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German Pages 251 Year 2015
Philosophische Schriften Band 89
Reich und Persönlichkeit Politische und sittliche Dimensionen der Metaphysik in der Freiheitsschrift Schellings
Von Carlos Andrés Ramírez Escobar
Duncker & Humblot · Berlin
CARLOS ANDRÉS RAMÍREZ ESCOBAR
Reich und Persönlichkeit
Philosophische Schriften Band 89
Reich und Persönlichkeit Politische und sittliche Dimensionen der Metaphysik in der Freiheitsschrift Schellings
Von
Carlos Andrés Ramírez Escobar
Duncker & Humblot · Berlin
Die Philosophische Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg hat diese Arbeit im Jahre 2012 als Dissertation angenommen.
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Fremddatenübernahme: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck: buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0935-6053 ISBN 978-3-428-14220-0 (Print) ISBN 978-3-428-54220-8 (E-Book) ISBN 978-3-428-84220-9 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
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Meinen Eltern
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2012 von der Philosophischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg als Dissertation angenommen. Ohne die Unterstützung mehrerer Menschen und Institutionen wäre diese Arbeit nicht möglich gewesen. Die finanzielle Hilfe der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS), des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD), der Universidad Javeriana Cali, COLCIENCIAS und schließlich der Graduiertenakademie der Universität Heidelberg war die Grundvoraussetzung dafür, dass ich mich über mehrere Jahre mit dem Werk Schellings beschäftigen konnte. Unter den Verwandten und Freunden, die mich ermuntert haben, meine Dissertation zu vollenden, möchte ich besonders Dr. Andrea Bauer erwähnen. Ihre Worte und ihre unerschütterliche positive Haltung haben mir die Kraft gegeben, trotz der Schwierigkeiten mit der Arbeit weiter zu gehen. Ihre Freundschaft ist das Beste, das ich während meines Aufenthalts in Deutschland erlebt habe. Die Unterstützung meines Vaters, meiner Mutter, meines Bruders und meiner Tante Ma-el war auch wichtig dafür, dass ich mein Ziel erreicht habe. Ich möchte auch Prof. Dr. Markus Gabriel meinen Dank ausdrücken. Seine angebrachten Bemerkungen und sein moralischer Rückhalt haben mir sehr geholfen, schwierige Phasen meines Promotionsprozesses zu überwinden. Seine mitreißende Begeisterung für das Denken Schellings und seine wissenschaftlich anregenden Texte haben außerdem meine Arbeit geprägt. Prof. Dr. Strohm muss ich natürlich auch erwähnen, denn seine treffenden und gutherzigen Ratschläge waren entscheidend, damit ich meine Promotion beenden konnte. Dr. Reiner Schäfer möchte ich für seine Unterstützung und Hilfsbereitschaft danken. Dr. Cem Kömurcü, Dr. Tobias Dangel und mein Promotionskollege CheHan Huang haben mich in verschiedenen Phasen des Entstehens dieser Dissertation unterstützt. Schließlich möchte ich Frau Hedwig Schilling, Frau Ulrike Muntasser und Frau Bettina Kurz für ihre unschätzbare Hilfe bei der sprachlichen Revision meines Textes danken. Cali, im Frühjahr 2014
Carlos Ramírez
Inhaltsverzeichnis A. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 B. Das sittliche Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 I. Ordnung und Unordnung des menschlichen Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 1. Gibt es eine Ethik bei Schelling? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 2. Keine Sittlichkeit ohne Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 3. Das Böse oder das Grund-Werden des Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 4. Die Wiederherstellung der Persönlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 a) Selbstdistanzierung und Sterblichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 b) Teilnahme an einem Ganzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 c) Ruhe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 d) Selbstbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 e) Harmonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 5. Die geistige Autarkie und ihre Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 II. Die menschliche Freiheit und das Absolute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 1. Sechs Freiheitsstufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 2. Die Rückkehr zur Unentschiedenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 3. Die Unentschiedenheit und der Urgrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 4. Die Entscheidung für das Böse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 5. Die Rückkehr zum Guten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 6. Der Ungrund und die menschliche Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 C. Die politische Dimension der Freiheitsschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 I. Ist Schelling ein politischer Denker? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 II. Die Geschichtlichkeit des politisch Guten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 1. Die politisch-gesellschaftliche Dimension des Bösen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 a) Das Böse als Beschreibung des Geistes der Neuzeit in der Schelling-Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 b) Die Aufklärungskritik in dem Würzburger System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 c) Die Irrationalität der Rationalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 d) Subjektivismus und Schwärmerei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 e) Der umgekehrte Gott und die instrumentelle Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . 131 2. Das neue Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 a) Der entzweite Gott und die geschichtliche Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
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Inhaltsverzeichnis b) Schelling und die Napoleonischen Kriege – eine politisch-geschichtliche Annäherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 c) Napoleon und das Böse – Schellings philosophische Reaktion auf den imperialistischen Cäsarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 d) Imperium als Vorzeichen des Guten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 e) Der Kampf gegen das Böse als notwendige Verzögerung der absoluten Erlösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 III. Christliche Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181
D. Schlussbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 I. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 II. Die Aktualität des Schelling’schen Metaphysik-Verständnisses . . . . . . . . . . . . . 192 1. Henrich, Jonas und Voegelin als Erben Schellings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 2. Bilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246
A. Einführung „Der Himmel ist der Zustand der Freyheit und Unschuld, der höchsten Einheit und Sympathie.“ Schelling, Stuttgarter Privatvorlesungen, 1810
Die klassische Metaphysik ist zugleich Wissenschaft und Soteriologie. Die Suche nach dem letzten Grund von allem, was ist, ist zugleich die Suche nach dem Erfüllungsmaßstab des menschlichen Lebens: dem höchsten Glück.1 Der Metaphysiker ist deswegen nicht nur der, der erklären kann, worauf die Welt letztendlich gründet oder woraus sie eigentlich besteht, sondern derjenige, der, soweit es einem Menschen möglich ist, ein göttliches Leben führt, weil er sich über die Bedürftigkeit und die Begrenztheit, welche er selbst als Sterblicher empfindet, kraft einer intensiven Denkerfahrung erhebt. Angesichts solcher Verflechtung beider Dimensionen der Metaphysik, der wissenschaftlichen und der soteriologischen, stellte Helmut Kuhn die scharfsinnige These auf, ihr Ursprung sei die Verwandlung der sokratischen Frage nach dem Guten an sich in die allgemeinere Frage nach dem Wesen der Dinge, also nach dem, was die Dinge an sich sind.2 Die Seinsfrage entspringe der Sorge um das Heil der Seele und habe daher trotz ihrer Allgemeinheit immer einen Bezug auf das Gute: seiend sei eigentlich dasjenige an allen Dingen, worin ihre Vortrefflichkeit liegt; !qet^ sei folglich auch ein ontologischer Begriff.3 Hat Kuhn recht, darf man dann sagen, dass die soteriologische Dimension der Metaphysik kein Fremdkörper in ihrem wissenschaftlichen Charakter ist, weil die Seinsfrage zugleich die Sorge der Seele um das Gute artikuliert und mit einem Weltbild in Zusammenhang bringt. Das Denken Schellings ist u. a. deswegen der Tradition der klassischen Metaphysik verpflichtet. Die philosophischen Systeme können für ihn nur dann richtig beurteilt werden, wenn ihre Hauptinhalte als „alleinseligmachende Wahrheiten“4 betrachtet werden. Diese Behauptung ist für die Philosophie Schellings und insbesondere für die Freiheitsschrift selbst gültig. Der zentrale Begriff seiner Metaphysik von der reifen Version seiner Identitätsphilosophie an, nämlich Gott5, ist ein Ganzes, das die 1
Obgleich von dem „modernen Moralismus soteriologisch entwertet, sind ,Glück‘ (tyche, fortuna) und Glückseligkeit (eudaimonia, felicitas, beatitudo, skrt, a¯nanda = Wonne, s´rı¯ = Glück, Heil, germ. hamingja) genuin soteriologische Heilsbegriffe.“ Brandner (2002b), S. 147 Fn. 2 Kuhn, S. 128. 3 Vgl. Krämer, 1959. 4 Schelling (1856 – 1861), SW 7, 413. 5 Der Begriff „Gott“, wie Rang richtig bemerkt, ist anfänglich kein zentraler Begriff der Identitätsphilosophie (Rang, S. 40). In ihrer reifsten Darstellung, nämlich in dem „System der gesamten Philosophie“ (1804), ist Gott doch das A und O der Philosophie.
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Metaphysik in der Form des „Systems“ zum Ausdruck bringen soll. Die Wissenschaftlichkeit der Metaphysik fußt auf der Konstruktion im Denken dieses Ganzen mittels der allmählichen Darstellung der Identität des Allgemeinen und des Besonderen. Die Selbstgenerativität der Theorie ist ein Reflex der Lebendigkeit Gottes. Gott ist aber zugleich der Maßstab eines gelungenen Lebens – sowohl für den Einzelnen als auch für die Gemeinschaft –, weil das Gute auf der blo_ysir he` basiert und es kein legitimes sittliches und politisches Leben ohne sie gibt. Die Erkenntnis Gottes erlaubt dem Menschen, ein komplexes Weltbild zu erstellen und das gute Leben zu erreichen. Gott ist das Maß aller Dinge. Der Gott der Freiheitsschrift ist ohne die eigenartige Rezeption der christlichen Tradition seitens Schellings nicht denkbar. Die Freiheitsschrift enthält mehrere Bezüge – manchmal ausdrücklich, manchmal implizit – zu biblischen, vor allem neutestamentlichen Texten, weil Schelling nicht nur anstrebt, dass sein Denken mit dieser religiösen Tradition zusammenpasst, sondern sie mit dem Mittel der Philosophie wiederzubeleben. Schelling spricht ausdrücklich von der „Wiedergeburt der Religion durch die Wissenschaft“6. Dass die Rezeption der Freiheitsschrift, wie es A. Schneider gezeigt hat,7 zum Wiederaufleben eines philosophisch untermauerten christlichen Theismus geführt hat, ist daher nichts Erstaunliches. Trotzdem kann man nicht die Tatsache aus der Sicht verlieren, dass sich die Ontotheologie Schellings um das metaphysische Problem dreht zu bestimmen, was das Seiende ist, und dass ihre Antwort darauf ein Grundmerkmal aller idealistischen Metaphysik voraussetzt: die Selbstbezogenheit als „Index alles Seins“8. Gott ist deswegen „Geist“. Dieser Geist, der die Identität des „Grundes“ und der „Existenz“ ist und beide vermittelt, kann zwar mit dem trinitarischen Gott des Christentums, mit seiner Geschichtlichkeit und mit seiner Schöpfungskraft übereinstimmen, aber er ist vor allem das Resultat einer philosophischen Untersuchung über die Beschaffenheit des Seienden. Die christlichen Merkmale des Gottes der Freiheitsschrift sollen deswegen im Lichte der intellektuellen und existenziellen Anforderungen der Metaphysik interpretiert werden und nicht umgekehrt. Gott ist daher für Schelling der Name für die Totalität des Seienden, sofern sich der Mensch nach seinen Grundeigenschaften fragt und diese als Momente der Selbstvermittlung dieser Totalität betrachtet werden. Der Geist, also die „lebendige Identität“9 des Grundes und der Existenz, ist deswegen ein dynamisches Ganzes, das sich selbst durch die Vermittlung seiner eigenen Momente allmählich als das Ganze hervorbringen kann. Die Theologie ist folglich für Schelling ein „Abstractum der Philosophie“10, falls sie Gott als ein „besonderes Objekt“11 nimmt. Gott ist kein Thema einer „metaphysica specialis“, weil „die 6
Schelling (1856 – 1861), SW 8, 9. Schneider, S. 81. 8 Vgl. Zeltner, S. 281. 9 Schelling (1856 – 1861), SW 7, 364. 10 Schelling (1973), S. 108. 11 Ibid. 7
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Philosophie Gott zugleich als höchsten Erklärungsgrund aller Dinge betrachtet, und daher die Idee Gottes auch über andere Gegenstände verbreitet“.12 Im Rahmen des Pantheismus, den Schelling in der Freiheitsschrift und in den Stuttgarter Privatvorlesungen vertritt, sind die Eigenschaften Gottes und die Formen ihrer Artikulation keine Besonderheit, die von der Beschaffenheit der endlichen Dinge unabhängig ist13. Weiß man, was Gott ist, kann man zugleich wissen, was die endlichen Dinge sind, weil trotz der Differenz zwischen beiden alle Dinge in verschiedenen Graden Ausdrücke Gottes sind und dasjenige, was in ihnen eigentlich ist, von Gott kommt. Die Metaphysik der Freiheitsschrift, deren soteriologische Ansprüche mit der Absicht der Vernunft, ein Weltbild zu bilden, unmittelbar zusammengehen, ist dementsprechend eine „Ontotheologie“.14 Die grundlegende Aufgabe dieser Arbeit besteht darin, den Zusammenhang zwischen dem Seinsverständnis der Freiheitsschrift und ihren sittlichen und politischen Dimensionen zu beweisen und ausführlich zu erläutern, unter der Voraussetzung, dass Schelling dabei das Sein hauptsächlich als „Geist“ begreift. Bei Schelling gibt es keine Trennung zwischen „praktischer Philosophie“ und „theoretischer Philosophie“, weil das Gute – wie bei Spinoza – von der Erkenntnis des Seins abhängt. Die zwei Begriffe, welche laut der hier vorgeschlagenen Interpretation jeweils die sittliche und politische Dimension der Seinserkenntnis zum Ausdruck bringen – nämlich die „Persönlichkeit“ und das „neue Reich“ –, sind geistförmige Strukturen, welche die Verbindung der Trefflichkeit mit einer selbstreflexiven Selbstständigkeit voraussetzen. Gott, der nur als Geist wahrhaftig Gott ist, ist daher die Bedingung aller menschlichen Autarkie, der Autarkie des Individuums und auch der der Gemeinschaft. In dieser Hinsicht ist die folgende Behauptung S. McGuire’s zuzustimmen: „Schelling argues that the Absolute [McGuire meint „Gott“; C.R] is the autonomous source of reality. The Absolute is therefore the horizon of autonomy in which we participate as finite beings. This means that although we do not realize autonomy as finite beings, it is our task to do so. Autonomy is the eternal or ideal reality that constitutes our existence, and the moral demand that we move toward autonomy governs our entire existence.“15 Die Kapitel B. und C. dieser Arbeit beschäftigen sich mit der Erläuterung des sittlichen und des politischen Guten als Abbildungen des göttlichen Geistes, die fünf Eigenschaften desselben, nämlich das Primat des Allgemeinen vor dem Besonderen, die innerliche Ausdifferenzierung, die Vollendetheit, den schöpferischen Charakter und die innere Harmonie, einbeziehen. Das Böse, das auf griechische Begriffe wie pkeomen¸a, st²sir oder ±tan¸a verweist, 12
Ibid. „Schellings Interner Dualismus [Differenzierung zwischen Grund und Existenz in Gott; C.R] ist deshalb allgemeine Ontologie, das heißt, Lehre von der Struktur des Seienden als solchem, die auch auf Gott, insofern er ein bestimmtes Seiendes ist, zutrifft, und Theologie, im Sinne einer Lehre von Gott, durch die das Seiende im Ganzen thematisiert wird“. Hermanni, S. 93 – 94. 14 Heidegger (1971), S. 61 – 62. Vgl. ders. (1978), S. 19 – 42. 15 McGuire, 2011. 13
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doch von Schelling grundsätzlich auf neuzeitliche Phänomene bezogen wird, ist zwar eine Erscheinung des Geistes, aber eine, die diese Eigenschaften zerstört oder verdreht. Das sittliche und das politische Leben sollen für Schelling dazu führen, die wahre Verfassung des Geistes wiederherzustellen. Dazu sind auch freie Entscheidungen von Belang, welche der Kontingenz der Selbstoffenbarung des göttlichen Geistes gerecht werden. Die Erkenntnis des Seins ist keine rein intellektuelle Operation, weil sie auch willentliche Momente impliziert. Unsere Interpretation der Freiheitsschrift geht davon aus, dass der Geist erstens nicht denkbar ist, ohne die Bestimmung des Seins als dasjenige, das nicht durch etwas anderes ist und bezüglich der Differenz überhaupt das Verbindende ist, also die Aneignung der spinozistischen Bestimmung des Seins als das absolut Selbstständige und Vermittelnde in der Identitätsphilosophie Schellings. Wir gehen im Folgenden zweitens davon aus, dass der Begriff „Geist“ der Freiheitsschrift eine Variante des objektiv-idealistischen Programms ist, dem Sein selbst die Selbstbezogenheit des Denkens zu verleihen und dementsprechend seine Selbstständigkeit als die vollständige Selbstvermittlung bewusstseinsförmiger Prinzipien aufzufassen16. Das Sein ist dementsprechend das das Ich transzendierende, unbegrenzte, sich selbst mit sich selbst einende Ganze, das zu der Struktur des menschlichen Denkens isomorph ist und deswegen von demjenigen her, das dem Denken möglich ist, also von seiner Fähigkeit, die Unbegrenztheit des Seins zu vergegenwärtigen und seine einfachsten Momente zu differenzieren und in sich selbst wieder zu artikulieren, erhellt werden kann. Die Identitätsphilosophie, in der Schelling wie Spinoza das absolut Selbstständige und allgemein Verbindende „Gott“ nennt, ist die Phase seines Denkens, die dieses philosophische Programm zum ersten Mal formuliert und systematisch ausführt. 1808/9 hat aber Schelling einige Aspekte derselben revidiert. Die Freiheitsschrift unterscheidet sich deshalb dadurch von den charakteristischen Schriften dieser Phase, dass sie den Gottesbegriff dynamisiert bzw. vergeschichtlicht, einen stärkeren Einklang mit dem christlichen Gedankengut anstrebt, sich partiell dem Theismus zuwendet und deshalb Gott personalisiert und seine Handlungen (die Entscheidung zur Schöpfung der Welt z. B.) für kontingent erklärt, die kognitivistische Begrifflichkeit der Identitätsphilosophie z. T. durch eine praxeologische er16 Der Geist ist in dieser Hinsicht eine Form von unendlicher Subjektivität. Trotzdem werden wir uns im Folgenden nicht auf den Geist als auf eine Form der Subjektivität beziehen, weil sie in der Terminologie der reifen Werke der Identitätsphilosophie, wenn es sich nicht um die Bezeichnung von einem der Pole der absoluten Identität handelt, gewöhnlich mit der endlichen Subjektivität, d.i. mit der „Ichheit“ identifiziert wird. In diesem Sinne spricht Schelling von der „Subjektivität oder Beschränktheit“ (Schelling, (1856 – 1861), SW 5, 7, 278), verbindet die Subjektivität mit dem cartesischen cogito (SW 5, 274), mit dem Denken des frühen Fichtes (SW 6, 128), mit der „Endlichkeit“ (SW 6, 140, 145) oder mit der bloßen „Eigenheit“ (SW 7, 44). Das Absolute und die „objektive Vernunft“ sind nach diesem Sprachgebrauch mit der Subjektivität unverträglich (SW 5, 7; SW 6, 143, 279; SW 7, 182). Die Erkenntnis Gottes geht aus der „Vernichtung der Subjektivität“ hervor (SW 7, 149). Im „Vorbericht“ der Freiheitsschrift sagt Schelling deswegen, dass seine Schrift gegen die „Überzeugung von der vollkommenen Subjektivität alles Denkens und Erkennens“ gerichtet ist (SW 7, 333).
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gänzt, die kantische Moralphilosophie positiv bewertet, das Reale in Gott als einen dunklen Grund deutet, eine sittlich und ontologisch relevante Anthropologie entwickelt und mit der aus theosophischen und neoplatonischen Quellen stammenden Thematik der absoluten, nicht begrifflich einholbaren Einheit die Grenzen der Immanenzmetaphysik sprengt. Allen Unterschieden zum Trotz bleibt der Kern der Freiheitsschrift an die Probleme, Methode und existenzielle Haltung der Identitätsphilosophie gebunden, weil der Geistesbegriff ihr Zentrum ist und dieser trotz vieler Veränderungen auf das Seinsverständnis der Identitätsphilosophie zurückführt. Ist die Identitätsphilosophie eine „Emendation des Systems Spinozas“17 (Peetz), ist die Freiheitsschrift hauptsächlich eine Umdeutung der Identitätsphilosophie auf der Basis von Begriffen der „praktischen Philosophie“ wie „Wille“ oder „Persönlichkeit“, eine Umdeutung, die in der Auffassung Gottes als Geist gipfelt. Ist der Gott der Identitätsphilosophie eine selbstbewusste, absolute, starre Substanz, ist der Gott der Freiheitsschrift ein tätiges, dynamisches, volitives Selbstverhältnis, in das alle endlichen Dinge – einschließlich der Menschen – verwickelt sind. Schelling bleibt aber noch daran interessiert, das Sein als das Selbstständige schlechthin zu deuten, es als die lebendige Identität des Reellen und des Ideellen und als die die Vielheit umfassende Einheit bzw. als Totalität oder All-Einheit zu betrachten, es Selbstbezogenheit zuzuschreiben, sein Isomorphismus mit dem Denken zu erhalten, es sich selbst durch die Ausdifferenzierung und Artikulierung grundsätzlicher Momente des bewussten Lebens des Menschen (wie die kognitiven und die volitiven Phänomene!) erkennen zu lassen, es an das Sehnen des Menschen nach Fülle und Autarkie zu binden. Die Wende zum Theismus, der Willensmetaphysik und der philosophischen Anthropologie modifizieren das Programm der Identitätsphilosophie und z. T. geraten sie in Konflikt mit ihrem Denkrahmen, aber sie bleiben in der Freiheitsschrift auf ihre Grundvoraussetzung angewiesen. In dieser Hinsicht stimmen wir mit demjenigen Teil der Schelling-Forschung überein, der diesen „Übergangstext“18 (Tilliete) nicht vorrangig als eine Antizipation der Spätphilosophie Schellings ansieht19, sondern hauptsächlich als eine Umdeutung 17
Peetz, S. 114. Schneider, S. 82. 19 Der Anspruch Schellings, sein Denken mit einigen Grundgedanken der christlichen Tradition in Einklang zu bringen, fällt in der Tat zusammen mit der praxeologischen Wende seiner Ontologie. Der Schöpfergott des Christentums ist eben der, der sich selbst freiwillig offenbart und sich durch die Geschichte hindurch entfaltet. Es geht dabei nicht um den statischen Gott der Identitätsphilosophie, der durch eine Art von Emanation, ohne willentliches Zutun, die Vielfalt der endlichen Dinge mit setzt, sondern um einen Gott, der sich selbst in der Form einer Persönlichkeit bestimmt. Der Schöpfungsbegriff erlaubt Schelling nun, die Kontingenz und die Geschichtlichkeit der Welt zu begreifen. Daraus wird in der Entwicklung der Philosophie Schellings die Idee eines Gottes resultieren, der, im Unterschied zum Gott des Pantheismus, immer frei ist, sich zu offenbaren oder sich zu verbergen, und dessen Erscheinung ein nicht voraussichtliches Geschehen ist, aber die Freiheitsschrift ist nur die Skizze dieser Auffassung im Rahmen der Denkmuster der Identitätsphilosophie. Wie Alexis Schmidt 1837 bemerkte, setzt der Persönlichkeitsbegriff der Freiheitsschrift grundlegende Momente der Identitätsphilosophie voraus – die vorpersönliche Gestaltung Gottes wird z. B. nach dem 18
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der Identitätsphilosophie, die doch den Weg zur Spätphilosophie eröffnet. Es ist natürlich immer möglich, das Frühere im Lichte des Späteren zu interpretieren, aber – das hat vor allem Q. Skinner in seinen methodologischen Reflexionen über Ideengeschichte erklärt20 – es ist wichtiger, das Spätere von dem Früheren her zu deuten, um dem Autor treu zu bleiben. Der erste Weg wird in unserer Interpretation der Freiheitsschrift nicht ausgeschlossen, und deswegen werden wir z. B. in Kapitel II.6. zeigen, wie Schelling in den Früh-Entwürfen der „Weltalter“ (1811 – 1813) einige Idee der Freiheitsschrift über die Beziehung der menschlichen Freiheit zum Absoluten expliziert, aber der zweite Weg wird den Vorrang haben. Aus diesem Grund werden wir in Übereinstimmung mit C. Danz21, W. Schulz22, B. Sandkaulen23 und S. Peetz24 und Zeitgenossen Schellings wie A. Schmidt25, die Freiheitsschrift vor allem von der Perspektive her der Identitätsphilosophie deuten. Sogar Schelling selbst hat seine eigene Schrift als die Fortsetzung seiner Verteidigung der Identitätsphilosophie gegenüber Eschenmayer interpretiert. Im „Vorbericht“ der Freiheitsschrift weist er auf „Philosophie und Religion“ hin, weil er darin Themen wie die Freiheit des Willens oder das Gute und das Böse, also sittliche Begriffe, behandelt hatte26 und dadurch auf die Kritik Eschenmayers geantwortet hatte. Die Freiheitsschrift ist für ihn eine Erläuterung und eine neue Darstellung der Ideen von „Philosophie und Religion“ (1804), d.i. von einer Schrift, die relativ unbekannt geblieben und „durch Schuld der Darstellung“27 nicht zur vollen Klarheit gekommen war, aber in der Schelling auf die Missverständnisse im Hinblick auf die sittliche Neutralität seiner Identitätsphilosophie geantwortet hatte. „Philosophie und Religion“ antiziVorbild der absoluten Identität konzipiert – und deswegen kann sie nicht als der Wendepunkt zu einem vollkommen neuen christlichen Theismus gelten. Die Freiheitsschrift enthält in der Tat mehrere theistische Elemente und verbindet sie mit der Geschichtlichkeit des Christentums, aber die Persönlichkeit Gottes wird hierbei noch als Lösung des postcartesianischen Problems der Vermittlung des Ideellen und des Reellen gedacht und die Geschichtlichkeit wird hierbei noch, wie es auch in den ersten Weltalter-Entwürfen der Fall ist, als Entwicklung einer im Voraus begriffenen Totalität konzipiert (Hutter, S. 118 – 120, 303 – 306). Die Freiheitsschrift stellt keine definitive Wende zum Theismus dar, wie es C. H. Weiße oder I. H. Fichte glaubten, sondern sie ist vielmehr ein „Pan-Theismus“, wie Furhmans sagt (Fuhrmans (1954), S. 465). Gott, also der göttliche Geist, ist zwar grundsätzlich frei und geschichtlich. Seine Freiheit und seine Geschichtlichkeit werden aber von der Perspektive seiner Selbstvermittlung betrachtet, also von der Perspektive des Vollzugs, durch den sich die Totalität, sich zu seinem internen Dualismus verhaltend, als Totalität setzt. Der Geist ist deswegen hauptsächlich „lebendige Identität“ der Prinzipien. 20 Laut Skinner basiert die rückblickende Rekonstruktion des Sinnes eines Textes auf der „mythology of prolepsis“. Skinner, S. 72 – 74. 21 Danz, S. 86. 22 Schulz, S. 174. 23 Sandkaulen, 2004. 24 Peetz, 1995. 25 Schmidt (1837), S. 49 – 87. 26 Schelling (1856 – 1861), SW 7, 334. 27 Ibid.
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piert in der Tat die Idee der absoluten Transzendenz der Freiheitsschrift, führt außerdem die folgenreiche Idee des „Abfalls“ in den spinozistischen Denkrahmen der Identitätsphilosophie ein und lässt sich deswegen nicht ohne Schwierigkeiten in diese Phase des Denkens Schellings einordnen, aber Schelling sieht diese Schrift nicht als einen Bruch mit den Grundvoraussetzungen seines damaligen philosophischen Systems an und deshalb kann er in seiner spinozistischsten Schrift, im „Würzburger System“, die Ideen von „Philosophie und Religion“, welche die Sittlichkeit betreffen, ohne jede Vermittlung wiederholen. Die Freiheitsschrift enthält daher Thesen über die Willkür, die Bedeutung der Religiosität oder die Sittlichkeit als Pflichterfüllung, die fast wörtlich aus dem „Würzburger System“ stammen und nur unter den Voraussetzungen der Identitätsphilosophie verständlich sind. Das heißt nicht, dass die sittliche Dimension der Freiheitsschrift nur ein Echo der Ideen der Identitätsphilosophie ist, aber es zeigt die starke Kontinuität zwischen dieser und jener. Obwohl die Differenzierung von verschiedenen Perioden des Werkes Schellings hermeneutisch nützlich ist, denn sie erlaubt, die Einführung neuer Elemente und manchmal die Einführung eines neuen Leitgedankens zu identifizieren, der sich auf alle von ihm behandelten Probleme auswirkt, ist es definitiv ein Fehler, die verschiedenen Perioden zu substanzialisieren, als ob es um geschlossene Welten ginge, die miteinander kaum kommunizieren und nur aus ihren eigenen Voraussetzungen leben. Die Wandlungen Schellings können vielleicht besser durch die Metapher des Palimpsests verbildlicht werden als durch die Idee der Zäsuren.28 Schelling ist zwar der Überzeugung, dass die Philosophie „ein Werk der Zeit ist und in einer stetigen Entwicklung begriffen“29, aber diese Entwicklung verläuft derart, dass jede neue Phase die frühere als eine teils gut konservierte, teils umgeformte, teils verwischte Schicht enthält. Weniger metaphorisch gesagt kann man behaupten, dass Schelling manchmal einige Passagen oder sogar bedeutsame Gedankenreihen einer früheren Phase in einer neuen unversehrt lässt, manchmal die Begriffe der überwundenen Phase aus der Sicht der neuen umdeutet und manchmal sie verengt, zur Peripherie schiebt oder einfach zum Verschwinden bringt. Daraus ergibt sich eine Sukzession von Phasen, die, wie Habermas sagt, durch „unterirdische Fäden“30 verbunden werden. Im Bezug auf die Freiheitsschrift hat X. Tilliete deswegen behauptet: „Die 28 Obwohl Jaspers aus unserer Sicht zu weit geht und der Differenzierung verschiedener Phasen des Denkens Schellings eigentlich keinen hermeneutischen Wert beimisst, stimmt er mit unserer Position darin überein, keine Zäsuren im Denken Schellings anzuerkennen: „Schelling hat keines seiner früheren Systeme gesprengt oder durchbrochen, denn er war innerlich jederzeit über sich hinaus. Er manipulierte mit ihnen, war ihnen nicht unterworfen und bewahrt sie in der Folge“ (Jaspers, S. 56). Analysiert man die Entwicklung Schellings, „so überzeugt man sich, dass keine wirklichen Wandlungen der Denkungsart stattfinden, keine wirklich neuen Gehalte auftreten, sondern Bevorzugungen, Verengungen, Auswachsen von längst vorhandenen Keimen, Aneignung von neuen Gehalten seitens der sich gleich bleibenden Denkungsart.“ (Ibid.). 29 Schelling (1856 – 1861), SW X, 3. 30 Habermas (1954), S. 12.
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Sorge, der Perspektive von gestern das Streben von heute anzufügen, ist eine Konstante der Haltung Schellings, sie ist besonders sichtbar in den ,Untersuchungen‘.“31 Gedanken, die tief in der Identitätsphilosophie verwurzelt waren, werden daher „ohne Gewalt“32 in die Freiheitsschrift verpflanzt. Nach der Meinung Tillietes ist die entscheidende Neuigkeit der Freiheitsschrift die metaphysisch und sittlich zentrale Funktion des Willens, aber dies bedeutet keinen radikalen Bruch mit der Identitätsphilosophie33 : „Gewiss geschieht eine Wandlung, sie kommt vom mächtigen Eingriff des Wollens her“; „gleichfalls ändert sich die Vorstellung Gottes als absolute Totalität und lauterste Harmonie durch die Einführung der Begriffe von Leben und Persönlichkeit; aber die Form bleibt“34. Schelling selbst hat auch seine eigene Entwicklung auf diese Weise interpretiert und deswegen die Freiheitsschrift als eine Entwicklung der noch nicht zur vollen Klarheit gekommenen sittlichen Dimension der Identitätsphilosophie betrachtet. Wenn sich Schelling aber nicht der Implikationen der Neuigkeiten der Freiheitsschrift bewusst war und diese mehr enthält, als das, was er selbst 1809 bemerken konnte, ändert sich nichts hinsichtlich des hier vorgeschlagenen Interpretationsansatzes. Die Freiheitsschrift kann in der Tat als der Anfang der „Weltalterphilosophie“ und als eine Antizipation einiger Themen der Spätphilosophie angesehen werden. Darauf hat der Herausgeber der sämtlichen Werke Schellings, sein Sohn Karl Friedrich August, richtig hingewiesen: „Mit dieser [Abhandlung] war Schelling zu einer Philosophie fortgegangen, die zwar materiell an die Naturphilosophie angrenzte, formell aber über die Naturphilosophie und das Identitätssystem hinausging; die Prinzipien des letzteren wurden zwar nicht ausdrücklich verlassen, aber sie wurden bereits in ein Verhältnis zu einer Persönlichkeit, einem Willen gesetzt. Es hatte schon die entschiedene Hinwendung zu dem stattgefunden, was Schelling hernach geschichtliche Philosophie nannte.“35 Die Freiheitsschrift skizziert in der Tat eine Auffassung Gottes, die später nicht nur gegen das Notwendige und nur „Logische“ des Pantheismus Spinozas sondern gegen den Idealismus Hegels gerichtet wurde, und eine Andeutung der Grenzen der als absolute Selbstvermittlung konzipierten Vernunft, ihre eigene Voraussetzungen einzuholen (Schulz). Wenn die „Weltalterphilosophie“, sofern die Problematik der Zeit bzw. der Geschichtlichkeit in den Vordergrund tritt, eine Antizipation der radikalen Geschichtlichkeit und des Geschehenscharakters des Seins in der „Positiven Philosophie“ ist36, kann man auch die Freiheitsschrift als eine erste Skizze einiger Thesen der Spätphilosophie, weil jene einen werdenden, grundsätzlich geschichtlichen Gott postuliert. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Freiheitsschrift vom Denkrahmen der Identitätsphilosophie getrennt werden soll. Statt die vorläufige Formulierung einiger Ideen der Spätphilosophie und der Weltalterphilosophie in der Freiheitsschrift gegen 31 32 33 34 35 36
Tilliete (1975), S. 95. Ibid. S. 100. Vgl. Zeltner, S. 55. Ibid. Schelling (1856 – 1861), SW 8, V-VI. Eine These, die Hutter mit guten Gründen bestreitet. Hutter, S. 118 – 12, 303 – 306).
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ihre partielle Zugehörigkeit zum Denkrahmen der Identitätsphilosophie auszuspielen, sollte man sie eher als einen Übergangstext sehen, in dem sich Schichten von verschiedenen Phasen teils ergänzen, teils überlappen, teils widersprechen. Die Freiheitsschrift stellt ein bedeutsames Moment dieses großen Palimpsests dar, das das Werk Schellings ist, und nicht einen eindeutig zu einer klar differenzierbaren Phase zuzuordnenden Text.37 37
Diesbezüglich soll man außerdem sagen, dass die Periodisierung des Werkes Schellings keine handbuchgemäße Lehre ist. Natürlich ist es möglich, Wendepunkte zu identifizieren, aber es ist in der Schelling-Forschung äußerst umstritten zu bestimmen, welche die grundlegenden Phasen des Denkens Schellings sind und unter welchen Kriterien die Einteilung stattfinden soll. Soll man z. B. von zwei großen Perioden (Frühphilosophie bis zum Identitätssystem und Weltalterphilosophie bis zur Spätphilosophie) wie bei Schulz sprechen (Schulz, S. 13), von drei (frühere bis 1806, mittlere 1806 – 1827 und Spätphilosophie) wie bei Wieland (Wieland, S. 11), von sechs Phasen wie bei Frank (Anfänge bis zum „Transzendentalsystem und zur ersten Konzeption einer Naturphilosophie“, erste Ausbildung der Identitätsphilosophie, reife Phase der Identitätsphilosophie, „Umbruch- und Umbildungsphase“ der Identitätsphilosophie bis die Erlanger und Münchener Weltalter-Philosophie, Spätphilosophie; Frank (1985), S. III) oder davon, dass es nur „einen Schelling gibt“, wie es bei Ehrhardt (Ehrhardt, S. 111 – 122) und tendenziell auch bei Jaspers (Jaspers, S. 62) der Fall ist? Fängt die Spätphilosophie eigentlich 1801 an, wie Fuhrmans behauptet (Fuhrmans (1965), S. 11), oder 1809 wie Baumgartner und Korten sagen (Baumgartner/Korten, S. 10 – 11), oder fängt sie 1827 an, wie Habermas (Habermas (1954), S. 87) und Wieland glauben? Enthalten die Wendungen eine Zäsur, die mit einer neuen Problemstellung zusammengeht, oder eine Akzentsetzung eines einheitliches Problem und ist folglich Schelling wirklich ein „Proteus der Philosophie“ oder ist dies eine „obsolete These“, wie Tilliete sagt? (Tilliete (2004), S. 489. Auch S. 37 und 73). Sandkühler fasst die Diskussion zwischen den Interpretationen Schellings, die auf der Voraussetzung der Kontinuität oder Einheitlichkeit des Denkens Schellings basieren, und denjenigen, die radikale inhaltliche Umbrüche voraussetzen, zusammen (Sandkühler (1970), S. 81 – 87). Kann man außerdem die Periodisierung des Werkes nur auf der Basis der inneren Gründe der philosophischen Entwicklung Schellings betrachten oder bedarf sie, wie Sandkühler meint (ibid. S. 82), eines Bezuges zur Sozialgeschichte? Sind die Kriterien, um das Werk Schellings einzuteilen, für die anerkannten Schelling-Forscher wirklich einheitlich? „Was mit dem Begriff der Epoche gemeint ist“, sagt Zeltner, „scheint überdies zunächst nicht recht deutlich zu sein. Bald es sind sachliche Gesichtspunkte, bald methodisch-systematische, welche den Titel einer Epoche bestimmen. So pflegt man die Epochen der Naturphilosophie, der Freiheitsphilosophie, der Religionsphilosophie zu unterscheiden, während andererseits von der Epoche des transzendentalen Idealismus oder der Identitätsphilosophie die Rede ist. Dergleichen Unterscheidungen ermöglichen wohl eine erste Orientierung, über das Wesen des Schelling-schen Philosophierens, vermögen sie weder im Allgemeinen noch für einen bestimmten Zeitraum Wesentliches auszusagen“ (Zeltner, S. 48). Dazu kommt, dass die Wandlung der Grundlage jeder Phase, also des Kerns der Metaphysik Schellings, nicht unmittelbar und nicht in allen Bereichen dieselbe Wirkung habt. Auf diese Weise kann man z. B. fragen, ob sich die Naturphilosophie zwischen den ersten Entwürfen und der „Darstellung des Naturprozesses“ (1843/44) wirklich drastisch verändert hat (siehe: Andries, 2010) oder ob die verschiedenen Staatsauffassungen Schellings sich zusammen mit den Wandlungen des metaphysischen Gesamtbilds verändert haben oder ob sich jene manchmal gewandelt haben oder unverändert geblieben sind, ohne einen unmittelbaren und direkten Bezug zu diesem (Hollerbach, S. 201 – 202). Alle diese Fragen sollen nicht dazu führen, den hermeneutischen Wert der Anerkennung verschiedener Perioden zu leugnen und in diesem Sinne werden wir, ohne den Anfang und das Ende jeder Phase genau zu datieren, von „Frühphilosophie“, „Identitätsphilosophie“, „Weltalterphase“ oder „Spätphilosophie“ sprechen, aber wir werden diese Phasen nicht als ein unüberwindbares Hindernis ansehen, um
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Ebenso wie wir von einer Interpretationslinie Abstand nehmen werden, welche die Freiheitsschrift als Resultat einer radikalen Zäsur im Denken Schellings betrachtet, werden wir auch die Interpretationen ablehnen, die in der Philosophie Schellings keine bedeutsame sittliche und politische Dimension anerkennen. Die Interpretation der Freiheitsschrift als ein sittlich und politisch bedeutsames Werk, dessen Kern der Begriff „Geist“ ist, stellt sich dem Teil der Schelling-Forschung entgegen, der Schelling für einen sittlich und politisch irrelevanten Denker hält, wenn nicht für einen amoralischen (wie schon Eschenmayer38 und Krause39 andeuten) oder antipolitischen Denker (wie bei dem „ersten“ Sandkühler40). Wie im Folgenden zu zeigen ist, ist diese Interpretation darauf zurückzuführen, dass einerseits die Lebensführung ausschließlich aus der engen Sicht der Ethik begriffen wird, und andererseits, dass das Politische mit dem Staat gleichgesetzt wird. Diese Voraussetzungen verhindern, die sittliche und politische Dimension der Metaphysik Schellings zu fokussieren. Schelling lehnt zwar die „Ethik“ und die „politische Philosophie“ ab, sofern sie beanspruchen, selbstständige Disziplinen zu sein, welche nicht von der Seinsfrage abhängen, aber sein Denken hat keineswegs diese zwei Dimensionen vernachlässigt. Die Tatsache, dass die Metaphysik Schellings beansprucht für das sittliche und politische Leben bedeutsam zu sein, ist aber nicht nur im Rahmen der Schelling-Forschung von Belang. In der zeitgenössischen Philosophie gibt es verschiedene Varianten metaphysischen Denkens, die entweder diese „praktische“ Orientierung der klassischen Metaphysik leugnen oder hingegen jene so stark einschließen, dass ihr Anspruch, ein glaubwürdiges Weltbild hervorzubringen, nicht ernst genommen wird. Die Freiheitsschrift ist ein Beispiel einer Metaphysik, die im Geiste der antiken Philosophie eine notwendige Ausrichtung zum Guten hat und zugleich eine Beschreibung der Grundeigenschaften des Seienden und eine Erklärung des Konstitutionsprozesses der Welt enthält. In diesem Sinne kann sie als Vorbild eines robusten, metaphysischen Denkens gelten. Die zeitgenössische Philosophie lässt sich nicht adäquat als ein „postmetaphysisches Denken“ beschreiben. Habermas’ Anspruch, die ganze abendländische Metaphysik für tot zu erklären,41 weil sie seiner Meinung nach nicht mit den fallibilistischen und antiholistischen Rationalitätskriterien der modernen Wissenschaften und mit dem Geist der demokratisch-liberalen Gesellschaften übereinstimmt, ist ein philosophischer Flop. Auf der einen Seite hat sich schon lange die analytische
Zusammenhänge zu etablieren, sondern als eine Form, die Wandlungen der Leitgedanken Schellings und seine verschiedenen Akzentsetzungen zu identifizieren, ohne die „unterirdischen Fäden“ (Habermas) zwischen den verschiedenen Phasen seines Denkens aus der Sicht zu verlieren. 38 Eschenmayer, S. 90. 39 Krause, S. 269. 40 Sandkühler, 1968. 41 Habermas, 1988.
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Philosophie von der neopositivistischen Metaphysikkritik verabschiedet42 und die metaphysischen Fragen nach der Individuation, der Existenz, der Modalitäten, der Identität oder der Beziehung zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen unter den Bedingungen des linguistic turn intensiv diskutiert.43 Analytische Philosophen wie Tugendhat betrachten ihr eigenes philosophisches Programm als eine Fortsetzung der aristotelischen Metaphysik.44 Autoren wie Quine, Strawson oder Castañeda, welche eine kantisch inspirierte Ontologie betreiben,45 beanspruchen ebenfalls, eine allgemeine Theorie des Seienden hervorzubringen.46 Allen ist die Voraussetzung gemeinsam, dass die Aufklärung semantischer Strukturen zugleich eine Aufklärung der ganzen menschlichen Erfahrung ist. Die analytische Philosophie hat, wie R. Bubner 1987 richtig bemerkte, keineswegs die Ausrichtung der Metaphysik auf das Ganze aufgegeben.47 Die Sprachanalyse hat daher metaethische und metapolitische Konsequenzen, aber im Prinzip tendiert sie, wie auch Bubner bemerkte,48 zur sittlichen und politischen Neutralität und beansprucht nicht, ein Weltbild zu schaffen, das als individuelle und kollektive Orientierung, also als eine existenziell bedeutsame Theorie dienen könnte. Die als Ontologie verstandene Metaphysik der analytischen Philosophie rekonstruiert die sprachlichen Bedingungen einer sinnvollen Erfahrung, aber sie ist keine existenziell bedeutsame Sinngebung.49
42 „Das alte Vorurteil, wonach die Analytische Philosophie das Erbe der neopositivistischen Metaphysik-Kritik angetreten ist, hat endgültig ausgedient“. Brandl/Hieke/Simons, 1995, zitiert in: Runggaldier/Kanzian, S. 11. 43 Simons, 2004. 44 Tugendhat, S. 36, 44 – 54. 45 Loux, S. 6 – 7. Wolf, S. 122. 46 Strawson, S. 53. 47 „Unangesehen der Etiketten bleibt jedoch die Einordnung von Quines Theorie auf dem Niveau jener prinzipiellen Entwürfe zum Verstehen des Gesamtzusammenhangs der Wirklichkeit bedenkenswert, die die große Philosophie von den Griechen bis Heidegger in Bewegung gehalten hat“. Bubner (1987), S. 265. 48 „In der Tat muss für denjenigen, der von der linguistischen Theorie nicht vollends verhext war, besonders die Tendenz der Analytiker unbefriedigend bleiben, auf echte Probleme der Lebensführung mit nichts anderes als philologische Beobachtungen an Feinheiten des englischen Idioms zu reagieren.“ (Ibid. S. 272). Bubner weist jedoch auf einen damals (1987) neuen „existenziellen Ton“ in der analytischen Philosophie hin – z. B. bei Thomas Nagel. 49 Diese Behauptung schließt nicht aus, dass es in der analytischen Philosophie Theorien der Welt gibt, die zur Lebensführung der Individuen beitragen möchten. Wittgensteins „Tractatus“ ist dafür das Vorbild. Einige Texte Thomas Nagels gehören z. B. auch zu dieser Strömung. Einige Varianten der Aneignung der analytischen Philosophie in Deutschland, also diejenigen, die sie mit dem Deutschen Idealismus integrieren (z. B. A.F. Koch, T. Buchheim, W. Hogrebe) oder das Denken Heideggers als Hintergrund haben (A.F. Koch oder Tugendhat), sind auch für die sittliche und politische Dimension der Metaphysik empfindlich. Trotzdem sind einige Klassiker der angelsächsischen, analytischen Philosophie, nämlich Denker wie Strawson oder Quine, repräsentative Beispiele der hier kritisierten Linie. Sofern sie die Tradition der analytischen Philosophie tief geprägt haben, kann man innerhalb gewisser Grenzen ihr Verständnis derselben als beispielhaft betrachten.
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Auf der anderen Seite, und vor allem wegen des großen Einflusses des Denkens Heideggers auf die zeitgenössische Philosophie, aber auch wegen anderer Quellen wie die „Negative Dialektik“ Adornos, ist die Philosophie keineswegs gegen ein zentrales Thema der Metaphysik, nämlich die absolute Transzendenz, und ihre „praktischen“ Folgen unempfindlich geworden. In der zeitgenössischen Ethik und in der politischen Philosophie sind Ansätze, welche von einigen Grundzügen der negativen Theologie geprägt sind, reichlich vorhanden. Die Transzendenz des Anderen bei Levinas oder Derrida oder die politischen Theorien, die O. Marchart als „postfoundational political thought“ (Nancy, Ranciere, Laclau, Badiou) bezeichnet,50 sind Beispiele dafür. Diesen Ansätzen ist vor allem eines gemeinsam: den Verdacht Adornos gegen das Ganze fortzusetzen und das Nicht-Integrierbare, das Nicht-Gegenwärtige, die reine Negativität, in den Vordergrund zu stellen. Der Verdacht gegen das Ganze hat bei den Erben Heideggers und Adornos zu einer Entwertung der Aufgaben der traditionellen Ontologie und vor allem zur Entwertung der Kategorie von Totalität als einem sittlich und politisch zentralen Begriff geführt. Einerseits und trotz der Ausnahmen und Nuancierungen scheinen diese Theorien mehr daran interessiert zu sein, die Grenzen jedes Weltbildes aufzuzeigen, als irgendein Weltbild zu konstruieren. Dies liegt u. a. daran, dass das Denken Heideggers nach der „Kehre“ darauf abzielt, die Struktur der verschiedenen Kapitel der Ontotheologie ans Licht zu bringen, um ihnen eine „falsche“ Problemstellung zuzuschreiben, und nicht einen neuen kategorialen Rahmen zu entwickeln, um die Welt zu denken. Das Denken des zweiten Heidegger ist trotz der Einführung von Begriffen wie „Gestellt“, „Geviert“, „Ereignis“ vor allem eine Metatheorie, welche die metaphysischen Theorien kritisiert, und deshalb ist es nicht erstaunlich, dass sie mit einer Vernachlässigung der Aufgaben einer metaphysischen Theorie erster Ordnung zusammenhängt51. Andererseits ist es natürlich wichtig, wie z. B. bei Laclau das Nicht-Artikulierte in jeder hegemonischen Ordnung zur Erscheinung zu bringen oder wie Derrida die Gerechtigkeit als ein Jenseits des Gesetzes zu denken, aber es ist auch wichtig bestimmen zu können, was ein gutes Gesetz ist oder was eine gute politische Ordnung und nicht einfach das Transzendierte als eine sekundäre Dimension zu betrachten, die sowieso einseitig, „identitär“ und (seins-)vergesslich ist. Dieses fast gnostische Merkmal des politischen und sittlichen Denkens ergibt sich aus der zeitgenössischen Überbetonung der Transzendenz. Die sich selbst vermittelnde All-Einheit und nicht die absolute Transzendenz des Einen ist das Zentrum der Freiheitsschrift, aber die absolute Transzendenz spielt dabei auch eine Rolle. Man kann in diesem Zusammenhang nicht vergessen, dass 50
Marchart, 2007. Heidegger selbst beschreibt sein Projekt, die Metaphysik durch die Besinnung auf ihre eigene Grundlage zu überwinden, als eine „Meta-metaphysik“. (Heidegger (1997), S. 376 – 377). Nicht zufällig spricht er in diesem Zusammenhang gegen die Ontologie: „Die ,Ontologie‘ ist überall nur die Verbreitung des Scheins der seynsgeschichtlichen Seinsfrage und dieser Schein hat eine eigene geschichtliche Aufgabe; er fängt alle die ein, denen jene Vorbedingung des Fragens der seynsgeschichtlichen Seinsfrage fehlt.“ (Ibid. S. 401). 51
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Gott nur nach einem innergöttlichen Prozess als Geist und deshalb auch als „Persönlichkeit“ auftritt. Der Schöpfergott ist immer Geist, aber dieser ist das Resultat eines innergöttlichen Werdens. Anfänglich ist deswegen Gott keine Persönlichkeit: „In dem Ungrund oder der Indifferenz ist keine Persönlichkeit.“52 Schelling spricht vom „Ungrund“ oder von der „Indifferenz“, um den Zustand des Göttlichen vor seiner Personalisierung zu bezeichnen. Der Begriff Indifferenz, wie Tilliete,53 Rang54, Fuhrmans55 oder Schmidt56 bemerken, verweist auf die absolute Identität der Identitätsphilosophie. Schelling konzipiert aber in der Freiheitsschrift das Sein als Wille bzw. Wollen und daher kann er in den „Stuttgarter Privatvorlesungen“ die alte Identität als eine Form von „Unentschiedenheit“ beschreiben: „Den ursprünglichen Zustand stellen wir uns als einen Stand der Gleichgültigkeit und Unentschiedenheit und Unbewusstheit in Gott vor. Wir sind genöthigt, einen solchen Zustand anzunehmen, weil uns sonst keine lebendige Persönlichkeit Gottes begreiflich seyn würde.“57 Die Indifferenz, in der sich der Grund und die Existenz in der „Disjunktion“ oder als „Nichtgegensätze“58 befinden und in der sich daher die verschiedenen Momente des Göttlichen noch nicht differenziert haben, ist ein bewegungsloser, aber zweideutiger, instabiler Zustand des Göttlichen, der dem Geist vorliegt. Die Indifferenz ist in dieser Hinsicht die unpersönliche und deswegen noch nicht sich selbst bestimmen könnende Form der Totalität. Wenn sich Schelling aber in der Freiheitsschrift ausschließlich mit der Indifferenz befasst,59 deutet er auch an, dass die Indifferenz die Disjunktion selbst transzendiert und eher als „die von nichts ergriffene Einheit“60 verstanden werden soll: „Die Indifferenz ist nicht ein Produkt der Gegensätze, noch sind sie implicite in ihr enthalten, sondern sie ist ein eignes von allem Gegensatz geschiedenes Wesen, an dem alle Gegensätze sich brechen, das nichts anderes ist als eben das Nichtsein derselben, und das darum auch kein Prädikat hat als eben das der Prädikatlosigkeit, ohne daß es deswegen ein Nichts oder ein Unding wäre.“61 Diese Einheit, die dem Nichts ähnelt, befindet sich nicht nur jenseits allen Gegensatzes, sondern jenseits jeder Dualität, und deswegen ist sie keine unausdrückliche, latente Selbstbeziehung wie die Indifferenz in der ersten Hinsicht, sondern sie ist die absolute Beziehungslosigkeit. Die absolute Einheit ist außerdem kein Prinzip, woraus etwas anderes resultieren soll, sondern sie ist eher das Vorursprüngliche. Deswegen spricht Schelling in diesem Zusammenhang von dem Ungrund, also von demjenigen, das von der Beziehung auf etwas Begründetes losgelöst 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61
Schelling (1856 – 1861), SW 7, 412. Tilliete (1975), S. 106. Rang, S. 143. Fuhrmans (1954), S. 310. Schmidt (1837), S. 85 – 87. Schelling (1973), S. 128. Schelling (1856 – 1861), SW 7, 407. Schelling (1856 – 1861), SW 7, 406 – 409. Ibid. 408. Ibid. 406.
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ist und sich folglich trotz seiner Ursprünglichkeit nicht als Grund denken lässt. Sofern die Totalität von der idealistischen Perspektive Schellings her auf die immanente Selbstvermittlung Gottes und folglich auf eine tätige Selbstbeziehung verweist, gehört der Ungrund nicht zu der Totalität. Der Ungrund ist die absolute Transzendenz, der nur das Prädikat der „Prädikatlosigkeit“62 zugesprochen werden könnte, weil er sich nicht begrifflich bestimmen lässt. Die „Indifferenz“ der Freiheitsschrift ist auf diese Weise zweideutig, weil sie auf die Identität der Identitätsphilosophie und zugleich auf eine vom Neuplatonismus geprägte absolute Einheit verweist. Dass der Sinn der Indifferenz schwankend ist, wird dadurch bestätigt, dass Schelling vom „Urgrund oder vielmehr Ungrund“63 spricht. Manchmal scheint die Indifferenz der instabile Ursprung des Werdens des Göttlichen, manchmal das Vorursprüngliche zu sein. Schellings Behauptung, der Geist sei nicht das Höchste,64 besagt in dem letzten Sinne der Indifferenz nicht, dass Gott anfänglich noch nicht persönlich war, aber sich durch eine immanente Entwicklung der „gleichgültigen“ Totalität personalisieren konnte, sondern dass die sich selbst vermittelnde Totalität von der absoluten Einheit transzendiert wird. Die Freiheitsschrift enthält daher nicht nur eine „Geistesmetaphysik“, sondern eine „Metaphysik des Einen“,65 für die das Absolute nicht die Form einer alles einschließenden Selbstbeziehung annimmt. Obwohl diese Dimension der Freiheitsschrift nicht sittlich und politisch zentral ist, u. a. deswegen, weil das „Gute“ die freiwillige Nachahmung Gottes als Persönlichkeit ist, erlaubt sie, die Freiheitsschrift mit denjenigen Strömungen der Philosophie des 20. Jahrhunderts, die jeder Totalitätsform misstrauen und auf die Grenzen jeder kategorialen Bestimmung des Seins hinweisen, in Zusammenhang zu bringen. Das Ziel dieser Arbeit in systematischer Perspektive ist es, eine Schrift, die immerhin mit der Adorno-Heidegger-Schule viel gemeinsam hat und, wie die Ausle-
62
Ibid Ibid. 64 Ibid. 405. 65 Halfwassen (2002), S. 19. Auf die Freiheitsschrift verweisend bemerkte J.U. Wirth 1845, dass Schelling anstrebte, diese zwei Gestaltungen der klassischen Metaphysik zu integrieren, und dementsprechend betrachtete er das Denken Schellings und seiner Schüler als die moderne Fortsetzung des Neuplatonismus: „Wenn insbesondere der Neuplatonismus – hierin den von Platon gegebenen Andeutungen folgend – die beiden antithetischen Grundrichtungen der griechischen Philosophie, von welchen die eine darauf ging, Gott als das abgezogene Eins zu fassen, die andere das Absolute als rein actualen Geist zu denken strebe, darin vereignete, daß sie Gott als das Eine begriff, das in sich selbst auf ewige Weise durch die Rückkehr des Emanierenden Geist ist; so wird uns in der neu-schellingschen Philosophie eine ähnlich und gleich originelle Combination der polarischen Gegensätze begegnen, in welche die ihr vorangehende germanische Spekulation auseinander gelaufen war. Wir sagen aber ausdrücklich: der Neu-Schellingianismus ist der Neuplatonismus unserer Zeit, er ist in der Form des modernen, philosophischen Bewusstseins; d. h. er ist der Neuplatonismus in vollendeter, wissenschaftlicher Form“. Wirth, Johann Ulrich. „Die speculative Idee Gottes und die damit zusammenhängenden Probleme der Philosophie: eine kritisch-dogmatische Untersuchung“. Wirth, S. 413 – 414. 63
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gungen von W. Hogrebe66 oder T. Buchheim67 zeigen, mit den Interessen der analytischen Ontologie verträglich ist, gegen das einseitige Verständnis der Metaphysik der zwei erwähnten Strömungen zu mobilisieren. Die Freiheitsschrift ist ein hervorragendes Beispiel metaphysischen Denkens, das einerseits eine sprachphilosophisch deutbare Ontologie enthält68, die nicht von einer sittlichen und politischen Zielsetzung trennbar ist, und andererseits einen starken Begriff der absoluten Transzendenz hat, ohne die Reflexion über die Struktur des Ganzen und über seine politische und sittliche Bedeutung zu vernachlässigen. In Kapitel D. wird sich dann zeigen, inwiefern die Freiheitsschrift in einem sittlichen und politischen Sinne aktuell ist, ohne diese zwei Dimensionen ihres metaphysischen Programms aus der Sicht zu verlieren. Dafür werden wir sie an drei in ihrem Geist verwandten metaphysischen Theorien, nämlich das Denken H. Jonas’, D. Henrichs und E. Voegelins, anknüpfen. Schellings Metaphysik besteht dementsprechend in einem gegen die Technik- und Wachstumsbesessenheit der Moderne gerichteten Denken fort, das das Ganze der Natur nicht als Gegenstand, sondern als ein würdiges, Verantwortung forderndes Quasi-Ich betrachtet; sie besteht auch in einem Denken fort, welches das sittliche Leben als eine Integration anfänglich sich widersprechender Selbstdeutungen durch die Spekulation, also als die Transformation der Innerlichkeit in ein harmonisches Ganzes versteht; die Metaphysik Schellings besteht letztendlich in einem Denken fort, welches das Politische auf der Symbolisierung der Erfahrung der Transzendenz und dementsprechend auf der Zugehörigkeit aller denkenden Menschen zu einer über den Staat hinausgehenden Gemeinschaft gründet. Das Resultat der Interpretation wird also ein Beitrag zur Wiederherstellung des ursprünglichen Sinnes der klassischen Metaphysik mittels der Freiheitsschrift Schellings sein, ein Beitrag, der sich von zwei Fehldeutungen derselben in der zeitgenössischen Philosophie absetzt: von den existenziell neutralen Strömungen der analytischen Ontologie und von der einseitigen Überbetonung der absoluten Transzendenz einiger Repräsentanten der Heidegger-Schule.
66 67 68
Hogrebe, 1989. Buchheim, 1992. Kömürkü, 2001.
B. Das sittliche Leben I. Ordnung und Unordnung des menschlichen Geistes 1. Gibt es eine Ethik bei Schelling? Dass Schellings Philosophie eigentlich keine Ethik enthält, ist ein Vorwurf, der schon in seiner Zeit häufig kursierte. Schelling selbst hat sich dagegen geäußert. Darauf zu reagieren ist z. B. das Ziel des Abschnittes „Freiheit, Sittlichkeit und Seligkeit“ in „Philosophie und Religion“ (1804). In seiner Schrift „Die Philosophie in ihrem Übergang zur Nichtphilosophie“ (1803) hatte C.A. Eschenmayer behauptet, dass die Identitätsphilosophie Vernunftideen wie Schönheit und Wahrheit sorgfältig und tiefgründig thematisiert, aber die Idee der Tugend ausgeschlossen hatte.1 Hauptgrund dafür ist laut Eschenmayer, dass sie „keine Gemeinschaft vernünftiger Wesen“2 konzipierte. Der Vorwurf gründet aber auch darauf, dass Schelling das Erkennen des Absoluten vom Handeln trennte3 und den Begriff „Gewissen“, der für Eschenmayer nicht spekulativ einzuholen ist und mit dem Glauben zusammenhängt,4 ignorierte. In einem freundlichen Brief an Eschenmayer vom April 1804 kündigt Schelling ihm seine Antwort darauf in „Philosophie und Religion“ an, die bald erscheinen sollte, und er gesteht ihm auch dabei, dass ihn die Kritik, sein Denken schließe die Tugend aus, betroffen habe. In seiner eigenen Schrift hat er sie deshalb „etwas härter nehmen müssen, wie ich sie härter für mich empfunden habe“.5 „Philosophie und Religion“ unternimmt in der Tat eine heftige Polemik gegen diesen Vorwurf, deren Grundgedanke die unzertrennliche Verbindung der spekulativen Erkenntnis Gottes mit der wahren Sittlichkeit ist.6 Dass die Argumente Schellings die Bedenken Eschenmayers gegenüber der ethischen Neutralität seiner Philosophie nicht ausräumen konnten, wird dadurch bewiesen, dass sich die Diskussion nach der Veröffentlichung der Freiheitsschrift wieder entzündete. Eschenmayer schreibt einen Brief dazu an Schelling am 18. Oktober 1810 und erinnert ihn an die alten Einwände. Nach der Lektüre der Freiheitsschrift – sagt Eschenmayer dabei – „scheinen mir teils die ehmals vorgebrachten Einwürfe noch nicht ganz entwaffnet.“7 Mit Argumenten, 1 2 3 4 5 6 7
Eschenmayer, S. 90. Ibid. S. 89. Ibid. S. 32, 38. Ibid. S. 33, 53, 87. Schelling (2005), S. 15. Schelling (1856 – 1861), SW 6, 50 – 60. Ibid. SW I, 8, 145.
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die offensichtlich auf Jacobis hinweisen, besteht er wieder auf der Unmöglichkeit, Gott spekulativ zu erfassen. Der einzige Zugang zu Gott ist die Unmittelbarkeit des Glaubens, der sich nicht begrifflich „konstruieren“ lässt. Seine Hauptkritik beruht diesmal jedoch darauf, dass Schellings Freiheitsschrift im Wesentlichen eine Fortsetzung seiner Naturphilosophie ist. Indem die Begriffe der Naturphilosophie auf die raumzeitlichen Dinge und auf den Bereich des Notwendigen verweisen, sind sie für ihn mit der Freiheit und mit dem übersinnlichen Charakter des Sittlichen unverträglich. Eschenmayer bedauert deswegen die physikalistische (Kräfteverhältnisse; das Licht und die Schwere), geometrisierende (Zentrum und Peripherie) oder biologistische (das Böse als Krankheit) Sprache, die Schelling gebraucht, um sich auf sittliche Phänomene zu beziehen, und sieht sogar den Begriff „Indifferenz“, womit Schelling das Wesen Gottes beschreibt, nur als eine Ableitung des Gleichgewichts der Kräfte der Naturphilosophie: „So scheint mir Ihr Versuch über die menschliche Freiheit eine völlige Umwandlung der Ethik in Physik“.8 „Pflicht, Recht, Gewissen und Tugend“ – fragt sich Eschenmayer rhetorisch –, „wo sollen sie ihre wahre Stelle in ihrem System finden?“9. In einem im April 1812 geschriebenen Brief antwortet Schelling darauf: „Wie schon ehemals meinen Sie überhaupt auch jetzt wieder[,] sich besonders der Sittlichkeit gegen mein System annehmen zu müssen“10. Seine Strategie besteht diesmal vorwiegend darin, Retorsionsargumente zu gebrauchen, um die Einwände zu entkräften. Auf diese Weise schreibt er Eschenmayer zu, die Überschätzung des menschlichen Denkens und die Naturalisierung der Ethik in seinen Argumenten gegen ihn voranzutreiben. Hinsichtlich der Bedeutung der Sittlichkeit in der Freiheitsschrift fügt Schelling hierbei keine neuen Thesen hinzu, aber er betrachtet offensichtlich die Interpretation Eschenmayers als eine Missdeutung. Die Interpretation Eschenmayers ist aber kein Einzelfall. In seiner Rezension der Freiheitsschrift im Jahr 1812 schreibt K.C.F. Krause: „Wie wenig überhaupt von einem moralischen Verhältnis zwischen dem Menschen und Gott in diesem System die Rede sein kann, erhellt schon daraus, weil in demselben ein richtiger Begriff vom Sittlichen gänzlich fehlt, an dessen Stelle Naturbegriffe ohne praktische Gehalt erdichtet sind, und das Wollen des Menschen gerade wie jedes andere Naturereignis betrachtet wird“11. Krause ist auch der Ansicht, dass die Freiheitsschrift nichts anderes als Naturphilosophie ist und mithin einen Determinismus verkündet, der die menschliche Freiheit leugnet. Dies zeigt sich für ihn vor allem darin, dass Schelling insofern die Zurechnungsfähigkeit der bösen Handlungen undenkbar macht, als er das „Willenlose“, also die Natur im Menschen, in den Bereich der Freiheit eindringen lässt: „Wie könnte [sich] auch ein Bösewicht leichter entschuldigen, als durch dergleichen natürliche Verwandtschaft mit den des vernünftigen Wollens unfähigen 8
Ibid. SW I, 8, 150. Ibid. 10 Ibid. SW I, 8, 175. 11 Krause, S. 269.
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Geschöpfen Gottes“.12 Die „Vorzeichen des Bösen“ in der Natur, die mit der Wahl des Bösen zusammenhängen, werden als eine Determination interpretiert, der sich kein Mensch entziehen kann. Die „intelligible Tat“ ändert nach Krause daran nichts, weil sie eine den ontologischen Thesen der Freiheitsschrift fremde Idee ist, die dem Menschen außerdem nur eine scheinbare Selbstbestimmung gestattet. Sie setzt den Eingriff eines Geistes jenseits des Willens des Einzelnen voraus, der als „göttliche oder menschliche Hilfe“ die Wahl jedes Menschen bedingt.13 Fazit: Die Freiheitsschrift beinhaltet die Naturalisierung der menschlichen Handlungen und gibt deswegen dem Sittlichen keinen Raum. Sofern aber die Natur ferner unter dem Gesichtspunkt des Grundes begriffen ist und dieser für Krause – wie für Eschenmayer – dämonische Züge hat, führt die Freiheitsschrift nicht nur dazu, den Grundbegriffen der Ethik den Boden entzogen zu haben, sondern hinter der Fassade einer Wiederbelebung der Frömmigkeit einen aktiven Unmoralismus zu betreiben. Diese Deutungen der Freiheitsschrift enthalten viele Ungenauigkeiten und Missverständnisse, aber sie spiegeln dennoch die damaligen Rahmenbedingungen wider, um den Begriff Ethik zu bestimmen. Die Ethik ist im Grunde genommen eine von der Erkenntnis der Natur unabhängige und auf die Freiheit des Willens bezogene philosophische Disziplin, die dementsprechend eine Kluft zwischen der deterministisch konzipierten Natur und den übersinnlichen Handlungsprinzipien voraussetzt und Letztere als Pflichten versteht. Sogar Eschenmayer, der nicht mit den ethischpolitischen Folgen der Aufklärung sympathisiert und sich folglich von diesen Voraussetzungen hätte distanzieren können, teilt sie offensichtlich.14 Dieses Verständnis der Ethik, das sich aus einer strikt dualistischen Lesart Kants ergibt, ist jedoch keine Besonderheit der deutschen philosophischen Szene am Anfang des 19. Jahrhunderts und mithin ist es noch die Quelle von zeitgenössischen Interpretationen der Freiheitsschrift als ein Werk, auf dem keine Ethik beruhen könnte. In ihrem Buch „Freedom and reason in Kant, Schelling and Kierkeggard“ (2006) schreibt Michelle Kosch: „It looks as though Schelling repudiates the entire project of giving a philosophical ethics.“15 Ohne die Rezensionen Krauses oder Eschenmayers zu kennen oder mindestens zu erwähnen, stimmt der erste Grund dieser Behauptung mit einem von ihren Vorwürfen gegen Schelling überein: „Schelling’s comparison of evil to physical illness (FS VII:366) – construed as the rebellion of a part (an organ or system) against the order in which it belongs (the body) – seems to involve both a questionable way of looking at illness and a peculiarly naturalistic conception on moral evil“.16 Kosch ist der Meinung, dass, obwohl Schelling der (überzeitlichen) moralischen Willkür in der Freiheitsschrift eine zentrale Rolle gibt und sich dadurch von ihrer ausdrücklichen Negation im Identitätssystem versucht zu distanzieren, ihre 12 13 14 15 16
Ibid. S. 271. Ibid. S. 273. Eschenmayer, S. 48, 93, 96. Kosch, S. 101. Ibid. S. 100.
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Funktion von der auf dem „Licht“ und der „Schewere“ beruhenden Kosmologie, also von den Begriffen der Naturphilosophie, absorbiert wird. Die Identifikation des Bösen mit der Krankheit ist eine Folge dieser Einstellung. Die Freiheitsschrift modifiziert für Kosch in Wirklichkeit nicht die Position des „Systems der gesamten Philosophie“ (1804), in dem nach ihrer Meinung die moralische Verantwortung des Individuums durch die Auffassung des Handelns als die Offenbarung einer inneren Notwendigkeit vernichtet worden war. Der zweite Grund hängt auch damit zusammen, weil die Freiheitsschrift laut Kosch letztendlich an den Versuch Kants anknüpft, die menschliche Freiheit und die allgemeine Struktur der Welt durch eine Naturteleologie zu versöhnen, und dieses Programm in einen neuen Naturalismus mündet, der nicht nur die moralische Verantwortung aufhebt,17 sondern zu einer Ersetzung der Kategorien, die das menschliche Handeln betreffen, durch eine rein theoretische Haltung führt. Das „un-Kantian revival of rationalist metaphysics“18 passt dazu, weil der Spinozismus trotz seines moralischen Anspruchs auf dem Primat der Theorie basiert. Das Ziel der Philosophie, das die Einsetzung einer spekulativen Erkenntnisart verlangt, ist am Ende eine adäquate Weltbetrachtung, die nicht wirklich mit den Anforderungen des moralischen Handelns zu tun hat: „What ought a vehicle for the self-disclosing of the absolute to do? ‘Gain knowledge’ seems the right, the only, answer to this question. But this seems to reduce the sphere of action to that of contemplation“19. Der dritte Grund dafür, dass es in der Freiheitsschrift keine Ethik gibt, liegt laut Kosch darin, dass Schelling keine konkreten verpflichtenden Normen erwähnt, die das freie Handeln orientierten können: „Schelling cannot specify what the norms we should live by are“.20 „The essential aspect of moral consciousness“ – behauptet sie – ist es, „that I have duties, that it matters what I do“.21 Das Gute ist aber für Schelling nur ein vager „imperativ of self-negation“,22aus dem keine bestimmten Pflichten abgeleitet werden können. Die Erzählung der Entstehung des Bösen sollte nur dahin laufen, die Gründe für seine Nichterfüllung zu erklären, aber sie tut schließlich etwas anderes: die Präzisierung des Begriffes des Guten beiseite zu lassen und ihn zuletzt zu entleeren: „In the process of telling us a more convincing history about why we can sometimes do other than we ought, he has rendered himself incapable of telling us what we ought to do and why“.23 Wie Eschenmayer und Krause glaubt Kosch dann, dass die Freiheitsschrift trotz des Gebrauchs von moralischen Begriffen keine Ethik enthält. Dieses Urteil ist in dem Maße richtig, wie Schelling in der Tat keine selbstständige, also von der Metaphysik unabhängige, philosophische Disziplin anerkennt, 17 18 19 20 21 22 23
Ibid. S. 85. Ibid. Ibid. S. 101. Ibid. Ibid. S. 83. Ibid. Ibid. S. 101.
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die sich ausschließlich mit der Untersuchung der Pflichten des Menschen als Handlungswesen oder, allgemeiner gesagt, mit den Maßstäben des guten Handelns beschäftigt und dafür die Erkenntnis der Welt außer Acht lässt. Er ist davon überzeugt, „dass es keine besondere Philosophien und ebensowenig besondere und einzelne philosophische Wissenschaften geben könnte. Die Philosophie hat in allen Gegenständen nur Einen Gegenstand, und sie ist eben deswegen selbst nur Eine.“24 Die Philosophie untersucht zwar besondere Seinsbereiche – z. B. die Natur oder die Kunst – aber eben als Seinsbereiche, also als Ausdrucksformen des Seins, das in allen Bereichen dasselbe ist und dessen Erforschung Aufgabe der Metaphysik ist. Aus diesem Grund gibt es z. B. keine Ästhetik, sondern eine Theorie der Kunst als Darstellungsform des Absoluten. Eine Unterteilung der Philosophie, der zufolge jede philosophische Disziplin ihre eigene Methode und vor allem ihr eigenes Untersuchungsfeld hat, kommt bei Schelling der Abschaffung der Metaphysik gleich, weil eine solche Unterteilung das Vergessen des Gemeinsamen schlechthin, also des Seins, voraussetzt. Die Spezialisierung der Philosophie, würde Schelling sagen, ist notwendigerweise metaphysikfeindlich. In diesem Zusammenhang ist die Ethik keine Ausnahme. Sie ist auch eine Theorie, die sich auf einen besonderen Bereich der menschlichen Existenz konzentriert und wissenschaftliche Autonomie beansprucht. Die Gegenstände der Ethik, ontologisch gesehen, schweben aber nicht in der Luft und folglich kann sie sich nicht verselbstständigen. Das Gute, das Böse oder die Handlung sind immerhin Gestaltungen des Seins. Ist die menschliche Vernunft auf der Suche nach den letzten und allgemeinsten Prinzipien, kann sie nicht auf der Ebene dieser Begriffe stehen bleiben. Sie kann und sie muss diese Begriffe erläutern, aber von dem einzigen Standpunkt aus, der die Ansprüche der Vernunft vollkommen befriedigt: von dem Standpunkt der Metaphysik. Schelling ironisiert deswegen über alle Versuche, besondere Gegenstände als Grund für die Unterteilung der Philosophie anzusehen:25 „Es ist bekannt genug, welcher heillose Missbrauch mit dem Begriff der Philosophie betrieben ist. Wir haben schon eine Philosophie, ja sogar eine Wissenschaftslehre der Landwirtschaft erhalten, es ist zu erwarten, dass man auch noch eine Philosophie des Fuhrwerks aufstelle, und dass es am Ende so viel Philosophien gibt, als es überhaupt Gegenstände gibt, und man vor lauter Philosophie die Philosophie selbst gänzlich verlieren wird.“26 Die Philosophie Schellings ist aber deswegen nicht eine sittlich neutrale, ontologische Analyse der sittlichen Begriffe. Schriften wie die Freiheitsschrift beanspruchen, das Selbstverständnis des Menschen umzugestalten und zum Guten zu führen. Die menschlichen Handlungen, das Gute und das Böse sind daher mehr als ein Gegenstandsbereich der Metaphysik unter anderen. Schelling vertritt einerseits einen sittlich orientierten Begriff des Wissens, der an den Geist der antiken Philo24
Schelling (1856 – 1861), SW 5, 367. Was heutzutage keineswegs selten ist und unter einer radikalisierten Form auftritt, welche uns an die Gültigkeit der Ironie Schellings erinnert – z. B. als „Philosophie des Fußballs“. 26 Schelling (1856 – 1861), SW 5, 365. 25
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sophie, so wie er von Hadot rekonstruiert wurde,27 anknüpft. Das Wissen der Metaphysik ist daher von der Suche nach innerer Ruhe und Selbstständigkeit bedingt. Und dies ist keine ihm fremde, von außen auferlegte Bestimmung, weil die Suche des Denkens nach einer letzen Begründung, wie H. Kuhn hinsichtlich der platonischen Metaphysik zeigte,28 mit der Suche nach dem, was an sich gut ist, wesentlich verknüpft ist. Andererseits wird die Suche des vernünftigen Denkens nach Vollständigkeit und einer letzten Begründung von Bewusstseinszuständen motiviert, die Unruhe implizieren: „die Angst des Lebens“,29 das immer unerfüllte Verlangen des „Hungers der Selbstsucht“,30 das Gefühl von „Horror“31 oder davon, sich selbst zu täuschen.32 Dies ist der Erfahrungshintergrund der Arbeit der Vernunft. Nur dann, wenn die Metaphysik eine Schau des Ganzen ermöglicht und die letzten Prinzipien von allem entdeckt hat, kann der Mensch den Bewusstseinszustand erreichen, der die Ungewissheit und die Widersprüchlichkeit seiner alltäglichen Erfahrung und die damit zusammenhängende Unglücklichkeit überwindet. Die Spekulation ist dann keine rein „theoretische“ Beschäftigung, weil sie wegen des Ursprungs des Wissens aus beängstigenden Bewusstseinszuständen und der Suche nach einem sicheren Wissen als Basis der guten Handlungen von Anfang an eine existenzielle Bedeutung hat. „System“ ist deshalb sowohl wissenschaftlich als auch sittlich ein relevanter Begriff. In diesem Sinne äußert sich Jaspers über den Sinn der Philosophie bei Schelling: „Erkenntnis ohne Sittlichkeit ist so wenig wahr wie Sittlichkeit ohne Erkenntnis. Erkenntnis ist Philosophie, und Philosophie ist Metaphysik. Daher ist die Metaphysik fern davon, nur eine theoretische Beschäftigung zu sein, die Mitte, die Substanz unseres persönlichen, staatlichen, religiösen Daseins“.33 Dass die ethischen Fragen aus der Perspektive der Metaphysik behandelt werden können und dass sie eigentlich nur auf diese Weise behandelt werden müssen, falls die Philosophie die tiefsten existenziellen Bedürfnisse der Menschen beansprucht zu erfüllen, hat der frühere Schelling von Spinoza gelernt. Der junge Schelling wurde von der spinozistischen Idee der Philosophie als einer methodischen Nachbildung des Absoluten im Denken, welche es zugleich erlaubt, die Seligkeit zu erreichen, tief beeinflusst und trotz aller Kritiken an Spinoza ist sein frühes Ziel, eine „Ethik à la Spinoza“ zu schreiben,34 ein niemals vergessenes Leitmotiv seines Denkens.35 In 27
Hadot, S. 256. Kuhn, S. 89 – 90. 29 Schelling (1856 – 1861), SW 7, 381. 30 Ibid. SW 7, 390. 31 Ibid. SW 7, 391. 32 Ibid. SW 7, 390. 33 Jaspers, S. 68. 34 In dem Brief an Hegel vom 6. Januar 1795 behauptet Schelling: „Nun arbeite ich an einer Ethik à la Spinoza – sie soll die höchsten Principien aller Philosophie aufstellen, in denen sich die theoretische und praktische Vernunft vereinigt.“ (Boenke, S. 75). Man könnte vermuten, dass die 1795 veröffentlichte Schrift „Vom Ich als Prinzip der Philosophie oder über das Unbedingte im menschlichen Wissen“ zuerst als die erste Entwicklung dieser Idee gedacht war. Es 28
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ist eine Zeit, in der sich Schelling eben als „Spinozist“ bekennt, aber unter der Voraussetzung, dass das absolute Ich das wahre Unbedingte ist. (Ibid. S. 78). Das Gegenstück zur Ethik Spinozas wäre ein System der Philosophie, in dem, unter dem Vorbild des Monismus Spinozas, alle möglichen Vorstellungen vom absoluten Ich abgeleitet werden und dadurch zugleich den philosophierenden Menschen zum Wissen um die absolute Freiheit führen könnte. „Vom Ich“ erfüllt für Schelling jedoch nicht diese Anforderungen. Gerade in der am 29. März 1795 beendeten Vorrede zu diesem Text spricht Schelling jedoch über sein noch unvollendetes Projekt (Schelling (1856 – 1861), SW 1, 159). Ungefähr ein Jahr später, nach dem Brief an Hegel über die „Ethik à la Spinoza“, schreibt Schelling in einem Brief an Niethammer: „Das Nächste, was ich unternehme, ist ein System der Ethik (ein Gegenstück zu Spinoza, ein Werk, dessen Idee mich schon längst begeisterte, und das schon begonnen ist)“ (Fuhrmans, 1962. S. 61). Unabhängig davon, ob dieses Projekt unvollendet blieb oder ein Werk aus seiner früheren Produktion – z. B. das „System des transzendentalen Idealismus“ – seine Verwirklichung ist, kann man sagen, dass die Bedeutung des Ethischen bei Schelling immer von einigen Grundvoraussetzungen Spinozas geprägt war. 35 Walter Ehrhardt hat die These vertreten, der zufolge Schelling vom Anfang bis zum Ende seines Werkes Spinozas Metaphysik „untergraben“ wollte. Seine Argumente basieren hauptsächlich darauf, das Primat der „Freiheit“ vor dem „Sein“, so wie es in der positiven Philosophie auftritt, auf das gesamte Werk Schellings zurückzuprojizieren. Das Thema der Philosophie Schellings sei die absolute Freiheit und, insofern Spinoza sein System auf der Notwendigkeit des Seins aufbaut, könnten die beiden „kein gemeinsames Fundament“ haben (Ehrhardt, 1994. S. 263). Schellings frühes Bekenntnis, „ich bin indessen Spinozist geworden“ (Brief an Hegel vom. 4. Februar 1795), sei deshalb ironisch. Abgesehen davon, dass der systematische Anschluss des jungen Schelling an Problemstellungen und Begriffe Spinozas über jede mögliche Ironie hinaus steht (s. Pieper, 1977; Bartuschat, S. 153 – 175), ist mindestens bis zum Identitätssystem der Gegensatz der Freiheit zur Notwendigkeit auf das Denken Schellings nicht anwendbar. Das Absolute ist gerade dasjenige, das diesen Gegensatz überwindet. Das absolute Ich und die absolute Identität sind sind nicht der Notwendigkeit entgegengesetzt. Noch schwieriger zu akzeptieren ist die Interpretation der positiven Philosophie als ein Primat des Sollens vor dem Sein, das die „deontische Wende“ Kants und Fichtes vollendet (Ehrhardt, 1994, S. 271). Ehrhardt wird deswegen hart kritisiert von K. Cramer; s. Walther, 1991. S. 137 – 138. Ehrhardt versucht Spinozas Freiheitsbegriff von Schelling fernzuhalten (Walther, Ibid. S. 133), was u. a. deshalb scheitern soll, weil erstens Freiheit bei Schelling ein mehrdeutiger Begriff ist, zweitens Schelling den Freiheitsbegriff mehrmals nach der Bestimmung der Freiheit in E1 Def 7 definiert (z. B. Schelling (1856 – 1861), SW 7, 384, SW 6, 538 – 539). Die Identifikation des kantischen Verständnis der Freiheit mit der absoluten Transzendenz der Gottheit in der Spätphilosophie ist auch nicht glaubwürdig.. Die absolute Transzendenz der Gottheit ist zwar jenseits des Seins (in einem substantivierten Sinne), aber dies lässt sich schwierigerweise mit der Gegenwärtigkeit eines nicht empirischen Gesetzes, die das Sollen bei Kant ausmacht, verbinden. Jedes Gesetz impliziert außerdem bei Kant immer Notwendigkeit. Die absolute Kontingenz und Spontaneität der Freiheit und das Sittengesetz, das die Notwendigkeit einer Handlungsweise beinhaltet, zusammenzubringen, ist nicht einsichtig – noch weniger angesichts der Polemik des späten Schellings gegen die Allgemeinheit des Sittengesetzes (SW II, 1, 569). Schellings Vollendung der „deontischen Wende“ ist irreführend. Ehrhardts Entgegensetzung von Schelling und Spinoza ist aber bezüglich der „positiven Philosophie“ treffend. Der späte Schelling, einige Thesen der Freiheitsschrift radikalisierend, unterscheidet sich u. a. von Spinoza dadurch, dass die Gottheit von seiner eigenen Macht insofern frei ist, als sie sich nicht offenbaren könnte. Bei Spinoza kann Gott alles tun bis auf eins: nicht tun, was er tun könnte. Bei dem späten Schelling ist es anders: Die absolute Macht ist gerade absolut, weil sie auch die Macht hat, sich eventuell nicht als mächtig zu zeigen. In diesem Sinne spricht Schelling von einem „intransitiven Können“ (SW II, 2, 148). Wenn das Notwenige dasjenige ist, das nicht
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diesem Zusammenhang lohnt es sich kurz daran zu erinnern, wie Spinoza auf das Problem des sittlichen Lebens des Menschen eingeht, um Schellings Absichten besser zu verstehen. In seiner „Ethik“ hatte Spinoza eine einzige Substanz, also etwas, was in sich ist und durch sich begriffen ist, als ewigen Grund der endlichen Dinge, also der Modi, konzipiert. Die Substanz, die identisch mit Gott ist, ist das Einzige, dessen Wesen notwendigerweise die Existenz impliziert. Der Mensch ist ein anderer Modus und mithin hängt seine Existenz von seiner Interaktion mit anderen Dingen ab, die jenseits seiner Macht stehen. Seine Existenz ist auch nicht notwendig. Jeder Mensch ist sich dieser Situation bewusst, sofern er imaginiert. Die Imagination, die auf die sinnliche Wahrnehmung einzelner Dinge und die damit zusammenhängenden Affekte verweist, ist die Form des menschlichen Denkens, durch die jeder Mensch die Unselbstständigkeit und Kontingenz seiner Existenz erlebt. Die ursprüngliche, ontologische Situation des Menschen ist in diesem Sinne mit derjenigen, die ein winziger Wurm innerhalb des Kreislaufsystems eines anderen Organismus erleben würde, vergleichbar: Er versteht nicht, dass jeder Blutpartikel und jede Ader zu einem koordinierten Ganzen gehören, und wird einfach von dem Blutkreislauf hin und her mitgerissen.36 Die Funktion der Metaphysik besteht bei Spinoza darin, dem Menschen die Möglichkeit zu geben, durch eine Veränderung seiner Denkweise eine selbstständige Lebensweise zu haben. Kurz gesagt: Das Ziel der Metaphysik ist die Freiheit. Sofern die Substanz, d. i. Gott, das Einzige ist, das nicht endlich und folglich autark ist, kann der Mensch seine ursprüngliche Situation nur dadurch überwinden, dass er sich in die Perspektive Gottes versetzt. Seine basale Bewusstseinsform, also die Imagination, soll folglich derart überwunden werden, dass nicht die verworrene Vielfalt der endlichen Dinge, zu denen er selbst gehört, sondern die nur durch die Vernunft erfassbare Substanz in den Vordergrund tritt. Das impliziert eine Methode. Die „Ethik“ Spinozas ist daher als ein axiomatisch-deduktives System konzipiert, das von unzweifelhaften Ideen ausgehend und mittels logischer Beweisverfahren die Vielfalt der endlichen Dinge und ihre Ordnung schrittweise herleitet. Erkennt der Mensch auf diese Weise, d. i. ohne auf die Sinnesorgane zurückzugreifen,37 dass die Substanz in der Tat der einzige Grund von allem ist, hat er sich in die Perspektive Gottes versetzt. Die Seligkeit ist nichts anderes als der heitere Bewusstseinszustand, der aus dieser Erkenntnis folgt. Aus der Sicht Spinozas kann kein Mensch vom Einfluss anderer Dinge auf seine Existenz frei sein, nicht sein kann, und die Offenbarung des Seins in der Metaphysik Spinozas notwendig ist, kann man Ehrhardt insofern zustimmen, als die Offenbarung der göttlichen Macht bei Schelling kontingent ist. Wenn Sein notwendigerweise Gegenwärtigkeit impliziert, geht die Freiheit der positiven Philosophie tatsächlich über das Sein hinaus. Gott hätte von aller Offenbarung frei bleiben können. Dies ist dennoch eine spezifische Differenz zwischen Spinoza und Schelling, die nicht für das ganze Denken Schellings gültig ist und keiner pauschalen Ablehnung des Spinozismus gleichkommt. In vielerlei Hinsicht bleibt Schelling vom Anfang bis zum Ende Spinozist. 36 Spinoza, 1986, S. 145 – 148. 37 „Die Augen des Geistes nämlich, mit denen er die Dinge sieht und beobachtet, sind die Beweise“ (E 5 P23 Schol.). Spinoza (2006), S. 286.
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ohne den Weg der metaphysischen Erkenntnis zu durchlaufen, weil nur derjenige, der die Idee Gottes adäquat begriffen hat, frei ist, und ohne Metaphysik gibt es keine Erkenntnis Gottes. Die Ethik ist mithin bei Spinoza keine selbstständige philosophische Disziplin, weil die freieste und beste menschliche Lebensform ohne eine rationelle Erkenntnis des Grundes der Welt nicht möglich ist. Schellings Idee, „eine Ethik à la Spinoza“ zu schreiben, knüpft direkt an diesen Zusammenhang zwischen Freiheit und Erkenntnis und folglich zwischen ethischen Fragen und Metaphysik an. Er ist sich dessen vollkommen bewusst, dass Spinoza seiner Metaphysik den Namen „Ethik“ gegeben hat und dass diese Benennung keineswegs zufällig ist: „Vielleicht erinnern Sie sich unsrer Frage: warum Spinoza seine Philosophie in einem System der Ethik vorgetragen habe? Umsonst hat er es gewiss nicht getan.“38 In diesem Zusammenhang kann es keine Trennung zwischen theoretischer und praktischer Vernunft und dementsprechend keine Ethik geben als Lehre der von der Subjektivität entworfenen Normen, auf welche der Mensch als Handlungswesen – und nicht als erkennendes Wesen – achten soll. Der Anspruch, gut handeln zu können, ohne Erkenntnis dessen, was wirklich ist, wird von Schelling bekämpft: „Die Trennung des Handelns vom Erkennen ist der Abfall der Freiheit von der Notwendigkeit selbst, als ob jene etwas für sich sein könnte. Wenn Wahrhaftigkeit (der Grund aller Tugend) Einheit des Handelns und Erkennens ist, so ist die Trennung beider die erste Lüge, und unsere heutige Moral ist nur diese fortgesetzte Lüge, nämlich an eine Tugend zu glauben, sie zu fordern und anzupreisen, die nicht aus dem Wesen der menschlichen Natur quillt, und aus der Notwendigkeit desselben göttlichen Princips, aus welchem die Wissenschaft fließt.“39 Die „Wahrhaftigkeit“, die in dem „Würzburger System“ ein Synonym des auch in derselben Schrift zum ersten Mal gebrauchten Begriffs „Gewissenhaftigkeit“ ist,40 und die Ethik in dem angegebenen Sinne sind unverträglich. Die Gewissenhaftigkeit, die in der Freiheitsschrift eine wichtige Rolle spielt, richtet sich gegen die Trennung der Frage nach dem guten Handeln von der Erkenntnis des Seienden schlechthin, denn sie fordert, „dass man handelt, wie man weiß, und nicht dem Licht der Erkenntnis in seinem Tun widerspreche“.41 Die Vernunft ist dabei noch ein Bestimmungsgrund der (überzeitlichen) Willkür, aber ihr Inhalt ist keine Norm oder Handlungsregel, sondern „die unmittelbare Gegenwart des Seienden im Bewusstsein und der Erkenntnis“.42 Mit den Wörtern van Zantwijks: „Das äußerste transzendentale Wissen um den Sinn von Sein begründet hier unmittelbar die Verpflichtung des Handelns.“43 „Die Freiheit ist unsere Wiedergeburt in das All“,44 sagt Schelling, und folglich ist keine Lehre von 38 39 40 41 42 43 44
Schelling (1856 – 1861), SW 1, 305. Ibid. SW 6, 541. Ibid. SW 6, 556. Ibid. SW 7, 392. Ibid. SW, 7, 391. van Zantwijk, S. 260. Schelling (1856 – 1861), SW 6, 552.
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dem guten Handeln akzeptabel, die ohne Erkenntnis des Ganzen oder nur mit einer abgeschwächten Form derselben zurechtkommt. Sie würde das sittliche Ziel der Philosophie verfehlen: dem Einzelnen die Möglichkeit eines absolut freien Lebens zu geben.45 Die Überwindung des Abfalls soll deshalb auch die Überwindung der Ethik als eine besondere, von der Metaphysik getrennte Disziplin sein, weil nur aus der Perspektive der Ethik die Erkenntnis des wahrhaft seienden Seins existenziell überflüssig ist. Die Ethik ist in dieser Hinsicht ein philosophischer Ausdruck des Abfalls und folglich des Bösen: „Dass es ein in uns von der Erkenntnis unabhängiges Handeln gibt, oder, dass ein solches geglaubt wird, ist die erste Sünde.“46 2. Keine Sittlichkeit ohne Gott Ist Gott das wahrhaft Unbedingte und hängt das sittliche Leben mit der Erkenntnis des Unbedingten zusammen, kann Schelling nicht mit der sekundären, die Arbeit des Sittengesetzes ergänzenden Funktion einverstanden sein, die Kant der Idee Gottes zuschreibt. Schelling hat daher schon früher die kantische Auffassung Gottes kritisiert.47 In den „Philosophischen Briefen über Dogmatismus und Kritizismus“ 45
In diesem Sinne ist es unverständlich, dass van Zantwijk einerseits behauptet, Sittlichkeit bestehe „in der Übereinstimmung des Handelns mit dem Wissen“ (van Zantwijk, S. 260), und andererseits zur Idee kommt, dass Schelling keine rationelle Ethik anerkennt: „Er verzichtet überhaupt auf rationale Ethik.“ (Ibid. S. 270). Schellings Polemik gegen die Allgemeinheit des kategorischen Imperativs im Namen einer personalen Aneignung des Sinns vom Sein ist nachvollziehbar, aber das bedeutet keineswegs eine Ablehnung der Rationalität des Sittlichen „überhaupt“. Einerseits erschöpft sich die Rationalität nicht in einer Reihe allgemeiner Regeln und andererseits ist bei Schelling wie bei Spinoza kein sittliches Leben ohne Erkenntnis und folglich ohne die höchste Form des Vernunftgebrauchs möglich. 46 Schelling (1856 – 1861), SW 6, 556. 47 Kant hat die Ethik auf die Autonomie der menschlichen Vernunft gegründet. Ein Mensch handelt moralisch richtig nur dann, wenn er freiwillig dem Sittengesetz gehorcht. Sofern das Sittengesetz die Spontaneität der menschlichen Vernunft als allgemeine Form des Handelns zur Erscheinung bringt, soll er dabei mit sich selbst als einem vernünftigen Wesen übereinstimmen. Der Mensch soll sich selbst gehorchen. Das Sittengesetz ist zwar nicht von dem Menschen als Individuum frei entworfen, denn er findet es als eine übersinnliche Gegebenheit – als ein Faktum – in seinem Bewusstsein, aber es ist jedenfalls von der Denktätigkeit des Menschen als eines nicht zeitlich-räumlichen Wesens hervorgebracht. Das Sittengesetz ist deshalb bei Kant ein unzweifelhafter Beweis der Spontaneität der menschlichen Vernunft, die jeder Mensch durch die freiwillige Wahl desselben als Bestimmungsgrund seiner Handlungen wirksam machen soll. In diesem Zusammenhang spielt Gott, was die Sittlichkeit betrifft, eine zweitrangige Rolle. Obgleich Gott als moralischer Gesetzgeber vorgestellt werden kann, handelt es sich dabei um ein Postulat der praktischen Vernunft, also um eine nicht beweisbare Annahme derselben, um die Motivation, moralisch zu handeln, durch die Vorstellung der Gültigkeit des Sittengesetzes jenseits der Bedingungen der Endlichkeit zu verstärken. Wäre Gott tatsächlich der Urheber des Sittengesetzes, könnte nicht von der moralischen Autonomie des Menschen die Rede sein. Gott, wie die Freiheit oder die Unsterblichkeit der Seele, ist eine Idee in praktischer Hinsicht und wie alle Ideen ist Gott dazu bestimmt, die Vollständigkeit des Gebrauchs eines primären Begriffes zu denken und nicht direkt Ordnung und Regelmäßigkeit im Bereich der Erfahrung zu bewirken. Die Aufgabe der Idee Gottes besteht darin, die Möglichkeit einer
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(1795) polemisiert er gegen die Missdeutung der Postulatenlehre seitens der Tübinger Theologen, aber auch indirekt gegen Kant selbst. Schelling fragt sich, wie es möglich ist, einen „unter moralischen Gesetzen gedachten Gott“48 zu konzipieren. Wenn Gott nur eine „absolute Kausalität“,49 eine „Übermacht“ zugeschrieben werden kann, die folglich wirksam vor jedem menschlichen Begriff seines Wesens sein soll,50 ist es fragwürdig, ihn einer Handlungsregel eines endlichen Wesen unterzuordnen: „Soll ich den Höchsten ein Gesetz vorschreiben? Ein Gesetz? Schranken dem Absoluten? Ich, ein endliches Wesen?“51 Der frühe Schelling wirft Kant nicht vor, Gott als eine Idee zu begreifen, sondern zu Gott, also zum Absoluten, auf der Basis der Moralität zu kommen. Die Idee Gottes ist jedenfalls bei Kant ein notwendiger Bestandteil der menschlichen Vernunft. Das Problem liegt darin, dieser Idee durch die Vorstellung des Sittengesetzes Schranken zu setzen. Die Freiheitsschrift, in der nun das absolute Ich die Position der sich selbst verkennenden Endlichkeit darstellt, setzt unter neuen ontologischen Bedingungen dieselbe Position fort. Die Freiheitsschrift wurde nicht anfänglich als ein Einzelheft veröffentlicht, sondern als Teil einer Sammlung von Artikeln Schellings unter dem Titel „Philosophische Schriften“. Unter diesen befanden sich die „Briefe über Dogmatismus und Kritizismus“. Über diese sagt Schelling Folgendes in der Vorrede: „Die Briefe über Dogmatismus und Kritizismus (No. II), die zuerst im Niethammer’schen Philosophischen Journal vom Jahr 1796 erschienen, enthalten eine lebhafte Polemik gegen den damals fast allgemeingeltenden und vielleicht gemisbrauchten sogenannten moralischen Beweis der Existenz Gottes aus dem Gesichtspunkt des damals nicht weniger allgemein herrschenden Gegensatzes von Subjekt und Objekt. Dem Verfasser scheint diese Polemik in Ansehung der Denkweise, auf die sie sich bezieht, noch immer ihre volle Kraft zu haben. Keiner von jenen, die bis jetzt auf dem nämlichen Standpunkte geblieben sind, hat sie widerlegt. Indessen sind die in dem Versöhnung von Moralität und Glückseligkeit vorstellbar zu machen. Die Moralität, sofern sie sich gegen die Erfüllung von sinnlich bedingten Absichten durchsetzen muss, gibt dem Menschen zwar eine Form von Genugtuung durch das Gefühl von Achtung, aber sie geht mit einem Verzicht auf die Befriedigung der Neigungen und folglich auf die Glückseligkeit einher. Der Mensch, sofern er ein sinnliches Wesen ist, kann daher infrage stellen, ob es sich lohnt, moralisch zu handeln. Seine Zweifel intensivieren sich außerdem dadurch, dass seine Handlungen, sogar wenn sie moralisch gültig sind, manchmal empirisch, also im Rahmen des Kausalzusammenhangs der Erscheinungen, keinen Erfolg haben. Die Absichten und ihre Wirkungen stimmen häufig nicht überein und es ist dann leicht möglich zu denken, dass die Moralität sinnlos ist. Die Idee Gottes befreit den Menschen von solchen Bedenken, weil sie die vernünftige Voraussetzung einer Intelligenz ist, die die Macht hat, die Moral und die Natur in Zusammenhang zu bringen. Die Vorstellung einer Überwindung des Widerspruches zwischen Pflicht und Glückseligkeit und moralisch legitimen Absichten und Wirkungen durch die Tätigkeit Gottes macht das „höchste Gut“ aus. Gott gibt dem Menschen mithin die Hoffnung, dass die Erfüllung des Sittengesetzes sinnvoll ist. 48 Schelling (1856 – 1861), SW 1, 286. 49 Ibid. SW 1, 289. 50 Ibid. SW 1, 290. 51 Ibid. SW I, 288.
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neunten Briefe S. 178 u. f. enthaltenden Bemerkungen über das Verschwinden aller Gegensätze widerstreitender Prinzipien im Absoluten die deutlichen Keime späterer und mehr positiver Ansichten.“52 Die Vorrede, die das Datum 31. März 1809 trägt, zeigt ganz deutlich, dass Schelling seiner Kritik der kantischen Idee Gottes und den damit zusammenhängenden Folgen noch Gültigkeit verleiht und dass er in der Vorstellung der Seligkeit als innere Nachahmung der absoluten Identität den in seiner Frühphilosophie schon skizzierten Kern der sittlichen Dimension seines Denkens sieht. Trotz des kantischen Hintergrundes einiger Ideen der Freiheitsschrift, welche die Sittlichkeit betreffen, und trotz des neuen metaphysischen Rahmens setzt Schelling 1809 die Kritik an dem Versuch fort, die Sittlichkeit diesseits des Absoluten zu gründen und Gott nur eine Ergänzungsfunktion zu verleihen. Schelling glaubt noch, dass die Sittlichkeit ohne das Unbedingte nicht zurechtkommt und, falls sie vom Standpunkt der Endlichkeit her konzipiert wird, zum geistigen Verfall des Menschen führt. Es handelt sich in dieser Hinsicht um eine Fortsetzung des Gesichtspunktes der Briefe, was die Natur des Sittlichen angeht. Die Anknüpfung an die Briefe ist jedoch nicht direkt, denn Schelling hat sich schon von der „dinglichen“ Seinsauffassung des „Dogmatismus“ verabschiedet und das absolute Ich des subjektiven Idealismus stellt für ihn nun keine legitime Alternative dar, um das Absolute zu begreifen. Das absolute Ich, wie er in derselben Vorrede notiert, ist für ihn eine überwundene Position.53 In der Freiheitsschrift geht es eben darum, die „Überzeugung der vollkommnen Subjektivität alles Denkens und Erkennens“54 zu widerlegen. Die Position der „Briefe“ gegenüber der Transformation Gottes in ein moralisches Postulat wird im Würzburger System unter den Bedingungen einer die Grenzen des Ichs transzendierenden Geistmetaphysik fortgesetzt: „Es ist ein Greuel, Gott aus der Sittlichkeit folgern zu wollen.“55 Schelling glaubt dabei, dass „alle andere Freiheit außer der, die im Göttlichen ist, nichtig sey, und Gott allein wahrhaft frei heißen könnte“.56 Die Erfassung des Absoluten als absolutes Wissen setzt voraus, das Ich zu transzendieren. Indem die sittliche Autonomie nicht vom Ich zu trennen ist, kann dieses nicht überwunden werden, ohne jene auch zu überwinden. In einer Fußnote der „Aphorismen zur Einleitung in der Naturphilosophie“, die in den „Jahrbüchern der Medizin als Wissenschaft“ im Jahr 1805 veröffentlich wurden, schreibt Schelling: „Dieses Zeitalter verlangt ein Wissen als Wissen des Individuums, eine Sittlichkeit als eine selbstgegebene des Individuums“.57 Die wahre Sittlichkeit soll deswegen eine sein, die nicht auf die Subjektivität gründet, weil diese als eine willkürliche Absonderung des Menschen von Gott „de[n] Tod alles wahren Han-
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Schelling (1809), S. VI. Ibid. S. V. Ibid. S. VIII. Schelling (1856 – 1861), SW 6, 557. Ibid. SW 6, 14; SW 4; 539. Ibid. SW 7, 150.
