Reisekultur in Deutschland: Von der Weimarer Republik zum >Dritten Reich< [Reprint 2012 ed.] 9783110946475, 9783484107649

The articles in this volume examine travel and travel literature in Germany between 1918 and 1945 and relate them to the

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German Pages 300 Year 1997

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Table of contents :
Einleitung
Ein Seebad für zwanzigtausend Volksgenossen. Zur Grammatik und Geschichte des fordistischen Urlaubs
Grundzüge einer Sozialgeschichte des Tourismus in der Zwischenkriegszeit
» ... eine glückliche Zeitlosigkeit...«. Zeitreise zu den »Straßen des Führers«
»Verbindung von französischer Tradition mit sachlicher Modernität«. Gustav René Hocke berichtet über die Weltausstellung 1937 in Paris
Schwierige Reisen. Wandlungen des Reiseberichts in Deutschland 1918-1945
Die Fremde und das eigene Ich: Reisebeschreibungen von Frauen über China
Döblins Reise in Polen
Deutsche Ansichten über England und Irland: Die »andere germanische Nation« und das grüne »Land der goldenen Harfe«
Reisen in die UdSSR 1933-1945
Verzeichnis der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
Namenregister
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Reisekultur in Deutschland: Von der Weimarer Republik zum >Dritten Reich< [Reprint 2012 ed.]
 9783110946475, 9783484107649

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Reisekultur in Deutschland

Reisekultur in Deutschland: Von der Weimarer Republik zum »Dritten Reich< Herausgegeben von Peter J. Brenner

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1997

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Reisekultur

in Deutschland

:

von der Weimarer Republik zum »Dritten Reich« / hrsg. von Peter J. Brenner. - Tübingen : Niemeyer, 1997 ISBN 3-484-10764-2 © Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1997 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt Einband: Industriebuchbinderei Hugo Nadele, Nehren

INHALT

PETER J. BRENNER

Einleitung

1

HASSO SPODE

Ein Seebad für zwanzigtausend Volksgenossen Zur Grammatik und Geschichte des fordistischen Urlaubs

7

CHRISTINE KEITZ

Grundzüge einer Sozialgeschichte des Tourismus in der Zwischenkriegszeit

49

ERHARD SCHÜTZ

»... eine glückliche Zeitlosigkeit...« Zeitreise zu den »Straßen des Führers«

73

JOHANNES GRAF

»Verbindung von französischer Tradition mit sachlicher Modernität«. Gustav René Hocke berichtet über die Weltausstellung 1937 in Paris

101

PETER J. BRENNER

Schwierige Reisen Wandlungen des Reiseberichts in Deutschland 1918-1945

127

MECHTHILD LEUTNER

Die Fremde und das eigene Ich: Reisebeschreibungen von Frauen über China

177

KAROL SAUERLAND

Döblins Reise in Polen

211

VI

Inhalt

GISELA HOLFTER Deutsche Ansichten über England und Irland: Die »andere germanische Nation« und das grüne »Land der goldenen Harfe«

227

BURCKHARD DÜCKER Reisen in die U d S S R 1 9 3 3 - 1 9 4 5

253

Verzeichnis der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter

285

Namenregister

287

Peter J. Brenner

EINLEITUNG

Die Jahre zwischen 1918 und 1945 sind eine Schlüsselepoche der europäischen Geschichte. Sie sind es nicht nur, weil das »Dritte Reich« Europa mit einem Krieg überzogen hat, der der Folgezeit den Stempel aufgedrückt hat. Das »Dritte Reich« und der Zweite Weltkrieg haben den Blick darauf etwas verstellt, daß sich bereits in den Jahren zuvor Entwicklungen vollzogen haben, die eine umfassende Umgestaltung der historischen Wirklichkeit einleiteten. Nach dem Ersten Weltkrieg hat sich die politische und gesellschaftliche, die kulturelle und geistige Landschaft Europas und insbesondere Deutschlands tiefgreifend gewandelt. Die Zeugnisse dieses Wandels sind vielfaltig; er läßt sich ablesen an den gesellschaftlichen Veränderungen ebenso wie an der Umgestaltung der Lebenswirklichkeit und schließlich und vor allem an der Literatur und der Philosophie der Zeit. Das Jahr 1933 brachte einen gewaltsamen Einschnitt in die deutsche Geschichte, aber es gibt Gründe dafür, ihn nicht überzubetonen. Denn dem dramatisch inszenierten politischen Epochenumbruch stehen in der Tiefenstruktur der historischen Entwicklung Kontinuitäten gegenüber, die von der Weimarer Republik ins »Dritte Reich« hineinwirken und darüber hinaus weiterlaufen. Die Untersuchung kulturgeschichtlicher Phänomene wird mit diesem Zusammenspiel von Kontinuität und Diskontinuität zu rechnen haben. In der »Reisekultur« dieses Vierteljahrhunderts tritt der Dualismus besonders markant hervor. Das »Dritte Reich« hat durch politische Eingriffe Rahmenbedingungen geschaffen, die das Reisen nachhaltig veränderten. Es läßt sich aber zugleich feststellen, daß die Strukturen der Reisekultur, die sich in der Weimarer Republik etabliert hatten, zwar umgestaltet wurden, aber in ihrem Kernbestand erhalten blieben. Der Begriff der »Reisekultur« meint einmal das Reisen selbst in seinen modernen Ausprägungen, die sich gerade im ersten Jahrhundertdrittel vielfältig ausdifferenzierten. Neben dem alles beherrschenden Tourismus als einer

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Peter J. Brenner

Grundform neuzeitlichen Reisen in Europa stehen weitere Formen. Überwiegend sind sie vom Tourismus geprägt; die Individuaireise gehört ebenso dazu wie die organisierte Gruppenreise der großen Institutionen, besonders der Arbeiterbewegung, die im »Dritten Reich« in staatlich organisierte Massenreisebewegungen übergeführt wurden. Eine ähnliche Entwicklung erfuhren die um die Jahrhundertwende entstandenen Sonderformen jugendlichen Reisens, wie sie die bündische Jugend und die »Wandervogek-Bewegung entwickelt hatten. Auch sie wurden gewaltsam in die Organisationsformen des »Dritten Reiches« integriert, aber dort auch weitergeführt und fünktionalisiert. Schließlich bringen Diktatur und Krieg Formen von Mobilität hervor, die nur mit einigen Vorbehalten dem »Reisen« zuzurechnen sind, aber doch zumindest seinem weiteren Umfeld: Die Bewegungen der Kriegsheere gehören ebenso dazu wie die Emigration, Flucht und Vertreibung. Das Reisen selbst bildet den Kern der »Reisekultur«; zu ihr gehören aber auch die Voraussetzungen ebenso wie die Folgen des Reisens. Zu den Voraussetzungen ist insbesondere die Infrastruktur des Reisens zu rechnen - die Entwicklung der Verkehrsmittel und der Organisationsformen vom Reisebüro bis zum Beherbergungswesen. Das Reisen bringt schließlich eine eigene Literatur hervor - nicht nur Reiseberichte im klassischen Sinne, auch die Lieder der Wandervogelbewegung und ihrer Nachfolgeorganisationen sowie die Reisewerbung und die reisebegleitende Literatur. Schließlich entsteht so etwas wie eine »Reiseideologie« als Teil der Reisekultur: Reflexionen über das Reisen, seinen Sinn und seine Funktion in der Gesellschaft. Die Vielfalt dieser Ausformungen der »Reisekultur« im Deutschland der Jahre zwischen dem Ende des Ersten und des Zweiten Weltkrieges ist noch kaum erforscht; allerdings läßt sich in jüngster Zeit ein verstärktes wissenschaftliches Interesse an diesen historischen Phänomenen beobachten Besonders dem »Dritten Reich« gilt nach einer langen, bis in die Mitte der siebziger Jahre zurückreichenden Phase der ForschungsAbstinenz wieder die lebhafte Aufmerksamkeit der historischen Disziplinen, die seit dem »Historiker-Streit« von 1986 regelmäßig öffentliche Diskussionen fuhren. Die jüngsten Kontroversen um Daniel Goldhagens Hitler's Willing Executioners oder um die Ausstellung des »Hamburger Instituts für Sozialforschung« mit dem Titel »Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944« zeigen, daß nicht nur die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit,

Einleitung

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sondern auch ihre wissenschaftliche Erarbeitung bei weitem noch nicht abgeschlossen ist. Auch die Reisekulturforschung sollte sich der von diesen Diskussionen ausgehenden Herausforderung stellen. In diesem Sinne versteht sich der vorliegende Sammelband. Er kann freilich noch nicht als eine Bestandsaufnahme konzipiert werden - dazu sind die vorliegenden Forschungen noch zu disparat und unkoordiniert. Er kann aber versuchen, Forschungsfelder abzustecken, Erträge der Forschung zu sichern und in Einzelinterpretationen wie in Überblicksdarstellungen neue Fragestellungen zu erarbeiten, um damit Diskussionsanregungen zu geben. In seiner Konzeption unternimmt er den Versuch, das breite Spektrum der »Reisekultur« zwischen 1918 und 1945 in charakteristischen Facetten zu erfassen. Ein erster Teil ist dem Reisen selbst gewidmet. Der Beitrag von Hasso Spode interpretiert die Eigenarten der touristischen Reisekultur des »Dritten Reiches« im Kontext einer allgemeinen »Modernisierung« der Kultur, die deutliche Züge einer Industrialisierung nach amerikanischem Vorbild trägt. Christine Keitz stellt statistische Materialien zusammen, in deren sorgfältiger Interpretation der Wandel des Reiseverhaltens und seiner infrastrukturellen Voraussetzungen greifbar wird. Eine spezifische Variante der verkehrstechnischen Infrastruktur beschreibt Erhard Schütz. Sein Aufsatz erschließt den in der Nachkriegszeit mythisierten Komplex von »Hitlers Autobahnen«, den »Straßen des Führers«, in seiner ganzen ideologischen und mentalitätsgeschichtlichen Komplexität. Er zeigt dabei die Widersprüchlichkeit der programmatischen Diskussionen, die im »Dritten Reich« über die Autobahnen gefuhrt wurde und die sich aus der Spannung zwischen »Modernisierung« und »Archaisierung« ergeben. Die weiteren Beiträge konzentrieren sich auf die literarischen Ausprägungen der Reisekultur. In Johannes Grafs Untersuchung von Gustav René Hockes kurzem Reisebericht über die Pariser Weltausstellung von 1937 wird wiederum das Problem der »Modernität« thematisch Hockes Text erweist sich bei genauer Betrachtung als eine sublime Verteidigung der »Klassischen Moderne« und damit zugleich als eine Hommage an das zeitgenössische »geistige« Frankreich, das dem deutschen Nationalsozialismus unausgesprochen entgegengestellt wird. Entgegen gängigen Vorstellungen wird damit erkennbar, daß auch die Reiseliteratur im »Dritten Reich« ihre politischen Spielräume hatte Der Beitrag von Peter J. Brenner versucht, die von Hasso Spode erarbeiteten sozialgeschichtli-

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Peter J. Brenner

chen B e f u n d e zum P r o z e ß der Modernisierung des Reisens in der Interpretation von Texten der Reiseliteratur aus den Jahren 1918 bis 1945 in g r o ß e n Z ü g e n nachzuvollziehen. Die folgenden Beiträge widmen sich einzelnen Aspekten der Reiseliteratur. Mechthild Leutner betrachtet die U m f o r m u n g e n des seit d e m E n d e des 19. Jahrhunderts wieder neu belebten Exotismus in der deutschen Literatur am Beispiel von Frauenreiseberichten über China. Sie zeigt, wie die Fremd- und Ich-Erfahrung von den konkreten Reise- und Aufenthaltsumständen stärker bestimmt wird als von geschlechtsspezifischen Wahrnehmungsformen. Karol Sauerland untersucht die zwiespältige Polen-Beschreibung in Döblins Polen-Reisebericht im Blick auf die Verarbeitung der jüdischen, katholischen und politischen Tradition des Landes, deren Nachwirkungen bis in die Gegenwart reichen. A u f eine andere Weise kompliziert sind die Erscheinungsformen des IrlandBildes in deutschen Reiseberichten während des »Dritten Reiches«, die Gisela Holfter herausarbeitet. Sie sind geprägt von den aktuellen politischen Konstellationen mit ihrem schnellen Wandel der Feindbilder und zugleich von einem Dreiecks-Verhältnis, in dem England immer noch eine maßgebliche Rolle als Vermittler und Kontrapunkt spielt. N o c h sehr viel abhängiger von ideologischen und politischen Besetzungen sind die Darstellungen der Sowjetunion von 1933 bis 1945. Burckhard Dücker zeigt, daß hier nicht nur geographische, sondern auch zeitliche Dimensionen eine wesentliche Rolle fur die W a h r n e h m u n g spielen: Auf die Sowjetunion werden positive oder negative E r w a r t u n g en projiziert, welche die aktuelle Wahrnehmung oft überlagern. B e s o n ders augenfällig wird dies in der Auswertung privater Feldpostbriefe v o n deutschen Ostfront-Soldaten, in denen die offizielle Politik ihren individuellen Niederschlag findet. In ihrer S u m m e zeigen die Beiträge einerseits die Breite des Stoffes, mit dem sich eine Erforschung der »Reisekultur« befassen m u ß - er reicht von der faktographisch-statistischen Erfassung von Reisebewegungen bis hin zur Interpretation ästhetisch manchmal recht anspruchsvoller Texte. Dazwischen liegt eine Fülle von Materialien verschiedenster Gestalt und Provenienz, die noch weitgehend der Erschließung und erst recht der Auswertung harren. In den vorliegenden modellhaften Studien zu wichtigen Einzelaspekten wird deutlich, daß diese A u s w e r t u n g sich von den Konzepten leiten lassen muß, welche die Reisekulturf o r s c h u n g in neuerer Zeit erarbeitet hat. Die Fülle, aber auch die interne

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Einleitung

Komplexität und Heterogenität des Materials sperrt sich gegen eine bloße Beschreibung. Es muß vielmehr in seinen weitgespannten sozial- und kulturhistorischen Kontexten interpretiert werden, und die Interpretation kommt oft nicht ohne die Einbindung in jene großflächigen Diskussionszusammenhänge aus, mit denen die Geschichtswissenschaft seit einiger Zeit die Entwicklungen deutscher Geschichte in der ersten Jahrhunderthälfte zu fassen versucht - die Frage nach der »Modernisierung« dürfte dabei eine Schlüsselrolle spielen. Die Beiträge des vorliegenden Bandes verstehen sich in diesem Sinne als eine Anregung zur theoriegeleiteten Aufarbeitung weiteren Materials zur »Reisekultur«, insbesondere aus der Zeit des Nationalsozialismus. Erst auf der Grundlage einer größeren Materialbasis wird sich entscheiden lassen, ob sich die den Interpretationen zugrunde gelegten Modelle als tragfähig erweisen oder korrekturbedürftig sind. ***

Die meisten Beiträge gehen auf Vorträge einer Tagung »Reisen 1918 bis 1945« zurück, die im Juli 1994 in der Eutiner Landesbibliothek stattfand und von Dr. Wolfgang Griep und vom Herausgeber organisiert und geleitet wurde. 1 Nicht alle Vorträge der Eutiner Veranstaltung konnten hier abgedruckt werden; die Beiträge von Erhard Schütz und Johannes Graf wurden nachträglich in den Band aufgenommen. Die Druckvorlage wurde von Christiane Bittis erstellt. Unter tatkräftiger Mithilfe von Alice Voßen, Thomas Suppes und Stefanie Peters hat sie auch die Redaktions-, Korrektur- und Registerarbeiten erledigt. Erst dieses Engagement meiner Kölner Hilfskräfte und die Kooperationsbereitschaft der Beiträgerinnen und Beiträger hat es ermöglicht, daß der Band jetzt zügig erscheinen konnte Allen, die dazu beigetragen haben, nicht zuletzt dem Verlag, sei hierfür gedankt.

Seybothenreuth/Köln, im Frühjahr 1997

Vgl. den Tagungsbericht von Winfried Siebers, Reisen 1918 bis 1945. Wissenschaftliche Tagung in der Eutiner Landesbibliothek vom 23. bis 25. Juni 1994, in: Jahrbuch für Internationale Germanistik 27 (1995). S. 194-198.

Hasso Spode

EIN S E E B A D FÜR ZWANZIGTAUSEND VOLKSGENOSSEN Z U R GRAMMATIK U N D GESCHICHTE DES FORDISTISCHEN URLAUBS

1.

Modern Times

Auf den Tag drei Jahre nach der Zerschlagung der Gewerkschaften, am 2. Mai 1936, wurde auf der Insel Rügen feierlich ein Grundstein vermauert. Anwesend, neben zahlreichen Arbeitern und Uniformierten, war Dr. Robert Ley, einst Chemiker, jetzt Leiter der Deutschen Arbeitsfront und Oberherr der NS-Freizeitorganisation »Kraft durch Freude«. Ley schätzte die Symbolik des Datums: Vor zwei Jahren hatte er an diesem Tag die ersten Urlauberschiffe in See stechen lassen; seitdem hatten fast zweihunderttausend »deutsche Arbeitsmenschen« auf den Weltmeeren für einen durchschlagenden Propagandaerfolg des Regimes im In- und Ausland gesorgt. Auch diese Grundsteinlegung stand im Zusammenhang der nationalsozialistischen Urlaubspolitik: Zwischen Binz und Saßnitz inmitten des menschenleeren Strandes am Prorer Wiek - sollte das »gewaltigste Seebad der Welt« entstehen. Millionen bis dahin vom bürgerlichen Badeurlaub Ausgeschlossener sollten sich hier erholen und zugleich die unwiderstehliche Überlegenheit des »Sozialismus der Tat« demonstrieren. Eine solche Aufgabe verlangte nach intelligenten Lösungen, logistisch und architektonisch. Rückwärts gewandt, Blut-undBoden-romantisch gar, konnten solche Lösungen niemals sein, sondern nur modern. In Amerika war im Februar der neue Film von Charles Chaplin angelaufen: Modern Times, die tragikomische Parabel auf die Depravation durch Technik. Die Fabrik besteht aus Förderbändern und Zahnrädern, manche von riesigem Durchmesser, und Chaplin verfällt dem Takt des Automaten, schneller und schneller läuft die Maschinerie, bis zur schließlichen Apokalypse. Das kinomatographische Werk (wie das Kino

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Hasso Spode

als technisches und soziales Phänomen generell1) stand im Kontext der beiderseits des Atlantik heftig geführten Kontroversen um die »Rationalisierung«. Im altersgrauen Europa sorgte man sich, den Anschluß zu verlieren, und es entspann sich eine Standortdebatte, in der Intellektuelle, fernab der Werkshallen, einer »amerikanischen« Lösung das Wort redeten - ob Kommunisten wie Gramsci oder (spätere) Nazis wie Gottl-Ottilienfeld.2 Am hemmungslosesten im Vaterland der Werktätigen: Die sowjetische Arbeitswissenschaft verhieß dem Proletariat, sie werde es in einen »sozialen Automaten« verwandeln;3 indes ließ sich der vorindustrielle Schlendrian bekanntlich nicht par ordre du mufti abschaffen. Überhaupt und nicht nur in der Sowjetunion: Der Diskurs über die neuartige Organisation der Arbeit war den realen Veränderungen im Produktionsprozeß oft weit vorausgeeilt. Und er blieb nicht auf ihn beschränkt, war vielmehr als Bestandteil eines ungeheuer breiten Paradigmenwechsels, einer Neuordnung der Dinge, im Alltag unübersehbar zumal in Kunst und Architektur.4 »Rationalisierung« erhielt dabei drei, nicht immer scharf getrennte und zu trennende Bedeutungsebenen: eine geschichtsphilosophische zur Kennzeichnung eines sehr langfristigen, »okzidentalen« Prozesses; eine technologisch-ökonomische zur Kennzeichnung der jüngsten, eben modernen Etappe in diesem Prozeß; schließlich und als eine semantische Klammer, eine theoretische zur Kennzeichnung des Prinzips der Effizienzsteigerung.5 Die Rationalisierungsdebatte der Zwischenkriegszeit meinte vordergründig die zweite Ebene, meinte »Taylorismus« und »Fordismus« (wobei ungerechterweise das erstere Schlagwort meist negativ, das letztere meist positiv be-

Vgl. auch die an Paul Virilio geschulten Assoziationen zur »epistemologischen Einheit« von Fließband und Kino bei Peter Weibel, Die Beschleunigung der Bilder in der Chronokratie, Bern 1987. Vgl. Walter Süß. Die Arbeiterklasse als Maschine. Ein industrie-soziologischer Beitrag zur Sozialgeschichte des aufkommenden Stalinismus, Berlin 1985, S. 130ÍT.; fur Deutschland vgl. Jost Hermand/Frank Trommler, Die Kultur der Weimarer Republik, München 1978, S. 49ff.; S. 58ff. Zit. n. Süß ebd. (wie Anm. 2), S. 117. Weniger in den produktionstechnisch fortgeschrittensten Ländern als in solchen, die fürchteten, den Anschluß zu verpassen. Vgl. Paul Mattick, Art in the A g e of Rationalization, unveröff. Ms., Frankfurt a. M. [1994], S. 6f. Freuds psychische »Rationalisierung« bleibt hier unberücksichtigt, obschon er dies Wort nicht unbedacht gewählt hatte. Der heutige Rationalisierungsbegriff geht wesentlich auf die Weberschen Kategorien zurück (hierzu v. a. Max Weber und die Rationalisierung sozialen Handelns, hg. v. Walter M. Sprondel/Constans Seyfarth, Stuttgart 1981).

Ein Seebadfiir

zwanziglausend

Volksgenossen

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setzt war). Im weitesten Sinne aber trat Rationalisierung zugleich als ein alle »Sphären« durchdringendes Prinzip ins Bewußtsein. Den einen, wie den Brüdern Max und Alfred Weber, war sie ein »Verhängnis«, das unentrinnbar in die »Weltdomestikation« fuhrt, den anderen das Fahrzeug in eine glückliche Zukunft der vollen Warenhäuser und Auftragsbücher. Im Grunde handelte es sich um die Aktualisierung eines Jahrhunderte schwelenden Wertekonflikts, um den Streit über den Preis des Fortschritts. In ihm ist zugleich die Genese des Tourismus aufgehoben: im Unbehagen am Fortschritt liegen seine tiefen Wurzeln und in der technischen Rationalisierung seine modernen Begründungen und zugleich die Mittel seiner Entfaltung. 6 Generell mag der Rationalisierungsdiskurs eher als eine neue Stufe innerhalb eines langfristigen Prozesses erscheinen denn als ein radikaler Strukturbruch. Zum einen, selbstredend, da Effizienzsteigerung, bzw. die Minimierung des Mittelaufwands bei gegebenen Zwecken, ein hoch universelles Prinzip von buchstäblich naturgeschichtlichen Dimensionen ist. 7 Zum anderen aber - und nur dies soll hier interessieren - , da der spezifische Lösungsweg, der nach der Jahrhundertwende beschritten wurde, schon lange angedacht, teils auch praktiziert worden war. Zunächst sei daher angedeutet, was es mit diesem, dem tayloristisch-fordistischen Lösungsweg auf sich hat, der sich in mehr und mehr Lebensbereichen durchsetzte, schließlich auch in der Freizeit. 8 In den beiden folgenden Kapiteln soll daher von Touristen nicht die Rede sein, sondern von Ingenieuren und Mathematikern; erst im Anschluß kann der Weg in die Industrialisierung des Reisens skizziert werden, um dann das para-

Klassisch: Hans Magnus Enzensberger, Eine Theorie des Tourismus, in: Universitas 42 (1987), S. 666fT; vgl. auch Hasso Spode. »Reif fiir die Insel«. Prolegomena zu einer Historischen Anthropologie des Tourismus, in: Arbeit. Freizeit. Reisen. Die feinen Unterschiede im Alltag, hg. v. Christiane Cantauw. Münster/New York 1995, S. 112ff. Vgl etwa: Selbstorganisation. Die Entstehung von Ordnung in Natur und Gesellschaft, hg. v. Andreas Dress et al., München/Zürich 1986. Die Vielfalt der Ebenen und möglichen Querverbindungen, in denen er sich anbahnt und durchsetzt, auch nur summarisch zu erfassen, hieße nicht nur den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen, sondern auch rasch meine Wissensbestände erschöpfen. Ich beschränke mich daher auf eine retrospektiv auf den »Erfolg« verengte Auswahl; was nicht als Suche nach den ominösen »Vorläufern« mißzuverstehen ist: vielmehr ist von Weichenstellungen auszugehen, die Entwicklungswege öffnen oder schließen. Daß ich mich hier auf die Schultern von Riesen und Riesinnen stelle, ist mir nur zu bewußt: nicht alle können im folgenden genannt werden.

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Hasso Spode

digmatische Projekt der Nationalsozialisten, auf Rügen ein »Bad der Zwanzigtausend« zu errichten, detaillierter zu betrachten; abschließend wird nach dem »neuen«, dem »post-fordistischen« Tourismus gefragt.

II.

Analysieren, Formalisieren, Atomisieren: Sparsamkeit durch Reduktion von Komplexität

Anfang des 19. Jahrhunderts nahm die Atomtheorie einen neuen Aufschwung: John Dalton wies nach, daß die Gewichtsverhältnisse, in denen Elemente eine chemische Verbindung eingehen, immer ein ganzzahliges Vielfaches einer Grundzahl bilden - die Analyse zeigte: die Welt ist kein Kontinuum, sondern zusammengesetzt aus Bausteinen in konstanten multiplen Proportionen. Andrew Ure - zugleich Chemiker und Wirtschaftstheoretiker - übertrug die Analyse auf das »automatische System« der Produktion: Dessen »Prinzip«, sagte Ure, bestehe in der »Zerlegung eines Prozesses in die ihn ausmachenden Teile«.9 Auch der Mathematiker Charles Babbage suchte nach der »vorteilhafleste[n] Art, die Fabrikation in Teiloperationen zu spalten«: Ist für jede Operation die nötige Arbeiterzahl ermittelt, muß eine ökonomisch arbeitende Fabrik ein »exaktes Multipel« dieser Zahl verwenden. 10 Sein Lebenswerk aber war die mittels riesiger Lochkarten programmierbare analytical engine, die nautische Berechnungen ausführen und drucken sollte. Andere Mathematiker versuchten allein auf dem Papier, die verschlungenen Pfade des Denkens zu formalisieren, indem sie es - befreit von den Inhalten - in logische Klassen und Operationen zerlegten. Babbages mechanischer Computer funktionierte nicht, und die Konstruktionen einer »Algebra der Logik«, einer »Formelsprache des reinen Denkens«, wie sie George Boole 1847 und Gottlob Frege 1879 vorgelegt hatten, fanden zunächst wenig Resonanz. Und doch läßt sich sagen, daß um die Mitte des 19. Jahrhundert eine universelle Grammatik der Effizienzsteigerung gefunden war (fußend, selbstredend, auf einem

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Er bezog sich auf Richard Arkwrights Spinnmaschine: The Philosophy of Manufactures, London 1835, zit. η. Marx/Engels-Werke [MEW], Bd. 4, S. 156. Überhaupt zum Diskurs glänzend-visionär die Aufbereitung durch Marx, v. a. im Kapital I, Kap. 11-13, in: MEW, Bd. 23; bes. S. 359ÍT. On the Economy of Machinery and Manufacture, London 1832, zit. n. ebd., S. 366.

Ein Seebad für zwanzigtausend

Volksgenossen

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schier g r e n z e n l o s e n F u n d u s mentaler und praktischer I n n o v a t i o n e n " ) , die dann die s o g e n a n n t e »Rationalisierung« e r z e u g t e . D e r e n

»Grund-

i d e e « , w i r k e n n e n sie: P r o z e s s e aufspalten in E l e m e n t e , die dann w i e d e r z u e i n e m G a n z e n z u s a m m e n g e f u g t w e r d e n . 1 2 W a s n u t z l o s ist, läßt sich a u s s o n d e r n , w a s vermischt ist, läßt sich trennen. D i e P r o z e s s e ,

ver-

s c h m u t z t mit B e d e u t u n g , mit Sinn und Moral, mit den albernsten A b s c h w e i f u n g e n und d e n willkürlichsten Eingriffen, sie sind a b g e s c h m o l z e n bis a u f das pure Gerüst der Relationen, durchsichtig w i e ein Kristall u n d überraschungsfrei w i e die d o p p e l t e Buchführung: » A l l e s S t ä n d i s c h e und S t e h e n d e v e r d a m p f t , alles H e i l i g e wird e n t w e i h t « : 1 3 Für die A n w e n d u n g dieser » G r u n d i d e e « bedarf e s z u d e m : exakter M e ß v e r f a h r e n , integraler T r a n s p o r t s y s t e m e und zentraler Steuerung, r e s p e k t i v e eines T a k t g e b e r s .

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13

... von der universellen Abstraktheit der Schrift und des Geldes, über die kunstvollen Konstruktionen der Mathematik, das von der Erdbewegung emanzipierte Gleichmaß der Hemmung in der mechanischen Uhr, den Buchdruck mit austauschbaren Lettern, die kaltblütige Exaktheit des Truppenkörpers und des Hoforchesters. die Idee der unbestechlichen Bürokratie und Rechtsfindung bis zum geldgierigen Blick, der - lange vor Adam Smith - auf die innerbetriebliche Arbeitsteilung fiel. Sigfried Giedion, Die Herrschaft der Mechanisierung. Ein Beitrag zur anonymen Geschichte, Frankfurt a. M. 1982, S. 51; v. a. Bettina Heintz, Modernisierungsstrategien und Computerarchitekturen, in: Wissenschaft - Technik - Modernisierung, hg. v. Bernward Joerges, Berlin 1991, hier S. 53, die diese »Grundidee« wohl erst dem 20. Jh. zubilligt; in diesem Sinn vgl. auch Tilla Siegel, Das ist nur rational. Ein Essay zur Logik der sozialen Rationalisierung, in: Rationale Beziehungen? Geschlechterverhältnisse im Rationalisierungsprozeß, hg. v. Dagmar Reese et al., Frankfurt a. M. 1993, S. 389; auf weit ältere diskursive Traditionslinien verweisen dagegen Sybille Krämer. Symbolische Maschinen. Die Idee der Formalisierung im geschichtlichen Abriß, Darmstadt 1988; Werner Künzel/ Heiko Cornelius, Die Ars Generalis Ultima des Raymundus Lullus, Berlin 1986. Der berühmte Satz aus dem kommunistischen Manifest endet mit der frohen Botschaft, die Menschen seien endlich gezwungen, ihre Beziehungen mit »nüchternen Augen anzusehen« (zit. n. MEW, Bd. 4 [wie Anm. 9], S. 465). Zu Recht hatte Max Weber dagegen lakonisch angemerkt, die »Entzauberung der Welt« bedeute »nicht eine zunehmende allgemeine Kenntnis der Lebensbedingungen, unter denen man steht« (zit. n. Soziologie - Universalgeschichtliche Analysen Politik. Stuttgart. 5. Aufl. 1973. S. 317). Rationale Prozesse sind Teilprozesse. Rationalisierung setzt eine Trennung von System und Umwelt voraus. Rationalisienmgsfolgen sind nur ceteris paribus kalkulierbar

Hasso Spode

12 III.

Im Takt: Schweine, Autos, Computer

Karl Marx, zwei Generationen vor den Kinoerfolgen Metropolis und Modem Times, sah den Industriebetrieb bereits als Leviathan, als ein einziges »mechanisches Ungeheuer, dessen Leib ganze Fabrikgebäude füllt«. 14 Die »Poren des Arbeitstages« aber waren da noch längst nicht verschlossen; viel Zeit wurde noch vergeudet durch unnütze Bewegungen der Körper und der Werkstücke. Die Rationalisierung der Produktion kommt erst um die Jahrhundertwende in Gang, vor allem in Amerika.15 Am weitesten war sie dort bis dahin in zwei Branchen gediehen, die beide mit dem Töten zu tun hatten - im Zusammenbau von Schußwaffen und im Zerlegen von Tieren. Letztere löste auch das Problem des »beständigen Transports] des Machwerks«:16 Um 1870 wird das Fließband in den Schlachthöfen Cincinnatis eingeführt: »Die Zangenarme sind über Ketten mit einem Flaschenzug verbunden, der an einer Schiene läuft. Die lebenden Schweine hängen mit dem Kopf nach unten und werden dem Abstecher zugeführt,« hieß es stolz, ein »Mann trennt das Tier auf, der nächste nimmt das Gedärm, der dritter Herz, Leber usw. heraus«. 17 Bon appetii! Als dann die Fleischverarbeitung in Chicago konzentriert wurde, und Tag für Tag zehntausende Stück Vieh in die Maschinerie hineingeschoben wurden, war die Technik ausgereift, so daß jeder Arbeiter nur noch »einen bestimmten Handgriff ausführte, wenn der Schweinerumpf zu ihm kam.«18 Weil aber niemand, der sich die Produkte der Schlachthöfe schmecken läßt, dies im vollem Bewußtsein um den Produktionsprozeß tun kann, eignete sich Chicago nicht als catch-word für die neue, beglückende Rationalisierung. Sie sollte vielmehr ihren Namen durch Männer erhalten, die ihre Tatkraft auf weniger blutigen Feldern entfalteten: Frederick Taylor und Henry Ford. 1881 hatte Taylor bei »Midvale Steel Company« mit der Stoppuhr in der Hand seine Arbeits- und Zeitstudien begonnen; dreißig Jahre später 14 15

16 17

18

MEW, Bd. 23 (wie Anm. 9), S. 402. Ein Abriß mit weiterer Literatur bei Wilhelm Schümm, Zur Entstehung der tayloristisch-fordistischen Massenproduktion, in: Mitteilungen des Instituts für Sozialforschung (1994), H. 4, S. 551T. MEW, Bd. 23 (wie Anm. 9), S. 364. Harper's Weekly vom 6.9.1873, zit. n. Giedion, Die Herrschaft der Mechanisierung (wie Anm. 12), S. 247. ... wie Upton Sinclair dieses Symbol des Kapitalismus minutiös beschrieb (Upton Sinclair, The Jungle, New York 1906); vgl. Giedion, Die Herrschaft der Mechanisierung (wie Anm. 12), S. 259.

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f a ß t e er seine Erkenntnisse über die Einsparung von Ressourcen auf allen - strikt zu trennenden - Ebenen der Planung, Leitung und P r o d u k tion zur M e t h o d e der »wissenschaftlichen Betriebsfiihrung« z u s a m m e n und erhob den Anspruch, seinen Prinzipien in sämtlichen Lebensbereichen Geltung zu verschaffen. 1 9 Bei der analytischen Zerlegung der B e w e g u n g am subtilsten gingen Taylors Mitstreiter Frank und Lillian Gilbreth vor: Jede Tätigkeit bestehe aus einer Kombination kleinster »Bew e g u n g s - oder Denkeinheiten«, den Therbligs20 Lichtspuraufnahmen brachten sie zu dem Schluß, jeder Mensch verfuge über genau 17 Therbligs. W a s lag näher, als sie von Maschinen ausführen zu lassen? D o c h so weit war es noch nicht, 21 noch mußte zumeist Hand angelegt werden, und zwar in strikt kontrollierter Form: Den Siegeszug der Rationalisierung symbolisiert natürlich das Fließband, das Henry Ford 1913 in seiner Detroiter Automobilfabrik implementierte - komplexer zwar und doch ganz analog zu den Taktstraßen in den Chicagoer Fleischfabriken. 2 2 Die Universalität der Grammatik der Effizienzsteigerung war unter Beweis gestellt, die Fabrik als ein einziges »mechanisches Ungeheuer« nahm Gestalt an. Seinen Nimbus als Tycoon und als weißer Revolutionär zugleich verdankte Ford weniger grundlegenden Innovationen als deren kreativer A n w e n d u n g sowie seiner weit über Taylors schematischem Denken stehenden Zusammenschau von Ökonomie, Technologie, Psychologie und sozialer Kontrolle: Sein Ford Τ w u r d e zum Volkswagen, zu einem Leitfossil des Massenkonsums. Der Fordismus bildete das Scharnier zwischen Produktion und Konsumtion in der Konsumgesellschaft. 2 3

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Frederick W. Taylor, T h e Principles of Scientific M a n a g e m e n t , New York 1911. Zu analogen Ansätzen in der Alten Welt vgl. Anson G. Rabinbach. T h e European Science of Work. T h e Economy of the Body at the E n d of the 19th Century, in: Work in France, hg. v. Stephen L. Kaplan/Cynthia J. Koepp, Ithaca/London 1986, S. 475-513; sowie Anni. 24. D. i. Gilbreth spiegelverkehrt - der Kampf gegen V e r s c h w e n d u n g hatte hier paradoxerweise noch etwas Spielerisches. Vgl. Siegel, Das ist nur rational (wie Anni. 12), S. 363ff.; Giedion, Die Herrschaft der M e c h a n i s i e r u n g (wie Anni. 12), S. 125fr. Daß dies nur sporadisch gelang, gründetete im niedrigen Preis der Handarbeit u n d dem M a n g e l an Flexibilität und Fehlcrfreundlichkeit - bzw. ky bernetischer Steuerung - der Maschinen. Henry Ford, My Lire and my Work, New York 1922. Dalier seine Doppelbedeutung: Weiterentw icklung des Taylorismus und pseudoegalitäres Gesellschaftsmodell.

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Rationale Prinzipien der Arbeitsorganisation eroberten in der Zwischenkriegszeit immer weitere Branchen und Länder. In Europa zumal wurden zugleich bis dahin wenig beachtete Ansätze der »Psychophysik« und »-technik« ausgebaut; der »seelenlose« Taylorismus wurde gar zum Schimpfwort (das die gemeinsame Basis verunklarte). 24 Hier bremsten engere Märkte und höheres Qualifikationsniveau den Eifer der Kopisten und begünstigten modifizierte Lösungen. Erst 1923 lief - sieht man von den Schlachthöfen ab - bei Opel das erste Fließband in Deutschland an. 25 Abseits der Produktion und der Debatte um sie, und doch innerhalb einer »epistemologischen Einheit« (P. Weibel), vollzog sich fast unbemerkt ein Durchbruch auf einem ganz anderen Feld: der Entwicklung des Computers. Und zwar zeitgleich in Amerika, England und Deutschland, und zwar just 1936 - es lag, wie es so wolkig heißt, eine Idee in der Luft, die Idee des programmgesteuerten universellen Rechenautomaten. Der Logiker Emil Post ließ sich dabei vom Fließbandarbeiter inspirieren, der Mathematiker Alan Turing vom rechnenden Menschen, der stur seine Formeln anwendet, und den Ingenieur Konrad Zuse ärgerte es, daß eben jene »geistlose« Arbeit sein Broterwerb sein sollte. Post und Turing gingen rein theoretisch vor: 26 Um eine Aufgabe in einfachste Operationen zu zerlegen, denke man sich ein endloses Papierband, das in gleich große Felder aufgeteilt ist; darübergebeugt der Rechenknecht (bzw. Fließbandarbeiter), der immer genau ein Feld vor sich hat; nach

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Vgl. Peter Hinrichs/Lolhar Peter, Industrieller Friede? Arbeitswissenschaft, Rationalisierung und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik, Köln 1976; Jürgen Bönig, Technik und Rationalisierung in Deutschland zur Zeit der Weimarer Republik, in: Technik-Geschichte, hg. v. Ulrich Troitzsch/Gabriele Wohlauf, Frankfurt a. M. 1980, S. 390ff.; Thomas von Freyberg, Industrielle Rationalisierung in der Weimarer Republik. Untersucht an Beispielen aus dem Maschinenbau und der Elektroindustrie, Frankfurt a. M./New York 1989; ders./ Tilla Siegel, Industrielle Rationalisierung unter dem Nationalsozialismus, Frankfurt a. M./New York 1991; vgl. Alf Lüdtke, »Ehre der Arbeit«. Industriearbeiter und Macht der Symbole, in: Arbeiter im 20. Jahrhundert, hg. v. Klaus Tenfelde, Stuttgart 1991, S. 370ff.; sowie Anm. 19. 1 928 immerhin hieß es, es gebe kaum eine Automobilfabrik, »die nicht nach den Grundsätzen der Fließarbeit handelt«: Erfahrungen mit Fließarbeit, hg. v. Ausschuß für Fließarbeit beim AWF, Berlin 1928, S. 32. Beide Modelle erwiesen sich als äquivalent, doch Turings wurde wirkungsgeschichtlich bedeutender. Vgl. Krämer, Symbolische Maschinen (wie Anm. 12), S. 169ff.; zum kulturellen setting Heintz, Modernisierungsstrategien und Computerarchitekturen (wie Anm. 12), S. 5Iff.

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einem strengen Regelwerk, einem Programm, fuhrt der arme Kerl nun elementare Anweisungen aus, ζ. B. »ein Feld nach rechts«, »Zeichen löschen«, »Zeichen eintragen«; hinzu kommen Schrittzähler und Speicher, und fertig ist die Turing-Maschine. Z w e c k dieses G e d a n k e n e x p e riments war die Präzisierung des Begriffs der Berechenbarkeit im Rahmen der Konstruktion von Kalkülen 2 7 und nicht der Bau einer physikalischen Maschine. 2 8 Zuse dagegen, im Theoretischen eher unbedarft, bastelte aus Blechteilen eine Art Inkarnation der Turing-Maschine und der Kalküle in Nachfolge Booles und Freges: 2 9 Ein p r o g r a m m g e s t e u ertes »Rechengerät« aus den schon von Babbage bekannten K o m p o n e n ten Steuer-, Rechen- und Speicherwerk bestehend, das Zahlen und Anweisungen binär verarbeitet, d. h. allein die Zustände »0« und »1« kennt - das irreduzible Schaltatom. Seit 1936 besitzen wir den Bauplan, d e m noch der P C folgt, auf dem dieser Text entstand. D a ß ich mit dem praktischen Gerät nicht nur rechnen, sondern auch schreiben kann (oder, hätte ich ein besseres, Mario Lanza lauschen), demonstriert einmal mehr die Universalität und Effizienz der » G r u n d idee« der Atomisierung und Neukombination. Voraussetzung ist die gelungene Trennung von Zeichen und Bezeichnetem, die Fähigkeit z u m U m g a n g mit sich selbst genügenden Regelwerken bedeutungsfreier Symbole, nur über Schnittstellen mit der Welt verbunden, mit B e d e u t u n g aufgefüllt. 3 0 Rationalisierung entfaltet ihre grenzenlose Dynamik, weil sie sich emanzipiert hat von den Zwecken und den konkreten Anwendungsmedien. Sie ist gänzlich amoralisch; nur von außen sind - wie seit W e b e r immer wieder betont - Sinn und Grenzen setzbar.

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Zum Wiener Kreis, der hierbei bis zu »Atomsätzen« vordrang, vgl. Wolfgang Steginüller. Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, Bd 1, Stuttgart 1976, Kap. IX-XI. Im Krieg entwickelte Turing dann doch eine - sie entschlüsselte den Code der Wehrmachts-Chiffriermaschine »Enigma«. Zu den Entstehungsbedingungen vgl. Hasso Spode, Der Computer - eine Erfindung aus Kreuzberg, in: Kreuzberg, hg. v. Helmut Engel et al., Berlin 1994, S. 4 l 9 f f . Vgl. ideengeschichtlich Krämer. Symbolische Maschinen (wie Anm. 12), passim: vgl. auch Karin Knorr-Cetina, Das naturwissenschaftliche Labor als Ort der »Verdichtung« von Gesellschaft, in: Zeitschrift für Soziologie 17 (1988), S. 9Iff.

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16 IV.

Tourismus, Regeneration, Statuskonsum

Rationalisierung macht müde. Ihre Dynamik hinterläßt Mattigkeit. Seit der Aufklärung wollten die Klagen nicht verstummen, wie anstrengend ein von der »kalten Vernunft« versklavtes Leben sei, und betuchte Untertanen traten die temporäre Flucht an, »zurück« zur Freiheit, zu Natur und Geschichte: der Tourismus war geboren.31 Die Müdigkeit aus Überfluß, aus einem Zuviel an inneren Zwängen und äußeren Dingen, diese Zivilisationsmüdigkeit, weitet sich im 19. Jahrhundert sozial allmählich aus und vereinigt sich zugleich mit einer neuen Erschöpfung, deren Quelle die Technik ist. Mit der Industriellen Revolution trat die Belastbarkeit des Materials in den Blick: Dampfkessel können bersten, Lokomotivachsen brechen »Tand, Tand ist das Gebilde von Menschenhand.« Spektakuläre Unfälle, wie das Eisenbahnunglück auf der Strecke Paris-Versailles 1842, leiteten die Ära der wissenschaftlichen Materialforschung ein.32 Das Interesse an der Ermüdung des Stahls ging Hand in Hand mit dem Interesse an der Ermüdung des Arbeiters, dem »Arbeitermaterial«, wie sich dann Taylor ebenso offenherzig wie unklug ausdrückte. Basierend auf Laborversuchen, die der Irrenarzt Emil Kraepelin über die »Arbeitscurve« der »Kraftmaschine Mensch« angestellt hatte (übrigens unabhängig von Taylor), entwarf 1908 niemand anders als Max Weber ein Programm der »Psychophysik der industriellen Arbeit«, worin er dem »Grundbegriff« der Ermüdung den der Erholung gegenüberstellte; beide seien auf die »Fähigkeit bezogen, konkrete Leistungen in gegebenen Zeiteinheiten zu wiederholen«.33 Diese Zeiteinheiten können in Sekunden abgemessen sein - wie es dann das verhaßte, auf einer dem Therblig vergleichbaren Elementareinheit basierende Lohnsystem von Charles Bedeaux tat - , sie können auch den Tag, die Woche oder das Jahr umfassen. Der säkularen Atomisierung der Prozesse entsprach die Ausdifferenzierung der Funktionen und der ihnen zugewiesenen Zeit-Räume: »Was der Schlaf im engen Kreise der vierundzwanzig Stunden ist, das ist das Reisen in dem weiten Kreise der 365 Tage. Der moderne 31 32

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Hier nur Spode, »Reif für die Insel« (wie Anm. 6), S. 115ff. mit weiterer Lit. Hierzu Wolfgang Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. u. a. 1979, S. 113fî. Zit. n. Peter R. Gleichmann, Einige soziale Wandlungen des Schlafens, in: Zeitschrift für Soziologie 9 (1980), S. 238.

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Mensch, angestrengter, wie er wird, bedarf auch größerer Erholung.« Theodor Fontane hatte damit ausgesprochen, was bald zur Gewißheit wird: Der Grund fur das neue Phänomen des »Massenreisens« sei das beschleunigte Leben, das eine aufgestaute Ermüdung erzeugt, 34 ganz so, wie das Pleuel einer Lokomotive ermüdet durch die Summe der steten Vibrationen und Stöße. Im Kaiserreich, zumal nach der Jahrhundertwende, schrumpft die touristische Reise vom Luxus zur Notwendigkeit, von einer sozial und zeitlich exzeptionellen Unternehmung, über die das Publikum möglichst mit einem ganzen Buch in Kenntnis gesetzt wird, zur routinierten Urlaubsreise, von der man den Lieben daheim Leporellos mitbringt und allenfalls ein Tagebuch anlegt: »Mittags gab es Cordon Bleu«. Freilich hatte Fontane ein anderes »Massenreisen« vor Augen als wir. Es war ein schönes Publikum. Nur der Geistesarbeiter - und dessen Frau und Kinder - litt unter Auszehrung der Kräfte, nur wer den Weißen Kragen trug, durfte Anspruch auf Erholung geltend machen. Die Teilhabe am Tourismus blieb Vorrecht und Statussymbol des Bürgers, und insofern natürlich doch ein Luxus. Den genuinen Antrieb des Tourismus - das Unbehagen in der Disziplinargesellschaft - maskierte er mit dem neuen Gebot der Vernunft, seine Arbeitskraft regenerieren zu müssen, sich einmal im Jahr von der Kontorarbeit zu erholen, womöglich eine der zahllosen »Zivilisationskrankheiten« auszukurieren. 35 Arbeiter und Arbeiterinnen - mochten auch ihre Körper mit Vierzig ausgebrannt sein - waren davon nicht betroffen, sind doch die »Massen« per se unzivilisiert, ergo nicht erholungsbedürftig und -fähig. Während überall, wo es schön war, regionale Verkehrsvereine zur Ankurbelung des Tourismus erblühten, verschlafene »Sommerfrischen« sich zu Fremdenverkehrszentren mauserten und in den Städten die Ortsgruppen der bürgerlichen Gebirgsvereine wie Pilze aus dem Boden schössen, ging der erste Boom des »Massenreisens« an den »Massen« vorbei. Am Ende des Kaiserreichs dürfte gut ein Zehntel der Bevölkerung regelmäßig verreist sein, die große Mehrheit hatte weder Geld noch Zeit fur diesen neuen

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T h e o d o r Fontane, Sämtliche Werke, Bd. 18, M ü n c h e n 1972, S. 8. Zur rationalen T r e n n u n g von Schlaf- und Wachzeiten vgl. Gleichmann, Einige soziale W a n d lungen (wie A n m . 33), passim. Vgl. Christian HafTter, Die Entstehung des Begriffs der Zivilisationskrankheiten, in. Gcsnerus 36 (1979), S. 233-245; s. a. Joachim Radkau. Die wilhelminische Ära als nervöses Zeitalter, in Geschichte und Gesellschaft 20 (1994). S. 211-241.

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Lebensstil. 36 Der Ausschluß des Vierten Standes vom Tourismus mochte für die Zementierung der Klassenverhältnisse funktional sein, indem er das Selbstwertgefiihl des Gymnasiallehrers und des »Privatbeamten« stärkte - für den idealen Gesamtkapitalisten wurde er dysfünktional. 37 Eine Schere zwischen dem Bedarf nach touristischem Erleben und den Chancen seiner Realisierung tat sich auf. Legitimiert durch das ganz bürgerliche Postulat der »Veredelung« begannen Arbeiter, hier und da Wanderungen und Ausflüge zu organisieren, als bescheidenes Gegenstück zum Alpenverein wurde 1895 der proletarische »Touristenverein >Die Naturfreunde«< gegründet. 38 Dem blöden Ingenieursauge Frederick Taylors indes blieb der Anerkennungs- und Erholungsbedarf des »Arbeitermaterials« ebenso verborgen wie der Unternehmerschaft in toto\ Ausnahmen, voran Zeiss-Chef Ernst Abbe, bestätigten nur die Regel: Eine »Demokratisierung des Reisens« 3 9 war politisch unerwünscht. Erst in der Republik - nachdem in den letzten Vorkriegsjahren bereits ein Umdenken sichtbar geworden war - lenkte dann die Rationalisierungsdebatte den Blick auf den Leistungsfaktor »Seele«: Der »Kampf um die Arbeitsfreude« entbrannte, 40 an dem auch die Gewerk-

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Am Ende des Kaiserreichs erhielten fast alle Beamten, zwei Drittel der Angestellten, aber weniger als ein Zehntel der Arbeiter (sie stellten ca. die Hälfte der Erwerbsbevölkerung) regelmäßig Urlaub, vgl. Tourismuspsychologie und Tourisnuissoziologie. Ein Handbuch zur Tourismuswissenschaft, hg. v. Heinz Hahn/H. Jürgen Kagelmann, München 1993, S. 5. Vgl. Jürgen Reulecke, Vom Blauen Montag zum Arbeiterurlaub. Vorgeschichte und Entstehung des Erholungsurlaubs für Arbeiter vor dem Ersten Weltkrieg, in: Archiv für Sozialgeschichte 16 (1976), S. 205-248. Zu diesem Mechanismus klassisch Marx, MEW, Bd. 23 (wie Anm. 9), Kap. 8: Der Arbeitstag. Vgl. Udo Bensel, Soziale Bewegungen im Spannungsfeld zwischen Industriearbeit und Naturbedürfnis, dargest. am Bsp. des Touristenvereins »Die Naturfreunde«, Diss. Berlin 1985; vgl. auch Mit uns zieht die neue Zeit. Die Naturfreunde, hg. v. Jochen Zimmer, Köln 1984; Zur Sonne, zur Freiheit! Beiträge zur Tourismusgeschichte, hg. v. Hasso Spode, Berlin 1991. Diese Formulierung bereits 1857; zit. n. Jürgen Reulecke, Kommunikation durch Tourismus? Zur Geschichte des organisierten Reisens im 19. und 20. Jahrhundert, in: Die Bedeutung der Kommunikation fiir Wirtschaft und Gesellschaft, hg. v. Hans Pohl, Stuttgart 1989, S. 363. Wegweisend fiir die human retó/on.v-Forschung die Studien Elton Mayos; fiir Deutschland v. a. Hendrik deMan, Der Kampf um die Arbeitsfreude. Eine Untersuchung auf Grund der Aussagen von 78 Industriearbeitern, Jena 1927; vgl. Anm. 24.

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Schäften - 1918 zur staatstragenden Gegenmacht aufgestiegen - auf ihre Art Anteil hatten. Die Verkürzung der wöchentlichen Regelarbeitszeit a u f 4 8 Stunden und die Durchsetzung eines - verglichen mit dem Angestellten und B e a m t e n allerdings sehr knapp bemessenen - Urlaubsanspruchs fur fast alle tarifvertraglich erfaßten Arbeiter 4 1 erweiterten das V o l u m e n der arbeitsfreien Zeit. Freilich: Die Schere zwischen touristischem Bedarf und dessen R e a lisierungschancen vergrößerte sich damit nur noch weiter. Mit der gew o n n e n e n Zeit war wenig anzufangen. Der Arbeiterschaft (wie auch anderen unteren Einkommensgruppen) verblieb kaum etwas in der Lohntüte, w a s über die Grundbedürfnisse Essen, Wohnen, Kleiden hinaus auszugeben war; der glitzernde American way of life blieb den »Massen« verschlossen. Die die Müdigkeit verscheuchende Belohnungsund Erholungsfunktion der Freizeit konnte sich fur sie primär nur auf der Kinoleinwand entfalten und, mit Abstrichen, in einer aufblühenden Vereinskultur, 4 2 kaum aber im Medium des nicht-arbeiterbewegten, nicht-organisierten Konsums: des Konsums moderner, schöner Dinge und Vergnügungen, Varieté und Restaurant, schicke Möbel und moderne Küchen, Radios, Reisen, Autos gar, kurz: dessen, w a s die Reichen schon hatten und was die expandierende Werbung nun allen anpries. Der fordistische Massenkonsum, und damit die heiß diskutierte »Verbürgerlichung« des Proletariats kam in der Realität über bescheidene Ansätze nicht hinaus. 4 3 Zu viele Kinder, zu wenig Kaufkraft. Es regierte der Notwendigkeitsgeschmack. 4 4 Die neue hedonistische Konsumgesellschaft war eine Angelegenheit der Mittelschichten, zumal der Angestellten; lediglich die Crème gut bezahlter Facharbeiter, unterwegs zur Auf41

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Vgl. Hasso Spodc, Arbeitcrurlaub im Dritten Reich, in: T.W. M a s o n et al.. Angst. Belohnung. Zucht und Ordnung. Herrschaftsmechanismen im Nationalsozialismus. O p l a d e n 1982, S. 278fT.; Christine Keitz, Die A n f a n g e des modernen Massentourismus in der Weimarer Republik, in: Archiv für Sozialgeschichte 33 (1993). S. 184ÍT. Selbst in dieser vermeintlichen D o m ä n e der Arbeiterkultur w a r das B ü r g e r t u m überrepräsentiert. Die relative Stabilität und Homogenität proletarischer K o n s u m m u s t e r betont v. a. A r m i n Tricbel. Zwei Klassen und die Vielfalt des Konsums. Haushaltsbudg e t i e n m g bei abhängig Erwerbstätigen in Deutschland im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. 2 Bde., Berlin 1991: vgl. auch Arbeiter im 20. Jahrhundert (wie A n m . 24) oder Josef Mooser. Arbeitcrleben in Deutschland 1900-1970. Frankfurt a. M. 1984 (zur zeitgenössischen Verbürgerlichungsdebatte: S. 229ff.). Z u m Begriff vgl. Pierre Bourdieu. Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. F r a n k f u n a. M.. 5. Aufl. 1992: bes. Kap. II.3 u. III 7.

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stiegsschicht,45 konnte da mithalten. Die große Mehrzahl der Menschen blieb außen vor - ein »zurückgestauter Bedarf« baute sich auf.46 Auch bei der Verwendung der Jahresfreizeit zeigte sich dieser sowohl durch Werbung und Medien als auch durch vorschnelle Verheißungen der Arbeiterbewegung verstärkte Konsumstau. Mochten Arbeiterinnen und Arbeiter nun dem bündischen Vorbild folgen und in Jugendherbergen übernachten oder den »Naturfreunden« beitreten, mochten sie zunehmend Wanderungen, Tagesausflüge und Zeltlager organisieren (heroisch verfilmt in Brechts Kuhle Wampe) oder gar drei ihrer fünf Urlaubstage in einem Ferienheim im Erzgebirge verbringen: Das Tor zur prestigeträchtigen Touristenwelt bürgerlichen Zuschnitts blieb verschlossen. Nur Angehörige der »Arbeiteraristokratie«, weiter und weiter sich entfernend von der »Basis«, überschritten hier die Kragenlinie,47 stießen vor in die Reservate der Besserverdienenden. Jene Elite der Funktionäre und Facharbeiter, scheint es, war keineswegs unzufrieden mit diesem ihrem Aufstieg und zeigte entsprechend wenig Ehrgeiz, einer weiteren Demokratisierung des Reisens Vorschub zu leisten. Klagen, ihre Angebote seien zu teuer, beschied die Reiseabteilung des SPD-Bildungswerks: Für eine 14-tägige Mittelmeerfahrt seien ja pro Tag »nur« 22,85 RM zu zahlen - laut Statistischem Reichsamt lagen die jährlichen Ausgaben eines Arbeiters fur Reisen und Ausflüge bei 12 RM.48 »Komischerweise,« wunderte sich der sozialdemokratische 45

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Zum Begriff vgl. Triebel, Zwei Klassen und die Vielfalt des Konsums (wie Anm. 43), Kap. 4.2. Reinhard Spree, Modernisierung des Konsumverhaltens deutscher Mittel- und Unterschichten während der Zwischenkriegszeit, in: Zeitschrift für Soziologie 14 (1985), S. 400-410. Spree modifiziert somit die Mehrheitsmeinung der Soziologen und Historiker, erst in den 1960er Jahren sei es zum Traditionsbruch gekommen. ... und Rabatt-begiinstigte Reichsbahnbeschäftigte. Zur »Kragenlinie« programmatisch Jürgen Kocka, Die Angestellten in der deutschen Geschichte 1 8 5 0 - 1 9 8 0 , Göttingen 1981, S. 17111 Zum Arbeitertourismus der Weimarer Jahre besonders Bensei, Soziale Bewegungen im Spannungsfeld (wie Anm. 38) sowie (mit ausnehmend optimistischer Wertung) Keitz, Die Anlange des modernen Massentourismus (wie Anm. 41); Mit uns zieht die neue Zeit (wie Anm. 38); Zur Sonne, zur Freiheit! (wie Anni. 38); vgl. auch Dieter Langewiesche, Zur Freizeit des Arbeiters. Bildungsbestrebungen und Freizeitgestaltung österreichischer Arbeiter im Kaiserreich und in der Ersten Republik, Stuttgart 1979, S. 348(f. Für eine »Vollpcrson«; für den Arbeiterhaushalt wurden 1927/28 durchschnittl. 32 RM ermittelt; vgl. Hasso Spode, »Der deutsche Arbeiter reist«: Massentourisinus im Dritten Reich, in: Sozialgeschichte der Freizeit, hg. v. Gerhard Huck,

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Vorwärts, »glauben die meisten Menschen noch immer, so ein Reisebureau sei nur eine Angelegenheit fur die Leute mit dem großem Geldsack« 49

V.

Zwei Pioniere des Tourismus: Thomas Cook und Robert Ley

Ein Jahr nach der »Machtergreifung«, am 17. Februar 1934, rollten fahnengeschmückte Reichsbahn-Sonderzüge quer durch Deutschland. Binnen einer Woche wurden zehntausend »Arbeiterurlauber« aus den grauen Städten in die klare Luft Oberbayerns und der Mittelgebirge verfrachtet.50 Veranstalter dieser von einem unglaublichen Propagandarummel begleiteten Billigreisen war die vom Reichsorganisationsleiter Robert Ley dirigierte Pseudo-Gewerkschaft »Deutsche Arbeitsfront«,51 genauer: die Reiseabteilung der ihr angeschlossenen Freizeitorganisation »Nationalsozialistische Gemeinschaft >Kraft durch Freude«* (in der akronymreichen Sprache der Diktatur bald nur noch: »KdF«).52 Die

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Wuppertal 1980, S. 288; ders./Albrecht Steinecke, Die NS-Gemeinschaft »Kraft durch Freude« - ein Volk auf Reisen, in: Zur Sonne, zur Freiheit! (wie Anm. 38); vgl. auch Anm. 19. Vorwärts vom 14.7.1929, zit. n. Keitz, Die Anfänge des modernen Massentourismus (wie Anm. 41), S. 199. U. a. für 25 R M in Hitlers »Wahlheimat« Berchtesgaden - Bormann mußte im Folgejahr den Berg kaufen und abriegeln lassen, da alle den »Führer« sehen wollten. Vgl. Margit Miosga, Die Sehnsucht nach dem Alpenglüh'n - der preußische Sommerfrischler in Bayern, in: Die Reise nach Berlin [Katalog], Berlin 1987, S. 336f. Zu Entwicklung und Funktion der DAF grundlegend Timothy W. Mason, Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft. Dokumente und Materialien zur deutschen Arbeiterpolitik 1936-1939, Opladen 1975; vgl. auch Gunther Mai, » W a r u m stellt der deutsche Arbeiter zu Hitler?« Zur Rolle der Deutschen Arbeitsfront im Herrschaftssystem des Dritten Reiches, in: Geschichte und Gesellschaft 12 (1986), S. 212fF. ; Eberhard Heuel, Der umworbene Stand. Die ideologische Integration der Arbeiter im Nationalsozialismus. 1933-1935, Frankfurt a. M./New York 1989, Teil II. Zu KdF allg. Wolfhard Buchholz, Die Nationalsozialistische Geineinschaft »Kraft durch Freude«. Freizeitgestaltung und Arbeiterschaft im Dritten Reich. Diss. München 1976; zum KdF-Amt »Reisen. Wandern. Urlaub« - dem mit rund vier Fünfteln des Unisatzes bei weitem bedeutendsten - vgl. Spode. Arbeiterurlaub im Dritten Reich (wie Anm 41). S. 288ff.; vgl. auch resümierend Heuel, Der umworbene Stand (wie Anm. 51). S. 418ff. ; Hermann Weiß, Ideologie der Freizeit im Dritten Reich. Die NS-Gemeinschaft »Kraft durch Freude«, in: Archiv für Sozialgeschichte 33 (1993). S. 289ff.

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Resonanz auf die Aktion fiel überwältigend positiv aus. An den Zielbahnhöfen und Zwischenstationen drängten sich jubelnde Menschenmassen, und die KdF-Warte wurden mit Buchungswünschen überschüttet. Die Initiatoren waren von ihrem Erfolg selbst überrascht und weiteten das Fahrtprogramm für 1934 auf fast eine halbe Million Reisen aus. Erfreut stellten sie fest, in eine riesige Bedarfslücke gestoßen zu sein. Die Idee, den Tourismus mittels »Normung, Montage, Serienfertigung«53 anzukurbeln und nach dem Motto »großer Umsatz, kleine Preise« verbilligte Sonderfahrten zu organisieren, war freilich keineswegs neu; sie ist fast so alt wie die Eisenbahn selbst. Neu war die hemmungslose Konsequenz, mit der diese Idee von nun an umgesetzt werden sollte. Um 1840 hatten in England philanthropisch gesonnene Unternehmer begonnen, bei den Privatbahnen ganze Züge zu buchen, um den Arbeiterfamilien sonntägliche Ausflüge ins Grüne als bezahlbare Alternative zu Wirtshaus und Kirmes anzubieten. Am genialsten nutzte diese Geschäftsidee bekanntlich der Baptistenprediger und Nüchternheitsapostel Thomas Cook.54 Als am 5. Juli 1841 sein erster Sonderzug nach zehn Meilen Fahrt zum Temperenzlertreffen in Loughborough anlangte, wurden die 570 Teilnehmer von einer riesigen Menschenmenge mit Fahnen und Musik empfangen, so wie 93 Jahre später die ersten KdF-Fahrer begrüßt werden sollten: ein historisches Ereignis. Cook - wandelnder Beweis fur Max Webers Protestantismus-Kapitalismus-These - ließ es nicht mit Ausflügen bewenden, die die depravierten labouring poor vom Alkohol abbringen sollten, sondern bot bald auch kaufkräftigeren Schichten komplette Pauschalreisen55 an, anfangs im Königreich, schließlich weltweit, vom Nordkap bis in die Wüsten Afrikas. Die Formen der bürgerlichen Reise wollte Cook zunächst gar nicht antasten, sondern nur in Serie produzieren - ganz so, wie Johannes Gutenberg die Kalligraphie nicht abschaffen, sondern nur in Serie produzieren wollte. Mit der Serienproduktion aber verändert sich das Produkt selbst, sym-

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Enzensberger, Eine Theorie des Tourismus (wie Anm. 6), S. 67 lf. Essayistisch: Piers Brendon, Thomas Cook - 150 Years of Popular Tourism, London 1991; John Pudney, The Thomas Cook Story, London 1953; vgl. auch kurz Reulecke, Kommunikation durch Tourismus? (wie Anm. 39), S. 3641Γ. Zu unterscheiden sind die Pauschalreise, bei der die individuell erwünschten Leistungen - Fahrt, Unterkunft, Führungen etc. - vom Veranstalter gemäkelt (oder selbst organisiert) und abgerechnet werden, und die Gesellschaftsreise, eine vollständige oder teilweise Zusammenfassung mehrerer vom Veranstalter programmierter Pauschalreisen. Beides gab es bei »Cook & Son«.

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Mit der Serienproduktion aber verändert sich das Produkt selbst, symbolisch und physikalisch. Schritt um Schritt entwickelte C o o k das Instrumentarium der Tourismusveranstalter, alles inklusive, vom Fahrscheinheft über den Hotelcoupon bis zum Eintrittsbillett fur die Passionsspiele in Oberammergau. Auch hier wieder die Grundidee der Rationalisierung: Prozesse in Elemente zerlegen und neu zusammenfugen wobei der hoch komplexe und störanfällige Prozeß einer Urlaubsreise besondere Anforderungen an die Fehlerfreundlichkeit und Feinabstimmung der Taktstraße stellte. Obschon die »Cookties«, wo immer sie auftraten, das Negativimage von den Touristen-»Horden« prägten 56 und in manchen Zielgebieten eine marktbeherrschende Stellung erlangten, blieb die quantitative und somit auch soziale Bedeutung der Gesellschaftsreise eher bescheiden. Dies zumal im deutschen Tourismus, wo die wenigen Veranstalter ihr Angebot ganz auf ein betuchtes Publikum zugeschnitten hatten. Möglichst neue, exotische Ziele wurden erschlossen - mit dem Einbaum auf dem Amazonas - und nicht eine neue, exotische Klientel. Erst in den 1920er Jahren dämmerte es - verstärkt durch den Umsatzeinbruch in der Weltwirtschaftskrise, als die Übernachtungsziffern unter den Vorkriegsstand fielen - , daß sich mit Rationalisierung auch bei der Ware Urlaubsreise nicht nur ein Mehr an Sicherheit und Planbarkeit, sondern auch größerer Durchsatz und somit niedrigere, für »breitere Schichten« bezahlbare Preise erzeugen lassen. Die Erhöhung von Sicherheit und/oder Output ist eine grundlegende Doppelleistung von Rationalisierung. Die gestiegene Nachfrage nutzend und fördernd, wagten sich etliche Billiganbieter auf den Markt, und selbst die vornehme Hapag offerierte nun Fahrten fur unter 100 Mark. 5 7 Allein, die Preise blieben zu hoch, die Effekte minimal. Erstmals in größerem Stil wurde der »taylorisierte« Urlaub vielmehr im faschistischen Italien erprobt. 5 8 Angesichts geringer Massenkaufkraft gaben staatlich gelenkte Non-Profit-Organisationen

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Vgl. Anni. 116. Vgl. Anni. 47 und 67. Victoria deGrazia. The Politics of Leisure: The Dopolavoro and the Organization of Worker's Spare Time in Fascist Italy. 1922-1939. Diss. Columbia Univ. 1976. S. 483; vgl. auch die drei Phasen bei Christian Fink. Der Massentourismus. Soziologische und wirtschaftliche Aspekte unter besonderer Berücksichtigung Schweizer Verhältnisse, Bern/Stuttgart 1970. S. 28: Gesellschaftsreise à la Cook - politisch bedingter Massentourisnius in den 1930er Jahren - und (im Westen) w irtschaftlich bedingter seit den 1950er Jahren.

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d e m »Sozial-« bzw. »Volkstourismus« spektakulären Auftrieb. Seit 1931 schickte der D u c e mit viel P o m p sogenannte »Volkszüge« durchs Land. Als die Nazis das faschistische Modell aufgriffen, taten sie dies mit deutscher Perfektion und ließen das Vorbild rasch hinter sich. 5 9 »Kraft durch Freude« w u r d e zum größten Reiseveranstalter der Welt. Bis Kriegsbeginn verkaufte man rund 7 Millionen Urlaubsreisen, davon entfiel knapp ein Zehntel auf die spektakulären Hochseefahrten mit der »KdF-Flotte«, hinzu kamen weit über dreißig Millionen Kurzreisen und Sonntagsausflüge. Für 24,50 R M konnte man eine W o c h e Thüringer Wald buchen, für 44 R M zehn T a g e Heiligenhafen, für 59,50 R M eine einwöchige Schiffsfahrt in N o r w e g e n s Fjorde - natürlich alles inklusive. B e z o g e n auf die Zahl der Übernachtungen erreichte K d F einen Anteil von fast 10 Prozent am binnendeutschen Touristikmarkt. 6 0 »Reisen ist nicht mehr das Vorrecht der Besitzenden, Reisen als Erholung ist von der NS-Gemeinschaft >Kraft durch Freude< j e d e m Volksgenossen ermöglicht worden«, tönte die Propaganda 6 1 - wobei sie g e r n e an die 3 5 0 M a r k teuren Fahrten erinnerte, die sich einst die »Arbeiterbonzen« über gewerkschaftseigene Reisebüros genehmigt hatten. G e schickt an negative Erfahrungsmuster anknüpfend, trieb man den Keil zwischen die Funktionärs- und Facharbeiterelite der Arbeiterbewegung und die »betrogene« Masse der Mitglieder und Wähler. 6 2 V o n allen N S Massenorganisationen w u r d e KdF die mit Abstand populärste. In B e richten an die Prager Exil-SPD hieß es resignierend: » W a s soll man den Leuten sagen, wenn sie mit Argumenten kommen, wie: H e u t e sieht man, w o die Gewerkschaftbeiträge bleiben.« 6 3 Auf dem parallel zur Olympiade 1936 abgehaltenen »Weltkongreß für Freizeit und Erholung« verkündete dessen Ehrenpräsident, der US-Amerikaner T o w n Kirby:

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KdF war auch keine bloße Kopie: Spode, Arbciterurlaub im Dritten Reich (wie Anm. 41), S. 288fT. Folgende Zahlen nach ebd., S. 296ff.; vgl. ebenso ders./ Steinecke, Die NS-Gemeinschaft (wie Anm. 48), S. 84ff. Bezogen auf die Umsätze lag die Quote wegen des Preisniveaus niedriger, bezogen auf die Zahl der Urlauber aber wohl noch höher, zumal wenn man die Kurzfahrten miteinbezieht. Mit KdF in den Urlaub 1 (1936), H. 1, Vorw. Zur rhetorischen Figur der Diskreditierung der »Bonzen« vgl. Heuel, Der umworbene Stand (wie Anm. 51), S. 224ff., der die realen Bruchlinien und deren Wahrnehmung nicht thematisiert; hierzu die provozierenden Thesen von Karl H. Roth. Neuer Faschismus? [Vortrag], unveröff. Ms. (Berlin 1978). Deutschland-Bericht der sozialdemokratischen Partei Deutschlands [Sopade] 3 (1936), H. 7. S. A59.

