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German Pages 531 [532] Year 2009
Hand-und Lehrbücher der Pädagogik Herausgegeben von Dr. Arno Mohr Lieferbare Titel: Borchert, Einführung in die Sonderpädagogik Callo, Modelle des Erziehungsbegriffs Callo, Handlungstheorie in der Sozialen Arbeit Faulstich, Weiterbildung Faulstich-Wieland, Individuum und Gesellschaft Haefner, Gewinnung und Darstellung wissenschaftlicher Erkenntnisse insbesondere für universitäre Studien-, Staatsexamens-, Diplom- und Doktorarbeiten Musolff · Hellekamps, Geschichte des pädagogischen Denkens Schröder, Lernen – Lehren – Unterricht, 2. Auflage Schröder, Didaktisches Wörterbuch, 3. Auflage Skiera, Reformpädagogik, 2. Auflage Werning · Balgo · Palmowski · Sassenroth, Sonderpädagogik
Reformpädagogik in Geschichte und Gegenwart Eine kritische Einführung
von Professor
Dr. Dr. h.c. Ehrenhard Skiera
2., durchgesehene und korrigierte Auflage
OldenbourgVerlag München
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Für Edith, Gernot und Daniel, Britta und Julia Sophie
VII
Vorwort
Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wurde die überkommene „Alte Schule“ mit ihrer autoritären Struktur in weiten Kreisen der Erzieherschaft radikal in Frage gestellt. Die Kritik bezog ihren nachhaltigen Schwung u.a. aus der kultur- bzw. zivilisationskritischen Stimmungslage, die sich als Reaktion auf die Zumutungen der modernen Welt in allen Schichten der Gesellschaft gebildet hatte. Dabei waren dem Pessimismus nicht selten zugleich Hoffnungen auf eine Höherentwicklung des Menschen und der Gesellschaft oder gar auf eine paradiesische Vollendung der Menschheitsgeschichte beigemischt. Der Kulturpessimismus war also kein totaler. Reform schien möglich, eine endgültige Wende hin zum guten Leben den Hoffenden und Suchenden wahrscheinlich. Neben den verschiedenen Strömungen der Lebensreformbewegungen, die sich in den Dienst jener großen Wende gestellt sahen, und teilweise in Verbindung mit ihnen, setzte eine fruchtbare Phase des Suchens nach neuen, humaneren Formen der Erziehung und der Schule ein. Diese Suche führte zu zahlreichen neuen methodischen Ansätzen und Schulgestalten. Es wurden Alternativen zur herkömmlichen Pädagogik entwickelt, und es bildeten sich Traditionen heraus, die zum Teil bis heute weiterwirken. Kaum ein Bereich der Schulpädagogik, der konkreten Schularbeit und der Schulreform sowie der Erziehungstheorie blieb von den reformpädagogischen Strömungen unberührt – bis hinein in fach- und lernbereichsdidaktische Konkretionen. Bei aller Unterschiedlichkeit der einzelnen Reformlinien und Schulgestalten gibt es doch eine Reihe gemeinsamer pädagogischer Grundmotive. Deren ideelle Wurzeln reichen weit in die europäische Erziehungsgeschichte zurück; sie werden erneut und jetzt in radikalisierter Form vorgetragen: x x x
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gegen die rigide Herrschaft des Lehrplans steht die Orientierung an den Fragen, Bedürfnissen und Interessen des Kindes ( „Pädagogik vom Kinde aus“); gegen die Dominanz rezeptiver Lernformen und des „Frontalunterrichts“ in der „Buchschule“ steht ein „neuer“ Begriff des Lernens, nämlich als eine aktive, kreative, die Selbständigkeit fördernde, lebensverbundene und „natürliche“ Tätigkeit; gegen den „Zwangscharakter“ der „Alten Schule“ steht das Bild der „Neuen Schule“ als Modell eines guten, harmonischen, partnerschaftlichen Zusammenlebens – sie soll zu einem pädagogisch, sozial-ethisch und ästhetisch durchgestalteten Raum werden, zu einer anregungsreichen Lebensgemeinschaft; gegen das Übergewicht intellektuellen Lernens steht nun die Erziehung des „ganzen Menschen“ mit seinen intellektuellen, physischen, sozialen und emotionalen Fähigkeiten und Möglichkeiten.
An diesen Motiven konnten sich die reformorientierten Lehrerinnen und Lehrer sowie die stilbildenden Reformerinnen und Reformer als im Grunde Gleichgesinnte erkennen. Die keineswegs unerheblichen, zuweilen durchaus gegensätzlichen Vorstellungen der verschiedenen Reformkreise traten dabei in den Hintergrund, galt es doch, den gemeinsamen Feind, die „Alte Schule“ und die „Alte Erziehung“ mit ihren zahlreichen Momenten ängstigenden Zwanges, zu überwinden. Eine genauere Analyse der pädagogischen Reformbewegungen ergibt nun aber, dass jene damals wie heute wichtigen Motive in ihrem geschichtlichen Entstehungs- und theoretischen Begründungszusammenhang zu einem nicht unerheblichen Teil an fragwürdige Inhalte gebunden erscheinen. Diese Inhalte können nicht einfach abgespalten werden, etwa zu dem
VIII
Zweck, das „eigentliche“ reformpädagogische Anliegen zu „retten“. Reformpädagogik zeigt sich dann als ein außerordentlich facettenreiches, in sich widersprüchliches Diskurs- und Handlungsfeld. In ihm wird das problematische Verhältnis zwischen individuellem Bedürfnis – Entwicklung und Entfaltung des Einzelnen nach seinem eigenen Gesetz – und gesellschaftlicher Notwendigkeit – Anpassung an die gegebenen Verhältnisse respektive Einführung in die Kultur – im Sinne der eben genannten pädagogischen Grundmotive theoretisch und praktisch in neuer Weise thematisiert, zumeist im Horizont einer alles versöhnenden Vision, die das Heil des Ganzen (der Gesellschaft, gar der Welt) im Medium der „richtigen“ Erziehung kommen sieht. Dabei hat die Faszination des Entwicklungsgedankens aus dem 19. Jahrhundert, der Gedanke einer quasi-naturgesetzlich verlaufenden Höherentwicklung des Menschen und der Gesellschaft, eine entscheidende Rolle gespielt. In ihm wurde ein Versprechen gesehen, dessen historische Einlösung die Menschen aus der funktionalen Kälte der Moderne mit ihren als schmerzlich und zerstörerisch erfahrenen Entfremdungserscheinungen herausführt. Im reformpädagogischen Diskurs mischen sich nun aufklärerisches Gedankengut der Neuzeit – wie der Begriff der Individualität, des empirischen Wissens und der menschenbzw. kinderfreundlichen Erziehung – und rational nachvollziehbare Argumente der Zivilisations-, Erziehungs- und Schulkritik mit irrationalen, gar ausgesprochen antirationalen Theoremen und irrationalen Rettungsphantasien. Die einzelnen Linien und Einflussgrößen dieses Diskurses können jeweils unterschieden und einer Kritik unterzogen werden; sie können jedoch nicht in der Weise abgespalten werden, dass das pädagogisch „Wesentliche“ oder ihr „bleibender Gehalt“ in einer konsensfähigen Version hervortritt. Das Bild des Kindes ist zum Beispiel bei den wichtigen Konzeptionen der Reformpädagogik, meist in je eigener, zuweilen in rhetorisch abgeschwächter Weise, an den Erlösungs- und Entwicklungsglauben gebunden; ebenso die Rede von der Gemeinschaft. Eine „diskursive Reinigung“ der Begriffe käme einer inhaltlichen Neuformulierung gleich und bedeutete nicht die Rettung ihrer „eigentlichen“ Gehalte. Es gilt also, zunächst einmal die Begriffe in historischer und theoretisch-systematischer Perspektive einschließlich ihrer irritierenden Momente in den Blick zu rücken – soweit als möglich ungeachtet einer möglichen theoretischen oder praktischen Nutzanwendung. Dies schließt freilich die Perspektive der Nutzanwendung in pädagogischen Erkenntnisoder pädagogischen Handlungszusammenhängen (Beispiele: pädagogische Theoriebildung respektive aktuelle Schulreform) in einem zweiten Schritt keineswegs aus. „Was wäre zu lernen?“ lautet dann die Frage. Dieser Schritt wird aus heutiger Sicht in kritischer Absicht sowohl die Nähe als auch die Distanz zur Reformpädagogik herausarbeiten und reformpädagogische Konzepte u.U. partiell in neue Kontexte einfließen lassen. Diese „Partikel“ sind dann aber nicht mehr allein reformpädagogisch geprägt, sondern theoretisch oder praktisch „verwandelt“; denn sie sind in einen neuen theoretischen oder praktischen Kontext gestellt, dessen andere Momente die „ursprünglich“ reformpädagogischen affizieren. Das ursprüngliche Bild des „kreativen Kindes“ unterscheidet sich zum Beispiel in den einzelnen reformpädagogischen Konzeptionen schon erheblich voneinander. Das konnte wegen der Verschiedenheit der weltanschaulichen Hintergründe, der pädagogischen Ideen und gesellschaftspolitischen Optionen der Reformpädagoginnen und -pädagogen auch nicht anders sein. Von allen Kindbildern der reformpädagogischen Vergangenheit unterscheidet sich das „kreative Kind“ heute dann fundamental, sowohl in den heutigen Schulen der klassischen Reformrichtungen als auch in den „neuen“ Reformpädagogiken aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, weil auf dem Kind der Gegenwart (vermutlich) nicht mehr die irrationalen Hoffnungen der erwachsenen Generation auf die Entwicklung eines „höheren“ Menschen und einer besseren oder gar vollendet guten Welt mittels Erziehung lasten.
IX
Jene irritierende „Begleitmusik“ des Irrationalen hat so manchen Kritiker veranlasst, die Reformpädagogik insgesamt in den Orkus einer überholten, realitätsfernen und politisch wie pädagogisch gefährlichen Rhetorik zu werfen. Tatsächlich kann die Reformpädagogik auf intellektuell redliche Weise heute nur in einer kritischen Reflexion thematisiert und erschlossen werden. Das bedeutet aber nicht zwangsläufig, ihre Konzepte insgesamt zu desavouieren. Denn was an schulpädagogischen und methodischen Formen entwickelt wurde ist in seiner Vielfalt allemal beeindruckend und einer – nun selbstredend nicht affirmativen sondern kritischen – Forschungsanstrengung wert. Das mögliche „Erbe“ der Reformpädagogik wird dann kaum ein solches bruchloser Kontinuität sein können. Die Entwürfe und praktischen Initiativen verdienen gleichwohl unser Interesse in einem durchaus konstruktiven Sinne, dass hier nämlich unverzichtbare Hinweise zur Verlebendigung sowie zur Humanisierung und Demokratisierung von Schule, Unterricht und Erziehung gegeben worden sind. Das gilt – wie in den folgenden Kapiteln noch zu zeigen sein wird – selbst für solche Schul- und Unterrichtskonzeptionen, deren Gründerpersönlichkeiten demokratischen Werten im Politischen ferne stehen. Es ist mir deswegen ein besonderes Anliegen, bei allen wichtigen Schul- und Unterrichtskonzeptionen der „klassischen“ und der „neuen“ Reformpädagogik eine konkrete Vorstellung von der Unterrichtsorganisation und der unterrichtlichen Praxis zu vermitteln – soweit mir das in literarischer Form möglich ist. Vor allem Theoretischen ist es nämlich die „andere“ Praxis, von der auf die Orientierung suchende Erzieherschaft eine bleibende Inspiration ausging und weiterhin ausgeht. Die Möglichkeit des tiefer reichenden Verstehens der reformpädagogischen Praxis in Geschichte und Gegenwart hat freilich in jedem Fall eine Erhellung ihrer Entstehungszusammenhänge und ihrer theoretischen Konzepte zur Voraussetzung. Die reformpädagogischen Schulen bilden inzwischen eine zwar immer noch recht kleine, aber pädagogisch reichhaltige Facette in vielen nationalen Bildungslandschaften. Ihr Einfluss geht jedoch weit über den engeren Kreis dieser Schulen hinaus. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang an viele pädagogisch begründete Initiativen im Bereich der Schule allgemein, die vorher im Raum der Reformpädagogik eine praktische Ausformung gefunden haben. Ich verweise an dieser Stelle nur auf einige besondere schulische Initiativen: fächerübergreifendes, erfahrungsoffenes, erlebnisorientiertes, handlungsorientiertes Lernen, Freies Arbeiten und Wochenplanarbeit, Gruppenunterricht, Projektarbeit, Zeugnis ohne Noten – all das wird in verschiedenen Zusammenhängen noch zur Sprache kommen. Des weiteren ist zur Kenntnis zu nehmen, dass die Schulen der Reformpädagogik heute in Deutschland und in vielen anderen Ländern eine lebendige Tradition bezeugen, das heißt eine solche, die sich den Herausforderungen der Zeit stellt. In zahlreichen Schulen wurden und werden beispielhafte Lösungsansätze für Probleme entwickelt, die eine weite Beachtung finden, weil sie aktuelle pädagogische Fragen reflektieren; etwa: Fragen der multikulturellen Erziehung, der Integration von behinderten und nicht-behinderten Kindern, der ökologischen Erziehung, der berufsvorbereitenden oder –orientierenden Bildung, der Schule in sozioökonomisch benachteiligten Milieus. Aufgrund dieser Ansätze hat die Schule in den letzten 30 Jahren ihr Gesicht deutlich und wohl auch nachhaltig verändert, wenn auch noch immer viel zu tun bleibt. Vor allem das didaktische Leitbild der Arbeit in den Grundschulen reflektiert in einem hohen Maße reformpädagogische Anliegen. In neueren Richtlinien und bildungspolitischen Initiativen verschiedener europäischer Länder kommt dies seit den 1980er Jahren deutlich zum Ausdruck. Was kann nun in einer knappen kritischen Bilanz hinsichtlich zentraler pädagogischer Motive einer „Neuen Erziehung“ festgehalten werden?
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Der wichtige Gedanke einer „Pädagogik vom Kinde aus“ erfährt dort seine Relativierung, wo es darum geht, die Anforderungen des zukünftigen Lebens zu berücksichtigen. Hier ist die Denkfigur der „Vermittlung“ und nicht die der „Ableitung“ (aus kindlichen Interessen und Bedürfnissen) angebracht.
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Das reformpädagogische Prinzip der „école active“ (Ferrière) und des „entdeckenden“ und selbständigen Lernens darf nicht vergessen machen, dass in einer facettenreichen Kultur mit ihren sachlichen, sozialen und moralischen Aspekten vieles nur durch Lehre und durch die lebendige Begegnung mit Erwachsenen erschlossen werden kann. Die Rolle der Lehrperson kann nicht auf die eines Organisators kindlicher Lernprozesse (die dann quasiautonom ablaufen) reduziert werden. Das Zeigen, Erklären, Erzählen, das besinnliche, kritische, mahnende Gespräch haben ihren notwendigen Ort.
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Der reformpädagogische Ansatz der Schule als Lebensgemeinschaft muss auf seine realitätsfernen, harmonistischen Implikationen hin untersucht werden. Ein gleichwohl notwendiger Gemeinschaftsbegriff wird die Schule als einen Raum der Begegnung von Jugendlichen und Erwachsenen verstehen, in dem gegensätzliche Interessen und Konflikte gegeben sind und ausgetragen werden müssen.
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Die Reformpädagogik wollte mit ihrer Forderung nach „Lebensnähe“ dem Leben noch eine fraglos bildend-erziehende Kraft zusprechen. Gedacht war immer an ein „einfaches Leben“ mit überschaubaren sozialen und ökonomischen Strukturen. Das kommt in dem Leitsatz des Belgiers Ovide Decroly „par la vie – pour la vie“, „durch das Leben – für das Leben“, zum Ausdruck. Ein solches einfaches Leben, Sehnsuchtsbild der Lebensreform, dürfte es schon in der Entstehungszeit der reformpädagogischen Konzepte nur noch als Ausnahme gegeben haben. Heute bedarf es einer Revision des Begriffs der Lebensnähe. Sie wird die Komplexität der modernen Welt reflektieren, einschließlich der Tatsache, dass Kinder und Jugendliche sich vermehrt in multimedialen Räumen der Unterhaltung und Information bewegen.
Indessen ist es nicht nur die Schule, in der reformpädagogisches Gedankengut im Sinne einer „Neuen Erziehung“ Eingang gefunden hat. Schon die frühen Monographen haben darauf hingewiesen, dass in der Fürsorge- und Gefangenenerziehung sowie in der außerschulischen Jugendarbeit und Erwachsenenbildung vergleichbare Entwicklungen festzustellen sind. Sie wurden zuweilen in Personalunion mit Reformpädagoginnen und –pädagogen der Schule auf den Weg gebracht. Zwar bildet die Schule – der Sache nach wie ich meine angemessen – den Schwerpunkt der folgenden Darstellung; ggf. wird aber in den schulpädagogischen Kapiteln auf Außenwirkungen verwiesen, und der „Reformpädagogik im außerschulischen Bereich“ ist zusätzlich ein eigenes Kapitel gewidmet.
Flensburg, Gießen, Pfaffenwiesbach, Mekrijärvi
Ehrenhard Skiera
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Inhaltsverzeichnis Kapitel 1 Einführung: Reformpädagogik als Diskurs und Erziehungswirklichkeit – Zugangswege in einen vielschichtigen Zusammenhang . . . . .
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1 Zugang I: Hinweise zum widersprüchlichen Spektrum des Begriffs „Reformpädagogik“ . . . . . . . . . . . . . . 2 Zugang II: Reformpädagogik im Spiegel ihrer frühen Kritik (Regener, 1910) . . 3 Zugang III: Die „didaktisch-methodische Normalform der Schule“ und ihre Probleme 4 Zugang IV: Reformpädagogik – Versuch einer mehrperspektivischen, komplexen Arbeitshypothese . . . . . . . . . . . . . . . 5 Ein orientierender Blick auf den Gang der Darstellung . . . . . . .
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Kapitel 2 Frühe Schulkritik und die Idee einer menschenfreundlichen Schule. Historische Skizze über die Herausbildung einer notwendigen und aktuellen Idee . . . 1 Schule in der Antike – Die Rute als Zuchtmittel und erste Zweifel hinsichtlich ihres Nutzens . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Aurelius Augustinus (354-430) – Schulklage und die Idee des natürlichen Lernens . 3 Erasmus von Rotterdam (1469-1536) – Psychogramm des Lehrers und die Umrisse einer menschenfreundlichen Schule . . . . . . . . . . . 4 Johann Amos Comenius (1592-1670) – Die Schule als Werkstätte der Menschlichkeit und als Ort freudigen Lernens . . . . . . . . . . . . 5 Zusammenfassung und Ausblick – Wege zu einer menschenfreundlichen Schule . .
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Kapitel 3 Erziehung und das Unbehagen an der Kultur der Moderne: Zivilisationskritik, Lebensreform und die Reform der Erziehung im Übergang zum 20. Jahrhundert 1 Gesellschaft im Umbruch. Zum sozio-kulturellen Hintergrund reformerischen Aufbruchs – eine Epochenskizze . . . . . . . . . . 2 Protagonisten der Kulturkritik: Nietzsche, de Lagarde, Langbehn . . . . 3 Exkurs nach Amerika und England mit Carpenters Werk „Die Zivilisation: ihre Ursachen und ihre Heilung“ . . . . . . . . . . . 4 Wandervogel- und Jugendbewegung – „Aus grauer Städte Mauern ...“ . . 5 Gegenwelten: Lebensreform – Metaphern und Konkretionen . . . . 6 Zum Zusammenhang von Lebensreform und Reformpädagogik . . . . 7 „Das Jahrhundert des Kindes“ (Ellen Key) und die „Pädagogik vom Kinde aus“ . 8 Rettende Erziehung im Dienste eines „neuen Zeitalters“? . . . . .
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Kapitel 4 Arbeit und Kunst – Erziehung und Bildung im Medium einer vielschichtigen Aktivität . . . . . . . . . . . . . . . .
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Landerziehungsheime und verwandte Einrichtungen – Erziehung als Leben und Lernen in einer eigens gestalteten Welt . . . . . . . . . .
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1 Konzeptionen der Arbeitsschule . . . . . . . . . . . 1.1 Arbeit als Moment der Erziehung: ein Überblick in historischer und systematischer Sicht . . . . . . . . . . . 1.2 „Slöjd“ – Arbeitserziehung in Schweden, ihre Ursprünge, Methoden und Ziele 1.3 Georg Kerschensteiner (1854-1932) – Die Arbeitsschule im Dienst der Erziehung zum „brauchbaren Staatsbürger“ . . . . . . . 1.4 Hugo Gaudig (1860-1923) und Otto Scheibner (1877-1961) – Die Freie geistige Schularbeit im Dienste der werdenden Persönlichkeit . . . . 1.5 Sozialistische Erziehungs- und Schulkonzeptionen und das Beispiel der polytechnisch-industriellen Arbeitsschule von Pavel Petrovic Blonskij (1884-1941) 2 Die Kunsterziehungsbewegung . . . . . . . . . . 2.1 Einleitung und Überblick: Der „Gedanke der Kunsterziehung“, ideologisches Umfeld und Ziele . . . . . . . . . . . . . 2.2 Bildende Kunst . . . . . . . . . . . . . 2.3 Sprache und Dichtung . . . . . . . . . . . . 2.4 Musik und Gymnastik . . . . . . . . . . . . 2.5 Zu Umfang und Wirkungen der Kunsterziehungsbewegung . . . . Kapitel 5
1 Cecil Reddie und die „New School Abbotsholme“ . . . . . . . 2 Hermann Lietz, das „Deutsche Landerziehungsheim“ und die wichtigsten Folgegründungen . . . . . . . . . . . . . . 3 Edmond Demolins, seine „Ecole des Roches“ und Folgegründungen in Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . 4 Leonard Nelson, Minna Specht und das sozialistische Landerziehungsheim „Walkemühle“ . . . . . . . . . . . . . . 5 Exkurs: „Nachschulen“ in Dänemark – Die „Haslev-Efterskole“ als Beispiel . . . . . . . . . . . . . . . 1 Ausblick – und als Zusammenfassung: die Kennzeichen der Landerziehungsheime (L.E.H) nach Adolphe Ferrière . . . . . . . . . . .
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Kapitel 6 Die Montessori-Schule: Erziehung als Hilfe zur Arbeit an sich selbst nach dem eigenen Entwicklungsgesetz . . . . . . . . . . . 1 Maria Montessori (1870-1952) – Leben, Werk, Grundgedanken . . . . 1.1 „Ich bin Montessorianerin“ . . . . . . . . . . 1.2 „Casa dei bambini“ in San Lorenzo, Rom. Das „Mutterhaus“ der Montessoripädagogik . . . . . . . . . . . . . .
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1.3 Zur Vorgeschichte: Montessoris „Weg nach San Lorenzo“ . . . . . 1.4 Zur Folgegeschichte: Montessoris „Weg in die Welt“ . . . . . . Der weltanschauliche und erziehungstheoretische Hintergrund. Montessoris Denken im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und messianischem Sendungsbewusstsein . 2.1 Der medizinische Hintergrund: Itard und Séguin – Erziehung als physiologische Entwicklungshilfe . . . . . . . . . . . . 2.2 Der wissenschaftliche Hintergrund: Erziehung als wissenschaftlich begründete Hilfe zur Entwicklung des Menschen und der Menschheit . . . . 2.3 Der religiöse Hintergrund: Erziehung als messianisches Heilsgeschehen . . 2.4 Der soziale Hintergrund: Erziehungsreform als radikale Reform des Verhältnisses von Kind und Erwachsenem . . . . . . . . . . 2.5 „Kosmische Theorie“ und „Kosmische Erziehung“. Erziehung als Weg zum Frieden und zur universellen Harmonie . . . . . . . . . Das Kind und seine Entwicklung . . . . . . . . . . . 3.1 Das „normale“ Kind . . . . . . . . . . . . . 3.2 Die „sensitiven Perioden“ – Leitfaden der Konzentration und Normalisation . Der pädagogische „Zeit-Raum“ der Montessorischule – eine gestaltete Umwelt zur „freien“ Entwicklung des Kindes . . . . . . . . . . 4.1 Die „vorbereitete Umgebung“. Zentrale Momente ihrer räumlichen und pädagogisch-didaktischen Struktur . . . . . . . . . . 4.1.1 Das Kinderhaus und die verschiedenen „Übungen“ . . . . . 4.1.2 Die Schule des Kindes . . . . . . . . . . . 4.2 Der Lehrplan . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Die Lehrerin und der Gehorsam des Kindes . . . . . . . . 4.4 Die „Freiarbeit“ als Kern des Lerngeschehens. Ein Praxisbeispiel . . . Zur Beurteilung der Montessoripädagogik . . . . . . . . . Die Montessoripädagogik im systematischen Überblick . . . . . .
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Kapitel 7 Die Waldorfschule: Erziehung als Einführung und Einleben in den sinnlichübersinnlichen kosmischen Zusammenhang . . . . . . . .
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1 Einführung: Zur Ausbreitung, zur Gestalt und zum Wesen der Waldorfpädagogik . 2 Rudolf Steiner und die Waldorfschule. Innere und äußere Stationen auf dem Weg zur anthroposophischen Pädagogik, eine werkbiographische Skizze . . . . . 3 Der Mensch, seine Entwicklung und Erziehung in anthroposophischer Sicht . . 3.1 Die vier Wesensglieder des Menschen . . . . . . . . . 3.2 Die Entwicklungslehre: Geburt und Entwicklung der „Wesensglieder“ des Menschen unter dem Einfluss von Umgebung und Erziehung . . . . 3.3 Die vier Temperamente und ihre Berücksichtigung in Unterricht und Erziehung . 3.4 Der „Lehrplan“ der Waldorfschule – Grundlagen und Beispiele . . . . 3.5 „Exkurs“ ins Zentrum. Zusammenhänge in anthroposophischer Sicht: Eurythmie, die „schöpferische“ Kraft des Wortes und das „Rätsel der Sexualität“ . . 3.6 Schule und Unterricht: organisatorische und didaktisch-methodische Momente . 3.7 Der pädagogische „Zeit-Raum“ der Waldorfschule . . . . . . . 4 Zur Beurteilung der Waldorfpädagogik . . . . . . . . . . 5 Waldorfpädagogik im systematischen Überblick . . . . . . . .
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Kapitel 8 Die Dalton-Plan-Schule: Erziehung durch selbstverantwortliches Lernen für eine demokratische Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . 1 Einführung: Der Daltonplan. Pädagogische Grundfragen, organisatorische Momente, internationale Rezeption . . . . . . . . . . 2 Beispiele aus der niederländischen Praxis des Daltonplans . . . . . 3 Helen Parkhurst und der „Daltonplan“ – Eine werkbiographische Skizze . . 4 Das Ziel der Erziehung, die Prinzipien der Schularbeit und die neue Rolle des Lehrers . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Der Kern des methodisch-didaktischen Arrangements: „assignment“ und „graph“, die Aufgabe und die symbolische Repräsentation des Lernerfolges . . . 6 Die „Kind-Anthropologie“ und „Psychologie“ des Daltonplans . . . . 7 Zur Beurteilung des Daltonplans . . . . . . . . . . 8 Die Pädagogik des Daltonplans im systematischen Überblick . . . .
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1 Peter Petersen. Leben und Werk im Umriß . . . . . . . . . 2 Der weltanschauliche und erziehungstheoretische Hintergrund . . . . . 2.1 Erziehung, Gemeinschaft und Gesellschaft bei Petersen . . . . . . 2.2 Zum Verhältnis von Petersens Erziehungstheorie zum heutigen Jenaplan . . 3 Die pädagogische und kind-anthropologische Grundlegung des Jenaplans . . . 3.1 Die „Grundkräfte“ des Kindes und ihre Berücksichtigung in der Schule . . 3.2 Die Bildungsgrundformen Gespräch, Spiel, Arbeit und Feier . . . . . 3.3 Der Lehrplan und das Lernen des Kindes . . . . . . . . . 3.4 Die Aufgaben des Lehrers . . . . . . . . . . . . 4 Grundzüge der Schul- und Unterrichtsorganisation . . . . . . . . 4.1 Stammgruppen statt Jahrgangsklassen . . . . . . . . . 4.2 Wochenarbeitsplan statt Stundenplan . . . . . . . . . 4.3 Schulwohnstube statt Klassenzimmer . . . . . . . . . 4.4 „Charakteristik“ statt Zensuren und Zeugnissen . . . . . . . 5 Lernen und Leben des Kindes und Jugendlichen im „Zeit-Raum“ der Jenaplanschule . 6 Was wäre zu lernen? . . . . . . . . . . . . . . 7 Die Pädagogik des Jenaplans im systematischen Überblick . . . . . .
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Kapitel 9 Die Jenaplan-Schule. Erziehung in, durch und für die Gemeinschaft
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Kapitel 10 Die Freinet-Schule: Erziehung als Emanzipation und als Einübung in ein selbstbestimmtes Leben . . . . . . . . . . .
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1 Célestin Freinet (1896-1966) – Leben, Werk, Grundgedanken . . . . 2 Die weltanschaulichen, erziehungstheoretischen und psychologischen Grundlagen der Erziehung und Bildung . . . . . . . . . . 2.1 Die gesellschaftspolitische Zielperspektive: Ein Leben in Würde und Freiheit in einer Gesellschaft ohne Ausbeutung . . . . . . . .
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2.2 „Funktionelle Arbeit“ als Mittel zur Entwicklung der Persönlichkeit des Kindes . 2.3 Das „experimentelle Tasten“ als Weg erfolgreichen Lernens . . . . 2.4 Der „Freie Ausdruck“ und die „natürliche Methode“ als Bedingung lebensbedeutsamen Lernens . . . . . . . . . . . . . 2.5 Zum Problem des „Lehrplanes“: „Interessenkomplexe“ und der „Allgemeine Arbeitsplan“ als Richtschnur didaktischer Entscheidungen . . . . . 2.6 „Pädagogischer Materialismus“: Für die Verbesserung der konkreten Bedingungen der Erziehung, wider den überfordernden Idealismus und die falsche Rhetorik der pädagogischen Liebe . . . . . . . . . . 2.7 Schule des Kindes . . . . . . . . . . . . . Elemente der pädagogischen Praxis: Die materiellen, technischen, methodischdidaktischen Momente und die soziale Organisation der Schule . . . . . Das „Lehren“ des Lehrers und das Lernen des Kindes im „pädagogischen ZeitRaum“ der Freinet-Schule . . . . . . . . . . . . . Zur Weiterentwicklung und Wirkung der Freinet-Pädagogik . . . . . . Was wäre zu lernen? Kritische Anmerkungen in konstruktiver Absicht . . . Freinet-Pädagogik im systematischen Überblick . . . . . . . .
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Kapitel 11 Die Freie Alternativschule: Erziehung in Freiheit – durch Mitbestimmung zur Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . .
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1 Die Vielfalt der Alternativschulbewegung und ihr weltanschaulicher Hintergrund . 2 Zu den bildungspolitischen und pädagogischen Leitvorstellungen der Freien Alternativschulen . . . . . . . . . . . . . . . 3 Wegbereiter einer libertären Erziehung . . . . . . . . . . 3.1 Leo N. Tolstoi (1828-1910) und seine freie Bauernschule in Jasnaja Poljana . 3.2 Paul Robin (1837-1912) und sein Versuch einer libertären Erziehung im Waisenhaus zu Cempuis . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Francisco Ferrer (1859-1909) und die Bewegung der „Escuela Moderna“ . . 3.4 Alexander Sutherland Neill (1883-1973) und der radikale Ansatz einer freiheitlichen Erziehung in „Summerhill“ . . . . . . . . . 4 Organisatorische und didaktisch-methodische Merkmale und ihre erziehungstheoretischen Grundlagen . . . . . . . . . . . . . 5 Zur Beurteilung der Freien Alternativschulen . . . . . . . . . 6 Die Pädagogik der Alternativschulen im systematischen Überblick . . . .
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Kapitel 12 „Neue“ Reformpädagogik im Überblick. Schul- und Unterrichtskonzeptionen aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . 1 Zur Renaissance der „Education Nouvelle“ in Frankreich. Das Beispiel der Schule „La Prairie“ in Toulouse . . . . . . . . . . 2 „Community-Education“ – Gemeinwesenorienierte Erziehung in der Schule 3 „Reggio-Pädagogik“ – Erziehung und Persönlichkeitsentwicklung im Medium vielfältig reflektierter kreativer Tätigkeiten . . . . . . . 4 Die „Storyline-Methode“ – Lernen im Rahmen der Konstruktion einer komplexen Geschichte . . . . . . . . . . . .
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5 Exkurs: Anmerkungen zum Zusammenhang zwischen „neuer“ sowie „klassischer“ Reformpädagogik und Konstruktivismus . . . .
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Kapitel 13 Die Erweiterung des Lernbegriffs: Wege zu methodischer Vielfalt im Unterricht
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378 381 384 386 393
Offener Unterricht . . . . . . . . . . . . . . Freie Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . Unterricht nach dem Wochenplan . . . . . . . . . . . Gruppenunterricht und der Begriff der Freiheit in der pädagogischen Situation . . Projektunterricht . . . . . . . . . . . . . . . Die „Weltorientierung“ in niederländischen Reformschulen – Modell für einen projektorientierten, fächerübergreifenden Unterricht . . . . . . . 7 Persönliches Erleben als Ausgangspunkt des Lernens: Beispiele aus dem Anfangsunterricht im Lesen und Schreiben . . . . . . . . . . . 7.1 Lesen- und Schreibenlernen im Medium des Ausdrucks seelischen Tiefenerlebens. Die Methode Ashton-Warner . . . . . . . . . . . 7.2 Lesen- und Schreibenlernen im Medium der Darstellung eines individuell bedeutsamen Erlebnisses . . . . . . . . . . . . 7.3 Lesen- und Schreibenlernen im Medium der Darstellung eines gemeinsamen Erlebnisses . . . . . . . . . . . . . . . 8 Arbeitsmittel und Arbeitsecken: Der Klassenraum als Lernumgebung . . . . 9 Wege der Inneren Schulreform: Ihre Bedingungen und die Suche nach dem „ersten Schritt“ . . . . . . . . . . . . . . . . .
397 404 407 409 411 412 417
Kapitel 14 421
Zum Einfluß reformpädagogischen Denkens auf die Schulreform der Gegenwart 1 Reformpädagogik und ihre Wege in die Welt der Schule . . . . . 2 Neuere Entwicklungen im Primar- und Sekundarbereich in Deutschland am Beispiel Nordrhein-Westfalens . . . . . . . . . . . 3 Die Niederlande: Zur Reform des Bildungswesens unter dem Einfluß der Reformpädagogik – strukturelle und pädagogisch-konzeptionelle Aspekte . . . 4 Perspektiven der Schulentwicklung aus reformpädagogischer Sicht . . .
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421
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434 435 436
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438 440
Kapitel 15 Reformpädagogik in außerschulischen Bereichen – Ein Überblick
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1 Sozialpädagogische Bestrebungen: Jugendpflege, Fürsorgeerziehung und Reformansätze im Jugendstrafvollzug in Deutschland . . . . . 2 Erziehung im Raum eines „Jugendstaates“ – Beispiele aus der Fürsorgeerziehung in anderen Ländern . . . . . . . . . . . . . . 2.1 William R. George (1866-1936) und seine „Junior Republic“ . . . . 2.2 Janusz Korczak (1878-1942) und sein Waisenhaus „Dom Sierot“ . . . 2.3 Anton Semjonowitsch Makarenko (1888-1939), die „Gorkij-Kolonie“ und die „Dzerzinskij-Kommune“ . . . . . . . . . 2.4 Homer Lane (1875-1925) und sein „Little Commonwealth“ . . . .
XVII
2.5 Exkurs: Anmerkungen zu Makarenkos „Explosionsmethode“ und Lanes „Implosionsmethode“ . . . . . . . . . . . 2.6 Father Flanagan (1886-1948) und seine „Boys Town“ . . . . 3 Erwachsenenbildung und Volkshochschulbewegung . . . . . 4 „Kinderfreundebewegung“, „Kinderrepubliken“, „kämpfende Kinder“ – Organe und Formen proletarischer Erziehung . . . . . . .
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441 442 443
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456 465 471 475
Kapitel 16 Reformpädagogik – offene Fragen, Hinweise zum Weiterstudium
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1 Zur Rekonstruktion der Geschichte der Reformpädagogik – vom „Chaos“ über die „Einheit“ zur Vielfalt . . . . . . . . . . . 2 Zum „Kanon“ reformpädagogischer Initiativen und Motive; Nachträge . 3 Zum „Ertrag“ der Reformpädagogik . . . . . . . . . 4 Hinweise zum Weiterstudium . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis
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Personen- und Sachregister (erstellt von Arno Mohr)
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501
Einführung
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Kapitel 1
Einführung: Reformpädagogik als Diskurs und Erziehungswirklichkeit – Zugangswege in einen vielschichtigen Zusammenhang Es gibt kaum einen Gegenstandsbereich in der erziehungswissenschaftlichen Diskussion, der ähnlich umstritten ist wie die Reformpädagogik. Das gilt für einzelne ihrer Richtungen ebenso wie für Bilanzierungsversuche hinsichtlich ihrer Bedeutung und Wirksamkeit, hinsichtlich der Frage nach den ihr zugehörigen Reformmotiven und der Summe ihrer „Bewegungen“ sowie hinsichtlich ihrer historischen Einordnung im Ganzen. Dabei geht es nicht mehr nur um die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der Reformpädagogik auf dem Hintergrund einer – wie auch immer zu beurteilenden – identifizierbaren Theorie und Praxis einer „anderen“ Erziehung. Es geht auch um die Möglichkeit einer sinnvollen Verwendung des Begriffs „Reformpädagogik“ überhaupt. Halten wir dies als eines der Hauptmotive der Reformpädagogik zunächst einmal fest: Sie stellt den Versuch dar, gegen die überlieferte, Angst generierende „alte“ Erziehung einer demgegenüber „neuen“ zum Durchbruch zu verhelfen, die das Glück des Kindes im Auge hat und die Zustimmung des Kindes sucht. Das trifft in etwa einen zentralen psychologischen Aspekt des heutigen Verständnis des Begriffs, in so weit er im Rahmen eines auf die Reform der Schule und des Unterrichts gerichteten Diskurses verwendet wird. Er knüpft dann, sofern die historische Dimension einbezogen wird, an frühere Beispiele einer „besseren“ Praxis oder an die zahlreichen, seit Jahrzehnten und bis heute lebendigen schulpädagogischen Traditionen an, die eben diese „neue“ Erziehung anschaulich zu Bewusstsein bringen. Ihre Kenntnisnahme ist häufig mit dem Gedanken verbunden, das „Neue“ bei den „anderen“ Schulen als Inspirationsquelle für die Entwicklung der eigenen Praxis bzw. für die Lösung aktueller pädagogischer Probleme zu nutzen. Dass sich in dem Begriff „Reformpädagogik“ selber widersprüchliche, ja problematische Sach- und Denkverhalte verbergen, wird in der pragmatischen Perspektive ihrer möglichen Nutzanwendung dann oft nicht gesehen oder von vornherein den Spezialdiskursen zur Bearbeitung überlassen. Was unter „Reformpädagogik“, unter „Neuer Erziehung“, „New Education“ oder „Education Nouvelle“ zu verstehen ist, soll in einer ersten Annäherung mit dem Blick auf die heutigen Kontroversen in der Erziehungswissenschaft erschlossen werden. Da fällt zunächst ins Auge, dass die anhaltende Faszination durch einen offensichtlich facettenreichen, in sich widersprüchlichen oder als widersprüchlich wahrgenommenen Denk- und Sachverhalt eine beachtliche Anzahl von Ansichten und Einsichten hervorgebracht hat. In einem zweiten Schritt soll die Reformpädagogik im Spiegel ihrer frühen Kritik zu Wort kommen. Bereits dort finden sich zahlreiche Gründe, die zum Teil bis heute die kontroverse Debatte bestimmen. Auf diesem Hintergrund kann dann auch die „didaktisch-methodische Normalform der Schule“ – das ist der dritte Schritt dieser Einführung – zur Sprache gebracht werden. An der Form der von ihr so genannten „Alten Schule“, ihren immanenten Problemen, ihrem Erfolg und ihrer daraus resultierenden strukturellen Lebensfähigkeit arbeitet sich die Reformpädagogik in erster Linie ab. All das kann dann zu einer mehrperspektivischen Definition oder einer Arbeitshypothese zum Begriff „Reformpädagogik“ führen, die den damit gemeinten Denk- und Sachverhalt in seiner Komplexität, Widersprüchlichkeit und in seinen kritischen Reflexen mitbedenkt. Die Gehalte der Reformpädagogik können intellektuell und historisch redlich nur in kritisch-diskursiver Form erschlossen werden.
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Reformpädagogik
Zugang I: Hinweise zum widersprüchlichen Spektrum des Begriffs „Reformpädagogik“
Heiner Ullrich unternahm den Versuch, die verschiedenen Sicht- und Beurteilungsweisen im erziehungswissenschaftlichen Diskurs der letzten Jahre herauszuarbeiten. Schon der Titel seines 1990 erschienenen Beitrages rückt die Reformpädagogik in eine kontroverse Perspektive: „Die Reformpädagogik. Modernisierung der Erziehung oder Weg aus der Moderne?“1 Ich gebe seinen Gedankengang in Grundzügen wieder, nehme ihn aber darüber hinaus auch als Wegweiser in die frühe Historiographie sowie zu weiterführenden Fragen und neueren Veröffentlichungen. Ullrich unterscheidet im Wesentlichen vier Herangehensweisen und ordnet diesen die verschiedenen Versuche einer Gesamtdarstellung oder Gesamtwertung der Reformpädagogik zu: (1) Eine „Trivialisierung der Reformpädagogik zum déjà vu“ sieht er etwa in Oelkers kritischer Dogmengeschichte zur Reformpädagogik, die den Nachweis zu erbringen sucht, dass die These einer mit der Reformpädagogik gegebenen eigenen, in sich differenzierten, aber im Wesentlichen doch gleichgerichteten Epoche der Erziehungsgeschichte, die sich schwerpunktmäßig in den Jahren zwischen 1890 und 1932 abspielt, nicht haltbar ist.2 Oelkers‘ Versuch ist ein Angriff auf den von den Monographen der Reformpädagogik behaupteten Kanon an neuen pädagogischen Reformmotiven und Reformbewegungen, wie er sich in den Arbeiten von Nohl3 (1933) und später in den Arbeiten von Scheibe4 (1969) sowie Röhrs5 (1980) in erweiterter, differenzierter und (besonders bei Röhrs) um die internationale Dimension bereicherten Form findet respektive wiederfindet. Nohl klammert das internationale Moment der Reformpädagogik, welches in manchen früheren Arbeiten anderer Autoren durchaus Beachtung gefunden hatte (Ferrière, Petersen)6, weitgehend, wenn auch nicht vollständig, aus. Er schickt sich an, eine umfassende „Theorie der Bildung“ zu entwerfen. Nohl gilt als ein führender Repräsentant der „Geisteswissenschaftlichen Pädagogik“. Der Kern ihres wissenschaftlichen Programms besteht darin, in der nachgängigen Reflexion der geschichtlich gegebenen „Erziehungswirklichkeit“, die ihr immanente Theorie zu ermitteln. Diese Theorie soll dann – das ist ihr pragmatischer Sinn –maßgeblich das erzieherische Handeln bestimmen. Insbesondere Nohls Konzept des „Pädagogischen Bezuges“ ist späterhin – selbstverständlich auch kontrovers – viel diskutiert worden. Die „Erziehungswirklichkeit“ ist nun keine von der übrigen Wirklichkeit abgehobene Größe. In der „Pädagogischen Bewegung“ sieht Nohl einen vielfältigen, insgesamt heterogenen Reflex auf die industrielle Zivilisation. In ihr wurde mit der Fragmentierung und Funktionalisierung aller Lebensbereiche, mit der Auflösung alter familialer und religiöser Bindungen sowie der Bildung antagonistischer gesellschaftlicher Klassen (Bürgertum, Arbeiterklasse) das „Humanitätsideal unserer klassischen Welt zerstört“. Dies brachte im 19. Jahrhundert den Verlust des „Selbstwert(es) des Subjekts“ mit sich – und hierin sieht Nohl das einheitliche Motiv der äußerlich vielfältigen „Pädagogischen Bewegung“: es handelt 1
Ullrich, Heiner (1990): Die Reformpädagogik. Modernisierung der Erziehung oder Weg aus der Moderne?, in: Z. f. Päd, 36(1990), Heft 6 (Vgl. ebd. auch: Berg, Hans Chr.: Bilanz und Perspektiven der Reformpädagogik.) 2 Oelkers, Jürgen (1989): Reformpädagogik. Eine kritische Dogmengeschichte, Weinheim u. München: Juventa 3 Nohl, Herman (1949): Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie, Frankfurt am Main: G. Schulte-Bulmke (Erstauflage: 1933) 4 Scheibe, Wolfgang (1994) Die Reformpädagogische Bewegung 1900-1932. Eine einführende Darstellung. Mit einem Nachwort von Heinz-Elmar Tenorth, Weinheim und Basel: Beltz (10. Auflage. Erstauflage 1969) 5 Röhrs, Hermann (1980): Die Reformpädagogik. Ursprung und Verlauf in Europa, Hannover u.a.O.: Schroedel (danach mehrere Neuauflagen) 6 Ferrière, Adolphe (1928): Schule der Selbstbetätigung oder Tatschule, Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger (Mit einem Vorwort von Peter Petersen. Erstauflage des Originals „Ecole Active“ 1921) Petersen, Peter (1926): Die Neueuropäische Erziehungsbewegung, Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger
Einführung
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sich bei ihr um eine rettende Gegenbewegung, die in ihrer Vielfalt, sogar noch in „ihrem Gegeneinander“ in relativer Autonomie pädagogisch für „das Ganze“ wirkt, „das aus ihnen zusammenwachsen soll“.7 Das „Gegeneinander“ der Bewegung – auch jenes der antagonistischen gesellschaftlichen Kräfte – wird von Nohl einer näheren Betrachtung nicht weiter für würdig befunden, da es ihm lediglich um die von ihm entdeckte Spur der alle Gegensätze überwölbenden vereinigenden Kräfte geht. Die „pädagogische Bewegung“ ist ihm also keine bloße Spiegelung oder Ausdruck dieser neuen, modernen Zersplitterung des Daseins, sondern hinter allem steht „eine Einheit“, eine im „System des Lebens“ selbst gelegene historische Gesetzmäßigkeit, die den „Zusammenhang des Ganzen“ wieder herstellt und mit dem Ganzen das „Subjekt“ bzw. die „Persönlichkeit“ rettet. Das „neue Menschentum“ wird so historischgesetzmäßig pädagogisch „jedem einzelnen“ zugänglich gemacht (insbesondere etwa in der Form der „Einheitsschule“). Die Bewegungen, die Nohl näher ins Auge fast, sind die folgenden: Jugend- und Volkshochschulbewegung (beide als „pädagogische Volksbewegung“ deklariert); Kunsterziehungs-, Arbeitsschul-, Landerziehungsheimbewegung und – im Zusammenhang logisch etwas befremdlich plaziert – „Die sittliche Selbsttätigkeit und die Schulverfassung“ (als die „pädagogischen Reformbewegungen“) sowie schließlich die „Einheitsschulbewegung“ (als „pädagogische Bewegung in der Schule“). Insgesamt zeigt sich bei Nohl eine deutliche Akzentuierung des schulpädagogischen Bereichs. Das entspricht durchaus der Wirklichkeit, denn Reformpädagogik war – und sie ist es bis heute – überwiegend eine Sache der Schule. Oelkers zeigt nun, dass es eine „Reformpädagogik vor der ‚Reformpädagogik‘“ in einem Umfang gegeben hat, dessen Kenntnisnahme der letzteren ihren besonderen Status raubt. „Oelkers‘ Hauptthese lautet: Was die Geschichtsschreibung ‚Reformpädagogik‘ nennt, ist keine neue Epoche mit einer originären und originellen Theorie und Praxis der Erziehung, sondern lediglich die Fortsetzung des Projekts der neuzeitlichen Pädagogik. Für OELKERS ist seit COMENIUS und erst recht seit ROUSSEAU Pädagogik immer ‚Reformpädagogik‘ gewesen in dem Sinne, dass an die richtige Erziehung die Verbesserung der Welt geknüpft ist.“8 Das gegenüber der Vor-Reformpädagogik Neue sieht Oelkers im Wesentlichen nur (a) in der besonderen Zuspitzung des Konzeptes der „Pädagogik vom Kinde aus“, die zu einer problematischen Fassung des Kindbildes bzw. zu einer Mythifizierung oder gar Mystifizierung des Kindes geführt habe sowie (b) in der vielfach aufweisbaren, als solche ebenfalls nicht originär-reformpädagogische Gemeinschaftsideologie: Schule etwa als harmonische, „organische“ Lebensgemeinschaft und Modell der zukünftig besseren Volksgemeinschaft. Das Gemeinschaftsdenken habe eine besondere Anfälligkeit für totalitäre „völkisch-‚rechte‘“ und „menschheitssozialistisch-‚linke‘“ Verirrungen zur Folge gehabt. Man kann nun gegen Oelkers allerdings die Ansicht begründen, dass diese Zuspitzungen durchaus eine neue Qualität in den pädagogischen Diskurs einbringen, nämlich die Unbedingtheit, mit der das Heil oder die Heilung der Welt über erzieherisches Handeln bzw. über die heilenden – zu schützenden und zu fördernden – Kräfte des unverdorbenen, noch unschuldigen Kindes erwartet wird. Dieser pädagogische Glaube hatte zudem weitreichende praktische Folgen. Das dezidiert ideen- respektive „dogmengeschichtliche“ und ideologiekritische Interesse Oelkers‘ bringt es mit sich, dass die Praxis der Reformpädagogik nicht so recht in den Blick gerät, vor allem nicht als eine Praxis, die möglicherweise „ein neues methodisches Instrumentarium, neuartige institutionelle und organisatorische Alternativen oder wichtige Belege eines Gegendiskurses im Sinne einer Humanisierung der Erziehungspraxis“9 in sich birgt. Allerdings: ein solches praktisches Erkenntnisinteresse gegenüber der Reformpädagogik kommt ohne eine entschieden ideengeschichtliche und ideologiekritische Reflexion nicht aus – schon deshalb nicht, weil über die bloße Anwendung erziehungspraktischer Regeln und 7
Vgl. Nohl, a.a.O., S.3-11 (Einleitung) Ullrich (1990), a.a.O., S.895f 9 Ebd., S.900 8
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Reformpädagogik
Konzepte durchaus die Gefahr der unbewussten Übernahme zweifelhafter Theoriemomente gegeben ist. Selbst – um ein Beispiel zu geben – ein so harmlos und geradezu selbstverständlich klingender Satz wie der von Peter Petersen, dem Begründer der „Jenaplanschule“, „In unserem Gruppenraume darf nur das geschehen, was alle gemeinsam wollen...“10 bedarf der kritischen Reflexion; denn diese zunächst vernünftig anmutende Anti-Chaos-Regel hat durchaus ihre eigenen Tücken. Wer ist der Autor der Regel; wer der Repräsentant des gemeinsamen Willens? (Petersen gibt eine eindeutige Antwort, die aber in Widerspruch zu diesem „Gesetz der Gruppe“ steht: es sind „die Erwachsenen“.) Welche Rolle hat das einzelne Kind bei dessen Formulierung? Wer hat das letzte Wort im Konfliktfalle? Ist die Möglichkeit eines Konfliktes überhaupt vorgesehen? Gibt es einen „Minderheitenschutz“, oder: was ist mit dem Kind, das sich dem gemeinsamen Willen nicht fügen will? Wenn das widersetzliche Kind als „Glied“ (Petersen) in der Gruppe bleibt: kann dann noch von einem gemeinsamen Willen gesprochen werden? Was besagt der Glaube an die Möglichkeit eines gemeinsamen Willens; es handelt sich ja immerhin um Schulklassen mit mehreren Duzend Kindern? – und weitere Fragen, die alle das Verhältnis des Einzelnen zu einer (ihm über- oder untergeordneten, ihm ggf. feindlich oder freundlich gegenüberstehenden) Gemeinschaft oder sein Verhältnis zum Mitschüler und zur Lehrperson betreffen. – Diese und andere im engeren Sinne methodischkonzeptuelle Fragen sind weder in theoretisch-systematischer, historischer noch pragmatischer Hinsicht ohne ideen- oder ideologiekritische Sicht redlich zu beantworten. Die Möglichkeit solcher Fragen ist im übrigen selbst historisch gegründet. Die Fragen reflektieren in sich den modernen Zweifel an jeglicher Form eines harmonisierenden Einheitsdenkens, wie es in den frühen grundlegenden Diskursen der Reformpädagogik und in abgeschwächter Form später bei Nohl zu finden ist. Hinter der Einheitsrhetorik verbirgt sich fast immer ein Herrschaftsanspruch, der nicht nach den wirklichen Interessen und Bedürfnissen seiner Adressaten fragt. (2) Als weitere Herangehensweise nennt Ullrich die „Monumentalisierung der Reformpädagogik zur epochalen Welterziehungsbewegung“. Sie bringt zugleich die auch grundsätzlich gegebene Schwierigkeit zu Bewusstsein, Reformpädagogik begrifflich eindeutig zu fassen. Als wichtigster Repräsentant dieses Ansatzes ist Hermann Röhrs zu nennen. (Eine dezidiert internationale Sicht bereits im Werktitel hatte m.W. erstmalig Peter Petersen mit seiner Arbeit „Die Neueuropäische Erziehungsbewegung“ 1926 vorgelegt11. Sie beruht auf Vorträgen, die Petersen wenige Jahre zuvor an der Universität Kopenhagen gehalten hatte. Dieser frühe Versuch einer Darstellung und Deutung der Reformpädagogik im internationalen Rahmen wird von Röhrs zwar erwähnt, allerdings in seinem gesellschaftspolitischen Gehalt – „Neues Europa“ als eine aus der Not geborenen Gemeinschaft friedlich miteinander lebender Völker – nicht näher gewürdigt. Petersens Versuch ist überhaupt trotz seines über die Schule hinausreichenden Perspektiven- und Detailreichtums von der Erziehungswissenschaft wenig beachtet worden. Auch Nohl kennt Petersen nur ganz am Rande, seine „Neueuropäische Erziehungsbewegung“ überhaupt nicht und selbst bei dem letzten großen Versuch einer Forschergruppe, die „Internationalität der Reformpädagogik“ umfassend in den Blick zu rücken, sucht man einen Hinweis auf dieses Werk vergeblich.12) Röhrs hatte nach zahlreichen Vorarbeiten zum
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Petersen, Peter (1971): Führungslehre des Unterrichts, Weinheim u.a.O.: Julius Beltz, S.71 (Erstauflage: 1937) Petersen, Peter (1926): Die Neueuropäische Erziehungsbewegung, Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger Petersen verweist darin auch auf außereuropäische Beispiele; denn „Es ist im Zeitalter eines Weltverkehrs kaum möglich, dass solche Bewegung auf einen Kontinent beschränkt bleibt.“ (S.5) Er nennt u.a.: Tagores Schule „Haus des Friedens“ in Shantinitekan, Deweys Versuchsschule an der Universität Chicago, Parkhursts „DaltonPlan-Schule“ und weitere Versuche in Amerika. 12 Oelkers, Jürgen und Osterwalder, Fritz (Hsg.) (1999): Die Neue Erziehung. Beiträge zur Internationalität der Reformpädagogik, Bern u.a.O.: Peter Lang 11
Einführung
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Thema13 1980 eine Monographie mit dem Titel „Die Reformpädagogik. Ursprung und Verlauf in Europa“ und schließlich (1994 in gemeinsamer Herausgeberschaft mit Volker Lenhart) ein Sammelwerk „Die Reformpädagogik auf den Kontinenten“14 vorgelegt. Er reflektiert darin u.a. die Schwierigkeit einer „eindeutige(n) Definition“, zitiert zustimmend Cremins 1961 in seinem Werk „The Transformation of the School. Progressivism in American Education 1876-1957“15 formuliertes Diktum „Non exists, and none ever will“, schlägt aber dennoch eine „begriffliche Eingrenzung“ vor. Dieser Versuch ist durchaus notwendig, denn wo es keinen Begriff gibt und sei er auch noch so wenig eindeutig, da kann es zwar immer noch ungefähr zu benennende Erlebnisse, Erfahrungen, Überzeugungen, Vermutungen geben, aber keinen rationalen Diskurs. Auf diesen Versuch werde ich weiter unten im Zusammenhang mit der Entwicklung einer komplexen Arbeitsdefinition, die die kontroverse Diskussion um die Reformpädagogik als Hinweis auf ihre innere Widersprüchlichkeit ernst nimmt und mitreflektiert, noch näher eingehen. Bei Röhrs bekommt nun die Internationalität den definitiven Status eines Kriteriums der Reformpädagogik. Man mag darüber streiten, ob das Etikett „Weltbewegung“ berechtigt ist oder nicht. Die internationalen Wechselbeziehungen und konzeptionellen Wechselwirkungen; der durch eine breite eher informelle pädagogische Touristik belebte sowie im Rahmen internationaler Vereinigungen organisierte Gedankenaustausch (z.B. durch die Aktivitäten wie Zeitschriften und Kongresse der 1921 in Calais gegründeten „New Education Fellowship“ mit ihren zahlreichen nationalen Sektionen); die internationale Verbreitung vieler Schul- und Unterrichtskonzeptionen der „Neuen Erziehung“ – all das belegt in jedem Fall die Notwendigkeit der internationalen Perspektive. Röhrs weist auch darauf hin, dass die nationale Blickverengung gelegentlich diesen Zusammenhang aus den Augen verloren hat. „Der Stolz auf die internationale Anerkennung der deutschen Arbeitsschule, wie sie von Nohl formuliert wurde (Nohl 1947, 49), ist berechtigterweise mit dem Hinweis in Frage gestellt worden, dass eine Untersuchung des deutschen Arbeitsschulbegriffs zeigen könnte, wie stark er bereits mit internationalen Motiven (Helmchen 1987, 59) durchsetzt ist.“16 Röhrs Leistung besteht u.a. darin, auf der Grundlage umfangreicher eigener Forschungen den Versuch einer mehrperspektivischen Definition gewagt und darin auf die wie auch immer zu begründende Notwendigkeit (erneut) hingewiesen zu haben, die internationale Dimension zu berücksichtigen. Dass die kritische Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der Internationalität der Reformpädagogik sich inzwischen selbst zu einem eigenen Diskursfeld ausgeweitet hat, darauf sei wenigsten am Rande hingewiesen. Meines Wissens hat erstmalig Jürgen Helmchen 1987 auf die Probleme einer methodologisch unbedachten Etikettierung in Richtung Internationalität aufmerksam gemacht. Er weist auf die Gefahr einer nur oberflächlichen Wahrnehmung hin, die die national oder kulturell bedingten, oftmals erheblichen inhaltlichen Differenzen bei ansonsten gleicher oder ähnlicher Rhetorik übersieht.17 (3) In dem von Ullrich hervorgehobenen dritten Ansatz der „Auflösung der Reformpädagogik zur Fiktion und Regression“ liegt der wohl schärfste Versuch einer vernichtenden Kritik, der freilich nicht lange unwidersprochen geblieben ist. Als wichtigster Vertreter dieses Ansatzes nennt Ullrich Klaus Prange und als seinen Opponenten Horst Rumpf. Prange „vertritt in 13
U.a.: Röhrs, Hermann (1977): Die Reform des Erziehungswesens als internationale Aufgabe. Entwicklung und Zielstellung des Weltbundes für Erneuerung der Erziehung, Rheinstetten: Schindele Verlag 14 Röhrs, Hermann und Lenhart, Volker (Hsg.) (1994): Die Reformpädagogik auf den Kontinenten. Ein Handbuch, Frankfurt am Main u.a.O.: Peter Lang 15 Cremin, Lawrence A. (1961): The Transformation of the School. Progressivism in American Eduction 18761957, New York: Vintage Books (Random House) 16 Röhrs (1994), a.a.O., S.17 17 Helmchen, Jürgen (1987): Die Internationalität der Reformpädagogik – vom Schlagwort zur historischvergleichenden Forschung, Oldenburg: Oldenburger Universitätsreden Nr. 5. Vgl. auch Helmchens Beitrag in: Oelkers/Osterwald (1999), a.a.O. sowie die Beiträge in nämlichem Buch insgesamt.
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Reformpädagogik
scharfer Zuspitzung die These, dass die NOHLsche ‚Pädagogische Bewegung‘ gesellschaftsgeschichtlich gesehen eine Fiktion war und dass die ‚Pädagogik vom Kinde aus‘ lebensgeschichtlich betrachtet eine anonymisierte infantile Regression (ihrer Protagonisten – E.S.) darstellt. Die durchschlagende Wirkung der NOHLschen Synthese aller möglichen Praxen und Konzeptionen zur ‚reformpädagogischen Bewegung‘ führt Prange in erster Linie darauf zurück, dass die ‚neue Erziehung‘ hier als Lösung einer lebensgeschichtlichen Sinn- und gesellschaftlichen Kulturkrise inszeniert wird; sie soll zur ‚Wiedergesundung‘ bzw. zur Kompensation der Enttäuschung des Bildungsbürgertums und der ‚verspäteten‘ Nation insgesamt über den verlorenen (Ersten – E.S.) Weltkrieg dienen.“18 Dies habe bei manchen Vertretern der Reformpädagogik auch zu einer Indifferenz und affirmativen Anfälligkeit gegenüber politisch-totalitären Versuchungen wie den Nationalsozialismus geführt. Sowohl für die Regressions- wie die Kompensationsthese wird man gewiss zahlreiche Belege finden, nicht nur in der Nohlschen Komposition, sondern bereits in den frühen kulturkritischen und reformpädagogischen Diskursen um die Jahrhundertwende, vor allem (und hier in einer universellen, nicht nationalistischen Perspektive) bei Ellen Key und (nun in nationalistischer Verengung) in der Kunsterziehungs- sowie teilweise auch in der Landerziehungsheimbewegung. Das wird in den nachfolgenden Kapiteln noch deutlich zu machen sein. Aber rechtfertigen dergleichen Belege ein so weitgehendes allgemein formuliertes Urteil: Reformpädagogik als Fiktion, infantile Regression und irrationale Strategie der Kompensation von individuellen und kollektiv erlebten Enttäuschungen? Geht Reformpädagogik darin auf und gehört sie insgesamt in den Orkus einer pädagogisch oder gar politisch gefährlichen Phantastik? Das kann bezweifelt werden. So weist Ullrich denn auch auf die Antwort Rumpfs hin. „Er wirft PRANGEs Analyse ‚geschichtsferne, waghalsige Generalisierungen‘ vor. ... Durch das von PRANGE erfundene ‚Kindschema der Pädagogik‘ werde unkenntlich gemacht, ‚in welchem Ausmaß ... die ‚vom Kinde ausgehende‘ Vision von Erziehung auch den Ausgang aus blind tradierter Unmündigkeit zu unterstützen ansetzte – durch die Ermöglichung eines argumentierenden Gesprächs anstelle machtgestützter Belehrung; durch erfahrungsgesättigten Gebrauch von ‚Kopf, Herz und Hand‘ anstelle der Vermittlung erfahrungsleeren Wissens...‘ Die reformpädagogischen Initiativen zielen so gesehen primär auf die praktische Humanisierung der Erziehungsinstitutionen, im Bereich der Schule z.B. durch andere, ‚subjektsensible‘ Lehrverfahren.“19 – Unter „subjektsensible Lehrverfahren“ sind solche zu verstehen, die das Kind als Mitautor seiner Lebens- und Bildungsgeschichte in den Blick rücken und dementsprechend auf Verfahren setzen oder solche suchen, die seine Partizipation ermöglichen und sie methodisch-konzeptionell absichern. Gegen Prange, der die erziehungstheoretischen Unzulänglichkeiten und den außerpädagogischen gesellschaftspolitischen Verwertungszusammenhang des reformpädagogischen Diskurses kritisiert, führt Rumpf also den Humanisierungsgewinn der Reformpädagogik als schulpädagogische Praxis ins Feld. Hierin u.a. liegt auch das Irritierende der Reformpädagogik, das den Leser des vorliegenden Werkes begleiten wird: die gegensätzlichen Perspektiven und Ansichten finden jeweils ihre Gründe in der Widersprüchlichkeit der Reformpädagogik selbst und schließen sich keineswegs aus. (4) Der vierte von Ullrich hervorgehobene Ansatz liegt in einer dezidiert bildungshistorischen Perspektive, die ähnlich wie Nohl, nun aber in einer ideologiekritisch aufgeklärten Sicht und auf der Grundlage neuerer Daten zur Gesellschafts- und Wissenschaftsgeschichte, nach der spezifischen Leistung der Reformpädagogik für die Lösung der sozialen Fragen in der modernen Lebenswelt fragt. Das führt zu einer „Rehabilitierung der Reformpädagogik als ‚Krisenbearbeitungsmuster‘ im Prozess der Modernisierung“. Dieser Ansatz liegt in ausgearbeiteter 18 19
Ullrich, a.a.O., S.905 Ebd., S.906
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Form in der „Geschichte der Erziehung“ von Heinz-Elmar Tenorth vor.20 „Tenorth hält dafür, zur Ausarbeitung einer spezifisch bildungshistorischen Fragestellung auf die Grundbegriffe der NOHLschen Geschichtsschreibung (Kulturkritik, pädagogische Autonomie, soziale Bewegung) über die Reformpädagogik zurückzugreifen. In der Geschichte der Erziehung lassen sich die Deutungen der historischen Akteure als historische Daten nicht übergehen. In ihnen kommt die zeitgenössische Problemwahrnehmung samt ihren Hoffnungen und Aspirationen ... zum Ausdruck.“ Unter Reformpädagogik ist „das im Rahmen einer sozialen Bewegung entwickelte pädagogische Krisenbearbeitungsmuster“ zu verstehen. Es zielt auf der Grundlage eines epochalen, durch den Strukturwandel der Lebensverhältnisse hervorgerufenen Krisengefühls auf „die Pädagogisierung der sozialen Bezüge, d.h. auf die Umgestaltung des gesamten sozialen Systems von einem seiner Teilsysteme aus.“21 Tenorth hält also an einem epochalen Einschnitt im Erziehungsdenken fest, der sich parallel zum Wandel in anderen sozialen Bereichen und bezogen auf diese vollzieht. Die Zeit seit 1890 zeige denn auch, so Tenorth, „erziehungsgeschichtlich in mehrfacher Hinsicht den Beginn einer neuen Epoche: Zunächst wird ideologisch, im Zeichen von Kulturkritik, Sozialismusangst und bürgerlich-defensiver Reformrhetorik Erziehung zum Medium, mit dem alle sozialen Lager die Zukunft der Gesellschaft in ihrem Sinne bestimmen wollen. Die Zäsur zeigt sich auch theoretisch, in der Entstehung neuer Bildungsphilosophien und empirischer Forschung über pädagogische Arbeit und kindliche Entwicklungsprozesse. Man findet die Zäsur und einen rapiden Wandel der Erziehungsverhältnisse schließlich auch praktisch, in der reformpädagogischen Begründung einer neuen Erziehung und im Wandel der Erziehungsbedingungen, die mit den modernen Formen der Familie, der ‚Entdeckung der Jugend‘ und dem Ausbau des Bildungssystems verbunden sind.“22 Tenorth rechnet zum „Kern der pädagogischen Bewegung ... nach der Intention und der Zahl der Beteiligten vor allem innerschulische Reformversuche, die sich auf die Institution im Ganzen, auf einzelne Fächer oder Arbeitsweisen beziehen“, betont aber auch deren Wirkung und Bedeutsamkeit auf außerschulischen Feldern wie der Erwachsenenbildung, Sozialpädagogik sowie ihre Bedeutung als Hintergrund der Theoriebildung der wissenschaftlichen Pädagogik.23 Mit Bezug auf Nietzsche, Langbehn, de Lagarde u.a. – sie werden weiter unten im Zusammenhang der Darstellung des kulturkritischen Hintergrundes der Reformpädagogik noch zur Sprache kommen – verweist er auf die „nicht selten trüben Quellen“ des kritischen Impulses der Reformpädagogik. Er „entfaltet sich als ein umfassender Erneuerungswille, der alle Lebens- und Erziehungsverhältnisse ergreifen will. Die zentralen Leitvorstellungen lassen sich in der zeitgenössischen Formel bündeln, dass die Erziehung ‚vom Kinde aus‘ organisiert sein soll. Jean-Jacques Rousseau, Prophet der Kindheit als eines Lebensalters eigener Dignität, wird wieder entdeckt, seine Prinzipien – der indirekten Erziehung, der Selbsttätigkeit, der kulturkritischen Intention und Funktion der Erziehung – werden erneuert. Dabei richtet sich die pädagogische Kritik gegen die mechanische, unpädagogisch verfahrende psychologische und philosophische Schematisierung des Kindes, wie man sie in der überlieferten Pädagogik antreffen kann.“24 Reformpädagogik lässt sich aber korrumpieren, indem sie in die von ihr kritisierte Schule zurückkehrt, dort ihr Programm bescheidet und beschneidet und an dem unlösbaren Widerspruch arbeitet, „vom Kinde aus“ den gesellschaftlichen Chancenverteilungsmechanismus der Schule zu bedienen. Sie tut dies partiell erfolgreich, da sie tatsächlich die schulischen Binnenverhältnisse bis zu einem gewissen Grad in ihrem Sinne methodischdidaktisch zu reformieren vermag. Darin liegt aber auch die „Ursache ihres Scheiterns als 20
Tenorth, Heinz-Elmar (1992): Geschichte der Erziehung. Einführung in die Grundzüge ihrer neuzeitlichen Entwicklung, Weinheim und München: Juventa Verlag 21 Ullrich, a.a.O., S.910f 22 Tenorth (1992), S.178 23 Tenorth, ebd., S.204f 24 Tenorth, ebd., S.203
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Reformpädagogik
Bewegung“, denn „von einer Lösung der Gesellschaftskrise und einer Erfüllung ihres Programms kann wahrlich keine Rede sein.“ Insgesamt kommt Tenorth hinsichtlich der historischen Bedeutung der Reformpädagogik so zu dem anscheinend paradoxen Urteil: „Reformpädagogik ist erfolgreich als Schulpädagogik – aber da gegen ihre Intention, schwer belastet durch den Widerspruch von institutioneller Wirklichkeit, die der Verteilung von immer knapper werdenden Chancen gilt, und dem pädagogischen Programm, das sich der Welt der Kinder verpflichtet hatte. ... Dieses Fazit bedeutet aber nicht, dass die Bewegung historisch ohne Wirkung geblieben wäre. Im Gegenteil: Sie war ungeheuer erfolgreich, wenn auch nicht immer im ursprünglichen Sinne. Reformpädagogische Ideen bestimmen mit ihren Maximen und Handlungsformen und dem Inventar pädagogischer Erfindungen und Gesellungsformen die Konzepte für Erziehung, wenigstens im demokratischen Spektrum, bis heute.“25 Reformpädagogik gerät so in einen Selbstwiderspruch, indem sie die Krise der Moderne perpetuiert, deren Überwindung sie sich durch das pädagogische Mittel „vom Kinde aus“ zum Programm gemacht hatte. Ob Reformpädagogik wirklich „ungeheuer erfolgreich“ war, mag dahingestellt sein. Mir erscheint dies Urteil im Blick auf die schulische Wirklichkeit übertrieben, während es im Hinblick auf den Diskurs und die Ausarbeitung von didaktisch-methodischen Konzepten in einer abgeschwächten Formulierung vertretbar erscheint. Aber hier wird noch einer weiterer Widerspruch, zumindest eine Merkwürdigkeit, sichtbar. Wie ist es möglich, dass die reformpädagogischen Konzepte „wenigsten im demokratischen Spektrum“ die Erziehung maßgeblich bestimmen, wo diese Konzepte doch größtenteils in vordemokratischen Gesellschaften (Kaiserreich, Viktorianisches England), in einer dezidiert anti-demokratischen Haltung (bei manchen „New Schools“ in England, im reformpädagogischen Diskurs im Deutschen Kaiserreich) oder in einem der Republik im „rechten“ wie im „linken“ Spektrum der Gesellschaft reserviert gegenüberstehenden intellektuellen Milieu (in der Weimarer Zeit) ausgearbeitet worden sind? Ich komme nach einem kleinen Umweg auf diese Frage zurück. – Ullrich sieht im Anschluss an Tenorth das „Paradox der Reformpädagogik“ darin begründet: sie habe „auf die ‚äußere‘ Modernisierung der Erziehungsbedingungen mit der ‚inneren‘ Entmodernisierung des lebensweltlichen Erziehungsdenkens reagiert“.26 „Innere Entmodernisierung“ heißt: Der funktionellen Fragmentierung und Entzauberung der Welt wird eine heile pädagogische Binnenwelt, eine Lebensgemeinschaft entgegengesetzt, wo das Gemüt all das findet, was draußen nicht mehr zu haben ist: Aufgehobensein, Gemeinschaft, Ganzheit, Lebensfülle, ein nicht-entfremdetes, äußeren Zwecken nicht unterworfenes Leben. – Bei aller Kritik an den damit einhergehenden Mythologisierungen von Kindheit und Erziehung lässt sich freilich die Frage nicht von der Hand weisen, inwieweit Züge eines solchen „unmodernen“ Gemeinschaftslebens für Erziehung – für die familiale wie zumindest für die elementare institutionelle Erziehung – eine notwendige Bedingung zum Aufbau einer inneren Stabilität oder personalen Identität sind. Erziehung als Wegbegleitung zur Mündigkeit geht es immer auch um die Entwicklung persönlicher Identität, die es dem Einzelnen ermöglicht, sich später erfolgreich im „äußeren“ Milieu, zunächst schon im institutionell und didaktisch-konzeptionell fragmentierten Sekundarbereich der Bildung und dann in der Gesellschaft „draußen“ zu bewegen, in einer Gesellschaft, die zwar zahlreiche Rollen und Funktionen bereithält, vieles aber „offen“ lässt und weder als Ganzes noch zumeist in den Teilbereichen (Beruf, Religion, Freizeit, Konsum) einen tragfähigen existenziellen Sinnhorizont zu bieten hat. Generierung von existenziellem Sinn ist überwiegend zu einer Privatangelegenheit geworden, deren Möglichkeit gleichwohl einen institutionell abgesicherten Bildungsraum zur Voraussetzung hat. Meine These ist nun, dass das „Krisenbearbeitungsmuster“ der Reformpädagogik, ihr „Erfolg“ im „demokratischen Spektrum“ und ihre bleibende Aktualität historisch sowie psy25 26
Tenorth, ebd., S.206f Ulrich, a.a.O., S.913
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chologisch tief liegende Gründe hat. Auch ist Reformpädagogik in einem gewissen Sinne „moderner“, als die Rede vom „Krisenbearbeitungsmuster“ sichtbar machen kann. Reformpädagogik akzentuiert nämlich mit der Betonung des partizipatorischen Momentes ein notwendiges inhärentes Moment des Erziehungs- und Lernprozesses überhaupt. Man kann Kinder in die Schule zwingen und auf festen Bankreihen vor einem Lehrer oder einer Lehrerin aufreihen, und dies als notwendige Maßnahme gutheißen oder als barbarische brandmarken – aber man kann die Kinder gegen ihren Willen nicht dauerhaft zum Lernen bewegen. Das wussten schon „die Alten“ – und im Konzept des platonischen respektive sokratischen Dialogs im klassischen Griechenland bis hin zum „erziehenden Unterricht“ Herbarts (Johann Friedrich Herbart, 1776-1841) und dem „fragend-entwickelnden Verfahren“ der Herbartianer des 19. Jahrhunderts (Karl Volkmar Stoy, Tuiskon Ziller) war man deswegen ernstlich bemüht, um die letztlich freiwillig vollzogene Mitwirkung des zu Erziehenden zu werben. Aber die „Alte Schule“ war – aus welchen Gründen auch immer – trotz der zahlreichen Vordenker einer humanen Erziehung in der Praxis darin nicht erfolgreich, so dass sich über die Jahrhunderte bis heute ein Leiden in und an der Schule artikuliert, das sich historisch früh seiner selbst bewusst wird und es dann als ein unvermeidliches in Zweifel zieht. Auch die den Lehrerseminaren angeschlossenen, pädagogisch vorbildlichen „Übungsschulen“ im Umkreis der Herbartianer konnten aufs Ganze gesehen kaum eine Wende bewirken. Dieses Leiden nun endlich zu bekämpfen, ein Milieu zu schaffen, in dem angstfreies Lernen möglich ist, ein Raum, aus dem die dinglich-konkrete oder psychologisch-subtile „Rute des Zuchtmeisters“ verbannt ist: das ist eines der großen Ziele und der Glaube an seine Möglichkeit das entscheidende Movens der Reformpädagogik. Sie glaubte, ihre Programme nur dann begründen und dieses Ziel nur dann erreichen zu können, wenn sie ihr Handeln in einen großen evolutionären Kontext stellt: Entwicklung des Einzelnen „vom Kinde aus“ nach dem in ihm liegenden Gesetz, Entwicklung des Volkes zu einer Gemeinschaft, der klassenlosen Gesellschaft, der Nation, der Menschheit, gar des Kosmos’. Und hierin liegt – als Erbe mancher weltanschaulicher Diskurse aus dem 19. Jahrhundert – der Grund für ihre ideologischen Inhalte und ihre Anfälligkeit für Irrationales; Anfälligkeit auch für politisch totalitäre Richtungen „linker“ wie „rechter“ Signatur, in denen man glaubte, die Wirkung des „Entwicklungsgesetzes“ zum allgemeinen Guten hin entdecken zu können. Das mag vom aufgeklärten Zeitgenossen gestern wie heute kritisiert werden, es war aber das inhärente Moment eines Entwicklungsimpulses, der dazu geführt hat, dass – historisch gesehen – das partizipatorische Moment in der Erziehung überhaupt stärker hervortreten konnte, so dass es nun in einer demokratischen Welt, die dieses Moment längst als ein notwendiges politisches zumindest partiell „verinnerlicht“ und institutionell durchgesetzt hat, stärker als je zuvor in die Schule Eingang finden kann. Hierin liegt ein gewichtiger Grund für die aktuelle Bedeutung der Reformpädagogik. Demokratie und Erziehung kommen nicht zur Deckung, sie bearbeiten andere Probleme und haben eigene Systeme ausgebildet; aber sie korrespondieren im Moment der Partizipation auf eigentümliche Weise – so dass Reformpädagogik in einem ihrer zentralen Anliegen erst auf demokratischem Terrain zu einer weiterreichenden Wirksamkeit gelangen konnte. Man muss also Ullrich entgegenhalten: Reformpädagogik antwortet auf die „äußere Modernisierung“ in einer wesentlichen Dimension nicht mit einer „inneren Entmodernisierung“ der sozialen Bezüge, sondern bringt die Sozialbeziehungen innerhalb der Schule im Gegenteil auf den Stand der Moderne, indem sie einen demokratienahen Erziehungs- und Lernbegriff ins praktische Spiel bringt, und zwar trotz der antidemokratischen Einstellungen mancher ihrer Gründerpersönlichkeiten und Protagonisten.27
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Diese Sicht korrespondiert mit dem wissenssoziologischen Ansatz von Plake, der, entgegen der üblichen Meinung, der Erziehung und insbesondere dem reformpädagogischen Diskurs eine besondere Sensibilität gegenüber neuen gesellschaftlichen Herausforderungen zubilligt: Plake, Klaus (1991): Reformpädagogik. Wissenssoziologie eines Paradigmenwechsels, Münster/New York: Waxmann
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Diese Ansicht lässt sich zumindest dann begründen, wenn unter „Modernisierung der Gesellschaft“ nicht nur die Fragmentierung und Funktionalisierung der sozialen Beziehungen mit der Folge einer emotionalen Entfremdung verstanden wird, sondern – mit der Demokratisierung der politischen Machtfragen – zugleich die Tendenz einer Rehabilitierung des Menschen als Subjekt und Mitgestalter seiner Welt gesehen werden kann. Reformpädagogik bearbeitet also einen historisch sehr weit zurückreichenden, die Schule selbst konstituierenden Widerspruch, nämlich den zwischen der (beim Lernen notwendigen, jedenfalls wünschenswerten) individuellen Freiheit und dem (zum Lehren einer ganzen nachwachsenden Generation nicht vermeidbaren) institutionellen Zwang. – Ich ergänze daher Ullrichs „4-PunkteÜbersicht“ durch einen fünften Ansatz, der im übrigen in der Einlassung Ullrichs gegen Oelkers („Gegendiskurs“ zwecks Humanisierung der Erziehungswelt) sowie Rumpfs gegen Prange („Subjektsensibilität“, s.o.) bereits transparent geworden ist. Er bildet gleichsam den Boden einer Kritik gegen die Kritiker der Reformpädagogik, zumindest gegen ihre Pauschalkritiker und besagt: (5) Reformpädagogik ist (auch) eine pädagogische Reflexions- und Handlungsform, die gegen unreflektierte einschränkende Zwänge der Institution ein Konzept des Lernens entwickeln und durchsetzen will, das angstfreies Lernen ermöglicht. Das kann nur in einem politischpädagogischen Milieu geschehen, das der Partizipation durch „subjektsensible Lehr-Lernverfahren“ (s.o.) einen konstitutiven Wert zubilligt. Gerade diese für uns heute wichtige Perspektive konnte (und kann?) eine Kritik nicht erkennen, die nur die übersteigerten Erwartungen der Reformpädagogik, ihre übertriebene Kampfrhetorik sowie manche ihrer theoretischen Unzulänglichkeiten und „trüben Quellen“ (s.o.) – oft durchaus zielsicher – aufs Korn nimmt. Diese Zielrichtung der Kritik ist im übrigen ein begleitendes diskursives Moment der Reformpädagogik bereits in einem frühen Zeitpunkt ihrer Entwicklung. Die frühe Kritik konnte aber das politisch-progressive oder emanzipatorische Moment nicht erkennen und würdigen, weil sie im frühen Stadium der Entwicklung reformpädagogischer Ansätze einem politischautoritären Hintergrund verhaftet blieb, respektive einer Gesellschaft (der Kaiserzeit), deren politisches System mit dem Einverständnis der großen Mehrheit der Bevölkerung den „Machtstaat vor (die) Demokratie“ setzte.28 Das heißt auch, dass die Reformpädagogen selbst, weil sie dem autoritären Denken im Raum des Politischen größtenteils nicht kritisch gegenüberstanden, ihm teilweise sogar huldigten, ihre eigenen Konzepte als (prä)emanzipatorische nicht erkennen respektive als solche nicht ansehen konnten. Sie propagierten ihre Konzepte deswegen nur als naturwüchsig-pädagogische. Ein Stück (inzwischen fast vergessener) Geschichte der Reformpädagogik-Kritik kann diese Zusammenhänge zu Bewusstsein bringen. Es gehört in dem nachfolgend gezeigten Beispiel aus dem Jahre 1910 auch deshalb ganz unmittelbar zum Diskurs der Reformpädagogik, weil in ihm, soweit ich sehe überhaupt zum ersten Mal, im Titel einer Schrift von „Reformpädagogik“ im „modernen“ Sinne, das heißt als Sammelbegriff für zahlreiche Bestrebungen zur Etablierung einer „Pädagogik vom Kinde aus“, die Rede ist. Der Begriff „Reformpädagogik“ wird dort aber nicht eigens reflektiert. Vielmehr wird er als selbstverständlich vorausgesetzt. Das ist nachvollziehbar im gesellschaftlichen Milieu zur Zeit nach der Wende zum 20. Jahrhundert, das parallel zur „Reformpädagogik“ zahlreiche weitere viel diskutierte „Reformen“ mit einem hohen, weit über ihren engeren Sinn hinausgreifenden universellen Rettungsanspruch hervorgebracht hat. Im Vorgriff auf ein späteres Kapitel nenne ich nur: Lebens-, Bewegungs- (Tanz, Wandern!), Ernährungs-, Kleider-, Siedlungs-, Sexualreform; Ansätze, die sämtlich auch in einer zum Teil engen Verbindung zur Reformpädagogik standen. 28
Nipperdey, Thomas (1992): Deutsche Geschichte 1866-1918. Zweiter Band. Machtstaat vor der Demokratie, München: Verlag C.H. Beck
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Zugang II: Reformpädagogik im Spiegel ihrer frühen Kritik (Regener, 1910)
Mit seinem 1910 erschienenen Buch „Die Prinzipien der Reformpädagogik“ will Friedrich Regener, so der Untertitel, „Anregungen zu ihrer kritischen Würdigung“ geben.29 Regener bringt mit guten Gründen und ähnlich wie spätere Monographen die „Ursachen der pädagogischen Reformbewegung“ in einen Zusammenhang mit den wirtschaftlichen und sozialen Umbrüchen des 19. Jahrhunderts; mit dem Sieg der Maschine in der Wirtschaft und des maschinenmäßigen Funktionierens der großen sozialen Systeme einschließlich der Schule, ein Sieg, der zum Verschwinden des einzelnen geführt habe. „Darum ist der Ruf, die Sehnsucht nach Befreiung des Individuums, nach individueller Betätigung nie so stark gewesen wie in unserer Zeit, darum ist das Wort ‚Persönlichkeit’ zu einem Zauberworte geworden.“30 Regener bestimmt die Entstehung der Reformpädagogik als einen Reflex der – wie wir heute sagen würden – Antimoderne, und er begründet so einen diskursiven Topos, der vor allem in den siebziger und achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts im Zusammenhang mit der Kritik an der Reformpädagogik an Bedeutung gewonnen hat. Sein eigentlicher Angriffspunkt sind die „Prinzipien“ selbst und deren Protagonisten (vor allem: Key, Scharrelmann, Gurlitt und Gansberg) sowie deren didaktische Umsetzung in einzelnen Lernbereichen. Diese Prinzipien unterzieht er einer radikalen Kritik aus herbartianischer Sicht, die von der Notwendigkeit der „Bildung des Gedankenkreises“ durch zielorientierten Unterricht insbesondere auch für die sittliche Erziehung überzeugt ist. Dem kindlichen „Recht, sich in seiner Persönlichkeit auszuleben“ setzt er die Notwendigkeiten des Lebens und der Sittlichkeit entgegen; der Forderung nach Freiheit zur „Entwickelung“ und „Selbstentfaltung“ der kindlichen Kräfte die Notwendigkeit der durch „Zucht und Unterricht“ wirkenden Erziehung, die das Kind planmäßig mit seiner Kulturumgebung in Berührung bringen muss. Gegenüber dem unbegrenzten „Vertrauen in die ursprüngliche Güte der Menschennatur“ (die axiomatische Basis jeder radikalen Pädagogik der Selbstentfaltung) verweist er auf die gegenläufigen Erfahrungen des Lebens, die im pädagogischen Raum neben der Liebe die Autorität des Erziehers unabdingbar machen – und so weiter: insgesamt also eine Philippika gegen die Einseitigkeiten der „Neupädagogik“. Ihr schreibt er zwei „Grundfehler“ zu: die wirklichkeitsferne Konstruktion eines idealen Menschen und Kindes sowie seine isolierte Betrachtung, „losgelöst von aller Gesellschaft“ mit ihren Notwendigkeiten und Pflichtforderungen. Die „Gesellschaft“ ist für ihn das Deutsche Kaiserreich, dem er vermutlich affirmativ verbunden ist. Sein Beruf ist auf der Titelseite genannt: „Seminaroberlehrer in Braunschweig“. Wie die meisten Propagandisten der Reformpädagogik hat auch er nicht die Absicht, das politische System zu distanzieren und die möglichen politisch-(prä)emanzipatorischen oder demokratischen Momente in der Reformpädagogik aufzuspüren. In didaktischer Sicht beschäftigt sich Regener insbesondere mit den Forderungen der Kunsterziehungsbewegung, deren übergreifende Funktion er mit dem kritischen Hinweis auf einen ihrer Stichwortgeber, Julius Langbehn, darin sieht, „dem Gemüte für die verlorene Religion Ersatz zu leisten.“31 Er geißelt die Hypertrophierung der Phantasie und der produktiven Tätigkeit sowie die Ästhetisierung des Unterrichts (das Künstlerische als generelles Erziehungsprinzip), womit eine „Missachtung intellektueller Tätigkeit“ einhergehe, die das eigentliche Anliegen der Schulen, nämlich die Tradierung kultureller und sittlicher Gehalte, gefährde. Und gerade auch im künstlerischen Bereich sieht er die Notwendigkeit einer gezielten Übung und Unterrichtung, wenn überhaupt qualitative Ansprüche zur Geltung gebracht werden sollen und nicht bloßes Produzieren angesagt ist. „Folgen wir dem Prinzipe: freie Betätigung individueller Kräfte, so kann freilich für die gesangliche Schulung kaum etwas gesche29
Regener, Fr. (Friedrich) (1910): Die Prinzipien der Reformpädagogik. Anregungen zu ihrer kritischen Würdigung, Berlin: Gerdes u. Hödel Ebd., S.6 31 Ebd., S.8 30
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hen. Denn von Natur singt kein Kind piano, crescendo und decrescendo; es schreit im fortissimo. Aber gefordert wird doch: Erziehung zur Kunst!“32 Was von der Koedukation zu halten sei, kommt ebenfalls im Zusammenhang mit kunsterzieherischen Forderungen, freilich nur ganz am Rande, aber dennoch deutlich zur Sprache. „Also den Tanz in die Schule! Und damit es geschehen könne, muss das Lehrerseminar tanzen. Dann aber auch die Koedukation hinein in die Seminare!“33 – Die gemeinsame Ausbildung zukünftiger Lehrerinnen und Lehrer ist ihm offenbar ein Gräuel. Das könnte die im allgemeinen erwünschte Ehelosigkeit der Lehrerinnen – „Fräulein Lehrerin“ – massiv gefährden. Tatsächlich war in den schon mancherorts im Europa des 19. Jahrhunderts eingeführten koedukativen Lehrerseminaren das Problem der „Sittsamkeit“ eine dauernde Sorge der Direktoren und Seminar(ober)lehrer. Aus der Sicht des Kritikers werden bei Regener zentrale Motive der Reformpädagogik in einer Form zur Sprache gebracht, die dem leidenschaftlichen „Pro“ der Reformer ein ebenso leidenschaftliches „Kontra“ entgegensetzt. Und so wird der Reigen der „Pro-und-KontraLiteratur“ zur Reformpädagogik eröffnet, dessen Kontrafraktion in den folgenden Jahrzehnten insgesamt, allerdings ohne ausdrückliche Bezugnahme, zahlreiche bei Regener bereits angesprochene Momente einer kritischen Reflexion wieder aufgreift und weiterführt.34 Im vorliegenden Zusammenhang ist noch ein weiteres, qualitatives Diskursmoment bemerkenswert: es finden sich fruchtbare Ansätze einer abwägenden Betrachtung, die das relative Recht der anderen Position auslotet und in einem dialektischen Sinn mit der eigenen in Verbindung bringt. Nur ein Beispiel: „Die Gefahr der Hemmung und Unterdrückung liegt vor, wo das Kind beständig gegängelt wird. Es ist die schwere Aufgabe der Erziehung, einerseits der Selbstentfaltung Raum zu gewähren, und andererseits das Kind hineinzugewöhnen in die sittliche Ordnung der Gesellschaft, Selbstentfaltung und Zucht in rechten Einklang zu bringen.“35 – Damit stimmt er implizit, bei aller Kritik an den übertriebenen Forderungen und unrealistischen Annahmen der Reformpädagogik, manchen ihrer Kritikpunkte zu. Regener sieht auch die Berechtigung der von den Reformern artikulierten Kritik an der Schule als einer verregelten Institution. „Wo jeder vereinzelt vorkommende Missstand Anlass zu einer allgemeinen Verfügung wird, da wird der Gesamtstand des Lebens herabgesetzt und von der Ausnahme her eingeschnürt.“36 So wird bei Regener – wenn auch nicht durchgängig so doch ansatzweise – eine dialektische Sichtweise kultiviert, die in der Folgezeit auf der Grundlage vermehrter praktischer Erfahrungen und weiterreichender theoretischer Perspektiven zur Klärung der Möglichkeiten und Grenzen reformpädagogischer Optionen beigetragen hat. Erinnert sei nur an Martin Bubers „Rede über das Erzieherische“ (1925), Kurt Zeidlers „Die Wiederentdeckung der Grenze. Beiträge zur Formgebung der werdenden Schule“ (1926) und Theodor Litts „Führen oder Wachsenlassen. Eine Erörterung des pädagogischen Grundproblems“ (1927), die alle um vermittelnde Stellungnahmen bemüht sind. Diese und andere Stimmen haben die Diskussion aus der starren Haltung des „Für oder Wider“ herausgeführt, wenngleich weiterhin und bis heute unversöhnliche Töne („Pflegefall Staatsschule“, „krankmachende Schule“, „Schule als totale Institution“ usw.) im Sinne einer radikalen pädagogischen Gesinnungsethik auf Seiten der Verfechter reform- und alternativpädagogischer Konzepte zu hören sind sowie auf der „gegnerischen“ Seite entsprechendes mit umgekehrtem Vorzeichen im Sinne einer Verdammung jener Konzepte. 32
Ebd., S.51 Ebd., S.67 34 vgl. Berge, André (1968), Pour L’Education Nouvelle, Nancy: Berger-Levault. Robin, Gilbert (1968), Contre L’Education Nouvelle, Nancy (beide in einem Band). Hansmann, Otto (Hsg.) (1987), Pro und Contra Waldorfpädagogik, Würzburg: Königshausen u. Neumann; Böhm, Winfried und Oelkers, Jürgen (Hsg.) (1995): Reformpädagogik kontrovers, Würzburg: Ergon Verlag 35 Regener, a.a.O., S.16 36 Ebd., S.10 33
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Es erscheint angebracht, die von den Reformpädagogen kritisierte „Alte Schule“ näher ins Auge zu fassen. Sie vor allem bildet den Hintergrund, vor dem die alternativen Unterrichtsund Schulkonzeptionen entwickelt worden sind. Ich bezeichne die „Alte Schule“ zum Zwecke ihrer näheren Kennzeichnung als „didaktisch-methodische Normalform der Schule“. Sie war außerordentlich erfolgreich, ist zwar historisch gesehen „alt“ aber doch keineswegs gänzlich überholt oder verschwunden. – Sofern sich an ihren überkommenen Formen die Kritik entzündet, kommt wiederum die Reformpädagogik als eine die Schulkritik und -entwicklung stimulierende Größe ins Spiel.
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Zugang III: Die „didaktisch-methodische Normalform der Schule“ und ihre Probleme
Das Gewohnte, Vertraute wird kaum in seinen Problemen wahrgenommen. Wahrscheinlich hat der Leser ebenso wie ich eine Schule besucht, die die Merkmale der hier so genannten „didaktisch-methodischen Normalform“ trägt. Und ebenso wahrscheinlich hat er sich mit dieser Form der Schule arrangiert, ihre bedrängenden oder gar Leid verursachenden Momente möglicherweise bewältigt und insgesamt Nutzen aus der Schulzeit gezogen. Dass „Lehrjahre keine Herrenjahre“ sind, sagt schon ein altes Sprichwort; dass Lernen und Leiden zusammengehören entspricht der Erfahrung von Generationen. Erst das Fragen, die Distanz zum Gegenstand bringt das Gewohnte in den kritischen Blick. Ein fiktiver Besucher, unkundig in den Angelegenheiten der Schule aber neugierig und aufmerksam, soll uns bei der Entwicklung einer kritischen Perspektive helfen. Dem Besucher einer beliebigen Schule des Pflichtbereichs, ausgewählt nach dem Zufallsprinzip, bietet sich aller Wahrscheinlichkeit nach das folgende Bild: Er betritt ein Gebäude mit einer großen Empfangshalle, von der breite Flure abzweigen und eine Treppe in die oberen Stockwerke führt. Die Flure führen zu verschiedenen Räumen, in denen entweder die Verwaltung untergebracht ist (meist in einem ruhiger gelegenen Seitentrakt) oder sich jene Funktionsbereiche befinden, die dem eigentlichen Gebäudezweck dienen, dem Lehren der Lehrer und dem Lernen der Lerner. Der Blick in einen Klassenraum beantwortet unserem fiktiven Besucher sofort die Frage, die er sich auf dem Weg durch den Ort zur Schule gestellt haben mag. Er ist nämlich vielen Menschen begegnet, nicht aber Kindern und Jugendlichen im Alter zwischen etwa 6 und 16 Jahren. Hier im Klassenraum sitzt nun eine Gruppe von Jungen und Mädchen in Tischreihen hintereinander angeordnet, etwa 30 an der Zahl, die von einer Lehrerin unterrichtet wird. Nach längeren Hospitationen und Gesprächen enthüllen sich ihm die wichtigsten Regeln, nach denen diese Schule und der Unterricht funktioniert. Die frontale Ausrichtung der Kinder soll ihre Konzentration auf die sprachlichsymbolisch vor und an der Tafel entwickelten Unterweisungen der Lehrerin und die Kontrolle der Lernaktivitäten erleichtern. Die einzelne Klasse besteht aus Kindern etwa gleichen Alters. Das hat den Zweck, einen annähernd ausgewogenen Leistungsstand zu gewährleisten, der erst eine kollektive Ansprache ermöglicht. Manche Kinder wiederholen eine Klassenstufe, weil sie das Klassenziel nicht erreicht haben. Sie sind „sitzengeblieben“. Vielleicht befinden sich in der Klasse auch Kinder, die aus einer anderen Schule mit höheren Anforderungen (etwa dem Gymnasium) „zurückversetzt“ wurden. „Sitzenbleiben“ und „Zurückversetzen“ dienen gleichermaßen der Bildung annähernd leistungsgleicher, zumindest gleichzeitig und gleichschrittig unterrichtbarer Lerngruppen. Der Unterricht selbst folgt im allgemeinen einem bestimmten Schema. Es handelt sich um eine bestimmte Schrittfolge des Lehr-Lern-Prozesses, die von den so genannten „Herbartianern“ in die Schulpraxis des 19. Jahrhunderts eingeführt
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worden ist und gegen deren formalistische Anwendung sich Reformpädagogik vehement richtet. Die Schrittfolge ist dem Fachmann und der Fachfrau unter dem Namen „Stufenschema zur Artikulation des Unterrichts“ bekannt. Es handelt sich um eine „Erfindung“, die es ermöglicht, in rationeller und effektiver Weise große Gruppen von Kindern, kostengünstig und gleichsam in industrieller Form, zu unterrichten. Jeder Referendar und jede Referendarin wird noch heute mit einem ähnlichen Stufenschema konfrontiert und selbst die neueren didaktischen Schulen (bildungstheoretische, lehrlern-theoretische, kybernetische, kritisch-konstruktive Didaktik) fußen auf den Ansätzen des 19. Jahrhunderts. Das hat seinen Grund darin, dass das herbartianische Stufenschema eine Einsicht formuliert, die man – augenzwinkernd – als das „ontologische Grundgesetz“ der Didaktik bezeichnen kann: Seine Befolgung entscheidet über Sein oder Nichtsein der Didaktik als Unterrichtung und Unterweisung. Sinnvolles Lernen geschieht immer individuell, aus spontanem Anlass oder zielgerichtet als autodidaktischer oder fremdgesteuerter Prozess. Sinnvolles Lehren dagegen folgt einer bestimmten Phasenfolge. Sinnvolles Lehren der Lehrperson muss nämlich zunächst einmal – sinnvollerweise in Korrespondenz mit dem Lernen des Lerners – in Gang gesetzt (Initiation), dann durch bestimmte Verfahren und Schritte in Gang gehalten (Prozess) und schließlich in einem Zwischenschritt (der zum Weiterlehren Anlass geben kann) oder am Ende der Schulzeit abgeschlossen werden (Evaluation). Auch die Reformpädagogik will und kann bei all ihren Forderungen nach Spontaneität und Lebensnähe den Lernprozess nicht einfach den spontanen oder autodidaktischen Impulsen des Lerners überlassen. Und so findet sie ihre eigenen Stufenschemata, die ihre Verwandtschaft mit den von ihr heftigst kritisierten alten der Herbartianer nicht verleugnen können. In polemischer Überspitzung aber in der Sache zum Teil berechtigt hat Prange daher die Reformpädagogik einen „Herbartianismus ohne Herbart“ genannt. Vereinfacht kann der Unterricht in der „Alten Schule“ in seinem Ablauf etwa folgendermaßen beschrieben werden: 1. Vortragen, Erklären, Zeigen, Vormachen des (vorgeschriebenen) Unterrichtsinhaltes durch die Lehrperson; 2. Nacherzählen, Nachschreiben, Nachmachen, Auswendiglernen, fragend-entwickelndes Erschließen und Üben des neuen Inhaltes; 3. Überprüfung der Kenntnisse usw. durch die Lehrperson (ggf. später in Form von Klassenarbeiten und dergleichen); Mit dem dritten Schritt erfolgt meist eine Benotung (Bewertung) der Kenntnisse und Fähigkeiten, in einer Konkurrenzsituation damit zugleich die implizite, ausdrückliche oder als solche wahrgenommene (Notenspiegel) Klassifizierung des Schülers in einer Leistungshierarchie. Wichtigstes Hilfsmittel bei der Vermittlung des Stoffes ist das Lehrbuch, dessen Autoren wiederum an bestimmte inhaltliche Vorgaben gebunden sind. Die inhaltliche Abfolge des Unterrichts wird durch den Stundenplan determiniert. Ein Unterrichtsvormittag kann durchaus einen fünfmaligen Wechsel des Faches (Mathematik, Religion, Geschichte, Werken, Englisch ...) bringen und das wöchentlich sich wiederholende Stundenschema verzeichnet darüber hinaus noch weitere Fächer, die in 45- oder 90-Minutenblöcken unterrichtet werden. Die im Stundenplan genannten Fächer beziehen sich auf einen Lehrplan, in dem nach Klassenstufen und Schularten geordnet das Lehr- bzw. Lernpensum verzeichnet ist. Es handelt sich um die nationale oder regionale Variante des „Lehrplan(s) des Abendlandes“ (Josef Dolch), der – in einem bis in die Antike zurückreichenden geschichtlichen und politischen Prozess geformt – Inhalte aus den Bereichen Natur- und Humanwissenschaften, Technik, Kunstbereichen und Sport als „Bildungskanon“ zusammenfasst.
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Unserem fiktiven Besucher bleiben auch die Schwierigkeiten eines solchen Unternehmens nicht verborgen. Opposition auf Seiten der eigentlichen Adressaten ist gleichsam vorprogrammiert und institutionell bereits mitgedacht. Oftmals haben die Kinder und Jugendlichen Schwierigkeiten mit der Situation, sei es aus mangelndem intellektuellen Vermögen oder mangelndem sozialem Anpassungsvermögen, aus mangelnder Sprachkompetenz oder mangelndem Interesse, sei es aus dem Grund, dass sie die erforderliche Disziplin nicht aus sich heraus aufbringen wollen oder aufbringen können. Hier greift dann ein System von Gratifikation und Sanktion, von pädagogischer und ggf. therapeutischer Behandlung, das im Falle seines Versagens in Einzelfällen zum Schulverweis oder zur Überweisung in eine spezielle Einrichtung ( z.B. „Sonderschulen“ bzw. „Förderschulen“) führen kann. – Es gibt also Mechanismen der Störfallreduktion, die dem Fortbestand der schulischen Normalform dienlich sind. Dazu gehört auch das extern-differenzierende Sekundarschulwesen selbst, da es für günstige Funktionsbedingungen durch Homogenisierung der Lerngruppe sorgt. Das kann so weit führen, dass durch die Ansammlung von „Störfällen“ in einem Spektrum des Sekundarbereichs (in Deutschland zum Beispiel in manchen Hauptschulen) die Funktionsfähigkeit der Normalform so weitgehend zunichte gemacht wird, dass dringend Reformen mit dem Ziel angesagt sind und angemahnt werden, die Jugendlichen auf den Weg eines Lernens zu führen, den sie als sinnvoll für sich selbst wahr- und annehmen können. Schule in Gestalt ihrer didaktisch-methodischen Normalform muss trotz ihrer immanenten Probleme als das Erfolgsmodell institutionalisierten Lernens gesehen werden. Die Bildung der „Masse des Volkes“ mittels eines rationellen und kontrollierbaren, partiell auch anpassungsfähigen Systems ist ihre eigentliche Leistung. Wollte man die Wahrscheinlichkeit benennen, mit der man in Europa auf eine solche Schule trifft, dürfte ein Prozentsatz von über 75 nicht unrealistisch sein, freilich mit sehr großen Schwankungen bezüglich einzelner Regionen und Schulstufen. Man wird eine rigide Ausprägung dieser Form beispielsweise in Frankreich eher antreffen als in Deutschland oder gar in Dänemark und in der Sekundarstufe eher als in der Primarstufe. Die Vorherrschaft der schulischen Normalform ist also keineswegs allumfassend. Schulreform und Schulentwicklung kann zu großen Teilen als ein kritischer Reflex auf wesentliche Komponenten dieser Form angesehen werden. Die Kritik richtete sich – und richtet sich noch immer – vor allem auf die folgenden inneren Strukturmomente des „Lehrstoffjahrgangsklassensystems“: x Die methodische Monokultur des Lehrens behindert die Ausbildung der Fähigkeit des selbständigen und vielseitigen Lernens. Durch die kollektive Ansprache können individuelle Fähigkeiten nur sehr beschränkt zum Zuge kommen. Die immergleiche Ansprache des Schülers führt zur Verminderung oder gar zum Verlust der (bei Schuleintritt durchaus meist vorhandenen) Lernmotivation. x Die starren Zeittakte (45-Minuten-Stunden) behindern die Entwicklung eines sachgerechten und kindgerechten Lernrhythmus’. Durch die „Diktatur der Pausenklingel“ werden Lernphasen, die eigentlich einen längeren Atem brauchen, unnötig zerstückelt. Oft ist es nicht möglich, eine einmal begonnene Arbeit in Ruhe zu vollenden. x Die Dominanz des Lehrplanes behindert einen Unterricht, der sich aktuellen Fragen stellen und auf die Interessen und Fragen der Schüler eingehen will. Ein rigide eingehaltener und überfrachteter Lehrplan führt zu der vielbeklagten Lebensferne der Schule. x Die Orientierung des Lehrens am Lehrbuch als „Transportmittel“ des Lehrplans verstärkt die Tendenz der Lebensferne. Als „Antwortenbuch“ für Fragen, die die Schüler meist nicht selbst gestellt haben, verstärkt das Lehrbuch zudem die Tendenz zum rezeptiven und einseitig-kognitiven Lernen (d.h.: Auswendiglernen). x Die Fächerstrukturierung des Unterrichts kann der mehr und mehr bestehenden Notwendigkeit nach Einsicht in komplexe, vernetzte Zusammenhänge in der heutigen Le-
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benswelt nicht mehr hinreichend gerecht werden. Zudem wirkt die Hierarchie des Fächerkanons (mit wichtigen Haupt- und vermeintlich weniger wichtigen Nebenfächern) dem Gedanken einer ganzheitlichen Erziehung, die die sozialen, emotionalen, kognitiven und physisch-motorischen Fähigkeiten des Menschen gleichermaßen auszubilden versucht, entgegen. Die schematische Benotungs- und Versetzungspraxis behindert das Lernen um der Sache willen. Sie ist das Mittel einer Fremdsteuerung des Lernens und gleichzeitig ein Mittel der Disziplinierung mit der Folge eines hohen Anpassungsdruckes auf die Schüler. Die Fremdbewertung behindert die Ausbildung eines Gefühls für die wirklich eigenen Interessen und Bedürfnisse. Durch den früh einsetzenden Leistungsvergleich der Kinder untereinander und das damit einhergehende Konkurrenzverhalten wird die Ausbildung von sozialen Fähigkeiten wie Toleranz, Kooperation, Solidarität mit den Schwachen (und der Akzeptanz des Schwachen in uns selbst, mithin der Aufbau eines gesunden und realistischen Selbstwertgefühls) erschwert. Die Klassenbildung nach Altersjahrgängen führt zu einer Verarmung des sozialen Lebens und zu langandauernden sozialen Fixierungen, mithin Stigmatisierungen innerhalb der Gruppe. (Ein Kind ist über längere Zeit und manchmal über viele Schuljahre hinweg der „beste“ oder der „schlechteste Schüler“.) Die formalen und meist von außen gesetzten Regeln der Disziplinierung behindern die Einsicht in die Entstehung und Veränderbarkeit sozialer Regeln. Das soziale Leben in der Schule wird als fremd erfahren, weil man an dessen Entstehung keinen entscheidenden Anteil nehmen konnte – mit der Folge, dass eine mehr oder weniger verdeckt operierende „zweite Hierarchie“ entsteht, die von einem Schüler angeführt wird, der mit den Regeln geschickt umzugehen oder diese zu umgehen weiß. Lehrplan, Zeitregelungen, Verordnungen ... führen insgesamt zu einer Grundstruktur eingeschränkter Kommunikation. Sie belässt dem Einzelnen (Schülern, Lehrern wie Eltern) nur wenig Möglichkeiten der Entscheidung und Mitwirkung. Bezüglich der äußeren Struktur des Gesamtsystems Schule richtet sich die Kritik vor allem gegen die externe Niveaudifferenzierung nach Maßgabe der schulischen Leistungsfähigkeit des Kindes – also gegen die Möglichkeit der Aufteilung der Kinder in verschiedene Schultypen. Diese Aufteilung wird oft recht frühzeitig vorgenommen, in den meisten Ländern Deutschlands z.B. nach der vierjährigen Grundschule. Die Kinder befinden sich dann im 10. oder 11. Lebensjahr – nach fast einhelliger Expertenmeinung ein zu früher Zeitpunkt für eine solch gravierende Maßnahme.
Damit sind bereits Ansätze der Reform von Schule und Unterricht transparent gemacht worden, denn Schulkritik, zumindest konstruktive Schulkritik, wird zumeist auf dem Hintergrund der Idee oder der Erfahrung einer anderen Wirklichkeit geübt. Im Rahmen der Reformpädagogik ist die didaktisch-methodische Normalform der Schule unter dem Begriff „Alte Schule“37 radikal in Frage gestellt worden mit dem Ziel, einer demgegenüber „Neuen Schule“ bzw. „Neuen Erziehung“ zum Durchbruch zu verhelfen. In den Konzeptionen der Reformpädagogik lassen sich nahezu durchgängig – wenn auch in unterschiedlicher Akzentuierung – die genannten kritischen Motive aufweisen. Die Schule kindgerecht und menschenfreundlich zu gestalten, das Leiden an und in der Schule zu überwinden, war das zentrale Anliegen, das ihre bleibende Aktualität begründet. Die Entstehung der tragenden Grundmotive reicht freilich weit zurück in die Geschichte. Sie ist mit der Entwicklung des pädagogischen Denkens überhaupt verbunden. Schon lange vor Beginn der „eigentlichen“ Reformpädgogik in der Zeit um
37
Vgl. Petersen, a.a.O. (1926) das Kapitel „Das Profil der ‚Alten Schule‘ und ihre Theorie“, ebd., S.8-24; Scheibe, a.a.O. (1994) den Abschnitt „Die vernichtende Kritik an der ‚alten‘ Schule“, ebd., S. 67-75
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die Wende zum 20. Jahrhundert, ja bereits vor der Pädagogik der Neuzeit, gerät das Schulleid in den Blick, verbunden mit der Idee einer anderen, besseren Schule. 4
Zugang IV: Reformpädagogik – Versuch einer mehrperspektivischen, komplexen Arbeitshypothese
Ich komme auf Röhrs Ansatz einer begrifflichen Eingrenzung zurück, den er in dem von ihm mitherausgegebenen Werk (1994, s.o.) vorgestellt hat. Er versucht, die globale Perspektive auf die von ihm so genannte Welterziehungsbewegung durch eine „Eingrenzung“ zu begründen, mithin die verschiedenen Strömungen „auf den Kontinenten“ als irgendwie vergleichbare oder verwandte zusammenzuhalten. Dem Umfang nach kommt diese „Eingrenzung“ oder „vielgliedrige Definition“ einer kleinen Abhandlung gleich. Ich gebe eine knappe Zusammenfassung der Punkte, ohne auf die in manchen Punkten aufweisbaren diskursiven Komponenten einzugehen. Insgesamt ist dieser Versuch allerdings eher eine gegen diskursive Anfechtungen gerichtete affirmative Selbstvergewisserung der Reformpädagogik denn als kritischer Diskurs zu lesen, denn er bleibt von den doch heftig tobenden Kontroversen in der Erziehungswissenschaft merkwürdig unberührt. Nach einer historischen Einordnung der Reformpädagogik – er verortet sie in die Zeit nach 1890 mit bis heute vielfältig spürbaren Wirkungen38 – entwickelt Röhrs zehn Kriterien zur systematischen Erhellung ihrer Grundintentionen. Zunächst wird genannt: (1.) „Die Reformpädagogik ist paido- und anthropozentriert“, wobei der Unterschied gegenüber ähnlichen Positionen früherer Zeiten in der nun zutage tretenden Radikalität der Formulierungen und der Forderungen zu sehen sei. Das führt (2.) zu „einem neuen Verhältnis zwischen Erzieher, Lehrer und Schüler. Der Erzieher-Lehrer tritt aus der Rolle des Unterrichtenden zurück und wird zum Anreger, Beobachter und Berater der eingeleiteten Schüleraktivitäten.“ Dem korrespondiert (3.) der Versuch, zur Förderung der Selbständigkeit die „Schüler schrittweise in methodisch begründete Arbeitsweise(n)“ einzuführen. (4.) Den „Postulate(n) nach Entwicklungsgemäßheit und ganzheitlicher Erziehung“ versucht die Reformpädagogik bereits früh durch die Einbeziehung pädiatrischer und entwicklungspsychologischer Erkenntnisse zu entsprechen. Gemäß der (5.) „Forderung nach einer Bildung des ganzen Menschen“ erfährt die soziale und emotionale Seite der Bildung „in Ergänzung zur traditionellen Förderung der Intelligenz eine starke Betonung.“ Mit all dem wandelt sich (6.) der Ort des pädagogischen Geschehens. „Die traditionelle Schule bzw. das Erziehungsheim legt das kasernenhaft uniformierte Äußere ab und wird zu einem anregungsreichen Rahmen freien Lernens ...“. (7.) Hinsichtlich des Lehrplans stehen jetzt nicht mehr der „kodifizierte Lehrstoff“ sondern die das Kind ansprechenden und bewegenden „offenen Fragen der Lebenswelt“ im Mittelpunkt der Schularbeit – wobei es den reformpädagogischen Schulen gelungen sei, durch die Formulierung eines verbindlichen „Mindestlernstoffes“ die Vergleichbarkeit mit den traditionellen Bildungswegen zu sichern. Die von vielen Seiten – verstärkt noch durch die radikale Institutionenkritik der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts – geforderte (8.) Einbeziehung des „lehrenden Lebens“ in die Schule habe in der Reformpädagogik seit je einen hohen Stellenwert. Röhrs weist (9.) des weiteren auf die Bedeutung reformpädagogischer Initiativen im außerschulischen Bereich hin: Erziehungsheime, Erwachsenenbildung, Bibliothekswesen. Dieser Bereich werde vernachlässigt, „während die Diskussion im Schulbereich fortgeführt wird“. Und schließlich wird eindringlich (10.) auf ihre Internationalität als „ein wichtiges Kriterium der Reformpädagogik“ hingewiesen.39 38
Zu den Problemen einer historischen Verortung siehe auch: von Prondczynsky, Andreas (1996): Zur historischen Einordnung der Reformpädagogik in die Geschichte der Pädagogik, in: Seyfarth-Stubenrauch und Skiera, Ehrenhard (Hsg.) (1996): Reformpädagogik und Schulreform in Europa, Band 1, Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 39 Röhrs (1994), a.a.O., S.11ff
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Schon der Umfang dieser Definition eines herausragenden Kenners der deutschen und internationalen Reformpädagogik verdeutlicht die Schwierigkeit, die Reformpädagogik „auf den Begriff“ zu bringen. Es drängen sich viele Fragen geradezu auf: inwieweit ist etwa „Internationalität“ ein Kriterium der Reformpädagogik? Auch wenn sie zweifellos als Faktum – internationale Kommunikation, grenzüberschreitende Wirkungen und Einflüsse, internationale Verbreitung, dadurch auch Weiterentwicklung einzelner Schul- und Unterrichtskonzeptionen – gegeben ist, hat sie doch m.E. keinen konstitutiven Charakter, sondern lediglich einen deskriptiven Sinn zur Beschreibung von Wirkungsfeldern und Wechselwirkungen. Auch der Hinweis auf ihre „Tendenz zum Missionieren“, auf ein Drängen „der Reform über die Grenzen hinweg“ vermag die „Internationalität“ nicht in überzeugender Weise einem möglichen Kanon der „Grundintentionen“ zuzuführen. Ähnliches gilt für den Hinweis auf den außerschulischen Bereich, in den – weil er mit Erziehung und deren Reform zu tun hat – Reformpädagogik freilich hineinragt. Ihren konstitutiven Sinn kann Reformpädagogik aber nicht von den Institutionen her – auch nicht den schulischen – gewinnen, sondern nur von einer „neuen“ Erziehungsidee, die jetzt von ihr, selbst wenn sie als Idee nicht völlig neu ist, mit Macht ins Feld geführt wird. Es ist nun gerade dieses Fehlen eines spezifisch reformpädagogischen Begriffs von Erziehung, der Röhrs Versuch einer begrifflichen Eingrenzung, weil er Wesentliches ausgrenzt, unzureichend erscheinen lässt. Denn wenn ein zentrales konstitutives Kriterium der Reformpädagogik benannt werden soll, so ist es nicht in der vergleichsweise besonderen „Radikalität“ bei der „Formulierung der Forderungen“ zu finden, so radikal die Formulierungen und Forderungen auch sein mögen, sondern in dem Glauben, dass über die Erziehung nicht nur der einzelne Mensch, sondern die Welt im Ganzen zu retten ist. Peter Petersen etwa sieht die neue Erziehung eingebettet in die neue Gesellschaft, die „gemeinschaftsbeseelt“ sein wird. Beide – die Entwicklung der Gesellschaft wie der Schule in ihr – streben gegen die „chaotischen geistigen Phänomene der Zeit“ doch insgesamt zu einer Totalität im Sinne eines „erwachende(n) Bewusstsein(s) der Menschheit, einen einzigen geistigen Organismus zu bilden, selbst eine Zelle in einer weitergreifenden umfassenderen organischen Einheit – dem Kosmos unseres Sonnensystems“ zu sein.40 Ähnlich spricht auch Maria Montessori von der großen Aufgabe der Erziehung. „Der Plan einer Erziehung, die Rettung bringen will, muss auf den Gesetzen, die das menschliche Werden leiten, gegründet sein. (....) den Verstand und das Gewissen aller Menschen in einer Harmonie vereinigen ..., das ist es, was wir durch ‚Kosmische Erziehung‘ beabsichtigen.“41 Die „Weltbewegung“ hat auch ihren Weltenheiland. Er heißt „Kind“ und ist der Inbegriff einer zukünftig besseren oder gar im Ganzen heilen Welt. In den Diskursen der Reformpädagogik findet sich dieser quasi-religiöse Gedanke wiederholt – und wir werden in den nachfolgenden Abschnitten des Öfteren auf ihn treffen. Komplementär zur Entthronung des Lehrers findet nämlich eine Inthronisation des Kindes als Messias statt. Diesem „neuen Messias“ (Montessori) ist der – nun seiner bloßen Lehrfunktion entledigte – Lehrer in dienender Hingabe an die im Kinde beschlossene Entwicklung seiner selbst und des zukünftigen „neuen“ Menschen und hin zu einem „Neuen Zeitalter“ (des Friedens, der Harmonie und des allgemeinen Glücks) zugeordnet. Die besonders in der Kunsterziehungsbewegung platzierte Rede von der Schöpferkraft oder dem „Genius des Kindes“ ist nur ein schwacher Abglanz dieser Idee, die ursprünglich (besonders bei Ellen Key, bei Maria Montessori, bei dem Arbeitsschulpädagogen Pawel Blonskij, in Spuren und Resten aber auch in nahezu allen anderen reformpädagogischen Erziehungskonzeptionen) eine weit höhere Ambition in sich birgt. Das ist nun keine Marginalie oder ein theoretisch
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Petersen, a.a.O. (1926), S.17f und 47. Petersen zitiert hier zustimmend Ludwig Nordstroem, der hinter dem Chaos einen „Totalismus“, eine geistige Vereinigungstendenz, am Werke sieht. 41 Vgl. den entsprechenden Abschnitt des vorliegenden Buches (im Kapitel über die Montessoripädagogik).
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peinlicher Schnitzer eines enthusiasmierten Reformgeistes, sondern von durchaus konstitutiver theoretischer, praktischer und methodisch-konzeptioneller Relevanz. Die Konsequenz, mit der die Reformpädagogik gegenüber dem Belehrtwerden des Kindes vom Katheder herab nun dem Aspekt des Milieulernens zum Durchbruch zu helfen versucht – Lernen als ein quasi-autonomes, im Individuum angelegtes „natürliches“ Geschehen in der naturbelassenen Umwelt draußen und in der ästhetisch und intellektuell anregungsreich gestalteten Lernumgebung drinnen –, bleibt in seinem theoretischen Ansatz und in seiner Faszination für die zeitgenössische reformerisch gestimmte Erzieherschaft ohne den universellen rettungspädagogischen Impetus völlig unverständlich. Er kommt einem von vielen Menschen empfundenen Bedürfnis nach Orientierung, nach existenzieller Sinngebung entgegen in einer als zersplittert, bedrohlich, kalt, „entfremdend“ empfundenen Welt gesteigerter wirtschaftlichindustrieller und politisch-administrativer Funktionalität. Ohne diesen Impetus hätte sich Reformpädagogik rhetorisch wohl kaum Gehör verschaffen und praktisch vermutlich nicht etablieren können. Man mag diesen intellektuell etwas anstößigen Aspekt weitestgehend ignorieren oder so weit „normalisieren“ oder uminterpretieren, dass er in einem gegebenen Kontext theoretisch akzeptabel erscheint (Nohl, Scheibe, Röhrs) oder wegen seiner theoretischen und praktischen Unmöglichkeit kritisieren (u.a. Oelkers, Tenorth, Prange); er bleibt aber in seiner Radikalität ein über weite Strecken ausdrücklich benanntes oder implizit mitgedachtes Moment der wichtigsten Schul- und Unterrichtskonzeptionen. Man kann es in paradoxer Rede auch so formulieren: Ohne den Irrationalismus einer am „Kinde“ orientierten universellen Rettungspädagogik ist die relative Rationalität des Milieulernens mit all seinen faszinierenden und vielfach erfolgreich erprobten Einzelkonzepten theoretisch-systematisch nicht verständlich und historisch (auch im Sinne der Etablierung erfolgreicher schulpädagogischer Traditionen) nicht rekonstruierbar. Reformpädagogik wäre ohne dieses provozierende Moment nur noch als schwache Erinnerung beim Durchblättern alter Berichte zugänglich, nicht aber in einer großen Anzahl heute noch lebendiger und das Forschen und Nachdenken herausfordernder Schulgestalten und Unterrichtskonzeptionen. Reformpädagogik als universelle Rettungspädagogik erhält aber in Röhrs vielgliedriger Definition weder einen konstitutiven noch überhaupt einen Stellenwert. Das ist freilich ein „konstitutives“ Manko dieses Definitionsversuches. Ich plädiere nun aber nicht für eine Restitution des pädagogischen Rettungsglaubens, wohl aber für seinen Status als unverzichtbares konstitutives Moment der Reformpädagogik. Aber auch manche von Röhrs genannte konstitutive Kriterien und Postulate evozieren die Frage nach ihrer Gültigkeit im Detail. Wie steht es mit dem Postulat der Selbständigkeit des Schülers in der Waldorfpädagogik, wo der Lehrer doch als „Repräsentant der Weltordnung“ gerade im Unterricht und durch die Art seines (überwiegend frontalen) Unterrichts eine herausragende Stellung innehat, die seine traditionell gegebene Dominanz theoretisch wie pädagogisch-praktisch weit übersteigt? Und die Idee von der Eigengesetzlichkeit der kindlichen Entwicklung – in der Montessori- und Waldorfpädagogik mit ihren ausgearbeiteten Entwicklungslehren zweifellos dominant – spielt in anderen Konzeptionen eine eher untergeordnete bis geringe Rolle. Dem – hier nur andeutungsweise – in ein kritisches Licht gerückten neuerlichen Versuch einer systematischen Ortsbestimmung der Reformpädagogik, dem Aufweis ihrer Grundintentionen und Kriterien, kann im Grunde nur eine definitorische Arbeitshypothese gegenübergestellt werden, die den Versuch unternimmt, die erziehungswissenschaftliche Kritik und die paradoxe Struktur des in Frage stehenden pädagogischen Denk- und Sachverhaltes mitzureflektieren. Sie wird dann mit teilweise, also nicht gänzlich anderen, Akzenten als bei Röhrs ebenfalls eine „vielgliedrige“ oder mehrperspektivische sein. Es bleibt letztlich nur die mühsame, aber notwendige Arbeit, sich in Geschichte und Gegenwart erneut umzusehen und die grundlegenden und auch für die heutige Diskussion unverzichtbaren Konzepte wie Kindorien-
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tierung, Schulleben, Gemeinschaftserziehung usw. sowie darauf beruhende methodische Formen des Unterrichts und komplexe Schulgestalten kritisch zu sichten. Die Ergebnisse erlauben dann nicht mehr die Präsentation eines geschlossenen Kanons an Grundmotiven oder die Präsentation eines „guten“ pädagogischen Schulkonzeptes. Wohl wird deutlich werden, wie und wo das Ringen um die „Neue Erziehung“ dem kritisierten Alten verhaftet bleibt, welche politischen oder philosophischen – weder stillschweigend noch in diskursiven Reinigungsakten abspaltbaren – Ambivalenzen den Konzepten ursprünglich und zum Teil bis heute anhaften und welche Widerspüche reformpädagogisches Denken aus sich selbst heraus hervorbringt: sowohl innerhalb einzelner Konzeptionen wie auch zwischen verschiedenen Konzeptionen. Die Begründungsansätze für das Neue sind nämlich in sich dermaßen heterogen, dass der Versuch einer konstitutiven Eingrenzung kaum dem Vorwurf einer Ausgrenzung anderer, von anderen als solche reklamierten, Konstitutiva entgehen kann. Ein Blick in die Vielgestaltigkeit der „reformpädagogischen Landschaft“ – ich unterstelle ihre Existenz – zeigt denn auch, dass die Neue Schule nicht als bloße Umkehr der oben benannten Negativkomponenten der etablierten didaktisch-methodischen Normalform zu verstehen ist. Der kritische Impuls war zwar unerlässlich, hatte aber seinerseits schon eine, das Gegebene transzendierende Vision einer möglichen anderen pädagogischen Praxis im Horizont einer rettenden Utopie zur Voraussetzung. Der kritische Impuls der Reformpädagogik verdankt seine innovative Kraft u.a. den Perspektiven und teilweise dem Zusammenwirken verschiedener Wissens- und Glaubensbereiche. Hier sind vor allem zu nennen: Medizin und Heilpädagogik, Entwicklungspsychologie, (philosophische) Anthropologie, Lebensphilosophie, Soziologie, emanzipatorische Gesellschaftspolitik, aber auch Religion, Theo- und Anthroposophie und in neuerer Zeit die Humanistische Psychologie. Dieser heterogene Orientierungshintergrund brachte es mit sich, dass trotz der allen gemeinsamen kritischen Einstellung gegenüber der „Alten Schule“ und der Übereinstimmung in einigen gestaltenden Prinzipien die konkrete Gestalt des Neuen sich gestern wie heute in verschiedenen und in mancher Hinsicht gegensätzlichen Entwürfen zeigt. In ihren theoretischen Gründen reichen sie etwa von einer okkulten Gesamtschau der Welt und des Menschen (Rudolf Steiners Anthroposophie und die Waldorfpädagogik), von experimentell-erfahrungswissenschaftlichen Theorien mit zum Teil christlich-religiösen und mystischen Komponenten (Maria Montessori) über anthropologisch-sozialwissenschaftliche Konzepte mit metaphysischen, christlich-religiösen und völkisch-organologischen Anteilen (Peter Petersen) bis hin zu gesellschaftskritisch-emanzipatorischen Ansätzen (Célestin Freinet, neuere Alternativbzw. Freie Schulen). Wie soll man all das „unter einen Hut“ bringen? Das ist gewiss schwierig, aber doch nicht ganz unmöglich, wenn eine weite Perspektive akzeptiert wird, auf eine „eindeutige“ Definition verzichtet wird und wenn nicht darauf bestanden wird, dass „Grundmotive“ in gleicher Weise für alle Konzeptionen zu gelten hätten; wenn mithin die paradoxe Struktur und der Facettenreichtum der Reformpädagogik in Diskurs und Wirklichkeit gewahrt bleibt respektive zur Sprache gebracht wird.
Mein Vorschlag zu einer mehrperspektivischen komplexen Arbeitshypothese zur Reformpädagogik lautet: Erziehung: Reformpädagogik in Geschichte und Gegenwart ist der Versuch, gegen die Macht der „alten Erziehung“ mit dem Merkmal einer autoritativen Fremdbestimmung oder Außenlenkung eine „neue Erziehung“ durchzusetzen, die Anschluss sucht an die im Kinde selbst angelegten Entwicklungskräfte, an seine Interessen und Bedürfnisse. In der Eigendynamik dieser Kräfte sieht Reformpädagogik zugleich den Schlüssel zur Entwicklung einer besseren
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Welt, an deren Heraufkunft Erziehung in dienender, helfender (nicht vor-schreibender) Funktion mitzuwirken habe. Rettung als erzieherisches Motiv: Die klassische Reformpädagogik (und in Abschwächung der entsprechenden Motive teilweise auch die spätere und neuere Reformpädagogik) sieht im Hinblick auf die selbstentfremdenden Momente in der modernen, von der industriellen Arbeitswelt geprägten Gesellschaft in der Erziehung das entscheidende Mittel zur Rettung der Menschheit. Sie schließt damit in ihrem historischen Entstehungskontext an die das Denken des 19. Jahrhunderts weithin beherrschende Idee der Evolution an, die im Sinne einer als natur- respektive kulturnotwendig verlaufenden biologischen respektive sozio-kulturellen Höherentwicklung der Gattung Mensch zum „neuen Menschen“ und „zur guten Gesellschaft“ in einem „neuen Zeitalter“ hin gedacht wird. Dieser Anspruch ist der Tendenz und dem philosophischen Ursprung nach universell und wird als solcher häufig auch verteidigt. Er tritt aber auch in Anpassung an konkrete gesellschaftliche Erfahrungen, Erwartungen und kollektive Sehnsüchte (zumal im Deutschland der Kaiser- und Weimarer Zeit, weniger ausgeprägt auch in England und Frankreich) in einer rhetorischen Modifikation auf: dann geht es um die Rettung oder die Vormachtstellung der eigenen Nation im Wettstreit der Nationen, um die ideelle und politische Einheit des Volkes, gar seine „völkische“ Identität oder um den – gegen „fremde“ Einflüsse gerichteten – Aufbau und die Verteidigung einer spezifisch nationalen Kultur. Die Einbindung der Reformpädagogik in die teilweise irrationalen, mit antirationalistischen Affekten durchsetzten weltanschaulichen Debatten der Zeit um die Wende zum 20. Jahrhundert bedingt ihren intellektuell und moralisch irritierenden Schatten. Er wird je nach „Erkenntnisinteresse“ oder Durchsetzungsintention im apologetischen Diskurs nicht wahrgenommen, verschwiegen, verdrängt, geleugnet, ignoriert, verharmlost, uminterpretiert oder – im kritischen Gegenzug – häufig als ein Moment herausgehoben, das die Reformpädagogik insgesamt oder doch politisch desavouiere. – Zugleich mit der Rettungsmetaphorik wird ein weiterer, historisch wie individual-biographisch tief verwurzelter Erfahrungsgehalt reflektiert, nämlich der Widerspruch zwischen der Würde des Individuums und dem ängstigenden Zwang der Institution. Reformpädagogik verknüpft ihre Programme mit dem Anspruch der völligen Auflösung dieses Widerspruchs. Ihr Ziel ist die Schaffung eines von Zwang und Angst befreiten erzieherischen Milieus. Sie verspricht – in Anlehnung an Kant formuliert – die Rettung des Kindes und Jugendlichen aus der von der Institution und ihren Repräsentanten erzwungenen Unmündigkeit und Unterwürfigkeit. Ihr (partieller) Erfolg bei der Erreichung dieses Ziels begründet u.a. das nachhaltige Interesse an der Reformpädagogik – auch und vor allem auf Seiten der autoritätsmüden Erzieherschaft, die sich eine Entlassung aus den als unwürdig empfundenen Formen der Zucht erhofft. Geschichte: Reformpädagogik ist ein Kind der Moderne, und zwar unter Einschluss der von der modernen sozio-kulturellen Entwicklung selbst hervorgebrachten antimodernen Tendenzen. Als Kind der Moderne mit ihrem Fortschrittsglauben reflektiert sie deren Hoffnungen auf einen besseren Weltzustand pädagogisch im Programm einer evolutionären Erziehung, implizit und von ihr anfänglich unerkannt auch als „subjektsensible“ prä-emanzipatorische und prä-demokratische Erziehung (Partizipation). Als Kind der Antimoderne reflektiert sie die Entfremdungseffekte der Moderne und verfällt nicht selten hypertrophen pädagogischen und politisch-totalitären Rettungsphantasien. Reformpädagogik steht in ihren modernen und/oder antimodernen Zügen in einem dynamischen Zusammenhang mit anderen sozialen Bewegungen der Jahrhundertwende (Lebens-, Ernährungs-, Siedlungsreform-, Sexualreform und andere), die ebenfalls vom gesellschaftlichen Rand her und unter Betonung einzelner Aspekte eine umfassende Reform des Lebens und der Gesellschaft im Ganzen zum Ziel haben. Ihr historischer Entstehungs- und Entwicklungszeitraum liegt schwerpunktmäßig in der Zeit zwischen 1889 (Gründung der „New School Abbotsholme“ in England, Mutterschule der europäischen
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Landerziehungsheimbewegung) und 1924/25 (Gründung der letzten beiden bedeutenden Traditionen klassisch-reformpädagogischer Schulen: die „Jenaplanschule“ Peter Petersens und die „Education du travail“, die sozialistisch orientierte Arbeitsschule des Franzosen Célestin Freinet). Ihr Entwicklungszeitraum ist in Richtung Gegenwart, auch in bildungspolitischer Hinsicht, (noch) nicht zu begrenzen. Zwei Ergänzungen zur Differenzierung sind hier angebracht: (a) Die „Freien Alternativschulen“ in Europa und Amerika stellen eine neuere Entwicklung aus den 1960er und 1970er Jahren dar. Sie betonen im allgemeinen auch die klassischreformpädagogischen Wurzeln ihrer freien, antiautoritären Erziehung und sehen sich pädagogisch-politisch zum Teil sogar in einer noch älteren Tradition, nämlich in der Spur der anarchistischen Pädagogik der „Freien Bauernschule“ des russischen Dichters Leo Tolstoi aus den 1860er Jahren. Sie beleben in manchen Hinsichten traditionelle kulturkritische Impulse (einschließlich traditioneller anti-kapitalistischer, anti-industrieller und zivilisationskritischer Momente) unter Einbeziehung neuerer radikal-demokratischer, politisch-emanzipatorischer Aspekte. Sie stehen – ähnlich der „klassischen“ Reformpädagogik – den sich neu formierenden sozialen und politischen Bewegungen nahe (Anti-Kernkraft-, Ökologische, Friedens-, Frauen-, Anti-autoritäre, radikal-demokratische, anti-imperialistische Bewegung). Sie sind vor allem im politischen Umfeld der „Grünen“ verankert. Sie wiederholen in mancher Hinsicht das Entwicklungsmuster der klassischen Reformpädagogik: radikale Rhetorik und radikale Forderungen, institutionelle Einbindung (Schulgründungen) mit ihren unvermeidlichen auto-korrektiven Momenten und schließlich Domestikation ihrer nunmehr verwandelten, d.h. ihrer radikalen Spitzen beraubten Reformmotive und Reformkonzepte. (b) Die amerikanische „Progressive Education“ hat ihre eigene, im Beginn früher anzusetzende Geschichte42. Sie ist eng verbunden mit der gesellschaftsreformerischen „Progressive Era“ (Demokratisierung, Ausbau der Sozialgesetzgebung) der ersten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, reicht aber historisch zurück bis auf reformpädagogische, lebens- und gesellschaftsreformerische Impulse und Initiativen des frühen 19. Jahrhunderts (vor allem aus dem Umkreis der natur-mystisch, spirituell und gesellschaftskritisch motivierten „Transzendentalisten“)43. – Überhaupt lassen sich unter einem je spezifischen nationalen Gesichtspunkt etwas andere zeitliche Abläufe sowie inhaltlich eigenständige Entwicklungen beobachten.44 Der Schwerpunkt der Reformpädagogik in Geschichte und Gegenwart liegt im Bereich der Unterrichts- und Schulreform. Schule und Unterricht I, Gestaltungsprinzipien: Bei aller Unterschiedlichkeit der einzelnen Reformlinien und Schulgestalten lassen sich doch eine Reihe gemeinsamer pädagogischer Grundmotive ausmachen: x Orientierung an den kindlichen Bedürfnissen und Interessen (s.o.); x Ein Lernen, das die einseitige intellektuelle Orientierung überwindet und die Aspekte der Aktivität, Kreativität und Lebensnähe einschließt; x Schule als Lebensgemeinschaft, als ein Ort kooperativen, selbst- und mitverantwortlichen Lernens und Lebens; x Erziehung des „ganzen Menschen“. 42 Vgl.: a) Cremin 1961, b) Röhrs, Hermann (1977): Die progressive Erziehungsbewegung. Verlauf und Auswirkungen der Reformpädagogik in den USA, Hannover u.a.O.: Hermann Schroedel Verlag, c) Wallace, James M. (1994): Ursprung und Entwicklung der ‚Progressive Education‘ in den USA: Reformer der Neuen Welt und die Alte Welt, in: Röhrs/Lenhart a.a.O. (1994), S.141ff 43 Vgl. den „Exkurs nach England und Amerika ...“ im 3. Kapitel (Zivilisationskritik ...) in diesem Buch. 44 Vgl. Röhrs/Lenhart (1994) und Seyfarth-Stubenrauch, Michael und Skiera, Ehrenhard (Hsg.) (1996): Reformpädagogik und Schulreform in Europa, Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, Band 2 (darin die „Länderstudien“)
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Die gemeinsamen Grundmotive verweisen auf einen Reformbedarf, der heute unter den Begriffen Humanisierung und Demokratisierung des Schullebens diskutiert wird und in dessen Rahmen Reformpädagogik ihren besonderen Stellenwert behauptet. Schule und Unterricht II, didaktisch-methodische und organisatorische Momente: In nahezu allen reformpädagogischen Schulen finden sich die folgenden Momente: x Gestaltung eines ästhetisch und intellektuell anregenden Lernmilieus; x Aufnahme fächerübergreifender Lernbereiche und Unterrichtsprojekte; x Möglichkeit der Mitbestimmung des Kindes bei der Wahl von Lernaktivitäten (mehr oder weniger weitgehend); x Selbstbildungsmittel zur individuellen Arbeit, Partner- und Gruppenarbeit; x sprachlich differenzierte und informell-persönliche Leistungsberatung und -beurteilung (entweder prinzipiell oder zusätzlich); x Bildung von Lerngruppen nach anderen Gesichtspunkten als Leistungs- und Altershomogenität (entweder prinzipiell oder zusätzlich); x Öffnung der Schule gegenüber dem räumlichen und sozialen Umfeld als wichtigem Lernund Erfahrungsraum; x Betonung der kindlichen Eigenaktivität. Die konkrete Ausgestaltung erfolgt nach den erziehungstheoretischen Maßgaben auf sehr unterschiedliche Weise. Die Gestaltungsprinzipien und didaktisch-methodischen Momente der Reformpädagogik bilden insgesamt einen günstigen Bedingungsrahmen auch für innovative Entwicklungen auf dem Gebiet der Heil- und Sonderpädagogik sowie der integrativen Pädagogik (Integration von Behinderten und Nichtbehinderten).45 Schule und Unterricht III, Entwicklungen, Wirkungen: So ist eine facettenreiche reformpädagogische teils versunkene teils lebendige „Landschaft“ entstanden, wie sie (a) in mittlerweile nur noch historisch zu erschließenden Schulen und Schulversuchen bestand (Berthold Ottos Hauslehrerschule, Bremer- und Hamburger Lebensgemeinschaftsschulen, Adolf Reichweins Dorfschule in Tiefensee bei Berlin, zahlreiche reformpädagogische Exilschulen deutscher Herkunft, zahlreiche reformpädagogische Schulen und Traditionen auf jeweils nationalem Terrain) und (b) wie sie uns heute in durchgeformten Schulgestalten begegnet: Landerziehungsheime-, Montessori-, Waldorf-, Jenaplan-, Freinet-, Daltonplan-, Freie Alternativschulen und andere. Sie haben eigene Traditionen mit zusammen inzwischen über 2000 (zweitausend) Schulen in Europa begründet und bieten lebendige Beispiele einer alternativen pädagogischen Praxis.46 Zu denken ist aber auch an die Kunsterziehungs- und Arbeitsschulbewegung, den Erlebnisunterricht, den Projektgedanken und viele andere Bestrebungen, die zahlreiche aktuelle didaktische, auch fachdidaktische Konzeptionen beeinflusst wie überhaupt den Begriff schulischen Lernens gegenüber den Formen der „Alten Schule“ erheblich erweitert und auf eine qualitativ neue Stufe gehoben haben. Reformpädagogische Momente können sich also von ihrem ursprünglichen erziehungstheoretischen und rettungspädagogischen Kontext lösen und so – als verwandelte, ihrer großen As45
Hillenbrand, Clemens (1994): Reformpädagogik und Heilpädagogik – Unter besonderer Berücksichtigung der Hilfsschule, Bad Heilbrunn: Klinckhardt. Vgl. auch die entsprechenden Hinweise in den Abschnitten über die Waldorf-, Jenaplan- und Montessorischulen. 46 Klaßen, Theodor F. und Skiera, Ehrenhard (1993): Handbuch der reformpädagogischen und alternativen Schulen in Europa, Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren
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piration entledigte und somit „trivialisierte“ pädagogische Strukturmomente – in neue diskursive, bildungspolitische und innovationsstrategische Kontexte Eingang finden. Sie sind dann trotz ihrer traditionellen Wurzeln als neue Momente eines neuen Kontextes anzusehen und transportieren als solche nicht die konnotativen, u.U. irrationalen Gehalte ihres Ursprungs. Es ist also zum Beispiel kaum zu befürchten, dass der Antiklerikalismus des Kommunisten Célestin Freinet in die nach ihm benannte und nach seinen methodischen Konzepten arbeitende katholische Grundschule Einzug hält. Unmittelbar nach dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ 1989 zeigte sich in den neuen Demokratien (einschließlich der neuen Bundesländer in Ostdeutschland) ein lebhaftes Interesse an der Reformpädagogik – an der gegenwärtigen und geschichtlichen der westlichen Länder ebenso wie an den geschichtlichen der national-eigenen, vor 1989 weitestgehend unterdrückten reformpädagogischen Traditionen. Diese Entwicklung ist als Ausdruck der Hoffnung zu verstehen, theoretische und praktisch nutzbare Orientierungen für die Schulentwicklung im Sinne einer Demokratisierung und Humanisierung zu gewinnen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben sich einige Schul- und Unterrichtskonzeptionen entwickelt, die in manchen ihrer Prinzipien eine Verwandtschaft mit den älteren Konzeptionen der Reformpädagogik aufweisen. In der Literatur werden sie häufig unter dem Begriff „neue Reformpädagogik“ (oder „die neuen Reformpädagogiken“) zusammengefasst. Demgegenüber werden dann die Konzeptionen mit einer längeren Tradition als „klassische Reformpädagogik“ bezeichnet. Zur „neuen Reformpädagogik“ sind beispielsweise zu rechnen: „Community-Education“, „Reggio-Pädagogik“, „Storyline-Methode“. Außerschulische Bereiche: So wie Reformpädagogik sich auch aus zahlreichen weltanschaulichen Quellen nicht primär pädagogischer Signatur speist, so wie sie sich auch in Diskurse nicht primär pädagogischer Natur begibt und mit anderen „Bewegungen“ (z.B. Lebensreform) verbindet und verbündet, so liegt ihr Wirkungsfeld zum Teil außerhalb der Schule oder geht, von der Schule ausgehend, über diese hinaus (z.B. im Rahmen der Kunsterziehungsbewegung). In den historiographischen Arbeiten werden daher neben der Schule auch andere Wirkungsbereiche herausgestellt und untersucht: Erziehung in der Familie (Moral- und Sexualpädagogik, Ästhetik der häuslichen Umwelt des Kindes, Spielpädagogik, Kinder- und Jugendliteratur), Vorschulerziehung, (sozialistische) „Kinderfreundebewegung“, Sozialpädagogik, Heimerziehung, Jugendfürsorge, Jugendstrafvollzug, Bibliotheks-, Volks- und Fortbildungswesen, Frauenbewegung; alles Bereiche, in denen manche Reformpädagoginnen und – pädagogen maßgebliche Entwicklungsanstöße gegeben haben.47
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Ein orientierender Blick auf den Gang der Darstellung
Das Leiden in und an der Schule wird in der Geschichte schon früh transparent, zum ersten Mal in einer subjektnahen Weise in den Texten des Kirchenlehrers Aurelius Augustinus (354430). Sein Leben und Wirken markiert den Übergang von der Spätantike zum frühen, christlichen Mittelalter. In seiner religiösen Autobiographie kommt Augustinus – auf dem Hintergrund seiner glücklichen Kindheit, wo er in einer liebevollen Umgebung ohne Zwang seiner „natürlichen Wissbegier“ nachgehen konnte – auf die Schrecken der Schulzeit zu sprechen. Seine Rede mag religiös bestimmt sein und eine frühe Leiderfahrung nur noch gebrochen, möglicherweise in überzeichneter Form widerspiegeln. Der Leser seines sehr lebendig ge47
Siehe: Beckers, Edgar und Richter, Elke (1979): Kommentierte Bibliographie zur Reformpädagogik, Sankt Augustin: Verlag Hans Richarz; vgl. ferner die genannten Arbeiten von Scheibe und Röhrs sowie Röhrs/Lenhart.
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schriebenen biographischen Textes wird aber zu dem Schluss gelangen: hier spricht sich das wirkliche Kind im Manne mit seinem wirklichen Leid aus. Trotz der von Augustinus entwickelten Idee eines natürlichen Lernens versteht er dies nicht als Empfehlung zur Reform der Schule. Er ist kein früher Reformpädagoge. Im Gegenteil. Das Leiden in der Schule wie im Leben hat seinen tiefen Sinn. Es gibt dem Suchenden einen Vorgeschmack auf die Hölle und ist ihm so ein Fingerzeig Gottes zum rechten Weg des Seelenheils, zum Glauben hin. – Erst viel später in der Geschichte wird das Schulleid und dessen vielfältige, konkrete Ursachen im Zusammenhang mit der Forderung nach einer Verbesserung der menschlichen Dinge allgemein einer radikalen Kritik unterzogen. Das Wirken des Johann Amos Comenius (1592-1670) ist hier als der Höhepunkt zu nennen. Comenius bestimmt in einer weit ausgreifenden religiösen, gesellschaftsphilosophischen, lerntheoretischen und didaktischen Reflexion die Schule als Werkstätte der Menschlichkeit: sie möge eine „liebliche Stätte“ und ein Ort freudigen Lernens sein. Er entwickelt den Gedanken des „syn-ästhetischen“ Lernens, des Lernens mit allen Sinnen. Er will der verderblichen „Kopfmarterung“ der Schule seiner Zeit mit neuen, teilweise bis in die Einzelheiten beschriebenen Methoden ein Ende setzen. Damit bringt Comenius, der selber Lehrer war und Schulen geleitet hatte, wesentliche Momente auf den Begriff, die späterhin und dann vor allem in der Reformpädagogik das Bild einer menschenfreundlichen Schule prägen und reformerische Initiativen mitbestimmen werden. – Die Erfahrung schulischen Leides und der Glaube an die Möglichkeit seiner Überwindung ist ein tragendes, historisch und individual-biographisch verankertes Motiv der Reformpädagogik. Dieses Motiv verbindet sich nun im Zuge der entfremdenden Erfahrungen in der modernen, von zahlreichen sozialen Reformbewegungen geprägten Welt und im Banne der weltanschaulichen Debatten des späten 19. Jahrhunderts zu einer eigentümlichen, facettenreichen „reformpädagogischen“ Gestalt, die aufklärerisches Gedankengut der Neuzeit und rational nachvollziehbare Argumente der Zivilisations-, Erziehungs- und Schulkritik mit irrationalen und antirationalen Momenten durchmischt. Reformpädagogik kommt im überspannten Erwartungshorizont einer universellen Rettungsmetaphorik, gestützt auf vermeintlich wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse, in die (davon nun faszinierte oder abgestoßene) Welt und in dem hitzigen Diskurs zu sich selbst. Das bedingt ihren irrationalen „Schatten“, der bis in den apologetischen sowie kritischen Diskurs zur Reformpädagogik bis heute hineinreicht und aktuelle Wertungen tangiert. Selbst wenn man sich einen von Rationalität und umsichtigem Urteilen geprägten reformpädagogischen Diskurs ohne jene irrationalen, politisch bedrohlichen und gefährlichen Ideen wünschen mag: historisch gesehen ist der irrationale „Schatten“ jedenfalls die „Begleitmusik“ reformpädagogischer Rhetorik, vielleicht ist er sogar als eine Bedingung für die Entwicklung und Wirksamkeit ihrer pädagogischen Ideen und didaktisch-methodischen Konzepte sowie ihrer Schulkonzeptionen anzusehen. Die Entwürfe und Initiativen beschäftigen uns noch heute in einem durchaus konstruktiven Sinne, eben auch in dem Sinne, dass hier unverzichtbare Hinweise zur Demokratisierung und Humanisierung von Schule und Unterricht gegeben worden sind. Das Selbstverständnis der Pädagogik allgemein, insbesondere das der Schulpädagogik, wurde und wird von der Reformpädagogik nachhaltig bestimmt. Die angedeuteten Zusammenhänge und Wirkungen können mit einem historisch orientierenden Blick unter dem Aspekt des Unbehagens an der Kultur der Moderne in den Blick gerückt werden. Des näheren sind in ihrem dynamischen Zusammenhang zu reflektieren: die in allen Industriestaaten formulierte Kritik an den bedrohlichen Seiten der Zivilisation und die sich als rettend verstehenden sozialen Bewegungen gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Dazu gehören verschiedene nicht vorrangig pädagogisch ausgerichtete Bewegungen zur Reform des Lebens und der Gesellschaft sowie, diesen zum Teil eng verbunden, die Ansätze der Reformpädagogik.
