Regionalsprachliche Spektren im Raum: Zur linguistischen Struktur der Vertikale 3515102736, 9783515102735

Darüber, dass sprachliche Variation zwischen Standardsprache und Dialekt in den einzelnen Regionen des Deutschen in unte

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German Pages 389 [394] Year 2012

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DANKSAGUNG
INHALTSVERZEICHNIS
1. EINLEITUNG
2. REGIONALSPRACHLICHE SPEKTREN: GEGENSTANDSKONSTITUTION UND GEGENSTANDSBESCHREIBUNG
3. FORSCHUNGSSTAND
4. EIGENE EMPIRISCHE UNTERSUCHUNG
5. LINGUISTISCHE STRUKTUR DER VERTIKALE: DER EICHPUNKT WITTLICH
6. LINGUISTISCHE STRUKTUR DER VERTIKALE: REDE-MODELLANALYSE IM RAUM WALDSHUT-TIENGEN (WEST-OBERDEUTSCH)
7. LINGUISTISCHE STRUKTUR DER VERTIKALE: ANDERE DIALEKTREGIONEN
8. DIE STANDARDNÄCHSTEN SPRECHLAGEN IM DIATOPISCHEN VERGLEICH
9. ERGEBNISSE
LITERATURVERZEICHNIS
ANHANG
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Regionalsprachliche Spektren im Raum: Zur linguistischen Struktur der Vertikale
 3515102736, 9783515102735

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BEIHEFTE

Roland Kehrein

Regionalsprachliche Spektren im Raum Zur linguistischen Struktur der Vertikale

Germanistik

ZDL

Franz Steiner Verlag

zeitschrift für dialektologie und linguistik

beihefte

152

Roland Kehrein Regionalsprachliche Spektren im Raum

zeitschrift für dialektologie und linguistik beihefte In Verbindung mit Michael Elmentaler und Jürg Fleischer herausgegeben von Jürgen Erich Schmidt

band 152

Roland Kehrein

Regionalsprachliche Spektren im Raum Zur linguistischen Struktur der Vertikale

Franz Steiner Verlag

Gedruckt mit Unterstützung der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur im Rahmen der Förderung des Akademievorhabens „Regionalsprache.de“ (REDE) durch die Bundesrepublik Deutschland und das Land Hessen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012 Druck: Laupp & Göbel GmbH, Nehren Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-10273-5

Bettina, Paul und Lucy

DANKSAGUNG Die vorliegende Monografie, an der ich seit 2004 mit teilweise längeren Unterbrechungen gearbeitet habe, wurde vom Fachbereich 09 der Philipps-Universität Marburg 2011 als schriftliche Habilitationsleistung angenommen. Die empirische Untersuchung steht im Kontext des von der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz geförderten Forschungsprojekts „Regionalsprache.de“ (REDE), in dessen Rahmen auch die Druckkosten finanziert wurden. Dafür möchte ich mich herzlich bedanken. Von den vielen Menschen, die diese Arbeit ermöglicht und ihren Entstehungsprozess konstruktiv begleitet haben, möchte ich an erster Stelle denjenigen danken, die im Text lediglich mit Kürzeln benannt werden: unsere Informantinnen und Informanten. Ohne sie wäre eine Untersuchung wie die vorliegende nicht möglich. Höchste Anerkennung gebührt auch meinen Kolleginnen und Kollegen der Arbeitsgruppe „Empirie“ im REDE-Projekt, die viele der analysierten Aufnahmen vorbereitet und in einem extrem zeitaufwändigen Job durchgeführt haben. Bedanken möchte ich mich darüber hinaus vor allem noch bei den wichtigsten wissenschaftlichen Weggefährten der letzten etwa eineinhalb Jahrzehnte: Jürgen Erich Schmidt, meinem langjährigen wissenschaftlichen Lehrer und Förderer, sowie meinen (Ex-)Marburger Kollegen und Freunden Alfred Lameli und Stefan Rabanus.

INHALTSVERZEICHNIS 1. EINLEITUNG ............................................................................................ 13 2. REGIONALSPRACHLICHE SPEKTREN: GEGENSTANDSKONSTITUTION UND GEGENSTANDSBESCHREIBUNG ........................................................ 17 2.1 Die Entstehung der modernen Regionalsprachen des Deutschen ...... 17 2.2 Zur Beschreibung regionalsprachlicher Spektren .............................. 21 2.3 Zur Definition des Gegenstands in der Sprachdynamiktheorie ......... 33 3. FORSCHUNGSSTAND ............................................................................ 39 3.1 Entwicklung von Methoden und Interpretationsansätzen .................. 39 3.2 Kenntnisstand und Hypothesen zur linguistischen Struktur der Vertikale ............................................................................................. 67 4. EIGENE EMPIRISCHE UNTERSUCHUNG ........................................... 73 4.1 Forschungsfragen ............................................................................... 73 4.2 Datenerhebung und Untersuchungsanlage ......................................... 74 4.3 Analysemethoden ............................................................................... 78 4.3.1 Phonetische Abstandsmessung (Dialektalitätsmessung) ......... 78 4.3.2 Variablenanalyse ..................................................................... 84 4.3.3 Hörerurteil-Dialektalität .......................................................... 87 5. LINGUISTISCHE STRUKTUR DER VERTIKALE: DER EICHPUNKT WITTLICH ................................................................ 89 5.1 Umfassende Studie zum Kleinraum Wittlich..................................... 89 5.2 Die Informanten und die Sprachdaten ............................................... 92 5.3 Die REDE-Informanten im Wittlicher regionalsprachlichen Spektrum ............................................................................................ 94 5.4 Restarealität in den standardnächsten Sprechlagen in der Region Wittlich............................................................................................. 101 5.5 Zusammenfassung ............................................................................ 105 6. LINGUISTISCHE STRUKTUR DER VERTIKALE: REDE-MODELLANALYSE IM RAUM WALDSHUT-TIENGEN (WEST-OBERDEUTSCH) ...................................................................... 107 6.1 Dialektgeografische Einordnung...................................................... 107 6.2 Die Informanten und die Sprachdaten ............................................. 111

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Inhaltsverzeichnis

6.3 Die linguistischen Variablen der Untersuchung .............................. 115 6.3.1 Häufige Variablen – Konsonantismus .................................. 115 6.3.1.1 Die Variable ‹ch›-Tilgung ....................................... 115 6.3.1.2 Die Variable ‫ڈ‬Ôٍիٍչ‫ ڈ‬............................................... 116 6.3.1.3 Variablen zum standardsprachlichen Phonem ‫ڈ‬ҡ‫ ڈ‬.... 117 6.3.1.4 Die Variable k-Verschiebung .................................. 121 6.3.1.5 Die Variable t-Tilgung ............................................ 122 6.3.1.6 Die Variable ٪Ѹ٫-Palatalisierung .............................. 123 6.3.1.7 Die Variable std. ‫ ڈ׀ڈ‬................................................. 125 6.3.2 Häufige Variablen – Vokalismus .......................................... 126 6.3.2.1 Die Variable a-Verdumpfung (mhd. â) ................... 126 6.3.2.2 Die Variablen der Reihe mhd. î, üը , û ....................... 126 6.3.2.3 Die Variable ٪‫ژ‬٫-Quantität ....................................... 127 6.3.2.4 Die Variable std. ‫ڈ‬Ų‫ ڈ‬................................................. 130 6.3.3 Häufige Variablen – Nebensilben und Morph(em)e ............. 131 6.3.3.1 Die Variablen zu ge- – Fortisierung und Tilgung ... 131 6.3.3.2 Die Variable -en ...................................................... 133 6.3.3.3 Die Variable Verbalplural – Normalverben und Kurzverben .............................................................. 135 6.3.3.4 Die Variable -er ....................................................... 139 6.3.4 Weitere Variablen ................................................................. 142 6.4 Ergebnisse der objektsprachlichen Analysen ................................... 143 6.4.1 Übersicht ............................................................................... 143 6.4.2 Die Varietät Dialekt .............................................................. 148 6.4.3 Die Varietät Regiolekt ........................................................... 161 6.4.3.1 Die Sprechlage Regionalakzent als „Gesprochenes Schriftdeutsch“ ............................... 162 6.4.3.2 Intersituative Variation in den freien Gesprächen ... 168 6.4.4 Die nächste Sprechergeneration ............................................ 174 6.4.5 Zusammenfassung ................................................................. 181 6.5 Sprachbiografische und subjektive Daten ........................................ 181 6.6 Hörerurteile zu Sprachproben aus der Region Waldshut-Tiengen ............................................................................ 188 6.7 Regionalsprachliches Spektrum in der Region Waldshut-Tiengen ............................................................................ 191 6.8 Sprachdynamische Prozesse in der Region Waldshut-Tiengen ....... 208 7. LINGUISTISCHE STRUKTUR DER VERTIKALE: ANDERE DIALEKTREGIONEN ........................................................... 213 7.1 Ost-Mitteldeutsch: Region Dresden ................................................. 213 7.1.1 Dialektgeografische Einordnung ........................................... 213 7.1.2 Die Informanten und die Sprachdaten................................... 221 7.1.3 Ergebnisse der Analysen ....................................................... 222 7.1.3.1 Phonetische Abstandsmessung ................................ 222

Inhaltsverzeichnis

7.1.3.2 Regionalsprachliches Spektrum in der Region Dresden .................................................................... 223 7.1.4 Restarealität in den standardnächsten Sprechlagen in der Region Dresden ..................................................................... 227 7.1.5 Zusammenfassung ................................................................. 232 7.2 Ostfränkisch: Region Bamberg ........................................................ 234 7.2.1 Dialektgeografische Einordnung ........................................... 234 7.2.2 Die Informanten und die Sprachdaten................................... 238 7.2.3 Ergebnisse der Analysen ....................................................... 240 7.2.3.1 Phonetische Abstandsmessung ................................ 240 7.2.3.2 Regionalsprachliches Spektrum in der Region Bamberg .................................................................. 243 7.2.4 Restarealität in den standardnächsten Sprechlagen in der Region Bamberg.................................................................... 247 7.2.5 Zusammenfassung ................................................................. 249 7.3 Ost-Oberdeutsch: Region Trostberg ................................................ 250 7.3.1 Dialektgeografische Einordnung ........................................... 250 7.3.2 Die Informanten und die Sprachdaten................................... 253 7.3.3 Ergebnisse der Analysen ....................................................... 257 7.3.3.1 Phonetische Abstandsmessung ................................ 257 7.3.3.2 Regionalsprachliches Spektrum in der Region Trostberg.................................................................. 260 7.3.4 Restarealität in den standardnächsten Sprechlagen in der Region Trostberg ................................................................... 266 7.3.5 Zusammenfassung ................................................................. 274 7.4 Niederdeutsch: Die Regionen Alt Duvenstedt (West) und Stralsund (Ost) .............. 275 7.4.1 Dialektgeografische Einordnung der Region Alt Duvenstedt ...................................................................... 278 7.4.2 Die Informanten und die Sprachdaten................................... 282 7.4.3 Ergebnisse der Analysen ....................................................... 283 7.4.3.1 Phonetische Abstandsmessung ................................ 283 7.4.3.2 Regionalsprachliches Spektrum in der Region Alt Duvenstedt ......................................................... 291 7.4.4 Restarealität in den standardnächsten Sprechlagen in der Region Alt Duvenstedt .......................................................... 294 7.4.5 Dialektgeografische Einordnung der Region Stralsund ........ 298 7.4.6 Die Informanten und die Sprachdaten................................... 301 7.4.7 Ergebnisse der Analysen ....................................................... 303 7.4.7.1 Phonetische Abstandsmessung ................................ 303 7.4.7.2 Regionalsprachliches Spektrum in der Region Stralsund .................................................................. 305 7.4.8 Restarealität in den standardnächsten Sprechlagen in der Region Stralsund ................................................................... 309

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Inhaltsverzeichnis

7.4.9 Zusammenfassung der niederdeutschen Untersuchungsregionen ......................................................... 312 8. DIE STANDARDNÄCHSTEN SPRECHLAGEN IM DIATOPISCHEN VERGLEICH ....................................................... 315 8.1 Vorleseaussprache im Hörerurteil .................................................... 316 8.1.1 Die Sprachdaten .................................................................... 316 8.1.2 Die Wahrnehmungsdaten ...................................................... 318 8.1.3 Ergebnisse ............................................................................. 321 8.2 Vorleseaussprache und phonetische Abstandsmessung ................... 328 8.3 Vergleich von gemessener und wahrgenommener Dialektalität...... 330 8.4 Restarealität in der Vorleseaussprache ............................................ 332 8.5 Zusammenfassung: Vorleseaussprache ௅ Standard oder NichtStandard? .......................................................................................... 339 9. ERGEBNISSE ......................................................................................... 343 9.1 9.2 9.3 9.4 9.5

Die sprachliche Vertikale im diatopischen Vergleich...................... 345 Repertoire-/Sprechertypen ............................................................... 349 Ausbildung der individuellen System- und Registerkompetenz ...... 351 Einflussfaktoren auf vertikale sprachdynamische Prozesse............. 355 Fazit .................................................................................................. 360

LITERATURVERZEICHNIS ...................................................................... 363 ANHANG ..................................................................................................... 385

1. EINLEITUNG Vor über 130 Jahren, im Jahre 1879, trat PHILIPP WEGENER vor der germanistischen Sektion der Philologenversammlung in Trier auf, um für die Unterstützung einer Publikationsreihe von Dialektgrammatiken zu werben, in denen nach einem standardisierten Forschungsprogramm die Dialekte des Deutschen umfassend beschrieben werden sollten. Die zusammen mit EDUARD SIEVERS, HERMANN PAUL, WILHELM BRAUNE und JOST WINTELER erstellte Vorlage sollte zudem die inhaltliche Ausrichtung der bisherigen dialektologischen Forschung erweitern, denn trotz der regen tätigkeit für erforschung der deutschen dialecte müssen wir gestehen, dass unsere kentnis der dialecte eine durchaus unzureichende und ungenaue ist. Das material ist unvolständig gesammelt, wir kennen ein stückchen von diesem, ein stückchen von jenem gebiete, ohne dass wir immer im stande wären, scharf zu sondern und zu bestimmen, diese eigentümlichkeit gehöre dem, jene einem anderen sprachgebiete an; – die lautbezeichnung ist ungenau; die wortsamlung ist beherscht von dem streben, merkwürdige, absonderliche worte an das tageslicht zu ziehn und vernachlässigt das altägliche und gebräuchliche. Kurz die dialectischen mitteilungen tragen fast sämtlich den stempel einer mangelhaften methode, vielfach den charakter des dilettantismus. Die dialectforschung muss, wie jede junge wissenschaft, erst die wehen der blossen liebhaberei überwinden, um in die ruhigen bahnen einer zweckbewusten methode einzulenken. Erst dann wird man nicht mehr verächtlich die achsel zucken über eine verdorbene sprache, worunter man die mischdialecte versteht, erst dann wird man nicht mehr in dem festen gestein oder dem lockeren geröll eines dialects herumsuchen, um einen absonderlich gefärbten stein oder eine singuläre versteinerung zu finden, sondern das gestein selbst wird man seiner art nach zu bestimmen und zu beschreiben suchen; – erst dann werden sich auch so viele wissenschaftliche vertreter der germanistik nicht mehr stolz von der mundartlichen forschung fern halten, sondern wacker hand anlegen, jeder zu seinem teile. (WEGENER 1976 [1879], 2)

Worauf WEGENER in diesem flammenden Plädoyer bereits mit der Erwähnung von „mischdialecte[n]“ verweist, wird in der weiteren Präsentation des Programms noch weiter ausgeführt. Die angestrebte umfassende Dialektbeschreibung soll nämlich nicht nur die linguistischen Systemebenen und die exakte, auch mit messphonetischen Methoden zu beschreibende Lautbildung einschließen, sondern auch die jeweiligen historischen Bezüge, mögliche Einflüsse von Nachbardialekten sowie „die einwirkung der schriftsprache auf die deutschen dialecte“ (WEGENER 1976 [1879], 14). Wie viele andere sieht auch WEGENER die Dialekte „dem untergange geweiht“, anders als andere zieht er aber daraus nicht den Schluss, dass es die Dialekte in ihrer ältesten Form zu konservieren gilt, sondern dass mit der Veränderung des Gegenstands „die wissenschaft ihr augenmerk zu richten [hat] auf die fragen: 1) wie weit hat sich dieser umwandlungsprocess vollzogen, 2) in welchen bahnen schreitet die umwandlung vor?“ (WEGENER 1976 [1879], 14, im Original gesperrt). Weiterhin wird nicht nur die Beschreibung einer „feste[n] norm der schriftgemässen aussprache“ gefordert, sondern auch die Erfassung der regional und durch sozio-situative Faktoren (z. B. Bildung, Gesprächs-

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Einleitung

partner usw.) bedingten „besonderheiten“ in der Aussprache (vgl. WEGENER 1976 [1879], 14–15). Die Analyse dessen, was in der vorliegenden Arbeit als regionalsprachliches Spektrum bezeichnet wird, sei „die unabweisliche pflicht des dialectforschers“ (WEGENER 1976 [1879], 16). Das Desiderat, das WEGENER hier benannt hat, lässt sich mit moderner Terminologie folgendermaßen zusammenfassen: Es geht um die vollständige Erhebung und Analyse der modernen Regionalsprachen des Deutschen, also der Dialekte, der gesprochenen Standardsprache und der regionalsprachlichen Spektren, die sich zwischen den Dialekten und der neuhochdeutschen Standardsprache ausgebildet haben, wobei jeweils diatopische und diachrone Vergleiche anzustellen sind. Aus diesem Desiderat ergeben sich Gegenstand und Ziel der vorliegenden Untersuchung: Zentraler Gegenstand der vorliegenden Untersuchung ist die Struktur der regionalsprachlichen Spektren und die diatopischen Unterschiede, die (möglicherweise) zwischen diesen Strukturen bestehen. An diesen thematischen Kernbereich schließen sich eine Reihe weiterer Aspekte an, die an einer späteren Stelle der Arbeit eingeführt werden. Für die deutschen Dialekte ist seit spätestens dem ausgehenden 19. Jahrhundert ein erheblicher Wissensbestand zusammengetragen worden. Dieser liegt in Form von Dialektatlanten, die großräumig und kleinräumig angelegt sind, Dialektgrammatiken, die einzelne Orte und teilweise ganze Regionen behandeln, und Dialektwörterbüchern vor. Seit den 1930er-Jahren wurden darüber hinaus Tonaufnahmen deutscher Dialekte und anderer regionalsprachlicher Sprechweisen erhoben. Für die an der Standardsprache orientierten Alltagssprechweisen und vor allem für die regionalsprachlichen Register liegt trotz verschiedenster Forschungsbemühungen Vergleichbares noch nicht vor, sodass diese Bereiche nach wie vor als weit weniger gut erforscht gelten müssen. Die Probleme, die einen entscheidenden Fortschritt bisher verhindert haben, sind dabei sowohl theoretisch-begrifflicher, vor allem aber methodischer Art. WERNER KÖNIG bringt dieses Problem folgendermaßen auf den Punkt: „Zu verschieden sind die jeweiligen Versuchsanordnungen [...], zu verschieden auch der jeweils beschriebene Punkt in der schiefen Ebene des Kontinuums zwischen der höchsten und niedrigeren Sprachformen“ (KÖNIG 1997, 252). SCHMIDT (1998, 177) spricht von einem „empirischen Defizit“, das aus dem Fehlen standardisierter Methoden zur Datenerhebung – vor allem der Erhebung von Alltagssprache – und zur Datenanalyse resultiert. Die Aufarbeitung von Forschungsunternehmungen wird deutlich machen, dass die einzelnen empirischen Untersuchungen als wichtige Stufen im Verlauf der Entwicklung eines Methodenkanons zur vergleichbaren Erhebung und Analyse regionalsprachlicher Daten betrachtet werden können. Um das Problem der Vergleichbarkeit von Sprachdaten, die an möglichst vielen Orten des Sprachgebiets erhoben werden sollen, zu überwinden, musste eine definierte soziale Gruppe gefunden werden, die möglichst in einer vergleichbaren, nicht gestellten Kommunikationssituation beobachtet werden kann. Ein Ansatz, bei dem die beiden genannten Kriterien erfüllt sind, konnte 2003 von JÜRGEN ERICH SCHMIDT und HERMANN KÜNZEL, dem Leiter der Marburger Phonetik, ge-

Einleitung

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funden werden: Polizeibeamte, die Anrufe unter der Notrufnummer 110 entgegennehmen. Die aus variationslinguistischer Sicht wichtigsten Eigenschaften dieser Gesprächssituation sind, erstens, dass männliche Beamte im Alter zwischen 45 und 55 Jahren, die das Gros der in den Notrufannahmestellen Deutschlands Beschäftigten ausmachen, eine definierte Personengruppe bilden, deren Vertreter im gesamten Bundesgebiet anzutreffen sind. Zweitens werden Notrufgespräche immer zu Strafverfolgungszwecken aufgezeichnet, die Aufnahme wirkt sich also nicht verzerrend auf das Gesprächsverhalten aus (Stichwort: linguistisches Beobachterparadoxon). Weitere Eigenschaften der Situation werden bei der Präsentation der Datenerhebung für die vorliegende Untersuchung in Kapitel 4.2 dargestellt. Die flächendeckende Erhebung von Notrufannahmegesprächen wurde im Rahmen eines Kooperationsprojektes mit der Kriminaltechnischen Abteilung für Sprechererkennung und Tonbandanalyse (KT 54) des Bundeskriminalamts und dem Institut für Deutsche Sprache, das JÜRGEN ERICH SCHMIDT und ich von 2004–2007 geleitet haben, umgesetzt (im Folgenden: DIGS-Projekt). Dabei wurden, überwiegend vom Bundeskriminalamt finanziert, während der Projektlaufzeit Sprachdaten von 833 Beamten aus 520 Orten in Deutschland gesammelt und für eine Datenbank des Bundeskriminalamts zur forensischen Sprechererkennung aufbereitet. Um mit den Notrufdaten nicht wieder lediglich einen nicht weiter definierten „Punkt in der schiefen Ebene“, wie KÖNIG es formuliert, zu erfassen, entstand die Idee, die in diesem Projekt gewonnenen Informanten und Sprachdaten als empirischen „Grundstock“ für eine groß angelegte Erforschung der vertikalen regionalsprachlichen Register zu nutzen. Daher habe ich im Jahre 2004 damit begonnen, Polizeibeamte an ausgewählten Orten in weiteren, zum damaligen Zeitpunkt bereits erprobten Erhebungssituationen aufzuzeichnen. Zu den ersten Orten gehörten Gießen wegen der geografischen Nähe zu Marburg (vgl. dazu KEHREIN 2006), Waldshut-Tiengen, Alt Duvenstedt (Dienststelle Rendsburg), Dresden und Bamberg. Diese ersten „Probebohrungen“ mit der Sprechergruppe Polizeibeamte haben dann wesentlich zur Konzeption eines Teilziels im derzeit laufenden Großprojekt „Regionalsprache.de“ (REDE), das von der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur seit 2008 für 19 Jahre finanziert wird, beigetragen: die Neuerhebung regionalsprachlicher Daten, die seit Projektbeginn von mir verantwortlich geleitet wird. Zwischen der vorliegenden Untersuchung und diesem Teil des REDE-Projekts, das in Kapitel 3.1 noch etwas ausführlicher vorgestellt wird, besteht also eine „gewachsene“, enge Beziehung. Der zentrale Gegenstand der Untersuchung, die regionalsprachlichen Register, ergibt sich aus den spezifischen (sprach)historischen Entwicklungen, aus denen das heutige Gesamtsprachsystem Deutsch hervorgegangen ist. Diese Zusammenhänge werden als Gegenstandskonstitution im Folgenden skizziert. Einen wesentlichen Teil der linguistischen Auseinandersetzung mit diesem Gegenstand bildet seine theoretisch-begriffliche Erfassung. Einzelne Vergleiche von Beschreibungsansätzen werden zeigen, dass die von JÜRGEN ERICH SCHMIDT und JOACHIM HERRGEN entwickelte Sprachdynamiktheorie die klarsten Kriterien an die Definitionen der basalen Begriffe anlegt, weshalb dieser für meine eigene Untersuchung

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Einleitung

gewählte Ansatz ausführlicher beschrieben wird. Eine Skizze wichtiger Beiträge zum methodologischen Fortschritt und die kurze Darstellung von Erkenntnissen und Hypothesen bilden den Abschluss des einleitenden theoretischen Teils der Arbeit, dem sich die Beschreibung der eigenen empirischen Untersuchungen und ihrer Ergebnisse anschließt. Die Resultate meiner Analysen, die sich wegen der Fokussierung des Deutschen in Deutschland auf ausgewählte Regionen der Bundesrepublik beziehen, sind in weiteren Untersuchungen mit den Verhältnissen in den anderen deutschsprachigen Gebieten zu vergleichen. Darüber hinaus können sie für Studien der internationalen Variationslinguistik Interpretationsansätze liefern. Für die verschiedensten Sprachen rückt der vertikale Variationsbereich zwischen den jeweiligen Standardvarietäten und Dialekten in den Mittelpunkt des Interesses. Teilweise herrschen dabei sogar dem Deutschen vergleichbare Ausgangsbedingungen, wie z. B. zwischen den griechischen Dialekten auf Zypern und dem „Standard Modern Greek“, das von Griechenland aus auf der Insel eingeführt wurde und danach zu den regionalen Dialekten zunächst in einem diglossischen Verhältnis stand. Diese Diglossie löst sich – wie im deutschsprachigen Raum – mittlerweile allmählich auf (vgl. dazu etwa TSIPLAKOU / PAPAPAVLOU / PAVLOU / KATSOYANNOU 2006). Weitere rezente Beiträge wurden vorgelegt zum Spanischen (vgl. HERNÁNDEZ-CAMPOY / VILLENA-PONSODA 2009), zum Italienischen (vgl. CERRUTI 2011) und zum Niederländischen (vgl. HEERINGA / HINSKENS i. Dr.).

2. REGIONALSPRACHLICHE SPEKTREN: GEGENSTANDSKONSTITUTION UND GEGENSTANDSBESCHREIBUNG 2.1 DIE ENTSTEHUNG DER MODERNEN REGIONALSPRACHEN DES DEUTSCHEN Die hochkomplexen Beziehungen zwischen den (alten) Basisdialekten, die auf der horizontalen Dimension extreme Heterogenität aufweisen, den Oralisierungsnormen der Standardvarietät1 und möglichen Varietäten und Sprechlagen dazwischen (vertikale Dimension) ergeben sich aus der Entwicklung der gesprochenen Formen des Deutschen über die letzten 300–500 Jahre. Eine prägende Rolle spielte bei diesen Prozessen die Genese der deutschen Standardsprache und vor allem ihrer Aussprache(normen), manifestiert sich doch sprachliche Regionalität primär im Gesprochenen. Ursprünglich werden für „das Deutsche“ gleichberechtigt nebeneinander existierende, lokal oder kleinräumig gültige Varietäten angesetzt, welche für die damalige Bevölkerung die einzige orale und damit überwiegend vermutlich auch die einzige Kommunikationsform überhaupt dargestellt haben. Ein früher Beleg zur Bezeichnung regionaler Sprachformen findet sich in HUGO VON TRIMBERGS „Der Renner“ (ca. 1300), in dem sie aufgezählt und als „lantsprâche[n]“ (Vers 22 287) bezeichnet werden. Der „Vorspann“ zu der Aufzählung könnte in ähnlicher Form auch in einem aktuellen DaF-Lehrbuch zu finden sein:

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Von manigerleie sprâche Swer tuitsche wil eben tihten, Der muoz sîn herze rihten Ûf manigerleie sprâche: Swer wênt daz die von Âche Reden als die von Franken, Dem süln die miuse danken. Ein ieglich lant hât sînen site, Der sînem lantvolke volget mite. An sprâche, an mâze und an gewande Ist underscheiden lant von lande. (EHRISMANN 1970, 220)

Daneben existierten für Geistliche und Gebildete das Latein als geschriebene und gesprochene Sprache sowie die keineswegs homogene Schreibsprache für mittelhochdeutsche Dichtung. Für dieses Stadium der Geschichte der gesprochenen Formen des Deutschen spricht SCHMIDT (2010b) hinsichtlich der vertikalen Dimension von einer „Einvarietätensprache“.

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Zum Konzept der (nationalen) Oralisierungsnormen vgl. SCHMIDT 2005c.

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Regionalsprachliche Spektren: Gegenstandskonstitution und Gegenstandsbeschreibung

Ein für die Entstehung der modernen Regionalsprachen des Deutschen bedeutender Prozess war die Entwicklung einer einheitlichen hochdeutschen Schriftsprache ab etwa dem 16. Jahrhundert. Durch den Vergleich von Schriftzeugnissen aus dem 15. Jahrhundert konnte BESCH (1967) die Entstehung der hochdeutschen Schriftsprache nachzeichnen und frühere Ansätze teilweise widerlegen.2 BESCHS Analysen zeigen, dass eine Vereinheitlichung der Sprache im Medium Schrift bereits im 15. Jahrhundert angelegt war. Die Bedeutung des Ostmitteldeutschen und der dortigen Ausgleichsprozesse in der gesprochenen Sprache ist – entgegen FRINGS’ These, diese gesprochene Ausgleichssprache bilde die Basis der hochdeutschen Einheitssprache – eher als die eines „fruchtbaren Bodens“ für die Akzeptanz einzelner Formen zu sehen, unter anderem, weil es sich um den Wirkungsraum LUTHERS3 handelte, dem BESCH im Wesentlichen die Funktion des Auswählers aus konkurrierenden schreibsprachlichen Varianten zuweist (vgl. BESCH 1967, 349): Das will genauer heißen: Luther bedient sich der schreibsprachlichen Großfläche des Südostens, wo immer er kann. Ist er gezwungen, sprachlich auszuwählen, so trifft er seine Wahl sehr oft im Blick auf diese Einheit. Das will auch heißen: Luther bringt noch ein Stück mitteldeutsches Erbe ein und setzt es kraft seiner Autorität durch, er macht aus der ursprünglichen Angleichung an den Süden einen echten Sprachausgleich zwischen dem Ostmitteldeut4 schen und dem „gemeinen Deutsch“. (BESCH 1967, 362)

An anderer Stelle heißt es, LUTHERS Auswahl ziele auf „Weitenwirkung“, das bedeutet: „Wenn das Bairische oder gar noch das Ostfränkische zum (Ost-)Mitteldeutschen bzw. zur Lutherform tritt, dann ist die schriftsprachliche Entscheidung gefallen, die betreffende Form setzt sich durch“ (BESCH 1967, 340).5 Als

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Bei diesen Ansätzen handelt es sich um die von MÜLLENHOFF angenommene kontinuierliche Entwicklung einer einheitlichen Schriftsprache seit dem 9. Jahrhundert, die in den einzelnen Etappen an die jeweiligen Machtzentren gebunden gewesen sei und sich schließlich im Zuge der Reformation durchgesetzt habe (vgl. MÜLLENHOFF 1873, XXVIII–XXX). Der zweite Ansatz geht als sogenannte „Prag-These“ auf BURDACH (1884) zurück. „Für ihn ist unsere Schriftsprache eine neue Schöpfung, unter einmaligen kulturellen Bedingungen entstanden im kaiserlichen Prag Karls IV. in der Zeit nach 1350. [...] Das humanistische Kanzleideutsch erweise sich als eine Sprache der Bildung und des höheren Lebens und könne die Funktion einer Schrift- und Kultursprache übernehmen“ (BESCH 1987, 16). Auf FRINGS (1936) geht schließlich der Ansatz zurück, nach dem die Einheitssprache aus der kolonialen Ausgleichssprache, die sich ab dem 11. Jahrhundert im ostmitteldeutschen Siedelgebiet herausgebildet hat, hervorgegangen sei. Vgl. zusammenfassend auch BESCH 2003. Vgl. zur Bedeutung LUTHERS für die Entwicklung der neuhochdeutschen Schriftsprache allgemein auch BESCH 2000. Als gemeines Deutsch (oder zeitgenössisch: das „gemeine teutsch“) wird die unter „Kaiser Friedrich III. und dann unter Kaiser Maximilian [...] donauländische Schreibsprache [bezeichnet, die in dieser Zeit ...] zu einer Verkehrs- und Gemeinsprache von weiter Geltung heran[wuchs]“ (BESCH 1967, 362). Vgl. zu diesem Ausgleichsprozess auch GARBE 2000, 1766, sowie BESCH 2003, 2254. Neben diesem Faktor der Weitenwirkung (dem „Geltungsareal“ einer Variante) werden noch die „Landschaftskombinatorik“, das „Strukturprinzip“, der „Geltungsgrad“ und auch die „Geltungshöhe“ (= „die Prestige-Einschätzung des Senders“) als Erklärungsprinzipien für die

Die Entstehung der modernen Regionalsprachen des Deutschen

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wichtigste stabilisierende Faktoren für die Einheitssprache nennt BESCH zum einen „den raschen Übergang Norddeutschlands zum Hochdeutschen (speziell Lutherdeutschen/Meißnischen)“ (BESCH 1987, 42; vgl. auch SANDERS 1982, 154; SODMANN 2000), so wurde beispielsweise die Übersetzung der Bibel ins Niederdeutsche 1626 eingestellt. Nicht zuletzt dadurch wurde die in Norddeutschland verbreitete, unter Führung der Hansestadt Lübeck6 vereinheitlichte mittelniederdeutsche Schreibsprache mit der „Funktion einer übernationalen Handels- und Verkehrssprache“ (PETERS 2000a, 1419) – mitunter auch kurz „Hanse-Sprache“ genannt – „verdrängt“ wie SODMANN (2000) und BESCH (2003) sich ausdrücken.7 Die hochdeutsche Schriftsprache wurde im niederdeutschen Raum zwar als Fremdsprache betrachtet, wurde aber wegen des hohen Prestiges des meißnischen Deutsch übernommen (vgl. SANDERS 1982, 154–167; auch MATTHEIER 2000a, 1093). Zum anderen zählt BESCH als stabilisierenden Faktor für die Einheitssprache das Fortschreiten der überregionalen Sprachangleichung und die abschließende Bereinigung vor allem unter dem Einfluss ostmitteldeutscher Grammatiker auf. Zum Übergang der einheitlichen hochdeutschen Schriftsprache in den Bereich der mündlichen Kommunikation schreibt MATTHEIER: In den Städten, und dort zuerst in den Bildungszentren bzw. den Zentren der Schriftlichkeit, hatte sich wahrscheinlich schon seit dem 16./17. Jh. eine gesprochene Form der im Entstehen begriffenen Standardschriftsprache herausgebildet. Diese, insbesondere auf der Lautebene noch deutlich vom jeweiligen Dialekt beeinflußte Vorform einer gesprochenen Standardvariante fand sich insbesondere in Predigten, als Vorlesesprache und als Sprachform mit fremddialektalen Personen. (MATTHEIER 2000b, 1955–1956)

Es wird davon ausgegangen, dass bis 1800 das Sprechen der Schriftsprache im gesamten Sprachraum zu finden war.8 SCHMIDT schlägt „vor, die neue Varietät als ‚landschaftliches Hochdeutsch‘ zu bezeichnen“ (SCHMIDT 2010b, 130), und betrachtet das Gesamtsystem Deutsch in dieser Phase der Sprachgeschichte als

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Auswahl bestimmter Formen anstelle konkurrierender Varianten genannt (vgl. dazu zusammenfassend BESCH 2003, v. a. 2262–2268). PETERS (2000a, 1414) spricht von einer Schreibsprache, die im Verlauf des 13. Jahrhunderts auf Grundlage der sogenannten „lübischen Ausgleichssprache“, einer „lübisch geprägte[n] mündliche[n] hansische[n] Handels- und Verkehrssprache“, entstanden ist. Vgl. auch BESCH 2003, 2253–2254. Natürlich handelt es sich bei dieser Darstellung um eine grobe Verkürzung der komplexen Prozesse, die beim Übergang des niederdeutschen Sprachraums zur neuhochdeutschen Schriftsprache abgelaufen sind. Ausführliche Darstellungen finden sich beispielsweise in SANDERS 1982, PETERS 2000a und 2000b sowie SODMANN 2000. Im Jahr 1754 weist bereits RICHEY in der Einleitung zu seinem Hamburger Idiotikon darauf hin, dass „[u]nsere Mund=Art [...] ja von Tage zu Tage in Abnahme [geräth], indem das Hoch=Teutsche schon längst nicht allein in öffentlichen Handlungen und Schriften, sondern auch im gemeinen Umgange Besitz genommen, daß auch der Bauer selbst mit einem halb=Hoch=Teutschen Worte sich schon vornehmer düncket“ (RICHEY 1754, XLIII-XLIV). Wie BELLMANN (1986, 14) darlegt, war „spätestens bis 1820 [...] ein Bewußtsein der zweidimensional bedingten sprachlichen Heterogenität bereits ausgebildet“, wobei BELLMANN mit den beiden Dimensionen die horizontale, areale und die vertikale zwischen Dialekt und Standardsprache meint.

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Regionalsprachliche Spektren: Gegenstandskonstitution und Gegenstandsbeschreibung

„Zweivarietätensprache“, da den Sprechern auf der vertikalen Dimension prinzipiell zwei Varietäten zur Verfügung stehen. Wegen der von Region zu Region ganz unterschiedlichen bzw. im niederdeutschen Sprachraum fast gar nicht vorhandenen Verwandtschaft der hochdeutschen Schriftsprache und den traditionellen Kommunikationsmitteln, den Dialekten, dürfte das landschaftliche Hochdeutsch in den einzelnen Regionen des Sprachgebietes ganz unterschiedlich geformt gewesen sein. Im hochdeutschen Sprachraum haben die Sprecher die Schriftsprache auf Basis ihrer jeweiligen dialektalen Phoneminventare umgesetzt, also bestimmte Graphem-Phonem- bzw. -Allophon-Zuordnungen vorgenommen, wobei Graphemen, für die keine direkte Entsprechung im phonologischen System vorhanden war, das nächstähnliche, plausible Phonem zugeordnet wurde. Diese aus heutiger Sicht falschen Zuordnungen, die bei der Orientierung an der Schreibung zustande gekommen sind, also großräumig verbreitete Phänomene betreffen, traten vermutlich innerhalb der Grenzen der Dialektverbände in vergleichbarer Form auf, sodass „sich bald relativ stabile Konventionen herausbildeten [...,] großlandschaftliche Oralisierungsnormen“ (SCHMIDT 2005c, 284). Diese haben bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts hinein jeweils als Prestigesprechlagen gegolten und wurden in Kirchen und Schulen als sprechsprachliche Norm vermittelt. Im niederdeutschen Sprachraum hat sich die Aussprache der hochdeutschen Schriftsprache anders entwickelt, da sie wegen ihrer hochdeutschen Basis, d. h. der sprachlichen Umwälzungen, von denen seit dem 8. Jahrhundert ausschließlich hochdeutsche Dialekte betroffen waren, den Sprechern niederdeutscher Dialekte praktisch völlig fremd war und „quasi als Fremdsprache“ (KÖNIG 2004, 177; vgl. auch BACH 1970, 301; SANDERS 1982, 179) gelernt werden musste. Bei der Aussprache der hochdeutschen Schriftsprache war eine Zuordnung von Graphemen zu entsprechenden oder möglichst ähnlichen Phonemen/Allophonen oft nicht möglich, sodass man sich sehr stark an der Schreibung orientiert hat. Dieses Sprechen „nach der Schrift“ (MATTHEIER 2003, 237; vgl. auch BACH 1970, 301, LÖFFLER 2000) wurde in der Folgezeit als am besten geeignet für eine Normierung der Aussprache angesehen und diente als Basis für frühe Aussprachewörterbücher (z. B. VIETOR 1890a, SIEBS 1898). In einer gemäßigteren Form wurde die Aussprachenormierung nach THEODOR SIEBS von Rundfunksprechern seit den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts übernommen und war ab dieser Zeit für alle Sprachteilhaber als Orientierungsgröße für die überregionale Kommunikation zugänglich.9 Mit dieser (nationalen bundesdeutschen) Oralisierungsnorm wurde das vertikale Spektrum um eine dritte ge9

Bereits ENGEL (1954) weist auf die Bedeutung des Rundfunks „seit den 20er Jahren“ für die Verbreitung der „Einheitsrede“ hin (ENGEL 1954, 267). LAMELI (2004) kann dies im realtime-Vergleich von Aufzeichnungen Mainzer Stadtratssitzungen empirisch nachweisen: Die individuelle phonetische Annäherung an die Oralisierungsnorm der Standardsprache steht in einem auffälligen Zusammenhang mit den Geburtsjahren der Sprecher, und zwar in der Hinsicht, „dass die Sprecher mit durchschnittlich reduzierter Dialektalität die erste Generation darstellt, deren Primärsozialisation in den Zeitraum der flächendeckenden Etablierung des Rundfunks in Deutschland fällt“ (LAMELI 2004, 111), wobei betont wird, dass dies nicht die „alleinige Ursache“ der diachron fortschreitenden Standardannäherung ist.

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sprochene Varietät erweitert. Dies führte zu einer Neubewertung der bis dahin vorhandenen regional unterschiedlichen großlandschaftlichen Oralisierungsnormen der hochdeutschen Schriftsprache als Sprechweisen eines mittleren, regionalsprachlichen Bereichs, für den sich der Terminus Regiolekt etabliert hat. Die Varietätenverbände werden jetzt insgesamt als regional begrenzt wahrgenommen, sie sind zu Regionalsprachen geworden. Die ehemaligen Prestigevarietäten („landschaftliches Hochdeutsch“) dieser Regionalsprachen sind zu Substandardvarietäten geworden (Regiolekt, 10 „Umgangssprache“). (SCHMIDT 2010b, 133–134)

Beim Gesamtsprachsystem Deutsch handelt es sich nach SCHMIDT nunmehr um eine „Dreivarietätensprache“, die aus der Standardsprache und den modernen Regionalsprachen besteht. Diese Regionalsprachen gilt es nun als Varietätenverbände zu beschreiben, wobei ein besonderes Augenmerk auf die Grenzen zwischen den vertikal gestaffelten Varietäten (mindestens Dialekt und Regiolekt) zu legen ist. 2.2 ZUR BESCHREIBUNG REGIONALSPRACHLICHER SPEKTREN Darüber, dass es erstens historisch zunächst nur regionale Sprachformen („lantsprâchen“) als Kommunikationsmittel des Deutschen gab, deren „Nachfahren“ zu Teilen heute noch als Dialekte erhalten sind, dass es zweitens eine hochdeutsche Standardsprache und schriftlich fixierte Normen für verschiedenste Bereiche dieses Standarddeutschen gibt und dass es drittens in der mündlichen Kommunikation (unter anderem) etwas dazwischen gibt, das sich aus dem Kontakt von Dialekten und der Standardsprache entwickelt hat, herrscht in der Variationslinguistik zum Deutschen weitgehend Einigkeit. Teilweise kontrovers wird dabei diskutiert, wie die „Bereiche“ der vertikalen Dimension (bzw. in verschiedenen Modellen der horizontalen Dimension11) zu klassifizieren sind, nämlich als Varietäten oder als Sprechlagen/Sprachlagen eines Kontinuums, wie die Aussprache des Standarddeutschen zu behandeln ist und wie in Abgrenzung davon die standardnächsten, aber immer noch regional geprägten Sprechlagen einzuordnen sind: als größtmögliche Standardannäherung auf regionalsprachlicher Basis oder als Ergebnis von Destandardisierungsprozessen, also einer Entfernung von der Oralisierungsnorm der Standardsprache. Hinsichtlich der Existenz einer Varietätengrenze im „unteren Bereich“, also zwischen den Dialekten und einer großregional verbreiteten Varietät mit deutlicher regionaler Prägung ௅ wie auch immer man diese nennt, z. B. (regionale) Umgangssprache, (regionaler) Sub- oder Nonstandard, Regiolekt ௅ besteht relative 10 Auf die grundsätzlich mögliche Umbewertung von Prestigesprechweisen durch die „Ausbildung und Durchsetzung neuer Prestigevorbilder“ weist auch MIHM (2008, 15) mit Verweis auf ELMENTALER (2005) hin. 11 Eine horizontale Gegenüberstellung der Dialekte und der Standardsprache findet sich bei KÖNIG 2007 (vgl. auch unten, Abbildung 3–3), AUER 1990 und BASSLER / SPIEKERMANN 2001 (vgl. unten, Abbildung 2–1).