Ein Seebad für zwanzigtausend Volksgenossen

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»Deutschlands >Kraft durch Freude< ist aus einem bloßen Ideal zu einer Tatsache geworden.« 6 4 Wer wollte da widersprechen? Zu T o w n Kirbys Nachfolger und Leiter des »Internationalen Zentralbüros >Freude und ArbeitGroßenauseinandergehenfliegenBauernstilJuden< genug gemauert, daß es fur g r o ß e K o n z e n t r a tionslager gereicht hätte?« 8 4 D e m gibt der nicht unbedeutende Architekt Friedrich T a m m s den ideologischen Hintergrund. Er rühmt die A u t o bahn als »Ausdruck für eine höhere Ordnung, unter die sich alles eingliedert, w a s lebensfähig und lebensberechtigt ist«. 85 Einer, der dieser Vorstellung nach nicht lebensberechtigt, weil J u d e war, hat das überlebt, in Elend und unsäglicher Erniedrigung freilich. Ihm, d e m Romanisten Victor Klemperer, verdanken wir mit seinem T a gebuch der Jahre 1933 bis 1945 ein unschätzbares Zeugnis des Alltags im »Dritten Reich« - geschrieben aus der Perspektive eines ausgestoßenen Patrioten. In seinen Tagebüchern hat er auch den Alltag eines Automobilisten in jenen Jahren festgehalten. Es ist der Alltag eines, der g e n a u s o fasziniert ist wie alle anderen, doch nicht teilhaben sollte an d e r automobilisierten »Volksgemeinschaft«. E r hat für die Nachwelt festge-

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Peter Brückner, Das Abseits als sicherer Ort, Berlin 1980, S. 47-50. Hans Lorenz, Rastplätze an der Autobahn, in. Die Straße 3 (1936), H. 11, S. 346f. Seifert, Die Wiedergeburt landschaftsgebundenen Bauens (wie Anni. 56), S. 286-288. Friedrich Tamms, Die Autobahn als architektonische Gesamterscheinung (1942), zit. n. Werner Durth, Die getarnte Moderne. Planung und Technik im Dritten Reich, in: »Die Axt hat geblüht...«. Katalog der Städtischen Kunsthalle Düsseldorf, Düsseldorf 1987, S. 358-367; hier S. 361.

»... eine glückliche

Zeitlosigkeit...

«

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halten, wie ihm gegen alle Repressionen und Schikanen das A u t o f a h r e n zunächst noch ein wenig Freiheit bot: »Das Auto soll uns ein Stück Leben und die Welt wiedergeben. Die Belastung der Police soll mich nicht bedrücken. [. . .] Welchen Z w e c k hat es in dieser Zeit, an nächstes Jahr zu denken? Vielleicht bin ich dann ermordet, [. . .] ich will leichtsinnig sein, ich will es ganz b e w u ß t sein.« Klemperer verzeichnet nicht nur getreulich die Schwierigkeiten des Fahrenlernens, sondern auch die allmähliche Verwandlung der anfänglichen Ängste in Lustgefühle und Fixation. Die ständige Sorge, als Fahrer j a nur »kein Unheil anzurichten. [ . . .] V o n der Landschaft sehe ich im Fahren nichts, der Blick hängt starr an der Straße. [ . . . ] Nun habe ich den Führerschein, das Auto, die G a r a g e und fühle mich noch bedrückter als zuvor«, notiert er A n f a n g M ä r z 1936. Knapp zwei M o n a t e später: »Allmählich wird die Fahrerei etwas erfreulicher. N o c h immer ist das Gartentor eine Qual [...], ich fahre besser, und wir benutzen den W a g e n viel.« Schließlich noch im Mai: »Auto, A u t o über alles, erster und letzter Gedanke.« 8 6 Bedrückt hält er die K o sten für Kraftstoff, Steuern und vor allem für die ständigen Reparaturen fest: »Das Auto frißt mich auf, Herz, Nerven, Zeit, Geld.« Dann: »Wir wollen am Essen und der Aufwartung sparen, um das A u t o behalten zu können.« Schließlich: »Aus Geldmangel fahren wir nur noch selten, jeder kleinste Schaden am Wagen ist eine Verzweiflung.« 8 7 Dennoch hat er E n d e des Jahres 6 000 Kilometer zurückgelegt, verzeichnet stolz Tagesleistungen von 330 oder Fahrten von 800 Kilometern. Einerseits hält er die propagandistischen Umstände kritisch fest. »In der Zeitung heißt die betreffende Beilage nicht mehr >Das Auto< oder >Der K r a f t v e r k e h n oder so, sondern >Der Kraftverkehr im dritten Reich Versailles!*, daneben ein Denkstein für Schlageter. Wundervoller R u n d - und Weitblick«.

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Victor Klemperer, Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 19331945, 2 Bde., Berlin 1995, Bd. 1, S. 252f.; S. 259 u. S. 266. Ebd., S. 255f.; S. 277 u. S. 300. Ebd., S. 321: S. 355f. u. S. 373.

Erhard Schütz

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Sein Blick ist zwar unbestechlich: »Im Vorprogramm [des Kinos] die Eröffnung der Autobahn Dresden-Meerane und ein Stück der Hitlerrede. Ohne jede geringste Übertreibung: Der Mann schreit mit überanstrengter Stimme wie ein besoffener und verfolgungswahnsinniger Arbeiter.« Doch als er zufällig bei einer Sonntagsausfahrt auf die Strecke der Reichsautobahn Wilsdruff-Dresden unmittelbar nach ihrer feierlichen Freigabe für den Verkehr gerät, wird auch er fasziniert: »Man sah noch Fahnen und Blumen des Festaktes vom Vormittag, eine Unmenge Wagen schob sich langsam im Besichtigungstempo vorwärts, nur ab und zu probierte man größere Geschwindigkeiten. Prachtvoll dieser gerade Weg, der aus vier abgesetzten Breiten besteht, aus j e zwei überbreiten Einbahnstraßen nebeneinander, ein Rasenstreifen zwischen den beiden Richtungen. Und Brücken für Überquerer. Auf diesen Brücken und an den Rändern drängen sich die Zuschauer. [. . .] Und ein herrlicher Blick, wie man gerade auf die Elbe und die Lößnitzhügel in der Abendsonne zufuhr. Wir fuhren die ganze Strecke hin und zurück (zweimal 12 km), ich wagte ein paarmal 80 km Geschwindigkeit.« Beim Schreiben indes findet er wieder zu kritischer Distanz: »Ein großer Genuß, aber welch ein Luxus, und wieviel Sand in die Augen des Volkes. An Hunderten von Bahnübergängen im Straßenniveau geschehen immerfort Unglücksfälle, Tausende von Verkehrswegen sind im schlimmsten Zustand, überall fehlt es an Radlerwegen, die mehr Unglück verhüten würden als alle Verschärfungen der Strafbestimmungen. Dies alles bleibt ungebessert, denn es würde ja nicht ins Auge fallen. Dagegen >DIE S T R A S S E N D E S F U H R E R S d « Solche Kritik wiederum hält ihn nicht davon ab, bei der nächsten Gelegenheit die allfällige Faszination zu verspüren: »Immerfort gerade, schöne glatte, fast leere Straße durch den Wald. War die Straße ganz umschlossen, so wirkte das beinahe gefährlich einschläfernd, kam freier Blick über Wiesen und Schonungen, so wurde ich munterer.« 8 9 Zunehmend bitterer verzeichnet er, wie sein Wagen 1937 fur zukünftige Militärzwecke gemustert wird, wie immer mehr Schikanen ihn quälen: »Benzinnot, Tankkarten, gestern Strafdrohung gegen >Spazierenfahrenc.« Es ist erschütternd zu lesen, wie für den Gedemütigten und Bedrängten, der sich zu Fuß auf der Straße nicht mehr sicher fühlt, das Auto zum einzigen Refugium momentaner Freiheiten wird, das er zugleich immer weniger nutzen kann. »Einförmiges Leben. Wenige Fahr-

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Ebd.. S. 31 Of.; S. 356 u. S. 368.

»... eine glückliche

Zeitlosigkeit...

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ten; teils Geldmangel, teils häufiges Streiken des Wagens.« 9 0 Nach Kriegsbeginn ist dann endgültig mit dem Fahren Schluß. Als Jude erhält er nun Fahrverbot. Damit wird ratifiziert, was zuvor schon agitatorisch angeheizt worden war: »Der deutsche Mensch hat es schon lange als eine Provokation und als eine Gefährdung des öffentlichen Lebens empfunden, wenn Juden sich am Steuer eines Kraftwagens im deutschen Straßenbild bewegten oder gar Nutznießer der von deutschen Arbeiterfäusten geschaffenen Straßen Adolf Hitlers waren. [...] In diese nationalsozialistische Verkehrsgemeinschaft gehört der Jude nicht hinein.« 91 Dagegen bleibt Victor Klemperers Stoßseufzer: »Wie schön wäre Deutschland, wenn man sich noch als Deutscher fühlen und mit Stolz als Deutscher fühlen könnte ,« 92 Mit diesen Sätzen möchte ich von der Zeitreise zurückkehren.

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Ebd., S. 486. Zit. n. Konrad Kwiet, Nach dem Pogrom. Stufen der Ausgrenzung, in: Die Juden im deutschen Leben unter nationalsozialistischer Herrschaft, hg. v. Wolfgang Benz, München 1988. S. 545-660; hier S. 597. Klemperer. Ich will Zeugnis ablegen (wie Anm. 86), Bd. 1, S. 419.

Johannes Graf

» V E R B I N D U N G VON FRANZÖSISCHER TRADITION MIT SACHLICHER MODERNITÄT« G U S T A V RENÉ HOCKE BERICHTET ÜBER DIE W E L T AUSSTELLUNG 1 9 3 7 IN PARIS

I.

G u s t a v R e n é H o c k e und die »Junge Generation«

G u s t a v R e n é H o c k e gehört zu jenen Persönlichkeiten, die die kulturelle D i s k u s s i o n v o n der Weimarer Republik über den Nationalsozialismus bis hin z u r N a c h k r i e g s z e i t

entscheidend

prägen konnten.

Dennoch

ist

er

heute w e i t g e h e n d vergessen, und auch seine B e d e u t u n g für die R e i s e literatur w u r d e bislang häufig unterschätzt. Ein kurzer B l i c k a u f

den

L e b e n s l a u f m a c h t mit e i n e r i n t e r e s s a n t e n P e r s ö n l i c h k e i t in p r o b l e m a t i scher Zeit bekannt.1 1 9 0 6 g e b o r e n , fühlte sich G u s t a v R e n é H o c k e der » J u n g e n G e n e r a t i o n « 2 jener Intellektuellen verbunden, die sich durch die E r e i g n i s s e d e s

Zu Hockcs Biographie vgl. H o m m a g e à Gustav René Hocke. Die Well als Labyrinth. Viersen 1989 (Viersen. Beiträge zu einer Stadt, Bd. 16), bes. S. 9-10. In diesem S a m m e l b a n d sind wichtige Aufsätze zu Hockes Werk enthalten, von denen hier zwei genannt werden sollen: Rein A. Zondergeld, Die Zeit der Mythen. Gustav René Hocke als Erzähler, in: ebd., S. 53-62: Volker W e h d e k i n g . Leviathan und Apollinische Aufklärung. Hocke als Journalist und Erzähler, in. ebd.. S. 39-47. Erweiterte Fassung unter dem Titel: Die Welt als Labyrinth. G u stav René Hockes Erzählwerk, in: N L Z (1988), Sonderheft 1. 2. Überarb. Aufl. o. J. [1992], S. 79-84. Vgl. auch: ders.. N a c h k r i e g s m ü n c h e n als Tor z u m f r e i eren Süden. Alfred Andersch und Gustav René Hocke als Kulturkritiker und E r zähler. in: Trüminerzeit in München. Kultur und Gesellschaft einer deutschen Großstadt im Aufbruch 1 9 4 5 ^ 9 . hg. v. Friedrich Prinz, M ü n c h e n 1984, S. 220-227. Z u m Begriff und der literarischen Produktion der »Jungen Generation« mit Schwerpunkt auf dem »Dritten Reich« grundlegend: H a n s Dieter Schäfer, Die nichtnationalsozialistische Literatur der j u n g e n Generation im Dritten Reich (überarbeitete Fassung), in: ders.. Das gespaltene Bewnßtsein. Deutsche Kultur

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Johannes Graf

Krieges, der Revolution sowie der Inflation um eine behütete Kindheit und Jugend gebracht sahen. Als sie Ende der zwanziger bzw. Anfang der dreißiger Jahre Schule und Universität verließen, fanden die meisten von ihnen angesichts der sich verschärfenden Weltwirtschaftskrise keine Arbeit. Vor ihren Augen steuerte die Weimarer Republik in eine ökonomische und politische Krise. Sie mußten miterleben, wie neben ihren persönlichen Hoffnungen alle gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Perspektiven verlorengingen. Im Begriff der »Generation« fielen für sie individuelle Leidenserfahrung und gesellschaftliche Entwicklung zusammen. Durch die von negativen Eindrücken überschattete Lebenserfahrung war besonders bei den Vertretern der »Jungen Generation« der Eindruck entstanden, daß das einzig Konstante die permanente Krise sei, die alle Lebensbereiche erfaßt hatte. Nicht zuletzt standen deshalb in diesem Kreis der Zwanzig- bis Dreißigjährigen, zu denen, um nur die bekanntesten zu nennen, neben den Geschwistern Klaus und Erika Mann Günter Eich, Wolfgang Koeppen und Marie Luise Kaschnitz zählten, am Ende der Weimarer Republik Entwürfe im Umkreis der Kulturkritik und des Existentialismus besonders hoch im Kurs. Auch Gustav René Hocke diskutierte damals an exponierter Stelle über die Generationsproblematik. Hocke hatte Alfred Döblin in einem offenen Brief um Rat gebeten, wie er seine eigene unsichere Position in der Welt festigen könne. Durch »Zweifel und innere Schwankungen« geprägt, hoffte Hocke angesichts des »Wirrwarr[s] der sich bietenden Widersprüche« auf ein verbindliches »Wort des Führers, der mithalf, das geistige Antlitz unserer Zeit zu formen«.3 Döblin antwortete ihm mit einer Artikelserie, die später unter dem Titel Wissen und verändern auch in Buchform erschien. Ob Döblin mit seiner differenzierten und vorsichtigen Argumentation Hocke weitergeholfen hat, mag dahingestellt bleiben, der junge Autor jedenfalls ist mit seinem offenen Brief 1930 auf einen Schlag berühmt geworden. Geholfen hat Hocke die Bekanntheit in der Öffentlichkeit zunächst wenig. Nachdem er seine Dissertation über zeitgenössische Klassikeraufführungen auf französischen Bühnen 1933 abgeschlossen hatte, verund Lebenswirklichkeit 1933-1945, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1984, S. 7-68. Ergänzend zu Hockes Verhältnis zur »Jungen Generation«: Johannes Graf, » D i e notwendige Reise«. Reisen und Reiseliteratur junger Autoren während des Nationalsozialismus, Stuttgart 1995, bes. S. 30-43. Gustav Hocke, Brief eines Studenten, in: Alfred Döblin, Wissen und verändern! Offene Briefe an einen jungen Menschen, Berlin 1931, S. 13-16; hier S. 13.

» Verbindung von französischer Tradition mit sachlicher Modernität«

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lor er sein Stipendium und war, wie viele seiner Kollegen, zunächst arbeitslos. 4 Bald jedoch fand Hocke eine Stelle als Volontär bei der Kölnischen Zeitung, und bereits kurz nach seiner Einstellung am 25. September 1934 übernahm er die Redaktion der wöchentlichen Feuilletonseite »Geist der Gegenwart«, da seinem Vorgänger Max Rychner als Schweizer Staatsbürger verboten worden war, eine leitende Position in Deutschland zu bekleiden. Unter Hockes Leitung entwickelte sich die Kulturbeilage der Kölnischen Zeitung zu einem der wichtigsten und interessantesten Feuilletons neben dem der Frankfurter Zeitung oder des Berliner Tageblattes.5 Bei Kriegsbeginn ging Hocke, der durch seine redaktionelle und journalistische Tätigkeit bereits mehrfach in Konflikt mit den nationalsozialistischen Behörden gekommen war, als Auslandskorrespondent nach Italien. Als die Alliierten in Sizilien landeten, tauchte Hocke im von deutschen Truppen besetzten Rom unter und beteiligte sich an der Untergrundarbeit gegen die Nationalsozialisten. 6 Nach der Befreiung Roms durch die alliierten Truppen arbeitete Hocke zusammen mit Alfred Andersch in amerikanischer Kriegsgefangenschaft an der Zeitschrift Der Ruf mit. Sein darin veröffentlichter Artikel Deutsche Kalligraphie oder: ülanz und Elend der modernen Literatur1 gilt als »erstes literarisches Programm fur die Intentionen der Jungen Generation« und damit neben Alfred Anderschs Deutsche Literatur in der Entscheidung als fundamentaler Beitrag für die Entwicklung der westdeutschen Nachkriegsliteratur insbesondere im Umkreis der Gruppe 47. 8 In den fünfziger und frühen sechziger Jahren konnte er als erster

Zu den folgenden A u s f ü h r u n g e n vgl. neben den bereits genannten Studien v. a. allem in Hockes Nachlaß die handschriftlichen Tagebücher und die u m i a n g liclien maschinenschriftlichen Lebcnserinnerungen (Im Schatten des Leviathan. Tvposkript, Deutsches Literaturarchiv Marbach, A: Hocke 87.3.63). Z u r Bedeutung von Hockes Arbeit für die Kölnische Zeitung vgl. Klaus-Dieter Oelze. Das Feuilleton der Kölnischen Zeitung im Dritten Reich, F r a n k f u r t a. M. 1990. Unter anderem war Hocke Mitbegründer der Deutschen Antinationalsozialistischen Vereinigung Italiens. Eine Abbildung seines Mitgliedsausweises u n d Schilderungen der Kriegszeit in Italien aus Hockes unveröffentlichten Lebense r i n n e r u n g e n in: H o m m a g e à Gustav René Hocke (wie A n m . 1), S. 48-52. Gustav René Hocke, Deutsche Kalligraphie oder: G l a n z und Elend der modernen Literatur, in: Der Ruf. Unabhängige Blätter der j u n g e n Generation, Nr. 17 vom 15.11.1946. Abgedruckt in: Der Ruf. Eine deutsche Nachkriegszeitschrift, hg. v. H a n s Schwab-Felisch. mit einem Geleitwort von Hans W e r n e r Richter. M ü n c h e n 1962, S. 203-208. Wehdeking. Leviathan und Apollinische Aufklärung (wie A n m . 1). S. 41.

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deutscher Auslandskorrespondent in Italien, durch seine Bücher über Manierismus in Literatur und Kunst 9 sowie mit seiner komparatistischen Studie über das europäische Tagebuch 10 die Kultur der Bundesrepublik entscheidend prägen. Sowohl der Kultur in der Weimarer Republik als auch im »Dritten Reich« und in der Nachkriegszeit konnte Hocke seinen Stempel aufdrücken, aber am stärksten war seine öffentliche Wirkung wohl während der Zeit als Feuilletonredakteur bei der Kölnischen Zeitung. Es gelang ihm damals, viele wichtige Autoren aus unterschiedlichsten Bereichen der Gesellschaft zu gewinnen, die im Feuilleton über die aktuellen Tendenzen in Kunst und Wissenschaft berichteten. Mit der Zusammenstellung der Artikel in der Kulturbeilage wollte er eine Bestandsaufnahme über den Geist der Gegenwart liefern. Dieses Ziel verfolgte er auch mit seinen eigenen Beiträgen. Auch sein Reisebericht Das geistige Paris 1937 ist nicht nur eine Beschreibung der wichtigsten Ereignisse im Umkreis der Weltausstellung, sondern Auseinandersetzung mit nationalen und internationalen Tendenzen in Kultur und Gesellschaft.

II.

Die Weltausstellung 1937 in Paris

1937 fand in Paris zum sechsten Mal eine Weltausstellung statt. Auf dem Gelände an der Seine zwischen dem Eiffelturm und dem Trocadéro stellten 44 Nationen ihre Leistungen auf kulturellem und technischem Gebiet vor. Die weitaus meisten der etwa 300 Hallen wurden von Frankreich beansprucht, das die Weltausstellung zur Präsentation der eigenen wirtschaftlichen und kulturellen Leistungsfähigkeit nutzte. Die Mehrzahl der französischen Ausstellungshallen waren dem sehr allgemeinen Thema der Ausstellung, Kunst und Technik als zwei Seiten der menschlichen Kultur, verpflichtet. Es gab drei monumentale Kunstausstellungen, verschiedene Pavillons zu Handwerk und Gewerbe und nach

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Gustav René Hocke, Die Welt als Labyrinth. Manier und Manie in der europäischen Kunst. Beitrüge zur Ikonographie und Formgeschichte der europäischen Kunst von 1520 bis 1650 und der Gegenwart, Hamburg 1957 (rde 50/51); ders., Manierismus in der Literatur. Spracli-Alchimie und esoterische Kombinationskunst. Beiträge zur vergleichenden Literaturgeschichte, Hamburg 1959 (rde 82/83). Gustav René Hocke, Das europäische Tagebuch, [Wiesbaden] 1963.

»Verbindung von französischer Tradition mil sachlicher Modernität«

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T h e m e n g e o r d n e t e Ausstellungen wie den »Palast der Entdeckung«, den »Palast der Luftfahrt« oder den »Palast des Lichtes und der Elektrizität«. Die »Exposition internationale des arts et des techniques dans la vie moderne« sollte wie die vorangegangenen Ausstellungen dem Geist des Friedens und Fortschritts huldigen. In zeitgenössischen Berichten wird auf die Grundidee der Weltausstellung hingewiesen: »Seit fast hundert Jahren sind es die Weltausstellungen, die in zwanglosen Zeitabständen die Völker im Zeichen des Friedens zusammenfuhren und sie in einer B e s t a n d s a u f n a h m e ihrer schöpferischen Leistungen im Dienste des Fortschritts geistig miteinander bekannt machen.« 1 1 V o n offizieller Seite w u r d e versucht, den hier angesprochenen Aspekt der friedlichen Völkerverständigung noch zu verstärken, indem man eine Konferenz über »Peaceful Change« in den Rahmen der Veranstaltungen einband. Doch konnte dieser K o n g r e ß nicht verhindern, daß die Weltausstellung von den ideologischen Gegensätzen zwischen den Staaten dominiert wurde. Zwei Attraktionen waren es vor allem, die auf der Weltausstellung Aufmerksamkeit erregten: zum einen die an zentraler Stelle sich gegenüberstehenden Ausstellungsgebäude von Deutschland und der Sowjetunion, zum anderen der Pavillon von Spanien, das sich damals im Bürgerkrieg zwischen den demokratischen Kräften und den profaschistischen Franco-Anhängern befand. Die Bauten und die in ihnen gezeigten Selbstdarstellungen von Deutschland, der Sowjetunion und von Spanien waren wohldurchdachte Manifestationen offizieller Kunst und Propaganda. Die Architektur und die Inneneinrichtungen der G e b ä u d e sind anschauliche Beispiele fur das Verhältnis von »Kunst und Macht im E u r o p a der Diktatoren 1930 bis 1945«, und nicht von ungefähr stand deshalb die Pariser Weltausstellung von 1937 im Z e n t r u m der gleichnamigen Ausstellung des Europarates 1996 über die europäischen Kunsttendenzen der dreißiger und vierziger Jahre. 1 2

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Claus Sclirempf, Das geistige Paris. Bemerkungen zu einer Schrift von Gustav R. Hocke, in. Kultur und Leben. Beilage zu den Leipziger Neuesten Nachrichten, Nr. 39 vom 8.2.1938. Wie das folgende: Dawn Ades, Paris 1937. Kunst und nationale Macht, in: Kunst und Macht iin Europa der Diktatoren 1930 bis 1945. XXIII. Kunstausstellung des Europarats, Berlin 1996, S. 58-62; hier S. 58. Dort auch weitere Forschungsliteralur zur Pariser Weltausstellung. Eine gute Einführung und ergänzende Informationen bietet auch das Themenheft der Zeitschrift Vernissage, Nr. 6 (1996): »Kunst und Macht im Europa der Diktatoren 1930 bis 1945«.

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Spaniens modernes sachliches Gebäude zeichnete sich durch zurückhaltende klare Formen und eine transparente Raumgestaltung aus. In der Vorhalle befand sich neben einem Brunnen von Alexander Calder Pablo Picassos berühmtes Gemälde Guernica, das die Bombardierung der spanischen Stadt durch die deutsche Legion Condor anklagte und so deutlich für die republikanischen Kräfte Partei ergriff Im Innenraum zeigten Fotomontagen von Josep Renau, einem Fotografen aus Valencia, zu Themen wie Schulbildung, medizinischer Versorgung oder der Rolle der Frau die politisch-sozialen Ziele oder Errungenschaften des modernen Spanien. Der spanische Pavillon war ein Bekenntnis zur Kunst und Architektur der klassischen Moderne sowie zur Demokratie. 13 Mitten im spanischen Bürgerkrieg setzte er ein Zeichen gegen die sich in vielen europäischen Ländern etablierenden Faschisten. Zu Recht wurde das Gebäude deshalb als »Kristallisationspunkt antifaschistischer Unterstützung« 14 gesehen. Mit ganz anderen architektonischen Mitteln operierten die beiden Ausstellungsgebäude von Deutschland und der Sowjetunion, fur die von den Veranstaltern an exponierter Stelle, am Nordufer der Seine, Platz bereitgestellt wurde. Die unmittelbare Nachbarschaft der Bauplätze provozierte geradezu die Konkurrenz zwischen dem deutschen Nationalsozialismus und dem sowjetischen Sozialismus, die dann in der Architektur der Gebäude deutlich zum Ausdruck kam. Beide Gebäude waren kompositorisch aufeinander abgestimmt. Albert Speer berichtet in seinen Lebenserinnerungen, daß er mit dem von ihm entworfenen deutschen Pavillon auf den sowjetischen Entwurf, den er »zufällig« bereits im Modell zu Gesicht bekommen hatte, Bezug nehmen konnte. 15 Die Sowjets errichteten ein turmartiges Gebäude, das als Podest fur eine über zehn Meter hohe Figurengruppe diente. Die Skulptur bestand aus einem russischen Paar, das mit Hammer und Sichel den deutschen Pavillon anzugreifen schien. Gegenüber dem monumentalen sowjetischen Denkmal wurde von Deutschland ein nicht minder imponierender über fünfzig Meter hoher Turm gebaut, der mit seiner Baumasse den symbolischen Angriff aufnahm und durch die strenge, an der griechischen Tempelar13

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Weitere Beispiele könnten das auf breiter Basis belegen. Vgl. dazu die Ausführungen und die Dokumentation zum spanischen Pavillon von Marko Daniel, Spanien: Kultur im Krieg, in: Kunst und Macht im Europa der Diktatoren 1930 bis 1945 (wie Anni. 12), S. 63-108. Ades, Paris 1937 (wie Anni. 12), S. 58. Albert Speer, Erinnerungen, Frankfurt a. M. 1969, S. 94f.

» Verbindung von französischer Tradition mit sachlicher Modernität«

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chitektur orientierte Form und die Bekrönung mit einem das H a k e n kreuz haltenden Reichsadler neutralisieren wollte. Diese M a c h t d e m o n stration w u r d e auf j e eigene Weise im Innern fortgesetzt. Die Solidität, die der deutsche Pavillon durch die antikisierenden Formen und die Sandsteinfassade suggerierte, fand ihre Entsprechung in dem traditionalistischen Stil der Inneneinrichtung und der Kunstwerke. Z u d e m war man bestrebt, die technologische Fortschrittlichkeit der deutschen Industrie - etwa im Automobilbau oder bei den synthetischen W e r k s t o f f e n deutlich hervorzuheben. In charakteristischer Weise verbanden sich im deutschen Pavillon technische Modernität und reaktionäre Kunstvorstellung 1 6 ebenso wie im sowjetischen Pavillon Rudimente der avantgardistischen Agitpropästhetik der zwanziger Jahre mit sozialistischem Realismus. Die Selbstdarstellung der einzelnen Länder spiegelt die offizielle Auffassung von Kunst und Propaganda in den jeweiligen Gesellschaftssystemen, in Demokratie, Sozialismus und Nationalsozialismus. In den nationalen Pavillons auf der Weltausstellung zeigen sich auf engstem Raum die gesellschaftlichen Konflikte und kulturellen Positionen der dreißiger Jahre. Die Pariser Weltausstellung von 1937 entwarf folglich durchaus im Sinne der Veranstalter einen Querschnitt des gegenwärtigen Lebens, doch war die Idee eines völkerverbindenden Überblicks im Zeichen des Friedens von der unversöhnbaren Konfrontation zwischen den Mächten in den Hintergrund gedrängt geworden.

III.

Das Echo in Deutschland

Während die Selbstdarstellungen der einzelnen Länder in den Pavillons relativ gut bekannt sind, ist die Reaktion der Zeitgenossen bislang wenig erforscht worden. Nur vereinzelt werden in den Dokumentationen und den Studien zur Weltausstellung die Reaktionen der Besucher erwähnt. W e n n überhaupt Stimmen aus Deutschland zu Wort kommen, so sind dies Vertreter der Partei oder die Verfasser der Ausstellungsbroschü-

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Auf diese V e r b i n d u n g von technischer Modernität u n d reaktionärer Ästhetik hingewiesen hat Karen A. Fiss, Der deutsche Pavillon, in: Kunst u n d M a c h t im Europa der Diktatoren 1930 bis 1945 (wie A n m . 12), S. 108-110. Sie n i m m t dabei die im Titel angesprochene Hauptthese von Jeffrey Herf, Reactionary Modernism Technology, Culture, and Politics in W e i m a r and the T h i r d Reich, C a m bridge 1984. auf."

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re. 17 Wie zu erwarten ist, sind diese Äußerungen voll des Lobes. Ebenso erwartungsgemäß kritisieren deutsche Emigranten oder Emigrantenkreisen nahestehende Intellektuelle wie Gisèle Freund die deutsche Ausstellung in scharfer Form. Aber war die Vielzahl an Berichten wirklich so stereotyp, wie man dies auf den ersten Blick erwarten würde? Wie beurteilen die deutschen Besucher die anderen Attraktionen und die Weltausstellung als Ganzes? Anhand der Berichterstattung in Tageszeitungen und in den Zeitschriften des Jahres 1937 läßt sich zeigen, welche Schwerpunkte die Zeitgenossen setzten. Das nationalsozialistische Deutschland nutzte die erste Teilnahme an einer Weltausstellung nach 1933, um sich als friedliebende, vertrauenswürdige und fortschrittliche Nation zu präsentieren. Im deutschen Pavillon habe - wie es in der in allen größeren regionalen und überregionalen Zeitungen abgedruckten Rede von Reichswirtschaftsminister Hjalmar Schacht anläßlich der Eröffnung des deutschen Pavillon heißt - »das Bekenntnis zu Arbeit und zum Frieden Gestalt gewonnen«. 18 Mit Genugtuung nahm man in Deutschland zur Kenntnis, daß die großangelegte Propagandaschau auch im Ausland breite Zustimmung erfuhr. Das Berliner Tageblatt berichtete auf seiner Titelseite, daß die an der Eröffnung des deutschen Pavillons teilnehmenden Vertreter der französischen Regierung »ihre unverhohlene Bewunderung über Bau und Inhalt äusserten« und daß die Pariser Zeitungen in ihren Abendausgaben den nationalsozialistischen Beitrag als das »eindrucksvollste Bauwerk der Ausstellung« bezeichneten. 19 Unter den internationalen Gästen waren immerhin 80 000 Besucher aus Deutschland, die den Weg nach Paris gefunden hatten, um vor Ort

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Vgl. ebd. Dr. Schacht eröffnet das Deutsche Haus. Deutschland auf der Weltausstellung »Volk der Arbeit, Volk des Friedens«, in: Stuttgarter Neues Tagblatt, Nr. 240 vom 26.5.1937; Bekenntnis zur Arbeit und zum Frieden. Der Deutsche Pavillon auf der Weltausstellung von Reichsminister Dr. Schacht eröffnet, in: Germania, Nr. 145 vom 27.5.1937; Eröffnung des Deutschen Hauses auf der Pariser Weltausstellung, in: Völkischer Beobachter, Norddeutsche Ausgabe, Nr. 147 vom 27.5.1937; Dr. Schacht eröffnet das Deutsche Haus, in: Frankfurter Zeitung, Nr. 263 vom 27.5.1937; Deutsches Haus in Paris eröffnet. Dr. Schacht übergab den Bau im Namen des Führers seiner Bestimmung, in: Berliner Tageblatt, Nr. 244/245 vom 27.5.1937; Deutschlands fundamentale Forderung. Eröffnungsrede Dr. Schachts - Die Beziehungen beider Länder, in: ebd. Bewunderung für Deutsches Haus. »Eindrucksvollster Ausstellungsbau« - Besuch durch Pariser Minister, in: Berliner Tageblatt ebd.

»Verbindung von französischer Tradition mit sachlicher Modernität«

109

die Ausstellung und den deutschen Pavillons zu besichtigen. 2 0 Für den Besucherandrang aus Deutschland war jedoch nicht allein die wohlwollende Berichterstattung und das internationale Lob fur den von Albert Speer errichteten Pavillon verantwortlich, sondern vor allem das zeitlich begrenzte Devisenabkommen mit Frankreich während der Weltausstellung. 2 1 Frankreich gehörte seit der Neuregelung der Devisenbewirtschaftung 1935 zu jenen Ländern, fur die auf deutscher Seite keine Valuta fur Privatreisen mehr bereitgestellt wurden. Selbst ohne ausdrückliches Verbot waren Reisen in das Nachbarland seit 1935 bereits aus finanziellen Gründen kaum mehr möglich, von den Schwierigkeiten, ein Visum zu bekommen, ganz zu schweigen. Die seltene Chance, privat ins »feindliche Ausland« zu reisen und sich selbst ein Bild von den aktuellen internationalen Entwicklungen machen zu können, hat deshalb bei vielen wohl eine mindestens ebenso g r o ß e Rolle gespielt wie die lobenden Berichte über die E r ö f f n u n g des deutschen Pavillons in der Tagespresse. 2 2 Ebenso überraschend wie die Möglichkeit, aus dem ansonsten hermetisch gegenüber dem »Erzfeind« Frankreich abgeschütteten Deutschland reisen zu können, sind auch jene Artikel, in denen nicht nur über den deutschen Pavillon, sondern über die gesamte Weltausstellung berichtet wird. Anders als nach der polarisierenden Darstellung der Ausstellung über »Kunst und Macht« und auch in einem Teil der Forschung zu erwarten, spielte die ideologische Konfrontation zwischen Deutschland und der Sowjetunion, wie sie in den beiden gegenüberliegenden Ausstellungsgebäuden zum Ausdruck kommt, eine relativ untergeordnete Rolle. Spanien und sein Pavillon wird gar in keinem einzigen der Beiträge erwähnt. Symptomatisch fur diese Tendenz ist die F o t o r e p o r t a g e Streifzug durch die Pariser Weltausstellung von G. Harbers, die sich in

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Hans Wendt, Die Weltausstellung Paris 1937. Bedeutung - W i r k u n g - Gesicht Gehalt, in: Deutsche Handelswarte 25 (1937). S. 509-515: hier S. 510: »Insgesamt wird die Zahl der reichsdcutschen Besucher auf etwa 80 0 0 0 geschätzt.« Der Reiseverkehr mit Frankreich während der Pariser Weltausstellung, in: Völkischer Beobachter, Nr. 146 vom 26.5.1937. Zur Steuerung der Auslandsreisen durch das Mittel der Devisenbewirtschaftung: Graf, »Die notwendige Reise« (wie Anni. 2), S. 122f. Z u d e m wird in den Tageszeitungen mit großformatigen Anzeigen f ü r einen Besuch der Weltausstellung geworben: »Paris. Exposition Internationale 1937. Zahlreiche künstlerische, wissenschaftliche, literarische und sportliche Veranstaltungen. M a i - N o v e m b e r 1937. Auskünfte bei allen Reisebüros und Schifffahrts-Gesellschaften sowie bei dem Propaganda-Ausschuß, Berlin W 25, Hildebrandtstraße 22«. Frankfurter Zeitung. Nr. 283 vom 6.6.1937.

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Johannes Graf

der Zeitschrift Der Baumeister schwerpunktmäßig der Architektur widmet. 23 Das Eingangsbild zu dem Artikel zeigt die Hauptachse der Ausstellung vom Eiffelturm aus gesehen. Der Blickwinkel des Betrachters auf das gegenüberliegende Seine-Ufer ist dabei so gewählt, daß nur der deutsche Bau sichtbar wird, der sowjetische jedoch ausgespart bleibt. Erst an weniger exponierter Stelle des Berichts wird die direkte räumliche Konfrontation der beiden Pavillons gezeigt. In der Bildunterschrift zu dieser Abbildung wird die Nähe des sowjetischen zum deutschen Ausstellungsgebäude unverhohlen kritisiert: »Links der deutsche Turmbau mit Adler, gegenüber ausgerechnet der russische Pavillon.« 24 Die Ausblendung des sowjetischen Gebäudes auf dem Eingangsfoto und die tendenziöse Bildunterschrift an späterer Stelle belegen, daß die Konfrontation der beiden Mächte für Harbers, aber sicherlich auch für andere, ein Ärgernis war. So häufig sich zustimmende Reaktionen zum deutschen Pavillon finden, so selten sind direkte Vergleiche zwischen Deutschland und der Sowjetunion anhand der von ihnen errichteten Bauten. Wenn überhaupt, werden die beiden Gebäude in der parteinahen Presse verglichen. Joachim Radler stellt in den Mitteilungen der Akademie zur Wissenschaftlichen Erforschung und zur Pflege des Deutschtums fest, daß in der Weltausstellung »der unerbittliche Kampf der Weltanschauungen unserer Zeit [...] seinen eigenartig packenden Ausdruck gefunden« habe. 25 Gegenüber dem deutschen Haus »in seiner disziplinierten Einfachheit, seiner Ehrlichkeit und Strenge, dessen Turm stolz das nationalsozialistische Hoheitszeichen trägt,« stehe der russische Bau, »ein machtgieriger Aufschrei mit seiner riesigen Doppelstatue des sowjetrussischen Mannes und Weibes, die im Sturmschritt Hammer und Sichel vor sich her über die Welt tragen.« Einen vergleichbaren Eindruck vermittelt auch Herbert Lehnert im Völkischen Beobachter bei seinem Rundgang durch die Weltausstellung. 26 Lehnert bedient die Klischees der sich in den Pavil23

24 25

26

G. Harbers, Slreifzug durch die Pariser Weltausstellung 1937. Mit Lichtbildaufnahmen des Verfassers, in: Der Baumeister 35 (1937), S. 269-278. Ebd., S. 271. Hervorhebung durch den Verfasser. Wie das folgende: Joachim Radler, Das deutsche Haus und die deutsche Arbeit auf der Pariser Weltausstellung 1937, in: Mitteilungen der Akademie zur Wissenschaftlichen Erforschung und Pflege des Deutschtums 12 (1937), S. 380-385; hier S. 382. Wie das folgende: Herbert Lehnert, Im Mittelpunkt der Deutsche Pavillon. Rundgang durch die unvollendete Weltausstellung in Paris, in: Völkischer Beobachter. Nr. 147 vom 27.5.1937.

» Verbindung von französischer Tradition mit sachlicher Modernität«

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Ions ausdrückenden jeweiligen ästhetischen und politischen Leitvorstellungen: »Front gegen Front stehen sich hier die völlig verschiedenartigen Gebäude Deutschlands und des Sowjetrußlands gegenüber. Steingewordener Ausdruck ideologischer und politischer Ideen. Hier arteigene Stilreinheit und erhabene Ruhe, dort wilde Gebärde und revolutionäre Bewegung.« Diese Vergleiche zwischen dem deutschen und dem sowjetischen Pavillon sind jedoch die Ausnahme, und selbst in Lehnerts Beitrag fur den Völkischen Beobachter kommt der Konfrontation beider Gebäude und Systeme nur untergeordnete Bedeutung zu. Seine Äußerung über die beiden Bauten findet sich an wenig herausgehobener Stelle in der Mitte des Beitrags. Viel wichtiger ist Lehnert ein ganz anderer Punkt, der seinen Artikel bereits in der Überschrift bestimmt. Er betont, daß er einen »Rundgang durch die unvollendete Weltausstellung« 27 unternommen hat. Leitmotiv seines wie vieler anderer Berichte ist die Tatsache, daß die Weltausstellung bis zum Tag der Eröffnung aufgrund von Streiks und Fehlplanungen nicht fertiggestellt war. 28 Obwohl der Termin der feierlichen Eröffnung kurzfristig um mehr als drei Wochen verschoben wurde, waren bis zum 24. Mai 1937 nur »ein Fünftel der Pavillons fertig« 29 Erst im September waren die Bauarbeiten weitgehend beendet. 30 Diese Verzögerung ist fur Lehnert ein Zeichen, daß die Zielsetzung der Veranstalter, die Weltausstellung als Demonstrationsobjekt für das Funktionieren der französischen Volksfrontregierung, dem Bündnis aus Sozialisten und Kommunisten, und als »Propagandamittel gegen den Faschismus« zu instrumentalisieren, gründlich gescheitert sei. Nicht ohne Häme bemerkt der Redakteur des Völkischen Beobachters: »Peinlich, daß die Entwicklung einen umgekehrten Fortgang nahm und gerade die geschmähten Faschisten mit ihren Gebäuden rechtzeitig fertig wurden, während die der Volksfront nach wie vor am weitesten zurückliegen.« Die Grundidee der Veranstalter hat sich laut Lehnert gegen diese gewandt. Die Fertigstellung des deutschen und italienischen Pavillons zeige die Leistungsfähigkeit der faschistischen Systeme, während die 27 28

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Ebd. H e r v o r h e b u n g durch d e n Verfasser. V g l . n e b e n d e n f o l g e n d e n Artikeln: Weltausstellung in Paris eröffnet, in: Stuttgarter N e u e s Tagblatt, Nr. 2 3 7 v o m 2 5 . 5 . 1 9 3 7 . Pariser W e l t a u s s t e l l u n g v o n Präsident Lebrun eröffnet Nur e i n Fünftel der Pav i l l o n s fertig - Trikoloren vor leeren Fenstern, in: Berliner Tageblatt, Nr. 2 4 0 / 2 4 1 v o m 2 5 . 5 . 1 9 3 7 . W e n d t , D i e W e l t a u s s t e l l u n g Paris 1937 ( w i e A n m . 20), S. 510.

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Johannes

Graf

Verzögerung bei den französischen Bauten die Ohnmacht des Volksfrontkonzepts gegenüber den Gewerkschaften offenbare. Die Weltausstellung sei - wie Lehnert in einem anderen Artikel zwei Tage zuvor behauptet hatte - ein Schulbeispiel dafür, daß »die marxistischen Schreier [...] die Arbeit nur zu stören und zu behindern wissen, nicht aber aufzubauen wie der Faschismus und der Nationalsozialismus.«31 Lehnert richtet seine Darstellung folglich auf die französische Innenpolitik aus. Den Völkischen Beobachter interessiert weniger die von den Veranstaltern provozierte Gegenüberstellung zwischen dem deutschen und dem sowjetischen Pavillon als die Frage, welches politische Konzept zur Lösung der französischen Probleme am besten geeignet sei. Die Antwort fällt erwartungsgemäß eindeutig aus: Nur ein faschistisches Regime könne die Auseinandersetzungen dauerhaft beenden. Auch im Urteil der bürgerlich-konservativen Presse, wie bei Friedrich Sieburg in seinen Berichten für die Frankfurter Zeitung, ist die Weltausstellung, die als »Symbol für die wiedergefundene Prosperität« gedacht war, »bisher hauptsächlich Symbol für die sozialen Kämpfe« in Frankreich gewesen. 32 Es habe sich gezeigt, »in welchem Grade die Ausstellung die Schwäche der Regierung gegenüber den Gewerkschaften bloßlegte « Die deutschen Berichte über die Weltausstellung in Paris nehmen folglich in ihrer überwiegenden Mehrheit auf die französische Innenpolitik Bezug. Auch die eher seltene Gegenüberstellung der Pavillons von Deutschland und der Sowjetunion ist immer vor dem Hintergrund der Diskussion über Frankreich zu sehen. Die ideologische Konfrontation zwischen den Mächten ist nie losgelöst von der aktuellen politischen Situation in Frankreich.

31

lie (= Herbert Lehnert), L'expos 1937. Die »Unvollendete« eröffnet, in: Völkischer Beobachter, Nr. 145 vom 25.5.1937. Diese polemische Gegenüberstellung prägt auch Artikel anderer Tageszeitungen. In dem Bericht Der deutsche Ausstellungsbau in Paris. Eine Schau deutscher Spitzenleistungen - Eine »deutsche Woche« im September im Stuttgarter Neuen Tagblatt, Nr. 238 vom 25.5.1937 wird das vorübergehende Entfernen der Baugerüste anläßlich der Eröffnung als »Abreißen dieses modernen Potemkinschen Dorfes« gebrandmarkt. Demgegenüber genieße der deutsche Ausstellungsbau in der französischen Öffentlichkeit »durch seine großzügigen Formen und sein rechtzeitiges Zustandekommen schon jetzt eine günstige Beurteilung.«

32

Wie das folgende: Sbg [= Friedrich Sieburg], Die Unvollendete, in: Frankfurter Zeitung, Nr. 248 vom 19.5.1937. Vgl. auch: ders., »Gemeinsames Schicksal « Präsident Lebrun eröffnet die Pariser Weltausstellung, in: Frankfurter Zeitung, Nr. 260 vom 25.5.1937.

»Verbindung von französischer Tradition mit sachlicher Modernität«

IV.

113

Das geistige Paris 1937

Auch Gustav R e n é Hocke, der sich zur Zeit der Weltausstellung an der Seine aufhielt, entwarf in seinem Reisebericht Das geistige Paris 1937 ein Bild des kulturellen, sozialen und politischen Lebens in der französischen Hauptstadt. Zunächst als Folge von vier Artikeln verfaßt, die im Juli 1937 in der Kölnischen Zeitung zu lesen waren, erschien Das geistige Paris ¡937 noch im selben Jahr als schmale Broschüre mit nur 26 Seiten. 3 3 T r o t z des geringen Umfangs stieß der Reisebericht damals auf g r o ß e s Interesse. Die Buchbinde zur dritten Auflage wirbt mit dem A u f d r u c k : »In vier W o c h e n 4 0 0 0 Stück verkauft!« Auf dem knallgelben Aufkleber preist sich das Buch ferner als »Führer durch das geistige Paris von heute« an, das auch eine »Antwort auf die Frage: >Was wird m o r g e n sein?Nachfahren< bis zu den gewagtesten Vertretern der abstrakten Kunst«. In diesem Zusammenhang wird in Das geistige Paris 1937 fast der gesamte Kanon der in Paris tätigen Klassischen Moderne genannt, neben Modigliani unter anderem Chagall, Utrillo, Braque, Léger, Delaunay, Picasso, Matisse, Dufy und Derain. Die unbestrittene Leistung der modernen Kunst bestehe darin, das neue Wirklichkeitsverständnis ins allgemeine Bewußtsein gerufen zu haben. Ob ihr gelungen ist, dem gesellschaftlichen Wandel der vergangenen Jahrzehnte einen adäquaten Ausdruck zu geben, wagt Hocke hingegen nicht zu entscheiden. Ein weiterer Verdienst der modernen Kunst sei, daß sie auf ein neues Zentrum der gegenwärtigen Kunstrichtungen hingewiesen habe, das ein altes sei. Wie die Quantentheorie das klassische physikalische Weltbild umgestoßen und eine neue Gesetzmäßigkeit etabliert habe, dabei aber am Prinzip der Kausalität festhalte, so bekenne sich die moderne Kunst zu dem Formverständnis des Altmeisters Aristide Maillol (1861-1944): »Sie [die moderne Malerei] gilt als ein Versuch, die gewandelte Bewußtseinsform, wie sie das >Leben< in Politik, Gesellschaft, Wissenschaft und Denken vorbereitet hat, zum Ausdruck zu bringen und damit als ein Weg, vielleicht als ein Irrweg, der nicht allein geschichtlich bedeutsam bleibe. Der Grundsatz der Kühnheit im Geistigen, die Mahnung, die Kunst nicht im Dekorativen absacken zu lassen, der Trieb, das gewandelte Bild der Wirklichkeit (es ist kein Zufall, daß das neue Werk des bekannten Naturforschers Louis-Victor de Brogli über die moderne Quantenphysik jetzt lebhaft diskutiert wird) auch in der Kunst sichtbar werden zu lassen, all dies wird ausdrücklich miteinbezogen in den Rahmen eines Ganzen, das als Ganzes bereits ein andres Gesetz offenbart. Aber - so wie sich die neue Quantenphysik, wenn dieser Vergleich erlaubt ist, bei aller umstürzlerischen Erkenntnis vom Aufbau der Substanz und von den Gesetzen der Natur zum Satz der Kausalität bekennt, so die moderne französische Kunst zu Maillol.«45

44 45

Wie das folgende: ebd., S. 18. Wie das folgende: ebd., S. 19. Hocke ist damit ein frühes Beispiel für die Bedeutung, die der Quantentheorie in der Diskussion über ästhetische Fragen v. a. in

»Verbindung von französischer Tradition mit sachlicher Modernität«

117

Maillols Plastiken von zumeist nackten menschlichen Körpern, die sich durch ihre klassische Einfachheit, klare Formen und ihre glatte Oberfläche auszeichnen, bilden »den Mittelpunkt der Ausstellung« sowohl topographisch als auch im übertragenen Sinn. Alle W e g e dieser Ausstellung würden zu Maillol hinführen, denn das »Werk des schlichten Genies« antworte auf die Gegensätze innerhalb der verschiedenen Richtungen der Klassischen Moderne. In seinen Skulpturen sollen die gegenläufigen Tendenzen des modernen Wirklichkeitsverständnisses, wie es sich auf den Gemälden sowohl in den »wilde[n] Ekstasen auseinanderstrebender Dinge« als auch in der Darstellung einer »vergessene[n] Gießkanne in einer großen Bahnhofshalle« zeigte, gebunden sein. Maillol biete eine Antwort auf die von modernen Künstlern formulierten existentiellen Fragen: Er sei »die Überwindung der modernen U n r u h e in einer mystischen Stille« und bringe »das Abenteuer der Tat in das Abenteuer des Horchens«. Maillols Plastiken sind Ausdruck eines tiefgreifenden Bewußtseinswandels, mit dem auch ein Stilwandel einhergeht, eine R ü c k k e h r zu eher traditionellen Formen, zu »einer neuen genialen Einfachheit« Maillol wird als der Kristallisationspunkt jener »Verbindung von französischer Tradition mit sachlicher Modernität« 4 6 gesehen, die sich sowohl in Kunst als auch in Theater, Literatur und Alltagsleben beobachten läßt. Der Geist dieser Synthese bestimmt auch die Darstellung von N a t u r wissenschaft und Technik auf der Pariser Weltausstellung. D a s heutige Frankreich sei durch die Rückbesinnung auf zwei sich gegenseitig ergänzende Tendenzen geprägt, die im »Palast der Entdeckungen« anhand der beiden Mathematiker und Naturwissenschaftler René Descartes und Blaise Pascal dargestellt werden. Während Pascal fur das »philosophisch-religiöse Unendlichkeitspathos« stehe, verkörpere Descartes das »logische Ordnungsethos«. 4 7 Das geistige Paris von 1937 zeichnet sich durch die Verbindung beider Einstellungen aus. Sicherlich sei auch in der Gegenwart das kartesianische »Klarheit- und Evidenzstreben allgegenwärtig«, 4 8 doch weise der kontinuierliche Fortschritt in Wissenschaft

46 47 48

den erslen zwanzig Nachkriegsjahren zukam. Vgl. zu dieser Fragestellung: Elisabeth Emter. Bild und Weltbild, in: dies.. Lileralur und Quantentheorie. Die Rezeption der modernen Physik in Schriften zur Literatur und Philosophie deutschsprachiger Autoren ( 1 9 2 5 - 1 9 7 0 ) . Berlin/New York 1995. S. 185-194. Hocke. Das geistige Paris 1937 (wie Anm. 33). S. 21 Wie das folgende: ebd.. S. 22. Wie das folgende: ebd.. S. 23.

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und Forschung immer exakter auf die Grenzen der menschlichen Erkenntnismöglichkeiten hin. Aus der konsequenten Anwendung avancierter naturwissenschaftlich-technischer Methoden in der Tradition von Descartes wird die von Pascal formulierte »Fragwürdigkeit des erkennenden menschlichen Geistes im Kosmos« deutlich. Durch das »Erstürmen der Reiche jenseits der Mauern des Weltalls, die die dämonische Erkenntnislust des Lukrez den Franzosen vermittelte«, offenbaren sich andere Grenzen, die, wiederum überschritten, nur den Blick auf immer neue freigeben. Die Ausstellung zeigt laut Hocke eine tiefgreifende Skepsis gegenüber naivem Fortschrittsglauben, die sich aus der konsequenten Anwendung moderner naturwissenschaftlicher Erkenntnismöglichkeiten ergibt: »[...] im ganzen ist die große Unbekannte X im menschlichen Dasein gegen ein allzu selbstbewußtes Fortschrittspathos gut zum Ausdruck gebracht, so daß die geistige Unruhe eher geweckt wird als die allzu behäbige Zuversicht in ständig wechselnde zivilisatorische Errungenschaften.« 49 In Das geistige Paris 1937 wird anhand von Kunst und Wissenschaft die Überwindung des Geistes von 1900 beschrieben. Der um die Jahrhundertwende noch nahezu ungebrochene Glaube an den Fortschritt hatte einen empfindlichen Dämpfer erhalten, als die moderne Wissenschaft sich der eigenen prinzipiellen Erkenntnisgrenzen bewußt wurde. Analog dazu bildet die Rückkehr zu den von Maß und formaler Klarheit geprägten klassizistischen Stilprinzipien in Kunst und Literatur die adäquate Reaktion auf die Herausforderungen der als chaotisch und undurchschaubar empfundenen modernen Lebenswirklichkeit. Karl Korn resümiert die Haupttendenzen von Hockes Reisebericht in einer Besprechung von Das geistige Paris 1937 fur das Berliner Tageblatt: »Mass und Mitte, lebensfrohe Skepsis, Ordnung, geistige Zucht, Tradition und Cartesianismus, diese Elemente wollen sich nach Hockes Meinung im heutigen Frankreich zu einem neuen geistig-künstlerischen Kraftfeld zusammenfinden.«50 Trotz seines geringen Umfanges bemüht sich Hocke lichst differenziertes Bild vom Frankreich der dreißiger protestiert sogar offen gegen leichtfertige Pauschalurteile. bung des geistigen Paris ist ein Plädoyer gegen Vorurteile 49 50

um ein mögJahre, und er Die Beschreiund für DifFe-

Ebd., S. 24. Karl Korn (Rez ), Gustav René Hocke: Das geistige Paris 1937, in: Berliner Tageblatt, Nr. 400/401 vom 26.8.1937.

»Verbindung

von französischer

Tradition mit sachlicher

Modernität«

119

renzierung sowie Ambivalenz bei der Argumentation, wenn angesichts der im Deutschland der dreißiger Jahre weitverbreiteten Ansicht, Frankreich ausschließlich vom Cartesianischen Geist bestimmt zu sehen, festgestellt wird: »Es gilt nur das andre mitzusehen und nichts zu vernachlässigen, was uns billige völkerpsychologische Parolen einzuschränken lehrt.« 51 Der Reisebericht hebt sich nicht nur durch seine Argumentation wohltuend von der deutschen Propaganda über Frankreich ab, sondern wendet sich offen gegen holzschnittartige Feindbilder. Es ist deshalb nur folgerichtig, daß am Ende des Berichts gegen die herrschende »völkische« Argumentation des »Erzfeindes« Frankreich und ganz dem M o t t o der Weltausstellung folgend zu gegenseitiger Achtung und Kooperation über alle Grenzen hinweg aufgerufen wird. Der letzte Abschnitt beginnt mit einem Zitat von Louis Pasteur, das an zentraler Stelle im Palast der Entdeckungen zu lesen war. Pasteur spricht darin die Hoffnung aus, »daß Wissenschaft und Frieden über Unwissenheit und Krieg siegen, daß die Völker sich verstehen werden, nicht um zu zerstören, sondern um aufzubauen.« 5 2 Im Anschluß an die euphorische Bemerkung Pasteurs wird jedoch von Hocke vor einer zu großen Zuversicht in die dauerhafte Verbesserung des deutsch-französischen Verhältnisses gewarnt. Zwar wurden im Umkreis der Pariser Weltausstellung Erklärungen über eine bilaterale Kooperation abgegeben, doch scheint die öffentliche Meinung in dieser Frage auf der französischen Seite »zunächst noch von einer an Fragen überreichen Skepsis überlagert.« Die Politik müsse nun eindeutige Zeichen setzen, um das gegenseitige Mißtrauen abzubauen. In Frankreich seien erste Fortschritte bereits zu beobachten, da die »stillschweigende Übereinkunft, daß alles, was unrecht ist, nur ein Fremder tun könne und natürlich auch tut«, allmählich seltener werde. 5 3 Deutschland und seine Beziehung zu Frankreich wird dabei nicht direkt angesprochen, doch ist es klar, daß der darauffolgende letzte Satz an beide Staaten gerichtet ist: »Und diese weisere Einschätzung des eigenen und des anders Gearteten, die für alle, nicht nur für einen nützlich ist, ist immerhin ein Vorhof zu handfesteren Ergebnissen « Die deutliche Kritik an der deutschen Propaganda gegen Frankreich wird so abschließend noch einmal bekräftigt.

51 52 53

Hocke, Das geistige Paris 1937 (wie Anni. 33). S. 23. Wie das folgende: ebd., S 25. Wie das folgende: ebd., S 26.

Johannes Graf

120 V.

Ein anderes Deutschland?

In Das geistige Paris 1937 ist vieles enthalten, was man auf den ersten Blick nicht in einem Reisebericht aus dem »Dritten Reich« erwarten würde: Eine positive Einschätzung der modernen Kunst, obwohl zeitgleich in Deutschland die Ausstellung »Entartete Kunst« stattfand, die Präsentation aktueller naturwissenschaftlicher Forschungen wie der Quantentheorie, obwohl die moderne Physik von der »deutschen Physik« um Philip Lenard als »jüdisch« gebrandmarkt wurde, sowie Kritik an vorurteilsbehafteten Darstellungen über Frankreich, an der besonders in den dreißiger Jahren propagierten Vorstellung vom »Erzfeind«. Wie ist diese Differenz zu der herrschenden Auffassung in Deutschland zu erklären? Einen Hinweis darauf gibt Friedrich Sieburg in seiner Rezension des Reiseberichts für die Frankfurter Zeitung, wenn er bemerkt, daß die Weltausstellung »für viele Völker und Menschen den Anlaß bildete, sich mit Frankreich zu vergleichen und dadurch selbst zu prüfen.« Die Tendenz zum Vergleich mit dem Vorbild Frankreich sieht Sieburg vor allem in Hockes Reisebericht verwirklicht. Auch Das geistige Paris 1937 wäre nicht nur eine Berichterstattung über die Weltausstellung, sondern die Beschreibung ziele zudem auf die Situation in Deutschland: »Gustav Hocke hat in seiner Schrift Das geistige Paris 1937 [...] eine solche Summe mit besonderer Anmut und Scharfsinnigkeit gezogen und seine Pariser Eindrücke so grundsätzlich angeordnet, daß er damit mittelbar auch ein Bekenntnis von seiner Generation und seinem Land abgelegt hat.« 54 Die Beschreibung von Paris bildet aber nicht bloß die Folie, unter der Hockes eigene Einstellungen und Ideale - wie Sieburg meint - unwillkürlich hervorscheinen, sondern der Text ist bewußt so angelegt, daß er auf die Situation in Deutschland bezogen werden kann. Hinweise dafür sind nicht nur die Berichterstattung über moderne Kunst und

54

Sbg [=Friedrich Sieburg], Das geistige Paris 1937, in: Frankfurter Zeitung, Nr. 617/618 vom 4.12.1937. Auch zwei andere Rezensionen sind voll des Lobes für Hockes Reisebericht von der Weltausstellung. Harald Eschenburg bezeichnet Hockes Darstellungsweise als »äußerst anschaulich und ungewöhnlich aufschlußreich« (Harald Eschenburg [Rez.], Gustav R. Hocke: D a s geistige Paris, in: Das deutsche Wort 14 [1938], S. 58). Claus Schrempf äußert in den Leipziger Neuesten Nachrichten, daß in der Broschüre ein »durch scharfe Beobachtungen ausgezeichneter Bericht« erstattet wird (Schrempf [Rez.], D a s geistige Paris (wie Anni. 11]).

Verbindung von französischer

Tradition mit sachlicher

Modernität«

121

Quantentheorie bzw. die Kritik an nationalen Vorurteilen, sondern vor allem auch die mehrfache Verwendung des Begriffes »Generation« gleich am Anfang. Bereits im zweiten Satz spricht er vom »Generationsalter«, 55 das zwischen 1900 und 1937 liege. Eine Seite weiter ist es »die heutige Generation«, 56 die den Zeitgeschmack der Jahrhundertwende radikal ablehnt und das geistige Leben der dreißiger Jahre bestimmt. Im Bild des Paris der dreißiger Jahre wird ein Selbstporträt der »Jungen Generation« entworfen. Die französische Kultur soll vorbildhaft auch für das Nachbarland stehen. Das Paris von 1937 wird dem nationalsozialistischen Deutschland als Spiegel vorgehalten. Diese Intention wird noch deutlicher, wenn man Hockes gesamte Produktion fur das Feuilleton der Kölnischen Zeitung betrachtet, auf die bereits durch den Gleichklang zwischen dem Titel Das geistige Paris ¡937 und dem Namen der von ihm betreuten Beilage Geist der Gegenwart hingewiesen wird. Hocke hat sein Programm für das Feuilleton der Kölnischen Zeitung wohl am deutlichsten in der Besprechung von Max Benses Werk Anti-Klages oder von der Würde des Menschen von 1937 dargelegt. Bereits mit der Überschrift wird die bei dem Lebensphilosophen Ludwig Klages anzutreffende Geistfeindschaft als Dekadenz kritisiert. 57 Es sei ein Irrtum, die neuzeitliche Rationalität fur die allgemein empfundene Krise der Gegenwart verantwortlich zu machen und den Schluß zu ziehen, sich auf eine kontemplative Lebenshaltung zurückziehen. Da man bei der Lebensphilosophie in »lahme, bloße Beobachtung und Reizaufnahme« verfalle, werde keine Lösung der Krise, sondern lediglich eine »Entartung und Schwächung der menschlichen Substanz« erreicht. Die Kritik an Klages war jedoch nicht allein an diesen Lebensphilosophen gerichtet, sondern vor allem an die von Klages beeinflußten Theoretiker des Nationalsozialismus wie etwa Ernst Krieck und damit gegen den irrationalistischen Tendenzen der dreißiger Jahre. 58 Hockes Arbeit als Feuilletonredakteur und auch sein gesamtes anderes 55 56 57

58

Hocke. Das geistige Paris 1937 (wie Anm. 33). S. 5. Ebd.. S. 6. Wie das folgende: ders., Geistfeindschaft als Dekadenz. Zur Kritik der Lebensphilosophie, in: Kölnische Zeitung, Nr. 83 vom 23.2.1937. Im Anschluß daran folgt ein Ausschnitt von Max Benses rezensiertem Werk Anti-Klages oder von der Würde des Menschen unter dem Titel: Anti-Klages. Irrwege der Psychologie (ebd.). Zu Ernst Krieck vgl. Gerhard Müller, Die Wissenschaftslehre Ernst Kriecks. Motive und Strukturen einer gescheiterten nationalsozialistischen Wissenschaftsreform, Weinheim 1976.

122

Johannes Graf

Schaffen in dieser Zeit war, wie er in seinem unveröffentlichten Tagebuch notierte, von dem »Plan fur die Verteidigung der wissenschaftlichen Objektivitätsidee im richtigen Sinne vor allem gegen den Subjektivismus Kriecks« 59 bestimmt. Die Anknüpfung an die Philosophie des deutschen Idealismus scheint fur Hocke der einzig gangbare Weg »aus dem Zustand einer sittlich-gesellschaftlichen Desorientiertheit heraus«. Zwar sei die Welt ein unversöhnbares Chaos von auseinanderstrebenden Kräften, doch werde die Welt »als ein Ganzes [...] vom sinnvollen Logos durchflutet«. 60 Immerhin habe ein Teil der Gegenwartsphilosophie »die Kraft der Hoffnung in die selbsttätige Wirksamkeit dieses im Bild des Göttlichen gesehenen Logos bewahrt«. Die ethisch-moralische Orientierung an dieser Idee machte sich Hocke zur Lebensmaxime. Spätestens 1934 wurde sein Schaffen durch - wie er in seinen Lebenserinnerungen schreibt - »Kritisches Wissen über den mystischen >Antiintellektualismus< [...]; über Pseudo-Visionen einer endgültigen Überwindung von gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Ungerechtigkeit« 61 bestimmt. Hocke beharrte wie einige der gleichaltrigen Intellektuellen der »Jungen Generation«, im Kreis der Kölnischen Zeitung wären hier Stefan Andres, Max Bense, René König und Gert H. Theunissen zu nennen, auch nach 1933 auf einer kritischen Haltung gegenüber der - wie sie fanden »Geistfeindschaft« der Nationalsozialisten. Dem Reisebericht sollte in der Krise der Gegenwart eine besondere Bedeutung zukommen, wie Hocke selbst in seinem programmatischen Artikel Reise und Kultur aus dem Jahr der Pariser Weltausstellung hingewiesen hat. 62 Ausgehend von der Bedeutung der Berichte über klassische Entdeckungsreisen für die Veränderung des Weltbildes spricht er die Hoffnung aus, daß auch die gegenwärtigen Reisebeschreibungen einen Weg aus der Krise der dreißiger Jahre weisen könnten. Da es durch die Devisenbeschränkungen nicht mehr - wie noch in den zwanziger Jahren - möglich sei, ungehindert in andere Länder zu reisen, um fur jeden einzelnen die regionalen Probleme und weltweiten Verwicklungen durch die bessere Kenntnis anderer Länder bewältigen zu kön59

60

61 62

Gustav René Hocke, Werden des Gesetzes II, Hs. Manuskript, Deutsches Literaturarchiv Marbach. A: Hocke 87.3.240, o. S. Ders., Stirbt die Philosophie aus?, in: Der Bücherwurm 23 (1937/38), S. 204-210; hier S. 206. Ders., Im Schalten des Leviathan (wie Anm. 4), Kap. V, o. S. Ders.. Reise und Kultur. Die politische Forschungsreise - Der Reisebericht gestern und heute, in: Die Reiseillustrierte 5 (1937), H. 9, S. 10-14.

» Verbindung von französischer Tradition mit sachlicher Modernität«

] 23

nen, sei das Interesse des Publikums an Reisebeschreibungen stark angestiegen. Die Reisebeschreibung sei wieder »in den Mittelpunkt der Buchproduktion«.''1 gerückt. Die Überschrift Reise und Kultur knüpft bewußt an die Kulturkritik der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts an. Viele meinten damals, wie es im Titel eines Bestsellers aus den zwanziger Jahren heißt, dem Untergang des Abendlandes nahe zu sein. Aber anders als in dem sprichwörtlich gebrauchten Titel des Erfolgsbuches von Oswald Spengler suggeriert wird, glaubte Hocke nicht an einen unausweichlichen Niedergang der alten Welt, sondern vielmehr an eine Überwindung der Kulturkrise durch eine Synthese von Tradition und Moderne. 64 Der Nationalsozialismus hatte fur ihn die Probleme einer »Weltanschauung« nicht gelöst. Auch unter der veränderten Lage der dreißiger Jahre hat sich an dem Gefühl, in einer allgemeinen Krisensituation zu leben, nichts Wesentliches geändert. Deshalb müßten die aktuellen Reiseberichte von Autoren aus fernen Ländern und Kulturen als eine Mahnung gesehen werden, die eigene kulturelle und politische Dekadenz zu überwinden. Die Reiseliteratur sei als »Politische Moralistik«65 zu verstehen. Dieser Aspekt der Zeitkritik, den Hocke als wesentliches Moment fur die Bedeutung der Reiseliteratur in den dreißiger Jahren ansieht, prägte auch seine eigene Reiseliteratur, neben Das geistige Paris 1937 vor allem den Reiseroman über seine Erlebnisse in Süditalien Das verschwundene Gesicht (1939). Sowohl der Bericht über die Weltausstellung als auch Das verschwundene Gesicht sind, wie es in einem Werbetext des Karl Rauch Verlages anläßlich der Veröffentlichung des Romans heißt, »Ausdruck des Suchens nach seelischer Ursprünglichkeit und geistiger Form der neuen deutschen und europäischen Generation« 6 6 Obwohl Hocke streng darauf achtete, sich von offen politischen Diskussionen fernzuhalten, führte seine Kulturkritik angesichts des umfassenden Hegemonialanspruchs der Nationalsozialisten unweigerlich zum Konflikt mit den Machthabern. Bereits 1936 wurde wegen eines satirischen Berichtes über die »Arisierung« des Weihnachtsbaumes gegen Hocke ein Ehrengerichtsverfahren eingeleitet, und 1939 war seine 63 64

65 66

Ebd. S . I I . Zur Bedeutung der Kulturzyklcntheoricn. besonders der von Leo Frobenius. für Hocke vgl. Graf, »Die notwendige Reise« (wie Anni. 2), S. 256-263. Hocke, Reise und Kultur (wie Anni. 62). S. 12. Aus einem Verlagsprospekt des Karl Rauch Verlages. Deutsches Literaturarchiv Marbach. Verlagsprospektesammlung. Mappe: Karl Rauch Verlag.

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Versetzung als Auslandskorrespondent nach Italien laut eigener Aussage davon bestimmt, den unbequemen Journalisten vor dem Kriegsdienst zu bewahren. 67 Daß Hocke trotz aller Kritik an den Machthabern in einigen Punkten dem Zeitgeist stark verbunden war, wird besonders an einer Stelle in Das geistige Paris 1937 deutlich, wenn er im völkischen Jargon ein Buch von Paul Morand paraphrasiert: »Gewisse semitisch-orientalische oder balkanisch-armenische, nicht zuletzt ungeprüfte amerikanische Einflüsse werden mit einer verliebten Beschwörung des alten Frankreich, seiner schlichten, bäurisch-gebundenen Natürlichkeit, seiner Sparsamkeit angeprangert.« 68 Diese Aneignung antisemitischer Terminologie zeigt, wie schmal der Grad zwischen partieller Übereinstimmung und Ablehnung der nationalsozialistischen Politik selbst bei kritischen Zeitgenossen war. Hocke hat, bei aller Schärfe der Auseinandersetzung mit der Kulturpolitik, ebensowenig wie die Nationalsozialisten das Ideal einer pluralistischen Gesellschaft im Sinne gehabt. Vielmehr hoffte er in seinem Reisebericht aus Paris, daß aus der »Besinnung von heute« möglicherweise »eine Revolution der Ordnung von morgen« hervorgehe. In diesen Äußerungen ist er, wenn schon nicht den Nationalsozialisten, so doch dem »antidemo-kratischen Denken« der Weimarer Republik verpflichtet. 69 Zu einem überzeugten Demokraten entwickelte sich Hocke erst durch die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges und der unmittelbaren Nachkriegszeit. Die Differenz zur offiziellen Kulturpolitik, wie sie sowohl in Hockes eigenen Werken wie auch in seiner Arbeit als Redakteur zum Ausdruck brachte, konnte bei vielen Zeitgenossen im In- und Ausland den Eindruck erwecken, als gäbe es eine gewisse Toleranz gegenüber abweichenden Ansichten, selbst wenn sich die politische Berichterstattung bei der Kölnischen Zeitung wie auch den anderen überregionalen, bürgerlich-konservativen Blättern wie der Frankfurter Zeitung, dem Berliner Tageblatt oder dem Hamburger Fremdenblatt aufgrund der rigiden Überwachungspolitik nicht grundsätzlich von der parteioffiziellen Presse

67 68 69

Hocke, Im Schatten des Leviathan (wie Anm. 4), Kap. VII, S. 28. Wie das folgende: ders., Das geistige Paris 1937 (wie Anm. 33), S. 21. Kurt Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933, München 1962.