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In diesem eigentümlichen Spannungsfeld zwischen Modernisierung der Gesellschaft und ihren teils rational begründbaren, teils im Irrationalen wurzelnden Gegenaffekten und Gegenströmungen sind dann auch die ersten reformpädagogischen Initiativen zur Schul- und Unterrichtsreform zu verorten. Zunächst machen die „Landerziehungsheime“, von England ausgehend, auf sich aufmerksam. Das Interesse in der Fachwelt war (und ist noch immer) groß, obwohl sie als teure private Internatsschulen von vornherein nur einem kleinen Kreis Begüterter zugänglich und deswegen in ihrer Anzahl immer gering geblieben sind. Sie verstehen sich, nicht gerade bescheiden in ihrem Anspruch, gleichwohl als Avantgarde und Beispiel einer allgemeinen Schulreform – und in der Tat haben sie wenigstens in manchen Aspekten (Schullebengestaltung, Mitbestimmung, Integration von Arbeit, Spiel, Feier ins pädagogische Arrangement u.a.) anregend gewirkt. – Zum Teil ausgehend von der allgemeinen Schulwelt selbst und in diese unmittelbarer als die Landerziehungsheime hineinwirkend sind die Arbeitsschul- und die Kunsterziehungsbewegung zu nennen. „Arbeit“ und „Kunst“ gewinnen in ihren Konzepten einen neuen Stellenwert für die schulische Erziehung. Beide gewinnen zudem eine Bedeutung weit über die allgemeinbildende Schule hinaus, die Arbeitsschule etwa im Bereich der vorberuflichen und beruflichen Bildung, die Kunsterziehungsbewegung im Bereich der ästhetischen Welt des Kindes und Jugendlichen überhaupt. Unter schulpädagogischen Aspekten verdienen die oben bereits genannten Schulgestalten der Reformpädagogik in ihren je eigenen Entstehungs- und theoretischen Begründungszusammenhängen, in ihren erziehungspraktischen Ausformungen, in ihrer Entwicklung und ihren Traditionen ein besonderes Interesse. Sie haben die „Wirren der Zeit“, gelegentlich unter Wandlungen, zuweilen auch unter Aufgabe mancher ihrer Gründungsmotive, überstanden und die inneren wie äußeren Widerstände ihrer Existenz zu meistern gewusst. (Im nationalsozialistischen Deutschland wurden die Traditionen unterbrochen oder in ihrer Entfaltung stark behindert.) Vor allem der Bestand der schulpädagogischen Traditionen, die in allen ihren Einzellinien in den letzten etwa drei Jahrzehnten eine quantitative Ausweitung erfahren haben, erinnert nachhaltig an die Ursprungs- und Entwicklungsgeschichte der Reformpädagogik und lässt die Frage nach den Gründen ihrer Aktualität sowie auch nach ihrem möglichen innovativen Gehalt zur Lösung pädagogischer Probleme der Gegenwart aufkommen. Es muss dabei aber im akademischen Raum um den kritischen Versuch gehen, ein von der pragmatischen Perspektive nicht normiertes, theoretisch tiefergehendes Verständnis der einzelnen Traditionen anzubahnen. So können auch manche widersprüchlichen oder fragwürdigen Momente in den Blick geraten, die zum Teil noch heute den Konzepten mehr oder weniger anhaften und die pädagogische Praxis (mit)bestimmen. Wie steht es etwa mit der von Montessori konzipierten Pädagogik vom Kinde aus und dem von ihr zugleich angemahnten unbedingten Gehorsam gegenüber der Lehrerin? Oder bei der von Rudolf Steiner begründeten, weltweit in einigen hundert Schulen verbreiteten und weiter expandierenden Waldorf-Schulbewegung: Man wird den Sinn der Waldorfpädagogik nicht verstehen können, wenn der enge, in Steiners Anthroposophie grundgelegte Zusammenhang ihres zentralen Bewegungs-Faches „Eurythmie“ mit dem in den Schulen geübten rhythmischen Sprechen unter besonderer lautlicher Ausformung der vokalen und konsonanten Anteile nicht gesehen wird. Das angeleitete artikulierte Sprechen dient aus der Sicht der Anthroposophie nämlich nicht der Verbesserung kommunikativer Fähigkeiten, sondern es ist ein Mittel der Erziehung zum geistigen Menschen hin, ein durch den Akt des Sprechens selbst konkret wirkendes Werkzeug der Erziehung – und nicht ein über den Umweg des Verstehens wirkendes –, besonders auch ein Werkzeug der Geschlechtserziehung, deren Sinn ebenfalls in der evolutiven Hervorbringung (oder Höherentwicklung) des Menschen als ein „Geistwesen“ liegt. Der hier in der Waldorfpädagogik angedeutete Zusammenhang wie auch die Beziehung zwischen der Entwicklungsfreiheit des Kindes und dem absoluten Gehorsam gegenüber der Lehrerin bei Montessori haben in ihren zugehörigen Erziehungs- und Schulkonzeptionen ei-
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nen hohen systematischen Stellenwert, dessen Kenntnisnahme erst ein tiefer gehendes Verstehen ermöglicht. Und nur deswegen, nicht aus Lust an der Kritik, am Aufzeigen von Widersprüchen oder ideologischen Kuriositäten verdienen solche Zusammenhänge Beachtung. Die sicher notwendige Kritik an manchen theoretischen Konstruktionen und an ihren praktischen Konsequenzen muss dann durchaus nicht in ein pauschales Urteil einmünden, das die Reformpädagogik insgesamt oder einzelne ihrer Linien an den Pranger stellt. Die in den Schulen zu besichtigende alternative Praxis ist allemal eines jeden tiefergehenden Interesses würdig; sie ist gelegentlich irritierend und provozierend, aber auch inspirierend. Vieles daraus hat den engeren Kreis der zugehörigen Schulen überschritten und Eingang in den Diskurs und die Praxis der Schulreform allgemein gefunden. Das gilt auch für manche Aspekte der Waldorfschulen, deren Pädagogik wegen ihres exklusiven, im Okkulten wurzelnden weltanschaulichen Hintergrundes nur schwer in Kontexte zu vermitteln ist, die außerhalb ihrer besonderen Welt liegen. – In zahlreichen Schulen der Reformpädagogik wurden beispielhafte Lösungsansätze für Probleme entwickelt, die heute eine weite Beachtung finden, weil sie aktuelle pädagogische Fragen reflektieren; etwa: Fragen der multikulturellen Erziehung, der Integration von behinderten und nicht-behinderten Kindern, der ökologischen Erziehung, der berufsvorbereitenden oder –orientierenden Erziehung, der Schule in sozio-ökonomisch benachteiligten Milieus. Ein besonderes Augenmerk verdienen auch neuere Schul- und Unterrichtskonzeptionen (die „neue Reformpädagogik“) wie beispielsweise die „Community-Education“, die „ReggioPädagogik“ oder die „Storyline-Methode“. Ihre Ursprünge liegen im anglo-amerikanischen Raum bzw. in Italien und in Schottland. Sie weisen eine ideelle Verwandtschaft mit manchen Konzeptionen der „klassischen“ Reformpädagogik auf. Das zeigt sich u.a. an der Betonung folgender Momente: Partizipation und Kooperation; Aktivierung des Schülers in einem umfassenden Sinne; Organisation des Lernens um längerfristige Projekte, auch unter den Zielsetzungen fächerübergreifenden Lernens; besondere Wertschätzung der Gruppenarbeit. Ohne die Zusammenhänge und Einflüsse im einzelnen immer benennen zu können, lässt sich dann die Ansicht begründen, dass die Reformpädagogik sowohl in ihren „klassischen“ wie auch in ihren „neuen“ Varianten zu einer Erweiterung des Lernbegriffs, insbesondere des schulischen Lernbegriffs und zu einer Veränderung des schulischen Lernens geführt hat. Gegen die methodische Monokultur des „Frontalunterrichts“ wird eine Vielfalt sichtbar, die – in den jeweils gegebenen Grenzen – die Struktur der Schule, besonders der Grundschule heute in einem so weitgehenden Maße prägt, dass die alte „didaktisch-methodische Normalform der Schule“ mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt wird oder doch zumindest ihre Vorherrschaft verliert. Das kann bis in einzelne fach- und lernbereichsdidaktische Konzeptionen nachgewiesen werden. Freie Arbeit, Offener Unterricht, Wochenplanunterricht, projektorientiertes Lernen, Gruppenarbeit, erlebnisorientierter Anfangsunterricht, erfahrungsoffener Sachunterricht (in den Niederlanden die „Weltorientierung“) sind in ihrer gegenwärtigen Form und Verbreitung ohne den reformpädagogischen Hintergrund nicht zu denken. Ohne die Ansätze der Reformpädagogik gäbe es wohl eine Schulpädagogik, ihr Profil wäre aber von dem gegenwärtigen grundverschieden. Wenn auch der schulpädagogische Gesichtspunkt aus guten Gründen im Zusammenhang der Reformpädagogik dominiert, so wendet sich der Blick ihrer Protagonisten und Interpreten schon früh auch erzieherischen Bereichen außerhalb der Schule zu. Peter Petersen, selbst ein führender Kenner und Vertreter der Reformpädagogik, Begründer der „Jenaplanschule“, weist etwa in seinem weiter oben bereits genannten Buch zur „Neueuropäischen Erziehungsbewegung“ (1926) auf den Zusammenhang zwischen der Schulreform und Bestrebungen zur Humanisierung und Pädagogisierung der „Erziehungsanstalten“ und des Strafvollzuges hin. Pe-
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tersen sieht wie in der neuen Schule auch hier einen „neue(n) Geist brüderlicher Gesinnung des Menschen zum Menschen“ am Werk, der „von Land zu Land und über die Ozeane hinüber“ geht. Mit zahlreichen Beispielen aus dem In- und Ausland zeigt er, dass jene Bereiche „seit 1900 das tätige Interesse derselben Menschenfreunde“ gewinnen, die auch „das Schulleben zu reformieren beginnen.“48 In allen späteren Werken zur Reformpädagogik respektive zur „Neuen Erziehung“ (Nohl, Scheibe, Röhrs u.a.) werden außerschulische Bestrebungen, die eine „innere Übereinstimmung“ (Scheibe) mit zentralen reformpädagogischen Intentionen zeigen, mehr und mehr in die Darstellung einbezogen. Der mehrperspektivische Blick auf die Reformpädagogik erlaubt es nicht, zum Schluss einen „Gesamtertrag“ herauszustellen, der dann, abgespalten oder „gereinigt“ von seinen teilweise widersprüchlichen und fragwürdigen Momenten, zu tradieren ist. Was als Gehalt zu tradieren wäre, kann nur in einer je problembezogenen, pragmatisch oder theoretisch orientierten Besinnung definiert werden. Das bedeutet in manchen Fällen eine Distanzierung vom ursprünglichen Gehalt, in anderen eine Anknüpfung und ggf. kritische Aneignung und Weiterentwicklung. Die kritische Aneignung und Verwendung mancher Reformmotive und Praxismomente mag dann von „orthodoxen“ Vertretern einzelner reformpädagogischer Richtungen, von den „Hütern der reinen Lehre“, als Verrat an der „guten“ Tradition gebrandmarkt, von den „Fortschrittlichen“ dagegen als notwendige Entwicklung oder Weiterentwicklung gut geheißen werden. Eine bruchlose Kontinuität kann es in der geschichtlichen Welt kaum geben. Ein genauerer Blick zeigt, dass Wandlung auch dort ist, wo Stetigkeit versprochen wird. Statt der Vorstellung eines „gesicherten Ertrages“ scheint es mir sinnvoller zu sein, zum Schluss das „Fenster“ zur historischen und aktuellen „Landschaft“ der Reformpädagogik noch weiter zu öffnen und im Sinne von „Hinweisen zum Weiterstudium“ auf Entwicklungen und offene Fragen aufmerksam zu machen, die wegen der Schwerpunktsetzungen und der notwendigen umfangmäßigen Beschränkung dieses Buches nicht ausführlich behandelt werden können.
48
Petersen, Peter, a.a.O. (1926), S.69
Frühe Schulkritik
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Kapitel 2
Frühe Schulkritik und die Idee einer menschenfreundlichen Schule. Historische Skizze über die Herausbildung einer notwendigen und aktuellen Idee Wird nach dem zentralen Motiv reformpädagogischer Initiativen im Bereich der Schule gefragt, zeigt sich auf dem Hintergrund einer „vernichtenden Kritik an der Alten Schule“1 mit ihren zahlreichen Momenten des Zwanges die Vision einer demgegenüber „Neuen Schule“, in der die Zwangsmomente aufgehoben oder soweit abgemildert sind, dass ein angstfreier Lernund Erziehungsprozess möglich wird. Die Beseitigung eines kollektiven Traumas war in Angriff genommen, das sich gleichsam als anthropologische Konstante im Raum der Erziehung durch die Jahrhunderte bis heute perpetuiert und im Gedächtnis nahezu jedes einzelnen seine Spuren hinterlassen hat. Erziehung ohne schmerzhafte operative Eingriffe, „Erziehung ohne Zwang“ (Elise Freinet), erschien möglich. Die kollektive Übereinkunft, dass, „wo gehobelt wird, auch Späne fallen“ und „wer nicht hören will, eben fühlen müsse“, wird aufgekündigt. So verbindet Ellen Key in ihrem Buch „Das Jahrhundert des Kindes“ (1990) ihre Vision von einer neuen Schule mit einer – schon von Pestalozzi ähnlich vorgetragenen – drastischen Kritik an der „Schule der Jetztzeit“. „Die Seelenmorde in den Schulen“ – so lautet eine Kapitelüberschrift in diesem Buch. Sie plädiert für eine Schule der Selbsttätigkeit, in der sich die individuelle Persönlichkeit in einer Atmosphäre der Freiheit, die das gleiche Recht des anderen respektiert, entfalten kann. Der Schule ihrer Zeit stellt sie als Gegenbild eine vielfältig gegliederte, ästhetisch durchgestaltete Schulwelt gegenüber mit Garten, Bibliothek, Werkstätten und Räumen zum Selbststudium. Damit sind bereits wesentliche Ideen und Praxismomente der reformpädagogischen Schulen angesprochen. Es geht in ihnen nicht nur um die Herausarbeitung einzelner innovativer Momente, wie Individualisierung des Unterrichts, Gruppenarbeit, Betonung des Aktivitätsprinzips u.a., sondern um die Gestaltung eines Lern- und Entwicklungsraumes, der dem – wie auch immer näher definierten und je strittigen – „Wesen“ des Kindes und seinen Bedürfnissen entgegenkommt. Das Kind befindet sich dann, soweit der Anspruch eingelöst wird oder eingelöst werden kann, in einem Schulraum, der ihm nicht fremd bleibt. Die uralte ängstigende Kluft zwischen dem unerbittlichen Anspruch der übermächtigen Institution Schule und den Bedürfnissen des Kindes erscheint als überwunden. Die Schule ist jetzt „seine“, des Kindes, Schule – so jedenfalls aus der Sicht der Reformerinnen und Reformer, ein Urteil, das in zahlreichen Berichten eine Bestätigung findet und auch dem kritischen Augenschein, der das subjektive Empfinden der Lernenden und Lehrenden befragt, weithin standhält. Die Schulkritik der Reformpädagogik belegt die Ansicht, dass die Identifizierung und Überwindung des Leidens in und an der Schule ein fundierendes Motiv bildet, gleichgültig wie man die verschiedenen Lösungsversuche beurteilen mag. Dieser Kritik lag bereits die Idee einer anderen, menschen- und kinderfreundlicheren Schule zugrunde. Die Gegenentwürfe im Sinne einer „Neuen Schule“ zeigen sich als originelle Schulgestalten, die weiterhin provozierende Alternativen zur „didaktisch-methodischen Normalform“ der Schule bilden.
1 Scheibe, Wolfgang (1978): Die Reformpädagogische Bewegung, Weinheim und Basel: Beltz Verlag, S. 67ff. (Die Begriffe „Alte“ und „Neue Schule“ werden bereits von Diesterweg um 1850 in kämpferischer, schulreformerischer Absicht verwendet. In Form antithetischer Gegenüberstellungen zeichnet er das Bild einer „Neuen Schule“, das bereits viele wesentliche Gesichtspunkte der Reformpädagogik aufweist.)
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Die bleibende Aufmerksamkeit gegenüber der Reformpädagogik liegt gewiss auch darin begründet, dass sie ein tief in der Geschichte verankertes Problem thematisiert. Nicht nur wird in der Geschichte das Leiden in und an der Schule sehr früh transparent. Bereits in der griechischen Antike und im frühen Mittelalter wird es in Ansätzen problematisiert und in der Zeit des Humanismus schließlich zum Gegenstand intensiven Nachdenkens gemacht, wobei vor allem die Figur des unmäßig prügelnden Lehrers angeprangert wird. Mit dem schulpädagogischen Entwurf des Comenius zu Beginn der Neuzeit liegt dann eine Konzeption vor, die Schule in einem umfassenden Sinn als Ort freudigen Lernens bestimmt. Wesentliche Momente der Reformpädagogik und ihrer Wegbereiter des 18. und 19. Jahrhunderts werden darin antizipiert. – Eine knappe „tour d‘horizon de l’histoire“ soll die ideengeschichtlichen Zusammenhänge und sozialgeschichtlichen Bezüge in Erinnerung bringen.
1
Schule in der Antike – Die Rute als Zuchtmittel und erste Zweifel hinsichtlich ihres Nutzens
Wo taucht das Leiden an der Schule in der Geschichte auf? Wann wurde der Rohrstock als schulisches Zuchtmittel eingeführt? Ein historisch orientierender Blick zeigt uns, dass wir es hier mit einem kultur- und zeitübergreifenden Moment der Institution Schule zu tun haben. Denn ein probates Zwangsmittel dürfte, wo sich Widerstand zeigte, zur Hand gelegen haben, hatte man doch schon lange „störrische Esel“ und Rinder sich gefügig zu machen gewusst. Ein frühes Zeugnis für diesen Zusammenhang haben wir in einem sumerischen Text, der etwa um das Jahr 2000 vor Christus entstanden ist. Es ist erstaunlich, wie unmittelbar noch dieser Text zu uns zu sprechen vermag, zeigt er doch in der Frühzeit der Kulturgeschichte bereits wesentliche und dauerhafte Komponenten des Systems Schule: „Sohn des Tafelhauses, wohin bist du seit deinen frühesten Tagen gegangen? – Ich ging ins Tafelhaus. – Was hast du im Tafelhaus gemacht? – Ich las meine Tafel, aß mein Frühstück, machte eine neue Tafel, beschrieb sie und machte sie fertig. Dann bestimmten sie meine mündliche Arbeit, und am Nachmittag bestimmten sie meine schriftliche Arbeit. Als das Tafelhaus geschlossen wurde, ging ich nach Hause und sah dort meinen Vater sitzen. Ich erzählte meinem Vater von meiner schriftlichen Arbeit, dann habe ich ihm meine Tafel vorgelesen; mein Vater war damit zufrieden ... gebt mir Wasser zu trinken ... gebt mir Brot zu essen ... ich will gleich schlafen. Am frühen Morgen weckt mich, ich will nicht zu spät kommen, sonst schlägt mich mein Meister.“2 Die Rute blieb ein nahezu völlig unangefochtenes Mittel der Disziplinierung in der Schule der Antike über das Mittelalter hinweg bis in die Neuzeit. Das „verkrümmte Holz“ musste gerade gebogen, der Sünder notfalls mittels Strafe auf den rechten Weg zurückgebracht werden.3 Zuweilen wurde diese „Arbeit“ nicht von den Lehrern selbst ausgeführt, sondern Zuchtmeistern überlassen.4 In Bezug auf den Unterricht im Ägypten der Römerzeit kommt Thomas Woody zu folgendem Schluss, der, mit gewissen Abstrichen bezüglich des akademischen Unterrichts, wohl für die 2
Vgl. Alt, Robert (1966): Bilderatlas zur Schul- und Erziehungsgeschichte Bd.1, Berlin: Volk und Wissen, S.31 Über Strafe bei den frühen Kirchenlehrern siehe: Ballauff, Theodor (1969): Pädagogik - Eine Geschichte der Bildung und Erziehung Bd.1, Freiburg/München: Verlag Karl Alber, S.278; eine Geschichte der "Schwarzen Pädagogik" der Neuzeit liefert: Rutschky, Katharina (Hsg.) (1977): Schwarze Pädagogik. Quellen zur Naturgeschichte der bürgerlichen Erziehung, Berlin u.a.O. 4 Vgl. Schöneberg, Hans (1981): Schulen - Geschichte des Unterrichts von der Antike bis zur Neuesten Zeit, Frankfurt: Haag und Herchen, S.37f 3
Frühe Schulkritik
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gesamte Zeit der Antike Geltung hat: „Lernen war ein Prozess des Drillens und des Memorisierens, keineswegs gemildert durch Appelle an das Urteilsvermögen, an unabhängiges Denken und Originalität. Die Disziplin der Schule war offensichtlich hart. Wie bei den Hebräern sollte das Kind nicht durch einen sparsamen Gebrauch der Rute verwöhnt werden: ‚Die Ohren eines Jungen sind auf seinem Rücken, er hört, wenn er geschlagen wird‘ fasst das disziplinäre Argument der Pädagogen Ägyptens zusammen.“5 Das mag zutreffend die weithin geübte Praxis und den „common sense“ der Antike widerspiegeln. Indessen gibt es auch Belege, die diesen Standpunkt zu relativieren nötigen. So tritt Platon für eine Mäßigung in der Kleinkindererziehung ein, indem er zwar „die große Nachsicht (gegen die Kinder – E.S.) durch Strafen beschränkt“ wissen will – was im übrigen auf eine in Platons Augen zu lasche Erziehung der Kinder in Athen hindeutet –, aber eben doch so, dass die Strafen „das Ehrgefühl nicht verletzen“.6 Als Plädoyer für einen mittleren Weg ist seine Ansicht zu werten, bei der er sich auf die „bei uns wenigstens herrschende Meinung“ bezieht, nämlich „dass zu große Nachsicht die Sinnesart der Jungen mürrisch, jähzornig und sehr durch Kleinigkeiten erregbar, das Gegenteil davon aber, eine zu strenge und harte Unterwerfung, sie durch Erzeugung einer niedrigen, unfreien und menschenfeindlichen Gesinnung für das Zusammenleben untauglich mache.“7 Für die systematische Ausbildung, die den Befähigten und Auserwählten zuteil werden soll, empfiehlt Platon eine „Form der Belehrung“, die nicht als „Zwang zum Lernen“ eingerichtet ist, da „kein Freier irgendeine Kenntnis auf knechtische Art lernen muss. Denn die körperlichen Anstrengungen, wenn sie auch mit Gewalt geübt werden, machen den Leib um nichts schlechter, in der Seele aber ist keine erzwungene Kenntnis bleibend. ... Nicht also mit Gewalt,..., sondern spielend beschäftige die Knaben, damit du auch desto besser sehen könnest, wohin ein jeder von Natur sich neigt.“8 Der modern anmutende Grundsatz, kein nachhaltiges Lernen unter Zwang, dürfte jedoch die Schulpraxis kaum tangiert haben. Zum einen hat man in der Antike „von einer schöpferischen Selbsttätigkeit des Kindes ... weder etwas gewusst, noch etwas gewollt“9, zum anderen waren mit aus diesem Grund die methodischen Vorstellungen wenig entwickelt und die didaktischen Mittel für das selbständige Erarbeiten von Bildungsstoffen kaum vorhanden. Und die noch vor nicht allzulanger Zeit in den Schulen gängige Praxis, durch zigmaliges Schreibenlassen des Satzes „Ich darf nicht stören“ den Schüler zur Räson zu bringen, hat ihr antikes Vorbild in einer aus hellenistischer Zeit stammenden Holztafel, auf der in viermaliger Wiederholung der wahrscheinlich vom Lehrer in der ersten Zeile vorgeschriebene Satz zu lesen ist: „Lerne fleißig, mein Junge, damit du keine Prügel bekommst.“10 Am Ausgang der Antike, in einer Zeit des Umbruchs und im Übergang zum sogenannten „Christlichen Abendland“, begegnet uns ein Autor, der in seiner Lebensbeschreibung in anschaulicher Weise auf die Folgen des „Lernens unter Zwang“ aufmerksam gemacht hat. Im Zusammenhang mit seiner Kritik an der Schule seiner Zeit, es handelt sich freilich eher um eine Klage, entwickelt er Vorstellungen eines anderen, freudigeren, „natürlichen“ Lernens.
5 Woody, Thomas (1949): Life and Education in Early Societies, New York: The Macmillan Company, S.58; vgl. ebd. Anm.42 6 Platon: Nomoi, 793e (Platon hier und im folgenden mit der Stephanusnummerierung zitiert nach der Übersetzung von Schleiermacher, Platon (1968): Sämtliche Werke, Rowohlts Klassiker) 7 Ebd., 791d 8 Platon: Politeia, 536 d-e 9 Ballauff, Theodor (1969): a.a.O. (Anm.3) S.195. 10 Alt(1966), a.a.O. (Anm.2), S.64f
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Aurelius Augustinus (354-430) – Schulklage und die Idee des natürlichen Lernens
In den Texten des Kirchenlehrers Aurelius Augustinus, dessen Bildung und Tätigkeit aus ihm nach dem Urteil des französischen Historikers Henri Marrou „einen der Unseren, einen abendländischen Europäer“11 gemacht haben, wird das Leiden an der Schule aus einer sehr persönlichen Sicht zum Thema gemacht. Die drastischen Schilderungen in den Bekenntnisschriften („Confessiones“), einer einzigartigen religiösen Autobiographie, müssen als Ausdruck leidvollen Erlebens angesehen werden, das in Augustinus einen nachhaltigen traumatischen Eindruck hinterlassen hatte. Noch in seinem Alterswerk „Civitas Dei“ (Gottesstaat) nimmt er auf die „schmerzvollen Strafen“ Bezug, mit denen man die Kinder zwingt, „alle möglichen Handwerke und Wissenschaften zu erlernen“ und ruft eine allgemeine Erfahrung in Erinnerung: „Wer denkt nicht mit Schaudern daran und würde eher den Tod vorziehen, wenn er vor die Wahl gestellt würde, entweder sterben oder noch einmal die Kindheit durchmachen zu müssen?“12 Schule und Schläge sind, was die Zeit der Elementarbildung betrifft, für Augustinus untrennbar miteinander verbunden. In den „Confessiones“ finden sich zahlreiche Belege für diesen Zusammenhang. Die Angst vor den Qualen in der Schule vergleicht er mit der Angst vor „Folterbretter und Eisenkrallen und sonst dergleichen Marterzeug“, die Eltern aber und die großen Leute lachten nur „über die Qualen, die wir Knaben von den Lehrern zu leiden hatten“.13 Zur griechischen Sprache, für ihn eine Fremdsprache, in der er „schon als Bübchen unterrichtet wurde“, konnte Augustinus Zeit seines Lebens keinen rechten Zugang gewinnen. „Offenbar die Schwierigkeit, sich eine fremde Sprache völlig anzueignen, diese Schwierigkeit war es, die mir in all den süßen Zauber griechischer Sagendichtung ihre Galle mischte. Ich kannte sie doch gar nicht, diese Wörter, und um sie mir beizubringen, drang man hart auf mich ein, mit grausamen Drohungen und Strafen.“14 Dennoch scheint Augustinus die „Rute des Schulmeisters“ keineswegs abzulehnen. In einer religiösen Wendung deutet er diese wie andere Kümmernisse als unter Gottes Gesetzen stehend, die – letztlich – dem Ziel dienen, den Menschen von der „Wohligkeit im Verderben“ zu Gott zurückzuführen. Das mag auch der Grund dafür sein, warum Augustinus die Ansätze einer Theorie des natürlichen und zwangarmen Lernens, die er im Anschluss an seine Überlegungen zur Frage, warum er griechische Bücher hasste, entwickelt, nicht ausdrücklich als Empfehlung an die Schulmeister formuliert. – Freilich legt die Intensität der Schilderungen seiner bedrückenden Erfahrungen und die Wärme, mit der er über das kindliche Lernen vor Eintritt in die Schule spricht, schließlich seine im Anschluss daran formulierte allgemeine Einsicht über die Bedeutung zwangfreien Lernens, den Schluss nahe, dass er seine Einlassungen – auch – als Kritik der Methoden in der Elementarschule verstanden wissen wollte. Er schreibt: „Allerdings, als kleines Kind hatte ich ja auch die lateinischen Wörter (ebenso wie später die griechischen – E.S.) noch nicht verstanden, und dennoch erlernte ich sie ohne jede Furcht und Qual durch das bloße Aufmerken, ja unter Koseworten der Kinderfrauen, unter fröhlichen Scherzen meiner Umgebung, die mit mir lachte und schäkerte. Ja da lernte ich meine lateinische Muttersprache ohne die zwängende Pein von Bedrängern, weil mein 11
Marrou, Henri (1988): Augustinus, Hamburg: Rowohlt, S.12 Augustinus: Civitas Dei XXI,14 (Augustinus, Aurelius (1953): Der Gottesstaat, Salzburg: Otto Müller Verlag, S. 447f; vgl. auch ebd. XXII,22, S.547f) 13 Augustinus (1987): Bekenntnisse, lateinisch-deutsche Ausgabe, Frankfurt am Main: Insel Verlag, S.35. Vgl. auch: ebd., S. 33,43,47 14 Ebd. S.48f 12
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eigenes Herz mich drängte, seine Empfängnisse auszugebären. Das wäre nun freilich nicht so gewesen, hätte ich meine paar Wörter von strengen Lehrern lernen müssen, statt von Sprechenden, in deren Ohren nun auch ich meine allerlei Empfindungen zur Welt brachte. – Daraus wird doch genugsam klar, dass freie Wissbegier beim Erwerb solcher Kenntnisse viel mehr vermag als bedrohender Zwang.“15 Auch wenn sie nicht als Konzeption ausgearbeitet ist, wird hier durchaus die Idee einer menschenfreundlichen Schule transparent. Augustinus hat sich gewiss auch bei seinem eigenen Unterrichten – er wirkte als Lehrer u.a. in Karthago, Rom und Mailand – und im Umgang mit Menschen von diesen Einsichten leiten lassen. Er „hat alle gewonnen, die ihn wirklich gekannt haben, er hat ihr Leben umgestürzt und sie in sein Kielwasser gezogen. Vom Reichtum seines Herzens zeugen Treue und Innigkeit so vieler Freundschaften, die ihn durch sein ganzes Leben begleitet haben: Schüler und Anhänger, die später wie er selbst Mönche und Bischöfe geworden sind.“16
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Erasmus von Rotterdam (1469-1536) – Psychogramm des Lehrers und die Umrisse einer menschenfreundlichen Schule
Das Lehren war von der Antike angefangen und über das gesamte Mittelalter hindurch ein Beruf, der ohne das Mittel der strengen Zucht nicht auskommen konnte. In zahlreichen Darstellungen des Schulunterrichts erscheint der Lehrer mit der Rute oder dem Stock in der Hand. Im Stock wird die Einheit von Lehren und Strafen manifest. Er dient dem Zeigen, der Grundform des Lehrens, und dem Disziplinieren. Und noch heute zielt sein Schwung gelegentlich, wenn auch nicht auf den Rücken der Kinder, so doch auf die Tischkante, und liefert so ein beängstigendes Echo aus längst vergangen geglaubter Zeit. Andere Darstellungen zeigen drastische Prügelszenen oder solche, wo Kinder der Demütigung durch ihre Mitschüler ausgesetzt sind (Esels- und Narrenkappen, Reiten auf dem Holzesel, Knien auf dem Dreikantholz). Diese Praktiken waren keineswegs bloße sadistische Auswüchse einzelner Lehrer, sondern fanden in obrigkeitlichen Schulordnungen ihre Legitimation. Dem mittelalterlichen Denken wären Empfehlungen fremd gewesen, die sich nach den Einsichten Platons und Augustinus‘ sowie anderen Schriftstellern der Antike, etwa Quintilian, als Grundsätze für den Unterricht anbieten: Milde walten zu lassen, im Anfangsunterricht das Bedürfnis nach Spiel zu nutzen, mehr auf die „Wissbegier“ als auf die Furcht vor Strafe zu setzen. Die tägliche Aufgabe und die Erfahrung des Lehrers, die Zähmung widerspenstiger Schüler, hätte solchen Grundsätzen Hohn gesprochen. Die Kirchenväter (Clemens, Origenes, Gregor von Nyssa) wussten bereits die Strafe theologisch und pädagogisch zu rechtfertigen. Das Heil des ganzen Menschen war nur im Gehorsam vor Gott und seinen Stellvertretern auf Erden zu vollenden. Dazu kam die gesellschaftliche Verfassung einer hierarchischen Stufung von Kirche und Staat, die die gegebenen Gewaltverhältnisse als gottgewollt und unantastbar erscheinen ließen. Kirchenzucht, Staatsgewalt, Schulzucht waren Momente ein und derselben notwendigen und legitimen Ordnung. Erst ein neues Denken, wie es im Humanismus aufkam, respektive diesen begründete, konnte mit seiner Infragestellung von Autorität und Tradition sowie – damit einhergehend – seiner Neubestimmung der Individualität als je einmalige Aufgabe und Werk ihrer selbst wieder einen unbefangenen Blick in die Schulstuben werfen – und dem prügelnden Lehrer die Maske theologisch-pädagogischer Rechtfertigung abnehmen. 15 16
Ebd. S. 49 Marrou (1988), a.a.O. (Anm.11), S.57
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Schon die italienischen Humanisten des 15. Jahrhunderts wenden sich gegen die übermäßigen Körperstrafen, fordern dagegen Liebe und Sorgfalt des Lehrers gegenüber seinen Schülern und Rücksichtnahme auf ihre individuellen Anlagen und Neigungen. Der Vorkämpfer des christlich-deutschen Humanismus Rudolf Agricola (1443-1485) beklagt die „bittere und mühselige Einrichtung“ der Schule. „Schon wenn man sie betritt, erscheint sie traurig und hart. Sie hat mit ihren Schlägen, ihren Tränen und ihrem Jammer das Aussehen eines Gefängnisses.“17 Aber niemand hat schonungsloser den Schulbetrieb seiner Zeit kritisiert und die Gestalt des prügelnden Lehrers an den Pranger gestellt, als Erasmus von Rotterdam. In seinem „Lob der Torheit“ hält er seiner Zeit den Narrenspiegel vors Gesicht und schildert in satirischer Übertreibung, die aber durchaus ihren Ernst erkennen lässt, u.a. auch die Schulmeister, eine besondere „Klasse von Menschen“. Ihr schweres Los, das sie an die Schulstube („Sorgenhaus sollte ich sagen, besser noch Tretmühle und Folterkammer“) bindet, wird nur durch die Gnade der Torheit erträglich, die es schafft, „dass sie an der Spitze der Menschheit zu stehen glauben. So wohl tut es ihnen, die ängstliche Schar mit drohender Miene und Stimme einzuschüchtern, mit Rütlein, Stecken und Riemen ... Da verwandelt sich ihnen Armut in Pracht, ..., Frondienst in Herrentum“.18 Im Anschluss an die Schilderung eigener Leiden in der Schule äußert er, nun nicht mehr in satirischer Verkleidung, in seiner Schrift über die Knabenerziehung seine Abscheu vor jenen „unwissenden Henkersknechten“, die „gefühllos sind, die zum Spaß prügeln und so entsetzlich geartet sind, dass sie aus fremder Pein Vergnügen schöpfen.“19 Dass dieses „Geartetsein“ in einem sozialen und generationellen Zusammenhang steht, nicht also von Natur aus gegeben ist, deutet Erasmus – wiederum in Bezug auf eigenes Erleben – an, wo er von einem Theologen mit „großem Namen“ spricht, „dessen Geist keine Strenge gegen die Schüler genügte, weil er prügelsüchtige Lehrer gehabt.“20 Hier werden nicht nur die allseits bekannten Phänomene erneut vorgestellt, sondern Ansätze einer Erklärung entwickelt. Das Psychogramm eines Menschen wird sichtbar, der im sadistischen Akt das wahnhafte Erleben von Größe und Macht sucht, um seine gesellschaftliche Randstellung und die Gefühle der Minderwertigkeit zu kompensieren, und der eigene traumatische Kindheits- und Jugenderlebnisse zu überwinden trachtet, indem er sie Untergebenen in gleicher Weise zufügt. Die Psychoanalyse spricht heute in diesem Zusammenhang vom „Wiederholungszwang“. Mag auch die Spottlust oder das Bedürfnis nach literarischer Vergeltung leibhaft erlittener Schulpein Erasmus‘ Feder gelegentlich schärfer als nötig angespitzt haben, seine eigentliche Intention ist auf die Reform des Erziehungswesens gerichtet. Es geht ihm um die Erneuerung der Erziehung und der Bildung als Voraussetzung zum Aufbau eines gesitteten persönlichen sowie gesellschaftlichen Lebens und zur Verwirklichung des Weltfriedens. In diesen Dienst sieht er den Lehrer gestellt. Und er weist die Geringschätzung entschieden ab, mit der ihm gegenüber im Kreise von Magistern über die Arbeit des Lehrers und dessen Leben „unter Kindern“ gesprochen wurde.21 Ein solcher Dienst verlangt freilich nicht nur eine Erneuerung der inhaltlichen Seite des Unterrichts, für die sich Erasmus mit der Zielsetzung eines kritischen Zugangs zu den literarischen Quellen der Antike und des Christentums (ad fontes!) vehement einsetzt, sondern auch eine Neubestimmung des pädagogischen Verhältnisses. Vorbild ist ihm darin das Bild des liebenden Vaters, denn „gern lernen wir von denen, die wir lieben“. Der Vater gewöhnt seinen 17
Ballauff (1969), a.a.O., S.563 Erasmus von Rotterdam (1960): Das Lob der Torheit, Basel und Stuttgart: Birkhäuser Verlag, S.103f 19 Zit. nach Ballauff (1969), a.a.O., S.602 20 Ebd. 21 Erasmus von Rotterdam (o.J.): Briefe, Bremen: Carl Schünemann Verlag, S.93f 18
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Sohn „durch Gewissenhaftigkeit und Freundlichkeit“ daran, „dass er aus eigenem Antrieb das Rechte tue, nicht aus fremder Furcht, gleichviel, ob der Vater gegenwärtig ist oder nicht.“22 Hinsichtlich der Zucht schreibt Erasmus: „Unser Stock sei eine freimütige Ermahnung, mitunter ein Tadel, durch Gelassenheit gemildert, ohne Bitterkeit“.23 Auch gewinnt er einen ersten Zugang zur Anschauung, dass Erziehung und Unterricht kindgemäß sein müsse. Mit dem Tadel, dass die Lehrer das jugendliche Alter nicht verstünden; dass sie ihr eigenes Kindsein vergessen hätten; dass sie so wild dreinfahren, „als ob sie gar nicht daran dächten, dass sie und auch die Schüler Menschen seien“24 mahnt er eben all dies an. Nicht in einer systematisch entfalteten Theorie, wohl aber in deutlichen Umrissen wird hier ausdrücklich oder im Kontrast zum aufgezeigten Verwerflichen des Schulbetriebs eine andere Schule sichtbar, die der Bildung des Menschen und des Menschlichen dient, weil sie diesem selbst durch Inhalt und Form ihrer Unterweisung bereits zum Ausdruck und zur Übung verhilft. Als Momente einer (künftigen) menschenfreundlichen Schule sind mit Erasmus folgende miteinander verknüpfte Ideen ausdrücklich oder der Sache nach bezeichnet oder weiterentwickelt: x x x x x
Freudiges Lernen ohne Furcht (bei, wo nötig, wohlwollendem Tadel); eine Lehrerautorität, die sich auf Liebe zur Sache, Menschenkenntnis und Verständnis für Kinder gründet, nicht auf den Gebrauch von Zwangsmitteln; Lernen kraft Einsicht, aktive Verlebendigung der Inhalte (wider die „Tretmühle“ und keine bloße rezeptive Aneignung des fraglos gültigen Klassischen); ein mitmenschliches „Lernklima“, ein „pädagogisches Verhältnis“, das den Respekt vor der individuellen Anlage und der kindlichen Wesensart einschließt und die freie Zustimmung des Kindes sucht; ferner ein Gedanke, der das theologische und politische Denken des Erasmus durchgängig bestimmt und der bei allen späteren Schulreformern wieder anklingt: nicht nur für das Heute zu erziehen, sondern auch für eine künftige, bessere Welt und eine bessere Kirche, die eine katholische, ökumenische sein sollte.
In einer Zeit der politischen und religiösen Gegensätze, in der Erasmus seine Unabhängigkeit im Denken zäh und zuweilen listig zu verteidigen wusste, weshalb er häufig „zwischen allen Stühlen“ der Parteiungen, der protestantischen wie der katholischen Fraktionen, saß, kam der Erziehung und Bildung aller eine besondere Bedeutung zu. In ihr lag der Hoffnungsschimmer eines Ausgleichs der Gegensätze, deren inhumane Sprengkraft Erasmus früh erkannte und vor deren Ausbruch er eindringlich warnte. In dieser Hoffnung war er Comenius verwandt, dessen Wirken vor allem in die Jahrzehnte der verheerenden europäischen Bürgerkriege des 17. Jahrhunderts fällt, in deren Verlauf Teile seines Lebenswerkes vernichtet wurden und die ihn mehrfach und bis zu seinem Lebensende zwangen, ein Leben in der Emigration zu führen. Scheinbar gegen alle Erfahrung setzte auch er auf die Erziehung als Weg zur Versittlichung des Menschen und zur Verbesserung der menschlichen Verhältnisse, nun mit einem genialen systematischen Zugriff, der konkreter in den Blick rückte, wie ein solcher Weg der Erziehung denn praktisch aussehen könne und müsse. Inhalts- und Mittelfragen erfahren bei ihm eine 22
Erasmus von Rotterdam, zitiert nach Ballauff (1969), a.a.O., S.604 Ebd. 24 Ebd, S. 597. Ausführlicher dazu: Gail, Anton J. (1974): Erasmus von Rotterdam, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S.121f 23
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gleichrangige Behandlung, eingebettet in einen grandiosen Rahmen theologischer, sozialkritischer, anthropologischer und politischer Reflexion.
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Johann Amos Comenius (1592-1670) – Die Schule als Werkstätte der Menschlichkeit und als Ort freudigen Lernens
Comenius stellt sich ausdrücklich in eine Reihe gleichgesinnter Reformer seiner Zeit. Insbesondere hebt er die Leistungen des Johann Valentin Andreae (1586-1654) hervor.25 „In verschiedenen Büchern hat er vom Jahre 1617 an überaus lichtvoll die Gebrechen der Kirchen, Staaten und Schulen aufgedeckt und Heilmittel gegen sie angezeigt.“26 Comenius nimmt sich aber nun vor, unter Absehung der von anderen formulierten „Erfindungen, Gedanken, Beobachtungen und Winke“, „die Sache selbst“, das Lernen und Lehren, nach ihren „Ursachen, Prinzipien, Lehrweisen und Zielen zu untersuchen“, um sie vollständiger als bisher geschehen darzubieten.27 Schulkritik ist so von vornherein in einen großen Rahmen eingespannt, der von den Fragen der Zucht über die ästhetische Gestaltung des Schulraumes, von Fragen eines „naturgemäßen“ Unterrichts bis hin zu detaillierten Überlegungen bezüglich der Gestaltung der Schulbücher reicht, um nur einige wichtige Eckpunkte zu nennen. Wie bei anderen Schulkritikern und Schulreformern wird auch bei Comenius die Verbitterung über erlittene Schulpein und verlorene Jugendjahre als ein Motiv seiner Erneuerungsarbeit spürbar, am deutlichsten dort, wo er in seiner „Großen Didaktik“ sagt: „Von vielen Tausenden bin auch ich einer, ein armes Menschenkind, dem der liebliche Lebensfrühling, die blühenden Jugendjahre mit scholastischen Flausen verdorben wurden. Ach, wie oft hat, als ich dann besseres schauen durfte, die Erinnerung an die verlorene Zeit meiner Brust Seufzer, meinen Augen Tränen und meinem Herzen Trauer entlockt.“28 Und er geißelt die Anwendung einer „so harten Methode, dass die Schulen gewöhnlich als Kinderschreck und Geistesfolter angesehen werden und der größere Teil der Schüler, voll Abscheu vor Wissenschaft und Büchern, den Handwerksstuben oder sonstigen Lebenswegen zueilt.“29 Diese Bedrückung zu überwinden, die sinnlose Sisyphus-Arbeit in den Schulen zu beenden, die Wege zu „eruditio, mores, religio“, zu Bildung, Sittlichkeit und Religiosität, aufzuzeigen, erhebt Comenius zum Programm seiner Didaktik. „Die gesamte Jugend beiderlei Geschlechts ohne jede Ausnahme“ müsse „rasch, angenehm und gründlich“ für „dieses und das künftige Leben“ angeleitet werden. Als „erstes und letztes Ziel“ stellt Comenius seiner Didaktik voran, „die Unterrichtsweise aufzuspüren und zu erkunden, bei welcher die Lehrer weniger zu lehren brauchen, die Schüler dennoch mehr lernen; in den Schulen weniger Lärm, Überdruss und unnütze Mühe herrsche, dafür mehr Freiheit, Vergnügen und wahrhafter Fortschritt; in der Christenheit weniger Finsternis, Verwirrung und Streit, dafür mehr Licht, Ordnung, Friede und Ruhe.“30
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Näheres siehe: Ballauff, Theodor und Schaller, Klaus (1970): Pädagogik - Eine Geschichte der Bildung und Erziehung, Bd.II, Freiburg/München: Verlag Karl Alber, S.145-147 26 Komensky, Jan Amos (Johann Amos Comenius) (1970): Böhmische Didaktik, zur 300. Wiederkehr seines Todestages ins Deutsche übersetzt und besorgt von Klaus Schaller, Paderborn: Ferdinand Schöningh, S.19 27 Comenius, J.A. (1908): Große Unterrichtslehre (Übersetzer: J. Beeger), Leipzig: Verlag von Siegismund und Volkening, S.6 28 Comenius, Johann Amos (1970): Große Didaktik, übersetzt und herausgegeben von Andreas Flitner, Düsseldorf und München: Verlag Helmut Küpper, S.65 29 Ebd., S.63f 30 Ebd., S.9
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Nicht nur durch eine Reform der Methoden, Schulbücher usw. kann und soll dieses Ziel erreicht werden – das Verhältnis zum Lehrer, zum Lernen und die Schule insgesamt muss so gestaltet sein, dass sie die Kinder anzieht. Dem Geiste darf nichts aufgezwungen werden, Altersstufe und Anlage sind zu beachten, denn „die Natur fördert nur zutage, was innerlich gereift ist und hervorbrechen will“.31 Strenge Zucht gehört, mit Augenmaß angewandt, zwar in den Bereich der Sittlichkeit, nicht aber in den Bereich des Lernens. „Beim Lernen soll in der Schule niemals gezüchtigt werden“, heißt es lapidar schon in der „Böhmischen Didaktik“. Und in der „Großen Didaktik“: „Prügel und Schläge haben nicht die Kraft, den Gemütern Liebe zur Wissenschaft einzuflößen, gar große Kraft hingegen, in ihnen Widerwillen und Abneigung zu pflanzen.“32 Wie auch der Musiker, der sein Instrument stimmen will, „nicht mit der Faust oder einem Knüppel in die Saiten seiner Harfe“ schlägt, sondern mit Behutsamkeit vorgeht, so muss auch der Lehrer verfahren, „wenn wir nicht aus Gleichgültigen Widerspenstige und aus Langsamen Dummköpfe machen wollen.“33 Die bei Comenius zahlreich auftretenden Vergleiche mit Beispielen aus der Natur und der Technik sind kein bloß dekoratives Beiwerk. Sie haben den Status einer Beweisführung, durch die mittels analoger Schlüsse die Geltung didaktischer Grundsätze als Naturgesetze erwiesen werden soll. Wie man in der Technik die Gesetze der Natur nutzt, so soll die Didaktik auf gleiche Höhe und Wirksamkeit gebracht werden. Die ambivalente Konnotation gegenüber Wissenschaft und Technik war Comenius unbekannt. Sie ist eine Komponente modernen Denkens. In Natur und Technik wirken die gleichen göttlichen Gesetze, kraft derer auch der Unterricht verbessert werden kann. Mit blinder Technik- und Wissenschaftsgläubigkeit hat das nichts zu tun. Man denke etwa an Johannes Kepler, der seine astronomischen Entdeckungen in Form eines Lobgesang Gottes vorgetragen hat. „Omnia sponte fluant, absit violentia rebus – Alles fließt von selbst, Gewalt sei ferne den Dingen“, das Wasser als Sinnbild des vernünftigen Lebens, Lehrens und Lernens, stellt Comenius einem seiner bekanntestes und am weitesten verbreiteten didaktischen Werke als Motto voran.34 So kann Comenius voller Hoffnung verkünden, dass die Schüler „ohne Mühen, Überdruss ... gleichsam durch Spiel und Scherz auf die Höhe der Wissenschaften geführt“ und dass dank einer verbesserten Methode aus den Schulen „Stätten des Spiels, der Freude“ werden.35 Trotz – und auch wegen – der „mechanischen Methode“ des Lehrens bzw. seiner naturgemäßen Ausrichtung kommt dem Lehrer eine entscheidende Rolle zu. Er muss die Gesetze kennen und befolgen: die Große Didaktik ist in erster Linie zu seiner Unterrichtung geschrieben. Dass Comenius nicht an ein gefühlloses technisches Lehrverfahren dachte, geht aus seiner Bestimmung des Lehrers hervor. Durch Freundlichkeit und väterliche Zuneigung, durch liebevolle Behandlung der Kinder werden die Lehrer „sich leicht ihre Herzen erobern, dass sie oft sogar lieber in der Schule als zuhause sind“.36 Und hinsichtlich der Schule insgesamt zeichnet er ein Bild, das, in krassem Gegensatz zur Schulwelt seiner Zeit, schon über die äußere ästhetische Gestaltung und Ordnung erzieherisch wirkt: „Die Schule selbst soll eine liebliche Stätte sein, von außen und innen den Augen einen angenehmen Anblick bieten: Innen ein helles, sauberes Zimmer, das rundherum mit Bildern geschmückt sein soll. ... Draußen soll nicht nur ein Platz vorhanden sein zum Springen und Spielen, denn dazu muss man den Kindern Gelegenheit geben, ..., sondern auch ein Garten, in den man sie ab und zu schicken soll, dass sie sich am 31
Ebd., S.104 Ebd., S.182; Böhmische Didaktik, a.a.O., S.190 33 Ebd., (Große Didaktik, S.182) 34 Joh. Amos Comenii Orbis Sensualium Pictus, Noribergae 1658; Faksimilenachdruck 1910, Leipzig: Julius Klinkhardt, Titelvignette 35 Comenius (1970), a.a.O., S.25 36 Ebd., S.100 32
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Anblick der Bäume, Blumen und Gräser freuen können. Wenn es so eingerichtet wird, kommen die Kinder wahrscheinlich nicht weniger gern in die Schule als sie sonst auf Jahrmärkte gehn, wo sie immer etwas Neues zu sehen und zu hören hoffen.“37 Was den Unterricht im engeren Sinne selbst betrifft, entwickelt Comenius eine ganze Reihe von Prinzipien und Vorschlägen eines vernünftigen, das heißt eines dem Wirken der Natur und dem Wesen des Menschen gemäßen Unterrichts. Einige seien genannt: x x x
x
Die Forderung der Verbindung von Sach- und Sprachverständnis, „damit wir sachlich ebensoviel verstehen wie sprachlich ausdrücken lernen. Wir bilden Menschen und nicht Papageien.“38 Das Prinzip der Selbsttätigkeit (beim Erlernen der „Künste“): „Tätigkeit soll durch Tätigkeit gelernt werden“; „Gebrauch der Werkzeuge ... mehr durch die Tat als durch Worte“39; denn: „fabricando fabricamur“, indem wir etwas gestalten, gestalten wir uns selbst. Das Prinzip der Anschauung (bei den Wissenschaften): „Die Menschen müssen so viel wie möglich ihre Weisheit nicht aus Büchern schöpfen, sondern aus Himmel und Erde, aus Eichen und Buchen, d.h. sie müssen die Dinge selbst kennen und erforschen und nicht nur fremde Beobachtungen und Zeugnisse darüber.“40 „Daher die goldene Regel für alle Lehrenden: Alles soll wo immer möglich den Sinnen vorgeführt werden, was sichtbar dem Gesicht, was hörbar dem Gehör, was riechbar dem Geruch, was schmeckbar dem Geschmack, was fühlbar dem Tastsinn. Und wenn etwas durch verschiedene Sinne aufgenommen werden kann, soll es den verschiedenen zugleich vorgesetzt werden.“41 Das Prinzip der Lebensnähe (bei den Wissenschaften): „Alles, was gelehrt wird, muss als etwas wirklich Gegenwärtiges gelehrt werden ... und deren wahre Kenntnis wahren Nutzen fürs Leben bringt. So wird der Verstand sich eifriger der Sache zuwenden ...“42
In all dem ist das gegenwärtig, was Comenius in einem umfassenden Sinne mit dem Begriff des „Selbst“ (griech.: autos) zu fassen versucht: „Überall in meinen Schriften betone ich nämlich das Selbstsehen, Selbstsprechen, Selbsthandeln und Selbstanwenden als die einzigen Grundlagen zum gediegenen Wissen, zur Tugend und endlich zur Glückseligkeit.“43 Allen, Alles von Grund auf zu lehren, weil alle Menschen Kinder Gottes sind und das ganze Leben eine Schule ist, in der jeder seine Menschlichkeit durch Erlernen der Sprache, Künste, Wissenschaften, Sitten und Religion zur Vollendung bringen soll, das ist die Aufgabe: Omnes, Omnia, Omnino. Omnes: wirklich alle, Menschen beiderlei Geschlechts, jeden Standes, jeder Begabung – auch die „Blinden, die Tauben und die Dummen“, „Menschen ohne Hände“, denn „immer ist irgendwo ein Eingang zu der vernünftigen Seele vorhanden, und dort muss Licht hineingetragen werden.“ Jeder besitzt ein Fenster nach außen und einen Zugang zu sich selbst.44
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Ebd. Ebd., S.142 39 Ebd. 40 Ebd., S.112f 41 Ebd., S.135 42 Ebd., S.138f 43 Komensky, J.A. (1959): Analytische Didaktik und andere pädagogische Schriften, Berlin: Volk und Wissen, S.110 44 Comenius, Johann Amos (1965): Pampaedia, Nach der Handschrift herausgegeben von Dmitrij Tschizewskij, Heidelberg: Quelle und Meyer, S.48f 38
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Omnia: Alles oder das Ganze ist zu lehren, denn der Mensch vermag sich nur „durch das Ganze“ (omnibus) zu vollenden. Das ist der Kerngedanke der „Pan-Sophia“, der „AllWeisheit“. Nicht gemeint ist ein Wissen, das – im additiven Sinne – alles umfasst, das wäre unmöglich, wohl aber ein Wissen, das eine Vorstellung vom Ganzen vermittelt, von dem her das Einzelne Zuordnung und Sinn gewinnt. Das ist die Absicht auch des im Jahre 1658 im Druck erschienenen didaktischen Werkes „Orbis Sensualium Pictus“, „Die sichtbare Welt – Das ist aller vornemsten (wichtigsten) Welt-Dinge und Lebens-Verrichtungen Vorbildung (Abbildung) und Benahmung“45 Es versammelt 150 Themen, zusammengestellt aus den Naturwissenschaften, aus Geographie, Politik, Religions- und Rechtswissenschaft, aus Handwerk, Handel und täglichem Leben der Kinder und Erwachsenen, eingespannt zwischen I. „Gott“ und CL. „Das Jüngste Gericht“, dargestellt in Bildern, deren Einzelheiten numeriert und jeweils mit einer Überschrift sowie entsprechenden Erläuterungen in deutscher und lateinischer Sprache versehen sind. „Es ist, wie ihr sehet, ein kleines Büchlein: aber gleichwol ein kurzer Begriff der ganzen Welt und der ganzen Sprache“46, gedacht zum Gebrauch in der Schule, aber auch schon vorher im Haus, in der „Mutterschul“. Vom Ganzen, von Gott her, gewinnt der Mensch seine Würde. Nur durch ihre Beachtung kann „Streit, Krieg, Mord und anderes Elend“ vermieden werden. „Wir müssen deshalb danach trachten, dieses alles schon von vornherein zu verhüten, indem die Würde auch nicht eines Menschen verletzt wird.“47 Der Mensch selbst ist ebenfalls „als ein Ganzes“ – ein weiterer Aspekt des „omnia“ – zu verstehen und zu bilden, damit er seine Glieder, seine Sinne, seinen Verstand, auch seinen Glauben, durch den „sogar das Verhüllte“ erfasst wird, recht zu gebrauchen weiß.48 Omnino: Das „von Grund auf“ bezieht sich auf die Qualität des Wissens und die Weise seiner Vermittlung. Es sei „I. kein brockenhaftes Teilwissen, sondern es sei unverkürzt und ganzheitlich; II. es sei nicht oberflächlich und nur äußerlich, sondern festgegründet (solidus) und sachhaltig (realis); III. es sei nicht beschwerlich und erzwungen, sondern lieblich und angenehm und dadurch dauerhaft.“49 Im weiten Verständnis des „Allen alles gründlich“ kennzeichnet Comenius die Schulen als „Werkstätten der Menschlichkeit“50. Sie sind „officinae humanitatis“, die der „Instandsetzung des Menschen“ dienen, das heißt: die Schulen erheben ihn in den Stand seiner Menschlichkeit. Comenius bedient sich (zur Veranschaulichung und zum Gültigkeitsbeweis seiner Aussagen) des Vergleichs mit technischen und handwerklichen Prozessen. Das kann nach dem eben Gesagten nicht mehr als pädagogischer Reduktionismus missverstanden werden, als ginge es bei der Erziehung des Menschen gleichsam nur darum, eine „lockere Schraube“ an der Uhr festzudrehen, damit sie wieder „richtig tickt“. Es handelt sich um die Aufgabe einer Allgemeinen Bildung unter Einschluss der religiösen Dimension, die das, was von Natur aus im Menschen vorgebildet ist, in jener „zweiten, der menschlichen Kunstfertigkeit überlassenen Formung“51 zur Vollendung bringt und die – als Bedingung sine qua non ihrer Möglichkeit – auf die Mitwirkung und die letztlich freie Zustimmung des Kindes angewiesen ist. Das kann im Ansatz nur gelingen, wenn die bisherigen „Schrecksachen“ und die „beschwerliche Kopfmarterung“ aus den Schulen verschwinden. 45
Comenius (Orbis ... Pictus), siehe Anm.34, Titel Ebd. im "Vortrag" (Vorwort des Comenius) 47 Comenius, Pampaedia, siehe Anm.44, S.65 48 Vgl. ebd., S.67-71 49 Ebd., S. 97; vgl. auch: Schaller, Klaus (1962): Die Pädagogik des Johann Amos Comenius und die Anfänge des pädgogischen Realismus im 17. Jahrhundert, Heidelberg: Quelle und Meyer, das 6. Kapitel 50 Comenius, Böhmische Didaktik, siehe Anm.34, S.60; ders., Große Didaktik, siehe Anm.36, S.59; ders., Analytische Didaktik, siehe dort Anm.50, S.111 51 Comenius, Pampaedia, S.69 46
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Comenius entfaltet seine Pädagogik im Medium eines teils rational-analytischen, teils analogisierenden sowie anthropomorphisierenden und dann wieder biblisch-exegetischen Denkens. Seinen Halt und seinen Zielpunkt findet dieses Denken auf dem Grund eines religiöschristlichen Weltverständnisses, das den Menschen als den verantwortlichen Mitschöpfer seiner selbst und seiner Verhältnisse versteht. Erziehung und Bildung sind die vorzüglichen Mittel zur Entwicklung dieser Verantwortungsfähigkeit. Auf dieser Erkenntnisgrundlage gelingen Comenius wegweisende Bestimmungen des Pädagogischen, die auch im Horizont eines veränderten, neuzeitlich-aufklärerischen, säkularisierten Denkens Bestand haben oder doch anregend sein und weitergedacht werden können. Mit Comenius hat die Idee einer „menschenfreundlichen Schule“ eine Kontur gewonnen, die ihre Anschaulichkeit und Überzeugungskraft der lebendigen Erfahrung, auch der Erfahrung eigenen Ungenügens, verdankt, die Comenius als Lehrer, Schulleiter und Lehrbuchautor sammeln konnte. Es handelt sich um eine Schule, x deren Außenbereich (Spielplatz, Garten) und Einrichtung die Kinder anzieht; x in der gebildete, der Liebe fähige Lehrer unterrichten, die ihr methodisches „Handwerk“ verstehen; x in der ein Unterricht stattfindet, der jeweils der Fassungskraft des Kindes entspricht und der mehr auf die natürliche Neugier des Kindes und seinen Drang zur Selbst-Tätigkeit denn auf Furcht vor Strafe setzt; x eine Schule, die dem kindlichen Bedürfnis nach Geselligkeit, Spiel und Bewegung entgegenkommt; x in der ein Bewusstsein herrscht von der nachhaltigen Bedeutung frühen Lernens. Insofern – und nur insofern – handelt es sich auch um eine „kindgemäße“ – besser: kindgerechte – Schule. Ihre Maßstäbe gewinnt sie nämlich nicht durch den Rekurs auf besondere immanente Entwicklungsgesetzmäßigkeiten des Kindes, auf eine „besondere“ kindliche Natur oder gar auf ein Bild seiner noch unbeschädigten Subjektivität – sondern von der Bedürftigkeit des Menschen „im Ganzen“ her: das heißt im Blick auf seine Bedürftigkeit als Mensch überhaupt, der nur durch früh einsetzende rechte Bildung und Erziehung entsprochen werden kann, und im Blick auf seine Aufgaben in der Welt und vor Gott. Inwieweit Comenianisches Gedankengut das Nachdenken über Erziehung und Unterricht in der Folgezeit befruchtet hat, lässt sich nur schwer abschätzen. Immerhin hat es Verbindungslinien zu wichtigen Strömungen der Pädagogik und zu pädagogischen Reformern gegeben. Die pietistischen Schulreformer und -gründer A.H. Francke und J.J. Hecker, später der Philanthrop Basedow, Herder und Goethe schätzten Comenius. „Auch der Kreis der Schweizer Pädagogen um Pestalozzi hat Comenius gewürdigt. Fellenberg und Niederer sahen ihn – zusammen mit Rousseau – als großen Vorläufer der neuen Pädagogik an. 1828 hat dann der Göttinger Philosoph K.Chr.Fr. Krause eine gründliche Studie über Comenius‘ Werke verfasst und damit die Aufmerksamkeit Fröbels auf die ‚Mutterschule‘ gelenkt.“52 Damit wäre ein Anschluss gegeben an pädagogische Strömungen des 18. und 19. Jahrhunderts, die als Wegbereiter der Reformpädagogik angesehen werden können. Aus dem Kreis der „Wegbereiter“ kommen Rousseau, Pestalozzi und Fröbel eine herausragende Bedeutung zu.53 Die Grundlagen einer menschenfreundlichen Schule sind jedoch bereits mit Comenius gegeben. 52
Flitner, Andreas (1970), im Nachwort zu: Comenius, siehe Anm.28, Leben und Werk des Comenius, S.234 Vgl. dazu auch: Heiland, Helmut (1996): Wegbereiter der Reformpädagogik: Rousseau, Pestalozzi, Fröbel Die Grundgedanken und ihre Rezeption durch die Reformpädagogik, in: Seyfarth-Stubenrauch, Michael und
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Zusammenfassung und Ausblick – Wege zu einer menschenfreundlichen Schule
Das Leiden an und in der Schule wird in der Geschichte bereits früh transparent. Die Unerbittlichkeit ihres Anspruchs wird in der Person des Lehrers manifest. Aber dieses Leiden bleibt nicht bewusstlos. Aus der Einsicht der Vergeblichkeit maßlosen Zwangs beim Lernen kommt bei Platon ein neues Moment ins „Spiel“, nämlich das zu nutzen, was die „Knaben“ von sich aus tun. Spiel kann sich nur in einem Raum der Freiheit entfalten, in einem Raum, der subjektiv als frei von Bedrohung erlebt wird. Die Idee des spielerischen Lernens artikuliert also zugleich die Idee des „zwanglosen“ Lernens. Sie mahnt, in die Schule getragen, auf Seiten des Lehrers Rücksicht und Geduld, Zurücknahme der Zucht an. Als Möglichkeit aus der Beobachtung kindlichen Verhaltens gewonnen, wird diese Idee nie mehr völlig vergessen. Sie wird in den Spiel/Lern-Mitteln methodisch instrumentalisiert, kommt in den Konzeptionen der Spielpädagogik des 19. Jahrhunderts (Fröbel) zur vollen Blüte und findet von dort ihren Weg in die Schule, vor allem in die Schulen der Reformpädagogik. Bei Augustinus tritt die Vorstellung des „natürlichen Lernens“ hinzu, ein Lernen, das eingebettet ist in den mitmenschlichen Umgang und seinen Grund hat in der „freien Wissbegier“ des Kindes. Bei ihm noch nicht auf die Schule bezogen, legt sie durch ihren Kontext (die Schulklage) den Gedanken nahe, auch dort die echte Frage zuzulassen, also die Schülerfrage auf Grund des eigenen Wissenwollens. Erst im Humanismus mit seiner Infragestellung des bisher fraglos Gültigen und der Kennzeichnung von Bildung als Selbst-Bildung erfährt die echte Schülerfrage eine anthropologisch-pädagogische Rechtfertigung; gleichzeitig werden – zumindest theoretisch – der Lehrer und seine Zwangsmaßnahmen von ihrem Thron theologisch-pädagogischer Rechtfertigungen gestoßen. Freilich bleibt im Humanismus Schulkritik und ihre konstruktive pädagogische Wendung noch stark an die Person des Lehrers und sein Verhältnis zum Schüler gebunden. Die personale Dimension ist als zentrale auch bei Comenius präsent, nun aber in einem weiten didaktisch-methodischen Rahmen, der die Fragen nach der Gestaltung der Schule im Ganzen, nach den gemeinsamen und differenten Voraussetzungen des Lernens auf Seiten der Schüler, nach den „technischen“ bzw. kunstgemäßen Aspekten des Unterrichtens und Erziehens, nach den „richtigen“ Büchern und den besten Lernmitteln usw. beinhaltet. Hier wird – erstmalig – der ganze Umfang der Aufgabe sichtbar, die komplexe Struktur, mit der jedwede „innere Schulreform“ seither konfrontiert ist, die auf Selbst-Beteiligung des Schülers setzt. In der mittelalterlichen Welt konnte schulische Lehre noch „ex cathedra“ erfolgen. Die fraglos gültige sozio-kulturelle Ordnung, die sich nach innen und außen (durch Inquisition und Kreuzzüge) zu verteidigen wusste, gab dieser Lehre Halt und Legitimität. Erziehung war Einführung in diese Ordnung. Das Anzweifeln dieser Ordnung wäre wider alle historische Vernunft gewesen. Der Humanismus bedeutete dann einen Angriff auf die Einheitlichkeit des Wissens und die Gültigkeit der Ordnung, die Reformatoren zerbrachen endgültig die Einheitlichkeit des Glaubens, der bald die heillose politische Zersplitterung folgen sollte. In dieser Lage findet sich Comenius, der das Ganze und die Einheit der Welt – erneut – einfordert. Die Realisierung der Einheit und der Weltfriede konnte aber jetzt nicht mehr von „oben“, den Institutionen her, erwartet werden. Sie waren zerfallen, zerrüttet oder lagen miteinander in Streit. Die notwendige Neuordnung der menschlichen Verhältnisse im Ganzen musste von einer Neubildung der Welt im Bewusstsein begleitet werden. Das konnte nur noch in Form einer ästhetischen Darstellung der Welt, als „orbis pictus“ gelingen, die hinter der Zerrüttung Skiera, Ehrenhard (Hsg.) (1996), Reformpädagogik und Schulreform in Europa, Band 1, Hohengehren: Schneider Verlag, S.36 ff
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die verborgene und zukünftig mögliche Ordnung wieder transparent werden lässt. In ihrer didaktischen Vermittlung war diese Welt-Bildung, nach dem Scheitern der Lehre „ex cathedra“ sowie der existenziellen Erfahrung ihrer völligen Unzulänglichkeit und der Brutalität ihrer Mittel auf die freie Mitwirkung des Einzelnen angewiesen. Heilung verlangte jetzt die Mitwirkung des zu Heilenden. Freie Selbst-Tätigkeit war notwendig geworden, nicht mehr nur rezeptive Aneignung. Bildung musste sich von Anfang an freundlich gegen das Menschenkind zeigen, der Hinweis auf ihren zukünftigen Nutzen oder das zukünftige Heil genügte nicht mehr. Sie musste durch eine neue Art ihrer Artikulation verlockend sein, zur Mitwirkung einladen, Zustimmung erwirken. Aus der Sehnsucht nach Harmonie und auf der Suche nach der verlorenen Ordnung „entdeckte“ Comenius so das Mittel, das gerade nach dem endgültigen Verlust dieser Ordnung in der modernen Welt der einzig erfolgversprechende Weg der Bildung geworden ist. Nachdem das bloße Einleben bzw. „Eingelebt-Werden“ wegen des gesellschaftlichen Wandels, wegen der Pluralisierung der Lebensstile, wegen der Dynamisierung des Wissens nicht mehr gelingen kann, bleibt nur die Stärkung des Einzelnen, die Ausbildung seiner Lern- und Entscheidungsfähigkeit, die Stärkung seines Selbstwertgefühls als Grundlage der Selbstachtung, der Achtung des Fremden und der Verantwortungsfähigkeit. Das macht eine umfassende Selbst-Beteiligung und Mitbeteiligung am Prozess der Bildung erforderlich. Aber auch die Frage nach dem Ganzen als inhaltliches Medium dieses Prozesses kann, im Anschluss an Comenius, erneut gestellt werden. Für das areligiöse Bewusstsein der Moderne und zum Teil selbst für das religiöse Bewusstsein (nach der „Theologie vom Tode Gottes“) liegt das Ganze zwar nicht mehr „in Gottes Hand“. Aber die Welt als Ganzes muss – erneut – im Prozess der Bildung als Ganzes gedacht und bedacht werden, gerade weil sie jetzt „in der Hand des Menschen“ liegt, der sie schützen und bewahren, aber auch schädigen und zerstören kann. Eine menschenfreundliche Schule entfaltet sich nach der Seite des Menschen hin, dessen Zustimmung sie erlangen, und nach der Welt hin, die sie bewahren muss. Was eine menschenfreundliche Schule sei, beantwortet sich also nur in historischen Kontexten, die ihr Weltverständnis und ihr anthropologisches Selbstverständnis auch als Bildungsproblem artikulieren. Besser wäre dieser Sachverhalt im Blick auf die Neuzeit und Moderne in pluraler Rede zu fassen: es handelt sich um konkurrierende oder koexistierende Welt- und Selbstdeutungen. Das existenzielle Leiden in der Schule jedoch hat in einem hohen Maße den Charakter der Unmittelbarkeit. Es kann, je nach individueller Sensibilität und kultureller Akzeptanz seiner auslösenden Ursachen und Formen, unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Das Schulleid als solches bleibt sich gleich. Auch kann es nicht unmittelbar beseitigt werden – es sei denn, man löste die Institution Schule selbst auf, was einer Selbstauflösung der Gesellschaft in ihrer gegenwärtigen Verfassung gleichkäme. Schulleid verschwindet auch dann nicht, wenn die Institution Schule reformiert wird. Denn es ist eine Illusion, noch dazu eine gefährliche, anzunehmen, dass bei Anwendung der richtigen Mittel die institutionelle Form der Schule der individuellen Bedürftigkeit völlig entsprechen könnte. Anpassungsleistungen auch schmerzhafter Art werden notwendig bleiben. Wo jedoch der dafür erforderliche Kraftaufwand den Lernerfolg bzw. den individuellen Nutzen gefährdet, verfehlt die Institution ihren Zweck. Die in unserer Zeit notwendige Aufgabe, mit dem Lehren auch das „Lernen zu lehren“, kann nicht hinreichend gelingen, wenn die Form dieser Lehre zum Fürchten ist und wenn der Sinn dieser Bemühung den Kindern und Jugendlichen nicht mehr einsichtig gemacht werden kann – wie das weithin in den „Restschulen“ der Fall ist und wie es sich allgemein im Schwund schulischer Lernmotivation zeigt. Dann wird Schule zum „Nullsummenspiel“, dem man lieber fernbleibt oder von dem man sich innerlich verabschiedet. Alle Bemühungen einer „Inneren Schulreform“, auch die reformpädagogischen Schulen, haben hier ihren archimedischen Hebelpunkt: die belastenden Momente der Institution Schule soweit zurückzudrängen und durch neue Formen zu ersetzen, damit ein „kreativer Spielraum“ entsteht, in
Frühe Schulkritik
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dem personale Präsenz und so der Aufbau von Sinn- und Wertbewusstsein möglich ist. Das ist ein Raum, „wo ich als Person gefragt bin“, den ich zusammen mit anderen gestalten kann, in dem also echtes Fragen, persönliche Anteilnahme und Stellungnahme möglich werden. Das kann immer nur in den nach wie vor qua Institution gesetzten Grenzen geschehen. Diese Grenzen sind aber, das ist die Lehre aus der Geschichte der Schulkritik und der Schulreform, nicht starr. Die Leistung der Reformpädagogik gegen Ende des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts besteht weniger in der Entdeckung neuer Gesichtspunkte als darin, bereits im historischen Prozess entwickelte Ideen einer menschen- und kinderfreundlicheren Schule zu bündigen Schul- und pädagogischen Handlungskonzeptionen integriert zu haben, mit deren Hilfe die Grenzen dann tatsächlich in einem bis dato nicht bekannten Ausmaß erweitert werden konnten. Durch ihre Präsenz und den öffentlichen Diskurs konnten sie, in den einzelnen Ländern in je verschiedenem Ausmaß, die Entwicklung der Schule überhaupt beeinflussen und das Bild der Schule ideell wie praktisch modifizieren.
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Kapitel 3
Erziehung und das Unbehagen an der Kultur der Moderne: Zivilisationskritik, Lebensreform und die Reform der Erziehung im Übergang zum 20. Jahrhundert Das Leiden in und an der Schule respektive das Erziehungsleid ist ein geradezu archaisches Moment. Es artikuliert sich kritisch über Jahrhunderte und manifestiert sich durch die individuelle Erfahrung im Bewusstsein je neu. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts verbindet und verbündet sich dieses Bewusstsein mit einem epochalen Krisengefühl, hervorgerufen durch die gravierenden sozialen und mentalen Folgen des sich rapide entfaltenden Industriekapitalismus. Es kommt zu einer bis dahin nicht gekannten Mobilität von großen Teilen der Bevölkerung, insbesondere in Form einer Migration aus den ländlichen in die industriellen Zonen. Dort ist der Mensch einer neuen, anonymen Macht der Disziplinierung des Körpers und des sozialen Lebens ausgesetzt, die auf die Funktion der Produktion und die Steigerung des Profits ausgerichtet ist. Die industriellen Lebensbedingungen erzeugen zugleich eine Reihe von Flucht- und Gegenbewegungen – etwa x in Form einer ästhetisch mittels Bildern und Wandteppichen auf die Wohnzimmerwand projizierten heilen Welt mit Motiven aus Natur, Landleben, Religion; x in der Suche nach dem eigenen kleinen Gartenreich im Vorraum der städtischen Ballungsgebiete oder als Insel darin (Schrebergarten, Datscha), nach der eigenen „Gartenlaube“ – so auch der Titel eines über Jahrzehnte außerordentlich populären Journals für gepflegte Kleinbürgerlichkeit – ; x in einem, oft auch – allerdings nur von wenigen – konkret vollzogenen, Zug zurück aufs Land (bei den Künstlerkolonien und Siedlungsbewegungen mit Vorliebe in Reichweite der Städte, deren Kaufkraft und deren kulturelles Anregungspotential sowie Warenangebot man bei aller Kritik an der „städtischen Wüste“ doch nicht missen wollte); x im Wandern, der zeitweisen Flucht „aus grauer Städte Mauern“. Will man die geistige Lage, das wirkende „Lebensgefühl“ großer Teile der Bevölkerung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts auf einen Begriff bringen, so kann mit guten Gründen auf die tiefgreifende Entfremdung des Menschen hingewiesen werden. Sie tangiert nahezu alle Menschen, selbst jene, die sich in der neuen dynamischen Welt als Angehörige des wohlhabenden Bürgertums, der „besitzenden Schichten“, angenehm einzurichten verstehen. Entfremdung tangiert sie jedenfalls in der Weise der Verteidigung ihrer materiellen Besitzstände und politischen Privilegien gegenüber den Ansprüchen der sich organisierenden unterprivilegierten Massen. Friedrich Schiller hatte bereits wenige Jahre nach der Französischen Revolution, deren humane emanzipatorische Ziele „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ er begrüßte, deren konkrete politische Folgen (1792 „Septembermorde“ in Paris; Terrorherrschaft der „Jakobiner“ und des Revolutionstribunals) ihn dagegen „anekelte“1, in seinen ästhetischen Briefen dem Sinne nach auf diesen Gemütszustand hingewiesen. Als Folge der Differenzierungen im modernen Staatswesen wird „der neuern Menschheit diese Wunde geschlagen“: es ist – so würden wir 1 Zum Zusammenhang von ästhetischer und politischer Theorie bei Schiller vgl. die Interpretation der Ästhetischen Briefe von: Janz, Rolf-Peter (1998): Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, in: Koopmann, Helmut (Hsg.) (1998): Schiller-Handbuch, Stuttgart: Alfred Kröner Verlag. Am 8.2.1793, nach der am 21.1.1793 erfolgten Hinrichtung Ludwigs XVI., schreibt Schiller : „Ich kann seit 14 Tagen keine französischen Zeitschriften mehr lesen, so ekeln diese elenden Schindersknechte mich an“ (ebd., S.613).
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heute sagen – die Wunde der Dissoziation, der Verlust innerer Harmonie, als Folge des Kampfes der verschiedenen menschlichen Vermögen gegeneinander im einzelnen selbst. Es ist der Kampf vor allem des intuitiven Denkens (dessen bevorzugter Ort für Schiller die Kunst ist) gegen den „alles trennende(n) Verstand“ (die wissenschaftliche, zergliedernde „Gelehrsamkeit“), als Spiegel oder Introjektion der entzweiten, zerstückelten Gesellschaft. Das unübersichtliche, anonyme Ganze des Staates entspricht dem Zustand der Entfremdung, der Entzweiung des Menschen mit sich selbst. Der „einzelne Neuere“, der heutige Mensch, kann nicht mehr – wie noch der Grieche in der „einfache(n) Organisation der ersten Republiken“ der Alten Welt – das „Ganze“ der menschlichen Gattung in sich ausprägen und repräsentieren. Schiller vergleicht den Staat seiner Zeit mit einem kunstreichen Uhrwerk, das im mechanischen Zusammenspiel einzelner Teile, die vom Ganzen kein Bewusstsein mehr besitzen, funktioniert: Ein Uhrwerk, „wo aus der Zusammenstückelung unendlich vieler, aber lebloser, Theile ein mechanisches Leben im Ganzen sich bildet. Auseinandergerissen wurden jetzt der Staat und die Kirche, die Gesetze und die Sitten; der Genuss wurde von der Arbeit, das Mittel vom Zweck, die Anstrengung von der Belohnung geschieden. Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet der Mensch selbst sich nur als Bruchstück aus, ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens, und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zu einem Abdruck seines Geschäfts, seiner Wissenschaft.“2 Und wenig später folgt die düstere Bilanz. „Und so wird denn allmählig das einzelne konkrete Leben vertilgt, damit das Abstrakt des Ganzen sein dürftiges Daseyn friste, und ewig bleibt der Staat seinen Bürgern fremd, weil ihn das Gefühl nirgends findet.“3 Gleichwohl hält Schiller diese Entwicklung für notwendig. Der Mensch musste die Totalität seines Wesens aufgeben, „und die Wahrheit auf getrennten Bahnen verfolgen. Die mannichfaltigen Anlagen im Menschen zu entwickeln, war kein anderes Mittel, als sie einander entgegen zu setzen. Dieser Antagonism der Kräfte ist das Instrument der Kultur, aber auch nur das Instrument; denn solange derselbe (der Antagonismus – E.S.) dauert, ist man erst auf dem Wege zu dieser.“4 Schillers Vision zielt auf einen Kulturzustand, in dem diese antagonistischen Kräfte, nun als höher entwickelte, zu einer neuen harmonischen Synthese, zu einem „Gleichgewicht“, gelangen. Es handelt sich nach Schiller um eine große Aufgabe der Entwicklung des Menschen und der menschlichen Gattung: „eine Aufgabe für mehr als Ein Jahrhundert“.5 Der Antagonismus schwindet, wenn und in dem Maße wie die „Totalität in unserer Natur“ als Versöhnung von Intuition und Verstand, „durch eine höhere Kunst“ wieder hergestellt ist.6 Erst dann, also über die Höherentwicklung der Individuen eines Volkes, sind die Bedingungen gegeben, den „Naturstaat“ (das ist für Schiller der absolutistische Staat, in dem Machtinteressen wie Naturgesetze herrschen) allmählich und ohne Revolutionen in den „sittlichen“ Staat (das ist der nach „moralischen Principien“ geordnete Staat) umzuformen.7 Zugleich betont Schiller den idealen Charakter der Versöhnung, hinter dem die Realität, die „Erfahrung“ zurückbleiben muss. „Dieses Gleichgewicht bleibt aber immer nur Idee, die von der Wirklichkeit nie ganz erreicht werden kann.“8 Schiller beließ es nicht bei der Diagnose. Er ersann im Rückgriff auf den Menschen des antiken Griechenland Fluchtpunkte einer heilenden Entwicklung, deren Möglichkeit er in der Entfaltung des Künstlerischen – oder genauer: einer höheren Kunst, denn die bisherige ist noch Ausdruck des inneren Zwiespaltes – im Leben sah. Ein idealer bzw. idealisierter Zu2 Schiller, Friedrich (1962): Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, in: Schillers Werke, Nationalausgabe, 20. Band, Weimar: Hermann Böhlau, S.323 3 Ebd., S.324 4 Ebd., S.326 5 Ebd., S.329 6 Ebd., S.328 7 Ebd., S.314 f. Vgl. auch: Janz, Rolf Peter (a.a.O.), S.613f 8 Ebd., S.360
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stand einer fernen Vergangenheit wird der Gegenwart als Spiegel der Erkenntnis vorgehalten und zugleich als Richtpunkt einer zukünftigen Entwicklung vorgestellt. Es handelt sich um ein Denkmuster, das in den populären zivilisationskritischen Diskursen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts in trivialisierter Form wieder auftaucht – meist ohne eine ernsthafte Bezugnahme zu den Gedanken Schillers und anderer Autoren der Weimarer Klassik oder des deutschen Idealismus. Wenn auch Schillers Heilungsversuch im Idealen und letztlich auch Vagen und Utopischen verbleibt, hatte er doch den modernen Bewusstseinsstand der Entfremdung auf den Begriff gebracht. Es handelt sich um einen Zustand des Bewusstseins, der sich freilich erst in der entwickelten Industriegesellschaft als ein umfassendes soziales Bewegungsmoment auswachsen und ausdifferenzieren konnte. Das moderne Krisenbewusstsein findet dann vielfach zu Formen der Verarbeitung, die mit Schillers Intention des harmonischen „Gleichgewichts“ der Kräfte nichts mehr gemein haben. Vielmehr kommt es in weiten Kreisen zu einem „sacrificium intellectu“, zu einer Denunzierung von Verstand, Vernunft und (klassischer) Bildung. Die Momente der Entfremdung unter den Maßgaben des expandierenden Industriekapitalismus lassen sich im Überblick kennzeichnen als: x x
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das Fremdsein im eigenen Körper als Folge seiner umfassenden Disziplinierung durch die Industrie, durch moderne Verkehrsformen, durch Moral, Mode und Erziehungsinstitutionen, durch exakte Zeiteinteilungen (Herrschaft der Uhr, moderner Leistungsbegriff); das Fremdsein in der neuen – zugleich attraktiven wie bedrohlichen – städtischen Umwelt, dem in den meisten Lebensläufen eine „Entwurzelung“ aus dem ländlichen Raum und aus den damit verbundenen festgefügten Arbeits- und Familienverhältnissen vorausgegangen ist; das Fremdsein in den neuen, krisenanfälligen Arbeitsverhältnissen, in denen der Mensch dem sinnfälligen, durch den Kreislauf der Natur und den Ablauf des dörflichen Gemeinschaftslebens bedingten Daseinsrhythmus enthoben ist und sich nun als austauschbares „Rad in der Masse“ wiederfindet; dazu gehört als Folge einer atomistischen Produktionsweise (Spezialisierung, Arbeitsteilung) auch die Entfremdung vom Produkt der Arbeit: der Verlust eines unmittelbaren persönlichen Interesses daran; als Folge des Siegeszuges der Wissenschaften (der Natur- wie der Sozialwissenschaften) die Entfremdung von der Religion und somit der weitgehende Verlust ihrer existenziellen Sinngebungs- und sozialen Integrationsfunktion – das gilt insbesondere für weite Kreise der Arbeiterschaft, eine Entfremdung, die zudem von Seiten der kommunistischen Bewegungen programmatisch verankert ist, es gilt aber auch für große Teile der bürgerlichen Schichten, in denen sich ebenfalls antireligiöse respektive atheistische Einstellungen und Zirkel bilden (Monismus, Freidenkertum); das Fremdsein im politischen Gemeinwesen, das dem Modernisierungsprozess in Wirtschaft, Wissenschaft, Gesellschaft, Bildung und Kultur nicht entsprechend folgt und dem „gemeinen Volk“, dem Arbeiter- und Bauernstand und insbesondere den Frauen im allgemeinen, noch über mehrere Jahrzehnte angemessene demokratische Partizipationsrechte vorenthält; dadurch wird die Möglichkeit einer breiten demokratischen Bewusstseinsbildung erschwert (nach Einkommen bzw. Steuern gestaffeltes Drei-Klassen-Wahlrecht nur für Männer von 1849-1918 in Preußen).
All diese Momente der Verunsicherung bilden u.a. den fruchtbaren Boden für eine Vielzahl von quasireligiösen, sich aus zahlreichen Motiven mythologischer, spiritueller, politischer und pseudowissenschaftlicher Herkunft speisender Weltanschauungen respektive säkularer Heilslehren. Der Fragmentierung der Lebenswelt entspricht ein Gefühl der Fragmentierung im Bewusstsein des Einzelnen, welches beides letztlich nicht durch politischen Druck, durch rheto-
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rische Einigungsformeln wie „Deutsches Volk“, „Vaterland“, „Deutsche Nation“ oder durch die Propagierung von Feindbildern, auch nicht durch die inzwischen flächendeckend institutionalisierte Schule überwunden werden kann. Das Gefühl der Fremdheit bleibt – und mit ihm die Sehnsucht und die Suche nach einer anderen, besseren Welt, nach Gemeinschaft, nach Einheit und Harmonie in einem übergeordneten organischen „Ganzen“. Es entwickelt sich ein Affront gegen die moderne antagonistische Welt und gegen ihre vermeintlichen Verursacher, gegen Wissenschaft, gegen Technik, gegen das „kalte“ rationale Denken: gegen ein Denken und Handeln, das den Menschen auf dem Altar ihm fremder Zwecke opfert. Der alte Mensch des Intellekts wird zum Feindbild; der neue Mensch des Willens, des Gefühls, der heroischen „befreienden“ Tat, der geniale Lebensgestalter und Künstler wird zum Leitbild. Julius Langbehns vernichtendes Diktum von 1890 „Der ‚Professor‘ ist die deutsche Nationalkrankheit“, nachzulesen in seinem kulturkritischen Bestseller „Rembrandt als Erzieher“, konnte seinerzeit zu einem geflügelten Wort avancieren. Dieser „Wahrheit“ fügt Langbehn unmittelbar eine zweite an, die beide „nicht oft genug wiederholt werden“ könnten: „die durchgängige deutsche Jugenderziehung ist eine Art von bethlehemitischem Kindermord“.9 Bereits Pestalozzi benutzte das Mordmotiv in Verbindung mit seiner Kritik an der Schule und die schwedische Schriftstellerin, Reformpädagogin und Frauenrechtlerin Ellen Key wird es in ihrem Buch „Das Jahrhundert des Kindes“ ein Jahrzehnt später wieder aufgreifen. Die gesamte „Civilisation“ konnte schließlich als eine große Krankheit erscheinen. „Ihre Ursachen“ waren offenzulegen und „ihre Heilung“ war in Angriff zu nehmen. Der Engländer Edward Carpenter hatte 1889 ein Werk mit diesem programmatischen Titel veröffentlicht, das 1903 in deutscher Übersetzung vorgelegt wurde.10 Die kultur- oder zivilisationskritische Stimmungslage bildet den sozialpsychologischen Hintergrund für reformerisch produktives Denken und Handeln in verschiedenen Lebensbereichen – auch und gerade in der Erziehung, denn sie schien durch ihre Arbeit am und mit dem Kind in besonderer Weise berufen, am zukünftigen Bild des Menschen und seiner Welt zu wirken. Der anti-intellektuelle Grundzug dieser Krisenstimmung ist zugleich mitverantwortlich für die Verführbarkeit des Geistes gegenüber martialischen, irrationalen Ideologien bis hin zum Nationalsozialismus – der in der nunmehr von allem Fremden zu „reinigenden“ „Volksgemeinschaft“ das ersehnte organische Ganze zu schaffen verspricht; der sich ästhetisch als ein die Massen faszinierendes „Gesamtkunstwerk“ und in pseudoreligiöser Manier als säkulare Heilslehre zu inszenieren versteht. Dabei hat der wirtschaftliche Schwung der nach 1871 einsetzenden „Gründerzeit“ (industrieller Aufschwung, Reparationszahlungen des geschlagenen Kriegsgegners Frankreich) mit der Produktion ihrer Probleme zugleich die Hoffnung auf die Möglichkeit ihrer Lösung beflügelt. Begleitet wurde die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland – trotz des anwachsenden Anti-Intellektualismus – von einer ungemein dynamischen Entwicklung der Wissenschaft, die bald Weltgeltung genoss. Entwicklung schien in jeder Hinsicht möglich. Kulturpessimismus und Fortschrittsoptimismus verbinden sich zu einer dynamischen Mischung, die in der Gesellschaft zahlreiche soziale „Bewegungen“ entstehen lässt. Zwar besteht in politischer Hinsicht eine deutliche Zweiteilung als Frontstellung zwischen Bürgertum und Arbeiterbewegung; unterhalb dieser Ebene und quer zu ihr bilden sich jedoch Bewegungen mit eigenen begrenzten Zielsetzungen, die sich jetzt durch den Einsatz moderner Kommunikationsmittel massenhaft organisieren und öffentlich artikulieren können. Der Staat des 19. Jahr9 Von einem Deutschen (Julius Langbehn) (1922): Rembrandt als Erzieher, Leipzig: Verlag C.L. Hirschfeld, S.270 (84. Auflage; 1. Auflage 1890. Ein Jahr später erschien es bereits in der 39. Auflage; vgl.: Nipperdey, Thomas (1990): Deutsche Geschichte 1866-1918. Erster Band. Arbeitswelt und Bürgergeist, München: C.H. Beck, S.827) 10 Carpenter, Edward (1903): Die Civilisation – ihre Ursachen und ihre Heilung, Leipzig: Hermann Seemann Nachfolger
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hunderts hatte, gleichsam als ein ungewollter Nebeneffekt seines vorwiegend auf die Funktion der Wirtschaft und auf politische Loyalität ausgerichteten und forciert entwickelten Volksbildungswesens, die Voraussetzungen für den kritischen Reflex gegen sich selbst und gegen verschiedene Begleiterscheinungen der gesellschaftlichen Entwicklung im Ganzen geschaffen. Mit massenhaft verbreiteten, zudem billigen Druckerzeugnissen, die wegen der inzwischen erreichten hohen Stufe der Lesefähigkeit fast jedem zugänglich sind, konnte nahezu jede Idee, jedes ideologische Konglomerat, jede Weltanschauung sich anempfehlen, ihre öffentliche Attraktivität testen und im Erfolgsfalle mehr oder weniger machtvoll agierende Menschengruppen um sich organisieren. Dies bleibt fortan und bis heute ein bedingendes Moment der gesellschaftlichen Entwicklung. „Erlebte Deutschland 1848 einen ersten Frühling sozialer Bewegung (im Zuge der bürgerlichen Revolution – E.S.) und nach 1850 mit der politischen Reaktion eine zweite Eiszeit, so ist der Zeitraum von den 1860er Jahren bis zum 1. Weltkrieg durch eine – trotz starker Widerstände – breite Entfaltung sozialer Bewegungen gekennzeichnet. Die Beziehungen zwischen den Bewegungen erhalten allmählich den Charakter eines (Sub-)Systems. Das heißt, dass die Interaktionen und systematischen Bezugnahmen zwischen den verschiedenen Bewegungen zunehmend wichtiger werden. Die Erklärung des Verhaltens sozialer Bewegungen muss nun Bedingungen einbeziehen, die durch Konkurrenz und Kooperation im Bewegungssystem gegeben sind.“11 Auf diesem Hintergrund und in dieser Dynamik sind auch die verschiedenen Erziehungsbewegungen zu verorten; denn erst jetzt sind die Voraussetzungen für eine in die Breite gehende öffentliche Aufmerksamkeit und Wirksamkeit ihrer Anliegen gegeben. x Sie agieren nicht isoliert, verbünden sich je nach aktueller Interessenlage mit anderen (reformpädagogischen) Erziehungsbewegungen (zum Beispiel nach 1921 in der internationalen „New Education Fellowship“ und in ihren nationalen Sektionen) oder grenzen sich zur Eigenprofilbildung voneinander ab; x sie integrieren manche Aspekte anderer, nicht primär erzieherisch agierender Bewegungen (z.B. Wandervogel und Jugendbewegung finden sich etwa bei Schulfahrten und generell in der Forderung des lebensverbundenen Lernens wieder); x sie stellen sich gegen das etablierte Herrschaftssystem (Beispiele: frühe anarchistische und kommunistische Schulversuche in Frankreich, Spanien, in der Weimarer Zeit auch in Deutschland; partiell auch im Kampf zahlreicher Schulversuche in verschiedenen Ländern gegen die staatliche Bürokratie); x sie kooperieren aber auch mehr oder weniger weitgehend mit dem Herrschaftssystem, biedern sich diesem gar an oder werden von diesem vereinnahmt (Beispiele: Kunsterziehungsbewegung und der bürgerliche Zweig der Landerziehungsheime in ihrer affirmativen Verbindung mit patriotischem, nationalistischem, gelegentlich auch militaristischem Gedankengut); x sie assoziieren sich mit anderen Bewegungen, meist mit missionarischem Eifer, zur Entwicklung einer Gegenwelt, einer neuen sozialen „Ganzheit“ (z.B. in der Verbindung von Erziehung und Schule mit Initiativen zur Lebensreform). Sie sind selbst Ausdruck der Bearbeitung von Modernisierungs- respektive Entfremdungsprozessen – und weder das Etikett der Fortschrittlichkeit, das sich die Bewegungen oder ihre um Affirmation besorgten Monographen mit den Begriffen „Neue Erziehung“, „Neue Schule“ „Reformpädagogik“ oder – in den USA – durch „Progressive Education“ zulegen, noch die demgegenüber kritischen Einwände von deren Irrationalität oder deren politischer Konservativität wird dem Phänomen insgesamt gerecht. Es handelt sich durchaus um ein „multivalen-
11
Raschke, Joachim (1988): Soziale Bewegungen. Ein historisch-systematischer Grundriß, Frankfurt/Main; New York: Campus, S.34
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tes“, komplexes, nicht deutlich abgrenzbares, in sich zudem widersprüchliches Phänomen, das sich nur in einem Gang durch die einzelnen Bewegungen aufklären lässt.
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Gesellschaft im Umbruch. Zum sozio-kulturellen Hintergrund reformerischen Aufbruchs – eine Epochenskizze
Zu recht kennzeichnen Berg und Herrmann die in Frage stehende Zeit als eine Epoche der Ambivalenzen, deren Verständnis einige Schwierigkeiten bereitet. Nur der mühsame Weg eines „Hin- und Herdenken(s)“, von Thomas Nipperdey12 in seiner „Deutsche(n) Geschichte“ in außerordentlich aspekt- und materialreicher Weise beschritten, scheint einen Schutz vor vereinfachenden Urteilen zu bieten und einen Begriff von der Komplexität jener Epoche zu vermitteln. In meiner Epochenskizze stütze ich mich hauptsächlich auf die Arbeit von Berg und Herrmann „Industriegesellschaft und Kulturkrise. Ambivalenzen der Epoche des Zweiten Deutschen Kaiserreiches 1870-1918“13, die ihrerseits wesentlich von den Arbeiten Nipperdeys profitiert. Es kann sich im vorliegenden Zusammenhang nur um eine knappe Übersicht handeln, die – gleichwohl – dem Ziel dienen soll, einen ersten Begriff von der eigentümlichen Entwicklungsdynamik zu erhalten, die mit den sozio-kulturellen Ambivalenzen in einer Gesellschaft gegeben ist, die einerseits zwar noch hierarchisch-autoritär strukturiert ist, in der sich andererseits zahlreiche „Bewegungen“ auf verschiedenen gesellschaftlichen Feldern artikulieren, deren Impulse weit über jene Epoche hinaus- und zum Teil bis in die heutige Zeit hineinreichen. Ein epochenspezifisches Bild wird notwendigerweise in eine Summe von Sätzen kontrafaktischer Diktion münden: indem ein „einerseits, andererseits“ – etwa „Antimodernismus und die Hinwendung zur Moderne“ (Berg/Herrmann – s.u.) – zu konstatieren ist. – Wesentliche Momente des Modernisierungsprozesses und seiner begleitenden Kritik gelten im Übrigen auch für andere Industrieländer. Darauf muss wegen der internationalen Dimension der Reformpädagogik ebenfalls hingewiesen werden. Berg und Herrmann kennzeichnen die Zeit des Zweiten Deutschen Kaiserreiches als eine Epoche von verschiedenen und zum Teil antagonistisch wirkenden Strömungen und Tendenzen. Das Leben in der industriell geprägten Wachstumsgesellschaft bringt einen rapiden Wandel nahezu aller relevanten Lebensbereiche mit sich. Die demographische Entwicklung ist von einem starken Anstieg der Bevölkerungszahl (zwischen 1871 und 1910 um rund 24 Millionen) bestimmt, was zugleich eine Verjüngung der Bevölkerung bedeutet. Die Suche nach besseren Lebensbedingungen führt sowohl zu einer umfangreichen Binnenwanderung vom Land in die Stadt („Industrienomadentum“, Urbanisierung), als auch zu einer hohen Auswanderungsrate in überseeische Länder, insbesondere nach Amerika. Dahinter „verbergen sich dramatische kollektive, familiale und individuelle Schicksale“.14 Gleichzeitig bringt die notwendige Entwicklung der Infrastruktur in Bildung, Verkehr, Kommunikation, Handel die Erweiterung von Erfahrungsräumen, Kommunikations- und sozialen Organisationsmöglichkeiten mit sich. Die Industrie schafft sich darin die Bedingungen ihrer Existenz und Expansion. Die angepasste Infrastruktur bietet die Voraussetzungen zur notwendigen Mobilität, zur Rekrutierung (qualifizierter) Arbeitskräfte, zur Versorgung von großen Agglomerationen an Menschen. Durch die erweiterten Bildungs- und Kommunikationsmöglichkeiten werden zugleich die Voraussetzungen zur kritischen und gesellschaftlich wirksamen Bearbeitung der industriell erzeugten Widersprüche verbessert oder überhaupt erst geschaffen. Die Gesell12 Nipperdey, Thomas (1990): Deutsche Geschichte 1866-1918, Erster Band: Arbeitswelt und Bürgergeist, München: C.H. Beck (S.824ff) 13 Berg, Christa und Herrmann, Ulrich (1991): Industriegesellschaft und Kulturkrise. Ambivalenzen der Epoche des Zweiten Deutschen Kaiserreiches 1870-1918, in: Berg, Christa (Hsg.) (1991): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Band IV 1870-1918, München: C.H. Beck, S.1ff 14 Ebd., S.3
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schaft polarisiert sich. Es entsteht eine große Zahl von „organisierten kollektiven Interessenvertretungen in politischen Parteien, sozialen Protestorganisationen, Gewerkschaften, Unternehmerverbänden.“15 Neben den gravierenden Belastungen ist denn auch etwas anderes, positiv empfundenes festzustellen. Die sogenannten „Segnungen der Technik“ und die Segnungen des im Entstehen begriffenen modernen Sozialstaates werden vielfach als solche gesehen. Die Sozialgesetzgebung (Krankenkassen, medizinische Versorgung, Hygiene, Kinder- und Jugendfürsorge usw.) Bismarcks tragen dazu bei, Konflikte zu mindern – wenn auch nicht zu lösen, denn die klassenspezifischen Unterschiede bei der Verteilung der materiellen Ressourcen bleiben weiterhin bestimmend und ein gesellschaftspolitisch mobilisierendes Moment. Gleichwohl entwickelt sich ein „gesteigertes Lebensgefühl“. Auch die Schattenseiten der Technik treten durch tragische Unfälle ins allgemeine Bewusstsein und liefern für Generationen Metaphern der Krise und der Apokalypse: „der Absturz des ‚Zeppelin‘ und der Untergang der ‚Titanic‘ waren für die Zeitgenossen Grenzerfahrungen technischer und menschlicher Möglichkeiten“.16 Ein besonderes Augenmerk richten Berg und Herrmann auf das Verhältnis der Gebildeten, respektive des besitzlosen oder weniger wohlhabenden Bürgertums zur Moderne. Politisch desillusioniert durch das Scheitern der Revolution 1848/49, nur marginal partizipierend an dem industriell geschaffenen Reichtum der Gesellschaft, standen sie in vieler Hinsicht in Distanz zu den tragenden Momenten der Moderne. Sie fühlten sich – ihre politischen und materiellen Enttäuschungen ideell kompensierend – einer „höheren Kultur“ verpflichtet, die mit den Begriffen „Geist“ und klassische (nicht: naturwissenschaftlich-technische) „Bildung“ zu umreißen ist und sehen in der „Zivilisation“ als Inbegriff alles Technisch-WirtschaftlichIndustriellen einen kulturellen Niedergang: „Industrie und Technik bedrohen die Kultur und führen ihren Untergang herbei.“17 Zugleich erfolgte eine „Abkehr der Gebildeten von der Politik“, die als „geistig öde, ethisch verlogen, ästhetisch roh“ (Werner Sombart) gebrandmarkt wurde.18 Zivilisationskritik, Kulturpessimismus wie Politikverdrossenheit mündeten in eine – wie die Nachgeborenen wissen: politisch gefährliche (vgl.: Fritz Stern19) – Distanz zur westeuropäischen Aufklärung, zu Rationalismus und „kaltem Intellektualismus“. Die Gebildeten wendeten sich gegen „‚Funktionalität‘, ‚Sachlichkeit‘ und ‚Effizienz‘“ und setzten dagegen: „‚Innerlichkeit‘ und Irrationalismus, ‚Leben‘ und ‚Seele‘, das ‚Organische‘ und die NeuRomantik. Die Entsprechungen dazu im Politischen lauteten: das ‚Organische‘ der ‚Gemeinschaft‘ gegen das ‚Mechanische‘ der ‚Gesellschaft‘, ‚Harmonie‘ und ‚Eingliederung‘ ... gegen ‚Parteiengezänk‘ und Interessenkonflikte, das Pathos von Autorität, Gehorsam und Pflichterfüllung gegen Emanzipation und Freiheitsrechte – wie im Schlagwort des Gegensatzes der ‚Ideen von 1914‘ (Unter- und Einordnung, bedingungsloser Einsatz aller für die Rettung des Vaterlandes – E.S.) und den ‚Ideen von 1789‘ (der Französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – E.S.) treffend zum Ausdruck gebracht wird.“20 Diese Haltung ist Ausdruck einer – nicht nur in intellektuellen Kreisen verbreiteten – Krisenstimmung. Sie ist der Resonanzboden für die kultur- bzw. zivilisationskritischen Stimmen, zu denen auch – etwa bei de Lagarde und Langbehn – völkisch-germanisch-rassistische Töne gehören. Die Krisenstimmung ist schließlich auch die mentale Voraussetzung für die Stilisierung des Ersten Weltkrieges als „Kulturkrieg“ zwischen den „Ideen von 1789“ und den „Ideen von 1914“. Ein monströser Mythos entsteht: der Kampf zwischen der individualistisch15
Ebd., S.4 Ebd. 17 Ebd., S.21 18 Siehe: Beßlich, Barbara (2000): Wege in den „Kulturkrieg“. Zivilisationskritik in Deutschland 1890-1914, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S.17; vgl. ebd. auch Anm. 41 19 Stern, Fritz (1963): Kulturpessimismus als politische Gefahr. Eine Analyse nationaler Ideologie in Deutschland, Bern u.a.O.: Scherz 20 Berg/Herrmann, a.a.O., S.21 16
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zersetzenden Ratio – als deren Repräsentant vor allem Frankreich erscheint – und der germanischen Volksseele respektive eines blut- und bodenverhafteten nationalen Sozialismus.21 – Die ersten reformpädagogischen wie auch lebensreformerische Strömungen blieben von diesen mentalen Strukturen nicht unberührt. Die zusammenfassenden Passagen in der Arbeit von Berg und Herrmann bringen wesentliche Charakteristika der Epoche auf den Punkt. Zwei Ausschnitte zitiere ich ausführlich. Sie spiegeln bei aller Knappheit die Epoche m.E. zutreffend als eine außerordentlich facettenreiche wider; eine Epoche, die in ihrer Komplexität, Widersprüchlichkeit und – trotz widerständiger Tendenzen – zugleich relativen Liberalität den Boden schafft für zahlreiche reformerische Initiativen auf den Gebieten der Erziehung, Kunst, Lebensreform. „In der wilhelminischen Ära stehen nebeneinander der Antimodernismus und die Hinwendung zur Moderne, kaiserliche Kunstpolitik und Secessionen, Militarismus und Friedensbewegung, Technikbegeisterung und Wissenschaftskritik, Weltläufigkeit und bornierter Nationalismus, volkstümliche Sehnsucht in die Vergangenheit und Avantgarde, Frauenemanzipation und Minderheitendiskriminierung, Faszination der Großstadt und Sehnsucht nach ‚Natur‘, ästhetisches Raffinement und Sehnsucht nach dem ‚Echten‘, nihilistischer Relativismus und Sehnsucht nach dem ‚Wahren‘, Irreligiösität und Suche nach ‚letzten Wahrheiten‘, Spießbürgerlichkeit und Libertinage, Autoritätsfixierung und Anarchismus. Es gab keine noch so extreme Position oder Weltanschauung, die nicht noch eine zusätzliche ideologische Verschärfung mit sich führte. Die Kultur des späten Kaiserreichs war charakterisiert durch Gegensätze und unüberbrückbare Widersprüche. Darin liegt ihre Faszination für uns begründet, sei es im Hinblick auf die unglaubliche geistige und künstlerische Produktivität und den wissenschaftlichen und technischen Erfindungsreichtum der Epoche zwischen 1885 und 1914, sei es angesichts ihres Weges in einen Untergang, der bis 1945 noch weitere Katastrophen nach sich zog.“22 „Die problematischen Auswirkungen der Industrialisierung, explosiven Bevölkerungsentwicklung und Verstädterung sowie die Grundzüge einer autoritär geprägten Klassengesellschaft, die sowohl die Arbeitswelt wie die private Existenz der Menschen prägten, provozierten zwar auch die Kritik von Zeitgenossen, trübten aber kaum den allgemeinen Fortschrittsglauben, den selbst Sozialdemokraten teilten. Erst um die Jahrhundertwende wuchs die Skepsis, mehrten sich die Stimmen der Zivilisations- und Kulturkritik, die Ansätze von Lebensreform, des Aufbruchs neuer Bewegungen: Naturalismus, Jugendstil, Sezession, Expressionismus, Werkbund; Wandervogel, Siedlungsbewegung, Reformpädagogik. Deren Motive waren vielfältig, das Unbehagen weit verbreitet und symptomatisch, die politische und ideologische Ambivalenz unverkennbar. Präziser in den Negationen als in der Programmatik, oft pathetisch in der Verwerfung von Technik, des Urbanen, der Rationalität und industrieller Expansion, wurden Sehnsüchte nach dem Natürlichen, Originalen, Unverstellten, Einfachen, Utopischen artikuliert und in persönlichen Begegnungen, Freundschaften, Gruppen, Zirkeln informell kultiviert und stilisiert.“ Hier wäre zu ergänzen, dass in zahlreichen erzieherischen und lebensreformerischen Initiativen jene Sehnsüchte durchaus eine formelle und institutionelle Gestalt angenommen haben. Stärker allerdings als im Kaiserreich gilt dies für die Zeit nach seinem Zusammenbruch respektive in der Weimarer Republik, wo das in der Vorkriegszeit gewachsene Repertoire an reformerischen Motiven durch die neu gewonnenen demokratischen Freiheiten sich besser entfalten konnte. – Weiter bei Berg/Herrmann: „Sie dokumentierten auch eine Gesellschaft wachsender Liberalität, die sehr verschiedene sozialkulturelle wie –moralische Milieus kannte und tolerierte. So wuchsen Kinder und Jugendliche des Zweiten Deutschen Reiches zwar in eine dynamische Industriekultur und in eine Gesellschaft hinein, die von ihrer eigenen Stärke überzeugt war, internalisierten aber zugleich beiläufig, was mehr und mehr als krisenhaft oder verunsichernd empfunden wurde.“23 21
Vgl. dazu die fundierte Darstellung von Beßlich (2000) Ebd., S.22 23 Ebd., S.3 22
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Dieses Epochenbild trifft, abgesehen vom übersteigerten Nationalismus und der ins mystischmythisch-völkische abgleitenden nationalen Identitätssuche der Deutschen, in wesentlichen Zügen auch die Situation in anderen (westlichen) Ländern, soweit sie eben mit den Folgen der Modernisierung konfrontiert waren. Alle Momente der Entfremdung sind auch dort anzutreffen und es entstanden in Kritik sowie in der Suche nach Alternativen vergleichbare Ansätze, wenn auch eine genauere Analyse Differenzierungen herauszuarbeiten hätte. Es gab eine gesamteuropäische „Krise der Vernunft“, eine Erschütterung des rationalen, in der Idee einer universellen Vernunft gründenden Denkens – wie J.W. Burrow in seinem Werk „The Crisis of Reason: European Thougth, 1848-1914“24 ausführlich dargelegt hat. In Bezug auf den englischen und anglo-amerikanischen Sprachraum sei auf die (bis heute nachwirkende) Faszination der Ideologie des einfachen Lebens des Nordamerikaners Henry Thoreau, aufgezeichnet in seinem Protokoll des Lebens in Waldeinsamkeit „Walden“, hingewiesen; in England sind es u.a. Ruskin, Morris und Carpenter, die die Schäden der Zivilisation anprangerten und für (utopische) Alternativen warben. Diese Autoren fanden auch im deutschsprachigen Raum Beachtung. Hier sind es aber vor allem de Lagarde, Langbehn und Nietzsche, die im vielstimmigen Diskurs um Kulturkritik, Lebensreform und Reformpädagogik herausragten – freilich nicht in der Weise, dass sie konkrete Alternativen aufgewiesen hätten, aber doch so, dass sie dem Unbehagen an der Moderne eine teils pathetisch-irrational teils poetisch gefärbte Stimme gaben, die um die Jahrhundertwende weithin gehört wurde und so die Motivation zu reformerischem Handeln überhaupt belebte.
2
Protagonisten der Kulturkritik: Nietzsche, de Lagarde, Langbehn
Die wichtigsten Schriften von Friedrich Nietzsche (1844-1900) waren bereits in den siebziger und achtziger Jahren entstanden. Die außerordentlich breite Rezeption seiner Gedanken setzte aber erst im Zusammenhang mit einer geradezu kultischen Verehrung seiner Person ein. Tatsächlich gab es – nie realisierte – Pläne und Modelle zur Errichtung eines Nietzsche-Tempels. Das am weitesten gediehene Modell stammt von Henry van de Velde. Es hat die Form eines langgestreckten hufeisenförmigen griechisch-antiken Stadions, dessen offene Seite von einer grandiosen Nietzsche-Gedenkstätte begrenzt sein sollte.25 (Die Idee zur architektonischästhetischen Repräsentation einer Weltanschauung, mithin die ästhetische Aufhebung der faktisch bestehenden Heterogenität in der Gesellschaft in einem wohlgeordneten „Ganzen“, faszinierte viele Künstler und Weltdeuter, insbesondere nach dem endgültigen Zusammenbruch des Kaiserreiches. Von den zahlreichen Plänen wurden manche auch realisiert: Richard Wagners Opernfestspielstätte in Bayreuth, Grundsteinlegung 1872; das Sanctuarium Artis Elisarion des Künstlers Elisar von Kupffer im Tessin 1937-39, dessen Anregung wohl auf Fidus zurückgeht, der um 1900 Entwürfe zu seinem „Der Tempel der Erde“ gezeichnet hatte; das „Goetheanum“ des Anthroposophen Rudolf Steiner in Dornach/Schweiz, das erste 1922/23 als Holzbau, das zweite nach Brand als Betonbau 1924 errichtet.) Nietzsches Kunst- und Kulturtheorie schien geeignet, das politisch-religiöse Sinndefizit der späten Kaiserzeit kompensieren zu können.26 Die Rückbesinnung auf Nietzsche wurde getragen von „... zehntausend Dozenten des Irrationalen ..., die in seinem Schatten, über ganz 24
Burrow, John Wyon (2000): The Crisis of Reason: European Thougth, 1848-1914, New Haven and London: Yale University Press 25 Erbsmehl, Hansdieter (2001): Harry Graf Kessler. Mittler einer nietzscheanischen Kultur im Deutschen Kaiserreich, in: Buchholz, Kai; Latocha, Rita; Peckmann, Hilke; Wolbert, Klaus (Hsg.) (2001): Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, Band II, S.51ff (mit Abbildungen verschiedener Entwürfe, einen von Fritz Schumacher von 1898, die übrigen ab 1910 von de Velde) 26 Zu den Gründen der späten Rezeption: Hepp, Corona (1992): Avantgarde. Moderne Kunst, Kulturkritik und Reformbewegungen nach der Jahrhundertwende, München: dtv, 2. Auflage, ebd. S.50ff
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Deutschland hin, wie Pilze aus dem Boden wuchsen.“ (Thomas Mann)27 Seine kultur- und bildungskritischen Motive entwickelt Nietzsche vor allem in den „Unzeitgemäßen Betrachtungen“ (entstanden 1873-76), in den Vorträgen „Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten (1872; erst mit dem Nachlass veröffentlicht) und in dem poetisch-rhapsodisch-lebensphilosophischen Werk „Also sprach Zarathustra“ (1883-85). In letzterem Werk lässt er den jenseits konventioneller Moral agierenden „Übermenschen“ sprechen, eine literarischphilosophische Kunstfigur, die vielfach als konkrete Vision und Handlungsanleitung missverstanden wurde. Sie steht in Zusammenhang mit seinem – schon vorher in der „Fröhlichen Wissenschaft“ formulierten – Ruf vom „Tode Gottes“. Das konnte von manchen sinnsuchenden Zeitgenossen als Aufruf zum Jenseitsverzicht und zur Schaffung eines „Himmels auf Erden“ verstanden werden. Dieses großartige Werk der Zukunft konnte nur von „Menschen“ in Angriff genommen werden, die über übermenschliche Kräfte und Fähigkeiten verfügen würden. Die innerweltliche Heilserwartung wurde zu einem mächtigen Motiv in den sozial- und wirtschaftsreformerischen Siedlungsbewegungen.28 Ich gehe in diesem Zusammenhang nur auf die „Unzeitgemäßen Betrachtungen“ näher ein. Sie lassen sich in ihrer Haupttendenz lesen als ein kultur- und bildungskritisches Plädoyer für die Befreiung des „Lebens“ aus den bildungsbürgerlichen Fesseln einer überlebten Vergangenheit, die die Menschen blind sein lässt für die Keime des „Werdenden“. Geistesgeschichtlich kann der Prozess dieser Befreiung als Kampf des Lebens gegen den es niederdrückenden Intellekt, Anima gegen Ratio, das „vivo“, „ich lebe“ (Nietzsche) gegen das „cogito“, „ich denke“ (Descartes) gesehen werden. In der ersten „Unzeitgemäßen Betrachtung“ kritisiert Nietzsche den mit dem Sieg über Frankreich einhergehenden Glauben an die Überlegenheit der deutschen Kultur. Es ist der „Bildungsphilister“ – dargestellt an dem Werk des Schriftstellers David Friedrich Strauß (1808-1874) –, den er ins Visier nimmt, gegen dessen Herrschaft er ankämpft. Der Bildungsphilister lebt parasitär von den deutschen Klassikern, ihm fehlt jede Originalität und Kühnheit, verwechselt Vielwisserei mit Bildung und trägt als jemand, dem jegliche Fähigkeit zur Selbsterkenntnis abgeht, nichts zur Kultur bei. In seiner „Vergötterung der Alltäglichkeit“ ist er nichts weiter als ein Anwalt des Bestehenden. „Es kann nur eine Verwechselung sein, wenn man von dem Siege der deutschen Bildung und Kultur spricht, eine Verwechselung, die darauf beruht, dass in Deutschland der reine Begriff der Kultur verloren gegangen ist. Kultur ist vor allem Einheit des künstlerischen Stiles in allen Lebensäußerungen eines Volkes. Vieles Wissen und Gelernthaben ist aber weder ein nothwendiges Mittel der Kultur, noch ein Zeichen derselben und verträgt sich nöthigenfalls auf das beste mit dem Gegensatze der Kultur, der Barbarei, das heißt: der Stillosigkeit oder dem chaotischen Durcheinander aller Stile. In diesem chaotischen Durcheinander aller Stile lebt aber der Deutsche unserer Tage.“29 Es ist dieser von Nietzsche bloß negativ-beschreibend vorgetragene, nirgends aber konkretisierte Begriff der Kultur als „Einheit des künstlerischen Stiles in allen Lebensäußerungen eines Volkes“, der zu einem letztlich utopischen Leitmotiv der Kulturkritik avancierte und Vorstellungen sowie Konkretisierungsversuche zur Gestaltung des Lebens als eines „Gesamtkunstwerkes“ motivierte. Darin ist der Einheitsgedanke ausgesprochen, der in mannigfaltiger Variation, Verzerrung sowie politischer Indienstnahme immer wieder auftaucht. – Dieser auf den Begriff „Volk“ bezogene kulturelle Einheitsgedanke steht bei Nietzsche selbst in einem deutlichen Widerspruch zu seiner vehementen Kritik am Nationalgedanken und seinem Plädoyer für eine europäische Kultur und Gesinnung. Eine besondere Wirkung ging von der Zweiten unzeitgemäßen Betrachtung „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ aus. Sie ist eine lebensphilosophische Abrechnung 27
Siehe: ebd., S.50f Linse, Ulrich (Hsg.) (1983): Zurück, o Mensch, zur Mutter Erde. Landkommunen in Deutschland 1890-1933, München: dtv (siehe dort S.26ff) 29 Nietzsche, Friedrich (1980): Werke in vier Bänden, Wien: Caesar; Band III, S.10f 28
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mit der sich als objektiv gebenden historischen Wissenschaft und der mit historischem Wissen überbürdeten Bildung. „Die Geschichte als reine Wissenschaft gedacht und souverän geworden, wäre eine Art von Lebens-Abschluss und Abrechnung für die Menschheit. Die historische Bildung ist vielmehr nur im Gefolge einer mächtigen neuen Lebensströmung, einer werdenden Cultur zum Beispiel, etwas Heilsames und Zukunft-Verheissendes, also nur dann, wenn sie von einer höheren Kraft beherrscht und geführt wird und nicht selber herrscht und führt. Die Historie, sofern sie im Dienste des Lebens steht, steht im Dienste einer unhistorischen Macht und wird deshalb nie, in dieser Unterordnung, reine Wissenschaft, etwa wie die Mathematik es ist, werden können und sollen. Die Frage aber, bis zu welchem Grade das Leben den Dienst der Historie überhaupt brauche, ist eine der höchsten Fragen und Sorgen in Betreff der Gesundheit eines Menschen, eines Volkes, einer Cultur. Denn bei einem gewissen Uebermaass derselben zerbröckelt und entartet das Leben und zuletzt auch wieder, durch diese Entartung, selbst die Historie. Dass das Leben aber den Dienst der Historie brauche, muss eben so deutlich begriffen werden als der Satz, der später zu beweisen sein wird - dass ein Uebermaass der Historie dem Lebendigen schade.“30 Nietzsche unterscheidet drei lebensdienliche „Arten der Historie“: x
x
x
die monumentalische als die Vergegenwärtigung einstiger Größe im Horizont einer möglichen zukünftigen Größe, „sie gehört ihm (dem Lebendigen – E.S.) als Tätigen und Strebenden“: etwa in dem Sinne: auch wir können in der Zukunft etwas neues Großes schaffen; die antiquarische; sie gehört dem Lebendigen als „... dem Bewahrenden und Verehrenden, dem, der mit Treue und Liebe dorthin zurückblickt, woher er kommt, worin er geworden ist; durch diese Pietät trägt er gleichsam den Dank für sein Dasein ab. Indem er das von Alters her Bestehende mit behutsamer Hand pflegt, will er die Bedingungen, unter denen er entstanden ist, für solche bewahren, welche nach ihm entstehen sollen – und so dient er dem Leben.“31 die kritische; sie gehört dem Lebendigen als „dem Leidenden und der Befreiung Bedürftigen“,32 sie muss sich gegebenenfalls ohne Pietät gegen das Antiquarische stellen, um das Monument der Zukunft zu bauen.
Nietzsche meint mit letzterem also nicht die kritische Auseinandersetzung im Horizont einer gerechteren, humaneren, den Ideen der Aufklärung verpflichteten Gesellschaft. Es ist vielmehr die Verherrlichung des Lebens als solches jenseits moralischer Wertungen, „Jenseits von Gut und Böse“ – wie ein weiteres Werk Nietzsches mit dem Untertitel „Vorspiel einer Philosophie der Zukunft“ lautet. Es ist ein Plädoyer der Befreiung lebendiger Kräfte aus den Fesseln der Vergangenheit – ein ungebändigter Vitalismus. Es lohnt sich, dieses lebensphilosophische Programm näher zur Kenntnis zu nehmen, werden doch hier Motive späterer avantgardistischer Polemiken gegen das Bestehende und radikale Propagierungsmodi des Neuen vorweggenommen. Es liefert zugleich auch die Gründe für ein vitalistisches „Reich der Jugend“, das sich später auf vielfältige Weise in Wandervogel, Jugendbewegung und Reformpädagogik artikulieren wird. Nietzsche: „Wenn sich der Sinn eines Volkes derartig verhärtet, wenn die Historie dem vergangnen Leben so dient, dass sie das Weiterleben und gerade das höhere Leben untergräbt, wenn der historische Sinn das Leben nicht mehr conservirt, sondern mumisirt: so stirbt der Baum, ... Aber selbst, wenn jene Entartung nicht eintritt, wenn die antiquarische Historie das Fundament, auf dem sie allein zum Heile des Lebens wurzeln kann, nicht verliert: immer bleiben doch genug Gefahren üb30 Vgl. ebd., S.35; in meinem Text aber – wegen der größeren Vollständigkeit – zitiert nach der GutenbergInternetversion 31 Ebd. S.39 32 Ebd., S.35
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rig, falls sie nämlich allzu mächtig wird und die andern Arten, die Vergangenheit zu betrachten, überwuchert. Sie versteht eben allein Leben zu bewahren, nicht zu zeugen; deshalb unterschätzt sie immer das Werdende, weil sie für dasselbe keinen errathenden Instinct hat – wie ihn zum Beispiel die monumentalische Historie hat. So hindert jene den kräftigen Entschluss zum Neuen, so lähmt sie den Handelnden, der immer, als Handelnder, etwelche Pietäten verletzen wird und muss. ... Hier wird es deutlich, wie nothwendig der Mensch, neben der monumentalischen und antiquarischen Art, die Vergangenheit zu betrachten, oft genug eine dritte Art nöthig hat, die kritische: und zwar auch diese wiederum im Dienste des Lebens. Er muss die Kraft haben und von Zeit zu Zeit anwenden, eine Vergangenheit zu zerbrechen und aufzulösen, um leben zu können: dies erreicht er dadurch, dass er sie vor Gericht zieht, peinlich inquirirt, und endlich verurtheilt; jede Vergangenheit aber ist werth verurtheilt zu werden – denn so steht es nun einmal mit den menschlichen Dingen: immer ist in ihnen menschliche Gewalt und Schwäche mächtig gewesen. Es ist nicht die Gerechtigkeit, die hier zu Gericht sitzt; es ist noch weniger die Gnade, die hier das Urtheil verkündet: sondern das Leben allein, jene dunkle, treibende, unersättlich sich selbst begehrende Macht. Sein Spruch ist immer ungnädig, immer ungerecht, weil er nie aus einem reinen Borne der Erkenntniss geflossen ist; ...Es gehört sehr viel Kraft dazu, leben zu können und zu vergessen, in wie fern leben und ungerecht sein Eins ist. ...Es ist immer ein gefährlicher, nämlich für das Leben selbst gefährlicher Prozess: und Menschen oder Zeiten, die auf diese Weise dem Leben dienen, dass sie eine Vergangenheit richten und vernichten, sind immer gefährliche und gefährdete Menschen und Zeiten. Denn da wir nun einmal die Resultate früherer Geschlechter sind, sind wir auch die Resultate ihrer Verirrungen, Leidenschaften und Irrthümer, ja Verbrechen; es ist nicht möglich sich ganz von dieser Kette zu lösen.“33 – Diese Kraft der Negation und des Aufbruchs zu neuen Ufern billigt Nietzsche der Jugend zu. Sie werde aber derzeit zu „den Zwecken der Zeit“, zum „Arbeitsmarkte“ abgerichtet.34 Kultur könne aber nur „aus dem Leben hervorwachsen und herausblühen“35, das „cogito, ergo sum“, die Begründung des Seins aus dem Denken, muss durch ein „vivo, ergo cogito“36, den Primat des Lebens, die Begründung des Denkens aus dem Leben, ersetzt werden. „Das Reich der Jugend“ wird kommen, wenn ihr Leben nicht mehr mit den falschen Bildungsmitteln erstickt wird, wenn sie nicht mehr wie ein Vogel, damit er schöner singe, geblendet wird, sondern leben darf nach ihrer Art: „Ja man weiss, was die Historie durch ein gewisses Uebergewicht vermag, man weiss es nur zu genau: die stärksten Instincte der Jugend: Feuer, Trotz, Selbstvergessen und Liebe zu entwurzeln, die Hitze ihres Rechtsgefühles herabzudämpfen, ...“.37 Allerdings wäre es verfehlt, Nietzsche als den bloßen Verkünder eines hemmungslosen, moralisch blinden Vitalismus’ zu nehmen. Man kann in seinem Aufweis, dass „Glück“, „Weisheit“, „Sittlichkeit“ des Einen an die Entwicklung der gleichen Werte im Anderen gebunden ist, durchaus den Ansatz zu einer universellen Ethik sehen, die über den instinktbefreienden Vitalismus hinausreicht. „Man kann nicht glücklich sein, so lange um uns herum Alles leidet und sich Leiden schafft; man kann nicht sittlich sein, so lange der Gang der menschlichen Dinge durch Gewalt, Trug und Ungerechtigkeit bestimmt wird; man kann nicht einmal weise sein, so lange nicht die ganze Menschheit im Wetteifer um Weisheit gerungen hat und den Einzelnen auf die weiseste Art in's Leben und Wissen hineinführt.“38 Darin drückt sich zweifellos eine Sehnsucht nach diesen Werten aus – und es wäre zu fragen, ob Nietzsche vielleicht im hitzigen „Rechtsgefühl“ und den anderen „Instincten“ der Jugend die Möglichkeit zur Schaffung einer humaneren Ordnung angelegt sah. Nietzsche also gegen 33
Ebd., S.42f (Zitat im Text nach Gutenberg-Internetversion) Ebd., S.57f 35 Ebd., S.67 36 Ebd., S.69 37 Nietzsche, Zweite Unzeitgemäße Betrachtung, Abschnitt 9 (zitiert nach Gutenberg-Internetversion) 38 Nietzsche, Vierte Unzeitgemäße Betrachtung, Abschnitt 4 (zitiert nach Gutenberg-Internetversion) 34
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Nietzsche? Gleichwohl gilt in wirkungsgeschichtlicher Sicht: der Glaube an die „dunklen“ Kräfte des Lebens, an das nur dem „erathenden Instinct“ zugängliche Werden, an die Notwendigkeit aufbauenden Zerstörens – all das sind irrationale Metaphern des Aufbruchs, durch die sich jedwede Erneuerer bestärkt fühlen konnten. Allerdings ist es nicht möglich, Nietzsche in den Dienst nationalistischer Zielsetzungen zu nehmen. Diese überlauten Töne seiner Zeit konnten ihn – als einen Propheten des Zukünftigen, der dessen verborgene Keime in der Gegenwart mit „Instinct“ aufspürt – nur peinlich berühren. Zu sehr kannte und schätzte er die Berührungen und Einflüsse zwischen den europäischen Kulturen: „Dank der krankhaften Entfremdung, welche der Nationalitäts-Wahnsinn zwischen die Völker Europas gelegt hat und noch legt, dank ebenfalls den Politikern des kurzen Blicks und der raschen Hand, die heute mit seiner Hülfe obenauf sind und gar nicht ahnen, wie sehr die auseinander lösende Politik, welche sie treiben, notwendig nur Zwischenakts-Politik sein kann, – dank alledem und manchem heute ganz Unaussprechbaren werden jetzt die unzweideutigsten Anzeichen übersehn oder willkürlich und lügenhaft umgedeutet, in denen sich ausspricht, dass Europa Eins werden will. Bei allen tieferen und umfänglicheren Menschen dieses Jahrhunderts war es die eigentliche Gesamt-Richtung in der geheimnisvollen Arbeit ihrer Seele, den Weg zu jener neuen Synthesis vorzubereiten und versuchsweise den Europäer der Zukunft vorwegzunehmen: nur mit ihren Vordergründen, oder in schwächeren Stunden, etwa im Alter, gehörten sie zu den ‚Vaterländern‘, – sie ruhten sich nur von sich selber aus, wenn sie ‚Patrioten‘ wurden. Ich denke an Menschen wie Napoleon, Goethe, Beethoven, Stendhal, Heinrich Heine, Schopenhauer: man verarge mir es nicht, wenn ich auch Richard Wagner zu ihnen rechne, über den man sich nicht durch seine eignen Missverständnisse verführen lassen darf, – Genies seiner Art haben selten das Recht, sich selbst zu verstehen. ... Europa ist es, das Eine Europa, dessen Seele sich durch ihre vielfältige und ungestüme Kunst hinaus, hinauf drängt und sehnt – wohin? in ein neues Licht? nach einer neuen Sonne? Aber wer möchte genau aussprechen, was alle diese Meister neuer Sprachmittel nicht deutlich auszusprechen wussten?“39 So konnte Plenge, ein Mitkonstrukteur der Kulturkriegsideologie des Ersten Weltkrieges, Nietzsche völlig zu Recht als „ein(en) gefährliche(n) Heilige(n) für die Idee von 1914“ bezeichnen.40 Erst de Lagarde und Langbehn haben den kulturkritischen Diskurs in eine nationalistische Richtung getrieben, indem sie – mit Nietzsche gesprochen – in „atavistische Anfälle von Vaterländerei und Schollenkleberei“ verfielen, welch Privileg Nietzsche wachen Geistern nur in ihren schwachen Stunden zubilligte. Paul de Lagarde (1827-1891) war ein weithin geschätzter Orientalist und Kulturphilosoph, dessen kulturkritisches Hauptwerk unter dem Titel „Deutsche Schriften“ 1878/81 erstmalig veröffentlicht und danach in veränderter, zu seinen Lebzeiten auch erweiterter, danach meist gekürzter und/oder politisch jeweils zweckdienlich neu kompilierter Form viele Male neu aufgelegt wurde. 1934 erschien eine Zusammenstellung mit Teilen aus seinem Werk, gleichsam als Katechismus einer neuen: „Nationale(n) Religion“.41 Für de Lagarde ist diese Religion die notwendige „Seele der Nation“, in der die „von Gott gewollte Eigenart der Nation“ ihren Ausdruck findet. Paul de Lagardes Kritik an der Zersplitterung des Bildungskanons und am Pluralismus der Bildungsideale seiner Zeit steht unter dem Vorzeichen des Versuchs, ein einheitliches Bildungsideal zur Geltung zu bringen, von dem er glaubt, dass es „aus den Dingen des täglichen Lebens erwachsen muss“.42 De Lagarde macht sich, obwohl ihm „Haar und Bart weiß sind“, zum Fürsprecher der Jugend „gegen die Alten“, weil die Jugend das richtige Wort selbst „weder hätte finden können, noch, falls sie es ja gefunden, hätte aussprechen dür-
39
Nietzsche, Friedrich (1980): Jenseits von Gut und Böse, in: Werke in vier Bänden, Wien: Caesar, S.260 Siehe Beßlich (2000), a.a.O., S. 187, Anm.237 de Lagarde, Paul (1934): Nationale Religion, Leipzig: Eugen Diederich 42 Vgl.: Scheibe, Wolfgang (1978): Die reformpädagogische Bewegung, Weinheim und Basel: Beltz, S.22f 40 41
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fen.“43 Und was bei Nietzsches Bild einer das reine Leben verkörpernden, aus den Fesseln des Überkommenen befreiten Jugend dem Inhalt nach unbestimmt bleiben muss, nimmt bei de Lagarde eine martialische Wendung. Von der Jugend weiß er (implizit den Krieg gegen Frankreich 1871 verherrlichend): „Sie will Krieg für ein konkretes Ideal führen, sie will Gefahr, Wagnis, Wunden, Tod, will nicht das Einerlei wiederkäuen, das ihre Großväter bereits gekaut haben.“44 Er betet als Stellvertreter der Jugend eine leuchtende Zukunft herbei: „Unser Brot für morgen gib uns heute: gib uns die dereinstigen Besitzes in Freuden sichere, ehrfürchtige Hoffnung auf eines neuen, noch nie dagewesenes Tages Licht und Arbeit.“45 Der Weg dorthin und der Abglanz des zukünftigen Lichts kann in den Texten de Lagardes aufgespürt werden. Er besteht aus einem Amalgam aus Elitismus, Herrenmoral, Führerideologie, Rassismus und Antisemitismus und bildet für ihn die „Grundlagen echter Bildung“, auf denen das „Ideal sittlicher Vollkommenheit“ zu suchen ist: „Bildung ist jedem zugänglich, der den einzigen Satz festhält, dass er jeden Abend besser zu Bette gehen muss als er morgens aufgestanden ist. Diese Anschauung der Sache setzt fortdauernde geistige Arbeit voraus, und darum hat sie keine Aussicht auf weitere Verbreitung. Aber Nationen bestehen nicht (die entgegensetzte Ansicht ist freilich die herrschende) aus Millionen: sie bestehen aus den Menschen, welche sich der Aufgabe der Nation bewusst, und darum imstande sind, vor die Nullen zu treten und sie zur wirkenden Zahl zu machen: aus diesem Grunde genügt es, wenn die Besten des deutschen Volkes die eben ausgesprochene Ansicht von der Bildung haben, und wenn der Staat, der doch nur in den Händen der Besten sein soll, sie zur Richtschnur seiner Einrichtungen nimmt. ... jeder Pädagoge (weiß), ...: dass es außerordentlich schwer ist, jemandem ein Verständnis für Dinge zu verschaffen, die gänzlich außer dem Bereiche seiner Anschauungen, seines Lebens liegen ... Es ist Missionaren vielfach aufgefallen, dass Negerknaben bis zu einer gewissen Stufe (meistens wurde mir das vierzehnte Lebensjahr genannt) sich sehr gut entwickeln, um dann völlig stehen zu bleiben. Ähnlich sind jüdische Schüler meist nur bis Sekunda ihren deutschen Mitschülern voraus: später bleiben sie fast stets hinter jenen ebensoweit zurück, wie sie früher ihnen voran waren. Alle diese Erscheinungen weisen darauf hin, ...., dass in gewissen Kreisen Bildung gar nicht oder nur in beschränkter Weise verbreitet werden kann.“46 „Volksbildung sehe ich nur in einem germanisch, das heißt aristokratisch, gegliederten Staatswesen für möglich an.“ Es muss endlich „Ernst“ gemacht werden mit all den „schönen Worten, so wird das Paradies auf Erden sein: fahrt fort Worte zu machen ohne Ernst, so werden wir bald in Nichts versinken.“47 Zu diesem Paradies gehört nicht die Sklavenarbeit in der Industrie zum Wohle der „Rüben, Kohlen- und Schnapsbarone und de(r) Börsenfürsten“. Angesichts der freudlosen Arbeit an der Maschine entdeckt er die Menschlichkeit der „Nullen“ wieder. „Es ist von niemandem zu verlangen, dass er Jahr aus Jahr ein nichts tue, als die Maschine stellen und beaufsichtigen, welche Briefumschläge faltet ... An dergleichen wird das Herz nicht satt: der Mensch will Ganzes haben. Weil das Gute Harmonie ist, darum liegt in uns, den zum guten Gotte hin Geschaffenen, der Trieb Künstler zu sein und eine lebhafte Abneigung gegen die Mechanik. ... Die Industrie unserer Tage braucht Menschen überhaupt nur da, wo sie Maschinen nicht anstellen kann, und sie braucht die Menschen möglichst als Maschinen, dass heißt, sie entkleidet sie ihres Charakters als Menschen.“ Und er malt – als (implizite) Warnung an die „Fabrikherren“ – das Schreckgespenst einer gewalttätigen Revolution an die Wand: „Wird der Mensch aber als Maschine verwandt, so darf er sich zur gelegenen Zeit schon einmal darauf besinnen, dass seine Kamm- und Triebräder den zu zerquetschen und zu zermalmen in der Lage sind, den sie 43
de Lagarde, Paul (o.J.): An die Deutschen. Eine Auswahl aus den „Deutschen Schriften“, Berlin: Deutsche Buch-Gemeinschaft, S.344 Ebd. S.340 45 Ebd., S.345 46 de Lagarde, Paul (1914): Deutscher Glaube. Deutsches Vaterland. Deutsche Bildung, Jena: Diederichs, S.173f und (sittliches Ideal), S.176 47 Ebd., S.198f 44
Zivilisationskritik, Lebens- und Erziehungsreform 59
zu fassen bekommen.“ Als Ausweg aus der Misere deutet de Lagarde zwei Wege an: die Rückkehr zum Handwerk oder die Hinwendung zur Religion; die Schaffung des „Ganzen“ also durch die Restauration vorindustrieller, überschaubarer Verhältnisse oder durch die Hinordnung zum „Altar“, zu einem alles überwölbenden Jenseits, in dessen Licht die Leiden der Gegenwart erträglicher würden. Im Politischen erhebt er den Anspruch nach einem „Definitivum“, „ein Jahrhundert Ruhe und Gedeihen“, von dem, wie die „ewigen Zänkereien der Regierungen und Abgeordneten“ zeigen, die deutsche Geschichte „der letzten vierzig Jahre“ noch nichts gesehen hat. Nur so kann der atemlose Zustand eines „zwischen unsinnigem Luxus und bettelhafter Armut umgetriebene(n) Geschlecht(s)“ beendet werden und der „einzelne Mensch so auch ein Volk glücklich“ sein.48 In dem zweiteiligen Gedicht „Rom und Italien“, in dieser Form befreit von jeglicher argumentativen Rücksicht, enthüllt de Lagarde seine Vision von „Ruhe und Gedeihen“. In Rom sieht er nicht mehr wie die reisenden Philosophen, Dichter und Künstler des Nordens die Quellen der europäischen Kultur, sondern nur noch „sehr viel Getrümmertes“, „Luft zum Ersticken“, Elend, Not, Heuchelei, Hässlichkeit, „unweibliche Weiber und spuckende Männer“: „das ist Rom, die ewige Stadt/die noch keinem Gesunden gefallen hat.“ Unserem Gesunden dagegen gefällt es vor den Toren der Stadt, im Schweigen der Campagna: „ernst blickende Männer, arbeitsame Frauen:/da darfst du dich freuen, da darfst du vertrauen:/da wächst die Zukunft hell und jung,/nicht auf dem Miste der Erinnerung./Auch Italien vollkommen auf dem Berg‘ und im Tal,/wo die Bildung nicht hinkam mit ihrer Qual.“49 Stadtfeindlichkeit und Agrarromantik, die Entgegensetzung von „Rom“ und „Italien“, Stadt und Land als der Gegensatz zwischen kulturellem Zerfall und Zukunftshoffnung, Krankheit auf der einen – Gesundheit auf der anderen Seite, Ratio gegen ursprüngliche Lebendigkeit: in diesem poetischen Machwerk sind die Grundzüge einer spezifischen Krisenstimmung eingefangen, die zu den Motiven zahlreicher Reformbewegungen im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert gehören. Die große Faszination, die von de Lagarde, „dem Vater einer konservativen Revolution“, auf die Menschen ausging, sieht Nipperdey in einer „Doppelheit“, in der Mischung zwischen Zivilisationskritik und germanischer Ideologie: „die Verzweiflung über die Modernitätsverluste, den Moralverzehr durch Erfolg, den Kältetod durch funktionierende Organisation, die Selbstzerstörungspotentiale der Kultur, das alles gesehen mit kritischem Scharfblick – und dann die germanische Ideologie.“50 Beides konnte getrennt voneinander oder auch in einer neuartigen Mischung rezipiert und in sehr unterschiedliche politische oder lebensreformerische Strömungen einfließen. Julius Langbehn (1851-1907) kann vielleicht als der einflussreichste Vertreter einer konservativen Kulturkritik seiner Zeit angesehen werden. Fritz Stern widmet ihm in seinem Buch „Kulturpessimismus als politische Gefahr“ unter der Überschrift „Julius Langbehn und der völkische Irrationalismus“ ein umfangreiches Kapitel.51 Langbehn veröffentlichte 1890 ein Buch mit dem Titel „Rembrandt als Erzieher“, das in der Jugendbewegung (s.u.) zu einem Kultbuch avancierte. Langbehn wurde mit diesem Buch neben anderen auch ein Wegbereiter der „Kunsterziehungsbewegung“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts – und weiter unten wird daher noch einmal auf ihn einzugehen sein. Im Spiegel der Verteidigungsrede eines Anhängers wird schon die Tendenz des Werkes erkennbar. „‘Jene Verstandesnaturen, die an den Ideen der Aufklärung und des Liberalismus kranken, bezeichneten es (das genannte Buch 48
Ebd., S.161ff Ebd., S.202 50 Nipperdey (1990), a.a.O., S.826; ebd. S.825f auch eine konzise Zusammenfassung der Ideen und der Wirkungsgeschichte de Lagardes. 51 Stern, Fritz a.a.O.. Neben Langbehn werden in dem Buch noch ausführlich behandelt: Paul de Lagarde und Moeller van den Bruck. 49
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Langbehns – E.S.) als ‚völlig zerfahren‘ als ‚gemeines Pamphlet‘, ja als ‚verrückt‘,‘ schrieb ein Anhänger und späterer Herausgeber des Buches, einer aus der Jugendbewegung. Kritikern gegenüber ... nahm er Langbehn in Schutz und nannte ihn ‚Seher, Sendboten, Künder, Genius, Adelsgeist‘. Nötig war das nicht. Denn das Aphorismenwerk, 1890 anonym erschienen mit der Unterzeile ‚Von einem Deutschen‘ hatte sofort durchschlagenden Erfolg (40 Auflagen in zwei Jahren).“52 Im Zusammenhang mit der Kulturkritik im allgemeinen soll hier nur summarisch auf sein Denken hingewiesen werden. Nipperdey hat dazu eine konzise Zusammenfassung gegeben. „Bei Langbehn geht es wieder um die Kritik der Moderne, die im deutschen Reich ‚täglich zunehmende Fäulnis‘, das soziale Beben: Entfremdung und Entwurzelung, Verlust an Innerlichkeit und Vereinzelung, ..., mit einer besonderen Wendung zugespitzt gegen den Intellektualismus, die Buch- und Buchstabenkultur, den Szientismus und Technizismus, ... . Dagegen geht es um eine Erneuerung der schöpferischen Lebenskraft, der Sponaneität und Intuition, der Ursprünglichkeit und Einfachheit, des Sinns für ‚Tiefe‘, die heroische Größe, die Widersprüchlichkeit des Lebens. Das aber heißt für Langbehn: um die Erneuerung des Lebens durch die Kunst; Kunst ist der Ort der Wahrheit und des elementaren Lebens – gegen die intellektualisierte Zivilisation. Die Welt – Kultur, Gesellschaft, Politik – muss vom ästhetischen her erneuert werden. Wahre Kunst nun ist mystisch an Natur, an Landschaft und Heimat gebunden, und damit an das durch Natur und Geschichte bestimmte einfache Volk. Das ist der Weg, auf dem der vereinsamte einzelne wieder gesunden kann, einwurzelt und sich selbst verwirklicht: Wirkliche Individualität, noch der höchste Wert unseres Ästheten, ist nur möglich in bezug zum Volk. Darum wird Rembrandt, der ‚Niederdeutsche‘, der Maler des Hell-Dunkel, der Widersprüche, der ‚Tiefe‘ zum konstruierten Gegensymbol gegen die eigene Zeit. Diese regionalistische Kunstreligion aber ist nun radikal-national: Es geht um das Deutsche, das Germanische ...; die Modernität zerstört nicht nur die Seele, sondern insonderheit die germanische Seele (das scheint die Höchstform der Seele). Und Volk wird schnell, wenn auch etwas unklar, rassisch gedeutet; ... . Volk wird dann auch politisch gedeutet: organische, nicht-antagonistische Gemeinschaft. Das bestimmt die Gegnerschaft gegen egalitäre Demokraten und offene Gesellschaft, Parteien, Klassen, Kapitalismus und Sozialismus, (das bestimmt ferner – E.S.) die Utopie einer ständischen Ordnung, in der Tugend und Moral – und imperiale Macht – sich von selbst verstehen.“53
3
Exkurs nach Amerika und England mit Carpenters Werk „Die Zivilisation: ihre Ursachen und ihre Heilung“
Als im Jahre 1903 das in der Überschrift genannte Werk von Edward Carpenter (1844-1924) in autorisierter Übersetzung erschien, hatte das Original „Civilization: its Cause and Cure“ seit der Erstauflage 1889 in England bereits die sechste Auflage erreicht. Verleger, Übersetzer und Autor hatten vermutlich gehofft, dass diesem Buch auch im deutschsprachigen Raum ein breites Echo beschieden sein würde. Diese Hoffnung hat sich – wahrscheinlich – nicht erfüllt. Zwar war mit den Werken von de Lagarde und Langbehn und mit der beginnenden NietzscheRezeption um die Jahrhundertwende ein fruchtbarer Boden für eine Ausweitung des kulturkritischen Diskurses gegeben; Carpenters Werk fehlten jedoch völlig die schrillen nationalistischen Obertöne und Schwarz-Weiß-Malereien, die diesem Diskurs mit de Lagarde und Langbehn eine spezifische Färbung und popularistische Attraktivität gegeben hatten. „Vaterländerei“ sowie „Bodenkleberei“ und herabsetzende Äußerungen gegenüber anderen Völkern und Nationen finden sich in dem Werk nicht. Es handelt sich vielmehr um den Entwurf einer uni52
Hepp, Corona (1987): Avantgarde. Moderne Kunst, Kulturkritik und Reformbewegungen nach der Jahrhundertwende, München: dtv, S.63f 53 Nipperdey, a.a.O., S.827
Zivilisationskritik, Lebens- und Erziehungsreform 61
versellen Kulturtheorie. Carpenter begreift die moderne Zivilisation respektive Kultur (die beiden Begriffe werden bei ihm weitgehend synonym verwendet) als geschichtlich notwendigen Verlust einer in vorgeschichtlicher Zeit gegebenen unbewussten Harmonie der Menschen untereinander und mit der Natur – eine Harmonie, die über eine Auflösung der sich kulminierenden Widersprüche der Zivilisation auf einem höheren Niveau (d.h. bei Carpenter u.a.: durch die Entwicklung eines höheren, kosmischen Bewusstseins und nun unter sinnvoller Anwendung technischer sowie wissenschaftlicher Errungenschaften) in der Zukunft bewusst wieder erreicht werden wird. Diesen Vorstellungen liegt das Bild einer dreistufigen Entwicklung zugrunde. Sie hat ihre Wurzeln in religiösen Vorstellungen und Hoffnungen: „Paradies“ als harmonischer Urzustand – „Vertreibung“ daraus bzw. zivilisationsbedingte Vernichtung desselben durch den Menschen selbst – „Erlösung“ durch Höherentwicklung des Menschen und der Gesellschaft. Carpenters Entwurf ist nun keineswegs nur eine beliebige Einzelstimme im kulturkritischen Diskurs. Es spiegeln und bündeln sich in ihm bemerkenswerte Traditionen des westlichen Denkens im Umgang mit der Moderne. In seltener Klarheit werden Motive sichtbar, die als tragende oder mit-tragende noch hinter den nationalistisch-chauvinistischen Varianten des kulturkritischen Diskurses sowie – und vor allem – in den konkreten Bemühungen zur Gesellschafts- und Lebensreform um die Jahrhundertwende erkennbar sind. Allerdings: auch Carpenter hat kein rationales Konzept des Interessenausgleichs. Zu sehr ist er vom Gedanken der Einheit und Harmonie beseelt. Seine Vision ist die endgültige gewaltlose Aufhebung der gesellschaftlichen mit den intra-individuellen Widersprüchen in einem Garten Eden der Zukunft und nicht ihr – wie auch immer zu vermittelnder – Ausgleich in einer immer auch widersprüchlichen Wirklichkeit. Die sozialen und mentalen Folgen der industriellen Revolution bilden das große Thema in den modernen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts. Zwischen Amerika und England sowie Kontinentaleuropa bestand ein reger Austausch, der sowohl das Denken als auch zahlreiche soziale Experimente befruchtete. Die Produktionskommunen und Siedlungsgenossenschaften des späten 19. Jahrhunderts tragen den Stempel dieses internationalen Diskurses. Frederik van Eeden etwa knüpfte mit der Namensgebung seiner 1898 bei Utrecht (Holland) gegründeten Produktionskommune „Walden“ bewusst an den Amerikaner Henry Thoreau an. Die Europäer John Ruskin, Robert Owen und Charles Fourier waren bis nach Amerika wirkende Impulsgeber für konkrete Versuche, die mit dem „Manchesterkapitalismus“ einhergehenden gravierenden Missstände durch soziale Reformen zu überwinden. Schließlich ist der Sozialismus und Kommunismus nur als internationale Bewegung zu verstehen. In England und Nordamerika formierten sich in engem Kontakt mit kontinentalen Denktraditionen zwei bedeutende philosphisch-litararische Strömungen, die auch in Carpenters Entwurf transparent werden: der Transzendentalismus als universeller Einheitsglaube und der Kommunismus als (innerweltlicher) Erlösungsglaube. In beiden Richtungen ist ein tiefer Glaube an den gesellschaftlichen Fortschritt präsent, der durch die Evolutionslehren der Biologie zusätzliche Impulse und eine spezifische Ausprägung erhielt, nämlich als vermeintlich wissenschaftlich ausgewiesener Glaube an eine Höherentwicklung des Menschen, und zwar a) biologisch-generativ gedacht als Fortsetzung der Evolution des Lebens bei der menschlichen Gattung (Stichworte: „Neuer Mensch“, „Übermensch“), b) soziologisch-historisch gedacht als friedliche oder – die militant-kommunistische Variante – am Ende revolutionäre Entwicklung hin zur gerechten, klassenlosen Gesellschaft und c) in mancherlei dialektisch konzipierten Mischformen biologisch-generativer und soziologisch-historischer Theoriemomente. Carpenter führt diese Denkbewegungen in seinem Werk, zum Teil implizit, zum Teil mit direkten Bezugnahmen zu repräsentativen Autoren, zusammen.
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Der Transzendentalismus zielte auf eine spirituelle Erneuerung des Menschen und der Menschheit und auf eine Umgestaltung und Weiterentwicklung der Gesellschaft. Der ursprünglich im Religiösen wurzelnde Erlösungsglaube konnte – als Folge der Wirksamkeit sozialistischer und kommunistischer Ideen u.a. von Marx, Engels und Lassalle – die Perspektive eines militanten oder auch pazifistischen Sozialismus bzw. Kommunismus annehmen; das heißt in der Zielrichtung: Etablierung einer egalitären Gesellschaft, in der die materiellen und geistigen Ressourcen allen Menschen gleichermaßen zugänglich sind. – Mit den Zielen dieser Denkbewegungen sind die Eckpunkte eines Spannungsfeldes markiert, innerhalb dessen und oft in Verbindung miteinander sich im 19. Jahrhundert wichtige Debatten sowie soziale Entwicklungen und Experimente abspielten. Transzendentalismus sowie (literarischutopischer) nicht-revolutionärer Kommunismus, und zwar vor allem in ihren amerikanischangelsächsischen Varianten – das sind die Strömungen, die Carpenters zivilisationskritische Kulturtheorie sowie seine lebensreformerischen Visionen fundieren, und darin liegen auch die Gründe für die Universalität seines Ansatzes. Carpenters Werk kann so als Kristallisationspunkt eines gesellschaftskritisch fundierten utopisch-reformerischen Denkens betrachtet werden. Es eignet sich ausgezeichnet als „Fenster“ zur außerordentlich facettenreichen englischamerikanischen „Landschaft“ der Kultur- respektive Zivilisationskritik. Die wichtigsten Vertreter der – sich selbst auch so bezeichnenden – Transzendentalisten sind Ralph Waldo Emerson (1803-1882), Henry David Thoreau (1817-1862), Margaret Fuller (1810-1850) und Amos Bronson Alcott (1799-1888). Ihre gemeinsamen Wurzeln lassen sich von religiösen Strömungen (Pietismus) über die deutsche Romantik und Mystik, den deutschen Idealismus bis hin zum Neuplatonismus (Plotin) und Platon zurückführen. In ihrem Ausgangspunkt handelt es sich um eine entschiedene Abkehr von der in New England herrschenden religiösen Strömung des Unitarismus, der für die jungen Intellektuellen keine befriedigende Antwort gab auf die sich verschärfenden gesellschaftlichen Gegensätze, auf die Folgen von Säkularisierung, Industrialisierung, Urbanisierung und das Vordringen der technologisch orientierten Naturwissenschaften. In seinem Kern ist der Transzendentalismus ein säkularer Glaube an eine allumfassende – das All umfassende – Verbundenheit, deren Urgrund in der Identität des individuellen Geistes mit dem Geist des Ganzen liegt. Er kommt ohne einen spezifischen Gottesbegriff und ohne einen Begriff des Jenseits’ aus, bekämpft aber jene Konzepte nicht. Es ist ein „rationaler Glaube“, gewonnen über ein schauendes Erkennen des Zusammenhangs der Formen im Prozess der Entwicklung des Menschen. Als Evangelium der Transzendentalisten kann das Gedicht „Nature“ von Emerson angesehen werden. Nature
Natur
A subtle chain of countless rings The next unto the farthest brings; The eye reads omens where it goes, And speaks all languages the rose; And, striving to be man, the worm Mounts through all spires of form
Eine feine Kette zahlloser Ringe Verbindet die nächsten und fernsten Dinge; Der Blick liest Omen, wohin er auch fällt, Die Rose spricht alle Sprachen der Welt; Und durch die Spirale der Formen auf Erden, Windet der Wurm sich, zum Menschen zu werden.