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delns“ mit sich bringt.58 Unter den Bedingungen einer Metaphysik, in der das absolute Wissen oder die absolute Identität zum Hauptinhalt des menschlichen Denkens werden soll, gilt die kantische Autonomie als eine „aufgeblasene Moral“.59 Schelling lehnt „die Sittlichkeit in dem Sinn unserer jetzigen Moralisten“ ab, weil sie nur „eine Sittlichkeit des Menschen“60 ist. „Der Mensch ist nicht frei für sich selbst“ – sagt Schelling – „nur das Handeln, das aus Gott stammt, ist wahr, wie nur ein gleiches Wissen wahr ist“.61 Wenn „niemand tugendhaft ist, der es nicht vermöge einer göttlichen Notwendigkeit ist, die sich seiner bemächtigt“,62 gibt es „keine Moralität, die das Individuum als Individuum sich geben, oder derer es sich rühmen könnte“.63 Schelling schließt aber die Subjektivität in seine Metaphysik ein, weil sie gerade dasjenige ist, das durch das Denken des Göttlichen überwunden werden soll: „Das wahre und höchste Streben des Vernunftwesens muss dieses seyn, sich der Freiheit als Selbstheit zu begehen (eben weil sie nichts anderes als die unmittelbare Verwicklung mit der Notwendigkeit ist), um der Notwendigkeit zu entgehen.“64 Im Unterschied zu Spinoza oder Fichte in den „Anweisungen zum seligen Leben“ (1806) geht Schelling nicht von der Zerstreuung des Bewusstseins aufgrund der Mannigfaltigkeit der sinnlichen Eindrücke, sondern von der innere Zerrissenheit hervorbringenden Selbstständigkeit des Ichs aus. Die Basis der absoluten Freiheit ist die relative Freiheit des Menschen als Ich, die, sofern sie sich für absolut selbstständig ausgibt, dem Bösen selbst gleich wird: „Das ursprüngliche Böse liegt also gerade darin, dass der Mensch für sich selbst und aus sich selbst seyn will, dass die Moralität als eine eben aus diesem für-sich-selbst- und aus-sich-selbst-Handeln folgende zwar im einzelnen mit dem Rechten und Guten zusammentreffen mag, aber im Princip und Grunde ganz mit diesem übereinstimmt.“65 Das Böse ist gerade der Autonomieanspruch der endlichen praktischen Vernunft, die bei Kant aus erkenntnistheoretischen Gründen keine ontologische Dimension66 hatte und bei Fichte hingegen zur Basis eines neuen Seinsverständnisses geworden war.67 Dass Schelling, 58
Ibid. SW 7, 540. Ibid. SW 6, 550. 60 Ibid. SW 6, 557. 61 Ibid. SW 6, 542. 62 Ibid. SW 6, 552. 63 Ibid. SW 6, 557. 64 Ibid. SW 6, 553. 65 Ibid. SW 6, 551. 66 Nach seinem eigenen Verständnis. Das heißt aber nicht, dass es der praktischen Vernunft bei Kant an ontologischen Voraussetzungen mangelt oder sie kein implizites Seinsverständnis hat. In diesem Sinne sind sehr aufschlussreich die Interpretationen von Heidegger (Heidegger, 1994), seinem Schüler G. Krüger (Krüger, 1931) oder G. Picht (Picht, 1985). 67 Diesbezüglich sagt treffend W. Janke das Folgende: „Im Zuge der transzendentalen Theogonie wird die Tathandlung Fichtes als Prinzip des Abfalls zum Urakt der Unfreiheit. Durch ihre ichhafte Verwirklichung verendlicht sich die absolute Freiheit derart, dass deren Wesenheit von Notwendigkeit und Freiheit auseinanderfällt und die Eigenmächtigkeit des abgefallenen Ich ihre mögliche Göttlichkeit abstößt, um sich unfrei in die Welt zu verlieren. Die 59
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der eine nicht subjektzentrierte Metaphysik begründen wollte, sich gegen die sittliche Autonomie des Menschen in einem heftigen Ton wendet, ist deswegen nicht nebensächlich. Es gehörte unvermeidlich zur Begründung seines eigenen philosophischen Projekts, also zu einem neuen Verständnis des Seins. In „Philosophie und Religion“ modifiziert Schelling nicht die Position des Würzburger Systems und erläutert wieder seine Ablehnung der relativen Unabhängigkeit der Sittlichkeit und Gott: „Die Seele ist nur wahrhaft sittlich, wenn sie es mit absoluter Freiheit ist.“68 Die Sittlichkeit besteht daher laut „Philosophie und Religion“ allein in der Wiedervereinigung der Seele mit Gott, die nur durch die Überwindung der Gegensätzlichkeit von Freiheit und Notwendigkeit in der Seele möglich ist: „Denn jede absolute Identität, die nur in Gott ist, zu erkennen: zu erkennen, dass sie unabhängig von allem Handeln ist, als das Wesen oder An-sich alles Handelns, ist der erste Grund der Sittlichkeit.“69 Sittlich ist der Mensch, wenn er sich selbst als Gegenbild des Wesens Gottes versteht. Sofern dieses nicht vom Menschen hervorgebracht wurde und sich seinem Bewusstsein aufdrängt, kann er nur durch die Anerkennung der Notwendigkeit des göttlichen Wesens sittlich sein. Sofern er aber durch die Anschauung des Wesens Gottes im Wissen – in der „Einbildung des Unendlichen in der Seele als Objekt“70 – von der empirischen Notwendigkeit, also von dem sinnlichen Kausalzusammenhang, frei ist, fallen die Anerkennung der intelligiblen Notwendigkeit und die Freiheit zusammen. Der Mensch ist wirklich frei, wenn er darauf verzichtet, sich selbst als Ursprung seiner eigenen Freiheit zu betrachten. Aus dem Versuch, sich selbst als ein von Gott vollkommen unabhängiges Wesen zu behaupten, resultiert gerade die Verwicklung mit der empirischen Notwendigkeit.71 Der Mensch, der sich selbst von der passiven Anschauung des Wesens Gottes absetzt und folglich sich selbst in der Form der Subjektivität hervorbringt, ist derselbe, für den die Sinnlichkeit bzw. die Natur eine unüberwindbare Grenze ist. Wäre der Abfall des Menschen nicht geschehen, hätte er sich nicht mit einer Grenze seiner Tätigkeit konfrontieren müssen. Der Mensch fühlt sich nur unfrei, weil er sich Freiheit des Ich erscheint als Ausgang eines Freiheitsverfalls, in dem das Ich verleiblicht an das Endliche so gebunden wird, dass der leibhafte Mensch unfähig wird, sich selbst aus der Unfreiheit zu lösen und seine göttliche Freiheit und Wesensnotwendigkeit wiederzugewinnen“ (Janke (2009), S. 73). Plakativ gesagt: „Subjektivität ist für Schelling nicht länger das Telos sondern das Problematische“ (Sturma, S. 158). Dementsprechend ist die Behauptung unrichtig, der zufolge die fichteanische Selbstsetzung des Einzelnen nicht das Böse selbst, sondern eine „sittlich neutrale Selbstetablierung des individuellen Ichs“ ist (Florian (2010), S. 165). Florians Grund dafür ist, dass Schelling in der Freiheitsschrift die Endlichkeit nicht mit dem Bösen identifiziert. Das ist richtig, aber das ist kein Grund, um das Böse und die Selbstsetzung des Einzelnen zu trennen, weil die Endlichkeit des Menschen vor der Selbstsetzung stattfindet. Die Selbstheit ist das Endliche im Menschen. Die Selbstsetzung des Einzelnen ist eine Stufe der Individuation, die mit der „Wirklichkeit des Bösen“ eins ist. 68 Schelling (1856 – 1861), SW 6, 55. 69 Ibid. SW 6, 53. 70 Ibid. SW 6, 51. 71 Ibid. SW 6, 39.
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selbst einbildet, kraft seiner eigenen Tätigkeit selbstständig zu sein. Der Grund der Unfreiheit des Menschen liegt deshalb nicht in der Natur, sondern in ihm selbst. Der Mensch kann dennoch wieder absolut frei sein, wenn er wieder der Nichtigkeit aller Dinge und seiner eigenen Selbstheit gegenüber der absoluten Unendlichkeit innewird und sich selbst als das mit dieser Unendlichkeit Identische erfährt. Frei ist er laut „Philosophie und Religion“ eigentlich nicht durch seine Handlungen, weil diese normalerweise die Trennung des Ichs und des Nicht-Ichs voraussetzen,72 sondern durch eine Transformation des Denkens, in der diese Trennung vernichtet wird, also durch das Sich-Vergessen des Ichs dank der Anschauung des absoluten Wesens. Infolgedessen sieht Schelling immer Parallelen zwischen der wahren Sittlichkeit und der Erkenntnis des Absoluten, die wahrlich auf ihre Identität hinausläuft. In den „Aphorismen zur Einleitung in die Naturphilosophie“ (1805) schreibt Schelling deshalb das Folgende: „Wie es eine Gebundenheit des Willens gibt, die den Menschen nicht auf menschliche, physische oder psychologische, sondern auf göttliche Weise zwingt, zu handeln, wie es recht ist, (wie es ein Handeln gibt, in dem das Individuum sich selbst vergisst): so gibt es auch eine göttliche Gebundenheit der Erkenntnis, welche nicht aus dem Menschen selbst stammt, und in der das Erkennende als ein solches, ebenso wie dort das Handelnde, aber mit ihm auch notwendig das Erkannte, als Erkanntes, verschwindet.“73 Diese „Gebundenheit des Willens“ ist dieselbe „Gewissenhaftigkeit“ des Würzburger Systems, also die Religion. Allein der religiöse Mensch ist frei. Auf diese Weise strebt Schelling an, den „Dünkel selbstbeliebiger Sittlichkeit“,74 zu der die kantische Ethik gehört, zu überwinden. Spinozas „Ethik“ ist der Hintergrund dieser Kritik. Die Freiheitsschrift stellt in einer gewissen Hinsicht doch eine partielle Rückkehr zu Kant dar. Begriffe wie die „intelligible Tat“, das „Faktum der Vernunft“ oder die „Persönlichkeit“ spielen dabei eine wichtige Rolle. Der Kern der Kantkritik bleibt aber im Großen und Ganzen unberührt. Schelling glaubt, dass Kant hilfreich ist, um einige Lücken der Argumentation Spinozas zu füllen und nichtsdestotrotz lehnt er nicht nur jede subjektivistische Ethik ab, sondern selbst die Vorstellung der Ethik als eine von der Spekulation getrennte philosophische Disziplin. Die Begriffe Kants erlauben Schelling, den Übergang vom Guten zum Bösen und umgekehrt (durch die intelligible Tat), die Startbedingungen der Suche nach dem Guten (durch die Tatsache oder das Faktum der Freiheit)75 und die spezifisch an72
Schelling (1856 – 1861), SW 6, 56. Ibid. SW 7, 150. 74 Ibid. SW 7, 393. 75 Während Spinoza einfach voraussetzt, dass der Mensch, der Gott nicht erkannt hat, unglücklich ist und deswegen an der Metaphysik Interesse haben soll, baut Schelling in die Architektur der Freiheitsschrift die Bedingungen dafür ein, dass die Menschen zu metaphysischer Erkenntnis tendieren. Schelling kann auf diese Weise durch die Begriffe seiner Theorie erklären, warum die Menschen Interesse an dieser Theorie haben sollen. Sittlich gesehen kann er die Motivation gut zu werden auf eine Weise erläutern, die bei Spinoza nicht möglich ist, weil er sie entweder einfach voraussetzt oder, wie es in dem „Tractatus de intellectus emendatione“ (1661) vorkommt, als eine biografische Erzählung behandelt, die vom philosophischen System 73
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thropologische Dimension der geistigen Autarkie (durch die Persönlichkeit) zu erläutern, ohne die spinozistische Idee einer absoluten, durch die Einsicht in das Wesen Gottes erreichte Freiheit aufzugeben. In diesem Zusammenhang gibt Schelling wieder der Wahlfreiheit eine wichtige Funktion, greift auf eine Form von „präreflexiver Freiheit“76 zurück und bestimmt die spezifische ontologische Verfassung des Menschen – bei Spinoza erreicht hingegen der Mensch die Seligkeit allein durch einen Erkenntnis- und nicht auch durch einen Entscheidungsprozess, die Gründe der Suche nach der Seligkeit werden nicht in sein System integriert und der Mensch ist trotz der Möglichkeit, die Selbstständigkeit Gottes abzubilden, nur ein anderer Modus. Die Freiheitsschrift setzt sich daher von einigen Annahmen Spinozas ab, aber eine Sittlichkeit ohne Gott oder eine, in der Gott eine nebengeordnete Funktion spielt, sind nach wie vor ausgeschlossen. Die spekulative Erkenntnis Gottes ist ebenfalls vom sittlichen Leben unzertrennlich und die absolute Selbstständigkeit ist noch das höchste sittliche Ziel. In dieser Hinsicht bleibt Schelling durch und durch spinozistisch. Die Kontinuität zwischen der Freiheitsschrift und den früheren Phasen des Denkens Schellings besteht doch unter den Bedingungen eines modifizierten Gottesbegriffs. Der Gott der Freiheitsschrift ist nicht derselbe Gott der Identitätsphilosophie. Das Verständnis der Sittlichkeit wird deswegen partiell umgestaltet. Die Sittlichkeit wird, wie gesagt, nicht allein als Produkt einer intellektuellen Tätigkeit, also der Erkenntnis Gottes betrachtet, weil sie gemäß des neuen Verständnisses des Seins als „Wollen“ auch einen Entscheidungsprozess voraussetzt. Die Sittlichkeit ist gewiss noch „gottähnliche Gesinnung, Erhebung über die Bestimmung durch das Concrete ins Reich des schlechthin Allgemeinen“.77 Der Weg dazu und die Idee Gottes entsprechen aber nun nicht dem intellektualistischen Zugang zum Absoluten und der unvermittelten Selbstgegenwart des Göttlichen, die für das „Würzburger System“ charakteristisch waren. Gott ist nun eine Persönlichkeit. Schelling ist nach wie vor pantheistisch, doch sein Gott ist weder die spinozistische Substanz, die Schelling als ein „unpersönliches Wesen“78 und ein „logisches Abstractum“79 betrachtet, noch eine starre Selbstanschauung, deren Fähigkeit, endliche Abbildungen von sich selbst hervorzubringen, dunkel bleibt, sondern ein freiwillig handelnder, selbstbewusster Schöpfer. Diese Umdeutung des Begriffes „Gott“, die ausdrücklich anthropomorphisch ist, geht mit der Einführung theistischer Elemente im Rahmen der Identitätsphilosophie einher. In diesem Rahmen, der jedoch in der Freiheitsschrift der „Ethik“ marginalisiert wurde. Die „Tatsache der Freiheit“ (Schelling (1856 – 1861), SW 7, 336) ist der Grund einer geistigen Bewegung, die bei der dogmatischen Metaphysik Spinozas unberücksichtigt bleibt, weil sie nicht in der Lage ist, die Bedingungen der Theoriekonstruktion in die Theorie zu integrieren. 76 Sturma, S. 149 – 172. Der Bezug des Begriffes der präreflexiven Freiheit auf Kant befindet sich auf Seite 169. 77 Schelling (1856 – 1861), SW 5, 276. 78 Ibid. SW 7, 395. 79 Ibid. SW 7, 394.
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mit einigen Annahmen der Identitätsphilosophie so verschmolzen war, dass es sich laut einiger Zeitgenossen Schellings nur um alten Wein in neuen Schläuchen handelte,80 ist die Persönlichkeit eine zur Selbstbestimmung fähige Verbindung heterogener Eigenschaften. Schelling definiert sie daher als eine „Verbindung eines Selbstständigen mit einer von ihm unabhängigen Basis,“ in der „diese beide sich ganz durchdringen und nur ein Wesen sind“.81 Gott ist in dem Maße eine Persönlichkeit, wie er die Natur als Grund seiner Selbstanschauung, d. i. seiner ideellen Selbstständigkeit, hat. Die Persönlichkeit, wie M. Gabriel prägnant sagt, ist „ein Selbstverhältnis, das sich vom Selbstbewusstsein dadurch unterscheidet, dass es sich als Lichtung eines ihm selbst unverfügbaren Grundes vollzieht“.82 Als Persönlichkeit bezieht sich Gott auf sich selbst als „Verstand“ und folglich auf eine Form des Existierenden, aber unter der Voraussetzung der „Sehnsucht“, die eine Form des Grundes ist. Gott ist eine „absolute Existenz“, weil er nicht den Grund ausschließt, sondern ihn als Basis des Existierenden in ihm indirekterweise einbezieht. Ist der „Geist“ überhaupt ein Selbstverhältnis oder, laut der Formulierung des Schelling80 Die Freiheitsschrift, wie A. Schneider gezeigt hat, wurde als Anfang einer christlichtheistischen Philosophie rezipiert, die nicht nur die Identitätsphilosophie Schellings sondern den hegelschen Idealismus überwinden konnte. Die Theisten deklarierten „Schellings Schrift vielmehr zum Dokument einer Wende der neuesten Philosophie und des abendländischen Denkens, das, nach den Verwirrungen des cartesianischen und spinozistischen Rationalismus, der Aufklärung und des Idealismus, den Weg zurück zum Christentum gefunden habe“ (Schneider, S. 81). Die Tatsache, dass die erste Separatausgabe der Freiheitsschrift 1834 erschien (ibid. S. 82) und sie inmitten der politisch-kulturellen Polemik gegen die „Drachensaat des Hegelschen Pantheismus“, wie Friedrich Wilhelm IV. sagte, wieder Aufmerksamkeit bekam, hat dazu beigetragen. (Über die damalige Kritik an der Philosophie Hegels als „modifiziertem Spinozismus“ s. Briese, S. 80 – 83. Auch: Mecke, S. 484 – 492). Im Zentrum der Diskussion befand sich der Begriff „Persönlichkeit“. Wenn Gott eine Persönlichkeit ist – sagten die Theisten, könne das Absolute von der „logischen Notwendigkeit“ und der Emanationslehre des Pantheismus getrennt werden und wirklich als frei gelten. Dass die Freiheitsschrift nicht für die Entgegensetzung von Pantheismus und Theismus geeignet war, wurde von A. Schmidt 1837 richtig bemerkt. Schmidt hebt die ausdrückliche Absicht Schellings hervor, die Freiheitsschrift als die Entwicklung der ideellen Seite seiner vorherigen Systementwürfe zu betrachten (Schmidt (1837), S. 49), und zeigt, wie die Persönlichkeit Gottes den Urgrund voraussetzt. (Ibid. S. 82). Da dieser als eine Umformulierung der absoluten Identität interpretiert werden kann, die das „Maß“ und „Urbild“ der Persönlichkeit darstellt (Ibid. S. 84), und außerdem die Persönlichkeit die Partikularität und die relative Äußerlichkeit des Grundes niemals definitiv überwindet (S. 80), kann bezüglich der Freiheitsschrift von keiner absoluten Persönlichkeit die Rede sein. Laut Schmidt ist die Freiheitsschrift eher eine misslingende Dynamisierung der Identitätsphilosophie durch die Betonung der Kausalität, die dem ideellen Prinzip der Identitätsphilosophie eigen war. (Ibid. S. 86). Daraus resultierte keine rein theistische und antipantheistische Auffassung Gottes: „Diesen unfertigen Embryo [die Freiheitsschrift. C.R] haben nun Versuche der letzten Jahre aus seinem Elemente, der absoluten Identität, herausgezogen, haben ihn theils unter demselben Namen, der absoluten Persönlichkeit, theils unter andern Namen, etwa der absoluten Velleität oder sonst wie als etwas durchaus neues ans Licht gestellt.“ (Ibid. S. 86). Diese Neuheit basiert laut Schmidt auf einem Missverständnis der Freiheitsschrift. (Ibid. S. 50). 81 Schelling (1856 – 1861), SW 7, 394 – 395. 82 Gabriel (2006), S. 333.
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Schülers Kierkegaard, ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält,83 ist die göttliche Persönlichkeit der Geist selbst, sofern sein tätiger und nicht nur kontemplativer Umgang mit sich selbst völlig zum Ausdruck kommt. Nur als sich selbst offenbarendes und folglich liebendes Wesen kommt es vor, dass sich Gott „erst persönlich macht“.84 Die Persönlichkeit Gottes drückt sich daher durch die Schöpfung, also durch die geschichtliche Selbstverklärung und Selbstläuterung Gottes aus. Gott ist eine Persönlichkeit, sofern er sich angesichts der unmittelbaren Vorstellung seiner Unendlichkeit zu seinem eigenen Grund verhält und demjenigen, das nicht ideell ist, die Selbstständigkeit, Kohärenz und Permanenz seiner Selbstanschauung verleiht. Die Persönlichkeit ist deshalb schöpferisch. Der Mensch besitzt folglich die Fähigkeit, sich selbst zu „verklären“, weil er dieselbe ontologische Verfassung wie Gott hat. Der Mensch ist ursprünglich eine Persönlichkeit. Sofern der Mensch (im Unterschied zu Gott) sein eigenes Wesen missbrauchen kann, kann er sich aber von Gott entfernen. Die Entfernung von Gott ist das Böse. Der Mensch ist aber in der Lage, sich wieder Gott anzugleichen. Ohne die Angleichung an Gott und folglich ohne Religion ist das sittlich Gute unmöglich.85 Die Freiheitsschrift weicht trotz der Einführung kantischer Begriffe und trotz der theistischen Elemente des Begriffes „Gott“ nicht von dem Verständnis der Sittlichkeit der Identitätsphilosophie ab. Schelling wiederholt daher fast wörtlich in der Freiheitsschrift86 seine Definition der 83 Die Ähnlichkeit zwischen dem Begriff „Geist“ in der Freiheitsschrift und dem Geistbegriff Kierkegaards ist zurecht hervorgehoben worden (s. Pieper (1995), S. 93 – 95). 84 Schelling (1856 – 1861), SW 7, 395. 85 „Ohne Religion, keine Sittlichkeit“ – dies ist das Motto Schellings. Es wäre aber ein Missverständnis zu glauben, dass diese Auffassung bedeutet, Gott als moralischen Gesetzgeber zu sehen, und auf die moralischen Normen zu achten, weil sie von Gott gewollt wurden. In diesem Sinne versucht Michelle Kosch die Auffassung zu bekräftigen, der zufolge Schelling keine Ethik hat, durch ihre Identifikation der Religiosität mit einer „source of norms“ oder einer „central authority“ (Kosch, S. 101), denen der Mensch gehorchen soll. Schelling hat dementsprechend keine Ethik, weil für ihn das Gute nur Frömmigkeit ist und er außerdem unbestimmt lässt, was Gott will. Die Einführung theistischer Elemente in das Denken Schellings modifiziert nach ihrer Meinung nicht den Amoralismus der pantheistischen Vorstellung Gottes der Identitätsphilosophie, sondern verstärkt ihn vielmehr. Schelling lehnt diese Interpretation ausdrücklich ab und er nennt es den „Mosaismus der Moral“: „Wir müssen das Gute wollen, sagte man, weil es göttliches Gesetz ist“ (Schelling (1856 – 1861), SW 6, 556). Eine theozentrische Sittlichkeit ist nicht eine, in der Gott (und nicht der Mensch) der moralische Gesetzgeber ist, sondern eine, in der jeder Mensch die Vollkommenheit Gottes in sich selbst abbildet. „Nur durch ein göttliches Leben werde man Gottes inne.“ (Ibid. SW 6, 561 – 562) – sagt Schelling Jacobi zitierend. 86 Ibid. SW 7, 392. „Wir verstehen Religiosität in der ursprünglichen, praktischen Bedeutung des Worts. Sie ist Gewissenhaftigkeit, oder dass man handle, wie man weiß, und nicht dem Licht der Erkenntnis in seinem Tun widerspreche.“ (Ibid. SW 7, 393). Schelling bezieht sich hierbei auf die Erklärung des Wortes Religion bei Cicero. „Religio“ kommt laut ihm aus dem Verb „relegere“ (auflesen, berücksichtigen, achtgeben), dessen Entsprechung auf griechisch !k´keim und schon bei Homer auf die Achtung vor den Göttern bezogen ist (Hoyt, S. 127). Seiner Negation auf griechisch, oqj !k´keim entspricht daher neglegere auf Latein, also nec-legere als nicht beachten, nicht sorgen für etwas, vernachlässigen, dessen substantivierte Form auf Spanisch negligencia ist. Die religio ist so die sorgfältige Erfüllung von Pflichten und
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Religiosität im Würzburger System87 und identifiziert sie mit dem Guten, also mit der „Gebundenheit des finstern Prinzips (der Selbstheit) an das Licht“.88 Die Religiosität ist eine achtsame und ständige Vergegenwärtigung des durch die Metaphysik Erkannten, Gott, die alle Dimensionen des Bewusstseins sammelt, alle Gedanken auf einen einzigen Punkt ausrichtet und alle möglichen Handlungen prägt. Nur ein religiöser Mensch ist laut der Freiheitsschrift ein sittlich guter Mensch. 3. Das Böse oder das Grund-Werden des Geistes Schelling lehnt in der Freiheitsschrift die Identifizierung des Bösen mit einem „Mangel“, einer „Beraubung“ oder einer „Einschränkung“ ab. Das Böse ist nicht einfach die Negation der Vollkommenheit. Schelling distanziert sich deswegen von Augustinus,89 Leibniz90 und Fichte.91 Das Gegenteil des „Positiven“ ist nicht die Beraubung, sondern eine „positive Verkehrtheit“.92 Das Böse befindet sich in einem „reellen Gegensatz“93 mit dem Guten. Kantisch gesagt bedeutet dies, dass das Verhältnis des Guten zum Bösen nicht eine „logische“, sondern eine „reelle“ Entgegensetzung ist94. Das Böse ist deswegen eine positive Gegenkraft und nicht einfach eine Beraubung der Gutheit. Trotzdem wäre es falsch zu sagen, dass das Böse keine Unvollkommenheit ist. Schelling plädiert dafür, dem Bösen auch Seiendheit, Kraft und eigene Tätigkeit zuzuschreiben, aber das Böse ist immerhin im Vergleich mit dem Guten unvollkommen. Es ist kein absoluter Mangel an Sein, aber es ist definitiv ein relativer Mangel. In diesem Sinn kann Schelling sagen, dass das Böse ein „Unwesen, das nur im Gegensatz eine Realität hat“, oder ein „Schwanken zwischen die ständige Beachtung von Regeln. Das Wort spielt aber auch auf eine Einheit an, die sowohl in legere als auch in k´ceim impliziert ist. „Religio“ verweist mithin auf „sammeln“, „durchsehen“, „zusammenstellen“. Religiosität ist bei Schelling eigentlich keine Pflichterfüllung, weil er jede auf Gebote beruhende Sittlichkeit ablehnt, aber sie ist immerhin die ununterbrochene Aufmerksamkeit auf die Präsenz Gottes und die damit verbundene Selbstsammlung. 87 Schelling (1856 – 1861), SW 6, 588. 88 Ibid. SW 7, 392. 89 Ibid. SW 7, 368, 90 Ibid. SW 7, 367 – 369. 91 Ibid. SW 7, 389. 92 Ibid. SW 7, 366. 93 Ibid. SW 7, 370. 94 Kant selbst hat in dem „Versuch den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen“ (1763) diese Differenzierung benutzt, um verschiedene Dimensionen des Bösen zu unterscheiden: „Man findet, daß sie mehrentheils die Übel wie bloße Verneinungen behandeln, ob es gleich nach unsern Erläuterungen offenbar ist: daß es Übel des Mangels (mala defectus) und Übel der Beraubung (mala privationis) giebt. Die erstern sind Verneinungen, zu deren entgegengesetzter Position kein Grund ist, die letztern setzen positive Gründe voraus, dasjenige Gute aufzuheben, wozu wirklich ein anderer Grund ist, und sind ein negatives Gute. Dieses letztere ist ein viel größeres Übel als das erstere.“ („Versuch den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen“ (1763). Kant (1902 – 1923), AA II, 182.
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Sein und Nichtsein“95 ist96. Das Böse, wie alles, was ist, hat eine gewisse ontologische Autonomie und Selbstbehauptungskraft, aber es ist weniger seiend als das Gute. Seine Ähnlichkeit mit der Krankheit ist in dieser Hinsicht einleuchtend: „Auch die Partikularkrankheit entsteht nur dadurch, daß das, was seine Freiheit oder sein Leben nur dafür hat, daß es im Ganzen bleibe, für sich zu sein strebt. Wie die Krankheit freilich nichts Wesenhaftes und eigentlich nur ein Scheinbild des Lebens und bloß meteorische Erscheinung desselben – ein Schwanken zwischen Sein und Nichtsein – ist, nichtsdestoweniger aber dem Gefühl sich als etwas sehr Reelles ankündigt, ebenso verhält es sich mit dem Bösen.“97 Ebenso wie die Krankheit eine Abschwächung des Lebensgefühls ist, die nicht seinem Verschwinden (dem Tod) gleichkommt, ist das Böse eine Abschwächung der Intensität des Seins im Menschen. Gegen die Verbindung des Bösen mit der Unvollkommenheit kann man ein neues Argument vorbringen. Wenn der Geist das Sein in seiner vollendeten Gestaltung ist, weil der Grund und die Existenz trotz ihrer relativen Unabhängigkeit Phasen seiner Konstitution sind, und das Böse nicht aus der Sinnlichkeit oder der Endlichkeit, sondern aus einer geistigen Tätigkeit kommt, scheint es natürlich sich zu fragen, wie das Böse unvollkommen sein kann. Das Böse ist auch eine tätige Verbindung der Prinzipien. Es ist sogar seiner materiellen Seiten, also seiner Bestandteile nach nicht von dem Guten verschieden: „Das Materiale in beiden ist dasselbe (von dieser Seite ist das Böse nicht limitierter oder schlechter als das Gute).“98 Trotzdem ist nicht irrtümlich das Böse als eine Form der Unvollkommenheit zu betrachten, weil es nicht der Vollendungszustand des menschlichen Geistes ist. Der kantische Begriff „Persönlichkeit“ besagt u. a., dass der Mensch Selbstzweck ist. Er kann daher nicht als Mittel gebraucht werden. Wenn Schelling sagt, der Mensch sei ursprünglich eine Persönlichkeit, behauptet er zugleich, dass er kein Werkzeug Gottes ist. Für Gott selbst ist auch der Mensch etwas Vollendetes und nicht ein Ausgangspunkt, um etwas Neues zu schaffen. Wäre der Mensch nicht böse geworden, hätte die Schöpfung mit dem Menschen ihr Ende erreicht. Der Mensch ist böse geworden und deshalb verwandelt sich aufgrund der Erscheinung des Bösen der menschliche Geist in einen unvollendeten Zustand der Welt. Das Böse ist keine Rückkehr zu einem vorgeistigen Zustand der Welt, aber es stellt eine ontologische Involution dar, weil der Geist selbst nun Basis einer Entwicklung ist. Alles das, was Basis oder Werkzeug einer Entwicklung ist, gehört dem Grund an. Das Böse ist deshalb ein Grund-Werden des Geistes. Es ist noch eine tätige und schöpferische Verbindung der Prinzipien und doch, als ein Ganzes gesehen, ist es eine Gestaltung des Grundes, die es ermöglicht, einen höheren, vollkommeneren Zustand zu erreichen. Obwohl das Böse Geist ist, ist es auch daher unvollkommen. Ist das Böse ein Grund-Werden des Geistes, hat er 95 96 97 98
Schelling (1856 – 1861), SW 7, 366. Ibid. SW 7, 409. Ibid. SW 7, 367. Ibid. SW 7, 370.
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deshalb die Eigenschaften, die im Allgemeinen das Böse kennzeichnen. Fünf Merkmale des Bösen können dies erläutern: a) Das Böse ist im Vergleich mit dem Guten eine Entdifferenzierung und diese ist die aktive Form des Grundes.99 Der Mensch ist ursprünglich (vergeistigte) Natur (Selbstheit) und Vernunft. Der Mensch ist beides, und doch sind sie differenziert. Der sich von sich selbst als Vernunft wissende Mensch, weiß nicht zugleich ausdrücklich von sich selbst als Natur und umgekehrt. Der Geist, der eine „lebendige Identität“ ist, ist eine innerlich ausdifferenzierte Einheit der Prinzipien100. Das Böse ist hingegen 99 Die aktive und ursprünglichste Form des Grundes ist eine chaotische Vielfalt. Die Bestimmbarkeit ist keine Vielfalt klar differenzierter Elemente, sondern eine richtungslose Verbindung verschiedener Pseudoelemente miteinander, die alle möglichen Relationen zwischen ihnen zulässt und deswegen keine nummerische Identität derselben und keine allgemeine Ordnung ermöglicht. Darauf reagiert die Existenz. Sie bringt dadurch Strukturen hervor, dass sie einige Pseudoelemente selektiert, andere hingegen ausschließt und auf diese Weise eine Grenze zwischen einem Inneren und einem Äußeren bildet. Auf diese Wirkung des Bestimmungsprinzips reagiert nun der Grund, weil er dem bisher nur ideellen Gefüge Kohäsion verleiht und gegen die Tendenz der Existenz zur Artikulation oder Strukturierung aller Pseudoelemente dem begrenzten Komplex selektierter Elemente Permanenz gibt und seine Fortdauer als ein besonderes Wesen erlaubt. Gegen diese Tendenz des Grundes, das Besondere als Besonderes zu bejahen und es von dem Ganzen zu abstrahieren, handelt wieder die Existenz in der Form eines Artikulations- oder Kommunikationsprinzips, das die schon bestehenden Komplexe miteinander verbindet und folglich dem Besonderen als Besonderem entgegenwirkt. Die Existenz ist deswegen in einem reaktiven Sinn ein Bestimmungsprinzip, das aber in einem aktiven Sinn gegen die Bestimmtheit handelt. Der Grund ist in dem ersten Sinne das Prinzip der Bestimmtheit, das doch in dem zweiten Sinne die Bestimmbarkeit bejaht. Deswegen ist es nicht richtig wie bei Hermanni zu sagen, dass der Grund ausschließlich ein Individuationsprinzip ist. Hermanni, S. 89 – 91 100 Identität bedeutet bei Schelling keineswegs Entdifferenzierung oder Vermischung inhaltlich differenzierbarer Elemente. Dies ist das, was Schelling „Einerleiheit“ (Schelling (1856 – 1861), SW 7, 341) nennt. Wenn A und B identisch sind, wird ihre Differenz beibehalten: A ist nicht B und B ist nicht A. Unter „Identität“, wie M. Frank bemerkt, versteht Schelling weder „die Gleichheit zweier Gegenstände a und b hinsichtlich eines Prädikationsraum P“ (Frank (1991), S. 128) noch die „Quasi-Eigenschaft eines aus einer Menge seinesgleichen herausgegriffenen Einzelnen, individuiert oder ,es selbst‘ zu sein.“ (Ibid. S. 87). Es handelt sich folglich weder um eine Identität der Gattung nach noch um eine nummerische Identität. Die Identität ist auch nicht eine triviale Sichselbstgleichheit, sondern die nicht begriffliche Beziehung Unterschiedener. (Ibid. S. 82). Nur das, was in irgendwelcher Hinsicht anders sein kann, kann sich selbst gleich sein. Die Identität im Sinne Schellings ähnelt deshalb dem Identitätsbegriff bei Frege, also die Einheit der Referenz von semantisch differenzierbaren Termini. (Ibid. S. 114. s. auch: Lütterfelds, 2006. S. 27). Die Erhaltung der Differenz impliziert aber nicht, dass A und B nummerisch verschieden sind. A und B sind nicht inhaltlich dasselbe und sie können daher voneinander getrennt begriffen werden, aber sie bilden dennoch eine Einheit. Die Attribute sind inhaltlich voneinander unabhängig und sind doch Eigenschaften einer einzigen Entität. Grund und Existenz weisen dementsprechend auf zwei verschiedene Eigenschaften von allem, was ist hin, nämlich auf die Bestimmbarkeit und auf die Bestimmtheit, aber sie sind Eigenschaften Gottes und Gott ist ein singulare tantum. Schelling schließt damit an den Begriff der distinctio formalis an, also an eine Differenz, die gleich der distinctio realis und im Unterschied zur distinctio rationis a parte rei stattfindet und dennoch gleich der distinctio rationis und im Unterschied zur distincio realis nicht nummerisch ist: „Die distinctio formalis bezieht sich auf einen vorgedanklichen Unterschied zwischen Aspekten der
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der Versuch der menschlichen Natur, alles in ihren Dienst, einschließlich der Vernunft zu stellen. Die Transzendenz der Vernunft gegenüber der Natur wird dadurch verkannt. Der böse Mensch eignet sich die Vernunft an, als ob sie ein Moment der Selbstheit wäre und folglich nur von der Perspektive der Selbsterhaltung her Sinn hätte, und verwischt daher die Grenze zwischen dem Ideellen und dem Reellen. Die Immanentisierung der Vernunft ist daher eine Entdifferenzierung der Prinzipien. b) Das Böse ist eine Verkapselung des Singulären und der Grund in seiner reaktiven Form ist eben ein gegen die vollständige Strukturierung der Welt gerichtetes Isolationsprinzip, das, seiner allgemeinen Wirkung nach gesehen, in Atomisierung mündet. Der einzelne, sich für das Böse entscheidende Mensch versucht, statt im Ganzen zu bleiben, „für sich zu sein“.101 Wenn der Einzelne „sich ganz losreißt“102 und als solcher sich behaupten will, verkennt er seine Zugehörigkeit zu einem Ganzen. Er behält noch einen Bezug auf das Ganze bei, weil er immerhin die Vernunft in seinen Dienst gestellt hat, aber diese ist eine scheinbare Ganzheit, eigentlich eine Projektion seines singulären Charakters ins Unendliche, die doch im Vergleich mit dem wahren Ganzen eine Trennung von diesem darstellt. Wenn die Gesellschaft aus bösen Menschen besteht, wird sie dann atomisiert. c) Das Böse ist eine kreisförmige, sich wiederholende Tätigkeit, die, der Sehnsucht gleich, immer wieder versucht, eine Ordnung hervorzubringen, und daher „nie aus der Potenz zum Aktus gelangen kann“.103 In der Terminologie der „Weltalter“ handelt es sich dabei um die „rotatorische Bewegung“.104 Dies drückt sich in dem einzelnen Menschen als ein Bestreben nach Selbstentfaltung aus, das aber aufgrund seiner Unfähigkeit, die reell unterscheidbaren Momente seiner ontologischen Verfassung zu differenzieren, in Tantalusqualen mündet. Der „Hunger der Selbstsucht“105 ist nichts anderes als eine zwanghafte Zwecksetzung, die ihre eigenen Ansprüche zerstört, weil jeder neue Zweck die noch ausstehende Erfüllung der
Sache, die zusammen eine real ungeschiedene Einheit bilden“ (Schmidt (2004), S 105). Schelling rezipiert diese Idee Duns Scotus’ durch Spinozas Attributenlehre (s. Deleuze, S. 55 – 61). Angesichts dieses ideengeschichtlichen Hintergrunds kann man übrigens nicht wie Janke sagen, dass der Unterschied zwischen Grund und Existenz nur ein Produkt der Reflexion, also eine distinctio rationis ist (Janke (1994), S. 108). Schelling lehnt ausdrücklich diese Interpretation ab: „Anstatt also, daß dieser die Unterscheidung wieder aufhöbe, wie gemeint wurde, setzt und bestätigt er sie vielmehr. Weit entfernt, daß die Unterscheidung zwischen dem Grund und dem Existierenden eine bloß logische, oder nur zur Aushilfe herbeigerufene und am Ende wieder als unecht zu befindende gewesen wäre, zeigte sie sich vielmehr als eine sehr reelle Unterscheidung, die von dem höchsten Standpunkt aus erst recht bewährt und völlig begriffen wurde“ (Schelling (1856 – 1861), SW 7, 407). 101 Ibid. SW 7, 366. 102 Ibid. SW 7, 400. 103 Ibid. SW 7, 390. 104 Ibid. SW 8, 322. 105 Ibid. SW 7, 391.
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anderen Zwecke sinnlos macht. Das Resultat ist eine ständige Unruhe oder Unseligkeit.106 d) Das Böse unterbricht die Kommunikation zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen im Menschen und, sofern diese die innere Ordnung des Geistes ermöglicht, löst das Böse die Unordnung und die Unregelmäßigkeit aus, die typisch für den Grund sind. Die Enthierarchisierung, die aus der Verkennung des wahren Allgemeinen resultiert, führt aber nicht zur inneren Anarchie, sondern zu einer sukzessiven Heterarchie. Jede natürliche Kraft versucht, im Sinne des Versklavungsprinzips der Synergetik107 ein Koordinationszentrum einer chaotischen Bewegung zu sein. Einige innere Kräfte schaffen es, die Bewegung der anderen Kräfte vorübergehend zu organisieren, aber diese relativ stabilen Zustände brechen bald zusammen,108 weil alle Kräfte natürlich sind und folglich keine wahre Hierarchie bilden können. Jeder herrschende Wunsch beansprucht doch Allgemeingültigkeit und versucht, die Funktion zu übernehmen, die der Vernunft eigen ist. Das Resultat ist aber eine Pseudovernunft, die als stabiles Koordinationsprinzip zum Scheitern verurteilt ist und dem Individuum nicht erlaubt, eine dauernde Präferenzenordnung zu bilden. e) Das Böse ist selbstwidersprüchlich. Es ist ein ständiger Kampf um die Herrschaft zwischen natürlichen, einander entgegengesetzten Kräften. Der böse Mensch befindet sich im Gegensatz mit sich selbst und mit der sinnlichen Wirklichkeit, weil sich einerseits die Pseudovernunft anderen Kräften des Individuums unterwerfen will und andererseits die sinnliche Welt nur als Gegenstand auftritt, also als etwas, das für den einzelnen Menschen nur ein äußeres Hindernis seiner Suche nach einer bruchlosen Selbstgegenwart ist. In dem ersten Sinne darf man behaupten, dass „die höchste Corruption gerade auch die geistigste ist, dass in ihr zuletzt alles Natürliche, und demnach sogar die Sinnlichkeit, ja die Wollust selbst verschwindet, dass in Grausamkeit übergeht, und dass der dämonischteuflische Böse dem Genuss weit entfremdeter ist als das Gute“109. In dem zweiten Sinne geht das Böse mit der Subjekt-Objekt-Differenzierung einher, wobei die objektive Wirklichkeit ein intentionaler Gegenstand ist, der die Selbsttätigkeit des Einzelnen beschränkt und nur als ihre Negation auftritt. Da sowohl seine eigenen Wünsche als auch die objektive Wirklichkeit nur für ihn bestehen und folglich von Anfang an in seiner Innerlichkeit auftreten, kann man sagen, dass es sich in beiden Fälle um einen Selbstwiderspruch handelt. 4. Die Wiederherstellung der Persönlichkeit B. Sandkaulen hat z. T. recht, wenn sie behauptet, dass der Gebrauch des kantischen Persönlichkeitsbegriffes in der Freiheitsschrift Schellings „irritierend“ und 106 107 108 109
Ibid. SW II, 3, 273. Heuser-Keßler, S. 88 – 91. Schelling (1856 – 1861), SW 7, 365 – 366. Ibid. SW 7, 468.
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„verräterisch“ sei.110 Die Persönlichkeit ist bei Schelling nicht allein der vernünftige Teil des Menschen und sie bezeichnet auch nicht allein die allgemeine Seite seines Wesens. Außerdem bezieht sie sich nicht auf das Sittengesetz111 und auf dasjenige, das bei Kant den Rahmen des Begriffes ausmacht, nämlich die sittliche Autonomie der Subjektivität. Das Universelle ist bei Schelling die Anschauung des Ideenkosmos und es kommt nicht aus der Selbsttätigkeit des menschlichen Denkens – die menschliche Vernunft ist grundsätzlich passiv.112 Trotzdem sind die kantischen Merkmale des Begriffs Persönlichkeit113 in der Freiheitsschrift unleugbar. Schelling 110
Sandkaulen, S. 38. Das Sittengesetz ist laut des Würzburger Systems der deutlichste Ausdruck des „größt möglichen Wahns“, „alles unter ein Gesetz beugen zu wollen“ und mithin die Partikularität der Menschen, die ihnen und allem als Erscheinung der absoluten Substanz entspricht, zu tilgen (Schelling (1856 – 1861), SW 6, 548). In der Freiheitsschrift setzt Schelling die Allgemeingültigkeit des Sittengesetzes der Partikularität des Menschen nicht entgegen, aber Schelling lehnt nach wie vor jede Handlungsform ab, die auf einem Sollen basiert: „Für den, der in der Identität mit Gott ist“ – sagt Schelling in den Würzburger System – , „gibt es sowenig ein Gebot als eine Belohnung, sondern er handelt der inneren Notwendigkeit seiner Natur gemäß.“ (Ibid. SW 6, 565). Die „Gewissenhaftigkeit“ der Freiheitsschrift ist einfach eine Fortsetzung dieser Idee: „Derjenige ist nicht gewissenhaft, der sich im vorkommenden Fall noch erst das Pflichtgebot vorhalten muss, um sich durch Achtung für dasselbe zum Rechttun zu entscheiden.“ (Ibid. SW 7, 392). 112 Ibid. SW 7, 415. 113 Der Begriff Persönlichkeit gehört bei Kant nicht ausschließlich zum Bereich der praktischen Philosophie, aber nur darin ist er ein zentraler Begriff seines Denkens. Die „logische Persönlichkeit“ (Reflexion 5049. Kant, AA XVIII 72) ist die Permanenz des Ichs als um sich selbst wissende synthetische Tätigkeit. Sofern sie trotz des Wechsels der Inhalte des inneren Sinnes unveränderlich bleibt, transzendiert sie die zeitliche Ebene des Bewusstseins (Kant, AA KrV A 361). In der praktischen Philosophie zeigt sich sowohl der überzeitliche als auch der aktive Charakter der Persönlichkeit, weil sie die Sinnlichkeit übersteigt und durch die Vermittlung der Willkür Handlungen hervorbringt. Die Persönlichkeit ist daher die vernünftige Anlage des Menschen zu autonomem Handeln (Religionsschrift. Kant, AA VI 27 – 28). Ein menschliches Leben impliziert sie notwendigerweise, weil alle „Anlagen“ zum Wesen des Menschen gehören. Aufgrund der Persönlichkeit hat er immer und überall das Vermögen, von der Natur frei zu sein. Der unmittelbare Inhalt der Persönlichkeit ist das Sittengesetz und deswegen kann man nur ihr gemäß handeln, sofern die sinnlichen Triebfedern der Willkür die eigenen Taten nicht bestimmen. Die Persönlichkeit ist eigentlich die praktische Vernunft selbst als Teil des Wesens des Menschen oder, anders gesagt, der vernünftige Teil des Menschseins in praktischer Hinsicht. Alle Menschen sind als Persönlichkeit ununterscheidbar, denn das Sittengesetz ist ein und dasselbe in allen Menschen. Deswegen benutzt Kant den Fachausdruck Persönlichkeit nur im Singular (Heidegger (1994). S. 262). Trotzdem ist sie notwendigerweise auf das Individuelle im Menschen bezogen. Die Person ist individuell und die Persönlichkeit allgemein, aber die Person kann die Allgemeinheit der Persönlichkeit als eine eigene Handlungsmöglichkeit ansehen, weil sie sich für die Erfüllung des Sittengesetzes entscheiden kann. Die Personen sind individuelle Akteure, deren Handlungen von ihrer eigenen Willkür abhängig und folglich zurechenbar sind (Merle, S. 200). Die Wahlfreiheit der Willkür zeichnet die Personen, der Wille hingegen die Persönlichkeit aus. Die Persönlichkeit ist in dieser Hinsicht ein einziger Bestimmungsgrund der verschiedenen moralischen Entscheidungen der Personen. Sofern die Persönlichkeit die Besonderheit und die Zugehörigkeit der Personen zur sinnlichen Welt transzendiert und ihnen folglich erlaubt, sich über seine eigene Beschränktheit zu erheben und die Allgemeinheit des Sittengesetzes zu betrachten, kann man nicht die Persönlichkeit ohne 111
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ist natürlich nicht daran interessiert, eine subjektzentrierte Form der Sittlichkeit wiederzubeleben, aber er zielt darauf ab, die Struktur der Persönlichkeit in seine Ontotheologie zu integrieren. Die Menschen-Ebenbildlichkeit Gottes ist die Grundvoraussetzung der Sittlichkeit und Gott ist eine Persönlichkeit. Die Überwindung des Bösen fällt daher mit der bewussten Personalisierung des Menschen zusammen. Ist das Böse eine entdifferenzierte, selbstsüchtige, unruhige, unorganisierte und selbstwidersprüchliche Form des Geistes, ist das Gute eine ausdifferenzierte, uneigennützige, ruhige, geordnete, harmonische Geistigkeit. Der kantische Persönlichkeitsbegriff ist dafür nützlich, diese einheitlich zu begreifen, weil er die Transzendenz der Vernunft gegenüber der Natur, das Primat des Allgemeinen vor dem Besonderen im Menschen, die Vorstellung einer Handlungsweise, die Selbstzweck ist, die Idee eines Transformationsprozesses der eigenen naturbedingten Tendenzen des Menschen und die Idee einer rationellen Bedingung der Selbstzufriedenheit impliziert. Der Begriff „Persönlichkeit“ ist außerdem zu einer zentralen Eigenschaft des neuen zentralen Seinsbegriffes, des Geistes, passend, weil die Handlungen des Geistes kontingent sind und die Persönlichkeit bei Kant immer mit Entscheidungsprozessen verbunden ist. Der Kern des sittlichen Lebens bei Schelling, d. i. die Möglichkeit einer einzelnen Entscheidung, die allen anderen Handlungen das Gepräge des Guten verleiht, konnte deswegen mithilfe einer Umdeutung des kantischen Begriffes der Persönlichkeit gelöst werden. Nicht alle Merkmale der Persönlichkeit bei Kant scheinen jedoch nützlich dafür zu sein, die geistige Verfassung des sittlich guten Menschen zu beschreiben, weil Schelling in der Identitätsphilosophie Spinoza gegen Kant ausgespielt hatte, um z. B. den moralischen Rigorismus Kants oder die Idee der Moralität als einen inneren Kampf zu kritisieren, und die Freiheitsschrift viele der Charakteristiken der Version der Angleichung an Gott der Identitätsphilosophie erbt. Da Schelling in dem Würzburger System von einer spinozistischen Perspektive her die kantische MoraBezug auf das Gefühl des Menschen, durch das er die Negation der eigenen Besonderheit als eine Selbstpotenzierung erfährt, also auf das Gefühl von Achtung verstehen (Kant, KpV AA V 87). Weil der Mensch eine Persönlichkeit hat, ist er in der Lage die Erhabenheit seines Wesens zu empfinden. Der Mensch weiß dann, dass es eine Dimension seines eigenen Wesens gibt, die seine Grenzen als empirisches Wesen übersteigt und deshalb ihn „erniedrigt“, aber, sofern er ein vernünftiges Wesen ist und über diese Grenze hinausgehen kann, das Unbegrenzte in ihm selbst zugleich zur Erscheinung bringt. Dasjenige, auf das der Mensch in sich selbst und in den anderen Menschen achten soll, ist die Persönlichkeit. Sie ist eine Eigenschaft der Menschen, wodurch sie und nur sie – die Dinge oder andere Lebewesen haben keine und sind deshalb „Sachen“ – achtungswürdig sind. Dementsprechend soll jeder Mensch sich selbst und die anderen Menschen unter dem Standpunkt dessen ansehen, was nicht zur Sinnenwelt gehört und folglich nicht als ein sinnliches Ding behandelt werden kann. Aus diesem Grund soll keine Entscheidung der Person dazu führen, sich selbst oder andere Menschen als Mittel zur Erreichung eines Zweckes zu behandeln. Die eigene Persönlichkeit und die der anderen ist unantastbar und mithin ist sie dasjenige im Menschen, das verbietet, ihn zu instrumentalisieren. Ein Mensch wird nur dann geachtet, wenn man seine Selbstständigkeit als vernünftiges Handlungswesen in Betracht zieht, d. i. wenn er autonom handeln kann. Auf dieser Basis gründet Kant sowohl den Rechtsstaat als auch die Beziehung Gottes zum Menschen. Die Persönlichkeit des Menschen ist auch für Gott heilig (Kant, KpV AA V 87).
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lität mitleidlos angegriffen hatte und die Freiheitsschrift, wie schon gezeigt wurde, an einigen Grundthesen Spinozas festhält, scheint dann nicht verständlich zu sein, dass die innere Verfassung des seligen Menschen mit einem kantischen Begriff, der Persönlichkeit, beschrieben wird. Und Schelling tut eben dies dennoch, weil er z. T. seine Interpretation der praktischen Philosophie Kants revidiert hat und im Unterschied zur Identitätsphilosophie die Ergänzungsfähigkeit seines Spinozismus mit dem Denken Kants betonen möchte. Schelling sieht z. B. nun die Persönlichkeit nicht als eine Negation der Sinnlichkeit im Namen der Vernunft an, sondern als eine Wesenbestimmung des Menschen, die zwar Nachdruck auf die Vernunft legt, aber ohne Bezug auf die Sinnlichkeit und die Individualität leer bleiben würde. Aus der kantischen Ethik entlehnt Schelling nun eine Vorstellung des Menschen als ein Wesen, das trotz der Asymmetrie zwischen dem Vernünftigen und dem Natürlichen immerhin zu zwei Welten gehört und nicht ein einseitiger Rationalist, der, wie Schiller von einer anthropologischen Perspektive aus und Schelling, daran anschließend, von einer ontologischen aus betonten, die Sinnlichkeit bekämpft. Dass diese Interpretation plausibel war und deshalb trotz des Anschlusses an Kant die spinozistischen Voraussetzungen unberührt bleiben konnten, ist kein begriffliches Jonglieren Schellings, weil Kant trotz seiner nicht seltenen Herabwürdigung der Sinnlichkeit, niemals die Teilnahme des Individuellen und Natürlichen im sittlichen Leben geleugnet hat. Ein Wesen, das keine individuellen und sinnlich bedingten Zwecke hat, ist für Kant kein moralisches Subjekt. Und jeder, der eine solche Heiligkeit beansprucht, gerät nach Kant in die Schwärmerei.114 Schelling, der 1809 den ontologischen Parallelismus des Ideellen und des Reellen in allen endlichen Dingen unter einer modifizierten Form erhält und den Menschen auch von diesem allgemeinen ontologischen Standpunkt aus betrachtet, kann deswegen an die Begriffe Kants anschließen, ohne die spinozistischen Motive seiner Kantkritik 1804 zu variieren. Im Folgenden werden wir uns deshalb des Persönlichkeitsbegriffs als rotem Faden bedienen, ohne die spinozistisch inspirierte Kantkritik beiseite zu lassen. Das Ziel ist immerhin nicht, den Persönlichkeitsbegriff der Freiheitsschrift von dem kantischen abzuleiten, denn trotz der Familienähnlichkeit zwischen ihnen gibt es große Unterschiede und der Gebrauch des kantischen Begriffes von Schelling ist nicht nur „verräterisch“, sondern hat viele eigene Akzente. Das Ziel ist vielmehr, den schellingschen Persönlichkeitsbegriff zu erläutern und seine Merkmale als Gegenteil der fünf erwähnten Merkmale des Bösen zu deuten, ohne aber aus der Sicht zu verlieren, dass im Hintergrund die Struktur der Persönlichkeit bei Kant eine Rolle spielt. Aus der Rekonstruktion des Begriffs „Persönlichkeit“ soll sich ein Gesamtbild der Seinssteigerung ergeben, zu der der Mensch fähig ist, falls er sich für das Gute entscheidet. Ist der Einzelmensch in der Lage, sich von sich selbst zu distanzieren, sich in ein für die Vernunft zugängliches Ganzes zu integrieren, ein Vollständigkeitsgefühl zu erreichen, die eigene Natur allmählich läutern und entfalten und das Vernünftige und das Natürliche und das Innere und das Äußerliche zu harmonieren, 114
Ibid. AA KpV V 84 – 88.
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bildet dieser Mensch Gott ab. Die Angleichung an Gott ist in der Freiheitsschrift nichts anderes als die bewusste und freiwillige Personalisierung des Menschen. a) Selbstdistanzierung und Sterblichkeit Als Geist und folglich als Persönlichkeit ist der Mensch „über und außer aller Natur“.115 Er hat deswegen von Anfang an die Fähigkeit, von seiner eigenen Natur frei zu sein. Im Unterschied zu Kant behauptet Schelling nicht, dass der Mensch als Naturwesen unfrei ist, weil die „Selbstheit“ auch frei von äußeren Einflüssen ist und nicht mechanistisch unter dem Reiz-Reaktions-Schema, sondern als eine leibliche Selbstwahrnehmung aufgefasst wird. Sie ist nicht wie die Begierde nach außen gekehrt, denn sie ist ein ruhiges Selbstgefühl. In diesem Sinne ist die Selbstheit „als solche“ Geist.116 Trotzdem schließt die Persönlichkeit die Fähigkeit ein, die Selbstheit zu transzendieren. Das Ideelle in jener ist die Anschauung des göttlichen Verstandes ohne Berücksichtigung der eigenen Leiblichkeit. Diese gehört zwar zur Persönlichkeit, aber als ein stummer und unthematischer „Träger“ der Anschauung des Ideenkosmos.117 Die Vernunft transzendiert das Besondere im Menschen und folglich dasjenige, auf dem seine Selbstliebe beruht. Die Persönlichkeit des Menschen ist auch Natur, aber die Natur in ihm operiert dabei eben als Grund, also als Basis einer höheren Dimension. Der einzelne Mensch ist sich aufgrund seiner Fähigkeit, die Totalität zu denken, seiner eigenen Nichtigkeit bewusst. Die Vernunft bringt mit sich eine Dezentrierung, die ihn hindert sich einzubilden, Bedingung der Ordnung der Welt zu sein: „Der höchste moralische Akt im Menschen besteht darin, dass er sich über sein Seyn erhebe, sich von ihm unabhängig mache und befreye.“118 Je mehr der einzelne Mensch über sich selbst hinaus denkt, desto mehr wächst die Bewusstseinsintensität seiner Persönlichkeit. Da die primäre Form seiner Individualität die Leiblichkeit oder, genauer gesagt, das unveräußerliche Gefühl jedes Menschen, lebendig zu sein,119 ist, verstärkt das Wissen um die Möglichkeit des 115
Schelling (1856 – 1861), SW 7, 364. Ibid. SW 7, 364. 117 Ibid. 118 Schelling (1973), S. 132. 119 Der Begriff Persönlichkeit setzt, wie gesagt, die Anerkennung der ontologischen Grenzen des menschlichen Selbstbewusstseins voraus. Der Mensch kann um sich selbst als dasjenige denken, das der Ideenkosmos denkt, weil der Leib dieser Vernunftanschauung zugrunde liegt. Eine Persönlichkeit im Sinne der Freiheitsschrift ist eine Selbstbeziehung des Denkens, die einen Grund hat, der nicht Denken ist: „Alle Persönlichkeit ruht auf einen dunklen Grund“ (Schelling (1856 – 1861), SW 7, 413). Im Dialog „Clara“ sagt in diesem Sinne der Arzt: „Wenn Sie sich als Sich und daher als von allem unterschiedene Person betrachten, fühlen Sie da nicht, dass im Grund Ihres Bewusstseins etwas durch keinen Begriff Aufzulösendes liegt, etwas Dunkles, gleichsam als Halt Ihrer Persönlichkeit?.“ (Ibid, SW 9, 68) Jeder Mensch ist ein Stück Natur und folglich liegt dem Selbstbewusstsein der Leib zugrunde. Das Gefühl selbstständig zu sein ist die Basis, aus der sich jeder Mensch bewusst als etwas Singuläres entwirft. Im Gegensatz zu Theorien, welche eine anfängliche Zerstreuung der menschlichen Triebe voraussetzen (z. B. bei Gehlen oder Lacan), ist Schelling der Ansicht, dass die Natur im Menschen anfänglich mit 116
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eigenen Todes die Intensität desjenigen Teils des menschlichen Bewusstseins, der nicht individuell ist. In einem Brief an Georgii vom 19. 03. 1811 hat Schelling dies klar geäußert: „Anhaltendes Nachdenken und Forschen hat jedoch bei mir nur dazu gedient, jene Ueberzeugungen zu bestätigen, dass der Tod, weit entfernt die Persönlichkeit zu schwächen, sie vielmehr erhöht, indem er sie von so manchem Zufälligen befreit.“120 Ein guter Mensch ist sich notwendigerweise seiner Sterblichkeit bewusst, aber aufgrund seiner Fähigkeit, sich als Individuum durch das Denken zu transzendieren, erfährt er diese Tatsache mit Gelassenheit. Er kann mit Paulus sagen: „Tod, wo ist dein Stachel?“,121 denn der Tod ist nur ein Thema für den Menschen, sofern er die Selbstheit in sich vorherrschen lässt. In diesem Fall ist die Selbsterhaltung ein immer Sorgen erregendes Thema und das Denken des Menschen konzentriert sich völlig auf die Strategien, dem Tod zu entkommen. Der Staat gehört dazu. Wenn der Mensch aber seiner Persönlichkeit gemäß lebt, ist seine Sterblichkeit kein dringendes Problem. Der Mensch soll natürlich nicht seine Leiblichkeit vollkommen vernachlässigen, denn sie ist auch die Basis der Anschauung der Weltordnung und folglich eine Bedingung seiner geistigen Autarkie, aber er konzentriert seine Denktätigkeit nicht auf ihre Rettung. Tatsache ist, dass das Bewusstsein der Endlichkeit des eigenen Lebens, die sich aus der Schau des Ideenkosmos ergibt, die „Scheidung“ der Kräfte veranlasst und folglich der Tendenz zur Entdifferenzierung entgegenwirkt. b) Teilnahme an einem Ganzen Der einzelne Mensch, sofern er Persönlichkeit ist, weiß von sich selbst als einem besonderen Wesen. Die Ursache des Bewusstseins seiner eigenen Endlichkeit, nämlich seine eigene Fähigkeit, das Universelle anzuschauen, erlaubt ihm doch auch, sich seiner eigenen Würde bewusst zu werden. Diese Doppelseitigkeit, die das Gefühl von Achtung bei Kant charakterisiert,122 ist auch in der menschlichen Per-
einem Einheitsgefühl zusammengeht. Der menschliche Leib ist ein einheitliches Körpergefühl. Sofern der Leib eine relative Selbstständigkeit hat, die immerhin eine intensivierte Form dessen ist, was in allen Lebewesen vorkommt, wird er „Selbstheit“ genannt. Sie ist die materielle oder natürliche Seite der geistigen Freiheit. Nach dem Abfall wird jedoch das konfliktfreie Verhältnis zwischen Denken und Natur in jedem Menschen gestört. Wenn jeder Mensch gegen das „empörte Heer der Begierden und Lüste“ (Ibid, SW 7, 366) kämpfen soll, liegt es darin, dass sich das anfänglich ruhige Selbstgefühl nach dem Abfall in einen immer bedürftigeren Selbsterhaltungstrieb verwandelt. Nur dann wird die eigene Natur zu einer Quelle von Unruhe und verliert ihre anfängliche Einheitlichkeit. 120 Schelling (1869 – 1870), S. 252. 121 Bibel, 1 Kor 15, 55. 122 Kant, KpV AA V 87. D. Henrich hat diese Doppelseitigkeit der Achtung erklärt: „Insofern berücksichtigt die Lehre von der Achtung den Gedanken der Autonomie. Zugleich aber unterscheidet der, der aus Achtung handelt, sich selbst von der anerkannten Macht. Ohne dass es nötig wäre, die Phänomene zu verzeichnen, kann man sagen, dass Achtung eine Struktur voraussetzt, die der spekulative Idealismus als Einheit Differenter methodisch zu entwickeln versuchte, doch so, dass in der Achtung die Einheit selbst nicht begriffen, sondern faktisch ist.
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sönlichkeit der Freiheitsschrift vorhanden. Durch seine Vernunft wird der einzelne Mensch seiner Teilnahme an einem Ganzen inne, das ihn transzendiert und ihn eben deswegen über seine Endlichkeit erhebt. Die menschliche Vernunft ist der passive Reflex einer Ordnung, die der Mensch nicht hervorbringen kann. In dieser Hinsicht bleibt Schelling dem Vernunftbegriff der Identitätsphilosophie treu. Die in der Identitätsphilosophie umdefinierte „intellektuelle Anschauung“ ist keine unmittelbare Vergegenwärtigung der eigenen intellektuellen Tätigkeit, sondern die unmittelbare Vergegenwärtigung der Gegebenheit einer intelligiblen, aktuellen Unendlichkeit. Schelling betont in dem Würzburger System die Passivität, welche die intellektuelle Anschauung in der zweiten Bedeutung voraussetzt, und spricht deswegen von ihr als eine Form von „Contemplation“: „Die Erkenntnisart des Absoluten also, wenn sie eine absolute ist, ist auch eine contemplative.“123 Sie ist keine „hervorgebrachte“124 Identität. Die intellektuelle Anschauung im Sinne des absoluten Ichs ist hingegen eine „selbstgeschaffene Identität durch den inneren Sinn“.125 Es handelt sich bei der intellektuellen Anschauung der Identitätsphilosophie um eine „Partizipationsvernunft“ und nicht eine „Setzungsvernunft“.126 Die menschliche Seele ist laut des Würzburger Systems die reelle Seite des absoluten Wissens und dementsprechend ist sie eine endliche Entität, die das Unendliche unmittelbar und notwendigerweise bespiegelt.127 Das absolute Wissen erkennt sich selbst, indem es von der Seele erkannt wird, weil die Seele eine Seite dieses Wissens ist. Sie ist das Wissen Gottes um sich selbst in Gott selbst. Ihre Anschauung Gottes ist ihm nichts Äußerliches, weil sie das Organ der Selbstanschauung Gottes ist. Dasjenige, das die Seele denkt, ist folglich nicht von ihr gesetzt, sondern sie ist eher als dasjenige gesetzt, das das notwendig zu Denkende denkt. Sie ist Denken des Unendlichen im Sinne des genitivus subjectivus. Sie ist es aber, solange sie um sich selbst als dasjenige weiß, das unmittelbar um das absolute Wissen weiß,128 weil, wenn die menschliche Seele nicht dazu imstande wäre, sich die Selbstständigkeit Gottes nicht in ihr widerspiegeln könnte. Die Persönlichkeit, sofern sie ein Ebenbild Gottes ist, setzt diese passive Dimension des Denkens voraus.
So können wir auch von der Achtung für Personen sagen, dass wir in ihnen das achten, was uns als die vollendete Forderung des eigenen Wesens gegenübertritt“. Henrich (1963), S. 371. 123 Schelling (1856 – 1861), SW 6, 153. 124 Ibid. SW 6, 154. 125 Ibid. SW 6, 23. 126 Diese Unterscheidung wird von W. Zeitler benutzt, um diese subjektivistische Form der Vernunft der Moderne von dem platonischen Vernunftbegriff zu differenzieren (Zeitler, S. 79). Ganz im Sinne der „Partizipationsvernunft“ sagt J. Halfwassen das Folgende: „Vernunft bedeutet für Schelling vielmehr in entschiedener Aufnahme des Platonischen Vernunftbegriffs die Teilhabe an der Erkenntnis eines uneingeschränkten und unendlichen, also göttlichen Geistes“ (Halfwassen (2000), S. 81 – 96). 127 Schelling (1856 – 1861), SW 6. 506. 128 Ibid. SW 6, 511.
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Die menschliche Vernunft, so wie sie in der Freiheitsschrift verstanden wird, „ist nicht Tätigkeit“129; sie ist die „ruhige Stätte, darin die ursprüngliche Weisheit empfangen wird“130. Die Gegebenheit der göttlichen Weisheit im menschlichen Bewusstsein ist die Anschauung des Ideenkosmos oder, was äquivalent ist, des Verstandes Gottes.131 Die Vernunft als solche reicht nicht aus, um den Menschen als ein geistiges Wesen zu bezeichnen,132 und sie ist sogar als solche nicht Geist,133 aber eine Persönlichkeit zu sein impliziert, das intelligible Ganze anzuschauen und sich selbst als das es Anschauende zu identifizieren. Dank der Vernunft nimmt der Mensch dann an einem Ganzen teil, das ihn als Einzelnen transzendiert und dem er doch davon wissend angehört. In dieser Hinsicht ist die Persönlichkeit mit der Religiosität eins, denn diese ist, wie M. Gabriel sagt, „eine Bewusstseinsform, der die Welt im Ganzen als ein Geschehen erscheint, in dessen Zentrum das Bewusstsein steht, für das es überhaupt eine Welt im ganzen gibt“134. Zentral ist dabei, dass die Selbstdistanzierung mit einer Selbstverortung des Individuums in ein Ganzes, also in die Welt, zusammengeht. Die Persönlichkeit ist nicht einfach eine Überwindung der Endlichkeit, denn sie setzt voraus, dass sich der einzelne Mensch als einen Teil dieses Ganzen identifiziert, was natürlich nur möglich ist, wenn er trotz der Öffnung zur Transzendenz noch von sich selbst als etwas Besonderes weiß.135 Das Gute ist nicht die Abschaffung der Individualität des Menschen, sondern ihre Integration in einen vernünftigen, allen Menschen gemeinsamen Zusammenhang. c) Ruhe Das Böse ist eine vergeistigte, potenzierte Sehnsucht, die sich als ein immer wieder scheiternder Versuch des einzelnen Menschen ausdrückt, Ordnung in sich selbst und in der äußeren Wirklichkeit hervorzubringen. Gerade wegen seiner Ähnlichkeit mit der ursprünglichen Sehnsucht entpuppt sich das Böse als eine verzerrte, sich selbst missdeutende Form des Guten: „So also müssen wir die ursprüngliche Sehnsucht uns vorstellen, wie sie zwar zu dem Verstande sich richtet, den sie noch nicht erkennt, wie wir in der Sehnsucht nach unbekanntem namenlosem Gut verlangen, und sich ahndend bewegt, als ein wogend wallend Meer, der Materie des Platon gleich, nach dunkelm ungewissem Gesetz, unvermögend etwas Dauerndes für sich zu bilden.“136 Der Hintergrund dieser inneren, abwechselnd vor- und zurückgehenden Bewegung ist eben eine Ahnung des Guten. Jede Begierde ist Sehnsucht 129 130 131 132 133 134 135 136
Ibid. SW 7, 415. Ibid. Ibid. SW 7, 368, 415. Ibid. SW 7, 413. Ibid. SW 7, 415. Gabriel (2006), S. 54. Vgl. Nagel, 1986. Schelling (1856 – 1861), SW 7, 360.
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nach etwas Stabilem, Dauerndem, Ganzheitlichem.137 Solange der Mensch nur auf seine natürlichen Kräfte zurückgreift, ist er aber nicht in der Lage, sein Ziel zu erreichen. In den „Weltaltern“ sagt daher Schelling das Folgende: „Wie das Herz des Menschen so lange zur selbstischen Begierde sich gleichsam berechtigt fühlt, als seine Sehnsucht, sein Verlangen, jene innere Leere, die ihn verzehrt, nicht durch ein höheres Gut erfüllt wird; wie die Seele nur sich selbst setzt und stillt, indem sie etwas über sich erkennt, von dem sie überschwenglich beseliget wird, so kann auch jene blinde Sucht und Begierde der ersten (Natur) nur gegen ein Höheres verstummen, gegen das sie sich gern und willig als das bloße Seyn, als das nicht Seyende erkennt.“138 Versteht sich selbst der Mensch nur aus der Basis seiner Natur, folgt auf dieses Selbstverständnis nur eine unendliche Unruhe: „Da also ein unablässiger Drang ist, zu seyn, und es doch nicht seyn kann, so bleibt es in der beständigen Begierde stehen, als ein unablässiges Suchen, eine ewige nie gestillte Sucht zu seyn.“139 Nach der „Scheidung“, also nach der Trennung des wahrhaft Vernünftigen von der Natur im Menschen, entstehen aber zwei reell unterscheidbare ontologische Ebenen. Die Scheidung, die der Mensch als Naturwesen nur widerwillig erlebt und als eine Selbstzerreißung erfährt140 und doch das Produkt einer freien Entscheidung ist, ermöglicht ihm daher, die Sehnsucht bzw. die „rotatorische Bewegung“ hinter sich zu lassen. Die Vernunft ist im Unterschied zur Sehnsucht das „Potenzlose“,141 das nur Aktuelle. Angesicht eines beständigen und wirklich universellen Horizonts ist der Mensch zu einer linearen, fortschreitenden Bewegung fähig. Seine natürlichen Anlagen werden nun von ihm neu bewertet und hierarchisiert, weil die Vernunft ein Parameter ist, der sich dem Wechsel der Natur entzieht, und zugleich ein organisches Ganzes ist, das dem Menschen einen Überblick über die möglichen Stellen der Individuen als Mitglieder eines stabilen Zusammenhangs erlaubt. Jeder vernünftige Mensch weiß, dass er eine Stelle – und nur eine bestimmte Stelle – in einem Ganzen hat. Jeder Mensch kann daher seine angeborenen Talente ohne direkte Berücksichtigung anderer Menschen und unter der Bedingung der Schau der ewigen und organisch geordneten Totalität des Möglichen kultivieren. Diese kann sich sukzessiv entfalten in der Form einer Geschichtsphilosophie oder, wie der Schelling-Schüler Klein im Jahr 1811 und Schelling selbst in der Spätphilosophie vorschlagen, sich in der Form einer korporatistischen Staatsidee verwirklichen.142 Das angeschaute Ganze ist eine Art Reich der Zwecke bzw. der Inbegriff aller möglichen Zwecksetzungen, der insofern die Konstitution der eigenen Identität erleichtert, als sich jedes Individuum darin verorten kann. Im Lichte der prästabilisierten Harmonie der möglichen individuellen Identitäten kann jeder Mensch einige Anlagen außer Acht lassen und andere hingegen fördern. Hält sich der Mensch daran fest, scheiden einige 137 138 139 140 141 142
Schelling (1973), S. 181. Schelling (1856 – 1861), SW 8, 233. Ibid. SW 8, 232. Ibid. SW 8, 322. Fn. Ibid. SW 8, 234. s. Klein (1811), S. 123, 173. s. Schelling (1856 – 1861), SW II, 1, 530.
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Kräfte in ihm aus, die bis zu diesem Punkt herrschend hätten sein können. Das Resultat ist einerseits eine Läuterung, die das Zufällige oder nicht wahrhaft Zentrale der Kräfte eines Menschen beiseite lässt, und andererseits innere Ruhe, denn die numerische Identität des Individuums hängt nicht mehr von dem Spiel seiner natürlichen Kräfte ab. Hält sich der Mensch daran fest, scheiden einige Kräfte in ihm aus, die bis zu diesem Punkt herrschend hätten sein können. Der Einzelmensch ist in diesem Fall nicht die Potenz, die nie zum Aktus kommen kann, weil er sich an etwas wirklich Stabilem festhält. Die Vernunft ist zwar nicht die Persönlichkeit selbst, aber, wenn diese das „Ende“ und die Natur der „Anfang“ ist, ist die Vernunft als „Mitte“ das stabilisierende Moment in der Persönlichkeit. Ist die ganze Persönlichkeit sowohl Vernunft als auch partikuläre Natur und fügt sich diese in die Totalität der möglichen Zwecksetzungen ein, kann der wieder personifizierte Mensch nicht etwas anderes wünschen, weil diese zwei Dimensionen das Spektrum seiner Fähigkeiten erschöpfen und ihre Harmonisierung keine ausbleibende Aufgabe ist. Statt der Unruhe der Begierde, die Stabilität umsonst anstrebt, herrscht nun im Menschen ein Vollständigkeitsgefühl – die Seligkeit. d) Selbstbildung Nach der Entscheidung für das Böse herrscht im Menschen „ein bloßer Partikularwille, der die Kräfte nicht mehr unter sich, wie der ursprüngliche, vereinigen kann, und der daher streben muß, aus den voneinander gewichenen Kräften, dem empörten Heer der Begierden und Lüste (indem jede einzelne Kraft auch eine Sucht und Lust ist) ein eig[e]nes und absonderliches Leben zu formieren oder zusammenzusetzen“143. Das Böse geht mit einem inneren Ordnungsverlust einher, den jeder Mensch dadurch versucht auszugleichen, dass eine natürliche Kraft andere natürliche Kräfte artikuliert. Daraus resultiert keine Selbstbildung, also aus der inneren Vielfalt wird keine organische Form gebildet, sondern die bloße Zusammensetzung verschiedener Kräfte.144 Eine wahre Hierarchisierung der Kräfte ist unter diesen Bedingungen ausgeschlossen: „In diesem beständigen Umtrieb hebt sich natürlich der Unterschied des Höheren und Niederen wieder auf; es ist weder ein wahrhaft Oberes noch ein wahrhaft Unteres, weil abwechselnd das eine Oberes und das andere Unteres ist, sondern nur ein unablässiges Rad, eine nie stillstehende rotatorische Bewegung, in der keine Unterscheidung ist.“145 Nur die „Scheidung“ ermöglicht die Selbstbildung und folglich die Entstehung von Ordnung. Trotz einiger Bedenken146 143
Schelling (1856 – 1861), SW 7, 366 – 367. Carrasco, S. 318. 145 Schelling (1856 – 1861), SW 8, 229. 146 Florians Differenzierung zwischen einer „schrittweisen Selbstformierung“ und einem „monolithischen Akt der Selbstbestimmung“ nebst der Diskussion mit Shibuya aus diesem Grund ist m. E. künstlich (Florian, S. 163 – 177. Shibuya, 2005). Schelling hat in der Freiheitsschrift nicht die Prozessualität der menschlichen Selbstbildung so klar differenziert, wie in den „Weltaltern“, aber das heißt nicht, dass es eine Wende von der Idee einer plötzlichen 144
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ist der folgenden Behauptung Florians zuzustimmen: „Als Scheidung von uns selbst ist dann zum einen die Entscheidung für die Unterordnung des Eigen- unter den Universalwillen zu verstehen, zum anderen bedeutet Scheidung in der konkretisierenden Wiederholung dieser Entscheidung, an den eigenen bisher entwickelten Eigenschaften, Fähigkeiten, Kräften und Antrieben nicht als dem Eigenen festzuhalten, sondern sie im Dienste eines neuen Entwicklungsschritts oder einer bestimmten Handlung zu organisieren und zu modifizieren.“147 Ist die Schöpfung „Erhöhung des Bewusstlosen ins Bewusstseyn“,148 findet jene auch in jedem sittlich guten Menschen statt: „Jeder innere Schöpfungs[-]Akt besteht darin, dass das Bewusstsein aus dem Bewusstlosen etwas sich [Ä]hnliches emporhebt.“149 Ebenso wie Gott als Persönlichkeit schöpferisch ist, weil er seinen eigenen Grund verklärt, ist jeder sittlich gute Mensch schöpferisch, weil er sich zwar von seiner singulären Natur, also von seinem „Charakter“,150 unterscheidet, aber eben aus ihr und nur aus ihr ein strukturiertes Selbstbild bildet – „Alle Persönlichkeit ruht auf einem dunkeln Grunde“151. Die menschliche Persönlichkeit ist ein tätiges Selbstverhältnis, das, wie die „Stuttgarter Privatvorlesungen“ klar zeigen, in Analogie zu der Selbstbewusstwerdung Gottes verläuft152 und folglich den Umgang mit den eigenen natürlichen Anlagen voraussetzt. Der sittlich gute Mensch, der innerhalb seiner Möglichkeiten Gott ähnlich geworden ist, wiederholt in sich selbst die Prozessualität der Schöpfung. Er hat deswegen eine innere Geschichte – wie T. Buchheim betont.153 Während seiner Lebenszeit fördert jeder Mensch dann einige Merkmale seiner Natur und vernachlässigt andere, bildet eine Hierarchie seiner angeborenen Eigenschaften, also bringt Selbsttransformation des Menschen durch eine einzige Tat zu einer prozessualen Selbstkonstitution gibt. Diese Entgegensetzung ergibt sich aus einem defizitären Verständnis der Entscheidung zum Guten. Der Mensch entscheidet sich nur einmal für das Gute. Es handelt sich um eine Art von Bekehrung. Die Folge der Entscheidung ist der Anfang einer inneren Geschichte, in der der eigene Charakter schrittweise „verklärt“ wird, aber der bewusste Ausgangspunkt dieses Prozesses ist eben diese einmalige und überzeitliche Entscheidung. Dass der Charakter des Einzelnen schrittweise umgestaltet wird, ist eine bewusstlose Folge der Hingabe an die Schau der Totalität. Abgesehen von der Entscheidung zum Guten, schließt die „Religiosität“ jede thematische Selbstbestimmung und jeden reflexiven Umgang mit sich selbst aus. Die Verklärung des Charakters ist daher eine innerzeitliche Nebenwirkung eines einzigen und überzeitlichen Bekehrungsakts. Die Schöpfung der Welt durch Gott hat eine ähnliche Struktur: Nachdem sich Gott für die Schöpfung entschieden hat, folgt er einer inneren Notwendigkeit. Die Verklärung der Natur bedarf keines zusätzlichen Selbstbestimmungsaktes, sie wird also ausschließlich von einer einzigen Entscheidung Gottes ausgelöst, und sie ist dennoch ein Prozess. Auf menschlicher Ebene ist die Situation nicht anders. Die Prozessualität der Selbstbildung und die augenblickliche Entscheidung für das Gute bilden deshalb keinen Gegensatz. 147 Florian, S. 139. 148 Schelling (1973), S. 135. 149 Ibid. 150 Schelling (1966), S. 94 (WA I 172 – 173). 151 Schelling (1856 – 1861), SW 7, 413. 152 Ibid. SW 7, 433 – 434. 153 Buchheim (2004), S. 27.
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dasjenige zur Existenz, das er schon in sich unbewusst trägt: „Die Natur oder das Sein, sprich: die Beschaffenheit des Wesens“ – behauptet Buchheim – „ist nicht seine Bestimmung oder seine Definition, sondern der Fundus von Möglichkeit (,Grund‘), aus dem er sich als individuell Existierendes holt und erneuert; d. h. der Fundus, aus dem er lebt.“154 Die innere Ordnung, welche die Wiederherstellung der Persönlichkeit mit sich bringt, ist nichts anderes als eine asymmetrische Beziehung zwischen der Vernunft und der Natur, in der alle natürlichen Kräften des Individuums von der Vernunft verklärt und instrumentalisiert werden: „Unser Seyn ist nur Mittel (Werkzeug) für uns selbst.“155 In der Schrift über „den Streit über Philanthropismus und Humanismus“ von 1808 geht Schelling darauf ein: „Auch unsere Meinung ist, dass ohne Freiheit des Willens im eigentlichen und wörtlichen Verstande Persönlichkeit ein Unding sey, aber wenn Selbstständigkeit und schaffende – das, was nicht ist, hervorbringende – Kraft der allgemeine Charakter der Persönlichkeit ist, wenn Entschiedenheit, Sicherheit, Gegenwart des Geistes im besonderen Fall ihre bestimmtesten Merkmale sind, so ist einleuchtend, dass nur selbstgeschaffene Begriffe156, nur diejenige Sicherheit der Grundsätze, die aus einer völlig durchgebildeten Weltansicht entspringt, zu der jeder von jedem Punkt aus gelangen und geleitet werden kann, nebst Freiheit von Vorurteilen (worunter hier alle beschränkenden Meinungen verstanden werden) wahre Persönlichkeit geben und die Art sowohl als den Stoff ihrer Äußerung bestimmen.“157 Schelling ist dabei der Ansicht, dass die Erziehungswissenschaft auf der einen Seite auf der Singularität des Menschen gründen und deshalb nicht allgemeinen Mustern folgen und die mechanische Arbeit vermeiden soll. Auf der anderen Seite soll sich jeder Mensch dennoch an einer „völlig durchgebildeten Weltansicht“, deren Klarheit „unwiderstehlich“158 ist und eigentlich aus allgemeingültigen „Ideen“ besteht,159 orientieren, die ihn von partiellen Ansichten befreit. Die wahre Persönlichkeit ist dabei die durch eine verinnerlichte, auf eine Sicht des Ganzen gerichtete, philosophische Weltansicht verklärte Singularität des Menschen. Ohne Singularität gibt es einerseits keine Persönlichkeit: „Die Individualität ist zwar nicht die Persönlichkeit selbst, aber doch ihre Basis und gleichsam ihr Organ.“160 Ziel der Erziehungswissenschaft ist andererseits, ihre Entfaltung unter der Bedingung einer allgemeinen Weltansicht zu ermöglichen: „Das mögliche Ideal der Bildung in einem Individuum ist erreicht, wenn es mit einer herzhaften Weltansicht (auf welche Art es nun dazu gelangt sey) und aufgehellter, sicherer Vernunft die entschiedene Ausbildung des154
Ibid. S. 25. Schelling (1973), S. 132. 156 Mit „selbstgeschaffenen Begriffen“ bezieht sich Schelling nicht auf willkürliche und partikuläre Begriffe, sondern auf die freiwillige Nachkonstruktion einer vorgegebenen und universellen Weltansicht im Bewusstsein des Menschen. 157 Schelling (1856 – 1861), SW 7, 518. 158 Ibid. SW 7, 525. 159 Ibid. SW 7, 520, 524. 160 Ibid. SW 7, 528. 155
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jenigen besonderen Talents, derjenigen bestimmten geistigen oder materiellen Anlage verbindet, die in seiner Individualität liegt. Alles andere ist unnütz oder vom Argen.“161 Das Bildungsideal, das Schelling hierbei vorschlägt, ist nichts anderes als die Form des wiederhergestellten Guten in der Freiheitsschrift. Es ist nicht zufällig, dass die Struktur des Guten in einer Schrift erscheint, die nur ein Jahr vor der Freiheitsschrift geschrieben wurde und in der sich Schelling zum ersten Mal intensiv mit einem positiven Persönlichkeitsbegriff beschäftigt. Die „Selbstbildung“ des Menschen besteht darin, im Lichte der Vernunft und folglich der Anschauung des intelligiblen Ganzen das Wesentliche im eigenen Charakter zu kultivieren. e) Harmonie Schelling schließt sich noch in dem Würzburger System und in „Philosophie und Religion“ an Spinozas Vorstellung der Tugend als eine Form, ja die höchste Form von Genugtuung an: „Ohne die Sittlichkeit unmittelbar als Seligkeit zu genießen, wäre der Mensch nur aus knechtischer Unterwerfung unter das Gesetz moralisch, ohne Liebe, Lust und Schönheit.“162 Dies war eine Idee, die der frühe Schelling insofern entwickelt hatte, als er den Gegensatz zwischen Glückseligkeit und Pflichterfüllung überwinden wollte. In der nicht verobjektivierten Version der intellektuellen Liebe zu Gott, sagt er in den „Briefen“, „sollte jeder Widerstreit in uns verschwinden, jeder Kampf, selbst der edelste, der der Moralität, aufhören, und jeder Widerspruch gelöst werden, den die Sinnlichkeit und Vernunft zwischen Moralität und Glückseligkeit unvermeidlich stiften“.163 Die Seligkeit ist deshalb eine ständige, von jedem Bezug des Bewusstseins auf äußere Gegenstände unabhängige Form der Freude, die wie bei Spinoza gleichzeitig die absolute Sittlichkeit darstellt. Daran anschließend kritisiert Schelling in „Philosophie und Religion“ jede Form von Sittlichkeit, welche eine Aufopferung des Genusses im Namen der Moralität fordert oder den Genuss als „Belohnung“, d. i. als eine nachträgliche Form von Freude, begreift: „Die Seele ist nur wahrhaft sittlich, wenn sie es mit absoluter Freiheit ist, d. h. wenn die Sittlichkeit für sie zugleich die absolute Seligkeit ist. Wie unglücklich zu sein oder sich zu fühlen die wahre Unsittlichkeit selbst ist, so ist Seligkeit nicht ein Accidens der Tugend, sondern die Tugend selbst.“164 „Seligkeit ist nicht der Lohn der Tugend, sondern die Tugend selbst!“165 – hatte Schelling ganz im Sinne Spinozas166 in den Briefen gesagt. Aus diesem Grund unterscheidet sich auch die absolute Freiheit von derjenigen, die der Mensch beweist, „indem er nur im Kampf gegen seine Neigungen das Rechte wählt“.167 In diesem Sinne spricht Schelling noch in der Freiheitsschrift gegen 161 162 163 164 165 166 167
Ibid. SW 7, 528. Ibid. SW 6, 565. Ibid. SW 1, 322. Ibid. SW 6, 55. Ibid. SW 1, 322. Spinoza (2006) S. 210 (E 4 P 21), S. 299 (E 5 P 42). Schelling (1856 – 1861), SW 6, 560.
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„unsere negative Moral“168 und in den „Stuttgarter Privatvorlesungen“ von der Verachtung der Sinnlichkeit und des Genusses als einem Symptom des Bösen.169 Obwohl sich seine Ablehnung der Naturfeindlichkeit der kantischen Ethik auch an die Grundeinstellung der Kritik Schillers an Kant in „Über Anmut und Würde“ (1793) anlehnt, basiert Schellings Kritik nicht wie die Schillers auf einem bloß anthropologischen Standpunkt,170 sondern auf einem metaphysischen. Wenn Gott die absolute Identität ist und die wahre Sittlichkeit von der Angleichung an Gott abhängt, kann diese nicht die Natur des Menschen ausschließen, ohne der Struktur seiner ontologischen Voraussetzung zu widersprechen. Die Gotteserkenntnis ist daher die Grundlage der Identität des Menschen zu sich selbst. G. M. Klein, Schellings Schüler und Apologet der Identitätsphilosophie, sagt darüber treffend :„Ist daher Harmonie mit sich selbst das höchste Gut für den Menschen, und das höchste Ziel alles vernünftigen Strebens, so muss auch das Unendliche und Unbedingte durch die Vernunft erkannt, und nur vermittelst dieser Erkenntnis die Einigkeit mit sich selbst hergestellt werden können.“171 In der Freiheitsschrift ist nicht ausdrücklich von der Seligkeit die Rede172 und jede Sittlichkeitsform, die sich ausschließlich auf die Gefühle gründet, wird hart kritisiert, aber Schelling insistiert aus demselben Grund darin, dass die menschliche Freiheit nicht nur anfänglich als ein Gefühl im Bewusstsein auftritt,173 sondern immer dieses Gefühl als Grund und Träger ihrer philosophisch explizierten Form beibehält. Sofern die wahre Sittlichkeit mit der Bejahung der geistigen Freiheit zusammenfällt, kann es keine Sittlichkeit ohne Mitwirkung der Gefühle geben: „Ein System, das den heiligsten Gefühlen, das dem Gemüt und sittlichen Bewusstsein widerspricht, kann, in dieser Eigenschaft wenigstens, nie ein System der Vernunft, sondern nur der Unvernunft heißen. Dagegen würde ein System, worin die Vernunft sich selbst wirklich erkennte, alle Anforderungen des Geistes wie des Herzens, des sittlichsten Gefühls wie des strengen Verstandes vereinigen müssen.“174 Vor allem der Gebrauch des bei Luther häufigen Begriffes „Herz“ in der Freiheitsschrift175 zeigt 168
Schelling (1856 – 1861), SW 7, 400. Ibid. SW 7, 468. 170 Acosta, S. 1 – 24. 171 Klein (1805), S. 45. 172 In der Periode, zu der die Freiheitsschrift gehört, identifiziert Schelling jedenfalls Religiosität und Seligkeit. In den „Stuttgarter Privatvorlesungen“ sagt er das Folgende: „Dieses unbedingte Walten der Seele ist Religion, nicht als Wissenschaft, sondern als innere und höchste Seligkeit des Gemüths und des Geistes“ Schelling (1856 – 1861), SW 7, 473. 173 Ibid. SW 7, 336. 174 Ibid. SW 7, 413. 175 Ibid. SW 7, 348, 378, 392, 413. Über die Funktion der Affekte hinsichtlich der Sittlichkeit bei Luther behauptet K. Holl das Folgende: „Die Aufnahme in die Gemeinschaft mit Gott erweckt im Menschen jenen freudigen Willen zum Guten, in dem Luther das eigentliche Kennzeichen des Sittlichen erblickte. Denn der Glaube, der das Erbarmen Gottes in seinem Wert begreift, ist seinem Wesen nach ,Affekt‘, leidenschaftlich dankbare Zuwendung zu Gott, die auch die Liebe zu Gottes Willen notwendig in sich schließt“ (Holl, S. 154). Es ist in diesem Zusammenhang nicht zu vergessen, dass Schillers Kantkritik, an der sich Schelling diesbezüglich orientierte, einen christlichen bzw. paulinischen Hintergrund hatte. In einem Brief an 169
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nochmals, wie die spinozistische Idee von Seligkeit in der Sprache Luthers wieder auftritt. Der Selbstwiderspruch des bösen Menschen betrifft aber, wie gesagt, nicht nur seinen Umgang mit einem Teil seiner eigenen Natur, sondern auch mit der äußeren Natur. Die äußere Natur ist ein Nebenprodukt des Abfalls und doch wird sie von dem bösen Menschen als die seinen Absichten entgegenwirkende Wirklichkeit wahrgenommen. Im Rahmen seiner Kritik der „Subjektivitätsphilosophie“ in der Identitätsphilosophie hat Schelling das Thema erläutert: Da das Ich glaubt, dass es alles ist, versucht es die Gegenständlichkeit des Äußeren dadurch zu überwinden, dass alles verinnerlicht wird. Das kann jedoch nicht gelingen, weil es selbst nur aufgrund der Grenzziehung zwischen ihm und der gegenständlichen Wirklichkeit existiert. Ist das Ideelle das Innere und das Reelle das Äußere, können sie folglich nicht unter diesen Bedingungen identisch werden. Die Gedanken des Ichs setzen immer die Grenze zwischen dem Inneren und dem Äußeren voraus und erreichen folglich nicht die Identität, die das Ich anstrebt. Daraus resultiert nur eine ständige Tätigkeit, um das Innere und das Äußere zu vermitteln oder, anders gesagt, dem Ideellen Wirklichkeit zu geben. Die Handlungen des Ichs sind deshalb niemals absolut frei d. i. unabhängig von jedem Widerstand. Die einzige Form, die der Mensch hat, um wirklich frei zu handeln, liegt darin, dass er sich über den Unterschied zwischen „äußerlich“ und „innerlich“ hinwegsetzt. Dies kann er nicht schaffen, solange er sich als etwas von dem Rest des Seienden Verschiedenes betrachtet. Indem die Existenz des Ichs eben auf diesem Unterschied basiert, kann es nicht als Ich frei sein. Nur wenn sich der Mensch an etwas angleichen kann, das weder Inneres noch Äußeres und folglich unbegrenzt ist, ist er wahrhaft frei. Dieses „Etwas“ ist Gott. Wenn der Mensch durch die Erkenntnis an der absoluten Selbstständigkeit Gott teilnimmt, wird er selbst selbstständig, weil er sich nicht von dem Rest des Seienden abgrenzen soll. Anders gesagt: Wenn sich der Mensch in die Perspektive Gottes versetzt, verliert der Unterschied zwischen „äußerlich“ und „innerlich“ an Bedeutung, weil alles in Gott ist. Dieser Mensch soll sich nicht gegen das Äußere durchsetzen, weil es auch göttlich ist und an der unmittelbaren Wirksamkeit Gottes ohne eine zusätzliche Tätigkeit seinerseits teilnimmt. Aus diesem Grund ist alles das, was nicht er selbst ist, mit ihm verwandt. Ein guter Mensch behält laut der Freiheitsschrift immerhin seine Selbstheit und kann deswegen differenzieren zwischen sich selbst und anderen Wesen. Die Anschauung des Ganzen führt nicht zur Abschaffung der Selbstheit, sondern zu der Abschwächung des Bewusstseins der eigenen Besonderheit. Daraus Goethe aus dem Jahr 1795 sagt Schiller: „Hält man sich an den eigentümlichen Charakterzug des Christentums, der es von allen monotheistischen Religionen unterscheidet, so liegt er in nichts anderem als in der Aufhebung des Gesetzes oder des Kantischen Imperativs, an dessen Stelle das Christentum eine freie Neigung gesetzt haben will. Es ist also in seiner reinen Form Darstellung schöner Sittlichkeit oder der Menschwerdung des Heiligen und in diesem Sinne die einzige ästhetische Religion.“ Dazu. s. Brelage, S. 231 – 244. Das Zitat Schillers befindet sich auf Seite 242. Schelling kann die von Schiller inspirierten Motive seiner Kritik der Pflichtenethik Kants bei Luther finden, weil die Reflexionen Schillers einen paulinischen Hintergrund hatten, der bei Luther mit voller Deutlichkeit zum Ausdruck kommt.
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geht hervor, dass es für diesen Menschen auch äußere Wesen gibt, die ihm aber als Erscheinung Gottes ähnlich sind. Sie sind auch Formen der Selbstständigkeit Gottes, die auch ein eigenes Leben haben, und nicht richtig als tote Gegenstände beschrieben werden könnten. Statt der Gegensätzlichkeit zwischen dem Menschen und den Dingen bringt die Erkenntnis Gottes ihre Verwandtschaft hervor. Sofern alle Naturwesen im Vergleich mit dem Menschen unvollkommen sind, weil sie nicht die vollständige Selbstständigkeit und Aktualität, die der Mensch als Persönlichkeit hat, erreicht haben, und folglich besonders „sehnsüchtig“ sind,176 erfährt der Mensch seine Verwandtschaft mit ihnen nicht nur durch die Vernunft, sondern auch durch die tiefste Ebene seiner eigenen Natur: die „Schwermut“.177 Schelling knüpft damit an das Thema der Sehnsucht der Natur in der Theologie von Paulus an – „Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick mit uns seufzt und sich ängstet“178 – und bezieht die gefühlsmäßige Seite des Menschen in die Überwindung der Gegensätzlichkeit zwischen dem Inneren und dem Äußeren ein. Die „Sympathie des Menschen mit der Natur“179 wird durch die Vernunft ermöglicht, aber durch die reelle Seite des Menschen verlebendigt und bestätigt. 5. Die geistige Autarkie und ihre Grenzen Die hier zusammengefasste Interpretation der Bedeutung der Sittlichkeit bei Schelling kann dadurch historisch bekräftigt werden, dass man das Werk von Georg Michael Klein berücksichtigt. Bisher ist bei der Schelling-Forschung außer Acht geblieben, dass dieser Schüler Schellings es als eine seiner zentralen wissenschaftlichen Aufgaben ansah, die Vorwürfe gegen die vermutliche Amoralität der Philosophie Schellings zu widerlegen. Daraus gingen vor allem zwei Schriften hervor: Die „Beiträge zum Studium der Philosophie als Wissenschaft des Alls“ (1805) und der „Versuch die Ethik als Wissenschaft zu begründen“ (1811). Die erste Schrift ist auf die Identitätsphilosophie und die zweite spezifisch auf die Freiheitsschrift bezogen. Schelling erwähnt die erste in seiner Schrift gegen Fichte vom Jahr 1806 eben als eine gute Darstellung seiner eigenen Ideen über die Sittlichkeit, welche die Zweifel über die sittlich widrigen Folgen seiner Naturphilosophie ausräumen kann.180 Dass dies ein heikler Punkt der damaligen Rezeption des Werks Schellings ist, ist hierbei schon durch die Skizzierung der Kritiken von Eschenmayer und Krause an der Freiheitsschrift erwiesen worden. Wie „Philosophie und Religion“ und die Freiheitsschrift selbst zeigen, legt Schelling viel Wert darauf, dagegen zu reagieren. Klein ist ein Teil dieser Reaktion. In der Vorrede seiner Schrift von 1811 äußert er seinen Vorsatz, sich gegen die Kritiker der Identitätsphilosophie und ins176 „Dadurch der Schleier der Schwermut, der über die ganze Natur ausgebreitet ist, die tiefe unzerstörliche Melancholie alles Lebens“ Schelling (1856 – 1861), SW 7, 399. 177 Ibid. SW 7, 465. 178 Bibel, Röm 8, 22. s. Tillich, 1985. S. 73 – 82. 179 Schelling (1856 – 1861), SW 7, 465. 180 Ibid, SW 7, 27.
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besondere der Naturphilosophie Schellings zu wenden.181 Das Thema ist die Sittlichkeit. Dass Schelling davon Kenntnis hatte und die Verteidigung Kleins seiner Philosophie billigte, steht außer Frage. Am 16. 06. 1806 schreibt er an Windischmann, Kleins „Beiträge“ seien „ziemlich treu zu meinen Vorlesungen geschrieben“.182 Zu Cotta sagt Schelling am 10.02.12, dass Klein „ein sehr heller Kopf [ist; C.R.], dem Deutlichkeit der Darstellung eigen ist; und sehr eingeweiht in die Sache“. Die „Sache“ ist nichts anderes als seine eigene Philosophie. Was sagt Klein über die sittliche Dimension des Denkens Schellings? Sieben Thesen, welche die in dieser Arbeit vorgeschlagene Interpretation bestätigen, können seine Darstellung des Sittlichen bei Schelling zusammenfassen: a) Es gibt keinen Unterschied zwischen theoretischer und praktischer Vernunft, sondern eine unmittelbare sittliche Bedeutung der Spekulation: „2 Principien für das Wissen und Handeln aufstellen zu wollen, heißt den Charakter der Vernunft misskennen durchaus und ihre absolute Einheit spalten wollen.“183 Dagegen behauptet Klein die Einheit der Vernunft: „Die Vernunft ist nur eine.“ „Im Wissen und Handeln offenbart sich ihre göttliche Natur. Beide können als gar nicht verschieden sein, sondern müssen absolut eins seyn.“184Anders gesagt: „Das Princip der wahren Erkenntnis ist auch das des absoluten und sittlichen Lebens und Handelns.“185 Die Erkenntnis ist dabei kein lebensfremdes Wissen: „Wissenschaft als solche ist nicht das Höchste für den Menschen, sondern die zum Leben gewordene Wissenschaft.“186 b) Gott ist nicht eine Idee, welche die sittliche Motivation verstärkt, sondern die einzige Basis der Sittlichkeit, weil in der Einsicht in sein Wesen die einzige Möglichkeit innerer Harmonie, Bedürfnislosigkeit und wahrer Uneigennützigkeit liegt. „So ist es gewiss die größte Verkehrtheit Gott aus der Sittlichkeit ableiten zu wollen, oder ihn zu postulieren, um entweder die Sittlichkeit zu schützen, und ihr Haltbarkeit zu verleihen, oder gar ihn zum Werkzeug der Befriedigung irdischer Begierde zu machen.“187 Positiv gesagt: „Kein Handeln ist sittlich, das nicht aus dem Göttlichen des Menschen kommt. In jedem Vernunftwesen liegt diese Harmonie und sie ist der Grund seiner Ruhe, Zufriedenheit und göttlichen Seligkeit.“188 Die durch die Vernunft erreichte Identität mit Gott ist „das Siegel unserer Selbstständigkeit“,189 denn sie macht den Menschen von Bedürfnissen frei. Erreicht er diesen Zustand, begehrt er nichts außer sich: „Der tugendhafte Mensch, welcher das absolute und unbedingte Gut in sich hat, kann nicht nach etwas anderem, außer ihm streben, weil es nichts 181 182 183 184 185 186 187 188 189
Klein (1811), S. 7. Schelling, 2009. Klein (1805), S. 370. Ibid. S. 369. Klein (1811), S. 109. Klein (1805), S. 414. Ibid. S. 389. Ibid. S. 386. Klein (1811), S. 110.