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Regionalsprachliche Spektren: Gegenstandskonstitution und Gegenstandsbeschreibung

Einigkeit. Wo diese Grenzen liegen und wie sie ermittelt werden können, hängt nicht nur von der Region, sondern auch vom jeweiligen Varietätenbegriff ab. Ein zentraler Prozess, der für die Entstehung und die analytische Rekonstruktion einer solchen Grenze eine entscheidende Rolle spielt, ist der „Dialektabbau“ (BELLMANN 1983, 109). Wie weit dieser aber fortgeschritten sein muss, um von einer zusätzlichen, nicht-dialektalen Varietät sprechen zu können, kann allgemein nicht beantwortet werden. Häufig wird lediglich von fließenden Übergängen, der Ausbildung eines Kontinuums oder verschiedenen Schichten zwischen Dialekt (oder Grundmundart) und der Hochsprache (oder Standardsprache) gesprochen. In Studien, die das variative Sprachverhalten in verschiedenen Situationen betrachten, kann meist ein Teil der ausgewählten Variationsphänomene in Anlehnung an SCHIRMUNSKI als primäre Merkmale klassifiziert werden, dialektale Varianten also, die bereits im Dialekt instabil sind und bei der Annäherung an die Standardsprache als erste (vollständig) aufgegeben werden (vgl. SCHIRMUNSKI 1928/1929 und 1930). Solche primären Merkmale können als Indizien für die Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit einer Sprechweise zum Dialekt interpretiert werden. Wir werden sehen, dass es der Varietätenbegriff, den SCHMIDT / HERRGEN in ihrem Sprachdynamikansatz definieren, erlaubt, die betreffende Grenze empirisch exakt zu bestimmen (vgl. dazu unten, Kapitel 2.3). Im „oberen Bereich“ der vertikalen regionalsprachlichen Spektren, also an der Grenze zwischen den Regiolekten und der Standardsprache, herrscht deutlich weniger Einigkeit. Umstritten ist dabei erstens, ob es überhaupt eine Varietätengrenze gibt, und zweitens, falls es sie gibt, „wo“ sie liegt. Ein Beschreibungsansatz, an den sich andere (wenn auch teilweise nur unbewusst in zweiter oder dritter Linie) anlehnen, geht auf STEGER (1984) zurück und wird im Folgenden skizziert: STEGER unterscheidet „drei Varietätentypen“, nämlich neben den Orts-/Gemeindemundarten als Kommunikationssystemen mit lokaler Geltung und der deutschen Standardsprache, einem Kommunikationssystem mit überregionaler Geltung im gesamten Sprachgebiet, ein[en] dritte[n] sprachliche[n] Varietätentypus, der kommunikativ eine regionale Reichweite besitzt [...: die] (regionale) U m g a n g s s p r a c h e (STEGER 1984, 251, Hervorhebung im Original),

für die er als Terminusvariante Regiolekt vorschlägt. Die regionalen Umgangssprachen seien durch den Kontakt der Mundart sprechenden Bevölkerung mit dem Standarddeutschen entstanden. Träger der Umgangssprachen sei ein „Bevölkerungsausschnitt [...], der [...] im Vergleich zu den Sprechern der Gemeindemundarten größere k o m m u n i k a t i v e M o b i l i t ä t im Umkreis seines eigenen räumlichen, sozialen und funktionalen Lebensmittelpunktes besitzt“ (STEGER 1984, 261, Hervorhebung im Original). Umgangssprache zeichne sich darüber hinaus durch eine „Normgrenze ‚nach oben‘“(STEGER 1984, 262) aus, die „beim Übergang zur normierten Standardsprache“ (STEGER 1984, 265) angesetzt werde. Nun sei aber bei der Analyse „spontaner Rede“ ein „überregionaler Sprachtyp“ zu beobachten, „für den regionaler Einfluß auf der Lautseite die Regel ist und der in Morphologie, Syntax und Lexik regelmäßig dem überregionalen Standardtyp – mit den üblichen großlandschaftlichen Varianten – entspricht“ (STEGER 1984, 267). Diesen

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Typ nennt STEGER „gesprochene Standardsprache“ und unterscheidet ihn von der „Standard h o c h s prache, die zusätzlich die normierte Hochlautung aufweist“ (STEGER 1984, 267, Hervorhebung im Original). Die Abgrenzung von Umgangssprachen, gesprochener Standardsprache und Standardhochsprache beruhe auf „einer sich einspielenden und sich immer mehr selbst regulierenden konventionalisierten Norm unter den Standardsprachesprechern“ (STEGER 1984, 267) sowie „auf einer in der Sozialisation erworbenen Intuition des kompetenten Sprechers“ (STEGER 1984, 268). Zwei Aspekte an STEGERS Modell sind an dieser Stelle von besonderer Bedeutung: Zum einen unterscheidet er durch die Trennung von gesprochener Standardsprache und Standardhochsprache, statt der eingangs genannten drei Varietätentypen, vier vertikale Abschnitte, die er wechselnd als „Sprachvarietäten“, „Varietäten“ oder „Sprachtypen“ bezeichnet. Nicht nur ihr Status, sondern auch die jeweils konstituierenden Eigenschaften bleiben allerdings weitgehend unklar – bis auf das Leitmerkmal des überregionalen Kommunikationsradius der Sprechergruppe, nämlich die „Überregionalität von [ihren] kommunikativen Aufgaben und Zielen“ (STEGER 1984, 266). Zum anderen besteht der wesentliche Unterschied zwischen gesprochener Standardsprache und Standardhochsprache einerseits und Regiolekt und Dialekt andererseits in ihrer sprachlichen Basis. Diese bildet im Falle von Dialekt und Regiolekt die jeweilige lokale bzw. regional verbreitete Varietät, von der man sich im Regiolekt also wegbewegt, wohingegen Standardhochsprache und gesprochene Standardsprache auf dem „überregionalen Sprachtyp“ basieren. Dabei sei letztere auf der Ebene der Phonetik nach einer – wie genannt – „selbst regulierenden konventionalisierten Norm unter den Standardsprachesprechern [!]“ regional „beeinflusst“ (solches wird in späteren Ansätzen als Destandardisierung bezeichnet). Als fortschrittlich an STEGERS Ansatz ist hervorzuheben, dass er der Standardhochsprache nicht nur eine Existenz im sprachlichen Alltag bescheinigt, sondern sie sogar als „zwingend“ erforderlich für „wenige Situationen der institutionellen Kommunikation [...], des Theaters und des Films“ (STEGER 1984, 270) bezeichnet. Wenn es also tatsächlich Sprecher des Standardhochdeutschen gibt und diese qua stiller Übereinkunft eine darauf basierende Norm entwickeln, die bestimmte regionale phonetische Merkmale enthält (= gesprochene Standardsprache), würde es sich dabei um Destandardisierungsprozesse „in Reinform“ handeln. Der empirische Nachweis eines solchen Prozesses steht aber bisher noch aus. Unklar bleibt vor allem, ob es sich bei dem „überregionalen Sprachtyp“ gesprochene Standardsprache um einen Untertyp der (normierten) Standardsprache oder einen Untertyp des Regiolekts handelt oder ob es sich um einen eigenständigen Sprachtyp handelt, die Vertikale dann also eine Vierteilung aufweist. Ich werde am Ende dieses Kapitels auf diese Frage zurückkommen. Während STEGER für den Bereich Umgangssprache und Standardsprache „das Vorhandensein von getrennten N o r m e n für Mundarten, Umgangssprachen und gesprochene Standardsprache, denen die N o r m i e r u n g der Standard h o c h sprache gegenübertritt[, behauptet]“ (STEGER 1984, 269), gehen spätere Ansätze, die sich auf STEGER beziehen, zurück zu einer Dreiteilung der Vertikale.

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Regionalsprachliche Spektren: Gegenstandskonstitution und Gegenstandsbeschreibung Als oberer Abgrenzungspunkt [der Umgangssprachen; R. K.] ist die Orthoepie als idealisierte Standardaussprache ungeeignet, da dann wegen der im Dt. üblichen landschaftlich gefärbten Artikulation und Prosodie fast der gesamte Bereich der mündlichen Standardverwendung zur Umgangssprache gehören würde. Daher sind mit STEGER (1984) derartige regionale Aussprachevarianten zur gesprochenen Standardsprache zu rechnen, wobei als Bezugspunkt die von KÖNIG (1989) beschriebene Schicht der regional gefärbten Leseaussprache gewählt wird. (MIHM 2000, 2107)

STEGERS Standardhochsprache fällt hier (und in Ansätzen, die sich auf MIHM beziehen) also unter den Tisch und dadurch kommt der „regional gefärbten Leseaussprache“, also STEGERS gesprochener Standardsprache, der Status der standardnächsten Sprachform zu. Diese wird bei MIHM (2000) im Weiteren häufig schlicht als „Standard“ bezeichnet. Inwieweit sich dieser Standard-Begriff mit dem deckt, den AUER in seiner Typologie von Dialekt-Standard-Konstellationen, bei der er sich für das Deutsche auf MIHM (2000) stützt, ansetzt, bleibt unklar. Auch nach AUER gibt es aber „die Orthoepie, die ‚deutsche Hochlautung‘ [...] nicht einmal als ideelles, sicher aber nicht als reales Objekt“ (AUER 1990, 2; vgl. auch AUER 1997, 158–159; KÖNIG 2000; BRINCKMANN [u. a.] 2008, 3185). Dennoch werden für das Deutsche ein „standard (spoken/written)“ und zusätzlich nationale Standards sowie – als Ergebnisse von Destandardisierungsprozessen – regionale Standards angesetzt: „the standard variety may also increasingly tolerate regional features, leading to regional standards with a dialectal substratum“ (AUER 2005, 25). Für eine – auch terminologisch möglichst klare – Strukturierung der Vertikale scheint es mir allerdings nicht angemessen, für das Produkt von De-Standardisierungsprozessen weiterhin den Terminus Standard zu verwenden. Dieser Gebrauch deckt sich auch nicht mehr vollständig mit AUERS eigener Definition von „standard“ (vgl. AUER 2005, 8). Das nicht unproblematische Konzept regionaler Standards12 als Resultate von Destandardisierungsprozessen13 wird in Adaptionen von AUERS Typologie und verwandten Ansätzen übernommen (alternative Termini sind: regionale Standardsprachen, regionale Standardvarietäten, regionale Gebrauchsstandards). Definitionen lauten beispielsweise folgendermaßen: [Unter regionalen Gebrauchsstandards] sind geographisch definierte Varietäten- und Sprachgebrauchsmuster zu verstehen, die im jeweiligen regionalen Kontext ein entsprechend hohes 12 Vgl. dazu auch die Ausführungen in SCHMIDT / HERRGEN 2011, 349–350. 13 AMMON (1995) dagegen betrachtet nach BESCH (1983) Formen des nichtkodifizierten Standards (= „Gebrauchsstandards“, vgl. AMMON 1995, 88) als Variation, die darauf zurückzuführen sei, dass „der Prozess der Standardisierung im Sinne der überregionalen Vereinheitlichung nicht zum Abschluss gebracht ist“ (AMMON 1995, 85). Das bedeutet zwar, dass als Richtung die Annäherung dialektaler und regionalsprachlicher Varietäten an die (kodifizierte) Standardsprache angegeben wird, auch hier wird regional geprägte Sprache aber als „regionaler Standard“ bezeichnet, der – wie auch der „kolloquiale Standard“ – „noch innerhalb des Standards liegt“ (AMMON 1995, 85). Es wird also ein sehr weit gefasster Standardbegriff vertreten, bzw. ein im Verlaufe der Ausführungen erweiterter Standardbegriff, denn zu Beginn wird Standardvarietät definiert als: „Eine Standardvarietät im vollen Sinn des Wortes, also abgesehen von Grenzfällen und Übergangsformen, ist ‚kodifiziert‘“ (AMMON 1995, 3).

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Prestige tragen und die sowohl im informellen als auch im formellen Sprachgebrauch angemessen sind und akzeptiert werden. Sie weisen auf allen Sprachebenen spezifische regionaltypische Formen auf und unterscheiden sich von Dialekten und Umgangssprachen einerseits und von der kodifizierten Schrift- und Standardsprache andererseits. (BEREND 2005, 143) Standard language is defined primarily by user and by usage as the linguistic form which is used by educated people in formal as well as informal contexts. (BRINCKMANN [u. a.] 2008, 3185)14 [Regionale Standardsprache/-varietät ist] eine standardnahe Varietät, die in öffentlichen Situationen gebraucht wird und durch Reste regionalsprachlicher Merkmale gekennzeichnet ist. In einem Kontinuum regionaler Varietäten ist die regionale Standardsprache/Standardvarietät zwischen nationalen Standardvarietäten [...] und Regionalsprachen angesiedelt. (SPIEKERMANN 2008, 1)15

Da es sich bei SPIEKERMANNS Definition um die in der neuesten Arbeit zu dem Gegenstandsbereich „Übergang zwischen Regiolekt und Standardsprache“ publizierte Gegenstandsbestimmung handelt und er zudem versucht, Kriterien für eine Abgrenzung zu formulieren, soll seine Konzeptualisierung ein wenig ausführlicher behandelt werden. Zunächst die ausführliche Definition von Standardsprache: Zum einen handelt es sich bei der Standardsprache, wie ich sie verstehe, um eine Sprachform, die aufgrund der Bewertung ihrer Benutzer als Prestigeform angesehen werden kann. Sie ist in diesem Sinne eine ‚Hochsprache‘. Zum anderen ist die Standardsprache eine genormte und kodifizierte Varietät. Dies unterscheidet sie entscheidend von anderen Sprachformen des Deutschen, z. B. von Dialekten und Regionalsprachen. Zum dritten schließlich wird die Standardsprache durch ihren überregionalen Gebrauch und durch ihre Verwendung in öffentlichen Situationen charakterisiert. Alle drei Aspekte erlauben im Übrigen, unter dem Begriff ‚Standardsprache‘ sowohl geschriebene als auch gesprochensprachliche Varianten zu verstehen. Gleichzeitig wird jedoch impliziert, dass es sich bei der Standardsprache zwar um eine genormte und kodifizierte Sprachform handelt, dass diese aber dennoch zum einen in Bezug auf ihre Kodizes und zum anderen im alltäglichen Gebrauch nicht homogen ist und eine Vielzahl von Varianten aufweist. (SPIEKERMANN 2008, 27)16

Diese zuletzt genannten „Varianten“ der Standardsprache seien entweder nationale oder regionale Standardvarietäten, die sich unterschiedlich stark an der standardsprachlichen Norm orientierten („nationale [...] sehr stark, regionale in geringerem Maße“) und nationale oder regionale Markierungen enthalten könnten. Beide (!) ließen sich daher „als diatopische (regionale) Varietäten beschreiben“ (SPIEKERMANN 2008, 35; vgl. auch SPIEKERMANN 2010, 192). Die Verhältnisse 14 Mit Verweis auf Elemente der Definition für Standardsprache in BARBOUR (2005) wird also die „Umgangssprache der Bildungsschicht“ eingeschlossen und daher handele es sich „um einen Gebrauchsstandard oder eine Gebrauchsnorm“ (BARBOUR 2005, 325). 15 Ähnliche Definitionen finden sich in BASSLER / SPIEKERMANN 2001 und SPIEKERMANN 2005, 101. 16 Auch die von STEGER (1984) bereits genannte und mit empirischen Methoden belegbare, seit 1960 diachron stabile Realisierung der Oralisierungsnorm durch Nachrichtensprecher (vgl. LAMELI 2004 und KEHREIN 2009) wird nicht als hinreichendes Indiz für die Existenz einer Standardaussprache anerkannt, da „in den letzten Jahren auch hier zunehmend eine Aufweichung der Norm festgestellt werden“ könne (SPIEKERMANN 2008, 16).

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im „standardnahe[n] Bereich des sprachlichen Kontinuums“ – eine nähere Charakterisierung oder Definition von standardferneren „Regionalsprachen“ und Dialekten nimmt SPIEKERMANN wegen der Ausrichtung seiner Untersuchung nicht vor – werden mit dem „Fahnenmodell“ von BASSLER / SPIEKERMANN (2001) folgendermaßen dargestellt:

Abb. 2–1: Modell regionaler Varietäten (nach BASSLER / SPIEKERMANN 2001)

Mit „st“ ist links in der Grafik die standardsprachliche Norm (Terminusvarianten in SPIEKERMANNS Text sind „Prestigeform“, „Hochsprache“, „genormte und kodifizierte Varietät“, „Orientierungsgröße nationaler und regionaler Standardvarietäten“) gemeint, die es in der sprachlichen Realität aber nicht gebe. Daran schließen sich die nationalen Standardvarietäten an. Die Verhältnisse zwischen kodifizierter Norm und nationaler Standardvarietät einerseits und von nationaler und regionaler Standardvarietät andererseits, die ja beide als „diatopische (regionale) Varietäten“ bezeichnet werden, sind dabei nicht ganz klar. Folgende Fragen stellen sich: – – –

Gibt es – anders als für die kodifizierte Norm – Sprecher nationaler Standardvarietäten? Und wenn es diese gibt: Durch welche sprachlichen Merkmale ist ihre Sprechweise in Deutschland gekennzeichnet? Wodurch unterscheiden sich die nationalen und die regionalen Standardvarietäten genau? Die Angabe, dass die „kommunikative Reichweite“ regionaler Standardvarietäten „nahezu der nationaler Standards“ entspreche (SPIEKERMANN 2008, 40), legt nahe, dass es innerhalb des durch einen nationalen Standard abgedeckten Gebiets Regionen gibt, in denen regionale Standards anderer Regionen (desselben nationalen Standards) nicht verstanden werden. Wie weit sind dann aber regionale Standardvarietäten vom kodifizierten Standard entfernt? Nehmen wir als Beispiel EDMUND STOIBER, der sich als ehemaliger Kanzlerkandidat einer Sprechweise bedienen musste, die überall in Deutschland (wahrscheinlich sogar im gesamten deutschsprachigen Raum)

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verstanden werden sollte. Vermutlich ist ihm dies gelungen. Gleiches trifft aber sicherlich auch auf HELMUT KOHL, KURT BECK, FRANZ MÜNTEFERING, GREGOR GYSI oder GÜNTHER ÖTTINGER zu. Nach dem Kriterium der kommunikativen Reichweite wären alle diese Politiker somit Sprecher der nationalen Standardvarietät für Deutschland. Allerdings verwenden alle genannten Sprecher Sprechweisen, die klar regional differenzierbar und zuzuordnen sind, was eher für das Vorliegen regionaler Standardvarietäten spricht. Wie viele und welche Regionalismen müssen also in einer Sprechweise enthalten sein, um sie einer regionalen Standardvarietät zuordnen zu können und nicht den „Regionalsprachen“ oder der nationalen Standardvarietät? Anders formuliert: An welchem Punkt fangen die nationalen Standardvarietäten an, regionale Standardvarietäten zu werden?17 Wer wäre dann aber ein Sprecher der nationalen Standardvarietät Deutschlands? Oder gibt es diese in der sprachlichen Realität auch nicht? Und falls es sie gibt, worin unterscheidet sich ihre Sprechweise von der kodifizierten „Standardsprache“? Wenn regionale Standardvarietäten durch die Orientierung an der kodifizierten Norm entstehen (= Standardisierung) bzw. die kodifizierte Norm die Basis der regionalen Standardvarietäten bildet (= Destandardisierung), heißt das, dass jeder die kodifizierte Norm kennt (und sie produzieren könnte)? Woher kennen Sprecher aber diese Norm, wenn sie doch in der sprachlichen Realität nicht vorkommt?

SPIEKERMANNS Ausführungen münden in einem bzw. mehreren Modellen regionaler Standardvarietäten, in denen jeweils die „Varietät bzw. Sprechweise“ Standardsprache durch die „Varietäten bzw. Sprechweisen“ Allegrosprache und Regionalsprache/Dialekt in unterschiedlichem Maße beeinflusst wird. Unterschieden werden die drei genannten „Varietäten bzw. Sprechweisen“ durch die Kriterien Sprechsituation (formell/halbformell für die Standardsprache und informell für Allegrosprache und Regionalsprache/Dialekt) und Sprechweise (allegro für die Allegrosprache und lento für die Standardsprache; für Regionalsprache/Dialekt gebe es sowohl allegro- als auch lento-Sprechweisen, daher seien „Unterschiede in der Sprechweise [...] auf dialektaler/regionalsprachlicher Ebene nicht konstitutiv“ (alle Zitate SPIEKERMANN 2008, 49–50)). Wendet man SPIEKERMANNS Kriterien und Terminologie konsequent an, lassen sich folgende Unterscheidungen hinsichtlich der Kernelemente seiner Modelle treffen: –

Die „Varietät bzw. Sprechweise“ Allegrosprache sei „per definitionem“ die „Allegro-Variante“ der „Varietät bzw. Sprechweise“ Standardsprache und unterscheide sich von ihr durch das Kriterium der Sprechweise „allegro“ und das Kriterium der Sprechsituation „informell“.

17 Man könnte sogar noch weiter gehen: Wäre EDMUND STOIBER nicht eine bekannte Person des öffentlichen Lebens, könnte es sogar Menschen geben, die ihn für einen Sprecher aus Österreich und somit möglicherweise der österreichischen nationalen Standardvarietät halten.

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Regionalsprachliche Spektren: Gegenstandskonstitution und Gegenstandsbeschreibung

Die „Varietät bzw. Sprechweise“ Regionalsprache/Dialekt unterscheide sich von der „Varietät bzw. Sprechweise“ Standardsprache durch das Kriterium der Sprechsituation „informell“ und sei hinsichtlich des Kriteriums der Sprechweise indifferent, da es in der „Varietät bzw. Sprechweise“ Regionalsprache/Dialekt allegro- und lento-Sprechweisen gebe. Die „Varietät bzw. Sprechweise“ Standardsprache werde nun zur regionalen Standardvarietät/Standardsprache, indem Einflüsse der „Varietäten bzw. Sprechweisen“ Allegrosprache und/oder Regionalsprache/Dialekt auf sie einwirkten.

Eine regionale Standardsprache/-varietät liegt demnach also beispielsweise dann vor, wenn ein Sprecher in einer formellen Sprechsituation schnell spricht, also Allegroformen produziert, oder wenn seine Sprechweise regionale Merkmale enthält. Beide Merkmalsarten werden nämlich per definitionem informellen Sprechsituationen zugeordnet, die wiederum Standardsprache als „Varietät bzw. Sprechweise“ ausschließen. Es ergeben sich meines Erachtens folgende Fragen: Ist Allegrosprache nun eine Sprechweise, eine Varietät oder eine Variante der Varietät Standardsprache? Warum wird aus der Standardsprache durch schnelles Sprechen eine „regionale Standardsprache“, obwohl Allegroformen als „nicht-regionale“ Merkmale definiert werden (vgl. SPIEKERMANN 2008, 49)? Macht die Verwendung von Dialekt/Regionalsprache oder von Allegroformen eine Situation zu einer informellen Situation oder wird angenommen bzw. festgelegt, dass Dialekt/ Regionalsprache oder Allegroformen nur in informellen Situationen verwendet werden? Was aber sind dann formelle und was sind informelle Situationen? Das größte Problem des referierten Ansatzes besteht aber darin, dass nicht klar ist, welcher Varietätenbegriff zugrunde gelegt wird. Einerseits wird Varietät durch die Verwendung eines Schrägstrichs „/“ mit Sprache gleichgesetzt, andererseits ist regelmäßig von „Varietät bzw. Sprechweise“ zu lesen.18 Die skizzierten Probleme lassen sich meines Erachtens lösen, indem man die fraglichen Gegenstände aus den jeweils passenden Blickwinkeln betrachtet und sie begrifflich-terminologisch differenziert. Eine solche Differenzierung ist im Prinzip in allen präsentierten Ansätzen angelegt, sie wird aber nicht konsequent durchgeführt. Der fragliche Gegenstand bei STEGER (1984) war die „gesprochene Standardsprache“, welche STEGER als Sprachtyp fasst und sie somit neben die „Standardhochsprache“, die „regionale Umgangssprache“ und die „Orts-/Gemeindemundarten“ stellt. Dadurch wird die sprachhistorisch plausible und empirisch belegbare Aufteilung der Vertikale in drei Varietäten durcheinander gebracht und ein theoretisches Dilemma geschaffen. Dieses besteht darin, dass es sich bei der Sprechweise, die STEGER als „gesprochene Standardsprache“ bezeichnet und die in den anderen Ansätzen „regionale Gebrauchsstandards“, „regionale Standards“ oder „(regionale) Gebrauchsnormen“ genannt wird, um eine Sprechweise handelt, 18 Eine Diskussion dieser Aspekte findet sich auch in SCHMIDT / HERRGEN 2011, 348–352. Eine ausführliche Besprechung von SPIEKERMANNS Arbeit hat KLEINER 2012 vorgelegt.

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die (gebildete) Sprecher in Situationen verwenden, in denen aus ihrer Sicht die Orientierung an der Standardsprache erforderlich ist.19 Typische Beispiele für diese Art der Sprachverwendung sind die Sprechweisen von Bundespolitikern wie den oben genannten in den Medien. Es handelt sich also um formelle Situationen und/oder um Situationen überregionaler Kommunikation. Nicht wenige linguistische Laien (v. a. der älteren Generation) würden diese Sprechweisen als „Hochdeutsch“ bezeichnen. Linguistische Analysen entsprechender Sprachproben dieser Politiker werden allerdings sicher eine ganze Reihe von nichtstandardsprachlichen Merkmalen zutage fördern, die auf die regionale Herkunft der Sprecher hinweisen. Das Dilemma besteht nun genau darin, diese beiden Sichtweisen in Deckung zu bringen. Zur Überwindung dieses Problems sind bisher drei Wege beschritten worden: 1. Da empirisch belegbar ist, dass Sprechweisen, bei denen sich Sprecher an der Standardsprache orientieren, häufig regionalsprachliche Merkmale enthalten, bleibt dem Wissenschaftler nichts anderes übrig, als alle diese Sprechweisen des Alltags dem Nonstandard zuzuordnen und die Existenz der gesprochenen Standardsprache abzulehnen, obwohl diese natürlich ebenfalls empirisch nachweisbar ist (vgl. etwa STEGERS „Standardhochsprache“): Alles Sprechen wäre demnach regionalsprachliches Sprechen. Da die Sprecher aber in den betreffenden Situationen ihre Sprachverwendung an der Standardsprache ausrichten – weshalb Laien diese Sprechweisen auch als „Hochdeutsch“ bezeichnen –, folgt in diesen Ansätzen als theoretischer (Kurz-)Schluss die Ansetzung regionaler (und nationaler) Standards, die aber nicht zur Standardsprache gehören. Dass eine solche Mehrfachverwendung des Terminus Standard in ein neues Dilemma führt, das in der Regel durch (noch mehr) terminologische Unschärfe verdeckt wird oder das sich begrifflich-terminologisch gar nicht mehr lösen lässt, wurde gerade ausführlich dargestellt. 2. Man fasst den Begriff Standard so weit, dass auch regional geprägte Sprechweisen eingeschlossen werden, wie AMMON 1995 dies tut (vgl. AMMON 1995, 85, und oben, Fußnote 13). Dieser Weg löst das Dilemma aber keineswegs, sondern verschiebt es lediglich, denn nach welchen Kriterien lassen sich dann „regionale Standards“ von Nonstandard-Varietäten abgrenzen? 3. Man behandelt die beobachtbaren Alltagssprechweisen konsequent als das, was sie sind: eine von Sprechern bewusst verwendete und wegen der individuellen Interpretation der Kommunikationssituation an der Standardsprache orientierte Sprechweise. Das bedeutet, es handelt sich dabei zunächst um ein individuell-subjektives Konzept,20 das Sprecher häufig als „Hochdeutsch-“ 19 Auch STEGER (1984) charakterisiert ja seine „Sprachtypen“ mitunter durch spezifische „Sprecherprofile“. 20 Vgl. auch die zuletzt von PURSCHKE (2011, 25–35) vorgelegte, die linguistisch-objektive und die individuell-subjektive Ebene differenzierende Bestimmung von Standardsprache. Dort werden insbesondere auch die individuell-subjektiv relevanten Eigenschaften ausführlich beschrieben.

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Regionalsprachliche Spektren: Gegenstandskonstitution und Gegenstandsbeschreibung

oder „Schriftdeutsch-Sprechen“ bezeichnen. Diese Sprechweisen unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Dialektalität und der enthaltenen regionalsprachlichen Merkmale (= objektsprachliche Perspektive) von Region zu Region und sie können – wiederum individuell-subjektiv oder auch kollektiv-intersubjektiv – als regionale Prestigesprechweisen anerkannt sein und somit regionale (!) Oralisierungsnormen bilden.21 Bei diesem Lösungsweg entspricht der Prestigesprechweise als kollektiv-intersubjektivem Konzept das, was in den referierten Ansätzen „regionaler Gebrauchsstandard“ usw. genannt wird. Der Terminus(bestandteil) „Standard“ ist für solche subjektiven Konzepte allerdings zu vermeiden, da dieser zur Bezeichnung eines Gegenstands im objektsprachlichen Bereich benötigt wird, nämlich zur Bezeichnung einer sprachlichen Varietät: der Standardvarietät, die neben Regiolekt und Dialekt angesetzt wird. Diese drei Varietäten (die ja auch STEGER ansetzt) lassen sich nach linguistischen Kriterien bestimmen und voneinander abgrenzen, während die Zuordnung der betreffenden, an der Standardsprache orientierten Sprechweisen, also des Gegenstands aus der subjektiven Perspektive, für den ich als Grundterminus Hochdeutsch verwenden werde, zu einer der objektsprachlichen Varietäten jeweils separat zu ermitteln ist. Eine solche konsequente Differenzierung der Beschreibungsebenen hat bereits LAMELI (2006) vorgeschlagen. Er unterscheidet die Varietät Standardsprache, deren „Normierung und Kodifizierung [...] auf weitgehende Homogenität und Überregionalität ausgerichtet [ist]“ (LAMELI 2006, 62) von dem beobachtbaren gesprochenen Hochdeutsch,22 das „einer pragmatischen Orientierung [unterliegt] und [...] sich wesentlich auf die individuell verschiedene Umsetzung bzw. die funktionellen Abhängigkeiten und Anbindungen der Standardsprache im Sinne einer formellen Sprechweise [bezieht]“ (LAMELI 2006, 62). Auf Grundlage einer solchen terminologisch-begrifflichen Differenzierung ist es nun möglich, abschließend die einzelnen in diesem Kapitel präsentierten Positionen aufeinander zu beziehen. Zur objektsprachlichen Ebene Nach linguistischen Kriterien lässt sich die Struktur der Vertikale in drei Varietäten einteilen: Standardsprache, Regiolekt und Dialekt. Die Grenzen zwischen den Varietäten können jeweils mit variationslinguistischen Methoden empirisch exakt bestimmt werden, und zwar durch perzeptionslinguistische Experimente und durch die Beobachtung von Hyperformen. Darüber hinaus können innerhalb der Varietäten durch die Ermittlung von Verdichtungsbereichen bei der Verwendung 21 Vgl. dazu auch das in der Sprachdynamiktheorie beschriebene Konzept „landschaftliches Hochdeutsch“ (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 65–67). 22 Der von LAMELI verwendete Terminus für diese Umsetzung der Standardsprache, „Standardsprechsprache“ (zur Definition vgl. LAMELI 2006, 62–63), ist zwar sachlich angemessen, birgt aber wegen des Bestandteils „Standard“ die Gefahr erneuter Verwirrung und wird daher hier nicht übernommen. Bereits BELLMANN (1983) sowie auch STEINER (1994) verwenden diesen Terminus, vgl. unten, Kapitel 3.1.

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regionalsprachlicher Varianten23 gegebenenfalls vorhandene Sprechlagen abgeleitet werden (die methodischen Aspekte werden im Verlauf des Textes noch weiter ausgeführt werden). Die Ergebnisse vorliegender Studien zeigen, dass sich im Dialekt häufig die Sprechlagen Basisdialekt und Regionaldialekt unterscheiden lassen, für den Regiolekt in der moselfränkischen Kleinregion um Wittlich hat LENZ (2003) drei Sprechlagen nachweisen können. Innerhalb der Standardvarietät lassen sich mit LAMELI (2004) die Sprechlage Standard geschulter Sprecher und die Sprechlage Kolloquialstandard unterscheiden. Hinsichtlich der Sprechlage Standard geschulter Sprecher und ihrem Verhältnis zu der in Wörterbüchern kodifizierten Aussprachenorm muss Folgendes hervorgehoben werden: Niemand in Deutschland, nicht einmal ein geschulter Sprecher, artikuliert die kodifizierte deutschländische Oralisierungsnorm so, wie sie in Aussprachewörterbüchern für Einzelwörter (!) abgedruckt ist. Das bedeutet, dass niemand die Orthoepien einzelner Wörter aneinanderreiht, sondern es finden immer realisationsphonetische und koartikulatorische Prozesse statt, die der Artikulationsökonomie, der unterschiedlichen Beweglichkeit und damit Geschwindigkeit der einzelnen Artikulationsorgane, dem vielerlei Einflüssen unterliegenden bewusst produzierten Sprechtempo usw. geschuldet sind. Der folgende Vergleich der Realisierung von Wenkersatz 1 durch einen geschulten Sprecher mit der orthoepischen Wiedergabe der einzelnen Wörter nach dem Duden-Aussprachewörterbuch verdeutlicht dies. Orthografie

Im Winter fliegen die trockenen Blätter durch die Luft herum

Orthoepie

٪ʏ̲٫٪Ԯʏ͑ҡ7٫٪Ƹ́ɗٝǯ͑‫ܨ‬٫٪Āɗٝ٫٪ҡфÞ˔ũ͑ũ͑٫٪¡́Ųҡ7٫٪ĀԂфÔ٫٪Āɗٝ٫٪́ԂƸҡ٫٪ȍŲфԂ̲٫

JAN HOFER

ʏ̲Ԯʏ͑ҡ7‫ܣ‬ǂɗٝǯ͒͡Ā‫ ܨ‬ɗ ܱٞҡѳ‫ܚ‬Þ˔͑ũ͑¡́ŲҡȎũĀԂʏÔҡ ‫ۓ‬ɗ ܱ́ԂƸҡȍŲѳԂ̲

Dennoch ist aus dieser Beobachtung nicht der oben zitierte Schluss zu ziehen, die Orthoepie habe keine Entsprechung in der Sprachwirklichkeit. Das Gegenteil ist der Fall, denn die Aussprachewörterbücher stellen seit dem Wörterbuch der deutschen Aussprache (WdA) von 1964 und dem Duden Aussprachewörterbuch in der zweiten Auflage von 1974 (vgl. Duden Aussprachewörterbuch 2005, 34) eine wortweise Kodifizierung der Aussprache dar (= nationale Oralisierungsnorm; vgl. SCHMIDT 2005c), die auf Grundlage der Sprachverwendung durch Berufssprecher sowie im Falle des neusten Deutschen Aussprachewörterbuchs auf Grundlage empirischer Untersuchungen zur Akzeptanz von Sprechweisen (vgl. KRECH [u. a.] 2009, 15–17) vorgenommen wurde.24

23 Das Konzept der Definition von Varietäten als „Verdichtungspunkte in einem Kontinuum“, nämlich als Kombinationen sprachlicher Merkmale, die in bestimmten Gebrauchssituationen auftreten, geht zurück auf BERRUTO (1987, 265). 24 Gleiches gilt auch für das Österreichische Aussprachewörterbuch, in dem die sogenannte „Medienpräsentationsnorm“ abgebildet wird (vgl. MUHR 2007, 29).

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Regionalsprachliche Spektren: Gegenstandskonstitution und Gegenstandsbeschreibung

Zur subjektiven Ebene Der linguistischen Struktur der Vertikale lassen sich nun beobachtbare Sprechweisen des Alltags (oder einer Erhebungssituation) zuordnen. Eine spezielle Sprechweise bildet dabei die oben beschriebene, die ich als „Sprachverwendung, die situationsbedingt an der Standardsprache orientiert ist“ charakterisiert habe und für die als Grundterminus Hochdeutsch vorgeschlagen wurde. Diese Sprechweise ist in vielerlei Hinsicht variabel: zunächst einmal zwischen verschiedenen Regionen des Sprachgebiets, zweitens zwischen verschiedenen Sprechern einer Region und drittens wahrscheinlich sogar – wenn auch weniger stark – zwischen verschiedenen Situationen, in denen eine einzelne Person beobachtet wird. LENZ (2003) zeigt beispielsweise für Wittlich, dass die Sprecher unterhalb eines „Hochdeutsch der Norddeutschen“ (auch als „Richtiges Hochdeutsch“ bezeichnet) davon abweichende, regional gefärbte Formen von Hochdeutsch unterscheiden. Die folgende Staffelung lässt sich ableiten: besseres Hochdeutsch > (Hochdeutsch) > normales Hochdeutsch > Umgangssprache. Allen diesen von den Wittlicher Informanten genannten Sprechweisen entsprechen auf objektsprachlicher Seite Sprechlagen des Regiolekts. Innerhalb dieser regionalsprachlichen Varietät kann also für Sprechweisen, bei denen sich Sprecher an der Standardsprache orientieren, individuell-subjektiv offenbar grundsätzlich ein bestes Hochdeutsch der Region von einem normalen Hochdeutsch der Region unterschieden werden. Das beste Hochdeutsch der Region entspricht somit dem, was in den präsentierten Ansätzen als „gesprochene Standardsprache“ (STEGER 1984), „regionale/r (Gebrauchs)Standard/Norm“ (AMMON 1995, BARBOUR 2005, BEREND 2005, BRINCKMANN [u. a.] 2008, SPIEKERMANN 2008) bzw. „regional standard“ (AUER 2005), „Standardsprechsprache“ (STEINER 1994, LAMELI 2006) oder „landschaftliches Hochdeutsch“ (SCHMIDT 2010b) bezeichnet wurde. Solche Sprechweisen haben (früher) ein hohes Prestige besessen und Dialektsprechern als Orientierungsgröße (SCHMIDT 2005c spricht von „regionaler Oralisierungsnorm“) gedient.25 Hinsichtlich der Sprechweise, die linguistische Laien als allgemein bestes, reines oder richtiges Hochdeutsch bezeichnen (dabei wird stereotyp häufig auf Hannover oder Norddeutschland verwiesen), zeigen vorliegende Studien, dass die jeweiligen Informanten über eine weitgehend übereinstimmende Vorstellung von dieser Sprechweise verfügen (vgl. JOCHMANN 2000, LAMELI 2004, KEHREIN 2009 und unten, Kapitel 8). Wie LAMELI (2004) zeigen konnte, ist für diese Sprechweise eine Zuordnung zu Sprechlagen der Standardvarietät auf der objektiv-linguistischen Ebene möglich: Es handelt sich um die Sprechlagen Standard geschulter Sprecher und Kolloquialstandard. Sprachproben, die als fast reines Hochdeutsch wahrgenommen werden und dem Kolloquialstandard zugeordnet werden können, enthalten in der Regel mehr standardabweichende Merkmale als die Sprechweise 25 Normcharakter und Prestige von „landschaftlichem Hochdeutsch“ wird nach SCHMIDT (2005c) allerdings mit Aufkommen und Verbreitung von nationalen Oralisierungsnormen, dem „Standard geschulter Sprecher“, nicht nur in der Sprachwissenschaft, sondern auch bei den Sprachteilhabern kritisch hinterfragt („Ab- und Umbewertung“). Dies äußert sich beispielsweise in Baden-Württembergs Slogan „Wir können alles. Außer Hochdeutsch.“

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geschulter Sprecher. Die betreffenden Varianten lassen sich somit als nicht salient – also durch naive Hörer nicht erkennbar oder aber toleriert – interpretieren. Solche Interpretationen können schließlich durch Untersuchungen zur Salienz von Einzelmerkmalen überprüft werden (vgl. HERRGEN / SCHMIDT 1985, KIESEWALTER 2009 und 2011). Damit ist ein klares und intersubjektiv kontrollierbares Kriterium zur Bestimmung der Varietätengrenze zwischen Standardsprache und Regiolekt gefunden, das die konstitutive Eigenschaft der Definition von Standardsprache und ihrer Oralisierungsnorm (vgl. unten, Kapitel 2.3) bildet: die kommunikative Salienz. In Abbildung 2–2 werden die vorgeschlagenen terminologischbegrifflichen Differenzierungen noch einmal grafisch dargestellt und zusammengefasst.

Abb. 2–2: Begrifflich-terminologische Differenzierung des „oberen“ Bereichs der Vertikale nach subjektiver und objektsprachlicher Ebene

2.3 ZUR DEFINITION DES GEGENSTANDS IN DER SPRACHDYNAMIKTHEORIE Eine Möglichkeit, den Gegenstand und die ihn konstituierenden Elemente begrifflich exakt zu fassen, bietet die von SCHMIDT und HERRGEN gerade vorgelegte Sprachdynamiktheorie, deren Ansatz und Beschreibungsinstrumentarium in der vorliegenden Untersuchung zugrunde gelegt wird.26 Ausgangspunkt der Sprachdynamiktheorie ist die Tatsache, dass jede natürliche Sprache, da sie nur durch ihre Benutzer existiert, in der räumlichen und der zeitlichen Dimension immer he26 Die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung stützen Teilbereiche der Sprachdynamiktheorie in idealer Weise. Daher wurden Teilergebnisse bereits summarisch in einzelnen Beiträgen von JÜRGEN ERICH SCHMIDT präsentiert (vgl. etwa SCHMIDT / HERRGEN 2011, 381– 392 oder SCHMIDT 2012).

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Regionalsprachliche Spektren: Gegenstandskonstitution und Gegenstandsbeschreibung

terogen, variabel, dynamisch ist. „Sprachvariation und Sprachwandel sind für den Gegenstand Sprache konstitutiv“ (SCHMIDT 2005a, 16). Es finden sich – was theoretisch möglich wäre – keine zwei Individuen mit exakt derselben sprachlichen Kompetenz. Dennoch wurden und werden in der Sprachwissenschaft immer Systeme und Teilsysteme als synchrone homogene Sprachzustände beschrieben. Solche Homogenität wird aber – je nach Interessenlage – immer nur durch Wissenschaftler „methodisch hergestellt“ (SCHMIDT 2005a, 16), beispielsweise durch die Ableitung/Abstraktion des Sprachsystems (langue als dem Konventionellen, Homogenen, Fertigen) aus der tatsächlich verwendeten Sprache (parole als dem Individuellen, Heterogenen, Willkürlichen)27 oder durch die Reduktion auf die Kompetenz eines idealen Sprecher-Hörers.28 Abweichungen vom System bzw. von der Kompetenz des idealen Sprecher-Hörers, also auch Sprachvariation, werden als Phänomene der parole bzw. der Performanz aus der synchronen Beschreibung ausgeschlossen. Die Theorie der Sprachdynamik versucht nun, der sprachkonstitutiven Eigenschaft der Variabilität (= Sprachvariation und Sprachwandel) gerecht zu werden, indem sie diese ins Zentrum ihres Interesses stellt, und versteht sich daher als „Wissenschaft von den Einflüssen auf die sich ständig wandelnde komplexe Sprache und von den sich daraus ergebenden Veränderungsprozessen“ (SCHMIDT 2005a, 17). „Sprachsysteme“ als temporär stabile Komplexe von Einheiten, die bei der Kommunikation ausgewählt und kombiniert werden, existieren zunächst einmal nur individuell, d. h. als die jeweilige Kompetenz eines jeden Sprachteilhabers (nicht als Kompetenz eines idealen Sprecher-Hörers). Damit Kommunikation möglich ist, muss das Sprachwissen einzelner Individuen teilweise deckungsgleich mit der Kompetenz anderer Sprachteilhaber sein. Kompetenzdifferenzen zwischen Sprechern und Sprechergruppen, die in der kommunikativen Interaktion zutage treten, werden als „zentrale Ursache sprachdynamischer Prozesse“ (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 20) angesehen: Ein Sprecher formuliert, das zentrale Kooperationsprinzip29 vorausgesetzt, eine Äußerung unter Berücksichtigung der Verstehensmöglichkeiten und Kommunikationserwartungen des Kommunikationspartners möglichst optimal.30 Die Art der Rückkopplung durch den Partner, der die Äußerung beim Versuch, sie zu verstehen, mit seiner Kompetenz abgleicht, steuert die Art des sprachdynamischen Prozesses, der ausgelöst wird. Signalisiert der Partner vollständiges Verstehen, bewirkt dies die „Stabilisierung der angewendeten Sprachproduktionsstrategie“ (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 26; Fettdruck im Original). Die Rückmeldung von Nicht-Verstehen oder lediglich partiellem Verstehen löst dagegen eine Modifikation und damit eine Angleichung der Sprachproduktionsstrategie an die Kompetenz des Partners aus. Diese Angleichung kann ad hoc verlaufen und einmalig bleiben oder sie kann 27 28 29 30

Vgl. SAUSSURE 1967, 9–24. Vgl. CHOMSKY 1978, 13. Vgl. zu diesem grundlegenden Prinzip sprachlicher Interaktion GRICE 1975. Eine solche Umsetzung des Kooperationsprinzips stellt als „recipient design“ (= die Gestaltung einer Äußerung in Abhängigkeit vom Wissen und den Erwartungen des Kommunikationspartners) in Anlehnung an GARFINKEL (1969) auch in der ethnomethodologischen Konversationsanalyse ein grundlegendes Prinzip dar.