Ralph Waldo Emerson, 1849
(Übersetzung von Harald Kiczka54)
Diese Naturvorstellung war durchaus mit dem Gedanken der Evolution, der das anthropozentrische und biblisch-religiöse Weltbild im 19. Jahrhundert so nachhaltig erschüttert hatte, in Einklang zu bringen. Da der Transzendentalismus nicht durch die biblische Schöpfungslehre dogmatisch gebunden ist, konnte die Evolutionstheorie in ihren verschiedenen Spielarten 54
In: Emerson, R.W.(1982): Natur, hsg. u. neu übersetzt von H. Kiczka, Zürich: Diogenes (ohne Seitenangabe)
Zivilisationskritik, Lebens- und Erziehungsreform 63
(Chevalier de Lamarck – 1744-1819; Charles Darwin – 1809-1882) als naturwissenschaftliche Bestätigung seiner Grundannahme verstanden werden. Die Vorstellung der genealogischen Höherentwicklung der Arten aus einfachen und immer komplexer werdenden Vorformen bis hin zum Menschen legt den Gedanken einer Verbundenheit aller Lebewesen und darüber hinaus den Gedanken einer Verbindung mit dem Kosmos als der materiellen Voraussetzung der gesamten Entwicklung geradezu nahe. Die Evolution erscheint dann als ein Werkzeug Gottes oder des Geistes, das „das nächste mit dem fernsten“ gleich einer „feinen Kette zahlloser Ringe“ in Verbindung bringt. Diese spirituelle Haltung bedeutete nun keineswegs eine Abkehr von der Welt – im Gegenteil. Als Haltung einer allumfassenden Verbundenheit ist sie sensibel für alle Formen der Ausbeutung, die als Negierung oder gar Zerstörung dieser Verbundenheit erscheinen; sie impliziert geradezu eine hohe Empathiefähigkeit, erkennt im Leiden des Anderen das eigene Leid. Die Transzendentalisten standen an der Spitze gesellschaftskritischer, –reformerischer und emanzipatorischer Bewegungen. Sie leisteten Bedeutendes auf dem Gebiet des Schulwesens. Die meisten ihrer Vertreter waren selbst zeitweise als Lehrerinnen und Lehrer tätig und in ihrer Unterrichtsweise und in den von ihnen gegründeten Schulen wurde vieles von dem vorweggenommen – wie interessegeleitetes, freudiges, partizipatorisches und an demokratischen Werten orientiertes Lernen – , was heute allgemein mit dem Begriff „humane Schule“ assoziiert wird. Bei der Frauenemanzipation und in der Anti-Sklaverei-Bewegung, beim Tier- und Umweltschutz gehörten führende Repräsentanten und Anhänger der Transzendentalisten zu den Mitstreitern. Durch die Gründung von (oft nur kurzlebigen) Landkommunen auf der Grundlage von Gemeinschaftseigentum und der Integration von körperlicher und geistiger Arbeit versuchten sie, Beispiele einer Lebensform ohne Entfremdung und Ausbeutung zu entwickeln. Von diesen Versuchen gingen Impulse zu ähnlichen Initiativen in Europa aus.55 (Insgesamt gab es im 19. Jahrhundert in Amerika mehr als 600 Kommunen unterschiedlicher, meist religiöser Provenienz „mit utopischem Charakter, in denen etwa 100.000 Menschen lebten“56. Bezogen auf die relativ niedrige Zahl der Bevölkerung, 1850: 23 Millionen, war das eine beachtliche Anzahl.) Margaret Fuller setzte sich als eine der wenigen in einer Zeit brutaler Vertreibungen für die amerikanische Urbevölkerung ein. Alcott propagierte die gewaltfreie Gesellschaft und organisierte gewaltlose Formen des Widerstandes. Thoreau sollte mit seinem Wirken und mit seinem Werk ein Vorkämpfer eines einfachen, naturverbundenen Lebens werden. Bei seinem Aufenthalt in der Natur in „Walden Pond“ erforscht er die materiellen Bedingungen eines solchen Lebens unter der Frage „Wie viel ist genug?“ und erkundet die spirituelle Dimension, die in dem Gedicht seines Freundes Emerson zum Ausdruck kommt. In seinem Essay „Walking“ beschreibt er die Wildnis als einen zu hütenden Schatz, der gegen ausbeuterische Interessen zu verteidigen ist. Und mit seinem Essay „Civil Disobedience“, „Ziviler Ungehorsam“, prägt er 1849 einen Begriff, der in der Folge und bis heute mehr oder weniger bewusst im Spiel ist, wenn es gilt, die Gebote des eigenen Gewissens gegen staatliche oder regierungsamtliche Vormacht oder wirtschaftliche Macht durchzusetzen. Der Transzendentalismus, als solcher primär auf die spirituelle Seite des Menschen gerichtet, kann sich also mit dem Gedanken einer gesellschaftlichen Entwicklung bzw. Reform verbinden. Er ist so ein wichtiger Vorläufer des sogenannten Progressivismus des frühen 20. Jahrhunderts. „American Progressivism“ bezeichnet eine wichtige Bewegung zur Demokratisierung und Humanisierung der Gesellschaft unter den Präsidenten Theodore Roosevelt und
55
Vgl. Armytage, W.H.G. (1961): Heavens Below. Utopian Experiments in Englang 1560-1960, London: Routledge and Kegan Paul; darin besonders S.171ff: Ham Common and the Transcententalists 56 Peters, Jan (1980): Die Geschichte alternativer Projekte von 1800 bis 1975, Berlin: Verlag Klaus Guhl, S.14. Darin auch folgender wichtiger Literaturhinweis: Ungers, G. und O.H. (1972): Kommunen in der neuen Welt, Köln
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Woodrow Wilson. Auch die amerikanische „Progressive Education“ des beginnenden 20. Jahrhunderts ist in dieser Linie zu sehen. Carpenters Vision geht jedoch über das Maß einer Entwicklung hinaus, die mit den herkömmlichen Mitteln der Politik erreicht werden könnte. Er beschreibt eine Zukunft, die eine tiefgreifende Transformation des Individuums und seines Lebensstils zur Voraussetzung hat. Er steht so in der jahrhundertealten Tradition des utopischen Denkens, das in den achtziger und neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts mächtige Impulse erhalten hatte. Der wichtigste Impuls dürfte wohl die Veröffentlichung des utopischen Romans „Looking Backward: From 2000 to 1887“ (1888) von Edward Bellamy (1850-1898) gewesen sein, der für das Jahr 2000 eine sozialistische, bezüglich der gesellschaftlich notwendigen Industriearbeit bürokratisch genau geregelte, friedvolle und glückliche, sich der Bildung, sich zahlreichen sozialen und künstlerischen Beschäftigungen widmenden Gesellschaft von ökonomisch gleich gestellten Menschen beschreibt.57 Es ist die Antwort Bellamys auf die sich zuspitzenden gesellschaftlichen Unruhen in den urbanen Zentren (Chicago und Boston), auf den zeitweise gewalttätigen und blutigen Konflikt zwischen Arbeit und Kapital in den siebziger und achtziger Jahren. Entsetzt über die Unruhen und das Blutvergießen sieht Bellamy – anders als die Marxisten – das Kommen der klassenlosen, befriedeten Gesellschaft nicht in der Revolution, sondern in einem schrittweisen Übergang vom Monopolkapitalismus zu einer in nationalem Besitz befindlichen, von der Regierung kontrollierten Ökonomie.58 Bellamy hatte mit seinem Werk die politische Phantasie der Zeitgenossen beflügelt und er selbst widmete sich in den Folgejahren der politischen Propagandaarbeit. Es bildeten sich bald in allen Landesteilen zahlreiche (insgesamt über 160) „National Clubs“, die für Bellamys Ideen eintraten. Der erste entstand in Boston bereits im Erscheinungsjahr des Romans. (Der Begriff „National Club“ hat keine nationalistischen Konnotationen und bezieht sich lediglich auf die angestrebte gesellschaftliche Verfassung der Ökonomie.) – Der Roman, der bald in über zwanzig Fremdsprachen vorliegt, wird von zahlreichen Historikern und Philosophen, u.a. von John Dewey, als eines der einflussreichsten Werke für Jahrzehnte bezeichnet.59 (Die erste deutsche Übersetzung besorgte die Kommunistin Clara Zetkin.) Gleichsam als anarchistischer Gegenentwurf zu Bellamys zentralistisch organisiertem Staatssozialismus ist der utopische Roman „News from Nowhere“60 des Engländers William Morris (1834-1896) zu lesen, erschienen im Jahre 1890, also ein Jahr nach Carpenters „Civilization“. Morris hatte bereits vorher, seit Mitte der achtziger Jahre, nachdem er längst mit seinem neoromantischen lyrischen Werk zu hohem Ansehen gekommen war, durch zahlreiche Vorträge, Lieder („Chants for Socialists“ 1884/85) und Veröffentlichungen in der sozialistischen Zeitschrift „The Commonweal“ für sozialistische Ideen geworben und seine Ideen dürften den kulturkritischen und sozialreformerischen Kreis der 1883 gegründeten „Fellowship of the New Life“ stark beschäftigt haben. Carpenter gehörte diesem Kreis an. Tatsächlich zeigen sich bei Carpenter in vielen Punkten Übereinstimmungen mit Morris und „News from Nowhere“ kann als die Summe des gesellschaftskritischen und sozialreformerischen Denkens Morris‘ und zugleich als wichtige, vielleicht neben Bellamy sogar die wichtigste, Einflussgröße des „real-utopischen“ Denkens im viktorianischen England betrachtet werden. 57
Bellamy, Edward (1888): Looking Backward: From 2000 to 1887, Internetversion (http://xroads.virginia.edu) Vgl.: Baer, John W. (1992): The Pledge of Allegiance: A Centennial History, 1892-1992, Annapolis (Internetversion); darin „Chapter Three: American Socialists and Reformers“ 59 Zur Wirksamkeit Bellamys und der „National Clubs“, ihr Einfluß auf die „Progressive Era“ unter den Präsidenten Roosevelt und Wilson sowie auf John Dewey vgl. ebd. 60 Morris, William (1890/1918): News From Nowhere, or, An Epoch of Rest Being Some Chapters From a Utopian Romance, New York, Bombay, Calcutta, and Madras: Longmans, Green and Co., London (vollständig im Internet. Es gibt mehrere Internetausgaben, Februar 2002) 58
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Als Mitglied der ‚Socialist League‘ bekämpfte Morris „die Missstände des viktorianischen Maschinenzeitalters (Umweltprobleme, Verstädterung, Konsumkitsch usw.), besonders das Prinzip der Arbeitsteilung, die den Menschen unter das Joch der Maschine zwinge, ihn unfrei mache und dem Produkt seiner Arbeit entfremde. Beseelt vom Glauben an den künstlerischkreativen Drang im freien Menschen, strebte Morris eine ideale Gesellschaft an, in der dieser Impuls eine positive Umwelt- und Lebensgestaltung bewirken würde. Der Weg dorthin sollte, in Anlehnung an den berühmten Slogan der Französischen Revolution, von der Brüderlichkeit der Arbeiter über die Gleichheit zur Freiheit führen. Die heillose Zerstrittenheit seiner politischen Freunde (...) veranlasste Morris, mit literarischen Mitteln das gemeinsame Ziel anzumahnen.“ Morris schildert einen blühenden Garten Eden, in dem sämtliche Übel der Zivilisation beseitigt sind, in dem ganzheitliche Arbeitsprozesse nach dem Vorbild elementaren Handwerks das kreative Interesse des Menschen und den natürlichen Bedarf aller an materiellen Gütern befriedigen. „Neben der Handarbeit ist die Wissenschaft die wichtigste Beschäftigung: Sie hat umweltfreundliche Energiequellen geschaffen, und hochentwickelte Maschinen erfüllen lästige, das Kunstgefühl des Menschen nicht ansprechende Aktivitäten. ... Morris‘ Anliegen war es jedoch nicht, eine gänzlich durchdachte, umfassende und wissenschaftlich fundierte Utopie vorzulegen. ... Er hielt lediglich spezifischen Missständen seiner Zeit ein positives Spiegelbild entgegen, wobei sein Blick besonders dem Wohlergehen und der Freiheit des Individuums galt.“61 Mit seiner Kritik des industriell bedingten Formverfalls und seinem Eintreten für ästhetisch ansprechende, handwerklich gefertigte Produkte wurde Morris – zusammen mit dem bedeutendsten Kunstkritiker des viktorianischen England, Wirtschaftstheoretiker und Sozialreformer John Ruskin (1819-1900) – der maßgebliche Förderer des im Design sowie im Kunsthandwerk bis heute nachhaltig wirkenden „Arts and Crafts Movement“ und damit auch zum Vorläufer und Anreger entsprechender, erst später einsetzender Bemühungen in Mitteleuropa. Auch die „Kunsterziehungs- und Kunstgewerbebewegung“, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland einsetzte, hat hier eine ihrer Wurzeln.62 Ohne Vollständigkeit bei der Erhellung von Carpenters Inspirationsquellen anzustreben, sei noch auf den schottisch-amerikanischen Utopisten Thomas Davidson (1840-1900) hingewiesen, der seinerseits von dem Werk des italienischen Theologen, Sozialreformers, Philosophen und Gründers des Ordens der „Rosminianer“, Antonio Rosmini-Serbati (1797-1855), tief beeindruckt war. Davidson hielt sich im Winter 1882 in der Nähe des Rosminianerklosters Domodossala auf und pflegte mit Mitgliedern der Ordensgemeinschaft einen regen geistigen Austausch. Durch seine Veröffentlichungen (u.a. 1882 „The Philosophical System of Rosmini-Serbati“) machte Davidson die englisch sprechende Welt auf das Werk Rosmini-Serbatis aufmerksam. Die Rosminianer sind eine Ordensgemeinschaft, die Laienbrüder und Kleriker sowie einen weiblichen Zweig umfasst. Sie widmet sich vor allem der Erziehung. Davidson sah in ihnen das Modell einer besseren, nach urchristlich-kommunistischen Grundsätzen lebenden Gesellschaft, die es über die Vervollkommnung des Einzelnen – und nicht über eine Revolution – zu schaffen gilt. Die Gründung der englischen „Fellowship of the New Life“ 1883 geht auf die Anregungen Davidsons zurück. Seine Ideen blieben auf Jahre von großem Einfluss, auch nach seiner baldigen Rückkehr nach Amerika. Das gilt nicht für den kämpferisch gesinnten „linken“ Flügel der Fellowship. Dieser formierte sich bereits 1884 in einer eigenen sozialistischen Gruppe, und zwar unter dem Namen „Fabian Society“. Sie besteht bis heute als eine Art „Think Tank“ des linken Flügels der britischen Labor Party. – In New York gründete Davidson dann 1884 einen amerikanischen Zweig der Fellowship. 61 Kindlers Neues Literatur Lexikon (1996): Morris. News from Nowhere, or an Epoch of Rest, Being Some Chapters from a Utopian Romance, München: Kindler, S.1004f. Morris‘ Werk ist über Internet zugänglich. 62 Brandt, Hartwig (1981): Motive der Kunsterziehungs- und Kunstgewerbebewegung, Würzburg: Königshausen und Neumann. Vgl. auch den Abschnitt über die Kunsterziehungsbewegung im vorliegenden Buch.
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Die Grundsätze der Fellowship basierten auf der Annahme einer Superiorität der geistigen Sphäre gegenüber dem Materiellen. Erziehung, ein einfaches Leben und Handarbeit, die Entfaltung eines spirituellen Lebens wurden als wichtige Momente zur Entwicklung eines „vollkommenen Charakters in jedem und allen“ angesehen.63 Zu den Transzendentalisten bestand eine enge innere Verwandtschaft und ihre Ideen, insbesondere Emerson und Thoreau, wurden im Kreis der Fellowship viel diskutiert. Im Umkreis der „Fellowship of the New Life“ entfalteten sich diesseits und jenseits des Atlantiks zahlreiche sozialreformerische und erzieherische Initiativen. Eine davon ist die von Carpenters Freund Cecil Reddie 1889 gegründete „New School Abbotsholme“, die als die Mutterschule der Landerziehungsheimbewegung gilt. Aus diesem Grund wird in dem entsprechenden Abschnitt unten noch einmal auf Carpenter und auf Davidson einzugehen sein. Diese Schule war stark von den lebensreformerischen Ideen der Fellowship beeinflusst, ging von Anfang an aber zur Enttäuschung mancher frühen Förderer, so auch zu Carpenters Enttäuschung, in politischer Hinsicht ganz eigene, national-konservative Wege – doch davon ebenfalls weiter unten mehr. Wie sieht nun Carpenters Vorstellung einer Heilung von den Übeln der Zivilisation aus? Im Einklang mit zahlreichen Denkern von Rousseau bis Marx – sie werden bei Carpenter meist nicht ausdrücklich zitiert – sieht er den Beginn der modernen Zivilisation mit der Entstehung des Privateigentums gegeben. Dieser historische Einschnitt ist zugleich (a) der Abschied von einer Epoche ungebrochener Einheit des Menschen mit sich selbst, d.h. es erfolgt eine Trennung von seinem wahren inneren „Ich“, das in vorzivilisatorischer Zeit unbewusst mit der Umwelt vereint und in harmonischer innerer Ganzheit gelebt hatte, während der Mensch nun in eine innere Zerstrittenheit gerät; (b) der Abschied von der Einheit des Menschen mit der Natur, die nun als Quelle der Ausbeutung, Nutzenmaximierung und Macherweiterung erkannt und genutzt wird und (c) der Abschied von der Einheit des Menschen mit seinem Mitmenschen, der ihm nun als Konkurrent, Herrscher oder Untertan begegnet. Diese dreifache Entfremdung – von sich selbst, von der Natur, vom Mitmenschen – ist das begleitende Moment der auf Vermögensunterschieden beruhenden Bildung von gesellschaftlichen Klassen. Sie bringt u.a. mit sich: Sklaverei, Leibeigenschaft, Lohnarbeit; Staat, Regierung, den „Polizeimann“ und den „Handelsmann“. „Das neue System brachte weiter den Privatbesitz an Grund und Boden und schuf so eine Klasse landloser Fremdlinge im eigenen Land.“64 Und hier liegen auch die Wurzeln der gegenwärtigen zivilisatorischen Übel: der „mannigfachen und intensiven Krankheitserscheinungen auf physischem, sozialem, geistigem und sittlichem Gebiet.“65 Dazu gehört eine „abnormale Entwickelung des abstrakten Intellekts“ auf Kosten der Entwicklung der Sinne und des „sittlichen Gefühls“. Der Mensch schafft sich eine abstrakte Welt, „spinnt“ sich darin „ein“ und verliert den Kontakt mit dem „großen wirklichen Weltall um ihn.“66 Aus der vorzivilisatorischen Zeit kommt aber mit den Mythen der Völker eine Kunde auf uns über jenen paradiesischen nicht-entfremdeten Zustand. Sie rührt an die tiefe Sehnsucht des Menschen nach einer besseren Welt – und noch der „Verbrecher“, der Dieb, besonders der Wilddieb, erinnert die Gesellschaft mahnend daran, dass es einmal einen Zustand gegeben hat, in dem – mit Rousseau gesprochen – „die Früchte der Erde uns allen gehör(t)en und die Erde selbst niemandem“.67 Auch die zahlreichen Reiseberichte über die „Naturvölker“, über 63
Vgl. „The Fellowship of the New Life“, in: Armytage, a.a.O., S.327-341; Zitat: S.331 Carpenter, Edward (1903; Original: 1889): Die Civilisation – ihre Ursachen und ihre Heilung, Leipzig: Hermann Seemann Nachfolger, S.14 65 Ebd., S.26 66 Ebd., S.67f 67 Vgl. ebd., „Für die Verbrecher: eine Kritik der Moral“, S.195ff. Carpenter bezieht sich hier nicht auf Rousseau. Die hier zitierte Wendung ist Rousseaus Zweitem Diskurs entnommen und findet sich zu Beginn des zwei64
Zivilisationskritik, Lebens- und Erziehungsreform 67
den „Wilden“, sind für Carpenter ein Beweis für die Existenz jenes ursprünglichen Zustandes. Der Zustand des Verfalls, die Unrast, die Qual wird als ein notwendiger bitterer Erfahrungsprozess gesehen, aus dem „endlich die Auferstehung“ kommt. „(N)un ist er am Wendepunkt angelangt, als Individuum sowohl, wie als Gesellschaft, und er beginnt bewusst und planvoll wieder zu jener Einheit sich emporzuringen, die er verloren.“68 Der „Gesamtmensch“ wird sich im „Einzelmenschen“ wiederfinden und umgekehrt. Er wird in einer „vielleicht ... tiefer geworden(en) Naturreligion“ die Einheit „mit seinem Mitmenschen ... mit den Tieren ... mit der Erde selbst ... fühlen ...“.69 „Rückkehr zur Natur, dieses Einswerden des Menschen mit dem Kosmos“70 ist das große, in der Evolution selbst angelegte Ziel, das den Verirrungen der Zivilisation ihren letzten Sinn gibt; ein Ziel, das nicht durch Intellekt, Wissenschaft und Technik erreicht werden kann. Die technischen und wissenschaftlichen Errungenschaften der Zivilisation werden von Carpenter gleichwohl nicht „verworfen“, sondern zur Mehrung von Lebensfülle und Freiheit dem Menschen „unterworfen“. Sie werden ihren Fetischcharakter verlieren. „Der Mensch wird sie gebrauchen, – während sie heute ihn aufbrauchen.“71 Carpenter sieht und nennt Tendenzen, die den „Wendepunkt“, den Beginn der Heilung markieren und die Richtung der Entwicklung hin zu einem höheren Menschen und zu einer mit dem Kosmos und untereinander versöhnten Menschheit transparent werden lassen. Thoreau ist ihm ein Wegweiser. Wie dieser will er „den Morgenwind ..., das Gedicht der Schöpfung“ vernehmbar machen. „Daran kann kaum ein Zweifel sein, dass die Tendenz – die sich heute bereits unverkennbar zeigt, – eine Rückkehr zur Natur und zu einer neuen Lebensgemeinschaft unter den Menschen werden wird.“72 Zauberwort und Zielpunkt ist ihm das „Elementare“: der „elementare Mensch, der sich mit der Natur nicht in Widerspruch befindet.“73 Diese Tendenz sieht Carpenter in einer Reihe von Ansätzen enthalten, die im Einzelnen auf die Lebensreformbewegungen verweisen, wie sie sich in vielen Ländern bemerkbar machen: Kleiderreform – weg vom Fetisch der Mode, hin zu natürlichen, zweckmäßigen Formen, zu lichtund luftdurchwirkten „elementaren Gewändern“74; sinnlicher Naturbezug – heraus aus der Enge des Hauses, aus der „tödlichen Stickluft“, der „Rauchschicht“ der Städte, Kontakt mit den Elementen, zur Erde „mit nackten Sohlen“, in die offene Luft, „vertraut mit Wind und Wogen, reine und reinliche Nahrung, die Gefährtenschaft der Tiere, das Ringen um die Nahrung mit der großen Mutter aller“; Vegetarismus – als „elementare Nahrung“ und aus Gründen des Mitgefühls mit der „lebenden Kreatur“, Wiederherstellung der „zentralen Lebenskraft“ durch „Diät, die hauptsächlich aus Früchten und Samen besteht“; Nudismus – „Der Körper muss vor allem von den Wickelhüllen befreit werden, in denen er heute steckt, damit noch einmal das kosmische Bewusstsein in die Brust des Menschen eindringen kann.“75 Carpenter zitiert eine sinnfällige Reiseanekdote aus dem Jahre 1724: „Der Wilde wurde gefragt, wie er nur bei jedem Wetter nackt gehen könne und er antwortete mit der Gegenfrage an den Weißen, ‚warum er stets das Gesicht unbedeckt habe?‘ ‚Das bin ich gewöhnt‘, antwortete der Civilisierte. ‚Nun siehe‘, sagte der Indianer, ‚ich habe eben überall das Gesicht.‘“
ten Teils des Werkes. Rousseau, Jean-Jacques (1755): Discours sur l’origine et les fondemens de l’inégalité parmi les hommes („Abhandlung über den Ursprung und die Gründe der Ungleichheit unter den Menschen“. Im Internet franz. Original und engl. Übersetzung zugänglich. Zahlreiche deutsche Übersetzungen.) 68 Carpenter, a.a.O., S.67 (Hervorhebung – E.S.) 69 Ebd., S.87 70 Ebd., S.75 71 Ebd., S.83f 72 Ebd., S.69 73 Ebd., S.82 74 Vgl. zum Folgenden S.70ff 75 Ebd., S.86; ähnlich: S. 70 „Eine alte Zauberformel lautet: ‚Der Mensch kleidet sich, um hinabzusteigen, und entkleidet sich, um emporzusteigen.‘“
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Carpenter sieht im Ganzen zwei Bewegungen am Werk, „die eine nach einem komplizierten menschlichen Kommunismus (Bellamys Vision? – E.S.) und die andere zur individuellen Freiheit und zum Urzustand (Ruskin? und die Ansätze zur Lebensreform – E.S.), die sich gegenseitig ergänzen und die Waage halten, ...“ Sie sind als Gegenbewegungen bereits „sichtlich“ Teil der herrschenden Kultur und begründen die Hoffnung „auf ihre Heilung“.76 In Carpenters Werk wird ein weites Spektrum an Motiven sichtbar, bestehend aus jeweils mehr oder weniger erfahrungsgestützten Diagnosen der gesellschaftlichen Pathologie, existenz-, sozial-, religions- und geschichtsphilosophischen Spekulationen, utopischen Visionen. Seine Sprache ist reich an poetischen Metaphern der Sehnsucht. Es ist die Sprache einer an der modernen Welt krankenden, Sinn suchenden, nach Ganzheit hungernden Seele, die in der fernen Zeit (Vorgeschichte, Zukunft), am fernen Ort (Atlantis, Paradies, Eden, auch: „in wärmeren Ländern“77!) und bei fernen Sozietäten (die „Wilden“ in Afrika, Süd- und Nordamerika) ein verheißungsvolles, heilendes Echo vernimmt. Das aus der Ferne kommende Echo der eigenen Seele wird auf die Gegenwart gelenkt als Suchlinie und Licht. Es erhellt nicht nur einzelne objektive Zeichen einer heraufkommenden Neuen Zeit, wie sie analog bereits in den Fernen „erkennbar“ war; es macht auch hellsichtig für den guten Sinn des Bösen (Beispiel: Wilddieb). Denn das Widersetzliche der Gegenwart gemahnt an den im Fernen gesichteten Ort sozialer Harmonie, an dem das Schlechte nicht existiert, weil die Gründe seiner Existenz (im Falle des Wilddiebs: der Neid auf die Beute) fehlen. In diesem Sinne weist Carpenter auf ein Wort Emersons hin: „Und Emerson z.B. behauptet, dass jedes Laster nur der ‚Exzess oder das Sauerwerden einer Tugend sei‘; er sagt auch: ‚Das erste, was uns die Geschichte lehrt, ist das Gute im Bösen.‘“78 Das erinnert an Nietzsches „Umwertung aller Werte“. Nietzsche lässt seinen Zarathustra sagen – und Carpenters Übersetzer weist in seinem Vorwort auf diese Parallele hin: „Am Ende wurden alle deine Leidenschaften zu Tugenden und alle deine Teufel zu Engel.“ „Einst hattest du wilde Hunde in deinem Keller; aber am Ende verwandelten sie sich zu Vögeln und lieblichen Sängerinnen.“79 Wie bei Nietzsche (s.o.) bleibt der Weg dieser wundersamen Wandlung auch bei Carpenter weitestgehend im Bereich poetischer Anmutung und Ahnung. Der Weg zum kosmischen, an materiellen Bedürfnissen armen und mitfühlenden Menschen muss aber eingeschlagen werden, wenn die Vision einer alles umfassenden Fülle und Befriedigung am Ende sich nicht doch als Illusion erweisen soll. Wegen der Schwierigkeit einer objektiven Grenzziehung bei der Bedürftigkeit des Menschen und auf Grund seiner Unersättlichkeit ist ein Leben in Knappheit und somit der Kampf um die Ressourcen freilich unausweichlich – sei es, dass dieser Kampf verdeckt oder offen, sei es, dass er nach gesellschaftlichen Regeln „friedlich“ und „human“ ausgetragen wird. Das Paradies auf Erden bleibt also eine Illusion – freilich eine solche, die nicht nur die poetische Phantasie beflügelt, sondern konkrete Bewegungen auszulösen vermag.
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Wandervogel- und Jugendbewegung – „Aus grauer Städte Mauern ...“
„... ziehn wir durch Wald und Feld.“ So heißt es in dem noch heute gesungenen Lied80 einer bewegten Jugend, die bei ihrer Wanderung „zurück zur Natur“ zwar nicht das Paradies, nicht mehr Urwald und jungfräuliche Erde vorfindet, aber doch wenigsten in der wärmenden Ge76
Ebd., S.94f Ebd., S.73 „..., wo das Leben reicher, voller, ursprünglicher und hochherziger ist, als es hier sein kann,...“ Ebd., S.218 79 Nietzsche, vom Übersetzer zitiert in: ebd., S.2. Vgl.: Nietzsche, Friedrich (1980): Also sprach Zarathustra, in: Ders.: Werke in vier Bänden, Band 1, Wien: Caesar Verlag. Dort in dem Abschnitt „Von den Freuden- und Leidenschaften“, S.316 80 Text: Hans Riedl, Weise: Robert Götz 1921 77 78
Zivilisationskritik, Lebens- und Erziehungsreform 69
meinschaft Gleichgesinnter, meist geschart um einen „Führer“, für eine kürzere oder längere Zeit der „Stickluft“ der Städte und der unmittelbaren sozialen Kontrolle von Elternhaus und Schule entflieht. Carpenter hätte in dieser Bewegung zweifellos jene universelle heilsgeschichtliche „Tendenz“ zum neuen Zeitalter zurück zu Natur und ursprünglicher Gemeinschaft erblickt. Bald in Jungen-, später auch Mädchen- oder gemischten Gruppen, bald auch – unter Aufgabe der zunächst propagierten Neutralität in religiösen und politischen Fragen – nach weltanschaulichen Gesichtspunkten organisiert, durch internen Streit und Abspaltungen, Neugründungen sowie Neu-Wiedervereinigungen vermehrt und differenziert ziehen die Jugendlichen in kleinen Gruppen durch die Lande. Im Jahre 1913 ziehen sie dann aus allen Himmelsrichtungen kommend hinauf zum Hohen Meißner, 2000 bis 3000 an der Zahl, wo sich die jetzt so nennende „Freideutsche Jugend“ unter maßgeblicher Mitwirkung des bereits nicht mehr ganz so jungen Pädagogen und Landerziehungsheimgründers Gustav Wyneken (1875-1964) und anderer älterer Jung-Bewegter die einigende Losung gibt: „Die freideutsche Jugend will aus eigener Bestimmung vor eigener Verantwortung mit innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten. Für diese innere Freiheit tritt sie unter allen Umständen geschlossen ein.“81 Dieser Aufbruch prägt für Jahrzehnte das Lebensgefühl großer Kreise, insbesondere auch der Intellektuellen, verbindet sich aber – trotz weitgehender Gleichheit äußerer Formen, Aktionen und einer gemeinsamen Frontstellung gegen manche Begleiterscheinungen der Moderne – schon früh mit ganz unterschiedlichen und gegensätzlichen Orientierungen. Eine „Geschlossenheit“ kann nur rhetorisch propagiert, jedoch nie wirklich erreicht werden. Das zeigt sich augenfällig zum Beispiel darin, dass sich ein großer Teil der Jugendbewegten, darunter Künstler, Pädagogen, Lebensreformer, Intellektuelle später bruchlos oder wenigsten lautlos in das nationalsozialistische System einfügen wird; während andere, vergleichsweise wenige, die von der Jugendbewegung tief geprägt waren (wie der Sozialdemokrat, Volkskundler, Museums- und Reformpädagoge Adolf Reichwein), manche erst nach einer anfänglichen Begeisterung für das „Dritte Reich“ (wie die Geschwister Scholl), in den Widerstand gehen und dem nationalsozialistischen Terror zum Opfer fallen. Zahlreicher sind jene ehedem jugendbewegten Künstler, Wissenschaftler, Pädagogen und Pädagoginnen, die in die Emigration gehen und in (noch) sicheren europäischen und außereuropäischen Ländern einen neuen Anfang suchen (letztere z.B. durch die Schaffung einer „Reformpädagogik im Exil“82, zum Teil unter Mitnahme ihrer ebenfalls gefährdeten Schützlinge). Antisemitische, rassistische national-chauvinistische Stimmen sind in den Reihen der Wanderer vereinzelt schon früh zu vernehmen, werden vielleicht als akzeptierte oder als eine nicht weiter bedeutungsvolle Facette zum „Geist der Zeit“ betrachtet, waren jedoch in der Jugendbewegung zu keiner Zeit wirklich dominant. Und Wyneken redet bereits im Sinne der Idee des „Weltbürgertums“ auf dem Hohen Meißner gegen dumpfe nationalistische und militaristische Töne an.83 Ein etwas genauerer Blick zeigt, dass sich in dem jugendlichen Aufbruch nahezu das gesamte religiöse, weltanschauliche, politische und lebensreformerische Spektrum der wilhelminischen Epoche und später der Weimarer Zeit widerspiegelt, jedenfalls in dem schon recht früh sichtbaren Moment, als sich mit der Befriedigung der „Wanderlust“ weiterreichende kulturel-
81
Zitiert nach: Giesecke, Hermann (1981): Vom Wandervogel bis zur Hitlerjugend. Jugendarbeit zwischen Politik und Pädagogik, München: Juventa-Verlag, S.21 (In Gieseckes Schrift findet sich im Anhang ein umfangreiches Literaturverzeihnis zum Thema.) 82 Feidel-Mertz, Hildegard (1990): Pädagogik im Exil nach 1933. Erziehung zum Überleben. Bilder und Texte einer Ausstellung, Frankfurt/Main: Dipa Verlag; Feidel-Mertz, Hildegard (Hsg.) (1983): Schulen im Exil. Die verdrängte Pädagogik nach 1933, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt TB 83 Vgl. in: Hepp, Corona (a.a.O., 1992), S.40
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le und/oder politische Aspirationen verbinden.84 Vor allem bildet sich eben auch hier der große Klassengegensatz ab, der die Geschichtsschreibung zwingt, zwischen bürgerlicher und proletarischer Jugendbewegung zu unterscheiden. Beide sind Bewegungen gegen die Zumutungen der Moderne, ihre Konfliktlinien unterscheiden sich aber grundlegend. Richtet sich die bürgerliche Jugendbewegung aus einem relativ wohlhabenden Hintergrund vor allem gegen die familiäre und schulische Unterdrückung (Generationenkonflikt), kämpft die proletarische Jugend, der die Erfahrung materieller Not gemeinsam ist, gegen den Staat und die etablierte Gesellschaftsordnung – und hat aus diesem Grunde mit weitaus größeren Behinderungen von staatlicher Seite zu rechnen. Für beide Richtungen gilt, dass schon im „Weggehen“ an sich ein kulturkritischer und –reformerischer Impuls liegt, zieht es doch unweigerlich die Frage nach dem Wert des Zurückgelassenen nach sich und die Frage, wie der Alltag – oder auf längere Sicht: die Gesellschaft – nach der im allgemeinen unvermeidlichen Rückkehr idealiter einzurichten sei. Das lässt sich im Hinblick auf den Klassengegensatz auf die Frage zuspitzen: „Lebensreform“ (die eher bürgerliche Antwort) oder „Gesellschaftsreform“ (die eher proletarische Antwort) oder das eine durch das andere (s.u.). Historisch betrachtet kommt die Jugendbewegung in ihren emanzipatorischen Momenten politisch nicht zum Zuge. Sie entzieht sich zwar dem Konformitätsdruck und findet zu eigenen Lebensformen (wenn auch häufig nur für die Freizeit), aber nicht soweit, dass dies zu einer politisch relevanten Gegenkultur und zu einem breitenwirksamen Schutz gegen die totalitäre Versuchung hätte werden können. Sofern eine Resistenz gegen den Totalitarismus bei den von der Jugendbewegung geprägten Menschen wirksam ist, dürfte sich ihre moralische Kraft eher aus anderen, tiefer liegenden Quellen speisen – wie christliche Ethik, sozialistischer Glaube, Entschiedenheit in Fragen eines universellen Humanismus, die Fähigkeit mitmenschlicher Anteilnahme und Verantwortlichkeit. Was die Aktionen und ästhetischen Formen wie Wanderung bei Tag und bei Nacht, Fahrt, Lager, Gemeinschaftsleben und –arbeit, Singen alter Volks- und neuer Freiheits- und Abenteuerlieder zum Klang der „Klampfe“ beim Wandern, im „Nest“, in der „Horde“ und im nächtlichen Feuerschein, Naturerleben, Führertum, Beschwörungs- und Grußformeln, Fahnenappelle, einheitliche praktische „Kluft“, Spiel im Gelände, Betonung des Körperlichen usw. betrifft – so finden die sozialpsychologisch sensiblen Machthaber der totalitären Staaten des 20. Jahrhunderts, der Faschismus ebenso wie der Kommunismus, darin die von der Jugend selbst erprobten gleichsam erlebnispädagogischen Mittel, um über den Schein von Freiheit und Mitverantwortung ihre Ideologie in die Herzen der jungen Menschen, Mädchen wie Jungen, einzusenken. Nur in dieser komplizierten, in ihren Einzelbezügen schwierig zu durchschauenden Ambivalenz zwischen emanzipatorischem Aufbruch mit teilweise – vor allem bei den „Bürgerlichen“ – romantisierend-regressiven Tendenzen gegen die eingefahrenen, als Joch und zudem als unehrlich empfundenen Konventionen der Zeit hin zu neu-alten Ufern und ihre machtpolitische, die Jugend keineswegs völlig unvorbereitet treffende Indienstnahme kann die Jugendbewegung als Gesamtphänomen angemessen dokumentiert und beschrieben werden. (Dieses Programm ist seit langem in Angriff genommen und die Ergebnisse füllen inzwischen ganze Bibliotheken und Archive.85) Die Jugendbewegung ist in all ihren Facetten ein Produkt des Industriezeitalters. Sie stellt den Versuch dar, die mit der Moderne einhergehenden Verunsicherungen zu kompensieren.86
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Vgl. hierzu: Mogge, Winfried (2001): Jugendbewegung und Wandervogel, in: Buchholz, Kai; Latocha, Rita; Peckmann, Hilke; Wolbert, Klaus (Hsg.) (2001): Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, Band II, Darmstadt: hausser-media, S.307ff 85 Das bedeutendste Archiv der deutschen Jugendbewegung: Burg Ludwigstein, D-37214 Witzenhausen (Internetpräsenz); siehe auch weiter unten bei Mogge (1998) 86 Vgl. dazu auch die vorzügliche knappe Darstellung in Nipperdey (a.a.O. 1990). „Jugend“, S.112-124
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Die Anfänge der Bewegung sind eher unauffällig und harmlos. Sie liegen in Wanderungen von Schülern des Steglitzer Gymnasiums (damals am Stadtrand Berlins gelegen) in den nahen Grunewald. 1901 wird dann der Verein „Wandervogel – Ausschuss für Schülerfahrten“ von Pädagogen, Ärzten und Schriftstellern gegründet (Jugendliche durften damals keine eigenen Vereine gründen). Der Bericht an das Kultusministerium beschreibt folgenden Zweck – und hier werden bereits zivilisationskritische und lebensreformerische Töne angeschlagen: „In der Jugend die Wanderlust zu pflegen, die Mußestunden durch gemeinsame Ausflüge nutzbringend und erfreulich auszufüllen, den Sinn für die Natur zu wecken, zur Kenntnis unserer deutschen Heimat anzuleiten, den Willen und die Selbständigkeit der Wanderer zu stählen, kameradschaftlichen Geist zu pflegen, allen den Schädigungen des Leibes und der Seele entgegenzuwirken, die zumal in und um unseren Großstädten die Jugend bedrohen, als da sind: Stubenhockerei und Müßiggang, die Gefahren des Alkohols und des Nikotins – um von Schlimmerem ganz zu schweigen“.87 Hinter der zu pflegenden „Wanderlust“ wird also schon in der Geburtsstunde der Jugendbewegung die Lust auf eine ganz neue, edle und reine Welt sichtbar. Das ist das Signal, zunächst kein solches mit der Fanfare, zu einer bald Tausende von Jugendlichen ergreifenden Aufbruchsstimmung. Sie artikuliert sich in den Folgejahren in zahlreichen Gruppierungen, die nur mit Mühe und auch nicht in allen ihren repräsentativen Zweigen auf der Höhe des Berges zum „ersten“ – es bleibt der einzige – „Freideutschen Jugendtag“ am 13. Oktober 1913 zusammengeführt werden können. Gegenüber der Zweckbestimmung des Steglitzer Vereins zeigt sich jetzt bereits ein deutlich erweiterter Anspruch nach jugendkultureller Autonomie. Inzwischen hatte der Wandervogel in Hans Blüher einen ersten bedeutenden (konservativ gesinnten) Monographen gefunden, der im Titel seiner 1912 in Berlin erschienenen Schrift auch den fortan verwendeten Begriff der „Jugendbewegung“ prägt: „Wandervogel. Geschichte einer Jugendbewegung“. In der Einladung zum Meißnerfest – es wurde von der 1907 in Göttingen als lebensreformerische Alternative zum gängigen Korporations(un)wesen gegründeten Studentenvereinigung „Deutsche Akademische Freischar“ vorbereitet – heißt es jetzt selbstbewusst: „Die deutsche Jugend steht an einem entscheidenden Wendepunkt. Die Jugend, bisher nur ein Anhängsel der älteren Generation, aus dem öffentlichen Leben ausgeschaltet und auf eine passive Rolle verwiesen, beginnt sich auf sich selbst zu besinnen. Sie versucht, unabhängig von den Geboten der Konvention sich selbst ihr Leben zu gestalten. Sie strebt nach einer Lebensführung, die jugendlichem Wesen entspricht, die es ihr aber zugleich auch ermöglicht, sich selbst und ihr Tun ernst zu nehmen und sich als einen besonderen Faktor in die allgemeine Kulturarbeit einzugliedern. Sie möchte das, was in ihr an reiner Begeisterung für höchste Menschheitsaufgaben, an ungebrochenem Glauben und Mut zu einem adligen Dasein lebt, als einen erfrischenden, verjüngenden Strom dem Geistesleben des Volkes zuführen.“88 Der Text der Einladung stammt von Gustav Wyneken.89 Es handelt sich gewiss um einen Aufbruch der Jugend, der jedoch bald in wortgewaltigen Älteren seine Für- und Vorsprecher findet. Ludwig Klages (1872-1956), neben Wyneken, Ferdinand Avenarius und dem Verleger Eugen Diederichs einer der Hauptredner auf dem Hohen Meißner90, Autor des nach dem Ersten Weltkrieg erscheinenden kulturkritischen Werkes „Der Geist als Widersacher der Seele“91, steuert 1913 für den „Freideutschen Jugendtag“ ein kapitalismuskritisches Grußwort bei. Dem Umfang nach handelt es sich eher um eine Abhandlung, die – mit detaillierten Beschreibungen von Landschafts-, Tierarten-, Urvölkervernichtung und Touristikschäden – auf die katastrophalen Folgen hinweist, die ein ungebremster Fortschrittsglaube mit sich gebracht hat. Klages sucht die Verbindung zwischen Kulturkritik 87
Zitiert nach Gieseke, a.a.O., S.17 Ebd., S.21 Siehe: Saur, Wolfgang (2001): Bürgerliche Sehnsucht nach Transzendenz. Wandervogel: 1901 – 2001 hundert Jahre Deutsche Jugendbewegung (Internet:www.jungefreiheit.de, 37/01; 7.11.2001) 90 Vgl. ebd. 91 Es handelt sich bei diesem Werk um eine lebensphilosophisch-vitalistische Abrechnung mit dem zerstörerischen, zweckrationalen Geist der Moderne. 88 89
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und Jugendbewegung herzustellen und es ist anzunehmen, dass er offene Ohren findet – nicht nur für die Anprangerung der schrecklichen Zerstörungen, sondern auch für seine regressive, auf die Restitution einer alten Ordnung zielenden Heilsvisionen. „Keine Lehre bringt uns zurück, was einmal verloren wurde. Zur Umkehr hülfe allein die innere Lebenswende, die zu bewirken nicht im Vermögen von Menschen liegt. Wir sagten oben, die alten Völker hätten kein Interesse gehabt, die Natur durch Versuche auszuspähen, sie in Maschinen hineinzuknechten und listig durch sich selbst zu besiegen; jetzt fügen wir hinzu, sie hätten es als Verruchtheit verabscheut. ... Wenn die Griechen einen Strom überbrückten, so baten sie den Flussgott für die Eigenmächtigkeit des Menschen um Verzeihung und spendeten Trankopfer; Baumfrevel wurde im alten Germanien blutig gesühnt. Fremd geworden den planetarischen Strömen, sieht der heutige Mensch in alledem nur kindlichen Aberglauben. Er vergisst, dass die deutenden Phantasmen verwehende Blüten waren am Baum eines Innenlebens, welches tieferes Wissen barg als all seine Wissenschaft: das Wissen von der weltschaffenden Webekraft allverbindender Liebe. Nur wenn sie in der Menschheit wiederwüchse, möchten vielleicht die Wunden vernarben, die ihr muttermörderisch der Geist geschlagen.“92 Obwohl diese „innere Lebenswende“ nicht in Menschenhand liegt, stellt sich Klages, um sie zu fördern, doch in den Dienst der von ihm geschauten „weltschaffenden Webekraft“. Nicht die Erwachsenen, die letztlich dem Untergang geweihten Bekenner des technologischen Fortschrittsglaubens will er umstimmen – sie werden mit diesem Glauben sterben – „wohl aber für ein jüngeres Geschlecht, das noch fragt, wollen wir versuchen, wenigstens an einer Stelle den Schleier zu lüften und die bedrohliche Selbsttäuschung aufzudecken, die er verhüllt.“ Das Wegziehen des Schleiers bringt ein überaus düsteres Bild zum Vorschein: „Wir täuschten uns nicht, als wir den ‚Fortschritt‘ leerer Machtgelüste verdächtig fanden, und wir sehen, dass Methode im Wahnwitz der Zerstörung steckt. Unter den Vorwänden von ‚Nutzen‘, ‚wirtschaftlicher Entwicklung‘, ‚Kultur‘ geht er in Wahrheit auf Vernichtung des Lebens aus. Er trifft es in allen seinen Erscheinungsformen, rodet Wälder, streicht die Tiergeschlechter, löscht die primitiven Völker aus, überklebt und verunstaltet mit dem Firnis des Industrialismus die Landschaft und entwürdigt, was er von Lebewesen noch überlässt, gleich dem ‚Schlachtvieh‘ zur bloßen Ware, zum vogelfreien Objekt ‚rationeller‘ Ausbeutung. In diesem Dienste aber steht die gesamte Technik und in deren Dienste wieder die weitaus größte Domäne der Wissenschaft.“93 Das sind Klagen, die später u.a. auch im Rahmen einer sich als emanzipatorisch-progressiv verstehenden Gesellschaftskritik bis in die heutige Zeit zu hören sind; denn der „Wahnwitz der Zerstörung“ findet seit je zwar seine Ankläger, jedoch noch immer nicht seine Meister. Zur Zeit des Meißner-Festes (1913) sind dies inhaltlich keine neuen Töne, wohl sind sie insgesamt eine genialische, sprachmächtige Zusammenfassung einer weitverbreiteten Krisenstimmung. Mit hohem Pathos schafft Klages in der Form apodiktischer In-Wahrheit-Sätze ein undifferenziertes Credo des Antimodernismus. Die Begriffe „Fortschritt“, „Entwicklung“, „Wissenschaft“, „Kultur“, „Geist“ werden zu Synonymen einer gigantischen Maschinerie der Zerstörung, die Äußeres und Inneres gleichermaßen ergreift und ins Verderben stürzt. Gefragt ist daher ein anderer Fortschrittsglaube, eine andere Wissenschaft, nicht „Geist“, sondern Seele, mithin eine andere Kultur – Spätere werden sagen, eine Alternativkultur – , die auf die Vernichtung des Vernichtenden zielt. Das muss nicht, wie von den Kommunisten gefordert, durch Klassenkampf und Revolution geschehen; es kann sich auch als „innere Lebenswende“ anbahnen und dann nach außen wenden, um ganz allmählich in einer sanften Revolution bei vegetarischer Kost, in luftigen Reformkleidern und auf „leisen Sohlen“ bzw. Sandalen („Reformschuhe“) oder – vorläufig nur zeitweise und in umhegten Arealen – gar nackt dem „mut92
Klages, Ludwig (1913): Mensch und Erde. Grußwort an den Freideutschen Jugendtag 1913, Internetversion, www.otopia.de; Reprint auch in: Mogge, W.; Reulecke, J. (Hsg) (1988): Hoher Meißner, Köln. Siehe auch: von Rüden, Peter (1996/97): Mensch und Erde. Ludwig Klages‘ Grußwort an den Freideutschen Jugendtag 1913, Hausarbeit an der Universität Bremen, WS 96/97 (Internet: www.oekozentrum.org). 93 Klages, zitiert nach von Rüden (a.a.O.)
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termörderischen“ Treiben den Boden zu entziehen. All das war längst bis zu einer gewissen Blüte gediehen – auf die Bestrebungen zur Lebensreform geht Klages in dem Grußwort allerdings nicht ein – und die lebensreformerischen Produkte (z.B. aus der Vegetarischen Obstbaukolonie Eden bei Berlin) hatten über die „Reformhäuser“ der Städte Einzug gehalten in viele Haushalte und mit den Produkten die dahinterliegenden lebensfreundlichen Ideen in die Herzen vieler Konsumenten. Der „Wandervogel“ ist selbst eine Reformbewegung heraus aus dem „Grauen“ der Städte und lebensreformerisches Gedankengut ist in ihr allenthalben lebendig.94 Diesem Streben gibt Klages eine mächtige Stimme, die noch heute in ökologisch gesinnten Kreisen zu hören ist – haben sich doch seither die Gründe für Klages‘ Klagegesang eher vermehrt als vermindert. Ein anderer „Hauptstrom“ der Jugendbewegung wird von Gustav Wyneken repräsentiert, dem bedeutendsten Vertreter einer „schulrevolutionären“ Strömung. Er ist mit einer Delegation aus Lehrern und Schülern seiner „Schulgemeinde“ angereist. „(D)ieser Flügel wollte eine ‚Jugendkultur‘ gegen Elternhaus und Schule durchsetzen. Wyneken war Lehrer an einem Landerziehungsheim und gründete 1910 die ‚Schulgemeinde Wickersdorf‘. Volle kameradschaftliche Gleichberechtigung von Lehrern und Schülern, Autonomie der Jugend und Eigenwert des Jugendalters als einer wesentlichen Phase der Kultur überhaupt (‚Jugendkultur‘) waren die herausragenden Punkte seines Programms. Sprachrohr dieser Gruppe war die 1913 gegründete Schülerzeitung ‚Der Anfang‘. Sie wurde redigiert von Wyneken; zu den Herausgebern gehörte S(iegfried) Bernfeld; und sie hatte rund 800 Abonnenten. Durch ihre Attacken gegen die bürgerlichen Sozialisationsinstanzen Familie, Schule und Kirche erregte sie großes Aufsehen. Die Beiträge waren meist von Jugendlichen verfasst, Wyneken hatte dafür die presserechtliche Verantwortung übernommen. Der öffentliche Konflikt konnte nicht ausbleiben.“95 In der Forderung nach einer Jugendkultur kommt schon ein weiterer Aspekt der Jugendbewegung zum Vorschein. Sie wendet sich auch ins Kulturelle und lagert um sich gleichsam einen zweiten Ring jugendbewegter Formen an – nur Wandern und Fahrt wird auf die Dauer langweilig, es ist auch nicht immer möglich, und in den Jugendheimen, im „Nest“ entwickelt sich ein neues kulturelles Leben, das bald zu eigenen Organisationen findet. Jugendmusikbewegung, Volkstanzbewegung, Laienspielbewegung entstehen als neue Formen des Ausdrucks und der Betätigung, die in den zwanziger und dreißiger Jahren dann vermehrt auch in die Schule Eingang finden werden, nachdem bereits zu Beginn des Jahrhunderts auf den sogenannten „Kunsterziehungstagen“ (1901/03/05) und im Rahmen der „Kunsterziehungsbewegung“ entsprechende Forderungen laut geworden waren.96 Die Jugend musste in einer von Mobilität und zahlreichen Momenten der Entfremdung geprägten Zeit, in einer Gesellschaft, die mit ihren Sozialisationsinstanzen (Familie, Schule, Kirche) keine attraktiven Identifikationsmodi mehr bieten konnte, ihre Sozialisation teilweise selber in die Hand nehmen. Es lässt sich nur schwer abschätzen, inwieweit sie ihre Kritik an den Zuständen aus ihrer eigenen Erfahrung heraus formuliert hatte – dem Wandervogel gehörten ja schon sehr junge Schüler an – oder ob sie nicht vielmehr der Stimme von verunsicherten und um das Heil der Jugend besorgten Erwachsenen folgten. Die vielbeschworene Selbstbestimmung hatte sicher ihre Grenzen. Ihre Wortführer waren Erwachsene – und schon de Lagarde (s.o.) hat ja sein Eintreten für die Jugend als eine notwendige Stellvertretung gerechtfertigt. Jedenfalls brachte die Bewegung eine Reihe neuer Sozialisationsformen – wie ein 94
Vgl. auch die Begleitpublikation einer Ausstellung in Berlin-Steglitz zur 100jährigen Geschichte des Wandervogels, darin auch eine ausführliche Bibliographie: Weißler, Sabine (2001): Fokus Wandervogel. Der Wandervogel in seinen Beziehungen zu den Reformbewegungen vor dem Ersten Weltkrieg, Marburg: Jonas Verlag 95 Gieseke (a.a.O., 1981), S.22 96 Siehe in diesem Buch den Abschnitt über die „Kunsterziehungsbewegung“
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weitgehend selbstbestimmtes Gruppenleben, gemeinsames Erleben als Ausgleich zum Intellektualismus der Schule und zur Zweckrationalität der Arbeitswelt, die Ausbildung einer eigenen Ästhetik in Kleidung, lockere Umgangsformen, Lied, Tanz als Gegenbewegung zur steifen Welt der Erwachsenen, die Ausbildung einer besonderen Form der Kameradschaft und des Verhältnisses Führer-Gefolge. Man kann sogar die Meinung begründen, dass sich die Jugend durch ihre Bewegung als eine eigene, relativ lange andauernde Lebensphase des „Nichtmehr-Kind-und-noch-nicht-Erwachsenseins“ selbst geschaffen und ins öffentliche Bewusstsein gerückt hat.97 Das ist Wynekens Grundgedanke, der „Wendepunkt“, der indirekt auch durch die aufkommende Jugendforschung bestätigt wird. Jugend ist keine zu vernachlässigende Größe mehr. All das geschah in relativer Distanz zu den gleichwohl noch herrschenden Strukturen und Institutionen der Gesellschaft und der Welt der Erwachsenen, in genügender Entfernung von diesen, so dass der Jugendliche sich im geschützten Raum der Gruppe „frei“, ernst genommen, unzensiert, „wohl“ fühlen und in seiner Totalität, gleichsam als „Ganzer Mensch“ – wie es bei dem Reformpädagogen Peter Petersen später heißen wird – erleben konnte. So wandte sich die Jugendbewegung in ihrer Intention gegen die Gesellschaft, wurde aber in ihrer Funktion zum Mittel ihrer gesellschaftlichen Integration, auch noch in ihren (vor allem in ihrem sozialistischen Zweig) vom Staat bekämpften Ausprägungen. Aus dem jugendbewegten Protest gegen das „Establishment“ der Konventionen konnte – wegen seiner immanenten Theoriefeindlichkeit und seiner aus zahlreichen Quellen sich speisenden Irrationalität – kein kritisches Orientierungsvermögen erwachsen. Das lag auch gar nicht in ihrer Absicht – es ging ja primär um den Ausgleich von Defiziten im Erleben – und wohl auch nicht in ihrem Vermögen. Diese Leerstelle konnte dann von allerlei Ideologien und Weltanschauungen „gefüllt“ werden. „Typisch sind die Diskussionen beim Meißnerfest 1913: Vor dem Szenarium der durch Zivilisationsschäden, Kulturverfall und Krieg drohenden Selbstzerstörung der Menschheit beschworen Lebensreformer, Reformpädagogen, Volkserzieher und Siedler Alternativen und Heilslehren wie Rauschmittelabstinenz, Ernährungs- und Kleiderreform, Freikörperkultur, sexuelle Befreiung, alternativen Landbau, Rassenhygiene, völkische oder sozialistische Erziehung.“98 Die Orientierung suchende Jugend war, von den Formen ihrer Geselligkeit innerlich tief bewegt und in der Distanz zu kritischer Rationalität, ideologisch anfällig geworden – sofern in Elternhaus, Schule, Studium, Kirchengemeinde kein Ausgleich geboten wurde. So indifferent die Jugendbewegung politisch auch war, für das Verständnis von Schule und Erziehung hatte sie doch grundlegend Neues bewirkt, das sich zunächst vor allem in den Landerziehungsheimen und in größerem Rahmen erst nach dem Ersten Weltkrieg zu entfalten begann. Dabei handelt es sich nicht um eine bloße Übernahme oder Adaption von Formen, sondern um ihre pädagogische und methodische Anverwandlung. Wenn nun auch die Klasse „auf Fahrt“ geht, wird vieles schulpädagogisch gewendet, was der Lehrer oder die Lehrerin in ihrer Wandergruppe oder im „Bund“ erfahren hat. Auch auf Fahrt sind die Kinder und Jugendlichen immer noch Schüler, die wissen, was nach der Rückkehr von ihnen erwartet wird: „Erlebnisaufsatz“ oder „Erlebnisbericht“. – Im einzelnen lassen sich folgende aus der Jugendbewegung „übernommene“ pädagogische Momente unterscheiden: x x
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Schulleben: Bereicherung des Schullebens durch Wanderung, Fahrt, Fest und Feier; Gruppenraum: Umwandlung des Klassenzimmers von einer gesichtslosen Belehrungszelle zu einem Identifikation ermöglichenden Gruppenraum, der in Anordnung der Möbel
Vgl. ebd., S.32f Mogge, Winfried (1998): Jugendbewegung, in: Kerbs, Diethart und Reulecke, Jürgen (Hsg.) (1998): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880 – 1933, Wuppertal: Peter Hammer Verlag, S.192 (Ebd.S.193f auch eine instruktive Übersicht über Archive und Forschungsstand) 98
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und Ästhetik das neue Leben und Lernen widerspiegelt; er wird zum warmen „Nest“, oder – mit Pestalozzi gesprochen – zur „Schulwohnstube“; Lebensnaher Unterricht und Natürliches Lernen: Der Blick nach draußen „ins Leben“ erweitert den Lernbegriff und führt zu neuen, eigenes Erfahren und Erleben einbindende Formen des schulischen Lernens (Unterrichtsgang, projektartiges Lernen, wie das „Vorhaben“ bei Johannes Kretschmann und Adolf Reichwein oder der Gesamtunterricht von Berthold Otto); das hat auch Folgen für den Schulbau: z.B. helle Räume – Verschwinden der blickverhängenden Milchglasfenster –, zusätzliche kleinere Gruppenräume, Pavillonbauten mit direktem Zugang zu einer Garten- oder Wiesenfläche usw. Erlebnisunterricht: die Kategorie des Erlebens erhält pädagogische Konturen; zunächst bei den eher spontaneistischen Bremer „Erlebnispädagogen“ Fritz Gansberg (1871-1950) und Heinrich Scharrelmann (1871-1940), später dann systematisch in Form eines methodischen Stufenschemas gefasst von Waltraut Neubert (1925): Vorbereitung oder Einstimmung – Darbietung des Lehrers aus dem eigenen Erleben heraus – Besinnung – Rationalisierung des Erlebnisses durch Gewinnung der in ihm angelegten Begriffe – Aufruf zur Tat (als Ausdruck des Erlebnisses).99 Gruppe als Erziehungsgemeinschaft: Die Klasse, Gruppe oder – wie bei Petersen – die altersgemischte „Stammgruppe“ wird als eine sich selbst erziehende Gemeinschaft „entdeckt“, versammelt um einen Leiter oder „Führer“, der als solcher bereits vom erhöhten Pult herabgestiegen ist; damit hängt unmittelbar zusammen: Neubestimmung des Lehrer-Schüler-Verhältnisses: der Lehrer ist nicht mehr in Frontstellung, sondern bemüht sich um ein vertrauensvolles, kameradschaftliches Verhältnis; er oder sie soll eine „natürliche Autorität“ besitzen. Herman Nohls Begriff des „Pädagogischen Bezuges“ ist maßgeblich von den entsprechenden Erfahrungen der Jugendbewegung geprägt.100 – All dies sind konstitutive Momente der „Neuen Schule“ geworden – und sie prägen bis heute das didaktisch-methodische Leitbild (und die Praxis?) der Schularbeit.
Vielleicht sind die beiden letztgenannten Punkte der wichtigste schulpädagogische „Ertrag“ der Jugendbewegung und – hinsichtlich der politischen Sozialisation – zugleich der problematischste. In der Gruppe scharen sich die Jugendlichen um einen „Führer“. Der hat nun aber nichts gemein mit dem alten Lehrer-Zensor oder Vater-Diktator, dem man ja wenigsten zeitweise entfliehen will. Er ist meist ein wenig älter, verständnisvoll, leitet die Besprechungen. Von ihm kann man „auf natürliche Weise“, nicht schulmäßig, etwas lernen, wie auch von anderen Mitgliedern. Er ist (möglicherweise) „demokratisch“ gewählt; bemüht sich, den „Gruppenwillen“ zu respektieren und zu repräsentieren – und vor allem: er geht mit „durch dick und dünn“, bietet Sicherheit und ein lebendiges Beispiel. (Selbstverständlich schützte die kameradschaftliche Nähe nicht vor autoritären Verhältnissen und es gab auch Probleme im sittlichen und sexuellen Bereich. Das war Grund für Kontroversen und Abspaltungen. Auch gab es grobe Sitten, die manchen Jugendlichen abgeschreckt haben dürften. Diese negativen Erfahrungen waren aber vermutlich nicht allgemein.) – Der Gruppenführer konnte, weil er eben mitgeht und Kamerad ist und allen Mitgliedern und (ggf.) auch den Eltern verantwortlich ist, kein Diktator sein, und die Gefolgschaft hatte nicht den Charakter der Unterwerfung. Wenn sich in der „Horde“ dennoch ein Boden für eine gewisse Anfälligkeit für autoritäres Denken gebildet hat, so musste im politischen Raum noch etwas entscheidend anderes, eben
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Neubert, Waltraut (1925): Das Erlebnis in der Pädagogik, Göttingen Vgl. dazu: Scheibe, Wolfgang (1978): Die reformpädagogische Bewegung, Weinheim und Basel: Beltz, darin den Abschnitt: „Die Jugendbewegung und ihre pädagogische Bedeutung“ 100
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nicht originär aus der Jugendbewegung stammendes hinzutreten; namentlich die Übertragung der intimen Gruppenerfahrung auf das „Volk“.101 Es musste noch ein emotionaler Kurzschluss eintreten. Das ist die Ideologie des „volksorganischen Denkens“, die in der kleinen Gemeinschaft einer überschaubaren Gruppe ein Modell der großen „Volksgemeinschaft“ sieht. Dieses Denken artikuliert eine weitverbreitete Sehnsucht, die literarisch unter anderem in den Werken von de Lagarde und Langbehn bedient worden war, Bücher, die auch zum Marschgepäck vieler Jugendbewegter gehörten. Die literarischen Vorbilder ließen Jugendliche anfällig werden für die „Ideen von 1914“ (Kriegsbegeisterung – s.o.). Aus der Erfahrung der Jugendgruppe allein war der Aufbau einer politisch-autoritären Orientierung m.E. nicht zu erwarten – ebensowenig wie, trotz der anwesenden Momente der Mitbestimmung und Selbstverantwortung, eine demokratische Orientierung. Im Vergleich dürfte allerdings die Neigung zum „volksorganischen“ Denken, das im Kaiserreich und in seiner Nachwirkung auch in der Weimarer Zeit politisch ohnehin populär war, die demokratischen Impulse überlagert haben. Es stand mit seiner Mythologisierung der Gemeinschaft dem von der Jugend gesuchten Erleben näher. Mit dem „organischen Volksstaat“ konnten sich die Jugendlichen eher identifizieren; oder mit Schiller gesprochen: ihn konnte das Gefühl des Bürgers eher finden. 5
Gegenwelten: Lebensreform – Metaphern und Konkretionen
Der „organische Volksstaat“ war aber letztlich außerhalb der Seele nicht zu finden, weil es ihn zu keiner Zeit gab. Spätestens im Fiasko des Ersten Weltkrieges war diese Illusion als solche entlarvt, die Sehnsucht danach in den Herzen der Menschen freilich noch nicht besiegt. Sie erlebte im Gegenteil in der Zwischenkriegszeit und dann im „Zweiten Weltkrieg“ eine in der Konsequenz ungleich grausigere und noch immer schwer zu fassende Auferstehung. Es gab aber auch eine andere Möglichkeit der Einhausung in emotional kalter Zeit, nämlich im Modus der Abgrenzung zu ihr. Der Wilhelminische Staat wie auch der Viktorianische setzte zwar den „Machtstaat vor (die) Demokratie“102, ließ aber Räume für zahlreiche „Bewegungen“ frei, zumal für solche, die ihn in seinen ökonomischen und politischen Grundfesten nicht erschüttern konnten oder wollten (wo doch – wie bei den Sozialisten – wusste er sich mit gesetzlichen Mitteln der Gefahr zu erwehren). Man konnte also in den machtfernen Zonen des Machtstaates relativ ungestört aktiv werden und versuchen, mit der „inneren Lebenswende“ im Verein mit anderen die äußere zu vollziehen; zum Beispiel in der „Natur“ und „draußen auf dem Lande“. Dabei konnte die gesamtgesellschaftliche Aspiration im Sinne eines Beispiels für die Rettung des Ganzen, gar der Menschheit insgesamt, durchaus grandiose Dimensionen annehmen. Das ist das große Thema der Lebensreform als Versuch, in der befremdenden Welt eine andere eigene, eine Gegen- oder alternative Welt, zu schaffen. In einer instruktiven Ausstellung „Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900“, die von Oktober 2001 bis Februar 2002 in Darmstadt stattfand, wurde das weite Panorama dieser Versuche eindrucksvoll vor Augen geführt. Die Ausstellung ist in einem zweibändigen, insgesamt über 1200 großformatige Seiten umfassenden Katalog mit der Abbildung der Exponate (Gemälde, Fotos, Skulpturen, Skizzen, Werbeplakate, Tempelbaupläne, Einrichtungsgegenstände, Gebrauchsgegenstände und Produkthüllen aller Art, Tagebü-
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Vgl. dazu auch die kritische Sicht auf die Jugendbewegung in dem Vortrag, gehalten im März 1933 in der „Berliner Deutschen Hochschule für Politik“ von: Bonhoeffer, Dietrich (1933/1987): Der Führer und der einzelne in der jungen Generation, in: Herrmann, Ulrich (Hsg.) (1987): „Neue Erziehung“, „Neue Menschen“: Erziehung und Bildung zwischen Kaiserreich und Diktatur, Weinheim und Basel: Beltz, ebd., S.345-353 102 Nipperdey, Thomas (1992): Deutsche Geschichte 1866-1918. Zweiter Band. Machstaat vor der Demokratie, München: Verlag C.H.Beck
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cher, Bücher und Zeitschriften) zusammen mit über 160 theoretischen Beiträgen zu Einzelfragen dokumentiert.103 Durch die Bildwerke spricht jene tiefe Sehnsucht der Menschen um die Jahrhundertwende nach dem Heilen, Unverdorbenen, nach einer allumfassenden Harmonie – die nachzuempfinden jedem gelingen wird, der sich in die künstlerisch herausragenden unter ihnen (wie die von Ferdinand Hodler, Heinrich Vogeler, Fritz Erler, Otto Modersohn, Edvard Munch und anderen) vertieft. Die Gemälde und auch ein Großteil der Fotografien zeigen diese Welt und in vielen ist die Botschaft eingefasst von Licht, Leben, Gesundheit und vor allem: Verschmelzung mit der Natur. Der ästhetische Eindruck der Einheit Mensch-Natur wird erreicht, indem die Farben der menschlichen Figuren mit den Farben des Hintergrunds harmonisch korrespondieren, die Farben der menschlichen Körper oder die floralen Ornamente der Frauenkleider sich in der umgebenden Natur wiederholen oder erzählerisch Zwiesprache mit der Natur gehalten wird, wie zum Beispiel bei Vogelers Bild „Frühling“. Eine unbekleidet im Heidegras auf dem Rücken liegende junge Frau wendet ihr ernstes Gesicht mit großen Augen der Amsel zu, die auf ihrer nach oben ausgestreckten, in ihrem Gelenk gewinkelten Hand sitzt. – Hodler verlässt sich da nicht auf die Phantasie des Betrachters. Er betitelt ein Bild mit „Das Aufgehen im All“.104 Der weibliche Akt erscheint in einer sonderbaren Entrückung und Verzückung, die eben anzeigt, das mehr gemeint ist, als nur die Verschmelzung mit der Natur. Die zur Verfügung stehenden Malstile wie Impressionismus, Expressionismus und der Jugendstil eignen sich in besonderer Weise für die Darstellung dieser Botschaft, ist in ihnen doch die Tiefendimension des Raumes, mithin die Distanz schaffende Perspektive, aufgehoben. Durch ihre nahezu völlige Ausblendung „zeigen“ die Bilder noch etwas anderes, nämlich auch jene Welt, die den Bildern erst ihren pastoralen Sinn verleiht, die Welt, die es zu überwinden gilt: Großstadt, Industrie, industrielle Arbeitswelt, Verkehr, Technik. – Die am weitesten, in der Kaiserzeit millionenfach verbreitete Ikone des neuen Evangeliums ist das in mehreren Versionen existierende Bild „Lichtgebet“ des unter dem Namen Fidus bekannten Jugendstilmalers, alias Hugo Höppener (1886-1948). Mit dem Untertitel „Freideutscher Jugendtag 1913 Jahrhundertfeier auf dem Hohen Meissner 11-12 Okt“ fand dieses Bild als Postkarte eine massenhafte Verbreitung. Es zeigt als aufgerichteten Rückenakt einen nicht allzu athletischen Jüngling, der am Rande eines hohen Felsens, mit langen windzerzausten Haaren seine in einer Geste der Umfassung ausgebreiteten, etwas schmächtig wirkenden Arme dem lichten Himmel entgegen streckt; ein Vegetarier? Seine Versen haben keinen Bodenkontakt mehr.105 Dieser vielleicht einflussreichste Künstler der Jugend- und Lebensreformbewegung zeigt in einer Vignette auch den einzuschlagenden Weg des Werdens. Am Scheideweg weisen drei Wegweiser in die Zukunft. Ein Weg, der „Kapitalismus“, führt nach rechts auf kurzer Strecke in den Abgrund; ein zweiter, der „Kommunismus“, führt schon weiter, verliert sich aber nach links oben mäandrierend in den Wolken am Horizont, verschwindet gleichsam im Wolkenkuckucksheim; der dritte Weg schließlich, „Bodenreform“, führt in gerader Linie zur rechts oben aufgehenden Sonne.
Will man die Grundzüge dieses neuen Evangeliums des Dritten Weges zusammenfassen, so sind folgende, miteinander zusammenhängende Ideen zu nennen:
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Buchholz, Kai; Latocha, Rita; Peckmann, Hilke; Wolbert, Klaus (Hsg.) (2001): Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, Band I und II, Darmstadt: hausser-media 104 Vogeler: Ebd., Bd II, S.180: Hodler S.170 105 Frecot, Janos; Geist, Johann Friedrich; Kerbs, Diethard (1997): Fidus 1868-1948. Zur ästhetischen Praxis bürgerlicher Fluchtbewegungen, Hamburg: Rogner und Bernhard (über Verlag Zweitausendeins); S.166, Titel. Andere Versionen in: Buchholz u.a. (Hsg.) (2001), a.a.O.
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a) Zunächst eine „neue“ Spiritualität, eine Haltung, die im Gefühl die Einheit des Menschen mit der Natur oder dem Kosmos sucht. Zahlreiche geistig-spirituelle Erneuerungsprogramme wie etwa die universalistische Theosophie (sie „war um die Jahrhundertwende ein gewisser Modetrend“), Anthroposophie (die Umformung und Weiterentwicklung der Theosophie durch den Alt-Theosophen Rudolf Steiner), die Kunstreligion um Stefan George, Adaptionen und synkretistisch Umgeformtes aus dem fernöstlichen Raum106 (Indien, China und Japan), ein in lebensreformerischen Kreisen heiß diskutiertes „Reform-Christentum“ und – in marginaler Position – Germanisch-Neuheidnisches in sehr unterschiedlicher Gestalt: all das bediente das spirituelle Vakuum. Schließlich ist die Lebensreform selbst zu nennen, die sich in Teilen selbst als „Religion des irdischen Lebens“ versteht, indem sie das Streben nach Glückseligkeit ins Diesseits verlagert.107 Auch die zahlreichen meist unrealisiert gebliebenen Tempelbauprojekte und monumentalen Architekturphantasien zielen auf die Versinnbildlichung der spirituellen, das Dasein tranzendental überhöhenden Dimension.108 b) Dann die von Klages und anderen viel beschworene besondere Schöpferkraft der Seele. Als Gegenreaktion auf die Kälte des Rationalismus und des Zweckdenkens, auch in Opposition zu Ansätzen der wissenschaftlichen Psychologie (experimentelle Psychologie, Tiefenpsychologie), entwickelte sich die neoromantische Tendenz „einer Kultivierung des Innenlebens, die der Herzensbildung und dem feinen Lauschen auf Stimmungen Raum erobern wollte und die angesichts der gesellschaftlichen Vermassung Persönlichkeit und Individualität einforderte“.109 c) Spiritualität und Seele bedingen einen anderen als rationalen Zugang zur Natur, als deren Teil sich der Lebensreformer fühlt. Sie wird zum „Fluchtziel, Ursprungsquell und sensualistische(m) Projektionsraum“ der Sehnsucht des Herzens. Natur ist nicht mehr das Fremde, Unheimliche, das wissenschaftlich zu Untersuchende und schließlich technisch zu Bezwingende um uns herum. „Mit dem Begriff ‚Natur‘ verbanden die Lebensreformer Heilsversprechen und Erlösungshoffnungen, Natur, das war das Unverfälschte, das Ursprüngliche, das EwigGesunde und Gesundmachende. Dementsprechend taucht der Zusatz ‚Natur‘ oder ‚Natürlichkeit‘ in vielen Begriffsbildungen der Lebensreform auf, so in Bezeichnungen wie ‚Naturheilkunde‘, ‚Naturkost‘, ‚Naturheilanstalten‘, ‚Naturschutz‘ oder ‚natürliche Lebensweise‘, ‚natürliche Ernährung‘, ‚natürliche Kleidung‘ usw. ‚Zurück zur Natur!‘ war einer der bekanntesten Aufrufe im Kreise der Lebensreform, und dies war in einem doppelten Sinne gemeint, nämlich einerseits als Forderung nach der Erneuerung der Einbindung des Menschen in die Natur und andererseits als Gebot, dem Naturhaften im Menschen selbst stärkere Beachtung entgegenzubringen.“110 Und wenn in der Pädagogik der Zeit auf die Natur zurückgegriffen wird, so schwingt auch hier das Evangelium der Natur als eine rettende Macht mit: natürlicher oder naturgemäßer Unterricht, natürliches Lernen, natürliche Methode, Natur des Kindes – und bis ins Fachdidaktische hinein wie natürliches Singen und Tanzen, natürliche Gymnastik, Malen nach der Natur, Beobachtungen draußen in der lebendigen Natur (im Gegensatz zu den toten Präparaten). All dem liegt der irrationale Glaube zu Grunde, ohne Einspruch und Ein106 Linse, Ulrich (1991): Asien als Alternative? Die Alternativkulturen der Weimarer Zeit: Reform des Lebens durch Rückwendung zu asiatischer Religiosität, in: Kippenberg, H.G. und Cuchesi, B.(Hsg.) (1991): Religionswissenschaft und Kulturkritik: Marburg, S. 325ff; Graf, Friedrich Wilhelm (2000): Alter Geist und neuer Mensch. Religiöse Zukunftserwartungen um 1900, in: Frevert, Ute (Hsg.) (2000): Das neue Jahrhundert. Europäische Zeitdiagnosen und Zukunftsentwürfe um 1900, Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 107 Vgl. Linse, Ulrich (2001): Lebensreform und Reformreligionen, in: Buchholz, Kai u.a. (Hsg.) (2001), Bd. I, a.a.O.,S.193ff 108 Hofer, Sigrid (2001): Orte der Glückseligkeit. Architekturphantasien und utopische Projekte aus dem Kreis der Lebensreform, in: Buchholz u.a. (Hsg.) (2001), a.a.O., Bd. II, S.81ff 109 Buchholz, Kai (2001): Seele, in: ebd. (Bd.II), S.147 110 Wolbert, Klaus (2001): Natur. Fluchtziel, Ursprungsquell u. sensualistischer Projektionsraum, in: ebd., S.185
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fluss sozio-kultureller Determinanten (zu der auch das Medium der Erkenntnis, die Sprache, gehört) gleichsam unmittelbar dem Wesen der Dinge und dem Wesen des Menschen auf die Spur kommen zu können. d) Zur Natur gehört der menschliche Körper, eben vorzugsweise in seiner Natürlichkeit – und dieser wiederum, nicht der Intellekt, spiegelt das volle Leben wider. „Die Rehabilitierung des Körpers – nach jahrhundertelanger Missachtung alles Leiblichen – war der spektakulärste unter den Erneuerungsansätzen der Lebensreform, ... . Mit der Entdeckung der Tatsache, dass vor allem anderen das physisch-materielle, physiologische Dasein die Basis für alle Vermögen und Lebensäußerungen des Menschen ist, rückte der Körper ins Zentrum der Aufmerksamkeit und mit ihm die Fragen seiner Pflege und seiner Gesundheit, seiner Hygiene und Befreiung, seiner Ertüchtigung und – nicht zuletzt – seiner ästhetischen Vervollkommnung.“111 Im Lobgesang des gesunden und schönen Körpers liegen freilich auch schon die Keime jener später durchschlagenden Verirrung, die sich anmaßt, ein richtendes Urteil über das demgegenüber Unvollkommene zu fällen – der Resonanzboden für den Züchtungsgedanken und die Ideologien der „Rassenhygiene“ wird hier vorbereitet.112 e) Das Leben und seine Reform oder – in der apokalyptischen Perspektive seiner zunehmenden Bedrohung – seine Rettung ist das große und mit seinen zahlreichen Konkretionen außerordentlich facettenreiche Programm der Lebensreform. Hier ist an das oben zitierte Wort Nietzsches zum Primat des Lebens „vivo, ergo cogito“ („ich lebe, also denke ich“) und sein Eintreten für alle Kräfte des Lebendigen zu erinnern, die, auch wenn sie vorläufig in unverwandelter Form Böses bewirken letztlich doch zum Guten bestimmt sind. Nahezu alle gegen den Rationalismus der Aufklärung und gegen die Entfremdung des Menschen gerichteten Zweige der Lebensreform finden im Begriff des Lebens zusammen, auch wenn der Begriff selbst in ihrem Rahmen keiner philosophischen Kritik unterzogen worden ist – wie es ja bei all diesen Bewegungen um die Jahrhundertwende nicht um eine stimmige Theorie sondern um das Werden des Neuen und die Tat ging. (Über dem Eingang der Entwürfe Fidus‘ zum „Tempel der Erde“ steht in großen, runenartigen Lettern „TAT“.113) Die Lebensreform findet zu sich im „Fühlen“, „Schauen“, im Mitschwingen im Strom des Lebendigen, mit dem Leben des (besseren) Lebens selbst. Eine philosophische Klärung liegt am ehesten in Bergsons „élan vital“ vor.114 Der Begriff hat keinen ursächlichen Bezug zur frühen Lebensreform, liefert aber m.E. die beste philosophische Deutung des hinter ihr stehenden antimodernen und antirationalistischen Lebensgefühls. (Adolphe Ferrière, Lehrer bei Lietz, Forscher, Protagonist einer Aktivitätspädagogik „école active“, war von Bergsons vitalistischer Psychologie stark beeinflusst. – Ferrière wird uns noch in verschiedenen Zusammenhängen begegnen.) Henri Bergson (1859-1941), französischer Philosoph und Literaturnobelpreiträger des Jahres 1927, sieht in der Entwicklung des Lebens eine naturwissenschaftlich nicht bestimmbare Lebensenergie am Werk. In diesem „élan vital“ gründet „Die schöpferische Entwicklung“ alles Lebendigen, „L’évolution créatrice“ (so der Titel des Hauptwerkes 1907; dt. Jena 1912). Diese ursprüngli111
Wolbert, Klaus (2001): Körper. Zwischen animalischer Leiblichkeit und ästhetisierender Verklärung der Physis, in: ebd., S.339 112 Vgl., Buchholz, Kai (2001): Biologismus, Rassenhygiene und Völkerschauen, in: ebd., S.461f 113 Abbildungen in: Buchholz u.a. (2001), a.a.O., Bd. II, S.85ff. Fidus‘ Symbolik wäre eine eingehendere Betrachtung wert. Darin mischen sich heidnische, christliche und nationale Symbole. Im Eingang des Tempels erscheint ein riesiges Symbol: Aus dem Erdrund schießt eine Flamme auf, die in den vertikalen Balken eines TKreuzes hineinragt, auf dessen horizontalem Querbalken in großen runenartigen Lettern „TAT“ eingraviert ist. Darüber sitzt ein Adler mit ausgebreiteten Schwingen. Der Tempeleingang wird von zwei riesigen Drachen flankiert. 114 Vgl. aber auch: Fellmann, Ferdinand (2001): Die Lebensreformbewegung im Spiegel der deutschen Lebensphilosophie, in: Buchholz u.a. (Hsg.), a.a.O., Bd. I, S.151f. Es kommen darin neben Nietzsche schwerpunktmäßig zur Sprache: Arthur Schopenhauer („Wille zur Macht“) und Georg Simmel, letzterer unter der Überschrift: „Vom Mehr-Leben zum Mehr-als-Leben“
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che, immanente schöpferische Kraft treibt die Materie zu immer neuen Formen und Verästelungen des Lebens und gelangt in der „Dauer“ („durée“, in der stets fließenden Zeit, nicht in der physikalischen, homogenen, „fest-stellbaren“ Zeit) im Menschen zum Bewusstsein ihrer selbst, und zwar im Status des dynamischen Bewusstseins oder der „religion dynamique“. Es ist diese „temps subjectif“, die „subjektive Zeit“, gewissermaßen die Zeit in ihrem Eigencharakter – im Gegensatz zur „temps objectif“, der „objektiven Zeit“ der Physik und der Uhr – , in der sich das Leben als sich stets entwickelndes und im Fluss befindliches Sein im Einzelnen wie im Ganzen kundtut.115
Um das Evangelium eines neuen Lebens lassen sich weitere „erhellende“ Metaphern und Begriffe wie Mutter Erde, Kosmos, höheres Bewusstsein, Echtheit, lichtwärts, Wahrheit, Reinheit, Schönheit, Veredelung, Werden, Entwicklung, Zukunft usw. gruppieren, die insgesamt die besondere emotionale Dynamik, die Tatkraft und den Reformwillen illustrieren.116 Wolfgang R. Krabbe, Autor des 1974 erschienenen Werkes „Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform“117 kennzeichnet mit diesem Titel die Grundintention der verschiedenen Lebensreformbewegungen. Man erwartete das Heil nicht aus der Politik und schon gar nicht aus einer revolutionären Erhebung, sondern aus dem individuellen und Gruppenhandeln hier und jetzt. Am deutlichsten wurde – nach Krabbe – der Erlösungsgedanke bei den Vegetariern verkündet. „Ähnlich stark erscheint (er) bei manchen Vertretern der Naturheilkunde, auch bei der Nacktkultur. ... Die Weltanschauung der Lebensreform beinhaltet im Kern eine säkularisierte (also auf das Diesseits gerichtete – E.S.) gnostisch-eschatologische Erlösungslehre. Ihr dialektisches Geschichtsmodell verläuft nach dem Dreierschritt Paradies-SündenfallErlösung, wobei die Abkehr von den natürlichen Grundlagen des Daseins als der fundamentale Abfall angesehen wurde. Die quasi-naturgesetzliche Struktur dieser Dialektik bedingte den Anspruch exakter Extrapolation auf die zukünftige Entwicklung.“118 Entsprechend wird in der naturgemäßen Lebensweise die Erlösung von den Übeln der Zivilisation erblickt. Krabbe versucht, die äußerst komplexe Struktur der Lebensreform zu entschlüsseln. Es handelt sich tatsächlich um eine Summe von zahlreichen Einzelbestrebungen, die untereinander in vielfältigen Beziehungen stehen und zum Teil spezifische eigene Intentionen (wie gesunde Lebensweise durch gesunde Ernährung) mit denen anderer (wie Nacktkultur) verbinden, die wiederum zusammen in übergreifenden Projekten wie in den Siedlungsbewegungen einfließen können. Krabbe unterscheidet im Wesentlichen drei Gruppen: (a) die periphere Lebensreform: sie zielt auf die Schaffung eines neuen, die zentralen Lebensbereiche umfassenden sozialen Organismus – Ziel ist ein reformiertes Soziotop; (b) die spezifische Lebensreform: ihr „Objekt“ und Ziel ist der Einzelmensch als Leib, über dessen Reform gleichwohl die Reform des „Ganzen“ angestrebt wird; und (c) ein „äußerer Ring“, der sich um den Kern der Lebensreform spannt und verschiedene Einzelbestrebungen umfasst, nämlich all jene, die zu den spezifischen Lebensreformbewegungen in irgend einer nachweisbaren relevanten Beziehung stehen, die also „gewisse verwandte Züge“ aufweisen. Hierzu gehört denn auch die Jugendbewegung und die Reformpädagogik. Ich halte diesen Ordnungsversuch für sehr hilfreich, der Begriff „peripher“ mit seinen Nebenbedeutungen von „randständig“ und „weniger wichtig“ ist aber nicht glücklich gewählt. Auch 115
Bergson, Henri (1907): L’évolution creatrice, Paris; dt. Erstausgabe „Die schöpferische Entwicklung“ 1912, Jena Buchholz, Kai (2001): Begriffliche Leitmotive der Lebensreform, in Buchholz u.a. (Hsg.), a.a.O., Bd.I, S.41ff 117 Krabbe, Wolfgang R. (1974): Gesellschaftsreform durch Lebensreform. Strukturmerkmale einer sozialreformerischen Bewegung im Deutschland der Industrialisierungsperiode, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 118 Krabbe, Wolfgang R. (1998): Lebensreform/Selbstreform, in: Kerbs, Diethart und Reulecke, Jürgen (Hsg.) (1998): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880 – 1933, Wuppertal: Peter Hammer Verlag, S.74 116
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der Begriff „spezifische Lebensreform“ sagt noch nichts aus über die ihren Richtungen gemeinsame primäre Bezogenheit auf das einzelne Individuum. Und der „äußere Ring“ kann als Bestrebungen mit partiellen Bezugspunkten zur Lebensreform ebenfalls inhaltsnäher gekennzeichnet werden. Ich schlage also andere Sammelbegriffe vor – bei im übrigen völliger Übereinstimmung mit Krabbe in der Sache selbst. (Es ist wichtig zu bedenken, dass sich die verschiedenen Richtungen vielfach aufeinander beziehen und mehrere von ihnen auch individualbiographisch verschmelzen können – wie etwa der vegetarisch in einer lebensreformerischen Siedlung lebende und dort oder außerhalb nach reformpädagogischen Grundsätzen arbeitende Lehrer. Er ist außerdem in der Jugendbewegung aktiv – u.s.w.) (a) Ökotopische respektive sozio-genetische Lebensreform – ihr Ziel ist ein neuer Ort, ein neues „Haus“ (griech. „oikos“) mit einem neuen menschlichen Gemeinschaftsleben. Sie tritt in zwei Hauptrichtungen zu Tage: die Siedlungsbewegung als stadtflüchtige Bewegung hin zu kleinen, überschaubaren sozio-ökonomischen Einheiten, deren Mitglieder in einem dichten Netz sozialer Beziehungen aufeinander bezogen (und gefangen?) sind und in der Gartenstadtbewegung, die das Ziel verfolgt, eine neue mittelstädtische Kultur mit viel Grün und einem reichen, im Vergleich zur Siedlung allerdings sozial weniger „dichten“ Gemeinschaftsleben zu schaffen. Krabbe gibt einen zusammenfassenden Überblick: „Die Siedlungsbewegung, die von der Jahrhundertwende bis nach dem Ersten Weltkrieg unter dem Einfluss von Lebensreformern und Jugendbewegten ihre Blütezeit erlebte, vereinigt in paradigmatischer Weise die Impulse zur Stadtflucht. Die Siedlungen wurden als ‚gelebte Utopien‘ geplant, die ‚das künftig Mögliche keimhaft vorwegnehmen‘. Auf der ökonomischen Grundlage des Gemeineigentums an Grund- und Boden („Bodenreformbewegung“ – E.S.) entstanden Landkommunen, welche die unterschiedlichsten Ziele verfolgten. Die einen verstanden sich als christliche, aber antikonfessionelle Gemeinschaften, die anderen als völkische, Rassereinheit und Zuchtauswahl pflegende Genossenschaften, dritte versuchten es mit sozialistischen oder anarchistischen Lebensweisen und vierte wollten gesundheits- und diätetikorientierte Lebensformen ausprobieren. Viele dieser Siedlungen vereinigten indes in sich mehrere solcher disparaten Zielsetzungen. Allen gemeinsam war 1. die Ablehnung der bestehenden Produktionsverhältnisse, zumal das Privateigentum an Grund und Boden, sowie das ökonomische Profitdenken; 2. das Streben nach ‚Natürlichkeit, Wahrhaftigkeit und Echtheit‘ als Grundlage der Gemeinschaftsbildung; 3. die Begründung von Lebensgemeinschaften als eigentliches Ziel der Landkommune und 4. der Wunsch nach einem naturverbundenen Leben jenseits von Großstadtzivilisation und Entfremdung.“ Krabbe geht des weiteren den Gründen für ihr meist nur kurzes Bestehen nach (Weltfremdheit, Fehlen von landwirtschaftlichen und kaufmännischen Kenntnissen, Egozentrismus der beteiligten Genossen). Eine bemerkenswerte Ausnahme bildet die Obstbaukolonie Eden in Oranienburg bei Berlin, die seit über einem Jahrhundert bis heute besteht und als ein lebendiger Spiegel zahlreicher Einzelbestrebungen, auch pädagogischer, angesehen werden kann. Krabbe weiter: „Erfolgreicher war da schon die Gartenstadtbewegung, die in den von dem Engländer Ebenezer Howard und dem deutschen Theodor Fritsch in den 1890er Jahren unabhängig voneinander entwickelten Modellen einer autonomen Mittelstadt ihren Ausgang nahm. Beide Modelle stimmten in ihrem Grundriss, in der Zonung nach den unterschiedlichen Stadtfunktionen sowie in der strukturellen Betonung von Parks und Gärten überein. Überall in Europa entstanden auf Initiative Howards zu Beginn des 20. Jahrhunderts Gartenstadtgesellschaften, auch in Deutschland. Mit der Gartenvorstadt Hellerau bei Dresden gelang 1906 der erste Modellversuch der deutschen Gartenstadtbewegung. In ihr besaß sie ein Anschauungsobjekt, mit dem sie für ihre Ziele werben konnte, für Dezentralisierung von Industrie und Gewerbe, für ästhetisch ansprechendes und menschenwürdiges Wohnen sowie für eine natur-
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nahe Lebensweise.“119 Siedlungs- wie auch Gartenstadtbewegung standen den Zielen der Bodenreformbewegung nahe. In den Gartenstädten wurden die Wohnungen ohne Kündigungsrecht seitens der betreibenden Gesellschaft an die Besitzer verpachtet. (b) Individual-genetische Lebensreform – ihr Ziel ist der neue Mensch, insbesondere im Medium einer neu verstandenen Leiblichkeit, der, wenn er massenhaft auftritt, auch eine „kollektive Erlösung von physischer und psychischer Krankheit“ bedeutet. Die wichtigsten Ausprägungen sind: der Vegetarismus, die Naturheilbewegung und die Nacktkultur. Krabbe sieht im Vegetarismus den „Kern der Lebensreformbewegung“120. Er vertrat „auch Elemente sozialreformerischer Programme wie Siedlungs-, Bodenreform-, Wohnungsreform- und Antialkoholbewegung und integrierte diese in das globale Spektrum seiner Vorstellungswelt.“ Auch zur Naturheil- und Nacktkulturbewegung besteht ein enger Zusammenhang – alle drei waren aus ethischen und/oder gesundheitlichen Gründen im allgemeinen Anhänger einer fleischlosen Kost. „Der Vegetarismus ... peilt die Zielvorstellung eines irdischen Glückszustandes an und sieht hierin durchaus Parallelen zum Sozialismus. Allerdings will er die Reform beim einzelnen ansetzen: Lebensreform ist Selbstreform. Insofern kann sich die Gesellschaftsveränderung nur über die Veränderung der persönlichen Einstellung und des persönlichen Verhaltens aller Menschen vollziehen. Die Gesellschaftsveränderung ist somit eine Folge des Übergangs jedes einzelnen Menschen zur naturgemäßen Lebensweise, die ihn in harmonische Übereinstimmung mit den Naturgesetzen bringt.“121 Nicht nur die gesunden nährenden Kräfte der Natur werden von der Lebensreform gesucht, sondern auch – im Falle einer bestehenden oder zu befürchtenden Disharmonie – die heilenden. „Die Krankheiten gelten der Naturheilkunde als Folgen der schlechten Umwelteinflüsse (worin sich wiederum der enge Zusammenhang mit der soziotopischen Lebensreform erweist – E.S.), die der Zivilisationsmensch durch Rückkehr zu naturgemäßen Lebens- und Heilweisen, mit reiner Diät auf vegetarischer Basis, mit Wasseranwendung, Bewegung, Lichtund Luftbädern, selbst mit Hypnose, also durch natürliche Heilreize, zu bekämpfen hat.“ Dabei steht nicht das Kurieren von Einzelsymptomen im Mittelpunkt, sondern, wegen des Zusammenhanges aller seiner Glieder, der ganze Mensch („Ganzheitsmedizin“). Die Nacktkultur (auch Nudismus oder Freikörperkultur genannt) ist unter anderen Förderern auch mit dem oben erwähnten Maler Fidus und mit dessen Lehrer Karl Wilhelm Diefenbach (1851-1913) verbunden. „Von vegetarischen und naturheilkundlichen Lebensweisen ausgehend, propagierte sie Konzeptionen der Körperkultur und der Gymnastik in freier Natur sowie des Licht-Luftbades, die eine Veredelung von Leib und Seele hin zu einem ‚Vollmenschentum‘ bewirken sollten. Andererseits ging es der Nacktkulturbewegung um eine Befreiung der Zivilisationsmenschen aus den Fesseln einer prüden und scheinheiligen Sexualmoral, die in der Nacktheit nicht den Ausdruck des Natürlichen, sondern des Sündhaften sehen wollte. Die Nudisten waren dagegen davon überzeugt, dass die Nacktkultur den Geschlechtstrieb in seine natürlichen Schranken weise, dass sie die sexuelle Überreizung verhindere und dem Menschen zu einem von der Natur geregelten Sexualempfinden verhelfe. Diese neue Sexualmoral wollten die Nudisten auch zur Grundlage einer Reform der Erziehung machen, und sie fanden in der Jugendbewegung , ... , Mitstreiter für eine vorurteilsfreie Geschlechterbeziehung.“ Es gab früh schon einen völkischen und später in der Weimarer Zeit einen sozialistischen Flügel dieser Bewegung. In der Nacktkultur („Lichtmenschen“, „Lichtbewegung“, „Fackelträger“) wie in der gesamten Lebensreform spielte die Metaphorik des Lichts eine bedeutende Rolle. „Die Lebens119
Ebd., S.25. Siehe auch: Linse, Ulrich (1983): Zurück o Mensch zur Mutter Erde. Landkommunen in Deutschland 1890-1933, München:dtv (Dort zum Thema wichtige weiterführende Literaturhinweise) 120 Das weist mit einer sehr gründlichen Studie nach: Barlösius, Eva (1997): Naturgemäße Lebensführung. Zur Geschichte der Lebensreform um die Jahrhundertwende, Frankfurt/New York: Campus 121 Krabbe (2001), a.a.O., S.26f
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reform sah sich auf dem Wege zum Licht, nachdem sie die Wahrheit geschaut und die Finsternis verlassen hatte.“122 (c) Als Strömungen, die in einem affirmativ-partizipatorischen Verhältnis zur Lebensreform stehen nennt Krabbe123 u.a.: Bewegung der Körperkultur (natürliche Gymnastik), Kleidungsreform (luftige, zweckmäßige Kleidung), Sexualreform (Betonung von Liebe und freier Partnerwahl), Jugendbewegung (s.o.), manche Teile der Frauenbewegung, Reformpädagogik (insbesondere, wie noch näher zu zeigen, in den Landerziehungsheimen und in den Schulen der lebensreformerischen Soziotope), Jugendmusik- und Laienspielbewegung, weite Bereiche der Kunst und Literatur des Fin de siècle (Jugendstil, Ausdruckstanz, Kunstgewerbebewegung, Heimatliteratur und Heimatkunst, Heimat(schutz)bewegung). Ferner bestehen zahlreiche Affinitäten zu Strömungen der Philosophie (Lebensphilosophie, Monismus), Religion und Esoterik (Mazdaznan, Buddhismus- und Hinduismusrezeption, Freireligiösentum, Theosophie und Anthroposophie) und schließlich auch zu biologistischen Weltanschauungslehren (Sozialdarwinismus, Eugenik, Rassenlehre). – In all diesen Haupt- und in den partizipierenden Nebenströmungen der Lebensreform kommt das spirituell-vitalistische Konzept der Überwindung von Entfremdung zum Ausdruck.
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Zum Zusammenhang von Lebensreform und Reformpädagogik
Auf den Zusammenhang von Lebensreform und Reformpädagogik ist, u.a. auch von Krabbe, verschiedentlich hingewiesen worden. Sigrid Walther geht sogar so weit, die Reformpädagogik als einen von vier Schwerpunkten der „Lebensreform im engeren Sinne“ zuzuordnen. Es soll an dieser Stelle nicht entschieden werden, wie eng ein solcher Zusammenhang zu sehen ist. Eine Untersuchung der Reformpädagogik allein unter dem Aspekt ihrer Zugehörigkeit zur Lebensreform könnte freilich ihre tiefen erziehungs- und sozialgeschichtlichen Wurzeln sowie die zahlreichen schulpädagogischen Momente nicht hinreichend erschließen und reflektieren. In historischer und systematischer Sicht ist die Ansicht aber gerechtfertigt, „dass reformpädagogische Ansätze mit lebensreformerischen durchdrungen sind, wie umgekehrt Lebensreformer in ihren Erziehungsvorstellungen auf Erkenntnisse und Methoden aus der Reformpädagogik zurückgegriffen haben.“124 Die Bezeichnung „Landerziehungsheim“ und auch die in der Weimarer Zeit gängige Bezeichnung der reformpädagogischen Schulversuche als „Lebensgemeinschaftsschulen“ sind ohne die zeitgenössischen lebensreformerischen Konzepte (Natur und Leben) nicht zu verstehen. Der Begriff „Reformpädagogik“ signalisiert schon den umfassenderen Bezug zur Reformära der Jahrhundertwende. Ohne die These im einzelnen an dieser Stelle belegen zu können, ist doch bis in die großen Schulkonzeptionen der Reformpädagogik ein jeweils als mehr oder weniger eng zu veranschlagender Zusammenhang auszumachen. Selbst ein gesellschaftlich so heikler Sachverhalt wie die Nacktkultur ist in erziehungsreformerischer Absicht aufgegriffen worden. Fotos in dem Buch „Bilder und Quellen der Erziehungsgeschichte“ zeigen Jungen und Mädchen der fünften Klasse einer Bremer Versuchsschule beim Baden, einige davon sind nackt – zu einer Zeit, als noch heftig über die sittlichen Vor- und Nachteile der Koedukation diskutiert wurde. „In den Duschräumen im Keller der Schule, die die Versuchsschulkinder einmal in der Woche nutzten, duschten Jungen und Mädchen bis zum vierten 122
Ebd., S.28f Vgl. ebd., S.29 124 Scholz, Joachim (Dezember 2000): „Haben wir die Jugend, so haben wir die Zukunft“ – Die Obstbausiedlung Eden (1893-1945) als ein alternatives Gesellschafts- und Erziehungsmodell, Magisterarbeit an der Universität Potsdam, S.33 (Manuskript; den Hinweis auf diese Arbeit verdanke ich meinem Flensburger Kollegen Andreas von Prondczynsky) 123
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Schuljahr gemeinsam, danach nach Geschlechtern getrennt. ... Zeitzeugen berichten von der Erregung der ungewohnten Begegnung mit dem anderen Geschlecht, aber auch, dass sich der freimütige Umgang über die Schule hinaus durch die Jugendzeit erhalten habe. Einige der Versuchsschülerinnen und -schüler haben später geheiratet und allem Anschein nach für ihre Generation ungewöhnlich gleichberechtigte Beziehungen ausgebildet.“125 Der freizügige Umgang der Geschlechter gehörte auch in vielen Landerziehungsheimen, die ja als die Avantgarde der Neuen Erziehung angesehen wurden, zum Programm. So weist Adolph Ferrière in dem 30 Punkte umfassenden Kriterienkatalog zur Neuen Erziehung im Zusammenhang mit der „natürlichen Gymnastik“, „die entweder vollständig nackt oder wenigstens mit bloßem Oberkörper im Freien ausgeführt wird“, darauf hin, dass sie positive sittliche Folgen zeitige.126 In dem 1920 veröffentlichten Katalog programmatischen Charakters finden sich zahlreiche Bezüge zur Lebensreform; wie auch die Landerziehungsheime wichtige Momente der Lebensreform überhaupt integrieren. – Reformpädagogik verknüpft sich also mit der Lebensreform ... ... und umgekehrt. Zahlreiche lebensreformerische Soziotope haben eigene Schulen beherbergt, denn wie hätte man besser als über die Erziehung zur ideellen Reproduktion und Kontinuität der eigenen Gruppe beitragen können. In manchen von ihnen war es offenbar im Sinne der angestrebten Überwindung von gesellschaftlichen Übeln selbstverständlich, die Pädagogik im Sinne der Neuen Erziehung zu gestalten, die ein gleiches wollte in Bezug auf die erstarrten Strukturen in der Schule. Das gilt etwa für die Internationale Schule in der Gartenstadt Hellerau bei Dresden. Hier hatte der später mit seiner freiheitlichen Erziehung in „Summerhill“ berühmt gewordene (und von der libertären Pädagogik der Freien Alternativschulen in den 1970er und 80er Jahren wieder rezipierte) Alexander S. Neill als Lehrer gearbeitet. Zu internationalem Ruhm gelangte auch die Tanzschule Hellerau des Genfer Tanzpädagogen Emile Jaques-Dalcroze (1865-1950), ein Schüler Anton Bruckners. Aus der Hellerauer Tanzschule ging die in der späteren Kunsterziehungsbewegung bedeutend gewordene Rhythmikerin Elfriede Feudel (1881-1966) hervor.127 Sie wird weiter unten noch zu Wort kommen. – Die 1920 mit Unterstützung der außergewöhnlich liberalen Bürgerschaft Hamburgs gegründete Siedlung Langenhorn hatte über viele Jahre eine eigene Volksschule, die nach einem ausführlichen Bericht zu schließen ganz von der Reformpädagogik geprägt war. Sie fühlte sich der „Pädagogik vom Kinde aus“ verpflichtet. Es ging ihr um das Ziel, „die Entfremdung zwischen Kind und alter Schule, den Gegensatz zwischen kindlichem Eigenleben und den diesem Leben fremden Schulgrundsätzen restlos zu beseitigen. Die neue Schule sollte das ‚Haus der Jugend‘ werden“128 Die Schule wird von Franz Hilker konzeptionell den Hamburger Lebensgemeinschaftsschulen zugeordnet.129 – Auch ist an das Arbeitskommuneexperiment des Kommunisten und Malers Heinrich Vogeler zu erinnern, der in den zwanziger Jahren auf seinem Barkenhoff in der Künstlerkolonie Worpswede unter schwierigsten äußeren Bedingungen eine proletarische Arbeitsschule für Kinder einrichtete. Sie hatte Kontakte zu weltanschaulich verwandten reformpädagogischen Initiativen im Umkreis Hamburgs und zu den Hamburger Lebensgemeinschaftsschulen.130 125
Stöcker, Hermann (1997): KinderSchule – ZukunftsSchule. Eine Bremer Versuchsschule in ihren Bildern, in: Schmitt, Hanno; Link,, Jörk-W.; Tosch, Frank (Hsg.) (1997): Bilder als Quellen zur Erziehungsgeschichte, Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt, S.158f 126 Siehe dazu in dem Kapitel über die Landerziehungsheime. 127 Sarfert, Hans-Jürgen (1992): Hellerau. Die Gartenstadt und Künstlerkolonie, Dresden: Hellerau-Verlag 128 Clasen, Georg (1947): Die Hamburger Staatssiedlung Langenhorn und ihre Schule, Hamburg: Verlag Gesellschaft der Freunde des vaterländischen Schul- und Erziehungswesens, S.64 129 Hilker, Franz (Hsg.) (1924): Deutsche Schulversuche, Berlin: C.A. Schwetschke 130 Rohde, Ilse (1997): Heinrich Vogeler und die Arbeitsschule Barkenhoff, Frankfurt am Main u.a.O.: Peter Lang. Siehe auch: Bilstein, Johannes (2000): Das Jahrhundert des Kindes in Worpswede, in: Baader, Meike Sophia; Jacobi, Juliane; Andresen, Sabine (2000): Ellen Keys reformpädagogische Vision. „Das Jahrhundert des Kindes“ und seine Wirkung, Weinheim und Basel: Beltz
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Etwas ausführlicher soll an die 1893 zunächst unter dem Namen „Vegetarische Obstbaukolonie Eden“ in Oranienburg bei Berlin gegründete Siedlung erinnert werden. Die Kolonie wurde bald auf Grund mangelnden Interesses auf Seiten der Vegetarier in „Obtsbaukolonie Eden“ umbenannt – man nahm dann auch Nicht-Vegetarier auf. Sie existiert noch heute als Genossenschaftssiedlung. „Eden“ kann als Kristallisations- und Integrationspunkt wichtiger lebensreformerischer wie reformpädagogischer Strömungen betrachtet werden. Zu „Eden“ liegt eine ausgezeichnete bildungsgeschichtliche Studie als Magisterarbeit (Potsdam, Dezember 2000) vor, aus der oben bereits zitiert wurde.131 Eine umfassende Studie zu den Osmoseprozessen zwischen Lebensreform und Reformpädagogik im allgemeinen sowie speziell im Hinblick auf die recht facettenreiche „Siedlungs- und Landkommunebewegung“132 ist m.W. noch nicht vorgelegt worden. Schon 1897, also noch vor der Entfaltung der beiden ersten reformpädagogischen Bewegungen im frühen zwanzigsten Jahrhundert, der Kunsterziehungs- und Arbeitsschulbewegung, nimmt die Schule von Eden ihre Arbeit mit sieben Schülern der ersten Klasse auf.133 Von Beginn an hat offenbar der Arbeitsschulgedanke eine gewichtige Rolle gespielt. Das lag gewissermaßen im Wesen der Siedlung, denn nur über einen Bezug zur Arbeit, speziell der Gartenarbeit, konnte es gelingen, die Kinder und Jugendlichen an den „Eden-Geist“ heranzuführen. Die naturnahe Arbeit wurde in Eden ja als ein zentraler Aspekt der Lebensreform angesehen. „Einen ersten Anhaltspunkt (für den Gedanken der Arbeitsschule – E.S.) ... liefert ein 1898 von der Regierung ... übersandtes Schreiben, das Weisungen für die Durchführung des Unterrichts des Lehrers Thierfelder betrifft. Ein Punkt des Schreibens lautet: ‚Eine Beschäftigung der Kinder mit Garten- und anderen Arbeiten ist während der Unterrichtszeit nicht statthaft, ...‘ Der genaue Hintergrund für diese Anweisung liegt im Dunkeln. Ohne es gänzlich von der Hand weisen zu können, ist doch zu vermuten, dass hier nicht Kinderarbeit angeprangert, sondern aus noch mangelnder Sachkenntnis (seitens der Aufsichtsbehörde – E.S.) einem später bedeutsamen Element Edener Schulpraxis das Wasser abgegraben werden sollte.“134 Überhaupt belegen die Quellen einen andauernden Konflikt zwischen Schulaufsicht und Edener. Es gibt aber auch Beispiele für die Lernfähigkeit der Inspektoren. Während die „Schulzucht“ noch 1911 gerügt wird (vor allem wegen der ausgeprägten Fragetätigkeit der Kinder), kommt die Schulaufsicht zwei Jahre später zu einem günstigen Urteil, möglicherweise auch als Wirkung der seit einigen Jahren stattfindenden Diskussionen um einen kindgerechten Unterricht. „Man muss sich erst in dieses moderne Fragen der Kinder u. Zwischenrufen hineinfinden. Der soviel befragte Lehrer bleibt aber der Kinder durchaus Herr, u. das Fragen wird wirklich dem Unterricht nutzbar.“135 In den „Edener Mitteilungen“ sind gelegentlich Berichte über die Arbeit in der Schule und Gedanken über Erziehungsfragen abgedruckt. In ihnen wird die spezifische Arbeitsweise und das Lehrer-Schüler-Verhältnis transparent. Beides zeigt die Nähe zur Reformpädagogik.136 „Bei allen diesen Wanderungen und Spielen ist der Lehrer der gute Kamerad der Schü131
Scholz, Joachim (Dezember 2000): siehe oben Feuchter-Schawelka (1998): Siedlungs- und Landkommunebewegung, in: Kerbs, Diethart und Reulecke, Jürgen (Hsg.) (1998): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880 – 1933, Wuppertal: Peter Hammer Verlag 133 Auf die sehr wechselvolle Geschichte der Schule soll hier nicht weiter eingegangen werden. Unter www.eden-eg.de/schule sind nähere Informationen zu finden, zusammengestellt vom „Förderverein Edener Schule e.V.“ 134 Scholz (Dezember 2000), a.a.O., S.64f 135 Schulinspektor Orphal an Regierung in Potsdam: Bericht über den am 8. September 1913 ermittelten Zustand der Schule zu Eden, Archivmaterial, Brandenburgisches Landeshauptarchiv in Potsdam, zitiert ebd., S.67 136 Scholz geht a.a.O. S.62ff den „Reformpädagogische(n) Bestrebungen an der Edener Schule“ ausführlich nach. Er weist auf Verbindungen von Lehrern und einer Lehrerin zur Landerziehungsheimbewegung und zu Berthold Otto hin. 132
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ler, der erfahrene Leiter. Der ‚gestrenge Herr Lehrer‘ ist nicht vorhanden. Und er braucht auch nicht da zu sein. Die Kinder gehorchen ohne viel Zwang, halten von selbst eine gewisse Ordnung. Es braucht niemand zur Arbeit getrieben zu werden. ... Und wenn Geschichte erzählt wird, ... , wenn die Heimat lebendig wird, dann leuchten die Augen, dann rückt alles näher an den Lehrer und oft ist die Stunde zu kurz. Und erst das Naturerkennen! Was bei uns zu sehen ist, wird beobachtet, genau betrachtet ... Alle Arbeit geschieht, wie gesagt, ohne Zwang. Der Stock ist verbannt und sogenannte Strafarbeiten kennen wir nicht.“137 Der Edener Lehrer Otto Kohnert äußert sich an anderer Stelle zur „Aufgabe der Schule im Wirken der ländliche(n) Siedlung“. In diesem Beitrag entwickelt er aus seiner Erfahrung heraus Grundsätze, die sich „auf jede ländliche Neusiedlung übertragen“ ließen. Es geht ihm um die Erziehung zum „Kolonisten“. Darin findet sich – offensichtlich in der Nachwirkung de Lagardes und Langbehns – manch Völkisch-Germanisch-Mythisches, Anwürfe gegen „Stammesfremdes“, gegen die klassische Bildung, „Italien (sei) das Grab der deutschen Kraft“. Es finden sich aber auch Bemerkungen aus dem Geist der Neuen Schule, die sich zusammenfassend kennzeichnen lassen als Plädoyer für die Achtung des Kindes, für ein behutsames Vorgehen „mit viel Geduld und Nachsicht“, für eine spielerisch-kreative Schulung der Sinne im frühen Schulalter, für selbständiges Beobachten und „Aufschreiben“ der Beobachtungen, für partizipatorische Momente wie das Fragerecht der Kinder usw. „Die Richtigschreibung darf zuerst kein Hindernis bilden, wenn nur richtig gesehen worden ist und keine Phrasen gemacht werden.“ Und weiter: „Der Unterricht muss immer mehr ins Freie verlegt werden, damit das, was das Kind außerhalb des Schulunterrichts erlebt, seine Umwelt, auch von der Schule gewürdigt und verarbeitet wird. Nur so entsteht kein Zwiespalt im Kinde, nur so entwickelt es sich in ununterbrochen aufsteigender Linie.“138 Das mag als Beispiele für die Offenheit der Edener Schule gegenüber den „neuen“ pädagogischen Ideen genügen. Sie ist sicher zunächst der Person dieses – wie die Zeitzeugen übereinstimmend berichten – außergewöhnlich engagierten, beliebten und weit über die Schule bis in zahlreiche kulturelle Belange der Siedlung hinein einflussreichen Lehrers geschuldet – wie auch dem ebenfalls engagierten Wirken anderer Lehrerinnen und Lehrer. Dahinter steht gleichwohl ein strukturelles Moment. Reformpädagogik wie Lebensreform geht es um die Überwindung des „Zwiespaltes“ im Menschen, um die Überwindung der befremdenden Kluft zwischen der technisch-rationalen Außenwelt und der gefühlten, seelischen Innenwelt. Beim schon verdorbenen Erwachsenen bedarf es einer radikalen Umkehr bzw. Rückkehr, eines Sinneswandels („Zurück o Mensch zur Mutter Erde“139), einer Abwendung vom verderblichen alten und einer Hinwendung zum richtigen neuen Leben. Beim noch unverdorbenen Kinde ist die Möglichkeit gegeben, es über sein Einleben in eine reformierte Umwelt und eine einfühlende Erziehung „ununterbrochen“ sich zum besseren Leben hin entwickeln zu lassen, so dass der „Zwiespalt“ gar nicht erst entsteht. Das idealisierte Kind wird zum Hoffnungsträger der Sehnsucht des Erwachsenen. Der Lebensreformer erkennt im idealisierten Kind sein eigenes ideales Selbst. Die reale Kluft zwischen beiden – der „Sündenfall“ einer krankmachenden Zivilisation – gilt es im Falle des Kindes gar nicht erst entstehen zu lassen und im eigenen Falle zu überbrücken. Das kann zum Beispiel schon in der pädagogischen Situation geschehen, wenn die althergebrachte Frontstellung des Lehrers beseitigt wird. Lebensreformer, Kolonist und Lehrer Kohnert ist dem Paradies wohl nirgends näher, als bei seiner Arbeit mit den Kindern, beim Spielen und Wandern und besonders beim Erzählen, wenn „alles näher an den Lehrer“ heranrückt. Im sonstigen sozialen Leben Edens dürfte dagegen das Paradies weniger greifbar gewesen sein. Es gab Meinungsverschiedenheiten und 137
Anonym (vermutlich Lehrer Otto Kohnert): Die Schule der Kolonie Eden, in: Edener Mitteilungen, 5. Jahrgang, Nr. 1, Februar-März 1910, S.8 138 Kohnert, (Otto) (1913): Aufgabe der Schule im Wirken für die ländliche Siedlung, in: Edener Miteilungen, 8. Jahrgang, Heft 1 Febraur-März, S.4ff 139 So beginnt das weiter unten auszugsweise zitierte Gedicht des Siedlungsgenossen Karl Bartes.
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Richtungsstreitigkeiten. Drei „politisch-weltanschauliche Traditionslinien“ machten sich geltend: „Neben einem pazifistisch-internationalistischem Strang, der vornehmlich von Vegetariern getragen wurde, die damit einer ‚Ethik der Liebe zu allem Lebendigen‘ dienten, existierte eine emanzipatorisch-demokratische, antiautoritäre Richtung. Ihre Vertreter beriefen sich auf das grundsätzliche Demokratieprinzip einer jeden Genossenschaft.“ Daneben gab es als dritte Orientierungslinie „die nationalistisch-konservative und traditionalistische Dimension Edens. Hier ist der ideologische Hintergrund des Bodenreformgedankens maßgebend.“140 Lehrer Kohnert fühlte sich zweifellos der letztgenannten Traditionslinie am nächsten. Er konnte sicher aber auch Momente der beiden anderen Linien pädagogisch integrieren – die „Liebe zu allem Lebendigen“ und sein Eintreten für eine zwangfreie, „antiautoritäre“ Erziehung – , so dass er in der pädagogischen Praxis die divergierenden Momente zu überbrücken und ohne politisch motiviertes Dreinreden zu unterrichten vermochte. Die Trauer nach seinem frühen Tod für das „ihm über alles geliebten Volk und Vaterlande“141 1916 im Ersten Weltkrieg vor Verdun war in der Siedlung mit Sicherheit ungeteilt. Auf dem ansonsten für seine herausragende Stellung im Umkreis der Lebensreform berühmten Monte Verità142 im Tessin (bei Ascona), Treffpunkt bedeutender Künstler, Literaten, Psychiater, Propheten des Neuen, Tänzerinnen und Tänzer, Wallfahrtsort bekannter und unbekannter Genesung und Sinn Suchender, konnte ich bei meinen Nachforschungen nur wenige Spuren erzieherischer Initiativen feststellen. Immerhin berichtet der Schriftsteller und Anarchist Erich Mühsam (1905) mit Begeisterung von einem Elternpaar, dessen Pflegesohn „die freieste Erziehung (genießt), die man sich vorstellen kann, das heisst gar keine Erziehung.“ Das Kind wird als Mitmensch einfach nur ernst genommen – mit dem besten Ergebnis: „Die Erziehung des kleinen Habakuk zu beobachten, wirkt dieser innerlich verlogenen Verbildung des Kindergemütes gegenüber, wie sie die besten Eltern im besten Glauben betreiben, einfach erlösend.“143 Und Ida Hofmann, die Mitbegründerin der Kolonie auf dem „Wahrheitsberg“ berichtet dem Monographen A. Grohmann über einen Lehrer (in Reformschrift) folgendes: „ein vegetarier u. lerer, drückt sich hier schon einige wochen mit der redlichen absicht, kinder in freierer weise zu erzien, u. ist betrübt, keine forbereitete gelegenheit, d.h. kinder dafür zu finden!“144 Zeitweise wurden auch – nie realisierte – Pläne verfolgt „der gründung eines kindererziehungsheims, etwa im sinne Rousseaus, und ein lehranstalt für gartenbau.“145 Grohmann ist der erste, der über „Die Vegetarier-Ansiedlung in Ascona und die sogenannten Naturmenschen im Tessin“ einen ausführlichen Bericht verfasst hat. – Diese wenigen Andeutungen mögen die These rechtfertigen, dass, wenn sich ein pädagogisches Leben auf dem Monte Verità entfaltet hätte, dieses von der Vorstellungswelt einer freien und natürlichen Erziehung geprägt gewesen wäre. Zwischen Lebensreform und Reformpädagogik besteht eine enge Verwandtschaft. Dass im Rahmen der Lebensreform die Erziehungsfrage notwendigerweise eingeschlossen ist, liegt gleichsam in der „Natur der Sache“. Im Horizont einer diesseits-paradiesischen Vision bleibt jeweils für die nachfolgende Generation noch immer viel zu tun, die eben für diese Aufgaben vorbereitet werden will. So heißt es in dem Bericht zum 25-jährigen Bestehen der 140 Scholz (2000), a.a.O. S. 29 f. Scholz stützt sich auf folgende Untersuchung: Böttger, Christian (1993): Zum Leben in den genossenschaftlichen Siedlungen „Eden“ und „Falkenberg“ vom Beginn ihres Bestehens bis 1933, Manuskript (Eine vergleichende volkskundliche Untersuchung) 141 Scholz (2000), ebd., S.103 (Abdruck des Nachrufs auf Otto Kohnert in den Edener Mitteilungen, 1916/11, S.42) 142 Borsano, Gabriella u.a. (Redaktion) (1980): Monte Verità, Editore Locarno: Armando Dadò 143 Mühsam, Erich (1905/1982): Ascona, Berlin: Verlag Klaus Guhl, S.47f 144 Hofmann, Ida in: Grohmann, Adolf Arthur (1904): Die Vegetarier-Ansiedlung in Ascona und die sogenannten Naturmenschen im Tessin, Halle: Verlag von Carl Marhold (Faksimile-Nachdruck Ascona 1997), S.50f 145 Hofmann, Ida in: Ebd., S.19
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„Obstbausiedlung Eden“ in dem vorangestellten längeren Gedicht des Edener Genossen Karl Bartes u.a. „Und deine Kinder werden künftig/Vollender deiner Freiheit sein./Gesund, genügsam und vernünftig,/in sich geklärt und sittenrein.“146 Es handelt sich übrigens um einen Bericht, der ungewöhnlich offen, ohne sektiererische Phraseologie und ohne billige Polemik über all die inneren und äußeren Schwierigkeiten der Gründungs- und Aufbaujahre Auskunft erteilt. – Die besondere Beziehung der Lebensreform zur Reformpädagogik ergibt sich nun daraus, dass in wesentlichen Punkten Übereinstimmungen festzustellen sind:
Lebensreform wie Reformpädagogik betonen im Rahmen ihrer Lebens- bzw. Erziehungsentwürfe x x
x x x x x x x
den Gedanken der Freundschaft und Brüderlichkeit in den sozialen Beziehungen („Brüderlichkeitsethik“ gegen reine Nützlichkeits- und Profitbeziehungen); insofern beide der Jugendbewegung nahe stehen: den Gedanken des (gewählten oder freiwillig gesuchten) „Führers“ als einer mit Charisma begabten Person, die für die Gruppe, mit und in ihr (und nicht in Opposition zu ihr) für das gemeinsame „Gute“ wirkt; die den „Gruppenwillen“ artikuliert und repräsentiert; den Gedanken des „Natürlichen“ in der Zielperspektive eines erneuerten Lebens respektive im Bild des Kindes und im Methodischen des Unterrichts; das vitalistische Konzept des Lebens und damit verbunden den Primat der „Seele“, des Schöpferischen, Künstlerischen, des Werdens, der Entwicklung, der Eigenaktivität, des Erlebens gegenüber dem bloßen Intellekt; die Wichtigkeit der sinnenhaften und körperlichen Dimension im Leben respektive beim Lernen; die Bedeutung des (unverdorbenen) Kindes als Garant einer zukünftig besseren Welt (Messiasmotiv); den Gedanken einer über ihre jeweilige Konkretion hinausreichende Bedeutung für die Menschheit insgesamt (missionarisches Motiv) die Bedeutung eines nicht-entfremdenden Ortes (Paradiesmotiv: „Neue Welt“ bzw. „Neue Schule“), ein Ort an dem der Mensch „wahrer“ oder „ganzer“ Mensch respektive das Kind „wahres“ Kind sein kann; allgemein die Aufgabe der Überbrückung der Kluft zwischen „falschem“ und „wahrem“ Leben.
Wenn die „Pädagogik vom Kinde aus“ und ihre Künderin, die Schwedin Ellen Key, im Deutschland der späten Kaiserzeit eine so außergewöhnliche Popularität gewinnen konnte, so deshalb, weil sich in ihrem Werk die universelle Sehnsucht nach dem „Werden“ eines neuen Zeitalters im Anschluss an wichtige Debatten der Zeit pädagogisch verdichtet. „Das Neue Zeitalter“, „The New Era“ und „L‘Ère Nouvelle“ – so lauten die Zeitschriftentitel der 1921 gegründeten internationalen „New Education Fellowship“147. Sie bringen damit eine seit langem in der funktionalen Kälte der Moderne gereiften Sehnsucht nach Innerlichkeit, nach menschlicher Wärme in der Gesellschaft auf den Begriff. Es geht zwar um Erziehung, aber nicht nur im Sinne der Fähigkeitsentwicklung und der Einführung in die gegenwärtigen Auf146
Vorstand Oranienburg in der Mark (Hsg.) (1920): Die Obstbausiedlung Eden. Eingetragene Genossenschaft mbH in Oranienburg in den ersten 25 Jahren ihres Bestehens, Oranienburg: Verlag der Obstbausiedlung Eden (die ersten Seiten nicht paginiert.) 147 Boyd, William und Rawson, Wyatt (1965): The Story of the New Education, London: Heinmann. Röhrs, Hermann (1977): Die Reform des Erziehungswesens als internationale Aufgabe. Entwicklung und Zielstellung des Weltbundes für Erneuerung der Erziehung, Rheinstetten: Schindele-Verlag
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gaben von Kultur und Gesellschaft, sondern um deren Transzendierung im Horizont einer lichten Zukunft: Erziehung als Mittel zur Bildung des neuen Menschen und zur Verbesserung der Welt – so lautet das anspruchsvolle Programm.
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„Das Jahrhundert des Kindes“ (Ellen Key) und die „Pädagogik vom Kinde aus“
Und so widmet denn auch Ellen Key (1849-1926) ihr 1900 erschienenes Buch „Barnets århundrade“ „Allen Eltern die hoffen, im neuen Jahrhundert den neuen Menschen zu bilden“.148 In seiner enthusiastischen Besprechung des Buches anlässlich der 1902 erschienenen deutschen Übersetzung „Das Jahrhundert des Kindes“ prophezeit Rainer Maria Rilke dem Werk eine nachhaltige Wirkung: „Und dieses Buch, in seiner stillen, eindringlichen Art, ist ein Ereignis, ein Dokument, über das man nicht wird hinweggehen können. Man wird im Verlaufe dieses begonnenen Jahrhunderts immer wieder auf dieses Buch zurückkommen, man wird es zitieren und widerlegen, sich darauf stützen und sich dagegen wehren, aber man wird auf alle Fälle damit rechnen müssen.“149 Rilke sollte Recht behalten und es lässt sich durch das Jahrhundert zunächst eine ansteigende und in den 20er Jahren wieder abflauende, in den 90er Jahren wieder ansteigende Welle einer recht kontroversen Debatte ausmachen. Begrüßten wie Rilke auch andere Zeitgenossen die „tiefe Denkerin und glänzende Stilistin“ (so die Pazifistin Bertha von Sutthner) attestieren ihr andere Verworrenheit im Denken (Friedrich Paulsen). Stefan Zweig (1881-1942), der Ellen Key persönlich kannte, sieht in ihr eine „wundervolle schwedische Frau, die mit einer Kühnheit ohnegleichen in jenen noch borniert widerstrebenden Zeiten für die Emanzipation der Frau gekämpft und in ihrem Buch ‚Das Jahrhundert des Kindes‘ lange vor Freud die seelische Verwundbarkeit der Jugend warnend gezeigt hat.“150 Die Kontroverse hält an. „Während es für die einen lediglich anarchistisch, wirr und eklektizistisch ist, lesen andere wie Honig (1996 – E.S.) es als ‚Programm einer Modernisierung von Kindheit‘.“151 Insbesondere gegen Ende des 20. Jahrhunderts sind zahlreiche Arbeiten zu Ellen Key erschienen, deren breites Spektrum die Ansicht nahelegt, dass die Beschäftigung mit dem Werk und seiner Wirkung noch lange andauern wird.152 Indessen ist es nicht nur das Mittel der Erziehung, welches den neuen Menschen hervorbringen soll. Auch Eugenik und Rassenlehre werden von ihr in den Dienst jener großen Aufgabe gesehen. Das erste Kapitel des „Jahrhundertbuches“ trägt den provozierenden Titel: „Das Recht des Kindes, seine Eltern zu wählen“. Darin bekennt sie sich, auf zahlreiche internationale Untersuchungen zum Gegenstand verweisend, zu einer eugenisch reflektierten Elternschaft als Verpflichtung gegenüber zukünftigen Generationen. „Keys Bekenntnis zur Eugenik als Grundlage für die Hervorbringung des von ihr angestrebten neuen Menschen zieht
148
Key, Ellen (1905): Das Jahrhundert des Kindes. Autorisierte Übertragung von Francis Maro, Berlin: S. Fischer (13. Auflage 25.–26. Tausend; deutsche Erstauflage: 1902; Neuausgabe mit einem Nachwort von Ulrich Herrmann 1991 bei Beltz, Weinheim und Basel) 149 Rilke, zitiert nach: Weiser, Jan (1995): Das heilige Kind. Über einige Beziehungen zwischen Religionskritik, Materialistischer Wissenschaft und Reformpädagogik im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Würzburg: Ergon-Verlag, S.67 150 Stefan Zweig zitiert nach Andresen/Baader (1998), S.111 151 Andresen, Sabine und Baader, Sophia (1998): Wege aus dem Jahrhundert des Kindes. Tradition und Utopie bei Ellen Key, Neuwied; Kriftel: Luchterhand, S.3 152 Neben den genannten Arbeiten vgl. auch: Dräbing, Reinhard (1990): Der Traum vom „Jahrhundert des Kindes“. Geistige Grundlagen, soziale Implikationen und reformpädagogische Relevanz der Erziehungslehre Ellen Keys, Frankfurt u.a.O.: Peter Lang. Von Prondczynsky, Andreas: Die Kreativität des Kindes und die Grenzen der Erziehung. Auch ein Beitrag zum „Jahrhundert des Kindes“, in: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Pädagogik, Heft 3/1999. Baader, Meike S.; Jacobi, J.; Andresen, S. (Hsg.) (2000): Ellen Keys reformpädagogische Vision. „Das Jahrhundert des Kindes“ und seine Wirkung, Weinheim und Basel: Beltz
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sich wie ein roter Faden durch das ganze Buch.“153 Sie diskutiert über weite Strecken unter Hinweis auf zahlreiche Autoren das Für und Wider von „Massregeln“ zu dem Ziel, die „Ehen der Minderwertigen zu hindern und die der Übermenschen zu fördern“, zitiert aber auch Autoren, die davor warnen, vorschnell „neue Kulturpläne für die Erhebung des Menschengeschlechts durchführen“ zu wollen.154 In den weltanschaulichen und anthropologischen Debatten des 19. Jahrhunderts hatte die Biologie und speziell die Lehre von der Höherentwicklung der Arten eine prominente Rolle gespielt. In diesem geistigen Umfeld ist die Key‘sche Rezeption entsprechender Lehren zu sehen. Eine völkische Rassenlehre ist ihr fremd. Insbesondere ist sie von der Soziallehre eines Herbert Spencer (1820-1903) fundamental geprägt, dem die um das Kind gruppierten „häuslichen Beziehungen (...) die höchsten“ in der Gesellschaft sind. Darin sind Keys Gedanken zum „Heim“ (s.u.) vorweggenommen. Im Rahmen seiner universellen Evolutionstheorie hatte Spencer eine Erziehungslehre vorgelegt („Education“, 1861), die bald in fast 20 Sprachen übersetzt wurde.155 Alle wesentlichen Momente des Key‘schen Erziehungsdenkens und auch ihre soziologischen Ansichten (Primat des Individuums bei der gesellschaftlichen Entwicklung) sind bei Spencer grundgelegt. Key ließ sich von der im „Entwicklungsgedanken“ anscheinend eingeschlossenen Möglichkeit faszinieren, zu einer höheren Form des menschlichen Daseins zu gelangen. „Der Entwickelungsgedanke wirft nicht nur Licht auf einen hinter uns liegenden, durch Millionen von Jahren fortgesetzten Verlauf, dessen schliesslicher Höhepunkt der Mensch ist. Er erhellt auch den Weg, den wir zu wandern haben: er zeigt uns, dass wir physisch und psychisch noch immer im Werden begriffen sind. Während der Mensch früher als eine physisch und psychisch unverrückbare Erscheinung betrachtet wurde, die zwar in ihrer Art vervollkommnet, aber nicht umgestaltet werden könne, weiss man nun, dass er im stande ist, sich zu erneuen; anstatt eines gefallenen (d.h.: mit der Erbsünde belasteten – E.S.) Menschen sieht man einen unvollendeten, aus dem durch unzählige Modifikationen in einem unendlichen Zeitraum ein neues Wesen werden kann.“156 Ellen Key will das Wandern dieses Entwicklungsweges nun nicht mehr dem bloßen Zufall überlassen. „Wer hingegen weiss, dass der Mensch unter unablässigen Umgestaltungen das geworden, was er nun ist, sieht auch die Möglichkeit ein, seine zukünftige Entwickelung in solcher Weise zu beeinflussen, dass sie einen höheren Typus Mensch hervorbringt.“157 Zustimmend verweist sie auf Nietzsche, dass der gegenwärtige Mensch nur „eine Brücke“ sei, „nur ein Übergang zwischen dem Tier und dem Übermenschen“.158 Die damit verbundene Aufkündigung eines moralischen Paradigmas der Aufklärung, dass der Mensch nämlich in sich selbst seinen Zweck trägt und folglich nicht zu irgendeinem Höheren instrumentalisiert werden kann und darf, wird ihr nicht zum Problem. Und in der Perspektive der „Vervollkommnung des Menschengeschlechts“ kann sie dann auch mit Nietzsche ausrufen: „Nicht fort sollst du dich pflanzen, sondern hinauf! Dazu helfe dir der Garten der Ehe.“159 Zugleich favorisiert sie das romantische Konzept der Liebe, dessen Ermöglichung ihr als beste Garantie der Höherentwicklung erscheint. Das in inniger, freier Liebe gezeugte, in harmonischen, gesunden Verhältnissen ausgetragene und in tiefer Liebe und Achtung aufgezogene Kind wird über die Generationen hinweg diesen neuen Typus hervorbringen. Insbesondere der „ersten Liebe“,
153
Andresen/Baader (1998), a.a.O., S.6 Key (1905), a.a.O., S.22 und 25f Vgl. dazu: Weisser, Jan (1995): Das heilige Kind. Über einige Beziehungen zwischen Religionskritik, materialistischer Wissenschaft und Reformpädagogik im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Würzburg: Ergon Verlag, darin den Abschnitt 2.2 „Evolutionäre Theoriebildung: Herbert Spencer“; Spencer, Herbert (1861): Education: Intellectual, Moral and Physical, London: Williams & Norgate (Reprint: 1993 London: Routledge/Thoemmes Press) 156 Key (1905), a.a.O., S.3f 157 Ebd., S.4f 158 Ebd., S.25 159 Nietzsche, zitiert von Key, ebd., S.59 154 155
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„jene Liebe, die die tiefste ist“ traut sie jene evolutionäre Kraft zu. Ihre generative Frucht wäre eine „... Rasse, ...gesund und stark und eine andere ..., als die unsere ist.“160 Der „Entwickelungsgedanke“ steht also hinter Keys kulturkritischem und erziehungsreformerischem Ansatz. Aber es ist nicht dieser von vielen Zeitgenossen akzeptierte Gedanke, sondern die von ihr vorgenommenen Folgerungen und Forderungen für die Erziehung, die – das wurde sogleich erkannt – auch ohne jene Grundlage von genügender Sprengkraft sein konnten. Vor allem hierin liegt das für die Zeitgenossen provokative Moment, das ihr die scharfe Antwort Paulsens eingetragen hat: Ihre Theorien trügen „zur Zersetzung der überlieferten Ordnungssysteme und zu einer neuen ‚individualistisch-antiautoritären Gesinnung‘ bei.“161 Hier sind auch die Motive zu finden, die Ellen Key zur Kritikerin einer Gesellschaft der „Heimatlosigkeit“ werden ließ und zu einer leidenschaftlichen Propagandistin für eine Erziehung, die sich an den je individuellen Bedürfnissen, Neigungen und Interessen des Kindes orientiert – eine Erziehung respektive Selbstentwicklung, die sich mit Hilfe verständiger Erwachsener in einem ästhetisch und intellektuell anregenden, von jeglicher Zensur und Gewalt freien Raum vollziehen soll. „Indem Ellen Key wichtige zeitgenössische Debatten um die Jahrhundertwende rezipiert ... und einen eigenen Beitrag liefert, kann sie zu Recht als eine typische Repräsentantin dieser strömungsdichten Zeit angesehen werden.“ Sie ist „auch eine Repräsentantin reformpädagogischer Bestrebungen, ja mehr noch, sie ist eine der entscheidenden Stichwortgeberinnen der Reformpädagogik.“162 Der Ausdruck „Pädagogik vom Kinde aus“ geht freilich nicht auf Key selbst zurück, sondern auf Johannes Gläser. Er hatte 1920 eine Aufsatzsammlung mit dem Titel „Vom Kinde aus“ veröffentlicht und damit die zentrale Antithese zur „Pädagogik vom Stoffe aus“ formuliert. Gläser: „Ausgangspunkt aller ihrer (der ‚evolutionistischen‘ Pädagogik) Erziehungs- und Unterrichtsmaßnahmen ist das Kind.“163 Jene verdammenswerte „Pädagogik vom Stoffe aus“ vergisst nach Meinung der reformpädagogischen Kritiker über allen Vorschriften und Zielen das Kind als solches. Diese Pädagogik gilt es – mindestens in ihrer Einseitigkeit – zu überwinden. Dazu Anstöße gegeben zu haben, ist das Verdienst Ellen Keys und Theo Dietrich nimmt einschlägige Passagen aus ihrem Werk zu Recht in seiner Quellensammlung zur pädagogischen Bewegung „vom Kinde aus“ auf.164 Die Belastungen der modernen Welt reflektiert Ellen Key jeweils auf eine subjektnahe Weise. „Heimatlosigkeit“ – so überschreibt sie ein Kapitel ihres in Rede stehenden Werkes. Sie betrachtet darin die sich verändernde Qualität der sozialen Nahbeziehungen in der Familie, die „in allen Gesellschaftsklassen“ zu einer „gesteigerte(n) Heimatlosigkeit“ geführt habe.165 Sie beklagt als „sekundäre Ursache des Übels“ in der Gesellschaft – die primäre sieht sie in den nur durch Erziehung zu beeinflussenden „in der Natur begründeten Leidenschaften“ des Menschen – die Abnahme der Dichte der sozialen Beziehungen in der Familie. Die Qualität dieser Beziehungen sieht sie einerseits durch die Ablenkungen bedroht, die durch „Das beständig anwachsende Gesellschaftsleben, das sich unaufhörlich mehrende Vereinsleben und Aussenleben“ auf die Eltern und insbesondere auf die Mutter einwirken.166 Andererseits sieht sie in der – wie wir heute sagen würden – zunehmenden Pädagogisierung des kindlichen Alltages eine Bedrohung des „Heims“. „Je mehr die Sorge für das körperliche und geistige Wohl der Kinder solche an sich vortrefflichen Dinge, wie Gymnastik, Handfertigkeit und allerlei Sport 160
Key, (1905), ebd., S.25 Andresen/Baader (1998), a.a.O., S.7 162 Ebd., S.111 163 Gläser, Johannes, zitiert nach Scheibe, a.a.O. (1978), S.55 164 Vgl. Dietrich, Theo (Hsg.) (1973): Die Pädagogische Bewegung „Vom Kinde aus“, Bad Heilbrunn: Klinckhardt (Quellentextsammlung) 165 Key (1905), a.a.O., S.208 166 Ebd., S.209 161
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hervorruft, desto mehr werden die Kinder vom Heim abgezogen; und sind sie zu Hause, werden sie oft durch Lektionen und schriftliche Aufgaben verhindert, mit Vater und Mutter zu sein – selbst wenn diese ausnahmsweise zu Hause sind!“ Das „gegenwärtige Schulsystem“ auf seiten der Kinder und das „jetzige Gesellschafts- und Vereinsleben“ auf seiten der Eltern sind die beiden großen Übel, die die Zeit beider verbraucht und „das häusliche Leben mehr und mehr“ aufhören lässt.“167 Dagegen betont sie – gleichsam als Gegenwelt und Gegengewicht zum gesellschaftlichen Trend – die fundamentale, überzeitliche Bedeutung eines an Beziehungen und gemeinsamen Tätigkeiten reichen Heimes. Da mögen Erinnerungen an die Zeit einer glücklichen Kindheit und Jugend mitschwingen, die auf Grund ökonomischer Schwierigkeiten des Vaters mit dem Verlust ihres Elternhauses, ein Landgut in Sundsholm, ein jähes Ende fand. Zu der Zeit war Ellen Key bereits etwa 30 Jahre alt, hatte ein Lehrerinnendiplom in der Tasche und konnte und wollte für sich selber sorgen – zu jener Zeit ein mutiger Schritt für eine gebildete Dame aus großbürgerlichen Verhältnissen. „Zu unserer Zeit, sowie zu allen anderen Zeiten – die Lebensanschauung möge im übrigen welche immer sein, die des Heiden oder des Christen, des Juden oder des Freidenkers – wird ein gutes Heim nur von jenen Eltern geschaffen die eine religiöse Ehrfurcht vor der Heiligkeit des Heims empfinden.“168 Es ist diese Vision des heilen Heimes, die sie sensibel reagieren lässt auf die mit der sozialen Frage verbundenen gesellschaftlichen Bedrohung desselben. Ellen Key entstammt zwar einer bürgerlichen Familie – ihr Vater war Mitglied des schwedischen Reichstages – , sie widmete sich aber schon früh in ihrem Leben der sozialen Frage, unter anderem durch ihre langjährige Tätigkeit (1883-1903) am Arbeiterbildungsinstitut in Stockholm. In dem Kapitel „Kinderarbeit und Kinderverbrechen“ stellt sie schonungslos und wortgewaltig die Sünden an den Pranger, die im Interesse des Profits an den Kindern, entweder indirekt durch die Ausbeutung der Arbeitskraft der Mütter mit der Folge „der Verwahrlosung der Kinder und des Hauses“ oder direkt durch unmenschliche Kinderarbeit, begangen werden. „Denn während die massvolle Arbeit das Tier im Menschen veredelt, tötet die unmässige Arbeit den Menschen im Tier.“169 Die „Verbrecherstatistik“ ist ihr ein Beweis, „dass die Gesellschaft selbst die entarteten Kinder schafft, und dass sie, wenn sie sie dann auf den ‚Weg der Tugend‘ züchtigen lässt, wie ein Tyrann handelt, der zuerst einem Menschen die Augen ausstäche und ihn dann prügelt, weil er nicht selbst seinen Weg finden kann!“170 In diesem Zusammenhang geißelt sie die genusssüchtige „Oberklasse“ und die Unfähigkeit der Regierungen, im „Interesse des Ganzen“ zu handeln. „Die jetzige Gesellschaft schafft und erhält das soziale System, dessen Wirkungen ihr dann in den ökonomischen Verbrechen der Oberklasse wie der Unterklasse begegnet.“ Für die Kinder der „Unterklasse“ in der Großstadt mit ihrem „Mangel an Sonnenlicht und reiner Luft“ hält das System nur dies bereit: „Ein zerstörtes häusliches Leben, ein wahnsinniges Schulsystem, ein abstumpfendes Strassenleben“.171 Ellen Key sieht bei der Bekämpfung dieser Übel durchaus die Möglichkeiten einer progressiven Sozialgesetzgebung, die sie auch vehement anmahnt. Ihre gesellschaftspolitischen Optionen liegen dabei ganz auf der Linie einer (nicht-revolutionären) Sozialdemokratie: gegen Kinderarbeit, für Frauen- und Arbeiterbildung, gegen Militarismus, für Frauenstimmrecht, für angemessene Arbeitszeiten und ausreichenden Lohn. Ihr eigentlicher Ansatzpunkt ist jedoch der Einzelne, und zwar in erster Linie der Jugendliche. Gegen die moralisierende Scheinheiligkeit des Christentums gewendet setzt sie auf einen anarchischen Individualismus, auf den „gesunde(n) Egoismus“ der Jugend, in dem zugleich die Kraft zu seiner Überwindung liegt. Mitgefühl ist das Resultat der Einsicht, dass keiner eine „freie, feine, vornehme Persön167
Ebd., S.210f Ebd., S.218 169 Ebd., S.371 170 Ebd., S.360 171 Ebd., S.367f; voriges Zitat: S.357 168
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lichkeit wird“, der die „Persönlichkeiten anderer niedertritt.“172 Eine „starke individuelle Kraftempfindung“ gehe im „edelmütige(n) Alter der Jugend“ einher mit dem Mitgefühl, das im Grunde ein bis ins „Weltall“ reichendes „Gemeingefühl“ auslöst. Der sich selbst transzendierende Egoismus respektive Individualismus führt schließlich zu einer geradezu ekstatischen Identifikation mit dem Leidenden, so dass Ellen Key an die Worte des Dichters Walt Whitman (1819-1892), ein Repräsentant des amerikanischen Transzendentalismus, ein Gewährsmann auch von Carpenter (s.o.), erinnern kann: „Ich frage nicht, ob mein verwundeter Bruder leidet. Ich werde selber dieser Verwundete.“173 Damit ist auch das Wesen des kindlichen Egoismus, für dessen Berechtigung Ellen Key eintritt (s.u.), bestimmt: es handelt sich letztlich um einen Egoismus, der sich aus sich selbst heraus vernichtet. Eine solche Persönlichkeit ist für Ellen Key letztlich auch die Bedingung der Möglichkeit zum Werden einer besseren Welt. Sie kann freilich nicht mittels einer Erziehung heranwachsen, die keinen Begriff von jener Art Individualität und der ihr gemäßen Behandlung hat, schon gar nicht in den Schulen der „Jetztzeit“. Diese sind für Ellen Key Einrichtungen, in denen es massenhaft zu „Seelenmorden“ kommt. „Der Schule der Jetztzeit ist etwas gelungen, das nach den Naturgesetzen unmöglich sein soll: die Vernichtung eines einmal vorhanden gewesenen Stoffes. Der Kenntnisdrang, die Selbstthätigkeit und die Beobachtungsgabe, die die Kinder dorthin mitbringen, sind nach Schluss der Schulzeit in der Regel verschwunden, ohne sich in Kenntnisse oder Interessen umgesetzt zu haben. ... Eine geringere Intelligenz oder eine geringere Arbeitskraft, oder ein geringeres Aneignungsvermögen als die Natur ihnen zugedacht, das ist gewöhnlich das Resultat der zehn, zwölf Schuljahre; und es liegt eine tiefe Weisheit in dem französischen Witz: Sie sagen, dass Sie nie in die Schule gegangen sind – und sind doch so stockdumm?“174 Als eines der Hauptübel bezeichnet Key den Versuch der Schule, übergeordnete Ideen wie Familie oder Staat zu repräsentieren. Das führe unabwendbar zur Unterdrückung des Schülers, um dessen individuelle Förderung es doch aber gehen muss. Dass sie selbst im Banne einer übergeordneten, vermeintlich als wissenschaftlich erwiesene und quasi-religiös geglaubten Idee steht, erkennt sie nicht als mögliches Problem. Keys radikal-individualistische Sicht auf Erziehung scheint keine allgemeine Zielperspektive zu ermöglichen. Nun ist bereits in ihrem Begriff des jugendlichen, sich letztlich selbst-transzendierenden Egoismus ein ethisches Moment eingeschlossen. Es kann in seiner Absolutheit nur evolutionstheoretisch geglaubt, nicht aber philosophisch begründet werden. In der Charakterisierung des Sozialisten, Lehrers und Schulgründers Harry Lowerison kann dann die Formulierung eines Erziehungsziels gesehen werden, das durchaus im Bereich einer universellen Ethik liegt. Es entbehrt jeglicher Merkmale eines wie auch immer gedachten „Übermenschen“. Gründlich frustriert von seinen Erfahrungen als Lehrer in einer „normalen“ englischen Schule hatte Lowerison im Januar 1900 das „Ruskin School Home“ (Hunstanton, Norfork) mit ungefähr 25 Kindern, „darunter einige Mädchen“, eröffnet. Im Sommer besuchte Key diese Schule und in ihrem „Jahrhundertbuch“ bringt sie einen enthusiastischen mehrseitigen Bericht von dieser „jüngste(n) und radikalste(n) der englischen Reformschulen“. Dieser Schule gilt offenbar ihre ganze Sympathie, während sie andere Reformschulen (sie nennt verschiedene aus dem Umkreis der internationalen Landerziehungsheimbewegung) nur mit manchen Einschränkungen als beispielhaft in ihrem Sinne gelten lässt. Besonders beeindruckt ist sie von der „Freimütigkeit und Offenherzigkeit der Kinder“, dem harmonischen Gemeinschaftsleben, dem dort gepflegten innigen Bezug zur Natur. „Der Stundenplan der Schule wird je nach Ebbe und Flut verschoben, da das Bad – ebenso wie Sonne, Luft und gesunde reichliche Nahrung – für die Entwickelung eines harmonischen Menschen als unentbehrlich angesehen wird.“ In diesen Bemerkungen kann durchaus eine Nähe der Schule wie auch von Key selbst zu lebensreformerischen Bestrebungen gesehen werden, die zu jener Zeit in Eng172
Ebd., S.375f Ebd., S.378 (Hervorhebung von E. Key) 174 Ebd., S.221f 173
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land wie auch in anderen Industrieländern in einer gewissen Blüte standen. In Lowerison sieht sie nun – und das ist zweifellos auch ein Spiegel ihres Selbst- und Sehnsuchtsbildes – „alle Kennzeichen des neuen Menschen, d. h. er ist ein religiöser Freidenker, ein sozialistischer Idealist, ein naturkundiger Schönheitsanbeter und freisinniger Enthusiast für die Erziehung durch Menschlichkeit zur Menschlichkeit.“175 „Durch Menschlichkeit zur Menschlichkeit“ lautet also ihr schlichter Erziehungsgrundsatz, mit dessen Umkehrung das menschenverachtende Erziehungssystem der „Jetztzeit“ zu charakterisieren wäre, nämlich als die Perpetuierung der Unmenschlichkeit durch eben diese. In gelebter Menschlichkeit nach Maßgabe eines guten Heimes und in dem Glauben an die Höherentwicklung des Menschen, die sich dann einstellt, wenn man das Kind sich in Ruhe entwickeln lässt – darin gründet ihre Vorstellung von einer neuen Erziehung, die – gemessen an der alten – eigentlich eine Nicht-Erziehung (bzw. eine negative Erziehung) ist. Denn: „Das Kind nicht in Frieden zu lassen, das ist das grösste Verbrechen der gegenwärtigen Erziehung gegen das Kind. Dahingegen wird, eine im äusseren, sowie im inneren Sinne schöne Welt zu schaffen, in der das Kind wachsen kann; es sich darin frei bewegen zu lassen, bis es an die unerschütterliche Grenze des Rechts anderer stösst, – das Ziel der zukünftigen Erziehung sein.“ Und noch deutlicher wird die naturalistische Sicht auf Erziehung in den Sätzen ausgesprochen: „Ruhig und langsam die Natur sich selbst helfen lassen und nur sehen, dass die umgebenden Verhältnisse die Arbeit der Natur unterstützen, das ist Erziehung.“176 Wenig später hatte der Reformpädagoge Ludwig Gurlitt seine mit Key verwandte, freilich um nationalistische Obertöne angereicherte Sicht auf die „Natürliche Erziehung“ mit den keineswegs ironisch gemeinten Worten auf den Begriff gebracht: „Wir sind alle zu Biologen geworden.“ Und er präzisiert: „Der Mensch wächst körperlich und er wächst damit zugleich auch geistig. ... Dem Menschen wächst der Verstand ebenso wie ihm die Haare wachsen, und er bekommt Gedanken und Sprache ebenso, wie er Zähne bekommt.“177 Der Erzieher ist demnach als Moment „der umgebenden Verhältnisse“ nichts weiter als ein Helfer der Natur, oder besser: ein Evolutionsgehilfe, denn in dem Begriff „Natur“ ist die Idee „einer fortgesetzten Evolution“ enthalten. „Natur“ erhält einen quasi-religiösen Charakter respektive den Status einer gegen das Christentum gerichteten Ersatzreligion. Hier zeigt sich, dass der Diskurs über Erziehung eingelagert ist in einen anderen, ursprünglich religiösen178, namentlich in den der Suche nach dem letzten Sinn des Lebens. Im „Lichte der Religion der Entwicklung“179 (Key) sind fortan die Probleme der Erziehung zu verorten oder besser gesagt: als solche entfallen sie, weil sie von der Evolution gelöst werden. Die Evolution, deren Wirken von Key durchaus gemäß der Biologie im Zeitraum von Äonen veranschlagt wird, wird dabei kurzerhand auf die individuelle Lebensspanne, vor allem auf die Phase der Kindheit, projiziert. Zugleich huldigt Ellen Key einer naturalistischen bzw. materialistischen Psychologie nach Maßgabe physikalischer Gesetze. Das „Böse“ kann nicht, etwa durch „plötzliche Eingriffe“, bekämpft werden. Es kann nur „verwandelt“ werden. Auch hier ist sie durch Nietzsches Anthropologie geprägt, der von der Möglichkeit der Wandlung wilder Kellerhunde in liebliche Vögel geträumt hatte.180 „Man ist noch nicht überzeugt, dass der Egoismus des Kindes berechtigt ist, ebenso wenig wie man von der Möglichkeit überzeugt ist, das Böse in das Gute zu verwandeln. Erst wenn 175 Ebd., S.307ff; Hervorhebung von mir (Vgl. auch: Manton, Kevin (1997): Establishing the fellowship: Harry Lowerison and Ruskin School Home, a turn of the century socialist and his educational experiment, in: History of Education, Volume 26/1, S.53-70) 176 Key, ebd., S.110 (Hervorhebung von mir) 177 Gurlitt, Ludwig (1909): Erziehungslehre, Berlin: Wiegandt & Grieben, S. 63f und 67f 178 Vgl. dazu: Weisser, Jan (1995): Das heilige Kind. Über einige Beziehungen zwischen Religionskritik, materialistischer Wissenschaft und Reformpädagogik im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Würzburg: Ergon Verlag, besonders: „3. Mythos Kind und Erziehungsreflexion zu Beginn des 20. Jahrhunderts“, S.67ff 179 Key (1905), S.184 180 Siehe dazu am Ende des Abschnittes über Carpenter in diesem Kapitel.