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giebt, das mit dem Guten könnte verglichen oder ihm gleich gesetzt werden.“190 Das spekulative Verständnis Gottes ist die Bedingung dafür, und deswegen ist die Religiosität oder Gewissenhaftigkeit nichts von der Sittlichkeit Verschiedenes: „Sittlichkeit ist identisch mit Religion.“191 c) Das Gute ist kein Ziel, das im Gegensatz zur Natur erreicht werden soll, sondern ein nicht steigerbarer und unerschütterlicher geistiger Zustand. „Die von der Subjektivität ausgehenden Denker sind vorzügliche Patronen des allmächtigen Fortschreitens in der Sittlichkeit.“192 Statt gegen die Natur zu kämpfen, ist es sittlich passender, sie mit „Ruhe und Heiterkeit“193 zu betrachten, denn „wir machen uns nicht selbst unser Schicksal“. Eine solche Gelassenheit ist möglich, weil die Vernunft alles sub specie aeternitatis sieht und die Vernunftanschauung vollständig gegeben und immer gegenwärtig ist: „Die absolute Sittlichkeit liegt nicht außer uns, sie ist vielmehr unser innigstes Wesen, sie ist nicht ein Objekt, das wir erst suchen wollen, sondern ein Gut, in dessen Besitz wir sind, das wir nur zu behaupten haben.“194 d) Abgesehen von der Wahl des Guten oder des Bösen, also von dieser Wahl zweiter Ordnung, hängt das sittliche Leben des Menschen nicht von der freiwilligen Wahl eines vernünftigen Bestimmungsgrundes ab, sondern von der triebhaften Vollstreckung einer Vernunftanschauung. „Die Bastardfreiheit, Willkür genannt, ist ein Produkt der Imagination.“195 „Wenn das absolute Handeln nur blos aus dem Wesen der Seele folgen kann, so kann es nur nach dem Gesetze der Identität folgen, kraft welcher es nicht willkürlich ist, sondern innerlich notwendig ist.“196 Diese innere Notwendigkeit wird von Klein auf die folgende Weise expliziert: „Nicht der religiös ist, der um recht zu handeln, sich vorerst das Gebot vorhält, um zu beratschlagen, ob er sich für oder dagegen entscheidet, sondern den eine innere Notwendigkeit treibt, so und nicht anders zu handeln; für den es keine Wahl gibt, sondern nur die höchste Entschiedenheit für das, was gut und recht ist.“197 Klein ist der Ansicht, dass „der seinem intelligiblen Seyn nach gute Mensch gar nichts anders, als gut seyn könne, und keiner besonderen Motive bedürfe, um es erst zu werden; was er thut, will er schon aus eigenem Antriebe, und sein für das Gute schon entschiedener Wille spornt seinen Verstand an, das für jeden Fall zweckmässige und rechte zu erforschen.“198 e) Die Sittlichkeit braucht nicht den Verzicht auf die Lust, denn sie ist mit der Seligkeit ein und dasselbe. Die Strenge der Pflicht gehört laut Klein nicht zur wahren 190 191 192 193 194 195 196 197 198
Ibid, S. 152. Klein (1805), S. 389. Ibid. S. 386. Ibid. S. 388. Ibid. S. 383 – 384. Ibid. S. 374. Ibid. S. 375. Ibid. S. 389. Klein (1811), S. 134.
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Sittlichkeit: „Die Gebote und Gesetze sind nicht für die Guten, sondern für die Bösen.“199 Die Überwindung der Neigung als sittlicher Motivation ist kein legitimes Kriterium für die Bestimmung der Sittlichkeit der Handlungen: „Die Entschiedenheit kündigt sich an durch die Neigung und Liebe zum Guten, und diejenigen haben sehr unrecht, die behaupten, der das Gute aus innerer Neigung thue, sey nicht sittlich gut im strengsten Sinne zu nennen, sondern er muss es aus Achtung für das Gebot und immer mit bewusster Absicht thun.“200 Das Gute geht deshalb mit der Genugtuung der Seligkeit einher: „Allein der aus der inneren Notwendigkeit seiner vernünftigen Natur Sittliche kennt keine von der Tugend selbst getrennte Glückseligkeit. Die Seligkeit ist selbst seine Sittlichkeit. Die nach einer von der Sittlichkeit verschiedenen Glückseligkeit Dürstenden halten das Tugendleben für eine Last, wofür sie Entschädigung fordern; die von Christus geforderte Liebe gegen Gott ist ihrem ganzen Herzen fremd.“201 Die christliche Liebe hängt mit der Freude zusammen: „Freudig das Rechte thun, weil wir als vernünftige Wesen nicht anders handeln können, gewährt ein sittliches Wesen.“202 f) Jeder sittlich gute Mensch verliert sich selbst nicht völlig in der Identität mit Gott, sondern behauptet sich auch dabei als ein einzigartiges Individuum. „Je mehr nun die Seele bey ihrer Individualität und relativer oder zeitlicher Existenz, doch ihr ewiges und absolutes Seyn behauptet, desto mehr lebt sie in sich und Gott zugleich.“203 Das Gute ist nicht einfach die Subsumption des Besonderen unter das Allgemeine: „vielmehr ist es eine unbezweifelbare Wahrheit, dass ebenso unendlich mannigfaltiges sittliches Gute möglich sey, als es verschiedene Charaktere in der Menschheit giebt; denn die Synthesis der Intelligenz mit der Selbstheit giebt den individuellen Charakter eines jeden Menschen, und da die Selbstheit in jedem auf eigne Weise modifiziert ist, so muss die Verschiedenheit der Charaktere unendlich seyn. Da nun das durch eine jede Individualität in vernünftiger Form Bewirkbare zugleich das Gute desselben ist, so folgt nothwendig, dass vieles für den einen Menschen Gute nicht zugleich dasselbe für alle anderen seyn könnte.“204 Kurz gesagt: „Jeder Mensch lebe auf die seiner besonderen Natur entsprechende Weise vernünftig.“205 g) Kein Mensch ist dafür frei, seine empirische Handlungen zu wählen, aber er ist auf einer nicht zeitlichen Ebene frei, seinen sittlichen Charakter zu wählen. Klein identifiziert den Begriff „Willkür“ mit absoluter Bestimmungslosigkeit und Zufall,206 aber er erkennt die Notwendigkeit der intelligiblen Wahl an in der Form einer 199 200 201 202 203 204 205 206
Ibid. S. 135. Ibid. S. 132. Klein (1805), S. 382. Ibid. Ibid. S. 403. Klein (1811), S. 113 – 114. Ibid. S. 113. Ibid. S. 79, 81.
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„ursprünglichen Selbstbestimmung“:207 Der Mensch ist „ursprünglich ein unentschiedenes Wesen, und der Geist schwebt über die zwei in ihm wirksamen Kräfte, und kann die eine oder andere zur herrschenden seines Seyns machen; allein in dieser Unentschiedenheit kann er nicht bleiben, weil nichts Unbestimmtes in der Schöpfung seyn kann; er muss sich entscheiden. Diese Selbstbestimmung kann aber als intelligible That nicht in die Zeit fallen.“208 Der Weg zum Guten geht deshalb durch eine Rückkehr zur Unentschiedenheit hindurch: „Auch lässt sich im Allgemeinen einsehen, dass der Böse wieder auf den Zustand der Unentschiedenheit müsse versetzt werden, in welchem er sich ursprünglich befand, um aufs Neue sich bestimmen zu können. Denn von Außen, durch eine andere Macht, kann die Umänderung und neue Bestimmung nicht geschehen, ohne Aufhebung der Sittlichkeit.“209 Die zwei erwähnten Schriften Kleins sind im Großen und Ganzen eine dem Denken Schellings getreue Darstellung. Sie treffen auch zu, wenn sie behaupten, dass die Sittlichkeit bei Schelling die „höchste menschliche Bestimmung“210 darstellt und ohne die Idee des höchsten Guten nicht denkbar ist.211 Klein ist der Ansicht, dass sein Meister mit Platon darin übereinstimmt, das Gute mit der Gottähnlichkeit zu identifizieren.212 Sofern Gott das Selbstständigste ist, hat die Sittlichkeit einen notwendigen Bezug auf die Freiheit. Dieser Beschreibung zufolge steht Schelling dem Autarkiebegriff der Antike, genauer gesagt, seiner Spezifizierung als geistiger Autarkie nahe, die auch bei Platon oder Aristoteles ontologisch untermauert ist und mit dem Guten zusammenhängt.213 Darüber sagt J. Halfwassen: „Das wahrhaft Gute ist dabei nichts dem Handelnden Äußerliches, sondern gemäß platonischer Lehre die vollendete Einheit des Handelnden mit sich selbst, in der sich sein Wesen erfüllt, so dass er sich selbst genügt. Im Falle des Geistes also sein vollkommenes bei sich selbst sein, sein Denken seiner selbst.“214 Die geistige Freiheit der Persönlichkeit bei Schelling ist von einer solchen Selbstgenügsamkeit unzertrennlich. Nach der Entscheidung für das Gute ist ihre Freiheit keine Wahlfreiheit, sondern die Selbstgenügsamkeit, die der Mensch erfährt, sofern er einerseits kraft der Spekulation den notwendigen Inhalt seiner Vernunft, also den göttlichen Weltentwurf als eine intelligible Totalität, ausdrücklich denkt und andererseits sich selbst als ein singuläres Wesen darin einfügt. Ist das Böse eine Abschwächung der Seindheit des Menschen, ist das Gute eine Seinssteigerung, weil dieses die innerlich ausdifferenzierte, ganzheitliche, vollendete, schöpferische und harmonische Selbstständigkeit Gottes abbildet. Die Abbildung einer Struktur, die alle anderen Strukturen einbezieht auf der 207 208 209 210 211 212 213 214
Ibid. S. 79. Ibid. S. 78. Ibid. S. 83. Ibid. S. 48. Ibid. S. 90. Ibid. S. 185. Krämer (1977), S. 239 – 270. Halfwassen (2004), S. 136. Halfwassen, ibid. S. 130.
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B. Das sittliche Leben
Basis eines einzigen Substrats, ist nichts Verschiedenes von der Abbildung Gottes. Nur dem Menschen gewährt Gott die Möglichkeit, ihn adäquat abzubilden.215 Im Bereich der endlichen Wesen ist der Mensch als Persönlichkeit das einzige, dessen ursprüngliche ontologische Verfassung eine gottähnliche Selbstständigkeit besitzen kann: „Die Persönlichkeit ist also die vollendete Einheit der Schwere und des Lichtes, in einem Einzelwesen, dem Menschen. Dadurch ist er als Individuum zugleich Totalität, ein Abbild Gottes, welches das absolut freyeste und selbstständigste Wesen ist.“216 Damit geht laut Klein eine intensive Freiheitserfahrung zusammen, aber auch eine Reihe von besonderen Tugenden: Die Denkerfahrung, die die Erkenntnis Gottes kennzeichnet, bringt dem Menschen bei, aufgrund des Primats der Vernunft in ihm alles vom Standpunkt des Ganzen zu sehen, seine Grenzen zu kennen, den Mut zur Beibehaltung der Selbstdistanzierung trotz der Angst vor dem Tod zu haben und die Harmonie mit sich selbst als Selbstzweck zu bewerten. Kleins Versuch, die sittliche Bedeutung der Philosophie Schellings mit den vier platonischen Tugenden zu verbinden,217 ist deswegen – und trotz der Differenzen zwischen Platon und Schelling hinsichtlich der inneren Struktur der Innerlichkeit – nicht unrichtig, aber nur sofern die geistige Autarkie in den Vordergrund der Auffassung der Sittlichkeit tritt. Die „Weisheit“ ist die Hingabe an die Schau des Ganzen, die sich aus der Erkenntnis Gottes ergibt, die „Besonnenheit“ ist das Wissen um die eigene Endlichkeit und folglich die Selbstentfaltung innerhalb der Grenzen der eigenen Veranlagungen, die „Tapferkeit“ ist der Mut zur Bejahung des Erkannten in allem Tun und die innere Harmonie der Persönlichkeit, der zufolge jeder Teil des Geistes an der richtigen Stelle bleibt, ist die „Gerechtigkeit“. Die selige Selbstständigkeit, die der Mensch aufgrund des Zusammenspiels dieser Elemente erfährt, ist dennoch für Schelling das Entscheidende. Die kantischen Elemente stehen im Dienste derselben als Konstitutionsbedingungen, welche die dynamische Seite der Bildung des sittlichen Charakters akzentuieren. In diesem Sinne ist es nicht zufällig, dass, wie es hinsichtlich der „intelligiblen Tat“ der Fall ist, platonische und kantische Ideen verschmolzen wurden. Schelling bringt die tätige und reflexive Seite des modernen Autonomiebegriffes mit der ontologischen Tragweite und die nicht ausschließlich moralische Dimension des antiken Autarkiebegriffes zusammen.218 Das Selbstsein ist dabei von innen her gebildet und mit einer kontingenten Tätigkeit verknüpft. Krämers Plädoyer – „Der eigentliche Sinn der Wahlfreiheit ist es, volle Seinsfreiheit zu ermöglichen“219 – wird von Schellings Freiheitsbegriff erfüllt. Ist der menschliche Geist in diesem Sinne autark, soll ihm eine Abgeschlossenheit und innere Fülle eigen sein. Das ist der Fall bei Spinoza und dementsprechend bei Schelling in der Identitätsphilosophie. Die beatitudo, d. i. die Seligkeit, ist nur unter 215 216 217 218 219
Klein (1805), S. 370. Klein (1811), S. 63. Klein (1811), S. 115 – 117. Krämer (1977), S. 267 – 268. Ibid. S. 270.
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diesen Bedingungen denkbar. Trotzdem ist die Liebe in ihrer ursprünglichsten Bedeutung nicht damit verträglich. Die Teilnahme an der göttlichen Ordnung, so wie sie in der Identitätsphilosophie konzipiert wurde, ist die Teilnahme an einer notwendigen und ewigen Ordnung. Aus diesem Grund kann der Mensch die Gewissheit haben, dass er dadurch einen unerschütterlichen und vollkommen selbstgenügsamen Bewusstseinszustand erreichen kann. Die Liebe ist aber ursprünglich nicht mit einer solchen Ordnung verbunden. Bevor sie ein Vereinigungsprinzip wird, ist sie die unnennbare, von allem getrennte Einheit: „Denn auch der Geist ist noch nicht das Höchste; er ist nur der Geist oder der Hauch der Liebe. Die Liebe auch ist das Höchste. Sie ist das, was da war, ehe denn der Grund und ehe das Existierende (als getrennte) waren, aber noch nicht als Liebe, sondern – wie sollen wir es bezeichnen?“220 Ihre Erscheinung als indirekte Triebkraft der Vermittlung des Grundes und der Existenz durch den Geist, eliminiert jedoch nicht ihre anfängliche, absolute Transzendenz. Die Liebe, die in dieser Hinsicht die Rückkehr des Ungrundes nach der Erscheinung des Geistes und seiner Selbstentfaltung ist,221 lässt sich zwar apophatisch denken, aber sie übertrifft die eidetische Ordnung, die den göttlichen Verstand ausmacht. Sie geht deswegen über die menschliche Vernunft hinaus. In diesem Zusammenhang treten in der Freiheitsschrift Motive des Denkens Luthers auf. Man kann nicht vergessen, dass De servo arbritrio eine der wichtigsten Quellen der Ideen der Freiheitsschrift ist222 und in dieser Schrift Luthers der Begriff des Deus absconditus zentral ist. Sittlich gesehen, sagt Luther, soll sich der Mensch an den deus predicatus, also an Gott, sofern er sich durch die scriptura offenbart hat, halten, aber der Wille Gottes geht über das Wort hinaus: „Auch hat er sich in seinem Wort nicht begrenzt, sondern hat die Freiheit seiner selbst über alles behalten.“223 Die Erlösung des Menschen ist deswegen niemals gesichert und hängt nicht von der Wahl des Menschen, sondern vom unerforschlichen Willen Gottes ab: „Nach Gottes Wort nämlich müssen wir uns richten, nicht nach jenem unerforschlichen Willen. Wer könnte sich auch nach einem völlig unerforschlichen und nicht erkennbaren Willen richten? Uns genügt, so viel zu wissen, dass in Gott ein unerforschlicher Wille ist; was er aber will, warum und inwieweit er es will, das zu erforschen, danach zu fragen, uns darum zu kümmern, daran nur zu rühren kommt uns nicht zu, wir können ihn nur fürchten und anbeten.“224 Wenn Gott wie bei Luther nicht spekulativ – auch nicht in
220
Schelling (1856 – 1861), SW 7, 405 – 406. „Dann wird alles dem Geist unterworfen: in dem Geist ist das Existierende mit dem Grunde zur Existenz eins; in ihm sind wirklich beide zugleich, oder er ist die absolute Identität beider. Aber über dem Geist ist der anfängliche Ungrund, der nicht mehr Indifferenz (Gleichgültigkeit) ist, und doch nicht Identität beider Prinzipien, sondern die allgemeine, gegen alles gleiche und doch von nichts ergriffene Einheit, das von allem freie und doch alles durchwirkende Wohltun, mit Einem Wort die Liebe, die Alles in Allem ist.“ (Ibid. SW 7, 408). 222 Schelling (1994), S. 6. s. auch: Danz, S. 78 – 79. 223 Luther, WA 18, 685, 23. 224 Ibid, WA 18, 685, 30 – 686, 3. 221
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der Form einer negativen Theologie225 – erkennbar ist und sein Wille auf eine unergründliche Weise die Gnade verteilt, erreicht hierbei die spinozistische Auffassung der Sittlichkeit ihre Grenze. Die sittliche Folge der absoluten Freiheit Gottes ist keineswegs eine unerschütterliche geistige Autarkie. Indem Gott bei Luther in freier Souveränität als „Herr der Kontingenz“226 handelt und „die conservatio und gubernatio Gottes nur als Serie immer neuer, kontingenter, kreativer Herrschaftsakte“227 verstanden wird, ist die zu diesem Gott passende Haltung des Menschen nicht die heitere Gewissheit, sich selbst als Teil der Selbstentfaltung eines vernünftigen Ganzen zu sehen, sondern die eher gespannte ständige Offenheit für die Unberechenbarkeit des göttlichen Willens. Der Glaube ist dabei auch Zuversicht auf das Göttliche, aber sein Sinn ist anders, nämlich: das Vertrauen auf einen unerkennbaren und völlig kontingenten Willen. In der Freiheitsschrift ist Gott Geist und deswegen ist er auch „Verstand“. Der Mensch, der das Gute wählt, orientiert sich an einem Gott, der in sich den ewigen Ideenkosmos enthält, und deshalb kann der Mensch nicht ohne die Vernunft ein göttliches Leben führen. Dieser Gott und folglich das Gute selbst als freiwillige Bejahung der Verfassung des göttlichen Geistes auf der Ebene des menschlichen Geistes werden aber von der übergöttlichen Liebe transzendiert. Ob es dabei um eine christliche bzw. lutherische Umdeutung gnostischer Themen geht, kann man nicht auf der Basis der knappen Erläuterung Schellings über die absolute Transzendenz der Liebe beurteilen. Klarer ist aber, dass Schelling gleich wie Luther der Fähigkeit des Menschen, durch seine Vernunft und durch seine Wahlfreiheit die Erlösung zu erreichen, Grenzen setzt. Der Mensch hängt bei Schelling immer von Gott ab, um gut zu sein, aber, sofern die Angleichung an Gott das Resultat einer Entscheidung ist und mit einem Erkenntnisprozess zusammengeht, ist der Beitrag des Menschen zu seiner eigenen Erlösung beträchtlich. Die Liebe befindet sich doch jenseits des Guten und des Bösen. Sie weist auf ein mysterium tremendum et fascinosum hin, das zwar mit dem Heiligen zu tun hat228, aber über Gott bzw. über den persönlichen Gott hin-
225
Luthers frühere Anknüpfung an die negative Theologie von Dionysios Aeropagitas wird später von ihm revidiert aufgrund seiner Ablehnung jedes spekulativen Zugangs zum Göttlichen (Reinhuber, 102 Fn.; MacGinn, S. 100). Dionysios Aeropagita wird deshalb von ihm als „platonisch“ und nicht wirklich „christlich“ herabgestuft. Trotzdem kann man sagen, dass der Einfluss der negativen Theologie auf Luther, mit der er auch wegen seiner Kenntnisse der Predigten des Eckhart-Schülers Tauler vertraut war, tiefgründiger ist, als Luther selbst anerkennen könnte (Mac Ginn, S. 110 – 113). Trotz aller Besonderheiten des Begriffes „deus absconditus“ bei Luther, die hier nicht analysiert werden können, bleibt die negative Theologie ein entscheidendes Moment seiner Bildung. Aus diesem Grund war Schelling in der Lage, neoplatonische Begriffe und die Gottesauffassung Luthers in De servo arbitrio in Zusammenhang zu bringen. 226 Reinhold, S. 65. 227 Ibid. S. 66. 228 Otto, 1971.
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ausgeht. Die absolute Liebe,229 wie sich am Ende des nächsten Kapitels zeigen wird, erscheint vorübergehend bei dem Übergang vom Bösen zum Guten, aber sie stellt keinen Bestandteil des Gutseins des Menschen dar. Für den Menschen, der sich auf die Erfahrung einlässt, das Absolute denken zu wollen, hat sie vielmehr einen übersittlichen Charakter und tritt deshalb auf als eine Tendenz zur Entweltlichung der menschlichen Existenz und – aufgrund der Ähnlichkeit ihrer Unbestimmtheit mit dem Nichts – als eine ewige Quelle von Ungewissheit. Der Mensch kann der absoluten Liebe eigentlich nur in der Form des Erstaunens begegnen. Schelling scheint jedoch nicht damit zufrieden zu sein, sie von dem Sittlichen vollkommen abzukoppeln und bezeichnet sie dann als das „von allem freie und doch alles durchwirkende Wohltun“.230 In den Einträgen seines Tagebuchs während der Verfassungszeit der Freiheitsschrift schreibt er: „Wohltat: 1nistgli“.231 Sie weist mithin auf ein „Aus-sich-heraus-bringen“ und zugleich auf ein „Sich-zurückziehen“ hin. Die Liebe versetzt den Menschen in Ekstase (5j-stasir: Außersichgeraten), aber sie entzieht sich ihrer eigenen Präsenz. Sie ist doch das, was sich jenseits jeder Vorsehung232 als Nichts, als Vernichtung der Welt zeigen kann. Schelling denkt dabei an die spontane und unberechenbare, nicht nur ontologisch, sondern sittlich-religiös bedeutsame, von dem Göttlichen aus absteigende Bewegung, die dem christlichen !c²pg und nicht dem griechischen 5qor eigen ist,233 und 229 Die absolute Liebe, d.i. nicht die wirkende Liebe, die sich durch einende Kraft des Geistes zeigt. 230 Schelling (1856 – 1861), SW 7, 409. 231 Schelling (1994), S. 117. 232 Schelling differenziert zwischen Schicksal und Vorsehung (Schelling (1856 – 1861), SW 5, 290, 310, 429, 453; SW 6, 53, 562). Schelling entlehnt die Differenzierung zwischen „Schicksal“ und „Vorsehung“ wahrscheinlich aus Boethius’ „Trost der Philosophie“, den Schelling übrigens während der Verfassung der Freiheitsschrift wieder liest (Schelling (1994), S. 7). Die Vorsehung – sagt Boethius – ist „jene im höchsten Herrscher aller Dinge selber begründete göttliche Vorstellung, die alles ordnet; das Schicksal aber die den beweglichen Dingen anhaftende planmäßige Anlage, durch welche die Vorsehung mit ihren Ordnungen alles verknüpft. Die Vorsehung umfasst nämlich alles gleichmäßig, wie verschieden, wie unbegrenzt es sei, das Schicksal treibt das Einzelne zur Bewegung, das nach Ort, Form, Zeit verteilt ist, so dass diese Entwicklung der zeitlichen Ordnung, im Überblick des göttlichen Geistes vereinigt, Vorsehung ist, eben diese Vereinigung aber in der Zeit verteilt und entwickelt, Schicksal genannt wird.“ (Boethius – Consolatio philosophiae IV, zitiert von Meixner, S. 20 – 21). Wichtig ist vor allem dabei, dass die Vorsehung Rationalität impliziert, und nicht eine blinde Notwendigkeit ist. Providentia ist für die Stoiker eine überzeitliche vernünftige Ordnung. Dies war auch das neoplatonische Verständnis des Begriffes und deswegen insistiert Proklus darauf, dass pronoia aus „pro“ und „nous“ besteht (Beierwaltes, S. 227). Sie ist die göttliche Lenkung des Ganzen, die mit einem Wirken dem Guten gemäß zusammenhängt und die durch die menschliche Vernunft erkannt werden kann. 233 Nygren, 1930. Nygren betrachtet den Liebesbegriff Luthers als die Wiederherstellung des ursprünglichen christlichen Agape und differenziert diesen sowohl von der von Paulus kritisierten jüdischen „Gesetzfrömmigkeit“ als auch von der orphisch-platonischen Idee der Liebe als Sehnsucht des in der Sinnenwelt lebenden Menschen nach einer Rückkehr zu seinem göttlichen Ursprung. „Für die jüdische Gesetzfrömmigkeit wie für die hellenistische Erosfrömmigkeit ist Agape ein Schlag ins Gesicht.“ (Ibid. S. 177). Trotz dieser vielleicht zu ka-
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B. Das sittliche Leben
verbindet sie mit der immer offenen Möglichkeit der definitiven Befreiung von der Last des Selbstseins. Die Liebe ist das Übergute in der Form der absoluten Selbstvergessenheit und der entsprechenden Überwindung der inneren Spannung, die selbst die Entscheidung für das Gute impliziert. Die Liebe übersteigt auf diese Weise die Selbstgenügsamkeit des sittlich guten Menschen. Die Rückkehr des Ungrundes in der Form der absoluten Liebe geht deshalb nicht mit dem Guten einher, weil das Gute nicht von der geistigen Autarkie trennbar ist. Auf den ersten Blick könnte man dann den Eindruck haben, dass Schelling mit einer Hand das abbaut, was er mit der anderen sorgfältig aufgebaut hat. Die absolute Erlösung scheint in der Tat das Gute zu zerstören. Dies ist aber nicht der Fall. Auf der einen Seite entspricht dem Überguten eine Überfülle. Es mangelt dem guten Menschen an nichts. Die Liebe vernichtet keineswegs seine Bedürfnislosigkeit und die innere Ruhe, die damit zusammenhängt. Die höchste Erlösungsform vervollständigt die Seligkeit des guten Menschen nicht, weil sie einfach nicht ergänzbar ist. Sie gibt den guten Menschen eigentlich dasjenige, was sie nicht brauchen. Die Liebe ist ein Übermaß an Gutheit, das kein guter Mensch benötigt oder erwartet. Auf der anderen Seite ist die Haltung des guten Menschen gegenüber dem Überguten dieselbe, die Luther gegenüber der Gnade und dem deus absconditus empfiehlt: quae supra nos, nihil ad nos234. Wenn der Mensch durch seine Vernunft nicht wissen kann, was das Göttliche letzen Endes ist, und auch nicht in der Lage ist, die Möglichkeit erlöst zu werden zu beeinflussen, soll er einfach sein Denken und Handeln an dem offenbarten Gott orientieren und sich nicht um dasjenige, das ihn völlig übertrifft, kümmern. Bei Schelling heißt das, dass sich der Mensch der Schau des intelligiblen Ganzen hingeben und nicht die Sichtbarmachung des an sich Unsichtbaren versuchen soll. Auf Gott als Geist und nicht auf den Ungrund soll er achten. Die höchste menschliche Freiheit besteht zwar nicht darin, vollkommen in sich selbst zu sein, sondern von sich selbst – sogar als Persönlichkeit – befreit zu werden, aber der dem Guten gemäß lebende Mensch kann nicht mit dieser Gabe rechnen oder sie erwarten. Die bösen Menschen, die Erlösungsbedürftigen, sind vielleicht die Einzigen, die die absolute Freiheit ahnen könnten.
II. Die menschliche Freiheit und das Absolute Schellings Auffassung der Erkenntnis in der Freiheitsschrift geht von dem vorsokratischen Prinzip aus, dem zufolge „Gleiches von Gleichem erkannt werde“.235 Strebt der Mensch an, die verschiedenen Seinsstufen zu erkennen, soll er sich dem tegorischen Behauptung analysiert Nygren sorgfältig die Vermittlungen zwischen 5qor und !c²pg. 234 Dieses sokratische Diktum – „was über uns hinausgeht, geht uns nicht an“ – wird von Luther in De servo arbritrio bezüglich des Verkehrs mit dem deus absconditus gebraucht (Luther, WA 18, 605, 20 f. und WA18, 685, 5 ff.). Dazu s. Jüngel (2002), S. 202 – 251. Auch: Jüngel (2010) S. 262. 235 Schelling (1856 – 1861), SW 7, 317.
II. Die menschliche Freiheit und das Absolute
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Erkannten dementsprechend angleichen. Dies ist möglich, sofern den verschiedenen Seinsstufen verschiedene innere Zustände entsprechen. Der Mensch kann in sich selbst den übermenschlichen, ontologischen Prozess, der die vorweltliche Selbstvermittlung Gottes, die Kosmologie und die Geschichte einschließt,236 wiederholen, weil er in sich selbst Spuren seiner verschiedenen Phasen trägt: „Aus der Quelle der Dinge geschöpft und ihr gleich hat die Seele eine Mitwissenschaft der Schöpfung.“237 Mitwissenschaft bedeutet hierbei nichts anderes als „con-scientia“238, also „Bewusstsein“, aber es wäre vollkommen falsch zu sagen, dass es dabei um das Bewusstsein von der Schöpfung geht, als ob diese ein Gegenstand für jenes wäre. Die Mitwissenschaft ist vielmehr die Sammlung aller Momente der Schöpfung als psychische Zustände. Der Mensch kann die verschiedenen Seinsstufen erkennen, weil das menschliche Bewusstsein ein Echo der vollständigen Reihe der zentralen ontologischen Momente ist. Er kann sich dem Erkannten angleichen, weil die Geschichte des Bewusstseins und der übermenschliche, ontologische Prozess isomorph sind. Das heißt aber nicht, dass der Mensch immer ein ausdrückliches Wissen davon hat. Ohne die Philosophie kann der Mensch nicht wissen, was sein eigenes Bewusstsein enthält. Dass das menschliche Bewusstsein alles enthält, führt nicht unmittelbar dazu, dass der Mensch davon weiß, weil viele physische Zustände nicht ausdrücklich bewusst sind. Hat das Bewusstsein eine Geschichte, befinden sich viele Momente jenseits der Selbstgegenwart, die das Selbstbewusstsein gewöhnlich ausmacht. Aus diesem Grund kann Schelling sagen, dass die Wissenschaft hauptsächlich „Erinnerung“ ist.239 Die Vergangenheit des Bewusstseins ist die Reihe der Momente, die nicht ausdrücklich bewusst sind und die auf den Anfang des Bewusstseins verweisen. Schelling ist der Ansicht, dass das Bewusstsein alles enthält, es sich dieses aber nur mithilfe der Philosophie aneignen kann. Die Philosophie ist folglich eine allmähliche Erinnerung aller Momente des Bewusstseins, die seiner Selbstgegenwart und folglich der endlichen Subjektivität vorausgehen. Sie ist eine Art Archäologie des bewussten Lebens des Menschen, das dennoch nicht rein „psychologisch“ bleibt, weil, wie gesagt, die verschiedenen Momente des Bewusstseins verschiedenen, übermenschlichen Seinsstufen entsprechen. Die Selbsterkenntnis ist deswegen Seinserkenntnis. Die Erinnerung der „ältesten“ Phasen des Bewusstseins ist deshalb auch die Erkenntnis der ersten ontologischen Prinzipien. Schelling sieht deshalb sein Verständnis der Philosophie als eine Fortsetzung der Anamnesislehre. Die Idee der Philosophie als eine Form von Selbsterkenntnis, die doch die Grenzen des menschlichen Bewusstseins transzendiert, weil die philosophisch bedeutsamen psychischen Prozesse ein Reflex der Geschichte Gottes sind und folglich die allgemeinsten und ursprünglichsten ontologischen Prinzipien enthüllt, ist be236 237 238 239
Halfwassen (2003), S. 178 – 180. Schelling (1966), S. 4 (WA I, 5). Schelling (1856 – 1861), SW 9, 221. Sollberger, S. 103. Schelling (1966), S. 16 (WA I, 29 – 30).
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B. Das sittliche Leben
sonders deutlich in den frühen Skizzen der „Weltalter“, aber in der Freiheitsschrift und anderen früheren Schriften spielt sie schon eine wichtige Rolle. Die enge Verbindung zwischen der Freiheitsschrift und den Weltalter-Skizzen liegt aber nicht allein darin, dass die Philosophie in beiden Texten dieselbe Absicht hat, sondern auch in einem anthropomorphischen Verständnis des Seins bzw. im Verständnis des Seins auf der Basis des Willens. Hat die Philosophie die Aufgabe, die ursprünglichsten ontologischen Prinzipien durch eine Rückkehr zu vorsubjektiven Phasen des psychischen Lebens zu enthüllen, soll sie dann auf bewusstlose Willensbestimmungen zurückgreifen. Wenn Wollen „Ursein“ ist, sind physische Zustände, die solche Bestimmungen einbeziehen, dieselben, welche dem Menschen die Angleichung an das Erkannte ermöglichen. Die Unentschiedenheit, das Nicht-Wollen, die Wahl, die Entschlossenheit, die Selbstbestimmung – sofern sie auf die ernstesten und allgemeinsten existenziellen Probleme der Menschen bezogen sind – haben deswegen eine erkenntnistheoretische Bedeutung. Schelling, an eine Grundthese anderer Versionen der Willensmetaphysik anschließend, schreibt den Willensbestimmungen die Eigenschaft zu, das Sein in aller Deutlichkeit zum Ausdruck zu bringen. Was Jonas über die Wahlfreiheit – im Sinne der Wahl zwischen Gutem und Bösem – bei Origenes sagt, kann in dieser Hinsicht für Schelling auch gelten: „Vermöge der absoluten Stellung der Geistnaturen im ontologischen System hieß dies weiter, dass alle Bewegung im Sein überhaupt sich nur in Akten sittlicher Entscheidung und ihrer richterlichen Erwiderung vollzieht. Zu den allgemeinen gnostischen Gesetzen vom kosmischen Fall und Wiederaufstieg verhält sich dieser Begriff der Wahlfreiheit, als des konkreten Prinzips der Bewegung, wie die inhaltliche Besonderung zu einer allgemeinen Form.“240 Die grundlegendsten sittlichen Entscheidungen haben auch ontologische Bedeutung, weil das Sein selbst Wille ist. Der Mensch hat deshalb ein performatives Wissen vom Sein: Er weiß davon beim Handeln bzw. sofern er sittlich tätig ist. Die sittliche Unentschiedenheit oder die Selbstbestimmung können deshalb nicht allein Gegenstand einer „Ethik“ sein, denn sie enthüllen auch, was das Sein oder, genauer gesagt, die ursprünglichsten Seinsstufen sind. Dass das Sein nicht ohne eigene Tätigkeit verständlich ist, ist eine Idee des frühen Schelling, die der mittlere Schelling unter den Bedingungen des „objektiven“ Idealismus wieder aufnimmt.241 Nach wie vor sind aber das Sittliche und das Ontologische untrennbar. Sind die Seinsstufen innere Momente des Göttlichen, kann man nun den Sinn der Erkenntnis präzisieren: Das Gleichwerden, das die Erkenntnis voraussetzt, ist die Angleichung an das Göttliche. Von dem „Göttlichen“ und nicht von Gott ist hierbei die passende Rede, weil das Absolute schlechthin bzw. der Ungrund Gott selbst transzendiert. Gott ist nicht das Letzte, auf das die Metaphysik stößt. Später wird man 240
Jonas (1993), S. 188. Der frühe Schelling setzt, gemäß der Fichteschen Terminologie, dem „Sein“ die „Tätigkeit“ entgegen. „Sein“ ist für ihn ein Begriff des „Dogmatismus“ (Schelling (1856 – 1861), SW 3, 356, 379), weil es dinglich und „starr“ ist. Dieser Sprachgebrauch hindert aber nicht, vom Ich bzw. von der Selbstvergegenwärtigung einer intellektuellen Tätigkeit als Sein des Seienden beim früheren Schelling zu sprechen. 241
II. Die menschliche Freiheit und das Absolute
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hier über das Übergottliche sprechen. Wichtig ist doch momentan, dass das Göttliche überhaupt mittels Willensbestimmungen verständlich werden kann. Sie sind nicht der einzige Weg zur Erkenntnis des Göttlichen, weil der Ungrund z. B. mittels der Dialektik indirekt erkennbar ist, aber sie sind die lebendigste Form seiner Erkenntnis. Sie erlauben außerdem, die Beziehung zwischen Sittlichkeit und Ontologie noch enger zu machen, denn von dieser Perspektive her ist es unmöglich, das Sein zu erkennen, ohne eine Umgestaltung der Lebensführung zu vollziehen. Der Erkennende ist in diesem Fall unmittelbar in eine innere Bewegung verwickelt, die den Kern seines Selbstverständnisses betrifft. Wenn Schelling, wie Tillich meint,242 ein Vorläufer des Existenzialismus ist, liegt es auch darin, dass die philosophische Erkenntnis kein abstraktes System von Aussagesätzen ist, die einen logischen Zusammenhang haben, aber nicht das Selbstverständnis des Philosophierenden betreffen. Die philosophische Erkenntnis ist bei Schelling existenziell bedeutsam und verfehlt ihren Sinn, wenn ihre Begriffe und Operationen vom inneren Leben des Menschen und von seinen innerlichsten Sorgen abgekoppelt sind. Das Verständnis des Seins als Wille und die Idee der Philosophie als eine nicht psychologistische Form von Selbsterkenntnis zielen u. a. darauf ab, das Risiko einer wissenschaftlich raffinierten aber existenziell entleerten Philosophie zu verhindern. In der Freiheitsschrift besteht dieses Risiko nicht, weil die Selbstentfaltung des Göttlichen immer in inneren Bewegungen transformierbar ist. Gott ist nicht einfach das Ganze der Bestimmungen, das der Mensch, um die Individuation der Dinge denken zu können, ganz intellektuell rekonstruiert, sondern ist Selbstvermittlung, Tätigkeit, Leben. Der Mensch kann ihn folglich nicht ohne die Nachahmung seiner lebendigen Selbstentfaltung verstehen. Die Gottebenbildlichkeit des Menschen ist natürlich die Voraussetzung dafür, weil der Mensch eigentlich die Selbstobjektivierung des göttlichen Geistes ist, aber sie ist nur der Ausgangspunkt des Erkenntnisprozesses. Man kann mit Merki sagen, dass es eine „ontisch-statische“ und eine „dynamisch-ethische“ Ebenbildlichkeit gibt.243 Die erste ist die gegebene Verfassung des Menschen als Geschöpf. Die zweite ist die freiwillige Vergöttlichung des Menschen, durch die er zu der ursprünglichen Identität mit Gott zurückkehrt. Gott zu verstehen geht damit einher, ihm innerhalb der menschlichen Möglichkeiten innerlich ähnlich zu werden – was keineswegs den Unterschied zwischen Mensch und Gott aufhebt. Schelling knüpft daher an die traditionellen Merkmale der blo_ysir he` an, weil er die platonische bzw. orphische Idee einer Entfernung der Seele von ihrem Ursprung und die Rückkehr zu demselben aufnimmt.244 Unter der Voraussetzung, dass Sittlichkeit und Religiosität untrennbar sind, ist die Rückkehr zu der Identität mit Gott die Tugend schlechthin. Die innere Bewegung, die der Mensch auf eigene Initiative und ohne direktes Zutun Gottes vollzieht, um eine schon vergangene Phase seines bewussten Lebens zu vergegenwärtigen, ist kein Phänomen, das zum 242 243 244
Tillich (1989), S. 391 – 402. Merki, S. 124,136. Ibid. S. 111. Roloff, S. 204.
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B. Das sittliche Leben
sittlichen Leben parallel läuft, sondern ist die Sittlichkeit selbst. Nur dadurch kann der Mensch die Selbstgenügsamkeit, die Neidlosigkeit, die Unabhängigkeit von den Gemütsregungen, die Selbstversöhnung, die Überwindung der Angst vor dem Tode, die Seligkeit, die Demut – also ein sittliches Leben erreichen. Gott bedroht nicht die Selbstständigkeit des Menschen, denn Gott ist ihre Bedingung. Indem Gott die Bedingung der menschlichen Freiheit – als Selbstständigkeit – ist und das Göttliche doch jenseits der Selbstständigkeit verweist, lohnt es sich, im Folgenden die Vergöttlichung des Menschen mit dem roten Faden der sechs Freiheitsbegriffe, die in der Freiheitsschrift auftreten, zu rekonstruieren. Die Rückkehr zu der Vergangenheit des Bewusstseins durch die Erinnerung wesentlicher und doch vergessener Willensbestimmungen wird sich in diesem Zusammenhang als eine allmähliche Erinnerung verschiedener Formen der Freiheit erweisen.
1. Sechs Freiheitsstufen Die Freiheit, sagt Schelling, ist das einzige An-Sich der Dinge.245 Alles ist Freiheit. Deswegen ist es notwendig, sich zu fragen, worin das Spezifische der menschlichen Freiheit liegt. Schelling unterscheidet in der Freiheitsschrift sechs Stufen der menschlichen Freiheit: a) die Unabhängigkeit des Charakters, b) die Selbstkonstitution der Singularität, c) die Selbstgenügsamkeit der „Persönlichkeit“, d) die intelligible Wahlfreiheit oder die Unentschiedenheit, e) die Selbstbildung und f) die Selbstlosigkeit oder die ekstatische Freiheit. Alle treten in der Freiheitsschrift auf, aber einige werden in späteren Werken, insbesondere in den Weltaltern expliziert. Im Folgenden werden sie kurz erläutert. a) Den Charakter als eine Form der Freiheit zu identifizieren, scheint unsinnig zu sein, weil er unfreiwillig ist: „Niemand wird behaupten, dass sich ein Mensch seinen Charakter gewählt habe; er ist kein Werk der Freiheit im gewöhnlichen Sinne.“246 Der Charakter sammelt alle individuellen Eigenschaften, die von Natur aus die Wünsche, Zwecke und Handlungen eines Menschen vorbestimmen und mithin eine Form von innerem Zwang mitbringen. Schon im „System des transzendentalen Idealismus“, und zwar im Zusammenhang mit dem Begriff des Bösen, hat Schelling darauf hingewiesen, wie der Charakter eine Form von Schicksal oder Fatalität ist. Es gibt bestimmte Handlungen, die das Individuum nicht tun kann, weil sein Handlungsspielraum von vornherein begrenzt ist: „Dies eben, dass freie Handlungen durch eine unbekannte Notwendigkeit ursprünglich schon unmöglich gemacht sind, ist es, was die Menschen zwingt, bald die Gunst oder Missgunst der Natur, bald das Verhängnis des Schicksals anzuklagen oder zu erheben.“247 Das Individuum definiert sich dadurch, was es tun kann, aber dieses Können impliziert immer ein Nicht-Können. Der Charakter ist das begrenzte und angeborene Können eines Individuums. Die Of245 246 247
Schelling (1856 – 1861), SW 7, 352. Ibid. SW 7, 430. Ibid. SW 3, 549.
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fenbarung dieses Könnens, also jede Handlung, ist nur die zeitliche Entfaltung dessen, was im singulären Wesen eines Individuums vorbestimmt war. In der Freiheitsschrift ist Schelling daher der Ansicht, dass „die einzelne Handlung aus innerer Notwendigkeit des freien Wesens und demnach selbst mit Notwendigkeit erfolgt“248. Der Charakter ist auf diese Weise eine Art von „Prädestination“249. In welchem Sinne kann man aber hierbei noch von einem „freien Wesen“ sprechen? Aufgrund seines Charakters wird das Individuum von der „empirischen Notwendigkeit“ nicht beeinflusst. Es ist frei von äußeren Einflüssen. Die Individuen sind bei Schelling nicht die Menschen Spinozas, die wegen ihrer affektiven Bindung an die zufälligen Ereignisse in der Welt der „fortuna“ ausgesetzt sind, und auch nicht die Menschen Kants oder Fichtes, welche auch wegen der Sinnlichkeit von der „Zerstreuung“ und der „Heteronomie“ bedroht sind. Die Individuen Schellings sind eher monadische Entitäten, die dem Kausalzusammenhang enthoben sind und dementsprechend gegen den Einfluss der äußeren Dinge als Handlungsmotivationen gefeit sind. Sie sind auch von dem Einfluss anderer Menschen fast vollkommen unabhängig (und dementsprechend hat die Erziehung gewöhnlich keine Wirkung auf sie)250. Gerade deswegen sind sie aber frei, weil sie von keiner innerweltlichen Entität abhängen und nach dem Prinzip „agere sequitur esse“ nur ihr vorprogrammiertes, singuläres Wesen als Akteure entwickeln. Wenn „frei ist, was nur den Gesetzen seines eigenen Wesens gemäß handelt und von nichts anderem weder in noch außer ihm bestimmt ist“251, ist jedes Individuum wegen seines Charakters definitiv frei. b) Die Fähigkeiten und Begabungen, die den Charakter eines Individuums ausmachen, sind angeboren. Schelling glaubt trotzdem, dass sie samt der „Korporisation“252 jedes Menschen das Produkt einer intelligiblen Tat sind. Der Mensch ist von Anfang an „Handlung und Tat“, obwohl er es wie im Er-Mythos der Politeia Platons vergessen habe. Die intelligible Tat vollzieht sich auf einer überzeitlichen Ebene und deswegen bleibt sie für jeden geborenen Menschen unbewusst. Das Selbstbewusstsein oder das „Erkennen des Ich“253 kann diese ursprüngliche Selbstständigkeit nicht einholen, weil es eben ihr Produkt ist: „In dem Bewusstsein, sofern es bloßes Selbsterfassen und nur idealisch ist, kann jene freie Tat, die zur Notwendigkeit wird, freilich nicht vorkommen, da sie ihm, wie dem Wesen, vorangeht, es erst macht.“254 Diese unbewusste Selbsttätigkeit, die Schelling auch als ein „reales Selbstsetzen“ oder als ein „Ur- und Grundwollen“255 beschreibt, ist eigentlich eine der radikalsten Dimensionen der menschlichen Freiheit. Sie ist insofern radikal, als sie den Men248 249 250 251 252 253 254 255
Ibid. SW 7, 385. Ibid. SW 7, 387. Ibid. SW 7, 387. Ibid. SW 7, 384. Ibid. SW, 7, 387. Ibid. SW 7, 385. Ibid. SW 7, 387. Ibid. SW 7, 385.
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B. Das sittliche Leben
schen auf die Wurzeln seines Seins und – unter der Voraussetzung des menschlichen Bewusstseins als „Mitwissenschaft“ der Schöpfung – auf die ursprünglichste Selbsttätigkeit des Göttlichen zurückführt: „Durch sie reicht das Leben des Menschen bis an den Anfang der Schöpfung; daher er [der Mensch; C. R.] durch sie auch außer dem Erschaffnen, frei und selbst ewiger Anfang ist.“256 In der Freiheitsschrift ist nicht deutlich, in welchem Sinne das „Ur- und Grundwollen“ mit einem göttlichen, übermenschlichen Anfang zusammenhängt. Die erste Version der Weltalter verdeutlicht doch die Absichten der Freiheitsschrift. Dabei ist von einem „Handeln aus dem Ungrund“257 die Rede, das dem Charakter zugrunde liegt und eine Nachbildung des „Willens zur Existenz“ Gottes ist: „Die Contraction des ersten, wirkenden Willens, durch welche die uranfängliche Lauterkeit sich selber mit einem Seyn überkleidet, ist mit der unergründlichen Tat in Vergleich zu setzen, wodurch das menschliche Wesen sich vor aller einzelnen oder zeitlichen Handlung zu einem innerlich bestimmten Wesen zusammenzieht, oder sich das gibt, was wir Charakter nennen.“258 Die Parallelsetzung zwischen der Erschaffung des Charakters und der ersten Existenz Gottes ist möglich, weil der Übergang von der absolut unterschiedslosen, untätigen „Lauterkeit“ zur ersten Selbstdifferenzierung ein unerklärbarer „Aktus“ ist, dem auf menschlicher Ebene die grundlose, absolut spontane Tätigkeit der intelligiblen Tat entspricht. Indem die intelligible Tat das Hauptmoment der Wirklichkeit des Bösen in der Freiheitsschrift ist, kann man nun sagen, dass das Böse eine illegitime Nachahmung der Selbstkonstitution der göttlichen Existenz ist. Nicht die Freiheitsschrift, sondern die Weltalter werden aber diesen Zusammenhang erläutern. In der Freiheitsschrift ist außerdem seine Artikulation mit anderen Momenten der Argumentation alles andere als deutlich. Diese Probleme sind aber hier nicht zu berücksichtigen. Abgesehen von ihrer sittlichen Bewertung und ihrer Beziehung zum Göttlichen, sollte man vielmehr betonen, dass die menschliche Freiheit, sofern sie auf die intelligible Tat verweist, in der absolut spontanen Selbstkonstitution der Singularität besteht. c) Die dritte Form der menschlichen Freiheit ist diejenige, die sich aus der „ontisch-statischen“ Gottebenbildlichkeit des Menschen ergibt. Der Mensch ist die Selbstobjektivierung Gottes: „In ihm (im Menschen) allein hat Gott die Welt geliebt; und ebendies Ebenbild Gottes hat die Sehnsucht im Centro ergriffen, als sie mit dem Licht in Gegensatz trat.“259 Ebenso wie Gott von der Natur unabhängig ist, weil er nur sich selbst in der Form einer „innere[n] reflexive[n] Vorstellung“260 erblickt und die Sehnsucht nur als seine unausdrückliche Basis hinter sich lässt, ist der Mensch ursprünglich von seiner Natur unabhängig, weil die menschliche Persönlichkeit eine Schau des Ideenkosmos ist, wobei die Selbstheit nur als unausdrücklicher „Träger“ 256 257 258 259 260
Ibid. SW 7, 386. Schelling (1996), S. 93 (WA I, 170 – 171). Ibid. Schelling (1856 – 1861), SW 7, 363. Ibid. SW 7, 360.
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dieser rein intellektuellen Schau fungiert. Der Mensch ist nur sittlich gut, sofern er als eine Persönlichkeit lebt, d. i. wenn er, sich über die Selbstheit erhebend und die Totalität des Seienden anschauend, das Universelle in sich vorherrschen lässt und dadurch die Sorge um sich selbst als Lebewesen verdrängt. „Persönlichkeit“ – wie Tillich sagt – „ist dasjenige individuelle Sein, das sich zum universalen Sein erhebt“261. Das ursprüngliche Gute ist ein Selbstverhältnis des Menschen, in dem er durch die Kontemplation der intelligiblen Ordnung der Welt ganz erfüllt ist und folglich die Angst vor dem Tod, die auf das Besondere in ihm verweist, nicht spürt. Sittlich gut ist der Mensch, der sich durch die Lenkung seiner Aufmerksamkeit auf das Übernatürliche bwz. auf den intelligiblen Weltentwurf und nicht auf seine Selbsterhaltung an Gott angleicht. Das ursprüngliche gute Leben des Menschen ist deshalb ein kontemplatives Leben. Aus dieser Nachahmung des göttlichen Geistes resultieren Tugenden wie die Demut, weil sich der Mensch gegenüber der Vollkommenheit des Weltentwurfes seiner Kleinheit bewusst wird, oder die Selbstbeherrschung, weil er von sinnlichen Regungen unabhängig wird, aber auch seine ursprüngliche Freiheit. Solange der Mensch seine Individualität und folglich seine Leiblichkeit vergisst, weil er sich durch das Denken auf der Höhe der visio dei befindet, braucht er nichts außer sich und wird von nichts außer sich affiziert. Er ruht in sich selbst und wird von keinem Zustand der empirischen Welt beeinflusst. Indem Gott alles in sich enthält und in diesem Sinne keine Grenze kennt, ist der sich im Bewusstsein des Göttlichen auflösende Mensch unbedürftig. Die innere Erfüllung, die diesen Zustand unmittelbar begleitet, ist gerade seine Seligkeit. Die ursprüngliche Freiheit des Menschen – von den Interpreten der Freiheitsschrift häufig übersehen – ist dementsprechend seine geistige Autarkie als Ebenbild des göttlichen Geistes. Das sich selbst in der Betrachtung des Ganzen vergessende Individuum ist frei. „Das ausschließend Eigentümliche der Absolutheit ist, dass sie ihrem Gegenbild mit dem Wesen von ihr selbst auch die Selbstständigkeit verleiht. Dieses In-sichselbst-Sein, diese eigentliche und wahre Realität des ersten Angeschauten ist Freiheit, und von jener ersten Selbstständigkeit des Gegenbildes fließt aus, was in der Erscheinungswelt als Freiheit wieder auftritt, welche noch die letzte Spur und gleichsam das Siegel der in die abgefallene Welt hineingeschauten Göttlichkeit ist.“262 Die zweite Form der menschlichen Freiheit ist dem Autarkiebegriff der Antike gleich, ontologisch verstanden.263 Es geht dabei um ein unbedürftiges Selbstsein, das aus der Verfassung des Menschen resultiert und vor aller sittlichen Wahl vorkommt. d) Schelling bleibt der Struktur des kantischen Begriffes von Autonomie treu, weil er die Anlage des Menschen zur Persönlichkeit, d. h. zur Selbstständigkeit als vernünftiges Wesen, an den Gebrauch der Wahlfreiheit anknüpft und folglich die Verwirklichung der Möglichkeit des Freiseins, die ihm als ein Faktum gegeben ist, 261 262 263
Tillich (1988), S. 133. Schelling (1856 – 1861), SW 6, 39. Krämer (1977), S. 260.
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von der Tätigkeit der Willkür abhängen lässt. Genauer gesagt verleiht Schelling der Struktur des modernen, kantischen Autonomiebegriffes die ontologische Tragweite des antiken Autarkiebegriffes, weil es ihm nicht nur darum geht, die Bedingungen einer moralisch legitimen Handlung zu finden, sondern eine Form von selbstgenügsamer Existenz des Menschen zu begründen. Der Struktur des Autonomiebegriffes folgend, ist aber die ursprüngliche Freiheit der Persönlichkeit unvollständig, solange sich der Mensch nicht für oder gegen ihre Erhaltung entscheiden kann. Aus diesem Grund tritt der dritte Freiheitsbegriff, also die intelligible Wahlfreiheit, auf: Sie ist „ein Vermögen des Guten und des Bösen“264. „Der Mensch“ – sagt Schelling – „ist auf jenen Gipfel gestellt, wo er die Selbstbewegungsquelle zum Guten und zum Bösen gleicherweise in sich hat“265. Die Wahlfreiheit ist aber nicht eine Eigenschaft des Willens des Individuums. Seine Handlungen sind notwendig bzw. die notwendige Offenbarung des Charakters. Schelling entzieht der Willkür jede Funktion hinsichtlich der Einzelhandlungen. Er versetzt die Willkür jedoch auf eine vorzeitliche und vorindividuelle Ebene, auf der sich der Mensch nicht für die eine oder die andere einzelne Handlung, sondern für ein gesamtes Lebensprojekt entscheidet. Was Schelling den „realen und lebendigen“266 Begriff von Freiheit nennt, ist seine Fähigkeit, sich für die Erhaltung der ursprünglichen Hierarchie der Prinzipien in ihm oder für ihre Umkehrung zu entscheiden. Das Erste ist das Gute und das Zweite ist das Böse. Es geht zwar um ein Entweder-oder, aber die Wahl betrifft eigentlich nicht zwei Elemente, sondern zwei gegensätzliche Beziehungen zwischen ihnen. Die Persönlichkeit ist eine Beziehung, in der das Besondere dem Allgemeinen untergeordnet ist, und die Umkehrung, welche Schelling und Kant mit dem Bösen verbinden, besteht folglich darin, dass der „allgemeine Wille“ zu einem „Mittel“ der Selbstheit herabgesetzt ist. Wenn der Mensch aber das Gute wählt, bejaht er das freiwillig, was er an sich schon ist: ein freies Wesen. Im Bereich des Göttlichen gibt es keine genaue Entsprechung, weil die Wahl zwischen Gutem und Bösem nur Sache des Menschen ist, aber Gott kennt auch diese Unentschiedenheitszustände, die einer Bestimmung vorausgehen: „Das anfängliche Gleichgewicht der Kräfte, in welcher wir die Nothwendigkeit der göttlichen Natur setzen, könnte leicht an das bekannte Gleichgewicht der Willkür erinnern, welche die Moralisten zur Erklärung der menschlichen oder moralischen Freyheit ersonnen haben.“267 e) Die Persönlichkeit ist ein Selbstverhältnis und setzt folglich eine Selbstdifferenzierung voraus. Die Persönlichkeit Gottes, also der Kern des Theismus der Freiheitsschrift, wäre nicht möglich, wenn Gott sich nicht zu sich selbst als Verstand und Sehnsucht verhalten könnte. Gott ist die Selbstvermittlung der Prinzipien, also das bewusste Einswerden der Zweiheit, das die Möglichkeit enthält, sich zu sich selbst zu verhalten. Die Schöpfung ist die Verwirklichung dieser Möglichkeit mittels 264 265 266 267
Schelling (1856 – 1861), SW 7, 352. Ibid. SW 7, 374. Ibid. SW 7, 352. Schelling (1966), S. 95 (WA I, 174 – 175).
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einer Art von Selbstbestimmung. Der Mensch kann diesen inneren Prozess Gottes abbilden. Nachdem der Mensch zu seiner ursprünglichen Verfassung zurückkehrt und deshalb sittlich gut wird, scheidet er sich von seinem Charakter. Dieser bleibt als Basis seiner Anschauung des Ideenkosmos. Anders gesagt: Die Singularität des Menschen verwandelt sich im Grund der Vernunftanschauung. Die Entscheidung, gut zu sein, ist einmalig, aber ihre Wirkung auf den Charakter ist kein punktuelles Ereignis, denn jener wird immer wieder von der Vernunftanschauung transzendiert: „Wie das Reale zu unsrer Zeit soviel möglich aus der Theorie entfernt worden: so der Charakter aus der Sittenlehre. Zwar ist dieser nur der ewige Grund, den der Wille sich selber macht, damit der andre aus dem ersten gezeugte Wille einen Gegenstand habe, etwas Widerstehendes finde, das er aufschließe und zu immer höherer Gestaltung entwickle.“268 Dieser Prozess ist keine Selbstbestimmung im Sinne eines freiwilligen und von Reflexion begleiteten Verhältnisses des Menschen zu sich selbst, denn der Mensch ist nur sittlich gut, wenn er eine Entscheidung getroffen hat, die alle zusätzliche Überlegung entbehrlich macht. Die ununterbrochene Entschlossenheit des guten Menschen schließt jede nachträgliche Wahlfreiheit aus. Es geht trotzdem um eine Form von Selbstbestimmung, weil sich die Selbstdistanzierung, welche die Schau des Ganzen mit sich bringt, auf den eigenen Charakter auswirkt und sich gegen ihn ständig behauptet. Jeder gute Mensch hat ein Verhältnis zu sich selbst, durch das er dem Schöpfergott gleich seine Natur „verklärt“ und allmählich strukturiert. Diese Rationalisierung des Charakters ist die innere Geschichte der Persönlichkeit. Die Freiheit des Menschen ist von diesem Standpunkt aus „Selbstbildung“.269 f) Das Göttliche ist ursprünglich keine Persönlichkeit: „In dem Ungrund oder der Indifferenz ist freilich keine Persönlichkeit.“270 Der Ungrund ist keine Selbstbeziehung. Der Ungrund ist die absolute Unbezogenheit, und folglich ist er die Freiheit von allem, nicht nur von der Persönlichkeit, sondern sogar von der vorweltlichen Zweiheit der Prinzipien. Er zeigt sich eigentlich nur als die Negation jeder Relationalität. Basiert die Angleichung an Gott als Geist auf der Erhaltung einer intellektuellen Selbstbeziehung, in der sich der Mensch über die eigene Natur erhebt, wird diese Möglichkeit nun ausgeschlossen, weil das Verhältnis des Geistes zu sich selbst (als Vernunft und Selbstheit) und deshalb auch die Beziehung des Denkens zum Denken (die intellektuelle Anschauung) mit der Einfachheit des Ungrundes im Widerspruch stehen. Der Geist ist auf nichts Äußeres bezogen, aber er ist immerhin eine Selbstbeziehung. Wenn das menschliche Bewusstsein alle Momente des Göttlichen in sich selbst nachvollziehen kann, sollte er doch in der Lage sein, die Indifferenz schlechthin nachzuvollziehen und sie durch eine Willensbestimmung abzubilden. Das sittlich Gute und das sittliche Böse sind in dieser Hinsicht nicht hilfreich, weil sie geistige Phänomene sind und folglich ein Selbstverhältnis voraussetzen. Ist der Mensch in der Lage, sich in die Perspektive des Ungrundes zu 268 269 270
Ibid. S. 94 (WA I 172 – 173). Schelling (1856 – 1861), SW 7, 433 – 444. Ibid. SW 7, 412.
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versetzen, soll er sich jenseits des Guten und des Bösen und folglich jenseits des Geistes überhaupt befinden. Die absolute Freiheit ist deshalb eine Befreiung vom Geist selbst. Die Selbstdifferenzierung soll vernichtet werden, um das Eine selbst zur Erscheinung zu bringen. Anders gesagt: Die Vernichtung der Selbstdifferenzierung ist die Erscheinung des Ungrundes. Diese Dimension der menschlichen Freiheit, die Schelling nicht in der Freiheitsschrift, sondern in den „Weltaltern“ entwickelt – und nicht mit der Radikalität, die dem Ungrund entspricht271 –, ist keine unfreiwillige Selbstentfaltung des eigenen, singulären Wesens, keine spontane Selbstkonstitution, keine Selbstgenügsamkeit, keine Wahlfreiheit oder keine Selbstbildung. Sie ist vielmehr eine absolut ekstatische Freiheit, die nicht auf das ruhige In-sich-selbstSein, sondern eben auf seine Negation, nämlich auf die vollkommene Selbstlosigkeit verweist. 2. Die Rückkehr zur Unentschiedenheit Um den Aufstieg zum Einen bzw. zum Ungrund richtig zu verstehen, ist es zuerst notwendig, den Abstieg des menschlichen Geistes vom Guten zum Bösen zu erklären. Die These, die im Folgenden erläutert wird, besagt, dass in der Freiheitsschrift die Untätigkeit des Willens und die Unentschiedenheit die wichtigsten Willensbestimmungen sind, die der Indifferenz als Ungrund und Urgrund jeweils entsprechen. Der Mensch reproduziert die primären Formen des Göttlichen in sich selbst, indem er untätig wird oder sich mit einer sittlichen Wahl konfrontiert sieht. Durch diese Erfahrungen versetzt er sich an die Stelle des Göttlichen, so wie es vor der Schöpfung der Welt und vor seiner eigenen Personalisierung war. Der Wille des Menschen trägt auf diese Weise Spuren der Vergangenheit des personalisierten Gottes, die er als sein Ebenbild ignorieren sollte. Sofern der Abfall eine Entscheidung des Menschen ist und infolgedessen auf einen vorherigen Unentschiedenheitszustand verweist, kann man mittels der Erklärung der Bedingungen des Abfalls die Erscheinung des Urgrundes als eine Willensbestimmung rekonstruieren. Die Frage, die sich Schelling in diesem Zusammenhang stellt, lautet: Wie ist die Wirklichkeit des Bösen möglich? Die Frage nach der Möglichkeit des Bösen hat Schelling dadurch beantwortet, dass der Mensch eine labile Identität des Grundes und der Existenz ist. Im Unterschied zum göttlichen Geist, in dem der Grund der Existenz unterworfen bleibt, kann der Grund in dem menschlichen Geist anstreben, die Ordnung der Prinzipien umzukehren und das bestimmende Prinzip sein. Obwohl das Böse auch eine Form der Einheit der Prinzipien ist, weil er auch Geist ist, spricht Schelling dabei von der „Zertrennlichkeit der Prinzipien“,272 weil die falsche Einheit kein harmonisches Ganzes bildet und folglich der Trennung der Prinzipien ähnlich ist. Die „allgemeine Möglichkeit des Bösen“ liegt daher darin, dass sich der Mensch für die Umkehrung der Prinzipien entscheiden kann. Dass er es kann, erklärt aber nicht, 271
In den Weltaltern schreibt Schelling der „Lauterkeit“, der reinsten Liebe oder der absoluten Freiheit manchmal ein „Sinnen über sich selbst“ (Schelling (1966), S. 17 (WA I 30 – 31)), also eine schwache Form von Reflexivität zu. 272 Schelling (1856 – 1861), SW 7, 364.
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warum er zu der Idee kommen kann, böse zu werden. Der Mensch ist ursprünglich gut, ein Ebenbild Gottes, und deswegen ist es alles andere als selbstverständlich, warum er sich wünschen würde, seine ursprüngliche Seligkeit aufzugeben. Die „Möglichkeit des Bösen“ besagt, dass die Ordnung der Prinzipien, ohne die Geistigkeit des Bösen aus der Sicht zu verlieren, umgekehrt werden kann, aber nicht, warum die ursprüngliche Hierarchie infrage gestellt wird. Dass der Mensch auch Selbstheit ist, reicht nicht dafür aus, über die Entstehung einer Alternative zum Guten Aufschluss zu geben, weil die Natur des Menschen, also seine endliche Seite, an sich selbst keine Tendenz zum Bösen enthält und anfänglich nur der unausdrückliche Träger der Vernunftanschauung ist. Dass die innere Ordnung der Persönlichkeit fraglich wird, bedarf daher einer Erklärung. Schelling fragt sich dann, wie der Übergang von dem Guten zum sittlichen Zweifel möglich ist. Dies ist die Frage nach der Möglichkeit der Wirklichkeit des Bösen. Schelling spricht von der „allgemeinen“ Möglichkeit des Bösen, weil es eine Präzisierung derselben gibt, die zugleich den Übergang zur Wirklichkeit des Bösen ermöglicht. In diesem Sinne ist von der „Hervorrufung“273 oder der „Sollizitation zum Bösen“274 die Rede. Die „Sollizitation zum Bösen“ zeigt, wie ein ursprünglich zum Guten geneigtes Wesen, also ein entschiedenes Wesen, unentschieden geworden ist. Indem der Mensch ursprünglich gut ist, soll die Unentschiedenheit ein Zustand des Willens sein, der nicht vor diesem Gutsein des Menschen, sondern nach ihm stattgefunden hat. Die Entstehung der Unentschiedenheit und folglich der Möglichkeit der Wahl kann nach einem im Bereich der Naturphilosophie entstandenen Begriff, den Franz von Baader in seinen offensichtlich an die Freiheitsschrift anschließenden Vorlesungen von 1828 als „Erregung durch Verteilung“ bezeichnet, erläutert werden.275 Wenn ein Körper, dessen Energie vorherrschend negativ ist, sich einem zweiten, dessen Energie vorherrschend positiv ist, annähert, kommt ein Energieaustausch zustande und die beiden kommen in sich selbst zu einem energetischen Gleichgewicht, weil der erste positive Energie aufnimmt und sein Übermaß an negativer Energie hinter sich lässt und der zweite negative Energie aufnimmt und sein Übermaß an positiver Energie aufgibt. Die „Sollizitation zum Bösen“ funktioniert nach diesem Schema. Nur deshalb, weil es in der Natur und in der Geschichte Vorzeichen des Bösen gibt, und der ursprüngliche Mensch – eine Art von „Adam Kadmon“, der alles, was kommen werde, auf einen Schlag sehen kann – ihre Ausstrahlung in sich aufnimmt, verliert das Allgemeine im menschlichen Willen an Intensität und entsteht ein Gleichgewicht zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen. Ein Wesen kann nur indirekt auf 273
Ibid. SW 8, 326. Ibid. SW 7, 374. Dies ist ein Begriff, der aus dem Leibnizschen Verständnis der Mechanik kommt: „Dieses letzte Element, der unendlich kleine Drang, mit dem eine Bewegung beginnt und der erst als unendlich oft wiederholter in ein Streben übergeht, das Leibniz als ,Antrieb‘ bezeichnet, wird Sollicitatio (Anregung, Rührung, Reizung) genannt. Mit einer Sollicitatio ist noch keine Bewegung verbunden; die Sollicitatio ist lediglich die Tendenz zur Bewegung.“ (Torra-Mattenklott, S. 140). 275 Baader, S. 168 – 169. 274
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etwas anderes eine Wirkung haben, nämlich: sofern das Erste eine innere Tendenz des Zweiten aktiviert. Jede Veränderung, sogar wenn sie von etwas Fremdem ausgelöst wird, ist letztendlich eine Selbstveränderung. Welche sind die negativen Kräfte, die den menschlichen Willen zum Gleichgewicht bringen? Schelling unterscheidet drei Arten von Einflüssen auf den Willen. a) In der Natur gibt es „Vorzeichen des Bösen“,276 weil die organischen Wesen willkürliche, d.i. nicht genau ihrer Gattung entsprechende Formen annehmen können. Jedes Tier oder jede Pflanze ist nur ein Exemplar seiner bzw. ihrer jeweiligen Gattung und ist daher als Individuum nicht etwas Singuläres277 – ein Löwe ist immer der Löwe, aber manchmal haben sie Merkmale, bzw. krankhafte Merkmale, die ein Exemplar einer Art von den gewöhnlichen Exemplaren unterscheidet. Diese „Launen“ der Natur deuten eine latente Tendenz zur Partikularisierung an, welche dem Menschen als Gattungswesen entgegentritt. Vor diesen Kreaturen, also vor dem Monströsen, empfindet der Mensch „Abscheu“,278 aber sie üben auf ihn zugleich eine Faszination aus, die sein Selbstverständnis als Gattungswesen ganz subtil zum Schwanken bringt. b) Der erste Mensch entsteht vor dem Anfang der menschlichen Geschichte, aber das Spätere wirkt sich auf ihn aus, weil er alles auf einen Schlag sehen kann. Der Anfang der Geschichte ist „die Zeit der Unschuld“, aber bald wirkt der Grund für sich in der Form von „einzelnen göttlichen Wesen“279, also von mächtigen Königen. Schelling bezieht sich auf die ersten Theokratien, in denen alles, die Weltgeschichte selbst, von einzelnen, vergöttlichten Menschen abhing. Die absolute Macht bringt mit sich eine neue Tendenz zur Partikularisierung. Diese wird von dem Krieg zwischen den verschiedenen Mächten begleitet. c) Der dritte Einfluss ist anfänglich geschichtlich: der Tod Jesu. Nachdem die Menschheit den Tod Jesu begangen hat, wurde der Mensch damit bestraft, dass er sich wie nie zuvor seines „todverfallenen Leib[es]“280 innegeworden ist. Schelling stimmt mit Paulus darin überein, dass das Bewusstsein der Möglichkeit des eigenen Todes mit der „Sünde“ zusammenfällt: „Deshalb, weil durch einen Menschen die Sünde in die Welt gekommen ist, und der Tod durch die Sünde, so ist der Tod zu allen Menschen durchdrungen, weil sie alle gesündigt haben.“281 Daraus entsteht „die Angst des Lebens selbst“ und, statt die Freiheit als Autarkie zu erhalten, fällt der Mensch der Tendenz anheim, alles zu tun, um die eigene Leiblichkeit zu retten: „Darum reagiert er notwendig gegen die Freiheit als das Überkreatürliche und er-
276 277 278 279 280 281
Schelling (1856 – 1861), SW 7, 376. Ibid. SW 5, 603. Schelling (1973), S. 163. Schelling (1856 – 1861), SW 7, 376. Ibid. SW 7, 379. Bibel, Röm 7, 24. Bibel, Röm 5, 12.
II. Die menschliche Freiheit und das Absolute
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weckt in ihr die Lust zum Kreatürlichen.“282 Diese ist die letzte Phase des „natürlichen Hangs zum Bösen“.283 Der Mensch gerät in die Unentschiedenheit, weil er angesichts des Anormalen in der Natur und der Vergöttlichung einzelner Menschen in der Naturseite der Geschichte die Möglichkeit entdeckt, ein singuläres Wesen zu werden. Die Suche nach Singularität, welche der Mensch als Beobachter des Ideenkosmos nicht kennt,284 stellt eine Versuchung für den guten Menschen dar. Ein zweiter, noch wichtigerer Grund dafür ist, dass er sich seiner Sterblichkeit bewusst wird. Das organische Leben, welches die Fähigkeit hat, sich selbst zu organisieren, war ursprünglich ein „perpetuum movile“285. Die Möglichkeit des Todes gehörte daher nicht zur ursprünglichen Lebenserfahrung: „Dass alle organischen Wesen der Auflösung entgegengehen, kann durchaus als keine ursprüngliche Notwendigkeit erscheinen.“286 Der Tod Jesu bringt als Strafe ein universelles, intensives Bewusstsein der Sterblichkeit mit sich. Der Mensch versucht daher seine Selbstheit zu retten und tendiert dann dazu, die Vernunft im Dienste der Selbsterhaltung einzusetzen. Die Schwächung des Allgemeinen im Menschen liegt hauptsächlich an der Entdeckung der Möglichkeit des eigenen Todes.287 Vor allem aus diesem Grund sieht sich der Mensch mit der Wahl konfrontiert, entweder gut zu bleiben oder böse zu werden. 3. Die Unentschiedenheit und der Urgrund Die Wahlfreiheit ist ein Abbild der Indifferenz als Urgrund. In der Freiheitsschrift ist dieser Zusammenhang gewiss nur angedeutet, aber dafür spricht, dass Schelling in einem Eintrag seines Tagebuches von 1809 gesteht, an dem Problem der „Scheidung“ des Guten und des Bösen und an dem Begriff der Indifferenz zugleich gearbeitet zu haben.288 Dass diese Interpretation nicht willkürlich ist, wird auch dadurch bewiesen, dass Schelling in der Version der „Weltalter“ von 1811 das Verhältnis Monismus – Dualismus mit der Beziehung des absoluten Willens zu der Willkür vergleicht und außerdem die göttliche Zweiheit an die Willkür anknüpft: „Das anfängliche Gleichgewicht der Kräfte, in welches wir die Notwendigkeit der göttlichen 282
Schelling (1856 – 1861), SW 7, 381. Ibid. 284 Der Mensch als Persönlichkeit ist zwar etwas Besonderes und er weiß in der Form eines Selbstgefühls davon, aber diese Besonderheit hat eine sekundäre Rolle im Selbstverständnis des sittlich guten Menschen und hat außerdem in allen Menschen dieselben Merkmale. Wenn die Selbstheit der Grund der „Jemeinigkeit“ ist, ist sie immerhin für alle Menschen gleichartig. Nur der Charakter ist wirklich singulär. 285 Ibid. SW 7, 377. 286 Ibid. SW 7, 377. 287 In den Stuttgarter Privatvorlesungen behauptet deswegen Schelling, dass der Tod „der höchste Beweis der Wirklichkeit eines solchen Rückfalls der ganzen Natur und insbesondere des Menschen“ (Ibid. SW 7, 459) ist. 288 Eintrag am 9. April 1809. Schelling (1994), S. 26. 283
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Natur setzen, konnte leicht an das bekannte Gleichgewicht der Willkür erinnern, welches die Moralisten zur Erklärung der menschlichen oder moralischen Freiheit ersonnen haben.“289 Hauptsache ist aber, dass es eine Strukturähnlichkeit zwischen der Indifferenz als Urgrund und der Wahlfreiheit gibt. In der „dialektischen Erörterung“ der Beziehung zwischen Monismus und Dualismus hat Schelling erklärt, wie der Grund und die Existenz vom Ungrund prädiziert werden können, sofern sie nicht als Gegensätze, sondern in der Form der „Disjunktion“ gesetzt werden. Von „Disjunktion“ kann die Rede sein, weil der Grund und die Existenz hier voneinander unabhängige, sich nicht gegenseitig beeinflussende Momente eines Ganzen sind, das sich entweder als das Eine oder als das Andere bestimmen kann. In diesem Fall gilt nicht der Satz des Widerspruchs, weil das Ganze der Bereich ist, der beide Prinzipien vor ihrer Bestimmung enthält. Sie würden sich gegenseitig ausschließen, wenn jedes Prinzip als das, was das andere nicht ist, wirklich gesetzt wäre, aber hierbei werden sie, wie es im Obersatz eines disjunktiven Syllogismus der Fall ist, nur als Möglichkeiten erhalten. Der Urgrund bezeichnet daher das vorweltliche, innerlich zweideutige Ganze, das den Grund und die Existenz als nicht gegensätzliche und gleichwertige Möglichkeiten enthält. In der Freiheitsschrift ist nicht offensichtlich, wie der menschliche Wille die Struktur des Urgrundes abbildet, aber die Weltalter zeigen, dass Schelling diesen Zusammenhang im Visier hat. Die oben zitierte Stelle der ersten Version spricht ganz deutlich davon. In der zweiten Version der Weltalter beschreibt Schelling den menschlichen Willen als eine Art von Disjunktion: „Es ist wohl ein Widerspruch im Ausgesprochenen denkbar; aber nur wenn Widersprechende in demselben gleichwirkend sind; denn ist, auch von zwey gerad’ Entgegengesetzten, das eine als unwirkend gesetzt, so hört aller Widerspruch auf. Es lässt sich z. B. sagen: Ein und derselbe Mensch = X ist bös und gut; d. h. bös und gut sind das Aussprechliche von einem und demselben Menschen. Nun wäre der Widerspruch, wenn von diesen beyden jedes als wirkend gesetzt wäre. Es heiße aber dieser Mensch gut nach seiner Handlungsweise oder als handelnder, so wird er nicht als derselbe, nämlich ebenfalls als handelnder auch böse seyn können, was aber nicht verhindert, dass derselbe nach dem betrachtet, was in ihm nicht wirkend oder ruhend ist, böse sey und dass ihm auf solche Art zwey widersprechende (contradictorisch entgegengesetzte) ohne Widerspruch beygelegt werden können.“290.
Die Freiheit als Vermögen zum Guten und Bösen, also als Wahlfreiheit, impliziert die Unbestimmtheit der Handlungsspontaneität und die gegenseitige Unabhängigkeit der Handlungsmöglichkeiten. Der Mensch kann gut und böse sein, weil beide „unwirkend“ sind und deshalb ohne Widerspruch zusammen bestehen können. Das, was gut ist, ist dasselbe, das böse ist, weil die Gegensätzlichkeit auf der Wirklichkeitsebene und nicht auf der Möglichkeitsebene stattfindet. Auf der letzten Ebene ist eine coincidentia oppositorum zulässig. Die Sprachanalyse des Begriffes „Identität“ in der Freiheitsschrift, wobei sowohl das Subjekt als auch das Prädikat eines Satzes 289 290
Schelling (1966), S. 95 (WA I, 174 – 175). Ibid. S. 127 – 128 (WA II 38 – 39).
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die Wirklichkeit der Kopula darstellen, besagt nichts anderes.291 Peetz bemerkt in dieser Hinsicht ganz richtig, dass es sich dabei um eine „praktische Instantiierung der Kopula“292 handelt. Die Ontologie sei auf der Basis der Begriffe der praktischen Philosophie konzipiert. Aufgrund der Auffassung der Freiheit als Freiheit zum Guten und zum Bösen nähere sich Schelling der Position Reinholds an,293 aber in der Freiheitsschrift geht es nicht allein um eine „Ethik“. Die Ontologisierung der Kopula führe zum Verständnis des Seins als dasjenige, das gegensätzliche Eigenschaften annehmen kann.294 Die Wahlfreiheit habe daher eine genuin ontologische Dimension und verwandele sich sogar in das Leitbild, um das Absolute zu denken.295 Daraus gehe eine „Einheit von Ontologie und Ethik“296 hervor, deren Kern der Wille ist. Bis zu diesem Punkt ist der Interpretation Peetzs zuzustimmen. Peetz verbindet aber die Wahlfreiheit des Geistes bei Schelling mit dem Begriff des Geistes bei Schiller297 und verpasst dadurch einige Nuancen der Argumentation Schellings. In den „Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen“ ist der Geist in der Tat eine Macht, die „Form“ und „Stoff“ derart miteinander verbinden kann, dass die Eine oder das Andere vorwiegend werden. Der Geist hat bei Schelling eine ähnliche Struktur, weil er ein Vermögen oder eine „Macht“ ist, sich sowohl für das Gute als auch für das Böse zu entscheiden, das weder mit dem Allgemeinen noch mit dem Besonderen identisch ist, aber sie miteinander verbinden kann. Fragwürdig ist dabei, ob die Form der Indifferenz, die mit der „Disjunktion“ zusammenhängt, direkt dem Geist zugeschrieben werden kann. Bei Schiller ist dies kein Problem, weil der Geist ein Selbstverhältnis ist, der auf keine ihn transzendierende, ontologische Dimension verweist. Bei Schelling sind die Bedingungen der „Bestimmbarkeit“ trotz der unleugbaren Ähnlichkeiten mit Schiller anders. 291 Die Beziehung zwischen Grund (A) und Existenz (B) hängt von einem Dritten (C) ab, das weder A noch B ist, weil es sich von beiden unterscheidet, und doch sowohl das Eine als auch das Andere ist, weil es sich mit dem von ihm Unterschiedenen verbindet. C ist die Verbindung des Verbindenden mit dem Verbundenen. Die Behauptung A=B ist nur dadurch möglich, dass es C gibt. Nur deswegen, weil die Gleichheiten A=C und B=C stattfinden, ist A=B möglich. (Ibid. S. 28 (WA I, 51 – 52)). C ist in diesem Sinne ein Ganzes, das A und B auf eine Weise enthält, die an den Obersatz eines disjunktiven Syllogismus erinnert. C ist das, was sich als A (und nicht B) oder B (und nicht A) setzen kann und beide Möglichkeiten vereint. Diese Möglichkeiten sind seine Möglichkeiten. Im Urteil „A ist B“ ist C, die Kopula, zwar die Vermittlung zwischen A und B, aber nicht derart, dass A und B vollkommen unabhängig von C existieren würden und dieses zu diesen zwei Elementen hinzukäme. Die Behauptung „A ist B“ setzt voraus, dass sowohl A als auch B Ausdrücke der Kopula sind. C ist dasjenige, das sich durch die Vermittlung der Dualität von A und B als dem Anderen seiner selbst setzt. Die Vermittlung zwischen A und B durch C ist die Selbstvermittlung von C. In diesem Rahmen konzipiert Schelling die Wahlfreiheit. 292 Peetz, S. 98 – 99. 293 Ibid. S. 202 – 210. 294 Ibid. S. 127. 295 Ibid. S. 322. 296 Ibid. S. 108. 297 Ibid. S. 163 – 165.
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B. Das sittliche Leben
Es ist klar, dass das Gute und das Böse geistige Phänomene und folglich Vermittlungen der Grundprinzipien sind, in denen entweder das eine oder das andere Prinzip vorherrschend ist. Eben deswegen ist nicht klar, wie eine Gestaltung des Geistes möglich ist, die weder gut noch böse ist. Der Geist ist normalerweise, um es mit Schelling zu sagen, „entschieden“. Seine erste Erscheinung auf der Ebene des Menschen ist die Persönlichkeit, die ohne eine Asymmetrie zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen nicht denkbar ist. Die Persönlichkeit setzt das Primat des Allgemeinen bzw. der Vernunftanschauung vor der Selbstheit voraus. Sie ist die sich selbst als Einheit wissende Einheit der zwei Prinzipien und deshalb ist sie eigentlich eine Potenzierung der Existenz: die bewusste Einheit des Bewussten und des Vorbewussten. Das Gute ist deshalb eine Asymmetrie der Prinzipien. Das Böse auch: Die „Umkehrung“ der wahren Ordnung der Prinzipien legt auf die Selbstheit den Nachdruck, aber sie ist so asymmetrisch oder hierarchisch wie die ursprüngliche Ordnung. Das „Gleichgewicht der Kräfte“, von dem Schelling in den Weltaltern spricht, lässt sich deswegen nicht direkt mit dem Geist verbinden, weil der Geist, solange er nicht unter dem Einfluss eines ihn transzendierenden Prinzips ist, asymmetrisch ist. Die Unentschiedenheit ist nur dann möglich, wenn der Geist etwas in sich wirken lässt, das nicht Geist ist. Die Unentschiedenheit soll daher als ein Moment begriffen werden, das den Übergang vom Guten zum Bösen oder umgekehrt ermöglicht, im Geist erfolgt und immer zu einer bestimmten Gestaltung des Geistes führt, aber eigentlich nicht vom Geist abhängt.298 Die Unentschiedenheit ist vielmehr 298 In den Stuttgarter Privatvorlesungen unterscheidet Schelling drei Stufen des Geistes: der Eigenwille, der Verstand und der Wille im eigentlichen Sinne. Der Letzte ist in der Tat ein „Indifferenzpunkt“ (Schelling (1856 – 1861), SW 7, 467) zwischen Verstand und Eigenwille. Die Freiheit des Willens besteht aber nicht in diesem Vermittlungspunkt, weil die Indifferenz, aus welcher jene folgt (Schelling (1973), S. 173), Gemüt und Seele und nicht Verstand und Eigenwille verbindet: „Allein nicht dieses Verhältnis – nicht seine Mitte zwischen Verstand und Eigenwille, sondern die zwischen der ersten und dritten, der tiefsten und höchsten Potenz macht eigentlich seine Freiheit aus“ (Schelling (1856 – 1861), SW 7, 467). Der Wille ist daher nur frei, wenn er die Natur und das Göttliche schlechthin, die Seele (Schelling (1973), S. 188), verbindet. Schelling sagt, dass der Wille „wieder“ zwischen die erste und die dritte Potenz tritt, weil der Mensch der „Indifferenzpunkt“ zwischen Natur und Gott ist. Sofern der Wille Geist oder, genauer gesagt, das Geistigste im Geist ist (Schelling (1856 – 1861), SW 7, 471), kann man sagen, dass sich der Geist transzendieren soll, damit der Mensch frei wird. Er soll zwischen der Natur und einem höheren Prinzip, das „über dem Geist, auch sofern er Wille und Verstand ist“ (Schelling (1973), S. 183), vermitteln. Der Wille selbst soll die Basis sein, damit sich alle anderen Potenzen der Seele unterordnen. Erfüllt er nicht diese Funktion und unterwirft sich der Verstand nicht der Seele, entsteht eine Geisteskrankheit: der Wahnsinn. Der Wille ist folglich der „Indifferenzpunkt“, wenn er nicht das Höchste ist, sondern sich selbst in den Dienst der Seele setzt. (Ibid.). Er kann zwischen der Natur und dem Göttlichen schlechthin vermitteln, wenn er etwas Höheres in sich wirken lässt. Der Geist ist dementsprechend kein Letztpunkt, der alle Potenzen beherrscht, weil seine Vermittlungskraft nicht in ihm selbst liegt, sondern in der Seele. Der Geist ist zwar das vermittelnde Prinzip, aber nur dann, wenn er sich selbst transzendiert. Obwohl in den Stuttgarter Privatvorlesungen von einem Begriff der Seele die Rede ist, der in der Freiheitsschrift nicht auftritt, wird hierbei bestätigt, dass der Geist nur dann zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen vermitteln kann, wenn er auf ein Prinzip, das ihn transzendiert, bezogen ist.
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eine Nachwirkung der Erinnerung des Absoluten (als Urgrund) und folglich hängt sie von einem Prinzip ab, das über den Geist hinausgeht. Schelling weist darauf hin, wenn er in der ersten Version der Weltalter das Folgende sagt: „ein Gleichgewicht der Kräfte sey der Anfang der geistigen Geburt, die Nacht, aus der dem Mensch erst in das frohe Licht der Freiheit geboren werde“.299 Das Gleichgewicht geht „der geistigen Geburt“ voraus. Die Wahl, sofern sie Bestimmbarkeit impliziert, ist mit der „Nacht“ vergleichbar, die metaphorisch allen Bestimmungen vorausgeht. Der „Anfang“ ist ein instabiler Mittelzustand, in dem die Grundprinzipien vorübergehend symmetrisch sind. Daraus soll eine Entscheidung, also eine Bestimmung entstehen – das Gute oder das Böse. Der Geist zeigt sich eigentlich im Bereich des Entschiedenen. Die Unentschiedenheit ist hingegen ein Zustand des Geistes, in dem er sich selbst nicht besitzt. Seine Vorgeschichte kehrt dadurch zurück.
4. Die Entscheidung für das Böse Die Wahl und die Entscheidung sind getrennte Momente.300 Die Entscheidung ist das Resultat der Betätigung der Willkür und die Wahl hingegen ihre von der Gleichwertigkeit der Entscheidungsmöglichkeiten gekennzeichnete Unbestimmtheit: „Der Mensch ist auf jenen Gipfel gestellt, wo er die Selbstbewegungsquelle zum Guten und zum Bösen gleicherweise in sich hat: das Band der Prinzipien in ihm ist kein notwendiges, sondern ein freies.“301 Die „Sollizitation zum Bösen“ regt im Menschen den Zweifel an der Erhaltung des Guten an, aber dies heißt nicht, dass er böse werden muss. Schelling sagt tatsächlich, dass die „Sünde“ für die Offenbarung Gottes als Liebe notwendig ist,302 aber genau gesehen, notwendig ist nur, sündigen zu können. T. Buchheim hat es richtig bemerkt: „Das Böse als allgemeiner Gegensatz ist nun zwar eine reelle, bestehende Möglichkeit es zu sein, aber nicht irgendein – stets einzeln wirkliches – Exempel des ausgeführten Bösen.“303 Notwendig ist nicht die Wirklichkeit des Bösen, sondern seine Möglichkeit: „Zwar gibt es die Möglichkeit des Bösen im Menschen notwendigerweise, die Wirklichkeit desselben aber nur kontingenterweise in Abhängigkeit von seiner freien Entscheidung.“304 Gott lässt gewiss zu, dass der Grund aktiv wird305, aber seine Wirkung auf den menschlichen Willen reicht nicht dafür aus, die Entscheidung zum Bösen auszulösen. Das wird gerade durch den Begriff von „Sollizitation“ bestätigt. Das Böse und die Suche nach Singularität gehen Hand in Hand. Die „Wirklichkeit des Bösen“ ist hauptsächlich die intelligible Handlung, durch die sich der Mensch 299 300 301 302 303 304 305
Schelling (1966), S. 95 (WA I 174 – 175). Carrasco, S. 254 – 257. Schelling (1856 – 1861), SW 7, 347. Ibid. SW 7, 373. Buchheim, 2000. Ibid. Schelling (1856 – 1861), SW 7, 378.
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B. Das sittliche Leben
einen eigenen Charakter gibt. Die wahre Vielheit der Menschen entsteht von diesem Moment aus. Daraus resultiert ein neues Problem. Schelling hatte gesagt, dass das Böse möglich ist, weil die Prinzipien umgekehrt werden können. Die Wirklichkeit des Bösen soll folglich mit der wirklichen Umkehrung der Ordnung, also mit dem Primat der Selbstheit zusammenhängen. Die Beziehung zwischen der Umkehrung und der Verwandlung des Menschen in einen Einzelnen, ist jedoch alles andere als selbstverständlich. Wenn die Endlichkeit nicht das Böse ist,306 muss der Einzelne nicht deshalb, weil es die radikalste Form des Endlichseins ist, böse sein. Und es ist auch nicht einsichtig, warum der Einzelne eine Erhebung der Selbstheit über die Persönlichkeit darstellen soll. Der Einzelne als Einzelner muss nicht ein Verhältnis zum Allgemeinen haben. Eine mögliche Lösung dieser zwei Probleme liegt darin, den Einzelnen selbst als eine einzigartige Synthese der zwei Prinzipien anzusehen. Wenn das Produkt der Entscheidung zum Bösen der Einzelne ist, soll es eine innere Differenzierung zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen implizieren. Der Einzelne ist gewiss einzigartig aber er ist deswegen nicht einfach. Er ist vielmehr eine singuläre Beziehung des Besonderen und des Allgemeinen. Ansonsten, wenn es nur eine Radikalisierung des Besonderen wäre, hätte es keine Beziehung zur Umkehrung. Das Böse, wie gesagt, ist nicht die Endlichkeit, sondern eine verkehrte Beziehung der Prinzipien. Das, was der Einzelne zum Einzelnen macht, ist eine unbegründete Selbsttätigkeit: „es ist reales Selbstsetzen, es ist ein Ur- und Grundwollen, das sich selbst zu etwas macht und der Grund und die Basis aller Wesenheit ist“307. Welche Rolle spielt aber dieses Grundwollen hinsichtlich des Allgemeinen und des Besonderen? Wenn der Einzelne innerlich differenziert ist, ist er die synthetische Kraft, welche die zwei Pole zusammenhält. Die Wirklichkeit des Bösen ist also eine besondere und spontane Vermittlung des Besonderen und des Allgemeinen. „Das Wesen des Menschen“ – sagt Schelling – „ist wesentlich seine eigene Tat“308 und es bedeutet, dass sich der Einzelne, ohne es später zu wissen, selbst als eine solche Vermittlung hervorbringt. Jede Vermittlung, d.i. jeder Einzelne, ist in diesem Sinne unbedingt, weil sie nur von seiner Selbsttätigkeit abhängt. Das Böse erreicht seinen höchsten Punkt hierbei, weil der einzelne Mensch versucht, sich selbst zu begründen, sein Wesen nur von seiner eigenen Tätigkeit abhängig zu machen. Indem er wesentlich diese Tätigkeit ist, kann man behaupten, dass die Entscheidung zum Bösen nicht aufhört, nachdem sie getroffen wird. Anders gesagt: Die Tat des Menschen ist kein punktuelles Ereignis, sondern sie ist eine ständige Kraftübung, um das Besondere und das Allgemeine zusammenzuhalten. Die Spontaneität des Grundwollens dauert folglich fort, weil sie ständig das Vermittelnde ist. Insofern die Vermittlung selbst etwas Besonderes ist, kann man sagen, dass die „Wirklichkeit des Bösen“ ein ständiges Wollen dieser Besonderheit ist. Jeder Mensch ist dieses Wollen. 306 307 308
Ibid. SW 7, 372. Ibid. SW 7, 385. Ibid. SW 7, 385.
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5. Die Rückkehr zum Guten Alle lebendigen Menschen haben sich für das Böse entschieden. Kein geborener Mensch ist ohne Sünde. Die Philosophie strebt aber eine „Umwandlung des Menschen vom Bösen zum Guten“309 an, sie strebt eine peqiacyc¶ t/r xuw/r an. Sofern die Wirklichkeit des Bösen mit der Singularität des Menschen eng verbunden ist, soll die Umwandlung von ihr ausgehen. Der Einzelne verharrt in seiner Selbstbehauptung und will alles in einem Reflex seiner partikulären Weltanschauung verwandeln. Die Frage ist nun, wie dem Menschen, der sich für das Böse entschieden hat, die Möglichkeit zurückgegeben wird, neu zu wählen. Es bedarf einer Erinnerung seiner Unentschiedenheit, die ihn zugleich von der Verkapselung in seinem Charakter und in seiner damit zusammenhängenden Weltanschauung befreit. Das kann der Mensch nicht durch Introspektion erreichen, sondern durch das Verständnis einer Gestalt des Absoluten, die der Entstehung des Geistes vorausgeht. Den Urgrund zu verstehen heißt, in sich selbst, genauer gesagt, im Willen, seine Struktur abzubilden. Aus der Einsicht in jenen soll sich eine neue Erscheinung der Unentschiedenheit ergeben. Ebenso wie der ursprünglich gute Mensch durch sie hindurchgehen sollte, um böse werden zu können, geht der böse Mensch durch sie hindurch, um gut werden zu können. In ihrer Fähigkeit, die Erinnerung des Absoluten in jedem Menschen hervorzubringen, besteht die Macht und die Ohnmacht der Philosophie. Die Philosophie kann die Überwindung des Bösen nicht erzwingen, denn sie ist nur eine „menschliche Hilfe“,310 um jedem einzelnen Menschen die Wiederkehr zum Guten zu ermöglichen. Sie gibt ihm aber die Möglichkeit, durch die Erinnerung der überzeitlichen Geschichte Gottes, welche die Vorgeschichte des menschlichen Geistes ist, wieder entscheiden zu können. Sie gibt ihm folglich die Möglichkeit eines Anfanges. Die Philosophie, indem sie Anamnesis ist, trennt den Menschen von seiner Gegenwart, also von der Individuation, und versetzt ihn in eine Vergangenheit zurück, die seine Gegenwart transformieren kann. Es geht um eine Rückkehr zum Indifferenzpunkt, die erlaubt, das Gewollte zu widerrufen. Trotz der erwähnten Unterschiede zu dem „Nullpunkt“ Schillers, gilt das für Schelling, was Schiller über den „ästhetischen Zustand“ sagt: Dieser ermöglicht dem Menschen nichts anderes, als dass es ihm nunmehr „möglich gemacht ist, aus sich selbst zu machen, was er will – dass ihm die Freiheit, zu sein, was er sein soll, vollkommen zurückgegeben ist“311. Die Erinnerung des Absoluten, die eine Aufgabe der Philosophie ist, samt der Erscheinung des Sohnes Gottes in der menschlichen Geschichte, ermöglicht diese Freiheit. Jesus und die Freiheitsschrift sind eine „Sollizitation zum Guten“.
309 310 311
Ibid. SW 7, 389. Ibid. Schiller, S. 94.
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B. Das sittliche Leben
6. Der Ungrund und die menschliche Freiheit Die Wiedergeburt des Menschen, im Gegensatz zu seiner Geburt als Ebenbild Gottes, hängt von seiner freien Entscheidung ab. Der Mensch war ursprünglich gut aber ohne sein Zutun. Er soll nun seine anfängliche Freiheit, also die Autarkie, freiwillig wählen. Er soll das werden, was er schon einmal war: eine Persönlichkeit. Das Gute ist folglich nun „die überwundene, also aus der Aktivität zur Potentialität zurückgebrachte Selbstheit“.312 Ist die Sittlichkeit bei Schelling von der Religion untrennbar, weil nur durch die blo_ysir he` der Mensch gut sein kann, fällt die Rückkehr zum Guten mit der Religiosität zusammen: „Sittlichkeit ist Gottähnliche Gesinnung, Erhebung über die Bestimmung durch das Concrete ins Reich des schlechthin Allgemeinen.“313 Die Religiosität, die in ihrer „ursprüngliche[n], praktische[n] Bedeutung“314 auf die lateinischen Verben „religare“ (binden) und „relegere“ (etwas sorgfältig erledigen) verweist, ist nichts anderes als die gewissenhafte und ununterbrochene Bindung des Einzelmenschen an die Schau des Ganzen: „Religion ist aber Betrachtung des Besonderen in seiner Gebundenheit an das All.“315 Da sich das Böse, also die Verabsolutierung des Besonderen, hauptsächlich in Maßlosigkeit und „Übermut“ zeigt, will Schelling die Demut, die humilitas, zur Tugend überhaupt erheben. Wenn die Arroganz gegenüber Gott wie schon bei Paulus (als „jauw÷shai“316) und bei Augustinus (als „superbia“) die Untugend schlechthin ist, ist hingegen die Demut die innere Haltung, die der wahren Ordnung des Geistes entspricht. Schelling würde mit Meister Eckhart die sachliche Verwandtschaft von „homo“, „humus“ und „humilitas“ akzeptieren.317 Religiös ist dann der Mensch, der auf seinen Übermut freiwillig verzichtet hat und sich dadurch wieder in die göttliche Ordnung integrieren lässt. Eine Persönlichkeit zu sein heißt für den Einzelmenschen, sich selbst als ein Wesen zu identifizieren, das im Vergleich mit dem Ganzen nichtig ist und trotzdem die Würde hat, durch seine Vernunft das Ganze zu begreifen. Die „dynamisch-ethische“ Angleichung an Gott, die das Gute ermöglicht, hängt von dem Menschen ab. Schelling knüpft an die heraklitische und platonische Interpretation der blo_ysir he` an, derzufolge sie nicht eine göttliche Gabe, sondern eine Leistung der menschlichen Vernunft ist,318 die doch möglich ist, weil die Seele des Menschen ursprünglich göttlich ist. Dazu fügt Schelling eine Betonung der Rolle des Willens in diesem Prozess hinzu. Es handelt sich dabei nicht allein um ein Produkt der Erkenntnis, sondern um eine Entscheidung. Gott innerhalb des menschlich Möglichen ähnlich zu werden, benötigt einen Bekehrungsakt. Die Er312 313 314 315 316 317 318
Schelling (1856 – 1861), SW 7, 400. Ibid. SW 5, 276. Ibid. SW 7, 392. Ibid. SW 7, 141. Bibel, Röm 2, 17. Dobie, S. 192. Roloff, S. 200 – 204.
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kenntnis ist letztendlich ohnmächtig, wenn der Mensch die Einsicht in sein eigenes Wesen nicht bejahen will. Die Bindung der Selbstheit an das Ganze entspringt daher einer Initiative des Menschen. Problematisch ist nun, dass sie zugleich die falsche Selbstständigkeit des einzelnen Menschen – einschließlich seiner Fähigkeit, eigene Initiative zu haben – überwinden soll. Wenn die Hypothese, nach der der Einzelne eine besondere Vermittlung des Allgemeinen und des Besonderen durch seine eigenen Kräften bewirkt, richtig ist, könnte der gute Mensch nicht die wahre Vermittlung von allein zustande bringen, ohne die scheinbare Selbstständigkeit, welche der böse Mensch anstrebt, zu wiederholen. Der Mensch soll wieder eine Persönlichkeit und dementsprechend eine Vermittlung des Besonderen und des Allgemeinen sein, aber diese Vermittlung, die seine freiwillige Entscheidung benötigt, muss zugleich von einer Kraft, welche ihn übertrifft, abhängen: „..so kann das Gute nur in der vollkommenen Eintracht derselben [der Prinzipien; C. R.] bestehen, und das Band, das beide vereinigt, muss ein göttliches sein, indem sie nicht auf bedingte, sondern auf vollkommene und unbedingte Weise eins sind“.319 Das Gute hängt folglich von einer Kraft ab, die der Macht des Menschen entzogen ist, aber es setzt zugleich eine menschliche Entscheidung voraus, weil es keineswegs ein Produkt der Gnade Gottes ist. Die Frage ist nun, wie sich der Mensch spontan für das Gute entscheiden kann und zugleich diese Spontaneität, welche die intelligible Tat paradigmatisch darstellt, weit von sich entfernt halten kann. Oder zugespitzt formuliert: Wie es möglich ist, dass der Mensch die Spontaneität der Entscheidung zugleich bejahen und verneinen kann. Der Mensch, der das Gute neu wählen kann, ist schon böse. Er ist schon entschieden und, sofern seine Handlung überzeitlich ist, er will noch, was er einmal gewollt hat. Sein „Grundwollen“ ist gerade die Verharrung in seiner anfänglichen Handlung. Die Entscheidung für das Gute soll spontan sein, aber der Mensch soll derart handeln, dass die Spontaneität, in der die Wirklichkeit des Bösen besteht, verneint wird. Eine mögliche Lösung des Problems, welche die gleichzeitige Bejahung und Verneinung der Eigeninitiative des Menschen plausibel macht, besteht darin, dass die Entscheidung für das Gute eine Unterlassung ist. Eine Unterlassung ist immerhin ein Tun und ein freiwilliges Tun, aber sie beschränkt sich darauf, nicht etwas anzufangen oder aufzuhören etwas zu tun. Im Fall der Entscheidung für das Gute soll der Mensch freiwillig auf sein Grundwollen verzichten, also aufhören etwas zu tun. Die Entscheidung für das Gute ist eine spontane Selbstentmachtung des Menschen. Die Entscheidung für das Gute ist zwar eine Wiederherstellung der wahren Ordnung der Prinzipien, aber sie enthält in sich eine Phase, die jenseits dieser Ordnung ist, ja über den Geist hinausgeht, weil der Einzelne selbst eine besondere Vermittlung des Allgemeinen und des Besonderen war. Die Entscheidung für das Gute stellt nicht einfach eine Rückkehr zu der Ordnung der Prinzipien dar, welche immerhin eine Vermittlung ist, denn diese Entscheidung ist auch die Abschaffung einer früheren Vermittlung. Mit der spontanen Abschaffung des Grundwollens 319
Schelling (1856 – 1861), SW 7, 392.