»Verbindung

von französischer

Tradition mit sachlicher

Modernität«

125

unterschied. 7 0 In seinen Lebenserinnerungen spricht Hocke diesen »gefahrlichen macchiavelistischen [sie!] Trick« der nationalsozialistischen Propagandapolitik selbst an, wenn er schreibt: »Wollten sie nicht, indem sie, wenigstens im Kulturteil der Kölnischen, der Frankfurter Zeitung und anderer sog. >bürgerlicher< Zeitungen einen gewissen Spielraum zuliessen, im Ausland die Meinung entstehen lassen, das sog. Dritte Reich sei geistig gar nicht so unfrei?« 71 Der eng begrenzte und im Zweiten Weltkrieg stark eingeschränkte Freiraum im Feuilleton förderte zudem die bereits im apolitischen Denken der Weimarer Republik verbreitete Haltung vieler Intellektueller, sich aus der abschätzig bewerteten modernen Zivilisation in die Welt der »ewigen Werte« der Kultur zurückzuziehen. 72 Das Feuilleton der »Reichszeitungen« bot damit ein Forum für die problematische »Innere Emigration« als Lebensform. 7 3 Trotz aller notwendigen Relativierung von Hockes Reisebericht besteht kein Grund, sich nicht mit den Texten der »Jungen Generation« im »Dritten Reich« zu beschäftigen, im Gegenteil. Hockes Das geistige Paris 1937 und auch seine anderen Reiseberichte widerlegen das bislang in der Forschung zur Reiseliteratur vorherrschende Vorurteil, die Reiseliteratur in den Jahren zwischen 1933 und 1945 lohne keine Untersuchung, da sie politisch weitgehend »gleichgeschaltet« gewesen sei und durch den aufkommenden Massentourismus zudem ihre Funktion als Reflexionsmedium moderner Subjektivität verloren habe. 74 Sicherlich, 70

71 72

73

74

Zur Stellung der überregionalen »Reichszeitungen« und ihrer Feuilletons innerhalb der Presselandschaft vgl. Kurt Koszyk, Deutsche Presse, Bd. 3, Berlin 1972, S. 372 Norbert Frei, Journalismus im Dritten Reich, München 1989. Hocke, Im Schatten des Leviathan (wie Anm. 4). Kap. VII, S 15. Zur Problematik des apolitischen Denkens anhand von Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) vgl. Bernhard Weyergraf. Konservative Wandlungen, in: Literatur der Weimarer Republik 1918-1933, hg. v. Bernhard Weyergraf, Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd. 9, München/Wien 1995. S. 266-308; bes. S. 272-287. Dort auch weiterführende Literatur. Ralf Schnell, Literarische Innere Emigration 1933-1945, Stuttgart 1976. S. 46-48 Symptomatisch dafür die Behauptung von Wolfgang Reif in seiner Studie E.\otisinus im Reisebericht des 20. Jahrhunderts (in: Der Reisebericht, hg. v. Peter J. Brenner. Frankfurt a. M. 1989, S. 434-462; hier S. 459): »Während also die literarisch bedeutsame Reisebeschreibung in zunehmenden Maße politisch wird, bis ihre Entfaltungsmöglichkeiten durch das >Dritte Reich* bzw. die Emigration eingeschränkt werden, sinkt der literarische Exotismus mehr und mehr zum inspirierenden Element des Massentourismus ab.«

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Reiseberichte wurden von offizieller Seite zur moralischen Aufrüstung instrumentalisiert - dies läßt sich an einer Broschüre mit Literaturempfehlungen der »Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums« unter dem Titel Von Kämpfen und Abenteuern75 ablesen - , die Kontrastierung von Fremden und Eigenem bot jedoch auch weiterhin die Chance, sich auf vielfaltige Weise mit aktuellen politischen, philosophischen und literarischen Fragestellungen zu beschäftigen.

75

Von Kämpfen und Abenteuern. Hundert Bücher für Urlaub, Reise und Unterhaltung, zusammengestellt von der Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums, München 1935.

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SCHWIERIGE REISEN W A N D L U N G E N DES REISEBERICHTS IN DEUTSCHLAND 1 9 1 8 - 1 9 4 5

I.

Die Abdankung des Exotismus

Wer reist, begegnet der Fremde, und wer einen Reisebericht schreibt, berichtet über diese Begegnung - so läßt sich die Standardauffassung des okzidental-neuzeitlichen Reisens beschreiben. Diese Vorstellung ist schon lange brüchig geworden. Daß das Fremde nicht einfach ein Gegenstand ist, den man erfahren und über den man berichten könne, ist eine Einsicht, die sich schon im 19. Jahrhundert andeutete und die zusehends größeren Einfluß auf die Gestalt der Reiseliteratur gewonnen hat. Unter dem Eindruck literarhistorischer, insbesondere aber auch reiseund schließlich realgeschichtlicher Entwicklungen entsteht eine Fülle von divergierenden Möglichkeiten, über Reisen zu schreiben. So heterogen sie auch anmuten, so deutlich lassen sie sich auf einen Nenner bringen: Sie sind zu begreifen als Reaktionen auf eine Neubestimmung der »Fremde«. Um die Jahrhundertwende konzentrieren sich diese Entwicklungen auf das Problem des »Exotismus«. Der Exotismus ist die dramatischste Form, in der das Fremde seit dem Beginn des Entdeckungszeitalters dem europäischen Bewußtsein entgegentreten konnte; 1 er hat über die Jahrhunderte hinweg mannigfaltige Wandlungen erfahren, in denen sich stets auch das europäische Selbstverständnis spiegelte. Um 1900 erlebt der westeuropäische Exotismus besonders in Deutschland und Frankreich einen letzten Höhepunkt, der zugleich einen Grundlegend dazu Urs Bitterli, Die »Wilden« und die »Zivilisierten«. Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung, München 1982, bes. S. 81-203; Urs Bitterli, Alte Welt - neue Welt. Formen des europäisch-überseeischen Kulturkontakts vom 15. bis zum 18. Jahrhundert. München 1986.

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Wendepunkt bedeutet. 2 Es kündigen sich neue Erscheinungsformen und literarische Verarbeitungsweisen des Fremden an. Ein für die deutschsprachige Literatur recht frühes Zeugnis dafür findet sich in einer berühmten Erzählung: in Kafkas Strafkolonie, geschrieben im Dezember 1914 und erschienen 1919. Neben vielen anderen, von der Kafka-Philologie hinreichend gewürdigten Aspekten stellt der Text auch eine intrikate Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Problemen der Fremderfahrung dar. Die Erzählung beschreibt bekanntlich den Besuch eines »Forschungsreisenden« in der besagten »Strafkolonie« und knüpft dabei an eine ganze Reihe von Texten an: Kafka arbeitete gleichzeitig an seinem Amerika-Buch, so daß Holitschers Reisebericht als eine Quelle für die Straflcolonie in Frage kommt. 3 Auch die unmittelbare Vorlage ist inzwischen bekannt; es handelt sich um den Roman von Octave Mirbeau Le jardin des supplices von 1899, der 1902 in einer deutschen Übersetzung erschien und in dem die französische Kolonialgeschichte unmittelbar auf- und angegriffen wird. 4 Schließlich dürfte Robert Heindls Bericht Meine Reise nach den Strafkolonien eine entscheidende Bedeutung für Kafkas Erzählung gehabt haben.5 Jede dieser drei Vorlagen bringt eine besondere Facette der Erfahrung des Exotischen zum Ausdruck; und sie alle werden von Kafka miteinander kombiniert. Mirbeaus Roman steht in der Tradition eines Exotismus, der sich von dessen düsteren Seiten faszinieren läßt; Holitschers euphorischer Reisebericht ist eine Eloge auf die amerikanische Zivilisation, und Heindl betrachtet in einer nüchternen wissenschaftlichen Untersuchung das »französische Deportationssystem«.6 Als Vorlage für

3

4 5

6

Vgl. Wolfgang Reif, Exotismus im Reisebericht des frühen 20. Jahrhunderts, in: Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur, hg. v. Peter J. Brenner, Frankfurt a. M. 1989, S. 434-462; bes. S. 434f. Vgl. Franz Kafka, In der Strafkolonie. Eine Geschichte aus dem Jahre 1914. Mit Quellen, Abbildungen, Materialien aus der Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt, Chronik und Anmerkungen von Klaus Wagenbach, Berlin, 2. Aufl. 1977, S. 86f. (Textauszug über Ellis Island aus Arthur Holitscher, Amerika. Heute und Morgen, Berlin 1912). Vgl. ebd., S. 81-84 (Textauszug). Auf diese Quelle hat Müller-Seidel hingewiesen und die Parallelen zu Kaikas Erzählung deutlich gemacht; vgl. Walter Müller-Seidel, Die Deportation des Menschen. Kafkas Erzählung In der Strafkolonie im europäischen Kontext, Stuttgart 1986, S. 82f. Robert Heindl, Meine Reise nach den Strafkolonien. Mit vielen Originalaufnahmen. Berlin/Wien 1913, S. 19.

Schwierige

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Kafkas Umgang mit dem Exotismus ist dieser Bericht von besonderem Interesse. Heindl sieht die französische Strafinsel Neukaledonien ausschließlich unter dem Aspekt ihrer Effektivität als Teil des europäischen Strafsystems. Der eigentliche Zweck des Buches ist der Nachweis, daß die Deportation weder eine billige noch ein wirksame Alternative zum Gefängnis darstellt. Bei seiner Abreise nach Australien, wo Heindl ebenfalls das Gefängnis-, Strafverfolgungs- und Deportationswesen untersuchen will, zieht er das Fazit seiner Erfahrungen: »Was bei der Ankunft mysteriös und grauenvoll schien, wirkt jetzt nüchtern und alltäglich.«7 Kafkas Version des Exotismus läßt sich von diesem Befund inspirieren, arrangiert ihn aber wesentlich komplizierter. Er baut in der StratoIonie eine Konstruktion auf, welche die europäische Erfahrung des Kolonialismus verarbeitet. Der Reisende als Repräsentant einer humanen Zivilisation wird mit einer Barbarei konfrontiert, die ihm in der Fremde begegnet, die aber dennoch die eigene ist: Im »Fernen Osten« treffen mit dem Offizier und dem Reisenden zwei »genuin europäische« Positionen aufeinander: »eine konventionelle Humanität« und eine inhumane »Technikbegeisterung«.8 Die Heimat wurde im Kolonialismus exportiert. Die Uniformen, so heißt es in Kafkas Erzählung, sind zwar unpraktisch und den Tropen unangemessen, aber »sie bedeuten die Heimat; wir wollen nicht die Heimat verlieren«.9 Ausgehend von dieser Konstellation, in der das Exotische und das Heimatliche ineinander übergehen, entfaltet Kafka sein Vexierspiel. Nicht die Wilden sind die Barbaren, sondern die Repräsentanten der europäischen Zivilisation. Die Barbarei wird mit deren Mitteln ausgeübt - denn auch der »Apparat«, der die Strafe ausführt, bedeutet die »Heimat«. Scheinbar siegt der humane Fortschritt über die Barbarei. Die Maschine und ihr Erfinder zerstören sich gegenseitig, aber so glatt geht die geschichtsphilosophische Rechnung des Fortschritts nicht auf. Die Erzählung bleibt so zweideutig wie der neue Kommandant der Insel, der die Maschine gleichermaßen ablehnt wie duldet. Am Ende erweist sich der Reisende selbst als Barbar, sein Bekenntnis zur Humanität bleibt bloße Menschenrechtsrheto-

7

9

Ebd., S. 203; S. 203-205 finden sich vage Anklänge an Kafkas spätere Erzählung. Hans Dieler Zimmermann, In der Strafkolonie - Die Täter und die Untätigen, in: Interpretationen. Franz Kafka, Romane und Erzählungen. Stuttgart 1994. S. 158-172; hier S. 159. Franz Kafka, In der Strafkolonie, in: ders.. Sämtliche Erzählungen, hg. v. Paul Raabe, Frankfurt a. M./Haniburg 1970, S. 100-123; hier S. 100.

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rik: Als der »Soldat und der Verurteilte« auf dem Boot des Reisenden entkommen wollten, hob dieser ein »schweres geknotetes Tau vom B o den, drohte ihnen damit und hielt sie dadurch von dem Sprunge ab«. 10 Der Forschungsreisende - er trägt einige Züge des Juristen und Buchautors Robert Heindl" - erscheint keineswegs als ein würdiger Repräsentant der Menschenrechte, wie er gelegentlich verstanden wurde. Fremde und Heimat, das ist das Fazit von Kafkas Erzählung, sind in bezug auf den »Exotismus« ununterscheidbar ineinander verschränkt. Sie haben ihr Gemeinsames in der Barbarei. 12 Kafka verabschiedet mit dieser Konstruktion eine Tradition, die fast zweihundert Jahre alt war. Diese Tradition, die zu Beginn des 18. Jahrhunderts mit Montesquieus Lettres Persanes eingesetzt hatte, geht zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu Ende. 13 Das Exotische als Medium der Zivilisationskritik hat abgedankt. Die exotistische Selbstkritik der europäischen Kultur lebt nur noch als Fälschung fort: 1920 erscheint das schmale Buch Der Papalagi - die Reden des Südseehäuptlings Tuiavii aus Tiavea. Der Text wurde von Erwin Scheurmann nicht nur herausgegeben und eingeleitet, sondern auch verfaßt. 1 4 Die Figur der exotistischen Kulturkritik wird damit künstlich wiederbelebt: »Diese Reden stellen in sich nichts mehr und nichts weniger dar als einen Aufruf an alle primitiven Völker der Südsee, sich von den erhellten Völkern des europäischen Kontinents loszureissen.« 15 Scheurmann versammelt noch einmal alle Topoi der exotistischen Zivilisationskritik, die inzwischen längst fest in eben dieser Zivilisation etabliert sind; insbesondere die Jugendbewegung hat sich ihre Motive seit der Jahrhundertwende zu eigen gemacht. 1 6 Bei Scheurmann kehren 10 1

'

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15 16

Ebd., S. 123. Vgl. Müller-Seidel, Die Deportation des Menschen (wie Anm. 5), S. 84f. Dieses Modell ist nicht neu; es wurde in einer ganz anderen Variante bereits von Raabe vorgeführt; vgl. Peter J. Brenner, Die Einheit der Welt. Zum Bedeutungswandel von »Heimat« und »Fremde« in Raabes Abu Telfan, in: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft, Tübingen 1989, S. 45-62. Vgl. die Dokumentation: Exoten durchschauen Europa. Der Blick des Fremden als ein Stilmittel abendländischer Kulturkritik. Von den Persischen Briefen im 18. bis zu den Papalagi-Reden des Südsee-Häuptlings Tuiavii im 20. Jahrhundert, hg. v. Gerd Stein, Frankfurt a. M. 1984. Der Papalagi. Die Reden des Südseehäuptlings Tuiavii aus Tiavea, Zürich 1994 (erw. Neuaufl. der Ausgabe Buchenbach 1920). Erwin Scheurmann. Vorwort, in: Der Papalagi (wie Anm. 14), S. 11. Vgl Frank Trommler, Mission ohne Ziel. Über den Kult der Jugend im modernen Deutschland, in: »Mit uns zieht die neue Zeit«. Der Mythos Jugend, hg.

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sie alle wieder: die Kritik an der Stadt als Lebensform und an der Herrschaft des Geldes; an Wohlstand, Luxus und Egoismus, an der Hektik des modernen Lebens und seinen Erscheinungen wie dem Kino und dem Berufswesen und schließlich überhaupt am Denken der zivilisierten Welt. Die Zielrichtung ist klar: »Der Weltkrieg hat uns Europäer skeptisch gegen uns selbst gemacht, auch wir beginnen die Dinge auf ihren wahren Gehalt hin zu prüfen, beginnen zu bezweifeln, dass wir durch unsere Kultur das Ideal unserer selbst erfüllen können.« 17 Das scheint auf die Dauer die einzige Form zu sein, in der der Exotismus eine gewisse Faszination behält, weil er sich mit Motiven verbindet, die sich in anderer Form in der westlichen Zivilisation als deren eigene Kritik etabliert haben. Es ist ausgerechnet diese Fälschung, die noch einmal ein breites Publikumsinteresse am Exotischen hervorrief. 18 Ihre Tendenzen werden in einer anderen Richtung fortgesetzt in jener nochmaligen Verfälschung, die der Text in seiner mehrere Jahrzehnte währenden - bis in die Gegenwart anhaltenden - Publikationsgeschichte erfährt, welche ihn den Interessen des Kolonialismus und des Rassismus anglich. Scheurmanns Papalagi zeigt, daß der Exotismus als Medium der Zivilisationskritik weitgehend ausgedient hat und in dieser Funktion nur noch künstlich am Leben erhalten werden kann. Er verschwindet dennoch nicht ganz, sondern wird transformiert. Ein wesentliches Modell für diese Transformation des traditionellen Exotismus bietet ein Text, der zeitgleich mit Kafkas Erzählung entsteht. Er markiert auf eine anstrengende Weise das Ende einer Epoche und zeigt zugleich, wie schwer der Abschied von einer langen Gattungstradition fällt. Es handelt sich um Graf Hermann Keyserlings Reisetagebuch eines Philosophen, das er nach seinen eigenen Erläuterungen in der Vorbemerkung bereits 1914 fertiggestellt hatte und 1919 teils in der ursprünglichen, teils in einer überarbeiteten Version vorlegt. Das Reisetagebuch verdankt sein Re-

17 18

V. T h o m a s Koebner/Rolf-Petcr Janz/Frank T r o m m l e r . Frankfurt a. M. 1985, S. 14-49; h i e r b e s . S. 16f.; S. 32f. Sclieurinann. Vorwort (wie Anni. 15), S. 15. Es ist nicht unwitzig, daß nach dem Zweiten Weltkrieg in der Literatur der B u n desrepublik sich ein ähnlicher, wenn auch weniger bekannter Fall einer populären »exotistischen« Fälschung findet: Es handelt sich u m die G e d i c h t s a m m l u n g des vermeintlichen Fremdenlegionärs George Forestier und tatsächlichen Vcrlags-Lektors Karl Enierich Kremer Ich schreibe mein Herz in den Staub der Straße von 1952; vgl. dazu Hans-Jürgen Schmitt. Der Fall George Forestier, in: Gefälscht! B c t m g in Politik. Literatur, Wissenschaft, Kunst und Musik, hg. ν Karl Corino. Reinbek 1992. S. 317-329.

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nommee dem Satz, den Keyserling als Motto voranstellt: »Der kürzeste Weg zu sich selbst fuhrt um die Welt herum«. Dem Motto folgen über siebenhundert Seiten, auf denen dieser Satz erschöpfend belegt wird. Er enthält das Programm einer Auffassung vom Reisen und vom Reisebericht, das seit dem 18. Jahrhundert in der westeuropäischen Literatur programmatische, wenn nicht dogmatische Geltung erlangt hat: Die Hoffnung, daß Welterfahrung in Ich-Bildung umgesetzt werden könne. Keyserling reist um die Welt mit der Absicht, seine eigene Persönlichkeit zur endgültigen Reife zu bringen: »Sehnsucht nach Selbstverwirklichung« - er kennt den Begriff tatsächlich schon - ist sein Ziel. 19 Die Wirklichkeit wird ihm zum Material, das ausschließlich diesem Zweck unterworfen wird: »Was gehen mich die Tatsachen als solche an?« 20 Keyserling pflegt einen geschmäcklerischen Umgang mit der fremden Kultur und Natur. Die Erfahrung der natürlichen und kulturellen Umwelt dient nur als Anhalts- und Ausgangspunkt für weitschweifige Perorationen, in denen Keyserling seine eklektische Philosophie entfaltet und nach dem Ertrag der fremden Kultur oder Natur für seine eigene Entwicklung fragt. Als er China verläßt, äußert er sich unfreundlich, weil das Land vor seinen Ansprüchen versagt hat: »Dennoch fühle ich mich enttäuscht: so viel China mir gegeben, verwandelt hat es mich nicht; ich scheide beinahe als der gleiche, als der ich kam.« 21 Keyserlings Reisetagebuch treibt die eine Entwicklung des Reiseberichts auf die Spitze, deren Anfänge in der Mitte des 18. Jahrhunderts, in Sternes Sentimental Journey, zu suchen sind. Sein subjektzentrierter metaphysischer Innerlichkeitskultus markiert ein Extrem, das kaum noch steigerungsfähig ist, das freilich auch die Leistungsfähigkeit der Gattung überfordert. Ein Bericht, in dem die bereiste Wirklichkeit eine so geringe Rolle spielt wie in dem Buch Keyserlings, würde kaum als »Reisebericht« rezipiert werden, wenn der Autor den Titel eines »Reisetagebuchs« nicht ausdrücklich reklamierte. Das Fremde in seiner klassischen Erscheinungsform des Exotismus verliert an Interesse - deutlicher als in Keyserlings Reisebericht läßt sich das nicht ausdrücken. Kafkas intrikate Verarbeitung des traditionellen Exotismus vor den Erfahrungen des Kolonialismus und der modernen Zivilisation, Scheurmanns Papalagi-

19

20 21

Graf Hermann Keyserling, Das Reisetagebuch eines Philosophen, Berlin, 8. Aufl. 1932, S. 14. Ebd., S. 30. Ebd., S. 500.

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Fälschung und Keyserlings Innerlichkeitskult markieren in ihrer Summe das Verschwinden des Exotismus. Als spezifisch europäische Erfahrungsform des Fremden hat er ausgedient; an seine Stelle treten neue Formen der Fremderfahrung, die aus neuen Formen des Reisens hervorgehen. Eine wichtige Gelenkstelle in dieser Entwicklung ist Alfons Paquet. Unter seinen Reiseberichten sucht insbesondere sein 1927 erschienener Text Städte, Landschaften und ewige Bewegung eine neue Stilform zum Ausdruck von Reise- und Fremderfahrungen. Wie die Gattungsbezeichnung »Roman« im Untertitel ankündigt, benutzt Paquet Fiktionalisierungsstrategien zum Ausdruck neuer Erfahrungen; ein Verfahren, das durchaus zeittypisch war und auch dem Zweck einer Aufwertung des exotistischen Reiseberichts diente. 22 In der Vorrede erläutert Paquet sein Programm: An die Stelle der Menschen treten die Städte ins Zentrum des Berichts, und an die Stelle der Niederschrift authentischer Reiseerfahrungen - die dem Buch durchaus zugrunde liegen - tritt eine literarische Schreibform, »denn es ist kein Buch zufälliger Beschreibung«: Denn »nicht die Linien machen die Reise, sondern erst das, was sie zusammenflicht und was jede Erfahrung so leibhaftig macht, daß sie nicht mehr Linie ist, sondern ausgefüllter Raum.« 23 Tatsächlich geht es nicht um die Äußerlichkeiten des Reisens und um die Topographie der bereisten Orte; es geht aber auch nicht darum, wie bei Keyserling, das Reisen als Medium von Innerlichkeitserfahrung zu benutzen. Das Spektrum der Reiseerfahrungen ist geographisch weit gestreut. Paquet beschreibt Städte in Deutschland, in Skandinavien, im Baltikum, in Rußland, in der Schweiz und in Palästina. Diese Wirklichkeit wird durch das Medium der Subjektivität hindurch beschrieben; sie behält ihre eigenes Recht, wird aber zugleich auch umgestaltet entsprechend den spezifischen Bedürfnissen des Reisenden. Die Darstellung nimmt durchgehend einen impressionistischen Ton an; sie ist pointillistisch und erhält ihren Zusammenhang durch die Reflexionen, die sich an die Wahrnehmung knüpfen. Politische und historische Reflexionen, inspiriert durch die Erfahrung der deutschen Nachkriegsstituation, spielen eine zentrale Rolle. Auch dieses Verfahren hat Paquet einleitend programmatisch formuliert: »Der einzelne Mensch ist nirgends mehr Mittelpunkt Er ist

22 21

Vgl. Reif, Exotisnuis im Reisebericht (wie Anni. 2). S. 458Γ Alfons Paquet. Stadie. Landschaften und ewige Bewegung. Ein Roman ohne Helden, Hamburg-Großborstel 1927. S 7

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überall auf den fließenden Bändern der Bewegung, und als Schauplatz aller Abenteuer genügt ein Herz.« 24 Paquet findet damit eine prekäre Balance zwischen den Tendenzen der Reiseberichte seiner Zeit. Die beschriebene - vorwiegend europäische - Wirklichkeit wird transformiert durch eine literarisierende Schreibform, durch subjektive Impressionen, politische und historische Reflexionen, so daß eine Melange entsteht aus Subjektivität und Objektivität der Darstellung.

II.

Der Kult der Zerstreuung: Reiseliteratur in der Weimarer Republik

Die Reiseliteratur der Weimarer Republik entwickelt neue Formen der Beschreibung von Wirklichkeit. 25 Ihre verbreitetste literarische Form ist die »Reportage«. Das Programm dieser Gattung wurde 1925 von Egon Erwin Kisch im Vorwort zu seinem Buch mit dem sprichwörtlich gewordenen Titel Der rasende Reporter formuliert: »Nichts ist verblüffender als die einfache Wahrheit, nichts ist exotischer als unsere Umwelt, nichts ist phantasievoller als die Sachlichkeit.« Wenn irgendwo, dann wird hier deutlich, daß das Exotische seine Sonderstellung verloren hat. Kisch propagiert die Außenorientierung der Darstellung. Der Reporter, so deklariert er, ist von den Tatsachen abhängig, »er hat sich Kenntnis von ihnen zu verschaffen, durch Augenschein, durch ein Gespräch, durch eine Beobachtung, eine Auskunft.« 26 Johannes R. Becher hat wenig später in einer euphorischen Würdigung der neuen Gattung die Reportage als »wirklichkeitsbesessene Dichtung« gerühmt und sie der traditionellen Dichtung mit ihrem wirklichkeitsfremden Innerlichkeitskult entgegengestellt. 27 Entsprechend reagierte die Kritik, die 24 25

26

27

Ebd., S. 8. Eine vorzügliche Darstellung der Reisebericht-Entwicklung in ihren Grundzügen findet sich bei Erhard Schütz, Autobiographien und Reiseliteratur, in: Literatur der Weimarer Republik 1918-1933, hg. v. Bernhard Weyergraf, Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd. 9, München/Wien 1995, S. 550-600. Das Vorwort der Erstausgabe von 1925 wurde in der Ausgabe der Gesammelten Werke in Einzelausgaben, Berlin, Weimar 1974, Bd. 5, ins Nachwort der Herausgeber verbannt; hier zit. n.: Die Weimarer Republik. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1918-1933, hg. v. Anton Kaes, Stuttgart 1983, S. 319-321; hier S. 319. Johannes R. Becher, Wirklichkeitsbesessene Dichtung, in: Die Neue Bücherschau 6 (1928), Schrift X, S. 491-494; hier zit. n.: Die Weimarer Republik (wie Anm. 26), S. 325-327.

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Kischs ersten Reportagenband als »erfrischenden Schock« registrierte. 28 Das Fremde ist zum Abseitigen und Skurrilen geworden, das definiert wird durch seine Abweichung vom Maßstab der Normalität. Die inhaltliche und stilistische Selbstverpflichtung der Reportage auf das Ideal der Sachlichkeit ist den Zeitgenossen und auch den Autoren selbst als revolutionär erschienen. Ihr liegt ein Literaturbegriff zugrunde, der alle idealistischen Traditionen hinter sich lassen will und sich ausdrücklich politischen Wirkungsabsichten öffnet. In seinen beiden Reportagensammlungen über die Sowjetunion und die USA - Zaren, Popen, Bolschewiken von 1927 und Paradies Amerika von 1930 - hat Kisch später dezidiert Partei ergriffen für die russische Revolution und gegen den amerikanischen Kapitalismus. Die Kontroverse um den politischen Status der Reportage hat symptomatischen Stellenwert für die Literaturauffassung der Weimarer Republik überhaupt und für die Entwicklung der Reiseliteratur im Besonderen. Sie signalisiert die Tendenz zur Repolitisierung der Gattung. Tatsächlich jedoch fugt sich die Reportage mit ihrem revolutionären Gestus problemlos in den zeitgenössischen Literaturbetrieb ein. Ihr vermeintlich revolutionäres Moment ist eher als Domestizierung der Gattung Reisebericht zu begreifen, wie es Lukács in seiner Kritik der Reportage schon geahnt hat.29 Der zum »Produzenten« gewordene Autor muß sich in eine Medienlandschaft einfügen, die neue Produktionsbedingungen ebenso wie ein neues Publikum hervorgebracht hat. Walter Benjamin hat diesen Prozeß beschrieben und festgestellt, daß die »Presse die maßgebendste Instanz« fur die neuen literarischen Entwicklungen gewesen sei und daß sie »sogar die Scheidung zwischen Autor und Leser einer Revision unterzieht.«30 Die Presse erzwingt von den Autoren die Berücksichtigung spezifischer Marktbedürfnisse. Kischs Reportagen sind formal wie inhaltlich der reinste Ausdruck dieser Erfordernisse. Bei allem faktischen Gehalt dominiert die Neigung zur leichten Konsumier-

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Christian Ernst Siegel, Egon Erwin Kisch. Reportage und politischer Journalismus. Bremen 1973, S. 181. Vgl. Georg Lukács, Reportage oder Gestaltung? Kritische Bemerkungen anläßlicli eines Romans von Ottvvalt, in: ders., Schriften zur Literatursoziologie. Neuwied/Berlin, 2. Aufl. 1963, S. 122-142 (zuerst in: Die Linkskurve [19321): hierbes. S. 126-130. Walter Benjamin, Der Autor als Produzent. Ansprache im Institut zum Studium des Fascismus in Paris am 27.4.1934, in: ders., Gesammelte Schriften II/2. Frankfurt a. M. 1977, S. 683-701; hier S 689.

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barkeit und Unterhaltung, die immer die »Erwartung des Publikums ins Kalkül« zieht. 31 Kischs Reportagen sind damit eine Variante jener Entwicklung der Feuilletonisierung, die in der Weimarer Zeit sich immer deutlicher abzeichnet. Die Befriedigung des Publikumsgeschmacks und die Erfüllung von Marktbedürfnissen bringt charakteristische literarische Formen hervor. Es handelt sich, wie schon die zeitgenössischen Theoretiker des Feuilletons erkannt haben, um »impressionistische« Darstellungsformen. Sie gehen meist vom isolierten Objekt aus, das von einem subjektiven, gefühlsmäßig oder begrifflich getönten Standpunkt und in einem poetisierenden Stil dargestellt wird. 32 Gegen Ende der zwanziger Jahre tritt die Forderung nach einer weltanschaulichen oder zumindest gesinnungsmäßigen Bindung hinzu: 33 Die rein sachlich orientierte Reportage reicht nicht aus: »Die reportierte Welt, die nur Zufall und Sinnlosigkeit zeigt, kann dem Feuilleton nicht genügen. Man verlangt vom Feuilleton, daß es mehr gebe als Wirklichkeits-Photographie: es soll Sinn offenbaren. Es soll aufrichten und trösten.« 34 Kurt Tucholsky hat 1930 in einer harmlosen Satire den Reisebericht als ideale Gattung beschrieben, die diesen aktuellen Publikumserwartungen entgegenkommt. 35 Die Offenheit der Form und die Beliebigkeit der Inhalte, die der Gattung seit je als Konstituenten eigen sind, eignen sich im besonderen Maße dazu, die Bedürfnisse der neu entstehenden Freizeitkultur zu befriedigen. 36 Im Zuge seiner Anpassung an diese Bedürfnisse hat der Reisebericht der Weimarer Republik Modifikationen erfahren. Tucholsky selbst hat mit seinem Pyrenäenbuch, dem Bericht über seine dreimonatige Pyrenäenreise, die er im Herbst 1925 zusammen mit

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Siegel, Egon Envi η Kisch (wie Anm. 28), S. 154. Vgl. die bei Haacke angeführten zeitgenössischen Zeugnisse zur Theorie des Feuilletons: Wilmont Haacke, Handbuch des Feuilletons, Bd. 1, Emsdetten 1951, S. 359f. Vgl. ebd., S. 366f. Ebd., S. 375. Vgl. Kurt Tucholsky, Der Reisebericht, in: ders., Gesammelte Werke in zehn Bänden, hg. v. Mary Gerold-Tucholsky/Fritz J. Raddatz, Bd. 8: 1930, Reinbek 1975, S. 7-9. Zur Diskussion um das neue Problem der Freizeit und der sich in diesem Zusammenhang herausbildenden »Massenfreizeitkultur« in der Weimarer Republik vgl. Adelheid von Saldern, Massenfreizeitkultur im Visier. Ein Beitrag zu den Deutungs- und Einwirkungsversuchen während der Weimarer Republik, in: Archiv für Sozialgeschichte 33 (1993), S. 21-58; bes. S. 22f.

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seiner Frau Mary unternommen hatte, 37 ein anschauliches Beispiel dafür gegeben, wie der Reisebericht sich durch seine Feuilletonisierung in die Freizeitkultur einbinden läßt. Die Charakterisierung, daß es sich hier um ein »originelles und ganz vereinzelt dastehendes Reisebuch« handele, ist wohl zutreffend, 3 8 aber trotz seiner Singularität ist das »Pyrenäenbuch« ein für die publizistische Situation der Weimarer Republik außerordentlich typisches Werk. Tucholsky wechselt sein Genre auch als Reiseautor nicht. Er bleibt als Reisender Feuilletonist mit gelegentlichen politischen Ambitionen. Sie artikulieren sich vor allem in seiner Kritik des Pilgertourismus nach Lourdes. Diese Kritik orientiert sich auf eine kurios verspätete Weise an den darstellerischen Techniken, wie sie einst der Aufklärer Nicolai entwickelt hatte. Tucholsky entwirft in seiner rationalistischen Kritik an den Wunderheilungen eine Art massenpsychologisch informierte Neuauflage der aufklärerischen Theorie des Priestertrugs und untermauert seine Kritik mit statistischen Materialien. 39 Sein Reisebericht bindet stilistisch alle denkbaren Formen des Feuilletons, wie sie von Tucholsky - unter vier Pseudonymen - beherrscht wurden, locker zusammen. Seine Einheit findet der Text nur in der Person des Reisenden und in der bereisten Region. Die Reiseroute ist zwar klar erkennbar, spielt aber als strukturbildendes Moment keine Rolle. Im Zentrum steht das individuelle Interesse des Reisenden, das sich auf beliebige Gegenstände richten kann: »Ist einer ein Kerl, dann steht er sich selbst im Wege, bei allen Schilderungen, und wenn er fertig ist, darf er nicht sagen, >Reise durch die PyrenäenReise durch mich selbst< « 40 Völlig zu Recht meint Tucholsky zwei Jahre nach dem Erscheinen des Buches: »es ist darin mehr von meiner Welt als von den Pyrenäen die Rede« 41 In der Tat versucht Tucholsky Funken zu schlagen aus einem Gegenstand, zu dem er kein Verhältnis gewinnen kann: »Die Pyrenäen gehn mich überhaupt nichts an.« 42 Daß insbesondere die Natur

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Helga Bemann. Kurt Tucholksy. Ein Lebensbild, Berlin 1990, S. 337. Aus Tucholskys Reisebucli gehl kurioserweise nicht hervor, daß seine Frau ihn begleitet hatte. Ebd., S. 337. Vgl. Kurt Tucholsky, Ein Pyrenäenbuch, in: ders., Gesammelte Werke (wie Anni. 35). Bd. 5: 1927. Reinbek 1975. S. 7-135; hier S. 76-89. Ebd., S. 120. Tucholsky, Aus aller Welt, in: ebd., Bd. 7: 1929, S. 171-175; hier S. 175. Tucholsky. Ein Pyrenäenbuch (wie Anm. 39). S. 110.

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für ihn keine besonderen Reize bot, war beim passionierten Weltstädter Tucholsky zu erwarten. Er gesteht es zwanglos ein bis zum freimütigen Bekenntnis, daß die Autofahrt durch die Landschaft angenehmer sei als das Wandern. 43 Seine Kunst besteht darin, das Desinteresse mit den Mitteln des versierten Feuilletonisten interessant zu machen - bis hin zur kalauerhaften Episodenschilderung. Die bei Tucholsky angelegten Tendenzen der Feuilletonisierung des Reiseberichts werden von Klaus und Erika Mann noch einmal überboten. Ihr Reisebuch Rundherum berichtet über eine 1929 angetretene Weltreise der Geschwister. In dem Text sind alle Tendenzen vereinigt, welche nicht nur den Reisebericht, sondern überhaupt die Feuilletonliteratur dieser Zeit charakterisieren. Es handelt sich um eine Mischung aus Erlebnisbericht, Reportage und Klatschjournalismus, mit sozialkritischen Einsprengseln im Kisch-Stil und Trend-Meldungen in der Art eines postmodernen lifestyle-Magazins. Das Fremde wird zum Interessanten; und interessant ist nicht das Fremde, sondern das Neue, das sich dem schon längst Bekannten durch eine subjektive Perspektive abgewinnen läßt. Beschrieben wird, was in Deutschland bekannt ist oder, besser noch, aus Deutschland stammt - bis hin zum Besuch einer japanischen Aufführung von Wedekinds Frühlings Erwachen, zu dem die Geschwister Mann bekanntlich ihre besondere private Affinität hatten. 44 Die erfahrene Außenwelt wird reduziert auf das schmale Interessensegment der beiden Reisenden. Die Weltreise, die von Berlin über die USA, Japan, China, Korea, die Sowjetunion und Polen zurück nach Berlin gefuhrt hat, schrumpft auf eine Anzahl von Episoden und Anekdoten, denen jeder spezifische Charakter des Fremden genommen wurde. Das enge Weltbild und der beschränkte Interessenhorizont einer vermeintlichen Berliner Urbanität beherrschen den Blick bis ins letzte Detail. Die Fremderfahrung ist bestimmt durch die Rückbezüglichkeit. Dominierend ist die Zentrierung um das doppelte Ich der beiden Reisenden, die ihre Gegenstände sich nicht von der Wirklichkeit, aber auch nicht - wie Keyserling - von ihrer verinnerlichten Subjektivität bestimmen lassen, sondern sich völlig der Willkür des Zufalls überantworten. 43 44

Vgl. ebd., S. 100. Klaus und Erika Mann, Rundherum. Abenteuer einer Weltreise, Reinbek 1982, S. 1161". - Die Erstausgabe von 1930 enthält den Untertitel noch nicht. Eine freundlichere Einschätzung des Buches, das mit seinem »provozierenden Snobismus« »unkonventionelle und unbequeme Beobachtungen notiert«, gibt Schütz, Autobiographien und Reiseliteratur (wie Anm. 25), S. 575.

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Die klassischen Probleme und Eigenarten des Reiseberichts als einer literarischen Gattung werden damit suspendiert. Die Frage nach der Auswahl der Ereignisse, der Kohärenz der Darstellung und der Angemessenheit der Fremdheitsschilderung bleibt unbeachtet. Rundherum steht damit am Übergang zu jener Form der Fremderfahrung, wie sie der Tourismus perfektionieren und zu einem Massenartikel machen wird. Vom Touristen unterscheiden sich die beiden Reisenden nur dadurch, daß sie noch über Reisen schreiben, während in der weiteren Entwicklung des Tourismus Schreiben und Reisen vollständig auseinanderfallen. Der moderne Tourist schreibt nicht, er liest bestenfalls. Tucholskys Reisebericht gibt ein manifestes und kokettes Desinteresse an der bereisten Wirklichkeit zu erkennen. Damit steht er dem Bericht der Geschwister Mann diametral entgegen, die ein forciertes Interesse an jeder Belanglosigkeit demonstrieren. Dennoch sind beide Bücher vom gleichen Schlag. Sie haben ihre Gemeinsamkeit darin, daß sie der Unterhaltung dienen - der des Reisenden, die zu der des Lesers wird. Die Rezeption von Tucholskys Buch macht es deutlich. Es wurde von der Kritik im wesentlichen begeistert aufgenommen, aber jeder »der Rezensenten entdeckte andere Vorzüge« 45 Siegfried Kracauer hat diese Phänomene unter den Begriff der »Zerstreuung« gefaßt, ihre Fundierung in der Berliner Angestellten-Gesellschaft herausgearbeitet und am Kino exemplifiziert. Der Kult der Zerstreuung ist geprägt von Veräußerlichung, Heterogenität und Oberflächlichkeit der Eindrücke. Im »reinen Außen« findet sich das Publikum wieder; »die zerstückelte Form der splendiden Sinneseindrücke bringt seine eigene Wirklichkeit an den Tag.« 46 Eine eigene Variante der Zerstreuung im Reisebericht bietet Alfred Kerr in seinem Amerika-Buch Yankee-Land von 1925. 47 Es dürfte kaum einen Reisetext geben, der auch in seiner graphischen Gestalt schon so deutlich erkennen ließe, wie sehr die Wirklichkeit der subjektiven Willkür des Reisenden unterworfen wird In deutlicher und verspäteter Anlehnung an expressionistische und impressionistische Sprachformen legt Kerr einen fragmentarisierten Text vor, der sich aus einzelnen Erfah-

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Bemann, Kurt Tucholksy (wie Anm. 37), S. 338. Siegfried Kracauer. Kult der Zerstreuung Über die Berliner Lichtspielhäuser, in: Die Weimarer Republik (wie Anm. 26), S. 248-251; hier S. 250. Alfred Kerr, Yankee-Land. Eine Reise, Berlin 1925.

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rungs- und Gedankensplittern zusammensetzt, in denen das eigene Urteil und die eigene Empfindung die Wirklichkeit weitgehend verdrängen. 4 8 In der Weimarer Republik arbeiten die Reiseberichte ungeachtet ihrer jeweiligen Form eine eigene Art des Umgangs mit der Wirklichkeit heraus. Sie läßt sich beschreiben als Funktionalisierung des Fremden: E s wird funktionalisiert für die Zerstreuung, die sich formal und stilistisch in der Feuilletonisierung manifestiert. Dieser Kategorie ordnen sich die Reise- und Reiseberichtsformen fast durchgehend unter, so unterschiedlich sie sich zunächst auch ausnehmen mögen.

III.

Reiseliteratur im »Dritten Reich«

Auf den ersten Blick mag es so aussehen, als habe es 1933 mit der Zerstreuung ein Ende. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten führt zum Aufbau eines diktatorischen Staates, der es sich gerade in sein Programm geschrieben hatte, die zerfasernde Kultur und Lebenswirklichkeit der Weimarer Republik wieder gewaltsam zusammenzuführen. Aber so radikal sich der Bruch zwischen der einen und der anderen Gesellschaftsordnung auch ausnimmt, so klar lassen sich bei genauerer Betrachtung die Filiationen erkennen, welche die eine mit der anderen verbinden. Unmittelbar nach dem Krieg hat der Schweizer Publizist Max Picard den Versuch unternommen, den Erfolg Hitlers gerade aus jenen Prinzipien der Zerstreuung heraus zu erklären, welche die Weimarer Gesellschaft dominierten. Er beschreibt die Kultur der Weimarer Republik als eine inhaltsleer gewordene »Struktur der Diskontinuität«, 4 9 der jedes Zentrum fehlt und die sich gerade deshalb dem Zugriff Hitlers bereitwillig preisgab: »die Welt ist aufgelöst, die Objekte bewegen sich zusammenhanglos am zusammenhanglosen Menschen vorbei. Was vorbeizieht ist gleichgültig, wichtig ist nur, daß etwas vorbeizieht. In diese Reihe kann sich deshalb alles einschleichen, auch Adolf Hitler, und lieber ist es einem, daß er, Adolf Hitler wenigstens, erscheint, als daß gar nichts mehr erscheint.« 50 48

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Vgl. Anke Gleber, Die Erfahrung der Moderne in der Stadt. Reiseliteratur der Weimarer Republik, in: Der Reisebericht (wie Anm. 2), S. 463-489; hier S. 464-467. Max Picard, Hitler in uns selbst, Erlenbach-Zürich, Stuttgart, 4. Aufl. o. J. (zuerst 1946), S. 17. Ebd., S. 15f.

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Picards Erklärungsversuch ist eine sozialpsychologische Spekulation, der die sozialhistorische Fundierung fehlt, aber er vermittelt immerhin eine Vorstellung von dem inneren Zusammenhang, der zwischen der Weimarer Republik und dem »Dritten Reich« besteht. Es ist in der Tat eine der Grundfragen der deutschen Kulturgeschichtsforschung zum 20. Jahrhundert, in welchem Umfang, in welcher Weise und ob überhaupt das Jahr 1933 und die nationalsozialistische Herrschaft einen epochalen Umbruch in der Literatur- und Kulturentwicklung bedeuten. Die neuere, immer noch nur zögernd vorangetriebene Forschung zur Literatur und Kultur des »Dritten Reiches« legt es nahe, die Frage vorsichtig und differenziert zu beantworten; eine abschließende Wertung würde noch der Grundlagen entbehren. Immerhin hat die neuere Forschung über die soziale, kulturelle und literarische Situation in der Zeit des Nationalsozialismus Ergebnisse erbracht, die auch fur die Reiseberichtforschung von großer Bedeutung sind. Die nach dem Krieg im populären Bewußtsein ebenso wie in der Zeitgeschichtsforschung herrschende Vorstellung, daß der Staat des Nationalsozialismus monolithisch organisiert gewesen sei und alle Lebensäußerungen und alle abweichenden sozialen Lebensformen unterdrückt habe, hat sich als nicht haltbar erwiesen. Sie war nur die bequeme Fortschreibung des Selbstverständnisses, das der Nationalsozialismus mit suggestiver propagandistischer Kraft etabliert hatte. Allerdings hat diesem Selbstverständnis zweifellos die Wirklichkeit in weiten Bereichen entsprochen. Die politische Gleichschaltung - der Begriff entstammt dem administrativen Wortschatz des »Dritten Reiches« selbst und wurde erstmals offiziell verwendet im Vorläufigen Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich vom 31 3 . 1 9 3 3 " im NS-Staat hat die Alltagswirklichkeit in diktatorischer Weise bestimmt. Die von der nationalsozialistischen Politik angestrebte Gleichschaltung von Literatur, Kultur und Alltag ist an den administrativen Maßnahmen ablesbar, die zu ihrer Durchsetzung unternommen worden. 52 Die Rhetorik des revolutionären Umbruchs in allen Lebensberei-

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Vgl. Gesetze des NS-Staates. Dokumente eines Unrechtssystems. hg. v. Ingo von Münch. Paderborn/München/Wien/Zürich. 3., neubearb u. erw Aufl. 1994. S. 38-41. Sie werden beschrieben bei Karl Dietrich Bracher/Wolfgang Sauer/Gerhard Schulz. Die nationalsozialistische Machtergreifung Studien zur Errichtung des totalitären Herrschaftssystems in Deutschland 1933/34. Köln/Opladen. 2.. durchges. Aufl. 1962. S. 288-307.

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chen, welche die Machtergreifung von 1933 begleitete, hat gerade fur die Kulturpolitik weitreichende reale Wirkungen gezeitigt: 53 »Die Revolution, die wir gemacht haben, ist eine totale. Sie hat alle Gebiete des öffentlichen Lebens erfaßt und von Grund auf umgestaltet.« Dazu gehört auch die Kunst, sie wird der Forderung unterworfen, sich wieder in das »Leben des Volkes« einzuordnen. 54 Die Politik der totalen »Gleichschaltung« hat einen gewaltsam integrierenden, aber auch einen gewaltsam separierenden Effekt. Sie fuhrt durch administrative Gewaltmaßnahmen Absonderungen nach dem Schema von »Freund« und »Feind« herbei, die teils manifest, teils latent wirksam werden und die in vielerlei Hinsicht sich überschneiden: Sie erzwingt die Unterscheidung zwischen Anpassung und Widerstand, zwischen Juden und »Volksgenossen«, zwischen Exilierten und Daheimgebliebenen, zwischen »innerer« und »äußerer« Emigration. Diesen Unterscheidungen entsprechen höchst unterschiedliche Erfahrungen mit der nationalsozialistischen Gewalt, die das Alltagsleben und die Biographien nachhaltig auseinanderlaufen ließen. Ob die Durchsetzung so erfolgreich war, wie es die offiziellen Dokumente vorspiegeln, muß indes fraglich bleiben. Es gibt hinreichende Grunde zu der Annahme, daß auch die kulturelle, die literarische und die Alltagswirklichkeit eine Beharrungskraft gegenüber den Gleichschaltungsbestrebungen behauptet haben. Zugleich ist leicht zu erhärten, daß die nationalsozialistische Kulturpolitik in Kontinuitätszusammenhängen steht, die weit hinter das Jahr 1933 zurückreichen: »Die Zeit zwischen 1933 und 1945 war nicht nur der Ausnahmezustand, zu dem man sie erklärt hat«. 55 In vielen Bereichen, und vor allem in der Literatur, setzt sie nur fort, was sich bereits zuvor mit einer »protofaschistischen Literatur« 5 6 herausgebildet hatte: »Gleichrichtung und Uniformierung« des

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Vgl. Dietrich Strothmann, Nationalsozialistische Literaturpolitik. Ein Beitrag zur Publizistik im Dritten Reich, Bonn, 4. Aufl. 1985; Jan-Pieter Barbian, Literaturpolitik im »Dritten Reich«. Institutionen, Kompetenzen, Betätigungsfelder, München, 2. Aufl. 1995. Rede Joseph Goebbels' bei der Eröffnung der Reichskulturkammer am 15.11.1933, in: Der Nationalsozialismus. Dokumente 1933-1945, hg., eingel. u. dargest. v. Walther Hofer, Frankfurt a. M./Hamburg 1960, S. 89. Henning Eichberg, Lebenswelten und Alltagswissen, in: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, hg. v. Dieter Langewiesche/Heinz-Elmar Tenorth, Bd. 5: 1918-1945. Die Weimarer Republik und die nationalsozialistische Diktatur, München 1989, S. 25-64; hier S. 59. Vgl. Uwe-K. Ketelsen, Literatur und Drittes Reich, Schernfeld 1992, S. 94-127.

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politischen wie des Alltagslebens sind Phänomene, die ihren Ursprung in der Weimarer Republik und teilweise auch schon davor gehabt haben; der Nationalsozialismus brachte allerdings eine neue Qualität durch den Übergang von der Freiwilligkeit zum Zwang. 5 7 Die Eingriffe des NS-Staates in die Lebensformen des Alltags betreffen in einem erheblichen Ausmaß auch die Reisekultur. Reglementierungen des Reisens auf der einen Seite ebenso wie die Förderung bestimmter Reiseformen auf der anderen stellen einen gewichtigen Teil jenes Bereichs der NS-Politik dar, der sich auf die Freizeit der Bürger richtete. Die Auswirkungen dieser alten und neuen Formen der Mobilität auf die Reiseliteratur sind noch nicht erforscht. Die Reiseliteratur ist in der literarhistorischen Erforschung sowohl des »Dritten Reiches« wie auch des Exils praktisch völlig unbeachtet geblieben; selbst minimale bibliographische Erfassungen des Genres stehen noch aus. 58 Mehr als einige Thesen, die sich anhand einiger paradigmatischer Texte entwickeln lassen, können deshalb nicht formuliert werden. Zunächst bedarf der Begriff des »Reisens« angesichts der historischen Erfahrungen des »Dritten Reiches« einer neuerlichen Klärung. Es wäre eine makabre Überdehnung des Begriffs, wenn jene Formen erzwungener Mobilität, welche charakteristisch sind für die Erfahrungshorizonte des »Dritten Reiches« und des Zweiten Weltkriegs, noch als »Reisen« bezeichnet werden sollten. Flucht und Vertreibung, Krieg und gar die Deportation in die Vernichtungslager bedürfen anderer Kategorien der Beschreibung. Auch wenn der Begriff des »Reisens« aus guten Gründen in der Reisekulturforschung unscharf geblieben ist, da er jeweils einer historischen Konnotation unterliegt, läßt sich doch daran festhalten, daß er in seiner neuzeitlichen und erst recht in seiner modernen Version, wie sie sich im 19. und 20. Jahrhundert etabliert hat, wesentlich durch die Komponente der Freiwilligkeit bestimmt ist. Gewiß hat dieses Moment der »Freiwilligkeit« - neben der »Sicherheit« und »Zweckfreiheit« - seine zentrale Bedeutung für das Reisen erst durch das touristische Reisen erhalten; 59 aber der Tourismus - nicht erst der

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Vgl. Eichberg, Lebenswelten und Alltagswissen (wie Anm. 55), S. 58. Verdienstvoll sind die bibliographischen Angaben bei Johannes Graf, »Die notwendige Reise«. Reisen und Reiseliteratur junger Autoren während des Nationalsozialismus. Stuttgart 1995, S. 27; S. 126-132.; S. I60f.; S. 163; S. 178f. und passim. Hasso Spode, »Reif fiir die Insel«. Prolegomena zu einer Historischen Anthropologie des Tourismus, in: Arbeit, Freizeit, Reisen. Die feinen Unterschiede im

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Massentourismus - bildet nun einmal das Modell nicht nur des modernen, sondern schon des neuzeitlichen Reisens seit dem 16. Jahrhundert. 60 Er hat ein Paradigma des Reisens herausgebildet, das im 20. Jahrhundert mannigfach variiert und auch unterlaufen wird, aber dennoch als Leitform des Reisens unhintergehbar geworden ist. Die im 20. Jahrhundert, in der Sowjetunion Stalins ebenso wie im »Dritten Reich« Hitlers, auftretenden Formen staatlich erzwungener Mobilität sind nicht nur Abweichungen vom modernen Ideal des Reisens. Krieg, Emigration und gar Deportation sind sein Gegenmodell. Sie bilden eine barbarische Kehrseite des neuzeitlichen Reisens; sie sind an seine technischen und infrastrukturellen Voraussetzungen gebunden und negieren dennoch seine Idee. Ernst Jünger hat es angedeutet: »Die Technik nämlich erscheint im bürgerlichen Räume als ein Organ des Fortschrittes, das sich auf eine vernünftig-tugendhafte Vollkommenheit zubewegt. Sie ist daher eng verbunden den Wertungen der Erkenntnis, der Moral, der Humanität, der Wirtschaft und des Komforts. Die martialische Seite ihres Januskopfes paßt in dieses Schema schlecht hinein. Es ist aber unbestreitbar, daß eine Lokomotive statt eines Speisewagens eine Kompanie Soldaten oder ein Motor statt eines Luxusfahrzeuges einen Tank bewegen kann - daß also eine Steigerung des Verkehrs nicht nur die guten, sondern auch die bösen Europäer schneller aneinanderbringt.« 61 Es ist nicht abwegig, diese Einsicht Ernst Jüngers, die er aus den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges heraus formulierte, auch schon in Kafkas Strafkolonie vorformuliert zu sehen; die »Koppelung von Technik und Barbarei« wird in dieser Erzählung, die unmittelbar nach Ausbruch des Krieges entstand, ahnungsvoll vorausgesehen. 62 Daß die erzwungenen und freiwilligen Reisen sich der gleichen technischen Mitteln bedienen, kann im Einzelfall in der Selbstwahrnehmung der Teilnehmer eine Verzerrung der Erfahrungskategorien hervorrufen. Speziell der Krieg wird gelegentlich als eine touristische Veranstaltung mißverstanden. Tatsächlich bedeutet er für viele Soldaten eine erstmalige Entfernung vom heimatlichen Erfahrungsraum - im Ersten Weltkrieg tritt dieses Phänomen noch deutlicher hervor als im Zwei-

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Alltag. hg. v. Christiane Cantauw, Münster/New York 1995, S. 105-123; hier S. 112. Vgl. ebd., S. 113. Ernst Jünger, Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt, Stuttgart 1982 (zuerst 1932), S. 1621". Zimmermann, In der Strafkolonie (wie Anm. 8), S. 166.

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ten. 63 Das »Dritte Reich« hat sich diese Verzerrung der Wahrnehmung zunutze gemacht, indem es den von ihm angezettelten Krieg - und die ihm vorangehende Okkupation des Sudetenlandes - mit touristischen Kategorien beschreiben ließ. Eine ganze Reihe deutscher Schriftsteller hat sich an einem von der NSDAP organisierten Kriegstourismus beteiligt und in diesem Rahmen in »Dichterfahrten« die Kriegsschauplätze in Spanien, Polen, Frankreich, Rußland oder Norwegen besucht und beschrieben 6 4 In der Zeit der kampflosen Okkupationen und der »Blitzkriege« der ersten Kriegsjahre mochte es den Autoren wie dem Publikum noch nicht abwegig erscheinen, den Krieg als eine Variante des modernen Tourismus zu beschreiben, der eine spezifische Form der Welterfahrung erlaube. Daß das traditionelle literarische Modell des Reiseberichts auch in diesem Sinne beliebig fünktionalisierbar ist, zeigt ein Text der Reiseautors Alfred Wollschläger, der unter dem Pseudonym Α. E. Johann publizierte. Wenige Monate nach Kriegsbeginn veröffentlicht er die rund 200 Seiten seines Kriegsberichts Zwischen Westwall und Maginotlinie. Der Text nimmt eine unentschiedene Zwischenstellung ein zwischen dem traditionellen Reise- und dem Kriegsbericht. Die Härten des Krieges sind weitgehend getilgt, wie der Oberbefehlshaber des Heeres, Generaloberst Walther von Brauchitsch, der nach dem Frankreichfeldzug Generalfeldmarschall wurde, im Vorwort und der Autor in der Nachbemerkung fast bedauernd feststellen: »Noch hat die Infanterie vor dem Westwall keine Schlachten zu bestehen gehabt, die sich mit den schweren Angriffs= oder Abwehrschlachten an der Westfront 1914/1918 vergleichen lassen.« 65 Zugleich aber zollt der Autor zumindest stilistisch den neuen Erfordernissen der Kriegsberichterstattung seinen Tribut. Der schnoddrige Tonfall, mit dem sich Johann in seinen früheren Reiseberichten dem Zerstreuungsbedürfnis des Weimarer Publikums angepaßt hatte, wird abgedämpft; die reiseberichttypische Betonung des Individuellen tritt zurück gegenüber der Hervorhebung eines soldatischen »Wir«-Gefuhls. Es bleibt aber interessant, daß sich Johann in diesem Bericht inhaltlich den heroisierenden Legitimationsanforderungen einer 63

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K o n r a d Köstlin, Krieg als Reise, in: Reise-Fieber. Begleitlieft zur Ausstellung des Lelirstuhls für Volkskunde der Universität Regensburg. hg. v. Margit Berw i n g / K o n r a d Köstlin, Regensburg 1984. S. 100-114; hier S. 100-109. Vgl. Strotlunann, Nationalsozialistische Literaturpolitik (wie Anin. 53), S 106f. A E. Johann, Zwischen Westwall und Maginotlinie. Der K a m p f im N i e m a n d s land. Berlin 1939. S. 198.

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Kriegsberichterstattung noch nicht unterwirft. Die Frage nach dem Sinn dieses Krieges bleibt ebenso unbeantwortet wie Johann auch darauf verzichtet, zur ideologischen Aufrüstung durch die Propagierung eines Feindbildes beizutragen: »Ja, warum? Wir fragten uns dies immer wieder, denn es gab keinen unter uns, der von Haß gegen Frankreich erfüllt war. Wir wollten von denen da drüben jenseits des Niemandslandes gar nichts.« 66 Johanns Kriegsbericht stellt eine Zwischenstation dar, die bald überwunden sein wird. Die Darstellung des Krieges gegenüber der deutschen Öffentlichkeit wird schnell von der Wehrmacht im Verein mit der Partei selbst in die Hand genommen. Die Propagandakompanien der Wehrmacht, 6 7 in denen mancher Schriftsteller der »Jungen Generation« der Weimarer Republik einen Unterschlupf gefunden und in denen andererseits manche Schriftstellerkarriere der Bundesrepublik ihren Anfang genommen hat, nehmen bald die Kriegsberichterstattung selbst in die Hand. 6 8 Sie publizieren eigene Organe und bedienen auch die gleichgeschaltete Presse ebenso wie die Film-Wochenschauen des »Dritten Reiches«, wobei sie oft einen durchaus eigenen Stil entwickeln. 69 Es ist eine merkwürdige Erscheinung, daß gerade in diesen Propagandakompanien literarische Stilformen möglich waren, die als Produkte ausländischer Dekadenzliteratur im »Dritten Reich« verpönt waren; der Realismus im Stil eines Hemingway findet hier eine Nische, an die die Schriftsteller der »Jungen Generation« nach dem Zweiten Weltkrieg indirekt wieder anknüpfen können. Es ist kein Zufall, daß einige der PK-Autoren wie Martin Raschke oder Josef Bauer fur die nach dem Krieg hervortretenden Romanschriftsteller - etwa Alfred Andersch - stilistisch als Vorbild dienen können, sofern sie nicht selbst den Stil der PK-Berichte in die Nachkriegszeit übernehmen, wie Bauer mit seinem Bericht über

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Ebd., S. 178. Die »Propagandakompanien« wurden 1938 eingerichtet und erstmals beim Einmarsch ins Sudetenland eingesetzt; bis Kriegsende umfaßten sie in allen drei Waffengattungen der Wehrmacht und der Waffen-SS ca. 15 000 Mann. Buchheim hat in seinem jüngsten Roman eine umfassende, wenn auch sicher geschönte Darstellung seiner Tätigkeit als Marinekriegsberichterstatter gegeben; vgl. Lothar-Günther Buchheim, Die Festung, Hamburg 1995. Zu den Zusammenhängen von nationalsozialistischer Literatur und Nachkriegsliteratur der »Jungen Generation« vgl. Helmut Peitsch, »Am Rande des Krieges«? Niclitnazistische Schriftsteller im Einsatz der Propagandakompanien gegen die Sowjetunion, in: kürbiskern 19 (1984). H. 3., S. 126-149.

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die Flucht aus Sibirien So weit die Füße tragen

147 v o n 1954, der einen in-

ternationalen Erfolg verzeichnen kann. D e r Kriegsbericht der Propagandakompanien entwickelt sich bald zu einem eigenen Genre. Aber auch die Funktionalisierung der traditionellen Gattungen der Reiseliteratur wird v o n der Literaturpolitik d e s »Dritten R e i c h e s « betrieben. Einen direkten Beitrag der Reiseliteratur z u m »Führerkult« stellt Hanns Johsts Reisebericht Maske

und Gesicht

dar,

der 1935 erschien und sich a u f drei Reisen d e s Autors bezieht. D e r Text speist sich aus der kulturkritischen konservativen Tradition; er w i d m e t sich - das wird z u m T o p o s der nationalsozialistischen Reiseliteratur der Widerlegung v o n ausländischen Vorurteilen g e g e n ü b e r d e m »Dritten Reich«, und schließlich propagiert er einen h e m m u n g s l o s e n Führerkult mit den rhetorischen Techniken der »Ästhetisierung« und »Sakralisierung«. 7 0 Bei Johst wird erkennbar, w e l c h e Funktion die alte Gattung d e s Reiseberichtes für die nationalsozialistische Propaganda

wahrnehmen

kann: » A u s ihm ist auch e t w a s zu lernen über das Prestige der itinerarischen Gattung und darüber, w i e ihre Mittel zu brauchen und w i e sie zu mißbrauchen sind « 7 I A u c h in anderer Hinsicht werden der Reisebericht und die v e r w a n d ten Gattungen nutzbar gemacht. Als eine Literaturform, die aufs e n g s t e mit d e m Alltagsleben verflochten ist, kann sie auch direkt zu d e s s e n dik-

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Jäger hat auf diesen Text aufmerksam gemacht und ihn in diesem Sinne aufschlußreich interpretiert; vgl. Hans-Wolf Jäger. Missionsreise eines Nationalsozialisten. Hanns Johst 1935, in: Reisen im Diskurs. Modelle der literarischen Freinderfahrung von den Pilgerberichten bis zur Postmoderne. Tagungsakten des internationalen Symposions zur Reiseliteratur. Universi!) College Dublin vom 10.-12.3. 1994, hg. v. Anne Fuchs/Theo Harden. Heidelberg 1995, S. 542-551: hier S 549. Ebd.. S. 551. - Eine systematische Untersuchung der NS-Rciseliteratur wird wahrscheinlich zeigen, daß in diesen zwölf Jahren die Gattung in einem sehr breiten Variationsspektrum vertreten war, das die unterschiedlichsten Möglichkeiten des Bezugs auf die NS-Ideologie realisierte. Eine Ahnung von den Problemen. die sich der Interpretation dabei stellen werden, vermittelt die Kontroverse um Gertrud Fusscnegger, der 1993 der vom Bayerischen Kulturministerium verliehene »Jean-Patil-Preis« zuerkannt wurde. Auch hier war es ein Reisebericht - Böhmische l'erzauberungen. zuerst 1942 im Inneren Reich unter dem Titel Kukus, dann als Buch - , der mit unklaren, antisemitisch deutbaren Äußerungen die Auseinandersetzungen auslöste Eine sehr breite und in ihrem methodischen Verfahren auch sehr problematische Darstellung, die auf eine bedingungslose Rehabilitation Fusseneggcrs hin angelegt ist. findet sich bei Friedrich Denk. Die Zensur der Nachgeborenen. Zur regimckritischen Literatur im Dritten Reich. Weilhcim 1995. bes. S. 36-48.

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tatorischer Umgestaltung genutzt werden. Einen ebenso extremen wie charakteristischen Beleg dafür gibt der Baedeker über den besetzten südlichen Teil Polens, der in der geographischen Nomenklatur der N S Administration als »Generalgouvernement« dem »Dritten Reich« unter einer eigenen Verwaltung angegliedert wurde. Der Reiseführer richtete sich wohl in erster Linie an die Besatzungssoldaten und ihre Angehörigen sowie an Wehrmachtsangehörige, die hier ihren Urlaub verbrachten. 7 2 Der Baedeker über das »Generalgouvernement« bringt das p r o p a gandistische Bemühen zum Ausdruck, Krieg und Annektion als N o r m a lität erscheinen zu lassen; zugleich ist er integrierender Bestandteil einer rücksichtslosen Annektions- und Germanisierungspolitik, die auf eine Austilgung polnischer Kultur durch Schließung höherer Schulen und Universitäten sowie die E r m o r d u n g von rund 60 000 polnischer Intellektueller zielte. In diesem Baedeker findet sich, w a s in einem Text von 1942 zu erwarten ist. Das politische Interesse wird u n u m w u n d e n formuliert: » D a s ü b e r g e o r d n e t e Ziel bleibt die Wiedererfüllung dieses Weichselraumes mit deutschen Menschen und Deutschbewußtheit in j e d e m Sinne!« 7 3 Auch machen sich die langen Vorbemerkungen einen massiven Rassismus zu eigen: »Die unschöpferische Gestaltung der Landschaft, j a eine Verunstaltung mit der Folge der Versteppung und >Wüstwerdung< und der sehr g r o ß e Rückstand in allen Zweigen der Kultur liegt ganz vorwiegend in dem Wesen und der Rasse der einheimischen Bevölkerungen und einer Einstellung zum Dasein begründet, die dem deutschen Menschen völlig fremd ist.« 7 4 Mit diesen Vorbemerkungen stellt sich der Baedeker in den Dienst einer Politik, die Hitler in seiner Danziger R e d e v o m September 1939 formuliert hatte. Er greift darin den T o p o s von der Kultur- und v o r allem Ordnungsunfähigkeit der Polen auf, der sich in der Formel von der »polnischen Wirtschaft« schon am E n d e des 18. Jahrhunderts herausgebildet hatte: 7 5 »Die Weichsel«, heißt es kurz darauf in Hitlers R e d e

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Freundlicher Hinweis von Alex W. Hinrichsen. D a s Generalgouvernement. Reisehandbuch von Karl Baedeker. Mit 3 Karten und 6 Stadtplänen, Leipzig 1943, S. XXXIV. Ebd., S. XXI. Vgl. Hubert Orlowski, »Polnische Wirtschaft«. Zur Tiefenstruktur des deutschen Polenbilds, in: Fiktion des Fremden. Erkundung kultureller Grenzen in Literatur und Publizistik, hg. v. Dietrich Harth, Frankfurt a. M. 1994, S. 113-136; hier S. 130.

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vor dem Reichstag, »ist mangels jeder Pflege schon jetzt ungeeignet für jeden wirklichen Verkehr und je nach der Jahreszeit entweder ein wilder Strom oder ein ausgetrocknetes Rinnsal. Städte und Dörfer sind verwahrlost, die Straßen mit geringsten Ausnahmen verlottert und verkommen.« 76 An diese politischen Vorgaben schließen die Vorbemerkungen im Baedeker sachlich direkt an. Der »Versteppung« wird die Kultur der deutschen Besatzer gegenübergestellt, deren Leistung in der »ordnenden und aufbauenden Arbeit« gewürdigt wird. 77 Diese ordnende Arbeit erfahrt der Reisende unmittelbar durch seine Separierung von der Bevölkerung des bereisten Landes: Für die deutschen Fahrgäste der Eisenbahn gibt es besondere »Fahrkartenschalter, Wartesäle, Sperren und Eisenbahnwagen«, 78 und ihnen ist auch nur der Besuch jener Gaststätten und Hotels erlaubt, die ausdrücklich einen entsprechenden Vermerk tragen. Die »Germanisierung« Polens beschränkte sich nicht auf äußerliche politisch-administrative Gewaltmaßnahmen dieser Art. Der Idee nach sollte sie zu einer völligen Auflösung gewachsener Lebensformen fuhren, etwa durch die städtebauliche Umgestaltung der großen polnischen Städte, durch die ihr »deutscher Ursprung« sichtbar gemacht werden sollte. In diesem Zusammenhang hatten auch die Universitäten im besetzten Land einschlägige Funktionen. In Krakau war es der Lehrstuhl für Vorgeschichte von Werner Radig, in Breslau der von Dagobert Frey besetzte Lehrstuhl fur Kunstgeschichte, die es übernahmen, den deutschen Ursprung von Kunstwerken im polnischen Gebiet und damit deutsche Rechtsansprüche zu reklamieren - diese Funktion erfüllt, durchaus moderat, auch die lange kunstgeschichtliche Abhandlung Dagobert Freys im Baedeker über das »Generalgouvernement«. 79 Den über sechzig Seiten langen Vorbemerkungen mit separater Paginierung folgt das eigentliche Reisehandbuch, das in klassischer BaedeAxv-Manier aufgebaut ist und dreißig Routenvorschläge anbietet. Sie sind weitgehend ideologiefrei gehalten. Ideologiefrei heißt freilich nicht politikfrei. Die Darstellung polnischer Wirklichkeit in diesem Reiseführer des Jahres 1942 entspricht wohl den sachlichen Gegebenheiten, wie 76

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Reden des Führers. Politik und Propaganda Adolf Hitlers 1922-1945. hg. v. E r h a r d Klöss. M ü n c h e n 1967. S. 222 (Reichstagsrede vom 6.10 1939). Das Generalgouvernement (wie Anm. 73). S. V. Ebd.. S. XIII. Vgl. ebd.. S. LIV-LXIII; zu Frey vgl. Hildegard Brenner. Die Kunstpolitik des Nationalsozialismus, Reinbek 1963, S. 139.

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sie durch die deutsche Besatzung geschaffen worden waren. Die Politisierung reicht - selbstverständlich - bis zur Namensschreibung polnischer Orte, die ohnehin ein stets höchst empfindliches Problem der Kartographie darstellt. Der Baedeker löst die Frage im Einvernehmen mit der politischen Führung: »Die Schreibweise der Ortsnamen im Text entspricht den Erlassen der Regierung des Generalgouvernements vom 15. August 1940 und 20. Mai 1942.« Die Spuren der nationalsozialistischen Besatzungspolitik finden sich im Text durchgehend: Jede größere Stadt verfugt inzwischen über einen herausragenden Platz, eine Allee oder eine Straße, die nach Adolf Hitler benannt sind; der Aufzählung »deutscher Einrichtungen« - zu ihnen gehören Schulen und Kulturhäuser ebenso wie Badeanstalten und Sportanlagen - wird eine eigene Rubrik gewidmet, und die örtlichen NSDAP-Repräsentanten erhalten den Status von Fremdenbüros, da in ihnen sich Informationen über diese deutschen Einrichtungen erhalten lassen.

IV.

Das »gespaltene Bewußtsein«

Dieser Baedeker ist das Dokument der politischen Funktionalisierung einer traditionsreichen Gattung. Zugleich demonstriert er eindringlich eine Eigenheit nationalsozialistischer Alltagskultur, die sich gerade in Reiseberichten dieser Zeit durchsetzt. Sie sind Manifestationen dessen, was Hans Dieter Schäfer mit dem Begriff des »gespaltenen Bewußtseins« beschrieben hat. Er bezeichnet die Existenz einer staatsfreien Sphäre im Alltagsleben, die dem vermeintlich totalitären Staat nicht abgezwungen, sondern von diesem geduldet wurde. Carl Schmitt hat in einer kleinen staatstheoretischen Schrift diese Separierung ausdrücklich legitimiert, indem er eine Dreiteilung vornahm zwischen dem Staat mit seinen traditionellen Institutionen, der nationalsozialistischen Bewegung und schließlich dem Volk, wobei er diesem die im »Schutz und Schatten der politischen Entscheidungen wachsende unpolitische Seite« zuschrieb. 80 Diese Theorie entspricht der Wirklichkeit. Das läßt sich able-

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Carl Schmitt, Staat, Bewegung, Volk. Die Dreigliederung der politischen Einheit. Hamburg, 2. Aufl. 1933, S. 12.