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man die Erziehung des Kindes auf die Gewissheit gründet, dass Fehler nicht versöhnt oder ausgelöscht werden können, sondern immer ihre Folge haben müssen, aber gleichzeitig auf die Gewissheit, dass sie in einer fortgesetzten Evolution umgewandelt werden können, durch langsame Anpassung an die umgebenden Verhältnisse, erst dann wird die Erziehung anfangen Wissenschaft, Kunst zu werden. Man wird dann allen Wunderglauben an die Wirkung plötzlicher Eingriffe aufgeben. Man wird nach dem Prinzip der Unzerstörbarkeit der Materie auch auf psychologischem Gebiet handeln und niemals glauben, dass eine Seelenanlage ausgerottet, sondern nur eines von beiden: herabgedrückt oder zu einem höheren Wert erhoben werden kann.“181 Die Worte, die Ellen Key für ihre Erziehungsvorstellungen findet, können als das dichteste Konzept einer naturalistischen „Pädagogik vom Kinde aus“ gelesen werden. Die Kritik daran soll an dieser Stelle nicht ausführlich dargelegt werden – sie wird ohnehin ein begleitendes Moment der nachfolgenden Kapitel bleiben. Die „Pädagogik vom Kinde aus“ ist, wenn auch häufig in weniger radikaler Form, manchmal aber auch als ideologisches Moment zur Rechtfertigung autoritärer Momente – die im übrigen auch schon bei Key angelegt sind – , ein Kennzeichen reformpädagogischer Erziehungs- und Unterrichtskonzeptionen. Nur so viel: Eine naturalistisch-evolutionistische Pädagogik ist theoretisch unmöglich, weil in ihrem Rahmen sowohl das dialogische Gegenüber des Erziehers (es ist auch als fehlbar-menschliches Gegenüber notwendig und konstitutiv) als auch der Anteil der Kultur (er bedeutet im Ganzen sowohl Steigerung wie Begrenzung von Möglichkeiten) im Erziehungsprozess nicht angemessen reflektiert werden kann; und sie ist – Ellen Key liefert mit ihren zum Teil sogar recht detaillierten Ausführungen zu Inhalten und Formen des Lernens in ihrer „Schule der Zukunft“182 u.a. auch den Beweis dafür – praktisch nicht realisierbar, weil zahlreiche pädagogische Entscheidungen notwendig außerhalb des kindlichen Willens liegen und außerhalb jeglicher rational begründbarer Evolutionstheorien getroffen werden müssen. Schon Regener, Oberlehrer an einem Lehrerseminar in Braunschweig, Verfechter der herbartianischen Pädagogik und einer Kant‘schen Ethik der Pflicht, hatte in seiner „kritischen Würdigung“ der „Prinzipien der Reformpädagogik“ 1910 gegenüber Ellen Key den Einwand erhoben: „Aber eine Selbstentfaltung im strengen Wortsinne gibt es nicht: alle Kräfte des Kindes können sich nur entfalten durch Berührung mit seiner Kulturumgebung.“183 So kann auch Key ihre naturalistische Position über weite Strecken programmatisch nicht durchhalten. Sie verwickelt sich in Widersprüche, wenn sie auf die bei manchen Kindern bestehende Notwendigkeit einer „Art Dressur“ während „der ersten drei Lebensjahre“ oder gar auf die generell bestehende Notwendigkeit zum Erlernen von Gehorsam „und zwar absoluten Gehorsam“ hinweist, möglichst rechtzeitig „bevor sein Eigenwille unangenehm wird!“184 Schon im Begriff des Gehorsams liegt das Moment notwendiger Einordnung in einen größeren Zusammenhang sowie das Zugeständnis der Möglichkeit, dass das Kind sich in seinen ungehinderten individuellen Äußerungen selbst und anderen schaden könne. So muss der naturalistische Erziehungsbegriff relativiert werden – und das geht bei Ellen Key stellenweise gar bis zu seiner Unkenntlichmachung: „Der neue Erzieher wird durch planmässig geordnete Erfahrungen das Kind stufenweise lehren, seinen Platz im grossen Zusammenhang des Daseins und seine Verantwortung gegen alles, was es umgiebt, einzusehen, während andererseits keine der individuellen Lebensäußerungen des Kindes unterdrückt werden soll, insofern sie nicht dem Kinde selbst oder anderen zum Schaden gereicht.“ So entgeht auch sie nicht der eigentümlichen Dialektik von „Führen“ (als Einführung in die Kultur und Begrenzung schäd181
Key, ebd., S.111 So die Überschrift des VI. Kapitels ebd. 183 Regener, Fritz (1910): Die Prinzipien der Reformpädagogik. Anregungen zu ihrer kritischen Würdigung, Berlin: Gerdes & Hödel, S.13 184 Key, ebd., S.126f 182
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lichen Verhaltens) und „Wachsenlassen“ (als Entwicklung genuiner Anlagen). Deren Vermittlung als Prinzip der Erziehung wird Theodor Litt später gegenüber einseitig kind-orientierten, naturalistischen und vitalistischen Positionen eindringlich anmahnen.185 Das Prinzip der Verantwortung – es bleibt bei ihr durch die Ausweitung auf alles Umgebende merkwürdig unbestimmt – und das Konzept planmäßigen erzieherischen Eingreifens führen nun aber bei Key nicht zu einer Konflikttheorie der Erziehung oder zum Ansatz des Begriffs einer dialogischen Erziehung als dem Ort, wo die Interessen und Bedürfnisse des Kindes mit den – in Stellvertretung des Staates, der Gesellschaft, der Kultur, einer weltanschaulichen oder religiösen Gruppe usw. erhobenen – Ansprüchen des Erziehers in Berührung sowie im geglückten Fall zu einer fruchtbaren Begegnung zu bringen wären. Erziehung bleibt bei Key ein Vorgang der Natur – trotz der zahlreich formulierten, freilich nie systematisch vorgenommenen Relativierungen, die als solche denn auch nicht (an)erkannt werden können. Statt dessen verweist sie den Erziehungskonflikt radikal, man möchte sagen: gnadenlos, ins Innere des Kindes, nämlich als sein eigener einsamer Kampf zwischen Selbstbehauptung (Machtwille) und Anpassung an die Umwelt. Als Moment dieser Umwelt tritt der – letztlich seiner Persönlichkeit und seiner individuellen Eigenart beraubte, aber ins-traute-Heimverliebte und evolutionskundige – Erzieher auf den Plan. „Man (gemeint ist der neue Erzieher – E.S.) wird das richtige Gleichgewicht zwischen der Spencerschen Definition des Lebens als der Anpassung an die umgebenden Verhältnisse, und Nietzsches Definition des Lebens als des Willens zur Macht herzustellen suchen.“186 Sie hält also an dem von ihr implizit widerlegten naturalistischen Begriff der Erziehung fest, nämlich in der Form eines seelischen Binnenkampfes sozial-darwinistischen Ausmaßes, der eben als ein solcher der naturgesetzlich verankerten Botmäßigkeit eines weit höheren, erzieherisch letztlich nicht repräsentierbaren Willens unterliegt: nämlich dem in der Evolution beschlossenen Ziel der Herausbildung eines neuen Menschentypus‘ in einem neuen Zeitalter.
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Rettende Erziehung im Dienste eines „neuen Zeitalters“?
Eine Kritik der Rettungspädagogik Key‘schen Zuschnitts wird sowohl die Problematik eines Kindbildes reflektieren müssen, das die unerfüllten Erlösungshoffnungen und gewiss oft irrationalen Sehnsüchte der Erwachsenen den Kindern auflädt, als auch die Funktionalisierung der Lehrperson bzw. des Erziehers. Die Inthronisation des Kindes als Erlöser erfolgt bei Ellen Key mit den hymnischen Worten: „Bevor nicht Vater und Mutter ihre Stirne vor der Hoheit des Kindes in den Staub beugen; bevor sie nicht einsehen, dass das Wort Kind nur ein anderer Ausdruck für den Begriff Majestät ist; bevor sie nicht fühlen, dass es die Zukunft ist, die in Gestalt des Kindes in ihren Armen schlummert, die Geschichte, die zu ihren Füssen spielt – werden sie auch nicht begreifen, dass sie ebenso wenig die Macht oder das Recht haben, diesem neuen Wesen Gesetze vorzuschreiben, wie sie die Macht oder das Recht besitzen, sie den Bahnen der Sterne aufzuerlegen.“187 Wenn sie dies begreifen, dann „wird das zwanzigste Jahrhundert das Jahrhundert des Kindes werden. Es wird es in zweifacher Bedeutung: in der, dass die Erwachsenen endlich den Kindersinn verstehen werden, und in der anderen, dass die Einfalt des Kindersinns auch den Er185 Litt, Theodor (1927): „Führen“ oder „Wachsenlassen“. Eine Erörterung des pädagogischen Grundproblems, Leipzig und Berlin (in der Folge mehrere Auflagen). Vgl. auch: Klafki, Wolfgang (1982): Die Pädagogik Theodor Litts, Königstein/Taunus: Scriptor (darin insbesondere die Kapitel: VI: Die Aufgabe der Schule und das Verhältnis der Pädagogik zu den „kulturellen Mächten“ – Litt und die Reformpädagogik; und VII: „Führen oder Wachsenlassen“) 186 Key (1905), S.122 187 Key (1905), S.181
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wachsenen bewahrt werden wird. Dann erst kann die alte Gesellschaft sich erneuern.“188 Die verbliebene oder wieder entdeckte Kindlichkeit des Erwachsenen verbündet sich mit der ursprünglichen Kindlichkeit des Kindes zu einer Kraft umfassender Erneuerung des Menschen und der Gesellschaft. Das ist die Schöpferseele des Zarathustra, den Nietzsche sagen lässt „O meine Seele, ich nahm von dir alles Gehorchen, Kniebeugen und Herr-Sagen; ich gab dir selber den Namen ‚Wende der Not‘ und ‚Schicksal‘.“189 Dieses Seelenbild entspricht vollständig Keys idealisiertem Kind, einschließlich der an es gebundenen Rettungsvision. Das „Messiasmotiv“ wird bei den Konzeptionen der Reformpädagogik in der Folge in je eigener Gestalt und Gewichtung immer wieder transparent werden. Einerseits erfährt das Kind eine Schonung, indem die alten „Gesetze“ außer Kraft gesetzt werden: der offene Zwang der alten Erziehung mit ihrer rigiden Disziplinierung des Körpers und der intellektuell einseitigen, extern vorbestimmten Ausrichtung des Geistes ist von ihm genommen. Das Kind wird nun konzeptionell und wohl häufig auch in der pädagogischen Praxis als Kind und „ganzer Mensch“ ernst genommen. Es erhält den Status einer Person. Andererseits wird ihm eine untragbare, unerträgliche Last auferlegt, die Friedrich Schiller in seiner spezifisch ästhetischen Sicht schon als Aufgabe für „mehr als Ein Jahrhundert“ bezeichnet hatte, nämlich die Überwindung der großen Widersprüche in der Gesellschaft der Moderne. Das Kind wird zum Garanten des neuen Menschen und einer neuen, friedlichen Weltordnung (Key, Montessori), zum Vollender der kommunistischen Revolution (als kleiner, altruistischer „Industrialist“ in der Arbeitsschulkonzeption des einflussreichen sowjetrussischen Reformpädagogen Blonskij), als „Mitarbeiter“ an der neuen, in der Schule bereits modellhaft vorgebildeten klassenlosen Gesellschaft (bei Freinet) oder als „Glied“ und zugleich endlich als „ganzer Mensch“ in der „Pädagogischen Situation“ einer in der metaphysischen „Ursprungsgemeinschaft“ wurzelnden „Gruppe“ um einen „Führer“ (Petersen). In all diesen Konzeptionen erhält der Lernende verschiedene Titel, meist Ehrentitel, selten jedoch diesen: Schüler, als jemand, der das Einmaleins des Lebens in der Welt der Erwachsenen noch zu erlernen hat. Selbst der Begriff des Lernens wird so gut es geht vermieden, seiner autoritären Konnotationen aus der überkommenen „alten Schule“ wegen. Die Gehalte des neuen Lernbegriffs werden dem Leben entlehnt und so gleichsam vitalistisch aufgeladen. Das Kind beobachtet, erlebt, erfährt, spielt, experimentiert, äußert sich sprachlich und künstlerisch, arbeitet, entwickelt sich, reift heran oder in der Synthese Petersens: es bildet sich in den Grundformen des Gesprächs, des Spiels, der Arbeit und der Feier. Komplementär dazu ist der Erzieher und Lehrer gleichermaßen in einen großen Heilsplan eingespannt, der weit über rational begründbare Erziehungsziele hinausreicht. Einerseits ist er – nun als nicht-sadistischer Mitmensch – der überaus lästigen Pflicht enthoben, ständig mit den Mitteln offener oder verdeckter Zucht (Zensur, Lohn, Strafe, Mahnungen, verdecktmodern: motivierend) auf die Kinder einwirken, Angst verbreiten, Autorität ausüben zu müssen, weil der (reform)pädagogische Kontext erzieherische Autorität – im übrigen erstaunlich erfolgreich – in das soziale, räumliche, ästhetische, zeit-organisatorische und methodische Arrangement hineinverlagert. Das kindliche Interesse wird gebunden, indem ihm eine relative Freiheit und Mitbestimmung gewährt wird. Andererseits wird der Lehrer in Kompensierung seiner entbehrlich gewordenen Amtsautorität einer transzendenten Superautorität unterworfen: Er ist als „Pädagoge vom Kinde aus“ jetzt Diener der Evolution (Spencer, Key, Gurlitt), Künder und Vorbereiter einer zukünftig besseren menschlichen, konfliktfreien, letztlich paradiesischen Ordnung (Momente davon in fast allen reformpädagogischen Konzeptionen) oder gar (bei Rudolf Steiner) der Repräsentant der Weltordnung im Ganzen und der Erziehungsarbeiter im Dienste der alles umfassenden kosmischen Entwicklungsgesetze. Der Erzieher ist nicht mehr in erster Linie Lehrer, sondern zuallererst ein Beobachter, am besten ein wissenschaftlich geschulter, des kindlichen Entwicklungsgeschehens, dessen Enthüllung ihm zum 188 189
Ebd., S. 184 (Hervorhebung von mir) Nietzsche (1980): Also sprach Zarathustra, a.a.O., S.482f
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Maßstab seines Handelns wird. Maria Montessori, Peter Petersen sowie im Rahmen einer okkulten Welt-, Innenwelt und Überweltanschauung auch Rudolf Steiner werden den Aspekt des Beobachtens in je eigener Weise – und bei den beiden erstgenannten wissenschaftsgeschichtlich in weiterführender Weise – hervorheben. – Dieser knappe Vorausblick auf die verschiedenen noch darzustellenden Schul- und Unterrichtskonzeptionen soll hier genügen. Die reformpädagogischen Ambitionen sind also eingewoben in einen weitaus größeren Horizont, in dem die Lösung fundamentaler Fragen des modernen Lebens mittels einer (r)evolutionär gewandelten Erziehung der Gesellschaft angetragen wird. Indem sie existenzielle Sinn- und gesellschaftliche Zielfragen aufnimmt, schickt sich Pädagogik in ihrer Gestalt als Reformpädagogik an, analog zu den Bestrebungen der verschiedenen Lebensreformbewegungen und zum Teil mit diesen verschränkt, die Aufgaben der tatsächlich oder vermeintlich untauglich gewordenen Institutionen der Religion, der Politik und teilweise auch der Familie zu übernehmen. Zugleich versucht sie damit auch die gesellschaftliche Wertschätzung ihrer selbst, der Pädagogik und ihres Personals, zu steigern. Diese Tendenz erfährt nach dem Ersten Weltkrieg noch einmal eine Verstärkung, denn die Katastrophe konnte als ein völliges Versagen der alten gesellschaftlichen Institutionen angesehen werden. Die Nachkriegszeit ist auch die Entstehungszeit einiger neuer reformpädagogischer Schulkonzeptionen, deren Tradition und Weiterentwicklung bis heute zu verfolgen ist. Der überspannte, im wörtlichen Sinne maßlose pädagogische Erwartungshorizont stieß indessen schon früh auf gelegentlich erbitterte Kritik. Regener sieht in der Reformpädagogik in seiner oben bereits zitierten Schrift 1910 einen verständlichen, aber nicht hinnehmbaren Reflex auf die zahlreichen, von ihm im übrigen klar benannten Momente der Verunsicherung in der Moderne. Seine soziologisch fundierte Darstellung der „Ursachen der pädagogischen Reformbewegung“ leitet er mit den Sätzen ein: „Etwa seit Mitte des 19. Jahrhunderts erhob sich in Deutschland die Großindustrie. Sie hat nicht allein das wirtschaftliche, sondern auch das ganze soziale Leben umgestaltet. ... Überall nimmt die Betätigung etwas Fabrikmäßiges an. In der Industrie, im Großhandel, in der Großlandwirtschaft, im Leben der Großstadt, in unseren großen Schulsystemen, in unserem vielfältigen Vereinsleben – überall besteht Massenbetrieb, verschwindet der einzelne in der Masse. Überall lastet der Massendruck auf dem Menschen. Darum ist der Ruf, die Sehnsucht nach Befreiung des Individuums, nach individueller Betätigung nie so stark gewesen wie in unserer Zeit, darum ist das Wort ‚Persönlichkeit‘ zu einem Zauberwort geworden.“190 Ausführlich geht er auf die mentalen Folgen der modernen Umgestaltung ein und nimmt in diesem Zusammenhang kritisch Stellung u.a. zu Nietzsches Herrenmoral des Übermenschen, zu Langbehns „sonderbare(m) Buch“ „Rembrandt als Erzieher“ (s.o.), in dem dieser „Kunstgenuss“ empfehle, um „dem Gemüte für die verlorene Religion Ersatz zu leisten“. Er wendet sich auch gegen die voluntaristische Psychologie Wilhelm Wundts, implizit zugleich gegen den Vitalismus. „Dem Voluntarismus kommt die ganze Zeitlage entgegen: die rastlose Arbeit, der unersättliche Wille, der ungestüme Lebensdrang. Je mehr aber der Voluntarismus erstarkte, desto mehr musste der Wert des Intellekts sinken“ – eine in seinen Augen verhängnisvolle Tendenz, die er in den Bestrebungen der Reformpädagogik mit ihrer Betonung von Spontaneität, Ausdruck, Produktivität, Selbstentfaltung usw. ebenfalls am Werke sieht. Regener hat vor allem die Kunsterziehungs- und Arbeitsschulbewegung im Auge und hebt nur die in ihnen liegenden Momente des Individualismus hervor. Die Entwicklung der wichtigsten schulischen Gesamtkonzeptionen lag noch in der Zukunft und Montessoris Pädagogik, die – fast wörtlich zu nehmen – noch in den Kinderschuhen steckte (nämlich überwiegend noch im Vorschulbereich) war ihm vermutlich nicht bekannt. Seine auf weite Strecken durchaus in kritisch-abwägender Form gehaltene Auseinandersetzung mit den Anliegen der Reformpädagogik seiner Zeit schließt er dann aber doch mit 190
Regener (1910), a.a.O., S.3 und 5f
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einem polemisch gehaltenen Rundumschlag ab: „Widerwärtig ist der krasse Ich-Kultus. Jedes Kind birgt in sich von vornherein einen Künstler, Schriftsteller und Helden, der der Welt ungeahnte Dinge zu sagen hat, der aus sich selbst von vornherein Staunen und Bewunderung erregende Werke produziert, der deshalb das Recht hat, sich in seiner Individualität schrankenlos auszuleben. Dabei kümmert sich die Reformpädagogik nicht darum, ob ihre Konstruktionen mit der Wirklichkeit übereinstimmen oder nicht. ... Und der Stürmer und Dränger erscheint sich als der Genius, der mit seiner Fackel das Licht in eine Welt voll Finsternis hineintragen muss, als der Übermensch, der eine neue Kultur heraufbefördert und damit das Glück auf die Erde bringt. Aber der bloße Subjektivismus, der sich schrankenlos ausleben, sich rücksichtslos emporheben will, hat noch nie Glück gebracht. In aller Erziehung muss die Individualität des Zöglings Berücksichtigung finden; diese Berücksichtigung aber findet ihre Schranke an dem Wohle der Gesellschaft.“191 Das ist der zornige Hieb des Seminaroberlehrers Regener, der seine und anderer verdienter Lehrkräfte redliches Bemühen auf schwierigem Felde von den Neuerern verkannt und verhöhnt sieht. Das auf weite Strecken um Aufklärung redlich bemühte Werk ist mit dem Aufweis zahlreicher Übertreibungen und theoretischer Unzulänglichkeiten zugleich der Beginn einer die Reformpädagogik begleitenden kritischen Tradition, eine Tradition, die sich ihrer selbst bisher nicht genügend vergewissert – und Regeners Pionierleistung nahezu vollständig vergessen hat.192 Theodor Litt wird sich 1926, als die Reformpädagogik historisch gesehen national und international in hoher Blüte stand – es sind die Jahre der Entwicklung zahlreicher bedeutender Reformschulen und der Geburt wichtiger bis heute bestehender Schultraditionen wie die Freinet-, Daltonplan-, Jenaplan- und Waldorfschulen – in den kritischen Diskurs einschalten und nicht nur auf die theoretischen Unzulänglichkeiten des reformpädagogischen Begriffs von Erziehung hinweisen, sondern auch jene bereits ins Auge gefasste Grenzüberschreitung der Pädagogik in andere gesellschaftliche Kompetenzbereiche hinein, ihre Maß-losigkeit, aufdecken. Ich zitiere aus Herrmanns Zusammenfassung eines Vortrages mit dem Titel „Die gegenwärtige pädagogische Lage und ihre Forderungen“, den Litt anlässlich einer Tagung des „Deutschen Ausschusses für Erziehung und Unterricht“ im Oktober 1926 in Weimar gehalten hat. Offenbar in Anspielung auf selbstkritische Stimmen innerhalb der Reformerschaft (wohl Kurt Zeidlers Schrift „Die Wiederentdeckung der Grenze“, Jena 1926) stellt Litt „das allmähliche Ausschwingen einer Welle von pädagogischem Enthusiasmus fest“, wobei noch offen sei, „ob aus ‚Ermattung‘ oder als ‚Wirkung einer Selbstbesinnung‘. Die Pädagogik habe ganz unhaltbare Versprechungen gemacht: die ‚Neugeburt der Menschheit, der Gesellschaft, des Staates‘ (...), und so nenne sich Pädagogik, ‚was in Wahrheit religiöse Prophetie, metaphysische Spekulation, soziales Programm, politische Willensbildung ist‘ (...). Mag dieser Überschwang verständlich und gerechtfertigt gewesen sein, jetzt gehe es um Konsolidierung, und das heißt: um das Erkennen der ‚Grenzen der Pädagogik‘ und um die Rückführung auf das, was sie praktisch und technisch zu leisten im Stande ist.“ Diese Haltung stieß auf den erbitterten Widerstand insbesondere aus dem Kreis des (sozialistischen) „Bundes Entschiedener Schulreformer“. Litt sei, so ein Vorstandsmitglied, „auf dem Schlachtfelde von Weimar als Leiche“ zurückgeblieben.193 Das hatte seine Vorgeschichte, denn schon zwei Jahre zuvor (1924) hatte Litt in einem offenen Brief an Paul Oestreich und seine Freunde im „Bund Entschiedener Schulreformer“ ihnen zwar guten Willen attestiert, aber mangelnden Wirklichkeitssinn vorgeworfen und gefragt, ob sie denn wirklich der Auffassung seien, dass „– der ‚neue Mensch‘ und die ‚neue Gesellschaft‘ mit Hilfe der Erzie191
Ebd., S.80 Bast arbeitet die zeitgenössische Kritik (vor allem: Litt, Bernfeld, Delekat, Grisebach, Plessner, Zeidler, Cohn) an der (deutschen) Reformpädagogik auf, erwähnt aber Regeners kritischen Versuch nicht. Bast, Roland (1996): Kulturkritik und Erziehung: Anspruch und Grenzen der Reformpädagogik, Dortmund: Projekt-Verlag 193 Herrmann, Ulrich (1987): „Neue Schule“ und „Neue Erziehung“ – „Neue Menschen“ und „Neue Gesellschaft“, in: Herrmann, Ulrich (Hsg.) (1987): „Neue Erziehung“, „Neue Menschen“: Erziehung und Bildung zwischen Kaiserreich und Diktatur, Weinheim und Basel: Beltz, S.26f 192
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hung geschaffen werden könnten; – ‚die Brücken, die von dem verdammenswerten, aber trotzdem scheinbar noch recht zählebigen Heute zu dem beseligenden Morgen hinüberführen‘, als Welt der Schule konstruiert werden könnten; ‚weil nie und nimmer die Welt der Schule, die reale wie die gedankliche, die Stelle ist, an der der Hebel zur Umwälzung politisch-kultureller Gesamtzustände angesetzt werden kann‘; – ‚ein von der Leidenschaft der Parteien und Klassen zerrissenes Volk, eine vom Völkerhass entzweite Menschheit ... von der Schule aus zur Eintracht geführt werden‘ könnte?“194 Was ist von den theoretisch angreifbaren reformpädagogischen Vorstellungen für die Entwicklung der Erziehunsgpraxis zu erwarten? Ein ungünstiges Urteil scheint nahezuliegen – und griffe doch zu kurz. Denn: mit dem Key‘schen Fanfarenstoß einer „Pädagogik vom Kinde aus“ wurde ein pädagogischer Enthusiasmus genährt und die Bildung eines pädagogischen Gewissens gefördert, das ernsthaft nach den Interessen und den Bedürfnissen des Kindes, auch des einzelnen Kindes in der konkreten Situation, fragt. Denn wenn es den Reformern ernst war mit ihren Überzeugungen – und es war keineswegs ein bloßes Glasperlenspiel mit erhebenden Gedanken – mussten sie versuchen, den Beweis für die Richtigkeit ihrer Annahme zu erbringen, dass das Kind sich im Wesentlichen aus sich heraus entwickeln kann, dass Erziehung im Wesentlichen Selbsterziehung ist. Einen stichhaltigen Beweis konnten sie freilich nicht liefern, es sei denn man würde zugeben können, dass die Zuarbeit des Erziehers nur von marginaler Bedeutung für das Wie und Was des Lernens, für das „Wesentliche“ der Erziehung sei. Zu diesem Urteil wird aber ein aufmerksamer Beobachter selbst in solchen pädagogischen Umwelten nicht gelangen, die tatsächlich ein hohes Maß an Mitbestimmungs- und Partizipationsmöglichkeiten des einzelnen Kindes kennen. Schon Rousseau betont ja in seinem Erziehungsroman „Emile“ unter den Maßgaben einer natürlichen, respektive indirekten oder negativen Erziehung die Freiheit des Kindes, stellt sie aber unter das Gesetz des allwissenden Erziehers, so dass die wirksame Freiheit eine indirekt kontrollierte, mithin eine solche des subjektiven Scheins ist, die von Rousseau auch als eine solche deklariert und reflektiert wird. Es geht ihm also nicht um das freie, sondern um das sich frei fühlende Kind. Trotz der prinzipiellen Nichtbeweisbarkeit der grundlegenden These einer „Pädagogik vom Kinde aus“, trotz der theoretischen wie praktischen Unmöglichkeit einer paradiesischen Weltschöpfung mit pädagogischen Mitteln sind die Glaubenden und Suchenden nun aber doch fündig geworden – oder besser gesagt: sie waren erfinderisch. Es wird sich zeigen, dass in zahlreichen schulpädagogischen Gesamtkonzeptionen sowie in zahlreichen unterrichtsmethodischen Einzelkonzepten das Kind einen neuen Status erhält. Er ist dadurch gekennzeichnet, dass die Subjektivität des Kindes, seine Mit-Autorschaft im Bildungsprozess wie bei der Gestaltung des pädagogischen Umfeldes als Faktor methodisch viel weitergehend ins Spiel gebracht wird, als dies bei der „didaktisch-methodischen Normalform der Schule“ möglich war und ist. All das konnte die erzieherische Praxis – im Gegensatz zur Publizistik – in der Breite zunächst nur am Rande tangieren; zu stark blieben noch über Jahrzehnte die traditionellen Vorstellungen von Unterordnung und Gehorsam erhalten. Gleichwohl liegen im reformpädagogischen Diskurs die Wurzeln einer demgegenüber anderen Pädagogik, die sich dann mit der Konsolidierung demokratischer Verhältnisse nach und nach wirksamer Gehör verschaffen konnte mit der Folge, dass zahlreiche partizipatorische Momente, nun in gewandelten politischen und damit auch anderen pädagogischen Kontexten, in die Schule eingebracht werden konnten. Das gilt bereits mit den zahlreichen reformpädagogisch inspirierten Schulversuchen und mit der Entwicklung der für alle Kinder gemeinsamen Grundschule („Einheitsschule“) in der Weimarer Zeit, noch mehr aber für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg – so weitgehend, dass das didaktische Leitbild und im An194
Herrmann, ebd. S. 25, Litt referierend unter Bezug auf: Litt, Theodor (1924): Offener Brief, in: Die Neue Erziehung (1924), Heft 6, S.369-374
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schluss daran auch die reale Praxis zumindest der Grundschule in vielen Ländern ohne die reformpädagogischen Impulse in ihrer gegenwärtigen Gestalt nicht zu denken ist. Reformpädagogik als einer auch von zahlreichen irrationalen Momenten durchsetzten und im organologischen Einheitsdenken befangenen Rettungspädagogik gestatten es allerdings nicht, sie insgesamt als das tradierbare „Gute“ einer menschenfreundlichen Pädagogik zu deklarieren. Jene bedenklichen Momente müssen aber, eingedenk der wichtigen weiterführenden Impulse, auch nicht die Grundlage einer generellen Verurteilung abgeben. Bast geht aus der Perspektive des historisch aufgeklärten Nachgeborenen, der die präfaschistischen Keime im reformpädagogischen Diskurs aufzuspüren vermag, gar so weit, dass er den zeitgenössischen Kritikern wie Litt und anderen vorhält, dass „möglicherweise auch diese Kritik das eigentlich Gefährliche des reformpädagogischen Denkens“ wegen ihrer Befangenheit in antimodernen Denkschemata „nicht in seiner vollen Tragweite in den Blick bekommen konnte“.195 Die „volle Tragweite“ ergibt sich für den Nachgeborenen aus der in den Nationalsozialismus hineinreichenden bzw. von diesem okkupierten Momente, wie sie theoretisch im „volksorganischen“ Denken und praktisch vor allem in den jugendbewegten Lebensformen zu finden waren – Reformpädagogik also ein Sammelsurium „gefährlichen“ Denkens, das nicht einmal die zeitgenössische Kritik und Selbstkritik als ein solches zu entlarven vermochte? Man muss nicht an wundersame Wandlungen im Sinne Nietzsches glauben um zu erkennen, dass nicht nur trotz, sondern – im Horizont der in der historischen Situation Handelnden – gerade auch wegen dieser offenbar die Zeitgenossen pädagogisch motivierenden Sehnsüchte nach dem „Ganzen“ und „Heilen“, also auf Grund ihrer „Antimodernität“, auch solche mit ihnen transportierten Ideen nach und nach an Zugkraft gewannen, die sich mittlerweile als wichtige Momente eines pädagogischen Kontextes demokratisch-partizipatorischen Zuschnitts erwiesen haben. Die wesentlichen „modernen“ Einsichten hätten freilich in ideengeschichtlicher Sicht systematisch – wie weiter oben gezeigt – auch aus den erziehungskritischen und erziehungstheoretischen Diskursen von Platon bis Comenius und weiter bis Pestalozzi und Fröbel gewonnen werden können. Nur: die konkrete Geschichte ist eben anders verlaufen, nämlich über den theoretisch brüchigen und ideologisch anfälligen pädagogischen Enthusiasmus einer Reformerschaft und deren zahlreiche pädagogische „Bewegungen“ seit Beginn des 20. Jahrhunderts, die nach Auswegen aus der tief empfundenen Entfremdung in der Moderne suchte und in ihrem Suchen eben komplexe neue Schulgestalten und neue Lernformen (er)fand bzw. aus dem „Leben“ erschloss und pädagogisch wendete. Ihre „Entdeckungen“ gehören heute zum unverzichtbaren Grundbestand schulpädagogischen Wissens. Die Hintergründe seiner Generierung und Tradierung sichtbar zu machen, ist ein schwieriges Unternehmen. Es führt in die Irre, wenn Gründe für ein eindeutiges generalisierbares Urteil, sei es ein tendenziell affirmatives oder ein kritisches, gesucht werden. Gründe für beide Urteile wird man finden – wenn die jeweils widerständigen Sach- und Denkverhalte ausgeblendet werden. Die „Pädagogik vom Kinde aus“ wie die Reformpädagogik insgesamt bleibt ein facettenreiches Phänomen, das als ein solches ins Blickfeld zu rücken ist. Sie repräsentiert weder ein schlichtweg „gefährliches“ noch ein fraglos akzeptables „Erbe“ der Pädagogik, sondern ein nicht klar definierbares, in jedem Fall aber außerordentlich umfangreiches „Testament“, das in historischer, erziehungstheoretischer wie pragmatischer Hinsicht in seiner Ambivalenz, auch in seiner Widersprüchlichkeit immer wieder neu erschlossen werden muss. Reformpädagogik erwuchs gewiss wegen der irritierenden neuen Lebenswelt zu großen Teilen aus einem historisch verständlichen antimodernen Impuls; dennoch liegen in ihr pädagogische Momente begründet – wie Kindorientierung, Selbständigkeit, Lebensverbundenheit, aktives Lernen, Mitbestimmung usw. – ohne die eine „moderne“ Schule heute nicht zu begründen ist. 195
Bast (1996), a.a.O., S.226
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Kapitel 4
Arbeit und Kunst – Erziehung und Bildung im Medium einer vielschichtigen Aktivität Die pädagogische Bedeutung von Arbeit und Kunst wird unmittelbar evident, wenn deren Bestimmungsmomente auf dem Hintergrund der vernichtenden Kritik an der „Alten Schule“ bzw. der didaktisch-methodischen Normalform der Schule gesehen werden. Nahezu all das, was Schule (noch) nicht war und doch sein sollte, schien sich um diese Momente gruppieren zu lassen. Arbeit und Kunst fordern einen Menschen, der im Prozess einer im weitesten Sinne „selbst-tätigen“ Aktivität unter Beanspruchung und Übung seiner körperlichen, sozialen, geistigen und emotionalen Kräfte ein Werk schafft. Im günstigen Falle konnte er an der Bestimmung dessen, was gearbeitet und erarbeitet wird mitwirken. In die pädagogische Situation übertragen bedeutet dies eine Stärkung des Subjektstatus‘ des Schülers mit – vermutlich – erheblichen Folgen für seinen Leistungswillen und seine Lernmotivation. Die vielschichtige Aktivität selbst wie die Orientierung auf ein konkretes, mit den Sinnen erfassbares Produkt geben ihm das Gefühl der Sinnhaftigkeit seines Tuns. Fragen der pädagogischen Zucht und der Führung erhalten im Horizont einer solchen sinnhaften Tätigkeit einen einsichtigen sachlichen Bezugspunkt und der Lehrer kann eher als in der „Zwangsanstalt“ als Anreger, Berater und Mit-Organisator der Klasse bzw. nun der „Arbeitsgemeinschaft“ wirken. Die bildenden Momente der Arbeit lassen sich auf elementarer Stufe bereits am einfachen Werkzeug aufzeigen. Jedes Werkzeug ist gleichsam materialisierte, verdichtete Lebenserfahrung von Menschengruppen und Generationen, gewonnen bei ihrem Versuch, eine ökonomische Basis zu schaffen und eine soziale Ordnung aufzubauen und aufrechtzuerhalten; eine Erfahrung, die sich der einzelne (besser als durch bloße Belehrung) durch den rechten Gebrauch des Werkzeuges wieder anzueignen vermag. Indem man also die Hacke, den Spaten, das Fischernetz gebraucht, bildet der Mensch sich selbst. Im Gebrauch entwickelt und übt er seine geistigen, körperlichen und sozialen Fähigkeiten. Darüber hinaus sind Werkzeuge und deren Gebrauch ein Spiegel der sozialen Ordnung im Ganzen, in die der einzelne eingebunden ist. Das gilt auch und besonders für die weiter entwickelten, komplexen Formen der Ökonomie und Vergesellschaftung im Zeitalter der Manufaktur und Industrie. Die soziale Ordnung wird in der Arbeit gleichsam nebenbei mitgelernt respektive funktional verinnerlicht und kann – allerdings nur in reflexiver Distanz – selbst in den kritischen Blick des Arbeitenden geraten: Wer erntet die Früchte meiner Arbeit und warum kann er sie ernten? Hierin liegt ein mächtiges emanzipatorisches Moment, indem nämlich die vorderhand erlebte Notwendigkeit zu fremdbestimmter Arbeit als Leiden an der Knechtschaft bewusst wird und die Möglichkeit einer anderen Ordnung aufscheint. Hegel hat diesen Zusammenhang aufgewiesen. „Arbeit“ ist für ihn eine dem Menschen und der menschlichen Gesellschaft wesentliche Größe, die dem „Knecht“ im Prozess der Geschichte ein Bewusstsein seiner selbst vermittelt und ihn so aus seiner Knechtschaft, aus einem Dasein als uneigentliches, fremdbestimmtes Subjekt herauszuführen vermag. (Marx hatte später auf die soziostrukturellen Hemmnisse einer solchen Emanzipation hingewiesen, die es nach seiner Auffassung nicht nur zu mildern, sondern revolutionär zu überwinden gelte.) Arbeit als pädagogisches Moment ist keineswegs ein neuer Gedanke in der Geschichte der Erziehung. Nahezu alle großen Erzieherpersönlichkeiten seit dem Ausgang des Mittelalters betonen den erzieherischen Wert der Arbeit. Und bereits in der alten christlichen Maxime und Mönchsregel „ora et labora“, „bete und arbeite“, ist ein Heilsweg markiert, ein Weg der Erziehung und Selbsterziehung, der neben das kontemplative Moment (die „Theorie“ als „Anschauung“ der Wahrheit Gottes) den aktiven Weltbezug (die „Praxis“ als das Tun des
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göttlichen Willens) als gleichberechtigt hinstellt. Aber erst in der Zeit um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wird der Gedanke der Arbeit im Rahmen einer fundamentalen Schulkritik als wesentliche Kategorie der Erziehung breit diskutiert sowie unterrichtsmethodisch und schulpädagogisch zubereitet. Es entstehen zahlreiche Konzeptionen und praktische Versuche der Arbeitsschule – bis hin zu solchen, die in der Arbeit und in „arbeitsschulischen Verfahren“ nicht nur ein mehr oder weniger ausgeprägtes ergänzendes Moment der Schule sehen, sondern von der Arbeit her alle Bildungsaufgaben einschließlich der ästhetisch-künstlerischen zu lösen trachten. Insgesamt hatte diese Diskussion erhebliche Folgen auf Begriff und Inhalt schulischer Erziehung. Es gibt keine reformpädagogische Erziehungs- und Schulkonzeption, die dem pädagogischen Aspekt der Arbeit nicht eine – oftmals zentrale – Stellung zubilligte. Die Spuren dieser Entwicklung ließen sich aber auch bis in neuere Konzeptionen des Werkens, des Projektunterrichts, der Polytechnik/Arbeitslehre, der Betriebspraktika, des Sachunterrichts und in allen anderen didaktisch-methodischen Ansätzen verfolgen, die den handelnden und mitentscheidenden Schüler in den Mittelpunkt stellen. Anders als die Arbeit, die letztlich dem „Reich der Notwendigkeit“ zugeordnet ist, weist die Kunst darüber hinaus auf eine andere Dimension des Lebens. Kunst ist gleichsam ein „Luxusprodukt“, das auf der materiellen Überschussproduktion aufruht und den Geist sowie das Schaffen des Menschen aus der ökonomischen Notwendigkeit entlässt. Es entsteht der Tendenz nach ein „Reich der Freiheit“, in dem der Mensch sich selbst oder das ihm Wesentliche in Bild, Plastik, Gebärde, Sprache, Musik, Tanz zum Ausdruck, also in eine anschauliche, konkrete Form bringen kann, ohne an den Gebrauchswert seines „Produktes“ zu denken. Was künstlerisches Schaffen in der Schule sein könnte, war jedoch in der Schule des 19. Jahrhunderts kaum sichtbar. Im Wesentlichen ging es darum, die großen, klassisch gewordenen Vorbilder zu studieren und sein eigenes Ausdrucksvermögen daran zu schulen oder schlicht Vorgegebenes nachzuahmen. Von der Intention, den „kreativen Selbstausdruck des Kindes“ zu fördern – so der Titel der ersten großen internationalen Erzieherkonferenz der „New Education Fellowship“ im Jahre 1921 – konnte keine Rede sein. Gegen diese „verknöcherten Formen des Kunstunterrichts“ (Konrad Lange, 1901) wenden sich um die vorige Jahrhundertwende zahlreiche Einzelbestrebungen, die zusammenfassend als „Kunsterziehungbewegung“ bezeichnet werden und bald Einfluss auf den musisch-ästhetischen Bereich der Erziehung, auf die Gestaltung des Schullebens insgesamt (Schulmusik, -theater, -tanz, -feste) und darüber hinaus auf die Architektur der Schulhäuser und die Gestaltung der Klassenräume (helle, hohe Fenster, Friese, Bildschmuck) nehmen sollte. Das Wort „frei“ – freie Schülerzeichnung, freier Aufsatz, freier Ausdruck, freier Tanz – bekommt allmählich einen neuen pädagogischen Sinn. Dieser neue, uns heute geläufige und weithin akzeptierte Sinn des Freiheitsmomentes in der Erziehung, das freilich sozial und pädagogisch immer als vermitteltes und so begrenztes gedacht werden muss, war in dem vielstimmigen Chor der Kunsterziehungsbewegung nicht durchweg zu vernehmen. Nationalistische Konnotationen, gesellschaftspolitische Harmonisierungs- und Einigungsphantasien, gar martialisches und rassistisches Gedankengut konnte sich auf dem Rücken einer Rhetorik der Freiheit und des Schöpferischen artikulieren. Carl Götze etwa, Autor der 1898 erschienenen Schrift „Das Kind als Künstler. Ausstellung von freien Kinderzeichnungen in der Kunsthalle zu Hamburg“, sieht im Zusammenhang mit „Unsere(n) Kunsterziehungstagen“ 1905 in Hamburg die Morgenröte einer „innere(n) Kultur“ heraufkommen, die „nach einer Richtung“ zu wenden und zu pflegen ist als eine „dauerhafte Grundlage der Vormachtstellung, die deutschem Wesen in der Welt verheißen ist.“ Zum „freieren höheren Leben“ führe ein in den „Gleichgesinnten“ entfachter „ungeheurer Lebenstrieb“, „ein strenger, kampfeslustiger, wohldisziplinierter Enthusiasmus, ...“1 Und Georg 1 Götze, Carl (1905/1929): Unsere Kunsterziehungstage, in: Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht in Berlin (Hsg.) (1929): Kunsterziehung. Ergebnisse und Anregungen der Kunsterziehungstage in Dresden, Weimar und Hamburg, Leipzig: R. Voigtländer, S. 195 u. 198
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Fuchs bestimmt auf derselben Tagung in Hamburg als volkserzieherisches Ziel der neuen „Schaubühne und durch den mit ihr verknüpften Tanzsport“ die „leibliche und geistige Ausprägung unserer Rasse zu einem schönen, gesunden Typus .... und nicht zuletzt für seine (des deutschen Volkes – E.S.) Kriegstüchtigkeit wäre das Wiedererwachen der Tanzkunst von ... ungeheurer Bedeutung“, so dass man die Unterstützung „unsere(r) deutschen Fürsten und Staatsregierungen“ zur Schaffung einer „deutsche(n) Tanzweise und eine(r) deutsche(n) Schaubühne“ erwarten darf.2 – Kunst und Kunsterziehung werden mittels eines pervertierten Begriffs der Freiheit und des Schöpferischen ideologisch, macht- und gesellschaftspolitisch instrumentalisiert und ihrer Möglichkeit beraubt, einen Spiel- und Gestaltungsraum des freien Ausdrucks zu bilden. Auch die Diskussion um die Arbeitsschule hat auf weite Strecken ihre ideologischen Einschläge, die das in der Arbeit beschlossene Moment der Aneignung von lebenspraktischem Wissen und Gesellschaftswissen in emanzipatorischer Hinsicht verdunkeln. Kerschensteiner, der Hauptvertreter und international weit beachtete Verfechter der Arbeitsschule, stellt seine Konzeption dezidiert in den Dienst einer gesellschaftlich-affirmativen Erziehung – er nennt sie eine „staatsbürgerliche“ – und richtet sie ausdrücklich gegen demokratische und vor allem sozialdemokratische Bestrebungen in der Gesellschaft. Nicht der selbstbewusste, kritikfähige Mensch, sondern der „brauchbare Staatsbürger“ ist Kerschensteiners Erziehungsziel. Es ist ein Mensch, der in seinem gesellschaftlichen Stande dem Staat als Hüter von Sitte und Recht im Ganzen zu dienen hat. Als Glied dieses Ganzen dient er damit zugleich auch seinem eigenen Wohlergehen. Auf Seiten der sozialistischen Konzeptionen zeigt sich ebenfalls die Tendenz, die Arbeitsschule dem Staat, nun aber der zu schaffenden neuen Gesellschaft dienstbar zu machen. In der Perspektive eines utopischen gesellschaftlichen Ideals, in dem der Widerspruch zwischen individueller Bedürftigkeit und gesellschaftlicher Notwendigkeit aufgehoben ist, kann sogar die extreme Arbeitsteilung (Fließbandarbeit) in der modernen Industrie als ein Segen des Fortschritts angesehen werden, weil deren entfremdenden Momente in eben dieser Perspektive als überwunden angesehen werden. Arbeit und Arbeitserziehung erhalten im Horizont einer zukünftigen, von allen Arbeitern angestrebten klassenlosen, befriedeten Gesellschaft einen neuen Glanz – und die Industrie kann als „die ideale Schule der sozialen Erziehung und des sozialen Handelns“ (Blonskij)3 erscheinen. Im einen wie im anderen Falle wird die Entwicklung von Mündigkeit behindert, weil kritische Rückfragen nach der Legitimität von Herrschaft oder Zweifel an der Möglichkeit einer sozialistischen Entwicklungsperspektive als tendenziell staats- bzw. fortschrittsfeindlich denunziert werden können.
1 Konzeptionen der Arbeitsschule „Dem Menschen ist ... der Wissensdrang eingepflanzt und die Fähigkeit, Arbeit nicht nur geduldig auf sich zu nehmen, sondern zu begehren. Das tritt schon im frühesten Kindesalter zutage und begleitet uns durchs ganze Leben.“ (Comenius, 1657)4 Dieser anthropologischen Gegebenheit entspricht eine soziale, indem Arbeit eine fundamentale Größe, eine notwendige Existenzbedingung der Gesellschaften der Vergangenheit und Gegenwart bildet; wie auch der Wandel der Arbeitsformen den Verlauf der menschlichen Gattungsgeschichte entscheidend 2
Fuchs, Georg (1905/1929): Der Tanz, in: ebd., S.193 u. 194 Vgl.: Hackl, Bernd (1990): Die Arbeitsschule. Geschichte und Aktualität eines Reformmodells, Wien. Verlag für Gesellschaftskritik, S.129 4 Comenius, Johann Amos (1657/1970): Große Didaktik, Düsseldorf und München: Helmut Küpper, S.38 (Übersetzt und herausgegeben von A. Flitner) 3
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mitbedingt. Es ist ein naheliegender Gedanke, Arbeit als Mittel der Erziehung und Bildung zu nutzen. Angesichts der Vielschichtigkeit des Phänomens Arbeit sowie der möglichen Vielfalt der Erkenntnisaspekte und –interessen ist zu erwarten, das die Frage nach den Konzeptionen der Arbeitsschule ein breites Spektrum in den Blick rückt. 1.1 Arbeit als Moment der Erziehung: ein Überblick in historischer und systematischer Sicht Karl Odenbach hat in einem historischen Exkurs die verschiedenen Auffassungen von Arbeit im Zusammenhang mit der Herausbildung des Arbeitsunterrichts und der Arbeitsschule untersucht.5 Er unterscheidet verschiedene „Deutungen des Arbeitsunterrichts“, die gleichsam als Hintergrund und teilweise auch als Vorwegnahmen der zu Beginn des 20. Jahrhunderts breit einsetzenden Diskussion betrachtet werden können. Odenbach nennt 11 Ansätze, die ich hier nach seiner zusammenfassenden Übersicht teilweise ergänzend und kommentierend wiedergebe: x x
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Erlernen einer gewerblich zu verwertenden Produktion (Gründung von „Industrieschulen“ und „Industrieklassen“ für die Volksbildung, damit „Arbeitsamkeit und Industriegeist national“ werde, zuerst 1773 in Böhmen durch Ferdinand Kindermann, 1740-1801) Erlernen eines praktischen Lebensberufes zur Erlangung von Lebenstüchtigkeit (Comenius in seiner „Großen Didaktik 1657; John Locke, 1632-1704; Jean Jacques Rousseau, 1712-1778. Rousseau bevorzugt aus erzieherischen Gründen das Schreinerhandwerk und nimmt damit Aspekte des späteren „pädagogischen Slöjd“, des Handfertigkeitsunterrichts in Schweden vorweg.) Sinnvolle Beschäftigung mit Handarbeiten in der Freizeit zur Entwicklung von Geschicklichkeiten und Vermeidung von Müßiggang (bei den Philanthropen des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts A.H. Francke, Basedow, Trapp, Salzmann, André) Pflege einer nützlichen Handfertigkeit, zur Erhebung des „Menschen über die Tierheit“ und zum Dienst am Geiste (Johann Friedrich Herbart, 1776-1841) Darstellung der „Lebenseinigung“ (von Mensch, Natur und Geist) bereits durch „frühe Arbeit“ – zur Entwicklung des Gedankens des „inneren, stetigen und lebendigen Zusammenhanges aller Dinge und Erscheinungen in der Natur“ (Friedrich Fröbel, 1782-1852) Einführung in den Produktionsprozess der sozialistischen Gesellschaft (Sozialdemokratische und kommunistische Parteien) Vermittlung fundamentaler Erfahrungen durch Arbeit in der Erziehung (Nach Woldemar Götze, 1843-1898, gehe es um das Erziehungsprinzip der „Selbstbetätigung des Kindes zum Zwecke seiner Erfahrung“.) Einführung von Lehrgängen in der Handarbeit; Handfertigkeitsunterricht (angeregt u.a. auch aus wirtschaftspolitischen Konkurrenzmotiven; 1881 Gründung des „Deutschen Zentral-Komitees für Handfertigkeits-Unterricht und Hausfleiß“, später umbenannt in „Deutscher Verein für werktätige Erziehung“) Von der Theorie zur Praxis: Praktischer Anwendungsunterricht für theoretische Erkenntnisse in verschiedenen Fächern wie Naturgeschichte, Natur- und Formenlehre (Erasmus Schwab: „Die Arbeitsschule als organischer Bestandteil der Volksschule“, Wien und Olmütz 1873) Von der Praxis zur Theorie: Praktischer Unterricht, der gleichsam „beiläufig“ (Biedermann) zu theoretischen Erkenntnissen führt. „Also beispielsweise Regeln der Geometrie beim Ausmessen eines Gartenbeetes, der Arithmetik und Buchführung bei der BerechOdenbach, Karl (1963): Die deutsche Arbeitsschule, Braunschweig: Westermann, siehe ebd. S.9-28)
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nung der erernteten Früchte, der Geologie bei der Bebauung des Bodens, der Botanik ..., der Physik und Chemie bei der Bearbeitung von Holz und Metall ...“ (Karl Biedermann, 1812-1901) Handarbeit als methodisches Prinzip (angelegt in den beiden letztgenannten und bei Woldemar Götze – s.o.)
Schon diese knappe Übersicht belegt, dass hinsichtlich des Begriffs der Arbeit und seiner möglichen Nutzbarmachung im Rahmen der Erziehung bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts zahlreiche fruchtbare Perspektiven herausgearbeitet sind. In Ergänzung zu Odenbach und als originelles Beispiel des Ansatzes „von der Praxis zur Theorie“ sei auf die Bemühungen des amerikanischen, dem Pragmatismus verpflichteten Philosophen John Dewey (1859-1952) hingewiesen, dessen Erziehungskonzeption Blonkijs „Polytechnisch-industrielle Arbeitsschule“ (s.u.) beeinflusst haben dürfte wie auch umgekehrt das spätere Erziehungsdenken Deweys Anregungen von Blonskij und der frühsowjetischen Pädagogik erhielt. Beiden ist auch die Vorstellung zu eigen, dass die Schule eine „embryonic society“ sein oder werden könne, die das jeweilige gesellschaftliche Ideal – bei Blonskij die klassenlose, sozialistisch-kommunistische Gesellschaft, bei Dewey die Demokratie – abbildet und erlebbar macht. Und Dewey formuliert in seinem „Pädagogischen Credo“ aus dem Jahre 1897 einen Satz, der genau so von Blonskij stammen könnte: „I believe that education is the fundamental method of social progress and reform.“6 1897 gründet Dewey im Zusammenhang mit seiner Lehrtätigkeit an der Universität Chicago die „Laboratory School“, in der er ein Forschungsfeld sieht, in dem seine Ideen in Zusammenarbeit mit Studierenden und Lehrenden erprobt und weiterentwickelt werden sollten.7 Es handelt sich also um eine Forschungsschule, die als solche nicht als Beispielschule für eine vorgängig ermittelte „richtige“ Pädagogik fungiert, wie das in den Übungsschulen der Lehrerseminare des 19. Jahrhunderts ansonsten der Fall war. Dewey reflektiert die überragende Bedeutung von Industrie und Technik für die Entwicklung des Einzelnen und der Gesellschaft. Im Einklang mit den Schulkritikern seiner Zeit verwirft er die auf rezeptives Lernen eingestellte „didaktischmethodische Normalform der Schule“ (s.o.) als dem kindlichen Wesen nicht angemessen und plädiert dagegen für ein handlungsorientiertes, lebensverbundenes Lernen. Der Erziehungshistoriker Willy Moog fasst seine Konzeption bündig zusammen: „Die produktive Tätigkeit und Selbständigkeit des Kindes muss mehr berücksichtigt werden. Die Handarbeit soll im Mittelpunkt des Unterrichts stehen, während Lesen, Schreiben und Rechnen zurückgeschoben werden. Mit dem praktischen Leben soll die Schule in Verbindung gesetzt, technische Fertigkeit vor allem soll entwickelt werden. Dewey vertritt nun eine pädagogische Kulturstufentheorie, nach der (der – E.S.) Bildungsgang des Einzelindividuums den Gang der kulturellen Entwicklung der Menschheit wiederholen soll, und diese kulturelle Entwicklung prägt sich nach Dewey vor allem in dem Fortschritt der Technik aus. Ja Dewey meint, man könne z.B. die ganze Geschichte der Menschheit in der Entwicklung der Textiltechnik zusammenfassen. Im Spiel schon ahmt das Kind die primitive Technik nach, wenn es etwa Pfeil und Bogen benutzt oder Hütten baut. Hieran muss der Unterricht anknüpfen. Die Verbindung mit dem praktischen Leben ist da wesentlich. Botanik z.B. erwächst aus der praktischen Betätigung in Kochen, Spinnen und Weben, zur Physik kommt man von der Beschäftigung mit Uhren, Schlössern u.a.m.“8 – Als einer der Hauptrepräsentanten der „Progressive Education“ in Amerika wird Deweys Ansatz weiter unten im Zusammenhang mit dem „Dalton-Laboratory-Plan“ von 6
Dewey, John (1897): My Pedagogic Creed, New York and Chicago: E.L. Kellogg & Co., S.16 (Zusammen veröffentlicht mit dem Beitrag von Albion W. Small: The demands of sociology apon pedagogy) 7 Vgl. dazu: Kleinespel, Karin (1998): Schulpädagogik als Experiment. Der Beitrag der Versuchsschulen in Jena, Chicago und Bielefeld zur pädagogischen Entwicklung der Schule, Weinheim und Basel: Beltz Verlag 8 Moog, Willy (1967): Geschichte der Pädagogik, Bd. 3, Ratingen bei Düsseldorf: A. Henn Verlag, s. 472
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Helen Parkhurst sowie mit der Projektmethode respektive dem projektorientierten Unterricht erneut zur Sprache kommen. Bernd Hackl hat in einer bemerkenswerten Arbeit die wichtigsten Konzeptionen der Arbeitsschule der ersten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts untersucht. Sein Anliegen besteht darin, historische Erfahrung kritisch anzueignen zu dem Zwecke, eine zeitgemäße Form der Arbeitsschule zu entwickeln. Als Instrument seiner kritischen Analyse dienen ihm 7 Leitfragen, die zusammen den möglichen Umriss einer bildungstheoretischen Grundlegung der Arbeitsschule markieren. In der schulischen Arbeit sieht Hackl den zentralen Ort, an dem allgemein bedeutsame gesellschaftliche Erfahrung mit den subjektiven Interessen des Kindes und Jugendlichen zu vermitteln ist. Demnach nehmen die Leitfragen eine doppelte, dialektisch aufeinander bezogene Perspektive ein. Es geht zum einen darum, die historisch-ökonomische Entwicklung in den Blick zu nehmen und zu fragen, ob die in der Schule geleistete „Arbeit“ dem gesellschaftlichen Entwicklungsniveau der Arbeit entspricht – und nicht etwa durchweg nur ein antiquierter Begriff von Arbeit oder Handwerk kultiviert wird. Dieser Perspektive dienen schwerpunktmäßig die ersten fünf Fragen. Zwei weitere beziehen sich auf die subjektive Dimension. Sie fordern ein, das Kind als aktives Zentrum seines Entwicklungs- und Vergesellschaftungsprozesses zu betrachten und die schulische Arbeit und deren Organisation unter dieser Perspektive zu werten. – Hier die 7 Leitfragen9: Kognition: Im Hinblick auf die Verwissenschaftlichung des menschlichen Denkens ist zu fragen, wie und in welchem Ausmaße es dem Schüler ermöglicht wird, „sich Wissen über alle Dimensionen und Bereiche natur- und gesellschaftlicher Erkenntnis anzueignen“. Verhältnis von Hand- und Kopfarbeit: Der überkommenen (zu überwindenden?) Aufteilung von Kopf- und Handarbeit („vertikale Arbeitsteilung“) entspricht eine Hierarchisierung der sozialen Verhältnisse. „Auf welches Entwicklungsniveau des Verhältnisses von ‚wissenschaftlichem‘ Denken und praktischem Vollzug bzw. machtbefugter Entscheidung und abhängiger Ausführung im Arbeitsprozess werden die Schüler vorbereitet?“ Kooperation: Diese Dimension betrifft das im Arbeitsprozess notwendige oder wünschenswerte Maß an „horizontaler Arbeitsteilung“ der im gleichen System Arbeitenden. „In welcher Weise und in welchem Ausmaß macht die schulische Lernorganisation kommunikativinteraktive Koordination der Schüler“ notwendig? Vergesellschaftung: Die Arbeit einer Gruppe steht in einem übergreifenden gesellschaftlichen Zusammenhang, d.h. in Beziehung zu anderen Gruppen bzw. Teilen der Gesellschaft. Es geht also gleichsam um die Kooperation der Kooperativen. „Durch welche Art und welches Maß gesellschaftlicher Verschränkt- und Vermitteltheit ist die schulische Arbeitstätigkeit der Schüler gekennzeichnet?“ Motivation: Hier ist das Maß angesprochen, in dem der Arbeitende seine Arbeit als sinnvolle, eigene und eigenverantwortliche annehmen kann. „Auf welche Weise und in welchem Ausmaß intendiert die Organisation der schulischen Arbeit die Übernahme der gesellschaftlichen Aufgaben in die eigene Verantwortung ...?“ Anders gewendet: Können die Schüler den allgemeinen Zwecksetzungen eine individuelle Bedeutsamkeit zuerkennen? Subjekthaftigkeit: Dieses Kriterium ist eng mit der Motivationsfrage verknüpft. Es geht um die Möglichkeiten „zur umfassenden Entfaltung des einzelnen als Subjekt seiner Lebens- und Lerntätigkeit“ und schulisch gewendet um die Frage, ob das „Konzept dem Subjektstatus des Heranwachsenden Rechnung“ trägt. Unmittelbarkeitsüberschreitung: Der (etwas umständliche) Begriff zielt auf alle Lernerfahrungen, die geeignet sind, das unmittelbar Gegebene zu überschreiten und ein Bewusstsein von der gesellschaftlichen Vermitteltheit des einzelnen zu entwickeln. Er steht in engem Zu9
Hackl, Bernd (1990): Die Arbeitsschule. Geschichte und Aktualität eines Reformmodells, Wien: Verlag für Gesellschaftskritik. Zum folgenden siehe ebd. S.62ff
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sammenhang mit dem oben genannten Aspekt der Vergesellschaftung. Als analytische Frage ergibt sich: „Inwieweit und in welcher Weise vermittelt/verhindert das zu untersuchende Konzept Lernerfahrungen, die die umfassende Erkenntnis des Zusammenhanges MenschGesellschaft ermöglichen?“ Diese Fragen lassen erkennen, dass Hackl nicht nur die Aneignung technisch-instrumentellen Wissens und Handeln-Könnens im Blick hat, sondern darüber hinaus die Begründung eines emanzipatorischen Bildungsbegriffes sowie einer Schule, die im Medium schulischer, auf die Gesellschaft bezogene „Lernarbeit“ der Entwicklung der Schüler zu mündigen, kritikfähigen, sozial handlungsfähigen Menschen dient. – Im Folgenden orientiere ich mich schwerpunktmäßig an Hackls Darstellung. Die Bandbreite der Konzeptionen der Arbeitsschule soll an den Beispielen von Kerschensteiner, Gaudig und Scheibner sowie an Blonskijs Modell der polytechnischen Arbeitsschule verdeutlicht werden. Letzteres kann als das am weitesten ausgearbeitete sozialistische Arbeitsschulmodell angesehen werden, neben dem weitere (hier nicht ausführlich behandelte) sozialistische Konzeptionen stehen wie jene von Paul Oestreich und dem „Bund Entschiedener Schulreformer“ in Deutschland sowie die Arbeitsschulkonzeption der „österreichischen Schulreform“, die vor allem mit dem Namen des Sozialdemokraten und Schulpolitikers Otto Glöckel (1874-1935) verbunden ist (s.u.). In Ergänzung zur Perspektive Hackls soll zusätzlich auf den schwedischen Handfertigkeitsunterricht, den sogenannten „Slöjd“ hingewiesen werden. Er wurde im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts entwickelt, war zwischen 1876 und 1904 auf fünf Weltausstellungen präsentiert worden und kam zu internationalem Ansehen bis nach Nordamerika. Seine Wirkungen sind noch heute in den vorbildlich ausgestatteten Werkstätten in den Schulen des europäischen Nordens sowie an dem Stellenwert handwerklich-künstlerischen Arbeitens in den Schulen des Nordens überhaupt und im Freizeitbereich zu erkennen.
1.2 „Slöjd“ – Arbeitserziehung in Schweden, ihre Ursprünge, Methoden und Ziele Dass Hackl den Slöjd nicht weiter beachtet, hat seinen Grund vor allem darin, dass die Konzeption des Slöjd auf der Folie des anspruchsvollen dialektisch fundierten, der emanzipatorischen Erziehung verpflichteten Kriterienkataloges nur als historisch überholt angesehen werden kann. Der Slöjd genügt diesem hohen Anspruch nur in geringem Maße hinsichtlich seiner subjektorientierten Momente (Kognition, Motivation, Subjekthaftigkeit – hier insoweit, als auch individuelle Fähigkeiten angesprochen werden), während die übergreifende gesellschaftliche Perspektive, wie sie in den Begriffen der Kooperation, Vergesellschaftung und Unmittelbarkeitsüberschreitung gefasst ist, völlig fehlt. Dennoch muss und kann aufgrund der sorgfältigen Studie von Hans Joachim Reincke10 der Slöjd in vielen Hinsichten als bedeutender Vorläufer der Arbeitsschulbewegung betrachtet werden. Seine Nähe zu den Arbeitsschulkonzeptionen Kerschensteiners und Gaudigs ist offenkundig. Die Frage nach möglichen historisch-genealogischen Verbindungen des Slöjd zu den deutschen Arbeitsschulkonzeptionen ist freilich noch zu wenig erforscht, als dass man weit reichende Schlüsse ziehen könnte. Immerhin ist auffällig, dass das berühmte Starenkastenbeispiel Kerschensteiners (Bau eines funktionsfähigen Nistkastens ohne Abfälle aus einem Brett) sich schon im Slöjd findet und dort sogar in einer didaktisch weitaus durchdachteren Form als bei Kerschensteiner (s.u.).
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Reincke, Hans Joachim (1995): Slöjd: Die schwedische Arbeitserziehung in der internationalen Reformpädagogik, Frankfurt am Main u.a.O.: Peter Lang
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Den zahlreichen Nuancierungen und Modifikationen des Begriffs Slöjd soll an dieser Stelle nicht nachgegangen werden. Im nicht-pädagogischen Zusammenhang bezeichnet Slöjd heute die nicht-gewerbliche Herstellung von Produkten, die aus Holz, Metall oder Stoffen (Nähen, Weben) hergestellt werden. Im pädagogischen Zusammenhang geht es um die erzieherischen Bedingungen, Ziele und Wirkungen der damit verbundenen Tätigkeiten in der Schule, vor allem in der Volksschule. Nach Otto Salomon (1849-1907), dem Begründer des „Nääser Slöjd“, wurde der Begriff „Slöjd“ in der Entstehungs- und Entwicklungszeit des pädagogischen Slöjd international immer als „pädagogischer Slöjd“ verstanden. – Nääs ist eine Ortschaft bei Göteborg, in der ab 1874 Handfertigkeitslehrer ausgebildet und ab 1882 auch Fortbildungskurse für Lehrkräfte beiderlei Geschlechts durchgeführt wurden. Die sozialhistorischen Wurzeln des Slöjd sind in der allgemeinen Bedeutung handwerklicher Fähigkeiten zu sehen, die in den dünnbesiedelten Gebieten Schwedens vor der Industrialisierung unerlässlich waren. Mittels „Hemslöjd“ (Heimarbeit) konnten in den langen Wintermonaten auf dem Lande die notwendigen Reparaturen durchgeführt, neue Gerätschaften hergestellt und mit dem Verkauf der Produkte über die lokalen Märkte ggf. für ein zusätzliches Einkommen gesorgt werden. Der „wandernde Slöjder“, ein vielseitiger Wanderhandwerker, war im 19. Jahrhundert in den Weiten Nordskandinaviens eine hochangesehene Person, dessen Rat in den verschiedensten Angelegenheiten gesucht wurde. Die Entwicklung des pädagogischen Slöjd nun fällt mit dem Niedergang des „Hemslöjd“ zusammen. Dieser verlor durch das Angebot billiger Industrieprodukte seinen einstigen Wert. Analog zum Begriff der „Entmündigung“ könnte in diesem Zusammenhang von der „Enthändigung“ gesprochen werden, beides den Prozess der industriellen Entfremdung bezeichnend, in dem die Menschen ihre eigenen Angelegenheiten immer weniger selbst „in die Hand nehmen“, was zwangsläufig die Verkümmerung handwerklicher Geschicklichkeit zur Folge hat. Die sozialen Probleme des Wandels von der Agrar- zur Industriegesellschaft (Arbeitslosigkeit, Landflucht, Bedrohung von traditionellen Erwerbs-, Familien und Gemeinschaftsstrukturen, in deren Gefolge Orientierungs- und Haltlosigkeit) wurde noch verstärkt durch den zunehmenden Alkoholabusus (Eigenproduktion von Kartoffelschnaps). In diesem problemhaltigen Umfeld verfolgten die ersten „Slöjdschulen“ sozialpädagogische Zielsetzungen. Sie holten verwahrloste Jugendliche von der Straße und versuchten, ihr Leben über die an den Absatzchancen des lokalen Marktes orientierte handwerkliche Herstellung von Produkten in geordnete Bahnen zu lenken. Als Otto Salomon 1874 zum Inspekteur der Slöjd-Schulen in einer Region nahe Göteborg (Älvsborg) berufen wurde, erkannte er schnell die Bedeutung dieser Schulen und den steigenden Bedarf an entsprechend geschulten Lehrkräften. Angeregt u.a. durch finnische Vorbilder (Uno Cygnaeus, der „Vater“ der finnischen Volksschule, war ein früher Verfechter der Integration von handwerklicher Arbeit im Schulunterricht) konnte Salomon mit seinem Vorschlag durchdringen, den Slöjdunterricht mit zwei bis vier Wochenstunden in den allgemeinen Volksschulunterricht am Nachmittag als freiwilliges Zusatzangebot aufzunehmen. Dieser Umstand und die Notwendigkeit der Einrichtung einer entsprechenden Lehrer(fort)bildung war der Ausgangspunkt für die Entwicklung eines in manchen Details geradezu akribisch ausgefeilten pädagogischen Systems. Es ist verbunden mit dem Namen „Nääs“, dem Ort der Lehrerbildungsanstalt, an dem unter dem Direktorat von Salomon im Laufe der Jahre hunderte von Lehrkräften, darunter zahlreiche Lehrkräfte aus dem Ausland und aus Übersee, in längeren oder kürzeren Lehrgängen auf ihre slöjd-pädagogische Aufgabe vorbereitet wurden. Adolphe Ferrière, Schweizer Reformpädagoge und Verfechter der „école active“ berichtet in seinem gleichnamigen Werk 1921 von dem Besuch dieser Einrichtung. Über einem der Gebäude fand er eine Inschrift, die er im genannten Buch in Gänze mitteilt. Ich zitiere aus der deutschen Übersetzung den Abschnitt über die pädagogischen Ziele. Der sozialpädagogischkompensatorische und ökonomische Hintergrund ist in den Zielen noch immer transparent, sie
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weisen aber insgesamt deutlich darüber hinaus in Richtung eines umfassenden Erziehungskonzeptes, das grundsätzlich für alle Kinder und Jugendlichen Geltung beanspruchen kann:
„Der Handfertigkeitsunterricht hat folgende pädagogischen Ziele: er will a) Geschmack und Liebe für die Arbeit im allgemeinen einflößen, b) Ehrfurcht vor der groben aber nützlichen körperlichen Arbeit, c) innere Unabhängigkeit und Selbstvertrauen, d) an Ordnung, Genauigkeit, Sauberkeit und Akkuratesse gewöhnen, e) das Auge und den Tastsinn entwickeln sowie den Sinn für Formen und die Handgeschicklichkeit, f) an Aufmerksamkeit, Scharfsichtigkeit, Ausdauer und Geduld gewöhnen, g) die Entfaltung der körperlichen Kräfte fördern.“11 Dem schließen sich zwei „äußere Ziele“ an, die zusammen mit den genannten an die im 19. und bis ins 20. Jahrhundert hinein viel diskutierte Frage nach dem Verhältnis von formaler und materialer Bildung, mithin nach „inneren“ Persönlichkeitsmerkmalen und „äußeren“ Fähigkeiten bzw. nach dem Verhältnis von Ethik und Praxis erinnern: „a) Geschicklichkeit im Handhaben von Werkzeugen, b) ganz exakte Ausführung der Arbeiten.“ Wie nun sollen diese Ziele erreicht werden? Wie kann die Freude an der Arbeit und die Freiwilligkeit des Kindes erhalten werden? Reincke geht dieser Frage nach. Er systematisiert das Quellenmaterial, hauptsächlich die Verlautbarungen Salomons, und kommt zu 15 Aussagen, die als Bedingungen einer erfolgreichen Praxis im Sinne der Ziele anzusehen sind12:
1. Die Slöjd-Arbeit und das hergestellte Produkt muss aus der Sicht des Kindes für sie oder ihn selbst nützlich und verwertbar sein. 2. In der Handhabung der verschiedenen Werkzeuge dürfen keine vorbereitenden Arbeitsübungen vorkommen. 3. In der Anfertigung eines Modells (Projektes) muss die Arbeitsabfolge eine erfrischende Abwechslung beinhalten. 4. Die Arbeit am Modell muss so beschaffen sein, dass ein Kind sie tatsächlich ausführen kann. 5. Es muss sich um richtige Arbeit handeln, kein Spiel, oder eine schlechte Imitation von Arbeit; der Ernstcharakter muss gewahrt bleiben. 6. Die Arbeitsobjekte, die sogenannten Modelle, sollen keinen Kleinkram oder Luxusgegenstände darstellen. 7. Die vervollständigten Modelle verbleiben ausnahmslos im Eigentum des Kindes, das diese anfertigt. 8. Die Arbeit am Objekt muss den Fähigkeiten des Kindes entsprechen. 9. Die Arbeit muss in jedwedem Bearbeitungszustand in einer methodischen und systematischen Art und Weise ausgeführt werden können. 10. Die Arbeit muss von ihrer Ausführung her Sauberkeit und Genauigkeit ermöglichen. 11. Die Arbeit muss die planerische Denkfähigkeit des Kindes schulen; rein mechanische Abwicklungen sind nicht zuzulassen.
11 (hier zitiert nach der deutschen Ausgabe) Ferrière, Adolphe (1928): Schule der Selbstbetätigung oder Tatschule, Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger, S. 82 12 Reincke, a.a.O., S.57
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12. Die Arbeit muss während ihrer Ausführung die körperlichen Kräfte des Kindes trainieren und stärken. 13. Der Sinn für ästhetische Formen muss durch die Arbeitsobjekte selbst geschult werden. 14. Zu diesen genannten Zwecken müssen durch die Art der Arbeit zahlreiche verschiedene Handgriffe an diversen Werkzeugen angewandt werden. 15. Eine wie auch immer geartete Arbeitsteilung ist nicht zulässig; das Kind muss die Arbeit am Modell vollständig allein ausführen.
Der letztgenannte Punkt impliziert eine äußerste Zurückhaltung des Lehrers bei den Hilfestellungen. Direkte Arbeit am Modell des Schülers, gar im Sinne der Anbringung des „letzten Schliffs“, ist ihm nicht erlaubt. Nur so erscheint Salomon die Zielsetzung der Entwicklung von Unabhängigkeit und Selbstvertrauen in die eigenen Kräfte gewährleistet. – Wenngleich der Slöjd entsprechend der obigen Definition mit verschiedenen Materialien und Tätigkeiten durchgeführt werden kann (und durchgeführt wird), kommt Salomon in einer vergleichenden Analyse auf der Grundlage der genannten Zielsetzungen und Bedingungen zu dem Schluss, dass die Arbeit mit Holz – der „Holzslöjd“ – für pädagogische Zwecke am besten geeignet ist.13 Dass ein dergestalt anspruchsvolles Konzept nicht mehr mit dem bloßen HandwerkerLehrer zu realisieren ist, liegt auf der Hand. Gefragt ist ein wirklicher, pädagogisch geschulter und begabter Erzieher. In den von 1875 bis 1882 angebotenen einjährigen Fachlehrerkursen (danach wurden sechswöchige Fortbildungskurse angeboten) standen neben 32 Stunden Slöjd (Holz und Eisen) und 16 Stunden Linearzeichnen ferner auf dem Programm: Rechnen 3, Geometrie 1, Physik 3, Muttersprache 2, Schönschreiben 1, Gesang 2, Pädagogik 3 und spezielle Methodik 2 Stunden.14 Das eigentliche Curriculum des Slöjd-Unterrichts15 wird von den anzufertigenden und in gediegener Ausführung als Anschauungsmaterial vorliegenden „Modellreihen“ gebildet, die vom Schüler in der gegebenen Reihenfolge über die Jahre hinweg anzufertigen sind. Jedes Modell fungiert als das materielle Substrat von „Übungen“ (das sind genau definierte handwerkliche Verrichtungen mittels Werkzeugen, nicht mit Maschinen), mit deren Hilfe die gewünschte Form bzw. der Gegenstand geschaffen wird. Die Modellreihe ist nach dem Prinzip fortschreitender Komplexität und die jeweils zugehörigen neuen Übungen sind in etwa nach wachsendem Schwierigkeitsgrad angeordnet. Grundlegende frühere Übungen werden z.T. bei den komplexeren Modellen wiederholt. In der 1902 vorgelegten Übersichtstabelle „Nääs Modellserie för Pedagogisk Snickerislöjd“ (Tischlerslöjd) sind 40 Holzmodelle aufgeführt vom Pinselschaft (M1) über den Federhalter (M2), das Küchenbrett (M12) und den Nistkasten (M20) bis hin zu Gewürzregal (M38), Schrank (M39) und Tisch (M40). Den einzelnen Modellen sind die „Übungen“ – insgesamt 68 – zugeordnet, die jeweils zum Tragen kommen. Als jeweils neue „Übung(en)“ kommen im nachfolgenden Modell immer nur 1 bis höchstens 3 hinzu. Einige Beispiele: Zur Herstellung des Federhalters (M2) werden die „Übungen“ Längsschnitt mit dem Messer (Ü1) und Querschnitt mit dem Messer (Ü2) benötigt, die der Schüler schon von der Herstellung des Pinselschaftes (M1) her kennt. Neu kommen jetzt hinzu: Absägen/Ablängen (Ü3) und Feilen (Endschliff) (Ü4). Wenn der Schüler nach einigen Jahren am Ende des Lehrganges sich an die Herstellung des Tisches macht, hat er bereits 65 „Übungen“ – bei den verschiedenen Modellen zum Teil zum wiederholten Male – durchgeführt. Neu hinzu kommen jetzt: Sägen mit der Gratsäge (Ü66), verdeckte Zapfenverbindung (Ü67) und Befestigung mit den Federklötzchen (Kriechhölzern) (Ü68). – Wegen seiner domi13
Siehe ebd., S.115 Vgl. Ebd., S.100f. Zur Geschichte des „Nääser Slöjdlärare-Seminarium“ siehe ebd., S.93ff Vgl. ebd., S.137ff „Die duale Progression“ insbesondere die Tabellen aus England (1901) und Schweden (1902) 14 15
Arbeit und Kunst 113
nanten Präsenz in der Literatur zu Kerschensteiners Ansatz der Arbeitsschule sei auf den Nääser Nistkasten besonders hingewiesen. Bei seiner Herstellung werden 11 Übungen wiederholt, d.h. als gekonnt vorausgesetzt, während eine, das Zusammenfügen mit Holzschrauben (Ü38), neu hinzukommt. Der Bau eines Nistkastens ist hier also in ein umfassendes (fach)didaktisches System eingebettet. Man mag in der peniblen Auflistung der Modell- und Übungsreihen eine gewisse Pedanterie sehen. Der richtige Grundgedanke besteht aber darin, ein Slöjd-Curriculum zu schaffen, das auf die sich entwickelnden Fähigkeiten des Kindes und Jugendlichen in der Weise Rücksicht nimmt, dass das jeweils Neue in bereits vielfältig Vertrautem eingebettet ist, so dass es kaum als besondere Schwierigkeit ins Bewusstsein tritt. Der Reiz, der von dem bald fertigen Werkstück ausgeht hilft zudem, auftretende Schwierigkeiten auch meistern zu wollen. Der internationale Erfolg dieses Systems beruht u.a. vermutlich auch auf dieser inneren Geschlossenheit. Es handelt sich um einen klassischen, wohldurchdachten Lehrgang, der zwar der Spontaneität des Kindes wenig Spielraum lässt, dafür aber um so sicherer Fähigkeiten schult, die in vielen Situationen außerhalb der Schule den kreativen Spiel- und Handlungsraum des Kindes erweitert. In der engen Begrenzung auf die vorgegeben Ziele mag der Grund dafür liegen, dass Ferrière auf dem Hintergrund eines emphatischen Kindbildes, das dem schöpferischen Moment einen hohen Stellenwert beimisst, bei der Beurteilung des Slöjd zu einem eher ablehnenden Urteil gelangt. Der Lehrgang sei „zu schulmäßig“, der Lehrer oftmals zu pedantisch, dem Interesse des Kindes und der schöpferischen Phantasie werde kein Spielraum gelassen. „Der Lehrer, der keine Seele hat, dem Phantasie und Spontaneität fehlen, kann auch bei seinen Schülern diese Fähigkeit nicht wecken.“16 Ob Ferrière diesen seelenlosen Slöjd-Lehrer und das von diesem seiner schöpferischen Phantasie beraubte Kind selbst gesehen hat, ist eher zweifelhaft. Er beruft sich bei seinem Urteil auf das, was „man beobachtet“ hat. Es ist sicher richtig, dass der Phantasie und der Spontaneität im Slöjd enge Grenzen gesetzt sind. Das ergibt sich zum Teil schon aus der Verletzungsgefahr bei der Verwendung der Werkzeuge. Allerdings kann der nachschaffenden Tätigkeit durchaus ein schöpferisches Moment innewohnen, wenn – wie im Slöjd – auf jede geistlose Übung (wie stundenlanges Feilen zur Perfektionierung dieser Fähigkeit oder als vorbereitende Übung, siehe oben Punkt 2) verzichtet wird. Im Prozess selbst zeigt sich dann der „Ernst des Handwerks“ (Rilke) als das Erleben und Entwickeln von Formensinn (Ästhetik) und Geschicklichkeit im Medium eines herzustellenden nützlichen Gegenstandes. In der Arbeit am Stoff bildet das Kind sich selbst. Und das Gelernte steht – wie bei der Kenntnis von Vokabeln und der Grammatik einer fremden Sprache – zukünftig für höhere kreative Tätigkeiten zur Verfügung. – Der Dichter Reiner Maria Rilke, den eine enge Freundschaft mit der Schwedin Ellen Key (Autorin des Werkes „Das Jahrhundert des Kindes“) verband, hegte ebenfalls eine hohe Meinung von der spontanen Schöpferkraft des Kindes. Er kommt aufgrund eigener Beobachtungen zu einem anderen Schluss als Ferrière. Rilke hatte 1904 die „Samskola“ in Göteborg besucht und darüber einen emphatischen Bericht verfasst. Zwar benutzt Rilke den Begriff „Slöjd“ nicht, aber vieles deutet darauf hin, dass diese Schule von der Nääser Tradition geprägt ist. „Man ist in einer Schule, in der es nicht nach Staub, Tinte und Angst riecht, sondern nach Sonne, blondem Holz und Kindheit. ... Da hängen in den Werkstätten, wo die Zwölfjährigen arbeiten, all die scharfen Messer und Ahlen und Stahle, die man sonst ängstlich vor den Kindern verbirgt. Hier legt man sie ihnen vorsichtig und ernst und richtig in die Hand, und sie denken gar nicht daran, damit zu ‚spielen‘. Sie beschäftigen sich so intensiv; und fast alle ihre Arbeiten sind gut und genau und brauchbar; des Handwerks tiefer Ernst kommt über sie.“17
16
Ferrière, a.a.O., S.83 Rilke, Rainer Maria (1905): Samskola, hier zitiert nach: Skiera, E. (Hsg.) (1988): Der Schulraum – Gestalt und pädagogischer Sinn, Heinsberg: Dieck, S.10 un d12
17
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Ein Blick auf die Grundsätze und die Vorgehensweise zeigt, dass im Slöjd allgemeine pädagogische Anliegen zum Tragen kommen wie die Eigenaktivität des Kindes, ganzheitliches Lernen durch die Verbindung von „Kopf, Herz und Hand“, Selbständigkeit, Gebot der Angemessenheit der Anforderungen, Lebensbezug (Herstellung nützlicher Gegenstände und Übung nützlicher Fähigkeiten), die zurückhaltende behutsam-begleitende Lehrerhaltung (als Förderer der kindlichen Fähigkeiten, selbst weiterkommen), Interessenbezogenheit; letzteres nicht durch die freie Wahl der Arbeitsziele, sondern durch die Forderung der Freiwilligkeit bei der Teilnahme und die Beachtung von Regeln (s.o.) zur Förderung des Interesses. All diese Momente sind auch in den anderen Konzeptionen der Arbeitsschule zu finden. Sie haben zeitübergreifende Gültigkeit und können noch heute zur Kritik der Schule herangezogen werden. Dagegen hat – auf der Folie des Kriteriensatzes von Hackl – der Slöjd seine aus sich heraus unüberwindlichen Grenzen: durch das Festhalten an einem archaischen Arbeitsbegriff, der keine Vermittlung mit den seinerzeit bereits entwickelten Formen der maschinellen und industriellen Produktion zulässt; damit zusammenhängend durch die Ignoranz hinsichtlich des gesellschaftlichen, arbeitsorganisatorischen und pädagogischen Wertes der Kooperation. Der in praktischen Angelegenheiten hochkompetente Einzelne, der auf „seiner Hände Arbeit“ bauen kann, der „wandernde Slöjder“, der zwar helfen kann, selbst aber nicht auf Hilfe anderer angewiesen ist – dies scheint als Idealbild hinter den pädagogischen Bemühungen des Slöjd auf. Allerdings muss beachtet werden, dass sich der pädagogische Slöjd immer nur als Teilbereich der Schule verstanden hat und nicht als ein tragendes Prinzip der Schule und des Unterrichts überhaupt. Als Teilbereich wäre er heute noch vertretbar und gegenüber der oftmals nachlässigen Behandlung praktischer Arbeit in der Schule noch immer eine Bereicherung. Bei Salomon findet sich (1883) nur ein einziger Hinweis, der über die selbstgesetzte Begrenzung des Slöjd in Richtung der emanzipatorisch-politischen Kriterien Hackls hinausweist. Salomon zitiert zustimmend die Thesen des Bostoner „Central-Komitees für Handfertigkeitsunterricht“ aus dem Jahre 1882: „Durch die Einführung der Arbeit in die Schule wird die sociale Hebung der Masse angebahnt. Das arbeitende Volk wird den Aufgaben des Lebens selbständiger und selbstbewusster gegenüberstehen, im politischen Leben seine Rechte zu wahren wissen und auch dereinst durch die Bildung von Productivgenossenschaften oder auf anderen ähnlichen Wegen seine materielle Unabhängigkeit erstreben und erringen.“18 Dieser Ansatz wird allerdings nirgends didaktisch-methodisch konkretisiert, was wegen der inhärenten, dem entgegenstehenden Prämissen des Slöjd durchaus verständlich erscheint. Erst die späteren Konzeptionen der Arbeitsschule versuchen, in je unterschiedlicher Weise die Arbeit als zentrale pädagogische Kategorie auszuweisen bis hin zu solchen, die alle Bezüge des Lernens aus der Arbeit zu gewinnen suchen. Wenn „Die Schule der Zukunft eine Arbeitsschule“ (Kerschensteiner 1908) sein sollte, musste sich deren Theorie und Praxis weiterreichende Horizonte erschließen.
1.3 Georg Kerschensteiner (1854-1932) – Die Arbeitsschule im Dienst der Erziehung zum „brauchbaren Staatsbürger“ Wohl kaum ein Name wird häufiger im Zusammenhang mit der Entwicklung der Arbeitsschule genannt als Georg Kerschensteiner.19 Er entstammt einer verarmten kleinbürgerlichen Händlerfamilie in München. Nach seiner Volksschulzeit besucht er eine Vorbereitungsschule für den Lehrerberuf und unterrichtet bereits mit 16 Jahren als Landschullehrergehilfe. Später qualifiziert er sich neben seinem Lehrberuf in Augsburg für den Eintritt ins Gymnasium und 18
Vgl. Reincke, a.a.O., S.62 Zur Biographie siehe: Kerschensteiner, Marie (1954): Georg Kerschensteiner. Der Lebensweg eines Schulreformers, München und Düsseldorf: Oldenbourg (1. Aufl.: 1939) 19
Arbeit und Kunst 115
studiert nach dem Abitur in München Mathematik. Es folgt eine zwölfjährige Lehrertätigkeit an verschiedenen Gymnasien Süddeutschlands. Neben seinem Lehramt studiert er die Fächer Botanik, Zoologie und Geologie. Im Jahre 1895 wird er Stadtschulrat in München und erhält so die Zuständigkeit für das gesamte Schulwesen der Stadt. Hier beginnt sein eigentliches Lebenswerk, nämlich die Reform des Volksschulunterrichts im Sinne der Arbeitsschule, ein Werk, das ihm im In- und Ausland (1910 auf Einladung der „National Society for the Promotion of Industrial Training“ Vortragsreise in den USA) hohe Anerkennung verschafft. „Schritt um Schritt“ gräbt er „dem alten Buchbetrieb (den) Boden“ ab, indem er zunächst den „Schulküchenunterricht“ für Mädchen einführt und aus ihm zahlreiche Lernanlässe im naturwissenschaftlichen Bereich des Unterrichts gewinnt. Holz- und Metallwerkstätten halten Einzug in die Volksschule, wo möglich werden Schulgärten eingerichtet, der Laboratoriumsunterricht für Physik und Chemie für die achte Klasse hält im Jahre 1907 „nach heißen Kämpfen“ Einzug in die Schule.20 Die Einführung des Schwimmunterrichts (1903 für Jungen, 1913 für Mädchen), die Reform des Zeichenunterrichts, die Förderung von regionalen Arbeitsgemeinschaften und der Selbstverwaltung der Schulen sind ebenfalls mit seinem Namen verbunden. Auch an der aufkommenden „Kunsterziehungsbewegung“ nimmt er regen Anteil. 1902 hat er den Vorsitz des 2. Kunsterziehungstages in Weimar inne. Des Weiteren gilt seine Aufmerksamkeit der Berufsbildung, die er als ein allgemeines Prinzip im Sinne einer berufsvorbereitenden Bildung bereits im Volksschulunterricht berücksichtigt wissen will. Kerschensteiner begründete vor dem Krieg in München zahlreiche Berufsfachschulen und sogenannte berufliche „Fortbildungsschulen“. Das brachte ihm den Ehrentitel eines „Vaters der Berufsschule“ ein. – Nach der Revolution, die er wegen seines konservativ-ständischen Weltbildes nicht billigen konnte, tritt er 1919 von seinem Amt als Schulrat zurück, widmet sich aber weiterhin der theoretischen Grundlegung seiner Pädagogik und spricht an prominenter Stelle auf zahlreichen pädagogischen Kongressen. Seit 1918 hat er eine Honorarprofessur an der Universität München inne. Dem 1920 ausgesprochenen Ruf an die Universität Leipzig auf ein Ordinariat für Pädagogik folgt er nicht. – Kerschensteiners Leben und Werk ist mit dem Obrigkeitsstaat der wilhelminischen Zeit eng verbunden. Es ist dieser Staat, der ihm als dessen Diener die Möglichkeit bot, aus beengten Verhältnissen ins Licht einer weitgespannten öffentlichen Wirksamkeit zu treten. Im Staat sieht er einen höheren Willen am Werk, dem sich der Mensch unterzuordnen hat. In einem mehrstrophigen Gedicht „Sinn des Lebens“ spürt er dem „dunklen Sinn des Lebens“ nach und formuliert eine Ethik des unbedingten Gehorsams, deren Befolgung erst „dem Leben Deutung und Gewicht“ verleihe: „Ich bin ein Werkzeug dieses einen Willens, Der nicht nach Lust und Leid des Werkzeugs frägt, Der in sich selber seine Zwecke trägt, Die wir bestimmt sind, fraglos zu erfüllen.“21 In der fraglosen Erfüllung seiner staatsbürgerlichen Pflichten, als deren Kern er die berufliche Arbeit respektive die Arbeit am Gemeinwohl begreift, sieht Kerschensteiner das Ziel der Erziehung. „Der Sinn der Arbeitsschule ist, mit einem Minimum von Wissensstoff ein Maximum von Fertigkeiten, Fähigkeiten und Arbeitsfreude im Dienste staatsbürgerlicher Gesinnung auszulösen.“22 Oder noch deutlicher – in Abkehr von der idealistischen Bildungstheorie des 19. Jahrhunderts (gegen Herbart und die Herbartianer) sowie in Abwehr jeglicher politisch-emanzipatorischer Bestrebungen der Arbeiterbewegung bzw. der Sozialdemokratie sei20
Kerschensteiner, nach: Scheibe, Wolfgang (1978): Die reformpädagogische Bewegung: 1900-1932, Weinheim und Basel: Beltz, S.176 (1. Aufl. 1969) 21 Kerschensteiner, siehe ebd., S.234 22 Kerschensteiner, Georg (1930): Begriff der Arbeitsschule, Leipzig und Berlin: G.B. Teubner, S.150f (8. Auflage, 1. Auflage: 1912)
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ner Zeit: „Der Wert unserer Schulerziehung, soweit sie die großen Volksmassen genießen, beruht im wesentlichen weniger auf der Ausbildung des Gedankenkreises als vielmehr in der konsequenten Erziehung zu fleißiger, gewissenhafter, gründlicher, sauberer Arbeit, in der stetigen Gewöhnung zu unbedingten Gehorsam und treuer Pflichterfüllung und in der autoritativen unablässigen Anleitung zum Ausüben der Dienstgefälligkeit.“23 Neben der „großen Volksmasse“ stehen die „oberen Stände“, von denen Kerschensteiner sagt, sie „sind und bleiben die Erzieher des Volkes“. Die seinem Denken zugrundeliegende Strukturvorstellung der Gesellschaft wird durch einen zustimmenden Verweis auf den Historiker und politischen Publizisten Heinrich von Treitschke (1884-1896) deutlich: „Noch in unseren Tagen hat Treitschke, der geniale Historiker und glühende Vaterlandsfreund, die Wohlfahrt des Staates in einer Organisation erblickt, welche größere Schichten der Bevölkerung bewusst auf einer niederen Stufe der Ausbildung und im Dienste der mechanischen Arbeit erhält, damit die Hochgebildeten mit umso größerer Muße schaffen könnten zum Wohle des Vaterlands, und seiner Meinung schließen sich heute noch viele ernsthafte Männer an ...“24. Ob Kerschensteiner sich selbst der Gruppe jener ernsthaften Männer zurechnet, bleibt unklar. Aus allen seinen Verlautbarungen spricht aber der Glaube an den Wert einer hierarchisch gestuften Gesellschaft, in die es den jungen Menschen mittels einer richtigen, eben auf dem Gedanken der Arbeitsschule beruhenden Erziehung einzuführen gilt. In dieser Gesellschaft und in diesem Staat hat jeder seinen ihm gebührenden Platz, an dem er zwar nicht „zum blinden Dienst eines dauernd festgelegten Staatsorganismus“ berufen ist, sondern „zur Verwirklichung der ethischen Idee des höchsten äußeren Gutes im wohlverstandenen Dienste des gegebenen Staates“.25 Hierin liegt bei Kerschensteiner ein gewisses dynamisches Moment, nämlich der aus der idealistischen Philosophie stammende Gedanke, dass sich der gegebene Staat unter der Maßgabe einer regulativen Idee der Vernunft zum Wohle aller entwickeln kann. Diese Idee freilich, die an sich eine Kritik des gegebenen Staates und der gegebenen Gesellschaft zuließe, wird wenig später wieder relativiert. Kerschensteiner scheut sich nicht, den noch unvollkommenen Staat mit dem Bild des hochentwickelten organischen „Zellenstaates“ zu vergleichen, von dem er sagt, dass jede noch so spezialisierte Zelle (ähnlich wie die Berufstätigen im Menschenstaat) dem „Gesamtzellenstaat“ dient; ganz anders als „unzählige der geistigen und manuellen Arbeiter im Menschenstaat“, die diesem Ideal durchaus nicht entsprechen. Hier wird implizit auf die – nicht näher bezeichnete – Gruppe der unbrauchbaren Staatsbürger angespielt, die dem Gesamtstaat (noch) nicht hinreichend dient. Und er bemüht ausdrücklich den organischen Zellenverband als Leitbild der Entwicklung: „Sollte die Vernunft des Menschen in Rücksicht auf die Entwicklung des menschlichen Vernunftstaates ohnmächtiger sein als die Instinkte der Zellen in Rücksicht auf die Entwicklung des organischen Zellenstaates?“26 Es wird dann auch verständlich, warum Kerschensteiner in seinem pädagogischen Denken vor martialisch anmutenden Wendungen nicht zurückschreckt. Schon die Rede vom „brauchbaren Staatsbürger“ als dem Ziel der Erziehung provoziert die Frage nach dem Wert des unbrauchbaren. Des Weiteren spricht er vom „geistig geweckte(n) Schülermaterial“, das manche Fortbildungsschulen verlangen.27 Vom Lehrer fordert er „Selbstüberwindung und Rücksichtslosigkeit gegen die eigene Natur.“28 Kerschensteiners pädagogische Begrifflichkeit ist von seinen staatstheoretischen Anschauungen nicht zu trennen. Begriffe wie Interesse des Kindes, natürlicher Unterricht, Selbsttätigkeit, schöpferische Arbeit, gemeinsame Arbeit, Arbeitsgemeinschaft, Persönlichkeitswert, schließlich die Bestimmung des Erziehungs- und Bildungsbegriffes stehen in die23
Kerschensteiner (1909), zitiert nach: Hackl, a.a.O., S.75f Kerschensteiner (1909), zitiert nach: Hackl, a.a.O., S. 71, vorige Zitate S.77 25 Kerschensteiner (1930), a.a.O., S.11f 26 Ebd., S.25 27 Ebd., S.108 28 Ebd., S.256 24
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sem Kontext. Kerschensteiner sieht in der Zielperspektive des brauchbaren Staatsbürgers drei Aufgaben der Erziehung und der Schule. Sie bauen aufeinander auf und die jeweils folgende bezeichnet in sittlicher Hinsicht einen höheren Wert: 1. Berufsbildung bzw. deren Vorbereitung, damit der einzelne „befähigt und gewillt ist, irgendeine Funktion im Staate auszuüben oder, wie wir es nennen können, in irgendeinem Berufe tätig zu sein und so direkt oder indirekt den Staatszweck zu fördern.“ 2. Versittlichung der Berufsbildung in dem Sinne, „den einzelnen zu gewöhnen, diesen Beruf als ein Amt zu betrachten, das nicht bloß im Interesse der eigenen Lebenshaltung und der sittlichen Selbstbehauptung auszuüben ist, sondern auch im Interesse des geordneten Staatsverbandes, ...“ 3. Versittlichung des Gemeinwesens als „höchste Erziehungsaufgabe der öffentlichen Schule“. Diese Aufgabe setzt „natürlich entsprechende moralische und intellektuelle Begabung des Zöglings“ voraus. Es geht darum, in ihm „Neigung und Kraft zu entwickeln, dass er neben und durch die Berufsarbeit und nicht zuletzt durch die Arbeit an der Vervollkommnung seines spezifischen Persönlichkeitswertes sein Teil beiträgt, die Entwicklung des gegebenen Staates, dem er angehört, in der Richtung zum Ideal eines sittlichen Gemeinwesens zu fördern.“29 Im Horizont der Versittlichung erhält auch der Begriff der Gemeinschaft, ein zentraler Topos der reformpädagogischen Diskussion, bei Kerschensteiner einen spezifischen Sinn. Mit dem Verweis auf amerikanische und englische Vorbilder stellt er den Wert der Schule als Arbeitsgemeinschaft heraus, die „die Fragen der Klassen- und Schuldisziplin der Selbstregierung der Schüler anvertraut und den Gedanken der Arbeitsgemeinschaft in literarischen, sportlichen, wissenschaftlichen und künstlerischen Schülerverbänden verwirklicht.“30 Er fordert eine „Organisation der Schule im Geiste der Arbeitsgemeinschaft“. Deren Verwirklichung sieht er auf Seiten der Lehrerschaft an das Durchdrungensein „vom Geiste der opferwilligen Arbeitsgemeinschaft“ gebunden. Einer solchen Gemeinschaft wohnt gleichsam eine zwingende versittlichende Kraft inne, die den Schüler vom Zweckdenken zum Dienst an einer höheren Idee führt und in ihm schließlich „Feinfühligkeit“ und „Verantwortlichkeitsgefühl“ gegenüber dem Ganzen weckt. „Natürlich gibt die freiwillige Eingliederung in eine Arbeitsgemeinschaft noch keine Gewissheit für die Versittlichung der Tätigkeit. Aber wenn die Arbeitsgemeinschaft selbst der Träger einer sittlichen Idee ist, wenn sie etwa der Pflege edler Kameradschaftlichkeit, der Hingabe an Wissenschaft, Kunst, Religion, der Erforschung der Wahrheit, der Unterstützung Hilfsbedürftiger, dem Schutze der Gerechtigkeit usw. dient, ist es im allgemeinen – leicht verständlich, dass der freiwillige Dienst in solcher Arbeitsgemeinschaft, wie häufig er auch von Knaben und Mädchen aus anderen Gründen gesucht worden sein mag, sich aus seinem Dienste um rein praktischer Zwecke willen in einen Dienst um der sittlichen Idee willen umzuwandeln vermag.“31 Nun ist nicht jede Beschäftigung oder jede Arbeit für erzieherische Zwecke geeignet. Als die beiden wichtigsten pädagogischen Kriterien bezeichnet Kerschensteiner die im Wesen der Arbeit liegende Tendenz zu ihrer Vollendung, die im Schüler als „Vollendungsbedürfnis“ zu wecken und zu stärken ist und die im Arbeitsergebnis zu vollziehende Selbstprüfung. Vollendungstendenz und Selbstprüfung führen den Zögling auf den Weg der sachlichen Einstellung. Im Prozess der Arbeit an „Bildungsgütern“ gewinnt er zugleich einen Zugang zu den in ihr liegenden geistigen bzw. kulturellen Werten, aus denen die Arbeit entsprungen ist. An dieses Erleben des in der Arbeit liegenden kulturellen bzw. geistigen Wertes (bzw. des „immanenten Bildungswertes“32) knüpft Kerschensteiner die Erwartung, dass sich die „entsprechenden 29
Siehe ebd., S.20ff Ebd., S.97; folgende Zitate: ebd., S. 95,100,102 Ebd., S.96 32 Vgl. ebd., S.127 30 31
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geistigen Akte“ „von selbst“ einstellen: „die theoretischen, ästhetischen, sittlich-sozialen, technischen, religiösen, politischen“. Diesen geistigen Akten sei die Vollendungstendenz ohnehin immanent. Als Arbeit im pädagogischen Sinne definiert Kerschensteiner schließlich: „Bildungswert hat jede Arbeit, die in ihren objektiven Gestaltungen der Vollendungstendenz gehorcht und damit in stetem Selbstprüfungsvollzug immer mehr zur sachlichen Einstellung zu führen imstande ist.“33 Dass der Bildungsprozess nicht naturwüchsig vonstatten geht, sondern selbst bei den begabteren Schülern „der sorgsamen Führung durch die Bildungsanstalt bedarf“, betont Kerschensteiner ausdrücklich. Das heißt: es ist nach dem Weg, nach einem „Bildungsverfahren“ zu suchen, mit dessen Hilfe die im Bildungsgut gleichsam eingeschlossenen Bildungswerte dem Schüler erschlossen werden können. Als Arbeitsschule definiert Kerschensteiner „diejenige Schule, die durch ihre Methoden und durch die Art ihres ganzen Betriebes die immanenten Bildungswerte ihrer Bildungsgüter auslöst.“34 Zu denken ist dabei nicht an eine methodische Stufenfolge des Unterrichts im Sinne der Herbartianer, deren Anwendung durch den Lehrer den Schüler zu sicheren Erkenntnissen und Fähigkeiten führt, sondern an die Möglichkeit für den Schüler, im Zuge der Aufgabe gleichsam beiläufig jene Denkoperationen und Handlungen auszuführen und zu üben, die zur Lösung der Aufgabe notwendig sind. Die Methode ist also im Bildungsgut eingeschlossen und so der eigentliche Träger des Bildungswertes. (Gebunden ist dieser Wert aber auch an die „Art des ganzen Betriebs der Schule“, also an das Vorhandensein einer Werte- und Arbeitsgemeinschaft.) An dem oben bereits erwähnten Beispiel des Baus eines Starenhauses erläutert Kerschensteiner in seiner Schrift „Begriff der Arbeitsschule“ ausführlich den vierstufigen Prozess des logischen Denkens, den ein Schüler zur Lösung der Aufgabe durchlaufen muss. Er lässt sich knapp folgendermaßen kennzeichnen: Problemstellung oder Frage, Hypothese, Lösungsversuch oder Experiment, Überprüfung der Hypothese – oder in den Worten Kerschensteiners: „Die Auffindung und Umgrenzung der zu lösenden Schwierigkeiten, die aufsteigenden Vermutungen zu ihrer Lösung, die konsequente Verfolgung dieser Vermutungen auf ihren Wert für die Lösung und schließlich die Verifikation in der Ausführung der Arbeit.“35 Kerschensteiner beschränkt sich nicht nur auf handwerkliche Beispiele. In ausführlichen Analysen beim Vergleich von sprachlichen (Übersetzung klassischer Texte) und naturwissenschaftlichen Aufgaben findet er die prinzipiell gleiche Grundstruktur vor. Allerdings ist auch bei diesen Beispielen auffällig, dass es Kerschensteiner in erster Linie um die regelhaften, also gleichsam handwerklichen Momente dieser Aufgaben geht.36 Der „Selbstprüfung“, die mit der vierten Stufe der konkreten Arbeit gegeben ist, kommt die entscheidende Bedeutung im Bildungsprozess zu; sie bildet den Königsweg zur Sachlichkeit. (Scheibe37 bezeichnet bei seiner Darstellung die Selbstprüfung als eigenen, fünften Arbeitsschritt. Er reflektiert so den hohen Stellenwert, den die Selbstprüfung bei Kerschensteiner einnimmt. Genauer betrachtet ist sie freilich ein begleitendes Moment ab der 2. Stufe.) Kerschensteiner beschreibt zwei aufeinander bezogene Wege der Selbstprüfung.38 Die „empirische Selbstprüfung“ oder die „Außenschau“ beurteilt nach „Maß, Zahl und Gewicht“ das objektiv vorliegende Ergebnis der Arbeit; die „rationale Selbstprüfung“ oder die „Innenschau“ fragt nach dem „Warum“ der Arbeit, nach ihrem Sinn, letztlich also nach der Übereinstimmung von Form (Arbeitsergebnis) und Sinn. Kerschensteiner unterscheidet die Arbeitsgebiete, die in besonderer Weise die Möglichkeit zur Selbstprüfung enthalten (Übersetzungen aus Fremdsprachen in die Muttersprache und umgekehrt, mathematische Aufgaben, chemische und physikalische Arbeiten, konstrukti33 Ebd., S.76, im Original hervorgehoben und in Anführungszeichen; die vorigen Zitate und das folgende: ebd., S.74f 34 Ebd., S.127, Hervorhebung im Original 35 Ebd., S.49 36 Vgl. dazu: Odenbach a.a.O. (1963), S.34f 37 Vgl.: Scheibe, Wolfgang (1978): Die Reformpädagogische Bewegung, Weinheim und Basel: Beltz, S.185ff 38 Kerschensteiner, a.a.O. (1930), S.83f
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ves Zeichnen, technische Arbeiten mit genauen Konstruktionsanforderungen) von solchen, die für die Gesamtbildung zwar ebenfalls unentbehrlich sind, aber in der Möglichkeit der Selbstprüfung der ersten Gruppe gegenüber „weit zurückstehen“ (Geschichte, Geographie, zum Teil Zoologie und Botanik, Literatur, Aufsatz, freie Künste, religiöse Unterweisung).39 Dass die von Kerschensteiner vorgenommene Stufung (wie auch jene von Gaudig und Scheibner vorgelegten – s.u.) den methodischen Stufenschemata der Herbartianer ähnelt, hat seinen Grund darin, dass in ihnen gültige erkenntnis- bzw. lerntheoretische Einsichten formuliert sind. Die Genealogie der Stufenschemata im pädagogischen Diskurs des 19. und 20. Jahrhunderts lässt sich auf Herbarts Formalstufen des Erkenntnisvorganges – Klarheit, Assoziation, System und Methode – zurückführen. Diesen Zusammenhang konnten die Arbeitsschulpädagogen nicht sehen, da sie sich in Opposition zu Herbart und zu den Herbartianer glaubten. Kerschensteiner hat gegenüber der „Alten Schule“ den Wert der Arbeit und der Selbsttätigkeit betont und insofern an der Überwindung der Einseitigkeiten der überkommenen Schule in Theorie und Praxis entscheidend mitgewirkt. Die Begrenzung seiner Schulkonzeption ist vor allem darauf zurückzuführen, dass er aufgrund seines Staatsverständnisses an einem harmonischen Bild der Gesellschaft festhält, an einem Bild, das fundamentale Widersprüche sowohl zwischen den gesellschaftlichen Schichten als auch zwischen dem Einzelnen gegenüber der Gesellschaft insgesamt ausschließt. So ist – gemessen an den von Hackl dargestellten Kriterien (s.o.) – die Möglichkeit des wissenschaftlichen Wissenserwerbs (Kognition) als allgemeines Bildungsziel begrenzt durch den Aspekt der gesellschaftlichen respektive staatlichen Nützlichkeit, nämlich mit einem Minimum an Wissen ein Maximum an Versittlichung, d.h. Einordnung in den höchsten Staatszweck zu erreichen. Höhere Bildung ist ohnehin nur für das „geistig gewecktere Schülermaterial“ möglich, letztlich vor allem für die höheren Stände. So wird auch beim Verhältnis von Hand- und Kopfarbeit die alte Dichotomie (hier Volksschule, dort Gymnasium) im Grunde beibehalten, ja psychologisch und gesellschaftstheoretisch sogar noch untermauert. Daran ändert auch Kerschensteiners Bemühung nichts, die geistigen Gehalte manuellen Tuns herauszustellen. Nach seiner Ansicht sind es die (von der Alten Schule vernachlässigten) praktischen Interessen, „die so ganz und gar das Seelenleben des Volksschülers“ ausmachen und „von der Masse der Schüler“ glaubt er, dass sie „nur in seltenen Fällen über praktische Interessen in ihrer geistigen Entwicklung hinausschreitet.“40 Das korrespondiert mit seinem Bild der Gesellschaft. „Die ungeheure Mehrzahl aller Menschen im Staate steht im Dienste der rein manuellen Berufe, und dies wird für alle Zeiten Geltung haben. Denn jedes menschliche Gemeinwesen hat ungleich mehr körperliche als geistige Arbeiter nötig.“41 Erstere sind – siehe oben – in eine autoritative Dienstbarkeit mittels Arbeitsschulen zu führen; während die anderen, die zukünftigen geistigen Arbeiter, „nachdem ihre Instinkte für manuelle Tätigkeit im wesentlichen erloschen sind“ durchaus keine „Erziehungseinrichtungen zur manuellen Betätigung“ mehr brauchen. Für sie ist die „alte Gruppe der höheren Schule“ zuständig.42 Eine überzeugende bildungstheoretische Vermittlung zwischen Kopf- und Handarbeit findet nicht statt. – Auch die übrigen Kriterien, Kooperation, Vergesellschaftung, Motivation, Subjekthaftigkeit und Unmittelbarkeitsüberschreitung (s.o.) sind von diesen Feststellungen betroffen. Die Arbeit der Arbeitsschule – das zeigen schon die von Kerschensteiner gewählten Beispiele – bleibt im Wesentlichen (wie beim Slöjd) individuelle Arbeit, wenn auch innerhalb einer Arbeitsgemeinschaft ausgeführt und auf diese bezogen. Die in der strengen Sachlichkeit und Selbstprüfung mitgesetzte unbedingte Forderung 39 Kerschensteiner, Georg (o.J.): Der pädagogische Begriff der Arbeit, in: Pädagogische Quellentexte, Heft 3, Oldenburg: Gerhard Stalling Verlag, S.28f (Wiederabdruck aus: Aßhauer, E. (Hsg.) (1926): Erziehungsfragen im Industriezeitalter, Vorträge, gehalten auf der Pädagogischen Woche in Dortmund, Bielefeld und Leipzig: Velhagen & Klasing) 40 Kerschensteiner, a.a.O. (1930), S.39, 41 41 Ebd., S.28 42 Ebd., S.29
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der Subordination unter ein fremdes Gesetz relativieren die Möglichkeit der Entfaltung emanzipatorischer Motive, wie sie in den anderen Kriterien angesprochen sind. Der Gedanke einer dialektischen oder diskursiven Vermittlung von subjektiven und gesellschaftlichen Interessen ist Kerschensteiner ebenso fremd wie der Gedanke eines Persönlichkeitswertes vor und außerhalb jeglicher gesellschaftlichen Brauchbarkeit. Reflexive Distanz zur Arbeit und zum Produkt der Arbeit ist nur in dem eingeschränkten Sinne der Überprüfung an absolut geltenden Werten vorgesehen. So gibt Kerschensteiner in seinem Erziehungsbegriff die Idee einer wissenschaftlich fundierten Bildung für alle Menschen auf, wie sie in theoretisch fundierter Weise bereits von Comenius, später in der europäischen Aufklärung und im politischen Raum seit der französischen Revolution (Condorcet) dezidiert vertreten wurde. „Letzten Endes ist alle Sachlichkeit auch Sittlichkeit. Denn was heißt Sittlichkeit anderes, als den unbedingt geltenden Wert immer über den bedingt geltenden Wert setzen und was meint Sachlichkeit anderes, als einen Zweck ohne Rücksicht auf subjektive Neigungen, Begierden, Wünsche im Interesse eines unbedingt geltenden Wertes zur vollendeten Verwirklichung zu bringen? Sachlichkeit ist reiner Impersonalismus, Sachlichkeit ist Entpersönlichung.“43 – Demgegenüber bringen Kerschensteiners Kontrahenten Gaudig und dessen Mitarbeiter andere Momente ins Spiel. Ihre Zielperspektive ist die entwickelte Persönlichkeit.
1.4 Hugo Gaudig (1860-1923) und Otto Scheibner (1877-1961) – Die Freie geistige Schularbeit im Dienste der werdenden Persönlichkeit Hugo Gaudig studierte in Halle Philologie und Theologie. Nach einigen Jahren Lehrtätigkeit an Gymnasien in Gera und Halle übernahm er im Jahre 1900 die Leitung der Höheren Mädchenschule in Leipzig. Dort erprobte er seine Ideen in der Praxis, später unterstützt von zahlreichen hochqualifizierten Fachlehrkräften, die er aus ganz Deutschland für seine Schule in der Erwartung anwarb, nicht nur zu unterrichten, sondern ihre Fachmethodik nach den Grundsätzen der freien geistigen Schularbeit theoretisch zu durchdringen. Gaudig duldete nach Lotte Müller (s.u.) an seiner Schule aber auch „den bewussten Gegner“ seiner Anschauungen. An dieser Schule, der ein Lehrerinnenseminar und eine Übungsschule (eine Volksschule) angeschlossen war, wirkte er bis zu seinem Tode. Die Möglichkeit, als Professor an die Universität zu wechseln, nutzte er nicht. Aus dem Kreise seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist insbesondere Otto Fritz Scheibner (1877-1961) zu erwähnen, der von 1901 bis 1922 als Studienrat an Gaudigs Schule wirkte, danach zahlreiche Vortragsreisen im In- und Ausland durchführte und ab 1923 als Professor für Pädagogik (Jena und Erfurt) lehrte. Die Auseinandersetzung zwischen Kerschensteiner und Gaudig um die Idee der Arbeitsschule schildert Lotte Müller so: „Ein Markstein ... war die Begegnung Gaudigs mit Kerschensteiner auf dem 1. Kongress für Jugendkunde, Dresden 1911. Die beiden Pädagogen waren Hauptredner auf dieser Tagung, die zusammengerufen wurde, um zu klären, welches Gesicht die deutsche Schule künftig zeigen sollte, nachdem die Lernschule die Forderungen der Zeit nicht mehr erfüllen konnte. ‚Die Idee der Arbeitsschule‘ war das von beiden Pädagogen behandelte Thema. Kerschensteiner wiederholte wörtlich seinen Vorbericht, der den gegen 500 Teilnehmern des Kongresses übersandt worden war (der Vortrag ist weitestgehend identisch mit zentralen Passagen aus Kerschensteiners 1912 in erster Auflage erschienenen Buch „Begriff der Arbeitsschule“ – E.S.): bestechend in den Formulierungen, durchsichtig im Aufbau, folgerichtig bis in den kleinsten Gedanken, eine akademische Vorlesung: Erziehung des Schülers zum Staatsbürger, gewissenhafte, zur Vollkommenheit der Leistung strebende manuelle Ausbildung von charakterfördernder Wirkung – darin gipfelt für Kerschensteiner die Idee der Arbeitsschule.“ Dagegen grenzt Gaudig seine Idee der Arbeitsschule ab: „im Mit43
Ebd., S.70, Hervorhebung im Original; vgl. auch: Hackl, a.a.O., S.72ff
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telpunkt pädagogischen Tuns steht für ihn der Einzelmensch, die werdende Persönlichkeit, die in die vielfachen Lebensbezüge, nicht nur in das Leben des Staates, einzugliedern ist. Entscheidendes Merkmal der Arbeitsschule: die Selbsttätigkeit des Schülers, vor allem auf geistigem Gebiete. Um Ausgleich der beiden Auffassungen bemüht sich Kerschensteiner in seinem Schlusswort ,,von Gaudig durch den Zwischenruf ‚Durchaus nicht!‘ unterbrochen, ... Die Spaltung der Arbeitsschule in zwei Lager war damit vollzogen. Künftig heißt die Formel für den an der Gaudigschule gültigen Leitbegriff ‚freie geistige Schularbeit‘.“44 Es lohnt sich, aus der in freier Form zu Kerschensteiners Vortrag gehaltenen Gegenrede Gaudigs zu zitieren. Es zeigt sich, dass Gaudig den konkreten Verhältnissen industrieller Arbeit und dem gesellschaftlichen Leben mit seinen Widersprüchen aufmerksamer gegenübersteht als Kerschensteiner. In der Auseinandersetzung 1911 wird auch ein charakterliches Moment der Kontrahenten transparent, das Gaudigs Nähe und Kerschensteiners Distanz zu seiner Umwelt illustriert. Während Kerschensteiner nach den Debatten in seinem Schlusswort nur auf zwei Einwände antwortet (Gaudigs und Trüpers) und weitere mit dem Rat zurückweist, seine Schriften aufmerksamer zu durchdenken, geht Gaudig auf eine größere Anzahl von kontroversen Stellungnahmen ein.45 Hugo Gaudig rekapituliert in konziser Form den Gedankengang Kerschensteiners und kritisiert anschließend u.a. vehement dessen Staats- und Erziehungsbegriff: „Die Erziehung zum Staatsbürger ist nur eins der Ziele der Erziehung; ... neben dem gewiss andere Ziele als selbständige Ziele bestehen, als es neben dem staatsbürgerlichen Lebensgebiet noch andere Lebensgebiete gibt, die zwar zu jenem in Wechselbeziehung stehen, aber doch durchaus autonom sind; ich nenne das Gebiet des Berufslebens, des Familienlebens, des Bildungslebens, des religiösen Lebens. Das einigende Prinzip ist nicht durch Ausweitung des Staatsbegriffs zu gewinnen; es liegt in keinem Gebiet, sondern in der Persönlichkeit, in dem Menschen, der auf allen diesen Gebieten sich betätigt. Nicht staatsbürgerliche, sondern Persönlichkeitserziehung! ... Die Schule hat für alle Lebensgebiete vorzubereiten. ... Und was endlich die Forderung des manuellen Unterrichts in Rücksicht auf die Überzahl der manuellen Berufe angeht, so steht ja leider fest, dass die Mehrzahl der manuell Tätigen keine manuelle Ausbildung von irgendwelcher Gründlichkeit bedarf, weil die Arbeitsmaschine die Hand als Werkorgan ... verdrängt. ... Man frage auch einmal unsere Industriearbeiter, was sie von der Schule fordern, gewiss nicht manuelle, sondern geistige Bildung, mit der sie die Macht und den Genuss der Bildung erwerben können.“ Vor diesem Hintergrund erhebt Gaudig seine Forderung der freien Arbeit, die sämtliche Disziplinen, „geisteswissenschaftliche, naturwissenschaftliche, manuelle“ und alle Arbeitsformen, „die Arbeit am anschaulichen Objekt und am Text, das entwickelnde Verfahren und alles darstellende Tun“ beherrschen müsse und so früh wie möglich von der ersten Klasse an bis in die Universität hinein anzubahnen und zu üben sei. Eine zentrale Bedeutung erlangt dabei der Begriff der Selbsttätigkeit, den wohl keiner seiner Zeitgenossen ähnlich konsequent und radikal formuliert hat. Es sei die „Grundform der Tätigkeit in der Schule.“46 In seinem Vorbericht zur Tagung 1911 hatte Gaudig die wichtigsten Momente seines Ansatzes dargelegt. In Art eines nach zentralen Begriffen geordneten Kompendiums zitiere ich daraus47, ergänzt durch einige andere Passagen.
44 Müller, Lotte: Nachwort der Herausgeberin in: Gaudig, Hugo (1963): Die Schule der Selbsttätigkeit, Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S.86 45 Vgl. dazu: Reble, Albert (1979) (Hsg.): Die Arbeitsschule. Texte zur Arbeitsschulbewegung, Klinkhardt: Bad Heilbrunn, S.120f und Anm.7, S.180 46 Siehe: Gaudig, a.a.O. (1963), S. 28ff 47 Siehe ebd., S.11ff
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Arbeitsschule als Schule der Selbsttätigkeit: „Eine Arbeitsschule würde also eine Schule sein, in der die wesentliche, den Charakter der Schule bestimmende Tätigkeitsform die selbständige Tätigkeit des Schülers innerhalb gegebener Arbeitseinheiten wäre.“ Schüler als Subjekt: „Nicht als das Objekt einer fremden Tätigkeit, sondern als selbstwirkendes Subjekt (als ‚Täter seiner Taten‘) kommt der Schüler in Frage.“ Auch bei dem „arbeitsteiligen Verfahren“48 sei doch „letztlich wieder der einzelne das Ziel.“ Schulklasse als Raum sozial-ethischer Erziehung: „Die Erziehung des einzelnen zur Arbeit (hängt) ganz wesentlich davon ab, wie die kollektiven Arbeitsvorgänge, bei denen die Klasse das arbeitende Subjekt ist, verlaufen, und dann soll ja auch der einzelne, sofern er in der Klassengemeinschaft arbeitet, die Arbeit der Gemeinschaft lernen (die neben der Arbeit des einzelnen als einzelnen eine zu beachtende ‚Lebensform‘ der Arbeit ist) und zugleich den sozialethischen Gewinn aus dieser auf wechselseitiges Dienen angelegten Arbeitsweise sich aneignen.“ Selbsttätigkeit als selbstbestimmte Arbeit: „ ..., denn nur dann, wenn selbsttätig gearbeitet wird, ist Arbeit Arbeit, selbsttätig muss also der Arbeitende sich das Ziel stecken (die Aufgabe formulieren, die Frage aufwerfen, das Problem entwickeln); selbsttätig muss er den Arbeitsgang ordnen, selbsttätig das Ziel festhalten, selbsttätig Zwischen- und Endergebnisse prüfen usw.“ Und (an anderer Stelle192249): „Freie geistige Arbeit ist die Art des Arbeitens, bei der der gesamte Arbeitsvorgang von der Stellung bis zur Lösung der Frage von der Eigenmacht des Schülers getragen wird.“ Lernen als planmäßiger (geistiger) Arbeitsvorgang, als Lernen des Lernens: Man könnte sagen, „in der Arbeitsschule lerne der Schüler zu lernen.“ „Der Lebensbegriff der Arbeitsschule ist der Arbeitsvorgang. Die Gesichtspunkte, die bei dem Arbeitsvorgang vor allem beachtete werden müssen, sind das Stecken des Arbeitsziels, die Auswahl der Mittel, die Anordnung des Arbeitsgangs, das Festhalten des Ziels während der Arbeit, die Einstellung auf die Arbeitsformen, die Antriebe zur Fortführung der Arbeit, die Überwindung der Hemmungen, die Prüfung der Arbeit während des Verlaufs und am Ende usw. Ferner ist ein Arbeitsvorgang auf seinen Willenscharakter, auf die ihn begleitenden und beeinflussenden Gefühle, auf seine Bedeutung im gesamten Leben der werdenden Persönlichkeit anzusehen.“ (Scheibner hat den Arbeitsvorgang genauer systematisiert – s.u.) Arbeitstechnik als Lernmittel des Schülers: Die Einführung und Einübung in die sach- und fachgerechte „Methode der Arbeit“ ist eine wesentliche Aufgabe des Lehrers. „Dieses Vermitteln der Technik bedeutet natürlich nicht ein Eindressieren auf irgendein Verfahren; vielmehr müssen die Schüler, so früh als möglich, Einsicht in die mit ihnen eingeübte Technik gewinnen, damit sie die Technik bewusst und planmäßig anwenden und sie an ihre Individualität, an ihr wachsenden Können und wechselnden Stoff anpassen lernen. Nichts Schlimmeres, als wenn der Schüler ein stets bereites Schema wahllos anwendet. ... Die Gängelei durch den Lehrer ist ein großes Übel, schablonenhaftes Arbeiten das andere.“ Lehrer als zurückhaltender Anreger und Begleiter selbständigen Arbeitens: Der neue Lehrertypus sei kein lehrender Gelehrter, kein Lehrer-Künstler („ein Lieblingstypus unserer Zeit!“), kein Seelenbeherrscher, der „souverän (mit der Tyrannei des Geistes) über die jungen Menschen schaltet.“ „Aber er ist doch im wesentlichen Diener der werdenden Kraft, stets bereit, zurückzutreten, sobald der Schüler aus eigener Kraft zu handeln vermag.“ Es zeichne den Lehrer für die Schule der Zukunft aus, „sich von Etappe zu Etappe überflüssig (zu) machen.“ 48
Scheibner betont ebenfalls die Einzelarbeit („Einzelarbeiter“), erwähnt aber auch, dass sich die Klasse beim „arbeitsteiligen Klassenunterricht“ auch in „Arbeitsgruppen“ gliedern kann. Scheibner, Hugo (1928/1914): Der arbeitsteilige Klassenunterricht, in: Ders. (1928): Zwanzig Jahre Arbeitsschule in Idee und Gestaltung, Leipzig: Quelle und Meyer, S.197ff 49 Ebd., S.60
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(1922) „Wir haben keinen Raum für den Fragekünstler, für den Meister der Antriebe, für den geistigen Führer, der den Schüler in seine Geistesbewegung hineinreisst, der als eigentliche persona agens vor den Schülern allenfalls mit den Schülern handelt. Der Lehrer, der uns als Leitbild vorschwebt, ist ein Helfer der Selbstentfaltung seiner Zöglinge; er steht im Dienst der werdenden Persönlichkeit.“ Die Fähigkeit des „Eindenken(s) in den Geist des Schülers“, das „Einfühlen in sein Gemütsleben“, der Versuch, „seine jugendlichen Arbeiter in der Totalität ihrer Existenz, auch in ihrer häuslichen“ zu erfassen sind Voraussetzungen seiner Tätigkeit. Aller „Druck einer autoritären Persönlichkeit“ soll „in den großen entscheidenden Fragen des Lebens“ vermieden werden.50 Richtpunkt seines Handelns ist dem Lehrer das – von Gaudig im Unbestimmten gelassene – Ideal der Eigenwesenheit eines jeden Schülers, damit er „zum Ich seiner Sehnsucht“51 gelange. Aus diesen Erwägungen heraus wendet sich Gaudig entschieden gegen den Gedanken des Führertums sowohl im pädagogischen wie im politischen Raum.52
Gaudigs Begriff der Bildung und der Schule ist also im Wesentlichen methodischer Art und steht so im Einklang mit den meisten Konzeptionen der Reformpädagogik. Das Wesen der neuen Schule sei „nicht von dem Inhalt der durch sie vermittelten Bildung, auch nicht von der auf die Bildung und Erziehung der Zöglinge verwandten Tätigkeit, sondern von der Wirkensweise des Zöglings selbst gewonnen.“53 Die Inhalte oder ein Kanon von Inhalten wird als solcher nicht problematisiert oder eigens entwickelt. Gaudig plädiert – insbesondere für die oberen Klassen aller Schulformen – entschieden für eine Orientierung an den traditionellen Fächern, die den „Zusammenhang mit der wissenschaftlichen Forschung“ als wichtige Voraussetzung für den kulturellen Fortschritt sichert und auch die Einsicht in Zusammenhänge komplexerer Natur ermögliche. Es komme eben im Wesentlichen darauf an, dass nicht „totes Wissen“ angehäuft, sondern „arbeitendes Wissen“ mit „apperzipierende(r) Kraft“ erworben werde.54 Der Erwerb solchen Wissens ist an die genannten Bedingungen geknüpft. Insbesondere Scheibner hat sich der methodischen Seite dieses Prozesses gewidmet und dabei eine fünfstufige „Grundform des Arbeitsvorgangs“ beschrieben, die er – mehr oder weniger deutlich und in mancher Abwandlung – in den verschiedensten Arbeitsvorgängen grundgelegt sieht: 1. Es wird ein Arbeitsziel gesetzt oder eine gestellte Arbeitsaufgabe in den Willen aufgenommen und erfasst. 2. Es werden die Arbeitsmittel aufgesucht, bereitgestellt, auf ihre Verwendbarkeit geprüft, ausgewählt und geordnet. 3. Es wird ein Arbeitsweg als Plan entworfen und in Arbeitsabschnitte gegliedert. 4. Es werden die einzelnen Arbeitsteile und Arbeitsschritte als in sich selbständige Teile ausgeführt und in Verbindung gehalten. 5. Es wird das Arbeitsergebnis erfasst, besehen, geprüft, beurteilt, gesichert, eingeordnet, ausgewertet.55 In Hinsicht auf die verschiedenen Arbeitsvorgänge unterscheidet Scheibner vier Gegenstandsbereiche, die wiederum in eine „gegliederte Formenlehre der Arbeitsvorgänge“ entfal50
Ebd., S.65f Ebd., S.67 Vgl. ebd., S. 65 und S.83 Anm. 6 53 Ebd., S.11 54 Vgl. ebd., S.63f 55 Scheibner, Otto (1928): Zwanzig Jahre Arbeitsschule in Idee und Gestaltung. Gesammelte Abhandlungen, Leipzig: Quelle & Meyer, S.49 51 52
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tet werden können. In den vier Gegenstandsbereichen sind „über die Fächer und Stoffe hinaus“ „allgemeinere Gebilde der Arbeitstechnik“ eingeschlossen: a) Die Arbeit am anschaulichen Gegenstande, wie z.B. an der dinglichen Wirklichkeit (der Pflanze, dem Tiere, dem Gelände), ferner am Bilde und Modelle, schließlich an der sich vor den Sinnen abspielenden Erscheinung (dem physikalischen Versuch, dem biologischen Vorgang). b) Die Arbeit am sprachlich gefassten Gegenstande: am wissenschaftlichen Text, am fremdsprachlichen Schriftsatze, an den Werken der Dichtung. c) Die Arbeit am gedanklichen Gegenstande: am Begriffe, an der Beziehung, an Regel und Gesetz, am einzelnen Gedanken, an der Gedankengruppe, am und im System, am Problem. d) Die Arbeit am darzustellenden Gegenstande: am Werkstücke der Handbetätigungen, an Gebilden aus künstlerischem Tun, an den Aufsatzgebilden der Sprachfächer, an den Übungen des Turnens, an der Darstellung dichterischen oder musikalischen Schaffens.56 Ähnlich wie Kerschensteiner fragt auch Scheibner nach den pädagogischen Merkmalen der Arbeit. Während die (außerschulischen) wirtschaftlichen, die wissenschaftlichen und künstlerischen Arbeiten als solche ihren Wert im Werk selbst haben, sind „pädagogisch wertvolle“ Arbeitsvorgänge nur dort gegeben, wo ein „Bildungsgehalt“ erschlossen wird, wo in der Arbeit „bildende Wirkungen“ auftreten. Diese sind nur in dem Maße gegeben, als bestimmte Bedingungen „psychologischer teils technischer“ Art erfüllt sind, als da sind57: 1. Selbständigkeit nach Maßgabe der wachsenden Fähigkeiten. Scheibner unterscheidet die Stufe der bloßen, in erster Linie nachahmenden Aktivität von der Stufe der Spontaneität. „Auf ihr quillt die Arbeit heraus aus dem Innern des Schülers, aus seinem freien Entschluss.“ Der Schüler wird sein „eigener Arbeitgeber“. Erst hier kommt es zum vollen „Arbeitserlebnis“ mit seinen gefühls- und willensbestimmten Momenten. Es handelt sich dann um „freie Arbeit“, in der erst der „hohe Bildungsgehalt der Arbeit gehoben“ wird. 2. Naturgemäßheit in dem Sinne, das alles der entwicklungsmäßig gegebenen – und vom Erwachsenen verschiedenen – „kindlichen Wesenheit angepasst“ sei. Das schließt den Grundsatz der Individualisierung des Unterrichts ein, der vom Lehrer einige Übung im „differenzialpsychologischen Beobachten“ verlange; ferner den erst allmählichen Übergang zum Fachunterricht (vom Gesamtunterricht der Grundschule zum fachlich gegliederten der höheren Klassen). 3. Wirtschaftlichkeit: ein „haushälterische(r) Kraftverbrauch“ unter Beachtung von Phasen der Anstrengung, Ermüdung und Erholung. (Es handelt sich also um einen psychophysiologischen Aspekt, nicht um einen gesellschaftlich-ökonomischen.) 4. Stoffgemäßheit: „das will sagen, dass der Stoff in solcher Weise bearbeitet werde, wie es seiner Eigenart entspricht, wie es seine Natur verlangt, ...“ 5. Lebensnähe: die Schule soll die „Naturformen des Lernens“ nutzen, d.h. solche, die dem „freien Bildungserwerb“ nahekommen, wie er außerhalb der Schule in selbstverständlicher Weise geschieht. Es geht um die möglichst Auseinandersetzung mit Gegebenheiten des Lebens, der Kultur, der Natur unmittelbare („Unterricht ohne Mittlerschaft des Lehrers“). 6. Ergiebigkeit als Maßstab des pädagogischen Gewissens. „Fördert der Arbeitsvorgang nichts an gesichertem Ertrage, an greifbaren Kenntnissen und Erkenntnissen zutage, so ist er wertlos wie eine Ernte von tauben Ähren.“ (Gewendet gegen einen bloßen Aktivismus.) 56 57
Ebd., S.53 Ebd., S.57-62
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Mit diesen Bestimmungen hat Scheibner im Anschluss an Gaudig den Arbeitsbegriff so weitgehend pädagogisiert, dass er auf alle unterrichtliche Tätigkeiten anwendbar ist. Der von Kerschensteiner geforderte Berufsbezug der Arbeitsschule, der als solcher die Funktion des Staates und der Arbeitswelt im Blick hatte, wird nahezu völlig aufgegeben. Gewonnen wird so ein allgemeiner pädagogischer Arbeitsbegriff, der unter der Norm der Selbsttätigkeit in sich ein Ensemble weiterer pädagogischer Prinzipien (Stoff- und Kindgemäßheit, Lebensnähe u.a.) aufnimmt. So wird der Arbeitsbegriff – bei Scheibner soweit ich sehe bloß dem Inhalt nach und nicht historisch-explizit – in den jahrhundertealten klassischen Diskurs um die gute Schule und das bessere Lernen hineingenommen bzw. zurückgeführt. Nach dem Urteil von Hackl sind Scheibners Überlegungen zu den „entwickeltsten Ansätzen einer wissenschaftlichen Klärung der Grundlagen reformpädagogischer Didaktik zu zählen.“58 Im Vergleich zu Kerschensteiner bedeutet der Gaudig-Scheibnersche Arbeitsbegriff „im Dienste der werdenden Persönlichkeit“ zweifellos eine Stärkung des Subjektstatus‘ des Schülers, allerdings – wie Hackl zeigt – nicht so weitgehend, dass darin auch emanzipatorische Momente eingeschlossen wären. Das liegt vor allem darin begründet, dass es den beiden Vertretern der Persönlichkeitspädagogik trotz mancher Hinweise in diese Richtung nicht gelingt, ihren Ansatz mit gesellschaftlichen Gegebenheiten zu vermitteln. In geradezu schwärmerischnaiver Weise sieht Gaudig das Heil des Volkes, dessen „Gesamtlage“ 1922 von ihm durchaus als „besonders schwer und gefahrdrohend“ eingeschätzt wird, in der entwickelten Persönlichkeit. „Gelänge es, das deutsche Volk in eine große Bewegung nach dem Ideal der Persönlichkeit hinzureißen, so wäre der Zukunft unseres Volkes der ideale Gehalt gesichert.“59 Bestimmende Momente der Persönlichkeitspädagogik sind wie Hackl überzeugend nachweist „eine naiv affirmative Sicht des Staates, ein ausgeprägter Hang zum Individualismus sowie eine misstrauisch ängstliche Distanz zur Arbeiterbewegung“.60 So verbleibt diese Pädagogik in einer bürgerlich-affirmativen Grundverfassung: gesellschaftliche Widersprüche und die Zugehörigkeit des einzelnen zu verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen oder Klassen werden in ihren Folgen für die Verfassung des Subjektes und für die Entwicklung der Persönlichkeit theoretisch nicht analysiert. Die Widersprüche können daher auch nicht in der Perspektive ihrer möglichen Aufhebung oder Milderung pädagogisch reflektiert werden. – Die Schaffung einer Arbeitsschule im Dienste des utopischen Ideals einer harmonischen menschlichen Gemeinschaft, in der es möglich erscheint, die Widersprüche zwischen den Klassen der Gesellschaft sowie zwischen der Gesellschaft im Ganzen und dem Individuum aufzuheben, bezeichnet das zentrale Anliegen der sozialistischen Pädagogik.
1.5 Sozialistische Erziehungs- und Schulkonzeptionen und das Beispiel der polytechnisch-industriellen Arbeitsschule von Pavel Petrovic Blonskij (18841941) Der sozialistische Zweig der Reformpädagogik ist untrennbar mit der Geschichte der Arbeiterbewegung des 19. und 20. Jahrhunderts verknüpft. Eine gesellschaftliche Bewegung, die sich als Stimme der Arbeitenden versteht, musste in Fragen der Bildung der Arbeit einen hohen indentitätsstiftenden Stellenwert zugemessen. Karl Marx sah in der Arbeit selbst eine über ihre eigenen sozialen Begrenzungen hinausweisende emanzipatorische Kraft, die es dem Arbeiter erlaubt, allmählich ein Bewusstsein zu bilden für seine wahren Bedürfnisse und zugleich ein Wissen anzueignen um die Gründe ihrer Unterdrückung. Dieses Bewusstsein würde geschichtsnotwendig (historischer Materialismus) in eine machtvolle solidarische Aktion 58
Hackl, a.a.O., S.82 Gaudig, zitiert nach Hackl, a.a.O., S78 60 Hackl, ebd. 59
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(Klassenkampf, Revolution) mit dem Ziel einmünden, durch die kollektive Aneignung der Produktionsmittel sowie der kollektiv produzierten Werte (d.h. zugleich: durch die Verunmöglichung ihrer bisherigen privaten Aneignung durch die dünne Oberschicht der Kapitaleigner) die neue klassenlose, gerechte und allseits befriedete Gesellschaft zu errichten. Während die bürgerliche Pädagogik durchaus ohne den Arbeitsschulgedanken denkbar ist – die „Schule der Zukunft“ wurde entgegen der Hoffnung Kerschensteiners keine Arbeitsschule und die höheren Bürgerschulen sowie die Gymnasien wurden ohnehin kaum von den Gedanken der Arbeitsschulpädagogen berührt – , ist die sozialistische Pädagogik in Theorie und Praxis auf weite Strecken eine Pädagogik der Arbeitsschule. Im sozialistischen Bildungsdenken, welches zugleich immer ein Denken in den Kategorien eines neu zu schaffenden Menschen und einer neu zu schaffenden Gesellschaft ist, kommt der Arbeit als industrielle Produktion eine entscheidende Bedeutung zu; denn erst die unter den nicht-entfremdenden Bedingungen der klassenlosen Gesellschaft funktionierende Produktion kommt zur vollen Blüte ihrer Möglichkeiten, da die Gründe für die produktionshemmenden Krisenzyklen (Verelendung der Arbeiterschaft, soziale Unruhen und Streiks) in der kapitalistischen Gesellschaftsordnung entfallen sind. Im „Arbeiter- und Bauernstaat“ ist der Arbeitende Angehöriger der „herrschenden Klasse“; er arbeitet für sich selbst und kommt in den vollen Genuss der Früchte seiner Arbeit. Das bewirkt eine Steigerung der Arbeitsmotivation, zugleich eine Steigerung der Produktivkräfte und sichert die ökonomische Basis der neuen Gesellschaft. Sowohl in ideologischer Hinsicht (Entwicklung des „richtigen“ Klassenbewusstseins) als auch pragmatischer Hinsicht (Aneignung von wissenschaftlich-produktivem Wissen) kommt der Erziehung (gegebenenfalls auch der „Umerziehung“) zur Vorbereitung und zur endgültigen Sicherung der neuen Gesellschaft eine herausragende Bedeutung zu. Eine genauere Sicht auf die Entwicklung und Ausprägung der sozialistischen Arbeitsschulkonzeptionen hätte ihren jeweiligen historischen Entstehungskontext einzubeziehen, insbesondere die jeweiligen regionalen und nationalen politischen sowie schulpolitischen Machtverhältnisse. Es öffnet sich ein außerordentlich breites Spektrum an pädagogischen Initiativen, das von einzelnen Schulgründungen und Schulreformbewegungen innerhalb des „alten“ kapitalistischen Systems, über verschiedene und auf die Gesetzgebung mehr oder weniger Einfluss nehmende politisch-pädagogische Programme der Parteien, Gewerkschaften, Verbände bis hin zu solchen pädagogischen Reformen reicht, die – wie im nachrevolutionären Russland und seinem Einflussbereich bis hin zum kommunistischen China – das gesamte Bildungswesen des Staates unter den Maßgaben der neuen sozialistisch-kommunistischen Weltanschauung umgestalten. Dass es dabei in den kommunistischen Staaten respektive im „real existierenden Sozialismus“ immer wieder zu einer Hyperthrophierung der körperlichen Arbeit und des Arbeiters und gleichzeitig zu einer Diffamierung, Unterdrückung, Verfolgung oder „Umerziehung“ durch erzwungene harte körperliche Arbeit der als bürgerlich und reaktionär gebrandmarkten Intellektuellen kam, darf in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben. Erinnert sei nur an die Zeit der sogenannten Kulturrevolution in China (1966-1969)61, deren ideologischer Schatten sich sogar in den westlichen Industrieländern bis in die 1970er Jahre hinein bemerkbar machte und namentlich in den maoistischen Hochschulgruppen ihre Anhänger fand. In Ergänzung zur unten näher behandelten Konzeption Blonskijs sollen hier einige wenige Hinweise und Querverweise auf weitere sozialistische Initiativen genügen62, die als Vorläufer der Reformpädagogik oder als zu ihrem sozialistischen Zweig gehörig anzusehen sind: 61
Vgl.: Hsia, Adrian (1971): Die chinesische Kulturrevolution, Neuwied und Berlin: Luchterhand Mir ist keine Arbeit bekannt, die in internationaler Sicht umfassend über die sozialistische Arbeitsschule informiert. Weitergehende Hinweise enthält die Arbeit von Hackl a.a.O.; ferner sei verwiesen auf: Hierdeis, Helmwart (Hsg.) (1973): Sozialistische Pädagogik im 19. und 20. Jahrhundert, Bad Heilbrunn: Klinkhardt; Hohendorf, Gerd (1989): Reformpädagogik und Arbeiterbewegung, Oldenburg: Oldenburger Universitätsreden 62
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Zunächst ist auf die Bemühungen der sog. Frühsozialisten zu verweisen, insbesondere auf Robert Owen (1771-1858) und Charles Fourier (1772-1837), die theoretisch und teilweise gestützt durch praktische Versuche (Owen) die aufkeimenden Widersprüche im frühen Industriezeitalter mittels einer neuen Sozialverfassung (u.a. kollektives Eigentum) und mittels einer neuen, vielseitig angelegten und mit der Arbeit eng verbundenen Erziehung zu bearbeiten gedachten. Karl Marx (1818-1883) und Friedrich Engels (1820-1895) führen diese Gedanken später weiter. Marx bestimmt 1866 Bildung als „Geistige Bildung – Körperliche Ausbildung – Polytechnische Erziehung“. Er kritisiert vehement die wirtschaftliche Ausbeutung der Kinder und billigt Arbeit für Kinder ausschließlich im Zusammenhang mit Bildung. Nach Marx vermittelt die Polytechnische Erziehung die „allgemeinen wissenschaftlichen Grundsätze aller Produktionsprozesse“ und weiht das Kind und die junge Person gleichzeitig ein „in den praktischen Gebrauch und in die Handhabung der elementarischen Instrumente aller Geschäfte.“63 Die Marxschen Ausführungen zur Bildung und Erziehung können als grundlegendes Credo aller nachfolgenden sozialistischen Konzeptionen angesehen werden, auch solcher Personen und gesellschaftlicher Gruppierungen, die nicht an die geschichtliche Notwendigkeit der proletarischen Revolution glauben und die Entwicklung zur gerechten, klassenlosen Gesellschaft im Rahmen demokratisch-evolutionär zu erringender Reformen sehen.
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Die folgenden Querverweise auf andere Teile dieses Buches mögen dafür stehen, dass der sozialistische Zweig der Reformpädagogik nicht als ein isolierter innerhalb der Gesamtbewegung steht; er ist in die Gesamtbewegung eingebunden und so auch in vorliegendem Buch unter verschiedenen Gesichtspunkten gleichsam „eingewoben“. Es gab in den Entstehungs- und Entwicklungszusammenhängen der verschiedenen Konzeptionen durchaus zahlreiche Verbindungen und gegenseitige Beeinflussungen zwischen Vertretern ganz unterschiedlicher gesellschaftspolitischer Grundpositionen. Es gab auch mehr oder weniger radikale Wandlungen bei den Gründerpersönlichkeiten. Die zunächst durchaus begründete Hoffnung mancher Freunde und Förderer aus dem Umkreis der englischen „Fellowship of the New Life“ etwa, die „New School Abbotsholme“ von Cecil Reddie (1858-1932) werde das epochemachende Beispiel einer proletarischen und demokratischen Schule abgeben, wurde bitter enttäuscht. Stattdessen entstand eine Schule „for the boys of the directing classes“ im Dienste des „British Empire“ und Reddie bezeichnete Demokratie später als eine „idiotic idea“. Insbesondere in den Kapiteln über die Landerziehungsheime, (siehe dort auch über Reddies ideologische Wende) und die freien Alternativschulen kommen sozialistische Initiativen zur Sprache: Paul Robin (1837-1912) mit seinem Waisenhaus in Cempuis (Frankreich); Francisco Ferrer (1859-1909) und seine Schulreformbewegung der Modernen Schule, „Escuela Moderna“ (Spanien); Minna Specht (1879-1961) mit dem Landerziehungsheim „Walkemühle“ (Deutschland) und den Folgegründungen in der Emigration (Dänemark und England); schließlich die heute noch sehr lebendige Bewegung der „Ecole Moderne“ des französischen Reformpädagogen Célestin Freinet (18961966), dem weiter unten ein eigenes umfangreiches Kapitel gewidmet ist. Sein pädagogisches Motto lautet: „Par la vie, pour la vie, par le travail“, „Durch das Leben für das Leben durch die Arbeit“.
