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German Pages [372] Year 2001
ARBEITEN ZUR KIRCHLICHEN ZEITGESCHICHTE REIHE B: DARSTELLUNGEN BAND 35
V&R
ARBEITEN ZUR K I R C H L I C H E N Z E I T G E S C H I C H T E Herausgegeben im Auftrag der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte von Carsten Nicolaisen und Harald Schultze
REIHE B: DARSTELLUNGEN Band 35
Gury Schneider-Ludorff Magdalene von Tiling
GÖTTINGEN
VANDENHOECK & RUPRECHT
2001
Magdalene von Tiling Ordnungstheologie und Geschlechterbeziehungen Ein Beitrag zum Gesellschaftsverständnis des Protestantismus in der Weimarer Republik
von
GURY SCHNEIDER-LUDORFF
GÖTTINGEN • VANDENHOECK & RUPRECHT
2001
Redaktionelle Betreuung dieses Bandes: Carsten Nicolaisen
Die Deutsche Bibliothek -
CIP-Einheitsaufnahme
Schneider-Ludorff, Gury: Magdalene von Tiling: Ordnungstheologie und Geschlechterbeziehungen. Ein Beitrag zum Gesellschaftsverständnis des Protestantismus in der Weimarer Republik / Gury Schneider-Ludorff. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 2001 (Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte: Reihe B, Darstellungen; Bd. 35) Zugl.: Frankfurt (Main), Univ., Diss., 1998/99 ISBN 3-525-55735-3
© 2001 Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen http://www. vandenhoeck-ruprecht.de Printed in Germany. - Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Satz: Satzspiegel, Nörten-Hardenberg Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen
INHALT
Vorwort
9
Einleitung
11
KAPITEL I Zur Biographie Magdalene von Tilings 1 8 7 7 - 1 9 7 4
25
A. D a s Baltikum: Familiäre und theologische Verwurzelungen
. .
25
B. Lehrerinnenjahre im Deutschen Kaiserreich: Engagement für Frauen- und Mädchenbildung
32
C. Politikerin in der Weimarer Republik
38
D . Zwischen Anpassung und Ablehnung: D i e Zeit des Nationalsozialismus
43
E. Engagement in den J a h r e n der Bundesrepublik
44
KAPITEL II Magdalene von Tiling und die „Politisierung" der evangelischen Frauenbewegung 1 9 1 8 - 1 9 2 5
46
A. Krisenwahrnehmung und Krisenbewältigung: Zur Zeitdiagnose Magdalene von Tilings in der Weimarer Republik
47
B. D i e politischen Aufgaben in der neuen Republik 1 9 1 8 - 1 9 2 2 1. Magdalene von Tilings parteipolitisches Engagement seit 1918
.
.
55
.
59
2. Magdalene von Tilings kirchenpolitisches Engagement
72
3. Einsatz für den evangelischen Religionsunterricht und die christliche Schule
81
C. D i e Profilierung der evangelischen Frauenbewegung 1 9 2 3 - 1 9 2 5 1. Die Vereinigung Evangelischer Frauenverbände Deutschlands
.
.
2. Die Konzeption einer Evangelischen Frauenbewegung 1 9 2 4 / 2 5 .
.
3. Im Dialog mit der völkischen Bewegung
90 91 106 114
6
Inhalt
KAPITEL I I I D i e T h e o l o g i e d e r G e s c h l e c h t e r b e z i e h u n g e n als G r u n d l a g e einer politischen E t h i k 1 9 2 5 - 1 9 3 2
131
A. D i e k o n z e p t i o n e l l e Z u s a m m e n a r b e i t M a g d a l e n e v o n Tilings m i t F r i e d r i c h G o g a r t e n seit 1925
131
1. Persönliches
131
2. Die Einbeziehung Friedrich Gogartens in die Arbeit des Verbandes evangelischer Religionslehrerinnen und in die Frauenarbeitskreise
140
3. Die Zusammenarbeit im Rahmen der Zeitschrift Schule und Evangelium
143
B. G e s c h l e c h t e r b e z i e h u n g e n als G r u n d l a g e d e r t h e o l o g i s c h e n K o n z e p t i o n e n M a g d a l e n e v o n Tilings u n d F r i e d r i c h G o g a r t e n s
145
1. Magdalene von Tilings „Theologie der Geschlechterbeziehungen"
146
2. Geschlechterbeziehungen als implizites Thema bei Friedrich Gogarten
161
3. Geschlechterbeziehungen und Theologie C . D i e Z u s a m m e n a r b e i t auf d e m G e b i e t d e r P ä d a g o g i k 1. Die Gründung des Arbeitsbundes für wissenschaftliche Pädagogik auf reformatorischer Grundlage 1930
173 178 178
2. Der Entwurf einer allgemeinen Pädagogik auf reformatorischer Grundlage
192
3. Konsequenzen für die Mädchenerziehung
203
4. Geschlechterbeziehung und Pädagogik
206
D . D e r politische E i n f l u ß M a g d a l e n e v o n Tilings auf F r i e d r i c h Gogarten
208
1. Die Zusammenarbeit im Bereich der Politik und der politischen Theoriebildung
208
2. Der Einfluß Magdalene von Tilings auf die Theologie Friedrich Gogartens
236
3. Gesellschafts- und Staatsauffassung bei von Tiling und Gogarten
244
4. Geschlechterbeziehungen als Grundlage einer politischen Ethik . .
250
KAPITEL I V Kontinuitäten und Brüche 1933-1939
255
A. D a s A r r a n g e m e n t mit d e m n a t i o n a l s o z i a l i s t i s c h e n S t a a t 1933-1935
255
Inhalt
7
1. „Zeitenwende" - die Begrüßung der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933
255
2. Christentum und Nationalsozialismus: Kirchenpolitische Weichenstellung
258
3. Magdalene von Tiling und die Gestaltung des Evangelischen Frauenwerks
265
B. Kirchenpolitik, Geschlechterbeziehung und Pädagogik 19341939
276
1. Kirchenpolitische Optionen Magdalene von Tilings
276
2. Die Auseinandersetzung um die kirchliche Frauenarbeit seit 1934
282
3. „Mann und Frau in Volk und Staat": Geschlechterbeziehungen und der Rassengedanke in den Schriften Magdalene von Tilings
293
4. Vermittlungsversuche zwischen Nationalsozialismus und Christentum
299
Schlußbetrachtung
307
Quellen- und Literaturverzeichnis
321
I. Schriftenverzeichnis Magdalene von Tilings II. Archivalische Quellen III. Veröffentlichte Quellen und Darstellungen
321 326 328
Abkürzungen
352
Personenregister/Biographische Angaben
354
MEINEN ELTERN
VORWORT
Die vorliegende Untersuchung wurde im Wintersemester 1998/99 am Fachbereich Evangelische Theologie der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main als Dissertation angenommen. Allen, die zum Entstehen der Arbeit beigetragen haben, sei herzlich gedankt. Prof. Dr. Leonore Siegele-Wenschkewitz hat die Arbeit angeregt und begleitet. Ihre hohe Sachkompetenz, ihre kritischen Anfragen und weiterführenden Impulse haben mich ermutigt und den Fortgang der Arbeit stets vorangetrieben. Ihr danke ich von ganzem Herzen. Durch ihren frühen Tod fehlt eine Stimme im wissenschaftlichen Diskurs, und mit ihr habe ich eine wichtige Gesprächspartnerin verloren. Prof. Dr. Edmund Weber hat im Promotionsverfahren das Zweitgutachten übernommen und mir durch seine Perspektiven neue Zugänge zur eigenen Arbeit erschlossen. Prof. Dr. Jochen-Christoph Kaiser, Prof. Dr. Volker Leppin und P D Dr. Antje Roggenkamp-Kaufmann haben große Teile des Manuskripts kritisch gelesen und mit ausführlichen Kommentaren versehen. Von ihrem sachkundigen Rat habe ich viel profitiert. Dr. Norbert Friedrich, Prof. Dr. Doron Kiesel, Prof. Dr. Matthias Kroeger, Prof. Dr. Folkert Rickers, Prof. Dr. Ulrich Siegele, Prof. Dr. Yorick Spiegel und Prof. Dr. Fritz Rüdiger Volz danke ich für wertvolle Hinweise und ihre Gesprächsbereitschaft, die mir geholfen hat, eigene Positionen zu präzisieren. Marianne Bultmann (geb. Gogarten), Dr. Peter von Tiling und Rebecca Unsöld haben grundlegende Ergebnisse der Arbeit erst möglich gemacht, indem sie mir Zugang zu den Nachlässen gewährten und bereit waren, mich an ihren persönlichen Erinnerungen und Kenntnissen Teil haben zu lassen. Ihnen gilt mein Dank für das entgegengebrachte Vertrauen. Für ihre freundliche Hilfsbereitschaft, mich in den Archiven bei meinen Recherchen zu beraten, danke ich Dr. Michael Häusler (Archiv des Diakonischen Werkes der EKD, Berlin), Halgard Kuhn (Archiv des Deutschen Evangelischen Frauenbundes, Hannover), Christiane Mokroß (EZA, Berlin), Dr. Hans Otte (Landeskirchliches Archiv, Hannover), Dr. Ritter (Bundesarchiv Berlin), Reinhard van Spankeren (Diakonisches Werk der Evangelischen Kirche von Westfalen, Münster) und Dr. Hildburg Wegner (Archiv der Evangelischen Frauenarbeit in Deutschland, Frankfurt am Main).
10
Vorwort
Die Hessische Lutherstiftung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau hat die Arbeit über die Jahre finanziell unterstützt, wofür ich besonders OKRn Dr. Hanna Zapp sehr herzlich danke. Prof. Dr. Carsten Nicolaisen und Dr. Claudia Lepp von der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte sowie Heike Lohr vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht haben mich im nervenaufreibenden Prozeß der Drucklegung geduldig begleitet. Den Herausgebern danke ich für die Aufnahme in die Reihe der „Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte . Freundinnen und Freunde haben Rohfassungen der Arbeit gelesen und in unterschiedlichen Phasen des Entstehungsprozesses mit mir diskutiert. Für Rückfragen und Anregungen danke ich Dr. Sunhee Ahn, Dr. Sybille Becker, Lothar Breidenstein, Veit Dinkelaker, Anja Harzke, Stefan Klatta, Gesine Kleinschmit, Jasmin Marx, Thomas Müller, Dr. Ilona Nord, Dorothee Schaaf, Dubravka Schlolaut, Dr. Jutta Schmidt und Prof. Dr. Dieter Weber. Dr. Thomas Kreuzer hat mir über die Jahre wie kein anderer mit Rat und Tat zur Seite gestanden. Ihm danke ich für seine Solidarität und für seine Freundschaft. Frankfurt am Main/Jena, Pfingsten 2001
EINLEITUNG
„Sie hat durch eine Reihe von theologischen Abhandlungen, unter denen schon die ersten durch wissenschaftliche Selbständigkeit sich auszeichneten, an der neuen Bewegung in der Theologie fördernden Anteil genommen, insbesondere durch Anwendung auf die Probleme der Frauenbewegung und des Religionsunterrichtes. Sie hat auch als Vorsitzende der Vereinigung evangelischer Frauenverbände evangelisch-lutherischen Geist in der Frauenbewegung zur Geltung und Wirkung gebracht und durch die Leitung des Verbandes evangelischer Religionslehrerinnen und Mitarbeit im Deutschen Reichserziehungsverband sich große Verdienste um das evangelische Schulwesen erworben. Sie hat im öffentlichen Leben mit Gewissensernst für den christlichen Glauben gekämpft und ihre schriftstellerischen und organisatorischen Fähigkeiten stets mit Hingabe und Erfolg in den Dienst der Kirche gestellt." 1
Mit diesen Worten verlieh die theologische Fakultät Rostock am 29. September 1926 Magdalene von Tiling die theologische Ehrendoktorwürde und ehrte damit eine der einflußreichsten Frauen des Protestantismus der Weimarer Republik. Öffentliche Anerkennung fanden somit ihre theologisch-wissenschaftliche Kompetenz wie auch ihr vielfältiges Engagement in Kirche, Schule und Politik. Die Würdigung durch die Zeitgenossen stellte die wissenschaftlichen und kirchenpolitischen Tätigkeiten von Tilings heraus. Ihre wissenschaftlichen Entwürfe wurden als eigenständiger Beitrag zum aktuellen theologischen Diskurs im Rahmen der neuen Ansätze in der Theologie hervorgehoben. Als „neue Bewegung in der Theologie" galten besonders die Rezeption der Theologie Luthers durch die Schüler Karl Holls als auch die sog. Dialektische Theologie um die von Karl Barth, Eduard Thurneysen und Friedrich Gogarten herausgegebene Zeitschrift „Zwischen den Zeiten". 2 Bekannt war die „Oberin" 3 den Zeitgenossen zudem durch ihre Tätigkeit als maßgebliche Theoretikerin der evangelischen Frauenbewegung, Religionspädagogin und als Abgeordnete der Deutschnationalen Volkspartei. Das tradierte Bild Magdalene von Tilings war lange Zeit dominiert durch die scharfe Polemik, mit der einst Karl Barth die theologische Gesprächspartnerin seines Weggenossen Friedrich Gogarten bedachte. So titulierte 1
Promotionsurkunde 1926 (LKA HANNOVER, N 127/2).
2
V g l . d a z u HERMANN FISCHER, T h e o l o g i e .
3 Der Titel wurde von Tiling 1911 von der Stadtverordnetenversammlung in Elberfeld im Zusammenhang mit der Beauftragung zur Leitung der städtischen Frauenschule verliehen
( L K A HANNOVER, N
127/2).
12
Einleitung
er sie beispielsweise als baltische Baronin, der nur noch die Reitpeitsche fehle, um ganz klar zu machen, wo die Sache mit dem Nächsten, mit der Liebe und mit den Ständen eigentlich hinauswolle, und angesichts derer ihm sowohl die tiefe Berechtigung des mulier taceat in ecclesia als auch der mögliche Sinn der angeblichen Christenverfolgung im Baltikum sehr deutlich geworden sei.4 Zu einer ernsthaften Auseinandersetzung mit ihren theologischen Positionen, wie Barth sie in der Regel mit seinen männlichen Kollegen pflegte, kam es jedoch nie. Lange Zeit wurde sie vor allem als Pädagogin wahrgenommen; ihrem vielseitigen Engagement und ihrer breiten theologischen und politischen Tätigkeit wie ihrer Rolle als Protagonistin der evangelischen Frauenbewegung wurde nur wenig Beachtung geschenkt. Die Arbeiten, die sich ihren theoretischen Überlegungen im Rahmen der evangelischen Frauenbewegung widmeten, heben den konservativen Charakter ihrer Anschauungen zur Frauenrolle hervor, ohne die Position zugleich in dem Kontext des Protestantismus der Weimarer Republik zu verorten. Die vorgelegte Untersuchung rekonstruiert die Zusammenhänge und die Interaktionen zwischen den verschiedenen Tätigkeitsbereichen Magdalene von Tilings, deren gesellschafts-, frauen- und kirchenpolitisches Engagement für eine Frau des Protestantismus konservativ-lutherischer Prägung in der Weimarer Republik beachtlich ist und die aus dezidiert geschlechtersensibilisierter Perspektive ihre Theologie reflektierte. Uber die Person Magdalene von Tilings öffnet sich der Blick auf einen umfangreichen und bisher wenig beachteten Teil des Protestantismus: die evangelische Frauenbewegung. Mit dem 1918 erfolgten Zusammenschluß zur ca. zwei Millionen Mitglieder zählenden, sich explizit evangelisch profilierenden Vereinigung evangelischer Frauenverbände Deutschlands avancierte die evangelische Frauenbewegung in der Weimarer Republik zum ersten Mal zu einer politisch bedeutsamen Größe. Im Vergleich dazu hatte der bislang in der Forschung weitaus mehr berücksichtigte Bund Deutscher Frauenvereine, der als Spektrum des „gemäßigten Flügels" der bürgerlichen Frauenbewegung galt, wesentlich weniger Mitglieder 5 . Darüber hinaus fragt die vorliegende Arbeit auch nach Zusammenhängen und wechselseitigen Einflüssen hinsichtlich der evangelischen Frauenbewegung und der Zusammenarbeit ihrer Protagonistinnen mit zeitgenössischen Tlieologen. Es läßt sich zeigen, daß dieser wechselseitige Einfluß für die Theologie der Zeit wie für das protestantische Milieu der Weimarer Republik von Bedeutung war. Exemplarisch wendet sich daher die Unter4 K a r l Barth an R u d o l f Bultmann am 17.2.1930, in: KARL BARTH-RUDOLF BULTMANN, Briefwechsel, S. 105. 5 Vgl. z. B. BARBARA GREVEN-ASCHOFF, Frauenbewegung; UTE GERHARD, U n e r h ö r t ; neuerlich auch KLAUS HÖNIG, B u n d , der die Mitgliederzahl mit ca. 500.000 angibt.
Einleitung
13
suchung dem Beispiel der Zusammenarbeit Magdalene von Tilings mit dem zehn Jahre jüngeren Theologen Friedrich Gogarten zu. Diese Zusammenarbeit der beiden theologisch profilierten Persönlichkeiten - das sei vorweggenommen - war den Zeitgenossen allseits bekannt und nicht wenigen, wie bereits oben erwähnt, ein Dorn im Auge. Gerade deswegen ist es aufschlußreich, sie im historischen Kontext des Protestantismus der Weimarer Zeit und in den ersten Jahren des Nationalsozialismus nachzuzeichnen. Die kirchliche Zeitgeschichtsforschung hat lange Zeit ihren Schwerpunkt auf die Erforschung des Nationalsozialismus und die Position der einzelnen kirchlichen Gruppierungen im Kirchenkampf gelegt. Die Zeit der Weimarer Republik wurde in diesem Zusammenhang weitgehend als Vorgeschichte begriffen bzw. von den späteren Ereignissen aus beurteilt. 6 Wenig Beachtung haben damit der Pluralismus theologischer Entwürfe und Positionen in der Weimarer Republik erfahren sowie die Tatsache, daß es in jener Zeit gerade im protestantischen Bereich eine Vielzahl von Ausrichtungen gab, die in unterschiedlicher Weise versuchten, theologisch auf die zeitgenössischen Probleme zu reagieren, und dies später auch im Blick auf den Nationalsozialismus taten. Neuere Untersuchungen im Bereich der Geschichtswissenschaft und der Politikwissenschaft haben die große Ausdifferenzierung gerade im konservativen Milieu gezeigt. Aus der Ex-post-Perspektive betrachtet rücken diese Positionen freilich näher zusammen, als es die Zeitgenossen für möglich gehalten hätten, und mancher Autor oder manche Autorin findet sich in Nachbarschaft zu Gruppierungen wieder, von denen er oder sie sich selbst aufs heftigste distanziert hätte. 7 Für den Protestantismus des Kaiserreichs hatte bereits Thomas Nipperdey in seiner Darstellung den pluralen, heterogenen Charakter unterstrichen, der theologisch, kirchenpolitisch oder auch regional differenziert war. 8 Zu der Gestaltungskraft der unterschiedlichen Milieus im Protestantismus der Weimarer Zeit hingegen liegen erst wenige Untersuchungen vor, besonders zu denjenigen Gruppen, die zum größeren Bereich des „konservativen Kulturluthertums" (Friedrich Wilhelm Graf) zu rechnen sind, während der Weimarer Republik politisch und kirchlich ein eigenes Profil gewannen und die Ende der zwanziger Jahre mit ihrer Theologie schließlich die Ideologie der Nationalsozialisten unterstützten. 9 Die Position der konser6
Vgl. KLAUS SCHOLDER, Kirchen, Bd. 1. ROLF PETER SIEFERLE, Konservative Revolution, S. 20. Vgl. auch SABINE MARQUARDT, Polis. 8 Vgl. d a z u THOMAS NIPPERDEY, Deutsche Geschichte, Bd. 1, S. 468. 9 Für eine G r u p p e innerhalb des konservativen Kulturluthertums hat NORBERT FRIEDRICH neuerdings eine detaillierte Studie zum sozialkonservativen Protestantismus Stoeckerscher Prägung, den sog. älteren Christlich-sozialen mit ihrem Protagonisten Reinhard M u m m vorgelegt („Die christlich-soziale Fahne empor!"). 7
14
Einleitung
vativen Kulturlutheraner war seit dem Kaiserreich geprägt durch ihr Elitebewußtsein und zeichnete sich aus durch die Kritik an der Autonomie des Individuums und der modernen Gesellschaft, am Fortschrittsdenken und der Frauenemanzipation. Antisemitismus und die Angst vor der Auflösung elementarer Sozialbindungen beförderten ein Konzept, das die Heilung der modernen Kultur durch die Herstellung einer Dominanz der Kirche über alle Kultursphären herbeiführen wollte10. Hinsichtlich des Engagements von Frauen im Protestantismus der Weimarer Republik ist festzustellen, daß jene, die den nachhaltigsten Einfluß auf die Theologie, die Politik und die evangelischen Frauenverbände ausübten, jenem konservativ-protestantischen Milieu entstammen und sich selbst als „positiv" bzw. „konservativ" bezeichneten. Zur Durchsetzung ihrer sozialpolitischen Ziele konnten sich die Vertreter und Vertreterinnen dieser Richtung auf ihre Verbände und Vereine stützen" wie z. B. den Allgemeinen positiven Verband, die theologisch von Adolf Stoecker und Reinhold Seeberg initiierte Freie Kirchlich-soziale Konferenz, die mehrheitlich sozialkonservativen Evangelischen Arbeitervereine oder den Deutsch-Evangelischen Frauenbund und seit 1918 auch die Vereinigung evangelischer Frauenverbände Deutschlands. In der Weimarer Republik waren es dann besonders die lutherischen Theologen jener Richtung, wie beispielsweise Paul Althaus, Werner Eiert, Friedrich Brunstäd, Emanuel Hirsch, Reinhold Seeberg und Ludwig Ihmels, die mit dem Anspruch auftraten, mit der Neuinterpretation der Theologie Martin Luthers auch gesellschaftspolitische Fragen zu lösen. Verbunden waren damit Entwürfe lutherisch fundierter gesellschaftlicher Gegenmodelle zur Weimarer Republik. Im Parteienspektrum der Weimarer Republik standen die Vertreterinnen und Vertreter des konservativen Kulturluthertums der antidemokratischen und antisemitischen Deutschnationalen Volkspartei nahe. Dabei wies ihr Politikverständnis durchaus moderne, antitraditionalistische Züge auf. Zwar bekämpften sie alle Ansätze einer pluralistischen Demokratie und Parlamentarisierung - ihre Hauptgegner waren die Sozialdemokratie und der Liberalismus - , doch ging es ihnen nicht um das Festzurren vormoderner ständischer Sozialwerte. In Abgrenzung zum „Traditionalismus" propagierte man als „konservativ" die nach vorn orientierte Uberwindung der als krisenhaft empfundenen gesellschaftlichen Entwicklungen. Dabei verstand man es, die Grundprinzipien der Weimarer Verfassung für deren Bekämpfung zu nutzen.
10
V g l . FRIEDRICH W I L H E L M G R A F , K o n s e r v a t i v e s
Kulturluthertum,
S. 5 7 ; s o w i e
DERS.,
Friedrich Gogartens Deutung der Moderne, S. 186. 11
Vgl.
zum
folgenden
FRIEDRICH
WILHELM
GRAF,
S. 31-76; sowie DERS., Protestantische Theologie, S. 83.
Konservatives
Kulturluthertum,
Einleitung
15
„Vom Sinn der Ordnungen menschlichen Lebens" lautete der Titel des programmatischen Aufsatzes Magdalene von Tilings im Krisenjahr 1929. Darin erhob sie den Anspruch, christliche Antworten auf die politischen Fragen der Zeit zu geben. 12 Hatte sie bereits 1925 die Auffassung vertreten, daß „konfessionell geformtes Christentum zu demokratischen Ideen nicht gelangen" könne 13 , war gegen Ende der Weimarer Republik ihr Ziel erreicht, eine politisch-pädagogische Konzeption entworfen zu haben, die von der Theologie Luthers her begründet - alle gesellschaftlichen Bereiche durchdringen sollte. Hierbei handelte es sich um ein schöpfungstheologisch fundiertes Gegenkonzept zur Weimarer Demokratie. Lassen sich die Positionen von Tilings im Kaiserreich dem Spektrum des konservativen Kulturluthertums zuordnen, ebenso in den ersten Jahren der Weimarer Republik, trat mit der Zusammenarbeit mit Gogarten seit 1925 die Auseinandersetzung mit der dialektischen Theologie und mit den Vertretern der neuen Generation lutherischer Theologen, die die konservativen Elemente der lutherischen Tradition politisch radikalisierten, hinzu. 14 So gehörte Gogarten beispielsweise zu jenen Theologen, die mit ihrer vehementen Kritik an der bürgerlichen Kultur, der Ökonomie und der politischen Ordnung auch alle Programme als regressiv ablehnten, die die Kultur durch eine starke Kirche erneuern wollten. Ihr Anliegen war es, auf eigene Weise durch die Neuinterpretation lutherischer Theologie Antworten auf die als desolat empfundene Gesellschaftssituation zu finden. So eng die Zusammenarbeit jedoch zwischen Magdalene von Tiling und Friedrich Gogarten war, läßt sich von Tiling doch auch mit dieser Richtung nicht gänzlich verrechnen. Ihr eigenständiges Konzept der Ordnungen versuchte, sowohl die Forderung des konservativen Kulturluthertums nach einer einheitlichen christlichen Kultur als auch die Kritik an ekklesiologischer Verengung zu integrieren. Diese Konzeption freilich brachte sie Ende der zwanziger Jahre in die Nähe jener Gruppen, die sich der „konservativen Revolution" verschrieben hatten und nationalsozialistischen Ideen aufgeschlossen gegenüberstanden.
12
MAGDALENE VON TILING, W a s sollen wir tun? V o m Sinn d e r O r d n u n g e n .
13
MAGDALENE VON TILING, Stellung d e r F r a u in d e r V o l k s g e m e i n s c h a f t , S. 3.
14
V g l . FRIEDRICH WILHELM GRAF, Konservatives K u l t u r l u t h e r t u m , S. 6 9 .
16
Einleitung
Der Ansatz der Frauen- und Geschlechtergeschichte als Ansatz für die kirchliche Zeitgeschichte Die vorliegende Untersuchung folgt dem Ansatz der Frauen- und Geschlechtergeschichte. Sie versucht, die Kategorie Geschlecht/Gender für die kirchliche Zeitgeschichte fruchtbar zu machen, indem sie exemplarisch nach der Bedeutung der Geschlechterdifferenz und der Geschlechterbeziehungen für den Protestantismus der zwanziger und dreißiger Jahre fragt, und zwar sowohl hinsichtlich der Theoriebildung als auch hinsichtlich der Interaktion zwischen konkreten Personen und Gruppen. Bislang finden in den meisten Untersuchungen der Kirchengeschichtsschreibung Frauen als Subjekte wenig Berücksichtigung. Daß überhaupt Frauen als Akteurinnen in wissenschaftlichen Untersuchungen in den Blick kommen, gehört fraglos zu den historiographischen Errungenschaften des letzten Vierteljahrhunderts.' 5 Allerdings hat die in den 70er Jahren angestoßene und mit der neuen Frauenbewegung eng verknüpfte Forschung eine klare Trennung zwischen politischem Programm und wissenschaftlichen Untersuchungen nicht immer durchhalten können, was ihr den Ruf mangelnder Objektivität eingetragen hat. Der Schwerpunkt lag auf der Entdeckung der von Frauen getragenen Organisationsformen und Lebensentwürfe, der Formen weiblicher Unterdrückung und der Sichtbarmachung von „Heroinnen". 16 Verdienst der Frauengeschichtsforschung bleibt jedoch die Entdeckung einer Vielzahl neuer Quellen und Erkenntnisse, deren geschichtliche Relevanz vorher nur unzureichend beachtet wurde. Dem Anliegen der Frauengeschichte folgend, ist es nach wie vor unverzichtbar, Quellen von Frauen allererst zu erschließen und diese als Gestaltende der Geschichte sichtbar zu machen. Leitendes Interesse des seit den achtziger Jahren sich durchsetzenden Ansatzes einer Geschlechtergeschichte ist, der Kategorie Geschlecht/Gender als Kategorie sozialer Klassifikation einen ebensolchen Rang einzuräumen wie Klasse, Konfession, Ethnie oder anderen Differenzkriterien, die für den Zugang zu gesellschaftlichen Handlungsspielräumen verantwortlich sind. Im Unterschied zur Frauengeschichte, der der Aspekt des Kontributorischen, ja Additiven bescheinigt wird, ist die Geschlechtergeschichte eher an den Beziehungen zwischen den Geschlechtern und ihrer Bezogenheit aufeinander interessiert und versteht sich als ein komplexerer und stärker theorieorientierter Forschungsansatz. 17 Als Initiatorin dieses Ansatzes gilt
15
16
GUNILLA-FRIEDERIKE BUDDE, G e s c h l e c h t d e r G e s c h i c h t e , S. 1 2 5 .
Vgl. dazu ANNETTE KUHN, Frauengeschichte - Geschlechtergeschichte, S. 82. 17 Vgl. zur Entwicklung der Ansätze zur Frauen-, Männer und Geschlechtergeschichte den Forschungsabriß bei UTA C. SCHMIDT, Vom Rand zur Mitte; instruktiv sind weiterhin: UTE FRF.VERT, Frauengeschichte - Männergeschichte - Geschlechtergeschichte, S. 23-40;
Einleitung
17
die US-Amerikanerin Joan Scott, die 1986 in dem Aufsatz: „Gender: A UsefuI Category of Historical Analysis" zwei Prämissen als Definitionskomponenten festschrieb: Geschlecht ist erstens als ein konstitutives Element sozialer Beziehungen zu verstehen, die auf der Annahme einer Geschlechterdifferenz fußen, und zweitens als ein Medium, um Machtbeziehungen zu kennzeichen und zu legitimieren. Diese Bedeutung wird normiert und tradiert durch kulturelle Symbole und normative Konzepte, und sie durchdringt alle gesellschaftlichen - auch vermeintlich „geschlechtsneutralen" Bereiche.18 Für die historische Theologie ergeben sich daraus folgende Forschungsdesiderate: Erstens geht es darum, die Erfahrungen, Motivationen und Lebenssituationen von Frauen in der Geschichte der Kirche und der von ihr mitgeprägten Gesellschaft zu erforschen. Zweitens gilt es, die historisch geprägten Perspektiven und Zugangsweisen von Frauen auf die Theologie offenzulegen. Drittens wäre der Stellenwert der Geschlechterdifferenz im theologischen und kirchlichen Zusammenhang herauszuarbeiten und danach zu fragen, inwieweit Theologie und Kirche die gesellschaftlichen Konstruktionen der Geschlechter geprägt, legitimiert, kritisiert oder verändert haben. 19 Dabei geht es freilich um die Auffindung neuer Quellen und die Neuinterpretation bekannter Quellen.20 Die Frage nach den Geschlechterbeziehungen in der Kirchengeschichte erhellt die sozialen und gesellschaftlichen Konstruktionen, in denen Frauen und Männer agieren. Sie zeigt auf, welche Spielräume Frauen hatten, wie sie sie nutzten und wie diese wiederum durch gesellschaftliche Veränderungen erweitert oder eingeschränkt worden sind. Mit ihrem geschlechtersensibilisierten Ansatz befragt Geschlechtergeschichte zugleich jene Ansätze der Kirchengeschichtsschreibung, die mit dem Anspruch auftreten, das „Allgemeine" darzustellen. Sie fragt nach der Rezeption der jeweils herrschenden theologischen Richtungen bei Frauen, ihre eigenen theologischen Entwürfe sowie die vielfältigen Konzeptionen religiöser Mädchenerziehung, ebenso danach, wie die Geschlechterdifferenz in zahlreichen theologischen Entwürfen unbewußt oder bewußt mittransportiert wird.21 Denn wenn - wie Ute Frevert vermutet - Geschlechterdifferenz ein zentrales Strukturprinzip von Gesellschaften ist, gibt es „kein Feld historischen Handelns und Denkens, das unabhängig von der JOAN W. SCOTT, Von der Frauen- zur Geschlechtergeschichte; BARBARA HEY, Women's History. 18
JOAN W . SCOTT, G e n d e r , S. 1 0 5 3 - 1 0 7 5 .
19
Vgl. dazu den ZWISCHENBERICHT DER EKD-KOMMISSION „Förderung theologischer Frauenforschung", S. 9. 20
LEONORE
SLEGELE-WENSCHKEWITZ,
Genus-Kategorie,
S. 6 0 - 1 0 4 ;
UTE
schlecht als historische Kategorie, S. 164-179. 21 Vgl. dazu auch UTE. GAUSE, Geschlecht als historische Kategorie, S. 168.
GAUSE,
Ge-
18
Einleitung
Unterscheidung männlich/weiblich funktioniert oder in dem diese Unterscheidung keine mal größere, mal kleinere Rolle spielt".22 Die vorliegende Untersuchung sieht sich dem Ansatz der Frauen- und Geschlechtergeschichte in zweifacher Hinsicht verpflichtet. Sie nimmt eine Protagonistin des Protestantismus in den Blick, die bislang in ihrem vielseitigen Engagement im Protestantismus des ersten Drittels des Jahrhunderts in der Forschung wenig Beachtung gefunden hat. Die zentrale Aufgabe dabei ist zunächst die Aufdeckung von Quellen zur Geschichte von Frauen, um die Historiographie der Geschlechterbeziehungen überhaupt erst zu ermöglichen. 23 Zugleich fragt die Untersuchung nach den Handlungsspielräumen von Frauen in Kirche und Gesellschaft, nach den praktischen Gestaltungsmöglichkeiten und den theoretischen Entwürfen von Frauen des wenig erforschten konservativen Protestantismus sozialer Prägung. Im Sinne der Geschlechtergeschichte wendet sich die Arbeit den Beziehungen von Frauen zu den männlichen Theologen dieser Zeit zu und fragt nach dem theologischen Diskurs und den gegenseitigen Einflüssen; zudem geht sie der impliziten und expliziten Thematisierung der Geschlechterverhältnisse in den theologischen Entwürfen nach. Aufschlußreich ist es in diesem Zusammenhang, die Kontinuitäten und Brüche im Ubergang der verschiedenen politischen Phasen der deutschen Geschichte herauszustellen. Die Untersuchung beginnt daher zunächst in der Zeit des Kaiserreichs und skizziert die theologischen Prägungen und Aktivitäten Magdalene von Tilings, um dann die mit 1918 einsetzenden Veränderungen sichtbar zu machen. Die Zeit der Weimarer Republik bildet den Schwerpunkt der Untersuchung. Aus frauengeschichtlicher Perspektive stellt das Jahr 1918 eine entscheidende Änderung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen dar, weil die Weimarer Verfassung die grundsätzliche Gleichberechtigung von Mann und Frau staatsrechtlich verankerte und damit zugleich den gesellschaftspolitischen Aktionsraum für Frauen wesentlich erweiterte. Wie Frauen des konservativen Protestantismus mit Demokratie und Gleichberechtigung zurechtkamen, wie sie sich selbst programmatisch in die theologische Diskussion und in den Diskurs um die Geschlechterrollen in Kirche und Gesellschaft einbrachten, kann in dieser Epoche am besten gezeigt werden. Die nationalsozialistische Machtergreifung machte 1933 binnen kürzester Zeit jene frauenpolitischen Errungenschaften zunichte. Um herauszustellen, wie protestantische Frauen auf diese neue politische Phase reagier-
22
UTE FREVERT, Mann und Weib, S. 10.
23
LEONORE SIEGELE-WENSCHKEWITZ, G e n u s - K a t e g o r i e , S. 1 0 2 .
Einleitung
19
ten, untersucht das letzte Kapitel exemplarisch die Reaktionen von Tilings auf den Nationalsozialismus und ihr Arrangement mit dem nationalsozialistischen Staat und seiner Politik bis zum Beginn des Krieges 1939. Dabei richtet sich das Augenmerk besonders darauf, welche Gestaltungsmöglichkeiten sich die prominente Vertreterin des konservativen Protestantismus im Nationalsozialismus erhoffte sowie ob, wann und in welcher Form sie sich kritisch mit dem NS-Staat auseinandersetzte.
Zum Stand der Forschung In den letzten Jahren hat sich ein Schwerpunkt der Frauengeschichtsforschung im Bereich der Kirchlichen Zeitgeschichte gebildet. Untersucht wurde zum einen die Geschichte der Theologinnen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts und die Hintergründe der Kämpfe um die Zulassung von Frauen zum Theologiestudium und zum Pfarramt. 24 Inzwischen sind einige Monographien zu den „ersten Theologinnen" entstanden, in denen die Biographien rekonstruiert und ihr Engagement in der Kirche aufgezeigt wird. Das leitende Interesse der Autorinnen bildet die Herausarbeitung des jeweiligen Begriffs von Weiblichkeit und des Verhältnisses zur sog. bürgerlichen Frauenbewegung, die im Bund Deutscher Frauenvereine organisiert war.25 Bei den Theologinnen handelte es sich im Spektrum des Protestantismus um der liberalen Theologie nahestehende Frauen, eine kleine Gruppe, die bereit war, den Schritt in einen männlich dominierten Beruf zu wagen. Von Beginn an hatte die historische Frauenforschung ihr Augenmerk besonders auf die „fortschrittlichen" Frauenvereinigungen gerichtet. Die konfessionellen Frauenverbände wie der Deutsch-Evangelische Frauenbund wurden lediglich als rechter Flügel der Frauenbewegung betrachtet und als retardierendes Element hinsichtlich der Frauenemanzipation beurteilt.26 Der Impuls, sich den evangelischen Frauen und Frauenverbänden zuzuwenden, ist Jochen-Christoph Kaiser zu verdanken, der im Rahmen der Erforschung des Verbandsprotestantismus 1982 in einem Aufsatz die Geschichte des Frauenwerks der Deutschen Evangelischen Kirche im Dritten Reich nachgezeichnet und damit auf eine Gruppe aufmerksam gemacht hat, die mit zwei Millionen Mitgliedern das größte Einzelkontingent des 24 HANNELORE ERHART, T h e o l o g i n im Kontext, S. 2 2 3 - 2 4 9 ; CHRISTIANE DRAPE-MÜLLER, Frauen auf die Kanzel?; ebenso der Sammelband „DARUM WAGT ES, SCHWESTERN . . . " . 25 Vgl. z. B. ANDREA BIELER, Konstruktionen des Weiblichen; DAGMAR HENZE, Zwei Schritte vor; CHRISTIANE MARKERT-WIZISLA, Elisabeth Malo. 26 Vgl. RICHARD J . EVANS, Feminist Movement; BARBARA GREVEN-ASCHOFF, D i e bürgerliche Frauenbewegung; U t e Gerhard, Unerhört.
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Einleitung
Deutschen Frauenwerks darstellte.27 Zudem hat er 1985 einen kommentierten Quellenband zu den evangelischen Frauenverbänden 1890 bis 1945 vorgelegt und damit zur Erschließung bislang nicht veröffentlichten Archivmaterials der evangelischen Frauenverbände beigetragen.28 In dessen Folge sind seit Ende der 80er Jahre Arbeiten entstanden, die sich mit dem weiblichen Verbandsprotestantismus beschäftigen und in differenzierterer Weise zu einer vorsichtigeren Beurteilung kommen. So hat Ursula Baumann für die Zeit des Kaiserreichs festgestellt, daß beispielsweise der DeutschEvangelische Frauenbund maßgeblich zur Modernisierung des Frauenbildes und der Frauenrolle im Protestantismus beigetragen hat, und Doris Kaufmann hat in einer Studie besonders die Ziele und Aufgaben des DeutschEvangelischen Frauenbundes im Kaiserreich untersucht und für die Weimarer Republik die Schwerpunkte der Arbeit der VEFD skizziert. 29 Behandeln die oben genannten Biographien Frauen, die dem liberalen Spektrum des Protestantismus zuzuordnen sind, und folgen dem Interesse, die „fortschrittlichen" Frauen in Erinnerung zu rufen, fehlt bislang die Beschäftigung mit Frauen in der Kirche, die weder Theologinnen waren noch zum liberalen Spektrum gehörten, sondern sich selbst als konservativ bezeichneten und den Anspruch erhoben, Gesellschaft und Kirche für Frauen und Männer zu gestalten. Zu jenen Frauen, die bislang wenig Beachtung seitens der Kirchengeschichtsschreibung und der Frauengeschichte gefunden haben, in ihrer Zeit jedoch eine breite Resonanz und einen großen Bekanntheitsgrad im Protestantismus hatten, gehört Magdalene von Tiling. Erste Untersuchungen zu Magdalene von Tiling galten ihrem Werk, das seit den 30er Jahren aus verschiedenen pädagogischen Richtungen analysiert wurde. 30 Anfang der 60er Jahre hat von Tiling aufgrund ihrer grundlegenden religionspädagogischen Arbeiten Eingang in die dritte Auflage der RGG gefunden. 31 In dem kurzen biographischen Artikel wird jedoch lediglich auf ihren religionspädagogischen Ansatz und auf die Nähe zu Friedrich Gogarten hingewiesen. Die thematische und praktische Zusammenarbeit mit Gogarten sowie ihr Einfluß auf dessen Theologie finden keine Erwähnung, ebenso ihre Rolle als Theoretikerin der Evangelischen Frauenbewegung oder ihr Engagement in der Evangelischen Kirche. 27
J O C H E N - C H R I S T O P H KAISER, F r a u e n w e r k .
28
J O C H E N - C H R I S T O P H KAISER, F r a u e n in d e r K i r c h e .
29
DORIS KAUFMANN, F r a u e n z w i s c h e n A u f b r u c h u n d R e a k t i o n ; URSULA BAUMANN, P r o -
testantismus und Frauenemanzipation. 30
NICOLAE BALCA, D i e B e d e u t u n g G o g a r t e n s ; ALFRED SCHLIEBITZ, D i e
pädagogischen
Anschauungen Magdalene von Tilings, S. 376 ff.; EDGAR REIMERS, Recht und Grenzen; HANS ULRICH NIEVERGELT, A u t o r i t ä t u n d B e g e g n u n g ; JÜRGEN FANGMEIER, E r z i e h u n g u n d
genschaft. 31
Vgl. GÜNTHER ROTH, A r t . T i l i n g , Sp. 899.
Zeu-
Einleitung
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Eine erste Monographie zur Theoriebildung von Tilings lieferte 1972 Liesel-Lotte Herkenrath unter dem Titel „Politik, Theologie und Erziehung. Untersuchungen zu Magdalene von Tilings Pädagogik". 32 Die Arbeit basiert auf der Interpretation zahlreicher Schriften von Tilings und enthält im Literaturverzeichnis eine nahezu vollständige Bibliographie. Liesel-Lotte Herkenrath untersuchte den pädagogischen Ansatz Magdalene von Tilings und setzte diesen in Beziehung zu ihrer theologischen und politischen Konzeption. Hinsichtlich der Rezeption der Theologie Friedrich Gogartens bescheinigt Herkenrath von Tiling ein „Gefälle auf die Praxis hin" sowie eine „Vergröberung" von dessen Theologie. Das politische Konzept sieht sie als Versuch, ein vorgestriges und vorindustrielles Gesellschaftsbild zu restaurieren 33 , eine Einschätzung, die nach den Erkenntnissen neuerer Forschungen des protestantischen Milieus differenzierter anzugehen wäre. Seit den 80er Jahren findet in der Forschung die Rolle Magdalene von Tilings im Rahmen der protestantischen Frauenbewegung zunehmendes Interesse. Claudia Koonz untersucht in einem Kapitel ihrer Monographie „Mütter im Vaterland" 34 die Rolle der protestantischen Frauen hinsichtlich des aufkommenden Nationalsozialismus. Sie weist Magdalene von Tiling eine ambivalente Stellung zu. Von Tiling selbst findet neben anderen Funktionsträgerinnen der Frauenbewegung jedoch nur kurze Erwähnung. Die Arbeit dokumentiert eine umfangreiche Archivarbeit, die in der vorliegenden Untersuchung hinsichtlich der Rolle Magdalene von Tilings weiter ausgewertet werden konnte. Doris Kaufmann hat in ihrer Studie die protestantische Frauenbewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts untersucht. 35 Als Vorsitzende der Vereinigung evangelischer Frauenverbände kommt auch Magdalene von Tiling in den Blick. Doris Kaufmann analysiert in einem kurzen Kapitel die theologischen Implikationen des Tilingschen Konzeptes evangelischer Frauenemanzipation und sieht in der theologischen Fundierung der Geschlechterverhältnisse Anleihen beim Ständemodell Friedrich Gogartens. Allerdings handelt es sich hierbei um eine recht knappe Untersuchung. Friedrich Brandi-Hinrichs ist im Rahmen seiner theologischen Dissertation über Friedrich Gogarten der gemeinsamen Arbeit von Tilings und Gogartens an mehreren Stellen nachgegangen. 36 Die auf die Würdigung der Arbeiten Gogartens ausgerichtete Studie reiht sich allerdings ein in die Beurteilung der zehn Jahre älteren Magdalene von Tiling als Gogartenschülerin. Dem gegenseitigem Einfluß der beiden mißt er wenig Bedeutung
32 33 34 35 36
Politik, Theologie und Erziehung. u. ö. C L A U D I A K O O N Z , Mütter im Vaterland. D O R I S K A U F M A N N , Frauen zwischen Aufbruch und Reaktion. FRIEDRICH B R A N D I - H I N R I C H S , Von der personalen zur politischen Theologie. LIESEL-LOTTE H E R K E N R A T H ,
E B D . , S. 3 8 , 9 0
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Einleitung
zu. Die zur Biographie Gogartens und zu seinen Schriften detailliert recherchierte und ausgewertete Untersuchung bietet viel Material, das die Person Gogartens differenziert beleuchtet und auf das in der vorliegenden Arbeit im Rahmen der Darstellung zu Gogarten zurückgegriffen werden konnte. Von Matthias Kroegers im Entstehen begriffener, umfangreicher Veröffentlichung über Leben und Werk Gogartens ist bisher nur der erste Band erschienen, der die Zeit bis Beginn der zwanziger Jahre behandelt. 37 Der zweite Band, der die Zeit der zwanziger und dreißiger Jahre beleuchten soll, in die Zusammenarbeit mit von Tiling und Gogarten fällt, liegt bedauerlicherweise noch nicht vor. In der neuesten Forschung wird von Tiling die Rolle einer bedeutenden Exponentin des deutschen Luthertums in der Weimarer Republik zuerkannt. So findet sie sich in dem von Dieter Hauschild herausgegebenen Band Profile des Luthertums als einzige Frau unter 36 renommierten lutherischen Persönlichkeiten. 38 Antje Roggenkamp-Kaufmann, gelingt es in ihrem Aufsatz, auf knapp zwanzig Seiten, die wesentlichen kirchlichen, politischen und pädagogischen Tätigkeitsfelder von Tilings aufzuzeigen. Zudem vermag sie es, basierend auf dem Nachlaß von Tilings, zentrale Stationen ihrer Biographie zu rekonstruieren und ihre kirchlichen Wirksamkeit vorzustellen. Die theologischen Positionen und ihr Werk werden besonders im Rahmen ihrer Rolle als lutherische Religionspädagogin gewürdigt, wobei Roggenkamp-Kaufmann überzeugend die Modernität ihrer religionspädagogischen Konzeption herausstellt. Insgesamt läßt sich feststellen, daß die Erforschung des komplexen Zusammenhangs pädagogischer, theologischer, kirchlicher und politischer Praxis und Theorie von Tilings noch nicht erfolgt ist. Auch die Zusammenarbeit mit Friedrich Gogarten ist bislang nicht näher untersucht worden. Die Zusammenarbeit ist jedoch für ihre eigene Theologie und Theorie sowie für die Friedrich Gogartens von Bedeutung. Diese Forschungslücken möchte die vorliegende Arbeit schließen. Insgesamt läßt sich feststellen, daß die Forschung zur Geschichte der dem konservativen Protestantismus zuzuordnenden Frauen in der Zeit von Kaiserreich, Weimarer Republik und NS-Zeit noch erhebliche Desiderate aufweist - und damit auch die Forschung zur Bedeutung der evangelischen Frauenbewegung für die Theologie und für das protestantische Milieu jener Jahre. Hinzu kommt, daß der Ansatz der Frauen- und Geschlechtergeschichte in den bislang vorliegenden Arbeiten kirchlicher Zeitgeschichte noch wenig zum Zuge gekommen ist. Auch hier möchte diese Arbeit ihren Beitrag leisten.
37 38
MATTHIAS KROEGER, Friedrich Gogarten. Vgl. ANTJE ROGGENKAMP-KAUFMANN, Magdalene von Tiling, S. 721-739.
Einleitung
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Material- und Quellenlage Grundlage der Arbeit ist vor allem noch weitgehend unausgewertetes Archivmaterial zu Leben und Wirken Magdalene von Tilings in den unterschiedlichen Arbeitszusammenhängen. So konnte auf den Nachlaß Magdalene von Tilings zurückgegriffen werden, der im Landeskirchlichen Archiv Hannovers (LkA Hannover) aufbewahrt wird und seit Januar 1995 vollständig verzeichnet ist. Der Nachlaß, dessen überwiegender Teil sich auf die Arbeit von Tilings während der Weimarer Republik bezieht, enthält wichtige Unterlagen zur Biographie wie Lebensläufe, Zeugnisse, Urkunden und unveröffentlichte Vortragsmanuskripte zu verschiedenen Arbeitsgebieten; außerdem Quellen zur Arbeit des Verbandes evangelischer Religionslehrerinnen und der Nachfolgeorganisation Verband für evangelischen Religionsunterricht und Pädagogik. Weiterhin findet sich Korrespondenzen mit Paul Althaus, Friedrich Brunstäd und Werner Eiert sowie der bis auf einige Lücken vollständige Briefwechsel mit Friedrich Gogarten, der durch Briefe von Tilings aus dem Nachlaß Gogartens in Göttingen ergänzt worden ist. Es handelt sich dabei um Briefe aus den Jahren 1925-1968 mit dem Schwerpunkt auf den zwanziger und dreißiger Jahren. Marianne Bultmann (Göttingen), die Tochter Friedrich und Margarethe Gogartens gewährte mir zur Vervollständigung der Informationen zu Gogarten Einsicht in den bis dahin in Privatbesitz befindlichen Nachlaß Gogartens, der im Dezember 1997 dem Archiv der Universität Göttingen übergeben wurde. Im Landeskirchlichen Archiv Hannover findet sich auch der Nachlaß Agnes von Grones. Agnes von Grone, die Vorsitzende der Braunschweigischen Frauenhilfe, wurde 1933 zur Reichsführerin des Evangelischen Frauenwerks, der Nachfolgeorganisation der Vereinigung evangelischer Frauenverbände, bestellt. Auch wenn sich damit der Wunsch von Tilings, diese Stelle selbst zu besetzen nicht erfüllte, gibt der Briefwechsel zwischen von Tiling und Agnes von Grone zu Beginn der dreißiger Jahre Aufschluß über die Rolle von Tilings bei der Umstrukturierung der evangelischen Frauenarbeit und der Entstehung des Evangelischen Frauenwerks nach der nationalsozialistischen Machtergreifung. Das Archiv des Diakonischen Werkes (ADW) und das Evangelische Zentralarchiv (EZA) in Berlin beherbergen Akten zur Gremienarbeit von Tilings und ihrem kirchenpolitischen Engagement: als Vorsitzende der Vereinigung evangelischer Frauenverbände Deutschlands im Centraiausschuß der Inneren Mission, als Vorsitzende des Verbandes evangelischer Religionslehrerinnen und als Mitglied in der Evangelischen Schulvereinigung. Das Archiv des Deutschen Evangelischen Frauenbundes (ADEF) in Hannover enthält Akten zur Arbeit von Tilings in der Vereinigung evan-
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gelischer Frauenbände 1918-1945 und zu ihrer Rolle als Vorsitzende dieser Organisation. Hier finden sich auch die Korrespondenz mit wichtigen Vertreterinnen des Deutsch-Evangelischen Frauenbundes sowie Sitzungsprotokolle und Eingaben. Das Archiv der Evangelischen Frauenarbeit in Deutschland in Frankfurt verfügt über einen kleinen Bestand zur Arbeit der Vereinigung in den Jahre 1933-1945. Akten über die politische Arbeit als Reichstagsabgeordnete in der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP), als Mitglied des Evangelischen Reichsausschusses und des Evangelischen Frauenausschusses der D N V P sowie die DNVP-Personalakte finden sich im Bundesarchiv Berlin. Neben den Auswertung des Archivmaterials sind Zeitschriften zu nennen. Eine Fülle an Informationen zur Organisation, zu Themen der Tagungen, Treffen, Eingaben, politischen Aktionen der Vereinigung bietet das von Magdalene von Tiling herausgegebene Monatsblatt der Vereinigung evangelischer Frauenverbände (das mehrmals seinen Titel geändert hat). Ergiebige Informationen brachte die Auswertung der Zeitschrift des Verbandes evangelischer Religionslehrerinnen, die seit 1926 zugleich zum Organ der Evangelischen Schulvereinigung wurde und seitdem den Titel „Schule und Evangelium" trug. In den Zeitschriften finden sich auch die zahlreichen programmatischen Aufsätze Magdalene von Tilings und Friedrich Gogartens sowie dessen Predigten.
KAPITEL I ZUR BIOGRAPHIE MAGDALENE V O N TILINGS 1877-1974 Die Lebenszeit Magdalene von Tilings umspannt annähernd ein Jahrhundert. Geboren im Reichsgründungsjahrzehnt - den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts hat sie die wechselnden Phasen der deutschen Geschichte bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein miterlebt. Damit gehörte sie einer Generation an, die in ihrem Leben beträchtliche politische Umbrüche zu verarbeiten hatte. Magdalene von Tiling wurde Zeitzeugin von fünf Staatsformen in Deutschland, erlebte den Nationalsozialismus und zwei Weltkriege. Zeit ihres Lebens beteiligte sie sich an gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen. Die Reflexion über die jeweiligen gesellschaftlichen Ereignisse finden ihren Niederschlag in ihren theologischen und pädagogischen Schriften. An ihnen läßt sich die unauflösliche Verzahnung der Wahrnehmung gesellschaftlicher Umbrüche und der daraus folgenden Entwürfe in Theologie und Pädagogik nachweisen.
A. Das Baltikum: Familiäre und theologische Verwurzelungen Magdalene Louise Charlotte von Tiling stammte ursprünglich aus dem Ostbaltikum.' Am 19. Mai 1877 wurde sie in Riga geboren als vierte von zwölf Kindern und älteste von acht Töchtern des Ehepaares Wilhelm von Tiling und Maria geb. Kupffer. Die Familie konnte sowohl väterlicher- als auch mütterlicherseits bereits auf eine baltische Familientradition von mehreren Generationen zurückblicken. Vom deutschen Orden Ende des 12. Jahrhunderts kolonisiert, war das Baltikum seit 1721 unter russischer Regierung, die den Baltischen Staaten bis in die achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts hinein eine gewisse Autonomie und Selbstverwaltung beließ.2 Immer wieder hatte es Einwanderungswellen 1 D e r f o l g e n d e n b i o g r a p h i s c h e n D a r s t e l l u n g liegen die von M a g d a l e n e von T i l i n g verf a ß t e n u n d u n d a t i e r t e n L e b e n s l ä u f e z u g r u n d e ( L K A HANNOVER, N 1 2 7 / 2 u n d N 1 2 7 / 4 ) ; ( A E F D FRANKFURT/M., F r a u e n a r b e i t allgemein). Z u r Familiengeschichte vgl. PF.TER VON TILING, V o r h u n d e r t J a h r e n , S. 1 ff. ( L K A HANNOVER N 1 2 7 / 1 ) . D i e b i o g r a p h i s c h e n A n g a b e n bei LlESEL-LoTTE HERKENRATH, Politik, T h e o l o g i e u n d E r z i e h u n g , e n t h a l t e n einige sachliche U n r i c h t i g k e i t e n . D a s s e l b e gilt f ü r die K u r z b i o g r a p h i e in: ILSE BREHMER/KARIN EHRICH, M ü t t e r l i c h k e i t als P r o f e s s i o n ? , S. 2 6 3 - 2 6 4 . U n g e n a u sind d i e A n g a b e n zu von T i l i n g in: CLAUDIA KOONZ, M ü t t e r im V a t e r l a n d , S. 2 7 9 - 2 8 1 . 2 Z u d e n f o l g e n d e n A n g a b e n z u r G e s c h i c h t e d e s Baltikums vgl. REINHARD WITTRAM,
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Zur Biographie Magdalene von Tilings 1877-1974
von Deutschen aus dem Reich gegeben, so daß man das Baltikum als die „älteste deutsche Kolonie" bezeichnet hat. 3 Prägend für das über Jahrhunderte andauernde Zusammenleben der aus Esten, Letten und Deutschen bestehenden Bevölkerung in den Ostseeprovinzen war die stark ständische Gliederung der Gesellschaft. Dies wirkte sich besonders auf das Selbstbewußtsein der Deutschen aus, die in Stadt und Land eine relativ dünne Oberschicht von adeligen Großgrundbesitzern, Offizieren, Beamten, Akademikern und Kaufleuten darstellten. Sie hatten seit den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts begonnen, sich als führende Schicht zu etablieren, indem sie als Vertreter des Bürgertums in Stadt und Land die bisherige Vorherrschaft der Ratsfamilien in den Städten und die Ritterschaft auf dem Lande nicht mehr ohne weiteres anerkannten. Statt dessen traten sie im Namen einer deutschen Oberschicht für die Gleichstellung des Bürgerstandes ein. Von nun an bezeichneten sich die gebildeten Deutschen als Balten: Damit war zugleich ein Programm verbunden, das die Annäherung der Stände intendierte, wobei nicht in erster Linie an eine Nivellierung der Unterschiede, sondern vielmehr an eine Liberalisierung und Modernisierung des öffentlichen Lebens in den baltischen Provinzen gedacht war. 4 In den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts galt Riga mit seinen ca. 180.000 Einwohnern als „Metropole" in den Ostseeprovinzen des Russischen Reiches: Eine pulsierende Hafenstadt, in der seit einigen Jahren die Industrialisierung Fuß gefaßt hatte, was eine Zunahme der Fabriken und den Zuzug von Industriearbeitern mit sich brachte, der Stadt aber zugleich einen gewissen Reichtum sicherte, der an den großzügigen Straßenzügen, Prachtbauten, Parks und Theatern deutlich abzulesen war. 5 Zugleich mit Reval in Estland und der dortigen Landesuniversität in Dorpat war Riga das geistige und wissenschaftliche Zentrum der Deutschbalten, die neben jeweils einem Viertel Letten und Russen knapp die Hälfte der Rigaer Bevölkerung ausmachten. 6 Prägende Bestandteile der „Deutschen Kultur" im Baltikum waren im 19. Jahrhundert zum einen ein konfessionelles Luthertum, zum anderen ein starker Nationalismus. Doch war das eine von dem anderen nicht zu trennen, denn Kirchlichkeit und Theologie galten unter den Gebildeten gleichsam als nationales Gut. Anders als im Deutschen Reich, wo Theologie und Kirche, Fakultäten und Landeskirchen zumeist in Spannung zueinanD r e i Generationen; DERS., Baltische Geschichte; GEORG VON RAUCH, Geschichte d e r baltischen Staaten; GERT VON PlSTOHLKORS, Ostseeprovinzen, S. 2 9 5 - 4 3 5 . 3 HANS ROTHFELS, B i s m a r c k , S. 34. 4 GERT VON PlSTOHLKORS weist d a r a u f hin, d a ß auch im Deutschen Reich und in Rußland mit wachsender Selbstverständlichkeit in den 60er J a h r e n von den Deutschen als den Balten gesprochen wurde, ohne die Letten und Esten miteinzubeziehen (Ostseeprovinzen, S. 365). 5 Vgl. EBD., S. 367. 6 Vgl. REINHARD WITTRAM, Drei Generationen, S. 63.
Familiäre und theologische Verwurzelungen
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der standen, war dieses Verhältnis in den Ostseeprovinzen ein eher harmonisches. Seit 1832 war die Fakultät in Dorpat durch das Kirchengesetz auf das lutherische Bekenntnis verpflichtet worden, so daß bereits hier eine Verbindung zur Landeskirche des gleichen Bekenntnisses gegeben war; seit 1857 wurden die Mitglieder der Fakultät offiziell zur Teilnahme an den Synoden der Landeskirche eingeladen und zu Vorträgen gebeten. Die kirchlich-lutherisch geprägte Universität übte also einen starken Einfluß auf die Kirchlichkeit aus.7 Die Universität in Dorpat war durch führende Theologen geprägt, die ein konfessionelles Luthertum der Erlanger Schule vermittelten. 8 Schon in den vierziger Jahren unter dem Dogmatiker Friedrich Adolf Philippi und dem Praktischen Theologen Theodosius Harnack war die Richtung streng lutherisch geworden. Besonders Moritz von Engelhardt und Alexander von Oettingen übten in Dorpat als Professoren der Kirchengeschichte bzw. der Dogmatik einen erheblichen Einfluß aus, und mit dem Alttestamentier Wilhelm Volck wurden Generationen von lutherischen Theologen konfessionell-lutherisch geprägt. 9 Die Bindung an die lutherischen Bekenntnisse war das charakteristische Merkmal sowohl der Dorpater Universität als auch der Landeskirche. So stand man der 1817 durchgeführten Union der Kirche Preußens ebenso ablehnend gegenüber wie der Gründung des liberal ausgerichteten Deutschen Protestantenvereins im Jahr 1863. Auch gegen Missionsbestrebungen der Herrnhuter Bewegung erhoben sich Widerstände wie gegen alle Forderungen nach presbyterialer Organisation der Gemeinden oder Beteiligung von Laien an den Synoden. Hervorzuheben ist jedoch, daß sich die konfessionell-lutherisch-kirchliche Richtung nicht zu der restaurativen Kirchlichkeit wie im Deutschen Reich ausgestaltete, da die Kirche in den Ostseeprovinzen nicht im Bunde mit einem monarchischen Staat stand, also keine Verbindung von „Thron und Altar" eingehen konnte. Die sie prägende Konstellation war und blieb die enge Bindung an die ständische Ordnung. 10 7
Vgl. HEINRICH WITTRAM, Theologie und Kirche, S. 220-243. Zentral für die von der Erlanger Theologie vertretene Richtung des konfessionellen Luthertums in den fünfziger Jahren war die Rückbesinnung auf das Wesen der lutherischen Kirche und ihre Bekenntnisse in Verbindung mit dem durch die Erweckungsbewegung beeinflußten Gedanken der persönlichen Heilserfahrung der Menschen. Sie ging wie Schleiermacher von der Heilserfahrung des frommen Subjektes aus und versuchte, sie in Beziehung zur Schrift als Zeugnis der göttlichen Heilsgeschichte und zum Bekenntnis der lutherischen Kirche als dem Ausdruck des Gemeindeglaubens zu setzen. Nur in dem Zusammenspiel dieser drei Momente war deren theologische Wahrheit erwiesen. Damit war zugleich die Abgrenzung zur lutherischen Orthodoxie mit der Betonung von Schrift und Bekenntnis sowie zum Pietismus mit seiner Betonung der individuellen Heilserfahrung der Menschen angezeigt. Betont wurde in diesem Zusammenhang die konfessionelle Ausrichtung. Vgl. MARTIN HEIN, 8
E r l a n g e n , S. 1 5 9 - 1 6 4 . 9 10
REINHARD WITTRAM, B a l t i s c h e K i r c h e n g e s c h i c h t e , S. 6 8 - 7 6 . H E I N R I C H WITTRAM, T h e o l o g i e u n d K i r c h e , S. 2 2 6 .
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Zur Biographie Magdalene von Tilings 1877-1974
In den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts waren die Tilings bereits in der dritten Generation im Baltikum ansässig." Sie waren die Nachfahren des in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aus Bremen eingewanderten reformierten Pastors Johann Nikolaus Tiling, der seit 1764 als Pastor an der deutschen reformierten Kirche im kurländischen Mitau amtierte und seit 1774 als „Professor der Beredsamkeit" an der Academia Petrina lehrte. Diese akademische Tradition wurde von den nachfolgenden drei Generationen der männlichen Nachkommen weitergeführt: Sie wurden Ärzte, Juristen, Lehrer und Pfarrer. Die Tilings zählten damit zu den Angehörigen der kleinen deutsch-baltischen Oberschicht, die sich mit dem „Deutschtum" ebenso identifizierten wie sie sich dem russischen Zaren verpflichtet fühlten: In dessen Dienst stellte man sich, als Militärarzt, Hofrat, Oberhofgerichtsadvokat oder Lehrer an staatlichen Gymnasien und Akademien. Im Jahre 1866 bekam der Arzt und Großvater Magdalene von Tilings, Dr. med. Robert von Tiling, aufgrund einer Resolution des russischen Senats den Adelstitel verliehen. Hierbei handelte es sich offensichtlich um den Titel des russischen Beamtenadels, der auf einem Dienstrang beruhte. Die Tilings müssen folglich den Familien des sog. deutsch-baltischen Literatenstandes zugerechnet werden, d. h. den baltischen Akademikerfamilien. Zu ihnen gehörte auch die Pastorenschaft.' 2 Das ständische Bewußtsein war ausgeprägt und identitätsstiftend, was zu starken Grenzziehungen zwischen den Ständen - also zwischen Adel, patrizischem Bürgertum und Literatenstand - führte. Die Selbstverwaltung der Stände war genossenschaftlich bestimmt, und das Zusammengehörigkeitsgefühl wurde durch genossenschaftliche Bezüge gestärkt. 13 Wilhelm von Tiling, der Vater Magdalenes, war Pastor. 14 1844 in Bauske geboren, hatte er nach Abschluß des Gymnasiums in Mitau Philosophie, Philologie und Theologie an den Universitäten Göttingen, Leipzig und Dorpat studiert, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts übliche Studienorte der ostbaltischen Pastorenschaft waren. Als Kandidat der Theologie, also 11
Zu
den
folgenden
Angaben
vgl.
DEUTSCH-BAL'NSCHES
BIOGRAPHISCHES
LEXIKON,
S. 799-801. 12 Vgl. Reinhard Wittram in einem Schreiben an Liesel-Lotte Herkenrath vom 19.12.1968, in: LIESEL-LOTTE HERKENRATH, Politik, Theologie und Erziehung, S. 20. Hier findet sich der Hinweis, daß die Familie Tiling zu einer der drei Gruppen von Adelsfamilien in den Ostseeprovinzen gehört, die es zu unterscheiden gilt. Neben den Akademikerfamilien, die den Adelstitel erhielten, handelte es sich bei der zweiten Gruppe um den Landadel, also die in der Matrikel der Ritterschaften eingetragenen Geschlechter. Die dritte Gruppe umfaßte zumeist städtische Familien, die vor dem Erlöschen des alten Römischen Reiches (vor 1806) in Wien den Reichsadel käuflich erworben hatten. 15
14
V g l . H A N S ROTHFELS, B i s m a r c k , S. 1 8 7 .
Die Daten zum Leben Wilhelm von Tilings entstammen dem ALBUM CURONORUM und dem von ihm verfaßten Lebenslauf in der Chronik von Leopoldshall, zusammengestellt und abgedruckt in: PETER VON TILING, Vor hundert Jahren, S. 1 f.
Familiäre und theologische Verwurzelungen
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nach seinem Ersten Theologischen Examen, schloß er ein Studienjahr in Erlangen an. Seine theologische Prägung hatte er eigenen Angaben zufolge besonders durch die Leipziger Professoren Karl Friedrich August Kahnis und Christoph Ernst Luthardt sowie die Erlanger Professoren Johann Christian Konrad von Hofmann und von Carl Adolf Gerhard von Zezschwitz erhalten, die alle ein konfessionelles Luthertum vertraten. 1870 wurde er Oberlehrer an der St. Petri-Kirchenschule in Sankt Petersburg und versah nach seiner Ordination für drei Jahre das Amt des Pastors in der neugestifteten Gemeinde mit 1500 deutschen Einwanderern in Russisch-Litauen. Von 1874 bis 1886 war Wilhelm von Tiling Pastor einer 3000 Mitglieder umfassenden Gemeinde aus Deutschen und Letten in Riga. Die Kirche dieser Gemeinde war eine Stiftung Herders aus dessen Rigaer Zeit. Im Oktober 1871 hatten Wilhelm von Tiling und Maria geb. Kupffer geheiratet. So detailliert die Informationen über Leben und Wirken des Vaters für diese Zeit erhalten sind, so spärlich ist das, was sich aus den Quellen über die Mutter Magdalenes in Erfahrung bringen läßt. Maria war die älteste Tochter des Propstes und Konstorialrats Gustav Kupffer zu Walk in Livland. Die Vorfahren der Kupffers waren im 17. Jahrhundert aus Sachsen nach Kurland eingewandert, gehörten also zu den alten deutschbaltischen Familien und hatten eine lange Pastorentradition aufzuweisen.15 Mit ihrer Heirat wurde Maria Pfarrfrau, was sowohl eine Beteiligung an der Gemeindearbeit des Mannes bedeutete als auch repräsentative Tätigkeiten in der ländlichen bzw. städtischen Gesellschaft.' 6 Glich das baltische „Pastorat" auf dem Lande oftmals einem kleinen Gutshof, entwickelte es sich in den Städten wie Riga, Reval und Dorpat und in den kleinen Provinzstädten über das kirchliche Leben hinaus zu einem geistigen Zentrum des deutschen kulturellen Lebens der Bürgerschaft. Die Pastoren Rigas waren zumeist profilierte Persönlichkeiten, die in kirchenleitenden Funktionen tätig waren und sich im Bildungswesen engagierten. Dadurch kam der Pfarrfamilie ein hervorgehobener gesellschaftlicher Status zu. Als Pfarrfrau stand Maria von Tiling somit einem großbürgerlichen Haushalt vor, der als ein Mittelpunkt des kulturellen und geselligen Lebens in Riga galt und sich im Laufe der Jahre zunehmend vergrößerte. Magdalene war das vierte Kind und die erste Tochter der Familie. Ihre ersten Lebensjahre waren geprägt von der Sicherheit und Zugehörigkeit zu einer traditionsreichen deutsch-baltischen Familie, die sowohl über einen angemessenen Lebensstandard verfügte als auch über gesellschaftliche Anerkennung als Mitglied der Rigaer Führungsschicht. Gemäß den Pflichten des Stadtpastorates bekleidete der Vater, Wilhelm von Tiling, vielfältige
15
V g l . „ K u p f f e r " , in: DEUTSCH-BALTISCHES BIOGRAPHISCHES LEXIKON, S. 4 3 0 f f .
16
Z u m f o l g e n d e n vgl. G E O R G VON RAUCH, D a s b a l t i s c h e P f a r r h a u s , S. 9 8 - 1 1 7 .
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Zur Biographie Magdalene von Tilings 1877-1974
Ämter. So war er neben seinem Pfarrdienst - von 1886 bis 1888 schließlich auch neben seiner exponierten Stellung als Prediger am Dom in Riga - von 1876 bis 1887 Oberlehrer für Religion und die griechische und hebräische Sprache am Riga-Gouvernements-Gymnasium. Er wurde zum Mitglied des Dorparter Priifungs-Comités für Lehrer und Lehrerinnen bestimmt und übte jahrelang Einfluß auf die Entscheidungen über Lerninhalte und Prüfungsbedingungen aus. Bemüht um die Mädchenbildung, wurde er Mitbegründer einer höheren Töchterschule, die mit 230 Schülerinnen bald die größte Rigas war. Zudem entwickelte er eine rege Vortrags- und Publikationstätigkeit zu religiösen, geschichtlichen und pädagogischen Inhalten.17 Auch wenn Magdalene von Tiling sich später kaum auf ihren Vater bezog, wird doch sein Einfluß auf die Tochter in theologischer wie gesellschaftspolitischer Hinsicht nicht zu unterschätzen sein, hatte sie sich doch als Erwachsene auf denselben Gebieten engagiert wie seinerzeit der Vater. Der Regierungsantritt des Zaren Alexander III. am l . M ä r z 1881 und dessen Bestrebungen einer sog. Russifizierung der bisher selbstverwalteten Baltischen Provinzen versetzte die deutsch-baltische Oberschicht in Unruhe und machte den vielfältigen Tätigkeiten des Vaters ein jähes Ende. Wilhelm von Tiling sah sich besonders wegen seiner verschiedenen kirchlichen und schulischen Aktivitäten bedroht und fürchtete um die Zukunft der Erziehung und Ausbildung seiner Kinder: ,Je länger desto mehr wurde das Schulwesen und das Kirchenleben in Frage gestellt. Alle Männer, welche öffentlich als deutsche evangelische Christen wirkten, als solche bekannt waren, geriethen in Gefahr, gemaßregelt und vergewaltigt zu werden. Ich stand als Pastor und Oberlehrer unter zwei verschiedenen Staatsministerien, war ein öffentlicher und offizieller Vertreter der Gewissensfreiheit, der geschichtlichen Wahrheit und Gerechtigkeit. Es konnte also nicht vermieden werden, daß ich unter besondere Controlle gestellt, durch die Spionage beeinträchtigt und angefeindet wurde. In Folge dessen gab ich zunächst die Stellung eines Comité-Mitgliedes für die Prüfung der Lehrerschaft auf - 1886. Von der Zeit an mußte ich mir täglich sagen, daß ich entlassen und verschickt werden konnte in das Innere des weiten Reiches, oder gar nach Sibirien. Meine vielen gutgearteten Kinder thaten mir leid." 18
Die Sorge des Vaters war nicht unbegründet. In der Tat beinhaltete die sog. Russifizierung des neuen Zaren die Absetzung von Deutschbalten aus Ämtern und den Verlust von Privilegien.19 Die russischen Reichsgesetze wurden auf die bisher nach eigenem Recht regierten Ostseeprovinzen angewandt. Das betraf besonders das Gerichtswesen und das Schulwesen. 17
ALBUM CURONORUM, 8 9 7 / 7 5 3 6 . Chronik von Leopoldshall, abgedruckt in: PETER VON TILING, V o r hundert Jahren, S. 2 (Orthographie wie im Original). 19 Zum folgenden vgl. GERT VON PLSTOHLKORS, Ostseeprovinzen, S. 3 9 7 - 4 1 6 . 18
Familiäre und theologische Verwurzelungen
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1887 wurde in den Gymnasien und Volksschulen Russisch als Unterrichtssprache eingeführt. Dadurch setzte ein Verdrängungsmechanismus ein: Lehrer, die nicht russisch unterrichten konnten oder wollten, wurden entlassen. Von deutschbaltischer Seite wurde zeitweilig versucht, durch private Schulgründungen die muttersprachliche Erziehung zu erhalten, was alsbald scheiterte, da auch den Privatschulen die Privilegien entzogen wurden. Im Sommer 1889 wurde das russische Polizeiwesen, ein Jahr später die russische Gerichtsverfassung und Prozeßordnung auf die Ostseeprovinzen übertragen. Das bedeutete das Ende der alten Gerichtsbehörde und die Aufhebung des Rigaschen Rates und seiner Untergerichte. Jedoch läßt sich aus dem Verlust der Privilegien der führenden Oberschicht weder das Schaudern in der Darstellung von Tilings noch der Entschluß der Familie erklären, dem Baltikum den Rücken zu kehren. Aus dem obigen Bericht ergeben sich Hinweise, daß die Situation, auf die von Tiling anspielt, im Zusammenhang mit der Konversionsbewegung zu sehen ist.20 Zunehmend hatte die russische Regierung mit ihren Maßnahmen der sog. Russifizierung die russisch-orthodoxe Kirche protegiert und damit eine Massenkonversion unterstützt, eine Rekonversion der Gläubigen zur lutherischen Kirche jedoch untersagt. Lutherische Pastoren, die sich im Namen der reformatorischen „Gewissensfreiheit", aber auch aus Furcht vor dem Verlust deutschbaltischer Identität für die Rekonvertiten einsetzten, liefen Gefahr, den legendären Pastorenprozessen zum Opfer zu fallen und ihren Beruf zu verlieren. Zwar wurden 1874 die Pastorenprozesse per Erlaß des russischen Zaren eingestellt, der Nachfolger, Alexander III., ließ jedoch die Untersuchungen gegen die Pastoren 1883 wieder aufnehmen und revidierte 1885 die Zusage seines Vorgängers. Nunmehr wurden alle Kinder aus Mischehen, die sich zum Luthertum bekannten, als orthodoxe reklamiert, die lutherischen Pfarrer, die Rekonversionen vornahmen, in zunehmendem Maße verfolgt. Der Hinweis von Tilings, er sei ein „offizieller Vertreter der Gewissensfreiheit, der geschichtlichen Wahrheit und Gerechtigkeit" gewesen, weist darauf hin, daß er sich öffentlich gegen die kaiserlichen Erlasse und für die Wiederaufnahme der ehemals zur russischorthodoxen Kirche konvertierten Mitglieder eingesetzt hatte. Dadurch war er in der Tat potentiell durch Überwachung, Anklage und gerichtliche Verurteilung bedroht. 1888 entschlossen sich die Eltern, mit ihren neun Kindern ins Deutsche Reich überzusiedeln. Dies bedeutete zugleich einen Bruch mit einem Leben, das auf dem Selbstbewußtsein, der Sicherheit und Anerkennung durch die Zugehörigkeit zur führenden Oberschicht im Baltikum beruht hatte. Wilhelm von Tiling wurde zunächst nach Travemünde bei Lübeck als Com-
20
Vgl. EBD., S. 404-406.
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pastor berufen, jedoch wechselte er noch im selben Jahr in die Gemeinde von Leopoldshall in Anhalt. Das Ansehen einer Pastorenfamilie im Deutschen Reich entsprach nicht der hervorgehobenen Position im Ostbaltikum. Auch der bisherige Einfluß auf Ausbildung und Lehre war nicht mehr möglich, das Netz von Gleichgesinnten, Verwandten, Freunden, Bekannten nicht mehr vorhanden. Magdalene von Tiling war zu diesem Zeitpunkt elf Jahre alt.21
B. Lehrerinnenjahre im Deutschen Kaiserreich: Engagement für Frauen- und Mädchenbildung Magdalene von Tiling durchlief eine ihrem Stand als „höherer Tochter" angemessene Schulbildung.22 Im 19. Jahrhundert standen den Mädchen in der Regel nur drei Ausbildungsmöglichkeiten offen: die Volks- oder Mittelschule und die höheren Mädchenschulen. Sowohl die privaten höheren Mädchenschulen als auch die öffentlichen Anstalten dieses Schultyps galten als Standesschulen, die den Töchtern der oberen Mittelschicht eine angemessene Ausbildung gewähren sollten. Im Vergleich zu den höheren Knabenschulen wiesen die höheren Töchterschulen allerdings ein buntes Gemisch von Lehrplänen, unterschiedlicher Schuldauer und Abschlüssen auf. Anders als bei den höheren Knabenschulen waren die entsprechenden Institutionen für Mädchen noch in privater Hand und bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts nicht in das allgemeine Berechtigungswesen eingegliedert. 23 Magdalene von Tiling hatte in Riga die deutsche höhere Töchterschule besucht. Später besuchte sie die Bürgerschule im preußischen Stassfurt und danach das Kloster Marienberg bei Helmstedt. Das Kloster Marienberg war eine von Neuendettelsauer Diakonissen geleitete Schule, die in der Tradition Wilhelm Löhes geführt wurde. Magdalene von Tiling betrachtete später diese Tradition als zentral für die theologische Prägung ihrer Jugendzeit.24 Hier erhielt sie des weiteren fundierte Kenntnisse in der fran21 LLESEL-LoTTE HERKENRATH hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, daß Magdalene von Tiling alt genug war, um zu begreifen, daß sie von der Welt ihrer Kindheit Abschied nehmen mußte, sich zugleich aber von der Gruppenidentität der Baltendeutschen nicht mehr lösen konnte, die durch die Eltern weitertradiert und durch Familienbesuche im Baltikum gefestigt wurde (Politik, Theologie und Erziehung, S. 22). 22 Zum schulischen und beruflichen Werdegang Magdalene von Tilings wurden die von ihr verfaßten Lebensläufe und Zeugnisse herangezogen: zwei Lebensläufe [1926 und 1928] (LKA HANNOVER, N 127/2) und zwei Lebensläufe [1957 und 1960] (LKA HANNOVER, N 127/4); Lebenslauf [1945] (AEFD FRANKFURT/M., Frauenarbeit allgemein). 23
V g l . BARBARA GREVEN-ASCHOFF, D i e b ü r g e r l i c h e F r a u e n b e w e g u n g , S. 51.
24
Lebenslauf [1945] (AEFD FRANKFURT/M., Frauenarbeit allgemein).
