659-1
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Chronologie der Ereignisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Kurzinfos zur Systemischen Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Das geht so nicht! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Und dann haben wir einfach etwas anderes gemacht . . . . . . . . 20 Wer darf mitspielen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 Da war so eine Art Ursuppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 Wir waren nie konfliktscheu und immer lösungsorientiert . . . 36 Besonders spannend wird es immer um sechzehn Uhr. SG-Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 »Systemisch« ist so etwas wie eine heilige Kuh . . . . . . . . . . . . . . 63 Es kommt darauf an, die Leute in einen konstruktiven Dialog zu bringen. Was ist systemische Qualität? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 Sind wir die besseren Menschen? Der Ethikdiskurs in der SG . 80 Die SG und ihr Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 Systemische Therapie und die anderen Arbeitsfelder . . . . . . . . 95 Funken und Nischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Wenn ich mal ein bisschen herumspinne. Junge Wilde – Alte Zahme – Junge Zahme – Alte Wilde – Gezähmte Junge
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Jetzt ist schon so viel erzählt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 Die Teilnehmenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 Inhalt
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Vorwort
Was mir im Prinzip schon lange klar war, wird jetzt sonnenklar: Ich bin zwar schon Ü60, aber ich gehöre zur nächsten Generation! Arist von Schlippe hat mich sogar einmal als seine »Enkelin« bezeichnet, da ich nach ihm die übernächste 1. Vorsitzende der Systemischen Gesellschaft wurde. »Und Ihr könnt sagen, Ihr seid dabei gewesen« (Goethe über die Kanonade von Valmy 1792) – das sage ich voller Bewunderung zu denen, die hier die Mythen sowie ihre Erlebnisse, Sichtweisen und Gedanken zur Entstehung unseres Verbandes zur Verfügung stellen. Beim Lesen spüre ich die Begeisterung, die (damals wie übrigens auch heute!) herrschte und herrscht, nur war sie damals, vor 25 Jahren, noch in solche Begriffe getaucht wie »Ursuppe« und »Chaos«. Dabei war ich auch. Die emotional und charismatisch geführten Debatten zwischen – beispielsweise – Mara Selvini Palazzoli und, weit nüchterner, Ian Falloon haben mich, die Psychiatrieangestellte, 1990 aufgerüttelt. In der Weiterbildung bei Rosmarie Welter-Enderlin und Bruno Hildenbrand in Meilen war es dann Anfang der neunziger Jahre endgültig um mich geschehen: Auch ich war begeistert. Doch ich war außen. Damals schon war ich für die Schweizer im aufenthaltsrechtlichen Sinne »Grenzgängerin«, und als solche fühle ich mich heute noch, vor allem wenn ich dieses Büchlein lese. Da taucht die Schweiz ganz selten auf. Tom Levold erwähnt Zürich am Vorwort
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Rande, dort wurde anscheinend ebenfalls konspirativ die SG vorbereitet. Bei einem Kongress? Rosmarie Welter-Enderlin komplimentierte mich in die SG. Sie meinte ungefähr im Jahr 2000: »Das ist wichtig, was da passiert. Geh da hin!« Heute bin ich 1. Vorsitzende, fühle mich pudelwohl als »Grenzgängerin«, schaue noch oft von außen, auch auf die Merkwürdigkeiten des deutschen Gesundheitswesens. Ich bin stolz darauf, dabei (gewesen) zu sein – als vierte 1. Vorsitzende, als Konsolidiererin. Sicher ist die Schweiz nicht mit der DDR zu vergleichen, und man wird nie sagen: »Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.« Aber der Blick von außen möge dabei nützen, nicht zu sehr im eigenen Saft zu schmoren, deutsche Sonderwege nicht zu ernst zu nehmen, den Blick in die Zukunft zu wenden. Viel Freude beim Lesen wünsche ich allen, die außen stehen oder dabei gewesen sind, sowie all jenen, die auch irgendwann einmal sagen werden, sie seien dabei gewesen – in der SG, bei den Debatten, beim gemeinsamen Zweifeln, ob alles nicht auch ganz anders gewesen sei und in Zukunft weitergehen könnte. Ulrike Borst 1. Vorsitzende der SG
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Vorwort
Einleitung
Die Gründung der Systemischen Gesellschaft (SG) vor 25 Jahren – ein wegweisendes, aufregendes und innovatives Projekt. Heute sehen wir einen großen Verband mit ca. 3.000 Einzelmitgliedern und 50 Mitgliedsinstituten. Die SG hat einen Beitrag dazu geleistet, dass der systemische Ansatz in vielen Bereichen der Gesellschaft erfolgreich angekommen ist. Vieles im Verband verändert sich mit hoher Geschwindigkeit. Anlass genug, sich Fragen zu stellen, zu rekonstruieren und Blickrichtungen in die Zukunft zu wagen: Welche Visionen und Interessen leiteten die Gründungsmitglieder? Was ist aus diesen geworden? Wie hat sich der Verband entwickelt, von welchen Visionen haben sich die Mitglieder verabschiedet? Welche Ideen, Energien und Haltungen haben die Systemische Gesellschaft geprägt? Welche davon wollen wir bewahren? Wie können diese auch heute Menschen in Bewegung bringen, sie beflügeln und begeistern? Viele der Gründungsmitglieder und der langjährigen Akteurinnen und Akteure der ersten Jahre haben sich schon aus der aktiven Verbandsarbeit zurückgezogen, einige tun es gerade oder werden es in den nächsten Jahren tun. In der SG vollzieht sich ein Generationenwechsel. 2017 wurden in Heidelberg, Köln, Hannover und Berlin Gesprächsrunden mit Gründungsmitgliedern und jüngeren SG-MitEinleitung
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gliedern durchgeführt. Die Gründungsmitglieder erzählten und reflektierten, die Jüngeren fragten und diskutierten. Diese Gesprächsrunden sind in diesem Band dokumentiert. Ihre chronologische Reihenfolge wurde aufgegeben und die vier Gespräche wurden zu einem Text um thematische Schwerpunkte angeordnet. Dieser Band dokumentiert Erzählungen, Selbstbeschreibungen und Analysen zur Entstehung und Entwicklung der SG. Er bietet der jetzigen und nachfolgenden Generationen Ideen und Erfahrungen – wohl wissend, dass es sich hier immer auch um subjektive Rekonstruktionen der bisherigen Geschichte handelt. Ihr Bild von der SG wird der Band hoffentlich bereichern, verändern oder vielleicht auch nur bestätigen. Gleichzeitig wird in den Gesprächen die Entwicklung der SG zu einer Organisation rekonstruiert. Es wird deutlich, wie idealistische, aber auch ökonomische Beweggründe sich verschränken und kulturprägend wirken. Wir danken allen Mitwirkenden ganz herzlich: Klaus Deissler, Andrea Ebbecke-Nohlen, Kristina Hahn, Jürgen Hargens, Thomas Hegemann, Tom Levold, Wolfgang Loth, Karin Martens-Schmid, Cornelia Oestereich, Kurt Pelzer, Monika Schimpf, Hans Schindler, Arist von Schlippe, Walter Schwertl, Maria Staubach und den vielen SG-Mitgliedern, die sich an den Diskussionen beteiligten. Da wir nicht alle Namen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer kennen, die Beiträge geleistet haben, wurden alle Namen der Teilnehmenden anonymisiert. Gisela Klindworth und Ludger Kühling
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Einleitung
Chronologie der Ereignisse
vor 1993 DAF (Deutsche Arbeitsgemeinschaft für Familientherapie, gegründet 1978) und DFS (Dachverband für Familientherapie und systemisches Arbeiten, gegründet 1987) 1993
acht Institute gründen die SG: ViIsT (viisa) Marburg, IGST Heidelberg, NIS Hannover, APF Köln, BIF Berlin, ISS Hamburg, IFF (ISTUP) Frankfurt a. M., SGST Saarbrücken
1994
erster Extratermin zur inhaltlichen Auseinandersetzung. Daraus wurden später die wissenschaftlichen Jahrestagungen. Ausschüsse erarbeiten Vorlagen für ■■ Positionspapiere ■■ Rahmenrichtlinien ■■ Wissenschaftliche Aktivitäten
1996
der Wissenschaftliche Förderpreis wird ins Leben gerufen
1997/98 erste Zertifizierungen in Systemischer Therapie 1999
Gesetz über die Berufe des Psychologischen Psychotherapeuten und des Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten (Psychotherapeutengesetz; PsychThG) tritt in Kraft
Chronologie der Ereignisse
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1999
Einzelmitglieder werden aufgenommen: 2000: 62 Einzelmitglieder 2002–2011: 50–80 Neuzugänge pro Jahr 2012–2015: 140–150 Neuzugänge pro Jahr ab 2017: 1.000 Neuaufnahmen pro Jahr
1997
erster Ethikausschuss
2008
wissenschaftliche Anerkennung der Systemischen Therapie durch den WPA (Wissenschaftlicher Beirat Psychotherapie)
2011
Ethikrichtlinien werden verabschiedet
2013
Eröffnung des Prüfverfahrens des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) zur sozialrechtlichen Anerkennung der Systemischen Therapie
Chronologie der Ereignisse
Kurzinfos zur Systemischen Gesellschaft
Gremien: ■■ Vorstand mit sieben Mitgliedern ■■ fünf Weiterbildungsgremien (Systemische Beratung, Therapie, Supervision, Kinder- und Jugendlichentherapie, Systemisches Coaching) ■■ ein Aufnahmegremium für die Aufnahme der SG-Institute ■■ ein Visitationsgremium ■■ ein Gremium für das SG-Qualitätssiegel daneben ■■ Ethik-Rat ■■ Stelle für verzwickte Fälle Hauptamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Geschäftsstelle: ■■ Geschäftsführerin und Stellvertretende Geschäftsführerin ■■ Assistentin der Geschäftsführung, eine Sachbearbeiterin, eine Auszubildende ■■ Vorstandsbeauftragter Berufspolitik und Vorstandsbeauftragte Jugendhilfe
Kurzinfos zur Systemischen Gesellschaft
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Bisherige Vorstandsvorsitzende: Dr. Kurt Ludewig (1993–1999) Prof. Dr. Arist von Schlippe (1999–2005) Dr. Cornelia Oestereich (2005–2013) Dr. Ulrike Borst (seit 2013) Erteilte Weiterbildungsnachweise jährlich: 2000–2007: 300–500 2008–2011: 700–800 2012–2017: 900–1.000
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Kurzinfos zur Systemischen Gesellschaft
Das geht so nicht!
Ludger Kühling: Wie würdet ihr die damaligen Kontextbedingungen, unter denen sich die SG gründete, beschreiben? Hans Schindler: Es ist relativ schwierig, sich von heute aus in die damalige Situation hineinzuversetzen. Heute gibt es die SG als gut organisierten Dachverband. Schwierig war es damals, aus einer Situation der Unorganisiertheit überhaupt Strukturen zu entwickeln. Als sich die DAF (Deutsche Arbeitsgemeinschaft für Familientherapie) 1978 in Deutschland gründete, gab es noch keinen systemischen Ansatz. Die DAF war eine lose familientherapeutische »Organisation«: Zu der Zeit bestand sie aus den Gießenern um Horst-Eberhard Richter und den Heidelbergern – die aber erst am Anfang ihrer Entwicklung waren. Helm Stierlin kam gerade aus den USA zurück und hatte noch einen Lehrstuhl für Analytische Therapie und Grundlagen der Familientherapie. Die DAF hatte keine Organisationsstruktur, sie war ein Diskussionsforum, das sich einmal im Jahr traf und mit Referaten und Arbeitsgruppen überlegte: Wie kann man Familientherapie machen und verbreiten? Die andere Organisationsebene war die der ersten Ausbildungsinstitute, und das Weinheimer Institut ist das älteste. Das hatte seine ganz eigene Dynamik, die sich zum Beispiel dadurch ausgezeichnete, dass die »Urmutter« entmachtet werden musste, sonst hätten die Kinder ihre Ideen gar Das geht so nicht!
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nicht weiter in die Welt bringen können. Und diese Dynamik im Team des Weinheimer Institutes führte zur Gründung des DFS (Dachverband für Familientherapie und systemisches Arbeiten) 1987, denn der war als alternative, erste Organisation gedacht, die unabhängig von einem einzelnen Institut eine Struktur für zukünftiges Arbeiten ermöglichen sollte. Tom Levold: Die DAF war ein Sammelbecken für alle, die sich für Familie und Familientherapie interessiert haben. Es gab keinerlei berufliche oder inhaltliche Einschränkungen. Es war ein Forum, in dem alle Leute mit einem großen Enthusiasmus eingestiegen sind. Aber es hat auch dazu geführt, dass die DAF extrem breit aufgestellt war, dass es kein klares inhaltliches Profil gab – was Mitte der achtziger Jahre auch dazu führte, dass sie sich fast aufgelöst hätte. Und ein Problem in der DAF war, dass Institute dort keinen Ort hatten. Das war auch klar, denn als die DAF 1978 gegründet wurde, gab es gar keine Institute außer dem Weinheimer Institut von Maria Bosch. Wir haben hier in Köln 1980 mit der APF eines der ersten Institute in Deutschland gegründet. Es gab so etwas wie familientherapeutische Zentren, die dann eher an Universitäten angesiedelt waren – also Heidelberg mit Helm Stierlin, in Göttingen Eckhard Sperling, in Gießen Horst-Eberhard Richter. Das waren relativ bedeutsame Zentren, aber sie hatten keine organisatorische Struktur, und am Anfang auch überhaupt kein Interesse daran weiterzubilden. Dann sind im Laufe der achtziger Jahre relativ schnell überall Institute gegründet worden, die aber keine organisatorische Basis hatten, um ihre eigenen Interessen zu vertreten. Das war 1986 eine große Debatte auf einem DAF-Treffen in Köln, nach der dann eine Gruppe den Dachverband für Familientherapie und Systemisches Arbeiten (DFS) gegründet hat. Aber wichtige Institute haben nicht mitgemacht: Die Heidelberger hatten die IGST gegründet, es gab das Berliner Institut für Familientherapie und das Institut in Köln. Die hatten schon ein etwas besseres Standing im Markt und auch eine gewisse Eingebildetheit, um zu sagen: »Das ist etwas für kleine Institute, schließt ihr euch zusammen, wir brauchen das nicht.« Dann hatten wir 1987 zwei Verbände: den DFS als relativ kleinen Institute-basierten 16
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Verband und die DAF weiterhin als ein diffuses Sammelbecken, das sie vorher auch war. Klaus Deissler: Als Gründungsmitglied der DAF war ich mit einigen vorherrschenden Ideen nicht einverstanden, zum Beispiel sollte man eine Lehranalyse machen, um (psychoanalytischer) Familientherapeut zu werden. Es gab auch dieses paternalistische Expertentum der Psychopathologen: »Du hast diese oder jene Krankheit, du musst etwas für dich tun, du musst diese Krankheit heilen« oder so etwas. Es war diese Haltung, die mir nicht gefallen hat. Gisela Klindworth: 1982 haben Sie in Marburg die DAF-Tagung ausgerichtet, Helm Stierlin hat den Eröffnungsvortrag gehalten und amerikanische Kolleginnen und Kollegen haben ihre Konzepte vorgestellt. Wie kam das an bei der DAF? Ich habe gelesen: »Es kam zu einem notwendigen Eklat.« Klaus Deissler: Mit Kollegen zusammen habe ich innerhalb der DAF die Zeitschrift »Kontext« gegründet, sie ist heute noch die Verbandszeitschrift der DGSF. Damals war sie analytisch orientiert. Wir waren also drei Redaktionsmitglieder – Wolfgang Dierking und Norbert Spangenberg analytisch orientiert und ich systemisch orientiert. In diesem »Kontext« habe ich zum Beispiel ein Interview mit Frau Selvini veröffentlicht, dabei hatte ich das Gefühl, das wurde so gerade einmal toleriert, aber es wurde nicht sehr wertgeschätzt. So fühlte ich mich mehr und mehr an den Rand gedrängt. Und mit der Tagung »Familientherapie – Wissenschaft oder Kunst?« 1982 war das dann der nächste Schritt. Diese Tagung der Deutschen Arbeitsgemeinschaft Familientherapie war analytisch dominiert mit einem Großteil analytisch orientierter Workshops. Wir – die Organisatoren vom Marburger und Frankfurter Institut – haben auch systemische Leute aus dem Ausland eingeladen, was einige Wellen geschlagen hat. Ich weiß nicht, ob es einen Eklat gegeben hat – nur empfand ich keine Unterstützung für systemische Ideen von offizieller Seite. Da habe ich einfach gesagt: »Nein, da kann ich nicht mehr mitmachen.« Und dann habe ich mit Gunthard Weber zusammen die IGST in Heidelberg initiiert. Tom Hegemann: Während der Gründungszeit der SG Anfang der neunziger Jahre fand ein Prozess statt, dass die DAF und die DFS Das geht so nicht!
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sich auf die Reise machten, ein gemeinsamer Verband zu werden. Das führte bereits zu Differenzierungsprozessen: Eine ganze Reihe von Mitgliedern der DAF, die eine eher tiefenpsychologisch orientierte Form von Familientherapie vertraten, verließen diesen neuen Verband, sodass der sich stärker auf die systemische Arbeit fokussierte, aber immer noch sehr stark familientherapeutisch geprägt war. Auch die Institute stützten sich in ihrer großen Mehrheit theoretisch-konzeptionell auf den Satir-Ansatz1 und auf die Arbeit mit Kindern und Familien. Und dann gab es eine ganze Reihe Institute, die für sich gesagt haben: »Das ist nicht unser Schwerpunkt. Wir möchten nicht auf Einzelmitglieder fokussieren, sondern wir möchten einen Verband gründen, in dem Institute mit einem hohen – auch theoretisch-konzeptionellen – Anspruch in einen Austausch über systemische Denkund Arbeitsmodelle treten, und das deutlich breiter, als das der Satir-Ansatz anbietet.« Dazu gehörten Konzepte der Mailänder Schule, konstruktivistische Modelle, narrative Modelle etc. Und diese Institute haben gesagt: »Wir finden in den bisherigen Verbänden kein ausreichendes Forum, wo wir uns auf diesem Niveau unterhalten können.« Jürgen Hargens: Ich habe durch die Gründung der »Zeitschrift für Systemische Therapie« 1983 ganz viele Kontakte bekommen zu Leuten, die vor Ort arbeiteten und die faszinierende Dinge machten. Dadurch bin ich irgendwie außen geblieben, konnte von außen gucken: Was da passiert, entspricht das noch meinen Vorstellungen von systemischer Theorie? Für mich ist jeder Verein oder jeder Verband irgendwie ambivalent, auch die Systemische Gesellschaft: Inhaltlich-fachlich wird da etwas bewegt, denn da sind Leute, die ein Interesse haben. Der andere Aspekt ist: Man will sich zugleich positionieren, auch politisch oder gesellschaftlich etwas erreichen, und das ist dann ein anderer Kontext. Da 1 Satir, V. (1973). Familienbehandlung: Kommunikation und Beziehung in Theorie, Erleben und Therapie. Freiburg: Lambertus. – Satir, V., Ricketts, C. (1975). Und wer liebt mich? Die Kunst, sich selbst zu akzeptieren. Wessobrunn: Integral. – Bandler, R., Grinder, J., Satir, V. (1976). Mit Familien reden: Gesprächsmuster und therapeutische Veränderung. München: Pfeiffer.
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dachte ich: »Da muss man doch reflektieren: Wie hängt das eine mit dem anderen zusammen?« Und irgendwann bin ich dann doch eingetreten. Hans Schindler: Wenn du diese Ambivalenzen in die eine Richtung ausgelebt hast, fand ich es umso wichtiger, dass es auch genügend Leute gab, die die Ambivalenz in die andere Richtung auslebten. Und für mich passte das damals in die Zeit dessen, was sich insgesamt im therapeutischen Bereich bewegt hat, nicht nur im ambulanten, sondern auch im stationären Bereich. Nach der Antipsychiatrie und der Idee: »Man muss die Psychiatrie nur auflösen, dann ist allen geholfen«, ist man doch nicht weitergekommen. Man brauchte nämlich etwas, was auch inhaltlich in der Arbeit – sowohl in den Institutionen als auch in den Praxen – als Konzept hilfreich ist. Und das in die Öffentlichkeit und an die entsprechenden Kolleginnen und Kollegen zu bringen, war eine große Herausforderung. Das war damals – so habe ich das jedenfalls erlebt – oft noch richtig persönlich, sich an Kollegen und Kolleginnen zu wenden und sie zu gewinnen. Heute ist das natürlich etwas ganz anderes bei der Öffentlichkeit, die wir jetzt haben.
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Und dann haben wir einfach etwas anderes gemacht
»Wir wollen eine Spielwiese haben, wo wir entscheiden.«
Gisela Klindworth: Wozu habt ihr die SG gegründet und welche Ziele kamen im Laufe der Jahre noch dazu? Tom Levold: Als der DFS sich gegründet hat, war die DAF zunehmend mit der Frage beschäftigt: »Welchen Stellenwert haben Institute bei uns?« Das hat wiederum etwas mit der späteren Fusionsgeschichte zu tun, dass solche Entscheidungen immer auch eine Rückwirkung auf den anderen Verband haben. Die Institute haben keinen rechtlichen Status gehabt, es gab keine spezielle Mitgliedschaft. Es wurde auch weitgehend abgelehnt, weil man Angst hatte, dass die dann das Ganze dominieren können, da Institute durch ihre Organisationskraft anders aufgestellt sind. Es gab Anfang 1992 in Frankfurt ein Treffen, das von der DAF organisiert war, mit der Einladung an familientherapeutische, systemische Institute, mit der DAF gemeinsam zu überlegen: Welchen Raum könnten Institute bekommen? Da tauchte wieder ein alter, grundsätzlicher Konflikt auf, der die DAF schon von Anfang an getrennt hat: Das Konzept der Leute, die eher aus der Schule von Horst-Eberhard Richter kamen – die primär einen Selbstorganisations- und Selbsthilfeansatz hatten –, und Leute, die angefangen haben, sich zu professionalisieren und selbst 20
Und dann haben wir einfach etwas anderes gemacht
Weiterbildungsinstitute aufzubauen. Die Idee war: Institute sollten sich regional zusammenschließen, um diese Frage weiter zu diskutieren, also die im Rheinland, im Westen und im Süden und im Norden usw. – ganz egal, welche Orientierung die hatten. Das war der Punkt, an dem ich gedacht habe: Wenn wir das wirklich machen, dann kommen wir überhaupt keinen Schritt weiter, weil sich das Problem inhaltlich nicht lösen lässt. Und dann habe ich Gunthard Weber und Christoph Heidbreder vom Hamburger Institut für Systemische Studien vorgeschlagen, dass wir uns nicht regional orientieren, sondern dass wir alle systemischen Institute, denen wir uns nahe fühlen, einladen, um zu gucken: Machen wir etwas Eigenes? Und dann haben Fritz Simon, Gunthard Weber und ich uns am Rande einer Tagung in Zürich getroffen und versucht, das noch ein bisschen zu konzeptualisieren. Walter Schwertl: Trotz aller Hervorhebung der Gemeinsamkeit gab es drei harte Trennlinien. Eine Gruppe um Horst-Eberhard Richter in Gießen verstand Familientherapie als eine Art neues Format der Psychoanalyse. Die Kollegen um Helm Stierlin vertraten andere Ideen. Dort konnte man die großen Persönlichkeiten der Familientherapie treffen. Eine weitere Trennlinie, wenn auch weniger hart, verlief zwischen Universitätsangehörigen und denjenigen, die sich durch eine eigene Praxis ökonomisch absichern mussten. Dies wurde immer deutlich, wenn es direkt oder indirekt um ökonomische Fragen ging. Ein dritter Graben entwickelte sich zwischen psychoanalytisch orientierten Kollegen und solchen, die anfingen, sich mit Systemtheorien zu beschäftigen. Dies war keine scharfe Trennung, aber nahm an Schärfe zu. Entsprechende Impulse kamen sehr früh von Klaus Deissler, er verdient das Prädikat Pionier. An eine geordnete Diskussion oder einen geordneten Dialog erinnere ich mich nicht. Wir waren von einer großartigen Aufbruchsstimmung getragen, es entwickelte sich etwas Neues, und wir waren stolz, dabei zu sein. Wir verdarben uns immer wieder viele Chancen. Durch subtile, aber sehr wirksame Weigerung, einen etwas geordneten Entwicklungsprozess zu gestalten, drehten wir uns oft im Kreise. Eine richtige Idee zum richtigen Und dann haben wir einfach etwas anderes gemacht
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Zeitpunkt kann aber auch von destruktiven Spielchen nicht aufgehalten werden. Die Begeisterung siegte. Arist von Schlippe: Damals merkte man, da braut sich etwas zusammen, da geht es um das Abstecken von Claims. Die Zeit war irgendwie reif. Es brauchte Strukturen, denn die Tätigkeiten waren schon relativ klar definiert: Supervision, Beratung, Therapie. Es war absehbar, dass irgendwann einmal ein Therapeutengesetz kommt. Und wir brauchten Strukturen, mit denen wir mehr Kraft hatten als einfach: Da ist das eine und da ist das andere Institut. Irgendwann spitzte es sich auf den Punkt zu, an dem es dann losging. Anders gesagt: Das war das Problem, zu dessen Lösung die SG dann beigetragen hat. Cornelia Oestereich: Systeme definieren sich ja unter anderem durch die Außengrenzen. Und deswegen war es wichtig, im Feld überhaupt sichtbar zu werden, indem Außengrenzen geschaffen wurden. Das ist letztendlich das, was durch die Gründung der SG passiert ist. Und Außengrenzen helfen auch, sich im Binnenverhältnis zu definieren. Das war so ein Gefühl: »Wir sind die Systemiker hier im Lande!« Es war auch ein Gefühl von Gemeinsamkeit: trotz aller inhaltlichen Auseinandersetzungen, wobei die Institute ja auch Konkurrenten waren. Sie waren noch sehr schön verteilt in Deutschland, kamen sich also nicht direkt ins Gehege. Trotz der wirtschaftlichen Konkurrenz konnte sich ein ganz solidarisches »Wir-Gefühl« entwickeln. Und ich glaube, das war wichtig, um sich gegen Psychoanalytiker, die Verhaltenstherapeuten, die etablierten Verfahren abzugrenzen. Von diesen wurden wir damals ja als Außenseiter wahrgenommen. Gemeinsam haben wir diese Außenseiterperspektive und -position des Andersseins auch ein wenig kultiviert. Kristina Hahn: Die Weiterbildungssituation Mitte und Ende der siebziger Jahre war eine völlig andere als heute. Es war unglaublich eingeschränkt und rigide. Es gab erstens klassische Ausbildungen für Ärzte und Psychologen. Zweitens gab es Weiterbildungen für Menschen, die in kirchlichen und staatlichen Beratungsstellen gearbeitet haben. In diesem Kontext fanden dann auch die Fort- und Weiterbildungen statt. Systemisches Denken, so wie wir heutzutage denken und arbeiten, inklusive 22
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der Weiterbildungen, wie wir sie heute kennen, war Neuland und musste vom Hirn und vom Herzen her erarbeitet werden. Leute sind nach Amerika gereist und haben dort Ausbilder gesucht. Sie sind nach Italien und England gereist und haben sich selbstständig fortgebildet, um in einem anderen Rahmen überhaupt die neuen Ideen kennenzulernen. Das Ganze musste erst noch gedacht und eine Leidenschaft dafür entwickelt werden. Das waren junge, idealistische Menschen, die gedacht haben: »Wir wollen etwas anders machen. Wir wollen unser Geld nicht nur in rigiden Arbeitszusammenhängen verdienen. ›Systemisch‹ gibt viel mehr her.« Aber das war nicht so fertig, wie es sich jetzt in den Weiterbildungen präsentiert, sondern es war ein Prozess. Da waren andere Dynamiken, da war eine andere Power. Und das Wissen, dass irgendwann einmal ein Psychotherapeutengesetz kommen würde, war klar. Was Systemiker dann machen würden, wurde damals noch nicht besprochen. Andrea Ebbecke-Nohlen: Es gab damals einige wenige größere Institute, und die Kolleginnen und Kollegen, die dort Weiterbildung gemacht haben, gründeten dann an ihren Orten eigene Weiterbildungsinstitute. Dadurch kam die Frage auf: Wie kann man denn die Qualität der Weiterbildung sichern und wie kann man die theoretischen und praktischen Teile der Weiterbildung standardisieren? Das war keine leichte Aufgabe, denn es gab viele Vorstellungen davon, wie Weiterbildung inhaltlich gestaltet und wie sie organisiert werden sollte, unter anderem auch wie groß der Selbsterfahrungsanteil in dieser Weiterbildung sein sollte. Einige Institute erwarteten beispielsweise von ihren Weiterbildungsteilnehmern mehr Selbsterfahrung bzw. Eigentherapie als von ihren Klienten und Patienten. Ein anderer Aspekt war der, für unsere Teilnehmerinnen und Teilnehmer eine Zertifizierung zu ermöglichen, die über die Bescheinigung des jeweiligen Weiterbildungsinstituts hinausging. Dies waren die Hauptinteressen bei der Gründung – da war noch kein großer politischer Auftrag. Hans Schindler: Diese Frage »Warum wurde es damals als sinnvoll erachtet, die Institute zu organisieren, die bunte Landschaft zu vereinheitlichen?« – das hatte auch etwas mit der aufkommenden Diskussion um das Psychotherapeutengesetz zu tun, also der Und dann haben wir einfach etwas anderes gemacht
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Frage: »Ist diese bunte Landschaft – die es damals an Instituten gab – etwas Ausreichendes, oder brauchen wir etwas, um die Interessen in die Diskussion um ein sich entwickelndes Psychotherapeutengesetz einzubringen?« Das war schon der Anstoß, aus dieser bunten Heterogenität von Institutsleben herauszutreten und sich zu organisieren. Dabei war dieses Organisieren überhaupt nicht einfach, und diesen unterschiedlichen Instituten und ihrem Selbstverständnis sollte auf jeden Fall großer Respekt und Wertschätzung entgegengebracht werden. Tom Hegemann: Ich selbst habe meine systemische Weiterbildung in England gemacht bei Allen Cooklin und Eia Asen und war deswegen mit diesen deutschen Animositäten überhaupt nicht vertraut, habe ein neues Institut in München gegründet und bin dann auf die Suche gegangen: Was ist der Verband, bei dem ich teilnehmen möchte? Und wir kamen zu dem Schluss: Wir wollen in einen systemischen Diskurs eintreten. Bei der zweiten Mitgliederversammlung 1994 in Frankfurt am Main betrat ich mit meinem Kollegen Josef Heck erstmalig das Feld der Systemischen Gesellschaft und es war eindeutig klar: Die SG tritt an, systemische Diskurse zu führen. Verglichen mit England, wo das Understatement gepflegt wird, waren die Ansprüche, auch sprachlich, relativ hoch. Im Laufe der Zeit war es für mich durchaus auch eine enttäuschende Erfahrung, dass der inhaltliche Diskurs nicht den Raum eingenommen hat, den ich mir eigentlich erwünscht hätte, sondern dass die SG sehr mit organisatorisch-strukturellen Fragen beschäftigt war. Und das waren auch die Diskurse und Auseinandersetzungen der ersten Jahre, und zwar: In dem Moment, wo ich eine Verbandsstruktur aufbaue, muss ich Verbandsregeln definieren. Es gab Institute, die das sehr favorisierten, weil sie die Idee hatten: »Nur, wenn wir geschlossen und stark auftreten, haben wir auch eine Durchschlagskraft.« Und andere Institute haben alle möglichen Prozeduren versucht, diese Verbindlichkeit möglichst gering zu halten. In der Innenwelt der SG wurde das sehr kontrovers diskutiert, und es gab natürlich Leute, die da eher dafür, und andere, die dagegen waren. Und die Institute, die die Verbindlichkeit eher niederhalten wollten, griffen auch zu strategischen Tricks, indem sie die verbindlichsten 24
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Repräsentanten ihres Institutes in die Diskussion schickten, aber sie mit wenig Verhandlungsmandat ausstatteten. Und das führte zu kontroversen Debatten mit auch interessanten Nächten, und man konnte dann die Grundlagen der Dynamik lebender Systeme live vor Ort beobachten. Kristina Hahn: Im Laufe der fast 25 Jahre war das eigentlich immer so ein Auf und Ab. Erst einmal die Mühen der Ebene – Rahmenrichtlinien für die Weiterbildung, also einen Qualitätsstandard zu entwickeln, das hat die ersten Jahre der SG sehr geprägt. Und dann gab es auch tolle inhaltliche Tagungen, bei denen die Institute sich anhand ihrer Weiterbildungen ausgetauscht haben: Wie arbeiten wir eigentlich? Denn jeder macht das ja auf seine eigene Art und Weise – das ist die Kehrseite: Systemisch kann unendlich viel sein. Und da wurde über den eigenen Tellerrand geguckt: Wie macht ihr Selbsterfahrung, was ist eure Leidenschaft, wo liegen eure Schwerpunkte? Es gab inhaltliche Zeiten, und dann kamen gesellschaftlich neue Heraus- und Anforderungen, sodass man sich wieder mehr mit den Mühen der Ebene befasste, wie mit berufspolitischen Ausschüssen, neuen Richtlinien, Anpassungen.