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B. Das sittliche Leben
verschwindet die (unvollkommene) Identität, welche den Grund (der partikuläre Wille) und die Existenz (der allgemeine Wille) zusammenhielt. Übrig bleibt nur der spontane Vollzug, dieses Prinzipiengeflecht außer Kraft zu setzen. Aber dieses ist immerhin nichts Seiendes, denn er selbst ist nichts anderes als die Unterlassung eines Tuns. Er ist eine Form der Spontaneität, die nichts hinterlässt und nur einen leeren Platz schafft, damit ein „göttliches Band“ von dem menschlichen Geist Besitz ergreift. Dieser Vollzug ist eine Form von grundloser Selbsttätigkeit, die nichts Positives gründet, sondern eher alles sozusagen „ab-gründet“. Sofern er eine Vernichtung jeder Zweiheit ist, wiederholt er auf menschlicher Ebene die Merkmale des Ungrundes. Der Ungrund war ursprünglich die vollkommen bezuglose, „gegen alles gleiche und doch von nichts ergriffene Einheit“320 oder die absolute Indifferenz. Obwohl Schelling nach der „dialektischen Erörterung“ behauptet, dass der Ungrund sich teilt, um als solcher, also in der Form einer vereinigenden Einheit zu sein,321 soll die Erscheinung der Einheit als Einheit nicht als eine Art von teleologischer Bestimmung („damit …“322), sondern als ihre Nachwirkung in der immanenten Entfaltung der Zweiheit, also der Indifferenz als Disjunktion, interpretiert werden. Obwohl die Formulierung Schellings erlaubt zu denken, dass die Zweiheit eine Emanation der absoluten Einheit ist,323 um sich selbst zu bejahen – andere Abschnitte der Freiheitsschrift („aus dem Weder-Noch der Indifferenz bricht also die Dualität hervor“324) und der Weltalter-Skizzen325 sprechen vielmehr dafür, die Zweiheit als ein gleichursprüngliches, selbstständiges, eigentlich sich selbst erschaffendes Prinzip, das doch in sich Spuren der absoluten Einheit trägt und in dem folglich die Einheit indirekt nachwirkt zu sehen. Die Nachwirkung der absoluten Einheit in der Zweiheit ist die Tendenz zur Vereinheitlichung des Grundes und der Existenz. Diese Tendenz ist die Liebe als die vermittelnde Kraft, die selbstständige Prinzipien verbindet.326 Sofern der Geist das wichtigste Produkt der Vermittlung der Grundprinzipien innerhalb der Zweiheit ist, ist er ein „Hauch der Liebe“327. Sofern alles, was ist, eine Verbindung des Grundes und der Existenz ist, ist die Einheit in allem, was ist, indirekterweise vorhanden. Die Spuren der Einheit sind in allem, was ist, vorhanden, denn sie ist innerhalb der Zweiheit das zur Vermittlung beider Prinzipien Antreibende, aber diese Nachwirkung der Einheit ist immerhin ein Fremdkörper in der Zweiheit, weil diese auf einer inneren Unterscheidung basiert. Die Zweiheit trägt 320
Ibid. SW 7, 408. Ibid. 322 Ibid. 323 Einige Formulierungen der Stuttgarter Privatvorlesungen sprechen auch dafür: „Jede Einheit muss sich [Hervorhebung C. R.] entzweyen, um sich zu offenbaren.“ (Schelling (1973), S. 112). 324 Schelling (1856 – 1861), SW 7, 407. 325 Schelling (1966) S. 17 (WA I 30 – 31); S. 136 (WA II 53 – 54); S. 137 (WA II 55 – 56). 326 Schelling (1856 – 1861), SW 7, 408. 327 Ibid. SW 7, 406. 321
II. Die menschliche Freiheit und das Absolute
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deshalb in sich eine Kraft, die sie tatsächlich dynamisiert und produktiv macht, aber zugleich zu ihrer Abschaffung tendiert328. Die Einheit ist immerhin das absolut Einfache, das keine Unterscheidung duldet. Die Liebe als Vermittlungskraft offenbart indirekterweise die absolute Einheit und nichtsdestotrotz verbirgt sie sie. Wenn der Mensch sich für das Gute entscheidet, öffnet er sich der Liebe insofern, als er die göttliche Einheit der Prinzipien anerkennt und die Trennung der Selbstheit aufgibt. Indem die Selbstheit immerhin selbstständig sein könnte, weil sie Geist ist, handelt es sich dabei um eine Erscheinung der Liebe als Vermittlungskraft: „dies ist das Geheimnis der Liebe, dass sie solche verbindet, deren jedes für sich sein könnte und nicht ist, und nicht sein kann ohne das andere“329. Der sittlich gute Mensch befindet sich dann unter dem Einfluss der Liebe und nur dadurch, dass er diese ihn transzendierende Kraft in sich wirken lässt, wird die Bindung der Selbstheit zum Ganzen begründet. Die Religiosität ist daher eine Wirkung der Liebe. Eben deswegen ist doch diese Gebundenheit keine Erscheinung der Liebe als absolute Transzendenz. Keine Vereinheitlichung der Prinzipien leistet wirklich der absoluten Indifferenz Genüge. Die einzige Form, in der diese erscheinen kann, ist durch die spontane Vernichtung der Zweiheit und dies geschieht allein im Fall der Selbstvernichtung des Grundwollens. Die „Erfahrung der Sterblichkeit“ ist keine adäquate Erscheinung des Ungrundes, wie Ohashi meint,330 weil sie die Anerkennung der Grenzen der Selbstheit angesichts des wahren Weltganzen ist, und infolgedessen die Unterscheidung zwischen dem Grund und der Existenz voraussetzt. Sie führt außerdem keineswegs zu einer Vernichtung des Seienden, sondern zur Erhaltung der Persönlichkeit. Die Selbstvernichtung des Grundwollens stellt hingegen eine Vernichtung jeder Unterscheidung dar, die nichts hinter sich lässt, weil sie sich als eine Unterlassung vollzieht. Der Ungrund erscheint mitten im Prozess, gut zu werden, aber das Gute entspricht nicht seiner Einfachheit und Negativität. Ist der Ungrund eine Form der Freiheit, ist die Autarkie der Persönlichkeit vergleichsweise eine unvollkommene Form der Freiheit. Absolute Freiheit ist zuerst Loslassung von aller Beziehung einschließlich der Beziehung zu sich selbst. Ein Selbstverhältnis ist keine absolute Freiheit. Die absolute Freiheit ist deshalb nicht mit der Persönlichkeit kompatibel, weil diese auf ein Selbstverhältnis gründet. Jene setzt jede Form von Differenzierung außer Kraft. Hierbei geht es folglich nicht um die Denkbeziehung des Menschen zu sich selbst als Denken und Natur, welche den menschlichen Geist ausmacht, und die daraus folgenden Möglichkeiten, die Freiheit von der Natur durch das Denken des Denkens – durch die Anschauung des Ideenkosmos – und die Freiheit vom reinen göttlichen Denken durch die vergeistigte, 328 „Der von der Welt verdrängte Ungrund kehrt wieder, weil er als das Absolute gar nicht verdrängt werden kann. Das Dasein der Welt ist ipso facto die Aufhebungsbewegung der Welt. Die Welt ist nur dazu da, um aufgehoben zu werden. Aufgehoben ist sie aber erst dann, wenn das Absolute sich in der Welt darstellt. Denn als das Absolute ist es im Prozess der Welt verborgen. Die Aufhebungsbewegung der Welt nennt Schelling ,Liebe‘“. Gabriel (2006b), S. 46. 329 Schelling (1856 – 1861), SW 7, 407. 330 Ohashi, S. 251.
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eigene Natur zu erreichen. Die absolute Freiheit ist eine, die weder den Unterschied zwischen dem Denken und der Natur noch den Unterschied zwischen dem Denken und der Differenz von Denken und Natur kennt. Gründet die Freiheit des Geistes auf ein richtiges Selbstverhältnis, geht die absolute Freiheit hingegen von der Vernichtung jedes Verhältnisses, ja von der Vernichtung jedes Selbst aus, sofern dieses immer ein Verhältnis zu sich selbst impliziert. Die absolute Freiheit ist die reinste Selbstlosigkeit. Wäre der Mensch absolut frei, wäre er zuerst gegenüber allem, also auch sogar gegenüber sich selbst als Persönlichkeit, indifferent. Eigentlich kann die absolute Freiheit nicht als die absolute Freiheit erfahren werden, weil dafür ein Wissen über den eigenen Zustand, also ein Selbstverhältnis notwendig wäre. Nur unter Bedingungen, die jede Art von Reflexion ausschließen, kann sich ein Mensch in die Position des Absoluten schlechthin versetzen. Ein Mensch, der in diesen Zustand gerät, kann deshalb nicht thematisch davon wissen. Schelling hat nicht in der Freiheitsschrift, sondern in den Weltaltern diese Thematik expliziert, aber der Ungrund ist definitiv der Begriff, der ihrer späteren Entwicklung zugrunde liegt. H. Mine weist darauf hin: „In dem Ungrund als die absolute Indifferenz, wo sowohl der Partikularwille als der Universalwille ganz verschwunden sind, lässt sich das absolute Nichts, das Nichts-wollen einsehen.“331 Expliziter gesagt: „Es wird uns deutlich, dass hier Schelling den Ungrund als den lauteren, nichts wollenden Willen gedacht hat.“332 Der „Wille, der nicht will“, ist dementsprechend der Begriff, mit dem Schelling in den ersten Entwürfen der „Weltalter“ die Selbstlosigkeit des Ungrundes mit der Deutung des Seins als Wollen verbindet. Die Freiheitsschrift hatte die kognitivistische Terminologie der Identitätsphilosophie von der Perspektive einer praxeologischen Wende her umgedeutet, aber sie hatte nicht einen der neuen Begriffe, also den den Standardtexten der Identitätsphilosophie fremden Begriff der absoluten Einheit, willensmetaphysisch beschrieben. Über dieses Nichts-Wollen hat Schelling in den Weltaltern das Folgende gesagt: „Wir haben das Höchste auch schon Ausgesprochen als die reine Gleichgültigkeit (Indifferenz), die nichts und doch alles; sie ist nichts wie die reine Frohheit, die sich selbst nicht kennt, wie die gelassene Wonne, die ganz erfüllt ist von sich selber (…) und an nichts denkt, wie die stille Innigkeit, die sich ihrer selbst nicht annimmt und ihres nicht Seyns nicht gewahr wird. Sie ist die höchste Einfalt, und nicht sowohl Gott, als was in Gott selbst die Gottheit, also über Gott ist, wie auch schon einige Aeltere über eine Übergottheit geredet. Sie ist nicht die göttliche Natur und Substanz, sondern die verzehrende Schärfe der Reinheit, welcher der Mensch nur mit gleicher Lauterkeit sich zu nähern vermag.“333
Die Angleichung an das Absolute geht über Gott und dementsprechend über jede Selbstgenügsamkeit hinaus. Diese Stufe ermöglicht dem Menschen eine innere Ruhe und eine „Frohheit“, die schon in der Identitätsphilosophie notwendige Merkmale der wahren Sittlichkeit waren, aber weder die eine noch die andere können als solche 331 332 333
Mine (1983), S. 22. Ibid. S. 39. Schelling (1856 – 1861), SW 8, 236.
II. Die menschliche Freiheit und das Absolute
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genossen werden. Die reine Frohheit kennt sich selbst nicht. Die Seligkeit ist nach wie vor für Schelling Bestandteil der Sittlichkeit, aber nun reicht dafür nicht die Anschauung des Unendlichen und die Ablösung von der Selbstvergegenwärtigung des Endlichen, welche die Subjektivität ausmacht. Nun soll Gott selbst transzendiert werden. Dadurch nähert sich Schelling einer mystischen Tradition, in der wie bei Angelus Silesius oder bei Miguel de Molinos Gott noch eine Vorstufe des Absoluten ist. Der Vergleich mit Molinos ist in dieser Hinsicht interessant, weil der „desapego de Dios“, über den er in seiner „Guía espiritual“ (1675) spricht und der unter dem Einfluss von Ps. Dyonisios Aeropagita begriffen wurde,334 besagt auch, dass, um die wahre Seligkeit zu erreichen und eine Erfahrung der absoluten Einheit zu haben, der Mensch nicht nur auf die endlichen Dinge und auf seine eigene Seele sondern auf Gott selbst verzichten soll. Gott kann nicht der Endpunkt des Aufstiegs zum Einen sein, weil, wenn Gott etwas Bestimmtes z. B. das Nicht-Kreatürliche ist, er der Seele keine absolute Einheitserfahrung ermöglicht. Menschen, die an Gott denken, denken jedenfalls an etwas Definierbares und folglich Begrenzbares und sind daher nicht vollkommen selig. Die absolute Entleerung ist dementsprechend die einzige Einheitserfahrung. Unter der Voraussetzung, dass Gott eine bestimmte „Gestaltung“ hat und auf sich selbst bezogen ist, ist Schelling in den Weltaltern und in einer späteren Schrift, die sich noch an die Willensmetaphysik der Freiheitsschrift und den Weltaltern anschließt, also in den vortrefflichen „Erlanger Vorlesungen“ (1821), auch dieser Ansicht: „hier gilt es alles zu lassen, nicht bloß, wie man zu reden pflegt, Weib und Kind,335 sondern was nur Ist, selbst Gott, denn auch Gott ist auf diesem Standpunkt ein Seyendes“336. Die „Übergottheit“ ist nicht Gott.337 „Denn dieser Unterschied ist sehr wichtig. Nur derjenige ist auf den Grund seiner selbst bekommen und hat die ganze Tiefe des Lebens erkannt, der einmal alles verlassen hatte und selbst von allem verlassen war, dem alles versank.“338 Wenn die Übergottheit sich selbst nicht besitzt, benötigt die Angleichung an sie die entsprechende Selbstlosigkeit. Wenn „Gleiches von Gleichem erkannt werde“, bedarf die Erkenntnis der Übergottheit der Vernichtung jedes Selbstbezugs. Schelling nähert sich in diesem Zusammenhang auch dem Quietismus, weil die Angleichung an die Übergottheit die reinste Untätigkeit ist. Der Wille, der nicht will, ist eben der Wille vor jeder Wirkung, der Wille, der sich noch nicht offenbart hat und folglich reine Macht, „absichts- und gegenstandslose[s] Können“339 ist. Ein Mensch, der die absolute Freiheit erreicht hat, vollzieht keine Handlung und keine Absicht. „Absolute Freiheit“ – sagt richtig J. Halfwassen – „meint also keine Erfüllung einer Intention und kein Wollen, sondern umgekehrt das Freisein von aller Intentionali334 335 336 337 338 339
Ezguerra, S. 150. s. Bibel, Mt 19, 29. Schelling (1856 – 1861), SW 9, 217. Ibid. Ibid. Ibid. SW 9, 220.
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B. Das sittliche Leben
tät“340. Diese Freiheit von allen Absichten und Urteilen ist aber zugleich die Freiheit zu allem, weil sie eine Abbildung des gestaltlosen Absoluten ist, das doch alle Formen annehmen kann. Nimmt sie eine bestimmte Gestaltung an, also entsteht im Willen eine Absicht oder im Denken ein bestimmter Gedanke, handelt es sich dabei nicht mehr um die absolute Freiheit, aber, solange die Macht als die Quelle aller Absichten und Gedanken bleibt und dementsprechend wirkungslos bleibt, ist sie tatsächlich absolut: „Ein solcher Wille ist Nichts und ist Alles. Er ist nichts, in wie fern er weder selbst wirkend zu werden begehrt, noch nach irgendeiner Wirklichkeit verlangt. Er ist Alles, was doch von ihm als der ewigen Freiheit allein alle Kraft kommt, weil er alle Dinge unter sich hat, alles beherrscht und von keinem beherrscht wird.“341 Wenn Wollen Ursein ist, ist der reine Wille nichts Seiendes, weil er noch nicht etwas gewollt hat. Er ist die Potenz oder die Macht etwas zu wollen, das daher, sofern das Sein Bestimmtheit ist, dem Nichts ähnlich ist. „Die eigentliche Freiheit des Menschen“ – sagt H. Mine – „ist die Freiheit zum Ungrund“342. Die absolute Freiheit ist daher Abgeschiedenheit und, da der Ungrund jeder Tätigkeit vorausgeht, Unbeweglichkeit. Mine sagt aber, Schelling könne nicht mit der Position des Quietismus identifiziert werden, weil der Wille immerhin produktiv343 und, von der menschlichen Perspektive her, das Resultat und nicht der Anfang einer Bewegung sei: „Die ewige Freiheit ist eigentlich das ,Sein selbst‘, das schon von sich abgeschieden ist und sich eben in seiner Bewegung als das Ruhende, Abgeschiedene zeigt. Die ewige Freiheit ist keine von der Bewegung getrennte Ruhe, sondern die Ruhe der Bewegung selbst.“344 Die Bemerkung ist richtig, indem der Ungrund für das sich selbst durch die Philosophie erkennende, menschliche Bewusstsein, der Endpunkt eines Prozesses ist. Der Ungrund ist, ontologisch gesehen, das Ursprünglichste, aber in der Ordnung der Erkenntnis, sofern diese vom Prinzipiat zum Urprinzip zurückkehrt, ist er das Letzte. Die Bemerkung Mines ist jedoch nicht wirklich treffend, weil der Wille, der nichts will, jedenfalls ein Bewusstseinszustand ist, der nur eine vollkommene Frohheit verspricht, sofern der Mensch in der reinen Bestimmbarkeit bleibt. Aus dem Aktivwerden des Willens kann in der Tat alles resultieren, aber, wenn es vorkommt, verliert der Mensch die mit der Untätigkeit verbundene „gelassene Wonne“. Die ekstatische Freiheit ist die gelassene Permanenz der Selbstvergessenheit. Ist die sittliche Dimension der Identitätsphilosophie darauf gerichtet, dem Menschen durch die Spekulation die Chance zu geben, eine nicht steigerbare Ruhe, eine innere Harmonie und ein unerschütterliches Vollständigkeitsgefühl zu genießen, ist die ekstatische Freiheit der Weltalter der Versuch Schellings, die Auffassung der Sittlichkeit der Identitätsphilosophie unter den Bedingungen der absoluten Transzendenz und folglich der Idee einer Einheit, die sich 340 341 342 343 344
Halfwassen (2003), S. 185. Schelling (1966), S. 12 (WA I, 27 – 28). Mine, S. 47. Ibid. S. 39. Ibid. S. 51.
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jenseits jedes Selbstverhältnisses befindet, fortzusetzen. Die frühen WeltalterSkizzen beziehen auch andere Begriffe der menschlichen Freiheit, die jedenfalls von der Freiheitsschrift herkommen, ein, aber sie identifizieren die untätige Selbstlosigkeit des Willens, der nicht will, mit der höchsten menschlichen Freiheit. In der Freiheitsschrift gibt es hingegen keinen Bewusstseinszustand, der dem Ungrund entspricht. „Denn da die Unfreiheit“ – sagt Mine – „darin besteht, dass der Mensch durch das Festhalten an seiner Selbstheit den Ungrund verbirgt und davor flieht, kann die Entschlossenheit zur Freiheit erst dadurch verwirklicht werden, dass er sich den Ungrund der Freiheit als solchen bewusst macht.“345 Die Bewusstwerdung des Ungrundes vollzieht sich im Fall der Unterlassung des Grundwollens. Sie wird doch schnell von der Schau des Ideenkosmos verdrängt. Die Unterlassung des Grundwollens, also eine ereignishafte Untätigkeit, ist nur eine vorübergehende Phase der Entscheidung für das Gute. Trotzdem ist das Gute nicht das Beste, was dem Menschen vorkommen kann. Die bewusste Abbildung der Rückkehr des Ungrundes oder der reinen Liebe, also die Vernichtung jeder inneren Dualität, wäre zwar die radikalste Form der menschlichen Freiheit, aber sie kann nicht angestrebt oder gehofft werden. Sie gehört eigentlich nicht zum sittlichen Leben. Quae supra nos, nihil ad nos. Schellings Motto lautet: Gut ist, die Schöpfung in Ordnung zu bringen, aber besser wäre, sie zu widerrufen. Das Beste entzieht sich aber jeder Tätigkeit, jeder Hoffnung, ja der Vernunft selbst. Die Möglichkeit, mit dem Ungrund eins zu sein, also sich mit ihm zu verschmelzen, ist ausgeschlossen.346 Die mit der Vernichtung der Welt, also mit dem „Geflecht aller Bezüge“347 oder dem „Bestimmungsganzen“348 zusammenhängende Erscheinung der reinsten Liebe ist ein Grenzbegriff, um alle Formen der Sittlichkeit und alle Vorstellungen des sittlich Guten im Namen der absoluten Transzendenz seines definitiven Charakters zu berauben. Der Ungrund operiert in der Freiheitsschrift als ein Hinweis darauf, dass kein philosophisches Programm, einschließlich des der Freiheitsschrift selbst, die absolute Erlösung versprechen kann. In diesem Sinne ist das Übergute, das „Wohltun“, das über die Selbstentfaltung des Geistes hinausgeht, mehr der Grund eines Vorbehaltes gegenüber der Möglichkeit, in der Welt die absolute Erlösung zu erreichen, als ein Bestandteil des sittlichen Lebens.
345
Ibid. S. 47. In diesem Sinne sagt Gabriel das Folgende: „Das Unsagbare gehört zum Startpotential der Metaphysik und ist nicht das glorreiche Resultat eines Aufstiegs zum Guten. Daher ist es auch nicht die Idee des Guten oder das Gute selbst, sondern geht dem Guten (wie dem Bösen) vorher.“ Gabriel (2006b), S. 52. 347 Ibid. S. 34. 348 Ibid. S. 37. 346
C. Die politische Dimension der Freiheitsschrift I. Ist Schelling ein politischer Denker? Über Schelling als politischen Philosophen zu sprechen scheint auf den ersten Blick aussichtslos zu sein. Sogar diejenigen, die seine Überlegungen zum Politischen untersucht haben, verbreiten die Ansicht, derzufolge Schelling in dieser Hinsicht nicht viel anzubieten hat: „Schelling ist kein politischer Denker“1 (Habermas);„Am allerwenigsten hat Schelling eine spezifische Rechtslehre entwickelt“2 (Hollerbach), „Es gibt bei Schelling keine systematische politische Theorie“3 (Knatz); „Schelling hat keine Rechts- und Staatslehre verfasst“4 (Sandkühler). „Schelling ist nie der große Staatstheoretiker gewesen wie z. B. Fichte und Hegel“5 (Jäger). „Aus seiner Feder ist kein Werk geflossen, das mit dem berühmten politischen Werken Fichtes oder Hegels verglichen werden könnte“6 (Cesa). Obgleich in seinem Werk vom Anfang bis zum Ende der Staat ein Reflexionsthema ist, sind seine Ideen darüber nicht nur im Vergleich zu Denkern wie Machiavelli oder Hobbes, für die die politischen Fragen vorwiegend sind, sondern mit anderen Denkern des deutschen Idealismus eher fragmentarisch und nebensächlich. Was Schelling über die Begründung des Rechtes oder die beste Regierungsform zu sagen hat, scheint in der Tat hinsichtlich der ästhetischen, naturphilosophischen und insbesondere ontotheologischen Fragen eine Nebenrolle zu spielen. Und es liegt aber nicht daran, dass sein Hauptinteresse die Metaphysik ist. Anders als z. B. bei dem großen Metaphysiker Hegel führen die rechtlichen und politischen Probleme bei ihm nicht zu einer durchreflektierten Theorie im Rahmen der „Realphilosophie“. Es ist daher nicht zufällig, dass es in seinem Gesamtwerk nur eine einzige Schrift gibt, die sich ausschließlich mit Problemen der Staats- und Rechtsphilosophie beschäftigt: die kurze „Neue Deduktion des Naturrechts“ vom Jahr 1796. Alles andere, was die politische Philosophie betrifft, tritt entweder als Anmerkung in den Reden, Briefen und Tagebüchern oder als ein Moment der verschiedenen Systementwürfe auf, das jedoch den Status von einem bloß skizzenhaften Übergangsmoment der Entfaltung des Absoluten nicht überwindet. Schelling geht zwar in dieser Hinsicht die politischen Probleme an und er arbeitet auch im Laufe seiner langen philosophischen Karriere 1 2 3 4 5 6
Habermas (1969), S. 108. Hollerbach, S. 258. Knatz (1999), S. 95. Sandkühler (1968). Jäger, S. 96. Cesa (1986), S. 226.
I. Ist Schelling ein politischer Denker?
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klar differenzierbare Staatskonzeptionen7 aus, aber er beschäftigt sich damit aus der Perspektive des Systemkonstruktors, der die Gesamtheit der für das bewusste Leben des Menschen relevanten Phänomene begründen und folglich auch dem Staat Raum geben muss. Statt einer relativ eigenständigen politischen Philosophie findet man bei Schelling deshalb eher einen etwas übereilten Übergang durch die politischen Fragen, der den Eindruck erweckt, hauptsächlich von den Anforderungen des Systemdenkens motiviert zu sein. Abgesehen davon, dass die Argumente gegen die Möglichkeit einer Ethik auch gegen eine selbstständige „politische Philosophie“ gelten und folglich das Politische nur als eine besondere Gestaltung des Seins philosophisch relevant ist, kann man andere Gründe dafür erwähnen, warum Schelling keine durchgedachte politische 7
Habermas unterscheidet bei Schelling drei Staatsauffassungen, die mit der Früh-, der Mittel- und der Spätphilosophie zusammenfallen. An erster Stelle befindet sich die republikanische Ordnung des „Systems des transzendentalen Idealismus“, wobei Schelling sich wegen seiner Vorstellung des Staates als eines Zwangsmechanismus, um die Freiheit des Einzelnen zu schützen, als auch wegen der Idee einer Staatenföderation im Großen und Ganzen an die politische Philosophie Kants anschließt. An zweiter Stelle erwähnt Habermas die Staatsauffassung der „Stuttgarter Privatvorlesungen“, in denen der Staat ein „Fluch“ ist, die der Mensch nach seinem „Abfall“ getroffen hat. Habermas zufolge handelt es sich dabei um eine anarchistische Phase des politischen Denkens Schellings. An dritter Stelle tritt der Monarchismus der „Einleitung in die Philosophie der Mythologie“ auf. Die politische Ordnung ist hierbei auch eine Folge des Abfalls, aber er ist auch eine Form der Vernunft in der Geschichte, die mit den faktischen Mächten und insbesondere mit der preußischen Monarchie und mit der Standesordnung übereinstimmt (Habermas (1969), S. 108 – 113). Hollerbach unterscheidet den Staat als Mechanismus, Organismus und als vorläufige Ordnung angesichts des Reichs Gottes. Dem Mechanismus entspricht ein Rechts-, die Freiheit des Einzelnen sichernden Staates, dessen Grundzüge trotz der Ablehnung der Vertragstheorie dem politischen Liberalismus angehören. Die organische Auffassung des Staates, die Schelling seit den „Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums“ (1802 – 1803) verteidigt, begreift nicht die Freiheit des Einzelnen als Selbstzweck und die politischen Institutionen als ein Mittel. Es bedeutet nicht, dass der Einzelne hierbei seine Freiheit zugunsten des Ganzen aufgeben muss, aber das Leben des Individuums nimmt hierbei an einer kollektiven Ordnung teil, also an einem Recht, Religion und Kunst integrierenden „Kulturstaat“, der Selbstzweck ist. Die letzte Phase des politischen Denkens Schelling hat ihre Grundlage in „Philosophie und Religion“ (1804), aber sie kristallisiert sich nur in den „Stuttgarter Privatvorlesungen“ heraus und erreicht ihren klarsten Ausdruck in der „Philosophischen Einleitung in die Philosophie der Mythologie“. Hierbei ist der Staat weder Mechanismus noch Organismus, sondern einfach eine der Macht des Menschen entzogene intelligible Ordnung, die mit dem Abfall des Menschen von Gott zusammenfällt, als eine äußere Macht in die faktische Existenz der Individuen eingreift und jedoch nur eine vorläufige Notordnung innerhalb einer Heilsgeschichte ist. Sofern der Staat aber nicht Selbstzweck ist und die sittliche Freiheit bzw. die Freiheit für Gott ermöglicht, handelt es sich dabei laut Hollerbach um einen religiösen Liberalismus. Sandkühler differenziert auch die Staatsbegriffe Schellings. Nach seiner Meinung kann man vier große Perioden unterscheiden: den Anarchismus der früheren Vernunftrechtslehre, den Organizismus der stark ästhetisierten und naturalisierten Staatslehre der Identitätsphilosophie, den Traditionalismus, der sich aus der Vernunftkritik der Freiheitsschrift ergibt, und die „Stabilisationstheorie“ der positiven Philosophie (Sandkühler (1968), S. 238). Trotz dieser Differenzierung ist Sandkühler der Ansicht, dass es möglich ist, eine einheitliche Einstellung Schellings zum Politischen zu identifizieren. Im Folgenden wird sie diskutiert.
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C. Die politische Dimension der Freiheitsschrift
Philosophie hat. L. Knast bemerkt in diesem Sinne zu Recht, dass dem Staat bei Schelling der Zwangscharakter anhaftet. Sofern das letzte Ziel seiner Philosophie die Freiheit ist, konnte der Staat folglich nicht als ein zentraler Gegenstand derselben betrachtet werden: „Der Staat kommt nicht über den Status der Notwendigkeit hinaus, er ist immer Mittel zur Organisierung geistigen Zieles, der Idee der Freiheit, und dieser ist der Gegenstand philosophischer Theorie, nicht der Staat“.8 Nur auf die gesamte Natur, die Kunst oder Gott konzentriert sich die Aufmerksamkeit Schellings, weil sie Formen der Freiheit sind, die ihre Selbstständigkeit adäquat darstellen oder, wie es bezüglich Gott der Fall ist, mit der absoluten Freiheit zusammenfallen. Der Staat kann dementsprechend nur als eine Übergangsphase des menschlichen Bewusstseins gelten. Andere Erklärungen berücksichtigen nicht nur innertheoretische Gründe der relativen Enthaltsamkeit Schellings gegenüber der politischen Philosophie, sondern auch die Sozialgeschichte, genauer gesagt, die geschichtlichen Bedingungen der Theoriebildung und die intendierte Wirkung der Philosophie Schellings auf ihre Zeitgenossen. Sandkühler folgt dieser Strategie und weist dann darauf hin, dass Schelling keine politische Philosophie haben konnte, weil sein Denken eigentlich gegen das Politische gerichtet war. Sandkühler interpretiert das Denken Schellings dementsprechend im geschichtlichen Rahmen der Revolutionen, die Europa 1789, 1830 und 1848 erschütterten, und schreibt ihm die Funktion zu, einen unpolitischen bzw. antirevolutionären Gebrauch der Vernunft zu fördern und zu begründen, der gegen die Säkularisierung, gegen die politisch emanzipatorischen Ziele der Aufklärung und gegen die darauf gegründeten sozialen Konflikte gerichtet war. Hauptmittel dafür war eine Umdeutung des Begriffs Freiheit. Das Denken Schellings zielte von dieser Perspektive aus auf eine Entpolitisierung der Gesellschaft durch seine Ästhetisierung, seine Naturalisierung, seine Theologisierung und zuletzt seine Eschatologisierung. Unter der Voraussetzung, dass dem Freiheitsbegriff seit Kant und in dem deutschen Idealismus, sofern dieser nicht von der Romantik beeinflusst wurde, eine gesellschaftskritische Dimension und eine Orientierung auf die Praxis innewohnte, stellen für Sandkühler die verschiedenen Umdeutungen der Freiheit bei Schelling verschiedene Verdrängungen seiner politischen Bedeutung dar. Die Freiheit verwandelt sich daher bei Schelling in eine rein metaphysische Kategorie: „Freilich galt auch Schelling Freiheit als Zentralproblem der Philosophie, aber nicht mehr, wie sie Ort der Vernunftwirklichkeit in der Subjektivität war, sondern vielmehr zum Prinzip der Objektivität des Absoluten erhoben werden sollte“.9 „Praktische Philosophie“ – sagt Sandkühler – „geriert sich als Metaphysik, als Handlungstheorie des Absoluten“.10 Den Umdeutungen der Selbstständigkeitsansprüche der praktischen Vernunft bei Schelling ist es jedoch gemeinsam, die kritische Dimension der Letzteren und ihr Ziel, also die Überwindung jeder Entfremdung, aufzunehmen, aber das Bewusstsein des Einzelnen als 8
Knatz (1999), S. 150. Sandkühler (1968), S. 145. 10 Ibid. S. 148. 9
I. Ist Schelling ein politischer Denker?
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einziges Medium ihrer Verwirklichung anzusehen: „So ist Freiheit endlich reduziert auf ein Phänomen des Bewusstseins“.11 Schelling bewahrte die philosophische Zentralität der Freiheit, aber er entpolitisierte sie, indem sie bei ihm nur in der Form der reinen Theorie, der ästhetischen Erfahrung oder des Glaubens erfahren werden konnte. Unter der marxistischen Voraussetzung, derzufolge die Kritik und Veränderung des Bewusstseins konservativ ist, weil, sofern das Bewusstsein des Menschen von materiellen Bedingungen abhängt, nur die kollektive Transformation der materiellen Basis der Gesellschaft eine wirkliche Veränderung ist, ist das Denken Schellings laut Sandkühler notwendigerweise konservativ. Es berührt nicht die „objektive Wirklichkeit“,12 weil die Versöhnung bei Schelling nur in der Form des ästhetischen Scheins, der Betrachtung der Natur oder der Hingabe an Gott möglich war. Statt des politischen Engagements und der kollektiven, selbstbestimmten Praxis bot Schelling eine innere Versöhnung an, die die soziale Wirklichkeit unberührt ließ und – dem Aristokratismus der Romantik gemäß – nur für eine geistige Elite reserviert war.13 Schellings Denken ist auf diese Weise von der politischen Philosophie weit entfernt, weil er die politische Antwort auf die Widersprüche seiner Zeit und auf das entsprechende Entfremdungsgefühl systematisch ablehnte und stattdessen eine Selbstversöhnung des Individuums, die nur seine Innerlichkeit betrifft und keine Handlung auf die äußere Wirklichkeit implizierte, bevorzugte. Dies ist seine Antwort auf die politisierte revolutionäre Stimmung Europas zwischen der Französischen Revolution und dem Vormärz. Eine solide Staatstheorie war in dieser Hinsicht überflüssig oder sogar kontraproduktiv, denn es ging Schelling gerade darum, die Politisierung der Menschen zu besänftigen. Die Freiheitsschrift hat in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle: „Das Böse, dem er [Schelling. C.R.] Freiheit als ausführendes Organ zugeordnet hat, ist ohne jeden Sozialbezug, Kategorie weder der Legalität noch der Moralität. Die These, Schellings Freiheitsschrift sei – als Geschichtsmetaphysik – real an Freiheit interessiert, schließt die Weiterung nicht aus, dass sie Freiheit prinzipiell alternativ zu moralischer Beliebigkeit und zur Verfügbarkeit über politische Mittel zu menschlichen Zwecken versteht. Geschichtliche Freiheit der Person, Freiheit zu Entscheidungen nach Maßgabe individueller und gesellschaftlicher Rationalität ist ihr irrelevant“.14 „Freiheit“ – fügt folglich Sandkühler hinzu – „ist in dieser Geschichtstheorie [die Eschatologie der Freiheitsschrift; C.R.] bar aller politischen Relevanz“.15 Die Entpolitisierung des Begriffes Freiheit erreicht hierbei eine neue Stufe, weil das Politische laut Sandkühler die Institutionalisierung der individuellen und kollektiven Selbstbestimmung16 innerhalb von einem konfliktbeladenen, nicht herrschaftsfrei11 12 13 14 15 16
Ibid. S. 169. Ibid. S. 73. Ibid. S. 154 – 155. Ibid. S. 199. Ibid. S. 197. Ibid. S. 151.
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en,17 holistischen Sozialraum18 vermittelst einer Zweck-Mittel-Rationalität19 betrifft. Im Gegensatz dazu begreift Schelling die Suche des Menschen nach vollständiger, von Gott unabhängiger Selbstbestimmung als eine Erscheinung seines Abfalls, setzt die menschliche Freiheit von Gesellschaft und Staat ab und verwandelt das Absolute in den einzigen Akteur der Geschichte. Diese Orientierung des Denkens Schellings, die in der Seinsgeschichte der Spätphilosophie gipfelt, stellt jedoch für Sandkühler nicht nur eine christlich-romantische Verformung des Geistes des deutschen Idealismus dar, die zu einer unpolitischen Haltung verkommt. Es geht dabei nicht nur darum, dass der Mensch nur durch eine Wiederherstellung seiner Beziehung auf Gott frei ist. Der Freiheitsschrift liegt vielmehr eine Vorstellung der Philosophie als Antipolitik zugrunde, weil die emanzipatorische politische Tätigkeit zuerst mit einem unvollständigen Selbstverständnis des Menschen und letztendlich mit dem Bösen selbst identifiziert wird. „Es ist eine eigentümliche Ambivalenz in Schellings Sündenfall-Theorie: sie weiß, dass ,der Abfall das Mittel der vollendeten Offenbarung Gottes ist‘ aber sie lastet diese Seinsnotwendigkeit dem Seienden, manifest im Politischen, als straffähige Erhebung gegen Gott an. Das Politische fungiert als ein Symptom der Negationsrolle des Menschlichen in der Dialektik des Absoluten“.20 Es kommt hinzu, dass Schelling in der Freiheitsschrift eine Philosophie der Geschichte entwirft, in der jede Initiative nicht von dem Menschen, sondern vom Sein abhängt. Die Geschichte ist daher ein anonymer Prozess, weil es kein menschliches Subjekt gibt, das seine Entwicklung und Richtung lenken kann: „Metaphysik ist Form und Ursache der neuen Freiheitskonzeption, welche die Spontaneität menschlicher Praxis ausschließt“.21 Der Mensch nimmt zwar passiv an diesem Prozess teil, aber nur deswegen, weil er als Sünder und folglich als politischer Akteur seine Schuld abbüßen soll. Zwanzig Jahre später nach seiner Dissertation über Schelling und trotz der Mäßigung einiger Thesen fasst Sandkühler diese Idee zusammen: „Schelling war in der Bedeutung ein politischer Philosoph, dass er das Politische einbezog, um es aufzuheben in der Idee einer sich selbst organisierenden Geschichte des Absoluten, die ,sich‘ vollzieht, die aber politisch nur um den Preis des Bruchs mit dem Sein, des Sündenfalls gegenüber Gott gemacht werden kann“.22 Die Erkenntnis des Absoluten fällt mithin mit der Überwindung des politischen Pathos zusammen: „Das Politische überholen zu wollen und die verlorene Einheit zu suchen, ist eins. Schelling hat sie gefunden. Er überholt die Zerfallenheit von Gott und Mensch in der Restitution des Absoluten – zumindest in der Theorie. Identitäts- und positive Philosophie zielen auf die Wiederherstellung der verlorenen Einheit und beschließen zu diesem Zwecke den Rückzug von der durch menschliche Praxis diskreditierten Realität“.23 Schelling 17 18 19 20 21 22 23
Ibid. S. 149. Ibid. S. 13. Ibid. S. 213. Ibid. S. 33. Ibid. S. 181. Sandkühler (1990), S. XXXIV. Sandkühler (1968), S. 33.
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sollte folglich nicht nur das Politische an den Rand der Interessen der Philosophie schieben, sondern das Politische in die Theorie einbeziehen, um es nicht nur als eine niedere Bewusstseinsform herabzusetzen, sondern um es theoretisch zu überwinden. Laut Sandkühler besteht die Praxis bei Schelling paradoxerweise darin, in der Theorie, also nur im Rahmen des Denkens und der Innerlichkeit, die (wahre) Praxis zu überwinden. Die Freiheitsschrift skizziert laut Sandkühler die Form der Entpolitisierung der Freiheit, die in der Spätphilosophie zur Vollendung kommt. Ihre indirekte Folge im Bereich der politischen Philosophie und insbesondere der Rechtsphilosophie war die Ablehnung jeder Begründung des Rechtes, die auf die Volkssouveränität und auf die Autonomie der menschlichen Vernunft zurückgreift. Dabei könnte man nur eine Äußerung des Bösen sehen. Die historische Rechtsschule (F. K. von Savigny) und eine monarchisch-theokratische Staatslehre (F. J. Stahl) können in dieser Hinsicht als Folgen des Denkens Schellings im Bereich der Rechtsphilosophie gelten. Der direkte Beitrag der Freiheitsschrift zur Restauration liegt aber für Sandkühler in einer Umdeutung des Begriffes Freiheit und in einer Auffassung der Philosophie, die versucht, die Verfolgung politischer Ziele der Möglichkeit eines gelungen Lebens entgegenzusetzen: „Mit der Behauptung der Entzweiung von Absolutem und Menschenwelt durch die Freiheit können wesentliche Zwecke gesellschaftlich-politisch nicht mehr verwirklicht werden. Das Individuum ist der Versöhnung nahe, jedoch nur unmittelbar zu Gott und jenseits vom öffentlichen Leben.“24 Die persönliche Hingabe an Gott und nicht an Ideen wie „Republikanismus“ oder „Sozialismus“ ist das Einzige, das die Menschen frei macht. Habermas stimmt daher mit Sandkühler darin überein, bei Schelling eine Hypertrophie der „Theorie“ zu finden, die sich als eine Verschiebung der vita activa zeigt: „Nicht durch politische Praxis soll die Umkehrung einer verkehrten Welt [verwirklicht werden. C.R], sondern durch Kontemplation“.25 In diesem Sinne bereitet die Spätphilosophie Schellings laut Habermas die „existentialistische Überwindung des Idealismus“ vor, die Kierkegaard und zuletzt Heidegger vollzogen. Es geht dabei um „die Vereinbarung der ontologischen Fragestellung mit dem praktischen Bedürfnis einer Wendung des korrumpierten Weltalters“.26 Das Resultat davon ist eine theoretische Versöhnung der Innerlichkeit und der Welt, in der „sich Vernunft durch ein Vernommenes, Denken durch ein ihm Zugedachtes, sei es kerygmatisch, sei es mythopoetisch oder wenigstens topologisch (…) vermitteln lässt. Theorie und Praxis kommen in einem kontemplativen Exertitium überein“.27 Obwohl Habermas eine Deutung der Metaphysik des mittleren Schellings hat, deren politische Folgen nicht dieselben sind, die Sandkühler zieht, beide werfen Schelling vor, die Praxis in ein Moment der Theorie zu verwandeln und folglich die Notwendigkeit der politischen Praxis zu neutralisieren. Darin liegt für diese zwei vom Marxismus beeinflussten In24 25 26 27
Ibid. S. 243. Habermas (1969), S. 151 – 152. Ibid. S. 149. Ibid. S. 149.
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terpretationen Schellings der tiefste Grund dafür, dass Schelling eigentlich kein politischer Denker ist. Die Interpretation Sandkühlers ist in vielen Hinsichten kritisierbar28. Trotzdem stellt sie eine Herausforderung für denjenigen dar, der die Zentralität des Politischen in der Freiheitsschrift betonen möchte, weil sie einerseits besagt, dass die Freiheitsschrift ausschließlich auf die persönliche Beziehung jedes Menschen zu Gott und nicht auf die zwischenmenschlichen Beziehungen achtet, wenn es darum geht, ein gutes Leben zu führen. Wenn die Freiheitsschrift andererseits die Verfolgung politisch-parteiischer Zwecke und den Glauben an Weltanschauungen mit dem Bösen verbindet, scheint es schwierig ihre politische Dimension stark zu machen. Wenn der Gegenstand des politischen Denkens gerade die Beziehungen zwischen den Menschen als Repräsentanten verschiedener Interessen, Ideologien oder Werten ist, scheint in der Tat die Freiheitsschrift eine Form von Antipolitik zu verkörpern. Von diesem Gesichtspunkt aus könnte man sowohl ihre Suche eines durch die Theorie veränderten Selbstverständnisses jedes Menschen als auch ihre Ablehnung konkreter politischer Ziele als Momente einer intellektualistischen, weltflüchtigen Ethik verstehen, die das Politische grundsätzlich verachtet. Trotzdem kann man zeigen, dass die Freiheitsschrift eine politische Philosophie enthält, und zwar in einem sehr empathischen Sinne, weil sie u.a darauf zielt, das harmonische Zusammenleben verschiedener, ja aller Menschen zu ermöglichen: „Der Mensch ist nicht 28 Die Interpretation Sandkühlers kennt keine Distanz zwischen der Philosophie und der Sozialgeschichte und sie übersieht folglich das doppelte Leben der philosophischen Begriffe. Sie beruht auf einer künstlichen und ideengeschichtlich nicht beweisbaren Entgegensetzung zwischen dem Denken Schellings und den anderen idealistischen Denkern, was die politische Bedeutung des Vernunftbegriffes betrifft. Sie identifiziert häufig die Person F.W.J. Schellings mit der Philosophie Schellings und aus dem Interesse oder der Interesselosigkeit der Ersten an der politischen Aktivität schließt sie die politische Bedeutung des Zweiten (Gabriel (2006), S. 30). Sie identifiziert die Metaphysik mit einer Art dogmatischer Theologie und verkennt die Zugehörigkeit Kants zur Geschichte der Metaphysik. Sie identifiziert die Metaphysik überhaupt mit einem unpolitischen, ja konservativen Denken, was ideengeschichtlich, in Hinblick auf ihre Anfänge und insbesondere auf die platonische Metaphysik definitiv nicht stimmt. (Ibid. S. 30). Sie forciert die Harmonie und den Zusammenhang zwischen dem Denken Schellings und den konservativen Rechtslehren, ohne auch die Äußerungen von gegenseitiger Distanzierung (Hollerbach, S. 336 – 337) und die vom Einfluss Schellings z. T. unabhängige Entwicklung dieser Lehren zu betrachten. Sie sieht das Verhältnis zwischen der Freiheit Gottes und der menschlichen Freiheit als ein Nullsummenspiel an, was sich nicht bei Schelling beweisen lässt. Sie setzt eine ontologische Kluft zwischen Bewusstsein und „objektiver Wirklichkeit“ voraus, die im Laufe des Textes niemals begründet wird und deren Folge ein verkürzter, von der aristotelischen Auffassung entfernter Begriff der Praxis als Eingriff in die äußere Welt ist. Es mangelt ihr an einem differenzierten Bewusstseinsbegriff, um den Transformationscharakter des Glaubens oder der ästhetischen Erfahrung identifizieren zu können und um statt des starren Entweder – Oder zwischen Konservatismus und Veränderung der äußeren Wirklichkeit verschiedene Transformationsnuancen und Transformationsebenen zu berücksichtigen. Sandkühler selbst hat aus einigen von diesen Gründen den Kern seiner eigenen Interpretation Schellings in Frage gestellt: „Lange Zeit habe ich die These vertreten, Schelling sei ein Repräsentant von Anti-Politik. Ich zweifele heute an der Berechtigung zu dieser Annahme“. Sandkühler (2001), S. 185.
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allein in der Welt, es gibt eine Mehrheit von Menschen, es gibt ein Menschengeschlecht, eine Menschheit. Wie die Vielheit der Dinge in der Natur nach einer Einheit strebt und nur in dieser Einheit sich selbst vollendet und gleichsam glücklich fühlt, ebenso auch die Vielheit in der Menschenwelt“29. Wenn das politische Grundproblem, wie R. Bubner sagt, ist, „wie aus der Vielheit einzelner Handelnder eine geordnete Einheit entsteht“,30 kann man sagen, dass Schelling darauf eingeht, aber seine Lösung des Problems an die Veränderung des Selbstverständnisses jedes Menschen gekoppelt ist. Die Harmonie der zwischenmenschlichen Beziehungen hängt von der Harmonie jedes Menschen mit sich selbst ab. Die Metaphysik ist unmittelbar politische Philosophie, sofern sie anstrebt, mehrere Individuen dazu zu bewegen, sich selbst anders zu verstehen und dementsprechend die auf einem falschen Selbstverständnis beruhenden, tiefsten Quellen der sich gewaltsam zeigenden Uneinheitlichkeit zu neutralisieren. Die Interpretation Sandkühlers, der zufolge Schellings Denken gegen das Politische überhaupt gerichtet ist, ist nicht deswegen unhaltbar, weil sie behauptet, das Problem der Intersubjektivität bei Schelling spiele eine Nebenrolle und die verschiedenen, (im engeren Sinne) politischen Weltanschauungen der Aufklärung seien bei ihm mit dem Bösen eins. Sie ist unhaltbar wegen ihrer Identifizierung des politischen Denkens überhaupt mit der Reflexion über die kollektive Selbstbestimmung und über die Staatsordnung. Schelling ist in der Freiheitsschrift ein politischer Denker, aber in dem Sinne, in dem die Metaphysik es ermöglicht, also durch den Entwurf einer stark symbolischen Weltdeutung, die, falls sie von den einzelnen Mitgliedern einer Menschenmenge übernommen wird, die Quellen ihrer Konflikte deaktiviert und sie zu einer geordneten Einheit führt. Schelling hat keine völlig ausgearbeitete politische Philosophie im Sinne einer Staatstheorie, weil einerseits die Metaphysik und nicht die Staatstheorie dasjenige ist, was das Grundproblem des Politischen lösen kann, und weil andererseits das Politische in den Zeiten der Verfassung der Freiheitsschrift überstaatlich geworden war. Ein wohlgeordneter Staat ist unter diesen Bedingungen eine Nebenwirkung. Schellings Philosophie ist durchaus eine politische Philosophie, also ein Denken, das politische Absichten hat, obgleich ihre Behauptungen über das Politische fragmentarisch sind und keine selbstständige philosophische Disziplin anerkennt, die sich ausschließlich damit beschäftigt. Die Metaphysik, die eine durch eine religiöse Symbolik verallgemeinerbare Bewusstseinsveränderung anstrebt, ist jeder Staatstheorie politisch überlegen, weil nur durch diese Bewusstseinsveränderung die Einheit der Menschen möglich ist. Die Staatstheorie, die immerhin von der Einheitssuche motiviert wird, kann hingegen keine wahre Lösung der politischen Konflikte anbieten, weil sie auf das äußere Verhalten des Menschen bezogen ist, die tiefsten Gründe des Konflikts zwischen den Menschen verkennt und nicht universalistisch genug ist. Die Philosophie Schellings befasst sich nicht intensiv mit der Staatstheorie gerade deswegen, weil sie sich der Grenzen jeder Staatstheorie, das 29 30
Schelling (1856 – 1861), SW 7, 460. Bubner (2000), S. 71.
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politische Grundproblem zu lösen, bewusst ist und nicht weil sie unpolitisch ist. Der Fehler fast aller Interpreten der politischen Dimension des Denkens Schellings liegt in einem Vorverständnis des Sinnes des Politischen, das die politische Bedeutung der Metaphysik verkennt und mithin nicht in der Lage ist, das Schelling’sche Verständnis des Politischen richtig zu identifizieren. Die politischen Institutionen und die Institutionen überhaupt sind aus der Sicht Schellings sekundär, wenn es darum geht, das harmonische Zusammenleben der Menschen zu ermöglichen. Nichtsdestotrotz ist das Problem des bestmöglichen Zusammenlebens verschiedener Menschen das Problem des politischen Denkens. Schelling ist ein politischer Denker, weil er eine Überwindung sozialer Konflikte anstrebt, die tiefer als jeder staatlichen oder rechtlichen Lösung geht. Ohne diese Konflikte – wie man im folgenden Abschnitt zeigen wird – sind seine Metaphysik und sein Begriff des Bösen unverständlich. Die Freiheitsschrift, die aufgrund des politisch-gesellschaftlichen Hintergrunds des Begriffs des Bösen und ihre soteriologischen Ansprüche keineswegs als unpolitisch betrachtet werden kann, ist das beste Beispiel dafür. A. Schneider hat die Sachlage treffend zusammengefasst: „Antipolitisch ist Schelling demzufolge darin, dass er nicht meint – anders als vorherrschende Strömungen des Jahrhunderts –, die entfremdeten Verhältnisse ließen sich durch politisch-gesellschaftlichen Aktivismus beheben. Gleichwohl versteht sich, dass in einer geschichtlichen Konstellation, in welcher die politischen Maßstäbe alles andere weitgehend dominieren, auch die ,Antipolitik‘ selbst politisch wird. Das gilt für Schelling und es gilt für die Theisten.“31 Schelling zielt auf eine tiefe gesellschaftliche Veränderung ab, die jedoch die Institutionen und die zwischenmenschlichen Beziehungen als nebensächlich betrachtet, indem die Wurzel der gewaltsamen Konflikte in einer mangelnden Selbsterkenntnis und einer verkehrten Beziehung zu Gott liegt. Auf diese Weise knüpft Schelling an die Einstellung Platons an, derzufolge die gesellschaftliche Ordnung von der inneren Ordnung der Seele abhängt und dementsprechend von einem Selbstverständnis des Einzelnen, das ihm ermöglicht, in Harmonie mit sich selbst zu sein. Schelling schließt jedoch nicht aus, dass bestimmte Institutionen zu diesem Zweck beitragen können. Sein kulturpolitisches Engagement im Rahmen der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, seinen Briefaustausch mit Maximilian II. von Bayern über die beste Staatsform und vor allem seine langjährige Lehrtätigkeit können als das Resultat dieser Einstellung interpretiert werden. Einige Institutionen sind dazu nützlich, die Selbsterkenntnis zu fördern, oder sie mindestens nicht zu hindern.32 Einige Staatsformen sind deshalb besser als die anderen. Trotzdem setzt Schelling keine Hoffnung darauf, dass die 31
Schneider, S. 90. Diese war schon – laut Hoeltzel – die Position Schellings in der „Neuen Deduktion des Naturrechts“: „Right receives its derivation and legitimation thus: not as a transcendental ground of our empirically manifest condition as finite, free intelligencies sharing a world; but, instead, as a practical enabler of the individual’s empirically-specified striving for the achievement of an ideal unconditionality – a striving which every finite self finds itself essentially impelled to undertake“. Hoeltzel, S. 214. 32
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Institutionen und vor allem der Staat eine dauernde Konfliktlösung durchsetzen können, weil diese auf die Selbsterkenntnis und folglich auf eine existenziell bedeutsame Form des Wissens gründet. Würde jeder Mensch wissen, was er eigentlich ist, würde man gleichzeitig die politischen Konflikte lösen. Sie sind aus der Sicht Schellings nur ein Symptom von einer inneren Unruhe, die zwar mit bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen, d.i. mit der bürgerlichen Gesellschaft,33 zusammenhängt, aber weder soziologisch erklärbar noch politisch-staatlich lösbar ist. Die tiefste Diagnose und die wahre Lösung ist Sache der Metaphysik. Institutionen wie die Kirche, die Kunsteinrichtungen und vor allem die Universität sind zwar wichtig, doch nur in dem Maße, wie sie im Dienste der Ziele der Metaphysik stehen. Die Sorge um sich selbst im Lichte der Seinsfrage kann von ihnen unterstützt, gefördert oder ausgedrückt werden, und folglich tragen sie zur Konfliktlösung indirekt bei, aber jene ist das Einzige, das den Widerstreit zwischen den Menschen wirklich überwindet. Die Arbeit an sich selbst, die jeder Mensch als vernünftiges Wesen vollziehen kann, ist die Bedingung für die Harmonie mit den Anderen. Hinsichtlich der Forderung nach einem politisch-institutionellen Wandel, mit der sich Schelling als Zeuge einer revolutionären Stimmung in Europa – bald zustimmend, bald ablehnend – während seines ganzen Lebens konfrontiert sah, hat C. Cesa das Folgende gesagt: „Der entscheidende Punkt ist, dass Schelling nicht glaubt noch jemals glauben wird, man könne die Gesinnung verändern, indem man die Institutionen verändert: wenn überhaupt ist das Gegenteil wahr“34. Die Formulierung, die auf den frühen Schelling bezogen ist, ist vielleicht zu pauschal und zu kategorisch, wenn sie besagt, dass für ihn lebenslang keine politische Reform nützlich war, um einen Bewusstseinswandel zu fördern. Der Staatsbegriff des „Systems des transzendentalen Idealismus“ ist selbst ein Beispiel davon, weil Schellings Verteidigung der „Rechtsverfassung“ gegen jeden in die mechanische Regelmäßigkeit ihres Funktionierens eingreifenden Willen nicht den politischen Verhältnissen Deutschlands um 1800 entsprach – auch nicht denjenigen im Herzogtum Sachsen-WeimarEisenach – und u. a. von der Suche nach günstigen Bedingungen, um dem Einzelnen die Freiheit zu philosophieren zu ermöglichen, motiviert scheint. Der späte Schelling, um die Beispiele der Offenheit Schellings zu gesinnungsverändernden politischen Reformen zu vermehren, begrüßte ebenso die Suche der Nationaleinheit, die er zwar nicht im Sinne des Nationalliberalismus deutete und dennoch mit ihm in der historischen Notwendigkeit übereinstimmte, die kleinen Fürstenstaaten durch einen Nationalstaat zu ersetzen.35 Mit Ausnahme der Notlage, die für ihn die Märzrevolution repräsentierte, äußerte Schelling auch mehrmals seine Sympathien für eine gemäßigte Monarchie36 – was nicht mit einer konstitutionellen Monarchie gleich33
Schelling (1856 – 1861), SW 5, 235. Cesa (1989), S. 190. 35 Losurdo (1989a), S. 235 – 236. Der Widerstand der Fürsten zum Nationalismus wird klar erklärt von: Dann, S. 85 – 123. 36 Diese ist die „bestmögliche Einrichtung“, weil sie dem Einzelnen freien Raum gibt, um sich geistig zu entfalten, und nur in ihr der Staat Grundlage einer höheren Ordnung fungiert. Sie 34
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bedeutend ist. Diese Stellungnahmen sind mehr als ein Echo des Aufbruchs des deutschen Nationalismus seit den Napoleonischen Kriegen auf sein Denken und ein Zeichen von seinen politischen Widersprüchen,37 sondern verweisen jeweils auf die für die Ziele der Metaphysik wichtige Schaffung einer Gesinnungsgemeinschaft durch eine weitverbreitete Symbolik und die damit verbundenen gemeinsamen Rituale38 (Schelling unterstützte die Einrichtung der Gedenkstätte Walhalla in Regensburg39 oder plädierte für die Fertigstellung des Kölner Doms40) und nochmals auf die institutionell-politischen Bedingungen, um geistige Freiheit zu haben. Der reife Schelling war gewiss kein Freund der Revolutionen und seine Briefe und Tagebücher sind voller Bemerkungen gegen die Demokratisierung des Staates, aber der Versuch, ihn einfach als einen chronischen Reaktionär zu interpretieren,41 der sich in nichts ist aber kein vollkommner Staat, weil jede Idealisierung des Staates nichts anderes als „Schwärmerei“ ist (Schelling (1856 – 1861), SW II, 1, 552). Dass die Macht des monarchischen Staates laut Schelling nicht unbegrenzt sein sollte, kann man seinen Vorlesungen über die „positive Philosophie“ aus dem Winter 1832/1833 ablesen: „Die wahre, aber sehr missverstandene Aufgabe unserer Zeit ist, den Staat selbst und den Staat überhaupt, d. h. in jener seiner Formen, zu beschränken, nicht bloß etwa in der monarchischen“. Zitiert von Sandkühler (1989), S. 214. Schellings Position 1810 ist in dieser Hinsicht nicht anders. Die absolute Konzentration der Macht bringt den „Despotismus“ mit sich: „Will man den Staat die Kraft-Einheit geben, so verfällt er in den abscheulichsten Despotismus“ (Schelling (1973), S. 174 – 175). Schelling will 1810 die „Idee eines vollkommenen Staates“ (Schelling (1856 – 1861), SW 7, 462) kritisieren, die zu einem Despotismus im Namen der Freiheit wie bei Fichte in dem „Geschlossenen Handelsstaat“ (1800) führt, aber auch den monarchischen Despotismus ablehnen. Die auf eine Verfassung gegründeten Staaten sind in den Stuttgarter Privatvorlesungen ohnmächtig, aber nicht despotisch. Schelling äußerte sich 1810 nicht darüber, welche die bestmögliche Staatsform ist und konzentriert sich darauf, die Grenzen des Staates zu zeigen und den Wahn, die Harmonie zwischen den Menschen durch die Stiftung oder die Erhaltung einer bestimmten Staatsform zu suchen, zu demaskieren, aber seine Distanz zu jeder Verherrlichung der staatlichpolitischen Macht einschließlich der monarchischen ist damals dieselbe, die er bis zum Ende seines Lebens behält. 37 Losurdo (1989), S. 238. 38 Am Ende der Paulus-Nachschrift der Philosophie der Offenbarung sagt Schelling das Folgende: „Den inneren Prozess hat Jeder für sich durchzumachen. Das Allen gemeinschaftliche ist der geschichtliche Weg, der durch Lehre, Cultus, Festcyclus bezeichnet ist. Nur durch ihn kann auch der innere Process lebendig erhalten werden“. S. 729 – 730. Paulus (1843). 39 Schelling (1856 – 1861), SW 9, 454. 40 Franke, S. 21. Die Fertigstellung des Kölner Doms war politisch keineswegs neutral. Er war ein Symbol nationaler Einheit und ein Symbol der Versöhnung zwischen dem Staat und der Kirche. Der Dom war damals als ein Nationaldenkmal gedacht, dessen Bedeutung über die Spaltung der christlichen Konfessionen hinausging und außerdem den als echt deutschen empfundenen architektonischen Styl, nämlich: die Gotik, zur Vollendung brachte. Aufgrund dieser Überlastung symbolischer Funktionen und der Entdeckung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, dass das Vorbild für den Kölner Dom die Kathedrale von Amiens war (ibid.), hat das Projekt nicht die ursprünglichen politisch-religiösen Erwartungen erfüllt, welche mehrere Mitglieder der Generation Schellings darin setzen. Darüber s. Blaschke, S. 41 – 42. 41 „Auch in seinen Münchener Jahren (1806 – 1841) war Schelling kein Reaktionär; in Deutschland galten seine Sympathien den gemäßigten Konstitutionalisten mit ständischer Prägung, in Frankreich den doktrinären Liberalen (Guizot); in Berlin bezog er eine schroffe Position gegen die „Supranaturalisten“. Cesa (1986), S. 228.
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von Donoso Cortés oder F. J. Stahl unterscheidet, übersieht seine relative Offenheit für bestimmte politische Reformen und verkennt vor allem den Zusammenhang zwischen seinen parteipolitischen Positionen und seinem Interesse an einer Bewahrung günstiger Bedingungen, um dem Einzelnen die Möglichkeit zu garantieren, sich durchs Denken zur wahren Freiheit zu erheben. Nur darin liegt die relative Perfektibilität des Staates: „Sich unfühlbar machen, wie die Natur unfühlbar ist, dem Individuum Ruhe und Muße gewähren, ihm Mittel und Antrieb seyn zur Erreichung des höhern Ziels, das soll der Staat; darin allein liegt die Perfectibilität desselben. Die Aufgabe ist also: dem Individuum die größte mögliche Freiheit (Autarkie) zu verschaffen.“42 Die Massendemokratie, die sich durch die noch herrschende feudalmonarchistische Struktur der deutschen Gesellschaft den Weg bahnte, und ihre Forderung nach einer beständigen parteipolitischen Mobilisierung waren damit nicht verträglich.43 Cesas Zitat ist dennoch richtig, insofern die Revolution der Gesinnung bei Schelling die einzige wahre und legitime Revolution ist und der von ihr abstrahierte Wandel der politischen Institutionen für Schelling leer und nichtsbringend ist. Das beste Beispiel dafür, das nicht für diesen besonderen Zeitraum, sondern für seine ganze Philosophie nach der frühen Abkühlung seiner Begeisterung für die Französische Revolution gültig ist, ist vielleicht die Rede Schellings in München am 29. Dezember 1830. Inspiriert durch den Sturz Karls X. in Frankreich sahen viele Studenten und einige Intellektuelle wie Heine die Möglichkeit, die Wendung zu einer liberaleren und demokratischeren Ordnung in Deutschland nachzuahmen. Das politische Klima schien günstig für eine Revolution. In München beginnen einige Revolten. Schelling bietet sich an, eine Rede vor den Studenten zu halten, um die Gemüter zu besänftigen. Inmitten seiner Anprangerung der demokratischen Führer als demagogische Unruhestifter und der Rückgriff auf den Nationalismus – das Eigene sollte „fremden“ bzw. französischen Ideen vorgezogen werden – kann man seine wichtigste Botschaft leicht identifizieren. Ein Satz fasst diese zusammen: „wagen Sie es sich selbst zu überwinden.“44 Schelling beschränkt sich nicht nur darauf, zur Ordnung zu rufen, um zu versuchen, die Gewaltausbrüche zu beschwichtigen, sondern er stellt einen für das Verständnis seines politischen Denkens wichtigen Gegensatz auf zwischen der politischen Handlungsweise des „Pöbels“ und derjenigen, welche den Studenten als „Jünglingen, die die Sonnenhöhen der Wissenschaft kennen,“45 entsprechen soll: „Aufgereiztem Pöbel kann man nicht zumuthen, dass er sich selbst überwinde.“46 Der „Mann“ – sagt Schelling den Mut dieses Aktes rhetorisch akzentuierend, „der Mann ist im vollen Sinne des Worts,
42 43 44 45 46
Schelling (1856 – 1861), SW II, 1, 551. Ibid. SW II, 1, 549. Ibid. SW 9, 375. Ibid. SW 9, 373. Ibid.
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erkennt man an der Gewalt, die er über sein eignes Inneres ausübt.“47 Die Studenten sollten zwar handeln, aber sofern sie Bildung haben und nicht „Naturmenschen“ sind, konnte sich ihre Handlung nicht als physische Gewalt ausdrücken. Es ging aber nicht nur darum, friedlich zu handeln. Die Studenten sollten ihr Handeln auf sich selbst richten. Ihr „Beruf“ ist die Bereitschaft zu einem „Entschluss,“ der nicht täuschend sein kann, über das „Zufällige“ d.i. über die Tagespolitik hinausgeht und „das Wesentliche im Auge hat“48. Schelling zeigt den Studenten sein Verständnis für ihre politischen Ziele – „Auch mein Herz hat für alles Rechte, was Sie empfinden, geglüht und glüht noch dafür“49 –, aber der Kern seiner Rede lässt sie zugleich als illusorisch und vollkommen nebensächlich erscheinen. Der Kampf einiger Menschen gegen andere, diesmal im Namen republikanischer Ziele, sollte durch die „Selbstüberwindung“50 ersetzt werden. Auf sich selbst das eigene Handeln zu lenken heißt dann, es nicht auf die Handlungen anderer Menschen zu richten. Das politische Problem war für Schelling nicht der Mangel an einem republikanischen Staat. Das Problem war, dass die Studenten nicht ihre Individualität transzendiert hatten und diese jedoch verabsolutierend als Maß aller Dinge betrachteten – die betonte Erwähnung seiner Haltung als „Wahnsinn“51, also als Sinn, der zum Wahn geworden ist,52 spielt darauf an. Die Rede Schellings ist ein Aufruf an die Studenten, die Auseinandersetzungen mit den Anderen beiseite zu lassen und zum immerhin konfliktbeladenen Szenario der inneren Erfahrung zurückzukehren. Alle Beziehungen mit den Anderen waren demgegenüber nebensächlich oder im Grunde banal. Das wahre Böse war in jedem von ihnen.
II. Die Geschichtlichkeit des politisch Guten Schellings Lösung der politischen Konflikte zentriert sich um den Einzelmenschen als ein geistiges Wesen. Das Ziel ist ein harmonisches Zusammenleben der Menschen. Das letzte Ziel ist eigentlich die Einheit aller Menschen. Schelling ist davon überzeugt, dass diese, sofern sie vernünftig sind, von dem Gemeinsamen und 47
Ibid. SW 9, 374. Ibid. SW 9, 370. „Die platonische Haltung, dass die geistige Realität gegenüber der politisch-historischen Wirklichkeit ein Wesentliches ist, hat Schelling zeitlebens innegehabt“ (Knatz, (1999), S. 98). Die Behauptung ist richtig, sofern unter „politisch-historischer Wirklichkeit“ die Tagespolitik oder die Ereignisse der Sozialgeschichte, die zu der „mittleren Dauer“ (Braudel) zu rechnen sind, verstanden werden. 49 Schelling (1856 – 1861), SW 9, 375. 50 Ibid. SW 9, 373. 51 Schellings Wahnsinnsbegriff geht mit dem Bösen einher. Vor allem in den WeltalterSkizzen (Schelling (1856 – 1861), SW 8, 338) und in den Stuttgarter Privatvorlesungen geht er darauf ein: „Das tiefste Wesen des menschlichen Geistes also, NB. wenn er in der Trennung von der Seele und also von Gott betrachtet wird, ist der Wahnsinn.“ (Ibid. SW 7, 470). Auch: SW 10, 291. 52 Ibid. SW 7, 97. 48
II. Die Geschichtlichkeit des politisch Guten
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nicht von rein partikulären Zwecken beherrscht werden. Das allen Menschen Gemeinsame ist letztendlich Gott. „Gott“ ist daher das Schlüsselwort des Politischen. Die Menschen können hoffen, eins zu werden, also ein Ganzes zu bilden, weil es einen – und nur einen – Gott gibt. Der Monotheismus hängt direkt mit der Lösung des Problems des Politischen zusammen. Pointiert gesagt: Die Metaphysik als Theologie ist unmittelbar politisch, weil Gott die einzige Bedingung der Einheit der Menschen ist. „Die Einheit freyer Wesen ist nur Gott.“53 Der Gott der Metaphysik ist der Gott, den alle Menschen durch ihre Vernunft und mithilfe der Reflexion begreifen können, aber er ist auch der Gott einer religiösen Tradition, die für Schelling die reifste Form des Monotheismus darstellt und die mit dem Gebrauch der Vernunft verträglich ist, weil ihr Gott logoshaft ist. Das Christentum ist in der Tat für Schelling die religiöse Tradition, die mit der Suche der Metaphysik nach Einheit am besten harmoniert und von der folglich die Verwirklichung der Einheit der Menschheit abhängt. Der wahre Glaube, wie die Diskussion zwischen Schelling und Eschenmayer klar zeigt, ist für Schelling immer ein Vernunftglaube, so dass die christliche Tradition ohne die Vermittlung der Philosophie nicht in der Lage ist, auf der Höhe der Zeit, also der Aufklärung, zu sein und ihr Potenzial zu entfalten. Ihrerseits jedoch kann auch die Metaphysik nicht anstreben, ohne das Christentum historisch wirksam zu sein. Nicht nur deswegen, weil sie ohne das symbolische Kapital des Christentums nicht allgemeingültig sein könnte, sondern weil sie die begriffliche Darstellung der Wirksamkeit Gottes in der Geschichte ist und diese Wirksamkeit kein Produkt des philosophischen Denkens ist. Die Metaphysik ist das spekulative Verständnis einer Tätigkeit, die dem philosophischen Denken vorhergeht, nämlich die Tätigkeit Gottes. Die Metaphysik ist politisch bedeutsam, aber nicht weil sie eine eigene Idee des guten Zusammenlebens entwirft, sondern weil sie dabei hilft, die Fähigkeit des christlichen Monotheismus, die Menschheit zu vereinen, zu entfalten. Das Christentum, wie Schelling früh merkte, ist grundsätzlich eine geschichtliche Religion und deswegen ist die Lösung des Problems des Politischen mit der Geschichtsphilosophie eng verbunden. Die erste Skizze dieser Idee, der Schelling, wie A. Carrasco bemerkte,54 in der Freiheitsschrift im Großen und Ganzen treu bleibt, befindet sich in dem „System des transzendentalen Idealismus“. Schelling greift dabei auf die Kantische Idee einer Staatenföderation zurück, um die innerliche Fragilität des Staates zu kompensieren und dadurch die Freiheit des Einzelnen allgemein zu verbreiten und institutionell tiefer zu verankern.55 Dies ist der Übergangspunkt zur Geschichtsphilosophie, weil die Staatenföderation eine Idee ist, die durch verschiedene Generationen verwirklicht werden soll. Schelling spricht dann über den Sinn des Fortschrittes und letztendlich über den letzten Sinn der Geschichte als allmähliche Offenbarung Gottes. Die Religion ist daher grundsätzlich geschichtlich, weil Gott sich in der Zeit offenbart. Dadurch entfernt sich Schelling nicht 53 54 55
Schelling (1973), S. 173. Carrasco, S. 297. Schelling (1856 – 1861), SW 3, 594.
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von dem politischen Problem, wie ein friedliches Zusammenleben der Individuen möglich ist. Der religiöse Glaube ist die Voraussetzung des handelnden Menschen, der zufolge der Frieden unabhängig von den Absichten der Menschen, aber durch ihre Handlungen erfolgen wird. Die Religion hat daher in dem „System des transzendentalen Idealismus“ nicht direkt mit einer individuellen Erlösung, sondern mit einem gesellschaftlichen bzw. politischen Problem zu tun. Der Glaube, der dem Zweck der Staatenföderation eine „objektive“, also bewusstlose Seite hinzufügt, nämlich die Tätigkeit Gottes, ist keineswegs unpolitisch, denn er besagt, dass trotz der scheinbar unharmonischen Beziehungen zwischen den einzelnen Menschen und zwischen den Staaten, trotz des empirischen Versagens einiger Initiativen, eine moralische Ordnung der Welt durchzusetzen, und schließlich trotz der begrenzten Zahl derjenigen, welche sich dafür engagieren, die Geschichte zu einer definitiven Harmonie zwischen den Menschen führen wird. Der Glaube an Gott ist der Glaube an die Möglichkeit eines von ihm als „Oberhaupt“ durchgesetzten „Reichs der Zwecke“,56 das sich allmählich und durch die scheinbar empirische Unordnung – z. B. in der Form des Krieges – verwirklicht. Ist Gott der Urheber der Natur, sollen die Naturereignisse im Dienste der Freiheit sein. Der letzte Zweck der Schöpfung ist laut Kant das „höchste Gut“,57 und folglich kann man vermuten, dass sich Gott, der Schöpfer, der bösen eigennützigen Triebe der Menschen bedient, um es zu ermöglichen: „Wenn wir uns die Geschichte als ein Schauspiel denken, in welchem jeder, der daran Theil hat, ganz frei und nach Gutdünken seine Rolle spielt, so lässt sich eine vernünftige Entwicklung dieses verworrenen Spiels nur dadurch denken, dass es ein Geist ist, der in allen dichtet, und dass der Dichter, dessen bloße Bruchstücke (disjecti membra poëtae) die einzelnen Schauspieler sind, den objektiven Erfolg des Ganzen mit dem freien Spiel aller einzelnen schon im voraus so in Harmonie gesetzt hat, dass am Ende wirklich etwas Vernünftiges herauskommen muss.“58 Schelling spricht in diesem Zusammenhang davon, wie die Menschen ihre Willkür ganz „ausgelassen“59 ausüben können, und wie jedoch am Ende eine kohärente Synthese aller Zwecke resultieren wird. Die bösen Handlungen und das Böse selbst sind daher ein Teil des Plans Gottes. Die Geschichte geht durch das Böse hindurch, bevor sie ihr Ziel erreicht und aller menschlichen Willkür definitiv entschwindet.60 Dasjenige, was anscheinend die Harmonie zwischen den Menschen zerstört, ist daher ein Moment der göttlichen Vorsehung. Der Glaube an Gott ist das Vertrauen an die Verwirklichung des höchsten Guten trotz aller empirischen Ereignisse, die dagegen sprechen, wobei 56
Kant, GMS IV, 439, 13. Ibid. GMS 29, 32. 58 Schelling (1856 – 1861), SW 3, 602. 1804 hat Schelling diese Auffassung der Geschichte keineswegs aufgegeben: „Noch weniger als diese bloß empirische Gesetzmäßigkeit kann der Mensch im Handeln sich mit der Willkür und Freiheit aller begnügen, von welcher etwas Zusammenstimmendes und eine vernünftige Entwicklung zu erwarten ebenso thöricht, als sie von einem Schauspiel erwarten, das keinen Dichter hat, und in dem jeder für sich und nach Gefallen seine Rolle spielt“. (Ibid. SW 6, 555). Das Zitat kommt aus dem Würzburger System. 59 Ibid. SW 3, 598. 60 Ibid. SW 3, 589. 57
II. Die Geschichtlichkeit des politisch Guten
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das Gute eine harmonische Interaktion zwischen den Menschen einschließt. Die Religiosität, die keine passive Haltung ist, weil die Menschen „Mitdichter“61 des geschichtlichen Schauspiels sind, lässt sich deshalb nicht als unpolitisch beschreiben. Der Staatsbegriff Schellings ist in dem „System des transzendentalen Idealismus“ nur ein Teil einer allgemeinen politischen Einstellung, die in einer politischen Theologie gipfelt. Die Freiheitsschrift weicht nicht von diesem Verständnis des Problems der Einheit der Menschheit ab. Die Religiosität hat nicht nur eine individuelle Bedeutung, die mit dem sittlichen Leben identisch ist, sondern auch eine kollektive. In der Geschichte tritt wieder der Gegensatz zwischen dem Guten und dem Bösen auf. Das geschichtlich Gute, d.i. das politisch Gute, ist nichts anderes als die allmähliche Christianisierung der Welt. Die Herrschaft Gottes ist vorwiegend die Herrschaft des göttlichen Geistes, und deshalb tendiert die menschliche Geschichte zur Bildung einer geistförmigen Ordnung. Schelling nennt sie das „neue Reich“. Das Problem des Politischen hängt deshalb mit der Möglichkeit des Beginns eines Zeitalters zusammen, in dem die Menschheit als ein schöpferisches, innerlich ausdifferenziertes, harmonisches Ganzes organisiert wird. Die Bildung dieses Reiches, die ohne die Teilnahme des Menschen und seine kontingenten Entscheidungen nicht möglich ist, ist das Ziel der Geschichte. Das Problem, das in diesem Zusammenhang entsteht, ist die Verträglichkeit dieses von der menschlichen Vernunft begriffenen Zieles mit der Faktizität einer geschichtlichen Phase, in der einerseits der antichristliche Geist einer einseitigen Aufklärung herrschte und in der sich andererseits die Konflikte zwischen den Völkern zugespitzt hatten. Der Begriff „Böse“ weist zugleich auf beide Phänomene hin. Die Frage ist dann, wie die Menschheit eine Einheit werden kann, wenn ein einseitiger Rationalismus und der Krieg das Leben der Menschen bestimmen. Schelling löst das Problem im Rahmen seiner Ontotheologie durch eine Idee, die an den Spruch „Nemo contra deus nisi deus ipse“ erinnert62: durch die Idee der Selbstentzweiung Gottes. Diese Lösung enthält eine Theorie der Neuzeit und eine Stellungnahme Schellings gegenüber der historischen Figur, die den Zeitgeist der Neuzeit am besten verkörpert: Napoleon Bonaparte. Die politische Dimension der Freiheitsschrift zu verstehen, impliziert eine Diskussion über die gesellschaftlichpolitische Wirkung der Aufklärung und über die Napoleonischen Kriege, weil beide Phänomene das Ziel der Geschichte und folglich das höchste politische Gut zu bedrohen scheinen. Wenn die Metaphysik dabei helfen will, die Einheit der Menschen unter der Herrschaft Gottes zu verwirklichen, soll sie beweisen, dass das Gute trotz aller Hindernisse schließlich zustande kommen kann. Die Freiheitsschrift ist in diesem Sinne eine Verteidigung der Vernunft und des Guten63 gegen den haupt61
Ibid. SW 3, 602. Hermanni (1994), S. 125. 63 Laut M. Gabriel ist das Böse in der Freiheitsschrift die Bedingung ihrer Theorie der Welt. Die Metaphysik benötigt das Böse: „Die Freiheit des Weltwesens besteht darin, dass es die Welt denkt und dadurch über sie hinaus ist. Doch sein Denken gibt es nur unter den Bedingungen des Bösen“ (Gabriel, (2006b), S. 47). Dafür gibt es zwei Gründe: Einerseits schlägt sich das Streben 62
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des Individuums nach Totalität auch in der Konstruktion spekulativer Systeme nieder: „Das Ich will das Ganze sein, worin Schelling in Unterschied zu Hegel die Natur des Bösen und nicht die absolute Form des Begriffs erkennt.“ (Ibid. S. 26). Andererseits kommt die Tendenz des Bösen, „den Grund strukturell zu realisieren“ (ibid. S. 30), der Suche nach einer Abschaffung der „Substanz“ der Welt und folglich der Vernichtung der Basis der Welt selbst gleich. Braucht die Metaphysik die Welt von etwas anderem zu unterscheiden, um die Welt als Welt zu denken, ist die auf das Absolute bezogene Aufhebungsbewegung der Welt seitens des Bösen eine Bedingung der Metaphysik: „Die vom Weltwesen angestrebte Vernichtung der Welt lässt das Weltwesen über den Rand der Welt hinausblicken. Das Böse ist daher der Ermöglichungsgrund der Metaphysik.“ (Ibid. S. 36). Die Systembildung ist das Resultat der Suche des Individuums nach Erlösung, welche es trotz der Verankerung seiner praktischen Selbstentfaltung in der Welt jenseits der Welt sucht: „Begründungstheoretisch fängt Schelling also nicht mit dem ,Faktum der Vernunft‘ oder der Tatsache der Freiheit an, wenn er seinen Text auch damit beginnen lässt.“ (Ibid. S. 35). Um die Totalität als solche denken zu können, ist es dann notwendig, aus der Totalität derart herausgetreten zu sein, dass die Grenze der Welt sichtbar wird, und nicht in der Vergegenwärtigung der Totalität zu verharren. In einem späteren Text knüpft Gabriel an diese These die Idee an, derzufolge die Metaphysik als System – und nicht nur die Systembildung – ein Ausdruck des Bösen ist, weil jedes System beansprucht, eine abgeschlossene und selbstdurchsichtige Struktur zu sein, und folglich die mantische Dimension des Denkens vernichten will, die ihm auch als Erscheinung der „Seynsfuge“ notwendigerweise entspricht: „Die Philosophie selbst ist ein Streben, ein Wille, der darauf aus ist, Strukturen auszubilden. Anders gewendet ist die Philosophie selbst ein Fall von Sein mit der Tendenz zur letztlich suizidalen Selbstreferenz. Gelänge es der Philosophie, zu einem dogmatischen, und d. h. fremdreferentiellen, auf bestimmte Gegenstände ausgerichtetes System von Sätzen zu gerinnen, hätte sie sich völlig aufgelöst. Die Philosophie ist somit selbst Ausdruck einer Krankheit. Denn sie entsteht, wie Schelling zufolge alle Krankheiten, ,nur dadurch, dass das, was seine Freiheit oder sein Leben nur dafür hat, dass es im Ganzen bleibe, für sich zu sein strebt‘ (Schelling (1856 – 1861), SW 7, 366). Die Philosophie leistet demnach einen Beitrag zur perversen Struktur des Universums selbst. Sie ist selbst Ausdruck ,einer positiven Verkehrtheit oder Umkehrung der Prinzipien‘ (ibid. SW 7, 367), weil sie konstitutiv versucht, das Lebendige auf den Begriff zu bringen und es damit seiner Selbstständigkeit zu berauben“ (Gabriel (2013), S. 87 – 107). Gabriels These ist insofern zuzustimmen, als das Böse und folglich die vollständige Individuation des Menschen aufgrund des Strebens des abgefallenen einzelnen Menschen nach Totalität eine Bedingung des metaphysischen Denkens ist. Weniger glaubwürdig ist aber die Betrachtung des Bösen in der Freiheitsschrift als die begründungstheoretisch primäre Bedingung, um Metaphysik treiben zu können, und die Identifikation des Systems überhaupt mit einer Kristallisation des Bösen. Wie Gabriel selbst erklärt (Gabriel (2006b), S. 10,14), braucht man nicht ein Jenseits der Welt, um die Welt als Welt zu denken, weil sie im Unterschied zum Innerweltlichen oder einfach zu inneren Unterscheidungen bestimmt werden kann. Auf diese Weise konnten z. B. Spinoza oder Hegel die Totalität als Totalität begreifen. Die absolute Transzendenz ist nicht die Bedingung sine qua non des metaphysischen Denkens. Ist das Böse eine unfreiwillige Selbstvernichtungstendenz, die der Weg zur Negativität des Ungrundes eröffnet, wäre es die Bedingung der Metaphysik, wenn die Freiheitsschrift die Welt nur im Unterschied zum Ungrund denken könnte. Dies ist aber nicht der Fall. In der Freiheitsschrift gibt es mehrere innere Differenzierungen, die nicht die Welt selbst sind, und deswegen die Welt als Welt ohne Bezug auf den Ungrund denken lassen. Sowohl innerweltliche Seinsbereiche (Natur und Geschichte) und endliche Dinge (Tiere, Menschen, Völker) als auch innergöttliche Seinsebenen (Gott als Geist) erlauben, die Totalität zu bestimmen. Verweist das Böse wegen seines Bezugs auf das Nichts auf die absolute Transzendenz und ist nicht allein diese die Bedingung dafür, die Totalität als Totalität zu denken, braucht man nicht das Böse, um Metaphysik zu treiben. In vieler Hinsichten setzt die Freiheitsschrift die spinozistische Perspektive der Identitätsphilosophie fort, und mithin ist das Böse als eine vernichtende Kraft nicht die
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sächlich destruktiven Geist der Neuzeit durch seine Integration, also durch die Integration des Bösen, in den Plan Gottes. 1. Die politisch-gesellschaftliche Dimension des Bösen Der Begriff des Bösen hat in der Freiheitsschrift viele Bedeutungsschichten. Er kommt manchmal der „Sünde“64 gleich und hat deshalb einen theologisch-sittlichen Sinn. Er wird manchmal mit der „Lüge“65 assoziiert und hat dann eine (negative) erkenntnistheoretische Bedeutung. Er ist auch mit der „Krankheit“66 verbunden – für den an der Medizin stark interessierten Schelling ist die Krankheit mehr als eine Metapher. Der Begriff enthält auch eine anthropologische Bedeutungsebene, die z. T. von Kant her kommt67 und die auf die schöpfende Selbstwahl des Individuums hinweist. Keine von diesen verschiedenen Bedeutungen schließt die anderen aus. Sie Bedingung sine qua non der Theorie der Welt der Freiheitsschrift, weil ohne die Möglichkeit der Vernichtung der Welt die Totalität auch denkbar ist. Das Böse ist vielmehr eine Bedingung der Metaphysik, weil es einen Kontrast zum ursprünglichen Bewusstsein der Totalität schafft, das der Mensch als Ebenbild der Persönlichkeit Gottes hat. Aufgrund der Vereinzelung und der inneren Zerrissenheit, die der Mensch nach der intelligiblen Tat erfährt, erinnert sich der Mensch an seine Existenz als Persönlichkeit. Das Böse ist notwendig, damit der Mensch anfängt zu philosophieren, aber nicht weil es anstrebt, die Welt zu transzendieren, sondern weil es die Gegebenheit einer ursprünglichen Schau der Welt, also die Tatsache der Freiheit, unfreiwillig vergegenwärtigt. Das Böse bringt das Individuum dazu, die Welt als das nicht Innerweltliche und nicht als das Überweltliche zu denken. Das ursprüngliche Bewusstsein der Totalität, dessen Gegebenheitsweise die „Tatsache der Freiheit“ ist, wird in der Analyse Gabriels vernachlässigt. Das Gute wird dementsprechend in den zwei oben zitierten Texten kaum erwähnt. Eine Folge davon ist die Interpretation des Systems überhaupt als eine kristallisierte Form des Bösen. Schelling hätte gewiss nicht die absolute Transzendenz in sein Denken integrieren können, wenn das Absolute als das sich selbst vermittelte Ganze der Bestimmungen nicht transzendiert werden könnte. Da ein solches Ganzes von der Form eines Systems untrennbar ist, musste das System nicht der Endpunkt des metaphysischen Denkens sein. Das heißt aber nicht, dass die wahre Totalität seines Systems und die falschen Totalitäten oder die Pseudosysteme, die sich aus dem Bösen ergeben, gleichwertig sind. Das wahre System benötigt das Streben nach Totalität des Bösen, aber unterscheidet sich von der partiellen und deswegen falschen Erfüllung desselben. Ist das Gute die Verfassung des menschlichen Denkens, sofern es das wahre System nachvollzogen hat, würde die Nivellierung aller Denkformen, die Totalität beanspruchen, die Differenz zwischen dem Guten und dem Bösen verwischen. Schelling ist nicht der Ansicht, dass sein Denken eine andere Form des Bösen ist. Er glaubt, dass sein System das einzig wahre System und der Weg zum Guten ist, das übrigens von der absoluten Transzendenz unabhängig ist. Das wahre System bringt nicht die höchste Erlösung mit sich, aber es erlaubt dem Menschen, eine innere Harmonie und eine geistige Selbstständigkeit, die kein falsches System schaffen kann. Die Anerkennung der Grenzen jedes Denkens des Ganzen soll deswegen nicht zur Identifizierung der Metaphysik als System mit den Ideologien führen, die durch Reduktionismen und undialektisches Denken eine Weltansicht bilden wollen. 64 Schelling (1856 – 1861), SW 7, 390. 65 Ibid. 66 Ibid. SW 7, 366. 67 Ibid. SW 7, 387 – 388.
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ergänzen sich und bilden zusammen den Reichtum des Begriffes. Dazu gehört auch der gesellschaftlich-politische Sinn des Bösen, wovon wir im Folgenden sprechen werden. In seinem Kommentar über die Freiheitsschrift (1810) hat Eschenmayer richtig bemerkt, auf welche politischen Zusammenhänge Schelling durch das Böse angespielt hat. Aller Kritik an der Freiheitsschrift zum Trotz glaubt Eschenmayer daran, mit ihrer Beschreibung des damaligen Zeitgeists übereinzustimmen: Das Böse habe sich der Geister bemächtigt. Die politischen Folgen seien unvermeidlich. Nur der „Weise und Fromme“ „lasse sich nicht blenden von dem allverwüstenden Egoismus, der sich an die Stelle Gottes setzt, die Kennziffer des Teufels. In der Philosophie ist dies ein Irrtum, aber ein verderblicher und gleichlaufend mit dem politischen Taumel.“68 Weil „das Verhältnis zwischen Religion und Politik verkannt“ werde, gebe es „Hass und Erbitterung, Unrecht und Gewalt“69. Das Böse sei der „Grimm des Eigenwillens, der die ganze Gegenwart auf einmal aufzehren möchte und die ganze Gemeinschaft vernünftiger Wesen zu seinen verrückten Zwecken erschaffen wähnt“70. Obwohl Eschenmayer den Zeitgeist auf der Basis seines eigenen Begriffes des Bösen beschreibt und ihm durch eine Rückkehr zu einem nicht durch das philosophische Wissen vermittelten Glauben entgegenwirken will, womit Schelling natürlich nicht einverstanden ist,71 stimmt er Schellings Diagnose über die zerstörerischen Wirkungen des Bösen auf gesellschaftlich-politischer Ebene zu. „Und hier ist es, wo ich mich mit Ihrer Ansicht befreunde“72 – sagt er, bevor er die oben zitierten Sätze schreibt. In seinem Antwortbrief beschuldigt Schelling Eschenmayers „Nichtphilosophie“ der Komplizenschaft mit der „gegen alles Höhere feindseligen Aufklärerei“73 und folglich verbindet er sie mit ihrem eigenen Feind, aber diese Gegenkritik widerlegt nicht sondern bestätigt vielmehr das Gesagte und präzisiert, wogegen sowohl Eschenmayer als auch Schelling kämpfen wollten: gegen eine bestimmte Gestaltung der Moderne. Der Begriff des Bösen ist in diesem Sinne eine Beschreibung des Zeitgeistes und insbesondere der Mentalität, die den politischrevolutionären Bewegungen, dem Imperialismus und dem Aufstieg des Kapitalismus zugrunde liegt. a) Das Böse als Beschreibung des Geistes der Neuzeit in der Schelling-Forschung Einige zeitgenössische Interpreten der Freiheitsschrift haben auch darauf hingewiesen. A. Schneider ist z. B. der Meinung, dass die Rede von dem Bösen nicht nur eine Anthropologie enthält, sondern auf eine Diagnose der Stellung des Menschen in der Moderne zielt: Das Böse darf 68 69 70 71 72 73
Ibid. SW 8, 160. Ibid. SW 8, 160. Ibid. SW 8, 157. Ibid. SW 8, 187. Ibid. SW 8, 157. Ibid. SW 8, 187.
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„nicht als allgemeine Größe einer abstrakten Reflexion missverstanden werden. Der Begriff des Bösen muss vielmehr als Chiffre verstanden werden für das Autonomiestreben des modernen Menschen, das sich im Terreur der Französischen Revolution ebenso entlädt wie in der ökonomischen Egomanie prosperierender Gesellschaftsschichten. Böse ist, wer sich an der hergebrachten Tradition in Wort und Tat vergeht und so die gottgewollte Ordnung verwirrt – das tun sowohl die Mitglieder des Revolutionstribunals als auch der profitorientierte Kapitalist.“74
Sofern sich Schelling nicht nur darauf beschränkt, die Merkmale des Bösen zu analysieren, sondern es auch überwinden will, und laut Schneider der Weg zum Guten christlich geprägt ist, kann man sagen, dass die Freiheitsschrift eine einer vorwiegend christlichen Weltanschauung entspringende Zeitkritik ist: „Der Begriff des Bösen ist demnach ambivalent: Einerseits dient er der Entlarvung vermeintlicher oder wirklicher kultureller Fehlentwicklungen, andererseits erfüllt er diese Funktion nur vor dem Hintergrund einer normativ-christlichen Welt- und Lebensdeutung und erweist sich damit als tendenziell apologetisch.“75 Das Böse ist dementsprechend die Kennzeichnung Schellings für die gegenchristlichen Merkmale der Moderne, die philosophisch bekämpft werden sollen, wenn man sie auf Dauer überwinden will. P. Oesterreich richtet seine Aufmerksamkeit nicht auf die christlichen Züge der Freiheitsschrift, interpretiert aber das Böse auch als eine Kritik der Moderne: „Schellings Rede vom Bösen besitzt am Ende des 20. Jahrhunderts gerade deshalb eine neue Aktualität, weil sie nicht vom triumphalen Gelingen, sondern von der tiefgreifenden Krise der Moderne spricht, die sich auch in der gegenwärtigen ,Renaissance des Bösen‘ reflektiert. Sie warnt davor, dass das neuzeitliche Projekt radikal reflexiver Selbstbestimmung und Selbstkonstruktion – losgelöst von der antiken Entdeckung objektiver Vernunft – die Menschheit zu einer imaginativen Verblendung verleiten könnte, aus der ausweglose Seinsferne, Sinnlosigkeit und Selbstzerstörung hervorgehen.“76 Trotz des Anschlusses der Freiheitsschrift an Elemente des Begriffes „Böse“, die ihm in der Antike zugeschrieben wurden,77 ist sein Kern auf spezifische moderne Phänomene bezogen: „Analog zu Fichtes neuem religiösen Denken liegt der Existenz der neuen Metaphysik Schellings eine fundamentale Kritik neuzeitlicher Subjektivität zugrunde, die ins Herz des Emanzipationsprojekts der Moderne, nämlich ihres Freiheitsbegriffes zielt.“78 Die unendliche Wandelbarkeit des Bösen ist nichts anderes als die selbstzerstörerische Schöpfungskraft der neuzeitlichen Subjektivität: „In dieser Versabilität, der infiniten Potenz des Andersseinkönnens und der permanenten Nicht-Identität, bildet das Böse den verkehrten Modus zu sich selbst gekommener moderner Subjektivität, die sich 74
Schneider, S. 92. Ibid. S. 93. 76 Oesterreich (1997), S. 170. 77 Diese Behauptung bezieht sich auf den „antike[n] Topos vom Chaos der Materie“. Auf dieser Basis findet in der Freiheitsschrift laut Oesterreich eine „Verfinsterung“ der Natur statt. Ibid. S. 166. 78 Ibid. S. 167. 75
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im Bewusstsein ihrer unendlichen Setzungsmacht zugleich in der leeren Unendlichkeit ihrer eigenen Freiheit verliert.“79 Ein verkehrtes Verständnis der Freiheit, die spezifisch modern ist und eine „besondere Affinität zu höchster Intellektualität besitzt“80 und die in den „Phantasmen und Fiktionen ihrer eigenen Systementwürfe,“81 also bestimmten politischen und ökonomischen Ideologien, zum Ausdruck kommt, ist laut Oesterreich der geschichtliche Hintergrund des Bösen. J. Halfwassen schließt ebenfalls daran an, aber im Rahmen des Phänomens des modernen „Willens zur totalen Herrschaft“, so wie es in der „Katastrophengeschichte des 20. Jahrhunderts“82 auftrat: „Schellings Aktualität bewährt sich, so scheint mir, gerade bei der philosophischen Analyse der ureignen Erfahrungen unseres Jahrhunderts, der Erfahrung der Vernichtung, die aus dem entfesselten Willen zu totaler Herrschaft entspringt, der Erfahrung der existenziellen Bedrohung der Würde des Menschen und des Bestands der Schöpfung durch Totalitarismen der politischen Herrschaftssucht und des technologischen Machbarkeitswahns.“83 Der „Wille zur totalen Herrschaft“, der in der Freiheitsschrift in der Form des „eigensüchtigen Egos“84 erscheint, das als solches anstrebt das Ganze zu sein, bezieht sich einerseits auf eine unbegrenzte politische Macht und andererseits auf eine entfesselte technische Macht: Er zeigt sich „erstens im politisch-ideologischen Totalitarismus als Wille zu totaler Herrschaft über den Menschen, also als Totalplanung der menschlichen Gesellschaft und rassistische ,Züchtung‘ eines bestimmten Menschentypus, und zweitens als Wille zur totalen Herrschaft über die Natur, wie er sich im Machbarkeitswahn der Technik und hier am stärksten wohl in den Allmachtsphantasien der Gentechnologen zeigt.“85 Schellings Metaphysik kann die Wurzel dieser geschichtlichen Phänomene begreifen, weil ihnen die menschliche Vernunft, die nach der Freiheitsschrift und in Anschluss an Platon auf das Ganze bezogen ist, zugrunde liegt. Nachdem die „Revolution des Geistes“ stattfindet, in der „Selbst und Logos in ihm die Rolle tauschen,“86 gibt der Mensch die Suche nach Totalität nicht auf, sondern er setzt sie in einer verzerrten Form fort. Die Weltoffenheit des Menschen wird darin bewahrt aber diesmal im Dienste des Eigenwillens. Das Resultat ist eine Instrumentalisierung der Vernunft, die sich nicht nur auf die Beziehung jedes Menschen zu den anderen und auf die Beziehung des Menschen zu der Natur negativ auswirkt, sondern wie das Böse bei Platon selbstzerstörerisch ist. Schelling begreift auf diese Weise die spezifische Form der Gewalt in der Moderne, d.i. eine aufs Ganze
79 80 81 82 83 84 85 86
Ibid. S. 168. Ibid. S. 170. Ibid. S. 171. Halfwassen (2000), S. 81. Ibid. S. 94. Ibid. S. 92. Ibid. S. 82. Ibid. S. 91.
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gehende Gewalt, durch die sich der Mensch aufgrund seiner eigenen Machtansprüche vernichtet.87 b) Die Aufklärungskritik in dem Würzburger System Die Schelling-Forschung hebt verschiedene Aspekte des Bösen hervor, aber die verschiedenen Perspektiven tragen gleichermaßen seiner Verbindung mit politischen Phänomenen, und zwar im Rahmen der Moderne, Rechnung. Die politische Dimension des Bösen zu übersehen bedeutet, einen Teil des Bedeutungsreichtums dieses Begriffes zu verstümmeln und seinen Wert als Diagnose der Pathologien der neuzeitlichen Rationalität zu verpassen. Rekonstruiert man die Entstehung des Begriffes „Böse“ bei Schelling, tauchen diese Merkmale deutlicher auf. In diesem Zusammenhang stellt das Würzburger System einen wichtigen Durchgangspunkt seiner Entwicklung dar. 1804 ist Schelling schon der Ansicht, dass das Böse die Verabsolutierung der endlichen Subjektivität ist, aber dabei legt Schelling vor allem auf die Betrachtung der individuellen Wahlfreiheit als dem Hauptanzeichen der Trennung des Menschen von Gott Nachdruck und nicht auf die Instrumentalisierung des Logos. „Das ursprüngliche Böse liegt also darin, dass der Mensch etwas für sich selbst und aus sich selbst seyn will“88, und die Tendenz jedes einzelnen Menschen, von aller göttlichen Gebundenheit losgebunden handeln zu wollen und immer wieder zwischen dem Guten und dem Bösen wählen zu wollen, ist der Kern dieses Aus-sichselbst-Handelns, d.i. des Autonomiestrebens des Menschen. Schelling behauptet, dass die Universalität des Sittengesetzes dabei einbezogen ist. Das Böse ist nicht einfach die Erhebung der Wahlfreiheit des Einzelnen zur menschlichen Freiheit überhaupt, denn die moralische Autonomie ist auch ein Mittel der Selbstbehauptung der endlichen Subjektivität. Die Universalität des kategorischen Imperativs ist auch ein Ausdruck des Bösen.89 Wenn Schelling an die Verendlichung der Vernunft denkt, richtet er dennoch seine Aufmerksamkeit nicht allein auf die Moralität, sondern auch auf alle Projekte, die im Namen der Perfektibilität des Menschen versuchen, eine besondere Perspektive zu verallgemeinern. Statt der wahren Gesinnung, sich selbst zu transzendieren und die Einheit mit Gott wiederherzustellen, tendieren die Menschen eher dazu, andere Menschen zu überzeugen, ihre besondere Vision der Zukunft zu verwirklichen: „Nichts ist entfernter von dieser Gesinnung als das unruhige Streben, andere unmittelbar bessern oder weiterbringen zu wollen, die philanthropische Sucht so vieler Menschen, welche das Wohl der Menschheit beständig im Munde führen und gleichsam an der Stelle der Vorsehung den Fortgang der Menschheit beschleunigen wollen.“90
87 88 89 90
Ibid. S. 82. Schelling (1856 – 1861), SW 6, 561. Ibid. Ibid. SW 6, 563.
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Diese Kritik vieler politischer und pädagogischer Projekte, die offensichtlich zur Aufklärung gehören, hängt mit der Distanzierung Schellings von der Intersubjektivitätsproblematik zusammen: „Wenn auch nur wenige dazu gelangen, in der Zeit noch die Ewigkeit auszudrücken, so erhellt sich doch aus dem Bisherigen, dass jeder für sich des Höchsten theilhaftig werden und mit Gott wahrhaft eins werden will, und dass er hierzu der anderen Menschen nur bis zu einem gewissen Grad bedarf.“91 Ein Minimum an Beziehungen zwischen den Menschen ist notwendig, weil nicht alle Menschen von sich selbst aus den Weg finden können, um an der göttlichen Vernunft wieder teilzuhaben. Es handelt sich dabei jedoch nicht um ein Subjekt, das ein anderes auffordert, seinen eigenen Standpunkt nachzuvollziehen und vor allem ihm gemäß zu handeln, sondern um einen Menschen, der anderen Menschen den Weg zeigt, das allen Gemeinsame und von keinem Menschen Hervorgebrachte begreifen zu können. Die von Schelling kritisierten Projekte, die nicht auf letzte Gedanken zurückgreifen, sondern auf partielle Weltansichten, sind hingegen als Versuche einzelner Menschen, ihre Perspektiven zu verbreiten, zu interpretieren. Gerade die Menschen, die sich selbst nicht erkennen und sich mithin nicht ihrer Endlichkeit bewusst sind, sind diejenigen, die anstreben, Weltverbesserer zu sein. Philanthropen sind „gewöhnlich solche, die sich selbst nicht zu vervollkommnen wissen und daher die Früchte ihrer eignen Langweile andere genießen lassen wollen.“92 Würden die Menschen zur Selbsterkenntnis und Selbstüberwindung kommen, wären die utopischen Projekte belanglos: „Die menschenfreundlichen Ideen eines künftigen goldenen Zeitalters, eines ewigen Friedens u.s.w. verlieren von diesem Standpunkt aus großenteils ihre Bedeutung.“93 Damit verbindet Schelling eine Kritik an der Idee des Fortschritts: „Das goldene Zeitalter würde von selbst kommen, wenn es jeder in sich darstelle, und wer es in sich hat, bedarf es nicht außer sich. Die Weisheit der Alten hat uns einen bedeutenden Wink hinterlassen, indem sie das goldene Zeitalter hinter uns verlegt [haben; C.R], gleichsam um dadurch anzudeuten, dass wir es nicht durch ein endloses und unruhiges Fortschreiten und Wirken nach Außen, vielmehr zu einer Rückkehr zu dem Punkt, von dem jeder ausgegangen ist, zu der inneren Identität mit dem Absoluten, zu suchen haben.“94 Schelling gibt der möglicherweise immer wiederkehren Vergangenheit eine privilegierte Stellung im Zeitbewusstsein.95 Diese erinnernde Rückführung jedes Menschen in eine allen Menschen gemeinsame Vergangenheit und die damit verbundene Abkehr vom Handeln als ein zukunftsorientiertes „Wirken nach Außen“ und von der Suche nach der Zustimmung anderer Menschen, um die eigenen Projekte zu verwirklichen, bilden einen Zusammenhang, der gegen die verschiedenen politischen Programme der Aufklärung und insbesondere gegen die revolutionären gerichtet ist. Dass Schelling darauf zielt, ist deutlich, indem er die hier zitierten Reflexionen mit der Erwähnung der Versuche, 91 92 93 94 95
Ibid. Ibid. Ibid. Ibid. SW 6, 563 – 564. Ibid. SW 6, 564.