Lehrerinnenjahre im Deutschen Kaiserreich
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zösischen und englischen Sprache und Unterricht in „allen wissenschaftlichen Fächern". Das Abschlußzeugnis der höheren Mädchenschulen berechtigte nicht zum Studium, sondern galt lediglich als Zugangsberechtigung für die Lehrerinnenseminare, die zumeist an die höheren Mädchenschulen angeschlossen waren. Ein Abschluß des Lehrerinnenseminars galt ausschließlich als Qualifikationsnachweis für den Beruf der Lehrerin an Volksschulen und den unteren Klassen der höheren Mädchenlehranstalten. Magdalene von Tiling gelang es zunächst nicht, ihre Ausbildung zu beenden, da sie zwischenzeitlich immer wieder für mehrere Monate zur Hilfe im elterlichen Haushalt und zur Betreuung der jüngeren Geschwister herangezogen wurde. Wie viele unverheiratete Frauen aus bürgerlichen Kreisen im Kaiserreich, die auf das eigene finanzielle Auskommen angewiesen waren, arbeitete sie einige Jahre als Gouvernante, zunächst bei einer englischen Familie in der Schweiz, später bei Familien des deutschen Adels in Deutschland. Dann entschloß sie sich, Lehrerin zu werden. Der Beruf der Lehrerin hatte sich Ende des 19. Jahrhundert bereits als gesellschaftlich allgemein anerkannter Beruf für Töchter des städtischen oberen und mittleren Mittelstandes durchgesetzt. Bis 1908 waren Lehrerinnen jedoch ausschließlich auf den nicht-akademischen Lehrberuf verwiesen.25 Die Ausbildungsanstalten für Lehrerinnen waren in der überwiegenden Mehrzahl privat. Erst Ende des 19. Jahrhunderts wurde eine einheitliche Prüfungsordnung verabschiedet, die die Qualifikationen der Lehrerinnen festlegte. Der Beruf der Lehrerin bot zunehmend die Möglichkeit einer qualifizierten Berufstätigkeit von Frauen. Zumal die bereits entstandenen Lehrerinnenvereine - beispielsweise der von Helene Lange geleitete, seit 1890 existierende Allgemeine Deutsche Lehrerinnenverein - sich die Verbesserung der beruflichen Aus- und Weiterbildung der Lehrerinnen zum Ziel gesetzt hatten. Die Veränderung der Ausbildungs-, Berufs- und Arbeitssituation von Frauen war ein Ziel der sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts als gesellschaftliche Kraft konstituierenden Frauenbewegung, deren Forderungen in den 90er Jahren schließlich Eingang in kirchliche Kreise fanden und eine breite Debatte um die gesellschaftlichen Handlungsfelder von Frauen in Gang setzte.26 25
Vgl. BARBARA GREVEN-ASCHOFF, Die bürgerliche Frauenbewegung, S. 50. Die Diskussion über die lebhafte Opposition gegen den Eintritt von Frauen in den Lehrberuf, der die Erziehungsministerien von Preußen und Bayern unter Druck setzte, führte 1902 und 1911 in Bayern und 1908 und 1916 in Preußen zu Quotenregelungen, die den Frauenanteil im Lehrberuf einschränkten. Catherine Stodolsky hat eindrücklich dargelegt, in welcher Weise dieses Vorgehen der Verteidigung einer männlichen Domäne diente. Vgl. CATHERINE SroDOLSKY, Geschlecht und Klasse im Kaiserreich, S. 139-163. 26 Zur Geschichte der Frauenbewegung: BARBARA GREVEN-ASCHOFF, Die bürgerliche Frauenbewegung; DORIS KAUFMANN, Frauen zwischen Aufbruch und Reaktion; URSULA BAUMANN, Protestantismus und Frauenemanzipation; URSULA BAUMANN, Religion und Emanzi-
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1902 legt Magdalene von Tiling in Kassel das Lehrerinnenexamen ab, auf das sie sich teils durch Privatunterricht, teils autodidaktisch vorbereitet hatte und welches sie für den Unterricht an mittleren und höheren privaten Mädchenschulen befähigte. 27 Bis 1906 unterrichtete sie an zwei höheren Privat-Mädchenschulen in Kassel, unterbrochen von mehreren Aufenthalten in der Familie, die nach der frühen Pensionierung des psychisch erkrankten Vaters auf die Hilfe der Ältesten im Haushalt nicht verzichten konnte. Obwohl Magdalene von Tiling als wissenschaftlich geprüfte Lehrerin nach der Prüfungsordnung formell die Berechtigung erhalten hatte, in allen Stufen der höheren Mädchenschule zu unterrichten, war die Praxisrelevanz der Prüfung eher gering. Doch war 1900 mit der „Ordnung der Wissenschaftlichen Prüfung der Lehrerinnen" zumindest eine neue Norm für die Befähigung von Frauen zum Oberstufenunterricht geschaffen worden. Erstmals wurde Frauen die Möglichkeit gegeben, durch ein bestandenes Examen ihre wissenschaftliche Qualifikation nachzuweisen. Um zur Prüfung zugelassen zu werden, mußte die Bewerberin das „Zeugnis der vollen Lehrbefähigung für höhere Mädchenschulen" und eine mindestens fünfjährige Berufstätigkeit vorweisen.28 Vor dem Erlaß von 1900 hatten Lehrerinnen bereits damit begonnen, sich in privaten Fortbildungskursen akademisches Wissen anzueignen. 29 Mit 29 Jahren entschloß sich Magdalene von Tiling, Theologie und Geschichte zu studieren und sich damit auf das Oberlehrerinnenexamen vorzubereiten. Mit „studieren" war damals jedoch nicht ein Universitätsstudium gemeint - zumindest nicht für Frauen, da diesen in Preußen erst ab 1908 die vollständige Immatrikulation an den Universitäten gestattet war.30 Magdalene von Tiling nahm deshalb 1906 in Göttingen an jenen seit 1894 von Anna Vorwerk eingerichteten wissenschaftlichen Kursen für Lehrerinnen teil. Ziel der Kurse war es, Lehrerinnen, die bereits im Beruf gestanden hatten, in Methoden wissenschaftlichen Denkens und Arbeitens einzuführen. In Kooperation mit acht Professoren der Universität Göttingen wurden Lehrerinnen auf den Abschluß der Oberlehrerinnenprüfung
pation; JOCHEN-CHRISTOPH KAISER, Zur Politisierung des Verbandsprotestantismus; zum Jüdischen Frauenbund: MARION KAPLAN, Die jüdische Frauenbewegung in Deutschland. 27 Vgl. die Abschlußurkunde (LKA HANNOVER, N 127/2). 28 „Ordnung für die Wissenschaftliche Prüfung der Lehrerinnen" (ZENTRALBLATr 1900, S. 624). 29 So bestanden bereits seit 1883 die von der Lehrerin Anna Vorwerk eingerichteten „Vorlesungen für Lehrerinnen" in Göttingen und seit 1888 in Berlin Fortbildungskurse für wissenschaftlich interessierte Lehrerinnen. Vgl. dazu DAGMAR HENZE/HEIKE KÖHLER, Völlige Gleichberechtigung, S. 179-216. 30 Vgl. DAGMAR HENZE, Die Anfänge des Frauenstudiums in Deutschland, S. 19-40.
Lehrerinnenjahre im Deutschen Kaiserreich
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vorbereitet. 31 Magdalene von Tiling studierte in diesem Rahmen Geschichte und Religion, letzteres besonders bei Paul Althaus senior. Aus der Prüfungsurkunde des preußischen Prüfungsamtes Berlin/Göttingen geht hervor, daß sie am 10. Mai 1909 das staatliche Oberlehrerinnenexamen ablegte. Bereits einen Monat später, im Juni 1909, wurde sie als Oberlehrerin am städtischen Oberlyzeum von Elberfeld angestellt.32 Diese Anstalt, eine Neugründung, die im Zuge der Neuordnung des höheren Mädchenschulwesens 190833 eingerichtet worden war, umfaßte die auf einer zehnjährigen allgemeinen Schulbildung aufbauende doppelzügige Oberstufe. Ein Zweig vermittelte als zweijährige Frauenschule eine hauswirtschaftliche und sozialpädagogische Ausbildung, der andere führte in drei Jahren theoretischer und einem weiteren Jahr praktischer Ausbildung zur Lehrerinnenprüfung. Magdalene von Tiling unterrichtete in beiden Abteilungen. Ihr oblag der gesamte Religionsunterricht und in einigen Klassen der Geschichtsunterricht. 1911 beschloß die Stadtverordnetenversammlung von Elberfeld, ihr „die Mitleitung der Frauenschule und des Kindergartenseminars unter Verleihung des Titels ,Frau Oberin' und Gewährung einer Entschädigung von jährlich 600 M zu übertragen" 34 , was eine weitreichende organisatorische und konzeptionelle Tätigkeit beinhaltete. Interessant in diesem Zusammenhang ist, daß noch einige Jahre zuvor eine heftige Debatte geführt worden war, ob Frauen überhaupt Leiterinnen von staatlichen Mädchenschulen sein sollten - von privaten waren sie es zumeist schon. Besonders die Lehrerverbände wehrten sich, empfanden sie doch eine Frau als Vorgesetzte weder mit ihrer männlichen Ehre, dem Sozialprestige des Lehrers noch mit der staatlichen Verfassung vereinbar.35 1908 wurde in den Bestimmungen zur Mädchenschulreform dem Druck der Lehrerinnenverbände nachgegeben und die Leitung von staatlichen Mädchenschulen durch Oberlehrerinnen gestattet; sie erhielten den Titel „Frau Direktorin", über die Besoldung wurde nicht verhandelt. 36 Demgegenüber ist der Titel „Oberin", den Magdalene von Tiling verliehen bekam, singulärer Art. Da sie, wie man zunächst vermuten könnte, keinem kirchlichen Orden angehörte und auch nicht als Diakonieschwester tätig war, handelt es sich offensichtlich um einen ähnlichen Amtstitel wie 31
Vgl. DAGMAR HENZE/HF.IKE KÖHLER, Völlige Gleichberechtigung, S. 183 f.
32
Schreiben des Oberbürgermeisters der Stadt Elberfeld an Magdalene von Tiling vom
2 8 . 6 . 1 9 0 9 ( L K A HANNOVER, N 33
127/2).
Neuordnung des höheren Mädchenschulwesens vom 18.8.1908, abgedruckt in: ZEN-
TRALBLATT 1908, S. 6 9 2 - 7 1 7 . 34
Vgl. das Schreiben des Bürgermeisters von Elberfeld an Magdalene von Tiling vom
2 4 . 3 . 1 9 1 1 ( L K A HANNOVER, N
127/2).
35
Zur Debatte um die Einstellung von Frauen als Leiterinnen von Mädchenschulen vgl. DAGMAR HENZE, Zwei Schritte vor, S. 73 ff. 36
ZENTRALBLATT 1908, S. 7 0 8 .
36
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die Bezeichnung „Direktorin": einen Titel für eine leitende Tätigkeit in einer kommunalen Bildungseinrichtung. Auch waren die Besoldungsverhältnisse geklärt, Magdalene von Tiling erhielt zusätzlich zu ihrem Gehalt als Lehrerin eine finanzielle Anerkennung von 600 Reichsmark. Allerdings ist dem Hinweis auf die „Mitleitung" der Frauenschule zu entnehmen, daß sie nicht die alleinige Leitung der Schule innehatte. D i e Frauenschule und das Kindergärtnerinnenseminar stellten einen Zweig des Oberlyzeums dar. D i e Gesamtanstalt stand jedoch unter der Leitung eines Direktors. 3 7 Magdalene von Tilings Aufgabe der folgenden zehn J a h r e bestand in der Betreuung und Ausbildung der Kindergärtnerinnen und Hortnerinnen und in der Konzeptionierung der Lehrinhalte. Sie unterrichtete Religion, Geschichte, Pädagogik, Bürgerkunde und Psychologie im Oberlyzeum und in der Frauenschule, Erziehungswesen im Kindergärtnerinnenseminar. Außerdem besuchte und beaufsichtigte sie die Auszubildenden in Kindergärten und Horten und fertigte Stunden- und Stoffpläne für die Frauenschule, das Kindergärtnerinnen- und Hortnerinnenseminar an. Außerhalb der Schule gründete und leitete sie soziale Jugendgruppen und Bibelkreise für junge gebildete Mädchen. So war Magdalene von Tiling aufgrund ihrer Ausbildung zur Lehrerin und ihrer Leitungsposition in einer höheren kommunalen Mädchenbildungsanstalt bereits seit den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts in die Debatte um die Neustrukturierung der höheren Mädchenbildung involviert und konzeptionell daran beteiligt. In ihrer Position als Mitleitung einer Mädchenschule in Elberfeld war sie diejenige, die in ihrer Institution die neuen Konzepte in die Praxis umsetzte und ausgestaltete. Ein anderes T h e m a , das sie in dieser Zeit beschäftigte, war die Diskussion um die Reform des Religionsunterrichts. Theologisch sah sie sich in dieser Zeit durch Hermann Bezzel beeinflußt. 3 8 1906 wurde sie Mitglied des Gesamtvorstandes der Konferenz von Religionslehrerinnen. 3 9 Diese 1905 gegründete Organisation war ein Zusammenschluß von Religionsleh-
37 Vgl. Lebenslauf [1926] (LKA HANNOVER, N 127/2); vgl. auch die kurze Notiz im Nachrichtenblatt des Verbandes: KvR 4, Oktober/November 1910, SA. 38 Hermann Bezzel war 1891-1909 zweiter Nachfolger Wilhelm Löhes in Neuendettelsau, bevor er 1910 Präsident des Evangelisch-lutherischen Oberkonsistoriums in München wurde. Er wirkte besonders durch seine Predigten und Vorträge, in denen er gegen die moderne Theologie eintrat. Seine Theologie zeigt die Beeinflussung der Erlanger Schule. Den Schwerpunkt seiner Theologie haben die Zeitgenossen in dem Gedanken der Herunterlassung Gottes in Christus (Kondeszenz) gesehen, also in der Erniedrigung Gottes. Zwischen Hermann Bezzel und den evangelischen Lehrerinnen bestand eine enge Zusammenarbeit. Seit der Gründung der Konferenz von Religionslehrerinnen war er Ehrenmitglied, und die Tagungen des Verbandes wurden verbunden mit Besuchen in den diakonischen Anstalten von Neuendettelsau. Vgl. KvR 4, Oktober/November 1910, S. 1. 39 Lebenslauf [1926] (LKA HANNOVER, N 127/2).
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rerinnen, die theologisch dem „orthodoxen" und „positiv-christlichen" Lager angehörten. 40 Sie wollten entgegen allen Reformvorschlägen der liberalen Theologie den evangelischen Religionsunterricht auf biblisch-bekenntnismäßiger Grundlage erhalten. Das Motto „nicht zurück zum Glauben der Väter, sondern vorwärts im Glauben der Väter" ordnete die Organisation in die konservative kirchlich-konfessionelle Richtung der Theologie im Kaiserreich ein.41 Magdalene von Tiling, die 1910 der altlutherischen Gemeinde in Elberfeld beigetreten war42, wurde mit der Redaktion des Verbandsorgans Mitteilungen aus der Konferenz von Religionslehrerinnen betraut, verfaßte Artikel über das lutherisch geprägte Verständnis der Stellung der Christen zu Schrift und Bekenntnis sowie zum Religionsunterricht. Als 1916 der Verband evangelischer Religionslehrerinnen als Nachfolgeorganisation gegründet wurde, gehörte sie bis zur Auflösung 1939 dem engeren Vorstand an. Der Verband evangelischer Religionslehrerinnen setzte die Arbeit der Konferenz von Religionslehrerinnen fort. In der Weimarer Republik unterstützte er die kirchlichen Bestrebungen zum Erhalt des biblisch-bekenntnismäßigen Religionsunterrichtes und forderte die Sicherung der evangelischen Schulen.43 Inhalt der Arbeit war zudem die Entwicklung eines von „christlichem und deutschem Geist getragenen Mädchenerziehungszieles". 44 Die Arbeit Magdalene von Tilings bestand auch hier vor allem in der Redaktion des Verbandsorgans sowie in pädagogischen und theologischen Vorträgen in den Ortsverbänden. So
40 D i e Vertreterinnen und Vertreter der „positiven" theologischen Richtung waren keine h o m o g e n e Gruppe. So zählten so unterschiedliche T h e o l o g e n wie Martin Kahler, A d o l f Schlatter, Karl H e i m und Reinhold Seeberg zu den „positiven Theologen". J e d o c h lassen sich wesentliche Gemeinsamkeiten feststellen, die sich gegen die „moderne Theologie" absetzen. So vertraten sie ein eher konservatives kirchliches Interesse, verbunden mit einer distanzierten Haltung zur modernen historisch-kritischen Wissenschaft und einer Wertschätzung der Bibel als eines Zeugnisses der geschichtlichen Offenbarung und der Tradition. Zu den gemeinsamen Kennzeichen gehörte auch die Wertschätzung der Metaphysik bzw. natürlichen Theologie. Vgl. dazu FRIEDRICH MLLDENBERGER, Geschichte der deutschen evangelischen T h e o l o g i e , S. 1 5 1 - 1 6 6 . Zur Charakterisierung der Konferenz von Religionslehrerinnen, die ihre Standes- und Berufsinteressen gemeinsam mit d e m Allgemeinen Deutschen Lehrerinnenverein vertrat, vgl. DAGMAR HENZE, Zwei Schritte vor, S. 1 2 7 - 1 2 9 . 41
V g l . d a z u KARL ERNST N I P K O W / F R I E D R I C H SCHWEITZER, R e l i g i o n s p ä d a g o g i k , S. 2 9 f.
42
Die Mitgliedsbescheinigung v o m 9.11.1924 gibt als Eintrittsdatum den 16.12.1910 an
( L K A HANNOVER, 43
N
127/2).
Werbeblatt des Verbandes evangelischer Religionslehrerinnen (o.J.) (LKA FIANNOVER,
127/31. 44
GERTRUD PAPE, D i e erste T a g u n g des Verbandes evangelischer Religionslehrerinnen, S. 395. Organ des Verbandes ist ab 1926 die Zeitschrift „Schule und Evangelium", gleichzeitig auch Organ der 1926 gegründeten Evangelischen Schulvereinigung. 1931 wurde der N a m e geändert in Verband für evangelischen Religionsunterricht und Pädagogik. Im August 1939 wurde der Verband a u f g e l ö s t D i e Zeitschrift bestand n o c h bis Sommer 1941 unter dem N a m e n Unterweisung und Glaube fort.
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war Magdalene von Tiling bereits im Kaiserreich im pädagogischen und theologischen Diskurs engagiert.
C. Politikerin in der Weimarer Republik Magdalene von Tiling stand der Demokratie von Beginn an mit Argwohn gegenüber. Jedoch erkannte sie in deren Errungenschaften die Chancen zur gesellschaftspolitischen Partizipation von Frauen. U n d diese nutzte sie. Sie engagierte sich sowohl parteipolitisch als auch im kirchlichen und schulpolitischen Bereich und im Rahmen der evangelischen Frauenbewegung. Zudem entwickelte sie eine reiche publizistische Tätigkeit. Im November 1918 forderte sie den Arbeitsausschuß der neu zusammengeschlossenen Vereinigung evangelischer Frauenverbände Deutschlands (VEFD) auf, „mit den Männerparteien zu verhandeln, damit diesen klar wird, daß die Frau nicht ins politische Leben tritt, um die Ziele der Männer durchbringen zu helfen, sondern, daß sie eigene Aufgaben im kommenden Staat zu erfüllen" habe. 45 Sie regte an, ob nicht die Gründung einer Frauenpartei ins Auge gefaßt werden sollte, da sie nicht erkennen könne, daß irgendeine von den Parteien sich für die Forderungen der Frauen interessieren würde. In der T a t kam es kurzfristig in Elberfeld zum Zusammenschluß einer solchen Frauenpartei, an dem auch von Tiling beteiligt war. Die im Arbeitsausschuß der VEFD tätige Paula Mueller-Otfried, die mit von Tiling in dieser Zeit in enger Korrespondenz stand, riet dagegen, den parteipolitischen Anschluß mit der sich gründenden D N V P in Berlin zu suchen, „um Zersplitterung zu vermeiden und alle Kräfte gegen die große Gefahr von links zu sammeln" 46 . Die VEFD hatte sich im Juni 1918 gegründet, nachdem der DeutschEvangelische Frauenbund (DEF) wegen seiner Ablehnung des Frauenstimmrechts aus dem Bund Deutscher Frauenvereine (BDF) ausgetreten war. Die V E F D verstand sich als Dachverband aller evangelisch-kirchlichen Frauenverbände und stellte damit eine nicht zu vernachlässigende politische Größe dar. 47 Von Beginn der Entstehung an war damit zu klären, welche politischen Forderungen ein solcher Zusammenschluß von Frauen verfolgen sollte. D a nicht alle Frauenverbände sich den Zielen der Frauenbewegung 45
Schreiben Magdalene von Tilings an den Arbeitsausschuß der Vereinigung Evangelischer Frauenverbände vom 23.11.1918 (ADEF HANNOVER, G 2 d 1). 46 An Magdalene von Tiling am 10.12.1918 (ADEF HANNOVER, G 2 d 1). 17 Zur Entstehung und Geschichte der Vereinigung vgl. DORIS KAUFMANN, Frauen zwischen Aufbruch und Reaktion; URSULA BAUMANN, Protestantismus und Frauenemanzipation. Vgl. auch die kommentierte Quellenedition von JOCHEN-CHRISTOPH KAISER, Frauen in der Kirche; EVANGELISCHE FRAUENARBEIT IN DEUTSCHLAND E.V. (Hg.), Vereinigung Evangelischer Frauenverbände Deutschlands.
Politikerin in der Weimarer Republik
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verpflichtet fühlten, war ein Konsens über die von Magdalene von Tiling zunächst vorgeschlagene Frauenpartei kaum zu erreichen. Dagegen schien ein Anschluß der VEFD an die D N V P sinnvoll, da die D N V P die christlichen Anliegen stärker betonte und auch die evangelischen Frauen diese berücksichtigt sehen wollten. Im Dezember 1918 beteiligte sich Magdalene von Tiling schließlich an der Gründung der Ortsgruppe der D N V P in Elberfeld. 48 Die D N V P mit ihrer monarchistischen und antisemitischen Ausrichtung galt als Garantin christlicher Werte und zählte prominente Mitglieder des konservativen Protestantismus zu ihren Abgeordneten. Magdalene von Tiling wurde zunächst zur Stadtverordneten in Elberfeld gewählt und zog im Jahr 1921 als Abgeordnete der D N V P in den preußischen Landtag ein. Sie ging nach Berlin und wurde Politikerin. Ihr Engagement galt weiterhin theologischen und pädagogischen Fragestellungen, die sie zunehmend zu einem umfassenden gesellschaftspolitischen Programm ausgestaltete. Als Mitglied des Präsidiums des Evangelischen Reichsausschusses der D N V P und in ihrer Funktion als Mitglied des Evangelischen Reichserziehungsausschusses der Inneren Mission setzte sie sich in der Diskussion um das Reichsschulgesetz für die Interessen der Bekenntnisschule ein, da die Weimarer Reichsverfassung die chrisdiche Simultanschule mit Religion als Pflichtfach zur Regelschule bestimmt hatte. Der Religionsunterricht sollte in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt werden, nähere Bestimmungen sollten der Ländergesetzgebung überlassen bleiben. So beteiligte sich Magdalene von Tiling während der gesamten Weimarer Republik an den drei großen Entwürfen von 1921, 1925 und 1927 zum Reichsschulgesetz.49 Seit 1921 war sie zudem Mitglied im Reichsfrauenausschuß der DNVP. Im selben Jahr trat sie in den Arbeitsausschuß der Vereinigung Evangelischer Frauenverbände Deutschlands ein und avancierte im September 1923 zur Ersten Vorsitzenden. Mit 27 Frauenverbänden und fast 2 Millionen Mitgliedern stellte die Vereinigung den größten Zusammenschluß von Frauen in der Weimarer Republik dar. Die Arbeit Magdalene von Tilings bestand in einer regen Vortragstätigkeit innerhalb der verschiedenen angeschlossenen Verbände und von 1923 bis Ende 1935 in der Herausgabe des Verbandsorgans. 50
48 49
Lebenslauf [1926] (LKA HANNOVER, N 127/2). Zur Auseinandersetzung vgl. GÜNTER GRÜNTHAL, Reichsschulgesetz und Zentrumspar-
tei. 50 Organ war das „Nachrichtenblatt der Vereinigung Evangelischer Frauenverbände Deutschlands", ab 1926 umbenannt in „Monatsblatt der Vereinigung Evangelischer Frauenverbände Deutschlands" und 1930 in „Aufgaben und Ziele. Monatsblatt der Vereinigung Evangelischer Frauenverbände Deutschlands".
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Zunehmend programmatisch arbeitete von Tiling das Konzept einer evangelischen Frauenbewegung aus. Sie strebte das Engagement aller dem Politischen ablehnend gegenüberstehenden Frauen des konservativen Protestantismus an und rief zu einer „Einheitsfront" aller evangelischen Frauen auf.51 Die Politisierung der Frauen sollte ein verstärktes christliches Engagement in Volk und Staat aus evangelischem Bewußtsein hervorbringen. In Rückbesinnung auf ihr von Gott mit der Schöpfung gegebenes Sein sollte die Frau ihre Rolle in Volk und Staat finden. In das Jahr 1925 fällt die Begegnung Magdalene von Tilings mit dem Theologen Friedrich Gogarten. 52 Es entstand nicht nur eine lebenslange Freundschaft mit der Familie Gogarten, sondern auch eine intensive Arbeitsgemeinschaft mit Friedrich Gogarten in den Grenzbereichen von Theologie und Pädagogik. Gogarten wurde zum ständigen Mitarbeiter der Zeitschrift „Schule und Evangelium" und hielt regelmäßig Vorträge auf den Tagungen des Verbandes evangelischer Religionslehrerinnen. Zudem war er im Rahmen der Zeitschrift „Schule und Evangelium" in den pädagogisch-theologischen Arbeitskreis eingebunden, der Ende der 20er Jahre unter dem Namen Arbeitsbund für wissenschaftliche Pädagogik auf reformatorischer Grundlage an einem ordnungstheologisch ausgerichteten Erziehungskonzept arbeitete. Man wird den Einfluß, den Gogarten in unmittelbarer Weise auf die Ausbildung der Religionslehrerinnen, auf die Religionspädagogik der 20er Jahre und allgemein auf die Erziehung an evangelischen Schulen überhaupt ausübte, nicht hoch genug veranschlagen können. Andererseits ist der Einfluß von Tilings auf die Theologie Gogartens bislang unterschätzt worden, denn vermutlich hat Gogarten mit keinem Theologen einen so intensiven theologischen Austausch geführt wie mit Magdalene von Tiling.53 Sie stellte ihm nicht nur die institutionellen Rahmenbedingungen zur Verfügung, sondern trieb sowohl den Austausch als auch die Rezeption seiner Arbeit voran und nahm Einfluß auf die Politisierung seiner Theologie. Am 29. September 1926 erhielt Magdalene von Tiling auf Anregung von Oberkonsistorialrat Scholz und durch den Einsatz des Theologieprofessors Friedrich Brunstäd die Ehrendoktorwürde der theologischen Fakultät der Universität Rostock. 54 Magdalene von Tiling hatte seit Anfang der 20er Jahre eine reiche publizistische Tätigkeit entfaltet und eine große Anzahl an Aufsätzen
51
MAGDALENE VON TILING, Einheitsfront evangelischer Frauen, S. 1. 1925 war Friedrich Gogarten Pfarrer in D o m d o r f / S a a l e und zugleich Privatdozent für Systematische Theologie in Jena. 53 So FRIEDRICH BRANDI-HINRICHS, Von der personalen zur politischen Theologie, S. 240. 54 Vgl. das Schreiben Friedrich Brunstäds an Magdalene von Tiling vom 22.9. und 24.10.1926 (LKA HANNOVER, N 127/4). 52
Politikerin in der Weimarer Republik
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verfaßt: zum einen Beiträge zu aktuellen schulpolitischen und gesellschaftspolitischen Ereignissen wie der Mädchenschulreform oder Stellungnahmen zu Gesetzesentwürfen wie dem Reichsschulgesetz; zum anderen Beiträge zu unterschiedlichen pädagogischen und theologischen Fragen. Zudem entwarf sie in dieser Zeit eine schöpfungstheologisch begründete Neukonzeption der Geschlechterverhältnisse im Protestantismus, die sich sowohl auf ihre Entwürfe zur Mädchenerziehung auswirkte als auch auf die Debatte um den Religionsunterricht. Seit Beginn ihrer Tätigkeit als Vorsitzende der VEFD hatte sie mit Vehemenz daran gearbeitet, gerade die Frauen des konservativen Protestantismus zu motivieren, ihre Interessen gemeinsam zu vertreten, indem sie die besondere Rolle evangelischer Frauen bei der Rettung von Volk und Staat hervorhob. 55 Seit 1925 läßt sich ein Perspektivenwechsel in ihren Schriften nachweisen: Ihre Analyse über die neue Rolle der Frau (in der Volksgemeinschaft) wird abgelöst durch eine Reflexion über die Beziehung der Geschlechter. Das kommt nicht von ungefähr. Seit Beginn der zwanziger Jahre hatte Magdalene von Tiling auf den Tagungen der Religionslehrerinnen die theologischen Entwürfe und Fragestellungen der dialektischen Theologie und der Lutherrenaissance zum Thema gemacht. Mit den Kenntnissen der zeitgenössischen theologischen Diskussion trat sie dann im Jahr 1925 mit einer eigenen theologischen Fundierung des Geschlechterverhältnisses an die Öffentlichkeit. Sie verband in ihrer Theologie der Geschlechterbeziehungen die neulutherische Schöpfungsordnungstheologie mit Ansätzen der personalen Theologie Friedrich Gogartens. Sie entwarf ein Modell, das sich wesentlich von dem unterschied, was im Protestantismus bisher galt und gerade durch die Theologie der Schöpfungsordnung gestützt wurde: nämlich von dem hierarchischen Modell das nach traditioneller Auslegung von 1 Korinther 11 und Epheser 5 die Unterordnung der Frau unter den Mann zementierte. Auch im Rahmen der Verständigung über den Religionsunterricht wurde Magdalene von Tiling in den zwanziger Jahre zu einer Hauptexponentin einer neuen pädagogischen Richtung. Seit Beginn der Weimarer Republik war sie eine Hauptverfechterin der Bekenntnisschulen. Sie beteiligt sich an den schulpolitischen Debatten um die Richtlinien des Religionsunterrichts in Preußen als Abgeordnete der D N V P und Mitglied des Vorstandes des Evangelischen Reichsausschusses der DNVP. Sie plädierte für einen evangelischen Religionsunterricht als „biblisch-christliche Erziehung zur Gesundung des deutschen Volkes"56. Mitte der zwanziger Jahre läßt sich durch 55 Vgl. MAGDALENE VON TILING, Evangelische Frauenlosung, S. 1; Einheitsfront evangelischer Frauen, S. 1; Evangelische Frauenbewegung; Die neue Stellung der Frau in der Volksgemeinschaft. 56 MAGDALENE VON TILING, E r z i e h u n g zu kirchlichem Bewußtsein, S. 13.
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Zur Biographie Magdalene von Tilings 1877-1974
die Bekanntschaft mit Gogarten eine Auseinandersetzung mit der dialektische Theologie nachweisen: Hauptpunkt der theologischen Kritik war die aus der Aufklärung stammende anthropologisch-philosophische Idee der „Autonomie" des Menschen. Neben dem Religionsunterricht wurde das Ganze der Erziehung neu thematisiert. Dies geschah in Form einer radikalen Abrechnung mit der vorausgegangenen Epoche und durch eine positive Neufassung. 57 1926 wurde von Tiling Mitbegründerin der Evangelischen Schulvereinigung, in deren Ausschuß sie bis 1930 tätig war. Das Gremium verfolgte das Ziel, evangelische Privatschulen und deren Belange gegenüber Behörden und öffentlichen Körperschaften zu unterstützen. Nach einigen Querelen um die weitere Programmatik löste sich der Verband evangelischer Religionslehrerinnen von der Evangelischen Schulvereinigung. Magdalene von Tiling gründet 1931 einen neuen Fachverband mit dem Namen Verband für evangelischen Religionsunterricht und Pädagogik, was darauf hindeutet, daß neben der Beschäftigung mit dem Religionsunterricht Fragen der allgemeinen Pädagogik in den Mittelpunkt ihres Interesses rückten. Zugleich und dem Verband angegliedert entstand der Arbeitsbund für Pädagogik auf reformatorischer Grundlage, womit das pädagogische Programm Magdalene von Tilings Ende der Weimarer Republik benannt ist: Es ging um eine neue Grundlegung der gesamten Pädagogik aus lutherisch-reformatorischer Sicht. Ende der zwanziger Jahre rückte das politische Engagement Magdalene von Tilings in der D N V P immer stärker in den Mittelpunkt. Bereits in ihrer Funktion als Abgeordnete der D N V P im Preußischen Landtag schloß sie sich 1928 dem rechten Flügel der Partei um Alfred Hugenberg an. In ihren zahlreichen Reden auf Veranstaltungen der VEFD sowie im Bereich der Schulpolitik und auf Parteitagen stellte sie ihre Uberzeugung einer von der lutherischen Ordnungstheologie geprägten Gesellschaftstheorie vor, die dem in ihren Augen durch die Demokratie der Weimarer Republik hervorgerufenen Auseinanderdriften der Gesellschaft wieder Zusammengehörigkeit und Verbindlichkeit geben sollte. 1930 gelang ihr schließlich der Sprung in den Reichstag. Sie war mit Paula Mueller-Otfried und Annagrete Lehmann eine der drei weiblichen Reichstagsabgeordneten ihrer Partei. Entscheidende Beschlüsse im Sinne einer für Frauen förderlichen Politik waren allerdings in dieser Phase der Weimarer Republik kaum mehr durchzusetzen, da bereits seit 1930 mit Hilfe von Notverordnungen regiert wurde und damit entscheidende Spielregeln der Demokratie außer Kraft gesetzt waren. Magdalene von Tiling widmete sich in dieser Zeit besonders der Ausformulierung ihrer Staatstheorie. Ihre Position gegenüber der De-
57
Zur Debatte in der Religionspädagogik der Weimarer Republik vgl. KARL ERNST
N I P K O W / F R I E D R I C H SCHWEITZER,
Religionspädagogik.
Zwischen Anpassung und Ablehnung: Die Zeit des NS
43
mokratie blieb schillernd. Mit dem Entschluß, sich der um Alfred Hugenberg versammelten Gruppierung zuzurechnen, ist auch die Tendenz festzustellen, den Anschluß der D N V P an die NSDAP zu unterstützen. Diese Tendenz zeigt sich auch in den Briefen an Gogarten, in denen sie die Integration der NSDAP-Anhänger in die verfaßte Kirche favorisierte. So ist zunächst für das Ende der Weimarer Republik ein ambivalentes Verhältnis zur nationalsozialistischen Bewegung festzustellen, mit der sie die Ablehnung der Demokratie und den Wunsch nach Herstellung einer festen Ordnung teilte, deren Ablehnung von Kirche und Christentum sie jedoch mißbilligte.
D. Zwischen
Anpassung
und Ablehnung:
Die Zeit des
Nationalsozialismus
Das Interesse und die Kompromißbereitschaft, die Magdalene von Tiling zu Beginn dem nationalsozialistischen Staat entgegenbrachte, speiste sich aus der Hoffnung, daß der neue Staat das durch die Weimarer Republik brüchig gewordene Ordnungsgefüge wiederherstellen werde. Doch allmählich wuchs ihre Skepsis: Sie verlor alsbald die herausragende politische Position als Abgeordnete im Reichstag; ab Sommer 1933 wurde sie mit Bezügen beurlaubt. Als am 16. Juli 1933 das Frauenwerk der Deutschen Evangelischen Kirche gegründet wurde, das die Vereinigung Evangelischer Frauenverbände ablösen und die gesamte evangelische Frauenarbeit in vier bzw. fünf „Säulen" zusammenfassen sollte, verlor von Tiling ihren langjährigen Vorsitz im Dachverband der evangelischen Frauenbewegung. Sie erhielt lediglich die Zuständigkeit für die Arbeitsgruppe III: Erziehungsund Bildungsarbeit. Nach der erneuten Umstrukturierung zugunsten einer Zweiteilung in „gemeindliche und gesamtkirchliche Arbeit" verlor sie zudem im August 1934 ihr Amt im inneren Führungskreis des Frauenwerkes.58 Im Dezember 1935 endete ihre Herausgeberschaft der Zeitschrift Aufgaben und Ziele. 1934 nahm sie ihre seit 1921 ruhende Tätigkeit als Studienrätin wieder auf. Sie unterrichtete an der staatlichen Augusta-Schule in Berlin und war Leiterin der Hochschule für die Frau, einer Abteilung der Lessing-Hochschule in Berlin. Wegen ihrer regen Vortragstätigkeit erhielt sie vom Unterrichtsministerium einen Stundenerlaß von zwölf Stunden wöchentlich.59 Im Herbst 1938 trat Magdalene von Tiling auf eigenen Antrag in den Ruhestand. Bis zu seiner erzwungenen Auflösung im August 1939 war sie weiterhin Vorsitzende des Verbandes für evangelischen Religions58
Zur Entstehung des Evangelischen Frauenwerks der Deutschen Evangelischen Kirche
vgl. J O C H E N - C H R I S T O P H KAISER, F r a u e n w e r k , S. 1 8 9 - 2 1 1 . w
Vgl. das Schreiben Magdalene von Tilings an das Reichs- und Preußische Ministerium
für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung am 9.3.1935 ( L K A HANNOVER, N 1 2 7 / 5 ) .
44
Zur Biographie Magdalene von Tilings
1877-1974
Unterricht und Pädagogik. 1941 wurde schließlich auch die Zeitschrift des Verbandes eingestellt. Trotz der anfänglichen Kooperationsbereitschaft wurde Magdalene von Tiling kein Parteimitglied. Kirchenpolitisch schloß sie sich weder der Bekennenden Kirche noch den Deutschen Christen an. Scheinbar unabhängig vom Nationalsozialismus, so vermutet Friedrich Schweitzer 60 , beschäftigte sich von Tiling in der NS-Zeit mit den „Altersstufen im menschlichen Leben", die sie dann in den fünfziger Jahren zu einem breit angelegten Entwurf einer „Pädagogik der Altersstufen" ausarbeitete. D a die nationalsozialistische Ideologie in jeglicher Hinsicht eine hierarchische Trennung verfolgte, sei es im Blick auf Rasse, Klasse oder Geschlecht, und auch die Generationen voneinander lösen wollte, kann die Beschäftigung mit den Altersstufen, die sie als nunmehr knapp 60jährige vornimmt, als eine Auseinandersetzung mit dieser Ideologie interpretiert werden: Auch die Altersstufen bezeichnete sie als Schöpfungsordnungen, die zu der vom Schöpfer gegebenen Existenz gehörten. Jeder Altersstufe gebühre ihre Anerkennung und Ehre. Diese wurde von der nationalsozialistischen Jugendideologie verweigert.
E. Engagement in den Jahren der Bundesrepublik Nach 1945 nahm Magdalene von Tiling ihre theologische und pädagogische Arbeit mit scheinbar ungebrochener Energie wieder auf. Von 1945 bis Mitte der fünfziger Jahre war sie als Dozentin an verschiedenen Ausbildungseinrichtungen des Johannesstifts in Spandau tätig: 1946 bis 1956 an der Schwesternhochschule des Zehlendorfer Verbandes in Berlin, von Oktober 1946 bis 1952 an der sozialen Frauenschule der Inneren Mission in Berlin und später in der Katechetenausbildung der Berliner Kirche. In dieser Zeit entstanden vier weitere Schriften, in denen sie ihre Pädagogik der Altersstufen weiterentwickelte und neben dem „Verhältnis der Geschlechter" die „Ordnung der Generationen" weiter ausarbeitete. Die Trennung von Staat und Kirche in der D D R verhinderte, die Tradition des evangelischen Religionsunterricht in den Schulen fortzusetzen. Als Reaktion darauf richteten die Kirchen ihren eigenen Unterricht in den Gemeinden ein. Damit war die Frage nach einer Neukonzeptionierung inhaltlicher wie methodischer Art gestellt. In den fünfziger Jahren beteiligte sich von Tiling gemeinsam mit Oberkirchenrat Oskar Ziegner an der Ausarbeitung der Lehrpläne für eine „Christenlehre". 61 Am 11. April 1957 erhielt sie das große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bun60
V g l . FRIEDRICH SCHWEITZER, D i e R e l i g i o n d e s K i n d e s , S. 3 1 3 .
" Vgl. dazu PLRKKO LEHTIÖ, Religionsunterricht ohne Schule; DIETER REIHER, Kirchlicher Unterricht in der DDR.
Engagement in den Jahren der Bundesrepublik
45
desrepublik Deutschland. In den sechziger Jahren engagierte sie sich für die Errichtung eines Heimes für behinderte Kinder in Wilmersdorf. Eine „sehr bestimmende, sachlich leidenschaftlich interessierte, schlagfertige, Unruhe verbreitende Frau, doch auch gütig, für andere Menschen aufgeschlossen und hilfsbereit, als Baltin stark mit ihrer Familie verbunden, viel von anderen Menschen fordernd" 62 , so charakterisiert Marianne Bultmann, die Tochter Margarethe und Friedrich Gogartens, die Religionspädagogin, Theologin und Politikerin, die seit Mitte der zwanziger Jahre bis zum Tode Friedrich Gogartens in den sechziger Jahren engen Kontakt zur Familie Gogarten gehalten hatte. Magdalene von Tiling, wie viele Lehrerinnen ihrer Generation unverheiratet, war ihrer eigenen Familie und der Gogartens stets sehr verbunden. Sie lebte die meiste Zeit mit einer ihrer Schwestern zusammen und hatte mehrere Patentöchter, die zeitweilig in ihrem Haus Aufenthalt fanden und die sie in den vielfältigen Arbeitsbereichen unterstützten. Am 28. Februar 1974 starb Magdalene von Tiling im Alter von 96 Jahren in München.
62
Marianne Bultmann an Gury Schneider-Ludorff vom 19.11.1996.
KAPITEL II M A G D A L E N E V O N TILING U N D DIE „POLITISIERUNG" D E R E V A N G E L I S C H E N FRAUENBEWEGUNG 1918-1925 Die Jahre der Weimarer Republik zählen zu den ereignisreichsten und aktivsten im Leben Magdalene von Tilings. In dieser Zeit entstanden ihre wichtigsten eigenständigen Abhandlungen auf dem Gebiet der Theologie und der Pädagogik. Ihre theoretische und politische Arbeit war von ihrer Krisenwahrnehmung des Berlin der zwanziger Jahre geprägt und kann somit als eine Antwort auf die gesellschaftlichen Umbrüche verstanden werden. Angesichts der neuen politischen und gesellschaftlichen Situation entspann sich in Theologie und Humanwissenschaften ein Diskurs um Moderne und Demokratie, an dem sich Magdalene von Tiling zunehmend beteiligte. Axel Honneth hat für die Sozialphilosophie der zwanziger Jahre aufgezeigt, daß es sich bei der Debatte über die gesellschaftliche Orientierung um ein „zeitdiagnostisch angelegtes Deutungsunternehmen" handelte, dem stets eine bestimmte Krisenwahrnehmung zugrundelag. 1 Damit konvergiert die These Honneths mit Einsichten, die auch Kurt Nowak und Friedrich Wilhelm Graf für die Theologie dieser Zeit aufgeführt haben: daß nämlich die Wahrnehmung der Zeit als Krise zentral für das Verständnis theologischer Entwürfe war. 2 Graf hat in seiner Untersuchung zu Gogarten herausgearbeitet, daß es sich bei dessen Kulturkritik in keiner Weise um ein politisch festzulegendes rechtes oder linkes Projekt handelt, sondern diese bei zahlreichen Intellektuellen unterschiedlicher Couleur der zwanziger Jahre feststellbar ist; bei Walter Benjamin ebenso wie bei Ernst Bloch, Otto Piper oder Paul Tillich.3 In ähnlicher Weise Honneth dies für die Philosophin Hannah Arendt sowie für die Philosophen Georg Lukäcs und Helmuth Plessner herausgestellt, was zeigt, daß die Krisenwahrnehmung der Autorinnen und Autoren der zwanziger Jahre als Dreh- und Angelpunkt für die Herausbildung gesellschaftlicher Lösungsmodelle angesehen werden muß. Stets handelte es sich hierbei um die „Kritik eines gesellschaftlichen Zustandes, der als entfremdet oder sinnlos, verdinglicht oder gar krank empfunden wird" 4 . Aus dieser Krisenwahrnehmung folgten 1
Vgl. die instruktive Darstellung von AXEL HONNETH, Pathologien des Sozialen, S. 9-69.
2
V g l . K U R T NOWAK, D i e „ a n t i h i s t o r i s t i s c h e R e v o l u t i o n " ,
S. 1 3 3 - 1 7 1 ; FRIEDRICH W I L -
HELM GRAP, Friedrich Gogartens Deutung der Moderne, S. 169-230. 3 EBD., S. 178. 4
AXEL H O N N E T H , P a t h o l o g i e n d e s S o z i a l e n , S. 4 9 .
Krisenwahrnehmung und Krisenbewältigung
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im Laufe der Weimarer Republik unterschiedliche politische Entwürfe, die eine Antwort auf die Frage nach den sozialen Bedingungen darstellten, die den Menschen ein „volleres, besseres, kurz: ein gelingendes Leben ermöglichen" sollten.5 Wenn auch eine Ubereinstimmung darin bestand, daß die gesellschaftliche Situation als Krise wahrgenommen wurde, so läßt sich doch bei allen Autorinnen und Autoren ein krisenresistentes Wissen nachweisen, das sowohl der Krisenwahrnehmung als auch dem jeweiligen Lösungsansatz zugrundelag. 6 Untersucht man die theologischen Entwürfe von Tilings und ihr gesellschaftspolitisches Engagement in der Weimarer Republik aus dieser Perspektive, wird deutlich, daß sie mit ihrer Theologie der Geschlechterbeziehungen einen eigenständigen Beitrag zu einer geschlechtersensibilisierten Gesellschaftstheorie lieferte. Um dies zu verdeutlichen, wird im folgenden zunächst der Krisenwahrnehmung von Tilings in der Weimarer Republik nachgehen, um herauszustellen, welche gesellschaftlichen Gegebenheiten sie als problematisch diagnostizierte und welche Lösungsansätze sie anstrebte. Hierbei wird ebenso nach der Bedeutung des Traditionsbestandes, aus dessen Ressourcen sich das krisenresistente Wissen über eine Vorstellung vom gelingenden Leben speiste, wie auch nach den gesellschaftlichen Trägergruppen gefragt werden, die nach Meinung von Tilings die Lösungen herbeiführen sollten. Daraus kann das Selbstverständnis von Tilings erschlossen werden, das die Motivation für ihre theoretischen Entwürfe und ihr gesellschaftliches Handeln bot. Auf diesem Hintergrund wird sodann den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen bis zur Mitte der zwanziger Jahre und den für von Tiling zentralen Handlungsspielräumen in Kirche, Schul- und Parteipolitik sowie als Protagonistin der evangelischen Frauenbewegung nachgegangen.
A. Krisenwahrnehmung und Krisenbewältigung: Zur Zeitdiagnose Magdalene von Tilings in der Weimarer Republik Wie viele der prägenden Persönlichkeiten der Weimarer Republik konnte die in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts geborene, nach der Jahrhundertwende in verantwortliche Positionen gerückte Magdalene von Tiling bei Ausrufung der Republik auf gut 40 Jahre Lebenserfahrung im Kaiserreich zurückblicken. Fragt man danach, wann und unter welchen Bedingungen die in der Weimarer Republik Verantwortlichen ihre politische, gesellschaftliche und theologische Erfahrung gemacht haben und 5
EBD., S. 52. Ich entnehme die drei Kategorien den Ausführungen von THOMAS HOERSCHELMANN, Theologische Ethik, S. 61-83. 6
48
Die „Politisierung" der evangelischen Frauenbewegung 1918-1925
wann und unter welchen Bedingungen sie selbst dazu übergingen, Politik, Gesellschaft und Theologie mitzugestalten, kann für von Tiling zunächst folgendes festgehalten werden: 7 Zum einen läßt sich eine erste politische Prägung durch die Situation als Angehörige der deutschen Führungsschicht im Baltikum nachzeichnen, deren Identität auf einer ständisch strukturierten Gesellschaft basierte, deren Hierarchien und Anerkennungsverhältnisse klar definiert und unhinterfragt waren. Das nationale Selbstverständnis verband Deutschtum eng mit einer lutherisch-konfessionellen Kirchlichkeit, die nicht mit dem monarchischen Staat identifiziert war, ihm aber loyal gegenüberstand. Das theologische Erbe Magdalene von Tilings läßt sich daher nicht trennen von der besonderen Ausprägung der deutsch-baltischen Tradition des konservativ-kirchlichen Luthertums, das Schrift und Bekenntnisse hochschätzte und die eigene subjektive Heilserfahrung betonte. Dieses vertiefte und modifizierte sich bei von Tiling durch ihre Schulzeit im Kloster Marienberg, wo sie von Neuendettelsauer Diakonissen in der Tradition Wilhelm Löhes erzogen wurde sowie in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts durch den Einfluß Hermann Bezzels und das eigene Studium der Theologie Luthers. Prägend waren weiterhin die Diskurse der Frauenbewegung, die seit den 90er Jahren Eingang in kirchliche Kreise fanden, zur Gründung der ersten evangelischen Frauenvereine führten und in denen Engagement für die Bildungs- und Berufsmöglichkeiten von Frauen gefordert wurde. 8 Aus diesen Lebensphasen und Ereignissen speiste sich das krisenresistente Wissen von Tilings, das in den zwanziger Jahren angesichts gesellschaftlicher und politischer Veränderungen seine Modifikation und Konkretion erfahren sollte. Die neue Verfassung von 1919 galt bei der Mehrheit des deutschen Protestantismus als Dokument westlich-liberalen Denkens und als Diktat der Sieger von Versailles.9 Die Sicherung individueller Einzelrechte wurde 7 DETLEV J. K. PEUKERT hat überzeugend vertreten, daß die Beachtung der jeweiligen biographischen Prägung der in der Weimarer Republik verantwortlichen Persönlichkeiten weitergehende Zusammenhänge des gesellschaftlichen Denkens und Handelns erschließt. Er unterscheidet vier politische Generationen in der Weimarer Republik: erstens die wilhelminische Generation, Altersgenossen von Wilhelm II., zweitens die Gründergeneration, drittens die Frontgeneration der in den achtziger und neunziger Jahren Geborenen und viertens die im mehrfachen Sinne „überflüssige" Generation der seit 1900 Geborenen. Peukert weist der im Gründerjahrzehnt geborenen Generation, der ja auch Magdalene von Tiling zugehört, den größten Einfluß zu (Weimarer Republik, S. 25 ff.). 8
V g l . URSULA BAUMANN, P r o t e s t a n t i s m u s u n d
9
Zur Geschichte der Weimarer Republik vgl. neben den beiden ausführlichen Werken
Frauenemanzipation.
v o n FIANS M O M M S E N , D i e v e r s p i e l t e F r e i h e i t ; u n d H E I N R I C H AUGUST WINKLER,
Weimar;
auch EBERHARD KOLB, Weimarer Republik, der zugleich einen sehr guten Forschungsüberblick liefert, sowie die kurze, überzeugende Darstellung von DETLEV J. K. PEUKERT, Weimarer Republik. Weiterhin den Sammelband von KARL DIETRICH BRACHER/MANFRED FUNKE/HANS-ADOLF JACOBSEN, Republik von Weimar; zur Situation des Protestantismus vgl.
Krisenwahrnehmung und Krisenbewältigung
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angesichts einer zunehmend pluralistischen Gesellschaft als antiquiert abgelehnt und statt dessen ein starker Staat gefordert. Zugleich brachte die Weimarer Reichsverfassung für den Protestantismus die Trennung von Kirche und Staat und damit das Ende des seit der Reformation geltenden Bündnisses von Thron und Altar. Diese Trennung wurde als Einflußeinbuße erfahren, die Situation allseits mit dem Wort der „Krise" belegt.10 Im Blick auf die Ablehnung der neuen politischen Ordnung gab es einen breiten Konsens, und in das Lamento über die Situation stimmten zunächst auch die Vertreterinnen der evangelischen Frauenverbände ein.11 Jedoch wurden sie bald gewahr, welche Vorteile die neue Verfassung gerade für Frauen brachte. So garantierten die Artikel 109, 119 und 128 der Weimarer Reichsverfassung zumindest formal die Gleichberechtigung von Mann und Frau, und seit 1918 galt zum ersten Mal in der deutschen Geschichte das aktive und passive Wahlrecht auch für Frauen.12 Trotz der offiziellen Ablehnung dieser neuen politischen Rechte ist von Beginn an bei von Tiling wie auch bei vielen Frauen des konservativen Protestantismus ein außerordentlich reges gesellschaftspolitisches Engagement zu beobachten. 13 Zugleich fällt auf, daß die meisten der programmatischen Artikel und Schriften von Tilings aus den zwanziger Jahren mit einer Zeitdiagnose beginnen. Auf welche gesellschaftlichen Probleme wollte sie eine Lösung finden, was war ihre Zeitdiagnose? Zu Beginn der Weimarer Republik, in einer Zeit der galoppierenden Inflation, der Besetzung des Ruhrgebiets, von Unruhen und steigender Arbeitslosigkeit, schrieb sie in ihrer 1923 veröffentlichten Schrift „Erziehung zu kirchlichem Bewußtsein und kirchlicher Gemeinschaft": „Seit den Tagen des Krieges und der Revolution hat in unserem deutschen Volke bei vielen ein P r o z e ß ernster Selbstbesinnung eingesetzt. ( . . . ) D e m
ANDREAS LINDT,
Zeitalter des Totalitarismus;
K U R T NOWAK,
Evangelische
Kirche
und
Weimarer Republik; RICHARD ZLEGF.RT, Kirchen und die Weimarer Republik; und KURT NOWAK, Geschichte des Christentums. 10
MARTIN G R E S C H A T / J O C H E N - C H R I S T O P H KAISER, C h r i s t e n t u m u n d D e m o k r a t i e ;
FRED JACOBS, R e l i g i o n u n d P a r t e i , S. 6 9 - 1 0 4 ; KLAUS TANNER, P r o t e s t a n t i s c h e
MAN-
Demokratie-
kritik, S. 23-68. 11 Zur Ablehnung der Demokratie und des Wahlrechts der Frauen vgl. DORIS KAUFMANN, Frauen zwischen Aufbruch und Reaktion, S. 43 ff.; URSULA BAUMANN, Protestantismus und Frauenemanzipation, S. 244-296. Vgl. auch die Aufrufe in den Nachrichtenblättem der Frauenvereine, z. B. im Organ des Deutsch-Evangelischen Frauenbundes, der Evangelischen Frauenzeitung 21, 1920, Dezember, S. 1. Hier wird betont, daß die politische Verantwortung eine Last sei, gleichzeitig aber als Pflicht der evangelischen Frauen wahrgenommen werden müsse. 12 Zur Situation von Frauen in der Weimarer Republik vgl. UTE FREVERT, Frauen-Ges c h i c h t e ; RITA THALMANN, F r a u s e i n i m D r i t t e n R e i c h , S. 1 7 - 7 2 ; ANKE M Ü C K E ,
Lebenssi-
tuation von Frauen, S. 71-108. 13 Vgl. dazu URSULA BAUMANN, Protestantismus und Frauenemanzipation, S. 258 ff.
50
Die „Politisierung" der evangelischen Frauenbewegung 1918-1925 Individualismus, der Vereinzelung der Menschen, der Wurzellosigkeit des inneren Lebens gegenüber suchen wir wieder nach einem Leben aus der Tiefe, nach wahrhaft innerer Lebendigkeit. ( . . . ) Wir erkennen heute, daß ein Leben aus der Tiefe nur da gelebt wird, daß Persönlichkeiten wahrhaft nur da werden, wo der Mensch eingewurzelt ist in die Gemeinschaft. ( . . . ) Die ursprünglich gottgegebenen Gemeinschaften der Menschen gilt es deshalb heute wieder lebendig zu machen. Auf sie hin wollen wir unsere Kinder erziehen."14
Magdalene von Tiling diagnostizierte einen Verlust von Gemeinschaft, von Zugehörigkeiten und Verbindlichkeiten. Gegner ist der „Individualismus", also die Betonung des Einzelnen und seiner Rechte vor der Gemeinschaft, was durch die neue demokratische Staatsform unterstützt wurde und zugleich zur Konkurrenz verschiedener Meinungen und Werte führte. Was hier als eine innerpersönliche Selbstbesinnung des christlichen Menschen dargestellt wird, ist zugleich eine Interpretation der gesellschaftlichen Verhältnisse, denen das vernichtende Urteil zukommt, „innerer Lebendigkeit" zu mangeln, also starr oder tot zu sein. Die Lösung sah von Tiling in der Herstellung der ursprünglich gottgegebenen Gemeinschaften, die somit als Gegensatz zu der aktuellen zeitgenössischen Demokratie expliziert werden sollten. Der von Menschen - besonders von der im Protestantismus verhaßten Sozialdemokratie - entworfenen staatlichen Ordnung der Republik wurde eine ursprüngliche, also vorzeitliche göttliche Ordnung entgegengestellt. Diese galt es, nach von Tiling, wiederzuentdecken. Ahnlich klang die Diagnose in der sich politisch und wirtschaftlich stabilisierenden Phase der Weimarer Republik zwischen 1924 und 1928. Die 1924 erschienene Schrift „Evangelische Frauenbewegung" sah gar den Zusammenbruch des Volkes und neben dem Verlust von Gemeinschaft eine Verschiebung der „Rangordnung der Werte". Besondere Unsicherheit konstatierte Magdalene von Tiling im Blick auf das Verhältnis von Männern und Frauen. So formulierte sie 1925 in ihrer Schrift „Die neue Stellung der Frau in der Volksgemeinschaft": „Als wir zur Erkenntnis kamen, daß die Volksgemeinschaft uns verloren gegangen ist, da sahen wir zunächst nur die Kreuz- und Querrisse, die Stände und Klassen und Parteien voneinander trennten. Erst allmählich haben wir einsehen gelernt, daß ein Riß, trotz mancher noch vorhandener glücklicher Ehen, auch die Geschlechter voneinander trennt, daß Volksgemeinschaft auch darum uns fehlt, weil ein Gegensatz zwischen den Geschlechtern vorhanden ist, weil die tiefste Anerkennung und Ehrerbietung zwischen den Geschlechtern fehlt."15
Die Zerrissenheit der sozialen Beziehungen, die von Tiling hier als ein Auseinanderdriften der unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen wahr14 15
MAGDALENE VON TILING, Erziehung zu kirchlichem Bewußtsein, S. 8. MAGDALENE VON TILING, Die neue Stellung der Frau in der Volksgemeinschaft, S. 6.
Krisenwahrnehmung und Krisenbewältigung
51
nahm, wirkte sich ihrer Meinung nach auf die Beziehung der Geschlechter aus und war zugleich deren Grundlage. Die mit der Weimarer Verfassung festgeschriebene formale Gleichberechtigung und das 1918 eingeführte Frauenwahlrecht hatten die Diskussion um die Rolle der Frau nicht beendet, sondern gerade in konservativen protestantischen Kreisen zu einer breiten Debatte geführt, an der sich Magdalene von Tiling seit 1919 zunehmend programmatisch beteiligte. Auch der Beamtenabbau 1924 und die Diskussion um das Lehrerinnenzölibat betrafen besonders die weiblichen Beamten.16 Trägt die Auseinandersetzung mit der neuen demokratischen Gesellschaftsordnung besonders während der Jahre der wirtschaftlichen Stabilisierung 1924 bis 1928 zwar antidemokratische und polemische Züge, so spiegeln die Schriften Magdalene von Tilings doch eine Aufbruchstimmung und die Hoffnung, daß besonders Frauen Wege aus der gesellschaftlichen Misere finden und dafür Anerkennung erhalten würden. Ihnen legte sie die Aufgabe der „inneren und äußeren Gesundung des Volkes" auf.17 Magdalene von Tiling griff einen Topos der zeitgenössischen Kritik auf, indem sie implizit den gesellschaftlichen Zustand als krank charakterisierte. Was als sozialer Mißstand empfunden wurde, lag demnach nicht einfach auf der Ebene der Verletzung von Gerechtigkeitsgrundsätzen; vielmehr wurden Störungen kritisiert, die mit körperlichen oder psychischen Krankheiten die Eigenschaft teilten, daß sie Lebensmöglichkeiten einschränkten oder deformierten, die als normal oder gesund vorausgesetzt wurden. 18 Diese Krisendiagnose teilte sie mit zahlreichen Zeitgenossen und Zeitgenossinnen - ganz gleich welcher politischen oder theologischen Richtung - in ähnlicher Weise, jedoch erwachsen daraus unterschiedliche Lösungsansätze. Das, was als normal und gesellschaftlich erstrebenswert empfunden wurde, war also höchst unterschiedlich und zwingt zu einer genauen, detaillierten Untersuchung der Positionen." " Zur Situation der Beamtinnen und insbesondere der Lehrerinnen in der Weimarer Republik vgl. CLAUDIA HAHN, D e r öffentliche Dienst und die Frauen, S. 4 9 - 7 8 . Zur Situation der Arbeiterinnen vgl. STEPHAN BAJOR, D i e H ä l f t e der Fabrik. Eine genaue Untersuchung zur Situation der weiblichen Angestellten bietet ELISABETH LEMBECK, Frauenarbeit. 17 Arbeitsprogramm der Vereinigung evangelischer Frauenverbände Deutschlands v o m 7.11.1925 ( A D W BERLIN, C A 848 I). 18 AXEL HONNETH hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, d a ß die D i a g n o s e von krankhaften Zuständen stets auf einem Wissen darüber basiert, was demgegenüber als Normalität angesehen wird; daran wird dann der Grad des Pathologischen gemessen (Pathologien des Sozialen, S. 51). 19 ROLF-PETER SIEFERLE, Konservative Revolution, S. 20 f., weist darauf hin, d a ß in der Retrospektive auf die zwanziger Jahre von heute aus die Standpunkte enger zusammenrücken, als die Zeitgenossen dies für möglich gehalten hätten. Versuche man dagegen, den hermeneutischen Standpunkt dieser Jahre einzunehmen, stelle sich das Bild deutlich differenzierter dar.
52
D i e „Politisierung" der evangelischen Frauenbewegung 1 9 1 8 - 1 9 2 5
Wie eine Abrechnung mit der Zeitgeschichte der zwanziger Jahre und den protestantischen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen liest sich schließlich die 1929 veröffentlichte Schrift „Was sollen wir tun? Christliche Antworten auf politische Fragen. Vom Sinn der Ordnungen menschlichen Lebens". Bereits in der Einleitung machte Magdalene von Tiling die Christen verantwortlich für die Situation in der Weimarer Republik. Sie warf ihnen eine falsche Interpretation der „Zwei-Reiche-Lehre" vor, aufgrund derer sie sich aus den Aufgaben, die die Welt betreffen, bisher zurückgezogen hätten und sich nicht bemühten, in die Politik und die Gesetzgebung einzugreifen. Das Ende des Ersten Weltkrieges und die Friedensbedingungen des Versailler Vertrages markierten für von Tiling den Beginn der Verfallsgeschichte der Republik. Der Begriff des Volkes, den sie als Gegensatz zum Begriff der Gesellschaft verwandte, implizierte eine nationale Einheit, die sie in der neuen Republik nicht gewährleistet sah. Diese Einheit war ihrer Meinung nach in den Jahrzehnten der Monarchie und auch noch während des Ersten Weltkrieges erfahren worden. Die Demokratie der Weimarer Republik hatte dieser Einheit des Volkes ein Ende gesetzt, hatte es gespalten und fragmentiert: Die Volksgemeinschaft war nicht mehr gewährleistet. Magdalene von Tiling beschrieb die Krise als eine wirtschaftliche und sittliche. Den wirtschaftlichen Aspekt bezog sie auf die Reparationszahlungen und die ausländischen Investitionen, die objektiv gesehen die Wirtschaft zumindest in der Mitte der zwanziger Jahre stabilisierten. Komplementär zu der als desolat empfundenen wirtschaftlichen Situation verhalte sich der „sittliche Verfall" des Volkes: „Ist nicht die Schlammflut des Schmutzes in den Darbietungen, die Sittlichkeit im Leben und in den Lebensanschauungen von Jahr z u Jahr gestiegen? M a n braucht ja nur an die Worte ,Geburtenrückgang' und ,Geburtenverhinderung' zu denken und an das, was hinter diesen Worten steht. Müssen wir nicht bangen um die Reinheit der Jugend, um das kommende Müttergeschlecht? U n d nun legt man die H a n d auch an das Fundament alles gesunden Volkslebens - an die Ehe. Mit den verführerischen Worten von , Zweitehe', , Probeehe', K a m e r a d s c h a f t s e h e ' sucht man dies letzte Bollwerk gegen die ansteigende Flut niederzureißen. Fühlen wir nicht alle, wie von Jahr zu Jahr mehr der Boden unter uns schwankt?" 20
Auch hier sah von Tiling wiederum das „gesunde Volksleben" bedroht, indem sinnstiftende Ordnungen wie die Ehe ihren Monopolanspruch verloren und mit anderen Lebensformen konkurrierten. In dieser Situation rief sie die Christen zur Wiederherstellung der durch die Demokratie zerbrochenen Ordnungen auf. Die Gefahr einer herannahenden Weltwirt20
MAGDALENE VON TILING, W a s sollen wir tun? V o m Sinn d e r O r d n u n g e n , S. 6.
Krisenwahrnehmung und Krisenbewältigung
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schaftskrise, der rapide Anstieg der Arbeitslosenzahlen, die wachsende Armut, die zunehmenden Kriminalitäts- und Abtreibungsraten,21 - all das läßt das Urteil über die letzten zehn Jahre vernichtend ausfallen. Zusammenfassend kristallisieren sich hinsichtlich der Krisenwahrnehmung Magdalene von Tilings in den zwanziger Jahre drei zentrale Punkte heraus: (1) Verlust von Gemeinschaft und verbindlichen Ordnungen. Magdalene von Tiling sah die noch im Ersten Weltkrieg erlebte Einheit des Volkes durch die Demokratisierung der Gesellschaft zerbrochen. Verschiedene Gruppen, Stände, Klassen agierten gegeneinander, verfochten unterschiedliche Meinungen und Interessen. Die Rechte der Einzelnen wurden über die Rechte der Gemeinschaft gestellt. Es gab keine selbstverständlichen Zugehörigkeiten mehr und keine (Volks-)Gemeinschaft, der sich alle zugehörig fühlten. Die fehlende Ordnung führte in ihren Augen zur Desintegration der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen. (2) Mangel an gegenseitiger Anerkennung der Geschlechter. Die Folgen der Desintegration betrafen nach Meinung Magdalene von Tilings vor allem die bisherigen Rollen von Frauen und Männern in Kirche und Gesellschaft. Es gab ihrer Meinung nach keine eindeutige Rollenverteilung mehr. Die demokratische Staatsform hatte Frauen zu Staatsbürgerinnen mit gleichen Rechten und Pflichten gemacht. Zugleich sah sie die Beziehung der Geschlechter gefährdet. Magdalene von Tiling nahm wahr, daß die Geschlechter einander die gegenseitige Anerkennung verweigerten - vor allem die Männer den Frauen. Auf Frauenbelange werde kaum Rücksicht genommen, die evangelischen Frauen wollten jedoch in von Tilings Augen auch nicht die ihnen aufgetragenen gesellschaftspolitischen Aufgaben übernehmen. (3) Drohender Werte- und Sinnverlust. Durch die Weltanschauungsneutralität des Weimarer Staates sah von Tiling die christlichen Werte wie Ehe und Familie bedroht. Für sie waren dies von Gott gegebene Ordnungen, die das Leben der Menschen garantierten und eine Struktur von Werten und Sinn vermittelten. Die kulturelle Vielfalt der Weimarer Republik erlebte sie als Werte- und Sinnverlust. Auf dem Hintergrund einer derartigen Einschätzung der gesellschaftlichen Situation kam von Tiling zu Lösungsansätzen, die sie für Theologie und Pädagogik formulierte. Das krisenresistente Wissen, das ihrer Krisenwahrnehmung zugrundelag, speiste sich aus den theologischen Überzeugungen der lutherischen Theologie des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts und 21
Vgl. UTE FREVERT, Frauen-Geschichte, S. 171 f.
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D i e „Politisierung" der evangelischen Frauenbewegung 1 9 1 8 - 1 9 2 5
fand seine Neuformulierung in den Neuansätzen der dialektischen Theologie und der lutherischen Ordnungstheologie der zwanziger Jahre. Schon bald erkannte sie den Frauen eine zentrale als Trägerinnen der Lösung der gesellschaftlichen Krise zur „Rettung des Volkes" zu. Hoffnung setzte sie allen voran in die evangelischen Frauen und deren „Politisierung": Sie sollten sensibilisiert werden für die gesellschaftlichen Belange und die Forderung, sich politisch zu engagieren, um „das weibliche, mütterliche Prinzip ins öffentliche Leben einzuführen" 22 . Für von Tiling setzte die Politisierung in verschiedenen Bereichen an. Ihr frauen-, kirchen- und parteipolitisches Engagement zielte in zwei Richtungen, was zugleich auch auf eine Ambivalenz in ihrem Selbstbewußtsein verweist: Zum einen ging es um den Gestaltungsspielraum von Frauen in Kirche und Gesellschaft. Zum anderen ging es um die Durchsetzung kirchenpolitischer Belange. Es ist jedoch festzustellen, daß die Grundlage ihres Engagements deutlich geschlechtersensibilisiert motiviert war und Auswirkungen auf ihre Geschlechterpolitik hatte. Doris Kaufmann hat die Bedeutung von Tilings innerhalb der evangelischen Frauenbewegung darauf zurückgeführt, daß sie - im Rahmen protestantischer Reflexionen über die sog. Frauenfrage - eine geschlossene Ordnung des Geschlechterverhältnisses entwickelt habe, welche die Wirkungsräume der Frauen neu begründete. 23 Dies ist richtig, jedoch muß die Konzeption wesentlich umfangreicher begriffen werden. Sie zielte in ihrer Geschlossenheit auf eine Veränderung, die in alle gesellschaftlichen Bereiche hineinreichen sollte. Anhand des Entwurfes von Tilings wird offensichtlich, daß auch die Frauen im konservativen Protestantismus der zwanziger Jahre das Geschlechterverhältnis als hermeneutischen Schlüssel für die Beurteilung der gesellschaftlichen Situation wahrgenommen haben. Die zunehmende Politisierung ging somit Hand in Hand mit der Sensibilisierung für das Verhältnis der Geschlechter. Für von Tiling bedeutete dies zudem, daß auch Theologie nur mit der Perspektive auf das Geschlechterverhältnis betrieben werden konnte. Ihr Entwurf ist das Beispiel einer protestantischen Gesellschaftstheorie, die ontologisch von dem Verhältnis der Geschlechter ausging und versuchte, theologische Antworten auf die zeitgenössisch virulente Diskussion in den Humanwissenschaften und in der Theologie um das Verhältnis von Männern und Frauen in der Gesellschaft zu finden.
22 23
Magdalene von Tiling an Paula Mueller vom 30.11.1918 (ADEF HANNOVER, G 2 d 1). DORIS KAUFMANN, Frauen zwischen Aufbruch und Reaktion, S. 78.
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Die Weimarer Verfassung brachte die grundsätzliche Gleichberechtigung von Mann und Frau, Art. 119 bestimmte, daß die Ehe auf der Gleichberechtigung beider Geschlechter beruhe, mit Art. 128 entschwand die Zölibatsklausel für weibliche Beamte, und schließlich wurden Frauen zu Amtern und Berufen der Rechtspflege zugelassen. Nach jahrzehntelanger Diskussion war am 12. November - innerhalb eines Tages - die Gewährung des aktiven und passiven Wahlrechtes der Frauen positiv beschieden worden und somit erstmals deren parteipolitisches Engagement ausdrücklich gefordert. Frauen konnten nun die Amter der Abgeordneten sowohl in Stadt-, Länder- und Gemeindeparlamenten wie auch in der Nationalversammlung bekleiden. Bis 1908 war eine parteipolitische Beteiligung von Frauen durch das Preußische Vereinsgesetz praktisch ausgeschlossen gewesen, da dieses die Zugehörigkeit von Frauen zu politischen Parteien generell untersagte. Von allen Parteien im Kaiserreich hatte sich lediglich die Sozialdemokratie seit den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts konsequent für das parteipolitische Engagement von Frauen eingesetzt, was mit der Veränderung im Vereinsrecht 1908 schließlich einen Schritt näher rückte.24 In einigen Parteien wurde von nun an Frauen die Mitgliedschaft erlaubt, beispielsweise bei den Deutschkonservativen, die seit 1913 eine eigene Frauengruppe, die Vereinigung konservativer Frauen, in der Partei duldeten.25 Den meisten der männlichen Mitglieder war dies nicht unbedingt einsichtig, jedoch trat die Vereinigung konservativer Frauen unter der weiblichen Bevölkerung für die Ziele der Partei ein, was wiederum als wünschenswert angesehen wurde. Bei den Frauen, die sich der Partei angeschlossen hatten, handelte es sich zudem um bekannte und einflußreiche Persönlichkeiten der konservativen evangelischen Frauenverbände wie beispielsweise Selma von der Groeben und Paula Mueller26 vom Deutsch-Evangelischen Frauenbund (DEF). Gesellschaftspolitischer Einfluß war den Frauen seit 1908 zunehmend auch auf kommunaler Ebene möglich durch leitende Funktionen im Bildungsbereich, in Mädchenschulen
24
Vgl. GABRIELE SANDMANN-BREMME, Die politische Rolle der Frau, S. 117-125. Die Vereinigung konservativer Frauen war am 9.4.1913 gegründet worden. Die Namen der Vorstandsmitglieder verweisen darauf, daß es sich zumeist um adelige Frauen handelte. Vgl. dazu URSULA BAUMANN, Protestantismus und Frauenemanzipation, S. 216 ff. Eine detaillierte Untersuchung zur Vereinigung konservativer Frauen bietet CHRISTIANA HILPERT, Geschichte des Deutsch-Evangelischen Frauenbundes, S. 81-90. 26 Paula Mueller war Vorsitzende des Deutsch-Evangelischen Frauenbundes in Hannover. 1919 hatte sie ihren Namen um den Vornamen ihres Großvaters auf Mueller-Otfried erweitert Von Juni 1920 bis November 1932 war sie Reichstagsabgeordnete der D N V P . Vgl. URSULA BAUMANN, Protestantismus und Frauenemanzipation, S. 320; MARTIN SCHUMACHER, Die Reichstagsabgeordneten, S. 328. 25
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und in Gremien, die sich für die Reform des Bildungswesens einsetzten. Hier ging es besonders um die vom BDF und seinen Mitgliedsorganisationen geforderte Verbesserung der Bildungs- und Arbeitsbedingungen von Mädchen und Frauen. Im November 1918 standen die Protagonistinnen der evangelischen Frauenverbände plötzlich vor einer neuen Situation, über die so recht keine Freude aufkommen wollte; war doch das neue Wahlrecht unmittelbare Folge des verlorenen Krieges und einer nicht gewollten Revolution.27 Jedoch war die Aussicht auf die Beteiligung bei den Wahlen zur Nationalversammlung und die Meinung, nun einen Machtfaktor in der parteipolitischen Landschaft darzustellen, verlockend und führte zu einer kurzfristigen Zusammenarbeit liberaler und konservativer Frauenvereine.28 Ganz gleich, welche Position die Frauenverbände zur Frage des Frauenwahlrechts vorher vertreten hatten, sie alle sahen sich verpflichtet, die Wählerinnen zu informieren, damit sie von ihrem neuen Recht Gebrauch machten. In der Tat war die Wahlbeteiligung von Frauen mit fast 90 % bei dieser Wahl so hoch wie später nie mehr, wovon gerade die konservativen Parteien mit konfessioneller Anbindung profitierten. Der großen Zahl der Wählerinnen entsprach auch eine relativ hohe Zahl von weiblichen Abgeordneten. So wurden insgesamt 41 Frauen als Abgeordnete in die Nationalversammlung gewählt, das waren 9,6 % der Gesamtzahl der Abgeordneten. 29 Fast die Hälfte der Parlamentarierinnen gehörten der SPD an, darunter Marie Juchacz, Vorstandsmitglied der SPD. In der D D P , der liberalen Mitte, der auch Friedrich Naumann angehörte, waren Gertrud Bäumer aus dem Vorstand des BDF und Marie-Elise Lüders sowie Marie Baum, Leiterin der Sozialen Frauenschule in Hamburg, vertreten. Zu den sechs Parlamentarierinnen des Zentrum zählten Hedwig Dransfeld, die Leiterin des Katholischen Frauenbundes, Christine Teusch, Gewerkschaftssekretärin aus Köln, und Helene Weber, die Gründerin der Sozialen Frauenschule des Katholischen Deutschen Frauenbundes in Köln. In der Deutschen Volks-
27
V g l . RICHARD J . EVANS, F e m i n i s t M o v e m e n t ; HANS-JÜRGEN ARENDT, D i e b ü r g e r l i c h e n
Frauenorganisationen,
S. 1 6 7 - 2 0 0 ; U T E GERHARD, U n e r h ö r t ; KLAUS H Ö N I G , B u n d
Deut-
scher Frauenvereine. 28 Im Ausschuß zur Vorbereitung der Frauen für die Nationalversammlung arbeiteten der BDF, der Verband Vaterländischer Frauenvereine, der Deutsch-Evangelische Frauenbund, der Jüdische Frauenbund, die Frauenausschüsse der Fortschrittlichen Volkspartei, der Nationalliberalen, der Deutschkonservativen Partei und der Reichsverband für Frauenstimmrecht zusammen. Vgl. BARBARA GREVEN-ASCHOFF, Die bürgerliche Frauenbewegung, S. 160. 29 Die Statistik bei GABRIELE SANDMANN-BREMME, Die politische Rolle, S. 122, zeigt, daß dies ein ungewöhnliches Ergebnis war, das in den folgenden Jahren nicht mehr erreicht wurde. Bereits 1920 sank der Anteil auf 8 %. Bremme führt dies zum einen auf den Stimmenverlust der Parteien mit hohem Frauenanteil wie der SPD zurück und auf die Verschlechterung der Einstellung gegenüber der politischen Arbeit von Frauen.
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partei (DVP) war Katharina von Kardorff-Oheimb. Zur D N V P gehörten Käthe Schirmacher, die aus dem BDF stammende Anna von Gierke, Leiterin des Mädchenheims in Charlottenburg, und Margarethe Behm, die Gründerin und Vorsitzende des Gewerkvereins der Heimarbeiterinnen Deutschlands, sich seit Anfang des Jahrhunderts für den gesetzlichen Schutz der Heimarbeit eingesetzt hatte.30 Hinter der anfänglichen Zusammenarbeit der verschiedenen Frauenvereine stand letztlich keine konkrete gemeinsame „Frauenpolitik". Gertrud Bäumer31, die Vorsitzende des Bundes Deutscher Frauenvereine (BDF) von 1910 bis 1919, und Paula Mueller-Otfried als Mitinitiatorin der Gründung des VEFD 1918 hatten dies von Beginn an abgelehnt, indem sie sich weigerten, den BDF bzw. die VEFD als Frauenpartei zu organisieren. Nach ihrer Meinung sollte die Frauenarbeit innerhalb der Parteien von der Prämisse geleitet sein, die Vertretung der Frauenforderungen - also der Interessen, die den Frauen „durch ihre Seele und durch ihr Leben besonders verknüpft" seien - sowie die Uberwindung alter Methoden des Kampfes in der Parteipolitik anzustreben. Wie allerdings die politische Gleichberechtigung und die Förderung der weiblichen Interessen zu leisten und was überhaupt unter weiblichen Interessen zu verstehen sei, darüber gingen die Meinungen stark auseinander und verhinderten, daß eine gemeinsame Strategie parteiübergreifender Frauenpolitik während der Weimarer Republik zustande kam.32 Begründet war dies in einem unterschiedlichen Verständnis der gleichberechtigten gesellschaftlichen Partizipation von Frauen, das sich bis heute als grundlegende Unterscheidung in der feministischen Debatte hartnäckig hält: Es ging dabei um Gleichheit oder Differenz. So war für die Sozialdemokratinnen selbstverständlich, daß den Pflichten der Frauen gleiche Rechte entsprechen müßten. Damit trafen sie sich mit den sog. „Radikalen" Vertreterinnen, einer Minderheit der bürgerlichen Frauenbewegung, die in der Tradition von Französischer Revolution und Aufklärung aus der Gleichheit aller Menschen und der Gleichheit aller Bürger vor dem Staat die gleichen Rechte von Frauen und Männern ableiteten. Beide Gruppen lehnten eine besondere Frauenpolitik ab, die die Existenz weiblicher Fähigkeiten behauptete und die Herausbildung dieser Eigenschaften als unentbehrlich für die gesellschaftliche Entwicklung ansah. Dies 30
Vgl. UTE GERHARD, Unerhört, S. 333-336. Gertrud Bäumer war von 1910 bis 1919 Vorsitzende des BDF. Sie gründete 1918 mit Friedrich Naumann die D D P und hatte bis 1933 das Amt der 3. Vorsitzenden inne. 1920 wurde sie als und die Jugendwohlfahrt. 1933 wurde sie aufgrund des Gesetzes zur erste Frau in Deutschland Ministerialrätin im Reichsministerium des Innern und betreute das Schulreferat Wiederherstellung des Berufsbeamtentums entlassen. Vgl. zu Gertrud Bäumer: ANGE31
LIKA SCHASER, B ä u m e r , S. 2 4 - 4 3 . 32 Vgl. dazu RAFFAEL SCHECK, German Conservatism, S. 34-55; RAFFAEL SCHECK, Women Against Versailles, S. 22-42.