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sen an der Tatsache, »wie unbeeindruckt von der völkischen Ideologie sich damals das Denken und Fühlen zeigte«. 8 1 Die Eigenart dieses gespaltenen Bewußtseins besteht darin, daß die staatsfreie Sphäre selbst noch vom Staat, der Partei und ihren Unterorganisationen organisiert werden konnte. Die Vereinnahmung und Weiterentwicklung des Massentourismus im »Dritten Reich« ist eine zentrale Facette dieser Maßnahmen. In der Weimarer Republik haben die Massenreisen bereits einen hohen Stand erreicht, und das »Dritte Reich« setzt diese Entwicklung systematisch fort. Während der NS-Zeit w u r d e j e d e der bekannten Formen des Tourismus unter der Obhut der Partei weiterentwickelt und zugleich funktionalisiert, aber wiederum nicht im Sinne einer bloßen propagandistischen Ideologisierung. Die Beeinflussung des Reisens durch Staat und Partei reicht weit über den unmittelbaren Eingriff hinaus. Auslandsreisen wurden fast unmöglich gemacht, ohne daß sie verboten gewesen wären. Die Devisenbewirtschaftung deren Anfänge schon im Jahre 1931 zu finden sind - ließ Reisen im Eigeninteresse kaum noch zu; in den Reiseberichten finden sich ganz vereinzelt Hinweise darauf, welche enorme Einschränkung des Reisens dies faktisch bedeutete. Umgekehrt wurden allerdings die Reisen von Ausländern, besonders von Briten, nach Deutschland systematisch durch Fremdenverkehrswerbung und gewisse finanzielle Erleichterungen gefördert.82 Die organisierten Fahrten der Hitlerjugend erschwerten auch das private Reisen im Inland, da sie die vorhandene touristische Infrastruktur blockierten. 8 3 Die Organisation und Lenkung des Reisens durch Staat und Partei war also weitreichend. Sie erfaßte nicht nur die K d F Reisen; die Organisation des Reisens reicht von der Förderung der N a herholung auf der Campingfahrt im Wohnwagen bis hin zum Angebot von Überseereisen. 8 4 Auch die Formen der Reisen, die sich überwiegend im Inland b e w e g ten und zum guten Teil noch in der Tradition der J u g e n d b e w e g u n g ste81

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Hans Dieler Schäfer, Das gespaltene Bewußtsein. Über die Lebenswirklichkeil in Deutschland 1933-1945, in: ders., Das gespaltene Bewußtsein. Über deutsche Kultur und Lebenswirklichkeit 1933-1945. München/Wien. 2. Aufl. 1981. S. 114-163; hier S. 114. Vgl. Angela Schwarz. Die Reise ins Dritte Reich Britische Augenzeugen im nationalsozialistischen Deutschland (1933-1939), Göttingen/Zürich 1993. S. 78-80; S. 91-94. Hier wie andernorts beziehe ich mich im Sinne der »oral history« auf Hinweise von Herrn Rudolf Ziegler, Köln. Vgl. Schäfer, Das gespaltene Bewußtsein (wie Anm. 81), S. 121-123.

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hen dürften, haben wohl eine Flut noch völlig unerforschter Reiseberichte hervorgebracht. Wanderfahrten mit Zelt und Fahrrad oder d e m jugendbewegung-typischen Faltboot sind bevorzugte Gegenstände dieser Berichte. Der spätere Kriegsberichterstatter Lothar-Günther B u c h heim schreibt über eine solche Wanderfahrt sein erstes Buch: 1941 er-

scheint sein Bericht Tage und Nächte steigen aus dem Strom. Eine Donaufahrt. Buchheim schildert seine Faltbootfahrt von 1939 auf der D o n a u von Passau bis zum Schwarzen Meer. E r gibt eine Mischung aus Erlebnisbericht, impressionistischen Naturschilderungen und Darstellung der fremden Völker, Städte und vor allem Landschaften, denen er begegnet. Die politische Dimension ist radikal ausgeklammert. 8 5 Im K e r n handelt es sich j e d o c h um einen Bericht, dessen politische Abstinenz fast wieder programmatisch zu verstehen ist. Der V o r w o r t a u t o r der N e u ausgabe m a g recht haben, wenn er darauf verweist, daß eine solche radikal individualisierte Reise im Zeitalter der »Massen-Reichsparteitage und der Kraft-durch-Freude-Reisen« 8 6 durchaus Protestcharakter gehabt haben kann. In der Tat demonstriert der Reisende Buchheim ein Selbstverständnis, das jeder Kollektivierung und Einbindung in eine O r g a nisation widerspricht; er stellt sich selbst vor als »Träumer«, » D e s p e rado« sowie »Guckindieluft und Tagausbeuter«. 8 7 N u r ganz vereinzelt finden sich aus gegebenem Anlaß - vor allem bei der B e g e g n u n g mit »Auslandsdeutschen« - vage historische oder aktuelle politische Reminiszenzen; am deutlichsten bei dem Aufenthalt in einem rumänischen Staatsjugendlager, das nach der Erklärung seines Leiters auch eine »vormilitärische Ausbildung« enthält, »die mit Arbeitsdienst verquickt ist. I m p o r t é d'Allemagne!« 8 8 Aber auch hier läßt Buchheim nur seinen G e währsmann sprechen und nimmt dessen Erklärung unkommentiert hin. Sein P r o g r a m m ist ein anderes als ein politisches: »Liebe, Sehnsucht, Fernweh« 8 9 sind seine treibenden Impulse - und er erinnert damit etwas

an Alfred Anderschs späteren Roman Sansibar oder der letzte Grund, der als einer der ersten R o m a n e der jungen Bundesrepublik die Erfah-

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Diesen Überlegungen liegt die Neuausgabe des Buches von 1979 zugrunde; ein Vergleich mit der Erstausgabe konnte nicht vorgenommen werden. Georg Lentz, Vorwort, in: Lothar-Günther Buchheim, Tage und Nächte steigen aus dein Strom. Eine Donaufalirt, Mimchen/Wien 1979, S. 5 f ; hier S. 5. Das Buch erschien erstmals 1941 im Berliner S. Fischer Verlag. Buchheim. Tage und Nächte steigen aus dem Strom (wie Antn. 86), S. 19. Ebd.. S. 193. Ebd., S. 91.

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rung des Nationalsozialismus aufgriff und die Abenteuerlust des »Jungen« als Gegenbild zur Partei- und Staatsorganisation entwickelte. 90 Auch die KdF-Reisen haben ihre eigene Reiseliteratur hervorgebracht. 1942 erscheint in zweiter Auflage ein Reisebericht von Hans Biallas: Der Sonne entgegen91 - ein fingierter Bericht über eine KdFFahrt, der diese Form des Tourismus ausdrücklich in die Tradition einer Karl-May-Exotik stellt. Der Verlust des Abenteuers, der durch den Massentourismus eingeleitet wurde, wird auf diese Weise wieder literarisch rückgängig gemacht. Bei diesem gut mit Photos ausgestatteten Buch ist der Propagandahintergrund völlig unverkennbar. 92 Es schildert nicht nur die Reise selbst, sondern auch die Vor- und Nachbereitung, die ganz im Sinne der Volksgemeinschaftsideologie stilisiert wird. Die Reisenden erscheinen als Abgesandte ihres Betriebes, nicht - wie es faktisch bei den ohnehin sehr seltenen Fernreisen der KdF-Flotte der Fall war als privilegierte Parteigenossen. Die billige Fernreise wird als UrlaubsPerspektive für jeden propagiert; mit dieser Aussicht endet der Bericht. Das gespaltene Bewußtsein reicht auch in die Texte selbst hinein. Dies macht es möglich, daß offensichtlich bis in die Kriegsjahre Reiseberichte erscheinen konnten, in denen die nationalsozialistische Ideologie zwar Spuren hinterlassen hat, ohne aber die Texte - und ihre Autoren - zu beherrschen. Am deutlichsten läßt sich dies in den Reiseberichten jener Autoren zeigen, deren schriftstellerische Karriere am Ende der Weimarer Republik begonnen hatte und die unter der Selbstbezeichnung der »Jungen Generation« das vage Bewußtsein einer Gruppenzugehörigkeit artikulierten. Sie haben literarische Werke hervorgebracht, die sich wohl als »nichtnationalsozialistisch« qualifizieren lassen, 93 die aber dennoch nicht immer frei waren von Affinitäten zum Nationalsozialismus oder zum italienischen Faschismus.

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Vgl. Alfred Andcrsch, Sansibar oder der letzte Grund, Zürich 1970 (zuerst 1957), S. 76f. Hans Biallas. Der Sonne entgegen. Deutsche Arbeiter fahren nach Madeira, Italien, Afrika und Griechenland. Mit 25 Bildern im Text [Zeichnungen] und 48 Tiefdrucktafeln [Photos], Berlin, 2.. veränd. u. erg. Aufl 1940. Vgl. dazu auch Cliup Friemen. Das Amt »Schönheit der Arbeit« Ein Beispiel zur Verwendung des Ästhetischen in der Produktionssphäre, in: Das Argument 14 (1972), S. 258-275; hier S. 272. Hans Dieter Schäfer, Die niclitiiationalsozialistische Literatur der jungen Generation im Dritten Reich, in: ders., Das gespaltene Bewußtsein (wie Anm. 81), S. 7-54; zum Gruppencharakter vgl. S. lOf.

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Diese junge Generation hat ihr Selbstverständnis wesentlich im Medium der Reiseliteratur artikuliert. 94 Ihr besonderes Interesse galt dabei dem Reiseziel Italien. Diese Wahl ist nicht zufällig. Zum einen war Italien ein klassisches Reiseziel des deutschen Bildungsbürgertums, das die Begegnung mit dem Antike erlaubte. In diesem Sinne wird es von den Reisenden erfahren und beschrieben; zugleich aber bietet es auch die Möglichkeit, vage Sympathien mit der autoritären Staatsform des italienischen Faschismus zu formulieren, ohne sich gleich auf die Seite eines barbarischen und diktatorischen deutschen Nationalsozialismus zu schlagen. Diese Möglichkeit wird von verschiedenen Autoren genutzt; der bekannteste unter ihnen ist Gustav René Hocke mit seinem Reisebuch Das verschwundene Gesicht, das nach dem Krieg in einer überarbeiteten Fassung noch einige Popularität genoß. 95 Auch Alfons Paquet hat dem »gespaltenen Bewußtsein« seinen Tribut zollen müssen. Sein berühmter Reisebericht Städte, Landschaften und ewige Bewegung weist in der zweiten Fassung von 1934 Streichungen auf, die sich als prophylaktische Vorsichtsmaßnahmen deuten lassen: Paquet verzichtet etwa auf die Passagen, die von Genezareth und Jerusalem, von Genf als der »Stadt des Völkerbundes« oder von London berichteten. Eine andere Version des »gespaltenen Bewußtseins« findet sich in der reiseliterarischen Verarbeitung des Amerikanismus, der sowohl in der Weimarer Republik wie im »Dritten Reich« eine besondere kulturelle und politische Bedeutung gehabt hat. Der Amerikanismus der Weimarer Kultur wird im »Dritten Reich« nicht einfach verdrängt; im Alltagsleben wie auch in der offiziellen Propaganda-Politik spielt er nach wie vor eine besondere Rolle. Er hat auch im »Dritten Reich« eine Form der Weiterexistenz finden können. Die modernen Lebensformen der amerikanischen Gesellschaft finden nicht nur in ihrer kulturellen Ausprägung, als Jazz und Coca Cola, weiterhin Verbreitung, sondern auch in Amerika entwickelte Formen der Gestaltung der materiellen Lebensformen in der industriellen Produktion wie im Alltag werden in Deutschland übernommen. 96

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Vgl. Graf, » D i e notwendige Reise« (wie Anm. 58), S. 42f. Vgl. ebd., S. 282-286. Vgl. Schäfer, Das gespaltene Bewußtsein (wie Anm. 81), S. 127-137; sowie Hans Dieter Schäfer, Anierikanismus im Dritten Reich, in: Nationalsozialismus und Modernisierung, hg. v. Michael Prinz/Rainer Zitelmann, Darmstadt 1991, S. 199-215.

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Ein Modell des »gespaltenen Bewußtseins« in der Reiseliteratur des »Dritten Reiches« stellt Α. E. Johanns Das Land ohne Herz dar, 1942 erstmals erschienen, nach Ausweis der Titelei bereits im Jahr darauf im 51.-126. Tausend; die Gesamtauflage soll eine halbe Million betragen haben. Johann war zu dieser Zeit bereits ein bekannter und erfolgreicher Reiseautor, dessen Amerika-Bücher schon in der Weimarer Republik einigen Erfolg gehabt haben - er beklagt sich darüber, daß sein 1932 erschienenes Buch Amerika, Untergang am Überfluß nur in zehntausend Exemplaren verkauft worden sei. 97 Sein Land ohne Herz ist der Form nach kein klassischer Reisebericht. Ihm liegen mehrere Reisen des Autors zugrunde, worauf er immer wieder ausdrücklich Bezug nimmt; zudem ist das Buch nicht linear konzipiert, sondern stellt in sechs Episoden charakteristische Erscheinungsformen des modernen Amerika dar. Schließlich sucht es die Nähe zur Wissenschaft: Die einzelnen Kapitel sind bemüht, die Erlebnisse, Eindrücke und vor allem Urteile des Autors durch statistisches Zahlenmaterial - überwiegend aus amerikanischen Quellen - und mit Quellenangaben abzusichern. Auch stilistisch handelt es sich um eine Mischform. Elemente des klassischen Reiseberichts verbinden sich mit denen der Abenteuererzählung - auf den Einfluß Jack Londons wurde zu Recht hingewiesen 98 - , und ganz deutlich ist der Einfluß von Kischs sozialkritischer Reportagetechnik. Ob das Buch trotz seiner enormen Auflage, die ohne das Wohlwollen der Partei und ohne ihre Förderung sicher nicht zu erreichen war, 99 als bloßer Ausdruck antiamerikanischer NS-Ideologie und sein Autor als »leidenschaftlicher Amerika-Hasser« zu betrachten sind, bleibt indes fraglich. 100 Gewiß besteht es zum großen Teil aus Klischees - genauer: 97

A(lfred) E. Johann [d. i. A. E. W o ü s c h l ä g e r ] , D a s Land o h n e Herz. E i n e R e i s e ins unbekannte Amerika. Berlin. 2. Aufl. 1943, S. 30.

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V g l . Ulrich Ott. A m e r i k a ist anders. Studien z u m A m e r i k a - B i l d in d e u t s c h e n Reiseberichten des 20. Jahrhunderts. Frankfurt a M . / B e r n / N e w York/Paris 1 9 9 1 . S. 2 6 5 . Barbian zitiert aus Archivmaterialien ein Rundschreiben Martin B o r m a n n s , des Leiters der Parteikanzlei, der die Lektüre des B u c h e s w e g e n seiner a n t i - a m e r i k a n i s c h e n T e n d e n z empfiehlt. Vgl. Barbian. Literaturpolitik im »Dritten R e i c h « ( w i e A n m . 5 3 ) . S. 3 3 0 . - D a ß es sich in der Tat u m ein B u c h handelte, d a s mit e i n e m o f f i z i e l l e n W o h l w o l l e n der Partei rechnen konnte, m a g a u c h daraus herv o r g e h e n , daß das hier benutzte E x e m p l a r e i n e n Einkleber des » G a u l e i t e r s « des G a u e s Bayreuth enthält: »Mit d e n besten W ü n s c h e n zu W e i h n a c h t e n u n d für e i n s i e g r e i c h e s K a m p f j a h r 1944 in kameradschaftlicher Verbundenheit. Heil Hitler!«

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Ott. A m e r i k a ist anders (wie A n m . 98). S. 2 5 7

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aus Stereotypen und Autostereotypen, die nicht einfach bloße Verzerrungen der Wirklichkeit darstellen, sondern selbst wirklichkeitsprägende und -abbildende Kraft haben und somit durchaus dem Erfahrungshaushalt des Amerika-Reisenden Wollschläger entstammen können. Die Herkunft dieser Klischees ist in jedem Fall leicht identifizierbar: Die deutsche amerikafreundliche wie amerikakritische Tradition seit der Romantik ist unverkennbar präsent. 101 Dazu gehört der Favorisierung des alten Südens mit seiner »Kavalierskultur« ebenso wie die Perhorreszierung des Yankee-Nordens; und dazu gehören auch die Modernisierungs- und Urbanisierungskritik und die Elogen auf den alten Westen mit seiner großartigen Natur und der heroischen Bevölkerung. Dominierend wird aber eine Kapitalismuskritik, die in dieser Form neueren Ursprungs ist. Gewiß ist die Kritik des amerikanischen Materialismus und Kapitalismus ein Topos der deutschen Amerikarezeption seit dem 19. Jahrhundert. Die Zuspitzung, die sie bei Johann erfährt, verdankt sich aber erst den Erfahrungen der späten dreißiger Jahre, und sie ist keineswegs Eigentum der Nationalsozialisten. Ihre Ursprünge liegen in Amerika selbst, dessen Sozialtheoretiker und Literaten schon zu Beginn des Jahrhunderts das »andere Amerika« beschrieben. 102 Johann nimmt deutliche Anleihen aus dieser selbstkritischen Tradition auf, insbesondere bei John Steinbecks Grapes of Wrath von 1939. 103 Die Nähe zur kommunistischen Kapitalismuskritik ist deutlicher als zu der des Nationalsozialismus - bis hin zu einer vorsichtig bekundeten Sympathie für die organisierten Streikenden. 104 Die Herrschaft des Kapitals, die bis in die Einöde Alaskas reicht, ist das Leitthema der sozialkritischen Ausführungen Johanns; und daß dieses Thema durch Stilisierung der Darstellung und eine oft konstruierte Erzählhandlung forciert wird, ist auch unübersehbar. Das berechtigt indes nicht zu der Behauptung, es handele sich bei diesem Werk »unstreitig um ein doktrinär verzerrtes mirage, ein ideologisches Konstrukt also, dessen Korrespondenzen zum

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Vgl. Peter J. Brenner, Reisen in die »Neue Welt«. Die Erfahrung Nordamerikas in deutschen Reise- und Auswandererberichten des 19. Jahrhunderts, Tübingen 1991, bes. S. 257-275. Vgl. Robert Hunter, Poverty, New York/London 1904; die Formel vom »anderen Amerika« stammt von Michael Harrington, The Other Amerika. Poverty in the United States, New York 1962. Vgl. Ott, Amerika ist anders (wie Anni. 98), S. 258; S. 266f. Johann, Das Land ohne Herz (wie Anm. 97), S. 165.

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offiziell propagierten Amerika-Schreckbild auf der Hand liegen.« 105 Um Verzerrungen oder zumindest Überspitzungen mag es sich handeln; um ein ideologisches Konstrukt im Sinne der NS-Ideologie handelt es sich nicht. Daß diese Form sozialkritischer Beschreibung für die antiamerikanische Propaganda nutzbar zu machen war, steht außer Frage. Tatsächlich fehlen dem Text aber alle wesentlichen spezifischen Merkmale der NS-Ideologie. Insbesondere dessen drei Säulen des Rassismus, Antisemitismus 106 und Antikommunismus haben kaum Spuren hinterlassen; der nationalsozialistische Führerkult spielt überhaupt keine Rolle. In seiner Schilderung der Südstaaten-Schwarzen, mit der das Buch einsetzt, bedient Johann sich klassischer patriarchalisch-romantischer Klischees des 19. Jahrhunderts, denen gewiß ein Rassismus zugrundeliegt. Aber es handelt sich hier um den paternalistischen Rassismus des 19. Jahrhunderts und nicht um den Ausrottungs-Rassismus der NSIdeologie. Die unverhohlene Sympathie fur die Schwarzen steht im direkten Widerspruch zur NS-Ideologie: »Ich bekam eine große Lehre für mein ganzes weiteres Reisen und Betrachten mit: von der bewundernswerten passiven Unüberwindlichkeit der schwarzen Rasse. Paul und Rebekka, Joe und Washington, Petrus und Booker - sie lebten am untersten Rand des Menschseins dahin, wo er am ausgefranstesten ist, aber sie waren Menschen geblieben, hatten, besonders die Alten unter ihnen, eine einfältige, schöne Würde bewahrt«. 107 Johanns Reisebericht ist nicht durchtränkt und nicht durchzogen von nationalsozialistischer Ideologie; er verwendet nicht einmal ihre Begrifflichkeit. Mit seinem Land ohne Herz setzt Johann seine Amerikaberichterstattung fort, die er in der Weimarer Republik begonnen hatte. Es handelt sich dabei in der Tat weitgehend um eine bloße Fortsetzung, die freilich durch die Akzente, die Johann in dem Buch von 1942 setzt, die Eigenarten des Reiseberichts im »Dritten Reich« besonders klar erkennen läßt. Sein Reisebericht Mil zwanzig Dollar in den wilden Westen von 1928 trägt alle Züge des feuilletonistischen Reiseberichts seiner Zeit.' 0 8 Er behandelt vorwiegend die Reiseerlebnisse des Autors in Ka105 106

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Ott. Amerika ist anders (wie Anm. 98). S. 273. An zwei Stellen wird beiläufig auf antisemitische Ressentiments Bezug genommen; S. 70 ist von den »Filmjuden« in Hollywood die Rede: S. 254 von einer der »jüdischen« Großfinnen, die die Existenz der Einzelunternelimer untergraben Johann, Das Land ohne Herz (wie Anm. 97). S. 177. Α. E. Johann. Mit zwanzig Dollar in den w ilden Westen. Schicksale aus Urwald. Busch und Stadt. Berlin 1928.

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nada, deren Schilderung an der Tradition des Abenteuerromans orientiert ist. Mit der formalen Gestaltung hat sich Johann, auch hierin den Konventionen des feuilletonistischen Reiseberichts seiner Zeit folgend, keine besondere M ü h e gegeben. Der Text ist episodisch angelegt, auch tagebuchähnlich datiert - er behandelt die Zeit vom 1.4.1924 bis z u m 1.4.1928 - und mit einer größeren Anzahl von P h o t o s versehen. Dieser frühere Text enthält, anders als der von 1942, keine nennenswerten gesellschaftskritischen Impulse. Die Schwierigkeiten des a m e rikanischen Arbeitslebens, besonders die Arbeitslosigkeit, w e r d e n nicht sozialkritisch ausgewertet, sondern der Abenteuerperspektive des Aut o r s untergeordnet. Auch andere Begebenheiten, die Anlaß zur politischen Reflexion hätten geben können, werden konsequent mißachtet. Johann schildert in seinem Bericht über die kanadischen Flüchtlinge v o r dem Wehrdienst die späten Auswirkungen des Ersten Weltkriegs auf das kanadische Leben in der Wildnis, ohne weiter reflektierend darauf einzugehen; ähnlich erzählt er von der deutschen Familie, die v o r der russischen Revolution geflohen ist. 109 Sein Interesse gilt den eigenen Erlebnissen, denen gerne eine komische, wenn nicht skurrile Seite a b g e w o n nen wird, etwa in der Erzählung über seine Tätigkeit als Philosophielehrer in der amerikanischen Wildnis, mit der er sich seinen Lebensunterhalt verdiente 1 1 0 - die Episode kehrt, in einer etwas anderen, stärker stilisierten Variante, auch in dem späteren Reisebuch wieder. Johann selbst hat sein Reise- und Erzählprogramm klar bestimmt: »immer auf dem Sprung e nach neuen Erlebnissen, neuen Abenteuern, neuen Menschen«. 1 1 1 D a s Zerstreuungsbedürfnis steht im Vordergrund; es verdrängt die Möglichkeiten zur tiefer angelegten politischen Reflexion, zu der der Stoff reichlich Anlaß hätte geben können. Die Strategie, der Johann bei der Transformation dieses Reisebuchs in einen nationalsozialistischen Reisetext folgt, ist leicht durchschaubar, und sie ist symptomatisch. Die Erfahrungen der vierjährigen Reise in der Weimarer Zeit bilden auch für das spätere Buch das Material, das jetzt j e d o c h mit zeitadäquaten Zusätzen versehen wird. Johann zollt den ideologischen Bedürfnissen des »Dritten Reiches« zunächst dadurch seinen Tribut, daß er sein neues Buch mit einem zum Nationalsozialismus gew o r d e n e n - übrigens recht moderaten - Nationalismus anreichert. M o -

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Vgl. ebd., S. 158-160. Vgl. ebd., S. 58-67. Ebd., S. 84.

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derat ist der Nationalismus, weil Johann seine »europäische Menschlichkeit« hervorhebt und sich nicht etwa zum zeittypischen »deutschen« Menschentum bekennt. 112 Dennoch zeigt sein Nationalismus in einem spezifischen Bereich eine ostentativ nationalsozialistische Färbung. Den von Johann beschriebenen Destabilisierungserscheinungen Amerikas wird eine deutsche soziale Wirklichkeit gegenübergestellt, die von den Nationalsozialisten geordnet und auf sichere Füße gestellt wurde. Den Deutschen geht es im »Dritten Reich« besser als den Amerikanern - das ist das eine politische Thema des Buches; und das andere ist die Klage über die vermeintliche Verleumdung, denen die sozialen Leistungen des »Dritten Reiches« in Amerika ausgesetzt seien: »denn der Nationalsozialismus, dem man schon damals, und gar nicht nur im stillen, die Pest an den Hals wünschte, hatte im Gegensatz zum stolzen, >reichen< Amerika erstaunlichen Erfolg.« 1 1 3 In dem Buch findet sich etwa ein Dutzend Deklamationen dieser Art, in der Regel im Umfang von ein bis zwei Seiten. Charakteristisch ist, daß sie fast alle präzise abgrenzbar sind; zum großen Teil werden sie auch graphisch durch Absätze ausdrücklich vom laufenden Erzähltext abgehoben. Genau das ist das Syndrom des »gespaltenen Bewußtseins«, das in dieser Form in die Reiseliteratur eindringt: Es ist gekennzeichnet durch das Nebeneinander von nationalsozialistischer Ideologie und Lebenswelt, wie es auch die Alltagswirklichkeit im »Dritten Reich« kennzeichnete.

V.

Modernisierung des Reisens: Frauen im Flugzeug

Eine der großen Streitfragen in der Einordnung des »Dritten Reiches«, die gerade in neuester Zeit wieder aufgebrochen ist, ist die Frage nach seiner Modernität. Auf eine unglückliche Weise ist sie mit dem Problem der »Singularität« der Verbrechen des »Dritten Reiches«, seiner Kriegs-

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Johann, Das Land ohne Herz (wie Anm. 97), S. 181. Ebd.. S. 64. Ähnliche Passagen, die auf die nationalsozialistische Lebenswirkliclikeit positiv Bezug nehmen, finden sich S. 4; S. 56-59; S. 63-65; S. 122-124. Kurioserweise werden diese Manifestationen nationalsozialistischer Propaganda von Ott, Amerika ist anders (w ie Anni. 98). ignoriert

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entfesselung und seinem Völkermord, verbunden worden. 1 1 4 Tatsächlich ist jedoch die Einsicht, daß sich »Modernisierung auch in einem diktatorischen System vollziehen kann«, 115 weder neu noch das Eigentum einer »Neuen Rechten«; ebensowenig wie die Erkenntnis, daß industrielle und technische Modernisierung historisch nicht notwendig mit Demokratisierung einherging. 116 Das gilt auch fiir das »Dritte Reich«, wie längst schon festgestellt wurde. Hinter der Fassade einer archaisierenden und mythisierenden Ideologie hat sich ein Staat verborgen, der sich modernster Herrschaftstechniken bediente und dessen Gesellschaft in jeder Hinsicht eine der am weitesten entwickelten in Europa war. Dieser Befund gehört zu den Grundeinsichten schon der frühesten Faschismus- und Nationalsozialismusforschung. Ernst Cassirer hat in seinem Mythus des Staates die modernistisch-technische Fundierung des »Dritten Reiches« von seiner archaisierenden Fassade abgehoben; 117 und fast gleichzeitig arbeiteten Horkheimer und Adorno auf anderen theoretischen Wegen diese Einsicht in ihrer Dialektik der Auflclärung aus. Horkheimer hat die prägnanteste Formel dafür gefunden: »Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen«. 118 Die »Modernisierung« des Reisens prägt auch die Reisekultur im »Dritten Reich« und die daraus hervorgehenden Reiseberichte. Bereits der KdF-Tourismus steht einerseits zwar im Zeichen einer leicht archaisierenden Volksgemeinschaftsideologie, die jedoch nicht verdecken kann, daß der staatlich geförderte Massentourismus nur eine konsequente Fortführung des modernisierten organisierten Reisens ist, wie es sich in der Weimarer Republik herausgebildet hat. 119 Eine andere Variante 114

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Vgl. die Beiträge in: »Historikerstreit«. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, München/Zürich, 3. Aufl. 1987. Rainer Zitelmann, Die totalitäre Seite der Moderne, in: Nationalsozialismus und Modernisierung (wie Anm. 96), S. 1-20; hier S. 9. Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Modernisierungstheorie und Geschichte, Göttingen 1975, S. 29f. Vgl. Ernst Cassirer, Der Mythus des Staates. Philosophische Grundlagen politischen Verhaltens; Züricli/München, 2. Aufl. 1978 (zuerst amerik. 1946), S. 360-376. Max Horkheimer, Die Juden und Europa, in: Zeitschrift fiir Sozialforschung 8 (1939/40), S. 115-137; hier S. 115. Vgl. Christine Keitz, Die Anfänge des modernen Massentourismus in der Weimarer Republik, in: Archiv fiir Sozialgeschichte 33 (1993), S. 179-209; bes. S. 208f.

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der Modernisierung realisieren jene Reisen, die sich technisch avancierter Beförderungsmittel bedienen. Dieser Aspekt wird in der Reiseliteratur des ersten Jahrhundertdrittels nur zögernd thematisiert. Obwohl sich in den Jahrzehnten nach der Jahrhundertwende eine Revolution in der Reisetechnik vollzogen hat, bleiben die in den Reiseberichten beschriebenen Verkehrsmittel weitgehend traditionell, und wo sie modern sind, wird dies kaum weiter gewürdigt. Otto Julius Bierbaums Bericht über seine Empfindsame Reise im Automobil120 ist eine frühe Ausnahme, der kuriose Titel mit seinem Anklang an Sterne zeigt die Schwierigkeiten, dem Publikum ein modernes Verkehrsmittel nahezubringen. In der Weimarer Republik häufen sich dann jedoch die Titel, welche die Modernität des Verkehrsmittels ausdrücklich hervorheben, wobei im wesentlichen das Auto im Vordergrund stand 121 Die literarische Gestaltung moderner und hypermoderner Verkehrsmittel wird im »Dritten Reich« dann in der Science-Fiction-Literatur übersteigert. Der bereits in der Weimarer Republik erfolgreiche Autor von »Zukunftsromanen« Hans Dominik, dessen Werk auch nach seinem Tod 1945 populär blieb, hat Pionierdienste geleistet. In seinem 1939 erstmals erschienenen Roman Land aus Erde und Feuer beschreibt er ein Stratosphärenflugzeug, das zu Forschungs- und Kolonisationszwecken im Wettlauf mit den USA eingesetzt wird. Auch dieses höchst erfolgreiche Buch - 1944 erschien das 252. Tausend - kommt zwar nicht ohne chauvinistischen Nationalismus, wohl aber ohne Nationalsozialismus aus. Der einzige Anklang an die nationalsozialistische Ideologie läßt sich in einem Verweis auf die von Himmler und Hitler protegierte skurrile »Welteislehre« Hanns Hörbigers finden, die in dem Roman jedoch bemerkenswert abschätzig behandelt wird. 122 Nur zögernd setzen sich dagegen authentische Reiseberichte durch, die über Reisen mit dem Flugzeug als dem modernsten Verkehrsmittel der Zeit berichten. Saint-Exupérys Flugberichte Courrier Sud von 1928 und vor allem Vol de nuit von 1931, die dem Autor internationalen Ruhm eingebracht hatten, dienten vielleicht als bahnbrechende Vorbilder. Die Faszination des Flugzeugs hat sich auch in Reiseberichten nie120

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Otto Julius Bierbaum, Eine empfindsame Reise im Automobil von Berlin nach Sorrent u n d zurück an den Rhein in Briefen an Freunde geschildert, Berlin 1903. Vgl. Schütz, Autobiographien und Reiseliteratur (wie A n m . 25), S. 57üf. Vgl. Hans Dominik, Land aus Wasser und Feuer. Leipzig 1944 (zuerst 1939), S. 45f.

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dergeschlagen; einer der populärsten Texte dieser Art war Hans Bertrams Flug in die Hölle,123 der über seine Notlandung 1932 in Australien und seinen fast zweimonatigen Aufenthalt im Busch berichtet. Abenteuerberichte dieser Art wurden im »Dritten Reich« gezielt durch billige Volksausgaben gefördert. Manfred von Richthofens Der rote Kampfflieger^1"1 und der autobiographische Bericht des späteren Generalluftzeugmeisters Ernst Udet, Mein Fliegerleben,125 verweisen auf die Möglichkeit der direkten Funktionalisierung dieser Literatur. Die Berichte dieser beiden Fliegeridole aus dem Ersten Weltkrieg zeigen die Verzahnung von Abenteuer, Technik und Militarismus unter Vermeidung einer unmittelbaren Ideologisierung. Im »Dritten Reich« sind einige Berichte über Flugreisen erschienen. Bereits 1935 legt Alfons Paquet sein Buch Fluggast über Europa vor, das eine gewisse Außenseiterstellung einnimmt. 126 Paquet fliegt von Frankfurt aus die großen europäischen Städte von Stockholm bis Rom an und teilt seine Impressionen mit. Für die technische Komponente seines Verkehrmittels interessiert er sich nicht besonders. Aber immerhin finden sich gelegentlich grundsätzliche Reflexionen über die Eigenarten des Reisens im technischen Zeitalter, in der der Tourismus eine »ganz große Industrie geworden ist«. 127 Sein Interesse gilt der Ästhetik der »Flugmalerei«, die im Anschluß an den italienischen Futurismus diskutiert wird. 128 Das Fliegen eröffnet jedenfalls eine neue Weltsicht; nicht nur in der banalen Hinsicht, daß es eine neue optische Perspektive eröffnet. Paquet sieht mit ihm vielmehr einen grundlegenden Erfahrungswandel einhergehen: alles »Neue ist mit dem Fliegen verbunden. Alle Dinge, die mit dem Fliegen zu tun haben, erscheinen frisch und heiter.« 129 Sehr viel handfester sind die Flugreiseberichte von zwei Frauen angelegt. Inge Stöltings Eine Frau fliegt mit von 1939 und Elisabeth Schuchts Eine Frau fliegt nach Fernost von 1942 variieren das Thema des Fliegens auf je charakteristische Weise. Gemeinsam ist den Texten, m

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Hans Bertram, Flug in die Hölle. Bericht von der »Bertram-Atlantis-Expedition«, Berlin 1933. Manfred von Richthofen, Der rote Kampfflieger, Berlin/Wien 1917; Neuauflage mit einem Vorwort von Generalfeldmarschall Hermann Göring, Berlin 1933. Ernst Udet, Mein Flicgerleben, Berlin 1935. Vgl. Alfons Paquet, Fluggast über Europa. Ein Roman der langen Strecken, München 1935. Ebd., S. 27. Vgl. ebd., S. 251-259. Ebd., S. 92.

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daß es sich um die Beschreibung von Frauenreisen handelt. D a ß Frauen fliegen, ist im »Dritten Reich« nicht ungewöhnlich; es sieht vielmehr fast so aus, als ob dieser Aspekt zu Propagandazwecken gerne hervorgehoben worden ist. Die Testpilotin Hanna Reitsch und die Sportfliegerin Elly Beinhorn genossen großes Ansehen beim Publikum, das propagandistisch genutzt wurde. Nachdem der Erste Weltkrieg, den Zwängen der Kriegswirtschaft gehorchend, bereits eine weitgehende

Emanzipation

der Frauen in der traditionellen Männerwelt von B e r u f und Technik g e bracht hatte, 1 3 0 diente wohl die publikumswirksame Kombination von Frau und Flugzeug im »Dritten Reich« einer Mobilmachung der Frauen. Auch hier ist wieder die Kollision von offizieller NS-Ideologie, die der Frau einen Platz als Mutter und Hausfrau zuwies, mit den Erfordernissen einer modernen Wirtschaft zu beobachten. In den Berichten von Stölting und Schucht wird die Besonderheit der »Frauenreisen« nicht sehr stark hervorgehoben, aber doch thematisiert. Inge Stölting verweist ausdrücklich darauf, daß sie einen modernen Frauentypus repräsentiert, der auf eigenen Beinen um Berufsleben steht. Sie kontrastiert ihr Selbstverständnis mit der zurückgebliebenen Auffassung der südamerikanischen Estancieros, denen sie auf der Flugreise begegnet: Nicht das Flugzeug, aber »etwas anderes versetzte sie in maßloses Erstaunen: daß ich, eine Frau, in der Welt herumflog, photographierte, schrieb und damit mein B r o t verdiente. Das fanden

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höchst unbegreiflich und gar nicht in der Ordnung. Ich könnte es doch viel leichter haben - und warum ich denn nicht heiratete - und ob ich nicht doch nur zum Spaß durch die Welt reiste?« 1 3 1 A u f eine ähnliche Weise spricht Elisabeth Schucht, auch sie eine reisende Journalistin, das Thema beiläufig, aber berufsstolz an: »Wenn ich nach Deutschland zurückkomme, werde ich etwa 4 0 0 0 0 Kilometer geflogen

sein. D e r Kapitän sagt mir, daß ich die einzige Frau bin, die bis-

her beide Strecken von Amsterdam nach Bali hin- und zurückflog; dazu kommt noch mein Flug nach Hongkong.« 1 3 2 Mit dieser Bemerkung reiht sich Elisabeth Schucht in eine Tradition der Frauenreiseliteratur ein, in

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Vgl. Ute Frevert, Frauen-Geschichte. Zwischen Bürgerlicher Verbesserung und Neuer Weiblichkeit, Frankfurt a. M. 1986. S. 146-163. Inge Stölting. E i n e Frau fliegt m i t . . . 3 0 Kapitel und 4 9 Photos von e i n e m 4 4 0 0 0 - k m - F l u g über Urwald. Wüste, Kordillcrc, Oldenburg i. O . / B e r l i n 1939, S. 57. Elisabeth Schucht, Eine Frau fliegt nach Fernost. Mit 8 0 Bildtafeln. M ü n c h e n 1942 ( 1 . - 2 0 0 0 0 ) , S. 205.

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der die B e t o n u n g weiblicher Rekordleistungen seit dem 19. Jahrhundert zu den Topoi gehört, mit denen die Konkurrenzsituation zu den reisenden M ä n n e r n hervorgehoben wird. 1 3 3 Auch die E r w ä h n u n g der zurückgelegten Kilometer in beiden Reiseberichten, die wohl nicht zufällig ungefähr dem E r d u m f a n g entspricht, verweist auf das w e t t b e w e r b s orientierte Leistungsdenken, dem das Reisen hier untergeordnet wird. E s ist freilich nicht frauenspezifisch, sondern ein bekanntes P h ä n o m e n des Reisens in der Weimarer Republik: »Der Bericht des R e k o r d reisenden, eine Variante des klassischen Abenteuerreisenden, zeichnet sich durch Besonderheit des Reisetempos, der Verkehrsmittel oder den Grad der bestandenen Gefahren aus.« 1 3 4 Inge Stölting fliegt als Berichterstatterin und Photographin bei einem Unternehmen mit, das wirtschaftlichen P r o p a g a n d a z w e c k e n dient. D a s Flugzeug, eine einmotorige und viersitzige Messerschmitt »Taifun«, wird mit dem Schiff nach Rio de Janeiro gebracht, es folgt der m e h r e r e W o c h e n dauernde Flug nach Santiago und über die süd- und mittelamerikanische W e s t k ü s t e nach Norden bis Mexiko; abgeschlossen wird die Reise dann mit einem Schnellflug durch die U S A nach N e w York, bei dem an einem Tag, dem 5.7.1937, knapp 4 000 km zurückgelegt werden: »Zwei Kontinente hatten wir überquert. Der eine hatte M o n a t e gefordert. Den anderen hatten wir an einem T a g bezwungen.« 1 3 5 Mit dem Flug der »Taifun« durch Südamerika soll die Leistungsfähigkeit der deutschen Luftfahrtindustrie bewiesen und sollen Geschäftsbeziehungen angebahnt werden. Der Pilot ist »Auslandsrepräsentant der M e s s e r schmitt A G.«, 1 3 6 die Reise hat den »Zweck, ein deutsches Hochleistungsflugzeug zu zeigen«, und sie ist »ein Schritt weiter auf d e m W e g « zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit den südamerikanischen Staaten. 1 3 7 Diesem Ziel sind die einzelnen Stationen der Reise untergeordnet, das zeigen die Flugvorfuhrungen vor Militärs und Diplomaten, denen die

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Vgl. zu dieser »Obsession der Superlative«, die sich sowohl in der Frauenreiseliteratur wie auch in ihrer Erforschung findet, Ulla Siebert, Frauenreiseforschung als Kulturkritik, in: »Und tat das Reisen wählen!« Frauenreisen - Reisefrauen. Dokumentation des interdisziplinären Symposiums zur Frauenreiseforschung, Bremen 21.-24.6.1993, hg. v. Doris Jedamski/Hiltgund Jehle/Ulla Siebert, Zürich/Dortmund 1994, S. 148-173; hier S. 161f. Vgl. Schütz, Autobiographien und Reiseliteratur (wie Anm. 25), S. 571. Stölting, Eine Frau fliegt mit... (wie Αηιη. 131), S. 203. Ebd., S. 14. Ebd.. S. 211.

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Berichterstatterin aber keine besondere Aufmerksamkeit widmet. 1 3 8 E s ist überhaupt schwer zu sagen, was eigentlich den Kern dieses Reiseberichts ausmacht. Stöltings Bericht steht ganz im Zeichen der Faszination durch die Technik; als Motiv ihrer Reise gibt sie im V o r w o r t ihre Verfallenheit an die Fliegerei an. Sie berichtet im wesentlichen über den Flug selbst, der etwas mühsam als Abenteuer stilisiert wird. Aber die wenigen gefährlichen Situationen stehen im Text recht isoliert. Stölting erzählt von einem Bruch des Flugzeugbeines »mitten in der Wüste«, 1 3 9 von ihrer »Angst« beim Flug über den Vulkan Santa Maria und einem Flug durch einen Staubsturm. 1 4 0 Ein mit angstvollen Erwartungen angetretener Andenflug erweist sich als enttäuschend harmlos. Die Technik wird weitgehend der Gefahren Herr; gerade das zu zeigen war schließlich der Sinn dieser Expedition, der freilich mit dem Bedürfnis der Berichterstatterin kollidiert, auch der Abenteuer-Tradition des Reiseberichts ihren Tribut zu zollen. Am aufregendsten ist noch eine abenteuerliche A u t o reise mit zwei undurchsichtigen einheimischen Reisebegleitern, die aber auch im Sande verläuft. 1 4 1 Die andere Tradition des Reiseberichts, die Information über Land und Leute, kommt zu kurz; der Besuch einer Estancia in Argentinien bringt etwas folkloristisches Lokalkolorit. 1 4 2 Dieses Defizit wird von der Verfasserin ausdrücklich thematisiert. Auch hier kollidiert der Reisez w e c k mit den Konventionen der Gattung: »hinter uns drängte j a immer die Zeit«, klagt sie. 143 Im Hintergrund steht die Erfahrung des modernen Reisenden, daß das Reisen nicht mehr individuellen Impulsen folgen kann, sondern geplant werden muß. Das ist auch bei einem Abenteuerflug nicht anders, zumindest dann nicht, wenn er geschäftlichen Z w e k ken dient: »Jedesmal, wenn wir in einer neuen Stadt, einem neuen Land ankamen, hatten wir ein festumrissenes, ziemlich reichhaltiges P r o g r a m m zu erfüllen, das für private Vergnügungen und flir die bei einer solchen Flugleistung doch ab und zu notwendigen Erholungspausen kaum Zeit ließ.« 1 4 4

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Vgl. ebd., S. 54. Ebd., S. 96; auch S. 86. Ebd., S. 185; S. 68. Vgl. ebd., S. 134-148. Vgl. ebd., S. 56-60. Ebd., S. 57. Ebd., S. 81.

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Das weitgehende Verschwinden des Abenteuers, das sich auf wenige Situationen beschränkt und nicht mehr prägendes Moment der ganzen Reise ist, fuhrt zu für den Reisebericht untypischen Ermüdungserscheinungen, die freimütig eingestanden werden: »Wir hatten alle drei nicht mehr viel Sinn für das Neue und Fremde in Mexiko und sahen die Stadt, wie man eben eine fremde Stadt sieht, in der man viel zu tun hat.« 1 4 5 Das Bedauern über diesen Umstand hält sich in Grenzen; als der Reiz des Fliegens sich erschöpft, verliert auch die Reise selbst ihren Reiz. Inge Stölting verleiht der Hoffnung Ausdruck, daß die Reise bald zu Ende sein möge - eine Bemerkung, die fast singular in der Reiseliteratur sein dürfte: »wir waren der ewigen Hotels, des ewigen KofFerpackens und des immer Neuen müde, und in vierzehn Tagen würden wir mit der >Europa< N e w York verlassen.« 146 Über die spezifischen Erfahrungsmöglichkeiten einer Flugreise wird nur am Rande und sehr lapidar reflektiert: »Aber bald merkte ich doch, wie ich allmählich selbst entdekken lernte, wie sich mein Auge auf die neue Sicht einstellte und Nutzen daraus zog.« 1 4 7 Worin dieser Nutzen besteht, wird jedoch nicht weiter dargelegt; daß das Fliegen ganz neue Möglichkeiten der Landschaftswahrnehmung bieten würde, wird von der Verfasserin nur beiläufig angesprochen. 1 4 8 Inge Stölting spricht eher aus der technischen Sicht der Photographin, der sich die Welt in einer neuen Perspektive erschließt, auf die sich der Umgang mit dem Photoapparat einstellen muß. Daß mit dem Fliegen auch eine neue Form der Welterfahrung einhergehen könnte oder müßte, wie es Paquet formuliert hatte, ist nicht ihr Problem. Sie ist ständig auf der Jagd nach Motiven für die Kamera. Dabei läßt sie sich weniger von den spezifischen Möglichkeiten leiten, die die Kombination des Fliegens mit dem technischen Medium der Kamera bietet, sondern eher von dem Reiz, der von den Motiven für das Publikum der Journalistin ausgehen könnte. Auch hier zeigt sich das Nachwirken der »Zerstreuungs«-Tradition der Weimarer Republik. Das Reisebuch von Elisabeth Schucht ist gänzlich anders angelegt. Auch sie reist als Journalistin, aber schon die jeweils beigegebenen Photos der Verfasserinnen verweisen auf das jeweilige Selbstverständnis: Inge Stölting läßt sich im Fliegeroverall abbilden, Elisabeth Schucht

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Ebd., S. 190. Ebd., S. 175. Ebd., S. 133. Vgl. ebd., S. 102.

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hingegen im eleganten Reisekostüm. Der abenteuerlichen Dimension ihrer Flugreise, die mit einem mehrtägigen Flug der holländischen Fluggesellschaft K L M. nach Bangkok beginnt, kann sie wenig abgewinnen, obwohl es auch ihr an gefährlichen Begebenheiten - dazu gehörte eine Notlandung während der Hinreise - nicht fehlt. Sie zeigt hingegen tiefes Interesse für asiatische Kultur und Tradition, aber auch für die aktuellen politischen Verhältnisse in den bereisten Ländern. Ihre Reiseinteressen stehen insoweit denen von Inge Stölting diametral entgegen, und sie ist bemüht, im Rahmen ihrer Möglichkeiten die Kultur der bereisten Länder intensiv zu erleben: »Welchen Zweck würde es haben, sage ich mir, wenn ich, um Flug- und Fahrkarten auszunutzen, mit allzuwenig Geld über alles hinwegflatterte, wie Weltreisende, die alles sehen und nichts begreifen.« 1 4 9 Freilich unterliegt auch ihre Reise den spezifischen Bedingungen modernen Reisens, über die sie sich ebenso Rechenschaft ablegt wie über die Grenzen, die ihren Erfahrungsmöglichkeiten damit gesetzt sind. Mit dem Einwand, daß ihre Reiseform immer nur eine oberflächliche Kenntnisnahme der bereisten Kulturen erlaube, setzt sie sich ausfuhrlich auseinander: »Ich müsse auf Schiffen fahren und in jedem Land einige Jahre bleiben. Theoretisch bin ich seiner Ansicht. Aber da ich nicht im Zeitalter von Marco Polo, Pierre Loti oder Joseph Conrad lebe, sondern ein Kind meiner Zeit und keine unbeschwerte Junggesellin mit unbegrenzter Zeit und mit reichlichen Mitteln bin, sondern Mann und Kinder habe, so kann ich auch mit diesen Erwägungen nichts anfangen.« 1 5 0 Reflexionen dieser Art, die den bürgerlichen Hintergrund des Reisens thematisieren, sind selten in der Reiseliteratur; und es ist sicher kein Zufall, daß sie von einer Frau angestellt werden. Mit diesen Überlegungen trifft sie aber einen Punkt, der, auch wenn er meist verschwiegen wird, einen zentralen Aspekt des modernen Reisens anspricht. Über dem modernen Reisen lastet die Melancholie des Mißlingens. Die Technik des Verkehrs wird immer ausgereifter und erleichtert das Reisen immer weiter; die beruflichen und familiären Bindungen des bürgerlichen Lebens legen den Reisenden aber Verpflichtungen auf, die den Reiseerwartungen entgegenstehen. Das Reisen setzt einen Bruch mit der bürgerlichen Lebensform voraus, zu dem sich nur die wenigsten entschließen können. Es handelt ich hier um eine wenig beachtete Kehrseite des 149 150

Schlicht, Eine Frau fliegt nach Fernost (wie Anm. 132). S 36. Ebd.. S. 201.

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Tourismus. Die moderne Reisekritik beschränkt sich im wesentlichen darauf, den Verlust von Erfahrungsmöglichkeiten zu beklagen, der durch eine touristische Reiseform hervorgerufen wird, welche die Lebensform des eigenen Alltags in die Reise hinein verlängert. 1 5 1 Beide Reiseberichte, so diametral entgegengesetzt sie konzipiert sind, haben ihre Gemeinsamkeit im völligen Ausklammern der aktuellen Politik. V o n nationalsozialistischer Ideologie oder auch nur P r o p a g a n d a f ü r das »Dritte Reich« findet sich bei beiden Autorinnen keine Spur. Inge Stölting zeigt einen ausgeprägten Nationalstolz, der sich aber ausschließlich auf die technischen und unternehmerischen Leistungen D e u t scher in Südamerika richtet und insoweit mit dem eigenen geschäftlichen Reisezweck einhergeht: »Wieder fiel mir die Selbstverständlichkeit auf, mit der immer die Deutschen es sind, die die Pionierarbeit leisten.« 1 5 2 Sie versteht sich als Botschafterin der Zivilisation, nicht als Abgesandte des »Dritten Reiches«. Als sie erstmals, von Mexiko kommend, U S amerikanischen B o d e n betritt, wird sie der lästigen P r o z e d u r der Desinfektion unterzogen, die sie ausdrücklich als eine zivilisatorische E r r u n genschaft würdigt und dem südamerikanischen Fatalismus als einer vorzivilisatorischen Lebenshaltung entgegenstellt: »Dieses tragikomische Intermezzo w a r uns der schlagendste Beweis für die andere, die selbstsorgende Welt, die der Vorsehung nie etwas überläßt und nur mit der eigenen Kraft und Initiative rechnet.« 1 5 3 D a ß das B u c h im »Dritten Reich« entstanden und erschienen ist, geht nur aus dem Titelbild hervor, auf dem das Hakenkreuz am Leitwerk des Flugzeugs zu sehen ist, und aus einem der Photos, das einen merkwürdigen Anblick bietet: E s zeigt die einmotorige Messerschmitt »Taifun« mit dem Hoheitszeichen des »Dritten Reiches«, wie es das Empire-State-Building umkreist. Auch der Reisebericht von Elisabeth Schucht zeigt praktisch keine Spuren seiner Entstehungszeit. Obwohl die Interessen der Autorin sehr viel weiter gespannt sind als die von Inge Stölting und sie lebhafte Anteilnahme an den politischen Vorgängen in Asien zeigt, wird die deutsche und europäische Wirklichkeit weitgehend und wahrscheinlich auch b e w u ß t ausgeklammert. An einer Stelle ist von den Schwierigkeiten die Rede, welche die Devisenbewirtschaftung des »Dritten Reiches« f ü r 151

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Vgl. Hans Magnus Enzensberger, Eine Theorie des Tourismus, in: ders., Einzelheiten I. Bewußtseins-Industrie, Frankfurt a. M. 1964, S. 179-205; hier S. 198f. Stölting, Eine Frau fliegt mit... (wie Anni. 131), S. 109; vgl. auch S. 23. Ebd., S. 196.

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Auslandsreisende mit sich brachte. 154 Den Einmarsch der deutschen Truppen in Prag erwähnt sie nur im Blick auf die eigene Reise-Situation, da sie die Möglichkeit des Eingreifens der Engländer und damit ihrer eigenen Internierung mit sich bringt. 155 Die epochalen politischen Ereignisse in Europa werden auf die private Erfahrungswelt bezogen und reduziert. Sie interessieren Elisabeth Schucht nur insoweit, als sie selbst davon betroffen ist. Entsprechend hält sie einem Reisegefährten sein Unverständnis ihrer Situation entgegen, der »nicht einmal versteht, daß ich im Fall eines Krieges bei den Meinen sein muß.« 1 5 6 Am Ende steht der lapidare Hinweis: »kurz nach meiner Rückkehr brach der Krieg aus«. 1 5 7 Schuchts Buch konnte 1951 - soweit ausführliche Stichprobenvergleiche der beiden Fassungen diese Aussage zulassen - völlig unverändert erscheinen. Es wurde nur ergänzt durch einen Nachtrag von 1949, 158 in dem von den politischen Veränderungen in den bereisten asiatischen Ländern die Rede ist und in dem auf die Lebensbedingungen in den zerstörten deutschen Städten hingewiesen wird.

VI.

Emigration

Die Erfahrung der Emigration in jener gewaltsamen Form, wie sie das »Dritte Reich« den aus politischen und rassistischen Gründen Verfolgten aufgezwungen hat, läßt sich wohl kaum in der Gestalt eines Reiseberichts fassen. Sie ist zu elementar, als daß sie leichterhand als eine Form der Erfahrung des Fremden beschreibbar wäre; und sie ist nur für den begreifbar, der sie gemacht hat. Die abgründigen Differenzen, die sich zwischen jenen auftun, die sie gemacht haben und denen, denen sie erspart blieb, werden sichtbar in der Kontroverse, die nach 1945 um die Rückkehr Thomas Manns gefuhrt wurde. Einen Einblick in diese Diskrepanz der Erfahrungen gewährt ein ebenso beiläufiges wie infames Argument, das Frank Thieß als selbsternannter Repräsentant der »Inne-

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Schucht, Eine Frau fliegt nach Fernost (wie Anm. 132). S. 199; S. 213. Vgl. ebd., S. 273-275. Ebd.. S. 201. Ebd.. S. 346. Vgl. Elisabeth Schucht, Eine Frau fliegt nach Fernost. Mit 80 Aufnahmen der Verfasserin, München, 26.-34. Tausend, 1951, S. 411-413.

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ren Emigration« gegen Thomas Mann anführte. 159 Frank Thieß beschreibt in seinem öffentlichen Brief Thomas Manns Emigration rückblickend mit den Kategorien einer Urlaubsreise und hält ihm die »weichgepolsterte Existenz in Florida« vor. 160 Das ist mehr als nur Polemik. Thieß offenbart das gespaltene Bewußtsein der Deutschen im »Dritten Reich«, das auch in die Nachkriegszeit hineinwirkte. Der ebenso kuriose wie aussagekräftige Lapsus, der Thieß dabei unterlief, läßt das deutlich werden: Die Verwechslung von Florida und Kalifornien hat ihr tertium comparationis in der »Sonne«, die das Leben angenehm macht. Eine ganz ähnliche Strategie der Diffamierung der Emigranten hatte Gottfried Benn schon in seiner berüchtigten Rundfunkrede Antwort an die literarischen Emigranten vom 24.5.1933 vorformuliert: Hier ist von den »französischen Badeorten« die Rede, aus denen Klaus Mann an Benn geschrieben hatte, während sich die Zurückgebliebenen dem Schicksal der Umgestaltung des deutschen Volkes stellten. 161 Anders als diese Form der Polemik, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit durchaus Anklang gefunden hat, weil sie eine bequeme Selbstrechtfertigung der im »Dritten Reich« Gebliebenen erlaubte, haben die Emigranten selbst ihre Emigration in der Regel nicht in der Kategorie des »Reisens« gefaßt - und schon gar nicht in der der Urlaubsreise. Allerdings finden sich Belege dafür, daß Emigranten ihre Vertreibung als Ausdruck eines »positiven« oder »negativen Bildungserlebnisses« be-

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Bekanntlich hat Frank Thieß die Urheberschaft des Begriffs der »Inneren Emigration« für sich reklamiert, ohne den Beweis dafür antreten zu können. Tatsächlich wurde der Begriff wohl erstmals von Thomas Mann in einem Tagebucheintrag verwendet, was aber sowohl ihm selbst wie der Literaturwissenschaft entgangen ist; erst kürzlich hat Peter Michelsen (FAZ vom 2.6.1995) darauf hingewiesen: Thomas Mann benutzt den Begriff anläßlich der Lektüre eines Weltbühne-Heftes in einem Tagebucheintrag vom 7.11.1933: »Gutes über den deutschen Walilschwindel und die innere Emigration, zu der ich im Grunde gehöre.« Thomas Mann, Tagebücher 1933-1934, hg. v. Peter de Mendelssohn, Frankfurt a. M. 1977, S. 243. Zu dem immer noch virulenten Problem vgl. Reinhold Grimm, Im Dickicht der inneren Emigration, in: Horst Denkler/Karl Prümm, Die deutsche Literatur im Dritten Reich. Themen - Traditionen - Wirkungen, Stuttgart 1976, S. 406-426. Eine Neuauflage der Diskussion findet sich bei Denk, Die Zensur der Nachgeborenen (wie Anm. 71), S. 233f.

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Frank Thieß, Abschied von Thomas Mann, in: Die große Kontroverse, hg. v. Johannes F. Grosser, Hamburg 1963. Gottfried Benn, Antwort an die literarischen Emigranten, in: ders., Gesammelte Werke in acht Bänden, hg. v. Dieter Wellershoff, Bd. 7: Vermischte Schriften, Wiesbaden 1968, S. 1695-1704; hier S. 1697.

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griffen haben. 162 Oskar Maria Graf hat dafür in seinem Bericht über seine Reise in die Sowjetunion ein deutliches Zeugnis gegeben, das trotz seines ironischen Klanges wohl ernst gemeint ist: »Ach was, Heimat!? Wunderbare Emigration, die du die Menschen auflockerst und weltbereist machst!« 163 Es ist immerhin auffällig, daß in den ohnehin nur wenigen literarischen Texten, die die Exilerfahrung unmittelbar thematisierten, der eigentliche Vorgang der »Reise« ins Exil praktisch nicht beschrieben wird. Selbst Feuchtwangers Wartesaal-Tfüogie, als die ausfuhrlichste literarische Darstellung des Exilanten-Daseins, hat hier einen blinden Fleck. Die Reiseerfahrungen, die doch notwendig mit der Vertreibung einhergegangen sein müssen, die Begegnung mit fremden Kulturen und die mehr oder weniger gelingende Assimilation an den neuen Lebensumkreis finden in der Gattung des Reiseberichts keinen Widerhall. Als ein gewisses Surrogat fur diese Leerstelle der Exilliteratur läßt sich Thomas Manns Joseph-Roman lesen. Er war längst konzipiert und in seinem ersten Teil bereits veröffentlicht, als Thomas Mann selbst die Erfahrung des Exils machen mußte. In den späteren, in den USA verfaßten Bänden lassen sich einige Spuren dieser Erfahrung finden, die auf den Lebensweg Josephs projiziert werden. Sein Weg von seiner jüdischen Ausgangskultur in das hochzivilisierte Ägypten läßt noch etwas von den Anstrengungen erkennen, denen sich der Exilant Thomas Mann bei seiner Ansiedlung in Amerika konfrontiert sah. Charakteristisch ist Josephs Ankunft in Ägypten. Thomas Mann beschreibt sie in den Kategorien des Erstaunens über das Fremde, welche das Amerika-Bild der deutschen Auswanderung schon des 19. Jahrhunderts bestimmt haben: »Was sah er nicht alles auf dem Wege vom Hafen zur Herberge! Welche Warenschätze quollen aus den Gewölben, und wie wimmelte und wallte es in den Gassen von den Arten und Schlägen der Adamskinder! Die Einwohnerschaft von Wese schien vollzählig auf den Beinen zu sein und sich auf der irgendwie notwendigen Wanderung von einem Ende der Stadt zum anderen und in umgekehrter Richtung zu befinden, und unter

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Gundolf S. Freyermuth, Reise in die Verlorengegangenheit. Auf den Spuren deutscher Emigranten (1933-1940), München 1990, S. 52. Oskar Maria Graf, Reise in die Sowjetunion 1934. Mit Briefen von Sergej Tretjakow und Bildern. Hamburg/Zürich 1992. S. 15.

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das ursässige Volk mischten sich die Menschentypen und Trachten der vier Weltgegenden.« 164 Aber das sind nur vage literarische Anzeichen jener elementaren Erfahrung, welche das Exil als Reise darstellen mußte. Eine eigene Variante, die das Exil mit der Geschichte des Reisens verbindet, sind nicht die Reisen ins Exil, sondern die Reisen im Exil. Die deutschen literarischen Emigranten haben versucht, eine internationale Gegenkultur zur offiziellen Kulturpolitik des »Dritten Reiches« zu etablieren. Das herausragende Ereignis war der Pariser »Kongreß zur Verteidigung der Kultur« von 1935, den Münzenberg mit Geldern der Komintern ausgerichtet hatte, an dem fast jeder der renommierten emigrierten deutschen Schriftsteller teilnahm. 165 Im Rahmen dieser Bemühungen zum Aufbau einer neuen literarischen Infrastruktur sind etliche emigrierte Autoren viel gereist; ein Zentrum dieser Reisetätigkeit war Moskau. Die Sowjetunion ist auch der Gegenstand von Reiseberichten deutscher exilierter Autoren; sie setzen damit eine Tradition fort, die bereits unmittelbar nach der Russischen Revolution begonnen hatte. Das Thema ist also nicht neu; neben den Amerika-Reiseberichten gehören Reiseberichte über die Sowjetunion zu den dominierenden Ausprägungen der Gattung zwischen 1918 und 1945. 166 Die deutschen Rußlandreiseberichte der Weimarer Republik waren überwiegend positiv gestimmt. Seit Alfons Paquet 1919 seine Briefe aus Moskau unter dem Titel Im kommunistischen Rußland veröffentlicht hatte und seit Alfons Goldschmidts Sowjetunion 1920 sind die Sowjetunion-Reiseberichte ein eigenes Genre geworden. In den dreißiger Jahren wird die Erfahrung und Beschreibung der Sowjetunion in Reiseberichten westeuropäischer Intellektueller zusehends kontroverser. Zum Kristallisationspunkt von Auseinandersetzungen wurde der Bericht André Gides. Er war einer der ersten westeuropäischen Linksintellektuellen, der nach seiner Reise in die Sowjetunion die Revolutionseuphorie radikal in Frage stellte. Sein Bericht Re-

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Thomas Mann, Joseph und seine Brüder 2: Joseph in Ägypten. Joseph der Ernährer, Frankfurt a. M. 1986, S. 780. Zu dieser charakteristischen Erfahrung amerikanischer Großstädte bei deulschen Einwanderern vgl. Brenner, Reisen in die »Neue Welt« (wie Anni. 101), S. 276-280. Vgl. Jürgen Rühle, Literatur und Revolution. Die Schriftsteller und der Kommunismus in der Epoche Lenins und Stalins, Frankfurt a. M./Wien 1987, S. 513. Vgl. die Bio-Bibliographie bei Bernhard Furier, Augen-Schein. Deutschsprachige Reisereportagen über Sowjetrußland 1917-1939, Frankfurt a. M. 1987, S. 150-170.

Schwierige Reisen

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tour de l'U.R.S.S. von 1936 ist eine Generalabrechnung mit der sowjetischen Wirklichkeit, die er gegenüber seinen Kritikern im Jahr darauf noch einmal bekräftigte. 1 6 7 Als unmittelbare Reaktion auf Gides Kritik hat Lion Feuchtwanger, der sich zu dieser Zeit noch im französischen Sanary-sur-mer als Exilant aufhielt, einen der umstrittensten Reiseberichte der Exilzeit vorgelegt: Moskau 1937. Ein Reisebericht für meine Freunde168 Geschildert wird auch hier wieder weniger der äußere Reiseverlauf. Feuchtwanger gibt vielmehr eher einen Rechenschaftsbericht über die Lage der S o w j e t union, knapp zwei Jahrzehnte nach ihrer Gründung. Bis heute - und gerade heute wieder - wird darüber diskutiert, wie es dazu k o m m e n konnte, daß ein skeptischer und nicht-kommunistischer Intellektueller, der auch keinen unmittelbaren Terror zu befürchten hatte, sich auf eine so eklatante Weise über die soziale und politische Wirklichkeit hat täuschen lassen. D a ß auch äußere Umstände zu dem krassen Fehlurteil beitrugen, ist inzwischen bekannt; es war offensichtlich zu Stalins wie zu späteren Zeiten leicht möglich, den Reisenden eine potemkinsche Wirklichkeit vorzutäuschen - auch Sartre gehörte noch zu den Opfern dieser Technik. Hans M a g n u s Enzensberger hat diese Reiseform des »delegacija«-System beschrieben und ihre Auswirkungen auf den westeuropäischen Revolutions-Tourismus der sechziger Jahre untersucht. 1 6 9 Auch dem »Dritten Reich« waren diese Techniken der Wahrnehmungslenkung im übrigen nicht fremd. Bereits im Juni 1933 wurden die gesetzlichen Grundlagen geschaffen fur eine gezielte Lenkung und Organisation des Fremdenverkehrs, die das Ziel verfolgte, ausländischen Besuchern das »Dritte Reich« so sehen zu lassen »wie es die nationalsozialistische Propaganda erscheinen lassen wollte.« 1 7 0 Die Fernwirkung des nationalsozialistischen Freund-Feind-Denkens läßt sich mit Feuchtwangers Reisebericht bis in die Emigrationsliteratur hinein verfolgen; er ist Ausdruck einer Zeit, in der »bipolare Fronten

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Vgl. Rühle, Literatur und Revolution (wie Anm. 165), S. 373-377; S. 517f. Vgl. dazu Gerd Koenen, Die großen Gesänge. Lenin, Stalin, Mao Tse tung. Führerkulte und Heldeninythen des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M., 2., korr. Aufl. 1992, S. 121-127. Vgl. Hans Magnus Enzensberger, 1972: Revolutionstourismus, in. ders., Palaver. Politische Überlegung (1967-1973). Frankfurt a. M. 1974, S. 130-168; hier bes. S. 137-147. Schwarz, Die Reise ins Dritte Reich (wie Anm. 82), S. 90.

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W a h r n e h m u n g , Denken und Handeln bestimmten«. 1 7 1 Unter Gesichtspunkten der Reiseliteratur - und jenseits der Fragen politischer W e r t u n g - läßt sich Feuchtwangers Bericht betrachten als ein Versuch, das U n verständliche verständlich und das Fremde vertraut zu machen. Feuchtw a n g e r bedient sich bei seiner Rechtfertigung von Stalins Sowjetunion eines Modells, das seine Kategorien aus neuzeitlich-okzidentalen D e n k systemen bezieht. Seine Beschreibung der sowjetischen Wirklichkeit liest sich wie eine Fortsetzung seiner historischen Romane, in denen die vergangene Wirklichkeit unter den Gesichtspunkten der Humanität und des Fortschritts gefaßt wird. E r übersieht die Schattenseiten der sowjetischen Wirklichkeit nicht völlig, aber er minimiert sie durch eine geschichtsphilosophische Perspektive, die einem »logokratischen« K o n zept verpflichtet ist, das der grauen Wirklichkeit eine glänzende Z u k u n f t vorhersagt. 1 7 2 Auch die Sowjetunion erscheint ihm als das »Land der Vernunft und des Fortschritts«, dessen Bestrebungen durch die Kritik westeuropäischer Intellektueller wie Gide und durch die Dummheit des eigenen Volkes konterkariert werden. 1 7 3 Feuchtwangers Beschreibung des M o s k a u e r Trotzkisten-Prozesses, an dem er selbst teilnehmen k o n n te, läßt den offensichtlich unangemessenen Versuch erkennen: »Richter, Staatsanwalt und Angeklagte schienen nicht nur, sie waren durch einen gemeinsamen Z w e c k verbunden. Sie waren wie Ingenieure, die eine neuartige, komplizierte Maschine auszuprobieren hatten. Einige haben an der Maschine etwas verdorben, nicht aus Bosheit, sondern weil sie eigensinnig ihre Theorien über die Verbesserung der Maschine erproben wollten. Ihre M e t h o d e n haben sich als falsch erwiesen, aber die Maschine liegt ihnen nicht weniger als den andern am Herzen, und darum beraten sie jetzt gemeinsam mit den andern freimütig ihre Fehler. W a s alle zusammenhält, ist das Interesse an der Maschine, die Liebe zu ihr. E s ist dieses Grundgefuhl, welches Richter und Angeklagte veranlaßt, so einträchtig zusammenzuarbeiten, ein ähnliches wie etwa das, welches in England Regierung und Opposition so aneinanderbindet, daß der Führer der Opposition von Staatswegen ein Gehalt von zweitausend P f u n d bezieht.« 1 7 4

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Furier, Augen-Schein (wie Anni. 166), S. 138. Ebd.. S. 142. Michael Rohrwasser, Der Stalininismus und die Renegaten. Die Literatur der Exkonmiunisten, Stuttgart 1991, S. 153; vgl. auch den Kontext S. 151-57. Lion Feuchtvvanger, Moskau 1937. Ein Reisebericht für meine Freunde (Mit Auszügen aus Feuchtwangers KGB-Akte), Berlin, 2. Aufl. 1993, S. 99.

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Reisen

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Feuchtwangers Bericht ist schon unter den Emigranten und erst recht nach dem Ende des Krieges mit Empörung aufgenommen worden. 1 7 5 Eine derart unverblümte Eloge auf den stalinistischen Terror findet sich, bei aller antifaschistischen Stalin-Rechtfertigung unter den nicht-kommunistischen westeuropäischen Intellektuellen, kaum noch einmal. 176 Feuchtwanger selbst hat sich wohl nicht direkt von seinem Bericht distanziert; aber die Schilderungen der spanischen Inquisition in seinem Geyer-Roman von 1951 lassen sich als eine Art literarischen Widerrufs lesen. Hier beschreibt er in einem historischen Rückblick, der episch unintegriert bleibt, jene Praktiken, die er 13 Jahre zuvor anläßlich seines Moskau-Besuches hätte beschreiben können. 1 7 7 Als eine Art vorweggenommener Kontrapunkt zu Feuchtwangers Reisebericht läßt sich der Bericht von Oskar Maria Graf lesen, der ebenfalls auf sowjetische Einladung mit einer Gruppe exilierter Schriftsteller zum 1. Sowjetischen Schriftstellerkongreß im August 1934 in die Sowjetunion reiste. 178 Das Buch ist erst postum 1974 erschienen. Graf würdigt die Bereitschaft der Sowjetunion, seinen »mitverfemten, mitemigrierten, ausgebürgerten deutschen Kameraden« die Gelegenheit zum Reden zu geben, 1 7 9 aber er bleibt bei aller Freundschaft gegenüber dem Land und den sozialistischen Ideen doch skeptisch. Er erkennt das System der Meinungslenkung und -Unterdrückung und mokiert sich über die »widerwärtige Ruhmredigkeit«, mit der mancher Westeuropäer die Sowjetunion lobte, 180 aber sein eigentliches Interesse ist nicht politisch.