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den Staat von Grund aus zu transformieren, beendet. Schelling sagt, dass sie verständlich sind, weil das Schöne und das Große aus dem Staat verschwunden sind, aber dass die „wahre Revolution“96 aus keinem zukunftsorientierten Plan resultiert. Sie scheint sich für Schelling aus der inneren Veränderung einzelner Menschen zu ergeben. Einen „Vernunftstaat“ zu bilden, ist deshalb nicht Sache der Politik. c) Die Irrationalität der Rationalisierung Schellings Polemik gegen die politischen Folgen der Aufklärung ist fast so alt wie die Identitätsphilosophie. Geht man ein bisschen mehr in dem Werk Schellings zurück, merkt man nun, dass Schelling 1802 die Grundlage der Idee einer Instrumentalisierung der Vernunft schon konzipiert und mit der politischen Unruhe verknüpft hatte. In seiner zusammen mit Hegel geschriebenen Schrift „Über das Wesen der philosophischen Kritik“ ist er darauf eingegangen, und zwar im Rahmen einer Kritik der Rezeption des Idealismus unter den Bedingungen der Popularisierung der Philosophie und der Tendenz zur Demokratisierung der Gesellschaft. Die Gründe der folgenden Behauptung Oesterreichs über das Böse in der Freiheitsschrift – „Hinter der Metaphysik des Bösen und der allgemeinen Kritik neuzeitlicher Subjektivität steht deshalb bei Schelling die Selbstaufklärung über die Selbstgefährdung des Idealismus als Lehre vom Absoluten.“97 – tauchen in aller Deutlichkeit auf, wenn man „Über das Wesen der philosophischen Kritik“ liest. Hauptziel der Schrift ist es, den wahren von dem falschen Sinn des Begriffs „Kritik“ und auf diese Weise die wahre Philosophie von ihren Surrogaten zu unterscheiden. Es geht um eine Metakritik der Kritik, so wie sie verschiedene aufklärerische Lehren übten. Die Philosophie ist nichts anderes als das „Erkennen des Absoluten“ oder das Selbsterkennen der Vernunft im menschlichen Bewusstsein. Wahre Kritik ist nur diejenige, deren Maßstab das ewige „Urbild der Sache selbst“98 ist, das allgemeingültig ist, und nicht diejenige, die von einem partiellen und dementsprechend nicht zur Form des Systems erhobenen Standpunkt ein besonderes Phänomen beurteilt. Hält sich die Kritik nicht an dieses Kriterium, verwandelt sie sich in bloße „Verwerfung“ und mithin in einen Kampf zwischen Perspektiven, die sich gleichberechtigt glauben: „Was nichts miteinander gemein hat, tritt eben damit in gleichem Recht auf.“99 Alle Kritik ist „Subsumption unter die Idee“100 und, wenn diese Idee nicht die des Absoluten ist, handelt es sich nur um eine verzerrte Form derselben. Das Erkennen des Absoluten ist „die Bedingung und Voraussetzung, ohne welche jene [die philosophische Kritik; C.R.] in alle Ewigkeit nur Subjektivitäten gegen Subjektivitäten, niemals das Absolute gegen das Bedingte zu setzen hätte“101. Das Problem ist aber, dass sich die 96
Ibid. SW 6, 654. Oesterreich (1997), S. 170. 98 Schelling (1856 – 1861), SW 5, 3. 99 Ibid. SW 5, 5. 100 Ibid. 101 Ibid. SW 5, 3. 97
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beschränkten Perspektiven als wahre Systeme ausgeben: „Es gibt aber noch eine Manier, an die sich die Kritik vorzüglich zu heften hat, nämlich diejenige, welche im Besitz der Philosophie zu sein vorgibt, die Formen und Worte, in welchen große philosophische Systeme sich ausdrücken, gebraucht, viel mitspricht, aber im Grunde ein leerer Wortdunst ohne inneren Gehalt ist.“102 Das Resultat ist eine Pluralität von Pseudosystemen, die gegeneinander kämpfen und trotz des Scheines von Allgemeingültigkeit nur eine besondere Perspektive vertreten. Es kommt häufig vor, sagen Schelling und Hegel, dass „jedes philosophische Beginnen sich zu einer Wissenschaft und einem System erweitert oder wenigstens als absolutes Prinzip der ganzen Philosophie aufsteht und daß dadurch eine solche Menge von Systemen und Prinzipien entsteht“103. Ist die Aufklärung eine Aufforderung zum Selbstdenken, ist seine pervertierte Form die Suche der Individuen danach, eine eigene Theorie zu entwerfen, die jedoch die Besonderheit ihres Ursprungs nicht überwindet: „Das Selbstdenken meint sich allein durch Originalität, die ein ganz eigenes und neues System erfindet, ankündigen zu müssen.“104 Die wahre Originalität unterscheidet sich deutlich von dem Anspruch nach Allgemeingültigkeit der Besonderheit, die „innerhalb der allgemeinen Heerstraße der Kultur“ und folglich der „Reflexionskultur“105 bleibt. „Was sie innerhalb jener Heerstraße sich Eigenes erschaffen hat, ist eine besondere Reflexionsform, aufgegriffen von irgendeinem einzelnen und darum untergeordneten Standpunkt, die in einem Zeitalter, das den Verstand so vielseitig ausgebildet, besonders auch ihn so mannigfaltig an der Philosophie verarbeitet hat, wohlfeil zu haben ist.“106 Die „Versammlung solcher origineller Tendenzen und des mannigfaltigen Bestrebens nach eigenen Formen und Systemen“ bietet „das Schauspiel der Qual der Verdammten“, die „ihrer Beschränktheit ewig verbunden“107 bleiben, und nicht das Aufblühen verschiedener Formen philosophischer Kreativität. Von der „Qual der Verdammten“ zu sprechen ist hierbei passend und es ist nicht einfach eine Form, den Zeitgeist schwarzzumalen, weil die Besonderheit gegen sich selbst handelt, wenn sie sich als das Ganze ausgibt: „Was die Arbeit betrifft, eine solche Besonderheit zum System zu erweitern und sie als das Ganze darzustellen, so hält diese Arbeit freilich härter, und die Besonderheit müßte an ihr scheitern; denn wie wäre das Beschränkte fähig, sich zu einem Ganzen auszudehnen, ohne eben damit sich selbst zu zersprengen?“108 Keine Perspektive kann an ihren eigenen Ansprüchen festhalten, weil sie dafür ihre eigenen Grenzen übertreffen würde: „Schon die Sucht nach einem besonderen Prinzip geht darauf, etwas Eigentümliches und nur sich selbst Genügendes zu besitzen, das sich dem Anspruch an Objektivität 102 103 104 105 106 107 108
Ibid. SW 5, 7 – 8. Ibid. SW 5, 8. Ibid. Ibid. SW 5, 13. Ibid. SW 5. 9. Ibid. Ibid.
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des Wissens und an Totalität desselben entzieht.“109 Die Gesamtsituation ist eine „Sucht des Wechselnden und Neuen“, ein „unruhiges Treiben,“110 das, von der Seite der Besonderheit aus gesehen, von einem „dunklen Gefühl eines Misstrauens und eine geheime Verzweiflung“111 begleitet ist. Die Wurzel vieler verschiedener Lehren, welche das Beschränkte verabsolutieren, ist die Verwandlung der Subjektivität in den unhintergehbaren und unbezweifelbaren Ausgangspunkt der Letztbegründung der Philosophie: „Der gewisse Anfangspunkt, der, um gewiß zu sein, im unmittelbaren Bewußtsein aufgegriffen wird, scheint [das], was ihm dadurch, daß er ein endlicher ist, abgeht, durch seine unmittelbare Gewißheit zu ersetzen; und das reine Selbstbewußtsein, da es, insofern es Anfangspunkt ist, als ein reines in unmittelbarer Entgegensetzung gegen das empirische gesetzt wird, ist ein solcher.“112 Damit ist natürlich Descartes gemeint, der für den „Dualismus in der Cultur der neueren Geschichte“113 verantwortlich ist, aber auch Kant und Fichte. Die kritische Philosophie hat mindestens den Vorteil, dass sie von „einer Art von bösem Gewissen behaftet ist“114, und sich nicht für absolut ausgibt. Das Absolute hat dabei nur die Form der höchsten Idee und „nicht zugleich des einzigen Seins“115. Trotzdem ist sie die Basis vieler Systeme, die anstreben, das Ganze darzustellen, aber von Anfang an zum Scheitern verurteilt sind, weil die Subjektivität endlich ist und ihre Transformation in den Grund eines Systems nicht ihre Endlichkeit aufhebt. Das Resultat ist eher, dass sie eine formelle Grundlage bleibt, die nicht in der Lage ist, der Grund eines Systems zu sein oder die Mannigfaltigkeit der Formen des Wissens wirklich zu integrieren. Die Subjektivität ist natürlich ein Moment der Entwicklung des absoluten Wissens, aber sie soll sich selbst transzendieren, um die Idee der Philosophie ausdrücken zu können, „denn wahre Energie jener Idee und Subjektivität sind unverträglich“116. Dass die auf die endliche Subjektivität gegründeten Systeme nicht ihre eigenen Ansprüche erfüllen, ist ein Problem aus der Sicht der Philosophie als Wissenschaft, aber nichtsdestotrotz haben sie eine verbreitete Wirkung auf einer gesellschaftlichpolitischen Ebene. Schelling und Hegel beschreiben die Situation der Philosophie in einem Zeitraum, in der sie sich popularisiert und politisiert hat. Die Philosophie hatte die Grenzen der Universität und der Kreise geistiger Eliten überschritten und vor allem wegen der Entstehung einer politisch aktiven Öffentlichkeit, war sie eine „geistige Waffe“ inmitten des politischen Kampfs geworden. Die philosophischen Begriffe und die philosophischen Theorien zielten auf die Mobilisierung der Öf109 110 111 112 113 114 115 116
Ibid. Ibid. SW 5, 15. Ibid. Ibid. SW 5, 12. Ibid. SW 5, 15. Ibid. SW 5, 11. Ibid. SW 5, 12. Ibid. SW 5, 7.
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fentlichkeit in eine bestimmte politische Richtung und versuchten, vor allem mithilfe von Visionen der Zukunft, als Handlungsorientierung zu dienen. In diesem Sinne spricht R. Koselleck von der „Sattel- oder Schwellenzeit“ (1750 – 1850).117 In diesem Zusammenhang, der natürlich bei Schelling und Hegel mit der Französischen Revolution verbunden ist, sollte die Philosophie populär werden, um ein breites Publikum zu finden, aber das ging aus ihrer Sicht auf Kosten ihrer Wissenschaftlichkeit: „In diesen Zeiten der Freiheit und Gleichheit aber, in welchen sich ein so großes Publikum gebildet hat, das nichts von sich ausgeschlossen wissen will, sondern sich zu allem gut oder alles für sich gut genug hält, hat das Schönste und das Beste dem Schicksal nicht entgehen können, daß die Gemeinheit, die sich nicht zu dem, was sie über sich schweben sieht, zu erheben vermag, es dafür so lange behandelt, bis es gemein genug ist, um zur Aneignung fähig zu sein; und das Plattmachen hat sich zu einer Art von anerkannt verdienstlicher Arbeit emporgeschwungen.“118 Die Philosophie „populär oder eigentlich gemein zu machen“119 ist daher eine Tendenz der Zeit, die ihrem Wesen widerstrebt: „Die Philosophie ist ihrer Natur nach etwas Esoterisches, für sich weder für den Pöbel gemacht noch einer Zubereitung für den Pöbel fähig.“120 Verwickelt sie sich in konjunkturelle oder rein lokale Diskussionen, verliert sie eines ihrer Merkmale, nämlich den Standpunkt des „gesunden Menschenverstands“ herauszufordern.121 Politisch ist dies jedoch ein Vorteil. Ist die Philosophie allgemein verständlich und knüpft sie vor allem an die Bedürfnisse nach Orientierung in moralischer und politischer Hinsicht an, ist ihr Erfolg garantiert: „Außerdem daß die Unphilosophie und Unwissenschaftlichkeit, wie sie sonst die Philosophie frei verachtete, eine philosophische Form zu ihrer Rechtfertigung angenommen hat, hat sie hierdurch zugleich noch höhere Vorteile erreicht, nämlich den gesunden Menschenverstand und jedes beschränkte Bewußtsein und die höchsten 117 H. Berding hat den Sinn der „Sattelzeit“ bei Koselleck treffend zusammengefasst: „Nach der ,Sattelzeit“-Hypothese hat sich im Zusammenhang mit der industriellen Revolution in Großbritannien und der politischen Revolution in Frankreich auf der Epochenschwelle von rund 1750 bis rund 1850 ein tiefgreifender und sich beschleunigender Bedeutungswandel der politisch-sozialen Terminologie vollzogen. Aufgrund des raschen Erfahrungswandels sei mit dem Erfahrungshorizont auch die gesamte, auf Wandel und Erweiterung von Erfahrung bezogene Terminologie beweglich geworden. Zu den von Koselleck hervorgehobenen wichtigsten Kriterien dieses langfristigen Vorgangs gehört die Demokratisierung der politisch-sozialen Terminologie: im Zuge der sich auflösenden ständischen Welt habe sich der Anwendungsbereich vieler Begriffe ausgedehnt. Mit den neuen Erfahrungen seien neuen Erwartungen gesetzt worden, so dass überkommene topoi, gefühlsmäßig aufgeladen, von Indikatoren in Promotoren der politisch-sozialen Verhältnisse verwandelt worden seien (Verzeitlichung der kategorialen Bedeutungsgehalte). Mit dem Verlust der anschaulich hingenommenen Zuordnung von sozialen Gegebenheiten und deren Benennung sei der Abstraktionsgrad vieler Begriffe gestiegen, und diese seien damit verschieden verfügbar geworden (Ideologisierbarkeit). Schließlich sei mit der Pluralisierung der gesellschaftlichen Welt nicht nur die Chance, sondern auch der Zwang zu Politisierung gewachsen“. Berding, S. 103 – 104. 118 Schelling (1856 – 1861), SW 5, 14. 119 Ibid. SW 5, 13. 120 Ibid. SW 5, 13. 121 Ibid. SW 5, 13.
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Blüten desselben, nämlich die jeweiligen höchsten moralischen Interessen der Menschheit mit der Philosophie ausgesöhnt.“122 Begriffe, die moralischen oder politischen Fortschritt versprechen, sind deswegen diejenigen, die den größten Beifall finden und dennoch zugleich ganz von der Wahrheit entfernt sind: „Die Aufklärung drückt schon in ihrem Ursprung und an und für sich die Gemeinheit des Verstandes und seine eitle Erhebung über die Vernunft aus, und daher hat es keiner Veränderung ihrer Bedeutung bedurft, um sie beliebt und faßlich zu machen; aber man kann annehmen, daß das Wort ,Ideal‘ nunmehr die allgemeine Bedeutung dessen trägt, was keine Wahrheit in sich hat, oder das Wort ,Humanität‘ desjenigen, was überhaupt platt ist.“123 Im Unterschied zu der Freiheitsschrift und den Weltaltern, in denen Schelling an eine Philosophie für das „Volk“124 denkt und sie deshalb der Form des Mythos annähert, ist er 1802 der Meinung, dass die Philosophie nur esoterisch sein kann. Die Möglichkeit eines allgemeinen Zugangs zum Absoluten ist anscheinend noch Sache der Kunst.125 Manches hat sich jedoch nicht verändert. Obwohl seine Präskription 122
Ibid. SW 5, 10 – 11. Ibid. SW 5, 14. 124 In seinem Tagebuch schreibt Schelling am 13. 10. 1813: „Dazu so schreibe ich nicht der Schule, sondern dem Volk.“ Und er fügt hinzu: „Hoher Wert des Populären. Etwas, das der Zeit nottut.“ Schelling (1994), S. 153. 125 Eine der Grundthesen des sogenannten „ältesten Systemprogramms des deutschen Idealismus“ ist die Auffassung der Kunst bzw. der Schönheit als Organ der Darstellung der Vernunftideen. Nur unter dieser Bedingung können die Ideen Allgemeingültigkeit beanspruchen: „Ehe wir die Ideen ästhetisch, d. h. mythologisch machen, haben sie für das Volk kein Interesse; und umgekehrt, ehe die Mythologie vernünftig ist, muß sich der Philosoph ihrer schämen.“ (Hegel, 1971. S. 236). Die Schönheit ist das Werkzeug, um Philosophie und Volk zu verbinden. Wenn Schelling in den „philosophischen Briefen über Dogmatismus und Kritizismus“ sagt, dass es „mittelbare Erfahrungen“ (Schelling (1856 – 1861), SW 1, 318) gibt, die sich der absoluten Freiheit der intellektuellen Anschauung annähern, denkt er an die Schönheit. Philosoph ist derjenige, der die absolute geistige Freiheit hat, die intellektuelle Anschauung hervorzubringen. „Doch gibt es für diejenigen, die diese Freiheit der Selbstanschauung nicht besitzen, wenigstens Annäherung zu ihr.“ (Ibid). Die Schönheit ist daher eine Erinnerung des Absoluten für die Nicht-Philosophen. Das „System des transzendentalen Idealismus“ entwickelt diese Idee. Die Produktion des Kunstwerkes hat zweifellos eine elitäre Seite, weil sie das Genie voraussetzt (ibid. SW 3, 616, 618 – 619), aber das Kunstprodukt zielt darauf ab, allen Menschen das „Absolute“ oder das „Urselbst“ (ibid. SW 3, 615 Fn.) bewusst zu machen. Es enthüllt den universellen Kern der Subjektivität. (Ibid. SW 3, 616). In der Rezeption des Kunstwerkes, die mit einer „unendlichen Auslegung“ (ibid. SW 3, 620) assoziiert ist, findet deshalb der Zugang des Nicht-Philosophen zum Absoluten statt. Obwohl alle Menschen dazu fähig sind, sich zur Perspektive des Absoluten durch die Philosophie zu erheben, ist Schelling nicht optimistisch, was die Allgemeingültigkeit der Philosophie betrifft. Die Kunst kann aber diese Allgemeingültigkeit beanspruchen. Die Kunst ist daher der Beweis, dass die intellektuelle Anschauung keine sonderbare Erfahrung der Philosophen ist, sondern eine allgemein menschliche: „Wenn es denn nun aber doch eine solche Anschauung gäbe, welche das absolut Identische, an sich weder Sub- noch Objektive zum Objekt hat, und wenn man sich wegen dieser Anschauung, welche nur eine intellektuelle sein kann, auf die unmittelbare Erfahrung beriefe, wodurch kann denn nun auch diese Anschauung wieder objektiv, d. h. wie kann außer Zweifel gesetzt werden, daß sie nicht auf einer bloß subjektiven Täuschung beruhe, wenn es nicht eine 123
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anders wird, ist seine Diagnose des Zeitgeistes 1809 z. T. auf seine Reflexionen über die Natur der Philosophie im Jahr 1802 gegründet. Schelling ist damals der Ansicht, dass es zwischen Aufklärung, Verabsolutierung der Subjektivität im subjektiven Idealismus, Bildung von Pseudosystemen, Popularisierung der Philosophie, großem Interesse an Ideen von moralischem und politischem Fortschritt und Politisierung der Philosophie, vor allem im Namen des Republikanismus, einen Zusammenhang gibt. Die Grundstruktur des Bösen, nämlich die Umkehrung des wahren Verhältnisses zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen, und ihre Folgen, sind dabei in einer entmythifizierten Form skizziert. Die gesellschaftlich-politischen Veränderungen, die manchmal als langsame und stille Umänderungen des Alltags der Gemeinschaften und manchmal als „lautere politische und religiöse Revolutionen“ zum Ausdruck gekommen sind, sind die „Außenseite“126 einer kulturellen bzw. geistigen Veränderung. Die Politik ist in diesem Zusammenhang kein Randphänomen. Sie kann nicht von dem Zeitgeist und dementsprechend von der Verabsolutierung der Subjektivität abstrahiert werden. Im Gegenteil: Sie ist eine seiner deutlichsten Ausdrucksformen. Abgesehen davon, wie die Philosophie diesen geschichtlichen Zustand überwindet und welche Art von Therapie sie empfiehlt, ist Schelling 1802 und 1809 der Meinung, dass die politischen Folgen der Aufklärung eher destruktiv sind. Die intensiven, manchmal gewaltsamen sozialen Konflikte haben sich mit Produkten des Verstandes überdeckt und auf diese Weise greifen die verschiedenen Parteien auf allgemeine Theorien, auf die Suche nach Beifall in der Öffentlichkeit und auf die gegenseitige Kritik zurück, aber es handelt sich dabei laut Schelling um eine verzerrte Form der Macht des Denkens, die von der Vernunft und folglich von der spekulativen Erkenntnis des Absoluten entfernt ist. Die wahre Kritik, die eine Überwindung jeder Einseitigkeit und jedes Dualismus aus der Sicht des Absoluten voraussetzt, verfällt hierbei dagegen in eine Verharrung der Gegensätze und folglich der sozialen Konflikte: „Wenn die Kritik selbst einen einseitigen Gesichtspunkt gegen andere ebenso einseitige geltend machen will, so ist sie Polemik und Parteisache.“127 Trotz des Anscheins, vernünftig zu sein, sind die philosophischen Lehren, die eine besondere Perspektive vertreten, samt der politischen Gruppierungen, die sie unterstützen oder ermöglichen, die Negation der Vernunft. Alles, was
allgemeine und von allen Menschen anerkannte Objektivität jener Anschauung gibt? Diese allgemein anerkannte und auf keine Weise hinwegzuleugnende Objektivität der intellektuellen Anschauung ist die Kunst selbst. Denn die ästhetische Anschauung eben ist die objektiv gewordene intellektuelle.“ (Ibid. SW 3, 625). Die Kunst kann daher das Vernünftige schlechthin, die intellektuelle Anschauung, indirekterweise allgemeinfähig machen. Schelling bleibt der Idee der „Mythologie der Vernunft“ im „System des transzendentalen Idealismus“ treu. Darüber sagt T. Otabe das Folgende: „Leibniz und seine Schule ordnen dem Ästhetischen die Funktion zu, das Akroamatische bzw. das Esoterische exoterisch d. h. populär zu machen. Diese Denkweise zeigt sich, wenn auch modifiziert, sowohl in Schillers Theorie, im ,Ältesten Systemprogramm‘ und in Schellings Philosophie der Kunst.“ Otabe, S. 79. 126 Schelling (1856 – 1861), SW 5, 15. 127 Ibid. SW 5, 17.
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Partei ist, ist „Nichts für die wahre Philosophie“128, aber solche Parteien glauben dennoch, etwas zu sein, weil sie gegeneinander kämpfen. Die Intensivierung des Konflikts und die immer offene Möglichkeit des Gebrauchs der Gewalt, sind daher die Bedingung ihrer eigenen Realität: „Weil aber, wenn eine Menge eine andere Menge sich gegenüberstehen hat, jede von beiden eine Partei heißt, aber wie die eine aufhört, etwas zu scheinen, auch die andere aufhört, Partei zu sein, so muß einesteils jede Seite es unerträglich finden, nur als eine Partei zu erscheinen und den augenblicklichen, von selbst verschwindenden Schein, den sie sich im Streit gibt, nicht vermeiden, sondern sich in Kampf, der zugleich die werdende Manifestation des Nichts der anderen Menge ist, einlassen.“129 d) Subjektivismus und Schwärmerei Um die Verbindung zwischen den Reflexionen Schellings in „Über das Wesen der philosophischen Kritik“ und der Freiheitsschrift zu verdeutlichen, ist es vielleicht wichtig, auf einen Text zwischen diesen zwei Schriften zu schauen, der an den Ideen von 1802 festhält und zugleich an einige Thesen der Freiheitsschrift erinnert. In seiner Rezension der Schrift Fichtes „Über das Wesen des Gelehrten“ (1806) schreibt Schelling das Folgende: „Schwärmer, auch Schwärmgeister, nennen Doktor Luther und seine Zeitgenossen Menschen, die eine gewisse Verbindung und Folge von Sätzen, die bloß in ihrer Eigenheit gegründet sind und nur durch ihre Subjektivität zusammengehalten werden, aber weder in ihnen selbst noch an sich einen objektiven Grund und Zusammenhang haben, durch ihre bloße Subjektivität geltend machen wollen. Alles, was allein Sache des Subjekts ist, und dennoch für Wahrheit angesehen seyn will, sucht der Charakter innerer Allgemeingültigkeit durch den äußeren des allgemeinen Geltens sich zu ersetzen und zu erheucheln, d. h. es strebt, sich selbst zur Sache aller Subjekte zu machen, mit einem Wort Partei zu stiften. Schwärmer ist, wer auf diese Art einen Schwarm, eine Sekte bildet; der Sektirer. Derjenige, der eine Sache von ihrem Mittelpunkt erkannt und in ihrer ganzen Tiefe durchdrungen hat, bedarf zur Ergänzung seiner Gewissheit keiner fremden Subjektivität; vielmehr ihm ist zuwider, er verabscheuet, ja er könnte sich fürchten vor der Sekte, die sich ohne seine Schuld um ihn bildete, d. h. einer Menschenmenge, die seiner Lehre beizustimmen und sie zu behaupten nur subjektive Gründe hätte, z. B. des Gewinns, einer eitlen Ehre oder auch, die dem Zuge schwacher Hingebung und eines verstandlosen Eifers folgte.“130
Die „Revolution des Geistes“ (Halfwassen), die das Böse in der Freiheitsschrift auszeichnet, besteht in der Umkehrung der wahren Beziehung zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen im Menschen: „Die allgemeine Möglichkeit des Bösen besteht, wie gezeigt, darin, dass der Mensch seine Selbstheit, anstatt sie zur Basis, zum Organ zu machen, vielmehr zum Herrschenden und zum Allwillen zu
128 129 130
Ibid. Ibid. Schelling (1856 – 1861), SW 7, 44.
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erheben, dagegen das Geistige in sich zum Mittel zu machen streben kann.“131 1809 hat Schelling auf der Basis der Unterscheidung zwischen Grund und Existenz eine Anthropologie entwickelt, die keine genaue Entsprechung in den vorherigen Werken hat. Trotzdem ist die Idee des Bösen als Umkehrung eine Idee, die 1802 als selbstzerstörerische Erhebung der Besonderheit zum System und 1806 unter der Form der „Schwärmerei“ auftritt. Schelling verwendet diesen Ausdruck, der in seiner Zeit vor allem Selbsterhöhung durch eine vermeintliche Eingebung bedeutete132 und folglich mit dem Irrationalismus zusammenhing, gegen seinen gewöhnlichen Gebrauch, d.i. gegen den Antiplatonismus und die Religionskritik der Aufklärung. Die Aufklärung selbst ist für Schelling eine Form von Schwärmerei.133 Sie ist eine Art von Fanatismus, der eine illusorische Realität für die wahre Realität nimmt und der sich in ihrem Namen zu allem berechtigt fühlt. Schellings späterer Begriff von „Wahnsinn“,134 der erstmal in der Streitschrift gegen Fichte erscheint,135 ist in dieser Hinsicht ein Synonym für „Schwärmerei.“ Die „falsche Imagination“136 der Freiheitsschrift bezieht sich auch darauf. Die gemeinsame Basis dieser Begriffe ist die Selbsterhöhung der Subjektivität, die sich dann für das Absolute selbst ausgibt. Fichte ist deswegen der Schwärmer schlechthin.137 Er bildet ein Pseudosystem, d.i. „eine Verbindung und Folge von Sätzen,“ die versucht, als die allgemeingültige Wahrheit zu gelten, und doch nichts anderes als eine unvollständige und einseitige Theorie der Welt ist, weil sie nur auf die „Eigenheit“ und „Subjektivität“ gründet. Schelling betont, wie der begrenzte wissenschaftliche Wert solcher Art von Theorien dadurch ausgeglichen werden möchte, dass sie einen großen öffentlichen Beifall finden. Der Schwärmer bewertet seine Theorien gut oder schlecht, je nachdem, wie viele Menschen ihnen zustimmen. Für ihn ist es daher wesentlich, sie dem breiten Publikum mitteilen zu können, denn er „bedarf zur Befestigung seines eigenen Glaubens der andern“138. Es geht hierbei nicht darum, sich selbst zu transformieren und an sich selbst zu arbeiten, sondern andere Menschen von einer eigenen Theorie zu überzeugen, um anfangen zu können, an sie zu glauben. Die Wahrheit verwandelt sich in „Erfolg“, aber „wer etwas Gründliches und Tüchtiges mitzuteilen hat, wird den Erfolg nicht ansehen, der wahrhaft Getriebene und Begeisterte nach dem Beifall 131
Ibid. SW 7, 389. Ein Schwärmer – sagt Kant – ist eigentlich „ein Verrückter von einer vermeintlichen unmittelbaren Eingebung und einer großen Vertraulichkeit mit den Mächten des Himmels. Die Natur kennt kein gefährliches Blendwerk.“ Zitiert von Deißner, S. 168. s. auch: Summerell, S. 139 – 173. 133 Schelling (1856 – 1861), SW 7, 45. 134 Ibid. SW 7, 469 – 470; SW I, 10, 291. 135 Ibid. SW 7, 97. 136 Ibid. SW 7, 390. 137 „Die Genese und Entwicklung des Fichteschen Systems hält Schelling deshalb für sowohl beliebig als auch unvollständig, also schwärmerisch, weil dessen Zusammenhang weder in den Dingen selbst noch im eigenen Prinzip, sondern allein im Denkenden – im sich selbst bestimmenden Ich – besteht“. Summerell, S. 169. 138 Schelling (1856 – 1861), SW 7, 45. 132
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nicht fragen, und wie er es dem Publikum recht mache“139. Hier treten die Themen auf, die Schelling in „Über das Wesen der philosophischen Kritik“ behandelt. Die Philosophie hat sich unter dem Druck des Demokratisierungsprozesses und der Entstehung einer politisch aktiven Öffentlichkeit popularisiert. Der Schwärmer zielt deshalb darauf, durch ein Pseudosystem „Partei zu stiften,“ also einen Schwarm zu bilden und die Unterstützung einer „Menschenmenge“ für sich zu gewinnen. Der Schwärmer im Sinne Luthers, den Schelling richtig als den Schöpfer des Ausdrucks identifiziert, ist gerade der Sektierer, der Aufruhr anrichtet und dessen Glaube nicht auf dem geschriebenen Wort, sondern wie bei dem revolutionären Thomas Münzer140 auf einer unmittelbaren göttlichen Eingebung basiert. Für diejenigen, die Anhänger einer Partei werden, hängt die Wahrheit einer Lehre von der Größe ihrer Verbreitung ab „und wenn nur die anhangende Masse ins Unendliche vermehrt wird, sind sie zufrieden“141. Sie sind Menschen, „die nicht klar wissen, was sie wollen“142 – was genau das Gegenteil der „Gewissenhaftigkeit“ ist – und die sich deswegen ganz einfach von neuen Ideen und Lehren begeistern lassen. Bevor sie entdecken, dass das Pseudosystem, an das sie glauben, nicht ihre Erwartungen erfüllt und sie dann in Verzweiflung geraten, verfolgen sie es „bis auf die äußerste Spitze,“ mit „fühlloser Härte und Rachsucht“143. Es geht um einen tendenziell gewaltsamen Irrationalismus im Namen der Rationalität. e) Der umgekehrte Gott und die instrumentelle Vernunft Liest man die Freiheitsschrift auf dieser Basis und achtet man dabei auf die Bedeutung der „falschen Imagination“, verweisen die apokalyptischen Bilder, mit denen Schelling die „Erscheinung“ des Bösen „im Menschen“ (als Gattung) beschreibt, auf die politischen Zusammenhänge, die sich aus dem verkehrten Verständnis der Rationalität in Zeiten der Aufklärung ergeben. Die „Imagination“ ist in diesem Abschnitt dasjenige im Menschen, das das Nichtsein als Sein betrachtet. Schelling verbindet sie mit dem kocislºr mºhor des „Timaios“ (52b), weil, ebenso wie der Mensch nur durch einen „Bastard-Schluss“ die w~qa auffassen kann, weil sie weder sinnlich noch geistig ist, er nur durch die Imagination dasjenige erfassen kann, das nicht ist und jedoch das Sein selbst zu sein scheint. Die Imagination schreibt nicht der Materie, sondern dem „umgekehrten Gott,“ die Eigenschaft zu, „actu“ oder „aktualisiert“ zu sein, weil sie unselbstständige Entitäten als selbstständig betrachtet. Das „Nichtsein“ oder das „Nichtseiende“ ist keineswegs das reine Nichts, sondern dasjenige, das den Schein erweckt, „an sich“ und deswegen nicht „für“ etwas anderes oder, allgemeiner gesagt, im Bezug auf etwas anderes zu sein.144 Alles, dessen 139 140 141 142 143 144
Ibid. SW 7, 49. Polenz, S. 112. Schelling (1856 – 1861), SW 7, 45. Ibid. SW 7, 45. Ibid. SW 7, 47. Rang, S. 67 – 71.
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Existenz von einer empirischen Ursache abhängt, gehört daher z. B. zum Nichtseienden, weil es nicht ontologisch selbstständig ist. Ist die Imagination das epistemische Korrelat des Nichtseienden, gelten für sie Dinge oder die Bestimmung der Dinge, die nur im Verhältnis zu anderen und nur für jemanden sind, als selbstständig. Dies betrifft in „Philosophie und Religion“ vor allem die sinnlichen Dinge. Sie sind nur, sofern sie wahrgenommen werden, und ihre Existenz hängt von dem Kausalzusammenhang ab. Obwohl alle Produkte der endlichen Subjektivität in dieser Schrift Ausdrücke des Nichtseienden sind, orientiert sich Schelling dabei am Leitbild der sinnlichen Dinge. In der Freiheitsschrift legt er Nachdruck auf den geistigen Charakter des Bösen und deshalb sind geistige Schöpfungen der Menschen die deutlichsten Erscheinungen des Nichtseins. Die Imagination ist nach wie vor das „Betrachten der Dinge in Relation“145, aber nun ist sie nicht vorwiegend auf die unselbstständigen zeitlichen sinnlichen Dinge, sondern auf Zwecke, Ideen oder Theorien bezogen. Die wahren Ideen sind „eine unabhängige Macht“146, sie haben ein eigenes Leben, das nicht von den Besonderheiten ihres Begriffenwerdens abhängt. Obwohl sie im menschlichen Denken auftreten, bezwingen sie es. Die Ideen, welche die Imagination als selbstständig betrachtet, sind hingegen nicht wirklich an sich. In diesem Sinne sagt Schelling das Folgende: „Allein die göttliche Imagination, welche die Ursache der Spezifikation der Weltwesen ist, ist nicht wie die menschliche, dass sie ihren Schöpfungen bloß idealische Wirklichkeit erteilt. Die Repräsentationen der Gottheit können nur selbstständige Wesen sein; denn was ist das Beschränkende unsrer Vorstellungen als eben, dass wir Unselbständiges sehen? Gott schaut die Dinge an sich an. An sich ist nur das Ewige, auf sich selbst Beruhende, Wille, Freiheit.“147 Das Böse ist wesentlich schöpferisch. Seine Schöpfungen sind dennoch nur für seinen Schöpfer oder für andere. Sie erwecken den Schein, von ihrem besonderen Schöpfer unabhängig zu sein und Wert für sich selbst zu haben, aber sie sind in Wirklichkeit nur in Bezug auf ihn, auf ihre Anhänger und auf diejenigen, die sie bekämpfen, etwas Existierendes. Sie sind daher geistige Formen des Nichtseins. Der „umgekehrte Gott“ ist nichts anderes als der Zeitgeist, der die einzelnen Menschen zur „Aufnahme“ des Nichtseienden durch die Imagination „verführt“148. In den „Weltalter“-Skizzen ist in diesem Zusammenhang von einer „beständigen Sollizitation“ zum „Wahnsinn“ die Rede.149 Der verführerische Gott ist mit einem bestimmten geschichtlichen Zeitraum verbunden, weil er ein „durch die Offenbarung Gottes zur Aktualisierung erregtes Wesen“150 ist. Diese Offenbarung ist nicht dieselbe allgemeine Offenbarung des göttlichen Geistes durch die Schöpfung, sondern 145 146 147 148 149 150
Schelling (1856 – 1861), SW 6, 232, 543. Ibid. SW 7, 347. Ibid. SW 7, 347. Ibid. SW 7, 390. Ibid. SW 8, 339. Ibid. SW 7, 390.
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die Offenbarung „im bestimmtesten Sinne des Wortes“151, d.i. die Erscheinung Gottes in „persönlicher, menschlicher Gestalt“152. Der „umgekehrte Gott“ taucht im Gegensatz zum Christentum auf. Deswegen spricht Schelling von ihm als Gegensatz zum „Band der Liebe“. Er ist nicht ewig, denn er ist auf ein Zeitalter nach dem Tod Jesu bezogen: „Es gibt daher ein allgemeines, wenngleich nicht anfängliches, sondern erst in der Offenbarung Gottes von Anfang, durch die Reaktion des Grundes, erwecktes Böses, das zwar nie zur Verwirklichung kommt, aber beständig dahin strebt.“153 Die Offenbarung ist „das schaffende Wort, welches das im Grunde verborgene Leben aus dem Nichtsein erlöst, es aus der Potenz zum Aktus erhebt.“154 Der „umgekehrte Gott“ ist deswegen die Rückkehr der Tendenz des Grundes nach der Offenbarung für sich selbst zu sein, denn er ist ein Wesen, „das nie aus der Potenz zum Actus gelangen kann, das zwar nie ist, aber immer sein will“155. Die Schöpfung des wahren Gottes zeichnet sich dadurch aus, dass die Inhalte des göttlichen Verstandes der Natur nicht fremd sind, sondern die latenten Strukturen in ihr „erwecken“. Die göttliche Imagination vermittelt zwischen dem Verstand und der Natur derart, dass sich die Ideen materialisieren und die in der Natur vorgezeichnete Bestimmtheit zur Erscheinung kommt. Der „umgekehrte Gott“, der dem wahren Gott gleich Schöpfungskraft hat, kann sich nicht verwirklichen, weil seine Ideen keine wahre Abgeschlossenheit und Begrenztheit haben – sie sind nur partielle Weltansichten und Pseudosysteme – und ihnen keine latente Tendenz in der Natur entspricht. Seine Verwirklichung ist unmöglich, weil, wenn diese die allmähliche Überwindung der Unterschiedslosigkeit der Materie durch die Auswirkung der Bestimmtheit der Ideen auf ihre eigene Beweglichkeit voraussetzt, in ihm das Ideelle nicht bestimmt genug und von der Eigendynamik des Reellen abgekoppelt ist. Die Umkehrung liegt eben darin, dass das Reelle dabei nicht Werkzeug des Ideellen ist, sondern das Ideelle ein Reflex der richtungslosen Beweglichkeit des Reellen darstellt, der jedoch nicht seinen wahren Bedürfnissen entspricht. Der „umgekehrte Gott“ ist der Geist einer Epoche, in der sich die Individuen scheinbar allgemeine Zwecke setzen, die eine Vervollkommnung der empirischen Natur und anderer Menschen anstreben und aufgrund ihres Mangels an Totalität und ihrer Abstraktheit jedoch die allgemeine Verwirrung und das Sinnlosigkeitsgefühl steigern. Trotz ihrer Verschiedenheit, ja ihrer Gegensätzlichkeit, teilen diese Zwecke insofern eine antichristliche Absicht, als sie säkulare Surrogate der wahren Erlösung sind und die Bildung eines christlichen Reichs vertagen. Die Unmöglichkeit des Überganges der Potenz zum Aktus, die den „umgekehrten Gott“ auszeichnet, ist die ontologische Beschreibung eines geschichtlichen Zeitraumes, in dem die Ideen und Lehren keine stabile sozialpolitische Ordnung bilden können und trotz ihrer Fähigkeit, „Men151 152 153 154 155
Ibid. SW 7, 378. Ibid. SW 7, 380. Ibid. SW 7, 381. Ibid. SW 7, 404. Ibid. SW 7, 390.
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schenmengen“ zu mobilisieren, nicht die tiefsten und wahren geistigen Bedürfnisse dieser Menschen befriedigen. Die erwähnten Ideen sind von dem Subjekt gesetzte Zwecke, die nicht an sich, sondern nur für es gelten und an die es seine Selbstverwirklichung anknüpft. Sie sind deswegen „spiegelhafte Vorstellungen“156. Es geht dabei um eine Freiheit, die nichts anderes als „Bilder ihrer eigenen Nichtigkeit“157 produziert. Sofern das Subjekt trotz seiner Endlichkeit auf das Ganze bezogen ist, können sie keine lokale Geltung haben. Aus seiner Sicht sollen seine Ideen als allgemeine Zwecke gelten. Es geht dabei um keine wahre Allgemeinheit, aber sie verdienen nach seiner Meinung, für alle Menschen verpflichtend zu sein. Sofern sich verschiedene Subjekte verschiedene Zwecke setzen, die dennoch denselben Anspruch haben, ist das unvermeidliche Resultat der Konflikt zwischen den Subjekten. Jedes Subjekt versucht, sich der empirischen Wirklichkeit zu bemächtigen und sich seines eigenen Seins durch den Erfolg seiner Zwecksetzung zu vergewissern. In diesem Fall heißt das nicht, die empirische Natur nach seinen Ideen zu gestalten, sondern so viele Menschen wie möglich als Anhänger eines bestimmten Zwecks zu gewinnen. Indem jeder Zweck für das Subjekt als absolut gilt, ist es keineswegs ausgeschlossen, dass die Konflikte eskalieren und gewaltsam werden. Trotzdem ist die politische Gewalt für Schelling ein sinnlich-empirisches Phänomen158 und der hier erwähnte Konflikt ist hauptsächlich geistig. Die wichtigen Waffen sind geistig. Die Gesamtsituation ist ein Konflikt zwischen Weltanschauungen, die sich als Möglichkeiten anbieten, die Zukunft aller Menschen zu organisieren, und die von ihnen Bindung beanspruchen. Schelling beschreibt hierbei die Transformation der Universalität des Sittengesetzes und des Pflichtbewusstseins in eine nach Belieben nachahmbare Struktur jeder verinnerlichten Weltanschauung, deren allgemeine Wirkung die Kollision zwischen verschiedenen Parteien ist. Alle richten sich auf die Zukunft, sind universalistisch und fordern unbedingtes Engagement, aber sie neutralisieren sich gegenseitig. Denkt man nun daran, welche die Mittel des Subjektes sind, um seine besondere Weltanschauung zu verbreiten, vorausgesetzt, dass die Sprache ein Reflex des Ideenkosmos ist,159 ist die Suche der Subjekte nach allgemeinem Beifall sprachlich vermittelt. Der Zeitgeist verführt jeden Menschen dazu, andere zu seiner Perspektive zu überreden. Die Instrumentalisierung des Logos, die das Böse impliziert, bezieht die Transformation der Sprache in ein Kommunikationsmittel ein, um auf andere Menschen zu wirken und vor allem ihre Handlungsweise zu beeinflussen.160 Die „Erscheinung des 156
Ibid. SW 7, 390. Ibid. SW 6, 40. 158 Ibid. SW 7, 461; SW 9, 374. 159 Ibid. SW 5, 246, 483, 484, 486, 492; SW 6, 355. 160 In dieselbe Richtung gehend sagt Max Horkheimer: „Die Sprache wird dabei zu einem bloßen Werkzeug in der allmächtigen Produktionsapparatur der modernen Gesellschaft. Jedes Wort, das nicht als Rezept für ein Verfahren, als Mittel, andere Menschen in Bewegung zu setzen, als Anweisung, Erinnerungsstütze oder Propaganda dient, sondern als eigener Sinn, als Reflex des Seins, als dessen eigene Regung verstanden sein will, gilt als mythisch und sinnlos, 157
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Bösen im Menschen“ konkretisiert sich in dem Kampf zwischen Parteien, um seine besondere Perspektive mittels der Kommunikation und in der Form von Pseudosystemen zu verallgemeinern. Dass Schelling dabei vom Zeitalter der Ideologien spricht, ist deshalb keine kühne Behauptung. Die Ideologien sind eine Manifestation des Bösen.161 und die Menschen erfahren die Sprache ganz so, wie der Positivismus oder Pragmatismus sie andeuten. Wenn einer etwas sagt, kommt es nicht so sehr auf die eigene Bedeutung der Worte, auf das, was sie selbst meinen, sondern auf das, was es damit bezweckt an.“ Horkheimer (1985), S. 22. 161 S. Zˇizˇek hat bemerkt, wie Schellings Begriff des Bösen das Problem der Ideologie im Sinne des Marxismus antizipiert: „Schelling must be considered the originator of the modern notion of critique of ideology. He was the first to elaborate the notion of ‘false’ unity an/or universality. For him ‘evil’ lies not in the split (between the Universal and the Particular) as such but, rather, in their ‘false’/distorted unity, that is, in a Universality that effectively privileges some narrow particular content an is impenetrably ‘anchored’ in it. Schelling was thus the first to elaborate de elementary procedure of the critique of ideology: the gesture of discerning, beneath the appearance of neutral universality (say, of ‘human rights’), the privileged particular content (say, white-upper-middle-class males) which ‘hegemonizes’ it“. Zˇizˇek (1999), S. 239 – 240. Man darf nicht vergessen, dass die Ideologie für Marx nicht nur „falsches Bewusstsein“ ist, sondern eine Legitimation der Macht einer besonderen Klasse mittels allgemeiner Ideen. In der „Deutschen Ideologie“ (1845 – 1846) sagen darüber Marx und Engels: „Jede neue Klasse nämlich, die sich an die Stelle einer vor ihr herrschenden setzt, ist genötigt, schon um ihren Zweck durchzuführen, ihr Interesse als das gemeinschaftliche Interesse aller Mitglieder der Gesellschaft darzustellen, d. h. ideell ausgedrückt: ihren Gedanken die Form der Allgemeinheit zu geben, sie als die einzig vernünftigen, allgemein gültigen darzustellen“ (Marx/Engels, S. 240). Das Problem der Hegemonie, so wie es von Gramsci und von Laclau/Mouffe behandelt wird, behält dieses Merkmal der Ideologie im Sinne von Marx und Engels. Schellings Begriff des Bösen steht vor allem der Sache nach dem Begriff der Ideologie nahe, aber er hat ihn immerhin benutzt, und zwar in einem Sinne, der trotz der großen Unterschiede zu den Autoren der „Deutschen Ideologie“ in einigen Hinsichten an ihren Gebrauch des Ausdrucks erinnert. Das ist ideengeschichtlich gesehen nicht überraschend, weil er und sie dem Gebrauch des Ausdrucks, den Napoleon eingeführt hat, verpflichtet sind. Napoleon hat die „Ideologie“ d.i. die empiristische „Wissenschaft der Ideen“ die u. a. Destutt de Tracy oder Maine de Biran vertraten, nach einer anfänglichen Sympathie attackiert, weil diese Denker eine Bildungspolitik und eine rationalistische Auffassung der Politik überhaupt versuchten durchzusetzen, die nicht mit den Zielen des immer konservativeren Kaisers verträglich waren. Berühmt sind die Worte Napoleons: „…jener Ideologie, jener dunklen Metaphysik, welche mit Spitzfindigkeiten den ersten Ursachen nachgrübelnd auf die Grundlagen ihrer Theorie die Gesetzgebung der Völker bauen will, statt der Kenntnis des menschlichen Herzens und den Lehren der Geschichte die Gesetze anzupassen, haben wir alles Unglück und alle Leiden zu verdanken, welche unser schönes Frankreich betroffen haben“ (Bergk/Schlabrendorf, S. 119). Das kommentiert T. Eagleton wie folgt: „The kernel of Napoleon’s criticism of the ideologues is that there is something irrational about excessive rationalism. In his eyes, this thinkers have pressed through their enquiry into the laws of reason to the point where they have become marooned within their own sealed systems, as divorced from practical reality as a psychotic“ (Eagleton, S. 70). Die Ideologie ist auf diese Weise zu einem politischen Schimpfwort geworden, das von dem Standpunkt der historischen Erfahrung aus anderen Ausdrücken wie „Prinzipienmensch“ oder „Schwärmer“ gleichkam (Koselleck, S. 146). „Die Gründe für das Aufkommen dieses Kampfbegriffs sind also die Entstehung einer Intelligenz, die mit Programmen und Forderungen der politischen Praxis gegenübertritt, und von politischen Parteien, die nicht mehr einzelne Privilegien oder Rechte bekämpfen oder verteidigen, sondern ,abstrakte‘ Prinzipien wie Freiheit, Gleichheit, Fort-
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Es ist für das Böse charakteristisch, dass es „aus Übermut, alles zu sein, ins Nichtsein verfällt“162. Diese selbstzerstörerische Tendenz erschöpft sich aber nicht in der Beziehung des Einzelnen zu anderen Menschen. Sie betrifft auch die Beziehung des Menschen zur empirischen Natur. Eigentlich gibt es aus der Sicht Schellings keine empirische Natur im Sinne eines Kausalzusammenhangs zeitlich-räumlicher Phänomene.163 Die Natur ist in Wirklichkeit das organistisch und teleologisch strukturierte Ganze der Entitäten, die in einem gewissen Grad die Fähigkeit zur Selbstorganisation haben. Die Entstehung des Ich fällt dennoch mit der Entstehung der Natur im ersten Sinne zusammen, die nur ein Schein ist. In der Vorlesungsnachschrift über die „Grundlegung der positiven Philosophie“ von 1832/33 ist Schelling – auf einige Begriffe der Freiheitsschrift zurückgreifend – darauf eingegangen: schritt, u. a. auf ihre Fahnen schreiben.“ (Ibid. S. 145 – 146) „,Ideologie‘ ist dann jener Begriff, der diese einzelnen Prinzipien zusammenfasst und als realitätsfern und praktisch wirkungslos disqualifiziert.“ (Ibid. S. 146). Er ist vor allem auf diejenigen bezogen, welche für die Ideen der Französischen Revolution (Liberalisierung, Verfassung, Volkssouveränität, usw.) plädierten. (Ibid. S. 140 – 141). Die „Ideologie“ war daher ein Synonym für „optimistische Träumereien“ oder „Schwärmerei“ (S. 142). Die „Allgemeine Enzyklopädie der Wissenschaften und Künste“ (1838) von Ersch und Gruber belegt die Rezeption des Ausdrucks „Ideologie“ in Deutschland in diesem Sinne. Sich auf Napoleons Behauptungen beziehend erklärt der Artikel „Ideologie“ das Folgende: „… und da man einmal unter Metaphysik oder Ideologie nichts anderes verstand, als ein bloßes Spiel mit Begriffen oder Ideen, eine leere Träumerei oder Schwärmerei, die durch ihre überschwänglichen (transcendenten) Speculationen und unausführbaren Idealen dem wirklichen Leben Eintrag thun, so bekam das Wort Ideologie die Nebenbedeutung eines Träumers, Schwärmers, politischen Schwindelkopfs, auch wol gar die eines Demagoges oder Revolutionärs“ (Ersch/Gruber, S. 128). Wenn Schelling von „Ideologie“ spricht, denkt er primär an das Denken der „idéologues“ und folglich an eine empiristische Erkenntnistheorie (Schelling (1856 – 1861), SW X, 199), aber für ihn besteht eine enge Verbindung zwischen ihnen und dem Subjektivismus Fichtes. Beide setzen sie den „objektiven Idealismus“ insofern entgegen, als beide trotz des Scheins, systematisch zu sein, an „wirklich spekulativem Inhalt“ mangeln und außerdem nur mit „abstrakten Begriffen“ zu tun haben. (Ibid. SW II, 1, 466). Aus diesem Grund sagt Schelling, dass der subjektivistische „bodenlose Idealismus“ (ibid. SW II, 1, 465) eigentlich „Ideologie“ genannt werden sollte. (Ibid. SW II, 1, 466). Ansatzweise ist die „Ideologie oder Ideeismus“ (Schelling (1990), S. 230) bei Schelling eine allgemeine Bezeichnung für Pseudosysteme, die auf der Subjektivität gründen und nicht auf die wahre Realität achten. Vorausgesetzt, dass Schelling der damals in politisch konservativen Schriften gewöhnliche Gebrauch von „Ideologie“ bekannt war und die Verbindung des Denkens des frühen Fichte mit der politischen „Schwärmerei“ betonen möchte, hat der Begriff Ideologie bei ihm eine erkenntnistheoretische und eine politische Bedeutung – die Zugehörigkeit der Ideologie zur „neuen Welt“ (ibid.), also zur Neuzeit, spricht dafür. Der begriffliche Rahmen, in dem der Begriff Ideologie bei Schelling und bei Marx und Engels auftritt, ist natürlich so unterschiedlich wie die politische Orientierung, die ihm der Erste und die Anderen geben. Ideengeschichtlich gibt es dennoch eine gewisse Kontinuität seiner Bedeutung von Schelling bis Marx und Engels. Die Ideologie ist in beiden Fällen eine geistige Konstruktion, die einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit hat, aber in Wirklichkeit nur einen endlichen oder partiellen Standpunkt repräsentiert und deswegen täuschend ist. Es handelt sich, wie es nach dem Gebrauch des Ausdrucks bei Napoleon zu erwarten war, um einen pejorativen Begriff. 162 Schelling (1856 – 1861), SW 7, 391. 163 Ibid. SW 6, 62.
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„Dieses ganze Verhältnis des Menschen zu der Natur, dass sie ihm eine völlig äußere geworden ist, lässt sich offenbar nicht anders erkennen, als dass man annimmt, dass der Mensch aus der ihm zugedachten Stellung des allgemeinen Bewusstseins sein besonderes individuelles Bewusstsein vorgezogen habe. Es sollte eigentlich die Stellung des allgemeinen Subjekts annehmen und behaupten. Eben jenes, dass der Mensch nicht mehr als dieses Subjekt erscheint, dass ihm die Natur fremd ist, ist ein Beweis, dass der Mensch aus der ihm zugedachten Stellung des allgemeinen Subjekts gewichen ist und ein individuelles Sein vorgezogen hat. Seitdem ist die Natur ein bloß Äußerliches, sie ist ein seines letzten Bewusstseins beraubtes Ganzes.“164
Die Lebendigkeit der Natur, fügt Schelling hinzu, verwandelt sich in eine „Ruine“. Sie erscheint nach dem Abfall ganz objektiv und tot: „Die Dinge der Natur sind für uns nicht mehr, was sie ursprünglich waren.“165 Die Nähe dieser Reflexionen zur Idee einer Degradierung der Natur, so wie sie von der Frankfurter Schule im Rahmen ihrer Aufklärungskritik konzipiert wird, zu betonen, ist keineswegs unangemessen. Man kann sogar sagen, dass der Abfall die Entstehungsstunde der instrumentellen Vernunft im Sinne Horkheimers ist. Aus der Verwandlung der menschlichen Vernunft in ein „Mittel“166 der Selbstheit ergibt sich eine Vernunft, die im Dienste der Selbsterhaltung steht und sich dafür ausschließlich mit der optimalen Anpassung der Mittel an Zwecke beschäftigt.167 Vernünftig sind dabei die Denkoperationen, welche für die Kontrolle des Subjektes über die Natur nützlich sind.168 Die „objektive“, also die nicht instrumentalisierte Vernunft, ist bei Horkheimer hingegen ein sich selbst entfaltendes „umfassendes System oder eine Hierarchie alles Seienden einschließlich des Menschen und seiner Zwecke“169, das von menschlichem Denken abgebildet werden kann170 und womit der Mensch in Einklang leben soll171, falls er das höchste Gut erreichen will. Sie sei die Vernunft im Sinne Platons oder der Scholastik. Schellings Begriff des Bösen geht von einer vergleichbaren Unterscheidung aus. Die „objektive Vernunft“ ist bei ihm der Ideenkosmos, der im göttlichen Verstand enthalten ist und den der menschliche Geist ursprünglich anschaute. Das Gute ist eben das Primat der Vernunftanschauung vor der Selbstheit. Die instrumentelle oder „subjektive“ Vernunft ist hingegen das Denken, das sich aufgrund der „Angst des Lebens“172 bzw. der Furcht des Individuums vor dem Tod ergibt
164 165 166 167 168 169 170 171 172
Schelling (1972), 32 II/166. Ibid. Schelling (1856 – 1861), SW 7, 389. Horkheimer (1987), S. 323. Horkheimer (1985), S. 23. Horkheimer (1991), S. 28. Horkheimer (1985), S. 22. Ibid. S. 24. Schelling (1856 – 1861), SW 7, 381.
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und auf die Sicherung der Selbsterhaltung abzielt.173 In diesem Sinne spricht Schelling von der „gefallenen Vernunft“174. Dass Schelling gesellschaftliche Phänomene der Neuzeit und insbesondere der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft ins Visier nimmt, wenn von dem Bösen die Rede ist, kann man mit aller Deutlichkeit aus einem Fragment der Georgii-Nachschrift der „Stuttgarter Privatvorlesungen“ schließen: „Freylich konnte der Mensch, das Vorrecht Geist zu seyn, nie verliehren; durch sein Geistiges kann er der Natur manches abgewinnen, er muss gleichsam den kleinen Krieg mit der Natur machen, und ihr durch List abgewinnen, was er mit offener Gewalt nicht kann. Ebendaher ist auch Arbeit dem Menschen nothwendig, um die über die Natur verlohrene Herrschaft wieder zu behaupten.“175 Schelling denkt dabei an einen Vernunftbegriff, der nicht kontemplativ ist und unmittelbar an die Naturbeherrschung durch die Arbeit gekoppelt ist. Die Objektivierung der Natur, also ihre Verwandlung in einen Kausalzusammenhang zeitlichräumlicher Phänomene, dessen Gesetze durch die Wissenschaft entdeckt werden können und dessen Verlauf folglich kalkulierbar ist, und die „Revolution des Geistes“, wobei die Sicherung der Selbsterhaltung das Hauptziel des menschlichen Denkens ist, stehen miteinander im Zusammenhang. Die „Äußerlichkeit“ der Natur geht mit ihrer Verwandlung in eine Grenze der Selbstbehauptung der Subjektivität einher. Strebt die Subjektivität an, grenzenlos und folglich absolut zu sein, glaubt sie daran, dass die notwendige Bedingung dafür ist, die Natur zu vernichten. Die Natur zu vernichten ist aber eine Selbstvernichtung, weil der Mensch trotz seines falschen Selbstverständnisses ein auf der Natur basiertes Selbstverhältnis ist und sich selbst durch die verabsolutierte Selbstbehauptung der Subjektivität den Boden entzieht, auf dem sein Leben als Vernunftwesen gründet. „Das Ich“ – kommentiert M. Gabriel dazu – „kann seines eigenen Grundes daher unmöglich habhaft werden, ohne sich selbst zu vernichten. Das Unterfangen des Bösen, den Grund in Struktur zu überführen, führt folglich zur Vernichtung der Struktur.“176 Darüber sagen Horkheimer und Adorno in der „Dialektik der Aufklärung“ (1947) das Folgende: „Mit der Verleugnung der Natur im Menschen wird nicht bloß das Telos des eigenen Lebens verwirrt und undurchsichtig. In dem Augenblick, in dem der Mensch das Bewusstsein seiner selbst als Natur abschneidet, werden alle die Zwecke, für die er sich am Leben erhält, der gesellschaftliche Fortschritt, die Steigerung aller materiellen und geistigen Kräfte, ja das Bewusstsein selber, nichtig, und die Inthronisierung des Mittels als Zweck, die im späten Kapitalismus den Charakter des offenen Wahnsinns annimmt, ist schon in der Urgeschichte der Subjektivität wahrnehmbar. Die Herrschaft des Menschen über sich selbst, die sein Selbst begründet, ist virtuell allemal
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Im Bezug auf die Bedingungen der philosophischen und politischen Zentralität des Ichs in der Neuzeit behauptet Horkheimer: „Dem Individuum war das Leben unendlich wichtig, weil der Tod die absolute Katastrophe wurde.“ Horkheimer (1987), S. 345. 174 Schelling (1856 – 1861), SW 6, 43. 175 Schelling (1973), S. 172. 176 Gabriel (2006b), S. 25.
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die Vernichtung des Subjekts, in dessen Dienst sie geschieht.“177 Descartes und vor allem Fichte178 stellen die Meilensteine dieser Entwicklung dar. Der subjektive Idealismus Fichtes ist bei Horkheimer die radikalste philosophische Formulierung der Reproduktionsform der bürgerlichen Gesellschaft: „Als Endresultat des Prozesses haben wir auf der einen Seite das Selbst, das abstrakte Ich, jeder Substanz entleert bis auf seinen Versuch, alles im Himmel und auf Erden in ein Mittel seiner Selbsterhaltung zu verwandeln; und auf der anderen Seite haben wir eine leere, zu bloßem Material degradierte Natur, bloßen Stoff, der zu beherrschen ist, ohne jeden anderen Zweck als eben den seiner Beherrschung.“179 Schelling selbst hat diese Schlüsse aus dem Denken Fichtes gezogen. In seiner Streitschrift gegen Fichte von 1806 geht es genau darum, wie die Natur bei Fichte aller Lebendigkeit beraubt wird und nur als Mittel zur Verwirklichung menschlicher Zwecke Wert hat: „Er will sie nur nicht als lebendig haben, aber als todt will sie er allerdings haben, als etwas, darauf er einwirken, das er bearbeiten und mit Füssen treten kann.“180 Je mehr die Natur unterworfen ist, desto höher ist die Lebendigkeit des Menschen: „Ist jene nicht todt, so ist er nach seiner Meinung nicht lebendig.“181 Der Mensch, sagt Schelling, hat schon die „mechanisch-wirkende“ Natur seinen Zwecken unterworfen, aber noch nicht die organische Natur.182 Die anorganischen und nicht die biologischen Naturkräfte seien schon beherrscht worden. Für Fichte ist die organische Natur doch immerhin unlebendig und soll durch das vernünftige Leben beseelt werden. Fichtes Auffassung ihrer Belebung durch die Vernunft kommt doch ihrer Tötung nahe: „Wenn Herr Fichte vor seinen Wagen 6 Pferde spannen lässt und ,zufährt, als hätte er 24 Beine‘, hat er etwa diese 24 Beine durch seinen vernünftigen Vorsatz belebt, hat er nicht vielmehr ihre natürliche Lebendigkeit eingeschränkt? und so er sich einen Tisch oder Stuhl machen läßt, oder eine Feder schneidet, so ist dieß, ob er gleich darauf und damit seine Naturbelebende Werke schreibt, stets nur eine Tötdung, aber keineswegs eine Belebung.“183 Die menschlichen Zwecke bringen für Fichte Leben in eine rein mechanisch konzipierte Natur. Dazu kommentiert M. Frank: Es geht dabei um das, „was Kant äußere Zweckmäßigkeit nannte. Diese Zweckmäßigkeit gleicht vollkommen derjenigen, die man heute zweckrationale oder instrumentelle nennt. Statt das eigene Telos der Natur zu 177
Horkheimer (1987), S. 78. Horkheimer (1991), S. 118. Horkheimer (1987), S. 321. 179 Horkheimer (1991), S. 109. Vgl. Schelling (1856 – 1861), SW 6, 279: „Die Reflexionsmenschen haben keine Vorstellung von einer objektiven Vernunft, von einer Idee, die doch als solche ganz objektiv und real ist; alle Vernunft ist ihnen etwas Subjektives, ebenso alles Ideale, und die Idee selbst hat für sie nur den Sinn einer Subjektivität, daher sie nur zwei Welten kennen, die eine bestehend aus Steinen und Schutt, die andere aus Anschauungen jener Steine und den Gedanken darüber.“ 180 Schelling (1856 – 1861), SW 7, 17. 181 Ibid. 182 Ibid. 183 Ibid. SW 7, 18. 178
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entbinden, erlegt ihr der Mensch seine eigenen Zwecke auf – und bringt sie so zu Fall.“184 Zum Abfall könnte man im doppelten Sinne des Wortes sagen. Die wissenschaftliche Forschung der Natur, dessen Ziel nach Fichte ist, die Gesetze zu erkennen, welche dem Menschen erlauben, die Kräfte der Natur zu gebrauchen,185 geht davon aus, dass die Natur „um dieses trefflichen Zwecks des menschlichen Nutzens willen“186 existiert. Sagt Fichte aber, dass die Natur nicht allein von einem technisch-ökonomischen Standpunkt aus berücksichtigt werden soll, denn „sie soll zugleich anständig ihn [den Menschen] umgeben“, ist die Perspektive nicht wirklich anders: „sie soll (wie kann man es anders deuten?) zu schönen Gärten und Wohnungen, anständigen Mobilien und anderem Zierrat umgeschaffen werden (Fichtes ästhetische Ansicht der Natur)“187. Fichte zielt noch dabei auf „nützliche Bequemlichkeiten“188 ab. Schellings Verteidigung der Naturphilosophie und die damit zusammenhängende Überwindung des subjektiven Idealismus im Namen eines objektiven Vernunftbegriffes ist natürlich nicht auf eine Kritik der Verabsolutierung technoökonomischer Zwecke reduzierbar, aber diese Wende in seinem Denken ist jedenfalls nicht davon trennbar. Der Subjektivismus Fichtes, der seit „Philosophie und Religion“ und in der Freiheitsschrift mit dem Bösen verbunden ist, ist u. a. Gegenstand der Kritik Schellings, weil jener eine besondere gesellschaftliche Entwicklung legitimiert und vor allem zum Vorbild erhebt, nämlich den Aufstieg der bürgerlichen Gesellschaft. Fichtes Auffassung der Natur ist die philosophische Gestaltung dieses geschichtlichen Prozesses: „Was ist am Ende die Essenz seiner ganzen Meinung von der Natur? Es ist die, dass die Natur gebraucht, benutzt werden soll, und dass sie zu nichts weiter da ist, als gebraucht zu werden; sein Princip, wonach er die Natur ansieht, ist das ökonomisch-teleologische Princip.“189 Die allgemeine Ideologisierung und Mobilisierung der Gesellschaft auf der Suche nach moralischem Fortschritt und einem vollkommenen Staat und die Industrialisierung gehen aus der Sicht Schellings Hand in Hand. Der Mangel an einer Anschauung der Lebendigkeit der Natur zeigt sich auch als ein weit verbreiteter Moralismus, der nicht nur gegen die eigene Natur gerichtet ist, sondern die Bildung abstrakter bzw. nicht in der Veranlagung der einzelnen Menschen verankerter Begriffe antreibt. Die allgemeine Politisierung der Gesellschaft ist daher auch eine Folge davon. Dieser Mangel bringt mit sich ein „untergrabendes und aushöhlendes Moralisieren der ganzen Welt, einen wahren Abscheu gegen alle Natur und Lebendigkeit außer im Subjekt, ein rohes Anpreisen der Sittlichkeit und der Sittenlehre als des einzig Reellen im Leben und in der Wissenschaft“.190 Die Ablehnung der 184 185 186 187 188 189 190
Frank (1991), S. 153. Schelling (1856 – 1861), SW 7, 18. Ibid. Ibid. Ibid. Ibid. SW 7, 17. Ibid. SW 7, 19.
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Natur tritt auch durch die Setzung beliebiger Zwecke auf, die sich für allgemeine moralische Zwecke ausgeben. Die Individuen haben von Natur aus einen eigenen Charakter, den sie allmählich verklären sollten, aber manche von ihnen achten nicht auf ihre eigenen natürlichen Tendenzen und versuchen vielmehr, ihre eigene Identität auf der Basis abstrakter Zwecke zu bilden. Im Gegensatz zu dem, was Schelling in der Schrift gegen Fichte „das Schaffen von innen“191 nennt, orientieren sie sich an allgemeinen Begriffen, die nicht den Merkmalen ihrer angeborenen Singularität entsprechen. Die sich selbst verkennenden Individuen merken es aber nicht, weil ihre unbewusste Tendenz zu einer unbegrenzten Selbstbehauptung auch auf diese Weise befriedigt werden kann. Die Ideologien kanalisieren die Grundtendenz der Subjektivität auch in solchen Fällen, in denen das Individuum seine besonderen Neigungen verkennt und sie folglich nicht verabsolutiert. Das Böse ist immer eine Verabsolutierung der Subjektivität und folglich der Endlichkeit, aber sie ist nicht immer eine Verabsolutierung der besonderen Neigungen des Individuums mittels der Sprache und der Pseudosysteme. Wichtig ist vor allem dabei, dass die verabsolutierte Subjektivität sowohl der Ideologisierung als auch dem Industrialisierungsprozess und seinen Folgen zugrunde liegt. Der „umgekehrte Gott“ ist der Begriff der Freiheitsschrift, um den Geist eines Zeitraumes zu beschreiben, der die Fortsetzung dieser gesellschaftlichen Phänomene antreibt, weil er die unpersönliche Form der dem Individuum verbundenen Verabsolutierung der Subjektivität ist. Er ist sozusagen das Böse in der Form des objektiven Geists. Schelling verbindet ihn immer mit einer chronischen Unzufriedenheit und einer unüberwindbaren Unersättlichkeit, die aber von einer „unendlichen Setzungsmacht“ (Oesterreich) begleitet sind. Die Metaphern, mit denen er das Böse beschreibt, verweisen immer auf einen Mangel – er ist „ewiger Hunger und Durst nach der Wirklichkeit“192 oder „Hunger der Selbstsucht“193 – und zugleich sagt er, dass „Einschränkung, Mangel, Beraubung“ Begriffe sind, welche der Natur des Bösen widersprechen194 : „Der Teufel nach der christlichen Ansicht war nicht die limitirteste sondern vielmehr die illimitirteste.“195 Das Böse ist eben eine Überfülle an Macht, Freiheit und Tätigkeit, die nichtsdestotrotz mit einem Gefühl von Leere, Verzweiflung und Ohnmacht zusammenhängt. Der umgekehrte Gott hat deswegen etwas Teuflisches: Von dem Teufel erzählt man, „dass er denen, so ihm vertrauen, die erst klingenden Schätze nachher boshafter Weise in klanglose Kohlen verwandele“.196 Von dieser Art sind laut Schelling die Schätze der verabsolutierten Subjektivität.197 Der antichristliche Zeitgeist, der „nie aus der Potenz zum Aktus gelangen 191 192 193 194 195 196 197
Ibid. Ibid. SW 7, 405. Ibid. SW 7, 390. Ibid. SW 7, 368. Ibid; siehe auch SW 10, 57. Ibid. SW 7, 88. Ibid.
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kann“,198 enthält die misslingenden und doch sich wiederholenden Revolutionsversuche sowie die fehlschlagenden, von der Idee des Fortschritts doch immer begleiteten Versuche, die Natur durch die Technik zu beherrschen. Der umgekehrte Gott ist der Begriff für die Fehlschläge der politischen Schwärmerei und für die ökonomische Wachstumsbesessenheit, sofern sich beide aus der unbegrenzten Schöpfungskraft und den Selbsttätigkeiten der Subjektivität ergeben. Die Dynamik des Kapitalismus, der alle kreativen Kräfte in Bewegung setzt und dennoch zu keinem Stillstehen kommt, weil jeder scheinbare Endpunkt der Ausgangspunkt einer neuen Bewegung ist, und die ihm entsprechende innere Verfassung des Individuums, für das es trotz der vorübergehenden Begeisterung für bestimmte Ideen oder Weltanschauungen kein summum bonum gibt, weil jeder Zweck im Voraus ein Durchgangspunkt einer neuen Zwecksetzung ist und die Normen als Verbrauchsgüter behandelt werden, macht die entmythifizierte und entdramatisierte Form des von Schelling durch Metaphern wie „Hunger der Selbstsucht“ beschriebenen Zeitgeists aus. Hobbes, scharfsinniger Beobachter der Neuzeit, hat eben in diesem Sinne199 von dem Menschen gesagt, dass diesen „sogar der künftige Hunger hungrig macht“200. Die ontologisch begründete Anthropologie der Freiheitsschrift geht zwar davon aus, dass das Böse nicht allein auf einen bestimmten Zeitraum und eine besondere Gesellschaftsform begrenzt ist, aber sie verbindet seine völlige Entfaltung mit einer bestimmten Phase der Menschheitsgeschichte. Schellings Begriff des Bösen kann daher wie bei Hobbes an einen von Platon zu einem von den beständigen Merkmalen der menschlichen Seele erhobenen Begriff201 der Antike anknüpfen, nämlich an die pkeomen_a, und er kann einem überzeitlichen Phänomen, also der „Sünde“, gleichkommen, aber er ist in seiner radikalsten und allgemeinsten Erscheinungsform auf einen spezifischen, nachchristlichen Zeitraum bezogen: auf die Neuzeit. Die Überwindung des Bösen, die keine einfache Rückkehr zu einer vormodernen Gesellschaft ist, ist deswegen auch eine Aufhebung der Neuzeit von innen her. Die Aufklärung ist insbesondere der notwendige Grund zur Existenz eines neuen Zeitalters. Die Möglichkeit eines individuellen und kollektiven Lebens gemäß des summum bonum kann nicht daraus entkommen, von den tatsächlichen geschichtlichen Bedingungen auszugehen, in denen das Böse herrscht. Das neue Zeitalter soll daher eine Unterordnung der subjektiven oder instrumentellen Vernunft unter die objektive Vernunft sein: „Es gibt kein Himmelsgefühl als in der beständigen Überwindung der Hölle der Zwietracht, wie es kein Gesundheitsgefühl gäbe ohne 198
Ibid. SW 7, 390. Münkler, S. 106 – 107. 200 Hobbes, S. 17. 201 „Zurückgeführt wird die Pleonexie weder auf den Angriff äußerer verderblicher Mächte noch auf eine innere Verderbnis, einen Sündenfall, auch nicht auf einen sozialen Sündenfall wie etwa bei Rousseau und später Marx, die das Privateigentum für viele Konflikte verantwortlich machen. Indem Platon die Unzufriedenheit ohne jeden moralischen Unterton schlicht als Tatsache einführt, erklärt er das Mehrwollen zu einem Teil der Conditio humana, nämlich zu einer Gefahr, der der Mensch auf Dauer nicht entkommt.“ Höffe, S. 60. Auch: Wilke, S. 135. 199
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Bewältigung der stets im Hervortreten begriffenen, immer wieder zum Schweigen gebrachten Krankheit.“202 2. Das neue Reich a) Der entzweite Gott und die geschichtliche Krise Wenn es in Zeiten Schellings eine Figur gibt, welche die Herrschsucht und die Maßlosigkeit des Bösen vollkommen verkörpert, ist es Napoleon. Über sich selbst hat dieser gesagt: „Ich bin der oberste der Götter, der die Donnerkeile in seiner Hand hält“.203 Seine Behauptung war vielen seiner Zeitgenossen mehr als ein pompöser Ausdruck von Anmaßung. Seine Handlungen, die auf eine „Universalmonarchie“204 schienen hinauszulaufen, entsprachen der Vorstellung Napoleons von der Größe seiner eigenen Macht. Von seinen Kritikern wird das Zitat 1814 folgendermaßen kommentiert: „Sein übermäßiges Glück hat sein Gemüth zerrüttet, wie seine Ideen überspannt. Er liebt nichts als Extreme und schweift stets im Grenzenlosen und Unmäßigen herum. Er hat keinen Halt mehr in seinem Inneren und verliert sich unaufhörlich in dem Ungemessenen. Daher seine starre Kälte gegen die Unglücklichen, sein eiskalter Egoismus und seine unersättliche Ehrsucht. Die Weisheit und die Gerechtigkeit sind für ihn schon längst als welterhaltende Gesetze vernichtet und er zeigt sich bloß noch als wilder Zerstörer in einer Welt, welche für seinen Ehrgeiz fast zu klein ist“.205 Natürlich handelt es sich dabei um eine Streitschrift, die den Ehrgeiz Napoleons tadeln will, aber der Eindruck von einer fast übermenschlichen Übermacht, den Napoleon erweckte und nur mit Substantiven wie Grenzenlosigkeit, Maßlosigkeit, Unersättlichkeit adäquat zum Ausdruck kommen konnte, war sowohl für seine Kritiker als auch für seine Bewunderer derselbe. Goethe bezeichnete ihn auch im Jahr 1814 als „den Allgewaltigen“206 und 14 Jahre später, in einem Gespräch am 11. 03. 1828 mit Eckermann, spricht er von ihm als einem „Halbgott“: „Sein Leben war das Schreiten eines Halbgottes von Schlacht zu Schlacht und von Sieg zu Sieg“.207 Goethes Wortwahl ist nicht zufällig. Napoleon war für ihn eine halbgöttliche Figur, die gegen die Weltordnung rebellierte. Er war daher eine prometheische Figur: „Napoleon gibt uns ein Beispiel, wie gefährlich es sei, sich ins Absolute zu erheben und alles der Ausführung einer Idee zu opfern“.208 Hans Blumenberg, wie bekannt ist, hat ausführlich erläutert, wie Goethe den Mythos von Prometheus auf Napoleon projiziert hat. Der Spruch „Nemo contra deus nisi deus ipse“ (Niemand gegen Gott außer Gott selbst), der der rote Faden der Analyse Blumenbergs ist, deutet unter anderen Interpretationsmöglichkeiten eine Dualität im Göttlichen bzw. eine 202 203 204 205 206 207 208
Schelling (1856 – 1861), SW 8, 175. (o.V.). Ausburger Allgemeine Zeitung. # 350, S. 1400. Bergk/Schlabrendorf, S. III. Ibid. S. 69. Seibt, S. 247. Ibid. S. 241. Eckermann, S. 294.
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Selbstentzweiung Gottes an, die auf einer theologischen Ebene eine tiefe geschichtliche Spannung reflektiert. Die Mythologisierung Napoleons bei Goethe ist für Blumenberg in der Tat von Belang, weil sie auf das Problem der Legitimität der Neuzeit verweist, d.i. auf das Recht einer Epoche, die auf den theologischen Voluntarismus des Spätmittelalters durch die Rechtfertigung der Notwendigkeit menschlicher Selbstbehauptung reagiert, sich von ihrer Vergangenheit abzusetzen. Der Spruch, den Goethe auf Napoleon bezieht, fasst die Dilemmata einer geschichtlichen Wende zusammen. Napoleon war letztendlich für Goethe selbst nicht nur eine Erscheinung des „Dämonischen“, sondern auch ein Erbe der Französischen Revolution und der Aufklärung: „Was büßt er? Was hat er wie jener Prometheus den Menschen gebracht. Auch Licht. Eine moralische Aufklärung“.209 Die „gegengöttliche Selbstvergöttlichung“210 des Menschen, die die Neuzeit impliziert, verkörpert sich auf einer politischen Ebene durch Napoleon. Die unbegrenzte Macht Napoleons, der eine „Universalmonarchie“ stiften wollte, verweist daher auf den Versuch der Neuzeit, allein aus ihren eigenen Kräften ein Zeitalter zu begründen. Der Widerstand gegen den Willkürgott des theologischen Voluntarismus (Blumenberg) überwand im Fall des französischen Kaisers dennoch nicht das Ungewissheitsgefühl, sondern schien es eher zu steigern, indem sich seine Allmacht als kontraproduktiv erwies: „Napoleon“ – sagt Goethe in diesem Sinne – „der ganz in der Idee lebte, konnte sie doch im Bewusstsein nicht erfassen; er leugnet alles Ideelle durchaus und spricht ihm jede Wirklichkeit ab, indessen er es eifrig zu verwirklichen trachtet“211. Goethe ist der Meinung, dass Napoleon eine souveräne Macht ausgeübt hatte, die trotzdem nicht unter seiner Kontrolle stand und sich gegen seine eigenen Absichten wandte. Napoleon unterliegt der Grenzenlosigkeit, der Maßlosigkeit und der Unersättlichkeit seiner eigenen Macht. Die Geschichte des Zauberlehrlings ist auch die Geschichte Napoleons. Napoleons Versuch, ein Imperium zu bilden, ist der grundlegendste geschichtliche Hintergrund der Freiheitsschrift. Diese Behauptung gilt nicht allein für den Interpreten, der aus der historischen Distanz die Entstehungsgeschichte dieses Werks betrachtet, sondern für Schelling selbst. Das Tagebuch Schellings zeigt, wie viel Aufmerksamkeit er der damaligen Entwicklung der Napoleonischen Kriege schenkte.212 Schelling registrierte die Manöver Napoleons und seiner Gegner und zugleich reflektierte er über die Natur des Bösen. Ausdrückliche Hinweise auf die damaligen Ereignisse bleiben zwar in der Freiheitsschrift aus, aber es liegt auf der Hand, dass Schelling sie auf der Ebene der Philosophie thematisiert. Ebenso wie für Hegel Napoleon die „Weltseele zu Pferde“ war, war der französische Kaiser für Schelling eine paradigmatische Erscheinung des Zeitgeistes – eine „welthistorische Persönlichkeit“, wie Hegel sagt. Napoleon verbildlichte den Geist der Neuzeit und 209 210 211 212
Der alte Goethe, zitiert von Appel, S. 271. Blumenberg (1988), S. 203. Zitiert von Seibt, S. 234. Schelling (1994), S. 6, 8, 13, 16, 19, 22, 23, 27.
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die von ihr ausgelösten Spannungen. Ist die menschliche Geschichte nun Teil der allgemeinen Seinsgeschichte und kann sie nur mithilfe von denselben Kategorien konzipiert werden, die das Seiende überhaupt begreifbar machen, konnte Schelling die Bedeutung Napoleons nur ontologisch analysieren. Die Ontologie der Freiheitsschrift ist auf diese Weise auf die Ereignisse ihrer Entstehungszeit bezogen. Darüber sagt L. Knatz: „In dieses Denkmodell ist die Realitätserfahrung eines unsicheren Seins-grundes eingegangen, der sich durch die Zerstörung scheinbar festgefügter und die Schöpfung neuer Verhältnisse auszeichnet. Napoleon erschüttert die Zeitgenossen in einem Maße, dass wir sagen können, hier veränderte sich ein Weltbild“.213 Napoleon zu verstehen bedeutete auch die Maßlosigkeit und die selbstzerstörerischen Kräfte, welche die Neuzeit entfesselt hatte, auf den Begriff zu bringen und in ein Weltbild zu integrieren. Das Böse – und Schelling sieht den französischen Kaiser als ein „Genie des Bösen“214 (Tilliete) – ist der Begriff der Freiheitsschrift dafür. Der Imperialismus Napoleons war eine konsequente Folge des abstrakten Universalismus der französischen Aufklärung, der sich nur durch die Auflösung der alten und rein lokalen rechtlichen und politischen Verhältnisse durchsetzen konnte. Napoleons Anspruch nach einer „Universalmonarchie“ war eine Wirkung des Geistes der Neuzeit. Die unersättliche Suche des Bösen nach Universalität, so wie sie in der Freiheitsschrift beschrieben ist, bringt diese dramatische historische Wende auf philosophischer Ebene zum Ausdruck. Zieht man nun in Betracht, dass das Böse eine Erscheinungsform des Grundes215 ist und folglich trotz seiner „gegengöttlichen Vergöttlichung“ des Endlichen zum Leben Gottes gehört, ist die unausgesprochene Präsenz Napoleons in der Freiheitsschrift nicht davon entfernt, was Goethe durch den Spruch „Nemo contra deus nisi deus ipse“ thematisieren möchte. Abgesehen davon, dass einige mögliche Quellen des Spruches auf Luther und auf Böhme hinweisen,216 die in der Freiheitsschrift eine sehr wichtige Rolle spielen, stimmt Schelling mit Goethe darin überein, die politische Situation Europas theologisch zu reflektieren und die Konflikte, welche die Konsolidierung einer epochalen Wende mit sich brachte, in diesem Rahmen zu behandeln. Die Idee der Selbstentzweiung Gottes holt auf diese Weise eine geschichtliche Krise ein. Der Spruch hat bei Goethe viele mögliche Bedeutungen. Ein Teil der Auseinandersetzung zwischen Hans Blumenberg und Carl Schmitt liegt darin zu bestimmen, welche die zentrale ist. Während Blumenberg dazu tendiert, den Gegensatz zwischen Göttern polytheistisch zu deuten, ist Schmitt der Ansicht, dass es sich dabei um eine Selbstentzweiung Gottes handelt. Schmitt glaubt, dass der Spruch eine „christologische Herkunft“217 hat, die Goethe richtig aus den Wörtern „Gott gegen 213
Knatz (1993), S. 476. Tilliete (2004), S. 284. „Schon in diesem Leben giebt es eine Genialität für das Schlechte.“ Schelling (1973), S. 198. 215 Schelling (1856 – 1861), SW 7, 378. 216 Jüngel (2003), S. 234, 241. 217 Schmitt (1970), S. 123. 214
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Gott“ in den Fragmenten „Catharina von Siena“ von J.M. Lenz abgelesen hat.218 Ist diese Hypothese wahr, bezieht er sich auf die Trinitätslehre, so wie sie aus der Rezeption des für Platon und die Neoplatoniker wichtigen Worts st²sir (Ruhe, Aufruhr) von Gregor von Nazianz gebildet wurde. Schmitt interessiert sich für den Gedanken der Einheit des Getrennten, weil er dabei eine theologische Rechtfertigung seines Begriffes des Politischen sieht. In seiner „Politischen Theologie II“ (1970) sagt er daher das Folgende: „Wenn jeder Einheit eine Zweiheit und infolgedessen eine Aufruhrmöglichkeit, eine stasis, immanent ist, dann scheint die Theologie ,Stasiologie‘ zu werden“.219 Die Details seiner Argumentation und die Bedeutung des Spruches für seine eigene Theorie können im Rahmen dieser Arbeit nicht erläutert werden. Wichtig ist aber dabei, dass Schmitt eine monotheistische Interpretation anbietet, die mit dem Pantheismus der Freiheitsschrift übereinstimmt. Im Unterschied zu den „Weltalter-Skizzen“ vertieft Schelling dabei nicht die christlich-trinitarische Form des „internen Dualismus“ (Hermanni), aber die Idee einer Einheit, die etwas in sich enthält, was sie eigentlich nicht ist und wovon sie sich als von etwas Fremdem absetzt, ist ein Grundgedanke der Freiheitsschrift. Das Böse, das immerhin eine potenzierte Form des Grundes ist, ist eine andere Gestaltung dieses Schemas. Das Motto „Nemo contra deus nisi deus ipse“ ist mit der Ontologie der Freiheitsschrift verträglich, sofern man die Verabsolutierung des Endlichen, die das Böse impliziert, und das Böse selbst als einen (verzerrten) Ausdruck Gottes versteht. Blumenberg hat die Nähe der Interpretation Schmitts zu Schelling bemerkt und deswegen hat er diese mit den Reflexionen Schellings über Prometheus in der „Einleitung der Philosophie der Mythologie“ verbunden: „Carl Schmitts Lesung des ,Gott gegen Gott‘ würde den ,ungeheuren Spruch‘ in die Nähe von Schellings Mythologie des Prometheus rücken. Dieser hat die äußerste Konsequenz aus der Anlage gezogen, die in der Nebenüberlieferung vorgegeben war, Prometheus sei Sohn des Zeus. Dem Mythos kann das, was auch göttlich ist, immer nur zum Gegengöttlichen auswachsen; die Sohnschaft wird, unter dem idealistischen Postulat der Autonomie, unausweichlich zur Feindschaft. Daher ist der Geist als das, was im Menschen vom Ursprung her göttlich ist, seiner Autonomie wegen potentiell das, was gegen die Götter aufzustehen treibt“.220 Schelling konzipiert in der Tat Prometheus als das Gegengöttliche schlechthin. Er ist die mythische Gestalt des verkehrten Geistes. Schelling betont deswegen seinen „unüberwindlichen“ Willen und seine Schöpfungskraft. Dank seiner Tat konnte der Mensch ein von dem Göttlichen unabhängiges Selbstverhältnis haben: Durch Prometheus kehrt der Mensch auf sich selbst zurück und lernt beim Sehen und beim Hören, sich selbst als das Sehende und Hörende zu identifizieren.221 Die Rebellion gegen Gott bzw. gegen Zeus fällt dabei mit der sprunghaften Entstehung einer autarkischen Selbstbeziehung zusammen. 218 219 220 221
Ibid. Ibid. Blumenberg (2007), S. 84. Schelling (1856 – 1861), SW II, 1, 482.
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Schelling verbindet die Figur Prometheus mit der Entstehung der Subjektivität. Pqolghe¼r, der Vorausblickende, ist der, der a priori denkt. Er ist das „erhabene Vorbild des Menschen-Ich“, das versucht, eine eigene Welt zu schaffen, ohne jedoch gut zu sein: Prometheus hat „die Menschen klug gemacht, bevor sie gut waren, ihnen die Mittel zur Befriedigung ihrer niedern Bedürfnisse gegeben, ehe sie höhere ahndeten“222. Die menschliche Selbstbehauptung setzt auf diese Weise die Entfernung des Menschen von Gott voraus. Es geht dabei folglich um die mythologische Gestalt des Bösen, deren entmythifizierte Form die Verabsolutierung des Ich ist. Dass der Mythos von Prometheus auf eine Selbsterhöhung der Menschen verweist, deren Kristallisierung die Subjektivität ist, ist keine besondere Idee der Spätphilosophie Schellings. In der „Philosophie der Kunst“ hatte Schelling schon erklärt, wie Prometheus das „Urbild der Sittlichkeit“ ist, aber gerade nicht der „höchsten Sittlichkeit“, die in der „Anerkennung der Schranken und der Begrenzung liegt.“223 Es geht dabei um eine moralische Freiheit, die „sich als Unabhängigkeit von den Göttern äußert“, und die sich nur als „Empörung gegen diese“ zeigen kann. Die moralische Autonomie des Subjekts, die, wie früher gezeigt wurde, Schelling im „Würzburger System“ scharf kritisiert, ist darin leicht zu identifizieren. Die Erläuterung der Wirklichkeit des Bösen in der Freiheitsschrift, die z. T. fichtesch bzw. mittels der Idee einer absolut spontanen Selbstsetzung konzipiert wird, ist die Radikalisierung und Vertiefung dieser Idee. Der menschliche Geist entfernt sich von Gott insofern, als er anstrebt, unbegründet zu sein und ohne göttliche Hilfe eine eigene Welt zu gestalten. Das Böse ist jedoch eine Dimension des Göttlichen. Die Freiheit und Schöpferkraft des Bösen trägt aber in sich die Spuren der göttlichen Freiheit. Gott ist so unbegrenzt, dass er sogar das Gegengöttliche in sich selbst einbezieht. Dies ist eben der Sinn des Mythos von Prometheus. In Bezug auf Aristoteles hat Schelling in der „Philosophischen Einleitung in die Philosophie der Mythologie“ gesagt, „dass er in dem Nus das Göttliche, aber nicht ebenso das Gegengöttliche erkannt, wiewohl beides nicht zu trennen ist, wie wir das an einer Gestalt von ewiger Bedeutung sehen, die uns das griechische Alterthum überliefert hat. Ich rede nämlich von Prometheus“.224 b) Schelling und die Napoleonischen Kriege – eine politisch-geschichtliche Annäherung Was bedeutet dies hinsichtlich der Auffassung der Politik Napoleons seitens Schellings? Bevor man die Antwort auf diese Frage in der Freiheitsschrift erläutert, in der ein allgemeines Verständnis der Neuzeit zum Ausdruck kommt, lohnt es sich vielleicht, sie in Bezug auf den besonderen politisch-geschichtlichen Kontext, in dem sich Schelling damit auseinandersetzt, zu behandeln. Einige Autoren wie Jaspers225 222 223 224 225
Ibid. SW II, 1, 484. Ibid. SW 5, 420. Ibid. SW II. 1. 481. Jaspers (1955), S. 252 – 254.
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oder Losurdo226 sind in diesem Zusammenhang der Meinung, dass Schelling für Napoleon war. Jaspers weist nicht auf die politische Konjunktur hin, aber er wendet auch hierbei seine allgemeine und psychologistische Interpretation Schellings darauf an. Er begründet seine Position dadurch, dass das Denken Schellings überhaupt eine substanzlose und realitätsferne Reflexion sei,227 deren politische Folge trotz seiner radikal klingenden Äußerungen nichts anderes als die Anpassung an die faktischen Mächte sein könne. Die vermutliche Sympathie Schellings für den Feldzug der napoleonischen Kräfte gehört laut Jaspers dazu. Losurdo bezieht sich darauf, dass Schelling in den Zeiten der Abfassung der Freiheitsschrift in Bayern gewohnt habe, das Napoleon als Königreich proklamiert habe, und er sich mit der offiziellen Position des Staates identifizierte. Dafür gibt es keine ausreichenden Belege, wie Knatz notiert.228 Diese Interpretationen gehen aber von einer falschen Frage aus. Ob Schelling für oder gegen Napoleon war, ist eine verfehlte Form, die Position Schellings gegenüber Napoleon zu bestimmen. Hilfreich, um eine Klärung des Problems einzuleiten, ist ein Kommentar Tilliets: „Schelling teilte nicht Goethes, Johannes von Müllers und Hegels verschämte Bewunderung von Napoleon, den er mit einem gewissen Schrecken für ein Genie des Bösen hielt. Doch von einem geistigen Widerstand konnte nicht die Rede sein, das Umfeld eignete sich nicht dafür. Trotz des Beispiels des jungen Köhlers sprach Schelling sich nicht für ein Engagement in den Befreiungskriegen aus, wie Fichte, Theodor Körner, La-Motte Fouqué und all jene Helden die an der Seite Preußens gegen Napoleons Grande Armée kämpften“229. Knatz geht auch in diese Richtung: „Schellings politische Äußerungen während der Zeit der Befreiungskriege sind indifferent, er schlägt sich weder auf die Seite des französischen Eroberers noch auf die Seite der katholischen Restauration“.230 Mit einigen, nicht unwichtigen Vorbehalten kann man dieser Position zustimmen. Dagegen soll man auf der einen Seite sagen, dass Schellings gemäßigter Nationalismus, der bis zum Ende seines Lebens seine Äußerungen zur damaligen Politik geprägt hat, aber keineswegs mit einem Nationalismus à la Fichte vergleichbar ist, ein Produkt der Zeit der Befreiungskriege ist. In seinen Briefen, Reden und Schriften findet man zwar samt einer Ablehnung der Besatzung231 eine Hochbewertung des „Deutschen“ und einen ihr entsprechenden Argwohn gegen das Französische,232 aber keine begeisterte Parteinahme für die Politik Preußens, Russlands und Österreichs. Dass Schelling nicht für die Restauration war, ist z. B. anhand des Briefes an Windischmann am 9. 5. 1809 belegbar, in dem er die politische 226
Losurdo (1989b), S. 205. Jaspers, S. 222 – 234, 255. 228 Knatz (1993), 476. 229 Tiliette (2004), S. 284. 230 Knatz (1993), S. 476. 231 „Seit dem Unglück Deutschlands habe ich erst die Propheten recht verstehen lernen; jetzt lerne ich fühlen, was es heißt, aus der Gefangenschaft und mehr als babylonischer Knechtschaft erlöst zu werden“. Brief an E. F. Georgii (8. 10. 1813). Schelling (2003), S. 338. 232 Schelling (1856 – 1861), SW 5, 258,198, 521, 705; SW 6, 348; SW 7, 348. 227
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Stellungnahme F. Schlegels bedauert: „Es ist leider wahr, daß Fr. Schlegel mit den Oesterreichern hier in Bayern und schon zu Landshut eingerückt war. Zu welchen Abenteuerlichkeiten reißt diesen trefflichen Geist der furor fanaticus fort!“233. Früher, am 18. 12. 1806, hatte Schelling auch zu Windischmann gesagt: „Sie möchten sich in die Politik aus dem Standpunct des Deutschen zu viel eingelassen haben. Nicht daß ich die Gesinnung selbst tadle; aber wer möchte an diese Sache jetzt seine Persönlichkeit verschleudern?“234. Ebenso wie der Nationalismus Schellings keiner Unterstützung der Restauration gleichkam, ist auf der anderen Seite seine Überzeugung davon, dass die Welt, welche der französische Kaiser bekämpfte, untergehen sollte, kein Beweis seiner Parteinahme für ihn. Napoleon war für ihn der „Zermalmer“,235 der die Aufgabe hatte, die alte Welt zu untergraben, aber er interpretierte die Zerstörung, welche die Kampagne der Grande Armée überall hinterließ, als ein Vorzeichen einer geschichtlichen Erneuerung, die nicht auf ein von Napoleon beherrschtes Europa hinauslief. Napoleon war für Schelling ein „destruktiver Charakter“ im Sinne Walter Benjamins: „Der destruktive Charakter kennt nur eine Parole: Platz schaffen; nur eine Tätigkeit: räumen … Der destruktive Charakter ist jung und heiter. Denn Zerstören verjüngt“236. Schelling glaubte, dass die Politik Napoleons im Wesentlichen zerstörerisch ist, aber er erwartete davon den Anbruch einer neuen Epoche, die über die eventuelle „Universalmonarchie“ Napoleons hinausgehen sollte. Napoleon war nur ein Durchgangspunkt dieses Prozesses. In dem erwähnten Brief an Windischmann behauptet Schelling: „Wen sollte die Zeit jetzt nicht zum Seher oder Sprecher machen? Und doch empfinde ich tief die Unheilbarkeit der Zeit und fahre fort der Zertrümmerung mich zu freuen. Die Dummheit von oben her, die tiefe Gemeinheit der Regierungen, die wir fallen sehen, haben wir uns nicht vorstellen können; jetzt ist sie klar, und ich möchte nicht klagen, sondern wo möglich selbst noch helfen, daß das Alte vergehe“.237 Am 7.01.07 schreibt Schelling Windischmann wieder. Die Botschaft ist dieselbe: „Möchten alle, die noch an dieser Convenienzwelt hangen, davon befreit werden; unsern Johannes [Johannes von Müller, der Napoleon-Anhänger war; C.R] davon abzubringen, lassen Sie sich angelegen sein. Die Revolution hat jetzt erst in Deutschland angefangen; ich meine nämlich, daß erst jetzt Raum wird für eine neue Welt“.238 Die richtige Position war auch nicht, sich an die politische Ordnung anpassen, die Napoleon geschaffen hatte. Dies war noch Teil der „Convenienzwelt“, die untergehen sollte. Tilliete und Knatz verwandeln die Position Schellings in eine Art von Neutralität, welche mehrere Dokumente leugnen, aber sie haben insofern recht, als sich Schelling in der Tat weigerte, einseitig Partei zu ergreifen. Schelling war für Napoleon und gegen ihn. Schelling war für die Restauration und gegen sie. Er lobte einerseits den leeren 233 234 235 236 237 238
Schelling (2003), S. 158. Ibid. S. 108 – 109. Ibid. S. 108. Benjamin, 95. Schelling (2003), S. 108. Ibid. S. 110.
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Raum, den Napoleon schaffte, um etwas Neues entstehen zu lassen und vor allem, wie sich im Folgenden zeigen wird, die Schöpfung einer europäischen und tendenziell globalen Politik, aber er lehnte aufgrund seines gemäßigten Nationalismus und vor allem aufgrund seiner Gegnerschaft gegen den abstrakten und homogenisierenden Rationalismus die französische Besatzung ab. Er sympathisierte andererseits mit dem Patriotismus, welchen der Widerstand gegen Napoleon erweckt hatte, und stimmte mit dem Geist der Restauration darin überein, dass die politische Ordnung nur auf der Basis der Religion haltbar war, aber er ließ sich zugleich angesichts der schnellen und eine Zeitwende versprechenden Veränderungen von einer Aufbruchstimmung hinreißen, die mit der Überwindung der kleinstaatlichen Politik und der voraufklärerischen Frömmigkeit239 rechnete. Schellings Position lässt sich nicht parteiisch einordnen. c) Napoleon und das Böse – Schellings philosophische Reaktion auf den imperialistischen Cäsarismus Jenseits der konkreten politischen Gruppierungen und Polarisierungen, die das Urteil Schellings über Napoleon geschichtlich einrahmen, der Besonderheiten der Persönlichkeit Schellings, die z. B. Jaspers oder Jäger240 betonen, oder der Schwierigkeiten und Risiken,241in seiner Situation eine zu offene Position gehalten zu haben, kann man nun sagen, dass Schelling philosophische Gründe dafür hatte, weder für Napoleon noch gegen ihn zu sein. Es ist nicht schwierig zu vermuten, dass Schelling die Faszination teilte, die Napoleon auf viele von seinen Zeitgenossen ausübte. „Viele großen Geister jener Zeit“ – sagt G. Jäger – „bekannten sich zu dieser in ihrer Einmaligkeit überwältigenden Schöpferkraft, ja auch solche ließen sich bekehren, die ihn [Napoleon; C.R] zuvor leidenschaftlich bekämpft hatten“.242 Eine Stelle des Drucks I der Weltalter (1811) belegt diese Haltung Schellings im Rahmen einer philosophischen Schrift. Er erklärt dabei, wie die Entstehung des individuellen Charakters jedes Menschen ein „Handeln aus dem Ungrund“ ist. Für diese Handlung gibt es keinen Grund: „Sie ist so, weil sie so ist, sie ist schlechthin und insofern nothwendig“.243 Alle Menschen haben einen Charakter, aber die grundlose Spontaneität, welche ihm zugrunde liegt, bleibt ihnen verborgen. Sie ist unbewusst. Einige Menschen aber, welche diese ursprüngliche Freiheit zur Erscheinung bringen und deshalb den anderen ermöglichen, sich derselben bewusst zu werden, üben eine besondere Faszination aus: „Vor dieser grundlosen, durch sich nothwendigen, 239 „Die deutsche Nation strebt mit ihrem ganzen Wesen nach Religion, aber ihrer Eigenthümlichkeit gemäß nach Religion, die mit Erkenntnis verbunden und auf Wissenschaft gegründet ist“. Schelling (1856 – 1861), SW 8, 8 – 9. 240 „Schelling war nie heroisch, nie radikal, nie bereit, die letzten Konsequenzen bis zum Scheitern zu tragen“. Jäger, S. 25. 241 „… und gefährlich ist immer davon zu reden“. Brief an K. J. H. Windischmann (18. 12. 1806). Schelling (2003), S. 109. 242 Jäger, S. 24. 243 Schelling (1966), S. 93.