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war nun andererseits die Ansicht sowohl der sich als konservativ verstehenden konfessionellen Frauen als auch der durch den BDF vertretenen Mehrheit der bürgerlichen Frauenbewegung. Sie hatten bereits im Kaiserreich mit dem Theorem der geistigen Mütterlichkeit Erfolge im Zugang zu neuen Bildungs- und Berufsmöglichkeiten verzeichnen können. 33 Das Frauenstimmrecht traf die konservativen Parteien unvorbereitet. Zwar waren sie immer noch nicht bereit, den Frauen ein politisches Mitbestimmungsrecht einzuräumen; doch nun standen sie vor der Notwendigkeit, für den Wahlkampf der Nationalversammlung auch Frauen miteinzubeziehen und die Wahlpropaganda unter den Frauen zu sichern.34 Die potentielle Macht der Wählerinnen führte dazu, daß die Parteien um die Aufstellung der Kandidatinnen wetteiferten. 35 Auffallend ist, daß es sich bei den insgesamt 23 weiblichen Abgeordneten von D D P , DVP und D N V P im Zeitraum zwischen 1919 und 1933 um Vertreterinnen der Vereine und Verbände der organisierten Frauenbewegung handelte, also um Frauen, die bereits im Kaiserreich Erfahrungen im sozial-, frauen- und bildungspolitischen Bereich gesammelt hatten, wie Gertrud Bäumer (DDP), Margarethe Behm (DNVP), oder sich bereits in der politischen Frauenorganisation der Deutsch-konservativen Partei (VKF) engagiert hatten, wie Paula Mueller-Otfried, die 1919-1932 für die D N V P im Reichstag saß.36 Denn diese waren sowohl politisch geschult als auch in der Öffentlichkeitsarbeit versiert. Dem relativ hohen weiblichen Wählerpotential der D N V P ist es wohl zu verdanken, daß während der Weimarer Republik die Vertreterinnen der konservativen evangelischen Frauenverbände sichere Listenplätze hatten, so daß es stets gelang, zumindest drei Mandatsträgerinnen im Reichstag abzusichern. 37
33 Zum Begriff der „geistigen Mütterlichkeit", der als Programm des konservativen Flügels der Frauenbewegung als Kritik am technisch-ökonomischen Fortschrittsglauben die Betonung der Rolle von Frauen in der Gesellschaft pointierte und damit den Versuch darstellte, gleichberechtigt an den Entwicklungen und Privilegien der männlichen Kultur teilzunehmen, ohne die weibliche Identität aufgeben zu müssen, vgl. IRENE STOEHR, Organisierte Mütterlichkeit, S. 225-254. Zur Rolle des Programms der „geistigen Mütterlichkeit" auf die Herausbildung sozialer Berufe vgl. CHRISTOPH SACHSSE, Mütterlichkeit als Beruf. 34 Vgl. GABRIELE SANDMANN-BREMME, Die politische Rolle der Frau, S. 120, sowie WERNER LIEBE, Die Deutschnationale Volkspartei, S. 36. 35 Vgl. GABRIELE SANDMANN-BREMME, Die politische Rolle der Frau, S. 123. 36 Vgl. dazu und zu den folgenden Angaben MAX SCHWARZ, Biographisches Handwörterbuch; zu dem politischen Engagement der Vertreterinnen der bürgerlichen Frauenbewegung in der D D P vgl. BARBARA GREVEN-ASCHOFF, Die bürgerliche Frauenbewegung, S. 148-190. 37 Die längste ununterbrochene Reichstagstätigkeit in der D N V P wiesen Margarete Behm (1920-1928) und die Vorsitzende des DEF, Paula Mueller-Otfried (1920-1932), auf. Weitere Reichstagsabgeordnete der D N V P waren die Lehrerin Annagrete Lehmann (1928-1933), Anna Rawengel (1932-1932), Ulrike Scheidel (1924-1928), Maria Schott (1923-1928), Else
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1. Magdalene von Tilings parteipolitisches Engagement seit 1918 Parteipolitische Optionen Irritiert bemerkte Magdalene von Tiling im November 1918 in einem Brief an die zweite Vorsitzende der neugegründeten Vereinigung evangelischer Frauenverbände Deutschlands, Paula Mueller-Otfried, daß es bislang keine Partei gebe, die für sie als berufstätige Frau und Lehrerin zu wählen in Frage komme.38 Zwar würden sich einige von den herkömmlichen Parteien für die Interessen der Lehrerschaft einsetzen, jedoch nachweislich nur für die der männlichen Vertreter, die in den vergangenen Jahren alles darangesetzt hätten, die Frauen aus ihrem Berufsfeld zu drängen bzw. den Zugang so weit wie möglich zu blockieren. Die beruflichen Belange von Frauen würden - soweit sie informiert sei - außer von der Sozialdemokratie von keiner Partei vertreten. Angesichts dieser Situation, die die mangelnde Bereitschaft und Vorbereitung der Parteien gegenüber dem Frauenstimmrecht dokumentiert, plädierte Magdalene von Tiling für die konsequente Einmischung von Frauen in die Parteiengründung und die Wahlarbeit. Ihr Begleitschreiben, das sie als Mitglied der VEFD durch ihren Vorsitz im angeschlossenen Verband evangelischer Religionslehrerinnen für den Arbeitsausschuß beilegte, enthielt drei charakteristische Forderungen. So sollte der Arbeitsausschuß der Vereinigung, der 1919 fast 1,5 Mio. Frauen vertrat, mit den christlichen Männerparteien verhandeln, „damit diesen klar wird, daß die Frau nicht ins politische Leben tritt, um die Ziele der Männer durchbringen zu helfen, sondern daß sie eigene Aufgaben im kommenden Staat zu erfüllen hat, daß es sich darum handelt, das weibliche mütterliche Prinzip ins öffentliche Leben einzuführen." 39 Magdalene von Tiling wies also die Ansicht von sich, sozusagen als Dank für das neu erhaltene Recht auf der politischen Ebene lediglich die Interessen der Männer in den Parteien zu vertreten. Statt dessen vertrat sie die eigenständige Rolle von Frauen für die Gesellschaft. Diese erforderte sowohl das Einstehen für die Bedürfnisse von Frauen überhaupt als auch deren gesellschaftliche Anerkennung und Durchsetzung. Die Rolle der Frau sah von Tiling zudem durch den Erhalt von christlichen Werten am besten gesichert, was sie mit der Feststellung verband, daß sich evangelische Frauen nur einer Partei anschließen könnten, die den Erhalt und die Vermittlung von christlichen Werten garantiere. Schließlich gab sie zu
von Sperber (1924-1928), Magdalene von Tiling (1930-1933), Käthe Schirmacher vom Verband fortschrittlicher Frauenvereine (1920-1923) und Anna von Gierke (1920-1923). 38 Das Schreiben Magdalene von Tilings an Paula Mueller-Otfried vom 23.11.1918 sowie die Forderungen an den Arbeitsausschuß der VEFD (ADEF HANNOVER, G 2 d 1). M
EBD.
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bedenken, ob nicht die Gründung einer eigenen Frauenpartei möglich sei und dies gegebenenfalls mit den Frauen des BDF besprochen werden könnte. Zwar würde sie auch eine Zusammenarbeit mit einer christlichen Männerpartei gutheißen, jedoch sehe sie bisher nicht, daß die christlichen Männerparteien bereit seien, sich um Frauenbelange zu kümmern. Der letzte Vorschlag war verwegen, denn die im Deutsch-Evangelischen Frauenbund organisierten Frauen und Protagonistinnen der VEFD hatten sich erst kürzlich vom BDF aufgrund der Stimmrechtsfrage getrennt, die erneute Zusammenarbeit war damit schwierig. Zudem ging die Gründung einer zahlenmäßig einflußreichen Frauenpartei, die auch noch einen christlichen Schwerpunkt haben sollte, an der Realität der heterogenen Fraueninteressen vorbei. Aus dem weiteren Briefwechsel geht hervor, daß Magdalene von Tiling zumindest kurzfristig mit dem Gedanken geliebäugelt hatte, die VEFD als Dachorganisation aller evangelischen Frauenverbände zu solch einer Frauenpartei zusammenzufassen. Implizit war dies auch schon in der Ende November gestellten Anfrage enthalten. Von Tiling traf mit ihren Fragen den Kern der Vorbereitungen des Vorstandes der Vereinigung. Denn unter Federführung von Paula Mueller-Otfried, die als Mitglied der Vereinigung konservativer Frauen den engen Kontakt zu ehemaligen deutsch-konservativen Parteikollegen aufgenommen hatte, wurden mit Spannung die in Berlin stattfindenden Verhandlungen zum Zusammenschluß der konservativen Parteien zur Deutschnationalen Volkspartei verfolgt. „Um eine Zersplitterung zu vermeiden und alle Kräfte gegen die große Gefahr von links zu sammeln", hatte Paula Mueller-Otfried versichert, den Anschluß der Vereinigung an die Deutschnationale Volkspartei zu sichern. Allerdings machte sie ihre Ratgeber darauf aufmerksam, daß die deutschen evangelischen Frauen nur eine solche Partei wählen würden, die sich als „deutsch" und „evangelisch" bezeichnete. Sie stellte jedoch heraus, daß vor einer Stellungnahme für die D N V P bestimmte Zusicherungen von deren Seite vonnöten seien.40 In der Sitzung des Arbeitsausschusses am 4. Dezember 1918 wurde der Vorschlag Magdalene von Tilings zur Gründung einer Frauenpartei von den Mitgliedern endgültig abgelehnt und beschlossen, mit den erarbeiteten Forderungen an die neugegründete D N V P heranzutreten. 41 Die Einigung gelang, und Paula Mueller-Otfried wurde zu Beratungen des Parteiprogramms der D N V P hinzugezogen, kandidierte als Abgeordnete der D N V P für die Nationalversammlung und vertrat die Partei fortan bis 1932 im Reichstag. Zudem wurde sie als
40 Paula Mueller-Otfried an Pastor Samuel Jaeger, Leiter der Theologischen Schule Bethel, vom 27.11.1918; vgl. auch das Schreiben Paula Mueller-Otfrieds an Magdalene von Tiling vom 10.12.1918 (ADEF HANNOVER, G 2 d 1). 41 Protokoll des VEFD-Arbeitsausschusses am 4.12.1918 (ADEF HANNOVER, G 2 d 1).
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Beraterin in die Kommission berufen, die die Trennung von Kirche und Staat gesetzlich umsetzen sollte.42 Inzwischen hatte sich auch in Elberfeld eine Ortsgruppe der D N V P gegründet, deren Vertreter sich maßgeblich aus der ehemaligen ChristlichSozialen Partei rekrutierten. 43 Auf Anraten Mueller-Otfrieds hatte von Tiling inzwischen Kontakt zu dieser Gruppierung gesucht und war nach eigenen Angaben an der Gründung der Ortsgruppe beteiligt gewesen.44 Als Abgeordnete der D N V P vertrat sie die Partei zunächst im Stadtparlament. 1921 gelang nach mehrmaliger Kandidatur der Sprung in den Preußischen Landtag. 45 Das politische Profil der
DNVP
Die Deutschnationale Volkspartei war keine Neugründung im klassischen Sinne, sondern ein eher heterogenes Gebilde, in der sich alle Anhänger der konservativen Vorkriegsparteien sammelten: die Deutsch-Konservativen, die kleineren Gruppen der Freikonservativen, der Völkischen und der Christlichsozialen und eine Anzahl Nationalliberaler. 46 Im Gegensatz zu ihren Vorgängerparteien beschränkte sie sich nicht mehr allein auf die 42
Die Einladung der D N V P an Paula Mueller-Otfried zur Beratung geht aus dem Schreiben an von Tiling vom 10.12.1918 hervor. Die Aufforderung, an der Kommission teilzunehmen, erfolgte im Schreiben der Evangelisch-kirchlichen Behörde in Preußen an Paula Mueller-Otfried vom 5.12.1918 (ADEF HANNOVER, R 1 f. I). 43 Vgl. dazu die instruktive Untersuchung zum politischen Engagement des Sozialen Protestantismus am Beispiel von Reinhard Mumm, einem Vertreter der Christlich-Sozialen Partei und späteren DNVP-Abgeordneten: NORBERT FRIEDRICH, „Die christlich-soziale Fahne empor!" 44 Lebenslauf [1926] (LKA HANNOVER, N 127/2). 45
V g l . L e b e n s l a u f [ 1 9 2 8 ] ( L K A HANNOVER, N 1 2 7 / 2 ) . Z u m E n g a g e m e n t v o n T i l i n g s in
der Elberfelder D N V P vgl. MARTIN SCHUMACHER, Das Ende der Parlamente, S. 163. 46 Die Geschichte der D N V P gilt als weitgehend erforscht Leider wird in kaum einer der seit den fünfziger Jahren erschienenen Studien auf die Rolle der weiblichen Abgeordneten Bezug genommen, die alle profilierte Persönlichkeiten der evangelischen Frauenbewegung waren. Ebensowenig liegen Untersuchungen darüber vor, wie sich deren parteipolitisches Engagement in der Programmatik der Vereine des weiblichen Protestantismus und den Einfluß auf deren Mitglieder niedergeschlagen hat. Zur Geschichte der D N V P allgemein vgl. WERNER LIEBE, D e u t s c h n a t i o n a l e V o l k s p a r t e i ; SIGMUND NEUMANN, D i e P a r t e i e n
der
Weimarer Republik, S. 61-66; DIETER FRICKE u.a., Lexikon zur Parteiengeschichte. - Zum Flügelkampf in den ersten Jahren und zum ausgeprägten Antisemitismus vgl. die detaillierte Studie von JAN STRIESOW, Die Deutschnationale Volkspartei und die Völkisch Radikalen (2 Bde.); zur Arbeitnehmerpolitik vgl. AMREI STUPPERICH, Volksgemeinschaft oder Arbeitersolidarität; zur Gruppierung um Alfred Hugenberg und dessen Einfluß auf die D N V P und ihre Mitglieder vgl. HEIDRUN HOLZBACH, Das „System Hugenberg". Einen guten Einblick in die Rolle der Christlich-Sozialen Partei bei der Gründung der D N V P sowie den Einfluß der christlich-sozialen Leitung durch Reinhard Mumm bietet die Arbeit von NORBERT FRIEDRICH, „Die christlich-soziale Fahne empor!".
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Kreise der Großgrundbesitzer, sondern dehnte sich bis in mittelständischen Schichten aus. Auch unter führenden Persönlichkeiten der Kirche hatte die D N V P Zulauf, wurde sie doch als diejenige Partei angesehen, die die Rechte der Kirche und die christlichen Werte am besten zu verteidigen in der Lage war. Die Verbindungen und Kontakte zwischen D N V P und deutschem Protestantismus waren vielfältig.47 Besonders durch den Anschluß des christlich-sozialen Flügels - der ehemaligen Stoeckerpartei waren in der D N V P die Interessen der Kirche vertreten. So gehörten dem geschäftsführenden Vorstand mit der Hauptvorsitzenden des Gewerkvereins der Heimarbeiterinnen Deutschlands, Margarete Behm, und Wilhelm Wallbaum, dem Generalsekretär des Gesamtverbandes der evangelischen Arbeitervereine, zwei Christlich-Soziale an. Der Pfarrer, Schwiegersohn und Nachfolger Adolf Stoeckers in der Christlich-sozialen Partei, Reinhard Mumm sowie der Genraisekretär beim Gewerkverein der Bergarbeiter in Berlin, Franz Behrens wurden Mitglieder des Parteivorstands. 48 Mit den politischen Veränderungen des Novembers 1918 nicht einverstanden, trat die D N V P mit dem impliziten Ziel an, die Republik und die Demokratie sowie alle sozialistischen und kommunistischen Tendenzen zu bekämpfen. Die D N V P sah sich von Beginn an in einer ambivalenten Stellung, die zum zentralen Problem der Partei während ihrer gesamten Geschichte wurde. Zum einen wollte sie eine grundsätzliche Opposition zum neuen Staat bilden, zum anderen war sie zur aktiven Teilnahme verpflichtet, da sie die Interessen der von ihr vertretenen Stände, Berufe und kulturellen Traditionen gefährdet sah. Die Haltung der Deutschnationalen läßt sich in den ersten Jahren der Weimarer Republik als die einer positiven Opposition bezeichnen, die bei prinzipieller Ablehnung der Regierung doch im einzelnen auch mitgestaltete und 1925 und 1927 an der Regierung beteiligt war. Der Entschluß zur positiven Mitarbeit auf dem Boden der Verfassung wurde auf dem Görlitzer Parteitag 1922 getroffen. Hier war auch die Distanzierung von den Initiatoren des Kapp-Putsches erfolgt sowie die Loslösung der radikalen Antisemitengruppe. Mit der Wahl Hugenbergs zum alleinigen Parteivorsitzenden im Oktober 1928 und der alsbald folgenden Annäherung an die immer stärker werdenden Nationalsozialisten sollte die positive Mitarbeit jedoch umschlagen in Opposition und einen radikalen Kampf gegen den Weimarer Staat und seine Demokratie. 49 47
GOTTFRIED MEHNERT, Evangelische Kirche und Politik, S. 273, nennt ca. 30 evangelische Theologen und kirchliche Laien, die in den verfassunggebenden Parlamenten 1919 saßen bzw. für die D N V P kandidierten. Zu den Mitgliedern der D N V P , die theologischen und kirchlichen Kreisen angehörten, vgl. auch KARL-WILHELM DAHM, Pfarrer und Politik; HEINZ BOBERACH, Pfarrer als Parlamentarier, S. 40-62. 48 NORBERT FRIEDRICH, „Die christlich-soziale Fahne empor!", S. 188. 49 Den Einfluß Hugenbergs und seines Konzerns auf die DNVP-Politik hat HEIDRUN HOLZBACH, „System Hugenberg", nachgewiesen.
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Wie man sich gegenüber der neuen Staatsform in der Praxis verhalten sollte, war nicht von vornherein klar bestimmt, worauf die relativ späte Veröffentlichung des Parteiprogramms im April 1920 hindeutet. Einen zentralen Programmpunkt stellte auf kulturellem Gebiet der Erhalt der christlichen Religion und die Sicherheit der Kirche dar. Die einige Monate später veröffentlichten Richtlinien der Deutschnationalen Volkspartei weisen in ihrer Dreiteilung eine neue Wertigkeit der Parteipunkte auf: Nach dem ersten Punkt, Volks- und Staatsleben, folgen Überlegungen zum Geistigen Leben, den Abschluß bilden Vorschläge zum Wirtschaftsleben.50 Angestrebt wurden die Änderung des Versailler Vertrages, die Wiederherstellung der Landeseinheit und der Kolonien sowie die Rückkehr zur Monarchie. Von der christlichen Religion wurde die sittliche Wiedergeburt des Volkes erhofft, die Freiheit der Kirchen ebenso verlangt wie die christliche Schulerziehung und der Erhalt des christlichen Religionsunterrichts. Unübersehbar war die antisemitische Grundtendenz der Partei, die auf den völkischen Flügel zurückging. Bereits im Juli 1919 gab es unter einigen Abgeordneten Tendenzen, die Partei auf einen ausgeprägten antisemitischen Kurs festzulegen. Die Spitzengremien wie der Parteivorstand und die Fraktionen der Nationalversammlung hatten trotz der auch von ihnen grundsätzlich bejahten antisemitischen Haltung zur Vorsicht gemahnt, so daß erst nach längeren Auseinandersetzungen die völkisch gesinnten Vertreter ihren Beschluß durchsetzen konnten, der dann als Punkt 11 unter der Rubrik Volks- und Staatsleben in das Programm der Partei aufgenommen wurde. 51 Zum Thema Volkstum wurde darin eine Unterscheidung zwischen deutschem Volkstum und dem es angeblich zerstören wollenden Judentum konstruiert. Den sich ausschließenden Begriffen „deutsch" und „jüdisch" liegt hier bereits implizit eine rassistische Prämisse zugrunde, die die Zugehörigkeit der einzelnen zur Gruppe der „Deutschen" oder J u d e n " auf einen biologischen Rassebegriff reduziert und mit bestimmten Attribut (deutsch, undeutsch) verbindet. Zugleich wurde die Legitimität der Beteiligung jüdischer Bürgerinnen und Bürger an der Gesellschaftspolitik in
50 An der Ausarbeitung des sozialpolitischen Teils waren Franz Behrens und Margarethe Behm beratend beteiligt. Am Bereich Geistiges Leben hatten Gottfried Traub, Wilhelm Kahler und Wilhelm Reinhard mitgearbeitet. Vgl. dazu NORBERT FRIEDRICH, „Die christlich-soziale Fahne empor!", S. 207. 51 Zu den Auseinandersetzungen vgl. WERNER LIEBE, Deutschnationale Volkspartei, S. 64 f. Punkt 11 des Parteiprogramms führte aus: „Nur ein starkes deutsches Volkstum, das Art und Wesen bewußt bewahrt und sich von fremden Einfluß frei hält, kann die zuverlässige Grundlage eines starken deutschen Staates sein. Deshalb kämpfen wir gegen jeden zersetzenden, undeutschen Geist, mag er von jüdischen oder anderen Kreisen ausgehen. Wir wenden uns nachdrücklich gegen die seit der Revolution immer verhängnisvoller hervortretende Vorherrschaft des Judentums in Regierung und Öffentlichkeit" (WILHELM MOMMSEN, Deutsche Parteiprogramme, S. 537).
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Abrede gestellt und als G e f a h r gebrandmarkt. Dies bekamen besonders die jüdischen Parteimitglieder deutlich zu spüren. Denn die M a c h t der antisemitisch-radikalen Gruppierungen konkretisierte sich bereits 1920, als bei der Wahl zum ersten Reichstag die Wiederaufstellung einer im sozialen Bereich bekannten und geschätzten Persönlichkeit wie Anna von Gierke von deutschnationalen Mitgliedern hintertrieben wurde, da ihre Mutter Jüdin war. Anna von Gierke trat daraufhin aus der Partei aus. Die Mehrheit bedauerte dies zwar, jedoch gelang es ihr nicht, sich offen vom radikal antisemitischen Flügel zu distanzieren. 52 Zentraler Bezugspunkt der sozial- und gesellschaftspolitischen Ideen der D N V P war der T o p o s der „Volksgemeinschaft", der ein organisches, harmonisches Gesellschaftsmodell intendierte. 53 D e r Theologe Friedrich Brunstäd hatte in seiner Rede über die „Völkisch-nationale Erneuerung" auf dem Münchener Parteitag der D N V P 1921 den Begriff der „Volksgemeinschaft" als einer organischen Lebens- und Staatsauffassung als die zentrale Leitidee der D N V P dargestellt. 54 In seiner Rede, die innerhalb der D N V P - auch von der Frauenzeitschrift „Die deutschnationale Frau" - mehrfach zur besten Darstellung der deutschnationalen Weltanschauung empfohlen wurde, machte Brunstäd zwar das „Völkische" zur einzigen Grundlage des deutschnationalen Gedankens, reduzierte aber den Antisemitismus zum M o m e n t des Völkischen. Damit diente seine Stellungnahme zur Abgrenzung der Partei gegenüber den radikalen Antisemiten. Bemerkenswert sind die frauenpolitischen Optionen des Parteiprogramms. Immerhin galt es, die große weibliche Wählerschaft zu mobilisieren. Eingebracht wurden die frauenpolitischen Positionen von bekannten Protagonistinnen der evangelischen Frauenverbände wie Margarete Behm und Paula Mueller-Otfried, die Mitglieder im Ausschuß zur Festlegung des Parteiprogramms der D N V P waren und es als unbedingt erforderlich ansahen, „die Frauen-Frage noch mehr als bisher in den Vordergrund zu stellen und daran auch bei der Verfassung des Programmes zu denken". 5 5 So forderte dann auch das Parteiprogramm von 1920 entsprechend der
52
V g l . W E R N E R LIEBE, D e u t s c h n a t i o n a l e V o l k s p a r t e i ,
S . 6 7 ; J A N STRIESOW,
Deutschna-
tionale Volkspartei, S. 102 ff. Zum Antisemitismus und der Diskussion um die ,Judenfrage" als innerparteiliches Kampfmittel vgl. EBD., S. 130 ff. 53 NORBERT FRIEDRICH, „Die christlich-soziale Fahne empor!", S. 207 f. 54 JAN STRIESOW, Deutschnationale Volkspartei, S. 307, charakterisiert Brunstäd als Hauptideologen der D N V P . Vgl. auch HEIDRUN HOLZBACH, „System Hugenberg", S. 129. Holzbach hat die enge Verbindung von Brunstäd und Hugenberg herausgestellt und nachgewiesen, daß Brunstäd bereits Anfang der zwanziger Jahre in finanzielle Abhängigkeit von Hugenberg geriet, da er sein hochdotiertes Gehalt für die bildungspolitische Tätigkeit am Politischen Kolleg sowie als Direktor der Evangelisch-Sozialen Schule, des Johannesstifts in Spandau, direkt von Hugenberg erhielt. 55 BARCH BERLIN, 90 We 4/114, BL. 43. Ausschuß zur Festlegung des Parteiprogramms der D N V P , September 1919 - März 1920.
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Verfassung die Gleichberechtigung der Frau.56 Der Begriff der „Gleichberechtigung" wird jedoch näher konkretisiert durch die Betonung einer Differenz der Geschlechter. Die Betonung von besonderen weiblichen Fähigkeiten geht einher mit der charakteristischen Bestimmung der Frauen als Verantwortliche für sittliche und religiöse Belange in Familie und Volk. Aus dieser Differenz der Geschlechter wird die Gleichberechtigung von Frauen abgeleitet und werden Rechte eingefordert. Die Bezugssysteme sind die klassisch „weiblichen": Erziehung, Beruf und Familie, wobei die Arbeit der Hausfrau und Mutter hervorgehoben, als gesellschaftsrelevant anerkannt und dementsprechend finanziell honoriert werden sollte. Die besondere Aufgabe von Frauen auf dem Gebiet des „geistigen Lebens" und die Wahrung der sittlichen Güter des Volkes attestiert auch der zweite Teil des Programms und greift hier auf das bekannte Theorem der „geistigen Mütterlichkeit" zurück, das weiterhin das Plädoyer für die Verbesserung der Ausbildungs- und Berufsmöglichkeiten impliziert. Die frauenpolitische Option im wirtschaftspolitischen Teil fordert die Unterstützung der berufstätigen Frauen und die Erleichterung der Doppelbelastung der berufstätigen Mutter sowie die gleiche Bezahlung gleichwertiger Leistung.57 Im Grunde handelte es sich bei diesen Forderungen nach gesellschaftlicher Anerkennung von speziellen weiblichen Aufgaben in Volk und Staat, nach Zugang und Verbesserung von Ausbildung und Beruf sowie bei der Betonung der „geistigen Mütterlichkeit" um Positionen, wie sie der BDF und auch die evangelischen Frauen wie Paula Mueller-Otfried bereits seit Anfang des Jahrhunderts vertreten hatten. Gertrud Bäumer hatte schon auf dem Evangelisch-Sozialen Kongreß 1906 die Besoldung der Hausfrauen gefordert, 58 und Margarete Behm hatte sich seit Anfang des 20. Jahrhunderts für die finanzielle Absicherung und Gleichstellung der Arbeiterinnen eingesetzt. Daß diese Forderungen nun zum Bestandteil eines Parteiprogramms avancierten, ist sicherlich als ein Erfolg der relativ kleinen Minderheit von Frauen zu werten, die seit Anfang des Jahrhunderts gegen große Widerstände für die Belange einer Frauenbewegung im Protestantismus eingetreten waren. Stellte das Programm von 1920 zwar einen gewissen Konsens der Beratungen dar, so waren doch die Frauen zur
56
P u n k t I. Staats- u n d V o l k s l e b e n N r . 10: „ G l e i c h b e r e c h t i g u n g d e r Frau. D i e d e u t s c h e F r a u ist als H ü t e r i n d e r sittlichen u n d religiösen G r u n d l a g e n des Familien- u n d V o l k s l e b e n s u n e n t b e h r l i c h . I h r s t e h t die gleichberechtigte M i t w i r k u n g im ö f f e n t l i c h e n Leben zu. D i e R e c h t e d e r Frau als v e r a n t w o r t l i c h e P e r s ö n l i c h k e i t in d e r E r z i e h u n g d e s k ü n f t i g e n G e schlechts u n d im Berufs- u n d Familienleben sind auszugestalten. D i e unersetzlichen W e r t e , d i e d u r c h d i e A r b e i t d e r H a u s f r a u u n d M u t t e r g e s c h a f f e n w e r d e n , sind sozial u n d wirts c h a f t l i c h a n z u e r k e n n e n " (WILHELM MOMMSEN, P a r t e i p r o g r a m m e , S. 537 f.). 57
EBD., S. 538 u n d S. 542. Vgl. d a z u GURY ScHNElDER-LuDORFf, „ Z u gleichwertigen, a b e r a n d e r s a r t i g e n A u f g a b e n g e s c h i c k t " , S. 3 7 9 - 3 9 5 . 58
66
D i e „Politisierung" der evangelischen Frauenbewegung 1 9 1 8 - 1 9 2 5
Umsetzung der Forderung aufeinander angewiesen. Wie bei den meisten Parteien gründete sich alsbald innerhalb der D N V P ein Frauenausschuß, der einerseits für die Werbung neuer weiblicher Mitglieder und die Koordination der Wahlpropaganda unter den Frauen verantwortlich war, zum anderen sich mit als frauenpolitisch relevant angesehenen Themen wie Fragen zu Sittlichkeit und Ehegesetzgebung, Schule und Erziehung befaßte. Dieser Reichsfrauenausschuß wurde besonders durch die evangelischen Frauenvereine unterstützt. 59 Das Engagement Magdalene von Tilings in der
DNVP
Magdalene von Tiling war in den zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre hauptberuflich Politikerin - aus frauenpolitischer Perspektive ein Novum. Als 80jährige charakterisiert sie 1957 in der Retrospektive ihre theoretische und politische Arbeit als ein harmonisches Ineinandergreifen ihrer Interessengebiete, wobei der parteipolitische Alltag den Maßstab für die Praxisrelevanz ihre Theorien gebildet habe. „So war es ganz unmöglich, daß meine Arbeit theoretisch blieb; alle Gedankenarbeit, zum Beispiel auch die Frage von Mann und Frau und nach der Existenz des Kindes, war nie Theorie. Keiner von Ihnen kann sich vorstellen, welch eine Fundgrube des Erkennens der Preußische Landtag und später die Jahre im Reichstag für die Erkenntnis des Wesens der Geschlechter gewesen sind. D a s Parlament hat mir tatsächlich sehr wesentliche Dienste dafür geleistet. Alle Arbeit konnte immer an der Wirklichkeit des Lebens geprüft werden. So sah ich sehr bald in den zwanziger Jahren, d a ß ich auch in Berlin nichts anderes tun sollte als vorher und daß ich hier als Abgeordnete die Linien nur zu vertiefen hatte." 60
Sie vertiefte nicht die Linien ihrer bisherigen Arbeit, sondern entwarf sie neu. Ihre theologische und pädagogische Arbeit, ihre Theorie über das Geschlechterverhältnis sowie das Engagement für die „neue Erziehung" ist auf dem Hintergrund ihrer Abgeordnetentätigkeit ausgestaltet und zu einer Gesellschaftstheorie verschränkt worden. Sie selbst meinte, durch ihre politische Tätigkeit einen Erkenntnisvorsprung zu haben, der sich wiederum auf ihre theoretische Arbeit auswirkte. 61 Im Selbstverständnis von Tilings war also ihre theologische und pädagogische Arbeit nicht von der politischen zu trennen. Inwiefern die Erfahrungen im Preußischen Landtag und später im Reichstag 62 ihre Erkenntnisse über das Wesen der Geschlechter beeinflußten, führt sie in ihrer Äußerung nicht weiter aus. 59 60 61 62
WERNER LIEBE, D e u t s c h n a t i o n a l e V o l k s p a r t e i , S. 36. MAGDALENE VON TILING, R e d e z u m 80. G e b u r t s t a g , S. 106. EBD. V g l . M A R T I N SCHUMACHER, S. 1 6 3 ; E B D . , S. 5 2 1 .
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67
Allerdings war der Handlungs- und Entscheidungsspielraum der Frauen im Preußischen Landtag und im Reichstag in gewisser Weise begrenzt, zum einen, weil es, wie oben bereits angemerkt, keinen parteiübergreifenden Konsens einer „weiblichen Interessenvertretung" gab, zum anderen, weil die Zahl der weiblichen Abgeordneten relativ klein war. Zudem wurden weibliche Kandidaten nicht als Repräsentantinnen besonderer Fraueninteressen wahrgenommen, auch wenn sie selbst zunächst unter dieser Prämisse antraten. So war es auch zunächst das Interesse von Tilings gewesen, durch die Gründung einer Frauenpartei die Interessen von Frauen - von Tiling meinte hier besonders die der Lehrerinnen - zu vertreten. Aber selbst unter den wenigen Frauen, die parteipolitische Erfahrungen mitbrachten fand dieses Anliegen keine Mehrheit. So wurde es auch für von Tiling notwendig, frauenspezifische Interessen hinter die allgemeinen Interessen der Partei zu stellen oder sie als Interessen der Allgemeinheit darzustellen, um überhaupt die Möglichkeit zu erhalten, in der Partei einen gewissen Einfluß auszuüben. Denn die Männer in der D N V P waren bereit, Frauen als Persönlichkeiten zu akzeptieren, nicht aber, „weil sie nur Frauen waren". 63 Die Anträge der evangelischen Frauen zur Reichstagswahl 1930 verweisen in ihrer Argumentation deshalb auf eine notwendige Mitarbeit der evangelischen Frauen bei der Rettung des Gemeinwesens in schwerer Zeit - mit mäßigem Erfolg, denn die Zahl der Mandatsträgerinnen nahm kontinuierlich ab.64 Mit schwindenden Aussichten der Parteien, ihre Reichstagsmandate zu halten, wurden die Frauenkandidaturen zum Problem. Auf den Wahlkreislisten wurden zunehmend Männer vorgezogen. Ende der zwanziger Jahre war die Reichsliste die einzige Möglichkeit, Frauenmandate abzusichern. 65 Einen sicheren Listenplatz und eine einflußreiche Position innerhalb der Partei konnten nur jene Frauen erlangen, die hervorragende Fähigkeiten und Spezialkenntnisse auf Gebieten erworben hatten, die über frauenspezifischer Interessen hinausgingen. Zweifellos gehörte Magdalene von Tiling zu diesen Frauen. Im Rückblick charakterisierte von Tiling den Beginn ihrer politischen Karriere als ein von außen an sie herangetragenes Anliegen, das sie weder selbst initiiert noch aktiv gewollt habe.
65
64
Vgl. BARBARA GREVEN-ASCHOFF, D i e b ü r g e r l i c h e F r a u e n b e w e g u n g , S. 165.
Dies beklagte auch das am 5.10.1932 beschlossene Schreiben der VEFD an die Leitungen der verschiedenen Parteien. Nach dem Rücktritt von Paula Mueller-Otfried 1932 waren im aktuellen Reichstag nur noch 37 Frauen vertreten. Die evangelischen Frauen warnten vor der „schweren Schädigung der evangelischen Sache", würden die evangelischen Frauen nicht im Reichstag vertreten sein. Vgl. AuZ 12,1932, November, S. 73. 65 Vgl. dazu BARBARA GREVEN-ASCHOFF, Die bürgerliche Frauenbewegung, S. 166.
68
Die „Politisierung" der evangelischen Frauenbewegung 1918-1925 „Dann wurde ich auf eine ganz eigentümliche Weise in die Politik hineingerufen - unmißverständlich von Gott hineingerufen [ . . . ] Ich mußte schwer mit mir kämpfen, ob ich Abgeordnete im Preußischen Landtag sein sollte." 66 .
Die Art und Weise der Argumentation, besonders die theologische Begründung, mutet strategisch an. Denn politische Arbeit war von Tiling durchaus nicht fremd, als sie 1921 in Düsseldorf gemeinsam mit Heinrich Stuhrmann als Abgeordnete der D N V P für den Preußischen Landtag kandidierte und schließlich gewählt wurde.67 Im Dezember 1918 und Januar 1919 hatte sie die Ortsgruppe der D N V P in Elberfeld mitbegründet und war in der Folge deren 3. Vorsitzende. Die Ortsgruppe war aus der verbleibenden Parteiorganisation der Christlich-sozialen Partei hervorgegangen, deren Mitglieder sich im November 1918 entschlossen hatten, zur Stärkung der Rechten sich mit anderen konservativen Parteien zur D N V P zusammenzuschließen. 68 1919 wurde sie zur Stadtverordneten der D N V P in Elberfeld gewählt und vertrat die Partei in Schulangelegenheiten. Zudem hatte sie sich bereits im Kaiserreich mit schulpolitischen Fragen auseinandergesetzt und sich durch ihre Stellung als Leiterin der Frauenschule in Elberfeld pädagogisch, bildungs- und schulpolitisch engagiert. Nachdem sie bereits 1919 für den Preußischen Landtag kandidiert hatte, wurde sie schließlich 1921 für dem Wahlkreis Düsseldorf Ost in den Preußischen Landtag gewählt. Die Kandidatur wurde 1925 und 1928 erfolgreich erneuert. Als Abgeordnete machte sie es sich zur Aufgabe, sich für die Interessen der evangelischen Schulen wie der Mädchenschulen einzusetzen. Somit verzahnte sie ihre frauenspezifischen Interessen, die besonders die Verbesserung der Situation von Lehrerinnen und der Mädchenbildung im Blick hatten, mit den allgemeinen Interessen der Partei und der evangelischen Kirche, die Bekenntnisschulen und den Religionsunterricht zu erhalten. Die Möglichkeit für von Tiling, ihr Anliegen in dieser Form zu vertreten und dafür auch weitgehende Unterstützung männlicher Kirchenfunktionäre zu erhalten, bot die D N V P wie keine der anderen Parteien. Und auch die D N V P konnte durch die Mitgliedschaft von prominenten Vertreterinnen der konservativen Frauenverbände in ihren Reihen zumindest nach außen ihr Eintreten für Fraueninteressen dokumentieren. 1921 wurde von Tiling Mitglied des Reichsfrauenausschusses der DNVP. Zugleich wurde sie Mitglied des Evangelischen Reichsausschusses der D N V P und dort mit der Vertretung der Interessen der evangelischen Volksschulen im Reichsschulgesetz betraut. Dem Vorstand gehörten u. a. Wilhelm Kähler 69 , Volkswirtschaftsprofessor in Greifswald, Pfarrer Carl 66
MAGDALENE VON T I U N G , R e d e z u m 8 0 . G e b u r t s t a g , S. 1 0 5 f.
67
D I E W A C H T 2 0 , 1 9 2 1 , N r . 3.
68
NORBERT FRIEDRICH, „Die christlich-soziale Fahne empor!", S. 177 ff. Zur Person vgl. ECKHARD OBERDÖRFER, Noch 100 Tage bis Hitler.
69
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69
Gunther Schweitzer, Vorsitzender des berufsständischen Ausschusses der evangelischen Pfarrer, und Reinhard Mumm an. Magdalene von Tiling, und der westfälische Pfarrer Karl Koch zeichneten als deren Stellvertretung.70 Die Verwobenheit von partei-, frauen- und kirchenpolitischen Interessen zeigt sich auch darin, daß sie bald nach ihrem Umzug nach Berlin in den Arbeitsausschuß der neugegründeteten Vereinigung Evangelischer Frauenverbände berufen und 1923 zu deren erster Vorsitzenden gewählt wurde. Kraft dieses Amtes war sie zugleich Mitglied im Centraiausschuß der Inneren Mission und also im Hauptgremium des sozialen Protestantismus der Weimarer Republik tätig. Hier engagierte sie sich beispielsweise für ein Votum der Inneren Mission gegen die Angriffe der Deutschkirche und der völkischen Bewegung auf die Kirche und christliche Politikerinnen und Politiker. Hier trat sie für die Interessen und die Anerkennung der evangelischen Frauen ein und für die evangelischen Schulen. Die Interessen der evangelischen Kirche am Erhalt des evangelischen Religionsunterricht und der Bekenntnisschulen sowie die Interessen der Inneren Mission vertrat sie wiederum im Preußischen Landtag. Hier setzte sich auch für die Rechte der Freikirchen ein, denen auch mit der Weimarer Verfassung die gesetzliche Anerkennung als Körperschaften des öffentlichen Rechts versagt geblieben war. Allerdings läßt sich für das politische Engagement der Frauen in der D N V P am Beispiel von Tilings feststellen, daß diese weit mehr „im Hintergrund", also in den Ausschüssen wie dem Evangelischen Reichsausschuß oder dem Reichsfrauenausschuß und in den Vereinen agierten als in der Öffentlichkeit des Preußischen Landtags oder des Reichstags. So weisen die Sitzungsprotokolle des Preußischen Landtags zwischen 1921 und 1930 nur wenige Wortmeldungen und Reden Magdalene von Tilings auf, die meisten in der Zeit zwischen 1925 und 1928. Hier lassen sich vier Reden und einige Anträge die Schulpolitik betreffend nachweisen. So stellte sie beispielsweise in der Sitzung vom 14. Dezember 1925 den Antrag, die rechtliche Stellung von Privatschulen zu sichern und den Schulabgängerinnen und -abgängern von Privatschulen die Ablegung von Prüfungen vor einen Prüfungsausschuß an den Provinzialschulkollegien zu ermöglichen. Zudem sollten private Vor- und Grundschulen die Erlaubnis erhalten, zu privaten Volksschulen ausgebaut zu werden. 7 ' In der Sitzung vom 4. Dezember 1926 intervenierte sie gegen die Einsetzung eines konfessionslosen Schulrates über die evangelischen Schulen in Dortmund Land mit der Begründung, daß evangelische Schulen von einem „dissidentischen" Schul70
BARCH BERLIN, N L Reinhard Mumm, 3/456.
n
V g l . SITZUNGSBERICHTE DES PREUSSISCHEN LANDTAGS, 1 0 8 . S i t z u n g , 2. W a h l p e r i o d e ,
1.Tagung am 14.12.1925, Antrag 1669 Magdalene von Tiling, Sp.7342.
70
Die „Politisierung" der evangelischen Frauenbewegung 1918-1925
rat nicht im evangelischen Geist geführt werden könnten. In Anbetracht der Situation in der Umgebung Dortmunds, wo die evangelischen Bevölkerungskreise an den konfessionellen Schule starkes Interesse hätten, sei die Einstellung eines nicht evangelischen Schulrates nicht zu vertreten. 72 Auf der Sitzung am 19. März 1927 plädierte sie dafür, die älteren Oberlehrerinnen, die über keine akademische Ausbildung verfügten, weiterhin in der Oberstufe unterrichten zu lassen, ohne daß die betreffenden Schulen als nicht akademisiert angesehen würden. Weiterhin verlangte sie, den weiblichen Einfluß an Mädchenschulen und an Privatschulen zu verstärken, also vermehrt Lehrerinnen einzustellen. Sie schlug vor, an den Privatschulen eine Amtsbezeichnung für die Lehrkräfte und die Direktoren einzuführen und die Lehrkräfte der Privatschulen als vollwertige Teilnehmer bei Lehrgängen anzuerkennen. An der Durchführung der Schulreform kritisierte sie den ihrer Meinung nach zu sehr ausgeprägten Individualismus in der Pädagogik, der die Schülerinnen und Schülern mit einer zu großen Eigenverantwortung konfrontiere und sie damit aus den Zusammenhängen, die auf Beziehung basierten, entwurzele. Weiterhin wandte sich von Tiling gegen einen sich ihrer Meinung nach in den vergangenen Jahren durchsetzenden Intellektualismus im Mädchenschulwesen und die Tendenz, für alle Frauenberufe, auch für Krankenschwestern und Kindergärtnerinnen, das Abitur zur Voraussetzung zu machen. Dies überfordere nicht nur die Eltern finanziell, sondern verhinderte die Ausbildung der weiblichen Fähigkeiten des Sorgens und Pflegens bei den Mädchen. Statt dessen begrüßte sie die Forderung nach der Schaffung einer Frauenoberschule, weil in ihr „eine Hochbildung der Frau und zugleich eine Ausbildung der weiblichen Anlagen für Frauenberufe gegeben" sei.73 Den wenigen Äußerungen im Preußischen Landtag stehen die zahlreichen Vorträge und Publikationen mit wesentlich differenzierterer Thematik gegenüber, mit denen sie in den Frauenverbänden, in kirchlichen Kreisen und in den Gremien der Inneren Mission auf den Meinungsbildungsprozeß einzuwirken suchte. Es ist festzustellen, daß von Tiling in ihrem politischen Engagement in verschiedenen Bereichen agierte und hier ein Vermittlung anstrebte. Obwohl sie Berufspolitikerin war, nahm die Arbeit in den Gremien und an der Basis weitaus mehr Zeit und Energie in Anspruch als die Profilierung im Preußischen Landtag. Allerdings gelang ihr dadurch, daß sie sich einerseits als evangelische Berufspolitikerin mit den Fragen von Kirche und Schule auseinandersetzte und andererseits mit ihren Vorträgen 72
V g l . SITZUNGSBERICHTE DES PREUSSISCHEN LANDTAGS, 2 2 7 . S i t z u n g , 2 . W a h l p e r i o d e ,
1 . T a g u n g a m 4.12.1926, Sp. 1 5 7 0 4 - 1 5 7 0 8 . 73
V g l . SITZUNGSBERICHTE DES PREUSSISCHEN LANDTAGS, 2 6 0 . S i t z u n g , 2 . W a h l p e r i o d e ,
1 . T a g u n g a m 19.3.1927, Sp. 1 8 0 9 1 - 1 8 0 9 8 .
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71
und Publikationen meinungsbildend tätig wurde, eine Vermittlungsfunktion zwischen den Kirchenbehörden, politischen Parteien und der protestantischen „Basis". Ihr Politikverständnis war eng mit dem der Partei verbunden, was sich besonders darin äußerte, daß sie die Terminologie des Chefideologen Brunstäd 74 übernahm und in ihre theoretischen Überlegungen miteinschloß, wie sich an der Aufnahme der Begriffe „Einheitsfront" und „Volksgemeinschaft" zeigt. Als ambivalent ist ihr Verhältnis gegenüber der Demokratie zu bewerten. Sie erkannte die große Chance, die für die gesellschaftspolitische Partizipation von Frauen in dem neuen demokratischen System steckte. Und auch wenn die Verbände, in denen Magdalene von Tiling tätig war, im Kaiserreich eher ablehnend gegenüber dem Stimmrecht für Frauen eingestellt gewesen war, findet sich bei ihr zu Beginn der zwanziger Jahre keine Resignation oder explizite Kritik gegenüber dem neuen politischen System. Im Gegenteil ist der Tenor der Schriften trotz des verlorenen Krieges eher durch Aufbruchstimmung gekennzeichnet in der Hoffnung, daß protestantische Frauen nun maßgeblich an der Erneuerung des Staates und der Kultur beteiligt sein würden. Wie die Vertreterinnen konservativer Frauenverbände war Magdalene von Tiling an Wahlaufrufen und Wahlinformationsveranstaltungen beteiligt. Wie kaum eine andere plädierte sie in ihren Artikeln in den verschiedenen Verbandsorganen für das gesellschaftliche Engagement und die politische Verantwortung von (protestantischen) Frauen. Von Tiling nutzte also die Errungenschaften, die die Demokratie den Frauen gebracht hatte. Sie erkannte, daß von hier gesellschaftliche Gestaltungsmöglichkeit für Frauen ausgehen konnten. Mit geschlechtersensibilisierter Perspektive machte sie es sich zur Aufgabe, die protestantischen Frauen zu „politisieren". Somit muß Magdalene von Tiling zumindest zu Beginn der Weimarer Republik, also in den Jahren 1919 bis 1924, eine affirmative Haltung zur Demokratie insofern bescheinigt werden, als sie deren Errungenschaften für Frauen erkannte und verteidigte. Andererseits ist nicht zu übersehen, daß die DNVP, der sich von Tiling zugehörig fühlte, seit ihrer Gründung den antidemokratischen und antisemitischen Charakter betonte. Als von Tiling mit Beginn der dreißiger Jahre der entscheidende Sprung ihrer politischen Karriere gelang, indem sie als Abgeordnete in den Reichstag einzog, hatten sich die politischen Vorzeichen bereits verändert. Die demokratischen Rechte des Parlaments waren weitgehend außer Kraft gesetzt, die Mitsprache der Mitglieder D N V P drastisch reduziert worden. So nimmt es auch nicht wunder, daß für die Jahre 1930-1933, in denen
" JAN STRIESOW, Deutschnationale Volkspartei, S. 307.
72
Die „Politisierung" der evangelischen Frauenbewegung 1918-1925
Magdalene von Tiling als Abgeordnete der D N V P im Reichstag saß, in den Stenographischen Berichten des Reichstages kein Redebeitrag von Tilings nachzuweisen ist.75 Zugleich nahm ihre Publikations- und Vortragstätigkeit zu und wies eine neue politische Ausrichtung auf, die von der Parteipolitik Hugenbergs Ende der zwanziger Jahre ausgelöst worden war.
2. Magdalene von Tilings kirchenpolitisches Engagement Die Evangelisch-Lutherische Kirche Altpreußens Magdalene von Tiling war im Jahr 1910 der altlutherischen Gemeinde in Elberfeld beigetreten.76 Sie gehörte damit der „Evangelisch-Lutherischen Kirche Altpreußens" an, einer lutherischen Freikirche, die sich 1830 aus Protest gegen die Einführung der Preußischen Union von der Landeskirche abgespalten hatte. 77 In der Hoffnung, die innerkirchlichen Streitigkeiten zwischen Lutheranern und Reformierten endgültig zu beenden und dadurch auch eine staatspolitische Stabilität herbeizuführen, hatte König Friedrich Wilhelm III. 1830 beide Kirchen zur einer protestantischen Einheitskirche zusammengefügt: zur Kirche der Altpreußischen Union. Dieser Eingriff des Staates in kirchliche Angelegenheiten führte besonders bei einigen lutherischen Gemeinden und Gruppen zu Protest und Opposition. Denn die aus der Erweckungsbewegung der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und der lutherischen Orthodoxie hervorgegangene konfessionelle Bewegung bestritt der neuen preußischen Unionskirche die Kontinuität mit der lutherischen Reformation. Sie war überzeugt, daß das lutherische Bekenntnis die kirchliche Gemeinschaft mit den reformierten Kirchen nicht zulasse, da für den lutherischen Kirchengedanken die Einheit der Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung wesentlich sei. Folge dieser Überzeugung war die Loslösung jener Gruppen von der Kirche der Altpreußischen Union. So kam es 1830 in Breslau zur Bildung der ersten Gemeinde der unionsfreien lutherischen Kirche mit 2500 Mitgliedern unter der Führung des Theologieprofessors Gottfried Scheibel. Von nun an beanspruchten die unionsfreien lutherischen Gemeinden für sich, die genuine Fortsetzung der Kirche lutherischer Reformation zu sein.
75
V g l . STENOGRAPHISCHE BERICHTE DER VERHANDLUNGEN DES DEUTSCHEN REICHSTAGES
1919-1933, S. 423 ff. M i t g l i e d s b e s c h e i n i g u n g ( L K A HANNOVER, N 77
127/2).
Zum folgenden vgl. ULRICH KUNZ, Evangelisch-Lutherische Freikirchen; MARTIN KL-
UNKE, A r t . A l t l u t h e r a n e r , S p . 5 4 4 - 5 4 6 ; FRIEDRICH WILHELM GRAF, K o n s e r v a t i v e s K u l t u r l u thertum,
S. 3 1 - 7 6 ;
W O L F DIETER HAUSCHILD,
Art
Luthertum,
Sp. 2 2 0 - 2 2 8 ;
FRIEDRICH
WILHELM KANTZENBACH/JOACHIM MEHLHAUSEN, A r t . N e u l u t h e r t u m , S. 3 2 7 - 3 4 1 .
Die politischen Aufgaben in der neuen Republik 1918-1922
73
Der Preußische Staat bekämpfte diese Gemeinden, sah er sie doch als Bedrohung der protestantischen Einheitskirche an. Den Gemeinden wurde die Abhaltung von Gottesdiensten verboten, Pfarrer wurden suspendiert und inhaftiert. Erst unter Friedrich Wilhelm IV. kam es 1845 zur Anerkennung der unionsfreien lutherischen Gemeinden neben der Staatskirche. Der Titel „Kirche" blieb ihnen allerdings versagt. Man gab sich eine freikirchliche Struktur. Da die Altlutheraner das landesherrliche Kirchenregiment um seines unierten Charakters willen ablehnten, hatten sie sich um 1840 bereits eine eigene Kirchenleitung gegeben, die ihren Sitz in Breslau hatte. Dieses „Oberkirchenkollegium" setzte sich aus mehreren Kirchenräten zusammen. Der Präsident des Oberkirchenkollegiums, der Oberkirchenrat, wurde zum primus inter pares bestimmt. Das oberste Gremium war die Generalsynode, vor der die Kirchenleitung Rechenschaft ablegen mußte. In ihr hatte das presbyteriale Element starkes Gewicht durch die zahlreichen nicht-theologischen Vertreter der einzelnen Gemeinden. Trotz der Anerkennung in den 1840er Jahren durch Friedrich Wilhelm IV. mußten sich die lutherischen Freikirchen über Jahrzehnte hinweg selbst finanzieren. Sie erhielten keine finanzielle Unterstützung des Staates. Auch mit der Weimarer Verfassung, die die verfaßten Kirchen zu Körperschaften des öffentlichen Rechts deklarierte und ihnen die staatliche Unterstützung zusicherte, änderte sich der Status für die lutherischen Freikirchen nicht. Erst im Jahre 1930 erlangte die Evangelisch-Lutherische Kirche Altpreußens den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts und damit die selben Rechte wie die verfaßten Kirchen. Die lutherischen Freikirchen stellten auch in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts eine kleine Minderheit dar. So zählte die Evangelisch-Lutherische Kirche Altpreußens ca. 60.000 Mitglieder in rund 180 Gemeinden. Magdalene von Tiling gehörte als Mitglied der altlutherischen Kirche also einer angefochtenen Minderheit an. Lassen sich die Gründe für den Eintritt 1910 in die Elberfelder altlutherische Gemeinde nicht mehr eindeutig rekonstruieren, bleibt doch festzuhalten, daß sie diesen Schritt bewußt vollzogen hat. Sie fand hier ihre theologische Position unterstützt, wie die aus dem Neuluthertum herkommende starke Betonung der Bedeutung von Bekenntnis und Schrift und die konfessionell-lutherische Ausrichtung. Zudem war die Ähnlichkeit des Kirchenverständnisses zum baltischen Luthertum unverkennbar. Auch hier handelte es sich um eine Minderheit, die mit einem Elitebewußtsein auftrat und den Anspruch verkörperte, die einzig legitime Nachfolge der Reformation angetreten zu haben. Auch hier herrschte das Bewußtsein, einer Gruppe anzugehören, die zwar in zurückhaltender Loyalität zum Staat stand, aber institutionell nicht an ihn gebunden und somit von dessen Entscheidungen weitgehend unabhängig sein wollte. Ein Eingriff in die eigenen kirchlichen
74
Die „Politisierung" der evangelischen Frauenbewegung 1918-1925
Angelegenheiten, wie er bei den verfaßten Landeskirchen durch die enge Verbindung von Staat und Kirche gegeben war, wurde nicht geduldet. So war das Verhältnis zwischen den altlutherischen Freikirchen und dem Staat schon von der geschichtlichen Entwicklung her durch die Betonung der Unabhängigkeit der eigenen Angelegenheiten gegenüber dem Staat geprägt. Jedoch war es nicht nur die Unabhängigkeit gegenüber dem Staat, sondern auch die Selbständigkeit gegenüber der verfaßten Kirche, die das Selbstbewußtsein der Altlutheraner prägte. Dies ermöglichte sowohl eine kritische Distanz zum Staat und dessen Politik als auch zur verfaßten Kirche, ein Hinterfragen des Staatskirchentums bzw. der Verbindung von Thron und Altar. Die Überzeugung, die genuine Nachfolge der lutherischen Reformation zu verkörpern, bedeutete in ihrer kritischen Distanz zum Staat und zur verfaßten Kirche jedoch keine politische Abstinenz. Im Gegenteil, aus der Haltung der „Opposition" konnten eigene Vorstellungen am besten eingefordert werden, mit der Begründung, aus der staatlichen und kirchlichen Unabhängigkeit heraus und vom lutherischen Verständnis her das Verhältnis von Kirche und Staat kritisch zu entwerfen. „Erziehung zu kirchlichem Bewußtsein und kirchlicher Gemeinschaft" - die kirchenpolitische Option Magdalene von Tilings zu Beginn der zwanziger Jahre In der Schrift von 1923 „Erziehung zu kirchlichem Bewußtsein und kirchlicher Gemeinschaft" entwickelte Magdalene von Tiling zum ersten Mal ihr Kirchenverständnis. 78 Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang, daß die Schrift dem Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens, Ludwig Ihmels, gewidmet ist. Dieser war im August 1923 zum Vorsitzenden des Ersten Lutherischen Weltkonventes in Eisenach gewählt worden und galt als ein Mann, der besonders um die Einheit im Luthertum bemüht war.79 Als Angehörige der altlutherischen Gemeinde und damit einer religiösen Minderheit war es Magdalene von Tiling ein Anliegen, daß auch diese Richtung des Luthertums als Teil desselben anerkannt wurde.
78
MAGDALENE VON TILING, Erziehung zu kirchlichem Bewußtsein. Ludwig Ihmels war Studiendirektor am Kloster Loccum und Professor an den Theologischen Fakultäten Erlangen und Leipzig w o er mehrere Generationen von Theologen geprägt hat. Als Vorsitzender der Allgemeinen Evangelisch-Lutherischen Konferenz, als sächsischer Landesbischof, als Vizepräsident im ständigen Ausschuß des Lutherischen Weltkonventes und durch sein ökumenisches Engagement war er weit über den Kontext der deutschen Landeskirchen hinaus bekannt. Besonders seit 1919 bemühte er sich um die Integration von freien Zusammenschlüssen „positiver" Laien und Theologen. Auf seine Initiative wurde aus dem lockeren Zusammenschluß der deutschen Lutheraner ein „Lutherisches Einigungswerk", das die Kontakte zum Luthertum in anderen Ländern ausbaute(vgl. dazu UWE RIESKE-BRAUN, Ludwig Ihmels, S. 349-368). 79
D i e p o l i t i s c h e n A u f g a b e n in d e r n e u e n R e p u b l i k 1 9 1 8 - 1 9 2 2
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Demnach bestand ihre Hauptkritik an der Auffassung, unter dem Begriff der Kirche seien lediglich die verfaßten Landeskirchen zu subsumieren. „ W e n n w i r v o n E r z i e h u n g z u r kirchlichen G e m e i n s c h a f t r e d e n , s o d e n k e n w i r n a t ü r l i c h nicht an d a s , w a s heute l e i d e r a u c h unter d e n E v a n g e l i s c h e n s o v i e l f a c h unter , K i r c h e ' v e r s t a n d e n w i r d : K i r c h e n b e h ö r d e n u n d P a s t o r e n , verfaßte Landeskirchen."80
Hier kommt die Kritik der Altlutheraner an den verfaßten Landeskirchen und deren Behördenapparat, also der Institution Kirche zum Tragen. Im Gegenzug dazu plädierte von Tiling für ein übergreifendes Verständnis von Kirche als ein über Nationen und Generationen - und Institutionen hinausgehendes Gottesvolk, das in denselben Lebensgrund eingewurzelt sei.81 Kirche ist nach von Tiling die Gemeinschaft derer, die durch Christus zu Gott gekommen sind. In diese Kirche, dem Gottesvolk, werde der Mensch nicht hineingeboren. Auch damit markiert sie den Gegensatz zur verfaßten Kirche. Die Aufnahme in die Gemeinschaft erfolge zum einen durch Gott, der durch den Heiligen Geist in die Gemeinschaft hineinnimmt, zugleich müsse der einzelne die persönliche Entscheidung treffen, dazugehören zu wollen. D a s Gottesvolk erschöpft sich also nach von Tiling nicht in der Zugehörigkeit zur verfaßten Landeskirche. Die heilige Gemeinde, das Gottesvolk sei eine jenseitige Größe, die nur geglaubt werden könne und von dort ihre Kraft erhalte. Hier folgte von Tiling dem Kirchenverständnis der Altlutheraner, das für die zwanziger Jahre der Theologe Werner Eiert, selbst Mitglied der Evangelisch-Lutherischen Kirche Altpreußens, reformuliert hat. 82 Für von Tiling war es jedoch auch ein pädagogisches Anliegen, die Erziehung in die „unsichtbare Kirche des Glaubens" zu erreichen. Bibel und Glaubensbekenntnis, die Gemeinschaft des Gebets, die heiligen Handlungen wie Taufe und Abendmahl seien die irdisch wahrnehmbare Seite jenes Gottesvolkes; diese gelte es zu vermitteln. Die irdisch wahrnehmbare Seite des Gottesvolkes werde allerdings in den unterschiedlichen Ausprägungen der kirchlichen Gemeinschaften erlebt. Gegenüber der Auffassung, daß Kirche erst durch die Kirchenverfassung zur Kirche werde, plädierte von Tiling für die Anerkennung der Unterschiedlichkeiten und der Erkenntnis, daß alle Christinnen und Christen in den gleichen Lebensgrund eingewurzelt seien. „ [ . . . ] s o s u c h e n viele unter uns mit heißem H e r z e n n a c h kirchlicher G e m e i n s c h a f t . D a m i t a b e r wird die A u f g a b e d e r W i e d e r g e w i n n u n g und W i e d e r e r -
80 81 82
Erziehung zu kirchlichem Bewußtsein, S. 8. Zum folgenden EBD., 8 ff. Zu Werner Eiert vgl. WALTER SPARN, Eiert, S. 159-183.
76
Die „Politisierung" der evangelischen Frauenbewegung 1918-1925 weckung von kirchlichem Bewußtsein und kirchlicher Gemeinschaft nicht nur eine Frage der Schule und der Kindererziehung, sondern zu einer Aufgabe an unserem evangelischen Volk überhaupt, zu einer Aufgabe all derer, die an der Seele unseres Volkes arbeiten. Wir ziehen aus, um Kirche wieder neu zu suchen in einer Zeit, die nicht mehr weiß, was Kirche ist, und doch so unendlich viel von , Volks'- und , Landeskirche 1 und von , Kirchen Verfassung' redet." 8 3
Die zeitgenössische Diskussion um die Verfassung der Kirchen in der Weimarer Republik ging also nach von Tiling am Wesentlichen vorbei. Von Tilings Kritik richtete sich zum einen gegen einen zu engen Kirchenbegriff, der in ihren Augen die Kirche nur als verfaßte Kirche versteht. Zugleich stellte dies eine Kritik an einer Kirche dar, die zu sehr auf die Verbindung mit dem Staat und der gesetzlichen Verankerung ihrer Interessen bedacht war. Die Suche nach der wahren kirchlichen Gemeinschaft ist jedoch nach von Tiling das Wesentliche, worum es in der Gestaltung des neuen Gemeinschaftsbewußtseins gehen muß. Und darin haben kirchliche Gemeinschaften, wie sie von Tiling in ihrer altlutherischen Tradition vertritt, einen Vorsprung gegenüber den Landeskirchen. Denn im Gegensatz zu letzteren wird hier die Einwurzelung aller kirchlichen Gemeinschaften in den gemeinsamen Lebensgrund gesehen. Es ist jedoch nicht zu übersehen, daß die Schrift von Tilings neben der Kritik an den Diskussionen um das Verhältnis von Staat und verfaßter Kirche auch eine gleichberechtigte Anerkennung der lutherischen Freikirchen neben der verfaßten Kirche intendierte. Denn auch diese sind in den Augen von Tilings Teil von Kirche und liefern durch ihr Selbstverständnis einen Beitrag zur christlichen Erneuerung des Staates. In diesem Sinne gilt das weitere kirchenpolitische Engagement von Tilings. Ahnlich wie Eiert in seinem 1924 erschienene Werk „Die Lehre des Luthertums im Abriß" 84 beschreibt auch von Tiling die ethische Aufgabe eines modernen Luthertums im Sinne einer Berufs- und Kulturarbeit. Daraus folgte eine Mitarbeit in allen den Staat und die Kirchen betreffenden Bereichen, auch oder gerade weil das politische System der Weimarer Republik im Sinne der konservativen Lutheraner nicht die gewünschte Staatsform war - eine Position, wie sie von Tiling ab 1925 in ihren Schriften vertrat. Sie sah die Möglichkeit, Veränderung herbeizuführen, wenn es ihr gelang, den weiblichen Teil des Protestantismus zu mobilisieren. Zugleich war ihr die Chance bewußt, die herkömmliche Bewertung der Arbeitsverteilung zwischen den Geschlechtern im Protestantismus aufzubrechen und neu zu gestalten. Eine Konsequenz aus diesem Anspruch auf Mitgestaltung des neuen Gemeinwesens war das Eintreten Magdalene von Tilings für das kirchliche Stimmrecht von Frauen. 83
Erziehung zu kirchlichem Bewußtsein, S. 17.
84
WERNER ELF.RT, Die Lehre des Luthertums im Abriß.
Die politischen Aufgaben in der neuen Republik 1918-1922
77
Magdalene von Tilings Eintreten für das kirchliche Stimmrecht von Frauen Mit der Einführung des politischen Wahlrechts für Frauen stand die Kirche zunehmend unter Zugzwang, das aktive und passive Wahlrecht den Frauen auch in der Kirche zu gestatten. Die Forderung nach dem kirchlichen Stimmrecht hatte bereits Elisabeth Malo 1886 aufgestellt, und in den Jahren nach der Jahrhundertwende hatten sich Paula Mueller und der Deutsche Evangelische Frauenbund in zahlreichen Petitionen an Kreis-, Landes- und Provinzialsynoden vehement für das Frauenstimmrecht eingesetzt.85 Die Verweigerung des Stimmrechts wurde u. a. damit begründet, daß die Frauen nach Erhalt des kirchlichen Stimmrechts auch das politische fordern würden. Den Vertretern und Vertreterinnen dieser Position war nun mit der neuen Situation der Wind aus den Segeln genommen, und sie mußten sich die Frage gefallen lassen, wie lange nach den staatlichen Entscheidungen den Frauen noch das kirchliche Stimmrecht vorenthalten werden konnte. Die Auseinandersetzung um das kirchliche Stimmrecht schlug in den kirchlichen Blättern hohe Wellen, da es zugleich mit einem anderen brisanten Sujet verbunden war: der Zulassung von Frauen zu Gemeindeämtern und zum Pfarramt. Denn die Gewährung des kirchlichen aktiven und passiven Wahlrechtes mußte auch die Übernahme von bisher den Männern vorbehaltenen Amtern und Gremien bedeuten. Die erste Initiative zur Gründung einer Berufsorganisation unternahm 1919 Carola Barth; die Möglichkeit, Pfarrerin zu werden, war jedoch bei den Theologinnen noch kaum im Blick.86 Dafür wurde um so hartnäckiger um das kirchliche Wahlrecht gestritten - ein Streit, in den sich alsbald auch Magdalene von Tiling einmischte. In der Allgemeinen Evangelisch-Lutherischen Kirchenzeitung, dem größten führenden kirchlichen Organ des gesamten evangelischen Deutschlands, waren im Frühjahr 1919 zwei Artikel erschienen, deren Autorinnen sich hinter dem Decknamen Chloe und Phoebe verbargen. 87 Chloe plädierte 85 Zu Elisabeth M a l o vgl. CHRISTIANE MARKERT-WIZISLA, Elisabeth M a l o ; zu politischen O p t i o n e n von evangelischen Frauen im Kaiserreich vgl. JOCHEN-CHRISTOPH KAISER, Z u r Politisierung des Verbandsprotestantismus, S. 254-271. Zur Arbeit des D E F : DORIS KAUFMANN, Frauen zwischen A u f b r u c h und Reaktion, S. 29 ff.; URSULA BAUMANN, Protestantismus und Frauenbewegung, S. 126-138. 86 Z u r Diskussion um die Zulassung von Frauen zum P f a r r a m t vgl. den sehr guten Überblick in der Studie von CHRISTIANE DRAPE-MÜLLER, Frauen auf die Kanzel?, sowie den Sammelband zu diesem T h e m a : „DARUM WAG T ES, SCHWESTERN . . . " . Zu Leben und W e r k der Theologin Carola Barth vgl. DAGMAR HENZE, Zwei Schritte vor. 87
AELKZ
52,
1919,
S. 1 8 7 - 1 9 0
und
207-213.
Den
Hinweis verdanke
ich
CHRISTIANE
DRAPE-MÜLLER, die am Beispiel dieser beiden Artikel die Diskussion zum weiblichem P f a r r a m t und Stimmrecht zu Beginn d e r Weimarer Republik dargestellt hat (Frauen auf die Kanzel? S. 7, 39 f.). Bei d e n Pseudonymen handelt es sich um zwei Frauen. D u r c h weitere
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Die „Politisierung" der evangelischen Frauenbewegung 1918-1925
in ihrem Artikel „Die Stellung der Frau in der Kirche" für das Frauenstimmrecht, da sie im Hinblick auf die gesellschaftspolitischen Umbrüche neue Aufgaben sah, denen sich die Frauen nicht entziehen dürften und denen die Männer in der Kirche nicht alleine gewachsen seien. Die Kirche bedürfe also der Mitarbeit der Frau, deren Angebot zur Hilfe nicht abgelehnt werden dürfe. Rhetorisch geschickt zitiert Chloe in einem nächsten Schritt die zentralen zeitgenössischen Argumente der Gegner, die die Frau auf Hausarbeit und christliche Kindererziehung festlegten, die kirchlichen Leitungsfunktionen den Männern vorbehalten wissen wollten, die Mitarbeit der Frauen in der Kirche zwar schätzten, das Stimmrecht aber für unnötig erachteten und zudem auf das pseudopaulinische mulier taceat in ecclesia verweisen. Die Argumentation Chloes diente der systematischen Widerlegung der gegnerischen Prämissen. Sie sprach den beiden oft traktierten neutestamentlichen Stellen, die gewöhnlich gegen das Frauenstimmrecht bemüht wurden, 1. Tim 2,12 und 1. Kor 14,34 die Autorität ab, auf den zeitgenössischen Kontext der Weimarer Republik als Antwort herangezogen werden zu können. Es handele sich lediglich um das Auftreten in gottesdienstlichen Versammlungen und sage nichts über die Anteilnahme der Frauen in der Gemeindeleitung, Presbyterien oder Gemeindevertretungen, die es zu jener Zeit sowieso nicht gegeben habe. Damit seien diese Bibelstellen gänzlich ungeeignet für die Beurteilung des aktiven oder passiven Wahlrechtes der Frauen. In Berufung auf Luther und das Priesteramt aller Gläubigen sah sie prinzipiell kein Hindernis für Frauen gegeben, das Predigtamt wahrzunehmen. Nach der deutlichen Weigerung, die bisherigen ekklesiologischen Engführungen der konservativen Gegner hinzunehmen, entwarf sie eigene Kriterien für die Beurteilung sowohl des Stimmrechts als auch des Predigtamtes für Frauen - ein ambivalentes wie originelles Unterfangen, denn sie machte gerade 1. Kor 11 zum Ausgangspunkt der Beantwortung beider o. g. Problemfelder. In 1. Kor 11 sah sie ein Beispiel für das in der Schöpfungsordnung von Gott festgelegte Verhältnis von Frau und Mann: Die hier gemachten Aussagen charakterisierten die jeweilige Wesensart von Mann und Frau. Von dem dort vorliegenden Verständnis
mir vorliegende Quellen ist es mir inzwischen möglich geworden, die Autorinnen eindeutig zu identifizieren. Hinter Chloe verbirgt sich Magdalene von Tiling. Phoebe steht für die Rostocker Baronin Ida von Meerheimb, die im Deutschen Bund zur Bekämpfung der Frauenemanzipation mitarbeitete und sich bereits 1906 als erbitterte Gegnerin des D E F profiliert hatte (vgl. URSULA BAUMANN, Protestantismus und Frauenemanzipation, S. 210). Die Pseudonyme waren von der Redaktion ohne das Wissen der Autorinnen vergeben worden. In der sehr sorgfältig wiedergegebenen Diskussion in der Untersuchung von Christiane Drape- Müller erscheint mir die als Ansicht Chloes wiedergegebene Position gegen das Frauenstimmrecht jedoch nicht ganz zutreffend dargestellt. Vielmehr handelt es sich hierbei um die Ansicht der Gegner, die sie zitiert und in ihrem Artikel zu widerlegen sucht. Chloe engagiert sich nicht gegen, sondern für das kirchliche Stimmrecht.
D i e politischen Aufgaben in der neuen Republik 1 9 1 8 - 1 9 2 2
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der unterschiedlichen Wesensart der männlichen und weiblichen Psyche müsse zukünftig ausgegangen werden, wenn die Frage nach den kirchlichen Rechten der Frauen beantwortet werden soll. Spätestens hier hatte sich die Autorin als den Interessen der konservativen evangelischen Frauenbewegung nahestehend enttarnt. Die weiteren Ausführungen stellten dann auch den Versuch dar, das Theorem der „geistigen Mütterlichkeit" unter der Betonung der weiblichen Eigenart theologisch zu begründen, wobei sie besonders den Begriff der Hingabe verwandte. Nach 1. Kor 11 sei das Verhältnis von Mann und Frau mit kephale und doxa charakterisiert, also die Geschlechter als Haupt und Ehre bestimmt. Während dem Mann als Haupt die Führungsposition in allen äußeren Dingen vorbehalten sei, sei die Aufgabe der Frau, dem Manne Ehre zu sein. „Die Frau gibt sich selbst, und sie gibt sich ganz dem, was sie sagt und tut." Aufgrund dieser weiblichen Charakteristik, deren Ausbildung besonders das Christentum garantiere, zog Chloe zwei Schlüsse: Zum einen sei die Frau deshalb nicht zum Pfarramt geeignet, weil hier die Gefahr bestünde, die weibliche Eigenart zu verlieren, da sie ihr Innerstes zu sehr der Öffentlichkeit preisgeben müßte. Zum anderen - und hier zeigt sich das eigentliche Anliegen Chloes - profitiere gerade die weibliche Psyche mit dem ihr eigenen Wunsch nach Hingabe und Liebe durch die Teilhabe an der öffentlichen politischen Tätigkeit. Daher müsse die Kirche endlich die Mitarbeit der Frauen fordern und diese zu Ämtern und Gremien zulassen. Einen entscheidenden Schritt in diese Richtung habe bereits die Kreissynode Elberfeld gemacht, die das Ziel eines Frauendienstes in der Gemeinde mit dem Mitspracherecht in kirchlichen Gremien verbinden wolle. Mit dem Rekurs auf die Elberfelder Kirchensynode dürfte auch der letzte Zweifel beseitigt sein, daß es sich bei dem Pseudonym um die Leiterin der Frauenschule in Elberfeld und Vorsitzende des Verbandes evangelischer Religionslehrerinnen, Magdalene von Tiling, handelte. Daß ihre dezidiert für das Frauenstimmrecht eintretende Position umstritten war, zeigt zum einen die Reaktion auf ihren Artikel durch die Autorin Phoebe in der nächsten Nummer, zum anderen der Briefwechsel mit Paula Mueller-Otfried: „Ich übersende Ihnen 2 Nummern der Lutherischen Kirchenzeitung. D i e Blätter enthalten einen Artikel von mir über das kirchliche Stimmrecht der Frau. D e r Schluß wurde von Pastor Laible nicht übernommen aus Rücksicht auf seine Leser. Ich stehe auf dem Standpunkt, d a ß der christlichen Frau geholfen werden muß, daß sie eine klare innerliche gewisse Stellung zum Stimmrecht bekommt. Darum habe ich diese Arbeit geschrieben, die ja auf das Stimmrecht hinauslaufen sollte." 88 88
M a g d a l e n e von Tiling an Paula Mueller-Otfried vom 3.4.1919 ( A D E F HANNOVER,
R 1 f. I).
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Die „Politisierung" der evangelischen Frauenbewegung 1918-1925
Offenbar war der Beitrag dem Herausgeber der Allgemeinen EvangelischLutherischen Kirchenzeitung, Wilhelm Laible, trotz der vorsichtigen und kompromißbereiten Argumentationsführung zu brisant, um ihn vollständig abzudrucken. Dies ist als Hinweis auf die Widerstände anzusehen, die im Protestantismus noch 1921 dem kirchlichen Stimmrecht von Frauen und den Forderungen nach Mitgestaltung im kirchlichen Bereich überhaupt entgegengebracht wurden 89 Der Artikel von Tilings bewegte sich ganz im Rahmen der herkömmlichen theologischen Argumentationsstrukturen. Weder wurde die hierarchische kephale-doxa-Struktur in der Beziehung von Frauen und Männern verworfen, noch die in der Weimarer Verfassung garantierte Gleichberechtigung der Frauen mit den Männern gefordert. Allerdings zeigt die Argumentation von Tilings die präzise Kenntnis der aktuellen theologischen Diskussion. Sie verkehrte mit der Betonung einer weiblichen Psyche und der dadurch folgenden besonderen Aufgabe der Frauen in der Kirche die Argumentation der Gegner ins Gegenteil: War eine politische Beteiligung zum Schutze der „weiblichen Eigenart" bislang stets abgelehnt worden, behauptet von Tiling nun, daß das, was als echte Weiblichkeit von evangelischen Frauen verlangt worden sei - die Hingabe und Opferbereitschaft letztlich nur angemessen gefördert werden könne durch die öffentliche Partizipation von Frauen, die Gewährung des kirchlichen Stimmrechts und die Teilhabe an kirchlichen Amtern. So weit wurde der Aufsatz in der Allgemeinen Evangelisch-Lutherischen Kirchenzeitung abgedruckt. Der aus der Argumentation folgenden Schluß, nämlich der Aufruf an alle christlichen Frauen, sich für das kirchliche Stimmrecht und ihre Leitungsverantwortung in den Gemeinden einzusetzen, stieß bei Wilhelm Laible auf Widerstand und wurde nicht abgedruckt. Ein zu klares Votum in diese Richtung war dem konservativen Publikum, das in der Position der Gegnerin von Tilings dokumentiert war, nicht zuzumuten. Dies war auch der Grund dafür, die Debatte nicht unter dem richtigen Namen der Autorinnen abzudrucken, sondern unter den Pseudonymen - eine Entscheidung, die, wie aus dem Schreiben von Tilings an Paula Mueller-Otfried hervorgeht, nicht von den Autorinnen ausgegangen war. Zum einen ist es als ein Erfolg Magdalene von Tilings anzusehen, daß sie ihre Position in dem renommierten evangelischen Publikationsorgan darstellen und damit zur Meinungsbildung beitragen konnte. Andererseits zeigen sich hier aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive die engen Grenzen, in denen Frauen im Protestantismus agierten, und die Wider-
89
Noch 1919 erschien der Artikel in der Schrift: MAGDALENE VON TILING und PAULA MUELLER-OTFRIED, Die Kirche und die Frau. Der Schluß war ein deutlicher Aufruf an alle Frauen, die Zulassung zu kirchlichen Amtern sowie das kirchliche Stimmrecht zu fordern.
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stände, auf die sie stießen, wenn es darum ging, frauenspezifische Interessen im kirchlichen Bereich durchzusetzen. Paula Mueller-Otfried reagierte „mit großer Freude und innerer Zustimmung" auf den ihr zugesandten CA/oe-Artikel.90 Auch sie war davon überzeugt, daß das kirchliche Stimmrecht bald kommen würde, und bedauerte nur, daß es eine „Frucht der Revolution" sei. In der Entgegnung der Phoebe erkannte sie das Pseudonym einer bekannten Vertreterin der Frauenhilfe, Frau Meerheimb, die schon früher als Opponentin „gegen Frauen und alles, was ihr nach Frauenbewegung aussieht", gekämpft habe. In der Tat zeichnete sich Phoebes Artikel durch die grundlegende Ablehnung jeglicher Mitbestimmung der Frauen in der Kirche aus mit der Begründung, daß es nach der Bibel nur Schweigen und Unterordnung für Frauen gäbe, was die Mehrheit auch angeblich so befürworte. Das kirchliche Wahlrecht für Frauen wurde schließlich 1921 eingeführt. Auf dem ersten Kirchentag in Dresden 1919 waren von 341 Personen 30 Frauen, der Frauenanteil betrug damit 8,7%. Unter den Frauen, die selbstbewußt ihre Position auszubauen und zu verteidigen suchten, waren auch Carola Barth, Paula Mueller-Otfried und Magdalene von Tiling. Magdalene von Tiling war als Vorsitzende des Verbandes evangelischer Religionslehrerinnen im Teilnehmerverzeichnis aufgeführt und gehörte mit Carola Barth zu den Abgeordneten der „Religionsunterrichtlichen Gruppe". 91 In den folgenden Jahren konzentrierte sich das kirchenpolitische Engagement von Tilings besonders auf die Angelegenheiten, die mit der in Aussicht gestellten Trennung von Staat und Kirche die christliche Schule und die Stellung des Religionsunterrichts tangierten.
3. Einsatz für den evangelischen Religionsunterricht und die christliche Schule Der Verband evangelischer Religionslehrerinnen Zur Kontinuität der Arbeit Magdalene von Tilings vom Kaiserreich bis in die NS-Zeit gehörte die Arbeit als Vorsitzende im Verband evangelischer Religionslehrerinnen (VeR) und deren Vorgängerorganisation, der Konferenz von Religionslehrerinnen (KvR). Diese war bereits 1910 dem Allgemeinen Deutschen Lehrerinnenverein angegliedert und dadurch auch dem BDF, der Dachorganisation der bürgerlichen Frauenbewegung, verbun90
An Magdalene von Tiling vom 9.4.1919 (ADEF HANNOVER, R 1 f. I).
"
V g l . d i e V E R H A N D L U N G E N DES D E U T S C H E N E V A N G E L I S C H E N K I R C H E N T A G E S 1 9 1 9 , D r e s -
den 1.-5.IX.1919, S. 16.