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Tom Levold: Das ist natürlich eine interessante Geschichte: Wie entsteht so ein Verband? Wen lädt man ein, wen lädt man nicht ein? Da steckt immer schon ein Konzept von Selbstselektion drin. Und das war im Grunde genommen auch die grundlegende Idee, das war schon ein Elitegedanke: Wir sind die »richtigen« Syste miker. Wobei auch damals schon klar war: Es gibt unterschiedliche inhaltliche Perspektiven. Die Heidelberger haben gesagt: »Wir wollen, dass die Saarländer mit dabei sind.« Warum? Weil die Saarländer alle ihre Ausbildung bei der IGST in Heidelberg hatten. Dann haben wir in Köln gesagt: Dann wollen wir die Berliner auch mit dabeihaben, denn die haben auch noch psychodynamische Konzepte mit drin. Es war sofort die Frage: »Wie kriegt man das so austariert, dass man eine Balance hat?« Das hat erst einmal ein Jahr gedauert, bis das klar war. Wir waren zu siebt und haben gesagt: »Sieben Mitglieder – mehr nicht – brauchen wir, um einen Verband zu gründen.« Es war klar, es sollte ein reiner Institute-Verband sein, keine Einzelmitglieder. Aspiranten, die auch gerne mit dabei sein wollten, haben wir gesagt: »Wir bleiben erst einmal zu siebt«, was auch Konflikte und Verwerfungen mit sich gebracht hat. Arist von Schlippe: Das Interessante ist, dass wir als Weinheimer Institut (gemeint ist das IF Weinheim) damals – jetzt 26
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im Vergleich zu den Heidelbergern und den Hannoveranern usw. – eher »draußen« waren. Zeitgleich, das ist ganz interessant, waren Jochen Schweitzer und ich eine Brücke: Jochen war bei den Heidelbergern, ich war bei den Weinheimern. Wir waren beide gut befreundet, wir haben später ja auch das »Lehrbuch« zusammen geschrieben. Es gab von daher so eine Brücke, speziell bei uns. Ich hatte Jochen damals im November/Dezember 1992 einen Brief geschrieben mit dem Vorschlag: »Lass uns einen Verband für Systemische Supervision gründen, dass das Thema nicht immer nur über DGSv oder die anderen Verbände abgehandelt wird.« Er schrieb mir zurück: »Ja, wir sind gerade dabei – mit den Hannoveranern und noch ein paar anderen –, eine Systemische Gesellschaft zu gründen, die noch etwas breiter gefächert ist.« Und ich erinnere mich, dass ich dachte: Wieso sind wir nicht dabei? Und dann gab es offenbar ziemliche Auseinandersetzungen innerhalb des Gründungskreises. Aber wir waren ein paar Monate später mit dabei. Tom Levold: Es gibt ja keine rein inhaltlich-wissenschaftlichargumentativen Linien, die zur Gründung der SG führten, sondern da sind immer auch Interessen mit drin. Es gab einen ersten großen Konflikt, als wir gesagt haben: »Wir wollen das Weinheimer Institut nicht dabeihaben, weil wir nicht wissen: Wer spricht für Weinheim?« Denn Weinheim selbst war ein Institut mit sehr unterschiedlichen Persönlichkeiten, mit unterschiedlichen inhaltlichen Ausprägungen. Und die Weinheimer waren extrem beleidigt, was ich gut nachvollziehen kann. Dann haben wir einen Modus Vivendi gefunden. Ein Jahr später ist Weinheim als neuntes Institut dazugekommen. Und wir haben gesagt: »Das können wir uns nur dann vorstellen, wenn sich bestimmte Menschen verpflichten, innerhalb der Systemischen Gesellschaft für Funktionen zu kandidieren.« Also es ging von Anfang an – wie heute auch – immer auch um Politik. Und das finde ich wichtig, weil man sonst sehr schnell in so einem sentimental-verklärenden Blick auf Organisationsbildung guckt. Hans Schindler: Weinheim und Heidelberg waren Anfang, Mitte der achtziger Jahre im Prinzip die beiden konkurrierenden Organisationen in dem Bereich, und nur zwanzig Kilometer vonWer darf mitspielen?
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einander entfernt. Die Weinheimer haben die Identität übernommen »Wir sind ein weibliches Team.« Zu der Zeit waren viele Frauen im Trainerteam, während im Heidelberger Team relativ wenige Frauen waren. Da entwickelte sich eine relativ kontroverse Diskussion, die man heute überhaupt nicht mehr nachvollziehen kann – was man sich damals alles unterstellt hat an Wahrnehmungen oder »Falschnehmungen«. Das war meiner Ansicht nach der Grund für die Einstellung: Na, die wollen wir erst einmal ein bisschen heraushalten. Vielleicht war das auch ein bisschen Abstrafung. Dass das keine sinnvolle, langfristige Organisationsperspektive sein konnte, war – glaube ich – allen klar. Dass sie zu der Community, so wie sie zu der Zeit bestanden hat, dazugehören und da auch für die Zukunft einen wichtigen Beitrag leisten würden, war klar. Bis heute ist da nicht alles standardmäßig, sondern es gibt eine Dynamik der Organisation, die immer wieder in einem gewissen Spannungsfeld existiert. Und diese Dynamik hat sich längere Zeit, bevor die SG größer geworden ist, erst einmal geweigert, neue Institute aufzunehmen. Es gab also einen Aufnahmestopp, gefolgt von einer außerordentlichen Mitgliederversammlung, bei der überlegt wurde: Was sind die Kriterien, nach denen Institute zukünftig aufgenommen werden sollen und können? Ein Aufnahmegremium für die Institute wurde gebildet. Das war erst einmal eine Menge Energie, die auf die Organisation selbst gerichtet war. Gisela Klindworth: Hat man das zu Ende diskutiert, was »richtige« und was »schlechte bzw. falsche« Systemiker sind? Klaus Deissler: Das war gerade so eine entscheidende Frage, weil man das ja nicht so richtig beurteilen konnte. Dann waren wieder die die richtigen Systemiker oder jene. Also was heißt »systemisch«? – man sollte das offen lassen. Es gibt aber diese Gefahr der Offenheit. Ich habe mich teilweise darüber lustig gemacht und gesagt: Warum nicht »Systemische Schwangerschaftskonfliktgymnastik«? Denn man kann alles systemisch etikettieren, und mir kommt es manchmal so vor: Jeder ist Systemiker. Es gibt gar keine Leute, die nicht Systemiker sind: systemisch in Deutschland heißt so viel wie katholisch in Frankreich – also (fast) jeder. 28
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Tom Levold: Wir hatten die Idee, wir repräsentieren einen bestimmten Bereich, der sonst so nicht repräsentiert ist – wovon ich heute auch rückblickend sagen würde, das war auch so. Durch die Gründung der Systemischen Gesellschaft war ein Großteil dessen, was im systemischen Bereich publiziert wurde, in der SG vertreten. Wenn man das zum Maßstab macht, hatten wir schon eine Eliteposition. Und das hat dann wiederum dazu geführt, dass das auch Anziehungskraft entwickelt hat und andere Institute mit dazukamen. Die ersten Jahre in der Systemischen Gesellschaft, neben den ganzen inneren Aufgaben wie: »Was brauchen wir alles an Regelungen?«, war immer auch die Frage: »Wollen wir wachsen oder nicht? Und wie schnell wollen wir wachsen?« Meine Sorge war immer: Wenn sich das sehr schnell ausdehnt und jeder rein kann, dann verwischt vielleicht auch das Profil. Andrea Ebbecke-Nohlen: Es gibt immer unterschiedliche Geschichten, auch bei uns im Verband. Ich kann mich gut daran erinnern, dass wir diskutiert haben, was vertreten durch wen dazugehören sollte und was und wer nicht. Wir wollten keinen Gemischtwarenladen. Damit haben wir aber auch viele schöne Ansätze, die später das systemische Denken und Handeln bereichert haben – zum Beispiel analoge Methoden, kreative Methoden, alles das, was nicht im engeren Sinne streng systemisch war – zunächst einmal ausgeklammert. Und das ist, denke ich, der Nachteil dieser Idee der Elitenbildung am Anfang gewesen. So können wir immer wieder zurückblicken und uns fragen: Was hatte welche Vorteile, was welche Nachteile? Monika Schimpf: Das war ganz spannend, als wir als IST (Privates Institut für Systemische Therapie, Berlin) 1996 aufgenommen wurden. 1997 gab es eine Versammlung in einem Wohnzimmer. Es waren ungefähr zehn Leute und wir mussten leise sein, weil der Sohn schlief. Sie hatten über uns abgestimmt, ohne dass wir dabei waren. Damals war noch die große Diskussion: Dürfen zwei Institute in einer Stadt in dem Verband sein? Und da saßen wir also neben den großen Autoren, und nach der zweiten Flasche Wein haben wir erzählt, und es war so spannend und interessant. Wir als junges Institut wurden sehr unterstützt. Und diese Unterstützung, die ist mir noch sehr im Gedächtnis. Wer darf mitspielen?
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Hans Schindler: Das war eine spannende Frage: Wie formal und inflexibel ist so eine Organisation? Besteht sie darauf, eine sehr qualifizierte Person, die keine formale Weiterbildung vorweisen kann, auszuschließen? Oder sind wir Überzeugungstäter, die sagen: Natürlich gehörst du dazu! Kurt Pelzer: Heinz Kersting vom IBS Aachen war einerseits stolz, dass er als »Nicht-Therapieinstitut« aufgenommen wurde. Andererseits hat er sich beklagt, dass die anderen immer nur von Lehrtherapeuten reden, und nicht von »Lehrenden« im übergeordneten Sinne. Und über die Jahre hinweg wurde das mein Job, auf diese Form des sprachlichen Umgangs zu achten. Das Interessante ist: Es gelingt bis heute nicht. Die Alteingesessenen sagen immer noch »Lehrtherapeuten«, obwohl sie natürlich nur ein Teil der Lehrenden sind. Die Sprache hinkt der Entwicklung der Wirklichkeit hinterher. Walter Schwertl: Ich hoffte, in der SG einen sozialen Zusammenhang zu finden, in dem man über große Fragen nachdenken konnte. In der Psychoanalysestadt Frankfurt hatte man an Psychoanalyse zu glauben. Kristina Hahn: Die erste Generation der SG-Institute – das war schon ein Männerhaufen, und sie haben auch ganz gut gebalzt. Das hat oft seine eigene Dynamik. Klaus Deissler: Das war eine Form von Arroganz. Wir hatten ja nichts in der Hand. Wir waren sozusagen bettelarm. Dafür hatten wir aber die besseren Theorien. (Lachen) Klaus Deissler: Wir wussten, wie die Welt zu verändern ist, aber hatten keine Mittel dazu. Kristina Hahn: Und da ist so ein Verband die Wahl! Die Idee ist doch grandios: »Zusammen können wir mehr erreichen als jedes für sich allein« – das hat sich ja in den 25 Jahren auch eindeutig gezeigt, was daraus geworden ist. Ludger Kühling: Aber es war sowohl zusammen und gleichzeitig exkludierend. Man hat auch gesagt: »Und die dürfen nicht mitspielen.« Kristina Hahn: Nein: Wir wollen woanders spielen! Ich glaube, der Grundgedanke war erst einmal: Wir wollen eine Spielwiese 30
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haben, wo wir entscheiden, wo wir das Klettergerüst aufstellen und welches. Und wir lassen uns das nicht von Horst-Eberhard Richter oder Eckhard Sperling oder von anderen Menschen, die entsprechend älter sind, vorschreiben, wie wir zu spielen haben. Und so ist das, glaube ich, viel mehr entstanden.
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Da war so eine Art Ursuppe
Teilnehmer: In fachlicher Hinsicht scheint sich mir der systemische Ansatz aus verschiedenen Quellen zu speisen. Nicht nur aus der sicherlich sehr starken Quelle der therapeutischen Überlegung, sondern ja insbesondere auch aus der Soziologie, aus der Philosophie, der Biologie. Wie weit war denn diese Quellenvielfalt des systemischen Ansatzes in der Entstehung der SG zu beobachten? Gab es da auch persönliche Kontakte mit Expertinnen oder Experten aus anderen Fachrichtungen außer dem therapeutischen Bereich? Oder erfolgte die Rezeption dieser Ansätze überwiegend auf der theoretischen Lektüreebene? Cornelia Oestereich: Wir hatten vielfach Gastdozentinnen und Gastdozenten, Tagungsreferentinnen und -referenten aus der ganzen Welt oder wir reisten da hin. Das waren direkte Kontakte (z. B. P. Watzlawick, G. Checchin, L. Boscolo, M. Selvini Palazzoli, I. Boszormenyi-Nagy, V. Satir, H. von Foerster, E. von Glasersfeld, J. Haley, H. Anderson, H. Goolishan, T. Andersen, S. de Shazer, I. Kim Berg, K. Gergen, S. Minuchin, K. Tomm, P. Penn und viele andere mehr). Hans Schindler: Aber es war keine Kooperationsebene für die Theorieentwicklung oder etwas Ähnliches, sondern es war eher ein Austausch, ein Versuch: »Wie weit können wir das, was da von Soziologen/Philosophen entwickelt wurde, nutzbar machen?« Da waren wir schon eher die Rezipienten als diejenigen, die denen etwas bieten konnten. 32
Da war so eine Art Ursuppe
Arist von Schlippe: In Heidelberg waren damals auch Niklas Luhmann und Hermann Haken zu Gast, das sind ja die beiden großen Systemtheoretiker im deutschsprachigen Raum. Die Theorie sozialer Systeme von Luhmann und die Theorie dynamischer Systeme von Haken sind ja als Theorien beide aus anderen Disziplinen importiert worden. Aus der Psychologie oder Medizin ist keine eigene Systemtheorie entstanden, auch die Personzentrierte Systemtheorie von Jürgen Kriz baut auf Haken auf. Also insgesamt stark auf Maturana, Varela – Cornelia Oestereich: Heinz von Foerster, Arist von Schlippe: ja, auch auf ihn personalisiert, der auch einen besonderen erkenntnistheoretischen Fokus mit eingebracht hat. Fritz Simon hat die Gedanken von Luhmann dann – Kurt Ludewig auch – in die Systemische Therapie eingebracht. Cornelia Oestereich: Watzlawick war zum Beispiel häufiger Gast auf den Tagungen oder auch in einzelnen Instituten. Das Palo- Alto-Institut und Heidelberg haben dann relativ eng kooperiert. Hans Schindler: Ja, aber Watzlawick würde ich von der theoretischen Qualität nicht neben Luhmann stellen wollen. Cornelia Oestereich: Nein, das will ich ja gar nicht sagen! Mir ging es nur darum: Welche Personen sind da überhaupt gekommen? Oder Steve de Shazer – das sind ja Namen, die man in dem Zusammenhang eigentlich auch mitnennen muss als diejenigen, die heute nicht mehr hier auftreten. Selvini Palazzoli und Boscolo und Cecchin waren Gastdozenten in unserem Fortgeschrittenenkurs in Heidelberg. Arist von Schlippe: Das stimmt, das ist schon eine systemische Schiene, die mehr auf Bateson zurückzuführen ist und die dann originär aus dem Feld der Therapie kam und hierzulande mitaufgegriffen wurde. Teilnehmer: Spannend finde ich, wie Sie beschreiben, wie es Auseinandersetzungen gab und wie jetzt das Organisationsgebilde etwas fortsetzen soll, das ja nicht nur mit der Emotion verbunden ist. Ist das auch ein Stück Geschichte dieser Institute, dass sie jetzt in organisationalen Strukturen stecken, die ja von Menschen ausgehen, aber letztendlich ohne diese Menschen funktionieren können müssen? Da war so eine Art Ursuppe
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Hans Schindler: Klar, also ich kenne noch die Zeit, da konnte man alle Neuerscheinungen, die sich mit »systemisch« beschäftigten, noch lesen. Das war überschaubar, was da in einem Jahr an Büchern und in Zeitschriften veröffentlicht wurde, und dazu musste man sich nicht zurückziehen und jeden Tag fünf Stunden studieren. Da war so eine Art Ursuppe, an der alle gelöffelt und gleichzeitig etwas dazu beigetragen haben. Teilnehmer: »Reingespuckt« sozusagen. Hans Schindler: Reingespuckt. Ich bin ja nicht von Anfang an dabei gewesen, ich habe das ab 1984 miterlebt. Ich würde sagen, für die Zeit von 1984 bis 1994 könnte man das noch so sehen. Und dann werden die Publikationen häufiger, die unterschiedlichen Zeitschriften stellen sich immer breiter auf, ebenso die Institute und die Weiterbildungen. Ich denke, wir haben eine gespaltene Realität in den verschiedenen sozialen Sektoren. In dem Familien- und Jugendhilfebereich sind wir Mainstream. Da sind wir nicht mehr revolutionär und etwas Neues. Wer dort heute eingestellt werden will, muss etwas Systemisches vorweisen. Und im Therapeutischen sind wir immer noch nicht so weit, sondern da sind wir immer noch Raritäten, da sind wir noch für Überraschungen gut. Im Jugendhilfebereich gibt es klare Erwartungen, was Kolleginnen und Kollegen mitbringen müssen, dass sie dort arbeiten können und sollen. Insofern gibt es da immer noch unterschiedliche Segmente mit unterschiedlicher Dynamik. Und ich bin sehr gespannt darauf, was passieren wird, wenn wir die sozialrechtliche Anerkennung bekommen. Da wird sich noch einiges bewegen. Jürgen Hargens: Ich gehe noch ein bisschen zurück. Etwa 1985 gab es dieses schöne, theoretische Zeitschriftenheft mit der Überschrift »Von Bateson zu Maturana«. Das waren so 50 Seiten nur Theorie. Und ich finde es nach wie vor faszinierend: Das war das Heft, zu dem es die meisten positiven Rückmeldungen gab, die ich jemals in meiner zehnjährigen Herausgeberschaft bekommen habe. Das war pure Theorie! Heute würde das »kein Mensch« mehr lesen. Damals war das wie Aufbruchstimmung! Das war neu: »Was passiert da? Müssen wir wissen!« Man hat es nicht verstanden, aber es war interessant. Und mein eindrucksvollstes 34
Da war so eine Art Ursuppe
Erlebnis war 1985, da war ich auf einem Kongress der amerikanischen Familientherapeuten in New York. Selvini Palazzoli – eine Powerfrau – kriegte abends den Ehrenpreis der amerikanischen Familientherapiegesellschaft, stand auf der Bühne und sollte den Vortrag halten und ging hinter das Rednerpult und ward nicht mehr gesehen, denn sie war kleiner als das Rednerpult. Das fand ich Wahnsinn, das hat mich damals unheimlich inspiriert. Hans Schindler: Das Spannende war ja: Diese Menschen, die uns besucht haben oder die wir besucht haben, sind ja noch Teil eines dynamischen Entwicklungsprozesses gewesen. Boscolo und Cecchin haben in den ersten Jahren, als sie mittwochs Familientherapie gemacht haben, montags, dienstags, donnerstags und freitags noch hinter der Couch gesessen und liegende Analysen durchgeführt. Es ist ja nicht so, dass diese systemischen Ideen auf einmal einfach da waren und diese Menschen haben sich damit sofort hundertprozentig identifiziert, sondern das waren extrem Suchende, und die kamen von woanders her und waren dort mit ihrer Arbeit unzufrieden. Selvini Palazzoli hat mit jungen Frauen, die magersüchtig waren, versucht, analytisch zu arbeiten, und ist da an ihre Grenzen gestoßen. Sie hat sich von da aus neue Gedanken gemacht und Kontakt mit Watzlawick und mit den anderen Leuten aus Palo Alto aufgenommen. Das war eine Zeit, in der diese Dynamik noch viel unmittelbarer erlebbar war, und in der »systemisch« noch nicht lehrbuchmäßig erfasst werden konnte.
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Wir waren nie konfliktscheu und immer lösungsorientiert
Andrea Ebbecke-Nohlen: Ganz in der Anfangszeit, da ging es schon bei aller Konfliktfreundlichkeit um Begegnung und um Lösungsorientierung. Einmal gab es beispielsweise in einer Jahreshauptversammlung in Berlin einen großen Konflikt. Jeder von uns, der damals in dieser Gründungsgruppe war, hatte ja die Interessen seines Institutes hinter sich und diese auch zu vertreten. Es gab damals schon ganz unterschiedliche Gepflogenheiten in den Instituten: Es gab zum Beispiel Institute, die Prüfungen als Teil ihres Curriculums hatten, und andere, die entschieden gegen Prüfungen waren. Und wir Heidelberger sagten damals: »Die Diskurse, die bei uns in der Weiterbildung geführt werden, und dieses kontinuierliche Feedback, das man während der Weiterbildung bekommt und gibt, das ist ja viel, viel wertvoller als eine einseitige Prüfung, bei der man dann hört, was man falsch oder richtig gemacht hat.« Man tauscht sich in den Feedbackprozessen beispielsweise eher darüber aus, welche anderen Optionen es noch gegeben hätte. Also Prüfungen hatten für uns einen hierarchischen Charakter und waren daher nicht akzeptabel. Und dann ging es bei dieser Jahreshauptversammlung darum, die Rahmenrichtlinien zu definieren. Und die Institute, die so prüfungsaffin waren, wollten folglich in den Rahmenrichtlinien stehen haben, dass nach einem durch36
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laufenen Curriculum eine Prüfung stattzufinden hat. Und da saß ich nun und war persönlich der Meinung, dass Prüfungen in solchen Rahmenrichtlinien nicht vorkommen sollten, und dazu hatte ich noch mein Institut, die IGST, zu vertreten! Da hätte ich »Haue« gekriegt, wenn ich nach Hause gekommen wäre und die Rahmenrichtlinien mit Prüfungen verabschiedet worden wären. Es war nicht immer alles so friedlich und konsensuell, sondern das war schon »hart auf hart«. Ich habe also dafür gekämpft, dass Prüfungen nicht als Bedingung aufgenommen werden. Und es spitzte sich so weit zu, dass ich dann sagte: »Ja, wenn die SG beschließt, Prüfungen zur Pflicht zu machen, dann wird die IGST aus der Systemischen Gesellschaft austreten! Das können wir nicht mittragen, das ist für uns nicht ›systemisch‹! Es gibt andere Prozesse, die viel systemischer sind, um die Qualität einer Weiterbildung zu sichern.« Ja, und dann – zum Glück: lösungs-, ressourcenorientiert, wie wir waren, hatte Tom Levold damals die Idee, wie wir es machen könnten, um einen Begriff zu finden, der denen, die Prüfungen wollten, nahe genug war und für die, die keine Prüfungen wollten, auch noch akzeptabel. Und dann haben wir die Formulierung der »Qualitätssicherung durch kontinuierliche Feedbackprozesse« in die Rahmenrichtlinien aufgenommen. Ich kann mich deswegen noch so gut an diese Formulierung erinnern, die ja eher umständlich und etwas sperrig ist, weil sie unsere Vorbehalte ausräumen konnte und eine Lösung darstellte. Es war mitten in der Nacht, und alle waren erschöpft. Von daher: Wir waren nie konfliktscheu und schon immer lösungsorientiert. Teilnehmerin: Ich glaube, ich habe den Satz neulich gelesen. Andrea Ebbecke-Nohlen: Ja, der steht noch heute in den Rahmenrichtlinien. Tom Levold: Drei Jahre nach der Gründung, 1996, wäre die SG an dem Punkt fast auseinandergeflogen. Wir haben eine interessante Tagung in Berlin gehabt, bei der wir den ganzen Tag nur über diese Frage diskutiert haben. Dann gab es ein Tagungsfest von abends um sieben bis nachts um eins, und die Hälfte hat getanzt, und ein paar haben sich Gedanken gemacht, wie man aus dieser Nummer herauskommt, bis wir dann um ein Uhr eine Formel Wir waren nie konfliktscheu und immer lösungsorientiert
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hatten, auf die sich dann alle beziehen konnten. Und das war die Idee einer dialogischen Rückmeldung im Sinne einer Evaluation. Wir haben immer wieder Fragen gehabt, die für die Identität der Systemischen Gesellschaft von totaler Bedeutung waren und wo man dann geguckt hat: Wie kriegt man die Kuh vom Eis, damit das den Laden nicht auseinanderbringt – was aus meiner Sicht immer der Fall ist, wenn inhaltliches Profil zum Identitätskriterium gemacht wird. Karin Martens-Schmid: Diese Tagung war wirklich unglaublich »heiß«. Wir haben alle das Gefühl gehabt: Entweder, das ganze Projekt geht jetzt den Bach herunter, oder die Gruppe in Klausur schafft es während des Festes irgendwie, eine Formel zu finden, die uns weitermachen lässt. Ich erinnere mich, dass wir auf der Suche nach etwas waren, das Profil hat – ob man das jetzt Elite nennen will oder nicht –, aber was eine ganz klare systemische und auch theoretische Ausrichtung hat. Wir haben also von vornherein für uns und für die Weiterbildungen erwartet, dass es einen Wissensbestand gibt, der systemische Praxis fundiert und nicht nur irgendwelche Techniken und Interventionen. Und ich kann mich auch erinnern, dass ich sehr lange gut fand, dass wir klein waren, also dass man zunächst einmal ein Selbstverständnis und Profil entwickeln konnte und inhaltliche Fragen wie die Relevanz bestimmter theoretischer Konzepte oder die Rolle von Selbsterfahrung gründlich diskutieren konnte. Cornelia Oestereich: Beispielsweise haben wir uns in Berlin damals so gestritten auf einer Mitgliederversammlung, dass einige sich zurückgezogen haben und nachts um drei irgendwann einen für alle annehmbaren Kompromiss gefunden haben in einer wesentlichen Frage, deren Inhalt ich schon wieder vergessen habe. Entscheidend ist, glaube ich, dass mit einer derartigen Energie bestimmte Standpunkte vertreten wurden – das kann man sich heute kaum noch vorstellen – und dabei immer die Multiperspektivität respektiert wurde. Arist von Schlippe: Die Spannung zwischen: »So viele Stunden Selbsterfahrung müssen sein!« und »Selbsterfahrung ist nicht systemisch«. 38
Wir waren nie konfliktscheu und immer lösungsorientiert
Cornelia Oestereich: Genau. Das braucht man überhaupt nicht – Männersache! (Lachen) Cornelia Oestereich: Das war den männlich orientierten Instituten in der SG sehr verdächtig, was sich da wohl so abspielte – das war dann die Fantasie. Aber die Frage, ob Selbsterfahrung oder nicht, wurde heftigst diskutiert. Hans Schindler: Die Heidelberger wollten, dass das nicht Pflicht im Curriculum des jeweiligen Institutes wird, sondern sie wollten das so allgemein formuliert haben, dass man das überall machen kann, zum Beispiel auch in der Eigentherapie. Sie wollten das keinesfalls drin haben, und die Kompromisslinie war nachher, dass das dazugehört, aber dass es eine größere Variationsmöglichkeit gibt, wie und wo man das ableistet. Cornelia Oestereich: Und wenn es jetzt in unseren Richtlinien heißt: Es muss Selbsterfahrung sein, davon ein überwiegender Teil als systemische Selbsterfahrung, dann ist das sozusagen der weise Ausguss von monatelangen Diskussionen. Hans Schindler: Kurt Ludewig hat in Hamburg gesagt: »Irgendwie in einem Teppich aufgerollt zu werden, ist vielleicht auch eine Form von Selbsterfahrung.« Arist von Schlippe: Ja, ich erinnere mich gut an die Aussage, es war in einer Podiumsdiskussion. Er erzählte, wie er in einem Prozess unter einem Teppich durchkriechen musste. Am anderen Ende tauchte er ganz verschwitzt und verdreckt wieder auf. Die Therapeutin fand, das sei ein Wiedergeburtserlebnis und das sei ganz toll. Aber er fand das überhaupt nicht toll. Da sagte ich in der Diskussion zu ihm: »Jetzt habe ich verstanden, warum du gegen Selbsterfahrung bist, du hast ja ein Selbsterfahrungstrauma!!!« Hans Schindler: Ein Teppichtrauma! Arist von Schlippe: Und seine Antwort war: »Das ist ja jetzt billigste Psychoanalyse, was du da machst!« (Lachen) Hans Schindler: Haja Molter hat den Satir’schen Familienrekonstruktionsansatz vorgestellt, der in Weinheim weiterentwickelt wurde, ein intensives 9-Tage (oder 2 × 5)-Seminar. Bei Wir waren nie konfliktscheu und immer lösungsorientiert
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den Kölnern gab es einen relativ hohen Anteil von Einzelselbst erfahrung als Teil des systemisch-analytischen Weiterbildungskonzeptes. All das wurde auf der SG-Sitzung vorgestellt und deutlich kreativer diskutiert als ein Jahr zuvor. Es ist nicht so, dass das Systemische auf eine ganz enge Definition und eine Verhaltensebene heruntergebrochen wurde. Und das ist gut, aber auf der anderen Seite ist heute schon die Vorstellung, dass Selbsterfahrung ein Teil systemischer Weiterbildung ist, ein Allgemeingut und auch ein Allgemein-Selbstverständnis. Das ist völlig anders als vor dreißig Jahren. Cornelia Oestereich: Ja, und auch, dass systemische Selbsterfahrung eben immer auch die eigene Positionierung und Gewordenheit aus der eigenen Familie, also aus dem Familiensystem beinhaltet: Sie ist ja doch einmal deutlich anders als beispielsweise psychoanalytische Selbsterfahrung oder als gestaltlich-therapeutische Selbsterfahrung. Deswegen die Formulierung, dass der größte Teil systemische Selbsterfahrung sein muss. Ich finde es auch berechtigt – das Leben ist eben unterschiedlich –, dass jemand eine Eigentherapie mitbringt, und jemand anders hat schon einmal eine Paartherapie gemacht, und jemand ganz anderes hat Psychodrama gelernt – diese Dinge sollten nicht entwertet werden, sondern man kann sich ja auch nicht nicht selbst erfahren. Dieser Grundsatz liegt ja auch darin, und gleichzeitig soll das nicht alleine ausreichen. Insofern ist das nicht nur ein ganz guter Kompromiss geworden, sondern er umfasst auch ein Stückchen die Vielfalt des Lebens. Tom Hegemann: Heute kann man das immer noch beobachten: Es gibt Selbsterfahrungsenthusiasten, die können überhaupt nicht genug davon kriegen: Je mehr Emotionen und affektive Bewegtheit, umso besser. Und dann gibt es Selbsterfahrungsskeptiker. Und diese Polaritäten waren natürlich auch in den Instituten vertreten. Sich mit seiner persönlichen Entwicklung und seiner eigenen Wertewelt zu beschäftigen, das macht ja irgendwo Sinn. Aber in unserem Institut war das Wort affektiv so schrecklich besetzt, dass wir das Wort »Selbstreflexion« verwendet haben. Am Ende gewannen die Selbsterfahrungsenthusiasten, nicht indem sie ihren Enthusiasmus auf andere übertragen konnten, 40
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sondern indem sie auf den Kontext verwiesen und sagten: Ein Verband, der sich mit Therapie beschäftigt, macht sich gegenüber der beobachtenden Öffentlichkeit unglaubwürdig, wenn er nicht irgendetwas einbaut, das nach Selbsterfahrung klingt. Die Verbindlichkeit wurde eher quantitativ festgelegt. Es wurde festgelegt, wie viele Stunden da in die Curricula einzubauen sind. Und wer die Institute der Systemischen Gesellschaft sorgfältig beobachtet, kann auch heute feststellen, dass das, was in den unterschiedlichen Instituten unter Selbsterfahrung gemacht wird, sich erheblich unterscheidet – mehr als irgendetwas anderes in den Instituten. In den anderen Themen sind die Institute ähnlicher als in dieser Frage. Man kann das auch phänomenologisch beobachten, was da alles Interessantes abläuft, aber an diesen Auseinandersetzungen machen sich auch Perspektiven fest: Was ist wichtig, was müssen Leute lernen, wo soll der Fokus hingesetzt werden? Bei uns in München machen die Institute, die sehr stark von den Konzepten von Virginia Satir geprägt waren, Selbsterfahrung von morgens bis abends. Auch aus Gründen der Abgrenzung von »denen da« – den weniger Feinen – begegnete ein großer Teil der SG-Institute dieser ganzen Perspektive mit großer Reserviertheit. Kurt Pelzer: Das ist heute immer noch ein Grundkonflikt. Die Autonomie der Institute versus die Interessen eines gesamten Verbandes, der ja auch Regeln setzt. Jede Regelsetzung des Verbandes engt die Autonomie der Institute ein. Gisela Klindworth: Auf der außerordentlichen Mitgliederversammlung im November 2016, auf der die Institute zustimmen sollten, dass nicht mehr in zwei Kammern abgestimmt wird, guckte Tom Levold so in den Raum und fragte die Institute: »Wollt ihr das denn jetzt?« Und die Institutsvertretungen haben gesagt: »Ja.« – Dies nur so als Anekdote, wie Veränderungen auch passieren. Manche gehen ganz einfach, und andere sind dann wieder ganz schwierig. Was auch immer das über den Verband sagt.