Zur Definition des Gegenstands in der Sprachdynamiktheorie

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zu einer anhaltenden Modifizierung der individuellen Kompetenz führen. Die verschiedenen Prozesse der Stabilisierung und Modifizierung werden mit dem Begriff der Synchronisierung beschrieben. Dieser Begriff ist definiert als „Abgleich von Kompetenzdifferenzen im Performanzakt mit der Folge einer Stabilisierung und/oder Modifizierung der beteiligten aktiven und passiven Kompetenzen“ (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 28–29). Die Synchronisierung wird abhängig von der Ausrichtung und von der Wirkung auf die individuelle sprachliche Kompetenz differenziert in Mikro-, Meso- und Makrosynchronisierung. Mikrosynchronisierungen sind auf einzelne Akte kommunikativer Interaktion bezogen und werden definiert als „eine punktuelle, in der Einzelinteraktion begründete Modifizierung und zugleich Stabilisierung des individuellen sprachlichen Wissens“ (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 29). [Wenn nun] Individuen über einen längeren Zeitabschnitt an Situationen teilhaben, die für jeden der Beteiligten einen hohen Stellenwert haben (z. B. Grundschulklasse, Peergroup bei Jugendlichen, Arbeitsgruppe im Berufsleben), so führt dies zu einer Folge von gleichgerichteten Synchronisierungsakten [...,] die zu einer Ausbildung von gemeinsamem situationsspezifischem sprachlichem Wissen führt. (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 31)

Dieser Prozess wird als Mesosynchronisierung bezeichnet.31 Unter Makrosynchronisierungen werden schließlich Synchronisierungsakte verstanden, „mit denen Mitglieder einer Sprachgemeinschaft sich an einer gemeinsamen Norm ausrichten“ (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 32). Im Gesamtsprachsystem Deutsch gelten als Norm die neuhochdeutsche Schriftsprache und die jeweiligen nationalen Oralisierungsnormen. Anders als Mikro- und Mesosynchronisierungen verlaufen Makrosynchronisierungen unabhängig von persönlichem Kontakt zwischen bestimmten Sprechern und Sprechergruppen. Von großer Bedeutung sei bei diesem Prozess der Erwerb der Schriftsprache in der Schule (dies werde ich in der vorliegenden Untersuchung empirisch stützen). Nicht zuletzt die institutionelle Vermittlung der standardsprachlichen Normen und die Bewertung des Lernerfolgs in der Schule tragen dazu bei, dass die Dynamik dieser Normen, die keineswegs als

31 Die Relevanz von kommunikativen Netzwerken für die Ausbildung bestimmter Wertesysteme und (kommunikativer) Verhaltensweisen wird auch in internationalen sozialwissenschaftlichen und soziolinguistischen Ansätzen beschrieben. Die entsprechenden Gruppen heißen dort „social networks“ (vgl. MILROY 1980), „community of practice“ (vgl. etwa LAVE / WENGER 1991, 69; ECKERT / MCCONNELL-GINET 1992, 464; WENGER 1998) oder „cluster“ (vgl. SCHLOBINSKI 1987, 51). Allerdings werden die Prozesse sprachlicher Angleichung, die beispielsweise „routinization“, „long-term accomodation“ o. Ä. genannt werden (vgl. GIDDENS 1984, 60, oder zusammenfassend BRITAIN 2010, 76–78), in diesen sozialwissenschaftlichen Ansätzen stets nur unter dem Aspekt der Stabilisierung des Netzwerks beschrieben. Eine Rückwirkung auf die individuelle Kompetenz und die Struktur des Gesamtsprachsystems wird somit systematisch ausgeschlossen. Anders ENGEL (1954), der zwischen „okkasionellen und substantiellen Sprachbewegungen“ unterscheidet, von denen nur letztere „eine (zumindest qualitative) Umbildung der sprachlichen Substanz [des Individuums; R. K.]“, die ENGEL „Individualsprache“ nennt, bewirkt (alle Zitate aus ENGEL 1954, 50–51). Diese sind vergleichbar mit Mesosynchronisierungen, die eine Modifikation der individuellen Kompetenz bewirken.

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statische, unveränderliche Systeme betrachtet werden, gegenüber anderen Bereichen extrem verlangsamt ist: Dass die Kodifizierung der Schriftsprache (z. B. in Wörterbüchern seit Adelung) und die institutionell gesicherten präskriptiven Normen (z. B. die jahrzehntelange Verbindlichkeit der Dudenorthographie in Schulen und Verwaltungen) bei Millionen von Individuen unabhängig voneinander zu bewussten „rückwärtsgerichteten“, aber gleichgerichteten (!) Makrosynchronisierungen (Nachschlagen, Lernen der Normen) führt, die insgesamt eine Verringerung der Veränderungsgeschwindigkeit bewirken, bedarf nach dem Gesagten keiner weiteren Explikation. (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 33)

Durch jede sprachliche Interaktion entsteht zwischen den Sprachteilhabern ein komplexes Netz aus Mesosynchronisierungen und Makrosynchronisierungen. Diese sind konstitutiv für die stärkere Überlagerung bestimmter Bereiche der individuellen sprachlichen Wissensbestände, die als Varietäten32 bezeichnet und folgendermaßen definiert werden: Individuell-kognitiv sind Varietäten also durch je eigenständige prosodisch-phonologische und morpho-syntaktische Strukturen bestimmte und mit Situationstypen assoziierte Ausschnitte des sprachlichen Wissens. Sprachsozial [sind Varietäten] als partiell systemisch differente Ausschnitte des komplexen Gesamtsystems Einzelsprache, auf deren Grundlage Sprechergruppen in bestimmten Situationen interagieren [, definiert]. (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 51; Fettdruck im Original)

Die prosodisch-phonologischen und morpho-syntaktischen Strukturen werden dabei als Elemente des Fundamentalbereichs der sprachlichen Kompetenz, nämlich als die wesentlichen Zeichengenerierungs- und Zeichenverknüpfungsregeln angesehen und konstituieren entsprechend ihrer Relevanz „Vollvarietäten“. Davon unterschieden werden sektorale Erweiterungen dieses Fundamentalbereichs, zu denen vor allem das Lexikon gehört. Diese bilden „sektorale Varietäten“, welche definiert werden als „Ausschnitte[...] sprachlichen Wissens, bei denen auf der Basis einer Vollvarietät die sprachlich-situative Kompetenz durch eine kontinuierliche Folge von Mikrosynchronisierungsakten erworben wird, die lediglich begrenzt sektoral – in erster Linie lexikalisch – zu Inventarerweiterungen, Inventardifferenzierungen oder Inventarsubstitutionen führen“ (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 51).33

32 Vgl. zum Varietätenbegriff auch SCHMIDT 2005b. 33 Die Ansetzung von Phonologie und Morphosyntax als den primären Bereichen bei der Konstituierung einer „Existenzform“ als ein „relativ selbständiges sprachliches (Sub)System“ nimmt bereits GERNENTZ 1974 vor. Ein lexikalischer Eigenbestand reiche dagegen nicht aus, um eine Existenzform zu bilden, sondern differenziere lediglich „Stilformen“ wie „den sog. Funktionalstilen, als auch den sog. Sondersprachen (Fach- und Berufssprachen)“, denen der „Charakter einer Existenzform [abgesprochen wird]“ (alle Zitate GERNENTZ 1974, 213).

Zur Definition des Gegenstands in der Sprachdynamiktheorie

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Vollvarietäten können durch ihre sprachsoziale Charakterisierung eine interne Struktur aufweisen, deren Teile als Sprechlagen bezeichnet werden. Darunter verstehen die Autoren Verdichtungsbereiche variativer Sprachverwendung [...], für die sich – empirisch signifikant – differente sprachliche Gruppenkonventionen nachweisen lassen. (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 52)34

Bei dem individuellen Sprachwissen handelt es sich also um eine System- und Registerkompetenz, dem Wissen eines Sprechers darüber, mit wem er in welcher Situation optimalerweise wie spricht. Dieses Wissen wird durch Synchronisierungsakte permanent mit der Kompetenz der Gesprächspartner abgeglichen. Durch diese Vernetzung in der Interaktion (= sprachsoziale Ebene) werden Varietäten nicht als disjunkte Teilsysteme mit festem Bestand linguistischer Einheiten definiert. „Varietätenstatus haben [...] nur diejenigen Differenzen, denen individuell eine sprachlich-kognitive ‚Grenze‘, also eine durch klare Indikatoren (Hyperkorrektionen, Vermeidungsstrategien) signalisierte eigenständige prosodischphonologische und morpho-syntaktische Struktur zugrunde liegt“ (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 53). Innerhalb der Varietätengrenzen wird die Wahl der Varianten in einer Kommunikationssituation durch außersprachliche Faktoren gesteuert. Der Gegenstand der vorliegenden Untersuchung, die modernen Regionalsprachen des Deutschen, wird unter Verwendung der präsentierten Terminologie folgendermaßen definiert: Eine Regionalsprache ist ein durch Mesosynchronisierungen vernetztes Gesamt an Varietäten und Sprechlagen, das horizontal durch die Strukturgrenzen der Dialektverbände/-regionen und vertikal durch die Differenzen zu den nationalen Oralisierungsnormen der Standardvarietät begrenzt ist. (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 66; Fettdruck im Original)

Um die betreffenden Varietätenverbände als Regionalsprachen zusammenfassen zu können, muss für sie jeweils eine gemeinsame großlandschaftliche Oralisierungsnorm als Prestigesprechlage, an der sich die Sprachteilhaber vor der medialen Verbreitung der nationalen Oralisierungsnorm orientiert haben, nachweisbar sein (vgl. SCHMIDT / HERRGEN 2011, 73–74).

34 ENGEL (1954) differenziert ähnlich: Neben individuellen Sprachbewegungen unterscheidet er Gruppenbewegungen, deren Ergebnisse Gruppensprachen seien. Darunter fallen auch die Landschaftssprachen. Übergangszonen zwischen solchen Gruppensprachen, in denen „eine Ballung der Gruppen festzustellen ist [...,] bezeichnen wir als Sprachschichten“ (ENGEL 1954, 84–85). So weit lassen sich alle Begriffe auf die Begrifflichkeit der Sprachdynamiktheorie (Varietäten und Sprechlagen) beziehen. Durch den Versuch, alle möglichen Einflussfaktoren auf die Sprachbewegungen zu berücksichtigen (z. B. soziale Gruppen, Stadt-Land-Unterschiede, Bildungsunterschiede, Lebensphasen), was schließlich in der Annahme mündet, mit den substanziellen Sprachbewegungen gehe eine „Änderung der Lebensart“ (= „Denken, Fühlen und Wollen“) einher (vgl. ENGEL 1954, 352–357), verliert sich ENGEL allerdings zu sehr in Details, was eine breite Rezeption seines Ansatzes, der außerdem nur als unveröffentlichtes Typoskript vorliegt, wohl verhindert hat.

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Regionalsprachliche Spektren: Gegenstandskonstitution und Gegenstandsbeschreibung

Bei meinen Analysen geht es nun in erster Linie um die Anzahl der in den einzelnen Regionen empirisch ermittelbaren vertikal gestaffelten Varietäten und Sprechlagen sowie um die Art und Weise der vertikalen Staffelung. Durch die oben skizzierten sprachhistorischen Prozesse, die zur Ausbildung der regionalsprachlichen Varietätenverbände geführt haben, sind in der vertikalen Dimension in der Regel mindestens drei Varietäten zu erwarten: Standardsprache, Regiolekt und Dialekt. Auch diese lassen mit dem Varietätenbegriff der Sprachdynamiktheorie exakt fassen. Demnach sind Dialekte „die standardfernsten, lokal oder kleinregional verbreiteten Vollvarietäten“ (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 59). Der Regiolekt wird definiert als „standardabweichende Vollvarietät mit großregionaler Verbreitung“ (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 66). Und schließlich „Standardsprache heißt diejenige Vollvarietät, auf deren Literalisierungsnorm die Mitglieder einer Sprachgemeinschaft ihre Makrosynchronisierung ausrichten. Die – nationalen – Oralisierungsnormen dieser Vollvarietät sind durch Freiheit von (kommunikativ) salienten Regionalismen gekennzeichnet“ (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 62; Fettdruck im Original). Durch die individuell-kognitive Begriffsbestimmung von Varietäten ist es möglich, Varietätengrenzen systematisch anhand von Hyperformen zu ermitteln, da diese auf die Grenzen der individuellen Kompetenz hindeuten. Hyperformen werden bei dem Versuch gebildet, Elemente einer Varietät zu verwenden, die nicht Teil der individuellen System- und Registerkompetenz sind, von deren Existenz die Sprecher aber Kenntnis haben. Hyperformen können sowohl bei dem Versuch entstehen, die Standardsprache zu erreichen (= Hyperkorrekturen), als auch bei dem Versuch, den Dialekt zu erreichen (= Hyperdialektalismen). Hinsichtlich der Klassifikation einer Sprechlage als Teil der Standardsprache können außerdem, wie vorliegende Studien und die Definition von Standardsprache zeigen, die Urteile von Sprachteilhabern herangezogen werden.

3. FORSCHUNGSSTAND 3.1 ENTWICKLUNG VON METHODEN UND INTERPRETATIONSANSÄTZEN Der in der Einleitung zitierte von WEGENER 1879 unternommene Versuch der Initiierung einer modernen Variationslinguistik, der in der Folgezeit noch verschiedentlich wiederholt wurde (vgl. etwa MAURER 1933, v. a. 47–49), wurde „von der Forschung nicht oder nur sporadisch aufgegriffen“ (MATTHEIER 1980, 11). Als eine der interessantesten Arbeiten nennt MATTHEIER die Untersuchung von ULRICH ENGEL zu „Mundart und Umgangssprache in Württemberg“ von 1954. Tatsächlich findet der Leser in ENGELS nicht publizierter Arbeit, in der auf WEGENER keinen Bezug genommen wird, eine ganze Reihe von Anknüpfungspunkten zu dem oben skizzierten Programm. In einem sehr ausführlichen theoretischen Teil entwickelt ENGEL nicht nur ein Beschreibungsinstrumentarium zur Erfassung von sprachlicher Variation auf der Vertikale,35 sondern er lässt sich auch mit einem hohen Reflexionsgrad über geeignete und ungeeignete Methoden zur Erhebung von spontaner Sprache aus. Danach schließt er die Methoden, mit denen Daten für die Erstellung von Sprachatlanten erhoben wurden, das „schriftliche[...] ‚Fragebogenverfahren[...]‘“ und „das direkte ‚Abhörverfahren‘“ als ungeeignet aus. „Der einzige Weg, zu zuverlässigen Ergebnissen zu gelangen, ist zugleich der mühsamste und zeitraubendste: die Sprecher möglichst lange und in möglichst unbefangener Rede zu belauschen [...], wenn sie sich unbeobachtet glauben“ (ENGEL 1954, 22; Unterstreichung im Original). Solche Beobachtungen müssten darüber hinaus für „jeden Gewährsmann in möglichst vielen verschiedenartigen Lebensbereichen“ (ENGEL 1954, 24; Unterstreichung im Original) angestellt werden. Von besonderer Bedeutung sei daneben schließlich noch die „Lesesprache der deutschen Einheitssprache“, denn „man erhielte ein unvollständiges Bild von den württembergischen Sprachverhältnissen, würde man neben der eigentlichen Landschaftssprache nicht auch die Lesesprache berücksichtigen“ (ENGEL 1954, 254; Unterstreichung im Original). Im Ergebnis beschreibt ENGEL ein klares Bild von der „württembergischen Landschaftssprache“, die in vier bis fünf vertikale Sprachschichten eingeteilt wird. Für diese Sprachschichten werden jeweils charakteristische sprachliche Merkmale auf verschiedenen linguistischen Ebenen genannt. Das größte Problem der Arbeit liegt aber darin, dass der Methodenreflexion keine Beschreibung der tatsächlich angewendeten Methoden, weder für die Datenerhebung noch für die Datenanalysen, folgt. Dadurch ist es dem Leser nicht möglich, nachzuvollziehen, wie ENGEL zu seiner Einteilung der Vertikale gelangt ist.36 35 Auf dieses wurde oben, in Kapitel 2.3 an einigen Stellen verwiesen. 36 Das gleiche Fazit gilt auch für den – sehr viel kleiner angelegten – Beitrag von BELLMANN (1957), der vier Sprecher unterschiedlicher Generationen untersucht und zu der vertikalen

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Forschungsstand

Dieses „fundamentale[...] Methodendefizit[...]“, das im Übrigen auch für WEGENERS Programmentwurf gilt, machen auch SCHMIDT / HERRGEN (2011) dafür verantwortlich, dass „es bis weit ins 20. Jahrhundert hinein praktisch unmöglich [...] [war], sozio-situativ variierendes Sprachmaterial schon im Prozess der strukturierten Datengewinnung so zu erheben, dass eine systematische Auswertung der variativen Repertoires möglich geworden wäre“ (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 241). Als Folge dieses methodischen Defizits wurden eine Reihe von Studien und Datensammlungen vorgelegt, deren Ertrag „typischerweise [aus] Listen von relativ ‚freischwebenden‘ Substandardmerkmalen“ (SCHMIDT 1998, 176) besteht. Dazu gehören Untersuchungen, deren Ziel es ist, die Umgangssprache als Sprache des Alltags in einer bestimmten Region (wegen der Unschärfe des Begriffs Umgangssprache auch häufig als „Alltagssprache“ bezeichnet) hinsichtlich der enthaltenen regionalen Merkmale zu beschreiben.37 „Schwebend, d. h. mehr oder weniger vage, bleibt meist die areale Erstreckung, manchmal sogar die Arealität und der exakte Abstand von den Polen Dialekt und Standard (vertikale Dimension)“ (SCHMIDT 1998, 176; Hervorhebung im Original).38 Dass mehr als 130 Jahre, nachdem WEGENER sein Forschungsprogramm präsentiert hat, noch so wenig über die vertikale Struktur der Regionalsprachen bekannt ist, lässt sich mit SCHMIDT (1998, 177) demnach als empirisches Defizit auffassen, auf das ja auch KÖNIG in seinem in der Einleitung zitierten Resümee verweist (vgl. KÖNIG 1997, 252). Was KÖNIG über die Erhebungsmethoden und den jeweils erfassten Ausschnitt des vertikalen Spektrums zusammenfasst, lässt sich auch auf die Analysemethoden übertragen, denn auch hierüber herrschte lange Zeit keineswegs eine Vergleichbarkeit, die es erlauben würde, Forschungsergebnisse direkt aufeinander zu beziehen. Staffelung von vier Schichten (höhere und mundartliche Umgangssprache, landschaftliche Ausgleichsmundart und Ortsmundart) gelangt. Allerdings ist er sich der Vagheit seiner Ergebnisse bewusst und betont, „daß jede Einteilung der Sprachgemeinschaft in Schichten eine willkürliche Schematisierung bleiben muß, die der lebendigen Sprachwirklichkeit nicht gerecht werden kann“ (BELLMANN 1957, 181). 37 Dazu gehören auch die Erhebungen für die kartierte Darstellung umgangssprachlicher/alltagssprachlicher Phänomene. Als Beispiele sind hier zu nennen der „Wortatlas der deutschen Umgangssprachen“ (EICHHOFF 1977–2000), der „Wortatlas der städtischen Alltagssprache in Hessen“ (= FRIEBERTSHÄUSER 1988), der „Wortatlas der städtischen Umgangssprache“ (= PROTZE 1997), „Die Umgangssprache im Freistaat Thüringen und im Südwesten des Landes Sachsen-Anhalt“ (SPANGENBERG 1998), der „Rheinische[...] Wortatlas“ (LAUSBERG / MÖLLER 2000), der „Atlas der deutschen Alltagssprache“ (ELSPASS / MÖLLER 2003ff.) sowie der „Wortatlas zur Alltagssprache der ländlichen Räume Hessens“ (= DINGELDEIN 2010); vgl. dazu ausführlich SCHMIDT / HERRGEN 2011, Kapitel 4.3.1.1. 38 Vgl. GÜNTHER 1967, KARCH 1975, 1988, 1990, FROITZHEIM 1984, SMOLKA 1984, BONNER 1986, MARTENS / MARTENS 1988, LAUF 1994 und 1996. Einen alternativen Ansatz verfolgt LANGNER, der bei Schülern im Alter von 11–16 Jahren eine Abfrage der individuell standardfernsten Kompetenz (u. a. mit den Wenkersätzen) durchführt. „Dieses Material kann zur Scheidung von Ma. [= Mundart] und US [= Umgangssprache] beitragen [..., d]a Eltern und Großeltern sich in der Regel bemühen, im Umgang mit ihren Kindern und Enkelkindern die Ma. zu meiden“ (LANGNER 1977, 22). Vor diesem Hintergrund geht LANGNER davon aus, dass die bei den Kindern abfragbare Sprachverwendung der Umgangssprache entspricht.

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Mittlerweile gibt es so etwas wie einen „Methodenkanon“, auf den bei variationslinguistischen Studien zurückgegriffen werden kann. Im Folgenden werden in weitgehend chronologischer Reihenfolge die wichtigsten Beiträge, die zur Entwicklung dieses Kanons beigetragen haben, jeweils kurz skizziert.39 Dabei spielen vor allem die Weiterentwicklungen im Bereich der Datenerhebung – es gilt, Methoden zu entwickeln, mit denen gezielt, kontrolliert und replizierbar sprachliche Variation beobachtet werden kann – und im Bereich der Datenanalyse mit Bezug auf das vertikale Spektrum eine Rolle. Alle Studien, die über eine reine Beschreibung der „Umgangssprache“ oder „Alltagssprache“ bestimmter Regionen hinausgehen wollen, benötigen eine Möglichkeit, sprachliche Variation zu operationalisieren, zu quantifizieren, wobei auch hier die Zuverlässigkeit der Methoden als Qualitätskriterium zu gelten hat.40 Welche Versuche wurden also bisher unternommen und was lässt sich daraus jeweils übernehmen oder für eine Weiterentwicklung ableiten? Die erste Dialektgrammatik, in der über die Beschreibung der Ortsmundart hinaus auch Teile des WEGENER-Programms umgesetzt wurden, ist FRITZ ENDERLINS Beschreibung der Kesswiler Mundart „Mit einem Beitrage zur Frage des Sprachlebens“ von etwa 1911. Letzterer, 24 Seiten umfassender Teil der Grammatik ist besonders erwähnenswert, weil ENDERLIN hier ein ausgeprägtes Methodenbewusstsein zeigt und die angewendeten Erhebungsmethoden genau darstellt. Erstens, die Informantenauswahl: Die Hauptinformanten bilden Sprecher der älteren Generation. Sie mußten mindestens 60 Jahre alt und im Vollbesitz des geistigen Vermögens sein; sie mußten am Orte Bürger, geboren und erzogen worden sein, durften ihn nie für längere Zeit verlassen haben und mußten womöglich mit einem Ortsgenossen verheiratet sein. (ENDERLIN o. J., 146)

Insgesamt wurden sieben Vertreter(innen) dieser älteren (60–80 Jahre), vier einer mittleren (45–55 Jahre) und 15 einer jungen Generation (10–37 Jahre) systematisch berücksichtigt. Zweitens, die Erhebungsmethoden: ENDERLIN arbeitet mit insgesamt drei Erhebungsmethoden, die wir heute als teilnehmende Beobachtung, verdeckte Beobachtung und als direkte Befragung kennen. Das wichtigste dabei ist, dass er sich der Möglichkeiten und Grenzen der einzelnen Methoden vollkommen bewusst ist und die jeweiligen Daten mit der notwendigen Vorsicht behandelt. Um Formen, die im Sprachgebrauch der Kesswiler variieren (= „schwankende Wörter“), zu überprüfen, arbeitet ENDERLIN mit Wortlisten. Dazu gibt er an: 39 Eine ähnliche, auf den methodologischen Fortschritt abzielende Überblicksdarstellung, die breiter angelegt ist und alle Bereiche der modernen Regionalsprachenforschung umfasst, findet sich in SCHMIDT / HERRGEN 2011, Kapitel 4.3. Dort werden beispielsweise auch Studien behandelt, die sich allein auf subjektive Daten stützen, wie z. B. HUESMANN 1998. Eine solche Arbeit hat auch DIERCKS (1994) vorgelegt. Solche Arbeiten bleiben im vorliegenden Überblick ausgeklammert. 40 Zuverlässigkeit (auch: Reliabilität) schließt hier vor allem die intertemporale und intersubjektive Stabilität der Mess- bzw. Analyseergebnisse ein (vgl. dazu KROMREY 1998, 240–242).

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Forschungsstand Das Resultat dieser Aufnahmen konnte nun aber nur sehr beschränkt und vorsichtig verwertet werden. Einmal war das Verfahren, wie es nicht anders ging, direkt, und dann bekam ich ja nur die Form, welche das betreffende Individuum gerade in dem Augenblick der Erhebung brauchte, nicht aber Auskunft über ihr totales Verhalten in Bezug auf das schwankende Wort. [...] Zudem lehrte mich die Erfahrung, daß das Verhalten einer Person zu einem schwankenden Wort nur durch längere, oft monatelange Beobachtung festgestellt werden kann [...]. (ENDERLIN o. J., 149)

Dieses Bewusstsein bewahrt ihn davor, (voreilige) allgemeine Schlüsse aus seinen Beobachtungen zu ziehen. Letztlich plädiert er für die Betrachtung einer repräsentativen Datenmenge und für eine relative Quantifizierung der konkurrierenden Varianten einer linguistischen Variable (vgl. ENDERLIN o. J., 151–152), die er aber nicht leisten könne. Daher gibt ENDERLIN lediglich Beispiele für bestimmte Formen von „Schwankungen der Reproduktion“ (= Sprachvariation), die individuell, auf eine Familie bezogen, generationell oder allgemein auftreten können (also Mikro- und Mesosynchronisierungen). Darüber hinaus erörtert er mögliche Gründe für die Schwankungen, zeigt aber auch hier äußerste Zurückhaltung. Die sichersten Aussagen ließen sich zu den Faktoren „Verhältnis des Sprechenden zur Sprache, dann zur Sache, über die er spricht, und endlich zur Person, mit der er spricht“ (ENDERLIN o. J., 158) machen. SCHMIDT / HERRGEN zeigen, dass ENDERLINS Untersuchung – mit dem Beschreibungsinstrumentarium der Sprachdynamiktheorie umformuliert – im Detail erkennen [lässt], wie soziologische Regionalisierungsprozesse (überörtliche Ehepartnerwahl) in einem relativ konservativen Schweizer Dialekt um 1910 in lokale Mikro- und Mesosynchronisierungen transformiert wurden, eine langsam fortschreitende Variabilisierung des Dialekts bewirkten, die, wenn die sprachdynamisch entscheidenden Strukturdifferenzen zu den innerörtlich präsenten ‚Kontaktvarietäten‘ vorliegen, zu langfristigen Sprachwandelprozessen führt“. (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 298)

Das Verdienst von ENDERLINS Arbeit für die moderne Regionalsprachenforschung liegt darin, deutlich zu machen, dass man sich der komplexen Struktur von Regionalsprachen nur über die Kombination verschiedener, aber replizierbarer Erhebungsmethoden (Befragung und Beobachtungen) nähern kann. Vor allem zeigt sich, dass es für die Beschreibung sprachdynamischer Prozesse unerlässlich ist, dieselben Sprecher in verschiedenen Situationen zu beobachten. Ebenfalls mit einem Dialekt des Schweizerdeutschen, nämlich dem der Gemeinde Stäfa am Zürichsee, befasst sich HEINZ WOLFENSBERGER 1967. Dabei handelt es sich nach MATTHEIER um die „erste Monographie, die im deutschsprachigen Bereich ausschließlich dem Problem des Mundartwechsels unter dem Einfluß gesellschaftlicher Faktoren im 20. Jahrhundert gewidmet ist“ (MATTHEIER 1979, 16). Der Autor setzt an dem Punkt an, „dass bis heute sozusagen alle Arbeiten zur schweizerdeutschen Mundartforschung ausschliesslich auf die Sprache der bäuerlich-bodenständigen Bevölkerung aufbauen, einer Bevölkerungsschicht also, deren Mundart heute je länger desto weniger als repräsentativ für schweizerische Verhältnisse gelten kann“ (WOLFENSBERGER 1967, 2; Unterstreichung im Original). Auf Basis einer Erhebung der Einwohneranteile („Stäfa“, „übriger Kanton Zürich“, „übrige Schweiz + Ausland“) stellt WOLFENSBERGER eine Aus-

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wahl an Gewährspersonen zusammen, der die folgenden Kriterien zugrunde lagen: –



„Grad der Ortsansässigkeit“ (Alteingesessene = ‚Informant und beide Eltern sind/waren in Stäfa aufgewachsen und ansässig‘, Eingesessene = ‚Informant ist in Stäfa aufgewachsen und ansässig, ein oder beide Elternteil(e) nicht‘ und Zugezogene = ‚Informant ist nicht in Stäfa aufgewachsen‘) Alter (ältere Generation = ‚geboren vor 1917‘, mittlere Generation = ‚geboren zwischen 1917 und 1941‘ und jüngere Generation = ‚geboren nach 1941‘)

Für jede Gruppe wurden acht Gewährspersonen, insgesamt also 72 Informanten berücksichtigt. In direkter Befragung, die auf Tonband aufgezeichnet wurde, sollten die Informanten Wörter und Sätze vom Hochdeutschen in die Ortsmundart übertragen. Dabei hat WOLFENSBERGER versucht, durch gezielte Kontroll- und Zusatzfragen auch möglichst viel spontansprachliches Material zu erheben. Die Ergebnisdarstellung erfolgt in Form von Matrizes, in denen die von den Gewährspersonen geäußerten Varianten einander gegenübergestellt sind. Diese Tabellen werden jeweils ausführlich kommentiert. Schließlich betrachtet WOLFENSBERGER in einem Teil „Gruppen- und Einzelbilder“, inwieweit sich die feststellbaren Unterschiede hinsichtlich der bei den Informanten belegten Varianten durch die außersprachlichen Faktoren erklären lassen. Zunächst ergibt der diachrone Vergleich der älteren Alteingesessenen mit der Erhebung für den „Sprachatlas der deutschen Schweiz“ (SDS), es handelt sich also um einen Vergleich in EchtzeitDiachronie über 22 Jahre, dass sich neben der „vollumfängliche[n] Bestätigung der SDS-Ergebnisse“ für zahlreiche Phänomene auch vereinzelte und größere Abweichungen feststellen lassen, die aber „gesamthaft nicht schwer wiegen“ (WOLFENSBERGER 1967, 171).41 In Abhängigkeit der außersprachlichen Faktoren, nach denen die Informanten ausgewählt wurden, zeigen sich dann weitere Abweichungen von der durch den SDS repräsentierten Mundart, die WOLFENSBERGER als Wandelerscheinungen deutet. Dieser Wandel werde hauptsächlich durch „die gesteigerte Mobilität des Schweizers von heute und die verstärkte Wirksamkeit der modernen Massenmedien“ (WOLFENSBERGER 1967, 214) verursacht. Dabei ist allerdings keineswegs ein unidirektionaler Trend zur Standardsprache hin zu erkennen, vielmehr belegen die Daten in vielen Fällen Veränderungen auf Dialektebene, „ein Zug zur ‚Gross-Mda.‘“ sei erkennbar. Durch die per Abfrage erhobene Dialektkompetenz von Sprechern mit unterschiedlichen sozio-biografischen Profilen zeigt WOLFENSBERGER letztlich die (möglichen) Ergebnisse dessen, was ENDERLIN für Kesswil als Variationserscheinungen in der Performanz beschrieben hat. Die aus den unterschiedlichen Syn41 SCHMIDT / HERRGEN bewerten WOLFENSBERGERS Studie und dieses Ergebnis im Zusammenhang mit dem Repräsentativitätsproblem von Sprachatlasdarstellungen, dass meist eine Form für einen Belegort angegeben wird, wie folgt: „[D]ieser eine Repräsentativitätstest bzw. diese Repräsentativitätsstichprobe für die klassisch dialektgeographische Methode [fällt] also eindeutig positiv aus“ (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 307).

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chronisierungsprozessen hervorgegangene individuelle System- und Registerkompetenz der Sprecher repräsentiert im diachronen Echtzeitvergleich Sprachwandel. Dieser lässt sich gleichzeitig aus der Verwendung von Varianten durch die Sprecher der unterschiedlichen Altersgruppen, also im apparent-time-Vergleich, ableiten. Für den Methodenkanon bedeutet dies, dass bei der Datenerhebung die individuelle Systemkompetenz, nicht das „Dialektsystem“ eines Ortes, sowie die in kommunikativer Interaktion beobachtbare Registerkompetenz erfasst werden sollten, um ein möglichst vollständiges Bild der regionalsprachlichen Struktur einer Untersuchungsregion zu erhalten. DIETER STELLMACHER baut seine primär soziolinguistisch ausgerichtete Studie auf einer solchen Erhebung der individuellen „grundmundartlichen Kompetenz anhand eines auf die phonologisch-morphologische Sprachebene zielenden Fragebogens“ auf (STELLMACHER 1977, 71).42 Allerdings wird dieser mit 18 Informanten durchgeführte Erhebungsteil, wie die Untersuchung insgesamt,43 nicht zur Analyse des individuellen Sprachverhaltens zugrunde gelegt, sondern als „Reservoire“ „gesellschaftlich relevanter Varianten [... beschrieben], aus denen die Sprecher beim En- und Dekodieren schöpfen“ (STELLMACHER 1977, 71). Folglich werden die bei diesem Erhebungsschritt gewonnenen Varianten „lediglich“ zur Bestimmung der linguistischen Variablen herangezogen. Es werden insgesamt 108 Sprecher berücksichtigt, die Gruppen zugeordnet werden. Solche Gruppen werden nach dem Geschlecht, dem Alter (je zwei Gruppen älterer, mittlerer und jüngerer Jahrgänge) und dem Sozialstatus differenziert (es werden Punkte für die Bereiche ‚Schulabschluss‘, ‚erlernter Beruf‘, ‚jetzige Tätigkeit‘, ‚Schulabschluss und erlernter Beruf von Familienangehörigen‘, ‚Wohnverhältnis‘ und ‚Größe des Wohnraums‘ vergeben; daraus ergeben sich vier Sozialgruppen). Die Forschungsfrage lautet: „Auf welche Weise wirken sozialinterne und sozialexterne Kategorien auf die aktuelle Sprachproduktion und die Schichtungen im Sprachgebrauch ein?“ (STELLMACHER 1977, 13). Um dieser Frage nachzugehen, werden die Sprecher in insgesamt drei verschiedenen Erhebungssituationen aufgezeichnet, an denen der Autor immer als Aufnahmeleiter teilnimmt (= teilnehmende Beobachtung): „Unterhaltungsgespräch“, „Meinungsaustauschsgespräch“ und „Dienstleistungsgespräch“. Bei der Analyse benötigt STELLMACHER eine Möglichkeit, Schichtungen im Sprachgebrauch zu erfassen, weshalb er zur Bestimmung der Dialektalität des Sprachgebrauchs die Variablenanalyse in die deutschsprachige empirische Variationslinguistik einführt. Er berechnet auf Grundlage der Ermittlung der Variablen in einer Kontrastanalyse (hier wird gegenübergestellt welcher 42 Zwei Jahre nach STELLMACHER publiziert HERRMANN-WINTER ihre soziolinguistischen „Studien zur gesprochenen Sprache im Norden der DDR“. Hier werden informell geführte Interviews ohne „einen standardisierten Fragebogen [... oder] konkrete thematisch festgelegte Schwerpunkte“ (HERRMANN-WINTER 1979, 39) mit Greifswalder Sprechern hinsichtlich der Lexik, Phonetik und Syntax ausgewertet. Im Zusammenhang mit der Erhebungsregion Stralsund der vorliegenden Untersuchung wird an manchen Stellen auf diese Arbeit verwiesen. 43 STELLMACHER verweist auf das grundsätzliche soziolinguistische Interesse, das „sich nicht auf das Sprachverhalten eines isolierten Sprechers, sondern auf das sich in einer kommunikativen Gruppe entfaltende [richtet]“ (STELLMACHER 1977, 70).

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Variante des Bezugssystems „nhd. Standardsprache“ welche Variante des Kontrastsystems „nd. Dialekt von Osterholz-Scharmbeck“ entspricht) die Häufigkeit des Vorkommens von standardsprachlicher und dialektaler Variante. Daraus bildet STELLMACHER für jeden Sprecher in den einzelnen Gesprächen einen Durchschnittswert über alle 15 Variablen, was er als „Dialektniveau“ bezeichnet. Für die Sprecherin BA w a1 16 ergeben sich im Unterhaltungsgespräch beispielsweise die Werte D = 0,32; S = 0,68 (also ein Anteil dialektaler Varianten von 32 % und ein Anteil standardsprachlicher Varianten von 68 %).44 Diese Dialektniveaus werden dann mit statistischen Verfahren zu den verschiedenen außersprachlichen Faktoren in Beziehung gesetzt. Außer den oben genannten gruppenbildenden „sozialinternen“ werden noch die „sozialexternen Kategorien“ „Mobilität“ und „Sozialisationsort“ mit den Dialektniveaus in den einzelnen Gesprächen korreliert. Als übergeordnetes Ergebnis wird festgehalten, dass am deutlichsten ein Zusammenhang zwischen Dialektniveau und Alter sowie Herkunftsort (= Sozialisationsort) zutage tritt. Mit Blick auf den methodologischen Fortschritt ist an STELLMACHERS Arbeit zunächst einmal herauszustellen, dass die Dialektkompetenz erhoben wird, dass das Sprachverhalten von Informanten in verschiedenen standardisierten Gesprächssituationen beobachtet wird und dass er ein Verfahren anwendet, mit dem sich das Sprachverhalten der Informanten quantitativ erfassen und dadurch miteinander vergleichen lässt. Problematisch an der Studie ist, dass nicht mit jedem Sprecher alle Gesprächssituationen erhoben werden, im Gegenteil: Nur für sieben Sprecher werden Gespräche in zwei, lediglich für einen Informanten Gespräche in allen drei Situationen aufgezeichnet. Ansonsten wird das Sprachverhalten der Sprecher als Sprachverhalten der Gruppe zusammengefasst. Bei Unterschieden, die sich hinsichtlich des Sprachgebrauchs in den Gesprächssituationen ergeben und die als Unterschiede zwischen den Gruppen dargestellt werden, kann es sich daher ebenso um interindividuelle Differenzen handeln. (Solche interindividuellen Unterschiede in vergleichbaren Erhebungssituationen hat ja WOLFENSBERGER deutlich beobachten können.) Das bedeutet, dass sich STELLMACHER dadurch, dass er dem 1977 noch sehr jungen soziolinguistischen Ansatz folgt und nicht das Individuum, sondern die Gruppe in den Mittelpunkt des Interesses stellt, den Weg zu einem echten Erkenntnisfortschritt im Sinne der Sprachdynamikforschung verbaut. Als ein Qualitätskriterium sprachdynamischer Untersuchungen muss daher gelten, dass bei der Datensammlung möglichst alle Erhebungseinheiten mit allen Informanten durchgeführt werden. Hinsichtlich der Analyse der Daten hat STELLMACHER gezeigt, dass die Quantifizierung systematischer Unterschiede (als „Dialektalitätsmessung“45) ein grundsätzlich geeignetes Mittel ist, Unterschiede im 44 Diese auch als Type/Token-Relation bezeichnete Quantifizierung wird in späteren Variablenanalysen ebenfalls angewandt. In der vorliegenden Arbeit wird sie als Frequenzanalyse bezeichnet, die allerdings (zunächst) für die einzelnen Variationsphänomene durchgeführt wird (vgl. unten, Kapitel 4.3.2). 45 Die Bezeichnung „Dialektalitätsmessung“ für STELLMACHERS Methode verwendet MATTHEIER 1980, 188. Eine frühere Methode zur „Messung“ der Dialektalität von Sprachproben hat AMMON als „dialektale Stufenleitern als Schlüssel zur Bestimmung des Dialektniveaus“

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Kommunikationsverhalten darzustellen, auch wenn die Durchführung der Variablenanalyse, vor allem die Variablendefinition im Detail noch verfeinert werden kann.46 In einem groß angelegten Forschungsprojekt zum „Sprachverhalten in ländlichen Gemeinden“ wurde für die Gemeinde Erftstadt-Erp (kurz: Erp-Projekt) „der Versuch [... unternommen, eine] Beschreibung des gesamten sprachlichen Verhaltens der Berufstätigen am Untersuchungsort“ (MATTHEIER 1981, 22) vorzulegen. Aus allen berufstätigen Männern im Alter von 21 bis 65 Jahren als Grundgesamtheit (zum Stichtag 1. Juli 1971) sollte die Hälfte für die (sozio-)linguistischen Analysen ausgewählt werden. Dabei „sollte versucht werden, für die Sprecher mit gleichem Sprachverhalten hinsichtlich einer Reihe von linguistischen Variablen diejenigen sozialen Merkmale zu beschreiben, die allen Mitgliedern dieser Sprachgruppe gleich sind und die unter Umständen für die Entstehung dieser Sprachgruppe verantwortlich gemacht werden können“ (MATTHEIER 1981, 22). Das bedeutet, dass gemäß dem Grundansatz der Soziolinguistik der Gruppen(sprachen)gedanke eine wichtige Rolle für die Anlage der Untersuchung sowie auch für die Analysen und Interpretationen spielte.47 In etwa 20 Monaten wurden mit insgesamt 144 Gewährspersonen (dies entspricht knapp einem Drittel der Grundgesamtheit) Sprachaufnahmen durchgeführt. Diese Aufnahmen waren in drei Teile gegliedert, die jeweils ein anderes Sprachverhalten nahelegen sollten. An jeder Aufnahmesitzung nahmen zwei Informanten teil, gleichzeitig waren drei „Interviewer“ anwesend, von denen jeweils einer für einen der Aufnahmeteile zuständig war, während die anderen im Hintergrund protokollierten. –

„Im [...] A-Teil [...] sollte das Phänomen ‚Normalsprachlage‘ näher untersucht werden“ (MATTHEIER 1981, 27). Die beiden Informanten sollten sich möglichst unbeeinflusst miteinander unterhalten, „ohne sich weiter um die anwesenden Mitarbeiter zu kümmern“ (MATTHEIER 1981, 37). Wenn der Ge-

(AMMON 1973, 62) eingeführt. Dabei werden insgesamt fünf Klassen von Einheiten angesetzt, die in Äußerungen in einem paradigmatischen Verhältnis stehen und einander potenziell ersetzen können. Besonders problematisch bei diesem Ansatz ist das Hauptkriterium, das über die Zugehörigkeit einer Einheit zu einer bestimmten Stufe entscheidet: der „Gebrauchsradius“ (AMMON 1973, 64). In einer Stufenleiter müssen ferner alle Zwischenstufen (= Varianten) zwischen der „Einheitssprache“ und dem Dialekt enthalten sein, die in der Regionalsprache „gebräuchlich“ sind, denn „brauchbare Maßstäbe müssen [...] mit einem vollständigen Satz von Maßeinheiten ausgestattet sein“, wobei „unregelmäßige Fälle [...] Sonderregelungen [erfordern]“ (AMMON 1973, 65). Die Methode erfordert daher nicht nur eine umfassende Kenntnis aller möglichen Stufen in einer untersuchten Regionalsprache (Zahl und Gebrauchsradius sprachlicher Einheiten), sondern sie stellt auch nicht zwingend die Vergleichbarkeit zwischen unterschiedlichen Untersuchungen sicher. Da sich diese Messmethode nicht durchgesetzt hat, wird sie hier nicht weiter berücksichtigt. Eine ausführliche Kritik zu AMMONS Methode findet sich in MATTHEIER (1980, 193–198). 46 Vgl. auch die Kommentare in MATTHEIER 1980, 192. 47 Vgl. dazu auch BESCH 1981, 248–255. Ebenfalls auf das Sprachverhalten von Gruppen fokussierte Studien legen SENFT (1982) zum Sprachverhalten Kaiserslauterer Metallarbeiter und SCHLOBINSKI (1987) zur Stadtsprache Berlin vor.

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sprächsfluss ins Stocken kam, gab Interviewer A „durch gezielte Fragen“ neue Gesprächsimpulse. Nach einer Aufnahmezeit von 40 Minuten oder mehr wurde das Gespräch durch Interviewer A unterbrochen, den Informanten wurde gedankt und Interviewer B vorgestellt. Der zweite Interviewer führte dann im B-Teil der Aufnahme mit beiden Informanten nacheinander ein Interview zu (sprach)biografischen Aspekten, das jeweils etwa zehn Minuten dauerte. Interviewer B leitete daraufhin noch den Teil C der Aufnahme ein, „indem er den Interviewer C als Wissenschaftler und Spezialisten für Sprachenfragen im Team vorstellte. [...] Der Interviewer C begann sein Interview mit einem kurzen Referat über den Sprachvarietätenbegriff und erläuterte den Informanten dann den Sprachtest“ (MATTHEIER 1981, 38), dem die Informanten in diesem Teil unterzogen wurden. Daran anschließend folgte noch ein „meist informelleres Gespräch über die sprachlichen Probleme im Untersuchungsort und in den Familien der Informanten“ (MATTHEIER 1981, 38).