82
Die „Politisierung" der evangelischen Frauenbewegung 1918-1925
den.92 Am 18. April 1916 in Magdeburg gegründet93, verstand sich der Verband (VeR), im Gegensatz zu den Berufs- und Standesorganisationen wie dem Allgemeinen Deutschen Lehrerinnenverein (ADLV) und dem Verein Deutscher Evangelischer Lehrerinnen (VDEL), als Fachorganisation. Er war also keine Berufsvertretung, sondern wollte „die auf bibelgläubigem Standpunkt stehenden Lehrerinnen innerhalb der Berufsorganisationen zu einer Glaubens-, Gebets- und Arbeitsgemeinschaft sammeln".94 Charakteristisch war die gemeinsame Arbeit von Lehrerinnen unterschiedlicher Bereiche. Volksschullehrerinnen, Lyceenallehrerinnen und Akademikerinnen, die ihre Berufsvertretungen in den Berufsorganisationen hatten, waren im VeR „auf dem Grunde des Wortes Gottes und der kirchlichen Bekenntnisse" zusammengeschlossen,95 vertraten also die kirchliche Richtung der Positiven oder des konservativen Luthertums.96 Hervorgegangen war der Verband aus der 1905 gegründeten Konferenz von Religionslehrerinnen. Wie der Allgemeine Evangelisch-Lutherische Schulverein, der Bund für Haus und Schule, der Verein zur Erhaltung der Evangelischen Volksschule und die Vereinigung positiver evangelischer Religionslehrer an höheren Lehranstalten war die Gründung der KvR gegen den liberalen Protestantismus und dessen pädagogische und religionspäd92
Zur Mitgliedschaft im BDF vgl. die Liste der angeschlossenen Vereine bei BARBARA GREVEN-ASCHOFF, Die Bürgerliche Frauenbewegung, S. 285 f. 93 Vgl. die Satzung des Verbandes evangelischer Religionslehrerinnen (VeR) e. V., eingetragen am 26.1.1921 (LKA HANNOVER, N 127/33). 1922 hatte der VeR 700 ordentliche und 500 außerordentliche Mitglieder, 1926 hatte sich die Zahl der ordentlichen Mitglieder auf 1200 Lehrerinnen e r h ö h t Wie schon bei der Vorgängerorganisation handelte es sich um einen exklusiven Frauenzusammenschluß. Nur Frauen konnten ordentliche Mitglieder werden, der Vorstand war ausschließlich mit Frauen besetzt. Männer konnten jedoch die außerordentliche Mitgliedschaft erwerben. Das Verzeichnis von 1926 weist eine breite Mitgliedschaft männlicher Persönlichkeiten aus Kirche und Theologie auf. 1926 wurde das Mitteilungsblatt durch die Zeitschrift „Schule und Evangelium" ersetzt, die zugleich das Organ der Evangelischen Schulvereinigung und der ihr angeschlossenen Verbände wurde. Die Anzahl der Provinzial-, Landes und Ortsgruppen stieg Mitte der zwanziger Jahre auf 40. Diese hatten überregionalen Charakter und waren über ganz Deutschland verteilt. Zu den Mitgliedszahlen vgl. GERTRUD PAPE, Die erste Tagung des Verbandes evangelischer Religionslehrerinnen,
S. 3 9 5 ; HANDBUCH DER INNEREN MISSION, B d . 1, S. 2 3 1 f. D a s
Mit-
gliederverzeichnis befindet sich im Nachlaß Magdalene von Tilings. 94 Werbeblatt des Verbandes evangelischer Religionslehrerinnen, o.J. [1919] (LKA HANNOVER, N 95
127/31).
HANDBUCH DER INNEREN MISSION, B d . 1, S. 2 3 1 . D e r V e r b a n d e v a n g e l i s c h e r R e l i g i o n s -
lehrerinnen schloß sich 1926 der Evangelischen Schulvereinigung an. Die Evangelische Schulvereinigung war aus dem Ausschuß für Unterricht und Erziehung beim Evangelischen Reichserziehungsverband hervorgegangen. Zweck und Ziel sollte die „Pflege und Förderung einer bewußten evangelischen Erziehungsarbeit besonders an den evangelischen Privatschulen" sein. Der Schulvereinigung waren weitere Verbände der Inneren Mission angeschlossen. % Zu der Selbstbezeichnung der Positiven vgl. FRIEDRICH MLLDENBERGER, Geschichte der deutschen evangelischen Theologie, S. 151-166.
D i e politischen Aufgaben in der neuen Republik 1 9 1 8 - 1 9 2 2
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agogische Reformbestrebungen gerichtet. Die Debatte um die Bedeutung der Religion und des Religionsunterrichts für kirchliches und staatliches Handeln erreichte um die Jahrhundertwende einem neuen Höhepunkt. 97 War seit der Aufklärung das traditionelle Vorgehen, im Religionsunterricht den Kindern durch Auswendiglernen die Inhalte von Bibel und Bekenntnis nahezubringen, in Frage gestellt worden, rückte Ende des 19. Jahrhunderts mit der Rezeption Schleiermachers und Pestalozzis die Perspektive auf die Vermittlung von „sittlichen Werten" und das gefühlsmäßige Erfassen religiöser Inhalte zunehmend in den Mittelpunkt religionspädagogischer Überlegungen. Wenn Religion als Gefühl begriffen wurde, war die Frage der Reformer berechtigt, ob und wie Religion überhaupt an Schulen gelehrt werden könne. Andere sahen in der Vermittlung von Wissen über Religion ähnlich wie über Philosophie, Literatur und Geschichte einen Bestandteil der kulturellen Identität, eine dritte Gruppe trat dagegen für die generelle Abschaffung des Religionsunterrichts als eigenes Fach an den Schulen ein und verlangte die religiöse Dimension fächerübergreifend zu unterrichten. Wieder andere favorisierten statt des Religionsunterrichts die Einführung der Sittenlehre und allgemeiner Religionsgeschichte. Gegen all diese Reformansätze der liberalen Richtung stärkte die KvR seit ihrer Gründung die Position des konservativen Lagers, indem sie für die Aufrechterhaltung des biblisch-bekenntnisgemäßen Religionsunterrichts eintrat. Nach § 1 verstand sich die KvR als „ein Zusammenschluß von evangelischen Lehrerinnen, die der lutherischen, unierten und reformierten Kirche angehören und fest auf dem Grunde des Wortes Gottes und der kirchlichen Bekenntnisse stehen. Sie betrachtet es als ihr Ziel, den Religionsunterricht auf eben diesem Grunde zu erhalten und an der lebensvollen Ausgestaltung desselben zu arbeiten".
§ 2 formulierte die Aufgabe der Konferenz, einerseits ihre Mitglieder im Glaubensleben und der „Glaubenserkenntnis zu stärken und ihr Verständnis für theologische Fragen zu wecken und zu fördern", anderseits wollte sie versuchen, „dem Eindringen der liberalen Theologie und der religionsfeindlichen Strömungen der Gegenwart in die Schulen" Einhalt zu gebieten.98 Magdalene von Tiling gehörte seit 1907 dem Vorstand der Konferenz an. Sie leitete zudem die Bergische Ortsgruppe des Verbandes. Seit 1910 war sie Mitredakteurin des Organs. Neben der Information über Veranstaltungen nahestehender Vereine und Verbände und Namen neueingetretener Mitglieder dominierten die Referate und Abhandlungen Magdalene 97
V g l . PETER C . BLOTH, R e l i g i o n in d e n S c h u l e n P r e u ß e n s ; KARL-ERNST N I P K O W / F R I E D -
RICH SCHWEITZER, R e l i g i o n s p ä d a g o g i k B d . 2 / 1 . 98
Zitiert nach MITTEILUNGEN KVR 8, August/September 1914, S. 7.
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von Tilings zahlenmäßig und inhaltlich die Ausrichtung des Blattes. Themen waren das lutherische Verständnis von Schrift und Bekenntnis sowie Fragen des Religionsbegriffes. 99 Die Auseinandersetzung um die Reform des Religionsunterrichts betrieb sie besonders gegen kulturprotestantische Positionen wie die des evangelischen Theologen und Pädagogen Richard Kabisch.100 Teilte sie seine liberalen Grundvoraussetzungen nicht, so fanden doch seine methodischen und didaktischen Ansätze ihre Zustimmung. Allgemein setzten sich die methodischen Erkenntnisse der Reformpädagogik auch im Religionsunterricht durch. Zunehmend wurden psychologische Vorgänge reflektiert mit dem Ziel, den Unterricht an der jeweiligen Entwicklungsstufe des Kindes auszurichten, seine Sprachfähigkeit und das Begriffsvermögen zu berücksichtigen. Der Verband hatte sich bereits im Kaiserreich mit der Frage nach den Formen und der Rolle des Religionsunterrichts an den Schulen beschäftigt. Er hatte sich zudem in kirchliche Debatten um das kirchliche Stimmrecht für Frauen eingemischt, wo er eine eher abwartende Haltung eingenommen hatte. 101 In diesem Sinne läßt sich die Ausrichtung des Verbandes im Kaiserreich als Front gegen die liberale Theologie beschreiben und als genuin innerkirchlich bzw. innertheologisch ausgerichtet charakterisieren. Mit dem Beginn der Weimarer Republik fand eine Verschiebung statt: Der Verband trat aus seinem binnenkirchlichen Engagement heraus und agierte auf der gesellschaftspolitischen Ebene. Er wurde zunehmend mit der DNVP-Politik von Tilings synchronisiert: Die neue Herausforderung betraf das veränderte Staat-Kirchen-Verhältnis und fokussierte sich in der Diskussion um den Erhalt der evangelischen Schulen und die Ausarbeitung eines „von christlichem und deutschem
" Zur Mitredaktion vgl. MITTEILUNGEN KvR 4, O k t o b e r / N o v e m b e r 1910, S. 1. M a g d a lene von Tiling arbeitete zu folgenden Themen: „Zur Frage über des Christen Stellung zur heiligen Schrift", in: MITTEILUNGEN KVR 4, O k t o b e r / N o v e m b e r 1910, S. 2-5; Die Religion Jathos und das Christentum (EBD., S. 2-9); Die Grundlagen der methodischen Anweisungen f ü r den Religionsunterricht (EBD., S. 6-9); Die Bekenntnisse der Kirche (EBD., S. 5-7); D e r Zusammenhang zwischen Luthers persönlichem Glaubenserlebnissen und dem Bekenntnis der lutherischen Kirche (EBD., S. 7-11). 100 Richard Kabisch gehört zu den bedeutendsten Vertretern des vom Kulturprotestantismus geprägten Religionsunterrichts. Seine Schriften waren für die Entwicklung einer neuen Methodik im Religions- und Geschichtsunterricht von Bedeutung. Er vertrat die Auffassung, daß der Staat - nicht die Kirche - die Pflicht hätte, Religion zu unterrichten, d a hier die religiöse Selbständigkeit des christlichen Individuums im Zusammenhang der geistigen Kultur der Gegenwart gelehrt werde. Er hielt Religion für lehrbar, wenn drei methodische Prämissen berücksichtigt würden: D e r Lehrer selbst sollte den Stoff mit Hilfe der produktiven Phantasie ausgestalten, die nachschaffende Phantasie des Kindes in Tätigkeit setzen und das, was in den Erzählungen der Bibel als Phantasiereligion galt, als solche darbieten. Zu Kabisch vgl. KARL DIENST, A r t . R i c h a r d K a b i s c h , S p . 9 2 0 . 101
AELKZ 28, 1909, S.668.
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Geist getragenen Mädchenerziehungsziels"' 0 2 . Seit der Gründung des Verbandes 1916 war Magdalene von Tiling die erste Vorsitzende und blieb es auch bis zu seiner Auflösung 1939. Unübersehbar prägte von Tiling neben der politischen die inhaltliche Ausrichtung des Verbandes. Mit regem Interesse an neuen Strömungen in der Theologie verfolgte sie die Debatten um die dialektische Theologie und Neuansätze im Luthertum. Monatliche Zusammentreffen in den Ortsgruppen, Tagungen, wissenschaftliche Lehrgänge und Freizeiten dienten der theologischen Fortbildung der Mitglieder und der Einführung in die neuen religiösen und pädagogischen Theorien, die seit Anfang der zwanziger Jahre die Verabschiedung von religionsgeschichtlichen und idealistischen Vorstellungen anstrebten. Sie sicherten ferner den Erwerb von wissenschaftlichen und theologischen Kompetenzen. Das Fortbildungsprojekt von Tilings war zumindest bis Mitte der zwanziger J a h r e breit angelegt. Auf den großen Pfingsttagungen referierten Theologen und Theologinnen sowie Pädagogen und Pädagoginnen unterschiedlicher Richtungen wie Paul Althaus, Werner Eiert, Friedrich Gogarten, Karl Holl, Reinhold Seeberg oder Anna Paulsen' 0 3 . Die Themen waren vielfältig. Implizit verfolgte Magdalene von Tiling also ein bestimmtes Ziel: theologische und pädagogische Bildung und Kompetenz für Frauen zu gewährleisten, um sich an der aktuellen politischen und kirchlichen Diskussion beteiligen zu können und eigenen Position zu entwerfen. Zum einen als Abgrenzung gegenüber der bürgerlichen Frauenbewegung und liberalen Positionen in der Kirche, zum anderen gegen konservative Forderungen und frauenfeindliche Richtungen im Protestantismus. Schul- und kirchenpolitisch trat der Verband in zwei Richtungen in Aktion. Zum einen stärkte er den Flügel der Befürworter der evangelischen Schule - eine Debatte, die
102 GERTRUD PAPE, Die erste Tagung des Verbandes evangelischer Religionslehrerinnen, S. 395. 105 Beispielsweise referierten auf der Pfingsttagung 1922 Otto Eberhard zum Thema „Das Evangelium in der Arbeitsschule", Erich Schaeder, Professor für Systematische Theologie in Breslau, zu „Diesseits und Jenseits im Christentum", der Greifswalder Professor für Praktische Theologie, Herbert Girgensohn, über „Alte und neue Wege zur Bibel". Auf der Pfingsttagung 1924 in Hamburg referierten Karl Holl, Professor für Kirchengeschichte in Berlin, über „Luther und das Urchristentum", Georg Schulz von der Sydower Bruderschaft, über den „Katholischen und protestantischen Menschen", Werner Eiert über „Versöhnung und Freiheit" und Anna Paulsen, Theologin und für die kirchliche Mädchen- und Frauenarbeit zuständig, ab 1926 Leiterin der Abteilung Bibel- und Jugendführerschule des Burckhardthauses in Berlin, über „Unsere religiöse Entscheidungsstunde". Auf der Tagung 1925 war Friedrich Gogarten Referent. Sein Thema lautete: J e s u s Christus selbst". Karl Bornhäuser, Professor für Praktische Theologie in Marburg, referierte zum Thema „Wessen Sohn ist der Messias" und Anna Paulsen zu Kierkegaard, vgl. die Rede Gertrud Papens auf dem Pfingstreffen des ehemaligen V.e.R.P. vom 8.-11.6.1957 in Heersum (LKA HANNOVER, N
127/33).
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Die „Politisierung" der evangelischen Frauenbewegung 1918-1925
sich durch die zwanziger Jahre hindurchzieht zum anderen setzte er sich für eine christliche Mädchenbildung und -erziehung ein. Das Reichsschulgesetz und die Auseinandersetzung gionsunterrichts
um den Erhalt des Reli-
Als Kultusminister Adolf H o f f m a n n (USPD) mit seinem Religions-Erlaß vom 29. November 1918 im Bereich der Schule die Trennung von Kirche und Staat verwirklichen und sowohl Schulgebet, Schulfeiern religiösen Charakters und den Religionsunterricht als Prüfungsfach kurzerhand abschaffen wollte, rief er damit einen großen Protest bei den Kirchen hervor. Die vier Millionen Unterschriften für die ungeschmälerte Beibehaltung der christlichen Schulen veranlaßten, daß der Erlaß schließlich wieder aufgehoben wurde. 104 Was blieb, war die neue Regelung, d a ß der Religionsunterricht für Lehrer und Schüler wahlfrei sei, alles andere sollte bis zum Erlaß künftiger Gesetze, die die Beziehungen von Staat, Kirche und Schule zueinander auf eine neue Grundlage stellen sollten, vertagt werden. Während der gesamten Weimarer Republik blieb die Kirchen- und Schulfrage ein wichtiges Anliegen der evangelischen Kirche. Unterstützung fand sie bei Bemühungen um ein Reichsschulgesetz auf parteipolitischer Ebene durch die Gründung des Evangelischen Reichsausschusses der deutschnationalen Volkspartei. 105 Geleitet und maßgeblich beeinflußt wurde dieser von Reinhard Mumm, dem damit die Organisation der evangelischen Kräfte innerhalb der D N V P zur Durchsetzung der Interessen der evangelischen Kirche in der Politik vornehmlich zuzuschreiben ist. Dazu gehörte das Engagement des Reichsausschusses im Bereich der Schulfrage, der Sittlichkeitsfrage und der Frage nach dem Staat-Kirchen-Verhältnis. Die Verhandlungen zum Reichsschulgesetz von 1922, 1925 und 1927 führten zu keinem Erfolg. 106 An der letzten Verhandlung zerbrach schließlich die Große Koalition. Die Fragen, die dabei geklärt werden mußten, betrafen erstens die Schulhoheit und damit auch die Frage, ob Kirche, Land oder Bund über die Konzeption entschieden. Zweitens herrschte Uneinigkeit darüber, welcher Schultyp zur Regelschule gemacht werden sollte, was wiederum entscheidend war dafür, welches Lehrpersonal einzustellen war und welche Schüler und Schülerinnen unterrichtet werden sollten. Schließlich entschied sich hieran auch die Stellung des Religionsunterrichts. Für die evangelische Kirche ging es um Wahrnehmung einer Bildungsverantwortung (Karl Ernst Nipkow) genauso wie um die Sicherung 1M Vgl. dazu und zum folgenden PETER C. BLO'IH, Religion in den Schulen Preußens, S. 179 ff.; FRANK J. HENNECKE, Schulgesetzgebung in der Weimarer Republik. 105 Vgl. zum folgenden NORBERT FRIEDRICH, „Die christlich-soziale Fahne empor!", S. 219.
106 YG[ D A Z U G Ü N T E R GRÜNTHAL, R e i c h s s c h u l g e s e t z u n d
Zentrumspartei.
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der Ausbildungshoheit für das Lehrpersonal und den Erhalt der Arbeitsplätze. Der Reichsausschuß der D N V P trat deshalb im Sinne der Kirche für den Erhalt von Bekenntnis- oder Konfessionsschulen ein, an denen nur Lehrer und Lehrerinnen einer Konfession Schüler dieser Konfession unterrichteten. Der Religionsunterricht sollte Pflichtfach sein. Das Ergebnis der Verfassungsberatungen war für die Kirche und die politischen Vertreter durchaus zufriedenstellend. Artikel 146 der Weimarer Reichsverfassung sah ein „organisches Schulsystem" vor. Auf eine obligatorische, für alle gemeinsame Grundschule baute sich ein differenziertes Schulsystem auf. Die Simultan- oder Gemeinschaftsschule wurde zur Regelschule erklärt. Hier gehörten Schüler und Lehrer unterschiedlichen Konfessionen und Religionen an. Der Religionsunterricht wurde entsprechend der jeweiligen Konfession unterrichtet. Auf Antrag konnten jedoch auch Bekenntnis- oder Konfessionsschulen oder weltliche (also religionslose) Schulen eingerichtet werden. Artikel 149 sicherte den Religionsunterricht als „ordentliches Lehrfach" ab und sollte nach den Grundsätzen der Religionsgesellschaften erteilt werden. Der Weimarer Schulkompromiß verschob die Schulfrage auf die Reichsgesetzgebung und machte die Schulfrage zu einem ständigen innenpolitischen Thema der Weimarer Republik. Kritik der evangelischen Seite rief der Entwurf von 1922, der gemäß der Verfassung eine Vorrangstellung der Gemeinschaftsschulen vorsah, eine weitgehende Absicherung der Länderkompetenzen gewährleistete, jedoch auf eine Regelung des in § 149 verankerten Religionsunterrichtes verzichtete. Reinhard Mumm und Magdalene von Tiling setzten sich daraufhin verstärkt für die Bekenntnisschulen ein, konnten jedoch auch die Absicherung einer „konfessionellen Simultanschule" akzeptieren. Wie dieser Entwurf war auch dem während der Regierungsbeteiligung der D N V P eingebrachten Vorschlag von 1925 kein Erfolg beschieden. Der von Innenminister Schiele von der D N V P in Auftrag gegebene Entwurf kam den Vorstellungen der Deutschnationalen entgegen, verlangte er doch die Einrichtung von Bekenntnisschulen und weltlichen Schulen und sicherte den Status des Religionsunterrichts weitgehend ab. Inzwischen hatten sich die evangelischen Schulen in verschiedenen Gruppierungen wie im evangelischen Schulkongreß und im evangelischen Schulkartell zusammengeschlossen und versuchten, von dort aus Druck auf die Regierung auszuüben. Magdalene von Tiling war im Vorstand dieses Kartells.107 Mit dem Ausscheiden der D N V P aus der Regierung Ende 1925 scheiterte auch dieser zweite Versuch zur Verabschiedung eines Reichsschulgesetzes. Der von Innenminister Walter von Keudell ausgearbeitete Entwurf trat für die Parität der drei Schulformen ein. Dies wurde
107
MITTEILUNGEN DES V E R 1 0 , M a i 1 9 2 5 ,
S.2.
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in der Öffentlichkeit kritisch und als nicht verfassungskonform angesehen. Zentrum und D N V P votierten für den Religionsunterricht und die Bekenntnisschule, die DVP für die Bestandssicherung der Simultanschulen. Der Gesetzentwurf scheiterte und bedeutete das Ende der Koalition. Es bestand keine Aussicht auf Einigung. Die Gesetzgebungsinitiative der Weimarer Republik war an dieser Stelle zu einem Ende gekommen. Die Mädchenschulreform und die Debatte um eine evangelische Mädchenerziehung 1921 Der Frauen- und Mädchenbildung, einem zentralen Anliegen der bürgerlichen Frauenbewegung zu Beginn des Jahrhunderts, hatte sich Magdalene von Tiling bereits in den Jahren des Kaiserreichs gewidmet. Bisher wies die höhere Mädchenbildung wesentliche Unterschiede zur höheren Knabenbildung auf, was sich in der institutionellen Trennung in Mädchen- und Knabenschulen manifestierte. Die Lehrpläne der Mädchenschulen (Lyzeen und Oberlyzeen) legten größeren Wert auf neue Sprachen, musische Fächer und Handarbeitsunterricht, wohingegen Knabenschulen (Gymnasien, Realgymnasien und Oberrealschulen) mathematisch-naturwissenschaftlich oder auf alte Sprachen ausgerichtet waren.108 In der 1921 geführten Debatte um die Mädchenschulreform im Rahmen der Bildung einer koedukativ geplanten „Deutschen Oberschule" mahnte Magdalene von Tiling an, daß im Mädchenbildungswesen die Angleichung an die Ausbildung der Jungen vollzogen worden sei, ohne „daß man sich um die tragenden Grundgedanken, die sich rein aus den Notwendigkeiten der Frauenbildung ergeben", bemüht hätte.109 Welche Notwendigkeiten der Mädchenbildung waren damit gemeint? Nach Magdalene von Tiling sollte eine „Frauenpersönlichkeit" herangebildet werden, „Frauen, die kraftvoll in sich ruhen, deren wissenschaftliche Bildung nicht Intellekt bleibt, sondern wahrhaft zu Freiheit, Urteilsfähigkeit und Beherrschung" führte. Die Frau sei gegenwärtig entwurzelt und losgelöst von Volk, Sitte und Glauben. Magdalene von Tilings Ziel war hier die Integration in die Gemeinschaft. Konkret forderte sie die Ausbildung der Mädchen zu „Führerinnen des Volkes" durch den Unterricht in deutschkundlichen und ethischen Fächern. Jedoch faßte sie den Fächerkanon noch vielseitiger: Bürgerkunde, Volkswirtschaft, philosophische Propädeutik, Psychologie, Erziehungslehre, Geographie und Naturkunde, Sprachen und tos UYP FREVERT, F r a u e n - G e s c h i c h t e , S. 1 7 4 f f . 109 Am 13.4. hatte Magdalene von Tiling die Durchführung einer Mädchenschulkonferenz gefordert und am 23.4.1921 im Namen der VEFD eine Eingabe zur Mädchenschulkonferenz
f o r m u l i e r t ( A D E F HANNOVER, G
Mädchenschulreform, S. 3-15.
2 d
1 ) . Z u m f o l g e n d e n : MAGDALENE VON TILING,
Zur
D i e politischen A u f g a b e n in d e r neuen R e p u b l i k 1 9 1 8 - 1 9 2 2
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vor allem Religionsunterricht. Auch die mathematischen Fächer sollten je nach Klassenstufe den Mädchen nicht vorenthalten werden. Außer für die Fächer, die eine höhere Schulbildung ausmachen und ein Universitätsstudium ermöglichen, plädierte sie für die Einrichtung eines Frauenschuljahrs, wo alle Mädchen hausfrauliche und hausmütterliche Kompetenzen erwerben sollten. Ihr Konzept zielte auf eine Kombination von Lyzeum und Gymnasium. Ablehnend stand Magdalene von Tiling der geplanten Koedukation gegenüber. Wenn Koedukation wegen fehlender finanzieller Mittel nicht mehr zu verhindern sei, solle die Trennung der Geschlechter in den Fächern Deutsch, Religion und Geschichte vollzogen werden. Diese Position hielt sie auch nach 1945 durch mit einem Argument, das heute erneut in Teilen der feministischen Pädagogik vertreten wird: Koedukation sei lediglich für Jungen förderlich, Mädchen kämen dabei zu kurz. 1 ' 0 Mit ihrer Position vertrat von Tiling auf der Reichsschulkonferenz" 1 , die auf der Grundlage der Weimarer Reichsverfassung für den 11.-19. Juni 1921 einberufen worden war, den konservativen Flügel, der die Differenz der Geschlechter als Kriterium für die Bildung betont wissen wollte. Insgesamt ging es den geladenen Vertreterinnen der Lehrerinnenverbände um die Neustrukturierung der Mädchenbildung und zugleich auch um die Rolle der Frauen im Lehrberuf.112 Die Hoffnungen wurden jedoch enttäuscht, da, wie sich alsbald zeigte, das Thema der Mädchenbildung nicht angemessen berücksichtigt wurde und keinen eigenen Ort in der Konferenz erhielt. Von den 722 Teilnehmenden waren 84 Frauen, ein für die damaligen Verhältnisse relativ hoher Prozentsatz von 11 %. Unter den anwesenden Frauen waren bekannte Vertreterinnen der bürgerlichen und konfessionellen Frauenbewegung wie Gertrud Bäumer, Helene Lange, Alice Salomon, Lydia Stöcker und Magdalene von Tiling. 32 Voten lagen den Teilnehmenden vor. Es lassen sich zwei Richtungen unterscheiden. Die eine, zu der die Vertreterinnen der konfessionellen Lehrerinnenvereine tendierten, denen auch von Tiling zugehörte, betonte die Notwendigkeit einer von der für Jungen verschiedenen Schulbildung für die Mädchen. Wie von Tiling gingen sie also von einer Differenzvorstellung der Geschlechter aus, in der gerade den Frauen eine besondere Kulturaufgabe im Volk vorbehalten sei, die Anerkennung der Andersartigkeit, aber Gleichwertigkeit der Geschlechter forderte. Von Tiling ging aber auch darüber hinaus, wenn sie forderte, den Schülerinnen auch intellektuell die Bildung zu geben, die sie zu wissenschaftlicher Weiterarbeit und zum Studium befähigen sollte.113 110
Vgl. EBD., 13; sowie DIES., Zur Frage der Koedukation, unveröffentlichtes Manuskript
( o . J . ) [ 1 9 5 8 ] ( L K A HANNOVER, N
127/44).
111
V g l . MAGDALENE VON TILING, D i e R e i c h s s c h u l k o n f e r e n z
112
ELKE KLEINAU/CHRISTINE MAYER, E r z i e h u n g u n d Bildung des weiblichen G e s c h l e c h t s .
113
M A G D A L E N E VON T I L I N G , Z u r M ä d c h e n s c h u l r e f o r m ,
S. 5 .
1920.
90
Die „Politisierung" der evangelischen Frauenbewegung 1918-1925
Der A D L V lehnte dagegen alle spezifisch weiblichen Bildungsprogramme ab und forderte, die Ausbildung der Mädchen nach den gleichen Grundsätzen zu regeln wie die der Jungen und für beide Geschlechter die gleiche allgemeine geistige Ausbildung vorzusehen. Beide Gruppen forderten den verstärkten Einsatz von Lehrerinnen in der Mädchenschule. Die konfessionellen Frauen intendierten damit, den Einfluß von Frauen in der Mädchenschule zu vermehren. Mit der Argumentation, daß nur Frauen Mädchen in der Herausbildung ihren weiblichen Fähigkeiten unterstützen könnten, war hier deutlich der Anspruch auf ein eigenes, auf die Mädchenerziehung abgegrenztes frauenspezifisches Berufsfeld erhoben, das die existierende Konkurrenz zwischen Männern und Frauen um den Lehrberuf strategisch auszuschalten versuchte. Der A D L V dagegen verlangte, das Mädchenschulwesen dem der Knabenschulen anzugleichen und die Ausbildungs- und Berufssituation der Lehrerinnen und Lehrer zu synchronisieren. Sie forderten, auch Lehrerinnen in Knabenschulen einzusetzen und damit die Position der Lehrerinnen zu stärken. Allgemein hatte sich die Akzeptanz von Frauen an Mädchenschulen durchgesetzt, teilweise auch die Notwendigkeit der weiblichen Leitung von Mädchenschulen. D a ß Mädchen eine qualifizierte Ausbildung benötigten und daß Lehrerinnen an Mädchenschulen lehrten, wurde gemeinhin akzeptiert mit dem Hinweis auf die Unterschiedlichkeit der Geschlechter, eine Argumentation, die die konfessionellen Frauenverbände stets für ihre Ziele genutzt hatten. Die bedeutende Mehrheit der Vertreterinnen auf der Reichsschulkonferenz sprach sich jedoch dafür aus, daß die Mädchenbildungsfrage nach denselben Grundsätzen wie die der Knabenbildung geregelt werden sollte.
C. Die Profilierung der evangelischen Frauenbewegung
1923-1925
Durch die neue politische und gesellschaftliche Situation, die für die gesamte evangelische Kirche zur Existenzprobe wurde, gerieten auch die Frauen des Protestantismus unter Zugzwang, ihre Rolle neu zu bestimmen. Zugleich handelte es sich hierbei um den Versuch, Akzeptanz und H a n d lungsspielräume in einer männerdominierten Kirche zu erringen. Die unter den Bedingungen des Kaiserreichs entworfenen Geschlechterkonstruktionen trugen nicht mehr; sie waren von den politischen Gegebenheiten dem Wahlrecht und der rechtlichen Gleichstellung von Mann und Frau eingeholt worden. So ging es nun darum, die Identität protestantischer Frauen in Kirche und Gesellschaft neu zu entwerfen. Die Anstrengung, sich dieser Frage in theoretischer Hinsicht zu nähern, verlangte eine Neubestimmung der Geschlechterverhältnisse. Dieses Anliegen machte sich auch Magdalene von Tiling seit Anfang der zwanziger Jahre zur Aufgabe. Sie war sich der zumindest rechtlich
Die Profilierung der ev. Frauenbewegung 1923-1925
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gestärkten Position von Frauen in der Demokratie bewußt und versuchte in den ersten Jahren der Weimarer Republik, die „neue Rolle der evangelischen Frau" in Auseinandersetzung mit kirchlichen und gesellschaftlichen Positionen zu entwerfen. Die inhaltliche und konzeptionelle Arbeit von Tilings zur Rolle der Frau entwickelte sich, im Spannungsfeld der gesellschaftlichen Ereignisse und etabliert sich bis Mitte der zwanziger Jahre besonders in Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Frauenbewegung und der in sich heterogenen, aber zunehmend wachsenden völkischen Bewegung. Im folgenden wird zunächst die Entstehung der Vereinigung evangelischer Frauenverbände als institutioneller Zusammenschluß aller evangelischen Frauenorganisationen in der Weimarer Republik skizziert. Dann wird der Prägung dieser Vereinigung durch Magdalene von Tiling nachgegangen, um schließlich ihre Theorie zur evangelischen Frauenrolle und einer evangelischen Frauenbewegung bis Mitte der zwanziger Jahre vorzustellen.
1. D i e Vereinigung Evangelischer Frauenverbände Deutschlands Weichenstellungen der Vereinigung lands bis zum Jahr 1923
Evangelischer
Frauenverbände
Deutsch-
Im März 1918 hatte die Mitgliederversammlung des Deutsch-Evangelischen Frauenbundes 114 eine folgenschwere Entscheidung getroffen und war nach zehnjähriger Zusammenarbeit aus der Dachorganisation der bürgerlichen Frauenbewegung, dem Bund Deutscher Frauenvereine (BDF), ausgetreten. 115 Anlaß war das Engagement des B D F für das politische Wahl114 Der am 7. Juni 1899 in Kassel gegründete Deutsch-Evangelische Frauenbund (DEF) war neben der im Januar des selben Jahres gegründeten Frauenhilfe eine der beiden großen Frauenorganisationen der evangelischen Kirche. Während die Frauenhilfe vorwiegend auf gemeindlicher Ebene arbeitete und eher die „Pflichten" der evangelischen Frauen herausstrich, war der D E F 1908 der Dachorganisation der bürgerlichen Frauenbewegung, dem Bund Deutscher Frauenvereine (BDF) beigetreten. Zielsetzung der Organisation, die anders als andere evangelische Frauenverbände eine autonome, von Frauen getragene Organisationsstruktur aufwies, war die Verbindung der „Frauenfrage" mit der „sozialen Frage", die sie von evangelischer Perspektive aus zu lösen anstrebte. Sie wollte „im Sinne des in Gottes Worte geoffenbarten Evangeliums" für die Lösung der Frauenfrage sowie für die „wirtschaftliche und soziale Hebung des Volkslebens" wirken. Die Mitglieder des D E F gehörten den oberen Gesellschaftsschichten an. Der D E F übernahm mit der Zeit zahlreiche Positionen der bürgerlichen Frauenbewegung und trug wesentlich zur Veränderung des Frauenbildes in der evangelischen Kirche bei. Prägend für die programmatische und organisatorische Gestaltung des D E F war über Jahrzehnte hinweg die Erste Vorsitzende Paula Mueller (-Otfried). 115 Zur Geschichte des BDF, zu dessen Programmatik, Zielen und zum Verhältnis des D E F zum BDF vgl. BARBARA GREVEN-ASCHOFF, Die bürgerliche Frauenbewegung. - Die
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Die „Politisierung" der evangelischen Frauenbewegung 1918-1925
recht für Frauen, dem die kirchlich orientierten Frauen stets mit Ablehnung gegenübergestanden hatten. Mit der 1917 vom BDF herausgegebenen Denkschrift über „Die Stellung der Frau in der politisch-sozialen Neugestaltung Deutschlands" 116 war deutlich Position für das aktive und passive Wahlrecht für Frauen ergriffen worden. Die Vertreterinnen des DEF hingegen, die bisher lediglich für das kirchliche Stimmrecht eingetreten waren, sahen in dem geforderten allgemeinen Wahlrecht eine „Gefahr für das deutsche Volk"117. So wurde auch die Frage, ob der DEF einen Verband unterstützen könne, der das vom DEF abgelehnte Frauenstimmrecht als „einzig sichere Gewähr" für die Beachtung der Fraueninteressen ansah, von der 11. Generalversammlung mehrheitlich mit nein beantwortet. 118 Daraufhin trennte man sich vom BDF „aus der Uberzeugung, daß der DeutschEvangelische Frauenbund, so wie die Dinge heute liegen, innerhalb des Bundes Deutscher Frauenvereine keinen seiner Größe und Bedeutung entsprechenden Wirkungskreis mehr haben konnte und daß er die Gedanken der deutschen Frauenbewegung, so wie er sie vertritt, außerhalb ihrer größten Organisation besser zu fördern vermag".119 Seinem Selbstverständnis nach hatte sich der DEF bislang - als einzige Frauenorganisation im Protestantismus - als Teil der bürgerlichen Frauenbewegung verstanden. 1908 war er mit dem Interesse, Belange christlicher Frauen einzubringen, dem BDF beigetreten und hatte im Laufe der Zeit im bildungs- und sozialpolitischen Bereich zahlreiche Positionen der bürgerlichen Frauenbewegung übernommen. 120 Kirchlich war die Nähe des DEF zur Sittlichkeitsbewegung und zur Inneren Mission im Kaiserreich nicht zu leugnen, auch wenn offiziell die kirchenpolitische Neutralität betont und die Auseinandersetzung über theologische Inhalte vermieden worden war. Der DEF hatte sich jedoch stets um Eigenständigkeit bemüht.121 Mit dem Austritt aus dem BDF bot sich zum ersten Mal die Möglichkeit, eine Koalition aller evangelischen Frauenvereine herbeizuführen. Dies war exakte Mitgliederzahl ist schwer zu ermitteln. Um die Jahreswende 1918/19 umfaßte er offiziell 833.941 Mitglieder in 60 Verbänden und 284 direkt angeschlossenen Vereine. Wegen der Mehrfachzählung ist von einer wesentlich geringeren Personenzahl auszugehen, vgl. dazu ANJA WEBERLING, Zwischen Räten und Parteien, S. 23. KLAUS HÖNIG schätzt die Mitgliederzahl auf höchstens 500.000 (Bund Deutscher Frauenvereine, S. 14 ff.). 116 Vgl. RICHARD J. EVANS, The Feminist Movement in Germany, S. 225 ff. 117 PAULA MUELLER, Fraueneinfluß im öffentlichen Leben. 118 Schreiben Paula Muellers an Wilhelm Thiele vom 16.3.1918 (ADEF HANNOVER, G 2 d 1); PAULA MUELLER, Die Trennung des Deutsch-Evangelischen Frauenbundes, S. 49 f. Von 1.441 Anwesenden stimmten 1.310 mit Nein. 1,9
EBD.
120
Vgl. URSULA BAUMANN, Protestantismus und Frauenemanzipation, S. 126-139. 1907 wurde die Unabhängigkeit von kirchlichen Richtungen ausdrücklich ins Programm
121
a u f g e n o m m e n ( E B D . , S. 1 3 1 ) . V g l . a u c h d a s P r o g r a m m d e s D E F i n : HANDBUCH ZUR FRAUENFRAGE, S. 4 6 f.
Die Profilierung der ev. Frauenbewegung 1923-1925
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bislang ausgeschlossen, denn die Mitgliedschaft des DEF im BDF wurde von Beginn an von den meisten evangelischen Frauenvereinen mit Mißtrauen und Ablehnung quittiert, bedeutete die Zugehörigkeit doch im großen und ganzen die Zustimmung zu den frauen- und bildungspolitischen Zielen der bürgerlichen Frauenbewegung. 1917 führten die Äußerungen und Aktivitäten des BDF zur Stimmrechtsfrage zu verstärkten Angriffen - sowohl aus anderen evangelischen Frauenverbänden als auch aus den eigenen Reihen auf die Vorsitzende des DEF, Paula Mueller.122 So hatte der Vorsitzende des Verbandes zur Pflege der weiblichen Jugend, Pastor Wilhelm Thiele, auf die Anfrage Paula Muellers im Vorfeld, inwieweit ein Zusammenschluß des DEF mit anderen evangelischen Frauenverbänden zu organisieren sei, zu verstehen gegeben, daß der Versuch, die evangelischen Frauenverbände mit dem DEF zusammenzuschließen, nur unter der Prämisse möglich sei, daß der DEF aus dem Bund ausscheide. Er begründete dies mit der Angst der Theologen vor dem politischen Engagement des BDF und dem Einfluß der Frauenstimmrechtsvereine. Ein Zusammenwirken mit dem BDF in allen praktischen Fragen schloß er allerdings nicht aus.123 Paula Mueller gab schließlich dem Druck nach und setzte trotz starker Widerstände eines Teils der Mitglieder des DEF die Trennung durch.124 Als Gegenleistung beharrte sie jedoch hartnäckig auf der im Vorfeld verhandelten Unterstützung der großen evangelischen Frauenverbände. So schrieb sie an die Vertreter des Verbandes zur Pflege der weiblichen Jugend und des Kaiserswerther Verbandes Deutscher Mutterhäuser: „Ich wäre Ihnen dankbar, wenn die Kreise, die für das Wohl des evangelischen Frauen- und Mädchenwesens zu arbeiten bemüht sind, Verständnis für den Gedanken einer evangelischen Frauenbewegung finden wollten und dies jetzt dem D E F zum Ausdruck bringen könnten." 125
Die Reaktion war für Paula Mueller zufriedenstellend: Am 24. April 1918 traf sich eine Gruppe von Vertreterinnen und Vertretern der vier größten evangelischen Frauenverbänden, die in ihrer Frauenarbeit und -politik bislang recht unterschiedliche, ja gegensätzliche Positionen vertreten hatten126: Neben Paula Mueller und Selma von der Groeben vom DEF, Samuel Jaeger, Pastor und Leiter der Theologischen Schule in Bethel, Friedrich von Bodelschwingh, Pastor und Leiter des Anstaltbundes der Diakonischen Einrichtungen von Bethel und Vertreter des Kaiserswerther Verbandes 122
123
V g l . URSULA B A U M A N N , P r o t e s t a n t i s m u s u n d F r a u e n e m a n z i p a t i o n , S . 2 5 0 f.
An Paula Mueller vom 4.3.1918 ( A D E F HANNOVER, G 2 d 1). Vgl. dazu URSULA BAUMANN, Protestantismus und Frauenemanzipation, S. 252. 125 Schreiben Paula Muellers an Wilhelm Thiele sowie an Samuel Jaeger in Bethel vom 16.3.1918 (ADEF, HANNOVER, G 2 d 1). 126 Vgl. zum folgenden das Protokoll der Sitzung mit Vertretern und Vertreterinnen evangelischer Kreise und Verbände am 24.4.1918 ( A D E F HANNOVER, G 2 d 1). 124
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D i e „Politisierung" der evangelischen Frauenbewegung 1 9 1 8 - 1 9 2 5
deutscher Diakonissenmutterhäuser, Pastor Wilhelm Thiele und Hulda Zarnack 127 , in der Leitung des Burckhardthauses in Berlin-Dahlem und Vertreter des Verbandes zur Pflege der weiblichen Jugend, sowie Pastor Otto Moeller, Geschäftsführer der Brandenburgischen Frauenhülfe. 128 Bei dieser ersten Besprechung stießen unterschiedliche Vorstellungen aufeinander. Während Pastor Otto Moeller eine „Vereinigung aller evangelischen Vereine, die Frauenbewegung treiben", schaffen wollte, plädierte Paula Mueller für die Streichung des Wortes „Frauenbewegung", da sich die meisten Vereine nicht als der Frauenbewegung zugehörig bezeichneten bzw. das Wort unterschiedlich auslegten. Nach ihrer Meinung gab es lediglich zwei Möglichkeiten des Zusammenschlusses: entweder einen Verband rechtsstehender Vereine oder einen Verband nur evangelischer Frauenvereine. Paula Mueller betonte, daß die neue Vereinigung „keine Spitze gegen die Frauenbewegung" sein dürfe, eine Ansicht, die sie zur Grundlage weiterer Verhandlung machte, indem sie einen T a g später gegenüber Pastor Paul Cremer, dem Hauptgeschäftsführer der Evangelischen Frauenhülfe einen Zusammenschluß gegen den B D F ausdrücklich ablehnte. So läßt sich die in der Literatur bislang vertretene These, die V E F D sei von Paula Mueller als Konkurrenzmodell gegenüber dem B D F von konfessioneller Seite aus vorangetrieben worden, nicht halten. 129 Vielmehr hatte Paula Mueller dem B D F den Rang als größte Organisation der Frauenbewegung nicht streitig machen wollen, und auch die Vertreter der Frauenverbände hatten gegen eine Zusammenarbeit nichts einzuwenden. Aus dem Protokoll der Sitzung des Arbeitsausschusses geht ebenfalls hervor, daß ein rein evangelischer Zusammenschluß nur eine Option unter anderen gewesen war. Selbst zwei Jahre später war die inhaltliche Richtung noch nicht festgelegt. So wurden Überlegungen sowohl zu einem „rechtsstehenden, deutschgesinnten Block" laut wie auch die Möglichkeit einer Verbindung mit katholischen und jüdischen Kreisen diskutiert. Vorbild war hier der Bund Deutscher Frauenvereine, der, wie allgemein angemerkt wurde, „wirklich Gutes leistet". Im Laufe der Sitzung kam man jedoch zu dem Schluß, daß auf das „evangelisch" nicht verzichtet werden könne und somit die V E F D nur ein Bestandteil eines etwaigen rechtsstehenden Frauenbundes sein könne. 130 Die Quellen lassen den Schluß zu, daß der Zusammenschluß Hulda Zarnack war Mitarbeiterin des Burckhardthauses in Berlin-Dahlem. In der Geschäftsstelle der Frauenhilfe in Potsdam waren drei theologische Berufsarbeiter beschäftigt: Hauptgeschäftsführer war Paul Cremer, Otto Moeller und Gerhard Hoppe waren Geschäftsführer für verschiedene Bereiche. Vgl. SIGRID LEKEBUSCH, Beharrung und Erneuerung, S. 41-95. 129 So z. B. DORIS KAUFMANN, Frauen zwischen Aufbruch und Reaktion, S. 46; URSULA BAUMANN, Protestantismus und Frauenemanzipation, S. 254; auch ANDREA BIELER, Konstruktionen des Weiblichen, S. 66. 130 Vgl. das Protokoll der Besprechung vom 7.1.1921 (ADEF HANNOVER, G 2 d 1 (2)). 127
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Die Profilierung der ev. Frauenbewegung 1923-1925
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der evangelischen Frauenverbände zur V E F D nicht nur durch die Furcht vor der Relativierung der christlichen Orientierung in der bürgerlichen Frauenbewegung motiviert war, wie Paula Mueller den Austritt begründet hatte, sondern vielmehr entstanden war aus Angst vor all dem, was die neue Demokratie als Ergebnis der Novemberrevolution mit sich bringen würde. Am 14. Juni 1918 fanden sich zwölf evangelische Frauenverbände in Brandenburg zur Gründungsversammlung der V E F D zusammen. 131 Ziel sollte die gegenseitige Förderung und gemeinsame Vertretung von „Interessen der Frauenwelt im evangelischen Sinn" unter Wahrung der Selbständigkeit der einzelnen Verbände sein.132 In den ersten Jahren wurde die Arbeit der Vereinigung maßgeblich durch Paula Mueller geprägt, die Vorsitzende des DEF. Wegen ihres politischen Engagements und der Zusammenarbeit mit dem B D F in der Vergangenheit wurde sie nur Zweite Vorsitzende der Vereinigung. Pastor Paul Cremer übernahm den Dritten Vorsitz. 133 Auf die Person der Ersten Vorsitzenden konnte man sich aufgrund der unterschiedlichen Ansichten zunächst nicht einigen. Provisorisch und mit Rücksicht auf die konservativeren Frauenverbände übernahm den Vorsitz die Vorsitzende der Frauenhilfe, Alexandra von Keudell. 134 Mit der Etablierung des Frauenwahlrechts und im Blick auf die Wahlen zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919 war auch in Kreisen der
131 Folgende Verbände waren bei der Gründung vertreten: der Kaiserswerther Verband deutscher Diakonissenmutterhäuser, die Frauenhilfe, der DEF, der Evangelische Verband zur Pflege der weiblichen Jugend, die Kirchlich-sozialen Frauengruppen, der Verband der Berufsarbeiterinnen der Inneren Mission, der Verband Evangelische Deutsche Bahnhofsmission, die Zehlendorfer Konferenz, der Verein Freundinnen junger Mädchen, der Frauendienst im Königreich Sachsen, die Frauenvereine für Innere Mission in Baden und der Verband evangelischer Religionslehrerinnen (fälschlicherweise im Protokoll noch mit dem alten Namen Konferenz von Religionslehrerinnen aufgeführt). Vgl. das Protokoll der Versammlung zur Begründung eines Zusammenschlusses evangelischer Frauenverbände vom 14.6.1918 (ADW BERLIN, CA 848). Der Verband evangelischer Arbeiterinnenvereine Deutschlands und der Verband der Studien- und Neulandkreise fehlen bei der Auflistung. Sie schlössen sich erst in den folgenden Monaten an. 1919 waren bereits 19 Frauenverbände beigetreten. Ende der 20er Jahre gehörten dem VEFD über 27 Frauenverbände an, 1933 hatten sich der Vereinigung 29 Frauenverbände angeschlossen mit insgesamt ca. 1.800.000 Mitglieder. Vgl. URSULA BAUMANN, Protestantismus und Frauenemanzipation, S. 254. Damit war die Mitgliederzahl der Vereinigung weitaus höher als die des BDF. 132 Vgl. die Satzung der Vereinigung Evangelischer Frauenverbände Deutschlands vom 14.6.1918 (ADW BERLIN, CA 848 I). 133 Protokoll der Sitzung der VEFD am 23.11.1918 (ADEF HANNOVER, G 2 d 1). Alexandra von Keudell war Vorsitzende der Frauenhilfe. Ihr Sohn Walter von Keudell war Abgeordneter der D N V P und wurde später Innenminister. 134 Vgl. die Diskussion um den ersten Vorsitz in den Schreiben Paula Muellers an Samuel Jaeger vom 17.6.1918 und Samuel Jaegers an Paula Mueller vom 20.6.1918 sowie auf der Sitzung der VEFD am 23.11.1918 (ADEF HANNOVER, G 2 d 1).
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Die „Politisierung" der evangelischen Frauenbewegung 1918-1925
evangelischen Kirche ein reges Interesse am politischen Beitrag der protestantischen Frauen entstanden. Die Vereinigung geriet nun als Organisationsinstrument unter der weiblichen Wählerschaft in den Blick. Trotz der nach außen hin zur Schau getragenen Unabhängigkeit von parteipolitischer Orientierung verhandelte man intern über einen parteipolitischen Anschluß und beobachtete die in Berlin voranschreitenden Verhandlungen zur Bildung der DNVP. Bereits Magdalene von Tiling hatte am 23. November in einem Schreiben den Vorstand aufgefordert, mit den „christlichen Männerparteien" zu verhandeln, und als Alternative angeregt, eine Frauenpartei zu gründen. Pastor Samuel Jaeger riet dagegen in einem Schreiben an Paula Mueller, den Anschluß der Vereinigung an die in Berlin gegründete D N V P anzustreben, um einer Zersplitterung evangelischer Interessen vorzubeugen.135 Schließlich wurde auf der Sitzung der Vereinigung am 4. Dezember 1918 beschlossen, an die D N V P mit Forderungen heranzutreten, die sich besonders auf die Vertretung der evangelisch-kirchlichen Interessen beziehen sollten. Zudem sollte ein interkonfessioneller Ausschuß für die Zusammenarbeit mit den katholischen Frauenverbänden in der Wahlarbeit gegründet werden. 136 Die Befürchtung, die evangelischen Frauen würden nicht zu den Wahlen gehen, kam nicht von ungefähr. Jahrelang war es als „unweiblich" abgelehnt worden, aktiv an politischen Entscheidungsprozessen teilzunehmen.137 Außerdem hatten sich selbst die evangelischen Frauenverbände bisher dagegen ausgesprochen. Nun war plötzlich parteipolitische Frauenbetätigung gefragt. In Windeseile hatte der VEFD in Berlin im Dezember 1918 eine Wahlberatungsstelle eröffnet, Wahlratgeber wurden herausgegeben, Vorträge organisiert und Rednerinnen ausgebildet. Die Wahlarbeit der Vereinigung lief in enger Zusammenarbeit mit dem Reichsfrauenausschuß der DNVP, der für die Werbearbeit wiederum Frauenausschüsse und Vertrauensfrauen der Vereinigung in Anspruch nahm. In einer Fragebogenaktion wurden alle Frauenverbände nach ihrer politischen Ausrichtung, nach ihren Interessen, Zielen und ihren Wünschen an die D N V P befragt und um Unterstützung der Wahlarbeit gebeten. Die Vereine, die das Engagement ihrer Mitglieder für die D N V P befürworteten, boten ihrerseits die Beteiligung an der Wahlarbeit an, wobei die Vorschläge vom Verteilen von Flugblättern bis hin zu „Schlepperdiensten am Wahltag" reichten.138 135
Vgl. die Schreiben Magdalene von Tilings an den Ausschuß der VEFD vom 23.11.1918 und den Briefwechsel Samuel Jaegers und Paula Muellers vom 25. und 27.11.1918 (ADEF HANNOVER, G 2 d
1).
136
Protokoll der Sitzung der VEFD am 4.12.1918 (ADEF HANNOVER, G 2 d 1).
137
V g l . URSULA BAUMANN, P r o t e s t a n t i s m u s u n d F r a u e n e m a n z i p a t i o n , S. 2 5 8 .
138
Im Vorstand des Reichsfrauenausschusses waren unter anderen Anna von Gierke und Margarethe Behm vertreten. Zu den Aktionen vgl. die Akten im BARCH BERLIN: Deutschnationale Volkspartei R 8005/485-487 (Reichsfrauenausschuß), besonders: R 8005/485,
Die Profilierung der ev. Frauenbewegung 1923-1925
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Das Abschneiden der D N V P bei den Wahlen zur verfassunggebenden Nationalversammlung im Januar 1919 war mit 10,3% gegenüber der SPD mit 37 % eher bescheiden. Und doch waren D N V P und die katholische Zentrumspartei diejenigen Parteien, die vom Frauenwahlrecht profitiert hatten. Zum einen war dies der konfessionellen Komponente zu verdanken, zum anderen der Wahlarbeit des interkonfessionellen Ausschusses der Vereinigung und seiner angeschlossenen Verbände. Auch nach den Wahlen wurde die Meinung vertreten, Frauen müßten sich mit politischen Fragen beschäftigen, und die Notwendigkeit politischer Aufklärungsarbeit diente dazu, den organisatorischen Aufschwung der Vereinigung und ihren inhaltlichen Bedeutungszuwachs zu fördern. Die Politisierung der evangelischen Frauen war ein Ziel der Vereinigung, ein weiteres, die Herausarbeitung dessen, „was einzelne Tagesfragen und was neue umfassendere Aufgaben an Mitarbeit von der evangelischen Frau verlangen"139. Das Arbeitsprogramm der Vereinigung von 1919 bot inhaltlich noch wenig konkrete Formulierungen. Bis 1923 konzentrierte sich die Vereinigung auf die Veranstaltung von Frauentagen - die sich zumeist mit der Situation in den besetzten Gebieten befaßten die Veranstaltung von Lehrgängen sowie Eingaben und Kundgebungen. Gegenüber den Gesetzesinitiativen, die die Erweiterung der Berufsmöglichkeiten von Frauen vorsahen, reagierte die Vereinigung verhalten und widersprüchlich. So lehnte sie 1921 die Aufhebung des Zölibats der Lehrerinnen mit der Begründung ab, daß zwei Berufe (Hausfrauenberuf und Lehrberuf) nicht vereinigt werden sollten. Zudem würden die verheirateten und damit „versorgten" Frauen den unverheirateten Lehrerinnen die Stellen streitig machen.140 Auch hatte sich die Vereinigung u. a. für die Zulassung zum Amte der Schöffin und Geschworenen, aber gegen die Zulassung zum Berufsrichtertum ausgesprochen. Mit dem Gesetz über die Zulassung der Frauen zu den Ämtern und Berufen der Rechtspflege vom 1 .Juli 1922 wurden jedoch der Zugang zum Richteramt eröffnet, woraufhin die Frauen der Vereinigung sich nun für die Unterstützung und die Beteiligung christlicher Frauen einsetzten. Margarethe Behm war es gelungen, die Änderung der Reichsversicherungsordnung durchzusetzen, wonach auch die Heimarbeiterinnen in die Sozialversicherung aufgenommen werden sollten. Weiterhin waren Eingaben zum Reichsjugendwohlfahrtsgesetz, zur Mädchenschulreform und zur religiösen Kindererziehung gemacht worden.141 BL. 32, 77; Briefwechsel betreffend der Wahlveranstaltungen 1919, R 8005/486; Schriftwechsel nach Orten 1919-1922: R 8005/487. Fragebogen vgl. R 8005/488 Bl. 34-36. 139
140
A r b e i t s p r o g r a m m f ü r d i e V e r e i n i g u n g v o m 2 4 . 1 1 . 1 9 1 9 ( A D W BERLIN, C A 8 4 8 I).
Vgl. den Rundbrief der VE FD vom Januar 1921 (ADEF HANNOVER, G 2 d 1 (2)). Vgl. den Tätigkeitsbericht der VEFD 1921/1922; weiterhin die von Magdalene von Tiling verfaßte „Eingabe zur Mädchenschulkonferenz beim Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung" vom 23.4.1921 (ADEF HANNOVER, G 2 d 1 (2)). 141
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Die „Politisierung" der evangelischen Frauenbewegung 1918-1925
Bereits im Herbst 1922 kam es zu Spannungen und Unmutsäußerungen hinsichtlich des Profils der VEFD. In einem Gespräch betonte die Zweite Vorsitzende Paula Mueller-Otfried gegenüber der Geschäftsführerin, Nora Hartwich, daß die Vereinigung einen anderen Weg genommen habe, als bei ihrer Gründung beabsichtigt. Sie könne ihr daher nicht mehr bejahend gegenüberstehen und sich auch nicht für die Finanzierung einsetzen. Besonders bemängelte sie, daß die Vereinigung sich zum Gegenstück des katholischen Frauenbundes entwickeln und als Spitzenorganisation der evangelischen Frauenverbände fungieren sollte. Ihrer Ansicht nach sei der D E F bereits das Gegenstück zum katholischen Frauenbund und brauche zudem auch keine Führung. Dagegen sah sie die Aufgabe der Vereinigung darin, als Sprachrohr für die evangelische Frauenbewegung zu dienen sowie Proteste und Kundgebungen zu organisieren. Praktische Aufgaben lehnte sie ab. Lehrgänge und Frauentagungen könnten durch die Verbände veranstaltet werden. 142 Offenbar sah Mueller-Otfried hier eine Konkurrenzorganisation zum D E F entstehen, in der sich andere Persönlichkeiten zu profilieren suchten. Der Hinweis auf die Lehrgänge ist insofern aufschlußreich, als es sich hier um eine Veranstaltungsreihe zum Thema „Die evangelische Frau und ihre Verantwortung im Volksleben" handelte, die maßgeblich unter der Leitung von Tilings gestaltet worden war. 143 Von Tiling hatte sich inzwischen in der Arbeit der Vereinigung soweit profiliert, d a ß die Vorsitzende Alexandra von Keudell, die aus gesundheitlichen Gründen ihr Amt im Juni 1923 niederlegte, sie als Nachfolgerin vorschlug.144 Die Wahl Magdalene von Tilings zur ersten Vorsitzenden
1923
Als Magdalene von Tiling am 24. September 1923 auf der Mitgliederversammlung in Wittenberg zur Ersten Vorsitzenden der Vereinigung gewählt wurde, war sie keine Unbekannte. Die Vorsitzende des Verbandes Evangelischer Religionslehrerinnen hatte mehrfach auf öffentlichen Veranstaltungen der Vereinigung gesprochen. 145 Sie hatte Lehrgänge über „Die evangelische Frau und ihre Verantwortung im Volksganzen" für Mitglieder der angeschlossenen Vereine geleitet und zum Thema „Evangelische Frau und Kirche" Stellung bezogen. Auch bei den von März bis September 1923 veranstalteten Informationsvorträgen der Vereinigung zur Situation an 142 Protokoll der Besprechung zwischen Paula Mueller-Otfried und der Geschäftsführerin der VEFD, Nora Hartwich, im Reichstag am 20.10.1922 (ADEF HANNOVER, G 2 d 1 (2)). 143 Vgl. den Geschäftsbericht, erstattet auf der Mitgliederversammlung in Wittenberg am 24.9.1923 (ADW BERLIN, CA 848 I). 144 Rundbrief an die Verbände vom 15.6.1923 (ADEF HANNOVER, G 2 d 1 (2)). 145 Zum folgenden NORA HARTWICH, Geschäftsbericht der Vereinigung evangelischer Frau-
e n v e r b ä n d e , v o m 2 4 . 9 . 1 9 2 3 ( A D W BERLIN, C A 8 4 8 I ) .
Die Profilierung der ev. Frauenbewegung 1923-1925
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Ruhr und Rhein war sie mit elf Vorträgen hervorgetreten. Diverse Eingaben der Vereinigung zu Mädchenschulreform und Religionsunterricht waren von ihr verfaßt worden. Trotz oder vielleicht gerade wegen ihres Bekanntheitsgrades war ihre Wahl zur Vorsitzenden umstritten und hatte im Vorfeld zu wesentlichen Einwänden geführt. Paula Mueller-Otfried hatte den grundsätzlichen Antrag gestellt, die Besetzung des Amtes der Vorsitzenden per Rotationsprinzip den Verbänden nacheinander zu übertragen. Damit wäre die Konkurrenzsituation zum DEF, die Mueller-Otfried empfand, entschärft worden. Die angeschlossenen Verbände lehnten dieses Modell aufgrund der stets neuen Einarbeitungszeit ab und forderten die Wahl einer Vorsitzenden auf längere Zeit. Gegen die Person Magdalene von Tilings als Vorsitzende wandten sich vor allem der Verein Deutscher Evangelischer Lehrerinnen, dessen Vertreterinnen zu bedenken gaben: „Unser Verein Evangelischer Lehrerinnen verfolgt als evangelische Lehrerinnen-Berufs-Organisation die Vertretung aller Interessen der Schule sowohl als des Lehrerinnenstandes nach den Grundsätzen des biblischen Evangeliums. Er hat aber im Laufe der Jahre immer wieder die Erfahrung gemacht, d a ß Frau von Tiling eine grundsätzliche Gegnerin evangelischer Berufsvereine ist, und d a ß sie den Standpunkt vertritt, die evangelischen Frauen hätten innerhalb der neutralen Vereine mitzuarbeiten, um d o r t als ,Salz' und ,Sauerteig' zu wirken. Eine solche Stellungnahme halten wir f ü r gefährlich und unvereinbar mit dem Amt einer Vorsitzenden der Vereinigung evangelischer Frauenverbände." 1 4 6
Die Kritik der evangelischen Lehrerinnen weist auf das Selbstverständnis von Tilings hin, mit evangelischem Bewußtsein auf alle Bereiche der Gesellschaft einzuwirken und sich nicht in konfessionelle Berufsgruppen abzuschließen und lediglich für deren Belange einzutreten. Daß sie damit auf Widerstand der evangelischen Lehrerinnen stieß, war nur verständlich, denn diese erwarteten von einer evangelischen Frauenvereinigung in erster Linie die Verteidigung ihrer eigenen Interessen. Magdalene von Tiling war jedoch gerade mit ihrer Uberzeugung dafür prädestiniert, einen heterogenen Zusammenschluß wie die Vereinigung zu leiten, weil sie die unterschiedlichen Gruppierungen miteinander besser vernetzen wollten hin zu einer politisch relevanten evangelischen Frauenvereinigung. In theoretischer Hinsicht ging es ihr darum, zukünftig das Selbstbewußtsein der evangelischen Frauen zu stärken und damit deren gesellschaftliches Auftreten und Wirken zu fordern.
146
Schreiben des V D E L an den D E F vom 1.8.1923 (ADEF HANNOVER, G 2 d 1 (2)). Die
Forderung Paula Mueller-Otfrieds ist dort ebenfalls zitiert.
100
Die „Politisierung" der evangelischen Frauenbewegung 1918-1925
Im September 1923 wurde von Tiling von 15 anwesenden Vertreterinnen einstimmig zur ersten Vorsitzenden der Vereinigung gewählt.147 Sie sollte die unterschiedlichen Interessen der 20 Mitgliedsverbände und der fast zwei Millionen Mitglieder zählenden protestantischen Frauenorganisation zusammenhalten und die Politik der Vereinigung evangelischer Frauenverbände in den folgenden zehn Jahren entscheidend bestimmen. Programmatische Erneuerungen Erste Schritte in Richtung der Profilierung einer evangelischen Frauenbewegung durch Magdalene von Tiling waren die Gründung einer Führerinnengemeinschaft, die Bildung von lutherischen Frauenausschüssen, die Aufnahme internationaler Kontakte und die Ausarbeitung eines Arbeitsprogramms. Führerinnengemeinschafi Nach ihrer Wahl zur Vorsitzenden hatte Magdalene von Tiling in Berlin eine „Führerinnengemeinschaft" ins Leben gerufen, die sich die Erarbeitung eines „christlichen Frauenideals" vorgenommen hatte. Grundlagen für die Überlegungen bildete die von vielen Seiten gegenüber der parlamentarischen Demokratie postulierte Vorstellung einer Volksgemeinschaft, einem zukünftigen Gesellschaftsmodell, das Standes- und Klassenunterschiede harmonisieren sollte. Der Gedanke der Volksgemeinschaft, der von Teilen der D N V P wie von dessen „Chefideologen" Friedrich Brunstäd, aber auch von ganz unterschiedlichen Gruppen bis hin zu den Nationalsozialisten propagiert wurde und als ein außerordentlich „modernes", d. h. ein neuartiges, in die Zukunft weisendes Projekt angesehen wurde 148 , sollte nach Maßgabe des Führerinnenkreises um Ideale des evangelischen Christentums und durch Erarbeitung eines „echt deutschen Frauenideals" ergänzt werden. Der Idee der Volksgemeinschaft standen „Rationalismus, Intellektualismus, Individualismus" als Gegner gegenüber, die die Rechte des einzelnen gegenüber der Gemeinschaft betonten. Gegen diese Strömungen, die in der Interpretation von Tilings die desolate Situation herbeigeführt hatten, wollten die evangelischen Frauen antreten.149 Es handelte sich also um den 147 Protokoll der VEFD-Mitgliederversammlung am 24.9.1923. Paula Mueller-Otfried und Frieda Cramer vom V D E L stimmten nicht mit ab, sondern ließen sich für die Sitzung entschuldigen (ADEF HANNOVER, G 2 d 1 (2)). 148 Zur Verwendung des Begriffs der Volksgemeinschaft, der von unterschiedlich politisch orientierten Gruppen in der Weimarer Republik verwendet wurde und gemeinhin als ein außerordentlich modernes Programm galt, vgl. ROLF PETER SLEFERLE, Konservative Revolution; zum Zeitgeist der zwanziger Jahre vgl. auch KURT SONTHEIMER, Antidemokratisches Denken, S. 130 ff.; KARL DIETRICH BRACHER, Zeit der Ideologien. 149 Zum folgenden vgl. die Mitteilungen an die Verbände, in: NACHRICHTENBLATT der VEFD 4, Juli 1924, S.4.
Die Profilierung der ev. Frauenbewegung 1923-1925
101
Versuch, sich aus der Perspektive von Frauen in die neue gesellschaftstheoretische Diskussion einzumischen. Die erste Tagung vom 23.-28. Oktober 1924 in Harzburg beschäftigte sich mit der Frage, wie eine „evangelische Elite" zu gewinnen sei, die das „Gewissen des Volkes" verkörpern könnten, also eine Vorbildfunktion ausüben sollte. Die weiteren Schlagworte wie „Opferbereitschaft", „Verantwortung", „seelische Hochkultur", „Träger des geistigen Erbbesitzes der Gesamtkultur" lassen das Bedürfnis nach Legitimation der eigenen Rolle der evangelischen Frauen erkennen, die nun unter dem Gedanken einer Elitebildung ihre Rolle in Kirche und Gesellschaft zu begründen versuchten. Der Bericht über die Tagung verrät zudem die Schwierigkeit, als evangelische Frauenvereine in der Wohlfahrtsarbeit anerkannt zu werden. So gerieten die evangelischen Frauenvereine mit karitativer Ausrichtung in Konkurrenz zu anderen nicht-konfessionellen Wohlfahrtsverbänden. Weiterhin wurden die Frauen bei den evangelischen Wohlfahrtsdiensten zunehmend aus Leitungspositionen gedrängt. So beklagte man sich, daß in den Wohlfahrtsverbänden nicht genug Frauen an der Spitze tätig seien und daß in gemischten Wohlfahrtsausschüssen nur ein Platz für die konfessionellen Verbände vorgesehen sei, der meist von einem Mann eingenommen würde. Als weitere Schwierigkeit wurde die Anerkennung der Vereinigung von seiten der Inneren Mission genannt. Magdalene von Tiling beschwerte sich bereits Ende 1923 in einem Schreiben an den Präsidenten des Centraiausschusses für Innere Mission, Reinhold Seeberg, über die mangelnde Anerkennung durch die Innere Mission und forderte, die Tätigkeiten der Frauenverbände verstärkt zur Kenntnis zu nehmen.150 Andererseits hatte die Anerkennung der Vereinigung als Teil der Inneren Mission die Zusammenfassung der bislang eigenständigen Arbeit vieler Frauenverbände und damit eine veränderte rechtliche Stellung gegenüber kirchlichen Gremien geschaffen. Von Rechts wegen waren die Frauenverbände nun in vielfältigen Gremien vertreten, das erwartete Mitspracherecht und die angemessenen Anerkennung erhielten sie dafür jedoch nur zögerlich. Dies entsprach ganz dem seit 1922 einsetzenden gesellschaftlichen Trend, Frauen wieder verstärkt aus Ämtern zu verdrängen und ihnen durch neue Gesetze die eben erweiterten Berufschancen wieder zu nehmen. So bestimmte das Beamtengesetz von 1923 die Entlassung von verheirateten 150 „Auf der Mitgliederversammlung der Vereinigung Evangelischer Frauenverbände in Wittenberg am 24.9.1923 ist von den Vertretern aller anwesenden Verbände stark einmütig die Auffassung zum Ausdruck gebracht worden, daß die evangelischen Frauenverbände beim Centraiausschuß für Innere Mission die rechte Würdigung der Arbeit der evangelischen Frauenwelt vermissen. Die Arbeit der evangelischen Frauenwelt wird u. E. vom Centraiausschuß für Innere Mission bei seinen Veranstaltungen und Verhandlungen weder genügend berücksichtigt, noch genügend bewertet" (Schreiben Magdalene von Tilings an den Vorsitzenden Reinhold Seeberg, Professor für Systematische Theologie in Berlin, vom 10.11.1923;
A D W BERLIN, C A 8 4 8 I).
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Beamtinnen, und dies, obwohl Art. 128 der Verfassung forderte, die Ausnahmebestimmungen gegen weibliche Beamte zu beseitigen. Auch die Mandate von Frauen in den Parlamenten reduzierten sich nach 1919 stetig.151 Lutherische
Frauenausschüsse
Der Ausschluß von Frauen zeigte sich jedoch nicht nur in dem gesellschaftlichen Trend zum Abbau von frauenpolitischen Errungenschaften, sondern auch in den bislang nicht vorhandenen Partizipationsmöglichkeiten im kirchlichen Bereich. So waren beispielsweise zu den Sitzungen des Lutherischen Weltkonventes, zu dem sich 147 Delegierte aus 22 Ländern vom 19.-24. August 1923 in Eisenach unter dem Vorsitz des sächsischen Landesbischofs Ludwig Ihmels zum ersten Mal versammelten, keine Frauen zugelassen.152 Als Reaktion darauf gründete sich ein internationaler lutherischer Frauenausschuß, der es sich zur Aufgabe machte, eine Zusammenkunft lutherischer Frauen für den nächsten Weltkonvent zu planen. Treibende Kraft war von Tiling, die zugleich hier die Chance sah, auf nationaler wie internationaler Ebene die Verbindung lutherischer Frauen untereinander herzustellen. Zunächst konzentrierte sie sich auf eine Zusammenführung der Frauen der deutschen lutherischen Kirchen, die sie zwecks Austauschs und Vertiefung des lutherischen Bewußtseins zur Gründung von regionalen Lutherkreisen aufrief. Mit der Idee der lutherischen Frauenausschüsse warb sie sowohl bei den Vorsitzenden der angeschlossenen Verbände als auch bei Kirchenfunktionären wie etwa des sächsischen Landesbischof Ludwig Ihmels.153 Die lutherischen Frauenkreise kamen jedoch erst 1925 zustande, denn erst in der Zusammenarbeit mit Friedrich Gogarten sollte es Magdalene von Tiling gelingen, eine neue Richtung der Lutherinterpretation unter den evangelischen Frauen zu profilieren.
151
V g l . GABRIELE BREMME, D i e p o l i t i s c h e R o l l e d e r F r a u , S. 2 7 ; U T E GERHARD, U n e r h ö r t ,
S. 345. 152 Der Lutherische Weltkonvent war 1923 in Eisenach gegründet worden aus dem Interesse heraus, die lutherischen Kirchen weltweit auf ein Fundament einer gemeinsamen Bekenntnisgrundlage zu bringen. 1935 wurde in Paris eine dauerhafte Zusammenarbeit beschlossen und während des Zweiten Weltkrieges die Arbeit der Missionswerke unterstützt. Aus dem Lutherischen Weltkonvent ging 1947 der Lutherische Weltbund hervor, zu dem sich 1947 49 Kirchen zusammenschlössen. Vgl. EUGENE L. BRAND, Art. Lutherischer Weltbund, Sp. 209-211; auch H . H . HARMS, Art. Lutherischer Weltbund, Sp. 527-529. Zum folgenden vgl. das Informationsblatt über die Gründung eines internationalen lutherischen Frauenausschusses [o.J.] (1923); vgl. auch das Schreiben Nora Hartwichs an Magdalene von Tiling vom 18.11.1924 (ADEF HANNOVER, G 2 d 1 (2)). 153 Dies geht aus dem Schreiben Nora Hartwichs an Magdalene von Tiling vom 18.11.1924 hervor.
Die Profilierung der ev. Frauenbewegung 1923-1925
103
Internationale Kontakte Auf der Mitgliederversammlung im Oktober 1924 berichtete die Direktorin des Burckhardthauses und Vorsitzende des Verbandes zur Pflege der weiblichen Jugend, Hulda Zarnack, über ihre Amerika-Reise. Nach ihrer Ansicht hatten die lutherischen Kreise in Amerika kein großes Interesse an einer Verbindung mit den deutschen Glaubensgeschwistern. So sah man die Notwendigkeit, durch persönliche Kontakte die Verbindung herzustellen. Ein erster Schritt in diese Richtung war Hulda Zarnack bereits gelungen, indem sie Beziehungen zum Women's Church Committee of International Goodwill geknüpft hatte, von Tiling war daraufhin mit der Vorsitzenden Carolina Wood in Verbindung getreten. Für Dezember waren ein „Weihnachtsfreundschaftsschiff" und der Besuch von fünf Frauen des amerikanischen Komitees angekündigt worden. Ziel des Kontaktes war zum einen die internationale Verständigung, die durch den Krieg unterbrochen worden war, zum anderen die nötige finanzielle Hilfe der Amerikanerinnen. Erst langsam erholte man sich von den Kriegsfolgen und der Inflation, die 1923 ihren Höchststand erreicht hatte. Die Frauen der Vereinigung erhielten von den Amerikanerinnen Geldspenden, die sie an bedürftige Frauen und Kinder weiterleiteten. Wie die Korrespondenz zeigt, stand die Vereinigung auch in den nächsten Jahren mit dem Women's Church Committee on International Goodwill in Verbindung. Auf dem evangelischen Frauentag im Jahre 1926 waren mehrere Amerikanerinnen des Komitees vertreten.154 Arbeitsprogramm Zum Jahresbeginn 1925 beschloß der Arbeitsausschuß der Vereinigung die Ausformulierung eines Arbeitsprogramms. „Der leitende Gesichtspunkt bei all diesen Aufgaben soll sein: die innere Erweckung der evangelischen Frauen zu ihrer Verantwortung, damit die innere evangelische Frauenfront entsteht. Das Verantwortungsgefühl für das Volk auf überzeugt evangelischer Grundlage muß sich in der Öffentlichkeit auswirken." 155
Dieses Projekt entsprach den Vorstellungen von Tilings. Der Zusammenschluß evangelischer Frauen sollte zum einen die Identität evangelischer Frauen fördern, zum anderen die Gesellschaft vor dem prognostizierten Untergang bewahren. Der Arbeitsausschuß übertrug der Ersten Vorsitzen154 Vgl. das Protokoll der Mitgliederversammlung am 22.10.1924, den Briefwechsel zwischen Magdalene von Tiling und Carolina Wood sowie das Protokoll der Sitzung des Arbeitsausschusses vom 21.1.1925 (ADEF HANNOVER, G 2 d 1 (2)). Vgl. auch das NACHRICHTENBLATT DER VEFD 4, Dezember/Januar 1924/1925, S. 37. 155 Protokoll der Sitzung des Arbeitsausschusses vom 21.1.1925 (ADEF HANNOVER, G 2 d 1 (2)).
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den die Ausarbeitung des Programms, das drei Monate später die allgemeine Zustimmung des Ausschusses und der angeschlossenen Vereine fand. Paula Mueller-Otfried begrüßte die Reaktion der Verbände, da sie hier endlich die Zustimmung zu den Zielen sah, die sie mit dem DEF bereits seit langer Zeit verfolgte. Allerdings erinnerte sie an die Gründungsbeschlüsse und verwies auf die Unabhängigkeit der einzelnen Verbände. Magdalene von Tiling hingegen bezeichnete die Gründungsbeschlüsse als nunmehr überholt und sah in der Erarbeitung eines „deutschen evangelischen Frauenideals" ein legitimes Anliegen, von dem die Verbände nur profitieren würden. 156 Die Querelen zwischen von Tiling und Mueller-Otfried verdeutlichen den Machtkampf innerhalb der Organisation. Paula Mueller-Otfried sah in der Vereinigung lediglich einen formalen Zusammenschluß der Fraueninteressen, die auch als politisches Machtmittel eingesetzt werden konnten, und verwahrte sich gegen jegliches Eingreifen seitens des Dachverbandes in die Angelegenheiten des DEF. Magdalene von Tiling hingegen wollte die Vereinigung als evangelische Frauenbewegung profilieren und im Sinne einer „Einheitsfront" auch inhaltlich auf eine Linie bringen. Dies zeigte sich in der Ausführung des Arbeitsprogramms 157 . Das Programm gliederte sich drei Punkte, die die inhaltliche Bestimmung, die Grundanschauungen, Ziele und Wege der Vereinigung beschrieben. Die Grundanschauung war in zwei Thesen formuliert. Die erste verdeutlichte das gesellschaftliche Krisenbewußtsein und die Interpretation der gesellschaftlichen Diagnose: Mit dem Ziel der Herstellung der „inneren und äußeren Gesundung des Volkes" war gemäß der konservativen Kulturkritik dem Empfinden Ausdruck gegeben, die Gesellschaft sei krank. Die Forderung nach dem „Wiederaufbau der christlichen Familie" deutet auf die Wahrnehmung der Situation der Familie als zerrüttet hin. Die Forderung nach „Durchsetzung evangelischer Schulerziehung" betraf die Kontroverse um die Schulartikel der Weimarer Verfassung und den Vorwurf der Konservativen, daß eine zunehmenden Entchristlichung der Gesellschaft vorangetrieben würde. Der „Kampf gegen die Unsittlichkeit" hingegen richtete sich zum einen gegen Prostitution und Alkoholismus, zum anderen aber auch gegen die vielfältige Kunst, Kultur und Lebensweise in den Großstädten, die von konservativer Seite als Verfall der Sitten diagnostiziert wurde. Der Wunsch nach „Vertiefung des kirchlichen Lebens" verwies von Tiling auf den Mangel an kirchlicher und gemeindlicher Aktivität sowie eines Desinteresses an christlichen Glaubensinhalten und Lebensentwürfen. Zu den Protagonistinnen der Überwindung der von ihr skizzierten Mißstände bestimmte von Tiling die evangelischen Frauen, weil 156
Protokoll der Sitzung des Arbeitsausschusses vom 27.4.1925 und vom 9.7.1925 (ADEF
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Arbeitsprogramm der VE FD vom 7.11.1925 (ADW BERLIN, CA 848 I).
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diese aufgrund ihres christlichen Glaubens d a z u in d e r Lage seien, die christlichen Werte in die Gesellschaft einzubringen. Wie hier bereits zu erkennen ist und unten ausgeführt wird, griff von Tiling hier auf einen T o p o s d e r im B D F vertretenen M e h r h e i t s s t r ö m u n g d e r bürgerlichen Frauenbewegung zurück. D e r Legitimations-Topos, d e r die Frau als Retterin d e r Kultur propagierte, f a n d hier seine dezidiert christliche Ausformulierung. In Abgrenzung z u r nicht konfessionell ausgerichteten Frauenbewegung betonte von Tiling, d a ß evangelisch geprägte Frauen besser z u r Gestaltung d e r Gesellschaft geeignet seien, weil diese durch ihren christlichen Glauben ein bestimmtes Wertebewußtsein besäßen, welches es zu aktualisieren gelte. Die Abgrenzung gegenüber dem B D F diente gleichzeitig d a z u , die Rolle von Frauen in der Kirche damit zu legitimieren, d a ß sie originäre kirchliche Interessen vertraten. N o c h deutlicher wird dies in T h e s e zwei, welche die theologisch begründeten Lösungsansätze bot: Hergestellt werden sollte „ein im Evangelium gegründetes persönliches Glaubensbewußtsein und die Erkenntnis, d a ß nur vom Christentum aus Wesen und W e r t des Frauentums richtig erfaßt und die Formen erkannt werden, in denen sich deutsches, evangelisches Frauentum zum Segen von Staat, Volksgemeinschaft und Kirche mitgestaltend auszuwirken hat". Es ging also um die Ausbildung einer spezifischen Identität protestantischer Frauen, die im Sinne d e r Erweckungsbewegung als persönliches Glaubensbewußtsein beschrieben wurde, das ihre gesellschaftliche Stellung und ihre Handlungsmöglichkeiten zugunsten von Kirche und Gesellschaft legitimieren sollte. Weiterhin strebte das P r o g r a m m die Politisierung d e r evangelischen Frauen an, um die Anschauungen christlicher Sittlichkeit und des christlichen Glaubens durchzusetzen: ein P u n k t , der auf allgemeingesellschaftliche Veränderungen zielte. Erreicht werden sollte dies durch die bisherigen M a ß n a h m e n wie durch die H e r a u s g a b e eines monatlichen Nachrichtenblattes und durch Gesetzesinitiativen 1 5 8 . D a r ü b e r hinaus sollten verstärkt organisatorische Zusammenschlüsse g e f ö r d e r t sowie Lehrgänge und „Evangelische Frauentage" veranstaltet werden. N e u w a r also d e r Versuch einer einheitlichen inhaltlichen Profilierung einer Evangelischen Frauenbewegung, eine theoretische Grundlage, mit d e r M a g d a l e n e von Tiling die unterschiedlich ausgerichteten Frauenverbände zu einer „Einheitsfront" zusammenschließen wollte. D a s K o n z e p t w a r national-konservativ geprägt; die inhaltliche Profilierung wirkte sich jedoch auf die Praxis der Vereinigung aus: M a g d a l e n e von Tiling w u r d e 1923 Herausgeberin des monatlichen Nachrichtenblattes, trat als Abgeordnete
158 Eine Liste der Eingaben von 1932 ist abgedruckt im Geschäftsbericht vom 12.9.1933. Vgl. A u Z 13, N o v e m b e r / D e z e m b e r 1933, S. 75-80.