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Vgl. Karl Kröhnke, Lion Feuchtwanger - Der Ästhet in der Sowjetunion. Ein Buch nicht nur für seine Freunde, Stuttgart 1991. Kröhnke hat mit großem Aufwand die Moskau-Reise Feuchtwangers und vor allem die Reaktionen, Nachwirkungen und die Publikationsgeschichte des Reiseberichts rekonstruiert. Trotz der polemischen Schärfe, mit denen er sich gegen alle Versuche einer Exkulpation Feuchtwangers wendet, ändern auch seine Bemühungen nichts wesentliches an den bisher auch schon gängigen Auffassungen über dessen »Sympathisieren« mit dem Sowjetkommunismus: »das Sympathisieren selber war leichtfertiger Abschluß einer geistigen Suche« (S. 296). Vgl. Koenen. Die großen Gesänge (wie Anm. 168), S. 121-127. Vgl. Lion Feuchtwanger, Goya oder Der arge Weg der Erkenntnis. Frankfurt a. M.. 3. Aull. 1982, S. 165-172. Eine Dokumentation des Kongreßverlaufes mit Teilnehmerliste gibt: Sozialistische Realismuskonzeptionen. Dokumente zum 1. Allunionskongreß der Sowjetschriftsteller, hg. v. Hans-Jürgen Schmitt/Godehard Schramm, Frankfurt a. M. 1974, S. 17-39. Graf. Reise in die Sowjetunion (wie Anm. 163). S. 42. Ebd.. S. 85.

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E r will Land und Leute, ihre Kultur und Literatur kennenlernen. Z u gleich behält er einen nüchternen Blick gegenüber den potemkinschen Fassaden, mit denen die Sowjetunion ihren Gästen eine »nur für uns >gestellte< heutige Sowjetwirklichkeit« vorspiegelt. 1 8 1 Grafs Bericht zeigt, daß auch die politischen Prägungen des Exils mit ihren e r z w u n g e n e n Freund-Feind-Dichotomisierungen den Blick auf die Wirklichkeit nicht verstellen mußten; Graf durchreist und beschreibt die Sowjetunion mit freundlicher Skepsis, wobei die Freundlichkeit den Menschen und die Skepsis dem System gilt. Die Reiseberichte der Emigranten zeigen es noch einmal und am deutlichsten: Nicht nur das Reisen war in den Jahren zwischen 1918 und 1945 schwierig geworden, sondern auch das Schreiben über das Reisen. Denn die technischen und organisatorischen Erleichterungen in der Zwischenkriegszeit haben das Reisen nur äußerlich leichter gemacht. Dieser Erleichterung steht eine politische, soziale und kulturelle Wirklichkeit entgegen, die es den Reisenden und Autoren auferlegte, neue F o r m e n der W a h r n e h m u n g und Darstellung zu finden - eine Aufgabe, deren B e wältigung ihnen nur in den seltensten Fällen gelungen ist.

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Ebd., S. 147.

Mechthild Leutner

DIE FREMDE UND DAS EIGENE ICH: REISEBESCHREIBUNGEN VON FRAUEN ÜBER CHINA

D i e W a h r n e h m u n g Chinas, die Chinabilder und die Selbstdarstellung der F r a u e n als R e i s e n d e ist T h e m a d i e s e s Beitrages. D a m i t w e r d e n nicht allein die bisherigen U n t e r s u c h u n g e n zur c h i n a s p e z i f i s c h e n Reiseliteratur 1 im k o m p e n s a t o r i s c h e n Sinne u m die F r a u e n - K o m p o n e n t e ergänzt, s o n d e r n e s wird vielmehr versucht, sich mit neueren T h e s e n z u einer g e s c h l e c h t s s p e z i f i s c h e n W a h r n e h m u n g d e s Fremden, zur

Selbstwahr-

n e h m u n g reisender Frauen und z u weiblichen D a r s t e l l u n g s f o r m e n

am

B e i s p i e l China auseinanderzusetzen: Prägen g e s c h l e c h t s s p e z i f i s c h e F a k -

Reisebeschreibungen über China gerieten erst spät ins Blickfeld der Chinawissenschaftler. Das betraf sowohl ihre mögliche Auswertung als Quellen chinesischer Sozialgeschichte als auch ihre Thematisierung als eigenständige Literaturgattung. Sie galten den nach wie vor stark traditionell-philologisch beeinflußten Vertretern der Zunft als keine ernstzunehmende Quelle, da sie weder chinesischsprachig waren, noch die traditionellen Themen der politischen und geistesgeschichtlichen Entwicklung berührten. Reisebeschreibungen waren vor allem wichtige Quellen für einen Bereich, der im weitesten Sinne der »Imagologie« zuzuordnen ist, nämlich fur die Beschäftigung mit den Bildern und Vorstellungen über China und Chinesen. Zu dieser Thematik gibt es seit den sechziger Jahren einige Untersuchungen, die in die Problematik der chinesisch-westlichen Beziehungen eingebettet sind. (Weitere Literaturhinweise bei Mechthild Leutner, Deutsche Vorstellungen über China und Chinesen und über die Rolle der Deutschen in China, 1890-1945, in: Von der Kolonialpolitik zur Kooperation. Studien zur Geschichte der deutsch-chinesischen Beziehungen, hg. v. Kuo Heng-yü, München 1986, S. 401-442.) Die europäische philosophische und politische Perzeption des Landes, die Funktionalisierung chinesischer Geschichtsfragmente (ζ. B. Voltaire, Hegel, Weber, Marx) oder das Phänomen der Chinoiserie ist ihr Inhalt. Die teils dramatischen Wechsel der Chinabilder, aber auch die gleichzeitige Existenz unterschiedlicher Chinavorstellungen konnten auf dem Hintergrund der Ausgangs- und Interessenlage der Autoren von Reisebeschreibungen aufgezeigt werden in dem Band: Exotik und Wirklichkeit. China in Reisebeschreibungen vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, hg. v. Mechthild Leutner/Dagniar Yü-Deinbski, München 1990.

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Mechthild Leutner

toren die F r e m d w a h r n e h m u n g stärker als etwa weltanschaulich und schichtenspezifisch bedingte Wahrnehmungsweisen? Kann v o n einer spezifisch weiblichen China-Wahrnehmung gesprochen werden? Sind bei den reisenden Frauen besondere Beziehungen zwischen F r e m d - und Selbstwahrnehmung zu beobachten? Ist eine besondere weibliche D a r stellungsweise auszumachen? Einige Charakteristika chinaspezifischer Reisebeschreibungen v o n Frauen w e r d e n bereits bei Ida Pfeiffer deutlich, die als eine der ersten Frauen im Jahre 1846 Kanton besuchte. Zunächst ist hier der Ausbruch aus bürgerlichen Ehe-Konventionen und die Suche nach Selb st Verwirklichung und Identitätsfindung zu nennen sowie Neugierde und Abenteuerlust als Deklaration des Reisemotivs. Dann proklamieren die Frauen eine einfache Darstellungsweise und eine auf die kleinen Dinge des Alltags gerichtete Beobachtungsweise. Während diese Charakteristika geschlechtsspezifische Einflüsse aufweisen, ist die eurozentrische Chinaw a h r n e h m u n g als ganzes, die Tradierung positiver oder negativer V o r u r t e i l e und Stereotypen, die die Chinabilder dieser Jahrzehnte prägen, 2 nicht vorrangig geschlechtsspezifisch bzw. weiblich geprägt. So erfolgt wie bei reisenden Männern durchgängig eine Z u o r d n u n g zu d e m v o n den E u r o p ä e r n in China besetzten Raum. Damit verbunden ist eine Perspektive von außen auf chinesisches Leben, vor allem auf das sichtbare Straßenleben. Um das Fazit der ausfuhrlichen Z u s a m m e n f a s s u n g vorwegzunehmen: Selbstbilder und Darstellungsweisen weisen geschlechtsspezifische Ausprägung auf, die jedoch nicht spezifisch weiblich g e p r ä g te Fremdbilder zur Konsequenz haben. Ein kurzer Rückblick auf Ida Pfeiffers f r ü h e Chinadarstellung wird dies ebenso deutlich machen wie die dann im einzelnen vorgestellten Reisebeschreibungen von Frauen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Marie von Bunsen, Alma Karlin und Hannah Asch waren alleinreisende Frauen auf Weltreise, die auch China auf ihrer Reiseroute hatten. Ella K. Maillart berichtet über eine speziell auf China bzw. Zentralasien gerichtete Expeditionsreise. Elisabeth von Heyking und Gertrud Goeke verfaßten ihre Berichte als mit-

Vgl. Harald Brauner/Mechthild Leutner, »Im Namen einer höheren Gesiltung«: Die Kolonialperiode 1897-1914, in: Exotik und Wirklichkeit (wie Anm. 1), S. 41-52. Dagmar Yü-Dembski, Traum und Wirkliclikeit. Rezeption und Darstellung Chinas in der Weimarer Republik, in: Exotik und Wirklichkeit (wie Anm. 1); Leutner, Deutsche Vorstellungen (wie Anm. 1).

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reisende Ehefrauen, die ihre Männer aus beruflichen Gründen nach China begleiteten. 3

I.

Ida Pfeiffer: Kolonial geprägte Wahrnehmung

Ida Pfeiffer w u r d e nach einer stark männlich bestimmten Sozialisierungsphase bürgerlich verheiratet und suchte nach Jahren unglücklicher E h e in einem ruhelosen Wanderleben rund um den Globus, einen bew u ß t e n Bruch mit herrschenden Konventionen zu vollziehen. Sie verwirklichte damit einen bereits durch die Lektüre von Reiseliteratur frühzeitig bestärkten Wunsch, den sie sich mit der Akzeptanz bürgerlicher N o r m e n zunächst versagt hatte. Ihre genau geführten Reisetagebücher erreichten mehrfach hohe Auflagen, wurden ins Englische und Französische übersetzt; sie w u r d e zur Berufsreisenden, die von der V e r m a r k t u n g ihrer Bücher leben und die nächsten Reisen finanzieren konnte. 1858 starb sie an den Folgen ihrer letzten Reise. »Angeborene Reiselust« und »unbegrenzte Wißbegierde« (9), 4 der Wunsch, möglichst tief in die Fremde einzudringen, 5 waren Pfeiffers explizite Reisemotive. Sie wollte ihren Jugendtraum verwirklichen, ihre Erinnerungen an die Reisen sollten Labsal ihres Alters werden. Sie wollte »schmucklos« das erzählen, w a s ihr begegnet, beurteilen wollte und k o n n t e sie »blos von dem Standpuncte einfacher Anschauung aus« (9). Sie hatte »nur« den Anspruch, »wahrhaft und getreu« zu sein (246). Ida Pfeiffers China-Reisebeschreibung bezieht sich auf ihren Aufenthalt in Kanton vom 12. Juli bis 20. August 1846. Sie lernt das Leben der E u r o p ä e r kennen, lebt in deren Enklave vor der Stadt Kanton - die Stadt selbst ist noch für Ausländer gesperrt - , sie kommt mit Chinesen in Berührung, wenn es sich um Diener handelt; auch der einer höheren sozialen Schicht zugehörige Komprador, der als Mittler der europäischen Kaufleute zum chinesischen Markt und Geschäftsleben steht, ge-

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Niclit berücksichtigt wurden die Darstellungen von Frauen, die über einen längeren Zeitraum in China arbeiteten, sei es als Missionarsfrauen oder als Journalistinnen ( A g n e s Smedley. Ruth Werner. Anna Louise Strong); deren Werke sind nach eigenem Selbstverständnis keine Reiseberichte. Die Seitenangaben im folgenden beziehen sich auf die Ausgabe Ida Pfeiffer. Eine Frauenfalirt u m die Welt. Wien 1989. Vgl Annegret Pelz. Reisen durch die eigene Fremde. Reiseliteratur von Frauen als autogeographische Schriften. Köln/Weimar/Wien 1993, S. 235.

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rät nicht als eigenständige Person, schon gar nicht namentlich, in ihr B e wußtsein. Die Chinesen erscheinen ihr genau so mit »häßlichen schmal geschlitzten Augen« (75), wie sie sie von Bildern in E u r o p a kennt. Und dann greift sie koloniale Stereotypen ihrer Zeit auf und charakterisiert die Chinesen als »im höchsten Grade feige: Mir ist noch kein feigeres, falscheres und dabei grausameres Volk v o r g e k o m m e n als das chinesische« (86). Diesem Negativ-Urteil folgt dann ein positives Klischee: Angesichts des umsichtigen Benutzens des menschlichen D ü n g e r s zieht sie den Schluß, »daß vielleicht kein Volk auf Erden an Fleiß und Industrie den Chinesen gleicht, daß keines so sorgfältig wie sie j e d e s Fleckchen E r d e benützt und bepflanzt« (89). Die chinesische Regierung jedoch ist ohnmächtig und willenlos (85), nicht etwa, weil sie den Ausländern nicht genug Widerstand leistet, sondern weil sie im Gegenteil die Ausländer im Land vor »Übergriffen« des Volkes nicht schützen kann. Volk wie B e a m t e sind »schlecht« und »betrügerisch« (84). Und nicht zuletzt: Chinesen sind »unsauber« (84). Diese Urteile glaubt sie aus eigenem Erleben ableiten zu können, denn sie begab sich »bei allen sich darbiethenden Gelegenheiten unter das Volk und schrieb dann getreulich nieder, w a s ich alles bemerkt hatte« (82). D a s unermüdliche Leben und Treiben der Menschen, diese »Eigenthümlichkeiten« m u ß man gesehen haben, u m sich »einen richtigen Begriff« (78) machen zu können. Pfeiffer sieht sich als Chronistin der kleinen Begebenheiten, der Schilderung der eingebundenen F ü ß e und des grausamen U m g a n g s mit Verbrechern, der Lebenssituation des Volkes und seiner »äußeren Erscheinung und nicht zuletzt der vielfältigen Gefahren flir Leib und Leben, denen die E u r o p ä e r ausgesetzt sind, denn sie werden zusammengeschlagen, beraubt und ermordet.« (78) So erscheint es als ein wagemutiger Akt, insbesondere für eine Frau, sich diesen Gefahren auszusetzen. Sie erregt als Frau auch besonderes Aufsehen, weil chinesische Frauen sich nicht auf der Straße zeigen, weil die Arbeiter in der Teefabrik noch nie eine europäische Frau gesehen haben. Sie wird selbst zur Exotin. Bei einem G a n g um die Stadt wählt sie kurzfristig zu ihrem Schutz Männerkleidung, sie fuhrt Pistolen mit sich, ihr können die Chinesen keine Furcht einflößen (76), doch nach den Erlebnissen in Kanton, den ständigen Gerüchten von einem drohenden Aufstand gegen die Europäer und der tatsächlichen E r m o r d u n g eines »Weißen« zeigt sie sich bei ihrem Abschied nicht mehr so furchtlos (91).

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Pfeiffer ordnet sich in bezug auf ihre China-Perzeption in die Welt der E u r o p ä e r ein, sie ist Teil der europäischen Enklave und stellt sich unter den Schutz der Europäer, insbesondere dem der Männer, die sie begleiten. Ihre Wahrnehmung Chinas ist wie die ihrer männlichen Zeitgenossen den herrschenden Stereotypen ihrer Zeit verhaftet, in der europäisches Überlegenheitsgefiihl gegenüber einem moralisch minderwertigen Volk und einem nicht-zivilisierten Land sich in Charakterisierungen wie »feige«, »falsch«, »grausam« und »schmutzig« niederschlugen. Chinesische Frauen werden weder als Individuen noch als besondere G r u p p e wahrgenommen. Pfeiffer hat keinen speziellen Z u g a n g zu ihnen, sucht ihn auch nicht, wie sie überhaupt außerhalb des chinesischen Lebens bleibt, Frauen wie Männer gehen in der amorphen und keine Individualität zeigenden »andersartigen« Masse auf. Gerade in der K o n f r o n tation mit dem Anderen wird die Zugehörigkeit der Reisenden z u m europäischen Raum, zur europäischen kolonialen Welt sichtbar, einer männerdominierten Welt kolonialen Zuschnitts, von der sie sich w e d e r in der W a h r n e h m u n g Chinas noch in ihrer konkreten Darstellung des ChinaAufenthaltes abgrenzt. Die »festgeschriebene Hierarchie zwischen E u r o p a und dem Orient«, 6 sprich hier China, wird nicht aufgebrochen. China bleibt kolonisiertes Objekt auch in den Augen von Pfeiffer, deren Emanzipationsakt, das Reisen, sich nur auf ihre eigene Person konzentriert.

II.

Elisabeth von Heyking: Kolonialkritischer Blick auf nicht zu Vereinbarendes

Elisabeth von Heyking, die Enkelin Bettine von Arnims, w u r d e 1861 geboren. Preußische Pflichterfüllung, verkörpert in der Person des Vaters, und romantischer Gefuhlsreichtum der Mutter waren die beiden widerstrebenden, doch beherrschenden Pole ihrer Kindheit, die Elisabeth nach d e m frühen T o d der M u t t e r aus Furcht vor innerer Einsamkeit in eine Vernunftehe treibt. 7 Sie wird zur Außenseiterin der adligen Gesellschaft, als ihr Mann sich das Leben nimmt und sie danach eine Liebesheirat mit dem kosmopolitisch gesinnten Baron von Heyking eingeht.

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V g l . ebd., S. 2 1 8 . V g l . Grete L i t z m a n n . Einleitung, in: Elisabeth v o n H e y k i n g . T a g e b ü c h e r aus vier Erdteilen 1 8 8 6 - 1 9 0 4 . hg. v. Grete Litzmann. L e i p z i g 1926, S. 2ff.

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Nach zähem öffentlich geführten Kampf mit der Schwiegerfamilie um ihr Kind verläßt sie, deren Ruf in der adligen Gesellschaft schwer geschädigt wurde, mit ihrem Mann, einem Diplomaten, Deutschland. Mehr als zwanzig Wanderjahre verbringen die Heykings an allen Plätzen der Welt, u. a. von April 1896 bis Juni 1899 in China, wo von Heyking als Gesandter die Besetzung Jiaozhous durch deutsche Truppen mit zu vertreten hatte und die Anfange der Boxerunruhen miterlebte. Sowohl in ihrer erfolgreichen Publikation Briefe, die ihn nicht erreichten (1903) und dem Roman Tschun. Eine Geschichte aus dem Vorfrühling Chinas (1914), der die politische Situation Ende des Jahrhunderts aus der Sicht eines chinesischen Jungen schildert, sind deutliche autobiographische Bezüge, die auch ihr Verhältnis zur chinesischen Kultur, wie zur Fremde insgesamt, charakterisieren. Im folgenden stütze ich mich jedoch vor allem auf ihre Tagebücher aus der Pekinger Zeit. Diese Tagebücher waren offensichtlich nicht zur Veröffentlichung gedacht und erschienen erst 1926 postum. 8 Wie sehen Heykings Versuche, »in die empirische Wirklichkeit einzudringen«,9 in ihren Reisetagebüchern konkret aus? China galt für Heyking - Elisabeth von Heyking identifiziert sich stark mit der Arbeit ihres Mannes - als Karrierechance, ihr Mann konnte hier seine Fähigkeiten unter Beweis stellen und fur Deutschland Ruhm ernten: »Der Gedanke an die Realisation unseres Lebenstraumes, für Deutschland ein Stück Land zu erwerben, hilft mir über alles hinweg: Über die kleinen Lebensmiseren und die großen persönlichen Enttäuschungen« (244). 10 Als ihrem Mann jedoch nach erfolgreichem Vertragsabschluß über die Verpachtung Jiaozhous die Anerkennung durch den deutschen Kaiser versagt wird, nehmen nicht allein ihre Depressionen zu, sondern sie zeigt auch Unverständnis für die Art der Behandlung der Chinesen: »Und die Schroffheit gegen die Chinesen verstehe ich auch nicht, denn sie wollten

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Anders als bei den alleinreisenden Frauen, die ihre Reiseerlebnisse vermarkten mußten, zielten anscheinend von Heykings Tagebücher ursprünglich nicht auf ein Publikum. Ihre sehr viel früher publizierten fiktiven Darstellungen können teils auch als widersprüchliche Ergänzung der Tagebücher gelesen werden. Die gesamte Widersprüchlichkeit Elisabeth von Heykings und ihre Auseinandersetzung mit China, die anders als bei den anderen hier behandelten weiblichen Reisenden eine Entwicklung durchlief, muß gesondert aufgearbeitet werden. Vgl. Christine C. Günther, Aufbruch nach Asien. Kulturelle Fremde in der deutschen Literatur um 1900, München 1988, S. 258. Die folgenden Belege beziehen sich, sofern nicht ausdrücklich eine andere Quelle angegeben wird, stets auf Elisabeth von Heyking, Tagebücher (wie Anm. 7).

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uns ja alles geben, was wir verlangten, nur eben auf ihre Art, und dabei wären wir die besten Freunde geblieben. Wir waren den ganzen Tag recht deprimiert und enttäuscht.« (246) Dieser Vertragsabschluß - so fugt von Heyking bedauernd hinzu - hat den Chinesen, entgegen ihren bzw. ihres Mannes Versuchen, kein »Gesicht« gelassen (246, 255). Doch diese kritischen Bemerkungen gegenüber der Form deutscher Kolonialpolitik markieren keinen Umschwung in der generellen Sichtweise Chinas und der Position der Europäer - zumindest nicht in den Tagebüchern. Am Anfang ihrer Wahrnehmung steht ihr Vor-Urteil: die Idee des Nebeneinanders und der Unvereinbarkeit der beiden Welten: »Es sind wieder, wie dort, [Indien] die zwei getrennten Welten, die dicht nebeneinander hergehen, ohne daß die eine irgend etwas vom eigentlichen Wesen der anderen kennt. Auf der einen Seite die Europäer in ihren ganz abgetrennten Quartieren, die sie so luftig und behaglich wie möglich einrichten, und wo sie sich durch größeren Komfort als zu Hause fur Exil und heißes erschlaffendes Klima entschädigen. Andererseits die geheimnisvolle brodelnde Masse der Eingeborenen, die uns in ihren engen, schmutzigen Häusern so namenlos elend erscheinen, und ihrer eigenen Ansicht nach doch eine Weisheit und Zivilisation zu besitzen glauben, die sie berechtigt auf uns herabzuschauen« (183). Und so werden in ihrem Tagebuch auch weiter die Grenzen gezeichnet: Hier die Zivilisation," die gute Rasse (203), die Europäer, die Gesandtschaften und dort das schmutzige, dreckige Leben in der Stadt Peking. Peking ist eine Kloake (204). So konstatiert sie zwischen beiden Welten eine unüberbrückbare Kluft (203); Europäer, die sich zu sehr auf chinesisches Leben einlassen, werden mitleidig und überheblich als »halb verchinest« (207) charakterisiert; Chinesen gegenüber muß hart aufgetreten werden, man darf sich von ihnen nicht imponieren lassen (195). Europäische Kontrolle macht letztlich China glücklicher (184f ), bringt dem Land die Zivilisation, China braucht europäische Herren (205) So betrachtet sie ihren Aufenthalt in China als Kampf zur Durchsetzung der Zivilisation: Als sie Dampferkulis zum Weiterschleppen ihres Bootes bewegen können, bezeichnet sie das als »unsern ersten Sieg über chinesischen Eigensinn« (188). China verkörpert zunächst einmal Schmutz, Gestank, Barbarei und nicht zuletzt die verpaßte Karrierechance Und dies scheint ihren Chinavorstellungen vor ihrer Reise zu widersprechen, denn anläß-

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E i s e n b a h n ζ. B. gilt a l s Z e i c h e n d e r Z i v i l i s a t i o n ( 2 2 6 ) .

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lieh eines Besuches im Kaiserpalast äußert sie: »Zum erstenmal, daß China so aussieht, wie man sich China vorgestellt hat« (277). Das China ihrer Imagination scheint sich in schwärmerischen Landschafts- und Tempelschilderungen (229, 194) und der minutiösen Beschreibung ihrer Audienz (gemeinsam mit anderen Gesandtschaftsgattinnen) bei der Kaiserin Cixi und dem jungen, Mitleid hervorrufenden Kaiser niederzuschlagen, es wird von ihr in das Gegensatzbild Zivilisation Barbarei nicht integriert; es stellt wohl nicht das China dar, mit dem sie tagtäglich als Gesandtschaftsgattin in ihrem europäischen Zivilisationsraum konfrontiert wird. Es scheinen Fluchtorte, Symbole eines einfachen, wohltuend ruhigen Lebens zu sein (194). 12 Abgesehen von diesen wenigen Fluchtorten ist ihr sofort behaglich eingerichtetes Heim, (»eine Oase in der furchtbaren Wildnis« [190]), die Gesandtschaft, der zentrale Ort, den sie niemals allein verläßt und der ihren Blick auf China prägt. Gegenüber diesen Reisetagebüchern setzt der Roman Tschun, veröffentlicht 1914, andere Akzente, auch wenn die Idee von der Unvereinbarkeit beider Welten, von der durch nichts zu überbrückenden Fremdheit zwischen China und Europa bzw. den Westmächten auch den Roman Tschun durchzieht. 13 Es gibt jedoch ein Bindeglied zwischen diesen Welten, welches der junge Tschun verkörpert; er scheitert in dieser Rolle, wird wieder Chinese, der die Fremden ablehnt. Und mit Tschun scheitern auch die Hoffnungen auf eine zivilisatorische Rolle der Fremden. Es war ein Wahn, von den Fremden Wohlwollen und gute Gaben zu erwarten. »Nein! wahrlich die waren keine höheren Wesen, keine besseren Menschen! Und sie brachten nichts Gutes und wollten niemand wohl. Sie wollten ja nur möglichst viel für sich selbst. Aus Gier waren sie zuerst über die Meere von ihren fremden Ländern hergekommen. Und Gier blieb seitdem die treibende Kraft in all ihrem Tun und Trachten.« 14 Diese offen kolonialkritischen Äußerungen - wenn auch in den Mund eines Chinesen gelegt - unterscheiden sich deutlich von ihrem in

12

13

14

Vgl. Cornelia Essner, Deutsche Afrikareisende im 19. Jahrhundert. Zur Sozialgescliichte des Reiscns, Wiesbaden 1985, S. 84. Essner weist auch auf die kompensatorische Funktion hin, die schwärmerische Landschaftsbeschreibungen etwa bei Afrikareisenden einnehmen, die sich allein wähnten: Deren afrikanische Begleiter zählten nicht. Vgl. Elisabeth von Hcyking, Tschun. Eine Geschichte aus dem Vorfrühling Chinas, Berlin/Wien 1914, S. 48. Vgl. ebd., S. 418f.

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den Tagebüchern gezeigten kolonialen Engagement und der dort geäußerten lediglich zurückhaltenden Kritik an der Form der Kolonialpolitik. Sie erscheinen als späte Resultate ihres China-Aufenthaltes, in dem ihre Innenansichten des chinesischen Lebens und die enttäuschten Karrierehoffnungen zusammenfließen. Aus dieser Sicht entlarvte sie »das europäische Selbstbildnis als arrogante Selbstdarstellung gegenüber den schwächeren Völkern«. 15 Diese Akzentverschiebung zwischen Reisetagebuch 16 und veröffentlichtem Roman zeigt sich über ihre politisch-weltanschauliche Position hinaus auch in der Perzeption des Landes. Der europäische koloniale Blick aus der Gesandtschaft ist im Tagebuch prägend, während der chinesische antikoloniale Blick auf die Europäer und Chinesen in Tschun nachgezeichnet wird. Die in beiden Darstellungen skizzierten schlechten Eigenschaften der Chinesen erscheinen im Roman als Reaktion auf die europäische Aggression. 17 Auch von Heyking rechnete sich während ihrer Pekinger Zeit zur männlich dominierten Welt der europäischen Vertreter in China, identifizierte sich zunächst weitgehend mit dieser, ließ dann jedoch kolonialkritische Bemerkungen in die Figuren ihrer Romane, sozusagen in ein Genre zum Ausdruck der Gefühle, mit hineinfließen. 18

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Vgl. Günther, Aufbruch nach Asien (wie Anm. 9), S. 146. Es stellt sich allerdings die Frage, ob mit Günther (S. 30) davon gesprochen werden kann, dafl Heyking anti-koloniales Bewußtsein mit fortschrittskritischen Überlegungen verband. Ohne weiterführende eingehende Quellenstudien zu ihrem Leben läßt sich diese Frage nicht klären. Susan Blake, A woman's trek: What difference does gender make?, in: Women's Studies International Forum 13 (1990), H. 4, S. 347, sieht ζ. Β. bei den um die Jahrhundertwende nach Afrika reisenden Frauen trotz deren heftiger Kritik an spezifischen Praktiken der Kolonialpolitik keine prinzipielle Infragestellung der britischen zivilisatorischen Überlegenheit. Die kritischen Bemerkungen zum deutschen Verhalten beim Erwerb Jiaozhous beziehen sich auf die Form, nicht auf die Inhalte und Ziele der Kolonialpolitik. Die bereits 1903 publizierten Briefe, die ihn nicht erreichten von Elisabeth von Heyking - mir liegt die 89. Aufl. Berlin 1917 vor - haben in ihren Chinabezügen einen ähnlichen Tenor wie ihr Reisetagebuch. Vgl. Günther, Aufbruch nach Asien (wie Anm. 9). S. 152. Die ambivalente Haltung von Heykings zu China und zur europäischen Kolonialpolitik zeigt sich auch in einer Textpassage in den Briefen·. »Das ist die Rache, die China an den weißen Menschen nimmt dafür, daß sie beinahe alle doch nur deshalb hingehen, um ihm ein Stückchen seines Bodens oder sonst irgend einen Vorteil und Besitz abzuringen - schließlich sind sie es, die von China absorbiert werden.« Heyking, Briefe, die ihn nicht erreichten (wie Anm. 16), S. 101.

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Im Unterschied zu Ida Pfeiffer ist bei von Heyking bereits das andere, fremde China als Gegenpol zum europäischen Leben und Denken konkret ins Blickfeld geraten, es bleibt - zumindest im Roman - nicht mehr als Unzugängliches unbeachtet. Der China-Aufenthalt hat darüber hinaus einen Denkprozeß eingeleitet, in dem im Ergebnis diesem Fremden, dieser anderen Welt ein Recht auf eigene Entwicklung ohne das Eingreifen der »gierigen Kolonialmächte« zugesprochen wird - auch wenn die Perzeption in den Reisetagebüchern selbst noch der Idee von einer europäischen zivilisatorischen Mission verhaftet ist. Die familiären Umständen geschuldete Außenseiterrolle Elisabeth von Heykings in der deutsch-preußisch adligen Gesellschaft hat möglicherweise in Verbindung mit ihrer Herkunft dazu beigetragen, daß das Leben in China Denkprozesse einleitete oder beförderte, die das hierarchische Kolonialsystem zunehmend in Frage stellten. Anders als dies bei den im folgenden dargestellten alleinreisenden Frauen der Fall ist, war Heykings Perzeption Chinas jedoch nicht subjektiv-individualistisch geprägt, sondern dominant politisch bedingt.

III.

Hannah Asch: Die Dame und die Unzivilisierten

Hannah Aschs Reiseerlebnisse in Afrika und Asien erschienen unter dem Haupttitel Fräulein Weltenbummler im Jahre 1927; Datierungen ihrer Reise fehlen, aus Bezügen im Text läßt sich schließen, daß sie 1922/23 einige Monate in China gereist ist: Peking, Shanghai, Hongkong und Kanton waren ihre Stationen. Ganz in der Tradition der Weltreisenden des 19. Jahrhunderts reisten sie, Hannah Asch, Marie von Bunsen und Alma Karlin, vornehmlich per Schiff: Die Landbesuche hatten den Charakter kurzer Zwischenstationen. Auch Peking, welches von Tianjin aus mit der Eisenbahn erreicht werden konnte, war als »Zwischenstation« vorgesehen: Die Stadt Tianjin selbst oder der Weg zum Ziel interessierte kaum. Die weltreisenden Frauen reisten aus Japan an, mit einem als positiv erlebten Japan-Aufenthalt als Hintergrund. Bei Asch und Karlin geriet das »konkrete Japan«, welches sauber, nett und zierlich sowie ordentlich und höflich war, geradezu zum Gegenstück des konkreten China, das als schmutzig und abstoßend erfahren wurde. Wie bei Ida Pfeiffer ist es auch in Aschs Darstellung die »Reisesehnsucht, die seit jungen Jahren in [ihr] glühte«, die sie hinaustrieb in die

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Welt, es war die Verwirklichung ihrer »Träume« und »Phantasien«, nach Indien und Japan zu reisen (7f.). 1 9 D a s Fernweh der Kindheit und Jugend bildete das Reisemotiv. Hannah Asch spricht ihre Frauenrolle an, die sie j e d o c h ausdrücklich - ganz im Gegensatz später zu Alma Karlin - für die Durchführung und die Wahrnehmung ihrer Reise(-Erfahrungen) keineswegs als wichtig erachtet - weder als das Reiseunternehmen befördernd, noch als es behindernd. Doch in der Konfrontation mit dem F r e m d e n demonstriert sie den Lesern das Gefahrvolle oder Schreckliche einer Situation, indem sie zusätzlich ihr Geschlecht, gekoppelt mit ihrer Schichtenzugehörigkeit, anfuhrt: »Als D a m e ganz allein in dieser dunklen Opiumhöhle?« (115) Oder in den Verhandlungen mit den Rikschakulis: »Mir als D a m e waren diese Auseinandersetzungen mit den armseligen Gesellen schrecklich« (104). Und selbstverständlich gelingt es ihr, diese Situationen zu meistern. Sie hat sich zu Beginn als emanzipierte Frau präsentiert, indem sie sich von »unselbständigen« und »unsicheren« Frauen abgrenzte: »Ich war allein. Das Gefühl der Furcht, das viele Frauen so unsicher und unselbständig macht, war mir durchaus fremd« (8). D o c h andererseits spricht sie auch von einer »eigenthümliche[n], e t w a s beklemmendefn] Empfindung«, als sie Deutsch-Ostafrika beim A u f b r u c h in das fremde Asien verläßt (8) Bei ihrer Ankunft in China registriert sie zunächst einmal das N e g a tive zu Japan: die »schmutzige, in graues oder blaues Leinen gekleidete Menschenmenge« (94) oder das »furchtbare« Geschrei des Volkes (95). Sie ist bei der Ankunft in Tianjin schockiert und keineswegs neugierig auf das Land: »Ich zog mich in meine Kabine zurück und verließ das Schiff erst am nächsten Morgen.« (95) Die für das Land und seine Bew o h n e r in der Darstellung benutzten Attribute sind durchweg negativ: Die Landschaft ist »eintönig und uninteressant« (130), der Staubsturm »entsetzlich« (97), die Kultstätten »schlecht erhalten« und »verstaubt« (112), der Anblick der langen Fingernägel »nicht appetitlich«, die Fahrgäste sind »rücksichtslos" (96), die Gepäckträger eine »gelbe Horde« (130). »Der« chinesische Rikschakuli wird - Stereotypenhaft - als »durchw e g stumpf bis zur Blödigkeit, halb verhungert, in schmutzigen Lumpen« (104) gekennzeichnet. Der konkrete Rikschakuli jedoch, den Asch für ihre gesamte Pekinger Zeit anheuert, gehörte dann allerdings zu den 19

Die folgenden Seitenangaben beziehen sich auf H a n n a h Asch. Fräulein Weltenbuinmler. Reiseerlebnisse in Afrika und Asien. Berlin 1927.

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»braven, ordentlichen« Rikschakulis, die es auch noch gab, wie sie zu ihrer F r e u d e feststellen konnte (105). E r wird »wie ein treuer H u n d « (109) oder als »Nr. 60« (106) charakterisiert. Für Asch ist der D u s c h drang ihres Kulis gleichzusetzen mit »Kulturdrang« (116), und Schmutz ist Zeichen der Nicht-Zivilisation. Voller herablassender Ironie und E r staunen: » D a s konnte unmöglich sein« (116), stellt sie später fest, d a ß der Kuli tatsächlich nach einer langen Fahrt »Verlangen nach einem B a de« hatte: »Und doch war es so. M a n erlebt manchmal die sonderbarsten Dinge« (116). D a ß sich chinesische Dschunkenfischer »richtiggehend mit Zahnbürsten die Zähne putzten« (139), hätte sie nie f ü r m ö g lich gehalten. D a s europäische Viertel in Peking, in dem sie selbstverständlich im europäischen Hotel »Wagon-lits« wohnt, verkörpert für sie die Zivilisation, die sie dann jeweils für ihre »Forschungsfahrten durch Peking« (103) verläßt. Je mehr sie sich vom Hotel entfernt, desto »wüster« und »schmutziger« w u r d e es (99). »Horden von schmutzigen bettelnden Kindern mit verfilzten schwarzen Z ö p f e n und in L u m p e n gehüllt« sind es, die sie bedrängen. »Furchtbar war der Anblick«, und allein der G e danke einer »Berührung mit diesen schauderhaft schmutzigen W e s e n voll ekliger Krankheitszeichen, mit zerstörten Nasen, mit Eiterbeulen, triefenden Augen, in denen die Fliegen und Maden nisteten«, verursacht ihr Ekel: »Ich hätte aufschreien mögen vor Ekel« (114). » E s w a r ein Bild, das die Qualen der Hölle hätte darstellen können« (114). Die Zivilisation nimmt ab, j e mehr sie ins »Innere« vordringt: D a s »Mitten-drinsein« in China erfährt sie als »ein unfaßbares T o h u w a b o h u , chinesisch eigenartig und fremd« (99). Sie ist froh, wenn sie das so geartete China wieder verläßt und Zuflucht in Tempelanlagen findet. E s sind die T e m pel, der Kaiserpalast, die sie mit ihren »köstlichen Kunstwerken« (107) stundenlang, in Abgeschiedenheit vom Straßenleben, interessieren, doch auch sie wiegen - anders als bei von Heyking - die negativen E i n d r ü c k e nicht auf. Für Asch sind die Hallen des Sommerpalastes »still, verlassen, tot« (107). Sie hätte so abgeschieden von der Welt nicht mit dem Kaiser von China tauschen mögen, und vor allem: »Es ist eine verschollene Pracht«, die »auch hier dem Verfall entgegen [dämmert]« (107). A n d e r s als später bei Karlin und Bunsen, die ihr imaginiertes exotisches Chinabild auch entgegen konkreter China-Erlebnisse verteidigen, sind für Asch die Zeugen der Vergangenheit lediglich Ausdruck des Verfalls, sie runden die von ihr gezeichnete Unzivilisation der G e g e n w a r t ab.

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Entsprechend diesem Bild der Unzivilisation werden auch die Beziehungen zwischen »weißen Europäern« und »gelben Chinesen« als hierarchische Beziehungen der Unterordnung von tiergleichen Unzivilisierten unter zivilisierte Menschen gezeichnet. Die Bauern in den Reisfeldern gleichen »Riesenschildkröten« (131), der Rikschakuli ist »wie ein treuer Hund« (109), den sie auch mal durch einen Stoß ihres Sonnenschirms ganz »energisch« zum Stillstehen zwingt (117), die j u n g e n Chinesenmädchen, die sie still bei ihrer Arbeit sitzend beobachtet, werden von den Schwestern des amerikanischen Hospitals »für ganz minimalen Tageslohn zur Herstellung von Handarbeiten gehalten« (111). Diese Menschen - einmal apostrophiert sie die Bauern auch als »das unverfälschte chinesische Volk« (121) - , die sich bestenfalls noch im Naturzustand, mit ihrer Stumpfheit und Gleichgültigkeit Tieren vergleichbar (120), befinden, die jedoch in der Regel die äußeren Zeichen der Unzivilisation an sich tragen, müssen also - so lautet die Botschaft der Reiseerlebnisse - »mit den Errungenschaften westlicher Kultur vertraut« (121) gemacht werden. Die »moderne Zivilisation«, das ist für sie ein g r o ß e r Ballabend im festlich erleuchteten Hotel des Gesandtschaftsviertels (127). Z u m Abschluß ihres Aufenthaltes stellt Hannah Asch Überlegungen über die zukünftige Entwicklung des Landes an und fragt: »Wird einst der T a g kommen, da die Zivilisation auch zu den Niedrigsten dringt, und wird das ein Glück für sie sein?« (146) In dieser Frage drücken sich z w a r leichte Zweifel aus, ob das Herausreißen der Chinesen aus dem »unzivilisierten Zustand« für sie ein Glück bedeuten würde, doch der G e s a m t t e n o r der Schilderung läßt den Lesern lediglich eine Antwort: Die Chinesen in ihrem Schmutz bedürfen dringend der zivilisatorischen Mission des Westens. Standen die bisher vorgestellten Reisebeschreibungen noch ganz in der herrschenden Tradition der kolonialen Perspektive mit ihrer »legitimatorischen Argumentation, die den Überlegenheitsanspruch des weißen Mannes und des Westens bzw. Deutschlands beinhaltete«, 2 0 so zeigen sich im nachfolgend gezeichneten Chinabild Marie von Bunsens idealisierende Tendenzen, wie sie seit der Jahrhundertwende in Kreisen der Intelligenz als Gegenströmung zur materialistischen Entwicklung des Westens beobachtet werden können. 2 1 20 21

Vgl. Leutner, Deutsche Vorstellungen (wie Anni. 1), S. 407f. Vgl. Günther, A u f b r u c h nach Asien (wie Anm. 9).

190 IV.

Mechthild Leutner Marie von Bunsen: Subjektiv-ästhetischer Blick und das harmonische »unberührte China«

Marie von Bunsen, Tochter des liberalen Abgeordneten von Bunsen, hat in ihrer Autobiographie Die Welt, in der ich lebte. Erinnerungen aus glücklichen Jahren, 1860-1912 ein eindrucksvolles Bild der Berliner höfischen Gesellschaft vor dem Ende des Kaiserreiches gezeichnet. Sie war durch die besonderen Beziehungen ihrer Familie zum Kaiserhaus einerseits in diese Gesellschaft integriert, doch da sie - wie sie selbst schreibt - die »Glückswerte der Gattin und Mutter, dieses naturgemäßeste Geben und Nehmen der Frau« 22 nicht gekannt hat, hatte sie, zumal als gebildete Frau und Schriftstellerin, eine Sonderposition inne. Sie fühlt sich als »Einzelwesen«. Sie reist viel und kultiviert insbesondere in späteren Jahren das Alleinreisen; es ist fur sie ein Zwiegespräch zwischen dem Neuen, Fremden und dem eigenen, aufnahmedurstigen Ich. 23 1934 veröffentlicht sie ihre Eindrücke von einer Reise in den Fernen Osten, die bereits 1911 stattgefunden hat. Sie läßt sich einreihen in die größere Zahl der Weltreisen von Frauen, die beim deutschen Publikum rege Beachtung fanden. 24 Marie von Bunsen will das Farbige und Seltsame in ihren Eindrücken beschreiben, nicht das allgemein bekannte, sondern auch Abgelegenes, das ihr zugänglich war, weil sie sich mehr Zeit nahm. Ohne auf Ziel und Aufbruch zur Reise einzugehen, 25 beginnt ihre in Tagebuchform verfaßte Darstellung mit dem Eintrag vom 11. April 1911 in Kamakura, Japan. China als »>große Mutten Ostasiens: Unerreicht sind ihre Taten in der Kunst, Wissenschaft, Ethik und Literatur« (59) 26 - das sind die zum China-Teil überleitenden Worte von Bunsens, die zugleich Ausgangspunkt und Perspektive der Autorin kennzeichnen. In der Aneinanderreihung von Episoden und Momentaufnahmen der chinesischen Umgebung hat sich die Verfasserin selbst als Person zurückgenommen; ihr 22

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Vgl. Marie von Bunsen, Die Welt, in der ich lebte. Erinnerungen aus glücklichen Jahren, 1860-1912, Leipzig 1929, S. 9. Vgl. ebd., S. 2 1 3 Í Vgl. Pelz, Reisen durch die eigene Fremde (wie Anm. 5), S. 238. Im allgemeinen hat sich von Bunsen sorgfaltig auf ihre Reisen vorbereitet und sie rückblickend schriftstellerisch nachbereitet, vgl. von Bunsen, Die Welt, in der ich lebte (wie Anm. 22), S. 213. Die folgenden Seitenangaben beziehen sich auf Marie von Bunsen, Im Fernen Osten. Eindrücke und Bilder aus Japan, Korea, China, Ceylon, Java, Siam, Kambodscha, Birma und Indien, Leipzig 1934.

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nahezu schwärmerisches Verhältnis zu China wird durch die im Text immer wieder einfließenden Vergleiche mit anderen Ländern und Städten hochstilisiert. Sie ist ständig auf der Suche nach dem unberührten Asien (65), freut sich, wenn kein Europäer zu sehen ist (69), doch auch ihre Episoden haben die Europäer als Stützpunkte in der chinesischen Welt zum Ausgangspunkt: Diese verläßt sie dann, um sich ganz in China einzufühlen. Landschafts- und Naturschilderungen stehen in Einklang mit dem »unberührten China« (71). Natur und alte Kultur verschmelzen für von Bunsen zu einem: »Ein Hauch hochverfeinerter, verblaßter Kultur lag über diesen Inseln« (70). Sie sucht negative Klischees von früheren Reisebeschreibungen zu mildern, indem sie auch auf den Schmutz der Städte E u r o p a s im 18. Jahrhundert hinweist, als damals E u r o p ä e r über die Sauberkeit der chinesischen Städte staunten (68). Die Volksm e n g e ist farbenfroh, sie selbst fühlt sich wohl in ihr (69). Sie begegnet g r o ß e n und vortrefflich gewachsenen Männern, Alten mit »durchgeistigten klugen Gesichtern« (69). Peking, welches Elisabeth von Heyking als »Kloake« bezeichnete, ist für sie die schönste Stadt der Welt und der G a n g auf der alten Stadtmauer »tief beeindruckend, unvergeßlich« (64): Diese Charakterisierung wird am Beginn ihrer China-Ausführungen mit den Äußerungen des britischen Gesandten kontrastiert, der an der M a u er »gar nichts« fand. Die überall anzutreffende blaue Kleidung aller Schattierungen ist für sie »eine blaue Symphonie« (65), die unterschiedlichen Brückchen in einem Park stellen einen »stetefn] ästhetischen Genuß« dar (72). E s ist ganz im Gegensatz zur Schilderung Hannah Aschs geradezu ein unwirkliches ästhetisches China der feinen Sinne, welches Marie von Bunsen hier dem Leser präsentiert, ein China der Harmonie auf allen Ebenen, in das sich die Reisende einfühlt; so sucht sie sich europäische Gastgeber, die ebenfalls »viel Verständnis für chinesische Eigenart und Kultur« haben (71). Nur eine Bruchstelle zeigt sich in diesem Bild der Harmonie: Als von Bunsen auf der Suche nach einer Unterkunft das unsaubere und ärmliche Zimmer eines chinesischen Gasthauses ablehnt: »Ich bin anspruchslos, doch gibt es Grenzen« (66). Hiermit nimmt sie zugleich eine Grenzziehung zwischen ihrem China der ästhetischen W a h r n e h m u n g und dem realen China vor, welches sie letztlich nicht ertragen kann und (un)bewußt aus ihrem Bilde aussparen m ö c h t e Diese selektive Wahrnehmung ermöglicht es ihr, als Ergebnis ihrer Reisen ein anhaltendes Gefühl der Bereicherung und Beglückung festzuhalten. So ist im Nachhinein nur die Freude dieser Reisen geblieben, nie

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g a b es ein Unbehagen. Im Einsfühlen mit und Aufgehen in der N a t u r und Kulturharmonie Chinas hat sie Befriedigung erfahren und nicht in der Bewältigung realer oder imaginierter Gefahren Selbstverwirklichung gesucht. M a r i e von Bunsens Lebensgefìihl, ihre Vorstellung, sich in China »einfühlen« zu wollen, läuft den exotistischen Vorstellungen e t w a eines Victor Segalen parallel, der, angezogen von der Fremde als einer positiven Gegenwelt, diese nicht durch intellektuelles Begreifen erschließen will, sondern durch einen gefühlsmäßigen Akt sich in das F r e m d e hineinversetzen, es sich einverleiben möchte. 2 7 So verleibt sich auch M a r i e von Bunsen die für sie ästhetischen Seiten des Landes ein, u m andere, weniger ansprechende zu verwerfen. Sie proklamiert, die Welt der E u r o päer sowohl räumlich als auch gedanklich verlassen zu wollen. D o c h diese Grenzziehung ist nicht absolut, sie ist nach wie vor auf bestimmte E u r o p ä e r »mit Verständnis fur chinesische Eigenart und Kultur« (71) angewiesen, ebenso wie sie sich nicht völlig in chinesisches Leben hineinbegibt: D a s chinesische Gastzimmer lehnt sie als unsauber ab, sie kehrt in die europäische Enklave zurück. Diese Schwellensituation spiegelt sich auch in ihrem U m g a n g mit chinesischen Bediensteten wider. Die europäische Welt in China als Zufluchtsort im Rücken, kann sie sich dem Betrachten chinesischen Lebens widmen, ohne mit diesem vertraut w e r d e n zu müssen. So kann sie sich ihr Gefühl vom China der H a r m o n i e in N a t u r und Kultur erhalten - dies zu einem Zeitpunkt, als das Kaiserreich gestürzt und das Land von Unruhen heimgesucht wurde.

V.

Alma Karlin: Weibliches Credo und pittoreskes und enttäuschendes China

Alma Karlin, die bereits im Titel ihrer 1932 veröffentlichten Reisebeschreibung ihr dominantes Reisegefühl mit Blick auf ihre Frauenrolle charakterisiert, sieht sich auf einer »einsamen Weltreise«. D a s B e w u ß t sein, als Frau und Österreicherin deklassiert zu werden, k o m m t - so sieht es Pelz - bereits in der immer wieder gewählten Perspektive des Z w i s c h e n d e c k s zum Ausdruck. 2 8

27 28

Vgl. besonders Victor Segalen, René Leys, Frankfurt a. M. 1982. Vgl. Pelz, Reisen durch die eigene Fremde (wie Anm. 5), S. 239.

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Karlins Beschreibung durchzieht das ständige Eingeschlossensein in Räume und ihre Kämpfe als Frau um das Verfugungsrecht über ihren Körper. Ihre gesamte Weltreise erscheint »als eine unendliche Reihe von katastrophalen Erfahrungen, die alle Wünsche und Vorstellungen an der unsichtbaren Schranke< des weiblichen Geschlechts zerbrechen lassen«. 29 Im Jahre 1919 ist Karlin, wie sie in späterer kritischer Selbsteinschätzung äußert, mit Anzeichen von »Größenwahn« (13) aufgebrochen; sie sah sich als »modernen Columbus eine neue Welt entdecken« (13). 3 0 Da sie bereits einige europäische Länder bereist hatte, dachte sie sich die Welt wie Europa, und sie beschreibt sich »ganz wie ein ahnungsloses Kind, das in ein leckes Boot klettert« (14). Blindlings auf ihr (Sprach-) Wissen vertrauend, trieb sie kühn ins Ungewisse, ließ sich drängen: »Es muß sein. Was mich da zwang, war nicht Abenteuerlust; es war der Ruf einer gestellten unabweisbaren Aufgabe« (14). Ihr Drang in die Ferne fuhrt jedoch nicht zu einem befriedigenden Endergebnis im Sinne eines Erfolgs der Reise. Ihre Aufzeichnungen stellen keine Erfolgsbilanz dar, sondern sind Schilderungen ihres Scheiterns, geradezu als Warnung für ihre Geschlechtsgenossinnen verfaßt, sich nicht unüberlegt in ähnliche Erfahrungen zu stürzen (113). Karlin schildert ihr Frausein als Behinderung, nimmt sich auf dieser Reise als Fremdkörper wahr, der nicht mehr in der Lage ist, »gegenüber der Fremde Sammlung und menschliche Subjektivität zu erwecken« - so zieht Pelz ihr Fazit. 31 Auch ihre mehr als sechsmonatigen Aufenthalte in China: Peking, Kanton, Amoy, Shanghai, Hongkong und die Insel Formosa, sind trotz ihrer positiven Erfahrungen und obwohl sie dort Freunde, »das höchste irdische Gut« (268), gefunden hat, von dieser »Behinderung« ihres Frauseins überschattet. Ohne fur China konkrete Belästigungen festmachen zu können, sind es ihre inneren Empfindungen, die sie - auch wenn sie sich gerade wie im Märchenland wähnt - in einen psychischen Abgrund stoßen, der sie die Flucht antreten läßt. Es handelt sich - der Leser oder die Leserin kann und soll hier wohl extensiv interpretieren 32

29 30

31 32

Vgl. ebd., S. 241. Die folgenden Seitenangaben beziehen sich, sofern kein Name genannt wird, auf Alina Karlin, Einsame Weltreise. Erlebnisse und Abenteuer einer Frau im Reich der Inkas und im Fernen Osten, Minden o. J. (1932). Vgl. Pelz, Reisen durch die eigene Fremde (wie Anm. 5). S. 243. Inwieweit die Darstellung Karlins direkt von Marketing-Strategien des Verlags beeinflußt ist, kann hier leider nicht geklärt werden. Ihr Buch Einsame Weltreise erzielte, wie auch ihre anderen Publikationen, anscheinend höhere Auflagen.

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- anscheinend um eine Begegnung mit dem »Märchenprinzen« ihres Herzens, der sie dazu bringt, Eimer voll Tränen zu weinen, »eben weil die Japaner selbst in der höchsten Leidenschaft Selbstbeherrschung bewahren und gerade diese Eigenschaft mir die g r ö ß t e B e w u n d e r u n g abzwingt« (287). D o c h Karlin will ihre Rasse nicht verraten: » E s ist ein Verbrechen an uns und an den anderen. E s fuhrt auch nie, nie z u m Glück. Ich m u ß t e alles lassen und fliehen« (ebd.). Und so sieht sie sich weiter in die unbekannte und gefährliche Welt reisen: »Einsam, mit abnehmenden Mitteln, vom Fluch meines Geschlechtes begleitet. W i e unendlich leicht reist dagegen ein Mann« (288). Alma Karlin verläßt das Schiff, mit dem sie entlang der chinesischen K ü s t e reist, die Häuser der Missionare, in denen sie Unterkunft findet, die von einem österreichisch-chinesischen Ehepaar g e f ü h r t e Pekinger Pension oder das H a u s von Freunden, um das Alltagsleben zu erkunden und die örtlichen Sehenswürdigkeiten, oft auch in Begleitung ihrer Gastgeber, zu besichtigen. Sie dringt ein in das Leben in den Gäßchen, ohne j e d o c h Kontakt zu den Einheimischen zu suchen, es sei denn dieser ergibt sich offiziell und durch Reiseformalitäten bedingt, wie auf F o r m o s a , durch die Notwendigkeit, Visa und Genehmigungen zu erlangen. Sie wohnt im H a u s e von Japanern, gibt diesen, die als Besatzungsmacht a u f F o r m o s a sind, Sprachunterricht, doch letztlich sind auch diese B e g e g nungen mit den B e w o h n e r n nicht des Erzählens wert. A u f ihrer Reise läuft China ab wie die Aufeinanderfolge von Szenen ständig wechselnder Panoramabilder; es geht ihr auch nicht um Wissen von Land und Leuten, es geht ihr darum zu berichten, »wie jedes Land und Volk auf mein innerstes Empfinden verschieden eingewirkt hat« (3). Und da steht China im Vergleich zu dem vorher besuchten Japan weit zurück. A u f ihr Innerstes haben in diesem Sinne Chinas »geheimnisvolle Tempel, der Schatten des Mystischen, Düster-Grauenhaften, der zauberhafte Aberglaube, der in fremde Welten versetzt«, anziehend gewirkt, während die Chinesen »als Volk gegen Ausländer grob sind, abscheulich herumspucken [. . .] und von der Reinlichkeit des Nachbars keinen Begriff« (241) haben. Peking wird zum einzigen Ort, der sie nicht enttäuschte, die alte Chinesenstadt war so, »wie man sich das daheim so vorstellt« (246). Karlin arbeitet mit sparsamen Vergleichen, demonstriert j e d o c h dadurch jeweils ihre Kompetenz als Weltreisende, die sich dieser V e r gleiche bedienen darf. Ihre gesamte Schreibweise ist entsprechend ihrem C r e d o ich-bezogen, Gesehenes wird vielfach mit pragmatischen O p e r a -

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toren gezeichnet, in denen bereits ihre Einstellung zum A u s d r u c k gebracht wird. Sie »irrt« durch die Hintergäßchen Pekings (260) und läßt sich von chinesischer Musik »vollklirren« (266). China stellt für sie anders als die Südsee keine niedrigere Entwicklungsstufe der menschlichen Kultur dar, sondern das Denken der Asiaten b e w e g t sich »in anderen Kreisen als das unsrige« (298). Dieses A n d e r e wird in Begriffen wie: »Der Osten ist eigenthümlich« gefaßt: »Der Osten mit seiner Mystik sagt dem tieferen Ich etwas, das für mich in j e d e m Fall über all d e m steht, was der abgeklärte Westen [oder ist es nur der unaufgeklärte?] auf diesem Gebiete eingesteht« (298). D e m mystischen Osten stellt sie den materialistischen Westen gegenüber. Diese Mystifizierung des Ostens bei Ablehnung des »materialistischen Westens« w a r u m die Jahrhundertwende und insbesondere nach den Zerstörungen des Ersten Weltkrieges in desillusionierten Kreisen deutscher Intelligenz weit verbreitet. 3 3 Ihr weltanschauliches Credo bleibt j e d o c h abgehoben von ihrer Schilderung konkreter, selbsterlebter und erzählter Ereignisse, von K o p f j ä g e r n auf Formosa, Kinderleichen, die im Fluß schwimmen, von Heuschrecken, die gefangen und gegessen werden, und von farbigen Hennen, die auf diese Weise als Eigentum ihrer Besitzer gekennzeichnet sind. Karlin proklamiert, die »Seele des Landes« sehen zu wollen und glaubt, mit ihrem Blick aus dem Fenster eines W o h n h a u s e s in F o r m o s a in die umgebenden chinesischen Wohnungen »mehr über den Osten [gelernt zu haben], als wenn ich drei Jahre lang in einem erstklassigen Hotel gelebt hätte« (276). So grenzt sie sich von einem Globetrotter-Ehepaar ab, das alles vorschriftsmäßig abgraste und v o m Land soviel sah, »wie jemand bei einer Kinovorstellung: nichts als Bilder ohne Seele darunter« (271). Karlin hat tatsächlich mehr Einblicke von außen in das Leben der Bevölkerung aufgrund ihrer Streifzüge durch die Gassen, auch teilweise allein. Dabei nahm sie sich als unscheinbar wahr: »Mit zusammengekniffenen Augen eile ich durch das enge Winkelwerk [der Straßen] und sehe doch alles« (290). Doch sie überschreitet die Grenze zum Anderen nicht in ihrer selbstgewählten spezifischen Frauenrolle und in ihrer rassisch geprägten klaren Grenzziehung, die sie zwischen sich und den B e w o h nern macht D a s gilt auch fur die Frauen, denen sie begegnet, und ihre Äußerung, daß die Frauen der ganzen Welt gut seien (248), bleibt deklamatorisch. Wie Marie von Bunsen betont Alma Karlin die Subjektivität 33

Vgl. dazu Günllier, Aufbruch nach Asien (wie Anin. 9)

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ihrer Eindrücke. Doch während Bunsen sich in das Andere einfühlen will, geht es Karlin umgekehrt um die Wirkungen des Landes auf ihre Person. Und während Bunsen ihre Person in der proklamierten Harmonie Chinas aufgehen sieht, steht in Karlins Schilderung das Ich im Vordergrund. Die Welt der Europäer, die Bunsen sporadisch verläßt, ist für Karlin ebenfalls wichtig, jedoch nicht ausschließlich, sie durchbricht sie zumindest räumlich, indem sie bei einem japanischen Freund wohnt. Was bei Bunsen zu persönlicher Befriedigung fuhrt, gerät bei Karlin zu Enttäuschungen. Beide sind jedoch trotz dieser Unterschiede in ihrem Lebensgefühl der Strömung der zwanziger Jahre verhaftet, im Osten die unberührte Natur, die verlorengegangene Mystik suchen zu wollen, eben das gegenüber der materialistischen Industriezivilisation des Westens Andere. In ihrer artikulierten Subjektivität und ihrer Wahrnehmung des Landes können sie mit männlichen Reisenden mit ähnlichem Lebensgefuhl verglichen werden. 34

VI.

Ella Maillart: Selbstverwirklichung und Entdeckerfreude im Einklang mit der Gegen-Zivilisation

Die Schweizerin Ella Kini Maillart schildert in ihrer 1936 in Berlin erschienenen Beschreibung Verbotene Reise. Von Peking nach Kaschmir ihre Reise im Jahre 1935, die sie gemeinsam mit dem Korrespondenten der Times, Peter Fleming, gemacht hat. Als Seglerin und Skifahrerin sie nahm u. a. als Schweizer Vertreterin an den Olympischen Spielen teil - war sie bereits eine namhafte Persönlichkeit, als sie sich Anfang der 30er Jahre einer Expedition in der Sowjetunion anschloß. Ihre Publikation darüber wurde ein verlegerischer Mißerfolg, 35 doch 1932 ging sie erneut nach Moskau und weiter nach Russisch-Turkestan, von wo sie sich nach China begeben wollte. Da ihr dies nicht gelang, blieb sie im zentralasiatischen Samarkand, in Taschkent und Buchara und machte allein - das heißt nur unter Begleitung einheimischer Führer - einen Ritt durch die Wüste. Der Bericht über diese Erlebnisse wurde nun ein großer Erfolg, so daß sie 1934 genügend Finanzmittel und Aufträge großer 34 35

Vgl. Yü-Dembski, Traum und Wirklichkeit (wie Anm. 2), S. 55f. Maillarts erste Schreibversuche über ihre Reise in den Kaukasus fand ihr Verleger zu wenig dramatisch, da der Leser »vom langweiligen täglichen Leben entruckt werden« wolle, vgl. Ella Maillart, Leben ohne Rast. Eine Frau fahrt durch die Welt, Wiesbaden 1952, S. 67.

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Zeitungen hatte, um als Sonderberichterstatterin nach China zu gehen mit der Idee, nun von Peking aus über das zentralasiatische Turkestan nach Indien zu gelangen. 36 Dabei »haßte« Maillart »die Schreiberei und war keine geborene Journalistin. Aber sie hatte es schon mit vielerlei probiert, und die journalistische Tätigkeit war die einzige, die ihr ermöglichte, zu tun, was sie wollte; so nahm sie denn, mit einer gewissen Belustigung, die Rolle einer Sonderberichterstatterin an«. 37 Für Maillart war China ein »Märchenland«, ein »Traum der Kinder«, in das sie »einzudringen« suchte. 38 Sie wollte »den rätselhaften Charakter der Chinesen ergründen«, und »ob die Eingeborenen dort glücklicher sind als ihre Brüder in Sowjet-Turkestan« (9f.). 39 Die äußere Zielsetzung der Reise, nämlich Informationen zu sammeln über die politische Entwicklung in Xinjiang und Turkestan, welches seit einiger Zeit nicht mehr fur ausländische Beobachter zugänglich war, wird von Maillart wie ihrem Begleiter letztlich als sekundär angesehen. 40 Wichtiger war ihr wie Fleming es ausdrückt - ihrer beider »Eigennutz«, nämlich daß sie »reisen wollten, weil wir auf Grund früherer Erfahrungen glaubten, daß wir Spaß daran haben würden«. 4 1 Maillart spricht nachdenklich von einem »Drang«, der sie in alle vier Enden der Welt treibt, ein Drang, »immer wieder etwas Neues zu sehen « »Welches ist die Ursache dieser Neugier, die mich stachelt, dieses Bedürfnis zu sehen, zu begreifen? Richte ich vielleicht nur deshalb Schwierigkeiten vor mir auf, um die Genugtuung zu haben, sie zu überwinden? Woher diese Lockungen, denen ich blindlings folge und die statt meiner entscheiden?« (265) Sie ist auf der Suche nach sich selbst, nach dem eigenen Ich. Ihre Isoliertheit auf der Reise, ihr Fernsein von Freunden haben ihr die eigene Entbehrlichkeit fur die »Lebensordnung« - wie sie schreibt - gezeigt, doch 36

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Vgl. Peter Fleming, Tataren-Nachrichten. Eine Reise von Peking nach Kaschmir, Berlin 1936, S. 23f. So wird Maillart von ihrem Reisegefährten Fleming charakterisiert, in: ebd. (wie Anni. 36). S. 24. In ihrer Autobiographie Leben ohne Rast betont Maillart jedoch ganz im Gegenteil. daß sie als Kind nie vom Reisen geträumt habe, sondern ein Mädchen wie viele andere auch gewesen sei (wie Anni. 35). S. 9. Die folgenden Seitenangaben beziehen sich auf Ella Kini Maillart, Verbotene Reise, Von Peking nach Kaschmir, Berlin 1936. Nach einschlägigen Erfahrungen hatte Maillart bereits früh den Vorsatz gefaßt. niemals »über Gegenstände mit politischem Einschlag, der mich ohnehin nicht interessiert, Bücher zu schreiben oder Vorträge zu halten«, vgl. Maillart. Leben ohne Rast (wie Anni. 35), S. 69. Vgl. Fleming. Tataren-Nachrichten (wie Anm. 36). S. 20.

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letztlich: » W o r a u f es ankommt, das bin ich, mein Ich, das fur mich nun einmal der Mittelpunkt der Welt ist; dieses Ich, das bisher noch nicht die Zeit dazu g e f u n d e n hat, etwas Wertvolles zu vollbringen, etwas das über mich selbst hinaus dauert, mich vor dem Nichts errettet und - wenn auch in noch so geringem M a ß e - dieses Verlangen nach Ewigkeit befriedigt, das in mir ist« (264f). Hier wird Maillarts starkes Bedürfnis nach Selbstverwirklichung reflektiert, sei es durch herausragende sportliche Leistungen oder - in ihrer späteren Phase - durch die Selbstbeh a u p t u n g in einer fremden Welt. Daher die ursprüngliche und nur zögerlich aufgegebene Absicht, allein, das heißt ohne europäische Begleiter, zu reisen, weil sie sich so weit mehr gefordert fühlt. Die K a m e r a d s c h a f t mit Fleming registriert sie als erfreulich, aber auch als »Verlust fur mich: sie brachte mich um das eigentliche Entdecker-Hochgefühl, das das Schönste an meinen früheren Reisen gewesen war. Die prickelnde Freude, das berauschende Bewußtsein, daß ich mir selbst einen W e g bahnte, die stolze Genugtuung, daß ich mir ganz allein aus jeder Klemme helfen konnte, dies alles, woran ich gewöhnt war, ging mir dadurch verloren.« In Gestalt Flemings fühlt sie sich von einem Stück E u r o p a begleitet, welches verhindert, daß sie »mehr in diesem Asien u n t e r t a u c h t e ] « (55). Maillarts Entdeckerlust und ihre Absicht und Genugtuung, sich in f r e m d e m Land zu behaupten, unterscheidet sich j e d o c h von der männlichen E n t d e c k e r - und Expeditionsreise, beispielsweise bei Sven Hedin und Wilhelm Filchner. Hedin und Filchner, deren letzte China- und Z e n tralasienexpeditionen in den zehn Jahren vor Maillarts Reise liegen, suchten ebenfalls ihre Selbstverwirklichung, doch sie erkämpften diese in einem prinzipiell als feindlich geschilderten Land und gegen deren B e wohner, die der eigenen weißen Rasse als unterlegen gezeichnet w u r den. Die Selbstverwirklichung dieser männlichen Helden erfolgte gegen die als feindlich gezeichnete Umwelt. 4 2 Demgegenüber sucht Maillart ihre Selbstverwirklichung im Einklang mit ihrer U m g e b u n g und den Menschen, sie will »untertauchen«. Sie sucht sich Menschen und N a t u r ideell anzueignen, will sich eins fühlen mit der Natur, mit »dem K a r a w a nengetriebe« (99) und der Steppe: »Ich hatte die Steppe erreicht - sie w a r mein. Ich fühlte mich unüberwindlich - ein seltener Augenblick des

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Vgl. Mechthild Leutner, Helden, ihre Kämpfe und ihre Siege - Sven Hedin und Wilhelm Filchner in China und Zentralasien, in: Mein Bild in deinem Auge. Exotismus und Moderne: Deutschland - China im 20. Jahrhundert, hg. v. Wolfgang Kubin, Darmstadt 1995, S. 83-102.

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Glücks« (84). Den Menschen, mit denen sie zusammentrifft, gibt sie Namen und Individualität - wie den Europäern und ungeachtet der sozialen Schichtzugehörigkeit. Die auch bei Maillart zu beobachtende Entgegensetzung von Zivilisation gleich Europa und gleich europäische Enklaven im Lande einerseits und dem einfachen naturhaften Asien, dem »einfachen freien Leben unter dem weiten Himmel Asiens« (292) andererseits fällt nicht zugunsten der Zivilisation aus. Die Reisende hat keinen Wunsch nach Europa (99), sondern fiihlt sich angeregt, über den relativen Wert eben dieser Zivilisation nachzudenken (129). Als am Ende der Reise die Rückkehr in die Zivilisation erfolgt, fühlen sich Maillart und Fleming selbst »wie richtige Wilde«, die sich am Anblick all der wohlgesitteten Paare im Hotelspeisesaal »ergötzten« (292). Westliche Zivilisation und einfaches naturhaftes Leben der Nomadenvölker: Für Maillart ist es eine Welt, in der rassische Unterscheidungen nichts bedeuten (293), es ist eine Menschheit, die sie zu verstehen sucht. Mit diesem einfachen Leben möchte sie ihr eigenes Leben in Einklang bringen (150). Dieses einfache Leben wird jedoch anders als bei Bunsen nicht weiter verklärt, sie sieht auch die Probleme dieser Menschen: »So finde ich selbst im Innern Asiens, wo ich endlich freie, wenn auch arme Menschen anzutreffen hoffe, eine wirtschaftliche Sklaverei und einen nationalen Antagonismus ebenso unerfreulicher Art, wie in irgendeinem Teil der heutigen Welt« (141). Forscher- und Entdeckerdrang, wie sie fur Hedin und andere Forschungsreisende zu beobachten sind, verbinden sich bei Maillart mit Ideen der Zivilisationsflucht und der Begeisterung fur das einfache Leben, gepaart mit der Sinnfrage. 43 Geschlechtsspezifische Ausprägungen sind auf den ersten Blick schwer auszumachen. Die ihr von Fleming gezollte Hochachtung bezüglich ihres Mutes und ihrer Ausdauer, ihrer unverwüstlich guten Laune und ihres Taktgefühls während der monatelangen, oft strapaziösen Reise durch »ein Gebiet, das bisher noch keine weiße Frau betreten hat«, 44 macht etwas explizit, was Maillarts Schilderung nur erahnen läßt. Sie nimmt ihre Person (mit Ausnahme ihrer Reflexionen) bei der konkreten Schilderung des Reiseverlaufs so weit zurück, daß Verletzungen und Strapazen eher beiläufig als Grund für ein be-

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Vgl. Yü-Dembski, Traum und Wirklichkeit (wie Anm. 2), S. 53f. Vgl. Fleming, Tataren-Nachrichten (wie Anm. 36), S. 8f.

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stimmtes Reiseverhalten Erwähnung finden. 45 Sie stellt ihr Frausein nicht aus, reist nicht im Bewußtsein der Andersartigkeit, selten nur beschreibt sie Situationen, wo ihr Geschlecht beim Zugang etwa zu Frauenräumen eine Rolle spielt. Ihr Frausein wird ausgeklammert, ihr Verhalten gegenüber der Umgebung, auch wenn nötig in Männerkleidung, wird nahezu geschlechtsneutral gezeichnet. Was Männer leisten, will sie als Frau auch leisten. Doch in bezug auf ihren Reisegefährten nimmt sie die Rolle der Frau ein: Er bietet ihr ritterlich das bessere Pferd an, die Aufgabenteilung ist klassisch: Er geht auf die Jagd, vertritt die kleine Expedition als Leiter nach außen, 46 sie kocht und näht, verwaltet die Lebensmittel und sorgt fur gute Laune. Diese Aufgabe ihrer »Unabhängigkeit« ist ihr bewußt, 47 doch sie hat mit ihrer Akzeptanz eines Gefährten auch diese interne Rollenverteilung akzeptiert.