Ausgehend von der „Manöverkritik“ der Projektverantwortlichen soll zunächst einmal auf die Datenerhebung eingegangen werden. WERNER BESCH zieht im Rahmen der 12. Arbeitstagung der alemannischen Dialektologie 1996 eine „kritische Bilanz“ und differenziert Aspekte der Datenerhebung, die gelungen und die „korrekturbedürftig“ sind: –



Gelungen seien danach „das Evozieren von so etwas wie ‚Normalsprachlage‘ im Ort (= Ortsdialekt) (Teil A) [... und] das Evozieren von ‚SprachlagenWechsel‘ (von Teil A zu B)“ (BESCH 1997, 177–178). Beide Punkte gelten aber nur eingeschränkt, wie BESCH, vor allem aber MATTHEIER (1979) und LAUSBERG (1993) anmerken. Diese Einschränkungen beziehen sich hauptsächlich auf die angestrebte Steuerung des Sprachverhaltens durch die Situationsgestaltung. Für das Gespräch unter den Informanten (Teil A) gibt MATTHEIER an, dass „die Beteiligung des Aufnahmeleiters am Gespräch oder auch seine Einbeziehung durch eine der Gewährspersonen [...] die Verwendbarkeit der Aufnahme für das Textkorpus einschränkt“ (vgl. MATTHEIER 1979, 164). LAUSBERG ergänzt, ein „Gespräch kam unter Umständen gar nicht in Gang oder es wurde von vielen Eingriffen des Forschers begleitet. Aufnahmen solchen Typs sind oft nur von kurzer Dauer und nehmen nicht selten de facto im A-Teil bereits die Kommunikationskonstellation des B-Teils vorweg“ (LAUSBERG 1993, 30). Auch die nochmalige Veränderung der Sprachlagenwahl in Teil C gegenüber Teil B sei nicht gelungen (vgl. MATTHEIER 1979, 163). Für korrekturbedürftig hält BESCH die Stichprobengröße, zu der er festhält, dass „sensible Vorerkundungen [...] kleinere Samples [erlauben]“ (BESCH 1997, 179). Bei einer solchen Vorerkundung ist zu beachten, hinsichtlich welcher außersprachlichen Variablen sich Mitglieder von (möglichen) Sprechergruppen ähneln. Dazu gehören – neben den individuellen Faktoren Sprachbewusstsein und Sprachbewertung – vor allem „die schulisch-berufliche Quali-

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fikation, die Kommunikationsanforderung der Berufstätigkeit, das Alter“ (LAUSBERG 1993, 222; vgl. auch BESCH 1997, 179). Außer den zuletzt genannten Kriterien, nach denen Informanten als typische Repräsentanten für potenzielle Sprechergruppen ausgewählt werden können, lehren die Erfahrungen des Erp-Projekts also, dass die Anwesenheit eines Forschers bei manchen Sprechern Befangenheit auslöst, während andere sich davon offensichtlich nicht beeinflussen lassen. Die Reaktionen der Informanten auf eine relativ offene Beobachtungssituation sind daher nicht kalkulierbar. Daraus folgt, dass standardisierbare Erhebungssituationen gefunden werden müssen, bei denen der Einfluss verzerrender Beobachtungseffekte minimiert ist. Andererseits kann man sich die Reaktion der Informanten auf einen Forscher zunutze machen, indem sprachliche Interaktion mit dem Forscher als eine Standarderhebungssituation angesetzt wird. Der im Erp-Projekt durchgeführte Gesprächstyp Interview hat dabei den positiven Nebeneffekt, dass sich (sprach)biografische Informationen in standardisierter Weise erheben lassen. Eine weitere Steigerung des „Forschereffekts“ durch eine (scheinbar) zusätzliche Formalisierung (Teil C) ist dagegen praktisch nicht möglich. Die Auswertung der Daten erfolgte hinsichtlich der Objektsprache durch KLAUS MATTHEIER (1979) in seiner (unpublizierten) Habilitationsschrift sowie später in den Dissertationen von HELMUT LAUSBERG (1993) und MARTIN KREYMANN (1994), der die Erp-Daten um eigene Aufnahmen mit sechs der Erp-Informanten und deren Töchtern ergänzt hat, um diachrone Vergleiche anzustellen.48 Zu den subjektiven Daten wurde von der Projektgruppe 1983 ein Sammelband „Dialekt und Standardsprache im Sprecherurteil“ (HUFSCHMIDT [u. a.] 1983) vorgelegt, auf den hier nicht weiter eingegangen wird. Als MATTHEIERS Verdienst ist zu betrachten, dass er die Methode der Variablenanalyse hinsichtlich der Variablendefinition verfeinert. MATTHEIER nennt diesen Analyseschritt – wie STELLMACHER – Kontrastanalyse, in der die „historische Bedingtheit“ der Differenzen zwischen dem ripuarischen Dialekt (MATTHEIER spricht von „Ribuarisch“) und der Standardsprache in folgenden Schritten herausgearbeitet wird: Der Ausgangspunkt ist nicht die angenommene germanische oder westgermanische Lauteinheit, sondern der gegenwärtig im Hochdeutschen bzw. im Ribuarischen auftretende Laut mit seiner momentanen Distribution. In der begründenden Analyse wird dieser Laut für die gesamte Lexemgruppe, in der er Verwendung findet, auf seine Herkunft hin untersucht und dadurch als Ergebnis einer Reihe von parallelen Lautwandlungsprozessen mit jeweils spezifischer Distribution erkennbar. Durch diese Verfahrensweise soll nicht nur die Tatsache des

48 Beide Arbeiten machen sich bereits die methodischen Fortschritte zunutze, die durch die Arbeiten von JAKOB (1985) und MACHA (1991) erreicht werden konnten, nämlich die Durchführung einer individuenzentrierten Variablenanalyse. Damit wird diese Methode etabliert, die Weiterentwicklung des Methodenkanons aber nicht unterstützt. Aus diesem Grund wird auf die beiden Arbeiten vorliegend nicht näher eingegangen (vgl. dazu SCHMIDT / HERRGEN 2011, Kapitel 4.3.2.5).

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Kontrastes zwischen den beiden Varietäten in der Gegenwart beschrieben werden, dieser Kontrast soll auch in seiner historischen Bedingtheit erklärt werden. (MATTHEIER 1979, 178)

Dadurch stellt MATTHEIER sicher, dass nur solche Laute miteinander verglichen werden, zwischen denen historisch bedingt eine gegenwärtig beobachtbare Differenz bestehen kann, denn alles andere würde die Ergebnisse der anschließenden Quantifizierung in der „Transferenzanalyse“ (= Ermittlung der Type/Token-Relation; vgl. oben, Fußnote 44) verzerren. Es handelt sich bei der Kontrastanalyse um einen extrem aufwändigen Arbeitsschritt, weshalb MATTHEIER aus „arbeitsökonomischen Gründen“ eine Auswahl der zu behandelnden Phänomene trifft. Die zu analysierende Textmenge und die Auswahl der Variablen ergibt sich aus der „Auftretensfrequenz“ der Phänomene (vgl. MATTHEIER 1979, 164–165). Die von MATTHEIER geäußerten Vorbehalte gegenüber vokalischen Variablen – er ist der Meinung, dass „klar abgrenzbare lautliche Einheiten, die auch auditiv mit ausreichender Sicherheit diskriminiert werden können, [...] in erster Linie im Konsonantenbereich und hier besonders bei den Obstruenten zu finden [sind]“ (MATTHEIER 1979, 181) – wird hier allerdings nicht geteilt. MATTHEIER beschränkt sich aus den genannten Gründen auf die Analyse der Obstruenten.49 In der „Transferenzanalyse“ werden die relativen Häufigkeiten der konkurrierenden Varianten bestimmt, im Gegensatz zu STELLMACHER allerdings zunächst nicht zu einem Gesamtwert zusammengefasst, sondern für jede Variable separat dargestellt. Die Unterschiede der relativen Häufigkeiten im „Dialekt“ und in der „Standardsprache“ (= Sprachmaterial aus den Erhebungsteilen A und B), die als „Ersetzung“ der dialektalen durch die standardsprachliche Variante ausgedrückt werden, analysiert MATTHEIER dahingehend, welche lautlichen Kontexte eine eher ersetzungsfördernde oder ersetzungshemmende Wirkung haben. Den Abschluss der umfangreichen Untersuchung bildet das Kapitel „Gesellschaftliche Bedingungen für Variabilität und Wandel“. Darin berechnet MATTHEIER einen situationsspezifischen „Ersetzungsindex“ für die einzelnen Sprecher (vergleichbar mit STELLMACHERS Wert für das „Dialektniveau“) und vergleicht die Unterschiede der Ersetzungsindizes. [Das Ergebnis ist, dass] 23 Sprecher [...] zwischen den beiden Varietäten eine Differenz von mehr als 28 % auf[weisen], während die restlichen 27 Sprecher höchstens eine Differenz von 25 % aufweisen. Die erste Gruppe wird bei der folgenden Analyse als Varietäten-Wechsler, als ‚Switcher‘ betrachtet. Die zweite Gruppe neigt mehr zur Stabilität, zur Verwendung von zwei sehr nahe beieinanderliegenden Varietäten. (MATTHEIER 1979, 399)

Der soziolinguistischen Zielstellung des Erp-Projekts entsprechend erfolgt schließlich ein Vergleich der Differenz zwischen den Ersetzungsindizes mit den jeweiligen gruppenbildenden Faktoren (Alter und Berufsgruppe). Die wenig deutlichen und daher nur schwer interpretierbaren Zusammenhänge der berücksichtigten Faktoren führen letztlich zu der (wiederum methodologischen) Hypothese, dass „die Altersgleichheit zwischen den Interviewern und den jungen Gewährs49 Eine solche Auswahl der bei der Analyse zugrunde gelegten Variablen wird, meist nach dem Kriterium der Auftretenshäufigkeit, auch in allen im Folgenden referierten Studien getroffen.

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personen diese dazu veranlaßt hat, ihre Sprache weniger der Standardsprache anzupassen, als sie das bei einem älteren fremden Gesprächspartner getan hätten“ (MATTHEIER 1979, 404). Dass andere außersprachliche Faktoren in einem stärkeren Zusammenhang mit sprachlicher Variation stehen, wurde oben bereits als Erkenntnis aus dem Erp-Projekt festgehalten. KARLHEINZ JAKOB widmet sich in seiner Dissertation zu „Dialekt und Regionalsprache im Raum Heilbronn“ unter anderem dem folgenden Desiderat: In dialektologischer Literatur taucht häufig der Begriff der „(regionalen) Umgangssprache“ auf. Damit wird meistens eine nicht näher bestimmte und beschriebene Sprachform verstanden, die „irgendwo“ zwischen Dialekt und Standardsprache anzusiedeln ist. [... Wir] versuchen [...], diese sprachliche Varietät – hier Regionalsprache genannt – genauer zu bestimmen, definitorisch zu fassen und ausdrucksseitig zu beschreiben. (JAKOB 1985, 1)

Auf Basis der Erhebung des Dialekts in 40 Orten der Region und der darauf aufbauenden Beschreibung der horizontalen dialektalen Struktur des Raums untersucht JAKOB das Sprachverhalten von zehn Sprechern der mittleren Generation (37–47 Jahre) in einer standardisierten Erhebungssituation, einem „nicht-formell geführten Interview“ zum Thema „Landeskundliche Regionalforschung“.50 Die Sprecher sollten in der Region aufgewachsen und ansässig sowie „überwiegend in funktionalen Bereichen der Kommunikation zu Hause sein, in denen kein überregionales standardsprachliches Sprechen erwartet wird bzw. gefordert wird. Gleichzeitig soll die Distanz zum ortsansässigen bzw. ortsloyalen Sprecher deutlich gegeben sein“ (JAKOB 1985, 193). Damit sind in JAKOBS Kriterienkatalog für die Sprecherauswahl zwei der drei Punkte enthalten, die nach LAUSBERG und BESCH eine wichtigere Rolle als das im Erp-Projekt angelegte Auswahlkriterium „Berufspendler“ spielen: die Kommunikationsanforderung der Berufstätigkeit und das Alter. Auch JAKOB verwendet als Analysemethode die Variablenanalyse mit anschließender Frequenzanalyse. Er erstellt aus den Type/Token-Relationen für die einzelnen Variablen – mit 24 hat er eine vergleichsweise große Anzahl untersucht – erstmals so etwas wie „Variationsprofile“ für jeden einzelnen Sprecher. Das bedeutet, dass die Zusammenfassung der Einzelwerte zu einem sprecher- und/oder situationsspezifischen Gesamtwert, wie es STELLMACHER und MATTHEIER gemacht haben, nicht vorgenommen wird. Der interindividuelle Vergleich dieser Variationsprofile bietet nun ganz neue Möglichkeiten: Er erlaubt, das Verhalten der Sprecher differenziert und direkt aufeinander zu beziehen. Das erste Ergebnis dieses Vergleichs ist zunächst einmal, dass die Sprecher, obwohl sie nach denselben Kriterien ausgewählt und in einer vergleichbaren Situation beobachtet wurden, unterschiedliche sprachliche Verhaltensweisen zeigen.51 Übereinstim50 JAKOB vergleicht diese Erhebungssituation mit dem oben beschriebenen Aufnahmeteil B im Erp-Projekt (vgl. JAKOB 1985, 205). 51 Wie weiter unten ausführlich dargestellt wird, kommt auch SALEWSKI (1998) bei der Untersuchung des Sprachverhaltens von Bergleuten im Ruhrgebiet zu einem solchen Ergebnis: „Das Sprachverhalten ist [...] innerhalb einer jeden Gruppe bei weitem nicht so homogen, wie es die sozialen Faktoren [...] hatten erwarten lassen“ (SALEWSKI 1998, 123).

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mungen in den individuellen Variationsprofilen interpretiert JAKOB dann als „Gebrauchsnormen“, die wiederum Rückschlüsse auf die Struktur des vertikalen Spektrums in der Untersuchungsregion zulassen.52 Für die drei als „Varietäten“ bezeichneten Bereiche „Standardsprache, Regionalsprache und Mundart“ können jeweils obligatorisch vorhandene, obligatorisch nicht vorhandene und fakultativ vorhandene sprachliche Merkmale differenziert werden. Diese werden in Erweiterung von SCHIRMUNSKIS Ansatz als primäre, sekundäre und tertiäre Dialektmerkmale klassifiziert (vgl. JAKOB 1985, 280–287). Lässt man die terminologischen Unterschiede einmal außer Acht, handelt es sich bei JAKOBS Arbeit um die erste Untersuchung, die im Sinne der Sprachdynamiktheorie auf Grundlage der Analyse des Sprachverhaltens (= Performanz), das bei Informanten in einer vergleichbaren Situation beobachtet werden kann, Rückschlüsse auf deren individuelle System- und Registerkompetenz zieht und letztlich über die Ermittlung von Differenzen und Übereinstimmungen, also Resultaten von Mesosynchronisierungsprozessen, Verdichtungsbereiche variativer Sprachverwendung, d. h. Sprechlagen (JAKOB spricht von „Gebrauchsnorm“) nachweisen kann. Somit bleibt JAKOB zwar – mit nur einer einzelnen Erhebungssituation – hinsichtlich der Datenbasis hinter den Anforderungen an variationslinguistische Studien, die aus den bisher präsentierten Untersuchungen abgeleitet werden konnten, zurück. Er holt aus dieser Datengrundlage aber praktisch das „Maximum“ an Erkenntnissen heraus und leitet vor allem die Fokussierung der Analysen auf das variative Sprachverhalten des Individuums im interindividuellen Vergleich ein, nachdem der einzelne Sprecher in den soziolinguistischen Studien lediglich einen Teil von Gruppen mit bestimmten Merkmalen gebildet hat. Eine Frage, der JAKOB nicht nachgehen kann, ist, wie sich erklären lässt, warum die Sprecher sich in einer vergleichbaren Situation so unterschiedlich verhalten. Die Möglichkeit zur Beantwortung dieser Frage eröffnet sich mit der Untersuchungsanlage, die JÜRGEN MACHA (1991) für seine Habilitationsschrift gewählt hat: die Beobachtung von situativ gesteuerter Sprachvariation bei denselben Sprechern in ihrem „Möglichkeitsraum zwischen Dialekt und Standardsprache“ (MACHA 1991, 2). Deutlicher als JAKOB versucht MACHA, das in den soziolinguistisch ausgerichteten Arbeiten vorherrschende Bild vom „determinierten Sprecher“ zu überwinden. [Darunter versteht er die Betrachtung von (individuellem)] Sprachverhalten „in Abhängigkeit von ...“. Die Ausfüllung der anschließenden Leerstelle fällt unterschiedlich aus; sie kann isolierend Einzelfaktoren akzentuieren oder eine Kombination von Merkmalen beinhalten, stets 52 SENFT, der versucht, das Sprachverhalten Kaiserslauterer Metallarbeiter als möglichst „einheitliche, homogene Sprachvarietät“ (SENFT 1982, 9) zu beschreiben, stellt bei seiner Variablenanalyse der informellen Interviews, die er mit allen 18 Sprechern aufgezeichnet hat, fest, dass es neben zahlreichen interindividuellen Übereinstimmungen auch „Abweichungen im Sprachverhalten einzelner Sprecher“ (SENFT 1982, 160) gibt. Anders als JAKOB nutzt SENFT diese Beobachtung aber nicht, um die sprachliche Heterogenität der Vertikale systematisch zu erfassen, sondern er versucht, „durch eine engere, spezifischere Eingrenzung des Varietätenraums ein höheres Maß an Einheitlichkeit im Sprachverhalten der Sprecher innerhalb eines so neudefinierten Varietätenraums [zu] erreichen“ (SENFT 1982, 160).

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Forschungsstand hat aber das individuelle Sprechen den theoretischen Status einer abhängigen Variable. (MACHA 1991, 3)

Aus diesem Grund verfolgt MACHA in seiner Arbeit einen „individuumzentrierten Ansatz[...] auf dem Hintergrund seiner Gruppenbezogenheit“ (MACHA 1991, 17). Er entscheidet sich für die Beobachtung des Sprachverhaltens von 36 Handwerksmeistern aus den Gemeinden Siegburg, Eitorf und Windeck (Rhein-Sieg-Kreis). Mit diesen Informanten wurden der „intendierte Ortsdialekt“ durch die mündliche Übertragung von zehn schriftlich vorgegebenen Wenkersätzen in den Dialekt und das Sprachverhalten in einem standardisierten Tiefeninterview erhoben. Dieses diente gleichzeitig dazu, sprachbiografische und subjektive Daten abzufragen. Wegen des hohen Formalitätsgrades der Situation und der Fremdheit des Interviewers definiert MACHA die in den Interviews beobachtete Sprechweise als „intentionale Standardsprache“. Mit diesen beiden Erhebungssituationen sei der individuelle Möglichkeitsraum der Sprecher ermittelt. Die (vergleichende) Analyse der subjektiven Daten und des beobachtbaren Sprachverhaltens (es wird eine Variablenanalyse durchgeführt) erlaubt es MACHA – ganz im Sinne der individuenzentrierten Perspektive – „sprachliche Personenprofile“ zu ermitteln. Auf Grundlage der subjektiven Daten werden drei Sprechertypen differenziert: der „genuin dialektale Sprecher“, der „Wanderer zwischen zwei Welten“ und der „genuin nicht-dialektale Sprecher“ (MACHA 1991, 54). Die Analyse der Sprachdaten zeigt, dass hinsichtlich des Mittelwertes des Anteils „nichtstandardlautlicher Lexeme“ diese drei Typen zunächst einmal bestätigt werden, dass sich aber „z. T. gravierende[...] Differenzen“ zwischen einzelnen Repräsentanten der Sprechertypen feststellen lassen. Es bilden sich breite Streubereiche um den genannten Mittelwert (vgl. MACHA 1991, 190–193). Warum sich ein solcher Streubereich bei Sprechern definierter Gruppen in einer vergleichbaren Situation ergibt, kann ansatzweise durch die Analyse der Aufnahmen, die in einer dritten Erhebungssituation durchgeführt wurden, geklärt werden. Mit vier Informanten wurde die „Sprache ‚in vivo‘, in ‚natürlichen‘ Situationen“ erhoben. Sie waren bereit, für eine bestimmte Zeit während ihrer alltäglichen beruflichen Tätigkeit – es handelte sich um Kfz-, Bäcker- und Metzgermeister bei Verkaufs- oder Beratungsgesprächen – ein kabelloses Mikrofon zu tragen, sodass die Gespräche nicht durch die sichtbare „Anwesenheit“ einer Aufnahmeeinrichtung beeinflusst wurden. Als übergeordnetes Ergebnis lässt sich festhalten: Die Dynamik, die jeder kommunikativen Interaktion eigen ist, läßt den abrupten Wechsel zwischen Sprachvarietäten ebenso zu wie fließende, sich in diversen Mischungen konkretisierende Übergänge. [...] Je nach Gesprächspartner, Sprechanlaß und Situationsbeurteilung wird sprachlich im Sinne einer ‚flexible response‘ reagiert. (MACHA 1991, 217–218)

Durch die Erhebung und Analyse der Sprache „in vivo“ gelingt es MACHA, anhand ungesteuerter Situationswechsel (= Wechsel der Gesprächspartner und der Gesprächsanlässe) die Mikrosynchronisierungsprozesse (= Ausrichtung der eigenen Sprachverwendung an der individuellen Kompetenz des Gesprächspartners), die jede Kommunikation begleiten, zu belegen. Dazu gehört die Beobachtung, dass die Sprechlagen- bzw. Varietätenwahl der Kunden die Varietätenwahl des In-

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formanten steuert, wobei Wechsel in die jeweils nicht zur „Primärtonart“ gehörende Varietät möglich sind, und Wechsel auch an kommunikativen Einschnitten durchgeführt werden. Hinsichtlich der Streubreite zwischen den Vertretern der Sprechergruppen in den Interviews lässt sich daraus als Erklärungsansatz ableiten, dass die Sprecher eine je unterschiedliche Situationsdefinition zugrunde gelegt haben, für die sie eine bestimmte „Primärtonart“ für angemessen halten. Nicht beantwortet werden kann die Frage, die MACHA selbst aufwirft, nämlich, ob die nicht erfolgte Annäherung an die Standardsprache im Interview auf ein „Nichtkönnen“ oder ein „Nichtwollen“ zurückzuführen ist (vgl. MACHA 1991, 192). Um dieser Frage nachzugehen, hätte auch die standardsprachliche Kompetenz der Informanten erhoben werden müssen, um die obere Grenze des individuellen Varianz- und Möglichkeitsraums definieren zu können, denn diese obere Grenze hat MACHA in den Interviews (anders als von ihm angegeben) nicht erfassen können. Wie man die sprechsprachliche Standardkompetenz von Informanten erheben kann, hat WERNER KÖNIG in seinem Habilitationsprojekt, das 1989 als „Atlas zur Aussprache des Schriftdeutschen in der Bundesrepublik Deutschland“ erschienen ist, gezeigt. Mit der Vorleseaussprache soll bei den Informanten größtmögliche Standardannäherung erreicht werden, mit dem Ziel, „großlandschaftliche Unterschiede in der Aussprache des Schriftdeutschen zu erkunden und darzustellen“ (KÖNIG 1989, Bd. 1, 8). KÖNIG hat Erhebungen von insgesamt fünf „Textsorten/Kontextstilen“ durchgeführt: „(a) Spontane Sprechweise, (b) Vorlesesprache eines zusammenhängenden Textes, (c) Vorlesesprache Wortliste, (d) Vorlesesprache Minimalpaare, (e) Vorlesesprache Einzellaute“ (KÖNIG 1989, Bd. 1, 17). Von 75 Aufnahmen wurden 44 der Erstellung des Atlas zugrunde gelegt. Nicht ausgewertet wurden die Spontansprache und die Vorlesesprache des zusammenhängenden Textes.53 Für die vorliegende Untersuchung ist von besonderer Relevanz, dass es KÖNIG gelungen ist, eine Methode zu etablieren, mit der die Sprechweise, die durch eine größtmögliche Annäherung an die Oralisierungsnorm der Standardsprache gekennzeichnet ist, erhoben werden kann. Zwar erfolgt durch das Vorlesen primär eine Orientierung an der zugrunde liegenden Schriftform, dadurch, dass aber beispielsweise auch Minimalpaare und Einzellaute produziert werden sollten, ist der Fokus bewusst (auch) auf die „hochsprachliche“, massenmedial verbreitete Oralisierungsnorm gelenkt worden. Das zweite für die Erforschung der modernen Regionalsprachen wichtige Ergebnis ist, dass erstmals für eine vergleichbare, klar definierte Sprechweise einer sozialen Gruppe (junge Studierende bzw. Hochschulabsolventen) gezeigt werden konnte, dass in ihrem individuell „besten Hochdeutsch“54 (KÖNIG 1989, Bd. 1, 31–32, spricht von der höchsten in sprachwissenschaftlichen Erhebungen erreichbaren Sprachform einer möglichst hohen sozialen Schicht) systematisch im Raum distribuierte regional53 Eine Teilauswertung dieses Materials präsentiert BEREND (2005). Auch im Rahmen der Datenerhebung zum „Sprachatlas von Bayerisch-Schwaben“ hat KÖNIG die Vorlesesprache der Informanten aufzeichnen lassen. Die Analysen dieser Daten wurde jüngst von BERNADETTE WECKER-KLEINER (2009) vorgelegt. 54 Zur Konzeptualisierung von „bestem Hochdeutsch“ vgl. oben, Kapitel 2.2.

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sprachliche Merkmale erhalten bleiben. Dies verweist grundsätzlich auf das Vorhandensein einer Raumstruktur in den oberen Sprechlagen des Regiolekts. Mit ihrer Dissertationsschrift legt CHRISTIANE STEINER 1994 erstmals eine vollständige Beschreibung der vertikalen Sprachvariation einer sozialen Gruppe – es handelt sich um Mainzer Postbedienstete – vor. Zentraler Untersuchungsgegenstand [...] ist der Variantenbestand zwischen dem Mainzer Basisdialekt und der Standardsprechsprache. [...] Zentrales Untersuchungsziel ist die Beschreibung der kommunikativen Nutzung dieses sprachlichen Spektrums in verschiedenen Gesprächssituationen. (STEINER 1994, 68)

Als Informanten dienten 30 ortsfeste Mainzer Postzusteller, die möglichst ausgewogen auf die Altersstufen 20–35 Jahre, 35–50 Jahre und 50–65 Jahre verteilt sein sollten. Jeder Informant wurde in insgesamt vier Erhebungssituationen aufgezeichnet. Mit einer „Dialekterhebung“ und einer „Standarderhebung“ wurden die individuelle aktive Dialekt- und Standardkompetenz der Sprecher erhoben und damit der individuelle „Varianz- und Möglichkeitsraum“, von dem MACHA spricht, auf beiden Seiten begrenzt. Die Kompetenzerhebungen erfolgten mit einem Fragebuch, das 66 Sätze enthielt. Bei der Standardkompetenzerhebung wurden den Informanten dialektale Versionen dieser Sätze, die zuvor mit einer Mainzer Sprecherin aufgezeichnet worden waren, präsentiert und sie wurden aufgefordert, sie „in ihr ‚bestes Hochdeutsch‘ umzusetzen“ (STEINER 1994, 76). Daneben wurden alle Sprecher in zwei freien Gesprächen aufgenommen, einem Interview und einem Kollegengespräch. Außer einem Gesprächsteil zum Thema Dialekt wurden im Interview sprachbiografische Informationen und Einstellungsdaten erhoben. Die beiden wichtigsten Faktoren, welche im Interview das Sprechverhalten der Informanten in Richtung Standardsprache lenken sollten, sind nach STEINER die „Unbekanntheit des Gesprächspartners“ und die „Formalität“ der Situation (STEINER 1994, 77–78; Kursivdruck im Original). Das Zutreffen des ersten Kriteriums wurde dadurch sichergestellt, dass das Interview die erste Begegnung zwischen dem Informanten und der Exploratorin war. Das Interview wurde – zur Minimierung des Beobachterparadoxons – verdeckt aufgezeichnet.55 Zwar war eine Aufnahmeeinrichtung im Raum vorhanden, was damit begründet wurde, dass nach dem Gespräch der Dialekt erhoben werden sollte, das offen sichtbare Tonbandgerät war aber ausgeschaltet, während ein zweites, verdecktes Aufnahmegerät im Schrank deponiert war und permanent aufgezeichnet hat. Durch diesen methodischen Trick ist es STEINER außerdem gelungen, die sogenannten Kollegengespräche ebenfalls verdeckt aufzuzeichnen. Diese Gespräche sind durch die Faktoren „Abwesenheit des Forschers, freie Wahl des Gesprächsthemas und Vertrautheit der Kommunikationspartner“ (STEINER 1994, 81; Kursivdruck im Original) gekennzeichnet.

55 STEINER thematisiert die forschungsethischen Aspekte, die bei verdeckten Aufnahmen diskutiert werden, hält ihr Vorgehen aber für vertretbar, da sie nachträglich die Zustimmung der Informanten zur Datenanalyse eingeholt hat (vgl. STEINER 1994, 80).

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Zwei Kollegen wurden gebeten, zur zeitsparenderen Erhebung von wichtigen Sozialdaten gemeinsam zu erscheinen. Die Exploratorin verließ daraufhin unter dem Vorwand, für die Erhebung wichtige Unterlagen im Auto vergessen zu haben, den Raum. Die Informanten blieben auf diese Weise etwa 5–8 Minuten allein. In dieser Zeit fanden Gespräche unterschiedlichster Thematik statt, die verdeckt aufgezeichnet wurden. (STEINER 1994, 81)

Bei der Analyse führt STEINER keine Variablenanalyse mit Ermittlung der Type-/ Token-Relation durch, sondern verwendet das von HERRGEN / SCHMIDT entwickelte Verfahren zur Bestimmung des phonetischen Abstands einer Sprachprobe von der Standardsprache (sogenannte Dialektalitätsmessung; vgl. HERRGEN / SCHMIDT 1989). Dieses Verfahren, bei dem für dialektal bedingte artikulatorische Unterschiede von der Standardaussprache Punkte vergeben werden und auf dieser Basis eine durchschnittliche Abweichung pro Wort errechnet wird, wird unten in Kapitel 4.3.1 ausführlich vorgestellt. Die Quantifizierung der Dialektalität der analysierten Korpusausschnitte wird aber um eine qualitative Analyse – unter der Fragestellung „Was weicht ab?“ – ergänzt. Im Vergleich zu den bisher in diesem Forschungsüberblick präsentierten Studien ist das vielleicht interessanteste Ergebnis, dass die interindividuellen Unterschiede hinsichtlich der Dialektalitätsbandbreiten bei den Kompetenzerhebungen deutlich niedriger sind als bei den freien Gesprächen. Der eine Teil der Informanten nutzt „in den konkreten Kommunikationssituationen relativ umfangreich das Spektrum ihrer linguistischen Kompetenz aus[..., während andere] kaum oder nur wenig ihr sprachliches Wissensspektrum ausnutzen“ (STEINER 1994, 126). Vor allem erreichen die Sprecher im Interview, das bei den meisten deutlich weniger dialektal ist als das Kollegengespräch, in der Regel nicht annähernd die Nähe zur Standardsprache, die sie bei der Standardkompetenzerhebung erreichen. Es bestätigen sich also Beobachtungen, die auch JAKOB (interindividuelle Unterschiede in vergleichbaren Situationen) und MACHA (relative Standardferne im Interview, mit dem eigentlich „intentionale Standardsprache“ erhoben werden sollte) gemacht haben. Während diese beiden aber nur eine offensichtlich verschiedene Situationsdefinition vermuten können und MACHA die Frage stellen kann, ob das dialektnahe Sprechen im Interview auf „Nichtwollen oder Nichtkönnen“ (vgl. MACHA 1991, 192) zurückgeführt werden kann, ist STEINER in der Lage, diese Frage auch zu beantworten: offenbar wollen die meisten der Postbediensteten mit ihr nicht standardnäher sprechen. Außer dass mit STEINERS Arbeit eine Art Minimalset an Aufnahmesituationen, die man zur möglichst umfassenden Beschreibung der vertikalen Sprachvariation und der regionalsprachlichen Register benötigt, empirisch „gesetzt“ wird, liefert ihre Ergebnisdarstellung noch zwei interessante Ansätze für die Interpretation der Analyseergebnisse. Zum einen fasst auch STEINER die interindividuellen Übereinstimmungen hinsichtlich der Verwendung bestimmter Variantensets in einzelnen Gesprächssituationen als „eine in der Sprachgemeinschaft geltende relativ einheitliche und feste Norm der Variantenverwendung“ (STEINER 1994, 184) auf – JAKOB hat den Terminus „Gebrauchsnorm“ verwendet. Zum anderen interpretiert sie „Hyperkorrektionen“, die bei der Standardkompetenzerhebung gebildet werden, als Anzeichen „mangelnder Kompetenz in der Standardsprache“ (STEINER 1994, 184) und nennt damit ein Kriterium, das in der Sprachdynamik-

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theorie zur Ermittlung der Varietätengrenze zwischen Regiolekt und Standardsprache herangezogen wird (siehe oben, Kapitel 2.3). Ein weiterer Fortschritt in der Herausbildung standardisierter Methoden ergibt sich aus der Arbeit von KERSTIN SALEWSKI (1998), die den Substandard älterer Bergleute im Ruhrgebiet untersucht. Hinsichtlich der Anlage ähnelt die Studie der von KARLHEINZ JAKOB, ohne dass SALEWSKI explizit darauf verweist. Analysiert wird das Sprachverhalten von zwölf Bergmännern in einer einzelnen Aufnahmesituation, einem Gespräch in einer „vertrauten Atmosphäre“ mit einem teilnehmenden Beobachter. Dieser hat bereits „Monate vor der Aufnahme Kontakt zu den Gewährspersonen“ (SALEWSKI 1998, 21) aufgenommen, um eine solche Vertrautheit herzustellen. Als Untersuchungsgegenstand und Gesprächsanlass wurde das „Interesse an der Zechensiedlung und am Leben des Bergmanns“ (SALEWSKI 1998, 21) angegeben. Im Vergleich zu den bisher vorstellten Untersuchungen neu ist an SALEWSKIS Design, dass je vier Sprecher aus drei verschiedenen Orten – das westfälische Dortmund-Dorstfeld sowie die niederfränkischen Orte DuisburgNeumühl und Duisburg-Homberg – berücksichtigt wurden und dass außer dieser bewussten Variation der Variable Sprecherherkunft eine extrem große Zahl an außersprachlichen Variablen konstant gehalten werden konnte, da die Sprecher an den jeweiligen Orten bereits seit ihrer Kindheit miteinander aufgewachsen sind und in engem kommunikativem Kontakt standen. Somit wurden nicht nur die traditionellen sozialen Faktoren „Alter“, „Generation“, „Geschlecht“, „Bildung“ und „Beruf“, deren Relevanz für sprachliche Variation durch zahlreiche Untersuchungen bestätigt werden konnte, bei allen Gewährspersonen gleich gehalten, sondern auch die Netzwerkfaktoren (Dichte und Multiplexität). (SALEWSKI 1998, 20)

Aus den Analysen von 16 lautlichen Variablen, die in einer Voruntersuchung ermittelt wurden, kann SALEWSKI die folgenden, für den vorliegenden Überblick wichtigsten Ergebnisse ableiten: 1. Es zeigen sich deutlich diatopische Unterschiede zwischen dem Sprachverhalten der Gruppen aus den jeweiligen Untersuchungsorten, vor allem zwischen der Dortmunder Gruppe und den Duisburger Gruppen. Die Unterschiede lassen sich auf Einflüsse der unterschiedlichen Basisdialekte zurückführen (vgl. SALEWSKI 1998, 122). Diese Beobachtung beweist, dass auch in dem niederdeutsch geprägten Substandard des Ruhrdeutschen die Einflüsse der historischen und im Sprachalltag „kaum noch gebrauchten Dialekten“ (SALEWSKI 1998, 8) noch nachwirken. 2. Neben den Unterschieden zwischen den Sprechergruppen, der diatopischen Variation, kann SALEWSKI allerdings auch Sprachvariation innerhalb der Gruppen beobachten, weshalb sie ebenfalls die Gruppenprofile um individuelle Sprecherprofile ergänzt. Dieses Ergebnis ist das vielleicht spannendste Ergebnis der Arbeit, denn es zeigt sich, dass selbst die durch zahlreiche außersprachliche Faktoren konstant gehaltene Informantenauswahl nicht verhindern kann, dass sich die Sprecher an demselben Ort in einer vergleichbaren Situation mit demselben Gesprächspartner unterschiedlich verhalten.

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Daraus lässt sich ableiten, dass zunächst der individuelle Sprecher in den Mittelpunkt gestellt werden muss und sich Gruppenkonventionen erst aus vergleichbarem Sprachverhalten verschiedener Informanten in denselben oder aber in unterschiedlichen Situationen ableiten lassen. Dass sich auf diese Weise solche „Norm[en] der Variantenverwendung“ ermitteln lassen, hat ja die Studie von STEINER (1994) gezeigt. Indem sie alle bisherigen Fortschritte, die sich aus den Forschungsarbeiten des 20. Jahrhunderts ergeben haben, in praktisch optimaler Weise kombiniert, gelingt es ALEXANDRA LENZ mit ihrer 2003 vorgelegten Dissertationsschrift erstmals, die Struktur und Dynamik einer Regionalsprache des Deutschen umfassend zu beschreiben – gut 120 Jahre nach WEGENERS Aufruf. Dabei nutzt LENZ Erkenntnisse hinsichtlich der Datenerhebung, der Analysemethoden und vor allem möglicher Interpretationsansätze und führt diese in der Beschreibung des „Substandards“ der Kleinregion Wittlich zusammen. Da diese Arbeit in Kapitel 5.1 noch ausführlicher vorgestellt wird, sollen hier die entsprechenden Stichpunkte ausreichen: –









Bei der Datenerhebung greift LENZ die Situationstypen STEINERS auf, also Dialekt- und Standardkompetenzerhebung sowie zwei freie Gespräche, und ersetzt lediglich den Gesprächstyp „Kollegengespräch“ durch ein „Freundesgespräch“, da die Untersuchung nicht auf eine Berufsgruppe beschränkt ist. Die Kompetenzerhebungen werden mit 50 Informanten durchgeführt, wohingegen die freien Gespräche nur mit 25 Sprechern aufgezeichnet werden. Die Auswahl der Informanten wurde möglichst balanciert nach Alter, Geschlecht und Herkunftsort in der Kleinregion getroffen. Mit Ausschnitten der objektsprachlichen Daten wurde eine Variablenanalyse mit Frequenzanalyse (Type/Token-Relation) für 19 häufig auftretende Variablen durchgeführt. Die relative Häufigkeit standardabweichender Varianten in den einzelnen Erhebungssituationen wird sowohl individuenzentriert als auch über alle 25 Sprecher gemittelt verglichen. Die relative Häufigkeit standardabweichender Varianten pro Situation wird durch entsprechende Sortierung als „Abbauhierarchie der substandardsprachlichen Varianten“ interpretiert.56 Auf dieser Grundlage werden die Varianten in Erweiterung von SCHIRMUNSKIS und JAKOBS Klassifikation als primäre bis quintäre Varianten und zusätzlich als „quintäre Sonderfälle“ klassifiziert. Um zu Aussagen über die Struktur des regionalsprachlichen Spektrums zu gelangen, wird das Sprachverhalten der einzelnen Informanten in den jeweiligen Situationen miteinander verglichen. Dieser Schritt erlaubt es, Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Sprachverhalten zu ermitteln, was JAKOB und STEINER als „Gebrauchsnormen“ bzw. „Norm der Variantenverwendung“ bezeichnet haben. Für diese Vergleiche wendet LENZ das statistische Verfahren der Clusteranalyse an, die Aufnahmen von Sprechern zusammenordnet, in denen das Sprachverhalten ähnlich ist, und von anderen Aufnahmen von Spre-

56 Eine solche Ergebnisdarstellung (Implikationsskala) hat auch SALEWSKI (1998) zum Vergleich des Sprachverhaltens einzelner Sprecher gewählt.

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chern differenziert, in denen ein abweichendes Sprachverhalten in einer Situation beobachtet werden kann.57 Als Ergebnis der Clusteranalysen stehen fünf „Verdichtungsbereiche des Wittlicher Substandards“, die als „typische Sprachverhaltensmuster“ konzeptualisiert und als Sprechlagen im vertikalen Spektrum interpretiert werden. Schließlich führt LENZ die Idee, dass Hyperkorrekturen auf individuelle Kompetenzgrenzen verweisen (vgl. STEINER 1994), systematisch weiter, indem sie solche Übergänge zwischen Sprechlagen, an denen bei den Sprechern Hyperformen zu beobachten sind, als Varietätengrenzen interpretiert (vgl. dazu oben, Kapitel 2.3). Dies gilt sowohl für Hyperkorrekturen, als Kennzeichen für eine Varietätengrenze zur Standardsprache, als auch für Hyperdialektalismen, als Kennzeichen für eine Varietätengrenze zum Dialekt.

Mit der umfangreichen Untersuchung, die LENZ für die Kleinregion Wittlich vorgelegt hat, ist somit gewissermaßen der Beweis dafür erbracht worden, dass die Kombination von Methoden bei der Datenerhebung und bei der Datenanalyse, die in vergangenen Studien jeweils zwar zu Einzelergebnissen, nicht aber zu einem Gesamtbild geführt haben, die Möglichkeit eröffnet, valide Aussagen zur vertikalen Struktur der Regionalsprache eines Untersuchungsraums zu treffen. Das „schwächste Glied“ dieser Methodenkombination ist sicherlich die Variablenanalyse, die in Anlehnung an MATTHEIERS Argumentation in der Regel nur für eine Auswahl von sprachlichen Variablen durchgeführt wird. Daher sind dieser Analysemethode idealerweise weitere zur Seite zu stellen, beispielsweise die Ermittlung der Hörerurteil-Dialektalität in Perzeptionsexperimenten58 oder die Bestimmung des phonetischen Abstands von Sprachproben zur Standardsprache (eine ausführliche Beschreibung der Analysemethoden erfolgt in Kapitel 4.3). Die zuletzt genannte Analysemethode, die sogenannte Dialektalitätsmessung, die ja STEINER (1994) bereits angewandt hat, darf aber nicht nur als ergänzende Methode bewertet werden, denn sie trägt einen eigenen Mehrwert zur umfassenden Beschreibung regionalsprachlicher Spektren bei: Sie erlaubt es, Ergebnisse, die an verschiedenen Orten und/oder zu verschiedenen Zeitpunkten gewonnen wurden, direkt aufeinander zu beziehen. Sowohl für die diachrone als auch für die diatopische Dimension beweist dies die Dissertationsschrift von Alfred LAMELI (2004). Darüber hinaus findet LAMELI in seiner Arbeit eine ideale Lösung zur weitgehenden Überwindung des Beobachterparadoxons. Im Einzelnen: Untersucht wird die Sprache, die Gemeinderatsmitglieder in öffentlichen Gemeinderatssitzungen verwenden, also die Sprache einer definierten sozialen Gruppe in einer definierten, relativ formalen und offiziellen Situation. Diese Situation stellt 57 Solche Clusteranalysen hat auch ZWICKL (2002) in ihrer Arbeit zu „Language Attitudes, Ethnic Identity and Dialect Use“ durchgeführt. 58 Solche Experimente hat PURSCHKE (2003) mit den Sprachaufnahmen von LENZ durchgeführt und kommt zu einem klaren Ergebnis: Die Wahrnehmung von Beispielsprachproben der einzelnen Sprechlagen durch naive Beurteiler deckt sich signifikant mit dem Ergebnis, das LENZ mit den objektsprachlichen Analysen erzielt hat. Die Ergebnisse dieser Perzeptionsexperimente sind auch in LENZ (2003, 255–262) behandelt.