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der D N V P im preußischen Landtag für die Gesetzeseingaben der Vereinigung ein und organisierte die alle zwei Jahre stattfindenden „Evangelischen Frauentage", auf denen sie ihre Gedanken in Vorträgen einer größeren Öffentlichkeit darlegte. Die „Evangelischen Frauentage" trugen neben den Schriften Magdalene von Tilings maßgeblich zu ihrem Bekanntheitsgrad bei, da auf den Veranstaltungen - ähnlich wie auf den Veranstaltungen der Inneren Mission - Vertreterinnen aus Frauenvereinen aus dem In- und Ausland sowie Vertreter der Kirche und der kommunalen Politik anwesend waren.159
2. Die Konzeption einer Evangelischen Frauenbewegung 1924/25 Die Zusammenführung der heterogenen kirchlichen Frauengruppen zu einer Bewegung, die im weitesten Sinne als Evangelische Frauenbewegung firmieren und dadurch einen politischen Machtfaktor darstellen konnte, war kein einfaches Unterfangen. Es konnte sich hierbei nur um ein Kompromißmodell handeln, das die unterschiedlichen Interessen der Frauenvereine berücksichtigte, an der Ausgestaltung frauenpolitischer Errungenschaften im Sinne des BDF festhielt, zugleich aber ein eigenes Profil sichtbar machen mußte. So ging es zum einen um die Aktivierung der bislang den Forderungen der Frauenbewegung distanziert gegenüberstehenden Frauen in Kirche und Diakonie, zum anderen um eine deutliche Abgrenzung von den bislang existierenden Frauenbewegungen.160 Durch welche Positionen zeichneten sich diese aus, und wie waren sie für eine Konzeption einer Evangelischen Frauenbewegung zu modifizieren?
159 Der Bericht über den 3. Evangelischen Frauentag 1926 nennt unter den 300 Delegierten evangelischer Frauenvereine Vertreterinnen aus Rumänien, Osterreich, Estland, Lettland, der Tschechoslowakei, Polen, der Schweiz und Amerika. Als Vertreter aus Kirche und Politik waren der Präsident der hessischen Kirchenregierung Prälat Wilhelm Diehl, sowie ein Vertreter des hessischen Ministeriums des Innern und der Oberbürgermeister von Darmstadt anwesend (vgl. MONATSBLATT DER VEFD 6, Juli/August 1926, S. 2-5). 160 Ich verwende hier die Begrifflichkeit von ANJA WEBERLING. Sie hat überzeugend darauf hingewiesen, daß die Rede von den beiden „Flügeln" der bürgerlichen Frauenbewegung angesichts des ungleichen Größenverhältnisses von BDF und den Radikalen unpassend sei und der gemeinsame Rumpf seit 1919 nicht mehr bestanden habe. Vielmehr sollte von zwei von ihrer Zielsetzung und Wirkung unterschiedlichen Frauenbewegungen ausgegangen werden. Auch sei die generelle Bezeichnung der im BDF zusammengeschlossenen Mehrheitsströmung der bürgerlichen Frauenbewegung als „gemäßigt" ohne genaue Berücksichtigung des historischen Kontextes unzweckmäßig und irreführend. Nach der neueren Forschung sei der BDF in kaum einer Hinsicht als „gemäßigt" zu bezeichnen (Zwischen Räten und Parteien, S.2).
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Positionen der bürgerlichen und der proletarischen Frauenbewegung Die Anschauungen der im BDF repräsentierten Mehrheit der bürgerlichen Frauenbewegung, die 1919 offiziell 833.941 Mitglieder in 40 Verbänden und 248 direkt angeschlossenen Vereinen umfaßte, waren durch die zwei führenden Persönlichkeiten Helene Lange und Gertrud Bäumer geprägt.161 Das Staatsvertändnis Gertrud Bäumers, der langjährigen ersten Vorsitzenden des BDF von 1910-1919, lehnte sich eng an die Vorstellungen Friedrich Naumanns an, mit dem sie seit Anfang des Jahrhunderts bis zu dessen Tode 1919 eng zusammengearbeitet hatte. „In seinem Konzept verband sich nach außen hin eine aggressive Machtstaatspolitik mit der innenpolitischen Maxime, durch sozialstaatliche Intervention Klassengegensätze einzuebnen, um eine in sich geschlossene Volksgemeinschaft herzustellen."' 62 Diese Aufgabe der Versöhnung der Klassengegensätze, sahen die BDFVertreterinnen als eine genuin weibliche an, da dies den Frauen aufgrund ihrer „mütterlichen Bestimmung" gerade möglich sei. Die rechtliche und gesellschaftliche Gleichstellung der Frauen war in ihren Argumentationsmodellen nicht eigentliches Ziel, sondern lediglich Mittel zum Zweck. In Abweichung von der naturrechtlich geprägten angelsächsischen Frauenbewegung wurde die formale Gleichheit zum Instrument, die weibliche Andersartigkeit in den Dienst der gesellschaftlichen Erneuerung zu stellen. Ausgehend von der Verschiedenheit, aber Gleichwertigkeit der Natur von Mann und Frau, bestimmte das Emanzipationskonzept des BDF die Differenz der Geschlechter zunächst biologisch in der Fähigkeit der Frau, Kinder zu gebären. Daraus wurde ein kulturelles Konzept abgeleitet, das die „mütterliche Wesensart" der Frauen und die daraus erwachsenen psychischen und sozialen Fähigkeiten allen Frauen zuerkannte. Die Theoretikerinnen des BDF, allen voran Helene Lange, formulierten daher als ihr oberstes Ziel, die den Frauen eigenen Werte in den bislang rein männlich bestimmten Bereichen von Staat und Öffentlichkeit zur Geltung zu bringen. „Nicht darauf kommt es an, daß ihnen hier und da ein Teilgebiet der Manneswelt freigegeben wird, nicht darauf, ob sie diesen oder jenen Beruf ausüben oder nicht, sondern auf etwas viel größeres und zugleich innerliches: Darauf, daß die Frau aus der Welt des Mannes eine Welt schafft, die das Gepräge beider Geschlechter trägt." 163
161
Zu den Emanzipationsvorstellungen der vom BDF repräsentierten Frauenbewegung vgl.
BARBARA GREVEN-ASCHOFF, D i e b ü r g e r l i c h e F r a u e n b e w e g u n g ; THERESA WOBBE, „ D i e F r a u -
enbewegung ist keine Parteisache", S. 50-65; BÄRBEL CLEMENS, „Menschenrechte haben kein Geschlecht!"; IRENE STOEHR, „Organisierte Mütterlichkeit"; DIES., Emanzipation zum Staat? 162 ANJA WEBERLING, Zwischen Räten und Parteien, S. 21 f. Zu Gertrud Bäumer vgl. W E R N E R H U B E R , B ä u m e r ; e b e n s o A N G E L I K A SCHASER, 163
Bäumer.
Helene Lange 1904, zitiert nach ANJA WEBERLING, Zwischen Räten und Parteien, S. 22.
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Die Erweiterung des weiblichen Kultureinflusses auf alle gesellschaftlichen Gebiete sollte die drohende Entseelung der Kultur verhindern. „Frauenbewegung" sollte weniger Kampf um Rechte als schrittweise Ausdehnung der konkreten Tätigkeitsfelder bedeuten, beispielsweise im sozialen Bereich, in der Armenpflege, Waisenpflege, Schulaufsicht. Die Emanzipationsansprüche sollten dadurch ihre Legitimation erlangen, daß mit ihrer Einlösung eine sittliche Erneuerung der gesamten Gesellschaft bewirkt werden könne - gerade darin nämlich liege die eigentliche Kulturaufgabe der Frau.164 In den Jahren nach 1918 betonten die beiden Theoretikerinnen Gertrud Bäumer und Helene Lange immer wieder in ihren Veröffentlichungen, daß mit der formalen Gleichberechtigung die Frauenbewegung noch nicht ans Ziel gekommen sei. Nun gelte es, „in den sozialen und politischen Lebensordnungen Wesen und Kulturideen der Frauen stärker zum Ausdruck zu bringen als bisher und auch durch die Kanäle des sozialen und politischen Gesellschaftslebens die Ströme weiblicher Kulturkraft zu leiten."165 Die Vertreterinnen der „radikalen" bürgerlichen Frauenbewegung wie beispielsweise Hedwig Dohm, Lida Gustava Heymann, Anita Augspurg, Helene Stöcker oder Minna Cauer sahen im Frauenstimmrecht nicht die formale Anerkennung der bewährten gemeinnützigen Leistungen, sondern in der Anerkennung der Frauen als gleichberechtigte und gleichwertige Rechtssubjekte erst die Voraussetzung für die Frauenemanzipation. Wie der BDF gingen die Vertreterinnen der „Radikalen" von einem ursprünglichen, aus der Gebärfähigkeit der Frauen abgeleiteten Wesen aus. Ihre Interpretation der weiblichen Mission ging jedoch in die Richtung Antikriegsarbeit und internationale Verständigung: „Frauen sind, nur weil sie Frauen sind, gegen jede brutale Gewalt, die nutzlos zerstören will, was gewachsen, was geworden ist, sie wollen aufbauen, schützen, neu schaffen, neu beleben." In der Tradition der Naturrechtslehre begriffen sie das Recht auf freie Entwicklung der Persönlichkeit und auf politische Partizipation als unveräußerliches, unteilbares Menschenrecht und setzten sich mit Vehemenz für das Stimmrecht und die gleichen Rechte für Frauen ein.166 Die Protagonistinnen der proletarischen Frauenbewegung wie Luise Zietz und Clara Zetkin, die sich zunächst 1917 der U S P D anschlössen und schließlich zur K P D ging, hielten auch nach 1919 grundsätzlich an der sozialistischen Emanzipationsvorstellung fest, wie sie Zetkin Ende des 19. Jahrhunderts formuliert hatte. 167 Danach war die Frauenfrage in
164 165 166
167
Vgl. dazu KLAUS HÖNIG, Der Bund Deutscher Frauenvereine, S. 7. HELENE LANGE, Die Umgestaltung in der Arbeit der Frauenbewegung, S. 267. V g l . d a z u U T E GERHARD, Bis a n d i e W u r z e l n d e s Ü b e l s , S. 7 7 - 9 7 .
Zur Emanzipationstheorie Clara Zetkins vgl. KAREN HAGEMANN, Frauenalltag und Männerpolitik, S. 518 f. Zur Biographie: CHRISTA SÖLLNER, Clara Zetkin und die sozialistische Frauenbewegung; KARIN BAUER, Clara Zetkin und die proletarische Frauenbewegung;
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erster Linie eine soziale Frage, die aus der Industrialisierung erwachsen war und sich für bürgerliche und proletarische Frauen unterschiedlich darstellte. In ihren Augen hatte die Industrialisierung die wirtschaftliche Funktionalität des Einzelhaushaltes aufgelöst und damit eine familiäre Abhängigkeit der Frau vom außer Haus beschäftigten Mann mit sich gebracht. In dieser Hinsicht stelle die Erwerbsarbeit eine Grundlage individueller Emanzipation für Frauen dar; die häuslichen Verhältnisse seien damit als ein historisches Relikt und eine zu überwindende G r ö ß e angesehen worden. Nach Zetkin erstrebten die bürgerlichen Frauen in ihrem Emanzipationskampf lediglich das Recht auf freie Konkurrenz mit den Männern der eigenen Klasse bzw. gegen sie. Für die Proletarierinnen stelle sich das Problem der Emanzipation anders dar. Ihre Befreiung aus der häuslichen Enge, Rückständigkeit und Bedrückung im Kapitalismus sei nur um den Preis der Ausbeutung möglich, da die aus der N o t ergriffene Erwerbsarbeit ihnen Mehrfachbelastung und menschenverachtende Arbeitsbedingungen bringe. Zu ihrer wirklichen Befreiung müßten die proletarischen Frauen daher gemeinsam mit den Männern ihrer Klasse für eine neue Gesellschaftsform kämpfen, die ihnen durch lebensgerechte Gestaltung der Arbeitsverhältnisse und umfassende soziale Sicherung eine angenehme Verbindung familiärer und gesellschaftlicher Pflichten ermöglichen würde. Das Frauenwahlrecht diente somit als ein Etappenziel im Klassenkampf. Ein Bündnis mit den bürgerlichen Frauen schlössen die Sozialistinnen aus. Hinsichtlich der Vorstellung von Weiblichkeit lassen sich aber auch in ihren Erziehungs- und Bildungskonzepten die herkömmlichen Geschlechtsstereotypen nachweisen, die auf der Annahme der mütterlichen Wesensart beruhen. 168 Die Evangelische
Frauenbewegung
Im Oktober 1924 wurde im Nachrichtenblatt ein Artikel Magdalene von Tilings veröffentlicht, der den Titel Evangelische Frauenbewegung trug und kurz vorher als kleine Schrift in der Reihe „Zeitfragen der Inneren Mission" erschienen war. 169 Er kann als Zusammenfassung der Gedanken von Tilings zur neuen Rolle der evangelischen Frauen und einer evangelischen Frauenbewegung Mitte der zwanziger Jahre gelten. Der Begriff einer Evangelischen Frauenbewegung läßt sich in den Schriften von Tilings hier zum ersten Mal nachweisen.
DOROTHEA REETS, C l a r a Z e t k i n als sozialistische R e d n e r i n ; LUISE DORNEMANN, C l a r a Z e t k i n ; GILBERT BADIA, C l a r a Z e t k i n : eine neue B i o g r a p h i e . 168 ANJA WEBERLING, Z w i s c h e n R ä t e n u n d P a r t e i e n , S. 32, m a c h t auf die B D F - v e r w a n d t e n V o r s t e l l u n g e n von M ü t t e r l i c h k e i t in einigen Beispielen a u f m e r k s a m . 169 Z u m f o l g e n d e n : MAGDALENE VON TLLING, Evangelische F r a u e n b e w e g u n g .
110
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In einem Abriß über die Geschichte der Frauenbewegung grenzte von Tiling zunächst die deutsche von der französischen und amerikanischen Frauenbewegung mit ihren Forderungen nach Gleichheit ab. In Deutschland hätten sich die Frauen seit der Romantik stets als gleichberechtigte Persönlichkeiten gefühlt und in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts versucht, ihrem Leben Wert und Inhalt zu geben mit den Forderungen nach Erwerbstätigkeit, Bildung und dem Einsatz für die Armen. Soweit folgte von Tiling der positiven Bewertung der Frauenbewegung, wobei sie hier offenbar lediglich die im BDF vertretene Mehrheit meinte, ohne den BDF namentlich zu erwähnen. In ihrer Darstellung werden der DEF als Repräsentant von dessen Position vorgestellt und die positiven Errungenschaften hervorgehoben wie etwa die Erkenntnis, daß nur auf dem Wege der Gesetzgebung Frauen einander wirksam helfen könnten. Auch die Durchsetzung von neuen Berufsfeldern und Arbeitsschutzmaßnahmen für Frauen erkannte von Tiling als Errungenschaft an, nicht aber die Forderungen der radikalen Minderheit nach Eigenverantwortlichkeit und sexueller Selbstbestimmung. Mit der Erreichung des Wahlrechts und der formalen Gleichberechtigung sei die nach Rechten strebende Frauenbewegung überflüssig geworden. Damit ist die eine Front, gegen die Magdalene von Tiling eine Abgrenzung intendiert die bürgerliche Frauenbewegung im Sinne des BDF. Diese sei mit der Durchsetzung der Rechtsgleichheit obsolet geworden sei, deren rechtlichen Errungenschaften es zwar weiterhin zu erhalten gelte, inhaltlich jedoch eine evangelische Frauenbewegung für die Zukunft förderlicher sei. Schärfer war jedoch die Abrechnung mit der anderen Front, den evangelischen Frauen, die sich bisher ablehnend gegen die Frauenbewegung verhalten hatten: „Die evangelische christliche Frau war weithin gewöhnt, nicht selbständig zu denken und zu handeln, und sie liebte diese Gewohnheit, die sie vor Kämpfen des selbständigen Menschen bewahrte. Sie war noch nicht zur Freiheit des evangelischen Christengewissens erwacht." 170
Die gesellschaftspolitische Abstinenz evangelischer Frauen wird gegen bisherige Ansichten im Protestantismus als Bequemlichkeit und Unverantwortlichkeit gebrandmarkt. In der Mißachtung der christlichen Freiheit des Gewissens charakterisierte Magdalene von Tiling diese Haltung als schlechthin „unevangelisch". Und genauso, wie der bürgerlichen Frauenbewegung bislang kirchlicherseits vorgeworfen worden sei, sie habe die Entwicklung der „Weiblichkeit" behindert, müsse der Kirche und gerade ihren weiblichen Mitgliedern eben dieser Vorwurf gemacht werden, mit ihrer Position die „Weiblichkeit ertötet" zu haben. Weiblichkeit definierte 170
EBD., S . 9 .
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von Tiling nun als eine innere Einstellung, die Opfersinn und Hingabewillen, eine Verantwortung für Volk, Kirche und Vaterland befürwortet. Die Evangelische Frauenbewegung sei somit eine neue Frauenbewegung, die eine andere Grundlage habe als die Frauenbewegung des 19. Jahrhunderts. Sie verabschiede sich von den Gedanken der Einzelpersönlichkeit, des Rechts auf Selbstbestimmung, der Selbstentfaltung des Individuums und gehe vom nationalen Zusammenbruch aus, der sich auch im Inneren der Menschen vollzogen habe. Dies bedeute den Abschied von allen Idealen der Vorkriegszeit und des 18. und 19. Jahrhunderts. Magdalene von Tiling schildert dies wie ein Gottesgericht, das zur Selbstbesinnung geführt habe. Nun sei die Abkehr vom Rationalismus und Intellektualismus zu vollziehen, der den Wert der Seele verlieren lasse und die Gemeinschaften aufgelöst habe. Die neue Gemeinschaft sei eine Gemeinschaft durch gleiche Verwurzelung im gleichen Boden einer Volksgemeinschaft. Das Konzept der sei damit auf den Staat und die Volksgemeinschaft ausgerichtet. Doch die nationale Fundierung reiche für die Frauen nicht aus, sie sollen sich auf ihr „Frauentum" besinnen. „Worin besteht das Frausein, was ist die Eigenart des deutschen Frauenideals, welche Stellung muß die Frau als evangelische Frau einnehmen, welche Bedeutung hat das weibliche Geschlecht als die andere Hälfte der Menschheit, als Kulturfaktor in unserem Volk in der heutigen Zeit? Was hat die Frau im Volksleben an Werten und Kräften heranzubringen? Wir Frauen wissen, daß niemand uns diese Frage beantworten kann als wir selbst, daß wir all diese Fragen aus eigener Erkenntnis unseres Seins beantworten müssen." 171
Es ist in der Tat verwunderlich, mit welcher Vehemenz von Tiling sich von den Errungenschaften der Aufklärung verabschiedete, die doch sowohl die Handlungsräume und Berufschancen von Frauen in den vorangegangenen Jahrzehnten entscheidend erweitert hatten. Sie selbst hatte in ihrer Person in besonderem Maße davon profitiert. Und tat dies weiterhin. Anderseits scheint sie nicht ganz konsequent in der Verabschiedung der Autonomie Individuums zu sein, da sie selbst den Frauen die Definitionsmacht ihrer Rolle zuerkennt. Denn sie stellte heraus, wie zentral es für die Frauen sei, sich selbst ihre Rolle zuzuweisen. Sie erkannte, daß die Definition der Geschlechterrollen auch über das Handeln in der Gesellschaft entschied. Eine überzeitliche, biologische Festschreibung nahm von Tiling nicht vor, sie begründete das „Sein" der Frau auch nicht biologisch, sondern in seiner sittlich-kulturellen Komponente. Hingabe und Opfersinn sollten, statt wie vorher der Familie, nun der Volksgemeinschaft zugute kommen. Es ist ein harmonisches Modell, das von Tiling entwarf. Die Mitverant171
EBD., S. 13.
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wortlichkeit der Frauen bezog sich auf „Opfersinn" und „Hingabe", nicht auf neue Berufe oder Rechte. Im Sinne der protestantischen Berufsethik sollte die evangelische Frau ihre Gesinnung an jeden Ort, an den Gott sie gestellt hat, einbringen: als Hausfrau, als Erzieherin ihrer Kinder, in ihrem Beruf. Die Aufgabe der evangelischen Frauen war somit die sittlich-kulturelle Verbesserung der Gesellschaft. Magdalene von Tiling strich jedoch auch die Wichtigkeit der Ausübung des Wahlrechtes als äußere Rechtsgrundlage der inneren Verpflichtung heraus. Im Gedankenmodell der „Zwei-Reiche-Lehre" formulierte sie auch für Frauen die Pflicht, als Bürger des Gottesreiches Beruf und Aufgabe in dieser Welt zu erfüllen. Die Konzeption der evangelischen Frauenbewegung war somit ein Kompromißmodell. Es sollte möglichst viele derjenigen evangelischen Frauen, die der bürgerlichen Frauenbewegung ablehnend gegenüberstanden, integrieren. Mit den Topoi Mütterlichkeit und Verantwortung für die Volksgemeinschaft sollte für diese Frauen die Akzeptanz für politische Belange geschaffen werden, und zwar auf dem Hintergrund einer protestantische Pflichtenethik. Die Gewissensfreiheit wurde interpretiert als eine vor Gott im Dienst für die Gemeinschaft zu nutzende. Die Frauen brauchten keine Anstrengungen nach Veränderung zu unternehmen, sie sollten ihre Gesinnung wirken lassen an dem Ort, an den Gott sie gestellt hatte. Damit wurde die Diskussion um Berufstätigkeit oder Mutterschaft und Hausfrauenberuf obsolet; und auch der Topos der organisierten oder geistigen Mütterlichkeit mußte nicht mehr in Frage gestellt werden. „ Volksgemeinschaft" und Geschlecht Im Grunde handelt es sich bei von Tilings Konzept der Evangelischen Frauenbewegung um eine Variante dessen, was die Theoretikerinnen des BDF seit Beginn der Weimarer Republik vertreten hatten: Die sittliche Erneuerung der Gesellschaft sollte von den Frauen ausgehen. Aufgrund ihrer geschlechtsspezifischen Eigenart seien sie dazu prädestiniert, die Volksgemeinschaft, in der Klassen, Schichten und die Geschlechter miteinander versöhnt werden sollten, herzustellen. Das sei ihre kulturelle Aufgabe und ihr einzigartiges Vermögen. Was die evangelischen Frauen nach von Tiling jedoch den BDF-Frauen voraushatten, war ihre religiöse Orientierung, die auf einem christlichen Werte- und Seinsbewußtsein basiert. Dieses galt es zu aktivieren und in das soziale und politische Leben einzubringen. Das Gesellschaftskonzept, in das sich das Anliegen der evangelischen Frauen am besten zu integrieren schien, war das der nationalen Volksgemeinschaft, in welcher sich kulturelle Identität und technisch-industrielle Modernität miteinander verbinden sollten. Ursprünglich handelte es sich bei diesem Konzept um das Programm eines nationalen Sozialismus, der
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während des Ersten Weltkrieges von rechten Sozialdemokraten und Ökonomen entworfen worden war.172 Die angestrebte Volksgemeinschaft sollte nicht durch den Klassenkampf erreicht werden, sondern durch eine zunehmende nationale Versöhnung. „Sie sollte unmittelbar gemeinwohlorientiert sein, das heißt, es wurde unterstellt, daß sich eine sinnvolle Ordnung des ,Ganzen' nur durch einen bewußten politischen Willen, durch die Entfaltung altruistischer Tendenzen erzielen lassen."173 Besonders an diesem Punkte ließ sich der Emanzipationsanspruch der evangelischen Frauen legitimieren, indem, wie von Tiling es tat, auf deren Opfer- und Hingabewilligkeit hingewiesen wurde. Weiterhin konnte auf den Gedanke der „Elite" Bezug genommen werden, die diejenigen bilden sollten, die über eine „tiefere" Einsicht in die Belange der Volksgemeinschaft verfügten und daraus die Fähigkeit ableiteten, den Gemeinschaftswillen zu erkennen und durchzusetzen - ein Anliegen, das von Tiling mit ihrer Führerinnengemeinschaft anstrebte.174 Obwohl stets betont wurde, daß in der Volksgemeinschaft alle Unterschiede aufgehoben werden sollten, strebte dieses Modell letztlich keine soziale Entdifferenzierung im Sinne von sozialer Gleichheit, Aufhebung der Klassenunterschiede sowie letztlich der Arbeitsteilung an. Gerade seitens der Frauen wurde, wie auch bei Magdalene von Tiling nachzuweisen ist, auf die Polarisierung der Geschlechter und ihre Ungleichheit besonderen Wert gelegt. Somit zielte das Programm der Volksgemeinschaft nicht auf die Aufhebung der Unterschiede, sondern auf eine nationale Versöhnung sozial und funktional differenzierter Schichten.175 Noch aus einem anderen Grund bot das Programm Volksgemeinschaft gerade für christlich orientierte Frauen eine gewisse Attraktivität. Denn das profane Konzept der Volksgemeinschaft hatte zwei Aufgaben im Blick, die dem Anspruch der christlichen Mission entgegenkamen: erstens die kulturelle Zerrissenheit und Entfremdung durch Rückbesinnung auf die nationale Identität zu beheben und zweitens das Konzept - über den nationalen Charakter hinaus - als Lösung der Weltprobleme zu deklarieren. Eben in diesem Sinne interpretierte auch von Tiling den Beitrag der evangelischen Frauen zur Herstellung der Volksgemeinschaft. Die Zerrissenheit und Entfremdung
172
Z u r C h a r a k t e r i s i e r u n g des M o d e l l s d e r V o l k s g e m e i n s c h a f t als eines K o m p l e x e s des
nationalen Sozialismus und eines B e g r i f f s m u s t e r s d e r Konservativen Revolution vgl. ROLF PLTLR SIEFERLE, Konservative Revolution, S. 31 ff. 173
EBD., S. 3 2 .
174
D i e V e r w e n d u n g des K o n z e p t s d e r V o l k s g e m e i n s c h a f t und das Elitebewußtsein in den
frauenpolitischen K o n z e p t e n von Nationalsozialistinnen
in den 3 0 e r J a h r e n weist
Leonie
W a g n e r ü b e r z e u g e n d n a c h : LF.ONIF. WAGNER, N a t i o n a l s o z i a l i s t i s c h e F r a u e n a n s i c h t e n , S. 38 ff. V g l . auch HANS-JÜRGEN ARENDT/SABINE HERING/LEONIK WAGNER, N a t i o n a l s o z i a l i s t i s c h e Frauenpolitik vor 1 9 3 3 . 175
V g l . ROLF PETER SIEFERLE, Konservative Revolution, S. 3 2 .
114
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der Gesellschaft sollte durch die evangelischen Frauen und deren Rückbesinnung auf ihre christliche Identität behoben und das christliche Bewußtsein als Garant und Erhalt des Zusammenlebens aller Menschen propagiert werden.
3. Im Dialog mit der völkischen Bewegung Die Denkfigur der „Volksgemeinschaft", die als ein zentraler Begriff der Konservativen der zwanziger Jahren angesehen werden muß, bot sich also auch als Integrationsprojekt für evangelische Frauen an. Ihre Brisanz erhält diese Denkfigur jedoch in Verbindung mit dem Erstarken der völkischen Bewegung Mitte der zwanziger Jahre. 176 Dabei handelte es sich um vielfältige, teilweise esoterische Gruppen, wobei die Übergänge zur jungkonservativen Bewegung wie zu den Nationalsozialisten fließend waren. Die völkische Weltanschauung verstand sich als eine deutsche "Weltanschauung. „Ihr tragender Grund war der Gedanke des von allen anderen völkischen Beimischungen gereinigten deutschen Volkes."177 „Völkisch" stand im Gegensatz zu „national", da das Staatsvolk der Nation auch Angehörige anderer Völker umfassen konnte, also auch alle, die nicht „deutschen Blutes" waren. Die Völkischen teilten die Welt folglich in Eigenes und Fremdes. „Undeutsch" und damit allem Deutschen feindlich war somit zunächst einmal alles Internationale wie internationale Kooperationen und Zusammenschlüsse. In der Politik sollte die Abschaffung der Parlamentarischen Demokratie und deren Ersetzung durch einen völkischen Staatsaufbau vorangetrieben werden, auf dem Gebiet der Wirtschaft war die Stärkung der agrarischen Produktion vor der industriellen Entwicklung das angestrebte Ideal. Die völkische Gedankenwelt zeichnete sich in ihren Grundlagen durch einen massiven Antisemitismus aus: Im „Internationalen Judentum" und seiner angeblichen Weltverschwörung sah die völkische Ideologie die Wurzel aller Verfallserscheinungen und Bedrohungen des deutschen Volkes. Hinsichtlich der Bevölkerungspolitik wurde die „Reinerhaltung des deutschen Blutes" mittels Rassenhygiene gefordert. Auf dem Gebiet des Denkens strebte man die „Ausmerzung des widerdeutschen jüdischen Literaturgeistes" an. In der Religion sollte der jüdische Gott 176
Bei der völkischen Bewegung handelt es sich um ein heterogenes Gebilde. D a ß M a g dalene von Tiling mit den Schriften vertraut ist, zeigen die Verweise in ihren Artikeln. Sie bezieht sich beispielsweise auf die Schriften der Gesellschaft Deutscher Staat, deren Autoren sich mit der theoretischen Fundierung des „Völkischen" beschäftigen. Zur folgenden Charakterisierung der „Völkischen" vgl. die Studie von KURT SONTHEIMER, Antidemokratisches D e n k e n , S. 130 ff. Zum Zeitgeist der zwanziger Jahre vgl. KARL DIETRICH BRACHER, Zeit der Ideologien, S. 1 2 1 - 2 5 2 . 177
KURT SONTHEIMER, Antidemokratisches D e n k e n , S. 131.
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durch einen deutschen Gott ersetzt, das Alte Testament für Christen verboten werden. Die Auseinandersetzung mit der völkischen Bewegung, die Magdalene von Tiling in mehreren Zeitschriftenartikeln führte, veranschaulicht einerseits den Versuch evangelischer Frauen, sich von den antidemokratischen rechten Kräften der Republik abzugrenzen, andererseits mit ihnen in Verbindung zu treten und diese in das eigene Konzept zu integrieren. Aus der Forschungsperspektive der Geschlechtergeschichte läßt sich hier die enge Verbindung der Kategorien „Rasse" und „Geschlecht" bei der Formulierung der Frauenrolle nachweisen. So hängt die Bewertung der völkischen Bewegung durch von Tiling eng mit ihrem Frauenbild zusammen. Es läßt sich nachweisen, daß bei dem Versuch protestantischer Frauen, sich in die Strukturen der Gesellschaft der Weimarer Demokratie zu integrieren und Anerkennung zu erhalten, die theologische und kulturelle Abgrenzung vom Judentum eine bedeutende Rolle spielte. Das Judentum bot die Negativfolie, vor der die evangelischen Frauen ihre Identität formulierten. Zugespitzt: Die „neue Rolle der evangelischen Frau in der Volksgemeinschaft" war antisemitisch bzw. antijudaistisch konnotiert. Zugleich stellt sich die Auseinandersetzung der evangelischen Frauen mit den Völkischen außer als Abgrenzungstendenz auch als ein Gesprächsangebot an die extrem rechten, antidemokratischen Gruppen der Republik dar. Im Unterschied zu dem von Wilhelm Marr 1879 erfundenen Wort Antisemitismus178 mit seiner ethnisch-rassischen wie biologistisch geprägten Komponente, der die rassisch motivierte Ablehnung der Juden meint, ist der Begriff des Antijudaismus neueren Sprachgebrauchs und bedeutet „die religiös und theologisch begründete Judenfeindschaft, die vor allem in der christlichen Tradition herausgebildete Sichtweisen und Denkmodelle aufnimmt"179. Die begriffliche Differenzierung von Antisemitismus und Antijudaismus ist ein Versuch, die vielfältigen Komponenten von Judenfeindschaft zu entlarven, führt jedoch auch immer wieder vor Augen, wie eng die Argumentationen ineinander verwoben sind.180 Leonore Siegele-Wenschkewitz verweist daher auf Uriel Tal, der 1975 den Begriff des „christlichen Antisemitismus" in die Forschung eingebracht hat, um die Zubringerfunktion christlich-theologisch fundierter 178
Zur Entstehung des Begriffs sowie zur Entstehung des modernen Antisemitismus vgl.
REINHARD RORUP, E m a n z i p a t i o n u n d A n t i s e m i t i s m u s ; HERMANN GREIVE, G e s c h i c h t e
des
modernen Antisemitismus in Deutschland; MARIKJE SMID, Deutscher Protestantismus und Judentum, S. 10-15. 179 LEONORE SIEGELE-WENSCHKEWITZ, Die Wiederkehr des antijüdischen Stereotyps in feministischer Theorie und Theologie, S. 29. lso Wie fließend die Grenzen zwischen Antisemitismus und Antijudaismus sind, macht LEONORE SIEGELE-WENSCHKEWITZ für die Zeit des Nationalsozialismus u. a. am Beispiel Gerhard Kittels deutlich (Protestantische Universitätstheologie, S. 52-75).
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Vorurteile für den politischen Antisemitismus deutlich zu machen. 181 Zu den zentralen Grundmustern antijüdischer Stereotypen zählt beispielsweise die Bemühung, das Verhältnis von Christentum und Judentum als Gegensatz zu bestimmen und damit implizit die Minderwertigkeit des Judentums herauszustellen. Auch die Ausführungen von Tilings bilden ein Konglomerat von antisemitischen und antijudaistischen Stereotypen 182 , die im kirchlich-konservativen Lager des Kaiserreichs und der Weimarer Republik zum „kulturellen Code" 183 gehörten und für deren Ausbreitung und Formulierung eines „modernen" christlichen Antisemitismus im Protestantismus seit dem Kaiserreich der Hofprediger und antisemitische Agitator Adolf Stoecker verantwortlich gemacht wird. 184 Eine verstärkte Brisanz erhält die Grundüberzeugung des christlichen 181
Vgl. LEONORE SIEGELE-WENSCHKEWITZ, Rassismus, Antisemitismus und Sexismus,
S. 1 5 7 . 182 Vgl. dazu etwa LEON POLIAKOV, Geschichte des Antisemitismus, Bd. 2; HEIKO A. OBERMAN, Wurzeln des Antisemitismus. 183 Der Begriff „kultureller Code" mag als eine noch euphemistische Bezeichnung erscheinen, wenn man bedenkt, daß er sich in konkreten Diskriminierungen von Juden auswirkte und über das gesellschaftliche Handeln der jüdischen Gemeinschaft im Deutschland der Weimarer Republik entschied. Zur Situation der Juden in der Weimarer Republik vgl.
MARIKJE SMID, D e u t s c h e r P r o t e s t a n t i s m u s u n d J u d e n t u m ,
S. 3 5 - 2 2 1 . W E R N E R J O C H M A N N
weist darauf hin, daß auch in der Zeit der relativen Stabilisierung in der Periode von 1924 bis 1929 stets die bewußte geistige und ideologische Distanzierung der deutschen Bildungsschicht gegenüber den Juden vorhanden war und daß sich gerade in dieser Zeit der völkische Antijudaismus ausbildete (Die Funktion des Antisemitismus in der Weimarer Republik, S. 160). Zugleich hat LEONORE SIEGELE-WENSCHKEWITZ gezeigt, daß zumindest in Kreisen der liberalen Theologie zum ersten Mal in den Jahren der Weimarer Republik eine Zusammenarbeit zwischen jüdischen Theologen und Philosophen mit christlichen Theologen stattgefunden hat, die sich in dem gemeinsamen Projekt der zweiten Auflage der R G G niedergeschlagen hat. Damit muß den Protagonisten der protestantischen Seite das Verdienst zugerechnet werden, entgegen dem allgemeinen Trend, gegenüber dem Judentum den christlichen Antisemitismus fortzuschreiben und zu verstärken, ein neues Verständnis des Judentums zu erreichen, das von dem eigenen Selbstverständnis geprägt war. So finden sich in der zweiten Auflage der RGG, die das Selbstverständnis des nachbiblischen Judentums betreffen, zahlreiche Parallelartikel von jüdischen Theologen und Philosophen. Allerdings konnten sich auch die liberalen Theologen nicht gänzlich von den jahrhundertelangen antijudaistischen Stereotypen befreien, so daß auch sie unter den veränderten Bedingungen des „Dritten Reiches" den Forderungen der nationalsozialistischen Weltanschauung kaum Widerstand entgegensetzten (Das Verhältnis von protestantischer Theologie und Wissenschaft des Judentums). 184
SHULAMIT VOLKOV, A n t i s e m i t i s m u s als k u l t u r e l l e r C o d e , S. 1 3 - 3 6 . MARTIN GRESCHAT
hat in seinen Untersuchungen zu Adolf Stoecker und seiner Rezeption der Schriften die Verbreitung des Antisemitismus im kirchlichen Protestantismus bis in die Weimarer Zeit herausgestellt und auf immer wiederkehrende antisemitische und antijudaistische Stereotypen hingewiesen, die auch bei denjenigen Persönlichkeiten nachzuweisen sind, die sich selbst nicht als antisemitisch bezeichneten (Protestantischer Antisemitismus in Wilhelminischer Zeit, S. 27-51; vgl. ebenso WERNER JOCHMANN, Stoecker als nationalkonservativer Politiker und antisemitischer Agitator).
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Antisemitismus im konservativen Protestantismus in der Zeit der Weimarer Republik mit dem Erstarken der „völkischen Bewegung" und den Vertretern innerhalb und außerhalb der institutionell verfaßten Landeskirchen, die zunehmend versuchten, Christentum und völkisches Ideengut miteinander zu verbinden. Standen die offiziellen Kirchenbehörden den Forderungen der völkischen Bewegung, wie sie von der deutschkirchlichen Bewegung nach dem Ersten Weltkrieg vertreten wurde kritisch-distanziert gegenüber, konnte man die massiven Angriffe auf das Alte Testament und die verfaßte Kirche nicht unbeantwortet lassen. Auch im Sinne der eigenen Uberzeugung über das, was unter „Christentum", „Volk" oder „Volksgemeinschaft" zu verstehen war, bot sich hier ein Anknüpfungspunkt für den Dialog über die Abgrenzung und Ubereinstimmung und zugleich der Versuch die völkischen Tendenzen in die verfaßte Kirche zu integrieren. In diesem Zusammenhang erscheint es mir zentral, das Augenmerk auf die Funktion dieses „kulturellen Codes" in den Aussagen von protestantisch-konservativen Frauen zu richten und zu beachten, wie die Abgrenzung von „Geschlecht" gegenüber „Rasse" der Formulierung der evangelischen Frauenrolle diente. Magdalene von Tiling äußerte sich 1924/1925 mehrmals zur sog. völkischen Frage.185 Zum ersten Mal in der Stellungnahme der Inneren Mission zur völkischen Frage im Herbst 1924, mit deren thesenartiger Ausarbeitung von Tiling vom Centraiausschuß beauftragt worden war. 186 Anlaß waren die verstärkten Angriffe des Bundes für Deutsche Kirche, einer Organisation aus der einige Jahre später die Glaubensbewegung Deutsche Christen hervorging 187 . Der Bund für Deutsche Kirche war 1921 von einer völkisch orientierten Volkshochschule in Berlin gegründet worden und trat für eine völkische Reform der evangelischen Kirche ein. Seit Oktober 1922 erschien das Bundesorgan „Die Deutschkirche". Sonntagsblatt für das deutsche Volk. 188 Der Bund verstand sich als „Kampfund Arbeitsgemeinschaft mit dem Ziel, die Kirche aus ihrer jüdischen Umklammerung zu befreien, und ein deutschheimatlich durchtränktes Christentum zu schaffen" 189 . Bis 1925 gelang es den Vertretern des Bundes für Deutsche Kirche einen gewissen Einfluß in den Synoden zu 183
Vgl. Leitsätze zur völkischen Frage, aufgestellt für den Centraiausschuß für Innere Mission; Die völkische Idee als Forderung an uns; Zum Kampf um das Alte Testament. 186 Protokoll der Sitzung des Centraiausschusses für Innere Mission vom 5.5.1924 (ADW BERLIN, A I b 2 b b ,
1916-1926).
187
Zur „Glaubensbewegung Deutsche Christen", die 1932 gegründet wurde und als Kirchenpartei der NSDAP für die Gleichschaltung der evangelischen Kirche im Dritten Reich eintrat vgl. KURT MKIFR, Die Deutschen Christen; DERS., Der evangelische Kirchenkampf, Bd. 1. Vgl. auch die Studie von CHRISTOPH WEILING, Christlich-deutsche-Bewegung. 188
D I E DKUTSCHKIRCHE, J g g .
189
Zitiert nach KURT MEIER, „Bund für Deutsche Kirche".
1922-1941.
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gewinnen. Die praktischen Reformforderungen zur Aus- und Weiterbildung der Pfarrer sollten die besondere Wertigkeit des deutschen Volkstums und die „wesenswidrige Überfremdung durch jüdischen Einfluß" beseitigen. Neben der soziokulturell motivierten Judenfeindschaft sahen sie „jüdische Entartungserscheinungen" vorrangig durch den Einfluß des Alten Testament auf die christliche Religion gegeben. Kurt Meier hat darauf hingewiesen, daß, im Unterschied etwa zum „Deutschbund", dem es stärker um einen auch rassenideologisch bestimmten, praktisch-politischen und kulturellen Kampf gegen das Judentum ging, die deutschkirchliche Literatur und Publizistik sich zentral auf einen stärker religiös orientierten Antijudaismus bezog, der mit einem völkischen Reformwillen im Blick auf Christentum und Kirche H a n d in H a n d ging. „Die Programmatik der Deutschkirchler zielte auf wirksame völkische Durchdringung der Kirche und eine dadurch erhoffte neue Kulturdominanz des Christentums." 190 Neben einem nordisch-arischen Religionsverständnis, das den nordischen Jesus propagierte, gehörte die Ablehnung des Alten Testamentes zu den zentralen Forderungen. Dies jedoch rief den größten U n m u t unter den Vertreterinnen und Vertretern der verfaßten evangelischen Kirche hervor. In diesem Zusammenhang also beauftragte der Centraiausschuß f ü r Innere Mission Magdalene von Tiling, Leitsätze zur völkischen Frage zu verfassen, die gegen die völkischen Bestrebungen Position ergriffen. „Leitsätze zur völkischen Frage" Die Leitsätze zur völkischen Frage spiegeln eine deutliche Ambivalenz hinsichtlich der Auseinandersetzung mit den rassisch-biologischen und kulturellen Vorstellungen des Bundes für Deutsche Kirche. „Die Bewegung hat eine positive und eine negative Seite. Positiv will sie das eigene Volkstum stärken, indem sie die Rassereinheit in bezug auf das Blut fördert, unser Volk wieder bodenständig machen will, die Einwurzelung in deutsches Sein und Wesen pflegt und das Ideal deutscher Volkheit vor allem in den führenden Kreisen zum Bewußtsein zu bringen sucht. Nach der negativen Seite will sie alles Fremde in Blut und Geist aus unserem Volke ausscheiden." 191
Magdalene von Tiling befürwortete einerseits die nationale und rassischbiologischen Ideen der völkischen Bewegung; sie kamen ihrem Konzept von Volksgemeinschaft entgegen. Auch die Selbstbesinnung auf das deutsche Sein entsprach ihrer Theorie, wie sie selbst stets die Pflege von „echtem deutschen Frauentum mit seelischer Kraft und Tiefe" forderte. 192 150 m 1,2
Kurt Meier, „Bund für Deutsche Kirche", S. 189. Leitsätze zur völkischen Frage, These 2. V g l . z . B . MAGDALENE VON TILING, E v a n g e l i s c h e F r a u e n b e w e g u n g , S. 18.
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Eine Parallelität zur völkischen Idee zeigte sich auch im Interesse an der Herausbildung einer gesellschaftlichen Elite, um die sich Magdalene von Tiling mit ihrem Führerinnenkreis bemühte. Ablehnend stand sie dagegen den rassebiologischen Implikationen gegenüber, die eine Ausgrenzung von Juden intendierten. Dies führte sie in These drei näher aus: „Die negative Seite der Bewegung richtet sich einseitig gegen das Judentum und äußert sich in einem dreifachen Streben: a) Juden und jüdische A b k ö m m linge aus unserem Volkskörper auszuscheiden, b) den geistigen Einfluß des heutigen Judentums in Wirtschaft, Presse, Kunst und Literatur zu brechen, c) die, wie man behauptet, durch das A. T. in unser Volk eingedrungene jüdische Ethik und Gottesanschauung zu entlarven und zu beseitigen." 1 9 3
Hier griff sie das Konglomerat an antisemitischen und antijudaistischen Stereotypen der völkischen Bewegung auf und kritisierte sie. Deutlich ist die Distanzierung von der rassistisch motivierten Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung. Für Magdalene von Tiling wurde auf diese Weise die gewünschte Volksgemeinschaft nicht konstituiert. Der zentrale Punkt der Kritik am Bund für Deutsche Kirche war jedoch deren Abwertung des Alten Testaments, mit der sie sich in weiteren Aufsätzen auseinandersetzte (s. u.). Im Angriff auf das Alte Testament sah von Tiling eine Gefährdung für das reformatorische Christentum. Aus dieser Perspektive arbeitete sie die Kontinuitäten und Brüche von Judentum und Christentum minutiös heraus. Diese Strategie diente, das sei vorweggenommen, nicht etwa der Verteidigung der Selbständigkeit des Judentums, sondern allein der Herausstellung des Christentums in seiner Überlegenheit. Aus diesem Blickwinkel verwundert es nicht, daß von Tiling für die Integration der deutschkirchlichen Bewegung in die verfaßte evangelische Kirche eintrat. So forderte sie von der evangelischen Kirche und der Inneren Mission, sich für die in der zweiten These als positiv bezeichneten Ziele der Bewegung einzusetzen und sie im kirchlichen Christentum zu verankern. Äußerst widersprüchlich ist jedoch die Behauptung in These 10: „Auch an dem Kampf um die negativen Ziele haben Kirche und Innere Mission heute das stärkste Interesse insofern, als die Durchdringung unseres Volkes mit den Kräften des Evangeliums heute der überall durch jüdischen Einfluß in Wirtschaft, Presse, Kunst, Literatur geschaffene Gesinnung entgegensteht. Kirche und Innere Mission müssen die Christen aufs stärkste aufrufen, sich als christliche Glieder des Volkes in erster Linie für die sittliche Gesundung unseres Volkes verantwortlich zu fühlen und gegen solche entsittlichten Einflüsse bewußt zu kämpfen." 1 9 4 193 1W
Leitsätze, These 3. Leitsätze, These 10.
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Mit einer bis in den Wortlaut hinein identischen Argumentation, die in These 3 noch zur Abgrenzung von der völkischen Ideologie diente, parallelisierte sie nun das Interesse der evangelischen Kirche mit dem der völkischen Bewegung. Sie griff hier auf das antisemitische Stereotyp zurück, das zum einen die moralische und sittliche Minderwertigkeit des Judentums behauptete, zum anderen eine Überfremdung der deutschen Kultur mit fremdem Geist propagierte - übrigens eine Argumentation, die sich auch im Parteiprogramm der D N V P wiederfindet. 195 Hatte sie in These 3 der völkischen Bewegung deren antisemitische Argumentation vorgeworfen, diente ihr diese nun zur Distanzierung vom Judentum, um die Vormachtstellung des Christentums hervorzuheben. Von Tilings Kritik an der völkischen Bewegung richtete sich also vor allem gegen die propagierte Abschaffung des Alten Testaments; die soziokulturelle Kritik am Judentum und der im deutschen Reich lebenden Bevölkerung wurde von ihr letztlich geteilt. Der Streit um das Alte
Testament
Trotz der moderaten, ja geradezu kompromißbereiten Ausformulierung der Leitsätze kam es zu massiven Angriffen des Bundes für Deutsche Kirche. Magdalene von Tiling widmete daraufhin in den folgenden Monaten mehrere Zeitschriftenartikel dieser Auseinandersetzung um das Alte Testament. 196 Im folgenden werden die Denk- und Argumentationsmuster von Tilings in zwei Punkten skizziert: in der Auseinandersetzung um das Alte Testament und in der Stellung evangelischer Frauen zur völkischen Bewegung. Damit läßt sich nachweisen, welcher Stellenwert Antisemitismus und christlicher Antijudaismus - die Grenzen sind fließend - bei der Konstitution eines evangelischen Entwurfs der Rolle der Frau zukam. Im Januar 1925 hatte die Zeitschrift „Die Deutschkirche" eine scharfe Polemik gegen die evangelische Kirche und die Leitsätze der Inneren Mission lanciert und die Aufgabe des Alten Testamentes gefordert. Der evangelischen Kirche wurde vorgeworfen, sie vertrete das Judentum. Wer das Alte Testament stütze, stütze das Judentum und arbeite dem Volke wie dem Christentum entgegen. 197 In der Konsequenz der Ablehnung des m „Nur ein starkes deutsches Volkstum, das Art und Wesen bewußt bewahrt und sich von fremdem Einfluß frei hält, kann die zuverlässige Grundlage eines starken deutschen Staates sein. Deshalb kämpfen wir gegen jeden zersetzenden, undeutschen Geist, mag er von jüdischen oder anderen Kreisen ausgehen. Wir wenden uns nachdrücklich gegen die seit der Revolution immer verhängnisvoller hervortretende Vorherrschaft des Judentums in Regierung und Öffentlichkeit" (Grundsätze der Deutschnationalen Volkspartei, zitiert nach: WILHELM MOMMSEN, Deutsche Parteiprogramme, S. 538). l% Begonnen wurde der Streit in: DIE DEUTSCHKIRCHE 4, Januar 1925, S. 12 f. 1,7 So die Darstellung seitens MAGDALENE VON TILINGS über den Artikel in ihrem Aufsatz: Zum Kampf um das Alte Testament, S. 45.
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Alten Testaments lag zugleich die Ablehnung des Neuen Testaments, da Paulus und die Jünger - und nicht zuletzt Jesus - Juden waren, und führte zur Ablehnung Martin Luthers, soweit er sich auf Paulus stützte. Diese antijüdische wie zugleich antichristliche Polemik rief wiederum von Tiling auf den Plan, die hier eine Gefahr für die evangelische Kirche sah mit der gleichen Ambivalenz, mit der sie bereits in den Leitsätzen der Inneren Mission vom Oktober 1924 versucht hatte, die Vorwürfe theologisch zu entkräften. Hierbei läßt sich deutlich nachzeichnen, daß es ihr lediglich um die Rehabilitation des Christentums ging und nicht etwa um eine kritische Gegenposition gegen die judenfeindlichen Ideologien der völkischen Bewegung.'98 Es lassen sich zwei Strategien der Argumentation aufzeigen: zum einen die Parallelisierung der völkischen Bewegung mit dem Judentum, zum anderen die Abgrenzung des Christentums vom Judentum. Die erste Strategie, die von Tiling verfolgte, läßt sich schon in der frühchristlichen Apologetik nachweisen und stellt den Versuch dar, die Vorwürfe an das Christentum an den Gegner zurückzugeben und diesem nachzuweisen, daß er selbst darin verfangen sei. So versuchte von Tiling der völkischen Bewegung nachzuweisen, daß die angemahnte Ineinssetzung von Judentum und Christentum falsch sei und zwischen beiden eine viel größere Kluft bestehe als zwischen Judentum und völkischer Bewegung. Die Parallelisierung geschah mit Hilfe des Gottesbegriffs, der Christologie und der Ethik. Hinsichtlich des Gottesbegriffs nahm von Tiling den antijudaistischen Vorwurf der völkischen Bewegung auf, das Volk Israel habe einen niedrigeren Gottesbegriff als das Neue Testament. Indirekt bejahte sie dies und erklärt den Gottesbegriff mit der Offenbarung Gottes, die sich schrittweise vollzogen habe. Im Alten Testament habe sich Gott immer wieder offenbart, in Jesus Christus sei die Offenbarung zu ihrem Ziel gekommen. Deshalb hätten die Patriarchen des Alten Testaments Gott immer nur soweit erkennen können, wie er sich offenbart habe. So sei zu erklären, daß das AT einen niedrigeren Gottesbegriff als das N T habe. Für das Christentum könne der Vorwurf jedoch nicht gelten. Niedrig sei der Gottesbegriff der völkischen Bewegung selbst, die einen nationalen, deutschen Volksgott propagiere: „Wir haben hier dieselbe Erscheinung wie im Volke Israel, wo das Volk auch immer wieder in Auflehnung gegen den ihm offenbarten ewigen Gott einen Für die Zeit des Nationalsozialismus ist nachgewiesen, d a ß die von christlichen T h e o logen in Anschlag gebrachte Kritik an antijüdischer und antichristlicher Argumentation von d e r Nationalsozialistischen Ideologie instrumentalisiert w u r d e und sich nahtlos in die antijüdische P r o p a g a n d a einfügen ließ. Vgl. LEONORE SIEGELE-WENSCHKEWITZ, Neutestamentliche Wissenschaft vor d e r J u d e n f r a g e ; DIES., Mitverantwortung und Schuld d e r Christen am Holocaust, S. 171-190; DIES., Protestantische Universitätstheologie und Rassenideologie, S. 5 2 - 7 5 ; DIES., Christlicher Antijudaismus und Antisemitismus.
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Volksgott sich zu machen bestrebte, den es genau wie bei uns als den wahren Gott ausgab. Es ist sehr merkwürdig, wie so manche Züge aus der Geschichte Israels und des Judentums sich heute bei uns auf der Seite der extrem Völkischen wiederholen."199 Mit dieser antijudaistischen, den angeblich jüdischen Gottesbegriff als Negativbeispiel heranziehenden Argumentation, verkehrte sie die Vorwürfe der Gegner ins Gegenteil und parallelisiert die Vorstellungen der Völkischen mit der von ihnen abgelehnten angeblich jüdischen Praxis. Eine weitere Ähnlichkeit zwischen Judentum und völkischer Bewegung meinte von Tiling in der Ablehnung der Erlösergestalt Jesus Christi nachweisen zu können. Wie die Juden erkenne die völkische Bewegung Christus nicht als Erlöser an, beanspruche gleichzeitig aber die Gestalt Jesu als Verkörperung des Ariers. Mit der Ablehnung Jesu Christi als Erlöser sei dem Judentum ein Gefallen getan, die Anerkennung Jesus als des Messias sei schließlich der größte Gegensatz zwischen Juden und Christen. Der H a ß des Judentums habe von Anfang an die getroffen, die behaupteten, Jesus sei der im A T geweissagte Messias. „Eine Religion, für die Jesus nur ein Arier ist, der den ,Himmelsvater' verkündigt, ist der Stellung des Judentums zu Christus aufs nächste verwandt." 200 Diese Argumentation griff das Stereotyp auf, die Juden hätten nicht nur Jesus getötet, sondern stellten für die Christen weiterhin eine Gefahr dar. Indem die völkische Bewegung Jesus nicht anerkenne, stütze sie das Judentum gegenüber dem Christentum - ein Vorwurf, den zuvor die Zeitschrift „Die Deutschkirche" der evangelischen Kirche gemacht hatte. Auch die ethische Anschauung der völkischen Bewegung sei mit der des Judentums aufs engste verwandt, so von Tilings Kritik. Das „heldische Ariertum" beinhalte eine sittliche Freiheit und ein Aufsteigen aus eigener Kraft und propagiere die Selbsterlösung wie das Judentum. Magdalene von Tiling zog hier ein altbekanntes antijudaistisches Stereotyp heran, das die jüdische Religion als die „Gesetzesreligion" darstellt, in der sich die Menschen durch die strikte Einhaltung der Gesetze selbst erlösen könnten. U n d so kam sie in der Bewertung eines Teiles der völkischen Bewegung zu dem Schluß: „ihre Ethik ist Werkgerechtigkeit, ihr Gottesglaube ist national gebunden, ihre Anschauungen vom Volkstum jüdisch-materialistisch gefärbt" 201 . Die Argumentation gipfelte in der Aussage, daß die rassisch-biologische Begründung des Volkes auf den „jüdisch-materialistischen Standpunkt" der völkischen Bewegung schließen lasse.202
M 200 201 202
MAGDALENE VON TILING, Die völkische Idee als Forderung an uns, S. 40. MAGDALENE VON TILING, Leitsätze zur völkischen Bewegung, These 15, S. 20. EBD., These 19. EBD., These 12.
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Magdalene von Tiling meinte, den Nachweis zu erbringen, daß zwischen Judentum und Christentum ein größerer Unterschied bestehe als zwischen Judentum und völkischer Bewegung. Das Judentum diente hier als Negativfolie. Die Behauptung, daß die völkische Bewegung Ähnlichkeiten mit dem Judentum habe, sicherte dem Christentum seine hervorgehobene Stellung. Die Abwehr gegenüber der völkischen Bewegung erfolgte über die Distanzierung vom Judentum, weil diese alle angeblichen Fehler des Judentums wiederhole. Neben der Bemühung, die dem Christentum vorgeworfene Verwandtschaft zum Judentum an die völkischen Bewegung selbst zu richten, bemühte sich von Tiling darum, das Alten Testament als christliche Glaubensgrundlage herauszustellen. Hier verfolgte sie eine Strategie der Abgrenzung des Christentums vom Judentum. Wieder waren es die drei Vorwürfe der Zeitschrift „Die Deutschkirche", die den Gottesbegriff, die Ethik und die Messiaserwartung betreffen. Diese drei Themen versuchte sie in ihrem Aufsatz „Zum Kampf um das Alte Testament" 203 auszuformulieren und die Vorwürfe zu entkräften, indem sie zu zeigen vermeinte, daß das Alte Testament eine genuin christliche Schrift sei und mit dem Judentum nichts zu tun habe. Durch ihre Argumentationsstruktur bestätigte sie letztlich alle Vorwürfe der völkischen Bewegung gegen das Alte Testament, um gleichzeitig zu beweisen, daß diese für das Christentum nicht gelten. Dabei übernahm sie wiederum bekannte antijudaistische Stereotypen. Die völkische Bewegung als einen der Gründe für die Ablehnung des Alten Testaments, dessen angeblich niedrige Vorstellung des rachesüchtigen zornigen Gottes, der mit dem liebenden Vatergott Jesu nichts zu tun habe. Von Tiling setzte dieser Auffassung die von der frühen dialektischen Theologie geprägte Vorstellung des sich selbst offenbarenden Gottes entgegen. Gott offenbart sich in der Geschichte der Menschen, und das beginne schon im Alten Testament bei Abraham und dem Volk Israel. Das Alte Testament sei die Geschichte der Erziehung des Volkes Israel zur Gotteserkenntnis. Die Offenbarung Gottes vollziehe sich stufenweise von den Patriarchen über die Propheten, bis sie schließlich in Jesus Christus ihr Ende findet. So sei der Gott Israels und des Alten Testaments derselbe wie der Gott Jesu. Interessant ist nun, daß von Tiling hier mit Hilfe des Gottesbegriffs der dialektischen Theologie sowie der aufklärerischen, an Lessings Erziehung des Menschengeschlechts erinnernden Denkstruktur die Kontinuität von Volk Israel und Christentum bestätigte. Gleichzeitig birgt jedoch das Stufenmodell in Verbindung mit der Vorstellung der zielgerichtet verlaufenden Heilsgeschichte eine Hierarchie, an deren höchster Stelle der neutestamentliche Gottesbegriff gesetzt wird. Außerdem fällt
203
MAGDALENE VON TILING, Zum Kampf um das Alte Testament, S. 45-48.
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auf, daß auch hier schon das antijudaistische Stereotyp der Unterscheidung zwischen dem Volk Israel des Alten Testaments und eines nachbiblischen Judentums impliziert ist. Das Christentum beerbt das Volk Israel des Alten Testaments. Am Anfang der Heilsgeschichte steht Abraham, am Ende Christus. Dem Vorwurf, die Ethik des Alten Testamentes bewege sich unterhalb der christlichen Sittlichkeit, stellte von Tiling, im Gewand der religionsgeschichtlichen Betrachtung, die historische Gebundenheit der biblischen Erzählungen entgegen. Abraham und Jakob hätten in einer anderen Zeit mit andern Sitten gelebt. Stattdessen seien die Geschichten der Patriarchen als Beispiele für die Erziehung der Menschen durch den sich offenbarenden Gott zum richtigen Glauben und zur rechten Sittlichkeit zu verstehen. Sie müßten somit allgemeinmenschlich gedeutet werden. In Konsequenz dieser Argumentation kam von Tiling später zu dem Schluß, das Alte Testament sei nicht die Geschichte des jüdischen Volkes, sondern der Kampf des sich durchsetzenden Gottes in diesem Volk. Es sei die Erziehung des Volkes auf Gott hin, auf Christus hin. Damit ist ein weiteres Stereotyp zum Zuge gekommen: Das Alten Testament wird zur legitimen Grundlage allein des Christentums erklärt und dem Judentum enteignet. Den Vorwurf des Bundes für Deutsche Kirche, „die sogen. Messiasweissagungen beziehen sich alle nur auf die irdischen Machtgelüste und Erwartungen des Judentums" 204 , versuchte von Tiling mit dem Argument zu entkräften, daß bereits im A T durch die Erziehung Gottes die Erwartung von Frieden, Gerechtigkeit, Vergebung der Sünde und des Heiligen Geistes vorhanden sei. Dies zeige sich auch in der Selbstdeutung Jesu als des im Alten Testament geweissagten Messias. Der bringe nun den erwarteten Frieden, die Gerechtigkeit, die Vergebung der Sünden und die Freiheit vom Gesetz. Der theologische Topos der „Freiheit vom Gesetz" entspricht dem bis heute gängigen antijudaistischen Vorwurf, das Judentum sei eine Gesetzesreligion, die Jesus überwunden habe. Dies impliziert die Distanzierung und Ablösung vom Judentum. Dogmatisch hat dies zu der Polarisierung von „Gesetz und Evangelium" geführt, die für die lutherische Theologie eine zentrale Rolle spielt und zeigt, daß Magdalene von Tiling - trotz der Anleihen bei der dialektischen Theologie - sich im Luthertum verortete. Weiterhin kommt die Figur von „Erwartung und Erfüllung" zum Tragen, die dem Alten Testament lediglich eine weissagende, erwartende Stellung zugesteht, das Neue Testament aber als den Ort darstellt, an dem sich alles erfüllt. Damit geht eine Funktionalisierung des A T einher, die diesem keine Eigenständigkeit gestattet, sondern es auf das N T ausrichtet.
2W Zitat aus „Die Deutschkirche" nach MAGDALENE VON TILING, Zum Kampf um das Alte Testament, S. 47.
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Erst in der Auslegung durch das Neue Testament erhält das Alte Testament sein Würde als Heilige Schrift. Nicht verwunderlich, eher konsequent ist dann auch der in der Argumentation sich anschließende dritte gängige Topos von der „Beerbung des Volkes Israel" durch das Christentum. Christus sei der Bringer des Jahwereiches, seine Jünger das auserwählte Volk. Und als Bestätigung der Vorwürfe der Völkischen faßt sie die Erkenntnis zusammen: „Für das Volk der Juden, das in seiner Mehrheit Jesus verwirft, müssen ja die Weissagungen ihren irdisch gebundenen Charakter behalten." 205 Magdalene von Tiling bestätigte also den Vorwurf der völkischen Bewegung, daß das Judentum irdisch gebundene Weissagungen vertrete, und bestärkte indirekt damit auch den antisemitischen Topos der Behauptung, „die Juden" hätten irdische Machtgelüste: die Vorstellung eines „Weltjudentums", das Deutschland bedrohe. Mit einer weiteren theologischen Figur rechtfertigte sie die Rolle der jüdischen Bevölkerung in Deutschland. Sie unterschied das Volk Israel des Alten Testaments und das Volk der Juden. Während zwischen dem Volk Israel und dem Christentum eine Kontinuität bestehe, sei das Volk der Juden die Mehrheit, die sich nicht zum Christentum bekehrt habe und deren Kontinuität zum AT damit nicht mehr behauptet werden könne. Diese Mehrheit treffe der im AT angekündigte Fluch Gottes - eine Argumentation, die ihre Schatten vorauswirft und eine theologische Legitimation für das Verhalten gegenüber der in der Weimarer Republik in Deutschland lebenden jüdischen Gemeinschaft bot. „Das Volk als Ganzes trifft der schauerlichste, weltgeschichtlich einzigartig dastehende, im Alten Testament vorausgesagte Fluch Gottes; Volk sollen sie bleiben und doch ohne Land, ohne Staat, zerstreut zwischen den Völkern wohnen, gehaßt, verachtet und verspottet. Ein seelisch wurzelloses und seit dem Jahre 70 geschichtsloses Volk. Das ist der Fluch Israels, daß es trotz aller Zerstreuung nicht aufhören kann, Volk zu sein. Jedes in seinem eigenen Land entwurzelte Volk, wieviel mehr dieses verachtete, gehaßte, zerstreute Volk aber verschlechtert durch solche Wurzellosigkeit seinen Charakter."
Die theologische Begründung der Degeneration einer Gruppe diente zur Rechtfertigung des Verhaltens gegenüber den Juden in der Weimarer Republik als gottgewolltes Phänomen. Zugleich diente der Hinweis auf den durch Mangel von Land und Geschichte angeblich sittlichen Verfall des „jüdischen Volkes" einem andern Ziel: Es bot die Negativfolie, von der sich das deutsche Volk als christliches abheben sollte. Als Diagnose der Krise des deutschen Volkes nahm von Tiling eine negative Parallelisierung vor: „Wie hat sich unser Volkscharakter geändert, in der Zeit des Materialismus und des Rationalismus, der Seelenlosigkeit, daß wir unser Volk 205
EBD., ebenso die folgenden Zitate.
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kaum mehr erkennen. Wie hat es seine Volksinnerlichkeit, seine Tiefe, seine Seele verloren." Sie konstatiert also dieselben Mißstände, die sie als dem „jüdischen Volk" eigen beschrieben hatte. Während dieses jedoch von Gott dazu verurteilt sei, darin zu verharren, bestehe für das „deutsche Volk" dagegen die Möglichkeit, sich von diesen Mißständen zu lösen: Volksinnerlichkeit, Tiefe und Seele sind die Begriffe, die an das frauenpolitische Programm Magdalene von Tilings erinnern. Dies kommt nicht von ungefähr: Nach ihrer Ansicht ist es die Aufgabe der evangelischen Frauen, die Sittlichkeit im Volke zu heben. Magdalene von Tiling ging es in der Auseinandersetzung mit der völkischen Bewegung nicht darum, die antisemitischen Parolen der Völkischen zu entkräften, sondern sie sich zunutze zu machen. Eine Auseinandersetzung über rassisch-biologische Ideen der völkischen Bewegung fand jedoch nicht statt. Im Mittelpunkt stand die theologisch-apologetische Auseinandersetzung. Diese läßt sich jedoch nicht als Distanzierung von den völkischen Gruppen darlegen, sondern ist vielmehr als Teil eines immanenten Diskurses um die richtige Interpretation dessen, was genuin „völkisch" ist, zu verstehen. Für von Tiling war dies nur in der Verbindung mit dem christlichen Glauben gegeben. So handelte es sich bei der Auseinandersetzung mit den Völkischen nicht um die kirchenpolitische Ausgrenzung dieser Gruppen, sondern um ein Integrationsangebot an diese. Der Versuch, die völkischen Gruppierungen zu integrieren, konnte jedoch nur um den Preis gelingen, deren antijudaistische und antisemitische Propaganda partiell aufzunehmen. Neben der Integration der nicht christlich orientierten völkischen Gruppen und deren Gewinnung für das Christentum ging es von Tiling auch um die Integration der evangelischen Frauen in die ideologischen Grundlagen der Völkischen - ein Anliegen, das dem Gedanken der Volksgemeinschaft als der Verbindung aller Schichten und Klassen entsprach und diesem noch die Versöhnung der Geschlechter hinzufügte. Dazu mußten in den Augen von Tilings jedoch zwei Bedingungen erfüllt sein: Zum einen sollte das Alte Testament als Grundlage des christlichen Glaubens und der evangelische Kirche anerkannt werden. Zum anderen und das ist für die geschlechtergeschichtliche Perspektive wichtig - sollte in der Abgrenzung einer theologisch festgestellten „minderwertigen Sittlichkeit" vom ,Judentum" die Rolle der evangelischen Frauen als zentral für die gesellschaftliche Entwicklung anerkannt werden: Die Legitimation der gesellschaftlichen Aufgabe evangelischer Frauen hatte somit ein antisemitisches Standbein.
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Evangelische Frauenbewegung und völkische Bewegung Wie mit Hilfe der völkischen Argumente Handlungsspielräume christlicher Frauen legitimiert werden, verdeutlicht der im Februar 1925 veröffentlichte Aufsatz „Die völkische Idee als Forderung an uns". Die Argumentation beginnt mit einer Krisenbestimmung, nach der das deutsche Volk in seiner Volkspersönlichkeit so tief gesunken sei, weil es den ihm fremden Einflüssen ausgesetzt sei. Die völkische Bewegung sei die „gesunde Reaktion gegen diese Schwächung des eigenen Seins"206. Die Abgrenzung gegenüber der rassistisch-biologischen Argumentation scheint von Tiling in diesem Artikel gänzlich aufgegeben zu haben. Sie erkannte „die Reinheit des Blutes und die Verbindung mit dem Boden" als wesentliche Faktoren für die Erhaltung des Volkes an. Allerdings bestand sie darauf, daß jedes Volk eine Geschichte habe und der Erhalt der geistigen Werte die innere Kraft des Volkes bedeute. Damit vertrat sie gegen die völkische Bewegung die Grundlagen eines reformatorischen Christentums als Grundlage der sittlichen Verbesserung des „deutschen Volkes". Weiterhin befürwortete von Tiling die Uberwindung des in ihren Augen gespaltenen Volkes hin zu einem Ganzen durch die völkischen Ideen. Dieser Punkt ist insofern zentral, als ihre weitere Theoriebildung und alles, was später unter dem Ständeordnungsmodell verhandelt wird, dazu dienten, diesen angeblichen Spalt zu kitten. Gerade die evangelischen Frauen entsprächen dem völkischen Ideal und seien darauf bedacht, über die Gesetzgebung das Volk „sittlich und körperlich stark und rein" zu erhalten. Interessant ist die Kritik an der völkischen Bewegung, die in dieser Deutlichkeit so bisher noch nicht hervorgetreten ist. Magdalene von Tiling konstatierte, daß die völkische Bewegung ein Männlichkeitsideal vertrete, das allein schon die Befürwortung der ganzen Bewegung durch Frauen in Frage stellen würde. Um diesen Mangel zu überwinden, versuchte sie, mit Hilfe ihrer ethisch-sittlichen Argumentation das völkische Männlichkeitsideal um ein paralleles weibliches Ideal zu ergänzen. „Ein weiteres Problem berührt vor allem uns Frauen. Die Entartung unseres Volkes hat sich vielfach in Charakterlosigkeit, Schwäche, Verweichlichung gezeigt. Die völkische Bewegung ringt darum, ein neues Ideal der Mannhaftigkeit, des Mannesstolzes und der Mannesehre, ein Ideal des eigenen Wertes bewußten deutschen Mannes vor unser Volk zu stellen. So trug die völkische Bewegung in den ersten Jahren wesentlich ein männliches Ideal in sich. Aufgabe der Frauen ist es, neben dieses angesichts der Knechtschaft unseres Volkes vor allem in der Jugend stark hervorgetretene Ringen um das deutsche Ideal des wehrhaften Mannes ein starkes, echt deutsches Frauenideal zu stellen. Die Frau selbst muß das völkische (christliche!) Frauenideal in sich erleben und gestalten." 207 206 207
MAGDALENE VON TILING, Die völkische Idee als Forderung an uns, S. 39 ff. EBD., H e r v o r h e b u n g im Original.
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Angesichts des massiven Männlichkeitsideals der völkischen Bewegung kann davon ausgegangen werden, daß der Umschwung, der seit 1925 in ihrer Theorie zu bemerken ist - von einer theologischen Fundierung der Frauenrolle hin zu einer Theologie der Geschlechter - sich auch auf dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit den Ideen der völkischen Bewegung vollzog. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die völkische Ideologie mit ihrem rassistisch-biologisch begründeten Menschenbild Anknüpfungspunkte für die Programmatik von Tilings bot. Wenngleich sie theologisch nicht damit übereinstimmte, so doch in deren Gesellschaftskritik und Zeitdiagnose. Die nationale Verengung implizierte zugleich einen elitären, ausschließenden Charakter und eine Definition dessen, was „echt deutsch" sei. Die damit einhergehenden antisemitischen und antijudaistischen Stereotypen dienten zur Unterstützung des Frauenbildes und zur Legitimation der gesellschaftlichen Rolle auf der Basis eines konservativen Konsenses. Es wurde ein sittlicher Verfall der Gesellschaft konstatiert, indem dieselben Begriffe benutzt wurden, mit der die antisemitische Ideologie das Judentum beschrieb (Verweichlichung, Charakterlosigkeit usw.). Die Rolle der evangelischen Frauen wurde als die der Retterinnen dieser Sittlichkeit beschrieben, zu der auch die Abgrenzung vom Judentum und die Rechristianisierung der Gesellschaft gehörte. In Anlehnung an die völkische Bewegung behauptete von Tiling parallel zu einem Männlichkeitsideal ein „echt deutsches Frauenideal". Das elitäre Bewußtsein der völkisch-männlichen Bewegung findet sich also auch bei ihr. In den „Leitsätzen zur völkischen Frage" betonte sie positiv, daß die völkische Bewegung das „Ideal deutscher Volkheit in den führenden Kreisen zum Bewußtsein zu bringen sucht"208. Die Einteilung des Volkes in führende und nicht-führende Kreise spiegelt ein elitäres Klassenbewußtsein, das von Tiling bereits mit ihrer Führerinnengemeinschaft in die Tat umgesetzt hatte. 2.ur Funktion des Antisemitismus gelischen Frauenbewegung
und Antijudaismus
im Konzept der evan-
Die Verwendung von Antisemitismen und Antijudaismen in Magdalene von Tilings Theoriebildung zur Rolle der evangelischen Frauen entsprach dem kulturellen Code der Konservativen in der Weimarer Republik. Sie griff auf diesen Code zurück, um Ansprüche von Frauen auf Mitgestaltung in Kirche und Gesellschaft zu untermauern. Shulamit Volkov209 hat sich mit den soziopolitischen Funktionen des Antisemitismus beschäftigt und für die Zeit des Kaiserreichs überzeugend 208 ZM
MAGDALENE VON TILING, Leitsätze z u r völkischen Frage, S. 19. SHULAMIT VOLKOV, Jüdisches Leben und Antisemitismus.
Die Profilierung der ev. Frauenbewegung 1923-1925
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herausgestellt, daß es sich bei der Verwendung von antisemitischen Stereotypen um die Jahrhundertwende um ein kulturelles Muster handelte, welches sich in einer radikalen antimodernen Mentalität gegen Liberalismus, Kapitalismus und Sozialismus wendete. Demokratiefeindlichkeit, der Ruf nach Wiederherstellung einer völkischen Gemeinschaft in Harmonie gehörten ebenso dazu wie ein System von Grundwerten wie Macht, Mannhaftigkeit, Anti-Egalitarismus, Antifeminismus und Antisemitismus.210 Das Bekenntnis zum Antisemitismus sei gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu einem Symbol kultureller Identität geworden, das die Zugehörigkeit zu einem spezifischen kulturellen Lager anzeigte. „Man drückte dadurch die Übernahme eines bestimmten Systems von Ideen und die Präferenz für spezifisch soziale, politische und moralische Normen aus." 2 " Shulamit Volkov weist darauf hin, daß im Kaiserreich der Antisemitismus Hand in Hand ging mit dem Antifeminismus. So war das sog. Deutschtum ein Kult der Männlichkeit 212 ; die Ansicht über die Frauen war dementsprechend feindlich. Den Frauen, so hieß es, fehle wie den Juden das erforderliche ethische Bewußtsein und der moralische Ernst, die beide den deutschen Mann auszeichnete.213 Antisemitismus und Emanzipation waren damit entgegengesetzte Pole. Dennoch war es offensichtlich auch für konservative Frauen im Protestantismus wie von Tiling attraktiv, sich auf diesen antisemitischen Code und auf das kulturell konservative Muster zu berufen. Zwar warnt Shulamit Volkov davor, die Erklärung, die sie für die Zeit des Kaiserreichs gefunden habe, ohne weiteres auf die Weimarer Republik zu übertragen und eine ungebrochene Kontinuität zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik zu behaupten. Vielmehr müßten die zeitspezifischen Probleme jeder Epoche reflektiert werden, um die Konnotation und die soziopolitische Funktion des Antisemitismus zu erkennen.214 Dennoch scheint der Antisemitismus auch in der Weimarer Republik als Zeichen der Zugehörigkeit zum konservativen, antidemokratischen Lager zu fungieren und war unter neuen politischen Bedingungen als kulturelles Muster der Konservativen durchaus geeignet.215 Daß Magdalene von Tiling auf diesen Code mit seiner antifeministischen Konnotation zurückgriff, ist zunächst einmal unverständlich, jedoch für die Intention von Tilings durchaus aufschlußreich. Shulamit Volkov hat die These aufgestellt, daß die große Anziehungskraft des Antisemitismus in den Jahren der Weimarer Republik
210
Vgl. SHULAMIT VOLKOV, Antisemitismus als kultureller C o d e , S. 21 f. EBD., S. 23. 212 EBD., S. 22. 215 EBD., S. 23. 2,4 Vgl. SHULAMIT VOLKOV, D a s g e s c h r i e b e n e u n d d a s g e s p r o c h e n e W o r t , S. 57. 215 So weist a u c h WERNER JOCHMANN auf die B r e i t e n w i r k u n g d e s Antisemitismus als z e n t r a l e m ideologischen G r u n d b e s t a n d d e r politischen E n t w ü r f e d e r r e c h t e n G e g n e r d e r W e i m a r e r R e p u b l i k hin ( D i e F u n k t i o n d e s Antisemitismus, S. 155). 211
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Die „Politisierung" der evangelischen Frauenbewegung 1918-1925
in einer Krise des Zugehörigkeitsgefühls wurzelte.216 Die These läßt sich am Beispiel von Tilings um die geschlechtsspezifische Perspektive erweitern: Der Antisemitismus, verbunden mit dem Nationalismus, ermöglichte für Frauen des konservativen Protestantismus eine Negativ-Identifikation. Sie konnten sich als nicht-jüdisch identifizieren und hofften so auf eine stärkere Integration und Anerkennung innerhalb der christlich-konservativen Gesellschaft. Dies erklärt auch den Wunsch nach Bildung einer Elite von christlichen Frauen, die Magdalene von Tiling mit ihrer Führerinnengemeinschaft verfolgte. Die Formulierung eines „deutschen evangelischen Frauentums" 217 trat der Männlichkeitsideologie entgegen, jedoch unter Verwendung desselben kulturellen Codes. Er beinhaltete den Wunsch nach Harmonisierung der Schichten und Klassen und diente zuletzt der Integration der Frauen in die Gesellschaft. So ist bei von Tiling festzustellen, daß moralische und kulturelle Fragen stets entscheidender waren als der rassistisch-biologistische Ansatz. Auch von der theologischen Argumentation her war für von Tiling ein rassistischer Ansatz nicht vertretbar, da sie sonst die Kontinuität von biblischem Judentum und Christentum hätte leugnen müssen. Aber gerade der moralischkulturelle Aspekt des Antisemitismus kam den Interessen der evangelischen Frauen zupaß. Sie konnten ihren kulturellen Beitrag betonen, indem sie nach dem bekannten Topos der bürgerlichen Frauenbewegung das Geschlechterverhältnis exklusiv formulierten. Von Tiling definierte Weiblichkeit theologisch-ethisch. Das Handeln sollte aus einer evangelischen Grundhaltung heraus entstehen, die auf dem Bewußtsein einer Innerlichkeitsgläubigkeit beruhte. Die gegen die bürgerliche Frauenbewegung gerichtete konfessionelle Betonung der „echten Weiblichkeit" ließ sich gleichwohl mit dem antisemitischen kulturellen Code verbinden. Magdalene von Tilings Auseinandersetzung mit dem Ideengut der völkischen Bewegung läßt sich - wie oben bereits erwähnt - eher als ein Dialog bezeichnen. Zwar verstand sie sich nicht als Antisemitin, doch war sie bereit, den Vorstellungen der Völkischen erheblich entgegenzukommen. Partiell wurden hier auch ihre Überzeugungen ausgesprochen, weil sie in der Argumentation der Völkischen zugleich eine Möglichkeit sah, die evangelische Frauenrolle zu profilieren. Die Perspektive einer evangelischen Frauenbewegung entwickelte sich somit im Spannungsfeld von Idealen der bürgerlichen Frauenbewegung und den Forderungen der erstarkenden völkischen Gruppen.