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Freyheit, scheuen sich die Meisten, wie sie sich vor der Magie, vor allem Unbegreiflichen und besonders vor der Geisterwelt scheuen. Wo sie daher ein solches Handeln aus dem Ungrunde gewahr werden, fühlen sie sich vor ihm niedergeworfen, wie vor einer Erscheinung aus der höheren Welt und finden die Kraft nicht, ihm zu widerstehen. Dieses Handeln aus dem Ungrund ist der geheime Talisman, die dunkle schreckende Gewalt, wodurch bisweilen der Wille eines einzigen Menschen die Welt vor sich zu beugen vermag. Vielleicht ist das Geheimnis ein Glück, das darauf ruht“.244 Schelling beschreibt dabei die „magische“, zugleich erschreckende und anziehende Kraft, die einige Weltherrscher ausüben. „Magie“ bezeichnet im mittleren Werk Schellings alle Arten von Wirkungen auf die Dinge oder auf die Menschen, die nicht physisch verlaufen und sich nur aus dem Wesen des Wirkenden, also ohne eine zusätzliche Tätigkeit seinerseits, ergeben.245 Magisch ist die Macht eines „Talismans“ oder der Zauberformel. Wörter können magisch wirken. Hat ein Mensch diese Art von Macht, kann er auf andere Menschen Einfluss ausüben, ohne es vorzuhaben – nur aufgrund seiner Präsenz. Andere folgen ihm aufgrund seiner außergewöhnlichen Natur, also einer besonderen Gabe. Der Grund der Faszination, die er erwecket, ist sozusagen der Magnetismus seines Charakters und nicht seine Werke. Diese sind nebensächlich. In den „Stuttgarter Privatvorlesungen“ hatte Schelling schon davon gesprochen. Die „Geteiltheit“ der geistigen Kräfte sei die Quelle aller Schwäche, aber sie könne sowohl vom guten als auch vom bösen Menschen überwunden werden: „Daher wir auch sehen, daß Menschen, die es hier bis zum Dämonischen bringen (und im Bösen wird diese Entschiedenheit häufiger erreicht als im Guten) – etwas Unwiderstehliches in sich haben, sie fascinieren gleichsam alles ihnen Entgegenstehende, besonders wenn das ihnen Entgegenstehende auch nichts Gutes, sondern Böses ist, das nun nicht den Muth oder die Kraft hat, sich zu zeigen. Denn in jedem möglich Fach wird es der entschiedene Meister und Virtuos über den Stümper und Pfuscher davontragen“246. Das Volk sei für diese Art geistiger Erscheinung besonders empfänglich.247 In der erwähnten Stelle der „Weltalter“ bezieht Schelling die Faszination, die ein Mensch auf andere ausübt, auf einen Herrscher. Kurz gesagt: Schelling beschreibt dabei, Weberisch gesagt, die charismatische Legitimation. Vergleicht man die Stelle der Weltalter mit einigen Fragmenten Goethes über die Weltherrscher und das Dämonische, die im Fall Goethes auf eine in einen ästhetizistischen Cäsarismus gelangende Politisierung des Geniekults hinweisen,248 ist ihr Sinn deutlicher. Ein Zitat, das auf Julius Cäsar bezogen ist und das das Thema des Glücks auch enthält, ist in dieser Hinsicht interessant: „Mächtig und gewältig, ohne Trutz. Unbeweglich und unwiderstehlich. Weise, tätig, erhaben über alles, sich 244 245 246 247 248
Ibid. Schelling (1856 – 1861), SW 5, 540; SW 8, 239; SW 8, 442. Schelling (2003), 119. Schelling (1856 – 1861), SW 7, 477. Ibid. SW 7, 476. Faber (1999), S. 178 – 180.
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fühlend Sohn des Glücks, bedächtig, schnell – Inbegriff aller menschlichen Größe“.249 Die Unwiderstehlichkeit der Faszination, die das Dämonische ausübt, wird dabei auch mit einer äußeren Unbeweglichkeit verbunden.250 Schellings Begriff von Magie trägt auch diese Merkmale und ist auch im erwähnten Zitat auf die Weltherrscher, auf einen Kaiser, bezogen. Interessant ist auch dabei, dass Goethe, sich wahrscheinlich an seine Worte über Julius Cäsar erinnernd, Napoleon als „Kompendium der Welt“251 bezeichnete. Ein anderes, späteres Fragment Goethes, das eventuell auf Napoleon hinweist, verdeutlicht diese Idee: „Am furchtbarsten aber erscheint dieses Dämonische, wenn es in irgend einem Menschen überwiegend hervortritt. Während meines Lebensganges habe ich mehrere teils in der Nähe, teils in der Ferne beobachten können. Es sind nicht immer die vorzüglichsten Menschen, weder an Geist noch an Talenten, selten durch Herzensgüte sich empfehlend; aber eine ungeheure Kraft geht von ihnen aus, und sie üben eine unglaubliche Gewalt über alle Geschöpfe, ja sogar über die Elemente, und wer kann sagen, wie weit sich eine solche Wirkung erstrecken wird? Alle vereinten sittlichen Kräfte vermögen nichts gegen sie; vergebens, daß der hellere Teil der Menschen sie als Betrogene oder als Betrüger verdächtig machen will, die Masse wird von ihnen angezogen. Selten oder nie finden sich Gleichzeitige ihresgleichen, und sie sind durch nichts zu überwinden als durch das Universum selbst, mit dem sie den Kampf begonnen; und aus solchen Bemerkungen mag wohl jener sonderbare, aber ungeheure Spruch entstanden sein: Nemo contra deum nisi deus ipse“252.
Goethe betont hierbei so wie in anderen Stellen,253 dass das Dämonische über die moralische Weltordnung hinaus geht.254 Es geht nicht immer mit der „Herzensgüte“ einher. Die „Produktivität der Taten“, die Napoleon auszeichnete, konnte deswegen nicht moralisch beurteilt werden. Nimmt die politische Genialität sogar die Form des „Diabolischen“ an, können weder moralische Mahnungen noch die Entlarvung der Macht eines solchen Menschen als sinnlose Idolatrie und Betrug seitens rationeller Menschen verhindern, dass die charismatischen politischen Führer die „Masse“ unwiderstehlich anziehen. Das Einzige, das sie anhält, ist eine göttliche Macht, also ein anderer Gott. Unabhängig davon, ob das Zitat der Weltalter Goethes Gedankengut und Goethes Erfahrung mit Napoleon voraussetzt, zeigt die Parallele zu ihm, worauf Schelling in der sybillinischen Sprache der Weltalter anspielt, wenn er von der Magie einzelner Menschen spricht, vor denen sich die Welt beugt. Dass Schelling 249
Lautenbach, S. 124. Faber (1999), S. 177. 251 Seibt, S. 234. 252 Goethe (1891), S. 177. 253 „Der Wirt wagte sogar, mit Goethe zu disputieren. Er behauptete, weil er Kantianer war und dem kategorischen Imperativ huldigte, die wahre Größe müsse immer auch eine sittliche sein. Dagegen Goethe: […] Es gibt eine dämonische, ja diabolische Größe. Erstere erscheint uns, wo der Einfluß unsichtbarer Mächte, wobei wir nicht immer an Gott als das sittlich vollkommenste Wesen denken, in der Erscheinung sichtbar zu werden scheint, letzteres da, wo die Handlungen in einem über alles Gesetz hinausliegenden Gebiete zu walten scheinen.“ Goethe (1993), S. 23. 254 Faber (1999), S. 178. 250
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1811 darüber geschrieben hätte, ohne an Napoleon zu denken, ist ziemlich unwahrscheinlich. Das Zitat zeigt am konkretesten, welches die geistigen Kräfte sind, die für Schelling die Geschichte bewegen. Die Fortsetzung des Zitats, und vor allem die darauf folgenden Abschnitte, die sich mit der Freiheit zum Guten und zum Bösen beschäftigen, zeigen aber auch, aus welchen Gründen Schelling die unbedingte Begeisterung Goethes über Napoleon nicht teilen konnte: „Es gibt andere [Menschen; C.R], welche es nach dieser Gewalt lüstert, die sie gern üben möchten aber nicht verstehen. Sie merken wohl das Gepräge der Nothwendigkeit in der unbedingt freyen Handlung, aber sie suchen diese Nothwendigkeit im Äußern. Weshalb von jeher die Meisten, die in dem Fall waren, allein aus sich handeln zu können, von dem Wahnsinn der Willkür ergriffen, in den zufälligsten Handlungen, denen alles Gepräge innerer Nothwendigkeit fehlt, ihre Freyheit suchten. Beugt sich den ersten [Menschen; C.R] die Welt, so spottet sie dieser nur als Trunkener und Wahnsinniger, so sehr sie auch ihres Zustandes wegen gefürchtet werden mögen.“255 Im Unterschied zu den ganz wenigen glücklichen Einzelmenschen, welche die bedingungslose Selbstschöpfung ihrer Singularität sichtbar machen und deswegen, angesichts dieser absoluten Freiheit, eine Faszination erwecken, sind ihre Epigonen nicht wirklich in der Lage, aufgrund ihres Charakters über andere Menschen Macht auszuüben. Sie haben aber auch diesen Anspruch. Das Charisma ist doch von der Singularität eines Menschen untrennbar und ist nicht wiederholbar. Es ist eine Gabe und – für den Charismaträger – in einem gewissen Sinn eine Fatalität. Er kann nichts anders handeln, als er tatsächlich handelt,256 und er kann sich nicht von sich selbst distanzieren oder wissen, warum er auf eine bestimmte Weise handelt – auf diese Eigenschaften von dem Glückbegünstigten ist übrigens Aristoteles in der „Eudemischen Ethik“ eingegangen.257 Diejenigen, welche die Gunst der Natur nicht bekommen haben, können zwar ihre Handlungen gemäß bewusster Regeln und Grundsätzen regeln, aber sie haben nicht die natürliche Anziehungskraft des charismatischen Menschen. Sie versuchen dieses Manko dadurch auszugleichen, dass sie eben auf Gründe und Grundsätze zurückgreifen, um eine „Menschenmenge“ zu fesseln. Sie handeln deswegen nicht unmittelbar aus der Singularität ihres Charakters, weil sie nur durch die Vermittlung von allgemeinen Lehren einen Schwarm Anhänger bilden können. Die Epigonen, die ihren endlichen Standpunkt durch Lehren und Theorie verallgemeinern wollen, sind die wahren Schwärmer. Darauf hinweisend spricht Schelling im Zitat von „Wahnsinnigen“, also von denjenigen, deren Sinn oder Verstand zum Wahn geworden ist. Im Unterschied zum charismatischen Führer, der eine wahre universelle Tatsache zur Erscheinung bringt, d.i die Selbstkonstitution der Singularität, können sie nur versuchen, endliche und einseitige Standpunkte zu verallgemeinern. Daraus ergibt sich eine Pluralität willkürlicher 255
Schelling (1993), S. 93 – 94 (WA I 172 – 173). „Für das Genie gibt es keine Wahl, weil es nur das Nothwendige kennt und nur dieses will.“ Schelling (1856 – 1861), SW 5, 473. 257 Aristoteles, S. 98 (1247 a 29 – 34), 100 (1247b 15 – 33). 256
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Konstruktionen, „denen alles Gepräge innerer Notwendigkeit fehlt“ und die miteinander konkurrieren, um andere Menschen zu mobilisieren. Dahinter steckt nichts anderes als die Suche einzelner Menschen nach der Selbstbehauptung ihrer Singularität. Die geschichtliche Bedeutung Napoleons besteht in dieser Hinsicht darin, zu der Intensivierung und Verallgemeinerung dieser Tendenz der modernen Individuen beigetragen zu haben. Schelling scheint mit Goethe darin übereinzustimmen, auf den kräftigen Charakter Napoleons und folglich auf seine angeborenen Eigenschaften seinen politischen Erfolg zurückzuführen. Seine imperialistische Politik hatte sich zwar mit den Ideen der Französischen Revolution überkleidet und sie auf seine Weise zur Geltung gebracht, aber sie entsprang nicht vorwiegend einer bestimmten Ideologie, sondern einem Charakter, der in einer ausgeprägten Form machtorientiert war und aus dem keine anderen Handlungen folgen konnten, als diejenigen, die tatsächlich stattgefunden hatten. Davon unterscheiden sich laut Schelling die Epigonen, weil sie nicht den außerordentlichen Charakter des Kaisers besitzen und doch dasselbe Ziel wie er haben. Sowohl Napoleon als die Epigonen sind Subjekte, die einen Anspruch auf Macht und Kontrolle über andere Menschen und über die Natur haben – man darf nicht die Verbindung der Handlungsweise Napoleons mit dem absoluten Ich Fichtes bei Goethe vergessen,258 aber bei den Zweiten überwiegt nicht die unbewusste und deshalb unwillkürliche Seite der Machtsucht. „Wahnsinnige“ sind diejenigen, die vorwiegend mithilfe von Ideen und politischen Lehren die Verabsolutierung der Subjektivität zur Erscheinung bringen – die modernen „Gnostiker“ im Sinne Voegelins.259 Ihre Handlungen basieren vorwiegend auf willkürlichen Zielsetzungen, welche anstreben, ihren Mangel an einem an sich mächtigen Charakter zu kompensieren. Der Fall Napoleons konnte ihnen dennoch als Vorbild dienen, weil dieser die politische Schöpfungskraft des Einzelnen auf eine Weise bewiesen hatte, die nicht der Autorität der Tradition oder der Zugehörigkeit zum Adelsstand bedarf. Dass ein Mensch, der mindestens anfänglich radikal gegen das Ancien Régime auf europäischer Ebene gekämpft und folglich eine antitraditionalistische Politik getrieben hatte, einen solchen Erfolg erreicht hatte – und dies ohne adlige Abstammung und nur aufgrund seines Willens –, konnte inmitten einer Kultur, die auf der Selbstbehauptung der Subjektivität gründete, ohne große Schwierigkeiten zum Vorbild werden. Napoleon war in diesem Sinne der erste bürgerliche Held. Wenn Napoleon ein politisches Genie war, konnte die Folge sein, dass viele Indi258
Burgdorf, S. 157 – 189; s. auch: Schmitt (1970), S. 122. „Die gnostische Spekulation überwand die Ungewissheit des Glaubens dadurch, dass sie sich von der Transzendenz abwandte und den Menschen in seinem innerweltlichen Handlungsbereich mit dem Sinn einer eschatologischen Erfüllung ausstattete. In demselben Ausmaß, in dem die Immanentisierung erlebnismäßig voranschritt, wurde die zivilisatorische Betätigung zu einem mystischen Werk der Selbsterlösung“ (Voegelin, zitiert von Faber (1994), S. 33). Voegelin verbindet die „gnostische“ Politik mit einer Störung des Geistes: „Das Wesen gnostischer Politik muß als eine Erkrankung des Geistes verstanden werden, als ein ,nosos‘ im Sinne Platons und Schellings, eine Störung im Leben des Pneuma, zum Unterschied von Geisteskrankheiten im psychopathologischen Sinne.“ (Ibid. S. 49). 259
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viduen – innerhalb ihrer Grenzen – seine Handlungsweise nachahmen wollten. „Die Verwandlung der Welt in reine Tat (erstaunliche Genialität Fichtes); alle sind Genies. Der Genie-Begriff das große Unheil“260 – hat Carl Schmitt in einem ähnlichen Sinne gesagt. Darum handelt es sich in dem Brief Schellings an Georgii am 8. 10. 1813: „Seit dem Unglück Deutschlands habe ich erst die Propheten recht verstehen lernen; jetzt lerne ich fühlen, was es heißt, aus der Gefangenschaft und mehr als babylonischen Knechtschaft erlöst zu werden. Die eingetretene Zerstörung der feindlichen Macht, die Auflösung, deren vollständige Resultate wir noch nicht einmal kennen, scheint in gar keinem Verhältnis mit den Niederlagen; diese Zerstörung kommt von innen durch einen eigentlichen Verwesungs- und Putrefactionsproceß. Moll’s Zeitrechnung wird jetzt wohl einige Modification erleiden müssen, ob ich gleich immer glaube, daß sein Ende noch nicht so nah ist; verstehe ich etwas von dem wunderbaren Gang der Entwicklung, so wird er noch aufgespart; wenn alle seine Helfershelfer abgegangen sind, wird er noch leben, um den Kelch der Demüthigung bis auf die Hefen auszuleeren. Das Benehmen im gegenwärtigen Krieg scheint auf eine noch tiefere Depravation zu deuten; ich glaube, seine ganze Energie hat, nicht wie man ihm zutraute, in einem blinden Fatalismus, der doch immer noch etwas in gewisser Art Erhabenes und Vernunftartiges hat, sondern in blosem Casualismus, einer Vergötterung des Zufalls bestanden“.261
Schelling kommentiert die letzten Ereignisse. Die „eingetretene Zerstörung der feindlichen Macht“ spielt wahrscheinlich auf die Schlacht von Vitoria (21. 06. 1813) an, in der die Napoleonischen Kräfte eine Niederlage erlitten und die Zukunft der Befreiungskriege ahnen ließ: „Alle Geister und Herzen sind jetzt voll von der großen wunderähnlichen Conversio rerum, die sich in den letzten Monaten ereignet“.262 Schelling trennt aber die Möglichkeit der Niederlage der französischen Armée von der Dauer des historischen „Verwesungsprozesses“. Sein Ende sei folglich nicht nahe, sogar wenn der militärische Sieg eintrete. Die „Depravation“ ist tiefer als der Krieg. Dahinter steckt nicht ein „blinder Fatalismus“ sondern „Casualismus“, d.i. ihre Erscheinung weist nicht auf einen kräftigen Charakter hin, der der vernünftigen Handlungsweise, also der Gewissenhaftigkeit gleich, keine Alternativen zulässt, sondern auf den Zufall. „Die Vergötterung des Zufalls“ ist die Verabsolutierung des Willkürlichen, also der frei entworfenen Handlungsmuster seitens nach Macht strebender Subjekte, und nicht einfach der Mangel einer übersichtlichen planmäßigen historischen Entwicklung. Der Unterschied zwischen „Fatalismus“ und „Casualismus“, dessen sittliches Pendant im ersten Druck der „Weltalter“ der Unterschied des Charakters von der Willkür ist, deutet darauf hin. Die Botschaft des Briefes, der auf einen präzisen geschichtlichen Kontext bezogen ist, ist unter diesen Voraussetzungen die Folgende: Die mögliche Niederlage Napoleons sei nicht das Ende der geschichtlichen Krise, weil die Wirkungen des Zeitgeistes durch seine Epigonen und folglich durch Anwärter auf die politische Macht, die nicht den 260 261 262
Schmitt (1991), S. 57. Schelling (2003), S. 338. Ibid.
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Charakter Napoleons haben, fortdauern werden. Liest man die Kritiken des späten Schelling an der Demokratie, in der „der Staat nur noch das Werkzeug der Persönlichkeiten ist“,263 versteht man a posteriori den Sinn dieser Prognose. Schelling begreift die Demokratisierung als eine Konkurrenz zwischen Caudillos, die versuchen, durch demagogische Mittel in der Öffentlichkeit Beifall zu finden. Die Demokratisierung ist daher aus seiner Sicht das Szenario der Selbstbehauptungsversuche mittelmäßiger Individuen.264 Napoleon war zwar eine Verkörperung des Bösen, aber er hatte eine privilegierte außergewöhnliche Natur, die seiner Macht Erhabenheit verlieh. Sein geschichtliches Nachspiel war für Schelling hingegen die sich selbst aufhebende, vervielfachte und parodistische Wiederholung des Geistes des Cäsarismus. Dabei konnte Schelling nur die Fortsetzung des „Verwesungsprozesses“ sehen, der den Anfang des Untergangs Napoleons in Spanien voraussehen ließ, und die Unmöglichkeit einer dauernden politischen Ordnung.265 Schellings Zustimmung zur gewaltsamen Bekämpfung der Revolution 1848 ist in dieser Hinsicht eine Folge seines Verständnisses der europäischen Geschichte und kein, wie M. Frank glaubt266, dem Kern seines Denkens äußerlicher, philosophisch unbegründeter Konservatismus. Es handelte sich für ihn dabei um eine neue und degradierte Erscheinung des Bösen, die, wie er im Zitat der Weltalter sagt, nichtsdestotrotz „furchterregend“ war. Über die möglichen Folgeerscheinungen der Politik Napoleons hinaus konnte Schelling nicht die unzweideutige Begeisterung Goethes über ihn teilen, weil der französische Kaiser immerhin eine Erscheinung des Bösen war. Das Charisma Napoleons, wie gesagt, ist die Folge dessen, was er sichtbar macht: die grundlose Schöpfungskraft, die der Singularität jedes Menschen zugrunde liegt. Normalerweise bleibt sie unbewusst. Die ursprüngliche Tat, die den Charakter gründet, erscheint deswegen aus der Sicht des zeitlich existierenden Individuums als seine eigene Natur. Sie ist aber ein Freiheitsakt, der zur Notwendigkeit geworden ist. Sie ist eine überzeitliche Tat, die doch unbewusst ist. Napoleon ist daher eine Art von Rückkehr des Verdrängten, weil er diesen Freiheitsakt zur Erscheinung bringt und ihn in der Form einer absoluten Souveränität zeigt. Napoleon übte auf die Individuen eine unwiderstehliche Faszination aus, weil er ihnen ermöglichte, mit ihren eigenen ontologischen Vergangenheit in Kontakt zu treten. Die Selbstschöpfung des Charakters ist aber in der Freiheitsschrift ein Moment der Wirklichkeit des Bösen. Ist das Gute die „überwundene, also aus der Aktivität zur Potentialität zurückgebrachte Selbstheit“,267 soll es über den Charakter hinaus gehen. Der Druck I der „Weltalter“ besteht auf diesen Punkt: Der Charakter ist „der ewige Grund, den der Wille sich selber macht, damit der andere aus dem ersten gezeugte Wille einen Gegenstand 263 264 265 266 267
Schelling (1856 – 1861), SW II, 1, 542. Schraven, S. 178. Ibid. Frank (1975), S. 9. Schelling (1856 – 1861), SW 7, 400.
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habe, etwas widerstehendes finde, das er aufschließe und zu immer höherer Gestaltung entwickele“.268 Unabhängig davon, wie kräftig er ist, ist der Charakter immer ein Ausgangspunkt. „Sich entschließen“ heißt in den „Weltaltern“, die Schließung, die den Charakter darstellt, freiwillig zu überwinden und deshalb sich für eine höhere „Persönlichkeit“269 zu öffnen. Das sittliche Leben bedarf immer des Charakters, weil ebenso wie jede Entwicklung eine Einwicklung auch der „Dualismus“ den „Fatalismus“270 voraussetzt. Der Mensch kann aber nicht auf dieser Ebene bleiben, weil, nachdem die „Selbstverdoppelung“ dank der „Liebe“ stattgefunden hat, er zwischen der „selbstgenugsamen Verschlossenheit“271 des Charakters und der „Besonnenheit“ der höheren Persönlichkeit gespalten ist. Darin liegt die Freiheit zum Guten oder zum Bösen. Das wahre sittliche Leben überwindet die Wahlfreiheit, aber sie soll durch sie durchgehen. Böse ist der Mensch, der angesichts der Möglichkeit, sich von sich selbst zu scheiden, die Geschlossenheit seines Charakters bevorzugt: „so kann ein der Verwirrung ausgesetztes Wesen, wie der Mensch ist, dieses andre Ich, anstatt es in sich wirken zu lassen, zum Mittel für seine Zwecke und für seine eigne Freyheit machen, welche die höchst mögliche Umkehrung des wahren Verhältnisses ist, und dadurch kann endlich jene Zeugung und Selbstverdoppelungskraft so eingeschränkt werden, daß sie nur als Mittel zu immer höherer Steigerung der Selbstheit, nicht mehr als Befreyendes von ihr wirkt; ja es möchte ein Punkt kommen, wo der Mensch seiner Zeugungskraft völlig verlustig wird“272.
Ein Mensch wie Napoleon, dessen Handlungen ausschließlich von seinem Charakter geleitet werden und der sich infolgedessen der Wirkung der alle Geschlossenheit überwindenden Liebe verschlossen hat, ist eben ein Beispiel dieses Gebrauches der Selbstverdoppelungskraft nur als Mittel zur Steigerung der Selbstheit. Dies geht mit einer außerordentlichen Entschiedenheit zusammen, denn „der Charakter drängt unmittelbarer zur Handlung und zum Ende, als Gesinnungen thun“273 und eigentlich wird von keinem äußeren Einfluss bewogen, aber es mangelt einem solchen Menschen an der Selbsttranszendenz, die das Gute fordert und ohne die die eigenen Handlungen und Werke nur eine sich wiederholende Selbstbespiegelung sind. Alle „Zeugung“ im Sinne Schellings und deshalb alle wahre Schöpfung setzt hingegen eine Selbstbeschränkung voraus, welche einer auftauchenden Wirklichkeit dadurch Raum für ihre Selbstentfaltung gibt, dass die Fortsetzung der Ausbreitung der Selbstheit unterbunden wird und die Selbstheit vielmehr zum Zeug oder Mittel der Verwirklichung der neuen Wirklichkeit wird.274 Der wahre Schöpfer 268 269 270 271 272 273 274
Schelling (1993), S. 94 (WA I 172 – 173). Ibid. S. 98 (WA I 179 – 180). Ibid. S, 95 (WA I 174 – 175). Ibid. S. 99 (WA I 181 – 182). Ibid. S. 97 (WA I 177 – 178). Schelling (1856 – 1861), SW 5, 676. Sollberger, S. 265 – 266.
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ist deshalb das Organ einer Wirklichkeit, die nicht von ihm selbst kommt, aber die von ihm gezeugt wird. Eine ausreichende Selbstverdoppelung, die mit einer „wahren Sehnsucht“275 beginnt, ist die Bedingung dafür. Sofern sich ein sittlich böser Mensch in seiner Selbstheit verfängt und nur sich selbst setzen kann, ist er nicht in der Lage, etwas zu zeugen. Die Schöpfungskraft Napoleons ist daher beschränkt, entspricht nicht dem Primat der Existenz vor dem Grund und verschließt sich der Quelle jeder Transzendenz, nämlich der Liebe. Sie ist einfach ein Ausdruck des Bösen. Das Böse ist doch zweideutig. Obwohl der französische Kaiser eine gegengöttliche Figur war, welche nicht nur das Primat des Grundes vor der Existenz in einem Menschen am reinsten verkörperte, sondern auf seine Weise die Wirkung der Aufklärung wirklich universalisiert und die politischen Aufruhre bis zum Extrem getrieben hatte, sieht Schelling ihn als Beschleuniger der Krise an und deswegen als Ausgangspunkt einer neuen Phase der Auseinandersetzung zwischen dem Guten und dem Bösen. Das allgemeine Böse konnte eben aufgrund seiner eigenen Radikalisierung überwunden werden. Schelling ist zwar gegen den Zeitgeist und in diesem Sinne gegen Napoleon, aber er glaubt, dass die Faktizität des Bösen nicht übersprungen und dass der Wert des Bösen als Grund der Offenbarung des Guten nicht verkannt werden konnte. Napoleon stellte für Schelling die Zuspitzung einer Dekadenzperiode, aber auch die Möglichkeit eines neuen Anfangs dar. Dies ist die Perspektive der Freiheitsschrift: „Die aktivierte Selbstheit ist notwendig zur Schärfe des Lebens; ohne sie wäre völliger Tod, ein Einschlummern des Guten; denn, wo nicht Kampf ist, da ist nicht Leben. Nur die Erweckung des Lebens also ist der Wille des Grundes, nicht das Böse unmittelbar und an sich. Schließt der Wille des Menschen die aktivierte Selbstheit mit der Liebe ein und ordnet sie dem Licht als dem allgemeinen Willen unter, so entsteht daraus erst die aktuelle, durch die in ihm befindliche Schärfe empfindlich gewordene Güte“.276 Das Böse ist, wie gesagt, eine Gestaltung des Grundes und, sofern dieser ein „Wille zur Offenbarung“277 ist, ist das Böse nichts anderes als ein Mittel oder ein Werkzeug dieser potenzierten Form der Existenz, die das Gute ist. Das Gute kann nicht das Gute sein ohne diese Basis und folglich ohne die Überwindung des Bösen. Nur im Gegensatz zum Bösen und durch seine Unterwerfung kann das Gute wieder herrschen. Das Böse enthält deswegen implizit die Möglichkeit des Guten: „Dasselbe, was durch den Willen der Kreatur böse wird (wenn es sich ganz losreißt, um für sich zu sein), ist an sich selbst das Gute, solang es nämlich im Guten verschlungen und im Grunde bleibt. Nur die überwundene, also aus der Aktivität zur Potentialität zurückgebrachte Selbstheit ist das Gute, und der Potenz nach, als überwältigt durch dasselbe, bleibt es im Guten immerfort bestehen“.278 War Napoleon eine Verkörperung des Bösen, konnte Schelling nicht einfach für oder gegen ihn sein, weil das Böse – vor allem, wenn es sich in275 276 277 278
Schelling (1856 – 1861), SW 8, 240. Ibid. SW 7, 400. Ibid. SW 7, 375. Ibid. SW 7, 400.
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tensiviert – die Latenz des Guten ist. Ebenso wie das Falsche nicht einfach die Negation der Wahrheit ist, sondern ihre Basis und der Weg dazu, ist das Böse nicht einfach die Negation des Guten, sondern sein Grund. Als Grund und folglich als materielle Basis der Existenz soll das Böse bestehen, sogar wenn das Gute schon herrscht. Das Böse soll deswegen nicht vernichtet werden, sondern es sollte zur „Potentialität“ zurückgebracht werden. d) Imperium als Vorzeichen des Guten In Bezug auf die politische Konjunktur, in der die Freiheitsschrift verfasst wurde, erweist sich diese Idee als folgenreich. Die Geschichtsphilosophie der Freiheitsschrift läuft auf die Wiederherstellung und Vollendung eines christlichen Reichs hinaus, also auf „ein neues Reich, im welchem das lebendige Wort als ein festes und beständiges Zentrum im Kampf gegen das Chaos eintritt“.279 Das alte Reich war das Römische Reich. Es war der Versuch des Grundes, „sich alles zu unterwerfen und ein festes und dauerndes Weltreich zu gründen“.280 War für Griechenland die „höchste Verherrlichung der Natur in der sichtbaren Schönheit der Götter und allem Glanz der Kunst und sinnreicher Wissenschaft“ charakteristisch, war Rom der Versuch des Grundes, „als welteroberndes Prinzip“281 hervorzutreten. Rom war eine grundsätzlich politische Erscheinung der Macht des Grundes – ihre Erscheinung als Imperium. Schelling betrachtet in der Freiheitsschrift die Antike noch als die „Naturseite der Geschichte“282 – laut der Formulierung der „Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums“ (1802).283 Sie ist eine Periode der „Allmacht der Natur“,284 die, nach dem Ende der vorgeschichtlichen Phase der Menschheit, d.i. der „goldnen Weltalter“,285 mit den ersten Zivilisationen (Babylonien, Ägypten, Persien) beginnt und bis Rom dauert. Rom ist die Vollendung der Antike, aber auch der Wendepunkt zur Erscheinung der neuen bzw. der christlichen Welt. Bevor Christus erscheint und aufgrund eines Effekts ex ante des Zukünftigen, ist Rom doch von Zeichen einer inneren Auflösung bedroht. Die verzweifelte Suche nach irgendwelcher Form von Religiosität, die sich in der Hingabe der Individuen an magische Praktiken und neue Religionen zeigte,286 ließ die nächste Zukunft ahnen. Das Römische Reich konnte nicht fortdauern, denn es sollte sich wieder in Chaos versinken, weil es ihm immerhin an dem „Wort“ und mangelte: „Weil aber das Wesen des Grundes für sich nicht die wahre und vollkommne Einheit erzeugen kann, so kommt die Zeit, wo alle diese Herrlichkeit sich auflöst, und wie durch schreckliche Krankheit der schöne Leib der 279 280 281 282 283 284 285 286
Ibid. SW 7, 380. Auch SW II, 2, 251. Fn. Ibid. SW 7, 379. Ibid. SW 7, 379. Ibid. SW 5, 293. Neugebauer, S. 100. Schelling (1856 – 1861), SW 7, 379. Ibid. SW 7, 379. Ibid. SW 7, 379; SW 5, 297; SW II, 1, 545.
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C. Die politische Dimension der Freiheitsschrift
bisherigen Welt zerfällt, endlich das Chaos wieder eintritt“.287 Nach der Erscheinung Christi tritt das Böse als solches auf. Das Gute wird dadurch deutlich. Schelling spricht in diesem Zusammenhang von den Aposteln, die gegen die dämonischen Kräfte kämpften und die „besänftigende Einheit“ zur Geltung brachten. Das Gute ist doch dabei nicht allgemeingültig. Es ist noch Sache einzelner Menschen. Schelling spricht nicht von der christlichen Phase des römischen Imperiums, weil sie wahrscheinlich aus seiner Sicht eine Art von antizipierter und dennoch unvollkommener Erscheinung des Zukünftigen ist, und geht zu der turba gentium über, also zu „eine[r] neue[n] Scheidung der Völker und Zunge“288, die mit der Völkerwanderung und mit der Bildung der romanischen Sprachen zusammenfällt. Sie ist das definitive Ende der Antike. Die letzte Phase der Geschichte, welche in der allmählichen Christianisierung der verschiedenen Völker auf der Basis der Einheitsreste des christlichen Imperiums besteht, ist durch einen ständigen „Streit des Guten und des Bösen“ charakterisiert und reicht bis zur Gegenwart, ja eigentlich bis zum Ende der Geschichte. Aus einer weniger detaillierten Rekonstruktion des Verlaufs der Geschichte laut der Freiheitsschrift ergibt sich aber eine zweiteilige Entwicklung. Genauso wie in den „Vorlesungen“ glaubt Schelling in der Freiheitsschrift daran, dass Christus die „Grenze beider Welten“289 ist, also der alten Welt, die naturmäßig, zyklisch und polytheistisch war, und der neuen Welt, die auf dem Übernatürlichen, dem Monotheismus und einer linearen Zeitauffassung beruht. Zˇizˇek hat diese Auffassung der Geschichte Schellings richtig beschrieben: „Human history itself is thus divided into two great epochs, the pagan epoch of rotatory motion (the ,eternal return of the same‘, the circular rise and fall of great pagan civilizations, clearly stands under the sign of pre-symbolic vortex of drives which sooner other later reduces every progressive formation to dust) and the Christian epoch of linear teleological progress (the continuous approach to the ideal of freedom regulated by the divine Logos which finally, in Christ’s Revelation, gets the upper hand over the destructive vortex of drives)“290. Die letzte Phase zielt auf ein „moralisches Reich“291ab, das über die Natureinheit, welche das Römische Reich darstellte, hinausgehen soll. Trotzdem, seine historische Bedeutung liegt gerade darin, die Basis der Universalisierung des Christentums zu sein. Schon in den „Vorlesungen“ wird das heidnische Kaiserreich als ein unfreiwilliger, dazu aber vorherbestimmter Durchgangspunkt der Ausbreitung des christlichen Monotheismus verstanden, der anfänglich doch eine Einzelerscheinung war: „Nicht das Christentum hat diesen [den allgemeinen Geist, C.R] erschaffen, sondern es selbst war nur eine vorahnende Anticipation desselben. Das Erste, wodurch er ausgesprochen wurde. Das römische Reich war Jahrhunderte zuvor reif zum Christentum, ehe Constantin das Kreuz zum Panier der neuen Weltherr287 288 289 290 291
Ibid. SW 7, 379. Ibid. SW 7, 380. Ibid. SW 5, 292. Zˇizˇek (1996), S. 42. Schelling (1856 – 1861), SW 5, 287.
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schaft wählte“.292 Die Struktur der geschichtlichen Entwicklung nach der Freiheitsschrift verdeutlicht diese Idee: Das zeitlich Nachträgliche ist ontologisch das Erste. Das geordnete Ganze ist in der Ordnung der Schöpfung das Erste. Das Christentum konnte laut Schelling universell, also katholisch werden, weil das Imperium dafür bestimmt war. Der Verwirklichung eines christlichen Reichs lag ein heidnisches Imperium zugrunde, aber dieses tendierte schon immer darauf hin. Dieses war der Grund der Existenz der respublica christiana. Das geschichtliche Verdienst eines Imperiums ist seine Fähigkeit Einheit zu schaffen, also eine Pluralität von Völkern zur Einheit zu bringen. Hinsichtlich Rom hat Schelling diese Leistung eines Imperiums im „System des transzendentalen Idealismus“ erklärt. Dabei ist Rom der Kern einer Phase der Geschichte, in der die Natur versucht, eine gewisse Ordnung und Regelmäßigkeit zu schaffen: „Diese Periode scheint von der Ausbreitung der großen römischen Republik zu beginnen, von welcher an die ausgelassenste Willkür in allgemeiner Eroberungs- und Unterjochungssucht sich äußernd, indem sie zuerst die Völker unter einander verband, und was bis jetzt in Sitten und Gesetzen, Künsten und Wissenschaften nur abgesondert unter einzelnen Völkern bewahrt wurde, in wechselseitige Berührung brachte, bewusstlos, und selbst wider ihren Willen, einem Naturplan zu dienen gezwungen wurde, der in seiner vollständigen Entwicklung den allgemeinen Völkerbund und den universellen Staat herbeiführen muß“293. Wichtig ist zuerst dabei, dass die Handlungen einzelner, absolut souveräner Herrscher trotz dem Schein von Willkürlichkeit einem Plan dienten. Darüber sagt Schelling in den „Vorlesungen“ das Folgende: „Die Zufälligkeit der Begebenheiten und Handlungen findet der gemeine Verstand vorzüglich durch die Zufälligkeit der Individuen begründet“294. Anders gesagt: Die Geschichte scheint nur das Resultat der Entscheidungen mächtiger Einzelfiguren zu sein. Trotzdem sind sie nur „Werkzeuge“: „Was selbst von einem untergeordneten Standpunkt allein als frei und demnach objektiv zufällig in allem Handeln erscheinen kann, ist bloß, daß das Individuum von dem, was vorherbestimmt und nothwendig ist, dieses Bestimmte gerade zu seiner That macht; übrigens aber, und was den Erfolg betrifft, ist es, im Guten wie im Bösen, Werkzeug der absoluten Notwendigkeit“.295 Die großen Herrscher sind eher Zeichen eines überpersönlichen Geistes als willkürlicher Schöpfer der politischen Ordnung. Sein Verdienst ist einfach das zu vollstrecken, was schon vorherbestimmt war. Die römischen Kaiser waren in diesem Sinne keine Ausnahme. Zweitens ist in dem Zitat des „Systems des transzendentalen Idealismus“ von Belang, dass ein Imperium kulturelle Barrieren, die zugleich sprachliche und sittliche Barrieren sind, übertrifft. Es bringt dasjenige in Zusammenhang, was bisher „abgesondert“ war. Einzelne Völker bilden einen Bund und bestehen dann nicht vollkommen unabhängig von292 293 294 295
Ibid. SW 5, 297. Ibid. SW 3, 604. Ibid. SW 5, 291. Ibid.
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einander. Sie verwandeln sich in Teile eines Ganzen. Das Römische Reich hat versucht, diesen Völkerbund zu schaffen, aber es ist ihm nicht gelungen, weil es nur auf einer Vergöttlichung der äußeren Macht basierte. Daran glaubt Schelling 1802296, aber auch der späte Schelling. In der „Philosophischen Einleitung in die Philosophie der Mythologie“ geht Schelling darauf ein. Rom stellt dabei die höchstmögliche Entfaltung der politischen Macht dar. In Rom war die politische Macht Selbstzweck. Diese ist die Bedingung einer „Weltherrschaft“297, aber auch die Ursache ihrer Dekadenz: „Der Drang zu unbeschränkter Herrschaft, nach außen befriedigt und ohne Gegenstand, musste sich nach innen, zurück auf die Quelle, auf Rom selbst, wenden. Was die Welt erobert hatte, war nicht auch mächtig sie zu beherrschen. Wie die Welt ein Reich geworden war, müsste der Beherrscher auch Einer, ja er konnte nur ein Gott, ein Princip seyn, das nicht von dieser, d. h. der römischen Welt war. Durch das dunkle Suchen und Tasten nach diesem Nothwendigen und doch ihr Unmöglichen wurde die römische Welt außer sich gesetzt“298 Der Erfolg von Rom war auch der Grund seines Scheiterns, weil die Verwandlung der politischen Macht in Selbstzweck, die dem Krieg immer innewohnt, ihre wahre Bestimmung verkennt: Unausdrückliche Grundlage höherer, überweltlicher Güter zu sein: „Die Römer suchten die Monarchie, aber in einem Sinne, wie auf weltliche Weise nicht zu erreichen steht. Sie gingen über den Staat hinaus, suchten ein Weltreich, welches nur dem Christentum möglich [war; C.R]“.299 Das römische Imperium konnte nicht fortdauern, sogar nachdem es monotheistisch geworden war, weil es immerhin auf der Vergöttlichung der politischen Macht gründete, d.i. auf der Verabsolutierung der Kontrolle über Menschenmengen durch Zwang, und folglich die volle Entfaltung einer freien, universellen, verinnerlichten Einheit der Menschen als geistige Wesen hinderte. Die Allianz der (katholischen) Kirche mit der politischen Macht ist aus der Sicht Schellings das unheilvolle Nachspiel dieser Entwicklung, die nur durch das Primat einer neuen „Gemühtseinheit“300 vor jeder Zwangseinheit zu ihrer wahren Bestimmung führen konnte. Das christliche Reich war noch unvollendet.301
296
Ibid. SW 5, 297. Ibid. SW II, 1, 544. 298 Ibid. 299 Ibid. SW II, 1, 545. 300 Ibid. SW 7, 463. 301 Schelling ist der Ansicht, dass die katholische Kirche – die Kirche Petri – die Basis oder der Grund der Kirchengeschichte ist. Sie sollte deswegen überwunden werden. Die unmittelbare politische Zukunft Europas hängt daher für Schelling von der Entstehung politischer Institutionen ab, die dem Protestantismus entsprechen. In einer späten Anmerkung über ein Gespräch mit dem Kronprinzen Maximilian (Juni 1846) schreibt Schelling: „Zeit der Reformation, wodurch zunächst die geistliche Macht gebrochen, dadurch unmittelbar die Welt gehoben wird, die das Feudalsystem zerbricht, aber damit nur die Forderung eines neuen christlich politisch Zustandes hervorruft, den wir immer noch suchen, ohne ihn noch bezeichnen zu können.“ (Pareyson, S. 656). Der Protestantismus ist doch nicht die letzte Form der Kirche. Die Kirche Johannes sollte auch ihn überwinden. 297
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Dieses Verständnis der Geschichte, das in der Freiheitsschrift und in früheren Schriften schon skizziert war, ist der Hintergrund und zugleich die verkapselte Reaktion Schellings auf den Feldzug der napoleonischen Kräfte.302 Zeigte man früher, wie der Versuch des „Zermalmers“, ein neues Imperium zu bilden, für Schelling der Ausgangspunkt eines neuen Zeitalters war, zeigt die Parallele zu dem Römischen Reich, worauf Schelling hoffte. Das Imperium Napoleons sollte der Grund eines christlichen Völkerbundes sein. Es konnte nicht auf lange Sicht dauern, weil die Verabsolutierung der staatlichen Macht selbstzerstörerisch ist, aber es sollte ein Durchgangspunkt dieser Entwicklung sein. Obwohl Napoleon als Einzelperson alle Macht auf sich zu konzentrieren schien, war er in Wirklichkeit für Schelling ein Werkzeug der göttlichen Vorsehung. Napoleon war einfach ein Moment der Offenbarung des göttlichen Geistes in der Geschichte durch das Böse. Die politische Einigung Europas, und tendenziell die politische Einheit der Welt durch Napoleon, war eine Form der List der göttlichen Vernunft, um sich zu verwirklichen. Napoleon arbeitete daher für Ziele, die jenseits seiner eigenen Absichten lagen. Dass Schelling selbst daran denkt und die Parallele zwischen dem Römischen Reich und dem Imperium Napoleons keine forcierte Interpretation ist, kann anhand des Briefes an Windischmann am 8. 12. 1806 belegt werden: „Die Zeit, wo das vielleicht alle unsere Gedanken übertreffende Neue gepredigt werden und hervortreten kann, ist noch nicht gekommen: ich erwarte eine völlige Versöhnung aller europäischen Völker und wieder eine gemeinschaftliche Beziehung auf den Orient; bewußtlos oder bewußt arbeitet der Zermalmer dahin und ist schon außer den Gränzen, worin er bisher sich hielt. Diese hergestellte Einheit der Beziehung mit dem Morgenland halte ich für das größte Problem, an dessen Auflösung der Weltgeist jetzt arbeitet. Was ist Europa, als der für sich unfruchtbare Stamm, dem alles vom Orient her eingepfropft und erst dadurch veredelt werden mußte?“.303 Absichtlich oder unabsichtlich hatte Napoleon für Schelling die historische Aufgabe, die europäischen Völker und dann die östliche und die westliche Welt zu vereinigen. Er war der partielle Vollstrecker der ewigen Idee des Weltreichs. Die positive Dimension der Politik Napoleons, weshalb Schelling in den anderen Briefen an Windischmann die von der Zerstörung der alten, rein lokalen politischen Verhältnisse ausgelöste Aufbruchstimmung begrüßt, ist die Stiftung eines Imperiums, das auf lange Sicht als Basis der Idee eines christlichen Weltreiches dienen konnte. Schelling sympathisiert nur insofern mit der Politik 302
Die Parallelsetzung zwischen den Römern und den Franzosen war im Rahmen der Befreiungskriege keine Seltenheit. Fichte hat z. B. den Vergleich gemacht und den Aufstand der Germanen gegen Varus unter der Führung von Arminius als Vorbild für die Deutschen betrachtet: „In einer solchen Situation war es sicher nicht möglich, sich auf die Römer zu berufen. Sie wurden inzwischen, auf Grund ihrer Expansions- und Unterdrückungspolitik Deutschland gegenüber, als die Vorläufer der Franzosen, die in den ,Reden an die deutsche Nation‘ als die ,neuen Römer‘ bezeichnet werden, betrachtet“ (Losurdo (1989b), S.41). Kleist hat in einem Brief am 20. 10. 1806 gesagt: „Wir sind die unterjochten Völker der Römer. Es ist auf Ausplünderung von Europa abgesehen, um Frankreich reich zu machen.“ Hegel hat sich auch des Vergleichs der Römer mit den Franzosen bedient. s. Losurdo (1989b), S. 40 – 41. 303 Schelling (2003), S. 108.
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Napoleons, als sie der Grund dieses neuen Reiches sein konnte. Dass sich Napoleon selbst als römischer Kaiser darstellen ließ – wie die Gemälde J. L. Davids zeigen –, dass er immer mehr die Tradition und nicht allein die raison als eine notwendige Legitimationsquelle seiner Macht ansah und sich dementsprechend als der wahre Erbe von Karl dem Großen, einschließlich der Krönung durch den Papst, inszenieren wollte, erlaubte Schelling wahrscheinlich, seine Diagnose – angesichts dieser Vorzeichen der zukünftigen Entwicklung – zu bestätigen. Die Kriegsmaschinerie Napoleons, seine Verkennung der Besonderheit der verschiedenen Völker, sein Persönlichkeitskult und sein dämonischer Charakter waren doch für ihn immerhin nur ein Durchgangspunkt einer Geschichte, die nicht mit dem laizistischen code civil und der Herrschaft Frankreichs, sondern mit einem nicht auf Zwang beruhenden, herrschaftsfreien, christlichen Reich endete. Schelling steht dem Novalis von „Die Christenheit oder Europa“ (1799) näher, der eine universalistische, religiös fundierte Friedensgemeinschaft als Lösung der europäischen Krise vorschlägt,304 als dem im Kern säkularen, kriegshetzerischen Cäsarismus Napoleons. Angesichts des Chaos, das die Napoleonischen Kriege ausgelöst hatte, konnte Schelling aber mit Novalis sagen: „Wahrhafte Anarchie ist das Zeugungselement der Religion. Aus der Vernichtung alles Positiven hebt sie ihr glorreiches Haupt als neue Weltstifterin empor“.305 Der Krieg war nur eine Phase der Einheitssuche, die doch notwendig für den Prozess der universellen Christianisierung war. Das Böse war deshalb notwendig. Die vollständige Offenbarung des Guten und folglich eine postnapoleonische Ära war von Anfang an das Ziel. Klar und deutlich hat Schelling in den „Stuttgarter Privatvorlesungen“ formuliert, welches das Ziel der Geschichte und dementsprechend des Politischen im höchsten Sinne, die Errichtung eines harmonischen Zusammenlebens aller Menschen, ist: „Was auch das letzte Ziel seyn möge, so ist so viel gewiß, daß die wahre Einheit nur auf dem religiösen Wege erreichbar seyn kann, und daß nur die höchste und allseitigste Entwicklung der religiösen Erkenntniß in der Menschheit fähig seyn wird, den Staat, wo nicht entbehrlich zu machen und aufzuheben, doch zu bewirken, daß er selbst allmählich sich von der blinden Gewalt befreie, von der er auch regiert wird und sich zur Intelligenz verkläre. Nicht daß die Kirche den Staat oder der Staat die Kirche beherrsche, sondern daß der Staat selbst in sich
304 Der junge Schelling, der auf die religiöse Wende des Romantikerkreises in Jena ironisch und distanziert reagiert, schreibt seine satirische Dichtung „Epikurisch Glaubensbekenntnis Heinz Widerporstens“ (1799) z. T. gegen „Die Christenheit oder Europa“ von Novalis. In der Dichtung Schellings sind mehrere Anspielungen enthalten. Eine von ihnen lautet: „Die armen Völker groß und klein / zu führen in einen Schaf stall hinein / wo sie aufhören sich zu necken / hübsch christlich in eins zusammen blecken / und was sie sonst noch verkünden prophetisch“ (Pareyson (1977), S. 95 – 96). Als Schelling, fast 10 Jahre später, die Freiheitsschrift verfasst, lehnt er noch die katholische Orthodoxie eines F. Schlegel ab, aber seine Beziehung zum Christentum ist ganz anders als die der Jenaer Zeiten. Seine ironischen Anmerkungen über die politische Bedeutung des Christentums könnten sich nun gegen die Freiheitsschrift selbst richten. Darüber s. Balmer, S. 581 – 582. 305 Novalis, S. 510.
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das religiöse Princip entwickle, und der große Bund aller Völker auf der Grundlage allgemein gewordener religiöser Ueberzeugungen beruhe.“306
Die Geschichtsphilosophie der Freiheitsschrift besagt nichts davon Abweichendes. Alle innerweltlichen Prozesse tendieren dazu, immer umfassendere und komplexere Strukturen zu schaffen. Partielle Ordnungen werden immer transzendiert, weil jede Struktur einen Abschnitt der möglichen Relationen zwischen Elementen ausschließt und deshalb eine ontologische Spannung hervorbringt, die nur durch die Entstehung einer neuen Struktur, welche ihrerseits die Erste als einen Moment einschließt, überwunden werden kann. Die Tendenz jeder Struktur sich zu erhalten, erzeugt indirekterweise Instabilität, indem sie nicht alle Elemente artikuliert und folglich die Bildung höherer Ordnungen aktiviert. Der Prozess ist kumulativ. Jede neue Struktur, also jedes bestimmte Individuum, ist zugleich Anfangs- und Endpunkt der Entstehung von Ordnung, denn es wird keineswegs vernichtet oder einfach ersetzt, sondern es wird zu einem Glied einer neuen Struktur, in der es eine bestimmte Funktion hat. Der Gesamtprozess impliziert sozusagen ein Gedächtnis, weil die früheren Stufen als Basis der späteren fortbestehen. Sie werden zwar zur Vergangenheit der entstehenden Ordnung, aber sie erhalten ihre eigene Struktur und sind für die späteren Stufen unverzichtbar. Sie werden versetzt oder verdrängt, nachdem die neue Struktur entsteht, ohne deswegen ihre eigene Organisationskraft einzubüßen. Die allmähliche Bildung höherer Ordnungen versetzt die niedrigeren, d.i. die schwach integrativen, derart, dass je weniger komplex eine Struktur ist, desto tiefer ist die Vergangenheitsschicht, zu der sie gehört. Alle niedrigen Stufen werden aber von den höheren indirekt dargestellt, weil jene für diese als Organe oder Werkzeuge ihrer eigenen Struktur erscheinen. Ist jede Struktur eine Darstellung der früheren Strukturen, kann der Gesamtprozess auf diese Weise als die Suche der Mannigfaltigkeit aller Elemente nach einer Selbstdarstellung gesehen werden.307 Die höchste Darstellung ist diejenige Struktur, die alle Strukturen in sich einschließt und von keiner dargestellt wird. Sie ist kein Ende der Prozessualität der Welt, weil sie als Selbstverhältnis der höchsten Struktur zu ihrer eigenen Vergangenheit fortbesteht, aber sie ist das Ende des aufsteigenden Organisationsprozesses oder, anders gesagt, der Verselbstung der Welt. Sofern die zwei großen Bereiche des Innerweltlichen die Natur und die Geschichte sind, zeigen beide diese Art von Evolution auf. In Bezug auf die Natur bei Schelling sagt deshalb M. Heuser-Keßler, „dass diese tatsächlich eine Tendenz zu immer komplexeren Organisationsstufen zeigt, die als dynamische Stufenfolge eines kontinuierlichen historischen Produktionsprozesses zu denken
306 Schelling (1856 – 1861), SW 7, 464 – 465. M. Faber hat die Wirkungsgeschichte dieser Idee, d.i. der Auffassung des Christentums als Grundlage der Einheit der Völker – zuerst der europäischen, aber dann aller Völker – im 20. Jahrhundert dargelegt und auf diese Weise gezeigt, wie die christliche Phase des Römischen Reiches und das karolingische Imperium bis zur Gegenwart als Vorbild einer zukünftigen, globalen politischen Ordnung dienen. s. Faber, 2005, S. 21 – 42. 307 Vgl. Peirce, S. 344 – 345.
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sind“.308 Die Evolution der Natur geht von chaotischen Zuständen aus, aus denen anfänglich ohne Erfolg und auf der Basis relativ undifferenzierter Entitäten eine solide Ordnung darum ringt sich durchzusetzen. Allmählich und die anfänglich schwache Strukturierung als Basis voraussetzend bilden sich komplexere Entitäten. Jede Stufe der Natur (die physikalischen Kräfte, die Mineralien, die Pflanzen, die verschiedenen Tierarten) ist Vorstufe einer höheren Stufe. Das Ende dieses Prozesses ist die Entstehung der Menschen, der eine Darstellung der gesamten Natur und kein Werkzeug einer höheren Struktur ist. Ebenso bewahrheitet es sich hinsichtlich der Geschichte. Nach dem „goldnen Weltalter“, welches eine basale, der „Kultur“ vorausgehende, eigentlich vorgeschichtliche Phase ist, geht es um die Entstehung von kollektiven Individuen, also Völkern, welche die Hegemonie ihrer jeweiligen Sprache, Sitten, Gesetze und vor allem ihrer Götter durchzusetzen beanspruchen, und welche dennoch als gescheiterte hegemonische Mächte nacheinander folgen. Über diesen Zustand der Geschichte ist die Erläuterung W. Hogrebes über die Anfänge der Strukturierung der Welt passend: „Das, was zuerst erschaffend erschaffen erscheint, sind unförmige Manifestationen des Selbstseins, die sich exzentrisch in ihrem Selbst feiern, orgiastisch geradezu, gewaltsam und furchterregend.“309 Die menschliche Geschichte tendiert zur Bildung einer einzigen Organisationsform und, obwohl jedes Volk Merkmale der anderen Völker in sich aufnimmt, ist kein Volk in der Lage, alle möglichen Völker in sich darzustellen, solange sein Weltbild auf der Vergöttlichung der Natur beruht. Das Römische Reich ist die höchste politische Struktur, welche die Menschheit in der Antike erreicht hat, und dennoch ist es gescheitert, weil es eine partielle, nur naturmäßige Weltansicht hatte. Erst nachdem das Römische Reich christlich geworden ist, bildet sich ein Ganzes, das die Möglichkeit einer Synthese aller früheren Völker öffnet. Die universelle Bewusstseinsgemeinschaft, die alle Unterschiede der Völker doch erhält, ist das Ende der geschichtlichen Entwicklung. Aus dem erwähnten Grund und aus anderen, wie die vorchristliche Schwächung der öffentlichen Religion, die Rückkehr mehrerer, asiatischer, esoterischer, naturalistischer Ersatzreligionen, und vor allem der Militarismus und die Gründung seiner Macht auf der Basis des Zwangs, konnte Rom nicht die Funktion erfüllen, das absolute Ende der Geschichte zu sein. Die innere Fragmentierung mündete in eine Zersplitterung der Völker, in der „turba gentium“, welche der Hintergrund der Entwicklung des neuen Reiches ist. Die letzte Phase der Geschichte ist das Selbstverhältnis des einmal unvollkommen strukturierten, christlichen Reiches zu seiner eigenen Vergangenheit, also zu einer Vielfalt von besonderen Völkern, denen nicht nur die europäischen, sondern ursprünglichere Völker, wie die asiatischen und die vorkolumbianischen, angehören. Die Offenbarung des Guten, politisch-geschichtlich gesehen, ist eben die Christianisierung der Welt auf der Basis der Versuche neuer Völker, weltweit hegemonisch zu werden.
308 309
Heuser-Keßler, S. 108. Hogrebe (2006), S. 299.
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Die Geschichtsphilosophie der Freiheitsschrift zeigt, welches die politischen Erwartungen Schellings sind, und erläutert, warum Schelling weder für noch gegen Napoleon war und warum er folglich die Erfolge des Nationalismus und des französischen Imperialismus zugleich zelebrieren konnte. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass Schelling 1808/1809 das Politische nicht auf nationaler Ebene dachte. Die kritische Haltung Schellings gegenüber dem Staat in den „Stuttgarter Privatvorlesungen“ gründet eigentlich nicht auf den vermutlichen Anarchismus Schellings in dieser Phase seines Denkens,310 wie Habermas oder Zˇizˇek311 glauben, sondern hauptsächlich auf die Tatsache, dass die innere Politik sekundär geworden war. Der Wirkungsbereich der politischen Macht war global geworden und dementsprechend konnte das Politische nur auf einer überstaatlichen Ebene gedacht werden. Schelling ist davon überzeugt, dass in der „gegenwärtigen Fluctuation“, „wo selbst die Besitzungen der Staaten noch nicht bestimmt sind“312, das politisch Entscheidende nicht auf der Ebene der Nationalstaaten stattfand. Das Politische richtig zu begreifen, forderte nun, die Menschheit einzubeziehen. Dementsprechend sollte das harmonische Zusammenleben in der Form einer friedlichen Weltgemeinschaft aufgefasst werden. Es ist dennoch dabei zentral, dass Schelling nicht die Kategorien der Identitätsphilosophie verlässt, mit denen er eine gute bzw. vernünftige politische Ordnung von einer schlechteren unterscheidet. Die Grundkategorie der politischen Ordnung ist nach wie vor der Organismus. War sein Gegenpart in der Identitätsphilosophie der atomistische, liberale Staat, der im Dienst des Schutzes des Wirkungsbereiches des Individuums vor den Taten anderer Individuen steht,313 ist nun sein Gegenpart die Staatenzersplitterung, in der jeder Staat als ein abgesondertes Element ausschließlich nach seinen eigenen Interessen und immer im Lichte der Notwendigkeit seiner Selbsterhaltung und Selbstausweitung handelt. Ein Reich ist in dieser Hinsicht nichts anderes als ein Staatenorganismus, der ein Ganzes bildet, in der jeder Teil eine eigene Stelle hat und die Gesamtstruktur in sich selbst hineinkopiert. Bedeutete ein „Vernunftstaat“, d.i. ein ständisch-korporativer Kulturstaat, die Überwindung der gegenseitigen Äußerlichkeit der Individuen, die die „Verstandes-Staaten“ fördern314, ist das Reich die Überwindung der gegenseitigen Äußerlichkeit der Staaten. Die politische Ordnung ist international geworden, aber 310 G. Jäger hat richtigerweise eine anarchistische Interpretation der Stuttgarter Privatvorlesungen ausgeschlossen: „Die Notwendigkeit staatlicher Ordnung wird keineswegs geleugnet, da alles Mannigfaltige zu einer Einheit hinstreben muß, aber diese erweist sich als eine nur sehr relative, ja, sie ist, wie Schelling sagt, ,eine Folge des auf der Menschheit ruhenden Fluchs‘.“ (Jäger, S. 83). Hollerbach ist derselben Meinung: „Schellings Reserve gegenüber dem Staat hat nicht eine anarchistische, staatsverneinende Tendenz. Sie hat vielmehr das Anliegen, den Staat auf seine wahre Bedeutung zu reduzieren, ihm nicht Mächte und Möglichkeiten zuschreiben, die ihm unter dem Anspruch der Transzendenz nicht zukommen.“ (Hollerbach, S. 195 – 196). 311 ˇ Zizˇek (1996), S. 41. 312 Brief am 10. 3. 1806 in: Pareyson, S. 252. 313 Schelling (1856 – 1861), SW 5, 316; SW 6, 575. 314 Hollerbach, S. 152 – 167.
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immerhin organisch gedacht. Zieht man in Betracht, dass Schelling die Entwicklung der Natur und die Entwicklung der menschlichen Geschichte als Prozesse ansieht, welche dieselben Anfänge, Phasen und Ziele haben, obwohl die Grundprinzipien, d.i. der Grund und die Existenz, in der menschlichen Geschichte unter einer höheren Potenz erscheinen,315 kann man schon aus dem Endpunkt der Natur auf die organistische Struktur des Reiches schließen. Ebenso wie der Mensch alle früheren Stufen der Natur in sich selbst als das Ganze bzw. als Mikrokosmos versammelt, ist das Reich die Struktur, in der jedes besondere Volk Teil eines Zusammenhangs ist.316 Neu ist nur, dass die Entstehung des politischen Organismus verzeitlicht wird. Er entsteht nicht auf Anhieb und folglich ohne eine Geschichte, sondern wird allmählich, also durch die Bildung immer komplexerer und integrativer politischer Ordnungen konstituiert. Schelling dynamisiert und universalisiert, bzw. verzeitlicht und globalisiert seine Idee einer guten politischen Ordnung, aber ihre Grundstruktur ist dieselbe der Identitätsphilosophie. Die Einführung dieser zeitlichen Dimension des Politischen hat aber Folgen, die keine richtige Entsprechung in der Identitätsphilosophie haben. Die eigene Vorgeschichte der politischen Ordnung bedroht ständig die bestmögliche politische Struktur. Diese Ordnung setzt nicht nur unterkomplexe Strukturen voraus, die in ihrer tiefsten Ebene auf das Undifferenzierte verweisen, sondern sie soll mit sich selbst als mit einer von diesem relativen Chaos z. T. konstituierten Struktur umgehen. Hier tritt wieder „die unergreifliche Basis der Realität“ auf, also „der nie aufgehende Rest, das was sich mit der grössten Anstrengung nicht im Verstand auflösen lässt, sondern ewig im Grunde bleibt“.317 Ebenso wie der „Geist des Bösen“ durch eine „Erregung des finstern Naturgrundes“,318 d.i. durch die Rückkehr der Spuren einer früheren Phase der Weltevolution entsteht und wie die asiatischen Religionen in der Form von mysterischen Kulten im Römischen Reich wieder zur Erscheinung kommen, kann man nie die Rückkehr von Spuren der ursprünglichen Unordnung ausschließen. Die Vergangenheit beherbergt nicht nur eine relative Instabilität, indem das Komplexitätsniveau einer Struktur seiner Stabilität entspricht und die anfänglichen Strukturen eine geringe Komplexität haben, sondern sie kann immer die Gegenwart der Ordnung in einem gewissen Grad bedrohen. Es gibt dann partielle Entdifferenzierungen, welche partiell die Ordnung abbauen können. Die dramatischste Form dieser
315
Schelling (1856 – 1861), SW 7, 377 – 378. In den „Stuttgarter Privatvorlesungen“ geht Schelling auf die Analogie zwischen Mensch und politischer Einheit ein: „Die Vielheit der Menschen verlangt nach einer Einheit. Die Einheit freyer Wesen ist nur Gott: seitdem diese verlohren gieng, suchen die Menschen eine Natur Einheit. Es verhält sich hier wie mit dem Anorgismus in der Natur. Nachdem der Mensch der Vereinigungs-Punkt der Natur nicht geworden war, konnte die Natur nicht organisch werden. Daher der Anorgismus der Natur, so widersprechend er auch erscheint.“ Schelling (1973), S. 173. 317 Schelling (1856 – 1861), SW 7, 360. 318 Ibid. SW 7, 377. 316
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Rückkehr des Verdrängten ist das Böse319. Die Verabsolutierung der Selbstheit ist nichts anderes als der Versuch eines überwundenen Moments der Konstitution der Persönlichkeit, wieder zu herrschen. Daraus resultiert eine Zerlegung der Einheit des Geistes. Die politische Ordnung ist auch dieser inneren Bedrohung ausgesetzt. Die unterkomplexen Elemente können dazu tendieren, sich selbst zu organisieren. Die Einzelteile können immer wieder anstreben, das Ganze zu sein. Das Individuum kann daher im Rahmen der Innenpolitik versuchen, seine besonderen Gesinnungen durchzusetzen, als ob sie absolut wären. Es bringt das Böse in der Form des fanatischen Totalitätsanspruches der Subjektivität hervor, die Hegel, Schelling hierbei sehr nahestehend, in der Form der Verabsolutierung des Gewissens thematisiert hat. Hinsichtlich der internationalen Politik kann immer ein besonderer Staat vergessen, nichts anderes als ein Organ und ein Glied einer universellen Bewusstseinsgemeinschaft zu sein und sich selbst als das Ziel und den Kern dieser Gemeinschaft zu setzen und sie dann zu instrumentalisieren. Das neue Reich soll dann gegen die Wiederherstellung der Unordnung und gegen die Instrumentalisierung des christlichen Universalismus kämpfen. Schelling beschreibt deswegen die letzte Phase der Geschichte als einen „Streit des Bösen und des Guten“,320 weil das neue Reich nicht dem Kampf gegen diese zwei Fronten entkommen kann. Genauer gesagt: Das neue Reich impliziert die ständige Selbstbehauptung der christlichen Einheit der Völker gegenüber den inneren Kräften, die ihre Auflösung betreiben und eine geschichtliche Involution suchen, und gegen jeden Versuch eines bestimmten Volkes, das Zentrum oder der Mittelpunkt der Einheit der Völker zu sein. Das Erste verweist auf den Ultranationalismus einiger Völker, die sich den deterritorialisierenden Kräften verschließen, und das Zweite auf den Versuch einiger Völker, ihre Besonderheit mit dem Allgemeinen selbst zu identifizieren. Der Ultranationalismus der ersten ist aber eine Reaktion auf den Expansionismus der zweiten. Besteht eine Wechselwirkung zwischen der Instrumentalisierung des Universellen und der Intensivierung der ältesten oder unterkomplexen Strukturen, konkretisiert sich das Böse, geschichtlichpolitisch gesehen, in der Form des Krieges: „Die höchste Verwicklung entsteht, aus der Collision der Staaten. Das Phenomen der ewig gesuchten und ewig nicht gefundenen Einheit ist der Krieg. Ein Zustand, der bleiben wird, solange nicht die Natur des Menschen wieder veredelt wird“.321 Der Krieg ist auf diese Weise ein politischer Ausdruck der „Sehnsucht“, denn es geht hier dabei um die immer wieder auftretende Suche eines besonderen Elements, eine strukturierte Einheit zu schaffen, die doch immer wieder und gerade aufgrund der Besonderheit oder Beschränktheit des strukturierenden Elements scheitert. Der Krieg entsteht aus dem Versuch eines Volkes, als etwas Besonderes hegemonisch zu werden, und aus der Reaktion der anderen Völker darauf durch eine Bejahung ihrer Besonderheit. Ultranationalismus und Imperialismus hängen zusammen. Sie verstärken sich gegenseitig, weil der 319 In diesem Sinne spricht Schelling von dem Bösen als einem „rückschreitenden Gang der menschlichen Natur.“ (Ibid. SW 9, 36). 320 Ibid. SW 7, 380. 321 Schelling (1973), S. 175.
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Partikularismus in dem Maße zunimmt, wie der Universalismus erfolgreicher wird, und der Universalismus radikalisiert sich in dem Maße, wie sich der Widerstand gegen ihn intensiviert. In der letzten Phase der Geschichte, zu der Napoleon gehört, resultiert das Böse aus der destruktiven Spannung zwischen diesen zwei Tendenzen. e) Der Kampf gegen das Böse als notwendige Verzögerung der absoluten Erlösung Was ist dann das politisch-geschichtlich Gute? Um diese Frage zu beantworten, kann man nicht übersehen, dass Schellings Verständnis des politisch Guten nicht nur in die Fußstapfen Novalis’, sondern auch Kants tritt. In dem dritten Stück der „Religionsschrift“, die immerhin eine der zentralsten Ideenquellen der Freiheitsschrift ist, beschäftigt sich Kant mit der Idee einer universellen Gemeinschaft als Bedingung der Verwirklichung des höchsten Guten: „Die Herrschaft des guten Princips, so fern Menschen dazu hinwirken können, ist also, so viel wir einsehen, nicht anders erreichbar, als durch Errichtung und Ausbreitung einer Gesellschaft nach Tugendgesetzen und zum Behuf derselben; einer Gesellschaft, die dem ganzen Menschengeschlecht in ihrem Umfange sie zu beschließen durch die Vernunft zur Aufgabe und zur Pflicht gemacht wird. — Denn so allein kann für das gute Princip über das Böse ein Sieg gehofft werden“.322 Kant nennt sie ein „ethisches gemeines Wesen“, aber auch „ethischer Staat“,323 ein „Reich der Tugend“,324 eine „allgemein [e] Republik nach Tugendgesetzen“.325 Die Bezeichnung, die für Schelling entscheidend ist, ist die der „unsichtbaren Kirche“.326 Insofern kein Mensch in der Lage ist, diese universelle Gemeinschaft zu stiften, soll sie als ein Werk Gottes begriffen werden, das durch die Absichten aller wohlmeinenden Menschen327 und den „Dienst der Herzen“328verwirklicht wird. Das „Reich Gottes“329 ist keine Theokratie, d.i. keine Priesterregierung, sondern eine Vereinigung der Menschheit, welche nicht wie der Staat von Zwang begleitet wird330 und die staatliche Ordnung, die immerhin ihre Basis ist,331 transzendiert. Die unsichtbare Kirche, die daher transnational ist, ist der „Vereinigungspunkt für alle, die das Gute lieben“.332 Die Idee eines Systems von Zwecken, die in Wechselwirkung stehen und sich gegenseitig ergänzen, nimmt in der 322 323 324 325 326 327 328 329 330 331 332
Kant, AA VI. 94. Ibid. Ibid. VI. 94. Ibid. VI. 98. Ibid. VI. 101. Ibid. VI. 101. Ibid. VI. 192. Ibid. VI. 101. Ibid. VI. 95 – 96. Ibid. VI. 94. Ibid. VI. 94.
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Idee eines Reichs Gottes die Form einer Weltgemeinschaft an,333 die von einem übermenschlichen „Oberhaupt“, also von Gott, regiert wird. Demgegenüber sind die Staaten unvollkommene Gemeinschaften: „Daher kann eine Menge in jener Absicht vereinigter Menschen noch nicht das ethische gemeine Wesen selbst, sondern nur eine besondere Gesellschaft heißen, die zur Einhelligkeit mit allen Menschen (ja aller endlichen vernünftigen Wesen) hinstrebt, um ein absolutes ethisches Ganze zu errichten, wovon jede partiale Gesellschaft nur eine Vorstellung oder ein Schema ist, weil eine jede selbst wiederum im Verhältniß auf andere dieser Art als im ethischen Naturzustande sammt allen Unvollkommenheiten desselben befindlich vorgestellt werden kann“.334Jeder Staat kann ein „Schema“ sein, d.i. eine Verbildlichung der universellen, unsichtbaren Kirche, aber die Staaten, die immerhin im Naturzustand sind und deren harmonische Beziehung zueinander aufgrund des Völkerrechtes unwahrscheinlich ist,335 tragen zu ihrer Bildung eher dadurch bei, dass sie miteinander in Konflikt geraten: „Die Hemmungen durch politische bürgerliche Ursachen, die seiner Ausbreitung von Zeit zu Zeit zustoßen mögen, dienen eher dazu, die Vereinigung der Gemüther zum Guten (was, nachdem sie es einmal ins Auge gefasst haben, ihre Gedanken nie verläßt) noch desto inniglicher zu machen“336. Das Böse ist deshalb notwendig für die Stiftung des Reiches Gottes.337 Ein Symbol wie der „Antichrist“ bekommt daher eine theologisch-politische Bedeutung.338 Ist die unsichtbare Kirche ein „göttlich[er] Staat“, kann alles das, was ihre Entwicklung hindert, als Teil des „Höllenstaat[es]“339 interpretiert werden: „Einem solchen Volke Gottes kann man die Idee einer Rotte des bösen Princips entgegensetzen, als Vereinigung derer, die seines Theils sind, zur Ausbreitung des Bösen, welchem daran gelegen ist, jene Vereinigung nicht zu Stande kommen zu lassen“340. Das Böse zu überwinden ist nicht durch eine „äußere Revolution“341 möglich, sondern durch einen allmählichen geistigen Fortschritt, der sich gegen und durch die immer wieder scheiternde Suche der einzelnen Staaten nach einer „Universellmonarchie“342 und dementsprechend gegen und durch den Krieg – diese naturmäßige „Geisel des menschlichen Geschlechts“343 – durchsetzt. Die unsichtbare Kirche soll nach und nach den Frieden mit sich bringen: „Das ist also die menschlichen Augen unbemerkte, aber beständig fortgehende Bearbeitung des guten Princips, sich im menschlichen Geschlecht als einem gemeinen Wesen nach Tugendgesetzen eine 333 334 335 336 337 338 339 340 341 342 343
Lutz-Bachmann, S. 213. Kant, VI, 96. Ibid. VI, 123. Fn. Ibid. VI. 122. Ibid. VI. 135. Ibid. VI. 136. Ibid. VI. 135. Ibid. VI. 100. Ibid. VI. 122. Ibid. VI. 123 Fn; VI 34 Fn. Ibid. VI. 34. Fn.
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Macht und ein Reich zu errichten, welches den Sieg über das Böse behauptet und unter seiner Herrschaft der Welt einen ewigen Frieden zusichert.“344 Das Ende der Geschichte, das nach der vollkommenen „Scheidung der Guten von den Bösen“345 stattfindet und Kant wie Schelling346 im Anschluss an Paulus347 als das Moment, in dem Gott „alles in allen“ ist, beschreibt,348 bezieht den Triumph der Kirche ein, wobei sie alle „äußeren Feinde“ besiegt,349 aber die Endzeit kommt eigentlich dadurch zustande, dass die Kirche selbst aufgelöst wird und das „Erdenleben“ aufhört zu sein.350 Der letzte, praktisch relevante Zweck der menschlichen Geschichte ist der ewige und universelle Frieden, aber es gibt ein Jenseits dieses Zustandes, das auf eine innergöttliche Zeitlichkeit und auf ein unergründliches Geheimnis verweist.351 Sittlich-politisch gesehen würde Kant demgegenüber nur sagen: quae supra nos nihil ad nos. Trotz aller Unterschiede bezüglich des ontologischen Status dieser Ideen und bezüglich des Begriffes Gott stimmen Kant und Schelling in vielen Hinsichten überein. Schelling ist der Meinung, dass die Einheit der Menschen durch die Ebene des Politischstaatlichen hindurchgehen soll, aber dass sie letztendlich von der Religion abhängt: „Nur Gott kann die Einheit freier Wesen sein“.352 Das Gute – und ohne Gott ist bei Schelling das Gute nicht denkbar – setzt voraus, den Verstand Gottes durchdringen zu können, und infolgedessen die omnitudo realitatis erfasst zu haben. Der Mensch, der gut ist, kann nicht anders, als die Welt als ein geordnetes Ganzes zu sehen, das sich allmählich offenbart. Die Geschichte ist ein Moment der Offenbarung, das das Böse als Grund voraussetzt. An Gott zu glauben heißt, an die Möglichkeit einer friedlichen Weltgemeinschaft zu glauben, die sich im Gegensatz zur immer offenen Möglichkeit der Rückkehr des Partikularismus der Völker353 und ihre Versuche, als etwas Besonderes ein Imperium zu bilden, behauptet. Der Streit zwischen dem Guten und dem Bösen in der letzten Phase der Geschichte ist daher der Kampf zwischen dem Militarismus der Nationalstaaten, die miteinander kämpfen, um hegemonisch zu werden oder sich vor einer tendenziell hegemonischen Macht zu verteidigen, und der unsichtbaren Kirche, welche ohne Gewalt, die immer physisch344
Ibid. VI. 124. Ibid. VI 135 346 Schelling (1856 – 1861), SW 7, 405. 347 Bibel, 1 Kor 15, 24 – 28. 348 Kant, VI. 135. 349 Ibid. VI, 135. 350 Ibid. 351 Ibid. Fn. 352 Schelling (1856 – 1861), SW 7, 461. 353 In diesem Sinne interpretiert Zˇizˇek den „ethnic fundamentalism“, also die Suche nach einer Rückkehr zu der „,closed‘ organic community“ (Zˇizˇek (1996), S. 42) angesichts des alle Grenzen transzendierenden, transnationalen Kapitalismus, als eine „Kontraktion“ im Sinne Schellings. Es ist der Versuch, die (kollektive) Selbstheit zu radikalisieren, um den expansiven Kräften entgegenzuwirken. (Ibid. S. 27). 345
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sinnlich ist, und nur durch die gemeinsame Kraft der Gläubigen die Einheit der Menschen hervorbringt. Es geht um einen Streit zwischen zwei Formen der Suche nach Einheit, weil der Krieg für Schelling nichts anderes ist als ein misslingender Versuch, eine transnationale Einheit der Menschen zu bilden. Das ist möglich, weil im Bösen eine Spur der wahren Ordnung immer fortbesteht. Das Böse ist die falsche Einheit: „Es ist nicht die Trennung der Kräfte an sich die Disharmonie, sondern die falsche Einheit derselben, die nur beziehungsweise auf die wahre eine Trennung heissen kann“.354 Ist das Böse immerhin eine Manifestation Gottes, die durch seine Negation des Guten zu seiner Bestimmung beiträgt und als Werkzeug desselben dient, kann man nun den Spruch „Nemo contra Deus nisi deus ipse“ erinnern und seine Nähe zu der Freiheitsschrift präzisieren. Der französische Imperialismus, den die „dämonische“ Figur Napoleons verkörperte, war ein zum Scheitern verurteilter Vereinigungsversuch. Trotzdem war er ein Ausdruck der göttlichen Schöpfungskraft, ein verkehrter Ausdruck ihrer mächtigen Entfaltung. Das übermäßige, sich ins Unermessliche ausdehnende, auf das Ganze gerichtete politische Projekt, das die charismatische Figur Napoleons als Werkzeug des Zeitgeistes führte, war eine verkehrte Form der Schöpfungskraft Gottes. Dagegen konnte nur eine höhere göttliche Kraft durch eine wirklich universelle Gesinnungseinheit Widerstand leisten, also durch die unsichtbare Kirche. Die bewusste, durch die Metaphysik begriffene Zugehörigkeit aller Gläubigen zu einem Ganzen, das nicht von ihnen produziert, sondern entdeckt wird, ist der Gegenpart des Anspruches der Aufklärung, die menschliche Schöpfungskraft zu verselbstständigen. Beide Seiten sind immerhin Seiten Gottes, aber der eine weiß von sich selbst als ein Organ Gottes und der andere hingegen imaginiert selbstständig zu sein. Gott als Ganzes ist aber weder die eine noch die andere, sondern die All-Einheit, die entzweit ist und gegen sich selbst handelt. Der Spruch „Nemo contra deus nisi deus ipse“ kann im Lichte der Freiheitsschrift nur monistisch interpretiert werden: Es geht dabei um eine Selbstentzweiung Gottes. Der Gott Schellings befindet sich in st²sir. Die sich gegenseitig widersprechenden Gruppierungen sind nicht der Ultranationalismus und der Imperialismus, denn beide gehören gleichermaßen dem Bösen an. Die unsichtbare Kirche ist ihr gemeinsamer Gegner. Nur aus ihrer Perspektive ist der Kampf zwischen dem Guten und dem Bösen sichtbar. Der Streit in Gott hat eine verschiedene Bedeutung, ja nachdem, ob er von der Perspektive des Guten aus oder von der des Bösen aus gesehen wird. Die Staaten, die sich im Krieg befinden, negieren tatsächlich das Gute, aber sie handeln nicht gegen das Gute, sondern gegeneinander. Sie verkennen, wer ihr wahrer Feind ist. Nur die Kirche kann das Böse und das Gute unterscheiden und die entscheidenden Fronten anerkennen. Nur diejenigen, welche die Totalität angeschaut haben, können die falsche Einheit identifizieren und dagegen handeln. Politisches Ziel der Christen ist eine friedliche Gemeinschaft zu bilden, welche die Spannung zwischen dem Ultranationalismus und einem imperialistischen Nationalstaat über354
Schelling (1856 – 1861), SW 7, 371.
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windet. Diese sind die politischen Feinde des Christen. Der Feind des Guten ist eben die Feindschaft selbst,355denn diese hemmt seine Selbstentfaltung: „Diese Schwerkraft höherer Ordnung ist eigentlich feindselig gegen alle Potenzen, weil sie aller Evolution Feind ist“.356 Der göttliche Geist soll derart herrschen, „wie die Schrift von Christus sagt357: Er muss herrschen, bis daß er alle Feinde unter seine Füße lege“358. Es geht um einen Kampf ohne Gewalt, aber immerhin um einen politischen Kampf: ein Kampf um die bestmögliche Gemeinschaft. Ziel ist nicht ein punktueller Erfolg, sondern die allmähliche Durchsetzung einer „Gemütseinheit“ in der Menschheit, die mit einem tendenziell universellen Frieden zusammenfällt. Das ist das Ziel der menschlichen Geschichte. Die Gesinnungsethik des Christen, die nicht die möglichen Erfolge der eigenen Handlungen kalkuliert, rechnet daher doch damit, auf lange Sicht zu triumphieren. Der Gläubige bezweifelt nicht, dass das Reich Gottes am Ende der Geschichte seine bestmögliche Stabilität erreichen und das Böse in einen „caput mortuum“359 verwandeln wird. Gott handelt durch den Christen und durch den NichtChristen, Gott handelt dann durch die Entzweiung beider, aber der Christ drückt das Göttliche auf eine viel stärkere Weise aus als der Nicht-Christ, weil der Erste im 355 Sofern der Feind eine handlungsfähige Gruppe ist, die eine andere Gruppe als eine potenzielle Bedrohung ihrer eigenen Existenz und deshalb als eine eventuell durch den Krieg zu negierende Negation ansieht, lehnt Schelling ausdrücklich die Möglichkeit ab, dass die unsichtbare Kirche Feinde haben kann: „Das Wahre und Göttliche soll einmal nicht durch äußere Gewalt gefördert werden, und sobald die Kirche anfing die Irrgläubigen zu verfolgen, so hatte sie schon ihre wahre Idee verloren. Sie hätte großmüthig, sich selbst bewußt ihres vom Himmel stammenden Gehaltes auch den Unglauben gewähren lassen sollen, sich nicht in den Fall setzen, Feinde zu haben, Feinde anzuerkennen.“ Schelling (1856 – 1861), SW 7, 464. Im Unterschied zu Schmitt sieht Schelling die Möglichkeit des Todes im Krieg nicht als eine heroische Überwindung der Endlichkeit und ein Zeichen der göttlichen Transzendenz (s. Meuter, (1991), S. 506 – 507), sondern als ein Zeichen des Festhaltens der Menschen an der Verabsolutierung der Selbsterhaltung und ihrer falschen Ansprüche nach Totalität. Schmitts Feindbegriff, der eine Verteidigung der „eigenen seinsmäßigen Art zu leben“ (Schmitt (1932), S. 4) impliziert, geht von einem Antiuniversalismus aus, der die Eigenheit oder Besonderheit der politischen Einheiten zu bewahren versucht. Andererseits können nur Feinde entstehen, wenn eine Gruppe ihre Lebensweise erhalten möchte. Aus der Sicht Schellings kann keine besondere politische Einheit als eine unüberwindliche und deswegen unbedingte Gemeinschaftsform betrachtet werden, und das Bewusstsein der Sterblichkeit ist keine Wirkung des Umgangs mit dem Anderen, sondern ein notwendiges Moment des Selbstverständnisses eines guten Menschen. Das politische Engagement im Sinne Schmitts wäre für ihn nur eine andere Form der auf der Selbsterhaltung beruhenden Verabsolutierung des Endlichen und deshalb eine andere Form des Bösen. Der Christ kann bei Schelling jedoch Feinde haben, weil er den Universalismus seiner Glaubensgemeinschaft gegen die Verabsolutierung anderer Formen von Gemeinschaftsbildung durchsetzen soll. Die Feindschaft schließt aber in diesem Fall nicht ein, eventuell Gewalt zu benutzen. Es handelt sich dabei um einen rein geistigen Krieg, der vor allem im Feld der Gesinnungen der Individuen stattfindet. Die Durchsetzung des Guten impliziert den ständigen Kampf gegen das Böse und deswegen lässt sich die christliche Politik nicht ohne Feindschaft denken. Dieser Sinn des Begriffes „Feind“ unterscheidet sich aber grundsätzlich von dem Feindbegriff Schmitts. 356 Schelling (1973), S. 152. 357 Bibel, Mt 22, 44. 358 Schelling (1856 – 1861), SW 7, 405. 359 Ibid. SW 7, 408.
II. Die Geschichtlichkeit des politisch Guten
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Bewusstsein des göttlichen Charakters seiner eigenen Taten handelt und die Perspektive des Ganzen zur Erscheinung bringt. Der Nicht-Christ ist hingegen ein unbewusstes Instrument Gottes, der an einer unteren Ebene der geschichtlichen Entwicklung festhält und sich selbst über die Reichweite seiner Zwecke, die Richtung der Geschichte und die Quelle seiner Schöpfungskraft täuscht. Ebenso wie das sittlich Gute ohne das Primat des Universellen vor dem Besonderen nicht möglich ist, bedürfte das politisch Gute, d.i. die Stiftung eines christlichen Reiches, der Überwindung des Partikularismus der einzelnen Staaten. Die verschiedenen Nationalstaaten können aus der Sicht Schellings nicht beanspruchen, voneinander isoliert zu bestehen und keinen Bezug zu einem Ganzen zu haben. Jeder Staat, der sich der Teilnahme an einer überstaatlichen Ordnung widersetzt und ausschließlich an seiner Selbsterhaltung interessiert ist, handelt gegen die Tendenz der Geschichte: eine Weltgemeinschaft zu bilden. In diesem Sinne rechtfertigt Schelling die Notwendigkeit des Imperialismus als Vorstufe des Guten. Schelling lehnt deshalb aber nicht die Existenz des Nationalstaates ab, weil das neue Reich wie andere organismische Totalitäten,360 ein Ganzes ist, dessen Teile auch Ganzheiten sind. Das Reich enthält Strukturen, die weniger komplex sind, als Teile, die für seine Stabilität und Beständigkeit wichtige Funktionen erfüllen. Der Nationalstaat, der eine besondere Sprache, Kunst und Traditionen impliziert, ist der Grund der respublica christiana: „Wäre das in einem anderen Begriffene nicht selbst lebendig, so wäre [es] eine Begriffenheit ohne Begriffenes, d. h. es wäre nichts begriffen.“361 Alle Staaten werden zu einer Einheit, nicht weil sie aufhören selbstständig zu sein, sondern weil die christlichen Staaten in sich selbst etwas haben, was sie als einzelne Gemeinschaften transzendiert. Sie sind selbstständig und zugleich von einem Ganzen abhängig: „Abhängigkeit hebt Selbstständigkeit, hebt sogar Freiheit nicht aus.“362 Sofern aber der Ultranationalismus eine Auswirkung des Imperialismus ist, hängt die Überwindung des Partikularismus von der Aufhebung seines Gegensatzes ab. Die Kirche stellt sich indirekt dem Ultranationalismus entgegen, indem sie dem falschen Universalismus Widerstand leistet, ohne aber seine historische Leistung zu vernichten. Der Widerstand der Nationalstaaten gegen das Imperium ist gerechtfertigt, weil sie angesichts der Möglichkeit ihres Verschwindens für ihre Selbster360 Alle Organismen sind sich selbst erhaltende, sich vom Rest der Welt abgrenzende Entitäten, die eine ideelle Seite (die „Seele“) und eine materielle Seite („Stoff“ und „Leib“) haben. Das Ideelle ist die Struktur und die Ordnung, die eine Vielheit wechselnder materieller Teile koordiniert. Jeder Organismus ist ein selbstständiges Ganzes, aber die Natur ist das Ganze, das sich durch die geregelte Interaktion der verschiedenen Organismen erhält. Die Völker sind wie Organismen: Einzeldinge, die eine Pluralität von Elementen (Individuen) verbinden, eine stoffliche Seite (ein Territorium) und ein seine Elemente koordinierendes, immaterielles Selbstbild (Sprache, Religion, Sitten) haben. Sie grenzen sich von anderen menschlichen Gruppierungen ab und reproduzieren sich durch ihre eigene Tätigkeit als numerisch identifizierbare Entitäten trotz Geburt und Tod einzelner Mitglieder. Das Reich ist aber eine Einheit verschiedener Völker. 361 Ibid. SW 7, 347. 362 Ibid. SW 7, 346.
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C. Die politische Dimension der Freiheitsschrift
haltung kämpfen sollen, doch die Lösung der Krise hängt nicht von der Rückkehr zu einer staatlich zentrierten Politik ab. Das Imperium ist eine falsche Einheit, weil es sich auf die Hegemonie eines einzelnen Staates gründet und die Partikularität anderer Nationalstaaten verkennt, aber es steht dem Ziel der Geschichte näher als die Einzelstaaten. Die Überwindung des Imperiums besteht daher nicht in einer Rückkehr zur Vielheit der Einzelstaaten, sondern in der Versetzung des hegemonialen Staates als Mittelpunkt oder Zentrum der Einheit, d.i. in seiner Anerkennung einer Macht, die jenseits seiner Macht ist: die Kirche. Das Gute verwirklicht sich durch die „Wiederherstellung des Verhältnisses der Peripherie zum Zentrum“, also durch „Wiederaufnahme des getrennten und einzelnen Lebens in den inneren Lichtblick des Wesens“, woraus „die Scheidung (Krisis) wieder erfolgt“.363 Die Wiederaufnahme im Ganzen ist in diesem Fall die Überwindung des Nationalismus der hegemonischen Macht durch ihre Integration in die Kirche als ein anderes Glied. Die Beziehung der Staaten zueinander soll sich entspannen, sobald das Zentrum der Einheit kein Nationalstaat ist. Nur dann erfolgt die „Scheidung“ d.i. der Moment, in dem die homogenisierenden Tendenzen aufhören zu wirken, und die Vielheit ohne Feindschaft besteht. Dies setzt eine gewisse Hierarchisierung der Nationalstaaten voraus, weil die Aufgabe des Imperialismus überwunden bzw. aufgehoben (im Sinne von tollere und conservare) und nicht vernichtet wird, aber es geht dabei um eine Ungleichheit, die gegenüber der asymmetrischen Beziehung zwischen der Kirche und allen einzelnen Nationalstaaten nebensächlich ist. Alle Staaten erkennen sich dann als Mitglieder eines Ganzen an, nicht weil etwas ihnen Fremdes, d.i. die Besonderheit eines anderen Nationalstaates, sich mit ihnen vereinigt hat, sondern weil jeder Staat, als ein christlicher Staat, das Ganze, also die Kirche, in sich hineinkopiert. Nur auf diese Weise kann ein organismisches Ganzes entstehen, das sowohl den Ultranationalismus als auch das Imperium hinter sich lässt. Der direkte Feind des Guten ist doch, wie gesagt, der militaristische, expansionistische Nationalismus, der durch eine höhere, universellere Organisation überwunden werden soll, nachdem die verschiedenen Nationalstaaten in ein Imperium integriert wurden. Das Gute verwirklicht sich dadurch, dass die imperiale Macht christianisiert wird, woraus indirekterweise das Ende des Widerstandes der einzelnen Nationalstaaten erfolgt, weil kein Nationalstaat nun das wahre Zentrum der politischen Ordnung ist. Nur durch die Unterwerfung der rebellischen, prometheischen Besonderheit unter das wahre Ganze zeigt sich dann das Gute. Der Gläubige kämpft dafür ohne Gewalt. Er kann missionieren, durch Überzeugung andere Menschen zum Christentum führen, aber er soll die Möglichkeit ablehnen, eine christliche Gemeinschaft zu erzwingen. In den „Stuttgarter Privatvorlesungen“ und im Gegensatz zur Identitätsphilosophie, in der die Kirche im Staat existiert,364 kritisiert Schelling deswegen jede Form von Konstantinismus: „Wäre nicht die Trennung zwischen dem Aussen und Innen so mächtig, so würden Staat und 363 364
Ibid. SW 7. 366. Ibid. SW 6, 576.
II. Die Geschichtlichkeit des politisch Guten
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Kirche coincidiren, aber jezt werden sie getrennt seyn, so lange die physische und geistige Welt getrennt bleiben, wie sie es jezt sind“365. Die Beziehung der Kirche zu den Staaten ist ebenso wie die Beziehung der Existenz zum Grund: Sie sind ihre Basis, aber sie sind ihr eigentlich äußerlich und fremd. Verfällt die Kirche der Versuchung, sich durch die Gewalt des Staates durchzusetzen, hat sie ihr Ziel verfehlt: „Grosmüthig hätte sich die Kirche als die triumphirende geriren sollen, aber sie verfolgte Ketzer und äusserte dadurch die Furcht, als ob sie selbst unterliegen könnte“.366 Die Kirche soll eine „Gemütseinheit“ sein, die auf die Gewalt vollkommen verzichtet: „Die Kirche kann aber nach der einmal eingetretenen Trennung zwischen innerer und äußerer Welt keine äußere Gewalt werden“.367 Der christliche Universalismus hängt von keiner Zwangsherrschaft ab, einschließlich natürlich eines Imperiums. Die Kirche ist eine transnationale Einheit der Menschen, die, wie bei Augustinus, jede institutionalisierte Zwangsherrschaft transzendiert und mit keiner „weltlichen“ Macht identifiziert werden kann. In diesem Sinne äußert sich Voegelin über die richtige Bedeutung des theologisch-politischen Symbols des „Reiches“: „Um die Idee eines Reichs, das (im Unterschied zum israelischen Königreich) nicht von dieser Welt ist, in Reinheit herauszuarbeiten, mussten die folgenden Komponenten aus dem kompakten Symbol eliminiert werden: dass ein bestimmtes Volk im ethnischen Sinne der Träger des Reiches in der Geschichte ist; dass das Reich durch die weltliche Organisation eines Volkes verwirklicht werden könne; dass das Reich als ein dauernder Zustand vollkommenen Handelns nach dem Willen Gottes durch irgendeine menschliche Gruppe in der Geschichte verwirklicht werden könne“.368 Diesen Punkt zu erreichen setzt einen langen geschichtlichen Prozess voraus. Die Harmonie zwischen der Vielheit der Staaten und der Kirche ist keine Gegebenheit, sondern ist eine geschichtliche Aufgabe. Die Aufgabe der Kirche besteht z. T. darin, dem Staat Grenzen zu setzen. Die Zugehörigkeit der Menschen zu einem Staat oder zu einem Volk soll keineswegs abgeschafft, aber sie soll nicht verabsolutiert werden. Der Christ hat eine politisch integrative Aufgabe, weil er auf eine Weltgemeinschaft abzielt, und eine negative, kritische Aufgabe: mögliche universelle Ersatzgemeinschaften zu verhindern. Ist die Moderne die Zeit, in der die Weltanschauungen wuchern, die ein Paradies auf Erden versprechen, soll der Christ immer wieder die nicht-christlichen Zwecksetzungen zu relativieren und als Momente eines komplexeren Ganzen zu integrieren versuchen. Die Existenz des Reiches ist nicht davon unabhängig, dass die Ausbreitung und Verabsolutierung partieller Weltanschauungen wie der expansionistische Nationalismus beschränkt werden. Die einzige legitime Weltansicht ist eine, die auf dem Glauben an einen einzigen, sich personifizierenden, sich progressiv offenbarenden Gott beruht. Die einzige, wahrlich unbedingte Gemeinschaft ist diejenige, die auf diesem Glauben beruht: Die unsichtbare 365 366 367 368
Schelling (1973), S. 178. Ibid. Schelling (1856 – 1861), SW 7, 464. Voegelin, zitiert von Faber (1994), S. 46 – 47.
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Kirche. Hat das neue Reich diese negative Dimension und wird der Widerstand gegen die Kirche niemals vollkommen ausgelöscht, kann man sagen, dass es eigentlich keine vollkommene politische Ordnung ist, sondern immerhin eine andere Form des Übergewichts der Existenz gegenüber dem Grund. Es ist eine Gemeinschaft, die niemals alle Elemente vollkommen unter Kontrolle haben kann und niemals vermeiden kann, sich mit gelegentlichen, mehr oder weniger intensiven Ausbrüchen der alten Unordnung konfrontiert zu sehen. In diesem Sinne ist das Reich eher eine allmähliche Begrenzung der Intensität des Bösen als eine Wiederherstellung des ursprünglichen Guten, das keinen Gegensatz hatte. Um eine geistig-politische Macht zu bezeichnen, die nicht in der Lage ist, das Böse zu vernichten und eine absolute Einheit wiederherzustellen, aber dem Bösen Grenzen setzt, hat Paulus in dem 2. Thessalonicher-Brief den Begriff des jat´wym gebraucht. Blumenberg hat ihn treffend beschrieben: Er ist der Aufhalter des Antichristen, aber er ist zugleich ein Zeichen der Verzögerung des Endes der Zeiten.369 Er beschränkt die Wirksamkeit des Bösen und vergegenwärtigt doch das Ausbleiben der Erlösung. Nach Carl Schmitt, der das christliche Kaisertum des Heiligen Römischen Reiches als das klarste Beispiel eines kathekon ansieht,370 ist eine Auffassung der Geschichte, welche den kathekon einbezieht, die christliche schlechthin. Sie setzt sich sowohl von der heidnischen Idee einer „in sich selbst kreisende[n] Natur“371 ab, und folglich von einer zyklischen Zeit, als auch von der neuzeitlichen Idee des Fortschrittes und ihrem Glauben an die Fähigkeit des Menschen, von sich selbst her das Vollkommenste zu erreichen. In dem letzten Sinne setzt Schmitt die christliche Idee der Geschichte den „aktivistisch[en] Sinngebung[en]“ und „humanistisch[en] Selbstbespiegelung [en]“372 entgegen. Der Kommunismus ist u. a. damit gemeint. Alle politischen Projekte, die glauben, ein Paradies auf der Erde zu errichten, also alle „gnostischen“ Bewegungen im Sinne Voegelins, sind in diesem Sinne unchristlich. Sie verkennen die Grenzen des menschlichen Könnens und die Ungewissheit darüber, wann das Ende der Zeiten ankommen wird. Nach der Auffassung der Geschichte, die das kathekon impliziert, gibt es „keine Sicherheit, dass die Geschichte fortdauern, dass das Ende nicht plötzlich hereinbrechen werde“.373 Die lebendige Erwartung des Endes der Zeit führt dennoch nicht zu einer Lähmung der Menschen, sagt Schmitt, weil der kathekon immerhin die geschichtliche Aufgabe hat, den Triumph des Bösen zu verhindern.374 Dies hat eine negative Seite, das Böse zu beschränken, und eine positive, das Christentum auszubreiten. Missionieren gehört dazu.375 Der kathekon ist der Aufhalter des Antichristen und der Ausbreiter des wahren Glaubens. Von diesem Standpunkt aus konnten die Christen seit den Zeiten Tertulians oder Eu369 370 371 372 373 374 375
Blumenberg/Schmitt (2007), S. 131. Meier, S. 244. Blumenberg/Schmitt (2007), S. 166. Ibid. Meier, S. 247. Blumenberg/Schmitt (2007), S. 164. Meier, S. 251.
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sebius’ die Existenz des Römischen Reiches rechtfertigen. Dies kommentiert Blumenberg: „Die Christen beten statt um das Kommen des Herrn für den Aufschub des Endes, um sich selbst als die Macht darzustellen, die das Römische Reich dadurch erhält, dass sie Gott ständig in den Arm fällt. Mit der Reichmacht identisch geworden, ist es die schiere Konsequenz, dass sich in dieser Macht auch der und das ,kathekon‘ darstellt“.376 Schellings Geschichtsphilosophie in der Freiheitsschrift hat Merkmale, die an das sich von dem Begriff „kathekon“ ergebende Verständnis der Geschichte erinnern: das Gute, politisch-geschichtlich gesehen, ist die Stiftung einer universellen Weltgemeinschaft, die die Entgrenzung des Bösen verhindert, aber dieses christliche Reich ist nicht in der Lage, die absolute Erlösung hervorzubringen. Worin sie besteht und wann sie kommen wird, ist unergründlich. Die letzte Einheit ist nicht einmal für die Gläubigen durchsichtig. Die menschliche Vernunft kann zwar den Weltentwurf und folglich auch das Ganze der geschichtlichen Entwicklung begreifen. Die Offenbarung des Geistes ist voraussehbar und deswegen kann sie als Vorsehung gelten. Schelling denkt aber, dass Gott als Geist nicht das Absolute schlechthin ist und jener eigentlich ein „Hauch der Liebe“377 ist. Die Liebe, wie schon erklärt worden ist, ist in dieser Hinsicht die Rückkehr der ursprünglichsten Einheit. Sie kann eigentlich nicht erwartet oder erhofft werden, weil sie übergeschichtlich ist. Sie erhebt sich über alle Dualität und deswegen auch über den Gegensatz zwischen dem Guten und dem Bösen. Die bestmögliche Verwirklichung des politisch-geschichtlich Guten kommt daher jedenfalls „vor“ der Rückkehr der Liebe vor. Diese kann nicht als ein geschichtliches, ja innerweltliches Geschehen gedacht werden, weil sie mit der Vernichtung der Welt, des Geflechtes aller Bezüge, zusammenfällt. Die Rückkehr der reinsten Einheit ist daher nicht im Rahmen der Bildung von Strukturen lokalisierbar, weil sie jede Struktur zusammen mit ihren materiellen Voraussetzungen abschafft. Unter diesen Bedingungen ist sogar die unsichtbare Kirche nicht unbedingt, weil diese wie alles, was geistig ist, eine Einheit ist, die auf etwas Materielles gründet. Das Reich ist u. a. Gründen eine Erscheinung des Geistes, weil es ein Ganzes ist, welches Existenz und Grund zusammenhält. Der Grund ist in diesem Fall das Böse in der Form der Spannungen zwischen den Staaten und letztendlich die Möglichkeit des Krieges. Die Rückkehr der Einheit befindet sich daher jenseits der Unterscheidung zwischen Kirche und Staaten und zwischen Frieden und Krieg. Das christliche Reich ist zwar das Beste, was die Menschheit im Rahmen der Geschichte erreichen kann, aber die reinste Liebe geht über es hinaus. Die bestmögliche politische Ordnung, d.i. die universelle Einheit der Völker durch die Christianisierung der Menschheit, wird so von unten und von oben bedroht. Von unten durch die Unordnung, die sich als Krieg zeigt. Von oben durch die übergeschichtliche Rückkehr der absoluten Einheit. Von diesem Standpunkt aus hat das neue Reich Eigenschaften, die an das kathekon erinnern. Dieser impliziert, laut Blumenberg, „die Umkehrung der eschatologischen 376 377
Blumenberg/Schmitt (2007), S. 131 – 132. Schelling (1856 – 1861), SW 7, 406.