VII. Gertrud Goeke: Deutsches Leben in der Kolonie Hongkong Gertrud Goekes China-Erlebnisse mit dem Haupttitel Schwingende Laternen erschienen 1944. Bereits 1925 war sie ihrem Mann gefolgt, der Deutschland aufgrund der anhaltenden wirtschaftlichen Rezession verlassen hatte, um in Hongkong sein Glück als Kaufmann zu machen. 1939 kehrte sie aus gesundheitlichen Gründen nach Deutschland zurück. Ihre Skizzen aus 14 Jahren beziehen sich auf Hongkong und wenige kurze Reisen nach Südchina. Sie sind geprägt von der Perspektive einer Kaufmannsfrau, die sich vorbehaltlos mit den Zielen der deutschen Kaufleute, sich gegen die englische kaufmännische Übermacht durchsetzen zu wollen (und zu müssen), identifiziert. Hongkong erscheint als 45

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Sie kann z. B. nach einem langen Ritt keine tibetanische Hütte besichtigen, weil sie wie gerädert ist. Daß sie sich gerädert fühlt, steht nicht im Zentrum der Darstellung (107). In den Verhandlungen mit den Einheimischen über die Bereitstellung von Transportmitteln und Unterkünften hat Fleming - sofern dies in beiden Reisewerken ersichtlich ist - die Verhandlungsführung. Wo Maillart sich explizit dazu äußert, unterscheidet sich ihre Position nicht von der Flemings: Beide drohen auch gelegentlich, um ihre Ziele zu erreichen; vgl. Maillart, Leben ohne Rast (wie Anm. 35), S. 121. Die in Blake, A w o m a n ' s trek (wie Anm. 15), herausgearbeiteten Unterschiede von weiblicher und männlicher Verhandlungsführung und ihre daraus abgeleiteten unterschiedlichen Wahrnehmungsweisen der Einheimischen lassen sich hier nicht beobachten. Maillart registriert, daß sie keine Initiative und Verantwortung übernehmen muß und auch ihre Entschlußlahigkeit abgestumpft ist, vgl. ebd., S. 126.

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Schlachtfeld zur Durchsetzung nationaler Wirtschaftsinteressen, der deutsch-englische Gegensatz in der weißen Enklave der Kolonie durchzieht ihre Schilderung wie ein roter Faden. Eine deutsche Hausfrau im gemütlichen deutschen Heim: D a s wird positiv abgesetzt gegenüber der nach Bridge, Golf und Tennis vergnügungssüchtigen Engländerin, die nicht einmal wisse, w o sich die K ü c h e in ihrem Haushalt befinde (15), 4 S Die Schilderung dieses »deutschen Lebens« in H o n g k o n g schließt mit ein den U m g a n g und die Probleme mit der zahlreichen chinesischen Dienerschaft (ζ. B. 41); dem K o c h bringt sie mühsam deutsche Gerichte bei, einem chinesischen Diener verbietet sie nachts das Aufsuchen der Spielhöllen. Nicht mehr alle Chinesen sind Kinder - wie es verbreiteter T o p o s in der Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts war - sondern nur noch die Dienstboten, die Untergebenen, die mit Milde und Strenge zu erziehen sind. Die kleine deutsche Gemeinde, die gute deutsche Gemütlichkeit (67) und - als willkommene Abwechslung - die anlegenden deutschen Schiffe sind die Welt Gertrud Goekes, die Heim, Rückzug und letzten Endes auch einen sicheren R a u m bietet, um das »malerische H o n g k o n g « (24) aus der Distanz zu sehen. Denn aus der Nähe stellen sich die Gäßchen und Straßen einer chinesischen Stadt, wie etwa in Kanton bei einem Besuch, schmutzig, wenig appetitlich dar, zumal man sich ständig auf der Flucht v o r den Scharen der Bettler befindet (28f.). Die Hochzeit des Sohnes eines chinesischen Geschäftspartners wird sachlich beschrieben: Die einzelnen äußeren Handlungsabläufe werden aus den Interessen der Familie her interpretiert, j e d o c h nicht kommentiert. Leicht ironische Kommentare, auch über ihre individuelle Befindlichkeit, finden sich lediglich in den Darstellungen ihres Verhältnisses zur Dienerschaft. Einzelne Topoi geraten j e d o c h unversehens in ihre sich objektiv gebenden Skizzen aus dem chinesischen Leben hinein. In ihrer kleinen Geschichte über das M ä d chen Ching-mai, das gegen ihren Willen verheiratet wird, heißt es. »Dann hatte sich Ching-mai mit dem ihrer Rasse eigenen Gleichmut abgefunden« (56f). Das hier zum Ausdruck kommende Vor-Urteil über die chinesische Rasse dient ihr zur Bestätigung, wie es bereits auch Grundlage für ihre Wahrnehmung war. Neben den kleinen Geschichten aus dem Alltagsleben kann der Leser im Verlaufe des Buches die tragische Geschichte einer jungen Deutschen 48

Die folgenden Seitenangaben beziehen sich auf Gertrud Goeke, Schwingende Laternen. China-Erlebnisse, Hamburg 1944.

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verfolgen, die in ihrer Heimat einen gebildeten Chinesen geheiratet hatte und nun im chinesischen Aberdeen sich unversehens als Zweitfrau und von der g r o ß e n Familie nicht akzeptiert wiederfindet. N a c h leidvollen Erfahrungen entschließt sie sich, trotz ihrer zwei Kinder ihren Mann, der sich wieder ganz seiner Umgebung angepaßt hat, zu verlassen und nach Deutschland zurückzukehren: »Mein Mann ist mir f r e m d g e w o r d e n , [ . . . ] alles Gefühl für ihn ist in mir längst erstorben. Der dunkle T o n seiner H a u t stößt mich ab, und mit Widerwillen verspüre ich den K ö r p e r geruch einer fremden Rasse. Zwei Dinge, die mir in E u r o p a nie b e w u ß t g e w o r d e n sind.« (198) Die Unvereinbarkeit der Rassen, wie dies auch bei Karlin deutlich wurde, und damit des Zusammen-Lebens, das ist das Fazit des Buches. Hier die deutsche Zivilisation, dort das chinesische Leben, einerseits pittoresk mit malerischen, fremdartigen Sitten und Gebräuchen und den Geschichten der Dienerschaft, andererseits nichtzivilisiert mit dem Schmutz, dem Spucken und mit Chinesen, die letztlich nicht erziehbar sind und deren Unzivilisiertsein beim kleinsten N a c h lassen der (deutschen) Kontrolle wieder zum Vorschein kommt. Die Geschichten über die chinesische Dienerschaft und die über deren Erzählungen möglichen Einblicke in chinesische Alltagssitten und chinesisches Familienleben, die tragische Geschichte der deutschen Frau Sun - diese Einblicke waren wohl nur einer Frau möglich und zugleich berichtenswert. G o e k e findet allerdings in diesen Erlebnissen des einfachen häuslichen Lebens, in dem deutsche Zivilisation mit chinesischer Nicht-Zivilisation aufeinanderprallen, eine Bestätigung ihres Selbstwertgefuhls als Deutsche, um das sie - nach der Niederlage des Ersten Weltkrieges und beim Verfassen ihrer Erlebnisse während des Zweiten Weltkrieges - glaubt, gegen die Engländer in H o n g k o n g kämpfen zu müssen.

VIII. Zusammenfassung: Selbstbilder und Fremdbilder Reisen als Selbstverwirklichung, zur Demonstration von Unabhängigkeit, Kraft und Sinnlichkeit: die Intentionen der in China reisenden Frauen stehen denen der Männer nicht nach. Und da die aus Familienbanden und bürgerlichen oder adligen Konventionen ausbrechenden Frauen relativ wenige waren, hat die reisende Frau besonders fasziniert, w u r d e ihre Reisegeschichte gelesen (und interpretiert) »als sehr spezifische femi-

Die Fremde und das eigene Ich nistische Erfolgsgeschichte«

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Tatsächlich bedeuten die R e i s e bezieh-

ungsweise der Aufbruch zur Reise für alle alleinreisenden Frauen den Ausbruch aus tradierten gesellschaftlichen Rollenzuweisungen, aus der Frauen zugesprochenen Ordnung. Ihr Aufbruch ist als Akt der Emanzipation zu sehen, wobei Emanzipation hieß, wie die Männer handeln, reisen, die Welt entdecken zu können. Sie überschritten damit die gesellschaftlich fixierten Geschlechtergrenzen durch den räumlichen Auf- und Ausbruch. Dabei stand bei den Weltreisenden die Bewegung, die Reise an sich im Vordergrund, während die Ziele sekundär waren. Die Ziele, sprich hier China, waren letztlich lediglich die Verkörperung des Anderen insofern, als hier die in der eigenen Gesellschaft eingenommene geschlechtsspezifische Rolle sekundär war. Nur in diesem Sinne kann meines Erachtens davon gesprochen werden, daß die reisenden Frauen im Grenzbereich der eigenen Kultur agierten. 5 0 Sie begaben sich zwar durch den Bruch mit der weiblichen Rolle in den Grenzbereich, aber sie überschritten diese Grenze der eigenen Kultur nicht - ebensowenig wie dies bei der Mehrzahl der männlichen Reisenden der Fall war. Sie nahmen das Andere und Fremde aus dem Blickwinkel ihrer eigenen Kultur wahr. 5 1 Das heißt, es erfolgt - gerade auch in der Konfrontation mit dem Anderen, welches als »unvereinbar« mit der eigenen Zivilisation (ζ. B . Asch, Pfeiffer, Heyking), mit der eigenen Rasse (Karlin) wahrgenommen wird, eben keine Grenzüberschreitung im wörtlichen wie im gedanklichen Sinne. Im Gegenteil, gerade in der Fremde wird diese Grenze zum Anderen als solche bewußt erfahren. Denn gerade hier suchen die Frauen die von den Europäern eingenommenen Räume auf. Diese Orte verlassen sie dann sporadisch, um in chinesisches Straßenleben einzutauchen oder sich einzufühlen, sie bleiben B e o b a c h t e r von außen. S o ist auch die Situierung des Ortes als Ausgangspunkt für die

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Das galt bereits für die reisenden Frauen der Viktorianischen Zeit. V g l . dazu E v a - M a r i e Kröller, First Impressions: Rhetorical Strategies in Travel Writing by Victorian Women, in: Ariel. A Review o f International E n g l i s h Literature 2 1 ( 1 9 9 0 ) , H. 4 , S. 88f.

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Vgl. Pelz, Reisen durch die eigene Fremde (wie Anm. 5). S. 27. Vgl. dazu ebd., S. 2 3 8 . Pelz weist hin auf: Sibylle Benninghoff-Lühl, Deutsche Kolonialromane 1 8 8 4 - 1 9 1 4 in ihrem Entstehungs- und Wirkungszusammenhang. B r e m e n 1983. » I h r Bestehen auf ihrer eigenen Freiheit implizierte nicht notwendigerweise, daß sie es zurückweisen, im heimlichen Einverständnis mit dem Untcrdrückungsgcschäft des Imperialismus zu sein«. Kröller. First Impressions (wie Anni. 4 9 ) , S. 91, stellte dies bereits (ur die reisenden Frauen des viktorianischen Zeitalters fest.

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Aneignung Chinas ein wichtiges Element der Darstellung 5 2 - insbesondere bei Karlin. 5 3 Die Reisenden begeben sich gerade in der F r e m d e in die Obhut der Europäer, ziehen sich immer wieder innerhalb der e u r o päischen Grenzen zurück. D a s trifft fur die Alleinreisenden Pfeiffer, Asch, von Bunsen und Karlin gleicherweise zu, selbst Maillart - teils wider Willen - schleppt ihr Stück E u r o p a in Gestalt ihres Reisegefährten mit. Bei von Heyking und G o e k e liegt die Ausgangssituation anders: Familie und Z u h a u s e sind nach China, in die Fremde verlegt. E r f a h r u n g und W a h r n e h m u n g der Fremde sind nicht geprägt durch den b e w u ß t e n B r u c h mit d e m vergangenen Leben, sondern sind gefiltert durch die Perspektive der Ehefrau, die für ihren Mann (und als abhängige Frau auch fur sich) in China eine Karrierechance sieht und ihn emotional und familiär unterstützt. Die Fremdbilder erfahren im Laufe ihrer B e g e g n u n g mit dem anderen Land, mit China, keine grundlegende Veränderung. Die Vor-Urteile, die zu Anfang des China-Aufenthaltes standen, bestätigen sich, w e n n allein die Reisebeschreibungen genommen werden. Die in China gemachten Erfahrungen werden im Einklang damit präsentiert - auch wenn wie bei Karlin den Lesern die Widersprüchlichkeit zwischen Urteilen und Erlebtem offenkundig wird. Lediglich bei von Heyking ist ein Aufbrechen der Fremdbilder zu beobachten. W a r bei Pfeiffer 1846 das koloniale Überlegenheitsgefiihl noch völlig ungebrochen und zeigte es sich bei Asch und G o e k e noch in ähnlicher Form, so wird bei von H e y king die koloniale Perspektive durch kritische Reflexionen zur F o r m aufgebrochen: In ihrem Roman Tschun (1914) ist zwar auch die in den Tagebüchern skizzierte Idee von der Unvereinbarkeit der zwei Welten aufgenommen, j e d o c h als fast gleichrangige zumindest angedacht. Die Andersartigkeit von Rasse und Volk wird bei von Bunsen, Karlin und Maillart als tendenziell gleichrangig begriffen, bei von Bunsen und Maillart werden China und Zentralasien durch die subjektive Zeichnung tendenziell sogar höherrangig. Trotz dieser Differenzen in der W a h r n e h m u n g des Landes insgesamt werden bei fast allen Autorinnen Chinesen

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Vgl. Brunhilde Wehiiiger, Reisen und Schreiben. Weibliche Grenzüberschreitungen in Reiseberichten des 19. Jahrhunderts, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte. Cahiers d'Histoire des Littératures Romanes 10 (1986), H. 3/4, S. 367, die das für Reiseberichte von Frauen im 19. Jahrhundert feststellt. Bei Karlin, Einsame Weltreise (wie Anm. 30), S. 276, gerät auch das Fenster zur »Proszeniumsloge im Weltkrater«, wie Wehinger (ebd., S. 375) es ausdrückte.

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oder Chinesinnen nicht individualisiert. Sie bleiben wie bei Pfeiffer eine amorphe, namenlose Masse - auch dann, wenn diese schwärmerisch hochstilisiert wird (von Bunsen). Eine Ausnahme ist Ella Maillart, die rassen- und schichtenunabhängig ihre jeweiligen Reisebegleiter und ihre K o n t a k t e mit der Bevölkerung schildert. Für Elisabeth v o n Heyking ragen die Vertreter der Elite des Landes, mit der sie Kontakt hat, zumindest als politische Personen aus dieser gestaltlosen M a s s e heraus, bei Gertrud G o e k e sind es die chinesischen Dienstboten, mit denen sie täglich U m g a n g hat und über die sie Einblicke in das chinesische Leben erhält. Die allgemeine Wahrnehmung Chinas und seiner Menschen als kulturell andersartig verweist gleichzeitig auf das explizite (oder implizite) Ziel dieser Wahrnehmung als eine Dimension des Wechselverhältnisses zwischen Subjekt und Objekt: 5 4 Geht es vorrangig um das eigene Ich oder geht es zumindest auch um das Kennenlernen der anderen Welt? Bei von Bunsen, Karlin und Maillart ist die Herangehensweise an China bzw. Zentralasien von Tendenzen geprägt, die noch allgemein als Reaktion auf den Modernisierungs- und Rationalisierangsschub des 19. Jahrhunderts zu begreifen sind: 55 Es existiert bereits ein Bild des Landes, das im weitesten Sinne durch die Antithese zum materialistischen, technisierten Westen (Karlin) begriffen wird, es ist das unberührte China (von Bunsen), das naturhafte Leben (Maillart), welches der westlichen Zivilisation als positiv gegenübergestellt wird. 5 6 Die Suche nach der Einfachheit und Urspriinglichkeit, nach dem Außergewöhnlichen und Eigentümlichen kompensiert - wie dies Reif sehr gut aufgezeigt hat - Entfremdungserlebnisse der Restriktion, Komplexität und Uniformität, die gerade auch von den Frauen in der eigenen gesellschaftlichen Wirklichkeit

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Auf die Notwendigkeit, diese Wechselbeziehungen zu untersuchen, verweisen bereits Elke Fredericksen/Tamara Archibald, Der Blick in die Ferne. Zur Reiseliteratur von Frauen, in: Frauen Literatur Geschichte. Schreibende Frauen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, hg. v. Hiltrud Gnüg/Renate Mohrmann. Stuttgart 1985. S. 109. Vgl. dazu Peter J. Brenner, Der Reisebericht in der deutschen Literatur. Ein Forschungsiiberblick als Vorstudie zu einer Gattungsgeschichte. Tübingen 1990, S. 565. »Rousseau hatte bereits mit seinem Modell des >Naturmenschen< und des >Urzustandes< das Raster [geliefert], an dem sich die Wahrnehmung der außereuropäischen Kulturen bei den Reisenden orientiert«, vgl. ebd., S. 253.

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erfahren werden. 5 7 Der Drang in die Ferne, 5 8 die verklärt wird - insbesondere in den Landschaftsschilderungen - , wird als etwas nicht erklärbares dargestellt. Dies alles sind Ausdrücke des Exotismus, wie er in den beiden ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhundert bei einer Reihe von Reiseberichten festzustellen ist. Die (allein-)reisenden Frauen können hier im doppelten Sinne als Exotisten gesehen werden, da sie diesen E n t f r e m d u n g s p r o z e ß gegenüber der eigenen Gesellschaft zusätzlich als Frauen erfahren, provoziert und gelebt hatten, indem sie sich der herkömmlichen Rolle als Ehefrau und M u t t e r versagt hatten. In diesem Sinne wird China als exotisch empfunden und entsprechend hochstilisiert - ungeachtet der erfahrenen Realität, die sich mit diesem Bilde teils nicht in Einklang befindet. Fakten w e r d e n nicht berichtet oder bleiben außerhalb der exotischen Idee. Ganz im Unterschied z u m Anspruch der männlichen Forschungsreisenden, China ganzheitlich und wissenschaftlich-objektiv darstellen zu wollen, 5 9 setzen sich die Frauen - teils explizit - davon ab. Ihre Darstellungsweise ist vielfach subjektivistisch und impressionistisch. M o m e n t a u f n a h m e n und Eind r ü c k e werden (wenn auch in chronologischer Folge des Reiseverlaufs) anekdotisch aneinandergereiht, Gefühlen und Stimmungen, die durch Gesehenes und Erlebtes hervorgerufen werden, k o m m t ein g r o ß e r Platz in der Schilderung zu. Die Erschließung neuer Welten und Lebensverhältnisse, das Kennenlernen anderer Kulturen steht selbst bei Maillarts Reise ins »unbekannte« Zentralasien an zweiter Stelle, primär geht es um die Wirkungen dieser Andersartigkeit des Denkens, der Lebenshaltung, der N a t u r auf das eigene Bewußtsein und Lebensgefuhl, auf die Selbstverwirklichung als Mensch und Frau. Bei fast allen ist ein Aufsaugen der Andersartigkeit oder umgekehrt das subjektive Einwirkenlassen der chinesischen Landschaft und Tempel und kleinen Gassen dargestellt. Es ging den Frauen primär und explizit um ihre Selbstverwirklichung, u m die Entwicklung ihrer eigenen Persönlichkeit mit China als

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Vgl. Wolfgang Reif, Zivilisationsfluclit und literarische Wunschräume. Der exotische Roman im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1975, S. 13; S. 24f. Vgl. ζ. B. Karlin, Einsame Weltreise (wie Anm. 30), S. 14 und Maillart, Verbotene Reise (wie Anm. 39), S. 265. Vgl. dazu Mechthild Leutner, »China ohne Maske«. Forschungsreisende, Berichterstatter und Missionare erschließen China in den 20er und 30er Jahren, in: Exotik und Wirklichkeit (wie Anm. 1), S. 67-78.

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Folie. 6 0 Sekundär ging es ihnen darum, zumindest China und seine M e n schen so weit erfassen und begreifen zu können, daß sie in China reisen und leben konnten. 6 1 Dieses Bemühen zeigt sich bei von Heyking und G o e k e , die aus ihrer Familiensituation heraus die meisten K o n t a k t e mit Chinesen hatten, besonders deutlich. Es war vorrangig eine gefühlsmäßige und partielle Aneignung des Gesehenen, dabei war China im Prinzip austauschbar und ersetzbar durch andere R ä u m e - zumindest bei den alleinreisenden Frauen. Der exotische Blick auf China tat der Tatsache keinen Abbruch, daß China beziehungsweise die Reise nach China gleichzeitig einen materiellen Aspekt besaß. Die alleinreisenden Frauen finanzierten ihre Reisen wie ihr Leben insgesamt durch Berichte über Reisen, vermarkteten ihre Erlebnisse und subjektiven Erfahrungen, 6 2 hatten hier also bei der schriftlichen Fixierung durchaus ein Lesepublikum im Auge. D o c h anders als etwa bei den männlichen Expeditionsreisenden war nicht die Reise Mittel zum späteren erfolgreichen Berufseinstieg oder Teil ihrer Karriere, 6 3 sondern die Reise selbst und das aus ihr resultierende Produkt der Reisebeschreibung oder R o m a n e und Novellen waren zugleich die Basis ihrer finanziellen Absicherung ohne die Perspektive e t w a eines akademischen Berufseinstiegs, der fur Frauen in Deutschland zu dieser Zeit nicht ohne weiteres denkbar war. Die mitreisenden Ehefrauen sahen in China die Karrierechance ihres Mannes, nutzten dann j e d o c h ihre China-Erfahrungen zu einem zusätzlichen Broterwerb. Eine besondere weibliche China-Wahrnehmung läßt sich an Hand der hier abgehandelten Reisebeschreibungen nicht festmachen. Die unterschiedliche Wahrnehmung des Landes resultiert aus unterschiedlichen 60

Harbsnieicr vertritt die Auffassung, daß die Verhältnisse im eigenen Land als Folie für die Wahrnehmung des Anderen dienen. Vgl. Michael Harbsmeier. Reisebeschreibungen als mentalitätsgeschichtliche Quellen: Überlegungen zu einer historisch-anthropologischen Untersuchung frühneuzeitlicher deutscher Reisebeschreibungen, in: Reiseberichte als Quellen europäischer Kulturgeschichte, hg. v. Antoni Mçiczak/Hans Jürgen Teuteberg, Wolfenbüttel 1982, S. 7. Auch Hesse benutzte Indien als Folie, vgl. Brenner, Der Reisebericht in der deutschen Literatur (wie Anm. 55). S. 564.

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Typisch ist hier Pfeiffer, Eine Frauenfahrt um die Welt (wie Anm. 4), S. 91, die gelernt hat, unter den Augen der Diener zu packen, damit sie nichts Wertvolles vermuten und Räuber auf die Reisende aufmerksam machen. Vgl. insbesondere die Verlagsäußerungen zu Karlin, Einsame Weltreise (wie Anm. 30). Werbete.xte. Vgl. Essner, Deutsche Afrikareisende im 19. Jahrhundert (wie Anm. 12) hat dies fiir die Afrikareisenden gut herausgearbeitet.

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Vor-Urteilen, die jeweils herrschenden weltanschaulichen und politischen Strömungen zuzuordnen sind. D a s Überschreiten der Geschlechtergrenzen in der eigenen Kultur fuhrt nicht notwendigerweise, und nicht mehr als bei Männern zu beobachten, zu einem Aufbrechen herrschender Fremdbilder. Die Begegnung zweier Weiblichkeitsbilder allein - wenn wir China als Teil des Orients im Saidschen Sinne 6 4 und in der Interpretation von Pelz als kolonisiertes und domestiziertes weibliches Objekt betrachten - birgt, anders als dies bei Pelz impliziert wird, 6 5 keine g r ö ß e r e n Chancen zum Aufbrechen der Selbst- und Fremdbilder. D e m Beispiel Heykings als Ausnahme können auch Beispiele einzelner M ä n n e r gegenübergestellt werden, die im L a u f e ihres Chinaaufenthaltes tradierte negative Chinabilder in Frage stellen. 66 Die A u s w e r t u n g allein der Reiseliteratur zur Untersuchung des Verhältnisses von Selbst- und Fremdbildern erscheint mir - gerade auch im Ergebnis dieser Studie nicht ausreichend, um Charakteristika der Fremdwahrnehmung und insbesondere Möglichkeiten des Aufbrechens von Stereotypen zu erfassen. 6 7 E s zeigt sich jedoch die Tendenz, daß Darstellungen des China-Aufenthaltes hinsichtlich der Selbstbilder der Frauen bestimmte allgemeine Grundlinien aufweisen. Die Thematisierung des Sich-Einflihlens, des Einwirkenlassens auf das eigene Ich, die Reflexionen über das A n d e r e und das Eigene sowie die gesamte Darstellungsweise: die Wiedergabe von M o m e n t a u f n a h m e n , das anekdotische Aneinanderreihen von Erlebnissen, die Herausstellung des subjektiven und partiellen Charakters der Beschreibung, die subjektivistische Darstellungsweise insgesamt, diese M e r k m a l e lassen sich zwar auch bei einzelnen männlichen Reiseberichten in der einen oder anderen Form feststellen, 6 8 scheinen j e d o c h in die64 65 66

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Vgl. dazu Edward W. Said, Orientalismus, Frankfurt a. M. 1981. Vgl. dazu Pelz, Reisen durch die eigene Fremde (wie Anm. 5), S. 206. Vgl. dazu Bräuner/Leutner, »Im Namen einer höheren Gesittung« (wie Anm. 2), S. 45, wo ζ. B. auf Georg Wegener verwiesen wird. Neben der Reiseerfahrung dürften vor allem andere biographische Faktoren wesentlich die Wahrnehmung Chinas beeinflussen. Insbesondere auch einige Romanautoren wie Max Dauthendey und Victor Segalen wollen durch ihre Darstellungsteclmiken eine Einfühlung in die Seele exotischer Menschen und Kulturen ermöglichen, um »in der Begegnung mit dem Fremden das allgemein Menschliche und eine daraus folgende Selbsterfahrung symbolisch zu gestalten«, vgl. Wolfgang Reif, Verzauberung, Herrschaftsanspnich oder Begegnung? Anmerkungen um den exotischen Roman im Zeitalter des Imperialismus, in: Exotische Welten - europäische Phantasien, hg. v. Institut für Auslandsbeziehungen, Stuttgart 1987, S. 244.

Die Fremde und das eigene Ich

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ser konzentrierten Form und Häufigkeit besondere M e r k m a l e zumindest der hier beschriebenen Reiseberichte von Frauen zu sein. Auch die behandelten Themenbereiche weisen keine signifikanten Unterschiede zu männlichen Reisebeschreibungen auf. Einzelne B e g e g nungen mit Frauen, die für Männer nicht möglich gewesen wären, werden kurz dargestellt, aber sie werden weder besonders als frauenspezifische Themen hervorgehoben, noch wird, anders als im H a r e m s - T h e m a des Orients, hier ein besonderer Z u g a n g zu den »Frauenräumen« proklamiert. Lediglich die in G o e k e s Darstellung geschilderten Einblicke in den chinesischen Alltag sind gebunden an ihre Hausfrauenexistenz. Diese Alltags-Einblicke waren jedoch den weltreisenden Frauen verwehrt. Sie suchten auf ihren Reisen auch gerade nicht die traditionelle Frauenrolle wieder einzunehmen, sondern wollten sich ja den M ä n n e r als ebenbürtig erweisen, zeigen, daß sie Gleiches wie diese leisten konnten darauf zielte ihre geschlechtsspezifische Grenzüberschreitung ab. So beziehen sich die Frauen in ihren Darstellungen auch nicht aufeinander oder stellen sich in eine besondere weibliche Traditionslinie der Reisebeschreibungen. Der vorliegende Beitrag ist vorab erschienen in: Newsletter - Frauen und China 9 (1995), S. 47-61.

Karol Sauerland

DÖBLINS REISE IN POLEN

Zu Beginn der achtziger Jahre, d. h. in der Zeit, nachdem der Kriegszustand in Polen eingeführt worden war, behandelten wir im Oberseminar Döblins Reise in Polen. Damals sprachen uns ganz besonders jene Partien an, die wie eine Schilderung der aktuellen Ereignisse und Probleme wirkten. Wenn Döblin etwa im ersten Kapitel vom Zaun spricht, der die zum Teil schon abgetragene Alexander-Newsky-Kathedrale auf dem damaligen Sächsischen Platz umgab, so erinnerte uns das an den Zaun, der an dem gleichen Ort von den kommunistischen Machthabern gezogen worden war, um zu verhindern, daß sich dort Solidamosc-Anhänger mit der Absicht versammeln, an der Stelle, an der 1979 der polnische Papst gestanden hatte, Tannenzweige in Form eines Kreuzes hinzulegen. Als Döblin im Herbst 1924 durch Polen reiste,1 sollte dieser Zaun den Abriß

Über den Anlaß der Reise schreib! Döblin Jahre später: »In der ersten Hälfte der zwanziger Jahre ereigneten sich in Berlin pogromartige Vorgänge, im Osten der Stadt, in der Gollnowstraße und Umgebung. Das geschah auf dem L a n d k n e c h t s hintergrund dieser Jahre: der N a z i s m u s stieß seinen ersten Schrei aus. D a m a l s luden Vertreter des Berliner Zionismus eine Anzahl M ä n n e r jüdischer Herkunft zu Z u s a m m e n k ü n f t e n ein. in denen über j e n e Vorgänge, ihren Hintergrund und über die Ziele des Zionismus gesprochen wurde. Im Anschluß an diese Diskussion k a m d a n n einer in meine W o h n u n g und wollte mich zu einer Fahrt nach Palästina anregen, was mir f r e m d war. Die A n r e g u n g wirkte in a n d e r e r Weise auf mich. Ich sagte zwar nicht zu, nach Palästina zu gehen, aber ich fand, ich miißte mich einmal über die Juden orientieren. Ich fand, ich k a n n t e eigentlich Juden nicht. Ich konnte meine Bekannten, die sich Juden n a n n t e n , nicht Juden nennen. Sie w a r e n es d e m Glauben nach nicht, ihrer Sprache nach nicht, sie w a r e n vielleicht Reste eines untergegangenen Volkes, die längst in die neue U m g e b u n g eingegangen waren, ich fragte also mich und fragte andere: Wo gibt es Juden? M a n sagte mir: in Polen. Ich bin darauf nach Polen gefahren.« Alfred Döblin, Schicksalsreisc. Bericht und Bekenntnis. Leipzig 1980. S. 129. Leo Kreutzer ineint, daß die Polen-Reise »auch Konsequenz und Ausdruck einer ästhetischen Entscheidung Döblins« gewesen wäre. » W e n n einst deutsche Dichter reisten, so zog es sie meist in den Süden, z u m Hellen. Schönen. Döblins Reise in den Osten ist unter anderem eine bewnßte Absage an die Tradition der italie-

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der russisch-orthodoxen Kathedrale umgrenzen. Zu unserer Überraschung fand er für diese Aktion Verständnis. Z w a r wirke, schreibt er, das G a n z e »erschreckend, unheimlich, finster beunruhigend,« man e m p finde » e t w a s Schmerzlich-Ergreifendes, Rührendes im Anblick dieser Kirche, die einem G o t t , einem doch tief geglaubten G o t t , geweiht w a r , - u n d wie sie eben steht, zertrümmert man sie, als w ä r e sie böse.« 2 Aber es g e h e hier j e d o c h d a r u m , daß dieses Bauwerk v o m zaristischen Statthalter nicht »als Kirche gedacht, gewollt« war. » D a sollte eine Faust sein, eine ganz und gar eiserne, die auf den besten Platz der Stadt niederfiel und deren Klirren man immer hören sollte. Diese Kirche w a r nicht zu übersehen. Das sollte noch mal ein Denkmal des Generals P a s kewitsch sein. W a s ist dieser Zaun? Der Käfig, das Gitter, hinter d e m man ein Untier eingesperrt hat. Trauergefuhl, Mitleid, aber ich kann der L ö s u n g nicht widersprechen.« 3 In den achtziger Jahren sollte der Zaun wieder einen Käfig markieren, einen solchen, hinter dem die kommunistischen M a c h t h a b e r ein unsichtbares Wahrzeichen eingesperrt hatten: ein nicht mehr existierendes Kreuz. Als es dort 1979 lag, hatte der Papst mit einem W o r t von Mickiewicz v o r dem großen Blumenkreuz gesagt, hier befinde sich das freie, nicht okkupierbare Polen. Als am 13. Dezember 1981 von Jaruzelski der Kriegszustand ausgerufen wurde, sprach man von einer O k k u p a t i o n , wenn auch hausgemachten. Damit w u r d e das Kreuz der einzig freie Platz Polens. Hier und an anderen Stellen w u r d e das Lied und G e b e t gesungen das Döblin im ersten Kapitel a n f ü h r t : » G o t t , der du Polen so viele Jahrhunderte hindurch / Umgeben hast mit dem Glänze der M a c h t und des Ruhmes, / Der du es beschirmt hast mit dem Schilde deiner Vorsehung / V o r Unglücksfällen, die es niederbeugen sollten: / V o r deinen Altären erheben wir unser Flehen, / Herr! gib uns das Vaterland,

liischen Reisen und der >Augenblicke in Griechenlands« Leo Kreutzer, Alfred Döblin. Sein Werk bis 1933, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1970, S. 107. Alfred Döblin, Reise in Polen, München, 2. Aufl. 1993, S. 16. Ebd., S. 16f. Iwan F. Paskewitsch war ein russischer Feldmarschall, der von 1828 bis 1829 den Oberbefehl der russischen Armee im Kaukasus innehatte und dort auch gegen die Tschetschenen kämpfte. 1831 warf er den polnischen Aufstand nieder und wurde zaristischer Statthalter im russisch besetzten Polen. 1849 besiegte er die von General A. Görgey angeführten aufständischen ungarischen Truppen bei der Schlacht bei Világos. Er war ein erklärter Feind aller liberalen und demokratischen Bewegungen. Polen versuchte er so weit wie möglich zu russifizieren.

Döblins »Reise in Polen«

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die Freiheit wieder«. 4 Und die Kirche spielte erneut die Rolle, wie sie Döblin für die älteren Zeiten schildert. Sie nahm die Flüchtenden auf und gab ihnen ihr Segen: »Von Straßen und Plätzen verjagt die Nationalität, der Stolz des Volkes, in die unnahbaren Kirchen.« 5 Und ganz außerordentlich gegenwärtig klang der Satz: »Die Bolschewiken kennen die Polen nicht. Es war falsch, militärisch in das Land zu fallen.« 6 Immerhin hatte so mancher 1980/81 mit einer sowjetrussischen Intervention gerechnet. Döblin ließ uns jedoch nicht nur das Kontinuierliche, Sich-Wiederholende, die überraschende Aktualität des Vergangenen, sondern auch den Bruch, den radikalen Unterschied zwischen dem heutigen und damaligen Polen erleben. Bis vor dem 2. Weltkrieg war es ein Vielvölkerstaat, in dem mehrere Sprachen gesprochen wurden, weswegen Döblin schreibt: »Ich verzage rasch, weil ich die Sprache, nein die Sprachen des Landes nicht kann: Polnisch, Ukrainisch, Weißrussisch, Jiddisch, Litauisch.« 7 Einzig das Deutsche brauchte er nicht zu nennen. Er beherrschte es nicht nur, sondern diese Minderheit interessierte ihn auch nicht wesentlich, wenngleich er in Lodz mit einer gewissen hämischen Freude bemerkt, daß hier Juden und Deutsche als Minderheiten, »Fremdvölker« zusammenleben müssen. 8 Aber insgesamt war er nach Polen gefahren, um ein authentisches Judentum kennenzulernen, ein Judentum, von dem die Teilnehmer meines Oberseminars so gut wie nichts mehr wußten. 9 Es war ja von den Nationalsozialisten nicht nur so gut wie ganz ausgemerzt worden, sondern nach dem Kriegsende hatten auch noch die Sowjets, die volkspolnischen Machthaber und polnische

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Ebd., S. 43. Ebd.. S. 42. Ebd., S. 50. Ebd., S. 47. Ebd.. S. 306 Die polnische Germanisti» Cecylia Zalubska endet cliarakteristischenveise ihren Artikel Polen nach dem 1. Weltkrieg in Jen Augen eines deutschen Schriftstellers mit den Worten. »Obwohl die meisten Zeilen des Buches den Bräuchen, Sitten und der Religiosität des jüdischen Volkes, das damals in Polen lebte, gewidmet ist. können w ir von unserem jetzigen Standpunkt aus feststellen, daß Döblin in vielem was unseren Staat betraf. Recht hatte, aber wir dürfen nicht übersehen. daß er mit manchen unreflektierten Aussagen dem polnischen Staat auch manchen Schaden bringen konnte« (in: Studia Germanica Posnaniensia V.. Poznan 1976. S. 29-35; hier S. 35). Sie wundert sich, daß Döblin nicht Spalier stehen wollte, als Pilsudski vorbeikommen sollte. Jeder andere deutsche Schriftsteller habe sicher Pilsudski sehen wollen

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Nationalisten alles getan, um ein Wiederaufleben der alten Kultur durch die wenigen rückkehrenden Überlebenden zu verhindern. Darüber hinaus hatten sie auch die anderen Minderheiten - nicht nur die deutsche weitestgehend vertrieben. So wurden die polnischen Ukrainer gen Osten und die ukrainischen Polen gen Westen in die ehemaligen deutschen Gebiete »umgesiedelt«, zumeist auf brutalste Art innerhalb von wenigen Stunden. 1 0 Alles sollte ethnisch rein werden. Wache Geister aus Solidarnosc-Kreisen diskutierten in den achtziger Jahren in Samisdat-Veröffentlichungen, was man tun müsse, um in einem freien Polen zu gut nachbarlichen Beziehungen mit den Ukrainern, Litauern, Weißrussen 1 1 und auch Deutschen 1 2 zu gelangen. Döblins Reise in Polen kannten sie leider nicht. Versuche, sie zu übersetzen und in Buchform herauszugeben, scheiterten. Erst 1994 sollte das zweite Kapitel über das jüdische Warschau in der Zeitschrift Literatura na Éwiecie erscheinen. 13 Das ganze Buch wird vielleicht in zwei, drei Jahren auf Polnisch herauskommen. Ich finde, es müßte angesichts der nur schwer zu verstehenden nationalen Probleme in Osteuropa, auf dem Balkan und im Kaukasus sowohl in Polen wie auch in Deutschland zur Pflichtlektüre erhoben werden. Da es einfach geschrieben und spannend zu lesen ist, würde kaum jemand diese Pflicht als lästig empfinden. Allerdings würde nur der oberflächliche Leser von einem »unsystematischen Aufbau« 1 4 dieser Reisebeschreibung sprechen. Es handelt sich auch nicht um »wahllos notierte Eindrücke«,

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A m Ende des Zweiten Weltkrieges wohnten auf dem Gebiet des damaligen Volkspolens etwa 6 5 0 0 0 0 Ukrainer. Davon sind 488 0 0 0 in die Sowjetunion umgesiedelt worden. An den Orten, wo Ukrainer dominierten, wurde ihnen freigestellt, ob sie Polen verlassen oder die ehemaligen deutschen Gebiete bewohnen wollen. Nach Ermordung des Generals Swierczewski im Frühjahr 1947 wurden etwa 140 0 0 0 Ukrainer aus dem polnischen Osten in die Westgebiete zwangsumgesiedelt. Der General war angeblich von einem ukrainischen Nationalisten erschossen worden.

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Besonders wichtig war die Studie von Bohdan Skaradzinski (d. i. Kazimierz Podlaski), Biabrusini. Litwini. Ukraincy, die 1985 den Preis für Kultur von der damals verbotenen Solidarnosc erhielt. Aus der aktualisierten und verbesserten Auflage dieser Studie (erschienen 1990 in Bialystok) stammen die Angaben in der Anm. 9. Ich denke hier vor allem an Jan Józef Lipski, der bereits 1981 für eine andere Einschätzung der Vertreibung der Deutschen aus Polen plädierte. Vgl. 6 (1994). Vgl. das Nachwort von Heinz Graber zu Döblin, Reise in Polen (wie Anm. 2), S. 358. In ähnlicher Weise äußert sich Klaus Schröter, Zu Alfred Döblins Reise in Polen, unternommen Ende 1924, in: Studien zur Kulturgeschichte des deutschen Polenbildes 1 8 4 8 - 1 9 3 9 , hg. v. Hendrik Feindt, Wiesbaden 1995, S. 169.

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Döblins »Reise in Polen«

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die »leicht zum Ausgangspunkt einer Abschweifung werden können«, 1 3 sondern um eine auf bestimmte Einsichten zustrebende Niederschrift. 1 6 Döblin beginnt nicht zufällig mit der Schilderung des polnischen Teils von Warschau und dem Freiheitskampf der Polen, der ja noch keineswegs sein Ende erreicht haben muß. »[...] das Land befestigt sich stark; es hat Erinnerung,« 1 7 lesen wir gleich zu Beginn. Damit ist der sowjetrussisch-polnische Krieg gemeint, der 1920 riesige Opfer auf beiden Seiten forderte und schließlich mit einem Kompromiß endete, nachdem die Rote Armee schon bis Warschau vorgedrungen war. Döblin rechnet damit, daß die Polen von nun an ihren eigenen Staat errichten werden. Nicht umsonst hat er fur das erste Kapitel das Motto »Sie sitzen jetzt in ihren eigenen Häusern« gewählt. 18 Dies wertet er aber nicht nur als einen Erfolg, denn die Polen haben, wie er immer wieder zu zeigen sucht, allzu schnell vergessen, daß sie einmal unterdrückt waren. Sie haben daraus nicht gelernt, anderen Kulturen gegenüber tolerant zu sein. Während er der Niederlegung der »Russenkathedrale« in Warschau noch »zustimmen« konnte, 1 9 ruft er in Lublin, als er dort Ähnliches beobachtet, erschrocken aus: »Aber was soll das planmäßige Demolieren von Kirchen. Man soll sie stehen lassen. Was bietet man für die Kirchen? Dummheit, Haß und Unsinn Ich muß mich schütteln vor Widerwillen.« 20 Die Frage, »wer in Polen herrschen soll, eine Staatsnation oder ein Konnubium von Völkern,« 2 1 sei mit der Ermordung des ersten durch Wahl ermittelten polnischen Präsidenten, Gabriel Narutowicz, am 16. Dezember 1922 durch den nationalistischen Attentäter E. Niewiadomski entschieden worden. Staatsnation ist für Döblin das größte Übel. Er drückt es im Motto zum Kapitel über Lemberg aus: »Die heutigen 15 16

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Ebd.. S. 359. Einer der Rezensenten, Alfred Hoyer, fand, es handle sich hier nicht um eine Reisebeschreibung, sondern um ein »Reiseerlebnis« (in: Alfred Döblin im Spiegel zeitgenössischer Kritik, hg. v. Ingrid Schuster/Ingrid Bode, Bern/München 1973, S. 173). Er wollte damit wahrscheinlich darauf verweisen, daß Döblin alles als Erlebtes darzustellen suchte, (obwohl - wie M Albin in der Deutschen Rundschau (21)8 (1926), S 82-84] bemerkte - dieser nicht alles, was er schildert. auch gesehen hat), aber er verliert mit dem Begriff »Reiseerlebnis« den Blick für Döblins geheime Schreibstrategie. Ebd.. S. 14. Ebd.. S. 9. Ebd.. S. 158. Ebd.. S. 159. Ebd.. S. 55.

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Staaten sind d a s Grab der Völker. Staaten sind K o l l e k t i v b e s t i e n . « 2 2 In d i e s e m Kapitel g e s t e h t er auch seine A b n e i g u n g g e g e n d a s » N a t i o n a l e v o n h e u t e « . E s sei » e t w a s Schauerliches« darum, d e n n statt »Freiheit« s e h e man » K a m p f und L e i d e n s c h a f t « . 2 3 D ö b l i n k o m m t daher z u d e m S c h l u ß : » D e r Staatspatriotismus, den w e s t l i c h e und ö s t l i c h e R e g i e r u n g e n v o n ihren M a s s e n , ihren Untertanen v e r l a n g e n , ist B a r b a r e i . « 2 4 E s ist allerdings ein S c h l u ß , a u f d e n wir durch die S c h i l d e r u n g e n , bei d e n e n er nach e i n e m Verständnis für das N a t i o n a l e sucht, vorbereitet sind. Im ersten Kapitel hatte er sich, w i e wir sahen, d e n P o l e n und ihrem F r e i h e i t s k a m p f mit g r ö ß t e r Sympathie z u g e w a n d t . D a s z w e i t e ist d e n W a r s c h a u e r Juden g e w i d m e t . Er entdeckt in ihnen » e i n V o l k « . 2 5 W e r nur W e s t e u r o p a k e n n e , w i s s e das nicht. 2 6 » S i e haben ihre e i g e n e Tracht, e i g e n e S p r a c h e , R e l i g i o n , G e b r ä u c h e , ihr uraltes N a t i o n a l g e f u h l

und

N a t i o n a l b e w u ß t s e i n . « 2 7 D e r Satz über die Ostjuden » E s ist ein V o l k «

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Ebd., S. 179. Ebd., S. 198. Ebd., S. 199. Zu dieser Ansicht war vor ihm - wenn man sich auf Schriftsteller beschränken will - Arnold Zweig im Ostjüdischen Antlitz gekommen. Er hatte die Ostjuden vor allein in Kowno und Wilna kennengelernt. Auch Max Brod erklärte gleich nach dem Krieg, das Ostjudentum stelle ein Volk dar (vgl. hierzu u. a. Klara Pomeranz-Carmely, Das Identitätsproblem jüdischer Autoren im deutschen Sprachraum. Von der Jahrhundertwende bis zu Hitler, Königstein/Ts. 1981 sowie Eva G. Reiclunann, Der Bewußtseinswandel der deutschen Juden, in: Deutsches Judentum in Krieg und Revolution 1916-1923, Tübingen 1971). Insgesamt war die Ansicht, die Juden gäbe es als ein Volk, eine banale Erkenntnis, wie Hans Bloch in seiner Besprechung der Reise in Polen für die Jüdische Rundschau hervorhebt. Der Satz »die Juden - ein Volk« sei für uns Zionisten »fortentwickelt bis zur Zerfaserung«, aber das sei nicht das Wichtigste, denn nie »ist das jüdische Volk der Gegenwart mit solcher Kraft der Impression auf aufgezeichnet worden« (in: Alfred Döblin im Spiegel zeitgenössischer Kritik [wie Anm. 16], S. 166). Hans Bloch schreibt in seiner Besprechung: »Es ist sehr wichtig, daß Döblin zu den Juden gefahren ist. Denn wir haben ein großes Interesse daran, daß dieses Volk entdeckt wird - nach Chinesen, Mexikanern, Eskimos und anderen Exoten auch dieses Volk. Die Westeuropäer müssen es entdecken, wie sie nach vielen Ungezieferwitzen selbst den Balkan entdeckten, und die Westjuden müssen es entdecken, trotz der großen schcucn Furcht vor dem Gespenst im Hause. Wir können mit Westlern und Westjuden schlecht über die Judenfrage reden, wenn sie die Juden nicht kennen. Wir [die Zionisten| sind Parteileute, wir sind verdächtig. Aber: Döblin hat Geltung, er sieht und weiß zu sagen, was er sieht, er ist mutig und reinen Herzens. Es ist wichtig, daß er die Juden entdeckt hat und Bericht gibt« (ebd., S. 164). Kreutzer. Alfred Döblin (wie Anm. 1), S. 73.

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soll in der Mitte des Buches ein besonderes Gewicht erhalten, als Döblin über die Polen meint schreiben zu müssen: »Sie waren ein V o l k , « 2 8 nämlich in jener Zeit, in der sich ihre »Glieder« zerstreut fanden. »Sie hatten Liebe zueinander. Sie strebten zueinander. Sie waren stolz auf sich und ihre Eltern und Großeltern. Sie wünschten ihren Stolz zu offenbaren, sich zu offenbaren, wie es Menschen tun. Ihr Inneres suchte den Staat, und er trägt Gift in ihr Volkstum. Die Grenze schlägt auf sie zurück.« 2 9 Diese kritische Auslassung ist höchstwahrscheinlich als eine W a r n u n g an jene Juden gedacht, die von einer Staatsgründung t r ä u m ten. Die E n t d e c k u n g des jüdischen Volkes geht einher mit einem Schrekken. Zu viele der Juden in Warschau seien »grausig zerlumpt«, müßten »herumstehen« und »warten, warten, warten«. Döblin versteht z w a r die Ursachen ihrer Armut, aber nicht, warum sie, wie er beim Versöhnungsfest erlebt hatte, uralten Totenriten, wie ihm scheint, nachhängen. D a s , was er sieht und hört, »durchschauert« ihn. In dem Ganzen sei » e t w a s Grauenhaftes«, zugleich »Urnatürliches, Atavistisches«. E r fragt sich: »Hat das mit Judentum etwas zu tun? Das sind leibhaftige Überbleibsel uralter Vorstellungen! Das Überbleibsel der Angst vor den T o ten, der Angst vor den Seelen, die herumschweifen. Ein Gefühl, den Menschen dieses Volkes überliefert mit ihrer Religion. Es ist der Rest einer anderen Religion, Animismus, Totenkult.« 3 0 Auch das Laubhüttenfest, das dem Andenken an die vierzigjährige Wanderschaft der Juden durch die Wüste und an die Hütten, mit denen sie hatten Vorlieb nehmen müssen, diente, sowie der Besuch des g r o ß e n chassidischen Rebbe in Gòra Kalwaria, w o er den Eindruck hat, »unter eine exotische Völkerschaft geraten« zu sein, 3 1 berühren ihn unangenehm. Das G e d r ä n g e beim Rebbe, dem Zadik, kann er nicht ertragen, er will w e g und ist froh, als er den Bahnhof sieht. 32 Auf dem R ü c k w e g hört er sich im Z u g »jiddische Spottlieder auf die Rebbes« mit Freude an. 3 3 Er will offensichtlich Abstand zu allem Jüdischen gewinnen, aber

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Ebd., S. 200. Ebd. Vielleicht haben Sätze dieser Art Joseph Roth zu dem Urteil veranlaßt. daß Döblin die Juden genauer gesehen hätte als die »christlichen Polen« (in: Alfred Döblin im Spiegel zeitgenössischer Kritik (wie Anm. 16 ], S. 170). Ebd.. S. 92f. Ebd.. S. 103. Ebd., S. 109. Ebd.. S. 108.

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dann läßt er sich auch gern das in Gòra Kalwaria Gesehene von einem chassidischen Juden erklären, um sich dann selber die Frage zu beantworten, wie »das demokratische Volk zu den Heiligen« komme: »Ein alter Rest: das Reich ist zerfallen; das Gerüst, an das man sich hält, ist Religion und Kult, und ihr Hauptträger der Rabbi. Es ist aus dem Nationalen zu verstehen; das sind die Führer, Könige, Herzöge, Fürsten. Und sie haben auch wirklich geherrscht bis ins vorige Jahrhundert. Das ist aber nicht alles. Die Juden schleppen Mittelalterliches mit sich fort. Sie haben ihre Thora, ein einziges Buch, aber Magisches und Zauberglaube laufen anonym nebenher. Das ähnelt dem Buddhismus, der Eigenes lehrt, daneben eine alte Götterwelt bestehen läßt. Den jüdischen Führern, den geistlichen Fürsten wird hinterrücks vom Volk diese illegitime Zaubergabe beigelegt. Besonders lebhaft von dem Augenblick an, wo der mystische Chassidismus die Magie neu gebiert. Da werden die Magiker Fürsten, werden Rebbes; das Blättchen hat sich gedreht. Und jetzt noch sind die Rebbedynastien da - ihre große Zahl ist vorbei - , in denen sich eine geheimnisvolle Auserwähltheit forterbt.« 34 Doch das Kapitel endet mit der Anfuhrung von zwei Tischreden, die der Vater des Gorer Rebbe gehalten hatte. Die Klage vom Mittelalterlichen ist plötzlich vergessen. Auffallend in diesem Kapitel ist daß Döblin die Juden mit Arabern vergleicht. Einmal erklärt er: »Arabische Köpfe sind es, Männer der großen Sandwüste. Neben diesen Männern kann ich mir die mächtigen Reitkamele denken. Ihre scharfen ausdrucksreichen Gesichter. Etwas überaus Kraftvolles, Herrscherisches, Heroisches liegt auf ihnen.«35 Und einige Seiten weiter heißt es kurz wenn auch mit einem Bindestrich der zum Innehalten beim Lesen auffordert: »Es sind - Araber.« 36 Sollte Döblin meinen, die Juden, zumindest die Ostjuden hätten sich seit den alttestamentarischen Zeiten nicht verändert? Oder schrieb er dies unter dem Eindruck der Lektüre der Schriften Bubers, insbesondere des Essays Der Geist des Orients und das Judentum, in dem die Juden zu den Orientalen gerechnet werden? 37 Diese seien nicht wie der

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Ebd., S. 110. Ebd., S. 95. Ebd., S. 98. So schreib! Buber: »Die Juden sind ein Spätling des Orients« oder »Denn der Jude ist ein Orientale geblieben«. Martin Buber, Vom Geist des Judentums, Leipzig 1916, S. 20; S. 42.

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Europäer sensorisch, sondern motorisch veranlagt. 38 Aus diesem Grunde lasse sich auch verstehen, warum ihnen »von Urzeiten her die mystische Anlage« eigen sei. 39 Wir wissen, daß Buber jahrelang die jüdische Mystik, insbesondere den Chassidismus zu erhellen suchte. Für die chassidistische Bewegung soll sich Döblin im dritten Kapitel, in Wilna begeistern. In dieser litauischen, seit 1920 von Polen besetzten Stadt 40 trifft er eine ganz andere, »sehr mutige Judenschaft« 41 an, die europäisch gekleidet ist, ohne ihr Judentum aufgegeben zu haben. Er wiederholt hier eine Meinung, die er in der den Ostjuden gewidmeten Sondernummer der Süddeutschen Hefte42 oder auch - was wahrscheinlicher ist - Theodor Behrs Aufsatz, der kurz nach dem »Friedensschluß in Brest-Litowsk« in der Zeitschrift Der Jude erschienen war, hat entnehmen können. Die »geistige Regsamkeit« des litauischen Juden, schreibt Behr, »sein für europäische Verhältnisse unerhörter Bildungsdrang sind sprichwörtlich. Der litauische Jude, fest verwurzelt in den besten Traditionen des Judentums, bildet den erfreulichen Typus des aufrechten, mit allem Jüdischen eng verwachsenen, seiner Zugehörigkeit zu seinem Volk stolz bewußten Juden, der freigeblieben ist von der Verkettung in eine erstarrte Orthodoxie, wie sie mit so furchtbarer Gewalt auf der polnischen Judenheit lastet. Es weht etwas Fröhliches, Lebendiges durch jedes litauische Judenstädtchen, und während man immer wieder von der Fülle des jüdischen Wissens staunt, bewundert man eine rege Fähigkeit in den Dingen des Tages, eine besondere Gestaltungs-

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Alfred Döblin. Reise in Polen (wie Anin. 2). S. 12. Ebd.. S. 97. Ebd., S. 123. Wilna (Vilnjus) war im April 1919 von der polnischen Armee unter dem Oberbefehl von Pilsudski besetzt worden. Im Juli 1920 zog die Rote Armee ein. Nachdem sie die Schlacht bei Warschau verlor, wurde Wilna litauisch. was aber nicht lange dauern sollte, denn bereits nach zwei Monaten kehrten polnische Truppen zurück, nämlich im Oktober 1920. Am 20 Februar wurde das sogenannte Mittellitauen Polen einverleibt. Es kam in der Zwischenkriegszeit immer wieder zu polnisch-litauischen Konflikten. Ebd.. S. 118. Ich verstehe nicht, wie Klaus Schröter erklären kann: »Daß Döblin von Anfang der Reise bis zum Schluß vor Juden und Jüdischem erschrickt, durch ihren Gang, ihre Haltung und Sprachgebärden abgestoßen ist und dergleichen mehr, erwähnen wir nicht weiter.« Schröter, Zu Alfred Döblins Reise in Polen (wie Anni. 14). S. 173. Man hat den Eindruck, daß er nur den Anfang gelesen hat. Diese Sondernummer war im Februar 1916 erschienen. Die Ausführungen über die litauischen Juden stammen von einem ehemaligen rassischen Universitätslehrer

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kraft, eine Fülle des Organisationsvermögens, das man bei den polnischen Juden so schmerzlich vermißt.« 4 3 In Wilna gewinnt Döblin einen tieferen Einblick in den Streit zwischen den »Hebraisten« und » Ji dd i sc hi sten«. Und plötzlich erscheint ihm das jüdische Volk imposant. Die deutschen Juden seien nur »abgerissene Exemplare, degenerierende, weit w e g v o m Kern des Volkes, das hier lebt und sich erhält.« Im Osten lebe dieses Volk im Geistigen, in einem »Kern, der solche Menschen produziert wie den hinflutenden reichen Baal-schem, die finstere Flamme des Gaon von Wilno.« 4 4 N a c h d e m Döblin sich die recht einleuchtenden Argumente fur den Unterricht in Hebräisch und gegen den in Jiddisch angehört hat, k o m m t er zu d e m umgekehrten Schluß: die eigentliche Volkssprache der Juden im Osten sei das Jiddische. Wenn er hebräisch reden höre, klinge es ihm so, »als wenn man in Deutschland französisch« spräche. 4 5 Dagegen hätten die jiddischen Gedichte, die Kinder in einer jiddischen Mädchenschule aufsagten, einen »ganz altdeutschen Ton«. Es sei im »jüdischen Volk gewachsen«. Man sehe, die »Jiddischisten« wollen die im Volke fortlebenden Reichtümer nicht aufgeben, während die Hebraisten vor allem an den irdischen Reichtümern hängen würden. Die ersteren seien daher die wahren Vertreter der Orientalen Tradition, d. h. einer Tradition, die sich in einer intensiven Pflege »der schriftlichen Hinterlassenschaften entfernter Vorväter« ausdrücke. Es sei also falsch, ausschließlich v o n einem Gegensatz zwischen Mittelalter und Neuzeit, der sich im O s t j u dentum abspiele, zu sprechen, sondern man müsse gleichzeitig sehen, daß es hier auch um den Gegensatz zwischen dem Orient und Okzident, zwischen Verankerung im Religiösen, Geistigen und moderner weltlicher Politik gehe. Bei der Konstruktion dieses Gegensatzes kann Döblin nicht umhin, auch Gaon, den Gegner von Baal-schem, den Orientalen zuzurechnen. E r erkennt gleichzeitig immer deutlicher, daß die Ostjuden keineswegs eine in sich geschlossene Einheit bilden, w e d e r im Religiösen noch im Sozialen, dem er größte Aufmerksamkeit schenkt. In Wilna werden die Polen nicht mehr mit so großer Sympathie geschildert. Hier sind sie ja auch die Okkupanten. Der »permanente Kriegszustand zwischen den beiden jungen Staaten«, 4 6 d. h. Polen und

43 44 45 46

In. Der Jude (1918/1919), S. 2f. Döblin. Reisen in Polen (wie Anni. 2), S. 137. Ebd., S. 140. Ebd., S. 123.

Döblins »Reise in Polen«

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Litauen, sei auf Schritt und Tritt spürbar. Jetzt kommen die Russen besser weg als in Warschau, 4 7 wenngleich Döblin beteuert, weiterhin »ein Freund des polnischen Volkes« zu sein. 48 Erstaunlich ist, daß Döblin in Lublin, der Station nach Wilna, nicht bereit ist, die Juden gegenüber den Polen, die hier eine Minderheit waren, in Schutz zu nehmen. Bei den Gemeinderatswahlen hatten die orthodoxen Juden die absolute Mehrheit errungen. Danach geriet der Gemeinderat in einen »Konflikt mit der Regierung, weil von seinen Mitgliedern über die Hälfte nur jiddisch sprach. Die Regierung verlangte, wenigstens der Vorsitzende sollte polnisch sprechen. Aber als er es versuchte, gab es Tumult, und das war die letzte Sitzung.« 49 Der Gemeinderat wurde aufgelöst. Döblin scheint den polnischen Behörden Recht zu geben. Überhaupt behagt ihm Lublin nicht besonders. Er empfindet hier eine zu große Provinzionalität, was ihn allerdings nicht zu zurückhaltenden Urteilen veranlaßt, denn gerade die Lubliner Juden bilden den Ausgangspunkt fur eine generelle Charakteristik der Ostjuden: Sie »sind wirklich scharf, man darf sich vor ihnen nicht gehenlassen, sie sind mit Wonne polemisch und überlogisch. Das Formale liegt ihnen. Sie verhalten sich aber intensiv ablehnend gegen Fremdes, und das entspringt ihrer Abschließung. Sie lehnen ab und können auch nicht annehmen; sie sind blind; ihnen fehlt die Einsicht in viele Dinge und Zusammenhänge. Es ist etwas Plumpes und durchaus Bäuerliches, Bäuerisches. - Noch nach ihrer >Emanzipation< haftet das an ihnen.« 50 Eine solche Charakteristik hatte man, wie gesagt, nach dem Wilnaer Kapitel nicht erwartet Von Lublin begibt sich Döblin nach Lemberg, d. h. in jenen Teil Polens, der während der Teilungen unter österreichischer Oberhoheit stand. In diesem Ort leben drei Völker »zusammen, nebeneinander: Polen, die Stadt beherrschend, aufmerksam, lebendig, die Besitzer, - Juden, vielspältig, versunken und abweisend, oder mißtrauisch, sich wehrend, rege, zum Leben erwacht, - Ukrainer, unsichtbar, lautlos hier und 47

4X 49 50

Schon in der genannten Sondernummer der Süddeutschen Monatshefte (wie Anni 42). S. 833. konnte man lesen, der litauische Jude, der »Litwak« - wie er in Polen hieß - durch das »Wegfallen der Schranke einer Tracht« mehr »mit nichtjüdischen Kreisen in Berührung« komme und »ihn assimilatorisch Tendenzen stärker möglich« mache »als den konservativen polnischen Juden«. Sic würden sich dann an die russische Sprache und die rassischen Sitten assimilieren. Döblin. Reise in Polen (wie Anni. 2). S. 122. Ebd.. S. 174. Ebd.. S. 176.

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dort, zurückhaltend, jähzornig, gefahrlich, trauernd, die Spannung v o n Verschwörern und Aufrührern um sich.« 51 Für die ukrainischen Ansprüche zeigt Döblin g r o ß e s Verständnis, denn »Bedrücktsein, F r e m d sein im eigenen Lande - ich fühle es scharf, wie ich hier h e r u m w a n d e r e - , ist das Gräßlichste, w a s es gibt. Freiheit ist der allernötigste >AlltagWind wie der Wind, Wind wie der Wind, schlagt sie tot, schlagt sie tot, schlagt sie tot. Wind wie der Wind< « 67 Danzig erscheint 63 64 65 66

67

Ebd.. S. 313. Ebd.. S. 330. Ebd.. S. 331. Hans-Peter Baverdörfer meint dies tun zu dürfen, indem er eine »zentrale >Binnengeschichte«< konstruiert. »Abgesehen von Einleitung und Scliluß. welche Ankunft und Rückreise zum Inhalt haben.« würden sich »die Binnenteile nach einem ausgewogenen Schema« ordnen (in: Im Zeichen Hiobs Jüdische Schriftsteller und deutsche Literatur im 20. Jahrhundert, hg. v. Gunter E Grimm/Hans-Pcter Bayerdörfer. Königstcin/Ts. 1985. S.165). Meines Erachtens hat Döblin seine Reise sehr bewußt mit der »Ausreise« enden lassen Alfred Döblin. Reise in Polen (wie Anni. 2). S. 337

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Karol Sauerland

Döblin als ein künstliches Gebilde. Es ist eine Freistadt gegen den Willen der Bevölkerung. Das könne nicht gut gehen. Erst in Zoppot bringt der Blick auf die See die Befreiung von allem: »Dies hier, was ich sehe, erscheint mir am stärksten, die unermeßliche Natur. Immer wieder sie. Ich brauche mich nicht zu korrigieren. Ein Stück von ihr liegt vor mir: das Meer, der flüssige Garten voller Tiere und Pflanzen; der Wind behaucht es.« Das andere Starke seien die Seele, der Geist, der Wille des Menschen. Man müsse auf den Einzelmenschen setzen, auf seine gottgewollte Unabhängigkeit.68 Es ist ein problematischer Schluß angesichts der berechtigten Furcht vor Völkermord denn sollte er einmal realisiert werden muß der Einzelmensch wie stark er auch sein mag machtlos bleiben abgesehen davon daß das Bewundernswerte an der Reise in Polen auf der Charakteristik der kollektiven Lebensformen einzelner Bevölkerungsgruppen insbesondere der Ostjuden in den von Döblin besuchten Städten beruht. Literarisch gesehen, gehört die Reise in Polen zu einem der gelungensten Reisebücher in deutscher Sprache. Es wäre zu fragen, ob sie nicht gerade deswegen so frisch geblieben ist, weil Döblin zu allem immer wieder ein distanziertes Verhältnis gewinnt. Erst begeistert er sich in Warschau für Polens Freiheitskampf, doch dann findet er, daß sich die Polen anderen Völkern gegenüber zu arrogant verhalten. Bei der Parteinahme fur die verständlichen Bemühungen der Ukrainer um die nationale Unabhängigkeit lenkt er zu der Idee eines Vereinigten Europa über. Die eindrucksvollen Schilderungen der Lebensweisen und Bestrebungen der Ostjuden werden durch ein Bekenntnis zum Gehenkten, zur Technik und zur erhabenen Natur wieder relativiert, abgesehen davon, daß Stil und Erzählweise, die wie eine Vorwegnahme von der in Berlin Alexanderplatz angewandten erscheint, in ihrer Modernität dem Leben in Tradition ganz entgegengesetzt sind.

68

Ebd.. S. 344. Leo Kreutzer interpretiert den Schluß unter Auslassung der »gottgewollten Unabhängigkeit« mit den Worten: »Also: die >Natur und ihre SeeleiK, der >Geist. der Wille des Menschern - Spiritualismus auf der einen Seite, auf der andern Veränderung, Revolution - Sozialismus. Den Widerspruch. den Döblin schon mit auf die Reise genommen hatte, brachte er ungelöst wieder zurück, eher verfestigt«. Kreutzer, Alfred Döblin (wie Anm. 1), S. 106.

Gisela Holfter

DEUTSCHE ANSICHTEN ÜBER ENGLAND U N D IRLAND: D I E »ANDERE GERMANISCHE N A T I O N « U N D DAS GRÜNE » L A N D DER GOLDENEN HARFE«

Nach dem bisherigen Stand der Forschung zu den Irlandreiseberichten scheint eine Beschäftigung mit dem 20. Jahrhundert überflüssig. Es wird die Meinung vertreten, daß sich feststellen ließe, daß »praktisch nach 1900 keine Reisebeschreibung über Irland mehr erschien.«1 Nur die Auseinandersetzung mit Boll und seinem Irischen Tagebuch erfreut sich ungebrochener Beliebtheit. Was sich vor 1957 in bezug auf Irlandreisen tat, ist anscheinend bedeutungslos oder bis jetzt von der Forschung übersehen worden. Trotz der eher entmutigenden Aussage, die von einem Mangel an Reiseberichten im 20. Jahrhundert ausgeht, findet sich bei genauerer Suche eine verblüffende Menge an Material. Das gleiche gilt für Englandreiseberichte, die meines Wissens bis jetzt ebenso wenig untersucht wurden. Interessant wird der Vergleich der deutschen Reiseberichte über Irland und England in dieser Zeit gerade bei der Frage nach einer Widerspiegelung der Beziehungen zwischen den drei Ländern. Wie werden Politik und Geschichte des besuchten Landes dargestellt, und welche Verbindungen zwischen Deutschland und England bzw. Irland werden in den Vordergrund gestellt? Von Bedeutung bei der Einordnung der Reiseberichte in dieser Zeit ist auch, inwieweit sich die Propaganda der nationalsozialistischen Diktatur in den Schilderungen wiederfinden läßt. Hier wird die Einbeziehung von einigen politischen wie literarischen Texten als Vergleich sinnvoll. Von vornherein sind Unterschiede der Betrachtung der beiden Inseln anzunehmen, die so verschiedene Bedeutungen für das nationalsozialistische Deutschland hatten. England als

Andreas Oehlke, Irland und die Iren in Reisebeschreibungen des 19. J a h r h u n derts. Frankfurt a. M. 1992. S. 3.

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Gisela Holfter

»die andere germanische Nation« war ein Angelpunkt der nationalsozialistischen Ideologie und Träumereien bis kurz vor Kriegsausbruch. Irland dagegen war jahrhundertelang nur über England erreichbar, d. h. erst gegen E n d e des 18. Jahrhunderts begann eine eigenständige deutschsprachige Irlandrezeption, die aber immer noch stark durch englische Traditionen und Vorurteile geprägt war. Mit dem Einsetzen der Romantik zeigen sich bei der deutschen Irlandbetrachtung dann Ansätze einer Idealisierung von Bewohnern und Landschaft. N a c h einem H ö h e punkt des Interesses fur Irland im Vormärz, währenddessen gerade im katholischen Rheinland der irische Volksfuhrer Daniel O'Connell enorm e Popularität genoß, flaute bald darauf das Interesse an dem durch die H u n g e r s n o t in der Mitte des 19. Jahrhunderts schwer getroffenen L a n d wieder stark ab. Bemerkenswert bei der Betrachtung der nachfolgenden Auseinandersetzung mit Irland ist allerdings, daß Engels und M a r x g e rade in der irischen Arbeiterschaft den Hebel für die Veränderung im englischen Klassenkampf sahen. Während des Ersten Weltkrieges w u r d e Irland dann vor allem aus politischen Gründen wieder bedeutend. M a n e r h o f f t e in Deutschland durch eine Zusammenarbeit mit Irland eine S c h w ä c h u n g des Gegners Großbritannien. Irland war also nur durch seine b e s o n d e r e Beziehung zu England von Bedeutung. Wie durch das hier v o r g e n o m m e n e ausführlichere Eingehen auf die Rezeption Irlands schon deutlich wird, ist beabsichtigt, den traditionellen, jahrhundertealten Blickwinkel nach Irland über England in dieser Untersuchung zu verlassen. Die Reiseberichte über England sind hier v o r allem deshalb von Interesse, weil sie bei der Einordnung der Irlandberichte in das deutsch-irische Verhältnis helfen. W e r waren nun die Autoren dieser Berichte, und vor allem - w e r k o n n t e überhaupt nach England und Irland reisen? H a n s Thost erwähnt mehrmals Englandreisen von HJ-Gruppen, Abordnungen aus sportlichen oder militärischen Kreisen und natürlich die offiziellen Reisen von Politikern, daneben gab es vor allem die privaten Besuche. O h n e besonderen Grund oder w e g e n verschiedener Forschungsvorhaben in England herumreisende Deutsche wurden dort meist sehr kritisch betrachtet, wie der Fall von Hermann Goertz, dem späteren Spion in Irland, zeigt. Dieser hatte sich als R o m a n a u t o r auf der Suche nach Material ausgegeben und w u r d e nach einem kurzen Zwischenaufenthalt in Deutschland sofort bei seiner R ü c k k e h r nach England verhaftet - die mißtrauisch g e w o r d e n e Wirtin hatte seine Sachen der englischen Polizei übergeben, die seine

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Deutsche Ansichten über England und Irland

N o t i z b ü c h e r sehr verdächtig fand. 2 N a c h der Machtergreifung k a m e n auch zahlreiche Emigranten nach England, die allerdings aufgrund der herrschenden politischen Richtung kaum eine Chance hatten, ihre R e i s e erlebnisse in Deutschland zu veröffentlichen. N a c h Irland fuhren v o r allem Wissenschaftler, meist Touristen,

Keltologen,

Sprachstudenten, verhältnismäßig w e n i g Emigranten,

aber

dafür einige Spione. Generell ist über die deutschen Spionageunternehm e n in Irland zu sagen, daß e s sich dabei u m eine faszinierende A n sammlung v o n Fehlinformation, Pech und Unfähigkeit handelt. 3 U r s a c h e dafür war das langjährige Desinteresse an Irland und die daraus resultierende Fehleinschätzung d e s irischen Verhaltens. Irgendeine entscheidend e B e d e u t u n g kam diesen Aktionen aufgrund dieser M ä n g e l nicht zu. S o g a r hier gibt e s schriftliche Zeugnisse über den Aufenthalt, und e s entwickelte sich eine besondere Irlandverbundenheit. Hermann Goertz, der bekannteste deutsche Spion, schrieb während seiner Inhaftierung in der N ä h e v o n Athlone: »Manchmal verfluche ich das Geschick, daß ich hier Freunde fand, Freunde, die mir den Genius dieses L a n d e s zeigten. Ich habe mich in dieses Land verliebt.« 4

Vgl dazu auch Joachim Gerstenberg, eire - ein Irlandbuch, Hamburg 1940, S. 22. wo er den Zwischenstopp in London bei seiner Irlandreise schildert. Aufgrund der mitgeführten Kamera wurde ihm die Behandlung eines »probable spv - ein wahrscheinlicher Spion« zuteil. Eine genaue Information zum Leben von Goertz gibt Enno Stephan, Geheimauftrag Irland - Deutsche Agenten im irischen Untergrund. 1939-1945. Oldenburg 1961. In dieser Untersuchung wurde erstmals dieses Kapitel der deutsch-irischen Beziehungen ausführlich erforscht und dargestellt. Die Bedeutung von Stephans Ergebnissen spiegelt sich in der Aufmerksamkeit, die sie schon nach Erscheinen der deutschen Ausgabe (eine englische Übersetzung, in der die anscheinend immer noch zu brisanten »Geständnisse« des früheren IRA-Stabchefs Stephen Hayes fehlen, erschien 1963 in London) in England und Irland, und daraufhin auch in Deutschland, erregten. Stephan konnte anhand vieler bis dahin kaum beachteter Akten und zahlreicher Gespräche mit Zeitzeugen nachweisen, daß die irische Neutralität keineswegs, wie behauptet, ein deutsches Spionagenetz zuließ und der alliierten Seite unabsehbaren Schaden zufügte, sondern im Gegenteil durchaus Kooperation der irischen und englischen Geheimdienste bestand. Für Herrn Stephans Hilfe und die freundliche Leihgabe seiner Geheimauftrag Irland-Ausgabe und weiterer Materialien möchte ich mich an dieser Stelle herzlich bedanken. Über das Wirken deutscher Spione in England vgl. Charles Wighton/Giintcr Peis, They spied on England. Based on the German Secret Service War Diary of General von Lahousen. London 1958. Vgl. Stephan, Geheimauftrag Irland (wie Anni. 3), S 318. nach einer unveröffentlichten Schrift von Goertz mit dem Titel Germany speaks to Ireland.