216 Vgl. SHULAMIT VOLKOV, Zur sozialen und politischen Funktion des Antisemitismus, S. 53. 217 Vgl. MAGDALENE VON TILING, Arbeitsprogramm der Vereinigung Evangelischer Frauenverbände 1925.
KAPITEL III DIE T H E O L O G I E D E R G E S C H L E C H T E R B E Z I E H U N G E N ALS G R U N D L A G E E I N E R P O L I T I S C H E N E T H I K
A. Die konzeptionelle Zusammenarbeit Magdalene von Tilings mit Friedrich Gogarten seit 1925
1. Persönliches „Ich schreibe dies gleich in der Bahn, weil ich weiß, d a ß ich doch in den nächsten Tagen zu nichts komme neben der , Politik'. Ich bin Ihnen und Ihrer Frau für diese 2 T a g e so sehr dankbar. Ich bin sehr ängstlich zu Ihnen gekommen, weil ich nicht wußte, ob ich es wirklich verantworten konnte, dass ich Sie gebeten hatte zu unserer Rüstzeit, weil ich Sie zu wenig kannte, eigentlich ja nur aus der Kontroverse mit H o l l und aus dem H e f t , D i e religiöse Entscheidung', und das war w o h l zu wenig. U m s o dankbarer bin ich nun, dass ich das Vertrauen haben darf, nicht falsch gewählt zu haben - im Blick auf unseren Verband! U n d ebenso bin ich persönlich dankbar, dass ich Ihre ganze Stellung s o weitgehend schon vorher kennen lernen konnte."'
Magdalene von Tiling, die eine Zusammenarbeit mit Friedrich Gogarten auf dem Gebiet der Pädagogik und Theologie plante, hatte die Familie Gogarten vom 14. bis 16. März 1925 zum ersten Mal besucht. Der Namen Gogartens war ihr bereits vorher bekannt gewesen, denn dieser hatte sich in einem Streit gegenüber dem prominenten Lutherinterpreten Karl Holl profiliert. Auch eine Schrift hatte sie von ihm gelesen: „Die religiöse Entscheidung" von 1923. Weiter geht aus dem Briefabschnitt hervor, daß sich beide während der zwei Tage recht gut verstanden haben und daß Gogarten ihr seinen theologischen Ansatz dargelegt hat - so zumindest behauptet es von Tiling in aller Bescheidenheit. Nimmt man die folgenden acht Briefseiten zur Kenntnis, die zunächst Fragen, dann aber die Darstellung der Gedanken Magdalene von Tilings beinhalten, muß eher von einem paritätischen, gegenseitigen theologischen Austausch ausgegangen werden. Denn die zehn Jahre ältere Magdalene von Tiling war gewandt in den theologischen Diskussionen der Zeit und vertrat selbst eigene Positionen. Zu Pfingsten 1925 sollte die zweite Tagung des Verbandes evangelischer 1
Magdalene von Tiling an Friedrich Gogarten am 16.3.1925 (LKA HANNOVER, N 127/16).
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Die Theologie der Geschlechterbeziehungen
Religionslehrerinnen stattfinden, und Magdalene von Tiling wollte Gogarten für ein Referat gewinnen. Den Hinweis auf Friedrich Gogarten hatte sie von verschiedenen Seiten erhalten. So beispielsweise von dem Professor für Kirchengeschichte und Dogmatik in Erlangen, Werner Eiert.2 Zudem hatte sich Magdalene von Tiling an den Berliner Professor für Kirchengeschichte Karl Holl gewandt. Ihr Interesse galt seit der Gründung der Lutherarbeitskreise für Frauen auf dem Lutherischen Weltkongreß in Eisenach 1923 der Formulierung einer zeitgemäßen Lutherinterpretation. Karl Holl galt in dieser Hinsicht als der maßgebliche Repräsentant der zeitgenössischen Lutherforschung und hatte mit grundlegenden Aufsätzen über Luther, die 1921 als erster Band seiner „Gesammelte(n) Aufsätze zur Kirchengeschichte" erschienen waren, das wissenschaftliche Studium der Theologie Luthers auf eine neue Grundlage gestellt.3 Mit Hilfe seines philologischen Wissens und einer umfassenden Quellenkenntnis, in denen er sich die gerade entdeckten und edierten Vorlesungen des jungen Luther zunutze machte, hatte Karl Holl von Luthers Gedanken der Rechtfertigung aus den reformatorischen Ursprung der evangelischen Theologie neu herausgestellt und dessen Religionsverständnis im Begriff der „Gewissensreligion" zu erfassen gesucht.4 Karl Holl machte Magdalene von Tiling zunächst auf seinen Schüler Emanuel Hirsch aufmerksam, der nach dem Ersten Weltkrieg als führende Figur eines national gesonnenen Luthertums galt.5 Von diesem war sie jedoch enttäuscht. Mit einer zweiten, eher
2 Vgl. das Schreiben Werner Elerts an Magdalene von Tiling vom 16.12.1924 (LKA HANNOVER, N 127/10). Eiert war als Referent für eine Tagung in Helmstedt angefragt worden, konnte jedoch nicht an der Tagung teilnehmen. In diesem Zusammenhang schlug er u. a. Friedrich Gogarten als Referent vor. 3 KARL HOLL, Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte I. Luther (1921); zu Holl vgl. JOHANNES WALLMANN, Karl Holl und seine Schule; DERS., Art. Holl, S. 514-518. 4 Nach der bekannten These KARL HOLLS ist „Luthers Religion [ . . . ] Gewissensreligion im ausgeprägtesten Sinne des Wortes" (Ges. Aufs. I, 1932, 6. Aufl., S. 35). Jedoch denkt Luther streng theozentrisch, von Gott aus, in dem höchste Gerechtigkeit und Liebe uneingeschränkt eine Einheit bilden. Diesem Gott steht der Mensch als sittlich geforderter und begnadeter Sünder gegenüber. Die Rechtfertigung des Sünders durch Gott setzt aber nicht den sittlichen Maßstab außer Kraft, die Gnade widerspricht nicht der Gerechtigkeit, sondern ist der Weg, auf dem sich die Gerechtigkeit erfüllt. Vgl. HERMANN FISCHER, Systematische Theologie, S. 56 ff. 5 EMANUEL HIRSCH hatte in seiner 1921 erschienenen Schrift „Die Reich-Gottes-Begriffe des neueren europäischen Denkens" versucht, eine angemessene Ubersetzung der „Zwei-Reiche-Lehre" Luthers in das moderne Staatsdenken zu schaffen. Er kommt zu dem Schluß, daß nur der Nationalstaat, verstanden als die das Volk konstituierende Einheit, Regierende und Regierte gleichermaßen zu binden und zu einer rechtlichen Gemeinschaft zusammenzubinden vermag. In seinem Plädoyer für den Nationalstaat liegt auch seine Ablehnung gegen die Weimarer Republik begründet. Zu Hirsch, der in universaler Gelehrsamkeit in nahezu allen Disziplinen der Theologie gearbeitet hat, vgl. HANS-JOACHIM BIRKNER, Art. Hirsch, S. 390-394.
Zusammenarbeit mit Friedrich Gogarten seit 1925
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ironischen Empfehlung Karl Holls wurde sie schließlich an Friedrich Gogarten verwiesen.6 Dieser hatte soeben in einer vehementen Auseinandersetzung mit Karl Holl dessen Lutherverständnis kritisiert und damit die Aufmerksamkeit der theologischen Kreise auf sich gezogen.7 Friedrich Eduard Gogarten, am 13.Januar 1887 in Dortmund geboren - also zehn Jahre jünger als Magdalene von Tiling - , war seit 1917 Pfarrer in Stelzendorf (Thüringen). Er war Inhaber seiner ersten Pfarrstelle 8 und stand somit am Beginn seiner Berufskarriere. Studiert hatte er in Jena, Berlin und Heidelberg Theologie. Enttäuscht von der „liberalen Theologie" wie er sie besonders bei dem Jenaer Neutestamentier Heinrich Weinel und den Berliner Theologieprofessoren Adolf Deißmann, Adolf von Harnack gehört hatte, verbrachte er seine letzten Semester in Heidelberg bei Friedrich Niebergall und vor allem bei Emst Troeltsch. Troeltsch übte auf Gogarten insofern einen nachhaltigen Eindruck aus, als sich seine Vorbehalte gegenüber der liberalen Theologie auf diesen ihren zweifellos prominentesten Vertreter konzentrierten, und zeit seines Lebens hat Gogarten wesentliche Elemente seiner Theologie in der Auseinandersetzung mit Troeltsch formuliert. Nach seinem Zweiten Theologischen Examen ging Gogarten 1912 für ein Semester in die Schweiz, um die beiden Begründer und führenden Vertreter des religiösen Sozialismus, Leonard Ragaz und Hermann Kutter, zu hören. Anschließend verbrachte er ein Jahr in Florenz, wo er sich seiner Arbeit über Fichte widmete. Von 1914-1917 war Gogarten Hilfsprediger in Bremen. Dort lernte er Margarethe Kirchhoff, die Tochter der bekannten Frauenrechtlerin Auguste Kirchhoff und des Rechtsanwalts und Senators Heinrich Kirchhoff, kennen. 9 Friedrich Gogarten war als 6
So Magdalene von Tiling in einem Gespräch mit Liesel-Lotte Herkenrath (vgl. LLESKLLOTTL HERKENRATH, Politik, Theologie und Erziehung, S. 30 Anm. 72). 7 FRIEDRICH GOGARTEN, Theologie und Wissenschaft. 8 Zu den folgenden Daten zur Biographie Gogartens vgl. auch MATTHIAS KROEGER, Biographische Daten. Vgl. auch die Untersuchung zu Gogarten und seiner Theologie von FRIEDRICH BRANDI-HINRICHS, Von der personalen zur politischen Theologie, S. 108-115, sowie MATTHIAS KROEGER, Friedrich Gogarten. 9 Auguste Kirchhoff war neben Minna Cauer und Helene Stöcker eine der wichtigsten Vertreterinnen der sog. ,Radikalen' der bürgerlichen Frauenbewegung. Kirchhoff wirkte vor allem in Bremen. Des öfteren brachten ihre radikalen Positionen ihr und der Familie Mißbilligung und Arger ein. In der 1909 gegründeten Ortsgruppe des Bundes für Mutterschutz und Sexualreform engagierte sie sich für die Gleichstellung der ledigen Mütter und gegen die bürgerliche Doppelmoral. Des weiteren trat sie in den letzten Jahren des Kaiserreichs für das politische Stimmrecht der Frauen ein. Dem politisch-radikalen Engagement der Mutter standen die Kinder eher distanziert gegenüber. Der Briefwechsel zwischen Margarethe und Auguste zeigt die stetige politische Auseinandersetzung, aber auch ihre innere Verbundenheit. Gegen die Heirat der jüngsten Tochter mit Friedrich Gogarten hatte sie nichts einzuwenden, sie schätzte ihn sehr. Vgl. zum Leben und politischen Wirken Auguste Kirchhoffs: HANNELORE CTOUS/VERENA STEINECKE, Ein Weib wie wir? Als gelungen muß auch die Biographie Auguste Kirchhoffs bezeichnet werden, die HENRIETTE WoTfRICH
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Die Theologie der Geschlechterbeziehungen
Religionslehrer von der jüngeren Schwester den Eltern vorgestellt worden und seitdem ein gerngesehener Gast in dem großbürgerlichen, von Künstlerinnen und Künstlern, Akademikerinnen und Akademikern frequentierten Haushalt. Von Auguste Kirchhoff angeregt, hielt er im Hause vor theologisch interessierten Frauen Vorträge, was ihn auch mit den radikalen Freundinnen Auguste Kirchhoffs wie Minna Cauer zusammenführte. Trotz der unterschiedlichen Positionen zur „Frauenfrage" war das Verhältnis Auguste Kirchhoffs und Friedrich Gogartens von gegenseitiger Anerkennung geprägt, und so hatte sie auch gegen die Heirat mit ihrer Tochter Margarethe nichts einzuwenden. 10 Margarethe Helene Ottilie Kirchhoff war das dritte von fünf Kindern der Familie Kirchhoff. 11 Nach ihrem Abitur hatte sie 1914 in Berlin und dann 1916 in Jena Geschichte, Germanistik, Theologie und Philosophie studiert. Sie entsprach damit dem Wunsch ihrer Mutter, daß alle Kinder das Abitur ablegen und ein Studium absolvieren sollten. Zu ihren theologischen und philosophischen Lehrern zählten in diesen Jahren u. a. liberale Theologen wie Adolf von Harnack, Ernst Troeltsch und der Philosoph Grisebach, mit dem Gogarten in späteren Jahren im Austausch stand. Trotz ihres kurzen Studiums - aus gesundheitlichen Gründen mußte sie es 1916 abbrechen - hatte Margarethe sich in diesen Jahren ein breites theologisches Wissen aneignen können. Sie war vielseitig gebildet, sehr belesen und verfügte über die Kenntnis mehrerer Sprachen. Friedrich Gogarten und Margarethe Kirchhoff heirateten 1918. Zwischen 1919 und 1926 wurden fünf Töchter geboren. Margarethe widmete sich von nun an der Versorgung der Kinder, dem wachsenden Pfarrhaushalt und der dort ein- und ausgehenden Gäste. Sie unterstützte Gogarten
aufgrund der zahlreichen Briefwechsel aus dem Nachlaß Auguste Kirchhoffs erarbeitet hat und die auch Aufschluß über die Beziehung zu ihren Kindern gibt (Kirchhoff). 10
Vgl. d a z u HENRIETTE WOTTRICH, K i r c h h o f f , S . 6 0 , 12 ff., 133, 176, 2 1 6 , 228. A u g u s t e
Kirchhoff war strikte Pazifistin. Anfang der dreißiger Jahre schien sie Bedenken zu haben, der Familie Gogarten wegen ihrer politischen Haltung zu schaden, die eine eher nationalkonservative Haltung vertrat. So schrieb sie am 5.7.1931 an ihre Tochter Margarethe: „Nun müßt ihr mir ganz offen sagen, ob es Fritz lieber ist, wenn ich dann nicht bei euch wohne? Ich nehme das gar keine Spur übel; denn wahrscheinlich wird ja darüber berichtet werden, und mein Standpunkt in der Friedensfrage ist ja nicht der Eure, und damit auch wahrscheinlich nicht mein Standpunkt zum Faschismus, über den ich aus der ,NS-Frauenzeitung' sehr genau informiert bin, die ich auch abonniert habe. Ich kann also vollkommen verstehen, wenn es Euch lieber ist, mich dann nicht bei Euch zu haben" (Zitiert nach EBD., S. 216). 11 Die näheren Informationen zum Leben Margarethe Gogartens geb. Kirchhoff verdanke ich Rebecca Unsöld (Frankfurt/M.), die mir einen Teil ihre Vorarbeiten zur Biographie Margarethes freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat. Daraus ist zu entnehmen, daß Margarethe Gogarten theologisch und philosophisch vielseitig interessiert und trotz der kurzen Zeit ihres Studiums von zwei Jahren über eine breitgefächerte theologische und philosophische Bildung verfügte.
Zusammenarbeit mit Friedrich Gogarten seit 1925
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bei seiner theologischen Arbeit, war ihm theologische Gesprächspartnerin und half ihm beim Tippen seiner Manuskripte. In späteren Jahren begleitete sie ihn auf seinen Vorlesungsreisen nach Großbritannien und in die USA, wo sich ihre hervorragenden Englischkenntnisse als hilfreich erwiesen; Friedrich Gogarten machte sich erst 1955 mit der englischen Sprache vertraut. In den Anfang der zwanziger Jahre fällt die Bekanntschaft Friedrich Gogartens mit seinen engen theologischen Mitstreitern und Mitstreiterinnen. 1919 lernte er Martin Rade kennen, in dessen Zeitschrift „Die Christliche Welt" er in den folgenden Jahren wichtige Aufsätze veröffentlichte. 12 In diese Zeit fielen auch die Kontakte zu Karl Barth, Eduard Thurneysen und Emil Brunner, die er auf Konferenzen der Christlichen Studentenvereinigung in Aarau, Leutwyl und Safenwyl traf. Zusammen mit Barth, Thurneysen und dem Münchener Pfarrer Georg Merz gründete Gogarten 1922 die Zeitschrift „Zwischen den Zeiten", die das Organ der sog. Dialektischen Theologie wurde und von 1923 bis 1933 erschien.13 Seit 1917 hatte Friedrich Gogarten verstärkt Lutherstudien betrieben. Allerdings ist er der sog. Lutherrenaissance um Karl Holl und Emanuel Hirsch nicht zuzurechnen. Seine 1923 geübte Kritik an Emanuel Hirschs Ethik-Auffassung in „Deutschlands Schicksal" und seine kritische Rezension von Karl Holls „Luther" brachten ihn trotz seiner dezidiert lutherischen Theologie in scharfen Gegensatz zu dieser Lutherrezeption und zeigen seine selbständige Interpretation der Theologie Martin Luthers.14 Durch Initiative des Gießener Professors für Neues Testament Karl Ludwig Schmidt erhielt Gogarten 1924 die Ehrenpromotion. Er beantragte die Versetzung auf eine Pfarrstelle in Dorndorf nahe Jena, um einen Lehrauftrag an der Universität Jena erfüllen zu können. Ab dem Jahr 1925 sollte seine Zusammenarbeit mit von Tiling eine wichtige Rolle in seiner Arbeit der zwanziger und dreißiger Jahre hinsichtlich seiner theologischen, pädagogischen und auch politischen Theoriebildung einnehmen. Sie eröffnete ihm neue Diskussionsforen, sowohl im Umkreis der protestantischen Frauenbewegung, indem sie ihn als „theologischen Führer" deklarierte und ihn in die theoretische Arbeit einbezog, als auch im Bereich der Religions12
FRIEDRICH GOGARTEN, Zwischen den Zeiten; Die Krisis unserer Kultur; Die Not der Absolutheit; Wider die romantische Theologie. 13 Der Titel der Zeitschrift war dem gleichnamigen Aufsatz Gogartens von 1920 entlehnt und geht zurück auf einen Briefwechsel Gogartens mit der Dichterin Gertrud von le Fort. Diese hatte im Frühjahr 1920 an ihren ehemaligen Kommilitonen geschrieben, sie fühle sich als ein Kind zweier Welten, worauf Gogarten geantwortet hatte: „Wir stehen doch alle zwischen den Zeiten" (vgl. MATTHIAS KROEGER, Friedrich Gogarten in einem Gespräch über die Säkularisierung, S. 41). 14 Vgl. FRIEDRICH BRANDI-HINRICHS, Von der personalen zur politischen Theologie, S. 112.
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Die Theologie der Geschlechterbeziehungen
Pädagogik durch Veröffentlichung seiner Vorträge in der Zeitschrift „Schule und Evangelium". Nicht immer war diese Zusammenarbeit für Gogarten förderlich. So scheiterten mehrere Versuche, eine ordentliche Professur zu erlangen, aufgrund der von manchen Kollegen Gogartens argwöhnisch beobachteten Arbeitsgemeinschaft mit der DNVP-Abgeordneten. 15 Schließlich wurde er im Sommersemester 1931 vom Preußischen Kultusminister Adolf Grimme nach Breslau berufen, was u. a. Magdalene von Tiling auf ihre Intervention bei Grimme zurückführte und als ihren Erfolg verbuchte. 16 Im Sommersemester 1935 wurde Gogarten als Vakanzvertreter für den amtsenthobenen Barth nach Bonn gesandt und erhielt schließlich im Wintersemester 1935/36 die Berufung nach Göttingen, wo er bis zu seiner Emeritierung 1955 und darüber hinaus lehrte. Gogartens Abschiedsbrief 1933 zum Ende der Zeitschrift „Zwischen den Zeiten" enthält einen Hinweis auf den Beitritt zu den Deutschen Christen, zu dem es formal nicht gekommen sein soll. Allerdings distanzierte sich Gogarten nach der Sportpalastkundgebung der D C am 13. November 1933 öffentlich von der Bewegung.17 Aus dem ersten Besuch Magdalene von Tilings in Stelzendorf im März 1925 entstand eine lebenslange Freundschaft mit dem zehn Jahre jüngeren Theologen und dessen Frau Margarethe. Von 1925 an unterhielten von Tiling und Gogarten einen regen Briefwechsel, hinzu kamen regelmäßige, oft mehrtägige Besuche.18 Magdalene von Tiling war durch ihre Abgeordnetentätigkeit im preußischen Landtag Inhaberin einer freien Bahnkarte, was ihr eine vielfältige Reisetätigkeit ermöglichte. 19 Sie besuchte die Familie Gogarten, um mit Friedrich Gogarten theologisch zu debattieren. Auch Friedrich Gogarten war offensichtlich erfreut, eine interessierte Gesprächspartnerin gefunden zu haben. So schrieb er am 29. August 1925 an Magdalene von Tiling:
15
So beispielsweise seine Bemühungen 1926/27 in Jena um die Nachfolge von Thümel, 1929 in Münster um die Nachfolge von Barth, in Bonn anstelle von Barth. 16 Vgl. das Schreiben Magdalene von Tilings an Friedrich Gogarten vom 30.1.1931 (LKA HANNOVER, N
127/17).
" Vgl. das Schreiben Friedrich Gogartens an Georg Merz, in: GF.ORG MERZ, Abschied von Zwischen den Zeiten, S. 552. Das Dementi der DC zu Gogartens DC-Beitritt ist abgedruckt in: Breslauer Ortsbeilage zu Evangelium im Dritten Reich vom 3.11.1933. Vgl. dazu FRIEDRICH BRANDI-HINRICHS, Von der personalen zur politischen Theologie, S. 279. 18 Der Briefwechsel Tiling-Gogarten 1925-1967 befindet sich z.T. im Nachlaß Gogartens (UB GöTnNGEN), N 127/17).
Z.T.
im
Nachlaß
von
Tilings
(LKA
HANNOVER, N
127/16
und
" Gogarten bedauert in seinem Schreiben an Magdalene von Tiling vom 1.11.1925 die mit einem hohen Arbeitspensum einer Parteiabgeordneten verbundene vielfältige Reisetätigkeit Magdalene von Tilings und meint, daß „die freie Bahnkarte das Verhängnis" sei (LKA HANNOVER, N
127/16).
Zusammenarbeit mit Friedrich Gogarten seit 1925
137
„Und ich darf Ihnen bei der Gelegenheit doch einmal sagen, d a ß ich f ü r die Begegnung mit Ihnen sehr d a n k b a r bin und d a ß ich, wenn wir erst in D o r n dorf sind, hoffe, Sie öfter sehen zu können. Die Fragen Ihres ersten Briefes sind mir so wichtig und, wenn es gründlich geschehen sollte, so schwer zu beantworten, d a ß ich meine Gedanken im Zusammenhang mit meiner jetzigen Arbeit erst ausdenken muß [ . . . ] Ich sehe da, d a ß ich noch vieles mit Ihnen besprechen möchte und müßte, weil ich sonst niemanden weiß, mit dem ich es besprechen könnte." 2 0
Waren auch die ersten Briefe 1925/26 von den theologischen Sachfragen geprägt, die Gogarten in seiner Schrift „Ich glaube an den dreieinigen Gott" 1926 niedergelegt hatte, so deutet doch nichts darauf hin, daß von Tiling stets die Fragende und Gogarten stets der Antwortende gewesen sei. Im Gegenteil finden sich Interventionen und Kritiken von Seiten Magdalene von Tilings, wenn sie Gogarten auf Inkonsequenzen in seinem Denken hinweist21, auf seine oft unverständlichen Formulierungen 22 oder gar auf seine mangelnden philosophischen Kenntnisse. 23 Auch die oft mehrere Briefseiten umfassenden Abhandlungen von Tilings mit entsprechenden Verweisen auf ihre eigenen Schriften verdeutlichen das eigenständige theologische Denken. So muß die in der Literatur verbreitete Vermutung, von Tiling habe sich als „Schülerin" Gogartens verstanden, angezweifelt werden.24 Vielmehr wird man von einer gegenseitigen theologischen Beeinflussung ausgehen müssen. Diese Vermutung wird auch durch die polemischen, aber in diesem Zusammenhang aufschlußreichen Bemerkungen des mit Gogarten befreundeten theologischen Kollegen Karl Barth bestärkt. Dieser, der als einer seiner engsten Verbündeten der neuen theologischen Richtung angesehen wurde, stand der Zusammenarbeit zwischen Gogarten und von Tiling äußerst kritisch gegenüber. So schrieb er am 15. Mai 1927 20
L K A HANNOVER, N 1 2 7 / 1 6 . „ D a s , D u ' G o t t e s m u s s d o c h n i c h t n u r a u s s e r h a l b d e r G r e n z e n meines Leibes u n d a u c h n i c h t n u r a u ß e r h a l b d e r B e g r e n z u n g m e i n e r Seele g e s u c h t w e r d e n . (Es scheint mir h i e r so, als z ö g e n Sie hier n i c h t d i e K o n s e q u e n z aus I h r e m sonstigen D e n k e n ? ) So scheint mir, b e d e u t e t , C h r i s t u s in mir', dass e r , f ü r m i c h d a ist', als mein D u , als m i r n a h u n d g e g e n w ä r t i g in d e m tiefsten P u n k t meines Ichs - dass ich d a mit ihm r e d e n k a n n als mit m e i n e m D u , u n d e r m i r a n t w o r t e t , d o r t in d e r T i e f e meines ichbewussten Seins" (Schreiben v o m 16.3.1925; L K A HANNOVER, N 1 2 7 / 1 6 ) . 22 J a , Sie h a b e n r e c h t , ich will m a n c h m a l , u n d b e s o n d e r s w e n n ich m i c h in Briefen ü b e r t h e o l o g i s c h e D i n g e äussern muss, mit einem W o r t einen g a n z e n Satz sagen. Ich wollte, meine F e d e r liefe e t w a s leichtflüssiger" (Friedrich G o g a r t e n an M a g d a l e n e von T i l i n g a m 1.11.1925; L K A HANNOVER, N 1 2 7 / 1 6 ) . 23 F r i e d r i c h G o g a r t e n an M a g d a l e n e v o n T i l i n g a m 1.1 1.1925 ( L K A HANNOVER, N 127/16). 24 D i e D a r s t e l l u n g M a g d a l e n e von Tilings als „Schülerin" f i n d e t sich beispielsweise bei LIESEL-LOTTE HERKENRATH, Politik, T h e o l o g i e u n d E r z i e h u n g , S. 274; FRIEDRICH BRANDIHINRICHS, V o n d e r p e r s o n a l e n z u r politischen T h e o l o g i e , S. 300, e b e n s o bei FRIEDRICH WILHELM GRAF, G o g a r t e n s D e u t u n g d e r M o d e r n e , S. 201. 21
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D i e Theologie der Geschlechterbeziehungen
an seinen Freund Eduard Thurneysen über einen Besuch bei Gogarten, bei dem er auch von Tiling kennenlernte: „Die zwei T a g e mit Gogarten waren freundlich, aber das Kopfschütteln, mit d e m wir uns nun einmal gegenüberstehen, ist wohl beiderseits nicht gewichen. Er hält mich für einen verkappten Humanisten und Idealisten und ich ihn für einen Setzkopf, mit dem man im Grunde nur reden kann, indem man ihm zuhört, ohne d a ß ich den Eindruck habe, d a ß bei seiner M e t h o d e , auf das T e l e f o n Luthers zu lauschen, von dem auch ich zu hören bekam, eine wirklich gestaltete Lehre möglich sei. [ . . . ] Es bleibt nichts übrig, als d a ß wir uns machen lassen und die Mitwelt nicht merken lassen, wie fragwürdig das Bindestrichlein Barth-Gogarten in Wahrheit ist. Magdalene von Tiling wurde auch mir als die Frau und als die Lutheranerin bekannt gemacht, eine gar nicht gute Illustration zu dem, was er meint." 25
Abgesehen von einer persönlich motivierten Ablehnung zwischen Barth und von Tiling zeigt die Polemik Barths, d a ß die theologische Zusammenarbeit Barth-Gogarten bereits Mitte der zwanziger Jahre zerbrochen war. Barth sah die Veränderung in der theologischen Richtung Gogartens durch die Zusammenarbeit mit von Tiling motiviert. Mit der Bezeichnung „Telefon Luthers" meinte Barth von Tiling. Seit 1926/27 betrieb sie eigenständige Lutherstudien, die sie im Rahmen der evangelischen Frauenkreise und im Gespräch mit Friedrich Gogarten diskutierte. Ihr Ziel war es, diese Ergebnisse f ü r ihre theologische und pädagogische Theoriebildung zu nutzen. 26 Offenbar war Barth überzeugt davon, daß von Tiling diejenige war, die Gogarten in seiner Lutherinterpretation und seiner gesamten Theologie beeinflußte, und nicht umgekehrt. Dies scheint auch die Meinung Gogartens gewesen zu sein, hatte er doch Magdalene von Tiling seinen Freunden Karl Barth und Eduard Thurneysen selbst als die Lutheranerin vorgestellt. In einem seiner späteren Briefe an Thurneysen sprach Barth in beißender Polemik von von Tiling als der „Belehrungsquelle Gogartens" und sah in ihr die „anschauliche Gestalt" der in „Dorndorf vertretenen Lehre" 27 . In seinen späteren Auseinandersetzungen mit Gogarten zum Ende der dreißiger Jahre zeigt sich, daß Barth, sobald er die Theologie Gogartens angriff, stets auch gegen die Schriften von Tilings polemisierte, denn sie war seiner Meinung nach „eben jene mit Gogarten nach dessen eigenen Erklärungen theologisch durchaus solidarische Frau von Tiling". 28 Die Zusammenarbeit und die gegenseitige Beeinflussung waren also allseits 25
KARL B A R T H - E D U A R D THURNEYSEN, B r i e f w e c h s e l , B d . 2 , S. 5 0 0 f.
26
Vgl. MAGDALENE VON TILING, Reformatorisches Christentum und die Gemeinschaftsordnungen der Menschen, S. 8-23. 27
28
V g l . KARL B A R T H - E D U A R D THURNEYSEN, B r i e f w e c h s e l , B d . 2 , S. 7 1 4 f f . ( 8 . 2 . 1 9 3 0 ) .
Schreiben Karl Barths an Rudolf Bultmann vom 17.11.1930 (KARL BARTH-RUDOLF BULTMANN, Briefwechsel, S. 105).
Zusammenarbeit mit Friedrich Gogarten seit 1925
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bekannt und wurden von Gogarten wie von von Tiling auch immer wieder betont. Bemerkenswert ist allerdings, daß Magdalene von Tiling sich in ihren Schriften und Artikeln oft auf Gogarten und dessen Schriften bezog. Gogarten konnte sich dagegen offenbar nicht entschließen, Magdalene von Tiling als Referenzautorin zu nennen. In seinen Schriften der zwanziger und dreißiger Jahre findet sie nur ein einziges Mal ausdrücklich Erwähnung.29 Magdalene von Tiling interessierte sich für alles, was Friedrich Gogarten sagte und schrieb. So finden sich im Nachlaß Gogartens beispielsweise korrigierte Predigtmitschriften aus den Jahren 1925/26. Da Friedrich Gogarten seine Predigten nie schriftlich ausformulierte, veranlaßte von Tiling ihre Sekretärin Lieselotte Künne, die Predigten während des Gottesdienstes mitzustenographieren und eine Nachschrift zu verfertigen. In diese fügte von Tiling oftmals Korrekturen ein und ließ sie im Mitteilungsblatt des Verbandes evangelischer Religionslehrerinnen bzw. ab 1926 in der Zeitschrift „Schule und Evangelium" abdrucken. Von der Familie Gogarten wurde von Tiling allgemeine Achtung entgegengebracht. Man schätzte ihr theologisches und pädagogisches Wissen. Sie wurde zu Familienfeiern eingeladen und in Erziehungs- und Ausbildungsfragen der fünf Töchter konsultiert.30 „Wenn Du kommst, wirst Du hier eine große Frau kennenlernen", hatte Margarethe Gogarten ihrer Mutter Auguste Kirchhoff einmal zu ihrem bevorstehenden Besuch geschrieben. Leider ist über das Zusammentreffen Auguste Kirchhoffs und Magdalene von Tilings nichts weiter überliefert, auch nicht, was die bekannte Frauenrechtlerin über die konservative Landtagsabgeordnete dachte. Die Zusammenarbeit Magdalene von Tilings und Friedrich Gogartens betraf verschiedene Bereiche. Neben der im Briefwechsel dokumentierten inhaltlich-theologischen Profilierung, die in den ersten Jahren geprägt war von Gogartens Thema, der Suche nach dem personalen Gottesverständnis und einer neuzeitlichen Schöpfungstheologie, war die Mitarbeit Gogartens in den Frauenverbänden sowie im Rahmen der Zeitschrift „Schule und Evangelium" und den verschiedenen pädagogischen Arbeitskreisen von zentraler Bedeutung und aufschlußreich für die Charakterisierung des gegenseitigen Einflusses.
29
30
FRIEDRICH GOGARTEN, P o l i t i s c h e E t h i k , S. 2 0 1 .
Gespräch zwischen Marianne Bultmann und Gury Schneider-Ludorff am 7.11.1995. Vgl. z. B. das Schreiben Magdalene von Tilings an Margarethe und Friedrich Gogarten vom 26.5.1937 (LKA HANNOVER, N 127/17).
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Die Theologie der Geschlechterbeziehungen
2. Die Einbeziehung Friedrich Gogartens in die Arbeit des Verbandes evangelischer Religionslehrerinnen und in die Frauenarbeitskreise Die vom 5. bis 8. April 1925 stattfindende wissenschaftliche Rüstzeit des Verbandes evangelischer Religionslehrerinnen in Bethel stellte den Auftakt der theologischen und pädagogischen Zusammenarbeit Magdalene von Tilings und Friedrich Gogartens dar. Gogarten war als Hauptreferent geladen und hielt drei Vorträge über „Drei Grundfragen des Christentums (Schöpfung, Erlösung und Heiligung)".31 Er stellte damit seine aktuellen theologischen Überlegungen zur Diskussion, die er 1926 in seinem Buch „Ich glaube an den dreieinigen Gott" ausarbeiten sollte. Es ging Gogarten um die Ausformulierung eines neuen Wirklichkeitsbegriffs. Wirklichkeit sei nicht als eine allgemeine Wahrheit zu verstehen, sondern als ein Geschehnis in Raum und Zeit. Maßstäbe und Ziele müßten deshalb aus der konkreten, erlebten Wirklichkeit gewonnen werden und nicht aus übergeschichtlichen allgemeinen Wahrheiten. Daraus folge, daß der Glaube an die Schöpfung der Erkenntnis des Geschöpfcharakters des eigenen Seins gleichkomme. Die Erkenntnis von der grundsätzlichen Unterschiedenheit von Schöpfer und Geschöpf stand im Zentrum von Gogartens Denken. Der Mensch sei mit Gott im Sinne des „Urgrundes seines Seins" nicht verbunden, er könne nicht zur Wesenseinheit mit Gott gelangen, wie etwa in der Mystik formuliert werde; zwischen Schöpfer und Geschöpf verlaufe eine Grenze, die der Mensch nicht übertreten könne. Hier bewegte sich Gogarten ganz im Rahmen der „Dialektischen Theologie", die die grundsätzliche Verschiedenheit von Gott und Mensch betonte. Aber er ging noch darüber hinaus, indem er anschließend dieses Verhältnis „erdete": Der Mensch erfahre Gottes Anspruch in der je konkreten Situation - in der Begegnung mit dem anderen Menschen - und sei so in die Entscheidung und Verantwortung gestellt. Das Du-Ich-Verhältnis zwischen Schöpfer und Geschöpf findet nach Gogarten seine Entsprechung im Anspruch des anderen Menschen an das Ich. Gottes Anspruch begegnet also in der aktuellen Lebenswirklichkeit im anderen Menschen. Diese Lebenswirklichkeit führte Gogarten ordnungstheologisch aus: „Wir sind hineingestellt in eine bestimmte Weltzeit, in eine bestimmte Ordnung, für die wir verantwortlich sind. Wir können uns nicht rückhaltlos genug in diese wirkliche Welt hineinstellen, uns aufschließen für den Anspruch des Nächsten, der durch sein bloßes Dasein begründet ist".32 Die Reaktion der Lehrerinnen auf Gogarten war positiv. Geradezu euphorisch berichtet das Mitteilungsblatt des Verbandes evangelischer Religionslehrerinnen über die Tagung: 31
MAGDALENE VON TILING, An unsere Mitglieder, S. 1. Zum folgenden vgl. den Bericht von Gertrud Pape, in: VER 10, Mai 1925, S.4F. 32
EBD.
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„Nach gemeinsamer Andacht, von Frau Oberin Magdalene von Tiling gehalten, lauschten wir den streng wissenschaftlichen und doch von tiefster Ehrfurcht durchwehten Ausführungen unseres Führers, des Pfarrers D. Gogarten. Es galt in ernster Gedankenarbeit ihm auf uns oft ganz neuen Pfaden zu folgen, die durch seine scharfe Trennung Gottes, des Schöpfers, von dem Menschen als Geschöpf gekennzeichnet sind. Und doch war es mir wie bei Hochtouren in der Alpenwelt zumute: Nach steilem Anstieg atmete man die starke, reine Gebirgsluft der ragenden Höhe. Jede von uns wird dankbar an D. Gogarten und das, was er uns aus dem reichen Schatz seiner Erkenntnis gab, zurückdenken." 33
Gogarten wurde von den Lehrerinnen als Verfechter einer neuen Richtung der Theologie angesehen, die für ihre pädagogische Praxis relevant werden konnte, weil sie auf die vorfindliche Lebenswirklichkeit bezogen sein wollte. Ansprechend an der theologischen Konzeption Gogartens war für die Religionslehrerinnen der Gedanke der Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen Gott und Mensch auf der Ebene der zwischenmenschlichen Beziehung. Dies war für die alltägliche pädagogische Praxis im Umgang mit den Schülerinnen und Schülern von Bedeutung. Die Schilderung Gogartens als jemand, der die Verbindung von Wissenschaftlichkeit und frommer Ehrfurcht herzustellen vermochte, ist insofern aufschlußreich, da sie sich gegen die Überbetonung der universitären Theologie richtete und bemüht war, Gogarten als einen ernsthaften und zugleich gläubigen Wissenschaftler darzustellen bzw. aufzuzeigen, daß Glaube und Wissenschaft sich nicht ausschließen. Zudem diente der Bezug auf Gogarten den Lehrerinnen als Legitimation der eigenen wissenschaftlichen Arbeit. Sie hatten sich mit der ersten Tagung im Jahr zuvor dezidiert in den aktuellen theologischen Diskurs hineingestellt.34 Weiterhin zeigt der Bericht, daß durch Gogarten Gedanken der Dialektischen Theologie in die positiv-lutherisch geprägten Lehrerinnenkreise Eingang fanden und in einem Maße auf Akzeptanz stießen, daß Gogarten wie selbstverständlich als „unser Führer" bezeichnet werden konnte. Aber auch für Gogarten brachte die Tagung Anregungen. So schrieb er am 20. April 1925 an Magdalene von Tiling:
33
HELENE MATIHIES, U n s e r e w i s s e n s c h a f t l i c h e Rüstzeit, S. 3. Auf d e r ersten w i s s e n s c h a f t l i c h e n R ü s t z e i t des V e r b a n d e s evangelischer Religionslehrerinnen in Bad M a r i e n b e r g bei H e l m s t e d t v o m 10. bis 16.4.1924 h a t t e n sich die T e i l n e h m e rinnen mit verschiedenen aktuellen t h e o l o g i s c h e n E n t w ü r f e n b e s c h ä f t i g t : KARL HOLL, K i r c h e n g e s c h i c h t l i c h e V o r t r ä g e (1922), FRIEDRICH GOGARTEN, D i e religiöse E n t s c h e i d u n g (1923), KARL BARTH, D e r R ö m e r b r i e f (1922) u n d EMMANUEL HIRSCH, D e u t s c h l a n d s Schicksal (1919). Auf d e r P f i n g s t t a g u n g im J u n i 1924 in H a m b u r g h a t t e n Karl H o l l ü b e r L u t h e r u n d d a s U r c h r i s t e n t u m , W e r n e r E i e r t ü b e r V e r s ö h n u n g u n d Freiheit u n d A n n a Paulsen ü b e r „ U n s e r e religiöse E n t s c h e i d u n g s s t u n d e " referiert. Vgl. d e n R ü c k b l i c k von G e r t r u d P a p e , V o r t r a g , g e h a l t e n auf d e r P f i n g s t t a g u n g 1957 des alten V e R P ( L K A HANNOVER, N 1 2 7 / 3 3 ) . 34
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„Zuerst möchte ich Ihnen sagen, dass mir die Tage in Bethel eine grosse Freude gewesen sind und auch ein Gewinn, der, wie ich hoffe, dem Buche, das aus diesen Vorträgen werden soll, zu gute kommen wird. Ich will Ihnen gerne gestehen, dass ich eine so gute Diskussion noch kaum erlebt habe. Und das Beste an ihr war ihre sachliche Aggressivität. Sie sehen daraus, daß ich in Bethel, auch ohne den Thee zum Frühstück, durchaus zu meinem , Recht' gekommen bin."35 Daß die Gruppe der Lehrerinnen in der Gefolgschaft von Tilings dafür bekannt war, daß sie sich nicht lediglich als Zuhörerinnen betrachteten, sondern als versierte Gesprächspartnerinnen verstanden, läßt sich auch dem Schreiben Werner Elerts entnehmen. Dieser wies von Tiling darauf hin, daß nicht alle Theologen ihre Vorträge kritisieren lassen wollten.36 Gogarten war dagegen bereit, seine noch nicht publizierten theologischen Entwürfe vor einer Gruppe pädagogisch-theologisch interessierter Frauen zur Diskussion zu stellen.37 Ein weiteres Arbeitsfeld Magdalene von Tilings und Friedrich Gogartens betraf die Lutherlesekreise der Frauen, eine Initiative von Tilings, die im Anschluß an den Lutherischen Weltkonvent in Eisenach in die Tat umgesetzt worden war.38 Im Laufe des Jahres 1924 hatten sich daraufhin in Stuttgart, Dresden und Leipzig Lutherlesekreise von Frauen gebildet.39 Da es nach Meinung von Tilings jedoch bisher an Ordnung und Anleitung fehlte, bat sie Friedrich Gogarten zukünftig regelmäßig Gesichtspunkte und Literatur für die Arbeit der Lutherlesekreise aufzustellen, wozu er sich
35
L K A HANNOVER, N
127/16.
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„Ich würde mir viel davon versprechen, wenn Sie etwa D. Lütgert gewinnen könnten, vorausgesetzt, daß Ihre Damen lernen und nicht kritisieren wollen. Denn von einem Mann wie Lütgert soll und kann man nicht erwarten, daß er aufgrund einer scharfen Diskussion noch umlernt" (Werner Eiert an Magdalene von Tiling am 16.12.1924; LKA HANNOVER, N
127/10). 37
Gogarten hielt nicht nur Vorträge bei den Religionslehrerinnen des Verbandes, sondern auch auf pädagogisch-theologischen Tagungen, z. B. „Das Problem der Ethik und Erziehung" auf der Tagung in Berlin vom 5. Bis 7.10.1931; „Schöpfung und Volkstum" auf der Tagung in Dresden am 28.10.1932. Auf den Veranstaltungen der Evangelischen Schulvereinigung trat er bereits 1926 als Referent auf, beispielsweise am 26./27.11.1926 in Berlin-Dahlem mit dem Vortrag „Zur Verantwortlichkeit im Neuen Testament" (Einladung beim Briefwechsel Gogartens mit Oskar Ziegner; UB G Ö T T I N G E N , Nachlaß Gogarten). 38 Magdalene von Tiling, Rundbrief zum Aufbau eines internationalen lutherischen Frauenausschusses, August 1923 (LKA HANNOVER, N 127/43). Ganz im Zeichen der Kriegsschulddebatte erklärte von Tiling in dem Aufruf, „daß die lutherischen Frauen Deutschlands nur unter der Voraussetzung mit Frauen des Auslandes gemeinsame Beratungen pflegen können, wenn ihre lutherischen Glaubensschwestern gewillt sind, auf Grund vorurteilsfreier Prüfung der Tatsachen die ungeheure Kriegslüge über Deutschland zu zerstören zu helfen, damit der Wahrheit Bahn gemacht und unsere Ehre uns wiedergegeben wird." 39
MAGDALENE VON TILING, L u t h e r a r b e i t s k r e i s e v o n F r a u e n I , S. 12.
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gerne bereit erklärte. 40 Die Angaben wurden sowohl im Mitteilungsblatt der Religionslehrerinnen - seit 1926 „Schule und Evangelium" - als auch im Nachrichtenblatt der Vereinigung evangelischer Frauenverbände vierteljährlich zusammengestellt und veröffentlicht. Es wurde Literatur für Anfängerinnen und Fortgeschrittene angeboten und zur Gründung neuer Lutherlesekreise aufgerufen. 4 '
3. Die Zusammenarbeit im Rahmen der Zeitschrift Schule und Evangelium Die Zeitschrift „Schule und Evangelium" muß neben „Zwischen den Zeiten" als entscheidend für die Verbreitung der Theologie Friedrich Gogartens angesehen werden. D a f ü r sprechen sowohl die hohe Anzahl seiner Veröffentlichungen in dieser Zeitschrift 42 als auch die Vielzahl der von Magdalene von Tiling regelmäßig verfaßten Rezensionen der Schriften Gogartens. „Schule und Evangelium" war 1926 aus der Gründung eines neuen religions- und schulpolitischen Dachverbandes hervorgegangen, an dem Magdalene von Tiling maßgeblich beteiligt war: der Evangelischen Schulvereinigung. Diese war der Versuch eines überregionalen Interessenzusammenschlusses der evangelischen Schulen im Anschluß an die kirchlich-diakonisch ausgerichtete Organisation der Inneren Mission. Angeschlossen an den Evangelischen Reichserziehungsverband der Inneren Mission, verstand er sich zugleich als Spitzenorganisation diverser Fachverbände wie des Verbandes evangelischer Religionslehrerinnen, der Vereinigung positiver evangelischer Religionslehrer an höheren Schulen, des Bundes zur Förderung evangelischer Knabenschulen und Alumnate, des Bundes evangelischer Mädchenschulen, der Konferenz für Lehrdiako40 „Auch bei Ihrem Luther-Lesen will ich Ihnen gerne helfen, so gut ich es kann" (Friedrich Gogarten an Magdalene von Tiling am 20.4.1925; LKA HANNOVER, N 127/16). 41 Vgl. die Anleitungen und Ausführungen Gogartens z. B. in: VER 10, Mai 1925, S. 12 f.; VKR 10, Januar 1926, S. 12 f. 42 Gesichtspunkte zur Lutherarbeit; Luthers Auslegung zu Gal. 4, 24-4, 26; Jesus Christus selbst (Vortrag auf der Tagung des VeR in Marburg/Lahn, Pfingsten 1926); Eine Auslegung von Hebräer 10, 19-25; Bibel und Kirche; Himmelfahrt. Predigt über Kol. 3, 1-4; Predigt über l . K o r . 13, 1-13; Predigt über Mt. 7,12-14; Predigt zum Reformationsfest über Ps. 119, 31; Das Problem der Ethik und die Erziehung; Predigt über Römer 8, 24-32; Predigt über Mk. 15, 20-41; Ostern. Predigt über 1. Kor 5, 6-8; Goethes Frömmigkeit und der evangelische Glaube; Predigt über Mt 24, 1-4; Karfreitag, Predigt über 2. Kor. 5,15. Der langjährige Mitarbeiter KARL JARAUSCH schreibt in einer Rezension zu Gogartens Schrift „Die Schuld der Kirche gegen die Welt" (1928) im September 1929: „Die Menschen, die hinter diesen Aufsätzen (in „Schule und Evangelium") stehen, wissen sich ihm [Gogarten; G.S.-L.] tief zu Dank verpflichtet. Seine Gedanken haben ihnen dazu verholfen, ihres Glaubens froher und gewisser zu werden, ihre Arbeit klarer und zielbewußter zu tun"; SCHUEV 4 (14), September 1929/30, S. 136.
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nie des Kaiserswerther Verbandes und der Niedersächsischen Volkshochschule. Die Schulvereinigung verstand sich als eine Vereinigung evangelischer Schulfachleute, welche die Belange der evangelischen Schulen vor Behörden und öffentlichen Körperschaften vertreten wollten, im besonderen die „bewußt evangelischen Privatschulen" 43 . Ab April 1926 erschien die im Steinkopf-Verlag verlegte Zeitschrift „Schule und Evangelium" als Organ der Evangelischen Schulvereinigung angeschlossenen Verbände und als „Schul-Zeitschrift" der Inneren Mission. Die doppelte Angabe des Jahrgangs läßt erkennen, daß es sich bei „Schule und Evangelium" um die Fortsetzung der Zeitschrift des Verbandes evangelischer Religionslehrerinnen „Mitteilungen der Vereinigung evangelischer Religionslehrerinnen (seit 1916) handelte, die nun ihre Zielgruppe um männliche Leser und um kirchlich-pädagogische Institutionen erweiterte. Es nimmt denn auch nicht wunder, daß Magdalene von Tiling neben Karl Mützelfeid die Herausgabe übernahm und Gertrud Pape, wie in dem vorhergehenden Organ der Religionslehrerinnen, zur Schriftleiterin ernannt wurde. Die Auflagenhöhe der Monatsschrift betrug in den Jahren 1926 und 1931 ca. 2.400 Exemplare und war damit höher als die anderer religionspädagogischer Zeitschriften wie beispielsweise von MERU mit 900 Exemplaren oder der ZEvRU mit ca. 1200 Exemplaren. 44 Magdalene von Tiling brachte über ihren Verband bereits einen festen Leserinnen- und Leserstamm mit. 1925 gehörten dem Verband evangelischer Relgionslehrerinnen 1.030 ordentliche und 594 außerordentliche Mitglieder an.45 Da es sich bei den Abonnenten der Zeitschrift nicht um Einzelpersonen, sondern vielmehr um Institutionen handelte, muß von einem hohen Bekanntheitsgrad in Kreisen der evangelischen Lehrerschaft und der evangelischen Einrichtungen ausgegangen werden. Denn die Zielrichtung als Schulzeitschrift der Inneren Mission gewährleistete die Verbreitung in allen Schulen der angeschlossenen Verbände und allen evangelischen Privatschulen. Der Schulvereinigung waren neben der Vereinigung evangelischer Religionslehrerinnen weitere pädagogische Fachverbände und über 150 Lehrund Erziehungsanstalten angeschlossen; sie alle bezogen die Zeitschrift „Schule und Evangelium".46 43 Denkschrift der Evangelischen Schulvereinigung, März 1929, 1 ( A D W BERLIN, CA 1327, Bd. I.) 44 Ich danke Herrn Ulrich Weitbrecht vom Archiv des Steinkopf-Verlages in Stuttgart für die Informationen vom 23.1.1997 und die Kopie aus den Geschäftsbüchern des Verlages. Antje Roggenkamp-Kaufmann verdanke ich den Hinweis, daß die Auflagenhöhe der genannten Organe unter der von „Schule und Evangelium" lagen. 45 Vgl. das Mitgliederverzeichnis der ordentlichen und außerordentlichen Mitglieder sowie die Einteilung in Ortsgruppen und Provinzialgruppen von 1925 (LKA HANNOVER,
N
127/33). 44
Verzeichnisse der angeschlossenen Lehranstalten wie des Bundes Evangelischer Mäd-
Geschlechterbeziehungen
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Ein weiterer Punkt der Zusammenarbeit soll an dieser Stelle nur kurz benannt und später weiter ausgeführt werden: Seit 1928 arbeiteten sowohl Magdalene von Tiling als auch Friedrich Gogarten an einem Konzept einer konservativen Staats- und Lebensauffassung. In diesem Zusammenhang hatte von Tiling 1930 - als DNVP-Abgeordnete im Reichstag tätig - gemeinsam mit dem Staats- und Verfassungsrechtler Carl Schmitt, Otmar Spann und dem Biologen Jakob Baron von Uexküll die Gründung einer interdisziplinären Zeitschrift mit dem Titel „Der Staat" angeregt, in der Staatstheorien diskutiert werden sollten. Magdalene von Tiling wollte dafür Gogarten als Mitherausgeber gewinnen. Auch wenn das Projekt der Zeitschrift scheiterte, geben die Vorbereitungen zur ersten Nummer Aufschluß für den Schwerpunkt der gemeinsamen Arbeit: die aktuelle politische Situation und die Frage nach den Staatsformen. 47 Die Zusammenarbeit mit Gogarten legitimierten das Handeln der Frau von Tilings und machte sie kompetent für den theologischen und gesellschaftlichen Diskurs mit den männlichen Theologen. Jedoch scheint die Zusammenarbeit mit Magdalene von Tiling für männliche Theologen durchaus attraktiv gewesen zu sein, denn Gogarten vermittelte seinen theologischen Freunden den Kontakt zu ihr, und einige wurden später ständige Mitarbeiter der Zeitschrift „Schule und Evangelium".
B. Geschlechterbeziehungen als Grundlage der theologischen Konzeptionen Magdalene von Tilings und Friedrich Gogartens Die Irritationen, die die formale Gleichberechtigung der Geschlechter vor dem Gesetz ausgelöst hatte, fanden ihren Niederschlag auch in der Theologie der zwanziger Jahre. So wurde das Thema „Beziehung der Geschlechter" mehr oder weniger explizit bei den Theologen aller Richtungen auf der Ebene der Anthropologie und Ethik verhandelt. Beispielsweise definierte der lutherische Theologe Paul Althaus die Geschlechterbeziehung im Rahmen von Ehe und Familie als Schöpfungsordnung und leitete daraus die genauen Grenzen und Aufgaben von Männern und Frauen in der Gesellschaft als von Gott gegeben ab.48 Aber auch Karl Barth - ein Vertreter reformierter Theologie - beschäftigte sich explizit mit Geschlechterbeziehungen, wobei er sich den Vorwurf gefallen lassen mußte, auf chenschulen, des Bundes zur Förderung evangelischer Knabenschulen und Alumnate, der Evangelischen Haushaltungsschulen Deutschlands, der Schulen des Kaiserswerther Verbandes deutscher Diakonissenmutterhäuser; SCHUEV 5 (15), Juli 1930/31, S. 106. " Magdalene von Tiling an Friedrich Gogarten am 21.10.1930 (UB GÖTTINGEN, Nachlaß Gogarten). 48
PAUL ALTHAUS, L e i t s ä t z e z u r E t h i k .
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diesem Gebiet ganz gegen seine sonstige Denkfigur einer Ordnungstheologie verhaftet zu sein und Geschlechterrollen schöpfungstheologisch festzuschreiben. 49 Die Auswirkungen dieser und anderer Festlegungen der Geschlechterrollen auf die Theologie und das kirchliche Handeln sind im ganzen noch wenig untersucht. 50 Im folgenden wird daher der Bedeutung der Vorstellung vom Geschlechterverhältnis für die theologischen Entwürfe Magdalene von Tilings und Friedrich Gogartens nachgegangen.
1. Magdalene von Tilings „Theologie der Geschlechterbeziehungen" Magdalene von Tilings Theologie der Geschlechterbeziehungen fiel in eine Zeit, in der sich Institutionen konsolidierten und gesellschaftliche Vereinigungen wieder Zukunftspläne entwickelten. Nach den Kämpfen des Jahres 1923 und der überstandenen Inflation ging die Weimarer Republik einer Periode relativer Stabilisierung entgegen. Leitende Kirchenbehörden und sozialpolitisch engagierte Gremien und Organisationen sahen ihre Aufgabe darin, das bisher sozial-karitativ ausgerichtete Engagement stärker durch grundsätzliche soziale und wirtschaftliche Überlegungen zu verändern. 51 Die Soziale Kundgebung des Betheler Kirchentages von 1924 wurde von vielen als Durchbruch empfunden. 52 Sie war der Impuls für eine verstärkt einsetzende Beschäftigung mit der sozialen Diagnose. Soziale Pfarrämter und Soziale Ausschüsse wurden gegründet, eine umfangreiche Schulungsarbeit setzte ein, die Evangelisch-soziale Schule, die sich seit 1921 in Berlin-Spandau befand, wurde zu einem zentralen O r t sozialethischer Diskussion und der Schulung von Funktionären der evangelischen Arbeitervereine. Die von den Kirchenbehörden gestützte Einrichtung gelangte jedoch zunehmend unter den Einfluß des christlich-sozialen Reinhard Mumm und mit dem Leiter dieser Einrichtung, Friedrich Brunstäd, in die politische Nähe der D N V P . Magdalene von Tiling arbeitete bereits früh mit Brunstäd zusammen. Im Sinne der Sozialen Kundgebung gewann zunehmend der Gedanke des Gemeinwohls und der sozialen Versöhnung an Priorität. Er wurde der „egoistischen Selbstsucht" der gesellschaftlichen Klassen und Schichten
49
V g l . HANNELORE E H R H A R T / L E O N O R E SIEGELE-WENSCHKEWITZ, „ V i e r f a c h e S t u f e n l e i t e r
a b w ä r t s . . . " , S. 1 4 2 - 1 5 8 ; HANNELORE EHRHART/ANGELIKA E N G E L M A N N / L E O N O R E SIEGELE-WENSCHKEWITZ,
Feministisch-theologische
Anfragen,
S. 5 2 1 - 5 5 5 ;
LEONORE
SIEGELE-
WENSCHKEWITZ, G e n u s - K a t e g o r i e , S. 6 0 - 1 1 3 , b e s o n d e r s S. 6 1 - 6 6 . 50 51 52
Für die Theologie nach 1949 vgl. INA PRAETORIUS, Anthropologie und Frauenbild. KURT NOWAK, Evangelische Kirche und Weimarer Republik, S. 126 f. V g l . d a z u VERHANDLUNGEN DES DEUTSCHEN EVANGELISCHEN KIRCHENTAGS v o n 1 9 2 4 .
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entgegengesetzt; der „Entseelung" des Arbeitslebens in der Industrie gegenüber wurde ein protestantisches Arbeitsethos propagiert. 53 Magdalene von Tiling, die bereits seit 1923 immer wieder darauf hinwies, daß besonders die evangelischen Frauen eine zentrale Rolle bei der Erneuerung der Volksgemeinschaft innehätten, bemühte sich um die Anerkennung der Arbeit der Frauenverbände und um eine stärkere Beteiligung der evangelischen Frauen an sozialpolitischen Stellungnahmen kirchlicher Gremien. Neben diesen Bemühungen wandte sich von Tiling 1925 der Ausformulierung eines theologischen Entwurfes zur gesellschaftlichen Erneuerung zu. Damit intendierte sie im Sinne der neuen kirchenpolitischen Ausrichtung, an der Lösung der „Sozialen Frage" mitzuarbeiten. Anders als im Kaiserreich bedeutete „Soziale Frage" in der Weimarer Republik nicht die „Arbeiterfrage", sondern wurde umfassender gedacht als Versöhnung aller gesellschaftlicher Schichten und Gruppen miteinander. Die Herangehensweise war daher weniger diakonisch als konzeptionell gedacht. An dieser konzeptionellen Erarbeitung nun beteiligte sich auch von Tiling, um die erwünschte Versöhnung aus christlicher Perspektive voranzutreiben. Hatte sie bisher versucht, die Rolle der Frau vor den neuen Anforderungen der Zeit zu definieren, evangelische Frauen zu politisieren sowie ein Bewußtsein für deren demokratischen Rechte und Pflichten zu schaffen, läßt sich ab 1925 ein deutlicher Perspektivenwechsel feststellen: Das Geschlechterverhältnis kam als eine grundlegende Kategorie der Gesellschaftsdiagnose in den Blick. Magdalene von Tiling nahm das Verhältnis zwischen den Geschlechtern als unabdingbare Größe der gesellschaftlichen Entwicklung wahr. Sie erkannte jedoch auch die Veränderbarkeit dieser Größe. Ein ethisch-theologischer Beitrag zur sozialen und wirtschaftlichen Diskussion mußte somit das Geschlechterverhältnis thematisieren: die Beziehung von Frauen und Männern sollte neu überdacht werden. Die Weltkirchenkonferenz in Stockholm vom 19.-30. August 1925 sollte den internationalen Rahmen für die erstmalige Vorstellung der zu diesem Zweck abgefaßten Thesen zur „Beziehung der Geschlechter" abgeben. 54 Die ökumenische „Allgemeine Konferenz der Kirche Christi für Praktisches Christentum, Life and Work" war die dritte Konferenz der 1910 konstituierten Ökumenischen Bewegung. 55 Vorbereitet worden war das 53
Vgl. KURT NOWAK, Evangelische Kirche und Weimarer Republik, S. 131. MAGDALENE VON TILING, Thesen für die „Allgemeine Konferenz für praktisches Christentum, Life and Work" [1925] (EZA BERLIN, Best. 5/17, BL. 283-315). 55 Die Weltmissionskonferenz 1910 in Edinburgh gilt allgemein als Geburtsstunde der ökumenischen Bewegung, deren Verständnis jedoch seitdem entscheidende Veränderungen erfahren hat. Standen zu Beginn Missionsbestrebungen im Vordergrund, so rückte zunehmend die Bemühung um die Einheit der Kirche in das Zentrum. 1919 war schließlich die Gründung eines ökumenischen Konzils oder Rates der Kirchen von Erzbischof Natan Söderblom angeregt worden, zu der es jedoch erst nach dem Zweiten Weltkrieg 1948 mit 54
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Treffen von deutscher Seite unter der Federführung des in der ökumenischen und internationalen Arbeit engagierten Theologen Friedrich Siegmund-Schultze 56 . Ziel dieser ökumenischen Zusammenkunft war es, sich auf internationaler und ökumenischer Ebene besonders über die Stellung der Kirche zu wirtschaftlichen, sozialen und sittlichen Fragen auszutauschen. Unter den 70 vom Deutschen Evangelischen Kirchenausschuß (DEKA) entsandten Abgeordneten der deutschen Sektion - zumeist Kirchenfunktionäre und Theologieprofessoren - befanden sich immerhin fünf weibliche Abgeordnete, die als „Berichterstatter für die Referate der Weltkonferenz" gewählt worden waren: Magdalene von Tiling, Paula MuellerOtfried, die Oberin des Elisabeth-Diakonissenhauses in Berlin, Emma von Bunsen, die Direktorin der Merlo-Mevissenschule in Köln, die Theologin Carola Barth und die Vorsitzende des Verbandes der Heimarbeiterinnen Margarethe Behm. Die Thesen zur „Beziehung der Geschlechter" wurden von Paula Mueller-Otfried und Magdalene von Tiling unter extremer Zeitknappheit der Konferenz vorgestellt und erfuhren nicht die erhoffte breite Diskussion. 57 Jedoch bildeten sie den Auftakt zur weiteren Beschäftigung mit dem Verhältnis der Geschlechter. Die für die Konferenz ausgearbeiteten Thesen wurden im Mitteilungsblatt der Vereinigung veröffentlicht und bildeten die Grundlage für alle weiteren theologischen Überlegungen und Vorträge von Tilings in den folgenden Jahren. 58 Magdalene von Tiling bewegte sich mit dem Bestreben, sich von der Rolle der Frau der Beziehung der Geschlechter zuzuwenden, durchaus im Rahmen der BDF-Theoretikerinnen. Diese betonten, es käme nicht darauf an, Frauen gleiche Rechte zu gewähren, sondern darauf, daß „die Frau aus der Welt des Mannes eine Welt schafft, die das Gepräge beider Geschlechter trägt" 59 . Hier läßt sich zumindest Mitte der zwanziger Jahre eine Interessenüberschneidung erkennen, die darauf hindeutet, daß von Tiling versuchte, die Gedanken der bürgerlichen Frauenbewegung in die der Gründung des Ökumenischen Rates der Kirchen ( O R K ) kam. Während des Zweiten Weltkrieges gab es intensive Bemühungen in der Kriegsgefangenen- und Flüchtlingshilfe. Vgl. JOSEPH A. BURGESS, Art. Ökumenische Bewegung, Sp. 826-839. Vgl. dazu das Dissertationsprojekt von Uta Gehrdes über die Jugendorganisation C I M A D E . 56 Friedrich Siegmund-Schultze, Pfarrer an der Friedenskirche in Potsdam und stark in der ökumenischen Arbeit engagiert, wurde seit 1919 zu einer der führenden deutschen Persönlichkeiten sowohl im Ökumenischen Rat f ü r praktisches Christentum (Life and Work) 1925 als auch in der Weltkonferenz f ü r Glauben und Kirchenverfassung (Faith and Order) 1927. Zu Friedrich Siegmund-Schultze vgl. JOHN S. CONWAY, Friedrich Siegmund-Schultze. " V g l . FRIEDRICH SIEGMUND-SCHULTZE, D i e W e l t k i r c h e n k o n f e r e n z in S t o c k h o l m . 58 Die Beziehung der Geschlechter (zusammenfassende Thesen), abgedruckt im NACHRICHTENBLATT DER V E F D 5, 1925, November/Dezember, S. 25 f.; Christentum und Frauentum (EBD., S. 5-11); Vom Wiederaufbau der Familie (EBD., S. 1 - 4 u. ö.) 59
HELENE LANGE, K a m p f z e i t e n , B d . 2, S. 2 5 6 ; vgl. d a z u a u c h AGNES VON Z A H N - H A R -
NACK, Die arbeitende Frau, S. 17 f.
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Kreise des konservativen Protestantismus hineinzutragen. Um Akzeptanz bemühte sie sich sowohl in Kreisen der konservativen Frauenteilverbände - wie beispielsweise der Frauenhilfe und den diakonischen Verbänden, die von jeher das emanzipatorische Interesse der Frauenbewegung abgelehnt hatten - als auch bei den durchweg männlichen Kirchenführern. Ein schwieriger Spagat, der aber zumindest teilweise Erfolg zeitigte. Auf der internationalen Konferenz der Inneren Mission wurde sie als Referentin zu Themen über „Frauenprobleme und christliche Ethik" geladen und von einem Vertreter der Inneren Mission öffentlich „als bekannte Vorkämpferin evangelischen Frauentums" bezeichnet. 60 Die Geschlechterbeziehung als Schöpfungsordnung Ansatzpunkt für von Tilings Überlegungen zum Geschlechterverhältnis ist die dem Neuluthertum des 19. Jahrhunderts entstammende Ordnungstheologie, die in den zwanziger und dreißiger Jahren zu einem zentralen theologischen Denkmuster in der zeitgenössischen Theologie avancierte.6' Es handelt sich hierbei um eine Konzeption theologischer Ethik, die in den vorfindlichen Ordnungen von Lebensbereichen eine vorrangige Norm sieht. Andere normgebende Instanzen wie beispielsweise das im Wort Gottes erkennbare Gebot Gottes treten dahinter zurück. Zur Wirklichkeit des Menschen gehört im Sinne der Ordnungstheologie nicht nur der dem 60 WILHELM ENGELMANN, Nachklänge vom Kontinentalen Kongress für Innere Mission und Diakonie in Amsterdam 1926 (ADW BERLIN, C A / P D , Manuskripte und Veröffentlichungen 1926). Im Vorfeld habe der Vorstand lange gesucht, „um einen Redner zu finden, der auf diesem Gebiete wirklich Bescheid wußte, die betreffenden Fragen durchdacht hat und auch im Stande ist, sie in moderner und lebensnaher Weise vorzutragen. Wir glauben nun, eine Frau dafür gefunden zu haben, Frau Oberin Magdalene von Tiling, und freuen uns auf ihre Mitarbeit." Der Kontinentale Verband für Innere Mission und Diakonie war 1922 gegründet worden. Magdalene von Tiling hielt einen Vortrag über „Die Frauenprobleme im Lichte evangelischer Ethik", in dem sie die in Stockholm aufgestellten Thesen ausführte. Vgl. MAGDALENE VON TILING, Frauenprobleme und evangelische Ethik, unveröffendichtes Manuskript (o.D.) [1926] (ADW BERLIN, C A / P D 486). Vgl. auch den Bericht von Nora Hartwich über den Kontinentalen Kongreß für Innere Mission und Diakonie in Amsterdam
v o m 3 1 . 5 . bis 4 . 6 . 1 9 2 6 (NACHRICHTENBLATT DER V E F D 5, M a i / J u n i 1 9 2 6 , S. 6 9 - 7 0 ) . 61 So beispielsweise bei den Theologen PAUL ALTHAUS, Leitsätze der Ethik; DERS., Grundriß der Ethik; und WERNER ELERT, Das christliche Ethos. Eine andere Akzentuierung bei EMIL BRUNNER, Das Gebot und die Ordnungen, und Friedrich Gogarten. Kritik und das theoretische Gegenstück findet die Ordnungstheologie in der christozentrischen Wortoffenbarung bei Karl Barth. Vgl. zum folgenden WERNER SCHWARTZ, Art. Ordungstheologie, Sp. 918-920. Eine wichtige Rolle spielte die Schöpfungsordnungstheologie in der Debatte um die Rolle der Geschlechter in der Theologie; vgl. LEONORE SIEGELE-WENSCHKEWITZ,
D i e E h r e d e r F r a u ; HANNELORE EHRHARD/LEONORE SIEGELE-WENSCHKEWITZ, „ V i e r f a c h e S t u f e n l e i t e r a b w ä r t s . . . ; HANNELORE EHRHART/ANGELIKA ENGELMANN/LEONORE SIEGELE-
WENSCHKEWITZ, Feministisch-theologische Anfragen an christologisch-ekklesiologische Auss a g e n ; LF.ONORE SIEGELE-WENSCHKEWITZ,
Genus-Kategorie.
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Die Theologie der Geschlechterbeziehungen
Menschen gegenüberstehende Gott, sondern auch die von Gott gesetzte Wirklichkeit seiner Schöpfung und der ihr eigenen Ordnung. Jeder Mensch findet sich also - unabhängig von seinem Christsein - immer schon in bestimmten Lebensordnungen vor, die dem Menschen von Gott mit der Schöpfung gegeben sind und trotz aller Gebrochenheit durch die Sünde Gottes Willen aufzeigen. Die Ordnungstheologie hat ihre Wurzeln in der reformatorischen Lehre von den Ordnungen und Ständen, die dem menschlichen Leben einen Rahmen geben und von Gott als gute, die Welt erhaltende Ordnungen gesetzt worden sind. Staat, Ehe, Familie, Kirche, Rasse, Volk und Beruf werden damit als Schöpfungsordnungen angesehen. Anthropologisch ist hier bereits eine wichtige Entscheidung getroffen: Der Mensch wird nicht als ein sich selbst konstituierendes Individuum gesehen, sondern als ein in und durch eine Gemeinschaft bestimmtes. Theologisch gesprochen heißt das, der Mensch verdankt sich nicht sich selbst, sondern ist von Gott geschaffen und in eine Gemeinschaft/Ordnung gestellt. Erst in der Gemeinschaft entfaltet er sein wahres Sein und erhält seine wahre Bestimmung - eine radikale Ablehnung der Idee des autonomen Individuums. So statisch diese Konzeption zunächst anmutet, ging es ihr jedoch nicht darum, vergangene Gesellschaftsordnungen wiederherstellen zu wollen. Im Gegenteil handelte es sich im Verständnis der Theoretiker und Theoretikerinnen um ein „modernes" Projekt, das sich zur Aufgabe machte, in der Gesellschaftsform der Demokratie - die gerade als ordnungslos empfunden wurde - , einen Zusammenhang zwischen den Menschen herzustellen, der eine zeitgemäße Form der in der Schöpfung gesetzten göttlichen Ordnungen widerspiegelte. In der Sicht der konservativen Gruppen der Weimarer Republik, zu denen sich Magdalene von Tiling ausdrücklich selbst zählte, war das Projekt der Gemeinschaft, in der sich die auseinanderstrebende Gesellschaft wieder vereinigen sollte, die Volksgemeinschaft. Diese war, dem kulturellen Code der Konservativen entsprechend, antisemitisch konnotiert. 62 Die Volksgemeinschaft schloß also von vornherein bestimmte gesellschaftliche Gruppen wie den jüdischen Teil der Bevölkerung aus. National überhöht und zur „deutschen Volksgemeinschaft" stilisiert, war diesem Konstrukt die Aufgabe zugedacht, sämtliche Risse zwischen den Schichten, Klassen, Generationen und, last not least, zwischen den Geschlechtern zu kitten. Gerade letzterem galt das Bestreben von Tilings in besonderem Maße. Es muß also als eine eigenständige Leistung betrachtet werden, wenn sie in Anknüpfung an die herrschende theologische Diskussion deren Denkmuster aufgreift und diese dezidiert auf das Geschlechterverhältnis bezog. Sie schaffte somit eine Grundlage, „Frauenthemen" in theologischen Topoi auszudrücken und als zentrale
62
Vgl. SHULAMIT VOLKOV, Antisemitismus als kultureller C o d e , S. 13-36.
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Themen der theologischen Diskussion überhaupt einzuklagen. So war der Gedanke, das Geschlechterverhältnis - unabhängig von der Ehe - ausdrücklich als grundlegende Schöpfungsordnung zu definieren, eine eigenständige Interpretation von Tilings. 63 Die Theologie der Geschlechterbeziehungen entfaltete Magdalene von Tiling nach den theologischen Topoi von Schöpfung, Fall und Erlösung. 64 Sie sah das Verhältnis der Geschlechter zueinander im Schöpfungswillen Gottes begründet. Gott habe den Menschen als Mann und Frau geschaffen, und somit sei die Zugehörigkeit der Menschen zu einem Geschlecht mit der Schöpfung gegeben. Jedoch unterliege diese nicht einem naturhaften Zwang wie bei den Tieren, sondern sei vielmehr als ein Sollen zu verstehen; ein Sollen, das nur in der Abhängigkeit von Gott recht erkannt und anerkannt werden könne. Magdalene von Tiling ging also von einer schöpfungsmäßigen Ordnung des Geschlechterverhältnisses aus, die Mann und Frau nicht aus einer biologischen Perspektive in den Blick nahm, sondern aus einer anthropologischen und ethischen. Das Verhältnis beschrieb sie nicht als naturhaft und durch biologische Merkmale bestimmt, sondern als ein gottgewolltes Verhältnis, das nur im Glauben an den Schöpfer erkannt und anerkannt werden könne. So kommt sie auch zu dem Schluß, der aus ihrer Krisendiagnose folgt, daß ein Abfall von Gott immer das Sein der Geschlechter und damit ihr Verhältnis zueinander in Verwirrung bringen müsse Sie sah die einzige Möglichkeit der Wiederherstellung des schöpfungsgemäßen Verhältnisses der Geschlechter in der Rückkehr zu Gott als dem Schöpfer. Wie diese Rückkehr zum Schöpfer aussehen solle, formulierte sie in Abgrenzung zur liberalen Theologie und zu idealistischen Vorstellungen vom Menschen sowie zu antiaufklärerischen Ansprüchen. Es genüge nicht, daran zu glauben, daß Gott einst die Menschen geschaffen habe und sie noch erhalte, dies als objektive Tatsache anzunehmen und daraus eine Weltanschauung zu machen. Nach von Tiling verfehlte diese Annahme die Erkenntnis von Gott als dem Schöpfer, weil der Mensch sich dann als autonomes Wesen verstehe, das von sich aus bestimme, was gottgewollt sei und wie der Wille Gottes auf Erden verwirklicht werden könne: Der Mensch mache sich zum Schöpfer. Sich als Geschöpf wissen, müsse vielmehr so verstanden werden, daß sich der Mensch in jedem Augenblick
63 Eine Rezeption durch lutherische Theologen läßt sich besonders bei PAUL ALTHAUS nachweisen (Leitsätze zur Ethik). " Zum folgenden Magdalene von Tiling, Die Beziehung der Geschlechter (Vortrag), unveröffentlichtes Manuskript [1925], 1-26 (LKA HANNOVER, N 127/43); Thesen für die „Allgemeine Konferenz für praktisches Christentum, Life and Work" [1925] (EZA BERLIN, Best. 5/17, Bl. 283-315); Die Beziehung der Geschlechter (zusammenfassende Thesen), in: NACHRICHTENBLATT DER VEFD 5, November/Dezember 1925, 25-26.
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getragen und gewollt weiß von dem lebendigen Schöpfer. Der Mensch sei also nicht sich selbst verantwortlich, sondern immer Gott als dem Schöpfer. Bereits hier lassen sich Anklänge an Gogarten und die Dialektische Theologie erkennen, die sich in ihrer Auseinandersetzung mit der Theologie liberaler Provenienz radikal gegen die Autonomie des Menschen wandten. 65 Magdalene von Tiling formuliert diesen Gedanken hinsichtlich der Geschlechterbeziehung folgendermaßen aus: „Aber Geschöpf Gottes sein bedeutet noch mehr. Es bedeutet, dass wir als Mann, als Frau durch Christus in jeder bestimmten Lage und in jedem Augenblick zu unserem von dem Schöpfer gewollten Sein gefordert wissen, dass er uns dazu ruft, dass wir in jeder Lage unser schöpfungsmäßiges Sein erfüllen sollen, dass wir den Anspruch, den der Augenblick an uns als Mann und Frau stellt, eben in dieser Gebundenheit und in diesem Gehorsam und in der Uberwindung der Verkehrung unseres Seins durch die Sünde erfüllen sollen." 66
Die Autorität der Bestimmung, was das Sein von Mann oder Frau ist, gewann von Tiling also aus einer bestimmten Perspektive: von dem Glauben an Christus und dem Glauben an Gott, den Schöpfer, her. Dies bedeutet zunächst die Ablehnung jeglicher weltlichen Zuschreibung in der zeitgenössischen Diskussion um das Wesen von Männern und Frauen, wie sie sich beispielsweise in der Debatte um das Pfarramt von Frauen abbildete.67 Hier wurde der Schwerpunkt auf ekklesiologische Argumente gelegt und durch Auslegungen von Bibelzitaten über das Für und Wider der Frauenordination gestritten. Magdalene von Tiling lehnte es ab, aus einzelnen, z. T. widersprüchlichen Bibelstellen eine endgültige Aussage über das Wesen der Geschlechter eruieren zu wollen. So entfaltete sie das schöpfungsgemäße Geschlechterverhältnis dahingehend, daß Mann und Frau ursprünglich aufeinander hin geschaffen seien. Ihre Exegese von Genesis 2 zeigt die Eigenständigkeit ihrer Interpretation. „Dies kommt aufs stärkste zum Ausdruck in der Urgeschichte. Dort heisst es, dass dem Mann sein Du fehlte, dass in der gesamten übrigen Schöpfung der Widerhall nicht gefunden wurde für sein Sein. Es fehlte ihm sein ,Gegenbild', sein Gegenüber, an dem er zu sich selber kommen konnte. Die Frau wird als sein Hülfe, als sein entsprechendes Gegenüber' geschaffen. Aber so, wie sie sein Gegenbild ist, ist er natürlich auch ihr Gegenbild, ihr Gegenüber, an dem sie zu sich selber kommen soll. D. h. beide sind aufeinander hin 65 Vgl. die Diskussion um das Verhältnis von Schöpfer und Geschöpf im Briefwechsel Friedrich Gogartens mit Magdalene von Tiling, besonders vom 16.3.1925, 1.4.1925, 8.7.1925
( L K A HANNOVER, N
127/16).
66
Die Beziehung der Geschlechter (Vortrag), S. 2.
67
V g l . d a z u CHRISTIANE D R A P E - M Ü L L E R ,
SCHWESTERN".
Frauen
auf die K a n z e l ? ;
„ D A R U M WAGT ES,
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geschaffen, füreinander da, so, dass ihre beiderseitige Wesensart auf die vollkommenste Weise zueinander gehört und ineinander greift." 68
Zunächst fällt auf, daß Magdalene von Tiling die Figur der Ich-Du-Beziehung aus der Theologie Friedrich Gogartens aufgriff und sie explizit auf das Geschlechterverhältnis anwandte. Die Frau wurde als Du des Mannes bezeichnet, wodurch dieser erst zur Erkenntnis seines Seins gelange. Auch Gogarten sah diese anthropologische Prämisse der relationalen Verfaßtheit des Menschen in der Du-Ich-Beziehung als Gegensatz zur idealistischen Auffassung vom Menschen, der sich als autonomes Subjekt versteht und seine Ziele und sein Handeln selbst bestimmt. In der Version Magdalene von Tilings läßt sich durchaus eine deutliche, im Rahmen konservativer Argumentation hervortretende Patriarchatskritik erkennen. Die Frau wird zwar, wie in der theologischen Tradition üblich, als „Hülfe" bezeichnet, jedoch zugleich als das Gegenüber, ohne das der Mann sein Sein nicht erkennen und zu sich selbst kommen kann. Nur durch die gegenseitige Beziehung werde das Sein hergestellt, nicht durch Selbst- oder einseitige Fremdzuschreibung. Dies gelte für den Mann und für die Frau gleichermaßen. Das Verhältnis der Geschlechter - so Magdalene von Tiling - sei in der Schöpfung angelegt als ein gleichberechtigtes Gegenüber in gegenseitiger Achtung voreinander. In Aufnahme der theologischen Figur des Sündenfalles deklarierte Magdalene von Tiling dieses ursprüngliche, von Gott gewollte Verhältnis der Geschlechter als pervertiert. Zwar kämen Mann und Frau nicht ohne einander aus, doch das Verhältnis des gleichberechtigten Gegenübers, das in dem andern das Geschöpf Gottes mit eigenem Sollen achtet und Ehrfurcht davor hat, sei verlorengegangen. Der Mann wolle die Frau beherrschen, die Frau wolle sich unterwerfen. In ihrer Gottentfremdung erkennten die Geschlechter den eigentlichen Schöpferwillen nicht mehr. Der Abfall von Gott bringe Verwirrung in das Verhältnis der Geschlechter zueinander und dadurch auch zur übrigen Schöpfung. Theologisch untermauert und in der Argumentation stringent wird hier eine Gesellschaftskritik sichtbar, die schärfer ist als die bisherigen Versuche protestantischer Frauen, sich über das Argument des kulturellen Beitrags der Frauen Zugang zu Handlungsfeldern zu verschaffen. Es ist die Kritik am Verhältnis von Über- und Unterordnung, das im Protestantismus weithin tradiert und mit Gen 3 und 1. Kor 11 legitimiert wurde. Noch 1919 hatte Magdalene von Tiling diese Hierarchie unhinterfragt in ihrer Schrift „Die Kirche und die Frau" vertre-
68 Die Beziehung der Geschlechter (Vortrag), S. 3. Vgl. auch die Thesen für die „Allgemeine Konferenz für praktisches Christentum, Life and Work" (EZA BERLIN, Best. 5/17, Bl. 280); Die Beziehung der Geschlechter (NACHRICHTKNBLATT DKR VEFD 5, November/Dezember 1925, 25-26).