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In der Reformpädagogik der Weimarer Zeit kommt dem nach dem 1919 gegründeten und 1933 von den Nationalsozialisten zerschlagenen „Bund Entschiedener Schulreformer“ mit
Nr.29; Reble, Albert (1979): Die Arbeitsschule. Texte zur Arbeitsschulbewegung, Bad Heilbrunn: Klinkhardt; Rohde, Ilse (1997): Heinrich Vogeler und die Arbeitsschule Barkenhoff, Frankfurt am Main u.a.O.: Peter Lang 63 Marx, Karl (1866): Die Arbeit von Frauen und Kindern, in: Hierdeis, Helmwart (Hsg.) (1973): Sozialistische Pädagogik im 19. und 20. Jahrhundert, Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S.30
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seinem Mitbegründer, Vorsitzenden und Hauptvertreter Paul Oestreich (1878-1959) eine herausragende Bedeutung zu. Politisch ist Oestreich dem linken Flügel der Sozialdemokratie zuzurechnen, schulpolitisch sympathisiert er aber durchaus auch mit den Kommunisten. (Oestreich schließt sich nach dem Zweiten Weltkrieg der kommunistischen Partei in der Sowjetischen Besatzungszone, der späteren Deutschen Demokratischen Republik, an.) Als Perspektive zur Schulentwicklung dachte Oestreich an eine Art „sozialistischen Schulstaat“. Die Schule sollte als eine „große, sich ökonomisch selbsterhaltende Einheit von Lernen, Arbeiten und Leben“ organisiert werden64 – eine eigene Welt also, die zumindest partiell den Widersprüchen und Verwertungsinteressen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung enthoben wäre. Der Bund selbst dürfte in seiner Mitgliedschaft nahezu alle schulpolitisch aktiven Gruppierungen der Lehrerschaft „des linken Spektrums“ repräsentiert haben. Eine einheitliche und als verbindlich angesehene Schulkonzeption wurde nicht erarbeitet. So konnte es auch nicht gelingen, eine Reformschule zu gründen, die als die Beispielschule des „Bundes“ oder gar die „Mutterschule“ einer breiteren Bewegung hätte fungieren können. Dennoch war der Einfluss des Bundes, der bald nach seiner Gründung insbesondere in den großen Städten viele Anhänger zählte, in den ersten Jahren seines Bestehens bei konkreten Schulreformprojekten sowie auf den verschiedenen Ebenen der Schulpolitik bis hin zu den parlamentarischen Debatten und der Reichsschulkonferenz zur Neuordnung des Schulwesens im Jahre 1920 erheblich. Als gemeinsame Leitlinien und Forderungen des Bundes können festgehalten werden: a) die „elastische Einheitsschule“ (wir würden heute sagen: eine sich nach Begabung und/oder Interesse intern differenzierende Integrierte Gesamtschule für alle Kinder und Jugendlichen); b) die laizistische, d.h. weltliche Schule (gegen konfessionelle Schulen und den Einfluss der Kirche gerichtet); c) Organisation des Unterrichts nach den Grundsätzen der Arbeits- und Produktionsschule (Lebensverbundenheit, praxisbezogener Unterricht ähnlich wie bei Dewey); d) Demokratisierung des Schulwesens insgesamt und Demokratie nach innen, also weitgehende Partizipationsmöglichkeiten aller Beteiligten in der Schule selbst. – Armin Bernhard hat 1999 eine aufschlussreiche sozialgeschichtliche und bildungstheoretische Analyse der „Entschiedenen Schulreform“ vorgelegt.65 x
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In den Grundlinien verwandt mit den Bestrebungen der „Entschiedenen Schulreform“ und auch in Beziehung zu ihr entwickelt sich in der Ersten Republik Österreichs (1918/19– 1938) eine weithin beachtete sozialdemokratisch ausgerichtete Reformtätigkeit, die unter reger Beteiligung der Lehrerschaft ins Werk gesetzt wurde. Die hier ins Auge gefasste „Österreichische Schulreform“ ist in wesentlichen Teilen das Lebenswerk des sozialdemokratischen Schulpolitikers Otto Glöckel (1874-1935). Nach dem Zusammenbruch der Monarchie übernimmt er im Frühjahr 1919 die Leitung der obersten österreichischen Schulbehörde. Die Neugestaltung der Grundschule im Sinne der Arbeitsschule und des Gesamtunterrichts (selbsttätiges Lernen und Gewinnung der inhaltlich-fachlichen Bezüge aus ganzheitlichem Erleben von „natürlich“ gegebenen Zusammenhängen in der Welt des Kindes) gehört zu den ersten Reformschritten. 1922 übernimmt Glöckel den Vorsitz des Stadtschulrates in Wien. Er gestaltet das „Schulwesen im Rahmen einer umfangreichen Wohnbautätigkeit und moderner sozialer Einrichtungen der Wiener Gemeindeverwaltung so aus, dass Wien als Schulreformstadt in der Welt bekannt und zum Treffpunkt der Fachwelt wurde. ... In einem großzügigen Versuch mit 10.000 Schülern führte er die ‚Allgemeine Mittelschule‘ als Zentrum eines Einheitsschulsystems durch.“66 Allerdings kommt es wegen der zahlreich notwendigen politischen Rücksichtnahmen (konservative Parteien,
Hackl, a.a.O., S.130 Bernhard, Arnim (1999): Demokratische Reformpädagogik und die Vision von der neuen Erziehung, Frankfurt am Main u.a.O.: Peter Lang 66 Lexikon der Pädagogik (1952), Band III, Stichwort „Glöckel, Otto“, S.170 65
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Klerus), aber auch wegen konzeptioneller Widersprüche innerhalb der sozialdemokratischen Partei nicht zu einer durchgreifenden inneren Reform im Sinne der Arbeitsschule und auch die Einheitsschule (Gesamtschule) kann nicht dauerhaft etabliert werden.67 – 1934 wird Glöckel im Zuge der politischen Unruhen und des Parteienverbots (Austrofaschismus) für acht Monate inhaftiert. Er stirbt wenige Monate nach seiner Freilassung. Blonkijs Wirken steht an einem historischen Wendepunkt der europäischen Geschichte. In der „großen sozialistischen Oktoberrevolution“ 1917 in Russland sehen die Arbeiterbewegungen, auch die politisch gemäßigteren unter ihnen, weltweit die Morgenröte einer gerechten, nicht mehr von Ausbeutung gezeichneten Menschheit und Weltgemeinschaft („Weltrevolution“) aufziehen. Der historische Materialismus schien den geschichtlichen Beweis seiner konkreten Möglichkeit erbracht zu haben. Wladimir Iljitsch Lenin, der Gründer des Sowjetstaates, sieht in der Umgestaltung der Erziehung die entscheidende Bedingung zur Erschaffung der kommunistischen Gesellschaft der Zukunft. Nadesha Konstantinowna Krupskaja, Lenins Frau, tritt als Funktionärin im Volkskommissariat für das Bildungswesen 1919 für die Produktionsschule ein, das heißt für „die Verbindung des Unterrichts mit produktiver Arbeit in der Einheitsarbeitsschule“68. Bereits ein Jahr zuvor hat Blonskij, der seit 1918 ebenfalls dem Volkskommissariat angehört, sein Werk „Die Arbeitsschule“ verfasst. (Das Werk liegt 1921 in deutscher Übersetzung vor. Zahlreiche Übersetzungen machen es in der ganzen Welt bekannt.) Krupskaja wie auch Blonskij sind mit den westlichen Bestrebungen der Arbeitsschule vertraut und vertreten im Prinzip dieselbe Konzeption. Blonkijs Bemühungen treffen also zunächst auf eine positive gesellschaftspolitische Resonanz. Nach dem Urteil Hackls ist der frühsowjetische Revolutionspädagoge als jener Theoretiker anzusehen, „der die historisch begründeten Intentionen und Perspektiven der Arbeiterbewegung am entschiedensten in reformpädagogische Auffassungen integriert.“69 Allerdings konnte sich Blonskijs Konzeption als Ganzes in der Praxis nicht durchsetzen. Die bald nach der Revolution beschlossene „Einheits-Arbeitsschule“ trifft auf außerordentlich ungünstige Bedingungen. Die völlig unvorbereitete, zudem schlecht ausgebildete und unter bitterer materieller Not leidende Lehrerschaft (ökonomische Krisen, Hunger) kann ein solches Werk nicht mittragen oder umsetzen. Auch fehlen die technisch-ökonomischen Voraussetzungen einer industriell-polytechnischen Bildung völlig. „So musste selbst das Volkskommissariat für das Bildungswesen zugestehen, dass zu ihrer Verwirklichung, die ‚nicht im Erlernen vieler Handwerke, sondern in der Aneignung der technischen und organisatorischen Hauptprinzipien der industriellen Produktion durch die Kinder‘ bestehe, ‚das Vorhandensein einer gut ausgerüsteten und planmäßig funktionierenden Industrie‘ ... notwendige Voraussetzung gewesen wäre. Davon konnte jedoch im von Bürgerkrieg, Interventionskrieg, Hunger (der Höhepunkt der Hungersnot, der Millionen von Menschen zum Opfer fielen, lag in den Jahren 1921/22 – E.S.) und allgemeiner ökonomischer Rückständigkeit gezeichneten revolutionären Russland nicht die Rede sein.“70 Die Jahre nach 1923, nach Gründung der Sowjetunion im Dezember 1922, können nach Hackl als „Etappe der erstmalig systematisch organisierten Umsetzung marxistisch-reformpädagogischer Konzepte angesehen werden.“71 Nach Anweiler ist das nachrevolutionäre Russland der einzige Staat, „in dem die Grundgedanken der Reformpädagogik einige Jahre lang die amtliche Schulpolitik nachhaltig be-
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Vgl. dazu: Hackl, a.a.O. S. 40 f und 111ff Krupskaja, Nadesha K. (1919): Die Verbindung des Unterrichts mit produktiver Arbeit in der Einheitsarbeitsschule, in: Hierdeis, Helmwart (1973): Sozialistische Pädagogik im 19. und 20. Jahrhundert (Quellentexte), Bad Heilbrunn: Klinkhardt 69 Hackl, a.a.O., S.9 70 Ebd., S.150 71 Ebd. 68
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stimmten.“72 Dabei wird auch auf amerikanische Vorbilder der „Progressive Education“, insbesondere auf John Dewey (s.o.) und Helen Parkhurst („Dalton-Laboratory-Plan“ – s.u. in einem eigenen Kapitel) Bezug genommen. Kennzeichen der neuen „Einheits-Arbeitsschule“ sollten sein: Koedukation, Abschaffung der Zensuren und Prüfungen, Schülerselbstverwaltung, kollegiale Schulleitung, Gesamtunterricht, Werkunterricht und Arbeitserziehung, Ganztagserziehung, Mitarbeit an außerschulischen Projekten.73 Wegen der angedeuteten Gründe ist diesen Reformbemühungen kein dauerhafter Erfolg beschieden. Die Reformetappe dauert nur wenige Jahre. Die sowjetische Lehrplanreform von 1927 bringt insgesamt einen herben Rückschlag für alle reformpädagogisch inspirierten Schulversuche und Reformkonzeptionen. „Der letzte Versuch, die ‚polytechnische Arbeitsschule‘ historisch zu retten, wurde 1929 von der Gruppe um Schulgin unternommen. Die Entfachung einer ‚zweiten Schulrevolution‘ endet allerdings schon 1932 wieder, als im Zuge der gesellschaftlichen Veränderungen unter Stalin endgültig alle reformpädagogischen Tendenzen ausgeschaltet wurden.“74 Parallel zum politischen Totalitarismus gerät die Schulentwicklung in die Bahn einer autoritären Leistungsschule. Es entsteht, wie in der Ära nach Stalin kritisch angemerkt wurde, eine „Pädagogik ohne Kind“. Dennoch sorgen die zahlreichen Übersetzungen von Blonkijs Werk für eine Verbreitung seiner Gedanken. So kommt Hackl zu dem Urteil: „Wenn auch die polytechnische Arbeitsschule nirgends zur Gänze nach den Plänen ihres Urhebers realisiert werden konnte, so flossen doch bis in die heutige Zeit manche seiner Ideen in schulische Reformprojekte ein.“75 Diese Feststellung gilt in besonderem Maße für Célestin Freinet und seine Pädagogik der Befreiung. Der gesellschaftstheoretische Hintergrund beider Konzeptionen ist weitgehend identisch und in Freinets Schule finden sich zahlreiche Momente wieder, die in Blonskijs Arbeitsschule beschrieben sind wie etwa die Arbeitsateliers, die Hinwendung zur sozialen und ökonomischen Umwelt als Ausgangspunkt bereits des anfänglichen Lernens (bei Freinet: „classe promenade“), die Bedeutung der Arbeit und die Idee der Schule als einer pädagogischen Kooperative, die Schulzeitung und vieles andere. Die Freinetsche Konzeption kann in einem hohen Maße als die Transkription und Anpassung sowie Weiterentwicklung der Blonskijschen Arbeitsschule auf die Verhältnisse der öffentlichen „Ecole Primaire“ Frankreichs angesehen werden. (Die Entwicklungsgeschichte beider Konzeptionen ist jedoch völlig verschieden. Bei Blonskij handelt es sich um eine theoretisch erarbeitete Konzeption; Freinets Pädagogik ist aus den Erfahrungen einer konkreten eigenen und nahezu von Beginn an mit zahlreichen Mitstreitern geteilten und reflektierten pädagogisch-politischen Praxis erwachsen.) Die Bekanntheit und Wirksamkeit der Konzeption Blonskijs ist auch dem Umstand zu verdanken, dass die Leistungen auf dem Gebiet der Volksbildung der frühsowjetischen Zeit durch eine pädagogische Touristik sowie politisch-pädagogische Rhetorik internationale Beachtung finden. Klara Zetkin preist im Januar 1922 in einer schulpolitischen Reichstagsrede die beispielhafte „Titanenarbeit“, die Sowjetrussland auf diesem Gebiet geleistet habe und sie spricht vom „Aufblühen des Schulwesens, der Volksbildung in Sowjetrussland“ (Parlamentsprotokoll: „Sehr wahr! bei den Kommunisten. – Lachen rechts.“)76 – und Minna Specht (s.o.) fasst ihre Eindrücke als Mitglied der 1. Internationalen Lehrerdelegation in die Sowjetunion im August 1925, also während der Etappe einer gewissen Reformfreudigkeit, in die Worte: 72
Anweiler, Oskar (1994): Ursprung und Verlauf der Reformpädagogik in Osteuropa, in: Röhrs, Hermann und Lenhart, Volker (Hsg.): Die Reformpädagogik auf den Kontinenten, Frankfurt am Main u.a.O.: Peter Lang, S.131 73 Nach Anweiler, ebd. 74 Hackl, a.a.O., S.150. Hackl bezieht sich bei seinen historischen Ausführungen vor allem auf: Anweiler, Oskar (1964): Geschichte der Schule und Pädagogik in Russland vom Ende des Zarenreiches bis zum Beginn der Stalin-Ära, Berlin (West) 75 Hackl, a.a.O., S.151 76 Siehe: von Werder, Lutz und Wolff, Reinhart (1970): Schulkampf. Dokumente und Analysen Band 1, Frankfurt: März Verlag, S.129
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„Westeuropa ist ein totes Museum, die Sowjetunion ist eine lebendige Quelle der Kultur.“77 John Dewey bereist 1928 die Sowjetunion und berichtet in seinem Werk „Impressions of Sovjet Russia and the Revolutionary World“ von der „wunderbaren Entwicklung reformpädagogischer Ideen und Praktiken unter dem fürsorglichen Schutz der bolschewistischen Regierung.“78 Die Schatten der Stalin-Ära hat er zu jener Zeit offenbar noch nicht wahrnehmen können. Blonkij selbst zieht sich im Verlauf der wechselvollen politischen und schulpolitischen Verhältnisse zunehmend von pädagogischen Aufgaben zurück. Nach dem Studium der Philosophie und Psychologie unterrichtet er an mittleren Lehranstalten für Frauen und am Lehrerinnenseminar in Moskau Psychologie und Pädagogik in Moskau, später (seit 1913) an der Moskauer Universität. In dieser Zeit macht er sich mit den Klassikern der Pädagogik vertraut. Insbesondere das Studium der Werke von Comenius, Rousseau, Pestalozzi, Fröbel, Tolstoi, Scharrelmann, Dewey, Montessori und Uschinski sollten für seine späteren pädagogischen Auffassungen bedeutsam werden.79 1917 schließt sich Blonskij der Oktoberrevolution an und wird zum Einflussreichen pädagogischen Agitator, u.a. in seiner Eigenschaft als Mitglied des Volkskommissariates für das Bildungswesen. Nach seinen eigenen Worten will er einen Beitrag leisten „zur Vernichtung der kapitalistischen Gesellschaft im allgemeinen und im besonderen zur Zerstörung der alten Pädagogik.“80 1919 veröffentlicht er sein Werk „Die Arbeitsschule“. „In der Folge wandte sich Blonskij mehr und mehr der Pädologie zu, einer Forschungsrichtung, die er als ‚Lehre von den Entwicklungstendenzen des Kindesalters‘ bezeichnete. ... Im Gefolge der immer stärkeren offiziellen Kritik an seinen Auffassungen (1936 wird die Pädologie von der Kommunistischen Partei offiziell verurteilt; Blonskij wird scharf angegriffen – E.S.) wandte sich Blonki schließlich der Psychologie zu und beschäftigte sich bis zu seinem Tod im Jahre 1941 mit diesem Arbeitsgebiet.“81 Anweiler kennzeichnet die Stellung Blonskijs in der internationalen Reformpädagogik und sein politisch-pädagogisches Grundanliegen zusammenfassend wie folgt: „Er stand im Schnittpunkt der amerikanischen und europäischen ‚neuen Erziehung‘ einerseits und dem marxistischen Programm radikaler gesellschaftlicher Umgestaltung andererseits. Ähnlich wie Krupskaja ... grenzte er sich gegen die ‚unpolitische‘ Auffassung von der Erziehung, wie sie die Tolstoj-Anhänger seiner Meinung nach vertraten, deutlich ab und betonte den ‚Klassencharakter‘ jeder Erziehung; andererseits bekannte er sich aber zeitlebens zu Rousseaus Grundsatz vom Eigenrecht des Kindes, das der Erzieher stets zu achten habe. Seine polytechnische Arbeitsschule sollte den Charakter einer werktätigen Kinder- und Jugendkommune tragen. ‚Die Zentralfrage der Arbeitsschule‘ schrieb er, ‚besteht darin, wie man das Kind, ausgehend von seinen angeborenen Eigenschaften, in die Beherrschung der gegenwärtigen industriellen Kultur einführen kann.‘“82 Welche Momente kennzeichnen nun Blonkijs Konzeption der Arbeitsschule? Die „endgültige Lösung des Problems der vollkommenen Schule“ sieht er nicht in der „Vervollkommnung der Lehrmethoden“, sondern in der „Neugestaltung der ganzen Struktur der Schule“. Ihre bisherige Struktur habe in sich „auf wunderliche Weise die historischen Schichtungen der Klosterschule, der Kasernenschule und der Bürokratenschule“ vereinigt. Das entspreche weder „dem Geiste der Kultur unserer Zeit, auch weder den Bedürfnissen des Volkes, noch der Psychologie des Kindes.“ Dass er überhaupt von der „vollkommenen Schule“ als Ziel sprechen kann, ist nur auf dem Hintergrund des Glaubens an die Möglichkeit der vollkommenen Gesellschaft 77
Zitiert nach: Hohendorf (1989), a.a.O. S.44 Dewey (1929), zitiert nach: Wallace, James M. (1994): Ursprung und Entwicklung der „Progressive Education“ in den USA, in: Röhrs/Lenhart (Hsg.), a.a.O., S.148 79 Siehe: Hackl, a.a.O., S.131f 80 Blonskij, zitiert nach Hackl, ebd. 81 Hackl, ebd., S.132 82 Anweiler, a.a.O., S.131 78
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verständlich, deren Heraufkunft er nach der „Vernichtung der kapitalistischen Gesellschaft“ von den materiellen und sozialen Segnungen der maschinellen Industrie erwartet. Einführung in die industrielle Kultur ist für Blonskij zugleich Einführung in eine Welt, in der die Hierarchie unter den Menschen beseitigt ist. Er schreibt: „Die Industrie ist eine große demokratische Macht: ...“, durch sie fällt „die Notwendigkeit ständiger Bindung des Arbeiters an eine genau fixierte Spezialarbeit fort, denn der allgemeine Gang der Fabrik hängt nicht vom Arbeiter, sondern von der Maschine ab, mit einer Maschine aber ist man verhältnismäßig schnell vertraut. Eben hierdurch beseitigt die Maschinenindustrie die Notwendigkeit fester Arbeitsteilung und hiermit auch die wirtschaftliche und folglich auch die soziale Hierarchie. Die Maschine trägt Gleichheit in das Gebiet der Arbeit und der Kultur hinein. Nur im Zeitalter der Maschinenindustrie kann man in voller Realität von einer Arbeitsschule zweiter Stufe sprechen, die eine Einheitsschule für das ganze Volk und eine industrielle Bildungsschule, nicht aber eine Zunftschule ist.“83 In diesem Zusammenhang polemisiert Blonskij eindringlich gegen die einer veralteten Arbeitsweise und dem Zunftdenken verhafteten „Handwerks-Arbeitsschule“ Kerschensteiners. Gleichwohl weist er der manuellen Arbeit insbesondere auf der Elementarschule bzw. in der „Schule der ersten Stufe“ einen begrenzten Wert zu. Blonkij wendet sich mit seinem Konzept in Übereinstimmung mit den meisten Reformern gegen starre Zeitschemata, gegen eine fächermäßige Zerstückelung des Unterrichts (für Gesamtunterricht), gegen die starre altersmäßige Einteilung der Schulklassen, gegen den Zwang gleicher Beschäftigung für alle. Zugleich wendet er sich gegen das übliche „Misstrauen gegen Kind und Leben.“84
Blonskij gliedert die Erziehung und den Bildungsgang des Kindes und Jugendlichen in die a) Zeit der vorschulischen Erziehung (3.– 7. Lebensjahr), in der das Spiel „die erhabene Lehrerin des Kindes“ ist; b) Die „Schule der ersten Stufe“ oder Elementarschule, auch Elementar-Arbeitsschule (8.– 13. Lebensjahr) mit einer vorgeschalteten „Robinsonade“ im ersten Sommer. Es geht darum, aus der Bewältigung von Lebensaufgaben und durch elementare Arbeitsvorgänge Erkenntnisse zu gewinnen; c) Die „Schule der zweiten Stufe“ (14. – 18. Lebensjahr) als die eigentliche auf die industrielle Produktion hin orientierte Stufe. Hier sammeln die Jugendlichen Erfahrungen in der Produktion außerhalb der Schule, während sie im „Haus der Jugend“ theoretischen Studien und künstlerischen Tätigkeiten nachgehen. Zur Konkretisierung seiner Zielvorstellungen und der didaktisch-methodischen Aspekte auf den verschiedenen Stufen soll Blonskij selbst zu Wort kommen.85 Sein Text spiegelt etwas von dem allen Reformpädagogen eigenen pädagogischen Glauben an die Macht der richtigen Erziehung im Allgemeinen und die pädagogischen Konzepte der Aktivität und Selbsttägigkeit im Besonderen wider. Es handelt sich – der Struktur nach ähnlich wie bei Montessori – um einen pädagogischen Heilsglauben mit dem Motiv des Messias (das altruistische Kind) und dem Motiv des Paradieses in einer lichten Zukunft. Es ist das vom „kleinen Industrialisten“ geschaffene „einige Leben der Menschen“, das bereits jetzt in der gemeinsamen Arbeit antizi83 Blonskij, Pawel Petrowitsch (1921): Die Arbeitsschule, hier zitiert nach der Quellentextsammlung: Reble, Albert (1979): Die Arbeitsschule. Texte zur Arbeitsschulbewegung, Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S.166. Vorige Zitate: ebd., S.165. Vgl. auch: Blonskij, P.P (1973): Die Arbeitsschule, Paderborn: Ferdinand Schöningh 84 Vgl. Hackl, a.a.O., S.136f 85 Die nachfolgenden Textstellen (ausgenommen das folgende Zitat) aus Blonskijs „Die Arbeitsschule“ (deutsche Ausgabe 1921) sind entnommen aus den Quellentextsammlungen: Reble (Hsg.) (1979); a.a.O., S.160-175 und Hierdeis (Hsg.) (1973), a.a.O., S.89-98, die letzten Zitate zum Abschnitt „Die Schule der zweiten Stufe“ ebd., S.96
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piert werden kann: „Bruder und Mitschaffender aller Werktätigen, mit wachem Blick für die Menschheit und Gegenwart, modern, fast zu modern eingestellt und zugleich kindlich in seinem altruistischen Herzen und seinem poetischen Gefühl, lebend in Technik und Wissenschaft, Natur und Kunst: das ist der Zögling der Arbeitsschule, die den aktiven Menschen mit der sich ihm verschwisternden, vermenschlichenden Natur vereinigt. Das ist der kleine Industrialist, der auf dem historischen Wege der allmählichen Entwicklung der Menschheit und Kindheit in die Gegenwart tritt, der künftige befähigte und wissende Erbauer eines besseren, lichten, mächtigen und einigen Lebens der Menschen.“86 Erziehungsziel: der „Arbeiter-Philosoph“ „Nirgends ist der Zusammenhang zwischen Arbeit und Wissenschaft ein so deutlicher und augenfälliger, wie gerade in der Industrie. ... Die höchste Arbeitsbildung ist also eine industrielle. Die industrielle Arbeit, technisch zugänglich für halbwüchsige Kinder und Jugendliche, gibt keine einseitig-technische, sondern eine polytechnische Bildung. Die industrielle polytechnische Schule lässt aus sich den Arbeiter-Philosophen hervorgehen und eröffnet ihm die weite Perspektive integraler wissenschaftlich-technischer Bildung. So ist die Industrie, die höchste Errungenschaft der Menschheit in ihrer Herrschaft über die Natur, zugleich auch die erhabenste Lehrerin des Halbwüchsigen und Jugendlichen für seine gesamte polytechnisch-wissenschaftlich-philosophische Bildung.“ „Die Arbeitserziehung bereitet also den künftigen mächtigen Naturbeherrscher vor.“ Die vorschulische Erziehung: Sie wird am besten in einer der eigentlichen Arbeitsschule angegliederten „Kinderabteilung“ durchgeführt. Grundlage der Erziehung ist das freie Spiel des Kindes, das der Erzieher nicht stören soll, an dem er aber „mit den Rechten eines Kameraden“ teilnehmen darf. „Durch Spiele werden die Bewegungs- und Sinnesorgane des Kindes, seine Aufmerksamkeit und Einbildungskraft, Findigkeit und Ahnungsvermögen, Nachahmung und schöpferische Kraft, soziale Gefühle, Unterordnung unter die Gesetze usw. entwickelt.“ (Hier wird Fröbels Einfluss deutlich sichtbar.) Der Erzieher achtet auf die pädagogische „Auswahl und pädagogisch zweckentsprechende Organisation der freien natürlichen Beschäftigung des Kindes.“ Neben den Spielen mit Bauklötzen, Puppen, dem Modellieren, dem freien Herumstreifen, neben den spielerischen Arbeitsformen wie Haushalts-, Gartenarbeit, Tierpflege und dem Kennlernen verschiedener Werkzeuge (z.B. in den Werkstätten der Arbeitsschule) geht es aber auch auf dieser Stufe schon darum, eine Annäherung an die Maschine anzubahnen, indem das natürliche Interesse an ihr genutzt wird. Es geht „um die Liebe zu ihr, um das Erlebnis der Maschine als etwas Packendes, Verständliches und Vertrautes.“ Grundlage für die eigene konstruktive Nachahmung und die originelle und schöpferische Reproduktion „gleich wie ein Erfinder und Bahnbrecher auf dem Gebiete der Arbeit und Technik“ ist das „aufmerksame Betrachten von Tätigkeiten der Erwachsenen und der Maschinen“ wie etwa Dampfschiff, Lokomotive, Windmühle, Flugzeug. Die Robinsonade „im Sommer des ersten Jahres“ vor Beginn der Arbeitsschule der ersten Stufe: Die Kinder lernen Campes „Robinson der Jüngere“ kennen. „Die Kinder begeistern sich selbstverständlich für den Robinson und es entsteht unter ihnen das Projekt, selbst ein bis zwei Monate als Robinson in der sommerlichen Schulsiedlung, Landgut oder Schullager zu verbringen. Die Kinder haben nichts als ihre Kleidung, indessen braucht man aber auch Nahrung und Wohnung. Wie die Nahrung beschaffen und zubereiten? Wie sich eine Behausung bauen? Und vor allem natürlich, mit was soll man all das machen?“ Die Kinder werden primitive Werkzeuge entdecken oder aus vorgefundenen Materialien (Steinen, Ästen, Knochen) fertigen und gebrauchen. „Das geringe Maß der Kinderkräfte wird durch die Zahl der Beteiligten kompensiert.“ (Kooperation) Es geht aber nicht um ein „strenges Befolgen der primitiven Kultur“ und der Mangel an natürlichem Material kann durchaus mittels zeitgemäßem 86
Blonkij, zitiert nach Hackl, a.a.O., S.151
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Material ersetzt werden. „Wichtig ist nur: 1. Vom Standpunkt der Erziehung – vieles fast mit bloßen Händen herstellen zu können, 2. Vom Standpunkt der Bildung – Stock und Stein sind Urahnen der modernen Werkzeuge ... Noch zwei Handwerke können wir während unseres Robinsonlebens wenigstens in ihrer primitivsten Form erleben: Das Flechten und das Weben. ... Wir wollen hierbei ausdrücklich betonen, dass es sich nicht um ein Erlernen der entsprechenden Arten von Handarbeit durch die Kinder handelt. Weit mehr Bedeutung als der Geschicklichkeit des Kindes geben wir seiner Erfindungsgabe, die es bei seiner Lage als Robinson an den Tag legt: Unser Sommerleben soll erfüllt sein von Experimenten, Entdeckungen und Erfindungen des Kindes, dies ist sein Hauptzweck.“ Mit an der Praxis anknüpfenden Erzählungen kann die Kulturgeschichte menschlicher Siedlungen und der verschiedenen Tätigkeiten (Höhlenbewohner, Nomadentum, Sklavenarbeit, Dorfkultur, Viehzucht und Ackerbau, Jagen) nahegebracht werden. Das Flechten und Weben kann „einen prächtigen Elementarkursus der Arithmetik“ bieten usw. „Kurz, Rousseau hatte vollkommen recht, indem er behauptete, dass das Kind in einer solchen Lage mehr Lerneifer an den Tag legen wird als der Lehrer Lehreifer. ... Man kann es sich leicht vorstellen, eine wie gute Vorbereitung für die Schule dies alles dem Kinde bieten wird, und die Schule wird noch auf lange Zeit hinaus genügend Stoff zu verarbeiten haben...“ Die „Schule der ersten Stufe“ bzw. die „Elementar-Arbeitsschule“: „Die Schule der ersten Stufe stellen wir uns als eine Arbeitsgemeinschaft von Kindern vor. In ihr spielt sich das Leben der Kinder nach dem Vorbilde einer kulturellen werktätigen Familie, oder genauer, wegen der großen Anzahl der Kinder nach dem Vorbild einer kulturellen Arbeitskommune ab. In dieser Kinder-Arbeitskommune führen Kinder unter Teilnahme erwachsener Erzieher die Schulwirtschaft, bereiten das Essen, haben die Aufsicht über die Gebäude, führen die üblichen häuslichen Arbeiten aus, bringen ihre Mußestunden in kultureller Weise zu, lesen, schreiben, schaffen ästhetische Werte, singen, machen Exkursionen und spielen.“ „Im Sommer des ersten Jahres wurde der Robinson erzogen, der sein primitives Leben aus nichts aufbaute. Im Winter des ersten Jahres wurde das Kind erzogen, das ein liebevoll-aufmerksames Auge für das sozialwerktätige Leben der Umgebung hat. Im Sommer des zweiten Jahres wurde der Genossenschaftler und Gemeinde-Ackersmann erzogen, der die Natur kennt und liebt und sie rationell zu bearbeiten versteht. Jetzt aber wird der kulturelle Organisator des Hauslebens erzogen, der im Prozess endlicher Vorbereitung der Dinge zur Benutzung und Verteilung die umgebenden physikalischen und sozialen Bedingungen bewusst zu verändern und aktiv zu kontrollieren versteht ...“ Die Kulturtechniken Lesen, Schreiben, Rechnen und sachunterrichtliche Inhalte (geometrische, botanische, agronomische, elementare naturwissenschaftliche, ökonomische Fragen) werden im Zusammenhang mit konkreten Tätigkeiten und Beobachtungen innerhalb und außerhalb der Schule vermittelt. „Im Herbst machen wir uns ans Spinnen. Wir beginnen mit dem Spinnrad und der Spindel ... (es werden verschiedene Arbeitsgänge und Stufen der Mechanisierung genannt bis hin zu solchen, bei der die „Arbeit des Arbeiters auf Null“ reduziert ist. – E.S.) Bei der Geschichte der Spinnmaschine bleiben wir, falls dies möglich ist, länger stehen, indem wir die Operationen der Hand und die Handgeräte mit der Hechel-, Extrahier-, Glätt- und Feinspinnmaschine vergleichen. So wird den Kindern die ‚Philosophie der Maschine‘ verdeutlicht und hiermit die entsprechende Ökonomik verdeutlicht (die Hände – die Arbeitsgeräte – der Mechanismus; Maschinensysteme; Manufaktur, Fabrik. Das häusliche Spinnen in alten Zeiten, die Manufaktur, die Lage des Arbeiters). Da hierbei die Kinder selbst meist primitiv und mit primitivem Gerät arbeiten, so tritt für sie hier die Erhabenheit der Technik und die ganze Ausbeutung der werktätigen Arbeit klar zu Tage. Genauso gehen wir auch mit dem Weben vor ...“ Es werden noch eine Fülle weiterer Tätigkeiten genannt, darunter literarische und ästhetische Beschäftigungen sowie die Herstellung einer „Zeitung der Arbeitsschule“ (eine Idee, die später bei Célestin Freinet, der das Werk Blonkijs kannte, eine wichtige Rolle spielen wird). – Bei all dem geht es nicht um
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die Vermittlung speziellen beruflichen Wissens. „Ziel der Arbeitsschule ist nicht das Betreiben eines Handwerks, sondern eine allgemein werktätige Arbeitsausbildung.“ Der Schwerpunkt der kindlichen Arbeit liegt auf der ersten Stufe in der Selbstversorgung und Organisation der Kinder-Arbeitskommune. Eine Öffnung zur ökonomisch-sozialen Umwelt wird zwar angebahnt, bildet aber das eigentliche Thema der zweiten Stufe. Die „Schule der zweiten Stufe“: Hier handelt es sich nicht mehr um eine „Kommune“ im Sinne einer „verhältnismäßig abgeschlossenen und sich selbst genügenden Einheit“, auch die Vorstellung einer „Schule im üblichen Sinn des Wortes“ ist nicht angemessen. „Die Arbeitsschule der zweiten Stufe in ihrer idealen Form ist also eine organische Verbindung der Arbeit in der Werkstatt mit der Beschäftigung und den Mußestunden im Hause der Jugend (Jugendheim). ... Die Jugend bringt im Jugendheim ihre Zeit auf zweierlei Art zu, mit wissenschaftlichen Arbeiten in Verbindung mit dem Verstehenlernen der produktiven Arbeit und mit sportlichen und künstlerischen Beschäftigungen.“ Blonkij schildert die Organisation der verschiedenen Ateliers im Hause der Jugend – er nennt als Beispiele „ein vokal-musikalisches, ein theatralisches, ein Maler- und Bildhaueratelier und ein literarisches Atelier“ – , in denen alle Jugendlichen in allen Bereichen jeweils für eine bestimmte Zeit tätig sind. Etwa die Hälfte der der Kunst gewidmeten Schulzeit der zweiten Stufe dient der „vertiefte(n) Arbeit des Halbwüchsigen mit der von ihm gewählten Kunstspezies. Das Gleiche wäre auch von den sportlichen Beschäftigungen zu sagen.“ „Das Prinzip der Organisation der Arbeit des Halbwüchsigen in der Werkstatt ist das Gleiche. Unser Halbwüchsiger wechselt die Arten seiner werktätigen Arbeit, indem er z.B. zweimal im Jahr in andere Werkstätten übergeht und ungefähr die Hälfte der ganzen Schularbeitszeit auf diese Weise zubringt. Das Endresultat ist einerseits, dass er die verschiedenen Produktionsarten kennenlernt und andererseits, dass er die Möglichkeit hat, sich in irgend einem Fach zu spezialisieren.“ Genannt werden hier: Textil-, Metall-, chemische, landwirtschaftliche Industrie, Ingenieurbaufach, Holzbearbeitung. „Das Schwierigste ist hierbei, einen organischen Zusammenhang zwischen der produktiven Arbeit in der Werkstatt und den wissenschaftlichen Arbeiten im Jugendheim herzustellen. Das Ideal wäre, die wissenschaftlichen Arbeiten in der Fabrik selbst vorzunehmen, die unter idealen Verhältnissen als Akkumulator der Erfindungen des menschlichen Genius zur wissenschaftlichen Schule der Jugend werden sollte.“ Das ist unter den gegebenen Verhältnissen noch nicht möglich. Blonskij reflektiert daher verschiedene Übergangsmaßnahmen. Seine große Vision ist: „die Fabrik der Zukunft wird zu gleicher Zeit auch die Schule der Zukunft sein.“ Und: „Die Fabrik- und Werkindustrie ist zu gleicher Zeit die ideale Schule der sozialen Erziehung.“ Selbstverständlich haben bei Blonkij auch das „Studium der Weltliteratur“ und das „Studium der fremden Sprachen“ ihren Platz („Die Industrie ist international“) sowie Geschichte und Sozialgeschichte, Stil- und Kunstgeschichte usw. All das wird aber nicht in isolierten Fächern unterrichtet, sondern in einen lebendigen und genetischen, auf das soziale und werktätige Leben des Schülers innerhalb und außerhalb des „Hauses der Jugend“ bezogenen Zusammenhang gebracht. „In die Sozialgeschichte wird der halbwüchsige durch seine Arbeit in der Fabrik und in den gesellschaftlichen Institutionen eingeführt.“ In die „Physik, und zwar in die moderne Physik“ wird er durch die Teilnahme am technischen Arbeitsprozess der Maschinenindustrie eingeführt. Und: „Wir gelangen also von der Industrie auf dem Wege über die künstlerische Industrie zur Kunst und –zum Verstehen derselben. Den Ausgangspunkt für unser Programm bildet die Struktur jener Gegenstände, an deren Herstellung der Halbwüchsige gerade zu dieser Zeit beteiligt ist: ...“ – Unter methodischem Aspekt plädiert Blonskij für ein „Maximum an Selbstbetätigung“ und weist in diesem Zusammenhang auf den großen Anteil („genau die Hälfte der ganzen Zeit“) hin, die den fakultativen Beschäftigungen eingeräumt wird. – Dem Lehrer bzw. dem „Unterrichtsleiter“ weist er die Aufgabe zu, nicht alles durchnehmen zu wollen, sondern „Menschen zu erziehen, die fähig sind, sich im Laufe ihres ganzen Lebens weiterzubilden und zu entwickeln... Hierin besteht das methodische Hauptprob-
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lem für den Unterrichtsleiter, und je mehr die Jugendlichen im ‚Haus der Halbwüchsigen‘ sich ohne ihn zu helfen wissen, desto eher wird er sein Ziel erreicht haben.“
Unter der Voraussetzung einer affirmativen Wertung der gesellschaftspolitischen Vision Blonkijs lässt sich Hackls Ansicht vertreten, dass die vorliegende Konzeption in hohem Maße den oben dargestellten sieben Kriterien entspricht. Naturerkenntnis und gesellschaftliches Wissen (Kognition) werden unter den Maßgaben eines modernen Arbeits- und Produktionsbegriffs durch die enge Verknüpfung praktischer und theoretischer Tätigkeiten (Verhältnis von Kopf- und Handarbeit) in einem Umfeld erworben, das auf allen Stufen von kooperativer Arbeit geprägt ist (Kooperation). Durch die enge Anbindung schulischer Bildung an den Produktionsprozess und an die sozialen und politischen Einrichtungen der Gemeinde wird eine „Kooperation der Kooperativen“, also eine enge Zusammenarbeit verschiedener gesellschaftlicher Einrichtungen im Bildungsprozess angestrebt (Vergesellschaftung), der im geglückten Fall die Qualität annimmt, umfassende Einsichten in den Zusammenhang „Mensch-Gesellschaft“ – insbesondere auf der zweiten Stufe – zu ermöglichen (Unmittelbarkeitsüberschreitung). Den Aspekten Motivation und Subjekthaftigkeit der Arbeitsschule wird insofern entsprochen, als durch den lebendigen Zusammenhang der Tätigkeiten mit konkreten Aufgaben zur Meisterung des schulischen und außerschulischen Lebens einerseits sowie durch das hohe Maß an fakultativen Angeboten, durch den hohen Stellenwert der Selbsttätigkeit und der Eigenverantwortung andererseits, das eigene Tun als sinnhaft und die eigene Person als geachtet erlebt werden kann. Blonkijs Konzeption kann gewiss als eine Schule angesehen werden, die das Moment der Arbeit in den Dimensionen Praxis, Wissen, Subjektivität (Wert für die Person), Objektivität (Kultur, Gesellschaftsbezug respektive Konstitution und Entwicklung von sozialen und ökonomischen Beziehungen) am radikalsten auf den Prozess der Bildung bezieht – und in dieser Radikalität liegt zugleich die Grenze des Konzeptes. Es ist der Versuch, die Dialektik von emanzipatorischer Subjektgenese und gesellschaftlicher Entwicklung in einer materialistischen gattungsgeschichtlichen Perspektive im Medium der Arbeit aufzuweisen und pädagogisch fruchtbar zu machen. Dass die Arbeit als ein unverzichtbares Moment zum Begriff der allgemeinen Bildung im Zeitalter von Technik und Industrie gehört, weist Blonkij einmal mehr nach. Dass Arbeit als die Zentralperspektive des gesamten Bildungsprozesses bis zum Alter von etwa 18 Jahren zu gelten habe: diese Ansicht wird bei Blonskij freilich eher ideologisch, zuweilen quasi-religiös proklamiert als argumentativ gestützt. Trotz der expliziten Anklänge an eine Pädagogik vom Kinde aus im Sinne Rousseaus und Fröbels, wird der Begriff des Spiels sehr bald auf die (von den Kindern spielerisch nachzuahmenden) Leistungen der großen Maschinen gelenkt, denen eine geradezu mythische, Schöpfungskräfte weckende Potenz zugeschrieben wird. Zugleich wird der Arbeit respektive der zu weckenden Liebe zu ihr eine starke sozialintegrative Kraft zugeschrieben, indem „unser kleiner Ackersmann, Weber ... oder Industrialist für die vielen Millionen in Russland werktätig Arbeitenden“87 Sympathie empfinden wird. Der „Arbeiter-Philosoph“, das heißt, die Versöhnung des Arbeiters mit dem Intellektuellen im Einzelmenschen selbst und in der Gesellschaft bleibt bei Blonskij letztlich eine erziehungstheoretisch ungesichterte Fiktion, weil ihm die Konstruktion eines einheitlichen auf die industrielle Arbeit zugeschnittenen Curriculums nicht gelingt – und auch nicht gelingen kann. Der ohnehin abenteuerlich anmutende Schritt etwa von der Industrie über die Kunstindustrie zum Verständnis der Kunst übersieht, dass die Auseinandersetzung mit Form und Farbe eigenen „Gesetzen“ gehorcht, die als ästhetische Kategorien mit der Industrie wenig zu tun haben. Im Gegenteil wird die inhaltliche und motivationale Anbindung an die (von den Kindern und 87
Blonkij, in: Reble (Hsg.), a.a.O. (1979), S.171
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Jugendlichen zu liebende) Industrie das Kunstverständnis eher behindern als fördern. Zu erwarten ist die Entwicklung dieses Verständnisses eher im industriefernen „Haus der Jugend“, wo zahlreiche und zum großen Teil fakultative künstlerische Aktivitäten vorgesehen sind. Ähnlich verhält es sich mit anderen konstruierten Zusammenhängen, wie etwa Technik und moderne Physik oder Handelsbeziehungen und Sprachenstudium. Die moderne Physik war auch zu Zeiten Blonkijs weit von möglichen technischen Anwendungen entfernt. Und die Einsicht in die Internationalität der Industrie weist zwar auf das Problem der Kommunikation hin (es wurde und wird meist militärisch-wirtschaftlich zugunsten der jeweils „mächtigsten“ Sprache gelöst), führt aber inhaltlich nicht zum Reichtum einer anderen Sprache und löst sicher nicht das Problem einer dauerhaften persönlichen Motivation zum Studium derselben. Bei Blonskij handelt es sich noch einmal um den grandiosen, politisch anfangs gestützten Versuch, die Welt als Ganzes zu denken und curricular abzubilden. Seine „industrielle Arbeitsschule“ ist ihm „Dorf und Staat der Zukunft“.88 Sein Denken erinnert an das „Weltbild“, den „Orbis Pictus“, des Comenius’ aus dem 17. Jahrhundert, allerdings mit dem wichtigen Unterschied, dass Comenius trotz des postulierten Zusammenhangs der Welt in Gott und der Vorstellung des Bildungsweges als Heilsweg die Angelegenheiten dieser Welt als Lehrer und Lehrbuchautor nüchtern beschreiben und didaktisch sachangemessen vermitteln konnte. Blonskijs Versuch dagegen hat den Charakter einer eschatologischen Heilslehre quasireligiösen Charakters mit allen wesentlichen Komponenten einer solchen, einschließlich einer paradiesischen Diesseitsvision, die letztlich zum Fürchten ist. Da ist einmal die alles bewirkende Ursache, die Industrie, als Krönung der Schöpfung, also der Geschichte, die Gleichheit unter den Menschen und Glück für alle verheißt. Und da ist der Messias, der Erbauer der künftigen einigen Welt: das Kind als der kleine Industrialist, der nach der Vernichtung des Kapitalismus die Anliegen der Menschheit mit altruistischem Herzen aufnimmt und dafür lebt. Der kleine Industrialist, dem die menschlichen Züge und intrapersonalen Widersprüche genommen sind, findet seine Entsprechung in Blonkijs Vision einer maximal sozialisierten Kooperative. Sie ist geschaffen von diesem und für diesen selbst–losen Menschen, eine Kooperative, in der mit den sozialen Widersprüchen auch die Subjektivität des Menschen in Nichts aufgelöst erscheint. Denn: wogegen sollte in der idealen Gesellschaft das Subjekt Widerspruch einlegen? Das mit der idealen Gesellschaft vollständig emanzipierte Subjekt ist kein solches mehr. Dieses Nicht-Subjekt findet seinen Platz in einem „Organismus“, der dem Termitenstaat ähnlicher ist als jede mögliche menschliche Gemeinschaft oder Gesellschaft. Blonskij: „Die Resultate des Verstehens der Fabrik- und Werkindustrie bestehen nicht nur darin, dass sie zu einer Quelle sozialer und naturwissenschaftlicher Kenntnisse wird. Sie ist auch nicht nur ein Ausgangspunkt für die Kunst. Die Fabrik- und Werkindustrie ist zu gleicher Zeit die ideale Schule der sozialen Erziehung. Sie war es, die die Arbeiterbattaillone des Proletariats organisiert hat. In der gleichen Weise wird sie auch unvermeidlich die werktätigen Abteilungen der in ihr beschäftigten Halbwüchsigen organisieren. Die Fabrik ist ja nichts anderes als ein ganz ausgesprochener Organismus, als ein ‚gegliedertes Maschinensystem‘. Als solche ist sie eine ideale Kooperation von Arbeitskräften, und das Regime der Fabrik ist das Regime einer durch den Produktionsprozess selbst disziplinierten, maximal sozialisierten Kooperation. Die Fabrik schafft aus den einzelnen Arbeiterindividuen einen geschlossenen Arbeitsorganismus.“89 So wird der Mensch auf das Arbeiterindividuum respektive den Industrialisten reduziert. Dessen Heimat ist die Fabrik, die „unvermeidlich“, also automatisch und naturwüchsig („Organismus“) optimal sozialisiert. Das untrügliche Zeichen von Subjektivität, der Widerspruch gegen die Eingliederung, kann nur noch als Auswuchs einer krank88 89
Blonkij, Pavel Petrovic (1973): Die Arbeitsschule, Paderborn: Ferdinand Schöningh, S.25 Blonkij, in Hierdeis (Hsg.), a.a.O., S.94
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haften, pädagogisch und notfalls therapeutisch zu behandelnden Ichsucht (Mangel an Altruismus) oder als falsches (Klassen)Bewusstsein erscheinen.
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Die Kunsterziehungsbewegung
2.1 Einleitung und Überblick: Der „Gedanke der Kunsterziehung“, ideologisches Umfeld und Ziele Zwischen der Arbeitsschul- und der Kunsterziehungsbewegung besteht ein zeitgeschichtlicher und gleichsam auch ein in der Sache begründeter „natürlicher“ Zusammenhang. „Die Kunst erfordert dreierlei: 1. Ein Muster oder eine Idee, gleichsam die äußere Form, die der Künstler ansieht und nachzuahmen versucht. 2. Einen Stoff, nämlich dasjenige, dem die Form aufgeprägt werden soll. 3. Werkzeuge, mit deren Hilfe die Sache ausgeführt wird.“90 Diese Definition des Comenius aus seiner „Großen Didaktik“ (1657) bezieht sich, wie seine weiteren Ausführungen zeigen, auf die verschiedenen Handwerke, trifft aber auch auf den im modernen Sinne künstlerischen Prozess zu. Dem Werken bzw. dem Handwerk und dem künstlerischen Prozess liegt eine formative Idee zugrunde, die als „Muster“ anschaulich vorhanden ist oder sich in einem Dialog in Bezug auf die Funktionen bzw. die intendierten Wirkungen des Produktes herausbildet. Der Handwerker ist bei genügender Fertigkeit im Gebrauch der Werkzeuge und bei entwickelter Vorstellungskraft in der Lage, nicht nur ein zweckmäßiges, sondern auch ein schönes Produkt herzustellen. Im Werken – mithin in jeder Arbeit, die als sinnvolle Einheit erlebt werden kann und in ein gegenständliches Produkt einmündet – ist also ein ästhetisches Moment einbegriffen. In den Konzeptionen der Arbeitsschule kann dieser Zusammenhang vielfach aufgewiesen werden so dass in Bezug auf die „Entwicklung des Werkens und seine Didaktik“ durchaus von einer „Verflechtung von Kunsterziehung und Arbeitsschule“91 gesprochen werden kann. Die beiden Bewegungen verlaufen zeitlich weitgehend parallel und die Vertreter der Arbeitsschule beteiligen sich auch über die engeren Grenzen des Werkens und der Arbeitserziehung hinaus an dem kunsterzieherischen Gespräch. Um nur einige Beispiele zu nennen: Kerschensteiner führt den Vorsitz des zweiten Kunsterziehungstages vom 9. bis 11. Oktober 1903 in Weimar, der der deutschen Sprache und Dichtung gewidmet ist und 1905 veröffentlicht er die Arbeit „Die Entwicklung der zeichnerischen Begabung“ (München: Gerber). In vielen Werken zur Arbeitsschule finden sich Anklänge an die Bestrebungen der Kunsterziehungsbewegung, so dass Hermann in seinem Werk „Arbeits- und Produktionsschule“ 1923 unter Hinweis auf zahlreiche Beispiele feststellt: „Ästhetische Ziele finden sich bei fast allen Arbeitspädagogen. Sie bestehen darin, den Zögling entweder zum Kunstgenuss zu befähigen oder seine schaffenden künstlerischen Fähigkeiten zu wecken.“92 Rößger geht 1927 in „Der Weg der Arbeitsschule“ weiter, indem er der Kunsterziehungsbewegung einen zentralen Stellenwert bei der Entwicklung der Arbeitsschule zumisst: „An Stelle der Wissensschule eine Könnensschule, an Stelle der Lernschule eine Arbeitsschule zu setzen, das ist der tiefere Sinn der Kunstbewegung ...“93 Indessen ist nicht zu übersehen, dass die Kunsterziehungsbewegung einen durchaus eigenen Akzent in den pädagogischen Diskurs einbringt. Eher als die Arbeitsschule, die – bei allen ideologischen Höhenflügen – letztlich auf die reale Sphäre der Wirtschaft und auf das Denken 90
Comenius, Johann Amos (1970): Große Didaktik, Düsseldorf und München: Verlag Helmut Küper, S.141 Heller, Dieter (1990): Die Entwicklung des Werkens und seiner Didaktik von 1880 bis 1914. Zur Verflechtung von Kunsterziehung und Arbeitsschule, Bad Heilbrunn: Klinkhardt 92 Hermann, Albert (1923): Arbeits- und Produktionsschule, Langensalza: Hermann Beyer und Söhne, S.79 93 Rößger, Karl (1927): Der Weg der Arbeitsschule, Leipzig: Dür‘sche Buchhandlung, S.125 91
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in Kategorien der Nützlichkeit bezogen bleibt, erscheint die Kunst – oder genauer: das künstlerische Empfinden – geeignet, den durch die Verwerfungen der Moderne (Industrie, Großstadtelend, Klassengegensätze, Fehlen einer allgemeinen religiösen bzw. weltanschaulichen „Mitte“) verloren oder verschüttet geglaubten Sinn des „Ganzen“ wiederzufinden, und zwar im Erleben, im Ergriffensein vom Kunstwerk. (Nur bei Blonskijs Arbeitsschule findet sich im Horizont einer diesseitigen Heilsvision und in völliger Isolierung von der sozio-ökonomischen Situation der „Arbeiter und Bauern“ ein ähnlicher Zusammenhang. Arbeit ist bei ihm letztlich Arbeit an einem sozialen Kunstwerk, das als Idee des neuen Menschen in einer neuen Gesellschaft in den Doktrinen der Kommunistischen Partei bereits antizipiert ist; und es ist kein Zufall, das die künstlerischen Tätigkeiten bei Blonkij mit einem ungewöhnlich hohen Stundenanteil in diesen Dienst gestellt werden.) Die Kunsterziehungsbewegung ist in hohem Maße von dem Gedanken einer sinnstiftenden Einheit und Ganzheit bestimmt und gerät so in ein – von der Romantik zum Teil vorgeprägtes – Fahrwasser dezidiert antirationalen und gefühlsbetonten Schwärmens. Dessen gesellschaftspolitische und pädagogische Funktion besteht darin, gesellschaftliche Gegensätze und Differenzen im Bewusstsein zu vernichten. Die Freisetzung des Schöpferischen im Kinde, gedacht als ursprüngliches zu bewahrendes und zu entwickelndes Gut, sowie der Genuss großer Kunst als des vollendeten Ausdrucks des Schöpferischen bringt den Menschen und die Menschen in einen unmittelbaren Zusammenhang mit dem schöpferischen Urgrund – metaphorisch je nach rhetorischem Umfeld gedacht als: Gott, Götter, mythischer Urgrund, Weltenseele, Geist, Leben, Gemeinschaft, Volk, Vaterland u.a. Unter Umgehung der lästigen, unschönen Differenzen in der sozialen Wirklichkeit wird das „Ursprüngliche“ miteinander verbunden. Die Wirklichkeit verblasst im Angesicht der Freude, die die Kunst verheißt. Sie zeigt den Weg nach Elysion, zur Insel der Glückseligen und Götterlieblinge. Die Suche nach Einheit und Ganzheit durch Kunst und Kunstgenuss musste gleichzeitig auch antimodern sein, weil die Kunst in der zweiten Hälfte des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts in ihrer Dynamik und Differenzierung eine Einheit nicht – weder eine universal noch eine national gedachte – darstellen konnte. So greift Langbehn 1889 bei seinem Versuch zur Begründung eines neuen deutschen Bildungsideals aus dem Geist der Kunst konsequenterweise auf die Symbolgestalt einer unbezweifelbaren Autorität der Kunstgeschichte, auf Rembrandt, zurück. In seinem Buch „Rembrandt als Erzieher“, das zunächst unter dem Pseudonym „Von einem Deutschen“ erscheint, wendet er sich gegen die technisch und wissenschaftlich fundierte „mikroskopische Weltanschauung“ bzw. „Mechanische Weltauffassung“ und plädiert demgegenüber mit dem Hinweis auf die „Künstlerische Weltordnung“ für eine das Ganze in den Blick nehmende „echt künstlerische Weltauffassung“. Sie spiegelt die „Einheit des Geistes der Natur“, den Zusammenhang des Einzelnen mit dem Ganzen wider; nur sie kann die Dinge „auch geistig ... richtig beurteilen“ indem sie die Stellung der Dinge „zu der ... zentralen Lichtquelle – zum Geiste des Weltganzen – ganz und voll in Betracht zieht.“94 Der „zentral wirkende Weltgeist“ (ebd.) spricht freilich nur durch das Volkstümliche und Langbehn unternimmt es, dem deutschen Geist und seiner Bedrohung durch das Fremde in allen möglichen Bereichen der „Deutsche(n) Kunst“ (Kapitel I), der „Deutsche(n) Wissenschaft“ (II), der „Deutsche(n) Politik“ (III) der „Deutsche(n) Bildung“ (IV) und schließlich der „Deutsche(n) Menschheit“ (V) nachzuspüren. Das Ganze mündet in einen fulminanten Weckruf zur „Wiedergeburt“ der „germanischen Eigenart“95: „Man hat von einem ‚Gott der Deutschen‘ gesprochen; so gibt es auch einen ‚Teufel der Deutschen‘; er wohnt im modernen Paris und kehrt gern in Berlin ein. ... Deutsche Ehrlichkeit ist mehr als französische Eitelkeit und deutscher Geist mehr als französischer Ungeist. Wenn ‚der Sinn für das 94 Langbehn, August Julius (1922): Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen, Leipzig: C.L. Hirschfeld, 84. Auflage, S.122 ff, längere Zitate S.137.Siehe auch: Bast, Roland (1996): Kulturkritik und Erziehung. Anspruch und Grenzen der Reformpädagogik, Dortmund: projekt verlag, S.35f 95 Langbehn, ebd. S.376
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Wesentliche‘ bei den Deutschen wieder einkehren wird; wenn sie wieder zu Menschen geworden sein werden: dann werden sie über ihren jetzigen ‚wissenschaftlichen‘ Aberglauben lachen. Der trivialmodernen Bildung eines Dubois-Reymond und Zola wird eine genialmoderne Bildung der Rembrandt und Genossen folgen; man wird sich von dem und den Teufeln wieder zu Gott wenden; man wird wieder deutsch werden! Deutsch sein heißt Mensch sein; wenigsten für den Deutschen; und vielfach auch für andere Völker.“96. – Langbehns großenteils wirre Gedanken, geschrieben in einem schwärmerisch-assoziativen Stil, trafen im Gärungsprozess nationaler Identitätssuche einen empfänglichen „Nerv der Zeit“. Bald nach seinem Erscheinen wurde das Buch „wegen seiner wissenschaftsfeindlichen, antisemitischen und extrem nationalistischen Passagen ... scharf kritisiert.“97; gleichwohl erlebte es in rascher Folge zahlreiche Auflagen und lässt sich in den Diskursen der Kunsterziehungsbewegung oft als „Hintergrundmusik“ vernehmen, auch wenn nur selten ausdrücklich darauf Bezug genommen wird. Langbehns Werk gilt in der reformpädagogischen Historiographie als das Fanfarensignal zur Geburt der Kunsterziehungsbewegung. Neben Langbehn ist auf Lichwark, Lange und Hirt als maßgebende Personen der unmittelbaren Vorgeschichte der Kunstererziehungsbewegung hinzuweisen, die als breiter wirkende „Bewegung“ erst ab 1901 mit dem ersten Kunsterziehungstag (s.u.) in Erscheinung tritt. „Alfred Lichtwark (1852-1914), seit 1886 Direktor der Hamburger Kunsthalle, wandte sich 1887 mit einem Vortrag ‚Die Kunst und die Schule‘ an die Hamburger Lehrerschaft; zehn Jahre später veröffentlichte er 1897 als Zusammenfassung seiner Gespräche mit Schülern im Museum das Buch ‚Übungen in der Betrachtung von Kunstwerken‘. In Hamburg gab es, zunächst unabhängig von Lichtwark, dann aber in stetiger Zusammenarbeit mit ihm, starke reformpädagogische und kunstpädagogische Strömungen, vor allem in der Volksschullehrerschaft – durch ihr Zusammenwirken mit dem Museumsmann wurde Hamburg rasch zu einem führenden Ort der Kunsterziehungsbewegung. ... Realistischer als der bis dahin völlig unbekannte Privatgelehrte Julius Langbehn (1851-1907) war der Tübinger Kunstgeschichtsprofessor Konrad Lange (1855-1921), dessen Buch ‚Die künstlerische Erziehung der deutschen Jugend‘ 1893 erschien. Lange vertrat den ‚kunstwirtschaftlichen‘ Standpunkt; er sah in der Kunst denjenigen Zweig menschlicher Tätigkeiten, in dem mit dem geringsten Materialaufwand die größten ökonomischen Werte geschaffen werden können. Bei ihm wie bei Lichtwark mischten sich idealistische und wirtschaftspolitische Motive, nationalistische Obertöne sind bei beiden nicht so krass wie bei Langbehn, aber auch unüberhörbar. War Langes Programmschrift noch wesentlich auf die höheren Schulen bezogen, so proklamierte Georg Hirt in seinem Buch ‚Die Volksschule im Dienste der künstlerischen Erziehung des deutschen Volkes‘ nachdrücklich die breiten Massen der Volksschüler.“98 Der Versuch, durch Kunst auf das Ganze und für das Ganze zu wirken zeigt sich denn auch auf den drei Kunsterziehungstagen 1901 (Dresden, zum Thema: „Bildende Kunst“), 1903 (Weimar, „Sprache und Dichtung“) und 1905 (Hamburg, „Musik und Gymnastik“), und zwar meist im Sinne einer nationalen Erweckung. (Der Begriff „Kunsterziehung“ hatte auf dem 1. Kunsterziehungstag noch unausgesprochen seine ursprüngliche engere Bedeutung, nämlich in Bezug auf die bildende Kunst. Später erfolgte eine ausdrückliche Spezifizierung des ersten Kunsterziehungstages als auf die bildende Kunst bezogen und zugleich eine begriffliche Erweiterung auf die anderen genannten Bereiche.) Auf dem ersten Kunsterziehungstag spricht Lichtwark, der Hauptinitiator der Kunsterziehungstage, zum Thema „Der Deutsche der Zukunft“. Zur „Entwicklung unseres Volkstums“ müsse von der Erziehung verlangt werden, „dass sie die liebende Hingabe an unsere eigene Literatur und Kunst in allen Kreisen“ erwecke. „Darin liegt eine unschätzbare, alle Stände des Volkes zusammenschließende 96
Ebd., S.380 Kerbs, Dieter (1998): Kunsterziehungsbewegung, in: Kerbs, Dieter und Reulecke, Jürgen (Hsg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880 – 1933, Wuppertal: Peter Hammer Verlag, S.370 98 Ebd. 97
Arbeit und Kunst 141
Kraft.“99 Und zu Beginn der „Verhandlung“, die dem Thema „Anleitung zum Genuss der Kunstwerke“ gewidmet ist, werden weitere Motive angesprochen. Lichtwark: „Denn die Erneuerung der künstlerischen Bildung unseres Volkes ist in sittlicher, politischer und wirtschaftlicher Hinsicht eine der Lebensfragen unseres Volkes.“100 An anderer Stelle zeichnet Lichtwark einen direkten Wirkungszusammenhang zwischen der Kunsterziehung und „der Erhaltung unserer Nationalität“ sowie dem Bestreben „eine erste Stelle auf dem Weltmarkte“ zu erringen. „Der Typus des modernen Deutschen“ habe „seine schwachen Seiten auf dem Gebiet der ästhetischen Bildung“ und diesem Mangel müsse „mit aller Macht entgegengearbeitet werden.“101 Auch der sonst nicht weiter in Erscheinung tretende „Geheime Schulrat Grüllich, Vertreter des Königlich Sächsischen Kultusmisteriums“ spricht in seinem Grußwort zum ersten Kunsterziehungstag dieselben Motive an, freilich mit einem weit höheren Quantum an Pathos. Die Kunst, nicht nur die bildende Kunst, versöhnt insbesondere die „Mühseligen und Beladenen“ mit der Last ihres Lebens, bringt ihnen „Sonnenschein“, „edle Gedanken“, „läutert das Gemüt“. „Nationale Gedanken und Stimmungen verkörpert sie, uns zu steter Erhebung, in Stein und Erz, in Worten, in Tönen und Farben, und dem tiefsten und höchsten Sehnen des Menschenherzens und der Antwort darauf von oben errichtet sie heilige Tempel.“ Neben den „idealen“ Werten der Kunst vergisst auch Grüllich nicht „den hoch praktischen Wert“: „für die Werkstätten des künstlerischen und gewerblichen Schaffens in unserem Volke.“102 Auf dem zweiten Kunsterziehungstag 1903 in Weimar mahnt Stephan Waetzoldt, Geheimer Oberregierungsrat und Professor, am Ende seines Vortrages „Der Deutsche und seine Muttersprache“ , unter „tiefe(r) Ergriffenheit und lebhafte(m) Beifall“ seiner zahlreichen Zuhörerschaft, „dieses“ von ihm in der Abenddämmerung im Gedenken an Goethe geschaute „Licht zu hüten, diese Flamme zu nähren, diese Fackel weiterzugeben: Damit das Gute wachse, wirke, fromme,/Damit der Tag dem Edlen endlich komme“. Er kontrastiert zuvor die „ungebrochene Einheit“ einer alten, verlorengegangen Zeit mit der Zersplitterung des heutigen „Volkskörpers“, die nur durch das Band der Muttersprache, durch die Empfindung „ihre(r) Schönheit und die Schönheit ihrer Werke“ überwunden werden kann.103 Es handelt sich also bei Waetzoldts Fackel nicht um das Licht der Aufklärung, um Erkenntnis, Erkenntnis des Widersprüchlichen und Differenten, sondern um das gefühlsmäßige Ergriffensein vom Schönen als dem Ausdruck des Ganzen und Heilen; oder: um das Verschwinden der Differenz im Gefühl der Einheit. Auch hier – wie so oft in den Reflexionen im Umkreis der Reformpädagogik – zeigt sich das Denkmuster jeglicher aufs Ganze zielenden Rettungspädagogik. Dem modernen Zerfall (dem Abnormen, dem Bösen) wird ein heiler Zustand gegenübergestellt: individualgenetisch im Postulat des ursprünglich „guten“ Kindes wie bei Rousseau und später bei Montessori; quasihistorisch als Postulat einer heilen Vorzeit wie ebenfalls bei Rousseau und hier bei Waetzoldt oder metaphysisch als Gemeinschaft, Volksgemeinschaft oder „Ursprungsgemeinschaft“ wie bei Peter Petersen und vielen anderen Reformpädagogen. Der heile Zustand soll durch Erziehung (in diesem Falle: durch die Erziehung zur Kunst) wieder hergestellt werden. Diese Denkbewegung zeigt sich bei Waetzoldt beispielhaft und in knapper Form: „..., wir, die Lehrenden und die Schaffenden, wir haben eine Aufgabe: die große Sehnsucht wieder zu ent99 Lichtwark, Alfred (1902): Der Deutsche der Zukunft, in: (ohne Herausgeberangabe) Kunsterziehung. Ergebnisse und Anregungen des Kunsterziehungstages in Dresden am 28. und 29. September 1901, Leipzig: R. Voigtländer, S.48 100 Ebd., S.188 101 Lichtwark, Alfred (1904, 5. Auflage): Übungen in der Betrachtung von Kunstwerken, Berlin: Verlag Von Bruno Cassirer, S.17 102 Grüllich, in: Kunsterziehung ... (1902), a.a.O., S.16f 103 Waetzoldt, Stephan (1904): Der Deutsche und seine Muttersprache, in: Kunsterziehung. Ergebnisse und Anregungen des zweiten Kunsterziehungstages in Weimar, am 9., 10., 11. Oktober 1903. Deutsche Sprache und Dichtung, Leipzig: R.Voigtländer, S.264f
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fachen, die Sehnsucht nach dem Schönen, nach der Kunst als einem Lebensgut. Das ist schwer; denn unser Volkskörper ist uneinheitlich in seinem geistigen Sein geworden. Anders einst die mythischen und heroischen Zeitalter, wo eine ungebrochene Einheit auch der Weltanschauung, der Religion, der Sitte, des gesellschaftlichen Lebens einem Volke die Einheit künstlerischen Empfindens gab. Die Nation ist gesellschaftlich und in ihrem Geistesleben zersplittert und zerklüftet, so dass die eine Schicht die andere kaum mehr versteht. Wir reden zuweilen tatsächlich zueinander eine fremde Sprache, wenn wir aus verschiedenen Bildungsund Gesittungskreisen heraus sprechen. Das müssen wir überwinden, wir müssen uns näherkommen, das Menschliche wiederfinden. Die Muttersprache schlingt ihr Band um alle Kinder des Volkes in Höhen und Tiefen.“104 Nicht nur beiläufig bringt der Chronist der Veranstaltung die Stimmung der Zuhörerschaft mit der Schlussbemerkung zum Ausdruck: „Tiefe Ergriffenheit und lebhafter Beifall“. An die Wirkung von Waetzoldts Vortrag erinnert sich Ludwig Pallat, ein Zuhörer und bedeutender offizieller Förderer der Kunsterziehungsbewegung über 25 Jahre später mit den Worten: „(K)ein anderer Redner hat die Herzen aller Anwesenden, die der Künstler mit eingeschlossen, so tief ergriffen ...“105 Der „nachempfindende“ Leser wird unweigerlich an Schillers hundertfach vertontes Gedicht „An die Freude“ mit dem Eingangsvers „Freude, schöner Götterfunken/Tochter aus Elysium“ erinnert, deren berauschende Wirkung wieder bindet, „Was die Mode streng geteilt“. Das Gedicht war den Zuhörern zweifellos bekannt, möglicherweise nicht in seiner vollen Länge. Schiller und mit ihm die zahlreichen Komponisten, darunter Beethoven, besingen die Verbrüderung aller Menschen im Banne eines erhabenen Gefühls allmenschlicher Verbundenheit. Schiller selbst vergisst aber in dem wenige Jahre vor der Französischen Revolution verfassten Gedicht keineswegs, auf die Unvollkommenheit der Welt hinzuweisen. Im elysischen Rausch wird die Gesellschaft in ihrer ungerechten Verfassung ästhetisch überwunden, zugleich aber – als Folge einer durch ästhetisches Erleben entwickelten moralischen Empfindungsfähigkeit – als solche erkannt, so dass Schiller einfordern kann: „Festen Mut in schweren Leiden,/ Hilfe, wo die Unschuld weint,/ Ewigkeit geschwornen Eiden/ Wahrheit gegen Freund und Feind,/ Männerstolz vor Königsthronen, – / Brüder, gält‘ es Gut und Blut – / Dem Verdienste seine Kronen,/ Untergang der Lügenbrut!“ Schiller will „Millionen“ „umschlungen“ wissen; die Kleiderordnung ist ihm deswegen allerdings nicht gleichgültig. An die Aufdeckung sozialer Differenzen im Sinne einer Ethik der Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit gemahnt Waetzoldts Vortrag nicht; mögliche soziale Gründe der beklagten „Zersplitterung“ geraten nicht in den Blick. So genießt die Versammlung in Ergriffenheit den Rausch der Einheit und Einigkeit, lässt sich vom erhabenen Band sprachlicher Schönheit umgarnen und in eine andere Welt entrücken; in eine Welt, die – in völligem Gegensatz zu Schillers Intentionen – keinen Blick auf die soziale Welt mehr nötig hat und keinen Weg zur sozialen Wirklichkeit zurückfindet. Die gebildete Zuhörerschaft hat durch bloße Andeutungen bereits Anteil an dem „große(n) Licht“ und dem „Wunderbare(n)“, das „durch das Labyrinth seiner (Goethes – E.S.) Brust gewandelt ist“ (Waetzoldt) – und begräbt mit Hingabe stillschweigend jeden Zweifel an der geistigen Verfassung seiner selbst und an der sozialen Verfassung der wilhelminischen Gesellschaft. Dass eine solche Hingabe an ein abstraktes Ideal durchaus konkrete politische Implikationen haben kann, wird dann auf dem dritten Kunsterziehungstag in Hamburg 1905 transparent. „Musik und Gymnastik“ sollen ebenfalls in den Dienst zur Beseitigung des „Tiefstand(es) der Gegenwart“ „in Kunst und Leben“ gestellt werden.106 Dass das dort apos104
Ebd. Pallat, Ludwig (1929): Einleitung, in: Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht in Berlin (Hsg.): Kunsterziehung. Ergebnisse und Anregungen der Kunsterziehungstage in Dresden, Weimar und Hamburg, Leipzig: R. Voigtländer 106 Möller, Karl (1929): Bedeutung der Leibesübungen in der ästhetischen Erziehung, in: Ebd. (Zentralinstitut ...), S. 178 105
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trophierte „freiere, höhere Leben“ durchaus dem Klang und dem Takt der Marschmusik zu folgen hat, wird dort unverblümt ausgesprochen. Bereits Lichtwark hatte in „Der Deutsche der Zukunft“ neben den „deutschen Professor“ und den „deutschen Lehrer“ den „deutschen Offizier“ als Garanten einer nationalen Erneuerung und des „Schutz(es) vor erneuter Vernichtung“ hingestellt.107 In Hamburg wird nun im Hinblick auf die neuen kunsterzieherischen Bestrebungen der Gedanke des Nationalen mit den seit langem virulenten zeitgenössischen Ingredienzen des Militarismus und Rassismus versehen. Die entsprechenden Hinweise wurden bereits zu Beginn dieses Kapitels gegeben. Der Zusammenhang der Kunsterziehungsbewegung mit dem gesellschaftspolitischen Diskurs nationalistischer und zum Teil auch präfaschistischer Tendenz aus dem Geist einer rückwärts gewandten Kulturkritik ist inzwischen zum Gegenstand eingehender ideologiekritischer Analysen geworden.108 Die Indienstnahme des Kunsterziehungsgedankens für nationale Zwecke ist unbestreitbar gegeben und vereinzelt sind – aus heutiger Sicht erschreckende – „Beiträge der Kunsterziehung zur Ästhetisierung des Krieges“109 zu finden. In welchem Ausmaß die kunsterzieherische Praxis und die didaktisch-methodische Konzeptualisierung von diesem Diskurs selbst tangiert worden ist, ist gegenwärtig kaum stichhaltig zu beantworten. Nach meinem Eindruck handelt es sich eher um zwei verschiedene Diskurse: ein inhaltlich seit langem geführter und etablierter gesellschaftspolitisch-ideologischer und ein relativ neuer pädagogischer Diskurs. Beide werden zum Zwecke der Etablierung der pädagogischen Konzepte nun zwar rhetorisch verbunden, oft auch in Personalunion vertreten, durchdringen bzw. „befruchten“ sich gegenseitig aber kaum.110 Es gibt – neben der offensichtlichen Fehleinschätzung dessen, was „Kunst“ und „Erziehung“ überhaupt zu leisten imstande sind – nämlich viele Gründe, warum dieses in sich schon nicht konsistent entwickelte Programm einer nationalen Rettungspädagogik durch Kunst scheitern musste. Aus ihm konnten wegen seiner Abstraktheit, Schulferne und seiner schwärmerischen, zur Begriffsbildung ungeeigneten Diktion keine didaktischen Konkretionen gewonnen werden. Zudem erweist sich die Kunsterziehung mit ihren zahlreichen Ausdrucksbereichen als in sich äußerst heterogen: Bild, Plastik, Wort, Musik, Gebärde, Bewegung konnten schon in der Kaiserzeit nicht mehr auf eine Richtung eingestellt werden und der von Lichtwark 1903 unternommene Versuch „Die Einheit der künstlerischen Erziehung“ zu denken konnte nicht wirklich gelingen. Worin hätte diese Einheit bestehen können außer in der Bezugnahme auf den Gedanken des Individuell-Schöpferischen im Kinde; oder in der – dem Individuell-Schöpferischen widersprechende – Verpflichtung zur Darstellung eines wie auch immer gedachten allgemeinen Ideals? Eine Kunsterziehung nationalistischer Prägung hätte in der Breite nur bei einem weitreichenden Konsens in didaktischen Fragen realisiert werden können. Ohne dies im einzelnen nachweisen zu können muss es aber, abgesehen von den in 107
Lichtwark (1902), a.a.O., S.57 Schonig, Bruno (1973): Irrationalismus als pädagogische Tradition. Die Darstellung der Reformpädagogik in der pädagogischen Geschichtsschreibung, Weinheim und Basel: Beltz; Kunter, Hubertus (1973): Deutsche Reformpädagogik und Faschismus, Hannover u.a.O.: Schroedel; Hein, Peter Ulrich (1991): Transformation der Kunst: Ziel und Wirkungen der deutschen Kultur- und Kunsterziehungsbewegung, Köln und Wien: Böhlau; Bast, Roland (1996): Kulturkritik und Erziehung: Anspruch und Grenzen der Reformpädagogik, Dortmund: projekt verlag; Weiss, Edgar (1996): Kulturkritik, Schulkritik und Lebensreform um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, in: Seyfarth-Stubenrauch, Michael und Skiera, Ehrenhard (Hsg.): Reformpädagogik und Schulreform in Europa, Band 1, Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 109 Hein (1991), a.a.O. S.179ff, bes. S.202 110 Vgl. aber auch Heins (a.a.O., 1991) eingehende soziologische Analyse. Er zeigt u.a., wie sich der Nationalsozialismus kunsterzieherischer Motive bediente, nach der „Machtergreifung“ aber ursprünglich tragende Momente dieser Bewegung – wie die zentrale Rolle des Kindes, die Offenheit gegenüber verschiedenen künstlerischen Richtungen, die Vielfalt der den Kindern nahegebrachten Inhalte, schließlich ihr „Kampf gegen Fassade und Salon“, also das in ihr liegende Moment des freien, kritischen Wortes; mithin all das, was ideologisch nicht zu kanalisieren war – eliminieren musste. „Das kulturelle Profil, welches das Dritte Reich sich nach und nach verlieh, wurde am Ende dem Wesen des Kunsterziehungsgedankens nicht gerecht.“(S.275) 108
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den Verhandlungen zutage tretenden Differenzen zwischen den Pädagogen, auch erheblichen Widerstand von Seiten der anwesenden Künstler gegen die pädagogische Vereinnahmung der Kunst gegeben haben. So schreibt Pallat 1929: „Noch nachteiliger aber als dies (gemeint sind ungeeignete Hauptreferenten – E.S.) erwies sich für die Wirkung der Kunsterziehungstage die Aussprachen, die sich an die Vorträge anschlossen. In ihnen wurde namentlich von seiten der Pädagogen der Gedanke der Kunsterziehung teils so verwässert, teils durch Wenn und Aber so eingedämmt, dass die anwesenden Künstler sich bekreuzigten und dringend flehten, man solle lieber die Hand von der Kunst lassen als sie solchen Schulmeistern preisgeben.“111 Pallat hält trotz der zahlreichen Differenzen an einem „Gedanken der Kunsterziehung“ fest – zu Recht. Er lässt sich im Umfeld und in Verbindung mit einer radikalen Kritik an der alten Schule als Plädoyer zur Entfaltung der schöpferischen Kräfte im Kinde und einer Pädagogik vom Kinde aus identifizieren – und schließt damit an die Tradition einer subjektbezogenen, das Leiden in und an der Schule anprangernden Kritik an, die weit in die Jahrhunderte zurückreicht. Dies begründet den Zusammenhang mit den reformpädagogischen Bestrebungen im allgemeinen und es sind vor allem diese Motive, die später in der internationalen Diskussion zum Tragen kommen werden, so etwa bereits bei dem Gründungskongress der „New Education Fellowship“ 1921 in Calais mit dem Thema „The Creative Selfexpression of the Child“ sowie bei den nachfolgenden nationalen und internationalen Konferenzen der „Fellowship“ und ihrer nationalen Sektionen.112 Der „Gedanke der Kunsterziehung“ wurde didaktisch konkretisiert und in der Folgezeit zur Entwicklung der einzelnen künstlerischen Lernbereiche in der Weise wirksam, dass der Handlungs- und Ausdrucksspielraum der Kinder in der Tat eine Erweiterung erfuhr. Trotz dieses in pädagogischer Hinsicht progressiven Impulses bleibt die Kunsterziehungsbewegung wegen ihrer ideologischen Schlagseiten, Einseitigkeiten und doktrinären Übertreibungen eine ambivalente Erscheinung, deren ideologische „Schattenseiten“ man zur Konstruktion einer „guten“ pädagogischen Tradition nicht diminuieren oder eliminieren kann. Ein konkretes, von einem großen Kreis ausdrücklich getragenes Programm der Kunsterziehungsbewegung lässt sich weder in Bezug auf ihre Gesamtheit (sie wäre ohnehin nur als eine solche in fließenden Grenzen zu fassen) noch in Bezug auf einzelne Lernbereiche ausfindig machen. Es handelt sich eher um eine in viele Richtungen gehende Suchbewegung, die im Einzelnen zu verfolgen wären. Lichtwark hat indessen am Ende des Zweiten Kunsterziehungstages im Rückblick und im Ausblick auf den dritten eine zusammenfassende Sicht programmatischen Charakters gegeben, für die eine breite Zustimmung angenommen werden kann: „Auf den Gebieten, die von den drei Erziehungstagen behandelt werden, sehen wir Ausgang und Ziel in der Entwicklung der Ausdrucksfähigkeit, das heißt der gestaltenden Kräfte. ... Die Ausdrucksfähigkeit ist eine natürliche Kraft und Gabe des Kindes, die es von der ersten Dämmerung des Bewusstseins an besitzt, und die es unbewusst entwickelt, bis es zur Schule kommt. In der Schule ist mit dieser Kraft und Fähigkeit bisher kaum gerechnet worden. Sie hat den großen Reichtum, ..., bisher nicht allein ungenutzt gelassen, sondern stets in kurzer Zeit zerstört. ... In der ersten Schulzeit sollte sie (die Schule – E.S.) gar nichts Neues vornehmen und nur bemüht sein, die Entwicklungskeime, die das Kind mitbringt, Wurzel schlagen zu lassen in dem neuen Boden. ... Wenn das Kind zur Schule kommt, kann es in völliger Unbefangenheit alle seine Vorstellungen nicht nur durch die Sprache, sondern auch durch den Stift ausdrücken. Sobald es Zeichenunterricht erhält, sind Trieb und Vermögen erstickt. ... In den Mittelpunkt der Erziehung der künstlerischen Fähigkeiten im engeren, die bildende Kunst umfassenden Sinne stellen wir deshalb den Zeichenunterricht. Wir wollen ihn nicht, wie er bisher vielfach aufgefasst worden ist, als ein Mittel zur Gewöhnung an Ordnung, 111
Pallat, Ludwig (1929): Einleitung, in: Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht in Berlin (a.a.O.), S. 10 Boyd, William und Rawson, Wyatt (1965): The Story of the New Education, London: Heinemann; Röhrs, Hermann (1977): Die Reform des Erziehungswesens als internationale Aufgabe: Entwicklung und Zielstellung des Weltbundes für Erneuerung der Erziehung, Rheinstetten: Schindele
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Sauberkeit und mechanische Beharrlichkeit, sondern als die Entwicklung der Auffassungsund Ausdrucksfähigkeit betrachten. Im Sprachunterricht wollen wir die künstlerischen Triebe, die in der Kindersprache der ersten häuslichen Jahre so liebliche und duftige Blüten treiben, ungeknickt weiter entwickeln sehen. Durch die Nachtfröste der verfrühten Grammatik und der erbarmungslosen Orthographie pflegen diese ersten Triebe schnell zum Absterben gebracht zu werden. ... Auch der schriftliche Ausdruck soll eine natürliche und freudige Äußerung sein, die durch tägliche Übung gepflegt werden muss. ... In der Gymnastik können uns weder das deutsche noch das englische System genügen. ... Vor den Gefahren und Einseitigkeiten beider Systeme kann uns nur eine neue Gestalt der Gymnastik bewahren, die nicht auf brutale Kraft und höchste Leistungen im Wettkampf, sondern – namentlich auch durch die Verbindung mit der Musik – auf die Entwicklung des Ausdrucks, vorwiegend auf Schönheit ausgeht. ... Dass auch der Gesang – namentlich in der vergessenen Einheit mit dem Tanz – der unbefangenen Selbstdarstellung dienen kann, erscheint mir nicht zweifelhaft.“113 Damit sind die Lernbereiche zusammengefasst, die ansatzweise auf den Kunsterziehungstagen und konkreter noch in der Folgezeit unter dem Einfluss der Idee des Schöpferischen und der pädagogischen Maßgabe einer behutsamen Entwicklungspädagogik „vom Kinde aus“ eine nähere Ausarbeitung gefunden haben. Bei den nachfolgenden Hinweisen auf die einzelnen Lernbereiche folge ich, was die Gliederung betrifft, der Quellentextsammlung von Lorenzen. Sie entspricht den Bereichen der drei Kunsterziehungstage.
2.2 Bildende Kunst Bereits im Jahre 1887 hatte sich Alfred Lichtwark in einem Vortrag in Hamburg zur Frage „Die Kunst in der Schule“ geäußert. Sein Hauptaugenmerk gilt dem Bemühen, den – insbesondere im Vergleich mit den großen Nachbarvölkern in Frankreich und England, den „höher gesitteten Nationen“114 – bei den Deutschen diagnostizierten „Mangel an ästhetischer Erziehung“ zu beheben. Das wirtschaftspolitische Motiv steht dabei im Vordergrund. Auf den Weltausstellungen hatte sich im Vergleich der Nationen ein deutlicher Rückstand Deutschlands in Bezug auf die künstlerische und kunstgewerbliche Produktion gezeigt. Durch die Entwicklung des Interesses an Kunst und die Entwicklung des Geschmacks (ästhetische Genussfähigkeit und Sinn für Qualität) kann über eine entsprechende Nachfrage der Konsumenten die Kunstproduktion qualitativ und quantitativ gesteigert werden. „Wo die allerhöchsten Ansprüche überhaupt nicht erhoben werden, da muss das Niveau niedrig bleiben. Unser Ziel zu erreichen, gibt es jetzt nur einen Weg: die Empfindung und Selbstständigkeit des kaufenden Publikums stärken.“115 Die zukünftigen Konsumenten sind die heutigen Schüler und Lichtwark ist daran gelegen, diese zur Kunst, das heißt bei ihm 1887 noch in erster Linie aber nicht nur: zur modernen Kunst, zu führen. Das „kommende Geschlecht“ soll „in seiner Zeit“ und nicht der Vergangenheit leben.116 Großen Wert legt er, sich gegen das Gespött mancher Zeitgenossen wendend, auf „die künstlerische Erziehung der Frauen“. Den „Bildungseifer der Frauen“ erkennt er als einen „kräftigen Hebel“: „Denn alle Neigungen, welche heute die Frauen annehmen, werden von der kommenden Generation mit der Muttermilch eingesogen. Was unsern Fall anlangt, so wird die künftige Mutter oder Erzieherin, die sehen gelernt hat, auch
113
Lichtwark, Alfred (1904): Die Einheit der künstlerischen Erziehung, in: Kunsterziehung. Ergebnisse und Anregungen des zweiten Kunsterziehungstages ..., a.a.O., S.243ff 114 Lichtwark, Alfred (1887): Die Kunst in der Schule, in: Lorenzen, Hermann (1965): Die Kunsterziehungsbewegung, Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S44 (Sammlung von Quellentexten) 115 Ebd., S.50 116 Ebd., S.52
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ohne besondere Absicht ein Geschlecht von sehenden, anschauend genießenden Menschen heranbilden.“117 Lichtwark nennt drei Bereiche, an denen dieses Sehen geübt werden soll: Architekturdenkmäler, die Landschaft, deren „künstlerischer Charakter“ den Schülern nach Maßgabe des Verständnisses des Lehrers, und Gemälde. An dieser Stelle kommt ein weiterführender pädagogischer Gesichtspunkt ins Spiel. Es geht ihm nämlich nicht, wie im bisherigen Unterricht der Schule, um eine kunstgeschichtlich abgesicherte Interpretation, sondern: „Wir haben seit einigen Monaten Versuche angestellt über die Art, mit größeren Klassen Gemälde zu besehen, .... Auch hier soll dem Schüler nicht etwa ein Vortrag gehalten werden; wir fragen ihn vielmehr auf das Eindringlichste aus über das, was er selber sieht (Hervorhebung von mir – E.S.), genau wie vor der Architektur.“118 Auch wenn über die Auswahl der Bilder sowie durch das „eindringliche Ausfragen“ und – wie die einschlägigen Protokolle zeigen119 –durch die teilweise umfangreichen Erläuterungen des Lehrers vieles an ästhetischen und politischen Inhalten an die Schüler herangetragen bzw. in ihr Sehen hineingelegt wird, handelt es sich doch um eine methodische Neuerung im Kunstunterricht: nicht das objektiv gegebene Kunstwerk, sondern das Sehen selbst wird zum Ausgangspunkt genommen; der Schüler kann – sofern seine Mitteilungen ernst genommen werden – sich selbst ins Spiel bringen. Das Selber-Sehen tritt der Intention nach vor das Belehrtwerden. – Auf dem ersten Kunsterziehungstag modifiziert und ergänzt Lichtwark seine Ausführungen. Er lässt nun in Bezug auf die Schule die Betrachtung alter und neuer Kunst für die „Geschmacksbildung“ und die „Empfindung für Werte“ zu – vermutlich unter dem Einfluss des „Rembrandtdeutschen“ Langbehn.120 Er fordert ferner die Einbeziehung aller Fächer, deren „Wesen es zulässt, auf die Entwicklung des künstlerischen Anschauungsvermögens“ zu wirken. Ohne es als solches zu bezeichnen, wird hier die (geschmacksbildende) Kunsterziehung als Unterrichtsprinzip gefasst. Genannt werden die Fächer: Heimatkunde, Zeichenunterricht, Tier- und Pflanzenkunde, Geschichte. Auf dem ersten Kunsterziehungstag werden neben schulpädagogischen und museumsdidaktischen Fragen noch weitere behandelt: Kinderzimmer, Schulgebäude, Wandschmuck, Bilderbuch, Handfertigkeit. Es geht also darum, die Umwelt des Kindes unter ästhetischen Gesichtspunkten neu zu gestalten. All das soll der „Erziehung des Kindes zur ästhetischen Genussfähigkeit“121 dienen. Heinrich Wolgast nimmt die Anregungen des Dresdener Kunsterziehungstages auf und erweitert sie in seinem Vortrag von 1902 auf der „Deutschen Lehrerversammlung“ in Chemnitz um wesentliche Aspekte. (Dem Allgemeinen Deutschen Lehrerverein gehörten 1901 über 80.000 Mitglieder an.122) Er betont (u.a.), neben der ästhetischen, die intellektuelle Seite der Kunst. Sie nehme, beim Künstler wie beim Genießenden, „auch die erkennenden und sittlichen Kräfte“ voll in Anspruch, sie gehe „auf den ganzen Menschen“. Gerade die „ideale Welt der Kunst“ könne die „Erkenntnis erweitern und die erkennenden Kräfte nähren und verfeinern!“123 Außerdem weist er mit Nachdruck auf den „künstlerischen Schaffenstrieb“ im Kinde hin, der ihm Ausdruck der „Natur des Menschen“ überhaupt und Grundlage aller Kunst ist. Kein „Zweig der Kunst ist dem Kinde fremd, und während der Erwachsene sich der Kunst gegenüber meist empfangend verhält, überwiegt im Kinde der künstlerische Schaffenstrieb. So gern jedes Kind Bilder sieht und Puppen hat, noch stärker ist der Trieb, die Dinge, die in der Seele leben, selbst zu ‚malen‘, Figuren aus Lehm, Häuser aus Sand zu formen und seine Puppe sich selbst zu machen.“ In den Bereichen Musik, Rhythmus, „lyrisches Empfinden“, 117
Ebd., S.55 Ebd., S.53 119 Lichtwark, Alfred (1904): Übungen in der Betrachtung von Kunstwerken, Berlin: Verlag von Bruno Cassirer (5. Auflage) 120 Lichtwark (1902), Kunsterziehung. Ergebnisse ... a.a.O., S.183f 121 Vgl. ebd. das Inhaltsverzeichnis und S.28 und 183ff 122 Ebd., S.164 123 Wolgast, Heinrich (1903): Die Bedeutung der Kunst für die Erziehung, in: Lorenzen (1965), S.18 118
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„dramatischer Sinn“, „poetischer Gestaltungstrieb“ als Spiel lässt sich vergleichbares beobachten. „Da in der künstlerischen Anlage des Kindes die Selbsttätigkeit der hervorstechendste Zug ist, so wird die künstlerische Erziehung auch die schaffenden Kräfte entwickeln und verfeinern im Sinne einer mehr und mehr künstlerischen Kultur.“124 Damit ist freilich dem „künstlerischen“ bzw. kreativen Schaffen des Kindes noch kein Eigenwert zugesprochen; die Ausdrucks- und Gestaltungsfähigkeit als individueller Wert an sich noch nicht „entdeckt“. Wolgast ordnet die kindliche Kreativität letztlich nämlich dem Zweck zu, den „Einfluss der Kunstwerke“ zu unterstützen: „Das wichtigste Mittel der künstlerischen Erziehung ist die lediglich auf künstlerische Wirkung ausgehende Darbietung von Werken aus allen Gebieten der Kunst; ... Unterstützt wird der Einfluss der Kunstwerke: a) durch Anleitung zu einem ernsthaft betriebenen Dilettantismus; b) durch Hervorhebung ästhetischer Momente in allen Lehrfächern, die dazu Gelegenheit bieten; c) durch eine künstlerische Gestaltung und Ausstattung der Schulräume.“125 Auch Carl Götze, der auf dem ersten Kunsterziehungstag den Zeichenunterricht zu einem „Hauptunterrichtsfach“ aufgewertet, vom schablonenhaften Drill befreit und in den Dienst einer Anschauung und Denken bildenden Erziehung gestellt wissen wollte, bleibt in den Maßgaben eines auf Abbildungstreue zielenden Naturstudiums befangen – trotz der Betonung des „natürliche(n) Schaffens-, Erfindungs- und Entdeckungstrieb(s)“ beim Kinde. „Der Schüler muss lernen, selbständig die Natur und die Gegenstände seiner Umgebung nach Form und Farbe zu beobachten und das Beobachtete einfach und klar darzustellen.“126 Erst die „Entdeckung der Kinderzeichnung“, deren Formensprache nach dem „psychogenetischen Grundgesetz“ gar die Stufen früherer Menschheitskulturen widerspiegeln soll, markiert eine Wende hin zu dem Gedanken, das Kind nicht nur als „Künstler“ zu sehen, sondern Kindheit als die eigentliche Geniezeit des Menschen. Der im 19. Jahrhunderts vertretene und heute als wissenschaftlich überholt angesehene Gedanke einer Parallelität zwischen der Kulturgeschichte des Menschen und der individuellen Genese – dass also der Einzelne die wesentlichen Kulturstufen der Menschheit in zeitgeraffter Form durchlaufe – hat das didaktische Denken des 19. Jahrhunderts weithin bestimmt und – zusammen mit der „Entdeckung“ der Kunst der sogenannten primitiven Völker – eine Neubewertung kindlichen Schaffens gebracht. Der Italiener Corrado Ricci (1858-1934), hochangesehener und in hohen offiziellen Ämtern wirkender Kenner der Kunst, Kunstgeschichte und Archäologie, entdeckte im Winter 1882/83 an einer Hausmauer in Bologna kindliche Kritzeleien, also gleichsam freie, von keinem Erwachsenen angeregte oder direkt beeinflusste Kinderzeichnungen. Diese Entdeckung bewog ihn, zusammen mit anderen Kollegen und Lehrern Kinderzeichnungen und kindliche Plastiken zu sammeln und zu studieren. „1887 erschien in Bologna Riccis Werklein ‚L‘arte dei bambini‘ (deutsch 1906), worin zum erstenmal die natürliche Zeichensprache des Kindes untersucht worden ist.“127 Wolfgang Scheibe gibt eine knappe Übersicht der weiteren Entwicklung: „1901 führten Künstlerkreise in Berlin eine Ausstellung ‚Die Kunst im Leben des Kindes‘ durch. 1904 erschien eine Monatsschrift ‚Kind und Kunst‘. Carl Götze schrieb anlässlich der ‚Ausstellung von freien Kinderzeichnungen in der Kunsthalle zu Hamburg‘ (1898 – E.S.) sein Buch ‚Das Kind als Künstler‘. Eine Auswertung von Kinderzeichnungen gab Kerschensteiner in seinem Buch ‚Die Entwicklung der zeichnerischen Begabung‘ (1905 – E.S.). Siegfried Levinstein verfaßte, ebenfalls 1905, das Werk ‚Kinderzeichnungen bis zum 14. Lebensjahr mit Parallelen aus der Urgeschichte, Kulturgeschichte und Völkergeschichte‘, das in der zweiten Auflage 1918 unter dem Titel ‚Das Kind als Künstler‘ erschien. Gustav 124
Ebd., S.18f Ebd., S.20 Götze, Carl (1902): Zeichnen und Formen, in: Kunsterziehung (1902), S.141; voriges Zitat: S.152 127 Artikel „Ricci, Corrado“ in: Lexikon der Pädagogik (1952), Bern: A. Francke, S.380 125 126
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Hartlaubs Werk ‚Der Genius im Kinde‘ (1922) verfolgte als ‚Leitlinie‘: ‚In jedem Kinde wirkt die noch unpersönliche und vorbewusste Naturkraft des Naiven, wirkt der Genius, die neue kunsterzieherische Bewegung.‘ Diese Entdeckung der Kinderzeichnung, ..., eröffnete bedeutsame psychologische Aspekte, indem man erkannte, dass das freie Schaffen und Gestalten eine spezifische in Phasen verlaufende Form der kindlichen Daseinsbemächtigung darstellte. ... Nur einzelne meinten enthusiastisch, in jedem Bild eines Kindes ein echtes Kunstwerk sehen zu können.“128 Hartlaub hat seine in dem genannten Buch entwickelten Gedanken in neun Thesen zusammengefasst und gleichzeitig mit bemerkenswerten pädagogischen Folgerungen versehen. Einige der Thesen Hartlaubs seien hier, zum Teil in gekürzter Form und unter besonderer Beachtung der erzieherischen und didaktischen Gesichtspunkte zitiert: „1. In jedem Kinde wirkt die noch unpersönliche und vorbewusste Naturkraft des ‚Naiven‘, wirkt der ‚Genius‘. Er lässt den werdenden Menschen in 14 Jahren das äonenhafte Menschheitspensum bewältigen, welches zwischen dem Ur- und Naturzustand des Neugeborenen und der geistigen Verfassung des heutigen erwachsenen Europäers liegt. ... 2. ... 3. ... 4. ... 5. ... 6. Für die Erziehung ergibt sich daraus die Aufgabe, nicht nur den Zögling für das heutige Leben zu ertüchtigen, sondern ihm die schöpferischen All-möglichkeiten (die nach These 2 im „Kindheitsgenius“ als einer „schöpferischen Naturallmacht überhaupt“ liegen – E.S.) der Geniuszeit zu bewahren. Dies geschieht, indem man dem Kinde, die ihm nach psychogenetischer Analogie (‚zu vergangenen ‚naiven‘ Menschheitsstadien‘; Ergänzung nach These 4 – E.S.) entsprechenden Bildungsstoffe zuführt, und zwar nicht nur nach dem Inhalt, sondern auch nach der stilistischen Form. ... 7. Neben dem ‚Tun‘ und ‚Sagen‘ ist vor allem das ‚Bilden‘ eine Form des Traums und Spiels: Basteln, Bauen, Zeichnen, Malen, Ausschneiden, Modellieren. Kinderzeichnen ist Spiel, nicht Kunst; es ist nicht Gestaltung für das Auge des anderen, sondern Hilfsmittel zur Vergegenwärtigung der Spielfiktion. 8. .... Mit solchen Zeichen und Gesichten (bildlichen Vorstellungen – E.S.) will sich das Kind spielend vergegenwärtigen, nicht was es sieht, sondern was es weiß und fühlt. 9. Auch im dergestalt begrenzten kindlichen Bilden offenbart sich die Mehrleistung des Genius und die psychogenetische Analogie mit bestimmten Entwicklungsperioden des naiven Menschheitsschaffens. Der Erzieher (Zeichenlehrer) hat daher nicht so sehr die Aufgabe, durch Beibringen der Mittel neuerer Kunst für die entsprechenden Ansprüche unseres gegenwärtigen Daseins zu ertüchtigen, sondern auch auf diesem Felde den Genius in seiner Wirkungsart zu unterstützen. Das heißt: Achtung und Förderung des kindlichen ‚Stils‘ (mit seinen typischen ‚Zeichenfehlern‘ im heutigen Sinne) durch Beispiele und im Geiste solcher paralleler Kulturstufen, die innerhalb und vermittelst derselben ‚Zeichenfehler‘ einen Stil geschaffen haben.“129 Es geht Hartlaub um die „Achtung und Förderung des kindlichen ‚Stils‘“, also nicht um dessen intentionale Entwicklung durch Ausmerzen von Fehlern. Die Entwicklung schreitet gewissermaßen von selbst voran, wenn eben eine neue Stufe aus innerer Notwendigkeit nach dem Ausleben der vorigen im Kinde sich anbahnt, ankündigt und schließlich durchsetzt. Das pädagogische Leitmotiv der Reformpädagogik „Vom Kinde aus“ ist bei Hartlaub in Bezug auf die Kunst zu ergänzen durch den Satz: unter Beachtung der sich in der Entwicklung des 128
Scheibe, Wolfgang (1978): Die reformpädagogische Bewegung: 1900 – 1932, Weinheim und Basel: Beltz, S.145 129 Hartlaub, Gustav F. (1922): Der Genius im Kinde. Zeichnungen und Malversuche begabter Kinder. Zusammengestellt und eingeleitet von G.F. Hartlaub, Breslau: Verlag von Ferdinand Hirt; hier zitiert nach der Quellentextsammlung von Lorenzen (1965), a.a.O. S.65ff
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Kindes jeweils aussprechenden Kulturstufen der Menschheit. Das bedeutet – gleichgültig wie man zu den ihn begründenden Annahmen stehen mag – einen mit Levinstein 1905 theoretisch vorbereiteten didaktischen Neuansatz der Kunstpädagogik. Es geht nicht mehr in erster Linie um Erziehung zur Kunst im Sinne einer Hinführung zur ästhetischen Genussfähigkeit, auch nicht vorrangig um (ästhetische, intellektuelle und/oder sittliche) Erziehung durch Kunst, sondern um Ausdruck und Entfaltung der im Kinde selbst angelegten schöpferischen Kraft; um die Entwicklung also der bildnerischen Gestaltungsfähigkeit des Kindes als eines genuinen, aus dem Erleben, aus Phantasie und innerer Vorstellungswelt schöpfenden Prozesses. Hartlaub: „Es mag dabei bei dem weniger befähigten Kinde nur groteskes und Kümmerliches herauskommen; selbst in diesem Falle aber rührt der Lehrer an den eigentlich künstlerischproduktiven Punkt, an den schöpferischen Freiheitspunkt in jedem kleinen Menschen.“130 Insbesondere Gustav Kolb hat sich in seinem Werk „Bildhaftes Gestalten als Aufgabe der Volksschule: Naturgemäßer Unterricht“131 von Hartlaub anregen lassen, allerdings ohne spezifische Rekurse auf das „psychogenetische Grundgesetz“. – Insgesamt fand – mitbedingt durch diesen Neuansatz – eine bisher nicht gekannte Vielfalt an bildnerischen Gestaltungsmöglichkeiten des Kindes in die Schule Eingang. Die in den einschlägigen Werken der Kunstdidaktik und in den überaus zahlreichen „Zeitschriften für den Zeichen- und Kunstunterricht“ dokumentierten Beispiele aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts und darüber hinaus bis heute scheinen einen solchen Schluss zu rechtfertigen.132 Wenn ich versuche, insbesondere die weiterführenden, die „progressiven“ pädagogischen und didaktischen Gesichtspunkte der Kunsterziehungsbewegung herauszustellen, darf doch nicht übersehen werden, dass in ihr zahlreiche weitere, auch demgegenüber konträre Motive zur Geltung kommen, die ein Urteil darüber, was den wesentlichen „Gedanken der Kunsterziehungsbewegung“ ausmacht, erschweren. Was heute als wegweisend, als pädagogisch-didaktisch progressiv, angesehen werden kann, verdankt sich pädagogischen Maßstäben, die in einem sehr viel breiteren, über die Reformpädagogik hinausweisenden politischen (Stichwort: Rechte des Kindes), bildungs- und erziehungstheoretischen Diskurs wurzeln. Momente, die sich als weiterführend und fruchtbar erwiesen haben, treffen möglicherweise das Selbstverständnis einer historischen Epoche respektive einer bildungshistorischen Facette derselben nur unzureichend oder verfälschen gar – als „wesentliche“ proklamiert – deren „eigentlichen Charakter“. Es soll daher – zum Teil zusammenfassend, zum Teil das vorige ergänzend – in Anlehnung an die Ergebnisse einer Untersuchung von Kerbs auf weitere Motive hingewiesen werden. Kerbs legt mit seinem Katalog von 15 „Leitmotiven“ in der Geschichte des Zeichen- und Kunstunterrichts einen Vorschlag zur weiteren Erforschung dieses Faches vor. Die meisten der ausführlich erläuterten Leitmotive stehen in einem mehr oder weniger engen Zusammenhang mit den Bestrebungen der Kunsterziehungsbewegung. Nur diese seien hier genannt (bei Kerbs numeriert):133 x x
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Das kunstwirtschaftliche, national-ökonomische Leitmotiv (1876-1914 und darüber hinaus). ... Das „kunstsoziale“, klassenversöhnlerische, sozialreformerische Leitmotiv (in Deutschland etwa von 1890, dem Ende der Sozialistengesetze, bis ungefähr zum ersten Weltkrieg 1914-18, in England durch Ruskin, Morris und Crane schon früher). ...
Ebd., S.63. Hervorhebung von mir. Kolb, Gustav (1930): Bildhaftes Gestalten. Naturgemäßer Weg im Unterricht, Stuttgart: Holland und Josenhans (2. Auflage; 1. Auflage: 1926) 132 Kerbs, Diethart (1976): Historische Kunstpädagogik: Quellenlage, Forschungsstand, Dokumentation, Köln: DuMont; darin die „Chronologisch geordnete Zeitschriftenbibliographie“, S.159ff 133 Kerbs (1976), S.125-135 131
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x x x x x x
x
x x
x
Das irrationalistisch-romantische, kulturpessimistische (häufig zugleich auch chauvinistisch-rassistische) Leitmotiv (1890-1980, verstreut auch noch später). ... Das lebensreformerisch-geschmackspädagogische Leitmotiv (etwa seit 1887, als Ferdinand Avenarius seine Zeitschrift „Der Kunstwart“ gründet, bis in die 20er Jahre hinein, mitunter auch heute noch virulent). ... Das heimatkundliche Leitmotiv (etwa seit 1895 bis gegen 1945). ... Das Leitmotiv Volkskunst (etwa 1895 bis 1845, vereinzelt bis heute). ... Das Leitmotiv „Natur“ (etwa ab 1887 bis gegen 1930, 1945-1960). ... Das Leitmotiv „Kunst dem Volke“ (etwa 1895-1959). ... In der Massenfabrikation von Kunstpostkarten, Sammelbildern und deren Alben, Kunstkalendern ... und Zeitschriften verbinden sich volkspädagogische Ideologien mit geschäftlichen Interessen. In diesem Zusammenhang sind auch die Bestrebungen um „künstlerischen Wandschmuck für Schule und Haus“ zu sehen. Das Leitmotiv „Vom Kinde aus“ (etwa 1900-1960). Als Ellen Key um die Jahrhundertwende das „Jahrhundert des Kindes“ proklamiert und die Psychologie sich nachdrücklich um die Erforschung der Kindheit bemüht hatte, wurde der Künstler (das kreative Potential) auch im Kind entdeckt. In der Folge gewann das „Prinzip der Kindgemäßheit“ bzw. der Altersstufengemäßheit auch in der Kunsterziehung großen Einfluss. Man kann sagen, dass dieses Leitmotiv in den 20er Jahren zum kunstpädagogischen Allgemeingut wurde und bis heute nachwirkt, ... In ihrer Hinwendung zum Kind ... gingen manche Lehrer soweit, den Begriff der „Kindesnatur“, den sie sich zurecht gelegt hatten, zur Abwehr jeglicher Planung, Leistungskontrolle, Schulordnung, Methodik und Didaktik zu benutzen – ... Der Unterricht wird zur unplanbaren, unorganisierbaren, unerforschlichen „freien Unterrichtskunst“, gar zur „Seelenkunst“. Besonders in der ersten Hälfte der 20er Jahre gab es eine Vielzahl begriffsloser Experimente unter diesem Leitmotiv. Das ethnozentrische, rassistische Leitmotiv (in Ansätzen schon vorher, dann deutlich 1933-45). (Siehe auch in der Einleitung zu diesem Kapitel in dem vorliegenden Buch die Hinweise auf Carl Götze und Georg Fuchs – E.S.) Das musisch-freizeitpädagogische Leitmotiv (1927-1967). ... In diesem Leitmotiv (diskutiert unter dem Begriff „Musische Bildung“ – E.S.) verbanden sich kulturpessimistische und lebensreformerische Gedanken ... mit den Praxiserfahrungen der bündischen Jugendbewegung. ... Die „musische Bildung“ bot sich als Fluchthelfer in eine selbstgestrickte „heile Welt“ an. Das Leitmotiv „bildnerisches Denken“ (1920-1933, nach 1945).
Über diesen Vorschlag hinausgehend weist Kerbs darauf hin, dass noch weitere Leitmotive ausfindig gemacht und beschrieben werden könnten; er nennt: reformpädagogische, kunstdilettantische, lebensphilosophische, gestaltpsychologische, therapeutische, kreativitätstheoretische, mediendidaktische. Es wären bei intensiverer Suche noch weitere aufzufinden, etwa religiöse und moralerzieherische. Manche von diesen weiteren Motiven sind bereits in Kerbs‘ Katalog wie auch in dem vorliegenden Kapitel angeklungen. Man mag darüber streiten, ob es sich bei den genannten Motiven immer um „Leitmotive“ oder bei manchen vielleicht doch eher um „mitlaufende“ oder nebensächliche Motive handelt. Auch gab es Stimmen, insbesondere auf dem zweiten Kunsterziehungstag in Weimar, die sich unter Betonung der eigentlich ästhetisch-erzieherischen Zwecke der Kunsterziehung entschieden gegen eine nationale, religiöse oder sittlich-moralerzieherische Indienstnahme der Kunst ausgesprochen haben, ohne sich damit gegen diese Ziele selbst zu wenden. Kerbs‘ Übersicht macht am Beispiel der bildenden Kunst noch einmal deutlich, dass es sich bei der Kunsterziehungsbewegung um einen außerordentlich komplexen, pädagogisch wie ideologisch vielschichtigen Diskussions- und Wirkungszusammenhang handelt, der nur in einem vielperspektivischen Zugriff zu entschlüsseln ist.
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In reformpädagogischer Hinsicht ist die weitere Entfaltung des Konzeptes „vom Kinde aus“ bzw. des „Prinzips der Kindgemäßheit“ mit den Momenten der Übung und Entfaltung von Kreativität, Aktivität und Selbständigkeit, mithin im Aufweis des „schöpferischen Freiheitspunktes“ (Hartlaub) in der Erziehung von besonderer Bedeutung – auch wenn diese Momente durch mancherlei in der Kunsterziehungsbewegung wirkender Haupt- oder Nebenmotive, also durch ihre immanenten Widersprüche, mitunter selbst bedroht erscheinen. In Ergänzung zu diesen Hinweisen, die vor allem die Entwicklung in Deutschland beleuchten, sei auf die Darstellung von Hermann Röhrs hingewiesen. Er thematisiert in seinem Beitrag zur Kunsterziehungsbewegung „(d)ie künstlerische Erziehung im internationalen Raum“134 und gibt u.a. umfangreiche Hinweise auf den französischen und anglo-amerikanischen Sprachraum. Im Blick auf die historischen Anfänge hebt er neben der Arbeit von Ricci das bereits 1857 erschienene Werk „The Elements of Drawing“ von John Ruskin hervor; ferner: Bernard Perez (1888): „L‘Art et la Poésie chez l‘enfant“ (Die Kunst und die Poesie beim Kinde) und James Sully (1903): Studies on Childhood. Durch Perez‘ Werk habe „die Diskussion eine weltweite Dimension“ erlangt und manche Kapitel darin seien „einzigartige Beiträge zur Kunsterziehung in lebensreformerischer Absicht.“ Röhrs Darstellung des internationalen Zusammenhangs könnte zum Ausgangspunkt einer weiterführenden Untersuchung der Frage nach seinem Umfang, seinen Formen, seiner inhaltlichen Qualität und seine Auswirkungen auf kunsterzieherische Konzeptionen und Praxisversuche genommen werden. Hier besteht meines Erachtens noch ein erhebliches Forschungsdesiderat.
2.3 Sprache und Dichtung Der zweite Kunsterziehungstag in Weimar 1903, an einem herausragenden Ort deutscher literarischer Kultur, ist der deutschen Sprache und Dichtung gewidmet. Man könnte die Erwartung hegen, dass hier nun vor allem das Motiv „vom Kinde aus“ eine weitere Entfaltung und Konkretisierung gefunden hätte. Diese Erwartung wird zwar nicht gänzlich, aber doch auf weite Strecken enttäuscht. Ganz überwiegend geht es darum, wie unter Vermeidung bisheriger Fehler – vor allem: formalistischer Drill und Verfrühung in der Darbietung literarischer Werke und dadurch Abtötung jeglichen dauerhaften Interesses – die Schüler an die Sprache und Dichtung als wirklich Genießende heranzuführen seien. Die Tagesordnung umfasst zahlreiche Punkte, darunter am 3., dem letzten Tag, drei öffentliche Vorträge, denen auch „Ihre Königliche Hoheit Frau Erbgroßherzogin Pauline von Sachsen-Weimar beizuwohnen (geruhte)“. Wie in der Vorbemerkung des Berichtes verzeichnet, waren anwesend: „225 Herren und Damen, darunter die Vertreter von 14 deutschen Staatsregierungen, 9 Stadtverwaltungen und 45 Lehrervereinigungen und Ausschüssen“. Die nicht-öffentlichen „Verhandlungen“ werden durch Vorträge eingeleitet: „Lesen, Vorlesen und mündliche Wiedergabe des Kunstwerkes“ (Otto Ernst, Hamburg); „Der mündliche Ausdruck (das freie Sprechen)“ (Landtagsabgeordneter Pfarrer D. Hackenberg, Hottenbach); „Der schriftliche Ausdruck (der Aufsatz)“ (Professor Dr. Diez, Stuttgart); „Das dichterische Kunstwerk in der Schule. (Seine Auswahl)“ (Dr. Heinrich Hart, Berlin); „Das dichterische Kunstwerk in der Schule. (Seine Behandlung)“ (Prof. Dr. Rudolf Lehmann, Berlin); „Jugendschrift, Schülerbibliothek, das billige Buch“ (Hauptlehrer Wolgast, Hamburg); „Schülervorstellungen“ (Dr. Raphael Löwenfeld, Direktor des Schillertheaters, Berlin). Die Themen der grundsätzlicheren Fragen gewidmeten öffentlichen Vorträge sind: „Die Einheit der künstlerischen Erziehung“ (Prof. Dr. Alfred Lichtwark, Hamburg); „Der Deutsche und seine Muttersprache“ (Geheimer Oberregierungsrat Professor Dr. Stephan Waetzoldt, Berlin); „Der Deutsche und sein Verhältnis zur Dichtung (mit Rezitationen)“ (Otto Ernst, Hamburg). 134
Röhrs, Hermann (1980): Die Reformpädagogik. Ursprung und Verlauf in Europa, Hannover u.a.O.: Hermann Schroedel, S.94-101
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Die öffentlichen Vorträge werden ohne anschließende Diskussion zu Gehör gebracht. Der letzte Vortrag (Otto Ernst) bildet den dramaturgischen Höhepunkt der Tagung. Seine polemisch-pathetische Tonlage wird nur durch die vergleichsweise nüchternen Schlussworte des Vorsitzenden Georg Kerschensteiner gedämpft. Er erinnert eindringlich daran, dass die „ästhetische Erziehung ... die notwendige, aber nicht die hinreichende Bedingung dafür (ist), dass der Mensch dahin geführt werde, wohin alle Erziehung strebt, zur sittlichen Freiheit.“135 Otto Ernst wendet sich in dem Abschlussvortrag gegen die bisher angeblich an den Schulen vorherrschende „verständige Vortragsweise“ von Gedichten. Er meint damit eine solche, die über eingehende inhaltliche und formale Erklärungen an das Gedicht heranführen will. Auch Lehmann (s.o.) hatte sich tags zuvor in seinem Beitrag gegen den „allzuweit getriebenen Formalismus auf allen Stufen“136 und die „Erklärungsliteratur“ gewandt und darauf hingewiesen, dass Gedichte wie etwa Schenckendorfs „Muttersprache, Mutterlaut“ oder Arndts „Der Gott, der Eisen wachsen ließ“ ohne viel Erklärungen und ohne dass davon die Rede sei Vaterlandsliebe und Königstreue „unmittelbar auf das Stärkste“ anzuregen vermag. Ebenso will Ernst „das dichterische Kunstwerk wieder unmittelbar an das Herz des Hörers bringe(n).“137 Mittel ist ihm „eine aus der Anschauung geborene Rezitation“, die er sogleich auch an einigen bekannten Gedichten demonstriert, was mit „Langanhaltende(m) Beifall“ der Zuhörerschaft bedacht wird. Damit ist eine Resonanzboden geschaffen für seine Botschaften, deren didaktischer Kern darin besteht, den „Kindern und jungen Leuten“ deutsche Kunst, die „dem gleichen Boden eines deutschen Herzens entsprossen ist“138, unmittelbar in ihre deutschen Herzen zu pflanzen – zur Erhebung und Förderung des „ganze(n) Leben(s)“ durch „anbetende Freude“.139 Und das kann nicht ohne einen entschiedenen Kampf gegen alles Fremde, dem „deutschen Wesen“ nicht Zugehörige, gelingen. So lässt er ohne ausdrückliche Bezugnahme den von Langbehn gesichteten „deutschen Teufel“, der in Paris wohnt und gern in Berlin einkehrt (s.o.), in einer nordischen Gestalt wieder aufleben. Es ist der seinerzeit an deutschen Theatern häufig gespielte Dramatiker Henrik Ibsen (1828-1906), „dem außer der moralisierenden Psychologie so gut wie alle Bestandteile deutschen Wesens fehlen“140. Aber auch die „düstere, müde, schwermütige, pessimistische und passive Novellistik der Russen“ wird attackiert, deren verderblichen Einfluss gegenüber ein „Kunsturteil“ beschworen wird, das „aus unserem Land und unserem Wesen erwachsen ist“.141 Überhaupt bekämpft Ernst die überall noch bestehende „literarische Fremdherrschaft“142 und auf dieses Ziel will er auch die Kunsterziehung verpflichten: „Nichts größeres kann die künstlerische Erziehung tun als dem unseligen deutschen Erblaster der Ausländerei den Boden zu entziehen.“143 Was Kerschensteiners anschließende Bemerkung zur Sittlichkeit bzw. zur „sittlichen Freiheit“ bedeuten könnte, wurde in Ernsts Vortrag nicht transparent. – Manchem Zuhörer mag es bei so viel literarischen Erbgutbereinigungsphantasien und irrationalem Kampfeswillen doch unbehaglich geworden sein. Der Protokollant notiert für den Schluss des Vortrages zwar „Anhaltende(n) lebhafte(n) Beifall“, aber keinen „langanhaltenden“ mehr wie nach Ernsts beeindruckenden Rezitationen. Neben den nationalistischen, chauvinistischen, pathetisch-irrationalen Tonlagen und teilweise mit ihnen verwoben zeigen sich bei einer sorgfältigen Durchsicht der Vorträge und Ge135 Kerschensteiner (1904): Schlusswort, in: Kunsterziehung. Ergebnisse und Anregungen des zweiten Kunsterziehungstages in Weimar, am 9., 10., 11. Oktober 1903. Deutsche Sprache und Dichtung, Leipzig: R. Voigtländers Verlag (künftig zitiert: KE.II), S.281 136 Lehmann, KE.II, S.142 137 Erst, Otto (1904): Der Deutsche und sein Verhältnis zur Dichtung (mit Rezitationen), in: KE.II, (ebd.), S.266 138 Ebd., S.278 139 Ebd., S.274 140 Ebd., S.277 141 Ebd., S.277 142 Ebd., S.274 143 Ebd., S.277
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sprächsprotokolle gleichwohl zahlreiche Anklänge an tragende und weiterführende Motive der Kunsterziehungsbewegung als einer solchen. Waetzoldt beschwört nicht nur den alle Deutschen versöhnenden Geist Goethes (s.o.) und die besondere, von der eines Romanen „im tiefsten Sinne“ verschiedene „Weltauffassung eines Germanen“144; er bekennt sich auch im Anschluss an den ersten Kunsterziehungstag zu einer „Natur des Kindes“, die wie in der bildenden Kunst so auch in Bezug auf die Sprache der Natur des Künstlers eng verwandt sei. „Das Kind ist auch ein Dichter, wie denn auch die Kindesnatur der künstlerischen Natur auf das Innigste verwandt ist. Der Künstler ist ein Kind, und das Kind ist eine Art Künstler. Vorwiegen des ... schaffenden Dranges, ... der Triebseele, der Leidenschaft, ... Wir finden beim Kind und beim Künstler ein Spiel mit der Sprache, das vieles andere, als was wir sonst in der Sprache zu suchen und zu sehen gewohnt sind, in die Sprache hineinlegt.“ Gemeint sind die zahlreichen „Nebentöne“, das „Gefühlsmäßige“ und „Musikalische“, also jene Bedeutungssphäre, die über den allgemeinen rationalen Sinn der Sprache hinaus- und „auf das Künstlerische“145, hinweist. Näher an den Bereich der Schule, der von Waetzoldt ausdrücklich ausgeklammert und nur gestreift wird, kommt Lichtwark mit seinen oben erwähnten schulkritischen Hinweisen, in denen er u.a. die „Nachtfröste der verfrühten Grammatik und der erbarmungslosen Orthographie“ anprangert und davon spricht, wie die Schule ein ursprünglich vorhandenes Ausdrucksvermögen des Kindes allmählich aber sicher erstickt. Er fordert eine Bewahrung der ursprünglichen Ausdrucksfreude auch im sprachlichen Bereich und die behutsame Entwicklung der sprachlichen Ausdrucksfähigkeit. Hackenberg (s.o.) fordert sinngemäß in seinem Beitrag einen Schulunterricht, der der „freien Aussprache“ Raum gibt, dem freien, nicht auf das klassische Hochdeutsch verpflichtete Sprechen. Er nimmt die offenbar damals verbreitete Gepflogenheit aufs Korn, den Schüler vor seiner Anwort den Wortlaut der Lehrerfrage genau wiederholen zu lassen. Dies – wie überhaupt die Entartung des Unterrichts in ein „Frage- und Antwortspiel“ – „lähmt und ertötet die Sprachfertigkeit.“146 Entgegen der von Pallat 1929 geäußerten Ansicht, dass die Aussprachen (im Bericht „Verhandlungen“ genannt) einer positiven Wirkung des kunsterzieherischen Wollens entgegenliefen (und die er wohl deshalb in der von ihm besorgten Neuausgabe nicht aufnahm), finden sich nun gerade dort einschlägige Forderungen, und zwar oft vorgetragen von Lehrern, die in der Lage sind, eigene Erfahrungen und Unterrichtsversuche ins Gespräch zu bringen. Lehrer Breg (München) weist auf das Bedürfnis der Kinder hin, von eigenen Erlebnissen zu berichten, dem er offenbar in seinem Unterricht einen breiten Raum gewährt. „Und da ist mein einfacher Vorschlag, den ich seit Jahren verfolgt habe, dass wir von den Erlebnissen der Kinder eine Brücke hinüberbauen zu den Erlebnissen, die den großen Menschen geschehen sind, und die wir ihnen durch ihre eigenen Erlebnisse klar machen und näher bringen wollen.“147 Vom Kinde aus zum großen Kunstwerk hin unter Beachtung der eigenen Erlebniswelt: so etwa kann das didaktisch-methodische Motto des Lehrers Breg gekennzeichnet werden. Rudolf Schulze, Lehrer aus Leipzig, bringt in den Verhandlungen zum schriftlichen Ausdruck bzw. zum Aufsatzunterricht die Frage nach der schöpferischen Leistungsfähigkeit des Kindes als einziger aus dem Kreis der Zuhörer und Vortragenden ausführlich unter Hinzuziehung selbst ermittelter empirischer Befunde zur Sprache. Er regt „vollständig freie Aufsätze“ an, in denen erst die Fähigkeiten des Kindes sich zeigen können. „Wie weit ist das Kind fähig – vor allen Dingen auch das Kind der Volksschule – auf dem Gebiete der Sprache schöpferisch tätig zu sein? Ich habe diese Frage an die Personen gerichtet, die auch ein gewisses Interesse an unseren Verhandlungen haben, nämlich an die Kinder selbst, ..., so dass ich neben den offiziell verlangten guten Aufsätzen noch freie Aufsätze nebenherlaufen ließ, voll144
Waeltzoldt, ebd., S.255 Ebd., S.251, 253, 254 Hackenberg, ebd., S.72 147 Breg: ebd., S.60 145 146
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ständig freie Aufsätze, derart, dass die Zeit, die Wahl des Themas, die Form, kurz alles frei war. Ich möchte mir erlauben, in kurzen Worten Ihnen zu sagen, was das Ergebnis ist. Es waren da von 76 Arbeiten 28 in Mundart geschrieben. Das ist mir sehr wesentlich gewesen, und von der Zeit an habe ich angefangen, in der Schule die Mundart zu pflegen. ... Lassen wir unser Kind in der hochdeutschen Sprache reden, so hören wir ein papierenes Deutsch; lassen wir es im Dialekt reden, so spricht es sich selbst aus. ... Weiter waren unter 76 Aufsätzen 24, die ich als humoristische bezeichnen möchte, auch ein sehr wichtiger Punkt. Wenn wir das Kind etwas freier arbeiten lassen, so wird der Humor, von dem Jean Paul sagt, dass er der Himmel ist, unter dem alles gedeiht, in die Schule gezwungen werden, auch wenn es der Lehrer nicht wollte. Weiter habe ich auch gefunden, dass die Kinder die sprachlichen Formen, die man gewöhnlich als schwierige bezeichnet, in einer Weise gebrauchen, als wenn das ganz selbstverständlich wäre, z.B. die Form des Gespräches. 24 von 76 Arbeiten sind in Gesprächsform abgefasst, und es fanden sich auch 2 Theaterstücke dabei, und zu meiner großen Verwunderung, ..., fanden sich 20 Gedichte. Ich möchte bemerken, dass das nicht eine höhere Töchterschule, keine höhere Schule, keine höhere Bürgerschule war, sondern eine mittlere Volksschule in Leipzig, also die einfachste Schule, die wir in Leipzig haben, dass es Kinder von Arbeitern waren, die die Gedichte geliefert haben, 20 Gedichte, die natürlich nicht in irgend einer Weise von mir angeregt waren. Eines Tages kam das erste Gedicht, und die Kinder machten erstaunte Augen. Ich habe nichts gesagt als: ‚Ihr wundert euch?‘ Selbstverständlich, wir können auch Gedichte machen‘, und so sind 20 Gedichte zusammengekommen. ... Wozu habe ich dieses angeführt? Weniger um Richtlinien, wie die Sache methodisch anzufassen sei, zu geben, als um anzudeuten, dass wir in der Frage der künstlerischen Erziehung unsere Kinder immer und immer unterschätzen. Es ist ein guter Fond da, der Schatz ist da, er braucht nur gehoben zu werden, und wir werden gute Erfolge haben. (Lebhafter Beifall.)“148 Neben und nach der Erledigung der „offiziell verlangten guten Aufsätze“, folgt Lehrer Schulze offenbar einer anderen pädagogischen Linie, die weit über die Sprachdidaktik im engeren Sinne hinausreicht und zahlreiche Komponenten des Schullebens betrifft: die Themenwahl, insbesondere in Hinsicht auf das konkrete Leben und Erleben der Kinder; die Einteilung der Zeit; das Bild vom Schüler in Hinsicht auf seinen Status und Wert als Subjekt seines Lernprozesses; das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler. Und: bei all dem notwendigen Ernst, den die Vorbereitung auf das Leben allen abverlangt, soll den Kindern die Freude und das Lachen nicht vergehen. H. Wolgast, Hauptlehrer aus Hamburg, bringt in derselben Aussprache vergleichbare Erfahrungen ins Gespräch, die – vermutlich – auf Schülerarbeiten an der englischen „New School Abbotesholme“ und – nun ausdrücklich – auf ein Landerziehungsheim zurückgehen, das zu jener Zeit nur ein von Hermann Lietz in der Nachfolge des englischen Vorbildes gegründetes sein konnte.149 Wolgast hatte Aufsätze von Schülern aus diesen neuen Schulen gelesen. Er weist auf die Freude der Kinder hin, wenn sie etwas „aus eigener Erfahrung“ schreiben, wenn sie ihrem Interesse folgen können. „Wenn es uns gelingt, die Schüler in die Lage zu bringen, dass sie aus eigenem Antriebe etwas aufs Papier bringen, was sie ... anderen mitteilen möchten, dann, ... , haben wir den Standpunkt gewonnen, der allein richtig ist für die Erziehung zur künstlerischen Ausdrucksfähigkeit. Das zweite, ... ,ist, dass wir nicht so rigoros sein sollen mit der Korrektur. Vielleicht ist die Aufsatzkorrektur überhaupt vom Übel. ... (Widerspruch) Ich gebe zu, ich gehe zu weit. Ich will nur das Extrem hinstellen: wir verekeln leicht dem Schüler die Freude am schriftlichen Ausdruck. ...“150 Mit diesen Hinweisen sind die wichtigsten Zielsetzungen genannt: Behutsame, ermutigende Entwicklung der sprachlichen Ausdrucksfähigkeit des Schulkindes als einer ursprünglichen, schöpferischen Kraft unter besonderer Berücksichtigung seiner eigenen Erlebnisse, 148
Schulze: ebd., S.108ff Über die Gründungsgeschichte und die Pädagogik der Landerziehungsheime vgl. das entsprechende Kapitel. 150 Wolgast: ebd., S.112f 149
Arbeit und Kunst 155
Erfahrungen, Interessen und Mitteilungsbedürfnisse sowie seiner ihm persönlich bereits eigenen sprachlichen Fertigkeiten. Mittel sind das freie Sprechen, der freie Ausdruck im Mündlichen wie im Schriftlichen, einschließlich der Möglichkeit, beim Schreiben und Sprechen auch den eigenen Dialekt zu gebrauchen. Ferner kommen in den Vorträgen zur Sprache: die Bereitstellung von literarisch hochwertiger, alters- bzw. entwicklungsgemäßer, ansprechend ausgestatteter und bezahlbarer Jugendliteratur (Hauptlehrer H. Wolgast, einer der Wortführer der „Jugendschriftenbewegung“ hatte bereits in seiner 1896, Hamburg, erschienenen und danach mehrfach neu aufgelegten Schrift „Das Elend unserer Jugendliteratur. Ein Beitrag zur künstlerischen Erziehung der Jugend“ auf entsprechende Missstände hingewiesen.) sowie die Hinführung zur „großen“ Literatur durch einen lebendigen Unterricht (Otto Ernst: „Kunststunden sind überhaupt keine Unterrichtsstunden, sondern Erlebensstunden. (Bravo)“151) und durch eigens für Schüler ausgerichtete Theaterbesuche. Die zentralen pädagogischen Motive sind freilich keineswegs gänzlich neu. Schon auf den Kunsterziehungstagen wurde des Öfteren zustimmend auf das Wirken Heinrich Rudolf Hildebrands (1824-1894) hingewiesen. Sein 1867 erschienenes Werk „Vom deutschen Sprachunterricht in der Schule und von deutscher Erziehung und Bildung überhaupt“ erlebte bis 1930 neunzehn Auflagen.152. Seine Kritik an der Lebensfremdheit der Schule und die Forderung der Lebensnähe, sein Eintreten für die freie Entwicklung des kindlichen Ausdrucks, sein Hinweis auf die Notwendigkeit einer Beachtung der kindlichen Bedürfnisse, seine Kritik an der starren Unterrichtsmethodik, die Betonung des selbständigen Lernens, auch der insbesondere in den Anfängen der Kunsterziehungsbewegung stark vertretene nationale Gedanke zeigen Parallelen zur Reformpädagogik, so dass zahlreiche ihrer Vertreter Hildebrand zu Recht als einen ihrer Vorläufer betrachten konnten. Hildebrand fasst seine sprachdidaktischen Vorschläge folgendermaßen zusammen153: 1. Der Sprachunterricht sollte mit der Sprache zugleich den Inhalt der Sprache, ihren Lebensgehalt voll und frisch und warm erfassen. 2. Der Lehrer des Deutschen sollte nichts lehren, was die Schüler selbst aus sich finden können, sondern alles das sie unter seiner Leitung finden lassen. 3. Das Hauptgewicht sollte auf die gesprochene und gehörte Sprache gelegt werden, nicht auf die geschriebene und gesehene. 4. Das Hochdeutsche, als Ziel des Unterrichts, sollte nicht als etwas für sich gelehrt werden, wie ein anderes Latein, sondern im engsten Anschluss an die in der Klasse vorfindliche Volks- oder Hauptsprache. In der Folgezeit finden viele der in Weimar behandelten Gesichtspunkte eine weitergehende Ausarbeitung. Heinrich Scharrelmann (1871-1940) bringt im Sinne einer „Vertiefung der Kunstbewegung“154 1904 einen neuen Gesichtspunkt ins Spiel. Er will Kunst in der Schule als ein gestaltendes Prinzip des Unterrichts verstanden wissen: Also „... weniger eine Erziehung zur Kunst“ sondern „(Unterrichts-) Kunst zum Zwecke der Erziehung.“ In der radikalen Konsequenz dieses Gedankens liegt die Forderung: „Jede Stunde ein Kunstwerk?“ – von Scharrelmann als Frage formuliert, gleichwohl als höchster Anspruch vorgetragen, der wegen der „menschliche(n) Schwachheit“ nie gänzlich zu erfüllen, der aber gleichwohl durch ernsthaftes Bemühen „dann und wann eine Handvoll Minuten“ zu realisieren ist. „Es gilt also täglich an 151
Ernst: ebd., S.38 in seinem Vortrag „Lesen, Vorlesen und mündliche Wiedergabe des Kunstwerkes“ Leike, Antje (1992): Heinrich Rudolf Hildebrand (1824-1894) – Ein Vorläufer der Reformpädagogik“, in: Pehnke, Andreas (Hsg.): Ein Plädoyer für unser reformpädagogisches Erbe, Neuwied u.a.O.: Luchterhand, S.215ff 153 Hildebrand (1890), zitiert nach: Leike (1992), a.a.O., S.216f 154 Scharrelmann, Heinrich (1904): Zur Vertiefung der Kunstbewegung, zitiert nach der Quellentextsammlung von Lorenzen (1965), a.a.O., S. 81; folgende Zitate ebd., S.83ff 152
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der Neugestaltung der mir vorgeschriebenen biblischen Geschichten meine Kraft zu erproben, es gilt täglich geographische Beschreibungen umzuarbeiten oder naturgeschichtliches Material zu lebensvollen Schilderungen und Erzählungen zusammenzufügen, es gilt allen Schulstoff künstlerisch darzustellen. Unterricht aber mit solch künstlerischer Tendenz wird notwendigerweise auch ein starkes Echo in jedem Kinderherzen wecken.“ Ziel ist ihm letztlich, „Schule und Haus auf einen Grundton“ einzustimmen: „auf die Weckung und Förderung aller schöpferischen Kräfte im Kinde.“ Mit einem Katalog an Maßnahmen will er diesem Ziel näherkommen. Sie betreffen die Auswahl von geeigneter Literatur und die Schaffung einer neuen Literatur für Kinder, die Veröffentlichung beispielhafter Unterrichtsproben sowie die Veröffentlichung allein gefertigter Kinderarbeiten, „in denen Schaffenslust und Schaffenskraft zum Ausdruck kommen“, Hilfen für die Eltern, Bemühungen um „neue Unterrichts- und Erziehungstheorie für Schule und Haus“, schließlich die Forderung nach „experimenteller Arbeit in der Schule“; denn: „Die Pädagogik ist eine exakte Wissenschaft und hat als solche auch Anrecht und ist verpflichtet auf die Methode exakter Forschung: das Experiment.“ Die Möglichkeit des „vollständig freien Aufsatzes“ (Lehrer Schulze) mithin das Schreiben aus eigenem Mitteilungsbedürfnis und aus eigenem Antrieb (Wolgast) waren bereits als Forderungen auf dem zweiten Kunsterziehungstages in Weimar laut geworden. Mit ihrer Schrift „Unser Schulaufsatz ein verkappter Schundliterat“ (1910) führen die Hamburger Lehrer Adolf Jensen und Wilhelm Lamszus diese Gedanken weiter. Sie wenden sich – erneut – gegen das „Einexerzieren“ von Beispielsätzen und Regeln, gegen den „lineare(n) Geist, den man mit Not und Mühe aus dem Zeichenunterricht vertrieben hat, der heute noch den Aufsatz in seinen konstruktiven Klauen hält.“155 Das Kind soll „aus seiner Welt“, „aus seinem Leben“ schöpfen dürfen und damit sein Ausdrucksvermögen entwickeln. Wertvolle „Stilmuster“ werden nicht gänzlich verworfen; sie sollen aber nicht als „Vorbilder, sondern als Nachbilder“ für das „reifere Kind“ dienen, das nun erst durch eigenes Bemühen um Ausdruck und Form innerlich darauf vorbereitet ist, dem „Geheimnis des Schaffenden“ in der „Werkstatt des Künstlers“ auf die Spur zu kommen. Der „Erlebnisaufsatz“, der „gestaltende Aufsatz nach dem Leben, der natürliche Aufsatz“: das ist nach Jensen und Lamszus die „methodische Grundlage des Sprachunterrichts“. „Vom Hosenmatz bis zum Primaner und höher hinauf werden künftig die Schulschriftsteller ihre Umgebung in ihre Feder zwingen, und der Erlebnisaufsatz der Kleinen wird sich zum eigentlichen Beobachtungsaufsatz der Großen vertiefen und verfeinern. ... Auf dieser Grundlage werden sich alle anderen Stilformen erheben und in die Weite schwingen, um immer wieder zu ihr als ihre Nährmutter zurückzukehren.“ Es gilt, den Kindern einen „Weg zum eigenen Stil“ – so eine Schrift der genannten Autoren aus dem Jahre 1912 – zu ebnen, der letztlich darin besteht, den schöpferischen Kräften, die in jedem Kind schlummern, zum Ausdruck zu verhelfen: „Ein jedes geistig gesunde Kind ist imstande, aus sich selber nicht nur einen freien Aufsatz, sondern einen klugen, geschmackvollen und anschaulichen Aufsatz zu schreiben oder zu erzählen.“156 Jensen und Lamszus sind offenbar der Ansicht, dass im Erleben selbst und im Bedürfnis nach dessen Ausdruck bereits stilbildende Kräfte eingeschlossen sind, die – zumindest in den ersten Schuljahren – weniger der Schulung als vielmehr der Befreiung bedürfen. „Die positiven Ergebnisse der Kunsterziehungsbewegung im Bereich der muttersprachlichen Bildungsarbeit“ sieht Elisabeth Neuhaus „in der Lockerung des Ausdrucksvermögens beim Kinde und in der Erkenntnis, dass zwischen Stil und Persönlichkeit ein natürlicher Zusammenhang besteht, ja dass der Stil Ausdruck der Persönlichkeit ist. Jedoch überschätzte sie die 155
Jensen, Adolf und Lamszus, Wilhelm (1910). Unser Schulaufsatz ein verkappter Schundliterat, in: Lorenzen (1965) a.a.O., S.85, die folgenden Zitate: S.88 und 89 (dort abgedruckt nach der 4. Auflage 1922) 156 Dieselben (1912): Der Weg zum eigenen Stil. Ein Aufsatzpraktikum für Lehrer und Laien, Hamburg und Berlin; hier zitiert nach: Neuhaus, Elisabeth (1963): Muttersprachliche Bildung im Raum der Reformpädagogik, Ratingen bei Düsseldorf: A. Henn, S.27
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sprachgestaltenden Kräfte des Erlebnisses, sie glaubte, das Erlebnis, die Sache bringe von sich aus die entsprechende sprachliche Form hervor. ... Die Reformer verkannten, dass die Sprache geschult und veredelt und die Formkraft tätig geübt werden muss. Sie übersahen die Notwendigkeit bewusster Arbeit an der Sprachgestaltung. Das Stilgesetz des Gegenstandes wurde vernachlässigt und nur die subjektive Seite, das produktiv arbeitende Kind gesehen.“157 Diese Einseitigkeit erfährt in der Folgezeit eine Korrektur, und zwar insbesondere unter dem Einfluss des Arbeitsschulgedankens. „Erlebnis“ und „Arbeit“, respektive die subjektive Seite der sprachlichen Darstellung und die objektiven Forderungen von der Sache her, das heißt Forderungen unter den Maßgaben der Sach- und Werkgerechtigkeit, werden in verschiedenen didaktischen Konzeptionen insbesondere in den zwanziger Jahren zu einer neuen Synthese gebracht. Im Hinblick auf die Schulung des Stils wird anerkannt, dass auch „die Bewältigungsformen einer Sache“ geübt werden müssen, „um vollkommene Werkgerechtigkeit zu erreichen.“158 – Das bedeutet zugleich eine Distanz zu den übertriebenen Forderungen einer „Pädagogik vom Kinde aus“ oder zu dem Gedanken des „Kindes als Künstler“.
2.4 Musik und Gymnastik Der dritte Kunsterziehungstag, Hamburg vom 13. bis 15. Oktober 1905, widmet sich dem Thema „Musik und Gymnastik“. Auf dem zweiten Kunsterziehungstag in Weimar hatte Lichtwark bereits auf diesen Bereich hingewiesen und ohne nähere Begründung gesagt: „Dass auch der Gesang – namentlich in der vergessenen Einheit mit dem Tanz – der unbefangenen Selbstdarstellung dienen kann, erscheint mir nicht zweifelhaft.“159 Abgesehen von der Frage, was unter dem Selbst und seiner Darstellung bei Lichtwark zu verstehen sei, spricht aus seinen Worten eine Verkennung der Bedingungen musikalischen und tänzerischen Ausdrucks. Auch wenn sie wie Sprechen und Zeichnen an ein im Kinde „natürlich“ angelegtes Vermögen anschließen und anschließen müssen, sind Musik und Bewegung als solche keine semantischen Sinnträger; sie verweisen als solche nur auf sich selbst, unabhängig davon, welche außermusikalischen Bedeutungen, d.h. Botschaften und Emotionen, ihnen individuell oder kollektiv zugeschrieben bzw. mit ihnen gleichzeitig – etwa durch Liedtexte – „transportiert“ werden. Lichtwarks Suche nach der „Einheit der künstlerischen Erziehung“ verschließt ihm den Blick auf das Besondere der Musik und der Bewegung. Die im Bereich der Sprache und der darstellenden Künste in gewissen Grenzen berechtigte Forderung nach der „Befreiung“ des kindlichen Ausdrucks von engen Vorgaben und Zwängen, die Forderung etwa nach dem freien Zeichnen, dem freien Sprechen und dem freien Aufsatz, kann bei Musik und Bewegung nur in einem eingeschränkten und vermittelten Sinne gelten. Während im Sprechen bzw. Schreiben und im Zeichnen das Kind durchaus sein individuelles Selbst (seine Wünsche, seine Interessen, seine Erlebnisse) unmittelbar artikulieren und das Ausgedrückte als eine individuelle, dem Kind zugehörige Mitteilung verstanden werden kann, wird es die Mittel der Musik und der künstlerischen oder gekünstelten Bewegung (Tanz, Gymnastik) kaum als einen ebenbürtigen Ausdruck seiner selbst gebrauchen. Nur in den seltensten Fällen wird ein Kind, und das gilt noch bis ins Jugendalter hinein, eine oder seine Geschichte, seine Wünsche und dergleichen singend oder tanzend zum Ausdruck bringen wollen. Während mittels des sprachlichen und bildhaften Zeichens eine individuelle Intention relativ präzise vermittelt werden kann – und sich durch Umgang und Erziehung im Kind frühzeitig in seinem Leben ein Gespür für deren kommunikative Funktion entwickeln konnte – 157 Neuhaus, Elisabeth (1963): Muttersprachliche Bildung im Raum der Reformpädagogik, Ratingen bei Düsseldorf: A. Henn, S.30 158 Ebd., S.52 159 Lichtwark, in: Kunsterziehung ... a.a.O. (1904), S.247
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sind Musik und künstlerische Bewegung wegen ihrer Abstraktheit dazu nicht geeignet. „Freies“ Singen und Tanzen lässt sich beim Kinde zwar beobachten, es hat aber nicht den Charakter einer gezielten Mitteilung, sondern ist Ausdruck einer manchmal von außen (durch Musik oder die Beobachtung von Bewegung), manchmal von innen, d.h. spontan, initiierten, meist freudigen Stimmung. Alle Formen des Gesangs, der Musik und der gestalteten Bewegung führen das Kind in einen vorgeprägten, in einen gemeinschaftlichen Zusammenhang, den das Kind vielleicht freudig nach- oder mitvollzieht, den es aber verlassen oder überschreiten muss, wenn es seine nur ihm eigene Geschichte, wenn es sein individuelles Selbst zum Ausdruck bringen will oder soll. In lebensgeschichtlicher Perspektive können die abstrakten Formen des Ausdrucks erst relativ spät, nach einer langen Phase der Kenntnisnahme, Auseinandersetzung und Übung als Mittel individuellen schöpferischen Gestaltens souverän eingesetzt werden. Musik, Gymnastik, Tanz fordern zunächst Einordnung, Nachvollzug, stetige Übung zumindest dann, wenn ein ästhetischer respektive formaler Anspruch ins Spiel kommt. Dieser Anspruch liegt aber gewissermaßen in der Sache selbst und gewiss auch in den von Lichtwark ins Auge gefassten „Urformen der Tänze und Reigen“ – gedacht ist an Volkstänze – , in denen er Musik und Gymnastik „vereint“ sieht. Die von Lichtwark apostrophierte „unbefangene Selbstdarstellung“ ist eine solche unter der Maßgabe einer kollektiven Disziplinierung, die – unabhängig davon, welcher pädagogische Wert ihr zukommen mag – kaum geeignet erscheint, „uns ein Geschlecht freier Menschen heranbilden (zu) helfen.“160 – Wo dennoch auf dem Kunsterziehungstag etwas von „unbefangenem“ musikalisch-tänzerischem Ausdruck ins Blickfeld gerät, gilt er als verwerflicher „Import von außen“. So warnt der zu Beginn dieses Kapitels bereits erwähnte Georg Fuchs: „sogar Niggertänze werden jetzt importiert“.161 Während auf den beiden ersten Kunsterziehungstagen das Konzept des „freien Ausdrucks“ im Sinne einer „Pädagogik vom Kinde aus“ in den Bereichen Sprache und bildender Kunst durchaus Konturen und weiterwirkende Impulse erhielt, sucht man auf dem dritten Kunsterziehungstag nach ähnlichen Impulsen vergeblich. Das mag zum einen an dem Gegenstandsgebiet selbst liegen. Zum anderen sind auf dem dritten Kunsterziehungstag keinerlei Bemühungen zu erkennen, die angedeuteten Besonderheiten theoretisch zu reflektieren und mit der pädagogischen Forderung nach der Befreiung des kindlichen Ausdrucks oder der Entwicklung seiner schöpferischen Kräfte in Beziehung zu setzen. So finden wir in den Vorträgen der Hamburger Versammlung zahlreiche jener Leitmotive wieder, die Kerbs – siehe oben – für den Bereich der Kunstpädagogik herausgearbeitet hat, jedoch keine didaktischen Neuansätze im Sinne einer „Pädagogik vom Kinde aus“. Im Wesentlichen geht es den Referenten darum, die Kinder und Jugendlichen als Genießende an die bürgerliche Musikkultur heran- und in die Opern- sowie Konzertsäle hineinzuführen, sie dadurch auch „abzuwenden von ordinären Musikgenüssen und Tingeltangeleien“162 und – was Gymnastik und Tanz betrifft – die Erziehung des Körpers und der Bewegung auf Schönheitsideale zu verpflichten, die einer glorifizierten Antike entlehnt und teilweise mit zeittypischen rassistischen und nationalistischen Tönen angereichert sind. Auf der Suche nach Impulsen eines weiterführenden bzw. wegweisenden kunsterzieherischen Diskurses reformpädagogischer Prägung erweist sich der Blick auf den Hamburger Kunsterziehungstag also als unergiebig. Dies mag der Grund dafür sein, dass Lorenzen in seine Quellensammlung zur Kunsterziehungsbewegung zum Bereich „Musik und Gymnastik“ nur wesentlich jüngere Texte aufgenommen hat. Die Texte stammen aus den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts und auch die Auswahlbibliographie enthält fast ausschließlich Hinweise auf Veröffentlichungen jener späteren Zeit. – Ein knapper orientierender Blick auf drei der von Lorenzen aufgenommenen vier Quellentexte soll an dieser Stelle genügen. (Der 160
Lichtwark (1905), in: Pallat, a.a.O. (1929), S.129 Fuchs, Georg (1905): Der Tanz, in: ebd., S.187 162 Barth, Richard (1905): Die Jugend im Konzert und in der Oper, in: Pallat, a.a.O. (1929), S.141 161
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vierte Text, H. Sippel: Leibeserziehung als seelisches Erlebnis, enthält entgegen der im Titel geweckten Erwartung keinerlei kunsterzieherische Impulse.) Alle referierten Texte wurden im Jahr 1928 erstmalig publiziert. Fritz Jöde unternimmt in dem Beitrag „Kind und Musik“ den Versuch, den Bezugspunkt jeglicher musikalischen und rhythmischen Erziehung im Kind selbst aufzusuchen und die Bedingungen aufzuzeigen, unter denen eine anregende Begegnung mit der von Seiten der Kultur respektive des Lehrers an das Kind herangetragenen Musik stattfinden kann. Es geht ihm gleichsam um das Werden der Musik im Kinde. Sie zeigt sich zunächst im schützenden Raum der Familie, den sich Jöde als einen paradiesischen Ort voll „glückhafte(n) Leben(s)“ und durchdrungen von Musik denkt. „Immer wieder musiziert es (das Kind – E.S.) aus sich selbst heraus. Immer wieder singen Eltern und Geschwister alte, liebe Weisen mit ihm. ... Singend kommt das Leben auf das Kind zu, findet Wohnung in ihm und macht, dass es (das Leben – E.S.) hinfort als Klang erscheint, ...“163 So entsteht das, was Jöde die „Musik des Kindes“ nennt. Er denkt dabei nicht an einen Bestand an bestimmten Werken und Liedern für Kinder, sondern an einen „Vorgang im Kinde allein“, der Klang, die Musik im inneren des Kindes, die auch da ist, wenn sie nicht nach außen dringt. Es handelt sich geradezu um ein „ursprüngliches, körperliches Wissen um die Musik“. Dieses ursprüngliche Wissen kann bei der – im übrigen für die kindliche Entwicklung unabdingbaren – Begegnung mit weiterführenden erzieherischen Ansprüchen von Seiten des Erziehers „bald in eine schlimme Verwirrung“ geraten, wenn das Kind „das Unglück (hat), einen Lehrer zu treffen, der es nicht kennt.“ So hat der Lehrer die Aufgabe, „langsam und mit großem Takt ... dem Kinde das Glück dieser neuen Welt“ zu erschließen, es also in die Vielfalt und den Reichtum der musikalischen Welt einzuführen. Als „Glück“ kann das nur erlebt und angenommen werden, wenn die „Musik des Kindes“ nicht zerstört, sondern behutsam mit „dieser neuen Welt“ in Beziehung gebracht wird. Bei dieser Aufgabe nützen dem Erzieher alle musikalischen und psychologischen Kenntnisse nichts, wenn er nicht weiß, „wie man es macht: mit Kindern singen. Da nützt ihm nur eines: sich mit aller Liebe in das Leben des Kindes und der Musik zu versenken, die Grundkräfte beider in sich produktiv werden zu lassen und dann aus der eigenen Mitte heraus zu handeln.“ Für die Schule wünscht sich Jöde gegenüber der bisherigen Einzwängung der Musik in bestimmte wenige Stunden als Teil des „Stückwerk(s) der allgemeinen Bildung“ eine „Durchtränkung der gesamten Schulinhalte mit der Musik in dem Sinne, wie das Kinderleben vor der Schule im Liede mit ihr durchtränkt war.“ Das Leben, das der Lehrer mit seinen Kindern führt, die Erlebnisse, die Ereignisse sollen „in ihren Liedern an den Tag“ kommen; so kann „die Urkraft der Musik“ den „Kräften der Seele“, den „Kräften der Gemeinschaft“ und den „Kräften der Gestaltung“ zugute kommen. In der Konsequenz bedeutet dieser Ansatz die Forderung, die musikalische Erziehung als ein Prinzip der Schularbeit zu verstehen und zu entfalten. – Jöde betont zugleich den Zusammenhang der Musik mit dem ganzen Körper. „Wie das Innere singt, wie der Mund singt, so verlangt es auch den Fuß, der den Körper trägt, mitzusingen im Tanzen und Springen.“ Es führt vom Inneren eine „Brücke in den Körper“ und dies ist der Ansatzpunkt der rhythmischen Erziehung. Damit ist der Ausgangspunkt von Elfriede Feudels Beitrag „Rhythmische Erziehung“ in den Blick gerückt. Als „Idee einer rhythmischen Erziehung“ bestimmt sie unter Bezugnahme auf Fröbels Begriff der „Lebenseinigung“ des Menschen die „gleichmäßige und gleichzeitige Entwicklung der körperlichen, seelischen und geistigen Anlagen des Menschen“.164 Sie wünscht die rhythmische Erziehung als einen „Zentralunterricht“ vor allem in der gesamten 163
Jöde, Fritz (1928): Kind und Musik. Eine Einführung, in: Lorenzen (1969), S.110f (alle weiteren Zitate ebd. auf den folgenden Seiten) Feudel, Elfriede (1928): Rhythmische Erziehung, in: Lorenzen (1969), S.122 (alle weiteren Zitate ebd. auf den folgenden Seiten)
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Grundschulzeit zu verankern, der imstande sei, „auf die natürlichste Weise“ die „heute oft genannte Querverbindung“ zu verschiedenen Fächern herzustellen. Zwar gründet sich „die rhythmische Erziehung ... auf die Musik“, ihre Beziehungen reichen aber in all jene Gebiete, „die den Sinn für Rhythmus zur Voraussetzung haben“. Feudel nennt neben Musik den Zeichenunterricht, den Sprach- und Sprechunterricht sowie das Turnen. In der Schule geht es darum, einem gravierenden Mangel abzuhelfen, indem für den Schüler die Möglichkeit geschaffen wird, „die engen Beziehungen zwischen Geist, Seele und Körper immer wieder zu erleben und sich dadurch seines eigenen Wesens, seiner Fähigkeiten und Hemmungen bewusst zu werden, um von dieser Erkenntnis aus die eigene Persönlichkeit zu entwickeln.“ Aufgabe des rhythmischen Unterrichts sei die Heranbildung des „rhythmische(n) Empfinden(s) in allen Ausdrucksformen“; sein „Arbeitsprinzip ist die geistig-körperliche Selbsttätigkeit und Selbstkontrolle“. Da sich der Unterricht „der Beschaffenheit der Schüler und den Forderungen des Augenblicks anpassen muss“, kann dies nicht durch einen bestimmten zu absolvierenden Vorrat an festgelegten Übungen erreicht werden. Die Autorin nennt ineinandergreifende Gebiete, die jeweils im Dienste bestimmter Erziehungsgrundsätze stehen und die alle dem „Mittelpunkt“ zustreben: „die Lebenseinheit des Menschen zu bewahren“. Diese sind: „Erziehung zur Gemeinschaft. Selbstbehauptung und bewusste Unterordnung in der Gemeinschaft. Eindrucksfähigkeit und Ausdrucksfähigkeit. Disziplinierung geistiger und körperlicher Fähigkeiten. (an anderer Stelle dazu: ‚Überleiten des Bewegungstriebes in den geordneten Bewegungssinn‘ – E.S.) Geschmacksbildung durch künstlerische Formung. Willensbildung und Nervenschulung.“ Feudel stellt ihre Bemühungen, ähnlich wie Lichtwark während der Kunsterziehungstage, in den Horizont einer bis heute nicht erreichten und wohl auch nicht erreichbaren Vision einer „allgemeinen Kunsterziehung“: „Sollten wird in der Volksschule einmal zu dem Begriff einer allgemeinen Kunsterziehung kommen, einer Erziehung zu dem, was in der Kunst über alles Besondere, alles Sachliche hinausgeht, so würde eine solche Erziehung nur auf dem Boden der Rhythmik erwachsen können.“ Georg Götsch spürt in seinem Beitrag „Kindertanz“ der besonderen Form der kindlichen Bewegung nach. „Er (der Erwachsene – E.S.) ‚macht‘ Bewegungen. Das Kind ist dagegen wie ein ungebändigter Gebirgsbach. Es ‚ist in Bewegung‘“.165 „Bewegung ist die reichste Freudenquelle des Kindes und seine echte Lebensäußerung. Es kennt wie die Tiere noch keinen Unterschied zwischen Innen und Außen. Was in ihm lebt, wird unmittelbar in seiner Haltung sichtbar.“ Götsch wendet sich gegen eine „Intellektualisierung des Körpers“, gegen eine Systematisierung „unser(es) körperlichen Lebens“, wie sie in manch einseitigen Formen des Turnens und der Gymnastik zum Ausdruck komme, wenn Einzelbewegungen zusammengefasst und dann nacheinander auf Kommando ausgeführt werden. So werde kein „Körpersinn“ entwickelt. „Das ist kein Weg nach Delos und Olympia. Den findet eher eine neue KörperHeiterheit.“ Dieser Weg müsse damit rechnen, dass das Kind nicht zu „beseeltem Ausdruck“ (etwa durch die Pflege des Volkstanzes) erzogen zu werden braucht, da seine innere Welt, im Gegensatz zur Welt des Erwachsenen, „noch nichts Entseeltes“ kenne; „also brauchen sie nichts zu beseelen“. Wie Jöde für den Bereich der Musik fragt Götsch nun nach der „besondere(n) Tanzwelt“ des Kindes. Er konstatiert beim Kinde – im Gegensatz zum „Erlebnishunger“ der Erwachsenen – einen „Formenhunger“, der in Spiel, Bewegung, Tanz gestillt werden müsse. „Hat der Kindertanz ebenso seine Gesetze wie das Kinderlied? Ich meine, sein Wesen liegt wie beim pentatonischen Kinderlied im Figürlichen, Ichabgewandten, Unendlichen. Al165
Götsch, Georg (1928): Kindertanz, in: Lorenzen (1969), S.126 (alle weiteren Zitate ebd. auf den folgenden Seiten)
Arbeit und Kunst 161
len Spielen und Tänzen liegen immer wieder einfache Figuren zugrunde: Kreis, Spirale, Viereck, Schlange. Der objektive Raum scheint die spielenden Kinder am meisten anzuziehen. Jede Form erweckt ihre Freude und Neugier.“ An dieser Stelle soll die fachdidaktische Tragfähigkeit dieser Verlautbarungen nicht näher untersucht werden. Im vorliegenden Zusammenhang bemerkenswert erscheint mir – insbesondere bei Götsch und Jöde – der Versuch, pädagogische Gesichtspunkte zentral auf Vorstellungen vom Kindsein zu gründen; Vorstellungen, die im Übrigen in ihrer romantisierenden (Jöde) und naturalistischen (Götsch) Tendenz einer kritischen Beurteilung nicht standhalten können. Bei beiden handelt es sich um gemäßigte fachdidaktische Varianten einer „Pädagogik vom Kinde aus“. Bei Feudel zeigt sich unter Bezugnahme auf Fröbel das reformpädagogische Motiv der Ganzheitlichkeit, der Erziehung des „ganzen Menschen“. Allen gemeinsam ist die Betonung der Selbsttätigkeit des Kindes. All das zeigt einen gewissen Fortschritt der Diskussion im Vergleich zum Hamburger Kunsterziehungstag. Anders als im Bereich Bildende Kunst und Sprache ist es aber auch hier nicht gelungen, Ansätze eines neuen Begriffs der Kreativität respektive des selbsttätigen schöpferischen Gestaltens im Bereich Musik und Bewegung zu entwickeln.