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Besonders spannend wird es immer um sechzehn Uhr SG-Identität
Gisela Klindworth: Wie hat sich ein spezifisches Profil der SG entwickelt? Hans Schindler: Die Organisation, der Vorstand, sollte auf keinen Fall Möglichkeiten haben, einzugreifen. Diese vielen Arbeitsgruppen, die sich da am Anfang gebildet haben, haben versucht, die Interessen zwischen den unterschiedlichen Instituten und einer gemeinsamen Organisation auszubalancieren. Einer der ersten wesentlichen formalen Konflikte bestand darin: Wer unterschreibt die Zertifikate – das Zertifizierungsgremium oder der Vorstand? Organisiert der Vorstand alles und die Ausschüsse oder die Gremien tragen irgendetwas Hilfreiches dazu bei, oder haben die ihre eigenständige Bedeutung? Nach einiger Zeit hat sich herausgebildet, dass die Gremien zertifizieren und dass nur, wenn irgendwelche Dinge überhaupt nicht funktionieren, eine Rückkopplung über den Vorstand stattfindet. Genauso die Frage: Was sind die Kriterien für eine Zertifizierung: Wie genau prüfen die Gremien das, oder inwieweit reicht die Bescheinigung des Instituts aus, das gesagt hat: »Wir haben das geprüft, und das ist alles in Ordnung?« Das war in den ersten Jahren ein langer Abstimmungsprozess, als Institute unterschiedlich schnell bereit waren zu sagen: »Ja, es ist sinnvoll, dass mehr von der Verantwortung bei der Systemischen Gesellschaft liegt und nicht alle 42
Besonders spannend wird es immer um sechzehn Uhr
Entscheidungen von den Instituten vorentschieden werden.« In partiellen Bereichen existiert die Diskussion bis heute. Karin Martens-Schmid: Ich als »Youngster« hatte damals den Eindruck, das sind gute Gewichte, mit denen man sich auseinandersetzen kann. Es gibt ja nicht das Profil, das ist klar, aber es gab damals einen Anspruch, sich auf der Basis von Systemtheorie, Kybernetik, Konstruktivismus usw. auseinanderzusetzen. Und da waren Institute, die fand ich damals alle spannend, weil sie mehr familienorientiert waren, oder andere, die mehr Personenorientierung beinhalteten, und alles mit dem Anspruch nicht der Elite, sondern der Gründlichkeit und der Substanz, der erkennbaren Auseinandersetzung um das Wachsen eines Profils. Natürlich ist das Politik, aber das ist ja eigentlich immer Gründungspolitik von Institutionen – dass man guckt: Mit wem passt man zusammen, was braucht man noch, um eine bestimmte Idee zu verwirklichen? Tom Levold: Das ist kein spezifisches SG-Thema, sondern grundsätzlich ein Organisationsthema. Das war damals ja auch ein Punkt, dass wir 1987 gesagt haben, wir gründen den DFS nicht mit. Wir haben Diskussionskontexte, in denen wir inhaltliche Gedanken entwickeln können, dafür brauchen wir keinen Verband. Aber die Situation hatte sich aus unserer Sicht Anfang der neunziger Jahre schon verändert, und das hat auch etwas mit der Frage zu tun: Hätten wir den Antrag auf wissenschaftliche Anerkennung überhaupt stellen können, wenn wir nicht über eine Organisation verfügt hätten? Das heißt, eine Organisation gründen heißt immer, dass man Dinge schließt. Inhaltlich diskutieren heißt immer, dass man Dinge auch öffnet. Und die Frage, die uns immer wieder beschäftigt hat, ist: Wie sehr müssen wir schließen, damit wir Strukturen aufbauen können, damit wir Interessen vertreten können? Und wie müssen wir Öffnung halten, damit es nicht so eine bürokratische Erstarrung gibt? Es war nicht immer gut eine Balance zu bekommen. Kurt Pelzer: Ich bin ja ein bisschen später dazugekommen, fand aber auch diese Debatten in der Anfangszeit teilweise anstrengend, aber es war eine Qualität, dass meistens Kompromisse gefunden wurden. Besonders spannend wird es immer um sechzehn Uhr
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Tom Hegemann: Diese Auseinandersetzungen banden sehr viel Energie. Für systemisch interessierte Beobachter war das am Anfang etwas Faszinierendes, solche Dynamiken zu beobachten, aber es traten dann auch Redundanzmuster auf. Aber dank Einzelpersonen, die sich in besonderer Weise darum verdient gemacht haben – dazu gehört für mich Andrea Ebbecke-Nohlen – wurde letztlich ein Mindeststandard an Verbindlichkeit eingeführt, wie zum Beispiel in den Rahmenrichtlinien. Gisela Klindworth: Habt ihr euch als Systemiker denn damals auch die Wunderfrage gestellt: Angenommen, dieser Verband wäre sehr erfolgreich: Wo wäre er dann in 25 Jahren? Hattet ihr Visionen, wo die SG hin sollte? Tom Levold: Wir haben uns als die genuin richtigen Systemiker verstanden. Insofern war schon die Idee: Wir repräsentieren das systemische Feld, und zwar in einer stärkeren Abgrenzung, das heißt, wir stellen auch die Frage: »Was ist vielleicht nicht systemisch?« Wenn man diese Grenze nicht zieht, dann ist Platz für alle. Und das war aus unserer Sicht genau das Problem in der DAF. Gisela Klindworth: Also waren eure Ziele eine Abgrenzung, und ihr habt nicht Ziele für den Verband formuliert, habt nicht definiert, wo der einmal stehen soll. Tom Levold: Erst einmal nicht. Wir hatten das Gefühl, wir sind eine selbst definierte Elite. Und wer dazukommen will, der muss begründen können, warum er mit dazugehört. 1998 kam das Psychotherapeutengesetz. Da war die Frage: »Ist das etwas, womit wir uns beschäftigen müssen?« Und dann sind erste Ideen aufgetaucht: Wollen wir diese reine Institute-Kon struktion aufrechterhalten oder nicht? Walter Schwertl: Die ursprüngliche Gründungsidee war ein Institutsverband. Hierzu gehörte auch ein meistens dementiertes Elitedenken. Tom Hegemann: Ja, die Alternative wäre gewesen: Man sagt, die SG bleibt ein Institute-Verband und die Mitglieder sollten zur DGSF gehen. Die DGSF war aber ein familientherapeutischer Verband. Das hätte also bedeutet, dass man, wenn man das den Absolventen der eigenen Institute zugemutet hätte, die Kultur beider Verbände massiv verändert hätte. 44
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Walter Schwertl: Es gab auch handfeste ökonomische Argumente. Ich kann mich an eine Modellrechnung erinnern, wie viel Mehreinnahmen eine Öffnung für Einzelmitgliedschaften bedeuten würde. Unsere ökonomische Basis, bestehend aus den Beiträgen von zehn Instituten, war zu schwach. Tom Levold: 1998 hatten wir eine Mitgliederversammlung in Hamburg. Ich hatte damals die Satzung entworfen mit dem Vorschlag, Einzelmitgliedschaften einzuführen, und habe auf dieser Mitgliederversammlung diesen Vorschlag vorgestellt. Das war eine riesige Dummheit, denn ich habe das nachmittags um vier vorgestellt, als alle schon akuten Sauerstoffmangel hatten. Also hätte man wahrscheinlich erst einmal eine Pause machen müssen. Alle wollten rauchen und es wurde plötzlich zu einer Debatte: Wollen wir Einzelmitglieder oder nicht? Kann ich mir meinen Satzungsentwurf in die Haare schmieren, oder kann etwas daraus werden? Und da gab es eine Abstimmung mit 16 : 0 gegen meinen Vorschlag: keine Einzelmitglieder. Es wurde aber gesagt: »Man kann ja irgendwann noch einmal darüber reden.« Dann haben wir vereinbart, dass es im Sommer darauf ein Treffen in Köln gibt. Dort haben wir das diskutiert, und 1999 in Marburg wurde mein Satzungsentwurf dann einstimmig verabschiedet, ohne dass ich auch nur ein Komma verändert hätte. Das war der Startpunkt für Einzelmitglieder, und dann kam diese Konstruktion mit den beiden Kammern. Dass die Institute ihre Macht behalten haben, das war der Türöffner, dass überhaupt Einzelmitglieder akzeptiert wurden. Aber auf Dauer war das für Einzelmitglieder keine günstige Lösung. Deswegen bin ich ganz froh, dass sich das letztes Jahr geändert hat. Ludger Kühling: Wie auf Mitgliederversammlungen manche Stimmungen dazu führen, dass ein Antrag abgelehnt wird und ein Jahr später kein Problem mehr ist, ist überraschend und nicht rational. Wolfgang Loth: Vielleicht lag es auch an den Zigaretten, ich weiß es nicht. Wenn Tom vorher eine Runde Zigaretten ausgegeben hätte … Maria Staubach: In einer Mitgliederversammlung gab es eine von vielen Abstimmungen. Es wurde abgestimmt und abgestimmt, und irgendwie war es eine ziemlich kribbelige Angelegenheit. Jene, die in der Abstimmung unterlagen, zeigten sich sehr verärgert, angegriffen. Es entstand eine für mich damals charakteristische Besonders spannend wird es immer um sechzehn Uhr
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Debatte, die sich lange um sich selbst drehte und auch darüber, ob eine Gruppe bzw. ein SG-Mitglied tatsächlich unterliegen könne. Vor allem, wie das wohl sei, wenn man bei einer Abstimmung abwesend sei und mit dem Ergebnis nicht einverstanden sein könne? Müsse dann nicht erneut abgestimmt werden? Teilnehmer: Die ersten Mitgliederversammlungen habe ich als einzelnes Mitglied frustrierend wahrgenommen. Ich habe fachlichen Austausch gesucht und fand eine Veranstaltung, die sich sehr um den konstitutionellen Rahmen der Institute drehte. Ich habe das in der Tagesordnung gelesen, mir war das schon irgendwie klar, aber es hat so einen großen Raum eingenommen! Kurt Pelzer: Die Mitgliederversammlungen sind wahrlich nicht besonders »sexy«. Teilnehmerin: Was braucht sie denn, um sexy zu sein? Tom Levold: Der Reiz liegt ja darin, dass nicht klar ist, wie es ausgeht, und dass man eine bestimmte Zeit hat, in der dann Beschlüsse getroffen werden, und dass man die Möglichkeit hat, das durch eigene Beiträge mitzugestalten. Das Mitmachen, das hat ja eine Dramaturgie. Kurt Pelzer: Besonders spannend wird es immer um sechzehn Uhr. Egal, welcher Punkt dann dran ist, da wird’s knifflig, weil alle schon was genervt sind. (Lachen) Teilnehmer: Keiner wird Mitglied im Tennisverein, um zur Mitgliederversammlung zu kommen. Zum Verband gehe ich eher, um etwas anderes zu machen, zum Beispiel im November ein ganzes Wochenende in Berlin: einmal sozialrechtliche Anerkennung – Auswirkungen auf Therapeuten und auf Nicht-Therapeuten. Und ein Tag zum Thema »Qualität«: Woran mache ich das eigentlich fest, was heißt das für mich? Ich glaube, das ist viel spannender als die Mitgliederversammlung. Karin Martens-Schmid: Obwohl ich die Mitgliederversammlungen auch nicht immer so toll finde – aber da geht es auch um Interessen von Instituten, und zwischendrin gibt es die Möglichkeit, Kontakte zu knüpfen. Diesen organisatorisch-verbandspolitischen Sachen habe ich mich, als ich noch aktiv war, nicht entzogen, weil ich denke, ich will da auch meine Interessen ver46
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treten. Und dafür sitze ich dann da auch einmal zehn Stunden und mache zwischendurch eine schöne Pause. Kurt Pelzer: Man kriegt mit, wie der Laden von innen tickt. Gisela Klindworth: Dass Einzelmitglieder erst nicht und dann doch aufgenommen wurden – darum gab es gar nicht so viel inhaltliche Debatten? Tom Levold: Ich weiß nicht, was da für Sorgen waren. Ich meine, in den ersten zwei Jahren waren das, glaube ich, sowieso alles nur die Leute, die ohnehin gekommen sind. Die wurden dann noch zusätzlich Einzelmitglieder. Die ursprüngliche Idee war, dass wir auf Dauer als Verband nur eine Chance haben zu bestehen, wenn wir mehr Einnahmen haben. Karin Martens-Schmid: Ich glaube, ein Grund war auch, dass das Psychotherapeutengesetz deutlich machte: Jetzt wird es mehr freischwebende Menschen geben, die vielleicht nicht immer so nah an Institute angebunden sind, die nicht unbedingt klassische Therapeuten werden, sich trotzdem niederlassen, selbstständig machen wollen. Für mich hat das damals eine Schubkraft gehabt zu sagen: Ich will diesen ganzen Weg der Kassenzulassung – der ja ewig lang ist – nicht gehen, ich will von vornherein auf eine andere Form der Selbstständigkeit setzen, und da fand ich das gut, noch die Einzelmitgliedschaft zu haben, denn wenn ich einmal nicht mehr in der APF Lehre mache, dann bin ich immer noch in der SG verankert. Und da fand ich das dann richtig, dass wir eine Einzelmitgliedschaft einführen. Kurt Pelzer: Was wir dabei nicht bedacht haben ist, dass sich durch mehr Einzelmitglieder und durch immer mehr Institute der anfängliche Charakter einer Diskussionskultur verändert. Am Anfang war das schon sehr familiär. Man kannte sich, das »Du« war selbstverständlich. Je mehr wir gewachsen sind, desto schwieriger war es, diese Kultur zu halten, sodass die »Alten« schließlich sagten: »Das ist aber nicht mehr so wie früher. Es sind so viele Leute hier, die kenne ich überhaupt nicht.« Und das ist ja bis heute ein Thema: Wie kriegen wir mehr Kontakt und Inte gration hin, wenn wir jetzt so viele geworden sind? Kristina Hahn: Dieser professionelle Apparat – das war in den Anfängen anders. Über lange Jahre wurden die SG-VerwaltungsBesonders spannend wird es immer um sechzehn Uhr
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arbeiten im Sekretariat des BIF von Regina Gunne, einer der BIF-Sekretärinnen, in Teilzeit erledigt. Als ich in den Vorstand kam, haben wir das erste Mal eine Geschäftsführerin gesucht und gefunden (Franziska Becker) und eine Geschäftsstelle eingerichtet. Und bis dato hat überwiegend der Vorstand die ganze Arbeit gemacht. Da ist eine enorme Professionalisierung erfolgt, die natürlich gleichzeitig eine andere Erwartungshaltung der Nutzerinnen und Nutzer der Systemischen Gesellschaft weckt und vielleicht auch ein bisschen zur Passivität einlädt – das ist die Kehrseite davon: Der Verband macht es schon, da sind ja Leute. Aber dass das Ganze damit lebt und steht, dass von diesen über 2.000 Menschen auch viele mit ihren Ideen hier hereinkommen und sich einbringen, das steht auf einem anderen Blatt. Maria Staubach: Es braucht eine gute Finanzierung, damit eine Geschäftsstelle fachgerecht geleitet werden kann. Und das hat natürlich auch wesentliche qualitative Veränderungen für die Organisation der SG gebracht. Tom Hegemann: Andere Verbände delegieren sehr viel mehr Organisationsaufgaben an die Verwaltung, an den Vorstand oder an die Geschäftsstelle. Das wurde lange Zeit in der SG mit Misstrauen von den Mitgliedern betrachtet: »Die werden da zu mächtig«, und solche Diskurse wurden ja auch da geführt. Das kann man ja auch beobachten, wenn man die in den Mitgliederversammlungen verfolgt, wie da die Diskussionen geführt werden. Das sind ja alles Debatten, die bei der Gründung überhaupt noch nicht auf dem Plan waren. Man kann hingehen und sagen: Wir reduzieren die SG auf eine dienstleistende Geschäftsstelle, die einen organisatorischen Service für die Mitgliedsinstitute anbietet. Dann hat sie nur ein großes Problem: dass sie einen Konkurrenzverband nebenan hat, der praktisch das Gleiche tut. Und dann bewegt sich das Konkurrenzverhältnis nicht mehr auf der konzeptionellen Ebene: Wer definiert »systemisch«, sondern: Wer ist der bessere Dienstleister? Und das finde ich einen gefährlichen Weg. Gisela Klindworth: Was die Mitbestimmung angeht, haben lustigerweise das Finanzamt und unser Anwalt dafür gesorgt, 48
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dass sich das satzungsmäßig verändert hat. Unser Anwalt hat gesagt: »Wenn die Institute getrennt abstimmen dürfen, dann ist das nicht gemeinnützig.« Die Satzungsänderung war so, dass jede Institutsstimme genauso viel zählt wie jede Einzelmitgliederstimme. Das war vorher nicht so, da wurde immer erst in Kammer 1 und dann in Kammer 2 abgestimmt. Das ist vielleicht auch eine Kulturänderung. Teilnehmerin: Wenn ich höre, dass es 49 Institute und 2.000 Einzelmitglieder gibt: Macht es überhaupt Sinn, gemeinsame Mitgliederversammlungen zu machen? Die Interessen sind total verschieden, wenn ich von einem Institut oder als Einzelperson komme. Deshalb bin ich bisher gar nicht gekommen: weil mich die Themen gar nicht angesprochen haben. Und ich hätte gerne ein Forum, wo ich wüsste, ich würde Menschen treffen, die selbst als Einzelunternehmer unterwegs sind. Gisela Klindworth: Der Vorstand bemüht sich seit einiger Zeit darum, die Mitgliederversammlungen so zu gestalten, dass mehr Platz für Austausch ist. Als gemeinnütziger Verein muss man bestimmte Dinge tun, es müssen Berichte und der Haushaltsentwurf vorgelegt und abgestimmt werden: Der Vorstand muss entlastet werden und Entscheidungen müssen durch die Mitgliederversammlung getroffen werden. Der Vorstand hat das in den letzten zwei Jahren möglichst kurz gehalten, damit Zeit ist, ein Thema zu diskutieren, zum Beispiel »Generationswandel« oder »Leitbild«. Es könnte sein, dass man einen Teil in Institute und Einzelmitglieder trennt. Das wird noch diskutiert. Ludger Kühling: Gab es einen Wandel in den Umgangsformen und in der gelebten Kultur? Wie lässt sich diese beschreiben? Kristina Hahn: In den Gründungsgenerationen war immer eine Frau im Vorstand, aber die Gründungsgeneration war eine Männergeneration. Und nachdem die erste Euphorie oder die Profilierung stattgefunden hat, kamen die Frauen! Die ersten beiden Vorsitzenden waren Männer, und seitdem die Mühe der Ebenen losgeht, sind die Frauen dran. Kurt Pelzer: Die Kultur der frühen Jahre lebt vor allen Dingen noch beim Tagungsfest weiter. Ludger Kühling: Und die ist familiär. Besonders spannend wird es immer um sechzehn Uhr
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Kurt Pelzer: Die ist irgendwie familiär, kollegial und hat noch immer viel Angenehmes. Aber wo es sich besonders verändert hat, ist in der Arbeit der Funktionsträger: Man hatte kaum noch Zeit für den theoretischen Diskurs, weil wir so viel mit Organisationsherausforderungen, wie zum Beispiel mit der Reform von Richtlinien, zu tun hatten. Zur Unterstützung von organisatorischen Reformen (Richtlinien, Beschwerdemanagement etc.) gab es dann mal den Update-Ausschuss. Wolfgang Loth: Ja, und ich muss gestehen, dass das für mich auch der Grund war, Einzelmitglied zu werden. Ich bin ja kein Lehrender irgendeines Instituts, hatte keine Aktien in dem Geschäft. Ich bin als Einzelmitglied da reingekommen, weil ich über das IF Weinheim die Möglichkeit bekam und weil ich in der SG die Möglichkeit sah, diese theoretische Diskussion gerahmt zu haben, und zwar auf einem Niveau, das mir lag und wovon ich dachte: Das ist die Zukunft! Diese organisatorischen Fragen habe ich in Kauf genommen und dann darauf gesetzt, dass es noch genügend Möglichkeiten gibt, den Diskurs mitzubekommen, und zwar an vorderster Front. In der Systemischen Gesellschaft waren ja all die Leute drin, mit deren Sachen ich mich beschäftigt hatte und habe und die ich spannend fand und die das Ganze voranbrachten. Und als ich dann relativ bald, nachdem ich Mitglied wurde, auch in die »systeme«-Redaktion kam, war das noch einmal eine Steigerung. Da stand dann auch noch das Medium zur Verfügung, um das Ding ein wenig befruchten und steuern zu können. Und das fand ich dann schon stark. Karin Martens-Schmid: Das ist für mich sehr, sehr ähnlich – und ohne jetzt Larmoyanz in die Runde zu bringen: Ich finde es sehr schade, dass wir nicht mehr so in dieser Form diskutieren können. Man muss sich andere Foren suchen, wo das stattfindet. Und »systeme« ist natürlich ein tolles Forum, wo wir noch etwas vom systemischen Denken mitkriegen. Aber die Kultur, unter anderem der Mitgliederversammlungen, hat sich aus meiner Sicht dadurch geändert. Und das, glaube ich, ist auch nicht zu ändern, es ist halt so. Da wird eben nicht mehr um Inhalte gerungen. Walter Schwertl: Nimmt man den Namen Systemische Gesellschaft ernst, fordert dies eine Auseinandersetzung mit ent50
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sprechenden Theorien. Unsere Praxis findet im Modus von Kommunikation statt, damit ist eine Selektion im Sinne von Brauchbarkeit der Theorien vorgegeben. Die fruchtbarste Metatheorie ist für mich die Theorie sozialer Systeme von Luhmann. Dies fordert eine geistige Auseinandersetzung, die das Wort verdient. Attribute wie systemisch oder Wir sind Systemiker sind Vereinfachungslyrik. Tom Levold sprach einmal von einer sozialen Bewegung und verwies auf Protestbewegungen und religiöse Gemeinschaften. Ausgehend von diesen theoretischen Grundlagen galt es, einen Bogen zur Praxis zu spannen. Helm Stierlin sprach einmal von Dialogförderung. Ich hatte oft Zweifel, ob dies immer für alle galt. Wolfgang Loth: Ein ganz wichtiger Punkt war, dass die Mitgliederversammlungen relativ bald – das war wohl 2002 – in eine Tagung, in einen thematischen Tag oder zwei Tage eingebunden wurden. Das war schon wichtig, das war der Ort, wo inhaltliche Inputs oder die Möglichkeit, inhaltlich zu diskutieren, wieder ins Spiel kamen, während die Mitgliederversammlungen zunehmend den Raum zu diesen organisatorischen Fragestellungen gaben. Da ist man hingegangen, um sich zu zeigen oder weil man eine Funktion oder eine Aufgabe hatte. Das Spannende waren die Tagungen. Kurt Pelzer: Ich bin in zwei Vorständen gewesen und ich muss sagen, der erste war wesentlich »gemütlicher« als die Arbeit in der zweiten Periode, weil mit den Jahren immer mehr Aufgaben bewältigt werden mussten. Die Tagesordnung ist stets übervoll. Damals haben wir gemütlich bei Regina Gunne, der ersten Sekretärin, in ihrer Wohnung in Berlin gesessen und haben ausführlich über Hellinger diskutiert. Das war ja auch ein Riesen-Thema seinerzeit: Abgrenzung von seiner sogenannten »Systemischen Therapie«. Ich könnte mir heute gar nicht vorstellen, wo und wann das untergebracht werden könnte. Karin Martens-Schmid: Du sprichst da etwas an, das ich bedauere und wo ich mir wünsche, dass es wieder irgendwie in Gang kommt. Damals haben wir uns zu Hellinger positioniert, in die Öffentlichkeit hinein. Und das finde ich – gerade, wenn man die aktuelle gesellschaftliche Lage ansieht, aber auch sonst – Besonders spannend wird es immer um sechzehn Uhr
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wichtig, dass gerade ein systemischer Verband dazu in der Lage ist, Positionen zu entwickeln und Orte dafür zu finden. Tom Levold: Ich würde sagen: Wir machen das nicht, weil wir so wenige sind! Da ist die DGSF viel besser aufgestellt. Die äußern sich zu allen möglichen Themen zeitnah. Das ist eine Frage der Ressourcen, aber es ist auch eine Frage der inhaltlichen Schwerpunktsetzung. Das Thema ist in der SG aus meiner Sicht seit Jahren komplett unterbelichtet, weil wir diese Geschichte als Institute-Verband haben. Die Institute haben selbst genuin wenig Interesse, sich an politischen Debatten zu beteiligen, weil sie primär erst einmal eigene Interessen verfolgen müssen. Ich glaube, dass das der Vorteil der DGSF als breit aufgestellter Mitgliederverband ist, dass er 6.500 Mitglieder hat, die mitkriegen, was in unserer Gesellschaft passiert, und wollen, dass da auch etwas passiert. In die Richtung gehen wir auch, weil wir uns jetzt sehr viel mehr mit Einzelmitgliedern vergrößern. Teilnehmer: Es wurde ja deutlich, wie intensiv und leidenschaftlich in dieser ersten Zeit diskutiert wurde, auch über inhaltliche Fragen. Hängt es nicht auch damit zusammen, dass die großen inhaltlichen Fragen geklärt sind? Es wurde ja deutlich, dass zentrale Themen heute die Qualität oder auch Fragen der Organisation sind. Was sind denn inhaltliche Fragen, die heute noch eine Rolle spielen in Bezug auf die Systemische Therapie zum Beispiel? Wolfgang Loth: Ich würde es nicht auf die Systemische Therapie begrenzen, sondern auf das systemische Denken gesamt ausweiten. Und da glaube ich nicht, dass die Fragen ausreichend geklärt sind. Zum Beispiel die Unterscheidung zwischen einer systemischen Haltung und einem systemtheoretischen Blick auf die Dinge, die scheint mir noch längst nicht durch zu sein – das Miteinander als ein gemeinsames Wirken auf der einen Seite und auf der anderen die Idee, in Systeme eingreifen zu können. Das hängt wohl auch damit zusammen, dass sich mit einem eher systemtheoretischen Ansatz einfacher so tun lässt, als könne man von außen gezielt etwas bewirken. Nach dem Motto: Ich verstehe etwas von Systemen und wie man sie besser steuern kann. Und Steuerungsideen sind vermutlich auf dem Markt anschlussfähiger als Anregungen zum »Beisteuern«, um es mal 52
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so zu sagen. Die Idee des Einwirkens lässt sich in viel mehr Techniken und Tools übersetzen als die Idee eines Mitwirkens. Sie lässt sich daher vermutlich besser verkaufen. Das heißt, das ist auch eine ökonomische Frage. Und die ist für Institute vermutlich wesentlich wichtiger als für interessierte Einzelmitglieder. Das andere ist eine Fragestellung wie zum Beispiel: Wie kommt es, dass stabil erscheinende Demokratien oder liberale Demokratien fast schlagartig in irgendetwas anderes umkippen können? So was macht mir Sorgen. Da warte ich noch auf den selbstorganisationstheoretischen Text, der das einmal zusammenfasst und beschreibt. Ich suche die ganze Zeit danach und ich denke, diese Diskussion müsste auch geführt werden. Es gibt übrigens auch das SG-Forum – da ist ja diese Fragestellung bezüglich »fake news« und Konstruktivismus breit und politisch diskutiert worden, aber dann passiert das wie bei allen Dingen: Das läuft schließlich zusammen auf drei, vier Leute, die dann weiter weg kommen vom Politischen und irgendwann ihre Lieblingsideen hin und her schieben, dass es keinen mehr interessiert. Es bleibt nicht in diesem politischen Rahmen. Und ich glaube nicht, dass wir zu wenige Leute sind. Du kannst zehn- oder hunderttausend Leute haben. Am Schluss sind es vielleicht wieder zehn, zwanzig, die die Diskussion weiterführen. Es ist nicht eine Frage der Menge, sondern eine Frage der Form: Wie kriegen wir das Gespräch so gestaltet, dass man es als sinnvoll erlebt, sich weiter daran zu beteiligen – statt »Groupie« zu sein bei der Selbstdarstellung von Leuten. Kurt Pelzer: Das finde ich ein gutes Beispiel. Bei dieser schriftlichen Kommunikation über fake news und Konstruktivismus habe ich gedacht, ich beteilige mich da als Vorstandsmitglied nicht aktiv. Erst habe ich gedacht: »Mensch, ein toller Aufschlag!« Aber was herausgekommen ist, ist meiner Meinung nach so ein intellektueller, elitärer Wettstreit von Leuten, die sich in ihrer Intellektualität gegenseitig übertreffen wollen, und wo die anderen nachher kaum etwas mehr verstehen und deswegen sich zurückziehen bzw. ausgeschlossen werden. Das kann nicht ein wünschenswertes Modell sein. Ich würde mir aber wünschen, dass sich Systemiker/-innen mehr mit den aktuellen SpaltungsBesonders spannend wird es immer um sechzehn Uhr
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prozessen in unserer Gesellschaft beschäftigen. Was kippt da gerade alles? Und sind wir nicht alle als Systemiker prädestiniert, Brücken zu bauen? Andererseits habe ich auch immer die Frage: Wie ist die Selbstdefinition eines Fachverbandes? Müssen wir uns nicht auf das Fachliche konzentrieren? Karin Martens-Schmid: Aber das ist genau der Punkt: Was ist das Fachliche? Das sieht man ja an der DGSF, dass das Fachliche da anders verstanden wird. Die artikulieren sich durchaus auch in die Öffentlichkeit hinein. Die Frage ist: Gibt es in der Systemischen Gesellschaft noch ein Selbstverständnis, wo zu der systemischen Fachlichkeit als transdisziplinärem Ansatz noch das Anliegen kommt: »Wir als Verband wollen auch gesellschaftlich aktiv an Prozessen der Gesellschaft teilnehmen«? Vielleicht hat die ganze Auseinandersetzung um das Psychotherapeutengesetz zu viel Kraft gekostet? Ich weiß es nicht. Wir können das ja nicht verordnen, und vielleicht ist es dann tatsächlich eher ein Input, wenn wir fusionieren und wieder ein Selbstverständnis entwickeln könnten, in dem gesellschaftliche Positionierungen auch zur Fachlichkeit gehören. Gisela Klindworth: Vielleicht müssen wir uns nicht auf denselben Ebenen einmischen. Wir könnten meiner Meinung nach zum Beispiel auf einer Metaebene Dinge kommentieren, wozu wir als Systemiker und Systemikerinnen ja viel sagen können – wie, dass wir Diskurse beschreiben, dass wir uns nicht auf der empirischen Ebene äußern, sondern eben auf der, wo wir sagen können: Was passiert hier eigentlich an Kommunikation und an Prozessen? Und dann wäre das ja auch wieder etwas anderes, was wir tun müssen. Es muss nur Leute geben, die damit anfangen. Tom Levold: Aber wir müssen politisch ja gar nicht so weit ausgreifen. Es geht ja nicht darum, nur über Donald Trump zu reden. In dieser ganzen Anerkennungsdebatte und dem Ressourcenverbrauch, der damit verbunden war, habe ich am meisten vermisst, dass man nicht parallel dazu eine Kritik an der ganzen Medikalisierung von Psychotherapie geübt hat, die sich in den letzten Jahren ja wirklich dramatisch vollzogen hat und immer weiter vorangetrieben wird. Aber man wollte den Ball flach halten, damit man sich keine Hindernisse in den Weg legt, anstatt zu sagen, wir 54
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gehen da eine Doppelstrategie und sagen: Das steht uns zu, das nehmen wir in Anspruch, aber gleichzeitig kritisieren wir das System. So schaut man unmittelbar aus einer fachlichen Perspektive auf die Frage: »Was ist eigentlich wissenschaftlich fundiert, was heißt es eigentlich, eine total individualisierte, individualistische Psychotherapie zu betreiben, die sich permanent Anleihen beim biomedizinischen Modell holt?« Das wäre aus meiner Sicht eine Kernkompetenz systemischer Perspektive gewesen, die man in diese Debatten aktiv hätte einbringen müssen. Kurt Pelzer: Stefan Kühl hat einmal gesagt, die Systemische Gesellschaft sei von einer Bewegung zu einer Organisation geworden. Und das sind halt zwei Dinge mit einem unterschiedlichen Charakter. Und ich denke, du sympathisierst mehr mit der Idee von Bewegungen, nicht? »Alles Denken ist frei« und so weiter. Wolfgang Loth: Ohne die Organisation zu verteufeln. Kurt Pelzer: Und in der Debatte um die Anerkennung der Systemischen Therapie gelangt man immer zur Frage: »Wie weit passt man sich an, damit man durchkommt?« Die einen sagen: Ihr müsst hier die Fahne der Identität hochhalten. Das sind dann oft die, die wirtschaftlich nicht darauf angewiesen sind. Und die anderen, die oft jünger sind, wollen gerade irgendwo etwas aufmachen, die sagen: »Wir brauchen die Kassenanerkennung, um uns auch ökonomisch etablieren zu können.« Und wir als Verbandsorgan müssen beide Interessengruppen immer gleichzeitig im Auge behalten. Das ist verdammt schwierig. Wolfgang Loth: Nicht, dass wir uns missverstehen: Ich verteufele das wirklich nicht, ich möchte nur beide Seiten der Medaille am Leben halten. Kurt Pelzer: Ja, das möchten wir auch. Ludger Kühling: Aber möglicherweise muss man sich eingestehen, dass man beide Bereiche nicht gleichzeitig stark am Leben erhalten kann, weil der Verband vorwiegend Arbeit für die Institute macht. Wir wollen auch noch etwas anderes, aber das ist unter diesen Rahmenbedingungen nur zum Teil möglich. Wolfgang Loth: Siehst du, und deswegen haltet ihr euch so einen Querschläger wie mich, der das öffentlich sagen darf, und dann haben wir wieder einen Hofnarren. Besonders spannend wird es immer um sechzehn Uhr
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Gisela Klindworth: Na ja, Ludger Kühling ist jetzt auch gerade so ein Querschläger – das ist eine Ableitung, die ich so nicht sehen würde, das: »Wir sind halt weiterhin ein Institute-Verband.« Ludger Kühling: Ich erinnere mich an die erste SG-Tagung 2013 in Berlin, an der ich teilgenommen habe. Herr Kühl hatte ein Referat über die Entwicklung von Verbänden und ihre Dynamiken gehalten und hat es deutlich gesagt: »Die Balancierung ist sehr, sehr schwierig, fast unmöglich.« Fritz Simon plauderte über die SG und sagte: »Wir haben uns als Avantgarde empfunden und auch so konstruiert, aber vielleicht hängt es auch mit der Organisationsform von Verbänden zusammen, dass theoretisch anspruchsvolle und kontroverse Debatten sich heute eher ein anderes Format suchen, dass man also aufpassen muss, dass man nicht jede Organisationsform nutzen kann, um jede Debatte zu führen.« Gisela Klindworth: Worauf seid ihr stolz? Kurt Pelzer: Ich bin stolz darauf, dass die SG heute nach all den Jahren eine Marke ist. Das kriege ich mit, wenn Arbeitgeber danach fragen. Ich komme ja aus dem Bereich der Jugendhilfe und da ist die systemische Weiterbildung heute ein absoluter Standard. Wenn junge Menschen einen Bachelor haben und eine Zusatzausbildung brauchen, wird meistens zu einer systemischen geraten. Zweitens bin ich stolz darauf, dass wir kurz davor sind, die Kassenanerkennung wahrscheinlich doch zu kriegen, weswegen es ja immer wieder Zweifel gab. Nach all den Problemen, die man auf der anderen Seite mit der Identität hat: Zumindest der Teil der Menschen, die in die SG gegangen sind, um dieses Ziel zu erreichen, wird hierin einen großen Erfolg sehen. Drittens bin ich stolz darauf, dass wir es geschafft haben, den Fokus von Psychotherapie auch auf andere Felder zu erweitern, und das ist noch nicht abgeschlossen. Mittlerweile gibt es schon zum Beispiel eine systemische Seelsorge, Pädagogik – und viele andere Bereiche, wo systemische Inhalte aufgenommen werden. Das ist zwar nicht direkt unser Verdienst, aber wir haben das mit auf den Weg gebracht. Auch haben wir damals mit anderen bei der Gründung der Deutschen Gesellschaft für Beratung, wo ich 56