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C. Die politische Dimension der Freiheitsschrift
Verheißung in die Verheißung des Aufschubs der Eschata“378. Anders gesagt: Erwartet kann nur dasjenige sein, das nicht das Ende der Zeit selbst ist und infolgedessen mit der Verzögerung der absoluten Erlösung einhergeht. Das neue Reich ist sowohl eine innerweltliche Verwirklichung der Liebe als auch ein Aufschub der Erscheinung ihrer reinsten Form. Ein christliches Reich ist ein kathekon, der mehrere Völker vereinigend und Friede auf überstaatlicher Ebene stiftend gegen den imperialistischen Nationalismus kämpft, aber zugleich die Rückkehr der Liebe aussperrt. Das neue Reich kann die Entgrenzung des Bösen verhindern und es haftet ihm trotzdem eine Komplizenschaft mit dem Bösen an, weil sich seine Universalität nicht ohne Widerstände und Gegensätzlichkeit offenbaren kann.379 Das Reich ist auf diese Weise zweideutig, weil es indirekt die absolute Erlösung verzögert. Ist der nationalistische Imperialismus Napoleons eine Art neuen Heidentums, zu dem alle prometheischen, säkularistischen Projekte der Neuzeit gehören, ist die radikalste christliche Antwort nicht die allmähliche Stiftung einer friedlichen Weltgemeinschaft, sondern der Verweis auf die Unberechenbarkeit des deus absconditus, dessen Erscheinungsform nicht inhaltlich, begrifflich bestimmt werden kann. Gegen die Selbstvergöttlichung des Gegengöttlichen, welche die Neuzeit auszeichnet, bleibt zuletzt keine andere Alternative als die negative Andeutung eines übergeschichtlichen Ereignisses, welche die Transzendenz des Göttlichen als einen Leerplatz erhält und ihre Identifizierung mit jedem innerweltlichen Ziel verunmöglicht. Daraus kann kein politisches Projekt hervorgehen – es kann nur alle möglichen politischen Projekte, einschließlich derjenigen der Christen, relativieren. Diese Position, die Schelling in der Freiheitsschrift zum ersten Mal skizziert, ist der Kern seiner Ablehnung aller Vorstellungen eines Idealstaats in Zeiten des Vormärz. Die Spätphilosophie spielt die absolute Transzendenz gegen jede politische Schwärmerei aus. Mehr als vierzig Jahre nach der Veröffentlichung der Freiheitsschrift, im Februar 1852, erklärt Schelling Maximilian II. von Bayern, warum die Suche nach einem Idealstaat seit der Französischen Revolution und bis zum Kommunismus ein Fehler ist. Schelling glaubt, „daß die Monarchie, obwohl für die gegenwärtige Zeit die beste möglicher Einrichtungen, dennoch nicht das Ideal einer der Vernunft vollkommen entsprechenden Staatsverfaßung 378
Blumenberg/Schmitt (2007), S. 132. Schelling hat immerhin einen negativen Begriff von Frieden. Frieden ist Nicht-Krieg und folglich kann er nur als Negation und damit in Bezug auf den Krieg benutzt werden. In seiner Interpretation des homerischen Hymnus an Demeter (1833) ist dies deutlich erkennbar. Schelling spricht zuerst von dem Frieden bei den biblischen Propheten: „Eine Art von Messianischer Weissagung sey doch auch hier; überall wo glückliche Zeiten geweissagt werden, stehe der Friede oben an, wie bey den Propheten des alten Testaments, wenn z. B. Jesaias sage: ,Denn aller Krieg mit Ungestüm (polemos kai phylopis ainê) und blutig Kleid wird verbrannt und mit Feuer verzehrt werden‘“ (Pareyson, S. 541). Und dann erklärt er, warum der Frieden nur als Gegensatz des Krieges Sinn hat: „Denn Friede, Ruhe, sey’n negative Begriffe, und gewähren der Vorstellung nichts; indem aber gesagt werde: Krieg und furchtbares Schlachtgetümmel soll aufhören, sey der Einbildungskraft zugleich etwas Positives gegeben, und der Ausdruck dadurch poetisch“ (Ibid.). 379
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sei, daß dieses vielmehr über die Monarchie hinausliege, und wenn nach langen vielleicht Jahrhunderte hindurch andauernden Kämpfen dennoch zuletzt erstrebt werden und den allein würdigen Schluß der Geschichte bilden müße. Dieser Voraussetzung müßte ich nun schon darum widersprechen, weil ich schlechterdings leugne, daß es für diese Welt überhaupt ein Ideal von Verfaßung geben könne. Wenn man ein solches nun vielleicht seit einem Jahrhundert für möglich gehalten und erst auf theoretischem Wege, seit etwa 62 Jahren auf practischem Wege zu erreichen gesucht hat, so kann dieß nur damit zusammen hängen, daß seit ohngefähr eben so lange ein Hauptbegriff völlig verloren gegangen ist, auf dem die frühere, christliche, jetzt so Vielen unverständlich gewordene Lebens- und Staatseinrichtung beruht hatte. Dieser verloren gegangene Begriff ist, daß diese Welt nicht ein (dauerndes oder gar ewiges) Sein, sondern selbst nur ein Zustand ist, der also nicht bleiben kann, sondern nothwendig vorübergeht, wie der eine Apostel sagt: ,die Welt geht vorüber sammt ihrer Lust‘, der andere: ,das Schema (die Figur, die Gestalt) dieser Welt vergeht‘, woraus mit Nothwendigkeit folgt, daß wir innerhalb dieser Welt nichts ewiges, kein wirklich erreichtes Ideal, das, – wenn erreicht, auch dauernd sein müßte, erwarten dürfen. Der wahre Schluß der Geschichte ist das Jenseits, ist die kommende Welt, er kann also nicht in die Gegenwart versetzt werden, deren wahres Ziel und Ende nur sein kann aufgehoben zu werden und einer andern Welt Platz zu machen, in der, wie ein dritter Apostel sagt, Gerechtigkeit wohnen wird. Es ist nicht zufällig, wenn diese Bestrebungen nach einem hier zu erreichenden Ideal der menschlichen Gesellschaft in Schwärmereien, wie der Communismus, enden, deren Anhänger ganz recht haben, die sogenannten Constitutionellen als auf halbem Wege stehen gebliebene zu verlachen und zu verachten“380.
III. Christliche Politik Der Kern des Politischen ist die Gemeinschaftsbildung. Der Staat ist die politische Institution, die mithilfe des Zwangs eine Menschenmenge strukturiert und ein relativ friedliches Zusammenleben ermöglicht. Im System des transzendentalen Idealismus, in dem Schelling noch republikanisch ist, wäre das Recht nicht in der Lage, die Freiheit des Individuums zu schützen, wenn diejenigen, die dazu tendieren, es zu verletzen, nicht bestraft werden könnten. Der Zwang ist der unverzichtbare Hintergrund des Rechtsstaates. Nachdem Schelling das Thema des Bösen, das schon im System des transzendentalen Idealismus der Hintergrund des Staatsbegriffs und der Distanzierung von der politischen Philosophie Fichtes ist, ins Zentrum der Philosophie Schellings rückt, verstärkt sich diese Auffassung. Der Staat ist der Fluch, den die Menschen erleiden müssen, sofern sie böse sind. Die „Stuttgarter Privatvorlesungen“ zeigen einen kritischen Ton hinsichtlich des Staates auf, weil die Gewalt des Staates, die sich selbst nicht legitimieren kann,381 auch politisch-soziale Probleme (Despotismus, Armut)382 mitverursacht, aber der Staat ist immerhin eine notwendige Konsequenz des Bösen, die ein Minimum an Ordnung hervorbringt. Er ist eine 380 Trost, S. 277 – 278. „Der wahre Schluss der Geschichte ist das Jenseits, ist die kommende Welt“. Schelling, zitiert von Hollerbach, S. 261. 381 Schelling (1856 – 1861), SW 7, 461. 382 Ibid. SW 7, 462.
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unvollkommene Einheit der Menschen, die dennoch das Schlimmste dank der Möglichkeit des Zwangs verhindert. Der Staat ist aber nicht die einzige Form der Gemeinschaftsbildung. Das Problem, wie eine Vielheit von Menschen zu einer zusammenhängenden Einheit werden kann, wird von Schelling seit dem „System des transzendentalen Idealismus“ an die Geschichtsphilosophie und, da das Christentum grundsätzlich geschichtlich ist, an die Religion gekoppelt. Der christliche Gott ist ein werdender Gott, ein Gott, der sich offenbart, und deswegen ein geschichtlicher Gott. Die Philosophiegeschichte der Freiheitsschrift setzt die Perspektive fort, die Schelling im System des transzendentalen Idealismus schon hatte: Die menschliche Geschichte ist dabei die allmähliche Offenbarung Gottes durch die Erschaffung immer harmonischerer Beziehungen zwischen den Menschen. Der Staat ist nur eine anfängliche Phase dieses Prozesses, der nicht nur deshalb unvollkommen ist, weil er sich des Zwangs bedient, sondern weil er Einheit innerhalb eines bestimmten Territoriums schaffen kann. Das politisch-geschichtlich Gute ist hingegen die Bildung einer Weltgemeinschaft, die auf den Zwang verzichtet. Dies, die bestmögliche Gemeinschaft, ist die unsichtbare Kirche. Das politisch zentralste Problem, vor allem dann, wenn die Einzelstaaten, wie in Zeiten Schellings, ohnmächtig gegenüber imperialen Mächten sind, ist nicht die innere Ordnung der Staaten, sondern eine globale Ordnung. Diese schließt natürlich die Individuen ein, aber Schelling denkt in der Freiheitsschrift vor allem an eine Integration der Völker. Die Völker sind Organismen, die eine Vielheit von Individuen dank der Sprache, der Kunst und der politisch-legalen Traditionen vereinen und die Teile eines größeren, universellen Organismus werden sollen. Ziel der Geschichte ist daher die Bildung eines christlichen, überstaatlichen Reiches. Das setzt keine Abschaffung der Nationalstaaten voraus, sondern ihre Integration im Rahmen einer christlichen Gemeinschaft, in der ihre Besonderheit zugleich überwunden und erhalten wird – „denn Reich ist eine Einheit“.383 Jeder Christ soll dazu beitragen. Kein Individuum kann diese Weltgemeinschaft stiften, ja sie ist für das Individuum eine mehr oder weniger entfernte Hoffnung, aber sie verwirklicht sich durch die Tätigkeit der Individuen. Der Gläubige soll sich als ein Werkzeug Gottes betrachten und folglich als jemand, dessen Absichten und Handlungen einem höheren, überindividuellen Zweck dienen. Darin stimmt Schelling mit dem Kant der „Religionsschrift“ überein. Das Gute, um das der Christ nur durch seine Vernunft bzw. durch die Anschauung der omnitudo realitatis wissen kann, ist nicht das Gute für das Individuum, sondern für die Gattung. Ohne Gott kann deswegen der Einzelmensch nicht politisch gut handeln384. Politisch gut zu handeln heißt hierbei, den Versuchen, die Bildung des christlichen Reiches zu verhindern, entgegenzuwirken. Wenn die Nationalstaaten ihre begrenzte Einheit entweder durch eine na383
Ibid. SW 7, 460. In diesem Zusammenhang spricht Hollerbach von der Philosophie Schellings als einer „Sozialtheologie“: „Wir sprechen von Sozialtheologie allein in dem Sinne, daß theologische Ansicht in das Wesen der Welt und des Menschen sozialphilosophisches Denken normiert und ihm seine Grenze setzt“. Hollerbach, S. 262. 384
III. Christliche Politik
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tionalistische Verkapselung oder eine expansionistische Politik verabsolutieren, handeln sie dagegen. Es gibt doch nichts, das jenseits Gottes existiert, und deswegen ist diese Politik, die sich vor allem nach dem Universalismus der Aufklärung radikalisiert hat, ein Ausdruck des Grundes Gottes. Sie ist aber ein partieller und unvollkommener Ausdruck Gottes, die sogar ihren wahren Gegenpart verkennt. Jeder Christ sieht hingegen die Weltgeschichte aus der Perspektive des Ganzen, und folglich kann er nicht umhin, gegen das Böse zu kämpfen. Der Pantheismus bringt keine politische Indifferenz mit sich, weil die verschiedenartigen Ausdrucksformen Gottes mehr oder weniger entfernt von seiner Selbstständigkeit, vollkommen oder unvollkommen sein können. Dem guten Menschen, der alles aus der Perspektive des Ganzen sieht, ist der Begriff „Feind“ daher nicht fremd. Schelling glaubt aber, dass die zwischenmenschlichen Beziehungen nebensächlich sind, weil die Harmonie zwischen den Menschen letztendlich von der richtigen Beziehung jedes Menschen zu Gott abhängt. Der Kampf des Christen gegen das Böse ist insofern politisch, als ein neues Selbstverständnis jedes Einzelnen zur Bildung der Weltgemeinschaft beiträgt. Dieser Kampf impliziert aber keine direkte Konfrontation, ja keine direkte Interaktion mit anderen Menschen. Schelling könnte die Worte Diogenes Laertios‘ wiederholen: „Wie soll ich mich am Feinde rächen? Dadurch, dass ich selbst ein guter und rechtschaffener Mensch werde“.385 Der Kampf gegen das Böse ist hauptsächlich ein innerer Kampf, dessen Wirkungen gleichwohl gemeinschaftlich sind. Jeder Gläubige, der das Böse in sich selbst überwindet, vereinigt sich innerlich mit allen Menschen, die dasselbe getan haben. Der Ultranationalismus und der Imperialismus können nicht gedeihen, wenn die Individuen alle partiellen Gemeinschaftsformen relativiert haben. Die Wirkung des Glaubens ist die Deaktivierung der Motivationsquellen ihrer eventuellen Verabsolutierung. Nur dann, wenn die Individuen innerlich verworren sind, können sie diese Art von Politik unterstützen. Sofern die christliche Weltgemeinschaft mit einem universellen Frieden zusammenhängt und die Feindschaft der Staaten gegeneinander bekämpfen soll, ist der Gläubige dadurch pazifistisch, dass die grundlegendste Motivationsquelle des Krieges, nämlich die Verabsolutierung einer partiellen Gemeinschaft, keinen Einfluss auf ihn ausübt. Das politisch Gute, die Bildung einer friedlichen Weltgemeinschaft, hängt so von der Beziehung des Einzelmenschen zu sich selbst ab. Alle anderen Mittel, um den Krieg zu bekämpfen, sind aus der Sicht Schellings unwirksam. Der einzig wirklich wirksame Pazifismus ist der, der auf die Wiederherstellung der richtigen Beziehung des Einzelmenschen zu Gott gründet. Trotzdem erhalten die zwischenmenschlichen Beziehungen eine politische Bedeutung, weil nicht alle Menschen ohne Hilfe Gott erkennen können. Diejenigen, die Gott erkannt haben, können und sollen dazu beitragen, ihren inneren Zustand zu verallgemeinern. Es geht dabei nicht, wie es bei den „Weltverbesserern“ der Fall ist, um eine subjektive und deswegen partielle Ansicht, die anstrebt, allgemein zu werden. Der Christ, der seinen Glauben verbreitet, verallgemeinert laut Schelling 385
Diogenes Laertios, zitiert von Plutarch, S. 253.
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C. Die politische Dimension der Freiheitsschrift
keine partielle Perspektive, sondern eine Wahrheit, die nicht aus ihm als Individuum herkommt und auch nicht von einem Menschen erfunden wurde, sondern von ihm als eine wirkliche, universelle Tatsache des Bewusstseins entdeckt wird. Diese Tatsache kann jeder Mensch, der sich selbst mithilfe der Metaphysik kennt, in sich selbst entdecken, weil alle Menschen dieselbe geistige Verfassung haben. Ihre Feindschaft gegeneinander ist nur das Resultat einer defizitären Selbsterkenntnis. Würden alle Menschen sich in sich selbst vertiefen, würden sie in sich denselben Gott entdecken. Politisches Ziel des Gläubigen ist dann, die Institutionen zu unterstützen, welche diese Form der Selbsterkenntnis fördern. Dazu gehören die „sichtbaren“ Kirchen, die Universität oder die öffentliche Kunst. Allgemeiner gesagt gehören dazu alle Formen des öffentlichen Lebens, die das richtige Selbstverständnis des Geistes ermöglichen und lebendig halten. Die Symbolik der kirchlichen Rituale, der religiös geprägten Denkmäler oder der stark metaphorischen, philosophischen Werke, wie die Freiheitsschrift und die Weltalter, ist in diesem Sinne politisch bedeutsam. Sie ist die Bedingung dafür, die richtige Beziehung zu Gott für viele Menschen möglich zu machen. Der Christ, der zur Erweiterung des politisch Guten beitragen möchte, soll deswegen die Gültigkeit dieser Symbolik schützen und die Produktion neuer, die Individuen und die Völker integrierender Symbole fördern. Dies ist seine Form, das Böse zu bekämpfen. In diesem Sinne ist die Freiheitsschrift politische Philosophie: Die Vielheit der Menschen kann auch dann zur Einheit kommen, wenn diese verstehen, was sie wirklich sind, indem jeder von ihnen Gott in der Tiefe seines Bewusstseins entdeckt. Die christlich-theosophische Symbolik sollte eine universelle Glaubensgemeinschaft hervorbringen, die gegen die Versuchungen aller Partikularismen und aller Formen von Militarismus gefeit war. Dies ist die Hoffnung Schellings und seine eigene, sonderbare Form von politischem Handeln.
D. Schlussbemerkungen I. Ausblick Wenn die Menschen wissen wollen, was wahrhaft gut ist, können sie nicht umhin, an das Unbedingte zu denken. Die Menschen streben mehrfache Güter (Anerkennung, Wohlstand, Lust, Reichtum) an, aber, da sich diese als partielle und vorübergehende Formen des Glücks erweisen, bringen sie keine Fülle und folglich keine Stille mit sich. Jeder Wunsch birgt in sich die Suche nach Glück, sodass das Scheitern jedes Versuchs, es zu erreichen, zu einem sich immer wieder wiederholenden Beginn der Suche führt. Diese Unruhe kann aber überwunden werden, wenn es etwas gibt, das – wörtlich – nichts zu wünschen übrig lässt. Sind die Wünsche der Menschen derart an Gedanken gekoppelt, dass das Streben mit einer mehr oder weniger deutlichen Vorstellung dessen, was man anstrebt, verbunden ist, soll dasjenige, das alle Wünsche erfüllt, die Form eines Gedankens annehmen können. Dieser Gedanke kann aber nicht auf etwas bezogen sein, das nicht unbedingt ist, weil in diesem Fall die Möglichkeit offen wäre, dass es höhere Gedanken gäbe, die anderen, nicht von jedem Gedanken umfassten Wünschen entsprechen. Dieser Gedanke soll deswegen nur eines zum Bewusstsein bringen: das Unbedingte. Ist das Gute dasjenige, das nichts zu wünschen übrig lässt, ist er dann von dem Gedanken oder der Idee des Unbedingten untrennbar. Die Idee des Unbedingten ist aber eine Herausforderung für das Denken, weil alles, womit dieses gewöhnlich zu tun hat, begrenzt ist und sich dementsprechend von etwas anderem unterscheidet. Die sich voneinander unterscheidenden Dinge sind nicht das Unbedingte, aber, wenn sich derjenige, der an sie denkt, selbst von ihnen unterscheidet, kann er auch nicht das Unbedingte sein, weil er auch als Denker etwas Begrenztes ist. Das Unbedingte soll etwas sein, das jenseits dieser Unterscheidungen ist, aber keine Einheit ist, die sich von ihnen abgrenzt, weil es in diesem Fall dasjenige wäre, das sich von den Unterscheidungen unterscheidet. Es soll dann eine Einheit sein, die mit diesen Unterscheidungen eins ist. Diese Einheit kann All-Einheit genannt werden. Das Unbedingte, das getrennt von dem, was nichts zu wünschen übrig lässt, undenkbar ist, ist daher eine All-Einheit, in der sowohl die sich voneinander unterscheidenden Dinge als auch die Unterscheidung des Denkers von den Dingen einbezogen sind. Die Idee des Unbedingten ist daher zwar eine von jemandem, der daran denkt, aber sie ist eine Idee, in der der Denker auch als Teil des Zusammenhangs der Unterscheidungen und folglich der Vielheit gedacht wird. Derjenige, der an die All-Einheit denkt, ist selbst ein Teil derselben. Denken bedeutet hier nicht, etwas Äußeres zu repräsentieren, sondern sich in eine Position zu versetzen, in der die Unterscheidung zwischen Innerem und Äußerem reflektiert wird. Das heißt nicht, dass es kein Inneres gibt, sondern einfach, dass es auch bedingt ist
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D. Schlussbemerkungen
und folglich keine Begründungsfunktion beanspruchen kann. Das Innere, das sich dem Äußeren entgegensetzt, soll transzendiert und als etwas Begründetes gesetzt werden, damit die All-Einheit begriffen werden kann. Sie ist nicht ein Gegenstand des Denkens, sondern vielmehr sein Grund. Die All-Einheit zu denken heißt, den Grund des Denkens zu denken. Die Idee der All-Einheit, die mit dem Guten zusammenhängt und vom Denken verlangt, sich selbst zu transzendieren, nennt Schelling „Gott“. Die Metaphysik ist für Schelling Theologie, sofern jene versucht, das Unbedingte zu denken. Gott ist die Einheit, die sich nicht der Vielheit entgegensetzt, sondern mit ihr eins wird. Gott ist daher die Totalität. In diesem Sinne spricht Schelling in der Freiheitsschrift von Pantheismus. Einssein bedeutet aber nicht, den Unterschied zwischen Gott und den endlichen Dingen zu vernichten. Die Freiheitsschrift fängt deshalb mit der Erklärung an, warum der Pantheismus nicht die Differenz zwischen Gott und den Dingen verwischt. Schelling zeigt, dass alles, was ist, in Gott ist, aber nicht deswegen Gott gleich ist. Das Fundament dafür liegt nicht allein darin, dass jedes einzelne Ding nicht die Totalität ist, sondern dass das, aus dem die Vielheit der einzelnen Dinge entsteht, Gott als Grund ist. Alle Dinge sind Ausdrücke Gottes, weil sie in einem gewissen Grad die Selbstständigkeit Gottes zur Erscheinung bringen, aber sie sind von Gott unendlich unterschiedlich. Um diese doppelte Beziehung zu Gott zu begreifen, soll man etwas denken, das in Gott ist, aber nicht er selbst als Totalität ist. Der Grund ist zwar Gott, aber Gott, sofern er sich nicht als Totalität setzt. Ist der Grund oder, anders gesagt, das Grundsein, eine erste Eigenschaft Gottes, hängt sie mit dem Problem zusammen, wie die Vielheit der Dinge von Gott unterschiedlich und zugleich mit ihm eins sein können. Der Grund ist auf diese Weise ein Prinzip, das das Denken begreifen soll, falls es anstrebt, die Einheit der Einheit und der Vielheit zu begreifen. Die Vielheit ist immerhin von der Einheit unterschiedlich und deswegen ist es notwendig, diesen Unterschied in Gott zu begründen. Die endlichen Dinge sind von Gott unterschiedlich, weil sie sich voneinander unterscheiden und weil sie zur Ebene des unendlichen Werdens oder der Natur gehören. Der Grund ist aber nicht die Totalität und deswegen soll man nun an das denken, was Gott ist, aber nicht Grund ist. Die Negation des Grundes ist Gott als Existenz. Ist der Grund ein unendliches Werden, ist die Existenz das Fertige, Aktuelle, Stabile, zur Form Gekommene. Die Existenz setzt den Grund voraus, aber sie setzt sich im Gegensatz dazu. Der Grund und die Existenz sind in Gott gleich ewige Prinzipien, die sich gegenseitig bedingen, aber in der Ordnung der Selbstdarstellung Gottes und in der Nachbildung dieses Prozesses im Denken, die wir hierbei zusammenfassen, ist die Existenz das Zweite. Gott als Existenz, deren Kern der Verstand Gottes ist, erscheint daher als eine Stabilisierung des Werdens. Die Existenz tritt daher als eine Negation des Grundes auf und mithin als ein Prinzip, das etwas anderes ausschließt und nicht die Totalität selbst ist. Sucht das Denken die Totalität selbst zu begreifen, soll es ein drittes Prinzip geben, das als solches weder Grund noch Existenz ist, aber beides zusammenhält. Ist der Grund das, was nicht die Totalität ist, und ist die Existenz das, was nicht Grund ist, ist das Dritte die Totalität, die ihre Negation und die Negation
I. Ausblick
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ihrer Negation in sich selbst enthält. Das Dritte ist auf diese Weise die Einheit des Grundes und der Existenz, des Werdens und der Form; es ist die Einheit, die sich von beiden Prinzipien unterscheidet und sie zugleich als Momente ihrer selbst setzt. Sind keine anderen denkbaren Prinzipien möglich, ist das Dritte, also Gott als Geist, der Endpunkt der Bewegung des Denkens in seinem Anspruch, das Unbedingte auf der Basis der Faktizität der Vielheit zu begreifen. Der Geist ist Endpunkt und Anfangspunkt eines ontologischen Prozesses. Der Geist ist eine sich selbst vermittelnde Totalität, die sich allmählich und durch die freiwillige bzw. kontingente Artikulation ihrer eigenen Momente, nämlich des Grundes und der Existenz, als Totalität offenbart. Schelling thematisiert die Selbstvermittlung der Totalität im Rahmen einer Schöpfungstheorie. Der Gottesbegriff der Freiheitsschrift ist das Resultat des Anspruches des Denkens, das Unbedingte zu begreifen. Grund, Existenz und schließlich Geist sind reelle Aspekte von Gott selbst und deshalb sind sie ontologische Prinzipien, aber sie sind auch die Kategorien, durch die das Denken das Unbedingte differenziert auffasst. Durch diese Kategorien kann der Konstitutionsprozess aller endlichen Dinge erklärt werden. Die Schöpfung ist das ontologische Korrelat des sich selbst bereichernden Zusammenspiels dieser Kategorien. Daraus resultiert, wenn man dieser Ontologie einen Namen geben möchte, ein dynamischer psychophysischer Monismus. Die Freiheitsschrift vertritt in dieser Hinsicht eine Position, die im Gegensatz zum „Realismus“ allem, was ist, Selbsttätigkeit zuschreibt, aber im Gegensatz zum „Idealismus“ eine materielle, nicht begriffliche Basis jeder Selbsttätigkeit, d.i. ein Gesetzsein, das jeder Selbstentfaltung der Dinge vorliegt, voraussetzt. Alles, was in der Welt vorkommt, besitzt die Spontaneität und Anfänglichkeit des Ichlichen, aber diese Selbsttätigkeit ist nicht in der Lage, die Faktizität des Selbst zu begründen. Alle Dinge sind schon innerhalb eines bestimmten Handlungsspielraums gesetzt, bevor sie sich durch ihre eigene Tätigkeit entfalten. Der Grund bezeichnet auf dieser Ebene diese passive Dimension des Selbstseins, die jedes gestaltende, formende Verhalten einer Entität zu sich selbst ermöglicht. Dasjenige, was Schelling durch den Gegensatz zwischen „Realismus“ und „Idealismus“ denkt, ist nicht die Beziehung zwischen dem menschlichen Bewusstsein und den Dingen, sondern es sind die Theorien, welche die Individuation aller reellen Dinge entweder auf ein dingliches Substrat oder auf eine intelligible Tätigkeit zurückführen. Seine Lösung besteht darin, einen Mittelpunkt zu formulieren, aus dem sowohl das „Reelle“ als auch das „Ideelle“ resultiert. Das Sein, wie Schelling in seiner Analyse der Funktion der Kopula in jedem Urteil zeigt, ist eigentlich das, was sich einerseits als reell (Subjekt) und anderseits als ideell (Prädikat) zeigt. Alle Naturdinge haben deswegen eine materielle (Stoff und Leib) und eine ideelle Seite (Seele) und keine kann rein materiell oder rein immateriell sein. Das Resultat ist eine Art psychophysischer Monismus, in dem das „Physische“, d.i. das Natürliche, nicht wie bei Spinoza mechanistisch konzipiert wird, sondern vielmehr lebensphilosophisch, also als Trieb, Drang, Sehnsucht. Die Natur ist auf diese Weise
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D. Schlussbemerkungen
der Gesamtzusammenhang der Dinge als autonome Entitäten, die, durch seine eigene Tätigkeit seine eigene Form erhaltend, sich selbst organisieren und auf einer nicht vollkommen beherrschten, ihrer formgebenden Tätigkeit vorausliegenden, lebendigen Materialität gründen. Die Geschichte, also der zweite grundlegende innerweltliche Seinsbereich, ist ebenso der Gesamtzusammenhang der Völker als relativ selbstständigen Ordnungen, deren Form ihren Sitten, ihrer Sprache und vor allem ihren religiösen Vorstellungen jeweils entspricht und deren Materialität auf das Territorium und mithin auf die tendenziell alle Grenzen auflösende Kraft des Raums verweist. Die Organismen, die Völker und jeder Mensch, der zu beiden Seinsbereichen gehört, können durch dieselben Kategorien beschrieben werden. Da die Schöpfung nichts anderes als der Prozess ist, durch den sich der Geist als Totalität offenbart, hat die Entwicklung der Natur und die der Geschichte einen Endpunkt. Dort, wo sich der Geist in der Welt adäquat ausdrückt oder reflektiert, endet die Spannung zwischen dem Grund und der Existenz. Die Natur und die Geschichte tendieren dazu, einen stabilen (doch hierarchischen) Zustand zu erreichen. Im Fall der Entwicklung der Natur handelt es sich dabei um die Schöpfung des Menschen als Persönlichkeit. Im Fall der Geschichte handelt es sich um die Artikulation aller Völker in der Form eines Reiches. Hat der Mensch das Wesen Gottes begriffen und ist Gott als Geist das Resultat des Anspruches des Denkens zu einer Idee zu kommen, welche der praktischen Anforderung entspricht, innere Fülle und Stille zu erreichen, treten die Persönlichkeit und das Reich als innerweltliche Erscheinungen des göttlichen Geistes auf, die mit dem Guten selbst zusammenfallen. Das Gute zu verwirklichen heißt, freiwillig zu der vollständigen Offenbarung Gottes beizutragen. Das Gute setzt die Arbeit der Vernunft voraus, das Unbedingte begriffen zu haben, aber es soll auch gewollt werden. Das durch die Vernunft Erkannte soll freiwillig bejaht werden. Die Religiosität ist nichts anderes als die Entschlossenheit, sich in allen Bereichen des Lebens und trotz des Wechsels der Umstände und der Absichten an dem Erkannten zu orientieren. Der Glaube an Gott ist kein bloßes Gefühl, sondern ist die Tätigkeit, sich das Produkt der Arbeit der Vernunft ständig zu vergegenwärtigen und alle Handlungen unmittelbar daraus entstehen zu lassen. Das sittliche Leben, das folglich ohne eine die Grenzen des Innerweltlichen transzendierende Denkerfahrung nicht möglich ist, kann sich durch einzelne Handlungen ausdrücken, aber es besteht grundsätzlich in der Bildung und Erhaltung einer Grundgesinnung, die alle einzelnen Akte prägt. Ist jeder geborene Mensch böse, besteht die einzige wirklich entscheidende Handlung in dem freiwilligen Übergang vom Bösen zum Guten. Das sittliche Leben ist das Resultat einer Bekehrung, die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt vollzieht, aber deren Wirkungen vom Zeitverlauf unabhängig sind. Ist bis zu diesem Punkt das Leben eines Menschen dadurch ausgezeichnet, sich vom Rest der Dinge abzusetzen, und sie als Gegenstände anzusehen, welche die Entfaltung der eigenen Tätigkeit verhindern, bringt das religiöse Leben einen Perspektivwechsel mit sich, demzufolge jeder Mensch seinen Egozentrismus überwindet und sich als ein Durchgangsmoment eines ihn und alle Dinge transzendierenden Prozesses ansieht. Das Böse ist eine Form des Geistes und folglich hat
I. Ausblick
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der böse Mensch einen Bezug zur Totalität, aber er erreicht nicht die Ruhe und den Vollendungszustand, der den vollständigen Erscheinungen Gottes entspricht. Das Böse ist deswegen ein Grundwerden des Geistes, weil dieser sich hierbei in den Grund eines neuen Prozesses verwandelt. Nur das Gute drückt Gott adäquat aus und Gott erhebt sich über alle Unterscheidungen und Gegensätze. Der religiöse Mensch ist der, der die Totalität denken kann und sich selbst deswegen nicht als Grund der Welt ansieht. Die Idee Gottes zu begreifen und den Egozentrismus zu überwinden, ist ein und dasselbe. Das Gute kann nun auf der Ebene des Individuums oder der Gemeinschaften auftreten. Die Verwandlung des Menschen in eine Persönlichkeit durch die Angleichung an Gott ist die sittliche Dimension der Freiheitsschrift. Die Verwandlung der Vielheit der Menschen in eine religiöse, überstaatliche Gemeinschaft ist ihre politische Dimension. Das summum bonum betrifft in diesem Fall die ganze Menschheit. Persönlichkeit und Reich sind das Produkt des Glaubens als entschlossene Hingabe an den durch die Vernunft erkannten Gott. In beiden Fällen handelt es sich um eine Abbildung des göttlichen Geistes, weil sowohl die menschliche Persönlichkeit als auch das „neue Reich“ der Ganzheit, innerlicher Ausdifferenzierung, Vollendetheit, schöpferischer Selbstbezogenheit und innerlicher Ordnung des Geistes entsprechen. Das Grund-Werden des menschlichen Geistes, also das Böse, manifestiert sich hingegen als eine Isolierung des Besonderen, eine Entdifferenzierung des Ideellen und des Reellen, eine Unfähigkeit, von der Potenz zum Akt überzugehen, eine Enthierarchisierung der Kräfte und ein Selbstwiderspruch des Geistigen. Sittlich gesehen führt dies jeweils zur Instrumentalisierung der Vernunft, der Isolierung des Individuums vom wahren Ganzen, der ständigen Unerfüllbarkeit der eigenen Ziele, der Unfähigkeit, stabile Präferenzen zu haben und dem Konflikt mit den eigenen Wünschen. Gesellschaftlich-politisch gesehen drückt sich das Böse als Bildung von Ideologien und Imperialismus (die Einheit der Menschheit im Dienst eines besonderen Volkes) aus, als Individualismus und Ultranationalismus, als Wachstumsbesessenheit und Krieg (der immer wieder scheiternde Versuch einzelner Völker, eine Einheit zu bilden), als Demokratisierung und Kampf um die politische Hegemonie und schließlich als blinde Industrialisierung und Einheit zwischen den Völkern durch Zwang. Das Gute ist die Überwindung des Bösen und dementsprechend der fünf erwähnten Merkmale desselben. Das sittlich Gute besteht in der Scheidung des Ideellen von dem Reellen in der Form der Selbstdistanzierung (das Bewusstsein der Sterblichkeit befreit den Menschen von falschen, mit der Natur vermischten Idealitäten), der Integration des Individuums in das Ganze, der Entschlossenheit, alle Ziele der Schau des Ganzen unterzuordnen, der Selbstbildung (der allmählichen Verwandlung der eigenen natürlichen Kräfte in ein Werkzeug der Vernunftanschauung) und der Harmonie zwischen Vernunft und Gefühl. Das politisch Gute ist die Betrachtung der Religion bzw. des christlichen Monotheismus als die einzige legitime Form von Universalismus, die Bildung und Erhaltung eines organizistisch strukturierten Staates und vor allem der transnationalen Einheit der Völker, also eines christlichen Bundes, die Betrachtung dieses
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D. Schlussbemerkungen
friedlichen Bundes als einzigem Endpunkt der Geschichte und die Orientierung aller Handlungen an diesem Ziel, die allmähliche Überwindung der eventuellen Herrschaftsansprüche einzelner Völker durch die Ausbreitung des christlichen Glaubens und die Erlösung der Natur und die Befreiung der Gemeinschaft von jedem Zwang. Das sittliche und das politische Leben sollen sich aus der Sicht Schellings ausschließlich an dem Guten orientieren und das Gute ist die freiwillige Bildung von Ordnungen, welche die absolute Selbstständigkeit Gottes abbilden. Nur die Autarkie der Persönlichkeit und eine friedliche Weltgemeinschaft erfüllen diesen Anspruch. Beide sind aber kontingent, eben deswegen, weil sie geistig sind. Die Entstehung des sittlich oder politisch Guten kann nicht erzwungen werden, ohne sich selbst zu zerstören. Gott selbst fordert den Menschen zum Guten auf, aber die Antwort hängt von der Willkür der Menschen ab. Die Entstehung einer Einheit der Kräfte des Einzelmenschen oder einer Einheit der Völker ist nur wirklich geistig, wenn sie auch hätten nicht geschehen können. Metaphysisch zu denken ist für Schelling eine von Anfang an sittlich geprägte Denkerfahrung. Gott ist die Idee, die es jedem einzelnen Menschen ermöglicht, alle Wünsche und Interessen zu artikulieren, alle Bedürfnisse zu befriedigen und sich vom relativen Einfluss der Umstände oder anderer Menschen auf die eigenen Handlungen zu befreien. Die Idee Gottes ist die Bedingung sine qua non der Selbstsammlung, der inneren Ruhe und der geistigen Autarkie. Die Metaphysik ist in dieser Hinsicht die notwendige Propädeutik einer anspruchsvollen Gesinnungsethik. Die Suche nach Einheit, die dem Gedanken des Unbedingten zugrunde liegt und folglich das metaphysische Denken motiviert, kann aber andere Formen annehmen, die andere sittliche und politische Folgen haben. Das metaphysische Denken kann versuchen, über der All-Einheit eine noch grundlegendere Einheit zu enthüllen, die sich nicht als eine organische Artikulation verschiedener Momente zeigt und daher die Selbstbezogenheit Gottes transzendiert. Dies ist im Rahmen der Freiheitsschrift möglich, weil die Analyse der Grundprinzipien des Seienden in ihrer vorweltlichen Form auf eine Einheit verweist, die sich als solche nicht an dem Konstitutionsprozess der Welt beteiligt. Diese Einheit, welche überkategorial ist und sich dem Denken nur als Produkt der Negation aller kategorialen Bestimmung zeigt, nennt Schelling Ungrund. Sie ist das, was nicht etwas Anderes begründet und was folglich nicht als ein Prinzip betrachtet werden kann. Der Ungrund ist aber nicht das, was nicht Prinzip ist, oder die Grundkategorien negiert, weil er es nur vom Standpunkt des begründenden und kategorialen Denkens ist. Der Ungrund kann zwar durch eine dialektische Erörterung der Grundprinzipien apophatisch gezeigt werden, aber sie wird seiner Ursprünglichkeit nicht gerecht. Um des Ungrundes ohne Verzerrungen innezuwerden, sollte das Bewusstsein eine vollkommen ungeteilte, gestaltlose Leere erfahren. Jede Reflexionsform verbannt die Erfahrung des Ungrundes. Vom Standpunkt des kategorialen Denkens aus, das einige minimale Unterscheidungen voraussetzt, fällt die Erfahrung des Ungrundes mit seinem eigenen Scheitern zusammen. Der epistemischen Unterscheidung zwischen dem kategorialen Denken und dem überkategorialen Denken entspricht der Unterschied zwischen Urgrund und
I. Ausblick
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Ungrund. Die Freiheitsschrift endet in einem gewissen Sinne mit einem metaphysischen Dualismus, weil Gott und das Übergöttliche, der Ungrund, nicht aufeinander reduzierbar sind und von nichts Höherem verbunden werden können. Der Ungrund impliziert nicht nur die Negation jeder Relation, sondern geht über diese Negation hinaus, weil er nur aus der Perspektive eines Denkens, das Relationen verwendet, seine Negation ist. Der Ungrund ist dasjenige, das nicht ein Anderes als Grenze hat und diese Abwesenheit des Anderen ignoriert. Von dieser Perspektive her kann nur von einem absoluten Monismus die Rede sein. Die Freiheitsschrift endet daher mit der Spannung zwischen Dualismus (wenn man mit einer minimalen, kategorial fassbaren Unterscheidung anfängt) und Monismus (wenn man mit dem Ungrund anfängt). Die Zweideutigkeit der Indifferenz verweist darauf. Das Unbedingte kann zwei Formen annehmen. Erhebt sich aber das Denken bis zur Ebene des Ungrundes, also zur Ebene über Gott hinaus, verlässt es auch seinen Bezug zum Guten. Das Gute ist immer auf Gott, d.i. auf die All-Einheit bezogen. Obwohl die absolute Einheit nicht die Selbstständigkeit eines gottgemäßen Lebens relativiert, weil alle innerweltlichen Entitäten und alle Prinzipien, die die Welt konstituieren, durch die Idee Gottes umfasst werden, und weil es nichts gibt, das von diesem Standpunkt aus vermisst werden könnte, verwandelt der Ungrund die Hingabe an Gott in eine Haltung, die die Grenzen der Totalität ignoriert. Der Gott der Freiheitsschrift ist nicht die absolute, begrifflich nicht einholbare Einheit, und deswegen wird das Gute, das sich ausschließlich an Gott orientiert, von einem latenten Nichtwissen durchzogen. Ist das kategoriale Denken das Denken, das zur Idee Gottes kommt, ist das Übergöttliche nicht begrifflich einholbar. Der Ungrund sagt daher nichts darüber, was der Mensch wissen soll, um sein Leben zu führen, sondern er deutet nur an, dass es etwas gibt, das der Mensch nicht weiß, und dass dieses Nichtwissen für seine Lebensführung relevant ist. Die absolute Transzendenz des Ungrundes entzieht sich jeder begrifflichen Bestimmung, weshalb sie sowohl auf einer sittlichen als auch auf einer politischen Stufe eher ein Grenzbegriff ist, der jede mögliche Idee von Vollkommenheit außer Kraft setzt und sich als ein inhaltlich nicht bestimmbarer Leerplatz des sittlichen und politischen Lebens zeigt. Die absolute Transzendenz zeigt sich als ein unaufhebbares Nichtwissen, das gegen jeden Versuch des Menschen, die absolute Erlösung zu erreichen, und gegen die politische Schwärmerei bzw. gegen jede Form von Utopismus gerichtet ist. Der Mensch kann einerseits eine Persönlichkeit werden, aber es bleibt die Frage offen, was dem Menschen passieren würde, wenn er nicht die Spannung zwischen der Selbstheit und dem Vernünftigen ertragen sollte, und sich folglich von dem Entschluss, die richtige Beziehung zwischen beiden Prinzipien zu erhalten, befreien könnte. Der Mensch kann andererseits dazu beitragen, dass das neue Reich entsteht, und er kann dem geschichtlich Bösen Grenzen setzen, aber er kann nicht voraussehen, wie das Zusammenleben der Menschen wäre, falls die Spannung zwischen Krieg und Frieden, Staaten und Kirche verschwinden würde. Das politisch Gute ist selbst ein Aufschub dieses Nichtwissens. Ist die Metaphysik der Versuch, das Unbedingte zu denken, führt sie deswegen einerseits zu einer letzten Gewissheit in
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D. Schlussbemerkungen
der Form eines Wissens um die Totalität, die sich sittlich in den Denkinhalt verwandelt, der es dem einzelnen Menschen ermöglicht, nicht egozentrisch, selbstständig, frei von der Unruhe der Wünsche, innerlich produktiv und in Einklang mit sich selbst zu sein. Politisch gesehen hängt dieses Wissen damit zusammen, dass dank der inneren Verwandlung der Einzelmenschen alle Nationalstaaten Teile einer Weltgemeinschaft werden, die Einzelmenschen sich hauptsächlich der Menschheit zugehörig fühlen, die von imperialistischen Interessen motivierten Kriege aufhören, die hegemonialen Ansprüche der Nationalstaaten immer mehr gebändigt werden und Staat und Kirche und Mensch und Natur harmonieren. Sind die Gedanken der Menschen dasjenige, das ihr Leben beherrscht, ist die Idee Gottes die Bedingung für diese Transformation jedes Einzelmenschen und jeder wahren Gemeinschaft. Das Unbedingte kann aber derart gedeutet werden, dass es mit der absoluten Einheit identifiziert wird. Es kann, wenn man sie in eine religiöse Sprache übersetzen möchte, die Form des Übergöttlichen oder die einer unergründlichen Gottheit annehmen. Die Metaphysik kann deshalb andererseits zu einer letzten Ungewissheit führen, weil die absolute Einheit bezüglich der Lebensführung nichts anderes als ein Nichtwissen ist. In der Freiheitsschrift ist es klar, welche Deutung des Unbedingten das Primat hat. Gott, und folglich das Gute, ist ihr Zentrum. Wenn der Mensch mittels der Philosophie die Ebene der absoluten Einheit erblickt hat, wird er nicht der Versuchung erliegen, seine Gesinnung infrage zu stellen. Dieser Mensch kann nur sagen: quae supra nos, nihil ad nos. Wenn die Rückkehr des Ungrundes geschieht, wird er dies mit Erstaunen aufnehmen, aber er wird nicht sein Leben daran orientieren. Sein Verhalten zu sich selbst und seine Hoffnungen als Mitglied einer Gemeinschaft werden nicht auf das Ankommen des Unvorhersehbaren angewiesen sein.
II. Die Aktualität des Schelling’schen Metaphysik-Verständnisses Die Metaphysik ist für Schelling Wissenschaft und Soteriologie zugleich. Gegen die zeitgenössische Reduktion der Metaphysik auf eine existenziell neutrale Ontologie, welche die Grundeigenschaften des Seienden auf der Basis der sprachlichen Bezugnahme auf die Dinge rekonstruiert, plädiert Schelling dafür, die Untersuchung der Grundeigenschaften des Seienden nicht von der Suche des Menschen nach dem Guten und von einer ihr entsprechenden Selbstbeschreibung des Menschen zu trennen. Jede Ontologie impliziert immer eine Selbstbeschreibung des Menschen in der Form der „ontologischen Reflexion“1, weil, wenn ihre Begriffe für alles, was ist, gültig sind, sie auch das Sein des Menschen betreffen. Sie kann aber diese Leistung verkennen und trotzdem das Selbstverständnis des Menschen beeinflussen. Schelling vermeidet systematisch diese Möglichkeit. In der Ontologie der Freiheitsschrift ist der Mensch kein Randphänomen. Schelling bedient sich einerseits der ontologischen 1
Fink, S. 733 – 741.
II. Aktualität des Schelling’schen Metaphysik-Verständnisses
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Beschaffenheit des Menschen, um die ontologische Beschaffenheit des Restes der Natur zu analysieren. Der Anthropomorphismus der Freiheitsschrift hat in dieser Hinsicht die methodologische Funktion, von der Erscheinung des Menschen her die Evolution der Natur retrospektiv zu begreifen. Wenn es in der Welt eine Entität gibt, welche die höchste Komplexität erreicht hat und diese Entität das Resultat einer allmählichen Komplexitätssteigerung ist und alle früheren Komplexitätsstufen in sich selbst sammelt, sollte man von ihr her die Eigenschaften aller anderen Entitäten deuten. Die Naturrevolution wird daher als die Entstehungsgeschichte des Menschen rekonstruiert. Andererseits ist die Suche des Einzelmenschen und der menschlichen Gemeinschaften nach einem Orientierungsprinzip, das Unbedingtheit beanspruchen kann, keine ontologisch irrelevante Tatsache, weil kein Weltbild, das diese Bedürfnisse ignoriert, anstreben kann, vollständig zu sein. Anders gesagt: Die Suche nach dem summum bonum ist der Beschreibung der Welt nicht äußerlich, weil sie auch zur Welt gehört. Es handelt sich bei Schelling folglich nicht um eine Ethisierung der Ontologie, sondern um eine Beschreibung der Welt, die u. a. das Grundprinzip des sittlichen und politischen Lebens einbezieht. Der Monismus der Freiheitsschrift erfüllt diesen Anspruch. Die Auffassung des Seins als Geist erlaubt es, alle Dinge als selbstbezogene, lebendige, innerlich differenzierte Entitäten zu beschreiben und zugleich den Orientierungspunkt des sittlichen und politischen Lebens aufzudecken. Die Reduktion der Metaphysik auf eine existenziell neutrale Ontologie bei einigen klassischen Autoren der analytischen Philosophie wie Strawson oder Quine und vielleicht im Mainstream derselben verkennt diese orientierende Funktion jeder Untersuchung der Grundeigenschaften des Seienden. Die Freiheitsschrift ist, wie W. Hogrebe gezeigt hat, mit einigen Voraussetzungen der analytischen Ontologie, also mit der Rekonstruktion der grundlegenden Konstitutionsbedingungen einer sinnvollen Erfahrung auf der Basis der Analyse der Struktur der Urteile verträglich. Schelling trennt aber nicht diese sprachliche Analyse von der Frage nach der besten Lebensführung. Das sittlich und politisch Erstrebenswerte ist für ihn zugleich das An-Sich der Dinge. Deshalb hat die Metaphysik für ihn ein existenzielles Gewicht, das zwar auch, wie der Fall Wittgensteins am deutlichsten zeigt, in das Programm der analytischen Philosophie einbezogen sein könnte, aber bei einigen klassischen, traditionsbildenden Autoren der analytischen Ontologie abwesend ist. Darüber hat H. Putnam zutreffend das Folgende gesagt: „Contemporary analytic metaphysics is in many ways a parody of the great metaphysics of the past. As Dewey pointed out, the metaphysics of previous epochs had a vital connection to the culture of those epochs, which is why it was able to change the lives of men and women, and not always for the worse. Contemporary analytic metaphysics has no connection with anything but the ‘intuitions’ of a handful of philosophers. It lacks what Wittgenstein called ‘weight’.“2 Die Auffassung der Metaphysik als eine repräsentative Tendenz der analytischen Philosophie kann deswegen als eine Version der kantischen Metaphysik beschrieben 2
s. Putnam, S. 197.
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D. Schlussbemerkungen
werden, die auf halbem Weg stehen bleibt. W. Carl hat gezeigt, wie die analytische Ontologie eine Fortsetzung des kantischen Verständnisses der Ontologie unter den Bedingungen des linguistic turn ist.3 Kant hat als Ontologie denjenigen Teil der Metaphysik benannt, der sich mit den Prinzipien der Konstitution der empirischen Gegenstände beschäftigt: „Die Ontologie ist diejenige Wissenschaft (als Teil der Metaphysik), welche ein System aller Verstandesbegriffe und Grundsätze, aber nur sofern sie auf Gegenstände gehen, welche den Sinnen gegeben und also durch Erfahrung belegt werden können, ausmacht.“4 Kant lehnt zwar „den stolzen Namen einer Ontologie“5 ab, aber nur um ihr eine bescheidenere Deutung zu geben und sie mit der transzendentalen Philosophie als Theorie der Bedingungen der Konstitution der Objekte zu identifizieren.6 Sie ist jedoch nur ein Teil der Metaphysik. Sie ist die „Propädeutik“7 der „eigentlichen Metaphysik“,8 die sich mit den absolut übersinnlichen Denkinhalten der Vernunft beschäftigt. Die „metaphysica specialis“ handelt so von Ideen wie Gott, Welt, Seele oder Freiheit, welchen nichts im Bereich der Erfahrung entspricht. Die Metaphysik ist so anfänglich die Untersuchung der Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung, aber sie kommt zur Vollendung nur dann, wenn sie die unbedingten bzw. nicht übersteigbaren Denkprinzipien erreicht, welche sich nicht auf die sinnlichen Anschauungen, sondern auf die Begriffe des Verstandes beziehen. Dieser Schritt ist notwendig, weil die Metaphysik, welche für Kant die Wissenschaft ist, „von der Erkenntnis des Sinnlichen zu der des Übersinnlichen durch die Vernunft fortzuschreiten“,9 die Transzendenz des Denkens gegenüber der Sinnlichkeit systematisch verfolgt und der konstitutiven Gebrauch der Kategorien des Verstandes jene nicht erschöpfen können. Die Vernunft tendiert zu einer Transzendenzbewegung, die nur mit unübersteigbaren Gedanken endet: „Das Interesse ihres spekulativen Gebrauchs besteht in der Erkenntnis des Objekts bis zu den höchsten Prinzipien a priori.“10 Die Ontologie der „Schulphilosophie“ ist nicht nur deswegen mangelhaft, weil ihre Begriffe nicht ein System bilden und folglich die Form einer „Rhapsodie“11 haben, sondern weil diese metaphysischen Lehren nicht zur Weisheit führen: „Daher wird die Erklärung der Metaphysik nach dem Begriff der Schule sein: sie ist das System aller Principien der reinen theoretischen Vernunfterkenntniß durch Begriffe“ und „sie enthält also keine praktischen Lehren der reinen Vernunft“.12 Aus der Sicht Kants erreicht die Metaphysik ihren „Endzweck“ nur dann, wenn sie, nach der Erklärung der Konstitution der Gegenständlichkeit der 3
Carl, S. 407 – 420. Kant, AA. Fort. VI, 590. 5 Ibid. KrV B 303. 6 Fulda, S. 51. 7 Kant, AA KrV B 869. 8 Ibid. AA Fortschritte. A, 10. 9 Ibid. XX, 315. 10 Ibid. AA KpV 253. 11 Ibid. AA Fortschritte IV, 48. 12 Ibid. XX, 261. 4
II. Aktualität des Schelling’schen Metaphysik-Verständnisses
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sinnlichen Objekte in Form einer Ontologie, zu vollkommen übersinnlichen, für das menschliche Handeln notwendigen Ideen von Freiheit, Unsterblichkeit der Seele und Gott gelangt. Das ist deswegen kein ihr fremder oder indirekter Inhalt, weil darin das Vollendungsmoment ihrer Entwicklung liegt. Eine repräsentative Strömung der analytischen Ontologie stimmt mit einigen methodologischen Prämissen des kantischen Verständnisses der Philosophie überein, indem sie trotz ihres Verzichtes auf die Begründungsfunktion des Subjekts auch anstrebt, die allgemeinen Möglichkeitsbedingungen einer sinnvollen Erfahrung auf der Basis der Analyse der wissenschaftlich gültigen Urteile oder der natursprachlich sinnvollen Sätze zu rekonstruieren, aber sie entfernt sich von dem kantischen Programm, weil sie die „Weisheit“, welche mit der Suche nach Einheit und mit der Mehrstufigkeit des Denkens (dem Unterschied zwischen Verstand und Vernunft) zusammenhängt, vernachlässigt. Von dem Gesichtspunkt Kants aus ist diese Vernachlässigung nicht legitim, weil alle philosophischen Fragen auf die Frage „Was ist der Mensch?“13 und mithin auf die Selbsterkenntnis bezogen sind, und weil die wissenschaftlichen Analysen der Philosophie letztendlich Mittel sind, um die Weisheit zu erreichen und um folglich die allgemeinsten und höchsten Interessen des Menschen vernünftig zu befriedigen.14 Die Ontologie kann sich so nicht verselbstständigen und jenseits der sittlich motivierten Selbstdeutung des Menschen operieren. Die Freiheitsschrift Schellings weicht aus diesem Grund nicht von diesem kantischen Programm ab. Sie kehrt die Perspektive Kants um, weil Gott nicht der Endpunkt, sondern der Anfang der Bewegung des Denkens ist und die metaphysica generalis von der metaphysica specialis abhängt, aber die Metaphysik zielt in der Freiheitsschrift auch auf die Weisheit ab und folglich auf eine existenziell bedeutsame Denkerfahrung. Unter anderen Gründen ist sie deswegen notwendigerweise Theologie. Die analytische Ontologie, die von kantischen Prämissen ausgeht, tendiert hingegen dazu, diese Dimension der Metaphysik Kants zu ignorieren. Andere Strömungen der zeitgenössischen Philosophie ignorieren nicht die „praktische“ Dimension der Metaphysik, doch einerseits verleihen sie dieser Dimension eine derartige Wichtigkeit, dass sie keine plausible Weltbeschreibung liefern, sondern ihre ethischen und politischen Ansprüche auf eine gewöhnlich skizzenhafte Sozialontologie projizieren, und dann versuchen, diese Regionalontologie als eine allgemeine Ontologie auszugeben. Das Resultat ist eine Übersetzung von normativen Erwartungen und Begriffen der Sozialtheorie in die abstrakte Terminologie der Ontologie und keineswegs eine Theorie der Welt, welche die Grundeigenschaften der Dinge überhaupt erklärt. Die Rede von einer „leftist ontology“15 zeigt z. B., worum es in solchen Theorien geht, also um eine politische Theorie und nicht um eine das Politische einbeziehende Theorie der Welt. Die Diskussionen über die Identität und die Differenz im Rahmen dessen, was im angelsächsischen Kul13 14 15
Ibid. Kant, AA Logik IX, 25. Wiehl, S. 288; s. auch: Wolf, S. 325. Kant, AA KrV A 850/ B878. Strathausen/Connolly, 2009.
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D. Schlussbemerkungen
turbereich als „post identity politics“ bezeichnet wird, die Diskussion über den Begriff „Grund“ bzw. über die Idee der Letztbegründung in einem Buch wie „Postfoundational political tought“ von O. Marchant16 oder über den Begriff „Potenz“ im Werk von A. Negri sagen mehr über die Suche der postmarxistischen Linken nach einer eigenen Sprache als über die allgemeine Struktur des Seienden aus. Diese Theorien bedienen sich der Terminologie und der Probleme der klassischen Metaphysik und ihrer Kritiker und beanspruchen gewöhnlich die Allgemeingültigkeit, die dem Abstraktionsniveau ihrer Begriffe entspricht, sind aber in Wirklichkeit außerstande, ihre Thesen für das Verständnis von Bereichen des Seienden jenseits des Politischen nützlich zu machen. Ihre Empfänglichkeit für die spekulativen Probleme kommt vom Bedürfnis, rein praktische Ansprüche begrifflich zu artikulieren, aber daraus resultiert keineswegs ein Weltbild. Im Gegensatz zur sittlichen und politischen Neutralität der Aneignung der Metaphysik in der analytischen Philosophie haben diese Theorien ein existenzielles Gewicht, aber sie können nicht mit der begrifflich raffinierten Rekonstruktion der allgemeinen Bedingungen der Erfahrung bei einigen Autoren der analytischen Tradition, geschweige denn mit den Weltbeschreibungen von Denkern wie Schelling ernsthaft konkurrieren. Andererseits zeichnen sich die Theorien, die sich für die sittliche und politische Bedeutung von Begriffen wie „Sein“ oder „Grund“ interessieren, dadurch aus, dass sie gewöhnlich die absolute Transzendenz überbetonen und daher in eine Art von unwillkürlichen Gnostizismus geraten. Typisch für den Linksheideggerianismus und für die an die „Negative Dialektik“ Adornos anschließenden Theorien ist ihr Misstrauen gegenüber der Kategorie „Totalität“. Sie wird in beiden Fällen mit der Idee einer „verwalteten Welt“, also mit der Herrschaft der Technik in der Spätmoderne verbunden. Der Argwohn gegen dieses historisch-gesellschaftliche Phänomen dehnt sich in diesen Theorien auf jede Form von Systematisierung und jede abgeschlossene Ordnung aus. Die Totalität ist für sie immer totalitär. Ihre sittlichen und politischen Hoffnungen verweisen dann darauf, was jenseits der Totalität ist. Das Jenseits der Totalität ist natürlich nichts, das innerhalb der Totalität erscheinen könnte, weil sie dann nicht die Totalität wäre, sondern soll etwas sein, das mit ihr nicht kommensurabel ist und nicht zu den Elementen derselben zu zählen ist. Sofern jede Ordnung, also jede Artikulation einer Vielheit innerhalb einer Totalität stattfindet, soll das Nicht-Kommensurable jenseits der Ordnung überhaupt sein. Es soll sich nur als Ataxie zeigen und soll jeden Kosmos bzw. jeden geordneten Zusammenhang transzendieren. Im Bereich des politischen Lebens heißt dies, dass keine politische Ordnung gut sein kann, weil alle Ordnungen etwas verkennen: das NichtKommensurable. Im Bereich des sittlichen Lebens kann es keine vollständige Selbstständigkeit geben, weil sie eine Verkennung der Transzendenz des Anderen ist. Jede Totalität und jede Form von Ordnung und Artikulation basiert von dieser Perspektive aus auf einer ursprünglichen „Gewalt“.17 Nur die absolute Transzendenz 16 17
Marchart, 2007. „La violence apparait avec l’articulation“ – sagt Derrida. Zitiert in Hobson, S. 37.
II. Aktualität des Schelling’schen Metaphysik-Verständnisses
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des Nicht-Kommensurablen ist davon frei. In diesem Rahmen knüpfen diese sich selbst als nicht metaphysisch beschreibenden Theorien an Probleme und Begriffe der klassischen Metaphysik und insbesondere an die Tradition der negativen Theologie an, die direkt oder indirekt sowohl Adorno als auch Heidegger schuldig bleiben. Schellings Ungrund gehört natürlich dazu, aber im Unterschied zu den Adorno- und Heidegger-Schülern ist die absolute Transzendenz bei Schelling nicht die einzige Quelle eines sittlich und politisch akzeptierbaren Lebens, weil er der Totalität und ihrer immanenten Ordnung eine positive Bedeutung verleiht. Die Abbildung einer selbstreferenziellen und produktiven Totalität, also der Geist, ist in der Freiheitsschrift die Bedingung des sittlich und politisch Guten. Der Ungrund transzendiert diese Totalität und hat auch eine praktische Funktion, die mit den erwähnten Theorien übereinstimmt, nämlich jeden Versuch, ein politisches System als unüberwindlich und perfekt zu betrachten zu verhindern und als ideologisch zu entlarven, aber Schelling gerät nicht in den Argwohn gegen die Totalität und die ihm entsprechende Nivellierung aller politischen Ordnungen18 und aller Formen von sittlicher Autarkie. Die Freiheitsschrift ist mit Ideen wie die nicht auf einer vorgängigen Selbstgewissheit begründete Verantwortung vor dem Anderen (Levinas und Derrida) oder mit der politischen Notwendigkeit, eine unaufhebbare An-archie19 oder Unvollständigkeit, welche den Grund jeder politischen und gesetzlichen Ordnung infrage stellt (Schürmann, Lefort, Laclau), zu postulieren, verträglich, doch sie ist weit davon entfernt, die Kategorie „Totalität“ und ihre sittlichen und politischen Folgen zu entwerten. Statt alle politischen Systeme als Manifestationen einer allgemeinen geistigen Verfallserscheinung anzusehen und das sittliche Leben von der Empfänglichkeit für ein anonymes Ereignis, das unvermeidlich an die christliche Gnade erinnert, vollständig abhängig zu machen, wie das bei dem späten Heidegger der Fall ist, ist Schelling der Ansicht, dass der Mensch dank seiner freiwilligen Nachahmung der lebendigen Totalität, die Gott ist, mit einem Kriterium rechnen kann, um sein Leben als Individuum und als Mitglied einer Gemeinschaft gemäß des Guten zu organisieren. Die Unberechenbarkeit der Rückkehr der Einheit des Ungrundes und die inhaltlich nicht bestimmbare Möglichkeit einer Gemeinschaft, die sogar das neue Reich transzendiert, sind in diesem Zusammenhang nebengeordnet. Schellings Metaphysik schließt sowohl die Konstruktion eines spekulativen Weltbildes als auch den Rahmen, um das gute Leben zu erreichen, ein. Die lebendige Totalität, also Gott als Geist, ist das Einzige, das eine vollständige Weltbeschreibung und ein sittlich und politisch gelingendes Leben ermöglicht. Einige zeitgenössische Denker, die keineswegs für die Wichtigkeit der absoluten Transzendenz unempfindlich sind, haben an dieses Programm der Metaphysik Schellings angeknüpft. Diese Kontinuität zwischen ihren Theorien und dem Denken Schellings impliziert nicht, dass sie sich Punkt für Punkt an ihm orientieren oder dass Schelling ihr wichtigstes Vorbild ist. Sie stimmen aber mit dem Geist der Metaphysik Schellings 18 19
s. White, S. 87. Schürmann, S. 357 – 368.
198
D. Schlussbemerkungen
überein und können folglich auch als Erben der klassischen Metaphysik gelten. Aufgrund dieser Affinität ist es möglich, einige Thesen der Freiheitsschrift in die Begriffe dieser Denker (Dieter Henrich, Hans Jonas und Eric Voegelin) zu übersetzen. Sofern diese Thesen eine Bedeutung für das sittliche und politische Leben haben, können sie als Beispiele der Aktualität der sittlichen und politischen Dimension der Metaphysik Schellings gelten. 1. Henrich, Jonas und Voegelin als Erben Schellings a) Dieter Henrich versteht die Metaphysik als eine integrative, d. i. einheitssuchende Selbstverständigung des Subjektes durch „letzte Gedanken“ (Gott, Welt, Sein, Absolutes u. a.). Henrich geht davon aus, dass das menschliche Leben immer von verschiedenen, in Gang gesetzten Selbstbeschreibungen begleitet ist. Die Metaphysik setzt so immer eine tendenziell konfligierende oder mindestens unzusammenhängende Vielfalt der Verstehensweisen voraus, sodass sie letztendlich aus dem Konflikt und der Disparität im bewussten Leben entspringt: „Es ist die Gegenläufigkeit dieser gleich legitimen Aspekte seiner selbst, in der sich im bewussten Leben die Dimension öffnet, in der sich die Konflikte seiner Selbstinterpretationen entfalten und in der sie zu einem in sich einheitlichen Lebensverständnis und Lebensweg durch unverzichtbare Erfahrungen und Spuren von Einsicht gebracht werden müssen.“20 Mit Hegel übereinstimmend kann Henrich auch sagen, dass die Stunde der Philosophie diejenige ist, in der der Zusammenhang im menschlichen Leben zugrunde gegangen ist. Spekulativ zu denken heißt, widersprüchliche oder voneinander abstrahierte Selbstbeschreibungen zu integrieren, also die Totalität zurückzugewinnen. Eine der zentralen Gegensätze im bewussten Leben ist die gleichzeitige Existenz des Menschen als „Person“ und als „Subjekt“. Der Mensch ist eine „Person“, sofern er sich selbst als ein Einzelding unter vielen Einzeldingen versteht. Dies ist möglich, weil alles, was ist, gemäß der ontologischen Voraussetzungen seines Grundverhältnisses zur Welt ein Einzelding ist, das innerhalb einer Ordnung besteht. Diese minimale Ontologie ergibt sich aus der Auffassung des Denkens als Urteilen bzw. als eine prädikative Bezugnahme auf Gegenstände. Denkt der Mensch seine eigene Existenz von diesem Standpunkt aus, ist sie die Instanziierung einer allgemeinen Eigenschaft, welche für eine Menge von Einzeldingen gilt. Obwohl der Mensch sich selbst in diesem verobjektivierenden Denkrahmen verorten kann, kann er aber sich selbst nicht dadurch adäquat verstehen, weil er sich wegen der Besonderheit des Wissens von sich immerhin als eine Ausnahmeerscheinung betrachtet. Das liegt daran, dass dasselbe Bewusstsein, das ständig auf Gegenstände Bezug nimmt, zugleich von sich selbst weiß. Sofern dieses Wissen nicht nur partikuläre, innere Zustände betrifft, sondern aufgrund seiner Fähigkeit, sich selbst jedes Urteil zuzuschreiben, mit jedem Urteil zusammenfällt, kann er nicht umhin, sich als Zentrum der Welt und folglich als Quelle seiner Ordnung zu sehen, d. i. sich selbst als 20
Henrich (1982), S. 158.
II. Aktualität des Schelling’schen Metaphysik-Verständnisses
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„Subjekt“ zu betrachten: „Das natürliche Selbstverständnis des selbstbewussten Wesens ist von Grund aus durch diese Doppelung bestimmt. Die Selbstbeschreibung als Person und die Selbstauffassung der Subjektivität sind nämlich gegenläufig zueinander. Das natürliche Selbstverstehen hat keinen Weg, sich über einen Einheitssinn in dieser Doppelung verlässlich zu verständigen. Ebensowenig kann es sie aber auf sich beruhen lassen. Sie liegt den gegenläufigen Lebenstendenzen zur Selbsterhöhung und Selbstbegrenzung, zu Egozentrizität und Hingabe zugrunde.“21 Der Gegensatz zwischen „Person“ und „Subjekt“ bezieht sich trotz der Verschiedenheit seiner Begründung auf dieselbe existenzielle Spannung, die Schelling mit den Begriffen „Persönlichkeit“ und „Subjektivität“ bezeichnet. Als Persönlichkeit versteht sich der Einzelmensch als Teil eines Ganzen und folglich erfährt er dabei seine Endlichkeit. Sofern der Mensch böse ist – und Schelling sieht die Verabsolutierung der endlichen Subjektivität als das Böse – versteht sich der Mensch hingegen als Zentrum der Welt. Von der Perspektive der egozentrischen Haltung her ist die Selbstgegenwart des Ego eine unhintergehbare Tatsache und die Dinge sind nur das von ihm Vorgestellte. Die Gegenstände existieren nur als intentionale Korrelate des menschlichen Denkens und es mangelt ihnen an jeder Selbsttätigkeit. Das Sein des Seienden ist die Selbstgewissheit des Ego, das beim Denken seine Präsenz auf das Vorgestellte in einem beschränkten Grad überträgt. Das Ego übernimmt hierbei die Rolle Gottes und verwandelt sich in das höchste Seiende. Die Existenz anderer Dinge leitet sich von ihm ab. Unter diesen ontologischen Voraussetzungen, die den „subjektiven Idealismus“ ausmachen, ist die Welt das Ganze der möglichen Vorstellungen des Ego und deshalb gehört dieses nicht zur Welt. Der Einzelmensch kann aber laut Schelling nicht vermeiden, seine Endlichkeit anzuerkennen. Seine Zugehörigkeit zur Natur und Geschichte und vor allem das Bewusstsein seiner Sterblichkeit hindern ihn, sich als den Grund der Welt anzusehen. Von dieser Perspektive her gibt er seine Arroganz auf und sieht voller Demut die Welt als ein nicht von ihm hervorgebrachtes Ganzes. Nichtsdestotrotz ist jeder Mensch noch böse. Das spekulative Denken hat dann die Aufgabe, die „Persönlichkeit“ und die „Subjektivität“ zu integrieren. Letztere soll in dem daraus resultierenden Selbstbild eine untergeordnete Rolle haben, aber sie wird keineswegs beiseite gelassen. Das Böse ist nicht ein Nichts und deshalb soll es in ein konsistentes Weltbild integriert werden. Das Böse ist außerdem der Ausgangspunkt der Wiederherstellung des Guten. Das Hauptziel ist folglich, dass der Einzelmensch zwei gegensätzliche Selbstbeschreibungen in Zusammenhang bringt. Sein Egozentrismus und sein Dezentrierungsgefühl sollen vermittelt werden. Nur dadurch kann er wissen, was er eigentlich ist. Der Einzelmensch kann aber nicht durch Introspektion wissen, was er ist, weil diese ihn wieder zu seinem Egozentrismus führt. Die Selbsterkenntnis benötigt daher die Erkenntnis einer ihm ähnlichen Entität. Das Selbstverständnis des Menschen benötigt die Idee Gottes.
21
Ibid. S. 21.
200
D. Schlussbemerkungen
Henrichs spekulative Philosophie ist auch der Ansicht, der Mensch könne nur indirekt wissen, was er sei. Die „letzten Gedanken“, wie z. B. die Idee Gottes, sind Begriffe zweiter Ordnung, die andere Denkleistungen integrieren und folglich ermöglichen, die Totalität zu denken. Sie sind in dieser Hinsicht kantische Ideen. Die „letzten Gedanken“ sind ein den primären Weltzugang in ein sekundäres Phänomen verwandelnder Entwurf der Vernunft, der wegen dieses Primats der Perspektive der Totalität vor der disparaten Vielheit der primären Wissensweisen die gewöhnliche Einstellung des bewussten Lebens umkehrt. Die Metaphysik soll daher – sagt Henrich gegen Strawson – notwendigerweise revisionär sein.22 Da die letzten Gedanken das bewusste Leben als einen einheitlichen Sinnzusammenhang erscheinen lassen und sie bei Henrich nicht von dieser Funktion abgekoppelt werden können, besteht aber nun das Risiko, sie nur als eine Projektion des Subjektes zu betrachten, um sein Leben zu strukturieren. Werden sie so verstanden, könnten sie als ersetzbare und vielleicht unnötige Fiktionen angesehen und entlarvt werden. Bei Henrich ist aber die Einheit, welche die Abschlussgedanken mit sich bringen, nicht von dem Sein abgekoppelt.23 Die Abschlussgedanken sind deshalb nicht ontologisch neutral: „Das Selbstbewusstsein vollzieht sich als das Unterhaltensein von Gedanken, die ein Wirkliches nicht nur meinen, sondern zugleich ausmachen. Sie schließen es aus, unter irgendwelchen Bedingungen als bloße Gedanken aufgefasst werden zu können.“24 Henrich behauptet sogar, dass die spekulativen Ideen ihre eigene Realität enthalten: „Die Idee als integrative Einheit ist aber anders als ein nur normativer Begriff. Sie ist Einleitung zur Ausbildung eines Weltbegriffes und so der begriffliche Ausgang einer Denkform. Es muss darum gesagt werden, dass der Gedanke dieser Einheit, indem er zu einem wahren Gedanken wird, auch die Überzeugung begründet, kraft seiner mit Wirklichem in Übereinstimmung zu sein.“25 Die „letzten Gedanken“ sind mehr als kantische Ideen, weil sie letztendlich etwas zum Ausdruck bringen, das zwar nicht direkt erkennbar ist, aber der reelle Grund des Selbstbewusstseins ist. Das Grundverhältnis zur Welt kann entweder von der Perspektive des Gewussten oder des Wissenden rekonstruiert werden und daraus resultieren die gegenläufigen Selbstauslegungen, die die Begriffe „Person“ und „Subjekt“ bezeichnen. Der Mensch weiß aber, dass die widersprüchlichen Richtungen des Grundverhältnisses irgendwie zusammengehören, weil er von sich selbst unmittelbar und jenseits der 22 „Conscious life is oriented towards a unity principle for the sake of its indispensable prospect of reconciliation. But that unity principle has to be made operative through a process of restructuring the ontologies of these worlds with which conscious life is interwoven on the various stages of its development. Metaphysics is so omnipresent in life, but also its very nature revisionary. The revisionary (or ‘speculative’) nature of metaphysics is contrary to the received opinion a prerequisite for its being adopted and actually held true within a stage of conscious life itself.“ Henrich (1987), S. 122. 23 Barth, S. 208. 24 Henrich (2004), S. 228. 25 Henrich (1988), S. 115.
II. Aktualität des Schelling’schen Metaphysik-Verständnisses
201
Trennung des Wissbaren von dem Wissenden weiß: „Wird die wissende Selbstbeziehung als Trennung oder ,Urteilung‘ beschrieben, so folgt aus rein begrifflichen Gründen, dass ihr ein ,Ganzes‘ vorausgehen muss, das noch von dem Ganzen zu unterscheiden ist, in dem die Getrennten, unangesehen der Trennung, jederzeit miteinander in Beziehung stehen.“26 Das Grundverhältnis ist mithin keineswegs die tiefste Stufe des bewussten Lebens: „Gerade weil es nur als Ganzes möglich und doch divergent in sich ist, kann es nicht aus sich selbst heraus erklärt werden. Insofern verweist es auf einen Grund jenseits seiner. Der ist allerdings unausdenkbar in dem Sinne, in dem denkbar das ist, was im Ausgang vom Grundverhältnis gedacht werden kann. Die innere Verfassung des Grundverhältnisses muss also in Beziehung auf diesen Grund inkommensurabel sein.“27 Das Gewusste und das Wissende sind nicht ein Letztes, weil die beiden Pole trotz ihrer Gegensätzlichkeit als Momente eines Ganzen auftreten, das nicht von ihnen selbst hervorgebracht werden kann. Ihre Einheit verweist auf etwas, das jenseits von ihnen liegt und weder durch die Unterscheidung zwischen dem Gedachten und dem Denkenden noch durch die Unterscheidung zwischen Ding und Eigenschaften in jedem Urteil beschrieben werden kann. „Das ganze Grundverhältnis ist abkünftig“,28 weil seine Einheit – die Einheit der Gegensätze – nicht von ihm selbst abhängt, sondern von einem propositionell undenkbaren Grund, den Henrich in Anlehnung an Hölderlin mit dem „Sein“ identifiziert. Sein ist die Einheit vor jedem „Ur-teil“, das jeder begrifflichen Bezugnahme auf Dinge und jeder thematischen Selbstbeziehung zugrunde liegt. In diesem Sinne kann das Projekt Henrichs als eine „negative Theologie des Grundes des Selbstbewusstseins“29 beschrieben werden. Henrich verbindet das Sein mit dem Grund des Selbstbewusstseins, aber es verweist auch auf ein „Dunkles“, das die Welt als solche, also von dem Weltverhältnis des Menschen abstrahierend, durchzieht.30 Der Grund des Selbstbewusstseins ist daher ein opakes, transsubjektives Sein. Die Aufgabe des spekulativen Denkens, also der Metaphysik, ist es, die absolute Einheit, die der Grund ist, indirekt zur Erscheinung zu bringen. Über das Sein, das mit einem unmittelbaren Wissen des einzelnen Menschen um seine Existenz eins ist, kann man nicht so viel behaupten, indem jede Behauptung propositionell strukturiert ist. Es kann auch nicht mittels eines Reflexionsakts aufgefasst werden, weil dieser sofort eine Unterscheidung zwischen Denkendem und Gedachtem vollziehen würde. Indem es dennoch eine Einheit ist, kann es von einer Art des Denkens nachvollzogen werden, das ihr als Realgrund entspricht. Die Spekulation ist „bloß“ Denken, aber ein Denken, das diesen Grund entfaltet und von ihm her in Gang gesetzt ist.31 Entspricht es der Einheit 26 27 28 29 30 31
Henrich (1992), S. 623. Henrich (1982), S. 108. Ibid. S. 110. Halfwassen (2002), S. 699. Henrich (1997), S. 16, 36. Henrich (1988), S. 113 – 114.
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D. Schlussbemerkungen
des Seins, wird es mit den Gegensätzen unverträglich, welche den Alltag des bewussten Lebens beherrschen. Spekulativ ist das Denken, das diese Gegensätze übersteigt. Die synthetischen Leistungen der Begriffe zweiter Ordnung, welche die Einheit der verschiedenen Denkinhalte bis zu einer nicht übersteigbaren Ebene führen, sind Spuren der Einheit des Subjekts, die auf seinen nicht direkt erfassbaren Grund verweisen. Die Einheit des Seins des Selbstbewusstseins ist diejenige, „die auch begründend in den Einheitssinne eingeht, kraft dessen alle Dinge und Objekte wie selbstverständlich als Mitglieder in einer einzigen Welt angesehen werden können und müssen“.32 Aufgrund dessen, dass der Grund des Subjektes die unmittelbarste und deutlichste Form der Einheit zum Vorbild aller Integration werden kann, geht die Konstruktion des Weltbegriffes mit der Vergewisserung der Einheit des Selbstbewusstseins einher. Die Selbsterkenntnis ist bei Kant und Henrich von der Unbegreifbarkeit des Seins des Subjekts begrenzt, was jedoch nicht bedeutet, dass das Subjekt, das um sich selbst wissen möchte, darauf verzichten kann, um diese Grenze zu wissen. Die Selbsterkenntnis enthält als ein wesentliches Moment die Erkenntnis der Grenzen der Selbsterkenntnis. Bei Henrich und bei Schelling hat die Spekulation eine existenzielle Bedeutung. Lässt sich der Mensch bei Schelling darauf ein, spekulativ zu denken, kann er erwarten, eine Schau des Ganzen zu haben. Unter den Bedingungen des Pantheismus ist Gott der Gedanke, der es ihm ermöglicht, die Natur und die Geschichte, das Ideelle und das Reelle, das Gute und das Böse als Momente einer einzigen Totalität zu verstehen. Die Welt ist nichts anderes als das Produkt der Selbstvermittlung Gottes. Gott ist nicht das Ursprünglichste, aber durch Gott, seine Vorgeschichte denkend, geht der Mensch außerdem auf eine Einheit zurück, die nicht nur der Ausgangspunkt der Entstehung von allem ist, sondern auch der opake Kern seines bewussten Lebens. Letztendlich sind dank der Idee des menschlichen Bewusstseins als „Mitwissenschaft“ der Seinsentfaltung alle Momente derselben im menschlichen Bewusstsein vorhanden. Dem Ungrund entspricht ein untätiger, inhaltsleerer, vorreflexiver Bewusstseinszustand. Der Einzelmensch kann nicht durch Introspektion von diesem Zustand wissen, aber er kann indirekt Zugang dazu haben, sofern er die Vorgeschichte Gottes begreift. Das spekulative Denken, das ein Denken des Ganzen ist, aber auf eine Einheit jenseits des Ganzen verweist, ist daher für Schelling Selbstsammlung. Gott ist für Schelling etwas Größeres als der Mensch, das es ihm dennoch ermöglicht, sich selbst zu integrieren und alle Dimensionen seines Seins denkend zusammenzuhalten. Die innere Ruhe und die Harmonie des Menschen mit sich selbst hängen von dieser Denkerfahrung ab. Bei Henrich hat auch die Metaphysik dieses Ziel. Henrich kann den existenzialistischen Protest gegen die Transformation der Philosophie in eine lebensferne Wissenschaft aufnehmen,33 die nur Sache der Philosophieexperten ist,34 und zugleich auf den Nachdruck des deutschen Idealismus, 32 33 34
Henrich (1999), S. 25. Henrich (1982), S. 131. Ibid. S. 121.
II. Aktualität des Schelling’schen Metaphysik-Verständnisses
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das Seinsganze als System zu denken, Wert legen, weil die sittlichen Bedürfnisse nach einem Sinnzusammenhang und die Konstruktion eines Weltbildes zwei Seiten derselben Untersuchung sind. Der Mensch, der sich auf das spekulative Denken einlässt, strebt die gegensätzlichen Pole seines bewussten Lebens zu vermitteln an, und durch die erworbene Einsicht eine gewisse innere Ruhe zu erreichen: „Conscious life is oriented towards a unity principle for the sake of its indispensable prospect of reconciliation“.35 Man kann so sagen, dass es „kein gelungenes Leben gibt ohne Metaphysik“,36 weil nur das spekulative Denken, also das Denken als „Überschau und Durchsicht“,37 das Ganze des bewussten Lebens, ohne den Spielraum der Vernunft zu verlassen, denken kann. Die Idee des Absoluten ist so die Bedingung eines gelungenen Lebens: „Die gesamte Verfassung des Grundverhältnisses ist darauf angelegt, den Gedanken des Absoluten hervorzutreiben und sich selbst von diesem Gedanken her sowohl zu verständigen als auch insofern zu verwandeln, als nur von diesem Gedanken her in das bewusste Leben diejenige Einheit des Verstehens kommen kann, die gegenüber allen Beirrungen standhält, welche aus den ihm gleich wesentlichen, aber auch gleichermaßen gegenläufigen Tendenzen der Selbstauslegung kommen.“38 Die Idee Gottes, sofern sie im Rahmen der Suche des Menschen nach Selbstverständnis erscheint, gehört auch zum guten Leben. Henrich verbindet sie mit positiven Lebenserfahrungen wie der der Liebe oder der Dankbarkeit, verliert aber nicht ihre Beziehung zur „Not“ und zur Sterblichkeit aus der Sicht. Sie ist eine Idee, die gerade aufgrund ihrer Fähigkeit, gegensätzliche Erfahrungen in eine Totalität zu integrieren, existenziell bedeutsam ist. Die Metaphysik als Theologie, sofern sie mit einer tiefergreifenden Denkerfahrung zusammenhängt, ist ein Weg zur Selbstversöhnung. Die Freiheitsschrift Schellings besagt nichts davon Verschiedenes. b) Trotz der „metaphysikfeindlichen Philosophieszene“39 – sagt Hans Jonas 1985 – hat er nicht darauf verzichtet, die sittliche Bedeutung der Metaphysik zu behaupten:40„Zur Grundlegung einer Zukunftsethik sei mein metaphysischer Glaube vorab bekannt: Das Sein, wie es sich selbst bezeugt, gibt Kunde nicht nur davon, was es ist, sondern auch davon, was wir ihm schuldig sind. Auch die Ethik hat einen ontologischen Grund.“41 Jonas ist daran interessiert, eine Ontologie zu entwerfen, welche die Verantwortung jedes Menschen gegenüber anderen Menschen, aber auch gegenüber der Natur begründen kann. Ausgangspunkt davon ist die Tatsache, dass in der Spätmoderne die allgegenwärtige Macht der Technik zerstörerische Züge angenommen hat und ihre Eigendynamik das Leben überhaupt bedroht. Schelling, wie 35 36 37 38 39 40 41
Henrich (1987), S. 122 Henrich (1982), S. 23. Henrich (1988), S. 90. Henrich (1982), S. 180. Brief Jonas’ an Gadamer vom 9. 11. 1985, in: Böhler/Dietrich, S. 480. Jonas (2010), S. 358. Jonas (1992), S. 150, 221.
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D. Schlussbemerkungen
gezeigt wurde, hat die ersten Phasen dieser Entwicklung auf den Begriff gebracht. Das Böse ist für ihn u. a. die sich verselbstständigende und verabsolutierte instrumentelle Vernunft. Jonas konfrontiert sich eben mit ihren destruktiven Effekten in einer reiferen Phase der Neuzeit und spricht deshalb von der Notwendigkeit einer „Selbstbeherrschung unseres entfesselten Könnens“.42 Sein Hauptproblem ist die Begründung der menschlichen Verantwortung unter den geschichtlichen Bedingungen einer entfesselten Herrschaft der instrumentellen Vernunft. Sofern die Verantwortung und die Pflichten jedes Menschen auf die gesamte Natur und nicht einfach auf andere Menschen bezogen sind, zielt Jonas darauf ab, ein Weltbild zu entwerfen, in dem alle Dinge ein Pflichtgefühl erwecken. Nur dann, wenn der Mensch eine Schau des Ganzen hat und sich als Teil dieses Ganzen mit allem verbunden fühlt, kann er den sittlichen Anforderungen, welche die Neuzeit stellt, genügen. In diesem Zusammenhang wird der Begriff „Leben“ zentral. Jonas’ Ontologie ist eine Lebensontologie, die viele Gemeinsamkeiten mit der Naturphilosophie Schellings hat.43 Das Leben entsteht laut Jonas, wenn sich in der Materie ein Innenhorizont bildet, der sich folglich vom Rest der Dinge abgrenzt. Jedes lebendige Ding ist, der psychophysischen Beschaffenheit des Seienden zufolge, „Form“ und „Stoff“, wobei die Form das Bleibende und der Stoff das Wechselnde in ihm ist. Die Form wirkt wie eine Zweckursache, indem sie die Interaktion von den stofflichen Bestandteilen des Organismus regelt und die Einheit derselben ständig hervorbringt. Im Gegensatz zu der kausalmechanischen Auffassung der Natur und ihren dualistischen Folgen, setzt sich Jonas für eine objektive Teleologie ein, in der das Psychische und das Stoffliche immer verflochten sind. Indem die ontologische Differenzierung des Psychischen von dem Stofflichen wie bei Schelling doch nicht eliminiert wird, ist das Resultat eine Art von psychophysischem Monismus, der an Spinoza erinnert, aber im Unterschied zu ihm die Wechselwirkung (und nicht den Parallelismus) beider Bereiche einbezieht,44 die Zweckursachen nicht ablehnt und eine Verzeitlichung der Natur und die darauffolgende Möglichkeit der Evolution in Betracht zieht. In diesem Sinne spricht Jonas von einem „integralen Monismus“. Das Leben jedes Dinges vollzieht 42
Ibid. S. 128. Jonas und Schelling reagieren auf den cartesianischen Dualismus und die cartesianische Naturvorstellung mit Argumenten, die auf den Monismus Spinozas trotz ihrer jeweiligen Unterschiede zu ihm verweisen: „Nach Cartesius Phisik, die die Thiere zu blosen Maschinen macht, sollte man lieber die Instinkte läugnen, wie der mechanische Philosoph ohnedies alles Innere der Natur läugnet“ (Schelling (1973), S. 161; vgl. Jonas (1992), S. 11). Jonas’ Ontologie des Lebendigen und die Naturphilosophie Schellings sind philosophische Beschreibungen der Natur, die beanspruchen, das Verhalten des Menschen zu derselben und folglich auch das Selbstverständnis des Menschen umzudefinieren: „Schellings Naturphilosophie fragt also nach diesem wirklichen Vermittlungszusammenhang der Natur nicht als bloss theoretischem (objektivierendem) Erkenntnisinteresse, sondern – gemäß dem Primat der praktischen Vernunft – um dadurch unser praktisch-in-die-Natur-vermittelt-Sein zu begreifen.“ Schmied-Kowarzik, S. 376. Man sollte nicht vergessen, dass Jonas an dem Seminar über die Freiheitsschrift teilnahm, das Heidegger in Marburg 1927/28 gehalten hat. 44 Lenzig, S. 224 – 226. 43
II. Aktualität des Schelling’schen Metaphysik-Verständnisses
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sich notwendigerweise in der Zeit als die ständige Tätigkeit, inmitten des Stoffwechsels und mithin des Austauschs von Materie und Energie mit der Umwelt die eigene Identität zu erhalten und sich vom Nichtsein, also von Tod zu entfernen. Jeder Organismus ist eine „lebendige Substanz“.45 Die Identität des Lebendigen – behauptet Jonas – ähnelt dementsprechend nicht der tautologischen Identität der Logik, sondern einer tätigen, praktischen Selbstbeziehung46. Es gibt kein Leben ohne einen gewissen Grad an Subjektivität. Das Leben ist das Sein als teleologisch orientierte Selbsttätigkeit eines innerlich zwischen Form und Stoff differenzierten, die Welt von seiner besonderen Perspektive erschließenden, offenen Systems. Das Sein kann sich wie bei Schelling intensivieren, sofern die Dinge selbstständiger werden. Je freier ein Wesen ist, desto seiender ist es. Der Mensch ist in der Welt das freieste Wesen, weil er eine organische Ausstattung hat, die ihm viel Unabhängigkeit von seiner Umwelt gibt, aber auch weil er zum Selbstbewusstsein fähig ist und weil er aufgrund seiner Einbildungskraft, seiner Vernunft und seiner Handlungsfreiheit die höchstmögliche Selbstständigkeit erreichen kann. Der Mensch ist daher der Gipfel der Lebensevolution. Schellings Beschreibung der ontologischen Beschaffenheit der Natur und der Stelle des Menschen in der Natur stimmt in vielen Hinsichten mit Jonas überein. Jedes erschaffene Ding besteht nach der Freiheitsschrift aus den zwei Grundprinzipien, nämlich aus dem Grund und der Existenz. Schelling ist der Ansicht, dass nicht nur die Pflanzen oder die Tiere, sondern auch physikalische Phänomene wie der Magnetismus, die Elektrizität oder der Galvanismus aus beiden Prinzipien bestehen. Trotzdem ist seine Argumentation nachvollziehbarer, wenn sie sich mit der organischen Natur beschäftigt. Grund und Existenz treten in diesem Zusammenhang zuerst als „Stoff“ und „Seele“ einer selbstständigen, sich vom Rest der Welt abgrenzenden Entität auf. Der „Stoff“ bezeichnet die in der „Scheidung getrennten (aber nicht völlig auseinandergetretenen) Kräfte“.47 Stoff ist die differenzierte und 45
Jonas (1992), S. 14. „Selbstidentität also, beim toten Sein ein bloß logisches Attribut, dessen Aussage nicht über eine Tautologie hinausgeht, ist beim lebenden ein ontologisch gehaltvoller, in eigener Funktion der stofflichen Andersheit gegenüber ständig geleisteter Charakter.“ (Ibid. S. 22). 47 Schelling (1856 – 1861), SW 7, 362. Ein zentraler Begriff der Freiheitsschrift, um die Schöpfung und folglich die Entstehung einzelner Dinge zu verstehen, ist die „Trennung“ oder „Scheidung der Kräfte“: „Indem also der Verstand, oder das in die anfängliche Natur gesetzte Licht, die in sich selbst zurückstrebende Sehnsucht zur Scheidung der Kräfte (zum Aufgeben der Dunkelheit) erregt, eben in dieser Scheidung aber die im Geschiedenen verschlossene Einheit, den verborgenen Lichtblick, hervorhebt, so entsteht auf diese Art zuerst etwas Begreifliches und Einzelnes.“ (Ibid. SW 7, 361). Die „Sehnsucht“ enthält in sich eine Vielheit von Pseudoelementen oder „Kräften“, die sich voneinander nicht klar differenzieren lassen, aufgrund der immer offenen Möglichkeit neuer Verbindungen keine stabile Ordnung haben oder keine Hierarchie ertragen und sich als Koordinations- oder Artikulationszentren der Bewegung des Ganzen gegenseitig neutralisieren. Schelling vergleicht diesen ursprünglichen Weltzustand mit einem psychologischen Zustand, nämlich mit dem „chaotischen Gemenge der Gedanken“ in der ersten Phase eines kreativen Prozesses, wobei „alle zusammenhängen, jeder aber den anderen hindert hervorzutreten.“ (Ibid.). Die indirekte Wirkung des Verstandes auf die Sehn46
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D. Schlussbemerkungen
strukturierte Materie, die sich als Reaktion des Grundes auf die Scheidung bildet. Der Grund, der bisher der Individuation entgegenwirkte, verwandelt sich nun in ein materielles Kohäsions- oder Kontraktionsprinzip. Er ist das, was nun der Tendenz zur Strukturierung, die in dem Schöpfungsprozess nach der Entstehung eines Dinges ihre Funktion fortsetzt, widersteht und dem Einzelding als Einzelding vor seiner Auflösung schützt. Alles, was materiell ist, ist ontologisch labil, und deshalb ist es doch nicht der Stoff, sondern die Seele, was letztendlich die Individualität oder Einzelheit des Dinges garantiert. Sie ist das „als Mittelpunkt der Kräfte entstehende Band“48, welches das in der Scheidung Geschiedene verbindet. Schelling scheint zu glauben, dass der Stoff eine basale und deshalb unvollständige Individuation ermöglicht, die nur kraft der Seele und folglich kraft der Existenz vervollständigt wird. Die materielle oder reelle Seite des organischen Individuums ist zuerst „Stoff“ und dann „Leib“49, weil die Seele die Bildung einer Art von Körperlichkeit auslöst, die innerlicher und dauernder als der Stoff ist. Der Leib ist die vom Individuum als eigene empfundene Materie,50 die sich auf menschlicher Ebene als eine Art von Propiosucht ist die „Erregung“ der Trennung der Kräfte. Schelling gebraucht eine Terminologie, die mit Lebensprozessen zu tun hat, um den Eindruck zu vermeiden, es handele sich dabei um die Verursachung eines Zustandes in einer passiven Materie. „Erregt“ wird etwas, das äußeren Einflüssen ausgesetzt ist, aber gemäß seiner eigenen Verfassung reagiert. Der Verschlossenheit der Sehnsucht wirkt der Verstand entgegen, ohne etwas der Sehnsucht Fremdes hinzufügen. Das Entstehende ist daher in die Urmaterie „hineingebildet.“ (Ibid. SW 7, 362). Sie differenziert sich oder polarisiert sich (Schelling (1973), S. 151) unter dem Einfluss des Verstandes. Die „Trennung der Kräfte“ ist die Bildung klar differenzierter Elemente, die eine stabile Beziehung zueinander haben und folglich koordiniert wirken. Sie hebt eine Struktur hervor. Schelling spricht von dem „Lichtblick“, weil das Licht, wie sie von seiner Naturphilosophie begriffen wird, die Existenz selbst ist, sofern sie auf die Natur bezogen wird. Der „Lichtblick“ enthält außerdem eine visuelle Dimension, die für das Verständnis der Seele zentral ist. Jede Struktur ist ein begrenzter Komplex von Kräften, der sich vom Rest der Kräfte unterscheidet und für den ein solcher Rest das Äußere ist. Die Entstehung „von etwas Einzelne[m]“ hängt mit dieser Grenzziehung zusammen. Ohne die Unterscheidung zwischen „Innerem“ und „Äußerem“ ist keine Individualität möglich. Nur dann kann man von etwas „Begreifliche[m]“ sprechen, denn bisher gab es keine identifizierbaren Entitäten, sondern eine ontologische Vagheit (Vgl. Peirce, S. 476.), die der Individualität zuwider war. Dass die Trennung der Kräfte eine Bedingung der Entstehung eines einheitlichen Einzeldinges ist, klingt befremdlich nur dann, wenn man vergisst, dass die Einheit des Dinges die Vereinheitlichung einer Vielheit ist: „In jedem Organismus ist eine Einheit, ohne dass jedoch die Theile für einerley gehalten werden“ (Schelling (1973), S. 103). Eine verwirklichte Idee ist immer die Einheit einer Vielheit. Jede Einheit ist eine Synthese von Kräften, die aber nicht der Materie von außen auferlegt wird, sondern ihre eigene Organisationstendenzen „erweckt“. Die Bildung einer differenzierten Einheit impliziert Differenzierung oder Trennung, weil unter „Einheit“ eine Struktur verstanden wird und diese ein Artikulations- oder Koordinationsprinzip verschiedener Elemente ist. Das Intelligible oder Ideale ist das, was Relationen bildet, und die Relationen finden dort statt, wo es etwas Differenziertes gibt. 48 Schelling (1856 – 1861), SW 7, 362. 49 Ibid. 50 Darauf bezieht sich R. Brandners Begriff „pathische Selbsterschlossenheit“: „Denn das Lebendige ist sein leibliches Wahrnehmen (aisthesis) nicht als intentionale Wahrnehmung von etwas, das ihm in seinem eigenen Ansichsein erschlossen wäre, sondern als Stimmung seiner
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zeption, also als „Selbstheit“ zeigt. Der Stoff ist hingegen eine sich verändernde und sich immer wieder erneuernde Materialität: „Nur der körperliche Organismus, seiner Form nach, macht daher das beharrliche Wesentliche aus, alle materiellen Teile sind blos zufällig“.51 Der Stoffwechsel bezieht sich nicht nur auf den notwendigen Verkehr mit der Umwelt, sondern auch auf die damit verbundene Veränderung des eigenen Stoffes jedes Organismus.52 Die Seele, die immerhin aus dem Grund hervorgegangen und daher von Gott unabhängig ist,53 ist hingegen das Bleibende im Organismus.54 Die Naturevolution wird bei Schelling und bei Jonas als eine Freiheits- oder Selbstständigkeitssteigerung konzipiert. Jeder Organismus ist für Jonas und SchelBefindlichkeit (pathos), darin es sich selbst in seiner Verfassung erschließt. Das Lebendige verspürt im Grunde immer nur sich; es ist eine reine ,Subjektivität‘ phatischer Selbsterschlossenheit, befindliches Für-sich-sein lebendiger Leiblichkeit, das keine Dinge kennt (…), sondern ganz in ein Stimmungsgeschehen von Angängigem bleibt.“ Brandner (2002a), S. 48. 51 Schelling (1973), S. 135. 52 Alle Organismen haben eine Außenwelt, denn sie bilden sich eben durch die Entstehung einer Grenze zwischen Innerem und Äußerem. Der Organismus soll doch eine „doppelte Außenwelt“ (Schelling (1856 – 1861), SW 3, 147) haben. Sofern der Stoff von der Seele verschieden und wechselhaft ist, stellt dieser eine innere Außenwelt dar. Der Einfluss der äußeren Außenwelt auf den Organismus wird immer zuallererst von seinem Stoff vermittelt. Der Stoff ist aber das Äußerliche im Organismus. Deshalb ist von einer „doppelten Außenwelt“ die Rede. s. Tsouyopoulos, S. 597 – 599. 53 Schelling (1856 – 1861), SW 7, 362. 54 Die Erklärung des Begriffes „Seele“ in der Freiheitsschrift beträgt nicht mehr als sieben oder acht Zeilen, aber ihre Bedeutung kann ohne Schwierigkeiten mithilfe anderer Schriften Schellings rekonstruiert werden. Sie kann in einer physiologischen, in einer kognitiven und in einer motorischen Hinsicht analysiert werden. Die Seele ist erstens die Form des Organismus, d.i. das Gefüge der Funktionen, die jedem Teil des Organismus eine besondere Aufgabe aufträgt. Der Organismus ist ein Ganzes, weil es bestimmte Relationen zwischen seinen Teilen gibt und jeder Teil eine besondere und notwendige Leistung durchführen muss. In diesem Sinne nähert sich die Seele dem Begriff „Zweck“ an, so wie er von Kant in der Analyse des Organismus in der Kritik der Urteilskraft benutzt wird. Die Seele ist zweitens die „Kraft der Vergegenwärtigung des Vieles in Einem.“ (Ibid. SW 6, 433, 437, 441, 459, 499; SW 7, 173, 213), was in der Terminologie von Leibniz der Perzeption gleichkommt (Leibniz, S. 14). Ist die Seele in Bezug auf die Körperlichkeit des Individuums ein Vereinigungsprinzip oder „Mittelpunkt“, hat sie eine ähnliche Funktion bezüglich der Umwelt des Organismus, weil sie die Vielfalt der äußeren Dinge vergegenwärtigt und sie dadurch zur Einheit bringt. Die Seele ist die besondere Vorstellungskraft des Individuums, die ihm erlaubt, sich eine Perspektive von der Welt zu bilden. Das Leben impliziert Kognition, wie heutzutage Biologen wie H. Maturana anerkannt haben. (Maturana, 1982). Jonas spricht in dieser Hinsicht von der Intentionalität des Lebendigen (Jonas (1992), S. 26). Die Seele ist drittens, was dem Organismus Selbstbewegung und deshalb auch die Fähigkeit verleiht, von sich selbst aus ein Verhältnis mit seiner Umwelt zu haben. Sie ist daher anima, das immaterielle Prinzip, das die Dinge ohne äußeren Einfluss animiert. Hier handelt es sich um das Grundmerkmal der xuw^ im platonischen und aristotelischen Sinne. Wenn Schelling in der Freiheitsschrift sagt, dass die Seele ein „Inneres“ ist (Schelling (1856 – 1861), SW 7, 362), zieht er die drei erwähnten Charakteristiken in Betracht: Sie ist das Telos oder Koordinationsprinzip der eigenen organischen Funktionen, die eigene Perzeptionsform und die Selbstbewegungsquelle.