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für die Mitglieder der Gruppe eine Alltagssituation dar. Hinzu kommt, dass die Aufzeichnungen der Sprachverwendung nicht für LAMELIS linguistische Studie angefertigt wurden, sondern dass solche Sitzungen in verschiedenen Gemeindeparlamenten Deutschlands immer aufgenommen und archiviert werden. Das Mikrofon bildet für die Sprecher zudem nicht einen Teil der Aufzeichnungseinrichtung, sondern ein Mittel zur Schallverstärkung im Sitzungssaal und somit einen festen Bestandteil der Kommunikationssituation (vgl. LAMELI 2004, 55–57). Den Umstand, dass die Sitzungsaufzeichnungen unter anderem in den Städten Mainz und Neumünster archiviert werden, macht sich LAMELI zunutze, um in beiden Städten die diachrone Veränderung der Sprachverwendung in solchen Gemeinderatssitzungen in Echtzeit vergleichen zu können. Für 36 Mainzer und zehn Neumünsteraner Sprecher – jeweils die Hälfte der Gesamtzahl aus den 1950er und den 1990er Jahren – wird die Dialektalität von Sprachproben ermittelt und miteinander verglichen. Der diachrone Vergleich ergibt für den westmitteldeutschen Untersuchungsort Mainz eine Halbierung der durchschnittlichen Dialektalität der Sprache in Gemeinderatssitzungen (D-Wert 1950er: 0,67; D-Wert 1990er: 0,3359), während für die nordniederdeutschen Sprecher absolute Konstanz zu beobachten ist (D-Wert 1950er: 0,29; D-Wert 1990er: 0,3160). Dabei liegen die Sprachproben aus Neumünster in beiden Zeitschnitten auf einem Niveau, auf dem die der Mainzer Sprecher in den 1990er Jahren liegen. Hinsichtlich des Verlaufs der Annäherung an die Standardsprache in solchen formalen Situationen leitet LAMELI daraus die Hypothese ab, dass „ein Ende der durchschnittlichen Reduktion [der Dialektalität] erreicht ist“ (LAMELI 2004, 241). Indem er die phonetische Abstandsmessung durch die Analyse ausgewählter Variablen ergänzt, kann LAMELI nicht nur zeigen, welche Varianten diachron abgebaut werden, sondern er kann aus den Implikationsbeziehungen, die zwischen den Varianten bestehen, auch vorsichtige, aber begründete Prognosen darüber ableiten, für welche regionalsprachlichen Varianten ein zukünftiger Abbau am wahrscheinlichsten ist. Die Durchführung von Perzeptionsexperimenten zur Hörerurteil-Dialektalität zeigt schließlich, dass es in beiden Erhebungsorten Sprecher gibt, deren Sprache von naiven Hörern „mehrheitlich als reines Hochdeutsch“ (LAMELI 2004, 238) wahrgenommen wird. Bei diesen Sprachproben handelt es sich um solche, deren phonetischer Abstand von der Standardsprache bei unter 0,2 (also einem standardabweichenden lautlichen Merkmal in jedem fünften Wort) liegt. Daraus leitet LAMELI eine „perzeptive Grenze der Standardsprachlichkeit“ ab, die letztlich mit dafür verantwortlich gemacht werden kann, dass der Prozess der (durchschnittlichen) Standardannäherung gebremst wird (vgl. LAMELI 2004, 240–242).61 59 Vgl. LAMELI 2004, 93. 60 Vgl. LAMELI 2004, 212. 61 Eine LAMELIS Arbeit ähnliche Anlage und Zielstellung verfolgt SPIEKERMANN (2008), der für Baden-Württemberg Korpora aus verschiedenen Zeitstufen miteinander vergleicht. Zur Weiterentwicklung des Methodenkanons trägt diese Arbeit nicht bei, im Gegenteil: Wie KLEINER in seiner Besprechung resümiert, weist die Arbeit deutliche „empirische[...] Schwächen“ auf (v. a. die Durchführung der Variablenanalyse), die letztlich „dazu [führen], dass zahlreiche Detailergebnisse nicht zuverlässig und darum daraus abgeleitete Interpretationen nicht schlüs-

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Forschungsstand

Abschließend für diese Aufarbeitung der zum Zeitpunkt der Fertigstellung der vorliegenden Arbeit wichtigsten Beiträge zur Entwicklung eines Methodenkanons für moderne variationslinguistische Untersuchungen lässt sich somit eine Art Katalog aufstellen, mit dem sichergestellt werden kann, dass Fragestellungen der Regionalsprachenforschung auf vergleichbare Art und Weise angegangen werden können. Hinsichtlich der Auswahl der Informanten haben die Erfahrungen aus dem Erp-Projekt gezeigt, dass Qualität grundsätzlich vor Quantität geht. Das bedeutet, dass mit wenigen Informanten, die klar definierte Sprechergruppen repräsentieren, genauso viel oder mehr erreicht werden kann wie/als mit der Berücksichtigung eines möglichst großen Teils der Grundgesamtheit. Zu den potenziell wichtigsten Faktoren, die zur Bildung von Sprechergruppen führen, gehören „die schulischberufliche Qualifikation, die Kommunikationsanforderung der Berufstätigkeit, das Alter“ (LAUSBERG 1993, 222). Bei der Erhebung von Sprachdaten hat es sich als sinnvoll erwiesen, den Umfang des individuellen „Möglichkeitsraums“ abzustecken, indem die aktive Dialekt- und die Standardkompetenz der Informanten abgefragt wird. Dazu eignet sich eine Methode aus der traditionellen Dialektologie: direkte Befragung mit einem standardisierten Katalog. Dadurch wird es möglich, jedes Sprachverhalten, das in freien Gesprächen beobachtet werden kann, exakt in diesem Spektrum zu verorten. Solche freien Gespräche wiederum sollten in möglichst vielen, möglichst verschiedenen, aber standardisierten und damit wiederholbaren Situationen aufgezeichnet werden. Zu einer Art Standardmethode ist das Tiefeninterview mit einem Forscher/Explorator geworden, weil man darin nicht nur (sprach)biografische Informationen und subjektive Einstellungen erheben kann, sondern weil man sich dabei die Auswirkungen, die eine offene Aufnahme und ein fremder Gesprächspartner auf das Sprachverhalten der Informanten haben, gezielt zunutze machen kann. Solchen formellen Gesprächstypen müssen informellere, private Kommunikationssituationen gegenübergestellt werden, in denen das Beobachterparadoxon möglichst weit überwunden werden soll. Idealerweise greift man auf Gesprächsaufzeichnungen zurück, die nicht zu sprachwissenschaftlichen Zwecken angefertigt wurden. Als Beispiel seien die Gemeinderatssitzungen genannt, die LAMELI analysiert hat (vollständig verdeckte Beobachtungen wären natürlich noch besser, sind aber problematisch, da man sich entweder in eine juristisch-ethische Grauzone begibt oder lediglich spontane Beobachtungen machen kann wie z. B. LABOV (1966) in seiner berühmten ‫ڈ‬ф‫ڈ‬-Studie). Alternativ können alltagsähnliche Situationen gestaltet werden, in denen die Aufnahmeeinrichtung so weit wie möglich „unsichtbar“ bleibt und sich die Sprecher in einer gewohnten Umgebung befinden und sich mit vertrauten, selbst gewählten Gesprächspartnern unterhalten (vgl. die Kollegengespräche bei STEINER oder die Freundesgespräche bei LENZ).

sig sind“ (KLEINER 2012, 128). Aus diesem Grund werde ich an hier nicht näher auf SPIEKERMANNS Arbeit eingehen (vgl. aber die ausführliche Diskussion in SCHMIDT / HERRGEN 2011, 348–361).

Entwicklung von Methoden und Interpretationsansätzen

61

Die Auswahl der Analysemethoden richtet sich natürlich nach den jeweils in der Untersuchung verfolgten Zielen. Am häufigsten wurde auf die Variablenanalyse und die Ermittlung der Type/Token-Relation zurückgegriffen. Da diese Analyse aus forschungspraktischen Gründen aber in der Regel mit einer Auswahl an Phänomenen auskommen muss, sollte sie sinnvoll ergänzt werden. Mögliche weitere Verfahren sind die phonetische Abstandsmessung (Dialektalitätsmessung) und perzeptionslinguistische Experimente sowie statistische Verfahren wie Clusteranalyse oder Implikationsanalyse. Im Folgenden werden drei laufende Forschungsprojekte beschrieben, in denen viele dieser Erkenntnisse systematisch umgesetzt wurden und die dazu beitragen werden, in absehbarer Zeit einen echten Wissensfortschritt zu den modernen Regionalsprachen zu erzielen. Das Korpus „Deutsch heute“ Das Korpus „Deutsch heute“ wurde am Institut für Deutsche Sprache, Mannheim, im Rahmen des Projekts „Variation des gesprochenen Deutsch – Standardsprache und regionale Gebrauchsstandards“ von Ende 2006 bis Anfang 2009 erhoben. Es besteht aus Aufnahmen, die an 192 Orten im gesamten zusammenhängenden deutschsprachigen Raum Europas (Deutschland, Österreich, Schweiz, Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien, Südtirol; vgl. die Karte in Abbildung 3–1) angefertigt wurden. Informanten waren je zwei Oberstufenschülerinnen und -schüler (Alter 16–20 Jahre), die orts- bzw. regionenfest sein sollten. Insgesamt wurden 671 junge Informanten aufgezeichnet. An der Hälfte der Orte wurden zusätzlich je ein Mann und eine Frau (insgesamt 158 Informanten, die über die Volkshochschulen vermittelt wurden) berücksichtigt, die zwischen 50 und 60 Jahren alt waren. Mit diesen Informanten wurden verschiedene Aufnahmen, bei denen sich die Sprecher unterschiedlich eng am Standarddeutschen orientieren sollten, angefertigt. Es handelt sich um verschiedene Vorlesetexte (z.B. „Nordwind und Sonne“), Übersetzungsaufgaben, Bildbeschreibungen, Wortlisten, ein Interview und eine Map Task. Bei den Analysen der in verschiedener Form aufbereiteten Daten konzentriert man sich primär auf die phonetische Ebene, während lexikalische und morpho-syntaktische Aspekte nur nachrangig behandelt werden. Als zentrale Fragestellungen des Projekts werden die Folgenden genannt: – –

– –

Wie wird heute im deutschsprachigen Raum Standardsprache gesprochen? Ist die Standardsprache, die wir tagtäglich um uns herum hören, immer noch regional differenziert oder hat sich bereits eine überregionale einheitliche Standardsprache herausgebildet? Wie ist die gesprochene Standardsprache in den verschiedenen deutschsprachigen Ländern und Regionen ausgeprägt? Welche Unterschiede zeigen sich beim Vergleich zwischen Vorlese- und Spontansprache?

62 –

Forschungsstand

Entspricht die deutsche Sprache, wie sie in Grammatiken und Wörterbüchern beschrieben ist, eigentlich der gesprochenen Realität?62

Abb. 3–1: Erhebungsorte des „Deutsch heute“-Korpus (graue Punkte verweisen auf Erhebungen in Gymnasien, dunkle Quadrate auf Erhebungen in Volkshochschulen; vgl.die Farbkarte (Stand: 04.07.2012))

Vergleicht man die Anlage der Datenerhebung zum „Deutsch heute“-Korpus mit dem Resümee, das aus den Ausführungen zum Forschungsstand gezogen wurde, zeigt sich, dass die meisten der dort genannten „Qualitätskriterien“ erfüllt sind. 62 Diese Liste ist der Projektskizze auf den Internetseiten des IDS entnommen (vgl. (Stand: 04.07.2012)), weitere Projektbeschreibungen finden sich in BRINCKMANN [u. a.] 2008 und zuletzt KLEINER 2010.

Entwicklung von Methoden und Interpretationsansätzen

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Erstens wurden Sprechergruppen herangezogen, für die so viele außersprachliche Faktoren konstant gehalten wurden, wie es für die Größe des Untersuchungsgebiets möglich ist. Darunter finden sich auch die als besonders wichtig erachteten Faktoren Ortsfestigkeit, schulische Qualifikation und Alter. Zweitens wurden die Standardkompetenz und die standardorientierte Sprachverwendung der Informanten mit einer Vielzahl unterschiedlicher Methoden erhoben. Diese Methoden sind so weit standardisiert, dass sie zu vergleichbaren Daten im gesamten Untersuchungsgebiet führen. Hinsichtlich des individuellen Möglichkeitsraums der Informanten fehlen zwar Sprachdaten zur aktiven Dialektkompetenz, dieser Aspekt ist aber vor dem Hintergrund der Fragestellungen, die in dem Projekt verfolgt werden, nachrangig. Erste Analysen mit dem Gesamtmaterial hat STEFAN KLEINER zur Verwendung des Suffixes -ig durchgeführt (vgl. KLEINER 2010) und beweist damit, welchen Erkenntniswert ein solches, relativ homogenes Korpus an Sprachdaten für lange ungeklärte Fragen hinsichtlich der gesprochenen Standardsprache birgt. Auch der Umstand, dass einzelne der Erhebungssituationen in den anderen laufenden Studien in vergleichbarer Weise betrachtet werden, trägt dazu bei, dass der absehbare Gesamterkenntnisfortschritt beträchtlich sein wird. Die Analysen zur Untersuchungsregion Waldshut-Tiengen in Kapitel 6 der vorliegenden Arbeit werden dies deutlich belegen. Das Projekt „Sprachvariation in Norddeutschland“ (SiN) Bei dem Projekt „Sprachvariation in Norddeutschland“ handelt es sich um ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft als Verbundprojekt gefördertes Vorhaben, das seit 2007 an sechs Standorten im niederdeutschen Sprachraum durchgeführt wird. Die Projektstandorte und die jeweils verantwortlichen Leiter sind Kiel (MICHAEL ELMENTALER), Hamburg (INGRID SCHRÖDER), Münster (JÜRGEN MACHA), Bielefeld (JAN WIRRER), Potsdam (JOACHIM GESSINGER) und Frankfurt/Oder (PETER ROSENBERG). Mit dem Ziel einer „Synopse der sprachlichen Variation und der aktuellen regionalsprachlichen Entwicklungsprozesse im gesamten niederdeutschen Sprachraum“ (ELMENTALER [u. a.] 2006, 159) wurden Daten an insgesamt 36 Orten in Norddeutschland erhoben. Der Auswahl der Orte wurde eine strukturelle Einteilung des Niederdeutschen in 18 Teilregionen (vor allem auf Basis der umfangreichen Beschreibung des Niederdeutschen von FOERSTE 1978 [1957]) zugrundegelegt. In jeder dieser Regionen wurden Aufnahmen an zwei Orten und mit jeweils vier Sprecherinnen im Alter zwischen 40 und 55 Jahren gemacht. Bei der Auswahl der Informantinnen wurde, um den im Niederdeutschen herrschenden regionalsprachlichen Bedingungen gerecht zu werden, der Faktor Dialektkompetenz gezielt variiert, indem je zwei dialektkompetente und zwei nicht dialektkompetente Sprecherinnen aufgezeichnet wurden.

64

Forschungsstand

Abb. 3–2: Erhebungsregionen und Erhebungsorte des Projekts „Sprachvariation in Norddeutschland“ (SCHRÖDER / ELMENTALER 2009, 44)

Auch in diesem Projekt wurden, um den variativen Sprachgebrauch der Informantinnen kontrolliert beobachten zu können, Aufnahmen in unterschiedlichen, aber möglichst standardisierten Situationen durchgeführt: – –



– – –

Zur Erhebung der Dialektkompetenz mussten die Sprecherinnen die Wenkersätze in den jeweiligen Ortsdialekt übertragen. „Freies Sprechen (Erzählung/Bericht) im Dialekt“ zu einem selbst gewählten Thema, womit der intendierte Dialekt erhoben werden sollte, „ohne durch Übersetzungsprobleme beeinträchtigt zu werden“ (SCHRÖDER / ELMENTALER 2009, 44). Ein sogenanntes „Familiengespräch“, also eine informelle Unterhaltung mit vertrauten Gesprächspartnern und in vertrauter Umgebung, bei dem kein Explorator anwesend war. Ein leitfadengesteuertes Interview, mit dem sowohl das Sprachverhalten in einer formalen Situation als auch (sprach)biografische Daten erhoben wurden. Verschiedene Lesetexte, unter anderem die Fabel „Nordwind und Sonne“, mit denen die Standardkompetenz der Sprecherinnen erhoben werden sollte. Vier Tests zur Wahrnehmung und Bewertung regionalsprachlicher Merkmale (Salienztest, Situativitätstest, Normativitätstest und Arealitätstest).

Entwicklung von Methoden und Interpretationsansätzen

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Die Auswertung der Daten, deren Erhebung 2010 abgeschlossen wurde, erfolgt in drei Teilprojekten, die sich „arealen Differenzen in der norddeutschen Alltagssprache“ (= Teilprojekt 1), „individuelle[n] Aspekte[n] der Sprachvariation: Sprachlagen und Sprachbewegungen“ (= Teilprojekt 2) sowie „Spracherfahrungen, Sprachwissen, Spracheinstellungen“ (= Teilprojekt 3) widmen. Für die vorliegende Untersuchung sind vor allem die ersten beiden Teilprojekte von Interesse. Bedingt durch die besonderen Voraussetzungen im Niederdeutschen, die häufig als „Mehrsprachigkeit“ bezeichnet werden, geht es dabei unter anderem um die Fragen, wie sich die niederdeutschen Dialekte seit der „Überdachung“ durch die fremde, hochdeutsche Schriftsprache entwickelt haben, welche „hochdeutschen Interferenzen“ im Niederdeutschen zu beobachten sind und welche standardabweichenden Merkmale in den „hochdeutsch basierten Stichproben“ vorkommen. Wegen des mit einer Bilingualismus-Situation vergleichbaren Verhältnisses zwischen den niederdeutschen Dialekten und der Standardsprache wird weiterhin untersucht, ob sich überhaupt ein Regiolekt als Zwischenbereich ausgebaut hat bzw., welche Arten von Sprechlagen, die als „Situalekte“ konzeptualisiert werden, sich nachweisen lassen. Diese Fragestellungen werden mit den Methoden Variablenanalyse und Messung des phonetischen Abstands von der Standardsprache (Dialektalitätsmessung) bearbeitet. Erste Ergebnisse zu einzelnen Aspekten der genannten Fragestellungen wurden von WILCKEN (2006), ELMENTALER (2009), ELMENTALER / GESSINGER / WIRRER (2010) sowie HETTLER / KÖNIG / LANWER (2011) vorgelegt. Darauf wird bei der Beschreibung der in der vorliegenden Untersuchung durchgeführten Analysen in Kapitel 7.4 eingegangen. Am Ende des Projektes soll unter anderem ein „SiN-Sprachatlas“ entstehen, in dem „die jeweiligen Anteile der niederdeutschen Interferenzen auf Punktsymbolkarten dargestellt [werden] [...]. Für jede quantifizierte Variable wird eine Situalektkarte erstellt, die das Vorkommen und die Häufigkeit der Substandardvarianten dokumentiert“ (SCHRÖDER / ELMENTALER 2009, 53). Für die dialektalen Daten aus den Wenkersatzübertragungen, den Dialekterzählungen und Familiengesprächen wird auf den Karten der „hochdeutsche[...] Einfluss[...]“ gekennzeichnet sein. Auch für dieses Projekt zeigt der Vergleich mit den aus dem Forschungsüberblick abgeleiteten Qualitätskriterien, dass diese in idealer Weise umgesetzt wurden. Untersucht wird eine klar definierte Sprechergruppe, wobei außer dem Faktor „Ort“ auch die Variable „Dialektkompetenz“ systematisch variiert wird, während alle anderen außersprachlichen Variablen konstant gehalten werden. Alle Informantinnen werden in standardisierten und somit vergleichbaren Erhebungssituationen aufgezeichnet, wobei durch die Auswahl der einzelnen Erhebungseinheiten sogar ein direkter Vergleich in Echtzeitdiachronie möglich ist: Die Abfrage der Wenkersätze lässt den Bezug auf GEORG WENKERS vollständige Erhebung der deutschen Dialekte Ende des 19. Jahrhunderts zu und die freien Erzählungen sind mit den Aufnahmen aus dem Zwirner-Korpus vergleichbar. Die Vorlage der Fabel „Nordwind und Sonne“ schließlich wurde auch im IDS-Projekt zum „Deutsch heute“-Korpus und im REDE-Projekt, das im Folgenden beschrieben wird, zur

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Forschungsstand

Erhebung der Vorlesesprache verwendet, sodass auch diese Daten direkt aufeinander bezogen werden können. Das Projekt „Regionalsprache.de“ (REDE) Das Projekt „Regionalsprache.de“ (REDE) wird unter Federführung des Forschungszentrums Deutscher Sprachatlas (Projektleitung JÜRGEN ERICH SCHMIDT und JOACHIM HERRGEN) seit 1. Januar 2008 für insgesamt 19 Jahre von Bund und Ländern durch die Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz gefördert. Das übergeordnete Ziel des Gesamtprojekts ist die erstmalige systematische Erschließung der modernen Regionalsprachen des Deutschen in Deutschland.63 Dabei lassen sich zwei Teilziele differenzieren: Das erste Teilziel ist der Aufbau eines forschungszentrierten Informationssystems zu den modernen Regionalsprachen des Deutschen, in dem die bisher vorliegenden immensen Datenbestände dialektologischer, soziolinguistischer und variationslinguistischer Projekte (insbesondere Karten, Tonaufnahmen, bibliografische Informationen) der Forschung für systematische vergleichende Analysen und der Öffentlichkeit als Informationsquelle zur Verfügung stehen. Dieses Informationssystem wird auf den Inhalten des bestehenden Online-Systems „Digitaler Wenker-Atlas“ (DiWA) aufgebaut. Durch die Erschließung der Daten über verschiedene Register (phonetisch-phonologisches, morphologisches, historisches Register) werden sie direkt aufeinander beziehbar und dadurch werden völlig neue Analysemöglichkeiten eröffnet. Ein langfristiges Ziel besteht außerdem darin, kartierte Daten als Datenbankeinträge zu erfassen und somit automatische Vergleiche mit dem Ergebnis einer Differenzkarte durchführen zu können. Unter das zweite Teilziel fällt die Ersterhebung und Analyse der variationslinguistischen Struktur und Dynamik der modernen Regionalsprachen des Deutschen. Zu diesem Zweck wird der Variationsraum, der die modernen Regionalsprachen kennzeichnet und der durch die Elemente „Regionalakzent“ (standardnächster Pol), „Dialekt“ (standardfernster Pol) und ein intermediäres Varietätengefüge konstituiert wird, an 150 Orten in Deutschland erhoben und analysiert. Dabei orientiert sich das Projekt an den oben formulierten Desiderata und Qualitätskriterien, aus denen ein klares Forschungsprogramm abgeleitet wurde. Da die vorliegende Untersuchung und die Entwicklung dieses REDE-Teils eng verknüpft sind, wird hier auf die Ausführungen zur Anlage der empirischen Untersuchung in Kapitel 4.2 verwiesen. Dort wird sich zeigen, dass auch bei dieser Untersuchungsanlage die Erkenntnisse aus den bisherigen Studien systematisch berücksichtigt wurden. Indem sowohl bei der Standard- als auch bei der Dialektkompetenzerhebung die Übertragung der Wenkersätze zugrunde gelegt wird, sind nicht nur diachrone Vergleiche für die Dialekte, sondern auch Vergleiche in der vertikalen Dimension anhand von praktisch identischem Material möglich. Die Erhebung der 63 Die Beschränkung auf die Bundesrepublik Deutschland resultiert daraus, dass in dem betreffenden Akademienprogramm nur auf Deutschland bezogene Forschungsprojekte gefördert werden. Ein Partnerprojekt wurde unter Leitung von HELEN CHRISTEN für die deutschsprachige Schweiz durchgeführt (vgl. CHRISTEN / GUNTHERN / HOVE / PETKOVA 2010).

Kenntnisstand und Hypothesen zur linguistischen Struktur der Vertikale

67

Vorlesesprache mit dem Nordwind-Text und die Durchführung eines formell gestalteten Interviews stellt darüber hinaus die direkte Vergleichbarkeit mit Daten sicher, die in den anderen beiden laufenden Großprojekten gesammelt wurden. Im REDE-Projekt werden die erhobenen Daten ausschnittsweise ௅ bzw. die Kompetenzerhebungen und der Vorlesetext vollständig ௅ phonetisch eng und vollständig normorthografisch transkribiert. Letztere orthografische Transkription bildet die Grundlage für die datenbankbasierte automatische Erzeugung einer orthoepischen Umschrift zur phonematischen Erschließung des Korpus. Alle Aufbereitungen sowie auch die zugrundeliegenden Daten werden ௅ sofern die Zustimmung der Informanten vorliegt ௅ in das im ersten Projektteil aufgebaute „Informationssystem Sprachgeografie“ (ISSG) integriert.64 Das Korpus wird zunächst mit den variationslinguistischen Methoden Variablenanalyse und Messung des phonetischen Abstands von der Standardsprache ausgewertet. Weitere Analysen, z. B. perzeptionslinguistische Experimente, sowie die Anwendung statistischer Tests, z. B. Clusteranalysen, werden zu einem späteren Zeitpunkt ergänzt. Aus den Ausführungen zum Stand der Forschung und durch den Vergleich der drei laufenden Projekte geht Folgendes klar hervor: Keine Einzelperson und auch kein noch so groß angelegtes Forschungsprojekt, kann eine vollständige Beschreibung der Regionalsprachen des Deutschen leisten. Die vorliegende Arbeit wird daher an einzelnen Stellen zeigen, dass durch die Verwendung standardisierter Methoden bei der Datenerhebung und -analyse in den laufenden Projekten eine Teildeckung der Untersuchungsgegenstände hergestellt wird und daher die Korpora und die Ergebnisse systematisch aufeinander bezogen werden können, sodass sich in der Summe ein umfassendes Bild der regionalsprachlichen Verhältnisse ergibt. 3.2 KENNTNISSTAND UND HYPOTHESEN ZUR LINGUISTISCHEN STRUKTUR DER VERTIKALE Aufgrund des Fehlens standardisierter Methoden, das ausführlich beschrieben wurde, und der lediglich eingeschränkten Vergleichbarkeit einzelner Studien existiert hinsichtlich der Strukturen der regionalsprachlichen Spektren nur wenig gesichertes Wissen. Mit Bezug auf die horizontale Dimension ist ein Aspekt auszumachen, über den man sich in den verschiedenen Ansätzen zur Erforschung regionaler Sprachvariation relativ einig ist. Dabei handelt es sich um großregionale Unterschiede zwischen den an der Standardsprache orientierten Sprechlagen. Für diese wird im Allgemeinen angenommen, dass hinsichtlich ihres Abstandes zur Aussprachenorm, ihrer dialektalen Prägung also, ein Nord-Süd-Gefälle zu beobachten sein müsste, da die kodifizierte Aussprache ja wesentlich auf eine nord64 Diese Datenbankintegration, mit der eine Publikation einhergeht, ist für die Notrufannahmegespräche aus den in Fußnote 73 genannten Gründen nicht möglich.

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Forschungsstand

deutsch geprägte mündliche Umsetzung der Schriftsprache zurückgeht (vgl. oben, Kapitel 2.1). Gleichzeitig sei wegen der spezifischen historischen Entwicklung der jeweiligen Varietäten der Abstand zwischen gesprochener Schriftsprache und den alten Dialekten im niederdeutschen Sprachraum so groß, dass praktisch keine Beeinflussung zwischen beiden Varietäten stattfinden könne. WERNER KÖNIG hat diesen großregionalen Unterschied zwischen Norden und Süden des Sprachgebietes in der folgenden, bekannten Grafik zusammengefasst.

Abb. 3–3: Das Verhältnis von Standardsprache, regionalen Umgangssprachen und Dialekten im Deutschen (nach KÖNIG 2007, 134)65

Es geht um die Bereiche in der Grafik, die mit B (hier: Regionale Umgangssprachen) beschriftet sind. Diese entfernen sich von Norden nach Süden kontinuierlich von C (hier: Standardsprache/Hochsprache/Schriftsprache). ANETTE HUESMANN kommt in ihrer 1998 publizierten Fragebogenuntersuchung „zur Soziolinguistik des Varietätenspektrums im Deutschen“, in der Informanten in je sechs deutschen Städten und kleineren Gemeinden der sechs großen Dialektregionen Angaben zu ihrer Sprachverwendung und ihrer Einschätzung der Sprachverwendung am Ort machen sollten, zu einem vergleichbaren Ergebnis: Die Teilhypothese 1a, daß die Sprachlagen im Süden Deutschlands dialektaler sind als im Norden, ist im vollen Umfang anzunehmen. Das Ergebnis kann dahingehend präzisiert werden, daß sowohl die Hochdeutschkompetenz als auch die Dialektkompetenz dialektaler geprägt ist, je weiter im Süden des Landes die Daten erhoben wurden. (HUESMANN 1998, 124; Fettdruck im Original)

65 Eine ähnliche Darstellung zur Lage der „Umgangssprachen“ zwischen den Polen Dialekt und Standardsprache findet sich in EICHHOFF (1977, 11).

Kenntnisstand und Hypothesen zur linguistischen Struktur der Vertikale

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Hinsichtlich der Lexik kann auch MÖLLER (2003) aufgrund seiner dialektometrischen Analysen von EICHHOFFS „Wortatlas der deutschen Umgangssprachen“ (EICHHOFF 1977–2000) einen systematischen Nord-Süd-Unterschied nachweisen. Dieser besteht hinsichtlich der „mittleren Reichweite“ lexikalischer Varianten. Danach ist „die alltagssprachliche Lexik [...] im Süden [...] insgesamt kleinräumiger differenziert als im Norden, wo die Reichweite größer ist“ (MÖLLER 2003, 266). Dieses Bild spiegelt sich dann auch in der Gesamtgliederung des Raumes wider, die durch eine Clusterung der Ähnlichkeitsbeziehungen ermittelt werden kann (vgl. MÖLLER 2003, 285–291). Gleichzeitig ist aber für den umgangssprachlichen Wortschatz ein Ost-West-Gegensatz, und zwar eine „deutlich geringere lexikalische Distanz zwischen ostnd./ostmd. Mundarten und gemeinsprachlichem Standard“ (MÜLLER 1980, 130) nachweisbar. Da außer für die Lexik der Umgangs- bzw. Alltagssprache den Hypothesen zu großregionalen Unterschieden in der regionalsprachlichen Prägung einzelner Sprechlagen keine Analysen von vergleichbarem Sprachmaterial – HUESMANN hat ja mit subjektiven Daten gearbeitet – zugrunde liegen, werden zukünftige Studien diese Hypothesen zu überprüfen haben. Für den vertikalen Bereich unterhalb der Standardsprache wird angenommen, dass sich in den einzelnen Regionalsprachen unterschiedliche vertikale Strukturen entwickelt haben, Dialekt und Standardvarietät unterschiedlich stark interferieren. Dies ist dadurch bedingt, dass, wie gezeigt wurde, die neuhochdeutsche Schriftsprache, ihre Oralisierungsnormen und die Dialekte der verschiedenen Regionen des deutschen Sprachraums sprachhistorisch bedingt in je unterschiedlichen Verhältnissen zueinander stehen. SCHMIDT (1998) stellt zusammenfassend vier bzw. fünf unterschiedliche regionalsprachliche Register66 einander gegenüber und betrachtet sie als mögliche Stadien einer diachronen Entwicklung, die in verschiedenen Regionen des Sprachgebietes unterschiedlich weit fortgeschritten ist. Danach wird für den Südwesten des Sprachgebiets, die deutschsprachige Schweiz, eine nach wie vor stabile Diglossie-Situation angenommen, in der die vorwiegend mündlich gebrauchten Dialekte der vorwiegend schriftlich gebrauchten Standardsprache gegenüberstehen.67 Die (durch das Medium gesteuerte) Diglossie wird gegenüber Fremden zuweilen aufgegeben, indem mit solchen Personen das Schweizer Standarddeutsch gesprochen wird. Diglossie ist auch bei bestimmten Sprechergruppen des Niederdeutschen zu beobachten, und zwar bei solchen, die 66 Ähnliche Typologien finden sich bei MIHM (2000), AMMON (2003), AUER (2005) und SPIEKERMANN (2005). 67 Diese Annahme einer Diglossie von Dialekt und Standardsprache ist allerdings nicht absolut zu sehen: Ein Ergebnis der in Kapitel 3.1 präsentierten Studie von WOLFENSBERGER (1967) war ja, dass Veränderungen auf Dialektebene hin zur „Groß-Mundart“ erkennbar seien. Auch STEGER weist mit Bezug auf KELLER (1973) und MUNSKE (1983) darauf hin, dass in der Schweiz „k a n t o n a l e Diasysteme [...] entstanden sind, die sich von den O r t s m u n d a r t e n entfernen [...], aber einen ebenso deutlichen Abstand zur Standardsprache halten“ (STEGER 1984, 254; Sperrung im Original). Ähnlich sieht SCHMIDT in seiner Darstellung „regionaldialektale Tendenzen“ in der deutschsprachigen Schweiz vor (vgl. unten, Abbildung 3–4).

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Forschungsstand

den alten Dialekt noch beherrschen. Für den bairischen Sprachraum ließen sich zwischen den Basisdialekten und der Standardsprache bis zu vier weitere „natürliche Schichten gesprochener Sprache“ (WIESINGER 1997, 30) beobachten. Diese bildeten „zwar insgesamt ein Kontinuum mit fließenden Übergängen [..., fungieren] aber durch die ‚charakteristische [...] Verwendung bestimmter Sprachformen‘ als ‚gesellschaftliche Gebrauchsnormen‘“ (SCHMIDT 1998, 169). Gegenüber der Schweiz treten vor allem ein Verkehrsdialekt der „mobilen mittleren und jüngeren Generation der Landbevölkerung“ (WIESINGER 1992, 292) und eine (regionale) Umgangssprache als „Alltagssprache der mittleren und höheren städtischen Sozialschichten“ (SCHMIDT 1998, 170) zu den alten Basisdialekten und der Standardsprache hinzu. Diese Definition der „Schichten gesprochener Sprache“ deutet nach der Sprachdynamiktheorie auf den Status von Sprechlagen, nicht von Varietäten hin. In städtisch geprägten Regionen des Westmitteldeutschen zeige sich nun im Vergleich zur deutschsprachigen Schweiz und dem ostoberdeutschen Raum ein wesentlicher Unterschied dahingehend, dass die klare Unterscheidbarkeit verschiedener Varietäten oder sprachlicher Schichten nicht mehr gegeben ist. BELLMANN (1983) spricht in diesem Zusammenhang von einer „Entdiglossierung“, die in einem breiten sprachlichen Kontinuum zwischen den alten Basisdialekten und der Standardsprache resultiere. Für diesen mittleren Bereich, in dem für bestimmte Sprecher bereits die sprachliche Primärsozialisation erfolgt, schlägt er als Terminus „Neuer Substandard“ vor. Wie LENZ (2003) in ihrer Arbeit, die nach SCHMIDTS Zusammenfassung erschienen ist, gezeigt hat, entwickelt sich in ihrer westmitteldeutschen Untersuchungsregion tatsächlich ein substandardsprachliches Variantenkontinuum (vgl. auch Kapitel 5). Innerhalb des Gesamtbereichs zwischen Dialekt und Standardsprache lässt sich aber eine klare Struktur aus Sprechlagen und Varietäten herausarbeiten. Am Beispiel des Ruhrgebiets bzw., noch einen Schritt weiter, am Beispiel nicht dialektkompetenter Sprecher in Norddeutschland beschreibt SCHMIDT eine weitere mögliche Struktur regionalsprachlicher Register. Hier spielen „die Dialekte in der wahrnehmbaren Sprachrealität keine Rolle mehr“, wobei in Norddeutschland „das Niederdeutsche als historisch eigenständige Sprache aber fest im Sprecherbewußtsein verankert ist“ (SCHMIDT 1998, 172). Dies treffe auf das Ruhrgebiet nicht (mehr) zu. Hinsichtlich des Status des Ruhrdeutschen als eigenständiger und gegenüber einer regional gefärbten Standardsprache abgrenzbarer Varietät oder als individuell strukturiertes Standard-Substandard-Kontinuum herrsche keine Einigkeit.68 Abbildung 3–4 stellt die genannten regionalsprachlichen Spektren modellhaft einander gegenüber.

68 Zum Ruhrdeutschen vgl. SCHOLTEN 1988, WEIGT 1989, MIHM 1997, MENGE 1997, SALEWSKI 1998.

Kenntnisstand und Hypothesen zur linguistischen Struktur der Vertikale

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Abb. 3–4: Strukturen regionalsprachlicher Spektren des Deutschen nach SCHMIDT (1998) ergänzt um LENZ (2003)

Der Vergleich der Modelle macht deutlich, warum SCHMIDT sie als mögliche Stadien einer Entwicklung betrachtet: Nachdem, wie oben ausführlich dargestellt, die Einführung der neuhochdeutschen Schriftsprache sowie die spätere Einführung und massenmediale Verbreitung einer norddeutsch geprägten Aussprachenorm das Deutsche (prinzipiell) zu einer „Dreivarietätensprache“ haben werden lassen, handelt es sich bei den Weiterentwicklungen um einen Umbau, bis hin zum vollständigen Abbau der alten Basisdialekte: [...] beginnende Variabilisierung von Basisdialekten hin zu Regionaldialekten – Entwicklung von Substandardvarietäten zwischen Dialekt und Standardsprache – Auflösung dieser Varietäten zu einem sprechsprachlichen Substandardkontinuum – beginnende Entvariabilisierung durch Wegfall der dialektalen Basis – und schließlich: standardsprechsprachliche „Monoglossie“ mit symbolisch-sozialdeiktischer Variation von wenigen Substandardmerkmalen. (SCHMIDT 1998, 174)

Diese Prozesse ergeben sich unter anderem aus der immer größer werdenden Mobilität der Gesellschaft und der nicht zuletzt damit verbundenen massiven Veränderung der kommunikativen Aufgaben, die im Alltag bewältigt werden müssen. Menschen, die sprachlich rein lokal oder kleinregional handeln (können), gibt es heute praktisch nicht mehr. Ob sich Indizien dafür finden lassen, dass es sich bei den für die verschiedenen Regionen beschriebenen Dialekt-Standard-Konstellationen tatsächlich um Stadien eines relativ einheitlich verlaufenden übergeordneten Prozesses handelt, wird durch empirische Untersuchungen wie der vorliegenden zu überprüfen sein (vgl. dazu die Ergebnisdarstellung in Kapitel 9.3).

4. EIGENE EMPIRISCHE UNTERSUCHUNG 4.1 FORSCHUNGSFRAGEN Die vorliegende Untersuchung steht im Kern des zweiten Teilziels im Projekt „Regionalsprache.de“ (REDE). Für die Gegenstandsbereiche der vertikalen regionalsprachlichen Spektren und der standardnächsten Sprechlagen werden für eine Auswahl an Erhebungsorten Analysen durchgeführt und im diatopischen Vergleich aufeinander bezogen. Die Forschungsfragen, die sich formulieren lassen, werden im Folgenden entlang der drei wichtigsten Dimensionen zur Beschreibung der modernen Regionalsprachen entwickelt. Dabei handelt es sich um die Dimension des Sprachraums (= horizontale oder diatopische Dimension), die Dimension der Zeit (= diachrone Dimension) und die vertikale Dimension der regionalsprachlichen Spektren oder Register zwischen Dialekt und Standardsprache.69 Wenn man die modernen Regionalsprachen des Deutschen als horizontal und vertikal gestaffelte Varietätenverbände begreift, welche Ergebnis (nicht aber Endpunkt!) einer bestimmten historischen Entwicklung sind, muss es das Ziel ihrer Erforschung sein, jede Sprechweise eines Sprechers hinsichtlich der drei genannten Dimensionen zu jeder Sprechweise anderer Sprecher in Beziehung zu setzen. Im Mittelpunkt der vorliegenden Untersuchung stehen daher die folgenden Fragen:70 –







Welche Strukturen regionalsprachlicher Spektren (= vertikal gestaffelte Varietätengefüge) lassen sich als Makrostrukturen der jeweiligen Regionalsprachen ermitteln? Welche Unterschiede bestehen dabei zwischen den Dialektregionen? Hat also die dialektale Basis einen Einfluss auf die sprachdynamischen Prozesse, die zwischen Dialekt und Standardsprache ablaufen? Welche Sprechertypen/Repertoiretypen konstituieren die jeweiligen regionalsprachlichen Spektren? Wie variiert das Sprachverhalten von Sprechern in verschiedenen Situationen (Variantenwahl, Grad der Dialektalität), welche individuelle System- und Registerkompetenz lässt sich also jeweils nachweisen? Lassen sich die beobachtbaren Unterschiede hinsichtlich der System- und Registerkompetenz auf den Einfluss bestimmter Faktoren zurückführen (z. B. Alter, Bildung, private und berufliche Kommunikationsanforderungen, sprachliche Primärsozialisation)?

69 Weitere, grundsätzlich auch für Sprachvariation relevante außersprachliche Faktoren bleiben hier zunächst unberücksichtigt. 70 Weitere Fragestellungen und Aufgabenfelder der modernen Regionalsprachenforschung sind in SCHMIDT / HERRGEN (2011, 71–88) ausführlich dargestellt.

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Eigene empirische Untersuchung

Für den standardnächsten Bereich der behandelten Regionalsprachen, die Regionalakzente, werden darüber hinaus die folgenden Fragestellungen behandelt: –





Gibt es (nicht geschulte) Sprecher, welche der Oralisierungsnorm der Standardsprache so nah kommen, dass sie als Sprecher von „reinem Hochdeutsch“ wahrgenommen werden? Wie standardnah bzw. standardfern (also wie dialektal) sind die Regionalakzente in den verschiedenen Dialektregionen und wie standardnah/-fern (wie dialektal) werden sie wahrgenommen? Welche Typen von dialektalen/regionalsprachlichen Merkmalen bleiben bei größtmöglicher Annäherung an die Oralisierungsnorm der Standardsprache übrig (= die hier sogenannte „Restarealität“)?

Auf Basis aller Analysen wird schließlich versucht werden, übergeordnete Prinzipien vertikaler sprachdynamischer Prozesse abzuleiten, unter der Fragestellung: Wie lassen sich die sprachdynamischen Prozesse erklären, die wir beobachten können? 4.2 DATENERHEBUNG UND UNTERSUCHUNGSANLAGE In der vorliegenden Untersuchung und auch im REDE-Projekt wurden/werden für die Datenerhebung an jedem Erhebungsort mindestens vier Informanten vor allem nach den Kriterien Alter und Art der beruflichen Tätigkeit (manuell oder kommunikationsorientiert) ausgewählt. Insgesamt sind dadurch drei definierte Sprechergruppen berücksichtigt: – –



Ein Sprecher der Generation der über 65-Jährigen, der manuell tätig (gewesen) sein soll. Zwei Sprecher der Generation der 45- bis 55-Jährigen, die als Polizeibeamte in einer Notrufannahmestelle tätig sind, die also einen kommunikationsorientierten Beruf ausüben. Ein Sprecher der Generation der 18- bis 20-Jährigen,71 der einen höheren Schulabschluss haben bzw. anstreben soll. Die nachträglich ins REDE-Programm aufgenommene Berücksichtigung dieser Sprechergruppe ist auf die Ergebnisse zur Region Waldshut-Tiengen (vgl. unten, Kapitel 6.4.4) ausgelöst worden.

71 Nach KÜNZEL (1987) ist im Alter von ca. 18 Jahren die sogenannte Sprachprägephase abgeschlossen (vgl. auch KÖSTER 2001, 47). Das bedeutet unter anderem, dass sich die „erworbenen sprecherspezifischen Merkmale“ verfestigt haben: „Von besonderer Bedeutung ist hierbei der in der Umgebung des Menschen gesprochene Dialekt, insbesondere auch dann, wenn im Lauf der sog. Sprachprägephase, die ungefähr der Zeit des Schulbesuchs (bis ca. 18 Jahre) entspricht, längere Aufenthalte in verschiedenen Dialektumgebungen stattfanden“ (KÜNZEL 1987, 79). Aus diesem Grund wird im REDE-Projekt auf die Ortsfestigkeit aller Sprecher großen Wert gelegt.

Datenerhebung und Untersuchungsanlage

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Bei allen Sprechern wird zusätzlich vorausgesetzt, dass sie möglichst in zweiter Generation aus dem Ort bzw. der Kleinregion stammen und nicht über einen längeren Zeitraum in anderen Teilen des Sprachgebiets gelebt haben. Bei allen REDE-Informanten handelt es sich um Männer, ein Umstand, der sich daraus ergibt, dass in der hier berücksichtigten „mittleren Generation“ in den deutschen Notrufannahmestellen praktisch keine Frauen zu finden sind, sodass eine zusätzliche systematische Variation der Variable Geschlecht nicht möglich ist.72 Dadurch ergeben sich gleichzeitig aber Möglichkeiten, Partnerprojekte oder weiterführende Untersuchungen durchzuführen, in denen gezielt das Sprachverhalten von Frauen untersucht wird ௅ wie z. B. im oben beschriebenen SiN-Projekt. Um bei den Sprechern die situationsabhängige Sprachvariation zu beobachten, aus der sich mögliche strukturelle Unterschiede auf der vertikalen Dimension ableiten lassen, wird die Sprachverwendung der Informanten in insgesamt fünf bzw. sechs Situationen erhoben und analysiert: –





Übertragung der Wenkersätze in die individuell beste Standardsprache. Den Informanten werden dabei die Wenkersätze in einer dialektalen Version aus der Region vorgespielt und sie werden aufgefordert, den jeweils gesamten Satz oder kürzere Abschnitte auf der Grundlage von Hörverstehen in ihr „bestes Hochdeutsch“ zu übertragen. Diese Situation wird im Folgenden kurz als „Standardkompetenzerhebung“ bezeichnet. Lautes Vorlesen des Standardtextes „Nordwind und Sonne“ (im Folgenden kurz „Nordwind-Text“ oder „Vorlesetext“) zur Kontrolle der durch eine schriftliche Vorlage gesteuerten Aussprache des Standarddeutschen. Von den beiden Polizeibeamten werden Notrufannahmegespräche ausgewertet.73 Grundsätzlich handelt es sich bei dieser Situation um eine für die Informanten alltägliche Kommunikationssituation der Fernkommunikation mit Fremden. Dabei ist das linguistische Beobachterparadoxon nahezu vollständig überwunden, da die Aufzeichnungseinrichtung in Form eines Telefonhörers, Headsets oder Tischmikrofons elementarer Bestandteil der Situation ist. Die Beamten müssen sich außerdem vollständig auf die Inhalte der Gespräche konzentrieren. Der Sprachverwendung kann also nur ein Minimum an Aufmerksamkeit zukommen.74 Bei der Auswahl der Gespräche wird darauf ge-

72 Vgl. KEHREIN 2008, 136. 73 Die meisten Notrufgespräche wurden von 2004 bis 2007 im Rahmen des oben genannten Kooperationsprojekts zwischen dem Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas, dem Bundeskriminalamt und dem Institut für Deutsche Sprache erhoben. Die Verwendung der Notrufannahmegespräche unterliegt strengen datenschutzrechtlichen Auflagen. Diese verlangen insbesondere die Anonymisierung der Gespräche, indem alle personenbezogenen Daten gelöscht werden. Die Weitergabe oder die Publikation dieser Gespräche – auch in Teilen – im Informationssystem Sprechgeographie (ISSG) ist aus diesen Gründen auch ausgeschlossen. 74 Nach LABOVS „Prinzip der Aufmerksamkeit“ stellt der ideale Gegenstand soziolinguistischer Untersuchungen der sogenannte „zwanglose, vertraute Stil“ dar, bei dem der Sprachverwendung nur ein Minimum an Aufmerksamkeit zukommt. Dieser werde am ehesten innerhalb von peer-groups verwendet (vgl. v. a. LABOV 1978, 199–200). Eine ausführliche Behandlung

76







Eigene empirische Untersuchung

achtet, dass nur solche Gespräche in die Analyse eingehen, in denen der Anrufer nicht erkennbar aus der Region kommt, da die Polizeibeamten in solchen Fällen mitunter in standardfernere Sprechlagen wechseln. Dieses Shiften kann als Qualitätsmerkmal hinsichtlich der „Natürlichkeit“ der Gesprächssituation bewertet werden und vereinzelt geäußerte Befürchtungen zerstreuen, dass die Polizisten in den Notrufannahmegesprächen eine eigene Fachsprache oder einen speziellen Jargon („Polizeisprache“) verwendeten, was mit „natürlicheren“ Sprechweisen nicht vergleichbar sei. Mit allen Sprechern wird ein leitfadengesteuertes Interview zu ihrer Biografie und sprachlichen Sozialisation sowie zur Einschätzung ihrer Sprachkompetenz, Sprachverwendung und zu Einstellungsaspekten geführt. Das Interview wird von einem Explorator/einer Exploratorin des Forschungszentrums Deutscher Sprachatlas durchgeführt. Durch die Verwendung des Standarddeutschen und ein Auftreten als Vertreter/-in einer Forschungseinrichtung sowie durch die gut sichtbare Aufnahmeeinrichtung soll die Situation so gestaltet werden, dass sie von den Informanten als formelle Kommunikationssituation mit einem Sprecher, der hohes Sozialprestige hat, wahrgenommen wird. Dadurch soll das Anstreben des individuell „besten Hochdeutsch“ in einem freien Gespräch erreicht werden. Im Gegensatz zum formellen Interview werden die Informanten zusätzlich in einer möglichst informellen Situation, also bei der Sprachverwendung mit einheimischen Freunden (im Folgenden daher kurz „Freundesgespräch“) aufgezeichnet. Kriterien, durch die sich diese Aufnahmesituation auszeichnet, sind 1. selbst gewählte(r) Gesprächspartner, mit dem/denen 2. die standardfernste Sprechlage verwendet wird. Die Gespräche finden 3. in vertrauter Umgebung bei 4. Abwesenheit des Explorators statt. Um die Situation so wenig „beobachtet“ wie möglich zu gestalten, wird eine Aufnahmeeinheit verwendet, die so unsichtbar wie möglich ist: „Krawattenmikrofone“, die über eine Funkeinheit mit dem Aufnahmegerät verbunden sind. Letzteres kann dadurch in einem Nebenraum platziert werden und befindet sich somit nicht im Blickfeld der Gesprächsteilnehmer. Mit der Übertragung der Wenkersätze in den individuell tiefsten Dialekt wird schließlich noch die individuelle Kompetenz am standardfernsten Pol erhoben. In dieser Befragungssituation werden den Informanten die Wenkersätze in möglichst interferenzfreiem Standarddeutsch vorgesprochen und sie müssen von den Informanten ௅ wieder auf Basis von Hörverstehen ௅ in den individuell „tiefsten Dialekt“ übertragen werden. Im folgenden Text wird auf diese Situation mit „Dialektkompetenzerhebung“ referiert.