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ten.69 Nun aber kritisierte sie die Herrschaft des Mannes über die Frau sowie die - wie sie meint - selbstgewählte Unterwerfung der Frau und das mangelnde Verantwortungsbewußtsein gegenüber gesellschaftlichen Belangen. All das entspreche nicht dem Schöpferwillen Gottes. Die Erlösung aus diesem verkehrten Zustand erführen die Menschen durch Jesus Christus: „Ob Mann, ob Frau - er ist gleichermaßen für beide Erlösung von Sünde, Schuld und Gottentfremdung, er macht sie beide zu Gottes Kindern, zu Erben des ewigen Lebens. Indem sie Christus anziehen, ist da ,nicht Mann, nicht Weib' (Gal. 3,28)" 70
Magdalene von Tiling betonte die Erlösung beider Geschlechter durch Jesus Christus und damit ihre Gleichheit und Freiheit vor Gott. Beide seien zur Freiheit der sittlichen Persönlichkeit bestimmt.71 Mit dem Gedanken, daß Christus die Menschen erlöst, bewegte sich von Tiling in der traditionellen Auslegung, interpretierte sie jedoch aus einer geschlechtersensibilisierten Perspektive. So vertrat sie die Meinung, das Christentum habe als einzige Religion die Gleichstellung von Frau und Mann errungen. Christus sei der einzige, der Mann und Frau in ihrer Geschöpflichkeit Gott gegenüber einander gleichgestellt habe.72 Alles, was Gott für die Menschheit tue durch Christus, gelte gleichermaßen für Mann und Frau: Taufe, Abendmahl und Wort Gottes. Durch die Erlösung in Christus könne die Frau selbständig vor Gott stehen. Das allgemeine Priestertum aller Gläubigen gelte auch für sie.73 In einem zweiten Schritt formulierte Magdalene von Tiling die Konsequenz aus der Erlösung durch Christus in bezug auf die Geschlechter: „Wenn Mann und Frau so in Christus wieder unter die Herrschaft Gottes geführt werden und die Sicherheit des eigenen Seins zurückgewinnen, so werden sie dadurch frei gemacht voneinander; sie können voneinander ablassen. Die Sucht des Besitzergreifenwollens vom andern in Beherrschung und Sichwegwerfen hört auf, weil Gott von seinen Geschöpfen Besitz ergriffen hat."74
" MAGDALENE VON TILING, D i e K i r c h e u n d d i e F r a u , S. 5 - 2 9 . 70
Die Beziehung der Geschlechter (Vortrag), S. 6. Vgl. die Thesen für die „Allgemeine Konferenz für praktisches Christentum, Life and Work" (EZA BERLIN, Best 5/17, Bl. 312). 71 EBD., vgl. auch: Die Beziehung der Geschlechter, in: NACHRICHTENBLATT DER VEFD 5, November/Dezember 1925, 25-26, These 3. 72 Vgl. die Argumentation der feministischen Theologie in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts. Zur Diskussion um die antisemitische Konnotation dieser Deutung in der neueren feministischen Theoriebildung, die Jesus in seinem Umgang mit Frauen von dem pauschal als frauenfeindlich qualifizierten zeitgenössischen Umfeld als „neuen Mann" abzugrenzen versucht, vgl. LEONORE SIEGELE-WENSCHKEWITZ, Feministische Theologie ohne Antijudaismus; SUSANNAH HESCHEL, Jüdisch-feministische Theologie und Antijudaismus in christlich-feministischer Theologie, S. 54-103. 73
MAGDALENE VON TILING, C h r i s t e n t u m u n d F r a u e n t u m , S. 8 f.
74
EBD.
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Es ist angemessen, dies als ein Plädoyer für die Emanzipation der Frauen aus dem patriarchalen Beziehungsgefüge zu interpretieren. Denn die ausdrückliche Betonung, daß die Frau lediglich von Gott, dem Schöpfer, abhängig sei, weist eine Abhängigkeit von Menschen, das heißt konkret: die Dominanz von Männern, zurück. Der Glaube an Gott befreie die Frau aus ihrer Abhängigkeit und führe sie zur Selbständigkeit. So erhielt die theologische Fundierung des Geschlechterverhältnisses einen unerwartet emanzipativen Zug.75 Geschlechtstypologische Vorstellungen Mit der Behauptung, Männlichkeit und Weiblichkeit liegen im ,Sein' nicht im ,Tun', versuchte von Tiling das Sein der Geschlechter zu definieren. Damit richtete sie sich gegen den Begriff des Tuns im Sinne der in der Frauenarbeit traditionell karitativen Tätigkeiten bzw. sozialen Arbeit. Das Sein dagegen sei gerichtet auf das Gewissen, das an Gott gebunden sei.76 Als die beiden Hauptfunktionen der Geschlechter nach christlichem Ideal nannte Magdalene von Tiling Führung bzw. Mütterlichkeit. Hier hält sie weiter an dem Theorem der geistigen Mütterlichkeit fest, das sie bereits in der Ausformulierung der Rolle evangelischer Frauen theologisch gedeutet hatte. Interessant in dem Zusammenhang geschlechtstypologischer Zuweisungen ist jedoch die Art und Weise, wie sie die gesellschaftliche Rolle von Männern skizzierte: Sie nahm eine harsche Kritik an dem männlichen Selbstverständnis von Führung vor. Führen heiße nicht herrschen und beherrschen wollen. Die Entfaltung seiner inneren Anlagen gebe dem Mann im äußeren Leben, in Volk und Kirche und Familie die führende schützende Stellung, die nicht von außen zusätzlich legitimiert werden müsse. Die mangelnde Erkenntnis des gottgewollten Seins des Mannes führe jedoch zu einem entscheidenden Fehlverhalten: „Stattdessen sucht er sein Führertum in äußeren Dingen. Er gebärdet sich als Herr, verlangt Unterwerfung und sucht seine Herrenstellung künstlich zu schützen. Die Frau wird für ihn zur Sache, er sieht sie nicht als Mensch mit eigenem Recht an. Kraft seiner körperlichen Überlegenheit kann er die Frau zur Sklavin degradieren." 7 7 75 Der Gedanke fand Anerkennung. So kommentierte der nassauische Landesbischof August Kortheuer den Vortrag von Tilings auf der Konferenz für Innere Mission 1926: „Den Höhepunkt der Konferenz bildete ohne Zweifel das tiefgrabende geistvolle Referat der Oberin von Tiling, M. d. L., über Frauenprobleme und evangelische Ethik, das neue Ziele steckte und neue Wege aufwies." Vgl. den Bericht von Nora Hartwich über den Kontinentalen Kongreß für Innere Mission und Diakonie in Amsterdam vom 31.5. bis 4.6.1926, (NACHRICHTENBLATT DER VEFD 5, Mai/Juni 1926, S. 70). 76 MAGDALENE VON TILING, Von unseren Zielen und Aufgaben, S. 36. 77 Thesen für die „Allgemeine Konferenz für praktisches Christentum, Life and Work" (EZA BERLIN, Best 5/17, B1.S.309).
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Magdalene von Tiling fand deutliche Worte für die Unterdrückung von Frauen durch die patriarchale Gesellschaftsstruktur, in der Männer ihre Macht ausnutzten und weder die formalen Rechte von Frauen respektierten noch sie als Persönlichkeiten anerkannten. Dies war für sie ein falsch verstandenes „Führertum", das ihres Erachtens der von Gott gewollten Aufgabe der Männer in der Beziehung der Geschlechter widersprach. Hier zeigt sich, wie Magdalene von Tiling zwar an herkömmliche bürgerliche Geschlechtermuster anknüpfte und sie bis in die Begrifflichkeiten hinein übernahm, diese dann aber einem christlichen Anspruch unterwarf und deren Pervertierung nachwies. Gleichheit und Verschiedenheit „Das Christentum lehrt uns, dass ihre Verschiedenheit Gottes Gabe ist und höchstes Glück für die Geschlechter in ihrem gegenseitigen Verhältnis bedeutet, dass alle gottgesetzte Verschiedenheit Bestimmung füreinander ist, endlich, dass die Verschiedenheit um so ausgeprägter und geadelter wird, je stärker Mann und Frau sich zu individuellen christlichen Persönlichkeiten entfalten." 78
Bei von Tiling läßt sich einerseits die Bestrebung feststellen, zumindest im theologischen Sinne die Gleichheit der Geschlechter vor Gott als Postulat aufzustellen. 79 Andererseits stellte sie im gesellschaftlichen Bereich eine Differenz heraus. Diese Geschlechterdifferenz legitimierte sie nicht durch biologische Attribute, sondern durch eine ontologische Bestimmung: Das von Gott gewollte Sein von Mann und Frau bestimme die Handlungsfelder der Geschlechter. Und diese Handlungsfelder waren im Sinne der lutherischen Theologie immer schon in den Ordnungen von Ehe, Familie und Staat festgelegt. Magdalene von Tiling forderte aus diesem Grunde auch keine neuen Berufsfelder für Frauen, wie es die bürgerliche Frauenbewegung und auch der Deutsch-Evangelische Frauenbund seinerzeit auf sein Programm gesetzt hatten und die mit der politischen Gleichberechtigung in der Weimarer Verfassung formal eröffnet waren. Sie forderte dagegen die Anerkennung der Schöpfungsordnungen und damit die Anerkennung der Tätigkeit von Frauen in diesen Ordnungen. Der Stand der Frau Friedrich Gogarten hatte auf den letzten drei Seiten seines 1926 erschienenen Werkes „Ich glaube an den dreieinigen Gott" den Stand als das Strukturprinzip der Schöpfung eingeführt. Es war der Versuch Gogartens, die Beziehung von Du und Ich zwischen den Menschen genauer zu defi78 79
EBD., S. 2 8 1 . EBD.
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nieren und seinen Wirklichkeitsbegriff mit der Kategorie des Standes zu füllen.80 Allerdings meinte Gogarten hier nicht die sogenannte dreigliedrige Standeslehre Luthers mit den drei Grundstände, Wehr-, Nähr- und Lehrstand, sondern sprach von einer individuellen Standesbeziehung, die 1926 noch relativ willkürlich benannt wurde: Mann oder Frau, Franzose oder Deutscher, Vater oder Sohn, krank oder gesund. Die Ausarbeitung im Sinne der lutherischen Lehre vom Stand und Beruf übernahm seit 1926 Magdalene von Tiling. Hier zeigt sich, wie theologische Theoriebildung sich als Dialog gestaltete, in dem eine Trennung zwischen Rezeption und Abhängigkeit nicht mehr deutlich unterschieden werden kann. So führte Magdalene von Tiling die bei Gogarten noch spärlich angedeuteten Stände zu einer Vielzahl von Beziehungsmustern aus und bezog sie auf deren Stellung im gesellschaftlichen Gefüge. Der Stand des Menschen sei nach Luther der Standort, an dem der Mensch in Zusammenordnung mit anderen Menschen in der Wirklichkeit seines Lebens stehe und seinem Gegenüber verantwortlich sei. Hierbei sei gerade das Geschlecht als ein grundlegender Stand aller Menschen zu bezeichnen. Mit der Einführung des Begriffs des Standes intendierte sie jedoch nicht die Rückkehr zu einer vormaligen Gesellschaftsordnung. Sie grenzte den Begriff des Standes als „dem anderen Menschen gegenübergestellt sein" ab vom Verständnis des Standes des 18. und 19.Jahrhunderts, das den Menschen als Angehörigen einer bestimmten Gruppe definierte, der er von Geburt aus angehörte und die er im Regelfall nicht mehr verlassen konnte sowie vom Verständnis von staatlich gefaßten Berufsständen der letzten Jahrhunderte. Diese seien lediglich ein den Menschen von außen auferlegtes Geschick. Der Stand im lutherischen Verständnis benenne dagegen ein Beziehungsgefüge, das durch den Dienst am gegenübergestellten Menschen eine „Eingliederung ins Volksganze" zu gewährleisten vermag.81 Das Handeln der Menschen in den Schöpfungsordnungen bestimme besonders das Handeln der einander gegenübergestellten Menschen in den jeweiligen Ordnungen von Ehe, Fa-
80
Vgl. THEODOR STROHM, Theologie im Schatten, S. 103 f. „Weil uns der andere mit seinem Anspruch als E h e m a n n , E h e f r a u , als Vater, Mutter, als Kind, als Schüler, als Lehrling gegenübersteht, d a r u m sind wir vor G o t t verantwortlich an ihn gebunden. Indem wir uns dem Anspruch derer, an die wir so in bestimmter O r d n u n g gebunden sind, verantwortlich wissen, anerkennen wir den Willen G o t t e s an uns. So weiß sich d e r Mensch im Glauben vor G o t t in die Wirklichkeit seines Standes und Berufes, in eine vor G o t t wirkliche O r d n u n g als Vater, Mutter, Lehrer, Erzieher, als E h e m a n n und E h e f r a u hineingestellt. U n d z w a r handelt es sich hier nicht um eine A n e r k e n n u n g christlicher Sittlichkeitsvorschriften o d e r einer christlichen Weltanschauung, sondern um die wirkliche verantwortungsvolle G e b u n d e n h e i t an G o t t den H e r r n , und Schöpfer, um das Stehen vor G o t t im Glauben. In seinem Stande aber soll der M e n s c h eben diesem Stande entsprechend G o t t gehorchen, der Stand bedingt die Art des gehorsamen Verhaltens" (MAGDALENE VON TILING, Vom W i e d e r a u f b a u d e r Familie, S. 3). 81
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milie und Staat. 1928 lehnte sich von Tiling in ihrem Vortrag auf dem 4. Evangelischen Frauentag Deutschlands in Braunschweig (2.-5. Juli) eng an die lutherische Ständelehre an; sie differenziert die Ständelehre weiter aus und aktualisiert sie im Rahmen des zeitgenössischen Kontextes: „Der Dienst der Menschen aneinander, ihre Bezogenheit aufeinander vollzieht sich nach Gottes Willen, wie Luther sagt, in dem Stand, Amt und Beruf, in den der einzelne Mensch hineingestellt ist. Als solche Stände nennt Luther Vater, Mutter, Sohn, Tochter, Herr, Frau, Knecht, Magd, Prediger, Pfarrherr. An anderer Stelle sagt er, diese Stände seien: Ehelich sein, Knecht, Magd, Herr, Frau, Oberherr, Regierer, Richter, Amtleute, Bauern, Bürger sein. Oder wieder anderwärts ordnet Luther die Stände der Menschen in drei Gruppen. [ . . . ] Wir würden heute sagen: Jeder ist Glied seiner Familie, in seinem Beruf Staatsbürger und Glied der Kirche."82
Hier wird bereits das Bemühen sichtbar, hinsichtlich der aktuellen Situation den Stand der Frau zu entfalten. So fand sich hier die Ausdifferenzierung des Standes der Frau in Frau, Mutter, Tochter, Magd, Lehrerin, Wohlfahrtspflegerin. Aber auch der Hausfrauenberuf entsprach einem gottgewollten Stande, wie von Tiling 1929 gegenüber den evangelischen Hausfrauenverbänden betonte. Auch hier verwies sie wiederum auf Luther, der den Stand der Ehefrau, Mutter und Hausfrau an vielen Stellen seiner Schriften hoch bewertete. Sie bemühte sich, die traditionellen Rollenmuster von Uber- und Unterordnung zu durchbrechen und über den Gedanken des ganzen Hauses die Rolle von Hausfrauen hervorzuheben. „Der Vater und Ehemann ist im Hause zugleich der , Hausvater', die Ehefrau und Mutter steht zugleich im Stande der ,Frau'. (Der Ausdruck ,Frau' bedeutete ,Herrin'!) Luther sagt ,Hausvater' und ,Frau', wo wir Hausherr und Hausfrau sagen. [ . . . ] Wie in allen Ständen ist es nun auch im Stand der Hausfrau so, daß der Gehorsam gegen Gott von einer Hausfrau nicht anders erfüllt werden kann als durch die Erfüllung der Werke ihres Standes. Wer also Hausfrau ist, für den gibt es gar keine edleren, gottwohlgefälligeren Werke als eben die, die man als Hausfrau zu tun hat."83
Die Interpretation der lutherischen Ständelehre bestand also in einer breiten Ausdifferenzierung der Stände und in der Ausarbeitung des Standes der Frau. Der Stand sollte ein Anerkennungsverhältnis darstellen, dessen äußere Form durch die Schöpfungsordnungen garantiert würde. Magdalene von Tiling sah in den Ständen diejenigen Beziehungsmuster beschrieben, die alle Menschen - unabhängig von ihrem Glauben - in ihrem Leben 82 MAGDALENE VON TILING, Reformatorisches Christentum und die Gemeinschaftsordnungen, S. 11. 83 MAGDALENE VON TILING, Christlicher Glaube und Hausfrauenberuf, S. 68. Hervorhebung im Original.
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erfahren und die somit nachvollziehen könnten. Ihrer Meinung nach waren daher keine Diskussionen um Handlungstheorien oder gar eine explizit „christliche Ethik" vonnöten, um die Ordnung in Volk und Staat wiederherzustellen. Die Entscheidung für eine Rezeption der lutherischen Ständelehre und der Schöpfungsordnungen als theologische Grundlage lag nicht nur wegen der eigenen theologischen Prägung nahe. Für Magdalene von Tiling stellte sich hier eine Konzeption dar, die sowohl dem Wunsch nach Ordnung entsprach als auch ihrer Vorstellung einer Neukonzeption des Geschlechterverhältnisses. Es ging ihr um die Integration von Frauen und um die Anerkennung ihrer Arbeit. Die Konzeption Magdalene von Tilings erwies sich Ende der zwanziger Jahre als Rückzug. Die harsche Kritik, die sie noch 1925 am Geschlechterverhältnis geübt hatte und die auf Veränderung zielte, wich der Aussage, die den Status quo legitimierte: Jede bleibe in ihrem Stand. Weder Arbeitsteilung noch die Arbeitsverhältnisse wurden in Frage gestellt, im Gegenteil, sie wurden als gottgegeben bezeichnet: „Froh darf die Hausfrau sein, weil Gott ihr erlaubt, mit jeder Hantierung im Haushalt, mit ,Wischen und Baden' ihm zu dienen, wahrhaftig sein Werk zu tun mit Kochen und Putzen. Ganz freudig gewiß darf sie dessen sein, daß gerade dies das Werk ist, das Gott von ihr fordert, denn es sind ja die Werke, die diesem Stand eingepflanzt sind, in den Gott sie gerufen hat." 84
Es bleibt jedoch festzuhalten, daß auch die Sphäre der Hausarbeit in dem Konzept der Stände, im Rahmen der Schöpfungsordnung als ein Beitrag zur politischen Ordnung begriffen wurde, und das ist ungewöhnlich für den Protestantismus der zwanziger Jahre. Geschlechterverhältnis und Politik Die Grundaussage von Tilings läßt sich folgendermaßen zusammenfassen: Das schöpfungsmäßige Geschlechterverhältnis ist keine Privatsache, sondern hat grundlegende Bedeutung für den Zusammenhalt von Gesellschaft und Staat. So war die Theologie der Geschlechterbeziehungen 1925 als politisches Konzept im Rahmen einer Volksgemeinschaft formuliert worden. Auch die Neuinterpretation der Ständelehre muß in diesem Zusammenhang als Projekt der politischen Beteiligung bezeichnet werden, garantierte die Beziehung in den Ordnungen und Ständen doch den Erhalt des Staates. Zentral für den Gedanken ist in den zwanziger Jahren das konservative Projekt der Volksgemeinschaft. Die unterschiedliche Beziehung von Individuum und Gemeinschaft zeigte sich in der Diskussion während der Weimarer Republik in der begriff84
EBD., S. 69.
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liehen Unterscheidung von Gesellschaft und Gemeinschaft. 85 Während der Begriff der Gesellschaft die freiwillige Beteiligung des Individuums und dessen Schutz vor der Gemeinschaft favorisierte (Reichsverfassung), betonte das Konzept der Gemeinschaft eher den Vorrang der Sozialität vor dem Individuum. Die konservative Diskussion bemühte sich um die Errichtung einer Volksgemeinschaft mit deutlich nationaler Ausrichtung. Für Frauen des konservativen Protestantismus bot dieses Konstrukt die Möglichkeit der Integration. So betonte von Tiling von Beginn an, daß ohne die evangelischen Frauen keine Volksgemeinschaft entstehen könne. Das Modell des Geschlechterverhältnisses als eines der einander ergänzenden Fähigkeiten von Männern und Frauen diente als Beleg, daß die kulturelle Entwicklung nur durch beide Geschlechter entstehen könne. Ausgehend von der gottgesetzten Verschiedenheit, legitimierte von Tiling unterschiedliche Aufgaben der Geschlechter in bezug auf Familie und Volk. Die beiden sich ergänzenden und laut von Tiling nicht voneinander zu lösenden geschlechtsspezifischen Beiträge formulierte sie durchaus traditionell als Führung bzw. Mütterlichkeit. Führung und Schutz entsprächen dem Sein des Mannes, Mütterlichkeit dem Sein der Frau. Allerdings pervertiere der Anspruch des Mannes auf Herrschaft sein schöpfungsmäßiges Sein. Hinsichtlich der Rolle der Frau vermied sie in der Argumentation die biologische Herleitung und deklarierte „Mütterlichkeit" zu einer dem schöpfungsmäßigen Sein der Frau entsprechenden „inneren Haltung". Im Grunde findet sich hier theologisch-ontologisch ausformuliert der Gedanke der „geistigen Mütterlichkeit" wieder, der von der bürgerlichen Frauenbewegung bereits Anfang des 20. Jahrhunderts vertreten wurde und die Beteiligung von Frauen im gesellschaftspolitischen Bereich forderte. So schreibt von Tiling 1925: „Männlichkeit und Weiblichkeit liegen im ,Sein', nicht im ,Tun'; sie prägen sich aus im Wie des Tuns. Die Führerstellung des Mannes wird deshalb nicht geschaffen und erhalten durch eine besondere herrschende Stellung im Leben; ebenso wird die Weiblichkeit der Frau nicht gegeben oder erhalten durch besondere Berufe und eine besondere Art der Lebensführung. Wo immer der Mann sich als Mann nach seinem körperlichen oder geistigen Sein betätigen kann, ist sein Beruf. Wo immer die Frau sich nach ihrer mütterlichen Seite, nach der Seite ihrer Einfühlung und Hingabe betätigen kann, ist ihr Beruf." 86
Auch die Rollenverteilung, die von Tiling vertrat, mutet zunächst traditionell an. Doch fällt auf, daß beide geschlechtsspezifischen Beteiligungsstrukturen auf dieselben Bereiche bezogen wurden. Es gibt keine Trennung von privat und öffentlich, von Familie und Staat bzw. Volk. Beide Geschlechter 85 86
Vgl. dazu FERDINAND TÖNNIES, Gemeinschaft und Gesellschaft. Die Beziehung der Geschlechter, These 7.
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sind jeweils sowohl für die Familie als auch für das Volk zuständig. Auch die äußeren und inneren Grenzen sind nicht mehr so deutlich zu ziehen. Assoziiert man mit den Aufgaben des Mannes die Zuständigkeit für äußere Belange wie Kriegsdienst, beschrieb sie jedoch auch die Zuständigkeit für die Familie, die traditionell eher den „inneren Belangen" zugeordnet wurde. Der Zuständigkeitsbereich der Frau dagegen als Hüterin der Sitte in Familie undVolk umfaßten das Engagement in politischen Angelegenheiten. Und dies hat von Tiling seit 1921 als Abgeordnete der D N V P selbst praktiziert.
2. Geschlechterbeziehungen als implizites Thema bei Friedrich Gogarten Die Beziehung der Geschlechter läßt sich bei Magdalene von Tiling auf den ersten Blick als zentrale Kategorie ihrer Theologie erkennen. Denn von Tiling nimmt durch ihre programmatische Herausbildung einer evangelischen Frauenbewegung eine explizite Thematisierung des Geschlechterverhältnisses vor und formuliert dies anthropologisch und ethisch aus. Bei Friedrich Gogarten hingegen scheint die Suche nach dem Thema „Geschlecht" zunächst vergeblich. Die Geschlechterbeziehungen werden in Gogartens Schriften nirgends explizit thematisiert. Das Verhältnis zwischen Männern und Frauen wird anscheinend nicht verhandelt. Es finden sich keine Ausführungen über anthropologische Konstanten der Geschlechten das Sein der Geschlechter, ethische Folgerungen daraus oder Überlegungen zu den gesellschaftlichen und politischen Aufgaben von Männern und Frauen. Die Betrachtung der Schriften Gogartens legt den Schluß nahe, daß der Diskurs um die Geschlechterverhältnisse in seiner Theologie keine Rolle spielt. Dennoch wird im folgenden überprüft werden, inwieweit sich bei Gogarten eine implizite Thematisierung der Geschlechterverhältnisse nachweisen läßt. Es wird dabei von der Grundannahme ausgegangen, die Silvia Bovenschen in ihrer Arbeit „Die imaginierte Weiblichkeit" 87 im Hinblick auf literarische und philosophische Diskurse formuliert hat. Sie stellt eine Diskrepanz fest zwischen den „großen Diskursen" der Philosophie und Literaturtheorie einerseits, die spätestens seit der Aufklärung von der Voraussetzung der Gleichheit der Geschlechter ausgehen und die das Geschlechterverhältnis nicht zum Gegenstand der Theorie machen, und den sporadischen expliziten Thematisierungen des Weiblichen andererseits.88 Während sich die großen Diskurse ausnähmen, als stünden sie unter 87
SILVIA B O V E N S C H E N , D i e i m a g i n i e r t e
88
Vgl.
E B D . , S. 7 3 .
Weiblichkeit.
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Die Theologie der Geschlechterbeziehungen
dem Dekret: Ich kenne keine Geschlechter mehr, nur noch Menschen, handele es sich dagegen bei der expliziten Thematisierung um ideengeschichtliche Raritäten, die sich nur bei intensiver Durchsicht der Werkausgaben, zwischen deren Buchdeckeln die großen Entwürfe der deutschen Geistesgeschichte aufbewahrt würden, ausfindig machen ließen.89 Diese „seltsamen Exkurse der impliziten Parteilichkeit" zugunsten des männlichen Geschlechts seien von den Autoren in keinen kohärenten Zusammenhang mit den zentralen Kategorien ihrer Theorie gebracht worden; sie verliefen meist verdeckt und unbeachtet an der Peripherie ihrer Konzepte. 90 Bovenschen bemerkt also eine Divergenz innerhalb der sporadischen Aussagen zum Thema Geschlecht und den quasi geschlechtsneutralen „großen Diskursen". Sie kommt zu dem Schluß: „Nur so - im Aufspüren geschlechtsspezifischer Positionen auch innerhalb der Diskurse, in denen sie nicht explizit gemacht sind, einerseits und in der Entfaltung des Zusammenhangs ihrer sporadischen Explikationen andererseits, können die kulturgeschichtlichen Präsentationsformen des Weiblichen aufgedeckt und kann der Reduktionismus, der die Reflexion auf die für Frauenthemen abgesteckten Parzellen einschränken will, ins Wanken gebracht werden." 91 Ina Praetorius hat in ihrer Untersuchung zur deutschsprachigen protestantischen Ethik seit 1949 im Anschluß an Silvia Bovenschen darauf hingewiesen, daß eine oberflächliche Kenntnis des modernen theologischen Diskurses ausreiche, um die wesentlichen Strukturmerkmale auch hier wiederzuerkennen, die Bovenschen zum Verdacht der „impliziten Parteilichkeit" neuzeitlicher Philosophie und Literaturtheorie führten. 92 Dogmatische Texte, die im Zentrum des theologischen Diskurses angesiedelt sind, handelten vom „Menschen selbst", vom „Menschen als Menschen", vom „wirklichen Menschen". Auf sie treffe zu, was Bovenschen in Anlehnung an Georg Simmel für diejenigen Texte festhält, die sie die „großen Diskurse" nennt: Sie hätten eine scheinbar Uberspezifische neutrale Sachlichkeit und Gültigkeit. Dabei wird die Geschlechterfrage in diesen „großen Diskursen" ebenso ausgespart wie andere empirische Differenzierungen des Menschseins: Schicht-, Alters- oder Kulturkreiszugehörigkeit. 93 So lasse sich auch in theologischen Entwürfen die Diskrepanz von quasi-geschlechtsneutralen Diskursen und einigen wenigen, peripheren Aussagen zum Geschlechterverhältnis nachweisen. Ich gehe von der These aus, daß sich in der sich geschlechtsneutral ausgebenden Theologie Gogartens implizit eine Thematisierung des Geschlechterverhältnisses nachweisen läßt,
89 50 91 92 93
Vgl. EBD., S. 20. Vgl. EBD. Vgl. EBD., S. 21. INA PRAETORIUS, Anthropologie und Frauenbild, S. 48. EBD., S. 49.
Geschlechterbeziehungen
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die auch sein theologisches Denken präformiert. Daher gehe ich im folgenden der Frage nach, in welcher Weise das Geschlechterverhältnis in den Schriften Gogartens zur Sprache kommt. Dabei werden besonders das Verständnis von Ehe, Autorität und Gehorsam und der Begriff des Standes in den Blick genommen. Der Du-Ich-Gegensatz
und das Modell der ehelichen Gemeinschaft
Theodor Strohm hat bereits in seiner 1970 erschienenen Dissertation zur Theologie Friedrich Gogartens die Vermutung geäußert, daß dem ethischen Neuansatz Gogartens das Modell der ehelichen Gemeinschaft zugrundeliege, das zudem nicht ganz frei von romantischen Zügen sei.94 Und auch in der von Matthias Kroeger verfaßten Begleitveröffentlichung zu dem Filmdokument über seinen Lehrer Gogarten aus dem Jahr 1969 findet sich der Hinweis, d a ß Gogarten jeden theologischen Satz an der Ehe überprüft habe und die alttestamentlichen Bilder vom Volk Israel als Braut Jahwes Grundlage seiner praktizierten Hermeneutik gewesen seien.95 Habe er einen theologischen Satz über das Gottesverhältnis des Menschen auf seine Richtigkeit prüfen wollen, habe er gern überlegt, ob er auch in der Ehe, dem Urbild personaler Beziehung, gelten könne. 96 Diese Beobachtungen sprechen dafür, daß der Theologie Gogartens ebenso wie der von Tilings - ein bestimmtes Verständnis des Geschlechterverhältnisses zugrundeliegt, auch wenn es bei Gogarten nicht explizit formuliert ist. Im folgenden wird den impliziten und expliziten Ausformulierungen zum Geschlechterverhältnis nachgegangen werden. Leider treten sie in Gogartens Schriften nicht in der Deutlichkeit hervor wie in dem 1967 geführten Interview, in dem Gogarten seine theologische Vorgehensweisen zum Thema Gerecht-werden in folgender Weise beschreibt: „Was heißt nun ,gerecht werden'? D a s habe ich mir später s o zu erklären versucht - ich habe eine Sache immer erst verstanden, wenn ich sie auf den einfachsten Ausdruck bringen konnte, und das hieß dann: D e r Mensch paßt nicht zu Gott. So wie der Mann nicht zur Frau paßt, wenn er kein Mann ist - er kann nur zur Frau passen, wenn er ein Mann ist, anders geht es nicht - so kann der M e n s c h zu G o t t nur passen, wenn er ein M e n s c h ist, der eben irgendwie zu Gott paßt. D a ß mit dem Begriff des Gerechtseins auch der Begriff des Gatten was zu tun hat, ist mir auch ziemlich früh, ziemlich bald klar geworden. [ . . S o wie der Mann also seiner Frau gerecht werden soll, sonst kann sich diese Frau nie wohlfühlen, wenn der Mann ihr nicht gerecht wird - übrigens der Mann auch nicht, wenn die Frau ihm nicht gerecht wird - nicht? Das muß von beiden Seiten passieren, passiert auch zwischen Gott
* T H E O D O R STROHM, T h e o l o g i e i m S c h a t t e n , S. 9 7 , A n m . 1 3 9 . 95
MATTHIAS KROEGER, Friedrich G o g a r t e n in einem Gespräch, S. 8.
* EBD., S. 33.
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und dem Menschen von beiden Seiten, freilich wesentlich anders, weil der Unterschied zwischen Mann und Frau nicht ganz so groß ist wie der zwischen Gott und Mensch."97 Zur Erklärung des theologischen Sachverhaltes des Gerecht-werdens verwies Gogarten zunächst auf den von ihm hervorgehobenen Unterschied zwischen Gott und Mensch. Um dieses Verhältnis zu erläutern, griff er auf das Beispiel der Beziehung zwischen Männern und Frauen zurück. Auffällig ist, daß das Verhältnis von Mann und Frau in dem Beispiel in besonderer Weise charakterisiert ist: es kommt als Eheverhältnis in den Blick. Das Verhältnis Mann-Frau, das Gogarten mit dem Verhältnis Mensch-Gott parallelisiert, ist in diesem Zusammenhang auf das heterosexuelle Eheverhältnis reduziert. Dem Geschlechterverhältnis lag bei Gogarten also die Ehe zugrunde. Weiterhin läßt sich aus dem Interview entnehmen, daß Gogarten das Geschlechterverhältnis als ein Verhältnis der Differenz identifizierte. Er betonte den Unterschied, die Andersheit von Mann und Frau. Denn „der Mann paßt nicht zur Frau, wenn er kein Mann ist"; er paßt nur, wenn er das Andere im Gegenüber zur Frau ist. Entsprechend wird hier das Verhältnis Gott-Mensch mit dem Verhältnis Frau-Mann verglichen, als ein Verhältnis, in dem zwei Nicht-Gleiche miteinander in Beziehung stehen. Doch räumte Gogarten augenzwinkernd ein, daß das von ihm angeführte Beispiel seine Grenzen habe und der Unterschied zwischen Mann und Frau nicht ganz so groß ist wie der zwischen Mensch und Gott. Um der Thematisierung des Geschlechterverhältnisses in den theologischen Schriften Gogartens näherzukommen, gilt es, dem zentralen Topos der Denkbewegung der Du-Ich-Beziehung Aufmerksamkeit zu schenken. Diese Beziehung wurde in den Schriften aus den Anfangsjahren der Weimarer Republik als das Verhältnis Gott-Mensch expliziert.98 Die Bedeutung des Verhältnisses von Gott und Mensch für den modernen Menschen zur Geltung zu bringen, zählte von Beginn an zu Gogartens theologischem Interesse. In seinen frühen Schriften, besonders in seiner Lizentiaten-Arbeit „Fichte als religiöser Denker" (1914), betonte er den Gedanken der Einheit von Gott und Mensch und die Erfahrbarkeit dieser Einheit durch die Kräfte des eigenen Inneren. 99 Dem Zusammenhang von Religion und Individualität war auch seine Schrift „Religion und Volkstum" aus dem Jahr 1915 gewidmet. 100 Mit den Erschütterungen des verlorenen Krieges ' 7 EBD., S.
11 f. Vgl. FRIEDRICH GOGARTEN, Die religiöse Entscheidung; Illusionen; Von Glaube und Offenbarung; Nachwort zu: Luther, Vom unfreien Willen; Ich glaube an den dreieinigen Gott. " Vgl. FRIEDRICH GOGARTEN, Fichte als religiöser Denker. 98
1K>
V g l . FRIEDRICH GOGARTEN, R e l i g i o n u n d V o l k s t u m .
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1919/1920 trat bei Gogarten eine Wendung ein. Er kam zu der Einsicht, daß sich die Identität von Gott und Mensch jeder seelischen Erfahrung entziehe und der ewige Gott weder in der Welt noch in der menschlichen Seele zu fassen sei.101 Dieser Bruch, der sich auch in der Absage an die Theologie seiner Lehrer manifestierte und der die Hinwendung zur Dialektischen Theologie vorbereitete, sah das Verhältnis von Gott und Mensch als radikalen Gegensatz: Gott ist der absolut Andere, die absolute Frage.' 02 Diese diastatische Sicht des Verhältnisses Gott-Mensch erfuhr 1924/1925 eine Umkehrung, die in der Schrift Gogartens „Ich glaube an den dreieinigen Gott" 1926 ihren Niederschlag fand. Das Verhältnis wurde nicht mehr als radikaler Gegensatz gesehen, sondern modifiziert hin zu einem radikalen Gegenüber. Es wurde also eine Beziehung hergestellt zwischen Mensch und Gott; allerdings sei diese dem Menschen entzogen. Denn Gott setze sich zum Menschen in Beziehung, und das Ich des Menschen erkenne Gott als sein Du an. Gogarten verfolgte hier zum einen die Absicht, am radikalen Gegensatz zwischen Gott und Mensch, Transzendenz und Immanenz im Sinne der Dialektischen Theologie festzuhalten. Zum anderen war es der Versuch, die Begegnung Gottes mit dem Menschen in der menschlichen Wirklichkeit erfahrbar zu machen. Schon in „Religion weither" (1917)103 waren Ansätze dieses personalistischen Denkens erkennbar, und in den Jahren 1921/22 führte Gogarten mit dem Philosophen Eberhard Grisebach einen zur Publikation geplanten Briefwechsel, in dem der realen Dialektik personaler Begegnung von Ich und Du eine zentrale Bedeutung zukam. 104 Die Frage nach einem personalistischen Verständnis christlichen Glaubens hatte Gogarten also schon früher beschäftigt, auch scheint er schon vor Erscheinen von Martin Bubers „Ich und Du" (1923) mit dessen Gedanken einer personalistischen Philosophie vertraut gewesen zu sein.105 In „Von Glaube und Offenbarung" (1923) beschrieb Gogarten im Gegenüber von „Gottes Wort" und „menschlichem Hören" das „konstituierende Prinzip" allen menschlichen gemeinsamen Lebens. Er sah dieses Gegenüber durch den autoritativen Anspruch des göttlichen Du an das menschliche Ich begründet, das seinerseits auf alle Eigenforderungen verzichten müsse. Gogarten versuchte, dem isolier101
Vgl. auch HERMANN GÖTZ GÖCKERITZ, Friedrich Gogarten, S. 224. Z. B. FRIEDRICH GOGARTEN, D i e religiöse Entscheidung, S. 23, 6 7 ; V o n Glaube und Offenbarung, S. 33. 103 Vgl. FRIEDRICH GOGARTEN, Religion weither. 104 Gogarten befand sich nach eigenen Angaben seit 1921 in freundschaftlich-kritischem Gespräch mit Eberhard Grisebach (vgl. d a z u das Vorwort zu „Von Glaube und O f f e n b a rung"). 105 D e m Briefwechsel Martin Bubers mit Friedrich Gogarten ist z u entnehmen, daß G o garten bereits vor dem Erscheinen das Buch gelesen hatte; vgl. Buber an Gogarten am 9.12.1922 (MARTIN BUBER, Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten, Bd. 2, S. 143 f.). 102
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ten Subjekt des Individualismus sein „Vom-anderen-her-Sein" einsichtig zu machen: D e r Mensch habe seine Existenz von Gott dem Schöpfer her, er sei ein Geschaffener und stehe deshalb stets vor dem Anspruch Gottes. D i e Veränderung, die sich 1926 in seiner Schrift „Ich glaube an den dreieinigen Gott" zum Gegenüber zwischen Gott und Mensch zeigte, wurde zudem dadurch präzisiert, daß Gogarten diese Du-Ich-Beziehung auf die zwischenmenschliche Ebene verschob: D a s Verhältnis zwischen G o t t und Mensch wurde durch das Verhältnis Mensch-Mensch konkretisiert. Bereits im Juli 1925 diskutierte er diese Denkbewegung in einem Brief von Tiling: „Sie fragten, wo die Verbindungslinie zwischen den Gedanken über Schöpfer und Geschöpf und dem Du-Ich-Verhältnis liegen? (Ich sage immer Du-IchVerhältnis und nicht Ich-Du-Verhältnis, es ist das Verhältnis dadurch schon eindeutig bestimmt.) Ich sehe zwischen beiden keinen Unterschied; eben darum sage ich Du-Ich-Verhältnis: Du ist der Schöpfer, ich ist das Geschöpf, und zwar gilt dies immer und überall, bei jedem Du-Ich-Verhältnis, d. i. bei jedem menschlichen Verhältnis. Es gibt wohl Differenzierungen dieses Schöpfer-Geschöpf-Verhältnisses, so gewiß mein Wirklichsein durch Gott ein anderes ist als mein Wirklichsein durch irgendeinen Menschen: durch meinen Nächsten. Aber so groß die Verschiedenheit sein mag, sie ist nicht so groß, daß nicht das Schöpfer-Geschöpf-Verhältnis, in dem ich zu Gott stehe, ganz allein aus dem Schöpfer-Geschöpf-Verhältnis, in dem ich zum Nächsten stehe, erfaßt werden kann. Meine Absicht geht darauf, das Schöpfer-Geschöpf-Verhältnis ganz und gar in die Sphäre des persönlichen Lebens zu rücken." 106 D i e Beziehung wurde nun als eine in der konkreten Wirklichkeit des Menschen erfahrbare beschrieben, und zwar im Gegenüber eines menschlichen D u mit dem eigenen Ich: Durch dieses D u erfahre der Mensch seine jeweilige Bestimmung. Analog zur Gotteserfahrung dialektisch-theologischer Provenienz wurde das D u als das ganz Andere erfahren, jedoch nicht mehr als der absolute Gegensatz, zu dem keine Beziehung möglich wäre, sondern als ein Gegenüber, das „nicht Ich" ist. „Darum gibt es für uns auch diese Wesenseinheit auf gar keine Weise, sondern wir sind bis in den tiefsten Grund unseres Seins getrennt von allen Anderen. [ . . . ] Wir wollen vorläufig nur die Tatsache feststellen, daß wir nicht mit uns selbst und nicht mit irgendetwas Anderem in der Welt wesenseins sind, und daß so wie wir nun einmal sind bis in die tiefste Schicht unseres gesamten Seins. Keiner von uns ist wirklich wesenseins mit dem anderen, keiner wesenseins auch nur mit dem geliebtesten Menschen. Nur der Wahn einer kurzen überschwenglichen Stunde könnte das behaupten." 107 106
Friedrich Gogarten an Magdalene von Tiling am 8.7.1925 (LKA HANNOVER, N 127/
16). 107
FRIEDRICH GOGARTEN, Ich glaube an den dreieinigen Gott, S. 14.
Geschlechterbeziehungen
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Gogarten hob hier zur Erklärung des Beziehungsverhältnisses GottMensch in seinem Beispiel auf die Beziehung von Liebenden ab - aus der Erfahrung als Mann heraus, in der er die Frau als „das Andere" erlebte. Das Beispiel der Liebenden, das Gogarten am Beginn seiner Schrift „Ich glaube an den dreieinigen Gott" ausführte, zeigt, daß die Beziehung Mann-Frau den weiteren Ausführungen zugrundelagen. Denn der neue ethische Ansatz Gogartens begann mit der Betonung, daß die Wirklichkeit des Menschen die widerspruchsvolle und gegensätzliche von „Du" und „Ich" sei.108 Die verwendeten Begriffe, die in diesem Zusammenhang auftraten, um diese Wirklichkeit zu charakterisieren, sind: „zwiefältig", „Zweiheitlichkeit", „Gegensätzlichkeit" oder „Dualismus von Ich und Du". Gogarten sichtete also innerhalb der Wirklichkeit eine Gegensätzlichkeit und ersetzte dadurch die alte Spaltung von Transzendenz und Immanenz. Das Gegenüberstehende war nicht mehr das unsichtbare Jenseitige, sondern das konkrete Du, und wurde am ersten Beispiel, den Liebenden konturiert. Der Begriff der Wirklichkeit wurde auf die kleinste soziale Einheit reduziert' 09 Theodor Strohm hat treffend beschrieben, daß Gogarten wie die gesamte Richtung des sog. Personalismus den Menschen wieder in seiner Eigentlichkeit erfassen wollte und dies gewissermaßen unterhalb der Ebene zu erreichen versuchte, auf der die gesellschaftlichen Beziehungen zwischen den Menschen sich in der Gegenwart abspielten und dort im eigentlichen Sinne problematisch waren.110 Es ist naheliegend, hinter dem Beziehungsmodell, das die engste Beziehung favorisiert, das Modell der ehelichen Gemeinschaft zu erkennen. So wie das Beziehungsmodell zwischen Gott und Mensch von Gogarten als Gegenüber und Unterschied gedacht wurde, ist auch das Verhältnis zwischen Mann und Frau als Gegenüber und Unterschied zu begreifen; das Andere war im Verhältnis zum Mann die Frau. Es läßt sich feststellen, daß mit der Wende 1925/26, die das Verhältnis Gott-Mensch auf der menschlichen Beziehungsebene sichtbar macht, die Thematisierung der Geschlechterverhältnisse nachweisbar wird. So fällt auf, daß im letzten Kapitel der Schrift „Ich glaube an den dreieinigen Gott" erstmals Reihungen von Gegensatzpaaren genannt werden, die die personalen Beziehungen auf der menschlichen Ebene zum Thema machten. Angeführt wurden sie von dem Paar Mann-Frau. Auch die Erkenntnis des Standes, explizierte Gogarten mit dem Beispiel zum Geschlechterverhältnis, diesmal im Wortlaut Martin Luthers: m
Vgl. EBD., S. 36.
109
V g l . THEODOR STROHM, T h e o l o g i e im S c h a t t e n , S . 9 2 .
110 Zu Gogartens Abgrenzung gegenüber anderen Vertretern des Personalismus wie Martin Buber oder Ferdinand Ebner vgl. GERHARD GLOEGE, Der theologische Personalismus, S. 23 ff.
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Die Theologie der Geschlechterbeziehungen
„ [ . . . ] daß nicht möglich ist zu erkennen, was ein Mann oder Weib sei, denn in dem Glauben. Das geschieht wohl, daß man böse Lust zu einem Mann oder einem Weib habe; aber das heißt nicht Mann oder Weib erkennet. Denn wer da soll wissen, was ein Weib sei, der muß also geschickt sein, daß er sei halt für Gottes Werk."111
Der Stand, auf den hier Bezug genommen wird, war der Ehestand als ein von Gott in der Schöpfung gegebenes Verhältnis von Mann und Frau. In diesem Stand seien sich beide gegenübergestellt. In der Erkenntnis und Anerkenntnis dieses Gegenüber, in der menschlichen Begegnung mit dem Anderen werde der Wille Gottes erkannt. Und es gilt: „Den Anderen in seinem Stande, also z. B. die Frau als Frau, den Richter als Richter, den Pfarrer als Pfarrer, den Herrn als Herrn erkennen, das heißt, wenn es richtig ist, daß es diese Erkenntnis nur im Glauben gibt, in ihnen und in ihrem Anspruch, den sie als Frau, als Richter, als Pfarrer, als Herr stellen, den Willen Gottes erkennen; es heißt, sich eben diese Frau von Gott als Frau geben lassen."112
Die implizite Parteilichkeit des Geschlechterverhältnisses ist auch hier erkennbar: Neben der allgemeinen Nennung des Standes der „Frau", stellte der Stand des „Richters", des „Pfarrers" und der „Herrn" (im Gegenüber zum Knecht) jeweils bestimmte Berufsgruppen dar. Die Entsprechung zu „Frau" wäre in diesem Falle „Mann". Dieser wird aber nicht genannt. Dennoch impliziert der letzte Halbsatz die Perspektive des Mannes, der sich die Frau von Gott geben läßt: als Ehefrau. Das Geschlechterverhältnis wird wiederum als Eheverhältnis konkretisiert. In den Schriften, Vorträgen und Aufsätzen Gogarten seit 1926, wurde das Geschlechterverhältnis hauptsächlich im Begriff der Ehe verhandelt, und diese erhielt als Schöpfungsordnung neben dem Staat eine zentrale Stellung in den ethisch-theologischen Überlegungen. Sie wurde als höchste Form der Gemeinschaft beschrieben, insofern sie nicht der Förderung und Bereicherung der eigenen Persönlichkeit diente, sondern als von Gott gesetzte Ordnung der gegenseitigen verantwortlichen Beziehung der Menschen untereinander. 113 Allerdings sah Gogarten das Wesen der Ehe zunehmend gefährdet, wie er in einem Aufsatz von 1930 herausstellt: „Wir verstehen Gottes Willen, der uns - ich will es an der Ehe exemplifizieren - in der Doppelheit des Menschen als Mann und Frau gegeben ist, - wir 1,1
FRIEDRICH GOGARTEN, Ich glaube an den dreieinigen Gott, S. 211.
112
EBD.
113
Vgl. z. B. FRIEDRICH GOGARTEN, Illusionen, S. 82; Glaube und Wirklichkeit, S. 177-180; Die Schuld der Kirche gegen die Welt, S. 27, 32; Wider die Ächtung der Autorität, S. 9,11,13; Ehe als Schöpfungsordnung, S. 13-15; Die religiöse Aufgabe der Gegenwart, S. 56-74; Politische Ethik, S. 150 ff. u . ö .
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verstehen diesen Willen lediglich als F o r d e r u n g und machen uns irgendein Ideal, nach dem M a n n und Frau in der E h e nicht m e h r nur als M a n n und Frau, sondern als M e n s c h e n füreinander da sein sollen. D i e Fessel und B e grenzung, die das M a n n - o d e r Frausein für den M e n s c h e n bedeutet, soll dann auf irgendeine W e i s e aufgehoben o d e r überwunden werden. M a n empfindet die geschlechtliche G e b u n d e n h e i t - heute ist es aus bestimmten G r ü n d e n besonders die Frau, bei der das d e r Fall ist - als etwas, was sozusagen noch diesseits des B e z i r k e s ist, w o zwei M e n s c h e n sich als M e n s c h e n in ihrem reinen, feinen, wann man so will, in ihrem geistigen M e n s c h e n t u m begeg"114 nen. G o g a r t e n kritisierte diejenige A u f f a s s u n g d e s E h e - u n d
Geschlechterver-
hältnisses, die in seinen A u g e n die U n t e r s c h i e d e d e r G e s c h l e c h t e r v e r w i schen o d e r negieren wollte, und attestierte dieser die endgültige Auflösung d e r v o n G o t t g e w o l l t e n O r d n u n g d e r E h e . F ü r ihn w u r d e h i e r ein M i ß verstehen des Willens G o t t e s deutlich. D a m i t mangelte diesem Verständnis v o n E h e a u c h die E r k e n n t n i s , „ [ . . . ] d a ß man nie der reine, ideale, jenseits der G e s c h l e c h t l i c h k e i t stehende, nie der an und für sich seiende M e n s c h ist, sondern immer entweder M a n n o d e r Frau, das h e i ß t also: der vom anderen her seiende M e n s c h , - man versteht nicht, wie in dieser D o p p e l h e i t und in d e r mit ihr notwendiger- und vernünftigerweise gegebenen O r d n u n g eine G a b e G o t t e s an die M e n s c h e n enthalten ist. M a n versteht nicht, wie der M e n s c h , wenn e r wirklich M a n n und Frau ist, wenn e r die B e g r e n z u n g , die darin für ihn gegeben ist, nicht überschreitet, wenn e r sich also in die natürliche gegebene O r d n u n g fügt, ganz natürlicherweise in dem, was er als M a n n o d e r Frau ist, was er als M a n n o d e r Frau lebt, denkt, tut, von dem anderen, dem M a n n o d e r d e r Frau h e r bestimmt ist; wie e r dann von dem anderen her lebt, d a ß also sozusagen darin schon G o t t selbst durch diesen M e n s c h e n seinen Willen tut." 1 1 5 Die Aufrechterhaltung
d e r im G e s c h l e c h t e r v e r h ä l t n i s
gegebenen
Unter-
s c h i e d e w u r d e h i e r als G a r a n t d e r E h e u n d d e r O r d n u n g e n G o t t e s in d e r Welt
betont.
Die Unterschiede
wurden
als
Begrenzung,
sozusagen
als
R a h m e n v e r s t a n d e n , in d e m die G e s c h l e c h t e r a g i e r e n . E i n Ü b e r t r e t e n d e r d u r c h d a s G e s c h l e c h t e r v e r h ä l t n i s g e s e t z t e n G r e n z e n w u r d e als ein Ü b e r t r e t e n d e r v o n G o t t g e w o l l t e n O r d n u n g i n t e r p r e t i e r t . D e n n in d e m r e c h t v e r s t a n d e n e n G e s c h l e c h t e r v e r h ä l t n i s , d a s h i e r d u r c h die E h e d e f i n i e r t ist, w u r d e d e r Wille Gottes
im jeweils A n d e r e n
m i t seinen
sichtbar und erfahrbar.
114
115
FRIEDRICH GOGARTEN, Die religiöse Aufgabe der Gegenwart, S. 72. EBD., S. 73
Anforderungen
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Die Theologie der Geschlechterbeziehungen
Autorität und Gehorsam Gogarten verfolgte in den Jahren 1926-1930 zwei Ziele: Zum einen Gottes Anspruch, der den konkret lebenden einzelnen Menschen fordert und bindet, zur Geltung zu bringen. Zum anderen versuchte er, eine Konkretisierung des ursprünglich im Außerweltlichen sich abspielenden Geschehens zu erreichen. Da aber - nach Gogarten - Gottes Anspruch nur in der irdischen Macht zur Geltung kam, wurde dieser Vorgang auf die Ebene der personenhaften Beziehung von Du und Ich verlagert. Damit besteht jedoch die Gefahr, daß das Du mit dem Anspruch Gottes gleichgesetzt und damit eine Aufhebung des eigenen Ich in Kauf genommen wird.116 Dies hatte von Tiling bereits in einem Brief an Gogarten 1925 angemerkt, wodurch hier die unterschiedlichen Vorgehensweisen der beiden deutlich werden. Magdalene von Tiling hatte ein anderes Modell des Geschlechterverhältnisses vor Augen; es betonte die Komplementarität. Die Antwort Gogartens zeigt dagegen die Vormachtstellung des Anderen, der das Ich bestimmt. Er schrieb: „Wenn Sie fragen: Woher der Andere das Recht hat, Ansprüche an mich zu stellen, wenn ich nicht das Recht habe, Ansprüche zu stellen, so geschieht hier genau dasselbe, wovon ich in Bethel immer gesprochen habe und was ich als die Grundverkehrung bezeichnete: Ein geschichtliches Ereignis, eben die Tatsache, dass der Andere Ansprüche an mich stellt, wird verwandelt in die allgemeine Frage nach dem Recht, Ansprüche zu stellen. Es scheint mir eines von den großen Grunddaten unseres Lebens zu sein, dass der Andere das ,Recht' hat, Ansprüche an mich zu stellen - dieses Recht ist nicht durch eine Vernunfttatsache zu begründen, sondern nur durch die nackte Tatsache, dass der Andere da ist; es ergibt sich hier ein ganz anderer Begriff des Rechtes als der, der unserem heutigen Rechtsbewußtsein zugrunde liegt, dass ich aber dieses Recht nicht habe, weil ich eben von dem Anderen ganz und gar in Anspruch genommen bin. Es geht hier zuletzt um die unverkehrbare Gegebenheit des Du, das niemals in das Ich verkehrt werden darf. Ich und Du sind eben nicht gleichen Wesens." 117
Die Unterschiedlichkeit von Du und Ich führe dazu, daß der Andere Ansprüche an das Ich stellen könnte. Vom Ich sei Gehorsam gefordert. Es gäbe keine Rechtsansprüche der Menschen aneinander, weil die Menschen nicht gleich sind. Dies war eine theologische Kritik an den demokratischen Prämissen der Weimarer Verfassung, die von der Gleichheit aller Menschen und damit auch von den gleichen Rechten der Menschen ausging. Indem das hierarchische Verhältnis von Gott und Mensch auf die zwischenmenschliche Ebene gebracht wurde, mußte sich auch hier die 116
Vgl. dazu THEODOR STROHM, Theologie im Schatten, S. 98.
117
Friedrich Gogarten an Magdalene von Tiling am 25.4.1925 (LKA HANNOVER, N 127/16).
Geschlechterbeziehungen
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Hierarchie bemerkbar machen. Deutlich läßt sich die Ausformulierung einer Hierarchie in den Schriften Gogartens seit 1928 ausmachen; sie galt für alle Beziehungspaare, also auch für Mann und Frau. Die Beziehungspaare werden gemäß des Musters von Uber- und Unterordnung angeordnet, wobei der erste Begriff dem zweiten übergeordnet war Mann-Frau, Vater-Kind, Lehrer-Schüler, Herr-Knecht. Zudem wurden die Beziehungspaare den Ordnungen zugeordnet, die ihrerseits die Beziehungsmuster strukturierten. In seiner Schrift „Wider die Achtung der Autorität" von 1930 konkretisierte Gogarten das Beziehungsverhältnis der Menschen als eines, das durch Uber- und Unterordnung, Autorität und Gehorsam strukturiert sei: „Es muß Ordnungen wie Ehe, Familie, Beruf, Staat geben. Und diese Ordnungen sind als solche ohne Autorität und Gehorsam, ohne Gewalt und Zwang schlechthin unmöglich [ . . . ] Hier wird die Ungleichheit der Menschen, die sie aneinander bindet, tiefer, totaler als irgendeine Gleichheit es kann, zur Zuchtrute, mit der Gott sie schlägt und mit der sie selbst einander peitschen. [ . . . ] Erst in dieser Erkenntnis enthüllt sich der Fluch Gottes, den er auf das ganze Leben des Menschen gelegt hat: auf das Verhältnis der Geschlechter, von Mann und Frau nicht weniger als auf den Staat, auf die Familie, das Verhältnis von Eltern und Kindern, von Bruder und Bruder nicht weniger als auf jegliches Arbeitsverhältnis, in dem Menschen in Überordnung und Unterordnung zueinander stehen."" 8
Die Beziehungen wurden nun eindeutig als unterschiedlich definiert, im Gegensatz zu von Tilings Modell jedoch nicht als Chance, sondern als Fluch Gottes begriffen und durch die Begriffe Autorität und Gehorsam hierarchisch strukturiert. Bei von Tiling, die in ihrem Geschlechtermodell von der Komplementarität, der gegenseitigen Ergänzung ausging, findet sich der Gedanke von Autorität und Gehorsam in dieser hierarchisierenden Weise nicht. Der Stand als Strukturprinzip der Schöpfung Die Konkretisierung der Wirklichkeit rückte in den Jahren 1928/30 in das Zentrum von Gogartens theologischer Besinnung. Der Aufsatz „Glaube und Wirklichkeit" ist hier zentral. Im Glauben erkenne der Mensch die Wirklichkeit. Sie, die verloren geglaubte Wirklichkeit, tauche im Glauben neu auf. Die Ordnungen und der Wille Gottes werden vom Glaubenden erkannt. Wirklichkeit, das seien die Verhältnisse, in denen sich der Mensch vorfindet Strukturprinzip der geordneten Schöpfung wurde neben der oben erwähnten Autorität der Stand. Gogarten meinte mit Stand nicht die lutherischen drei Grundstände, sondern spricht wie Magdalene von Tiling 118
FRIEDRICH GOGARTF.N, Wider die Ächtung der Autorität, S. 9, 43.
172
Die Theologie der Geschlechterbeziehungen
von individuellen Standesbeziehungen, allerdings nicht in der Fülle, wie sie in ihren Publikationen zu finden ist: „... vom Schöpfungsglauben aus gibt es nur den Menschen, der in einem bestimmten Stand befindlich ist, in dem Stande des Mannes oder der Frau, des Vaters oder des Kindes, des Herren oder des Knechtes. Es gibt aber keinen Stand - und das kann bei dieser Lehre vom Stand gar nicht scharf genug beachtet werden -, in dem ein Mensch das, was er in ihm ist, für sich allein wäre, sondern immer ist er es für den Anderen, zu dem er eben, weil er in dem betreffenden Stand ist, verantwortlich gehört."119 Gogarten umriß hier im wesentlichen die Funktionen und Rollen kleiner sozialer Einheiten und entwickelte die Wiederherstellung der Welt als geordnete Schöpfung ausgehend von den persönlichen Beziehungen. Die Ebene, auf der die Ich-Du-Begegnung sich ereignete, wurde als die für die Heilung der Welt einzig relevante angesehen.120 Die politische
Dimension
der
Standesethik
Der Begriff des Standes erhielt politisch-gesellschaftliche Bedeutung über eine spezifische Fassung des Prinzips der Autorität. 121 Es ging Gogarten um die Konstruktion der Welt als geordnete Schöpfung. Der Begriff des Standes wurde bei ihm nicht in dem Maße ausdifferenziert wie bei von Tiling. Bei Gogarten spielte der Begriff der Autorität eine prominente Rolle und war, wie Theodor Strohm hervorhebt, als eine selbständige dritte Größe gedacht, die das Verhältnis zwischen Du und Ich strukturierte. 122 Die auffallende Begrenzung auf die kleinste soziale Beziehung, das Private, erfuhr erst in der Schrift „Wider die Achtung der Autorität" von 1930 eine politische Ausweitung. Die theologische Entscheidung wurde aus der personalistischen Begrenztheit der Ich-Du-Beziehung herausgehoben, „zur politischen Entscheidung" erweitert und schließlich mit ihr gleichgesetzt.123 Neben den persönlichen Standesbeziehungen geriet der Begriff der Ordnungen seit 1930 zunehmend in das Zentrum der Überlegungen. Sie garantierten als Rahmen den Erhalt der Ehre und Anerkennung der Stände. Die Polis wurde zu der Ordnung, die das menschliche Leben als Gutes erleben läßt und in der im „Von-einander-her" und „Für-einander-da-sein" gelebt werden kann. Die Werke, die die Menschen tun, sind in der 1W
FRIEDRICH GOGARTEN, Die Schuld der Kirche gegen die Welt, S. 28. THEODOR STROHM hat darauf hingewiesen, daß Gogarten als Theologe die Schöpfungsordnung mit Hilfe der Kategorie des Standes expliziert und sich damit in die Nähe der Ständelehren Othmar Spanns begibt, die Wegbereiter faschistischer Bestrebungen wurden (Theologie im Schatten, S. 104). 121 Vgl. FRIEDRICH GOGARTEN, Wider die Ächtung der Autorität. 122 THEODOR STROHM, Theologie im Schatten, S. 105. 123 Vgl. EBD., S. 107. 120
Geschlechterbeziehungen
173
Unterwerfung unter den Staat „heilige, gottwohlgefällige Werke", denn sie sind Gottes eigene Schöpfungswerke. 124 Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die Überlegungen zur Charakterisierung des Verhältnisses Gott-Mensch als Du-Ich-Beziehung in der Theologie Gogartens einen zentralen Stellenwert Anfang der zwanziger Jahre einnahmen. Dieses Verhältnis wurde seit 1925/26 auf der Ebene der kleinsten menschlich-persönlichen Beziehung gedacht und verhandelt. Es lag ihr - wie oben aufgezeigt - das Modell der ehelichen Gemeinschaft zugrunde. Von dieser Ebene sollte die Wiederherstellung der Ordnungen in der Welt ausgehen. Die Du-Ich-Beziehung wurde als grundlegender Gegensatz gedacht und erhielt schließlich durch die Struktuiprinzipien der Autorität und des Standes ein hierarchisches Gefälle. Mit dem Entwurf der „Politischen Ethik" erfuhr die ursprünglich auf der Geschlechterbeziehung basierende personalistische Standesethik Ende der zwanziger Jahre eine politische Tragweite, wurde 1928/30 in die Idee des Staates aufgenommen und schließlich mit ihr identifiziert. War bei von Tiling die Theologie der Geschlechterbeziehungen als politische Konzeption gedacht, die über den Bereich der privaten Beziehungen zwischen den Geschlechtern hinausging, läßt sich bei Gogarten eine Entwicklung von der privaten Standesethik, die auf dem Ehemodell basierte, hin zu einem konservativen Staatsverständnis feststellen.
3. Geschlechterbeziehungen und Theologie Das „Komplementaritätsmodell"
Magdalene
von
Tilings
Betrachtet man die 1925 von Magdalene von Tiling ausformulierte Theologie der Geschlechterbeziehungen als Ansatz zur Lösung der von ihr diagnostizierten Krise, wird deutlich, wie eng die Wahrnehmung gesellschaftlicher Umbrüche mit dem Entwurf ihrer theologischen Theoriebildung verzahnt waren. Des weiteren wird deutlich, daß die geschlechtsspezifische Perspektive auf die Verhältnisse die theologischen Konzeptionen sowohl von Tilings als auch Gogartens präformierte. So läßt sich das Modell, das von Tiling bezüglich des Geschlechterverhältnisses entwarf, als Komplementaritätsmodell bezeichnen. Sie lehnte das Modell der Gleichheit der Geschlechter ab und nahm vielmehr eine von Gott gewollte Unterschiedenheit beider Geschlechter an. Diese Unterschiedenheit sollte von Tiling zufolge nicht als defizitär verstanden werden, sondern wurde positiv im Sinne einer Ergänzung gedeutet: Beide Geschlechter ergänzen sich durch ihre Unterschiedenheit. Erst dadurch, daß Mann und Frau 124
Vgl. FRIEDRICH GOGARTEN, Einheit von Evangelium und Volkstum?, S. 112.
174
Die Theologie der Geschlechterbeziehungen
unterschiedliche Fähigkeiten und Tätigkeitsfelder haben, entstehen förderliche Zusammenarbeit und gegenseitige Anerkennung. Das Bezugssystem wurde als Bewegung mit dem Begriff Aufeinander-hin charakterisiert, während Gogarten den Begriff des Vom-Anderen-her verwendete. Allerdings wirft das Komplementaritätsmodell einige Schwierigkeiten auf, denn es handelt sich dabei um ein dualistisches Konzept mit zwei Polen. Cornelia Klinger hat darauf hingewiesen, d a ß alle Polarisierungen im abendländischen Denken einen kontradiktorischen Gegensatz aufweisen. So sind die Pole nie gleichgeordnet, sondern schließen sich wechselseitig aus. Soll dies positiv gesehen werden, muß dieser Gegensatz wie bei Magdalene von Tiling ausgeblendet und als Komplementaritätsmodell beschrieben werden; die implizite Hierarchie wird versteckt. Beide Seiten sollen sich ergänzen, und zwar nicht trotz, sondern gerade wegen der Unterschiede zwischen ihnen. Die Zusammengehörigkeit gründet also nicht auf der Ähnlichkeit oder Verbindung zwischen den Polen, sondern auf deren grundsätzlicher Ergänzungsbedürftigkeit. 125 Das Komplementaritätsmodell von Tilings war zugleich der Versuch, das im Protestantismus theologisch fundierte Uber- und Unterordnungsmodell zu überwinden. Die Gleichheit vor Gott sollte die Anerkennung auch im gesellschaftlichen Bereich legitimieren. Die Verschiedenheit hinsichtlich der gesellschaftlichen Aufgaben hingegen als gottgewollte, sinnvolle Ergänzung verstanden werden. Die Aufnahme der zeitgenössischen Kritik am Individualismus und am autonomen Subjekt diente bei von Tiling als Ansatz zur Kritik an der männlichen Definitionsmacht über Frauen. Ihres Erachtens gestalteten beide Geschlechter sowohl Kultur wie gesellschaftliche Verhältnisse. Es fällt auf, daß von Tilings Neudefinition der Geschlechterbeziehungen vor dem Hintergrund ihrer Interpretation der sozialen Verhältnisse diskutiert und legitimiert wurde. Diese wurden im Duktus der Konservativen in der Weimarer Republik auf die Entwicklung der „öffentlichen Unsittlichkeit" reduziert. Sie verwob das Geschlechterverhältnis und die sozialen Entwicklungen, indem sie postulierte, daß Frauen für den sittlichen Zustand des Volkes zuständig seien und die Veränderung der Rolle von Männern und Frauen die sittliche Erneuerung nach sich zöge. Hierin bediente sich von Tiling einer Argumentation, mit der auf dem Evangelisch-Sozialen Kongreß Ende des 19. Jahrhunderts Frauen versucht hatten, ihre Rolle neu zu formulieren und neue Berufe und Tätigkeitsfelder zu fordern. Zentral war der Begriff der „geistigen Mütterlichkeit", der aufgrund der potentiellen biologischen Mutterschaft die besonderen kulturschaffenden Eigenschaften von Frauen postulierte. Er diente zugleich als
125
Vgl.
CORNELIA KLINGER,
Beredtes Schweigen, S. 40 ff.
Geschlechterbeziehungen
175
Kritik an der als männlich-dominierten und marode beklagten Fortschrittskultur. So wurde die Frauenfrage zur „Sozialen Frage" bzw. die Soziale Frage als Geschlechterfrage umschrieben. Auch von Tiling griff auf diese Argumentation zurück und versuchte sie theologisch zu deuten. Sie sah das Sein der Frau in der Mütterlichkeit mit bestehen. Allerdings wurde diese nicht biologisch oder psychologisch fundiert, sondern theologisch als schöpfungsmäßiges Sein der Frau bezeichnet. Das schöpfungsmäßige Sein der Frau zeichnete sich aus durch ein christliches Selbstbewußtsein, vor Gott dem Mann gleichgestellt und von Christus zur freien Persönlichkeit erlöst zu sein. Damit definiere sich die christliche Frau in erster Linie als Gottes Geschöpf über den Glauben an Gott. Aus dieser Uberzeugung heraus handelt sie in ihrem Stand. Den Männern wurde damit jedes Recht zur Bevormundung von Frauen abgesprochen. Die Geschlechterbeziehung war bei von Tiling nicht als Eheverhältnis gedacht, sondern als ein Modell, das weniger durch affektive Bindung begründet war als vielmehr durch Anerkennung in allen gesellschaftlichen Bereichen. Das Komplementaritätsmodell sollte das Uber- und Unterordnungsmodell ablösen und die Gleichrangigkeit der Geschlechter auf der gesellschaftlichen Ebene garantieren. Die Absage an ein hierarchisches Geschlechterverhältnis läßt sich durch alle ihre Schriften nachweisen. Zwar beinhaltete jeder Stand in ihrem Ständeordnungsmodell wie bei Gogarten ein Beziehungsgefüge von Autorität und Hörigkeit, das in den Beziehungen Mutter-Kind, Lehrer-Schüler, Eltern-Kinder usw. zum Ausdruck kommt. Es fällt jedoch auf, daß sie in diesem Ordnungsmodell der Stände die Beziehung Mann-Frau in keiner Hinsicht hierarchisch formulierte. Charakterisierte sie ein Beziehungsverhältnis hierarchisch, wurde dies nie am Beispiel des Gegensatzpaares Mann-Frau durchgeführt. Dies läßt die Schlußfolgerung zu, daß Magdalene von Tiling es explizit vermied, die Hierarchie der Über- und Unterordnung auf die Beziehung der Geschlechter zu übertragen. Sie wäre sich damit untreu geworden, wenn sie die 1919 vertretene Unterordnungsstruktur wieder in ihre Theoriebildung aufgenommen hätte. Die Theologie der Geschlechterbeziehungen erweist sich somit als eine Konzeption, die anhand der Kategorie Geschlecht ihre Zeitdiagnose betrieb, die Beziehung der Geschlechter zueinander als entscheidend für die Integration einer Gesellschaft betrachtete und über die Rekonstruktion der Theologie der Schöpfungsordnungen mit theologischen Argumenten, die Gleichheit für Frauen einforderte. Und das ist für den Protestantismus der Weimarer Republik ein beachtlicher Schritt.
176
Die Theologie der Geschlechterbeziehungen
Das „Differenzmodell" Friedrich Gogartens Das Modell der Geschlechterbeziehungen, das der Theologie Friedrich Gogartens zugrundeliegt, läßt sich mit dem Begriff des Differenzmodells beschreiben. Auch dieses Modell ging von zwei Polen aus: „Ich" und „Du" sind verschiedenen Wesens, aber auch unterschiedlich stark. Das Bezugssystem war im Gegensatz zu dem Komplementaritätsmodell von Tilings einseitig konstituiert und wurde durch den Begriff des Vom-Anderen-herSein gefaßt. Nicht beide Teile sind gleichermaßen beteiligt, sondern der Andere stellt Ansprüche, die das Ich erfüllen soll. Der Wirklichkeit als zwiefältiger, zweideutiger, gegensätzlicher und der Wahrnehmung Gottes als des ganz Anderen entspricht die Sicht des Menschen als des ganz Anderen, des dem eigenen Wesen Fremden. Der Andere konstituiert das Sein des Ich. Dadurch ist die Entstehung eines Gefälles, eine Hierarchisierung möglich. In der Auseinandersetzung mit dem Individualismus sah Friedrich Gogarten die Möglichkeit, die Autonomie des Individuums einzuschränken. Der spätestens seit der Aufklärung wirksamen Auffassung des sich selbst setzenden und selbstbestimmten Subjektes, das die anderen zur Unterstützung seiner individualistischen Zwecke instrumentalisiert, gebot Gogarten mit der These von der sozialen Verfaßtheit menschlicher Existenz Einhalt. Allerdings bezog sich die soziale Verfaßtheit, wie wir gesehen haben, zunächst auf die kleinste soziale Einheit der Lebenswelt: die Beziehung zwischen den Geschlechtern, wie sie in der Ehe institutionalisiert ist. Das Modell der Ehe, das im Protestantismus stets hierarchisch strukturiert gedacht wurde 126 , legitimierte in seiner Übertragung als Modell für den politischen Bereich eine gleichermaßen hierarchische Struktur. Die seit der Reformation zumindest im Luthertum vorherrschende obrigkeitsstaatliche Haltung wurde bei Gogarten über die Deduktion aus dem vorgeblich privaten Bereich auf die Ebene des Staates übertragen. Entscheidend ist, wie bei Gogarten die Wirklichkeit als solche verstanden wurde, bzw. welche Dimensionen der Lebenswelt als normativ aufgefaßt werden. Denn durch die starke Hervorhebung des Privaten führte Gogarten ein Gefälle ein, das auf einer Uberordnung des Privaten über das Politische bestand. Die Struktur des Privaten, die enge Beziehung zwischen Mann und Frau im familialen Bereich wurde normativ im Blick auf die Verfaßtheit des Staates. Was dort zu gelten hatte, wurde in der kleinsten sozialen Einheit präformiert und normiert. Durch das zugrundeliegende Modell der Ehe trug die Verabsolutierung der Privatsphäre jedoch
126 Vgl. LYNDAL ROPER, Was there a Crisis, S. 371-386. Vgl. dazu UTE GAUSE, Geschlecht als historische Kategorie, S. 169.
Geschlechterbeziehungen
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zu einer Spaltung von Privatheit und Öffentlichkeit bzw. Politik bei; das eine wurde dem anderen vorgeschaltet. Es fällt auf, d a ß die Ausrichtung der Argumentationen mit den Geschlechterverhältnissen bei Magdalene von Tiling und Friedrich Gogarten Unterschiede aufweist: von Tiling hatte zunächst und vor allem den gesellschaftspolitischen Bereich vor Augen und intendierte die Integration und Beteiligung von Frauen in denselben. D e r Sphäre des Privaten im Sinne Gogartens wurde bei von Tiling eine geringere Bedeutung zugemessen, bzw. diese Dichotomie, wie sie bei Gogarten vorzufinden ist, wurde negiert. Wenn das Private bei von Tiling in den Blick kam, dann als Teil des Politischen. Die Sphärentrennung, die Gogarten durch seine asymmetrische Aufspaltung vornahm, wurde bei von Tiling abgelöst durch das Ineinandergreifen und Verwobensein der beiden vorgeblich getrennten Bereiche. In diesem Sinne kann man sagen, daß das noch bei Gogarten vorgeblich Private bei von Tiling politisch konnotiert war. D a m i t ergibt sich freilich ein anderer Begriff des Sozialen, dessen Gegenstandsfeld differiert. W ä h r e n d Gogarten von einer dualen Beziehungsstruktur ausging, die auf das Gegenüber und Aufeinanderangewiesensein von zwei Angehörigen der verschiedenen Geschlechter beschränkt blieb, w a r das Soziale bei von Tiling weiter gefaßt: Es ging um die Gesellschaft als Ganze. Die Beziehung der Geschlechter zueinander geht, wurde auf der Ebene der Gesellschaft, also im Blick auf Kultur, Arbeitsverteilung und Beteiligungsrechten thematisiert. Die wahrnehmungspräformierenden und -normierenden Institutionen wurden demnach aus der Ständelehre des Luthertums in unterschiedlicher Weise aktualisiert: hier der Staat als sicherheitsverbürgende, weil gottgewollte Einrichtung, d o r t die Ehe, der seit der Aufwertung des gewöhnlichen Lebens von P r o d u k tion und Reproduktion eine normative und auch zur Gottgefälligkeit hinreichende Bedeutung zukam. Friedrich Gogarten w a r eher am Verhältnis zwischen G o t t und dem einzelnen Menschen interessiert und an der Auseinandersetzung mit dem autonomen Subjekt. Die vollkommene Unterschiedenheit und die Belastung des anderen mit der ursprünglich göttlichen Dignität schaffte zwischen den Menschen eine fast unüberwindliche Differenz; die Einführung der Ständelehre als Ausdruck der Anerkennungsverhältnisse versuchte dieses Problem in den Griff zu bekommen. Politisch wirkte sich das dann auf die Erklärung der U b e r m a c h t des Staates aus und charakterisierte sämtliche Beziehungsmuster als hierarchisch.
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Die Theologie der Geschlechterbeziehungen C. Die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Pädagogik
1. Die Gründung des Arbeitsbundes für wissenschaftliche Pädagogik auf reformatorischer Grundlage 1930 Die Zusammenarbeit Friedrich Gogartens und Magdalene von Tilings im Bereich der Pädagogik ist von den Zeitgenossen und auch später in der Literatur teils mit Verwunderung, teils mit offenkundigem Arger betrachtet worden. So sprach der ehemalige Mitarbeiter von „Schule und Evangelium" im Jahr 1932 von „dem merkwürdigen Bündnis zwischen den von Frau von Tiling geführten Religionslehrerinnen und dem mehr aus Theologen, denn aus Schulleuten zusammengesetzten Kreis Gogartens, um die seit 1926 bestehende, von Magdalene von Tiling herausgegebenen Zeitschrift ,Schule und Evangelium'".' 27 Man glaubte, Gogarten ein Desinteresse an der pädagogischen Arbeit unterstellen zu können, verwies auf sein sich „auf hohem Niveau" bewegenden theologisches Denken, das sich nur unzureichend in die pädagogische Praxis umsetzen ließe. Dennoch zeigt sich auf der anderen Seite, daß, wenn Gogarten im Zusammenhang der Pädagogik thematisiert wird, stets auf Schriften von Tilings verwiesen wird. Dies ist insofern konsequent, als sich Gogarten nie gegen die Transformation seiner theologischen Gedanken in der Pädagogik verwahrte und die Zusammenarbeit mit von Tiling als Dialog und nicht als einseitige pädagogische Rezeption seiner Theologie verstanden hat. Im folgenden wird zunächst der Kontext der pädagogischen und religionspädagogischen Diskussion in der Weimarer Republik betrachtet, im dem die pädagogische Zusammenarbeit von Tilings und Gogartens deutlich wird sowie das Interesse an der Ausarbeitung einer wissenschaftlichen Pädagogik auf reformatorischer Grundlage, die in der Schrift Grundlagen pädagogischen Denkens Anfang der dreißiger Jahre ihre systematische Ausformulierung fand.128 Der Ansatz traf in der Pädagogik auf breite Zustimmung. 125 Im Anschluß daran werden die theologischen Koordinaten dieser Pädagogik skizziert und die Konsequenzen für die Mädchenbildung ausgeleuchtet.130 127
Georg Müller, zitiert nach JÜRGEN FANGMEIER, Erziehung in Zeugenschaft, S. 177.
128
MAGDALENE VON TILING, G r u n d l a g e n p ä d a g o g i s c h e n D e n k e n s . JÖRG OHLEMACHER,
Religionspädagogik im Kontext kirchlicher Zeitgeschichte, hat mit dem Titel seines Buches auch ein Programm markiert, mit dem er der in der Forschung diagnostizierten mangelnden Verbindung von Religionspädagogik und kirchlicher Zeitgeschichte begegnen will. In diesem Sinne vgl. auch die Arbeiten für die Zeit des Nationalsozialismus von FOLKERT RICKERTS, Zwischen Kreuz und Hakenkreuz; DERS., Evangelische Religionspädagogik in zeitgeschichtlicher Perspektive, S. 29-53. 129
KARL ERNST NIPKOW/FRIEDRICH SCHWEITZER, R e l i g i o n s p ä d a g o g i k , S. 3 3 .