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D. Schlussbemerkungen
ling eine „lebendige Substanz“55 und daher ist das Leben für beide ohne eine gewisse ontologische „Vereinzelung“56 nicht denkbar, aber sie glauben auch, dass es verschiedene Selbstständigkeitsgrade gibt.57 Die Vollkommenheit eines Organismus hängt in dieser Hinsicht für Schelling davon ab, inwieweit die drei Dimensionen seiner Seele (Koordinationsprinzip der eigenen organischen Funktionen, Perzeptionsform, Selbstbewegungsprinzip) entwickelt sind und dementsprechend, inwieweit sein Stoff ausdifferenziert ist. Anders gesagt, ein Organismus ist vollkommener als andere, wenn er eine komplexere Körperlichkeit, eine umfassendere und differenziertere Perzeptionsform und mehr Fähigkeit zur Eigenbewegung hat. Die einfachsten Organismen, z. B. der Polyp im Tierreich,58 haben einen wenig ausdifferenzierten Organismus, denn in ihnen erfüllen dieselben Teile verschiedene Funktionen; sie besitzen außerdem sehr dumpfe Sinnesorgane, die zwar Information von dem Zustand der Umwelt übermitteln, aber kein großes Spektrum von Empfindungsarten haben;59 sie haben außerdem eine geringere Bewegungsfreiheit und wie im Fall des Polypen unterscheiden sie sich nicht zu sehr von der beschränkten Bewegungsfähigkeit der Pflanzen. Die drei Merkmale der Seele hängen zusammen, und deshalb entspricht einer Komplexitätssteigerung einer Dimension eine Komplexitätssteigerung von den anderen Dimensionen. Wächst die physiologische Komplexität des Organismus, steigert sich auch die Komplexität seiner Vorstellungskraft und seiner Fähigkeit, sich autonom zu bewegen und daher freier von seiner Umwelt zu sein. Der Mensch ist für Schelling wie für Herder60 die vollkommenste Kreatur der 55
Jonas (1992), S. 14. Ibid. S. 27. 57 Ibid. S. 27 – 31. 58 Schelling (1856 – 1861), SW 3, 53. 59 In dem „System des transzendentalen Idealismus“ hatte Schelling schon diese Idee entwickelt: „Je tiefer wir in der organischen Natur herabsteigen, desto enger wird die Welt, welche die Organisation in sich darstellt, desto kleiner der Teil des Universums, der in der Organisation sich zusammenzieht. Die Welt der Pflanze ist wohl die engste, weil in ihre Sphäre eine Menge Naturveränderungen gar nicht fallen. Weiter schon, aber doch noch sehr eingeschränkt ist der Kreis von Veränderungen, welchen die untersten Klassen des Tierreichs in sich darstellen, indem z. B. die edelsten Sinne, der des Gesichts und Gehörs, noch verschlossen liegen, und kaum der Gefühlssinn, d. h. die Rezeptivität für das unmittelbar Gegenwärtige, sich auftut. – Was wir an den Tieren Sinn nennen, bezeichnet nicht etwa ein Vermögen, Vorstellungen durch äußere Eindrücke zu erlangen, sondern nur ihr Verhältnis zum Universum, das weiter oder eingeschränkter sein kann.“ (Ibid. SW 3, 492). 60 In seinen „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ (1784 – 1791) konstruiert Herder eine spekulative Naturgeschichte, die von entdifferenzierten und vom Stofflichen beherrschten Entitäten zu ausdifferenzierten und von Stofflichem relativ freien Entitäten übergeht (Herder, 1828). In der organischen Natur besteht die Evolution dementsprechend in einer Tendenz zur Bildung von spezialisierten Organen, die mit der Entwicklung höherer Formen von Vorstellungskraft, also mit der allmählichen Überwindung von dem „etourdissement“ (Leibniz) oder der Dumpfheit der primitivsten Gestaltungen des Psychischen zusammenfällt: „Die Ökonomie des Lebens dieser Geschöpfe soll offenbar dem Geist ihres Baues folgen. Freiwillige Bewegung, wirksame Thätigkeit, Empfindungen und Triebe machen das Hauptgeschäft des Thieres aus, je mehr sich seine Organisation hebt.“ (Ibid. S. 65). Herder sieht 56
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Natur, weil er alle Stufen der physiologischen Evolution des Organismus synthetisiert,61 ein nuancenreiches Vorstellungsvermögen hat, das außerdem mit der höchstmöglichen Weltoffenheit zusammenhängt, und, trotz seiner Unterlegenheit gegenüber der besonderen, körperlichen Geschicklichkeit einiger Tierarten, seine körperlichen Bewegungen auf eine vielfältige und präzise Weise beherrschen kann. Die menschliche Seele, welche die höchste „Trennung der Kräfte“ voraussetzt, stellt aber im Vergleich mit der ontologischen Beschaffenheit anderer Lebewesen keinen radikalen Bruch dar. Die Freiheit des Geistes bzw. die Freiheit, sich selbst zum Guten oder zum Bösen zu bestimmen, und seine Fähigkeit, autark zu sein, sind die wahren Unterscheidungsmerkmale des Menschen. Die höchste Stelle des Menschen in der Welt ist aber eine Bürde, weil er eben deswegen für die gesamte Natur verantwortlich ist. Schelling bezeichnet daher den Menschen als „Erlöser der Natur“62. Die Natur gerät nach dem Abfall in Unordnung63 – wie die Entstehung zufälliger Naturphänomene, Krankheit und Tod beweisen64 – und nur durch den Menschen bzw. durch die Entscheidung des Menschen zum Guten kann sie wieder in die göttliche Ordnung integriert werden.65 Bei Jonas kann der Mensch die Aufgabe übernehmen, die ontologische Würde der Natur zu schützen, weil seine Handlungen sich auf die ganze Natur auswirken und weil er auch ein Lebewesen ist und mithin ein gewisses Verständnis für alle anderen Formen von Innerlichkeit hat. Der Mensch kann deswegen die Naturwesen als ihm fremde Gegenstände nur dann wahrnehmen, wenn er von seiner eigenen Lebenskraft abstrahiert, denn der Mensch hat ansonsten als Lebewesen ein Gefühl für die Bedürfnisse auch den Menschen als Teil eines ontologischen Kontinuums, das dank morphologischer Veränderungen und der damit zusammenhängenden Perzeptionsformen zu immer größeren Formen von Selbstständigkeit aufsteigt. Der Mensch ist der Endpunkt dieser Evolution. Der Mensch ist die ausgearbeitete Form, „in der sich die Züge aller Gattungen um ihn her im feisten Inbegriff sammeln.“ (Ibid. S. 58). In diesem Sinne ist er „Mittelgeschöpf“ oder „heilige[r] Mittelpunkt“ der Schöpfung. (Ibid. S. 61). 61 „Von einer einfachen Gallert fängt alle Bildung auch in den höheren Stufen an; auch der Mensch ist im Anfang seines Entstehens erst Polyp, dann Molluskum, Wasserthier, Amphibium usw.“ Schelling (1856 – 1861), SW 6, 417. 62 Schelling (1856 – 1861), SW 7, 411. 63 „… so rührt die Zerrüttung in der Natur vom Menschen und der Verfehlung seiner Bestimmung her“. Schelling (1973), S. 168. 64 Ibid. S. 168 – 169. 65 Schelling knüpft dadurch an die Idee einer „Wiederbringung“ (!pojat²stasir) der Natur an, die Jakob Böhme und seine Schüler – F. Oetinger, M. Hahn, J. Witz – vertreten haben. Die Erlösung des Menschen ist laut dieser Autoren auch eine Erlösung der Natur, denn die ganze Schöpfung, die aufgrund des Abfalls verunreinigt wurde, ist immerhin ein göttliches Werk. Das Kommen des „Tausendjährigen Reiches“ bringt auch eine „neue Erde“ und einen „neuen Himmel“ mit sich. Die Harmonie zwischen Mensch und Natur tritt wieder auf, sofern der Mensch seine Gottesebenbildlichkeit wiederherstellt. Darüber s. Benz, S. 133 – 197. Besonders in der Georgii-Nachschrift der Stuttgarter Privatvorlesungen sind diese Themen Böhmes und seiner Schüler – einschließlich der Verbindung des Tausendjährigen Reiches mit einer Verklärung der Natur (Schelling (1973), 180) – allgegenwärtig.
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D. Schlussbemerkungen
anderer Lebewesen: „Der Beobachter des Lebens muss vorbereitet sein durch das Leben.“66 Das Leben anderer Lebewesen kann verstanden werden, weil sich der Mensch in ihre Perspektive hineinversetzen kann.67 Die sittlichen Handlungen setzen eine Art von Naturhermeneutik voraus.68 Schelling spricht in demselben Sinne über die „Sympathie des Menschen mit der Natur“,69 sofern beide sehnsüchtig sind, also unvollständig, auf der Suche nach einer stabilen Form.70 Der sich selbst erkennende Mensch erfährt die Natur nicht als Gegenstand, sondern dank seiner eigenen Natur als ein ihm ähnliches Wesen, also ein Wesen, das auch leidet. Dass der späte Schelling die „Gewissenhaftigkeit der Buddhisten und der Yogi“ bezüglich ihres Umgangs mit den Tieren lobt und sich gegen die „wissenschaftlichen und unwissenschaftlichen Tierquäler“ ausspricht, ist daher nichts Erstaunliches.71 Das Mitleid schlägt eine Brücke zwischen dem Menschen und anderen Lebewesen. Die sittlichen Handlungen weisen in einem ähnlichen Sinne bei Jonas auf die Fragilität des Lebens hin. Er vermittelt derart zwischen Sollen und Sein, dass die Selbstentfaltung jedes Dinges in einem positiven oder bloß negativen Sinne ergänzungsbedürftig ist und mithin einen Anspruch erhebt, den der Mensch als ein Sollen vernimmt. Ausgangspunkt jeder sittlichen Handlung ist daher die Bedürftigkeit des Lebendigen: „Das Abhängige in seinem Eigenrecht wird zum Gebietenden“72 – sagt Jonas prägnant. Das Lebendige ist die Quelle der menschlichen Pflichten. Um das Sein als Quelle des Sollens zu bezeichnen, spricht Jonas vom „Wert“ oder vom „Guten“. Wenn ein Zweck das ist, „um dessentwillen eine Sache existiert und zu dessen Herbeiführung oder Erhaltung ein Vorgang stattfindet oder eine Handlung unternommen wird“,73 ist ein Wert dasselbe in Anbetracht der Eingriffsmöglichkeit des menschlichen Willens: Ein Wert ist mithin „dasjenige, dessen Möglichkeit die Forderung nach seiner Wirklichkeit enthält und damit zu einem Sollen wird, wenn ein Wille da ist, der die
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Jonas (1992), S. 23. Jonas erwähnt in diesem Zusammenhang das vorsokratische Prinzip, dem zufolge „Gleiches durch Gleiches erkannt wird.“ (Ibid. S. 63). Die philosophische Erkenntnis Gottes basiert laut Schelling auf diesem Prinzip (Schelling (1856 – 1861), SW 7, 337. Schelling (1973), S. 109). Da die Erkenntnis Gottes die Bedingung der wahren Erkenntnis aller anderen Dinge ist und den paradigmatischen Fall der Erkenntnis der Entitäten, die eine Innerlichkeit haben, darstellt, ist das vorsokratische Prinzip auch auf die Naturerkenntnis anwendbar, weil dem Panpsychismus Schellings gemäß alles, was ist, eine Innerlichkeit hat. 68 Vgl. Riedel, S. 259 – 299. 69 Schelling (1856 – 1861), SW 7, 465. 70 Das Thema der Sehnsucht als Basis der Sympathie mit der Natur ist die paulinische Version einer alten These der Naturphilosophie Schellings: die Identität zwischen Mensch und Natur dank des Lebens. „Solange ich selbst mit der Natur identisch bin, verstehe ich was eine lebendige Natur ist, als ich mein eigenes Leben verstehe.“ (Ibid. SW 2, 47). 71 Ibid. SW II, 2, 492. 72 Jonas (1979), S. 175. 73 Ibid. S. 105. 67
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Forderung vernehmen kann und in Handeln umsetzen kann“.74 Das Sein ist die Quelle des Sollens, weil es zweckhaft ist: „Dass die Welt Werte hat, folgt zwar direkt daraus, dass sie Zwecke hat.“75 Das Sein selbst ist Quelle von moralischen Entscheidungen, weil alle lebendigen Wesen zur Selbstverwirklichung tendieren und dafür, unter den Bedingungen der Allgegenwärtigkeit der Macht der Technik, auf die Zustimmung des Menschen angewiesen sind. Der Mensch, der dank seines Einfühlungsvermögens die Fähigkeit hat, die Bedürftigkeit anderer Wesen zu empfinden, kann darüber entscheiden, die Tendenz zur Selbstverwirklichung aller lebendigen Wesen zu fördern oder zu hindern. Das Sollen ist die Forderung des Lebendigen an den handelnden Menschen, es verwirklichen zu lassen. Die Naturwesen überhaupt und jeder Mensch als lebendiges Wesen haben eine sittliche Bedeutung, weil die Möglichkeit ihrer Selbstverwirklichung den möglichen guten Handlungen des Menschen zugrunde liegt. Der Mensch ist für die Erhaltung der Natur sittlich verantwortlich, weil die lebendigen Wesen nur ihre Zwecke erfüllen können, wenn er durch eine freiwillige Handlung oder eine freiwillige Unterlassung ihrer Selbstverwirklichung zustimmt. Die Naturteleologie, deren Basis die Unterscheidung zwischen Form und Stoff ist, erweist sich als die ontologische Grundlage einer Pflichtenlehre. Mit der Ontologie des Lebendigen liefert Jonas die Begründung einer nicht anthropozentrischen Auffassung der Sittlichkeit und vor allem das für ihre Allgemeinverbreitung notwendige Weltbild. Bei Schelling gibt es keine Theorie der Pflichten des Menschen gegenüber der Natur und der Handlungen, die das Verständnis des Lebendigen fordert, aber er ist auch der Ansicht, dass die Sympathie des Menschen mit der Natur eine Haltung ist, die sich aus seiner Erkenntnis des Seins und der entsprechenden Überwindung der Reduktion der Rationalität auf äußere Zweckmäßigkeit ergibt.76 Das Verhalten, das dieser Haltung entspricht, wird bei Schelling einerseits im Rahmen der Ästhetik behandelt,77 sofern die Technik der Künstler das Innere bzw. die Lebendigkeit der Natur zur Erscheinung bringt und nicht eine sich selbst setzende, für die Selbsttätigkeit des Inhaltes unempfindliche Formgebung ist, und andererseits im Rahmen seiner Christologie, sofern sich Christus, der göttliche Mensch, in einem „magischen Zusammenhang mit der Natur“78, also ohne äußere Handlungen in Harmonie mit ihr befindet79. Schelling zieht aber keine spezifisch sittlichen Folgen seines Seinsverständnisses. Wichtig ist aber dabei, dass dieses bei Schelling und bei Jonas Achtung gegenüber der Natur erweckt.
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Ibid. S. 135. Ibid. S. 105. Schelling (1856 – 1861), SW 9, 497. Siehe Oesterreich (1994), S. 134 – 146. Schelling (1856 – 1861), SW 7, 463. Ibid. SW 5, 450. Schelling (1973), S. 176 – 177.
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D. Schlussbemerkungen
Jonas gründet die sittlichen (und politischen)80 Handlungen auf seiner Ontologie, aber seine Begründung des sittlichen Lebens des Menschen verweist in letzter Instanz auf Gott. Obwohl der Begriff „Metaphysik“ von Jonas vor allem mit seiner Ontologie des Lebens assoziiert und diese als eine rationelle Weltdeutung aufgefasst wird, welche im Gegensatz zur Theologie nicht das Glauben voraussetzt, benutzt er den Begriff in einem umfassenderen Sinne, der die Theologie einschließt. Die Theologie, die Jonas ansatzweise ausarbeitet, wäre dann samt der Ontologie eine Unterteilung seiner Metaphysik als Theorie der letzten denkbaren, übersinnlichen Gegenstände.81 Die sittlichen Handlungen sind in letzter Instanz theologisch begründet, weil sie auf der Ontologie als Lehre vom Sein beruhen und diese ihrerseits von der Theologie als Lehre von der göttlichen Gründung des Seins abhängt.82 Jonas postuliert einen Gottesbegriff, dem gemäß Gott zeitlich-werdend, leidend, sich um die Welt sorgend ist, und die Schöpfung, durch die er sich selbst erkennt,83 seine freiwillige Entäußerung darstellt. Die Schöpfung, welche in Anlehnung an die kabbalistische Idee des Zimzum das Resultat einer Selbstbeschränkung der Souveränität Gottes ist, ist zugleich ein Beweis seiner Zurückgezogenheit und seiner Lebendigkeit. Gott ist nicht eins mit der Welt, denn er hat ihrer Existenz vielmehr durch seine Abgezogenheit freien Raum gelassen, aber er leidet unter ihrem selbstständigen Werden. Wichtig ist vor allem dabei, dass sich Gott für die Schöpfung entschieden hat, obwohl er es hätte nicht tun können. Diese Theologie, welche wie bei Schelling einen werdenden Gott postuliert und die Schöpfung als ein kontingentes, also freiwillig von Gott gewolltes Ereignis betrachtet,84 hat eine sittliche Bedeutung, weil die Schöpfung das Primat des Seins vor dem Nichts rechtfertigt und mithin den Wert des Lebens, das sich immerhin nur gegen die Möglichkeit des Todes behauptet, begründet. Das „Prinzip der Förderung des Seins“ (Steinvorth)85 und folglich die menschliche Verantwortung weisen daher auf die Entscheidung Gottes hin, das Sein dem Nichts vorgezogen zu haben.86 Die Idee Gottes, die hierbei wie bei Kant eine sittlich relevante Vermutung ist, erlaubt dem Menschen, der aufgrund seiner Sterblichkeit vom Nichtsein weiß, zu verstehen, warum er auf die Bedürftigkeit des Lebens antworten soll, weil die bloße Faktizität derselben nicht ausreicht, 80 Jonas plädiert für eine Art von „Öko-Diktatur“. Die Umweltkrise ist für Jonas ein Ausnahmezustand, der fordert, vorübergehend die gewöhnlichen Entscheidungsverfahren der demokratisch-liberalen Gesellschaften außer Kraft zu setzen (s. Böhler, S. 211) und sie durch eine wirksamere Experten-Elite zu ersetzen. Das kollektive Handeln gründet auch für Jonas auf dem Schutz des Lebendigen. 81 Jonas (1992), S. 49, 123. 82 Hösle, S. 120. 83 Jonas (1992), S. 195. 84 Im Unterschied zu Schelling negiert aber Jonas die göttliche Lenkung der Geschichte. Der Gott Jonas’ begibt sich außerdem ganz in den Weltprozess hinein, „ohne Vorbehalt seiner Transzendenz“. s. Halfwassen (2000), S. 95. 85 Steinvorth, S. 156. 86 Lenzig bemerkt richtigerweise, dass Jonas das Sein von Gott her versteht und nicht Gott vom Sein her. Lenzig, S. 205 Fn.
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um die Handlung zu rechtfertigen, auf sie zu reagieren und nicht sie zu ignorieren. Wenn das „Nicht zum nicht Sein“87 das Erste in dem sittlichen Leben ist, liegt in Gott und folglich in der Theologie als hypothetischem und symbolischem Verständnis Gottes ihre letzte Quelle: „Die höchsten Werte sind in einer Region jenseits von Pflicht und Anspruch. Die ethische Dimension geht weit über die des Sittengesetzes hinaus und reicht in die erhabene Einsamkeit von Hingabe und letzter Selbstwahl, fern von aller Rechnung und Regel – kurz, in die Sphäre des Heiligen.“88 Von Gott kann man laut Jonas nur in der Form des Mythos, also durch das „Mittel bildlicher, doch glaublicher Vermutung, das Plato für die Sphäre jenseits des Wissbaren erlaubte“, sprechen89. Dies kann von einer rein rationalistischen Perspektive als ein Mangel gesehen werden. Aufgrund des symbolischen Charakters des Zugangs zu Gott hat aber die Vorstellung Gottes eine für die Ontologie schwierig zu erreichende Affinität mit den gewöhnlichen Selbstverständigungsstrategien des Menschen. Die Theologie Jonas’ entspricht so dem Sinn der Selbstauslegungsoperation des Daseins, die Jonas in seinem Gnosis-Buch als „Objektivation“ bezeichnet:90 einer vom Menschen unabhängigen, unbedingten Entität das eigene Selbstverständnis abzugewinnen. Jonas’ Mythos der Selbstentfaltung Gottes kann auch als eine Entäußerung „innere[r] Seins-Tatsachen“91 interpretiert werden, die es dem Menschen ermöglicht, sich durch die bewusste Verinnerlichung derselben als Weltstrukturen seiner eigenen Ausrichtung auf das Ganze zu vergewissern. Gott ist bei Jonas eine Idee, die eine Totalität impliziert, und den Einzelmenschen folglich auffordert, sich selbst zu transzendieren und sich selbst innerhalb eines Ganzen zu verorten. Die „spekulative Frage nach dem Ganzen“92 schlägt sich sowohl in einem mit den Resultaten der Naturwissenschaften verträglichen Weltbild als auch in einer hypothetischen Theologie nieder, die aufgrund der Unmöglichkeit, sie empirisch zu beweisen, nicht sinnlos ist, weil sie die Weltlichkeit der menschlichen Existenz symbolisch artikuliert und dem Menschen Orientierung gibt. Die Freiheitsschrift, die aufgrund ihrer bildhaften Sprache von Anfang ihrer Rezeption an mit einem Mythos gleichgesetzt wurde93 und deren Auffassung Gottes explizit anthropomorphisch ist, kann in diesem Sinne als eine symbolische Auslegung des Seins des Menschen gelten, die seiner Weltoffenheit als logoshaftem Wesen Rechnung trägt und zugleich seine sittliche und politische Verantwortung für die Erhaltung der Welt begründet. Die Verbindung der Selbsterkenntnis des Menschen mit dem Mythos des werdenden Gottes ist von dieser Perspektive her eine sittlich und politisch motivierte Selbstverständigungsstrategie, die doch keine psychologische 87 88 89 90 91 92 93
Jonas (1979), S. 250. Jonas (2010), S. 418. Jonas (1992), S. 193. Jonas (1954), S. 6 – 7. Ibid. S. 6. Jonas (1992), S. 251. Krause, S. 275.
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D. Schlussbemerkungen
Projektion ist, weil die Eigenschaften Gottes nicht nur für den Menschen, sondern für das Innerweltliche überhaupt gelten und weil die bildliche Darstellung des Werdens des Ganzen unausdrückliche Möglichkeiten des Menschseins zum Ausdruck bringt und deshalb einen für die menschliche Praxis antizipatorischen, gestaltenden Charakter hat.94 c) „Metaphysics“ – sagt Eric Voegelin – „is not a ,premise‘ of anything but the result of a process in which the philosopher explicates in rational symbols his various experiences, especially the experiences of transcendence.“95 Obwohl Voegelin häufig gegen die Metaphysik spricht, sofern sie eine zur Dogmatik tendierende, „propositionelle Wissenschaft von Prinzipien“96 wird, in der „the propositional form of philosophy has become a given mode of thought that has separated from the supporting mental operations“,97 schließt sein Gebrauch des Begriffes „Metaphysik“ auch dasjenige ein, was er als „Theorie“ bezeichnet, nämlich die Auslegung und indirekte Mitteilung der „meditativen“ oder „noetischen Erfahrung“.98 Voegelin ist der Ansicht, dass die Metaphysik als ein Wissen, das auf der Basis einiger grundlegender Prämissen ein Aussagensystem mit logischer Stringenz deduziert, unmöglich geworden ist. Sie hat nur Sinn im Rahmen einer Denkerfahrung, in der die Spannung des Menschen zu seinem unbekannten Grund und seine Zugehörigkeit zu einem Ganzen zum Ausdruck kommt. Metaphysische Begriffe wie „Welt“, „Grund“ oder „Gott“ sind für Voegelin, ähnlich den „formellen Anzeigen“ Heideggers, Anleitungen für eine Denkerfahrung, welche der Weltlichkeit des Bewusstseins, seiner Abhängigkeit von etwas außer ihm und seiner Zugehörigkeit zu einer Ordnung Rechnung tragen. Sie sind daher bloße „Indizes“, um die tieferen Dimensionen des bewussten Lebens bewusst zu artikulieren. Ohne das Bewusstsein der Endlichkeit und der Möglichkeit des Todes, ohne das Abhängigkeitsgefühl von einem unverfügbaren Grund und ohne Suche nach einer inneren Ordnung der Seele wäre laut Voegelin das spekulative Denken ein leeres Gedankenspiel. Voegelins Begriff der „noetischen Erfahrung“ geht von einer Theorie des Bewusstseins aus, der zufolge dieses kein „freischwebendes Etwas“99 ist, denn es wurzelt in seiner Leiblichkeit – durch die es „allen Seinsbereichen vom anorganischen bis zum animalischen angehört“100 –, in der symbolisch strukturierten Gesellschaft und in der Geschichte. Im Gegensatz zur Subjektivitätsphilosophie geht 94 Die Objektivation besagt nicht, dass die Spekulation nur ein Ausdruck schon vorhandener psychologischer Zustände ist, weil sie aufgrund ihres Anspruches, eine Darstellung des Ganzen zu sein, von der Konstruktion von Zusammenhängen und Sinnordnungen begleitet ist, welche die bekannte Erfahrung, sogar die des Konstrukteurs selbst, übertreffen: „… objective thought is the condition of possible experience“. Jonas (1969), S. 328. 95 Brief vom 10. Dezember 1953 an T. Cook. Zitiert von Gebhardt (2004), S. 342. 96 Voegelin (1966), S. 334. 97 Voegelin (2007), S. 535. 98 Voegelin (2004), S. 77. 99 Voegelin (1966), S. 340. 100 Ibid.
II. Aktualität des Schelling’schen Metaphysik-Verständnisses
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Voegelin davon aus, dass die Wurzeln des Bewusstseins tiefer sind als die vermutliche, ontologische Selbstständigkeit und der Selbstbesitz des Ich, und mithin kann dieses nicht als Grund der Erfahrung dienen: „Ontologisch gesprochen“ – sagt Voegelin – „findet das Bewusstsein in der Seinsordnung der Welt keine Stufe, die es nicht zugleich als sein eigenes Fundament erfahren würde. Der Mensch präsentiert sich in der ,Fundamentalerfahrung‘ des Bewusstseins als eine Epitome des Kosmos, als Mikrokosmos.“101 Das menschliche Bewusstsein ist hierbei wie bei Schelling ein Produkt eines ontologischen Prozesses, den es synthetisch darstellt, aber nicht begründet. Ein „Indiz“ wie „Welt“ hat die Funktion, die Zugehörigkeit des Bewusstseins zu einem ihn transzendierenden Ganzen „von innen“ zu erhellen und, sofern die Welt aus differenzierbaren Relationen zwischen verschiedenen Bereichen besteht,102 seine „Kompaktheit“ zu überwinden. Das Wissen, das die Metaphysik ermöglicht, lässt sich folglich nicht durch die Beziehung zwischen einem Subjekt und einem Objekt beschreiben. Es ist treffender zu sagen, dass es das situierte Ereignis einer Selbsterhellung des Seins durch die bewusste Selbsttranszendenz eines endlichen Seienden ist. Für diese Form des Wissens, die nicht im Rahmen der Intentionalität des Ichs und ihres Verständnisses der Realität als Gegenstand operiert, führt Voegelin in seinem Spätwerk den Begriff der „Luminosität“ ein. Sie ist die Wissensform, welche der alles umfassenden Unpersönlichkeit der „It-reality“ entspricht. Bis zu diesem Punkt kann aber der Mensch darum wissen, dass sein Bewusstsein in einer Vielfalt von aufeinander bezogenen Seinsbereichen fundiert ist, aber nicht, warum der Weltzusammenhang möglich ist. Der Index „Grund“ hat die Funktion, dieser Frage in der noetischen Erfahrung Platz zu geben. Der Grund ist eine Hypothese103 oder Annahme, die keine „konsistente Interpretation des ontologischen Erfahrungskomplexes“104 vermeiden kann und die das Wesen des Bewusstseins ausmacht: „Bewusstsein ist die Erfahrung des Partizipierens, und zwar des Menschen an seinem Seinsgrund.“105 Der Grund, der nicht wie im Mythos zur Welt gehört, wird von Voegelin mit Gott verknüpft. Ihm ist es aber nicht wichtig, positive Aussagen über Gott zu machen – „There is no knowledge of god’s nature“106 –, sondern die Abhängigkeit zu erfahren, welche die Annahme eines Jenseits der Welt impliziert. Das vernünftige Bewusstsein des Menschen, d. i. seine Rationalität,107 ist nur seine Spannung zum Grund und deshalb ist sie fast verschmolzen mit der Liebe, mit dem zur Selbsttranszendenz treibenden eros des Philosophen und mit der Religiosität als Verbindung mit dem Überweltlichen. Das verhindert aber nicht zu denken, dass der 101
Ibid. S. 52. Die Welt ist in dieser Hinsicht kein Gegenstand, sondern „der Index für den Realitätskomplex der Dinge und der Relationen zwischen ihnen, wenn ihre nicht-göttliche Eigenstruktur durch die Seinserfahrung sichtbar wird.“ (Ibid. S. 275). 103 Ibid. S. 57. 104 Ibid. S. 64. 105 Ibid. S. 315. 106 Voegelin (2007), S. 441. 107 Möres, S. 154. 102
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D. Schlussbemerkungen
Grund die Welterfahrung und mithin die verschiedenen Seinsbereiche anordnet und als verschiedene Erscheinungen eines einzigen Prinzips auftreten lässt: „Aus dem meditativen Erfahrungskomplex, in dem sich die Realität des Seinsgrundes erschließt, folgt dann die Nötigung, den weltimmanenten Seinsprozess durch einen Prozess im Seinsgrund bedingt sein zu lassen.“108 Die „Prozesstheologie“, zu der die Philosophie Schellings gehört, integriert die Vielfalt der Seinsbereiche mit der Einheit des Grundes und vermittelt dadurch zwischen der Transzendenz des Letzteren und der Welterfahrung. Die noetische Erfahrung endet so mit der Rückkehr zur Zugehörigkeit zur Welt als ein geordnetes Ganzes, das die Transzendenz des göttlichen Grundes durchschimmern lässt. Das spekulative Denken fängt mit der begrifflichen Differenzierung des dunklen Vorverständnisses eines Ganzen an, richtet sich dann auf einen letzten Grund, der das Ganze transzendiert und als Einheitspunkt seiner Vielfalt dient, und endet mit der Rekonstruktion des Ganzen vom Grund her in der Form eines sich selbst entwickelnden Gesamtzusammenhangs. Das Wissen, welches laut der griechischen Philosophie ein Zusammenleben der Menschen der Vernunft gemäß ermöglicht, also die pokitijµ 1pist¶lg, ist für Voegelin nicht von der Metaphysik unabhängig. Die politische Dimension der Vernunft erschöpft sich keineswegs darin, kohärente Zweck-Mittel-Beziehungen zu etablieren, sondern weist auf die Suche nach dem höchsten Guten hin: „Eine Wissenschaft vom rationalen Handeln des Menschen in Gesellschaft wird dadurch möglich, dass alle untergeordneten und teilhaften Zwecksetzungen des Handelns bezogen werden auf einen höchsten Zweck, auf ein summum bonum, d. h. auf die Ordnung der Existenz durch Orientierung am ,unsichtbaren Maß‘ göttlichen Seins.“109 In diesem Sinne spricht Voegelin von der „Grundlegung einer Staatswissenschaft im platonischen Sinne (die eine Geschichtsphilosophie einbezieht)“.110 Platonisch ist hierbei nicht nur die politische Relevanz der philosophischen Suche nach dem höchsten Gut, sondern auch ihr kritisches Potenzial, indem die Philosophie jede gegebene, kollektive Sinnordnung transzendiert. Stellt Letztere den Bereich der ,d|na‘ dar, muss die Philosophie auf ihre Herrschaft durch Förderung der „noetischen Erfahrung“ reagieren. Dafür ist nicht nur die Ausrichtung der Seele auf den göttlichen Grund, sondern auch ein Weltbild notwendig: „Die Voraussetzung des Unternehmens, das über bloße Meinungen (doxai) zur Wissenschaft (episteme) von der Ordnung vordringen will, ist eine durchgearbeitete Ontologie, die alle Seinsbereiche, vor allem die welt-jenseitigen, göttlichen, als real anerkennt.“111 Ohne eine Zusammenschau der Seienden und einen Bezug auf seinen Grund kann der Mensch nicht das wahre Maß des richtigen Handelns finden: „Die Probleme menschlicher Ordnung in Gesellschaft und Geschichte entspringen der Ordnung des Bewusst108
Voegelin (1966), S. 53. Voegelin (2004), S. 15. 110 Der Satz kommt aus einem Brief Voegelins vom 29. März 1951 über die „Die neue Wissenschaft der Politik“. Zitiert von Opitz (2004), S. 237. 111 Voegelin (2004), S. 15. 109
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seins.“112 Die Lösung der Probleme, welche die Handlungen von Individuen oder Gruppen zueinander betreffen, hängen von ihrem Selbstverständnis ab, weil die richtigen und die falschen Handlungen aus richtigen oder falschen Einsichten herkommen.113 Voegelin ist wie Schelling der Ansicht, dass die tiefsten Gründe der menschlichen Konflikte aus der Unordnung der Seele resultieren und folglich nur durch die Wiederherstellung ihrer Ordnung mittels der Einsicht in die Welt und ihren Grund überwunden werden können. Obwohl die Metaphysik die Handlungsmaßstäbe jeder kollektiven Sinnordnung transzendiert, ist dieser ihre Intervention im politischen Leben nicht wirklich fremd, weil jede Sinnordnung letztendlich auf der symbolischen Artikulation derselben Erfahrungen gründet, mit denen sich die Metaphysik beschäftigt. Jede politische Ordnung ist bei Voegelin doppelseitig: Einerseits ist sie eine „existenzielle Repräsentation“ und andererseits eine „transzendente Repräsentation“. Die Existenz der Gesellschaft ist dann möglich, wenn das Leben der Individuen durch eine Herrschaftsform gesichert ist, denn es gibt „kein eu zen, kein gutes Leben im aristotelischen Sinne, ohne das Fundament des zen“114. Die existenzielle Repräsentation betrifft die Differenzierung zwischen Regierenden und Regierten und die Bewältigung der Grundaufgaben, welche die Erhaltung des Lebens aller Mitglieder einer Gesellschaft gewährleisten können, vonseiten der Regierenden. Die politische Ordnung reduziert sich aber nicht auf das profane Problem der Machtorganisation und der Lebenssicherung. Die Gesellschaften sind auch Sinnordnungen, die durch gemeinsame Symbole strukturiert sind, weil die Angst des Menschen nicht nur auf die Sicherung seines Lebens beschränkt ist, sondern sich auf die Bändigung seiner existenziellen Unsicherheit ausdehnt. Die Menschen konfrontieren sich mit den Erfahrungen des Todes und der Geburt, mit der anfänglich sinnlosen Faktizität ihrer Existenz, mit der überwältigenden Macht der Natur und suchen diese Phänomene verständlich zu machen: „The search of order is the response to anxiety.“115 Die Symbole, welche immer die Transzendenzerfahrungen des Bewusstseins durch den Gebrauch von Analogien116 in für das objektivierende Bewusstsein verständliche, innerweltliche Erfahrungen verwandeln, sind in diesem Sinne eine verallgemeinerbare, bildliche, aus der Angst entstandene Auslegung der Existenz des Menschen. Wie die Geschichte der ersten Zivilisationen beispielhaft zeigt, sind Politik und Religion daher unzertrennlich. In den „kosmologischen Reichen“ (Ägypten, Mesopotamien, Persien, China) waren die symbolische Artikulation der existenziellen Sorge der Individuen mittels des Mythos und die Strukturierung der Gesellschaft, also ihre Rollen- und Funktionenverteilung, zwei Seiten desselben Phänomens. Die Naturreligion war die Grundlage der Ordnung der Seele und zugleich der gesell112 113 114 115 116
Voegelin (1966), S. 7. Ibid. S. 251. Ibid. S. 350. Voegelin, zitiert von Gebhardt (2004), S. 346. Möres, S. 141.
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D. Schlussbemerkungen
schaftlich-politischen Ordnung, weil diese als eine Abbildung der kosmischen Ordnung gesehen wurde: „Das Reich ist ein kosmisches Analogon, ein Mikrokosmos als Spiegel des allumfassenden Makrokosmos.“117 Die politische Ordnung ist daher ein „Kosmion“, ein Mikrokosmos, an dem die Menschen als geistige, zur Deutung und Erschaffung von Symbolen fähige Wesen teilnehmen. Auf dieser Basis war die Intervention der Philosophie im politischen Leben möglich. Voegelin unterscheidet in der Geschichte drei Symbolisierungsphasen, deren Differenzierungsgrad bzw. Überwindung der „Kompaktheit“ – Voegelin begreift in Anlehnung an Schelling118 die Geschichte als ein von dem Undifferenzierten zum Differenzierten übergehender Prozess– steigend ist, und die jeweils eine kollektive Sinnordnung gründen. In den kosmologischen Reichen sind Mensch und Gott mit der Ordnung der Welt, also der Natur verschmolzen. Diese Ordnung wird aber in der „Achsenzeit“ (Jaspers), insbesondere in der Periode um 500 v. Chr., brüchig. Es ist die Zeit, in der die Philosophie in Griechenland aufblüht und die menschliche Seele als die neue Quelle der Wahrheit entdeckt wird. Die Harmonie mit dem Kosmos verliert an Bedeutung als Grundlage der religiösen und politischen Ordnung und die für die Transzendenz offene Seele, wie der Fall von Sokrates am deutlichsten aufzeigt, tritt im Gegensatz zu den kosmischen Mythen als der neue Maßstab der Wahrheit auf. Was Voegelin das „anthropologische Prinzip“ nennt, ist die Verwandlung der menschlichen Seele, so wie sie durch „noetische Erfahrung“ entdeckt wurde, in das, was symbolisiert werden soll und als Kriterium der Ordnung überhaupt politisch wirksam werden soll. Die Gesellschaft „soll nicht nur ein Mikrokosmos sondern auch ein Makroanthropos“ sein.119 Mensch und Natur werden in dieser Phase klar differenziert, Gott aber nicht. Nur durch das Christentum tritt Gott in einer von den anderen Bereichen klar differenzierten Form auf. Die „anthropologische Wahrheit wird durch die „soteriologische Wahrheit“ des Christentums verschoben, aber auch bewahrt. Der Gottesbegriff des Christentums ist nicht ein unbewegter Beweger oder ein letzter Zweck, weil Gott sich dabei offenbaren kann, und er ist deswegen im Wesentlichen eine niemals vollkommen begreifbare Selbstbewegung. In dem „Hinneigen Gottes zur Seele in der Gnade“,120 die übernatürlich und unverfügbar ist, liegt der große Unterschied des Christentums zur griechischen Philosophie. Die Offenbarkeit des christlichen Gottes schafft nicht die aufsteigende Bewegung der Seele zu ihm ab, verleiht ihm aber die kontingente Möglichkeit, sich vermittels einer absteigenden Bewegung in der sinnlichen Welt zu zeigen, und dadurch radikalisiert seine Transzendenz. Nur durch das Christentum wird die Transzendenz Gottes vollkommen differenziert. 117
Voegelin (2004), S. 69. Day, S. 222. 119 Voegelin (2004), S. 75. „Nicht nur…“ weil die kosmischen Mythen noch einen begrenzten und durch die Wahrheit der Seele tief verwandelten Wahrheitsgehalt haben. In diesem Sinne ist z. B. Platons Timaios zu deuten. 120 Ibid. S. 90. 118
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Das Christentum setzt außerdem ein Prinzip fort, das die griechische Philosophie entdeckt hatte und in dem das Wesentliche seiner Kritik an allen nicht-noetischen Interpretationen der politischen Ordnung enthalten ist: die Idee der gesellschaftlichen Einheit als die geistige Einheit derjenigen, die den nous zum Göttlichen erhoben haben.121 Voegelin zufolge versteht Aristoteles die Liebe zum göttlichen nous als Kern der philia122 und diese als Zentraltugend der politischen Gemeinschaft: „Diese Freundschaft ist für Aristoteles die Substanz der politischen Gemeinschaft. Sie besteht in der homonoia, der geistigen Übereinstimmung zwischen Menschen. Sie ist zwischen Menschen nur insofern möglich, als diese in Übereinstimmung mit dem nous, das heißt mit dem Göttlichen in ihnen, leben. Alle Menschen haben Teil am nous, wenn auch mit unterschiedlicher Intensität, sodass die Liebe zu ihrem noetischen Selbst den nous zu dem sie vereinigenden Band macht.“123 Das bedeutet, dass die Vernunft, indem sie die Ausrichtung des Denkens auf das Transzendente ist, die einzige Kraft ist, welche ein dauerndes und der Wahrheit gemäßes, soziales Band stiften kann. Aristoteles hat aus der Sicht Voegelins im Philia-Traktat der „Nikomaischen Ethik“ die heraklitische Idee des nous als Zugang zur gemeinschaftlichen Welt der „Wachenden“ (B 89) aufgenommen.124 Die Vernunft ist bei Heraklit das allen Gemeinsam-Öffentliche (numºm), woran die Menschen, die sich an ihrer Eigenheit festhalten, also die „Idioten“, nicht teilnehmen. Sie „träumen“, weil sie ihre private Einsicht (id¸a vqºmgsir) für die Realität selbst ausgeben möchten. Die Philosophie soll aber – und das ist auch bei Aristoteles und noch deutlicher bei Platon der Fall – das Gemeinsame wiedergewinnen und politisch geltend machen. Das ist gerade das Ziel der „politischen Wissenschaft“. In diesem Sinne schließt das platonische und aristotelische Denken125 bei Voegelin an das Fragment B114 Heraklits an: „Nötig ist, dass die mit nous sprechen, sich stark machen mit dem GemeinsamÖffentlichen von allen, wie die Stadt mit dem Gesetz und noch viel stärker. Nähren sich doch alle menschlichen Gesetze von dem einen Göttlichen; dieses aber herrscht, soweit es will und reicht für alles und darüber hinaus.“126 Die „soteriologische Wahrheit“ des Christentums, die über jede „Machtorganisation der Gesellschaft“127 hinausführt, im Unterschied zur Theokratie Platons zwischen einer temporalen und einer spiritualen Ordnung differenziert128 und eine universale Gemeinschaft stiftet, 121
Voegelin (2004), S. 90. Voegelin (1966), S. 129. 123 Voegelin (2004), S. 90. 124 Voegelin (1966.), S. 130. 125 Voegelin versucht, den Unterschied zwischen Platon und Aristoteles bezüglich der politischen und ethischen Bedeutung der Metaphysik zu minimieren. In dieser Hinsicht ist bei ihm der aristotelische Begriff des spoudaios von großem Belang, weil dieser aus seiner Sicht eine Vermittlung zwischen dem Philosophen und dem phrónimos ist. Hier ist aber nicht der Ort, um die Interpretation Voegelins von der Beziehung zwischen Platon und Aristoteles zu beurteilen. 126 Die Übersetzung kommt aus Brandner (2004), S. 303. 127 Voegelin (2004), S. 121. 128 Voegelin (2002), S. 270. 122
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D. Schlussbemerkungen
welche sich die an den Engraum der Polis verbundene, griechische Philosophie schwerlich vorstellen konnte,129 nämlich die Kirche, verstärkt diese Einsicht und verleiht ihr ihre volle Bedeutung, weil dem christlichen Gott tatsächlich ein freier Wille zur Offenbarung zugeschrieben werden kann. Christus ist in der Tat die sich aus einer absteigenden Bewegung ergebende Verkörperung der göttlichen Realität, die als Liebe über das Gesetz hinaus herrscht. Dem christlichen Monotheismus geht es um die Stiftung des Gemeinsamen, „denn welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder“,130 aber er unterscheidet sich von der griechischen Philosophie aufgrund der Radikalisierung der Transzendenz Gottes. Derselbe „noetische Kern“ ist doch in der klassischen Philosophie und in den Evangelien vorhanden.131 Das Christentum, das Christus im Johannesevangelium als Inkarnation des logos ansieht, integriert in sich selbst den Vernunftbegriff der griechischen Philosophie, bedient sich der Idee des Menschen als imago dei, um die periagogé umzudefinieren, verbindet die Irrationalität mit dem Übergang vom amor dei zum amor sui132 und verwandelt die auf den nous gegründete philia in die Gemeinschaftserfahrung der Kirche. Auf diese Weise erbt es von ihr die Idee einer Gemeinschaft, die sich von jeder nicht-noetischen Ordnung der Gesellschaft abgrenzt: „Die kritische Autorität gegenüber der älteren Wahrheit der Gesellschaft, welche die Seele durch ihr Öffnen und ihr Hinwenden zu dem unsichtbaren Maß erlangt hatte, wurde jetzt durch die Offenbarung des Maßes selbst bestätigt.“133 Voegelins Rekonstruktion der Geistesgeschichte ist nicht sittlich-politisch neutral, denn er zielt darauf ab, den griechisch-christlichen Vernunftbegriff, der immer an eine Form von geistiger Übung gebunden ist, gegen das Verständnis der Rationalität in der Neuzeit und gegen die modernen Ideologien zu richten. Die Moderne ist für Voegelin eine Epoche, in der einerseits unter dem Einfluss des Positivismus jedes Wissens um das Gute zu einem irrationalen „Werturteil“ herabgesetzt wird und andererseits „gnostische“ Ersatzreligionen entstehen134. Beiden Phänomenen ist die 129
Opitz (1981), S. 31. Bibel, Röm 8, 14. 131 Voegelin, zitiert von Möres, S. 184. 132 Voegelin (2004), S. 91. 133 Ibid. 134 Voegelin differenziert verschiedene Formen der „Gnosis“, je nachdem „welche Fähigkeit bei der Bemühung, Gott in den Griff zu bekommen, vorwiegend beteiligt war“ (Voegelin (2004), S. 135), und kommt so zur kontemplativen Gnosis des deutschen Idealismus (von der Schelling ausgenommen wird, solange es in seiner Metaphysik Elemente einer negativen Theologie gibt), zur emotionalen der „parakletischen Sektiererführer“ und zur aktivistischen Gnosis des Marxismus. Ihnen ist der Versuch gemeinsam, die Verborgenheit des Grundes der Existenz vollkommen durchsichtig zu machen – z. B. bei Hegel als spekulative Durchdringung Gottes. „Die gnostische Spekulation“ – sagt Voegelin – „überwand die Ungewissheit des Glaubens dadurch, dass sie sich von der Transzendenz abwandte und den Menschen in seinem innerweltlichen Handlungsbereich mit dem Sinn einer eschatologischen Erfüllung ausstattete. In demselben Ausmaß, in dem diese Immanentisierung erlebnismäßig voranschritt, wurde die zivilisatorische Betätigung zu einem Werk der Selbsterlösung.“ Voegelin (2004), S. 140. 130
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Verkennung des griechisch-christlichen Vernunftbegriffs gemeinsam. Seine Rehabilitierung soll einerseits verhindern, die Rationalität mit den Beweisverfahren der Naturwissenschaften gleichzusetzen und die noetische Erfahrung, also die Selbsterhellung des Seins im menschlichen Bewusstsein, als ihre wichtigste Manifestation zu positionieren. Andererseits richtet sich die Rehabilitierung dieser Rationalitätsform gegen die modernen Ideologien, die in der Form von pseudowissenschaftlichen Systemen auftreten und als Ersatzreligionen dienen. Letztere basieren laut Voegelin auf einer Heilserwartung, die im Gegensatz zum Christentum in der Welt erfüllt werden soll, und ahmen den Universalismus des Monotheismus nach. Die Versuche Napoleons oder Stalins, ein dauerndes, ein Paradies auf der Erde versprechendes Imperium zu errichten, sind für Voegelin eine Folge der gnostischen Deutung des Ökumenismus des Christentums und seiner eschatologischen Auffassung der Geschichte. Der Mensch ist für ideologische Selbstdeutungen anfällig, welche diese politischen Projekte legitimieren, indem er ein leibzentriertes Wesen geworden ist, die bedrohende Ungewissheit der Zukunft deshalb intensiv erlebt und sich wegen seiner gleichzeitigen Selbstvergöttlichung einbildet, sich selbst zu erlösen. Schellings Verständnis des Bösen besagt nichts anderes. Ist dies der psychologische Kern der modernen, immer zur Revolution tendierenden Politik, soll die Therapie auch auf der Ebene des Bewusstseins des Individuums bleiben. Das Böse ist für Voegelin wie für Schelling eine geschichtlich wirksame Kraft, der nur eine religiöse Gegenkraft Widerstand leisten kann. Das Mittel zur Erweckung des geistigen Widerstands ist die Geschichte. Die menschliche Geschichte ist für Voegelin die Geschichte der verschiedenen Versuche des Menschen zu deuten, was die Welt ist und warum die Welt möglich ist, und die diesen Deutungen entsprechenden, politischen Ordnungen. Die Geschichte ist bei Voegelin wie bei dem späten Schelling eine Reihe von kollektiven Sinnordnungen, welche die als real erlebte Partizipation des menschlichen Bewusstseins an einem transzendenten Grund der Welt symbolisch zum Ausdruck bringen.135 Sie ist deswegen grundsätzlich Religionsgeschichte. Durch die Hinterfragung der verschiedenen Formen des Gottesverständnisses in der Geistesgeschichte kann jeder Mensch seine eigenen metaphysischen Fragen artikulieren, weil jene aus Symbolen bestehen, die aufgrund der Gemeinsamkeit der Erfahrung, die sie artikulieren, mit den Selbstdeutungserfahrungen der zeitgenössischen Menschen verständlich bleiben. Anders gesagt: Das Verstehen der Geschichte ist selbst eine Anleitung zur noetischen Erfahrung, weil aufgrund der Unveränderlichkeit der strukturellen Momente des bewussten Lebens – der Zugehörigkeit zu einem Ganzen, des Bezuges auf einen transzendenten Grund, der Erfahrung der Teilnahme an der Selbstentfaltung eines geordneten Ganzen – das Verstehen jeder geschichtlichen Sinnordnung, also das Verstehen einer symbolischen Artikulation dieser Momente, eine Selbstdeutungserfahrung ermöglicht. In der Freiheitsschrift hat Schelling ansatzweise diese Idee formuliert, weil die Prinzipien, die der menschliche Geist enthält, dieselben Prin135 Voegelin lehnt sich in diesem Punkt ausdrücklich an Schelling an. Darüber s. Voegelin (1997), S. 228.
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D. Schlussbemerkungen
zipien sind, welche die gesamte menschliche Geschichte konstituieren. Aufgrund dieses Isomorphismus ist die Geschichtsbetrachtung Schellings keine dem geistigen Leben fremde Rekonstruktion von politischen Ereignissen, ihren Ursachen und Folgen, sondern ist als Ganzes die Erzählung eines Prozesses, aus der jeder Einzelmensch den Konstitutionsprozess seiner eigenen Identität herauslesen kann. Die Grundunterscheidung zwischen der Phase der natürlichen Religionen bzw. der Mythologie, samt den ihr entsprechenden politischen Ordnungen, also der „kosmologischen Reiche“ im Sinne Voegelins, und der Phase der übernatürlichen Religion oder der Offenbarung im engsten Sinne, d. i. dem Christentum, dessen politischer Ausdruck ein überstaatliches Reich ist, verweist in der Tat auf die asymmetrische Beziehung des Reellen und des Ideellen und auf die Fähigkeit einer potenzierten Form des Ideellen, sich selbst und das Reelle in ein Ganzes zu integrieren. Die menschliche Geschichte ist letztendlich ein Ausdruck der Ganzheit des Geistes und folglich ein Ausdruck Gottes. Das Verstehen der Geschichte, deren Ganzheit und Evolution der Ganzheit und der Evolution des Geistes des Einzelmenschen analog ist, erlaubt diesem, sich selbst zu erkennen, weil der Prozess, in dem die menschliche Gattung allmählich vergeistigt wird, seine eigene Bestimmung widerspiegelt. Das Verstehen der Geschichte, das zugleich ein Verstehen Gottes ist, ist daher auch für Schelling eine indirekte Form von Selbsterkenntnis. Das Verstehen der Geschichte hat bei Voegelin politische Folgen. Daraus soll eine Abkehr vom Anspruch der Ideologien folgen, ein geschlossenes Aussagensystem zu bilden, denn es ist nur eine Reaktivierung der Selbstbefragung des Menschen, die nicht zur Bildung einer neuen Weltanschauung führt. Die Geschichte ist eben ein offenes Feld und deshalb lässt sie nicht zu, ihren Sinn in der Form eines Aussagensystems herauszukristallisieren. Gegen die Geschichtsphilosophie, welche die modernen Ideologien enthalten, und insbesondere gegen den Marxismus behauptet daher Voegelin: „Die Geschichte hat kein eidos, weil der Ablauf der Geschichte sich in die unbekannte Zukunft erstreckt. Der Sinn der Geschichte ist also eine Illusion.“136 Geschichtlich zu denken heißt nicht, das Ziel der Geschichte entziffert zu haben, sondern durch das Verstehen der verschiedenen Sinnordnungen und ihre Abfolge – Kosmologische Reiche, Griechenland, Christentum – die Frage nach dem summum bonum zu verlebendigen. Diese intellektuelle Erfahrung lässt viel offen, weil die letzte entscheidende Phase der Geschichte, das Christentum, durch ihre Offenheit gekennzeichnet ist. Eine christliche Sicht der Geschichte erlaubt nicht zu bestimmen, was in der Welt am Ende der Zeit vorkommen wird, „precisely because it [„the final goal“] is not an object of innerwordly experience“.137 Der Glaube und die Hoffnung sind auf das Übersinnliche und das Überweltliche bezogen. Wenn das Wissen auf weltliche Ereignisse verweist, implizieren jene ein Nichtwissen. Ist das Christentum die letzte Phase der Geschichte, stellt es in der Tat die Vollendung früherer Phasen dar, aber es geht um eine rätselhafte Vollendung, weil kein inner136 137
Voegelin (2004), S. 131. Brief von Voegelin an A. Schutz am 10. 1. 1953. In: Opitz/Sebba (1981), S. 459.
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weltliches Ereignis als Endpunkt derselben gelten kann. Ist die Geschichte das Medium, um die politisch entscheidende Frage nach dem summum bonum zu reflektieren, ist eine christliche Konstruktion derselben ein Mittel, die Identifizierung des politisch Guten mit den geschichtlichen Projektionen der neuzeitlichen Weltanschauungen zu verhindern. Die wahre politische Wissenschaft orientiert sich in der Tat an dem summum bonum, aber sie kommt deswegen nicht zu einer systematischen Theorie des Guten, „weil es keinen politik-wissenschaftlichen Bestand an Sätzen, vergleichbar dem der Mathematik gibt, die axiomatisiert werden können“.138 Die politische Bedeutung des Ungrundes in der Freiheitsschrift hat dieselbe, negative Funktion. Der Ungrund rechtfertigt ein politisch relevantes Nichtwissen, weil er gegen jede utopische Geschichtsphilosophie und ihre Immanentisierung des Eschatons gerichtet ist. Aus der Sicht Schellings ist dies nichts anderes als politische Schwärmerei. Die spätere Philosophie der Offenbarung, die, wie Sandkühler richtig bemerkt, u. a. dem (französischen) Kommunismus Widerstand leisten will, ist in einer politischen Hinsicht eine Radikalisierung dieser Idee, welche die Unberechenbarkeit und Ereignishaftigkeit des Handelns Gottes in der Geschichte betont. Eine christliche Betrachtung der Geschichte ist von diesem Standpunkt aus mit keiner alle möglichen Ereignisse voraussehenden, sich für ein vollständiges Aussagensystem ausgebenden Weltanschauung verträglich. Voegelins Auffassung der Geschichte hat aber auch eine konservative, traditionalistische Dimension, die als Gegengewicht zur Offenheit der Geschichte fungiert. Das Verstehen der Geschichte hat auch zur Folge, die existenzielle Bedeutung des Christentums zu verlebendigen und seine Symbole in die einzige legitime Quelle der politischen Integration zu verwandeln. Die Genealogie des Christentums zielt auch darauf ab, alle vorchristlichen Phasen der Geschichte von seiner Perspektive her zu interpretieren und die Superiorität des Christentums zu rechtfertigen. Voegelins Kritik an den „gnostischen“ politischen Programmen der Moderne basiert u. a. darauf, dass diese die maximale Differenzierung der Seinsebenen – Welt, menschliche Seele und Gott – rückgängig machen.139 Die maximale Überwindung der „Kompaktheit“ wird im Christentum erreicht, sodass die Verweltlichung des Sinns der Geschichte nicht nur eine Negation der Transzendenz Gottes, sondern einen Entdifferenzierungsprozess darstellt. Trotz der Insistenz Voegelins, die Idee des geschichtlichen Fortschrittes abzulehnen, setzt er sie voraus und sieht die Entdeckung der Transzendenz Gottes durch das Christentum als den höchsten Punkt der Geschichte an. Die Neuzeit, sofern sie der Zeitraum der völligen Entfaltung der Ansprüche der Gnosis ist, ist deshalb ein geschichtlicher Rückschritt. Voegelin geht davon aus, dass der Mensch ein Wesen ist, dessen Selbstverständnis von symbolischen Weltbildern abhängt, und versucht dann, durch das Verstehen der Geschichte das Selbstverständnis der zeitgenössischen Menschen an eine reflexive Aneignung der christlichen Symbolik zu binden: „Die Rückwendung von Symbolen, die ihren 138 139
Voegelin (1966), S. 284. Faber (1994), S. 40.
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D. Schlussbemerkungen
Sinn verloren haben, zu den sinn-konstituierenden Erfahrungen ist so klarerweise unser Gegenwartsproblem.“140 Salopp gesagt geht es Voegelin um eine antimarxistische Verlebendigung der christlichen Tradition. Dafür spricht auch, dass Voegelin die noetische Erfahrung mit der amerikanischen Form der Zivilreligion durch den Begriff des „common sense“141 in Verbindung bringt und dadurch eine bestimmte Sinnordnung mit dem wahren Selbstverständnis des Menschen und mit der wahren Ordnung der Geschichte identifiziert. Bei dem späten Schelling ist die Situation ziemlich ähnlich. Die Geschichte ist für ihn zwar ein offener Prozess, aber eine christliche Monarchie und die ständische Strukturierung der Gesellschaft ist allen anderen politischen Programmen überlegen. Sie sind nicht der Endpunkt der Geschichte, aber sie sind jedenfalls die bestmögliche Ordnung in der Welt. Die Philosophie der Offenbarung könnte ohne große Schwierigkeiten als eine proto-existenzialistische Interpretation des Christentums interpretiert werden, welche die Gültigkeitsansprüche aller staatlich-politischen Programme außer Kraft setzt, aber zugleich eine einzige politische Ordnung als die weniger schlechte Alternative legitimiert und die Tradition, auf der sie gründet, durch die Philosophie rehabilitiert: eine christlich geprägte Monarchie. Voegelins philosophische Untermauerung der christlich-konservativen Weltanschauung der amerikanischen Rechten ist nicht weit davon entfernt. Voegelins Philosophie mündet jedoch nicht in dieses Oxymoron, in einen intellektualistischen Traditionalismus, weil keine gegebene politische Ordnung die noetische Erfahrung und die Transzendenz Gottes adäquat repräsentiert – auch nicht die amerikanische Demokratie. Die politischste Dimension der Transzendenz Gottes besteht eben in der augustinischen Trennung zwischen der profanen und der heiligen Geschichte und dementsprechend in der Trennung jeder vom Menschen gestifteten, politischen Ordnung von der Kirche. Die Kirche ist die einzige wahre Gemeinschaft und sie transzendiert die Ordnung jedes Staates und jedes Imperiums. Voegelin kritisiert alle Versuche, die politische Einheit der Welt zu erreichen, und deswegen lehnt er nicht nur den sowjetischen Kommunismus sondern auch das liberale Verständnis von Organisationen wie der UNO ab, aber er ist auch davon überzeugt, dass alle universalistischen Weltbilder mit der Entstehung von Imperien zusammenhängen. Die Periode, die er das „ökumenische Zeitalter“ nennt, also die Phase zwischen dem 8 Jh. vor Christus und dem 8 Jh. nach Christus, ist die Zeit der Entstehung der großen Religionen und der Stiftung von Reichen, die sich tendenziell bis zu den Grenzen der damals bekannten Welt ausdehnen wollten. Ein Imperium ist deshalb „a power Organisation, informed by the pathos of representative humanity, and therefore representative mankind“142. Voegelin, wie G. Barraclough richtig 140
Voegelin, zitiert von Opitz (1981), S. 63. „Wir könnten dann weiter den Ausdruck Dummheit [amathia; C. R] als Gegensatz zum common sense gebrauchen, wobei common sense als die Fähigkeit des geistig und vernunftmäßig gesunden Menschen (des common man im angelsächsischen Sinne) zum richtigen Handeln in der täglichen Gesellschaft zu verstehen wäre.“ Voegelin (1966), S. 252. 142 Voegelin, zitiert von Barraclough, S. 176. 141
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bemerkt, interessiert sich vor allem für den Niedergang der Imperien und ist der Ansicht, dass alle zum Scheitern verurteilt sind, weil keine Machtorganisation wirklich global sein kann und weil ein Imperium immer über eine Vielheit von Völkern herrschen soll, deren Selbstständigkeit seine Einheit von innen her früher oder später zerstört.143 Alle Imperien implizieren eine „concupiscential expantion“ und stellen „the concupiscence of power“ dar144, die mit der Intensivierung des Identitätsgefühls der eroberten Völker und zuletzt mit dem „death of the giants“145 endet. Schellings Beschreibung der Reichsbildungen als einer politisch-religiösen Form der „Sehnsucht“ oder als einer „rotatorischen Bewegung“, die natürlich die „Universalmonarchie“ Napoleons einbezieht, geht in dieselbe Richtung. Voegelin sieht in dieser Hinsicht keinen Unterschied zwischen den antiken und den neuen Imperien. Der Universalismus der neuzeitlichen Ideologien ist eine „gnostische“ Version des ökumenischen Zeitalters, welche die Sinnlosigkeit der Suche nach der politischen Einheit der Welt immer wieder wiederholen. Die großen Religionen sind für Voegelin doch gemeinschaftsbildend und universalistisch. Das Christentum hat natürlich diese Eigenschaften. Sein Universalismus gründet nicht nur darauf, dass es eine monotheistische Religion ist, sondern auch auf der Tatsache, dass es den griechischen Vernunftbegriff einschließt. Das Christentum kann sich in bestimmten gesellschaftlichen Ordnungen niederschlagen, aber es tendiert notwendigerweise zur Bildung einer Weltgemeinschaft, die sich über alle partiellen kollektiven Ordnungen, über die Rechtsgemeinschaften und die nationalen Bindungen erhebt. Letztendlich hat es den Anspruch der klassischen Philosophie geerbt, das Gemeinsame auf der Basis der Vernunft und nicht auf den nationalen Traditionen, der sprachlichen oder ethnischen Bindungen oder dem Recht, das immer mit dem Zwang zusammenhängt, zu gründen. Bezieht man sich auf die Folgen der Argumentation Voegelins – und nicht auf seine ausdrücklichen Thesen – ist es die politische Aufgabe der Metaphysik, diese Gesinnungsgemeinschaft zu erschaffen. In Griechenland bestand jene nicht darin, „die Gesellschaft in eine philosophische Akademie zu verwandeln, sondern umgekehrt, die paradigmatische Ordnungserfahrung in solcher Gestalt in den öffentlichen Institutionen der politischen Welt zu inkorporieren, dass sie selbstevidente Maxime der gesellschaftlichpolitischen Existenz auch der Vielen zu sein vermag“.146 Nach der Entstehung des Christentums sind die Vielen nicht die Bürger der Polis sondern alle Menschen. Die Rekonstruktion der Geschichte von einem christlichen Standpunkt her hat dann zum Ziel, eine Denkerfahrung zu ermöglichen, die aufgrund der Universalität der Struktur des Bewusstseins alle Menschen als geistige Wesen zur Einheit bringt. Die bewusste Aneignung der christlichen Symbolik, die keine willkürliche neue Mythologie, sondern eine schon geschichtlich reelle Artikulation der strukturellen Momente des 143 144 145 146
Ibid. S. 176 – 177. Ibid. S. 174. Ibid. S. 177. Gebhardt (1981), S. 338.
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D. Schlussbemerkungen
Bewusstseins ist, ist das Medium dafür. Das Christentum ist metaphysisch relevant wegen seiner Position bezüglich der Transzendenz Gottes und des offenen Charakters der Geschichte, aber auch wegen seines Universalismus. Auf seiner Basis wäre es möglich, das Manko der globalen Institutionen zu überwinden, also die „Errichtung einer internationalen Ordnung im luftleeren Raum ohne Beziehung zur Struktur des existenziellen Kraftfeldes“147. Voegelin plädiert nicht ausdrücklich für ein solches universalistisches, politisch-theologisches Projekt, aber dieses lässt sich von der hier vorgeschlagenen Interpretation seines Denkens ableiten und folglich mit der Freiheitsschrift Schellings in Zusammenhang bringen. Schelling, der in der Periode, in der er die Freiheitsschrift und die Weltalter schreibt, an eine Philosophie „für das Volk“ denkt, versucht eine Tradition zu verlebendigen, die wegen ihres Universalismus alle Menschen ansprechen kann und wegen des übernatürlichen Charakters ihrer Idee Gottes – Gott gründet auf der Natur, aber er ist nicht eigentlich Natur – den politischen Utopien der Aufklärung Widerstand leisten konnte. An Gott zu glauben heißt nicht bei ihm wie bei Voegelin, ein Abhängigkeitsgefühl von einem unbegreiflichen transzendenten Grund zu erleben. Schelling kennt zwar den Vorbehalt gegen die begriffliche Bestimmung des Göttlichen, aber er verteidigt auch die Möglichkeit, Gott und seine Eigenschaften positiv zu begreifen. Gott als Geist ist für ihn ein notwendiger Inhalt der menschlichen Vernunft, ein Inhalt, der die einzige Möglichkeit darstellt, eine Weltgemeinschaft zu bilden. Die politische Aufgabe der Philosophie besteht darin, auf der Basis einer Naturhermeneutik und einer Geschichtshermeneutik, eine Form des Selbstverständnisses des Menschen zu fördern, aus der sich eine transnationale und überstaatliche Gesinnungsgemeinschaft ergeben kann. Das summum bonum, politisch gesehen, ist die Errichtung dieser theologisch fundierten Gemeinschaft, welche die Existenz des Menschen als Gattung betrifft. Alles, was dazu beiträgt, sie Schritt für Schritt entstehen zu lassen, gilt für Schelling als politisch gut, einschließlich der philosophischen Wiederaneignung existenziell bedeutsamer und geschichtlich wirksamer Symbole. Die Freiheitsschrift ist in dieser Hinsicht ein politisches Werk, das dank ihres Beitrages zur Ausbreitung eines dem Wesen Gottes entsprechenden Selbstverständnisses des Einzelmenschen das Ende der Geschichte beschleunigt und die Tätigkeit Gottes in der Geschichte zur Erscheinung bringt. Nimmt der Mensch bewusst an dieser Tätigkeit teil, bildet er in einer politischen Hinsicht die innere Ordnung Gottes ab. Was Voegelin über die Erschaffung der kosmologischen Reiche sagt, gilt auch für die Errichtung eines christlichen Reiches: „Eine Herrschaft zu errichten ist der Versuch, eine Welt zu erschaffen. Wenn der Mensch das Kosmion politischer Ordnung erschafft, wiederholt er analog die göttliche Schöpfung des Kosmos. Die analoge Wiederholung ist kein Akt vergeblicher Nachahmung, denn indem der Mensch wiederholt, hat er in dem Masse, wie es seine existenziellen Beschränkungen erlauben, Teil an der Erschaffung der kosmischen Ordnung selbst.“148 147 148
Voegelin, zitiert in Faber (1994), S. 55. Voegelin (2002), S. 55.
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2. Bilanz Die Metaphysik ist sittlich und politisch relevant, sofern sie eine Selbstdeutungsoperation fördert.149 Sittlich ist sie in dem Maße wirksam, wie sie das Selbstverständnis des Einzelmenschen in Richtung auf das Gute umgestaltet. Sie zentriert sich nicht auf die menschlichen Handlungen, sondern auf die Erweckung einer Grundhaltung, die alle einzelnen Handlungen dem Guten gemäß prägt. Politisch ist sie wirksam, sofern das Gemeinsame auf der Basis des Selbstverständnisses jedes Menschen entsteht. Eine Politik, die für die Innerlichkeit des Menschen blind ist, ist gegen den Einfluss der Metaphysik gefeit. Geht sie doch von jener aus, und artikulieren die politischen Weltanschauungen oder die politisierten Symbole der Religionen die Grundmomente des inneren Lebens, so kann sich das Politische nicht dem Einfluss der Metaphysik entziehen. In diesem Sinne behauptet Schelling: „Metaphysik ist, was Staaten organisch schafft und eine Menschenmenge Eines Herzens und Sinns, d. h. ein Volk werden lässt.“150 Wichtig ist dabei, dass sich die Metaphysik nicht von den existenziell bedeutsamen Erfahrungen der Einzelmenschen ablöst (also von der Widersprüchlichkeit seiner Selbstdeutungen und dem gleichzeitigen Einheitsgefühl, der Möglichkeit des Todes und der Faktizität der eigenen Geburt, der Angst und der Liebe, der Sympathie mit Allem und der Selbstabsonderung, der souveränen Selbsttätigkeit und dem Abhängigkeitsgefühl) und eine ihnen fremde, begriffliche Welt aufbaut. Schellings Polemik gegen „die erzwun-
149 Das Selbstverständnis, das die Metaphysik fördert, ist aber nicht psychologistisch zu interpretieren, weil es einerseits von Begriffen wie „Welt“, „Gott“, „Einheit“, „Identität“, „Unendlichkeit“, „Endlichkeit“, „Totalität“ oder „Absolutes“ Gebrauch macht, also von Vernunftbegriffen, die trotz ihres Bezuges auf existenziell bedeutsame innere Zustände alle rein privaten Bewusstseinsvorgänge transzendieren und eben wegen ihrer Allgemeinheit und auch wegen der Tatsache, dass sie sprachliche Konstrukte sind, eine Transzendierung derselben fordern. Andererseits gehen die Selbstdeutungsoperationen über den Rahmen des Psychologismus hinaus, denn die Beziehung zwischen den metaphysisch relevanten Begriffen hängt von unpersönlichen Verfahren ab, wie z. B. die dialektisch-spekulative Konstruktion eines Weltbildes durch die Iteration synthetischer und diairetischer Denkoperationen. Das Systemdenken ist für Schelling oder Henrich auf diese Weise keine die existenziellen Sorgen des Einzelmenschen verkennende Rationalität, aber es ersetzt in der Tat die private Regel, um Gedanken zu assoziieren, durch logische Verfahren. Dass diese Verfahren notwendigerweise von den die Lebensführung betreffenden Fragen abstrahieren, ist nur ein irrationalistisches Vorurteil, das, vom deutschen Idealismus absehend, die stoische Logik oder Autoren wie Nâgârjuna widerlegen. Zentral ist in diesem Zusammenhang zuletzt, dass alle metaphysisch relevanten Begriffe einerseits auf menschliche und nicht menschliche Entitäten bezogen sind. „Einheit“, „Identität“, „Ganze“, „Grund“ und „Existenz“ beziehen sich natürlich auf Bewusstseinszustände, aber auch auf Dinge wie Magnete, Fische oder Kometen und die Bereiche, in denen diese Dinge auftreten. Anderseits sind diese Begriffe auch auf kollektive Bewusstseinszustände anwendbar oder auf Produkte des Geistes wie philosophische Theorien oder Kunstwerke, die von der Person des Denkers oder des Künstlers unabhängig existieren. Die metaphysischen Begriffe können daher nicht psychologistisch interpretiert werden, weil sie nicht ausschließlich auf die menschliche Psyche anwendbar sind. 150 Schelling (1856 – 1861), SW 8, 9.
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D. Schlussbemerkungen
genen Begriffe einer leeren und begeisterungslosen Dialektik“151 und gegen die „Sprache der Systeme“152 in den „Weltaltern“ ist u. a. sittlich und politisch motiviert, weil nur eine Philosophie, die mit den Selbstdeutungsoperationen des Einzelmenschen zusammenhängt, in das sittliche und politische Leben eingreifen kann. Deswegen soll die Philosophie keineswegs auf die begriffliche Arbeit und auf einen sorgfältigen Theoriebau verzichten. Schelling ist der Ansicht, dass „alle wissenschaftliche Thätigkeit in einem inneren Verkehr mit uns selbst besteht“,153 also dass die Theoriebildung auf die Selbsterkenntnis und auf die Selbstbefragung des Menschen verweisen soll. Denker wie Henrich, Jonas oder Voegelin haben daran angeknüpft und die sittliche und politische Bedeutung der Metaphysik deswegen in den Vordergrund gestellt. Die Metaphysik, die auf Ideen wie „Gott“, „Sein“ oder „Welt“ zurückgreift, um den Einzelmenschen zur Selbstbesinnung zu motivieren und diese begrifflich zu artikulieren, ist für Schelling und die erwähnten zeitgenössischen Denker an eine Denkerfahrung gebunden, aus der Selbstversöhnung und Selbstsammlung resultieren sollen. Es geht dabei nicht um eine Eliminierung der inneren Spannungen, sondern um die Entwicklung einer beständigen, inneren Haltung, die dem Einzelmenschen ermöglicht, diese mit Gelassenheit zu ertragen und trotz der Anerkennung der Grenzen seiner Macht selbstständig zu sein. Schelling nennt sie „Religiosität“. Die Metaphysik hat daher eine therapeutische Seite, die sich von jeder psychologischen Behandlung nicht nur dadurch unterscheidet, dass jene auf der Vernunft des Menschen basiert, also auf seiner Fähigkeit, das Übersinnliche schlechthin zu denken und folglich das Ganze oder den letzten Grund von allem zu konzipieren, sondern durch den notwendigen Bezug der Ideen der Metaphysik auf Phänomene jenseits der menschlichen Psyche. Weder Schelling noch Henrich, Jonas oder Voegelin leugnen die Fähigkeit des menschlichen Bewusstseins, eine geordnete Erfahrung der Wirklichkeit zu konstituieren, aber sie sind davon überzeugt, dass der Mensch und sein Bewusstsein einem Wirklichkeitszusammenhang angehören, dessen Existenz sich den Leistungen der Intentionalität entzieht. Das bewusste Leben ist diesem Ganzen nicht fremd, weil es auch ein Teil desselben ist und dieses Ganze als Vernunftwesen zum Ausdruck bringt, aber das bewusste Leben des Menschen ist nicht sein Grund. In diesem Rahmen findet die Polemik Schellings gegen die „Subjektivitätsphilosophie“ statt. Die zentrale Aufgabe der Philosophie ist deswegen nicht eine Selbstreflexion des intentionalen Lebens, sondern eine „ontologische Reflexion“, also eine Erhellung des Seins des Menschen als ein Moment des ihn transzendieren Seins durch das menschliche Denken. Die Metaphysik ist von dieser Perspektive her eine Selbsterhellung des Seins im menschlichen Bewusstsein. Die Symbole, die im Mythos und in der Religion das bewusste Leben artikulieren, haben die Funktion, die Transzendenz des Ganzen und seinen Grund zum Ausdruck zu bringen, und deswegen sind sie mit 151 152 153
Schelling (1966), S. 6 (WA I, 9 – 10). Ibid. S. 224 (WA III, 5). Ibid. S. 207 (WA III, 3).
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den Begriffen der Metaphysik verwandt. Sie bringen auch die Selbsterkenntnis mit der Erkenntnis des Ganzen und mit der Dunkelheit, die sich durch es durchzieht, in Zusammenhang. Metaphysische Begriffe wie „Ungrund“ oder „Geist“ können daher auch auf das mysterium fascinosum und tremendum, das der Erfahrung des Heiligen zugrunde liegt, oder auf den christlichen, trinitarischen Gott verweisen, ohne ihre philosophische Bedeutung zu verlieren. Die therapeutische Seite der Metaphysik und die der Religion setzten die Schau eines Ganzen und vor allem die Anerkennung der Grenzen der Macht des Menschen voraus. Die Idee „Gott“ erlaubt, die Endlichkeit des Menschen und zugleich seine Zugehörigkeit zu einem Ganzen, in dem die Natur und die Geschichte miteinbezogen sind, zu begreifen und daher sein Ohnmachtsgefühl in ein sinnvolles Weltbild zu integrieren. Gott ist bei Schelling das sich selbst entfaltende, lebendige Ganze, in das das bewusste Leben des Menschen eingebettet ist. Gott transzendiert die Trennung zwischen dem Inneren und dem Äußeren, ja alle Gegensätze, und daher bringen die Idee Gottes und das Verstehen seiner Selbstentfaltung im Rahmen einer Emanationsmetaphysik Selbstversöhnung und Selbstsammlung mit sich. Die therapeutische Dimension der Metaphysik basiert auf dem Verstehen eines komplexen, sinnvollen, den Menschen transzendierenden Wirklichkeitszusammenhangs, also des Seienden und seines z. T. rätselhaften Grundes und nicht auf einem rein introspektiven Selbsterkenntnisprozess. Die sittlichen und politischen Dimensionen der Metaphysik sind nicht Sache der Vergangenheit. Vielleicht ist die Spätmoderne, eben wegen ihres Szientismus, der ökologischen Krise, der inneren Zerrüttung des Einzelnen aufgrund der „funktionellen Differenzierung“ der Gesellschaft (Luhmann) und des „clash of civilizations“ (Huntington), der das Scheitern der imperialistischen Projekte des 20. Jahrhunderts hinterlassen hat, ein Zeitraum, der zur Wiederbelebung der Metaphysik passend ist. Die Metaphysik ist nicht notwendigerweise ein den Naturwissenschaften feindlich gegenüberstehendes Wissen, wie in der Moderne die „Ethik“ Spinozas oder die Ontologie Jonas’ oder Whiteheads zeigen. Schellings Philosophie gehört zu dieser Tradition, und daher hat er die Theorien der Naturwissenschaften in seine Naturphilosophie integriert und diese ihrerseits in ein alles umfassendes Weltbild. Die Metaphysik, sagt er ganz deutlich im Druck II der Weltalter, sei für ihn nicht „Hyperphysik“, d.i. eine Theorie des Unnatürlichen, sondern eine Theorie, dessen Ausgangspunkt gerade die Natur sei.154 Der Szientismus der Spätmoderne, der philosophisch vom Naturalismus legitimiert wird, lehnt zwar das Übernatürliche ab, aber kann als Basis eines ihn integrierenden Weltbildes dienen, weil der Naturalismus immerhin auf das Ganze gerichtet ist, also sich als ein Bild der Welt anbietet, 154 „Die alte Metaphysik erklärte sich schon durch ihren Namen also eine Wissenschaft, die nach u. also in gewissem Sinne auch wohl aus der Physik folgte, zwar nämlich nicht als einen stetigen Ausfluss oder bloße Fortsetzung von dieser, wohl aber als eine Steigerung, so wie allgemein aus dem Niederen ein Höheres hervorgeht. Die neuere Philosophie hob die leitende Verbindung mit diesem dem Unteren gänzlich auf; die Ansprüche an eine höhere Welt fortsetzend war sie nicht mehr Metaphysik, sondern Hyperphysik; anstatt sich zum Übernatürlichen zu schwingen, verfiel sie nur in’s Unnatürliche.“ Schelling (1966), S. 196 (WA III, 2).
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D. Schlussbemerkungen
und vielleicht nach der Erschütterung der religiösen Weltbilder das einzige Bild der Welt darstellt, das noch Allgemeingültigkeit beanspruchen kann. Von der Perspektive der Metaphysik her gesehen ist der Szientismus der Spätmoderne ein guter Ausgangspunkt, um ihr Interesse an der Verlebendigung eines auf das Ganze gerichteten Denkens zu fördern, vor allem dann, weil ein auf der Basis einer Naturphilosophie konstruiertes Weltbild aufgrund der ökologischen Krise unmittelbar sittliche und politische Relevanz haben soll. Die Summe von Umweltkrise und einem szientistischen Weltbild, das Universalität beanspruchen kann, ist ein guter Boden zum Wachstum einer sittlich und politisch relevanten Metaphysik, deren Entstehung außerdem notwendig zu sein scheint, weil, wie Jonas in Anlehnung an Schelling begreift, die Ethik und die politische Philosophie unfähig sind, die ökologischen Probleme adäquat zu begreifen, solange sie nicht, ihren Anthropozentrismus überwindend, auf einem Weltbild gründen, das die Zugehörigkeit von Menschen und Natur zu einem Ganzen plausibel macht. Sittlich bedeutsam ist die Metaphysik auch im Rahmen einer Gesellschaft, in der das Gute, das Wahre und das Schöne keine selbstverständliche Einheit bilden und der Einzelne gleichzeitig zu verschiedenen sozialen Systemen gehört, die eine eigene Dynamik und eigene Logik haben. Die Spannung zwischen den verschiedenen Rollen, die jeder Einzelmensch annehmen soll, zwingt ihn, einen sie integrierenden Sinnzusammenhang zu suchen, weil jeder Einzelne, wie Henrich betont, trotz der Disparatheit seiner Rollen ein nicht propositionelles Wissen um die Einheit seines Selbst hat. Die Begriffe der Metaphysik, deren Anwendung sich keineswegs auf den Bereich des Soziopolitischen beschränkt, aber auch in diesem Bereich gültig sein sollen, sind dafür passend, weil sie ermöglichen, die Einheit des Verschiedenen zu denken. Die Probleme der Einzelmenschen reduzieren sich nicht auf seine sozialen und politischen Konflikte, wie ein guter Teil der marxistischen Tradition glaubt, aber diese Konflikte sind auch Teil der existenziellen Widersprüche, denen der Einzelne ausgesetzt ist und die wie z. B. die Spannung zwischen seiner Existenz als Person und als Subjekt auch eine Lösung innerhalb der Möglichkeiten des bewussten Lebens des Einzelnen verdienen. Die funktionelle Differenzierung der Gesellschaft, deren höchste Stufe in der Neuzeit erreicht wird, reaktiviert das Bedürfnis des Einzelmenschen nach Einheit und legt die sozial-geschichtlichen Bedingungen der allgemeineren Suche nach Selbstsammlung und Selbstversöhnung fest. Kann der Einzelne kein glückliches Leben ohne Harmonie mit sich selbst haben, wie Schelling glaubt, hat die metaphysische Integration verschiedener Selbstdeutungen eine wichtige sittliche Funktion in der Spätmoderne. Die Einheitssuche, welche die Metaphysik auszeichnet, kann aber nicht nur für die Lebensführung des Einzelnen von Bedeutung sein, sondern auch für die Lösung der politischen Konflikte zwischen Kulturen. Wir brauchen die Metaphysik, um der Zerspaltung des Bewusstseins mittels eines alle Gegensätze vermittelnden Sinnzusammenhangs entgegenzuwirken, aber, wie W. Hogrebe sagt, „wir brauchen die Metaphysik auch aus anderen
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Gründen: aus Gründen einer Absicherung der Kommunikabilität, in einer wie man so schön zu sagen beliebt, ,globalisierten Welt‘“.155 Ist die Religion ein wesentlicher Moment aller großen Kulturen und hat sie einen notwendigen Bezug auf das Selbstverständnis des Menschen, ist die Metaphysik aufgrund ihrer Verwandtschaft mit der Religion und aufgrund ihres notwendigen Universalismus in der Lage, zwischen verschiedenen kulturellen Traditionen Brücken zu schlagen, welche tief im inneren Leben der Einzelmenschen fußen. Schellings Metaphysik ist so stark eurozentrisch geprägt, dass sie die Gleichwertigkeit verschiedener Kulturen nicht anerkennen kann und alle nicht westlichen Kulturen als Vorstadien des Christentums betrachtet. Dass er den Kolonialismus und folglich den Imperialismus geschichtsphilosophisch legitimiert,156 ist nichts Überraschendes. Schelling hat die wahre Selbstdeutung des Menschen an die Symbole des Christentums gebunden und daher, sofern der christliche Monotheismus aus nichtwestlicher Perspektive keine Synthese und Überwindung aller religiösen Traditionen darstellt, die Universalität der Metaphysik beschränkt. Trotzdem hat er richtig bemerkt, dass die metaphysischen Fragen transkulturell sind und dass die Metaphysik, sofern sie zu einer Selbstreflexion der Religion mittels philosophischer Kategorien (wie die Potenzlehre der Spätphilosophie) motiviert, das Gemeinsame an verschiedenen Traditionen hervorheben kann. Ebenso wie das spekulativ gedeutete Christentum für Schelling transnational ist und deswegen die Grundlage einer friedlichen Weltgemeinschaft sein kann, ist es denkbar, dass eine nicht christlich zentrierte Metaphysik den Dialog zwischen verschiedenen Kulturen anregt und zu deren Verständigung beiträgt. Die Globalisierung einer nicht an bestimmte religiöse Symbole gebundenen, aber mit verschiedenen kulturellen Traditionen verträglichen Metaphysik, könnte – mindestens rein theoretisch – die politische Funktion übernehmen, die Schelling seiner christlichen Metaphysik zuschrieb, nämlich eine universale, die kulturelle Vielfalt nicht vernichtende, friedliche Gesinnungsgemeinschaft zu bilden. Dies wäre ein vernünftiges, kulturpolitisches Programm, das, wie Hogrebe notiert, der postmodernen Ablehnung des Begriffs „Totalität“ entgegenwirken könnte: „So hatte sich ehedem die Postmoderne eines kulturellen und mentalen patchworks definiert, um über die Anerkennung des Eigenrechts der Teile die Prämien für eine ultimative Liberalität auszustreichen. Indes bezahlte sie die Preisgabe der bindenden Idee eines Ganzen damit, dass Teile beliebiger Art ohne jeglichen Rückbezug auf diese Idee untereinander bestenfalls gleichgültig sein können, aber schließlich, da die kontinuativen Energien nicht mehr wirksam sind, gegen einander sogar aggressiv werden müssen.“157 Hogrebe sagt, an Schelling verweisend, „Wer [interkulturellen] Dialog will, muss auch Geist wollen“158 und dadurch bringt er, da die Geistmetaphysik keine Besonderheit des Christentums ist, 155 156 157 158
Hogrebe (2006), S. 261. Schelling (1856 – 1861), SW II, 1, 513 – 515. Hogrebe (2006), S. 272. Ibid. S. 274.
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D. Schlussbemerkungen
die noch gültige Dimension des kulturpolitischen Projekts der Freiheitsschrift zum Ausdruck. Ist die Geistmetaphysik aber nicht eine Variante der Metaphysik, die zwar auch mit nicht westlichen religiösen Traditionen verträglich ist, aber nicht allen Auffassungen des Absoluten gerecht wird? Braucht man aber dann eine Metaphysik des Einen und ihren Bezug zum Nichtwissen als Ergänzung? Hogrebe wäre wahrscheinlich damit einverstanden, und die politische Bedeutung der Metaphysik Schellings, die auch eine Metaphysik des Einen einschließt, würde intakt bleiben. Vielleicht reicht eine solche doppelseitige Metaphysik dafür aus, dass die Philosophie einen bescheidenden Beitrag zur Lösung der kulturellen Konflikte der Spätmoderne leistet. Die metaphysische Suche nach Einheit kann diese Welt nicht radikal verändern, aber eventuell kann sie sie, ihre Sinnressourcen neu interpretierend, ein bisschen weniger schlecht machen.
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Sachwortverzeichnis Abfall 34, 39, 82, 104, 137, 140, 209 Aktus 47, 57, 78, 133, 141 All-Einheit 15, 22, 173, 185, 190 f. analytische Philosophie 21 Angleichung 43, 50, 52, 61, 70, 74, 92, 96 f., 189 Angleichung an Gott 43 Anthropomorphismus 193 Antipolitik 104, 106, 108 Aufklärung 21, 28, 102, 107, 113, 115, 122 – 124, 127 f., 130 f., 138, 142, 144 f., 158, 173, 183, 226 Autarkie 13, 15, 41, 53, 63, 67 f., 70, 72, 79, 84, 92, 95, 111, 190, 197 – Selbstgenügsamkeit 13, 15, 41, 53, 63, 67 f., 70, 72, 79, 84, 92, 95, 111, 190, 197 Autonomie 30, 37, 45, 49, 79, 105, 121, 146 Begierde 52, 55, 64 Böse 13, 16, 27, 30, 38, 43–48, 50, 55, 57, 67, 78, 80–82, 87 –92, 103, 112, 114 f., 118 f., 121, 123, 129, 132, 134, 136, 141, 145–147, 150, 157 f., 160, 163, 169 f., 172 f., 178 f., 183 f., 188 f., 199, 202, 204, 221 Bund 161, 165 Charakter 11, 13, 27, 58 f., 64, 66, 71, 76 f., 81, 90 f., 129, 132, 138, 141, 149 f., 154 – 156, 164, 214 Charisma 153, 156 Christentum 113, 133, 160, 162, 176, 178, 182, 218 f., 221 – 223, 225, 231 Christus 66, 159, 174, 211, 220, 224 Demokratie 156, 224 Demokratisierung 110, 123, 156, 189 Dogmatismus 35 Einbildung 39 Einheit 11, 15, 23, 34, 46, 64, 67, 69, 82, 87 f., 94 – 98, 104, 107, 112, 115, 121, 146,
159, 161, 163, 169, 172 f., 175, 177 – 179, 182, 184 – 186, 189 – 191, 195, 197, 200 – 202, 204, 216, 219, 224 f., 230, 232 Entscheidung 14, 50, 56 f., 67, 70, 72, 74, 81 f., 89 f., 92 f., 99, 209, 212 Ethik 20, 22, 26, 28, 30 f., 34, 40, 51, 61, 63, 74, 87, 101, 106, 153, 203, 219, 229 Existenz 12, 21, 23, 30, 33, 36, 42, 45, 59, 62, 66, 69, 71, 78, 80, 82, 86, 88, 94 f., 119, 130, 132, 142, 158, 161, 168, 175, 177, 179, 186 – 188, 198 f., 201, 205, 212 f., 216 f., 225, 228, 230 existenzielle Repräsentation 217 Faktum 40, 79 Freiheit 16, 26 – 28, 33 f., 37, 39 f., 45, 59 f., 67, 69, 72, 76 – 78, 80 f., 84, 86, 89, 91 f., 95, 97 – 99, 102 f., 105, 109, 113, 120 f., 126, 132, 134, 141, 147, 150, 153, 157, 175, 181, 194, 209 Frieden 114, 171, 174, 179, 183, 191 Ganze 12, 14, 21 f., 25, 47, 55 f., 75, 86, 92 f., 120, 124 f., 134, 136, 161, 168 f., 171, 173, 176, 179, 189, 199, 203, 213, 216, 228 f. Gefühl 31, 45, 52 f., 61, 125, 141, 188 f., 209 Geist 12 – 14, 20, 23, 25, 30, 42, 45 f., 52, 55, 67 f., 70, 72, 81 f., 87 f., 93 – 95, 114 f., 133, 137, 141, 144, 146, 149, 152, 160, 168, 174, 179, 187 f., 193, 197, 220 f., 226, 229, 231 Genie 145, 148, 154 Geschichte 58, 73, 81, 83 – 85, 91, 104, 113, 115, 125, 144 f., 153, 156, 159, 161, 163, 165, 168 f., 172, 174 f., 177 – 179, 181 f., 188, 190, 199, 202, 214, 216 – 218, 221 – 225, 229 Gewalt 18, 112, 118, 120, 129, 134, 138, 151 – 153, 164, 172, 174, 176, 181, 196
Sachwortverzeichnis
247
Gewissenhaftigkeit 34, 40, 65, 131, 155, 210 Globalisierung 231 Glück 11, 143, 151, 185 Gnosis 213, 223 Gott 11 – 15, 18, 23 f., 27, 33, 35 – 39, 41 – 45, 50, 52, 54, 58, 60 – 62, 64, 66 – 70, 72, 74 – 76, 78 – 81, 89, 92, 96 f., 102, 104 – 106, 108, 113 f., 121 f., 132 f., 143, 145 – 147, 152, 162, 171 f., 174, 177, 179, 182 – 184, 186 – 192, 194 f., 197 f., 202, 212 – 215, 218, 220, 223, 226, 228 f. Gottebenbildlichkeit 75, 78 – Angleichung, Gott 75, 78 Grund 11, 15 f., 23, 28, 30, 33 f., 39, 42, 44 f., 47 f., 52, 58, 60, 62, 64, 69, 73, 80 – 82, 84 – 86, 89 f., 94 f., 97, 99, 106, 123, 125, 129 f., 138, 142, 150, 156, 158, 161 – 163, 166, 168, 172, 175, 177 – 179, 186 – 189, 195 f., 199 – 201, 203, 205, 214 – 216, 221, 226, 228 Grundverhältnis 200 f. Gute 11, 13, 16, 24, 29 f., 43, 45, 48, 50 f., 55, 65 – 67, 70, 72, 79 – 81, 87 f., 92 f., 95, 99, 115, 137, 156, 158, 160, 170, 172 f., 175, 179, 182, 185, 188 f., 191, 202, 220, 227, 230
Imagination 33, 65, 130 – 132 Imperium 144, 159, 161 – 163, 172, 175 f., 221, 224 f. – Rom, Römisches 144, 159, 161 – 163, 172, 175 f., 221, 224 f. Indifferenz 23, 27, 81 f., 85, 87, 94 – 96, 183, 191 Indiz 215 intelligible Tat 28, 40, 77, 93 Introspektion 91, 199, 202 It-reality 215
Harmonie 13, 18, 56, 60 f., 64, 68, 98, 107 f., 114, 177, 183, 189, 202, 211, 218, 230
Leben 11, 14, 18, 20, 25 f., 35, 38, 41, 45, 51, 57, 63 – 65, 70, 75, 78 f., 85, 99, 101, 105 f., 115, 132 f., 138 – 140, 143, 145, 157 f., 188, 190 f., 197 f., 200, 203 f., 208, 210, 213, 217, 222, 228, 230 f. Leib 84, 159, 187, 206 Liebe 60, 66, 69 f., 72, 89, 94 f., 99, 133, 157 f., 179, 203, 215, 219, 227 Linksheideggerianismus 196 Lust 57, 60, 65, 85, 181, 185
Ich 14, 25, 36 – 38, 62, 77, 139, 143, 147, 154, 157, 215 ich 26, 36, 118, 149, 152, 155, 163, 181, 183 Idealismus 18, 37, 74, 76, 100, 102, 104 f., 109, 113, 123, 128, 139 f., 161, 181, 187, 199, 202 Identität 12, 15, 21, 23 f., 37 – 40, 46, 54, 56 f., 61 f., 64 – 66, 75, 82, 86, 94, 119, 122, 141, 195, 205, 222 – Identitätsphilosophie 12, 15, 21, 23 f., 37 – 40, 46, 54, 56 f., 61 f., 64 – 66, 75, 82, 86, 94, 119, 122, 141, 195, 205, 222 Identitätsphilosophie 11, 14 – 19, 26, 41 – 43, 50 f., 54, 61, 63, 68 f., 96, 98, 123, 167 f., 176 Ideologie 154
Kapitalismus 118, 138, 142 kathekon 178 f. Kirche 109, 162, 164, 170, 172 f., 175 – 177, 179, 182, 191, 220, 224 Kommunismus 178, 180, 223 f. Kompaktheit 215, 218, 223 Konservatismus 156 Konstantinismus 176 Krankheit 27, 29, 45, 117, 143, 159, 209 Krieg 84, 115, 138, 155, 162, 164, 169, 171, 173, 179, 183, 189, 191 Kritik 16, 26, 37, 40, 61 f., 103, 118 f., 122 f., 128 f., 131, 140, 219, 223 Kunst 30, 102, 127, 147, 159, 175, 182, 184
Macht 33, 67, 84, 87, 91, 93, 97, 120, 128, 132, 141, 143, 151 – 155, 159, 162 f., 166 f., 172, 176 – 178, 203, 211, 217, 228 Magie 151 f. metaphysica generalis 195 metaphysica specialis 12, 194 Metaphysik 11 f., 20, 22, 24 f., 29 – 31, 35, 38, 44, 74, 100, 102, 104 f., 107 f., 110, 113, 115, 119, 123, 173, 184, 186, 190 –
248
Sachwortverzeichnis
193, 195, 197 f., 200 – 203, 212, 214 – 217, 225, 227 – 231 Moderne 25, 118 – 121, 177, 220, 223, 229 – Aufklärung,Neuzeit 25, 118 – 121, 177, 220, 223, 229 moderne 119 Monarchie 109, 162, 180, 224 Monismus 85, 187, 191, 193, 204 Monotheismus 113, 160, 189, 220 f., 231 Mythos 77, 127, 143, 146, 213, 215, 217, 228 Nationalismus 110 f., 148 – 150, 167, 176 f., 180 – Patriotismus 110 f., 148 – 150, 167, 176 f., 180 Natur 25, 27 f., 30, 34, 37, 39, 42, 46, 50 – 52, 56, 58, 61 f., 64 – 66, 76, 78, 80 f., 83 – 86, 95 f., 102 f., 107, 111, 114, 120, 126, 128, 133 f., 136 f., 139 – 141, 144, 151, 153 f., 156, 159, 161, 165, 168 f., 178, 186 – 189, 192 f., 199, 202 – 205, 209, 211, 217 f., 226, 229 Naturhermeneutik 210, 226 Naturreligion 217 Naturteleologie 29, 211 Neigung 66 Neuzeit 115, 117 f., 138, 142, 144 f., 147, 180, 204, 220, 223, 230 Nichtwissen 191, 222, 232 noetische Erfahrung 216, 218, 221, 224 Notwendigkeit 29, 34, 38 f., 65 f., 76 f., 85, 102, 105, 109, 144, 154, 156, 161, 167, 175, 197, 204 Offenbarung 29, 77, 80, 89, 104, 113, 132, 158, 163, 166, 172, 179, 182, 188, 220, 222 – 224 Ontologie 21 f., 25, 75, 87, 145 f., 187, 192, 194 f., 198, 203, 211 – 213, 216, 229 Ontotheologie 12 f., 22, 50, 115 – Theologie, Prozesstheologie 12 f., 22, 50, 115 Organismus 33, 167, 182, 204, 207 Pantheismus 13, 18, 146, 183, 186, 202 Partei 129, 131, 149 Patriotismus 150
Pazifismus 183 Person 103, 198 – 200, 230 Persönlichkeit 13, 15, 18, 23, 40 f., 45, 48 – 53, 55, 57 – 59, 63, 67, 72, 76, 78 – 81, 83, 88, 90, 92 f., 95, 144, 149 f., 157, 169, 188 f., 191, 199 Pflicht 27, 65, 170, 213 Philosophie 11 – 13, 15 – 17, 20, 22, 24 – 26, 29 – 31, 35, 39, 51, 60, 63, 68, 73, 75, 87, 91, 98, 100 – 102, 104 – 106, 111, 113, 118, 123, 125, 127, 131 f., 136, 140, 144, 146, 162, 181, 184, 192 f., 195, 198, 200, 202, 216, 218 f., 223 – 225, 228 f., 232 Politik 118, 123, 128, 147 – 150, 154, 156, 163, 167, 169, 176, 183, 217, 221, 227, 223 post-foundational political thought 22 Potenz 47, 57, 98, 119, 133, 141, 158, 168, 189, 196 Prozesstheologie 216 Rationalisierung 81, 123 Rationalität 103 f., 121, 131, 211, 215, 220 f. – Rationalisierung 103 f., 121, 131, 211, 215, 220 f. Realismus 187 Reich 13, 41, 56, 92, 115, 143, 159, 162 f., 166 – 168, 170, 174 f., 177 – 179, 182, 188 f., 191, 197, 218, 222 Religion 12, 16, 26, 39, 43, 60, 63, 65, 92, 113, 118, 132, 140, 150, 164, 166, 172, 182, 189, 217, 222, 225, 228, 231 Republik 161, 170 Republikanismus 105, 128 Revolution 103, 111, 119 f., 123, 126, 129, 138, 144, 149, 154, 156, 171, 180, 221 Rom 159, 161 f., 166 römisch 159 – 163, 166, 168, 178 f. Ruhe 31, 55, 57, 64 f., 72, 96, 98, 111, 146, 189 f., 202 Scheidung 53, 56 f., 85, 160, 172, 176, 189, 205 Schöpfung 14, 43, 45, 58, 63, 67, 73, 78, 80, 82, 99, 114, 120, 132, 145, 150, 157, 161, 187 f., 212, 226 Schwärmerei 51, 129 f., 142, 180, 191, 223
Sachwortverzeichnis Seele 11, 39, 54, 56, 60, 65 f., 73, 75, 92, 97, 108, 142, 187, 194, 205, 208, 214, 216 – 218, 220, 223 Sehnsucht 42, 47, 55, 63, 78, 80, 158, 169, 187, 225 Selbstbestimmung 28, 42, 67, 74, 81, 103, 107, 119 Selbstbewusstsein 42, 73, 77, 200, 205 Selbstbildung 57, 60, 76, 81 f., 189 Selbsterhaltung 47, 53, 79, 85, 137, 167, 175 Selbsterhellung 215, 221, 228 Selbsterkenntnis 73, 75, 108, 122, 184, 195, 199, 202, 213, 222, 228 f. Selbstgenügsamkeit 67, 72, 76, 82, 96 Selbstheit 38, 40, 44, 46, 52, 62, 66, 78, 80 f., 83, 85, 88, 90, 92 f., 95, 99, 129, 137, 156, 158, 169, 191, 207 Selbstlosigkeit 76, 82, 96 f., 99 Selbstsammlung 190, 202, 228, 230 Selbstständigkeit 13 f., 31, 38, 41 f., 54, 59, 62, 64, 67, 76 f., 79, 93, 102, 175, 183, 186, 190 f., 196, 205, 215, 225 Selbsttätigkeit 48 f., 77, 90, 94, 187, 199, 205, 211, 227 Selbstüberwindung 112, 122 Selbstvermittlung 12, 14, 18, 24, 73, 75, 80, 187, 202 Seligkeit 26, 31, 37, 41, 57, 60, 64 f., 68, 72, 76, 79, 83, 97 Sittengesetz 49 Sollizitation 83, 89, 91, 132 Sozialismus 105 Spätphilosophie 15, 18, 56, 104 f., 147, 180, 231 Spinozismus 29, 51 Staat 20, 25, 53, 100, 102, 104, 107, 109, 111 f., 123, 140, 156, 161, 164, 167, 169 f., 175 – 177, 181, 192 Staatenföderation 113 f. – Bund 113 f. Stoff 59, 87, 139, 187, 204 f., 208, 211 Subjekt 36, 48, 51, 86, 104, 122, 134, 137, 140, 187, 198 – 200, 202, 215, 230 Subjektivität 34, 37 – 39, 49, 65, 73, 97, 102, 119, 121, 123, 125, 128 – 130, 132, 138, 141 f., 147, 154, 169, 199, 205
249
– Ich, Selbstbewusstsein 34, 37 – 39, 49, 65, 73, 97, 102, 119, 121, 123, 125, 128 – 130, 132, 138, 141 f., 147, 154, 169, 199, 205 summum bonum 142, 189, 193, 216, 222, 226 Symbol 171, 177 Symbolik 107, 110, 184, 223, 225 Sympathie 11, 63, 148, 210 f., 227 System 17, 27, 31, 33 f., 37, 41, 50, 54, 60, 74 – 76, 113, 121, 124, 130, 137, 147, 161, 181, 194, 197, 203 Technik 25, 120, 142, 196, 203, 211 Teleologie 204 – Naturteleologie 204 Theismus 12, 14, 80 Theokratie 170, 219 Theologie 12, 22, 63, 70, 113, 115, 146, 186, 195, 197, 201, 203, 212 f. Theorie 12, 21 f., 29 f., 81, 100, 102 – 106, 115, 124, 130, 146, 153, 194 f., 211 f., 214, 223, 229 Tod 37, 45, 53, 68, 79, 84 f., 133, 137, 158, 205, 209 Totalität 12, 15, 18, 22 f., 52, 56, 67, 79, 120, 125, 133, 173, 186, 188, 191, 196 – 198, 200, 202, 213, 231 Transzendenz 17, 22, 25, 47, 50, 55, 69 f., 95, 98 f., 158, 180, 191, 194, 196 f., 216, 218, 220, 223 f., 226, 228 Trennung der Kräfte 173, 209 Ultranationalismus 169, 173, 175, 183, 189 umgekehrter Gott 131 f., 141 Umkehrung 80, 82, 88, 90, 105, 128 f., 133, 157, 179 Unentschiedenheit 23, 67, 74, 76, 82 f., 85, 88, 91 Ungrund 23, 72, 74, 78, 81 f., 86, 92, 94 f., 98 f., 150, 190 f., 197, 202, 223, 229 Universität 109, 125, 184 Urgrund 24, 82, 85, 89, 91, 190 Urteil 29, 150, 187, 198, 201 Utopien 226 Vernunft 13, 18, 30 f., 33 f., 36, 38, 40, 46 – 49, 51 f., 54 – 56, 59 f., 63 – 65, 67, 69 f., 72,
250
Sachwortverzeichnis
81, 85, 92, 99, 102, 105, 113, 115, 119, 121 – 123, 127 f., 131, 137, 139, 142, 163, 170, 179 f., 182, 188 f., 194, 200, 203 – 205, 216, 219, 225, 228 Vernunftstaat 123, 167 Verstand 42, 65, 69 f., 80, 124, 133, 137, 153, 161, 168, 172, 186, 195 Vorsehung 71, 114, 121, 163, 179 Wachstumsbesessenheit 25, 142, 189 Wahl 28, 65 f., 69, 74, 79 f., 82 f., 85, 89 Wahlfreiheit 41, 67, 70, 74, 76, 79, 81 f., 85 f., 121, 157
Wahnsinn 112, 130, 132, 153 Wahrheit 26, 66, 127, 129 f., 159, 184, 218 f. Wert 63, 121, 130, 132, 139, 158, 203, 210, 212 Wille 15, 23, 65, 69, 74 f., 80 – 82, 86 f., 94, 96 – 98, 120, 132, 151, 156, 158, 210, 220 Wissenschaft 11 f., 34, 37, 63 f., 73, 111, 124 f., 138, 140, 159, 192, 194, 202, 214, 216, 219, 223 Wollen 23, 27, 41, 74, 90, 96 f. Zeugung
157