Der Analyse der regionalsprachlichen Spektren (= vertikale Dimension) werden Sprachdaten aus sieben Orten zugrunde gelegt. Die Auswahl der Orte erfolgte nach dialektologischen Kriterien: Für jede der wichtigsten Dialektregionen des Themas „Natürlichkeit von Gesprächssituationen“ und des Beobachterparadoxons findet sich in KEHREIN 2002, 159–163.

Datenerhebung und Untersuchungsanlage

77

(Westniederdeutsch, Ostniederdeutsch, Westmitteldeutsch, Ostmitteldeutsch, Ostfränkisch, Westoberdeutsch und Ostoberdeutsch) wurde ein Erhebungsort ausgewählt. Diese dialektgeografisch motivierte Auswahl ermöglicht es, den Einfluss der jeweiligen dialektalen Basis auf die linguistische Struktur der jeweiligen regionalsprachlichen Spektren zu analysieren und diatopische Vergleiche anzustellen. Die Erhebungsorte sind auf der Karte in Abbildung 4–1 in ihrer jeweiligen Dialektregion dargestellt.

Abb. 4–1: Erhebungsorte der vorliegenden Untersuchung in ihrer dialektgeografischen Umgebung

Zunächst erfolgt die „Eichung“ der REDE-Informanten an der bisher umfangreichsten Untersuchung zur Struktur des regionalsprachlichen Variationsspektrums der westmitteldeutschen Kleinregion um Wittlich (vgl. LENZ 2003). Dabei werden die Fragen im Vordergrund stehen, mit welchen der in der umfassenden Studie ermittelten Sprechertypen die REDE-Informanten vergleichbar sind, und ob sich die durch LENZ herausgearbeiteten sprachlichen Varianten und ihre Verteilung in den neu erhobenen Daten wiederfinden (Kapitel 5). Den Schwerpunkt des empirischen Teils der Arbeit bildet Kapitel 6: Es enthält eine REDE-Modellanalyse, in der die Sprache der Region um WaldshutTiengen im hochalemannischen Dialektverband über einen Zeitraum von 130 Jahren analysiert wird. Außer den Sprachdaten der REDE-Informanten werden für

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Eigene empirische Untersuchung

Waldshut-Tiengen Aufnahmen aus dem „Deutsch heute“-Korpus sowie weitere verfügbare Tondokumente, die seit den 1930er Jahren im deutschen Sprachraum erhoben wurden, berücksichtigt. Für alle Sprachdaten wurde der phonetische Abstand von der Standardsprache ermittelt. Die Größe dieses Korpusausschnitts beträgt 8 246 phonetisch eng transkribierte Wörter. An die mit vergleichbaren Methoden erhobenen Daten wurde darüber hinaus die Methode Variablenanalyse angelegt (insgesamt sieben REDE- und „Deutsch heute“-Informanten; Korpusgröße: 22 020 Wörter). Außerdem wurden mit einer Auswahl an Sprachproben Experimente zur Hörerurteil-Dialektalität durchgeführt. Die Kombination von apparenttime-Analysen und real-time-Analysen ergibt ein klares Gesamtbild von der rezenten sprachlichen Entwicklung in dieser Region. In Kapitel 7 wird die Perspektive auf die übrigen Dialektregionen ausgeweitet, um zu diatopischen Vergleichen der anhand des REDE-Korpus ermittelbaren regionalsprachlichen Register zu kommen. Für die Sprachdaten aus diesen Orten wurde die Messung des phonetischen Abstands vorgenommen. Die Datenbasis enthält insgesamt 31 146 phonetisch eng transkribierte Wörter. Wegen des immensen Aufwands einer vollständigen Variablenanalyse (für Waldshut-Tiengen hat dieser Arbeitsschritt etwa zwei Jahre in Anspruch genommen, in den meisten Arbeiten wird daher lediglich mit einer Auswahl von Variationsphänomenen gearbeitet), wurde die Auswertung für diese Orte weitgehend auf die Methode der phonetischen Abstandsmessung beschränkt, die – wie LAMELI 2004 gezeigt hat – durch die einheitliche Bezugsgröße Standardsprache direkte Vergleiche der Analyseergebnisse erlaubt. Zusätzlich wurde für diese Korpusausschnitte beschrieben, welche regionalsprachlichen Varianten von den Sprechern in den einzelnen Erhebungssituationen realisiert werden. Für den wichtigen, aber bisher weitgehend unerforschten Bereich der standardnächsten Sprechlagen und die damit zusammenhängenden Fragen hinsichtlich der Varietätengrenze zwischen Regiolekt und Standardsprache wurde anhand eines möglichst ausgewogenen Ortsnetzes ein diatopischer Vergleich der Vorleseaussprache von Polizeibeamten (= REDE-Informanten der mittleren Generation) vorgenommen. Außer der Auswertung der regionalsprachlichen Varianten, die in diesen Sprachproben (noch) enthalten sind, wurden sowohl die objektsprachliche als auch die wahrgenommene Dialektalität dieser Sprachproben ermittelt und verglichen. Die Ergebnisse werden in Kapitel 8 ausführlich vorgestellt. 4.3 ANALYSEMETHODEN 4.3.1 Phonetische Abstandsmessung (Dialektalitätsmessung) Bei der Dialektalitätsmessung geht es allgemein darum, die lautliche Differenz zweier Sprachproben, im Speziellen meist darum, „die phonetischen Abstände zur Standardsprache“ (HERRGEN / SCHMIDT 1989, 309; im Original gesperrt) zu be-

Analysemethoden

79

stimmen.75 Die Referenz für die Messung bilden grundsätzlich jeweils aktuelle Oralisierungsnormierungen in Aussprachewörterbüchern, wobei realisationsphonetische und koartikulatorische Erscheinungen bei der Messung nicht berücksichtigt werden. Für die Ermittlung der Dialektalität meiner Aufnahmen wende ich das Verfahren an, das von HERRGEN und SCHMIDT 1989 entwickelt und von LAMELI 2004 ergänzt wurde.76 Dieses Verfahren wurde gewählt, da es sich in zahlreichen variationslinguistischen Studien zum Deutschen bewährt hat und dadurch prinzipiell Vergleiche mit diesen Studien möglich sind. Die Methode lässt sich grob wie folgt skizzieren: Jedes phonetische Segment kann mit einer begrenzten Anzahl artikulatorischer Merkmale beschrieben werden. Für jede Abweichung einzelner Segmente einer Sprachprobe von der Aussprachenorm werden nun Punkte vergeben. Dabei gilt: Abweichungen, die mit Diakritika notiert werden, erhalten einen halben Punkt, andere einen Punkt je Abweichungsschritt. Für Vokale und Konsonanten gelten dabei die folgenden spezifischen Regeln: 1. Vokale Zur Erläuterung der Messmethode für Vokale lege ich LAMELIS dreidimensionale Umsetzung des IPA-Vokaltrapezes zugrunde. Für Vokale werden danach Stufen (y-Achse, Öffnungsgrad) und Klassen (x-Achse, horizontale Zungenlage, und zAchse, Rundung) unterschieden.

Abb. 4–2: Dreidimensionale Umsetzung des Vokaltrapezes als Messgrundlage (nach LAMELI 2004, 68)

Bei der hier vorliegenden Grafik handelt es sich um „eine symmetrische Darstellung, die die Mehrdimensionalität der zu messenden artikulatorischen Prozesse pointiert“ (LAMELI 2004, 68). Jede Differenz zwischen einem standardsprachlichen Allophon und der korrespondierenden regionalsprachlichen Variante kann somit in Form eines Vektors dargestellt werden. Dabei gilt: 75 In einem Fall wurde das Verfahren auch angewandt, um phonetische Abstände zwischen verschiedenen Dialekten zu messen (vgl. SCHMITT 1992). 76 Das Verfahren wird ausführlich in HERRGEN / SCHMIDT 1989, HERRGEN / LAMELI / RABANUS / SCHMIDT 2001 sowie in LAMELI 2004 vorgestellt.

80

Eigene empirische Untersuchung Für Unterschiede von einer Klasse oder einer Stufe wird 1 Punkt vergeben (z. B. ٪Ύ٫ vs. ٪ӕ٫, ٪Ų٫ vs. ٪ŵ٫, ٪ɗ٫ vs. ٪ֆ٫). Eine Besonderheit auf halber Höhe der beiden oberen horizontalen Stufen bilden die ‫ڈ‬ɗ‫ڈ‬, ‫ڈ‬ֆ‫ ڈ‬und ‫ڈ‬ӕ‫ ڈ‬Allophone ٪ʏ٫, ٪֦٫ und ٪Ԃ٫. Im internationalen IPA-Schema sind diese Laute leicht zentralisiert, bei deutschen Sprechern variieren die Vokalqualitäten zwischen einer zentralisierteren und einer äußeren Position [...]. In der Messung werden die Laute unter die äußeren Vokale subsumiert. Gemessen wird von den benachbarten oberen und unteren Vokalen aus mit je 0,5 Punkten. Dasselbe gilt für überoffenes ٪_٫ (٪Ų٫ vs. ٪_٫ = 0,5 Punkte). In gleicher Weise werden tendenzielle, durch Diakritika gekennzeichnete Differenzen (٪Ύܳ٫ vs. ٪ӕ٫, ٪ɗ ‫ܣ‬٫ vs. ٪ֆ٫) mit 0,5 Punkten berechnet. (LAMELI 2004, 69)

Für die Gesamtdifferenz zwischen zwei Vokalen können höchstens 3 Punkte vergeben werden. Die Notwendigkeit einer solchen Höchstgrenze, die es auch bei den Konsonanten gibt, begründen HERRGEN / SCHMIDT aus Fällen, in denen einem standardsprachlichen Segment kein dialektales entspricht („Fälle wie ٪͑Ύٝ́٫ ‚Nadel‘, ٪Ƹӕٝ́٫ ‚Vogel‘ oder ٪ȍӕٝ٫ ‚hoch‘“ (HERRGEN / SCHMIDT 1989, 311)). Hier sei ein realistischer Maximalwert für die Abweichung anzusetzen, der aus Punktwerten, „die im Korpus tatsächlich mit einer gewissen Häufigkeit erreicht werden“ (HERRGEN / SCHMIDT 1989, 311), abgeleitet wird. Das Vokalphonem ‫ ڈژڈ‬stellt für das Deutsche einen Sonderfall dar, denn man geht für das Standarddeutsche grundsätzlich von einer Mittelposition der Allophone aus.77 Diese kann in Dialekten jeweils tendenziell mehr velar oder mehr palatal ausfallen. Realisierungen, die den Kardinalvokalen nahe kommen, sind für das Standarddeutsche nicht anzusetzen. Darüber hinaus wird für ‫ڈژڈ‬-Allophone im Deutschen Rundungsneutralität akzeptiert (vgl. LAMELI 2004, 70, der auf KOHLER 1995 und NEPPERT 1999 verweist). Aus diesem Grund werden Differenzen von ‫ڈژڈ‬, außer bei deutlicher Verdumpfung oder deutlicher Palatalität (z. B. „Hamburger ‫)“ڈڈ‬, meist nur in Form von Stufenunterschieden (y-Achse, Öffnungsgrad) gemessen. Für Diphthonge gilt, dass Abweichungen einzelner Komponenten analog zu den Monophthongen behandelt werden. Als Höchstwert für den gesamten Diphthong werden allerdings ebenfalls 3 Punkte festgelegt. Dieser Wert wird auch bei der Differenz Monophthong vs. Diphthong (und umgekehrt) festgesetzt. Für die drei standardsprachlichen Diphthongphoneme werden die Allophone ٪‫ۅژ‬ľ٫, ٪‫ۅژ‬Ύ٫, ٪Þ‫ۅ‬ο٫ zugrunde gelegt, wobei grundsätzlich nur auditiv sicher identifizierbare Abweichungen gemessen werden. Nasalität wird, obwohl es mit einem Diakritikum notiert wird, mit 1 Punkt gewertet. Ebenso wird die Abweichung in der Quantität behandelt. Diese wird also als segmentelle vokalische Eigenschaft zusätzlich zu den Klassen und Stufen behandelt und nicht als prosodisches Phänomen (vgl. HERRGEN / SCHMIDT 1989, 310). Schließlich wird festgelegt, dass die Differenz von Vollvokalen und reduzierten Vokalen, am häufigsten sind hier ٪ũ٫ und ٪7٫ vertreten, genauso wie der Ausfall von Reduktionsvokalen jeweils mit 1 Punkt bewertet wird. Nicht gemessen wird 77 Bei der Schulung der Transkribenden im REDE-Projekt wurde mangels eines Grundzeichens im IPA-System vereinbart, für das standarddeutsche, mittlere A-Phonem die Zeichenkombination ٪‫ژ‬٫ zu transkribieren. Vgl. zu dieser Problematik auch BARRY / TROUVAIN 2008.

Analysemethoden

81

die Nicht-Realisierung von finalem Schwa in der 1. Person Singular Präsens Indikativ und im Imperativ Singular. In beiden Fällen handelt es sich um standardsprachkonforme Reduktionsformen. 2. Konsonanten Zur Bestimmung der phonetischen Distanz im Bereich der Konsonanten wird die Konsonantentabelle des Internationalen Phonetischen Alphabets zugrunde gelegt. Entsprechend werden die drei Dimensionen Phonation (stimmhaft vs. stimmlos), Artikulationsart und Artikulationsort angesetzt.

Abb. 4–3: Konsonantentabelle des Internationalen Phonetischen Alphabets (IPA)

Aus dem vollständigen IPA-Zeicheninventar, und zwar aus der Abteilung „Other Symbols“, sind der Konsonantentabelle noch zwei Zeichen hinzuzufügen: ٪Üٍ‫׎‬٫. Diese lassen sich aufgrund ihrer Eigenschaften problemlos in die Frikativreihe zwischen postalveolarem ٪Ҍٍ‫ף‬٫ und palatalem ٪Ôٍʴ٫ ergänzen. Analog zum Vokalismus wird für jeden Unterschied in der Artikulation eines Konsonanten 1 Punkt vergeben. Tendenzielle Unterschiede, die mit Diakritika notiert werden, sind mit 0,5 Punkten zu werten. Der Höchstwert, der auch beim Ausfall oder der Einfügung eines Konsonanten vergeben wird, beträgt bei Konsonanten 2 Punkte. Diese niedrigere Höchstbewertung von Konsonanten „resultiert aus einem Gesamtverhältnis der Vorkommenshäufigkeit von Vokalen und Konsonanten im Standarddeutschen von 2 : 3“ (LAMELI 2004, 72; vgl. auch KOHLER 1995, 222). Bei der Behandlung der verschiedenen Allophone des deutschen ‫ڈ‬ф‫ڈ‬-Phonems sieht man sich bei der Dialektalitätsmessung mit dem Problem konfrontiert, dass sich in den vergangenen 120 Jahren ein Wandel hinsichtlich der Standardaussprache vollzogen hat, der noch nicht in die neuesten Aussprachewörterbücher übernommen wurde. Es geht dabei konkret um die Fragen nach der Vokalisierung von ‫ڈ‬ф‫ ڈ‬und möglicher Reduktionen bzw. Elisionen in bestimmten Positionen sowie Fragen nach der Realisierung konsonantischer ‫ڈ‬ф‫ڈ‬-Allophone als vordere oder hintere Laute (vgl. die ausführliche Behandlung dieser Problematik in KEHREIN 2009). Hinsichtlich der grundsätzlichen Möglichkeit, ‫ڈ‬ф‫ ڈ‬als „dunklen Mittelzungenvokal“ zu realisieren, besteht zwischen den beiden derzeit „neuesten“ Aussprachewörterbüchern (Duden Aussprachewörterbuch 2005 und „Deutsches Aussprachewörterbuch“ (= KRECH [u. a.] 2009) sowie zuvor im GWdA) weitgehend Einigkeit. Danach ist eine Vokalisierung möglich:

82 – –

Eigene empirische Untersuchung

in unbetonten Nebensilben (Prä- und Suffix), deren Silbenkern ‹er› ist, nach allen Langvokalen außer ٪‫ژ‬ٝ٫.

Als Variante ist die Vokalisierung nach dem Duden-Aussprachewörterbuch auch zugelassen: – –

nach langem ٪‫ژ‬ٝ٫ nach Kurzvokalen

Die Qualität des „dunklen Mittelzungenvokals“ kann je nach der Qualität des vorhergehenden Vokals variieren, wie das „Deutsche Aussprachewörterbuch“ angibt. Dies wird durch (neuere) Studien zur (intendiert) standardsprachlichen Realisierung von ‫ڈ‬ф‫ ڈ‬empirisch bestätigt (vgl. ULBRICH 1961, MEISSNER 1995 und 1999 sowie zur Aussprache bei Laiensprechern KÖNIG 1989, Bd. 1, 128).78 Hinsichtlich der Standardaussprache von konsonantischem ‫ڈ‬ф‫ڈ‬, das außer in den Positionen, in denen es als Variante zum vokalischen Allophon zugelassen ist, prävokalisch obligatorisch ist, kann seit VIETOR 1890a und der ersten Auflage von SIEBS‫ ތ‬Bühnenaussprache von 1898 in zweifacher Hinsicht ein durchgreifender Wandel beobachtet werden: in der kodifizierten Norm79 und im sprachlichen Alltag, wie durch empirische Untersuchungen nachgewiesen werden kann. Während in den ersten Auflagen des SIEBS’schen Aussprachewörterbuchs für die Bühnenaussprache ausdrücklich in allen Positionen die ausschließliche Verwendung des „gerollten Zungenspitzen r“ vorgeschrieben war, galten nach dem Beschluss eines Beraterausschusses von 1933 Zungenspitzen und Zäpfchen-r „in der Hochlautung als gleichberechtigt“ (SIEBS 1969, 84). Dieses Nebeneinander der beiden Varianten findet sich auch in allen späteren Aussprachewörterbüchern, wobei sie meist einheitlich mit ٪ф٫ transkribiert werden. Der neueste Duden und KRECH [u. a.] (2009) geben lediglich an, dass das hintere geriebene Allophon ٪ѳ٫ überwiegend auftrete. Erst in dem 2007 erschienenen „Österreichischen Aussprachewörterbuch“ (!) von RUDOLF MUHR wird ausdrücklich herausgestellt, dass „im ÖDt. [...] das r in der Regel (wie auch in beiden anderen Varietäten [= Deutschland und Schweiz, R. K.]) als uvularer Vibrant ٪Ѣ٫ realisiert [wird]. [...] Der apikale Vibrant ٪ф٫ kommt regional nur im Osten Österreichs (Niederösterreich Burgenland) vor, nicht jedoch in der Aussprache der ModellsprecherInnen“ (MUHR 2007, 45; vgl. dort auch die Ausführungen auf den Seiten 56–57). Die regionale Distribution des vorderen ‫ڈ‬ф‫ڈ‬-Allophons vorwiegend im Süd(ost)en Deutschlands und sein Verschwinden aus der Sprache geschulter Sprecher in den überregionalen Medien 78 Auch künftig wird allerdings in Aussprachewörterbüchern in allen Positionen ‫ڈ‬ф‫ڈ‬-Allophon notiert werden ௅ also selbst dort, wo empirisch nachgewiesen werden konnte, dass die Elision überwiegt. KÖNIG (2000, 95) erklärt dies damit, dass das Ansetzen eines Null-Allophons in Nachschlagewerken im Interesse der Einfachheit und Einheitlichkeit schwer zu vermitteln wäre, zumal das ‫ڈ‬ф‫ڈ‬-Allophon in denselben Wörtern in anderen grammatischen Formen wieder auftritt, z. B. Jahr vs. Jahre. Es werde bewusst in Kauf genommen, dass man sich damit tendenziell von der Sprachwirklichkeit entferne. 79 Vgl. dazu ausführlich auch EHRLICH 2008, 102–109.

83

Analysemethoden

wird auch in mittlerweile zahlreichen empirischen Studien bestätigt (vgl. ULBRICH 1961; KÖNIG 1989, Bd. 1, 128 sowie die entsprechenden Karten in Bd. 2; MEISSNER 1995 und zuletzt HOLLMACH 2007). In Übereinstimmung mit den empirischen Ergebnissen werden aus diesem Grund in den Analysen der vorliegenden Arbeit vordere Varianten konsonantischer ‫ڈ‬ф‫ڈ‬-Allophone als regionalsprachliche Merkmale behandelt und bei der Dialektalitätsmessung entsprechend berücksichtigt. Hinsichtlich postvokalischer ‫ڈ‬ф‫ڈ‬Allophone werden mit Duden (2005) Vokalisierungen als normkonform, ihre artikulatorische Assimilation an den vorangehenden Vokal (auf die entsprechende Passage in KRECH [u. a.] (2009) wurde oben bereits hingewiesen, der Duden äußert sich dazu nicht) sowie in letzter Konsequenz ihre mögliche Elision mit Ersatzdehnung des vorangehenden Vokals in der Regel als koartikulatorische Phänomene behandelt. Bei allen Messungen werden nicht regionalsprachliche realisationsphonetische Erscheinungen (z. B. Allegroformen) generell außer Acht gelassen. Gemessen wird der Dialektalitätswert (D-Wert) in „Punkten pro Wort“. Folgendes konstruiertes Beispiel soll das Verfahren veranschaulichen: Informantenäußerung: Ƹ

‫ژ‬ٝ

Ҍ

ҡ

ũ

‫ڐ‬

Aussprachenorm:

Ƹ

‫ژ‬

Ѹ

ҡ

ũ

͑

–> Punkte

0

1

1

0

0

2

gesamt: 4 Punkte

Tab. 4–1: Beispiel für die Messung des phonetischen Abstands einer dialektalen Äußerung von der entsprechenden Standardaussprache

In diesem Beispiel wird der Stammvokal gegenüber der Aussprachenorm gedehnt (= 1 Punkt), der alveolare Frikativ wird zurückverlagert (= 1 Punkt) und der finale Nasal schwindet (= 2 Punkte). Damit ergäbe sich für dieses Wort ein D-Wert von 4,0. Zuverlässige Werte erhält man ab einer Samplegröße von 100 Wörtern bei Lemmalisten bzw. 120 Wörtern bei freier Rede (vgl. SCHMITT 1992).80 Meinen Messungen wurden in der Regel Korpusausschnitte von jeweils 250–300 Wörtern zugrunde gelegt, sodass einzelne Messfehler das Gesamtergebnis für die Sprachproben nicht verzerren.81 Um das Verständnis der in der vorliegenden Untersuchung angeführten Ergebnisse zu erleichtern, werden im Folgenden noch drei wichtige Referenzwerte angegeben: 80 HEERINGA (2004, 175–177) weist für seine Untersuchung zu norwegischen Varietäten statistisch nach, dass er mit den dort berücksichtigten 58 Wörtern zu konsistenten Ergebnissen kommt (für eine bestimmte Variante der Levenshtein-Abstandsmessung seien sogar 25 Wörter ausreichend). 81 Von BJÖRN LÜDERS wird am Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas derzeit ein automatisiertes Verfahren zur phonetischen Abstandsmessung erarbeitet (vgl. LÜDERS i. Bearb.), das solche Messfehler künftig minimieren wird.

84 –





Eigene empirische Untersuchung

Unter anderem um den theoretischen Bezugspunkt „Aussprachewörterbuch“ empirisch zu überprüfen, hat LAMELI die Dialektalität der Sprachverwendung sprachlich geschulter Nachrichtensprecher ermittelt. Für jeweils einen Sprecher aus den Jahren 1960 und 2001 stellt LAMELI D-Werte von 0,025 und 0,029 fest. Das bedeutet, dass bei diesen Sprechern in jedem vierzigsten bzw. in jedem dreißigsten Wort ein phonetisches Segment in einem artikulatorischen Merkmal vom Aussprachewörterbuch abweicht. LAMELI resümmiert daraus, dass „das an Nachrichtensprechern empirisch erhobene Material der Aussprachewörterbücher mit dem tatsächlichen Sprachgebrauch vorbildhafter Nachrichtensprecher im Durchschnitt konform ist“ (LAMELI 2004, 88). Dieses Ergebnis „ist insofern wichtig, als damit feststeht, dass Inkongruenzen mit den schriftlichen Kodifizierungen nicht aus einem abstrakten Bezugspunkt resultieren, sondern durch eine konkrete Sprachwirklichkeit gedeckt sind“ (LAMELI 2004, 88). Messungen der Dialektalität von Aufnahmen, die für die Datenserie I im Mittelrheinischen Sprachatlas (MRhSA) angefertigt wurden, d. h. für die über 70-jährigen Dialektsprecher im Mosel- und Rheinfränkischen, ergeben DWerte zwischen 2,3 und 3,5. Das bedeutet, dass in jedem Wort zwei bis über drei Segmente in einem artikulatorischen Merkmal von der Aussprachenorm abweichen bzw. ein Segment in zwei bis drei Merkmalen differiert. Diese beiden Werte stehen exemplarisch für Sprachproben mit einer größtmöglichen Standarddifferenz. Anhand von Korrelationen konnte LAMELI einen statistisch signifikanten Zusammenhang zwischen D-Werten und der sogenannten „Hörerurteil-Dialektalität“ (vgl. unten, Kapitel 4.3.3) ermitteln. Aus diesen Ergebnissen leitet er eine „perzeptive Grenze der Standardsprachlichkeit“ ab. Diese liegt nach seinen Untersuchungen bei einem D-Wert von etwa 0,2. Sprachproben, die einen niedrigeren D-Wert aufweisen, werden als „reines Hochdeutsch“ eingestuft, während Sprachproben, die einen höheren D-Wert aufweisen, eine regionale „Färbung“ attestiert wird. 4.3.2 Variablenanalyse

Bei der Variablenanalyse handelt es sich um eine Auswertung regionalsprachlicher Daten, die in zwei Schritten verläuft. Diese können als Bestimmung der Variablen (vgl. oben, STELLMACHERS und MATTHEIERS „Kontrastanalyse“) und Frequenzanalyse (oder Ermittlung der Type/Token-Relation) bezeichnet werden. Letztlich ist es dadurch möglich, die rein phonetische Distanz einer Sprachprobe von der Standardaussprache, die mit der Dialektalitätsmessung ermittelt wird, zum einen auf die zugrunde liegenden regionalsprachlichen Phänomene zurück-

Analysemethoden

85

zuführen und zum anderen die Regionalsprachlichkeit einer Sprachprobe auch auf anderen linguistischen Ebenen zu erfassen.82 1. Bestimmung der Variablen Bei diesem Schritt geht es darum, möglichst exakt zu bestimmen, welche Varianten aus zwei konkurrierenden sprachlichen Systemen einander gegenüberstehen und zusammen eine linguistische Variable bilden. Dadurch lassen sich alle Varietäten miteinander vergleichen, die miteinander verwandt sind, also beispielsweise verschiedene Dialekte des Deutschen. Sprachatlanten sind auf diese Weise aufgebaut, indem die dialektalen Entsprechungen bestimmter Phänomene (z. B. Wörter oder Wortstämme der schriftlichen Vorgaben bei WENKER, Phänomene historischer Bezugssysteme in den modernen Regionalatlanten oder die Realisierung bestimmter Buchstaben bei KÖNIG 1989) vergleichend dargestellt werden. Im Falle der vorliegenden Arbeit ist eine der Varietäten immer die Standardsprache. Dennoch darf man nicht die Standardsprache als Bezugssystem ansetzen, denn es müssen auf der vertikalen Dimension ganz unterschiedliche Sprechlagen erfasst werden können, z. B. auch die Dialektkompetenz, und teilweise stehen standardsprachlichen Varianten regelmäßig mehrere dialektale Varianten gegenüber. Aus diesem Grund ist die Verwendung der idealisierten historischen Bezugssysteme als gemeinsame Grundlage für die Varietäten des Deutschen, die sich in unterschiedlicher Weise entwickelt haben, unerlässlich. Ein Beispiel, an dem sich die Notwendigkeit der Einbeziehung historischer Bezugssysteme verdeutlichen lässt, sind die dialektalen Entsprechungen des standardsprachlichen Diphthongphonems ‫ۅژڈ‬ľ‫ڈ‬. Würde man für den in Kapitel 6 ausführlich behandelten Dialekt des Hochalemannischen die relative Häufigkeit der Varianten in Wenkersatz 32 („Habt Ihr kein Stück weiße Seife für mich auf meinem Tische gefunden.“) ermitteln und dabei undifferenziert von den Entsprechungen von standardsprachlichem ‫ۅژڈ‬ľ‫ ڈ‬ausgehen, erhielte man folgendes Ergebnis: In zwei Fällen findet sich eine standardabweichende monophthongische Realisierung als ٪ɗٝ٫ (für weiße und meinem), in zwei Fällen findet sich der nicht von der Standardsprache abweichende Diphthong ٪‫ۅژ‬ľ٫ (für kein und Seife). Das würde bedeuten, dass (scheinbar) nur in 50 % der Fälle eine dialektale Variante zu beobachten ist, die Dialektkompetenz des Sprechers also nicht mehr vollständig vorhanden zu sein scheint. Dass dies nicht der Fall ist und wir es mit einem absolut dialektfesten Sprecher zu tun haben, zeigt sich, wenn wir nicht das Standarddeutsche als Bezugssystem zugrunde legen, sondern das historische, für Vokale in der Regel das mittelhochdeutsche Bezugssystem. Hier zeigt sich, dass dem standardsprachlichen Phonem zwei mittelhochdeutsche Phoneme entsprechen, nämlich mhd. î im Falle von weiße und meinem, und mhd. ei bei kein und Seife. Anders als in der Standardsprache, wo beide Phoneme zusammengefallen sind, finden sich in allen 82 In den meisten variationslinguistischen Arbeiten werden phonetisch-phonologische Variablen behandelt, da Variablen auf anderen linguistischen Ebenen schwierig zu definieren sind und sich das Problem ergibt, dass enorme Korpusgrößen bearbeitet werden müssten, um eine ausreichende Anzahl an Belegen berücksichtigen zu können.

86

Eigene empirische Untersuchung

(hoch)deutschen Dialekten als konkurrierende Varianten zwei unterschiedliche Phoneme, im hier vorgestellten Beispiel ‫ڈ‬ɗ٤ٝ٧‫ ڈ‬für mhd. î und ‫ۅژڈ‬ľ‫ ڈ‬für mhd. ei. Das bedeutet, dass der Sprecher im Wenkersatz in allen Fällen die korrekte dialektale Variante produziert hat. Die Analyseergebnisse, bei denen die standardsprachliche Variante allein den Bezugspunkt bildet, werden dadurch also verfälscht.83 Die vorläufige Definition der Variable wäre im vorgestellten Fall: Entsprechungen von mhd. î. Auch diese Beschränkung auf standardsprachliche Diphthonge in Wörtern, in denen im Mittelhochdeutschen ein langer Monophthong steht, ist allerdings noch nicht ausreichend exakt, denn wir finden Belege der folgenden Art: ٪Ҍ͑‫ۅ‬ʏ ܱŲ٫ für schneien oder ٪Ҍѳ‫ۅژ‬ľũ٫ für schreien, deren Stammvokal ebenfalls auf mhd. î zurückgeht. Die dialektalen diphthongischen Varianten treten regelmäßig in Hiatusposition auf. Da die diphthongischen Dialektvarianten mit denen der Standardsprache übereinstimmen, ergibt sich eine weitere Einschränkung für die Variablendefinition. Variation kann nur in der Position vor Konsonanten oder im Auslaut vorkommen, daher lautet die Definition der Variable: Entsprechungen von mhd. î vor Konsonant oder im Auslaut. Bei dieser Variable handelt es sich um eine relativ einfache Variable. Dass die exakte Ermittlung sehr viel komplizierter sein kann, zeigt sich unten, in den Kapiteln 6.3.1 bis 6.3.4. 2. Frequenzanalyse Aus dem vorgestellten Beispiel ist die Verfahrensweise bei der Frequenzanalyse bereits deutlich geworden. Es geht darum, die relativen Anteile standardsprachlicher und standardabweichender, regionalsprachlicher Varianten in einem festgelegten Korpus zu ermitteln. Voraussetzung für eine sinnvolle Frequenzanalyse ist, dass die Variable häufig genug belegt ist, um seriös relative Häufigkeiten berechnen zu können. Um dies sicher zu stellen, muss das analysierte Korpus einen gewissen Umfang haben. In der vorliegenden Arbeit wird die Mindestgröße der jeweils analysierten Gesprächsausschnitte auf etwa 1 050 Wörter für jede Aufnahmesituation festgelegt. Diese verteilen sich zu je etwa gleichen Anteilen (mind. 350 Wörter) auf eine Anfangs- eine Mittel- und eine Schlusssequenz des Gesprächs. Im Fall der Kompetenzerhebungen liegen mit den 40 Wenkersätzen jeweils ca. 480 Wörter zugrunde. Die Variable muss über alle Aufnahmen eines Sprechers hinweg mindestens 100 Mal belegt sein und gleichzeitig in jeder einzelnen Aufnahmesituation mindestens zehnmal vorkommen.84 Für den Vorlesetext „Nordwind und Sonne“ kann keine Frequenzanalyse durchgeführt werden. Das Problem der oft niedrigen Frequenz bestimmter regionalsprachlicher Phänomene ist der Grund dafür, dass in vielen Arbeiten, in denen Variablenanalysen durchgeführt werden, eine Auswahl von Phänomenen nach dem Kriterium 83 Zu den Problemen, die das Ansetzen der Standardsprache als Bezugssystem bei der Durchführung von Variablenanalysen verursacht, vgl. auch KLEINER (2012). 84 Von Belegzahlen, wie sie in psychologischen oder laborphonetischen Studien üblich sind, ist man dabei natürlich weit entfernt. Aus diesem Grund wird auch in modernen variationslinguistischen Studien mit verschiedenen Analysemethoden gearbeitet, deren Einzelergebnisse zu einem validen Gesamtresultat führen.

Analysemethoden

87

der Auftretenshäufigkeit vorgenommen wird (vgl. oben, die Ausführungen zu MATTHEIER 1979 in Kapitel 3.1). Diese forschungspraktische Notwendigkeit führt dazu, dass mit Variablenanalysen keine vollständige Beschreibung der jeweiligen regionalsprachlichen Systeme vorgelegt werden kann. 4.3.3 Hörerurteil-Dialektalität Seinen kritischen Überblick, den KLAUS MATTHEIER in der „Pragmatik und Soziologie der Dialekte“ über verschiedene Verfahren zur „Dialektalitätsmessung“ gibt, beschließt er unter anderem mit der Frage, „ob man bei Dialektalitätsmessungen nicht auch auf Hörerurteile zurückgreifen sollte, auf Beurteilungen von Sprachsequenzen durch kompetente Sprecher/Hörer“ (MATTHEIER 1980, 197).85 Mit den Informanten im Erp-Projekt wurden solche „Tonbandtests“ dann auch durchgeführt (vgl. dazu ausführlich MATTHEIER 1983). „Der Tonbandtest soll, [...] die Fähigkeit der Informanten ihre eigene sprachliche Umgebung nach dem Höreindruck zu differenzieren, beschreibbar und meßbar machen“ (MATTHEIER 1983, 233). In der vorliegenden Untersuchung werden Perzeptionsexperimente zur Hörerurteil-Dialektalität unter erweiterten Fragestellungen durchgeführt. Mit HERRGEN / SCHMIDT (1985) wird Hörerurteil-Dialektalität definiert als „der Grad, in dem arealsprachliche Merkmale von Sprechern/Hörern als arealsprachlich von der Standardsprache abweichend eingestuft werden“ (HERRGEN / SCHMIDT 1985, 21). Entsprechende Urteile sollen zeigen, in welche Relation Sprachproben unterschiedlicher dialektaler Prägung gebracht werden, aber auch, in welcher Relation Sprachproben ungeschulter Sprecher zu Sprachproben geschulter Sprecher, als potenziellen Sprechern von „reinem Hochdeutsch“ wahrgenommen werden. Als Verfahren zur Erhebung der Hörerurteil-Dialektalität wird auf die von HERRGEN / SCHMIDT entwickelte Methode zurückgegriffen. In ihrem Beitrag wurden Experimente zur Überprüfung der Salienz von Einzelmerkmalen durchgeführt, das Verfahren aber abschließend „allgemein als Verfahren zur Messung der Hörerurteil-Dialektalität vorgeschlagen“ (HERRGEN / SCHMIDT 1985, 36–37). Die Beurteilung erfolgt dabei auf einer siebenstufigen Rating-Skala, deren Pole mit „reines Hochdeutsch“ und „tiefster Dialekt“ beschriftet sind. Zur Eichung und Öffnung der Skala werden jeweils am Anfang eine Sprachprobe eines geschulten Sprechers und eine möglichst dialektale Aufnahme vorgespielt. Eine solche Eichung ist notwendig, um dem Problem der „zentralen Tendenz“ und der damit verbundenen Reservierung der Extrema für noch folgende Stimuli zu begegnen, ein Problem, das beim Einsatz von Rating-Skalen häufig zu beobachten ist (vgl. BORTZ / DÖRING 2002, 183).86 85 Es bleibt an der Stelle in MATTHEIERS Text unklar, welche Personengruppe er genau mit „kompetente Sprecher/Hörer“ meint: Linguisten, dialektkompetente Sprecher einer Region oder generell deutsche Muttersprachler. 86 Vgl. zum Thema Skaleneichung auch HERRGEN / SCHMIDT 1985 und LAMELI 2004, 121–124.

88

Eigene empirische Untersuchung

Für die Auswahl der Stimuli sind einige Punkte zu beachten. Sofern es sich bei den Stimuli nicht um einen Standardtext (lexikalische Identität) handelt, muss man sich darüber im Klaren sein, dass die Sprachproben insgesamt nicht zu lang sein und „möglichst keine umfangreichen und komplizierten Inhalte“ (MATTHEIER 1983, 233) enthalten sollten. Auch extrem auffällige lexikalische Einheiten sollten vermieden werden, da das damit leicht verbundene Nicht-Verstehen des Textes eine Verschiebung der Bewertung in Richtung des Dialektpols bewirken kann. Insgesamt ist auf eine Vergleichbarkeit der Stimuli zu achten. Wenn Vergleiche von Ergebnissen, die mit Perzeptionsexperimenten zur Hörerurteil-Dialektalität erzielt wurden, und Ergebnissen objektsprachlicher Analysen gezogen werden sollen, ist zu beachten, dass die Beurteiler in Hörtests grundsätzlich den Gesamteindruck eines Stimulus auf der Skala „reines Hochdeutsch“ – „tiefster Dialekt“ bewerten. In das Urteil fließen also nicht nur segmentell-phonetische Informationen ein, sondern auch „zum Beispiel grammatische, intonatorische oder stilistische Merkmale“ (LAMELI 2004, 124). In den meisten objektsprachlichen Analysen wird dagegen lediglich ein Teilbereich des Sprachmaterials betrachtet, sodass sich ein gewisses Ungleichgewicht ergibt. Bei Vergleichen der objektsprachlichen Dialektalitätswerte (= phonetischer Abstand von der Standardsprache) mit der Hörerurteil-Dialektalität kommt hinzu, dass der phonetische Abstand einer Sprachprobe auf Basis einer Korpusgröße von mindestens 120 Wörtern ermittelt wird. Stimuli dieser Länge sind aber für Perzeptionsexperimente ungeeignet, sodass Hörerurteile in der Regel nur anhand eines Ausschnitts der betreffenden Messbasis gewonnen werden. In den Kapiteln 6.6 und 8 werden Vergleiche von objektsprachlicher und wahrgenommener Dialektalität präsentiert, bei denen einmal der analysierte Ausschnitt identisch war (Kapitel 8) und einmal eine Teil-von-Beziehung bestand (d. h. im Hörtest wurde ein möglichst repräsentativer Teil des Korpusausschnitts, welcher der Ermittlung des phonetischen Abstands von der Standardaussprache zugrunde lag, als Stimulus präsentiert). In beiden Fällen zeigen sich deutliche Korrelationen zwischen beiden Dialektalitätswerten.

5. LINGUISTISCHE STRUKTUR DER VERTIKALE: DER EICHPUNKT WITTLICH 5.1 UMFASSENDE STUDIE ZUM KLEINRAUM WITTLICH Unter dem Titel „Struktur und Dynamik des Substandards“87 hat LENZ 2003 die bisher umfangreichste Untersuchung des regionalsprachlichen Spektrums für eine Kleinregion, nämlich das moselfränkische Wittlich, vorgelegt. Diese Studie eignet sich besonders als Eichpunkt für die vorliegende Untersuchung, da sie weitgehend mit denselben Methoden durchgeführt wurde. Da die Methoden zur Datenerhebung und -analyse in Kapitel 3.1 bereits skizziert wurden, werde ich die Darstellung hier im Wesentlichen auf die Ergebnisse der Untersuchung beschränken. Die wichtigsten Ergebnisse sind: –



„Die methodische Variation der objektiven Situationsparameter geht auf linguistischer Seite mit deutlich divergierendem Sprachmaterial in den vier Erhebungseinheiten einher“ (LENZ 2003, 178). Dieses methodische Ergebnis stützt die Ergebnisse anderer in Kapitel 3.1 beschriebener Untersuchungen und zeigt, dass die Auswahl und Gestaltung der Aufnahmesituationen zur Beeinflussung des Sprechverhaltens insgesamt gelungen sind, wenn auch die Sprecher im Detail unterschiedlich auf die Situationen reagieren. Die regionalsprachliche Prägung der einzelnen Erhebungssituationen beschreibt LENZ (wie STELLMACHER 1977 und MATTHEIER 1979) mit Hilfe des prozentualen Anteils der standarddifferenten Varianten an der Gesamtzahl der Belege für ein Variationsphänomen. Diese Standarddifferenz staffelt sich von 81,2 % bei der Dialektkompetenzerhebung (IOD), über 59,7 % beim Freundesgespräch, 32,4 % beim Interview bis zu 15,3 % bei der Standardkompetenzerhebung (ISS).88 Das Ergebnis der Variablenanalyse wird folgendermaßen zusammengefasst: Der lineare Vergleich der Erhebungen von »IOD« über »Freundesgespräch«, »Interview« und »ISS« deckt eine intersituative Reduktion der Standarddifferenzen, das heißt eine sukzessive Annäherung an die Standardsprache auf. [...] Vereinfacht formuliert [...] gilt die Regel: Dialektvarianten, die bereits im IOD – und hier in bestimmten phonologischen oder lexikalischen Kontexten – eingeschränkt realisiert werden, werden auch im Freundesgespräch [...] seltener verwendet als andere Varianten, die im Dialektwissen der Sprecher noch fester verankert sind. Ebenso werden Varianten, die bereits im Freundesgespräch [...] nur eingeschränkt ge-

87 Unter Substandard fasst LENZ den Bereich des vertikalen regionalsprachlichen Spektrums, der zwischen dem Dialekt und der Standardsprache liegt. Dieser wird in der vorliegenden Arbeit mit dem Terminus Regiolekt bezeichnet. 88 Vgl. LENZ 2003, 178–180. LENZ bezeichnet die Kompetenzerhebungen als „Intendierter Ortsdialekt (IOD)“ und als „Intendierte Standardsprache (ISS).