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auch im Gründungsvorstand war, mitgemacht. Da ist eine ganze Menge auf den Weg gebracht worden. Darauf kann man stolz sein. Wenn ich jetzt aus dem Vorstand rausgehe, verliere ich zwar Kontakte mit unheimlich guten, liebevollen und klugen Menschen. Es gab auf der Beziehungsebene – und wir beschäftigen uns ja viel mit Beziehung – immer eine hohe Qualität. Ich bin auch stolz darauf, dass es uns gelungen ist, in der Hellinger- Debatte eine klare Position einzunehmen. Das war nicht einfach. Das hat Freundschaften gekostet. Es gab dabei auch Verletzungen und persönliche Angriffe, aber es war nötig, sich da zu positionieren, und das haben wir auch hinbekommen. Karin Martens-Schmid: Ich war immer stolz darauf, dass die SG viele kreative, kluge, nachdenkliche, bewegungsfreudige Menschen hervorgebracht hat. Und als »Oldie« hoffe ich, dass da etwas nachkommt. Wolfgang Loth: Ein Ereignis, auf das ich stolz bin, ist, dass die SG auf ihrer Tagung 2008 in Berlin dieses Podium über das »Lehrbuch II« veranstaltet hat, auf dem Tom und ich dann zusammen mit Arist und Jochen debattiert haben und zwei Stunden richtig lebendig über das Für und Wider diskutiert haben.2 Das ist eine der lebendigsten und spannendsten Diskussionen gewesen, die ich auf einer SG-Tagung erlebt habe. Das ist eine Erinnerung an ein lebendiges Ereignis. Ein anderes lebendiges Ereignis war diese Veranstaltung in Berlin – »Systoria«, auf der wir über systemische Geschichte oder so etwas nachgedacht und versucht haben, ein Forum zu finden. Das ist eingeschlafen. Das ist schade. Das war auf derselben Tagung. Das eine ist stark und hat zwar den Lauf der Dinge nicht aufgehalten, aber es hat gezeigt, dass da wirklich kontrovers und trotzdem konstruktiv, freundschaftlich und hart diskutiert werden konnte. Ich mag die Leute ja immer noch. Und das andere ist, dass eine Idee auch einschlafen kann. 2 Levold, T., Loth, W., Schlippe, A. v., Schweitzer, J. (2011). Systemische Therapie und das »störungsspezifische Wissen«. Ein Streitgespräch. Kontext, 42 (2), 164–179; Verfügbar im Internet unter https://www.researchgate.net/publication/216036735_Systemische_Therapie_und_das_storungsspezifische_ Wissen_Ein_Streitgesprach Besonders spannend wird es immer um sechzehn Uhr
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Karin Martens-Schmid: Es kann gut sein, dass uns allen Vieren letztlich im Moment mehr daran liegt, dass wir wieder ins fröhliche Denken, Reflektieren, Bewegen kommen und in der SG dafür auch wieder ein bisschen mehr Raum ist – auch spürbar. Ludger Kühling: Wenn Sie jetzt dem Nachwuchs eine Empfehlung geben würden – Wolfgang Loth hat empfohlen, sich auseinanderzusetzen, zu lesen, nachzudenken, zu schreiben, zu diskutieren, querzudenken und über den Tellerrand hinauszugucken – gibt es noch weitere Empfehlungen? Karin Martens-Schmid: Das Berufsständische ein bisschen zurückstellen, das fände ich nicht schlecht. Kurt Pelzer: Meine einzige Empfehlung aus dem, wie ich »systemisch denken« verstehe, lautet: »Geht euren eigenen Weg.« Gisela Klindworth: Was hat denn Spaß gemacht? Wolfgang Loth: Auf den Tagungsfesten waren immer gute Bands eingeladen, aber das ist jetzt schon Anekdote. Ludger Kühling: Gut essen und trinken. Karin Martens-Schmid: Gut streiten. Gut und intensiv und mit Verstand streiten. Tom Levold: Das hat aber nicht jedem Spaß gemacht. Kurt Pelzer: Die, denen das keinen Spaß gemacht hat, die sind dann irgendwann nicht mehr da. Tom Levold: Ich glaube, ich bin auf nichts stolz. Aber Spaß gemacht hat mir das eigentlich immer. Ich weiß, dass das für viele oft unbequem war, aber ich habe immer Spaß an Auseinandersetzungen gehabt. Wenn ich mich an die Zeit mit Kurt Ludewig im Vorstand erinnere – wir haben sechs Jahre lang miteinander gekämpft, und es ist immer etwas Supergutes dabei herausgekommen. Ich bin nicht mehr so mit der SG identifiziert, wie ich das war, aber immer, wenn ich auf eine Mitgliederversammlung komme, »lecke ich Blut«, dann macht es mir Spaß! Ludger Kühling: Wenn es Differenzen und Streitgespräche zwischen Kurt Ludewig und dir im Vorstand gab, dann klingt das für mich sehr abstrakt. Tom Levold: Zum Beispiel haben wir uns bestimmt zehn Jahre sehr kritisch über die Frage unterhalten, welche Rolle Affekte und Emotionen im Kontext Systemischer Therapie spielen. Kurts Vor58
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stellung war immer: Entweder man kann es, oder man kann es nicht, aber dann braucht man nicht darüber nachzudenken. Und meine Idee war immer: Wenn, dann müsste man das auch konzeptualisieren und dazu eine Idee entwickeln. Kurts Haltung war immer: Wenn man Therapie nicht kann, dann hilft auch Selbsterfahrung nicht. Peter Fürstenau hat das gut gesagt: »Wenn man nach einhundert Stunden Lehranalyse immer noch nicht in der Lage ist, halbwegs vernünftig mit Patienten umzugehen, dann kann man das nach eintausend Stunden auch nicht.« Aber das ist vielleicht eine Frage des Maßes. Das Schöne war, dass wir uns in dieser Zeit sehr befreundet haben, über die Differenzen hinweg. Oder es ging um strategische Fragen, zum Beispiel: Öffnen wir schnell oder nicht? Das war immer ein Spannungsfeld, das etwas Produktives ermöglicht hat. Monika Schimpf: Für mich ist es eine wirklich entlastende Situation auf den Tagungen und in den Gremien, dass es selbst bei unterschiedlicher Meinung ein sehr wertschätzender Ton ist. Bei Supervisionen, da wird es einem ja manchmal körperlich schon anders, wie die Menschen miteinander umgehen. Von der Kultur des wertschätzenden Umgangs miteinander, selbst wenn man andere Meinungen hat, halte ich sehr viel in der Systemischen Gesellschaft. Und das würde ich gerne trotz der Größe erhalten wollen. Teilnehmer: Der Generationswechsel ist in Gesprächen und Thematiken positiv-konstruktiv spürbar. Es gab viele Stellen, bei denen die jüngere Generation nachher Empfehlungen, Vorschläge und Unterstützung hatte. Es ist nicht so, dass man Wissen hortet, sondern in einen Austausch miteinander geht. Ich finde die Treffen sehr, sehr persönlich – es entstehen viele tolle Kontakte und die Treffen waren sehr inspirierend. Es ist ein Nährboden, bei dem immer wieder neue Ideen auftauchen und sich gegenseitig befruchten. Gisela Klindworth: Das heißt, wenn man in die Zukunft blickt, wäre das etwas, was man weitertreiben müsste. Teilnehmer: Genau. Es gab im Rahmen der Mitgliederversammlungen immer so ein, zwei Settings, bei denen das möglich war, wo der Raum geöffnet worden ist. Und da ist ganz viel entstanden. Besonders spannend wird es immer um sechzehn Uhr
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Teilnehmer: Wenn man mich fragen würde, wieso ich mir zweieinhalb Stunden Autofahrt antue, um hier zu sein, würde ich sagen: Ich habe etwas vermisst. Das mag jetzt pathetisch klingen: Ich habe so etwas wie Heimat oder Zugehörigkeit vermisst: Welchem Verein gehöre ich zu? Ich bin seit etwa 1999 Einzel mitglied – einer der ersten. Und ich habe das SG-Forum genutzt, das heißt, hin und wieder einmal eine Frage eingestellt, hin und wieder einmal etwas dafür bekommen. Und dann frage ich mich: Wo bin ich denn eigentlich? Ich habe die Gesichter nie gesehen. Ich kenne zwar die Namen, kann sie auch zuordnen – nur ich weiß nicht, ob ich in diesen Prozess miteingebunden bin. Das Spannende, was ich hier erlebe, ist für mich etwas im Sinne von: »Ok, es passiert so etwas wie Umbruch, Neuorientierung.« Die Themen werden vielfältiger. Das ist das Spannende! Dass also noch einmal hinzugucken ist: Was heißt denn »Öffnung«? Öffnung auch für die, die sich dann möglicherweise mit dem Gedanken auseinandersetzen, aktiv an diesem ganzen Prozess teilzunehmen. Es gibt spannende Themen, die hier diskutiert werden. Wenn zum Beispiel so etwas losgeht wie Qualitätszirkel nicht nur für die Institute, sondern auch für die Mitglieder. Oder ein Qualitätssiegel für die Träger, die systemisch arbeiten – nicht nur für die Jugendhilfe. Teilnehmerin: Ich bin zum einen hergekommen, weil ich mich vernetzen wollte, zum anderen wegen dieses radikalen Anderen und dem Funken, der irgendwie überspringt. In Therapie und Beratung war alles etwas geheimnisvoll. Niemand durfte reingucken. Und die Systemiker waren komplett anders. Sie zeigen Videos, wie sie etwas machen, in denen auch Fehler sind, mit denen sie uns an Transparenz erinnern. Es ist mittlerweile auch wieder so ein geschlossenes System geworden: Keiner weiß so richtig: Wer macht was? Wie läuft das eigentlich? Ich habe schon das Gefühl, dass ich gute Arbeit mache, aber ich wüsste jetzt nicht, ob ich hier jemandem zeigen würde, wie ich berate. Die Atmosphäre hat sich irgendwie verändert. Und vielleicht wäre es eher die Einladung zum Tanz: Auch einmal wieder hin zu dem Alten, und sich dann auch öffnen für etwas Neues – aber eben das Eine und das Andere miteinander verbinden. Ich bin eher dem Alten 60
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verbunden, aber freue mich auch auf etwas Neues. Aber ich denke auch: »Na, da könnte auch etwas Kritisches dabei sein.« Und das muss auch die neue Generation schaffen, wenn es jetzt wirklich diesen Generationswechsel gibt. Aber die Frage wäre eben: Welchen Funken würden Sie gerne weitergeben? Welche sollten auch über die Generationen hinweg erhalten bleiben? Teilnehmerin: Ich würde gerne und weiß nicht so recht, wo. Wenn ich mir die Internetseite anschaue oder höre, da gibt es eine Gruppe oder ich könnte eine Gruppe machen, finde ich noch nicht so meinen Platz. Ich habe keine Idee, wie das anders sein könnte, aber – doch, eigentlich schon! Ich war zum Beispiel letztes Jahr bei diesem Tag zum Thema »Aufstellung«, und das fand ich richtig gut, weil mich als Einzelmitglied natürlich auch ein fachlicher Austausch sehr interessiert, bei dem man gemeinsam miteinander arbeitet. Ludger Kühling: Da würde ich gerne eine kleine Anekdote erzählen als Antwort auf Ihre Anmerkungen: Wie komme ich da rein, wie mache ich mit? Ich bin ja noch nicht lange Mitglied der Systemischen Gesellschaft und auch noch nicht so lange als Gesellschafter eines Instituts Mitglied. Für mich war ein einschneidendes Erlebnis, als Gila auf der Mitgliederversammlung in Dresden vorstellte: Es gibt da anlässlich der »25 Jahre SG« ein Projekt, da will man die erste Generation interviewen. Dann habe ich gedacht: Oh, das finde ich spannend, da kann ich ein paar Connections machen, da kann ich mich mit ein paar Leuten unterhalten, denen kann ich Fragen stellen. Dann bin ich zu Gila hin und habe sie danach gefragt. Und ich habe überhaupt nicht damit gerechnet, mitmachen zu dürfen, weil ich das Bild hatte: Nein, das haben sie natürlich vorher im Vorstand schon entschieden, wer die Interviews macht. Und da war nix gedealt! Und als ich gesagt habe: »Ich fahre jetzt zum ersten Interview nach Heidelberg«, haben mich Leute gefragt: »Wie bist du da rangekommen?« – »Das hat Gila auf der Mitgliederversammlung erzählt, da habe ich einfach gefragt.« Und deswegen nehme ich das so wahr: Auf der einen Seite ist die Systemische Gesellschaft eine relativ feste Organisation mit ihren festen Säulen und Institutsinteressen, auf der anderen Seite ist es auch sehr, sehr Besonders spannend wird es immer um sechzehn Uhr
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offen. Wenn man Interesse hat, kann man relativ viel machen. Und ich bin eigentlich in der DGSF sozialisiert. In der DGSF gibt es eine Riesenpalette an Angeboten und an Fachgruppen. Es gibt fast keine Fachgruppe, die es noch nicht gibt. Da können Sie natürlich auch andocken. Aber wenn man eine Idee hat, was man machen möchte und sich hier verbunden fühlt, dann kann man das gut lancieren. Man muss einfach machen! So entstehen neue Dinge. Teilnehmerin: Ich merke gerade, ich sammle ein bisschen Mut, mit einer Idee dann auch in die große Gemeinde zu treten. Und ich glaube, darauf kommt es letzten Endes an. Und jetzt ist es eine Erfahrung mehr zu sehen, was hier möglich ist. Ich finde das gut, wie wir hier miteinander sprechen, und es macht mir Mut – mal gucken, ob ich den Schritt dann irgendwann wage, denn in meiner Wahrnehmung als einzelnes Mitglied ist die SG sehr groß. Und zu sagen: »Ich habe jetzt hier eine Idee« ist für mich persönlich eine Herausforderung.
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»Systemisch« ist so etwas wie eine heilige Kuh
Klaus Deissler: Ironischerweise könnte man sagen: »Systemisch« ist so etwas wie eine heilige Kuh, um die man herumtanzt. Aber niemand weiß, was es genau ist. Und ich habe auch einmal scherzhaft vorgeschlagen: Man sollte die Systemische Therapie zur undefinierbaren Therapie erklären – wie man einen Gott verehren kann, den man auch nicht sieht, so kann man eben Systemische Therapie praktizieren, ohne zu erkennen oder zu wissen, was das ist und was man tut. Kristina Hahn: Ja, damit wird es mit einem Richtlinienverfahren schwer, denn wie will man einen Wackelpudding an die Wand nageln. Klaus Deissler: Ja, das ist dann ein praktisches Problem. Arist von Schlippe: Die Inflation des Begriffs ist ein großes Problem. Die Leute benutzen ihn überall, und mir stehen gelegentlich die Haare zu Berge, wenn ich höre, was alles »systemisch« begründet wird. Das war sicher auch eine Idee der Gründung der SG, eine bestimmte Qualität systemischer Praxis sicherzustellen. Was ich zum Beispiel unglaublich schwierig finde, ist: Wie oft einfach systemisches Instrumentarium gelehrt wird – und die Leute wenden das an, ohne zu wissen, warum – also ohne zu verstehen. Die Form der zirkulären Frage ist einfach – aber was ist die Theorie dahinter? Und da schäme ich mich manch»Systemisch« ist so etwas wie eine heilige Kuh
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mal, wenn Leute sagen: »Das ist systemisch.« Und ich sage: »Ich gehöre nicht dazu!« Cornelia Oestereich: Ja, weil die Haltung nicht gelingt. Arist von Schlippe: Und auch das Verstehen nicht! Cornelia Oestereich: Wenn man eine Methodik anwendet, hat man sie noch nicht verstanden. Wenn man sie verstanden hat, verändert das die Haltung. Und das ist ja einer der Gründe, warum wir im Verband jetzt zum Beispiel darauf bestanden haben, dass eine Weiterbildung mindestens drei Jahre dauern muss und nach Möglichkeit curricular, weil wir die Idee hatten, dass eine Veränderung von Persönlichkeiten dauert. Und sie ist eben nicht im Sechs-Wochen-Kurzkurs »Anwendung von Genogrammen« zu schaffen, sondern man verinnerlicht vor einem bestimmten theoretischen Hintergrund erst nach einer bestimmten Zeit eine Haltung von Neugier und Respektlosigkeit und Denken, zum Beispiel auch zirkulär zu denken. Und diese Qualität war unter anderem ein Grund, warum der Verband sich damals für bestimmte Weiterbildungen aus bestimmten Weiterbildungsinstituten gegründet hat und andere Weiterbildungsinstitute auch ausgeschlossen hat. Gisela Klindworth: Herr Schwertl, Sie haben ja vorhin gesagt, diese Diskussion »Was ist eigentlich ›systemisch‹?«, die wäre gar nicht geführt worden, weil man sich mit Formalitäten und Verbandskram beschäftigt hat. Und Sie selbst würden diesen Begriff auch nicht mehr benutzen. Aber Andrea Ebbecke-Nohlen hat gesagt: Eigentlich hat sich das gegründet, um da einmal Pflöcke einzuschlagen: »Was ist systemisch?« Walter Schwertl: In einer der ersten Sitzungen einigten wir uns, nicht zu definieren, was ein Institut, das systemisch arbeitet, eigentlich ausmacht. Indem wir keinerlei sichtbare Grenzen zogen, konnten wir damit auch keinen Claim abstecken. Aus meiner Sicht hat sich dies bitter gerächt. So manche Geister, die wir zugelassen haben, wurden wir nicht mehr los. Wer keine Grenzen zieht, bestimmt kein Drinnen und kein Draußen. Jeder konnte grenzenlos hin und her wandern. Aber ein Verband, der einen möglichst großen Teil des Krankenkassenkuchens haben möchte, steht hierzu in Widerspruch. Vielleicht kann man die Sprach64
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wolke »systemisch« nicht definieren, schließlich benützte die Deutsche Bank das allzu oft geprügelte Wort, um die Regierung um finanzielle Hilfe zu bitten. Auch die Argumentation, »katholisch« könnte man ja auch nicht definieren, ist ohne Theologiestudium leicht zu widerlegen. Andrea Ebbecke-Nohlen: Ich sehe das anders. Die Debatte, was »systemisch« ist, die wurde geführt. Es gab und gibt durchaus verschiedene Explikationen. Allein das Verwenden bestimmter Methoden und Techniken, das macht noch nicht den Unterschied zu nichtsystemischem, mechanistischem Denken und Handeln. Zum systemischen Denken und Handeln gehört eine bestimmte Haltung, eine besondere Art und Weise, in der Welt zu stehen und sie wahrzunehmen sowie eine damit in Zusammenhang stehende Erkenntnistheorie. In den Ausschüssen wurde die Debatte bei der Entwicklung der Rahmenrichtlinien für die systemische Weiterbildung intensiv geführt, insbesondere im Supervisionsausschuss, in dem ich selbst mitgearbeitet habe und in dem wir um konsensuelle Formulierungen heftig gerungen haben. In der ursprünglichen Fassung der Rahmenrichtlinien für die Weiterbildung in Systemischer Supervision wurden die erkenntnistheoretischen und praxistheoretischen Elemente des systemischen Ansatzes ausführlich beschrieben. In der gegenwärtigen Fassung ist dies leider nicht mehr explizit enthalten. Auch im Aufnahmeausschuss wurde die Debatte »Was ist systemisch?« intensiv geführt unter anderem bei der Frage, welche Weiterbildungsinstitute unserer Ansicht nach ausreichend systemisch sind, um in die Systemische Gesellschaft aufgenommen zu w erden. Und ich würde das Systemische auch nicht allein auf die Systemtheorie Luhmanns zurückführen. Die Systemtheorie ist einer der vielen theoretischen Bausteine, die wir haben – also sowohl die alte Systemtheorie als auch Luhmanns Systemtheorie als auch die Weiterentwicklungen nach Luhmann. Dass wir uns nicht zu fein sind, in verschiedenen Theorie-Steinbrüchen zu arbeiten, verschiedene theoretische Elemente zu verwenden und zu sagen »Wir haben uns da und dort bedient«, um eine systemische Praxistheorie zu entwickeln. Wir haben sowohl metatheoretische Ansätze als auch Theorien mittlerer Reich»Systemisch« ist so etwas wie eine heilige Kuh
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weite übernommen und weiterentwickelt, gleich zu Beginn unter anderem die Autopoiesetheorie, die Kybernetik zweiter Ordnung, die Synergetik, den Konstruktivismus, auch Milton Ericksons Ansatz beispielsweise oder jetzt neuerdings die körperorientierten Ansätze. Maria Staubach: Ich habe den Eindruck, dass wir ein Stück weit das abbilden, was durchaus auch immer wieder passiert, nämlich dass wir auf sehr unterschiedlichen Ebenen diskutieren. Für mich ist es notwendig, in einer ganz stringenten Diskussion, einer Debatte, einem Diskurs über »Was ist eigentlich ›systemisch‹?« eine Position zu haben, und das nicht mit einer Beliebigkeit, vielmehr zu sagen: »Was vertritt die Systemische Gesellschaft als ihre Metatheorie?« Das, was oben darüber ist, was uns leitet, was uns zu unseren Praxistheorien führt. Diese brauchen wir auch. Von daher sind die Ebenen für mich sehr stark zu trennen. Wir haben sehr, sehr viele sehr versierte, gute Praktiker aus sehr unterschiedlichen Feldern in der SG. Das ist eine weitere Debatte. Theoretiker müssen Praktiker nicht immer verstehen, und Praktiker müssen die Theoretiker nicht immer verstehen. Praktiker müssen aber wissen, an welchen Theorien sie ihre Praxis reflektieren können. Und von daher ist das in der Tat etwas, von dem ich denke, dass es nicht das Eine oder das Andere ist. Es braucht durchaus – wir sind in der Entwicklung jetzt an diesem Punkt – dazu eine Strategie: Wie müssen wir strukturiert an das gehen, was die aktuellen Herausforderungen sind? Das wäre für mich ein Mehrwert für die SG. Nicht, weil das, was sie bis dahin alles entwickelt hat, nicht gut war. Es gab sicherlich eine ganze Menge an Fallen und Stolpersteinen. Mal hat die eine Richtung mehr zu sagen gehabt als die andere. Wir sollten jetzt allerdings ganz stringent dazu weiterkommen, uns zu überlegen: »Wo soll es eigentlich hingehen?« Nicht ohne Metatheorie, das ist es ja, was uns verbindet. Je nachdem, wo wir tätig sind, arbeiten wir Praxistheorien aus und definieren unsere Entscheidungen der Praxis. Hier sind durchaus Unterschiede »erlaubt«. Hier finde ich Unterschiede dann auch ganz wichtig. Das macht die Vielfalt der Praxis aus. Ich finde, für eine Gesellschaft dürften die Theoriegrundlagen nicht abweichen. Das ist genau das Verbindungsstück, das ich 66
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brauche und das ich wichtig finde für die SG, damit es einen Platz gibt, an dem sich jeder angesichts von Praxisvielfalt wiederfindet. Ein Fachverband kommt, genau wie andere Organisationen, immer auch an eine kritische Grenze, und dann gehen die Uhren anders. Es muss neu gedacht werden, wenn sich neue Herausforderungen stellen. Es gibt aber auch aus der Geschichte viele Denkansätze und Debatten, die wir für die Zukunft nutzen und weiterentwickeln können. Ludger Kühling: Eben habe ich gedacht: »Hm-hm, das klingt für mich nach einem eher postmodernen Verständnis von ›systemisch‹.« Und dieses postmoderne Verständnis von »systemisch« lässt mehr Raum für Vielfalt und auch für unterschiedliche Definitionsmöglichkeiten. Und dadurch kann systemisches Denken und Handeln sehr integrativ sein und sehr viele einbinden. Und Sie, Herr Schwertl, haben ja vorhin stark gemacht: »Systemisch« kommt aus meiner Perspektive abgeleitet als Adjektiv von »System«, und die Systemtheorie beschäftigt sich mit Systemen. Und die Systemtheorie hat insofern eine grundlegende, basale Bedeutung. Aber man kann Leute eben auch fragen – postmodern: »Was verstehst du unter ›systemisch‹?« Und dann werden wir eine Vielfalt von möglichen Antworten bekommen. Und dann müsste sich so ein Dachverband überlegen: Darf hier nur der mitmachen, der Luhmann – mindestens halb – und ein paar Weiterentwicklungen verstanden hat? Dann müsste man Prüfungen einführen. Walter Schwertl: Mir ist das zu viel Glasperlenspiel mit großen Worten und Sätzen. Die Welt neu erfinden? Was heißt das? Ich verstehe mich als Teil der Welt. Dies bedeutet, ich verzichte auf den Anspruch, von außen einen Sachverhalt betrachten zu können, und damit handelt man sich eine Menge schwerwiegender Konsequenzen ein. Ein bisschen Welt neu erfinden ist keine Beschreibung, die mir dafür passend erscheint. Ich will dies an einem Beispiel verdeutlichen: Die meisten Kolleginnen und Kollegen stellen instruktive Interventionen aus systemtheoretischen Gründen infrage. Dies ist argumentativ gut vertretbar, aber für Praktiker bedeutet es eine große Herausforderung, denn sie müssen auf irgendeine Art und Weise handeln, und dies heißt inter»Systemisch« ist so etwas wie eine heilige Kuh
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venieren. Teilnehmer, die uns vertrauen, zu irritieren, ist nicht schwer, aber sich täglich das Vertrauen zu verdienen, wird mit schlenderndem Schritt und ein bisschen Welt-neu-Erfinden nicht funktionieren. Tom Hegemann: Wenn man Anfang der Nullerjahre im Internet nachschaute oder bei Nicht-Systemikern nachfragte: »Was versteht ihr unter ›systemisch‹?«, dann sagten achtzig Prozent der Leute: »Hellinger«. Da hob ein neuer, interner Diskurs in der SG zu dieser Frage an, und das demonstrierte in der Innenwelt noch einmal ganz andere Affektivitäten als das, was bis dahin da war. Es gab Akteure in dieser Welt, die von den Ideen Hellingers sehr fasziniert waren und die über diese Ideen sehr miteinander verbunden waren. Als Hellinger antrat, ist er überhaupt nicht mit dem Wort »systemisch« auf die Reise gegangen. Das haben andere an ihn herangetragen. Und der Diskurs darüber hat auch eine konzeptionelle Dimension. Der Grundkonsens bei der Mehrheit der Institute war: Als »systemisch« kann man eigentlich nur etwas bezeichnen, das die Konzepte der Beobachtung zweiter Ordnung mit an Bord genommen hat – also sich als Profi in der Interaktion mit dem Klientensystem von außen zu betrachten und als Akteur mitzudenken. Und Hellinger hat gegen dieses Konzept in krasser Weise verstoßen, weil er normative Ideen verbreitet hat. Und auf dieser Ebene fanden sehr heftige Diskurse statt. Das hatte auch wirtschaftliche Dimensionen; zur damaligen Zeit ging ja von diesen Ideen für ganz viele Menschen, die erst mal gar nichts mit dem Systemischen am Hut hatten, eine große Faszination aus. Meine Kollegen in England fanden diese ganze Bewegung sowieso einen Ausdruck der deutschen Romantik. Walter Schwertl: Aus meiner mittlerweile am Rand angesiedelten Beobachterperspektive stelle ich die Hypothese auf: Die Systemische Gesellschaft war, wenn auch unbeabsichtigt, ein Wegbereiter der Heilslehre von Hellinger. Systemisch war zum Marketinginstrument, zum Verkaufsargument geworden. Die SG scheute sich aus den bekannten Gründen, eine Grenzziehung vorzunehmen, und plötzlich waren diese mittelalterlichen Beugerituale, wie Rosmarie Welter-Enderlin es nannte, zum Synonym von systemisch geworden. Wir waren unzählige Male mit dieser Gleich68
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setzung konfrontiert. Manche Kollegen distanzierten sich sehr deutlich und andere Statements hätten jedem Jungpolitiker zur Ehre gereicht. Ideengeschichtlich ist es, und das versöhnt mich, nicht mehr als eine sehr kurze Mode. Tom Hegemann: Ich glaube, es ist beides. Sicher haben maßgebliche Akteure der Systemischen Gesellschaft einen Beitrag dazu geleistet, aber andererseits haben andere Akteure der Systemischen Gesellschaft ebenfalls in maßgeblicher Weise dazu beigetragen, Hellinger wieder aus dem Verkehr zu ziehen – naja: Das hat er am Ende wohl selbst getan. Heute denke ich, dass das alles auch eine Reaktion darauf war, dass dem Emotionalen und dem Erleben im systemischen Feld zu wenig Beachtung geschenkt wurde. Tom Levold: Der Begriff »systemisch« sagt heute nichts mehr aus. Irgendwie ist alles systemisch und alle Analytiker, die ich kenne, haben »systemische Supervision und Coaching« auf ihrer Visitenkarte stehen, aber das taugt als Unterscheidungsbegriff nicht mehr. Ludger Kühling: Was macht man, wenn man das wieder spezifischer machen will? Ich glaube, es ist ein Trugschluss, dass sich einige Leute zusammensetzen und definieren, was echt, was wirklich »systemisch« ist. Oder man müsste eine neue Vokabel erfinden, die das passender und angemessener beschreibt, was man sich unter »systemisch« vorstellt. Teilnehmerin: Vor zwölf Jahren, als ich diese Ausbildung machte, wusste ich: Da ist eine Zertifizierung bei der Systemischen Gesellschaft dahinter. Ich wusste, was von mir verlangt wird und dass das geschützt ist, wenn ich sage: »Ich bin systemischer Coach.« Es ist auch ein Qualitätsnachweis. Inzwischen gibt es aber ganz viele Institute und da habe ich immer das Gefühl, da steht die Systemische Gesellschaft gar nicht dahinter: Das sind ja Institute, die sich dieses Namenspräfixes schlau bedienen. Haben Sie sich das nicht weiter schützen müssen, außer dieses »Systemischer Coach«? Kurt Pelzer: Man kann ja nicht den Begriff »System« schützen. In jedem Zertifikat steht: »systemisch sowieso-sowieso, Klammer auf: SG oder DGSF«. Und das ist die Marke. Und das macht ja »Systemisch« ist so etwas wie eine heilige Kuh
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auch gerade in so einer Szene, wie Sie sie hier beschreiben, Sinn. Das ist der Sinn eines Fachverbandes. Gisela Klindworth: Da gibt es gerade Bestrebungen von Verbandsseite zu markieren: »Was heißt für die Systemische Gesellschaft ›Systemisches Coaching‹?« Tom Levold: Karl Otto Hondrich, ein Soziologe, hat sich damit beschäftigt: »Wie kommt es eigentlich zu solchen Begriffskarrieren?« Und er sagte: »Eigentlich haben nur Begriffe mit Erlösungscharakter eine Chance, gesellschaftlich eine solche Karriere zu machen«, das heißt: was sich an Erwartungen, Hoffnungen und positiven Vorstellungen an so einem Begriff festmacht. Aber es sagt positiv überhaupt noch nichts aus. Und das verlagert die Frage »Wofür steht das denn eigentlich, oder was ist das denn eigentlich?« auf die Ebene der Verbände. Und das beschäftigt die Systemische Gesellschaft seit einigen Jahren, zu gucken: Wie stellen wir Qualität innerhalb des Verbandes fest? Da werden Institute aufgenommen, aber womöglich weiß kein Mensch, was diese danach treiben. Institute müssen sich bewerben und werden auch geprüft, aber ich kann mich noch gut daran erinnern, dass wir Institute aufgenommen haben, bei denen wir uns hinterher geärgert haben, weil wir gesagt haben: »Man weiß gar nicht: Wer gehört dazu, was machen sie eigentlich?« Da wird also die Frage der Qualität zu einer innerverbandlichen Frage. Und die ist es in Zukunft wahrscheinlich noch mehr als in der Vergangenheit. Gisela Klindworth: Wir mussten eine neue Satzung beschließen – das ist ja auch wieder interessant, wie das so kommt: Der Anwalt hat gesagt: »Schreiben Sie einen Satz rein, was ›systemisch‹ ist.« Und dann haben wir da »etwas« hingeschrieben, wovon wir gedacht haben, das ist so eine allgemeinste Form. Auf der außerordentlichen Mitgliederversammlung haben einige gesagt: »Da kann man doch nicht einfach so kurz schreiben, was ›systemisch‹ ist! Da müsste ein Leitbild her!« Und jetzt führen wir eine Diskussion zum Leitbild der SG. Andrea Ebbecke-Nohlen: Ich kann da einerseits meinem hoch geschätzten Kollegen Fritz nur zustimmen, dass es »das« Systemische im Allgemeinen nicht gibt, und ich muss ihm gleichzeitig auch widersprechen: Für mich gibt es »das Systemische« sehr 70
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wohl. Ich könnte versuchen, »es« zu definieren, aber viel lieber versuche ich »das Systemische« zu explizieren und systemisches Denken und Handeln im Kontrast zum Beispiel zum »mechanistischen Ansatz« in den verschiedenen Anwendungsfeldern zu beschreiben, wie es zum Beispiel in zahlreichen Publikationen geschehen ist. Die Debatte »was ist systemisch« wurde also nicht nur in den Ausschüssen der Systemischen Gesellschaft geführt, sondern auch in den Veröffentlichungen ihrer Mitglieder und Funktionsträger. Und wenn heute jemand sagt, »jetzt gibt es eine Notwendigkeit«, dann bedeutet das nicht, dass wir etwas Versäumtes nachholen müssten, sondern dass wir die Debatte reloaden. Wir könnten schauen: »Was ist jetzt, heute – 2017/18? Was verstehen wir heute unter ›systemisch‹? Und wie hat sich unser Verständnis inzwischen verändert, und wohin wollen wir gerne, dass sich das weiterentwickelt?« Das fände ich spannend! Und da fände ich es dann zum Beispiel sehr reizvoll, die verschiedenen Praxisfelder, in denen wir uns inzwischen als Systemiker/-innen tummeln, miteinzubeziehen und zu erforschen: neben Therapie/Beratung auch die weiteren Felder Supervision, Coaching, OE, Mediation etc. Wir könnten dann ausfindig machen, was die Menschen, die in diesen Feldern arbeiten, tatsächlich durch »das Systemische« gewinnen könnten. Dabei werden innerhalb der Systemischen Gesellschaft sicher unterschiedliche Beschreibungen auftauchen. Ich vermute allerdings auch, dass die Gemeinsamkeiten der Beschreibungen größer sind als die Unterschiede. Die Diskussion dieser Gemeinsamkeiten und Unterschiede könnte dann auf der Verbandsebene institutionalisiert werden.
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Es kommt darauf an, die Leute in einen konstruktiven Dialog zu bringen Was ist systemische Qualität?