2.5 Zu Umfang und Wirkungen der Kunsterziehungsbewegung Kerbs betont, dass die Kunsterziehungsbewegung eingebunden ist in eine weitaus größere, über die Schule hinausreichende und gegen die Übel der Zeit gerichtete Bewegung zur ästhetischen Neugestaltung des Lebens und der Umwelt. Ihr erster Monograph, Johannes Richter, sieht im Jahre 1909 die Erziehung „mit dem Bewusstsein“ erfüllt, „zur Lebensreform, zur Daseinserneuerung berufen zu sein, sie fühlt sich als Instrument der geheimen Erlösungssehnsucht der Zeit.“ Und er sieht die Heraufkunft eines Zeitalters von „Einigung und Frieden als letztes Ziel der künstlerisch gerichteten Gegenwart ..., es geht aufwärts und vorwärts: so heißt die frohe Botschaft, die der Kunsterziehungsgedanke der Gegenwart und insbesondere den Deutschen verkündet.“166 Neben den „schulpädagogischen“ sind es die „volkspädagogischen Bestrebungen“, die in gleicher Richtung an dieser großen „Kulturaufgabe“ wirken. Richter stellt auch diese Bestrebungen ausführlich dar: „die Versuche der Wiederbelebung alter, bäuerlicher Volkskunst; die kunstpädagogischen Intentionen von Museen und Kunstvereinen; die Bemühungen um eine ästhetische Verbesserung des Alltagslebens (dabei erwähnt er Möbel und Kleidung, Bilderbuch und Spielzeug, aber auch Plakate, Münzen und Briefmarken, schließlich die Fortschritte der Photographie und der Reproduktionstechnik); Volksunterhaltungsabende (Musik, Theater, Variété); Volksbüchereien für Jugendliche und Erwachsene; schließlich widmet er einen eigenen Abschnitt der Handfertigkeitserziehung und den bereits damals sehr aktuellen Problemen der Denkmalspflege und des Naturschutzes.“167 Man habe sich bei all dem allerdings – so Kerbs – auf das „Beklagen und Kurieren der Symptome“ beschränkt, da radikalere „Grundsatzfragen wohl auch die ökonomische Basis des gebildeten Bürgertums mit hätte in Zweifel ziehen müssen“.168 Das heißt: die Entfaltung des ästhetischen Gewissens diente als Ersatz und Abwehr eines etwa von der Arbeiterbewegung längst angemahnten sozialen Gewissens. Dass die illusionären nationalen, kultur- und wirtschaftspolitischen Zielsetzungen durch all diese Bestrebungen nicht realisiert werden konnten ist offensichtlich. Auch konnte sich die 166
Richter, Johannes (1909): Die Entwicklung des kunsterzieherischen Gedankens. Als Kulturproblem der Gegenwart nach Hauptgesichtspunkten dargestellt, Leipzig: Quelle & Meyer; hier zitiert nach: Kerbs (1976), S. 86,87 167 Kerbs (1976), S.86 (A.a.O. bringt Kerb eine ausführliche Zusammenfassung von Richters Monographie.) 168 Kerbs (1998), a.a.O., S.369
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Kunsterziehung weder als (schöpferisches) allgemeines Prinzip der Schularbeit allgemein durchsetzen noch hatte die Bewegung eine nennenswerte quantitative Ausweitung der musischen Fächer zur Folge. „Auf der Reichsschulkonferenz“ nach dem Ersten Weltkrieg, so Kerbs, „in der 1920 um ein fortschrittliches Schulwesen für die Weimarer Republik gestritten wurde, spielte die Kunsterziehungsbewegung schon keine bestimmende Rolle mehr.“169 Die „künstlerischen Fächer“ wie die Kunst selbst blieben letztlich ein Luxusprodukt und in der offiziellen Wertschätzung eine Nebensache, die den wissenschaftlichen Fächern bzw. den sogenannten „Hauptfächern“ keinerlei Terrain abgewinnen konnten. Trotz dieser im Vergleich zu ihren eigenen Ambitionen relativ geringen Wirksamkeit habe, so Kerbs, die Kunsterziehungsbewegung bemerkenswerte Impulse ausgelöst: x x x x x
„Sie hat die überfällige Kritik an der alten Lernschule geübt, die dem Kind seine geistige und körperliche Bewegungsfreiheit verweigerte und seine schöpferischen Potentiale brachliegen ließ, sie hat die sinnliche Wahrnehmung an die Stelle des Buchstabenwissens, das Selbertun an die Stelle des Nachbetens und die Erfindung an die Stelle der Nachahmung gesetzt, sie hat Einsichten in die sozialisierende Wirkung einer gesunden und gut gestalteten Wohnumwelt vermittelt und den Schulbau in hygienischer und ästhetischer Hinsicht verbessert, sie hat die künstlerische Kreativität des Kindes, sein eigenständiges Ausdrucksvermögen in den Blickpunkt des pädagogischen Interesses gerückt, und sie hat die Bedeutung der ästhetischen Bildung für die nachwachsenden Generationen, somit für das kulturelle Profil der Gesellschaft und für das künftige Verhältnis von persönlicher und sozialer Kultur bewusst gemacht.“170
Die Frage nach den Wirkungen der Kunsterziehungsbewegung auf die Schulen der Reformpädagogik verdient einen eigenen Hinweis. Hier wurde und wird in je eigener Begründung, Gewichtung und Gestalt, dem Gedanken der Kreativität, des freien künstlerischen einschließlich des sprachlichen Ausdrucks sowie der ästhetischen Gestaltung der Schule und des Schullebens vielfach ein hoher Stellenwert zugebilligt, und zwar ganz gleich, welcher politischen Orientierung sich die Gründerpersönlichkeiten zugehörig fühlten.171 – Zusammen mit Ideen der Kultur- und der traditionellen Schulkritik, der Lebensreformbewegung(en) sowie der Arbeitsschule bildet die – mit jenen Bestrebungen ja vielfach verschränkte – Kunsterziehungsbewegung einen bunten Motivhintergrund, dessen einzelne Momente in den Schulkonzeptionen der Reformpädagogik als konzeptionell anverwandelte „Bausteine“ häufig wieder erkennbar sind. Das gilt in einem hohen Maße insbesondere für die „Landerziehungsheime“, deren Entstehungsgeschichte durch die Biographien ihrer Gründergestalten mit diesem Hintergrund eng verwoben ist.
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Ebs., S.375 Kerbs, a.a.O. (1998), S.375f Hamann, Albert (1997): Reformpädagogik und Kunsterziehung: Ästhetische Bildung zwischen Romantik, Reaktion und Moderne, Innsbruck-Wien: StudienVerlag; Rohde, Ilse (1997): Heinrich Vogeler und die Arbeitsschule Barkenhoff: Ein Beitrag zur Historiographie der Reformpädagogik, Frankfurt am Main u.a.O.: Peter Lang (Vogeler war ein anerkannter, von den Idealen des Kommunismus beseelter Künstler); Kreuzer, Karl (1988): Jugendstil und Reformpädagogik, München: Profil
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Landerziehungsheime 163
Kapitel 5
Landerziehungsheime und verwandte Einrichtungen – Erziehung als Leben und Lernen in einer eigens gestalteten Welt Ein ambitionierter Erzieher mag angesichts des vermeintlichen oder tatsächlich nachweisbaren Scheiterns bisheriger Erziehung und Bildung von dem Gedanken fasziniert sein, die Bedingungen des Aufwachsens soweit kontrollieren zu können, dass das „Gute“ bestmöglich gefördert und das „Schlechte“ ferngehalten wird oder völlig verbannt ist. In jeder Art von erzieherischer Einflussnahme sind beide Intentionen in offener, regelhafter Form oder subtil vermittelt vorhanden. Jede Erziehungsumwelt ist eben als solche schon in einem gewissen Maße eine „eigens gestaltete Welt“, eine Welt mit eigenen Gesetzen des Zusammenlebens und des Lernens (sowie einer mehr oder weniger verborgenen und vom Erzieher bekämpften Subkultur des Widerstands auf Seiten der Zöglinge). Die Kennzeichnung „Eigenwelt der Erziehung“1 trifft nun für die Landerziehungsheime und für strukturell verwandte Einrichtungen in besonderer Weise zu, da in ihnen durch den Heimcharakter eine Distanz sowohl zur Familie wie zum normalen gesellschaftlichen Umfeld geschaffen ist. Während die häusliche oder schulische Erziehung wegen ihrer Offenheit gegenüber angrenzenden sozialen Räumen und ihrer zeitlichen Limitierungen dem „Idealbild“ einer allseits kontrollierten Erziehung nicht entsprechen können, scheint die Konstruktion einer relativ geschlossenen Welt mit geregelten Außenbeziehungen, Außenkontakten und Exkursionen, einer Welt, in der die Kinder und Jugendlichen Tag und Nacht verbringen, den größeren Erfolg zu verbürgen. In ideen- und realgeschichtlicher Sicht können die „Landerziehungsheime“ auf zahlreiche Vorläufer zurückblicken, in deren Tradition sich manche der Gründerpersönlichkeiten sehen. Hier sind u.a. zu nennen: der Gedanke eines „Erziehungsstaates“ bei Platon (in den „nomoi“) und Fichte („Reden an die deutsche Nation“), die „Pädagogische Provinz“ in Goethes „Wilhelm Meister“, die verschiedenen Schulgründungen der Philanthropen (genannt „Philanthropine“) in der Zeit der Aufklärung und schließlich auch die Gründungen von Pestalozzi und Fellenberg in der Schweiz sowie Fröbel in Thüringen (Keilhau) im 19. Jahrhundert.2 Hermann Lietz, der Begründer des ersten „Deutschen Landerziehungsheims“ (1898) stellt seine eigenen Bemühungen ausdrücklich in die Reihe der „Orden und Gemeinschaften früherer Zeit“, „die sich doch fast alle mehr oder weniger erzieherischen Aufgaben widmeten“. Er fordert ein Gelübde vom Erzieher, das durchaus einer strengen Ordensregel voll hoher Ideale ähnelt. Man kann also die „Landerziehungsheime“ als klosterartige Erziehungseinrichtungen betrachten, freilich mit dem säkularen Zweck der Jugenderziehung „zum Besten des einzelnen wie der Nation“ nach „neuen“ erzieherischen Grundsätzen3. – Der ersten Lietzschen Gründung folgen bald weitere Gründungen, sowohl durch ihn selbst wie durch ehemalige Mitarbeiter, die dann eigene neue Akzente setzen. Das eigentliche und unmittelbare Vorbild der ersten deutschen – und der ersten französischen – Gründung und damit die „Mutterschule“ der Landerziehungsheime überhaupt ist die von Cecil Reddie 1889 in England gegründete „New School Abbotsholme“. Schon der Name verweist einerseits auf den strengen Charakter der Einrichtung – bei den umgewidmeten Gebäuden handelt es sich um ein ehemaliges Kloster, eben „Abbot‘s Home“, die „Heimstätte des Abtes“ – , anderseits signalisiert die Kennzeichnung „New School“ eine Abwendung von den Formen und Inhalten der traditionellen Erziehung in englischen Internaten. Es handelt sich 1
Hohmann, Manfred (1966): Die Pädagogische Insel. Untersuchungen zur Idee einer Eigenwelt der Erziehung bei Fichte und Goethe, Wyneken und Geheeb, Ratingen bei Düsseldorf: A. Henn Verlag 2 Vgl. „Landerziehungsheime“, in: Lexikon der Pädagogik, Bd. II, Bern 1951: A. Francke AG, S. 111 3 Lietz, Hermann (1997/1897): Emlohstobba. Roman oder Wirklichkeit? Bilder aus dem Schulleben der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft?, Heinsberg: Dieck, S.56
164 Reformpädagogik
um eine Schule für Jungen der „directing classes“, der führenden Schichten der Nation. Bereits Reddie schlägt bei seinen Zielvorgaben den hohen Ton an, der weit über die bescheideneren Zwecke einer Ertüchtigung für das Leben der Gegenwart hinausreicht, einen Ton, der die Rhetorik aller ähnlichen Gründungen in England und anderswo – sodann mit je eigenen Akzenten: national, kulturrevolutionär, libertär-provokativ, sozialistisch-revolutionär, demokratisch ... – bestimmen wird. Ihm geht es in seinem „Educational Laboratory“ um nichts weniger als die Herausbildung eines „higher type of human being“, das in der Lage sein soll, einen „gesünderen Typ einer menschlichen Gesellschaft“ zu entwickeln.4 Wir finden also hier die beiden Grundmotive jeder Rettungspädagogik: über die Herausbildung des neuen Menschen wird eine neue, bessere Gesellschaft anstrebt. Das säkular gewendete Messias- und das Paradiesmotiv sind, wie bereits weiter oben deutlich wurde, begleitende Momente der reformpädagogischen Debatte. Sie erscheinen immer wieder in je unterschiedlichem, den jeweiligen weltanschaulichen und pädagogisch-anthropologischen Hintergrund spiegelnden Gewandt. Es sind nicht zuletzt diese Motive, die die Attraktivität der reformpädagogischen Konzeptionen auf den Orientierung suchenden Zeitgenossen mitbegründen. – Ähnlich wie in Deutschland finden in einem Prozess der Adaption und Kritik parallel auch in England Neugründungen statt. Selbst die nach anarchistisch-libertären Grundsätzen arbeitende Schule Alexander S. Neills, „Summerhill“, kann in dieser Reihe gesehen werden. Von letzterer gingen, wie in dem Kapitel über die „Freien Alternativschulen“ noch deutlich werden wird, wichtige Reformimpulse aus, die bis in die Gegenwart hineinwirken. In Frankreich wird die Rezeption Reddies und die entsprechende Schulgründung „École des Roches“ 1899 mit einem imperialistischen Konkurrenzmotiv verbunden, das die weltweite Vorherrschaft der Engländer ins Auge fasst. Edmond Demolins veröffentlicht 1897 ein Buch mit dem Titel „A quoi tient la Supériorité des Anglo-Saxons“ (Paris: Firmin-Didot „Über die Gründe der Überlegenheit der Angelsachsen“). Es erlebt in kurzer Zeit mehrere Auflagen und die englische Übersetzung wird ein Jahr später als „The Book of the Year“ gefeiert5. Ironisch aber zutreffend schreibt ein englischer Kritiker, dass der Titel des Buches frei übersetzt werden könne mit „Why have the English a greater Colonial Empire than the French or the Germans?“6 Die tieferliegenden Gründe für das imperiale Ungleichgewicht werden in erster Linie in der Überlegenheit des englischen Erziehungssystems gesehen und in der Resistenz gegenüber sozialistischen Tendenzen in der englischen Gesellschaft. Als leuchtendes Beispiel für diese Überlegenheit wird ausgerechnet die von Reddie als Reformmodell gegen das englische Schulwesen gerichtete „New School Abbotsholme“ herausgestellt. Bald folgt das zweite Buch Demolins‘: „L‘Éducation nouvelle. L‘École des Roches“ (o.J., Paris: FirminDidot, erschienen 1898), welches nun u.a. eine ausgearbeitete Erziehungskonzeption vorstellt, die sich weitgehend an Abbotsholme und der „New School Bedales“ (gegründet von John Haden Badley, einem ehemaligen Mitarbeiter Reddies) orientiert. Hier werden dann aber auch eigene Akzente sichtbar; doch davon später. – Ähnlich wie in England und Deutschland gehen auch von der „École des Roches“ Impulse zu französischen Neugründungen aus. Die Entwicklung erfolgt hier allerdings weitaus weniger dynamisch. Reddies „New School Abbotsholme“ (1889), das erste Lietzsche „Deutsche Landerziehungsheim Ilsenburg am Harz“ (1898) und Demolins‘ „École des Roches“ (1899) können in internationaler Sicht als die Pionierschulen der Landerziehungsheimbewegung angesehen werden. Ihr Einfluss ist freilich weniger an der Zahl der Folge- und Neugründungen abzulesen – sie dürfte über die Jahrzehnte betrachtet in ganz Europa kaum jemals die Zahl von 100 (einhundert) erreicht haben – , als in der ihnen zu Teil werdenden breiten öffentlichen Aufmerksam4
Reddie, Cecil (1900): Abbotsholme 1889 – 1899 or Ten Years‘ Work in an Educational Laboratory, London: George Allen, S.16 Vgl. ebd., S.498 6 Ebd., S.556 5
Landerziehungsheime 165
keit. Dadurch wurde eine pädagogische Debatte angeregt, die in ihrem Ideengehalt zwar nicht neu war, nun aber durch eine radikale Rhetorik und das praktische Beispiel wirksame Impulse zur Erziehungs- und Schulreform brachte. Zu nennen sind etwa Impulse zur Modernisierung des Lehrplans, zur Herausbildung eines „ganzheitlichen“ Begriffs von Erziehung, zur Einführung von Unterrichtsformen, die die Eigenaktivität des Schülers herausfordern (Erziehung durch körperliche Arbeit, breite künstlerische Betätigung), zur Entwicklung von interessenund leistungsdifferenzierenden Formen des Unterrichts und zur „Inneren Schulreform“ (Schullebengestaltung, Formen der Mitverantwortung und Mitentscheidung). Ellen Key nennt in ihrem weitverbreiteten Buch „Das Jahrhundert des Kindes“ (1900) z.B. ausdrücklich die Erziehungsgrundsätze von Abbotsholme als beispielhaft. Dessen elitären Anspruch und die Form der Heimerziehung hält sie aber als Modell einer Reform des Schulwesens insgesamt für völlig ungeeignet – und verweist somit auf eine unüberbrückbare Einflussgrenze überhaupt. Mit dem Hinweis auf diese drei Pionierschulen mit ihren Folgegründungen ist das Feld der Landerziehungsheime und verwandter Einrichtungen noch nicht hinreichend abgesteckt. Ihre gesellschaftspolitischen Intentionen sind national-konservativer oder konservativ-revolutionärer Natur; sie gehören dem „bürgerlichen Lager“ an. Ergänzend muss auf die Gründungen und das Wirken sozialistischer Pädagoginnen und Pädagogen hingewiesen werden. Ihre gesellschaftspolitische Stoßrichtung ist auf die Beseitigung der Klassengegensätze und die Etablierung einer gerechten, egalitären Gesellschaft gerichtet. Manche sehen ihre pädagogische Arbeit als Arbeit und Vorbereitung der Revolution an. In einer ihnen über weite Strecken feindlich gesinnten Gesellschaft und in erster Linie bezogen auf die ärmeren Schichten der Gesellschaft, konnten sie nicht annähernd das Maß an Wirksamkeit entfalten, wie die „bürgerlichen“ Schulen. Als Beispiel einer solchen Schule soll hier das Landerziehungsheim Walkemühle mit ihrem Gründer Leonard Nelson sowie insbesondere dessen herausragende Leiterin Minna Specht erwähnt werden. (Am Rande wird in den folgenden Abschnitten noch auf weitere sozialistische Initiativen hingewiesen, auch in den Kapiteln über die Freien Alternativschulen und über Célestin Freinet.) All diese Initiativen artikulieren in ihrer Entstehungszeit ein weit verbreitetes pädagogisches sowie politisches Unbehagen und wenden es pädagogisch durch die Schaffung einer Eigenwelt der Erziehung. Trotz der unterschiedlichen gesellschaftspolitischen Intentionen ist hinsichtlich der erzieherischen Formen eine weitgehende Übereinstimmung festzustellen. Es handelt sich um die „Erziehung“ – des wie auch immer gedachten „ganzen“ Menschen – auf dem „Land“ – das heißt fern von den „verderblichen“ kulturellen und gesundheitsschädigenden Einflüssen der Großstadt – in einem familienähnlich strukturierten „Heim“ – als geeigneter Ersatzform für die Familie und als Modell einer zukünftig besseren Welt. Sie schöpfen gleichzeitig aus dem seinerzeit bestehenden Repertoire an fortschrittlichen pädagogischen wie psychologischen Ideen (Aktivitätspädagogik, Psychologie des Kindes und Jugendlichen) sowie gesellschaftsreformerischen Ansichten aus dem Umkreis von Lebensreform und Kulturkritik (Ernährungsreform, Kleiderreform, Wertschätzung der Handarbeit gegen industrielle Entfremdung, „open-air-life“, Siedlungsgedanke u.a.). In der Totalität ihrer Welt, als solche entzogen der ständigen staatlichen Kontrolle und durch diverse Selektionsmechanismen abgeschirmt von manchen gesellschaftlich bedingten pädagogischen Problemen, nehmen sie gleichwohl verbreitete Tendenzen dieser Gesellschaft auf und geben ihnen eine pädagogische Form. Durch eine oftmals geschickt inszenierte Publizität und dem (in manchen der noch bestehenden Einrichtungen bis heute nicht abreißenden!) Strom von Besuchern und Hospitanten werden sie gleichzeitig zu Transmissionsriemen eben dieser Ideen und Tendenzen in eine breitere pädagogische Öffentlichkeit.
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Letzteres gilt auch für neuere Entwicklungen. Während die Landerziehungsheime von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen in der Nachkriegszeit die pädagogische Debatte nur wenig beeinflussten, gingen in den siebziger Jahren von neuen dänischen Schulgründungen unter den Leitbegriffen „Ökologie“ und „Gerechtigkeit für die Dritte Welt“ vielbeachtete pädagogische Initiativen aus. Auch hier waren es – der Form nach – „Landerziehungsheime“, die innerhalb ihres geschützten und privilegierten Raumes gesellschaftliche Tendenzen noch radikaler als außerhalb artikulieren und pädagogisch umsetzen konnten. Diese dänische Besonderheit soll in einem Exkurs vorgestellt werden. Die „Efterskoler“ („Nachschulen“) gehen im Ursprung auf eine religiöse und national-konservative Erneuerungsbewegung des 19. Jahrhunderts zurück, stehen also historisch nicht in einem Zusammenhang mit den oben erwähnten Einrichtungen. Auf nationaler Ebene haben diese heute etwa 200 Schulen inzwischen eine herausragende Bedeutung als schulische Alternative der letzten zwei bis drei Schuljahre der neun- bis zehnjährigen dänischen Gesamtschule gewonnen.
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Cecil Reddie und die „New School Abbotsholme“
Wollte man eine einzelne Persönlichkeit als „Urheber der englischen Erziehungsreform im 20. Jahrhundert“ ausfindig machen, so gebührte dieser Titel nach dem Urteil W.A.C. Stewarts Cecil Reddie, dem Gründer von Abbotsholme.7 Geboren wird er 1858 in eine große Familie in London als sechstes von insgesamt zehn Kindern. Seine Mutter starb bei der Geburt ihres zehntes Kindes. Cecil Reddie ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht neun Jahre alt. Der Vater, ein höherer Verwaltungsbeamter und gebürtiger Schotte, starb vier Jahre später. Es mag dieser frühe Verlust der Eltern gewesen sein und der daraus resultierende „hunger of the heart“8 der ihn sich eng an die Lehrer und Mitschüler des Jungeninternates in Edinburgh („Fettes College“) anschließen lässt. Er besucht dieses nach dem Vorbild englischer Privatschulen neu gegründete Internat – nun in der Obhut eines Onkels in Schottland – ab seinem sechsten Schuljahr sechs Jahre lang bis zu einem Alter von fast 20 Jahren mit beachtlichem Erfolg in fast allen Fächern. Es sind indessen nicht die Inhalte des schulischen Lernens, die Reddie im Rückblick auf diese Zeit faszinieren – tatsächlich kritisiert er später vehement deren intellektuelle Einseitigkeit und Lebensferne: „we wanted bread, we received too often mere stones“9 –, sondern das besondere Vertrauensverhältnis zwischen Lehrern und Schülern sowie den Schülern untereinander. Reddie berichtet von der Freundschaft zu einem jüngeren Mitschüler, durch die ihm eine Integration der bis dato als absolut getrennt erlebten Bereiche seines mentalen und emotionalen Lebens gelingt. Der Wunsch, diesen Jüngeren zu erziehen und die Freude an der Wissensvermittlung erweckt in ihm eine vorher nie gefühlte „passion for knowledge“10. Er erprobt gleichsam schon jetzt seine spätere pädagogische Berufung, nämlich Kindern und Jugendlichen als väterlicher, liebender Freund zu begegnen. Dieses freundschaftlichpädagogische Verhältnis zu einem Jüngeren erhält in Reddies Erinnerung den Status eines Schlüsselerlebnisses. Der jüngere Freund habe ihn Jahre später davon überzeugt, den Versuch zu wagen, Erzieher zu werden. Daneben ist es der Ort der Schule selbst, der Reddie fasziniert. Mit ihren stattlichen Gebäuden auf großem Grund, in der Nähe einer der „schönsten Städte der Welt“ und inmitten einer weiten Landschaft gelegen, schafft die Schule eine „Atmosphäre der Würde und Kultur und eines freien und offenen Lebens“. Beide Komponenten des jugend7
Stewart, W.A.C. (1968): The Educational Innovaters. Volume II: Progressive Schools 1861-1967, London: Macmillan & Co LTD, S.243. Der Abschnitt über Abbotsholme und C. Reddie stützen sich in der Hauptsache auf die Darstellung Stewarts und auf Reddie (s.o.): Abottsholme 8 Vgl. Reddie a.a.O. (1900), S. 5f 9 Ebd., S.18 10 Ebd., S.10
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lichen Erlebens – die besonders engen und freundschaftlichen sozialen Beziehungen in der Schulgemeinschaft und der besondere Ort der Schule – sind Reddie zum Vorbild für seine eigene Gründung geworden. Im Lehrplan selbst und in der Organisation des Schullebens sucht er freilich neue Wege, auf denen Geist und Gemüt sich begegnen und schließlich einen „höheren Typ des menschlichen Wesens“ schaffen sollten. Der andachtsvolle Ort der „chapel“, der Kapelle, ist ein bevorzugter Ort dieser Begegnung im Schulleben von Abbotsholme. Seine Studienjahre beginnt Reddie an der Universität Edinburgh mit dem Fach Medizin, wechselt aber bald zu Chemie. Sein intellektuelles Interesse geht jedoch über die Naturwissenschaften hinaus. In den Jahren 1880/81 kommt er in Kontakt mit utopischen Ideen der Frühsozialisten, und zwar vermittelt über den bekanntesten Interpreten des politischen Marxismus in England H.M. Hyndman. Nach seinem „Bachelor of Science“ 1882 erhält Reddie ein Stipendium zum Studium der Chemie und Chemischen Pharmazeutik an einer europäischen Universität seiner Wahl. Seine Wahl fällt auf Deutschland und Göttingen, wo er 1884 seine Dissertation in deutscher Sprache vorlegt und zum „Dr. phil.“ promoviert wird. Neben seinen eigentlichen Fachstudien widmet sich Reddie in Göttingen auch dem Studium des Sozialismus Marx’scher und Engels’scher Prägung, indem er entsprechende Vorlesungen besucht. Für die Zeit von 1880 bis 1888 soll Reddie nach den Worten von Findlay ein „red-hot Socialist“ gewesen sein, danach vollzieht er eine aristokratische, letztlich auch demokratiefeindliche Wende. Im Jahr 1884 kehrt Reddie zurück nach Schottland und arbeitet zunächst als wissenschaftlicher Demonstrator an der Universität Edinburgh, danach ein Jahr als Chemielehrer in Fettes College, dem Internat, dem er selbst als Schüler angehörte. Es folgt eine zweijährige Lehrtätigkeit in den Naturwissenschaften in Clifton, eine Privatschule bei Bristol, die neben den klassischen Studien den Naturwissenschaften einen breiten Raum gewährt. Der Versuch, die Leitung einer neu gegründeten „day school“ (Tagesschule ohne Internat) in London zu übernehmen, schlägt fehl. Seine reformerischen Intentionen, die er mit dieser Bewerbung verbunden hatte, gibt er indessen nicht auf und in ihm reift die Idee, selbst eine Schule zu eröffnen, „in which our dreams ... might ... find fulfilment“11. Diese Idee steht in engem Zusammenhang mit seiner Mitgliedschaft in der „Fellowship for a New Life“. Reddie gehört dieser kommunitäre und sozialistische Ideen vertretenden Vereinigung seit seiner Rückkehr 1884 nach Schottland an und seine Schulgründung wird von ihr gefördert. Die Schule wurde zunächst sogar als „A Fellowship School“ angekündigt. Sie wird im Oktober 1889 in Rocester, Derbyshire an den Ufern des Flusses Dove eröffnet. Reddie erfüllt beim Aufbau und der Leitung seiner „New School“ die Hoffnungen der Fellowship allerdings nicht – er lehnt demokratische Entscheidungsstrukturen ab und brüskiert damit die beiden Mitbegründer, Miteigentümer und Kollegen. Das führt zum Bruch mit den beiden Gründungskollegen, nach deren Weggang Reddie seine Rolle als „Monarch von Abbotsholme“ zeit seines Berufslebens bis 1927 fast unangefochten spielen kann. Nach seinem Rückzug aus Abbotsholme im Jahre 1927 (die Schule war zu diesem Zeitpunkt heruntergewirtschaftet und hatte nur zwei Schüler) zieht er in die „Welwyn Garden City“, die – in Abkehr vom großstädtischen Leben – im Zuge der „Gartenstadt-Bewegung“ gegründet worden war. Das kann als eine partielle Rückkehr zu den eigenen lebensreformerischen Tendenzen seiner Jugend angesehen werden. (Die „Fellowship of the New Life“ integrierte später auch Prinzipien der „Garden City Movement“.) Reddie lebt dort bis zu seinem Tode im Jahre 1932. Reddies Liebe zu Deutschland verdient eine besondere Erwähnung, da sie sowohl sein pädagogisches Denken und Handeln wie auch seinen späteren Einfluss in Deutschland (über Lietz vermittelt) und von dort weiter in andere Länder betrifft. Reddie bewundert zeitlebens – vorbehaltlos und im Urteil auch durch die Kriegsereignisse kaum erschüttert – die deutsche Kultur, das „überragende intellektuelle Leben und die soziale Ordnung“, „die intellektuelle Frei11
Reddie, zitiert nach Stewart (1968), a.a.O., S.9
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heit und das klare Wissen des Deutschen“12. Sein extrem idealisiertes Deutschlandbild benutzt er als Folie zur Anprangerung des angeblich engen Horizonts und der Ignoranz des Briten. Die strenge Ordnung des Schul- und Heimlebens in Abbotsholme, das durch ein später vielfach kritisiertes Schüler-Präfektensystem gestützt wird, mag auf die in Deutschland erlebte Ordnungsliebe und Disziplin verweisen, wohl aber auch der Abwehr seiner eigenen chaotischen Charakterzüge geschuldet sein. Ein im engeren Sinne schulpädagogischer Einfluss von deutscher Seite kommt aus der Universität Jena. Reddie war von einem zweiwöchigen Aufenthalt an der Universitätsübungsschule von Wilhelm Rein im Jahre 1893 (also wenige Jahre nach seiner eigenen Schulgründung) dermaßen beeindruckt, dass er die eigene Schularbeit im Sinne Reinscher Grundsätze umgestaltete. Bei seinem Besuch lernte er Hermann Lietz kennen, seinerzeit Lehrer an der Jenaer Universitätsschule, dem er einen einjährigen Aufenthalt in Abbotsholme ermöglichen konnte. In seinem Erziehungsroman „Emlohstobba“ (Anagramm von Abbotsholme) verarbeitet Lietz seine Erfahrungen. Reddies Schule wird durch dieses Buch in weiten Kreisen der deutschsprachigen Öffentlichkeit bekannt, womit Lietz gleichzeitig den Weg für seine eigenen Heimgründungen ebnet. Reddie betrachtet Lietz als einen treuen Nachfolger und nimmt das genannte Lietzsche Werk als authentische Beschreibung seiner eigenen Schule in einer vollständigen englischen Übersetzung in seinem Buch „Abbotsholme“ (1900) auf. Will man die Einflüsse auf Reddies Weltanschauung und Erziehungsdenken genauer beschreiben, müssen drei Persönlichkeiten genannt werden, die auch dem engeren oder weiteren Kreis der „Fellowship of the New Life“ angehören: (a) J. Archibald Campbell, (b) Patrick Geddes und (c) J. Edward Carpenter, der bereits in dem Kapitel zur Zivilisations- und Kulturkritik gewürdigt wurde. Die „Fellowship“ suchte eine praktische sozial-reformerische und politische Anwort auf die Probleme des großkapitalistischen, auf Ausbeutung nach innen (Ausbeutung der Arbeitskraft) und außen (Kolonien) beruhenden Industriezeitalters. Zu den Schattenseiten des häufig als glorreich angesehenen Viktorianischen Zeitalters gehörten u.a.: die Klassengegensätze; das Massenelend in den Städten; die Mechanisierung und Entfremdung der Arbeitskraft mit der Folge eines, vor allem von Kunstkritikern beklagten, Niedergangs von Qualität und Form der Industrieprodukte; die Landflucht und der Zerfall traditioneller sozialer Bindungen; die gravierenden Umweltprobleme in den Industrieregionen. Der Hauptinitiator zur 1883 erfolgten Gründung der „Fellowship of the New Life“ war der Schotte Thomas Davidson.13 Davidson war von der karitativ und seelsorgerisch tätigen katholischen Ordenskongregation der Rosminianer (benannt nach ihrem Gründer Graf von Rosmini-Serbati, 1797-1855), tief beeindruckt. Deren Gemeinschaft in Domodossola (Norditalien) besuchte Davidson häufig. Ihre spirituellen Werte und ihr den Dingen des täglichen Bedarfs zugewandtes einfaches Leben waren ihm eine Inspirationsquelle zur Lebens- und Gesellschaftsreform im Allgemeinen. Die „Fellowship“ entwickelte sich rasch zu einer recht heterogenen Gruppe, in die auch – zum Leidwesen Davidsons – sozialistisches und kommunistisches Gedankengut Eingang fand, – so dass ein führendes Mitglied der Gruppe später sagen konnte: „In ökonomischer Hinsicht sind wir Sozialisten; in unserem (Lebens-)Ideal sind wir Kommunisten; in politischer Hinsicht sind wir, einige von uns, Anarchisten des Friedens“14. Die unterschiedlichen Auffassungen – auf der einen Seite Gesellschaftsreform durch die Entwicklung des Individuums, auf der anderen durch die Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse – führt zu Spannungen und schließlich zur Abspaltung einer eigenen, sozialistisch-syndikalistischen Gruppe, der „Fabian Society“ (gegr. 1884). Stewart kennzeichnet das Programm und die Wirksamkeit der „Fellowship“: Es handelt sich um eine Bewegung, die sich dem Ziel weiht, „die Habgier in der Gesellschaft zum Ver12
Reddie a.a.O. (1900), S.12 Zu Thomas Davidson siehe auch Kapitel 3, S.65f 14 Kenworthy, zit. nach Stewart, a.a.O., S. 9 13
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schwinden zu bringen durch die Arbeit erneuerter und (so von der Habgier – E.S.) erlöster Individuen, die die Gesellschaft reformieren könnten durch die Bildung sich selbst unterstützender (autarker) und auf Handarbeit beruhender Gemeinschaften sowie durch Erziehung und religiöse Kommunion und durch eine beständige Aufmerksamkeit gegenüber dem sozialen Wandel.“ Das gesellschaftliche Ideal wird in einer Verbindung von Kirche und Gemeinschaft gesehen. Die kommunitären Methoden waren sowohl für die Stadt als auch für ländliche Gebiete gedacht, „die Gemeinschaften, die dann wirklich gegründet wurden, waren aber hauptsächlich auf dem Lande oder in den Außenbezirken von Städten wie Nottingham und Sheffield“.15 – Am Rande sei erwähnt, dass zu den Mitgliedern der Fellowship auch Anhänger John Ruskins (1819-1900) gehören. Er hatte in seinen sozialphilosophischen Schriften als Gegenbewegung zur industriell-entfremdeten Arbeit u.a. die Bildung von Gemeinschaften gefordert, in der jegliche Arbeit für die Entwicklung des Individuums einen solchen Stellenwert und eine solche Qualität erhält, wie sie sonst nur für den Künstler zu denken ist. (Ruskin und die Ruskinianer spielen erneut in der „New Age Bewegung“ der letzten Jahrzehnte eine gewisse Rolle.) Damit ist das durchaus heterogene geistige Milieu bezeichnet, in dem Reddie vor den Jahren seiner Schulgründung und mit ihm die oben genannten drei Persönlichkeiten verkehren. Es hält verschiedene Orientierungen bereit: von klassenkämpferisch-revolutionären über demokratisch-evolutionäre Ideen bis hin zum Gedanken der Herrschaft eines neuen umfassend und modern gebildeten Geistesadels. – Nach anfänglichen starken Sympathien für sozialistisches Gedankengut schwenkt Reddie in der Gründungszeit seiner Schule auf die Option für eine aristokratische, durch Erziehung zu bewirkende Besserung von Mensch und Gesellschaft ein. Diese Wende entspricht einerseits seinem eigenen von Zeitgenossen immer wieder als autokratisch gekennzeichneten Charakter, hatte aber sicher auch einen pragmatischopportunistischen Grund: Ein eigenes Reich der Erziehung zu schaffen konnte eher mit als gegen die „directing classes“ gelingen. – Doch zurück zu den drei oben erwähnten Persönlichkeiten Campbell, Geddes und Carpenter. (a) Die Freundschaft zu Archibald Campbell, Dichter und Mitglied einer alten schottischen Adelsfamilie, bringt den Wissenschaftler Reddie in eine tiefere Beziehung zu den Dimensionen der Poesie, der bildenden Künste, zur Mystik, zu den Religionen des Ostens, zur Theosophie und gar zum Grenzland des Spiritismus und Okkultismus. Durch ihn wird er aber auch bekannt gemacht mit den radikal-sozialen Denktraditionen in England und Europa. In Reddies Schule spiegelt sich dieser geistige Eklektizismus in der „Abbotsholme Liturgy“ wider, die er über die Jahre zum Gebrauch in der „Chapel“ zusammengestellt hat. (b) Patrick Geddes lernt Reddie bei seinem Wiedereintritt in die schottische Gesellschaft kennen. Er ist der Leiter des Labors, in dem Reddie seine Demonstrationsversuche an der Universität Edinburgh durchführte. Geddes, ein weitgereister Mann mit weiten wissenschaftlichen Interessen, beschäftigt sich u.a. intensiv mit sozialreformerischen Ideen und sozialen Experimenten auf der Grundlage von Kooperation und Selbstregierung. Nach Reddies Worten arbeitete Geddes an der Reorganisation des Wissens mit dem Ziel einer Gesellschaftsreform, in der Wissen und Handeln eine Synthese eingehen. „Geddes trug zur Stärkung von Reddies wachsendem Verständnis der Verbindungen zwischen den physikalischen und biologischen Wissenschaften, Geographie, Soziologie, Ökonomie und Politik bei und förderte gleichzeitig seine wachsende Unzufriedenheit mit dem, was in den Schulen unterrichtet wird.“16 Einheit und Zusammenhang pädagogisch darzustellen und im Handeln die intellektuellen und emotionalen Kräfte zu integrieren wird ein wichtiges Anliegen in Reddies Pädagogik. Unter Geddes 15 16
Stewart, a.a.O., S.11f Ebd., S.250
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Einfluss bemüht sich Reddie auch, die konkreten Lebensbedingungen der Arbeiterschaft kennenzulernen. (c) Obwohl Reddie den demokratischen Neigungen von Edward Carpenter (1844-1929)17 später reserviert gegenübersteht, ist in biographischer Sicht sein Einfluss als außerordentlich bedeutsam anzusehen. Reddie hat über längere Zeit engen Kontakt zu dem „aristokratischen Sozialist eines einfachen Lebens“ (Stewart) Carpenter und er ist es, der ihm hilft, seine endgültige Berufung als Erziehungs- und Schulreformer zu entdecken. Carpenter steht in der Reihe der englischen Kulturkritiker des 19. Jahrhunderts (Carlyle, Ruskin, Morris). Schon der Titel eines seiner Werke „Civilization: its Cause and Cure“ (Die Zivilisation: ihre Ursachen und ihre Heilung)18, erschienen im Jahr 1889, dem Gründungsjahr Abbotsholmes, zeigt die Richtung seines Denkens: Zivilisation als Krankheit. Sein Denken schöpft vor allem aus den Quellen Marx‘scher Sozialkritik, indischen Einheitsdenkens, demokratischer Ideen sowie einer Kritik an der modernen Technik und Wissenschaft. Die bestehende Gesellschaft habe sich von den eigentlichen Lebensgesetzen und damit vom Wesen des Menschen entfernt und könne nur geheilt werden, wenn der derzeit bestehende „cash-nexus“ – d.h.: die Determinierung der sozialen Beziehungen durch materielle Interessen – überwunden werde. Er setzt seine Hoffnungen – ganz im Sinne der „Fellowship“ – auf den zunehmenden Einfluss lebensreformerischer Gruppen, durch die ein Gesinnungswandel herbeigeführt und schließlich in globaler Perspektive die Bedingungen zu einem integralen, dem Menschen gemäßen Leben gegeben sind. Mehr noch als von dem Theoretiker und Sozialphilosophen Carpenter dürfte Reddie freilich von dem praktischen Lebensreformer beeindruckt und beeinflusst worden sein. Carpenter hatte ab dem Jahr 1883 bis zu seinem Lebensende ein „simple way of life“ auf einer kleinen Farm geführt. „Mr. Carpenter is an exponent of what may be called the Gospel of Patato-Digging“19 – so kennzeichnet ein Reporter der „Pall Mall Gazette“ mit ironischem Unterton den Mitinitiator von Abbotsholme. Das „open-air-life“ in Gesellschaft mit seinen Arbeitern, Land- und Viehwirtschaft sowie verschiedene handwerkliche Tätigkeiten nahmen eine zentrale Stelle in seinem Leben ein. „Solche Arbeiten wurden zu einem integralen Bestandteil sechs Jahre später in Abbotsholme.“20 Allerdings wurde Abbotsholme entgegen den Hoffnungen Carpenters und anderer Förderer aus dem Umkreis der „Fellowship“ nicht als eine „Agrarkommune für praktischen Sozialismus“ eingerichtet, in der die Schularbeit in Verbindung mit der Ökonomie des Lebens und der Zielperspektive von „Gleichheit und Brüderlichkeit des Menschen“ gebracht worden wäre. „Stattdessen fanden sie eine Gründungsankündigung mit der Feststellung, dass Abbotsholme ‚eine Schule ist für die Söhne der Directing Classes‘ sei“ und insgesamt fanden sie ein „Denken in aristokratischen Begriffen“.21 In dem Gründungsprospekt wird denn auch neben den persönlichkeitsbildenden Werten der Farmarbeit für Jungen, die ansonsten an die Leistungen von Dienstboten gewöhnt sind, darauf hingewiesen, dass solche Arbeiten eine „vernünftige Vorbereitung für das koloniale Leben darstellen.“22 Noch deutlicher kommt die imperiale und aristokratische Wende in einem späteren Text Reddies (1901) zum Ausdruck: Es gehe um einen „erzieherischen Motor, der unserer imperialen Zukunft angemessen ist ... Insbesondere müssen wir eine Herrschende Klasse (Directing Class) schaffen. Wir können das durch eine vernünftige und gesunde Erziehung erreichen. Wir müssen jedoch auch eine Klasse schaffen, die zu gehorchen gelernt hat (trained to obey). Dafür kenne ich keinen besseren Agenten als die Militärpflicht. ... Das würde auf einen Streich unsere zwei nationalen Haupt17
Zu Carpenter siehe Kapitel 3, darin den „Exkurs nach Amerika und England ...“ Vgl.: Kindlers Literatur Lexikon (1974), S. 2038f: Civilization ..... 19 Vgl. Reddie, a.a.O. (1900), S. 51 20 Stewart, a.a.O., S.252 21 Ebd., S.257 22 Reddie, a.a.O. (1900), S.27 18
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übel heilen: der Mangel an ehrenhafter Unterordnung und der Mangel an selbstlosem Patriotismus.“23 Demokratie schließlich hält er für eine „idiotic idea“. Man mag sich bei dieser ausgeprägt konservativen Grundhaltung fragen, wo die wegweisenden pädagogischen Impulse im Konzept der „New School Abbotsholme“ zu finden sind. Ein Blick in den Lehrplan von Abbotsholme zeigt, dass solche Impulse durchaus mit einer politisch-konservativen Grundhaltung konform gehen können. Freilich ist das Denken in hierarchisch-aristokratischen Kategorien integraler Bestandteil von Reddies Erziehungskonzept und dieses eben darum in seiner Gänze in einen demokratischen Kontext nicht vermittelbar. Weil es im affirmativen Rahmen national-imperialen Denkens verbleibt, fehlt ihm jegliche aufklärerische, emanzipatorische Blickrichtung, die ein Erziehungskonzept für alle Schichten der Nation – und für beide Geschlechter – begründen könnte. Reddies Konzept bleibt „Klassenerziehung“ und sowohl sein persönliches Verhalten wie manche Details im Schulleben belegen dies. Nach einem kurzen kooperativen Beginn mit seinen beiden Mitbegründern schwingt sich Reddie zum Alleinherrscher und Patriarchen von Abbotsholme auf. Das rigide Präfektensystem, bei dem ältere Schüler Jüngere kontrollieren, desavouiert den rhetorischen Appell an die Entwicklung „herzlicher Bindungen ... in einer harmonischen Bruderschaft“24 und verweist ebenfalls auf ein Denken in Hierarchien. Schließlich ist das in Abbotsholme vermittelte Wissen ausdrücklich als Herrschaftswissen gedacht, gerade auch in der Zielsetzung, gegen die klassischen Zöpfe der Bildung ein neues, modernisiertes Curriculum zu entwickeln, ein reiches „ganzheitliches“ Schulleben zu schaffen und eine umfassende Charakterbildung durch theoretisches Studium, handwerkliche Arbeit und verantwortliche Teilhabe am Schulleben zu gewährleisten. Als Herrschaftswissen ist es für Reddie per se und in Ignorierung der bereits lautstark sich in der Frauenbewegung artikulierenden Forderung nach politisch-gesellschaftlicher Teilhabe ein Wissen für Männer. Gleichwohl enthält Reddies Erziehungskonzeption für seine Zeit durchaus ungewöhnliche und wegweisende Komponenten. Sein Konzept stellt er der traditionellen – und von ihm 1888 in einer Artikelserie „Modern Miseducation“ attackierten – englischen Internatserziehung entgegen. Die Internatserziehung als solche will er beibehalten – diese Form ist für ihn praktisch ein „independent kingdom“ mit weitreichenden Möglichkeiten der Reform. Das bisher übliche „Mästen“ mit lebensfremden Stoffen aber, das zusammenhanglose Pauken, die weitgehende Ignoranz gegenüber modernen Fremdsprachen und die Vernachlässigung der eigenen Muttersprache, die übliche nur sehr oberflächliche Behandlung der Naturwissenschaften, die übertriebene Übung der Schulspiele („Cricket“ und „Football“ als nahezu alleinigem Mittel der körperlichen Erziehung), ferner die ständige Jagd nach Preisen und Auszeichnungen (die den schwächeren wie den begabteren Schüler charakterlich korrumpiert) – all das will er verbannt wissen. Damit sind als Negativfolie schon einige inhaltliche Züge seines Erziehungskonzeptes angedeutet: x x
23 24
Zurückdrängen der klassischen Sprachstudien und stattdessen Englisch als Grundlage des Lehrplans; ferner moderne Fremdsprachen: Deutsch oder Französisch sind die erste Fremdsprache. Die klassischen Sprachen erhalten einen untergeordneten Stellenwert. Arbeit als wichtiges Mittel der Persönlichkeits- und Charakterbildung sowie der Gesundheitserziehung (Entwicklung von Verantwortungs- und Kooperationsfähigkeit; für ein „gesünderes Zirkulieren der Lebens-Energie“) und der Entwicklung praktischer Befähigungen: Land-, Gartenbau und Viehwirtschaft, Arbeiten mit Holz und Metall u.a. (anfangs geplant aber dann nicht realisiert: Schneidern, Herstellung von Stiefeln, Kochen).
Reddie zit. nach Stewart, a.a.O., S. 257f Reddie, a.a.O. (1900), S.31
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Die Naturwissenschaften (Chemie, Physik, Biologie) erhalten einen hohen Stellenwert und sollen unter Berücksichtigung ihrer Zusammenhänge unterrichtet werden; es gibt Laboratorien, ein Museum und eine Art Botanischen Garten. Geschichte wird in enger Verbindung mit Geographie unterrichtet (also wie ansatzweise auch bei den Naturwissenschaften im Sinne eines fächerübergreifenden Unterrichts). Die mathematischen Disziplinen (Arithmetik und Geometrie) werden „Hand in Hand“ mit praktischen Aufgaben unterrichtet, bei der die „gegenwärtige Erfahrung der Jungen“ einbezogen ist. Exkursionen in der Umgebung zur Erkundung geologischer, botanischer und zoologischer Aspekte; Feldmessen; Besuch von Industrieanlagen. Hoher Stellenwert aller künstlerischen Aktivitäten zur Erziehung des „angeborenen kreativen Instinktes“, insbesondere auch durch das Schaffen einer ästhetisch ansprechenden Schulumgebung. „Their school home will be made beautiful and that, as far as possible, by themselves“.25 Religiöse und moralische Erziehung auf allgemein-christlicher Grundlage („as undogmatic and unsecterian as possible“) unter Einbeziehung der Ideen der großen Weltreligionen; Moralität wird als Wirkung der intendierten „harmonischen Bruderschaft“ innerhalb der Schule angesehen, die in allen Einzelheiten des „school life“ zum Ausdruck kommt.
Ferner finden sich Anklänge an verschiedene Strömungen der Lebensreform (Kleider-, Sexualreform, Ökologisches Denken, Ideologie eines einfachen Lebens), die Reddie u.a. im Rahmen der „Fraternity of the New Life“ kennengelernt hatte: „Der Unterricht in Hygiene beinhaltete systematischen Sexualunterricht, zweckmäßig geplante Bauten und speziell für die Jungen angefertigte Kleider nach Modellen, die später auch in anderen Schulen üblich wurden – ein Knickerbockeranzug und weder Hut noch Barett“. Auch das „earth-closet“ (Trockenklo) war in Gebrauch, so dass der „Erde zurückgegeben werden konnte, was sie zur Aufrechterhaltung des natürlichen Zyklus‘ braucht.“26 Erst auf dem Hintergrund der von weiten Kreisen als veraltet und erstarrt angesehenen englischen Internatserziehung ist es verständlich, dass Reddies „New School“ geradezu als revolutionär erscheinen und Anregungen zu weiteren Gründungen geben konnte. So konnte Reddie in seinem 1900 erschienenen Buch „Abbotsholme“ voller Stolz über „Schools and projected schools on Abbotsholme lines in England, Germany, France, Russia, Switzerland, etc.“27 berichten. Zwar hat seine Schule bei den neuen Gründungen durchaus beispielgebenden Charakter, nicht aber im Sinne eines zu imitierenden Modells. Bereits in der von seinem ehemaligen Mitarbeiter Badley gegründeten „New School Bedales“ werden deutlich neue Akzente sichtbar: Badley ist von Carpenters demokratischen und anarchistischen Ideen beeindruckt, sympathisiert zeitlebens mit der politischen Linken und steht der Arbeiterpartei (Labour) nahe. Bei der Schulgründung im Jahre 1892 fehlt jeder Hinweis auf die „directing classes“. Und – in völligem Gegensatz zu Abbotsholme – hält nun das weibliche Element in der Schule Einzug (ein Grund für die Trennung von Reddie war Badleys Heirat) und einige Jahre später wird die Koedukation (1898 mit zunächst vier Mädchen) eingeführt. Das Unterrichtsprogramm selbst entspricht weitgehend dem von Abbotsholme. Beide Schulen – Abbotsholme und Bedales – werden zum Vorbild für die erste französische Nachfolgegründung 1899. Doch bereits ein Jahr zuvor gründet Herman Lietz sein erstes „Deutsches Landerziehungsheim“, durchaus, wie Reddie betont „on Abbotsholme lines“, aber diese wiederum nicht so weitgehend nachbildend, dass Reddies Ansicht von einer „Identität“ beider Einrichtungen gerechtfertigt erschiene. Zudem gelingt Lietz etwas, was Reddie sich zwar wünschte, aber nicht realisieren 25
Reddie, a.a.O. (1900), S.27 Stewart, a.a.O., S.12 u. 16 27 Reddie, a.a.O., S.587ff 26
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konnte: Lietz selbst konnte mit neuen Gründungen einen Schulenverbund schaffen, der verschiedenen Bildungsbedürfnissen (einschließlich einer sozialpädagogischen Einrichtung) entgegenkommt. Dieser Verbund hat in wesentlichen Teilen bis heute Bestand und konnte sogar nach der deutschen Wiedervereinigung neu gefestigt werden. Daneben gingen – ähnlich wie in England – von Sezessionen ehemaliger Mitarbeiter und wiederum von Sezessionen aus deren Mitarbeiterkreis zahlreiche Neugründungen aus.
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Hermann Lietz, das „Deutsche Landerziehungsheim“ und die wichtigsten Folgegründungen
Hermann Lietz (1868-1919) wird in eine bäuerliche Welt auf der Insel Rügen hineingeboren. Dieser Welt bleibt er zeitlebens verbunden und die Werte eines idealisierten Landlebens bilden die Folie seiner radikalen Zivilisationskritik und seiner Kritik am Großstadtleben. Seine späteren Schulgründungen spiegeln den in seiner Jugend erlebten patriarchalischen Geist und die Wertschätzung der handwerklichen, vor allem der landwirtschaftlichen Arbeit wider. „Sein Vater war ein wohlhabender Landwirt mit eigenem Grundbesitz, der mit seiner Familie und Dienstleuten in patriarchalischer Weise selbst sein Land bebaute. Als eigenwilliges, herbes Kind, Feind der Schuldisziplin und fester Stundenpläne, voller Abneigung gegen Programme und hohlen Intellektualismus, machte er seinen Lehrern von Stralsund etliches zu schaffen.“28 Lietz studiert in Halle und Jena Theologie, Philosophie, Geschichte und Germanistik. Bei dem späteren Nobelpreisträger für Literatur, dem Philosophen Rudolph Eucken wird Lietz mit der Arbeit „Das Problem der Gesellschaft bei Auguste Comte“ zum Dr. phil. promoviert. Bei Eucken lernt „Lietz die Welt des deutschen Idealismus kennen, Fichte, Goethe, Freiherr vom Stein, Jahn, Arndt, Schiller und die deutsche Romantik“.29 Es folgt die Staatsprüfung für das höhere Lehramt und mehrere Jahre Lehrtätigkeit an der Schule, unter anderem an der von Karl Volkmar Stoy gegründeten und seinerzeit von dem Herbartianer Wilhelm Rein geleiteten Universitätsübungsschule in Jena. An dieser Schule „lernt Lietz die didaktischen Prinzipien und die Arbeitsweise kennen, die er sein ganzes späteres Leben beibehalten wird. Erziehenden Unterricht im Sinne Herbarts, Schulleben und Schulreisen und vor allen Dingen Selbsttätigkeit als vorrangiges Prinzip für die Schule.“30 Hier kommt er auch – wie oben bereits erwähnt – in Kontakt mit Cecil Reddie, eine Begegnung, die nach ihrer Vertiefung in Abbotsholme zum Schlüsselereignis seines Lebens wird. Lietz habe dort, schreibt er selbst später, „nach trüben Erfahrungen im deutschen Vaterlande ein unvergessliches Jahr meines Lebens“ verbracht und „neuen Mut“ geschöpft, „in der Heimat die Arbeit der praktischen Schulreform wieder aufzunehmen.“31 Diese Arbeit versteht Lietz immer als Beispiel zur Erneuerung des gesamten Schulwesens. Bald nach seinem Abbotsholmer Jahr gründet er mit erstaunlicher Tatkraft fast aus dem Nichts heraus im Jahr 1898 sein erstes „Deutsches Landerziehungsheim“ für Jungen in der „Pulvermühle“ in Ilsenburg, Harz und legt damit den Grundstein für ein Lebenswerk, das ihn selbst überdauert und bis heute lebendig ist. Bereits in der Namengebung des ersten Heimes bekundet Lietz seine nationale Gesinnung, seine „Liebe zu Jugend und Volk“, sein „soziale(s) und nationale(s) Pflichtgefühl“. Es folgen bald weitere Gründungen, denen Lietz als Oberleiter vorsteht: 1901 Haubinda bei Hildburghausen (Thüringen), 1904 Bieberstein/Rhön (Hes28 Lexikon der Pädagogik III, Bern 1952, S.284. Über seine schrecklichen Erinnerungen an die eigene Schulzeit vgl.: Lietz, Hermann (1934): Lebenserinnerungen, Auszüge in: Dietrich, Theo (Hsg.) (1967): Die Landerziehungsheimbewegung, Bad Heilbrunn: Klinkhardt (Quellentexte) 29 Lassahn, Rudolf (1997), in: Lietz, Hermann (1997): Emlohstobba. Roman oder Wirklichkeit? Bilder aus dem Schulleben der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft?, Heinsberg: Dieck, S.77 (Nachwort des Herausgebers) 30 Ebd., S.78 31 Lietz, Hermann (1910): DLEH. Das erste und zweite Jahr im Deutschen Land-Erziehungsheim bei Ilsenburg in den Jahren 1898/99, Leipzig: R. Voigtländers, S.5
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sen), 1914 das Landweisenheim Grovesmühle in Veckenstedt im Harz für die „Kinder der Ärmsten“. Die drei erstgenannten Gründungen folgen einem einheitlichen Gesamtplan. In den drei Heimen sind jeweils verschiedene Altersstufen untergebracht: die 8-12jährigen in Ilsenburg, die 12-16jährigen in Haubinda, die (gymnasiale) Oberstufe in Bieberstein. In den von Lietz herausgegebenen Jahresberichten finden sich auch Mitteilungen über eigens für Mädchen eingerichtete Heime, in denen in gemäßigter Form sogar ein feministischer Atemhauch zu verspüren ist. Lietz, wie Reddie ein Verfechter der getrennt-geschlechtlichen Erziehung, hat offenbar zeitweise den Gedanken an koedukativer Erziehung durchaus erwogen. Die Koedukation fand aber erst später, nicht mehr zu seinen Lebzeiten, Einzug in die Lietzschen Heime. Die Koedukation sei, heißt es in einer Mitteilung über die Organisation der Landerziehungsheime im Jahre 1904, „dem Prinzip nach das wünschenswerte“ und man hoffe, durch Mädchenheime einen „Stamm“ bilden zu können, mit dem dieses Ziel erreicht werden könne.32 – Nach dem Tode von Lietz – er stirbt im Juni 1919 in Haubinda, nicht lange nach seinem als Freiwilliger geleisteten Einsatz als Soldat des Weltkrieges an der Ostfront – gründet sein Nachfolger Alfred Andreesen weitere Heime. – Lietz überführte seine eigenen vier Heime testamentarisch in eine – bis heute bestehende – Stiftung und vermachte sie dem deutschen Volk. In seinem Gründungsaufruf für das erste Landerziehungsheim „für Knaben vom 9. Lebensjahre an“ hat Hermann Lietz die Grundsätze seiner Erziehungsarbeit bündig zusammengefasst und später in leicht modifizierter Form und mit zusätzlichen umfangreicheren Erläuterungen seinem ersten Jahrbuch vorangestellt. Schon in dem Gründungsaufruf33 wird deutlich, dass es Lietz nicht nur um die Gründung eines Heimes geht. „Deutsche Landerziehungsheime“ seien „eine nationale und soziale Notwendigkeit“ in einer Zeit, in der die „umfangreiche reformpädagogisch-literarische Bewegung der letzten Jahrzehnte“ die höheren und mittleren Schulen nicht erreicht habe. Lietz mahnt die Ideale und die „praktischen, erzieherischen Arbeiten“ großer Pädagogen vergangener Zeiten als Leitbild für die Umwandlung der „Unterichtsanstalten“ und „Pressen“ (Paukanstalten) zur Examensvorbereitung in wahre Stätten einer allseitigen Erziehung an und nennt ausdrücklich: „Luther, Comenius, Salzmann, Gutsmuths, Pestalozzi, Herbart, Jahn, Arndt, Fichte, Fröbel“. Lietz stellt sich so selbstbewusst in die Reihe klangvoller Namen, zweifellos in der Absicht, dem eigenen Tun Glanz und Legitimation zu verleihen. Er mag deren Werke wohl gekannt haben, nach Spuren einer kritischen Auseinandersetzung mit ihnen zur systematischen Entwicklung einer eigenen Erziehungskonzeption sucht man allerdings vergeblich. (Man hat ihm die Theorieferne seines Wirkens häufig zum Vorwurf gemacht.) Ich gebe die Lietzschen Erziehungsgrundsätze, die er in seinem von ihm so genannten „Schulstaat“ mit seinen „Bürgern“ angewandt wissen wollte, hier ungekürzt wieder. In ihnen vereinen sich nationale Gesinnung, idealistische Ziele und Anforderungen, romantisierende und ästhetisierende Gesten gegenüber Landschaft, Natur und Gemeinschaftsleben, lebensreformerische und kulturkritische Akzente (Stadtfeindlichkeit, Körperkultur, natürliche Ernährung, Jugendbewegtes) und allgemein wichtige didaktisch-methodische Neuerungen zu einem programmatischen Ganzen. Dieses Programm kann als repräsentativ für das Denken in weiten Kreisen reformpädagogisch gesinnter Erzieher um die Wende zum 20. Jahrhundert angesehen werden.34 32
Vgl. Ebd. In: „Das erste und zweite Jahr“, S.82ff, „Das dritte Jahr“, S. 87ff und „Das sechste Jahr“, S. 41ff, S. 45ff (hier die zitierte Stelle) und 53f. Weitere Berichte auch in den Teilen vier und fünf (von Bertha von Petersenn) 33 Vgl. Dietrich, Theo (Hsg.) (1967): Die Landerziehungsheimbewegung, Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S.15ff (Quellensammlung) 34 Lietz, Hermann, a.a.O. (1910), S.6f
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Die Erziehungsgrundsätze des Deutschen Landerziehungsheims von Dr. H. Lietz bei Ilsenburg im Harz. Herausgegeben 1898 I. Erziehungsziel: Erziehung der anvertrauten Kinder zu harmonischen, selbständigen Charakteren, zu deutschen Jünglingen, die an Leib und Seele gesund und stark, die körperlich, praktisch, wissenschaftlich und künstlerisch tüchtig sind, die klar und scharf denken, warm empfinden, mutig und stark wollen. II. Erziehungsmittel: 1. Erziehung nicht in der Stadt, sondern auf dem gesunden, schönen, in unmittelbarer Nähe großartiger Gebirgslandschaft (Harz) gelegenen Schullandgut mit weiten Wiesen, Gärten, Feldern; mit Fluss und Bach; auf einem Boden, der durch Sage und Geschichte berühmt ist, der durch seine Naturerzeugnisse und Menschenwerke eine Fülle von Belehrung bietet: Bergwerk in Goßlar, Tropfsteinhöhle in Rübeland, Eisen- und Kupferwerke in und bei Ilsenburg, Brocken in 2 ½ Stunden zu erreichen. 2. Zusammenleben, -Spielen, -Arbeiten von Zöglingen und Erziehern als jüngeren und älteren Freunden, wobei letztere vor allem durch ihre vorbildliche starke Persönlichkeit, durch ihre begeisterte Hingabe für den Erzieherberuf, durch ihre Liebe zur Jugend sittlich-religiös einwirken. 3. Streng hygienische Lebensweise im Erziehungsheim, im Essen und Trinken (kein Alkohol, keine stark gewürzten Speisen, reichlicher Genuss von Gemüse, Obst, Milch, Eiern, Fischen usw.); ferner Abwechslung zwischen wissenschaftlicher und körperlicher Arbeit einereits, und Erholung in Kunstübung und Spiel andererseits; zweckdienliche, allmähliche Abhärtung usw. 4. Tägliche Körperübungen, wie Wandern, Laufen, Spielen, Schwimmen, Turnen u.ä.; morgens nach dem aufstehen, in den Pausen, an einem Teil jedes Nachmittages, an einem wöchentlichen Freinachmittage und an den Sonntagnachmittagen. – Täglich ungefähr 2 Std. 5. Tägliche praktische, körperliche Beschäftigungen, die den Kindern Freude machen, ihrer Kraft entsprechen, sie geistig anregen und gesundheitlich fördern; als da sind Arbeiten im Garten oder Busch, auf Feld oder Wiese, in Werkstätte oder auf Bauplatz; wie Graben, Pflanzen, Begießen, Heu Zusammenbringen, Tischlern, Bauen u.a. – Täglich 1–2 Std. nachmittags. 6. Tägliche Kunstübung: Zeichnen nach der Natur (2 Std. wöchentlich); Modellieren in Ton, Plastelina, Wachs, Gießen in Gips, (2 Std. wöchentlich), Singen ( ½ Std. täglich), Instrumentalmusikübung möglichst aller (ca. 1 Stunde täglich nach den Mahlzeiten); planmäßige Anleitung zum Verständnis von Werken der Kunst; Schul-Konzerte und –Theater. – J.g. täglich ungefähr 2 Std. – hauptsächlich abends. 7. Besondere Veranstaltungen zur Pflege des sittlich-religiösen und vaterländischen Sinnes, wie tägliche Morgen- und Abendandachten, religiöse Einwirkung bei feierlichen Gelegenheiten (Wanderungen im Wald, unterm Sternenhimmel), Feier von Gedenktagen, Betonung des Religiös-Sittlichen in allen Unterrichtsfächern, besonders in Naturwissenschaft und Geschichte, Pflege von Poesie und Kunst (s.o.). 8. Wegfall jedes äußeren Zwanges, jeder äußerlichen, nicht aus der betreffenden Sache selbst erfolgenden Strafe oder Belohnung. Erziehung durch Einwirkung von Personen und Sachen zu freudiger Pflichterfüllung unter sorgfältiger Berücksichtigung der Welt im Zögling sowie der um ihn, seiner sowie der ihn umgebenden Natur. 9. Ein den Gesetzen der Erziehungskunst und –Wissenschaft entsprechender wissenschaftlicher Unterricht. Bei diesem wird streng psychologisch verfahren, das Interesse des Zöglings stets benutzt, von der praktischen Übung (in Garten, Werkstätte, vergl. Naturgeschichte, Geometrie) und der Anschauung von Bildern, Modellen, Karten usw. ausgegangen. Es wird so
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verfahren, dass der Zögling selbsttätig und freudig am Unterricht teilnimmt, dass Gesinnung in ihm geweckt wird, dass er scharf beobachten, denken, beurteilen, vergleichen lernt und einen Wissensstoff erwirbt und gut anzuwenden vermag, wie ihn das moderne und nationale Leben fordert. – Täglich ungefähr 5 Stunden; morgens und spätnachmittags.
Lietz berichtet in den Jahrbüchern über die Erfolge seiner Erziehungsarbeit und über weitere Details der Schulorganisation, von denen manche von anderen reformpädagogischen Schulen übernommen wurden – wie z.B. Zeugnisse in Form von Entwicklungsberichten oder die „Kapelle“ in Form der Institution „Feier“ (Jenaplan, Waldorf). Es ist anzunehmen, dass auch die wenige Jahre später einsetzende Kunsterziehungs- und die Arbeitsschulbewegung durch die lebhafte pädagogische Touristik und die einschlägigen Publikationen Impulse erhalten hat. Ferner wurde die inhaltliche Dimension der Begriffe „Schulleben“ und „Lebensgemeinschaftsschule“, zentrale Topoi der Reformpädagogik, von den Landerziehungsheimen entscheidend geprägt. Dass Lietz seine Schulgemeinschaft als eine deutsche begriff, die auch den militärischen Aspekten offenstand, hat verschiedentlich zu kritischen Anfragen und zu dem Vorwurf eines übersteigerten, unverantwortlichen Nationalismus geführt. „Exerzieren“ hatte einen festen Platz im Stundenplan ab der Untertertia (nach heutiger Zählung ab Klasse 7). Lietz zog als Freiwilliger in den Krieg und mit ihm viele seiner älteren Schüler, von denen nur wenige den Krieg überlebten. Auch gleitet er gelegentlich ins Germanisch-Mystische ab, so wenn er in seinem ersten Rechenschaftsbericht der Hoffnung Ausdruck gibt, mit Hilfe guten Willens der Freunde und der „Vorsehung“ sein Landerziehungsheim „weiter vervollkommnen zu können zu einer Pflegestätte gesunder germanischer Seelen in gesunden germanischen Körpern.“35 Verbunden mit der in den Berichten häufig vorscheinenden Blut-und-Boden-Ideologie – auch in den Berichten über die Mädchenheime – zeigt sich hier ein Denken, das der ansonsten proklamierten Erziehung zur Toleranz, zum Verstehen, Achten und Pflegen „fremde(r) Eigenart“ durchaus entgegensteht. Von daher gesehen scheint bereits vorgezeichnet, was später in der pädagogischen Geschichtsschreibung als „Haubindaner Judenkrach“ diskutiert wird. Ein massiver Konflikt zwischen einer Gruppe von Schülern um den jüdischen Lehrer und Philosophen Dr. Theodor Lessing führte zu dessen Entlassung und zum Auszug eines Teils der Schülerschaft in Haubinda. Lessing forderte das Verschwinden des völkischen Hetzblattes „Der Hammer“, das Lietz abonniert hatte, aus den Heimen. Lietz – offenbar auch beunruhigt durch kritische Artikel in der Schülerzeitung „Haubindaner Monatsschrift“ über seinen autokratischen Führungsstil und seine Ideologie und Praxis des bäuerlich-einfachen Lebens in der Schule – reagierte mit der Aufnahme eines Passus in den Schulprospekt, dass jüdische Schüler nur in Ausnahmefällen Aufnahme finden sollten (der Anteil jüdischer Schüler betrug zeitweilig über die Hälfte). „Wyneken, Geheeb, Luserke, aber auch vor allen Dingen Lessing verlangten postwendend den Wegfall dieses Aufnahmeverbots. Vorübergehend musste Lietz zurückstecken. Lessing verließ jedoch Haubinda sofort.“36 – Noch nach dem Weltkrieg raisoniert Lietz über die „jüdische Gefahr“ und die „Reinhaltung der Rasse“ im Zusammenhang mit Fragen der „Volkserziehung“, so dass durchaus von einer lange andauernden antijüdischen Einstellung bei ihm gesprochen werden muss.37
35
Ebd., S.23 Bast, Roland (1996): Kultur und Erziehung. Anspruch und Grenzen der Reformpädagogik, Dortmund: projekt verlag, S.52. Ebd. in der Anm. 4 weitere Literaturhinweise dazu. Vgl. auch: Leiterkonferenz der Hermann LietzSchulen (Red.) (1998): Hermann Lietz-Schulen. Die ersten 100 Jahre, Kassel: Kühn & Partner, S.15f 37 Vgl. Röhrs a.a.O. (1980), S.126. Röhrs bezieht sich auf die Schrift von Lietz „Des Vaterlands Not und Hoffnung“, Veckenstedt 1919 36
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Nicht nur Lessing verließ die Schule. Auch die anderen drei Lehrer folgten später wegen unüberbrückbarer Gegensätze mit Lietz und gründeten schließlich eigene Heime. Heinrich Kupffer hat die eigenartige, gefühlsmäßig aufgeladene Atmosphäre in der Anfangszeit der Landerziehungsheimbewegung gekennzeichnet. Konkurrenzdenken, Eifersucht, Profilierungsstreben, sachlicher Dissenz in Erziehungs- und politischen Fragen usw. formten ein dynamisches Spannungsfeld, aus dem sich fähige und ehrgeizige Mitarbeiter durch Sezessionen und Neugründungen zu befreien suchten. Man „fuhr schon bei geringen Anlässen schwere Geschütze auf, verachtete Kompromisse und verfuhr mitunter so, als stünde der Gegner gar nicht unter den Spielregeln derselben Zivilisation.“38 Die außerordentlich facettenreiche und verzweigte Entwicklungsgeschichte der Landerziehungsheimbewegung mit ihren Sezessionen und Neugründungen sowie den je eigenen und gegenüber Lietz oft konträren pädagogischen Akzenten kann hier nicht nachgezeichnet werden. Um wenigsten eine Andeutung davon zu geben, seien einige Daten auf der Grundlage der von Grunder gegebenen Übersicht genannt:39 Gründung von Landerziehungsheimen in Deutschland: x
x x x x x x
Deutsches Landerziehungsheim im Harz (1898), später Ettersburg bei Weimar (19231945) und Gebesee bei Erfurt (1923-1945). Von der DDR als „Jugendwerkhof“ weitergeführt, seit 1992 wieder in mittelbarer Trägerschaft der „Stiftung Deutsche Landerziehungsheime Hermann Lietz-Schule“. Deutsches Landerziehungsheim für Mädchen in Stolpe (1900), später in Gaienhofen (1904, heute evangelische Internatsschule). Deutsches Landerziehungsheim in Haubinda (1901-1945, Schließung durch DDR, 1991 erneute Gründung als Grund- und Hauptschule: „Regelschule des Landes Thüringen mit reformpädagogischem Charakter“.40 Deutsches Landerziehungsheim Bieberstein/Rhön (1904). Landwaisenheim Veckenstedt (1914-1945, Schließung durch DDR, 1995 unter dem Namen „Landschulheim Grovesmühle“ als gymnasiale Internatsschule wieder gegründet). Deutsches Landerziehungsheim Spiekeroog/Nordsee (1928). Deutsches Landerziehungsheim Hohenwehrda/Rhön (1941).
Gründungen aus Sezessionen von Hermann Lietz (Grunder nennt 7 Schulen, drei davon seien hier genannt): x
x x
38
Freie Schulgemeinde Wickersdorf (Paul Geheeb >1870-1961@/Gustav Wyneken >18751964@, 1906-1933. Übernahme durch NSDAP, dann durch DDR geschlossen. (Wyneken ist eine der führenden Gestalten der Jugendbewegung, Mitverfasser der „Meißnerformel“ beim „Freideutschen Jugendtag“ 1913 auf dem Hohen Meißner. Er will seine Schule als eine Stätte freier Jugendkultur gestalten.) Erziehungsschule Schloss Bischofsstein (Dr. Gustav Marseille, 1908-1945, Schließung durch DDR). Der letzte Leiter, Heinrich Hoffmann, gründete später das Landerziehungsheim Gut Honneroth/Westerwald (1957-1986). Landerziehungsheim Walkemühle (s.u., eigenes Kapitel) (Ludwig Wunder >18781949@/Leonhard Nelson >1882-1927@/Minna Specht >1878-1961@, 1923-1933, Schließung durch NSDAP). Minna Specht setzt ihre pädagogische Tätigkeit in der Emigration (Dä-
Kupffer, Heinrich (1970): Gustav Wyneken, Stuttgart: Klett, S.48 Eine informative historisch-systematisch und vergleichend vorgehende knappe Übersicht bietet: Grunder, Hans-Ulrich (1996): Landerziehungsheime – Gründergestalten und Konzeptionen, in: SeyfarthStubenrauch/Skiera (Hsg.) (1996), Band 2, S. 214ff 40 Vgl. dazu: Leiterkonferenz ... (1998), S. 32f 39
178 Reformpädagogik
nemark und England) fort und nach ihrer Rückkehr leitet sie 1946-1951 die Odenwaldschule (s.u.). Gründungen nach erneuter Sezession von früheren Lietz-Mitarbeitern (Grunder nennt insgesamt 7 Schulen): x
x x
Odenwaldschule Ober-Hambach bei Heppenheim/Bergstraße (Paul Geheeb und Edith Geheeb-Cassirer, 1910 von Wickersdorf). Die Odenwaldschule spielt nach dem 2. Weltkrieg in der Diskussion um die Schulreform in Hessen (Reform der Oberstufe, Gesamtschulentwicklung) eine wichtige Rolle. Ecole d’Humanité Berner Oberland (Schweiz) (Paul Geheeb und Edith Geheeb-Cassirer 1934 nach ihrer Emigration aus Deutschland). Schule am Meer/Juist (Martin Luserke >1880-1968@, 1925-1934, von Wickersdorf, Schließung durch NSDAP).
Gründungen außerhalb des Lietz-Kreises (Grunder nennt 13 Schulen): x x x
x
Stiftung Landerziehungsheim Schondorf am Ammersee/Oberbayern (Julius Lohmann >1869-1919@/Ernst Reisinger >1884-1952@, 1905). (Bei der Konzeption seines Jenaplans beruft sich Peter Petersen ausdrücklich u.a. auf seinen Besuch in diesem Heim.) Schulgemeinde Sinntalhof/Rhön (Max >1892-1951@ und Gertrud Bondy, 1920, später Gandersheim 1923, schließlich: Schule Marienau). 1940 in der Emigration: Windsor Mountain School/Mass. USA, durch Max und Gertrud Bondy. Schule Schloss Salem Bodenseegebiet (Kurt Hahn >1886-1974@ 1920) mit den Zweigschulen Hohenfels und Spetzgart. In der Emigration gründet Hahn 1933 Gordonstoun/Schottland. Hahn ist auch der „Erfinder“ der sog. „Kurzschulen“, in denen Jugendliche in mehrwöchigen Kursen in Situationen der sozialen Bewährung (Rettungsdienste am Meer und in den Bergen, Feuerwehr) lernen. Landerziehungsheim Stiftung Louisenlund bei Schleswig (Hans Lues 1949 von Salem).
Auch in der Schweiz sind zahlreiche Heime entstanden, teilweise in Kooperation mit deutschen Landerziehungsheimen. Grunder nennt 22 Landerziehungsheime, gegründet zwischen 1899 und 1924. Er vermerkt, dass den Schweizer Heimen durchweg der nationalistische Grundzug Lietzens fehlte.
3
Edmond Demolins, seine „Ecole des Roches“ und Folgegründungen in Frankreich
Der Zusammenhang mit der Schulgründung des Soziologen, Historikers und Erziehers Edmond Demolins (1852-1907) mit Abbotsholme und Bedales wurde eingangs dieses Kapitels schon herausgestellt. In seinem Buch aus dem Jahre 1897 stellte er die Frage nach der Überlegenheit der Angelsachsen, als deren augenfälliger Beweis ihm die weltweite Ausdehnung des „Empire“ der „angelsächsischen Rasse“ gilt41. Das imperiale Konkurrenzmotiv seiner Gründung wurde bereits von manchen Zeitgenossen belächelt, vermeinte er doch, die Antwort in der Qualität eines nationalen Erziehungssystems sehen zu können, als dessen beispielhafte Spitzen er ausgerechnet Abbotsholme und Bedales sowie das „Colonial College, Hollesley“, 41
Demolins, Edmond (1898): Anglo-Saxon Superiority: to what it is due, The Leadenhall Preß, New York: Charles Scriber‘s Sons. Dem Innentitel des Buches ist eine Weltkarte vorangestellt, die die Ausdehnung des Empire der „Anglo-Saxon race“ (einschließlich ganz Nordamerika) zeigt.
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eine Landwirtschaftsschule bei Felixstowe, ansah. Es scheine ihm nicht aufgegangen zu sein, schreibt ein englischer Kritiker 1897, dass diese Schulen weit davon entfernt sind, als typisch englische gelten zu können, da sie „fast einmalig in ihrer Art sind (es würde schwierig sein, eine vierte zu nennen) …“ Das bilde „… eine schmale und unsichere Basis für die Glorifizierung des Angelsachsentums“.42 Das eigentliche Schulprogramm der 1899 gegründeten „Ecole des Roches“ veröffentlicht Demolins 1898 unter dem Titel „L’Education Nouvelle. L’Ecole des Roches“. Die „Ecole“, anfangs eine Jungenschule, erst später werden einige Mädchen zugelassen, ist auf einem 23 Hektar großen Anwesen in der Normandie, Departement Eure, nahe Verneuil-sur-Avre untergebracht. Das Buch enthält u.a. 26 Fotos aus Abbotsholme bzw. Bedales, darunter zahlreiche Bilder von Schülergruppen, allerdings keines, das die Schüler in einer „normalen“ Unterrichtssituation zeigen würde. Die Fotos sollen das Besondere demonstrieren, das eben darin liegt, dass die Schüler sich auf selbständige Weise mit verschiedenen sinnvollen Arbeiten draußen beschäftigen (Bauen, Bäumefällen, im Gemüsegarten, bei Erntearbeiten u.a.). Gezeigt wird auch der Speisesaal von Abbotsholme sowie eine Zeichnung des Speisesaals „en construction“ der „Ecole des Roches“: in beiden Fällen bietet sich ein gediegenes, royales Ambiente mit großem offenen Kamin, das Gemeinschaft und Würde suggeriert, eine durchaus angemessene Umgebung für Ritter Artus‘ Tafelrunde. Als Titelvignette des Buches dient das Schulwappen, ein Schild mit der Aufschrift: „Ecole Nouvelle. Bien armés pour la vie“. Ein großer Teil des Buches ist den beiden „Mutterschulen“ Abbotsholme und Bedales gewidmet. Demolins will ausdrücklich die dort praktizierte moderne Erziehung in Frankreich einführen und die designierten Lehrer führten zur Zeit der Abfassung des Buches („ab sofort“43) zu diesem Zweck ein Praktikum an den englischen Schulen durch. Die Grundzüge der Schule sind weitgehend identisch mit den englischen Vorbildern. Aber auch eigene Akzente werden sichtbar. Sie zeigen sich u.a. in einer noch stärkeren Gewichtung der modernen Fremdsprachen und der Naturwissenschaften, in der besonderen Berücksichtigung der modernen Industrie- und Arbeitswelt (Konkurrenzmotiv!) und in der – ansatzweise auch schon bei Reddie vorhandenen – inhaltlichen Gliederung der Oberstufe, nun in vier Zweige: „Lettres“ (Geisteswissenschaften), „Sciences“ (Naturwissenschaften), „Agriculture et Colonisation“ (hier wird u.a. in 7 Wochenstunden „Agrar- und Koloniale Wissenschaft“ und 2 Stunden Buchführung unterrichtet) und „Industrie et Commerce“ (ähnlich wie vorher, aber mehr „Buchführung“ und weniger „Agrar- und Koloniale Wissenschaft“). Für alle Bereiche legt Demolins einen Lehrplan vor. Das Revolutionäre ist im Kontrast zum damaligen höheren Bildungswesen in Frankreich zu sehen, das humanistisch und auf ein geisteswissenschaftliches Studium ausgerichtet war. Demolins stellt in einem sorgfältigen Vergleich der Lehrpläne die Unterschiede heraus. Analog zu den englischen Vorbildern – und ein Novum in der schulpädagogischen Landschaft des „bürgerlichen“ Frankreichs – bilden die „Praktischen Arbeiten“. (Einen in dieser Hinsicht vergleichbaren sozialistischen Schulversuch hat es in Frankreich bereits von 1880 bis 1894 gegeben, nämlich Paul Robins Waisenhaus in Cempuis – siehe im Kapitel über die „Freien Alternativschulen“.) Die „Praktischen Arbeiten“ machen in der „Ecole“ einen großen Teil der Nachmittage aus, insgesamt ca. 15 Wochenstunden: „1. Land- und Gartenbau, 2. Arbeiten mit Holz und Eisen, 3. Besuche von Bauernhöfen und Industriebetrieben, Sammeln von Mineralien, Pflanzen und Tieren, Feldvermessung, Kartenzeichnen, etc.“ Am Abend sind künstlerische Beschäftigungen und gesellige Veranstaltungen vorgesehen; von Montag bis Sonntag: „Lektüre: das Leben der wirklich großen Männer; Rezitationen und (Theater)Aufführungen; Skulpturarbeit in Holz, Modellieren, etc.; Tanz; Konzerte: Musik und Gesang; Konferenzen und (Bild)Projektionen; moralische und soziale Instruktionen.“44 In all dem zeigt sich ein „ganzheitlicher“, zumindest erweiterter Bildungs42
Journal of Education, Nov. 1897, hier zit. nach: Stewart, a.a.O., S.72 Demolins, a.a.O. (1898), S. VIII 44 Ebd., Übersicht unpaginiert, nach S.82 43
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begriff, der weit über den des traditionellen Lehrplans hinausgeht. – Ein besonderes Anliegen ist Demolins die Herausarbeitung des „neuen Lehrertyps“ als notwendige Bedingung der neuen Erziehung. Er ist ein sich völlig seiner Aufgabe hingebender und mit hohen erzieherischen wie didaktischen Qualifikationen begabter (Über?)Mensch und steht als solcher in einem absoluten Kontrast zum „alten Lehrertyp“ des Stundengebers und Paukers. Beiden „Typen“ widmet Demolins je ein umfangreiches Kapitel seines Buches. Demolins plädiert auch für die Gründung von Berufsschulen auf der Grundlage einer „Neuen Erziehung“ – und hier geht der Soziologe weit über den sozialen Horizont seiner englischen Vorbilder hinaus – , denn es gehe nicht nur darum, dem Arbeiter ein spärliches Auskommen zu sichern, sondern ihn in die Lage zu versetzen, „sich zu erheben“. Nicht gemeint ist die Vorbereitung zum bewaffneten Klassenkampf. Er diagnostiziert in der aktuellen „évolution sociale“ die Tendenz einer Abschwächung der althergebrachten Klassengegensätze, allerdings ohne eine stichhaltige Begründung und Analyse seines Befundes zu liefern. In dieser Situation müsse eine Art von Erziehung geschaffen werden, die es dem Arbeiter ermöglicht, seinen sozialen Aufstieg zu erwirken.45 Die „Ecole des Roches“ wurde ein vielbeachteter pädagogischer (sicher kaum ein imperialistisch münzbarer) Erfolg und regte die Gründung von weiteren – bis 1910 insgesamt acht – Schulen an, allerdings verlief die Entwicklung weit weniger dynamisch als in Deutschland und der Schweiz.46 Auf eine der Neugründungen sei besonders hingewiesen, da sie einen der wenigen sozialistischen Erziehungsversuche ausmacht. Röhrs schreibt über die 1905 in Rambouillet (Seine-et-Oise) gegründete Schule „La Ruche“: Hier zeige sich „ein neues Motiv, das zwar in der Lietzschen Anstalt Veckenstedt einen Vorläufer hat, aber davon nicht beeinflusst wurde. (Röhrs übersieht hier, dass Veckenstedt erst 1914 gegründet wurde – E.S.) Der Gründer der Anstalt, Sébastien Faure, hat als Verfechter sozialistischer Ideen die Schule für Waisen, Arme und Verwahrloste auf genossenschaftlicher Basis entwickelt. Die Schule umfasst einen landwirtschaftlichen Betrieb, der nach den Grundsätzen der Produktionsschule bewirtschaftet wird. Die Kinder, die zu einem Drittel an dem Ertrag beteiligt sind (zwei Drittel fallen der Schule zu), lernen außerdem ein Handwerk. Dadurch erhalten sie nicht nur eine realistische Vorbereitung auf das Leben, sondern sie erfahren auch eine wirtschaftliche Startsicherung, wenn ihnen beim Verlassen der Schule der Betrag für ihre Arbeit ausgezahlt wird.“47
4
Leonard Nelson, Minna Specht und das sozialistische Landerziehungsheim „Walkemühle“48
Dass die Form des Landerziehungsheims in den Dienst durchaus verschiedener, ja konträrer Ziele gestellt wurde, zeigt auch die sozialistische „Walkemühle“, deren geistige Eltern – Leonard Nelson (1882-1927) und Minna Specht (1879-1961) – gleichwohl das Lietzsche Werk hochschätzten und von ihm zu profitieren suchten. Nelson stammt aus einem hugenottischen und jüdischen, hochgebildeten Elternhaus. Nach Studium, Promotion und Habilitation wird er Privatdozent, 1919 dann außerordentlicher Professor für Philosophie in Göttingen. Sein politisch-pädagogisches Anliegen ist die Schaffung einer egalitären, freien Gesellschaft, deren Realisierung er nur durch eine revolutionäre 45
Vgl. Ebd., S.288ff Zur Entwicklung in Frankreich vgl.: Röhrs, Hermann (1980): Die Reformpädagogik. Ursprung und Verlauf in Europa, Hannover u.a.O.: Schroedel, S.112ff und die dortigen Literaturhinweise; ferner: Stewart, a.a.O., S.71ff und: Contou, Ernest (1905): Ecoles Nouvelles et Land-Erziehungsheime. Etude-Programme, Paris: Vuibert & Nony 47 Röhrs, a.a.O. (1980), S.115f 48 Alle Angaben in diesem Abschnitt stützen sich auf: Hansen-Schaberg, Inge (1992): Minna Specht – Eine Sozialistin in der Landerziehungsheimbewegung (1918-1951), Franfurt am Main u.a.O.: Peter Lang 46
Landerziehungsheime 181
Überwindung der Klassengegensätze für möglich hielt. Sein besonderes Interesse an erzieherischen Fragen rührt daher, dass er den geschichtsphilosophischen Glauben des Marxismus, nach der die gesellschaftliche Entwicklung mit innerer Notwendigkeit zum Klassenkampf und schließlich zur Errichtung einer sozialistischen, egalitären Welt führt, nicht teilt. Stattdessen sieht er die Möglichkeit der Erreichung der sozialistischen Ziele in einer zum vernünftigen Handeln – und das heißt in den gegenwärtigen Klassenverhältnissen auch: revolutionären Handeln – führenden Ethik. Es ist eine Ethik der unbedingten Hingabe des einzelnen an die hohen Ziele, die nur durch eine Eliteerziehung, einer Erziehung zum Führertum, erreicht werden kann. Minna Specht entstammt einem großbürgerlichen Elternhaus und wächst auf Schloss Reinbek auf, das die Familie einige Jahre vor ihrer Geburt erworben hatte. Nach Schul- und Universitätszeit erwirbt sie die Befähigung für das Lehramt an öffentlichen Mädchenlyzeen, weigert sich aber, in staatlichen Schulen zu unterrichten. Im Alter von 35 Jahren findet die Begegnung mit Nelson statt, die ihr weiteres Leben entscheidend bestimmen wird. Unter dem Eindruck der Ereignisse des ersten Weltkrieges gründet sie mit Nelson 1917 den „Internationalen Jugendbund“ (IJB). Dessen Mitglieder sind zunächst in der USPD, nach dem Zusammenschluss mit der SPD (1922) in der SPD tätig, bis 1925 der Ausschluss aus der SPD erfolgt. 1926 konstituiert sich die Gruppe neu als selbständige Partei unter dem Namen „Internationaler Sozialistischer Kampfbund“ (ISK). 1922 gründen Nelson und Specht eine „Philosophisch-politische Akademie“, die sich der politischen Erziehung junger Erwachsenen – später in der „Walkemühle“ – widmet. Diese Akademie sowie der IJB bzw. ISK und deren Ziele bilden den sozialen und ideologischen Hintergrund der „Walkemühle“. Nelson hatte schon ab 1907 Kontakte zu Lietz und war vom Leben im Landerziehungsheim und insbesondere auch von Lietz als Lehrer begeistert. Minna Specht geht im Jahre 1918 nach Haubinda, um unter Lietz zu arbeiten. Dies geschieht im Einverständnis mit Nelson und wohl bereits im Hinblick auf die Einrichtung einer eigenen Bildungsstätte. Bei aller Anerkennung der Lietzschen Arbeit erkennt sie durchaus seine Grenzen und kritisiert später vehement seinen Nationalismus und Militarismus. Die „Walkemühle“ war ursprünglich auch eine Sezessionsgründung, und zwar 1921 durch Ludwig Wunder, der als Lehrer und in leitenden Funktionen in Haubinda und Bieberstein tätig gewesen war. Wunder schließt sich nach einem Besuch von Nelson und Specht deren Plänen an und ab 1923 finden die ersten Schulungskurse des ISB statt. Minna Specht zieht 1923 zur Walkemühle und bleibt dort bis zu ihrer Emigration nach Dänemark 1933. Sie übernimmt nach dem Weggang von Wunder (der wohl wegen gravierender ideologischer Differenzen zum IJB unvermeidlich wurde) 1924 die Gesamtleitung der Schule. Die Schule wird getragen aus Stiftungsmitteln, so dass bei der Aufnahme finanzielle Gründe keine Rolle spielen. In ihrem Konzept, das anlässlich des Antrages zur Genehmigung der Aufnahme grundschulpflichtiger Kinder (stattgegeben durch das preußische Kultusministerium im August 1924) formuliert wurde, heißt es u.a.: „Der Erziehungsplan ... gründet sich auf die erzieherischen Gedanken der Philosophen Sokrates, Platon, Kant, Fries und Nelson und auf die praktischen Erfahrungen des Erziehers Lietz“ und weiter, „dass es sich hier um ein noch niemals versuchtes Experiment handelt, nämlich um den ... Versuch, die von unseren größten Philosophen erarbeiteten Grundsätze der Vernunft auf die Erziehung anzuwenden...“49 Hinsichtlich der Gemeinsamkeiten und Unterschiede mit Lietz bemerkt HansenSchaberg: „Minna Specht und Leonard Nelson übernahmen von Hermann Lietz den organisatorischen Rahmen des Internats auf dem Lande und die pädagogische Idee der Schulgemeinschaft. Die Gemeinsamkeiten der Walkemühle mit den Lietz’schen Einrichtungen bestanden im Wesentlichen in fünf Punkten, nämlich 1. Dem Anspruch, theoretisches und praktisches Arbeiten miteinander zu verbinden, 2. Exemplarisches Lernen im Projektunterricht anzustreben, 3. Haus- und Gartenarbeit als Gemeinschaftsaufgabe anzusehen, 4. Schülerleistungen 49
Wunder, zit. nach Hansen-Schaberg, ebd., S.40f
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nicht durch Zensuren, sondern durch ‚Prüfungstage‘ zu sanktionieren und 5. Dem Versuch, das einfache ländliche Leben durch kulturelle Abendveranstaltungen, die sog. ‚Kapelle‘ zu bereichern. Bezüglich der Inhalte und Zielvorstellungen bestanden aber erhebliche Differenzen. ... Minna Specht setzte Nelsons theoretischen Ansatz in die Pädagogik der Walkemühle um und schuf so eine Schule, die innerhalb der Landerziehungsheimbewegung eine Ausnahme darstellt. Die Sonderstellung der Walkemühle begründete sich einerseits aus dem Zusammenwirken der Ideen des Sozialismus, des Internationalismus, der Emanzipation, des Pazifismus, des Antiklerikalismus, des Vegetarismus und der Abstinenz, andererseits aus der konsequenten Einlösung des Anspruchs der Gleichberechtigung von Frauen und Männern, von Arbeitern und Akademikern, nämlich in der Gestalt, dass jedem geeigneten Kind, Jugendlichen und Erwachsenen der kostenlose Schulbesuch ermöglicht wurde. Die Walkemühle hatte den Charakter einer Insel, auf der ein sozialistisches Gemeinschaftsleben erprobt werden sollte und wurde. Für alle an der Walkemühle beschäftigten bedeutete dies auch, dass sie unentgeltliche Erziehungsarbeit zu leisten hatten. Die Kinderabteilung entsprach am ehesten dem, was bislang in der Literatur unter einem Landerziehungsheim verstanden wird. Der Begriff muss angesichts der Errichtung der Philosophisch-Politischen Akademie an der Walkemühle dahingehend modifiziert werden, dass auch die politische Bildung und Erziehung junger Erwachsener einbezogen sind.“50 Es ist eine Schule besonderer Art, die in sich zwei Zweige vereint, deren pädagogische Arbeit allerdings kaum gegensätzlicher gedacht werden kann: Die Erwachsenenabteilung und die Kinderabteilung. Die Erwachsenenabteilung ist eine rigide Kaderschmiede zur Ausbildung und Rekrutierung von Führern im Dienste des IJB/ISK. Die Teilnehmer kommen aus dessen Umfeld und werden nach strengsten Maßstäben selektiert. Es wird darauf geachtet dass sie „Führerqualitäten“ haben, nicht einer Kirche angehören, nicht zu enge private Bindungen haben „... (etwa solche, die der fragliche Genosse nach Ablauf der WM-Zeit weiterzuführen beabsichtigt)?“, dass sie kommunetauglich sind, („Wie stellt sich der Genosse zu den Anforderungen des Kommunismus innerhalb der Gemeinschaft?“)51, dass sie geeignet sind, zölibatär zu leben usw. – insgesamt ein denunziatorisches Ausleseverfahren, das den Menschen vollkommen in den Bannkreis politischer Zwecke stellt. Die ganze ein- bis mehrjährige Ausbildung trägt den Charakter einer archaischen Initiation, der die Transition in ein neues, dem politischen Kampf geweihtes Dasein folgt. Ganz anders die „Kinderabteilung“. Den Kontrast kann man sich nur so erklären, dass unter dem Blickwinkel der hehren Ziele die von den verderblichen Einflüssen der kapitalistischen Gesellschaft bereits affizierten Erwachsenen auf den Kampf gegen diese Gesellschaft vorbereitet werden müssen. Das schließt einen Kampf gegen die eigenen „falschen Triebe“, das „falsche Selbst“, ein. Es handelt sich also bei den Erwachsenen um eine nachholende, „heilende“ Erziehung „ante festum“, während die noch unschuldigen Kinder auf der „Insel“ und in der Kommune bereits das zukünftige bessere Leben erleben, praktisch antizipieren und verinnerlichen können – Erziehung „post festum“, also in einem Raum, der die bessere Welt in ihren Grundzügen schon abbildet. Deshalb hat die Erziehung der Kinder in der „Walkemühle“ einen libertären, ja streckenweise anarchistischen Charakter. Autoritäres Verhalten der Erzieherinnen und Erzieher wird abgelehnt, die Erziehung zur Selbständigkeit großgeschrieben, auch dadurch, dass die Kinder ihre Angelegenheiten weitgehend selbst regeln und soziale Experimente durchführen können. „Zuweilen sei von den Kindern ein Zustand ‚unbeschränkter Freiheit‘ verkündet worden, der nach einer Zeit des Tobens von den Kindern selber wieder mit dem Verlangen aufgehoben worden sei, gewisse Regeln einzuführen.“52 Und ein 50
Ebd., S.173f Ebd., S.51. Vgl. ebd., Anm.147 52 Ebd., S.57 51
Landerziehungsheime 183
ehemaliger Schüler erinnert sich: „Die Mühle hat Erziehung zur Selbstbeherrschung, zur Kritikfähigkeit, zur Selbstbehauptung und zur eigenen Leistung konstruktiv miteinander verbunden. ...Und schließlich, was mir als sehr bedeutungsvoll in Erinnerung geblieben ist, es wurde nicht indoktriniert, vielmehr regte man ständig zu kritischer Fragestellung und Wachheit an.“53 Der Unterricht selbst wird projektartig organisiert und orientiert sich an der Montessoripädagogik. Minna Specht leitet beide Einrichtungen, arbeitet aber hauptsächlich in der Erwachsenenabteilung. 1931 wird diese Abteilung aufgelöst, da sich die Lehrkräfte im politischen Kampf gegen den Faschismus engagieren wollen. Etwa 50 junge Erwachsene sind bis dahin durch die ein- bis dreijährige Funktionärsschulung gegangen und eine Vielzahl lebte für kürzere Zeit zu Schulungszwecken in der Walkemühle. Erst nach 1931 konzentriert sich Spechts Tätigkeit auf die Arbeit in der Kinderabteilung, zeitweise unterbrochen durch redaktionelle Tätigkeiten in Berlin (beim „Funken“). In den Jahren des Bestehens der Kinderabteilung besuchen 12 Mädchen und 22 Jungen im Alter von zwei bis 14 Jahren die Schule. Sie besteht aus zwei Gruppen, eine Kindergarten- und eine Schulgruppe. Die Schule wird 1933 von den Nationalsozialisten geschlossen und beschlagnahmt. Sie dient später als „Gauführerschule“. Minna Specht und ein Teil der Kinder gehen ins Exil, zunächst nach Dänemark, 1938 nach Großbritannien. Es gelingt ihr, die pädagogische Arbeit in der Tradition der Walkemühle fortzusetzen und weiterzuentwickeln: in Dänemark durch die Gründung der Heimschule in Möllevangen/Seeland, später Östrupgaard/Fünen und in Großbritannien durch Anschluss der Schule an die Quäker-Siedlungsgemeinschaft in Cwmavon/Süd-Wales. – In all den Jahren vollzieht sich bei ihr ein Wandel der politisch-pädagogischen Haltung, den man knapp kennzeichnen kann als den Weg von einem ethisch bestimmten revolutionären Sozialismus (Nelsonscher Prägung) zu einem demokratischen Sozialismus. In den Nachkriegsjahren nimmt sie am Wiederaufbau des deutschen Schulwesens teil, u.a. als Leiterin der Odenwaldschule, Unesco-Mitarbeiterin und Inspektorin der Landerziehungsheime.
5
Exkurs: „Nachschulen“ in Dänemark – Die „Haslev-Efterskole“ als Beispiel
Als ich im Juni 1986 die „Haslev-Efterskole“ (Seeland/Dänemark) besuchte, fasste der damalige Schulleiter, Torben Lunn, ein Kernanliegen seiner Pädagogik in dem Satz zusammen: „Die jungen Leute müssen erst einmal Gelegenheit bekommen, sich vom ‚Bücherstaub‘ zu befreien“. Was dieser Satz praktisch bedeutet, wird bei einem Rundgang durch das Gelände mit seinen Gebäuden, es gleicht einem großzügig gestalteten Gutshof, unmittelbar klar. Hier kommen die Jugendlichen mit Erde, mit Stein-, Holz- und Metallstaub in Berührung. In der Holzwerkstatt werden Paneele zugeschnitten und lackiert. Sie werden für Renovierungsarbeiten im Wohngebäude der Schülerinnen und Schüler gebraucht. In der Metallwerkstatt wird die Hebevorrichtung des Traktors repariert. Wenig später sehe ich, wie die Schüler damit Baumaterialien, Ziegelsteine und Dachpfannen, transportieren. Auf der Wiese hinter dem Geräte- und Materialschuppen zersägt eine Gruppen von Mädchen und Jungen Äste und Stämme. Das Holz wird für das große Feuer anlässlich des Jahresabschlussfestes Mitte Juni gebraucht. Dieses Fest ist für viele Schüler gleichzeitig das Schulabschlussfest, denn die meisten verbringen hier nur ein Jahr ihrer in der Regel neun- bis zehnjährigen Grundschulzeit. Freilich spielen auch an dieser Schule Bücher eine bedeutsame Rolle. Denn als gleichwertige Alternative zu den öffentlichen Volksschulen („Folkeskolen“) – das ist die für alle gemeinsame Grundstufe des Bildungswesens, eine integrierte Gesamtschule von neun- bis zehnjähriger Dauer – bereitet diese Schule auch auf die entsprechenden Abschlussprüfungen vor. Und so bietet diese Schule auch theoretische Kurse in geistes- und naturwissenschaftli53
Ebd., S.58
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chen Fächern. Aber durch die vielfältigen Angebote an praktischer und kreativ-künstlerischer Arbeit verlieren die „Bücher“ und die mitgemeinten eindimensionalen Unterrichtsmethoden ihre sonst übliche Dominanz. Gerade „schulgeschädigte“ und wenig lernmotivierte Jugendliche können so ein positiveres Verhältnis zu Büchern und theoretischem Wissen aufbauen. Die dänische „Efterskole“ (dt. „Nachschule“) wurde Mitte der siebziger Jahre in Deutschland besonders durch eine ihrer spezifischen Ausprägungen, nämlich durch die „Internationale Efterskole i Tvind“ (Tvindschule), bekannt. Es handelt sich um eine sozialistische Variante dieser Schulform, deren ideologische und pädagogische Konzeption die radikalen gesellschaftskritischen Strömungen jener Zeit widerspiegelte (Stichwort: 68-Bewegung). Durch ihre spektakulären Aktionen (Nutzung der Windenergie, Reisen in andere Länder und Kontinente mit selbst reparierten Bussen), ihre Kapitalismuskritik und – damit verbunden – ihre engagierten Stellungnahmen zu ökologischen Fragen und Problemen der „Dritten Welt“ erregte diese Schule ein weites internationales Interesse. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der „normalen“ Form der dänischen Nachschule, mit ihren bildungsgeschichtlichen Voraussetzungen und ihrer Stellung im dänischen Schulwesen, wurde durch die Popularität der „Tvind-Schulen“ dadurch aber kaum angeregt.54 (Es entstand bald ein ganzes „TvindImperium“ mit zeitweise acht Efterskolen und einer eigenen Lehrerausbildung. Nach Internetrecherchen und telefonischen Auskünften bestehen heute nach einer sehr wechselvollen Geschichte etwa 35 Tvind-Einrichtungen in den Bereichen „Folkeskole“ einschließlich „Efterskole“, Internationale Volkshochschule und Lehrerbildung.) Heute gibt es etwa 200 Nachschulen, die ein alternatives Konzept für die letzten zwei bis drei Jahre der „Folkeskole“ bieten, also für die etwa 14- bis 16jährigen Jugendlichen. Darunter befindet sich eine deutschsprachige Schule in Südjütland/Dänemark für die deutsche Minderheit und eine dänischsprachige in Nordfriesland/Deutschland für die dänische Minderheit. Bei aller Unterschiedlichkeit des weltanschaulichen und pädagogischen Standortes der Schulen – neben sozialistischen und syndikalistischen Orientierungen finden sich konservativ-christliche und christlich-nationale, ferner eher weltanschaulich-neutrale – lässt sich ihr Konzept doch auf einen gemeinsamen formalen Nenner bringen: Erwachsene und Jugendliche leben, lernen und arbeiten in einer familiären Atmosphäre in gegenseitiger Verantwortung zusammen. In ihrer Organisation und ihren methodisch-didaktischen Maßgaben sind diese Schulen mit den Landerziehungsheimen zu vergleichen, entstammen aber einer wesentlich älteren genuin dänischen Linie. Sie geht zurück auf die (vor allem gegen den deutschen Einfluss gerichteten) national- und volkserzieherischen Bemühungen eines N.F.S. Grundtvig (1783-1872) und Christen Kold (1816-1870). Grundtvig und Kold sind die Väter der dänischen Volkshochschulbewegung. Der Name „Nachschule“ deutet noch auf diese Wurzeln hin. Bis in die sechziger Jahre hinein war die Efterskole eine Heimvolkshochschule, die den meist bereits im Berufsleben stehenden jungen Erwachsenen einen etwa fünfmonatigen Weiterbildungskurs anbot – also für die Zeit nach dem damals siebenjährigen Pflichtunterricht. Der Unterricht wendete sich gegen den „toten Buchstaben“, knüpfte an den Wünschen und Interessen der jungen Erwachsenen an und zielte, frei von verordneten Prüfungen oder Lehrplänen irgendwelcher Art, auf die Entwicklung der ganzen Persönlichkeit. – Diese Grundorientierung der möglichst freien und selbständigen Persönlichkeitsentwicklung ist in den modernen Nachschulen erhalten geblieben, auch wenn zunehmend theoretische Inhalte, schließlich der schulische Fächerkanon aufgenommen und die Möglichkeit der staatlichen Abschlussprüfung geschaffen wurde. Dies wird vielfach als ein unverzeihliches Abrücken von der ursprünglichen Idee der freien Persönlichkeitsentwicklung angesehen, führte aber gerade dazu, dass sich die Nachschule als attraktives alternatives Angebot zur normalen Schule etablieren konnte. Wäh54
Zur näheren Information siehe: Rýdl, Karel (1999): Geschichte und Gegenwart dänischer Schulreformbestrebungen, Frankfurt am Main u.a.O.: Peter Lang
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rend sich in den sechziger Jahren z.T. wegen der zeitlichen Ausweitung der Unterrichtspflicht manche Nachschulen durch den Rückgang ihrer Schülerzahlen in ihrem Bestand bedroht sahen, brachten die siebziger Jahre einen ungeahnten Aufschwung und eine quantitative Ausweitung dieses Schultyps. Heute verbringen etwa 5 % aller Jugendlichen der 8. bis 10. Klassen meist ein, zuweilen zwei, selten auch drei Jahre in der Efterskole. (Mitte der siebziger Jahre betrug der Anteil etwa 2 %.) Für den deutschen Betrachter ist diese Entwicklung um so erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass es sich bei den Nachschulen ausnahmslos um private Einrichtungen handelt. Ermöglicht wurde die starke Entwicklung des privaten Sektors im Bildungswesen erst durch eine vom Grundtvigianismus mitgeprägte liberale Schulgesetzgebung, die beim Vorliegen bestimmter Voraussetzungen den privaten schulpädagogischen Initiativen – nicht nur solche im Bereich der Nachschulen – eine finanzielle staatliche Unterstützung von 85% der Kosten sichert. (Eine vergleichbare und noch darüber hinausgehende gesetzliche Regelung für Privatschulen findet sich auch in den Niederlanden.55) Die staatliche Kontrolle der „Voraussetzungen“ bezieht sich jedoch niemals auf den religiösen, politischen oder pädagogischen Hintergrund der Schule, sondern auf die räumlichen, hygienischen u.a. „äußere“ Bedingungen. „Für die ‚friskole‘ (Privatschule – E.S.) im Umgang mit den Behörden ist es ein gravierenderes Problem, wenn etwa der Feuerlöscher am falschen Platz hängt, als wenn Marx oder Grundtvig die Wände zieren.“56 Im Unterschied zu den „bürgerlichen“ Landerziehungsheimen ist es durch diese staatliche Finanzierungsregelung im Prinzip jedem dänischen Jugendlichen möglich, eine Efterskole zu besuchen. Der Beitrag der Eltern richtet sich nach sozialen Gesichtspunkten und nach dem Einkommen; manche Eltern zahlen keinen Beitrag. Die Schülerschaft kommt aus verschiedenen Schichten der Bevölkerung, entsprechend dem in Dänemark weithin akzeptierten Grundsatz, dass sich im Bildungsbereich keine sozialen Gettos bilden dürfen. Im Gespräch mit den Kolleginnen und Kollegen der Schule zeigt sich, dass die ideologische Orientierung der Schule bei der Schulwahl eine eher untergeordnete Rolle spielt. Die Motive zum Besuch sind heterogen. Manchen soll die Schule einen Ersatz für eine zerbrochene Familie bieten, manche sind an den herkömmlichen Schulen gescheitert und suchen hier einen neuen Anfang, manche Eltern haben mit dieser Form der Schule selbst gute Erfahrungen gesammelt und empfehlen sie deshalb ihren Kindern, manche Jugendliche gehen einfach dem Wunsch nach, fern vom Elternhaus „mal etwas ganz anderes zu machen.“ Tatsächlich ist es eine andere Schule, eine für viele attraktive Alternative für die letzten Jahre der „Folkeskole“. Wie ein Blick in das Schulleben zeigt, entspricht es weitgehend den Landerziehungsheimen, einschließlich der „Chapel“ oder „Kapelle“ mit ihrem besinnlichen, auf die Festigung der Gemeinschaft gerichteten Charakters. Die Schulgemeinde als Ganzes ist täglich bei den gemeinsamen Malzeiten versammelt, ferner – an den Arbeitstagen – bei der halbstündigen „Morgensamling“ religiös-musischen Charakters, die den Arbeitstag einleitet. Zum gemeinsamen Gesang wird hier das „højskolesangbok“ (das Gesangbuch für die Volkshochschule) verwendet. – Einmal in der Woche trifft sich die Schulgemeinde im Versammlungsraum zu einem Vortrag, der vom Schulleiter gestaltet wird. Diese Stunde werde, so Torben Lunn, von den Schülern sehr geschätzt. Ferner sind die 10 Schulfeste im Laufe des Jahres zu nennen, vor allem die Jahreseröffnungs- und –abschlussfeier, zu denen die Eltern eingeladen sind. Ein besonderer Höhepunkt ist die „Lejrskole“, das „Schullager“, wenn die ganze Schulgemeinde im Sommer eine Woche außerhalb der Schule verbringt und eine andere Landschaft nach verschiedenen Gesichtspunkten erkundet. 55 Vgl. dazu: Skiera, Ehrenhard (1986, 2. Aufl. 1991): Das Bildungswesen der Niederlande – Geschichte, Struktur und Reform, Gießen: Ferber 56 Bodenstein, Eckhard (1982): Schulfreiheit und Privatschulwesen in Dänemark – Relikt der Vergangenheit oder Modell für die Zukunft?, in: Grenzfriedensheft 3/1982, S.147
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Der Unterricht im engeren Sinne ist klassenweise organisiert, berücksichtigt die staatlichen Vorschriften und läuft nach meinem Eindruck eher traditionell ab. Einige Nachschulen, darunter die Haslev-Efterskole, stellen sich mit der Konzeption einer 11. Klasse auf die Bildungsbedürfnisse jener Jugendlichen ein, die – aus welchen Gründen auch immer – den etablierten weiterführenden beruflichen oder allgemeinbildenden Bildungsgängen im Anschluss an die „Folkeskole“ (noch) nicht folgen können oder folgen wollen. Neben dem „Unterricht im engeren Sinne“ werden jahrgangsübergreifend Kurse angeboten, die halbjährlich gewählt bzw. gewechselt werden können. Dazu gehören – und dieser Katalog könnte sich heute auch im Lehrplan eines jeden Landerziehungsheimes finden –: Weben, Dramatik (Schauspiel, Pantomime, Rollenspiel), Schwimmen, Medienkunde, Keramik, Biologie, Musik, Elektronik, Metallarbeit, Stoffdruck, Filmkunde, „Forming“ (bildmäßiges Gestalten und Modellieren mit verschiedenen Materialien), Sport, Fotolehre, Holzarbeit, Textiles Gestalten – insgesamt also ein reiches Angebot zur Förderung der musisch-kreativen, ästhetischen, körperlichen und handwerklichen Fähigkeiten. Im Wochenarbeitsplan der Schule sind für diese sogenannten „Blockfächer“ acht Stunden, je eine Doppelstunde an vier Nachmittagen, vorgesehen. Ein Kurs umfasst in der Woche vier Stunden, so dass jeder Schüler zwei Kurse aus dem Angebot wahrnehmen kann. Zusätzlich gibt es die Möglichkeit der freien Arbeit in den Werkstätten. Eine besondere Form des Arbeitens bieten die Projekttage, an denen problemorientiert über mehrere Tage bis zu einer Woche in Gruppen gearbeitet wird. Einige Themen des Schuljahres 1985/86 seien genannt: Energiegewinnung, Sonnenenergie (u.a. Bau einer Kochstelle und einer Warmwasserheizung, gespeist mit Sonnenenergie); Geisteskrankheiten und ihre Behandlung; Jung und Alt, das Verhältnis der Generationen zueinander (Besuch eines Altenheimes, Rentner besuchen die Schule); Rauschmittel: Wirkungen und Gefahren; Spitzensport: die beiden Seiten der Medaille. Die Haslev-Efterskole bietet also ein ausgesprochen reichhaltiges und differenziertes Unterrichts- und Gruppenleben mit zahlreichen Möglichkeiten der sachlichen und kommunikativen Auseinandersetzung und Bewährung. Nach meinem Wissen ist diese Schule durchaus als typisch für die Efterskole im allgemeinen anzusehen mit der Einschränkung, dass die ideologisch-weltanschaulichen Orientierungen innerhalb dieser Gruppe verschieden sind. Die Schulen entstammen einer eigenen dänischen Linie, ihre pädagogischen Prinzipien aber wie Gemeinschaftsleben, selbständiges Arbeiten, Projektgedanke, Mit- und Selbstverantwortung, Offenheit für das gesellschaftliche Umfeld sind mit den Traditionen der Reformpädagogik und hier insbesondere mit den Landerziehungsheimen aufs engste verwandt. Anders als die Landerziehungsheime, da weitgehend öffentlich finanziert, bieten sie im Prinzip eine Alternative für alle Jugendlichen in Dänemark. Die pädagogische – auch die sozialpädagogische – Wirksamkeit dieses Schultyps kann kaum hoch genug eingeschätzt werden. Hier können Jugendliche in der Phase des „psycho-sozialen Moratoriums“ – nicht mehr Kind und noch nicht Erwachsener – außerhalb der gewohnten, vielfach als einengend erlebten oder gar wirklich bedrückenden Umgebung neue Bindungen aufbauen, neue Erfahrungen sammeln, eigene Interessen artikulieren und entfalten, ihr „Selbst“ entwickeln und stabilisieren.
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Ausblick – und als Zusammenfassung: die Kennzeichen der Landerziehungsheime (L.E.H) nach Adolphe Ferrière
Der Schweizer Adolphe Ferrière57 (1879-1960), herausragender Kenner der internationalen reformpädagogischen Bestrebungen und Mitbegründer der „New Education Fellowship“ (1921 in Calais) definiert 1920 das Landerziehungsheim als ein „Internat auf dem Lande, das den Charakter der Familie beibehält, wo die persönliche Erfahrung des Kindes als Grundlage dient sowohl für die intellektuelle Erziehung – dies besonders durch Zuhilfenahme der Handarbeit (‚Arbeitsschule’) – als auch für die sittliche Erziehung durch die Ausübung einer ziemlich weitgehenden Selbstregierung der Schüler.“58 Diese Definition bezeichnet Ferrière als „Minimalprogramm“. Ihm lässt er ein „Maximalprogramm“ folgen, das in 30 Punkten ausführlicher auf die gesellschaftliche Funktion, die äußere und innere Organisation, die Aspekte der körperlichen, intellektuellen, sozialen, ästhetischen und moralischen Erziehung eingeht. Grundlage dieses Kriterienkataloges ist die langjährige Erfahrung, die er als Lehrer unter Lietz (im Jahre 1900 in Ilsenburg; 1901 Haubinda) und später als reisender Forscher in verschiedenen Landerziehungsheimen sammeln konnte, ferner die weitgespannte Korrespondenz mit vielen Schulen, die vor dem Ersten Weltkrieg in manchen Jahren auf weit über 2000 Briefe angewachsen war. Neben Lietz, dessen „Genie“ den jungen Lehrer faszinierte und von dem er sagt, dass „ein Prophet vom Himmel gestiegen sei“, lernt er auch die beiden anderen „Gründerväter“ der „Ecoles Nouvelles“ bzw. der „New Schools“ Demolins und Reddie persönlich kennen.59 Allerdings finden sich in den 30 Punkten kaum noch Anklänge an die großen rettungspädagogischen Gesten der Gründerväter, ebensowenig wie nationalistische und imperialistische Anklänge. Es handelt sich eher um den Versuch, ein auf konkrete Erfahrungen gestütztes Idealbild der „Neuen Erziehung“ zu formulieren, das als solches zum Maßstab für Entwicklungen und Beurteilungen im Bereich der Schule allgemein und überall genommen werden könnte. Für Ferrière handelt es sich bei den Landerziehungsheimen um Pionierschulen, die mit dafür sorgen werden, dass die „gewöhnliche Schule, wie sie heute noch ist, verschwinden“ wird. Die „Neue Schule“ wird eine Schule der psychischen und physischen Aktivität sein („école active“) und so in allem das Gegenteil dessen, was die „Alte Schule“ war. „Aus dem Mittelalter hat sie (die „gewöhnliche Schule“ – E.S.) die Herrschsucht beibehalten, anstatt sich in den Dienst der Bereicherung des Lebens zu stellen. Sie geht darauf aus, den spontanen Lebensaufschwung niederzuzwingen, anstatt ihn in seinem Fluge zu fördern. Sie bereitet nicht auf das Leben vor.“60 Als vielleicht wichtigstes programmatisches Dokument der Landerziehungsheimbewegung, das in zahlreichen Aspekten auch noch das heutige Selbstverständnis dieser Schulen widerspiegelt, und als ein solches aus den Gründerjahren der Reformpädagogik überhaupt, gebe ich den Katalog der 30 Punkte nach der Version aus dem Jahre 1920 gekürzt, z.T. stichwortartig zusammenfassend, z.T. zitierend und mit Zwischenüberschriften versehen wieder:
57 Zu Leben und Werk siehe: Hameline, Daniel (1994): Adolphe Ferrière, in: Houssaye, Jean (Hsg.) (1994): Quinze Pédagogues. Leur influence aujourd‘hui, Paris: Armand Colin 58 Ferrière, Adolphe (1920): Das Landerziehungsheim und die Wissenschaftliche Zentralstelle für Landerziehungsheime, Berlin-Fichtenau: Verlag Gesellschaft und Erziehung 59 Vgl. Hameline, a.a.O. (1994) 60 Ferrière, a.a.O. (1920)
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Kennzeichen der Landerziehungsheime nach Adolphe Ferrière I. Schulorganisation, Arbeit, körperliche Erziehung, Reisen 1. „Das L.E.H. ist ein Laboratorium praktischer Pädagogik. Es versucht, Aufklärungs- oder Pionierdienst für die Staatsschulen zu leisten, ...“ 2. „Das L.E.H. ist ein Internat, denn allein unter dem uneingeschränkten Einfluss der Umgebung, in der das Kind reift und heranwächst, lässt sich eine wahrhaft wirksame Erziehung erzielen.“ Allerdings ist es kein Ideal schlechthin. „Der direkte Einfluss er Familie ist – insofern er ein gesunder ist – dem des besten Internats stets vorzuziehen.“ 3. Lage auf dem Lande als „natürlichste Umgebung“ für das Kind und seine körperliche und sittliche Entwicklung; Stadtnähe allerdings wünschenswert (wegen intellektueller und künstlerischer Entwicklung). 4. Die Schüler „bewohnen einzelne Häuser in Gruppen von 10 – 15, die unter der Verwaltung und moralische Leitung eines Erziehers und seiner Frau oder einer Mitarbeiterin stehen.“ 5. „Zusammenerziehung der Geschlechter“ (Koedukation) 6. Handarbeit täglich 1½ bis 2 Stunden; Ziel: vor allem erzieherischer Art (Literaturhinweis von Ferrière auf ein eigenes Werk: La valeur morale des Traveaux manuels), weniger aus Nützlichkeitserwägungen. 7. Arten der Handarbeit: Tischlerei an „erster Stelle“ (ihr werden besondere Qualitäten hinsichtlich der Entwicklung der Geschicklichkeit, Beobachtungsgabe, Aufrichtigkeit und Selbstbeherrschung zugeschrieben), dann: „Bebauung des Bodens und die Aufzucht kleiner Tiere“. 8. Neben der obligatorischen auch Gelegenheit zu frei gewählter Arbeit. 9. „Der Körperpflege dient die natürliche Gymnastik, die entweder vollständig nackt oder wenigstens mit bloßem Oberkörper im Freien ausgeführt wird; außerdem Spiel und Sport. Das Urteil aller Ärzte und Hygieniker über die Vorteile der Nacktheit ist übereinstimmend, und zwar nicht nur vom physischen Standpunkt aus (Luft und Sonnenbäder), sondern auch in sittlicher Beziehung durch Ausschaltung ungesunder Neugier.“ 10. „Die Reisen, zu Fuß oder zu Rad, mit Übernachten im Zelt, mit von den Kindern selbst zubereiteten Mahlzeiten, ...“ zur körperlichen Abhärtung, Entwicklung des Gemeinschaftsgefühls sowie zur Ergänzung und Unterstützung des Unterrichts. II. Unterricht, Bildung, Methodisches, psychologische Grundlegung 11. Intellektuelle Erziehung durch „allgemeine Bildung der Urteilsfähigkeit“ mittels der „wissenschaftlichen Methode“ (Beobachtung, Hypothese, Beweisführung, Gesetz) unter Vermeidung eines bloß enzyklopädischen Unterrichts. Zielperspektive: der „kritische Geist“.
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12. Allgemeine Bildung anfangs auf der Grundlage spontaner Neigungen; später Ergänzung durch eine „spezielle Bildung“: gezielte Förderung und Entwicklung der Interessen und Fähigkeiten im Hinblick auf das Berufsleben. 13. Soweit wie möglich beruht der Unterricht „auf Tatsachen und auf Erfahrung“; Kenntniserwerb durch „persönliche Beobachtung“, ersatzweise auch aus „Beobachtungen anderer“, sprich: aus Büchern. 14. Die persönliche Tätigkeit des Kindes ist das Fundament des Unterrichts. 15. Außerdem: Berücksichtigung der „spontanen Interessen des Kindes“. (Es folgen Thesen aus dem Geist einer vitalistischen, u.a. von Henri Bergsons Begriff des „élan vital“ inspirierten Psychologie zur Entwicklung der Interessen im Alter von 4 bis 18 Jahren: vom „Spielalter“ bis zu komplexen, abstrakten Interessen, „sozialer, psychologischer, philosophischer Natur“). Besonderen Ereignissen im Schulleben und außerhalb werden als „Gesamtunterricht“ in „außerordentlichen Unterrichtsstunden“ Aufmerksamkeit geschenkt.61 (Einfluss von Berthold Otto und seiner „Hauslehrer-Schule“ in Berlin-Lichterfelde.) 16. „Die persönliche Arbeit des Schülers besteht im Aufsuchen und Erforschen von Tatsachen verschiedenster Art ...“; logische Ordnung derselben, selbständige Arbeiten und Vorträge vor der Klasse. 17. Gemeinsame Arbeit durch Austausch der Ergebnisse und Anlegen eines reich illustrierten Heftes, das dem Schüler „vollkommenen Ersatz für jedes Lehrbuch bietet“. 18. Vormittags eigentlicher Unterricht; nachmittags individuelles Arbeiten. „Das allmähliche, systematische Erlernen selbständiger Arbeiten ist eins der Hauptziele der L.E.H.“ 19. „Täglich werden nur wenige Fächer durchgenommen, nur ein oder zwei.“ Nicht stete Themenwechsel sind wichtig, sondern eine „wahre Mannigfaltigkeit und Lebendigkeit des Unterrichts.“ 20. „Ebenso werden auch nur wenige Fächer im Monat oder Vierteljahr behandelt. (Also eine Art Epochenunterricht – E.S.) Ein sogenanntes Kurssystem, entsprechend dem an der Universität, ermöglicht es jedem Schüler, seinen individuellen Stundenplan zu haben.“ III. Sittliche und sittlich-ästhetische Erziehung 21. „Die sittliche Erziehung darf wie die intellektuelle nicht von außen her, durch erzwungene Autorität, erfolgen, sondern muss von innen heraus geschehen durch Erfahrung, Übung der Selbstkritik und vernünftige Anleitung zum rechten Gebrauch der Freiheit.“ Mehr oder weniger weitreichende Selbstregierung („Generalversammlung“ als Gesetzgebungsorgan); die Schule ist eine „kleine Republik“. 22. „Wo dies vollständige demokratische System nicht vorhanden ist, bilden die meisten L.E.H. konstitutionelle Monarchien; die Schüler wählen ihre Führer oder Präfekten, denen dann eine bestimmte soziale Verantwortung zukommt.“ 61
Zur Psychologie Ferrières vgl. insbesondere: Hameline (1994) und Ferrière, Adolph (1946/1920): L‘Ecole active, Neuchatel u. Paris: Delachaux et Niestlé (Kap. II: Les fondements psychologiques de l‘Ecole active, ebd., S.26-67). Deutsche Ausgabe: Ferrière, Adolphe (1928): Schule der Selbstbetätigung oder Tatschule, Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger (vgl. dort: S.101ff)
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23. Die „kleinen Bürger“ werden im Dienste der Gemeinschaft und zur gegenseitigen Hilfe abwechselnd mit Ämtern betraut. 24. Kreative Fähigkeiten und der Sinn für Eigeninitiative werden in jeder Hinsicht gefördert. 25. „Strafen oder Missbilligung entsprechen direkt den begangenen Fehlern, ...“ (Unterschieden wird zwischen „gesetzlichen Strafen“ die bei „kleinen Verfehlungen“ von den Schülern selbst verhängt werden und Gesprächen mit dem Erzieher bei „ernsteren Verfehlungen“ „psycho-pathologischer“ Art.) 26. „Anregungen erhält das Kind hauptsächlich durch Vergleichung seiner gegenwärtigen Arbeiten mit denen früheren und nicht durch Vergleichung seiner eignen Arbeit mit denen seiner Mitschüler.“ (Gerichtet gegen die Erziehung zum Konkurrenzverhalten.) 27. „Das L.E.H. soll, wie Ellen Key sagt, eine Stätte der Schönheit sein.“ (Zur Entwicklung des Kunstsinnes und „edelste(r) Gefühle“) 28. „Gemeinsame Musik, Gesang und Orchester, übt den tiefsten, reinsten Einfluss auf die aus, die sie lieben und ausüben.“ (Zur Entwicklung eines „starken Gemeinschaftsgefühls“) 29. „Die Schärfung des Gewissens und die Ausbildung des Bewusstseins moralischer Verantwortung geschieht hauptsächlich durch Erzählungen, ...“ 30. Die Erziehung der praktischen Vernunft stützt sich auf die „natürlichen Gesetze des geistigen, individuellen und sozialen Fortschritts“. Es herrscht das Gebot der Toleranz gegenüber verschiedenen Idealen und eine nicht konfessionelle oder interkonfessionelle Haltung in Fragen der Religion.
Diese Kriterien dienen Ferrière als Maßstab und er bestimmt, dass ein Landerziehungsheim wenigstens die Hälfte der Bedingungen erfüllen müsse, um als solches von dem von ihm selbst 1899 gegründeten „Internationalen Büro der L.E.H.“ anerkannt zu werden. Im Jahre 1922 gibt Ferrière die Anzahl der Landerziehungsheime in internationaler Sicht mit 67 an62. Genauer werden in dem oben zitierten Text sechs der bekanntesten Landerziehungsheime unter die 30-Punkte-Lupe genommen, darunter die Gründungen von Reddie (Punktzahl: 22,5), Lietz (22) und Demolins (17,5). Nur eines entspricht dem Idealbild völlig und erhält die Punktzahl 30: die 1910 vom Ehepaar Geheeb gegründete Odenwaldschule. Dabei übersieht Ferrière, dass die Punktzahl 30 wegen des alternativen Charakters von 21 und 22 (Demokratie versus Konstitutionelle Monarchie) gar nicht erreicht werden kann. Das Bestreben Ferrières, die allgemeinen Merkmale der Landerziehungsheime herauszuarbeiten und diese als Impulse für eine allgemeine Schulreform zu erschließen bringt es mit sich, dass die individuelle Gestalt der einzelnen Schule bzw. des einzelnen Heimes nicht hinreichend abgebildet werden kann. Das „zutreffend/nicht zutreffend“ oder das „mehr oder weniger zutreffend“ zeigt aber bereits, dass es sich in konzeptioneller und empirischer Sicht um ein außerordentlich heterogenes Forschungsfeld handelt. Aus der Sicht Ferrières handelt es sich um ein von allen weitgehend getragenes Ideal, hinter dem die Praxis „naturgemäß“ zurückbleiben muss. Im Blick auf die einzelnen Einrichtungen zeigt sich aber in der Differenz 62
Nach Stewart (1968), S.77
Landerziehungsheime 191
zu diesem Idealbild trotz der unbestreitbaren Gemeinsamkeiten (Mitbestimmung, Arbeit, Schullebengestaltung usw.) nicht nur ein Defizit, sondern oft durchaus eine eigene Erziehungskonzeption und Erziehungspraxis. So müssen erhebliche Unterschiede konstatiert werden etwa in der Frage der Koedukation, des Gedankens einer Elitebildung, der Wertschätzung der Familienerziehung und einer familienähnlichen Struktur in den Heimen (Wyneken hält die Möglichkeiten der Entwicklung einer von ihm angestrebten Jugendkultur in der Familie für unzureichend), schließlich auch in der inneren Konstitution der Heime (also in der Sozialverfassung und den Entscheidungsprozessen) sowie – damit eng verknüpft – in der gesellschaftspolitischen Grundausrichtung. Als ein entscheidendes Motiv der Gründergeneration, das in hohem Maße die Geschichte ihrer Initiativen, ihren Erfolg, ihr Fortbestehen, ihre Entfaltung oder ihr Scheitern, mitbedingt, ist die Einbeziehung der konstitutionellen und gesellschaftspolitischen Dimension unverzichtbar. Der Spannungsbogen reicht hier von autokratisch-hierarchischen Strukturen mit nationalistischen Grundzügen (Reddie, Lietz, Demolins) über gemäßigt-demokratische mit internationalistischer Ausrichtung (Badley, Geheeb) bis zu radikal-demokratischen oder anarchistischen Strukturen (Neill). Die ideologische Nähe bzw. der Abstand der jeweiligen Schule zur gesellschaftlichen Verfassung ihrer „Außenwelt“, mithin zu deren Liberalität im Bereich der Bildung, muss als Bedingung der einzelnen Schulgeschichte in Rechnung gestellt werden. Scheiterten die sozialistischen Initiativen oft an den äußeren Widerständen, konnten die konservativ-nationalistischen ihr Fortbestehen meist sichern – in Deutschland bis in die Zeit des Nationalsozialismus hinein. Die Lietzschen Heime etwa konnten sich unter ihrem Oberleiter Alfred Andreesen der nationalsozialistischen Ideologie so weit anpassen63, dass ihr Weiterbestehen gesichert war – hatte doch Lietz bereits eine starke nationalistische Grundhaltung an den Tag gelegt und sogar eine Art „Arierparagraph“ bei der Auswahl seiner Schüler durchsetzen wollen – , während konservativ-humanistische Initiativen (Geheeb, Hahn) oder sozialistische (Specht) in die Emigration gezwungen wurden.64 Schließlich muss noch an das besondere Schicksal der jüdischen Landerziehungsheime in Deutschland erinnert werden, die in einem absoluten – von der „Außenwelt“ ideologischmachtpolitisch konstruierten – kulturellen Gegensatz zur „deutschen Volksgemeinschaft“ standen.65 In einer im höchsten Maße bedrohlichen Umwelt konnten einige dieser Heime noch bis 1939 arbeiten und ihren Bewohnern vorübergehend eine kulturell und existentiell rettende Heimat sein – als eine „pädagogische Insel“ in einer feindseligen, bald mörderischen Umwelt. Die Landerziehungsheime können auf eine inzwischen über hundertjährige Tradition zurückblicken. Ihr Erfolg liegt zweifellos weniger in den weitgesteckten, letztlich ideologisch übersteigerten Zielsetzungen nach einer Erneuerung des Menschen und der Gesellschaft durch Erziehung, sondern in ihrer Möglichkeit, eine bestimmte (meist wohlhabende) Schicht der Gesellschaft anzusprechen und deren Kindern eine – aus welchen Gründen auch immer notwendige oder gewünschte – „Ersatzfamilie“ zu bieten und eine vielseitige Erziehung und Bildung zu ermöglichen. Trotz der weiterhin bestehenden strukturellen Gemeinsamkeiten mit 63
Vgl. dazu: Lassahn, Rudolf und Ofenbach, Birgit (1986): Die Lietz-Schulen – Lebensgemeinschaft als pädagogische Aufgabe, in: Röhrs, Hermann (Hsg.) (1986): Die Schulen der Reformpädagogik heute, Düsseldorf: Schwann, S. 67ff 64 Feidel-Mertz, Hildegard (Hsg.) (1983): Schulen im Exil. Die verdrängte Pädagogik nach 1933, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 65 Schachne, Lucie (1986): Das jüdische Landschulheim Herrlingen 1933-1939, Frankfurt/Main. Feidel-Mertz, Hildegard und Paetz, Andreas (1994): Ein verlorenes Paradies. Das jüdische Kinder- und Landschulheim Caputh (1931-1938), Frankfurt/Main
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den Gründerschulen hat sich deren Bild gewandelt und heutigen Bedürfnissen angepasst. Das Bildungskonzept dieser Schulen entspricht dem einer offenen, pluralistischen Gesellschaft. Nationalistische oder gar militaristische Anklänge finden sich nicht mehr – im Gegenteil ist die Schülerschaft oft international zusammengesetzt und die Erziehung steht – zumindest konzeptionell – im Rahmen demokratischer Zielsetzungen und einer universellen Ethik. Die von den „Gründervätern“ geforderte und praktizierte spartanische Lebensweise hat sich inzwischen weitgehend überlebt. „Arbeit“ ist, organisiert in zahlreichen „Werkstätten“ (darunter in manchen Heimen heute auch solche für Kfz, Fotografie, Informatik, Computer, Design), zwar immer noch ein wichtiger Bestandteil des Schullebens; sie hat aber den wirtschaftlichen Ernst der frühen Jahre eingebüßt und landwirtschaftliche Arbeit, selbst Gartenarbeit gehören nur noch selten zum Angebot. Dagegen findet sich eine Fülle von Angeboten, die in die Kategorie „sinnvolle Freizeitbeschäftigung“ gehören und geeignet sind, die Attraktivität für Eltern und Schüler zu erhöhen wie beispielsweise Golf, Tennis, Reiten, Kletterkurse, Segeln, Segelfliegen, Mountainbike und vieles andere.66 Der von den „Gründervätern“, von Ferrière und gelegentlich auch von heutigen Vertretern der Landerziehungsheime geäußerte Anspruch, Landerziehungsheime bildeten eine reformerische Avantgarde und könnten in besonderer Weise dem Fortschritt des regulären Schulsystems dienen, muss meines Erachtens durchaus relativiert werden. Unbestreitbar ist allerdings das historische Verdienst. Die Schulen haben in den Anfangsjahren die Diskussion um die innere Reform der Schule maßgeblich beeinflusst; sie kamen in Wort und Tat dem erwachenden Pathos einer wachsenden, mit den schulischen Verhältnissen unzufriedenen Erzieherschaft entgegen. Zahlreiche Reformmotive, deren Ursprung keineswegs in den Landerziehungsheimen liegt, sondern – wie ein Blick auf die „frühe Schulkritik und die Idee einer menschenfreundlichen Schule“ (s.o.) zeigt – bis weit in die Geschichte der Erziehung zurückweist, wurden nun mittels einer immensen pädagogischen Publizistik und Touristik in eine breitere pädagogische Öffentlichkeit hineingetragen. Das Beispiel der Landerziehungsheime hat so zusammen mit dem Strom anderer Reformbemühungen dazu beigetragen, dass das Bild der didaktisch-methodischen Normalform der Schule sich zu wandeln begann. Freilich konnte es sich, sofern der Einfluss in die Gestaltung der Praxis selbst reicht, „nur“ um die Übernahme bzw. mehr oder weniger modifizierte Adaption einzelner – wenn auch in der Summe ggf. zahlreicher – Momente handeln, da die Form des Landerziehungsheims als Modell für das allgemeinbildende Schulwesen nicht taugt. Diese Schranke wurde bereits von selbstkritischen Vertretern der Landerziehungsheime in den zwanziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts gesehen und differenziert reflektiert. So weist Steche etwa auf die „großen Gefahren“ hin, die gerade „in dieser engen Gemeinschaft, in diesem abgeschlossenen Zusammenleben stecken“. Er nennt u.a.: x x x x 66
den Zwang – er spricht gar von einer Vergewaltigung des heranreifenden Geistes – , der von übermächtigen Leiterpersönlichkeiten ausgehen kann; den mangelnden Kontakt mit dem praktischen Leben, der für die Schulabgänger häufig in eine schwere Krise mündet; den von der Gemeinschaft ausgehenden normierenden „geistigen Zwang“, der gerade die „lebensvollsten und entwicklungsfähigsten Charaktere, Schüler wie Lehrer“, abstoße und die Gefahr der Erstarrung in sich birgt; die Isolierung vom Elternhaus;
Vgl.: Vereinigung Deutscher Landerziehungsheime e.V. (Hsg.) (1998): Deutsche Landerziehungsheime – Internatsschulen in freier Trägerschaft, Berlin (Geschäftsstelle: Hedemannstr. 14, D-10969 Berlin). In der Broschüre werden 21 Schulen vorgestellt, darunter auch die Geheeb’sche Gründung Ecole d‘Humanité in der Schweiz.
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x
die Entfernung von der Stadt mit ihren doch auch anregenden Möglichkeiten. (Vor allem aus diesem Grund hatte Geheeb seine Odenwaldschule 1910 bewusst in Stadtnähe, Darmstadt, angesiedelt.)
Wohl hält auch Steche daran fest, dass für „die öffentlichen Schulen ... die Landerziehungsheime doch in vieler Beziehung bahnbrechend gewesen“ seien. Doch als „ideale Lösung“ schwebt ihm vor: „dass die Erziehungsanstalten nicht so stark wie bisher von der Stadt getrennt würden, sondern dass sie ihre Stätten in der Peripherie größerer Orte hätten, und dass die Kinder im Elternhaus wohnen, aber den ganzen Tag der Lebensgemeinschaft der Schule angehören könnten.“67 So bleiben diese Heime bei allem historischen Verdienst und bei aller Öffnung gegenüber modernen Tendenzen als Modell für Schulreform ungeeignet. Das gilt in einem noch höheren Maße für die heutige Situation. Denn für drängende pädagogische Probleme – wie Multikulturalität der Schülerschaft, Integration von Behinderten, Gewalt- und Suchtphänomene, Integration von Kindern aus sozial schwachen Schichten – können diese Heime keine übertragbaren Lösungen erarbeiten, weil sie in der Regel diese Probleme wegen der vorgängigen Selektionsmechanismen (sehr hohes Schulgeld; in den meisten Fällen gymnasiale Einrichtungen und entsprechende Auslese) und wegen der Segregationsmöglichkeiten nach erfolgter Aufnahme (Schulverweis bei Regelverstoß) nicht oder nicht in einem mit den öffentlichen Schulen vergleichbaren Umfang haben. Schließlich muss bedacht werden, dass der hohe Betreuungsfaktor (kleine Lerngruppen, zahlreiche Zusatzangebote, „Rund-um-die-Uhr-Betreuung“) schon aus politisch-ökonomischen Gründen nicht allgemein zu realisieren ist. – Diese Hinweise gelten nicht in gleichem Maße für den besonderen Fall der dänischen „Nachschule“, die – wie gezeigt – ein weithin beachteter und akzeptierter Bestandteil der Bildungslandschaft geworden ist, der wegen der größtenteils öffentlichen Finanzierung im Prinzip jedem dänischen Jugendlichen bzw. jeder Jugendlichen offensteht. Es wird sich freilich zeigen, dass wichtige pädagogische, methodische und organisatorische Momente der Landerziehungsheime auch in den anderen, später entstandenen Schulen und Schulkonzeptionen – nun in eigener theoretischer Ausformung und praktischer Gestalt – wieder auftauchen, so dass ein vermittelnder Einfluss konstatiert werden kann und muss, wenn dieser auch in seiner Mächtigkeit nicht eindeutig zu bestimmen ist.
67
Steche, Otto (1924): Bergschule Hochwaldhausen, in: Hilker, Franz (Hsg.) (1924): Deutsche Schulversuche, Berlin: C.A. Schwetschke & Sohn, S.177 (Zu den vorigen Hinweisen im Text: vgl. ebd., S.174ff)
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Kapitel 6
Die Montessori-Schule: Erziehung als Hilfe zur Arbeit an sich selbst nach dem eigenen Entwicklungsgesetz Maria Montessori, italienische Ärztin, Pädagogin, Pionierin der Friedensbewegung und des Kampfes für die Rechte des Kindes und der Frau gehört zweifellos zu den faszinierendsten Gründergestalten der internationalen reformpädagogischen Bewegung. Sie übernimmt 1907 die Leitung eines in Rom neu eingerichteten „Kinderhauses“ – Casa dei bambini – , eine Einrichtung zur Erziehung von Vorschulkindern, die zum „Mutterhaus“ einer bald weltweit sich entfaltenden Bewegung zur Erneuerung der Erziehung werden sollte. Der Bereich der Vorschule bleibt – quantitativ betrachtet – das bevorzugte Wirkungsfeld der Montessoripädagogik, allerdings weitet Montessori auf vielfachen Wunsch zusammen mit ihren Mitarbeiterinnen ihre Konzeption in den Primarbereich, später auch in den Sekundarbereich aus. In letzterem konnte sich die Montessoripädagogik nicht annähernd so erfolgreich etablieren wie im Elementar- und Primarbereich. Das hängt unter vielem anderen damit zusammen, dass eine Pädagogik, die auf die selbsttätige und primär selbstgesteuerte Entwicklung der Persönlichkeit setzt, den zweiten Pol des Bildungsprozesses – die Forderungen der Kultur und Gesellschaft sowie die Bedeutung des Lehrens – theoretisch nicht hinreichend reflektieren kann. Gleichwohl sind auch die Versuche und Schulen im Sekundarbereich bemerkens- und beachtenswert. Im europäischen Raum konnte sich die Montessoribewegung am stärksten in Deutschland1 und in den Niederlanden entfalten. Die ersten Montessori-Grundschulen (damals sechsjährig) in den Niederlanden wurden im Jahre 1919 gegründet (Amsterdam, Den Haag, Delft), die erste entsprechende Gründung in Deutschland fällt auf das Jahr 1924 (Jena). Nach einem Dokumentationsprojekt aus dem Jahre 1993 bestanden in Deutschland ca. 80 Montessori-Kinderhäuser (bzw. Kindergärten) und etwa 130 Montessorischulen, überwiegend im Bereich der Grundschule (vierjährig). Die Anzahl der niederländischen Montessorischulen lag bei etwa 165; 13 davon waren Sekundarschulen, die übrigen „Basisschulen“ für die vier- bis zwölfjährigen Kinder.2 Die Anzahl der Montessorischulen heute (im Jahr 2009) dürfte weitaus höher liegen. Nach dem politischen Umbruch 1989 in den ehemals kommunistischen Staaten des Ostens ist auch dort das Interesse an der Montessori-Pädagogik erwacht mit inzwischen zahlreichen Initiativen im Elementar- und Primarbereich sowie in der pädagogischen Forschung. In den außereuropäischen Ländern ist Amerika an erster Stelle zu nennen. Ein erster Höhepunkt ist in Zusammenhang mit Montessoris Amerikabesuchen in den 1920er Jahren mit über 1500 Einrichtungen festzustellen, dem ein geradezu dramatisches Absinken in die Vergessenheit während der Zwischenkriegszeit folgte. Der zweite Höhepunkt der Montessoribewegung setzte in den fünfziger Jahren ein und führte zu einem dauerhaften Aufschwung mit inzwischen einigen tausend Einrichtungen.3 So hat sich die Montessoribewegung trotz mancher Rückschläge als die stärkste Kraft im Bereich reformpädagogischer Initiativen etablieren können. Das ist zum einen der außergewöhnli1
Günnigmann, Manfred (1979): Montessori-Pädagogik in Deutschland, Freiburg: Herder Vgl.: Klaßen, Theodor F. und Skiera, Ehrenhard (Hsg.) (1993): Handbuch der reformpädagagogischen und alternativen Schulen in Europa, Baltmannsweiler: Schneider Verlag (ebd. auch Anschriftenlisten) 3 Genauere Angaben in: Chattin-McNichols, John (1992): The Montessori Controversy, Albany NY: Delmar Publishers. Vgl. auch: Röhrs, Hermann (1994): Die internationale Wirksamkeit der Montessori-Pädagogik am Beispiel des Einflusses auf die Progressive Education in den USA, in: ders. und Lenhart, Volker (Hsg.): Die Reformpädagogik auf den Kontinenten, Frankfurt am Main u.a.O.: Peter Lang, S.227ff 2
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chen Persönlichkeit Montessoris zuzuschreiben, die mit ihrer charismatischen Botschaft den kultur- und schulkritischen „Nerv der Zeit“ traf und sich den suchenden Zeitgenossen als Führerin in eine bessere Welt der Erziehung und darüber vermittelt in eine bessere Welt überhaupt anbieten konnte. Zum anderen ist es die Konkretheit und empirische Zugänglichkeit ihres Ansatzes, die eine dauerhafte Tradition mit solch weitreichender Wirkung begründen konnte. Nicht nur das Kind hat – mit dem „Entwicklungsmaterial“ – buchstäblich und symbolisch „etwas in der Hand“, sondern auch die Lehrerin und der Lehrer. Sie wissen nach entsprechender Schulung genau, wie eine dem Kind eigene Welt der Erziehung einzurichten ist, wie sie funktioniert und welche Aufgabe ihnen darin zukommt.