90

Linguistische Struktur der Vertikale: der Eichpunkt Wittlich nutzt werden, im Interview und schließlich in der ISS-Übersetzung [...] noch stärker reduziert, wenn nicht gänzlich vermieden. (LENZ 2003, 181)









Zwischen den beiden freien Gesprächen Freundesgespräch und Interview zeigt sich insgesamt ein weniger fließender Übergang als zwischen IOD und Freundesgespräch einerseits und ISS und Interview andererseits, da ein „Set an Varianten auszumachen [ist], die in informeller Situation von einem Teil der Sprecher variabel genutzt werden, aber in formeller Situation von allen Sprechern fast ohne Ausnahme vermieden werden“ (LENZ 2003, 181). Diese Beobachtung führt zu dem Ergebnis, dass alle dialektkompetenten Sprecher zum Interview hin einen Varietätenwechsel vornehmen und in dieser Situation überwiegend dialektale Merkmale durch regiolektale oder standardsprachliche ersetzen. Hinsichtlich der außersprachlichen Variablen lässt sich ein deutlicher Unterschied zwischen älteren und jüngeren Sprechern nachweisen: die Älteren sind dialektkompetenter und dialektaler, während die Jüngeren standardkompetenter und normorientierter sind. Ausschließlich bei jungen Sprechern sind daher auch Hyperdialektalismen zu beobachten (vgl. LENZ 2003, 182). Ein zentrales Ergebnis der Arbeit stellt die Klassifikation der regionalsprachlichen Varianten in Anlehnung an SCHIRMUNSKI (1928/1929) und JAKOB (1985) dar. Grundlage der Klassifikation bildet das Dynamikpotenzial der Varianten, d. h. ihre Abbauresistenz bzw. ihre Veränderungssensitivität. Dieses Dynamikpotenzial wird aus der intergenerationellen und intersituativen Variation auf Basis der apparent-time-Hypothese interpretiert. Danach lassen sich in einer Abbauhierarchie fünf Klassen von Varianten unterscheiden: primäre Varianten (diese zeigen bereits im IOD große inter- und intraindividuelle Variation und weisen das größte Dynamikpotenzial auf) bis quintäre Varianten (diese sind selbst bei der intendierten Standardsprache noch zu einem hohen Anteil belegt). Zusätzlich setzt LENZ quintäre Sonderfälle an, bei denen es sich um nicht dialektale, standardabweichende Merkmale handelt (vgl. LENZ 2003, 187–192). Die Variantenklassen sind in Tabelle 5–1 dargestellt, ohne dass hier auf die Variablendefinitionen eingegangen werden kann. Durch das statistische Verfahren der Clusteranalyse gelingt es LENZ, Verdichtungsbereiche als „überindividuelle Sprachverhaltensmuster aufzudecken, die in der gruppenspezifischen, situationstypischen Verwendung bestimmter Varianten bestehen“ (LENZ 2003, 250). Diese werden in einem weiteren Schritt als Varietäten und Sprechlagen interpretiert. Unterhalb der Standardsprache besteht das regionalsprachliche Spektrum in der Region Wittlich danach aus zwei Varietäten (Dialekt und Regiolekt). Diese können in insgesamt fünf Sprechlagen unterteilt werden, welche jeweils durch das Vorhandensein bestimmter Variantenklassen charakterisiert sind.89

89 In Tabelle 5–2 sind in der Spalte „Variantentypen“ die jeweils am wenigsten abbauresistenten Varianten der Sprechlagen angegeben. Dadurch, dass zwischen den Variantenklassen eine Implikationsbeziehung besteht (wenn z. B. im Regionaldialekt sekundäre Merkmale angege-

91

Umfassende Studie zum Kleinraum Wittlich

Variantenklasse primär

sekundär

tertiär quartär quintär quintäre Sonderfälle

Variable VB,D,N,L,St-i V-auf VSt,We-haben V-a V-oi V-ö V-ü V-au V-Ɨ V-ai V-pf VLand-heute V-b V-auf V-g(pot. Kon.) V-auch V-s V-nicht V-g(pot. Kon.) V-ch V-ig V-nicht V-pf(pot. Kon)

standardabweichende Variante ‫ٮ‬٪Ų٫ٍ٪٫ٍ٪Ԃ٫‫ٯ‬ up ho‫ٮ‬٪Þ٤ٝ٧٫ٍ٪Ų٤ٝ٧٫‫ٯ‬ ‫ٮ‬٪‫ۅ‬ľ٤ٝ٧٫ٍ٪Ųٝ٫‫ٯ‬ ‫ٮ‬٪ľ٤ٝ٧٫ٍ٪Ų٤ٝ٧٫ӕ‫ٯل ل‬ ‫ٮ‬٪ľ٤ٝ٧٫ٍ٪Ų٤ٝ٧٫ӕ‫ٯل ل‬ ‫ٮ‬٪Þٝ٫ٍ٪Ųٝ٫ӕ‫ٯل ل‬ ‫ٮ‬٪Þ٤ٝ٧٫ٍ٪Ų٤ٝ٧٫‫ٯ‬ ‫ٮ‬٪Ųٝ٫ٍ٪ũ٫‫ٯ‬ ٪Й٫ haut ‫ٮ‬٪Ƹ٫ٍ٪È٫ٍ٪Ԯ٫‫ٯ‬ uf ‫ٮ‬٪σ٫ٍ٪Ճ٫ٍ٪Ҍ٫ٍ٪Ü٫ӕ‫ٯل ل‬ och {dat, wat, et u. a.} nit ٪ի٫ ‫ٮ‬٪Ҍ٫ٍ٪Ü٫ӕ‫ٯل ل‬ ٪˔٫ ni(s)ch ٪Ƹ٫

Beispiel(e) Kind, Winter auf haben machen, Schatten Bäume, neun hört, Öl Bürste, Tür kaufen, glaubst Nadel, gelassen Kleider Pfund, Apfel heute Leben, selbst auf folgen, kriegt, Berg auch das, was, es nicht sagt, Tag ich, solche einig, artig nicht Pfund, Pfeffer

Tab. 5–1: Klassifikation der standardabweichenden Varianten in der Region Wittlich nach LENZ 90 (2003, 188) –

Die Clusteranalyse ermöglicht außerdem die Ableitung von Sprechertypen, die sich insbesondere aus dem Vergleich des Sprachverhaltens in den beiden freien Gesprächen ergeben. Primäres Kriterium bei der Definition der Sprechertypen ist die „intraindividuelle Variationsweite“ zwischen Freundesgespräch und Interview. Eine grundsätzliche Unterscheidung kann dabei zwischen Dialektsprechern und Nicht-Dialektsprechern getroffen werden: Die Ersteren verwenden im Freundesgespräch ausnahmslos Basis- oder Regionaldialekt und im Interview eine Sprechlage des Regiolekts und werden daher als

ben sind, bedeutet dies, dass auch tertiäre bis quintäre in dieser Sprechlage enthalten sind), sind die jeweils abbauresistenteren Varianten eingeschlossen. 90 Die Bezeichnung der Variablen und die Darstellung der standardabweichenden Varianten wurden unverändert von LENZ übernommen. Die Abkürzungen B, D, N, L, We, St verweisen auf die einzelnen untersuchten Ortsteile Bombogen, Dorf, Neuerburg, Lüxem, Wengerohr bzw. Wittlich-Stadt, „pot. Kon.“ zeigt an, dass eine Variante nur in bestimmten lautlichen Umgebungen vorkommt.

92



Linguistische Struktur der Vertikale: der Eichpunkt Wittlich

„Dialektloyale Switcher“ (LENZ 2003, 397) bezeichnet. Bei den Nicht-Dialektsprechern unterscheidet LENZ vor allem zwischen solchen Sprechern, die innerhalb einer Sprechlage bleiben („Moveless“), und solchen, die zwischen Sprechlagen des Regiolekts wechseln („Shifter“). PURSCHKE (2003) hat für jede der Sprechlagen eine repräsentative Sprachprobe ausgewählt und ihren phonetischen Abstand von der Standardsprache mit dem Messverfahren, das in Kapitel 4.3.1 beschrieben wurde, bestimmt. Tabelle 5–2 zeigt eine Zusammenstellung der Varietäten, Sprechlagen, ihrer typischen Merkmale und der entsprechenden D-Werte. Varietät

Regiolekt

Sprechlage

Variantentypen

D-Werte

Regionalakzent

quintär (inkl. Sonderfälle)

0,30

mittlerer Regiolekt

quartär

0,63

unterer Regiolekt

tertiär

0,82

Regionaldialekt

sekundär

1,41

Basisdialekt

primär

1,87

Dialekt

Tab. 5–2: Regionalsprachliches Spektrum im Raum Wittlich mit den entsprechenden Varianten und den D-Werten (nach LENZ 2003, 252 und 395 sowie PURSCHKE 2003; hier terminologisch angepasst)

Im Folgenden wird es nun darum gehen, die Analyseergebnisse für die in der vorliegenden Untersuchung berücksichtigten Informanten auf die Resultate aus LENZ (2003) zu beziehen und durch einen solchen Vergleich zu prüfen, wie repräsentativ die Sprecher für die Kleinregion Wittlich sind. 5.2 DIE INFORMANTEN UND DIE SPRACHDATEN Im Kleinraum Wittlich wurden Aufnahmen mit den vier in Kapitel 4.2 aufgezählten Informantentypen gemacht, das bedeutet mit einem Sprecher der alten Generation (WITALT1), zwei Polizeibeamten (WIT5 und WIT10) sowie einem jungen Sprecher (WITJUNG2). Mit allen Sprechern konnten alle Aufnahmen durchgeführt werden, sodass den Analysen ein vollständiger, für das REDE-Projekt repräsentativer Datensatz zugrunde liegt. Die Informanten im Einzelnen:

Die Informanten und die Sprachdaten

93

WITALT1 Der Informant WITALT1 ist in Altrich, das 3 km von Wittlich entfernt liegt, aufgewachsen und vollständig im Altricher Platt sozialisiert worden. Die Familie des Vaters stammt ebenfalls aus Altrich, die der Mutter aus dem 6 km entfernten Krames, das heute zu Klausen gehört. Innerhalb der Familie sei ausschließlich „Platt“ gesprochen worden und in der Schule außerhalb des Unterrichts ebenfalls. Unterrichtssprache sei dagegen „Hochdeutsch“ gewesen. Auch heute noch spreche er in der gesamten Region um Altrich sein Platt und er habe damit nie Verständigungsschwierigkeiten. Sein „Hochdeutsch“ habe einen relativ starken regionalen Akzent (eine ortsübliche Bezeichnung dafür sei „Hochdeutsch mit Streifen“) und er verwende es nur in bestimmten Situationen (z. B. beim Besuch von Ämtern und Banken). WIT5 Der Informant ist ebenfalls in Altrich aufgewachsen. Auch seine Eltern sowie die Großeltern väterlicherseits und der Großvater mütterlicherseits stammen aus Altrich, die Großmutter mütterlicherseits dagegen stammt aus Hetzerath, das ca. 20 km südlich von Altrich, aber immer noch klar im Moselfränkischen liegt. WIT5 gibt an, dass die Eltern zwar mit ihm „Platt“, das der Sprechweise der ältesten Generation am Ort entsprach, gesprochen hätten, dass er selbst dieses Platt aber nie beherrscht und verwendet habe. Seine erste und heute gewohnte Sprechweise sei ein „verschmuddeltes Hochdeutsch“. Dieses spreche er auch mit dem Explorator. Ab dem Kindergarten sei in allen Bildungseinrichtungen nur Hochdeutsch gefordert gewesen. Innerhalb der Familie habe er sich eine Umgangssprache „zugelegt“, die Teile des Dialekts enthalte (diese bezeichnet er auch als „Mittelding“). WIT10 Dieser Sprecher stammt direkt aus Wittlich, genau wie seine Eltern und die Großeltern (allein die Familie einer Großmutter stammt aus Nordrhein-Westfalen, die Großmutter lebte aber seit 1925 in Wittlich). WIT10 sagt, er sei in einem „Mischmasch“ sozialisiert worden, das auch bereits seine Eltern untereinander gesprochen hätten. In der Familie hätte es niemanden gegeben, der das ortsübliche „Platt“ verwendet hätte. In einzelnen Situationen bemühe er sich, dem Platt näherzukommen, beispielsweise wenn bei Treffen in der Partei die älteren Mitglieder Platt mit ihm sprächen. In der Schule hätten auch die Lehrer, die aus der Region stammten, das „Mischmasch“ verwendet, das er als seine Alltagssprechweise bezeichnet. Dieses sei von reinem Hochdeutsch zu unterscheiden, man bemerke, wo er herkomme, „obwohl ich für mich glaubte, Hochdeutsch zu sprechen“. WITJUNG2 Der junge Sprecher aus der Kleinregion Wittlich lebt seit seinem zweiten Lebensjahr in Wengerohr, einem der eingemeindeten Dörfer, aus denen auch Informanten in der Studie von LENZ stammten. Seine Eltern und ihre Familien stammen aus den 7 km bzw. 11 km entfernten Orten Bausendorf bzw. Kinheim. Beide Orte

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Linguistische Struktur der Vertikale: der Eichpunkt Wittlich

liegen innerhalb des moselfränkischen Dialektverbandes. Die Großmutter mütterlicherseits kommt aus Dahnen in der Eifel, das ebenfalls im Moselfränkischen liegt. WITJUNG2 sei von Anfang an in der Sprechlage, die er als „Hochdeutsch“ bezeichnet, erzogen worden, seine Eltern seien auch nicht dialektkompetent. Nur die Großmutter aus der Eifel hätte Platt beherrscht, sich ihm gegenüber aber stets um ihr „bestes Hochdeutsch“ bemüht. Sein Hochdeutsch spreche er nach wie vor, er habe es lediglich um eine Sprechweise ergänzt, die er auf Nachfrage „Umgangssprache“ nennt und die sich dadurch auszeichne, dass sie „jugendsprachliche“ oder „vulgäre Ausdrücke“ sowie „englische Begriffe“ enthalte. Der Sprecher hält sein „Hochdeutsch“ zwar nicht für perfekt, es würde ihn aber überraschen, wenn jemand an seiner Sprechweise erkennen könnte, wo er herkommt. Mit der Exploratorin spreche er ein leicht „von der Umgangssprache beeinflusstes Hochdeutsch“. Informantenkürzel

Geburtsjahr

Belegort

Erhebungssituationen

WITALT1

1932

Altrich

REDE-Situationen

WIT5

1965

Altrich

REDE-Situationen

WIT10

1962

Wittlich

REDE-Situationen

WITJUNG2

1992

Wittlich

REDE-Situationen

Tab. 5–3: Sozialdaten und Erhebungssituationen für die Sprecher aus dem Kleinraum Wittlich

5.3 DIE REDE-INFORMANTEN IM WITTLICHER REGIONALSPRACHLICHEN SPEKTRUM

Abb. 5–1: Übersicht über die Dialektalitätswerte der Informanten WITALT1, WIT5, WIT10 und WITJUNG2 in den einzelnen Erhebungssituationen

Die REDE-Informanten im Wittlicher regionalsprachlichen Spektrum

95

Aus dem Diagramm in Abbildung 5–1 werden drei Dinge unmittelbar deutlich: Erstens ist für den Sprecher der alten Generation, WITALT1, das breiteste Spektrum zwischen der Dialektkompetenzerhebung (D-Wert: 1,9) und dem Vorlesetext (D-Wert: 0,5) zu beobachten. Zweitens zeigen alle Sprecher bei der Standardkompetenzerhebung und dem Vorlesetext relativ ähnliche D-Werte zwischen 0,4 und 0,7. Das bedeutet, dass durchschnittlich etwas häufiger als in jedem zweiten Wort ein phonetisches Merkmal von der Standardaussprache abweicht. Drittens liegen die Polizisten und der junge Sprecher in allen Gesprächssituationen näher an der Standardsprache als der alte Sprecher aus der Wittlicher Region, wobei die interindividuelle Differenz bei der Dialektkompetenzerhebung am größten ist und nach oben hin kleiner wird. WITJUNG2 erreicht zwar bei seiner Dialektkompetenzerhebung einen D-Wert von 1,8 und liegt damit fast so weit von der Standardsprache entfernt wie WITALT1, der Wert des jungen Sprechers kommt aber nicht durch die korrekte Dialektverwendung zustande, sondern durch das wahllose Einstreuen standardabweichender Formen, die mit dem Dialekt aus der Kleinregion meist nicht das Geringste zu tun haben. Aus diesem Grund ist der Wert in der Tabelle auch eingeklammert und es befindet sich ein sehr blasses Symbol für diese Erhebungssituation im Diagramm. Vergleicht man die D-Werte mit den Werten, die PURSCHKE für prototypische Sprachproben aus dem Korpus von LENZ ermittelt hat, so lässt sich das Sprachverhalten meiner Informanten in den einzelnen Situationen sehr gut in dieses Spektrum einordnen (vgl. Abbildung 5–2).91 Eine klare Zuordnung zum Basisdialekt ist für die Dialektkompetenzerhebung von WITALT1 möglich. Diese Übereinstimmung wird durch den Vergleich seiner dialektalen Wenkersätze mit dem Wenkerbogen für den Ort Altrich – dem Vergleich in real-time also – und mit den Varianten, die von LENZ berücksichtigt wurden, bestätigt. Dem Basisdialekt, den WITALT1 in der Abfragesituation erreicht, steht die Verwendung des Regionaldialekts im freien Gespräch, dem Freundesgespräch, gegenüber. Hier ist lediglich ein D-Wert von 1,4 messbar und die primären Dialektvarianten nach LENZ können praktisch nicht mehr beobachtet werden. Sowohl die Tiefe der Dialektkompetenz als auch das Shiften bei der Dialektverwendung können aus der Sprachbiografie erklärt werden. WITALT1 ist vollständig im Dialekt sozialisiert und hat bis heute hauptsächlich seinen Dialekt verwendet. Im Beruf war er in der weiteren Umgebung von Wittlich unterwegs, gibt aber an, die gesamte Kommunikation im Dialekt geführt zu haben. Offensichtlich haben dabei regelmäßig Synchronisierungsakte, die auf regional gültige Dialektformen gezielt haben, stattgefunden (= Mesosynchronisierungen), was in einer Modifikation seiner Registerkompetenz resultiert hat. In bestimmten Situationen (z. B. im Interview) wechselt er in sein „Hochdeutsch mit Streifen“, das er

91 Der Vergleich zu LENZ’ Studie erfolgt hier anhand der D-Werte, weil in die Bestimmung des phonetischen Abstands von der Standardaussprache alle lautlichen Standardabweichungen eingehen, während eine qualitative Analyse von Variablen und die Frequenzanalyse regionalsprachlicher Varianten immer auf ausgewählte, häufige Phänomene beschränkt bleibt. Die Qualität der Standardabweichungen in meinen Aufnahmen wird aber stets mitberücksichtigt.

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Linguistische Struktur der Vertikale: der Eichpunkt Wittlich

zwar als „schlecht“92 einschätzt, das aber einen festen Bestandteil seiner Registerkompetenz bildet.

Abb. 5–2: Übersicht über die Dialektalitätswerte der Informanten WITALT1, WIT5, WIT10 und WITJUNG2 in den einzelnen Erhebungssituationen im Vergleich zu den Werten für die einzelnen Sprechlagen (nach PURSCHKE 2003)93

WIT5 scheint bei der Übertragung der Wenkersätze in seinen individuell tiefsten Dialekt im Bereich des Regionaldialekts zu liegen. Eine qualitative Analyse der Wenkersätze, die WIT5 produziert, zeigt allerdings, dass er zwar einen phonetischen Abstand von der Standardaussprache erreicht, der bei 1,3 liegt, dass der Sprecher aber die dialektalen Varianten nicht konsequent, teilweise sogar nur auf Einzellexeme beschränkt realisiert und, was wichtiger ist, auch falsche Dialektformen bildet. Beispielsweise realisiert er für (Apfel-)bäume ٪¡‫ۅژ‬ľ̲٫ statt dialektalem ٪¡Ų̲ٝ٫. Die Zuordnung des Lexems Bäume zur Gruppe der Lexeme, die auf mhd. ou bzw. dessen Umlaut zurückgehen und die im Dialekt der Region regelmäßig monophthongiert und entrundet werden, gelingt ihm also nicht. Stattdessen bildet er eine Form in Analogie zu standardsprachlichem ‫ڈ‬Þ‫ۅ‬ο‫ڈ‬, das in Lexemen, die auf mhd. iu zurückgehen, im Dialekt regelmäßig entrundet wird. Weiterhin bildet er falsche Formen der Personalpronomina der ersten und zweiten Person Plural (٪‫ۅژ‬ľÜ٫ statt ٪ɗٝÔ٫ für euch oder ٪‫ۅژ‬Þ7٫ statt ٪ӕٝѸٍΎٝѸ٫ für unsere). Solche Hyperdialek92 Er besteht allerdings darauf, dass man in der Region um Wittlich besseres Hochdeutsch spräche als „die Bayern“. 93 PURSCHKE (2003) hat diese D-Werte ermittelt, um sie Hörerurteilen zu diesen Sprachproben gegenüberstellen zu können. Seine Untersuchung ergibt eine statistisch hoch signifikante Korrelation von D-Werten und Hörerurteilen (vgl. PURSCHKE 2003, 81–89 sowie LENZ 2003, 255–262). Das vertikale Spektrum lässt sich also auch mit perzeptionslinguistischen Methoden abbilden (vgl. zu perzeptionslinguistischen Untersuchungen auch die Kapitel 6.6 und 8.1 sowie KEHREIN 2009).

Die REDE-Informanten im Wittlicher regionalsprachlichen Spektrum

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talismen weisen darauf hin, dass der Sprecher beim Versuch den Dialekt zu verwenden eine kognitive Grenze erreicht und diese nicht überwinden kann. Das bedeutet, dass er die Varietät Dialekt nicht beherrscht und es sich bei WIT5 um einen Sprecher mit monovarietärer Kompetenz im Regiolekt handelt. Auch in diesem Fall deckt sich die Analyse der Sprachdaten genau mit den Angaben, die der Sprecher im Interview macht, denn er gibt an, das Alticher Platt zu Hause zwar mitbekommen, aber nie gesprochen zu haben. Er versuche auch gar nicht, Platt zu sprechen, weil er sich bei solchen Versuchen lächerlich mache. Seine häufigste Sprechweise im Alltag sei ein „Mittelding“, wobei er innerhalb der Familie nach eigenen Angaben eine „Umgangssprache“ verwende (= Freundesgespräch), die näher am Dialekt sei als seine Sprechweise außerhalb der Familie. Wenn er aber in offizieller Funktion sprechen müsse, verwende er „Hochdeutsch“ (= Interview) und dieses Hochdeutsch habe einen mittleren regionalen Akzent. Der zweite Polizist, WIT10, liegt bei seiner Dialektkompetenzerhebung schon sehr klar im Regiolekt und produziert die primären und sekundären Varianten nach LENZ praktisch nicht mehr. Auch hier handelt es sich um einen Sprecher mit monovarietärer regiolektaler Kompetenz. Anders als WIT5 und WITJUNG2 bildet er bei der Dialektkompetenzerhebung keine dialektalen Hyperformen, sondern verwendet „einfach“ seine standardfernste Sprechweise. Dabei fällt auf, dass diese regionalsprachliche Kompetenz exakt mit der Sprachverwendung von WITALT1 im Interview übereinstimmt. Es liegt die Vermutung nahe, dass die Eltern von WIT10 ihn in einer ähnlichen Sprechweise erzogen haben.94 Dass er ausschließlich im Regiolekt sozialisiert wurde, den er als „Mischmasch“ oder „Moselfränkisch“ bezeichnet, gibt er im Interview selbst an. Allerdings versucht er auch, bewusst zu variieren, indem er sich in bestimmten Situationen „bemühe, dem Platt näherzukommen“ (= Freundesgespräch). Dadurch erweitert er also seine Registerkompetenz „nach unten“, ohne den Dialekt zu erreichen, was er auch bei der Selbsteinschätzung seiner Dialektkompetenz angibt. Sein Hochdeutsch habe dagegen einen eher geringen regionalen Akzent, Gesprächspartner könnten aber dennoch erkennen, wo er herkomme (er wird in solchen Fällen in die Eifel eingeordnet). WITJUNG2 schließlich, ein 18-jähriger Abiturient, ist ebenfalls ein monovarietärer Regiolektsprecher. Hinsichtlich der D-Werte liegt er praktisch exakt im Bereich der beiden Polizisten, also Sprechern aus der Generation seiner Eltern. Dies verwundert nicht, da er ja seine Eltern bereits als nicht dialektkompetent beschreibt und angibt, dass alle Familienmitglieder – auch die dialektkompetente Großmutter – mit ihm nur ihr „Hochdeutsch“ gesprochen hätten. Er selbst hat also deren standardorientierte Sprechweisen als Alltagssprache übernommen und beherrscht den Dialekt ebenfalls überhaupt nicht. Im Detail ergeben sich zwei interessante Beobachtungen: Zum einen produziert der Sprecher bei der Dialektkompetenzerhebung wahllos standardabweichende Formen, die nicht dem Dialekt der 94 Beispiele, in denen die Performanz der älteren Generation der regionalsprachlichen Kompetenz der Folgegeneration entspricht, finden sich auch in anderen Regionen (vgl. vor allem die Ausführungen zu Waldshut-Tiengen in Kapitel 6).

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Linguistische Struktur der Vertikale: der Eichpunkt Wittlich

Kleinregion entsprechen, sondern „aus allen Himmelsrichtungen“ der weiteren Umgebung stammen. Etwa überträgt er das Wort Kühe in ٪˔Ȏ‫ۅژ‬ľѸܱ ٫, realisiert den Stammvokal, der auf mhd. üe zurückgeht, also als Diphthong. Laut Wenker-Atlas und bei Datenserie I im Mittelrheinischen Sprachatlas (MRhSA) findet sich südlich von Wittlich eine relativ kleine Region, in der diphthongische Realisierungen von mhd. üe (allerdings als flache Diphthonge ٪Ų‫ۅ‬ʏ٫95) belegt sind. In Wittlich und der näheren Umgebung entspricht dem mittelhochdeutschen Diphthong aber das Phonem ‫ڈ‬ľٝ‫ڈ‬. Dieses wird auch von den Informanten der Datenserie II des MRhSA in dem ehemaligen Diphthonggebiet übernommen. Des Weiteren bedient sich WITJUNG2 bei der Realisierung von anlautendem g- (z. B. in ganz) einer Variante, die nördlich von Wittlich anzutreffen ist, nämlich spirantischem ٪ʮ٫. Im Wittlicher Dialekt sind g-Spirantisierungen dagegen auf den In- und Auslaut beschränkt (vgl. auch LENZ 2003, 148). Diese Beobachtungen, für die sich noch zahlreiche weitere Beispiele anführen ließen, entsprechen auch seiner Selbsteinschätzung, denn er gibt an, sich Elemente des Dialekts aus dem, was er mehr oder weniger zufällig mitbekomme, „zusammenpuzzeln“ zu können. Zum anderen produziert WITJUNG2 bei der Dialektkompetenzerhebung und in seinem Freundesgespräch, für das er ja einen Gesprächspartner auswählen sollte, mit dem er seine standardfernste, dialektnächste Sprechweise verwendet, postvokalisch das stimmlose ‫ڈ‬ф‫ڈ‬-Allophon ٪չ٫ (z. B. ٪ҌԮ‫ܚ‬7չҡ‫ۅ‬Ѹ٫ für schwarz). Weder in seinem Interview noch bei der Standardkompetenzerhebung oder dem lauten Vorlesen findet sich dieses Merkmal. Das stimmlose ‫ڈ‬ф‫ڈ‬-Allophon ٪չ٫ ist typisch für die Kleinregion Wittlich, allerdings nicht als dialektales Merkmal, sondern als Variante, die bei den anderen drei Sprechern dann zu beobachten ist, wenn sie sich bewusst an der Standardsprache orientieren (vgl. die Variablenbeschreibung in Kapitel 5.4). Der Wittlicher Dialekt hat dagegen die eigentlich standardkonforme ‫ڈ‬ф‫ڈ‬-Vokalisierung. Für WITJUNG2 kehrt sich die Wahrnehmung um: Das konsonantische ‫ڈ‬ф‫ڈ‬-Allophon stellt für ihn in den betreffenden phonetischen Kontexten eine regionalsprachliche Abweichung von der Standardsprache dar. Was für die älteren Sprecher also ein bewusst produziertes Merkmal ihres „Hochdeutsch“ ist, verwendet WITJUNG2 als regionalsprachliche Variante. Setzen wir nun das Verhalten der Sprecher in den freien Gesprächen systematisch in Beziehung zu den Ergebnissen in LENZ (2003), so lässt sich zeigen, dass es sich bei den REDE-Informanten um Sprechertypen handelt, die auch in der umfassenden Studie bestimmt werden konnten. In Abbildung 5–3 werden die DWerte der prototypischen Sprachproben der Sprechlagen nach PURSCHKE (2003) zusammen mit den Sprechertypen nach LENZ (2003) den D-Werten meiner Informanten gegenübergestellt. Die vier Doppelpfeile unter „Sprechertypen nach LENZ“ zeigen die beiden Haupttypen, die auf Grundlage ihrer Dialektkompetenz unterschieden werden: Dialektsprecher (die beiden rechten Pfeile) und Nicht-Dialektsprecher (die beiden linken Pfeile). Beide Haupttypen sind auch durch die REDE-Informanten belegt. Damit kann als wichtigstes Ergebnis bereits festgehalten werden, dass für alle 95 Vgl. etwa die MRhSA-Karten 030/1 und 030/2 Füße.

Die REDE-Informanten im Wittlicher regionalsprachlichen Spektrum

99

Sprecher, die für die Untersuchungsregion Wittlich erhoben wurden, der Regiolekt einen elementaren Bestandteil der Registerkompetenz bildet und selbstverständlich in der Alltagskommunikation eingesetzt wird.

D-Werte + Sprechertypen vorliegende Untersuchung

Sprechlagen nach Lenz (2003)

D-Werte nach Purschke (2003)

Sprechertypen nach Lenz (2003)

Regionalakzent

0,3

mittlerer Regiolekt

0,63

unterer Regiolekt

0,82

1,0

Regionaldialekt

1,41

1,4

Basisdialekt

1,87

WITALT1

WIT5

WIT10

WITJUNG2

0,7

0,7

0,6

1,0

0,9

0,9

Abb. 5–3: Die REDE-Informanten im Vergleich zu den Sprechertypen nach LENZ (2003)96

Bei WITALT1 handelt es sich um einen Sprechertyp, der zwischen dem Regionaldialekt des Freundesgesprächs und dem (unteren) Regiolekt im Interview wechselt (bei der Dialektkompetenzerhebung erreicht er noch den Basisdialekt, verwendet diesen im Gespräch mit einem dialektsprechenden Freund aber nicht mehr). LENZ (2003, 397) bezeichnet solche Sprecher als „dialektloyale Switcher“. Dabei verwenden die meisten Dialektsprecher bei LENZ im Freundesgespräch ebenfalls den Regionaldialekt. Diese Regionalisierung der Dialekte bei der Gruppe der Berufspendler mittleren Alters gegenüber den alten, immobilen Bauern ist auch eines der zentralen Ergebnisse, das aus dem Vergleich der beiden Datenserien im Mittelrheinischen Sprachatlas gewonnen werden konnte (vgl. vor allem BELLMANN / HERRGEN / SCHMIDT 1989, 301–305; SCHMIDT 1992; BELLMANN 1994, 124–143 sowie zuletzt zusammenfassend HERRGEN 2010). Die beiden Polizisten und der junge Sprecher repräsentieren dagegen die Gruppe der Nicht-Dialektsprecher und sie shiften lediglich zwischen dem Freundesgespräch einerseits und dem Interview (und den Notrufgesprächen) andererseits innerhalb des Regiolekts vom unteren zum mittleren Regiolekt. Die Sprechlage Regionalakzent, die fast alle Sprecher bei der Standardkompetenzerhebung und beim Vorlesetext erreichen, verwendet keiner der Informanten in einem freien Gespräch. Wie sich bei der Charakterisierung der Sprecher gezeigt hat, stimmen auch diese Zuordnungen mit der subjektiven Wahrnehmung der drei Sprecher überein. Hinsichtlich der Relevanz der Sprechlagen im kommunikativen Alltag der Informanten zeigt LENZ, dass der Basisdialekt im Freundesgespräch von den 25 Sprechern ihres engeren Samples lediglich noch von sieben Sprechern (darunter 96 Von den bei LENZ (2003, 397) aufgeführten Sprechertypen fehlen in dieser Darstellung die „Moveless“-Sprecher, die zwischen Freundesgespräch und Interview nur minimale Variation zeigen und sich in beiden Gesprächssituationen innerhalb derselben Sprechlage bewegen.

100

Linguistische Struktur der Vertikale: der Eichpunkt Wittlich

nur ein junger, 40-jähriger Sprecher) verwendet wird. Acht Informanten verwenden den Regionaldialekt, obwohl auch diese „(sehr) hoch dialektkompetent“ sind. Die übrigen zehn Sprecher im Freundesgespräch und alle Informanten im Interview verwenden Sprechlagen des Regiolekts (vgl. LENZ 2003, 245–254). Daraus lässt sich ableiten, dass sich der Schwerpunkt im kommunikativen Alltag der Wittlicher Region insgesamt vom Basisdialekt in den Regionaldialekt bzw. sogar den Regiolekt verlagert (hat). Dieses Ergebnis wird bei der Darstellung der Struktur des regionalsprachlichen Spektrums berücksichtigt werden. Aus allen zu Wittlicher Sprechern vorliegenden Ergebnissen wird im Folgenden die Darstellung des regionalsprachlichen Spektrums für diese Untersuchungsregion entwickelt, welche auch die Grundlage des späteren diatopischen Vergleichs der regionalsprachlichen Spektren sein wird. Bezugspunkt für die diatopischen Vergleiche bildet als Konstante immer die Standardsprache (= weißer Balken am oberen Ende) und ihre Umsetzung durch geschulte Sprecher. Die vertikale Lage und Ausdehnung der Varietäten im regionalsprachlichen Spektrum ist an den Diagrammen orientiert, in denen die Dialektalitätswerte für die Untersuchungsregionen dargestellt sind (vgl. für Wittlich Abbildung 5–1). Sofern sich aus der empirischen Analyse Varietätengrenzen ermitteln lassen, ist deren Lage durch einen dicken schwarzen Balken gekennzeichnet, während auf Übergänge zwischen Sprechlagen mit gestrichelten dünneren Linien verwiesen wird. Die Zickzacklinie am unteren Ende des jeweiligen Spektrums deutet die rekonstruierbare Entfernung des historischen Basisdialekts von der Standardsprache an.97 Für die Region Wittlich ergibt sich die in Abbildung 5–4 wiedergegebene Darstellung. Der in der Alltagskommunikation genutzte Bereich zwischen den Polen des Gesamtspektrums reicht bis zum standardfernsten Pol (Basisdialekt), da LENZ (2003) Sprecher beobachten konnte, die im Freundesgespräch noch diese Sprechlage verwenden. Bei den REDE-Informanten war dies nicht mehr belegbar. Da der Basisdialekt im kommunikativen Alltag allerdings eine rückläufige Bedeutung zu haben scheint, wie aus der Übersicht über die Sprechertypen in Abbildung 5–3 hervorgeht, wird der Bereich der Varietät Dialekt nach unten hin schmaler. Aus den Darstellungen sind also neben der vertikalen Ausdehnung und der Lage des Gesamtspektrums relativ zur Standardsprache jeweils auch die Sprechlagen erkennbar, die den Schwerpunkt der Alltagskommunikation zu bilden scheinen (dies wird durch die Ausdehnung des schwarzen Rahmens in der Horizontale dargestellt). Dieser Schwerpunkt liegt für die Wittlicher Region im Regionaldialekt und wegen der zahlreichen Sprecher mit monovarietärer Kompetenz in den mittleren und unteren Sprechlagen des Regiolekts.

97 Die Dialektalität der historischen Dialekte, wie sie von WENKER am Ende des 19. Jahrhunderts erhoben wurden, kann ALFRED LAMELI in seiner Habilitation quantifizieren und im diatopischen Vergleich abbilden (vgl. LAMELI 2012a). Meine Angaben zu den in der vorliegenden Arbeit analysierten Kleinregionen decken sich mit den Ergebnissen LAMELIS. Auf diesen Aspekt wird in der Zusammenfassung in Kapitel 9 noch einmal eingegangen.

Restarealität in den standardnächsten Sprechlagen in der Region Wittlich

101

Abb. 5–4: Regionalsprachliches Spektrum der Untersuchungsregion Wittlich

5.4 RESTAREALITÄT IN DEN STANDARDNÄCHSTEN SPRECHLAGEN IN DER REGION WITTLICH Trotz des großen Umfangs der Untersuchung von LENZ bleibt ein Desiderat, das im vorliegenden Teilkapitel beseitigt werden soll, nämlich die Frage nach den regionalsprachlichen Merkmalen, die übrig bleiben, wenn sich Sprecher aus der Wittlicher Region in ihren standardnächsten Sprechlagen befinden. Vokalismus Im Bereich des Vokalismus ist lediglich ein Merkmal zu beobachten, das mit einer gewissen Regelmäßigkeit auftritt. Es handelt sich dabei um eine Öffnungstendenz bei der Realisierung des standardsprachlichen Phonems ‫ڈ‬Ų‫ڈ‬. Diese regionalsprachliche Variante ist in LENZ (2003) nicht untersucht worden und ist auch in der dialektologischen Literatur sowie dem Mittelrheinischen Sprachatlas nicht auffindbar. Lediglich LAUF (1994, 62) erwähnt die „häufig überoffen[e]“ Realisierung von ٪Ų٫.98 Konsonantismus – Eines der wichtigsten lautlichen Merkmale für große Teile des Westmitteldeutschen ist die Koronalisierung von ٪Ô٫ zu ٪Ü٫ oder ٪Ҍ٫‫ ژ‬. Diese Varianten verwenden die Informanten ausschließlich für das palatale Allophon des standardsprachlichen Phonems ‫ڈ‬Ôٍիٍչ‫ ڈ‬und für standardsprachlich ‫ڈ‬Ҍ‫ڈ‬. Es kommt dabei in keinem Fall zu Hyperkorrekturen, bei denen ein standardsprachliches ‫ڈ‬Ҍ‫ ڈ‬als ٪Ô٫ realisiert würde. Insgesamt ist ein Kontinuum hinsichtlich des Artikulationsortes zu beobachten, das von einem vorverlagerten Allophon ٪Ҍ٫‫ ܭ‬bis 98 LAUF (1994) fasst die moselfränkischen Merkmale, die in der Datenbank regionaler Umgangssprachen vorkommen, mit den ripuarischen zusammen. Daher ist an dieser Stelle nicht ganz sicher, ob auch LAUF das überoffen realisierte ٪Ų٫ dem Moselfränkischen zuordnet.

102







Linguistische Struktur der Vertikale: der Eichpunkt Wittlich

zu ٪Ü٫ reicht. Exakte Distributionsanalysen müssten prüfen, ob hier eine (neue) phonologische Opposition aufgebaut wird. Wie HERRGEN (1986) zeigen konnte, handelt es sich bei den koronalisierten Varianten nicht um Merkmale der alten Dialekte, sondern um relativ junge Formen, die aber bei der Dialektkompetenzerhebung von WITALT1 bereits ausschließlich auftauchen (auch LENZ (2003, 188) kann die koronalisierten Formen im Intendierten Ortsdialekt zu 98,4 % nachweisen). Ebenfalls häufig belegt ist die Lenisierung von standardsprachlichen Fortisplosiven und -frikativen, und zwar vor allem inlautend in stimmhafter Umgebung, aber auch auslautend, beispielsweise in nach, noch oder gut. Ob es sich bei diesem Phänomen um einen Teil der im Ober- und Mitteldeutschen weit verbreiteten binnen(hoch)deutschen Konsonantenschwächung handelt, wie z. B. MITZKA (1967, 255–257) oder auch SCHIRMUNSKI (1962, 330–333) meinen, oder ob diese „Lenisierungen im Mittelfränkischen“ (SIMMLER 1983, 1126–1127; vgl. auch LESSIAK 1933) strikt davon zu unterscheiden sind, kann an dieser Stelle nicht näher beleuchtet werden. Festzuhalten bleibt, dass es sich bei den genannten Varianten in der angegebenen Umgebung um Merkmale des alten Dialekts handelt. Ein weiteres häufiges Merkmal und Teil der Restarealität bildet die stimmlose Realisierung von standardsprachlich stimmhaften Plosiven im (Silben)Anlautcluster mit folgendem ‫ ڈ́ڈ‬oder ‫ڈ‬ф‫ڈ‬, das beispielsweise in Lexemen wie blies, Blätter, gleich, gebrochen, Augenblicken, größer, Brot oder Bruder belegt ist. Dabei handelt es sich um Merkmale des alten Dialekts.99 Definitiv zu den nicht regionalsprachlichen Merkmalen des alten Dialekts gehört die Realisierung des ‫ڈ‬ф‫ڈ‬-Phonems als stimmloser hinterer Frikativ im lautlichen Kontext nach Kurzvokal und vor alveolarem Plosiv oder der Affrikata ‫ڈ‬ҡ‫ۅ‬Ѹ‫( ڈ‬z. B. in Garten, Wort oder Herzen). Diese konsonantische ‫ڈ‬ф‫ڈ‬-Realisierung tritt bei dem alten Sprecher und den Polizisten erst in den klar standardorientierten Erhebungssituationen auf und ist (höchstwahrscheinlich auch historisch) auf den Einfluss der Schriftsprache zurückzuführen: Im Dialekt wird das ‫ڈ‬ф‫ڈ‬-Phonem nach Vokalen regelmäßig vokalisiert (Garten, Wort und Herzen lauten bei der Dialektkompetenzerhebung von WITALT1 entspre‫ ۈ‬٪ԮÞ7ܱٞҡ٫ und ٪ȜŲ7ܳҡ‫ۅ ۈ‬Ѹ͑‫ܨ‬٫). Dialektsprecher, die früher mit der Stanchend ٪ǣÞܱٝ7Āũ٫, dardsprache in der Regel erstmals als Schriftsprache in Berührung kamen, ha-

99 Diese regionalsprachlichen Varianten hängen damit zusammen, dass in weiten Teilen der hochdeutschen Dialekte, „die germanischen stimmhaften und stimmlosen Verschlußlaute zusammengefallen [sind] und [...] eine zwischen diesen liegende Reihe von stimmlosen Lenes gebildet [haben]“ (SCHIRMUNSKI 1962, 332). Obwohl stimmhafte und stimmlose Plosive (außer im Auslaut) durch die entsprechenden Grapheme klar erkennbar sind, gelingt es den Sprechern nicht, eine normkonforme Distribution zu erreichen. Dies wird in den betreffenden Fällen stimmhafter Plosive im Anlaut vor ‫ ڈ́ڈ‬und ‫ڈ‬ф‫ ڈ‬dadurch erschwert, dass eine voll stimmhafte Plosivrealisierung ohne ein auffälliges Prevoicing nur schwer möglich ist. Vgl. zur Distribution in rhein- und moselfränkischen Dialekten MARTIN 1922, MÜLLER 1931, PEETZ 1989, REUTER 1989, GROSS 1990, BARRY / PÜTZER 1995 sowie WENKERS Sprachatlas des Deutschen Reichs und den Mittelrheinischen Sprachatlas.