Wolfgang Loth: Wie verschafft man sich einen Eindruck, ob eine Weiterbildung den eigenen Vorstellungen von Qualität entspricht? Qualität ist wahrscheinlich genauso ein Wort wie »systemisch«: Es hat alles seine Qualität. Der springende Punkt ist: Welches Interesse ist da gegeben? Ist das mein Interesse, wirklich an den Punkt zu kommen zu sagen: »Das, was ich tue, entspricht meinen eigenen Vorstellungen von ›gut‹?« Oder möchte ich an einen Punkt kommen, dass ich sage: »Ich kaufe mir einen Titel, und danach habe ich irgendwelche Türen offen?« Beides ist okay, aber die Frage ist: Welches davon ist mein persönlicher Wunsch, mein persönliches Interesse? Teilnehmer: Einerseits ist mir wichtig: Was passt für mich? Was möchte ich aber andererseits den Menschen, die zu mir kommen, anbieten können? Und da habe ich jetzt bei meinem Arbeitgeber die Chance: Ich kriege eine Freistellung, wenn ich die Supervisionsausbildung mache, aber nur, wenn ich sage, ich gehe zur Systemischen Gesellschaft. Was ich klasse fand: Um bei der Systemischen Gesellschaft im Internet auf der Fachleutesuche aufgenommen zu werden, musste ich versichern, dass ich nicht zur Scientology gehöre und die Ideen von Ron Hubbard vertrete. Umgekehrt frage ich mich dann: Wie können Institute mit der gleichen Weiterbildung nachher eine Wahl anbieten: Möchte ich 72
Es kommt darauf an, die Leute in einen konstruktiven Dialog zu bringen
das Zertifikat von SG oder der DGSF haben? Ist es nachher doch gleich, oder wo liegen da noch Unterschiede? Anderer Teilnehmer: Ich habe jetzt fünf Jahre Ausbildung und für mich persönlich auch den Eindruck, ich habe etwas Fundiertes gemacht, mich da ausreichend informiert und ich kann da unterscheiden – aber können die anderen das auch? Kann jetzt mein Arbeitgeber unterscheiden, wenn er sieht: »systemisches Arbeiten«? Der Begriff ist wahrscheinlich irgendetwas mit »System«, aber er hat zwei Wochenendkurse zur Aufstellungsarbeit gemacht. Darin liegt ja auch eine Gefahr, dass es unübersichtlich wird, nicht nur für diejenigen, die sich ausbilden wollen, sondern auch für diejenigen, die qualifizierte Leute einstellen wollen. Wolfgang Loth: Ich glaube, der Kurt Ludewig hat an einer Stelle in seinen Leitmotiven so etwas gesagt wie: Man tut sich auch etwas an, wenn man sich für die systemische Denke entscheidet.3 Das kostet etwas. Das gibt es nicht umsonst. Wenn ich davon ausgehe: »Okay, ich bin jetzt der Therapeut oder Coach oder was auch immer – und ich habe die Macht von außen, und ich gehe in das System rein und lasse die Puppen tanzen – dann ist das eine völlig andere Art und Weise, für sich Befriedigung oder irgendwie auch Machterleben herauszuziehen, als wenn ich systemisch arbeite und sage: »Okay, ich mache mir mit diesem ganzen systemischen Gedankengang draußen richtig viel Arbeit, aber wenn ich reingehe, rein in den Kontakt, kommt es auf Anschlussfähigkeit an.« Also für mich wäre das ein Qualitätsmerkmal, wenn ich wüsste: Wie viel waren die Leute bereit, dafür zu »zahlen«? Was haben sie investiert an Person, an Persönlichkeit, an Zeit, an Interesse, an »Standing«, um an den Punkt zu kommen? Und dann kann man inhaltlich durchaus an völlig anderen Ecken ankommen, aber es hätte immer noch das gemeinsame Dach. Kurt Pelzer: Was ist denn eigentlich eine systemische Qualitätssicherung, im Gegensatz zu vielleicht anders Gedachtem? Es 3 Ludewig, K. (2002). Leitmotive systemischer Therapie. Stuttgart: Klett-Cotta. Das genaue Zitat: »Die Konsequenzen einer systemischen Orientierung für Helferinnen und Helfer sind beträchtlich und zeitweise schwer zu tragen« (S. 229). Es kommt darauf an, die Leute in einen konstruktiven Dialog zu bringen
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kommt da nicht unbedingt auf richtig und falsch, auf die Messbarkeit, sondern – und das sieht man ja auch in der Art und Weise, wie die Systemische Gesellschaft und ihre Mitgliedsinstitute das angehen – eher darauf an, die Leute in einen konstruktiven Dialog zu bringen. Bisher ist es so, dass man mit dem Abschluss einer Weiterbildung den entsprechenden Nachweis kriegt. Der sagt nur etwas zur Qualität der Weiterbildung aus, aber nichts über die Qualität dessen, was die Leute danach tun. Gisela Klindworth: Deswegen ist ja auch die Idee entstanden, dass dieser Qualitätsdiskurs in der SG, der im Moment nur unter den Instituten geführt wird, auch für Einzelmitglieder geöffnet wird, an dem Institute und Einzelmitglieder zum Teil zeitlich getrennt miteinander in den Diskurs gehen und sich über Qualität austauschen. Kurt Pelzer: Wenn sie nachweisen: »Wir haben uns soundso oft getroffen und haben darüber geredet«, könnten sie Punkte kriegen – so etwas könnte man im Ansatz weiterdenken. Teilnehmerin: Ich bin in so einem Qualitätsverband, der das auch hinreichend diskutiert hat: Wie können wir Trainer, Coaches, Selbstständige so überprüfen, dass wir für eine gewisse Qualität stehen? Und bisher haben wir das immer so gehandhabt, dass man – ähnlich wie das, was Sie vorgeschlagen haben – pro Jahr Nachweise gibt, dass man sich selbst weitergebildet hat. Das Punktesystem haben wir ganz lange diskutiert. Das wurde irgendwann ganz schwierig, man fand das Korsett ganz eng, und dann ist es nur noch solch ein Punkteding – wir sind da nicht auf einen grünen Zweig gekommen. Aber nachzuweisen, dass ich mich selbst weiterqualifiziere oder auch an einer systemischen Ausbildung pro Jahr oder einem Diskurs oder so etwas teilnehme, das fand ich immer sehr gut. Ludger Kühling: Ein Qualitätsüberprüfungsmodell jenseits von Punkte vergeben, jenseits des Messens von Zeit, jenseits des Besuchs von Weiterbildungen – wie könnte man das anders machen? Tom Levold: Wenn jemand während seiner Praxis einen Kontext hat, in dem er über seine Arbeit nachdenkt, reflektiert und mit anderen Leuten darüber spricht, dann ist das besser, als wenn er 74
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das nicht tut. Es kann sein, dass Leute ihre Zeit in solchen Sitzungen verbringen und trotzdem auf dem gleichen Level bleiben, und andere werden besser, auch wenn sie solche Kontexte nicht aufsuchen. Insofern ist Qualität niemals individuelle Qualität, sondern immer nur statistische Qualität. Und etwas anderes kann ein Verband auch nicht kontrollieren. Inhaltlich finde ich es aber interessant, weil die Fragen, die man dann stellen muss, vielleicht andere sind – für mich wäre zum Beispiel die Frage: Wie sorgt ein Institut dafür, dass Kandidaten, die ihnen nicht geeignet erscheinen, herausfliegen? Oder sagt man: Wir brauchen sie, damit der Kurs stattfinden kann? Ich habe 25 Jahre als Lehrtherapeut gearbeitet und einigen Leuten beibringen müssen, dass ich nicht weiter unterstützen kann, dass sie ihre Ausbildung zu Ende machen. Die waren schon relativ weit fortgeschritten. Das war ziemlich schwierig – sowohl für die Leute als auch für mich. Das hat für mich aber auch etwas mit Qualitätssicherung auf der Ebene von Instituten zu tun. Die Zertifizierungsgremien, die können immer nur zusammenzählen: Liegen die Sachen, die wir prüfen müssen, vor oder nicht vor? Das ist aber keine inhaltliche Geschichte. Es gibt aber natürlich ganz interessante Konzepte, wie man zum Beispiel feststellen kann, ob jemand etwas gelernt hat, also ob die Teilnehmer sich verändert haben im Laufe der Zeit. Heidi Möller in Kassel, die hat ja da den Lehrstuhl für Beratungsforschung, die hat in ihrer Innsbrucker Zeit ein total interessantes Forschungsprojekt gemacht. Sie hat geguckt: Was lernen Leute in der Supervisionsweiterbildung? Die Evaluationsgeschichten findet sie – aus meiner Sicht total überzeugend – völlig unbefriedigend, weil Evaluationen fast immer nur Zufriedenheitsabfragen sind: Bin ich zufrieden mit den Räumlichkeiten, bin ich zufrieden mit den Dozenten, fühle ich mich in der Gruppe wohl? – Eins bis fünf: Das ist doch keine Evaluation. Sie hat gesagt: Jeder, der diese Weiterbildung anfängt, kriegt am Anfang einen Fall vorgelegt und muss zu diesem Fall etwas entwickeln: Wie verstehe ich den? Wie würde ich vorgehen? Was für Schwierigkeiten könnten auftauchen? Und am Ende der Weiterbildung das Gleiche noch einmal. Und dann haben sie inhaltsanalytisch geguckt: Was verändert sich eigentlich in der Art und Es kommt darauf an, die Leute in einen konstruktiven Dialog zu bringen
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Weise, wie ich den Fall angehe und wie ich den verstehe? Daraus kann man Schlüsse ziehen: Hat dieser Prozess dazwischen etwas gebracht? Das ist auch eine interessante Evaluation für die Dozenten: Was willst du vermitteln, dass sie hinterher tatsächlich etwas anderes draufhaben als nur in einem anderen Jargon zu reden? Ein Problem für Verbände ist, dass die Weiterbildungen in der Verantwortung der Institute liegen, dass sie überhaupt nicht in die internen Prozesse dieser Institute eingreifen können. Das wäre wahrscheinlich auch schlimm, wenn sie das könnten. Ich verspreche mir sehr viel davon, wenn die Weiterbildungsteilnehmer stärker in diese Prozesse miteinbezogen werden. Wolfgang Loth und ich sind in der »Stelle für verzwickte Fälle«, und wir haben öfter mit solchen Konfliktlagen zu tun, dass jemand sagt: »Ich habe hier den totalen Stress als Weiterbildungsteilnehmer im Institut, ich kann aber nichts sagen, weil ich sonst Gefahr laufe, dass ich mein Zertifikat nicht kriege.« Das sind Konfliktlagen, die berücksichtigt werden müssen. Gisela Klindworth: Warum hat es eigentlich diese Entscheidung gegeben – wie ist sie begründet worden, dass SG-Institute mindestens drei SG-Lehrende haben sollen? Tom Hegemann: Es gab in der DGSF – und anderswo auch – sogenannte »Praxisinstitute«, die vom Praxisinhaber betrieben wurden. Und das wollte die SG nicht haben. Die SG wollte Institute, in denen intern ein guter fachlicher Diskurs geführt wurde, um eine ausreichende Unterschiedlichkeit zu gewährleisten. Walter Schwertl: Wir haben uns immer als Praktiker verstanden und sprachen von theoriegeleiteter Praxis. Hackordnungen informeller und formeller Art gibt es in allen Verbänden, aber eine Diskriminierung als Praxisinstitut haben wir nicht erlebt. Mindestens in der Gründerphase, heute scheinen die Zertifizierungsgremien ein Eigenleben zu führen, wurde die Autonomie der einzelnen Institute respektiert. Das war ein wichtiges Erfolgsmuster. Andrea Ebbecke-Nohlen: Der zweite Aspekt war ja der, dass es uns Systemiker/-innen so wichtig ist, Wahlmöglichkeiten zu schaffen. Wenn ich als Teilnehmer/-in nur einen Lehrenden habe, dann besteht die Gefahr, dass ich zum Klon werde, dass ich Teil 76
Es kommt darauf an, die Leute in einen konstruktiven Dialog zu bringen
des »Fanclubs« werde, weil ich denke, »das ist richtig, so wie er oder sie es macht«. Unsere Idee für die Weiterbildung war und ist allerdings die, dass Vielfalt im Vordergrund stehen soll und dass jede/-r Teilnehmer/-in auch ihren eigenen Stil entwickeln kann. Und den kann sie nur entwickeln, wenn es möglich ist, von verschiedenen Leuten zu lernen. Teilnehmerin: Ich sage es einmal aus Teilnehmerperspektive an dem Kurs: Ich habe ganz bewusst recherchiert: Wen gibt es? Wer überzeugt mich? Und da war für mich zum Beispiel auch ganz wichtig, dass das nicht so ein Alleinunterhalter ist. Perspektivenvielfalt kann einer alleine nicht abbilden. Unterschiedliche Erfahrungswerte, vielleicht auch noch unterschiedliche Bereiche – als Coaches, Supervisoren usw. – das ist doch eine enorme Bereicherung. In diesem Institut wird das wirklich ernst genommen, sie kommunizieren wirklich miteinander, setzen sich auseinander. Das Wesentliche, das wir dort gelernt haben, ist eine Haltung. Die haben wir von dieser Vielfalt, diesen unterschiedlichen Hintergründen, Erfahrungen, Perspektiven bekommen. Teilnehmerin: Es ist wirklich die Vielfalt, es ist die Entfaltungsmöglichkeit, auch das Entwicklungspotenzial von Unterschiedlichkeit, und was die Lehrenden auch in ihrer Unterschiedlichkeit leben. Es ist ein wahnsinniger Gewinn, und der Gewinn wäre als Teilnehmende nicht, wenn es nur eine Person wäre. Wenn ich selbst Weiterbildungen mache, lehne ich es mittlerweile stringent mit dieser Überzeugung ab, den ganzen Kurs das ganze Jahr zu machen. Klaus Deissler: Zur Frage: Wie könnte man die Institute, die in die Systemische Gesellschaft aufgenommen werden, anders aufnehmen? Könnten die Institute sich nicht wechselseitig ihre Arbeit vorstellen? Sowohl ihre Ausbildungsarbeit als auch ihre praktische Arbeit mit der Endkundschaft – dass man das einmal sehen kann, was man da macht, und nicht nur die Formalitäten abarbeitet. Und wenn man sie dann gut erfüllt, dann wird man Mitglied. Monika Schimpf: Das habe ich damals bei der Selvini Palazzoli so geschätzt, dass sie nur Videos gezeigt hat, bei denen sie gemeint Es kommt darauf an, die Leute in einen konstruktiven Dialog zu bringen
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hat: Jetzt hat sie völlig den Überblick verloren – also die sie in ihrer Interpretation als völlig missraten erlebt hat. Und sie hat nur solche Videos in der Weiterbildung gezeigt. Das hat mir damals sehr, sehr imponiert. Das würde ich mich auch heute nicht trauen! Klaus Deissler: Videos wirken ja eher wie Konserven. Ich finde es besser, dass man die Leute da hat, dass man es da macht, wo die Kollegen auch sind. Monika Schimpf: Aber das erinnert mich daran, wie Virginia Satir und Boscolo immer die gleiche Familie behandelten – könnt ihr euch erinnern, auf einer Tagung? Die arme Familie! (Lachen) Monika Schimpf: Und das Video geht durch die ganze R epublik. Immer wieder zeigen wir dieses Video – ich denke immer: Mensch, die sind jetzt vielleicht ganz anders, sie haben die Krise vollkommen überwunden, aber ich glaube, ich würde sie auf der Straße erkennen. Kristina Hahn: Sie sind ja Gott sei Dank auch älter geworden. Ludger Kühling: So, wie ich das erlebt habe, wie wir vom Systemischen Institut Tübingen bei der SG aufgenommen wurden, wäre das ein radikaler Kulturwandel. Ich habe das so erlebt: Es kamen Leute von der SG zur Visitation, sie haben uns interviewt, sie waren den ganzen Tag da, wir haben unser Institut vorgestellt, und wir haben auch erklärt, wie wir arbeiten, sie haben sich die Räumlichkeiten angeguckt usw. Aber es wäre etwas anderes, wenn man sagen würde: Einmal im Jahr besucht ein Institut ein anderes Institut. Man schaut sich den ganzen Tag an, wie sie arbeiten, man guckt sich vielleicht ein Einzelcoaching, eine Supervision, ein Familiengespräch oder eine Weiterbildung an. Das würde natürlich ganz viele Ideen produzieren, und das wäre ein radikaler Kulturunterschied – denn das nehme ich schon so wahr, dass jedes Institut seine eigene, spezifische Kultur pflegt. Das ist durch die Qualitätszirkel ein bisschen anders. Aber es ist ja ein Unterschied, ob man über seine Arbeit spricht oder ob man andere Leute beobachtet. Klaus Deissler: Der negative Aspekt wäre, dass das in eine Richtung wie eine Lehrprobe driftet. Und die Lehrproben sind 78
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zumindest bei den angehenden Lehrern nicht so beliebt. Da müsste man dafür sorgen, dass die gute Atmosphäre erhalten bleibt. Teilnehmerin: Dadurch, dass in den Qualitätszirkeln Institute aus verschiedenen Orten zusammen sind, ist vielleicht das Konkurrenzthema mehr raus und man kann sich offener zeigen. So etwas kann möglich werden, dass man sich tageweise besucht oder auf ein Seminar geht, also sich noch einmal auf eine andere Art und Weise kennenlernt. Das ist schon eine sehr offene Atmosphäre, die ich da erlebt habe, und ich fand das sehr bereichernd. Und zum Thema Qualitätszirkel mit Einzelmitgliedern: Ich bin in der Deutschen Gesellschaft für Supervision (DGSv), da gibt es auch Qualitätsgruppen, die sich viermal im Jahr treffen und sich dann bei der DGSv einen Nachweis als ein Qualitätskriterium ausstellen lassen können. Das finde ich sehr wertvoll, weil das so fünf, sechs Leute sind. Jeder hat einmal ein Anliegen, das sie intensiv beraten. Das könnte ich mir vorstellen, dass das in der SG auch eine Möglichkeit ist.
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Sind wir die besseren Menschen? Der Ethikdiskurs in der SG
Tom Hegemann: Die Debatten über Selbsterfahrung und ihre praktische Umsetzung sind komplett andere Denkwelten als das, was sich 15 Jahre später in der Ethikdebatte abspielte. Viele Verbände – Psychologenverbände, Psychotherapeutenverbände, die Kassenärztliche Vereinigung, Facharztverbände – fingen an, Ethikkriterien zu entwickeln. Das führte zu einem zirkulären Prozess. Dadurch, dass innerhalb der SG immer mehr Debatten über Ethik geführt wurden, nahm das Beschwerdeaufkommen über unethisches Verhalten schlagartig zu. Der Vorstand, die Beschwerdestelle usw. wurden immer mehr mit solchen Fragen beschäftigt. Das heißt: In dem Moment, in dem die Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Thema gelenkt wird – das kann man ja auch in anderen gesellschaftlichen Aspekten beobachten –, nimmt gleichzeitig auch der Diskurs zum Verfahren zu. Und wie jeder an sich beobachten kann, lösen Fragen, die mit Grenzverletzung zu tun haben, bei den Menschen auch Affekte aus. Und die konnte man auf unterschiedlichen Sitzungen dieses Verbandes live beobachten. Die einen warfen dem SG-Vorstand vor, er lasse Dinge durchgehen, die einzelne Akteure unerträglich fanden. Und die anderen sagten: Wir müssen uns zumindest innerhalb der Rechtsnorm dieser Republik bewegen, und wir können nicht darüber hinausgehen. 80
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Walter Schwertl: Die ganzen Debatten über Moral, sprachlich veredelt als Ethikdiskurse, erzeugen bei mir mittelschwere Magenschmerzen. Ich sehe allerdings in der Auseinandersetzung mit Systemtheorien die Chance, triviale Kausalitätsannahmen infrage zu stellen, jeglichen Wahrheitsterrorismus, wie Josef Mitteregger dies formulierte, zu widerlegen. Tom Hegemann: Trotzdem sage ich rückblickend: Der SG und ihrem Vorstand ist überhaupt keine andere Wahl geblieben, als dafür Standards zu entwickeln. Und trotz aller kontroversen Diskurse auf verschiedenen Mitgliederversammlungen ist das ein guter Weg – und zwar nicht nur deswegen, dass man das Ding am Ende vorzeigen kann, sondern auf dem Weg des Diskurses selbst findet ja ein Klärungsprozess innerhalb der Gesellschaft statt. Das fand ich gut und nützlich. Man lernt auf diesem Wege sehr viel, wie komplexe Organisationen funktionieren und dass sich ein Verband nicht von seinem Kontext befreien kann – wie in den Missbrauchsdebatten in der Kirche oder den Sportvereinen. Und alle anderen Verbände, die sich mit beraterischen, therapeutischen und Coaching-Fragen beschäftigen, machen das ähnlich. Nur das, was mich bei der SG sehr beeindruckt hat, ist, dass es emotional sehr bewegt gelaufen ist. Es gibt andere Verbände, die handeln das viel bürokratischer ab. Gisela Klindworth: Wieso ist die »Stelle für verzwickte Fälle« gegründet worden? Gab es konkrete Anlässe, die sie notwendig machte? Tom Levold: Ja, natürlich! Diese Beschäftigung mit ethischen Fragen hatte lange keine Form. Lange war es eher ein Provisorium, wo man gesagt hat: Man muss sich damit beschäftigen, aber wir haben keine Regularien, und dann macht man das vielleicht über Personen. Und dann sind wir in diese Position reingekommen – neben mir Ulrike Borst (heute Wolfgang Loth) und Beate Baumgarte, die ehemalige Chefärztin einer Klinik in Gummersbach, die kein SG-Mitglied ist, weil wir auch unbedingt jemanden haben wollten, der Ansprechpartner ist, ohne sofort mit dem Verband identifiziert zu werden. Die Idee war, Ansprechpartner zu haben, die erst einmal nur offen für Konflikte, Probleme, Beschwerden usw. sind, ohne dass damit schon irgendwelche Kompetenzen für Entscheidungen oder Eingriffe verbunden wären. Sind wir die besseren Menschen?
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Gisela Klindworth: Wann ist die »Stelle für verzwickte Fälle« gegründet worden? Tom Levold: 2008. Gisela Klindworth: Das ist ja noch nicht so alt. Tom Levold: Wir haben geguckt: Was kann das Angebot sein? Und aus dieser Feedbackschleife dann etwas entwickelt. Im November 2016 saßen wir in Berlin mit dem Vorstand und dem Ethik-Rat zusammen, der selbst keine exekutive Funktion hat. Das ist kein Schiedsgericht oder so etwas, kein direkter Ansprechpartner für Leute, die sich beschweren wollen, sondern der Ethik-Rat hat die Aufgabe, den Vorstand in ethischen Fragen zu beraten. Gisela Klindworth: 2011 gab es die »Stelle für verzwickte Fälle« schon und die Ethikrichtlinien wurden gerade von der Mitgliederversammlung verabschiedet. Es sollte ein Ethik-Rat gegründet werden und es wurden Externe gesucht. Karin M artens-Schmid ist im Ethik-Rat die einzige, die SG-Mitglied ist und die SG kennt. Und dann haben wir eine Anwältin aus Berlin, Margret Diwell, und einen Ethikspezialisten, das war zuerst Herr Knoepffler, Professor für Ethik in Jena. Und jetzt haben wir einen Nachfolger, das ist der junge Ethikspezialist Michael Rost. Und die haben gesagt: Als Externe können wir gar nicht selbst Urteile fällen, denn der Ethik-Rat hat eine andere Qualität. Entscheidungen trifft der Vorstand. Deswegen gibt es diese zwei Gremien und manchmal ein bisschen Verwirrung. Wenn sich Leute mit einer Beschwerde an die SG wenden, dann ist die Frage: Ist das etwas für die »Stelle für verzwickte Fälle«? Wir können sagen: »Wie wäre es denn, wenn Sie sich erst einmal an die ›Stelle für verzwickte Fälle‹ wenden? Vielleicht kann hier eine Lösung gefunden werden.« Wenn die Menschen sagen: »Mit dem rede ich sowieso nicht mehr, denn dieser Mensch hat gegen die Ethikrichtlinien verstoßen«, dann wird es an den Vorstand weitergeleitet. Der kann sich dann vom EthikRat beraten lassen. Teilnehmer: Und der Vorstand hat dann auch die Möglichkeit, ein Zertifikat zu entziehen, nicht? Kurt Pelzer: Das ist schwierig, denn das ist immer noch eine knifflige Angelegenheit. Dieses Zertifikat ist der Nachweis einer 82
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Weiterbildung, und nicht wie eine Approbation, die entzogen werden kann. Gisela Klindworth: Es geht dann, wenn man das als Vertragsgrundlage hatte. Deswegen haben wir 2014 versucht, das auf allen Ebenen festzuschreiben. Einmal ist in den Rahmenrichtlinien ein Satz, dass sich alle an die Ethikrichtlinien halten müssen. Dann muss man auf dem Antrag auf Weiterbildungsnachweis ankreuzen und unterschreiben, dass man sich an die Ethikrichtlinien hält. Auf dem Zertifikat selbst – dieses Dokument darf noch »Zertifikat« heißen – steht das noch einmal drauf, dass man sich an die Ethikrichtlinien zu halten hat. Und wir hatten es in der Satzung, es wurde gerade aus semantischen Gründen im November herausgestrichen. Da müssen wir noch einmal überlegen. Aber alle die, die ihren Weiterbildungsnachweis oder ihr Zertifikat vorher bekommen haben, haben diese Vertragsgrundlage nicht gehabt. Kurt Pelzer: Vielleicht kann man noch dazu sagen: Jedes Ding hat mindestens zwei Seiten. Manche Fälle können bei der »Stelle für verzwickte Fälle« auf eine gute Art behandelt werden, das finde ich einen echten Gewinn. Es gibt aber noch ein anderes Phänomen, das zunehmend gleichzeitig vorkommt, dass wir mit Menschen zu tun haben, die man – vorsichtig gesprochen – dem Querulantentum zuordnet. Oder wo das schon richtig in eine Art »Stalking« reingeht. So etwas hatte man früher nie, das sind jetzt ganz neue Phänomene. Der Vorstand hat ja immer das Problem zu definieren: Wann ist ein Problem ethisch? Es gibt Leute, die sagen: »Ich beschwere mich beim Ethik-Rat, denn in der Mitgliederversammlung ist ›das-und-das‹ beschlossen worden, und das ist unethisch.« Da sagt unsere Juristin: »Wenn die was anderes wollen, dann müssen sie in der MV gucken, dass sie das nächste Mal eine Mehrheit dafür bekommen.« Gisela Klindworth: Der Vorstand hat auch schon Rückmeldungen an Beschwerdeführer gegeben, dass es sich eher um unprofessionelles Handeln beider Seiten handelt, dies muss dann nicht unbedingt ethisch reflektiert werden. Tom Levold: Was ja letzten Endes auch zu diesem Gremium »Stelle für verzwickte Fälle« geführt hat, war, dass es unter Systemikern Sind wir die besseren Menschen?
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so einen Geburtsfehler gegeben hat zu glauben, dass wir möglicherweise bessere Menschen seien, weil wir Systemiker sind, und dass man vor bestimmten Dingen gefeit ist, weil man sozusagen eine tolle Sichtweise auf die Welt hat. Teilnehmer: Enttäuschen Sie mich jetzt nicht. (Lachen) Ludger Kühling: Kann man abstrakt die Grunddynamiken von verzwickten Fällen, mit denen ihr zu tun habt, beschreiben? Tom Levold: Wir sind einbezogen, wenn wir erhebliche Abweichungen von dem vorfinden, was wir für Qualität halten würden. Was immer wieder kommt, sind Konflikte zwischen Weiterbildungsteilnehmern und Lehrenden und Instituten sowie Beschwerden von Klienten über ihre Therapeuten, die sagen: »Das kann ja wohl nicht systemisch sein«, oder »Da haben wir uns etwas ganz anderes vorgestellt. Das ist zum Teil übel, was uns da angetan wird.« Und der dritte Punkt sind Konflikte innerhalb der Systemischen Gesellschaft, wo unterschiedliche Akteure miteinander ein Problem haben – sei es, das Institut will sich spalten oder dass man das Gefühl hat, man nimmt sich gegenseitig die Brötchen weg. Wir haben entschieden: Wir können nur vermitteln. Und das kann nur funktionieren, wenn beide Seiten sagen: »Ja, wir haben ein Problem, und da ist ein Vermittler hilfreich.« Weil wir anfangs sehr vorsichtig waren, haben wir gesagt: »Wir können in einem bestehenden Konflikt, wenn beide ein Interesse haben, vermittelnd tätig werden.« Jetzt haben wir das geöffnet und gesagt: »Wir stellen uns breiter auf, weil wir erst einmal überhaupt hören wollen: Was passiert da alles?« Ich habe zum Beispiel ein sehr interessantes Gespräch mit einer Kollegin gehabt, die zu mir gekommen ist und gesagt hat: »Ich habe drei Jahre lang überlegt, ob ich Sie anschreibe und immer mit meinen Freunden und Kollegen darüber gesprochen, und die haben immer gesagt: ›Bist du bekloppt, du bist doch kein verzwickter Fall!‹ Ich muss mich selbst als ›verzwickten Fall‹ beschreiben, damit ich da überhaupt hingehen kann.« Sie hat das gar nicht so verstanden, dass es primär um die Problemkonstellation geht. Es gibt auch eine Schwelle für Leute: »Bevor ich da überhaupt hingehe – was 84
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erwartet mich da?« Deshalb haben wir gesagt: Die Schwelle wollen wir niedriger legen, der Sinn dieser Einrichtung muss für alle klar sein. Es gehört an den Anfang der Weiterbildung, dass die Weiterbildungsteilnehmer wissen, dass es die Möglichkeit gibt, sich an uns zu wenden. Teilnehmer: Das höre ich zum ersten Mal. Teilnehmerin: Ich auch. Tom Levold: Also Konfliktmanagement auch präventiv. Und das sind alles Dinge, die sich aus der laufenden Praxis heraus entwickelt haben, wo wir am Anfang noch nicht so richtig wussten: Worauf lassen wir uns da eigentlich ein? Uns war lange nicht klar, dass wir das von uns aus ändern können und die Mitgliederversammlung uns das Vertrauen dafür gibt. In den achtziger und neunziger Jahren gab es oft die Haltung, in Weiterbildungen sind welche, die das Wissen vermitteln und damit ihr Geld verdienen, aber wir sind alle erwachsene Menschen – was man da miteinander tut oder lässt, ist Gegenstand freier Vereinbarung. Das war lange Zeit wirklich eine Ideologie. Ich habe mit vielen Kolleginnen gesprochen, die in ganz unterschiedlichen Instituten ihre Weiterbildung gemacht haben. Die haben gesagt, das war der Regelfall, dass es sexuelle Beziehungen zwischen Weiterbildungsteilnehmerinnen und Dozenten – und nicht umgekehrt – gab. Das ist lange überhaupt nicht problematisiert worden. Es ist in einzelnen Instituten zum Konflikt gekommen, aber da ging es um Territorialkonflikte. Es wird erst seit ein paar Jahren gefragt, was erlaubte oder unerlaubte Beziehungen zwischen Dozenten und Weiterbildungsteilnehmern sind. Das ist schwierig zu diskutieren, weil du es nicht »ad personam« diskutieren kannst. Das hat für mich auch etwas damit zu tun, wie man professionelle Qualität sicherstellt. Ich glaube, das gilt nicht nur für die Beziehung zwischen Therapeuten und Klienten, sondern das gilt auch für die Kontexte, in denen wir selbst innerhalb der Gesellschaft aktiv sind.