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Maria Montessori (1870-1952) – Leben, Werk, Grundgedanken
1.1 „Ich bin Montessorianerin“ Edward M. Standing, ein seit 1921 Montessori eng verbundener Mitarbeiter und der erste und noch von ihr selbst autorisierte Biograph ihres Lebens und Wirkens, hat auf den universalen Appell hingewiesen, der von Montessoris Werk ausging. In den „neuen Kindern“, das heißt, in der nach Montessoris Prinzipien gestalteten Erziehungswelt konnten Anhänger verschiedener und gegensätzlicher Weltanschauungen ihre Ideale verwirklicht sehen. Der Sozialist sah in ihr nach Montessoris eigenen Worten „in verkleinertem Maßstab die menschliche Gesellschaft, wie der Sozialismus sie anstrebt – als Triumph individueller Freiheit bei vollkommener Organisation“.4 Eine „Dame der römischen Gesellschaft“ habe diese Erziehung gelobt, weil sie helfe „Unbeholfenheit und Schüchternheit zu überwinden“ und ein katholischer Geistlicher konnte in der „Demut und Geduld der Lehrerin“, in der „Ruhe und Sammlung der Kinder“ eine „der kindlichen Seele belassene Freiheit zur Selbstvervollkommnung“ sowie die „Achtung vor dem inneren Leben des Kindes“ sehen, allesamt Erziehungsprinzipien, „die direkt aus dem Katholizismus hervorzugehen scheinen.“5 Ein Zeitgenosse Montessoris der zwanziger und beginnenden dreißiger Jahre hätte in der „vollkommenen Organisation“ der Erziehungswelt auch Anklänge an den italienischen Faschismus entdecken und dies – je nach Standpunkt – begrüßen oder verwerfen können. Zwar schreibt Standing: „Als in Italien der Faschismus an die Macht kam, begriff sie sofort, dass ein Erziehungssystem mit dem Ziel einer freien Persönlichkeitsentwicklung in einer totalitären Atmosphäre nicht gedeihen kann; und die Faschisten ließen auch alle ihre Schulen schließen.“6 Die Montessorischulen wurden in der Tat nach erheblichen Konflikten und offenbar unter bis heute noch nicht ganz geklärten Umständen geschlossen – aber erst im Jahre 1934, also 12 Jahre nach der Machtübernahme durch die Faschisten. Inzwischen wissen wir, dass die Beziehung zwischen Montessori und dem italienischen Faschismus durchaus einer differenzierten Betrachtung bedarf. Die Montessoribewegung erlebte nämlich unter dem Faschismus einen beachtenswerten Aufschwung. Montessori erhielt die Anerkennung der „Tessera Fascista“, der faschistischen Frauenorganisation, und sie wurde Ehrenmitglied der Partei. Mussolini empfing sie im Jahre 1927 in Privataudienz. Der Duce fungierte fortan als Ehrenpräsident der „Opera nazionale Montessori“ und Regierungsvertreter hoben die Übereinstimmungen zwischen Faschismus und Montessori4 Montessori, zitiert nach: Standing, Edward M. (o.J.): Maria Montessori. Leben und Werk, Stuttgart: Ernst Klett Verlag, S.58 5 Vgl. Ebd. 6 Standing, ebd., S.83
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methode hervor. Die Biographin Rita Kramer sieht in diesen Bemühungen von faschistischer Seite den Versuch, das internationale Renommee Montesorris für die eigenen machtpolitischen Interessen in Dienst zu nehmen. „Maria Montessori ... wurde durch eine Regierung ausgebeutet wie nie zuvor, die ihren Namen und das Ansehen ihrer Organisation benützte, um ihren eigenen Kredit in der Welt der Erziehung und Kultur aufzuwerten.“7 Aber auch ein innerer Aspekt ihrer Lehre muss in Rechnung gestellt werden. So war Mussolini von dem Gedanken der „Ablösung des Chaos durch Ordnung“8 angesprochen, ein Gedanke, der auch – freilich unter völlig anderen Voraussetzungen – seinen Platz in Montessoris Erziehungswelt hat. Ordnung und Disziplin ist bei Montessori nicht das Ergebnis äußeren Zwanges, sondern die Folge der Möglichkeit, sich nach dem Gesetz der eigenen Natur in Freiheit zu entwickeln. Es ist möglich, dass Montessori wie Mussolini im gegenseitigen Missverstehen ihre je eigenen Zwecke im Bündnis mit dem anderen zu verfolgen suchten bis zu dem Zeitpunkt, als eine Zusammenarbeit wegen der zutage tretenden Gegensätze nicht mehr möglich war. Erstaunlich bleibt freilich die lange Dauer dieser Liaison.9 Wie erklärlich, wie berechtigt oder unberechtigt die Versuche der Indienstnahme und Identifikationen durch verschiedene weltanschauliche Gruppierungen auch sein mögen – Montessori selbst wehrte sich dagegen, in gängige weltanschauliche Kategorien eingeordnet zu werden. Sie fand Unterstützung bei Sozialisten, Faschisten, liberalen Intellektuellen, Katholiken und während ihrer Aufenthalte in Indien bei den Theosophen. Letztere konnten in ihren religiös-mystischen Seiten und in ihrem Eintreten für den Frieden in der Welt eine Geistesverwandtschaft sehen. Auf die an sie in Adyar (Indien) gerichtete Frage aber, ob sie Theosophin sei, antwortete sie abwehrend und selbstbewusst: „Ich bin Montessorianerin“10 – eine Antwort, die gegen jegliche weltanschauliche Vereinnahmung ihr eigentliches Anliegen in den Blick rücken will, nämlich dem Kind, allen Kindern der Welt, zu dienen. Montessori muss also von ihren eigenen Voraussetzungen und Anliegen her verstanden werden. Kern ihres weltweiten Wirkens, ihrer von ihr selbst als universale Mission aufgefassten Aufgabe, ist das Eintreten für eine grundlegende Erneuerung der Erziehung. Das Kind war bisher der Willkür des Erwachsenen ausgeliefert, der es in einer tragischen Verbindung zwar liebte, aber nicht verstand und deswegen die Impulse seines sich entfaltenden Lebens unterdrücken musste. Erst das „befreite“ Kind ist in der Lage, durch Arbeit und Tätigkeiten seiner Wahl gemäß seinem eigenen Entwicklungsgesetz seine Persönlichkeit aufzubauen. Das kann nicht gelingen durch Vorschriften, die mittels Belohnung und Strafe durchgesetzt werden. Vielmehr muss das Kind in eine Umgebung gestellt werden, deren Anreize die Möglichkeit enthält, über die sinnliche Wahrnehmung der äußeren Welt in eine selbst-aufbauende Korrespondenz zu treten mit den inneren Entwicklungsimpulsen. Erziehung besteht dann darin, für schöpferische Berührungspunkte von Innen und Außen zu sorgen. Das geschieht durch das Bereitstellen von geeigneten frei wählbaren und zugänglichen Materialien zur Übung und Entwicklung der Sinne (die Sinne sind das „Fenster“ zur Welt und vermitteln die „Nahrung“ zum Aufbau der Gesamtpersönlichkeit) sowie durch eine angemessene, das heißt auf die wirklichen Bedürfnisse der Kinder abgestimmte räumliche und soziale Organisation der Erziehungswelt. Bei erkennbaren Behinderungen und Kontaktstörungen hat die Lehrerin die Aufgabe, das Kind behutsam zu diesen Berührungspunkten zu führen 7 Kramer, Rita (1977): Maria Montessori. Leben und Werk einer großen Frau, München: Kindler, S.294. Vgl. dazu auch ebd. „Maria Montessori arbeitet unter dem faschistischen System“, S.279ff und „Höhepunkt während der faschistischen Ära...“, S.287ff 8 Ebd., S.282 9 Ausführlich dazu: Leenders, Hélène (2001) Der Fall Montessori. Die Geschichte einer reformpädagogischen Erziehungskonzeption im italienischen Faschismus, Bad Heilbrunn: Klinkhardt 10 Vgl. Kramer (1977), S.334 und S.322
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bzw. solche anzubahnen. Diese Hinführung geschieht behutsam in dem Sinne, dass sie der – durch eine genaue Beobachtung des Kindes erschlossenen – inneren Stimme des Kindes, seinem eigenen, teilweise noch verhüllten Impuls folgt. Ob es sich bei der Arbeit des Kindes wirklich um eine Tätigkeit handelt, die dem inneren Entwicklungsimpuls entspricht (und nicht etwa aus abwegigen Interessen, oberflächlicher Neugier, äußeren Zwängen oder gestörten Beziehungen resultiert), erfährt die Lehrerin an der besonderen Art des kindlichen Handelns. Sein Kennzeichen ist die von innen wirkende Aufmerksamkeit, eine spontane Konzentration während der Arbeit, gleichsam ein selbstvergessenes Mitschwingen in und Mitwirken an der eigenen Entwicklung. Diese Arbeit führt nicht zu einer Erschöpfung des Kindes. Sie ist im Ergebnis eine beglückende Erfahrung, ein Schritt in der geistigen und moralischen Entwicklung. Es ist ein Schritt, der das Kind „gut“ sein und werden lässt, weil es ihn in Freiheit im Einklang mit dem eigenen von Gott gegebenen Entwicklungsgesetz vollziehen konnte. In dieser Voraussetzung – das moralisch Gute ist unter der Maßgabe seiner ungehinderten Entfaltungsmöglichkeit im göttlichen Entwicklungsgesetz eingeschlossen – liegt der messianische Impuls der Montessoripädagogik begründet. So konnte Montessori in dem richtig erzogenen Kind den zukünftigen „Messias“ sehen, den „Lehrmeister des Friedens“, ein „Retter und Erneuerer des Volkes und der Gesellschaft“.11 Als biographisch-werkgeschichtlicher Kristallisationspunkt der Montessoripädagogik und der Montessoribewegung gilt das erste „Kinderhaus“, „Casa dei bambini“, das 1907 in Rom gegründet wurde. Hier beobachtet Montessori zum ersten Mal das Phänomen der tiefen und langanhaltenden kindlichen Konzentration, welches sie später als „Polarisation der Aufmerksamkeit“ bezeichnen wird. Diese Entdeckung ist freilich keineswegs ein unvermitteltes Ereignis. Ihr sind Studien und praktische Erfahrungen auf verschiedenen Gebieten vorangegangen, die Montessori aufmerksam und empfänglich werden ließen für die Äußerungen der Kinder. Die im Kinderhaus erzielten pädagogischen Erfolge und die außerordentliche öffentliche Wirkung dieser Einrichtung bildet gleichzeitig das Aufbruchssignal ihrer weltweiten Wirksamkeit. 1.2 „Casa dei bambini“ in San Lorenzo, Rom. Das „Mutterhaus“ der Montessoripädagogik Am 6. Januar 1907 wird im römischen Stadtteil San Lorenzo das erste „Kinderhaus“, „Casa dei bambini“, in einem Wohnblock eröffnet, dessen Leitung Montessori übernimmt. Eine gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaft hatte es unternommen, den verelendeten Stadtteil durch den Bau von Sozialwohnungen zu sanieren. Die nicht schulpflichtigen Kinder (drei- bis sechsjährige) der arbeitenden Eltern sollen in dem Kinderhaus eine Betreuung erfahren. Sie werden in die Obhut einer im selben Haus wohnenden Betreuerin gegeben. Montessori schaut soweit es ihre anderen Pflichten als praktizierende Ärztin und Universitätsdozentin gestatten herein und nimmt mit Rat und Tat an der Entwicklung der Kinder und des Kinderhauses teil. Die anfangs bescheidene und unzweckmäßige Einrichtung wird bald durch leicht handhabbare Möbel ersetzt, die den Proportionen des Kindes entsprechen; es entsteht eine Wohn- und Arbeitswelt für Kinder. Die entscheidende Neuerung besteht aber darin, dass Montessori den Kindern das didaktische Material in die Hand gibt, mit dem sie vorher bei der Arbeit mit geistig zurückgebliebenen Kindern bereits beachtliche pädagogische Erfolge erzielt hatte. Dies führt bald zu ihrem „Schlüsselerlebnis“, zum – wie es in der Literatur oft genannt wird – „Montessori-Phänomen“: die spontane konzentrierte Aufmerksamkeit des Kindes. Anders nämlich, als die zurückgebliebenen Kinder, die nur mit erheblicher Mühe zur Arbeit mit dem Material zu bewegen sind, zeigen die Kinder des Kinderhau11
Montessori, Maria (1973): Frieden und Erziehung, Freiburg u.a.O.: Herder, S. 13 und 134
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ses von sich aus ein starkes und dauerhaftes Interesse. Sie ziehen es sogar der Beschäftigung mit Spiel- und Malutensilien vor. Das überrascht Montessori. Mit führenden Psychologen ihrer Zeit war sie überzeugt von der Unstetigkeit der kindlichen Aufmerksamkeit. Und es zeigt sich eine Veränderung in der ganzen Person des Kindes: „Die Kinder, die vorher verschüchtert und wild gewesen waren, wurden nun gesellig und mitteilungsfreudig. Es ergaben sich andere Beziehungen zwischen ihnen. Ihre Persönlichkeit entwickelte sich, und sie zeigten außerordentliches Verständnis, Aktivität, Lebhaftigkeit und Selbstvertrauen. Sie waren glücklich und fröhlich.“12 In verdichteter Form beschreibt und interpretiert Montessori diese Erfahrungen mit der Erzählung ihrer Beobachtung eines etwa dreijährigen Mädchens. Sie erzählt diese wenige Minuten dauernde Episode aus dem Leben des kleinen Mädchens im Laufe ihres Lebens des öfteren und noch Jahrzehnte nach dem Ereignis. In nuce liegt in dieser Geschichte und mit dem von ihr „entdeckten“ Phänomen der „Polarisation der Aufmerksamkeit“ des Kindes ihre Erziehungsidee beschlossen samt ihren (kind-)anthropologischen Voraussetzungen, empirischen Bedingungen, weltanschaulichen Bezügen (Anklänge an Naturwissenschaft und Religion) sowie pädagogischen Folgerungen. Aber nicht nur dies. Die Schilderung trägt implizit auch den Charakter einer Selbstcharakteristik, indem sie von der Bedeutung eines intensiven Interesses spricht, einer selbstgewählten Aufgabe, die in ihrem Fall die Beobachtung des Kindes und das Aufdecken der „einfachen und offensichtlichen Prinzipien“ der Entwicklungsvorgänge und die Verbreitung des Wissens darum „in der ganzen Welt“ beinhaltet. In dem dreijährigen Mädchen kann sie sich selbst erblicken als ein Mensch, der sein einmal als richtig erkanntes Ziel gegen alle Widerstände verfolgt. Montessori beobachtet, wie das Kind trotz der von ihr absichtlich vorgenommenen Störungsversuche – sie lässt die übrigen Kinder ein Lied singen, stellt gar das arbeitende Kind samt Stühlchen auf den Tisch – bei seiner „Arbeit“ bleibt, dem wiederholten Zurücksetzen von verschieden großen Zylindern in die dafür entsprechend ausgesparten Vertiefungen in einem Holzblock. (Die Übung dient in erster Linie der Entwicklung des Verständnisses von Größenrelationen.) „Ich hatte 44 Übungen gezählt; und als es endlich aufhörte, tat es dies unabhängig von den Anreizen der Umgebung, die es hätten stören können; und das Mädchen schaute zufrieden um sich, als erwachte es aus einem erholsamen Schlaf. Mein unvergesslicher Eindruck glich, glaube ich, dem, den man bei einer Entdeckung verspürt. Dieses Phänomen wurde allgemein bei den Kindern. Es konnte also als eine beständige Reaktion festgestellt werden, die im Zusammenhang mit gewissen äußeren Bedingungen auftritt, die bestimmt werden können. Und jedesmal, wenn eine solche Polarisation der Aufmerksamkeit stattfand, begann sich das Kind vollständig zu verändern. Es wurde ruhiger, fast intelligenter und mitteilsamer. Es offenbarte außergewöhnliche innere Qualitäten, die an die höchsten Bewusstseinsphänomene erinnern, wie die der Bekehrung. Es schien, als hätte sich in einer gesättigten Lösung ein Kristallisationspunkt gebildet, um den sich dann die gesamte chaotische und unbeständige Masse zur Bildung eines wunderbaren Kristalls vereinte. Nachdem das Phänomen der Polarisation der Aufmerksamkeit stattgefunden hatte, schien sich in ähnlicher Weise alles Unorganisierte und Unbeständige im Bewusstsein des Kindes zu einer inneren Schöpfung zu organisieren, deren überraschende Merkmale sich bei jedem Kinde wiederholten. Das ließ an das Leben eines Menschen denken, das sich zwischen den Dingen in einem niederen chaotischen Zustand verlieren kann, bis eine besondere Sache es intensiv anzieht und fixiert – dann erlebt der Mensch die Offenbarung seiner selbst, und er fühlt, dass er zu leben beginnt.“13 12
Montessori, zitiert nach: Kramer, a.a.O., S.111 Montessori, Maria (1976): Schule des Kindes. Montessori-Erziehung in der Grundschule, Freiburg/Basel/Wien: Herder. Dieses und das folgende Zitat ebd., S.70f 13
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Das Phänomen der Polarisation der Aufmerksamkeit und die damit verbundene „innere Schöpfung“ zeigt sich nach Montessori „als normaler Anfang des inneren Lebens der Kinder und begleitet ihre Entwicklung, so dass es wie ein experimentelles Faktum der Forschung zugänglich ist. Auf diese Weise offenbarte sich die Seele des Kindes und davon geleitet entstand eine neue Methode, in der die geistige Freiheit des Kindes deutlich wurde. Die Erzählung von dieser Anfangsgeschichte verbreitete sich rasch in der ganzen Welt und schien zuerst wie die Geschichte eines Wunders. Dann, als die Versuche bei den verschiedensten Völkern zahlreicher wurden, klärten sich nach und nach die einfachen und offensichtlichen Prinzipien dieser geistigen ‚Behandlung‘“.14 – Noch im Jahre 1948 betont Montessori die Bedeutung der „ersten Offenbarung, die uns die Kinder von San Lorenzo gaben“. Aus ihr folgen weitere erstaunliche Entwicklungen, die – wie Montessori nicht müde wird zu betonen – von den Kindern selbst aufgezeigt worden sind: „die seltsame, unerklärliche Fähigkeit, mit Hilfe des beweglichen Alphabetes lange Wörter wiederzugeben, deren Bedeutung sie nicht einmal kannten; das erstaunliche Phänomen der Explosion des Schreibens (Nach verschiedenen vorbereitenden Übungen mit dem beweglichen Alphabet hatten die etwa vierjährigen Kinder plötzlich jedes für sich und mit großer Aufregung die Fähigkeit entdeckt, schreiben und – bald darauf – lesen zu können. – E.S.), aber auch die fast an Wunder grenzende Festigung der spontanen Disziplin bei so kleinen Kindern.“15 Das Kinderhaus in San Lorenzo wird bald zum Mekka reforminteressierter Pädagogen aus aller Welt. Es folgen neue Gründungen in Rom, bald auch in anderen Städten und im Ausland. Auf vielfachen Wunsch werden die Versuche in die Grundschulstufe weitergeführt. Montessori schreibt – wie es heißt in nur wenigen Wochen – ihren ersten großen Bericht über die Versuche im Vorschulalter, der im Jahre 1909 in Italien als Buch erscheint und dem bald Übersetzungen in verschiedene Sprachen folgen.16 Das Buch wird ein pädagogischer Bestseller und kann noch heute als Einführung in ihr Werk empfohlen werden. Ein Bericht über die Arbeit in Grundschulen, „scuole elementari“, erscheint im Jahre 1916 mit ausführlichen Angaben zu den wichtigsten Lernbereichen, dem bereits zwei Jahre später eine zweibändige englische Übersetzung folgt.17 Das „Wunder von San Lorenzo“ hat seine eigene Vorgeschichte, die in den ersten Studien- und Berufsjahren Montessoris aufzusuchen ist und darüber vermittelt weit tiefer in die Erziehungsgeschichte hineinreicht. Die Folgegeschichte San Lorenzos wurde schon angedeutet: es ist die Verbreitung und internationale Etablierung eines Schul- und Erziehungssystems, das nicht nur für sich bedeutsam ist, sondern darüber hinaus zahlreiche Anregungen für das Erziehungsdenken und –handeln überhaupt gegeben hat. Im Laufe der Folgegeschichte hat Maria Montessori keinem Kinderhaus oder einer anderen allgemein- oder berufsbildenden Schule mehr vorgestanden. Gleichwohl ist sie nicht nur mit der Verbreitung ihrer frühen Ideen und der Organisation einer bald weltweiten Bewegung befasst. Sie initiiert weiterhin Versuche, theoretisiert und bereichert ihr System in der bereits skizzierten Suchlinie, u.a. indem sie neue Begriffe „absorbiert“ und adaptiert, so dass ein umfangreiches praktisch-pädagogisches und theoretisches Werk entsteht.
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Montessori, Maria, a.a.O. (1976), ebd. Montessori, Maria (1969): Die Entdeckung des Kindes, Freiburg: Herder, S.356 16 Montessori, Maria (1909): Il metodo della pedagogia scientifica applicato all’educazione infantile nelle case dei bambini, Città de castello; dt.: (1913): Selbsttätige Erziehung im frühen Kindesalter, Stuttgart: Julius Hoffmann 17 Montessori, Maria (1918): The Advanced Montessori Method. Scientific Pedagogy as Applied to the Education of Children from seven to eleven Years, London: William Heinemann (2 Bde) 15
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1.3 Zur Vorgeschichte: Montessoris „Weg nach San Lorenzo“ Maria wird im Jahr der staatlichen Einigung Italiens am 31. August 1870 als einziges Kind des Finanzbeamten Alessandro Montessori und seiner Ehefrau Renilde, geb. Stoppani in Chiaravalle, Provinz Ancona, geboren. Insbesondere in ihrer Mutter – sie entstammt einer Gutsbesitzersfamilie – hat sie eine fürsorgliche und verständnisvolle Begleiterin ihres Weges in die Welt. Die hochgebildete und den Strömungen der Zeit gegenüber aufgeschlossene Mutter mag in Marias ungewöhnlichen Begabungen und Entschlüssen die Erfüllung ihrer eigenen Träume nach einem Leben gesehen haben, das die traditionellen Fesseln der Frauenrolle sprengt. Die Familie zieht aufgrund der Versetzung des Vaters nach einer Zwischenstation in Florenz 1875 nach Rom. Hier erfolgt ihre schulische Ausbildung, zunächst an der sechsjährigen Grundschule, dann an einer naturwissenschaftlich-technischen Sekundarschule. Der Empfehlung ihrer Eltern, Lehrerin zu werden – das erschien damals die einzig mögliche und sinnvolle höhere Berufsperspektive für eine Frau – folgt sie nicht und setzt schließlich gegen massive Widerstände auf verschiedenen Ebenen ihren Entschluss durch, Medizin zu studieren und Ärztin zu werden. Bereits vor ihrem medizinischen Examen befasst sie sich mit Kinderheilkunde und wird Expertin auf diesem Gebiet. Im Jahre 1896 erhält sie als erste Frau Italiens und nach glänzend bestandenen Prüfungen den medizinischen Doktorgrad auf Grund einer Arbeit zur Psychiatrie des Verfolgungswahns. Zum ersten Mal gerät sie nun in den Blickpunkt einer breiten Öffentlichkeit, denn die Presse Roms berichtet ausführlich über die erste „dottoressa“ Italiens. Sie gründet eine eigene Arztpraxis und arbeitet zusätzlich als Assistenzärztin in der Chirurgie, ab 1897 in der Psychiatrischen Klinik. Hier kommt sie mit heilpädagogischen Fragen in Berührung. Es gehört zu ihren Aufgaben, Kinder aus „Irrenanstalten“ für die psychiatrische Behandlung auszuwählen. Im Rahmen dieser Aufgaben wird sie auf das Werk der französischen Ärzte und Heilpädagogen Itard und Séguin aufmerksam, die für ihr eigenes Lebenswerk von fundamentaler Bedeutung werden sollen. Itard und Séguin hatten bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Grundlinien einer Heilpädagogik mit Hilfe von zweckmäßig konstruierten Materialien zur Sinnesschulung entwickelt und über diese Versuche ausführlich berichtet. Montessori selbst rechnet als Voraussetzung für ihren eigenen Erfolg dem relativ kurzen und nur etwa zwei Jahre unter ihrer Leitung stehenden Versuch in San Lorenzo ihre eigene zehnjährige Studienzeit sowie die vierzigjährige Arbeit dieser Ärzte hinzu. „Ich glaube mich nicht zu täuschen, wenn ich sage, dass dieser Versuch die Arbeit dreier Ärzte darstellt, die, von Itard bis zu mir, die ersten Schritte auf dem Wege zur Psychiatrie gingen.“18 Dabei sieht sie bereits frühzeitig psychiatrische und erzieherische Probleme in einen größeren sozialen Zusammenhang eingebettet. Auf zahlreichen nationalen und internationalen Kongressen hält sie vielbeachtete Vorträge zu Fragen der Frauenemanzipation, über den Zusammenhang von Ausbeutung der Arbeitskraft, sozialer Not und Kriminalität, über die zerstörerischen Folgen für die Entwicklung der Kinder – und fordert entsprechende Abhilfe insbesondere durch eine umfassende Reform der Erziehung und der Schule. Im Jahre 1900 übernimmt Montessori die Leitung der „Scuola Magistrale Ortofrenica“ und hält dort Vorlesungen in Pädagogik.19 Es handelt sich um ein medizinisch-pädagogisches Institut zur Ausbildung von Lehrern für geistig behinderte Kinder. Der Einrichtung ist eine Modellschule angegliedert, an der Montessori nun das sensorische Material Séguins einsetzt und weiterentwickelt – mit außerordentlichen Erfolgen. „Es gelang mir, einigen geistig Zurückgebliebenen aus dem Irrenhaus Lesen und korrektes Schreiben in Schönschrift beizubringen. Diese Kinder konn18 19
Montessori (1969), a.a.O., S.43 Vgl. Montessori (1918), Band II, S.413ff „Summary of the Lectures on Pedagogy“
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ten danach in einer öffentlichen Schule zusammen mit normalen Kindern eine Prüfung ablegen, die sie auch bestanden.“20 1902 gibt sie die Leitung des Instituts auf und studiert Pädagogik, Anthropologie und Experimentalpsychologie. Während zahlreicher Unterrichtsbesuche, die sie im Rahmen ihrer Studien für pädagogische Anthropologie durchführt, lernt sie die seinerzeit übliche Arbeit an den Volksschulen kennen. „Es wurde ihr immer klarer, dass es ein System war, dass alles unterdrückte, was sie aus den Kindern herauslocken wollte“ und Montessori vergleicht die auf Bänken aufgereihten Kinder mit den in Schaukästen aufgespießten Schmetterlingen.21 Die Forschungen in den Schulen bringen ihr einen Lehrauftrag für pädagogische Anthropologie an der Universität Rom ein22, den sie von 1904 bis 1908 wahrnimmt. In den Jahren vor Übernahme der Leitung des „Casa dei bambini“ zeigt sich bei Montessori also ein außerordentlich breites Spektrum an Tätigkeiten und Studien, die an dieser Stelle gar nicht vollständig erwähnt und gewürdigt werden können. Zudem muss die ungewöhnliche Resonanz ihres Wirkens als Rednerin hervorgehoben werden. Sie vermag eine große Hörerschaft in ihren Bann zu schlagen und aufzurütteln, ja manchem Zuhörer einen neuen Lebenssinn aufzuzeigen. Diese Begabung ist für ihren späteren „Weg in die Welt“ ein durchaus bedeutender Faktor. Zahlreiche Anhänger – meist Anhängerinnen – stellen sich in ihren Dienst, wobei es der Logik einer „Bewegung“ entspricht, dass ihre „ständigen Gefährtinnen ... immer in höherem Maße ihre begeisterten Helferinnen als ihr intellektuell Gleichgestellte“ sind.23 In der Mitte ihres vierten Lebensjahrzehntes deutet freilich noch wenig darauf hin, dass von einer doch recht bescheidenen Initiative wie die Leitung eines Kinderhauses eine weltweite Erziehungsbewegung ausgehen wird. Sie hat sich auf verschiedenen Gebieten ausgezeichnet, die je für sich den Boden einer glänzenden beruflichen Karriere hätten abgeben können: als praktizierende Ärztin, als Forscherin und Lehrende auf medizinischem Gebiet, insbesondere der Kinderheilkunde, der Psychiatrie, der pädagogischen Anthropologie und der Heilpädagogik, als Direktorin einer Hochschule für Lehrerbildung und Dozentin für Pädagogik, als Rednerin und Agitatorin für die Frauenemanzipation, für Friedenserziehung und für Gesellschafts- und Erziehungsreformen. Und doch bilden diese verschiedenen Aspekte ihres bisherigen Wirkens eine Einheit, die in dem Gedanken der Heilung des einzelnen Menschen und mit ihm der ganzen Gesellschaft einen verbindenden Fixpunkt haben. So vorbereitet bedurfte es „nur“ noch der „Entdeckung“ des „normalen“ Kindes, um aus dem Randgebiet der Beschäftigung mit dem Nicht-Normalen – es wird von Montessori dann als Abweichung von der naturgesetzlich oder auch göttlich gegebenen Norm, als Abweichung vom richtigen Weg („Deviation“) gekennzeichnet – ins weitaus umfassendere Gebiet der Bildung des „neuen“ Menschen und der neuen Gesellschaft zu gelangen. Die neue Gesellschaft muss ihrer Ansicht nach vor allem im Kinde selbst grundgelegt werden. Die „Entdeckung des Kindes“ im Kinderhaus kommt also nicht zufällig zustande. Sie ist zugleich eine „Offenbarung ihrer selbst“, die ihr weiteres Leben und Wirken, den Aufbau ihres pädagogischen Werkes und die Organisation einer Bewegung zur Erneuerung der Erziehung, prägen wird. – Einige Jahre nach Eröffnung des ersten Kinderhauses gibt sie alle Sicherheiten einer institutionell verankerten beruflichen Karriere auf, um sich ganz auf ihre neue Aufgabe zu konzentrieren. 20
Montessori (1969), S.32 Vgl. Kramer, a.a.O., S.94 Vgl. Montessori (1969), S.26 23 Kramer, a.a.O., S.130 21 22
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1.4 Zur Folgegeschichte: Montessoris „Weg in die Welt“ Als wichtiges Fundament der pädagogischen Reformbewegung, die fortan ihren Namen trägt, erweist sich der Entschluss, eine eigene Lehrerinnenausbildung für die Kinderhäuser und die Montessorischulen zu etablieren. Montessori behält sich zeitlebens das Recht vor, diese Ausbildung persönlich zu überwachen und in den entscheidenden Teilen selbst durchzuführen. Sie nimmt die Prüfungen im Anschluss an die Kurse ab und händigt ein Diplom aus, das zur Eröffnung und Leitung einer Montessorischule berechtigt, ausdrücklich aber die Möglichkeit ausschließt, selbst Dritte auszubilden. Allen Versuchen, unabhängig von ihr zu agieren, setzt sie ihren entschiedenen und meist erfolgreichen Widerstand entgegen, wohl aus der nicht unbegründeten Sorge heraus, ihre Ideen könnten verfälscht und ihr Name dadurch beschädigt werden. Freilich hat diese Haltung auch einen kommerziellen Aspekt, der manchen Zeitgenossen zu harten kritischen Äußerungen veranlasst. Neben den Einnahmen aus ihren Publikationen und dem Verkauf des Materials sind die Kursgebühren eine wichtige Quelle des Unterhalts für sich selbst und ihre Familie. Das Insistieren auf persönlicher Führerschaft führt einerseits zu einer insgesamt erstaunlichen Geschlossenheit der Bewegung, andererseits zur vielfach kritisierten Tendenz sektiererischer Isolation.24 Dies führt jedoch nicht zu einer völligen Abschottung gegenüber anderen Bestrebungen. Die internationalen Montessorikonferenzen finden beispielsweise oft im Rahmen der Konferenzen der „New Education Fellowship“ (NEF) statt. Die Konferenzen und die Zeitschriften der NEF sind ein wichtiges Forum für Montessoris Botschaft. Der erste Ausbildungskurs findet im Sommer 1909 in Città di Castello statt. Es ist die Geburtsstunde der Montessori-Lehrerausbildung und der Beginn einer bald internationalen Aktivität. „Mit Recht hießen diese Lehrgänge, von denen viele in England, andere in Rom, Mailand, Paris, Berlin, Amsterdam, Nizza, San Francisco, Innsbruck, Barcelona, Ceylon, Madras, Karachi, Achmedabad und Kodaikanal abgehalten wurden – mit Recht hießen sie international, denn nicht selten gehörten die Teilnehmer dreißig bis vierzig verschiedenen Nationen an, und Maria Montessori muss im Laufe der Jahre mindestens vier- bis fünftausend Studierende aus allen Gegenden des Erdballs ausgebildet haben.“25 Über die Inhalte der gewöhnlich halbjährigen Kurse gibt Standing Auskunft. In einem theoretischen Teil hält Montessori Vorlesungen „über die psychologischen Voraussetzungen ihrer Pädagogik, ..., über Wesen und Zweck des Arbeitsmaterials; über die bei der Führung einer Montessori-Schule sich ergebenden praktischen Probleme und, in späteren Jahren, über philosophische und soziologische Fragen, bei denen es um die Ausweitung ihrer Grundsätze auf die Familie und auf die menschliche Gesellschaft ging, im besonderen um die ‚kosmische Mission des Menschen auf Erden‘ und um ‚die Erziehung als einer Waffe des Friedens‘. Wichtig bei diesen Lehrgängen war auch das genaue Studium des Materials und dessen praktische Durchübung unter Leitung von Maria Montessoris Assistenten und schließlich Hospitationen und praktische Arbeit in anerkannten Montessori-Schulen. Jeder Kursteilnehmer musste mindestens fünfzig Stunden auf die Beobachtung der Methode in der Praxis verwenden.“ Ein selbst angefertigtes „Materialbuch“ und schriftliche sowie mündliche Prüfungen stehen am Ende des Lehrgangs.26 Nicht selten nehmen die Reisen Montessoris in europäische und außereuropäische Länder den Charakter von Propagandafeldzügen im Dienste ihrer Ideen an. Es entstehen verschiedene regionale und nationale Gesellschaften, die sich der Ausbreitung ihres Gedankengutes widmen. 24
Ihre Biographin Rita Kramer hat u.a. die kommerzielle Seite ihres Wirkens und die sektiererischen Tendenzen in ihrer Biographie untersucht. Standing, a.a.O., S.73 26 Ebd., S.71f 25
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Im Jahre 1929 wird die „Association Montessori Internationale“ gegründet (Sitz: bis 1935 Berlin, danach Amsterdam), die bestrebt ist, die weltweite Arbeit zu koordinieren. Die erste Reise Montessoris nach Amerika im Jahre 1912 gleicht einem Triumphzug, in dessen Folge MontessoriGesellschaften entstehen und zahlreiche Schulen gegründet werden. Im Jahre 1916 ist ein Höhepunkt mit weit über 1500 Montessorischulen (meist Kinderhäuser) erreicht, dem allerdings bald – u. a. bedingt durch äußerst kritische Reaktionen des führenden Pädagogen William Kilpatrick, dem Protagonisten des Projektplanes – ein rapider Rückgang und ein für Jahrzehnte anhaltendes Absinken fast bis in die Vergessenheit folgen sollen. (Erst die fünfziger Jahre nach Montessoris Tod bringen ein erneutes Einsetzen und einen bis heute anhaltenden Aufschwung der Bewegung in den USA.27) – Bereits im Jahre 1929 kann Montessori feststellen: „There is not one of the great continents in which (Montessori-) schools have not been distributed – in Asia from Syria to the Indies, in China and in Japan; in Africa from Egypt and Marocco in the north to Cape Town in the extreme south; the two Americas; in the United States and Canada, and in Latin America.“28 Freilich dürfte es sich in quantitativer Hinsicht aufs Ganze des Erziehungswesens gesehen um jeweils bescheidene Zahlen gehandelt haben. Nahezu unbehindert, in mancher Hinsicht sogar begünstigt von den katastrophalen Ereignissen der Zeit findet ihre Botschaft Eingang ins pädagogische Wissen und Gewissen der Welt – man denke etwa an den Stellenwert der Friedenserziehung. Während des Ersten Weltkrieges nimmt Montessori im Jahre 1916 ihren Wohnsitz in Barcelona, den sie dort bis zum Ausbruch des spanischen Bürgerkrieges beibehält. Sie kehrt nach ihrer zweiten USA-Reise nicht nach Italien zurück, um ihren 1898 geborenen Sohn Mario der drohenden Einberufung zum Militärdienst zu entziehen. In Barcelona initiiert sie weitere pädagogische Versuche und dort arbeitet sie die Grundlinien ihrer religiösen Erziehung aus, die u.a. eine kindgemäße Einübung in die katholische Messe beinhalten. Spanien verlässt sie aufgrund des Bürgerkrieges 1936 fluchtartig und nimmt ihren Wohnsitz in Holland, das zu jener Zeit bereits eine blühende Montessoribewegung kennt. (Heute ist Holland mit über 150 „Montessori-Basisschulen“ für die 3- bis 12Jährigen und über 10 Sekundarschulen, zudem mit einer geregelten Montessori-Lehrerausbildung, ein Land, in dem Montessoris Ideen am stärksten Fuß fassen konnten. Weit über den engeren Kreis der Schulen hinaus gingen für die Konzeption der neuen „Basisschule“ – eingeführt 1985 – von der Montessoribewegung wichtige Entwicklungsimpulse aus.) Der Zweite Weltkrieg bringt zwar eine Behinderung ihres Wirkens mit sich, insbesondere in Deutschland und in den besetzten Ländern. In Deutschland wird die Montessoribewegung vom Nationalsozialismus zerstört. Gleichwohl führen die Umstände zu einem Aufschwung ihrer Bewegung, nun in Indien, wo sie einen zunächst für kürzere Zeit geplanten Aufenthalt wegen der Kriegsereignisse auf 7 Jahre (bis 1946) ausdehnt. In Indien wird die Montessoribewegung von der Theosophischen Gesellschaft getragen, die mit Montessoris Methoden gegen den Analphabetismus kämpft. Montessori findet eine begeisterte Zuhörerschaft, die sie der indischen Tradition
27
Allerdings scheint die Situation in den USA ziemlich unübersichtlich zu sein. „There is no legal way to prevent any unscrupulous person from labeling any early childhood program ‚Montessori‘“, was tatsächlich zu zahlreichen missbräuchlichen Nutzungen des Namens führt. Vgl.: Chattin-McNichols (1992): The Montessori Controversy, Albany, New York: Delmar Publishers; ebd. S.2 und die graphische Übersicht: The Rise and Fall of the First American Montessori Movement. Über die Montessoribewegung in den USA informiert ausführlich (Angabe nach ChattinMcNichols) die Dissertation: Applebaum, Phyllis (1971): The Growth Auf the Montessori Movement in the United States, 1909-1970. 28 Montessori, zitiert nach: Lillard, Paula Polk (1972): Montessori. A Modern Approach, New York: Schocken Books, S.8
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gemäß wie einen „Guru“ verehrt. Es gibt sogar Pläne zur Gründung einer Montessori-Universität in Madras, die jedoch nicht verwirklicht werden können Nach ihrer Rückkehr nach Europa bleibt Holland Montessoris Wohnsitz bis zu ihrem Tode am 6. Mai 1952 in Noordwijk aan Zee. Auf dem dortigen Friedhof befindet sich auch ihr Grab.
2 Der weltanschauliche und erziehungstheoretische Hintergrund. Montessoris Denken im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und messianischem Sendungsbewusstsein Die werkbiographische Skizze Montessoris hat ein ungewöhnlich breites Spektrum ihres Denkens und Wirkens sichtbar werden lassen, das kaum auf eine griffige Formel zu bringen ist. Wissenschaftliche, sozialreformerische und religiös-spirituelle Momente bilden den vielschichtigen Boden ihrer Wirksamkeit; eine Wirksamkeit, die von persönlicher Willensstärke, messianischem Eifer und der Fähigkeit getragen ist, andere Menschen für ihre Sache – d.h. für die Reform der Erziehung nach ihren Einsichten und Maßgaben – zu begeistern. – Geht man der Frage nach den geistigen Wurzeln ihres pädagogischen Denkens im Einzelnen nach, ist eine Fülle von Einflüssen zu konstatieren. Dabei scheint, wie Böhm gezeigt hat, der Einfluss pädagogischer Denker der Erziehungsgeschichte (Rousseau, Pestalozzi, Herbart, Fröbel) eher gering gewesen zu sein. Wo sie von ihr doch angeführt werden, dienen sie als Aufweis „mehr oder weniger zufällige(r) Vorwegnahmen ihrer eigenen Gedanken oder als Bestätigung für sie“29 und nicht als Ausgangspunkte einer systematisch-kritischen Auseinandersetzung zum Zwecke der Entwicklung der eigenen Theorie. Winfried Böhm hat in seiner sorgfältigen Untersuchung den „Hintergrund und (die) Prinzipien ihres pädagogischen Denkens“ aufgehellt. Als tragende Momente ihres Denkens stellt er an erster Stelle den medizinischen Gesichtspunkt heraus. Das Studium der Werke der Arztpädagogen Itard und Séguin haben für Montessori grundlegenden Charakter. Des weiteren sind wichtige soziale Fragen ihrer Epoche in den Blick zu nehmen, sieht sie doch das Kind zusammen mit der Frau als Sklaven einer unverständigen, ungerechten Gesellschaft. Medizin und Sozialkritik eröffnen die Perspektive einer Erziehung, die als wissenschaftlich begründete Lebenshilfe einen Fortschritt in der Entwicklung der menschlichen Verhältnisse bewirken können. Das Kind wird dabei als Träger der künftig möglichen besseren Welt gesehen. Es ist der bisher verkannte Messias einer neuen Welt. Ihm den Weg für seine Aufgabe zu bereiten ist die eigentliche Aufgabe der Erziehung. Die Richtung des Weges liegt im Kinde selbst beschlossen und kann nur durch einfühlende Beobachtung erschlossen und schließlich gestützt werden. Letztes Ziel ihrer Bemühungen ist die Harmonisierung der Welt im Ganzen, ja die Realisierung der kosmischen Harmonie. Sie ist durch eine Erziehung anzustreben, die den Gesamtzusammenhang von Mensch, Welt und Kosmos auch bei der Betrachtung von Einzelheiten ins Bewusstsein hebt. Ihre in den letzten Jahren ihres Wirkens vorgetragenen Gedanken einer „kosmischen Theorie“ und einer darauf beruhenden „kosmischen Erziehung“30 weisen in diese Richtung. Dadurch erhält das bei ihr schon früh angelegte christlich-eschatologische Motiv – wohl unter dem Eindruck indischer Religiosität und theosophischen Denkens sowie den Katastrophen der beiden Weltkriege – eine neue Ausformung. – Die neuerliche Sehnsucht nach einer Gesamtschau des Daseins und damit zusammen-
29 Böhm, Winfried (1969): Maria Montessori. Hintergrund und Prinzipien ihres pädagogischen Denkens, Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S.112. Eine andere (weniger gründlich gestützte Ansicht) vertritt Kramer, a.a.O. (1977), S. 61 30 Eckert, Ela (2001): Maria und Mario Montessoris Kosmische Erziehung, Bad Heilbrunn: Klinkhardt
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hängend die Konjunktur des Begriffes der Ganzheitlichkeit mag insgesamt einen günstigen Boden abgeben für die Aktualisierung montessorianischen Denkens.
2.1 Der medizinische Hintergrund: Itard und Séguin – Erziehung als physiologische Entwicklungshilfe Auf den Einfluss der Ärzte Jean-Marc Gaspard Itard (1775-1838) und dessen Schüler Édouard Séguin (1812-1880) hat Maria Montessori in ihrem Werk des öfteren hingewiesen.31 Itard wurde durch den Erziehungsversuch des in den Wäldern des Aveyron (Frankreich) wild aufgewachsenen und nach seinem Auffinden Victor genannten Jungen bekannt. Auch wenn es Itard letztlich nicht gelang, dem „Wilden von Aveyron“ das Sprechen beizubringen und ihn in die menschliche Gemeinschaft einzuführen, hatte er doch beachtliche Erfolge bei der Erziehung seiner sinnlichen Wahrnehmungsfähigkeit. Itard wandte dabei ein Verfahren an, das von Séguin und später Montessori weiterentwickelt und verfeinert wird. Itard: „Da von allen Sinnen der Gehörsinn derjenige ist, welcher hauptsächlich zur Entwicklung unserer intellektuellen Fähigkeiten beiträgt, nahm ich zu allen erdenklichen Auskunftsmitteln meine Zuflucht, um das Gehör unseres Wilden aus seiner langjährigen Stumpfheit zu wecken. Ich kam zu dem Schlusse, dass man dieses Organ, um es zu wecken, gleichsam isolieren müsse... Demzufolge verband ich Victors Augen mit einer dichten Binde und ließ an sein Ohr die stärksten und einander unähnlichsten Töne schallen. Meine Absicht war, sie ihm nicht nur zu Gehör zu bringen, sondern auch von ihm unterscheiden zu lassen.“32 Die Erziehung des Tastsinns etwa „begann Itard mit Übungen im Vergleichen und Unterscheiden von Gegenständen. Die Empfindungsfähigkeit von Victors Hand, ..., sucht Itard zu steigern, indem er Victor Übungen im Unterscheiden von Wärme und Kälte, Rauheit und Glätte an Hand ausgewählter Materialien ausführen ließ.“33 Bei all diesen Bemühungen geht es darum, über gezielte Sinnesreize jeden einzelnen Sinn, mithin die physiologische Grundlage von Wahrnehmen und Erkennen überhaupt, zu entwickeln, d.h. für immer feinere Eindrücke empfänglich zu machen. Hier werden zwei Prinzipien sichtbar, die bei Montessori von grundlegender Bedeutung werden sollten: die Isolierung eines Sinnes und seine Übung und Entwicklung durch abgestufte Sinneseindrücke. Édouard Séguin, ein Schüler Itards (sein Vater war zeitweise Itards Kollege in einem Militärhospital)34 entwickelt diesen Ansatz für die Erziehung schwachsinniger und zurückgebliebener Kinder systematisch weiter und bezeichnet ihn als „physiologische Methode der Erziehung“. Montessori stützt sich bei ihren eigenen Versuchen vor allem auf Séguins Werke: „Traitement moral, hygiène et éducation des idiots et des autres enfants arriérés“ (1846, Paris: Baillière) und „Idiocy: its diagnosis and treatment by the physiological method“ (1864, fr. Ausgabe 1866, NewYork: Wood and Co.). Séguin ist beeindruckt von den sozialreformerischen Ideen eines SaintSimon und seiner Anhänger. Sein eigenes Erziehungsprogramm sieht er eingebettet in eine umfassende Reform der Gesellschaft. Die Saint-Simonisten treten für ein „soziales Christentum der Tat“ ein. Uneingeschränkte Nächstenliebe solle die Basis für eine neue Gesellschaft bilden. Ihr sozialreformerisches Programm schließt das Ziel mit ein, zur „Verbesserung des physischen, in31
Vgl. Montessori, a.a.O. (1969), S. 73ff, Personenverzeichnis S.372 Itard, zitiert nach: Heiland, Helmut (1997): Maria Montessori, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Böhm, Winfried (a.a.O.), S.69f 34 Vgl.: Médici, Angéla (1940): L‘Éducation Nouvelle. Ses fondateurs – Son évolution, Paris: Presses Universitaires de France (in diesem Werk finden sich ausführliche Darstellungen über Itard und Séguin, ferner über Montessori und Décroly – also den „Arztpädagogen“. Médici identifiziert die Éducation Nouvelle nahezu vollständig mit diesen vier Arzt-Erzieher-Persönlichkeiten.) 32 33
Montessori-Pädagogik 207
tellektuellen und moralischen Loses der Ärmsten“ beizutragen35 – allesamt Aspekte, die ihre Entsprechungen auch in Montessoris Werk finden. Der Einfluss Séguins verbleibt jedoch nicht im Rahmen allgemeiner sozialreformerischer Zielsetzungen und der Adaption des sinnesphysiologisch fundierten Erziehungsbegriffs. Er reicht bis in die Details von Montessoris methodischem Ansatz. Montessori war bei ihrer Suche nach Möglichkeiten zur Erziehung zurückgebliebener Kinder vor allem an praktischen Lösungshilfen interessiert. Hatte Itard bereits die grundlegenden Prinzipien entdeckt und im bescheideneren Rahmen seiner Erziehungsversuche u.a. mit Hilfe von geeigneten Materialien umgesetzt, finden sich bei Seguin zahlreiche Übungen zur Schulung der Sinne und zur Bewältigung praktischer Probleme sowie ein umfangreich ausgearbeiteter Materialbestand, der von Montessori anfangs nahezu unverändert übernommen werden konnte. Auch Montessoris „Dreistufenlektion“ geht auf Séguin zurück. Sie beinhaltet: 1. einer Sinneswahrnehmung einen Namen zuzuordnen (Lehrerin: „das ist glatt“ usw.), 2. den entsprechenden Gegenstand wiederzuerkennen (L: „was ist glatt?“ usw.) und 3. die adjektivische Bestimmung des Gegenstandes zu erinnern (L: „Wie ist das? ...“).36 Wie im biographischen Abriss bereits deutlich wurde, überträgt Montessori Itards und Séguins Einsichten zunächst im Kinderhaus und später in der Schule auf die Erziehung normal begabter Kinder. Der medizinische Gesichtspunkt bleibt in Montessoris Erziehungsbegriff dabei ein konstitutives Moment. Erziehung wird als „Normalisation“ gefasst und ggf. – sofern „Deviation“ vorliegt, d.h. eine Abweichung vom richtigen Weg – als Heilung und Rückführung auf den Weg der normalen, dem eigenen Gesetz folgenden Entwicklung. Inhaltliche Bestimmungen des Lernens treten demgegenüber in den Hintergrund. Das markiert eine Grenze des Montessorischen Ansatzes (wie auch den vieler anderer Reformpädagogen). Von einigen wenigen Ergänzungen und Modifikationen abgesehen (wie die „Kosmische Erziehung“) stützt sich die Didaktik im engeren Sinne auf den traditionellen, jeweils in den Schulstufen vorgegebenen Bildungskanon. Durch das sich im 19. Jahrhundert mehr und mehr durchsetzende Selbstverständnis der Medizin als einer (natur-)wissenschaftlichen Disziplin ist mit dem medizinischen Aspekt im Erziehungsbegriff bereits ein weiterer verbunden, nämlich der Anspruch, Erziehung nach streng wissenschaftlichen Kriterien durchführen zu können.
2.2 Der wissenschaftliche Hintergrund: Erziehung als wissenschaftlich begründete Hilfe zur Entwicklung des Menschen und der Menschheit Montessoris Denken wurde in entscheidendem Maße von der wissenschaftlichen Strömung des Positivismus geprägt, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – im Vergleich zu anderen Ländern verspätet aber nun um so mächtiger – in das geistige und kulturelle Leben Italiens Eingang fand. Die Autorität der Kirche verblasste. Man suchte auf allen Gebieten nach neuen, „positiven“, auf empirisch gesicherten Erfahrungen beruhenden Einsichten, die die Entwicklung des Menschen und der Gesellschaft voranbringen sollten. Die bislang unangefochtene Stellung von Theologie und Philosophie in den Fragen der Erziehung und Bildung erfuhr eine nachhaltige Erschütterung.
35 36
Böhm, a.a.O. S.75 Vgl. Montessori a.a.O. (1969), S.174ff
208 Reformpädagogik
Ein zentraler Gedanke im neuen, positivistisch inspierierten Erziehungsdenken ist der Begriff der Entwicklung, der längst in der Biologie (Darwin) und in verschiedenen Soziallehren (Sozialismus, Kommunismus) bestimmend geworden war. Mit Hilfe des Entwicklungsgedankens „schien es möglich, die Erziehungsvorgänge in die allgemeine Naturkausalität einzuordnen und das pädagogische Denken auf einen Schlag sowohl aus den metaphysischen und theologischen Vorurteilen zu befreien, als auch die Erziehung kraft dieser allgemeingültigen wissenschaftlichen Grundlage zum Motor des evolutiven Fortschritts selbst zu machen.“37 Nicht mehr die Übermittlung von Kulturgütern, sondern die Schaffung von Bedingungen zur Entfaltung natürlicher, genuin vorhandener Kräfte wäre demnach die eigentliche Aufgabe der Erziehung – und die Erforschung beider, der lebendigen Entwicklungskräfte wie der förderlichen Bedingungen, wäre die vorrangige Aufgabe einer (natur-)wissenschaftlichen Pädagogik; denn – so Montessori – „das Kind hält sich genau an das von der Natur aufgestellte Programm“.38 Es ist ihm ein „innere(r) Lehrmeister“, dem die Lehrer bestenfalls „so wie die Gehilfen ihrem Meister zur Hang gehen.“39 In radikaler Konsequenz dieses Gedankens mündete Erziehung ein in die Form einer höheren angewandten Biologie. In Kenntnis des „Programms“ und der adäquaten Bedingungen seiner Realisierung, könnten so auch die Aufgaben der höheren Bildung gelöst werden, indem der „Drang nach Konzentration“ in deren Dienst genommen wird. Montessori ist von dem Glauben beseelt, Erziehung ebenso zielgerichtet und erfolgreich durchführen zu können, wie der Architekt in Kenntnis der bauphysikalischen Gesetze ein Gebäude errichtet. Dabei hat vermutlich nicht nur die positivistische Grundstimmung im Italien der Jahrhundertwende zu diesem Erziehungsoptimismus beigetragen. Die Umstände ihres persönlichen Wirkens müssen ebenfalls in Betracht gezogen werden. Zum einen sah sie sich durch ihre weltweiten Erfolge und das Entstehen einer Anhängerschaft, die sie nahezu vorbehaltlos verehrte, bestätigt; zum anderen war sie selbst nie in der Situation, durch eine längerwährende pädagogische Tätigkeit als Erzieherin oder als Lehrerin eigene – widerständige – Erfahrungen zu sammeln, die sie zu einer Relativierung ihrer optimistischen Sicht hätten anregen können. So konnte sie zeitlebens auf „Gesetzmäßigkeiten“ verweisen, unter deren Beachtung „das Problem der Erziehung vollkommen zu lösen“ sei. Montessori im Jahre 1941: „Ich bemerkte eine Gesetzmäßigkeit in diesen seelischen Vorgängen, und ich verstand sie; und diese Gesetzmäßigkeit ließ mich die Möglichkeit sehen, das Problem der Erziehung vollkommen zu lösen. Ich verstand, was das Kind enthüllt hatte. Mit absoluter Deutlichkeit kam mir die Idee, dass Ordnung, geistige Entwicklung, intellektuelles und Gefühlsleben ihren Ursprung in dieser geheimnisvollen und verborgenen Quelle haben müssen, ... Und ich studierte mit großer Sorgfalt, wie jene Umgebung herzustellen sei, die die günstigsten äußeren Bedingungen enthielte, um diese Konzentration zu wecken. Und auf diese Weise begann ich, meine Methode zu schaffen. Sicher liegt darin der Schlüssel zu allen pädagogischen Problemen: zu wissen, wie man den wertvollen Drang nach Konzentration erkennt, um ihn für das Erlernen von Lesen, Schreiben und Zählen und später beim Studium der Grammatik, der Arithmetik, der fremden Sprachen, der Naturwissenschaft usw. nutzbar zu machen. ... Das ganze Problem löst sich dadurch, dass man von diesen intimen und verborgenen Kräften des Kindes für seine Erziehung Gebrauch macht.“40 Das didaktische Material (bzw. Montessorimaterial) dient genau diesem Zweck. Es repräsentiert, soweit nur genügend ausgearbeitet und erprobt, die Inhalte des Lernens. Im Idealfall bildet es in seiner Gesamtheit die mate37
Böhm, a.a.O. S.97f Montessori, Maria (1978): Kinder sind anders, Stuttgart: Klett-Cotta, S. 270 (Originalausgabe 1950 bei Garzanti, Mailand unter dem Titel: Il segreto dell‘infanzia) 39 Montessori, Maria (1972/1949) Das kreative Kind. Der absorbierende Geist, Freiburg u.a.O.: Herder, S.6f 40 Montessori (1941,1989): Das Kind, in: Böhm, Winfried (Hsg.) (1989): Maria Montessori. Texte und Gegenwartsdiskussion, Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S.58 38
Montessori-Pädagogik 209
rialisierte Form des Bildungskanons. Dieses Material ermöglicht individuell zugängliche Sacherfahrungen und macht das belehrende Wort der Lehrerin weitestgehend überflüssig. Für die Ausarbeitung ihrer Erziehungsvorstellungen wurden aus dem Umkreis des italienischen Positivismus vor allem der Kriminalanthropologe Cesare Lombroso und Giuseppe Sergi, der anthropologische Forschungsergebnisse auf die Probleme der Erziehung bezieht, von grundlegender Bedeutung. Der Verbrecher weicht nach Lombroso morphologisch vom normalen Menschen ab. Er sieht in ihm einen Menschen, der an einer Degeneration bzw. Deviation leidet, deren Ursachen (neben vielen anderen wie kulturellen, ethnologischen, gar klimatischen Einflüssen) vor allem in den sozialen Verhältnissen seiner Umgebung, insbesondere auch in den Antagonismen der Gesellschaftsklassen, zu suchen ist. Erst eine grundlegende Reform der Menschheit könne das Übel an der Wurzel packen. „Diese Reform besteht aus zwei Seiten, einmal der Umgestaltung der sozialen und kulturellen Umgebung und zum anderen der Heilung der Abnormalitäten der Menschheit und der Sorge um ihre geistige Gesundheit, d.h. um ihre normale Entwicklung.“41 Montessoris Konzeptionen der Normalisation, der Deviation und der vorbereiteten Umgebung sind maßgeblich von Lombrosos Ansichten beeinflusst.42 Montessoris akademischer Lehrer Sergi schließlich rückt den Gedanken der Wichtigkeit der Umgebung in der Erziehung in eine dezidiert schulpädagogische Perspektive und trägt – wie später Montessori – eine radikale Kritik an der Schule der Zeit vor, die die spontanen Entwicklungsimpulse des Kindes und seine individuellen Bedürfnisse missachte und unterdrücke. Dem sich entwickelnden Individuum, dem Leben zu seinem Recht zu verhelfen: das sieht Montessori mit ihrem Lehrer als die große Aufgabe einer Erziehungs- und Gesellschaftsreform an. „(D)enn wenn das Werk einer Erneuerung der Menschheit gelingen sollte, dann war die Schule der Ort, an dem es ausgetragen werden musste. Denn was immer zur Emporführung der Menschheit getan werden soll, es würde nur Erfolg haben, wenn es sich auf jenen Teil der Menschheit richtet, der sich im Stadium der Entwicklung befindet, mit anderen Worten: nur in der Periode des Wachstums kann der Mensch wirksam geleitet und folglich in die richtige Bahn zurückgelenkt werden.“43 Die positivistische Sicht des Erziehungs- bzw. Entwicklungsgeschehens führt Montessori nun keineswegs in Distanz zur religiösen und spirituellen Dimension. Im Gegenteil erhält bei ihr der im wissenschaftlichen Fortschrittsglauben ihrer Zeit in verweltlichter Form wirkende Heilsgedanke eine eigentümliche religiös-mystische Färbung. Nicht zufällig gingen gerade von Montessoris Werk bis heute (heute insbesondere in den USA) Impulse für die religiöse Erziehung aus.44
41
Böhm, a.a.O:; S. 102 Zu weiteren Parallelitäten im Denken von Montessori und Lombroso siehe ebd.ff 43 Ebd.., S.105 44 Vgl. dazu: Montessori, Maria (1964): Kinder, die in der Kirche leben, Freiburg u.a.O.: Herder. Berg, Horst Klaus (1994): Montessori für Religionspädagogen, Stuttgart: Katholisches Bibelwerk. (Montessori hat in ihren religionspädagogischen Versuchen und Schriften vieles von dem vorweggenommen, was heute in der sog. Symboldidaktik diskutiert wird. Es handelt sich bei der Symboldidaktik um den Versuch, über Ritus, religiöses Rollenspiel und meditative Übungen mit Hilfe religiöser Symbole den existentiellen Grundgehalt religiösen Lebens und Erlebens zu erschließen.) Chattin-McNichols (1992): The Montessori Controversy, Albany, New York: Delmar Publishers, darin S.206f: Montessori and Religion 42
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2.3 Der religiöse Hintergrund: Erziehung als messianisches Heilsgeschehen Der Ansatz des Positivismus steht in einem erkenntnistheoretischen Gegensatz zur Religion. Auf der einen Seite der (mehr oder weniger radikal formulierte) Bezug auf Erfahrungswissen bzw. Empirie, auf der anderen der Bezug auf Offenbarungsglauben, wie er in der Heiligen Schrift und in den religiösen Traditionen niedergelegt ist. Fides versus ratio, der Gegensatz zwischen religiösem Glauben und wissenschaftlicher Vernunft, bestimmt bis heute ein breites Spektrum der weltanschaulichen Debatte. Freilich steckt im Positivismus mit seinem Fortschrittsglauben selbst ein eschatologisches Moment, indem die religiöse Vorstellung eines jenseitigen besseren Lebens ins Diesseits hereingenommen und auf eine Zukunft projiziert wird, an deren Formgebung die fortschreitende Wissenschaft zu arbeiten habe. Montessori versteht sich selbst als Wissenschaftlerin und ihre Begrifflichkeit ist in ihrer Grundstruktur dem positivistischen Denken zuzuordnen, das auf die Entdeckung naturgesetzmäßig gültigen Wissens ausgerichtet ist. Gleichwohl ist ihr gesamtes Werk von religiösen Verweisen, Motiven und Anklängen durchzogen, die im Ganzen nicht als bloße illustrative Marginalien angesehen werden können. Sie geben dieser Begrifflichkeit eine deutliche religiöse Färbung und unterstreichen zusätzlich den Anspruch einer universellen Gültigkeit. Abgesehen von ihren religionspädagogischen Bemühungen in Barcelona, die auf die Einführung in den katholischen Glauben zielen, ist die religiöse Thematik ansonsten in einer allgemeinen Form eingewoben, auch dort, wo sie sich christlicher Metaphern bedient. Das verleiht ihrem Werk eine zusätzliche Attraktivität und die verschiedensten weltanschaulichen Gruppen – Montessori: „Personen aus allen Religionen und politischen Parteien, aus allen sozialen Klassen, ... Monarchisten und Kommunisten, Katholiken, Juden und Buddhisten ...“45 – konnten es mit ihren eigenen Zielen in Verbindung bringen. Und so verursachten die „Offenbarungen dieser Kinder“ (von San Lorenzo) eine „Pilgerschaft von Personen aus verschiedenen Kontinenten; es entstand eine Art von kindlichem Mekka.“ Bereits bei ihrer Eröffnungsansprache zur Einweihung des ersten Kinderhauses in Rom im Jahre 1907 wird das universale eschatologische Motiv deutlich ausgesprochen. An ein flammendes Bibelzitat (Jesaja, Kap. 60), das von der zukünftigen Herrlichkeit Zions spricht, knüpft sie den Gedanken, dieses Kinderhaus werde vielleicht ein neues Jerusalem, wodurch „Licht in die Erziehung“ gebracht werde.46 Schließlich weist die Schilderung der Entdeckung des Kindes, des Phänomens der konzentrierten Aufmerksamkeit (s.o.), zahlreiche religiöse Konnotationen auf, sowohl in Hinsicht auf das Erleben des Kindes selbst wie dessen Wahrnehmung durch Montessori. In dem Phänomen selbst erblickt sie das Offenbarwerden des Schöpferwillen Gottes, der dem Kind eine eigene Natur, das „Programm“ bzw. den „Bauplan“ seiner Entwicklung, eingegeben hat und: „gemäß der Absicht Gottes (soll das Kind) einen formativen Einfluss auf die Welt der Erwachsenen haben“.47 Die Natur des Kindes enthüllt also den göttlichen Willen, wie Gott überhaupt seinen Willen kundtut „einerseits durch übernatürliche Offenbarung, andererseits durch die Natur der Wesen, die durch ihn erschaffen sind.“48 Die Bedeutung des Kindes für den Erwachsenen sieht Montessori vor allem in der Entwicklung dessen, „was an geistigem und Göttlichem in der kindlichen Seele existiert. Das was das Kind darstellt und was seine Bedürfnisse sind, kann uns veranlassen, von ihm zu sprechen wie von einer großen Gnade, welche in der Familie ein45
Montessori, Maria (1964): Kinder, die in der Kirche leben, Freiburg: Herder, S.218 Montessori, a.a.O. (1969), S.41 Montessori, a.a.O. (1964), S.224 48 Ebd., S.235 46 47
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kehrt, wo das Apostolat des Kindes wirkt.“49 Denn „(w)enn man die Gesetze der Entwicklung des Kindes entdeckt, so entdeckt man den Geist und die Weisheit Gottes, der im Kind wirkt.“50 Im „Rufe der Natur“ ist also der „Ruf Gottes“ erkennbar und Erziehung kann dann aufgefasst werden „als die Erfüllung der Wünsche Gottes, der sich im Kinde offenbart.“51 In diesem Sinne kann Montessori von dem Kind als dem „ewige(n) Messias“ sprechen, dem die unverständigen Erwachsenen mit ihren Zwangseinrichtungen wie die Schule eine Dornenkrone aufsetzen, der aber „immer wieder unter die gefallenen Menschen zurückkehrt, um sie ins Himmelreich zu führen.“52 Sich selbst und ihre Methode sieht Montessori dabei in der Rolle des Heiligen Johannes, der das Kommen des Messias vorbereitet: „Der hl. Johannes in der Wüste ‚machte gerade die Wege des Herrn‘ und läuterte die Menschen von den größten Fehlern. So bereitet eine Methode, die inneres Gleichgewicht gibt und die größten, die geistigen Energien erstickenden Fehler entfernt, darauf vor, die Wahrheit zu empfangen und den ‚Weg des Lebens‘ erkennen zu lassen.“53 Daraus folgt für den Lehrer, der ja diese Gesetze und deren Wirkung im einzelnen Kind durch einfühlende Beobachtung erkennen soll, eine innere Haltung, die über das bloße Unterrichtenwollen und -können weit hinausreicht zu einer Art Gottesdienst und Dienst an der Schöpfung: „Was wir versuchen, ist, den einzelnen Menschen mit dem strengen Opfergeist des Wissenschaftlers und dem Geist unaussprechlicher Verzückung eines solchen Mystikers zu erfüllen – dann haben wir den Geist des ‚Lehrers‘ vollkommen vorbereitet. Denn er wird vom Kind selbst die Mittel und den Weg für seine eigene Erziehung lernen, das heißt, er wird vom Kind lernen, sich als Erzieher zu vervollkommnen.“54 – Wissenschaftlich zugerüstet und spirituell vom Kind selbst geleitet haben die Lehrer Teil am messianischen Werk der Erziehung und sie werden zu „Erlösern der Menschheit“.55 Insofern die Wissenschaft als Naturerkenntis die göttlichen Gesetze und den göttlichen Willen zu enthüllen vermag, kann sich Montessori selbst und ihre Methode als Wegmarke zur „ersehnte(n) Friedenshymne zwischen Wissenschaft und Glauben“, zur Synthese von fides und ratio, sehen. Mit ihrer Fokussierung auf die „äußere Welt“ habe die positive Wissenschaft tatsächlich „bis jetzt fühlbar einen Hauch des Heidentums unter uns gebracht. Aber wenn es ihr gelingen wird, in den inneren Menschen vorzudringen, indem sie seine Lebensgesetze und die Realität seiner Existenz erhellt, wird sich ein helles christliches Licht über die Menschen ausbreiten müssen.“56 Die religiöse Konnotation von Montessoris Werk verdeckt nun aber keineswegs die Sicht auf die konkreten Bedingungen des sozialen Lebens und die darin liegenden Hinderungsgründe für eine neue Erziehung.
49
Ebd., S.229 Ebd., S.235 51 Ebd., S.236 52 Montessori, a.a.O. (1978), S.302f 53 Montessori, Maria (1976): Schule des Kindes. Montessori-Erziehung in der Grundschule, Freiburg u.a.O.: Herder, S.250 54 Montessori, a.a.O. (1969), S.11 55 Montessori, zitiert nach Kramer, a.a.O., S.101 56 Montessori, a.a.O. (1976), S.249f 50
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2.4 Der soziale Hintergrund: Erziehungsreform als radikale Reform des Verhältnisses von Kind und Erwachsenem Die Sensibilität gegenüber krankmachenden Bedingungen der Umwelt; der „wissenschaftliche Glaube“ an die Möglichkeit einer nach den Gesetzen der Natur eingerichteten und so gleichsam technologisch abgesicherten Erziehung; die quasi-religiös fundierte Achtung vor dem Kind als Messias und Baumeister einer künftig besseren Welt – all das bildet die Folie ihrer Sicht auf die Situation des Kindes in der Gesellschaft. Die ökonomisch bedrückenden Verhältnisse in den unteren Bevölkerungsschichten und die oftmals katastrophalen Zustände in den Volksschulen erfahren durch Montessori eine beißende Kritik. Auf dem Lande und in der Stadt arbeiten die meisten Schulen unter völlig unzureichenden räumlichen und hygienischen Bedingungen, zudem nach einer Pädagogik, die wenig mehr als Auswendiglernen kennt, Zucht durch Lohn und Strafe sichert und das Wesen des Kindes ignoriert. Dabei sieht sie aufgrund eigener wissenschaftlicher Untersuchungen bereits klar den Zusammenhang von Sozialstatus der Eltern und Schulerfolg der Kinder. Die Kinder der unteren sozialen Schichten sind eklatant benachteiligt. Ihre Kritik ist darüber hinaus grundsätzlicher Natur und trifft das gesamte Bildungswesen: „Die Psychologen sprechen heute viel von ‚Repressionen‘ bei Kindern, aber zieht man die Einförmigkeit der Unterrichtsweise auf allen Stufen in Betracht, muss man zu dem Schluss kommen, dass nicht allein Kinder, sondern Jugendliche und Erwachsene als Schüler Repressionen erfahren, wenn sie unter Zwang lernen müssen. Sie werden deformiert, d.h. in ihrer Persönlichkeit geschwächt. In den Erziehungsinstitutionen wird deshalb ein Geschlecht seelischer Zwerge gezüchtet, in denen die höheren menschlichen Fähigkeiten erstickt worden sind.“57 Montessori steht wie die meisten kritischen Intellektuellen ihrer Zeit dem Sozialismus nahe, spricht auf Veranstaltungen der Sozialisten und arbeitet in manchen ihrer sozialreformerischen Intitiativen mit, wurde aber nicht Mitglied der Partei. Böhm schreibt zu diesem Zusammenhang: „Diese sozialistische Bewegung war im Hinblick auf die Pädagogik der Nährboden, auf dem eine immer stärkere kulturkritische Tendenz gedieh, die sich zunehmend auf eine Kritik der bestehenden Gesellschaft, ihrer Ungerechtigkeiten und Klassenunterschiede zuspitzte und – ins positive gewendet – der Erziehung als vorrangige Aufgabe die sittliche und soziale Erziehung des Volkes zuwies. ... Will man Montessoris Stellung zur sozialistischen Bewegung kennzeichnen, so wird man sagen müssen, dass sich die junge Akademikerin von der Bewegung auf das stärkste angesprochen fühlte. ... Ihre Verkündigung des neuen Menschen und der neuen Gesellschaft trägt auch Züge, die an die sozialistische Verheißung einer neuen Gesellschaftsordnung erinnern.“58 In all ihren Bemühungen sieht Montessori sich als Anwalt des Kindes, dem zu seinem Recht zu verhelfen ist. Sie bedient sich durchaus gelegentlich einer klassenkämpferischen Rhetorik, schreibt aber auch den Kommunisten ins Stammbuch, dass sie die Rechte, die sie für sich erkämpfen wollen, ihren Kindern gleichzeitig vorenthalten. Sie geht gegen den „blinden Fleck im Bewusstsein der Gesellschaft“ an, der darin besteht, dass in allen Kreisen der Gesellschaft der Blick für das Kind, für seine Bedürfnisse und seine Würde, nicht entwickelt ist. „Der Kommunismus bringt der Welt nicht den Frieden: Friede kann nicht erstehen aus einer rein ökonomischen Formel. Er verlangt neue Formen der Wissenschaft, die zur Kenntnis des Menschen führen werden.“59 Die Kinder vergleicht Montessori mit einer „sozialen Klasse“, der zwar die große Aufgabe der Arbeit an 57
Montessori, Maria (1951/1989): Das Ministerium für menschliche Entwicklung, in: Böhm, W. (Hsg.) (1989): Maria Montessori. Texte und Gegenwartsdiskussion, Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S.15 58 Böhm, a.a.O. (1969), S.91 59 Montessori, Maria (1979): Spannungsfeld Kind – Gesellschaft – Welt. Auf dem Weg zu einer „Kosmischen Erziehung“, Freiburg u.a.O.: Herder, S.105 bzw.126
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der eigenen Entwicklung und der Formung der Zukunft obliege, die aber trotz nachweisbarer Unschuld weniger Rechte habe als der Verbrecher.60 Freilich sieht Montessori hoffnungsvolle Anzeichen für ein neues Zeitalter, das im Begriff ist, allmählich den „Kampf zwischen Kind und Erwachsenem“ hinter sich zu lassen. „Rings um uns (ist) ein wirklicher und universeller Drang nach einer großen sozialen Reform entstanden“61, in der die Blindheit des Erwachsenen gegenüber dem Kind überwunden wird und das Kind sich schließlich in einer völlig neuen, ihm angemessenen Umwelt vorfindet. Im „Kinderhaus“ ist diese Umwelt modellhaft vorgeprägt. Es ist der Raum einer freien, natur-gesetzlich und göttlich gewollten Entwicklung, zugleich ein Abbild der großen Harmonie, die im Kosmos herrscht.
2.5 „Kosmische Theorie“ und „Kosmische Erziehung“. Erziehung als Weg zum Frieden und zur universellen Harmonie Montessori bedient sich zeitlebens religiöser Metaphorik, und zwar in einer Weise, die sich wenig um theologische Rücksichten schert. Beides, Religion wie Wissenschaft, dienen in ihrer Sicht vermittelt über die Erziehung letztlich der Höherführung des Menschen wie der Menschheit als der „Einzigen Nation“.62 Gegen Ende ihres Wirkens betont sie noch einmal deutlich den universellen Charakter ihrer Lehre, nun unter dem Begriff der „kosmischen Erziehung“. „Kosmische Erziehung“ ist – nach Schulz-Benesch – „seit langem ein Pflichtthema der Ausbildungskurse der Internationalen Montessori-Gesellschaft“63 und in manchen Montessori-Schulen (vor allem in Holland) wird eine entprechende Didaktik für die Schule entwickelt. Grundlage der „Kosmischen Erziehung“ ist nach Montessori die „Kosmische Theorie“, die besagt, dass jedes Lebewesen nicht nur für sich da ist und sich entwickeln soll, sondern, indem es dies tut, leistet es gleichzeitig einen Beitrag zur Gesamtentwicklung. Alles steht mit allem „nach einem kosmischen Plan“64 in einer wirkmächtigen Verbindung. „Jede Art wirkt für das Ganze, und vom Werk eines jeden hängt die Lebensmöglichkeit des Ganzen ab.“65 So wird ein „harmonische(r) Zustand der Reinheit“ gewährleistet. Während das bei den niederen Lebewesen und bis weit in die Geschichte der Menschheit unbewusst geschieht, besteht heute angesichts der zerstörerischen Möglichkeiten der menschlichen Schöpfungen (NB: Montessori spricht über dieses Thema kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges) die Notwendigkeit, dafür ein Bewusstsein zu schaffen. „Es ist evident, dass die kosmische Theorie auch den Menschen zu den wirkenden Kräften der Schöpfung rechnet. Wir müssen diese seine Verhaltensweise beobachten, um seine wesentlichen Funktionen herauszufinden, die zu der Erhaltung und Entwicklung der Erde beitragen.“66 Erst dann kann ein „neuer und vollkommenerer Mensch in künftigen Generationen hervorgebracht werden.“67 Es ist ein Mensch, der mit dem allenthalben sich ankündigenden „Universalen Bewusstsein“ ausgestattet und schließlich in der Lage ist, „eine einzige universale harmonische Gesellschaft zu bilden.“68
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Montessori, a.a.O. (1976), S.21f Vgl. Montessori, a.a.O. (1978), S.7 ff und S.255ff 62 Montessori, Maria (1973): Frieden und Erziehung, Freiburg: Herder, S.40ff 63 Vgl. Montessori, Maria: a.a.O. (1979), die Anmerkung des Herausgebers auf S.119 64 Ebd., S.133 65 Ebd., S.134 66 Ebd. 67 Ebd., S.138 68 Ebd., S.137 61
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Die „kosmische Erziehung“ müsse nun dieses Bewusstsein entwickeln, orientiert an einem „Zentrum, dem kosmischen Schöpfungsplan“.69 Des weiteren ist von einem „universalen Lehrplan“ die Rede, der die Einzelaspekte der verschiedenen Wissenschaften (Astronomie, Geographie, Geologie, Biologie usw.) als „Wissen von der Welt und vom Kosmos“ miteinander verbindet, letztlich zu dem moralischen Zweck eines „Gehorsam(s) gegenüber den kosmischen Gesetzen.“ In emphatischer Rede „definiert“ sie ihren Begriff von kosmischer Erziehung und bringt dabei auch ihre Pädagogik ins Spiel: „Der Plan einer Erziehung, die Rettung bringen will, muss auf den Gesetzen, die das menschliche Werden leiten, gegründet sein. ... Mit anderen Worten, durch die veränderte und von den Fesseln der Unwissenheit, der Schwäche, der psychischen Deviationen und der Ignoranz befreite Kindheit ist es möglich, zu handeln, indem man eine neue Form von intellektueller Bildung vermittelt und neue Formen der Menschlichkeit kultiviert. Es ist dieser letztere Teil, die Bildung, welche das Studium darstellt, das in den Schulen durchgeführt werden muss, der universale Lehrplan, der den Verstand und das Gewissen aller Menschen in einer Harmonie vereinigen kann, das ist es, was wir durch ‚Kosmische Erziehung‘ beabsichtigen.“70 – Montessori hat eine entsprechende spezielle Didaktik nicht näher konkretisiert, vielmehr alles Lernen in dieser Zielperspektive begriffen. Der Begriff hat sich gleichwohl in der Welt der Montessorischule eingebürgert und es werden Versuche unternommen, den hohen Zielen ein didaktisches Fundament zu geben. Im Ergebnis handelt es sich – das sei vorgreifend schon angedeutet – um einen fächerübergreifenden oder –verbindenden Unterricht in Sachfächern. Der Hinweis auf die „Kosmische Erziehung“ ist in zweierlei Hinsicht von besonderer Bedeutung. Zum einen ist hier der Ansatz zu einer im engeren Sinne, d.h. eine auf die Inhalte des Lernens bezogene, didaktische Reflexion sichtbar. Sie findet bei Montessori ihr Zentrum im Schöpfungsplan selbst. Der Mensch steht nun als Kind – das ist das zweite – als unmittelbarer Arbeiter an seiner Entwicklung den universellen schöpferischen Kräften näher und das Kind gewährt, sofern diese vom Erzieher erkannt werden, mit dem Zugang zu seiner Seele dem Erwachsenen gleichzeitig einen Zugang zum Schöpfungsplan. In erkenntniskritischer Perspektive muss von einem Zirkelschluss gesprochen werden, denn es wird das erkannt, was a priori vorausgesetzt ist. Montessori „löst“ diesen (von ihr als solchen nicht benannten) Widerspruch durch einen Appell an die Lehrerin, an die universellen schöpferischen Kräfte im Kinde zu glauben. Im Kind, will sagen im „normalen“, sich nach seinem Bauplan entwickelnden Kind, wird die kosmische Ordnung transparent. Sie manifestiert sich pädagogisch im willigen Gehorsam des Kindes, in seiner inneren Ordnung. In einer grandiosen Vision werden beide, Kind/Mensch und Kosmos, zu einer Einheit zusammengeschmiedet: „Wir wollen dem Kinde eine Vision des ganzen Universums geben. Das Universum ist eine imponierende Wirklichkeit und eine Antwort auf alle Fragen. Wir werden zusammen auf diesem Pfade des Lebens wandern, denn alle Dinge sind Teil des Universums, sind untereinander verbunden und bilden eine Einheit. Diese Vorstellung hilft dem Geiste des Kindes, sich zu befestigen, statt in einer ziellosen Suche nach Wissen herumzuwandern. Das Kind ist befriedigt, wenn es das universale Zentrum seiner selbst in allen Dingen gefunden hat.“71
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Ebd., S.139 Ebd. 71 Montessori, 1950, zitiert nach Standing, a.a.O., S. 306 (Hervorhebung von mir) 70
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3 Das Kind und seine Entwicklung
Montessoris Erziehungsbegriff beruht auf der Vorstellung des „normalen“ bzw. „normalisierten“ Kindes, das an seine „Natur“, an seinem im göttlichen Willen oder im kosmischen Plan verankerten und wissenschaftlich erschließbaren Entwicklungsgesetz Anschluss gefunden hat. Normalisation nach den Maßgaben des inneren Bauplans ist die eigentliche (kosmische) Aufgabe des Kindes, und die Unterstützung dieses Prozesses ist die Aufgabe der Erziehung. Dieses Geschehen wird als Entwicklung sichtbar, die zwar jeweils individuell verläuft, jedoch nach einem für alle einheitlichen Phasenplan. Die Entwicklung ist gekennzeichnet durch verschiedene aufeinanderfolgende und zeitlich abgrenzbare sensitive Perioden, in denen das Kind für die Ausbildung bestimmter körperlicher, geistiger und moralischer Vermögen in besonderer Weise disponiert ist. Die je aktuelle Disponiertheit zeigt sich in einem besonders tiefen Interesse an einer Sache oder einer Tätigkeit, nämlich an der gesteigerten Konzentration bzw. an der Polarisation der Aufmerksamkeit des Kindes. Die konzentrierte Tätigkeit ist eine Arbeit, die der kindliche Arbeiter mit dem Ziel seiner Selbstvervollkommnung und der Erreichung von immer höheren Graden der Unabhängigkeit verrichtet. Mit der Gerichtetheit auf eine Tätigkeit geht ein Zustand der Ruhe, der inneren Ordnung, der Befriedigung (s.o.) einher, der das Kind zum „Gutsein“ führt. Versäumnisse in einer sensitiven Periode führen zu schädigenden Deviationen; das sind Abweichungen vom Weg der Normalisation, deren Folgen später nur mit Mühe und im extremen Fall (siehe oben: Victor, der „Wilde von Aveyron“) gar nicht mehr ausgeglichen werden können. Hieraus ergibt sich die besondere Verantwortlichkeit des Erziehers, der die besonderen Mittel einer normalisierenden Erziehung bereitzustellen – dazu gehören zentral: die vorbereitete Umgebung, die Übungen des praktischen Lebens und das Entwicklungs- bzw. Montessorimaterial – sowie sich selbst entsprechend vorzubereiten hat.
Wie nun sieht das ideale „Montessorikind“, d.h. das normale oder normalisierte Kind aus?
3.1 Das „normale“ Kind Montessori sieht im Ergebnis der Normalisierung, „wenn sich die tiefere Natur entwickeln kann“72 die Entstehung eines neuen einheitlichen „Typs“: „Werden die Kinder in eine Umgebung versetzt, die ihnen die Möglichkeit bietet eine geordnete Tätigkeit auszuüben, gewähren sie diesen neuen Anblick, das heißt, sie entwickeln einen psychischen Typ, der für die gesamte Menschheit gleich ist; ... Die Veränderung, die fast eine Gleichheit des Typs schafft, geschieht nicht allmählich, sondern plötzlich. ... Sobald es die Möglichkeit findet zu arbeiten, verschwinden seine Fehler.“73 Standing, der eingangs zitierte Biograph und Mitarbeiter Montessoris, hat die Kennzeichen dieses neuen „psychischen Typs“ zusammengefasst, die überall dort, wo die „Entwicklungshindernisse (also die Gründe für Deviationen – E.S.) beseitigt“ sind gestern wie heute „fast wie durch Zauber“ erscheinen.74 Ich orientiere mich an Standings Ausführungen, die Montessoris Bild des normalisierten Kindes m.E. zutreffend wiedergeben, akzentuiere aber die Bezüge zu Montessoris Werk deutlicher. – Die Kennzeichen: 72
Montessori, Maria (1989/1934): Deviation und Normalisation, in: Böhm (Hsg.) (1989), a.a.O., S.34 Montessori, a.a.O. (1972, Kinder sind anders) S.181 74 Standing, a.a.O., S.167ff 73
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Ordnungsliebe: eine sorgende Zuwendung der Umwelt gegenüber. Liebe zur Arbeit: Es ist nicht in erster Linie der praktische Zweck der Arbeit, die das Kind fesselt, sondern ihr (dem Kind weitgehend unbewusster) Wert zum Aufbau der eigenen Persönlichkeit.75 Spontane Konzentration bzw. Polarisation der Aufmerksamkeit: Durch diese tritt das Kind in einen intensiven selbstbildenden Austausch mit der Umwelt. Sie ist „ein biologisches Phänomen“ und gleichsam die „Aufmerksamkeit des Lebens“ selbst (Standing). Mit ihr verbunden ist eine „fast an Wunder grenzende Festigung der spontanen Disziplin“ (Montessori, s.o.) und das „Erwachen des sozialen Gefühls“76 sowie überhaupt die Liebe zur Wirklichkeit. Liebe zur Wirklichkeit: Als Ergebnis der tiefen Konzentration „erwacht die Liebe für die Personen und die Dinge“, so wie der Heilige sich in der Isolation der Wüste auf „seine große Mission der Liebe und des Friedens“ vorbereitet.77 Liebe zur Stille und zur Einsamkeit: u.a. auch als Voraussetzung und Gegengewicht gemeinsamen Arbeitens. Verfeinerung des Besitzsinnes: Das Kind transformiert sein ursprüngliches (egoistisches) Besitzstreben „in eine höhere Auffassung der Liebe“. Es mündet in ein Interesse und eine Sorge für die ihnen anvertrauten Dinge.78 Wahl statt Neugier: Die unbestimmte Neugier wandelt sich in eine gezielte Wahl der Tätigkeiten. Sein tieferes Interesse ist nicht vom flüchtigen Reiz des Neuen geleitet, sondern richtet sich auf Tätigkeiten, die ihm die Empfindung vermitteln, „neue Einsicht zu gewinnen“; nämlich z.B. in der wiederholten Tätigkeit „die Größenunterschiede der Zylinder zu erkennen, die es vorher nicht wahrnahm.“79 Gehorsam: Montessori spricht im Hinblick auf die Kinder von ihrem „geheimnisvollen Gehorsam der Stimme gegenüber, die sie (die Kinder – E.S.) führt und die jeder in sich zu hören scheint.“80 Die Gehorsamsforderungen der Lehrerin und jene, die in entpersonalisierter Form in der Umgebung und im Montessorimaterial eingelagert sind (und denen die Kinder der Montessoriklasse im allgemeinen eifrig folgen), erhalten – wenn ich Montessori richtig interpretiere – ihr Gewicht und ihre Legitimität aus dem Umstand, dass sie mit dieser inneren Stimme des Kindes aufs innigste korrespondieren. Es handelt sich ja letztlich um die Stimme des Kosmos und seiner ihm eingeschriebenen Entwicklungsordnung. (Freilich liegt in dieser Auffassung auch ein Moment der Unerbittlichkeit – doch davon weiter unten mehr.) Unabhängigkeit und Initiative: „Der Hauptantrieb des Kindes ist, selbst zu handeln ohne fremde Hilfe, und seine erste bewusste Tat der Unabhängigkeit ist die Verteidigung denen gegenüber, die versuchen ihm zu helfen.“ Der Weg der Heilung von Fehlentwicklungen (Deviationen) geht über die in der Umwelt liegenden Anreize zur Arbeit; denn: „Das Kind erstrebt seine Unabhängigkeit durch die Arbeit: die Unabhängigkeit des Körpers und des Geistes.“81 „Hilf mir, es allein zu tun“82 oder „Hilf mir, mir selbst zu helfen“83 ist daher der oberste Grundsatz der Montessoripädagogik.
Zum Unterschied von kindlicher Arbeit und der Arbeit des Erwachsenen siehe: Montessori, a.a.O. (1978) S.264ff: „Die beiden Arbeitsarten“ 76 Montessori, a.a.O. (1972), Das kreative Kind, S.246 77 Ebd. 78 Ebd., S.197 79 Montessori, a.a.O. (Schule des Kindes), S.77 80 Montessori, a.a.O. (Das kreative Kind), S.247 81 Montessori, a.a.O. (Das kreative Kind), S.77 bzw. 84. Vgl. darin das Kapitel S.77ff „Die Eroberung der Unabhängigkeit“
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Freude und Glück: Dem Leben wohnt eine über den bloßen Willen hinausreichende vitale Kraft inne (Montessori verweist auf Percy Nunns „Horme“, Freuds „Libido“ und Bergsons „élan vital“), die als „göttliche Kraft“ jegliche Entwicklung fördert. „Diese vitale Entwicklungskraft regt das Kind zu verschiedenen Handlungen an. Wenn das Kind normal aufgewachsen ist und seine Tätigkeit nicht behindert wurde, zeigt sich in ihm das, was wir als ‚Lebensfreude‘ bezeichnen. Das Kind ist stets begeistert und glücklich.“84
Es handelt sich bei dem Neuen Kind in allen Aspekten offensichtlich um das Gegenbild des „alten Typs“: Kind und Schüler einer zu überwindenden Epoche, ein Wesen also, das ja bisher nicht seiner „inneren Stimme“ folgen konnte und zu Deviationen geradezu verdammt war. Der Gedanke eines legitimen anderen kindlichen Willens, d.h. eines solchen, der den im pädagogischen Arrangement eingeschriebenen Anforderungen zuwiderläuft, ist in Montessoris Ansatz nicht möglich. Ein solcher Wille wäre entweder die Folge vorausgegangener Deviationen beim Kind oder ein Zeichen der Unvollkommenheit des pädagogischen Arrangements, das ja auf den Naturgesetzen der Entwicklung aufgebaut sein soll. Die Möglichkeit eines legitimen Konfliktes zwischen kindlichem Willen und pädagogischem Anspruch ist also theoretisch ausgeschlossen. Im Idealfall, dessen Möglichkeit Montessori als reale ansieht, sind die „innere Stimme“ und das äußere pädagogische Arrangement exakt aufeinander abgestimmt, so dass das Kind immer das vorfindet, wonach seine „tiefere Natur“ verlangt. Die Fehlentwicklungen können in Montessoris Sicht nur dann vermieden werden, wenn dem Kind die Freiheit zu seiner Entwicklung – mithin zu seiner Normalisation – gegeben wird. Sie vollzieht sich im Rahmen der sensitiven Perioden mit ihrer je spezifischen Entwicklungsdynamik.
3.2 Die „sensitiven Perioden“ – Leitfaden der Konzentration und Normalisation Die Normalisation des Kindes verläuft über die Konzentration. Montessori hat die Stufen dieses Geschehens beschrieben. Es reicht von der vorbereitenden Stufe, in der das Kind einem inneren Impuls folgend in der „Umgebung“ seine Aufmerksamkeit auf bestimmte Dinge richtet (man könnte auch von der Stufe der „Kontaktsuche“ sprechen) über die „große Arbeit“, die – je nach Wahl – gleichsam die selbst- und umweltvergessene Beschäftigung mit spezifischen Entwicklungsmaterialien oder auch praktische Tätigkeiten (z.B. „Übungen des täglichen Lebens“) beinhaltet bis zur „Kontemplation“, das ist eine Phase der Ruhe, „die sich nur im inneren abspielt und die dem Kind Klarheit und Freude verschafft“85 sowie in der „Organisation der Persönlichkeit“ zu „Qualitäten moralischer Ordnung“ führt „wie: Ausgeglichenheit, Disziplin, Selbstbeherrschung im Gehorsam und in den verschiedenen Aktivitäten.“86 Konzentration bildet den Modus der persönlichkeitsaufbauenden Tätigkeit mithin der Normalisation. Sie ist als solche in der Konzentration des Kindes zu erkennen. Die Richtung dieser Tätig82
Montessori, a.a.O. (1978, Kinder sind anders), S.274 Montessori, a.a.O. (1979), S.47 Montessori, a.a.O. (1978, Das kreative Kind), S.77 85 Montessori, zitiert nach: Holtstiege, Hildegard (1977): Modell Montessori, Freiburg: Herder, S.166. Vgl. auch die ausführliche Beschreibung des Prozesses unter Zuhilfenahme von graphischen Arbeitskurven bei Montessori, a.a.O. (1976), S.100ff 86 Montessori, a.a.O.(1976), S.106 83 84
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keit, der anfänglichen Kontaktsuche wie der „großen Arbeit“ selbst, wird von innen gesteuert, vom „Bauplan“, und zwar nach Maßgabe der jedem Menschen eingeschriebenen Entwicklungsdynamik, die mit den „sensitiven Perioden“ (synonym auch: sensible Perioden) einhergeht. Montessori übernimmt diesen Begriff aus der Biologie, mit deren Hilfe der „innere Mechanismus“ von „Entwicklung und Wachstum“ ergründet wurde. „Der holländische Gelehrte De Vries entdeckte die Empfänglichkeitsperioden bei den Tieren, und uns gelang es in unseren Schulen, dieselben ‚sensiblen Perioden‘ auch in der Entwicklung der Kinder festzustellen und den Zwecken der Erziehung nutzbar zu machen.“ Die sensiblen Perioden „sind von vorübergehender Dauer und dienen nur dazu, dem Wesen die Erwerbung einer bestimmten Fähigkeit zu ermöglichen. Sobald dies geschehen ist, klingt die betreffende Empfänglichkeit wieder ab. So entwickelt sich jeder Charakterzug auf Grund eines Impulses und während einer eng begrenzten Zeitspanne.“ Und weiter – woraus sich die besondere erzieherische Bedeutung und Verantwortung ergibt: „Hat das Kind aber nicht die Möglichkeit gehabt, gemäß den inneren Direktiven seiner Empfänglichkeitsperioden zu handeln, so hat es die Gelegenheit versäumt, sich auf natürliche Weise eine bestimmte Fähigkeit anzueignen; und diese Gelegenheit ist für immer vorbei.“87 Das bedeutet freilich nicht, dass manches nicht später noch nachgeholt werden kann; dann allerdings nicht mehr „auf natürliche Weise“ und deshalb nur mit erheblich höherem Kraftaufwand. Es ist die Faszination der Entdeckung dieses „inneren Mechanismus“, in der Montessori eine Bestätigung ihrer frühen Bemühungen findet. (Im Frühwerk und noch bis Mitte der zwanziger Jahre taucht der Begriff der sensitiven Perioden meines Wissens noch nicht auf.) Die Vorstellung von „sensitiven Perioden“ der Entwicklung erlaubt die biologische Begründung des Bildungsprozesses. Der Begriff der sensitiven Periode musste Montessori als archimedischer Hebelpunkt der Entwicklung und Bildung erscheinen, weil durch ihn die inhaltliche Dimension der Konzentration zu erschließen ist. Selbst die Entwicklung des religiösen Gefühls wird Montessori 1926 in der dritten Auflage ihres Werkes „Il metodo ...“ (1. Aufl. 1909) einer besonderen „sensitiven Periode der Seele“ beim kleinen Kind zuschreiben.88 Holtstiege hat in ihrer Analyse die sensiblen Phasen nach Montessori herausgearbeitet. Demnach lassen sich bei ihr 3 Phasen, die jeweils etwa 6 Jahre dauern, unterscheiden. In der ersten Phase (0-6 Jahre) erfolgt die „Bildung der Basis der Persönlichkeit und Intelligenz“. Ihr zugeordnet sind die Ausbildung motorischer Fähigkeiten (Hand, Gleichgewicht, Laufen), der Sinn für Ordnung, die Entwicklung von Sprache und Bewusstsein, soziale Integration. In der zweiten Phase (7-12 Jahre) ist eine „Dominanz moralischer Sensibilität“ festzustellen: Es entsteht „ein moralisches Bewusstsein in Verbindung mit dem sozialen“. In dieser Phase erfolgt auch der „Übergang des kindlichen Geistes zur Abstraktion“, es entsteht eine „Sensibilität für Vorstellungen“, die als „Keim der Wissenschaft“ angesehen werden können. Auch besteht ein „Bedürfnis nach Erweiterung des Aktionsbereiches – auch sozial (nach) neuen Beziehungen.“ Die dritte Phase (12-18 Jahre) kennzeichnet Holtstiege als (physiologisch bedingt) labil. Es dominieren soziale Sensibilitäten, verbunden mit dem Bedürfnis, „Selbständigkeit im sozialen Beziehungsnetz zu entwickeln“. Der Jugendliche bevorzugt jetzt „schöpferische Arbeiten“. Es besteht eine Sensibilität für die Entwicklung von Selbstwert und persönlicher Würde.89 Unter den Maßgaben der „sensitiven Perioden“ ist die Erziehung gehalten, ein „Milieu“ – ähnlich dem Entwicklungsmilieu von Tieren – bereitzuhalten, in dem sich die verschiedenen Sensibilitäten auswirken können. Zunächst muss in der Weise einer indirekten Erziehung die Umge-
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Montessori, a.a.O. (1978, Kinder sind anders), S.60,61,63 Montessori, a.a.O. (1969, Die Entdeckung des Kindes), S.192 89 Siehe Holtstiege, a.a.O. (1977), S.74-91 88
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bung so gestaltet sein, das der „absorbierende Geist“90 des Kindes Anregungen findet, nicht, um beliebige Inhalte in der Art des Erwachsenen aufzunehmen, sondern damit das Kind seinen Geist selbst formen kann. In der zweiten Phase ist Erziehung als gezielte Unterstützung und Förderung möglich durch die funktionelle Gemeinschaft des Kinderhauses, seine spezifische Ausgestaltung und die darin vorhandenen Entwicklungsmaterialien, also immer noch im Wesentlichen in indirekter Form. Für die dritte Phase, die insgesamt weniger im Gesichts- und Wirkungskreis Montessoris liegt, hat Montessori Vorstellungen von einer „Erfahrungsschule des sozialen Lebens“ entwickelt, in der der „individuellen Initiative“ ein Freiraum der Entfaltung gewährt werden soll. Es geht darum, dem Jugendlichen die „Möglichkeit des persönlichen Ausdruckes“ zu eröffnen (Musik, Sprache, Bilderisches Arbeiten), ferner auf das zu antworten, „was wir als die schöpferischen Elemente des psychischen Seins beim Menschen allgemein betrachten“ (sie nennt: moralische Erziehung, Mathematik und Sprachen) und drittens „den Jugendlichen mit der augenblicklichen Kultur in Beziehung (zu) setzen, indem man ihm eine umfassende Bildung vermittelt, und ebenfalls mit dem Mittel der Erfahrung“ (genannt werden: das „Studium der Erde und der lebendigen Natur“ sowie „Studien, die sich auf den menschlichen Fortschritt und auf den Aufbau der Zivilisation durch die Physik und Chemie usw. beziehen“).91 – Immerhin hat Montessori auch bei der Gründung der ersten Montessorischule im Sekundarbereich 1926 in Holland den Eltern und dem Lehrerkollegium beratend zur Seite gestanden.92 Bei ihrer Konzeption der Sekundarerziehung unterscheidet sich Montessori freilich nicht grundlegend von gängigen Auffassungen. Sie hat sich damit stillschweigend von der biologischen Konzeption der „sensitiven Perioden“ verabschiedet und den Pol der Außenwelt implizit als konstitutiv für den Bildungsprozess anerkennt – wie überhaupt in kritischer Sicht die Frage gestellt werden muss, wie weit eine biologische Konzeption im menschlichen Bildungsprozess tragfähig ist.93 – Sobald im Prozess der Bildung reflexives Bewusstsein auftritt, mithin bewusste Zustimmung oder bewusster Widerstand oder die kritische Nachfrage gegenüber fremden Ansprüchen, ist eine biologische Konzeption nicht mehr haltbar.
4 Der pädagogische „Zeit-Raum“ der Montessorischule – eine gestaltete Umwelt zur „freien“ Entwicklung des Kindes Freiheit bedeutet im Sinne Montessoris zunächst die Befreiung von bedrückenden Bedingungen, wie sie in einer Umwelt gegeben sind, die die Entwicklungsbedürfnisse des Kindes nicht kennt. Freiheit bedeutet – selbstverständlich – nicht Willkür; freilich auch nicht die Entwicklung eines autonomen Willens, der als eigener in einem sozialen und kommunikativen Prozess der Vermittlung mit anderen Willenssubjekten zur Geltung und Bewährung gebracht werden könnte. Nicht das „Ich“ will, sondern das „Es“, verstanden als die dem Kind eingeschriebene Entwicklungsdynamik, deren Direktiven das „normale Kind“ willig folgt. „‘Dem Kind seinen Willen lassen, das seinen Willen nicht entwickelt hat‘, heißt den Sinn der Freiheit verraten.“94 In einem angemessenen Milieu braucht das Kind auch gar nicht zu wollen, weil es schon immer darf: sich nämlich seiner inneren Natur gemäß zu entwickeln. Der entwickelte Wille gehorcht der „inneren Stimme“, deren Gehorsamsforderungen nur gelegentlich stellvertretend und behutsam durch die Leh90
Vgl. Montessori „The Absorbent Mind“, der engl. Originaltitel des dt. „Kinder sind anders. Der absorbierende Geist“, ebd., bes. S.23ff 91 Montessori, Maria (1966): Von der Kindheit zur Jugend, Freiburg u.a.O.: Herder, S.112ff 92 Vgl. dazu: Kramer, a.a.O., S.183 93 Vgl. dazu Böhm, a.a.O.(1969), S.183ff 94 Montessori, a.a.O. (1972, Das kreative Kind), S.184
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rerin Nachdruck verliehen werden darf; das heißt nur dann, wenn das Kind seinen Willen noch nicht entwickelt hat. Freiheit bedeutet positiv gewendet also die Möglichkeit zur naturgemäßen Entwicklung. Pädagogisch gewendet heißt das, für günstige Entwicklungsbedingungen zu sorgen, so dass „... das in seiner Tätigkeit frei gelassene Kind in seiner Umgebung etwas vorfindet, das organisiert wurde in direktem Verhältnis zu seiner sich nach Naturgesetzen abwickelnden inneren Organisation. So wie das freie Insekt in der Form und in den Eigenschaften der Blumen eine direkte Übereinstimmung in Form und Substanz finden muss. .... Das Geheimnis der freien Entwicklung des Kindes liegt also ganz in der Organisation der zu seiner inneren Ernährung notwendigen Mittel; ...“95 Zu diesen Mitteln gehören an erster Stelle die entsprechend vorbereitete Umgebung mit den Entwicklungsmaterialien, in der eine verständige, gut vorbereitete Lehrerin in der Weise wirkt, dass die kindlichen Entwicklungsimpulse die notwendige „Nahrung“ finden. Das Kind findet einen Raum vor, in dem es sich im Maße seiner Zeit frei entwickeln kann. Die Lehrerin wird das Kind auf seinem Weg begleiten, es ggf. (bei Deviationen) behutsam zu diesem zurückführen und es so zu der hohen „Stufe des Gehorsams“ einer „große(n) Ergebenheit“ führen, auf der das Kind „sich einer Persönlichkeit (zuwendet), deren Überlegenheit es fühlt. ...; das Kind wird begierig, zu folgen.“96
4.1 Die „vorbereitete Umgebung“. Zentrale Momente ihrer räumlichen und pädagogisch-didaktischen Struktur Die Montessorischule als Institution reicht vom dritten bis zum 18. Lebensjahr, wobei in der Praxis der Bereich der Vor- und Grundschule überwiegt. Für das dritte Jahrsechst hat Montessori einen (nicht realisierten) Plan einer Gemeinschaftsschule (Gesamtschule) vorgelegt, der den Charakter einer „pädagogischen Provinz“ trägt, in der die Jugendlichen fernab vom Elternhaus in einer eigens gestalteten „Umgebung“ mit Einrichtungen für Studium und Arbeit leben. Der Plan entspricht in seinen wesentlichen Punkten den „Landerziehungsheimen“. Im Bereich der Sekundarstufe haben sich in der Praxis nur relativ wenige Schulen entwickelt, die, abgesehen von einer stärkeren Betonung des selbständigen Arbeitens und ggf. der Einrichtung von festen Zeiten für die Freie Arbeit, in ihrer Arbeitsweise wenig von anderen Schulen mit ihrem System des jahrgangsklassen- und fachgebundenen Unterrichts abweichen. – Auf diese Stufe soll hier nicht näher eingegangen werden.97 – Als wichtiges organisatorisches Merkmal ist noch darauf hinzuweisen, dass Montessori die Bildung jahrgangsübergreifender Klassen (im allgemeinen drei Jahrgänge) wünscht, um die Möglichkeiten des Voneinanderlernens und des sozialen Lernens zu erhöhen. 4.1.1 Das Kinderhaus und die verschiedenen „Übungen“ Im Kinderhaus für die drei- bis ca. sechsjährigen findet das Kind eine seiner Größe und seinen Kräften angemessene Einrichtung – frei bewegliches Mobiliar, Haushaltsgegenstände, Teppiche usw.– vor, das der Einrichtung eines wohlgeordneten Hauses (einschließlich Küche) entspricht. Ein wesentliches Moment der pädagogischen Arbeit sind die verschiedenen „Übungen“ a) für die Aufgaben des praktischen oder täglichen Lebens, b) für die Entwicklung der Bewegung und c) für die Entwicklung der Sinne (als Grundlage des Erkenntnisvermögens).
95
Montessori, a.a.O. (1976, Schule des Kindes), S.72 Montessori, a.a.O. (1972, Das kreative Kind), S.236, 234 97 Vgl. dazu: Montessori (1966) und Holtstiege, a.a.O., S.134f 96
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a) Die Übungen des praktischen Lebens. Darunter versteht Montessori „die Nachahmung von alltäglichen Hausarbeiten wie z.B. Tischdecken, Essenservieren, Abdecken, Spülen und Säubern der Wohnung“98, Blumenpflege, ferner solche der Körperpflege und des Sichkleidens (an- und ausziehen, Schuhe binden, auf- und zuknöpfen – dafür stehen eigene nach dem Prinzip der Isolierung von Schwierigkeiten gestaltete „Knüpf-“ und „Schnürrahmen“ mit verschiedenen Verbindungsarten zur Verfügung) und „Übungen, die dem Umgang mit anderen Personen zugeordnet sind (andere begrüßen, empfangen, bewirten).“ – All das dient der Erlangung einer größeren Unabhängigkeit von der Hilfe anderer und der Entwicklung koordinierter Bewegungen, mithin dem Aufbau einer der „inneren Ordnung“. b) Die Bewegungsübungen. Dazu gehören auch alle vorgenannten, ferner die „Übungen der Stille und der Sammlung“, die ein Innehalten der Bewegung bedeuten (und die Konzentration vorbereiten helfen), das Gehen auf einer Linie und gymnastische sowie rhythmische Übungen. – Es geht um die Entwicklung von motorischen Fähigkeiten und Koordinationsleistungen als ein integraler Bestandteil der „Gesamterziehung der kindlichen Persönlichkeit.“ c)Die Sinnesübungen mittels der Entwicklungsmaterialien (bzw. Montessorimaterialien). Alle Übungen richten sich auf die gesamte Persönlichkeit und damit auch auf die Entwicklung der Intelligenz. Den Entwicklungsmaterialien kommt in dieser Hinsicht jedoch eine herausgehobene Bedeutung zu, weil sie über den Weg der Sinne (von der „Peripherie“) gezielt auf die Bildung der Intelligenz (auf die Bildung des „Zentrums“)99 einwirken. In einem Satz von Sinnesmaterialien unterscheiden sich die Objekte nur in einer Hinsicht; Montessori spricht von der „Isolierung einer einzigen Eigenschaft im Material“100: z.B. Größe, Farbe, Gewicht, Temperatur, Oberflächenbeschaffenheit, Geruch, Klang. Die erfolgreiche Durchführung der – von der Lehrerin genau eingeführten – Übung mit dem Material verlangt vom Kind eine Diskriminationsleistung im Hinblick auf ein bestimmtes Merkmal (z.B. Größe der Einsatzzylinder). Im Vergleich der Abstufungen dieses Merkmals wird das kindliche Wahrnehmungsvermögen geübt und entwickelt. Es geht also nicht um die Materialien selbst, sondern um die darin enthaltene „materialisierte Abstraktion“ (Montessori), die im Vorgang des – meist mehrfach wiederholten – Übens im Kind gleichsam entmaterialiert wird und sich so als geistiges Vermögen (oder „Begriff“) im „Zentrum“ verankert. (Deshalb kann ein freies, regelwidriges Spielen – etwa die Benutzung der Holzzylinder für ein Kegelspiel – mit diesen Materialien unter keinen Umständen gestattet werden!) Als „grundlegende Eigenschaften, die allen Dingen gemeinsam sind, die das Kind in seiner erzieherischen Umwelt umgeben“ nennt Montessori zuerst „die Fehlerkontrolle“. Sie ist nicht nur dem Entwicklungsmaterial immanent, sondern auch in anderen Gegenständen, die das Kind wie „unbeseelte Lehrer“ vor falschem und unachtsamem Gebrauch warnen – so etwa die Flecken auf den hellen Tischen oder der Lärm beim Umfallen von Möbelstücken. „Die Ästhetik“ der Gegenstände, „Farbe, Glanz, Harmonie der Formen“ bedingt ihre Anziehungskraft. Drittens müssen sie „die Aktivität“ herausfordern und „für die Tätigkeit des Kindes“ geeignet sein. Schließlich fordert Montessori eine mengenmäßige „Begrenzung“ des Materials, um das Kind nicht zu verwirren (meist ist ein Materialsatz im Raum nur einmal vorhanden). – Montessori hat eine Fülle von Materialien eingesetzt und beschrieben, die alle der Ausbildung des Tastsinns (Beispiel: rauhe und glatte Flächen, Platten mit verschiedener Wärmeleitfähigkeit), Geruchssinns (Riechbüchsen), Gesichtssinns (Farbtäfelchen), Geschmackssinns („Malzeit als natürliche Gelegenheit für Ge98
Holtstiege, a.a.O., S.94 – alle folgenden Zitate ebd. S.94ff. Vgl. Montessori, Maria (1932): Das Zentrum und die Peripherie, in: Böhm (Hsg.)(1990), S.41-44 100 Montessori, a.a.O. (1969, Die Entdeckung des Kindes), S.115 99
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schmacksübungen“101) oder Gehörsinns (Geräuschbüchsen) dienen. Das bekannteste Material ist die Reihe der Einsatzzylinder, an deren Gebrauch Montessori das Phänomen der konzentrierten Aufmerksamkeit des Kindes zum ersten Mal beobachtet haben will. Daneben werden schon im Kinderhaus Materialien eingesetzt, die einen gezielten didaktischen Sinn haben zur Einführung in das Lesen und Schreiben, Rechnen, Sprache, Biologie, Erdkunde, Mathematik, Geometrie. Diese Materialien finden sich mit intellektuell anspruchsvollerem Inhalt auch auf den folgenden Stufen. 4.1.2 Die Schule des Kindes Will man beim Lernen an den „sensitiven Perioden“ oder zumindest an den Interessen jedes einzelnen Kindes anknüpfen, muss streng genommen der gesamte Bildungskanon in materialisierter Form vorliegen. Denn die einzelnen Phasen der sensitiven Perioden werden von den Kindern nicht im Gleichschritt durchlaufen. Frontaler Unterricht, der in der Jahrgangsklasse mit einigen „Verlusten“ – d.h. Frustrationen durch Unter- oder Überforderung – noch möglich und vertretbar zu sein scheint, ist in der Montessorischule mit ihren jahrgangsübergreifenden Gruppen (in der vierjährigen deutschen Grundschule bis zu vier Klassenstufen in einer Gruppe!) zugunsten individualisierender Verfahren weitgehend aufgehoben. Tatsächlich hat Montessori in Zusammenarbeit mit ihren Mitarbeiterinnen ihre Ideen im Sinne einer „Pedagogia scientifica“ in den Bereich der Schule (insbesondere für das 2. Jahrsechst) hineingetragen und bereits 1916 einen umfangreichen Bericht vorgelegt: „L‘autoeducazione nelle scuole elementari“102. Er enthält in seinem zweiten Teil ein ausführlich kommentiertes Verzeichnis der Lerninhalte und Materialien für die verschiedensten Lernbereiche. Die Prinzipien des Kinderhauses gelten analog auch in der schulischen „Umgebung“. Auch hier haben die Kinder einen großen Bewegungsspielraum. Das Material wird selbständig aus den Regalen geholt und nach Gebrauch wieder zurückgebracht. Dabei haben die Kinder die Möglichkeit, die Arbeiten anderer – z.B. älterer – Kinder zu sehen und Anregungen für die Richtung ihres eigenes Weiterlernens zu erhalten. Das Material selbst ist progressiv aufgebaut und erlaubt so ein individuelles Voranschreiten. Inzwischen liegt eine Fülle an didaktischen Materialien vor. Sie zu beschreiben würde den Umfang des ganzen vorliegenden Buches weit überschreiten. In ihrem großen Bericht aus den „scuole elementari“ wird auf über 400 Seiten mit zahlreichen graphischen und fotografischen Abbildungen das montessorianisch aufbereitete Curriculum in Inhalt, Form und Anwendung vorgestellt. Es berücksichtigt die Lernbereiche Sprache, Mathematik und Geometrie, Zeichnen, Musik und Poesie. Montessori hat damit einen unschätzbaren Beitrag zur Entwicklung didaktischer Materialien überhaupt geleistet, dessen Spuren in anderen materialgestützten didaktischen Konzeptionen der Reformpädagogik und in den allgemein gebräuchlichen „Arbeitsmitteln“ der Schule früher wie heute aufzufinden sind. Im Anhang des genannten Werkes (Band II) findet sich zudem eine ausführliche Anleitung „für das Studium des individuellen Kindes“103; denn es ist die genaue Kenntnis des Kindes, sprich seiner individuellen Entwicklungsstufe und seiner (psychisch und/oder sozial bedingten) 101
Ebd., S.137 Vollständiger Titel: „L‘autoeducazione nelle scuole elementari. Continuazione del Volume: Il Metodo della Pedagogia scientifica applicato all‘educazione infantile nelle Case dei Bambini“, Rom. Mir liegt die dritte Auflage der 1918 erstmalig erschienenen englischen Übersetzung vor: Montessori, Maria (1929): The Advanced Montessori Method. Scientific Pedagogy as Applied to the Education of Children from Seven to Eleven Years, London: William Heinemann, 2 Bände (I: Spontaneous Activity in Education,1929; II: The Montessori Elementary Material,1928). In deutscher Übersetzung liegt nur der 1. Band vor: „Schule des Kindes. Montessori-Erziehung in der Grundschule“. 103 Vgl. ebd., Bd.II, S.401-412 102
Montessori-Pädagogik 223
Behinderungen (Deviationen), die es der Lehrerin erlauben, dem Kind jeweils angemessene Anregungen und Aufgaben für seine „autoeducazione“, seine Selbsterziehung, zu geben. 4.2 Der Lehrplan Auch eine Montessorischule ist eine Schule und kommt ohne einen Lehrplan, der dem Lernen des Kindes Inhalt und Richtung (vor)gibt, nicht aus. Die „spontane Aktivität des Kindes in der Erziehung“ – so lautet ein vielgebrauchter Topos bei Montessori – findet hier eine gleichsam „kultürliche“ Grenze, die als solche von Montessori freilich nicht anerkannt wird. Wie bereits angedeutet, begründet Montessori keinen neuen Lehrplan. Der Akzent liegt auf dem Methodischen und darüber vermittelt auf der Entwicklung endogener Fähigkeiten. Immerhin finden sich gelegentlich auch didaktisch-inhaltliche Erwägungen mit eigenwilligen Bezügen. Bezeichnend sind ihre Vorstellungen in Zusammenhang mit den für die Jugendlichen vorgesehenen Studien (s.o.). Die didaktische Antwort auf das, „was wir als schöpferische Elemente des psychischen Seins beim Menschen allgemein betrachten“ sieht sie in den drei Bereichen religiöse Erziehung und Moral, Mathematik (!) und Sprachen.104 Offenbar nimmt Montessori aufgrund ihres typologischen Denkens, wonach das normalisierte Kind überall im Grunde gleichartig ist, eine Kongruenz zwischen individueller Seele und Menschenseele an. Mathematik als das schlechthin Universelle hat nun im „Fortschritt unserer Epoche“ wie im einzelnen eine fundamentale Bedeutung. „Schon im Naturzustand ist der menschliche Geist ein mathematischer: Er tendiert zur Genauigkeit, zum Maß und zum Vergleich.“105 Auch hier wird die große Sehnsucht nach Einheit und Zusammenhang des Menschen mit der Welt transparent, wie sie im Begriff der kosmischen Erziehung noch deutlicher zum Ausdruck kommt. Die Überlegungen zur kosmischen Erziehung sind bei Montessori fragmentarisch geblieben. Dennoch haben sie das Selbstverständnis der Montessorischule geprägt, freilich nicht in allen Ländern gleichermaßen. Meines Wissens ist dieser Gedanke vor allem in den Niederlanden auf einen fruchtbaren Boden gefallen, in einem Land, das weltanschaulichen Belangen in der Erziehung weit weniger reserviert gegenübersteht, als z.B. Deutschland. (In den Niederlanden sind etwa zwei Drittel aller allgemeinbildenden Schulen Privatschulen, meist getragen von den Kirchengemeinden. Die Privatschulen werden wie die öffentlichen Schulen aus Steuermitteln finanziert.) So haben die Entwicklungen zur Einführung der „Basisschule“ für die vier- bis achtjährigen Kinder in den Niederlanden Mitte der achtziger Jahre auch zu einer weiteren Ausarbeitung der „kosmischen Erziehung“ geführt. Der Kreis der Montessorischulen wollte auf diese Weise im Rahmen öffentlich geförderter Schulversuche zur Entwicklung des eigenen Konzeptes und des Konzeptes der Basisschule allgemein beitragen. Im Verlauf dieser Versuche wurde ein umfangreicher „schoolwerkplan“ (Schularbeitsplan) für „kosmisch onderwijs“106 (kosmischen Unterricht) entwickelt und erprobt. Die Entwicklung, Erprobung und Verbesserung kindgerechter Materialien zur selbständigen Arbeit bildete einen Schwerpunkt. Unter „kosmischem Unterricht“ wird das Anbieten von Unterrichtseinheiten verstanden, die für das Kind ansprechend sind und ihm allmählich die Entwicklung eines Bewusstseins des kosmischen Zusammenhanges, in dem es selbst steht, ermöglichen sollen. Es geht um die didaktische Darstellung „a) der gesetzlichen Zusammenhänge der Erscheinungen; b) ihres strukturellen Zusammenhangs; c) ihrer Entwicklungszusammenhänge, sowohl in räumlicher, historischer und einer zu vermutenden zukünftigen Per104
Montessori, a.a.O. (1966, Von der Kindheit zur Jugend), S.113f Ebd., S.114 Vgl. zum Folgenden: Roozemond, Nora (1982): Montessori en de nieuwe basisschool, Amsterdam: Uitgave Informatiepunt Basisonderwijs, S.29ff 105 106
224 Reformpädagogik
spektive.“ – Der Zusammenhang mit Montessoris Ansatz zeigt sich philosophisch in der großen Zielperspektive, methodisch in der Bedeutung des didaktischen Materials und seiner experimentellen Entwicklung sowie inhaltlich in der Dominanz des Entwicklungsgedankens. Letzterer wird im „kosmisch onderwijs“ bezogen auf das Universum, die Erde, das Leben allgemein und insbesondere auf das menschliche Leben, die Kulturen und Völker, die Entwicklung des Einzelmenschen vom Embryo zum Erwachsenen. In einem weiten Sinne werden aber auch – und hier wiederum in Richtung der Intention Montessoris – Inhalte aus anderen Stoffgebieten durchgesehen und gemäß der „kosmischen Vision“ neu geordnet. „In einem weiten Sinn gehören alle kognitiven ‚Fächer‘ hierzu, weil sie im Prinzip alle mit dem großen Ganzen verbunden sind.“ Trotz der weitgespannten Vision richtet sich die Aufmerksamkeit auf sehr konkrete Dinge und Gegebenheiten. Auch aktuelle Fragen, die naturgemäß noch nicht „materialisiert“ sein können, werden zur Sprache gebracht. Der bevorzugte Ort dafür ist das Kreisgespräch, in dem aktuelle Ereignisse „nach Möglichkeit in einen größeren Zusammenhang gestellt werden.“ Insgesamt kann festgehalten werden, dass – in welchem Lernbereich und auf welcher Altersstufe auch immer – die „Lernstoffe“ oder die zu entwickelnden seelisch-geistigen Fähigkeiten nach Möglichkeit kindgemäß (das heißt gemäß der sensiblen Perioden) „materialisiert“ und in dieser Form dem Kind zur individuellen Bearbeitung zwecks Aufnahme des darin eingeschlossenen geistigen Gehaltes zur Verfügung gestellt werden. 4.3 Die Lehrerin und der Gehorsam des Kindes Die Lehrerin hat – Montessori verwendet meist die weibliche Form – trotz der ihr auferlegten Zurückhaltung eine herausragende Position. Sie ist Garantin des methodischen Arrangements und der sozialen Ordnung in der Klasse, ferner Bewahrerin der großen Schöpfungsordnung, wie sie sich in den Äußerungen der Kinder „offenbart“. Deswegen fordert sie von der Lehrerin, in sich den Geist des positiven, auf die „Wahrheit“ der Tatsachen sehenden Wissenschaftlers mit der Haltung des Mystikers oder Heiligen zu vereinen. „Die Schaukraft der Lehrerin müsste gleichzeitig exakt sein wie die des Wissenschaftlers und geistig wie die des Heiligen.“107 Weit weniger aber ist sie als Person Repräsentantin von sachlich-inhaltlichen Anforderungen, die ja von ihr selbst, meist aber von fremden Herstellern, im Material eingelagert worden sind. Das heißt: sie hat im eigentlichen Sinne keine Lehrfunktion mehr; und auch die Disziplinierung mit den mehr oder weniger probaten Zwangsmitteln der alten Schule fällt weg. Montessori: „Was ist für die so veränderte Lehrerin das beste Zeichen ihres Erfolges? Wenn sie sagen kann: ‚Die Kinder arbeiten jetzt, als ob ich nicht da wäre‘“.108 Dieses „als ob“ weist darauf hin, dass die Lehrerin gleichwohl eine fundamentale pädagogische Funktion innehat, meist (nicht durchgängig) in der Art einer indirekten Einwirkung. Sie wird des näheren bestimmt durch verschiedene Aufgaben und Rücksichtnahmen: x Ordnung und Pflege der Umgebung; ggf. Reparieren der Gegenstände. x Einführung in den Gebrauch der Dinge einschließlich des rechten Gebrauchs des Materials, „damit alles in der Umgebung befindliche von dem benutzt werden kann, der es wählt.“ x Aktive Unterstützung beim Aufbau des Kontaktes Kind-Umwelt; dagegen Passivität, „wenn diese Beziehung erfolgt ist.“ „Der Lehrer muss seine Gegenwart das Kind spüren lassen, das sucht; sich verbergen dem, das gefunden hat.“
107 108
Montessori, a.a.O. (1976, Schule des Kindes), S.131 Montessori, a.a.O. (1978, Das kreative Kind), S.256
Montessori-Pädagogik 225
x x x
Beobachten der Kinder, „damit ihre Kraft nicht vergebens verflüchtigt, wenn eines Gegenstände sucht oder einer Hilfe bedarf“, also: Aufmerksamkeit gegenüber dem Entwicklungsgeschehen. Respektieren des Kindes in den Arbeits- und Ruhephasen und wenn es anderen bei der Arbeit zuschaut. Es besteht kein Zwang zur Arbeit, aber: „Er (der Lehrer – E.S.) muss ... unermüdlich versuchen, demjenigen Kind Gegenstände anzubieten, das sie schon einmal abgelehnt hat; das zu unterweisen, das noch nicht verstanden hat und Fehler macht. Und dies, indem er die Umgebung mit seinem Sorgen belebt, mit seinem bedachten Schweigen, mit seinem sanften Wort, mit der Gegenwart jemandes, der liebt.“109
Es handelt sich also im Wesentlichen um ein Begleiten, Anleiten, ggf. Kontrollieren und Anregen der selbsterzieherischen Aktivitäten des Kindes. Wird das Geschehen in der Gruppe in dieser Weise eingerichtet, fallen die sonst üblichen Probleme der Herstellung von „Zucht und Ordnung“ weg. Und Montessori weist immer wieder auf die bei Besuchern staunenerregende Ruhe hin, in der die Kinder arbeiten. Das Kind beschäftigt sich im Idealfall mit dem, wonach es „innerlich“ verlangt – oder nach Einsicht der Lehrerin eigentlich verlangen müsste. Zudem ist die gesamte Umgebung ihm auch ohne die Lehrerin schon ein „unbeseelter Lehrer“, Anreger und Mahner. Im Material und in der vorbereiteten Umgebung selbst liegt somit bereits ein starkes Moment der Disziplin und des Gehorsams, denn sie gestattet zwar Rückfragen des Kindes hinsichtlich ihres (rechten) Gebrauchs, nicht aber eine relevante Korrektur durch das Kind selbst. Das einzelne Kind ist bei der Ausgestaltung und Einrichtung des Raumes und seiner Komponenten nicht gefragt. Die Naturgesetze seiner Entwicklung sind bereits lange vor seiner Geburt entdeckt und zur Grundlage der „vorbereiteten Umgebung“ gemacht worden. Eine Zurückweisung gar oder – trotz erfolgter Einführung – ein falscher Gebrauch seiner Komponenten wäre ein sicheres Zeichen dafür, dass das betreffende Kind noch nicht reif genug ist oder noch an den Folgen voraufgegangener Deviationen zu leiden hat. – Montessori hat der „Vorbereitung der Lehrerin“110 stets größte Aufmerksamkeit geschenkt. Eine Lehrerin im traditionellen Sinne ist sie nicht mehr und darf sie auch nicht sein. Alles andere bedeutete einen Rückfall, letztlich eine „Sünde“, einen Verrat an der wahren, die Entwicklungskräfte des Kindes freisetzenden Pädagogik. Und dennoch wird die direkte Gehorsamsforderung nicht verbannt. Ihr Legitimität liegt in der Beachtung der inneren Entwicklungsgesetzmäßigkeit, oder genauer: der Abweichung davon. Vor Beginn der Konzentration kann „die Lehrerin mehr oder weniger das tun, was sie will: Wo es notwendig ist, kann sie in die Tätigkeit des Kindes eingreifen“ und auch „den Lauf der störenden Aktivität unterbrechen.“111 Montessori rät zu „ablenkenden Beweisen der Zuneigung, die sich vermehren mit dem Vermehren der störenden Handlungen“ und „wie eine Reihe von Elektroschocks“ wirken,112 ferner zu einer Reihe von Ordnungs- und Gehorsamsübungen, und auch der „kräftige Verweis“ hat seine Berechtigung. Denn es geht darum, die auf Abwege geratenen Seelen zu retten. „Fürchtet euch nicht, das Schlechte zu zerstören.“113 Im Ergebnis werden die Kinder die dritte Stufe des Gehorsams erreichen. Ihr Wille hat sich dann „durch Übung und die Arbeit entwickelt“114, das heißt, der kindliche Wille stimmt mit den Direktiven des inneren Bauplans überein, er gehorcht der „inneren Stimme“. Das Kind gehorcht damit aber auch der 109
Montessori, a.a.O. (1979, Spannungsfeld ...), S.28f Montessori, a.a.O. (1976, Schule des Kindes), S.120ff 111 Montessori, a.a.O. (1978, Das kreative Kind), S.251f 112 Ebd., S.252 113 Ebd., S.242 114 Ebd., S.228 110
226 Reformpädagogik
Lehrerin, deren „Überlegenheit es fühlt“. Sein Wille ist dann „(V)ielleicht auf einem anderen Niveau mit dem Instinkt des Hundes“ zu vergleichen, „der seinen Herrn liebt, und dem Gehorsam, mit dem er seinen Willen erfüllt.“115 Montessori bringt das Beispiel einer Lehrerin, die einen zunächst nicht einsichtigen Befehl erteilt, den die Kinder gleichwohl, noch bevor sie ihren Satz zu Ende gebracht hat, sofort und ohne Nachfrage auszuführen beginnen. Hieraus resultiere eine große Verantwortung. Die Lehrerin darf „diese große Ergebenheit nicht ausnützen“ und „wird sich darüber klar, welche Charaktereigenschaften ein Führer haben muss.“116 – Montessori hat wohl das Problematische ihres letztlich kompromisslos autoritären Gehorsamsbegriffs empfunden, konnte aber innerhalb ihres Denkansatzes keinen solchen formulieren, in dem Momente wie Kompromiss, Dialog, Vermittlung hätten Eingang finden können. Statt dessen bleibt ihr nur der moralische Appell an die Lehrerin, an ihrer Selbstvervollkommnung zu arbeiten. In dem Maße also, wie das Kind noch nicht gehorcht bzw. seinen Willen noch nicht genügend entwickelt hat, sind durchaus sanfte bis rigide Gehorsamsforderungen angebracht. Das mag bei der Rhetorik der Freiheit zunächst befremdlich erscheinen, hat aber seinen tieferen Sinn im Begriff der Deviation und Normalisation. „Die Kinder in unseren Schulen sind frei, ...“117 – solange sie den Gesetzen der Normalisation folgen; dagegen ist Widerstand bis zur „Zerstörung des Schlechten“ bei Abweichungen angebracht. Die beiden komplementären Begriffe sind grundlegend für Montessoris Rettungspädagogik. Forscht man genauer nach der Herkunft ihres Begriffs von Gehorsam, müssen ihre Vorlesungen zur Pädagogik am Institut für die Ausbildung von Lehrern für behinderte Kinder aus dem Jahre 1900 herangezogen werden, also aus einer Zeit, die einige Jahre vor der „Entdeckung des Kindes“ liegt. Montessori misst diesen Vorlesungen zum Verständnis ihrer Pädagogik erhebliches Gewicht bei. Sie sind auszugsweise im Anhang des Werkes über die Selbsterziehung in der Grundschule aufgenommen. Darin wird eine „special pedagogy for defective children, along the lines previously laid down by Itard and Séguin“ entwickelt. Ihre damaligen Unterrichtsversuche zeigen, so Montessori, „that the origin of my present work with older and normal children is to be sought in my teaching of the defectives.“118 Auf der Suche nach der Genese ihres Gehorsamsbegriffs findet man nun einen detailreichen Abschnitt über den Gehorsam des (geistig behinderten) Kindes und seine förderlichen Bedingungen bezüglich Erscheinungsbild, Sprache, Gestik und Mimik auf seiten der Lehrerin. Der einleitende Satz enthält eine anthropologische Feststellung, mit der die Legitimität des Lehrerkommandos begründet wird: „In a command the will of the teacher is imposed upon the defective child who is lacking in will. The will of the teacher is substituted for the child‘s will.“ Alles Weitere dreht sich um den Kernsatz „The child must submit and obey“ (kursiv gesetztes „must“ im Original). Das Kind muss sich unterordnen und gehorchen, nötigenfalls unter dem Einsatz von Zwangsmitteln bis hin zur „strait-jacket“ (Zwangsjacke).119 Es ist zu beachten, dass Montessori hier von der pädagogischen Behandlung behinderter Kinder spricht, die ihrer Sorge in der frühen Phase ihres medizinisch-pädagogischen Wirkens anvertraut waren. In der Perspektive der Vollkommenheit ist freilich jedes gewöhnliche, noch nicht normalisierte Kind ein partiell behindertes Kind. So bleibt das Grundmuster ihres Gehorsamsbegriffs
115
Ebd., S.235 Ebd., S.236 117 Ebd., S.220 118 Montessori, a.a.O. (1928, The Advanced Montessori Method, Bd.II, S.413 119 Ebd., S. 451f 116
Montessori-Pädagogik 227
bis in ihr bedeutendstes Spätwerk „Das kreative Kind“ („The Absorbent mind“) gleich120; mit dem Unterschied, dass es nach der „Entdeckung“ des „natürlichen Gehorsams“ beim „normalen Kinde“ – eine „Entdeckung“, die beim geistig behinderten Kind mit seinen Anpassungsschwierigkeiten nicht hätte erfolgen können – nun nicht mehr der kompromisslose Zwang ist, der das Kind regiert, sondern der Imperativ seines Entwicklungsgesetzes. Der Wille des ungehorsamen, des noch „ungeordneten“ Kindes, bedarf weiterhin einer strengen, gleichwohl gütigen, letztlich göttlichen Hand. Das heißt, das Kind bedarf der (je nach Grad der Unordnung: partiellen) Substitution seines noch unentwickelten Willens durch den Willen der mit „Schaukraft“ beseelten und wissenschaftlich geschulten Lehrerin. Der Zwang, der im Text aus dem Jahre 1900 noch ein „menschlicher“ ist, wird jetzt zu einem solchen, der in den Naturgesetzen der Erziehung mithin im göttlichen Willen verankert ist. Ziel ist die Rückführung in die dem Kind eingeschriebene Spur der Entwicklung (Normalisation) und nur solange wie das nicht gelungen ist, haben die strengen Verweise, die Eingriffe in die Tätigkeiten und die wie Elektroschocks wirkenden liebevollen Ablenkungsmanöver ihre Berechtigung. Der äußere Zwang kann zunehmend und in dem Maße verschwinden, wie sich die Ergebenheit der dritten Stufe des Gehorsams beim Kind entwickelt – von Montessori als Zeichen der Beherrschung seiner selbst angesehen. Schließlich wird der Zwang durch den Gehorsam gegenüber der inneren Stimme des Kindes ersetzt, die stellvertretend zu Gehör zu bringen schon immer die vornehmste Aufgabe der Lehrerin ist. Die Differenz im Willen beider ist jetzt verschwunden. Die innere Stimme des Montessorikindes und die äußere Stimme der von ihrer Aufgabe beseelten Lehrerin haben letztlich den gleichen Ursprung und das gleiche Ziel: das Kind und mit ihm die Menschheit auf den rechten in ihm respektive in ihr angelegten Heilsweg zu führen. Beide Stimmen unterliegen höheren Direktiven und sind ihrer Natur nach nicht mehr nur menschliche. Durch die Ineinssetzung beider Willen entfällt jegliche Auseinandersetzung. Auf Seiten des Kindes bleibt der in Stufen sich (und zu) entwickelnde Gehorsam; auf Seiten der Lehrerin die (subtile) Führung. Im Gegensatz zum Lehrer der Alten Schule mit seinen zahlreichen offen gezeigten Zwangsmitteln findet der Widerstand und der Wille des Montessorikindes kein Gegenüber mehr, an dem er sich als eigener entwickeln könnte. Ohne das Moment des Widerstandes ist die Rede vom Willen, gar vom freien Willen sinnlos. Er wird gleichsam in pädagogischer Sanftmut, gelegentlich in pädagogischem Unmut erstickt. – Auch aus dieser Perspektive wird ein Grundzug der Pädagogik Montessoris deutlich: es geht um die Verwirklichung der großen Harmonie, deren Weg die Lehrerin kennt und den sie behutsam oder ggf. auch hartnäckig verfolgen muss. Eine Pädagogik des Dialogs, der Mitsprache in den gemeinsamen Angelegenheiten, der rationalen Konfliktbewältigung kann in diesem Rahmen theoretisch nicht begründet werden, weil einer solchen Pädagogik der Rekurs auf letzte Wahrheiten und der Appell an einen quasi hündischen, will sagen „natürlichen“ Gehorsam des Kindes versagt ist. All das bedeutet nicht, dass es in der immer vielschichtigen Praxis selbst nicht auch offene Situationen des echten Dialogs und der echten Mitsprache gibt. Die Praxis der Erziehung kann – entgegen der Vision Montessoris – nicht mit der technischen Exaktheit eines experimentierenden Wissenschaftlers unter die Herrschaft einer zentralen Idee gebracht werden. Und der Blick in eine Montessorischule zeigt, dass den Kindern bereits durch die Organisation des Unterrichts besondere Rechte – der Bewegung, der Wahl von Arbeitsmitteln, der informellen Kommunikation mit den Mitschülern, des Gesprächs in der Gruppe, Gelegenheiten zur selbständigen Arbeit und Forschung, genügend Zeit und Ruhe für ihre Arbeit – gewährt werden, die insgesamt den Raum der Freiheit, den „Spielraum“ des Kindes, erweitern. Dies und der nachdrückliche Appell an die Leh120
Vgl. a.a.O.(1978, Das kreative Kind) die Kapitel 25 und 26: „Die drei Stufen des Gehorsams“ und „Die Montessori-Lehrerin und die Disziplin“, S. 220-248
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rerin, die Entwicklungsbedürfnisse der Kinder zu studieren und ihnen Raum zu gewähren, relativieren zwar nicht den autoritären Gehorsamsbegriff als solchen, wohl aber ganz erheblich seine Bedeutung in der konkreten schulischen Situation. 4.4 Die „Freiarbeit“ als Kern des Lerngeschehens. Ein Praxisbeispiel In der Montessorischule findet – wie in jeder gut entwickelten Schule – ein reiches Schulleben mit Fest und Feier, Ausflügen und Erkundungen, Elternmitarbeit usw. statt. Der eigentliche Unterricht orientiert sich an den üblichen Lehrplänen. Das spezifische Merkmal besteht jedoch in einer besonderen Struktur des Tagesablaufes. Im Stundenplan ist eine feste Zeit – meist eine Doppelstunde zu Beginn des Vormittages – für Freiarbeit ausgewiesen, in der sich die Kinder selbstgewählten Tätigkeiten in der jahrgangsübergreifenden Gruppe widmen. Nach der Freiarbeit findet meist Fachunterricht (nun oft wieder in der Jahrgangsgruppe) statt, der sich nicht vom Üblichen unterscheidet. In der Literatur finden sich zahlreiche anschauliche Erfahrungsberichte zur Arbeit in der Montessorischule. Ich stütze mich auf die Darstellung von Michael Behr, dem es gelungen ist, in knappen Worten das Typische herauszuarbeiten. Er schildert und kommentiert die Freiarbeit an einer Montessorischule in Krefeld. In der Grundschule arbeiten die Kinder während der Freiarbeit in jahrgangsübergreifenden Gruppen zusammen, in diesem Fall Kinder aus vier Jahrgängen. Die Kinder beginnen meist zügig und ohne Aufforderung, sich mit Materialien oder bestimmten Arbeiten zu beschäftigen. „Für den unvorbereiteten Beobachter verwirrend. Alle tun etwas anderes: einzeln, paarweise, in kleinen Gruppen, auf den Tischen, auf dem Fußboden, auf einer Empore, einer matratzengepolsterten Kuschelecke – sie reden wenig und nur leise miteinander, und alle sind ausgesprochen konzentriert und vertieft.“121 Die Kinder holen sich die Materialien aus den Regalen und bringen sie nach Gebrauch wieder an ihren Platz zurück. Das Material besitzt eine immanente Fehlerkontrolle und ist insgesamt stets so strukturiert, „dass selbständig damit gearbeitet werden kann. Dabei besteht ein weiterer Kunstgriff darin, immer eine Schwierigkeit zu isolieren: Das Kind muss sich beim Umgang damit nur auf ein Problem konzentrieren. Trotzdem erhält es zugleich einen Gesamtüberblick, beispielsweise indem es sich umfängliches Mathematikmaterial ansieht, bevor es die Rechenoperationen auszuführen lernt, oder im Geographiebereich zuerst einen ganzen Globus mit herausnehmbaren Erdteilen, dann Erdteilkarten mit herausnehmbaren Ländern erhält und anderes mehr. Die Kinder können und dürfen die Übungen unbeschränkt wiederholen. ... Jedes Material ist nur ein einziges Mal im Raum vorhanden. Die Kinder müssen sich nicht nur einigen, sie werden auch vielfältig angeregt, indem sie die ganze Palette der möglichen Tätigkeiten ständig erleben, weil alle etwas anderes tun. Zur Förderung der sozialen Fähigkeiten trägt auch bei, dass (während der Freiarbeit – E.S.) Kinder verschiedenen Alters gemeinsam in einer Gruppe bzw. Klasse zusammen sind. In der Krefelder Grundschule sind es alle 4 Grundschuljahrgänge. Jedes Kind erlebt sich so in der Rolle des Jüngeren, dem auch geholfen wird, dann des selbständigen und schließlich des Großen, der anderen zu helfen imstande ist.“ Durch die individualisierende Arbeitsweise können – wie es auch in dieser Gruppe geschieht – behinderte Kinder besser integriert werden. Die Tätigkeiten der Lehrerin während der Freiarbeit beschreibt Behr als vielfältig und kompliziert. Sie kennt die Kinder mit ihren besonderen Stärken und Schwächen gut und sie kennt die Materialien, die sie teilweise selbst oder mit Elternhilfe hergestellt hat, „wie ihre Westentasche“. Sie nimmt ihre Aufgabe durch Rat, Ermutigung, Hilfe, das Beantworten von 121
Behr, Michael (1988): Freie Schulen und Internate, Düsseldorf: Econ, S.94 (alle weiteren nicht nummerierten Zitate im Text: ebd.S.94ff)
Montessori-Pädagogik 229
Fragen wahr. Sie nimmt sich zwischendurch aber auch Zeit für eine kleine Gruppe, um ein Rechenproblem durchzugehen. – Diese zunächst verwirrende Vielfalt der Tätigkeiten hat gleichwohl zahlreiche strukturierende Momente. Zunächst liegt eines im Material selbst, das motivierend gestaltet ist und ein progressives Fortschreiten ermöglicht, sodann im Kind, das gehalten ist, einer pädagogisch sinnvollen Tätigkeit in – je nach Fähigkeit – selbständiger Weise nachzugehen und schließlich in der Lehrerin, die aus der Kenntnis der Gesamtsituation alles behutsam steuert. (Montessori hat ausführliche Anleitungen zur Beobachtung des Kindes gegeben u.a. hinsichtlich seiner Arbeit, „work“, seiner allgemeinen Führung, „conduct“ und seines Gehorsams, „obedience“. Dabei ist ihr die Beachtung des Zusammenhangs des letzteren mit den beiden anderen Aspekten ein besonderes Anliegen.122) In der Grundschule beträgt die Zeit für die morgendliche Freiarbeit ununterbrochen 2 ½ Zeitstunden, also etwa 3 Schulstunden. In der Montessori-Gesamtschule, die die Kinder nach der Grundschule besuchen können, hat die „Freiarbeit“ nach Behr ebenfalls einen, wenn auch weniger gewichtigen Stellenwert. „Das Kernstück der Montessori-Pädagogik, die freie Arbeit, wird hier in den Klassen 5 bis 8 während 8 Stunden pro Woche durchgeführt, in der 9. und 10. Klasse jeweils 6. ... der Klassenlehrer der 8. Klasse erklärte mir, dass die dazu notwendigen Materialien überwiegend selbst angefertigt wurden. Originalmaterialien von Montessori finden sich für diese Altersgruppen kaum. Es gibt selbstentwickeltes Mathematik-Material, Fragesequenzen zu bestimmten Themen, Mappen für Geometrie, für Englischdiktate, Aufgabenkärtchen für den Sprachunterricht und vieles mehr.“ Teilweise wird aber in den höheren Klassenstufen eher in der Art von längerfristigen Projekten gearbeitet. 5 Zur Beurteilung der Montessoripädagogik Trotz der zahlreichen problematischen Aspekte des theoretischen Ansatzes – wie der biologistisch verkürzte Erziehungs- respektive Bildungs- und Entwicklungsbegriff oder der autoritäre Begriff des Gehorsams – bietet die Praxis der Montessorischule ein lebendiges Beispiel der Überwindung oder Relativierung zahlreicher Komponenten der weiter oben so genannten „didaktisch-methodischen Normalform der Schule“. Die Kinder haben einen anregungsreichen, ästhetisch durchgestalteten, die Selbsttätigkeit herausfordernden und fördernden Lern- und Erfahrungsraum – eine „vorbereitete Umgebung“ – gewonnen, der sich von der Form der „Alten Schule“ deutlich abhebt und der in seinen pädagogischen Wirkungen den Vergleich mit anderen Schulkonzeptionen der Reformpädagogik und der traditionellen Schule nicht zu scheuen braucht. Montessoris Konzeption des „Entwicklungsmaterials“ respektive des „didaktischen Materials“ haben sowohl in anderen Schulkonzeptionen der Reformpädagogik (insbesondere in Helen Parkhursts „Daltonplan“, Petersens „Jenaplan“ und in den Arbeitsmitteln sowie Techniken der Freinetpädagogik) als auch in der pädagogischen Diskussion um Form und Funktion von „Arbeitsmitteln“ allgemein einen deutlichen Niederschlag gefunden. Petersens widersprüchlich scheinende Definition des Arbeitsmittels hätte von Montessori stammen und vollständig im Rahmen ihrer Theorie (einschließlich der Fragen von Freiheit und Gehorsam) entfaltet werden können: „Arbeitsmittel ist ein Gegenstand, der mit eindeutiger didaktischer Absicht geladen ist, hergestellt, damit sich das Kind frei und selbständig dadurch bilden kann.“123 Schließlich ist die „Freiarbeit“ selbst als Moment des Schultages inzwischen in der Pädagogik der Schule allgemein – bisher vor allem im Primarbereich – zu einem festen Bestandteil geworden. – Sofern die mit der „Freiarbeit“
122 123
Vgl. Montessori,a.a.O. (1928), S.408 Petersen, Peter (1971, Erstauflage: 1937): Führungslehre des Unterrichts, Weinheim u.a.O.: Beltz, S.182
230 Reformpädagogik
und dem autodidaktischen Material verbundenen pädagogischen Intentionen als wertvoll angesehen werden müssen, kommt der Montessoripädagogik zweifellos eine Pionierrolle zu. Der Kristallisationspunkt der Montessoripraxis kann im Material gesehen werden und in dem ihm zugeordneten Gesamtarrangement einschließlich der Funktion der Lehrerin, soweit es darauf abzielt, die „Konzentration“ bzw. die „große Arbeit“ des Kindes herbeizuführen und dauerhaft zu ermöglichen. Diese Konzentration ist wesentlich ein Aufbaugeschehen im Inneren des einzelnen Kindes mittels „geistiger Nahrung“, ein endogenes Entwicklungsgeschehen. Der zentrale Gedanke einer Erziehung als Einspurung des Kindes mittels indirekter und (nötigenfalls) direkter Interventionen bringt es mit sich, dass andere wichtige Momente des Erziehungs- und Bildungsprozesses in ihrer eigenen Wertigkeit ins Hintertreffen geraten: etwa die Bedeutung der personalen Begegnung (als Begegnung freier Menschen) mithin des dialogischen Momentes, die Bedeutung inhaltlich-didaktischer bzw. kulturpädagogischer Entscheidungen, der Stellenwert des freien Spiels und des freien schöpferischen Ausdrucks. (Ein „Material“ für letzteres her- und bereitstellen zu wollen, wäre ein Widerspruch in sich selbst.) Diese Begrenzungen der Erziehungskonzeption determinieren die Praxis der Montessorischule freilich nicht in der Weise, dass all diesen Momenten kein Raum geboten wäre. Sie können – durchaus nicht im Widerspruch zu den zentralen Gedanken – als begleitende Momente in der vielschichtigen Praxis selbst eingeholt werden. Im Hinblick auf disziplinarische Fragen hatte Montessori davon gesprochen, dass die Lehrerin vor Eintritt der Konzentration eigentlich machen könne, was sie wolle – sofern es eben ihrer Herbeiführung dienlich ist. Hierin scheint gleichzeitig ein impliziter „Freibrief“, eine gewisse Offenheit, zu liegen, die Montessoripraktiker nutzen, indem sie nämlich zusätzlich auch das aufgreifen, was der „großen Arbeit“ des Kindes nicht schadet und was Unterricht und Schulleben insgesamt bereichert. So finden sich heute in zahlreichen Montessorischulen des In- und Auslandes Momente, die aus anderen Schulkonzeptionen übernommen wurden. Auch hier scheint wiederum die Osmose trotz erheblicher weltanschaulicher und erziehungstheoretischer Differenzen zwischen den Konzeptionen von Freinet, Petersen und Montessori auf praktischer Ebene ohne Probleme vonstatten zu gehen. Eine „reine“ Montessorischule – was auch immer das sein mag – wird sich heute wohl kaum finden lassen. Von den Schulkonzeptionen der Reformpädagogik ist die Montessorischule inzwischen m.W. weltweit am häufigsten vertreten. Begleitet wird diese erstaunliche Entwicklung nicht nur von einer außerordentlich breit gefächerten theoretischen Diskussion124, sondern (besonders in den letzten etwa 30 Jahren) auch von zahlreichen empirischen Studien, insbesondere im Bereich der Primarstufe. Die Untersuchungen in Deutschland erlauben den Schluss, dass hinsichtlich zahlreicher Variablen wie Lernmotivation, Ausbildung eines vielseitigen Interesses, Entwicklung eines selbständigen Arbeitsverhaltens und überhaupt einer positiven Arbeitshaltung, Entwicklung eines positiven Sozialverhaltens und vieler anderer Momente die Monntessorischule einen fruchtbaren Rahmen bietet, der dem anderer Schulen – es wurden zum Teil Kontrollgruppen zum Vergleich herangezogen – in mancher Hinsicht überlegen ist.125 Untersuchungen in anderen Ländern kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Anneli Lauriala kommt auf Grund vergleichender Untersuchungen in Oulu (Finnland) zu dem Schluss: „Mit Hilfe der Montessorimethode hat man die Entfremdung von der Schularbeit, die sowohl die Lehrer als auch die Schüler bedrückt hat, überwinden können. Statt dessen ist sowohl eine intellektuelle als auch eine emotionale Beteiligung am eige124
Zum „Streit um Montessori“ vgl. Böhm a.a.O. (1969), S.15ff; ferner: Böhm (Hsg.) a.a.O. (1990) und SchulzBenesch, Günter (Hsg.) (1970): Montessori, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. (In der deutschen Diskussion spielte vor allem der „Montessori-Fröbel-Streit“ eine wichtige Rolle.) 125 Vgl. die Hinweise auf Untersuchungen in deutschen Grundschulklassen von W. Suffenplan, Reinhard Fischer und Ingrid Fähmel in: Biewer, Gottfried (1992): Montessori-Pädagogik mit geistig behinderten Schülern, Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S.47ff – sowie die bemerkenswerten Ergebnisse der Untersuchung von Biewer selbst.
Montessori-Pädagogik 231
nen Lernen entstanden; die Kinder sprechen ausdrücklich über ‚ihre eigenen Werke‘, die oft sogar eine wichtigere Position in ihrem Leben zu bekommen scheinen, als Ferien und Freizeit. Obwohl eine solche Klasse am Anfang viel zusätzliche Arbeit für den Lehrer bedeutet, u.a. beim Vorbereiten des Materials, scheint die Begeisterung der Kinder und ihre Fortschritte auf allen Teilgebieten der Entwicklung – nicht nur auf dem kognitiven – die Mühe wieder gutzumachen.“126 Chattin-McNichols (USA) betont auf Grund der Analyse zahlreicher empirischer Studien, dass das Montessoriprogramm im Vergleich mit anderen Programmen zur Förderung des frühen Lernens in etwa gleich gut abschneidet, dass aber die beobachteten positiven Langzeiteffekte signifikant höher ausfielen. Insgesamt: „In the development of attentional strategies, general intelligence, achievement in academic areas, and especially in maintaining these gains, the Montessori method performs better than most programs studied.“127 Die Montessoripädagogik hat als Alternative zur didaktisch-methodischen Normalform der Schule und als Quelle innovativer Anregungen zur Entwicklung der Schulpädagogik allgemein eine herausragende Bedeutung gewonnen. 6 Die Montessoripädagogik im systematischen Überblick
Aspekte
Begriffliche bzw. inhaltliche Bestimmungen
Gründerpersönlichkeit Biographie
Maria Montessori (1870-1952) Kind einer italienischen Beamtenfamilie. Studium der Naturwissenschaften, Medizin, Anthropologie, Pädagogik. Erste Ärztin Italiens. Arbeit mit sozial vernachlässigten und geistig behinderten Kindern. Pionierin der Frauen- und Friedensbewegung, Vorkämpferin für die Rechte des Kindes. Päd. Leitung des ersten „Kinderhauses“ (Casa dei bambini), 1907 in Rom gegründet. Wohnsitz 1916-36 Barcelona, danach Holland, Indienaufenthalt 1939-46. Weltweite Vortrags-, Ausbildungs- und Organisationstätigkeit im Dienste ihrer Erziehungsidee. „Kosmische Theorie“ als allumfassender Zusammenhang. Entwicklung der Welt zum Besseren durch eine Neue Erziehung. Kind: Inbegriff der künftigen besseren Welt. Idee einer Versöhnung und Verschmelzung von positiver, exakter Wissenschaft und Religion. Positive Wissenschaft (insbesondere Biologie: Entwicklungsgedanke), Fortschrittsglaube. Katholizismus, Theosophie, Sozialismus. Die Arzt-Pädagogen Jean-Marc Gaspard Itard (1775-1838) und Édouard Séguin (1812-80), der holl. Biologe Hugo de Vries (1848-1935) und andere. Der „normalisierte“, d.h. gemäß seinem inneren Gesetz entwickelte, selbständige und altruistische Mensch.