Restarealität in den standardnächsten Sprechlagen in der Region Wittlich



103

ben sich (wie in anderen Regionen auch; vgl. die Kapitel 6 und 7 dieser Arbeit) bei der mündlichen Umsetzung dieses Schriftdeutschen um eine möglichst buchstabengetreue Aussprache bemüht bzw., sie wurden in der Schule dazu angehalten.100 Dies resultierte darin, dass der Buchstabe ‹r› vielfach als Konsonant realisiert wurde. Dadurch, dass die stets konsonantische Aussprache von ‫ڈ‬ф‫ – ڈ‬wenn auch als apikale Variante – in den frühen Aussprachewörterbüchern als Hochlautung angegeben war, besaß sie zudem vermutlich ein hohes Prestige und bildete einen elementaren Bestandteil des landschaftlichen Hochdeutsch der Region. Solche schriftinduzierten Varianten, die als historische Prestigeformen gelten können, treten auch in anderen Regionen auf und werden erst allmählich als standardabweichende Merkmale wahrgenommen und bewertet. Im Falle von ‫ڈ‬ф‫ ڈ‬wird diese veränderte Wahrnehmung dadurch begünstigt, dass sich die Aussprachenorm gewandelt hat und vokalisierte ‫ڈ‬ф‫ڈ‬Varianten durch die geschulten Sprecher in den Medien verwendet werden. Wie oben ausgeführt, resultiert dies darin, dass der nicht dialektkompetente Sprecher der jungen Generation WITJUNG2 die historische Prestigeform in den Gesprächssituationen produziert, in denen er aufgefordert war, seine standardfernste Sprechweise zu verwenden.101 ‫ڈ‬ф‫ڈ‬-Vokalisierungen treten in den standardnahen Sprechlagen auch auf, werden dort aber tendenziell gehoben und vorverlagert zu ٪7‫ܭ‬٫, wodurch sich ein weiterer Unterschied zur Standardaussprache ergibt.

Selten belegt kommen weitere regionalsprachliche Merkmale aus dem Bereich des Konsonantismus vor. Zur binnen(hoch)deutschen Konsonantenschwächung gehören neben der Lenisierung von Fortisplosiven auch die Spirantisierungen der stimmhaften Plosive ‫ ڈ¡ڈ‬und ‫ڈ‬ǯ‫ڈ‬. Die g-Spirantisierung ist in den standardnächsten Sprechlagen der Wittlicher Informanten noch zu beobachten, wenn auch selten. Daneben wird in einer Reihe von Fällen standardsprachliches ‫ڈ‬Ԯ‫ڈ‬-Phonem mit einem Approximanten realisiert. Dieser kann labio-dental oder bilabial sein. Außerdem kann bei auslautendem Konsonantencluster -st das ٪ҡ٫ ausfallen, insbesondere in verbalen Flexionsformen der 2. Person Singular. Schließlich tritt noch in einigen Fällen einfacher Frikativ ٪Ƹ٫ für die standardsprachliche Affrikata ‫ڈ‬Й‫ۅ‬Ƹ‫ڈ‬ auf, eine Variante, die auch LENZ (2003) beschreibt und als quintären Sonderfall klassifiziert, der dem dialektalen ‫ڈ‬Й‫ ڈ‬für germ. p gegenübersteht. Nebensilben Im Bereich der Nebensilben finden sich lediglich zwei Typen von Erscheinungen, die erwähnenswert sind. Zum einen handelt es sich um die unter dem Konsonantismus für die Vokalisierung von ‫ڈ‬ф‫ ڈ‬genannte tendenzielle Hebung und Vorverlagerung des vokalischen Allophons, das auch für ‹er› in Nebensilben zu beobach100 Vgl. auch die Angaben eines Informanten der alten Generation aus der Region um Trostberg, die in Fußnote 300 wiedergegeben sind. 101 LENZ (2003, 191–192) klassifiziert diese Variante daher ebenfalls als quintären Sonderfall, bezieht sie aber nicht in die Frequenzanalyse ein.

104

Linguistische Struktur der Vertikale: der Eichpunkt Wittlich

ten ist. Zum Zweiten geht es um die Realisierung des Affixes ‹-ig›. Hier sind unterschiedliche Varianten zu beobachten: einerseits die Realisierung des Konsonanten dieser Silbe als Plosiv ٪˔٫, was bei beiden Polizisten und dem jungen Sprecher ausschließlich auftritt. Andererseits ist für WITALT1 ausschließlich die spirantische Realisierung des auslautenden Konsonanten belegt. Er verwendet dabei jeweils die koronalisierten Allophone ٪Ü٫ oder ٪Ҍ٫‫ ژ‬. Neben diesen lautlichen Varianten finden sich bei dem alten Sprecher noch vereinzelt Belege für die lexikalische Variable nicht, die er als nit realisiert. Der Ausfall des finalen -t bei gleichzeitiger Koronalisierung des Frikativs in nicht ist – im Gegensatz zu LENZ’ Ergebnissen – nicht zu beobachten. Stattdessen wird in allen Belegen der jüngeren Sprecher (und in den meisten Fällen bei WITALT1) für nicht lediglich der Frikativ koronalisiert, das finale -t bleibt aber stets erhalten.102 Insgesamt kann Folgendes festgehalten werden: Die Restarealität im Raum Wittlich besteht überwiegend aus konsonantischen Merkmalen. Dieser grundsätzliche Befund deckt sich mit dem Ergebnis von LENZ (vgl. LENZ 2003, 194–195) und ist auch in anderen Arbeiten zum Westmitteldeutschen belegt worden (vgl. etwa STEINER 1994, LAMELI 2004). Nur fünf der hier genannten regionalsprachlichen Merkmalstypen der standardnächsten Sprechlagen sind auch in LENZ behandelt. Diese verteilen sich auf die Variantenklassen tertiär (= g-Spirantisierung in bestimmten Kontexten), quintär (= g-Spirantisierung in bestimmten Kontexten, Koronalisierung von ٪Ô٫) und quintäre Sonderfälle (= das Suffix ‹-ig› mit ٪˔٫, ٪Ƹ٫ für ‫ڈ‬Й‫ۅ‬Ƹ‫ ڈ‬im Anlaut und – ohne Frequenzanalyse – stimmloses hinteres ‫ڈ‬ф‫ڈ‬-Allophon nach Vokalen vor alveolarem Plosiv oder alveolarer Affrikata). Davon ist nur die Koronalisierung ein häufig, praktisch ausschließlich auftretendes Merkmal. Hinzu kommen die Lenisierung von Plosiven und Frikativen (Konsonantenschwächung), die auch im Dialekt fest verwurzelt ist (es handelt sich also vermutlich um ein quintäres Merkmal), und die vollständige Entstimmung stimmhafter Plosive im Silbenanlaut vor ٪ٍ́ ф٫. Zwischen den beiden letztgenannten Variantentypen, die aus dem alten Dialekt stammen, herrscht bei der Orientierung an der Schriftsprache insofern eine komplexe Beziehung, als die Graphem-Phonem-Zuordnung gekreuzt ist. Die daraus resultierende Unsicherheit der Sprecher führt nicht nur dazu, dass die Merkmale auch bei größtmöglicher Konzentration auf die mündliche Produktion der Standardsprache erhalten bleiben (dialektale Varianten, falsche Analogien und standardsprachliche Varianten wechseln sich scheinbar zufällig ab), sondern dass es sogar zu Verwechslungen zwischen den Graphemen beim Schreiben kommt.103

102 Interessant ist die Angabe, die WITJUNG2 zu dialektalen Merkmalen in seiner „Umgangssprache“ macht. Es handele sich bei dieser Sprechweise um eine „Kurzsprache“, was sich unter anderem daran zeige, dass er ٪͑ʏҡ٫ anstelle des ٪͑ʏҌҡ٫ aus seinem „Hochdeutsch“ verwende. 103 Vgl. dazu auch MÜLLER-DITTLOFF 2001. Es handelt sich dabei um ein Phänomen, das im Mitteldeutschen weit verbreitet ist, insbesondere auch in Hessen. Entsprechend war in der regionalen Mittelhessischen Anzeigen Zeitung (MAZ) vom 10. Dezember 2008 in einem Be-

Zusammenfassung

105

5.5 ZUSAMMENFASSUNG Die Analysen für die Sprecher aus der Kleinregion Wittlich zeigen im Vergleich mit der umfassenden Studie von LENZ (2003) zunächst einmal deutlich, dass es sich bei den Informanten des REDE-Projekts um Sprecher handelt, die repräsentativ für bestimmte Sprecher-/Repertoiretypen sind. Sowohl hinsichtlich des phonetischen Abstandes von der Standardaussprache als auch hinsichtlich der in den einzelnen Aufnahmen enthaltenen regionalsprachlichen Merkmale lassen sich die Sprachproben in das von LENZ ermittelte vertikale Spektrum einordnen. Fasst man die Ergebnisse für alle Sprecher aus der Region Wittlich zusammen, lässt sich für die in der vorliegenden Arbeit untersuchten Forschungsfragen Folgendes festhalten: – –









Das regionalsprachliche Spektrum in der Untersuchungsregion Wittlich besteht aus zwei Varietäten: dem Dialekt und dem Regiolekt. Der Basisdialekt ist vor allem bei älteren Sprechern noch belegbar, seine Relevanz im kommunikativen Alltag nimmt aber ab. An seine Stelle tritt bei dialektkompetenten Sprechern der Regionaldialekt. Alle Sprecher verfügen über eine regiolektale Kompetenz und die Sprechlagen des Regiolekts werden von allen in bestimmten Situationen der Alltagskommunikation verwendet. Der Regionaldialekt und die Sprechlagen mittlerer und unterer Regiolekt bilden den Bereich, in dem sich die Sprecher hauptsächlich bewegen. Insgesamt scheinen regiolektale Sprechlagen den Schwerpunkt der Alltagskommunikation zu bilden.104 Bei der Standardkompetenzerhebung bzw. dem Vorlesetext gelingt den REDE-Informanten eine noch größere Annäherung an die Standardsprache, ohne diese jedoch zu ganz erreichen (Sprechlage Regionalakzent). In der Studie von LENZ (2003) dagegen finden sich auch Sprecher, die im Interview den Regionalakzent und sogar Sprechweisen verwenden, die in Perzeptionsexperimenten als fast „reines Hochdeutsch“ eingestuft werden. Alle anderen Sprechlagen werden als regional geprägt wahrgenommen. Eine solche Wahrnehmung des aus Sprechersicht „besten Hochdeutsch“ als regional geprägt, die sich häufig auch in Rückmeldungen an die Wittlicher Sprecher äußert, führt zu einer (Um-)Bewertung dieser ehemaligen Prestigesprechlage(n) als „schlechtes Hochdeutsch“ oder „Hochdeutsch mit Streifen“ (vgl. dazu auch LENZ 2003, 313–327).

richt über den Kirchhainer Weihnachtsmarkt zu lesen: „Die lebende Grippe war vor allem für die kleinen Besucher ein Anziehungspunkt“ (Bildunterschrift auf Seite 6). 104 Als Bestätigung dieser Tendenz kann die systematische Untersuchung des Varietätenerwerbs bei Kindern gewertet werden, die zuletzt KATERBOW für Wittlich vorgelegt hat. Darin konnte er zeigen, dass von 16 teilweise im real-time-Vergleich untersuchten Kindern (Alter zwischen 3;9 und 10;2 Jahre) nur ein Junge eine Entwicklung zeigt, die darauf hindeutet, dass er eine Dialektkompetenz ausbildet. Alle anderen repräsentieren die Spracherwerbstypen „monovarietär regiolektal“ und „monovarietär standardnah“ (vgl. KATERBOW 2012, 359–377).

106 –



Linguistische Struktur der Vertikale: der Eichpunkt Wittlich

Die individuelle Restrukturierung der Vertikale aus Sprechersicht zeigt sich auch darin, dass WITJUNG2 beim Versuch, den unteren Bereich seines variativen Spektrums bzw. sogar den Dialekt zu erreichen, mit dem stimmlosen hinteren Frikativ ٪չ٫ als ‫ڈ‬ф‫ڈ‬-Allophon ein Merkmal einsetzt, das die Älteren ausschließlich in Situationen verwenden, wenn sie ihr „Hochdeutsch“ produzieren wollen/sollen. Für den jungen Sprecher wird also die (historische) Prestigeform der Älteren zum regionalen Marker. Der Regionalakzent ist vor allem durch regionalsprachliche Merkmale geprägt, die dem Bereich des Konsonantismus und der Nebensilben zuzuordnen sind. Es handelt sich dabei sowohl um dialektale Merkmale als auch um Formen, die durch die Orientierung an der (geschriebenen) Standardsprache in den betreffenden Situationen zustande kommen. In jedem Fall ist für die Sprecher die korrekte Distribution der betreffenden Varianten nicht deutlich erkennbar und somit nur schwer zu kontrollieren. Hinzu kommt, dass die standardabweichenden Varianten meist nur allophonische Unterschiede zur Oralisierungsnorm der Standardsprache bilden, sodass Situationen überregionaler Kommunikation problemlos „gemeistert“ werden können. Das bedeutet, dass die Verständigung mit Gesprächspartnern aus anderen Regionen gesichert ist und meist wohl keine Rückkopplungen gegeben werden, die eine Modifikation der Kompetenz bei den Sprechern aus der Region Wittlich auslösen.

6. LINGUISTISCHE STRUKTUR DER VERTIKALE: REDE-MODELLANALYSE IM RAUM WALDSHUT-TIENGEN (WEST-OBERDEUTSCH) 6.1 DIALEKTGEOGRAFISCHE EINORDNUNG Die Stadt Waldshut-Tiengen ist durch einen Zusammenschluss der Städte Waldshut und Tiengen sowie weiterer, diesen Städten angeschlossener Gemeinden entstanden.105 Es handelt sich also nicht um ein zusammenhängendes Siedlungsgebiet, sondern um zehn verstreute Stadtteile, wodurch geografisch eine relativ große Region eingeschlossen wird. Die Informanten stammen jeweils aus nahe gelegenen Ortschaften östlich von Waldshut-Tiengen (vgl. dazu unten, Kapitel 6.2). Der Einfachheit halber wird dennoch häufig von „den Waldshuter Sprechern“ zu lesen sein. Diese Orientierung ergibt sich daraus, dass die beiden Polizeibeamten in der Polizeidirektion Waldshut-Tiengen beschäftigt sind und das offizielle KFZ-Kennzeichen dieses Dienststellenortes als Informantenkürzel dient.

Abb. 6–1: Strukturgrenzen im Alemannischen (nach WIESINGER 1983a); das weiße, schwarz umrandete Quadrat kennzeichnet die Region um Waldshut-Tiengen

Die Region um Waldshut-Tiengen gehört – und in dieser Hinsicht stimmen alle Dialekteinteilungen des Alemannischen überein – sprachgeografisch zu dem kleinen Teil, der auf bundesdeutschem Gebiet zum Hochalemannischen gerechnet 105 Quelle für diese Angaben ist die offizielle Homepage der Stadt Waldshut-Tiengen (vgl. (Stand: 04.07.2012)).

108

Linguistische Struktur der Vertikale: REDE-Modellanalyse (Waldshut-Tiengen)

wird (vgl. OCHS 1921, BOHNENBERGER 1924, MAURER 1942 und 1972, MITZKA 1943, WIESINGER 1983a und KLAUSMANN / KUNZE / SCHRAMBKE 1994). Geografisch entspricht dieses Gebiet den südlichen Ausläufern des Schwarzwaldes. WIESINGER erklärt die in Abbildung 6–1 erkennbare Raumstruktur wie folgt: Die Kombination der behandelten [sprach-]strukturellen Erscheinungen zeigt, daß die nördlichen Neuerungen zu beiden Seiten des Schwarzwaldes als einer naturräumlichen und verkehrsgeographischen Scheide einerseits im Westen am Rhein und andererseits im Osten von Neckar und Donau her nach dem Süden vordringen. Dadurch bleibt alter Bestand in der Mitte am besten erhalten und tritt schon ab dem mittleren Schwarzwald auf. [... Daher ist] das Hochalemannische als nördliche Hälfte des Südalemannischen [...] gegenüber dem Höchstalemannischen im Süden weniger und gegenüber dem Nieder- und Mittelalemannischen im Norden und Osten ein stärker konservativer Dialektraum. Da im Westen niederalemannische Neuerungen über die Grenze erhaltener Umlautrundung weiter nach Süden vorgedrungen sind und im Osten das [...] Mittelalemannische aus der Überlagerung südalemannischen Bestandes und schwäbischer Neuerungen resultiert, teilt es strukturelle Eigenschaften stets mit anschließenden Gebieten. (WIESINGER 1983a, 834–835)

Abb. 6–2: Der sogenannte „Sundgau-Bodensee-Gürtel“ bzw. die sogenannte „SundgauBodensee-Schranke“ nach MAURER (1942; hier aus MAURER 1972, 138)

Das zuletzt beschriebene, nordöstlich angrenzende Mittelalemannische wird wegen der dort zu beobachtenden „Variantenmischung“ in einer jüngeren Charakterisierung von SEIDELMANN (2004) als „Problemzone“ bezeichnet.106 Vorschlägen, dieses Gebiet unter dem Namen „Bodensee-Alemannisch“ als „eigenständige vierte Großlandschaft des Alemannischen“ (SEIDELMANN 2004, 482) zu fassen, tritt SEIDELMANN entschieden entgegen und betont den Charakter dieser Region als sprachstrukturelles Übergangsgebiet. Um diese Eigenschaft zu unterstreichen, wird für das in west-östlicher Richtung verlaufende Isoglossenbündel in Anlehnung an MAURER (1942) die Bezeichnung „Sundgau-Bodensee-Gürtel“ – anstelle 106 Vgl. zu sprachlichen Unterschieden zwischen den schwäbischen und den alemannischen Dialekten auch BIRLINGER 1868; BAUMANN 1876, 261–277; RUOFF 1983, Karte 2.

Dialektgeografische Einordnung

109

von MAURERS Benennung als „Schranke“ – vorgeschlagen. Die südlichen Isoglossen markieren die Grenze des Hochalemannischen (vgl. Abbildung 6–2). Die im Westen des Hochalemannischen verlaufenden Isoglossen werden seit MAURER (1942) unter dem Begriff der „Schwarzwaldschranke“ zusammengefasst und grenzen es gegen das Niederalemannische ab (vgl. Abbildung 6–3).

Abb. 6–3: Die sogenannte „Schwarzwaldschranke“ nach MAURER (1942; hier aus KLAUSMANN / KUNZE / SCHRAMBKE 1994, 27)

Auf dieser Grundlage sind die wichtigsten sprachstrukturellen Eigenschaften des Hochalemannischen, die es von den angrenzenden Dialektgebieten unterscheidet, die Folgenden: Im Bereich des Vokalismus ist zunächst die Erhaltung der Umlautrundung zu nennen, die gleichzeitig die Bewahrung dreigliedriger Reihen, nämlich ‫ڈ‬ɗٍٝֆٍٝӕٝ‫ڈ‬ und ‫ڈ‬ľٍٝοٍٝΎٝ‫ڈ‬, bedeutet.107 Dieses Phänomen grenzt das Hochalemannische nach Norden gegen das Nieder- und Mittelalemannische (und damit gegen das Schwäbische) ab. In Abbildung 6–2 ist diese Linie als Hiser/Hüser-Linie eingezeichnet. Weiterhin zu nennen ist die Erhaltung der Monophthonge für mhd. î, üը , û vor Konsonanten (Eis/Iis-Linien in Abbildung 6–2 und Abbildung 6–3). Im Hiatus tritt in der Regel Diphthongierung ein, das bedeutet, dass Phonemspaltung vorliegt (man sagt ٪ɗٝѸ٫ Eis, aber ٪Ҍ͑7‫ۅ‬ʏũ٫ schneien; vgl. dazu auch unten, Fußnote 148). Im Unterschied zu dieser Entwicklung der geschlossenen mhd. Langvokalreihe sind östlich im Schwäbischen generelle Diphthongierung, südlich im Höchstalemannischen generelle Monophthongerhaltung zu beobachten. Außer im Höchstalemannischen wird praktisch in allen alemannischen Dialekten mhd. â zu ‫ڈ‬Ύٝ‫ڈ‬ oder ‫ڈ‬Þٝ‫ ڈ‬verdumpft und tritt entweder in die Reihe mhd. ê, öը , ô ein oder formt „mit 107 Vgl. zu allen Phänomenen des Langvokalismus und der Diphthonge in diesem einleitenden Textteil auch WIESINGER 1970.

110

Linguistische Struktur der Vertikale: REDE-Modellanalyse (Waldshut-Tiengen)

einem Analogieumlaut ‫ڈ‬γ‫܋‬۷‫ ڈ‬und ‫ڈ‬Ţ۷‫ ڈ‬für mhd. äࡂ eine neue Reihe ‫ڈ‬Ţ۷‫ڈ – ڈ‬γ‫܋‬۷‫ڈ – ڈ‬δ‫“ڈ‬ (WIESINGER 1983a, 834). Im Raum Waldshut-Tiengen fällt außerdem das aus ahd. -egi- kontrahierte mhd. ei2 mit mhd. ei1 zusammen und wird als ‫ۅژڈ‬ľ‫ ڈ‬realisiert. Damit liegt ein weiteres Abgrenzungskriterium gegenüber dem Mittelalemannischen und dem Schwäbischen vor, wo mhd. ei1 als ‫ڈ‬Ύ‫ ڈۅ‬realisiert wird (Sei(p)fe/Soa(p)fe-Linie in Abbildung 6–3). Eine eher labile Erscheinung, die das Hochalemannische vom Niederalemannischen unterscheidet und deren in diesem Bereich unklare Grenze unmittelbar westlich von Waldshut verläuft (vgl. BOHNENBERGER 1953), stellt die Bewahrung mhd. Kürzen in offener Silbe dar. Auch WIESINGER bemerkt dazu, dass „die Kürzen oftmals durch Analogie und mhd. a auf Grund seiner phonetischen Eigenschaften vielfach Dehnung erfahren“ (WIESINGER 1983a, 833; zur Variable ٪‫ژ‬٫-Quantität s. unten, Kapitel 6.3.2.3). Im Konsonantismus sind für das Hochalemannische zwei Erscheinungen besonders prägend (vgl. dazu WIESINGER 1983a, 832–833): zum einen die südlichste Lautverschiebungslinie, die Spirantisierung von spätwgm. k und kk (vgl. die Linien Kind/Chind und trinke/trinkche in Abbildung 6–2). Der Raum um WaldshutTiengen gehört in dieser Hinsicht zu einem Gebiet, in dem man die Verschiebung von spätwgm. k zu ‫ڈ‬չ‫ ڈ‬in allen Positionen – außer nach n, wo Affrikata ‫˔ڈ‬չ‫ ڈ‬auftritt – beobachten kann (in Waldshut-Tiengen hört man also neben ٪չʏ͑ҡ٫ für Kind ٪ҡչʏ͡˔չũ٫ für trinken). Weiterhin ist die spätwgm. Geminate kk zur Affrikata ‫˔ڈ‬չ‫ڈ‬ verschoben und bewahrt somit die phonologische Opposition von spätwgm. gg, das als ‫˔ڈ‬ٝ‫ ڈ‬realisiert wird (es stehen sich also z. B. ‫̲ڈ‬ӕ˔˔ũ‫ ڈ‬für Mücken und ‫ڈ‬Āфӕ˔իũ‫ ڈ‬für drücken gegenüber, während beides im Norden zusammengefallen ist). Das zweite konsonantische Charakteristikum des Hochalemannischen gegenüber nördlich angrenzenden Gebieten ist die Erhaltung der mhd. inlautenden Geminaten, d. h. langer Frikative und Plosive. Die Grenze verläuft von Basel bis Bonndorf praktisch parallel zur trinke/trinkche-Linie und von dort an nach Norden etwa parallel zu der Linie, die unterschiedliche Formen des Einheitsplurals trennt.108 Die zuletzt genannte Erscheinung gehört in den Bereich der Verbalmorphologie. Es handelt sich um eine von Norden nach Süden verlaufende Grenze, die das Hochalemannische vom Niederalemannischen trennt (in Abbildung 6–3 als mähe/mähet-Linie eingezeichnet). Im hochalemannischen Teil findet sich hier Einheitsplural auf ‫ڈ‬ũĀۣũ͑Āۣũ͑‫ڈ‬, während nordwestlich ‫ڈ‬ũۣ‫ ڈ‬und südwestlich ‫ڈ‬ũۣʏ‫ ڈ‬auftreten. Ebenfalls zur Verbalmorphologie zu rechnen ist die Realisierung des Markers der 2. Person Singular Indikativ Präsens Aktiv mit und ohne auslautendem -t (bisch/bischt-Linie in Abbildung 6–3). Auch diese Grenze verläuft in Nord-Süd-Richtung, endet aber in der Darstellung von MAURER unmittelbar

108 In Abbildung 6–3 findet sich eine weitere Isoglosse, die Teil der „Schwarzwaldschranke“ ist. Dabei handelt es sich um die Spirantisierung des stimmhaften bilabialen Plosivs ٪¡٫ zu ٪Ԯ٫. Diese Spirantisierung tritt im Niederalemannischen, nicht aber im hier interessierenden Hochalemannischen auf. Da die nicht spirantisierte Form mit der standardsprachlichen Variante übereinstimmt, kann diese im Waldshuter Raum keine Variable bilden.

Die Informanten und die Sprachdaten

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nördlich der Waldshuter Region.109 Schließlich sind noch zwei Variationsphänomene im Zusammenhang mit der Realisierung des Partizips II und des Imperativs von sein zu nennen. Die sei/bisch-Linie befindet sich dabei im südlichen Teil des sogenannten „Sundgau-Bodensee-Gürtels“, während die Abgrenzung von südlichem Partizip II mit sein-Stamm und nördlichem Partizip II auf wesen-Stamm im nördlichen Bereich dieser breiten Übergangszone verläuft. Die meisten der genannten Charakteristika werden ausführlich in dem Kapitel zur Variablenanalyse in den Gesprächen der Waldshuter Informanten behandelt. 6.2 DIE INFORMANTEN UND DIE SPRACHDATEN Für die Region Waldshut-Tiengen werden zunächst vier Sprecher berücksichtigt, welche im REDE-Projekt den Informantenkern bilden. Zwei davon gehören der mittleren Generation der Polizeibeamten an und jeweils ein Informant repräsentiert die ältere und die jüngere Generation (vgl. ausführlich oben, Kapitel 4.2). WTALT-M Sprecher WTALT-M gehört zu den Vertretern der älteren Generation, die mit ihren mindestens 65 Jahren als direktes Bindeglied zwischen den Informanten der modernen Regionalatlanten – in diesem Falle vor allem der „Südwestdeutsche Sprachatlas“ (SSA), aber auch der „Sprachatlas der deutschen Schweiz“ (SDS) – und den REDE-Informanten der mittleren Generation angesehen werden kann. WTALT-M war zum Erhebungszeitpunkt 65 Jahre alt und repräsentiert (ähnlich wie WT1) einen dialekt- und ortsfesten Lauchringer. Seine Familie mütterlicherseits stammt aus Lauchringen, die des Vaters aus dem Wiesental im Übergangsgebiet zum Niederalemannischen. Allerdings habe er seine Kindheit in den Kriegsjahren vollständig bei seinen Großeltern mütterlicherseits verbracht und von seinem Vater sprachlich nichts übernommen. Zu Hause und im Ort sei ausnahmslos Dialekt gesprochen worden, auch mit den Übersiedlern, die nach dem Krieg einen Teil der Bevölkerung ausgemacht haben. Die Standardsprache habe er als ausschließlich geschriebene Sprachform in der Schule gelernt. Während sich der Lehrer im Unterricht um „Hochdeutsch“ bemüht hätte, hätten die Kinder mit Verlassen des Schulgebäudes sofort auf Dialekt umgeschaltet. Sowohl in seinen Berufen als auch im privaten Umfeld – seine Frau stammt aus dem Nachbarort – habe er stets Dialekt gesprochen. WT1 Der Sprecher WT1 als Vertreter der Sprechergruppe ‚Polizeibeamte des mittleren und gehobenen Dienstes‘ war zum Erhebungszeitpunkt 45 Jahre alt und stammt aus Lauchringen, wo er den überwiegenden Teil seines Lebens verbracht hat. Die Familie seiner Mutter stammt ebenfalls aus der Region, während die Familie sei109 Neuere Erkenntnisse zur Distribution des Markers -T im süddeutschen Raum liefert RABANUS (2008).

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Linguistische Struktur der Vertikale: REDE-Modellanalyse (Waldshut-Tiengen)

nes Vaters aus dem Schwäbischen stammt. Die Familie ist aber direkt nach der Geburt seines Vaters in die Region Lauchringen gezogen.110 WT1 gibt an, er sei mit dem dortigen Dialekt groß geworden und habe vor seiner Schulzeit keinen Kontakt mit dem „Hochdeutschen“ gehabt. In der Familie und im Ort sei immer nur Dialekt gesprochen worden. Auch heute spreche er in seiner Herkunftsfamilie, mit seiner Ehefrau und im Freundeskreis praktisch ausschließlich Dialekt. Die Standardsprache habe er erst in der Schule, und zwar als geschriebene Sprache gelernt. Erst in der Realschule sei von ihm verlangt worden, diese bis dahin rein geschriebene Form auch auszusprechen, was ihm schwer gefallen sei. WT2 Bei WT2, der zum Erhebungszeitpunkt 46 Jahre alt war, sind die sprachbiografischen Verhältnisse ein wenig anders: Er ist in Wutöschingen aufgewachsen und hat seine Kindheit bis zum 14. Lebensjahr dort verbracht. Nach einem Umzug innerhalb der Region ist er bis heute wieder in Wutöschingen ansässig. Seine Familie väterlicherseits stammt ebenfalls aus Wutöschingen, die Familie mütterlicherseits aus Polen. Dies führte dazu, dass WT2 bis zu seinem zehnten Lebensjahr den Dialekt der Region über seinen Vater und dessen Familie mitbekommen habe, danach wegen der Trennung seiner Eltern aber lediglich noch durch außerfamiliäre Kontakte, da die Mutter mit ihm nur „Hochdeutsch“ gesprochen habe. Seine Ehefrau stammt aus Lauchringen und sie spreche ebenfalls Dialekt – nach eigener Aussage etwas besser als er selbst. WT2 ist also als ein Sprecher einzustufen, der den tiefen Dialekt seines Heimatortes zwar in früher Kindheit innerhalb der Familie gelernt hat, bereits vor der Schule durch seine Mutter aber auch mit einer Form von „Hochdeutsch“ konfrontiert war. WTJUNG1 Sprecher WTJUNG1 ist der Sohn des Polizeibeamten WT1 und repräsentiert als 19-Jähriger die jüngste Generation von Sprechern, bei denen die Sprachprägephase als abgeschlossen betrachtet werden kann.111 Er hat die Schulausbildung abgeschlossen und befindet sich seitdem in der Ausbildung zu einem handwerklichen Beruf. Er wohnt noch zu Hause bei seinen Eltern in Lauchringen und hat auch sonst keine längeren Aufenthalte außerhalb der Region Waldshut-Tiengen gehabt. Auch WTJUNG1 gibt an, er sei im Dialekt primärsozialisiert, habe aber ab etwa der siebten Schulklasse beschlossen, nur noch „Hochdeutsch“ zu sprechen und dieses unter Nutzung der Neuen Medien (überregionale Internetkommunikation mit „Teamspeak-Programmen“) weiter zu verbessern. Den Dialekt habe er abgelegt und er lehne ihn für sich mittlerweile auch als „Bauerndeutsch“ ab.

110 Die schwäbische Herkunft des Vaters und dessen Mutter, die WT1 noch gekannt hat, sei ohne Einfluss auf seinen Dialekt geblieben, vielmehr habe WT1 sich als Kind immer über seine Schwäbisch sprechende Großmutter gewundert und sich gefragt: „Warum schwätzt die so anders als wir?“ 111 Siehe oben, Fußnote 71.

Die Informanten und die Sprachdaten

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In der vorliegenden Untersuchung wurde außerdem noch eine zusätzliche Sprecherin der älteren Generation in allen in Kapitel 4.2 vorgestellten Aufnahmesituationen aufgezeichnet. WTALT-F Die Sprecherin,112 die zum Aufnahmezeitpunkt 65 Jahre alt war, stammt aus dem unmittelbar an der Staatsgrenze zur Schweiz gelegenen Kadelburg und hat die meiste Zeit ihres Lebens auch dort verbracht (abgesehen von kürzeren Phasen der Ausbildung). Mittlerweile lebt sie im 9 km entfernten Grießen. Beruflich ist die Sprecherin stets im landwirtschaftlichen Bereich tätig gewesen, zunächst auf dem elterlichen Hof, seit 1967 auf dem eigenen Hof in Grießen. Die Besonderheit dieser Informantin ist, dass 1955 eine Aufnahme mit ihr für das „Zwirner-Korpus“ gemacht wurde – es handelt sich um eine freie Erzählung über ihren Lebensalltag als zwölfjähriges Kind. In dem Aufnahmeprotokoll wird sie als „sehr lebhaftes, handfestes Bauernkind, das alle Arbeiten auf dem elterlichen Hof mitmachen muß,“ charakterisiert. Im Jahre 2008 haben wir mit der Sprecherin Aufnahmen in allen Situationen des REDE-Projektes durchgeführt. Mit diesen Aufnahmen kann also ein Vergleich der Sprachverwendung dieser Informantin über 53 Jahre in Echtzeit angestellt werden.113 An zwei Stellen habe ich die vergleichbaren Aufnahmen von Sprechern aus drei Generationen mit weiteren Daten aus vorhandenen Korpora und Projekten ergänzt: zum einen mit den ältesten Aufzeichnungen, die für die (erweiterte) Region vorhanden sind, zum anderen mit Aufnahmen von Sprechern im Alter von WTJUNG1 aus dem IDS-Korpus „Deutsch heute“ (vgl. dazu oben, Kapitel 3.1). Wie die nach Geburtsjahren aufsteigend sortierte Anordnung der Informanten in Tabelle 6–1 erkennen lässt, liegen somit seit GEORG WENKERS Erhebung Daten von Vertretern fast aller Generationen vor (Ausnahme: um 1920 Geborene, die durch WS_GUE repräsentiert sein könnten). Der Aufnahmetyp „freie Erzählung“ bei den Sprechern der älteren Generation kann, da es sich bei den Gesprächspartnern der Aufnahmen um Dialektsprecher aus der Region handelt, als Aufnahme der Dialektverwendung im Alltag charakterisiert werden. Bei der „Map Task“ der jüngsten Informanten aus dem Korpus „Deutsch heute“ handelt es sich aufgrund 112 Die Mischung der Geschlechter bei den Informanten ist insofern als unproblematisch einzuschätzen, als in vergleichbaren Untersuchungen im alemannischen Sprachraum in Deutschland festgestellt werden konnte, dass „der externe Parameter ‚Geschlecht‘ in der Regel ohne Bedeutung“ (AUER 1990, 187) bleibt (vgl. dazu auch die laufende Untersuchung von SANDRA HANSEN und PHILIPP STOECKLE (Freiburg i. Br.) im Rahmen des DFG-Projekts „Phonologischer Wandel am Beispiel der alemannischen Dialekte Südwestdeutschlands im 20. Jahrhundert“). 113 LABOV (1994, 76–77) spricht im Zusammenhang mit der zeitversetzten Untersuchung derselben Individuen von panel-Studien, die er als „extremely valuable“ für diachrone Vergleiche bezeichnet. Bei panel-Studien sollen eigentlich identische Erhebungsinstrumente verwendet werden. Die Analysen der Aufnahmen von WTALT-F werden aber zeigen, dass ihr Sprachverhalten bei der alten und den aktuellen Aufzeichnungen in höchstem Maße vergleichbar ist.

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Linguistische Struktur der Vertikale: REDE-Modellanalyse (Waldshut-Tiengen)

der Bekanntheit der Gesprächspartner und der Konzentration auf die Aufgabe um ein in einer experimentellen Situation maximal spontanes Sprachverhalten, bei dem der Sprachverwendung nur ein Minimum an Aufmerksamkeit gewidmet wird.114 Beide Situationstypen sind somit den als „Freundesgespräch“ erhobenen Sprachdaten der vorliegenden Untersuchung vergleichbar. Informantenkürzel

Geburtsjahr

Belegort

Gesprächstyp(en)

Herkunft der Aufnahme

ZW451

1891

Immeneich

freie Erzählung

Zwirner-Korpus

WED39

1899

Horheim

freie Erzählung

SSA_UEH

1908

Ühlingen

freie Erzählung

WS_GUE

[Aufnahmejahr 1971]115

Gündelwangen116

Wenkersätze

WTALT-M

1940

Lauchringen

REDE-Situationen

WTALT-F

1943

Kadelburg

WT1

1960

Lauchringen

WT2

1959

Wutöschingen

REDE-Situationen

REDE

WTJUNG1

1989

Lauchringen

REDE-Situationen

REDE

WAL2

1989

Unteralpfen/ Waldshut

WAL3

1987

Hohentengen

Vorlesetext, Interview, Map Task Vorlesetext, Interview, Map Task

freie Erzählung (1955) + REDESituationen REDE-Situationen + FG Std.

Phonet. Atlas von Dtld. (PAD) Südwestdt. Sprachatlas (SSA) Badisches Wörterbuch REDE ZwirnerKorpus / REDE REDE

„Deutsch heute“ „Deutsch heute“

Tab. 6–1: Übersicht über alle Informanten aus der Untersuchungsregion Waldshut-Tiengen, für die Analysen durchgeführt wurden 114 Vgl. die ausführliche Charakterisierung solcher aufgabenbezogener kommunikativer Interaktionen und die Diskussion zum Thema „Natürlichkeit von Gesprächen“ in KEHREIN 2002, 159–163. 115 Für diese Aufnahme, die von BERND GRETHER im Jahr 1971 angefertigt wurde und die zu den Archivbeständen des Badischen Wörterbuchs gehört, liegt leider keine Information zur Sprecherin vor. Der „Explorator“, der von uns ausfindig gemacht werden konnte, erinnert sich leider nicht mehr an Einzelheiten der Aufnahme, sodass das Alter der Sprecherin nicht mit Sicherheit bestimmt werden kann. Ihre Äußerungen deuten aber darauf hin, dass sie gegen Kriegsende eine junge Erwachsene gewesen ist. 116 Gündelwangen ist der Ort, der am weitesten nördlich direkt auf der Grenze zum Mittelalemannischen liegt. Entsprechend weicht die Sprecherin in bestimmten Merkmalen von den Waldshuter Sprechern ab. Dennoch lässt sich auch durch diese Aufnahme die grundsätzliche Stabilität des Dialekts in der Region im diachronen Vergleich belegen (vgl. Kapitel 6.4).

Die linguistischen Variablen der Untersuchung

115

6.3 DIE LINGUISTISCHEN VARIABLEN DER UNTERSUCHUNG Mit den fünf Aufnahmen aus den 1950er und 1970er Jahren sowie den Daten aus GEORG WENKERS „Sprachatlas des Deutschen Reichs“, aus dem SDS und dem SSA liegen umfassende Informationen zum Laut- und Morpheminventar der Dialekte des Raums Waldshut-Tiengen vor. Da sich die vorliegende Untersuchung mit den vertikalen regionalsprachlichen Spektren zwischen den Dialekten und der Standardsprache beschäftigt, wurden aus diesen Inventaren diejenigen dialektalen Merkmale ermittelt, die systematisch mit standardsprachlichen Formen kontrastieren und somit zu linguistischen Variablen/Variationsphänomenen zusammengefasst werden können. Für diejenigen Variablen, die in den verschiedenen REDEErhebungssituationen – entweder als dialektale oder als standardsprachliche Varianten – so häufig auftreten, dass relative Anteile der Varianten sinnvoll berechnet werden können, wurden Frequenzanalysen durchgeführt. Diese Variationsphänomene werden im Folgenden als Erste beschrieben und dabei in Phänomene des Konsonantismus, des Vokalismus und der Nebensilben unterteilt. Darauf folgt die Charakterisierung von Variablen, für die keine Frequenzanalysen durchgeführt werden konnten. Um den Text ein wenig leserfreundlicher zu gestalten, habe ich jeweils Teile der Variablenbeschreibung, die für das Verständnis der Variablen und der kontrastierenden Varianten nicht unbedingt benötigt werden, in die Fußnoten verlagert. 6.3.1 Häufige Variablen – Konsonantismus 6.3.1.1 Die Variable ‹ch›-Tilgung Im Bereich des Konsonantismus wird zunächst eine Variable behandelt, bei der sich die Realisierung und die Nicht-Realisierung des auslautenden, je nach lautlicher Umgebung palatalen oder velaren/uvularen Frikativs, dem in der Schrift die Graphemfolge ‹ch› entspricht, gegenüberstehen. Es sei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die in den alemannischen Dialekten verbreitete Realisierung von standardsprachlichem ٪Ô٫ als ٪իٍչ٫ hier noch nicht behandelt wird. Diese beiden Varianten bilden eine eigene Variable, um die es im folgenden Kapitel gehen wird. Im vorliegenden Kapitel werden also ausschließlich die beiden Varianten standardkonforme Frikativrealisierung und regionalsprachliche Frikativtilgung gezählt. Die dialektale Tilgung des auslautenden Frikativs ist auf einsilbige Wörter beschränkt.117 117 Bereits bei WENKER finden sich für eine Reihe solcher Einsilber mehr oder weniger großräumige Leitformen, die den Ausfall des historischen ‫ڈ‬ի‫ڈ‬-Phonems belegen (ich, mich, dich, euch, sich, gleich (temporal), auch und noch). Auch im SDS sind für die Personalpronomina ich und euch Formen mit Ausfall des Frikativs verzeichnet. Im Fall von ich ergibt sich eine klare Verteilung von Varianten mit und Varianten ohne Frikativ. Danach ist die Realisierung des Frikativs abhängig von der Betonung. Steht das Pronomen isoliert oder trägt es den Hauptton, wird es mit, im Nebenton ohne auslautendes ‫ڈ‬ի‫ ڈ‬realisiert (vgl. SDS III, Karten

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Linguistische Struktur der Vertikale: REDE-Modellanalyse (Waldshut-Tiengen)

6.3.1.2 Die Variable ‫ڈ‬Ôٍիٍչ‫ڈ‬ Nachdem zuvor die dialektale Tilgung von auslautendem std. ‫ڈ‬Ôٍիٍչ‫ ڈ‬in bestimmten einsilbigen Wörtern behandelt wurde, geht es nun im Zusammenhang mit dem komplexen standardsprachlichen Phonem ‫ڈ‬Ôٍիٍչ‫ ڈ‬um die dialektal velare bzw. uvulare Aussprache des standardsprachlichen palatalen Allophons ٪Ô٫. Auch wenn die Frage nach dem phonologischen Status der Laute ٪Ô٫, ٪ի٫ und ٪չ٫ im Standarddeutschen ausführlich und kontrovers diskutiert wird,118 so kann doch als mehrheitlich anerkannt gelten, dass es sich um ein Phonem mit drei komplementär distribuierten Allophonen handelt. Dabei gilt nach KOHLER (1995, 80– 84) und WIESE (2000, 210–218): –

– –

٪Ô٫ erscheint nach vorderen (palatalen) Vokalen und Diphthongen (dich, ich, reichen, räuchern), nach Nasalen (manch, Mönch) und Liquiden (welche, Kirche) sowie wort- und morpheminitial (Chemie, -chen). Diese Bedingung ist insofern entscheidend, als sich sonst (Quasi-)Minimalpaare ergäben und somit eine phonologische Opposition entstünde (Kuchen : Kuh#chen, tauchen : Tau#chen oder rauchen : Frau#chen). ٪ի٫ erscheint nach den offenen, nicht palatalen Vokalen ٪‫ژ‬٤ٝ٧٫ (Bach, Lache) und ٪Þ٫ (doch, Loch). ٪չ٫ erscheint nach den halboffenen und geschlossenen hinteren (velaren) Vokalen ٪ӕٝ٫ (Buch, suchen), ٪Ԃ٫ (Sucht, Bucht) und ٪Ύٝ٫ (malochen, hoch) sowie dem Diphthong ٪‫ۅژ‬Ύ٫ (rauchen, tauchen).

Hinsichtlich des velaren und des uvularen Frikativs – nicht aber zwischen dem palatalen und dem velaren Laut – wird auch von freier Variation ausgegangen,119 sodass für die Standardsprache eine relativ klare Binarität angesetzt werden kann zwischen einem palatalen und einem post-palatalen Allophon.120 195–197). Bei euch sieht das Bild ein wenig differenzierter aus: Isoliert und im Hauptton finden sich sowohl öüx, üx als auch öü. Die Grenze zwischen diesen beiden Gebieten verläuft von Norden nach Süden etwa in der Mitte des Kantons Aargau (etwas östlich von Laufenburg). Im östlichen Gebiet bleibt der Frikativ auch im Nebenton erhalten, lediglich der Stammvokal wird reduziert, im westlichen Gebiet wird der Diphthong reduziert und der Frikativ fehlt auch hier (vgl. SDS III, Karten 209–210). In meinem Korpus ist kein systematischer Zusammenhang von ‹ch›-Tilgung und Äußerungsakzent wie im SDS erkennbar. Der SSA hat als vergleichbare Karte bisher lediglich das temporale Adverb gleich publiziert. Auch hier zeigt sich fast über das gesamte Erhebungsgebiet der Ausfall des auslautenden Frikativs (eine Ausnahme bildet nur der äußerste Nordwesten mit den Landkreisen Nord-EM, OG, RA und BAD). 118 WIESE (2000, 210) verweist auf „the latest survey of the bulky discussion“ in HALL (1992). Vgl. auch die Ausführungen in HERRGEN (1986, 25–46). 119 Vgl. WIESE 2000, 210, sowie HERRGEN 1986, 63, der ebenfalls von zwei Varianten ausgeht. 120 Historisch gehen beide Allophone – wie auch ‫ڈ‬ȍ‫ڈ‬, das im Standarddeutschen nur noch mor‫ ڿ‬Vgl. idg. *kյ mֈ tóm ‚hundert‘, got. pheminitial erhalten ist, – auf „urgerm. *‫ڈ‬ի‫