130
Nachdem inzwischen versucht wurde, den vergessenen Vätern der modernen Religions-
Die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Pädagogik Zur Diskussion pädagogischer
Fragen in der Weimarer
179
Republik
Besonders im Blick auf ihre Zeitdiagnose, die der Weimarer Gesellschaft Desintegration, Geschlechterkampf und Werteverlust bescheinigte, sah von Tiling in der Pädagogik einen Beitrag zur Lösung dieses Dilemmas. Denn wie eine Gesellschaft in der Zukunft gestaltet werden konnte, das lag maßgeblich an der Erziehung der zukünftigen Generationen. Seit Beginn der reformpädagogischen Bewegung um 1900 hatte die Pädagogik ihre Aufgabe darin gesehen, nicht nur die Erziehung neu, wissenschaftlich und effektiv zu organisieren, sondern auch das Projekt eines „neuen Menschen" in den Blick zu nehmen, der seinerseits eine neue Kultur und Gesellschaft hervorbringen sollte. 131 Ganz nach dem reformpädagogischen Credo „vom Kinde aus" wurde dafür plädiert, die Entfaltung der individuellen „Natur" des Kindes zu befördern. Bildung und Erziehung sollten zur Freisetzung der kreativen Kräfte werdender Persönlichkeiten führen und gesellschaftsverändernd wirken. 132 Die pädagogische Arbeit zur Grundlage der Gesellschaftsveränderung zu machen, galt auch nach 1919 als ein wichtiges Ziel staatlicher Bildungspolitik. 133 D a s wiederholte Scheitern der Verhandlungen um das Reichsschulgesetz aber und die Politik der Kompromisse und der Pädagogik auf die Spur zu kommen, wie es beispielsweise das Anliegen von GERHARD PFISTER (Vergessene Väter der modernen Religionspädagogik) war, zeigt neuerlich der von ANNEBELLF. PLTHAN herausgegebene Porträt-Band (Religionspädagoginnen des 20. Jahrhunderts) die vielfältige Beteiligung von Religionspädagoginnen an der Geschichte von Religionsunterricht und Religionspädagogik. Vgl. dort auch meinen Beitrag, Magdalene von Tiling, S. 20-39. Zu pädagogisch tätigen Frauen vgl. auch ILSE BREHMER/KARIN EHRICH, Mütterlichkeit als Profession? 131 Neue pädagogische Ansätze, die sich vorwiegend mit der Herbartschen Pädagogik kritisch auseinandersetzten, entwickelten sich in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Zu nennen ist zum einen Friedrich Paulsen, der von Kant herkommend die Erziehung des Willens in den Mittelpunkt stellt. Es geht ihm darum, „charaktervolle, sich selbst beherrschende, frei das Gute und Rechte wollende Menschen zu bilden." Paul Natorp dachte seine Sozialpädagogik vor allem von Pestalozzi her, rezipierte jedoch auch Positionen Friedrich Schleiermachers und Wilhelm Diltheys und betonte vor allem die sozialen Bedingungen der Bildung und die Bildungsbedingungen des sozialen Lebens. Die „Experimentelle Pädagogik" Ernst Meumanns fragte nach den entwicklungspsychologischen Voraussetzungen des Lernens. 132 „Vom Kinde aus" war das Motto des 1908 gegründeten Bundes für Schulreform. Ellen Key hatte „Das Jahr des Kindes" ausgerufen, Maria Montessori in Italien ihr Kindergartenkonzept entworfen. Angeregt durch die Ergebnisse der Kinderpsychologie von Wilhelm Preyer und in Anknüpfung an Rousseaus Konzeptionen einer natürlichen und einer negativen Erziehung, sollte die Erziehung die individuelle Natur des Kindes ausbilden, wenn nötig auch durch pädagogische Untätigkeit. Vgl. ULRICH HERRMANN, Pädagogisches Denken und Anfänge der Reformpädagogik; vgl. auch JÜRGEN OELKERS, Reformpädagogik. Eine gute Übersicht über die unterschiedlichen Richtungen der Reformpädagogik liefert FRIEDRICH SCHWEITZER, D i e R e l i g i o n d e s K i n d e s , S. 2 5 2 - 2 9 9 . 133
V g l . z u m f o l g e n d e n DIETER LANGEWIESCHE/HEINZ-ELMAR T E N O R T H , B i l d u n g , F o r m i e -
rung, Destruktion, S. 1-24.
180
Die Theologie der Geschlechterbeziehungen
länderspezifischen Kompetenzen brachten in der Gestaltung des Bildungsbereiches eine Vielfalt mit sich und zeigten, daß das ehrgeizige Ziel einer einheitlichen Lösung bildungspolitischer Fragen an dem mangelnden pädagogischen und politischen Konsens der Interessengruppen scheiterte. So kamen weder ein einheitliches Reichsschulgesetz noch eine einheitliche Lehrerinnen- und Lehrerausbildung zustande. Die Ursachen der scheiternden Reformen wurden von den meisten Pädagoginnen und Pädagogen in den Funktionsprinzipien der Demokratie gesehen und im Streit der Parteien und dem Pluralismus der Meinungen. Zudem läßt sich die Überzeugung nachweisen, daß die im Erziehungsbereich Tätigen sich zunehmend als Elite verstanden, von der aus die Konstruktion einer neuen Gesellschaft erwartet werden konnte. Seit Mitte der zwanziger Jahre wurden zunehmend Stimmen laut, die die Grenzen der bisherigen Pädagogik anprangerten und das damit intendierte Konzept einer „neuen Gesellschaft" mit „neuen Menschen" als gescheitert erklärten. 134 Auf dem Kongreß des Deutschen Ausschusses für Erziehung und Unterricht 1926 wurde vehement auf die „Grenzen der Erziehung" 135 hingewiesen und öffentlich die Enttäuschung der Reformhoffnungen artikuliert. Differenzen zwischen dem auf die Praxis bezogenen Anspruch der Theorie universitärer Erziehungswissenschaft und der Praxis verschärften sich zunehmend. Das pädagogische Tagungs- und Kongreßwesen blühte auf, neben staatlichen Fortbildungskursen für Lehrerinnen und Lehrer - wie das Preußische Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht sie organisierte - erlebten die pädagogischen Fortbildungseinrichtungen und Institutionen der Erwachsenenbildung regen Zulauf 136 : Fragen der Erwachsenenbildung, des Wesens und Wertes der Erziehungswissenschaft wie auch Lehrplanfragen wurden thematisch. Die Frage wurde laut, inwieweit es legitim sei, wie bisher in der Reformpädagogik oder in der Pädagogik liberaler Provenienz die Förderung und Entwicklung des Individuums in den Vordergrund zu stellen. Mußte eine „Individualpädagogik" „vom Kinde aus" nicht durch eine Kultur- oder Wertepädagogik ergänzt werden? Die „Machbarkeit des Menschen" wie der „neuen Gesellschaft" wurden als Ideologie gebrandmarkt. 137 Für gescheitert erklärt wurden eine Anthropologie, Ethik, Politik und Pädagogik, die aufklärerisch-rationalistisch und von den all134 Karl Ernst Nipkow zeigt die Verbindungslinie zwischen den kritischen Ansätzen in Religionspädagogik, Soziologie, und Psychologie Mitte der zwanziger Jahre deutlich auf:
v g l . KARL ERNST N I P K O W / F R I E D R I C H SCHWEITZER, R e l i g i o n s p ä d a g o g i k , S. 2 6 . 135
So THEODOR LITT, Möglichkeiten und Grenzen der Pädagogik. Vgl. WOLFGANG BÖHME, Geschichte der evangelischen Erwachsenenbildung, S. 328-336; HANS-PETER VERAGUTH, Erwachsenenbildung zwischen Religion und Politik; 136
KLAUS AHLHEIM, Z w i s c h e n A r b e i t e r b i l d u n g u n d M i s s i o n ; FRITZ LAACK, D a s
freier Erwachsenenbildung. 137
EBERHARD GRISEBACH, D i e G r e n z e n d e s E r z i e h e r s .
Zwischenspiel
Die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Pädagogik
181
gemeinen Natur- und Menschenrechten ausgehend den Menschen als autonomes Subjekt bestimmten und bemüht waren, ihn gemäß der Freiheit seiner Persönlichkeit zu bilden. Schon Eberhard Grisebach hatte dem Idealismus vorgeworfen, er verfehle mit seinen Menschheitszielen die Wirklichkeit des Menschen. Als „Wirklichkeit des Menschen" sollte fortan die vergesellschaftete Existenz des Menschen erkannt und die objektiven Ansprüche an den Menschen betont werden. Ausgegangen werden sollte statt vom Individuum von den Gemeinschaftsordnungen, die den Menschen allererst zu dem machten, was er ist, und die ihn ethisch, politisch und pädagogisch beanspruchten. Anklang fand dieser Trend - weg vom Menschen als autonomem Subjekt und Individuum, hin zu einer den Menschen konstituierenden äußeren Wirklichkeit - gerade bei einigen Strömungen in der evangelischen Kirche und Theologie, die sich wie Magdalene von Tiling oder die Vertreter des Neuluthertums als Träger einer evangelischen Elite verstanden. 138 Zentrale Bedeutung bekam dabei - wie schon am Beispiel der theologischen Entwicklungen Friedrich Gogartens beschrieben - , die Rezeption der philosophischen Richtungen, die die Betonung des autonomen Subjektes grundsätzlich in Frage stellten, wie die Verbindung einer von den jüdischen Philosophen Martin Buber und Franz Rosenzweig angestoßenen Ich-Du-Philosophie mit einer Anthropologie des dialogischen Prinzips.' 39 Auch die „Theologie der Krise" mit ihren prominenten Vertretern Karl Barth, Eduard Thurneysen, Emil Brunner, Friedrich Gogarten und Rudolf Bultmann, die die Rede von Gott als dem „ganz Anderen" erneuerte, insistierte auf der Abwendung vom autonomen Subjekt, um in Abgrenzung dazu eine Theologie des Wortes Gottes zu profilieren. Der anfänglichen Ubereinstimmung der Beteiligten wich jedoch die Trennung in verschiedene Richtungen, die sich nicht eindeutig in Dialektische Theologie und Neuluthertum unterteilen lassen, deren grundlegende Unterscheidung sich jedoch an der unterschiedlichen Betonung der Artikel des Glaubensbekenntnisses ausmachen läßt. Während Karl Barth im Anschluß an den zweiten Glaubensartikel von Jesus Christus als dem einen Herrn für alle Bereiche des Lebens ausging, stellte die dem Luthertum verpflichtete Richtung, wie 138 Einen g u t e n Ü b e r b l i c k z u r G e s c h i c h t e des Religionsunterrichts u n d d e r R e l i g i o n s p ä d a g o g i k in d e r W e i m a r e r R e p u b l i k , d e r die D i s k u s s i o n auf d e m G e b i e t in d e n K o n t e x t d e r P ä d a g o g i k d i s k u s s i o n stellt, bietet KLAUS WEGENAST, R e l i g i o n s p ä d a g o g i k I; KARL ERNST NIPKOW, A r t E r z i e h u n g ; DIKTER STOODT, A r b e i t s b u c h z u r G e s c h i c h t e ; sowie d e r k o m m e n tierte Q u e l l e n b a n d von KARL ERNST NIPKOW/FRIEDRICH SCHWEITZER, R e l i g i o n s p ä d a g o g i k , S. 1 9 - 5 6 ; KARL ERNST NIPKOW, A r t R e l i g i o n s p ä d a g o g i k . E i n e a u s f ü h r l i c h e D a r s t e l l u n g d e r u n t e r s c h i e d l i c h e n A n s ä t z e in d e r R e l i g i o n s p ä d a g o g i k bieten FRIEDRICH SCHWEITZER, D i e Religion des K i n d e s ; sowie JÖRG OHLEMACHER/HEINZ SCHMIDT, G r u n d l a g e n d e r evangelischen R e l i g i o n s p ä d a g o g i k . 139 Vgl. MARTIN BUBER, Ich u n d D u (1923).
182
Die Theologie der Geschlechterbeziehungen
an Gogarten und von Tiling bereits an anderer Stelle aufgezeigt worden ist, gemäß der neueren Interpretationen der Theologie Martin Luthers den ersten Artikel in den Vordergrund ihrer Konzeption: Gott ist Schöpfer und Erhalter der Menschen. Durch die gottgewollten weltlichen Ordnungen schützt und bewahrt er den sündigen Menschen vor Bindungslosigkeit und Selbstüberhebung. Den weltlichen Ordnungen wie Familie, Staat, Volk gebührt deshalb Gehorsam. Die Aufgabe der Verkündigung des Wortes Gottes wurde von beiden Richtungen als zentral für den Religionsunterricht angesehen. In diesem Sinne veränderte sich auch der Schwerpunkt der pädagogischen Theoriebildung Magdalene von Tilings: Hatte sie bis Mitte der zwanziger Jahre vorwiegend zu didaktisch-methodischen Fragen des Religionsunterrichts in den Schriften des sich dem konservativen Luthertum verpflichteten Religionspädagogen Otto Eberhard publiziert, 140 war nun nicht mehr nur die Neukonzeption des Religionsunterrichts im Blick; ihr Anliegen war jetzt umfassender: Es betraf den gesamten Bereich der Erziehung und berücksichtigte alle erziehenden Ordnungen wie Familie, Sitte, Volk und Staat. Magdalene von Tiling versuchte damit zugleich einer Situation gerecht zu werden, die die Krise der evangelischen Kirche und deren Bildungseinrichtungen betraf. Denn durch die weltanschauliche Neutralität des Weimarer Staates hatte die protestantische Theologie und Kirche ihre Rolle als Aufsichtsinstanz der öffentlichen Erziehung verloren, und so standen auch die konfessionellen Schulen wie auch der Religionsunterricht unter dem Zwang, ihre Notwendigkeit und Legitimität unter Beweis zu stellen.141 So ging es von Tiling darum, den originären Beitrag einer reformatorischen Pädagogik für die gesamte gesellschaftliche Ent-
140 o n - Q EBERHARD, Arbeitsschulmäßiger Religionsunterricht; DERS., Lebendiger Religionsunterricht MAGDALENE VON TILING hat zu beiden Bänden beigetragen sowie eine jugendkundliche Studie verfaßt: „Die religiöse und sittliche Not der Schüler höherer Lehranstalten", S. 155 ff. Die Publikationen des sich selbst zu den „Positiv-Modemen" zählenden Religionspädagogen galten als wegweisend auf didaktisch-methodischem Gebiet; vgl. KARLERNST NIPKOW/FRIEDRICH SCHWEITZER, R e l i g i o n s p ä d a g o g i k , S. 2 2 ; FRIEDRICH SCHWEITZER,
Die Religion des Kindes, S. 288-299. Weitere methodische Aufsätze von Tilings Anfang der zwanziger Jahre finden sich im NACHRICHTENBLATT DER VER: Zur Methodik des Religionsunterrichts vgl. MITTEILUNGSBLATT DER KvR 4, April/Mai 1913, S. 2 ff.; 5, Februar/März 1914, S. 6 ff.; weiter im MITTEILUNGSBLATT DER VER 4, April 1919, S. 6 ff.; Juli 1919, S. 4 ff.; April 1920, S. 2 ff.; September 1920, S. 6 ff. 141 Magdalene von Tiling hatte in der Debatte um die Stellung des Religionsunterrichts in der Deutschen Oberschule 1924 gemeinsam mit Karl Mützelfeld gegen die Entwürfe des Ministerialrats Hans Richerts zu den „Richtlinien für die Lehrpläne der Schulen Preußens" votiert und in ihrer Denkschrift für den Evangelischen Oberkirchenrat die religionsgeschichtliche und historisch-kulturkundliche Ausrichtung des Religionsunterrichts als Theologie des vorigen Jahrhunderts abgelehnt. Vgl. dazu PETER C. BLOTH, Religion in den Schulen Preußens, S. 228 f.
Die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Pädagogik
183
wicklung herauszustellen; also eine reformatorische Pädagogik als Ausgangspunkt der gesellschaftlichen Krisenbewältigung einzusetzen, ohne daß sich diese nominell als „evangelische Pädagogik" präsentierte. Zum einen waren als Träger und Multiplikatoren für dieses identitätsstiftende Projekt auch die evangelischen Bildungseinrichtungen und das evangelisch geprägte Lehrpersonal vorgesehen, was diesem im Gegenzug ein neues Bewußtsein und Selbstverständnis vermitteln sollte. Zum anderen sollten sich auch nicht-evangelisch orientierte Pädagogen und Pädagoginnen mit dem Projekt der neuen Erziehung identifizieren. Erfolg konnte dieses Unternehmen jedoch nur zeitigen, wenn eine feste Gruppe wissenschaftlich-theologisch arbeitender Personen dafür einstand und wenn eine institutionelle Rückbindung vorhanden war. Damit wurde zugleich der Anspruch erhoben, daß hier eine der seit 1918 an den Universitäten etablierten Pädagogik ebenbürtige wissenschaftliche Arbeit geleistet werde.142 Einen ersten Schritt in diese Richtung erreichte Magdalene von Tiling mit der Gründung der Evangelischen Schulvereinigung im Jahr 1926, die als eine Art Dachverband der vorhandenen privaten Schulen in evangelisch-kirchlicher Trägerschaft dienen sollte.143 Mit der Zeitschrift „Schule und Evangelium", die nun zugleich als Organ der Evangelischen Schulvereinigung und als Schulzeitschrift der Inneren Mission fungierte, war ein Medium der Vernetzung gegeben, das sowohl Informationen über die einzelnen Mitgliederverbände bot als auch das Diskussionsforum darstellte, auf dem in den nächsten Jahren die neuen pädagogischen Ansätze veröffentlicht werden sollten. Allein die Tatsache, daß es sich bei der 142 Mit der Etablierung als Wissenschaft an den Universitäten gelangte die Pädagogik in Distanz sowohl zum Staat als auch zur Kirche, die früher Pädagogik und Schule stark beeinflußt hatte, und wurde als Wissenschaft den anderen Disziplinen gleichgestellt Zur Institutionalisierung der Pädagogik an den Universitäten und Pädagogischen Akademien, die zu zunehmendem Ansehen dieser Disziplin in der Öffentlichkeit führte, und dem damit einhergehenden Streit um die Autonomie der Pädagogik gegenüber den anderen Disziplinen wie der Theologie mit eigenen Theorien und Fragestellungen vgl. HANS-ELMAR TENORTH, Pädagogisches Denken, S. 110-153. 143 Damit läßt sich das Anliegen von Tilings und der Gründungsmitglieder der Evangelischen Schulvereinigung und die daraus hervorgehende wissenschaftliche Tätigkeit denjenigen Organisationen zuordnen, die neben der universitären, sich als unpolitisch und nicht konfessionell gebunden verstehenden wissenschaftlichen Pädagogik entstanden und während der Weimarer Republik in enger Verwobenheit mit politischen Optionen sozusagen ihre „eigene" Pädagogik entwarfen. Auf katholischer Seite gab es weiterhin eine katholische Erziehungswissenschaft um das Deutsche Institut für wissenschaftliche Pädagogik sowie die 1926 gegründete „Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Pädagogik". Auf protestantischer Seite wurde das Pädagogische Lexikon von H. Schwartz zentral für die Bestandsaufnahme der zeitgenössischen Pädagogik, und das Preußische Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht sah sich zustandig für eine Pädagogik im säkularisierten wissenschaftlichen Anspruch und in Verbindung mit der regierenden Fraktion des Weimarer Staates. Vgl. dazu HEINZ-
ELMAR TKNORTH, P ä d a g o g i s c h e s
Denken.
184
Die Theologie der Geschlechterbeziehungen
Zeitschrift nicht um eine Neugründung, sondern im gewissen Sinne um eine Weiterführung des Mitteilungsblattes des Verbandes evangelischer Religionslehrerinnen handelte, läßt auf den Einfluß von Tilings schließen. Sie stellte also ihre Zeitschrift zur Verfügung und sicherte sich damit weiterhin die Herausgeberinnenschaft. 144 Die ausgreifende inhaltliche Bestimmung durch von Tiling führte jedoch bald zu Auseinandersetzungen mit den Verbänden und den engagierten Mitgliedern. Denn auch der Zusammenschluß zur Evangelischen Schulvereinigung und die Herausgabe einer gemeinsamen Zeitschrift konnten nicht über die existierenden theologischen Unterschiede hinwegtäuschen. So wurde alsbald deutlich, daß von Tiling in der Theologie Gogartens die Grundlage sah, eine in ihrem Sinne lutherische Neuformulierung der Pädagogik zu begründen. Obwohl Gogarten selbst seine Theologie nie pädagogisch ausformuliert hat - das war der Part Magdalene von Tilings - , war er der Gewährsmann bzw. derjenige Theologe, mit dem sich die neue Richtung legitimierte: die Herausarbeitung der Pädagogik auf reformatorischer Grundlage durch von Tiling. Auch wenn Gogarten die pädagogische Interpretation seiner Theologie von Tiling überließ, verweist der Briefwechsel doch auf einen Austausch über pädagogische Fragestellungen und die Mitsprache Gogartens bei Gesetzesentwürfen und Eingaben zur Schulpolitik wie zum Religionsunterricht. 145 Die Evangelische
Schulvereinigung
Angetreten „als eine Vereinigung evangelischer Schulfachleute, die die Belange der evangelischen Schulen vor Behörden und öffentlichen Körperschaften zu vertreten" suchte, war die Evangelische Schulvereinigung 1926 gegründet worden. Mit § 137 der Weimarer Reichsverfassung war die Simultanschule zur Regelschule erklärt worden, die konfessionellen Schulen konnten jedoch als Privatschulen weiterexistieren. Gegen diesen Machtverlust und aufgrund der Erfahrung der bislang gescheiterten Reichsschulgesetzgebung traten die Mitglieder der Evangelischen Schulvereinigung für ein Stärkung der evangelischen Privatschulen ein. Zu den Mitgliedern der Evangelischen Schulvereinigung gehörten Vertreter kirchenleitender Gremien sowie der Inneren Mission, neben von Tiling u. a. der Vertreter der 144
Die Monatsschrift erschien als Organ der der Evangelischen Schulvereinigung angeschlossenen Verbände und des Evangelischen Reichserziehungsverbandes, Abteilung Bildungsarbeit (Innere Mission). Magdalene von Tiling und Karl Mützelfeld übernahmen die Herausgeberschaft, Schriftleiterin war Gertrud Pape. Ab dem 5. Jahrgang, 1930/31 bis zum Ende der Zeitschrift 1938/39 war Magdalene von Tiling alleinige Herausgeberin. 145 Für die dreißiger Jahre vgl. besonders das Schreiben Magdalene von Tilings an Friedrich Gogarten vom 12.12.1936, in dem sie seine Meinung über die von ihr verfaßte Denkschrift hören möchte, bevor sie diese absendet (LKA HANNOVER, N 127/17).
Die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Pädagogik
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Brüdergemeine Walter Hafa, der zugleich als Geschäftsführer der Schulvereinigung zeichnete; Erster Vorsitzender wurde der westfälische Generalsuperintendent, Wilhelm Zöllner. Zu den Mitgliedern gehörten weiterhin der Direktor des Bundes Evangelischer Mädchenschulen, Karl Mützelfeld, der Kirchenrat der evangelisch-lutherischen Kirche in Preußen, Martin Ziemer, und Pastor Julius Disselhoff als Direktor der Konferenz für Lehrdiakonie. Die Schulvereinigung betrachtete ihre Aufgabe als ein „Stück der evangelischen Inneren Mission" und warb damit um Unterstützung bei den verschiedenen Kirchenregierungen und evangelischen Verbänden. 146 Mit der Gründung der Evangelischen Schulvereinigung sah von Tiling die Möglichkeit, im Rahmen des formalen Zusammenschlusses auch die inhaltliche Arbeit voranzutreiben und auf eine breite Grundlage zu stellen.147 Die Denkschrift der Evangelischen Schulvereinigung von 1929 trägt ihre Handschrift, wenn in der pathetisch anmutenden Formulierung die Idee der evangelischen Privatschulen als Elitebildungsinstitutionen aufgenommen wird. Es falle ihnen die Aufgabe zu, „Kraftzentren evangelischen Geistes auszubauen, deutsche Jugend wieder dem Evangelium zuzuführen und eine evangelische Führergeneration heranzubilden." 148 Der Gedanke der Bildung einer Elite, die eine Leitbildfunktion für die Gesellschaft ausüben sollte, war ganz im Sinne von Tilings, die dies bereits mit ihrer „Führerinnengemeinschaft" seit 1923 auf ihr Konzept der Frauenbildung
146
Vgl. auch die D e n k s c h r i f t der Evangelischen Schulvereinigung vom M ä r z 1929 ( A D W
BERLIN, C A
1 3 2 7 , B d . I.).
Die Evangelische Schulvereinigung w a r dem Evangelischen Reichs-Erziehungsverband angeschlossen und ihrerseits Spitzenorganisation d e r Mitgliedsverbände. Mit Sitz im Vorstand gehörten 1931 die zehn folgenden V e r b ä n d e an: Bund zur F ö r d e r u n g evangelischer Knabenschulen und Alumnate unter Leitung von Studiendirektor Friedrich Fliedner aus Gütersloh, d e r Bund evangelischer Mädchenschulen unter Leitung von Karl Mützelfeld aus Kaiserswerth am Rhein, das Erziehungswerk der Brüdergemeine vertreten durch D i r e k t o r U t t e n d ö r f e r , die Evangelisch-lutherische Kirche in Preußen vertreten d u r c h den Kirchenrat M a r t i n Ziemer aus Breslau, der Kaiserswerther Verband und Fachverband der evangelischen Haushaltsschulen vertreten durch Schwester Auguste M o h r m a n n , bzw. Schulrat Schmidt, die K o n f e r e n z f ü r Lehrdiakonie unter Leitung von P a s t o r Disselhoff aus Kaiserswerth am Rhein, d e r Verband evangelischer Religionslehrerinnen vertreten durch Magdalene von Tiling, Berlin Friedenau, die Vereinigung positiver evangelischer Religionslehrer an höheren Schulen unter Leitung von D i r e k t o r Karl Mützelfeld, Kaiserswerth am Rhein, der Centraiausschuß f ü r Innere Mission vertreten d u r c h P a s t o r H e r r m a n n Beutel, die Allgemeine deutsche christliche Philologen-Arbeitskonferenz vertreten durch Oberstudiendirektor D r . K ü h n e aus H e r m a n n s w e r d e r . Vgl. das Schreiben des G e s c h ä f t s f ü h r e r s und Vertreters des Erziehungswerks d e r Brüdergemeine Walter H a f a s an den westfälischen Generalsuperintendent Wilhelm Zoellner am 14.7.1931 ( A D W BERLIN, C A 1327 Bd. II, 1). Zur Geschichte des E R E V v g l . YORK-HERWARTH MEYER, Geschichte des Evangelischen (Reichs-)Erziehungsverbandes. 148 D e n k s c h r i f t d e r Evangelischen Schulvereinigung M ä r z 1929 ( A D W BERLIN, C A 1327 Bd. I.).
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Die Theologie der Geschlechterbeziehungen
angewandt hatte. Dieses Konzept aus der evangelischen Erwachsenenbildung sollte damit auf die Ausbildung an den evangelischen Privatschulen übertragen werden. Ein weiteres Ziel der Schulvereinigung sollte die Heranbildung evangelischer Lehrkräfte sein. Da die Lehrer- und Lehrerinnenausbildung in Preußen seit 1926 auf die staatliche Akademien verlegt worden war, wurde ein bevorstehender Mangel an „christlichen Lehrkräften" befürchtet, obwohl dann auch evangelische Pädagogische Akademien gegründet wurden.149 Durch evangelische Studentenheime, aber auch durch Stipendien sollten „bewußt evangelische Lehrkräfte" gewonnen werden. Finanziert wurde die neue Vereinigung durch die Mitgliedsbeiträge der angeschlossenen Schulen und Verbände. 150 Dem Einfluß von Tilings war es zu verdanken, daß auch das Reichsministerium des Innern sich mit Zuschüssen beteiligte.151 Magdalene von Tilings Rolle bei der Konzeption, Gründung und Ausgestaltung der Evangelischen Schulvereinigung war maßgeblich prägend. Nicht nur die Denkschrift trägt inhaltlich ihre Züge, auch die Satzung war größtenteils ihr Entwurf. 152 Bei der Zeitschrift „Schule und Evangelium" handelte es sich um ein Medium, über dessen Inhalte letztlich Magdalene von Tiling als Herausgeberin verfügte. „Schule und Evangelium" war Eigentum des Verlages Steinkopf in Stuttgart, der von Tiling vertraglich als Herausgeberin verpflichtet hatte. Auch die Evangelische Schulvereinigung stand mit dem Verlag im Vertrag und hatte das Recht, viermal im Jahr acht Seiten mit eigenen Mitteilungen und Artikeln zu füllen. Magdalene von Tiling ließ keinen Zweifel daran, daß sie bestimmte Vorstellungen davon besaß, wie ein Neuformulierung der Pädagogik auszusehen habe.
149 Der preußische Kultusminister Carl Heinrich Becker hatte 1926 die Gründung der Pädagogischen Akademien vollzogen, die bisherigen sechsjährigen Lehrerseminare in Preußen geschlossen und durch eine zweijährige Ausbildung an den pädagogischen Akademien
e r s e t z t ; v g l . CARL H E I N R I C H BECKER, D i e P ä d a g o g i s c h e n A k a d e m i e n ; ERICH W E N D E , C . H .
Becker; PETER C. BLOTH, Religion an den Schulen Preußens, S. 221; HEINZ-ELMAR T E N O R T H , P ä d a g o g i s c h e s D e n k e n , S. 1 2 1 . V g l . a u c h K U R T Z I E R O L D / P A U L ROTHKUGEL, D i e
Pädagogischen Akademien. 150 Die Konferenz für Lehrdiakonie zahlte 10.000 R M im Jahr, die evangelische Brüdergemeine 1.600 RM. Die Evangelische Schulvereinigung war verpflichtet, den ihr angeschlossenen Schulen je ein Exemplar der Zeitschrift zu liefern. Vgl. das Memorandum von Walter H a f a (LKA HANNOVER, N 127/34). 151 Das Reichsministerium des Innern hatte 1930 5.000 R M zur Verfügung gestellt. 152 Vgl. z. B den Entwurf zur Satzungsänderung 1929, den Magdalene von Tiling an alle Mitglieder des Arbeitsausschusses mit Begleitschreiben vom 6.3.1929 sandte (ADW BERLIN, CA 1327 Bd. I.). Auch der Geschäftsführer der Evangelischen Schulvereinigung, Walter Hafa, weist in seinem Schreiben vom 14.7.1931 an Generalsuperintendent Wilhelm Zoellner, dem ersten Vorsitzenden, darauf hin, daß die Satzung „größtenteils von Frau D. von Tiling entworfen und formuliert ist" (ADW BERLIN, CA 1327 Bd. II, 1).
Die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Pädagogik
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Konnten sich unter der „konservativen Richtung des positiven Christentums" alle beteiligten Parteien zusammenfinden, ging es von Tiling um ein Weiterdenken lutherischer Theologie und um die pädagogisch-theologische Umsetzung der Theologie Friedrich Gogartens. Dieser wurde als Referent zu Veranstaltungen der Evangelischen Schulvereinigung gebeten und war ständiger Mitarbeiter von „Schule und Evangelium". War die Zeitung in den ersten drei Jahrgängen noch das Forum für einen breiten Kreis pädagogisch Arbeitender, läßt sich spätestens seit 1929 die Festlegung auf die Gogartensche Linie feststellen. Dies zeigt sich beispielsweise an der Abrechnung mit Mitarbeitern früherer Jahrgänge in von Tilings Aufsatz Uber die Grundlagen pädagogischen Denkens von 1929.153 Die Polemik gegenüber den pädagogischen Ansätzen, die eine „evangelische Pädagogik", eine „evangelische Erziehung" oder eine „Pädagogik des Glaubens" favorisierten, führte in den Sitzungen des Arbeitsausschusses der Evangelischen Schulvereinigung zunehmend zu Diskussionen um die Programmatik und die weitere Zusammenarbeit, wobei Magdalene von Tiling ihre Richtung stets verteidigte: „Wenn ich in der Sitzung die Frage aufwerfe, ob wir mit der , Richtung' der Zeitschrift einig seien, so wird dies stets bejaht, aber mit der ,Richtung der Zeitschrift' ist d o c h nicht das gemeint, was man früher ,positives Christentum' nannte. Es ist vielmehr dies gemeint, ob wir von der tatsächlichen Neubesinnung aus auf das, was reformatorischer Glaube ist, an den Neubau der Pädagogik gehen wollen. [ . . . ] D e s h a l b darf der Vorstand der Evangelischen Schulvereinigung sich nicht wundern, wenn ich immer wieder die Ausstellung an der ,Richtung' oder ,Prägung' oder die nahe Beziehung zu D . Gogarten oder den Vorwurf der Einseitigkeit als eine Uneinigkeit in der Sache empfinde." 154
Diese klare Festlegung der Zeitschrift und damit der Programmatik der Evangelischen Schulvereinigung auf die Theologie Gogartens mußte früher oder später zum Eklat führen. 1930 erstellte Walter Hafa ein Memorandum, das die Arbeit von Tilings als Herausgeberin scharf kritisierte.155 Der Streit entzündetet sich am Stil der Herausgeberschaft und der inhaltlichen Linie von „Schule und Evangelium". Walter Hafa formulierte „persönliche 153
Vgl. SCHUEV 4, Mai 1929, S. 27. Hier grenzt sie sich gegen Ansätze einer evangelischen Pädagogik Friedrich Fliedners ab, der den „chrisdichen Charakter" als höchstes Erziehungsziel sieht. Ebenso polemisiert sie gegen den Ansatz Karl Mützelfelds, der in Ablehnung des philosophischen Erziehungsziels ein aus dem Evangelium erwachsendes christliches Erziehungsziel anvisiert. Diesen Ansätzen wirft von Tiling die Mißachtung der vorgeblichen Wirklichkeit vor. 154 Magdalene von Tiling, Antwort auf das Memorandum von Herrn Direktor Hafa betreffend die zukünftige Gestaltung von „Schule und Evangelium" vom 24.11.1930 (ADW BERLIN, C A 1 3 2 7 B d . I I , 1). 155
Das Memorandum von Walter Hafa vom 14.11.1930 (LKA HANNOVER, N 127/34).
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Bedenken gegen das persönliche Regiment der Herausgeberin": Sie habe die eingesandten Artikel nur nach eigenem Gutdünken zur Veröffentlichung gebracht und stets lediglich nur einen kleinen Kreis von Autoren berücksichtigt. Neben dem Vorwurf der inhaltlichen Eingriffe in die Gestaltung der Zeitschrift entzündete sich der Streit an zwei weiteren Punkten, die die Person Magdalene von Tilings betrafen. Der eine galt ihrer politischen Mitgliedschaft, der andere ihrer Stellung als Frau. „Nicht daß etwa der Wert der Frau und ihre Befähigung zur Leitung infrage gestellt würde, aber man wünscht doch für ein Blatt, daß auch in männlichen Pädagogenkreisen weite Verbreitung finden soll, eine Herausgeberschaft, in der Männer und Frauen gemeinsam Verantwortung tragen und in dem darum auch die Vorzüge der Eigenschaft beider Geschlechter zur Geltung kommen. Es mag auf einem Vorurteil beruhen, ist aber eine Tatsache, an der man nicht vorbeigehen kann, dass eine von einer Frau geleitete Zeitschrift keinen grossen Einfluß auf die Männerwelt ausübt. Weil vielleicht umgekehrt eine von einem einzigen Mann geleitete Zeitschrift von den Kreisen der Frauen nicht wesentlich beachtet wird." 156
Walter Hafa brachte ein Argument in Anschlag, das den Ressentiments der konservativen Kreise gegenüber Frauen in Leitungspositionen entsprach, und plädierte nun im Sinne der stets von der evangelischen Frauenbewegung verfochtenen gemeinsamen Beteiligung der Geschlechter an der gesellschaftlichen Aufgabe für eine zusätzliche männliche Mitherausgeberschaft. Die Behauptung, daß eine weibliche Leitung die männliche Leserschaft abschrecke, ist nicht näher zu belegen; zumindest der Mitarbeiterkreis von „Schule und Evangelium" bestand mehrheitlich aus Männern und wurde vorwiegend - wie auch die Mehrzahl der Artikel - von Schülern Friedrich Gogartens getragen.157 Schwerwiegender noch erschien die Tatsache, daß die Herausgeberin eine bestimmte politische Richtung verkörperte. Walter Hafa berichtete, daß einige Autoren eine Zusammenarbeit abgelehnt hätten, weil sie fürchteten, zu ihrer „Gefolgschaft in politischer, kirchlicher oder pädagogischer Beziehung" hinzugezählt zu werden. Diese Animositäten kamen nicht von ungefähr. Da von Tiling 1930 zur Abgeordneten der D N V P in den Deutschen Reichstag gewählt worden war, ließen sich ihre Einschätzungen und Positionen gegenüber den politischen Verhältnissen nicht verschweigen. Zu ihrer Verteidigung - die den Vorwurf der politischen und theologischen Position allerdings eher bestätigte als entkräftete - verwies sie auf eine seit kurzem eingesetzte breite Rezeption der Zeitschrift in anderen Zeitschriften wie dem „Philologenblatt", dem rechtskonservativen „Ring" und den 156
157
EBD.
Vgl. das Schreiben von Magdalene von Tiling an den Vorstand der Evangelischen Schulvereinigung vom 3.2.1931 (LKA HANNOVER, N 127/34).
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„Preußischen Jahrbüchern"; auch das Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung habe Interesse gezeigt und jeweils fünf Gratisexemplare erhalten. 158
Arbeitsbund für wissenschaftliche Pädagogik auf reformatorischer Grundlage Nachdem absehbar war, daß zwischen den Anliegen Magdalene von Tilings und denen der anderen Vorsitzenden der Evangelischen Schulvereinigung keine Einigung über die inhaltliche Axbeit und die Herausgeberschaft zu erzielen war und sich die Evangelische Schulvereinigung aus der Arbeit der Zeitschrift zurückziehen würde, um eine eigenes Publikationsorgan zu gründen, faßte von Tiling kurzerhand einen Entschluß, mit dem sie für Verblüffung bei der Gegenseite sorgte: Unter dem Vorwand, die Zeitschrift zu halten, forcierte sie einen Zusammenschluß des Verbandes evangelischer Religionslehrerinnen mit dem bislang locker geführten Mitarbeiterkreis um „Schule und Evangelium" zum Verband für evangelischen Religionsunterricht und Pädagogik. Damit waren zwei Entscheidungen getroffen: zum einen die inhaltliche Ausdehnung der Arbeit des Verbandes auf die Pädagogik, so daß der Verband in eine gewisse Parallele mit dem Verband für evangelische Pädagogik rückte; zum anderen die Aufstockung der Zahl von Mitarbeitern. Während der Verband evangelischer Religionslehrerinnen explizit nur Religionslehrerinnen die volle Mitgliedschaft erlaubte, konnten in den neu gegründeten Verband auch Männer aufgenommen werden, und dies auch ohne daß sie Religionsunterricht erteilten. Waren im vorherigen Verband nur Einzelpersönlichkeiten vertreten, konnten nun auch Körperschaften ihre Mitgliedschaft beantragen. Damit war eine breite Basis für die Mitarbeit gegeben. Zudem wurden die bisherigen Mitarbeiter um „Schule und Evangelium" als verantwortlicher Trägerkreis des Verbandes sichtbar und an diesen gebunden. Seit 1930 firmiert auch Gogarten auf dem Titelblatt der Zeitschrift als ständiger Mitarbeiter. D e r Verband für evangelischen Religionsunterricht und Pädagogik verstand sich als einer der drei Anfang der dreißiger Jahre existierenden größeren Arbeitsgruppen, die mit der Absicht gegründet worden waren, „vom evangelischen Glauben aus, wissenschaftlich an der Pädagogik zu arbeiten". 159 Die inhaltliche Arbeit sollte auf dem Wort Gottes und den 158
Magdalene von Tiling, Antwort auf das Memorandum von Herrn D i r e k t o r H a f a vom
24.11.1930
(ADW
BERLIN, C A
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Bd. II,
1).
Daneben gab es zum einen die Arbeitsgemeinschaften der Christlichen Philologen, die ihre Arbeit auf die unmittelbare Praxis und das tägliche Schulleben richteten. Zusammengesetzt aus Lehrern an höheren Schulen und T h e o l o g e n , ohne feste Organisation und zusammenhängend mit dem Deutsch Christlichen Studentenbund waren sie kirchlich orientiert. Zum zweiten die Arbeitsausschüsse und Arbeitstagungen für evangelische Pädagogik in den evangelischen Lehrer- und Lehrerinnenvereinen, die sich um eine wissenschaftliche Pädago159
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kirchlichen Bekenntnisse basieren. Das Eintreten für den Religionsunterricht auf jener Grundlage entsprach dem Anliegen der Schulvereinigung und des Verbandes evangelischer Religionslehrerinnen. Neu war der in der Satzung formulierte Anspruch, „auf dem Gesamtgebiet der Erziehung auf dem Grund reformatorischen Christentums am gesunden Aufbau von Familie, Volk und Staat" mitarbeiten zu wollen. Dieser Anspruch, eine allgemeine Pädagogik zu entwickeln, die auf dem Fundament einer theologisch-reformatorischen Grundlage basierte und für alle Bereiche des Lebens gelten und allen Menschen verständlich sein sollte, war ein Teil jenes von Magdalene von Tiling intendierten Projektes einer Gesellschaftsreform, um das diagnostizierte Chaos und das Auseinanderdriften gesellschaftlicher Gruppen durch die Freilegung der Wirklichkeit des Menschen in den Ordnungen zu beenden. Hinsichtlich des Bereiches der Pädagogik war die theologisch-wissenschaftliche Fundierung dieses Projektes durch einen festen Kreis von theologischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu sichern. Sehr zum Ärger einiger Vertreter der Evangelischen Schulvereinigung schritt der Verband am 9. April 1931 schließlich zur Gründung eines Arbeitsbundes für wissenschaftliche Pädagogik auf reformatorischer Grundlage; ärgerlich deshalb, weil die Einrichtung einer wissenschaftlichen Abteilung der Schulvereinigung bereits seit einiger Zeit geplant war, durch die inhaltlichen theologischen Gräben jedoch bislang nicht umgesetzt werden konnte.160 Magdalene von Tiling war ihnen schließlich zuvorgekommen, was sich nun auch durch die Gründung einer Einrichtung mit ähnlichem Namen, dem Arbeitskreis für wissenschaftliche Pädagogik auf reformatorischer Grundlage, nicht mehr rückgängig machen ließ.161 Durch die neue Gründung waren die ministeriellen Zuschüsse und damit die Finanzierung der Zeitschrift bis auf weiteres sichergestellt.162 Zweck des Arbeitsbundes war es, „auf der Grundlage reformatorischen Glaubens und der Bekenntnisse in wissenschaftlicher Arbeit alle Gebiete der Erziehung neu zu erfassen". gik bemühten, ebenfalls vom gläubig-kirchlichen bzw. Gemeinschaftschristentum aus. H i e r waren in erster Linie Volksschullehrer, aber auch Akademiker beteiligt. 160 „Frau von Tiling spielt das Praevenire. Es wird ja in der Öffentlichkeit jetzt wie ein Nachklappen aussehen, wenn wir f ü r die Schulvereinigung eine wissenschaftliche Abteilung' gründen, während v. T . in Wirklichkeit den Gedanken ja von uns hat. Wer gehört nun eigentlich zu dem Kreis, der sich da jetzt um sie sammeln wird? [ . . . ] Ich nehme an, dass die hier sich bildende Gesellschaft von uns abschwenkt" (Schreiben Wilhelm Zoellners an Direktor Karl Mützelfeid vom 22.5.1931; A D W BERLIN, CA 1327 Bd. II, 1). 161 Zur ersten Tagung des Arbeitskreises für wissenschaftliche Pädagogik auf reformatorischer Grundlage wurden G e r h a r d Bohne, Anna Paulsen und Martin Doerne geladen; vgl. d a z u die Teilnahmeliste ( A D W BERLIN, CA 1327 Bd. II, 1). 162 Vgl. das Schreiben Magdalene von Tilings an Oberkonsistorialrat Georg Scholz vom 16.7.1931, in dem sie um die Zusendung der vom Ministerium zugesagten Gelder bittet
(LKA HANNOVER, N 127/34).
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In der Satzung von 1931 war zudem als Ziel formuliert, „einen Neubau des gesamten pädagogischen Denkens in Theorie und Praxis vom reformatorischen Glauben aus mit scharfer Ablehnung jeder idealistischen Grundlage auch innerhalb der evangelischen Kreise herbeizuführen". 1 6 3 Damit hatte sich der Arbeitskreis viel vorgenommen. Die Anliegen des Arbeitsbundes lassen sich in einen Trend einzeichnen, der seit Mitte der zwanziger Jahre zu beobachten ist. 164 N a c h der Satzung von 1931 läßt sich für das pädagogische Projekt von Tilings und ihres Kreises folgendes Profil erfassen: Mit dem Ziel, einen „Neubau des gesamten pädagogischen Denkens in Theorie und Praxis" zu realisieren, verabschiedete man sich von einer lediglich auf den Religionsunterricht ausgerichteten Theoriebildung und beanspruchte, für den gesamten Bereich der Pädagogik richtungsweisend zu sein. Unter Pädagogik sollte die Frage der Erziehung überhaupt thematisiert werden. Hervorgehoben wurde die wissenschaftliche Reflexion der Neugestaltung, die die Gleichstellung von Theorie und Praxis betonte und damit auch die Kluft zwischen Universitätstheologie und kirchlichem bzw. pädagogischem H a n deln überbrücken sollte. Mit der Formulierung, „vom reformatorischen Glauben" aus Pädagogik zu treiben, war die Entscheidung getroffen, sich auf die theologischen Implikationen der neulutherischen Theologie und deren Betonung der Schöpfungsordnungen zu stützen. Gegner der Richtung waren damit die Theologie und Pädagogik liberaler Provenienz, aber auch der reformierten Richtung Karl Barths, die weniger Gott als Schöpfer samt den Schöpfungsordnungen als vielmehr die Christologie in den Vordergrund stellte. Eine Absage erfuhr jede „idealistische Grundlage auch innerhalb der evangelischen Kreise". Damit richtete man sich gegen die aufklärerisch-rationalistische Vorstellung von der Autonomie des Subjektes und der Idee der freien Persönlichkeit, die den Bildungsbegriff vom Anfang der zwanziger Jahre an geprägt hatten, sowie gegen Gruppen innerhalb des liberalen Protestantismus, die sich daran orientierten. Letztlich war es auch der Versuch, die Zuordnung von Theologie und Pädagogik neu zu bestimmen. Seit der Aufklärung war der Theologie und Kirche sukzessive die Definitionsmacht gegenüber der Pädagogik abhanden gekommen; diese hatte sich zur eigenen Disziplin emanzipiert und damit die Theologie in Legiti163 „Eventueller V o r s c h l a g für eine V e r h a n d l u n g s g r u n d l a g e f ü r die nächste Sitzung d e r Ev. Schulvergg. die wissenschaftliche Abteilung d e r Ev. Schulvgg. u. ihre beiden Zeitschriften" ( A D W BERLIN, C A 1327 Bd. I I , 1). D a s D o k u m e n t wurde von von Tiling verfaßt und H a f a am 18.2.1931 vorgelegt; vgl. der Bericht über die Vorgeschichte d e r G r ü n d u n g des Arbeitsbundes für wissenschaftliche P ä d a g o g i k auf reformatorischer G r u n d l a g e vom 12.6.1931, der von C r a m e r und von Tiling unterschrieben ist ( A D W BERLIN, C A 1327 Bd. I I , 1). 1W Zum folgenden vgl. KARL ERNST NLPKOW/FRIEDRICH SCHWEITZER, R e l i g i o n s p ä d a g o g i k ,
S. 19-34.
192
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mationsnöte gebracht. So war man seitdem in der Diskussion zwischen Pädagogik und Theologie stets darum bemüht, die jeweilige Position und den originären Standpunkt zwischen Vernunft und Glauben herauszustellen. Magdalene von Tiling hingegen versuchte - ohne die ursprüngliche Vormachtstellung der Theologie herauszuheben - vom reformatorischen Standpunkt aus eine Pädagogik zu entwickeln, die für alle Menschen durch die Vernunft begreifbar und nachvollziehbar sein sollte.
2. Der Entwurf einer allgemeinen Pädagogik auf reformatorischer Grundlage Die Gedanken des Kreises um die Zeitschrift „Schule und Evangelium" zur „neuen Erziehung" und des sich seit Ende der zwanziger Jahre entwickelnden Programms einer „Pädagogik auf reformatorischer Grundlage" fanden in dem 1932 erschienenen Werk Magdalene von Tilings „Grundlagen pädagogischen Denkens" die erste systematische Darstellung. Auf diese Schrift bezogen sich dann auch die folgenden Veröffentlichungen des Kreises. 165 Hier entwickelte von Tiling Grundkategorien nicht nur für den Religionsunterricht, sondern auch für eine Erziehungslehre im ganzen.' 66 Intendiert war weniger eine Darstellung von Ziel und Methoden der Pädagogik als vielmehr die „Freilegung" bzw. das Aufdecken von den in der alltäglichen „Wirklichkeit des Menschen" vorfindlichen Grundlagen der Erziehung. Es ging also um eine Hermeneutik von gegebenen Strukturen und Erkenntnissen, auf die sich die Pädagogik beziehen sollte. Im Gegensatz zu idealistischen Bildungstheorien postulierte von Tiling, daß diese Grundlagen nicht erst erdacht werden müßten, sondern immer schon vorlägen. In Abgrenzung zu Idealismus und dem Bild des Menschen als autonomes Subjekt formulierte Magdalene von Tiling die Erkenntnis der „neuen Erziehung" folgendermaßen: „Aufgerüttelt aus dem Traum- und Wunschbild von der freien Persönlichkeit des Menschen, fragen wir nun nach der Existenz des Menschen, so, wie er in der Wirklichkeit unseres Lebens vorgefunden wird. Wir begreifen, daß wir Menschen immer unsere Existenz so haben, daß unser Sein auf bestimmte andere Menschen weist, durch die der Mensch das ist, was er ist."167 165 KARL CRAMER schreibt im Vorwort des 1934 erschienenen Buches „Grundfragen pädagogischen Handelns": „So stellt das vorliegende Buch eine abgeschlossene Arbeit für sich dar, bildet aber zugleich eine Fortführung des in zweiter Auflage erschienenen Buches von Magdalene von Tiling ,Grundlagen pädagogischen Denkens'." 166 Vgl. zum folgenden auch FRIEDRICH SCHWEITZER, Religion des Kindes, S. 312-318; weiterhin die kritische Darstellung bei LIESEL-LOTTE HERKENRATH, Politik, Theologie und Pädagogik; dort auch die Rezeption der zeitgenössischen Literatur; vgl. auch EDGAR REIMERS, Recht und Grenzen. 167 MAGDALENE VON TILING, Grundlagen pädagogischen Denkens, S. 15.
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Diese Auffassung vom Menschen, der nicht für sich lebt, sondern immer schon in einem Beziehungsgefüge mit anderen Menschen steht, war nach von Tiling eine „Seinstatsache", eine anthropologische Konstante, die mit der Existenz des Menschen gegeben sei. Sie werde besonders deutlich im Verhältnis der Geschlechter zueinander sowie im Verhältnis der Kinder zu den Eltern, zwischen Lehrern und Schülern. Dieses Verhältnis wurde als Ordnung beschrieben, die dadurch strukturiert sei, daß die Menschen jeweils in einem bestimmten Stand zueinander stehen. Kindsein beispielsweise wurde dementsprechend als Stand bezeichnet.168 Die Erfahrung zeige jedoch, so von Tiling, daß diese Verbundenheit ständig gestört werde und der Mensch sich immer gegen diese anthropologische Grundkonstante seines Seins zur Wehr setze. Bei der Erziehung trete als weiteres Problem hinzu, „daß das Kind sich nach seinem eigenen Lebensgesetz aus seiner ihm eingepflanzten Spontaneität stufenweise zum Erwachsenen entfaltet, daß diese Entwicklung zugleich immer dadurch geschieht, daß das Kind durch den Erwachsenen, aus seiner Autorität, die es hält, bestimmt wird."169 Hier knüpfte von Tiling an ihre bisherigen Einsichten über die in der Reformpädagogik aufgenommene Psychologie des Kindes und seine stufenweise Entwicklung an. Allerdings unterschied sich ihre Zielrichtung von der der Reformpädagogik liberaler Ausrichtung in der Weise, daß sie die Entwicklung des Kindes nicht unter dem Gesichtspunkt der Herausbildung seiner natürlichen Persönlichkeit unterstützen wollte; das Kind sollte vielmehr „von Stufe zu Stufe durch Entfaltung seiner Kräfte und Fähigkeiten, durch Steigerung seines Willens dem Ziel einer Herrschaft über die Natur in dem Maße, als es seine Aufgaben und seinen künftigen Stand und Beruf nötig machen, näher kommen." 170 Das an der Einzelpersönlichkeit orientierte Denken sehe in der Herrschaft über die Natur das einzige Ziel der Erziehung. Dagegen weise das Verständnis von der gegenseitigen Verbundenheit der Menschen den Erwachsenen als eigentliche Aufgabe gegenüber dem Kind zu, dessen Einordnung seiner Selbständigkeit in den Dienst am Nächsten voranzutreiben. Das Verhältnis von Kind und Erwachsenen sei durch Autorität und Gehorsam strukturiert, allerdings nicht als Befehl und Gehorsam, sondern im Sinne der Verantwortung für den anderen in gegenseitiger Anerkennung. „Das Kind wächst n u r dann in ein wirkliches menschliches Leben hinein, wenn das Gewinnen von Unabhängigkeit und geistiger Freiheit, von H e r r schaft über die Umwelt und über sich eingefügt und eingeordnet bleibt in die Bindung an den anderen M e n s c h e n , wenn die H e r r s c h a f t ihren Sinn d a h e r
168
170
EBD., S. 23. EBD., S. 124. Ebd., S. 123.
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bekommt, daß sie Voraussetzung zum Dienst in der Verbundenheit der Menschen ist." 171
Das Kind sollte von Tiling zufolge in der Weise erzogen werden, daß es in seinem Kindsein ernstgenommen und in seiner Entwicklung zur Eigenständigkeit gefördert, seine Existenz aber in den Bezugsrahmen der Allgemeinheit gestellt werde. Magdalene von Tiling sah den Ausgangspunkt der Pädagogik in der Anthropologie und nicht in der Psychologie. Die psychologischen Erkenntnisse seien nur nützlich, wenn das Kind in seiner besonderen Existenz gesehen werde. Friedrich Schweitzer hat diese Erkenntnis von Tilings treffend zusammengefaßt: „Man wird das wohl so zu verstehen haben, daß die anthropologisch richtige Sicht der Psychologie vorausliegt und daß daher die anthropologische Bestimmung der Erziehung einer Aufnahme der psychologischen Erkenntnisse vorausgehen muß."172 Die Aufgabe der Erwachsenen, in erster Linie der Eltern und Lehrenden, gegenüber den Kindern war somit klar bestimmt: Es ging um die „Erziehung des Kindes zum Stehen in den Ordnungen des Lebens".173 Magdalene von Tiling ging also von Beziehungsstrukturen aus, die das Leben bestimmen und die sie von jeher vorgegeben sieht. Erziehung bedeutete hier, in vorgegebene Beziehungen - die vorfindlichen Ordnungen - hineinzuerziehen und die dort jeweils nötigen Verhaltensweisen zu lehren. Nach explizit christlichen Glaubensaussagen suchen Leserinnen und Leser im größten Teil des Buches vergebens. Die ersten 200 Seiten beschäftigen sich mit der „Frage nach dem Menschen", „den Geschlechtern", „der Beziehung von Erwachsenem und Kind" sowie mit „der Erziehung" überhaupt. Erst die letzten 30 Seiten widmen sich der Erziehungsfrage im Lichte des Evangeliums. Erst hier wird auf den christlichen Glauben als Voraussetzung der Pädagogik Magdalene von Tilings ausdrücklich Bezug genommen. Sie begründete ihre Vorgehensweise folgendermaßen: „Im vorstehenden ist mit bewußter Absicht nicht in Worten oder Begriffen des christlichen Glaubens geredet worden. Mit bewußter Absicht: es sollte von dem Erziehungshandeln in seiner Weltlichkeit im Sinne Luthers gesprochen werden. Es sollte innerhalb der Wirklichkeit des menschlichen Lebens und Seins Ort und Wesen des pädagogischen Handelns aufgezeigt und versucht werden, den Ausgangspunkt pädagogischen Denkens rein von der Anerkennung der Wirklichkeit her zu nehmen." 174
Magdalene von Tiling war bestrebt, die vorfindliche „Wirklichkeit" anzuerkennen und von dieser Wirklichkeit her das pädagogische Denken seinen 171 172 173 174
EBD., S. 153. FRIEDRICH SCHWEITZER, Die Religion des Kindes, S. 315. Grundlagen pädagogischen Denkens, S. 190. EBD., S. 202.
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Ausgangspunkt nehmen zu lassen. Die Beschreibung der menschlichen Existenz wie das Ziel der Erziehung sollte jedem von der Vernunft und von der Erfahrung her einsichtig sein. Damit versuchte sie, auf die sich zunehmend säkularisierende Gesellschaft der Weimarer Republik zu reagieren und auch mit denen in Dialog zu treten, die christliche Voraussetzungen expressis verbis nicht teilten. Der Blick auf die erfahrbare Wirklichkeit war in ihren Augen der Anknüpfungspunkt, die Tragfähigkeit der auf Luther zurückgehenden theologischen Perspektiven unter Beweis zu stellen. So geht es im folgenden darum, die theologischen Prämissen und Entscheidungen nachzuzeichnen, die hinter der von von Tiling propagierten vorfindlichen „Wirklichkeit" des Erziehungshandelns standen und letztlich damit eine bestimmte christlich orientierte Interpretation der Wirklichkeit evozierten. Was verstanden Magdalene von Tiling und der ihr angeschlossene Mitarbeiterkreis unter einer Pädagogik auf reformatorischer Grundlage, und welche theologischen Entscheidungen wurden hier getroffen? Dies soll anhand von drei zentralen Begriffen untersucht werden: der Wirklichkeit des Menschen, der Ordnungen der Schöpfung und des Verhältnisses von Gesetz und Evangelium. Die Wirklichkeit des Menschen Zur Erkenntnis der Wirklichkeit des Menschen bedurfte es der Anerkennung bestimmter Voraussetzungen. Eine Grundvoraussetzung betraf das Menschenbild. Hier profilierte Magdalene von Tiling ihre Position gegenüber drei ihrer Meinung nach die Wirklichkeit des Menschen verfehlenden bzw. nur partiell wahrnehmenden zeitgenössischen Strömungen. So sähe die liberale, der Aufklärung verpflichtete Tradition von Tiling zufolge den Menschen als freies, sich selbst bestimmendes Wesen, der nur sich selbst verpflichtet sei und nach seinem eigenen Gesetz dem anderen Menschen gegenübertrete. Die nationalsozialistisch-völkische Richtung begreife den Menschen nur hinsichtlich des biologischen Zusammenhangs von Familie und Rasse, also der Blutsverbundenheit; das Verhältnis zum andern sei bestimmt durch ein Handeln, das nur Blut und Erbmasse förderlich ist. Die dritte Position sei die des Marxismus und der Sozialdemokratie. Hier werde der Mensch von Tilings Uberzeugung nach über die Zugehörigkeit zu einer Klasse definiert. Das Handeln gegenüber anderen richte sich danach, ob sie die Klasse fördere oder schädige.175 Die anthropologische Konstante, auf die sich Magdalene von Tiling diesen Positionen gegenüber bezog, war die Wahrnehmung der gegenseitigen Abhängigkeit der Menschen, die gegenseitige Beziehung aufeinander. 175
EBD., S. 204.
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„Wer anerkennt, daß er sein Leben und Sein nur so hat, daß er dem anderen gehört, der weiß zugleich, daß er nicht H e r r über sich selbst ist, nicht seiner selbst mächtig ist. Der weiß, daß in dem andern Menschen ihm Willen und Anspruch einer Macht gegenübertritt, die ihm dies Leben im Gehören gesetzt hat und der gegenüber er sein ,Dem andern gehören' nur anerkennen und erfüllen kann, der gegenüber die Nichterfüllung Ungehorsam gegenüber dem ist, der Macht über ihn hat." 176
Allen Beziehungsstrukturen der Menschen liege - so von Tiling - die Voraussetzung zugrunde, daß Gott den Menschen erschaffen habe. Gott sei der Schöpfer, von dem jeder Mensch das Sein erhalten habe. Aus dieser Tatsache folge, daß Gott dem Menschen Gebote auferlege und ihn fordere. So binde das Gebot Gottes des Schöpfers den Menschen an den Nächsten. Dies beschrieb von Tiling als „Existenzverbundenheit" 177 , welche es anzuerkennen gelte. Uberhaupt avancierte der Begriff der Anerkennung zum zentralen Begriff im letzten Abschnitt ihrer Schrift: Es müsse anerkannt werden, was „vor aller Augen liegt" und Gott als Schöpfer muß anerkannt werden. Anerkennung bedeutete demnach das Aufdecken und Bejahen von Beziehungsstrukturen: eine „vor aller Ethik, vorhandene menschliche-personale Gebundenheit des Seins an den andern". 178 Magdalene von Tiling betonte eine personale Beziehungsstruktur, in der die Menschen immer schon stünden. Fragt man nach dem Rahmen, in dem diese Beziehungen stattfinden, die jeweils auch das gegenseitige Verhalten - vor aller Ethik - strukturieren, so wird auf die „Ordnungen" verwiesen. Pädagogik als Erziehung in die Ordnungen Wie bereits in den vorhergehenden Kapiteln aufgezeigt, bezog sich von Tiling auf die lutherische Theologie der Ordnungen, die am ersten Glaubensartikel orientiert war. Die Ausführungen der theologischen Denker und Denkerinnen unterschieden sich in der Einschätzung dieser „Ordnungen" als Segen oder Vergeltung, weiterhin in der Ausdifferenzierung dessen, was als göttliche Schöpfungsordnungen in der Welt definiert wurde. So erklärte der Lutheraner Emanuel Hirsch unter dem Eindruck des zerbrechenden gesellschaftlichen Konsenses der Weimarer Republik „Volk und Blutszugehörigkeit" als von Gott gegebene und zu respektierende Ordnungen. 179 Magdalene von Tiling erweiterte die Ordnungsreihe hinsichtlich der Differenzierung der Geschlechter als gottgegebener Urordnung und bezog später auch die Generationen in das Ordnungsverhältnis 176
EBD., S. 2 0 5 .
177
EBD., S. 2 0 6 .
178
EBD.
179
V g l . EMANUF.L HIRSCH, D e u t s c h l a n d s
Schicksal.
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mit ein. Paul Althaus rezipierte von Tiling hinsichtlich der Geschlechterbeziehung als Schöpfungsordnung und entfaltete seine Ethik als Leben in den Ordnungen um die Themen Volk, Rasse, Staat, Politik, Gesellschaft und Kirche180. Im Gegensatz zu der positiven Einschätzung der Schöpfungsordnungen als Erhaltungsordnungen, die das Leben der Menschen strukturieren, erklärte der konservativ-radikale Vertreter lutherischer Theologie, Werner Eiert, diese als Gottes Vergeltung.181 Alle Ordnungen, auch die politischen, entsprechen Gottes Zorn und Vergeltung und sind deshalb Zwang. Auch Friedrich Gogarten sprach in seiner „dialektischen Phase" von Schöpfungsordnungen. Er weigerte sich jedoch, „das Sein und den Anspruch des Anderen mit Hilfe eines irgendwie erdachten Systems der Schöpfungsordnungen" zu deuten, da er hier wiederum menschliches Handeln und Ermessen witterte, das nur dazu diene, das menschliche Leben in festen Ordnungen zu sichern.182 Gegen alle diese „Sicherungsversuche" seiner theologischen Kollegen setzte Gogarten den nur im Glauben erkennbaren, unvermittelt begegnenden Anspruch Gottes im anderen Menschen. In diesem Sinne verband von Tiling Ende der zwanziger Jahre in ihrer Pädagogik eben jene zwei theologischen Denkfiguren miteinander: die Interpretation der Theologie der Schöpfungsordnungen und den Topos der Du-Ich-Beziehung Friedrich Gogartens. Denn das, was „vor Augen liegt", sind die abhängigen Beziehungsstrukturen, die sich im Zusammenleben der Menschen „in den Ordnungen" von Volk und Staat ergeben. Während Gogarten kritisch der Festlegung einer von Gott gegebenen Schöpfungs- und Erhaltungsordnung gegenüberstand, integrierte von Tiling diese personale Beziehung in die vorhandenen „weltlichen Ordnungen". Der oder die Nächste war also derjenige Mensch, der in den Ordnungen von Geschlecht, Familie, Volk und Staat jeweils gegenübergestellt war. Da die Schwerpunkte von Tilings in der Neuformulierung der Geschlechterbeziehung und der Pädagogik lagen, gingen ihre Beispiele stets von den „Urordnungen" Frau-Mann und Eltern-Kind aus. Dabei ist auffällig, daß Magdalene von Tiling sich sehr wohl auf den Topos der Schöpfungsordnungen, wie ihn auch Paul Althaus gebraucht, bezog, in ihrem pädagogischen Entwurf jedoch den Ausdruck vermied, indem sie nur von „Ordnungen" sprach' 83 : 180
PAUL ALTHAUS, Leitsätze d e r Ethik; DERS., G r u n d r i ß der Ethik.
181
V g l . W E R N E R ELKRT, D a s c h r i s t l i c h e
182
Ethos.
FRIEDRICH GOGARTEN, Ich glaube an den dreieinigen G o t t , S. 210. 185 „Deshalb ist auch in den obigen Kapiteln I - V vom Schöpfer und von d e n Schöpfungsordnungen nirgendwo die Rede. W e n n also ein Kritiker mir vorwirft, ich sei von ,Schöpfungs'ordnungen ausgegangen, so ist in die obigen Kapitel etwas hineingelesen w o r d e n , was nicht darinsteht. Ich suche eine Verständigung mit den Lesern, die gewissensmäßig offen sind f ü r den Anspruch vom anderen Menschen her in unserem irdisch-menschlichen Leben" (Grundlagen pädagogischen Denkens, S. 216).
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„Gott gibt und erhält die irdische Existenz der Menschen, indem er sie in ihrer Gebundenheit aneinander in Anspruch und Verantwortung leben läßt, wie sie überall in den Ordnungen unseres Miteinanderlebens in Volk und Staat vorhanden sind. Er läßt uns einander dienen in der personalen Gebundenheit aneinander." 184
Der Rekurs auf die Ordnungstheologie war notwendig, da von Tiling die Ordnungen in der Welt als von Gott gegebene gute Ordnungen begriff. So war auch das Beziehungsgefüge in den Ordnungen von Gott gewollt und seinen Geboten unterstellt; hier begegnete dem Menschen Gottes Anspruch und Wille als Gesetz. Dadurch erhielten auch die „Verbundenheit" oder das Beziehungsgefüge die existentielle Bedeutung, denn erst durch das Gebot wird der Mensch in seiner Existenz getroffen und aufgerufen. Damit geriet auch die Erziehung in die Sphäre von Gesetz und Evangelium. Die Zuordnung von Gesetz und Evangelium Der Versuch, die Pädagogik Magdalene von Tilings in das Koordinatensystem lutherischer Theologie einzuordnen, kommt an der Betrachtung einer prägenden Grundunterscheidung reformatorischer bzw. neuerer lutherischer Theologie nicht vorbei: der Zuordnung von Gesetz und Evangelium. Von Martin Luther seinerzeit als die „höchste Kunst in der Christenheit" bezeichnet, gewann die Bedeutung der Trennung und Zuordnung von Gesetz und Evangelium seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine erneute Relevanz. Besonders in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts entspann sich eine rege Diskussion um Gesetz und Evangelium, die sowohl sozialethisch wie kirchenpolitisch Brisanz erhielt. Bei dem Theologumenon „Gesetz und Evangelium" geht es um dreierlei. Neben dem rechten Verständnis der Schrift, also wie sich in den beiden Testamenten Gesetz und Evangelium zeigen, geht es zweitens um die Klärung des Gottesverständnisses und um die Frage, wie Gott dem sündigen Menschen begegnet. Drittens handelt es sich um die seit dem 19. Jahrhundert in der neulutherischen Theologie getroffene Entscheidung, die in Verbindung mit der „Zwei-Reiche-Lehre" Auswirkungen auf die Ordnungstheologie haben und in ihrer sozialethischen Reflexion zu einem bestimmten Verhältnis von Staat und Kirche führen sollte.185 Bei der Auseinandersetzung um die Zuordnung von Gesetz und Evangelium war jedoch nicht der Aspekt des Evangeliums Zentrum des Streits, sondern vielmehr die Zuordnung des geforderten Wortes Gottes zum verheißenen. 184
Grundlagen pädagogischen Denkens, S. 213. Vgl. zum folgenden MARTIN HONECKER, Einführung in die Theologische Ethik, S. 60-82. 185
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Nach Martin Luther wird die Gerechtigkeit Gottes gnadenhaft erworben, allein im Glauben an die Heilszuwendung Gottes in Jesus Christus. Die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium besagt in diesem Zusammenhang, daß Gott den Menschen voraussetzungslos und als gerechtfertigt anspricht, darin aber den fordernden Charakter nicht ausschließt. Bei Luther sind also Gesetz und Evangelium zwei Formen des einen Wortes Gottes, zwei Seiten einer Medaille, sie gehören untrennbar zusammen. Luther unterscheidet weiterhin das Gesetz in seinem Gebrauch als usus theologicus und als civiliter. Als prinzipiell nicht erfüllbar erweist sich das Gesetz als anklagendes, der Sünde überführendes Wort Gottes (usus theologicus). Allerdings besitzt es für das politische Gemeinwesen einen grundlegenden ordnenden Charakter (usus politicus/civiliter legis). Es kommt ihm keine soteriologische, aber eine sozialpolitische Funktion zu. Das Evangelium wird im Gegensatz zum Gesetz nie als Handlungsanweisung charakterisiert, sondern ist Inbegriff der im Glauben sich ereignenden Ausrichtung des Lebens. Ende des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts tritt im Neuluthertum die Verbindung von Gesetz und Evangelium als dem einen Wort Gottes auseinander. In Verbindung mit dem Gedanken der Schöpfungsordnungen erhält das Gesetz als Wort Gottes ein Ubergewicht: Gott hat die weltlichen Ordnungen geschaffen. Sie sind vorläufig und dienen dazu, die Menschen vor dem Chaos zu bewahren und voreinander zu schützen. In ihnen erhält Gott die Menschen. Zugleich ist hier der Ort, wo Gottes Wort als Gesetz dem Menschen entgegenkommt und dessen Gehorsam verlangt. Schließlich wird die Zuordnung von Gesetz und Evangelium mit dem Theologumenon der „Zwei-Reiche-Lehre" verbunden. Der Begriff findet sich bei Martin Luther selbst nicht, sondern ist erst seit Anfang der zwanziger Jahre Gegenstand theologischer Debatten. 186 .
186 Martin Luther selbst hat im Gegensatz d a z u wechselnde Begriffe verwendet bzw. mit den gleichen Begriffen unterschiedliche Sachverhalte bezeichnet. S o w o h l im Blick auf den Gegensatz von Reich Gottes und Reich des Teufels als auch den Unterschied von geistlichem und weltlichem Regiment spricht Luther von „zwei Reichen". ULRICH DUCHROW hat in seiner Untersuchung „Christenheit und Weltverantwortung" herausgearbeitet, d a ß Luther zwei traditionsgeschichtliche Elemente miteinander verknüpft. Zum einen Augustins Lehre von den zwei civitates, den beiden Herrschaftsverbänden Gottes und des Teufels. Mit dieser verbindet Luther Elemente der mittelalterlichen T h e o l o g i e von den beiden potestates, der geistlichen und der weltlichen Macht. Vgl. dazu auch WOLFGANG HUBER: „Dadurch wird diese Theorie grundlegend modifiziert: D i e geistliche Gewalt wird als geistliches Regiment Gottes verstanden; damit wird der Machtanspruch der mittelalterlichen Kirche negiert. D o c h auch die weltliche G e w a l t wird nun konsequent vom weltlichen Regiment Gottes, von seiner Zuwendung zu seiner Schöpfung her aufgefaßt: damit wird der Bereich der Welt als der Bereich, in dem die Liebe zur Wirksamkeit k o m m e n soll, dargestellt D i e Zweiheit der Regimente steht jedoch nicht beziehungslos neben der Doppelheit der Reiche. Vielmehr sind beide Regimente das Feld der eschatologischen Auseinandersetzung zwischen G o t t und dem Bösen" (WOLFGANG HUBER, Kirche und Öffentlichkeit, S. 439). ULRICH DUCHROW stellt
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Bereits Werner Eiert hatte eine Trennung des Wortes Gottes in Gesetz und Evangelium vorgenommen, so daß er von zwei völlig verschiedenen Worten Gottes sprechen konnte.187 Er identifizierte das Gesetz als Wort des deus absconditus und das Evangelium als Wort des deus revelatus. Paul Althaus nahm nun die beiden Formen des Wortes Gottes gänzlich auseinander und ordnete sie den zwei verschiedenen Reichen bzw. Regimenten Gottes zu: das Evangelium dem geistlichen Regiment, das Gesetz dem weltlichen. Im geistlichen Regiment herrsche Gott durch Wort und Sakrament, im weltlichen zur Erhaltung und Ordnung des zeitlichen Lebens durch die weltlichen Mächte und Gesetze. Damit war der bislang unbestrittene Zusammenhang von usus theologicus - als göttlicher Kritik - und usus politicus - als der bedingten Legitimation der politischen Ordnung abhanden gekommen. Postuliert wurde eine Eigengesetzlichkeit des geistlichen und des weltlichen Bereiches. Damit war eine Kritik an den politischen Verhältnissen von theologischer Seite kaum noch möglich, was allerdings nicht zu einer vermeintlichen Entpolitisierung führte, sondern zu entschieden affirmativen Haltungen gegenüber den politischen Verhältnissen, wie es mit dem Beginn des nationalsozialistischen Staates offensichtlich wurde.188 Die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium sowie Luthers Unterscheidung von den zwei Reichen sind für die Arbeiten Magdalene von Tilings von zentraler Bedeutung. Denn im Beziehungsgefüge der weltlichen Ordnungen („im Reich zur Linken") zeigt sich den Menschen der Anspruch Gottes als Gesetz, als usus theologicus et civilis-. Das „Du sollst" Gottes dabei zur Diskussion, ob nicht von einer Drei-Reiche-Lehre gesprochen werden müßte (Christenheit und Weltverantwortung, S. 526). 187 Zusammengefaßt bei WERNER ELERT, Das christliche Ethos. 188 Der von Paul Althaus und Werner Elert verfaßte Ansbacher Ratschlag befürwortete das Führerprinzip und die nationalsozialistische Rassenpolitik: „Das Gesetz, ,nämlich der unwandelbare Wille Gottes' (Fe. Ep. VI,6) begegnet uns in der Gesamtwirklichkeit unseres Lebens, wie sie durch die Offenbarung Gottes ins Licht gesetzt wird. Es bindet jeden an den Stand, in den er von Gott berufen ist, und verpflichtet uns auf die natürlichen Ordnungen, denen wir unterworfen sind, wie Familie, Volk, Rasse (d. h. Blutszusammenhang) . . . In dieser Erkenntnis danken wir als glaubende Christen Gott dem Herrn, daß er unser Volk in seiner Not den Führer als ,frommen und getreuen Oberherrn' geschenkt hat und in der nationalsozialistischen Staatsordnung, ,gut-Regiment', ein Regiment mit ,Zucht und Ehre' bestreiten will" (zitiert nach KURT DIETRICH SCHMIDT, Die Bekenntnisse und grundsätzlichen Äußerungen zur Kirchenfrage, Bd. 2, S. 103). Für Luther ist das weltliche Regiment einerseits negativ konnotiert als Mittel gegen die sozialen Folgen der Sünde. Anderseits bezieht er es positiv auf die Erhaltung der Schöpfung. Für das weltliche Regiment ist jedoch nicht allein die Gewalt kennzeichnend, sondern in diesem Bereich soll sich die Zusammenarbeit von Gott und Mensch erweisen. Luther sieht diese in den drei Ständen (Nähr-, Wehr- und Lehrstand), die er auf eine Stufe stellt, gewährleistet. Der politische Stand ist dem status oeconomicus und dem status ecclesiasticus gleichgestellt. In allen drei Ständen kommt es darauf an, daß der Mensch als cooperator dei seinen Mitmenschen zur Seite steht (WA 15, 625, 7).
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begegnet dem Menschen in der Ansprache des Nächsten in Stand und Beruf der weltlichen Ordnungen; es wird zur entscheidenden Tatsache seines Lebens. Es konfrontiert den Menschen - also auch die Eltern mit den Kindern, die Lehrer mit den Schülern - mit dem Gesetz Gottes, dem er letztlich nicht genügen kann. In der Wirklichkeit der weltlichen Ordnungen entlarvt sich nach Magdalene von Tiling jede Ideologie, die sich ein „Bild vom Kinde" zu machen sucht und von der freien Persönlichkeit spricht. Somit steht die Pädagogik im Bereich des Gesetzes. Das Evangelium zwingt dagegen zur sachlichen Betrachtung der Wirklichkeit, weil es den Illusionen über das Kind widerspricht, die diese Wirklichkeit verfehlen.189 „Die Kirche muß diese personale Verbundenheit der Menschen im irdischen Leben, den Anspruch, die Forderung, die aus ihr erwächst, als Gottes G e s e t z erkennen lehren, der darin den Menschen ihr irdisch-menschliches Leben erhält. Sie muß zeigen, wie hier in dieser irdisch-menschlichen Verbundenheit der Menschen, in der Erfüllung des Anspruchs, der in Volk und Staat an sie ergeht, immer zugleich Gottes ewige Forderung, daß der Mensch in solcher Gebundenheit ganz des anderen sei und ganz seinem Schöpfer gehöre, da ist, aber nie von dem Menschen erfüllt wird." 190
So wird auch die Pädagogik in das Beziehungsgefüge der Menschen gestellt und damit unter das von Gott in seiner Schöpfung gegebene Gesetz. Damit stehen Eltern und Erzieherinnen und Erzieher in unmittelbarer Beziehung zum Kinde und sind dem Anspruch Gottes gegenüber dem Kind ausgesetzt. Der Anspruch Gottes als Gesetz tritt den Erwachsenen in den zu erziehenden Kindern entgegen. „Es handelt sich immer darum, den wirklichen Anspruch des uns gegenübergestellten Menschen, hier des Kindes an den Erzieher, vom Gewissen her zu bejahen und damit zugleich anzuerkennen, d a ß man des gegenübergestellten Menschen, hier des Kindes, nicht mächtig ist." 191
Die Ziele der Erziehung sind also letztlich nicht verfügbar, es gibt keine Idee, zu der ein Kind erzogen werden soll. Magdalene von Tiling plädierte dafür, die Ansprüche des Kindes in seiner Entwicklung ernst zu nehmen und es nicht durch Idealvorstellungen zu überfordern. Daß dies oft nicht gelinge und die Erziehenden in ihrer Aufgabe versagen, sehen christlich orientierte Erzieherinnen und Erzieher von Tiling zufolge unter anderen Voraussetzungen als die nicht-christlichen, nämlich im Lichte von Gesetz und Evangelium. ,B
1,1
Grundlagen pädagogischen Denkens, S. 223. EBD., S. 214. Ebd., S. 220.
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„Wir reden dann von dem Erzieher als von einem Menschen, der in der Verkündigung den Anspruch Gottes an ihn als sein Geschöpf gehört hat und um das Nichterfüllen des Anspruchs des andern Menschen als Verfehlung der ihm vom Schöpfer gegebenen Existenz, also als Sünde gegen Gott weiß. Wir reden von dem Erzieher, der, indem er das Wort von der Vergebung annimmt, sich von seinem Schöpfer immer wieder in die Wirklichkeit seines Geschöpftseins hineinstellen läßt."192 Magdalene von Tiling wies jedoch eine vorschnelle Vereinnahmung der Pädagogik durch eine christliche Uberzeugung ab. Aus dem Evangelium könne keine Norm abgeleitet und unter dem Evangelium keine neue Erziehung ins Werk gesetzt werden. Im Bewußtsein der säkularen Tendenzen der modernen Gesellschaft betonte sie, daß es sich nicht um ein Sonderwissen der Christen handele: Die Tatsachen der Wirklichkeit menschlicher Seinsverbundenheit seien für alle Menschen nachvollziehbar, denn „dieser Glaube ist nicht ein Besitz oder Kapital, mit dem die weltliche Pädagogik umgeprägt und als ,evangelische Pädagogik' angeboten, gelernt und geübt werden könnte" 193 . Damit unterschied sich der Ansatz von Tilings von den zeitgenössischen Ansätzen einer „evangelischen Pädagogik", wie sie von Wilhelm Koepp zeitgleich entworfen worden war. Dieser warf dem TilingKreis „Gesetzlichkeitspädagogik" vor und profilierte dagegen die Bedeutung des Evangeliums für die Pädagogik. 194 Magdalene von Tiling verwies die Bedeutung des Evangeliums dagegen in den Bereich des Glaubens. Nur der gläubige Mensch sehe hinter der allen anderen Menschen zugänglichen Wirklichkeit Gottes Willen. Das Evangelium diene der Freilegung dessen, was in der Wirklichkeit gegeben ist. Auf die ethische Frage Was sollen wir tun? verwies von Tiling auf die „Wirklichkeit des Daseins". In dieser Wirklichkeit, die Gott gegeben habe, trete Gott dem Menschen entgegen und fordere Gehorsam. Hier gelte es, die Gebundenheit an die Ordnungen zu erkennen und anzuerkennen. Durch das Evangelium werde das Gesetz als Versuch, aus eigener Kraft sein Leben zu gestalten, zwar aufgehoben; aber das Gesetz bleibe als die von Gott der Welt gegebene Ordnung, innerhalb derer die Menschen allein das Leben haben. Die theologische Begründung ist auf die Verkündigung der Kirche bezogen und damit auf den Glauben. Es handelt sich hierbei jedoch nicht um ein Sonderwissen der Christen, das den christlichen Erziehern ein bestimmtes pädagogisches Wissen vermitteln würde. Niemals dürften Christen vorgeben, irgend etwas durch den Glauben oder durch das Evangelium bekommen zu haben, was andere Menschen ohne den Glauben genauso gut wissen können. „Wo man das tut, da verleugnet man einerseits den 1,2 m 1