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Hans Schindler: Die Organisationsentwicklung wie die der Systemischen Gesellschaft und der DGSF in Deutschland gibt es, glaube ich, nirgendwo sonst in Europa. Die Benelux-Länder und Frankreich haben eine andere Entwicklung durchgemacht. Dort blieb der Prozess sehr stark an einzelne Personen gebunden und hat sich nicht so strukturell entwickelt. Und in den südeuropäischen Ländern ist es auch wieder anders. Und wir haben natürlich einen ganz großen inhaltlichen Input durch die Mailänder gekriegt. Aber das betraf weniger die Organisation, sondern vor allem die Inhalte. Die Weiterentwicklung der Familientherapie hin zum systemischen Denken wurde ganz stark durch das Mailänder Team beeinflusst. Cornelia Oestereich: Dass sich das bei uns so stark in Verbänden organisiert hat, das ist vielleicht etwas typisch Deutsches. Es gibt ja nicht nur die systemischen Verbände, sondern überhaupt diese Art von Denken, dass man sich in einem Verband zusammenschließt und eine Struktur schafft, eine Organisationsstruktur. Sie bildet sich möglicherweise auch schon darin ab, dass wir Ärztekammern haben. Und in dem Augenblick, als das Psychotherapeutengesetz diskutiert wurde, haben sich auch Psychotherapeutenkammern gebildet, wie wir ja auch Anwaltskammern haben. Die European Family Therapy Association (EFTA) hat pri86
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mär mit Systemischer Therapie nichts zu tun. Das ist ein großer Zusammenschluss von Familientherapeuten und nationalen Verbänden von Familientherapeuten aller Couleur, vieler Therapieschulen. Zunehmend mit der Ausbreitung des systemischen Denkens sind da natürlich auch Systemiker drin, aber nicht alle, sondern das ist immer noch eine große Vielfalt. Ich glaube, dass Fritz B. Simon der Erste war, der in der Systemischen Gesellschaft schon für eine Mitgliedschaft in der European Family Therapy Association geworben hat mit der Idee: Eines Tages wird die Europäische Union Richtlinien verfassen. Und wenn wir dann als Psychotherapeuten oder Heilpraktiker anerkannt sein wollen und wenn das hier in Deutschland mit der sozialrechtlichen Anerkennung nicht klappt, dann könnte das dort einen Rahmen bekommen – einen europäischen Rahmen, der uns erlaubt, therapeutisch tätig zu sein. Das war schon sehr früh, dass man darüber nachdachte, wie man sich in diesem Gewirr von Organisationsstrukturen, die immer auch mit Richtlinien und Verordnungen und Gesetzgebung zu tun haben, zurechtfinden kann, im großen Stil und vielleicht auch im Kleinen. Hans Schindler: Okay, das ist Taktik und Strategie. Aber das ist nicht nur in dem Bereich dieser akademischen und Heilberufe so. Dass es in Deutschland Qualifikationen als Geselle, als Meister gibt – also diese ganzen Fragen der Berufsqualifikation – wie so etwas geregelt ist, und dass man so etwas formal erwirbt, gibt es, glaube ich, in keinem anderen Land so wie in Deutschland. Jürgen Hargens: Es gibt ja noch eine Entwicklung, die noch gar nicht angesprochen worden ist: Ich war 1985 zu einem Kongress in Brüssel eingeladen. Kaum jemand wusste etwas davon. Da trafen sich 3.000 Familientherapeuten aus aller Welt. Und da habe ich das erste Mal Leute aus der damaligen DDR getroffen, der damaligen Tschechoslowakei, Ungarn. Und es war interessant, wie begierig sie waren, Leute einzuladen, die man wirklich so einladen musste, dass sie auch kommen konnten. Es war nicht immer so einfach, denn bestimmte Dinge durfte man ja nicht machen. Und 1987 hat dann Petr Boš in Prag diese erste große Bridging Conference gemacht. Da waren 3.000 oder 5.000 Leute – auch wieder aus aller Welt, und es haben sich ganz viele Kontakte ergeben. Das war Die SG und ihr Kontext
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einfach interessant, wie viele Leute aus den osteuropäischen Ländern unheimlich heiß darauf waren, etwas zu erfahren, was unter »systemisch« läuft. Das war ein wunderbares Training in »kreativem Grenzen-Überwinden«, um Material, das man nicht haben darf, wie zum Beispiel Videos, in die damalige DDR zu bringen. Da waren Bewegungen unterschwellig. Die haben sich, als 1989 die Mauer fiel, relativ schnell hier ausgebreitet, weil viele Leute im Osten sofort mit den Instituten Kontakt aufnahmen. Hans Schindler: Es gab von der SG auch Unterstützung für die tschechischen Kolleginnen und Kollegen. Da haben wir einmal einen Kongress mitgesponsert, und die Schweizer Kolleginnen und Kollegen sind auch relativ früh Mitglied der SG geworden. Das Ausbildungsinstitut Meilen ist schon 2001 Mitglied geworden. Cornelia Oestereich: Die Österreichische Arbeitsgemeinschaft für systemische Therapie und systemische Studien (ÖAS) 2007. Hans Schindler: Die ÖAS auch – wobei die wieder eine andere Organisationsstruktur hat. In Bezug auf den deutschsprachigen Raum haben wir relativ schnell enge Kooperationen entwickeln können. Gisela Klindworth: Die DAF und die DFS haben irgendwann überlegt, dass sie sich zusammenschließen wollen, dass sie nicht parallel agieren wollen. Und die SG wurde gefragt: Sollen wir nicht drei Verbände fusionieren? Damals hat sich die SG dagegen entschieden. Die DAF und die DFS haben sich zur DGSF zusammengeschlossen. Tom Levold: Aber das war auch eine ganz andere Situation. Kurt Pelzer: Das war, weil die Institute sagten: »Wir sind die führenden Institute, die die Qualität bringen. Wir wollen etwas Eigenes im Weiterbildungsbereich machen. Denn bei den anderen, da sind so kleine Institute, die kein Mensch kennt. Und damit wollen wir nichts zu tun haben.« Teilnehmerin: Ich bin ja in beiden Verbänden Mitglied, und ich finde es ganz fruchtbar, dass es so ist, wie es ist, denn wir sind ja systemisch gesehen füreinander quasi Umwelten. Ich weiß gar nicht, ob das von Vorteil wäre, wenn es nur einen einzigen Verband gäbe – ob das auch genauso kreative Prozesse in Gang setzte. Also auch die Unterschiedlichkeit, die es immer noch gibt. 88
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Kurt Pelzer: Es würde mich interessieren, wie sie wahrgenommen wird, die Unterschiedlichkeit. Teilnehmerin: Ich war zuerst in der SG Mitglied und bin dann später zur DGSF gegangen. Da hat sich die SG gerade erst für Mitglieder geöffnet, und das habe ich schon gespürt. Ich war auf einer Mitgliederversammlung hier in Köln und habe gedacht: »Hier gehöre ich nicht hin.« Dann bin ich auch noch Sozialarbeiterin, keine Psychologin – und das habe ich gespürt. Und ich finde schon, dass man es immer noch so ein Stück spürt, dass die DGSF mehr als Mitglieds- und die SG als Institute-Verband aufgestellt ist. Tom Levold: Aber das hat sich mit der letzten Satzungsverabschiedung dramatisch verändert, weil sich die Institute jetzt eigentlich selbst entmachtet haben. Gisela Klindworth: Zur Erläuterung: Laut Satzung wurde bis 2016 in zwei Kammern abgestimmt. Und in Weiterbildungsfragen stimmt nur die Kammer der Institute ab. Der Anwalt hat gesagt: Sie haben hier Mitglieder wegen eines Marktvorteils bevorzugt. Das ist nicht gemeinnützig. Und dann hat der Vorstand den Vorschlag gemacht, dass die Institute in Weiterbildungsfragen weiterhin – das ist in der DGSF auch so – selbst entscheiden können. Aber in allen anderen Fragen haben die Institute eine Stimme, genau wie ein Einzelmitglied. Tom Levold: Ja, das ist doch interessant. Da ist doch eine wichtige Hürde für die Fusion gefallen. Ludger Kühling: Aber das reicht mir nicht. Für mich ist es so: Mein erster Kongress der DGSF war dieser Kongress, als die beiden Verbände fusioniert haben. Seitdem besuchte ich regelmäßig DGSF-Kongresse – und habe mich da sehr wohl gefühlt. Irgendwann war ich dann bei der SG. Und kulturelle Unterschiede habe ich auch sofort gemerkt. Aber das ist ja noch kein Gewinn, dass man Unterschiede merkt. Was empfinden Sie jetzt noch als Mehrwert, wenn Sie auf einer SG-Tagung oder in SG-Kontexten sind? Teilnehmerin: Ich bin aktuell tatsächlich so eingebunden in der DGSF, dass ich es nicht schaffe, noch zusätzlich auf SG-Veranstaltungen zu kommen. Das würde ich tatsächlich gerne, wenn ich das zeitlich schaffen und dann trotzdem genug Geld verDie SG und ihr Kontext
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dienen würde. Aber dadurch, dass es so viele Fachgruppen in der DGSF gibt, bin ich schnell an einer thematischen Stelle für Mitarbeit gewonnen worden. Tom Levold: Ich bin seit 1980 in der DAF gewesen, ich bin nie ausgetreten, ich bin in der DGSF drin. Ich führe permanent Diskussionen doppelt. Und ich kann definitiv keinen Unterschied feststellen. Ich finde, die DGSF ist breiter aufgestellt. Sie hat ganz andere Ressourcen mit über 6.000 Mitgliedern, da ist inhaltlich sehr viel mehr an unterschiedlichen Debatten in Gang. Dafür haben wir in der SG gar nicht die persönlichen Ressourcen. Und Ihr Argument finde ich interessant, denn wenn jeder genug Zeit hätte, alles doppelt zu machen, dann wäre es eine super Idee, die Sachen nebeneinander zu entwickeln und zu gucken, wo es dann hinführt, aber in der Situation sind die allerwenigsten, man muss sich entscheiden: Will ich primär da oder da? Gisela Klindworth: Aber es gibt eben auch andere Argumente zu sagen: Für die eine Person ist der eine Verband gut und für die andere Person der andere. Die DGSF ist sehr groß, sie haben sehr große Tagungen und eine sehr große Struktur, und die SG ist ein bisschen persönlicher, übersichtlicher. Wir haben als Mitglieder-kleinerer Verband doch eine andere Beweglichkeit. Tom Levold: Wir haben uns 1987 entschieden, nicht die DFS mit zu gründen, und wir haben uns 2000 entschieden, nicht bei dieser Fusion mitzumachen – aus sehr, sehr guten Gründen, die ich auch heute nachträglich für richtig halte. Aber die Situation hat sich verändert. Gisela Klindworth: Trotzdem ist es lustig, dass ausgerechnet du, der die SG gegründet hat und diese Fusion damals abgelehnt hat, jetzt so vehement der Verfechter für die Fusion bist. Tom Levold: Warum haben wir im März 2000 nicht mitgemacht? Die DAF und die DFS waren sich einig, dass sie zusammengehen wollten, und haben uns eingeladen mitzumachen. Und obwohl ich ja heute ein sehr starker Fusionsbefürworter bin, war es sehr gut, dass wir das damals nicht gemacht haben, weil wir gesagt haben – das hat auch wieder etwas mit dieser Elitevorstellung zu tun: »Ihr seid uns zu wenig systemisch.« Und ich glaube, dass diese Entscheidung, da nicht mitzumachen, interessanterweise 90
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einen großen Effekt auf die DGSF gehabt hat, weil sie dadurch systemischer geworden ist, weil sie dann selbst einen Prozess eingeleitet haben, der dazu geführt hat, dass alle, die da rausgegangen sind, nicht primär mit einer systemischen Perspektive sympathisieren können. Die ganzen analytischen Kollegen haben dann einen eigenen Verband gegründet. Es hat dazu geführt, dass in der DGSF ein Prozess in Gang gekommen ist, der dazu geführt hat, dass die beiden Verbände ähnlicher geworden sind. Das wäre nicht der Fall gewesen, wenn wir alle zusammengegangen wären, denn dann wäre das an den Rändern wieder sehr offen gewesen, und ohne dass eine Kraft dagewesen wäre, das ein Stück weit zu konzentrieren. Aus meiner Sicht sind Organisationen primär dazu da, Interessen zu vertreten. Und die Interessenlage verändert sich relativ schnell. Insofern können die Argumente von damals gar nicht die Argumente von heute sein. Einen Verband, der groß ist, kann man viel besser auf die Füße stellen. Karin Martens-Schmid: Aber die Kooperation, die damals beschlossen wurde, hat auch etwas verändert. Wir hatten nach 2000 relativ viele Kooperationen und regelmäßige gemeinsame Vorstandstreffen, regelmäßige gemeinsame Vorstöße in Richtung Psychotherapeutengesetz usw. Das hat ein bisschen inhaltliche Nähe gebracht. Andrea Ebbecke-Nohlen: Wir im HSI finden ja, Konkurrenz belebt das Geschäft, und wir haben daraus damals den Schluss gezogen, in beiden Verbänden Mitglied zu werden. Ich finde es gut, dass es zwei Verbände gibt, die sich ungefähr in demselben Feld bewegen. Und da gibt es Unterschiede, und diese Unterschiede stacheln dann auch den jeweils anderen noch einmal an, sein eigenes Profil zu stärken. Ich würde überhaupt gerne diese Debatte, die wir hier führen, stärker ressourcenorientiert führen. Gisela Klindworth: Wir haben dieses geschwisterliche Verhältnis zur DGSF und Geschwister schlagen sich, und sie lieben sich auch. Ich versuche darauf zu achten, dass wir nicht dasselbe tun, denn das wäre langweilig, sondern dass die Konkurrenz zwischen den beiden Verbänden auch dazu führt, dass jeder Verband eigene Dinge tut. Das kann man bei den zertifizierten Einrichtungen sehen, da hat die DGSF das Siegel erarbeitet. SGler Die SG und ihr Kontext
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haben ebenfalls nach einem Siegel verlangt. Wir haben gefragt: »Warum machen wir das nicht zusammen?« Das wollte die DGSF nicht. Dann haben wir etwas anderes gemacht. Und daraus ist nebenbei der Praxispreis entstanden, den ich nach wie vor ganz wichtig finde. Es ist daraus entstanden, dass es Reibungspunkte gab, und dann gab es etwas anderes und etwas Neues. Kurt Pelzer: Bei der ganzen Fusionsdebatte wird von außen her oft gesagt: »Ja, macht das doch einmal.« Und von innen her bekreuzigen sich alle Leute und sagen: »Bloß nicht mit mir, das tue ich mir nicht an!« Weil das ein Wahnsinnsjob ist. Es gibt viele Hürden. Eine Hürde ist zum Beispiel, dass die Strukturen anders sind. Da muss man erst einmal eine Lösung finden, wie man die zusammenbringt. Und dann kommt dazu, dass sich die Stimmungen in den Verbänden unvorhersehbar ändern. Wenn der eine Verband einmal etwas näher dran ist, will der andere nicht – so wie das auch bei Paaren manchmal ist. Tom Levold: Ich finde die Geschwistermetapher völlig falsch, weil man sich Geschwister ja nicht aussuchen kann. Die beiden Gesellschaften bespielen das gleiche Feld und sind intern unterschiedlich aufgestellt. Wenn man es ändern will, halte ich die strukturellen Unterschiede nicht für ein so großes Problem. Man sollte eine Gruppe zusammenstellen, die für eine Fusion ist, und einen Vorschlag ausarbeiten. Es sollten Leute sein, die operativ nicht zu sehr in die Verbandsarbeit eingebunden sind, oder wenn, dass sie diese Funktionen außen vor lassen, damit man überhaupt eine organisatorische Fantasie entwickeln kann. Eigentlich bräuchte man einen positiven Vorschlag, wie man das Ganze organisatorisch umsetzen kann, und dann sehe ich eigentlich keine Schwierigkeiten darin. Kurt Pelzer: Und wieso ist nichts daraus geworden, obwohl sich damals zwanzig Leute dafür gemeldet haben? Tom Levold: Dafür hat sich keiner gemeldet. Ich habe gesagt, ich mache so eine Gruppe. Das geht ja nur, wenn beide Vorstände einen Auftrag erteilen. Kurt Pelzer: Interessanterweise haben ja meistens Ex-Vorstandsmitglieder den Vorschlag gemacht, und die, die aktiv drin sind, haben natürlich eine andere Loyalität zum Beispiel für die Kolle92
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gen und Kolleginnen in der Geschäftsstelle, deren Arbeitsplätze ja dann zur Disposition stehen. Das heißt, aus den agierenden Vorständen wird man da kaum eine Mehrheit kriegen. Es gibt intern immer wieder die Frage, ob das doch ein Konstruktionsfehler war, dass die SG sich als Institute-Verein erweitert hat und umgekehrt die DGSF so stark in den Weiterbildungsbereich gegangen ist. Vielleicht macht man wirklich ein großes Ganzes daraus: Und darunter gibt es dann eine Unterorganisation für die Mitgliederpflege, eine für die Weiterbildung und Sektionen für die verschiedenen Berufsbilder. Teilnehmer: Nehmen wir einmal an, ich müsste mich zwischen einer Mitgliedschaft in dem einen und dem anderen entscheiden – was wäre denn so ein Plädoyer, drei gute Gründe, um eine Mitgliedschaft bei der SG zu machen im Vergleich zur DGSF? Gisela Klindworth: Dass man hier sehr initiativ sein kann, also nicht in eine für Einzelmitglieder so feste Struktur kommt, und dass da viel Platz für Kreativität ist und dass das unterstützt wird. Durch eine Mitgliedschaft unterstütze ich natürlich, dass Einsatz dafür da ist, den systemischen Ansatz voranzubringen. Und dann müsste ich jetzt ein paar Sachen aufzählen, die wir machen, die man eben mitunterstützt. Also den Praxispreis, oder wir wollen für SG-Mitglieder außerhalb der Systemischen Therapie mehr Möglichkeiten abstecken, dass wir als Marke noch bekannter werden, oder zum Beispiel die Image-Broschüre (»Der Systemische Ansatz und seine Praxisfelder«), das SG-Forum, der Newsletter. Kurt Pelzer: Für die SG spricht, dass man sich als APF-Absolvent nicht mehr bei uns blicken lassen kann, wenn man in den anderen Verband geht. (Lachen) Tom Hegemann: Die SG hat ihren Service für die Mitglieder deutlich verbessert, und die Tagungen der SG sind gut, anregend, witzig und originell. Ich glaube aber, dass die SG, wenn sie sich in der Zukunft weiter eigenständig glaubwürdig als Verband aufstellen möchte, nicht umhinkommt, einen profunderen intellektuellen Diskurs über das zu führen, was »systemisch« ist. Und nicht nur, was »systemisch« genannt wird – das ist ja ein Modebegriff –, sondern die Mode des Wortes »systemisch« ist ja sogar wieder am Die SG und ihr Kontext
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Abklingen. Die SG muss Kriterien entwickeln, nach denen man feststellen kann, ob das, was einer behauptet systemisch zu tun, es tatsächlich auch ist. Das zweite ist, dass dafür Foren geschaffen werden müssen, die sich nicht nur und in erster Linie mit organisatorischen Prozessen beschäftigen, die jeder Verband führen muss. Dafür sollen Leute beschäftigt werden, die man bezahlt, damit die das gut machen, sodass die Mitglieder frei dafür sind, einen intellektuellen Diskurs über das Wort »systemisch« und dessen Anwendung in unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern zu führen. Das zweite: Wie heißt dieser Verband? Es wurde ausdrücklich Wert darauf gelegt, dass in dem Titel des Verbandes keinerlei assoziative Einladung für psychosoziale Felder auftaucht: nicht »Therapie«, nicht »Beratung«, nicht »Klinik«, nicht »soziale Versorgung« – nichts dergleichen sollte im Titel der Systemischen Gesellschaft erscheinen. Darüber wurden Debatten geführt und darüber herrschte große Einigkeit. Und deswegen glaube ich, dass man theoretisch profunder diskutieren muss und dass man die Diskussionsfelder vom klinisch-psychosozialen Feld in größere Breiten des gesellschaftlichen Diskurses einführen muss. Die Systemische Gesellschaft hat hier sogar einen besonderen Konstruktionsfehler: Profilierte Systemiker aus anderen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Feldern können ja nicht einmal Mitglied werden. Solche Dinge müssen angegangen werden.
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Die SG und ihr Kontext
Systemische Therapie und die anderen Arbeitsfelder
Tom Hegemann: Alles führt in zirkuläre Prozesse und taucht wieder auf. Nachdem die Diskussion um Rahmenrichtlinien einigermaßen zur Ruhe kam, nahm die Dynamik mit dem Anerkennungsthema wieder zu. Und zwar hat das mit dem Konzept der SG selbst zu tun. Dass die DGSF sich intensiv damit beschäftigt, liegt in der Logik eines Verbandes, der seinen Mitgliedern eine Dienstleistung anbieten möchte. Aber für die SG war das auch relevant, weil die Institute ja auch Therapeuten ausbilden. Es führte aber dazu, dass das Thema »Systemische Therapie« im Innendiskurs der SG immer dominanter wurde. Aspekte anderer Facetten, die Welt systemisch zu betrachten, rückten immer weiter in den Hintergrund. Das Thema der sozialrechtlichen Anerkennung innerhalb des deutschen Gesundheitswesens wurde zum dominanten Diskurs. Die Mitgliederversammlungen waren geprägt von Diskursen zu dieser Thematik. Andere Fragen, wie systemische Arbeit in der Jugendhilfe, systemische Arbeit in der Organisationsberatung, Systemisches Coaching, Systemische Supervision, systemische Natur- und Wirtschaftswissenschaften – also systemisch zu denken in außerklinischen Settings –, das rückte immer weiter nach hinten. Und das finde ich bis heute eine tragische Entwicklung der SG. Systemische Therapie und die anderen Arbeitsfelder
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Ich sehe zwei zentrale Anforderungen: Wie schafft die Systemische Gesellschaft Attraktoren für systemisch interessierte Personen, die nicht die Akkreditierung als Systemischer Therapeut anstreben? Das zweite Risiko sehe ich in der Anerkennung der Systemischen Therapie als Kassenverfahren. Ich bin kein Fan der Psychoanalyse, aber wenn man die Entwicklung der psychoanalytischen Bewegung in Deutschland anschaut: Seitdem die Psychoanalyse ein Kassenverfahren ist, hat sich der Personenstamm auf Ärzte und Psychologen reduziert. Davor haben sich auch viele andere Menschen mit dieser Theorie beschäftigt. Und ich befürchte, dass ein ähnlicher Prozess eintritt, wenn Systemische Therapie zu einem Kassenverfahren wird. Kurt Pelzer: Ich halte aus heutiger Perspektive die erste Ablehnung für eine glückliche Fügung. Anstatt in Depression zu verfallen, was am Anfang ein bisschen spürbar war, wurde aktiv überlegt: Wie können wir den systemischen Gedanken überlebensfähig halten, auch angesichts einer Ablehnung der wissenschaftlichen Anerkennung der Therapie? Und da entstand erst das Grundgebäude von dem, was heute selbstverständlich ist: dass wir gesagt haben, systemisches Denken und Arbeiten findet in vielen Feldern und Kontexten statt. Maria Staubach: Systemisches Denken auf vielfältige Praxisfelder anzuwenden heißt für mich zu schauen: Was gibt es über Therapie hinaus? Ich war Ende der siebziger Jahre in der Sozialarbeit mit Migranten tätig. Aufgrund des Auftrags der Einrichtung stellte sich aber schnell die Frage: Was bedeutet es eigentlich, mit den klassischen Methoden der Erziehungsberatung nicht mehr anschlussfähig zu sein? Familien im sozialen Brennpunkt von Frankfurt wollten, dass sie als Familie Angebote bekommen. Das heißt, es war für mich sehr schnell wichtig, über eine Weiterbildung nachzudenken, um Familiengespräche führen zu können. Es gab bereits erste Fortbildungsreihen, angeboten von Frau Rücker-Embden-Jonasch (IGST). Für meine Praxis suchte ich damals nach Übersetzungsmöglichkeiten aus der Familientherapie in mein Praxisfeld. Später arbeitete ich in der Erwachsenenbildung für Führungs- und Lehrkräfte im Pflegebereich. Sowohl durch meine eigenen Führungsaufgaben als auch in Seminaren 96
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und Beratungen wurde Kommunikation zur zentralen Kompetenz. Auch hier stellte sich die Frage nach Transfer, damals noch mithilfe von Watzlawicks »Menschliche Kommunikation«. Diese für mich nützlichen Erfahrungen in der damaligen Praxis haben mich bis heute motiviert, mir die Frage zu stellen, was kann systemisches Denken für vielfältigste Praxisfelder leisten? Es hat sich viel getan, aber es sollte weitergehen … Kristina Hahn: Ich bin vom Grundberuf Sozialarbeiterin und habe dann eine systemische Ausbildung gemacht, um besser Sozialarbeit machen zu können. Durch das Systemische hat sich meine berufliche Biografie noch einmal sehr verändert. Unter anderem bin ich am BIF als Lehrende gelandet und habe dort eine spezielle Weiterbildung für Systemische Berater mitentwickelt. Und das ist immer noch ein Herzensanliegen von mir: Wie und wo kann man jenseits der Systemischen Therapie als Psychotherapieverfahren systemisch arbeiten und wie kann man das kreativ weiterentwickeln, einbringen und verändern? Andrea Ebbecke-Nohlen: Dass die Systemische Gesellschaft ein Therapeutenverband sein soll, war aus meiner Sicht nie intendiert. Für mich geht es um die Kunst, Diskurse zu gestalten, Gesprächsführungsprozesse in Gang zu setzen, Lösungen neu zu erfinden, Ressourcen zu nutzen, all diese Dinge – und diese sind doch überhaupt nicht, in keiner Weise, auf therapeutische Tätigkeit beschränkt. Das heißt, für mich war dieser Verband niemals ein Therapeutenverband. Das mag sein, dass er sich jetzt durch diese Anerkennungsdebatte als Richtlinienverfahren so gezeigt hat oder dass diese Seite besonders sichtbar war. Wenn dem so sein sollte, dann gäbe es überhaupt kein Hindernis zu sagen: »Wir wenden unseren Fokus wieder diesen anderen Aufgabenfeldern zu.« Ich weiß gar nicht, ob ich mir die Anerkennung überhaupt wünsche. Welche Vorteile damit verbunden sind, liegt schon auf der Hand, aber auch, welche Nachteile damit verbunden sind. Wir sind im Systemischen alle davon überzeugt, dass wir nicht mit dem Krankheitsmodell arbeiten wollen, auch wenn wir als Therapeuten diagnosenspezifisch arbeiten. Wir arbeiten mit den Ressourcen, wir arbeiten lösungsorientiert – und das ist völlig egal, in welchem Kontext. Systemische Therapie und die anderen Arbeitsfelder
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Tom Hegemann: Ich glaube, dass die SG selbst einen Diskurs in der Innenwelt über diese Frage in unzureichender Weise geführt hat – und nicht, weil die Leute blöd oder dumm sind, sondern weil sie die Anforderungen, eine Organisation zu schaffen, unterschätzt haben. Und ich glaube, dass jetzt der Zeitpunkt gekommen ist, die Metatheorie zumindest im Kernbereich zu definieren. Und das Zweite: Ich fand deine Differenzierung so gut – die Systemische Gesellschaft ist gut dafür, ein Methodenrepertoire zu definieren. Monika Schimpf: Ich glaube, dass da wirklich im Moment eine schwierige Phase in der Systemischen Gesellschaft sein kann, in der wir uns sehr stark an bestehende Strukturen ankoppeln und innerhalb des bestehenden Systems Anerkennung, Finanzierung usw. bekommen wollen. Ich glaube aber umgekehrt, dass es eine Haltungsfrage innerhalb der Weiterbildung ist. Worauf wir die letzten Jahre extrem achten, ist: Wenn ich das so inhaliert habe, dass der Mensch ganz viele Facetten, viele innere Dialoge, viele soziale Kontexte hat und dass das Verhalten, das Fühlen oder Nicht-Fühlen wirklich eine gute Sinngebung im Leben ist und zu bestimmten Zeiten auch viel Positives gebracht hat, dann ist mir die Diagnose weder in der einen Richtung suspekt noch in der anderen sehr willkommen. Und dann verliert es für mich diese große Bedeutung. Früher haben wir uns so die Haare über diese ganzen Diagnosegeschichten gerauft! Das andere ist, dass es eine Frage der Weiterbildung oder der eigenen Auseinandersetzung ist. Kurt Pelzer: Ich würde auch heute noch sagen: Lass uns doch noch einmal gucken, in welchen anderen Feldern der systemische Gedanke noch fruchtbar gemacht werden kann. Da fallen mir beispielsweise die Politik oder die Wirtschaft ein: Da wird überall von systemischen Risiken bei den Banken gesprochen. Aber es ist ein Feld, zu dem wir überhaupt keinen Draht haben. Und das fände ich interessant, da weiter zu gucken und sich von dieser Fokussierung auf Therapie noch mehr zu emanzipieren. Wahrscheinlich gelingt das erst, wenn wir die Kassenanerkennung haben, denn dann ist da erst einmal der Deckel drauf, und dann wird vielleicht wieder alles noch offener für andere Felder. 98
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Tom Hegemann: In den neunziger Jahren hatte die SG eigentlich nur Mitgliederversammlungen. Da gab es noch keine Fachtagungen, die an die Mitgliederversammlungen angehängt wurden. Darum wurde mit der Mitgliederversammlung eine Fachtagung verbunden, wie es bis heute ist. Die Tagungen wurden den Instituten überlassen, sodass Personen sich aufgerufen fühlten: Wir müssen mehr inhaltlich werden. Aber auch die inhaltlichen Themen waren bevorzugt klinisch geprägt. Das führte wieder zur neuen Entwicklung, dass die außerordentlichen Tagungen eingeführt wurden. Und eine, die für mich eine tragische Dimension hatte, war eine der ersten; sie fand in Stuttgart statt, da ging es um den Platz von Organisationsberatung, Coaching und Supervision in der SG. Es wurde zwar diskutiert, danach verpuffte alles aber wie Knallgas in der Atmosphäre. Hans Schindler: Die Nichtanerkennung 1999 hat dazu geführt, dass wir schnell überlegt haben: Wenn das so bleibt, was ist dann die Zukunft systemischen Arbeitens? Und da hat sich erst einmal viel Energie weg vom Therapeutischen hin zu anderen Anwendungsfeldern verlagert. Einen wesentlichen Anteil daran, dass wir da nicht hängengeblieben sind, hatte die Forschungstagung von Jochen Schweitzer, der damals in Heidelberg einmal pro Jahr eine Tagung organisierte, wo es um Wissenschaft und Forschung im Bereich des Systemischen ging und wo deutlich wurde, dass wir uns öffnen und schauen müssen, was international passiert, weil die Ergebnisse von Forschung in Deutschland allein überhaupt nicht ausreichten. Diese Blickerweiterung und die Suche »Was gibt es woanders und was gibt es für Untersuchungen?« hat dann überhaupt erst wieder dazu geführt, diesen zweiten Antrag für die wissenschaftliche Anerkennung der Systemischen Therapie zu stellen. Der wunderbare, große Kongress, den die beiden Dachverbände gemeinsam in Berlin organisiert haben, war die europäische Familientherapie-Konferenz 2004 mit mehr als 3.000 Teilnehmer/-innen, davon kamen mehr als die Hälfte aus Deutschland. Dieser Kongress brachte diesen Aufwind, sich noch einmal zu trauen, die Frage nach der wissenschaftlichen Anerkennung zu stellen. Dass das überhaupt nicht einfach war, kann man im Nachhinein sehen, denn wenn Jürgen Systemische Therapie und die anderen Arbeitsfelder
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Kriz zu der Zeit nicht im wissenschaftlichen Beirat gewesen wäre, hätte es die wissenschaftliche Anerkennung für die Systemische Therapie mit relativ hoher Sicherheit nicht gegeben. Es war nicht so, dass auf einmal alle total begeistert waren, die das fünf, sechs, sieben Jahre vorher noch für Unsinn hielten, sondern dass es da der sehr engagierten Arbeit des Kollegen bedurfte, damit das, was von den Verbänden vorgelegt wurde, auch entsprechend rezipiert wurde und die entsprechende Anerkennung finden konnte. Arist von Schlippe: Ich erinnere mich gut an eine Sitzung im Dezember 2004, in der wir lange hin und her diskutierten, ob wir den Weg der Anerkennung noch einmal beschreiten wollten. Letztlich war entscheidend, dass uns klar war: Es gibt hier ein »Fenster der Gelegenheit«, das wird sich bald und für immer schließen. Und dann haben wir uns für den Weg entschieden, der mehr Optionen eröffnete als der andere. Tom Levold: Der zentrale Punkt für mich war, dass die Idee, diese Zulassung zu bekommen, dazu geführt hat, dass bestimmte Diskussionen nicht mehr geführt wurden, weil man das geräuschloser haben wollte. Als das »Lehrbuch II« herauskam und wir die ganzen Debatten hatten, habe ich mehrere Aufforderungen gekriegt, den Ball flach zu halten und das Buch nicht zu kritisieren, weil man es doch für die Anerkennung braucht, weil man Angst hatte: Wenn wir zu sehr deutlich machen, dass wir eigentlich die Bedingungen, zu denen wir anerkannt werden wollen, selbst infrage stellen, dann kann die Gegenseite zu Recht sagen: »Was wollt ihr denn überhaupt bei uns?« Ich nehme in den letzten zwei, drei Jahren wieder einen größeren Diskussionsbedarf wahr, auch wieder mehr Spaß an Diskussionen, aber wir hatten zehn Jahre lang so einen Mehltau auf systemischen Diskussionen. Das hatte nicht nur etwas damit zu tun, dass die Theorieexplosion der neunziger Jahre vorbei war. Ludger Kühling: Du sagst, nach der Entscheidung über die sozialrechtliche Anerkennung ist der Blick wieder »frei« – wie kommst du auf die Idee, dass dann auf einmal wieder etwas Neues passieren könnte? Man könnte auch sagen, dann verfällt man vollends in Lethargie, dann haben einige Leute ihr Ziel erreicht und andere machen dann so »randständig« weiter. 100
Systemische Therapie und die anderen Arbeitsfelder
Kurt Pelzer: Ich nähre meinen Optimismus aus mehreren Quellen. Die erste: Wer einen SG-Nachweis haben möchte, muss Mitglied werden. Das führt dazu, dass wir immer mehr Mitglieder haben, die nicht im engeren Bereich der Psychotherapie arbeiten, weil die meisten, die bisher irgendein Zertifikat erhalten konnten, nicht in der Psychotherapie im eigenen Sinne tätig sind. Es gibt auch viele mit Therapiezertifikat, die nicht dort arbeiten. Das heißt, es werden mehr Mitglieder, die vielleicht auch ein anderes Interesse haben. Das Zweite ist mehr aus dem Innenblick: die Finanzströme werden anders geleitet. Die letzten Jahrzehnte ist der Hauptanteil der Finanzen der Systemischen Gesellschaft in diese Anerkennungsfrage gegangen. Wenn die da ist, kann das Geld für anderes ausgegeben werden. Das Dritte ist, dass die »Realos« sich dann dem störungsspezifischen Denken anpassen und durch die Anpassung auch die Anerkennung kriegen, und die anderen, die den »reinen Gedanken« aufrechterhalten wollen, mit ihren Ideen vielleicht in andere Felder eindringen. Kristina Hahn: Als die Systemische Therapie damals nicht anerkannt worden ist, ist unendlich viel passiert. So ist die systemische Beraterausbildung ein eigenständiges Curriculum geworden, in dem ganz viele, auch nicht im sozialen Bereich tätige Menschen sich systemisches Gedankengut aneignen können und gucken, wie sie das in ihren individuellen Berufsfeldern anwenden können, das ist doch schon ziemlich großartig. Und ich hoffe und wünsche mir sehr, dass das weiter kommen wird, das: »Was heißt eigentlich 2017 oder 2020 ›systemisches Sein‹ in dieser Gesellschaft?« Und da kommt vielleicht auch noch einmal ein anderer theoretischer oder aus der Praxis noch einmal ein anderer, neuer Input oder neuer Dampf herein. Oder etwas Kreatives, Neues, Anderes. Teilnehmerin: Ich arbeite nicht therapeutisch, aber ich weiß, dass ich mich vor über zehn, zwölf Jahren damit beschäftigte, welche Ausbildung ich noch machen kann, die mich qualifiziert. Ich bin Personalerin, ich habe in einem großen Unternehmen gearbeitet, viele Veränderungen begleitet, und ich wusste nicht: Wie mache ich das, wie unterstütze ich die Menschen darin? Und dann kam ich auf die Ausbildung als systemischer Coach. Und dann war mir Systemische Therapie und die anderen Arbeitsfelder
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das wichtig, dass ich etwas Geschütztes habe. Etwas Geschütztes, das auch sagt: Das hat eine gewisse Qualität. Die Qualität habe ich in allen systemischen Qualifizierungen hier gefunden, die ich seither gemacht habe. Teilnehmer: Nicht aus der persönlichen Perspektive, sondern aus der Perspektive des Verbandes würde ich es für unklug halten, wenn die SG sich entweder auf das Eine oder auf das Andere konzentrieren würde. Aus meiner Perspektive gibt es im Supervisions-, im Coaching- und Trainingsbereich nicht allzu viele Richtungen, die mit der systemischen Arbeit mithalten können. Da ist nicht allzu viel, was so fundiert ist, dass man sagen kann: Außerhalb der systemischen Arbeit gibt es jetzt noch diese, diese und diese Möglichkeiten, sich hier fundiert ausbilden zu lassen. Wenn sich die SG das nehmen lassen würde, diesen Markt und auch diese Leute nicht bedienen würde, würde sie sich da meines Erachtens sehr viele Inputs nehmen. Und sie würde sich kleiner machen, als sie es wäre. Kurt Pelzer: Da sitzt die Kollegin und sagt: »Ich bin Personalerin.« Vor 15 Jahren hatten wir keine Personalerin im Verband. Da ist eine Bereicherung passiert. Oder wir haben einen Praxispreis an eine Frau verliehen, die interne Revisionen systemisch durchführt. Da geht mein Herz auf! Das ist auch Diversität. Und je mehr Diversität wir schaffen, umso überlebensfähiger werden wir auch. Wir beschäftigen uns jetzt mit zig anderen Themen, die sich nicht um die Anerkennung drehen. Und es freut mich natürlich, die Debatten im Coaching-Bereich zu verfolgen: Wie hoch setzen wir die Standards für die Coaching-Ausbildung? Verglichen damit, was es auf dem Markt alles gibt, müssten wir runter, sonst bucht das keiner. Und auf der anderen Seite haben alle gesagt: Die Coaching-Weiterbildung darf nicht kleiner sein als die Beraterausbildung. Teilnehmer: Sehen Sie denn auch Gefahren in dieser Diversifizierung oder hat das für Sie ausschließlich Vorteile? Und wenn ja, welche sind das aus Ihrer Sicht? Kurt Pelzer: Na ja, das ist für die Organisation schon auch eine Herausforderung. Setzt man ein Thema mit einer bestimmten Spezialisierung auf eine Jahrestagung, dann kommen nur die, die 102
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sich angesprochen fühlen. Es wird wahrscheinlich immer schwieriger, das Dach zu organisieren – bis hin zu Vorstellungen: Vielleicht gibt es irgendwann nur Sektionen, die relativ selbstständig sind. Und unter dem Dach trifft man sich vielleicht noch vereinzelt alle paar Jahre zu einer Großveranstaltung. Wie hält man das alles zusammen? Man kann nur Berufspolitik machen, wenn man ein Berufsverband ist. Wir sind aber ein Fachverband, und da sind zwanzig, fünfzig verschiedene Berufe, wir können nicht für fünfzig Berufe Berufspolitik machen. Wir haben bisher auch nur Berufspolitik für die Psychotherapeuten gemacht. Tom Levold: Der Grund, warum wir die Systemische Gesellschaft als einen Fachverband für Systemische Therapie, Beratung und Supervision gegründet haben, ist, dass das berufspolitische Konzept von der DGSv krachend gescheitert ist. Die hatten ja schon in den achtziger Jahren die Idee zu sagen: Supervision ist ein Beruf – wir brauchen dafür einen Berufsverband. Und 2005 gab es unter allen 3.000 DGSv-Mitgliedern eine große Umfrage, bei der dann deutlich wurde: Nur fünf Prozent leben von Supervision. Der Rest ist angestellt und macht nebenher zwei oder drei Prozesse hier und da. Der Konflikt liegt nicht zwischen Systemischer Therapie als sozialrechtlich anerkanntes Verfahren auf der einen Seite und Coaching, Supervision, Organisationsbezug auf der anderen Seite – sondern das Spaltungspotenzial besteht darin, dass wir zukünftig zwei Sorten von Systemischen Therapeuten haben, nämlich solche, die sozialrechtlich anerkannt sind, weil sie approbiert sind, und solche, die das nicht sind. Die Frage ist: Was bedeutet das für das Selbstverständnis von Systemischer Therapie, für den Ansatz und auch für die Praxis Systemischer Therapie, wenn es innerhalb der Systemischen Gesellschaft plötzlich eine Gruppe gibt, die andere berufspolitische Interessen als andere hat, ohne Approbation? Jürgen Hargens: Die Systemiker sagen doch: Eine der kritischen Variablen des Systems ist der Bestand – Homöostase. Wenn du dann die Wissenschaft siehst: Warum sollte dieses System – wenn ich das einmal so vermenschliche – so bekloppt sein und jemanSystemische Therapie und die anderen Arbeitsfelder
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den aufnehmen, der völlig andere Ideen vertritt? Das heißt, da muss man schon einiges leisten, um da durchzukommen, also Studium, dann Promotion und dann arbeiten, wissenschaftlich publizieren, habilitieren. Das ist ja auch so etwas wie: »Der hat genügend Loyalität nachgewiesen, den können wir berufen!« Und das wird ja unterschätzt. Ich bin da nicht so optimistisch. Irgendjemand hat das einmal beschrieben: Neue Psychotherapien entstehen in der Regel alle dreißig bis fünfzig Jahre, und alles, was um die sozialrechtliche Anerkennung geht, ist ein Anpassungssystem. Das lässt sich gar nicht vermeiden, wenn ich in ein System gehe, muss ich mich anpassen. Was bedeutet das, wenn wir da in ein System hineingehen, das andere Prinzipien hat? Da stören wir! Das Beispiel ist für mich immer die DGVT, die hatten einmal einen großen politischen Anspruch. Ich befürchte, dass etliches vom Systemischen in diesem Prozess schlicht verloren geht. Nicht, weil die Leute böse sind, sondern weil ein Kontext einen Einfluss hat! Teilnehmerin: Für die Leute, die von Anfang an dabei waren – die sich die Haltung selbst erarbeitet haben –, mag sich das völlig anders darstellen, als für junge Studierende oder Aus- und Fortzubildende, die diese Haltung noch gar nicht kennen und die dieses theoretische Wissen gar nicht mitbringen, aber auch nicht unbedingt vermittelt bekommen, um diese Haltung wirklich zu entwickeln. Für die wird es dann irgendwann beliebig: »Systemisch« ist alles. Teilnehmer: Das ist eben die Unterscheidung: Gehe ich auf Profilschärfung oder Angleichung? Das sind subtile Angleichungsprozesse. Monika Schimpf: Aus unterschiedlichen Perspektiven sieht es ganz anders aus. Angenommen, da kommt die Anerkennung, und angenommen, da wird sich durch die Ausbildung relativ viel ändern: Werden die anderen noch genauso mit systemischer Arbeit finanziert, wird irgendetwas weggenommen, was wir dreißig Jahre aufgebaut, gesellschaftsfähig gemacht haben? Wie kann da die SG die Arbeitsbereiche, die Finanzierung für diejenigen Beraterinnen/Berater verstärken, die nicht in dieses Kassensystem fallen werden? 104
Systemische Therapie und die anderen Arbeitsfelder
Klaus Deissler: Ich kann mir durchaus vorstellen, dass ich, wenn ich einen anderen Geldgeber hätte, das »soziale Arbeit« nenne. Denn es findet ja im sozialen Kontext statt. Das ist eine Frage der Definition: Wer gibt das Geld? Und das, was im Gesundheitsmarkt passiert, das ist ja ein Wahnsinns-Geldumschlag. Ich habe zum Beispiel ein kleines Problem: Ich hatte mich bisher mit mir selbst geeinigt, dass ich keine »gesicherten« Diagnosen gebe – dass ich »Verdachtsdiagnosen« gebe. Und jetzt habe ich von der Kassenärztlichen Vereinigung ein Schreiben gekriegt: Sie bekommen kein Geld aus dem Gesundheitsfond, wenn die Diagnose nicht »gesichert« sind. Das ökonomische Kriterium ist ja wichtig, das ethische Kriterium ist wichtig. Bin ich mit dem, wie ich arbeite – egal, ob ich das »Therapie« oder »soziale Arbeit« nenne – hilfreich, nützlich? Und das ästhetische Kriterium: Macht es den Leuten, die beteiligt sind, Spaß? Und ich finde, das sind die drei wichtigen Kriterien, über die man sprechen müsste. Und gibt es – vielleicht als Bonbon oben drauf – einen erkenntnistheoretischen Gewinn, den man auch noch haben kann? Und dann kann ich sagen: Ja, ich habe eine gute Erkenntnis, die macht mir Spaß. Ludger Kühling: Wenn jetzt die sozialrechtliche Anerkennung kommt, was habt ihr für Fantasien, für Ideen: Wo werden sich dann neue Felder erschließen, neue Theoriediskurse angestoßen? Woher wird dann etwas Neues kommen? Cornelia Oestereich: Ich vermute, dass es zunächst einmal ziemlich viele Abwehrbewegungen geben wird. Es heißt ja »Richtlinienverfahren« – und das sind Richtlinien, die nicht von Systemikern vorgegeben werden, sondern sie werden von Nicht-Systemikern und oft auch von Nicht-Therapeuten gemacht. Wenn also die sozialrechtliche Anerkennung kommt, dann wird es ein erhebliches Ringen darum geben, dass man innerhalb dieses sozialrechtlichen Rahmens überhaupt einen Platz findet, dass man sich als Systemischer Therapeut wiedererkennen kann. Da muss man gucken: Was kann man denn davon überhaupt bewahren oder dort in dem Rahmen erweitern? Der G-BA (Gemeinsame Bundesausschuss) und die Kassen haben meines Erachtens noch nicht verstanden, dass es einen Wechsel vom Systemische Therapie und die anderen Arbeitsfelder
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individuellen Krankheitskonzept hin zu einem systemischen Konzept bedeutet. Da geht es um Abwehrbewegungen, und deswegen vermute ich, dass das etwas ganz Neues sein wird. Hans Schindler: Ich glaube auch nicht, dass aus dem Richtlinienbereich nach der sozialrechtlichen Anerkennung irgendwelche revolutionären Anstöße kommen werden. Ich bin aber auch nicht der Überzeugung, dass von dort so viel Abwehrbewegung kommt. Die Kassen nehmen das, was sie kriegen. Und das, was sich als hilfreich erweist, das wird auch finanziert. Wir werden Schwierigkeiten haben, den Anschluss zu finden, weil wir alle schon so alt sind und alle Strukturen, die jetzt in diesem Richtlinienbereich existieren, setzen voraus, dass Lehrtherapeutinnen und -therapeuten und Supervisoren gebraucht werden, die momentan nicht existieren, denn sie müssen alle eine Approbation haben. Das wird sich als eine ganz große, organisatorische Herausforderung für die jüngeren Kolleginnen und Kollegen erweisen. Ich bin fast zwanzig Jahre in diesem Bereich tätig und sehe überhaupt keine Gefahr, dass der systemische Ansatz sich verwässert. Ich bin da mit Kolleginnen und Kollegen aus Verhaltenstherapie und Tiefenpsychologie/Analytik immer wieder zusammen in Fortbildungen und merke deutlich, wie unser Ansatz sich von ihrem unterscheidet. Da geht es gar nicht um die reine Lehre, sondern um eine gewisse Haltung, und diese Haltung ist eine andere. Diese Herausforderung spüre ich ständig, wenn wir Fallbesprechungen oder Ähnliches machen, weil ich einfach anders auf diese Themen schaue.