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Gisela Holfìer

Für diese Untersuchung wurden über Irland drei Reiseberichte ausgewählt. Otto Gmelins Jajce - Granada - Dublin von 1940 ermöglicht einen Ausblick auf die Betrachtung Irlands in eher ungewohnten Zusammenhängen, nämlich in Verbindung mit Spanien und Bosnien. 5 Gmelin hielt sich den angegebenen Daten nach im Dezember für eine Woche in Irland, d. h. Belfast, Dublin und Umgebung, auf. Es handelt sich vermutlich um den Dezember 1938; die beschriebene Anreise über Schottland wäre im Dezember 1939 sicher nicht mehr möglich gewesen. Joachim Gerstenbergs eire - ein Irlandbuch ist auch 1940 erschienen,6 die Reise selbst fand laut Umschlaginformation »kurz vor Ausbruch des Europäischen Krieges« statt. Weiterhin läßt sich den Umschlaginformationen entnehmen, daß der Verfasser Irland »auf das elementarste bereist, also nicht als Politiker, Forscher oder Künstler, sondern einfach als Mensch, der die Welt sehen und die Menschen kennenlernen will« - eine Beschreibung, die durchaus fur Gerstenbergs Buch zutrifft. Bemerkenswert ist, daß die Hälfte des 160 Seiten umfassenden Buches mit Photos ausgefüllt - und damit meines Wissens der erste deutsche Photoband von Irland ist. Die gleiche Verteilung von Text und Photos kennzeichnet auch seine früheren Reisebücher über Bulgarien und Grönland. Die letzte hier untersuchte Schilderung Irlands ist ein unveröffentlichter Bericht von Ludwig Mühlhausen, der widerspiegelt, daß Reisende, die nach 1933 ein Visum bekamen, dafür häufig nach ihrer Rückkehr verpflichtet waren, einen Bericht über ihren Aufenthalt zu verfassen. Die Vorgabe, daß von den genehmigten Reisen auch Berichte verfaßt werden mußten, ging vom Reichserziehungsministerium aus. Mühlhausen, der Professor für Keltologie an der Universität Berlin war, schildert in diesem an den Rektor der Universität Berlin gerichteten Bericht auf sieben engbeschriebenen Seiten seinen fast zehnwöchigen Aufenthalt in Irland im Herbst 1937.7 Ein weiterer Reisebericht über Irland und vor allem England von Fritz Günther erschien 1936 mit dem Titel Rund um England 8 Erzählt 5 6 7

8

Otto Gmelin, Jajce - Granada - Dublin, Köln 1940. Gerstenberg, eire - ein Irlandbuch (wie Anm. 2). Ludwig Mülilliausen, unveröffentl. Bericht über seinen Irlandaufenthalt, in: Personalakte Mühlhausen, Archiv der Humboldt-Universität Berlin (UA HUB: UK M 267). Eine Kopie dieses Berichtes verdanke ich Joachim Lerchenmüller. Fritz Günther, Rund um England. Eine Studienfahrt nach England und Irland, Leutersdorf 1936.

Deutsche Ansichten über England und Irland

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wird von einer zweiwöchigen Schiffsreise, die den Verfasser nach Schottland, Irland, dem südlichen England und auf die Isle of Wight führte. Zwei ausschließlich England behandelnde Berichte w u r d e n ebenfalls in diese Untersuchung einbezogen: Hans Thosts 1939 herausgegebene Schilderung mit dem bezeichnenden Titel Als Nationalsozialist in England9 und Michael Alexanders 1941 als Erlebnis-Bericht angekündigtes Werk Von Scotland Yard ausgewiesen.10 Der erst 1939 veröffentlichte, aber die Jahre 1930-1935 beschreibende Bericht Als Nationalsozialist in England von Hans Thost ist weniger eine Reise- als eine Aufenthaltsbeschreibung. Thema sind die Erlebnisse und Überzeugungen des Autors, der sich von 1930-1935 als Berichterstatter des Völkischen Beobachters und als Gründer der dortigen N S D A P - O r t s g r u p p e in London aufhielt. Daran schließen die Schilderungen Michael Alexanders fast nahtlos an - seine Geschäftsversuche in England dauerten von 1936 bis kurz vor Kriegsausbruch.

1.

Geschichte und Politik

Bei der Untersuchung der Darstellung von Geschichte und Politik sind vor allem die Berichte über England ertragreich. Geschichte heißt in diesem Fall in erster Linie die Geschichte des Ersten Weltkrieges und der Zeit danach. So läßt sich in Günthers Reisebericht schon im ersten Kapitel Ausfahrt ins Meer problemlos auch ohne Kenntnis des Erscheinungsjahres eine erste zeitgeschichtliche Einordnung durchführen - er beklagt »den Geist von Versailles«, 11 beschreibt, wie »der Wimpel mit dem H a k e n k r e u z am B u g im Abendwind« flattert und erinnert immer wieder an Geschehnisse des ersten Weltkrieges: »Dort drüben an Backbord zieht sich die Deutsche Bucht hin. Wir sind an jener Stelle, w o am 2. August 1914 unsere kühnen, kecken Kreuzer die im Nebel verborgenen Panzerkreuzer der >LionMainzKöln< und >Ariadne< untergegangen waren.

10

11

H a n s Thost, Als Nationalsozialist in England, M ü n c h e n 1939. Graf Michael Alexander, Von Scotland Yard ausgewiesen, Berlin 1941. Michael Alexander war vermutlich die gekürzte Version von Graf Michael Alexander Soltikow Günther, R u n d u m England (wie Anm. 8), S. 6.

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Gisela Holfter

712 Tote, 149 Verwundete und 31 teils verwundete Gefangene blieben auf dem Kampffelde. Wir lieben unser Schiff, wie man seine Heimat irgendwo in Deutschland im Herzen trägt. Mit aller Glut des Herzens, mit aller Kraft der Seele«. 1 2 Diese Thematik des Ersten Weltkriegs in sofortiger Kombination mit der emotionalen Bindung an Deutschland zieht sich wie ein roter Faden durch den Reisebericht. Dazu k o m m t wie bei Thost der Vergleich des Gesehenen mit dem Heimatland, aber nicht so ausfuhrlich und auf verschiedenen Gebieten, w a s sich v o m U m f a n g her erklären läßt - den knapp 70 Großbritannien betreffenden Seiten bei Günther stehen ca. 380 Seiten bei Thost gegenüber. Für Thost ist neben der englischen Gegenwart die unmittelbare d e u t sche Zeitgeschichte von mindestens ebenso großer Bedeutung. D e r Aufstieg des Deutschen Reiches aus tiefster Not, Demütigung und Verzweiflung zu einem starken und bewunderten Staat ist sogar das eigentliche Hauptthema. Als Symbole des Niedergangs werden Versailles, die B e schränkungen Deutschlands in der Aufrüstung und der 1930 a n g e n o m mene Youngplan mit den dort beschlossenen überdimensionierten Z a h lungsforderungen dargestellt. Die Befreiung von diesen »Fesseln« wird Hitler hoch angerechnet, der generell als der Friedensbote schlechthin beschrieben wird. In bezug auf England wird dementsprechend v o r allem die englische Auseinandersetzung mit dem »neuen Deutschland« untersucht. Thost sieht seine Aufgabe dabei als die »Mission«, einen Ausgleich zwischen den verschiedenen Auffassungen der Z u k u n f t und des Miteinanders zu schaffen. 1 3 Eine anfänglich positive Einstellung England gegenüber betont auch Alexander. Nach seinen Angaben vertraute er bei seiner Ankunft in England, das ihm aufgrund eines Studienaufenthaltes in Oxford nicht un-

12 13

Ebd., S. 7. Vgl. Thost, Als Nationalsozialist in England (wie Anm. 9), S. 21f.: »Ich konnte nachdenken Uber die Mission, die nun vor mir stand. (... ] Deutschland sah in die Zukunft, um seine Fesseln zu zerbrechen, England in die Vergangenheit, um eine Wiederholung eines solchen Krieges für immer unmöglich zu machen. Ich wußte, daß die Parole Englands Frieden heißt, die Parole des erwachenden Deutschlands aber Frieden und Gerechtigkeit. |... ] Ich konnte nur meinem Führer, meinem Volk und mir selbst geloben, alles einzusetzen, um am Frieden mitzuwirken, der gerechten deutschen Sache mit Bahn brechen zu helfen und sowohl meine Berichte nach Deutschland als die Gespräche mit Engländern, die man als Pressemann drüben hat, danach einzurichten.« Hilfreich für ihn ist dabei seiner Meinung nach, daß er »den Todfeind beider, Deutscher wie Engländer« kennt.

Deutsche Ansichten über England und Irland

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bekannt war, auf seinen »Idealismus und den festen Glauben an den Frieden und an den Sieg der Vernunft«. 1 4 Er benutzt Hinweise auf die Geschichte Englands, um dessen Macht und Reichtum als Ergebnis von Sklavenhandel darzustellen." Außerdem geht er ausfuhrlich auf die Politik ein, die seiner Meinung nach ebenso wie das Kino, 1 6 die Justiz 1 7 und die Finanzen 1 8 von der jüdisch-englischen Oberschicht gesteuert wird, die auch für den Krieg verantwortlich ist. 19 In auffälligem Gegensatz zu den Englandberichten, in denen nationalsozialistische Auffassungen die Darstellung von Politik und Zeitgeschichte deutlich beeinflussen, stehen die Schilderungen über Irland. In O t t o Gmelins Jajce - Granada - Dublin ist von politischem Interesse nichts zu spüren - eher eine Abscheu vor allem, w a s damit zusammenhängt und das seiner Meinung nach Wesentliche - den Menschen verdrängt. 2 0 Man erfahrt über den politischen Kontext der Länder, die er bereist, nichts. D a s läßt sich vermutlich aus seiner persönlichen Situation erklären. Gmelin w u r d e 1936 aus politischen Gründen aus dem Schuldienst entlassen, konnte aber anscheinend relativ problemlos weiterhin publizieren. Die Geschichte Irlands dagegen ist ihm wichtig - sofern es sich um die vor- und frühchristliche oder auch sagenhafte Geschichte handelt. Er gibt wenige Hinweise, daß in dem Land, in dem er sich aufhält, auch außer den beschriebenen Streitigkeiten der Helden, die »gegen Nebelriesen und M e e r d ä m o n e n kämpften«, 2 1 noch etwas passierte. Bei einem Stadtrundgang bekommt er im Dubliner Schloß Spuren von den »letzten

14 15 16 17 18 19 20

21

Alexander, Von Scotland Yard ausgewiesen (wie Anni. 10), S. 32. Vgl. ebd., S. 68. Vgl. ebd., S. 69f. Vgl. ebd., S. 109. Vgl. ebd., S. 149. Vgl. ebd., S. 181. Während seines Aufenthalts im spanischen Granada hört er unfreiwillig einer Gruppe von Männern von seinem Hotelzimmer aus zu. Einer »mit speckigem Baß« »sprach stundenlang, immer im selben Tonfall; es war, als zerschlage er die Nacht mit vielen kleinen Schlägen. Wir verstanden nur dann und wann ein paar Worte. Es war Politik. Und immer wieder begann er: >Y entoces [...!< Und dann [...] Es war nicht nur etwas Fremdes in dieser Art, etwas Böses, Gefühlloses. etwas Barbarisches, wie es manchmal im Politiker vergegenständlicht sein kann. Nichts wußte dieser Schwätzer von der Tiefe der Nacht, von der Feier des Mondes, vom Schweigen, vom letzten Ernst. Vom Menschen selbst wußte er nichts « Gmelin. Jajce - Granada - Dublin (wie Anm 5), S. 22f. Ebd.. S 69.

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Gisela

Holfter

Kämpfen um die Home Rule und um die irische Freiheit« gezeigt. Damit meint er wohl den Osteraufstand von 1916, was aber vermutlich den meisten Lesern verborgen blieb, da weiterführende Informationen fehlen. Auch bei Gerstenberg sucht man politische Stellungnahmen meist vergeblich, er betont ausdrücklich, daß sein Irlandbuch »kein politisches« sei. 22 Zeitgeschichtliche Vorkommnisse finden sich dagegen häufig. Er beschreibt die Amtseinführung der »ersten Bürgermeisterin der Welt«, dem Lord Mayor von Dublin, Mrs. Thomas Clarke. 2 3 Ihr Mann war als einer der Anführer des Osteraufstandes hingerichtet worden. Mit dem irischen Präsidenten Douglas Hyde, 2 4 der sich willig von ihm als Photomodell mißbrauchen läßt, verbringt er einen Tag, und auch den »Taoiseach« Irlands, Eamon de Valera, 25 trifft er. Letzterem bescheinigt er, eine »der großen nationalen Führergestalten« zu sein. Er hatte erreicht, daß auch der letzte englische Soldat das Gebiet der 26 Grafschaften verlassen mußte. Ein sich hier anbietender Vergleich mit Hitler fehlt. Er wird nur einmal von einem Iren erwähnt, der meint: »Hitler is right [ . . . ] quite right« - und selbst dazu gibt es keinen Kommentar Gerstenbergs. 2 6 Dafür werden bei ihm die Mönchskultur, und - wie von Gmelin Gestalten aus der frühen Geschichte und der Sagenwelt Irlands beschrieben. Cuchullain, Brian Boru und Cromwell tauchen auf, aber nicht als die ausschließlichen Symbole für Irlands Phantasie, seine Größe und Leiden. Sie sind nur Teil der Geschichte und Kultur des Landes, in dem es genauso Anstrengungen um die irische Spracherhaltung, Auswanderung und Rückkehr, Armut und - ein bestimmendes Thema bei Gerstenberg - viel Literatur gibt. 22 23 24

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Gerstenberg, eire - ein Irlandbuch (wie Anm. 2), S. 20. Ebd., S. 52. Douglas Hyde war der erste Präsident der irischen Republik (1938-1945). Er war Protestant und einer der beiden Gründer der »Gaelic League«, die sich seit 1893 um die Wiederbelebung der irischen Sprache bemühte. Damit war er ein von allen Parteien anerkanntes formales Oberhaupt des jungen Staates. Eamon de Valera, der zu den Anführern des Osteraufstandes gehörte und das Abkommen mit England aufgrund der damit verbundenen Teilung Irlands ablehnte, wurde 1932 Ministerpräsident. 1948 löste John A. Costello ihn ab, de Valera gewann die Wahlen von 1951. 1954 erfolgte wieder der Wechsel zu Costello, der bis 1957 Taoiseach blieb. Nach dem abermaligen Gewinn der Wahlen 1957 wurde de Valera 1959 Staatspräsident und blieb es bis 1973. Er starb 1975. Gerstenberg, eire - ein Irlandbuch (wie Anm. 2), S. 40.

Deutsche Ansichten über England und Irland

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Mühlhausens Bericht, der zu Beginn den Hinweis auf f ü n f frühere Irlandreisen enthält, ist in drei Teile aufgeteilt: den äußeren Verlauf der Reise, die Ergebnisse und Beobachtungen während seiner Sprachstudien im N o r d e n und »Wirtschaftliches und Politisches«. Dieser letzte Teil nimmt umfangmäßig den größten Teil ein. Geschichte spielt in seiner Beschreibung kaum eine Rolle. Eine größere Bedeutung hat dagegen der seit 1932 andauernde Wirtschaftskrieg Irlands mit England und seine Auswirkungen auf Irland. E r geht kaum auf die politische Situation Irlands ein, sondern vor allem auf die Aufnahme der neuen Politik Deutschlands. Zusammenfassend läßt sich ein deutlicher Unterschied zwischen den stark propagandistisch ausgerichteten und ideologisch gefärbten E n g landbeschreibungen und den betont unpolitischen Irlandberichten feststellen.

II.

Beziehungen zu Deutschland

In Thosts Bericht sind die engen Verbindungen zwischen England und Deutschland schon im Vorwort erkennbar. Dort wird Hitlers Ausspruch: »Zwei germanische Nationen sollten durch die bloße Kraft des natürlichen Instinktes Freunde sein« zitiert. D a ß dieser »natürliche Instinkt« fur Thost bedauerlicherweise gewissen Störungen ausgesetzt ist, wird ihm nicht zuletzt durch seine Ausweisung E n d e 1935 klar. D e r Urheber dieser Störungen ist für Thost ganz deutlich zu erkennen, und er räumt der Beschreibung der angeblichen Charakterzüge und den u n t e r n o m m e nen Aktionen viel Platz ein: Es ist - im nationalsozialistischen Kontext nicht allzu erstaunlich - »das Judentum und sein letztes politisches Stadium, der Bolschewismus« 2 7 und der von dieser Seite bestehende Einfluß auf die Presse. 2 8 Als Bollwerk gegen diesen »jüdischen Bolschewismus« sollte nach Thosts Meinung ein deutsch-britisches Bündnis dienen. Jegliche Kritik an Deutschland in den Zeitungen und sämtliche gegen Deutschland gerichteten politischen Entscheidungen werden entw e d e r Winston Churchill oder jüdischen Agitatoren angelastet. Aufgrund von Unkenntnis kommt es zusätzlich zu »verhängnisvollen M i ß -

27 28

Thost. Als Nationalsozialist in E n g l a n d (wie A n m 9), S. 269. Die »Pressemeute [...] zerstörte das Gefühl der A c h t u n g und Freundschaft zwischen zwei der größten Nationen der Welt«, ebd.. S. 158.

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Gisela Holfler

Verständnissen«, so ζ. Β. als die Labourparty gegen die Auflösung der deutschen Gewerkschaft protestiert - die Engländer erkannten laut Thost ärgerlicherweise nicht, daß die deutschen Gewerkschaften »Marxisten [. . .] und damit Staatsfeinde waren«. 29 Trotz solcher Mißverständnisse sei aber das englische Volk überwiegend Deutschland wohlgesonnen. Dafür sorgen nach Thosts Darstellung alle persönlichen Kontakte der britischen Bevölkerung mit Deutschen - von den nach England zurückkehrenden Soldaten der »Saararmee«, die angeblich »Heil Hitler« an die englischen Züge schreiben,30 über die Begegnungen der ersten Fliegerabteilungen zu den Austauschfahrten der HJ und den Veröffentlichungen der Reiseerfahrungen von Briten in Deutschland. 31 Fazit Thosts bei der unfreiwilligen Rückkehr ist dementsprechend, daß Geschichte und Lebensraum bei Engländern und Deutschen unterschiedlich sein mögen; dennoch gilt: »Über allem aber geht als Sieger der Volksgedanke hervor«. 32 Auch Günthers Darstellungen sprechen für positive Beziehungen des besuchten Landes zu Deutschland. Besonders deutlich wird dies für ihn im Kontakt mit den Einheimischen: »An Land hat es sich schon herumgesprochen, daß die Deutschen da sind. Freudig lächelnde Gesichter leuchten uns entgegen.« 33 Die zuvor erwähnten deutschen Bomben auf die »großartige Eisenbahnbrücke« in der Nähe Edinburghs 34 sind fur Günther offensichtlich kein Grund fur irgendwelche Animositäten, die man in der Bevölkerung ihm als Deutschem gegenüber haben könnte. Dementsprechend reagiert er erstaunt, als die Bevölkerung Kirkwalls (Hauptstadt der Orkneyinseln) »uns Deutschen viele Vorurteile entgegenbringt und zum Teil auch Haß«. 35 Er forscht nach den Ursachen dieses Verhaltens und kommt zu dem Ergebnis, daß es »mit den Ereignissen in Scapa Flow in Verbindung zu bringen ist«.36 Dies ist fur ihn dann Anlaß, darüber ausfuhrlich zu berichten und sogar ein Kapitel Der Bericht des Admirals von Reuter über die Versenkung der Flotte von 29 30 31

32 33 34 35 36

Ebd., S. 154. Ebd., S. 340. Ebd., S. 314. Vgl. dazu Angela Schwarz, Die Reise ins Dritte Reich. Britische Augenzeugen im nationalsozialistischen Deutschland ( 1 9 3 3 - 1 9 4 5 ) , Göttingen/ Zürich 1993. Thost, Als Nationalsozialist in England (wie Anni. 9), S. 382. Günther, Rund um England (wie Anm. 8), S. 9. Ebd. Ebd., S. 22. Ebd.

Deutsche Ansichten über England und Irland

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1933 einzufügen. 3 7 Nach den Schilderungen Günthers und Reuters ist es fur den »begeisterten« Leser allerdings kaum erklärlich, w a r u m die dortige Bevölkerung nicht auch voller Bewunderung für die deutschen Heldentaten ist. Bei dem am Ende seiner Reise stehenden Besuch in L o n d o n trifft der Erzähler dann auf mehr Verständnis: »Es berührte uns alle recht wohl, daß man dem deutschen Frontsoldaten mit H o c h a c h t u n g und Begeisterung entgegenkommt«. 3 8 Der Nationalstolz des Verfassers scheint sich hauptsächlich auf militärische Leistungen zu beziehen, der Krieg nur eine Art sportlicher Wettkampf zu sein: »Im Gedächtnis der L o n d o n e r bleibt, wie zum ersten Male am 31. Mai 1915 das schmucke >LZ 38< über der Stadt erscheint. Sportliebende Leute können sich erbauen am W a g e m u t der kühnen Luftschiffer«. 3 9 Noch deutlicher ist der krasse Gegensatz der vermittelten »großartigen Leistung« zu den dadurch ausgelösten Leiden der betroffenden Bevölkerung bei der Beschreibung der schweren Bombardierung Londons im Jahre 1917: »Ein malerisches Schauspiel bot sich den Engländern, als am Mittag des 13. Juni 17 Flugzeuge die Stadt überflogen, von denen man nicht wußte, ob es eigne oder feindliche waren. Doch das stellte sich schnell heraus, als 4 4 0 0 Kilogramm Bomben auf die Docks, Lagerhäuser und auf die T o w e r b r ü c k e herniederkrachten. Das schneidige K a m p f g e s c h w a d e r 3 unter Hauptmann Brandenburg hatte 30 Gegner auf sich gelockt, und doch entkam es durch geschickte Manöver.« 4 0 Kein Wort über die Folgen dieses so »malerischen Schauspiels« - die Verwundeten und Todesopfer sind Günther keine Bemerkung wert. Hier wird allein durch die verklärende Sprache die vollkommene Übernahme der Ideologie bei offensichtlicher Ausblendung der Realität deutlich. Bei Alexander ist dagegen - den veränderten Umständen aufgrund des Krieges entsprechend - von den ursprünglich guten Beziehungen nicht mehr viel zu merken. Er hatte schon in Oxford zeitweise Zweifel 37

D e r Bericht schließt mit d e m b e z e i c h n e n d e n Satz: » S c a p a F l o w ! G e w i ß ist e s e i n T a g der Erinnerung, aber über der Betrachtung d i e s e s T a g e s , der im G r u n d e nichts weiter brachte, als das selbstverständliche, p f l i c h t g e m ä ß e , aber auf großer Tradition beruhende H a n d e l n der deutschen Marine, steht der G e d a n k e a n die l e b e n d i g e Gegenwart, die im Z e i c h e n eines neuen D e u t s c h l a n d d e n B l i c k n a c h vorwärts w e i s t « , Günther, Rund um E n g l a n d ( w i e A n m . 8), S. 27. D i e s e politische E i n s c h ä t z u n g Reuters und die H o f f n u n g und der Stolz auf e i n » n e u e s D e u t s c h l a n d « wird a u c h bei Günther immer w i e d e r deutlich.

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Günther ebd., S. 74. Ebd. Ebd.. S. 30.

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gehabt, ob sich nicht »hinter der freundlichen Maske ein abgrundtiefer Deutschenhaß« verbarg. 41 Schon hier am Anfang der 184-seitigen Beschreibung seines dann folgenden Aufenthaltes in England erfährt der Leser, daß der Autor gut daran getan hätte, seinen Zweifeln zu folgen: »Unendliche, vergebliche Liebesmüh, unendlicher Ärger und Kummer wären mir erspart geblieben. Statt dessen begann ich, der überzeugteste Freund Englands, einen Leidensweg als Importeur in London, angefeindet durch den jüdisch-englischen Boykott, bekämpft durch Pressekampagnen, befehdet wegen besserer Qualität, verleumdet wegen größeren Fleißes, wegen größerer Zuverlässigkeit in der Vertragserfüllung, wegen besserer Organisation, - kurz wegen unseres Deutschtums« 42 Nicht nur die eigenen Erfahrungen werden hier ausgedrückt, durch das »unser« im letzten Satz wird die Erklärung geliefert, warum es trotz aller Bemühungen der Vorkriegszeit um die Verbindung mit England gemäß der nationalsozialistischen Ideologie zum Krieg mit England kam. Der Krieg soll so als eine unausweichliche Konsequenz des englischen Verhaltens gesehen werden und durch das damit eindeutige Verhältnis des Kampfes der Guten gegen die Bösen legitimiert werden. D a ß ein Krieg kommen wird und von England ausgeht, ist Alexander im Gegensatz zu seinen Berliner Freunden schon einige Zeit vorher klar: »aber schließlich mußten wir in London es ja besser wissen, denn wir saßen an der Quelle der Kriegsmacherei«. 43 Bei Gmelin kann man Beziehungen zwischen Deutschland und Irland nur vermuten, ausdrückliche Erwähnungen fehlen. Dennoch gibt gerade sein Bericht in bezug auf die deutsch-irischen Beziehungen bei entsprechender Kenntnis der Ereignisse der Kriegsjahre unvermutete Auskünfte. Er berichtet über Begegnungen mit sieben Menschen in Irland. Mindestens drei davon gelangen, wenigstens in den historischen Untersuchungen über die deutsch-irischen Beziehungen während des Krieges, 4 4 zu einiger Bekanntheit. So spricht er von einem Dichter »F. St.« 41 42

43 44

Alexander, Von Scotland Yard ausgewiesen (wie Anm. 10), S. 32. Vgl. ebd., S. 33; S. 49: »Durch Fleiß, Zuverlässigkeit, durch tadellosen Kundendienst glauben wir deutsche Kaufleute unseren Weg zu machen. Ein Land gibt es, wo solch ein Arbeiten zu Anfeindungen und schließlich zur Ausweisung führt, nur ein Land: England«. Ebd., S. 180. Es ist möglich, daß auch seine Bekannten in Irland Irlandforschern gut bekannt sind. Es handelt sich um ein Paar, die Frau ist eine »blonde Irin«, über den Mann gibt es keine näheren Informationen. Aus dem Textzusammenhang (daß man nach seiner Ankunft über Deutschland und eine gemeinsame Freundin na-

Deutsche Ansichten über England und Irland

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und seiner Frau, die die »Tochter einer bekannten irischen Freiheitskämpferin« ist 4 5 Dabei kann es sich nur um Francis Stuart und seine Frau Iseult, die Tochter von Maud Gonne handeln. Maud Gonne sicherte sich Berühmtheit durch ihren Kampf bei dem Osteraufstand 1916 und ihre konsequente Ablehnung der drei Heiratsanträge, die ihr der Dichter William Butler Yeats machte. Francis Stuart ging 1939 nach Kriegsausbruch nach Berlin als Lektor an die Universität. Als einer der wenigen Iren im Hitlerdeutschland wurde er bald gebeten, fur die englischsprachigen Radiosendungen Übersetzungen zu machen. Später schrieb er Redemanuskripte für William Joyce, der als der Radiopropagandist »Lord H a w - H a w « berühmt-berüchtigt wurde. Stuart übernahm schließlich selbst eine Sendereihe der »Irischen Redaktion« - so erfolgreich, daß die irische Regierung bei der deutschen protestierte und sich jede weitere Äußerung zu den bevorstehenden Wahlen in Irland durch den Radiosprecher Stuart verbat Nach einer kurzen Bekanntschaft mit dem bereits erwähnten Hermann Goertz gab er diesem für den Notfall die Adresse der in Irland gebliebenen Iseult. Goertz suchte sie sofort auf und bekam von ihr neue Kleidung. Dies wurde bei polizeilichen Nachforschungen entdeckt und sie mußte für einige Monate in Untersuchungshaft.

m e n s Gisela spricht) ließe sich vermuten, daß es sich u m einen Deutschen h a n deil. Bekannt und befreundet sind beide mit dem besagten Dichter u n d seiner Frau und vermutlich auch mit dem deutschen Gelehrten. Dies läßt es sehr w a h r scheinlich werden, daß es sich u m Helmut und Elisabeth (»Budge«) C l i s s m a n n handelt. Helmut C l i s s m a n n w a r D A A D - L e k t o r a m Trinity College und von der Deutschen A k a d e m i e mit der Verbreitung von deutscher Kultur beauftragt. E r kehrte vor d e m Kriegsbeginn nach Deutschland zurück und sorgte dort mit Jupp Hoven f ü r die B e f r e i u n g des in spanische Gefangenschaft geratenen h o h e n IRAMitglieds Frank Ryan, mit dem er d a n n in Berlin z u s a m m e n wohnte. Ryan sollte im S o m m e r 1940 mit einem anderen IRA-Führer, Sean Rüssel, per U-Boot von Deutschland nach Irland gebracht werden u n d eine A u s s ö h n u n g der IRA mit Staatspräsident de Valera erreichen, die nach deutscher Ansicht die Neutralität Irlands garantiert hätte. M a n erhoffte sich auch eine engere Z u s a m m e n a r b e i t mit Deutschland. Sean Russell starb auf der Überfahrt. Ein erneuter Versuch mit Helmut C l i s s m a n n scheiterte an den Wetterverhältnissen. Die geplante Wiederholung der Aktion - diesmal per Flugzeug - , um die irische Bevölkerung gegen eine mögliche Besetzung Irlands durch England oder Amerika zu aktivieren, mit Frank Ryan u n d Helmut Clissmann im Jahr darauf, k a m d a n n schließlich wegen Hitlers A b l e h n u n g nicht zustande. Vgl. Horst Dickel, Die deutsche Außenpolitik und die irische Frage von 1932 bis 1944, Wiesbaden 1983, S. 166f. 45

Gemlin, Jajce - Granada - Dublin (wie A n m . 5), S. 77.

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Gisela

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Der »deutsche Gelehrte«, der Leiter eines irischen Museums ist und den Gmelin ebenfalls erwähnt, ist mit Sicherheit Dr. Adolf Mahr, Leiter des Irischen Nationalmuseums und der NSDAP-Ortsgruppe in Dublin. Er wurde später Vorgesetzter von William Joyce und sorgte mit dem Hinweis auf Irlands Bedeutung für die Errichtung der erwähnten »Irischen Redaktion«, bei der Francis Stuart mitarbeitete. Diese Rundfunkpropaganda war neben den IRA-Kontakten und den Spionageversuchen die aktivste Auseinandersetzung mit Irland von deutscher Seite aus. Bedeutung hatte Irland in der inländischen wie ausländischen Propaganda Deutschlands durch die immer wieder hervorgehobene Unterdrückung Irlands durch England. Damit sollte wie im Ersten Weltkrieg der britischen »Kriegslüge« von der angeblichen Unterdrückung kleinerer Staaten durch Deutschland begegnet werden. Generell ist zu den deutsch-irischen Beziehungen in der Kriegszeit zu sagen, daß sie verblüffende Parallelen zu der Zeit des Ersten Weltkrieges aufweisen. Bis zum Kriegsbeginn kann ein allgemeines Desinteresse der führenden Kreise in Deutschland an Irland festgestellt werden. Erst durch die Auseinandersetzung mit England, die man lange zu vermeiden suchte, 46 wird Irland interessant. Im Ersten Weltkrieg erschienen dann Schriften wie Deutschlands Sieg, Irlands Hoffnung oder Irland und wir.4,1 Im Zweiten Weltkrieg ging man etwas subtiler vor. Die Lage Irlands, das 1921 Freistaat geworden war und nicht mehr direkt zu Großbritannien gehörte, hatte sich verändert. So war es Hauptziel der deutschen Politik, die irische Neutralität aufrechtzuerhalten.

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Zum Verhältnis von Deutschland zu England während des Zweiten Weltkrieges gibt es erstaunlich wenig Literatur. Als Einführung empfehlenswert ist Dietrich Aigner, Das Ringen um England - Das deutsch-britische Verhältnis, München 1969. Zum britischen Faschismus vgl. Richard Griffiths, Fellow Travellers of the Right - British Enthusiasts for Nazi Germany, Oxford 1983. Vgl. Hans Rost, Deutschlands Sieg Irlands Hoffnung, Stuttgart/Berlin 1915 und Hans A. Walter, Irland und wir, München 1915. Dort wird auf S. 3 das deutschirische Verhältnis folgendermaßen beschrieben: »Irland? Was ist uns Deutschen Irland? Was geht es uns an, ob die Irländer diese oder jene Form der Selbstverwaltung innerhalb des englischen Königreiches erhalten? So ungefähr würde man einem Deutschen geantwortet haben, der vor einem halben Jahr versucht hätte, jemanden für die irischen Frage zu interessieren. Für die Homerule-Bill und ihr Schicksal konnte sich hier in Deutschland kaum jemand erwärmen. [...] Seit der Krieg ausgebrochen ist und unser Erfolg davon abhängt, ob wir den Kampf gegen England werden zum siegreichen Ende fuhren können, macht sich eine lebhaftere Anteilnahme an den Vorgängen auf >John Bulls anderer Insel< bemerkbar«.

Deutsche Ansichten über England und Irland

241

D a s mangelnde Wissen über Irland in Deutschland wird bei Joachim Gerstenberg schon zu Beginn seiner Reiseschilderungen herausgestellt er erklärt: »alle Menschen verwechseln immer Irland mit Island« 4 8 Ansonsten gibt es auch bei ihm wenig Verweise auf bestehende Kontakte. In einem Nebensatz wird das von deutschen Ingenieuren gebaute Shann o n k r a f t w e r k erwähnt 49 Mühlhausens K o n t a k t e in Irland sind durch seine früheren Aufenthalte bestimmt. Der schon bei Gmelin erwähnte Adolf M a h r wird hier sowohl in seiner Aufgabe als Museumsleiter als auch als N S D A P - L a n desgruppenleiter genannt. Auch sein Assistent, der Keltologe Dr. Hartmann, wird erwähnt. Mit diesem sollte Mühlhausen später während des Krieges noch viel Kontakt haben. Die beiden leiteten die irischsprachige Abteilung der R u n d f u n k p r o p a g a n d a in Berlin - und stießen dabei auf positive Resonanz der irischen Regierung. Diese freute sich über diese »erste internationale Anerkennung« der irischen Sprache. 5 0 Die Keltologen scheinen nach bisherigen Erkenntnissen überhaupt eine wichtige Rolle innerhalb der deutsch-irischen Beziehungen während der Kriegszeiten zu spielen; wissenschaftliche Untersuchungen dazu befinden sich in Vorbereitung. 5 1 Mühlhausen geht immer wieder auf Deutschland ein. Einen Bekannten beschreibt er als einen der »aufrichtigen F r e u n d e des nationalsozialistischen Deutschland« 5 2 und selbst die Emigration vieler Iren betrachtet er aus der Sicht, welche Bedeutung dies für Deutschland haben könnte. Er kommt dabei zu dem Ergebnis, daß zwar im Kriegsfall

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Gerstenberg, eire - ein Irlandbuch (wie Anni. 2), S. 11. Ähnliche E r f a h r u n g e n m a c h t e Richard Bermann. der kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges nach Irland reiste (und noch ironischer als Gerstenberg schreibt!) u n d seinen Reisebericht 1914 in Berlin veröffentlichte: »Irland ist in Deutschland weniger bek a n n t als Zentralasien, und als ich von meiner irischen Reise heimkehrte, w a r e n es nicht lauter Analphabeten, die mich fragten, wie mir der Hekla imponiert habe. M a n fiihrt nämlich nach Island; nach Irland fahrt m a n nicht«, R i c h a r d Berm a n n , Irland, Berlin 1914, S. 11. Ebd., S. 45. Vgl Funktelegrannn des deutschen Botschafters in Irland, E d u a r d Hempel vom 13.12.1939, in: Hubert Sturm, Hakenkreuz und Kleeblatt Irland, die Alliierten u n d das »Dritte Reich« 1933-1945, Bd. 1, Anlage I I I , Frankfurt a. M. 1984. Allerdings darf m a n die Bedeutung dieser jeweils fiinfzehnminütigen Sendung nicht überschätzen, es ging dabei v. a. um die Übersetzung von Nachrichten ins Irische. Eduard Hempel, der deutsche Gesandte in Dublin, empfiehlt »vorsichtiges. allmähliches Vorgehen« hinsichtlich irgendwelcher Propaganda (ebd ). Vgl. A n m . 2. Miililhausen. unveröffentl. Bericht (wie A n m 7), S. 3.

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Gisela Holfter

Irland keine Rekrutierung fur das englische Heer in Irland dulden würde, die ausgewanderten Iren aber wohl »nolens volens zu den Ersten g e h ö ren werden, die England einziehen wird«. 5 3 Negativ empfindet er auch den Einfluß der Kirche und ihre »Traktätchen mit Greuelmeldungen über >Katholikenverfolgungen< in Deutschland«, die seiner M e i n u n g nach die g e w ü n s c h t e Deutschlandeinschätzung in Irland verhindern. 5 4 E s g ä b e allerdings noch eine »zweite Kategorie«: die Iren, die sich noch ein eigenes Urteil gerettet hätten und zu denen natürlich alle gehörten, die in den letzten Jahren selbst einmal in Deutschland waren. Zu seinem offensichtlichen Bedauern m u ß er allerdings erklären: »Leider ist ihre Zahl nicht groß«. 5 5 Allerdings glaubt er, in der Judenfrage fast allseitiges V e r ständnis zu finden, auch wenn dabei in Irland bekanntgewordene Entlassungen einzelner bedauert würden. 5 6 Im Blick auf die in den Englandberichten dargestellten Beziehungen zu Deutschland fällt ein besonderes Selbstbild der Erzähler auf, das sich vielleicht mit einem »Wer uns wirklich kennt, der liebt uns - und w e r uns nicht liebt, ist entweder Opfer eines bedauerlichen Mißverständnisses oder ein Feind« beschreiben läßt. In den Irlandberichten wird dagegen eher Fremdheit deutlich, und es fällt der Mangel an politischen Absichten von deutscher Seite auf.

III.

Darstellung Englands

Günther hält sich mit generellen Urteilen über England zurück. A m stärksten beeindruckt zeigt er sich von der G r ö ß e Londons: »Hier m u ß man nur in Superlativen denken und sprechen. Unheimlich ist das G e wühl in den Straßen«. 5 7 Kurz darauf scheint er sich aber an das Gewühl g e w ö h n t zu haben: »Musterhaft ist die Verkehrsordnung und Straßendiziplin, beispielgebend für die ganze Welt«. 5 8 Auf den folgenden Seiten geht er ausführlich auf die vielen Denkmäler, das Britische M u s e u m und

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Ebd., S. 5. Ebd. Ebd., S. 6. Vermutlich spielt er damit auf die Entlassung des Keltologieprofessors Julius Pokorny an, der in Irland aufgrund verschiedener Forschungsaufenthalte bekannt war. Günther, Rund um England (wie Anni. 8), S. 53. Ebd., S. 55.

Deutsche Ansichten über England und Irland

243

den T o w e r ein und erscheint als ein staunender Tourist. B e m e r k e n s w e r t ist Günthers relativ neutrale Schilderung der Juden in L o n d o n (gerade in Kontext der sonst so häufig geäußerten Begeisterung für das neue, nationalsozialistische Deutschland) bei der Aufzählung der verschiedenen Gruppierungen der Stadt (sonst werden Juden nie erwähnt): » G r o ß ist die Zahl der Juden, mehr als in Palästina wohnen. V o n überallher k o m men sie. D a s Prager Ghetto ist gewiß malerischer, aber g r ö ß e r ist das Londoner. Im Hafenviertel haben sie meist ihre Läden und bieten den Seeleuten alle möglichen Gegenstände zum Kaufe an. D a s Judenviertel zieht sich weiter in die Stadt hinein. Hebräisch sind die Inschriften an den Läden. Mit langen Kaftanen steigen die Männer umher, sehen genauso unsauber aus wie in Warschau und Czernowitz, handeln g e n a u s o wie auf dem Brühl in Leipzig. Manche Firma trifft man dort an, die einst dort ansässig war.« 5 9 T h o s t s Englandbild ist ebenfalls von Respekt und B e w u n d e r u n g geprägt. G r ü n d e für diese Einschätzung gibt er häufig: Meutereien der Flotte sind dort nicht von Kommunisten gesteuert, 6 0 die es sowieso nur in verschwindener M e n g e gibt, 6 1 und in Zeiten ernster Bedrängnisse 6 2 wie 1914 stellen sie eine Armee auf, »die uns deutschen Frontsoldaten g r ö ß t e n Respekt abzwang« 6 3 Er beschreibt verschiedene Aspekte des englischen Lebens, das Erziehungssystem mit den einflußreichen »Public Schools«, das Zeitungswesen und anderes und geht immer wieder auf das bei britischen Bürgern vorhandene Missionsbewußtsein ein. Auch die als typisch englisch geltenen Eigenschaften wie Individualität, Liberalität, Pazifismus und Freiheitsliebe, die eigentlich nicht ins nationalsozialistische Weltbild passen, vermag er so zu erklären, daß sie sich in schönster Übereinstimmung mit deutschen Idealen befinden: » [ . . . ] >liberalHeiden< nicht manchmal doch bessere Menschen?« 7 3 Alexander dagegen, der sich ständig überwacht glaubt, wird einmal sogar als IRA-Attentäter verdächtigt - seiner Schilderung nach kommt es dazu, weil er selbst am Samstag fleißig bis 23 Uhr arbeitet, w a s den Polizisten sehr verdächtig erscheint Nach Bomben gefragt, gibt er seine Reiseschreibmaschine als solche aus und gibt sich auch sonst Mühe, sich über die Polizisten lustig zu machen. Er empfindet es als »geradezu lächerlich, einen Deutschen mit den Iren in Verbindung zu bringen«, 7 4 für ihn ist Irland offensichtlich vollkommen außerhalb des Interesses. Bei Günther steht die Beschreibung des Aufenthalts in Irland unter der Überschrift: »Die Smaragdinsel«, das »Land der goldenen Harfe«, also typischer und häufig gebrauchter Bilder von Irland, die eher das

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G e r s t e n b e r g , e i r e - ein I r l a n d b u c h ( w i e A n m . 2). S. 68, T l i o s l . A l s N a t i o n a l s o z i a l i s t in E n g l a n d ( w i e A n n i . 9). S. 3 2 7 A l e x a n d e r , V o n S c o t l a n d Y a r d a u s g e w i e s e n ( w i e A n n i 10). S 5(1

246

Gisela Holfter

Bild der Märcheninsel heraufbeschwören als an ein politisch wichtiges oder aktuell bedeutsames Land denken lassen. Die Aufenthaltsdauer bleibt ebenso im Dunkeln wie seine Unternehmungen in Irland. O b er a u ß e r Dublin noch anderes gesehen hat, ist fraglich. Als Einfuhrung wird dem Leser eine Art Lexikonzusammenfassung über Irland in Form einer geographischen Beschreibung, die vor allem E i n w o h n e r - und Quadratmeterzahlen beinhaltet, geboten. Offensichtlich glaubt der Verfasser nicht, wie bei Schottland und England, auf entsprechende Kenntnisse seiner Leser zurückgreifen zu können. Selbst bei seiner Abfahrt wird noch das Bild von etwas ganz anderem und f r e m d e n deutlich: »Irland verließ ich ungern. Zu viel waren es der neuen Eindrücke, zu stark war das Erlebnis dieser unbekannten Welt.« 7 5 Zu den deutsch-irischen Beziehungen hatte er bereits zuvor a u f die irischen Soldaten verwiesen: »Pioniere zur Gestaltung freundschaftlicher Beziehungen zu Deutschland scheinen mir die irischen Soldaten zu sein. Sie brachten g r o ß e Blutopfer im K a m p f e mit den deutschen Regimentern. Viele von ihnen kamen in deutsche Gefangenschaft und konnten so am ehesten Vergleiche anstellen zwischen England, dem französischen Hinterland und dem damals so durch die Presse verschrieenen D e u t s c h land. M e h r m a l s kam ich mit solchen Leuten zusammen, und es w a r mir wie ein Symptom, daß sie alle mit Hochachtung von Deutschland sprachen. Ich habe keinen Grund zu zweifeln, daß sie in der Öffentlichkeit nicht ebenso sich verhalten. Das lehrte mich die freundliche A u f n a h m e im Lande«. 7 6 Die Wortwahl »Pioniere« wie auch die vorherige Darstellung Irlands zeigen deutlich, daß der Autor Irland als kaum bekanntes Land in Deutschland versteht. Die Beziehungen zwischen Deutschland und Irland liegen für ihn anscheinend nur in der Zukunft - Kenntnisse früherer Verbindungen finden sich nicht in seinen Aufzeichnungen. Erst im Z u 75 76

Günther, Rund um England (wie Anni. 8), S. 52. Ebd.; zu der gleichen Erkenntnis war er schon in Edinburgh gekommen - auch dort glaubte er sich besonders gerne gesehen und fragt sich, ob dies darauf zurückzuführen sei, »daß viele Schottländer im Kriege häufig den Deutschen gegenübergestellt wurden? Schließlich offenbart doch gerade der Kampf am ehesten Charaktereigenschaften, die einem starken Volke zusagen müssen. Vielleicht mag auch der Hinweis gestattet sein, daß verhältnismäßig viel Schottländer in deutschen Gefangenenlagern weilten. Sollten diese Leute dann nach ihrer Rückkehr nicht irgendein gutes Wort für ihre zufalligen Gastgeber übrig gehabt haben?« (ebd., S. 15). Würde man Günthers Theorie folgen, könnte man sich nur viele Kriege im Sinne der Völkerverständigung wünschen.

Deutsche Ansichten über England und Irland

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sammenhang mit d e Valera und der Analyse der aktuellen politischen Situation wird das deutsch-irische Verhältnis angesprochen, das sich aufgrund der besonderen irisch-englischen Geschichte und de Valeras Einstellung nach Meinung des Autors in der Zukunft drastisch verändern könnte: »Zu Deutschland weisen ihn seine Sympathien. E r hat viele deutsche Techniker und Ingenieure ins Land geholt, hat mit Deutschland einen für beide Teile günstigen Handelsvertrag geschlossen, daß die deutsche Einführ bedeutend zunahm. Den Deutschen begegnet man im L a n d e mit Zuneigung und Hochachtung. Man nimmt sie gerne auf. Irländer, besonders Geistliche, kennen Deutschland sehr gut. Köln, M ü n chen, Oberammergau sind ihre Hauptstationen. Sie werden für deutsche Kultur werben, für Deutschlands Geltung. Erhalten wir uns diesen Freund! Auch ein kleiner Bundesgenosse vermag viel und kann Dienste leisten, die von unabsehbarem Nutzen sind.« 7 7 Allerdings soll bei aller Annäherung darauf geachtet werden, daß die Unterstützung so ist, »ohne daß damit eine Schärfe gegen England vorliegt, denn völkisch stehen uns die Engländer noch näher als die Irländer«. 7 8 Gmelins Irlanddarstellung hat etwas Zeitloses. Man k ö n n t e seinen Bericht ohne g r ö ß e r e Probleme als eine Irlanddarstellung des 19. Jahrhunderts ausgeben. Bestimmende Elemente sind Naturschilderungen. Selbst bei einem Abstecher in die Heide, w o er sich die H ä n d e am Ginster blutig aufreißt und in den Sumpf gerät, schwärmt er noch: »Ich fühlte den Zauber des Landes, das Geheimnis, das sich durch alle Jahrtausende bewahrt hatte. Merlin war nahe, aber auch die Inbrunst christlicher Versenkung, die Gewalt seelischer Mächte, die Wirklichkeit waren; in Mitteleuropa sind sie längst überdeckt vom Geistigen, aber sie sind nicht tot«. 7 9 Für ihn wird Irland in dem Dichter Francis Stuart und seinen Werken verkörpert. Über den Romanen wie über Irland liegt ein

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Ebd.. S. 5 lf. Günthers Argumentation, mit der er de Valeras Sympathien f ü r Deutschland beweisen will, beruhen offensichtlich auf U n k e n n t n i s der politischen Geschichte - als das bereits erwähnte S h a n n o n k r a f t w e r k in den Jahren 1 9 2 6 - 1 9 2 9 gebaut wurde, w a r de Valera. der 1932 die Regierung ü b e r n a h m , noch gar nicht gewählt, sein Vorgänger Cosgrave hatte den Handelsvertrag abgeschlossen. Die Bewunderung Günthers Irland gegenüber, das er in direkte Beziehung zu Deutschland setzt, läßt sich auch noch durch folgende Textstelle nachweisen: »Das ist die Heimat j e n e r Leute, die als wirkliche Helden dem Schicksal trotzen und die in beispielloser Kraft an die Z u k u n f t ihres Vaterlandes glauben. Symbolhaft ersteht Deutschland vor unseren Augen« (ebd., S. 53).

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Ebd., S. 52. Gmelin. Jajce - G r a n a d a - Dublin (wie Anni. 5), S. 73.

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Gisela Holfter

Geheimnis, das Gmelin aber, wie er Francis Stuart erklärt, nicht entschleiern k ö n n e und wolle. 8 0 Immer wieder geht er auf Märchen, Sagen oder Heiligenlegenden ein. Der aktuellste B e z u g sind negative B e m e r kungen über Touristen - aber auch das gab es schon in Irlandbeschreibungen des 19. Jahrhunderts. D a ß sich dieses mythische Irland nicht jedem Besucher von allein präsentiert, sondern durchaus Anstrengungen verlangt, nicht G e n e h m e s aus dem Bild zu vertreiben, wird zu Beginn seines Aufenthaltes deutlich: »Ich sagte mir, daß ich jetzt in Irland sei, auf dem grünen Erin, im L a n d e uralter Bardengesänge, wohin die römische Macht nicht gelangt war, wohin die germanischen Scharen der Völkerwanderung nicht v o r g e drungen waren, im Land der Druiden. Ich war am R a n d e Europas, w o noch länger als an andern von Geschichte überwehten Orten sich etwas von der Urzeit bewahrt hatte. Aber obwohl ich an dies alles dachte, wollte es nicht Besitz von mir nehmen. Ich sah die Menschen in der Stadt ihren alltäglichen Beschäftigungen nachgehen. Überall war es so, überall erwachten die Städte im Rhythmus der kosmischen B e w e gung.« 8 1 N a c h d e m er in Gesellschaft seiner Dubliner Freunde erfolgreich das Alltagsleben und Zeitgeschehen verdrängt hat, wird Irland die T r a u m landschaft und Quelle der Inspiration, die in Mitteleuropa versiegt ist. N a c h seinem Aufenthalt kann er mit der neugeschöpften Kraft sagen: » E s war mir, als sei ich sehr jung; große Gedanken umwehten mich; die Welt war weit und aufgetan«. 8 2 Nicht ganz so mystisch, aber ebenfalls positiv ist Mühlhausens Irlanddarstellung. Die meiste Zeit seines Irlandaufenthaltes verbringt er in einem kleinen D o r f in Donegal, um dort seine Sprachkenntnisse zu verbessern und Material fur seine Forschung zu sammeln. Dabei lobt er die A u f n a h m e in »größter Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft«, die ihn » z u s a m m e n g e n o m m e n mit einer grossartigen Landschaft [ . . . ] die unvermeidlichen Härten des primitiven Lebens leicht tragen [ließ]«. 8 3 Kritisch steht er »als Deutscher« dagegen der »konservativen« Haltung der Iren

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Ebd., S. 75. Ebd.. S. 64. Ebd., S. 79. MUhlhausen. unveröffcntl. Berich! (wie Anm. 7), S. 1.

Deutsche Ansichten

Uber England und Irland

249

in b e z u g a u f wirtschaftliche D i n g e und der mangelhaften N u t z u n g d e s vorhandenen Potentials g e g e n ü b e r . 8 4 D e r Vergleich der hier untersuchten Berichte zeigt, daß die beiden gedruckten Irlandberichte v o n Gmelin und Gerstenberg Politik und Zeitg e s c h i c h t e kaum und eine deutsch-irische Zusammenarbeit a u f politischer E b e n e gar nicht ansprechen. Im deutlichen G e g e n s a t z dazu stehen die englischen Berichte und auch der »Auftragsbericht« d e s später in der Propaganda engagierten K e l t o l o g e n Mühlhausen. I d e o l o g i s c h gefärbte A u s s a g e n über Irland bzw. England fehlen ebenso, wieder im G e g e n s a t z zu den Berichten über England. Allerdings soll hier auch nicht v e r s c h w i e g e n werden, daß e s einige w e n i g e unpolitische Berichte über England gibt, w i e z. B. Friedrich Michaels Kleine

Reise

nach

England,85

und sich auch in einzelnen ver-

öffentlichten Irlandreiseberichten nach 1933 Spuren der herrschenden I d e o l o g i e finden. Ein Beispiel dafür ist der 1 9 3 4 erscheinende Bericht W o l f v o n D e w a l l s Die Insel der Heiligen

- Eindrücke

aus Irland.

Per-

sönliche Eindrücke spielen darin kaum eine Rolle. Es geht hauptsächlich u m die als kompliziert eingestufte politische Situation in Irland und die vielen Probleme, die das Land noch zu bewältigen hat Hilfreich bei der L ö s u n g dieser Probleme wäre die Disziplin des »rasseverwandten W a les«. 8 6 U n g e w ö h n l i c h ist allerdings bei Dewall, daß die Schotten aus die-

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»Für einen Deutschen ist es gerade/u bizarr zu sehen, wie unfern Dublins in der Ebene des Co, Meatli, der fruchtbarste und leicht bestellbare Boden unausgeniitzt bleibt« (ebd.. S. 4). Vgl. Friedrich Michael, Kleine Reise nach England. Hamburg 1937. Seine Vergleiche mit Deutschland sind auf die jeweils unterschiedlichen Größen der Steckdosen begrenzt. Eine weitere vordergründig unpolitische Englandfahrtbeschreibung ist die von Tnide Sand. Wenn zwanzig eine Reise tun - Ferien im fröhlichen alten England, Stuttgart 1938. Dabei handelt es sich um eine Reise von zwanzig Lehrern, die durch den D A A D nach England kommen. Ganz beiläufig werden in der sonst betont humorvollen und unpolitischen Reiseschildening auch die zeitgemäßen Ansichten verbreitet. So freut sich die im Mittelpunkt stehende junge Lehrerin, die meist nur als »Jägerhütchen« bezeichnet wird, gleich zu Beginn ihres Englandaufenthaltes darüber, daß sie bei Themen wie Arbeitsdienst und Hitler-Jugend »allerhand falsche Meinungen zerstreuen und richtigstellen kann« (ebd.. S. 25). Alle DAAD-Besucher freuen sich über das Interesse, das man »gerade dein neuen Deutschland entgegenbrachte« (ebd.. S 50) und Ähnlichkeiten zwischen den englischen Gasteltern und den deutschen Besuchern werden photographisch als »Dokument rassischer Gleichheit« festgehalten (ebd.. S. 27). Wolf von Dewall. Die Insel der Heiligen - Eindrücke aus Irland. Frankfurt a. M. 1934. S. 15.

250

Gisela Holfter

ser »Rassenverwandtschaft« herausfallen; die schottische Besiedlung im N o r d e n Irlands ist seiner Meinung nach deshalb ein Problem, weil es die »Einpflanzung eines rasse- und religionsfremden Volkselements« bedeutet. Der B e z u g zu Deutschland fehlt ebenso wie ein A u f r u f an eine politische Einmischung, die über eine Anerkennung der irischen Missionsleistung im frühen Mittelalter hinausgeht (und selbst das soll im Endeffekt eher einer Versöhnung mit England dienlich sein). 8 7 Im Vergleich zu den hier untersuchten Englandberichten kann also auch hier von einer relativ unpolitischen Darstellung gesprochen werden. Klar wird gerade durch die Einbeziehung dieser Englandberichte, die die bis zu Kriegsbeginn von offizieller Seite vertretene deutsch-englische Brüderlichkeit beschwören und danach ebenso entschieden die Abneig u n g gegen England zum Ausdruck bringen, daß das offizielle Interesse an Irland ausschließlich von den politischen Verhältnissen mit England bestimmt war. Vorerst blieb Irland offiziell unbedeutend. Dennoch sind die in den dreißiger und vierziger Jahren aufgelegten literarischen Schriften, so z u m Beispiel Hermann Härders Irische Heimkehr und Annemarie von Auerbachs Thomas in Irland, die die Unterdrückung Irlands und den Freiheitskampf schildern, so wie die wissenschaftlichen und politischen Schriften durchaus schon ideologisch beeinflußt. In politischen

Schriften wie Das irische Volk, seine rassischen und kulturellen Grundlagen von Wolfgang Krause werden immer wieder die herausragenden Kulturleistungen im alten Irland hervorgehoben. 8 8 Die Grausamkeiten der englischen Herrschaft und der heroische K a m p f gegen diese ungerechte Besatzung betont Franz F r o m m e in Irlands Kampf um die

Freiheit - Darstellung und Beispiel einer völkischen Bewegung bis in die neueste Zeit.89 Irland füngiert in diesen Schriften - wie schon gegen E n d e des 19. Jahrhunderts bei Marx und Engels und noch viel deutlicher im Ersten Weltkrieg - als Instrument, das gegen England eingesetzt w e r d e n soll. Die Reiseberichte nach Irland fallen dagegen weitestgehend aus dieser Propaganda heraus. Die Frage stellt sich, w a r u m g e r a d e so auffallend unpolitische Reiseberichte wie die von Gmelin und Gerstenberg noch 1940 erscheinen konnten. Zum einen liegt dies sicher an der genannten relativen Bedeutungslosigkeit Irlands. Eine andere mögliche 87 88

89

Ebd., S. 10. Vgl. W o l f g a n g Krause. Das irische Volk, seine rassischen und kulturellen G r u n d l a g e n , Göltingen 1940. Vgl. F r a n z Fromme, Irlands K a m p f um die Freiheit. Darstellung u n d Beispiel einer völkischen Bewegung bis in die neueste Zeit, Berlin 1933.

Deutsche

Ansichten

über England und Irland

251

Erklärung wäre, daß die hier so offensichtlich objektiven positiven Irlanddarstellungen die politischen Schriften bestätigen und das in anderen Schriften geschilderte »Verbrechen Englands« dadurch sogar noch authentischer und glaubwürdiger wird. Welche Schlüsse lassen nun diese Untersuchungsergebnisse auf die Frage nach der Rolle des Reiseberichts als Medium fur Propaganda für oder Protestmöglichkeit gegen die nationalsozialistische Diktatur zu? Die Übernahme von Propagandainhalten, -spräche und -fünktion wird bei den ausgewählten Englanddarstellungen mehr als deutlich. Das Fehlen solcher Propaganda bei den Irlandberichten läßt aber andererseits nicht - zumindest bei den hier untersuchten Schilderungen - den Schluß zu, daß es sich dabei um ausdrückliche Kritik handelt. Immerhin scheint jedoch die Möglichkeit zu einer impliziten Kritik selbst im Kriegsjahr 1940 vorhanden gewesen zu sein. Eine solche Kritik setzte natürlich voraus, daß sie von den Zensurstellen als die Beschreibung von etwas (vordergründig) Genehmen akzeptiert werden konnte. Ein Reisebericht, der zumindest auf den ersten Blick ein anderes Land beschreibt, das nicht im Mittelpunkt des politischen Interesses stand, hätte also durchaus eine Kritikmöglichkeit geboten. Der auffällige Unterschied zwischen den Berichten über England und Irland, der im Kontext der politischen Beziehungen zu sehen ist, läßt sich auch in der Nachkriegszeit nachweisen Während Irland nun deutlich außer acht gelassen wird, konzentriert sich das Interesse auf eine Wiederherstellung der freundschaftlichen Beziehungen zu England, was sich auch deutlich an den Reiseberichten erkennen läßt. 90

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Ein gutes Beispiel für die fortgesetzte Auseinandersetzung mit England in dem Frcund-Feind-Schema der Zeit vor dem Weltkrieg ist: Inselmenschen - Berichte deutscher Englandreisender nach dem Zweiten Weltkrieg, hg. v. Fritz von Woedtke, Hamburg 1948. Er widmete es »Dem Gegner von gestern, dem Freund von morgen«. Die lange Zeit durch die Kriegspropaganda verbreiteten Vorstellungen sollen durch ein neues, positives, den politischen Gegebenheiten angepaßtes Englandbild ersetzt werden. Autoren der Reiseeindrücke sind Friedrich Lust. Joachim Pabst. Peter von Zahn. Marion Gräfin Dönhoff. Fritz von Woedtke u. a. Gemeinsam ist den meisten Berichten die Sorge um die A u f n a h m e und die Angst, noch als Feind gesehen zu werden, als Deutscher schuldig zu sein. Statt dessen werden die Erzähler aber überwältigt von der englischen Freundliclikeit und Hilfsbereitschaft. Kein Haß oder auch nur Abneigung wird den Besuchern in den Schilderungen entgegengebracht. Die Freundschaften bestehen auch nach neunjähriger Pause weiter.

Burckhard Dücker

REISEN IN DIE UDSSR 1 9 3 3 - 1 9 4 5

Die nationalsozialistische Regierungsübernahme 1933 hat sowohl eine deutliche Verminderung der bis dahin überaus zahlreich in Deutschland erscheinenden Reiseberichte über die Sowjetunion 1 als auch einen Einfluß auf deren ideologische Ausrichtung zur Folge, ohne aber ein offenes Bekenntnis zum Nationalsozialismus zu verlangen. Wird doch die in der Weimarer Republik übliche Konkurrenz bzw. der Orientierungspluralismus unterschiedlicher Rußlandbilder zugunsten einer offiziellen deutschen Rußlandorientierung (partei- und regierungsoffizielles Auslegungsmonopol) aufgehoben, nämlich der vom »jüdisch-bolschewistischen Untermenschen«, dem »Weltfeind Nr. I«. 2 Diese Fremdheitskonstruktion hat Integrations- und Ausgrenzungsfunktion. Damit ist zugleich die operative Intention der Textsorte Reisebericht, die individuelle Überprüfung gesellschaftlicher Fremdenbilder bzw. die Vermittlung eines Orientierungsangebots über das bereiste Land weitgehend außer Kraft gesetzt. Die Herkunftskultur steht als Zielkultur des Reiseberichts nur noch bedingt zur Verfügung. Bereits veröffentlichte Berichte sogenannter »Revolutionstouristen« wie Egon Erwin Kisch und Ernst Toller, die dieser politischen Vorgabe nicht entsprechen, werden verboten und verbrannt, die Autoren emigrieren.

Vgl. de» Literatlirbericht von Herbert Stegemann, Russisches - Allzurussisches, in: Deutsche Rundschau 58 (1932), H. 8, S. 117-123, wo er von dem »in fast bedrohlicher Weise anschwellenden Umfang der Literatur über Rußland« (hier S. 117) spricht; ebenso H. 9, S. 205-209, die Rubrik wird 1933 nicht weitergeführt. Arthur Rosenberg. Geschichte des Bolschewismus, Frankfurt a. M. 1969 (zuerst 1932), S. 46: Bernhard Furier, Augen-Schein. Deutschsprachige Reisereportagen über Sowjetrußland 1917-1939. Frankfurt a. M. 1987. S. H ö f . 2

Dollheimers Großes Buch des Wissens. Bd. 2. Leipzig 1938. S. 1407.

254 I.

Burckhard

Diicker

Reisen in die UdSSR: Politische und historische Voraussetzungen

Wegen der fur Reiseberichte konstitutiven Auseinandersetzung mit dem mitgebrachten Fremdenbild als Wahrnehmungsfolie erscheint eine Periodisierung der Reiseliteratur im Anschluß an die allgemeine Geschichte sinnvoll. Für das Fremdenbild des Herkunftslandes haben Reiseberichte eine Indikations- und Reaktionsfunktion. So ergibt sich aufgrund der politischen Veränderungen in Deutschland die Periode 1933-1945, die sich wiederum in drei Phasen unterteilt: 1. In Deutschland erscheinen bis zum Angriff auf die Sowjetunion (22.6.1941 »Unternehmen Barbarossa«) Reportagen, Reiseberichte von Journalisten und Spezialisten, die aus politischer Überzeugung in R u ß land tätig waren, nun »heimkehren« und sich politisch beglaubigen (Renegatensyndrom); hierbei handelt es sich um Rückkehrerberichte, die Verfasser planen keine weitere Rußlandreise, ihre Berichte haben fur deutsche Leser eine Reiseverhinderungsfünktion. 3 Die kurze Phase deutsch-sowjetischer Annäherung während der Geltungsdauer des Hitler-Stalin-Pakts (23.8.1939-22.6.1941) wirkt sich fur die Gattung »Reisebericht« nicht produktiv aus. Bei grundsätzlichem Fortbestand der ideologischen Gegnerschaft ist realpolitischer Kooperationsbedarf zu befriedigen. Beide Seiten definieren ihre Interessensphäre, verzichten auf Propaganda und schließen Wirtschaftsverträge. 4 Reiseberichte mit besonders deutlicher sowjetkritischer Tendenz werden in dieser Zeit nicht neu aufgelegt. Aktuelle Berichte kommen wegen der Reisesituation kaum hinzu; die wenigen Neuerscheinungen stützen sich auf Erfahrungen, die mehrere Jahre zurückliegen oder auf unüberprüfbare Aussagen geflohener Regimegegner. 5 Reiseberichte ausländischer Verfasser werden in Deutschland rezipiert, wenn sie ideologisch kompatibel sind;

Zur Situation der Spezialisten in der Sowjetunion nach 1945 mit Nachweis einiger Rußlandberichte vgl. Burghard Ciesla, Der Spezialistentransfer in die UdSSR und seine Auswirkungen in der SBZ und DDR, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B49-50/93, 3.12.1993, S. 24-31. Vgl. Die Wendung. Zur Vorgeschichte des deutsch-russischen Krieges, in: Die Gegenwart 2 (1947), Nr. 17/18, S. 10-22. Sowjetstern und Hakenkreuz 1938 bis 1941. Dokumente zu den deutsch-sowjetischen Beziehungen, hg. v. Kurt Pätzold/Günter Rosenfeld, Berlin 1990, bes. S. 55ff. So z. B. S. Frank, Sowjetische Jugend und Puschkin, in: Hochland 33 (1935/36), S. 473-476.

Reisen in die UdSSR 1933-1945

255

das gilt z. B. fur Louis Ferdinand Célines Mea culpa (1936, dt. 1937) und mit Einschränkungen fur André Gide. 2. Die zahlreichen Rußlandberichte deutscher Emigranten ( 1 9 3 3 1945) erscheinen in der Sowjetunion, in anderen Ländern oder erst viel später in Deutschland (Oskar Maria Graf 1974). Dabei ist eine Korrelation zwischen Erscheinungsort (Exilland) und Intensität der Z u s t i m m u n g zur »neuen Welt« festzustellen. In Deutschland werden diese Texte erst seit der Intensivierung der Exil- und Emigrationsforschung in den siebziger Jahren systematisch, vor allem unter historischem Interesse rezipiert (Neuauflagen). 3. Eine dritte G r u p p e von Reiseberichten stellen die seit 1941 vorliegenden kriegsbedingten Texte dar: Berichte der Propagandakompanien, von Schriftstellern auf Frontfahrt, Feldpostbriefe und Tagebuchblätter »aus dem Osten«. Diese Textgruppe wird nach 1945 durch Anschlußtexte von Kriegsgefangenen und Lagerhäftlingen ergänzt. Formal unterscheiden sich die Reiseberichte der drei G r u p p e n w e d e r untereinander noch von Texten anderer Perioden: Reiseanlaß, E r w a r t u n gen, mitgebrachte Fremdheitskonstruktionen, Authentizität und Objektivität der Wahrnehmungen, Intention des Berichts, Reisevorbereitungen, Fahrtverlauf, Grenzübertritt, Begegnungen, Besichtigungen und abschließende Bilanz strukturieren die Berichte. Dabei ist es ein Merkmal der Gattung Reiseberichte, den Text als kontinuierlichen und schließlich erfolgreichen Lernprozeß (individuell verbindliche Orientierung) zu gestalten, w a s dem tatsächlichen Reisegeschehen keineswegs entsprechen muß. Stellen Reiseberichte doch ein Filtrat aus dem Erfahrungsschatz der gesamten Reise dar, das den Anforderungen der Selbstdarstellung und Wirkintention des Autors gerecht werden soll. Für die Zeit 1933— 1945 k o m m e n überdies politische Erfordernisse als Regulativ hinzu. Z u m politischen Kontext der in Deutschland erscheinenden Reiseberichte gehört, daß die staatliche Tourismusorganisation »Kraft durch Freude« auf die Sowjetunion als Reiseland verzichtet, während zuvor die »Russland-Fahrt mit dem Luxus-Dampfer« 6 zum Standardprogramm der Reiseveranstalter zählte. Die sowjetische Reiseagentur »Intourist« lädt vor allem Multiplikatoren zu kostenlosen, gelenkten Gruppen- oder Einzelreisen ein, w o f ü r Autoren aus Deutschland kaum in Frage k o m men.

Werbeanzeige in: Reiseblatt der Frankfurier Zeitung. Nr. 404 vom 1.6.1930.