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Gisela Klindworth: Was waren Meilensteine in der Entwicklung der SG, was war schwierig, was war gut, was fandet ihr toll, was hat Spaß gemacht? Welche Geschichten gibt es noch zu erzählen? PAUSE, (Lachen) Kristina Hahn: Bei mir gehen da Geschichten, Bilder und Erinnerungen durch. Ludger Kühling: Erzähl Geschichten! Kristina Hahn: Die Ablehnung der Systemischen Therapie damals beim Psychotherapeutengesetz, die war ein echter Meilenstein, der unglaublichen, kreativen Schwung in das Geschehen gebracht hat, und zwar nicht in Richtung »jetzt gerade«, sondern in einer sehr differenzierten, feinen Abgrenzung, nach dem Motto »Wir als Systemiker sind entschieden mehr als ›nur‹ ein therapeutisches Verfahren«. Es war schon eine große Kränkung, als klar war: Systemiker sind nicht drin. Und das lassen sich Systemiker, und schon gar nicht die erste Gründungsgeneration der Männer, nicht bieten. Es wurde eine Erklärung erarbeitet: Wir machen anders weiter.4 4 Die »Kölner Erklärung« des SG-Vorstandes vom 05.02.2001 ist zu finden unter: https://systemische-gesellschaft.de/wp-content/uploads/2018/02/KoelnerErklaerung-2001.pdf Funken und Nischen
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Manche Tagungen sind für mich besondere Highlights, die auch lange im Gedächtnis bleiben. Die Tagung, die wir als Vorstand der SG in Berlin 2011 organisiert haben, fand ich ganz klasse: »SGt raus.« Wir gehen raus aus unserem systemischen Gewurschtel hinter der Einwegscheibe und zeigen uns in der Stadtöffentlichkeit. Tom Hegemann: Eines der besten Highlights in der gesamten Geschichte der SG war für mich die Tagung »SGt raus«, bei der wir verschiedene Einrichtungen in Berlin mit verschiedenen Gruppen besucht und das dann zusammengetragen haben. Ich war mit meiner Gruppe in einem muslimischen Frauenzentrum. Anschließend gab es einen höchst interessanten Austausch mit den Gruppenteilnehmern und dann mit anderen Besuchern. Diese Tagung war eine der bereicherndsten Veranstaltungen, die ich je im SG-Rahmen besucht habe. Monika Schimpf: Am Anfang fand ich die inhaltliche Auseinandersetzung so toll, und dass diese organisatorisch-formalen Dinge eine geringere Rolle spielten. Der Übergang zu dieser Professionalisierung ist mir persönlich sehr schwer gefallen. Plötzlich war das warme Nest: »Kannst du zu uns kommen, ein Seminar halten?« weg. Ich habe mehr profitiert, als ich gegeben habe. Ich würde mich heute, wenn ich jünger und in Ausbildung wäre, mehr engagieren. Wir haben bei uns im Team immer gesagt: Wir möchten in keinen Ausschuss gehen, der andere kontrolliert. Aber das gibt es ja so gut wie gar nicht, das ist ja Quatsch. Das ist ein Bein, das man sich selbst stellt. Das würde ich heute aus meiner Perspektive anders machen: Ich würde mich weniger beschweren und mehr mitmachen. Die Posten, die innerhalb der Gemeinschaft der Systemischen Gesellschaft besetzt werden und auch besetzt werden müssen, sind ja für viele Leute viel Arbeit und viel Zeit, die da investiert wird. Das habe ich immer viel zu wenig gesehen. Was ich gesehen habe, war immer: Die Posten waren schon vorher ausgekungelt. Eine Idee, was ich mir für die Zukunft erhoffe, ist, dass wir uns immer wieder gegenseitig an Transparenz erinnern. Kristina Hahn: Eigentlich ist das Ganze hier doch ein funkelndes Geschehen! Es funkelt in der Art und Weise, wie wir funkeln. 108
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Monika Schimpf: Das weiß ich eben nicht: Ich will den Funken kriegen. Und die Frage wäre, ob wir ihn nicht gemeinsam produzieren. Kristina Hahn: Ja eben! Andrea Ebbecke-Nohlen: Was mir am meisten Spaß gemacht hat, ist, dass wir die Welt neu erfunden haben. Nichts weniger als das. Wir haben uns auch zu Recht etwas darauf eingebildet, in den Feldern, in denen wir unterwegs waren, Avantgarde zu sein. Und auch gegen den Mainstream unterwegs gewesen zu sein, das hat einfach Spaß gemacht. Wäre das heute auch möglich, die Welt neu zu erfinden? Und wie müsste es dann aussehen? Das wäre dann die Anschlussfrage. Walter Schwertl: Ich bin erwachsen geworden mit der Vorstellung, ich gucke auf die Welt, das heißt, der Standpunkt des Subjektivismus. Und ich habe meine Grundposition verändert: Ich bin ein Teil der Welt und damit sozusagen hineingeworfen in die Beobachterthematik. Ich erinnere mich sehr gut an eine Fahrt von Heidelberg nach Frankfurt. Wir hatten über Familien und über Paare gesprochen. Ich hatte bis dahin immer gesagt: »Tatsache ist …«, »Objektiv ist …«, und dann habe ich ausgeführt, warum ich Recht habe. Und ungefähr auf der Höhe von Seeheim habe ich überlegt, ob ich nicht nach Heidelberg zurückfahre und diese neue Erkenntnis wieder abgebe. Denn wenn ich dann nach Hause komme, kann ich so ja nicht mehr argumentieren, und ich habe geahnt, da bewegt sich etwas. Aber ich habe das nicht leicht und locker-flockig bekommen. Ich habe auch gelernt, Abstand zu nehmen. An diese ganze Interventionstechnologie zu glauben, darüber habe ich nur Spott. Und das war hilfreich für mich, denn dadurch kann ich auch nicht mehr so viele Interventionsfehler machen. Gisela Klindworth: Und hat denn in der SG etwas Spaß gemacht? Walter Schwertl: Bei all meiner Distanz zur SG-Variante der Alt-Achtundsechziger-Rituale habe ich viele freundliche und sympathische Kollegen kennengelernt. Anfangs waren wir eine Art soziale Gemeinschaft. Ich war immer neugierig auf all diese unterschiedlichen Menschen. Mein Spott und meine Kritik bezogen sich auf bestimmte Rituale, zum Beispiel diese unendlichen Catwalks der Eitelkeiten. Funken und Nischen
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Maria Staubach: Was mir Spaß gemacht hat in der SG, das waren ganz konkrete Begegnungen. Der Start in neue Entwicklungen war immer davon geprägt, dass es erstmal eine Arbeitsgruppe gab, und ich war in der Weiterbildungsgruppe Therapie und Beratung. Auch hier gab es lange kontroverse Auseinandersetzungen und nicht immer Konsens. Wenn man ein Interesse am Diskurs hat und vielleicht alleine irgendwo in seiner Praxis ist, hilft es ganz breit zu schauen: Wo könnte ich Kollegen finden, mit denen ich meine Themen gut erörtern kann? Aber auch über persönliche Beziehungen kann man erkennen: Bin ich hier richtig? Ich muss mich irgendwo fachlich beheimaten können. Tom Hegemann: Für mich sind die Begegnungen das Zentrale und die Anregung im Diskurs. Und das hat sich im Laufe der Zeit verändert. Nachdem ich ja aus England kam, habe ich die Vorgeschichten, die Kontroversen, die Animositäten, die Konkurrenzen am Anfang überhaupt nicht verstanden, wieso der eine mit dem anderen nicht kann, obwohl die konzeptionell praktisch auf einer Deckung von 98 Prozent lagen. Sie stritten sich dann um die zwei Prozent, die übrigblieben. Und Diskurs zu lernen – der Diskurs, mich selbst zu beobachten: Wie platziere ich mich in einem Forum? Was muss ich eigentlich tun, wenn ich Interessen durchbringen muss? Wie entwickelt sich eine Organisation? Oder jetzt die Qualitätszirkel. Das waren für mich hoch beeindruckende Lernfelder. Ich bin nach wie vor in der Systemischen Gesellschaft sehr beheimatet, das hat auch emotionale Gründe, weil das sehr stark mit Personen verbunden ist, denen ich mich sehr verbunden fühle. Cornelia Oestereich: Wir sind einfach auch ein Haufen unheimlich interessanter Leute und das ist sehr, sehr anregend. Das ist viel Arbeit, aber das bringt einen selbst auch vorwärts. Die meisten, die sich in der SG engagiert haben, sind vielleicht auch schon in der Zeit der Studentenbewegung und danach politisch bewegt gewesen, sie haben einen Veränderungswillen und eine intrinsische Motivation »Wir wollen die Welt verändern« mitgebracht, jeder Einzelne natürlich ein bisschen anders, aber ich glaube, das war eine Form davon, noch einmal einen Gedanken oder ein ganzes Konzept in die Welt zu bringen, andere davon 110
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zu begeistern und zu schauen: Wie schafft man das, damit wirksam zu werden? Also es ging um Wirksamkeit in dieser Gesellschaft und in Medizin und Therapie. Ich bin in der Psychiatrie geblieben, weil ich immer gesagt habe: Wenn diese Therapieform den Schwerkranken nicht hilft, dann ist sie nichts wert. Und wenn man angeblich das System Psychiatrie nicht verändern kann, müsste man sich nicht damit beschäftigen. Ich wollte aber beweisen, dass die Veränderung auch solcher Systeme wie der Psychiatrie geht. Aber ich wurde von ganz vielen systemischen Kolleginnen und Kollegen belächelt, ja bemitleidet, die gesagt haben: »Och, du bleibst da in dem starren System, das ist ja traurig.« Mit der sozialrechtlichen Anerkennung geht es auch um dieses System, und da habe ich das Gefühl, dass das richtig war, dort die Wirksamkeit Systemischer Therapie und systemischer Haltung in den Organisationsformen gezeigt zu haben. Dass das erste Gutachten abgeschlagen wurde und man etwas Neues entwickeln musste, ist etwas, was wir in der Therapie und in der Beratung auch vermitteln, dass etwas, was vielleicht zunächst wie Scheitern aussieht, ein neues Narrativ bekommen kann. Aus einem Scheitern heraus entstehen neue Ideen, und das zeigt heute – rückwärts gesehen – ja auch die Erfolgsgeschichte des systemischen Denkens und Handelns –, dass es sich in der Gesellschaft so ausgebreitet hat. Hans Schindler: Eine große Herausforderung ist die Wissenschaft. Da haben sie es geschafft, uns abzuhängen. Dadurch, dass es so gut wie gar keine habilitierten Kolleginnen und Kollegen gibt, die überhaupt auf irgendwelche Lehrstühle berufbar sind, sind wir durch diese zwanzig Jahre Nichtanerkennung aus einem Prozess herausgeschossen worden, in den wir nicht so einfach wieder reinkommen. Cornelia Oestereich: Es gibt keinen einzigen Lehrstuhl für Klinische Psychologie mehr in Deutschland, der ein nichtverhaltenstherapeutischer Lehrstuhl ist, und das bedeutet eine Monopolisierung von Verhaltenstherapie. Das ist ja auch das Problem mit dem, was den Patienten begegnet. Der letzte Lehrstuhl für Soziale Psychiatrie hier in Hannover ist vor einigen Jahren geschlossen und anders besetzt worden. Gerade solche Lehrstühle waren ja Funken und Nischen
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noch für alle möglichen Gedanken, die man unter dem Dach vereinen kann, offen. Bei uns in der Klinik gibt es durchaus ein Interesse, bei meiner Nachfolge als Chefärztin jemanden zu finden, der das Systemische bewahrt. Aber es gibt praktisch keine Psychiater, die das gelernt haben, weil in den großen Verbänden das Systemische als Theoriekonzept wegen der fehlenden wissenschaftlichen Anerkennung herausgefallen ist. Es wird dauern, bis die Riesenlücke gefüllt ist. Arist von Schlippe: Wir haben mit meiner Nachfolge an der Universität Witten/Herdecke ähnliche Erfahrungen gemacht: Es ist wahnsinnig schwer, jemanden zu finden, der habilitiert – also professorabel – und mit systemischem Gedankengut unterwegs ist. Teilnehmer: Heiko Kleve geht aus der sozialen Arbeit nach Witten/ Herdecke und ist dort als Professor für den Bereich der Familienunternehmen tätig. Das ist einer, der im Bereich der systemischen Arbeit durchaus ausgewiesen ist. Und jetzt denke ich an junge Menschen, die sagen: Ich würde ja gerne promovieren, aber ich habe das Geld nicht. Die Uni hat es vielleicht auch nicht. Dann brauchen wir Drittmittelfinanzierung. Könnten nicht ein Verband oder die Verbände sich zusammentun und dafür Geld organisieren? Es müssen ja nicht gleich die fertigen Assistenzstellen sein. Arist von Schlippe: Ja, die andere Seite ist, dass es sehr viel mehr Interessenten gibt, die promovieren wollen, als mögliche Betreuer. Ich habe 15 Doktoranden gleichzeitig. Und Heiko Kleves Kapazität ist auch begrenzt. Da in Witten haben wir eigentlich eine kleine Nische geschaffen in den letzten Jahren, schon unter meinen Vorgängern Fritz Simon und Rudi Wimmer, dann bei mir und mit meinem Nachfolger Heiko Kleve geht es weiter: In der Familienunternehmensforschung gibt es nämlich überhaupt kein Problem mit systemischem Denken. Im Gegenteil: Ich kenne Rechtsanwälte, die reden ganz locker von Paradoxien, Paradoxie-Management und Familienstrategie. Dieses Denken ist in dem Bereich gut zu Hause! Aber ich gebe Ihnen natürlich Recht: Strukturen auf einer größeren Ebene, wo es um die Förderung größerer Projek112
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te geht – die haben wir nicht so einfach. In Witten/Herdecke bekommen wir über die Nähe zu den Familienunternehmen eine ganze Reihe von Projekten, die auch von den Unternehmen, die wir beforschen, unterstützt und gefördert werden. Aber das ist eben auch eine Nische. Und jetzt ist sicher eine interessante Frage: Wie kann man solche Nischen auch anderswo so bauen, dass dort vernünftige Forschung passiert, die interessant und spannend ist und sich nicht an einem geistig immer ärmer werdenden Mainstream abarbeitet? Ich habe das Gefühl, dass wir von Familienunternehmertum mit unserer systemischen Optik wirklich etwas verstanden haben. Wir haben eine gute Theorie, die uns unmittelbar hilft, Phänomene zu verstehen, die wir dort beobachten. Hans Schindler: Aber es war und bleibt kein klinisch-psychologischer Lehrstuhl. Arist von Schlippe: Ja, das ist sicher der Punkt. Es war für mich immer klar, dass ich auf meiner Stelle in der Psychologie wohl noch eine apl.-Professur, aber keinen Lehrstuhl hätte kriegen können. Für den Lehrstuhl musste ich in die Wirtschaftsfakultät wechseln – das ist auch verrückt, nicht? Cornelia Oestereich: Es kommen ja Studierende und an Forschung Interessierte aus unterschiedlichen Richtungen. Es gibt zum Beispiel das Taos Institute, das der Sozialkonstruktionist Ken Gergen, Sheila McNamee und Harlene Anderson vor über zehn Jahren zusammen gegründet haben. Sie arbeiten international, und sie haben PhD-Programme, sodass sie Menschen aus Madagaskar, Dänemark, Angola, Taiwan usw. zu Seminaren zusammenbringen und sie über das Internet vernetzen. Und die leben in Ländern, in denen sie nie die Möglichkeit hätten, aus ihrer Praxis heraus noch zu promovieren, was sie dort aber können – mit total interessanten Forschungsprojekten aus allen Bereichen, mit wenig Geld ermöglicht. Arist von Schlippe: Die letzten Innovationen sind alle an den Rändern gewesen. Nehmen wir als Beispiel Maria Aarts mit dem Konzept des Videofeedbacks oder Haim Omer mit den Angebot an »battered parents«, also wie »geschlagene Eltern« sich mit gewaltlosen Mitteln ihren Platz in der Familie zurückholen können. Ich denke auch an auch Eia Asen, die Arbeit mit diesen sehr schweren Funken und Nischen
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Fällen, an die sich eigentlich kein Kliniker herantraut. Und dann hat sich die Multifamilientherapie entwickelt. Mit Ausnahme von Haim Omer sind es Leute, die eher aus der Praxis kommen und an der vordersten Front in den schwierigsten Praxisfeldern arbeiten und da etwas entwickeln und das erst einmal nicht über die Wissenschaft tun, sondern aus der ganz konkreten Praxis heraus. Hans Schindler: Ich weiß nicht, ob der Kongress in Heidelberg damals – »Das Ende der großen Entwürfe – das Blühen systemischer Praxis« – nicht eine gigantische Massenhypnose ausgelöst hat.5 Ich hatte das Gefühl, da wird auf einmal der Sack zugemacht. Wir haben keine großen Entwürfe mehr zu erwarten, sondern wir müssen jetzt nach Hause gehen und die kleine systemische Praxis machen Arist von Schlippe: Und ab jetzt klein-klein! Ludger Kühling: Das war ja eher philosophisch gemeint, dass in Ankopplung an postmoderne Philosophien das Ende der großen Entwürfe gekommen ist. Marxismus, Hegel, die großen Welterklärungsmodelle werden ad acta gelegt und jetzt gibt es vielfältige, sich widersprechende, unterschiedliche Praktiken. Arist von Schlippe: Das war eigentlich ein postmoderner Titel, ja. Hans Schindler: Ja, aber wir verwenden Sprache und wir wissen, dass uns die Sprache, die wir verwenden, selbst strukturiert, uns Möglichkeiten schafft und uns Möglichkeiten verschließt. Und insofern habe ich die Gegentendenz zu dieser Frage »Wir werden uns einschränken, wir werden uns nicht weiterentwickeln, wir müssen dann sehen, woher die neuen Ideen kommen«. Sie kommen auf jeden Fall nicht aus dem klinischen Bereich. Die Befürchtungen, die du äußerst, sollen ruhig geäußert werden. 5 Fischer, H. R., Retzer, A., Schweitzer, J. (Hrsg.) (1992). Das Ende der großen Entwürfe. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Aus dem Inhaltsverzeichnis: »Vom 3. bis 7. April 1991 fand unter dem Titel ›Das Ende der großen Entwürfe und das Blühen systemischer Praxis‹ in Heidelberg ein interdisziplinärer Kongreß statt, der international bekannten Theoretikern der Kybernetik, Systemtheorie, Systemtherapie und anderer Bereiche Gelegenheit bot, angesichts des Zusammenbruchs vieler großer Entwürfe und einer nie dagewesenen Vielfalt konkurrierender Paradigmen ihre Konzepte und ihre Praxis zu diskutieren.«
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Ich möchte bloß immer dagegenhalten, damit wir die Chancen, die in diesem Bereich auch stecken, nicht verspielen und uns von vornherein nur noch auf Abwehr und auf »Wir müssen aufpassen, wir werden da untergebügelt« fokussieren. Teilnehmer: Ich bin enttäuscht. Angenommen, sie versetzten sich alle noch einmal in den Geist, in dem Sie die SG gegründet haben. Und jetzt diskutieren Sie noch einmal über diese Frage. Ich kann nur sagen, ich habe keine Angst vor den Problemen, die da kommen, ich freue mich darauf, das zu lösen. Ich bin total gespannt, was dann entstehen wird. Und dass ich mir jetzt noch nichts Neues vorstellen kann, stört mich dabei überhaupt nicht. Ich finde, es geht nicht darum, etwas Neues zu finden, sondern ich habe eher das Gefühl, ein Stück Lebendigkeit ist verloren gegangen. Und ich fände es schön, wenn Sie uns diese Lebendigkeit, die vorhin kurz spürbar war, als Sie über alte Zeiten geredet haben, wenn Sie den Funken einmal überspringen lassen könnten. Dass wir mit der Lebendigkeit jetzt neue Probleme lösen. Hans Schindler: Also Sie finden es bis jetzt langweilig!? (Lachen) Teilnehmer: Ich habe es höflicher formuliert. Cornelia Oestereich: Ich glaube auch, dass wir im Moment auf der Verbandspositions-Befürchtungsebene sind. Ich würde gerne noch einmal diese Position der Verbandsebene verlassen, denn die Systemische Gesellschaft ist doch nur ein kleiner Teil des insgesamt bunten, reichhaltigen, vielfältigen, systemischen Feldes! Eine Perle zwar, aber – (Lachen) Ich bin ja eben auch Ärztin und Psychiaterin, aber nicht nur Psychiaterin und Psychotherapeutin, sondern auch Ärztin. Und wenn wir von dem Therapiefeld sprechen, dann denken wir immer an das Psychotherapiefeld. Und in dem Feld wird sich etwas verändern. Aber das systemische Denken ist zum Beispiel in der Medizin überhaupt noch nicht angekommen. Und da gehört es erst noch einmal hin! Wenn man die Ökonomisierung, die Effizienzsteigerung und das Denken in der Medizin und im Gesundheitswesen im Moment sieht, dann hat sich das weit entfernt vom systemischen Denken und Handeln. Funken und Nischen
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Sie laufen ja fast vor den systemischen Gedanken davon. Die Patienten werden immer unzufriedener, die Behandlungen sind schlechter, die Qualität ist schlechter. Wir produzieren bei den Menschen, die im Gesundheitswesen arbeiten – egal, ob in der Pflege oder als Ärzte –, Massen von Burnout-Phänomenen. Da fehlt der Perspektivwechsel von dem individuellen Patienten hin zu Krankheitsbewältigung und Entstehung von Krankheiten in größeren Systemen. Von der Pathogenese zur Salutogenese in größeren Systemen. Und wenn wir da noch einmal hinkommen würden – ich bin ganz sicher, da entwickelte sich ganz viel Hochspannendes, was qualitätssteigernd wäre und gleichzeitig preiswerter als diese Hochtechnik-Medizin. Ich glaube, das meiste Geld in der Medizin wird in Deutschland zurzeit für den einzelnen Menschen in den letzten acht Wochen seines Lebens ausgegeben. Das heißt, in hochtechnisierte Medizin investiert, die aber letztlich »nur« so effektiv ist, dass sie das Leben vielleicht um acht Wochen verlängert. Wenn sich dieses medizinische Denken in dem Sinne verändern würde, dass sie dort auch eine systemische Art, über Krankheit und Krankheitsbewältigung nachzudenken, aufnehmen würden! Was das für das Individuum innerhalb seiner Familie, innerhalb seiner Gemeinschaft bedeutete! Wie denken wir überhaupt über Krankheit? Und wenn wir mehr salutogenetische Konzepte anstatt immer nur Defizitdenken anwenden, können wir da noch einmal eine Revolution auslösen. Die braucht unser Gesundheitswesen ganz dringend! – Ich vermute, dass wir da mehrere gesellschaftlich relevante Felder auftun können, in denen das notwendig ist. Und dann wird auch etwas ganz Lebendiges entstehen. Das Spannende ist ja gerade, dass die Dinge nicht vorhersehbar sind. Gisela Klindworth: Also überspitzt gesagt: Wir lassen das mit der sozialrechtlichen Anerkennung jetzt laufen und sagen: »Das ist jetzt langweilig, wir gucken, welche anderen Bereiche für uns spannend sind«, richtig? Cornelia Oestereich: Ja.
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Wenn ich mal ein bisschen herumspinne Junge Wilde – Alte Zahme – Junge Zahme – Alte Wilde – Gezähmte Junge
Gisela Klindworth: Ich zitiere aus einer Rede, die 2000 (von Arist von Schlippe) gehalten wurde: »Wenn man ein Bewusstsein hat, woher man kommt, kann man die Richtung, in die man will, vielleicht besser in den Blick bekommen.« Das war die Idee dieser Veranstaltung, dass wir gucken: Woher kommen wir, wohin wollen wir? Klaus Deissler: Die meisten Menschen haben die Idee, dass die Gegenwart und die Zukunft eine lineare Fortsetzung der Vergangenheit sind. Und das ist nicht der Fall. Als würden wir in erster Linie postfaktisch handeln – wir handeln nur aufgrund der Fakten in der Vergangenheit. Aber das, was wir machen – was unsere tägliche Arbeit ist –, ist präfaktisch, also bevor das Faktum entsteht. Und das ist mein Hauptinteresse: dass wir uns dem widmen. Teilnehmer: Es ist die Frage der Gleichzeitigkeit. Die Formalia sind abgearbeitet, haben wir gehört, es ist mehr Raum da, es soll etwas entstehen, und es gibt die Einladung: Wie lädt man ein, dass etwas passiert? Lebt man das öffnend vor, dass man sich lustgebend verhält, dass die Leute auch Lust kriegen, auch etwas zu machen? Oder vielleicht: »Du musst dich jetzt entwickeln.« Kristina Hahn: Das ist ja genau der Diskurs hier und jetzt: Wo sind die Schwerpunkte und wo soll es lang gehen? Und das ist klar, dass es auch gerade viele Einzelmitglieder, die nicht im therapeuWenn ich mal ein bisschen herumspinne
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tischen Setting unterwegs sind, sehr abgeschreckt hat: ewig dieses Gerede über Anerkennung. Es ist die Frage, ob beides gleichzeitig in einem Verband geht oder ob nicht dann neu geguckt werden kann: Wie organisieren sich die therapeutisch interessierten Menschen und machen knallhart Systemische Therapie? Oder würfeln wir weiterhin unsere Diagnosen! Teilnehmer: Auch im Bereich Beratung, Coaching und Supervision gibt es immer größere Spezialisierungen und Professionalisierungen, das ist nicht nur auf Therapie begrenzt. Teilnehmerin: Ich hadere zum Beispiel, wenn ich für den »Intercultural Readiness Check« lizenziert bin: Wie geht das zusammen mit einem systemischen Ansatz? Widerspricht sich das nicht? Das sind Diskussionen, die ich mit meinem inneren Team führe – und wo ich mir wünsche, wenn ich in eine SG eintrete, dass sie eben genau das tut: theoretisch-profund über solche Dinge zu diskutieren und auch Leuten, die noch nicht Mitglied sind, dort aber eine Heimat finden wollen, Angebote zu machen und die Diskussionsfelder auszuweiten. Kristina Hahn: Ich würde mir über alle Maßen wünschen, dass ganz viele junge Leute Mitglied in der SG werden und da etwas anstoßen. Und den Raum – dieses Nischendasein gibt es allemal hier. Also da ist die SG, glaube ich, gut aufgestellt und offen, Neues zu denken und Neues auszuprobieren. Teilnehmerin: Es wäre ganz schön, ein Forum zu haben, in dem man erst einmal anfangen kann. Aber jetzt als Newcomer zu sagen: Okay, ich mache eine Supervisionsgruppe – treffen wir uns, vielleicht kommt ja noch jemand?! Monika Schimpf: Genau das – doch, genau das! Ja klar! Teilnehmerin: Gut, dann machen wir die! Kristina Hahn: Im SG-Forum hat neulich jemand eine Anfrage geschickt: »Lust, den und den Film anzuschauen?« – gemeinsam mit anderen Systemikern. Das hat mich unglaublich angesprochen, ich fand das hoch originell und gar nicht schlicht. Teilnehmerin: Ich bin nicht mehr die Jüngste und habe seit zehn Jahren viel mit Systemischer Therapie zu tun gehabt – und fand diesen ganzen Bogen heute spannend, wie sich das entwickelt hat. Mal gucken, was sich für mich noch entwickelt. 118
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Andrea Ebbecke-Nohlen: So ein Verband wächst ja. Da sind ursprüngliche Interessen, ihn zu gründen – mit bestimmten Aufgaben. Und dann verändert sich der Kontext, also unsere deutsche Gesellschaft entwickelt sich. Und auch aus dem Verband heraus kommen durch bestimmte Entwicklungen andere Aufgaben auf so einen Verband zu. Was wir jetzt heute vielleicht gerne vom Verband hätten, das unterscheidet sich insofern wesentlich von dem, was wir damals von einem Verband wollten. Und wir können uns heute überlegen: Welche Aufgaben hätten wir gerne, die dieser Verband erfüllt? Welche erfüllt er bereits? Diese Standardisierung der Weiterbildung zum Beispiel, die damals unser Ziel war, das wird erfüllt. Die Möglichkeit, sich über die Zuschreibung zu einzelnen Weiterbildungsinstituten zu zertifizieren, ist auch erfolgt. Was ich jetzt gehört habe, ist, dass sich dem Verband gegenüber auch eine kritische Stimmung entwickelt hat. Und da würde ich eher gucken: Was hat er bis jetzt geleistet und was wollen wir, das er in Zukunft leistet? Was erwarten wir als Mitglieder oder als Institute von diesem Verband? Gisela Klindworth: Wie würdest du die beiden Fragen denn für dich beantworten: Was hat er geleistet? Andrea Ebbecke-Nohlen: Diese ursprünglichen Ideen, die hat er erfüllt: Er hat dazu beigetragen, das Systemische zu standardisieren. Er hat zu Zertifizierungsmöglichkeiten beigetragen – also auch den Berufsstand der Menschen, die da eine Weiterbildung gemacht haben, zu untermauern. Monika Schimpf: Die Zertifizierung und die Mitgliedsbeiträge sind auch heute die finanzielle Basis. Wir haben lange Zeit bei uns keine Einzelmitgliedschaftswerbung gemacht, aber ich glaube, dass sich das wirklich gewandelt hat, weil jetzt viel mehr Möglichkeiten der Vernetzung da sind. Lange Zeit wurden die Einzelmitglieder immer überstimmt. Das ist jetzt, glaube ich, anders. Teilnehmerin: Bei denen, die jetzt einsteigen, vermisse ich den Aufbruch, den Widerspruch, dieses Querbürsten, einmal von der anderen Seite angucken und so etwas. Das möchte ich gerne, dass junge Leute gegen den Strich denken, dass sie sich von Autoritäten wie Oberärzten nicht einschüchtern lassen oder dass sie ihre Berichte zwar dem Kontext angemessen, aber trotzdem auch Wenn ich mal ein bisschen herumspinne
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mit systemischen Inhalten füllen, sei es jetzt für die Kasse oder für das Jugendamt. Ludger Kühling: Was tun, damit es noch einmal zum kleinen Flächenbrand kommt? ich glaube, von einer Gründergeneration kriegt man Hinweise, Weisheiten, Erfahrungen. Aber so etwas Neues, Eigenes – tja, das ist ein Elend, das muss man selbst machen. Teilnehmerin: Damit habe ich auch kein Problem, etwas selbst zu machen. Das ist heute alles superspannend für mich zu erfahren, was es gibt oder was es in der Vergangenheit gab. Und das kann ja auch etwas völlig anderes sein. Kristina Hahn: Das hoffe ich! Gisela Klindworth: Klar, man kann ja auch sagen: So, das habe ich jetzt gehört – das will ich jedenfalls nicht. Dann weiß ich jetzt schon eher, was ich will. Maria Staubach: Ich finde dies ganz wichtig. Ich habe mich sehr bewusst für die SG entschieden, auch für den Freiraum, den ich hier habe. Aber das, was uns immer wieder ein Stück zum Holpern gebracht hat, war, zu viel Raum zu haben. Es sollte in Zukunft ein weiterhin ernstes Anliegen bleiben, für die unterschiedlichsten Vorhaben im Verband straffere Rahmen zu schaffen, um nicht zu viel Energie zu verlieren. Teilnehmer: Meine Themen sind aus dem Alltag gegriffen: Wie grenze ich Leitungsfunktionen auf verschiedenen Ebenen voneinander ab – aber so, dass sie miteinander arbeiten, dass da ein Fluss stattfindet? Wie sichere ich die Kostenstellenverantwortung, damit Mittel fließen? Das ist eine eigene Expertise der Gestaltung von Organisation. Und da kann ich dann fragen: Warum kommen wir trotz aller Veränderungsbemühungen immer wieder beim gleichen Ergebnis an? Und welche Überzeugungen wohnen denn in den beteiligten Akteuren – was diese denken, wie das System funktioniert? Und das ist für mich der Punkt, wo ich dann die Fachexpertise Organisation/Betriebswirtschaft mit dem Systemischen zusammenbringen kann. Und dann würde ich mir natürlich wünschen, ich wäre in einem Verband, in dem ich Gesprächspartner finde, mit denen ich andocken kann. Das sind für mich vielleicht auch Therapeuten, denn ich habe von Thera120
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peuten viel gelernt. Aber ich glaube, ich bräuchte auch Leute als Gesprächspartner, die genau diese Expertise mitbringen. Und jetzt habe ich im Grunde zwei Möglichkeiten: Ich bin in der SG, ich bin es im Moment immer noch gerne und glaube auch, dass das für mich ein Weg ist. Ich könnte Trittbrettfahrer sein. Die andere Möglichkeit ist, ich gehe selbst aktiv in den Verband und versuche eine entsprechende Fachgruppe aufzubauen, die diese Expertise zu entwickeln versucht. Ich würde das machen, allerdings neben meiner jetzt schon bestehenden Belastung noch verbandstechnische Arbeit – man muss sehen, ob das gelingt. Teilnehmerin: Angenommen, ich würde mich heute entscheiden, dass ich Mitglied der Systemischen Gesellschaft werden möchte, und wäre an lebendigen, vielleicht kontroversen Diskussionen, an Entwicklungen und Impulsen zum systemischen Arbeiten und zur systemischen Haltung interessiert – was gibt es da in der Systemischen Gesellschaft für mich? Wie könnte ich mich einbringen oder wo könnte ich mich da in Diskussionen einklinken? Kurt Pelzer: Fangen wir mit dem ganz Klassischen an: Das ist natürlich die Jahrestagung und die Mitgliederversammlung, bei denen es auch Möglichkeiten des persönlichen Treffens gibt, was wir übrigens auch hin und wieder einmal variieren. Für 2018 planen wir wieder etwas, wo kleine Gruppen in kleinen Spaziergängen etwas miteinander machen können – nicht nur diese klassischen Workshop-Konzepte. Dann kann man natürlich die »systeme« lesen und darüber ein Gespräch mit Leuten finden. Man kann Regionalgruppen besuchen. Dann ist die nächste Richtung alles, was digital über das Forum abläuft. Karin Martens-Schmid: Ich habe gerade gedacht: Wenn ich jetzt jung und gerade Mitglied der SG wäre und sähe, in Köln gibt es eine Regionalgruppe, und dann sehe: Die diskutieren jedes Mal so etwas wie »meine Lieblingstechnik« – da würde ich unruhig werden und sagen: »Da muss ich jetzt hin, das passt mir so nicht«, ich will bestimmte, vernachlässigte Theorien lesen oder Praxisreflexion machen oder was auch immer dann in der Auseinandersetzung entsteht. Das heißt, es reicht nicht, dass da eine Regionalgruppe ist, die kollegial gut funktioniert und Themen hat. Wenn Wenn ich mal ein bisschen herumspinne
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jemand sagt: »Mich interessiert eigentlich etwas ganz anderes«, dann müsste er aus meiner Sicht erst recht hin! Teilnehmerin: Ich bin so eine Mitgliedsfrau, eine Basis-Workerin: alleine im Geschäft, seit zehn Jahren, ganz gut verbunden in meiner systemischen Arbeit. Ich bin in der Systemischen Gesellschaft, weil ich mich mit »systemisch« sozialisiert habe. Das ist ein bisschen Freundschaft geworden. Und deshalb hatte ich auch gar nicht mit anderen geliebäugelt. Ich bin heute hier, weil ich etwas möchte, aber auch etwas zu geben habe, und ich bin nicht bereit, so weit zu fahren. Von daher freut es mich, dass diese »Auf-uns-zukommen-Bewegung« stattgefunden hat. Aber diese inhaltliche Bewegung – dieses Fortschreiben oder diesen Prozess weitermachen –, da bräuchte ich Verbündete. Und das ist meine Suchbewegung, mich über den Tellerrand meiner Region hinaus anzuschließen. Kurt Pelzer: Bei einer regionalen oder lokalen Geschichte gibt es viele Leute, die Interesse haben, aber man braucht immer mindestens einen, der das verantwortlich organisiert und dranbleibt. Ludger Kühling: Ich bin ja noch nicht so viele Jahre dabei, aber meine Erfahrung ist: Wenn man sich ein wenig orientiert, kann man relativ schnell sagen: »Daran habe ich Interesse, da würde ich gerne mitmachen.« Und dann wird man nett aufgenommen. Teilnehmer: Ich habe gesagt: Ich würde mir einen fachlichen Austausch zwischen den Einzelmitgliedern wünschen – dafür war ja der Platz. Und was mich überrascht hat, war, dass die Idee sehr schnell aufgegriffen worden ist. Das zeichnet für mich die Systemische Gesellschaft aus. Das kenne ich in anderen Verbänden nicht so in der Qualität. Teilnehmerin: Ich muss erst noch ein Gefühl dafür kriegen: Wo hat es Platz, an wen wende ich mich da? Ich gehe raus mit dem neuen Eindruck: Es gibt viele Stellen, wo ich das loswerden kann, wo ich das initiieren oder mich hinwenden kann. Teilnehmerin: Ich nehme Deutschland im Moment als ein Land wahr, das internationaler wird, und ich glaube, wir haben da sehr viel Wirkungsfläche und Verantwortung, die wir vielleicht mittragen können. Und ich würde mich total freuen, das auch in der Systemischen Gesellschaft widergespiegelt zu finden. 122
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Arist von Schlippe: Es ist leicht etwas Resignatives, dieses: »Wir sind jetzt kanonisch geworden.« Ich habe daran ja selbst mitgearbeitet: Das »Lehrbuch« und noch das »Lehrbuch II« und nun das »Lehrbuch I« völlig neu bearbeitet und noch ein bisschen dicker. Es gibt sozusagen Wissen, das jetzt festgeschrieben ist. Und das, was mich damals eigentlich angefixt hat, das war, dass mein innerer Rebell sagte: »Da bist du richtig. Da wirst du nicht ›quadratisch-praktisch-gut‹ gemacht, sondern da hast du Möglichkeiten, dich mit dem ›jung und wild sein‹ zu identifizieren.« Das ist vielleicht ein unlösbares Dilemma, außer dass »jung und wild sein« vielleicht mit dem systemischen Denken am ehesten zusammenpasst. Cornelia Oestereich: Ich glaube, das ist jetzt ein Selbstläufer mit dem Richtlinienverfahren. Da haben wir alles gemacht, was man tun kann: Das läuft jetzt. Das ist nicht mehr das, was meine Neugier weckt! Meine Neugier ist in anderen Bereichen. Es gibt ganz viele Felder, in die man das jetzt mit der gleichen Begeisterung hineinbringen könnte. Das müssen aber nicht die gleichen Menschen machen! Aber der Fokus oder der Scheinwerfer des systemischen Denkens und der Entwicklung von Konzepten sollte sich jetzt noch einmal wie eine Suchbewegung auf die gesamte Gesellschaft richten und gucken: Wo fehlt es jetzt noch? Jürgen Hargens: Im Drogenjargon sagt man: »Dieser ganze Ansatz hat mich echt angefixt.« Und ich bin noch nicht auf Entzug. Und das bleibt auch so, da bin ich ganz sicher. Sie sagten: »Wenn ich einmal ein bisschen herumspinne.« Und das, finde ich, ist verloren gegangen: Auch wir hier führen ja wieder ein ernstes, seriöses Gespräch. Ich habe immer gesagt: Wenn ich kreative Ideen entwickeln will, dann setzen wir uns hin und trinken und reden über völlig spinnerte Projekte, und einer protokolliert, sonst geht das alles verloren. Und wenn wir dann wieder denken können, dann reden wir darüber, was wir davon umsetzen. Solche Sachen brauchen wir. Gisela Klindworth: Dann komm vorbei! Jürgen Hargens: Gut! Hans Schindler: Diese Frage der Entwicklung von Organisationen, die finde ich insofern spannend, als dass man sich das bei Wenn ich mal ein bisschen herumspinne
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den anderen auch einmal ansehen kann. Bei den Analytikern hat das ja dazu geführt, dass diese alten Herren – wenige alte Damen und viele alte Herren – nicht losgelassen haben, sondern dass sie bis zum Sterben in den Vorständen und in den Gremien – Arist von Schlippe: – in den Podiumsdiskussionen – (Lachen) Hans Schindler: – sitzengeblieben sind. Das darf uns nicht passieren! Das soll mein letztes Podium sein. (Lachen) Arist von Schlippe: Aber Sie müssen uns vom Podium herunterschmeißen – nicht, dass wir gehen und sagen: Bitte schön, hier ist euer Platz. Für mich ist das nicht mein letztes Podium: Ich bleibe hier, bis ihr mich runterschmeißt. (Lachen) Cornelia Oestereich: Aber wir sind doch auch gar nicht mehr im Vorstand der SG! Wir reden ja schon über die Vergangenheit. Insofern sprechen wir nicht für einen etablierten, vergreisenden, an der Schwelle zur Rente stehenden Vorstand, sondern wir sprechen über die Zeit, als wir aus einer anderen Position heraus kraftvoll versucht haben, eine Organisation ins Leben zu rufen. Als ich den Vorstand übernahm, hatten wir keine Geschäftsstelle. 2005 war der Auftrag, der an mich übergeben wurde: »Jetzt müssen wir uns professionalisieren und eine Geschäftsstelle einrichten.« Das war eine ganz andere Welt! Und jetzt haben wir eine Geschäftsstelle mit sechs Angestellten. Jürgen Hargens: Wie hat sich die Systemtherapie entwickelt? Es haben ein paar Leute gesagt: »Das geht so nicht!« Und dann haben wir einfach etwas anderes gemacht! Es gibt immer wieder eine Idee, etwas Neues zu gründen. Aber ich habe noch nie etwas davon gehört, dass es auch eine Idee gibt, mit dem, was man gegründet hat, aufzuhören! Organisationen, die sich gründen, haben so ein fürchterlich langes Leben. Und manchmal könnte es ganz hilfreich sein zu sagen: Wir gründen eine Organisation, die sich alle zehn Jahre auflöst und wieder neu gegründet werden muss. Arist von Schlippe: Das ist eine gute Idee. Gisela Klindworth: Sollen wir das jetzt machen? 124
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Arist von Schlippe: Wer ist dafür, die SG zu schließen? (Lachen) Ludger Kühling: Ich glaube, die Jungen Wilden sagen nicht: »Gib mir einen Raum«, sondern man nimmt sich einen Raum. Der Raum in der Systemischen Gesellschaft ist auf alle Fälle für Dinge da, die einem im Kopf herumschwirren. Und man kann einfach Platz nehmen und sagen: »Ich hätte die und die Idee, das und das würde ich gerne machen.« Arist von Schlippe: Das unterstellt ja, dass es möglich wäre, als einzelne Person so etwas zu tun. Aber damals gab es ein Feld, in dem plötzlich an vielen verschiedenen Stellen etwas angefangen hat zu brodeln. Da geht nicht etwas, wo ein Einzelner sagen kann: »Okay, was interessiert dich – dann darfst du das hier verwirklichen«, sondern es braucht auch ein Feld, in dem etwas entsteht! Ludger Kühling: Aber das kann man ja nur merken, wenn man das tut, ob das Feld da ist. Man kann nicht analysieren und sagen: »Das Feld gibt es leider nicht, der Raum ist nicht da«, sondern man muss es tun, und dann gibt es das Resonanzphänomen: Ist das Feld da? Und dann wächst das Feld oder man merkt eben: »Das war eine gute Idee, aber ich bin Avantgarde und leider zehn Jahre zu früh.« Teilnehmerin: Natürlich brennen wir, die wir durch diese Ausbildung gehen, für diese systemische Haltung. Und wenn wir das in verschiedenen Arbeitsbereichen mitkriegen, dann könnte ich schon sagen: Das ist nicht wenig, was da ist, und wo ich das Gefühl habe: Doch, da hat sich etwas ausgebreitet. Das sind nicht die Leute, die die Bücher schreiben, und das sind nicht die Leute, die prominent sind, aber an der Basis passiert echt eine Menge dank dieser Weiterbildungen, die berufsbegleitend angeboten werden. Gisela Klindworth: Was mir in letzter Zeit auffällt ist, dass es Parallelen gibt: dass die SG entstanden ist, weil da auf einmal die Institute aus dem Boden schossen und man einmal klar machen wollte, was wir jetzt tatsächlich unter »systemisch« verstehen. Und im Moment habe ich den Eindruck, als wäre das wieder so, auf einer anderen Ebene, dass jeder sagt: »Wir können systemisch«, dass es im Moment gerade wieder so etwas gibt, wo wir uns als Verband positionieren müssen. Wenn ich mal ein bisschen herumspinne
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Cornelia Oestereich: Ja, und das geht aber nur, wenn man einfordert, dass es auch eine bestimmte Qualität sein muss. Und damit stellt man sich natürlich auch gegen das Inflationäre. Teilnehmer: Eben wurde uns ja schön beschrieben: Da wurde etwas völlig Neues gemacht. Und hier gibt es vielleicht die Jungen Wilden innerhalb einer Organisation. Das hat mich immer von der Politik abgehalten: gegen diese Strukturen anzukämpfen, um überhaupt die Idee dahin zu bringen, wo sie relevant wird. Und das ist ja jetzt im Prinzip das, was angestoßen wird: Wir haben eine alteingesessene Geschichte, und da kommen neue Ideen, neue Gedanken, und die müssen nach oben durch. Und das geht einfach nicht mit: »Hier ist ein Junger Wilder, und der macht mal.« Dann müsste ich etwas Neues machen, und das will ja von uns gar keiner. Cornelia Oestereich: Aber warum muss es denn nach oben durch? Das muss es doch überhaupt nicht. Wenn es ein großes Feld an Mitgliedern gibt, die bestimmte Interessen haben, warum tun die sich denn nicht zusammen? Dafür gibt es das SG-Forum, die Chat-, die Regionalgruppen. Erst einmal muss es sich doch zusammenfinden, und dann muss man gucken, was damit passiert. Teilnehmer: Das verstehe ich, aber da fand ich die Idee ganz gut, zu sagen: Schaffen wir doch intern Möglichkeiten, dass das überhaupt schneller passieren kann, dass sie sich finden. Die Peer-Gruppen gehen irgendwann wieder auseinander, und da sind dann noch ein paar, die haben noch Ideen. Und wenn man dann organisatorisch Ansprechpartner hat, – Cornelia Oestereich: hat man. Teilnehmer: – dann fällt das leichter. Deshalb nach oben. Ich habe jetzt gehört, dass es so etwas gibt. Cornelia Oestereich: Es gibt diese Strukturen, es gibt die Ansprechpartner, das kann man alles auf der Website erfahren. Es wird aber aus irgendeinem Grund – und ich weiß nicht, warum – nicht ausreichend in Anspruch genommen. Ich glaube, es kann eben nicht von oben organisiert werden, sondern es muss von unten kommen. Teilnehmerin: Ich weiß, warum. Weil ich Sie nämlich einmal kennenlernen wollte, um dann zu gucken: »Okay, wo kann ich 126
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etwas bewegen?« Und deshalb finde ich dieses Treffen auch total super. Und ich finde auch toll, dass Sie da oben auf dem Podium sitzen und von Ihrer Arbeit erzählen. Dieses Anonyme über das Internet ist schwierig. Und hier sitze ich mit Menschen zusammen. Wir kennen uns jetzt und lernen uns kennen, das macht Sinn! Jürgen Hargens: Wenn es darum geht, Innovation zu begünstigen: Welches Weiterbildungsinstitut hat denn ein mehrteiliges Modul »Innovation in meiner zukünftigen Arbeit« als Teil der Weiterbildung? Und ein ganz wichtiger Punkt: Wie kann es das Zutrauen haben, dass es funktioniert? Denn diese Idee des Zutrauens ist etwas, was unheimlich trägt. Dann muss man gucken: Blubbert da schon etwas? – Nein, noch nicht! – Dann muss ich irgendwohin, dass es wieder blubbert! Arist von Schlippe: Mir hat diese Idee »Wir brauchen vielleicht nicht nur ein Gründen, sondern auch ein Beenden« sehr gefallen. Was wäre eigentlich, wenn wir das wirklich ernst nehmen, also nicht nur im Sinne von: »Mach etwas anderes«, sondern: »Mach es auch anders!« Das wäre ein interessantes Gedankenspiel, wenn wir das jetzt bei der nächsten MV hinkriegen und sagen: Wir lösen uns auf! Und wir haben die Chance, uns in einer neuen Struktur neu zu entwickeln oder auch nicht: also neu zu gründen oder auch nicht. Würde sich die SG heutzutage eigentlich noch einmal lohnen? Also würdet ihr sagen: »So, okay, die SG ist Geschichte – jetzt gucken wir: Was entsteht hieraus Neues?« Oder würdet ihr eher sagen: »Gut, dass die DGSF noch da ist, dann gehen wir da hin.« Und wenn die Antwort ist: »Nein, wir würden die SG nicht noch einmal wieder neu gründen«, dann wäre das ein Argument zu sagen: »Dann lasst uns aufhören!« Also ich finde das ziemlich reizvoll! Ludger Kühling: Das wäre eine spannende Frage: Angenommen, die SG löst sich auf – Wer würde zur DGSF gehen oder zu einem anderen systemischen Verband? Und wer würde sagen: »Ich würde einen Verein, ein Projekt machen, denn das steht an.« Jürgen Hargens: Du weißt ja nicht, weshalb er, nachdem die SG aufgelöst ist, in die DGSF geht. Vielleicht geht er hin, um den Antrag zu stellen, dass sich die DGSF auch auflöst. (Lachen) Wenn ich mal ein bisschen herumspinne
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Teilnehmer: Der Grund, warum ich in der SG bin, ist schlicht und ergreifend: Ich habe in dem Institut meine Zertifikate erworben, deshalb bin ich dann beigetreten, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass es noch andere Verbände gibt. Ich wusste das zwar, aber das war mir schnurz. Und ich fühlte mich auch durchaus vertreten. Deshalb darf man aber trotzdem kritische Gedanken haben. Deswegen finde ich die Frage eigentlich auch nicht so richtig zielführend. So würde das nicht noch einmal entstehen, das ist ganz logisch, weil wir ja jetzt Einzelmitglieder haben. Die Frage ist: Will die SG, wenn sie sich jetzt neu konstituieren würde, sich mit völlig neuen Leuten zusammensetzen, oder wären die Institute trotzdem die tragenden Säulen, sodass dieses System so beibehalten bliebe? Hans Schindler: Ich bin mir ziemlich sicher, sie würde sich nicht wieder so gründen, sondern die Aufgabe der Gründung der SG war, die Institute zu sozialisieren – denen beizubringen, dass man kooperieren, dass man sich an Standards halten muss und dass nicht jeder machen kann, was er will. Cornelia Oestereich: Dass man dann auch eine gemeinsame Stärke in der Gesellschaft hat. Und der Job ist erfolgreich passiert. Hans Schindler: Genau! Also insofern ist die Idee, darüber nachzudenken: »Wie würde sich das heute darstellen?« Teilnehmerin: Nicht ganz, denn die Qualitätssicherung brauchen wir mehr denn je, und deshalb bitte, bitte nicht auflösen. (Lachen) Teilnehmer: Vielleicht hat es ja auch einen gewissen Charme, wie bei so einem Produkt »Lebenszyklus« zu sagen, die Zeit der großen systemischen Entwürfe ist vorbei, wir sind in so eine Konsolidierungsphase gekommen, wir differenzieren uns aus, besetzen Nischen und haben eine Haltung. Frei nach dem Schlager »Du kannst nicht immer siebzehn sein« könnte man für sich »in Würde« mit dem Konzept altern. Und das hat ja auch einen gewissen Charme, das wertzuschätzen. Die Umwelt ist nicht so schnell, dass man sich immer wieder neu erfinden muss, indem sich die Systemische Gesellschaft bewegt. Vielleicht lädt das auch zu einer gewissen Gelassenheit und dem Finden eines gewissen Standings ein. 128
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Teilnehmerin: Heutzutage muss man die Eltern nicht mehr umbringen. Eltern und Kinder leben viel friedlicher miteinander zusammen, als es noch in den sechziger, siebziger Jahren war. Es geht nicht darum, dass Sie alle abtreten, sondern eher um die Frage: »Wo entstehen Räume und wie können wir von dieser Begeisterung der ersten Stunde profitieren – dieser Energie, von der Sie berichtet haben, diese Energie schwappt ja rüber! Wenn Sie anfangen mit »wenn« und »aber«, dann denkt man: »Ach … so.« An dieser Stelle finde ich die Frage deswegen müßig, ob Sie jetzt alle abtreten, damit es weitergehen kann. Das macht man nicht mehr. Die Eltern sind zu nett geworden. Cornelia Oestereich: Ich werde Ende des Jahres in der Klinik aufhören und trete dann in den Ruhestand, wie das so heißt. Ich habe aber gar nicht vor, in den Ruhestand zu treten. Ich will etwas ganz Neues machen. Ich will gucken, was für Aufgaben es für Menschen mit systemischer Perspektive in der Gesellschaft gibt. Ich bin total froh, dass wir uns dann nicht um Richtlinien oder Organisationsstrukturen kümmern müssen, sondern dass man gucken kann: Welche Ideen bringen wir zusammen? Ich hoffe, dass ich möglichst viele von denen, die jetzt an der Schwelle zum Ruhestand sind, dazu bewegen kann, noch einmal etwas Neues anzufangen. Und wie schön, dann die Freiheit zu haben, uns um eure Berufsinteressen überhaupt nicht mehr kümmern zu müssen. Teilnehmer: Ich befinde mich jetzt von den Erzählungen angeregt in so einem: »Wo kommen wir her, wo sind wir jetzt, wo geht es hin, wird es denn auch dazu kommen?« Also eine gewisse Trance im Sinne von: Das geht nur so in dieser Chronologie, und das ist sozusagen die einzige Perspektive. Jetzt eine andere Perspektive: Angeregt auch von dieser Frage, ist mir etwas eingefallen: Vielleicht ist es ja nicht diese Chronologie »Wie bewahren wir das«, sondern vielleicht gibt es im Augenblick die Frage: »Wie gehen wir mit einer Grundambivalenz um?« Und mir ist dieses Konzept von Simon und der Gruppe Conecta zur radikalen Marktwirtschaft eingefallen. Da beschreibt er mit Blick auf Organisationen: Auch die Organisation braucht einen Anteil des Künstlerseins und einen der hausfraulichen oder hausmännlichen Tätigkeiten. Wenn ich mal ein bisschen herumspinne
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Hans Schindler: Aber die dritte gibt es auch noch, die Terroristen. Teilnehmer: Die gibt es auch. Ich nehme jetzt nur diese Metapher. Wenn der Künstler, der sich völlig in seinem innovativen, wilden Ausprobieren bewegt, nicht in sich oder neben sich Menschen hat, die diese andere Seite verkörpern, dann wird er in dem Moment, in dem sie nicht mehr da sind, merken, dass das mit dem Künstlersein nicht so einfach ist. Die, die aber immer für die haushälterische Tätigkeit Sorge tragen, für die ist es auch ganz schön, wenn in ihnen selbst auch das Wilde und Andere kommt. Da geht es vielleicht mehr um die Frage: Wie schaffen wir es, diese Ambivalenzen am Leben zu erhalten? – Langeweile zu organisieren und dabei immer nur diese innovativen, unvorhersehbaren Momente einzubauen? Und wenn wir das halbwegs gescheit mithilfe von Fallen und Aufstehen hinbekommen – was schert mich die Zukunft, die wird dann entstehen. Jürgen Hargens: Ambivalenzen sind doch immer zwei Dinge. Warum denn nur zwei? Ich bin für multivalent, denn: Du kannst das machen, du kannst das machen, ich mache noch etwas anderes. Teilnehmer: Ich hätte gerne, dass Sie da einen Stuhl hinstellen, dass sich einer von uns darauf setzt. Ein Stuhl wird quer zwischen Podium und Publikum auf der Bühne aufgestellt und sofort wieder dort weggenommen. Er landet neben den anderen Podiumsteilnehmenden. Ein Teilnehmer setzt sich darauf. Teilnehmerin: Und, wie ist es so? Teilnehmer: Hier fühle ich mich wohl – da hätte ich mich nicht hingesetzt (zeigt auf den ersten Platz, an dem der Stuhl stand). Ludger Kühling: Und noch etwas? Teilnehmer: Das reicht mir erst einmal. Cornelia Oestereich: Dann gehe ich jetzt. Ich habe alles gesagt. – Hier wird noch ein Platz frei. Cornelia Oestereich steht von ihrem Stuhl auf dem Podium auf und setzt sich ins Publikum. Jemand aus dem Publikum setzt sich auf den frei gewordenen Stuhl. Teilnehmer: Es ist schön, dass die Alten abtreten. (Lachen) Teilnehmer: Eben in so einem Zwischengespräch kam der Gedanke: Was ist eigentlich jenseits von Weiterbildung und 130
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Vereinsarbeit? Da gab’s eine schöne Idee: Wie wäre es mit einer Systemischen Werkstatt? Etwas Regionales, wo auch Jüngere einfach mit Älteren zusammenkommen, um etwas Neues zu entwickeln. Ich finde diesen Begriff schön. Der ist noch so schön offen für mich. Das NIS könnte ein Ort sein, wo so etwas entstehen kann: »Wir gründen eine Systemische Werkstatt.« Also nicht nur Weiterbildung und Ruhestand, sondern: Wir kriegen noch etwas dazwischen hin. Teilnehmerin: Ich wollte sehr gerne ein Feedback zu dem Gesamtrahmen geben. Das ist schon eine ganz andere Perspektive von hier. Das ist ja auch irgendwie höher. Und ich glaube, es wäre total spannend, das für zukünftige Veranstaltungen noch zu haben, aber es dann aufzulösen. Da gibt es auch andere Formate, das könnte in Form von Sitzordnung, Kleingruppen, »Alt trifft Jung«, »Wild trifft Zahm« stattfinden. Ich persönlich würde mich auf dem Podium gar nicht so wohl fühlen, sondern eher »auf Augenhöhe«. Arist von Schlippe: Mit den »Jungen Zahmen« – das wäre auch nett! Teilnehmer: Und den »Alten Wilden«. Ludger Kühling: Den »Gezähmten Jungen«. Gisela Klindworth: Gibt es noch weitere Kommentare, Anmerkungen, Veränderungswünsche des Settings? Arist von Schlippe: Ich gehe hier jedenfalls so schnell nicht weg: (Lachen) Gisela Klindworth: Nicht freiwillig. Arist von Schlippe: Nicht freiwillig.
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Gisela Klindworth: Möchte noch jemand etwas resümieren oder eine Rückmeldung geben? Teilnehmerin: Ja, ich sage noch gerne etwas: Ich bin hier angereist mit einer offenen Haltung und fahre gesättigt zurück und nutze den Heimweg, um mir vieles durch den Kopf gehen zu lassen, und ja, wir sehen uns wieder. Und ich mache das, was mir gefällt und was mir gut tut und was mir etwas bringt. Das habe ich von euch gelernt. Teilnehmerin: Es hat mir eine Menge gebracht, worüber ich nachdenken kann. Ob die SG vielleicht etwas für mich sein könnte. Und das hat auch viel mit den Personen zu tun, die hier sind und viel über den Werdegang, die Geschichte, die Felder berichtet haben. Teilnehmerin: Was mir gut gefallen hat, ist, dass hier keine Beweihräucherung stattgefunden hat. Mir hat es sehr gut gefallen, dass Sie auch einen kritischen Blick auf die Geschichte genommen und auch reflektiert haben: Was ist durchaus gut gelaufen, aber was ist auch nicht so gut gelaufen? Oder was haben wir uns auch selbst zuzuschreiben? Da ist mir dann noch einmal bewusst geworden, dass das ja auch eine Form von Haltung ist, die sich in der Systemik – was auch immer es ist – widerspiegelt. 132
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Ludger Kühling: Ich fand es superspannend. Ich habe ja am Anfang gedacht: Jetzt ist schon so viel erzählt: Vielleicht ist das Format doch ein bisschen lang. Aber es war so spannend, und das lag an euren interessanten Beiträgen. Vielen, vielen Dank, dass ihr da wart!
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Die Teilnehmenden
Gespräch in Heidelberg Andrea Ebbecke-Nohlen, 2. Vorsitzende im Gründungsvorstand, Vorstandsmitglied bis 1997 und SG-Lehrende bei der Internationalen Gesellschaft für systemische Therapie (IGST), seit 2002 beim Helm Stierlin Institut in Heidelberg (HSI). Thomas Hegemann, Vorstandsmitglied von 2003 bis 2007, SG-Lehrender anfangs von istob – Institut für Systemische Therapie und Organisationsberatung, später der istob-Management-Akademie und jetzt von InterCultura München. Walter Schwertl, Gründungsmitglied, SG-Lehrender am Institut für Systemische Theorie und Praxis (ISTUP) in Frankfurt a. M. Maria Staubach, SG-Lehrende am Institut für Systemische Theorie und Praxis (ISTUP) in Frankfurt a. M. seit 1997.
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Die Teilnehmenden
Gespräch in Köln Tom Levold, Schatzmeister im Gründungsvorstand, Vorstandsmitglied bis 1999, für einige Jahre SG-Lehrender bei der Arbeitsgemeinschaft für psychoanalytisch-systemische Praxis und Forschung, Köln (APF). Wolfgang Loth, Systemischer Therapeut und Berater (SG) und Redaktionsmitglied der SG-Verbandszeitschrift »systeme«. Karin Martens-Schmid, Vorstandsmitglied von 2005 bis 2008, für einige Jahre SG-Lehrende bei der Arbeitsgemeinschaft für psychoanalytisch-systemische Praxis und Forschung, Köln (APF). Kurt Pelzer, Vorstandsmitglied von 1999 bis 2005 und von 2013 bis 2017, SG-Lehrender bei der Arbeitsgemeinschaft für psychoanalytisch-systemische Praxis und Forschung, Köln (APF).
Gespräch in Hannover Jürgen Hargens, 1983 Gründer und bis 1991 Herausgeber der »Zeitschrift für systemische Therapie«, SG-Lehrender am Flensburger Institut für systemisches Arbeiten (F.I.S.A.). Cornelia Oestereich, 1. Vorsitzende von 2005 bis 2013, SG-Lehrende am Niedersächsischen Institut für systemische Therapie und Beratung (NIS) in Hannover. Hans Schindler, Vorstandsmitglied von 1999 bis 2007, SG-Lehrender am Bremer Institut für Systemische Therapie und Supervision. Arist von Schlippe, 1. Vorsitzender von 1999 bis 2005, von 1986– 2016 SG-Lehrender am IF Weinheim – Institut für Systemische Ausbildung & Entwicklung.
Die Teilnehmenden
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Gespräch in Berlin Klaus Deissler, Gründungsmitglied, SG-Lehrender beim Verband internationaler Institute für systemische Arbeitsformen (viisa), Marburg (http://www.deissler.org, http://www.dialog-mx.eu). Kristina Hahn, Vorstandsmitglied von 2003 bis 2011, für einige Jahre SG-Lehrende am Berliner Institut für Familientherapie, Systemische Therapie, Supervision, Beratung und Fortbildung (BIF). Monika Schimpf, SG-Lehrende am Privaten Institut für Systemische Therapie (IST) Berlin.
Die Gespräche begleiteten Gisela Klindworth, Geschäftsführerin der Systemischen Gesellschaft seit 2011, Systemische Coachin. Ludger Kühling, SG-Lehrender am Systemischen Institut Tübingen.
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