256

Burckhard Dücker

D a s über den behandelten Zeitraum hinaus gültige »Delegazija-System« bedeutet, daß Reiseroute, Verkehrsmittel, Unterkunft, R e servierungen, Besichtigungs- und Kontaktmöglichkeiten, B e t r e u u n g durch Dolmetscher, Verweildauer an einzelnen Orten im vorhinein festgelegt sind. Diese Art Pauschalreise verschafft besonders dem sprachunkundigen Ausländer angesichts der enormen Alltagsprobleme bedeutende Privilegien. Andererseits werden spontane Abweichungen und direkte K o n t a k t e weitgehend verhindert. In den Reiseberichten schlägt sich diese Situation gelenkter Erfahrung als Thematisierung von Authentizität und Repräsentativität der Wahrnehmungen nieder. Die neue politische Funktion des Reisens als Bestätigung einer offiziellen Fremdheitskonstruktion antizipiert der schon 1932 erschienene

Deutsche Wegweiser. Grenz- und auslandsdeutsches

Reisehandbuch

durch Europa von Richard Csaki. Will er doch den Kontakt zu den »eigenen Volksgenossen draußen« 7 vertiefen. D e m gleichen Ziel dient die Einführung der »Sowjetforschung« mit »nationalsozialistischer Grundlegung« 8 als Bezugswissenschaft der Rußlandberichte, wie auch

die Edition Die Notreihe. Fortlaufende Abhandlungen über Wesen und Wirken des Bolschewismus im Eckart-Verlag, der sich selbst als »federführend in der B e k ä m p f u n g des Bolschewismus« (Verlagswerbung) bezeichnet. Als Band 12 erscheinen 1933 Deutsche Notbriefe aus dem Wolgagebiet (Zeitraum vom 21.1.-8.8.1933), die um Unterstützung g e gen die dort herrschende Hungerkatastrophe bitten. Deren Ursache sieht der Herausgeber »in der rücksichtslosen Durchführung des Fünflahresplans« und der »Zerschlagung der Familien«. 9 Obwohl das N a c h w o r t keineswegs offen nationalsozialistisch ist, entspricht es doch mit seinem Appell an die »Heimat« zugunsten der »deutschen Volksgenossen« 1 0 dem offiziellen Rußlandbild. Den deutschen Reiseberichten fehlt der natürliche Kontext eines lebendigen Tourismus, sie eröffnen keine Horizonte, sondern verengen die Perspektive. D a s Erkenntnisinteresse erschöpft sich weitgehend im poli-

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9

10

Rudolf Pecliel, Ein volksdeutschcs Reisehandbuch, in: Deutsche Rundschau 58 (1932), S. 218f. Werner Philipp, Nationalsozialismus und Ostwissenschaften, in: Universitätstage 1966. Nationalsozialismus und die Deutsche Universität, Berlin 1966, S. 43-62. Hungerpredigt. Deutsche Notbriefe aus der Sowjetunion, gesammelt u. hg. v. Dr. Kurt Ihlenfeld, Berlin-Steglitz 1933, S. 7. Ebd., S. 129.

Reisen

in die UdSSR

1933-1945

257

t i s c h e n R ä s o n n e m e n t , in d e m d i e o f f i z i e l l e F r e m d h e i t s k o n s t r u k t i o n stätigt wird. D a h e r formulieren sie definitive Urteile, die einen

be-

Reise-

w u n s c h b e i m L e s e r g a r nicht erst a u f k o m m e n l a s s e n s o l l e n . W a s Alfons Paquet sehe

ι be ns

feststellt,

1 9 3 0 ü b e r Wandlungen

gilt

besonders

fur

des

die

Reisern

und

Rußlandberichte:

Be»das

2 0 . J a h r h u n d e r t b r i n g t in d e r R e i s e b e s c h r e i b u n g e i n N e u e s : d i e P s y c h o l o g i e , d e n Sinn für das T y p i s c h e , d e n s o z i o l o g i s c h e n B l i c k . U n d

dann

n o c h die befreiende Erweiterung des Spezialistentums.«" S o erscheinen mit statistischen A n g a b e n und D o k u m e n t e n

ausgestattete

Reportagen

u n d B e r i c h t e über Strafvollzug,12 E h e und Sexualität,13 Erfahrungen als Spezialist,14 Religion und Kirche,15 während der thematisch o f f e n e Reisebericht die A u s n a h m e bildet.16

11

12

13

14

15

16

Alfons Paquet, Von den Wandlungen des Reisens und Beschreibens, in: Literaturblatt der Frankfurter Zeitung, Nr. 404 vom 1.6.1930. Lenka von Koerber, S o u j e t r u ß l a n d kämpft gegen das Verbrechen, Berlin 1933; Anonymus. Ein Abend in der GPU-Baracke. in: Hochland 33 (1935/36), S. 429-433: Matthias Pförtner, Sowjetgefangnis. in: Das Innere Reich 8 (1941/42), H. 7. S. 343-357. Hans Halm, Liebe u n d Ehe in Sowjetrußland. Berlin 1933; Walter M ü n t z , M o ral. Ehe und Sittlichkeit in Sowjet-Rußland. Eine nüchterne Tatsachenschild e n i n g . die mit erschütternder Eindringlichkeit die bolschewistische Weltans c h a u u n g widerlegt. Berlin 1934 (Verlagsankündigung). Walter Müntz, Vom K o m m u n i s m u s geheilt. Ein Jahr beim sowjet-russischen A u f b a u Beobachtungen und Erlebnisse, Eindrücke. Dokumente. Berlin 1933; A. Laubenheimer. UdSSR ... und du siehst die Sowjets richtig. Berichte von deutschen und ausländischen »Spezialisten« aus der Sowjet-Union. Propaganda und Wirklichkeit. Berlin-Leipzig 1935; Karl J. Albrecht. Der verratene Sozialismus. Z e h n Jahre als hoher Staatsbeamter in der Sowjetunion, Berlin/Leipzig 1938. H e r m a n n Pörzgen. Ein Land ohne Gott. Eindrücke einer Rußland-Reise. F r a n k furt a. M. 1936. Walther Allerhand, Russland aus der Nähe. Reportage eines U n b e f a n g e n e n . Lcipzig-Mährisch-Ostrau 1935; Karl Pagel. 30 Stunden Moskau, in: Deutsche Rundschau 62 (1936). H. 8. S. 139-146; als Anschlußtext d e r s . Zweimal Leningrad und Moskau (1935 und 1959). in: Merkur 14 ( I 9 6 0 ) . S. 669-679; Oberst [Willi] Polte. Und wir sind doch geflogen! Meine Flugerlebnisse in drei Erdteilen. aufgezeichnet von Josef Grabler. Gütersloh 1941. Polte berichtet von seinen Flugreisen als Pilot der Deutsch-Russischen Luftfahrtgesellschaft (Deniluft) in die Sowjetunion vor allem in den zwanziger Jahren. Die 5. Aufl. 1941 erscheint mit einem Vorwort des Generalfeldmarschalls Milch.

Burckhard Dücker

258 II.

Reiseerfahrungen: Die sowjetische Wirklichkeit

Die Juristin Lenka von Koerber, die 1932 nach langwierigen b ü r o k r a tischen Vorbereitungen, dann allerdings ohne Probleme, in die S o w j e t union reist, um sich über den Strafvollzug zu informieren, benennt E r w a r t u n g und vorgefundene Realität: »Ich hatte erwartet, ständig g e f u h r t und beobachtet zu werden und war von vorne herein entschlossen, mich gegen vorgeschriebene Pläne zu wehren. U m so mehr war ich überrascht, in M o s k a u überhaupt keinen Plan vorzufinden.« 1 7 Sie erhält Z u tritt zu allen kriminellen, nicht aber politischen Gefangenen in M o s k a u und der Musterstrafanstalt Bolschewo bei Moskau. Aufgrund ihrer russischen Sprachkenntnisse kann sie Kollegen und Inhaftierte direkt b e f r a gen, w a s sie als Ausweis der Authentizität ihrer Mitteilungen vermerkt. Detailliert und abgesichert durch statistisch-dokumentarisches Material und Fotografien berichtet sie - immer im Vergleich mit den vorrevolutionären Verhältnissen (auch dies ein Merkmal der Rußlandberichte der E p o c h e der Weimarer Republik) - über Resozialisierung als Ziel des sowjetischen Strafvollzugs, Beschäftigung sowie Aus- und Fortbildung der Gefangenen, Hafturlaub, Hafttheater, Wandzeitungen als Kritikventil der Gefangenen, ärztliche Versorgung, Selbstverwaltung der Inhaftierten und Resozialisierung der Besprisomi (Straßenkinder). Schon im V o r w o r t teilt sie den Ertrag ihrer Reise und die Intention ihres Berichts mit: »Ich habe manches Mangelhafte und Abänderungsbedürftige, aber weit mehr G u t e s gesehen. Ich wünsche, daß dieses G u t e auch in anderen Ländern nutzbar gemacht wird. Das ist der Z w e c k dieses Buches.« 1 8 In deutlichem Kontrast zu dieser Enquête, der es auf den Abbau von Fremdheit und Vorurteilen durch sachliche Information ankommt, stehen Erfahrungsberichte von Inhaftierten über die völlig unzureichenden Z u s t ä n d e in den Haftanstalten, die Rechtsunsicherheit und die Willkür des Personals, so daß sich als Konsequenz aus diesem E r f a h r u n g s p r o z e ß der Entschluß zur endgültigen Rückreise nach Deutschland ergibt, w o derartige Berichte propagandistisch instrumentalisiert werden. 1 9 Die

17 18 19

Koerber, Sowjetnißland kämpft gegen das Verbrechen (wie Anm. 12), S. 7. Ebd., S. 10. Vgl. die redaktionelle Anmerkung zu Pförtners Bericht in: Das Innere Reich 8 (1941/42), H. 7, S. 392: »Der Beitrag von Matthias Pförtner >Sowjetgefangnis< ist ein Stück aus einem russischen Erlebnisbuch, das den Weg eines mit dem sogenannten sozialistischen Aulbau in der Sowjetunion sympathisierenden deutschen Spezialisten zeigt, der, von der Sowjetwirklichkeit enttäuscht, sich von

Reisen iti die UdSSR

1933-1945

259

Rußlandreise fuhrt zur Selbstbegegnung, die Fremde ist nicht als solche Gegenstand der Erfahrung, sondern wichtig als Auslöser von Selbstreferenz (ein Aspekt, der vor allem in den kriegsbedingten Berichten immer wieder erscheint). Exemplarisch für den Renegatenbericht eines Spezialisten steht Vom Kommunismus geheilt von Walter Müntz, der als KPD-Mitglied 1931 einen sowjetischen Arbeitsvertrag unterschreibt, um so der Arbeitslosigkeit in Deutschland zu entgehen. Sein Bericht entspricht der Struktur von Erwartung (private und berufliche Perspektive in politischer Heimat, kein Fremdheitsbestand), Überprüfung vor Ort und Entwicklung eines neuen Bildes (nun erfahrungsgesättigte Fremdheitskonstruktion). Auch Müntz teilt im Vorwort (Febr. 1933) die Intention seines Berichts und das Fazit seiner Reise mit: »Da die Gefahr besteht, daß der sich im Rahmen des Erreichbaren bewegende Wiederaufbau in Deutschland von den Illusionen über ein rein kommunistisches Wirtschaftsgebiet gestört wird, habe ich mich entschlossen, auf den folgenden Blättern die Erlebnisse eines deutschen Ehepaares der Öffentlichkeit zu übergeben, das, von kommunistischen Gedanken ausgehend, ebenfalls auf Rußland seine Hoffnungen gesetzt hat, und das sich bereit finden ließ, bei dem Aufbau des Arbeiterstaates und der kommunistischen Wirtschaft tatkräftig mitzuhelfen. Es ist ausdrücklich hervorzuheben, daß es sich bei den Leuten um Kommunisten handelt, die Anhänger der kommunistischen Wirtschaftsanschauung - waren. Ein knappes Jahr der Arbeit mit den Herren Stalin und Genossen hat nämlich das Ehepaar vom politischen und wirtschaftlichen Kommunismus geheilt, hat sie aus begeisterten Anhängern zu ebenso scharfen Gegnern des Bolschewismus gemacht.« 2 0 Für Müntz erscheint die Sowjetunion von Deutschland aus als Land ohne Arbeitslosigkeit, 21 d. h. ohne Probleme überhaupt, das als erstes ein gerechtes soziales System aufbaut und daher auch die Probleme des Verfassers lösen wird. 22 Er erhält einen vorteilhaften Vertrag mit sozia-

20 21

22

dem Widersinn der bolschewistischen Konstruktion überzeugte und schließlich verhaftet wurde. In den Gefangnissen und Lagern der GPU fand er zu seinem eigenen Wesen, das heißt zu Deutschland zurück.« Müntz, Vom Kommunismus geheilt (wie Anin. 14), S. 4 Dies gilt traditionell als positives Stereotyp der Sowjetunion in den Berichten der sog. Revolutionstouristen. vgl. z. B. Der Staat ohne Arbeitslose. Drei Jahre »Fünfjahresplan«, hg. v. Ernst Glaeser/Franz Carl Weiskopf. Berlin 1931. Müntz aktualisiert politisch das traditionelle Rußlandstereotyp vom ewigen, unendlichen Osten, in dein sich für Deutsche alle Probleme lösen. Vgl. Burckhard Diicker, »Nur eine nissische Berichterstattung kann ineinen guten Ruf ret-

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Burckhard

Ditcker

1er Komponente (Zuteilung möblierter Wohnung). Während der unbürokratische Grenzübertritt noch die mitgebrachte Erwartung bestätigt (keine Gepäck-, lediglich Paßkontrolle, Valutaumtausch gegen Quittung), setzt die Fremdheitskonstruktion mit der Ankunft in Moskau ein: überhöhte Preise für mangelhafte Qualität, Einkauf im Hotel nur gegen Devisen, deren Umtausch an der Grenze zwingend war, Beschattung durch die Geheimpolizei (GPU), touristische Stadtfuhrung unter Aussparung der sozial und bautechnisch desolaten Viertel. Während der Weiterfahrt zum Einsatzort Solikamsk, des dortigen Aufenthalts und mehrmaliger Arbeitsplatzwechsel (Pereslawl, Leningrad) macht Müntz ausschließlich negative Erfahrungen - gemessen an seinen durch sowjetische Propaganda geprägten Erwartungen und den in Deutschland bestehenden Verhältnissen - , so daß er sein mitgebrachtes Rußlandbild ständig korrigiert: mangelhafte sanitäre Einrichtungen im Zug, weiche Klasse für Privilegierte (Funktionäre und Ausländer mit Devisenbesitz), harte Klasse für Arbeiter, Schmutz, unzureichende Bekleidung der Bevölkerung; keine Vorbereitung seiner Ankunft, verwanzte, primitive Notunterkunft, unzureichende Versorgung und medizinische Infrastruktur, Inkompetenz und Arroganz der sowjetischen Stellen, Überbürokratisierung bei gleichzeitig fehlender Zuständigkeit, mangelnde Arbeitsschutzeinrichtungen, Vertragsbruch. Er wird schließlich entlassen, da wegen Materialmangel keine Einsatzmöglichkeit für ihn besteht. Bei der Ausreise hat er erhebliche Schwierigkeiten aufgrund fehlender Nachweise einer Gepäckkontrolle bei der Einreise. In der »Heimat« begrüßen ihn deutsche Zöllner verständnisvoll und zuvorkommend. Müntz zeichnet minutiös den Prozeß seines Einstellungswandels nach, wenn er zunächst immer wieder versucht, seine Wahrnehmungen zu rationalisieren oder die Wirklichkeit durch eigene Initiative (Vorschläge zur Optimierung der Arbeitsabläufe, der Materialausnutzung usw.) dem mitgebrachten Bild anzupassen. Erst allmählich erkennt er die Inkongruenz von mitgebrachter Orientierung und vorgefundener Realität und betreibt daraufhin seine endgültige Rückkehr. Da Müntz die Vergangenheit des Zarenreichs und des Bürgerkriegs, vor allem aber »die Zukunft, [.. .] das Sesamwort der UdSSR, das Argument, das ei-

ten.« Rußlandorientierungen deutscher Künstler und Schriftsteller i m 2 0 . Jahrhundert, in: Fiktion des Fremden, hg. v. Dietrich Harth, Frankfurt a. M. 1994, S. 1.17-158.

Reisen in die UdSSR 1933-19-45

261

nem in Rußland zuletzt immer wieder entgegengehalten wird«, 23 als Orientierung seiner Wahrnehmung nicht berücksichtigt, bleibt eine zeitlich eindimensionale Gegenwart ohne Genese und Perspektive zurück. Die aus den Berichten der Revolutionstouristen bekannte Dynamisierung der Gegenwart in Baumetaphern wie Aufbau, Umbau, Rohbau wird angehalten. So erscheint das Gebäude unfertig. Damit läßt sich Müntz' Rußlandorientierung - mit der Struktur einer Gegenwartsdiagnose - der nationalsozialistischen Auffassung vom Ende der Geschichte im tausendjährigen Reich integrieren, angesichts derer die kommunistische Entwertung der Gegenwart zum bloß transitorischen Zustand auf dem Weg in die Utopie als defizient erscheinen muß. Die Editionsgeschichte des Reiseberichts Der verratene Sozialismus eines anderen Spezialisten, des Renegaten Karl J. Albrecht, spiegelt die politische Instrumentalisierung dieser Textsorte im »Dritten Reich« wider. 24 Die erste Auflage im November 1938 beträgt 10 000 Exemplare, mit der 10. Auflage im August 1939 werden 100 000 Exemplare erreicht. In der Zeit des Hitler-Stalin-Pakts unterbleibt eine Neuauflage als Zugeständnis an die Sowjetunion. Die 11. Auflage erscheint im September 1941 als preiswerte Volksausgabe in 250 000 Exemplaren. Albrecht, der sich von 1924 bis 1934 als Spezialist fur Holzproduktion und -Verarbeitung in der Sowjetunion aufhält, datiert seine Abwendung vom kommunistischen Ideal schon in die Zeit seines Tätigkeitsbeginns; wegen der Aufforderung, »seine deutsche Staatsangehörigkeit aufzugeben«, 25 löst er sich endgültig Bei seinen zahlreichen Dienstreisen mit der Eisenbahn durch Karelien und den Norden der Sowjetunion, aber auch mit sowjetischen Delegationen nach Skandinavien stellt er immer wieder die »erbärmliche Ausnutzung der ausländischen Kommunisten« durch »die meist jüdischen Leiter der einzelnen Fachsektion« und deren »marxistisch-jüdische Dialektik«26 fest. »Aber die begeisterten Menschen wollten in dem Lande ihrer Träume keine Enttäuschungen erleben. Sie blieben blind.«27 Nicht Sachverstand und Kreativität seien

23

24

25 26 27

E r n s t L i n d q u i s t . W o stellt S o w j c t n i ß l a n d h e u t e ? , in: N e u e R u n d s c h a u 4 5 ( 1 9 3 4 ) . S 1 4 9 - 1 6 2 ; h i e r S. 159. Ä h n l i c h e s gilt f ü r R i c h a r d M o e l l c r , V o n R u r i k bis S t a l i n W e s e n u n d W e r d e n R u ß l a n d s . L e i p z i g 1939; die 4. A u f l . als erste K r i e g s a u f l a g e e r s c h e i n t 1943. A l b r c c h t . D e r \ e r r a t e n e S o z i a l i s m u s ( w i e A n m . 14). S. 13. E b d . . S. 4 1 f . u n d S. 137. E b d . . S. 4 8 .

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Burckhard Dücker

gefordert, »sondern demagogische Phrasen marxistischer Doktrinäre.« 28 Dem entspricht ein Negativkatalog sozialer Phänomene wie Waldarbeitslager mit katastrophalen Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiter (häufig Kulaken und Intellektuelle), Materialbeschaffung durch Korruption bei hohem Material- und Rohstoffverlust durch fehlende Transportkapazitäten und Arbeitsorganisation, niedrige Produktivitätsrate, mangelnde Hygiene und medizinische Versorgung, Prostitution. Angesichts der sich zwingend ergebenden synchronen Blickrichtung auf Westeuropa, vor allem Deutschland, ist das negative Ergebnis fur die Sowjetunion mit wirtschaftlichem Kollaps und sozialen Unruhen vorprogrammiert. Albrecht beglaubigt seine Wahrnehmungen durch Antisemitismus, Antibolschewismus und ein Bekenntnis zum »Dritten Reich«. Er entspricht damit dessen Selbstbild vom europäischen »Bollwerk« gegen den Osten. Hermann Pörzgen, dem Moskau-Korrespondenten der Frankfurter Zeitung geht es mit seinem Reisebericht Land ohne Gott (1936) um Stalins antireligiöse Politik als Beleg fur Mentalitätsunterschiede zwischen Deutschen und Russen; konkrete Reisebedingungen spielen kaum eine Rolle. Seine Recherche der Lage kirchlicher Institutionen in Leningrad, Moskau und der Region der Wolgadeutschen ergibt stets das gleiche Bild: Säkularisierung fast aller Einrichtungen zu Lagerhäusern, Wohnungen oder antireligiösen Museen, Vertreibung der Priester (kaum Nachwuchs), drastischer Rückgang des Kirchenbesuchs aus Angst vor Sanktionen. Den so erreichten Verlust religiöser Gedächtnisorte bzw. sozialer Nischen für Selbstreflexion und temporären Ausstieg aus dem sozialistischen Funktionszusammenhang wertet Pörzgen als wichtigen Schritt zur Ersetzung des Prinzips Individualität (Eigeninitiative, Verantwortungs- und historisches Bewußtsein) durch einen gegenwartsbegrenzten fraglosen Konformismus. Es wird versucht, die religiöse Energie auf bolschewistische Kultformen (Paraden, Volksgerichte, Ehrung verdienter Arbeiter usw.) und -Stätten (Lenin-Mausoleum, Revolutionsmuseen usw.) umzuleiten. Pörzgens weitere Wahrnehmungen sozialer Gegebenheiten (durch Augenschein, Gespräch, Interview) stützen diesen ideologiekritischen Befund: Wohnverhältnisse (je Zimmer eine oder mehrere Familien, Funktionsräume als Gemeinschaftseinrichtung aller Mieter), Privilegien fur Funktionäre und Stoßbrigadler, Schulsituation (häufig bis 70 Kinder 28

Ebd., S. 249.

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pro Klasse, Lernmaterial bietet propagandistisch geschlossene, stimmige Oberflächeninformationen), arbeitsfreie Zeit weitgehend durch Tätigkeiten der physischen und sozialen Reproduktion (vor allem Einkauf von Lebensmitteln) absorbiert, Erinnerung an die überwundene E p o c h e des Zarismus und Zukunftserwartung ohne Analyse der Gegenwart und ihrer Defizite. Pörzgens Bericht vermittelt die Wirklichkeit eines Lebens, das weitgehend öffentlich verläuft und ohne Rückzugsmöglichkeit und B u d g e t an individuell verfügbarer Zeit auskommt. Die Jugend ist »erinnerungslos, selbstsicher, unproblematisch.« 2 9 Fragen zu stellen hat sie nicht gelernt, weil die sowjetische Ideologie zwar die Institution der Selbstkritik, nicht aber die der Systemkritik kennt. Eine Ausnahme von diesem Befund machen die Wolgadeutschen. Sie unterscheiden sich von den Russen nicht nur durch ihr gesundes Aussehen, ihre zwar ärmliche, aber saubere Kleidung, ihre Diszipliniertheit und Zuverlässigkeit, die Ordnung und Sauberkeit ihrer Siedlungen, sondern vor allem durch ihr handlungsleitendes historisches und nationales Bewußtsein. Hoffen sie doch auf direkte Hilfe aus Deutschland oder auf Ausreise dorthin. »Wirklich, der deutsche Gast fühlt sich diesen Menschen v o m ersten Augenblick an verwandt. Die Frauen, mit ihren schönsten Tüchern, warten schweigend, die geputzten blonden M ä d c h e n blikken verlegen drein, nur die Männer fuhren das Gespräch. Ruhige, starke M ä n n e r mit prächtigen Bauernschädeln und sauber geschabtem Kinn.« 3 0 Die Wolgadeutschen entsprechen fur Pörzgen dem von ihnen in Deutschland vermittelten Bild. Sie bekennen sich trotz aller Bedrängnisse zu nationaler Autonomie im sicheren Bewußtsein »echter« deutscher Tradition. Pörzgens Reisebericht entspricht nicht dem Schema » L e m p r o z e ß « , dessen Ergebnis ein neues, reflektiertes Orientierungsangebot ist; er bestätigt vielmehr die mitgebrachte Erwartung und erhält so die appellative Funktion, den Wolgadeutschen die ersehnte Hilfe z u k o m men zu lassen. Die Reiseberichte von Walther Allerhand (Odessa, Krim, Kaukasus, Georgien, Rostow, Charkow, Kiew) und Karl Pagel ( M o s k a u ) stehen unter keiner thematischen Vorgabe Beide reisen mit der Eisenbahn; Allerhand berichtet vom Beginn einer anderen Welt schon an der Gren-

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Pörzgen. Ein Land ohne Golt (wie Anni. 15). S. 146 Ebd.. S. 138; vgl Zwischen Reform und Revolution. Die Deutschen an der Wolga von 1860 bis 1917, hg. v. Dittmar D a h l m a n n / R a l p h T u c h l e n h a g e n . Essen 1994.

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ze, von Überbürokratisierung und »zerlumpten Gestalten«, v o n harter (Arbeiter) und weicher Klasse (Funktionäre, Ausländer), von fehlenden Matratzen und Bettzeug für die Liegewagen, Pagel reist im ausschließlich Ausländern vorbehaltenen Sonderzug. Während Pagel einen N e g a tivkatalog des M o s k a u e r Lebens (Privilegien fur Militär, Geheimpolizei und Ausländer mit Devisenbesitz, umfassende Versorgungsmängel in allen Bereichen, »Dürftigkeit« 3 1 der Kleidung, primitiver historischer Materialismus als Ideologie) gibt, hält Allerhand, der sich selbst als » U n befangenen« einfuhrt, die Perspektivik seiner Wahrnehmungen dauernd b e w u ß t : A u s sowjetischer Sicht befindet sich das Land im Aufbau, aus westeuropäischer im Verfall, zahlreiche technische N e u e r u n g e n sind eingeführt, aber nichts funktioniert bis ins Detail ordnungsgemäß, die P r o duktionsziffern steigen, die Qualität der P r o d u k t e ist zu einem hohen Prozentsatz minderwertig. Auf diese Weise bemüht sich Allerhand u m den Abbau von Vorurteilen und Fehlinformationen; so korreliert er das im Westen häufig kritisch wahrgenommene deutliche Lohngefälle mit dem Kompensationsinstrument sozialer Vergünstigungen. Pagel und Allerhand weisen auf die Entwertung der Gegenwart zugunsten einer unbestimmten Zukunft hin, wobei Allerhand die G e g e n w a r t v o r d e m Hintergrund des Zarismus durchaus als Fortschritt und Beweis fur den » U m b a u des Menschen« 3 2 sieht, während Pagel die Revolution als Verfall, Mangel, Privilegierung einer neuen Schicht und Deklassierung der auch unter dem Zarismus rechtlosen Masse wahrnimmt. Übereinstimmend bestätigen beide, daß dem ausländischen Besucher nur »die g u t e Stube« 3 3 gezeigt werde, während »das Interessante [. . .] neben den vorgesehenen offiziellen Führungen zu finden sein« 34 werde. Allerhands Orientierungsangebot versucht Verständnis für das sowjetische Selbstbild und das - verglichen mit der vorrevolutionären Zeit - Erreichte zu vermitteln, dagegen zieht Pagel eine eindeutig negative Bilanz: » D a s >Arbeitsparadies< ist nach fast zwanzigjähriger >Aufbauarbeit< eine H ä u f u n g von größter Armseligkeit, über die auch der b e w u ß t gepflegte Primitivitätskult nicht hinwegsehen kann.« 3 5

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Pagel, 30 Stunden Moskau (wie Anni. 16), S. 141. Allerhand, Russland aus der Nähe (wie Aum. 16), S. 153. Ebd., S. 69. Pagel, 30 Stunden Moskau (wie Anni. 16), S. 140. Ebd., S. 146.

Reisen in die UdSSR 1933-1945 III.

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Z u k u n f t in der Gegenwart

Anläßlich des ersten sowjetischen Schriftstellerkongresses 1934 w e r d e n zahlreiche deutsche Autoren, die alle schon in der Emigration leben, z u m erstenmal in die Sowjetunion zu einer »Delegazija-Reise« eingeladen (Moskau; Rundreise: Kaukasus, Georgien, Erdölgebiet u m Baku, Wolgadeutsche Region). Für Oskar Maria Graf ist dies seine »bisher schönste und unterhaltlichste Reise in eine Fremde, w o alles ganz, ganz anders sein wird«, in deren Erwartung sogar das Eigene »neu, wie nie gesehen« 3 6 erscheint und in der dann doch v o m ersten Augenblick an »dieses Gefühl einer [ . . . ] raschen Geborgenheit kam«, 3 7 w o z u Grafs eigenes Verhalten nicht unwesentlich beigetragen haben mag: E r trägt bayerische Tracht, gibt reichlich Trinkgeld, genießt die Luxusreise ohne G e d a n k e n an zukünftigen Profit (Honorartransfer), respektiert die fremd e Umgebung, ohne sich anzubiedern. Er kontrastiert den mitgebrachten Fremdheitsbestand mit der Erfahrung vor Ort: »In uns war mit dem Begriff >Rußland< das Dumpfe, Vergrübelte, Religiöse und Mystische noch immer tief verbunden. Wir glaubten letzten Endes eben doch noch wenn auch uneingestanden - an ein asiatisch-geheimnisvolles Volk, [ . . . ] Aber das jetzige Sowjetvolk war ganz und gar anders. [. . .] Jeder von ihnen war optimistisch und heiter, [.. .] geheimnislos und dennoch tief skurril, [. . .] spielbegabt, hingerissen von allem sichtbar Neuen, kindlich bewundernd«. 3 8 »Und ich mußte denken: Glückliches Volk, das so an eine g r o ß e Z u k u n f t glauben kann.« 3 9 Für Albert Ehrenstein, für den »zur Zeit des Faschismus außer Arbeit das Reisen der einzig richtige Zeitvertreib ist«, 40 weil er den Heimatverlust vergessen läßt, bedeutet die Reise nach M o s k a u »in diesen faschistischen Zeiten ein Wunder« 4 1 und fur Balder Olden, dessen Reisebericht in der Moskauer Literaturzeitschrift Das Wort erscheint, löst sie geradezu Neugeburt und Initiation in eine ideale Welt aus: »Ich kam in M o s k a u so unwissend und so skeptisch an wie nur irgendeiner aus dem Lager der bürgerlichen Demokratie, den erst der Faschismus zum

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Oskar Maria Graf. Reise in die Sowjetunion 1934. Hamburg/Zürich 1992. S. 5f. Ebd.. S. 58. Ebd.. S. 63. Ebd.. S. 57. Albert Ehrenstein. Briefe, hg. v. Hanni Mittelmann. M ü n c h e n 1989. S. 283 (22.8.1935). Ebd.. S. 279. 17.1.1935.

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Revolutionär gemacht hat. [...] ich sah lauter Wunder und traute lange Zeit den eigenen Augen nicht. Was ich in einem Leben voll ewigen Reisens gesehen hatte, [...] all das schien mir jetzt abgestanden, war nicht mehr groß, nicht kühn, nicht Fata Morgana.« 4 2 Zu einem eher zurückhaltenden Urteil kommt Klaus Mann. Für ihn ist Moskau »halb noch asiatische, halb schon amerikanisierte Stadt«, Ergriffenheit und Widerspruch wechseln, »die Ergriffenheit ist stärker«. 4 3 Welche Erfahrungen begründen diesen umfassenden Fremdheitsabbau? Übereinstimmend werden die Normalität der Grenzformalitäten, die ungewohnt luxuriöse Beherbergung, finanzielle Ausstattung (Honorare für Statements und kurze Redeauftritte) und vorbildhafte Organisation erwähnt. Darüber hinaus werden in Moskau funktionierende Infrastruktur, ausreichendes Konsumangebot, Sauberkeit der Straßen, starke Bautätigkeit, amerikanisches Lebenstempo, Zufriedenheit der Bürger und als am wenigsten erwartete Erfahrung das allgemeine Interesse für Literatur bzw. »die geistige Situation in Rußland« 4 4 genannt. Delegationen aus Fabriken, Kolchosen und Kasernen nehmen am Kongreß teil und laden Autoren zu mehrwöchigen Arbeitsbesuchen unter präziser Vorgabe des danach erwarteten Erfahrungsberichts ein. Allerdings sehen Autoren, deren Exilland nicht die Sowjetunion ist, gerade in dieser publikationsrelevanten Teilnahme der Massen am literarischen Prozeß eine Gefahr fur die Freiheit des Schriftstellers und die europäische Tradition der Trennung von Kunst und Leben. Die auf diesem Kongreß verabschiedete Konzeption des sozialistischen Realismus 45 mit der Bindung der Literatur als Institution (Autor, Text, Verlag, Kritik, Bezugswissenschaften, Auflagenhöhe) an politische Vorgaben, deren Nichtbefolgung Sanktionen nach sich zieht, lassen Klaus Mann und Graf

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Balder Olden, Anno Vieninddreißig in der UdSSR, in: Das Wort 3 (1938), H. 2, S. 68-78; hier S. 68f. Klaus Mann, Notizen in Moskau (1934), in: Die Heimsuchung des europäischen Geistes. Aufsätze, hg. v. Martin Gregor-Dellin, München 1973, S. 14-27; hier S. 26. Olden, Anno Vierunddreißig in der UdSSR (wie Anni. 42), S. 69. Vgl. Holger Siegel, Sowjetische Literaturtheorie (1917-1940). Von der historisch-materialistischen zur marxistisch-leninistischen Literaturtheorie, Stuttgart 1981; insgesamt David Pike, Deutsche Schriftsteller im sowjetischen Exil 19331945, Frankfurt a. M. 1981; Stalinismus. Macht Apparat Literatur. Literatur und Stalinisnius, in: Text + Kritik (1990), H. 108; zu den von dieser Doktrin verursachten Publikationsproblemen vgl. Ervin Sinko, Roman eines Romans. Moskauer Tagebuch (1962), Gütersloh 1969.

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Verlust ästhetischer Qualität und kritischer Dimension der Literatur mutmaßen. Klaus Mann stellt die entscheidende Frage: »Ist der nichtmaterialistische Schriftsteller wirklich schon reaktionär und arbeitet, ohne es zu wissen, im Dienst des Faschismus?« 4 6 M a n n s A n d e u t u n g einer möglichen Strukturhomologie von kommunistischem und nationalsozialistischem Absolutheitsanspruch bleibt singulär. D e n n o c h scheint der Freund-Feind-Dualismus als verinnerlichte Zensur - T r u d e Richter spricht von » b e w u ß t e r Blindheit« - eine Zweiteilung von veröffentlichter Anpassung und privater Dechiffrierung quasi automatisch zu bewirken, w a s den fundamentalistischen Anspruch der sowjetischen Ideologie bestätigt. Harmonisieren die Rußlandberichte (vor allem die in der Sowjetunion publizierten) ihre Wahrnehmungen doch - in Übereinstimm u n g mit der offiziellen Propaganda - unter den Signa Antifaschismus und Zukunft. (Für die in Deutschland erscheinenden Berichte erfüllen entsprechend Antibolschewismus, Antisemitismus und G e g e n w a r t diese Harmonisierungsfunktion.) So werden die Reiseberichte unter V e r w e n d u n g der traditionellen, ζ. T. religiösen Metaphorik als Konversions-, E r w e c k u n g s - , Wiedergeburts-, Emanzipations- und Erfolgsgeschichte dargeboten, d. h. in jedem Fall mit elementarer Bedeutung für die eigene Biographie. Ehrensteins projektierter Reisebericht bleibt Fragment, da er im Westen »zu radikal« und dem M o s k a u e r deutschen Verlag zu »kritisch erscheint«. 4 7 Der ideologisch instrumentalisierte Zukunftsbegriff entlastet z w a r von momentanen Unzulänglichkeiten, entwertet aber zugleich die Gegenwart als solche grundsätzlich, d h. die eigene Lebenszeit. V o r diesem Hintergrund erscheint die übereinstimmend w a h r g e n o m m e n e Privilegierung der Kinder als geschickte sozialpolitische und -psychologische M a ß n a h m e mit dem Zweck, die Akzeptanz von Einschränkungen um der Zukunftssicherung der folgenden Generation willen zu steigern. Selbst Klaus Mann bilanziert seine Rußlandreise trotz aller Vorbehalte optimistisch: »Denn ich spüre doch wieder, daß es eine Z u k u n f t gibt.« 4 8 Diese Zukunftsgewißheit ist fur Veröffentlichungen deutscher Emigranten in der Sowjetunion konstitutiv. Besonders gilt dies fur staatliche Auftragsarbeiten wie die Reiseberichte H u g o Hupperts 4 9 und Heinrich

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Mann, Notizen in Moskau (wie Anni. 43). S. 25. Ehrenstein, Briefe (wie Anni. 40). S. 281 (31.7.1935). Mann, Notizen in Moskau (wie Anni 43), S. 27. Hugo Huppert, Sibirische Mannschaft. Moskau 1934.

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Vogelers, 5 0 die industrielle Erfolgs- und Emanzipationsgeschichten v o n Arbeitslosen und Analphabeten geben. Hupperts Helden sind k o m m u n i stische deutsche Bergbauspezialisten im Kohlebecken um Nowosibirsk, ihr Gegenspieler ein »Gewesener« deutscher Abstammung. Soziale Sicherheit, Arbeitsplatzgarantie, optimale Chancen für die Kinder und revolutionäre Wachsamkeit (Entlarvung des »Gewesenen« als Saboteur) machen die Z u k u n f t erstrebenswert und die Gegenwart erträglich. Deutschsprachige Reiseberichte aus der Schweiz 5 1 teilen insgesamt diese Einschätzung. Die Ethnologin Fannina W. Halle 5 2 und der Arzt Adolf Voegeli 5 3 bereisen die islamischen Sowjetrepubliken und den K a u k a s u s und wollen dazu beitragen, den Fremdheitsbestand im Bild der Sowjetunion in W e s t e u r o p a abzubauen. Halle berichtet von der erfolgreichen Emanzipation islamischer Frauen durch die sozialistische Revolution als »Menschwerdung, Akt der Neuschöpfiing, Europäisierung, Tatsache von welthistorischer Bedeutung« 5 4 . Die Sowjetunion mache einen Modernisierungsschub durch; die Rationalität der neuen L e b e n s f o r m e n (Ehereform, Frauenbildung, Hygiene) w e r d e letztlich die Gegenoffensive der islamischen Traditionalisten überwinden. Auch V o e geli, der besonders eindringlich die Authentizität und Unabhängigkeit seiner Wahrnehmungen beteuert, korrigiert seine mitgebrachte E r w a r t u n g angesichts der vorgefundenen Industrialisierung und Modernisierung in den Großstädten, während die Provinz noch häufig seine F r e m d heitserwartung bestätigt. Als einzigen Problembereich hebt er den ö f fentlichen Personenverkehr (zu geringe Kapazität, Unpünktlichkeit, lang e Wartezeiten) hervor; kommentarlos verzeichnet er die bedeutenden Privilegien, die ihm als Ausländer von den Behörden eingeräumt und von der Bevölkerung fraglos hingenommen werden, aber zur Aufrechterhaltung der Fremdheit beitragen. Auch in seinem Bericht entspricht die W a h r n e h m u n g der Wolgadeutschen dem in Deutschland vermittelten Bild. Als Reiseergebnis konstatiert er einen persönlichen

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Heinrich Vogelcr, Landschaften und Menschen des Sowjetnordens, in: Internationale Literatur. Moskau 8 (1938), H. 12; Menschen und Landschaften im Sowjetsüden. in: Internationale Literatur, Moskau 10 (1940), H. 1. Vgl. Fakten und Fabeln. Schweizerisch-slavische Reisebegegnung vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, hg. v. Monika Bankowski et al., Basel/Frankfurt a. M. 1991. Fannina W. Halle. Frauen des Ostens, Zürich 1938. Adolf Voegeli, Soviet-Rußland. Reisebuch eines Unabhängigen, Bern 1936, 3. ΑιιΠ. 1944. Halle, Frauen des Ostens (wie Anni. 52), S. 8.

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Paradigmawechsel von abendländischer Tradition zu neuer sozialistischer Welt, von Erinnerung und Vergangenheit zu E n t w u r f und Z u kunft: » N a c h d e m ich gesehen hatte, wie ein 170 Millionenvolk eine neue Welt aufbaut, konnte ich es nicht mehr begreifen, daß sich M e n s c h e n d a f ü r interessieren, wieviele Städte in dem Trümmerhaufen Troja übereinandergebaut sind.« 5 5 Aufgrund der Reisemodalitäten und -intentionen zeigen die Reiseberichte einen hohen Übereinstimmungsgrad hinsichtlich der vorgestellten sozialen und politischen Gedächtnisorte, aber auch in bezug auf deren Würdigung: Schule, Kindertheater, Hospital, Fabrik, Kulturpark, Frauen-, Arbeiterklub, Kolchose, Haftanstalt werden von den Reisenden als identitätsstiftende Fortschritts- und Revolutionssymbole ausschließlich zustimmend wahrgenommen, auch wenn deren funktionale Kapazität hinter der gleicher Einrichtungen des Westens zurückbleibt. D a die aus Deutschland emigrierten Autoren selbst auf der Suche nach neuer Orientierung und Lebensperspektive sind, scheinen sie eine besondere Affinität zur Ausfaltung einer neuen Welt zu haben. Daher vermögen sie das aus der russischen Mentalitätsgeschichte bekannte Ideologem v o m »Privileg der Rückständigkeit«, 5 6 vom direkten Sprung in die M o d e r n e unter Vermeidung aller bekannten Fehler zu akzeptieren. Immer wieder wird die »kindliche« Freude der Russen über die geringste technische Errungenschaft erwähnt. Ein weiteres gemeinsames Merkmal dieser Reiseberichte sind historische Exkurse und s t a t i s t i c h e Daten, die das Erreich-

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Voegeli, Soviet-Rußliind (wie Anni. 53), S. 211; die im sowjetischen Exil lebenden Schriftsteller Fritz Brägel. Julius Hay und Willi Bredel reisen aus Anlaß der Verabschiedung einer Verfassung nach Engels, der Hauptstadt der A u t o n o m e n Sozialistischen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen. Übereinstimmend heben sie den hohen kulturellen und ökonomisch-technologischen E n t w i c k l u n g s s t a n d der Wolgadeutschen als Folge der Revolution und der Stalinschen Politik hervor Briigcl vergleicht mit Deutschland. »Im Deutschen Reich tobt die Hetze des antibolschewistischen Schlagworts: zur gleichen Zeit gibt sich die Republik der Wolgadeutschen eine neue sozialistische Verfassung, zur gleichen Zeit beginnt sich ihr Kulturleben noch reiner und höher zu entwickeln.« Wie Pörzgen (vgl. A n n i 15) bestätigt Bredel das gesunde Aussehen und entschiedene Verhalten der Deutschen: »Sonnengebräunte, kräftige deutsche Bauernburschen u n d Jungarbeiter sprachen laut in deutscher Sprache den deutsch vorgesprochenen Rotarniisteneid nach ...«. Willi Bredel. Die freien Deutschen an der Wolga, in: Das Wort 2 (1937), H. 7, S. 98-102.

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M a n f r e d Hildernieier, Das Privileg der Riickständigkcit. A n m e r k u n g e n z u m Wandel einer Interpretationsfigur der neueren nissischen Geschichte, in: Historische Zeitschrift. Bd. 244 (1987), S. 557-603.

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te vor dem Hintergrund von Zarismus und revolutionärem Anfang als Erfolg ausweisen. Die Gemeinsamkeit betrifft aber auch die typischen Leerstellen wie Wohnverhältnisse, Privilegien der Funktionäre, Zwangsarbeit, Kulakendeportation, politische Prozesse, »Säuberungen«, Denunziationen und Verhaftung ausländischer Kommunisten im Hotel Lux. 5 7 Der Name Stalins wird nicht oder als Fetisch zur Konfliktbewältigung genannt; er wird mit den Stereotypen der Unfehlbarkeit, Weisheit und Gerechtigkeit ausgestattet, eine kritische Würdigung seiner Politik geben die Reiseberichte nicht. Sie erfüllen eine autobiographische Funktion als Selbstverständigung bzw. Integrationsbekenntnis zur Sowjetunion und eine politische als Propagandamittel. Dem entspricht der fehlende touristische Kontext und das Faktum, daß sie - soweit sie in Rußland erscheinen - quasi über das eigene Land aus einer Perspektive berichten, die sie mit ihren Adressaten im Exil teilen. Folgende Merkmale einer erfolgreichen Reise lassen sich extrapolieren: existentielle Erfahrung (Wiedergeburt, Erweckung, Heilung usw.), Lernprozeß (Abbau von Fremdheitskonstruktionen, Aufbau einer Identität als »sozialistischer Mensch«), Heimat als gelingende Verständigung in einer gewählten, nicht organisch vorgegebenen Umgebung. Huppert spricht geradezu von der Notwendigkeit, »sich zum Bewußtsein der neuen Heimat« 5 8 heraufzuarbeiten und entlarvt diese damit als Ergebnis einer intellektuellen Anstrengung des Verdrängens und Vergessens von Vergangenheit und Gegenwart zugunsten einer visionären Zukunft. 5 9

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Die seit 1990 veröffentlichten Dokumente zu den Moskauer Prozessen und den deutschen Emigranten in Moskau weisen die Leerstellen als taktische Verdrängungen nach. Vgl. Die Säuberung. Moskau 1936: Stenogramm einer geschlossenen Parteiversammlung, hg. v. Reinhard Müller, Reinbek 1991; Schauprozesse unter Stalin 1932-1952. Zustandekommen, Hintergründe, Opfer. Mit einem Vorwort v. Horst Schützler, Berlin 1990; Unschuldig in Stalins Hand. Briefe. Berichte. Notizen, hg. v. Hans und Rosemarie Voelkner, Berlin 1990.

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Huppert, Sibirische Mannschaft (wie Anm. 49), S. 101. In seiner Novelle Die Reise nach Odessa (1936) verbindet Huppert den revolutionären Topos der Wiedergeburt als physische Genesung mit dem anderen des Aufgehobenseins in einer ideologischen Heimat. Der dabei entstehende sozialistische Mensch wird zur normativen Leerformel fiir die Harmonisierung jeglicher Konflikte.

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IV.

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Kontroversen: Gide und Feuchtwanger

Diesen Konstruktcharakter des »sozialistischen Menschen« entlarvt André Gide in seinen Reiseberichten, die sowohl in Deutschland als auch von den Emigranten rezipiert werden. Er füllt die konventionellen Leerstellen aus und fragt, ob die Entwertung der Gegenwart nicht ein zu hoher Preis fur die bloß projektierte vollkommene Zukunft sei: »Pour être heureux, soyez conformes, il faut être dans la ligne, ils veulent être complimentés, et je doute qu'en aucun autre pays aujourd'hui, fût-ce dans l'Allemagne de Hitler, l'esprit soit moins libre, plus courbé, plus craintif, plus vassalisé.«60 In Deutschland wird Gides Reisebericht als »ein politischer Akt von entscheidender Bedeutung« 61 begrüßt, obwohl seine Rettung der Idee des Sozialismus vor ihrer sowjetischen Realisierung auf Kritik stößt. Für antifaschistische Intellektuelle, die nicht in der Sowjetunion leben, wird der Bericht zum Katalysator fur Zweifel an Stalin und für Ergebenheitsadressen an ihn. Paul Zech schreibt am 3.8.1937 an Stefan Zweig. »Bekümmert aber bin ich über die Geschehnisse und die Wendung in Rußland. Man hat mir gestern das >Neue Tagebuch< mit dem Auszug aus dem neuen Buch von Gide gebracht. [. ..] Schauerlich. Ich glaube nicht, daß Gide lügt.«62 Arnold Zweig sieht im Brief an Lion Feuchtwanger vom 7.2.1937 Stalins »kleinbürgerlichen russischen Nationalismus« 63 als Grund für die berechtigte Kritik, während in allen Reiseberichten das Nationalitätenproblem als im Zeichen des »sozialistischen Menschen« gelöst dargestellt worden war. Feuchtwanger übernimmt die Gegendarstellung mit seinem Reisebericht Moskau 1937. Er reist unmittelbar nach Erscheinen von Gides 60

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A n d r é Gide, Retour de l'U.R.S.S.. Paris 1936. S. 41ff. A n d r é Gide. Retouches à mon retour, Paris 1937. Karl Heinz Breiner, André Gides Rückkehr aus d e m Sowjetstaat, in: Die Tat 28 (1936/37). H. 10, S. 792-795; hier S. 792. Vgl. Ehrentreich: » E i n nationalsozialistisches Deutschland wird Gides Erfahrungen vielfach als Bestätigung seines antibolscliewistisclien K a m p f e s begrüßen, es wird aber dem Dichter keine Lorbeeren winden, der sich offen als Gegner des Dritten Reichs bekennt und weltanschaulich sehr entgegengesetzte Pfade wandelt.« Alfred Ehrentreich. A n d r é Gide über Rußland, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen 72 (1937). S. 67-70; hier S. 69. Stefan Zweig - Paul Zech: Briefe 1910-1942, hg. v. Donald G. Daviau. Rudolstadt 1987, S. 153f. Lion Feuclitwanger/Stefan Zweig. Briefwechsel, Bd. I: 1 9 3 3 - 1 9 4 8 . F r a n k f u r t a. M. 1986, S. 139.

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Bericht nach M o s k a u (Ende Nov. 1936-Jan. 1937). In seinem Bericht gesteht er Subjektivität (»ich sympathisierte von vornherein mit d e m Experiment, ein riesiges Reich einzig und allein auf der Basis der Vernunft aufzubauen« 6 4 ) und Begrenztheit seiner Erfahrungen sowie gewisse »Kinderkrankheiten« des Sozialismus ein, um dann ein ungetrübt positives Bild der unbegrenzten Zukunftsperspektiven des bisher E r reichten zu skizzieren. E r sucht die gleichen Plätze wie Gide auf, u m dessen W a h r n e h m u n g als bewußt einseitig verfälscht oder als b l o ß e A u s n a h m e zurückzuweisen. Tatsächlich bestätigt er auf diese Weise die Kritik Gides. Die Sowjetmenschen fuhren nach Feuchtwanger ein einfaches, sicheres und daher notwendig glückliches Leben. O h n e Einschränkungen bestätigt er sämtliche Klischees und Stereotype sowjetischer P r o p a g a n d a . Die Sowjetbürger »sehen, daß heute, genau wie man ihnen versprochen hat, unzählige Dinge da und zu ihrer V e r f u g u n g sind, v o n denen sie noch vor zwei Jahren kaum zu träumen g e w a g t hatten. Und der M o s k a u e r geht in seine Warenhäuser wie ein Gärtner, der M a n n i g faches gesät hat und nun nachschauen will, was heute wieder a u f g e g a n gen ist. Befriedigt konstatiert er: sieh da, heute gibt es Mützen, heute Eimer, heute Photographenapparate. [.. .] So genau die M o s k a u e r wissen: der Z u g nach Leningrad geht um soundso viel Uhr, so genau wissen sie: in zwei Jahren werden wir Kleider haben, welche und soviel wir wollen, und in zehn Jahren Wohnungen, welche und soviel wir w o l len.« 6 5 Die Trotzkistenprozesse beurteilt er im Westen skeptisch, in M o s k a u versteht er ihre Notwendigkeit, weil die Angeklagten den A u f b a u p r o z e ß störten und die Bürger ideologisch verunsicherten. Die Geständnisse seien angesichts der erdrückenden Beweismittel und Z e u g e n a u s s a g e n

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Lion Feuchtwanger, Moskau 1937. Ein Reisebericht für meine Freunde, Berlin 1993, S. 7. Ebd., S. 17. Der Reisebericht hat Feuchtwangers literarische Geltung bis heute nachhaltig beeinflußt. Klaus Modick: »Sein Reisebericht M o s k a u 1937Erfolg< Trotzki noch zum >besten Kopf des Marxismus< erklärt hatte, und den Personenkult um Stalin billigte, gilt heute als die größte Dummheit des sonst klugen Autors.« Zum 100. Geburtstag Lion Feuchtwangers, in: Neue Deutsche Hefte 31 (1984), S. 876-881; hier S. 879; Hans Christoph Buch, Wer betrügt, betrügt sich selbst. Über André Gide und seine Reise in die Sowjetunion (1936), in: D i e Zeit, Nr. 15 vom 3.4.1992; Claus Leggewie, Zurück aus Sowjetrußland? Die Reiseberichte der radikalen Touristen André Gide und Lion Feuchtwanger 1936/37, in: Sinn und Form 44 (1992), H. 1, S. 26-39.

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unausweichlich. Ein Besuch bei Stalin überzeugt ihn von dessen liebenswürdiger, volksverbundener, schwerfälliger, manchmal verschlagener, auf keinen Fall intellektueller Art. Feuchtwanger ist in keiner Weise neugierig auf M o s k a u ; er bestätigt lediglich in wenig verhüllter Klischeehaftigkeit seine mitgebrachte Gewißheit vom sozialistischen Aufbau. Die Beilegung der durch Gides Bericht unter den Emigranten hervorgerufenen Verunsicherung und Zweifel an der Sowjetunion als politischer Z w e c k seines Reiseberichts ist offenkundig. Die veröffentlichte Fassade wird in einem Brief an Arnold Zweig v o m 24.2.1937 als solche dechiffriert: »Ich bin sehr glücklich, daß ich in Rußland war, und heilfroh, daß ich wieder zu Hause bin. Das Land dort ist so anstrengend und erfordert besonders von dem Gast, den man auf Schritt und Tritt um seine Meinung befragt [. . .] soviel Anspannung, daß von G e n u ß irgendwelcher Art nicht die R e d e sein kann. [. . .] aber immerhin weiß ich so viel, daß ich zu dem Ganzen [. . .] höchst entschieden j a sage«. 6 6 Die überstandene Angst vor dem falschen »richtigen« W o r t spricht deutlich aus diesen Zeilen und kann auch durch das leerformelhafte Pauschalbekenntnis des letzten Satzes nicht übertüncht werden. F e u c h t w a n g e r scheint selbst nicht zu glauben, was er veröffentlichen wird.

V.

Kriegsberichte: Feindliche Fremde

In diesem Teil geht es um die in der Forschung kaum behandelten Beziehungen zwischen Reisebericht und Kriegsgeschehen, die Peter J. Brenner mit der Frage berührt, »in welchem U m f a n g Reiseliteratur durch Kriegsereignisse überhaupt hervorgebracht w u r d e und welche Modifikationen sie dadurch erfuhr.« 6 7 Grundsätzlich ist festzustellen, daß die Reise- bzw. Fahrtmetapher als Wahrnehmungsfolie kriegsbedingter Ortswechsel eine lange Tradition hat 6 8 und daß besonders die V o r marschphase in der weiträumigen Sowjetunion eine Existenzform bedingt, die durch dauerndes Unterwegssein und die Überwindung g r o ß e r Distanzen in erwarteter kultureller und zumeist sprachlicher F r e m d e 66 67

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Feuchtwanger/Zweig. Briefwechsel (wie Anm. 63). S. 147. Peter J. Brenner, Der Reisebericht in der deutschen Literatur. Ein Forschungsüberblick als Vorstudie zu einer Gattungsgeschichte. Tübingen 1990. S. 590. Ursprünglich bedeutet das Wort Reise »aufbruch zum kriege, der kriegszug selbst«: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, München (Nachdruck) 1984, Bd. 14. S. 718ff.

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exemplarisch als die des (Urlaubs-) Reisenden erlebt wird, 6 9 der Elemente einer fremden Umgebung registriert, die er sich im Laufe seines Aufenthalts aneignen, d. h. erobern will. Natürlich spielt bei der »Urlaubsreise« ins »Sowjetparadies« auch die ironische Entlarvung eines sowjetischen Selbstbildstereotyps eine Rolle. Zugleich vermag die Reisemetapher die Ästhetisierung zahlreicher Wahrnehmungen in der Anfangsphase des Krieges zu erklären. Eine andere Wahrnehmungsfolie (z. B. die des Forschers, des Lernenden) steht den meisten Soldaten, die ihre erste Fernreise häufig stolz und dankbar erwähnen, auch fur private Berichte offenbar nicht zur Verfugung. Daher erklärt sich auch die in der siegreichen Vormarschphase häufige Form von Urlaubskarte oder -brief: Hier fallen Krieg und Reise durch ihren Ausnahmecharakter, die Unterbrechung der gewohnten Alltagsanforderungen zusammen. WolfDieter Mohrmann bezeichnet einen solchen Briefschreiber geradezu »als eine Art von Kriegstourist«. 70 Das Merkmal freiwillig/unfreiwillig scheint fur die Qualifikation militärisch bedingter Ortswechsel als Reise solange keine Rolle zu spielen, wie die eigene Seite das »Reisegeschehen« bestimmt. Erst angesichts von Niederlage und Gefangenschaft wird die Sinnfrage an die Reise gestellt, was sich bei freiwillig angetretenen Reisen erübrigt. Der Krieg verschafft dem offiziellen Feindbild wieder unumschränkte Geltung, konfrontiert unmittelbar mit der sowjetischen Wirklichkeit und verlangt der deutschen Öffentlichkeit die Akzeptanz eines weiteren mili-

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Im Sanunelband Kriegsbriefe gefallener Studenten 1939-1945, hg. v. Walter Bahr et al., Tübingen 1952, finden sich zahlreiche Belege: »Nachgerade wird man wohl oder übel zum fahrenden Weltenwanderer [ . . . ] Lange Jahre: eine einzige Großfahrt. Alles paßl genau, nur die Fahrtkameraden nicht immer« (S. 178, 3.7.1941). »Es sind nun bald vier Monate geworden und fiir alle hat die >Urlaubsreise< in das Sowjetparadies sicher viel bedeutet« (S. 179, 18.10.1941). »Auf dieser Tour näherten wir uns auch einigen kleinen Salzseen« (S. 175, 7.10.1942). »Noch immer sind wir auf der Reise, haben Bobruisk hinter uns gelassen« (S. 318, 24.2.1944). Ein Mitarbeiter des Osnabrücker Regierungspräsidiums beschreibt seine Fahrt nach Rußland in einem dienstlichen Feldpostbrief vom 8.10.1941: »Denn als ich im vorigen Jahr nach Frankreich reiste, war der Waffenstillstand bereits geschlossen [... 1 Unsere Reise führte dann von Berlin über Warschau bis in die Gegend von Lublin. Dann war es mit der >Reiserei< aus«, in: Der Krieg hier ist hart und grausam! Feldpostbriefe an den Osnabrükker Regierungspräsidenten 1 9 4 1 - 1 9 4 4 , hg. v. Wolf-Dieter Mohrmann, Osnabrück 1984, S. 415.

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Der Krieg hier ist hart und grausam!, ebd., S. 9; vgl. Martin Raschke, Zwiegespräche im Oslen, Leipzig 1942, S. 80.

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tärischen Gegners ab. Dies bewirkt nicht nur einen enormen Bedarf an propagandistisch verwertbaren Reiseberichten, 71 sondern bietet auch die Möglichkeit zur individuellen Überprüfung der offiziellen Fremdheitskonstruktion. Zu den schon erwähnten Textformen kommen nun private und dienstliche Feldpostbriefe, private und dienstliche Tagebuchaufzeichnungen, (gedruckte) Reden und literarische Formen hinzu. Zum Kontext gehören sämtliche themenspezifischen Texte sowie politischmilitärische Vorgänge. Die authentischen Feldpostbriefe dokumentieren den jeweils erreichten Informations- und Erfahrungsstand (Struktur des kontinuierlichen Erfahrungsprozesses aus sozial ungefilterter Perspektive). So scheinen sich auch die Vorgaben (»Erlebnisberichte, Mitteilungen über das persönliche Schicksal, Nachrichten und Eindrücke vom Kampfgeschehen und vom Feindesland« 72 ) des Osnabrücker Regierungspräsidenten an seine eingezogenen Mitarbeiter für Feldpostbriefe an die zivile Dienststelle geradezu an der Textsorte Reisebericht zu orientieren. Vermitteln doch die einlaufenden Briefe der Verwaltungsspezialisten präzise Angaben über die Beschaffenheit der zurückgelegten Wegstrecken, Entfernungen, Vegetation, Klima, Landwirtschaft, Industrie, Verwaltungseinrichtungen, Mentalität der Bewohner und geben zusätzlich eine Einschätzung durch den Epistolographen. In der Vormarschphase entsprechen diese Briefe der offiziellen Sprachregelung bzw Fremdheitskonstruktion (»Es war die bolschewistisch-jüdische und asiatische Pest, die über dieses europäisch denkende Volk [Ukrainer] gekommen ist.«7'1) Nach Stalingrad werden Zweifel am Kriegserfolg als

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Nielli zufällig erscheint daher die deutsche Übersetzung des schon 1934 in Florenz veröffentlichten Reiseberichts Russian Tour von Carlo Scarfoglio Russische Reise mit Intourist, Leipzig, Juni 1942. Der Verfasser, der mit einer englischen, insgesamt sowjetfreundlichen Reisegruppe Leningrad, Moskau, NishnjNowgorod bereist, beschreibt die Entstehung einer strikt antikommunistischen Haltung der Gruppe aufgrund der eigenen Überprüfung der Situation. Das sowjetische System sei nicht kommunistisch, sondern »eine persönliche Diktatur, und diese Diktatur wird von einer geschlossenen Partei getragen, die sich selbst ergänzt.« Deutsche Soldaten sehen die Sowjet-Union. Feldpostbriefe aus dem Osten, hg. v. Wolfgang Diewerge, Berlin 1941, S 254.

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Der Krieg hier ist hart und grausam! (wie Anm. 69), S. 7. Ebd., S. 84: eine besondere Form stellen die von Walther Lammers herausgegebenen und mentalitätsgeschichtlich ausgewerteten Fahrtberichte von Dienstfahrten eines kommandierenden Generals zu den verschiedenen Einsatzstellen dar. Diese täglich verfaßten Berichte zeichnen präzise die Wahrnehmungen und Beurteilungskontinuität auf mittlerer Befehlsebene nach: »Fahrtberichte« aus der

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W i e d e r g a b e mitgehörter G e s p r ä c h e » v e r p a c k t « o d e r ex negativo

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geäu-

ßert. D a b e i scheint z w i s c h e n d e m e i g e n e n R ü c k z u g und der z u n e h m e n d objektiven Einschätzung

der russischen Mentalität und

sowjetischen

V e r h ä l t n i s s e eine Korrelation z u bestehen. Private B r i e f e sind trotz Zensur im allgemeinen o f f e n e r und u n m i t telbarer als an die zivile Dienststelle gerichtete. In der R e g e l k o n v e r g i e ren sie mit offiziellen Berichten in Thematisierung und D e u t u n g

des

>Reisemotivs< als » V e r w a n d l u n g v o n A g g r e s s i o n in D e f e n s i v e « . 7 4 B e l e g t wird d i e s e D e u t u n g durch den H i n w e i s a u f g e h e i m e r u s s i s c h e A n g r i f f s vorbereitungen (so Osten«

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1 9 4 1 ) 7 5 und den » u n g e h e u r e n O p f e r g a n g in d e n

zur Errettung E u r o p a s und d e s russischen V o l k e s v o m B o l -

s c h e w i s m u s . » N u r im O s t e n ist es tatsächlich >unser< K r i e g « , 7 7 w e i l hier E u r o p a verteidigt wird g e g e n ein »sphinxhaftes Land«, d a s » m a n c h e s G e h e i m n i s « 7 8 birgt. D a s Attribut d e s Rätselhaften wird der S o w j e t u n i o n zugeordnet.79

In der Einleitung

durchgehend

s e i n e s Reiseberichts Klinzy

(1943)

schreibt W a l t e r Engelhardt: » W i e w ü r d e n d i e s e M e n s c h e n in der als

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Zeit des deutsch-sowjetischen Krieges 1941. Protokolle des Begleitoffiziers des Kommandierenden Generals LII1. Armeekorps, Boppard am Rhein 1988; vgl.: Ich will raus aus diesem Wahnsinn. Deutsche Briefe von der Ostfront 19411945. Aus sowjetischen Archiven, hg. v. Anatoly Golovchansky et al., Wuppertal 1991; vgl. Stalingrad - eine deutsche Legende [Abdruck zahlreicher Feldpostbriefe aus dem Kessel], hg. v. Jens Ebert, Reinbek 1992. Helmut Peitsch, Am Rande des Krieges? Nichtnazistische Schriftsteller im Einsatz der Propagandakompanien gegen die Sowjetunion, in: kürbiskern 19 (1984), H. 3, S. 126-149; hier S. 138. Vgl. Bnmo Brehm, Unser Kampf im Osten - Sinn und Sendung. Festvortrag beim Deutschen Dichtertreffen in Weimar 1941, in: Das Innere Reich 8 (1941/42), H. 8, S. 400-409. Hans Baumann, Die Bewährung des Dichters. Rede beim Deutschen Dichtertreffen in Weimar 1941, in: Das Innere Reich 8 (1941/42), H. 9, S. 461-471; hier S. 462. Erasmus von Jakimow, Gefahr und Schau. Tagebuchblätter eines jungen Malers aus dem Zweiten Weltkrieg. Mit einem Lebensbild von Annemarie KirchnerKruse, München 1957, S. 34 (5.7.1941). Edwin Erich Dwinger, Von Gorki bis Gori. Tagebuchblätter aus dem Rußlandfeldzug (Vorabdruck aus »Wiedersehen mit Sowjetrußland«, Jena 1942), in: Das Innere Reich 9 (1942/43), H. 9/10, S. 532-551; hier S. 551. Stegeniann, Russisches - Allzurussisches (wie Anm. 1), S. 117, spricht von Rußland, »das mehr als je ein großes beängstigendes Ratsei bildet«; Reisen durch ein unbekanntes Land. Rußland-Impressionen, hg. v. Eva Rosenkranz, Bergisch Gladbach 1987. Das Schwerpunktthema in der Neuen Rundschau 3 (1994) bildet Iwan der Dumme. Russische Rätsel und ihre Vorgeschichten.

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in

>Paradies der Werktätigem gepriesenen Sowjetunion leben? Keiner von uns konnte sich ein rechtes Bild machen.«80 Daß das Stereotyp vom »Rätsel Rußland« sogar Eingang in die Wissenschaft findet, belegt der gleichnamige Vortrag des Historikers Gerhard Ritter aus dem Jahr 1943, der als Lehrbrief der philosophischen Fakultät Freiburg für Freiburger Studenten in der Wehrmacht vervielfältigt wird.81 Als rätselhaft und - so ist zu ergänzen - bedrohlich gilt die, gemessen am eigenen harmonisierten Feindbild, scheinbare Widersprüchlichkeit von »tierischer Sturheit«,82 mit der die »dumpfen Massen die europäische Kultur begraben«83 würden und Widerstandskraft und Kampfgeist, von »geheimnisvoller Weichheit« und »barbarischer Rohheit und Wildheit«.84 Das Bild der Russen als »nur vertierte, unmenschlich grausame Halbasiaten«85 widerspricht ihrer militärischen Einsatzbereitschaft, die immer wieder hervorgehoben wird, um die eigene Leistung aufzuwerten. Auch die Unendlichkeit von Zeit und Raum, im Frieden als Form von Ewigkeit erlebt, erscheint im Krieg - wie auch das Klima - als elementarer Feind. Die Sowjetwirklichkeit entzieht sich offenbar den mitgebrachten Schemata und Begriffen. Als Folge dieser der feindlichen Fremde angelasteten Inkongruenz tritt das Eigene in den Vordergrund. Unverstandene Fremde wird zum Katalysator fur ideologische Selbsterkenntnis, ermöglicht quasi narzißtischen Lustgewinn, indem sie erst das vermeintlich Eigene in seiner überlegenen Vertrautheit erschließt. Gerade die Reise in die feindliche Fremde führt zur Begegnung mit sich selbst als Teil eines Kollektivs und zur forcierten Erkenntnis des Eigenen: nicht zuletzt aufgrund dieser Dialektik kann der militärisch erfolgreiche Krieg als Reise wahrgenommen werden. 86 Der am 1.7.1941 gefallene Schriftsteller August Vowinckel 80

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Walter Engelhardt, Klinzy. Bildnis einer russischen Stadt nach ihrer Befreiung vom Bolschewismus. Berlin-Leipzig 1943, S. 76. Gerhard Ritter. Das Rätsel Rußland, in: Lebendige Vergangenheit. Beiträge zur historisch-politischen Selbstbesinnung. München 1958, S. 213-252 (überarbeitete Fassung). Der Krieg hier ist hart und grausam! (wie Anin. 69). S. 96. Dwinger. Von Gorki bis Gori (wie Anm. 78). S. 548. Ritter, Das Rätsel Rußland (wie Anni. 81). S. 214. Albert Neuberger, Briefe an Bernt von Heiseler, in: Der Kranich 10 (1968). S. 105-139; hier S. 122. Der »fremde« Blick vom unendlichen, aber nicht feindlichen Rußland auf das kleine Europa und noch kleinere Deutschland (konkret mit Hilfe von Karte oder Globus) ist ein Topos vor- und nachrevolutionärer Reiseberichte und bewirkt hier durchgehend eine Relativienmg des Eigenen.

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Burckhard Diicker

schreibt am 27.6.1941 - nach einem Bombenflug - an seine Frau über familiäre Geborgenheit und schließt. »Mir fällt ein, daß ich das früher niemals hätte sagen können. Die Erde ist doch schön. Ja, sie hat vieles Schöne.« 8 7 D a s Fremde wird durch selektive W a h r n e h m u n g bloß des Eigenen ersetzt, was hier als Reflex nationalsozialistischer Germanisierungs- und Siedlungsprogramme erscheint. Erfahrungshunger und N e u gier beziehen sich nicht auf die fremde Umgebung, sondern auf die B e w ä h r u n g des Eigenen in dieser Fremde. Bei Engelhardt wird die russische Kleinstadt »Klinzy« zur deutschen Siedlung: Hitlerporträt im heiligen Winkel, ausfuhrliche Lebensgeschichte einer mit einem Russen verheirateten Volksdeutschen, korrektes Verhalten deutscher Offiziere, deutsche Verwaltung. Auf diese Weise kommt es zu keiner interkulturellen Begegnung, da das Fremde nicht als solches, sondern nur als zu Überwindendes, als noch nicht Eigenes, ohne jegliches Recht auf seine Eigenart w a h r g e n o m m e n wird. Der hermeneutische P r o z e ß der Ü b e r p r ü f u n g des mitgebrachten Eigenen in Auseinandersetzung mit dem v o r gefundenen Fremden findet nicht statt. So gerät der Konstruktcharakter des Rußlandbilds, seine Historizität, Partikularität und Ideologiehaftigkeit nicht in den Blick der kriegsbedingten Rußlandberichte. D a ß diese Dogmatik des Eigenen den Kriegsverlauf nicht unwesentlich beeinflußt hat, ist mehrfach festgestellt worden. 8 8 Dieses Deutungsschema wirkt sich als Ästhetisierung und heilsgeschichtliche Überhöhung der Vernichtung des Fremden aus. Offenbar als Reflex nationalsozialistischer Feuersymbolik und ihrer Erlösungs- und

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Hans August Vowinckel, Der Dichter und Soldat. Ein Ehrenbuch, Stuttgart, Okt. 1942, S. 113; Raschke, Zwiegespräche im Osten (wie Anm. 70), S. 8: »daß ich in dem Augenblick, da icli Deutschland verließ, ein inneres Deutschland betreten habe, das nun unverlaßbar ist.« Vgl. Hillgruber über das Rußlandbild der führenden Militärs vor dem deutschen Angriff: »Der Mangel an Informationen über die Sowjetunion, das Fehlen einer konkrelen Vorstellung vom Gegner, wurde [...] nicht als gravierend betrachtet. Aufs Ganze bestimmte das traditionelle Rußland-Bild die Vorstellungswelt der meisten Militärs.« Für das optimistische Element ist Rußland ein »tönerner Koloß«, fur das pessimistische »der alles bedrohende und potentiell überrollende Koloß.« Vgl. Andreas Hillgruber, Das Russland-Bild der führenden deutschen Militärs vor Beginn des Angriffs auf die Sowjetunion, in: Die Zerstörung Europas. Beiträge zur Weltkriegsepoche 1914 bis 1945, Berlin 1988, S. 256-272; hier S. 268f.; vgl. auch »Fahrtberichte« aus der Zeit (wie Anm. 73), S. 33; vgl. Das Rußlandbild im Dritten Reich, hg. v. Hans-Erich Volkmann, Köln/Weimar/ Wien 1994; hier bes.: Rolf Günter Renner, Grundzüge und Voraussetzungen deutscher literarischer Rußlandbilder während des Dritten Reichs, S. 387-419.

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Reinigungsfiinktion nimmt Vowinckel den nächtlichen Brand von Smolensk als »ungeheures Schauspiel« wahr, als » D o m von Feuer«, der »mit magischer Gewalt« weitere Bomben anzieht. Mit der Vernichtung der »altberühmten Stadt« Smolensk wird der »Gestalt und O r d n u n g suchende Geist des Abendlandes« vor dem »Geist der Verneinung« gerettet. Danach, schreibt Vowinckel an seine Frau, »habe ich auf dem Bett liegend Hölderlin gelesen und war glücklich. Lies doch einmal >Der Frieden