Weltanschauung
Einflüsse
Erziehungsziel
126
Lauriala, Anneli (1987): Montessoripädagogik und Offener Unterricht in Finnland, in: Erziehungswissenschaft – Erziehungspraxis, Heft 3/1987, S.16 127 Chattin-McNichols, John (1992): The Montessori Controversy, Albany NY: Delmar Publishers, S.204
232 Reformpädagogik
Kind-Anthropologie/ Entwicklungslehre
Erziehungsbegriff
Lernbegriff
Lehrer/Erzieher
Lehrplan
Methodisch-didaktische u. organisatorische Momente
Kind entwickelt sich nach „innerem Bauplan“ gemäß „sensitiver Perioden“ besonderer Empfänglichkeit zur Ausbildung bestimmter Fähigkeiten, wie Bewegung, Bewegungskoordination, Sinnesleistungen, Sprache, Ordnungssinn, soziale Tugenden, Lesen, Schreiben und weiterer intellektueller Fähigkeiten. Die „große Arbeit“ an der eigenen Entwicklung geschieht durch „Konzentration“ bzw. „Polarisation der Aufmerksamkeit“ auf eine bestimmte Tätigkeit. Weg und Ziel ist die „Normalisation“; moralische und seelische Schwächen sind Folgen von Abweichungen, „Deviationen“ vom naturgesetzlich vorgegebenen, im Wesentlichen für alle gleichen „Bauplan“. „Indirekte Erziehung“ durch entwicklungsangemessene „vorbereitete Umgebung“ und darin vorhandenem „Entwicklungsmaterial“; direkte Einwirkung nur bei abweichendem (ungehorsamem) Verhalten zur Verhinderung von „Deviationen“ und zur (behutsamen) Anbahnung des Innen-Außen-Kontaktes und der „Konzentration“. Gebunden an den Entwicklungsbegriff: Kind folgt im Idealfall seinen Entwicklungsimpulsen und findet seine „geistige Nahrung“ in der Umgebung vor. Es „gehorcht“ der „inneren Stimme“. Unterstützung des Lern- bzw. Entwicklungsprozesses durch das Vorbereiten der Umgebung und die behutsame Begleitung des Entwicklungsgeschehens; also: Mitwirkung. Einweisung in den rechten Gebrauch des „Entwicklungsmaterials“. Nur bei „Deviationen“ sanfte aber insgesamt konsequente Rückführung auf den rechten Weg (auch durch Gegenwirkung). Wichtige Voraussetzung: Beobachtung und Beachtung der individuellen Entwicklung. – Grundsatz erzieherischen Handelns aus Sicht des Kindes: „Hilf mir, es allein zu tun.“ (Hilfe zur Selbsthilfe) Orientierung am traditionellen Bildungskanon mit dem Schwerpunkt im intellektuellen Bereich. Besonderheit: „Kosmische Erziehung“ als Aufbau eines Bewusstseins allumfassenden Zusammenhangs zur Entwicklung einer globalen Verantwortungsbereitschaft und zur Harmonisierung der Welt (Friedenserziehung). (Konkretisierung insbesondere in holländischen Schulen.) Schwerpunkt liegt im Vorschul- und Primarbereich; Weiterführung in den Sekundarbereich an einigen Schulen bes. in D, NL, USA. Gruppierung: Jahrgangsübergreifend in Vor- und Primarschule. „Vorbereitete Umgebung“ mit in Größe und Gewicht kindgemäßen Einrichtungsgegenständen. Lernen erfolgt im Vorschulbereich mittels besonderer, auf „sensitive Perioden“ abgestimmte Übungen: a) Übungen des praktischen Lebens b) Bewegungsübungen, c) Sinnesübungen mit dem „Entwicklungsmaterial“. Fortführung in der Primarstufe insbes. in der „Freiarbeit“: Didaktisches Material für die Kulturtechniken und verschiedene Sachfächer. Im Sekundarbereich: Betonung des selbständigen Arbeitens unter Zuhilfenahme von verschiedenen, oft von den Lehrkräften selbst hergestellten Materialien.
Waldorf-Pädagogik 233
Kapitel 7
Die Waldorfschule: Erziehung als Einführung und Einleben in den sinnlich-übersinnlichen kosmischen Zusammenhang Am 7. September 1919 wurde die Mutterschule der heute weltweit verbreiteten Waldorf-Schulbewegung in Stuttgart als Schule für die Kinder der Arbeiter der „Waldorf-Astoria-Zigarrettenfabrik“ gegründet. Es ist die erste deutsche „Einheitsschule“ für Kinder beiderlei Geschlechts, gleich welchen Standes, welchen Bekenntnisses und welcher Begabung. Emil Molt, Fabrikant und Kommerzienrat übergibt in der Eröffnungsansprache „dieses Institut den Walfdorfleuten“ u.a. mit den Worten: „Ihr Kinder, die ihr hineingeht in diese neue Schule, es erwarten euch Freuden, und denjenigen, denen es vergönnt war, diesen Kursus durchzumachen, den Herr Dr. Steiner abgehalten hat mit den neuen Lehrkräften, die wissen, dass durch die neue Methode das Lernen nicht mehr, wie es bei uns Älteren der Fall war, eine Plage ist, sondern dass es bei euch zur Freude und zur Lust werden wird.“1 Rudolf Steiner (1861-1925), der geistige Vater der Waldorfschul-Pädagogik, hatte in einem vorangegangenen vierzehntägigen Vortragszyklus die neuen Lehrkräfte auf ihre Aufgaben vorbereitet, oder besser gesagt: seelisch-geistig eingestimmt. Diese Vorträge gehören bis heute zum unverzichtbaren Grundbestand der Waldorfliteratur und der Waldorf-Lehrerausbildung. In seinem ersten Vortrag spricht Rudolf Steiner im Blick auf die bevorstehende Eröffnung der Schule von einem „Festes-Akt der Weltenordnung“, von der „Empfindung eines feierlichen Weltenaugenblickes“.2 Das mag dem distanzierten Betrachter als übertrieben erscheinen, liegt aber in der Konsequenz eines Denkens, das den Menschen nicht als begrenztes, endliches Wesen auffasst, sondern in ihm die Spiegelung kosmogonischer und kosmischer Prozesse sowie übersinnlicher – das heißt: nicht im konkret Sinnlichen, sondern nur im geistigen Schauen fassbarer – geistiger Welten sieht. Die Durchdrungenheit der Welt und des Menschen mit dem „Geistigen“ und die konstitutive Bezogenheit alles sinnlich Erfassbaren auf Geistiges ist ein zentraler Ausgangspunkt der Waldorfpädagogik. Die Möglichkeit, diesen Aspekt pädagogisch zur Geltung bringen zu können, wobei die Vergleichbarkeit mit den Lernleistungen an anderen Schulen durchaus erhalten bleiben soll (das wurde in einer Vereinbarung den Behörden gegenüber zugesichert), konnte Rudolf Steiner als einen „Weltenaugenblick“ empfinden, weil sich nun in der Erziehung die Welt in ihrer Gänze gleichsam erstmalig selbst aussprechen konnte. Eine Zeit, die spirituellen Ansätzen distanziert gegenübersteht und eine der Aufklärung verpflichtete Wissenschaft, die von der Relativität jeglichen Erkennens ausgeht und deswegen die intersubjektive Überprüfbarkeit ihrer Ergebnisse einfordert, musste diesem Ansatz kritisch gegenüberstehen. Steiner beansprucht für sein Denken gleichwohl beharrlich den Status einer „Geisteswissenschaft“, die durch unmittelbares geistiges Schauen der Wahrheit ansichtig wird und für den Bereich des Übersinnlichen vergleichbar exakte Aussagen zu machen im Stande ist, wie die traditionelle Naturwissenschaft auf ihrem Gebiet. Wie man auch zu der sich hier zeigenden Kontroverse stehen mag – das Spektrum der Urteile reicht mit allen Zwischentönen von begeisterter Affirmation bis radikaler Kritik –, unbestreitbar ist, dass von Steiner weitreichende Impulse zur 1 Molt, Emil, in: Niederhäuser, H.R.: Rudolf Steiner in der Waldorfschule – Ansprachen für Kinder, Eltern und Lehrer 1919-1924, Stuttgart 1958, Verlag Freies Geistesleben, S. 16 2 Steiner, Rudolf: Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik, Dornach/Schweiz 1960, Verlag der Rudolf-Steiner-Nachlassverwaltung, S.17 und 18
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Neugestaltung der Schule und darüber hinaus zur Lebensreform überhaupt ausgingen, die bis heute wirken. Das soll in einem ersten Schritt verdeutlicht werden.
1 Einführung: Zur Ausbreitung, zur Gestalt und zum Wesen der Waldorfpädagogik (1) Schon bald nach Gründung der ersten Waldorfschule in Stuttgart folgten ähnliche Gründungen in Deutschland und in anderen europäischen und außereuropäischen Ländern. „1928 existierten Schulgründungen in London, Basel, Lissabon, Budapest, Christiana, New York und anderen Großstädten.“3 In Deutschland konnte sich die Waldorfschul-Bewegung kontinuierlich entfalten, unterbrochen freilich in der Zeit des Nationalsozialismus. Ein besonderer Aufschwung hat in den siebziger Jahren stattgefunden. Im Jahre 1998 bestanden in Deutschland 165 Schulen, ferner etwa 400 Waldorf-Kindergärten. Die Niederlande bilden einen weiteren Schwerpunkt. Als dritte Waldorfschule begann – nach der Gründung in Hamburg – zu Beginn der zwanziger Jahre eine Schule in Den Haag ihre Arbeit. In Holland beträgt die Anzahl der Waldorfschulen heute etwa 90. Weltweit bestanden 1998 713 Schulen (davon in Europa 541) in 28 europäischen und 17 außereuropäischen Ländern4 – mit weiter steigender Tendenz, so dass heute die Anzahl der Schulen höher liegen dürfte. Nach den dramatischen Veränderungen im ehemaligen kommunistischen „Ostblock“ sind in vielen Ländern Waldorf-Initiativen entstanden, meist unterstützt von deutschen Waldorfpädagogen. Unter teilweise außerordentlich eingeschränkten Verhältnissen sind dort bemerkenswerte Entwicklungen angestoßen worden. Im Jahre 1993 habe ich in Sankt Petersburg eine solche Initiative kennenlernen können. In zwei gemieteten Räumen einer normalen Schule wagte ein Kollegium aus jungen Lehrerinnen unter fachkundiger Anleitung die ersten Schritte in Richtung Waldorf-Pädagogik. In Bukarest berichteten im Herbst 1994 Teilnehmer eines Lehrgangs zur Reformpädagogik in Europa über ihre Versuche, innerhalb des staatlichen Schulwesens und innerhalb normaler öffentlicher Schulen Waldorfklassen zu bilden und zu führen. Es bleibt abzuwarten, ob es in den neuen Demokratien Mittel-Ost-Europas und Osteuropas auf Dauer gelingen wird, eine lebendige Waldorfschul-Bewegung zu begründen. Der Enthusiasmus und der Reformwille sind groß, die materiellen und zunehmend auch die administrativen Rahmenbedingungen sind nach meinem Eindruck größtenteils bedrückend. Über die Gründe für die Dynamik der Entwicklung lassen sich nur Vermutungen anstellen. Vor allem ist an die mehr oder weniger seriöse Kritik des öffentlichen Schulwesens zu denken, die sich seit Jahrzehnten durch die wissenschaftliche und journalistische Publizistik zieht, in den letzten Jahren insbesondere in Zusammenhang mit dem Thema Gewalt in Schulen. Das so entstandene Negativbild des öffentlichen bzw. staatlichen Schulwesens, lassen Alternativen attraktiv erscheinen, in denen „die Welt noch in Ordnung ist“. Die Waldorfschulen haben sich durch ihr Wirken und durch ihre Öffentlichkeitsarbeit den Ruf erworben, eine Alternative bieten zu können, die all das einzulösen verspricht, was mit den Begriffen „kindorientiert“, „ganzheitlich“, „künstlerisch-kreativ“, „freiheitlich“, „handlungsorientiert“, „stressfrei“ und drgl. an positiven Konnotationen in Abgrenzung zur Staatsschule verbunden ist. Der Status einer Privatschule mit 3
Gabriel, W. und Schneider, P.: Die Waldorfschule und ihr internationales Umfeld, in: Röhrs, Hermann und Lenhart, Volker (Hsg.): Die Reformpädagogik auf den Kontinenten, Frankfurt am Main u.a.O., 1994, S. 241 Nach einer telefonischen Auskunft, Januar 1998, vom Bund der Freien Waldorfschulen, Heidehofstraße 32, D70184 Stuttgart 4
Waldorf-Pädagogik 235
der Möglichkeit, Aufnahmeanträge abzulehnen sowie die Tatsache, dass es sich bei den Eltern von Waldorfschülern meist um bildungsfreundliche, dem bürgerlichen Milieu zugehörige Menschen handelt, halten manche Probleme von vornherein auf Distanz, z. B. solche, die mit Kindern ethnischer Minderheiten oder Kindern aus sozial benachteiligten Milieus in die öffentlichen Schulen hineingetragen werden. Die Gefahr der Bildung einer durch selektive Mechanismen stabilisierten pädagogischen Provinz wird auch von vielen Waldorf-Pädagogen gesehen. Ihr durchaus glaubwürdiger Anspruch zielt gleichwohl auf eine Schule für alle Kinder. – Angesichts der zahlreichen „hausgemachten“ sowie unabwendbar von außen kommenden Probleme in den öffentlichen Schulen wird die Waldorfschule auch in Zukunft ihre Attraktion behalten und möglicherweise noch steigern können. Sie bietet eine Alternative im Wortsinne: alter natus, anders geboren, eine Schule, die aus anderen Quellen schöpft, Quellen, die den allgemein begrüßten pädagogischen Orientierungen wie „kindgerecht“, „ganzheitlich“, „freiheitlich“ usw. einen durchaus eigenen und eigenwilligen Sinn verleihen. (2) Die Pädagogik der Waldorfschule ist nicht an einen bestimmten äußeren Rahmen gebunden. Sie kann praktiziert werden, wo ein Lehrer durch sein menschliches Vorbild und sein „wahrhaftiges“ Wort Kinder erreicht. Betritt man jedoch eine schon lange bestehende oder eigens für diesen Zweck gebaute Waldorfschule, so fällt sogleich das Besondere ins Auge. Die Architektur des Gebäudes meidet den rechten Winkel, und wo er doch – an Fenstern zum Beispiel – deutlich sichtbar auftritt, wird dessen starre Wirkung durch das letzte Fenster der Reihe gemildert, indem ihm die obere äußere Ecke genommen wird. „Haus ohne Ecken“ werden solche Gebäude zuweilen im Volksmund genannt. In der Architektur drückt sich ein Gestaltungswille aus, der sich an organischen Formen orientiert und so das Wachsen und Werden zum Ausdruck bringt. Gleichzeitig soll schon durch die Architektur das Wachsen und Werden des Kindes eine Unterstützung erfahren. Im Inneren des Schulgebäudes ist die besondere Farbgebung auffällig. Dem Auge bieten sich meist milde, helle Farbtöne, ocker, blau, pfirsichblüt, rötlich, mit in der Fläche erscheinenden fast unmerklichen Übergängen und Nuancierungen. Die Farbgebung folgt nicht einem bloßen ästhetischen Kalkül, sondern dient dem Erleben der Wirklichkeit. Im Farberleben (wie im Künstlerischen überhaupt) nämlich soll etwas Wesentliches der Wirklichkeit, ihr Seelisches und Geistiges, zur Anschauung und zur Empfindung gebracht, das Übersinnliche im Sinnlichen transparent gemacht werden. Im Klassenraum findet der Besucher Bilder, die von Kindern gemalt sind. Sie sind in den Grundfarben gehalten mit fließenden Übergängen. Auch die figürlichen Darstellungen verzichten auf scharfe Abgrenzungen. Das künstlerische Moment, die Darstellung in Farbe, Form, Ton, Wort, Gebärde, ihr Ineinander und Miteinander, ist ein zentrales Moment der Waldorf-Pädagogik. Ihren stärksten Ausdruck findet es in der Eurythmie, die ein synästhetisches, ganzheitliches Erleben anstrebt. Aber auch in den Schülerheften und Tafeldarstellungen, die sachlichen Gehalten der Geometrie, der literarischen Fächer und der Naturwissenschaften gewidmet sind, ist dieses künstlerische Moment ständig präsent. – Es mag den Besucher einer alternativen Schule überraschen, dass die Anordnung der Bänke im Klassenraum während des eigentlichen Unterrichts keinen Unterschied zur traditionellen Schule aufweist. Sie sind frontal zum Lehrer hin angeordnet, was seine besondere Autorität unterstreicht; konzeptionell nun aber nicht im Sinne einer bloßen Amtsautorität, sondern als eine solche, die aus der Quelle „wahrer Menschenerkenntnis“ – von Rudolf Steiner als „Anthroposophie“ bezeichnet – schöpft. Gewöhnlich sind Waldorfschulen mitten in der Stadt zu finden, umgeben von Gebäuden völlig anderen Zuschnitts und Zwecks. Es gibt aber auch Orte, wo sich der Zusammenhang der Schule
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zur übrigen Welt der Anthroposophie, die ja ursprünglich eine Kultur- und Lebensreform gegen die zerstörerischen Kräfte der Moderne intendierte, unmittelbar darstellt. Eine solcher Ort ist beispielsweise in Järna, Schweden, etwa 30 Kilometer südlich von Stockholm zu finden. Es gibt mehrere ähnliche Orte, deren historisches und immer noch bestehendes Vorbild in Dornach bei Basel liegt mit dem großartigen Bau des „Goetheanums“ als Zentrum. Ich besuchte Järna im Jahre 1994 für zwei Tage. Die Schule ist Teil einer großzügig angelegten Siedlung am Ufer einer bezaubernden Ostseebucht. Zu finden sind dort außer der Schule: ein Kaufladen, in dem Holzspielzeug, Stoffpuppen, Bücher, Textilien, Papier ... zu erstehen sind; eine Klinik, die so gar nichts von dem an sich hat, was man mit dem Namen spontan assoziiert, also keine Stahlbetten auf Gummirädern und weiße Plastiktische, kein Geruch von Desinfektionsmitteln und dergleichen (zur Zeit meines Besuches hatte die Klinik wegen staatlicher Interventionen mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen); eine nach biologisch-dynamischen Methoden wirtschaftender Land- und Gartenbaubetrieb; eine biologische Kläranlage, deren „Endprodukt“ in einem weitläufigen Park am Ufer verrieselt; ein großer Bau mit gewölbtem Kupferdach, in dem u.a. die Feierhalle zu finden ist, im Dachraum und an den Wänden ausgekleidet mit Holzvertäfelungen, die ihre feinen figürlichen Reliefstrukturen bei günstigem Lichteinfall zeigen; die Bibliothek, die vor allem von den Studenten des – ebenfalls auf dem Gelände befindlichen – Lehrerseminars benutzt wird; Wohngebäude und weitere Gebäude mit einer Mischnutzung, das auffälligste davon ein weinrot gehaltener Kuppelbau, dessen Form einem danebenliegenden von der Eiszeit geschliffenen Felsen sowie der ersten anthroposophischen Kultstätte, dem „Goetheanum“ in Dornach/Schweiz, nachempfunden ist. – Järna repräsentiert aber (noch) nicht den gesamten „anthroposophischen Kosmos“ und den anthroposophischen Lebenskreis. Zu erwähnen wären zusätzlich Heilmittelbetriebe, Verlage, Werkstätten, heilpädagogische und weitere therapeutische Einrichtungen, Hochschulen (wie in D-Herdecke), Kreditbanken; schließlich die anthroposophische Christengemeinschaft mit eigenen rituellen Formen, die auf Anregungen Steiners (u.a. vorgetragen in „Das Christentum als mystische Tatsache und die Mysterien des Altertums“, 1902) in überkonfessioneller Absicht eine Erneuerung religiösen Erlebens anstrebt. Die Waldorfpädagogik und die Waldorfschule ist also – anders als jede andere der schulreformerischen Richtungen – in einen vielschichtigen und facettenreichen Kosmos eigener Prägung eingebettet, in eine Subkultur, die es im Prinzip gestattet, alle relevanten Aspekte des Lebens in ihren Horizont zu stellen. Ihren geistigen Mittelpunkt hat diese Welt in der Anthroposophie Rudolf Steiners, in einer eigenen Welt- und Lebensanschauung, die auch eine besondere Sicht des Kindes, des Lehrers und der Erziehung einschließt. (3) Damit ist nach dem Wesen, nach der ideellen Grundlage der Waldorfpädagogik gefragt. Steiner wird nicht müde zu betonen, dass Erziehung aus „wahrer Menschenerkenntnis“ heraus erfolgen müsse. Menschen-Erkenntnis: damit ist mehr und anderes gemeint, als die Summe möglicher Kenntnisse über den Menschen und Erfahrungen mit dem Menschen. Im Steinerschen Sinne liegen im Begriff der Menschenerkenntnis eine besondere ontologische und eine erkenntnistheoretische Voraussetzung. Der Mensch ist eingebettet in ein kosmisches, geistdurchwirktes Entwicklungsgeschehen, das ihn formt und dessen lebendiger Spiegel er selbst ist. Durch das Gesetz des Schicksals (Karma) und durch die Wiedergeburt der (unsterblichen) Seele und des Ich nimmt jeder Mensch an der Gesamtentwicklung teil. Karma und Wiedergeburt (Reinkarnation) sichern den allumfassenden Zusammenhang des Einzelnen mit dem anderen und mit dem Ganzen über die Grenzen des irdischen Lebens hinaus. „Der Mensch ist nicht bloß ein Zuschauer der Welt, sondern er ist Schauplatz der Welt, auf dem die großen kosmischen Ereignisse sich immer
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wieder abspielen.“5 Durch geistige Übung und Versenkung kann der Mensch gleichsam auf diesen Schauplatz gelangen und im denkenden Schauen den Zusammenhang von Ich, Welt und Kosmos und das Drama dieser Verschränkung unmittelbar erleben. In diesem Drama sind eine große Anzahl göttlicher und luziferischer oder ahrimanischer (nach der Hauptgestalt einer persischen Schicksalslehre benannte) Geister am Werk. Sie arbeiten über Äonen hinweg bis heute an der Höherentwicklung des Menschen durch Prozesse der Absonderung und Reinigung sowie Eingliederung und Umgestaltung von Organen und Gliedern. Das kosmische Drama ist ein genaues Spiegelbild des menschlich-seelischen Dramas – und umgekehrt. Die Grenzen von Ich und Welt, von Subjekt und Erkenntnisgegenstand, sind aufgehoben. Das Erkennen ist gleichsam geistunmittelbar, anschaulich schöpfend aus dem Quellgrund allen Seins. Steiner glaubt, damit die bisherigen Erkenntnisgrenzen überwinden zu können (weshalb manche Kritiker seine Erkenntnistheorie für maß-los halten); und ein Großteil seines Schrifttums versteht sich nicht nur als Mitteilungen aus der geistigen Welt, sondern zugleich als Weg der Schulung dorthin, als Hilfe zur Entwicklung übersinnlicher Erkenntnisorgane für jeden, der sich diesen Mitteilungen öffnet. Die ontologischen (insbesondere Karma und Reinkarnation) und erkenntnistheoretischen Prämissen implizieren eine bestimmte Sichtweise der Erziehung. Das Kind steht nicht mehr nur als Individuum vor dem Erzieher, sondern an ihm und mit ihm, zugleich durch sich selbst (karmische Verbundenheit), arbeitet er an der Vervollkommnung der Menschheit und an der Erlangung einer neuen Bewusstseinsstufe der Menschheit. Der „unbefangene Erzieher“ ist in der Lage, die inneren Kräfte im Kinde wahrzunehmen, die „aus früheren Lebensläufen herrühren“6 und die ein Entgegenkommen auf Seiten des Erziehers verlangen. Die Aufgabe der Erziehung überschreitet so ihren herkömmlichen Begriff. „Wir erziehen eben das Kind nicht bloß für das kindliche Alter; wir erziehen es für das ganze Erdendasein und, wie wir später sehen werden, auch noch für die Zeit darüber hinaus.“7 Aus dem erweiterten Erkenntnisbegriff resultiert ein (maßlos?) erweiterter Erziehungsbegriff. Und so wird auch verständlich, dass Steiner in „dem Unterrichten eine Art Gottesdienst“8 sehen kann, der eine Weihe verlangt, ohne die „man überhaupt nicht erziehen“9 kann. Die Waldorfpädagogik und der anthroposophische Kosmos beruhen auf einer Welt- und Lebensanschauung, die ihre gestalterische Kraft dem Bewusstsein einer überzeitlichen, kosmogonischen Sendung verdankt.
2 Rudolf Steiner und die Waldorfschule. Innere und äußere Stationen auf dem Weg zur anthroposophischen Pädagogik, eine werkbiographische Skizze Rudolf Steiner wird als erstes Kind der Familie des Bahntelegraphisten Johann Steiner und seiner Ehefrau Fanziska am 25. Februar 1861 im österreich-ungarischen Kraljevec geboren (damals zu Ungarn gehörig, heute in Kroatien nahe der ungarischen und slowenischen Grenze gelegen). Der Beruf des Vaters als Angestellter der Österreichischen Südbahn bringt einen häufigen Wechsel des Wohnortes mit sich. Wichtige Stationen der Kindheit und Jugend Steiners sind Pottschach in 5
Steiner, R.: Allgemeine Menschenkunde .... (siehe Anm. 2), S. 57 Steiner, R.: Geheimwissenschaft im Umriß, Dornach 1962, S. 133. (Erstauflage 1910). Zur Entwicklungsgeschichte des Kosmos und der Menschheit siehe ebd. S. 137ff 7 Steiner, R.: Anthroposophische Pädagogik und ihre Voraussetzungen, Dornach 1981, S. 17. 8 Steiner, R.: Gegenwärtiges Geistesleben und Erziehung, Stuttgart 1957, S.191 9 Steiner, R.: Allgemeine Menschenkunde ...(s.o.), S.42. In seiner Eröffnungsansprache in der Waldorfschule spricht Steiner von „religiösem Kult“, „Altardienst“, „Der Lehrer muß in einer gewissen Weise Prophet sein“; a.a.O. (siehe Anm. 1), S. 19ff 6
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Niederösterreich und Neudörfl im Burgenland bei Wiener Neustadt. In Pottschach, der Vater ist dort seit Anfang 1863 Bahnhofsvorsteher, verbringt er seine ersten bewussten Kinderjahre. Ihn fasziniert alles, was mit dem Betrieb des Bahnhofes zusammenhängt, insbesondere die Telegraphie. Er ist eifrig im Lernen. Ein intensiv empfundenes „übersinnliches“ Ereignis aus dieser Zeit sollte für ihn eine besondere Bedeutung gewinnen. Als sieben- oder achtjähriger erscheint ihm in der Wartehalle des Bahnhofs eine weibliche Gestalt, die nach einer Weile unter eindrücklichen Gebärden „in den Ofen hinein“ verschwindet. Rudolf Steiner bringt dieses Gesichte mit einem tragischen Ereignis in seiner Familie in Zusammenhang, von dem er erst nach Jahren erfährt. Mit dieser ihn tief bewegenden Erfahrung ist er alleingelassen, Andeutungen den Eltern gegenüber gehen ins Leere.10 Die faszinierende Welt der Technik des Bahnverkehrs und dieses innere Erlebnis, also „das Gegenüber von moderner Technik und übersinnlicher Wahrnehmung“11, markieren auf bildhafte Weise ein Spannungsfeld, das Steiners künftiges Denken bestimmen sollte. – Die Familie zieht 1869 nach Neudörfl (damals in Ungarn gelegen, seit 1919 zu Österreich gehörig). Bis 1872 besucht Rudolf Steiner die Dorfschule, danach bis zur Maturaprüfung im Juli 1879, die er mit Auszeichnung besteht, die Realschule, eine Naturwissenschaftliches Gymnasium, in Wiener Neustadt (Niederösterreich). So wird er zum „Grenzgänger“, wie er einmal nicht ohne Anspielung auf seinen geistigen Werdegang erzählt, denn er hatte von seinem neunten bis achtzehnten Lebensjahr auf seinem täglichen Weg zur Schule und zurück die Grenze zwischen Ungarn und Österreich, die damals von dem Fluss Leitha gebildet wurde, zu passieren. Von 1876 an sammelt er erste pädagogische Erfahrungen, indem er durch eigene Nachhilfetätigkeit die finanzielle Last der Eltern zu mindern sucht. Später wird er sich über mehrere Jahre neben seinen Studien als Hauslehrer betätigen, u.a. mit der Förderung eines als abnormal geltenden Kindes, das mit seiner pädagogischen Hilfe zum Abitur und zum Studium der Medizin geführt werden konnte. In Neudörfl, noch in seiner Dorfschulzeit, bildet sich auch ein starkes Interesse für die Geometrie heraus, das für ihn, wie er in seiner Autobiographie betont, richtunggebend geworden ist. Sie verschafft ihm das Erlebnis rein geistiger, ideeller Anschauung. „Mit Enthusiasmus machte ich mich darüber her. ...; der pythagoreische Lehrsatz bezauberte mich. Dass man seelisch in der Ausbildung rein innerlich angeschauter Formen leben könne, ohne Eindrücke der äußeren Sinne, das gereichte mir zur höchsten Befriedigung. Ich fand darin Trost für die Stimmung, die sich mir durch die unbeantworteten Fragen ergeben hatte. Rein im Geiste etwas erfassen zu können, das brachte mir ein inneres Glück. Ich weiß, dass ich an der Geometrie das Glück zuerst kennen gelernt habe.“12 Nach der Matura studiert Steiner an der Technischen Hochschule Wien bis 1882 verschiedene mathematisch-naturwissenschaftliche Fächer, aber auch Literaturgeschichte und Staatsrecht. Zusätzlich besucht er Vorlesungen in Philosophie an der Universität. (Bereits in der Gymnasialzeit hatte er begonnen, sich autodidaktisch mit Kant zu befassen.) In Wien öffnet er sich weiten Kreisen der schillernden Gesellschaft des Fin de siècle. Er lernt Dichter, Künstler, Theologen, Ärzte, Theaterleute, Komponisten kennen und beginnt eine zeitlebens anhaltende literarische Tätigkeit. (Sein literarisches Werk, einschließlich der Nachschriften Tausender von Vorträgen, ist heute in über 350 Bänden zugänglich.) Seine Studien in Wien schließt er nicht mit einem regulären Examen ab. Erst 1891 wird er von der Universität Rostock, an der er nie studiert hatte, zum Doktor der Philosophie promoviert. Das Thema seiner Dissertation lautet: „Die Grundfrage der Erkenntnistheorie mit besonderer Rücksicht auf Fichtes Wissenschaftslehre“. Zu 10
Einzelheiten dazu in: Wehr, Gerhard: Rudolf Steiner, Zürich 1993 (Diogenes), S. 22f Ebd., S.23 12 Steiner, R.: Mein Lebensgang, Dornach 1962 S.20f 11
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der Zeit hat er sich bereits einen Namen gemacht als Herausgeber der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes, eine Tätigkeit, die sein Denken nachhaltig bestimmen sollte. Für die Pädagogik der Waldorfschule wurde der von Steiner so genannte „Goetheanismus“ wichtig. Es handelt sich um eine Naturanschauung, die den Gedanken des Werdens und der Entwicklung, der Metamorphose und des Eingebettetseins der Naturerscheinungen in die Umgebung betont. Wichtig sind ferner die hinter den Erscheinungen liegenden Urphänomene und Ideen und das Bestreben, das jeweils Ganze eines Wesens oder einer Erscheinung bildhaft im Bewusstsein zu fassen (im Gegensatz zur zergliedernden Analyse). Bevor auf spezifische Grundlagen seines späteren pädagogischen Denkens und Handelns näher eingegangen werden soll, seien einige wichtige Stationen seines weiteren Lebens und Wirkens im Überblick genannt13: In den Jahren 1899-1904 ist Steiner Referent in der Berliner Arbeiterbildungsschule. Er hält dort stark besuchte Kurse in Geschichte und deutscher Literatur, die inhaltlich durchaus eine eigene, nicht-sozialistische Signatur haben. Im Jahre 1900 beteiligt er sich an der Gründung des „Kreises der Kommenden“ und am monistischen „Giordano Bruno-Bund“ und beginnt, Vorträge in der Theosophischen Bibliothek zu halten. 1902 tritt Steiner in die angloindische Theosophische Gesellschaft ein. Er wird deren deutscher Generalsekretär und entfaltet eine „sich stetig ausweitende Reise- und Vortragstätigkeit, die letztlich der Ausgestaltung der von ihm vertretenen Anthroposophie dient.“14 Nach unüberbrückbaren Differenzen zur Theosophie, die vor allem mit Steiners Christologie zusammenhängen, erfolgt im Jahre 1913 die Trennung von der Theosophischen Gesellschaft und die Gründung der Anthroposophischen Gesellschaft. Im Unterschied zur indisch-hinduistisch inspirierten Theosophie betont Steiner den Weg der christlich-gnostisch-rosenkreuzerischen Esoterik. Im selben Jahr wird der Grundstein zum ersten Bau des Goetheanums in Dornach/Schweiz gelegt, das fortan als Zentrum der anthroposophischen Bewegung gilt, u.a. getragen von der „Freien Hochschule für Geisteswissenschaft“. (Der Holzbau des ersten Goetheanums fällt in der Silvesternacht 1922/23 einem Brand zum Opfer.) Angesichts der geistigen Situation der Zeit setzt sich Steiner nach dem Ersten Weltkrieg für seine Idee einer Dreigliederung des gesellschaftlichen Organismus ein, die u.a. eine Befreiung des Geisteslebens von jeglichen politischen oder wirtschaftlichen Zwängen zum Ziel hat. In diesem Zusammenhang ist auch die Gründung der Waldorfschule zu sehen. Nach einem längeren Krankenlager in seinem Atelier neben dem abgebrannten Goetheanum stirbt Rudolf Steiner am 30. März 1925. Die Urne mit seiner Asche ist im neuerbauten Goetheanum beigesetzt. Zu welcher Breitenwirkung Steiners Bestrebungen gegen Ende seines Lebens gelangt waren und welche Bedeutung er als Person im Leben anderer gewonnen hatte, mag durch das Zitat eines Biographen angedeutet werden: „Anfang September 1924 kam Steiner erschöpft und ausgebrannt von einer dreiwöchigen Vortragsreise nach Dornach zurück. Dort warteten über tausend Menschen auf die angekündigten Kurse für Schauspieler, Ärzte und Theologen und auf die Fortsetzung der anthroposophischen Betrachtungen. Die Kurse fanden statt. Während der Vorträge, die er zögernd und mühsam begann, erholte sich Steiner sichtlich. ... Nach dem Ende der Tagung musste er zum erstenmal überhaupt einen Vortrag absagen. ... Was Steiner überfordert hatte, waren nicht die Vorträge, sondern die etwa vierhundert Menschen, die während der Tagungswochen noch eine persönliche Unterredung wünschten und ihre kleinen und großen Fragen auf ihn abluden.“15
13
Nach: Wehr (siehe Anm. 10) und: Lindenberg, Christoph: Rudolf Steiner, Reinbek bei Hamburg (rororo), 1992 Wehr, a.a.O. S. 437 15 Lindenberg, a.a.O., S. 142 14
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Halten wir zum Verständnis der Grundlagen von Steiners Erziehungsbegriff und der Waldorfpädagogik zusammenfassend und ergänzend das Folgende fest: 1. Es gibt hinter dem sinnlich Erfassbaren eine übersinnliche Welt, die erstere bestimmt und durchdringt aber gleichzeitig auch ein unabhängiges „geistiges“ Dasein hat. Rudolf Steiner vermag in dieser übersinnlichen Welt mit einer hohen seelischen Erlebnisqualität zu leben und zu „lesen“. Er besitzt von dieser Welt nach eigenem Bekunden eine gleichsam vorbegriffliche und vorsprachliche „unmittelbare Anschauung“, die er erst im Nachhinein unter dem oft als schmerzlich empfundenen Ungenügen eines solchen Versuches „in die Form von Gedanken zu gießen“16 versucht. Die Möglichkeit eines solchen Versuchs sucht er in der Auseinandersetzung und Abgrenzung mit der Philosophie des deutschen Idealismus (Kant, Fichte) zu erweisen. Ein entscheidender Hinweis zu diesem Weg ist ihm Schelling. Bei Schelling wird ihm ein Satz zu einem Schlüsselerlebnis, über das der noch nicht ganz zwanzigjährige einem Freund brieflich berichtet: „Uns allen wohnt ein geheimes, wunderbares Vermögen bei, uns aus dem Wechsel der Zeit in unser innerstes, von allem, was von außen hinzukam, entkleidetes Selbst zurückzuziehen und da unter der Form der Unwandelbarkeit das Ewige in uns anzuschauen.“ 17 Er habe jenes Vermögen „ganz klar“ in sich entdeckt, „geahnt habe ich es ja schon längst“. Diese Fähigkeit schließt bei ihm eine eigentümliche Distanz zur sinnlich erlebbaren Welt ein. Über seine Distanz zur „Außenwelt“ spricht er freimütig in seiner Autobiographie. Durch Reisen und verschiedene Erlebnisse mit Freunden konnte er sich „den Blick für die Außenwelt anerziehen, der mir nicht leicht geworden ist, während ich in dem geistigen Element mit einer gewissen Selbstverständlichkeit lebte.“18 2. Diese „unmittelbare Anschauung“ der geistigen Welt wäre vermutlich recht abstrakt geblieben, wenn sie später (d.h. ab 1900, eine Zeit, die eine Wende zur Esoterik und Theosophie in Steiners Denken einleitet) nicht mit Gehalten der westlichen und östlichen Mystik (u.a. pythagoreische Mystik und mittelalterliche Zahlenmystik, neuplatonisches Gedankengut, indische Theosophie, christliche Gnosis, Geheimlehren der Rosenkreuzer)19 konfrontiert und inhaltlich „angereichert“ worden wäre. So kommt Rudolf Steiner zu den Gesetzen des Karma und der Reinkarnation, die er mit einer ausgreifenden Spekulation über die Entstehung und Entwicklung des Kosmos und des Menschen als Gattung wie als Individuum verbindet. Es entsteht ein phantastisches, grandioses Gedankengebäude, das den Boden einer im modernen Sinne wissenschaftlichen Beweisführung und Argumentation völlig hinter sich lässt. Gleichwohl wird die Geltung der von ihm so genannten „äußeren Wissenschaften“ für ihre Gebiete nicht prinzipiell angezweifelt, sondern gelegentlich (allerdings recht selten) und wo möglich zur Stützung der eigenen Perspektive herangezogen. (Häufig fallen sie einem pauschalierenden Verdikt anheim.) Das Menschenbild der Anthroposophie beruht auf diesen erkenntnistheoretischen und inhaltlichen Prämissen. Im Ergebnis führen sie zu einer eigentümlichen Weltanschauung, die in einem verblüffend wörtlichen Sinne eine Spiegelung, also Umkehrung, realer Gegebenheiten und wissenschaftlicher Hypothesen beinhaltet. So ist die heutige Pflanzen- und Tierwelt wie auch der 16
Steiner, R. (1962), S. 53 (kursiv im Original) Schelling, zitiert von Steiner, hier nach: Wehr, a.a.O. S. 41 18 Steiner, R. (1962), a.a.O. S. 189. Weiter dazu auch: ebd. S.52 und bes. S.235ff: „...ich hatte immer nötig, eine Grenze zu überschreiten, wenn ich mit der Außenwelt etwas zu tun haben wollte. .... ; denn heimisch fühlte ich mich nur in der angeschauten geistigen Welt, und ‘wie zu Hause’ konnte ich mich in jeder anderen fühlen. ...“ 19 Vgl. dazu: Leisegang, Hans: Die Grundlagen der Anthroposophie, Hamburg 1922 17
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heutige Mensch aus einer Urform des Menschen entstanden. Das ist die Umkehrung des (biologischen) Evolutionsgedankens. Pflanzen und Tiere sind aus zurückgebliebenen oder abgepaltenen Anteilen des alten Menschen entstanden. Als sodann eigene Wesen entwickeln sie sich auf der Stufenleiter der Vergeistigung weiter (und passieren dabei später erst die Stufe des heutigen Menschen.) In der Waldorfpädagogik kommt diese Sicht u.a. dadurch zum Tragen, dass Menschenkunde als Naturlehre betrieben wird (s.u. im Abschnitt über den Lehrplan). In der Beschreibung des Herzens kommt diese Spiegelung respektive Umkehrung, die sich – wie festzuhalten ist – nur im „geisteswissenschaftlichen“ Schauen offenbart, in den prägnanten Worten zum Ausdruck: „Und nicht die Ursache, sondern die Folgen der Blutpulsation sind die Bewegungen des Herzens.“20 Diese Spiegelung gilt im übrigen auch für die dingliche Welt, so dass Geschriebenes in der geistigen Welt in Spiegelschrift erscheint. (Das hat einige Schüler Steiners zu dem von ihm selbst energisch zurückgewiesenen Gedanken geführt, ob man nicht Linkshänder in Spiegelschrift schreiben lassen könne.) Die dingliche dreidimensionale Welt erscheint in der „höheren Welt“ in ihren Einzelheiten als ihre jeweilige Negativform mit einem – diese Hohlform umgebenden – Strahlenbündel, das die Kräfte widerspiegelt, die an der realen Positivform arbeiten. – Manches Stilmoment der künstlerischen Darstellung, insbesondere in den sanft farbigen Bildern mit verschwimmenden Formen, hat hierin seinen Grund. 3. Die Gründung der Waldorfschule selbst muss im Zusammenhang mit den Ereignissen des Krieges und der danach verstärkt aufkeimenden Sehnsucht nach einer grundlegenden Neuorientierung im gesellschaftlichen und geistigen Leben gesehen werden, hatte doch die Entfesselung der Kräfte die zerstörerischen Möglichkeiten von Wissenschaft und Technik allen vor Augen geführt. Zudem war der identifikatorische Mittelpunkt der deutschen Nation – die Monarchie – zerbrochen. „Die geistige Führung des Menschen und der Menschheit“ (Steiner 1911) war mehr denn je eine offene Frage und in dieses Vakuum konnten neue Sinn- und Rettungsangebote einfließen. Steiner spricht von der „Tragik der Menschheitsentwicklung“, die in einem ursächlichen Zusammenhang gesehen wird mit der Naturwissenschaft, der Maschine, dem „Industrialismus“. All das mache in seiner Wirkung „den Menschen unmenschlich“. „Die wirkliche Rettung der Menschheit“ sieht er in einer Dreigliederung des sozialen Organismus, dergestalt, dass sich die Bereiche gemäß ihrer eigenen Gesetze entwickeln und „sich in der richtigen Weise durchdringen“ können. Die Ideale der Französischen Revolution, „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“, werden von Steiner auf die einzelnen Bereiche bezogen: Brüderlichkeit habe im Wirtschaftsleben (es ist der Ort des Sozialismus), Gleichheit im Rechts- oder Staatsleben (Demokratie), Freiheit im Geistesleben (Individualismus) zu gelten.21 Steiner versucht im Jahre 1919 mit seiner Idee der Dreigliederung auch politisch auf die Entwicklung in Deutschland Einfluss zu nehmen. Es entsteht eine von vielen (auch vielen prominenten Nicht-Anthroposophen) getragene Bewegung für Dreigliederung mit einer eigenen Zeitschrift. „Die tatsächlichen Erfolge stehen aber offensichtlich in keinem Verhältnis zum Einsatz.“22 Ein offensichtlicher und nachhaltiger Erfolg ist aber die Waldorfschule, deren Gründung auf Initiative von Emil Molt, der der Dreigliederungsbewegung angehört, auf einer Betriebsratssitzung am 23. April 1919 beschlossen wird. „Die Befreiung der Unterrichtstätigkeit von jeglicher staatlichen Aufsicht“, verbunden damit die „Abschaffung des staatlichen Berechtigungswesens für Mittel- und Fachschulen“, mithin die Unabhängigkeit von 20
Steiner, R.: Aus der Akasha-Chronik, Dornach/Schweiz 1995 (Rudolf Steiner Verlag, Erstmals erschienen in der Zeitschrift „Lucifer - Gnosis“, Nrn. 14-35, Berlin 1904-1908), S.229 21 Vgl. Steiner, R.: Die Erziehungsfrage als soziale Frage, Dornach 1960, S.9, 16f, 64 22 Wehr, a.a.O., S.275
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Politik und Wirtschaft, gehört zu den zentralen Forderungen der Dreigliederungsbewegung.23 Die Kennzeichnung „Freie Waldorfschule“ und die organisatorische Verfassung (kein Direktor, sondern ein Kollegium) geht auf diese Bestrebungen zurück. Steiner selbst hatte mit der Waldorfschule auch eine Verlebendigung des Dreigliederungsgedankens im Sinn: „Die Dreigliederungsidee ist nicht tot; sie ist nur zunächst nicht verstanden worden. Und ich hoffe, dass gerade aus den Kreisen der Waldorfschüler Verständnis für die Dreigliederung erwachsen wird.“24
3 Der Mensch, seine Entwicklung und Erziehung in anthroposophischer Sicht Steiner fasst den Menschen als ein Ineinander verschiedener „Wesensglieder“ oder „Leiber“ auf. Sie haben sich nacheinander in Richtung einer zunehmenden Verdichtung bzw. Materialisierung aus einem in sich selbst ruhenden (d.h. geistigen) Uranfang heraus zusammen mit dem Kosmos entwickelt und durch die Einwirkung sich selbst ebenfalls entwickelnder Geistwesen zur heutigen Gestalt des Menschen verbunden. Das Ganze und alles je Einzelne, jedes Wesen und jedes Ding, das Kleinste und das Größte ist von allem Anfang an in einem dynamischen Entwicklungsgeschehen zusammengeschlossen. Diese Entwicklung vollzieht sich im Rahmen von (bis heute drei) Wiederverkörperungen eines „uralten Planeten“25, die in aktiven, in sich gegliederten Phasen und zwischenliegenden Ruhephasen („Weltenschlaf“) aufeinanderfolgen. Die menschliche Gestalt unterliegt als Gattungs- wie als Einzelgestalt durch Karma und Wiedergeburt weiterhin der Entwicklung, wobei über zukünftig kommende Weltalter hinweg die Tendenz zur Vergeistigung und zur Erlangung eines höheren Bewusstseins besteht. Es vollzieht sich also gleichsam eine rückwärtige Bewegung oder eine durch und über den Menschen laufende kosmogonische Schleife zum (geistigen) Uranfang hin. Die kosmische Entwicklung ist im Menschen präsent und kann vom übersinnlichen Bewusstsein durch die verschiedenen Hüllen hindurch „gelesen“ werden. Der Einzelmensch entfaltet die verschiedenen Wesensglieder im Laufe seiner Entwicklung, von Steiner als „Geburten“ bezeichnet. Ihr Ineinander und ihre Wechselwirkungen können, soweit sie äußerlich sind, z.T. auch vom gewöhnlichen Bewusstsein wahrgenommen werden. (Das Erröten z.B. ist eine seelische Wirkung auf den physischen Körper.) Mit der individuellen Entwicklung erfolgt gleichzeitig die Ausbildung der Temperamente, deren jeweilige Stärke und Mischung die Individualität, den Charakter eines Menschen, bedingen. Auf eine kurze Formel gebracht liegt diesen Vorstellungen der mythisch-esoterische Glaube an eine Identität von kosmischer, gattungsgeschichtlicher und individueller Entwicklung zugrunde (Kosmogonie gleich Phylogenese gleich Ontogenese).
23
Vgl., ebd., S.275 Steiner, zitiert nach Wehr, a.a.O.S. 290 25 Steiner, (1962), S.145 24
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3.1 Die vier Wesensglieder des Menschen Von den verschiedenen Gliederungsversuchen im Hinblick auf den Menschen, die Steiner vorgenommen hat26, ist im pädagogischen Zusammenhang vor allem die Vorstellung der Viergliedrigkeit von Bedeutung: 1. Physischer Leib: diesen hat der Mensch mit der mineralischen Welt gemeinsam. Er unterliegt als solcher und von den anderen isoliert den Gesetzen dieser Welt. 2. Ätherleib (auch: Lebensleib): diesen hat der Mensch mit der Pflanzen- und Tierwelt gemeinsam. Er wirkt auf den physischen Leib im Wachen wie im Schlafen als Garant seiner Form. 3. Astralleib (auch: Seelen- oder Empfindungsleib): diesen hat der Mensch nur mit der Tierwelt gemeinsam. Er ist der Träger von Empfindungen, Lust, Schmerz, Trieben, Begierden usw. Ohne die Verbindung völlig aufzugeben, verlässt er den Menschen im Zustand des Schlafes. 4. Das Ich (zuweilen auch metaphorisch: der „Ich-Leib“27): es ist nur dem Menschen zu eigen und zeichnet ihn vor allen anderen Lebewesen aus. Durch den „Ich-Leib“ ist „der Mensch die Krone der Erdenschöpfung.“ Das Ich bewirkt das Gefühl von Dauer und Kontinuität, indem es die Eindrücke des Astralleibes als Erinnerung aufbewahrt. (Im Schlafzustand verlässt das Ich zusammen mit dem Astralleib den Menschen und empfängt Eindrücke aus geistigen Regionen, die z.T. als Traum bewusst werden.) Das Ich hat die lebenslang bestehende Aufgabe, die niederen Wesensglieder „umzuwandeln“, mit dem Geistigen zu durchdringen, so dass diese auf eine höhere Stufe gehoben werden. (Dadurch ergibt sich dann eine Siebengliedrigkeit des Menschen: die gekennzeichneten 4 plus die 3 verwandelten niederen Glieder.) Der Mensch wirkt „vom Ich aus veredelnd, vergeistigend auf seine Seele“, indem er sich „von gewissen niederen Neigungen abzieht und höheren zuwendet.“28 Auch hier gibt es wieder verschiedene Stufen der Entwicklung, die im Vergleich ein Gefälle bzw. Anstieg bilden: vom „ungebildeten Wilden“, dessen Ich „fast wie das Tier“ „seinen Leidenschaften, Trieben und Begierden“ folgt, über den „europäischen Durchschnittsmenschen“ bis zum „hohen Idealisten“.29 Den Zusammenhang der vier Glieder hat Steiner prägnant und formelhaft in den Sätzen zum Ausdruck gebracht: „Wie der physische Leib zerfällt, wenn ihn nicht der Ätherleib zusammenhält; wie der Ätherleib in die Bewusstlosigkeit versinkt, wenn ihn nicht der Astralleib durchleuchtet, so müsste der Astralleib das Vergangene immer wieder in die Vergessenheit sinken lassen, wenn dieses nicht vom ‚Ich‘ in die Gegenwart herübergerettet würde. Was für den physischen Leib der Tod, für den Ätherleib der Schlaf, das ist für den Astralleib das Vergessen. 26
Vgl. die kritische Analyse bei: Schneider, Wolfgang (1992): Das Menschenbild der Waldorfpädagogik, Freiburg im Breisgau, S. 122ff. In der oben zitierten Akasha-Chronik spricht Steiner von einem weiteren Glied, dass sich dem viergliedrigen Menschenwesen als ein höheres eingliedert: „die Seele, als Innenwesen“, das also als fünftes Glied noch über dem Ich anzusiedeln wäre. In konsequenter Stufenfolge gedacht dürfte also die Seele im heutigen Menschen noch gar nicht zum Vorschein gekommen sein. (S.225) An wieder anderen Stellen seines Werks – und besonders in Zusammenhang mit der Erziehung – wird die Seele dem „Astralleib“ zugeordnet; siehe im Haupttext. 27 Steiner, R.: Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft, (Erstveröffentlichung 1907), Dornach 1973, S.14f 28 Steiner, 1962, S.71 29 Steiner (1907/1973), a.a.O.S.15
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Man kann auch sagen: dem Ätherleib sei das Leben eigen, dem Astralleib das Bewusstsein und dem Ich die Erinnerung.“30 – Für die Erziehung ist nun von besonderem Interesse, in welchen Lebensabschnitten sich diese Glieder entwickeln, denn erst dann kann nach einer angemessenen Einwirkung gefragt werden.
3.2 Die Entwicklungslehre: Geburt und Entwicklung der „Wesensglieder“ des Menschen unter dem Einfluss von Umgebung und Erziehung Die Entwicklung des Menschen vollzieht sich (annäherungsweise) in einem Rhythmus von sieben Jahren. Mit der „physischen Geburt“ verlässt der Mensch die schützende „Mutterhülle“ und nun kann die „Umgebung der physischen Welt unmittelbar auf ihn wirken“; „die Sinne öffnen sich der Außenwelt“31. Es ist die Zeit der (Weiter-)Entwicklung der physischen Organe, die mit dem 7./8. Lebensjahr – als äußeres Zeichen gilt der Zahnwechsel – einen gewissen Abschluss findet. Erst mit dem Zahnwechsel ist der Mensch gleichsam vollständig physisch geboren und nun beginnt er seine „Ätherhülle“ abzulegen; das heißt, der bisher verborgene „Ätherleib“, der bis dahin vor allem an der Bildung der inneren Organe gewirkt hat, wird „freigegeben“. „Dann bleibt noch eine Astralhülle bis zum Eintritt der Geschlechtsreife. In diesem Zeitpunkt wird auch der Astraloder Empfindungsleib nach allen Seiten frei, wie es der physische Leib bei der physischen Geburt, der Ätherleib beim Zahnwechsel geworden sind. – So muss die Geisteswissenschaft von drei Geburten des Menschen reden.“32 Es liegt in der Konsequenz dieses Gedankengangs, hinsichtlich des „Ich-Leibes“ von einer vierten Geburt zu sprechen, die nach der Ablegung der „IchHülle“ um das 21. Lebensjahr erfolgt. Das „freie Ich“, könnte dann mit vollem Bewusstsein und Willen in Richtung „hoher Idealist“ an die „Umwandlung“ (s.o.) der niederen Wesensglieder herangehen – und weiterhin wäre von der „Geburt“ der schließlich umgewandelten Wesensglieder in Siebenjahresschritten zu sprechen. Diese naheliegenden Spekulationen werden von Steiner im Zusammenhang mit Erziehungsfragen nicht konsequent durchgeführt, wohl von seinen Schülern.33 In gattungsgeschichtlicher Perspektive wird die weiterreichende Geburtenfolge dagegen von Steiner deutlich artikuliert. Auf höheren Stufen der Menschheitsentwicklung werden durch die Arbeit des Ich an den niederen Leibern in absteigender Folge die dann jeweils höheren Glieder ausgebildet: „Geistselbst“, „Lebensgeist“ und schließlich als Ergebnis der Umwandlung des physischen Leibes der „Geistesmensch“. Aber diese Entwicklung hat gegenwärtig „bloß bei den Eingeweihten – den Geheimwissenschaftern und ihren Schülern – begonnen.“34 Und dennoch hat diese Schau in die Zukunft, wie wir noch sehen werden, auch in der gegenwärtigen Erziehung eine zentrale Bedeutung. (Das „Ich“ ist als Keim, daran sei in diesem Zusammenhang erinnert, nach Steiner als Inkarnat aus der höheren Welt „von der dritten Woche nach der Konzeption an-
30
Steiner, 1962., S.61f (Es schließen sich Betrachtungen an über „den Irrtum, der Pflanze Bewußtsein zuzuschreiben“ und „bei dem Tiere von Erinnerung zu sprechen.“) 31 Steiner (1907/1973), S. 19 32 Ebd. 33 Nähere Hinweise dazu in: Ullrich, Heiner: Waldorfpädagogik und okkulte Weltanschauung, München 1986, S.107f. Auf die Frage nach dem Siebenjahresrhythmus für das spätere Leben geht Steiner ein in: Steiner, R.: Erziehungs- und Unterrichtsmethoden auf anthroposophischer Grundlage, Stuttgart 1960, S. 58ff. Er spricht dort von sich verwischenden Grenzen, von intimeren Verläufen. 34 R. Steiner, a.a.O. (1995), S. 213
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gefangen“ im Menschen vorhanden.35 Äußerlich zur Geltung kommt es in der frühen Kindheit mit dem Ich-sagen-Können etwa ab dem 3. Lebensjahr.) Erziehung ist also nach dem 21. Lebensjahr in erster Linie Selbsterziehung. „Die wichtigste Voraussetzung hierfür wird in der ausgeglichenen und gesunden Entfaltung der drei stufenweise vorausgegangenen ‘Leiber’ gesehen.“36 Erfolgen die vorangehenden Entwicklungsschritte verzögert oder werden sie forciert, können schwerwiegende Fehlbildungen eintreten, die das ganze Leben belasten. Zu beachten ist dabei die Vorstellung einer eigentümlichen Dynamik bzw. Metamorphose der Kräfte: werden Kräfte an der einen Stelle nicht mehr gebraucht, weil ein Enwicklungsschritt abgeschlossen ist, stehen sie an anderer Stelle (nunmehr in gewandelter, metamorphisierter Form) wieder zur Verfügung. Für das erzieherische Geschehen im engeren Sinne sind die ersten drei Jahrsiebte von besonderer Bedeutung. Im ersten Jahrsiebt – es steht schwerpunktmäßig im Zeichen der weiteren Ausbildung des Leibes und der Organe – steht das Kind zur Welt in einem Verhältnis der Nachahmung. „Strenge sollte daher darauf gesehen werden, dass in der Umgebung des Kindes nichts geschieht, was das Kind nicht nachahmen dürfte.“37 Es lebt gleichsam nach dem Motto „Die Welt ist gut“ (bzw. moralisch) und entsprechend „gut“ mit schönen Farben, Klängen, Liedern, Spielsachen (kein technisches Spielzeug), frohgestimmten Erziehern muss seine Umwelt gestaltet werden. In Hinsicht auf das Temperament kommt der Farbgebung eine besondere Bedeutung zu. Dabei kommt es „auf die Farbe an, die als Gegenfarbe im Inneren erzeugt wird.“ „Hat das aufgeregte Kind eine rote Farbe in seiner Umgebung, so erzeugt es in seinem Inneren das grüne Gegenbild. Und die Tätigkeit des Grünerzeugens wirkt beruhigend, die Organe nehmen die Tendenz der Beruhigung in sich auf.“38 „’Freude und Lust begründen gesunde Anlagen, sind gesunde Organbildner’ (Steiner) alles andere ‘kann zum Begründer von Krankheit werden’.“39 Der Erzieher sei in allem Vorbild. Im zweiten Jahrsiebt werden die Kräfte, die bisher für die Organbildung gebraucht wurden, „frei“ für andere Leistungen. „Seelische Denk-, Lern- und Gedächtnisfähigkeiten“, die vorher „nach innen den Leib und besonders den Kopf bildeten“40 können nun in den Dienst des Lernens gestellt werden. Jetzt beginnt „die Zeit, in der von außen erziehend auf den Ätherleib eingewirkt werden kann. ... Auf den Ätherleib wirkt man durch Bilder, durch Beispiele, durch geregeltes Lenken der Phantasie. Wie man dem Kinde bis zum siebenten Jahr das physische Vorbild geben muss, das es nachahmen kann, so muss in der Umgebung des werdenden Menschen zwischen dem Zahnwechsel und der Geschlechtsreife alles das gebracht werden, nach dessen innerem Sinn und Wert es sich richten kann.“.41 Das jetzige Verhältnis des Kindes zur Welt kann in den Satz gefasst werden „Die Welt ist schön“. Der Erzieher muss in dieser Phase als Künstler angesehen werden. Er wirkt, dem vorherrschenden Weltbezug des Kindes entsprechend, durch eine künstlerische Ausgestaltung des Unterrichts. Die Welt muss in lebens- und phantasievollen Bildern vor das Auge und das Bewusstsein des Kindes gestellt werden. Als Überbringer dieser Bilder, die tief im Kind ihre Wirkung entfalten, gerät der Erzieher in eine Position „unbegrenzter Verehrung“. 35
Steiner, R.: Die gesunde Entwicklung des Leiblich-Physischen als Grundlage der freien Entfaltung des SeelischGeistigen, Dornach 1978, S.352 36 Ullrich, ebd., S. 108. 37 Steiner, (1907/1973), S.26 38 Ebd. S. 25 39 Kowal-Summek, Ludger: Die Pädagogik Rudolf Steiners im Spiegel der Kritik, Pfaffenweiler 1993, S.64 40 Hartmann, nach: Ullrich: a.a.O. (1986), S. 105 41 Steiner, (1907/1973), S. 27.
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„Verehrung und Ehrfurcht sind die Kräfte, durch welche der Ätherleib in der richtigen Weise wächst.“42 Das erzieherische Verhältnis lässt sich für diese Zeit demnach in folgender Weise bestimmen: „Wie für die ersten Kindesjahre Nachahmung und Vorbild die Zauberworte der Erziehung sind, so sind es für die jetzt in Rede stehenden Jahre: Nachfolge und Autorität.“43 Das dritte Jahrsiebt ist gekennzeichnet durch einen neuerlichen Gestaltwandel. Es beginnt mit dem Eintritt in die Pubertät, mit der Geschlechtsreife. Der „Astralleib“ wird „geboren“. Der Mensch erhält die Fähigkeit, die in ihm vorgehenden seelischen Prozesse intensiv und bewusst zu erleben. Den damit einhergehenden heftigen Gemütsschwankungen kann die Erziehung entgegenwirken durch die Anregung der sich jetzt verstärkt ausbildenden intellektuellen Kräfte. Es beginnt die Zeit der eigenen Urteilsbildung. Das Erziehungsprinzip ist jetzt „Sachlichkeit allein. Alle Aussagen sollen in Frage gestellt und sinnvoll begründet werden, auch solche aus dem Bereich des Emotionalen.“44 Der Erzieher wird jetzt zum Lehrer , in dem Sinne, der der herkömmlichen Bedeutung des Begriffs nahekommt. Im Vergleich zu den vorigen Entwicklungsphasen tritt der Weltbezug der Wahrheit hinzu; der klassische Wertekanon des „Wahren, Schönen und Guten“ findet so in diesem Jahrsiebt seine Vollendung. Steiner zusammenfassend: „Das erste Kindesleben bis zum Zahnwechsel geht mit der unbewussten Annahme vor sich: Die Welt ist moralisch. Das zweite Lebensalter vom Zahnwechsel bis zur Geschlechtsreife verläuft in der unbewussten Voraussetzung: Die Welt ist schön. Und erst mit der Geschlechtsreife beginnt dann so recht die Anlage dafür, auch das in der Welt zu finden: Die Welt ist wahr. Erst dann kann daher der Unterricht damit einsetzen, ‘wissenschaftlichen’ Charakter zu bekommen. Vor der Geschlechtsreife ist es nicht gut, dem Unterricht einen bloß systematisierenden oder wissenschaftlichen Charakter zu geben; denn einen richtigen inneren Begriff von der Wahrheit bekommt der Mensch erst, wenn er geschlechtsreif geworden ist.“45 Damit sind die allgemeinen Gesichtspunkte der Entwicklung in Bezug auf die Erziehung umrissen. In Hinsicht auf die Individualität des Kindes und seine erzieherische Behandlung muss zudem die anthroposophische Temperamentenlehre Beachtung finden. Ihre Wurzeln gehen bis in die Antike zurück.
3.3 Die vier Temperamente und ihre Berücksichtigung in Unterricht und Erziehung Innerhalb der anthroposophischen Menschenkunde und Erziehung hat die Lehre von den Temperamenten einen zentralen Stellenwert. Sie bildet den Inhalt der ersten Seminarbesprechung (21. August 1919) zur Vorbereitung der Lehrer auf ihre Tätigkeit in der zu eröffnenden Waldorfschule. Die „Vielartigkeit der Menschenwesen, der Kinder“ lässt sich auf vier Grundtypen zurückführen. „Seit alters her“ werden unterschieden: das sanguinische, das melancholische, das phlegmatische, das cholerische Temperament. In ihnen zeigt sich das Vorherrschen eines der vier „Wesensglieder“. Es sind beim Kinde zugeordnet (beim Erwachsenen sind die Verhältnisse etwas anders, es findet nämlich so etwas wie eine Verschiebung um eine Ebene statt): dem Ich das melancholi42
Steiner, ebd. S.28 Ebd., S.27 Ullrich, a.a.O. S.107 45 Steiner, R: Allgemeine Menschenkunde .... (1960), S. 139 43 44
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sche (beim Erwachsenen: das cholerische), dem Astralleib das cholerische, dem Ätherleib das sanguinische, dem physischen Leib das phlegmatische Temperament. Das Temperament findet seinen Ausdruck in Körperhaltung, Physiognomie, Gang, Gestalt, sogar Augenfarbe, insbesondere aber im Grad der Erregbarkeit und Stärke. Steiner verwendet zur Veranschaulichung einen viergeteilten Kreis, dessen gegenüberliegende Felder polare Gegensätze bilden („Niemals geht phlegmatisches Temperament leicht ins Cholerische über.“). „Die nebeneinanderliegenden Temperamente gehen ineinander über, die verschwimmen.“46: wenig Erregbarkeit viel Stärke beim melancholischen Temperament Stärke und Erregbarkeit am geringsten beim phlegmatischen Temperament
Stärke und Erregbarkeit am größten beim cholerischen Temperament viel Erregbarkeit wenig Stärke beim sanguinischen Temperament
Die vier Temperamente finden sich nun in jedem Menschen in einer bestimmten Mischung. Die Mischung bedingt seine Individualität. Es besteht ein – allerdings meist labiles – Gleichgewicht (im günstigsten Falle eine annähernde Harmonie). Kommt es zum Übergewicht eines Temperamentes und überschreitet dieses gewisse seelische Grenzen, kann es im Extremfall zu Krankheiten führen: zu Wahnsinn beim Melancholiker, zu Schwachsinn beim Phlegmatiker, zur Narrheit beim Sanguiniker, zur Tobsucht beim Choleriker.47 Für die Erziehung werden nun zwei Grundgedanken bedeutsam. Beim „Idealmenschen“ würde, so Steiner, „die von der kosmischen Ordnung vorgezeichnete Harmonie walten“ zwischen den vier Wesensgliedern. „Dies ist aber in Wirklichkeit bei keinem Menschenwesen der Fall.“ Darin liegt eine Unvollständigkeit und es ist die Aufgabe von Erziehung und Unterricht, hier einen Ausgleich anzustreben, eine „Harmonisierung zwischen den vier Gliedern herzustellen.“48 Das Wirkungsfeld der Erziehung liegt also in der Spannung von „Idealmensch“ und wirklichem Mensch. Was heißt das pädagogisch-praktisch hinsichtlich der Temperamente? In der Waldorfliteratur ist zu dieser Frage ein außerordentlich differenziertes und umfangreiches System entstanden, das die Wirkungen beschreibt zwischen den Temperamenten bei den Kindern und die erzieherischen Wirkungen des Lehrertemperamentes. Ferner wird nahezu alles Didaktisch-methodische ebenfalls in dieser Hinsicht durchleuchtet. Auch die Sitzordnung in der Klasse reflektiert die Temperamentstypen. Steiner empfiehlt eine Anordnung in Gruppen vergleichbarer Temperamente, die 46
Steiner, R.: Erziehungskunst. Seminarbesprechungen und Lehrplanvorträge, Dornach 1977, S.15. Die vorigen Verweise ebd. S.9f Vgl. ebd. S.47 48 Ebd., S.9f 47
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dem obigen Schema entspricht. Auf diese Weise können die Temperamente, indem sie einander überdrüssig werden, sich abschleifen, sie üben „gegenseitige Selbstkorrektur“. Die Phlegmatiker werden sich beispielsweise „so langweilig, dass sie mit der Zeit gegen das Phlegma Antipathie bekommen; dann wird es immer besser und besser. Die Choleriker prügeln sich ...“ usw.49 Zudem kann der Lehrer besser auf die jeweiligen Temperamente eingehen, wenngleich es unmöglich ist, „auf jedes Kind hin (zu) individualisieren.“50 – Individualisieren bedeutet also in der Waldorfpädagogik nicht die Rücksichtnahme auf die je eigenen Wünsche, Bedürfnisse, Neigungen, Lerninteressen, sozialen und intellektuellen Voraussetzungen ... des einzelnen Kindes, sondern vorrangig die Berücksichtigung seines Temperamentes, das es zu harmonisieren gilt.
3.4 Der „Lehrplan" der Waldorfschule - Grundlagen und Beispiele Die Anführungszeichen signalisieren, dass es im Selbstverständnis der Waldorfschule keinen Lehrplan im Sinne eines festgelegten Kataloges von Zielen und Themen gibt. Die Repräsentationen der Welt und dessen, was gelernt werden soll, lassen sich nicht lehrplanmäßig fassen. Vielmehr ist „der Lehrer, der Erzieher für das Kind die Welt“ oder „die Repräsentation der Welt“. Als Erkennender ist der Lehrer in der Lage, das jeweils Richtige an das Kind heranzutragen. Mit dem Erziehungsprinzip auf anthroposophischer Grundlage „sucht man nun in dem Lebensalter der Volksschule jedes Jahr, ja man möchte sagen, jeden Monat, jede Woche die Entwickelung des Kindes so intim zu durchschauen, dass man Lehrplan und Lehrziele von der menschlichen Wesenheit abliest.“51 Der Wegweiser des Lehrers ist also das Kind selbst in seiner Entwicklung; das „Lesen“ im Wesen des Kindes ersetzt das Lesen eines Lehrplans. Nun kommt auch die Waldorfschule in der Praxis ohne einen Lehrplan nicht aus, der angibt, wohin und mit welchen „Fahrzeugen“ (Inhalten und Methoden) die „Bildungsreise“ gehen soll. Und als Lehrplan repräsentiert er naturgemäß (oder besser: kulturgemäß) ein vorgefasstes Bild der Welt, das als solches den Unterricht steuert und Spontaneität begrenzt. Rudolf Steiner äußert sich zum Teil sehr ausführlich zu nahezu allen Unterrichtsbereichen, wobei er jeweils die seelischen Dispositionen für bestimmte Inhalte zu ermitteln sucht. Steiner spricht etwa vom „instinktiven Verstehen“52 bezüglich der Naturgeschichte und Botanik, auf das der Lehrer in der mittleren Volksschulzeit bauen könne, oder vom „Instinkt für Zinsbezug“53 (Zinsrechnung) in der letzten Volksschulzeit, wenn die intellektuellen Kräfte weiter auszureifen beginnen. Gleichzeitig soll der Zusammenhang mit dem Ganzen verdeutlicht werden. Ein von Steiner mehrfach genanntes Beispiel ist die Metamorphose des Schmetterlings, dessen Hervorgehen aus der Puppe ein Sinnbild der Unsterblichkeit der Seele darstellt. Diese Bilder sind nicht als Hilfskonstruktionen des Verstandes aufzufassen; sie sind „von den Kräften der Welt selbst beim Schaffen zugrunde gelegt“ worden.54 Auf der Grundlage von Steiners Angaben wurde von Caroline von Heydebrand ein Lehrplan zusammengestellt, der die Lehraufgaben der Stuttgarter Mutterschule aus den zwanziger Jahren enthält und seit 1996 in 10. Auflage vorliegt. Dieser Lehrplan bildet auch für heutige Waldorf49
Steiner, R.: Die Kunst des Erziehens aus dem Erfassen der Menschenwesenheit, Dornach 1963, S.69 Steiner, a.a.O. (1977), S.51 51 Steiner, R.: Erziehungs- und Unterrichtsmethoden auf anthroposophischer Grundlage, Stuttgart 1960, S.34f 52 Steiner, R.: Erziehungskunst, Methodisch-Didaktisches, Freiburg 1948, S.238 53 Ebd., S.239 54 Steiner, R.: a.a.O. (1973), Die Erziehung des Kindes ..., S. 31 50
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schulen die wesentliche Grundlage und sichert so die erstaunliche inhaltliche sowie methodische Kontinuität und relative Identität über Zeiten, Ländergrenzen und Kontinente hinweg. Dies rechtfertigt ein ausführlicheres Eingehen auf den Lehrplan. – Von Heydebrand betont, dass es der Waldorfschul-Pädagogik nicht darauf ankomme, „die Kinder inhaltlich anderes lernen zu lassen, als sie anderswo lernen, sondern dasselbe auf andere Art.“55 Und in der Tat zeigt die Lektüre, dass – mit Ausnahme der Eurythmie – alle Fächer und Inhalte auch an anderen Schulen gelehrt werden oder doch gelehrt werden könnten. Als Besonderheit ist lediglich der frühe Beginn der Fremdsprachen und die Betonung der handwerklichen Arbeit zu nennen. Ferner ist auf das künstlerische Prinzip hinzuweisen, das durchgängig gilt und die „harmonische Ganzheit“ zusätzlich im ästhetischen Erleben fundiert. (Hier kann ein Reflex auf die reformpädagogischen Impulse der Kunsterziehungs- und der Arbeitsschulbewegung gesehen werden.) Es zeigt sich, dass der Lehrplan hinsichtlich seines Fächerspektrums durchaus dem klassischen Kanon verpflichtet ist (a), freilich im einzelnen durchdrungen von anthroposophischen Bezügen (b). Zudem lassen sich Bezüge zum Lehrplandenken des 19. Jahrhunderts (Kulturstufentheorie) aufzeigen (c). (a) Im Lehrplan werden die folgenden Fächer bzw. Lernbereiche genannt:56 x Hauptunterricht: in allen 12 Klassenstufen im Umfang von 12, in höheren Klassenstufen bis 15 Wochenstunden; umfasst alle wissenschaftlichen Fächer (einschließlich der muttersprachlichen Lernbereiche) sowie die künstlerischen Fächer des Malens und Zeichnens x Englisch und Französisch: in allen Klassenstufen anfangs je 3, ab Kl. 6 je 2 Stunden x Eurythmie: in allen Klassenstufen, anfangs eine Stunde, ab Kl. 5 zwei Stunden x Turnen und Gymnastik: ab Kl. 3 eine, ab Kl. 5 zwei Stunden x Religion: in allen Klassenstufen 2 Stunden, erteilt von Vertretern der Konfessionen oder – nach Wunsch der Eltern – ein von Waldorflehrern erteilter „freier christlicher Religionsunterricht“ x Singen: in allen Klassenstufen eine Stunde x Instrumentalmusik: in allen Klassenstufen 1 bis 2 Stunden, Flöte und Geige in den ersten vier Schuljahren, ab Kl. 5 Orchester für die Fortgeschrittenen x Handarbeit: Kl. 1-10, in den ersten 4 Jahren 2 Stunden, dann eine (in der (8.Kl. 2 Stden) x Buchbinden: Kl. 11 und 12, je 6 Wochen 4 mal 2 Stunden x Handwerk und Gartenbau: Kl. 6-8 abwechselnd 2 Stunden, Kl. 9 und 10 jeweils 2 mal 3 Wochen je 4 mal 2 Stunden; Kl. 11 und 12: Handwerk 2 mal 3 Wochen je 4 mal 2 Stunden x Latein und Griechisch: ab Kl. 5 je 2, Latein ab Kl. 10: 4 Stunden x Feldmessen: Kl. 10: 8 Wochen je 2 mal 2 Stunden x Spinnen: Kl. 10: 4 Wochen je 4 mal 2 Stunden x Technische Mechanik, Technologie: Kl. 10: 1 Stunde, Kl. 11 und 12: 3 Wochen je 4 mal 2 Stunden x Erste Hilfe: Kl. 10: 1 Stunde x Stenographie: Kl. 9 und 10: 1 Stunde Die über 3 bis 8 Wochen laufenden Perioden in Buchbinden, Handwerk usw. (s.o.) werden am Nachmittag durchgeführt. 55 56
von Heydebrand, Caroline: Vom Lehrplan der Freien Waldorfschule, Stuttgart 1962 (Neudruck), S.8 Vgl. ebd. insgesamt und S.52 (tabellarische Übersicht)
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(b) Es handelt sich um einen beeindruckenden, umfassenden, im Ganzen kunstvoll gestalteten Lehrplan, dessen Bezüge zur Lebenswelt und Kultur deutlich sind. Seine anthroposophische Signatur allerdings ist in der Übersicht nicht unmittelbar erkennbar. Erst die Lektüre im Detail bietet hier Aufschluss – und nötigt zur Relativierung der Feststellung, dass hier die Kinder „nur auf andere Art“ lernen. Dazu einige Beispiele: Zu „Turnen und Gymnastik“: „Das Fußballspiel ist den Schülern auf dem Schulgelände verboten; es schädigt die körperliche, seelische und geistige Entwicklung in den Schuljahren“. (Gründe werden hier nicht genannt.)57 Das bedeutet faktisch einen stetigen Kampf des WaldorfPädagogen gegen die rohen Impulse der Jugend auf dem Schulhof! „Schreiben. Aus dem malenden Zeichnen wird das Schreiben entwickelt. Das Kind hat ja zunächst kein Verhältnis zu den abstrakten Buchstabenzeichen. Die Menschheit selber hatte ja nicht sogleich die Buchstaben, sondern diese haben sich aus einer anschaulichen Bilderschrift entwickelt. Stellt man das Kind sogleich vor die konventionelle Schrift, so macht man es frühzeitig greisenhaft.“58 Hinter dieser etwas befremdlichen Formulierung, die gleichzeitig unterstellt, dass herkömmlicher Unterricht zur baldigen Vergreisung des Kindes beiträgt, wird der Gedanke der organischen Entwicklung im Lernen transparent. Das Kind ist von allen zivilisatorischen Produkten fernzuhalten, deren Entwicklung aus den elementaren Anfängen es (noch) nicht nachvollziehen – oder besser: nacherleben und nachempfinden - kann. Mit aus diesem Grunde hat sich Rudolf Steiner auch vehement gegen den Unterrichtsfilm (und gegen Filme überhaupt) ausgesprochen.59 – Der Kampf der Waldorf-Pädagogen gegen das Fernsehen, gegen Videofilme und Videospiele, gegen mechanisches (mitunter motorgetriebenes) Spielzeug, gegen Kunststoffe, gegen elektronisch verstärkte Musik usw. – ein Kampf, der bis in die Elternhäuser hineinreicht – hat im Prinzip des Organischen und Natürlichen seinen Ursprung. (NB: Dieser Kampf betrifft auch die modernen Gewohnheiten der Lebensführung, der Ernährung, der Kleidung, des Konsums – denn die hochentwickelte, mit chemisch verunreinigten Lebensmitteln und Fertigprodukten aller Art „gesegnete“ moderne Zivilisation ist aus anthroposophischer Sicht überaus reich an schädigenden Einflüssen und Versuchungen. Die pädagogische Strategie ist hier nicht auf Aufklärung und kritischen Umgang gerichtet – dazu sind Jugendliche nach der anthroposophischen Entwicklungslehre erst im dritten Lebensjahrsiebt mit dem Erreichen der Geschlechtsreife in der Lage – , sondern auf Vermeidung und Gegenwirkung, Schulung der Eltern, ggf. Verbot und Verteufelung. Es ist u.a. dieser beständige Kampf gegen die luziferischen respektive ahrimanischen Kräfte, der von den Lehrkräften einen außerordentlichen Einsatz verlangt und der mitunter zu Stresssymtomen und zu einer „latenten Militanz“ führt.60) Eine starke moralisierende Tendenz – zur Erinnerung: Ziel der Erziehung ist der hohe Idealist – lässt sich in zahlreichen Lernbereichen feststellen, auch in solchen, die einer moralisierenden Behandlung fern zu stehen scheinen. Die Heimatkunde etwa soll in „phantasievoll-moralischer Wei57
Ebd., S. 9 Ebd., S.12 59 Vgl. Steiner, R.: Die gesunde Entwicklung des Leiblich-Physischen als Grundlage der freien Entfaltung des Seelisch-Geistigen, Dornach 1978, S.357f 60 Vgl.: Barz, Heiner: Zwischen lebendigem Goetheanismus und latenter Militanz? Eine Studie zur Alltagsorientierung von Waldorflehrern, in: Neue Sammlung, 2/1991, Jg. 31, S.227ff. Ders.: Anthroposophie im Spiegel von Wissenschaftstheorie und Lebensweltforschung. Zwischen lebendigem Goetheanismus und latenter Militanz, Weinheim und Basel 1994 (Deutscher Studienverlag) 58
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se“ vorgehen, indem (dem märchenhaften Erleben des Kindes gemäß) „Himmel, Wolken, Sterne, Blumen, Tiere, Steine usw.“ in ihrer „Frömmigkeit, Sanftheit oder Wildheit usw.“ „lebhaft miteinander redend“ vorgestellt werden. Dem Rechnen kommt im Anfangsunterricht eine besondere Bedeutung zu. Denn: „Die Art, wie ein Kind rechnen lernt, bildet das Gehirn des Erwachsenen. Und ob es später zusammenschauend oder atomistisch denkt, hängt sehr viel vom ersten Rechenunterricht ab. Es hat auch eine große moralische Bedeutung, ob ein Kind zunächst eine Anzahl Äpfel verteilend verschenken oder ob es in der Addition zuerst die Äpfel sukzessiv für sich einheimsen lernt. Immer wird ja der Lehrer danach streben, durch den Unterricht zu erziehen und tief bis in Charakter und Temperament hinein zu wirken.“61 In besonderer Weise zeigt sich die anthroposophische Signatur des Unterrichts in der Naturlehre und Naturgeschichte (wie Schreiben, Heimatkunde und Rechnen im Hauptunterricht angesiedelt). Im vierten Schuljahr etwa wird „in künstlerischer und ehrfurchtsvoller Weise ... zunächst in einer elementaren Menschenkunde der Mensch vor das Kind hingestellt und dann die Tierwelt, immer in ihrer besonderen Beziehung zum Menschen. ... Man lehrt dadurch die Kinder die Mannigfaltigkeit der Tierwelt im Menschen zur festen Ordnung und Harmonie vereint empfinden.“62 In der 8. Klasse soll der Schüler „ein Bild des Menschen mit sich nehmen, das ihm den Menschen als Zusammenfassung der Naturreiche, als Mikrokosmos zeigt.“63 Die Zellenlehre in der 11. Klasse „wird so dargestellt, das überall die großen kosmischen Verhältnisse, die sich auch im kleinsten spiegeln, berücksichtigt werden. In den Zellteilungen zum Beispiel wiederholt der Organismus kosmologische Ur-Tatsachen.“64 In der 12. Klasse (das ist die letzte Waldorfklasse) erfolgt eine abschließende Darstellung der Zoologie in der Weise, dass „jedes Tier ... als ein verselbständigtes Organ oder Organglied des Menschen (erscheint), die Tierwelt als der in seine Teile zerspaltene Mensch.“ Es kommt hier auch explizit zum Ausdruck, dass „als Leitfaden durch allen Unterricht“ die Menschenkunde – selbstredend die anthroposophische – geht, womit die Einheitlichkeit und Zusammenschau des Ganzen gewährleistet ist.65 Wird der Unterricht durchgängig in anthroposophischer Weise eingerichtet, kann der Schüler sich am Ende der Schulzeit mit dem Grund identifizieren, auf dem er zunächst weitgehend unbewusst (oft auch den Eltern nicht voll bewusst) 12 Jahre gewandelt ist. „Von Anfang hat das Bild des Menschen dem zugrunde gelegen, was der Lehrer und Erzieher am Kinde getan hat und was er ihn lehren wollte. Was als verborgenes, aber alles bestimmendes Ideal in der Seele des Lehrers lebte, die Verwirklichung des wahren Menschenbildes, das darf am Ende der Schulzeit leuchtend vor der Seele des Schülers stehen. Es ist nun zu seinem eigenen Ideal geworden, in dessen Dienst er sein Leben stellen will, um es zu verwirklichen.“66 – So jedenfalls die Zielvorstellung des Lehrplans. Der Schüler kann seine „Bildungsreise“ und schließlich sein Leben im Rahmen des „anthroposophischen Kosmos’“ mit seinen eigenen Institutionen fortsetzen. Er ist aber auch – das bestätigt sich jährlich vieltausendfach – für ein Leben in der „Außenwelt“ zugerüstet. (c) In historisch-analytischer Perspektive zeigt sich, dass der Lehrplan nicht allein als Ausfluss der anthroposophischen Menschenkunde zu verstehen ist. Ullrich weist nach, dass er implizit auf pädagogische Orientierungen seiner Entstehungszeit und auf Vorstellungen des 19. Jahrhunderts 61
von Heydebrand, a.a.O. S. 13 Ebd., S. 21 63 Ebd., S.32 64 Ebd., S.44 65 Ebd., S.49 66 Ebd., S.47 62
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fußt. Demnach folgt der Lehrplan einem organisch-genetischen Aufbau. Er ergibt sich aus der Vorstellung, dass das einzelne Kind in seiner Entwicklung die Stufen der Menschheit in zeitlich geraffter Form noch einmal durchläuft. Das Kind muss demnach seiner Entwicklung gemäß mit den Stoffen der entsprechenden Kulturstufe der Menschheit konfrontiert werden. Diese Vorstellung geht auf das sogenannte „biogenetische Grundgesetz“ von Ernst Haeckel zurück. Es besagt, dass die Entwicklung des Individuums – die Ontogenese – die geschichtliche Entwicklung der Gattung – die Phylogenese – rekapituliert. Der Pädagoge August Wilhelm Lay und der Herbartianer Tuiskon Ziller übertragen es auf den psychischen respektive kulturellen Bereich und machen es dergestalt zur Grundlage einer Bildungstheorie und Didaktik im Sinne eines Kulturstufenlehrplans. Erinnert sei daran, dass in anthroposophischer Perspektive dieses Gesetz noch erweitert werden muss, so dass von einem „Gesetz“ gesprochen werden könnte, das Kosmogonie sowie biologische und kulturelle Gattungsgeschichte des Menschen mit der individuellen Entwicklung zusammenschließt. – In Bezug auf den Lehrplan hat Grosse diesen Zusammenhang verdeutlicht: „Der anthroposophisch geschulte Lehrer besitzt in den Entwicklungsgedanken der Geisteswissenschaft, die das kosmische Werden eng verbindet mit dem Werden des Menschen, eine feste Grundlage, die es ihm ermöglicht, das geistige Band zwischen allen Bildungsfächern zu erkennen und im Unterricht aufzuzeigen.“67 Und zur Begründung des anthroposophischen Kulturstufenlehrplans sagt Grosse: „Nun könnte man bis ins einzelne zeigen, wie der Lehrplan weiterschreitet, von der Heimatkunde zur Geographie, zur Geologie und Mineralogie, zur Völker- und Himmelskunde. Parallel dazu wird die Mythologie der Germanen und Griechen, die Geschichte der Inder, Perser, Ägypter, Griechen, Römer bis zur Jetztzeit behandelt. Wer würde daran nicht erkennen, dass der Unterricht alles nacherleben lässt im Erwachen des kindlichen Bewusstseins, was die Menschheit als solche hatte durchmachen müssen?“ Abgekürzt könne man sagen: „im zehnten Jahre ist das Kind 'Germane', dann 'Grieche'; dann absolviert es die Wanderung vom Osten bis ans Mittelmeer und wird als Zwölfjähriges ein Römer, im dreizehnten Jahr ein Ritter und Klosterbruder, ein Columbus, der Amerika entdeckt, und zieht als Vierzehnjähriger mit Napoleon nach Russland und ist mit der Geschlechtsreife in seiner eigenen Gegenwart angekommen.“68 Dies ist mehr als bloß metaphorische Rede. Das Kind denkt nämlich nicht nur wie ein Germane, sondern als Germane. So entsteht nach Grosse ein Lehrplan „aus einem Guss“, eine „harmonische Ganzheit“, in dem die verwirrende „Zerrissenheit der weltanschaulichen Grundlagen, wie sie üblicherweise heute besteht“69 zum Nutzen der jungen Menschen keinen Niederschlag findet. Der Lehrplan ist „ein Abdruck der Wesenheit des Menschen“70 und so gleichzeitig – nach dem „kosmo-phylo-ontogenetischen Entwicklungsgesetz“ – ein Spiegelbild des Alls. Ullrich weist in seiner zusammenfassenden Wertung auf die Immunität des Lehrplans gegenüber wissenschaftlichem Denken und gegenüber gesellschaftlichen Veränderungen hin. „Der Waldorflehrplan (ist) heute von seiner Konzeption her ein Anachronismus“. In praxeologischer Hinsicht muss das durchaus nicht als Manko erscheinen. Unter den gleichsam „exterritorialen“ Bedingungen der Waldorfschule könne der Lehrplan trotz seiner theoretischen Defizienz und trotz seines „tendenziell veralteten und undifferenzierten Wissensbestandes“71 aber durchaus praktikable 67
Grosse, Rudolf: Erlebte Pädagogik, Schicksal und Geistesweg, Frankfurt 1984 (zuerst veröffentlicht: 1968), S.229 Ebd., S.231 69 Ebd., S.228f 70 Ebd., S.232 71 Ullrich, a.a.O. (1986), S.133 68
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Handlungsorientierungen bieten. Er beschreibt ein pädagogisches Credo, unter dessen Maßgaben sich ein weitgehend homogenes, im pädagogischen Wollen gleichgerichtetes und dergestalt handlungsfähiges Kollegium bilden kann. Der Lehrplan und die darauf beruhende Praxis gibt der Waldorfschule den Charakter einer eigenen Welt, indem in ihr die Widersprüche der wirklichen Welt – Steiner spricht häufig von der „Außenwelt“ – entfernt (unterdrückt, verdrängt?) sind. Gleichwohl finden sich in der Waldorfschule die auch in anderen Schulen üblichen Fächer, womit ein Zusammenhang mit der „Außenwelt“ gewährleistet ist. Die Lernbereiche werden aber durch die Person des Lehrers in besonderer, das heißt anthroposophischer Weise – und über mehrere Jahre im „Hauptunterricht“ von einer Person (Klassenlehrerprinzip in den ersten 8 Schuljahren) – repräsentiert. In der Person des Lehrers liegt gleichsam der lebendige Mittelpunkt der divergenten Inhalte; er sichert die von den Herbartianern des 19. Jahrhunderts geforderte Konzentration bzw. einen zentralisierenden Zusammenhang. Lediglich die Eurythmie fällt völlig aus dem Rahmen üblicher Lehrplangestaltung. Sie ist als Fach Pflicht über die ganze Schulzeit hinweg und bildet in gewisser Hinsicht den Kristallisationskern der gesamten erzieherischen Anstrengung.
3.5 „Exkurs“ ins Zentrum. Zusammenhänge in anthroposophischer Sicht: Eurythmie, die „schöpferische“ Kraft des Wortes und das „Rätsel der Sexualität“ Das Wort Eurythmie (in nicht-anthroposophischem Zusammenhang: Eurhythmie) ist griechischen Ursprungs. Es bedeutet „das richtige Verhältnis, Ebenmaß“ und in Bezug auf den Tanz „schöne Ausgeglichenheit der (Ausdrucks-)bewegung“, in der Medizin: „Regelmäßigkeit des Pulses“.72 Bei der Eurythmie handelt es sich – vordergründig betrachtet – um eine Bewegungskunst, die den Anschein von Spontaneität, Leichtigkeit und Lebensfreude vermittelt. Tatsächlich ist sie strengen Regeln unterworfen. Sie ist das genau komponierte Ergebnis eines gezielten gestalterischen Willens, will sie doch „den Weltenerscheinungen und ihren Gesetzen“ nachspüren.73 Sie tut dies, indem sie den tieferen, geistigen und gefühlsmäßigen Gehalt von Lauten, Worten, Sätzen schließlich Gedichten und umfangreichen Dichtungen sowie auch von Tönen und Tondichtungen in Bewegung umzusetzen, sichtbar und erlebbar zu machen sucht. Der Eurythmieunterricht beginnt im ersten Schuljahr mit dem Nachlaufen geometrischer und zeichnerischer Formen, dem Nachahmen der „Armbewegungen für die Vokale und Konsonanten“ sowie dem Üben anhand der Rhythmen kleiner Gedichte und Märchenspiele. In der Toneurythmie, die vom Lehrplan eigens behandelt wird, werden Töne und Intervalle als „die ihnen gesetzmäßig entsprechenden Bewegungen“ ausgeführt. Der Schwerpunkt der Ausführungen liegt in den folgenden Schuljahren im Bereich der Spracheurythmie. Bereits in der dritten Klasse – und dann wiederholt in den späteren Stufen und auch in anderen Fachzusammenhängen – werden „Alliterationsübungen“ empfohlen. Es handelt sich um Sprachgebilde mit zahlreichen Konsonant- oder Vokalwiederholungen, die zum lauttreuen und deutlich artikulierten Sprechen des Hochdeutschen anregen und so zum Aufnehmen der den Lauten zugeschriebenen gefühlsmäßigen Gehalte selbst führen sollen. Das bedeutet gleichzei-
72 Dudenredaktion (Hsg.): DUDEN, Das große Wörterbuch der deutschen Sprache, Mannheim u.a.O. 1977, Bd.2, S.763 73 Kiersch, Johannes: Die Waldorfpädagogik - Eine Einführung in die Pädagogik Rudolf Steiners, Stuttgart 1979, S.32
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tig ein Sich-Einstimmen und Einfügen in den Rhythmus des Kosmos’, der sich in den Lauten und den Lautfolgen widerspiegelt. Seinen Abschluss und Höhepunkt findet die Eurythmie in der zwölften Klasse der Mutterschule in der Darstellung von Steiners Dichtung „Zwölf Stimmungen“. „Im Aufbau der Dichtung ist die Bewegung unseres Sonnensystems anschaubar gemacht. Eine Ahnung vom Zusammenspiel des Konsonantismus und Vokalismus im Weltengeschehen, vom Sichtbarwerden der Weltensprache ist in dieser Dichtung dasjenige, was als innere Kraft und Gewissheit in den Seelen der jungen Menschen erwachen kann.“74 Es geht also nicht um eine spontane Bewegung „vom Kinde aus“, nicht um ein freies Darstellen von eigenen Empfindungen. Auch geht es letztlich nicht um eine Form des Ausdrucks, deren man sich bedient. Es ist vielmehr umgekehrt, denn, so Steiner: „Die Eurythmie bedient sich des ganzen Menschen als ihres Ausdrucksmittels.“ Es handelt sich „um eine wirklich sichtbare Sprache oder einen sichtbaren Gesang.“ Freilich ist es dann keine Sprache mehr im üblichen (und im sprachwissenschaftlichen) Sinne; nicht mehr eine Mitteilung von Mensch zu Mensch mit ihren je spezifischen semantischen und konnotativen Gehalten. In der Eurythmie wird das Wort seines konventionellen Sinns entkleidet, um einen verborgenen Hintersinn zu enthüllen, der dann als „gestaltete Bewegungsform des menschlichen Organismus an sich und im Raume ...“75 zur Darstellung gebracht wird. Auf den Inhalt und die Intentionen bezogen heißt das: Die Sprache verliert ihren Weltbezug und in die so geschaffene Leere kann der intendierte Überweltbezug einfließen. Es ist die Weltensprache, die Sprache des Kosmos, deren Vehikel die Form der menschlichen Sprache ist, die hier ihren Ausdruck findet – und am Menschen arbeitet. Dieser Sachverhalt zeigt sich nicht nur in der Eurythmie. Das Wort in seiner Form hat als Werkzeug des Geistes in der gesamten Waldorfpädagogik eine herausragende Stellung. Auf die Alliterationsübungen wurde schon hingewiesen. Durch sie u.a. wird die Willensstärke gefördert. Im frühen (anfangs meist nachahmenden, nicht sinnverstehenden) Sprechen der Fremdsprachen wirkt das Wort bildend auf die Sprechorgane. (Die Rezitationsleistungen in den Fremdsprachen sind bei den Kindern der Waldorfschule immer wieder erstaunlich.) Mit dem deutlich artikulierten Morgenspruch wird jeder Schultag eingeleitet. Jedes Kind trägt seinen (vom Lehrer in erzieherischer, moralischer Absicht ausgesuchten oder selbst verfassten) Zeugnisspruch am Wochentag seines Geburtstages vor. Im Turnen, so vermeldet der Lehrplan für die dritte Klasse, eignen sich gut „gerade im Anschluss an die Eurythmie, vom Lehrer stark rhythmisch gesprochene, von den Kindern geübte Reigen.“76 Die Kinder gehorchen so unwillkürlich dem Befehl des rhythmisch gesprochenen Wortes, das aus dem Munde des Lehrers nichts weiter ist, als der Rhythmus der ganzen Welt. „Der Lehrplan umfasst ausgedehnte gemeinsame Rezitationen zu Beginn eines jeden Hauptunterrichts.“77 Schneider resümiert, nachdem er Steiners Skepsis gegenüber dem Inhaltlichen – insbesondere der Prosa – herausgearbeitet hat: „Entsprechend gilt auch dann für den Unterricht der absolute Vorrang78 der Rezitation vor der Interpretation, die zu vermeiden ist, denn ‘(d)as Interpretieren von Gedichten ist etwas ganz Furchtbares’.“79
74
von Heydebrand, a.a.O. S. 50 Steiner, zitiert nach: Bai, Sönke u.a.: die rudolf steiner schule ruhrgebiet: leben, lehren, lernen in einer waldorfschule, Reinbek bei Hamburg 1976, S.120 76 von Heydebrand, a.a.O. S.19 77 Kirsch, a.a.O. (1979), S.31 78 Im Orig. wohl irrtümlich „Vorgang“ 79 Schneider, Wolfgang: Das Menschenbild der Waldorfpädagogik, Freiburg, Basel, Wien (Herder), S.274 75
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Ohne ein Verständnis dieses anthroposophischen Zusammenhanges bleibt manches in der Eurythmie – und Wesentliches in der Waldorfpädagogik allgemein – unverständlich. So muss eine zentrale Aussage im Lehrplan für die oberen Klassen zunächst befremdlich erscheinen, weil hier ohne hinreichende Vermittlung ein Zusammenhang von Geschlechtsreife und sprachlicher Artikulation des Lehrers hergestellt wird. Hier wird klar, warum die Waldorfschule zwar keine Sexualerziehung im heute üblichen Sinne kennt (was ihr von manchen Kritikern vorgeworfen wird), wohl aber implizit auf die geschlechtliche Reifezeit des Jugendlichen einzuwirken versucht. Über „das Schulkind zur Zeit der Geschlechtsreife“ erfahren wir: „Wenn der Zahnwechsel den Abschluss der Wirksamkeit gewisser plastischer Kräfte im kindlichen Organismus darstellt, so darf man die Geschlechtsreife als den Abschluss der Wirksamkeit gewisser musikalischer Kräfte im Menschen bezeichnen. Der Abschluss äußert sich ja beim Knaben auch durch die Veränderung der Stimme, den Stimmwechsel. Mehr als man heute beachtet wirkt das ausgesprochene Wort des Lehrers, nicht das, was er spricht, sondern wie er spricht, bei der Vorbereitung der Geschlechtsreife mit, und es ist deswegen gerade im Volksschulalter so außerordentlich wichtig, dass die Erziehung der Kinder einen gesunden, musikalisch-lyrischen, sprachlichen Einschlag erhalte. Die Pflege des künstlerisch gestalteten Wortes sollte der Lehrer auch bei sich selbst nie vernachlässigen.“80 In den Nachsätzen ist von der umfassenden Liebe zur Welt und zur Menschheit die Rede, die jetzt im jungen Menschen erwache und „von der die Liebe zum anderen Geschlecht nur ein kleiner Ausschnitt ist.“ In diesen Sätzen kommt eine eigentümliche Distanz zu allem Geschlechtlichen zum Ausdruck, die ihr Korrelat und ihren Grund in Steiners Distanz zum sinnlichen Erleben, mithin zur Lebenswelt schlechthin, findet. Die existentielle Bedeutung der Liebe eines Menschen zu einem anderen wird diminuiert. Sie geht nahezu unter in der Liebe zu „Welt und Menschheit“. Man könnte vielleicht vermuten, dass diese Bedeutung – irgendwie „verhüllt“ – darin wohl zu finden ist. Man wird aber beim Verfolgen der nächsten Spuren in dieser Hinsicht nicht fündig. Wie wir sehen werden, handelt es sich nicht um den Reflex eines prüden Zeitgeistes, sondern hat einen in der Anthroposophie tief verankerten systematischen Grund. Die sprachliche Selbsterziehung des Lehrers – und noch mehr, so muss man annehmen, die eigene sprachliche Artikulation des Schülers – dient also der „Vorbereitung der Geschlechtsreife“. Wie ist das zu verstehen? Wir müssen in der Tat auf die „Menschenerkenntnis“ Steiners zurückgreifen, auf die der Lehrplan einleitend mit Nachdruck verweist. Hier sind zunächst Steiners „Geisteswissenschaftliche Sprachbetrachtungen“ aufschlussreich. Er zeigt, wie die Sprachentwicklung über gewisse Vorstufen, die man noch heute bei primitiven Völkern in Afrika bemerken könne, zu immer höheren Formen geführt wird, „wenn der Mensch mehr sein empfindungsmäßiges innerliches Element in den Lautbeständen offenbart.“81 (Steiners Vorstellung „primitiver“ Sprachen ist homöopoetischen Charakters; d.h.: die Welt wird in der lautlichen Artikulation durch Transformation ihres Klanges nachgebildet. Für Steiner ist die Sprache dann nicht mehr bloßes Zeichen der Verständigung. Vielmehr ist die Welt selbst im Sprachklang präsent.) Die Höherentwicklung wird zwar erkauft mit einem Verlust an Lebendigkeit. „Indem der Mensch sich später verinnerlicht und vergeistigt, geht ihm ja ein Stück von dieser primitiven Lebendigkeit verloren.“82 Der Lohn ist aber eine Stär80
von Heydebrand, a.a.O., S.31 Steiner, R.: Geisteswissenschaftliche Sprachbetrachtungen, Eine Anregung für Erzieher, Sechs Vorträge, gehalten in Stuttgart vom 26. Dezember 1919 bis 3. Januar 1920 für die Lehrer der Freien Waldorfschule, Dornach/Schweiz, 1981 (Rudolf Steiner Verlag), S.73 82 Ebd., S.74 81
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kung des Willens, an dessen Formung bereits auf frühen Stufen der Menscheitsentwicklung – wie in der „Akasha-Chronik“ und in der „Geheimwissenschaft im Umriß“ näher ausgeführt – die „Geister des Willens“ im und am Menschen gearbeitet haben. Der Wille ist letztlich Grundlage jeden gestalterischen, erzieherischen, moralischen Handelns. Unter diesem Aspekt ist nun gerade die deutsche Hochsprache in besonderer Weise vor anderen Sprachen ausgezeichnet. „Unser jetziges Sprechen, namentlich unser hochdeutsches Sprechen, ist eigentlich schon etwas außerordentlich an den Willen Gebundenes. Wir sprechen mit dem Willen und lernen gewohnheitsmäßig den Willen anwenden, indem wir sprechen lernen; ... Im Englischen ist es noch ganz anders, ...“83 In diesem Zusammenhang fordert Steiner nachdrücklich insbesondere die Waldorflehrer unter den Zuhörern zur Selbsterziehung auf und zur Anwendung der Erkenntnisse im Unterricht. Denn es ist jetzt willentlich möglich, etwas von der einst verlorenengegangenen Lebendigkeit, dem Fühlen, zurückzugewinnen, das noch in den Vorstufen der heutigen Sprache lag. „Wir modernen Menschen gehen ja eigentlich ziemlich stark als lebendige Leichname herum, ...“84 Es folgen Andeutungen, wie die seelischen Qualitäten, die ursprünglich in den Lauten lagen, zurückzugewinnen sind. Der moderne Mensch erziehe sich leider nicht dazu „Gleichlautendes auch mit seelisch gleichen Empfindungen zu durchdringen.“85 Aber eben darum geht es! Es geht um die Verlebendigung des modernen Menschen, die Überwindung seiner Gefühllosigkeit, die Steiner am eigenen Leibe oder stellvertretend durch schauende Identifikation mit dem „modernen Menschen“ „ziemlich stark“ empfunden haben muss; und durch rhythmisch artikuliertes Sprechen in der Erziehung – so muss gefolgert werden – kann diese Verlebendigung bereits frühzeitig angebahnt werden. Die Formung des kindlichen Gefühlslebens läuft zunächst über den Willen und das Bewusstsein des Erziehers, dann über den Willen und das Bewusstsein des Jugendlichen selbst. Faktisch heißt das, durch die sprachlautliche, anstrengungsintensive Normierung der Artikulation, die in der Erziehung nur durch ständige Übung und durch den hohen Einsatz des Lehrers erreicht werden kann (durch Vorbild und Autorität), den persönlichen, individuellen Gefühlsausdruck „des kleinen Ich“ zu eliminieren.86 Der sich selbst erziehende Erzieher und der von ihm Erzogene werden so offen für Höheres. Der Kontaktverlust nach innen, der einem solchen nach außen entspricht, macht schließlich offen für das Oben. In die entstandene Leere strömen ich-fremde (in anthroposophischer Sicht: verborgene, in der Sprache geborgene und nun zu bergende ur-eigene, d.h. dem Kosmos und dem Menschen eigene) Gefühle und Stimmungen ein, die als kosmische wahrgenommen werden. Man kann diesen Sachverhalt zugespitzt, seine letzte Konsequenz ins Auge fassend, auf die Formel bringen: Die Identifikation mit dem inneren Nichts bereitet die Identifikation mit dem All vor. Sie wird in pädagogisch-ästhetisch anspruchsvollen Inszenierungen über die Identifikation mit der rhythmischen Form der Sprache, nicht durch die Auseinandersetzung über mögliche Inhalte, erreicht. Das Ich rettet sich auf diese Weise, nun als kosmisch aufgewertetes und umgeformtes, vor dem drohenden Verlust seiner selbst. Der kosmische Kraftstrom kommt im gefälligen Mantel der Kunst einher und füllt die innere Leere. Gefühlt wird jetzt, was man beim „Altardienst“ zu fühlen ver83
Ebd., S.78 Ebd., S.81f 85 Ebd., S.82 86 Vgl. hierzu auch Steiners Interpretation eines Märchens von Goethe bereits aus der Zeit vor seiner esoterischen Wende: „Wer nicht loskommen kann von seinem kleinen Ich, wer nicht imstande ist, das höhere Ich in sich auszubilden, der kann nach Goethes Ansicht nicht zur Vollkommenheit gelangen. Der Mensch muß als einzelner absterben, um als höhere Persönlichkeit wieder aufzuleben ...“, nachzulesen bei: Wehr: a.a.O. (1993), S.154. Wehr zitiert aus: Steiner, R.: Methodische Grundlagen der Anthroposophie. Gesammelte Aufsätze zur Philosophie, Naturwissenschaft, Ästhetik und Seelenkunde - 1887-1901, Dornach 1961 (Steiner Gesamtausgabe 36) 84
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mag. (Ein häufiges, sonst nicht gebrauchtes Wort in der anthroposophischen Literatur lautet: „erkraften“.) Moralische Erziehung ist an den Willen gebunden und über das wie des Sprechens vor allem wird in der Waldorferziehung auf die Entwicklung des Willens eingewirkt. Damit ist der Zusammenhang mit der „Vorbereitung der Geschlechtsreife“ nun insoweit angedeutet, als dem chaotischen Gefühlsleben ein ordnendes Moment entgegengesetzt ist. Der Zusammenhang ist aber noch konkreter zu denken. In seinem Gründungskurs für die Waldorfschule erläutert Steiner die Arbeitsweise des Kehlkopfs. (In der 6. Klasse ist der Kehlkopf u.a. Unterrichtsstoff in Physik.) Und in den überlieferten Worten Steiners sehen – man muss schon sagen: erleben – wir den inneren Kampf, den Steiner ausfechten musste hinsichtlich dessen, was er den künftigen Lehrkräften – es dürfte sich überwiegend um jüngere Frauen gehandelt haben – aus seinen Schauungen mitteilt; denn er weiß und betont dies an vielen Stellen seines Werkes, das vieles davon dem Unvorbereiteten oder Uneingeweihten wie eine unerträgliche Zumutung erscheinen muss. Er ergeht sich in langatmigen, phasenweise geradezu stammelnd vorgetragenen Andeutungen. „Da ist der Kehlkopf da, der ja aus der naiven Sprache heraus sogar Kehlkopf (kursiv im Original) genannt wird. Der Kehlkopf ist ganz und gar ein verkümmertes Haupt des Menschen, ein Kopf, der nicht ganz Kopf werden kann und der daher seine Kopfesnatur auslebt in der menschlichen Sprache. Wenn der Kehlkopf versucht, der oberste Teil des Kopfes zu werden, da kommen diejenigen Laute zum Vorschein, welche deutlich zeigen, dass sie am stärksten von der menschlichen Natur zurückgehalten werden. ... er bringt in der Luft den Versuch, Nase zu werden, in den Nasenlauten hervor. ... Es ist außerordentlich bedeutungsvoll, wie der Mensch, indem er spricht, fortwährend in der Luft den Versuch macht, Stücke von einem Kopf hervorzubringen und wie sich wiederum diese Stücke in welligen Bewegungen fortsetzen, die sich dann an dem leiblich ausgebildeten Kopf stauen. Da haben sie dasjenige, was die menschliche Sprache ist. ... Wir werden zu dem menschlichen Sprechen das richtige Gemütsverhältnis bekommen, wenn wir wissen, dass die Worte, die der Mensch formt, in der Tat veranlagt sind, Haupt zu werden.“87 In diesen Worten kommt schon zum Ausdruck, dass menschliches Sprechen eine Art konkreter Schöpfungsakt ist, vorerst noch ein vom realen Kopf behinderter. So ist der Leser nicht völlig unvorbereitet, dass Steiner, allerdings nur in Andeutungen, im Zusammenhang mit dem Kehlkopf auf das „Rätsel der Sexualität“ eingeht. Man spürt förmlich das innere Drama Steiners, indem er etwas, was ihm zweifellos gegenwärtig ist, und worüber er bereits in der Zeitschrift „Lucifer Gnosis“ (ab 1904) Auskunft gegeben hat, hier nicht ausspricht, nämlich, dass der Kehlkopf des heutigen Menschen die Keime der „Fortpflanzungsorgane“ des zukünftigen in sich trägt; dass also das vom Kehlkopf hervorgebrachte Wort dereinst unmittelbar zeugungsfähig sein wird. In dieser Auskunft erschließt sich der Zusammenhang zwischen Wort, (Selbst-)Zeugung, Geschlechtlichkeit, Höherentwicklung des Menschen und macht auch verständlich, dass „die Liebe zum anderen Geschlecht“ geradezu als eine marginale, in Zukunft – was die „Fortpflanzung“ und damit weitere Entwicklung der Menschheit betrifft – unerhebliche Angelegenheit ist; eine Angelegenheit, um die eine erzieherische Bemühung heute kaum lohnen dürfte. Das Schöpfungswort, das im Anfang bei Gott war, kommt nämlich nach dem Durchschreiten verschiedener Entwicklungsstufen immer näher an den Menschen heran, um schließlich ganz bei ihm zu sein: als schöpferische Verfügungsgewalt über Zeugung, Leben und Tod. Mit einem genaueren Blick in die „Akasha-Chronik“ kann die Frage nach der „Vorbereitung der Geschlechtsreife“ oder nach dem „Rätsel der Sexualität“ weiter aufgehellt werden. Diese „Chro87
Steiner, a.a.O. (1960),S.190f
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nik“ liegt nach Steiner in jedem Menschen, kann aber nur von dem „Geheimwissenschafter“ entziffert werden. Sie liefert ihm Erkenntnisse, die ihm „so sichere Wirklichkeiten sind wie die Gebirge und Flüsse für das sinnliche Auge.“88 Über den zukünftigen Zustand der menschlichen Entwicklung lesen wir in dem Abschnitt „Die Erde und ihre Zukunft“ folgendes: „Von Geburt und Tod in dem gegenwärtigen Sinne kann auf dieser Stufe nicht mehr die Rede sein. ... Wenn nun die Seele so weit ist, dass sie die Einflüsse von der Außenwelt nicht durch die physischen Werkzeuge“, das will heißen: durch die Sinneseindrücke, „empfängt, sondern durch die Bilder, die sie aus eigenem schafft, dann ist sie auf dem Punkte angelangt, ihren Verkehr mit der Umwelt willkürlich zu regeln, das heißt, ihr Leben wird nicht ohne ihren Willen unterbrochen. Sie ist Herr über Leben und Tod geworden.“89 Später im Text wird erläutert, wie das geschehen wird, nämlich indem die Herztätigkeit „ebenso sein werden der Ausdruck des menschlichen Willens, wie gegenwärtig das Aufheben der Hand oder das Vorsetzen des Fußes es ist.“90 Aber den Menschen erwarten noch weitere Stufen, auf deren nächste „er auch über schöpferische Kräfte anderer Welten Herr sein“ wird.91 Und über das Schicksal der „Fortpflanzungsorgane“ – sie gehören zur absteigenden Linie der Entwicklung – lesen wir: „Sie werden ihre Aufgabe in der Zukunft an andere Organe abgeben und selbst zur Bedeutungslosigkeit herabsinken. Es wird eine Zeit kommen, wo sie sich in verkümmertem Zustande am Menschenleib finden werden, und man wird in ihnen dann nur Zeugnisse für die vorzeitliche menschliche Entwickelung zu sehen haben.“92 Dagegen gehören des Menschen „Atmungsorgane, und zwar in ihrer Aufgabe als Sprechwerkzeuge“ einer aufsteigenden Linie an: „Und das letzte Ergebnis in dieser Richtung wird sein, dass er durch seine auf der Höhe ihrer Vollkommenheit angelangten Sprechorgane sich selbst – seinesgleichen – hervorbringen wird. Die Sprechorgane enthalten also in sich gegenwärtig die zukünftigen Fortpflanzungsorgane. Und die Tatsache, dass beim männlichen Individuum in der Zeit der Geschlechtsreife die Mutierung (Stimmveränderung) auftritt, ist eine Folge des geheimnisvollen Zusammenhanges zwischen Sprechwerkzeugen und Fortpflanzungswesen.“93 Es ist daran zu erinnern, dass sich diese Aussagen nicht auf die Gegenwart, sondern auf die Zukunft des Menschen beziehen. Freilich hat „bei den Eingeweihten“, „den Geheimwissenschaftern und ihren Schülern“ nach Steiners Worten diese Entwicklung bereits begonnen. Und insofern die Waldorfschule auf Anthroposophie beruht, ergibt sich die Schlussfolgerung, dass sich auch ihre Schüler schon im Banne dieser Entwicklung befinden. Es zeigt sich, was der behutsam vorgetragene Gedanke einer „Vorbereitung der Geschlechtsreife“ in Wirklichkeit darstellt: den subtilen Versuch ihrer Behinderung. Denn menschlicher Aufstieg geht mit einem Abstieg der Geschlechtsorgane, ihrer Rückentwicklung, einher und Erziehung hat der Entwicklung des Menschen zu dienen. Das „Rätsel der Sexualität“ löst sich im Laufe der menschlichen Entwicklungsgeschichte dann von selbst auf, nämlich dadurch, dass die Sexualität in fernen Zeiten ihren (biologischen und evolutiven) Sinn verliert und die ihr dienlichen Organe verkümmern. Bis dahin bleibt der Erziehung als „Vorbereitung der Geschlechtsreife“ im Einklang mit den kosmisch-menschlichen Entwicklungsgesetzen nur dies zu tun: durch Wort und Rhythmus, vor allem durch Alliterationsübungen und Eurythmie, den Kehlkopf auf seine zukünftige Zeugungsaufgabe vorzubereiten. Worte haben aus Sicht der Anthroposophie schon immer Zeugungscharakter. Sie bezeichnen nicht nur etwas, sondern drücken es (her)aus. Sie verleihen 88
Steiner, a.a.O. (1995) S. 99 Steiner, ebd., S. 156 90 Ebd., S. 228f 91 Ebd., S. 157 92 Ebd., S. 227 93 Ebd., S. 229f 89
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dem Bezeichneten eine „konkrete“ geistige Gestalt bzw. enthüllen diese. Das Wort als solches, nicht sein kommunikativer Sinngehalt, sondern seine lautlich-rhythmische Form, ist in einem „geistigen“ Sinne die Sache selbst. Eine Zwischenbilanz erscheint angebracht. Warum sich die „Eurythmie des ganzen Menschen bedient“ (Steiner) und welche Bedeutung dem Wort dabei zukommt, konnte mit diesen Hinweisen deutlich werden. Ob sie dabei auch in jedem Fall „dem ganzen Menschen“ dient, kann und soll damit nicht entschieden werden. Dass hinsichtlich dieser Frage durchaus Zweifel angemessen erscheinen, geht nicht nur aus den vorherigen Ausführungen hervor. Der immense Erziehungswille, der auch in neueren Verlautbarungen aus dem Umkreis der Waldorfpädagogik zum Ausdruck kommt und die durch keinerlei Selbstzweifel getrübte Anspruchsrhetorik, die auch dort noch anzutreffen ist, wo dem Anschein nach Kritik aufgenommen wird, muss nachdenklich stimmen. Eine kämpferische Geste ist unüberhörbar: „Unabhängig von der Frage, ob die anthropologische Fundierung der Waldorf-Pädagogik ‘richtig’ oder ‘falsch’ oder ob sie wissenschaftlich rekonstruierbar bzw. legitimierbar ist oder nicht – hieran hat sich gerade die jüngere Kritik besonders entzündet – ist beispielhaft, was sie vorführt: die Entschiedenheit und Konsequenz mit der diese Pädagogik ihr Menschenbild ins Feld führt, gestaltet und praktisch umsetzt.“94 Die beiden Autoren des Zitates haben die Frage nach der Wissenschaftlichkeit von Steiners Aussagen für sich positiv entschieden. Sie leiten den Abschnitt „Wissenschaftliche Menschenkunde als ‘Grundlage der Pädagogik’“ mit einem einschlägigen Steinerwort ein und beginnen ihren anschließenden Kommentar mit den Worten: „Für eine solche anthroposophische Menschenkunde rückt das individuelle Wesen des Menschen in den Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses: Die von Steiner als ‘Ich’ des Menschen bezeichnete ewige Entelechie.“ Die eben angedeutete wissenschaftstheoretische Debatte will ich an dieser Stelle nicht fortführen. Mir geht es nur darum, die Ergebnisse der „geisteswissenschaftlichen Forschung“ und ihre konkrete Bedeutung für die Waldorfpädagogik aufzuzeigen. Denn es sind diese Ergebnisse, die von Anthroposophen immer dann verschwiegen werden, wenn zu erwarten ist, dass ihre mögliche Leser- oder erwartete Zuhörerschaft, meist ratsuchende Eltern und die pädagogisch interessierte Öffentlichkeit, für solche Offenbarungen (noch) nicht reif zu sein scheinen. Die Inhalte der Lehre werden statt dessen mit den schützenden Konnotationen von Begriffen wie Individualität des Kindes, Ganzheitlichkeit, „Erziehungskunst als Pädagogik der Freiheit“ sowie „Wissenschaft“ und „Geisteswissenschaft“ umgeben, die in ihrem jetzt gemeinten Sinne zu durchschauen nicht einfach ist. Auch Steiner selbst hat sich mit Rücksicht auf seine Zuhörer und seine Mission bei Vorträgen, nicht in den Schriften, dieser Strategie bedient. So reicht die Unkenntnis über die Hintergründe der Waldorfpädagogik bis in die Schulen selbst hinein, wo besonders in den Fachstunden der oberen Klassen, bedingt durch den Mangel anthroposophisch ausgebildeter Lehrer, häufig Fremdkräfte eingesetzt werden. Für den Klassenlehrer selbst dürfte das in der Regel nicht gelten, denn er wird von der Gesamtkonferenz oder – in den großen Schulen – vom inneren Zirkel der Leitungskonferenz berufen. Trotz des immensen Einsatzes und der Entschiedenheit der Waldorfpädagogik ist nicht damit zu rechnen, dass ihre Konsequenz realiter eine totale ist. Die Waldorfschule ist – trotz aller Konsequenz und Einheitlichkeit – in der Praxis ein heterogenes Handlungsfeld mit zahlreichen Komponenten, deren Wirkungen für sich genommen und in ihrer Gesamtheit nicht auf die Anthroposo94
Gabriel, Wilfried und Schneider, Peter: Die Waldorfschule und ihr internationales Umfeld, in: Röhrs, Hermann und Lenart, Volker (Hsg.): Die Reformpädagogik auf den Kontinenten, Frankfurt am Main u.a.O. (Peter Lang), S.244
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phie allein zurückgeführt werden können. Gleichwohl kann ohne den skizzierten gedanklichen Hintergrund die Waldorfschule in ihrem Selbstverständnis, ihren Möglichkeiten und in ihren Problemen nicht erschlossen werden kann.
3.6 Schule und Unterricht: organisatorische und didaktisch-methodische Momente Die Waldorfschule ist eine zwölfklassige koedukative Einheitsschule. Die Jugendlichen können sich in der Regel in einer 13. Klasse auf das Abitur vorbereiten und es gemäß den jeweiligen behördlichen Regelungen extern oder intern ablegen. An einigen wenigen Schulen besteht die Möglichkeit, eine Doppelqualifikation zu erwerben: neben staatlich anerkannten Schulabschlüssen eine berufliche Ausbildung, z. B. den Gesellenbrief. In einem langen Entwicklungsprozess hat sich z. B. die in Deutschland viel beachtete „Hiberniaschule“ in Wanne-Eickel von einer betrieblichen Lehrwerkstatt zu einer integrierten Gesamtschule entwickelt. Sie führt im 12. Jahr neben der Fachoberschulreife zu einer beruflichen Abschlussprüfung, wahlweise in den Bereichen Metall, Elektro, Holz, Textil oder Pflege. Die Fachoberschulreife berechtigt zur Teilnahme an weiterführenden Bildungsgängen im anschließenden Studienkolleg (zweijährig, Ziel: Abitur), Fachkolleg (einjährig, Fachhochschulreife in den Bereichen Technik und Soziales), Erzieherkolleg (zweijährig mit anschließendem Praxisjahr, Ziel: Erzieher bzw. Erzieherin, Kindergärtnerin).95 – In dieser und in vergleichbaren Schulen werden die Anregungen Steiners und des Waldorf-Lehrplans in den künstlerisch-handwerklichen Bereichen und zur lebenspraktischen Seite hin beispielhaft weitergeführt. Der rechtliche Status der Waldorfschule ist im allgemeinen der einer staatlich anerkannten Privatschule, die – je nach der Gesetzeslage – zu großen Teilen (in den Niederlanden bis zu 100%) aus öffentlichen Mitteln finanziert wird. Vielen Waldorfschulen ist ein dreijähriger Waldorfkindergarten angegliedert. Es bestehen darüber hinaus zahlreiche eigenständige Einrichtungen. „Der Waldorfkindergarten hat die Atmosphäre einer Wohnstube mit mütterlicher Erzieherpersönlichkeit. Leitziele sind die Entfaltung der Sinne durch Nachahmung und die Erfahrung der Gemeinschaftlichkeit im rhythmischen Lebensvollzug. Dazu dienen das tägliche zweistündige Freispiel mit natürlichen Materialien und das besondere Gewicht künstlerischer Gestaltung und naturreligiöser Besinnung.“96 Die interne Organisation kennt keinen Direktor. Nach den Prinzipien einer soziokratischen Gemeinschaft werden alle Angelegenheiten in der wöchentlichen Schulkonferenz einvernehmlich (nicht in Form von Abstimmungen nach demokratischen Prinzipien) geregelt. In größeren Schulen besteht eine Interne Konferenz (Leitungskonferenz), die die wichtigsten Angelegenheiten „von einer höheren Warte aus“ regelt. (Gefahr: Aufbau von latenten Herrschaftsstrukturen) Die Schulkonferenz ist auch ein Ort der Selbstfortbildung der Lehrer. Der Klassenlehrer führt seine Klasse die ersten acht Jahre hindurch und unterrichtet die Kinder epochenweise im Hauptunterricht in den traditionellen Hauptfächern. Dadurch erhält 95 Vgl. dazu: Edding, Friedrich; Matter, Cornelia; Schneider, Peter (Hsg.): Praktisches Lernen in der HiberniaPädagogik. Eine Rudolf-Steiner-Schule entwickelt eine neue Allgemeinbildung, Stuttgart 1985 (Klett-Cotta); ferner: Schneider, P.: Die Hiberniaschule, in: Leber, Stefan: Die Pädagogik der Waldorfschule und ihre Grundlagen, Darmstadt 1983 (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 96 Ullrich, Heiner: Rudolf Steiner und die Waldorfschule, in: Seyfarth-Stubenrauch, Michael u. Skiera, Ehrenhard (Hsg.) Reformpädagogik und Schulreform in Europa, Band 2, Baltmannsweiler 1996 (Schneider Verlag Hohengehren), S.260
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die Autorität des Lehrers, die ihre innere Legitimation in seiner (anthroposophisch orientierten) Menschen-Erkenntnis findet, eine organisatorische Stütze. Erst ab der 9. Klasse gewinnt das Fachlehrersystem eine größere Bedeutung. „Der junge Mensch folgt nun nicht mehr allein der Autorität des Klassenlehrers, der ihn durch die acht Klassen der Volksschulzeit begleitet hat, er empfängt seinen Unterricht von einer Anzahl von Fachlehrern, unter denen er nun selbst seine Helden sich erwählen kann, denen er freiwillig folgt. War ihm vorher das, was der Lehrer schön und hässlich, gut und böse nannte, Gesetz seines Tuns, so schreitet er nun zum Handeln aus Pflichtbewusstsein vor und nähert sich der Stufe der Freiheit, wo Pflicht bedeutet: ‘zu lieben, was man sich selbst befiehlt’.“97 Der Epochenunterricht erstreckt sich über jeweils mehrere, meist vier Wochen mit täglich zwei Stunden (d.h. in der Waldorfschule von Montag bis Samstag). Ein Fach oder ein Themenbereich steht so über längere Zeit im Mittelpunkt, was eine intensivere Sachbegegnung ermöglicht. (Der Epochenunterricht ist in seiner Struktur mit dem Gesamtunterricht der Grundschule zu vergleichen, in dem ein Thema über längere Zeit in den Mittelpunkt des gesamten Unterrichts gestellt wird.) Wichtigstes Hilfsmittel beim Lernen sind die Epochenhefte. Sie werden von den Schülern selbst angefertigt und ästhetisch ansprechend ausgestaltet. „Die Texte werden bis zur 8. Klasse in der Regel vom Lehrer diktiert oder in der Klasse gemeinsam erarbeitet. Die Illustrationen sind ganz das Werk der Kinder, höchstens dass der Lehrer Skizzen und Motive an der Tafel andeutet.“98 Vorgefertigte Lehrbücher werden im allgemeinen im Epochenunterricht nicht verwendet. Sie stehen, weil sie fertiges Wissen präsentieren, dem Prinzip einer genetischorganischen Aneignung des Lehrstoffes entgegen. Die Waldorfschule kennt keine Noten, keine Notenzeugnisse und kein „Sitzenbleiben“. Die Klassen bleiben im Prinzip über 12 Jahre zusammen. Statt des Notenzeugnisses wird eine verbale Charakteristik erstellt, die dem Schüler ein Spiegel seiner Leistung und seines Charakters sowie Anreiz zum Weiterlernen sein soll. Die Waldorfschule fühlt sich dem Gedanken einer ganzheitlichen Erziehung verpflichtet. Ihm verleiht sie auf dem Hintergrund ihres Welt- und Menschenbildes ein eigenes Gepräge. Sie erreicht dies durch eine „tendenzielle Gleichgewichtung von kognitiven, künsterisch-affektiven und technisch-praktischen Aktivitäten in Unterricht und Schulleben...“99 Dem Gedanken der Rhythmisierung kommt in der Organisation, im Schulleben und im Unterricht eine alles durchherrschende Bedeutung zu. In ihm manifestieren sich in pädagogischer Wendung die rhythmischen Verläufe in der Welten- und Menschenentwicklung. „Im Jahreslauf wird der Beginn der vier Jahreszeiten im Einklang mit dem christlichen Kirchenjahr mit besonderen Festen akzentuiert, auf die mit den entsprechenden Legenden im Unterricht vorbereitet wird. Dem Monat entsprechende Rhythmen entstehen durch die stoffliche Gliederung des Hauptunterrichts in vierwöchige Epochen und durch die Monatsfeiern, in denen die Schüler vor der gesamten Schulöffentlichkeit Ergebnisse des Unterrichts darbieten. Der Wochenrhythmus entsteht u.a. durch die Wiederkehr der Rezitation des Zeugnisspruchs; jedes Kind der Unterstufe (1.-8. Jahr) muss zum morgendlichen Unterrichtsbeginn an dem Wochentag, an dem es geboren ist, den ihm vom Klassenlehrer im Zeugnis gewidmeten Spruch vor der Klasse rezitieren; außerdem ist Malen stets am Samstag, die Lehrerkonferenz am Donnerstag nachmittag und abend. Der Rhythmus des einzelnen Tages entsteht dadurch, dass täglich nacheinander die mehr wissensori97
von Heydebrand, a.a.O. (1962), S. 35 Carlgren, Frans: Erziehung zur Freiheit. Die Pädagogik Rudolf Steiners. Berichte aus der internationalen Waldorfschulbewegung, Frankfurt am Main 1981 (Fischer TB), S.93 99 Ullrich, a.a.O. (1996), S.260 98
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entierten Fächer vor den künstlerischen und praktischen Tätigkeiten unterrichtet werden sollen. Jede Stunde des Unterrichts ist in der Regel so aufgebaut, dass in einer rhythmischen Phase der Wille, im mittleren Teil das Gefühl und in einem ruhigen Abschluss das Denken des Kindes angesprochen wird.“100 Die Eurythmie schließlich ist der höchste Ausdruck des rhythmischen Gedankens, weil in ihr der Rhythmus des Kosmos’, die „Weltengesetze“ selbst, unmittelbar zur Anschauung gelangt. – Auch das Äußere der Schule ist in diesen Rhythmus eingebunden. Die Architektur ist Abbild organischer Prozesse und Metamorphosen, die Farbgebung der einzelnen Klassenzimmer reflektiert die Entwicklung des Kindes auf ihrer jeweiligen Stufe. In die entwicklungsgemäßen Farben sollen die Kinder sich „einleben“. Sie haben eine hohe spirituelle, ins Übersinnliche reichende Bedeutung. Durch ihr Wirken und die angeleitete Beschäftigung mit ihr erfahren die Kinder heilsame Einflüsse.101 In der Waldorfschule wird, wie Ullrich feststellt, „tendenziell nichts dem Zufall überlassen“.102 Ihr spezifischer Erziehungsgedanke, ihr Menschen- und Weltbild wird in dieser Schule zweifellos mit einer Konsequenz in die Praxis umgesetzt, wie sie sonst nirgends zu finden ist.
3.7 Der pädagogische „Zeit-Raum“ der Waldorfschule Das Kind, der Schüler, gerät mit seinem Eintritt in die Waldorfschule in einen Raum besonderer Wirksamkeit, dessen wesentliche Momente nur aus der Kenntnis der charakteristischen Merkmale und ihres theoretischen Hintergrundes verständlich werden können. Es handelt sich um ein rhythmisch durchwirktes Geschehen und einen Raum, in dem dem Schüler – anfangs sicher unbewusst – „auf Schritt und Tritt“ ein besonderer Geist begegnet, geboren aus einem Gestaltungswillen kosmischen Ursprungs und kosmologischen Zuschnitts. Der Lehrer und seine Schüler sind eingebunden in ein Geschehen, das pädagogisch nachvollziehend und gestaltend ihre schicksalsmäßig gegebene karmische Verbundenheit ausmacht. Entspricht das Arrangement den Bedürfnissen des Schülers oder übersteigt es wenigstens nicht seine Toleranzgrenzen, wird er davon profitieren. Wenn nicht, sind Konflikte vorprogrammiert, die mitunter bis zur Auflösung des Schulvertrages führen.103 – Der folgende Bericht gibt aus der Sicht eines Schülers einen Einblick in den Alltag einer Berliner Waldorfschule: „1.-4. Klasse (jeden Morgen): In die Klasse gehen, hinter die Stühle stellen, Schweigemantel machen (Arme verschränken und mit den Händen auf die eigenen Schultern fassen). Morgenspruch (in Gedichtsform, gebetsartig). Dann die Begrüßung: ‚Guten Morgen lieber Herr/liebe Frau ...‘ Hauptunterricht: 15 - ca. 35 Minuten Sprachübungen. Danach den Rest der 2. Stunde die Epoche, die gerade durchgenommen wurde. Tischgebet, 15 100
Ebd., S.261f Vgl. Carlgren, a.a.O. (1981), S.102ff und die weit ins Mystische hineinragende Farbenlehre Steiners. Steiner, R.: Rudolf Steiners Farbenlehre, 3 Bände: Das Wesen der Farben (1929); Das Wesen der Farbe in Licht und Finsternis, Mass, Zahl und Gewicht (1930); Die schöpferische Welt der Farbe (1931), alle 3 Bände: Dornach/Schweiz (Philosophisch-anthroposophischer Verlag) 102 Ullrich, a.a.O. (1996), S.261 103 Beckmannshagen berichtet von seinen Erfahrungen bezüglich betroffener Eltern und Kinder: Beckmannshagen, Fritz: Rudolf Steiner und die Waldorfschulen. Eine psychologisch-kritische Studie, Wuppertal 1984 (Paul-Hans Sievers). Inzwischen gibt es in zahlreichen deutschen Großstädten Beratungseinrichtungen und Selbsthilfegruppen für „waldorfgeschädigte Eltern und Kinder“; vgl. dazu: Kayser, Martina und Wagemann, Paul-Albert: Wie frei ist die Waldorfschule. Geschichte und Praxis einer pädagogischen Utopie, München 1996 (Heyne) 101
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Minuten Pause. Danach zwei Stunden: 1. Fremdsprache oder Russisch/Französisch. Fachunterricht, z.B. Handarbeit, Musik, Leiern usw. Meistens 4 Stunden.“ Ähnliches gilt für die 5. Und 6. Klasse. „Manche Schüler werden im Hauptunterricht regelmäßig zur Heileurythmie geholt. (Weil sie angeblich von Zappelei, Frechheiten usw. geheilt werden sollten.) Ich hatte in 6 Jahren 4 x Heileurythmie. 4 x in der Woche, jeden Morgen.“104 Es handelt sich um einen distanzierten Bericht. Bezüglich der vorherrschenden Unterrichtsmethoden merkt ein ehemaliger Fachlehrer einer Waldorfschule kritisch an – und das dürfte wegen der konzeptionell bedingten außerordentlich dominanten Rolle des Lehrers nicht verwunderlich sein – , dass meist Frontalunterricht herrscht in Form von „Vortragen und Nachsprechen“ während sich Gruppenunterricht oder individualisierende Arbeitsformen, wie sie heute bei fortschrittlichen Kollegen in den Staatsschulen häufig anzutreffen sind, kaum finden.105 Insgesamt dürfte es plausibel erscheinen, dass diese pädagogische Welt, die „nichts dem Zufall überlässt“ in ihrem Äußeren und in ihren Abläufen und gerade auch in den ihr eingeschriebenen autoritativen Momenten einen Raum der Geborgenheit und der erzieherischen Sorgfalt bieten kann, die in der staatlichen Schule häufig nicht (mehr) möglich ist.
4 Zur Beurteilung der Waldorfpädagogik In den letzten Jahren haben sich um die Waldorfschule und die sie begründende Anthroposophie erbitterte Kontroversen vollzogen106. Dabei ist nicht nur der theoretische Hintergrund, sondern zunehmend auch die Praxis in den Fokus einer nicht immer sachlich geführten Kritik geraten. Ein immerwährendes Ärgernis für den distanzierten Betrachter wird der unmäßige Wahrheitsanspuch Rudolf Steiners bleiben, ein Anspruch, dem in den Kreisen seiner Anhänger vorbehaltloses Vertrauen entgegengebracht wird. Die von ihm begründete „Erziehungskunst“ schöpft aus der Quelle „echte(r) geisteswissenschaftlicher Gesinnung“. Sie schließt als übersinnlich fundierte und empfangene eine kritische Distanz auf Seiten der Nachfolger aus. Aus der Perspektive dieser Gesinnung erscheinen andere Erziehungsversuche nur als ein vergebliches Tasten im Dunkeln. Steiner 1907: „Alle Erziehungskunst, alle Pädagogik ist dürr und tot, die nicht aus solcher Wurzel immer wieder frische Säfte zugeführt erhält. Die Geisteswissenschaft hat für alle Weltgeheimnisse die zutreffenden Gleichnisse, die aus dem Wesen der Dinge genommenen Bilder, die nicht erst der Mensch schafft, sondern die von den Kräften der Welt selbst beim Schaffen zugrundegelegt werden. Deshalb muss die Geisteswissenschaft die lebensvolle Grundlage aller Erziehungskunst
104
Zitiert nach: Kayser/Wagemann, a.a.O. (1996), S.106; von mir gekürzt wiedergegeben. Wagemann, in: ebd., S.105f 106 Ich verweise auf die Arbeiten von Wolfgang Schneider, Prange, Beckmannshagen, Hansmann, Kayser/Wagemann, in denen aus philosophisch-anthropologischer, erziehungstheoretischer, psychologischer, erkenntnistheoretischer und/oder pragmatischer Perspektive Kritik an der Waldorfpädagogik und an ihrem anthroposophischen Hintergrund geübt wird. (Bei W. Schneider ist in den Anmerkungen eine instruktive Auseinandersetzung und Wertung von einigen der hier genannten und von weiteren Kritikern zu finden.) Anders ist die Arbeit von Treher (1963) ausgerichtet. Er beschäftigt sich nicht mit der philosophischen usw. Möglichkeit der Anthroposophie, sondern rückt Steiners Verlautbarungen in eine psychoanalytische Perspektive. Seine Grundthese besagt kurzgefasst folgendes: Steiners Weltbild ist die Spiegelung (Projektion) einer vielfältig gespaltenen Seele. Treher vermutet den Anfang dieses Prozesses in dem Zeitpunkt, der in der biographischen Literatur als Steiners „esoterische Wende“ diskutiert wird. Treher, Wolfgang: Hitler, Steiner, Schreber - Ein Beitrag zur Phänomenologie des kranken Geistes, Emmendingen 1963 105
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sein.“107 Das ist weltanschaulicher Totalitarismus in reinster Form. Er hat die Tendenz, alles und jeden in seinen Bann zu ziehen und Kritiker abzuwehren. Er kennt, solange die Mission noch nicht erfüllt ist, Aufgeschlossenheit für anderes nur als Bereitschaft, andere Quellen dem eigenen Denken anzuverwandeln oder als Strategie einer allmählichen Vereinnahmung. Dabei geben die zahlreichen Erfolge auf lebenspraktischem Gebiet der totalitären Weltanschauung als Ganzes den verführerischen Anschein einer wahren und umfassenden Deutung des Lebens und der „Weltgeheimnisse“. Darin liegt ihr Faszinosum, das sich in einer wertheterogenen, partikularen Welt eher noch erhöhen denn abschwächen wird. Die Zumutung der Aufklärung „Sapere aude!“ (Kant), sich des eigenen Verstandes bedienen zu sollen, wird durch das Angebot einer totalitären Metaphysik zurückgenommen. In ihr liegen ja bereits „keimhaft“ die Antworten aller in Zukunft möglichen Fragen. Alle tragenden Begriffe der Anthroposophie und der Waldorfpädagogik verdienten eine eingehendere Analyse.108 Die „Person“ als Inbegriff einer einmaligen Individualität mit ihren existentiell gegebenen Möglichkeiten und Grenzen wird in der Anthroposophie aufgehoben. Der Mensch hat nicht mehr in den Grenzen von Geburt und Tod sein Leben zu führen und Entscheidungen zu treffen. In der Anthroposophie sind die Grenzen als solche zum Verschwinden gebracht worden; sie markieren nur noch Übergänge. Der Tod ist der Eintritt in ein höheres postmortales geistiges Leben, das zugleich ein pränatales ist. Der Horizont der Handlung ist ins Unendliche aufgeweitet und so als möglicher Horizont des Handelns überhaupt verschwunden. Die „Ganzheit“ der Person zerfällt in verschiedene Teile („Leiber“), die je einen eigenen Ursprungsort haben und die im Inneren des Menschen zudem noch gegeneinander kämpfen („Veredelung“). Und in der Erziehung wie in der Selbsterziehung „arbeitet“ der jeweils höhere an der Entwicklung des niederen Leibes. Die Integrität der Person ist letztlich nur in bewusster, willentlicher Anstrengung zu erreichen. Das ist eigentlich eine unlösbare Aufgabe. Durch das „Ich“ werden die „Leiber“ auf einer entwickelten Stufe des Bewusstseins zwar integriert und erhöht, aber doch nicht so weitgehend, dass sie wirklich zusammenhielten. Zudem hat das „Ich“ in diesem Prozess noch die Hypotheken oder Guthaben aus seinem Vorleben einzubringen, denn es ist ja nur vorübergehend Gast in seinem Leibe, dort eingekehrt zu Beginn der dritten Woche nach der leiblichen Zeugung. Die höheren Glieder reichen über die jeweils niederen hinaus. Im Schlaf verlassen einige der „Leiber“ den Körper zum Aufenthalt in anderen Welten und im Tode stirbt der Mensch nicht, sondern die Leiber trennen sich so, wie sie phylo- und ontogenetisch zusammengekommen waren. Sie fügen sich unter neuen Bedingungen in die kosmische Entwicklung ein. In einer fernen Zukunft der Menschheitsentwicklung werden sie Anteil haben an der dann dem Menschen gegebenen umfassenden Herrschaft „auch über schöpferische Kräfte anderer Welten“. Das Verschwinden des Grundes einer rationalen, a priori und empirisch immer begrenzten Erkenntnis trägt in sich die Phantasie zur Allmacht, die gegenwärtig vom Seher bereits als erhabenes Gefühl epistemologischer Grenzenlosigkeit erlebt werden kann. Das „Schweifwedeln vor der Wissenschaft“ (Steiner) mit ihren methodologischen Vorbehalten und Zweifeln und mit der Langsamkeit ihres Vorgehens kann so ein Ende nehmen. Dabei bedient sich die Konstruktion des „geisteswissenschaftlichen“ Wissens in ihren fundamentalen Aussagen einer eigentümlichen Methode: Reale Prozesse und UrsacheWirkungsbeziehungen erfahren eine Umkehrung, so dass die angenommenen alles bewirkenden geistigen Ursachen aufgedeckt werden können. Mit der im „geistigen Schauen“ ergriffenen letz107 108
Steiner, a.a.O. (1973), S. 31 Besonders empfehlenswert dazu die Arbeit von Wolfgang Schneider
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ten (geistig-seelischen) Ursache der letzten (im Hier und Jetzt real-sinnlich beobachtbaren) Einzelwirkung ist zugleich der Eintritt in die geistige Welt gegeben. In ihr sind die (geistigen) Ursachen aller vergangenen und zukünftig möglichen realen Wirkungen und Entwicklungen, mithin des Kosmos’ im Ganzen, versammelt. Die geistige Welt ist also die Versammlung aller Ursachen; das ist die „Akasha-Chronik“ des Sehers. Steiner: „Alles Physische und Materielle findet seine Erklärung durch das Geistige.“109 So werden im geistigen Schauen reale (z.B. naturwissenschaftlich fassbare) Wirkungen zu deren Ursachen (erinnert sei an die das Herz bewegende Pulsationskraft des Blutes, die ihrerseits höheren seelischen Einflüssen unterliegt) bzw. reale Ursachen werden zu deren Wirkungen (das Herz wird durch die Pulsationskraft des Blutes gebildet) und in einem fortgeschrittenen Entwicklungsstadium fast der Mensch den allwaltenden Geist selbst am Schopf und unterstellt ihn seinem Willen. An diese Richtung ist zu denken, wenn Steiner gelegentlich auch die Entwicklung einer geisteswissenschaftlichen Physik und Chemie oder einer geisteswissenschaftlichen Naturwissenschaft überhaupt fordert. Denn nichts geschieht als Entwicklung aus eigener Kraft, eigenem Antrieb, eigener Bestimmung, nach dem eigenen in sich liegenden und im zeitlich-räumlich begrenzten Dasein zu realisierenden Bild (Aristoteles’ Entelechiebegriff); alle Entwicklung bedarf der Einwirkung eines bereits höher entwickelten (d.h.: dem Geistigen jeweils näherstehenden) „Wesens“ auf das niedere Wesen respektive Wesensglied. So hängt der Mensch und mit ihm alles Seiende an den seidenen Fäden höherer – guter wie böser, göttlicher wie luciferischer – Wesen, mit denen er zu ringen hat. (NB: Ringen ist im Lehrplan der Mutterschule in der 8. und allen oberen Klassen vorgesehen.) Ihrerseits unterliegen die höheren Wesen den Wirkungen noch höherer Wesen. Entwicklung bedeutet das Hinaufarbeiten oder Heraufziehen alles Seienden durch das in ihm und von außen wirkende Geistige zu diesem selbigen Geistigen. – Erziehung steht im Dienst dieser Entwicklung. Im „Lichte“ der Anthroposophie erhalten alle Begriffe der Steinerschen Erziehungslehre und damit der Waldorfpädagogik eine eigentümliche Beugung. Das gilt für „Freiheit“, „Liebe“, „Empfindung“, „Individualität“, „Charakter“ ebenso wie für „Erziehungskunst“, „Rhythmus“, „Naturlehre“, „Kunst“ und alle Lernbereiche.110 Die dargelegte kritische Sicht scheint ein ablehnendes Urteil gegenüber der Praxis der Waldorfschule nahezulegen. Das ist nicht notwendigerweise folgerichtig. Man kann die Ergebnisse der Alchimie durchaus im Einzelnen würdigen (Beispiel: die Erfindung des Porzellans), ohne von ihren theoretischen Prämissen oder der Zweckmäßigkeit ihres Vorgehens im Ganzen überzeugt zu sein. – Indem die Waldorfpädagogik ihr Menschenbild „konsequent“ in die Praxis umsetzt, weist sie in ihrem Vorgehen und in ihren Resultaten durchaus auf Desiderate der „modernen“ Pädagogik hin. Im Hinblick auf ihre Gestaltungen wäre zu fragen nach: x der Bedeutung von Autorität im Prozess der Erziehung; x dem Wert eines kontinuierlichen Bildungsprozesses (kein „Sitzenbleiben“); x dem Sinn verlässlicher Wertorientierungen und Strukturen; x dem Wert einer ästhetischen Durchdringung der Schule und des Schullebens und eines künstlerisch reichen Schullebens; x den Möglichkeiten einer „ganzheitlichen“ Bildung in dem Sinne, dass Tun, Denken und Handeln, berufs- und allgemeinbildende Anteile, in einer neuen Synthese aufgehoben und aufeinander bezogen werden können; 109 110
Steiner, a.a.O. (1995), S.232 Zur Kritik aus erziehungswissenschaftlicher Sicht vgl. insbesondere die Arbeiten von Prange und Ullrich
266 Reformpädagogik
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den Möglichkeiten, die für jedes Kind notwendigen kognitiven Integrationsleistungen organisatorisch, institutionell, methodisch (Beispiel: Epochenunterricht) und personell (Beispiel: Klassenlehrer) besser zu unterstützen; dem Sinn von erzieherischen Ritualen und von einer rhythmischen Gliederung des Unterrichts wie des Schullebens in seinem Ablauf; der Bedeutung eines weltanschaulich oder zumindest in pädagogischen Grundfragen (weitgehend) homogenen Kollegiums.
Auf diese und viele andere Fragen kann die Waldorfpädagogik aus ihrer Sicht antworten und manche Fragen rücken auf der Folie ihrer Gestaltungen deutlich als allgemein notwendige ins Bewusstsein. Inwieweit ihre Antworten Anregungen bieten können für einen erzieherischen Kontext, der nicht im Horizont ihrer theoretischen Begründung und ihres eigenen Kosmos‘ liegt, muss im Einzelnen geprüft werden. Die Pädagogik der Waldorfschule ist eine solche Bemühung auch in pragmatischer Hinsicht in jedem Falle wert.
5 Waldorf-Pädagogik im systematischen Überblick
Aspekte Gründerpersönlichkeit Biographie
Begriffliche bzw. inhaltliche Bestimmungen
Rudolf Steiner (1861-1925) Kind einer österreichischen Eisenbahnerfamilie, Kindheit in ärmlichen Verhältnissen, Studium in Wien: Mathematik, Physik, Literatur u.a., Mitarbeit an Goethe-Ausgabe, Redakteur, Hauslehrer, Lehrer an einer Arbeiterbildungsschule, seit 1902 bis 1913 Vorsitzender der deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft, immense schriftstellerische- und Vortragstätigkeit in seiner Mission als Erneuerer des geistigen und kulturellen Lebens, Geistiger Vater der anthroposophischen Bewegung und der 1919 gegründeten Waldorfschule. Weltanschauung/Anthro- Anthroposophie: Mensch ist Spiegelbild des Kosmos und entwickelt pologie sich gleichgerichtet mit diesem in einer vorherbestimmten Stufenfolge in Richtung Vergeistigung; er kann durch „geistiges Schauen“ unmittelbaren Zugang zu den „höheren Welten“ gewinnen. Glaube an Karma (Schicksalsgesetz) und Reinkarnation (Wiedergeburt). Idee der Dreigliederung der Gesellschaft: Unabhängigkeit der rechtlich-politischen, wirtschaftlichen und geistigen Welt. Einflüsse Deutscher Idealismus, Klassik, insbesondere Goethe, antike Weisheitslehren, Theosophie, Gnosis, deutsche Mystik, Rosenkreuzer u.a.; in der Schulpädagogik: Deutsche Reformpädagogik, Arbeitsschule, Kunsterziehungsbewegung, Lebensgemeinschaftsschulen. Erziehungsziel Anfangs durch den Erzieher geleitete dann mehr und mehr selbst bewusste Eingliederung in das kosmische Entwicklungsgeschehen und Mitwirkung daran; Erwerb von Lebenstüchtigkeit für das konkrete Leben in der „äußeren“ Welt.
Waldorf-Pädagogik 267
Kind-Anthropologie/ Entwicklungslehre
Lernbegriff(e)
Erziehungsbegriff Lehrer/Erzieher(in)
Lehrplan
Methodisch-didaktische und Organisatorische Momente
Neuere Entwicklungen
Der Mensch besteht aus 4 „Leibern“, die sich im Siebenjahresrhythmus entfalten. Er steht durch diese mit allen Wesen und mit dem Kosmos insgesamt in Verbindung: Mit der 1. mineralischen- 2. Pflanzen- 3. Tierwelt u. 4. dem Geist durch den: 1. Physischen, 2. Äther-, 3. Astral-, 4. Ich-„Leib“. Die Individualität des Kindes ergibt sich aus der „Mischung“ der 4 Temperamente: cholerisches, sanguinisches, melancholisches, phlegmatisches. Lernen geschieht entsprechend der Leibesentfaltung vor allem durch: 1. Nachahmung, 2. Nachfolge, 3. Sachliches 4. Selbsterziehung, Prüfen/Denken, durch das „Ich“. Einwirkung durch das jeweils höhere „Wesensglied“ auf das niedere; Berücksichtigung der Temperamente – Ziel: ihre Harmonisierung. Wirkt durch Gestaltung der Umgebung und durch seine Person, ferner durch die künstlerisch-souveräne Handhabung der Temperamente durch: 1. Vorbild, 2. Autorität, 3. Sachlichen (4.Jahrsiebt: Zeit der Unterricht, Berufsbildung o.ä.) Alle üblichen Fächer in spezifischer anthroposophischer Orientierung; künstlerische Ausgestaltung allen Unterrichts; früher Beginn (ab Kl. 1) des Fremdsprachen- und Instrumentalunterrichts; Betonung der Handarbeit und des praktischen Lernens, u.a. durch verschiedene Praktika in den oberen Klassen; Eurythmie für alle 12 Klassen. Prinzipien: Kulturstufenlehrplan als Entwicklungsstufenlehrplan; Konzentration, d.h. zusammenhängendes Lehren und Lernen durch Klassenlehrerprinzip und Hauptunterricht. Hauptunterricht: Unterricht in den Hauptfächern in Form ca. 4wöchiger Epochen; (fast) keine Lehrbücher, Schüler stellen selbst Epochenhefte her. Bei allem Betonung des organisch-genetischen Lernens: z.B. vom Korn zum Brot, vom Baum zum Werkstück aus Holz usw. Klassenlehrersystem in der Unterstufe (bis 8. Klasse), dann mehr Fachlehrer. Rhythmische Gestaltung des Schullebens und des Unterrichts: Feste im Rhythmus des Jahres, Monatsfeiern, zahlreiche den Unterricht strukturierende Rituale; Schulchor und -orchester. Starke Elternmitarbeit (nicht im eigentlichen Unterricht). Keine Noten und Notenzeugnisse, statt dessen: Wortzeugnisse u.a. mit Zeugnisspruch; kein „Sitzenbleiben“; enge Zusammenarbeit mit einem Schularzt. Entwicklung von Bildungskonzepten zur Integration allgemeiner und beruflicher Bildung; Konzepte zur ökologischen Erziehung.
Dalton-Plan-Pädagogik 269
Kapitel 8
Die Dalton-Plan-Schule: Erziehung durch selbstverantwortliches Lernen für eine demokratische Gesellschaft 1 Einführung: Der Daltonplan. Pädagogische Grundfragen, organisatorische Momente, internationale Rezeption (a) Grundfragen. Wie kann ich als Lehrer den Unterricht so einrichten, dass er auf die individuellen Voraussetzungen des Kindes und Jugendlichen hinreichend Rücksicht nimmt? Hinter dieser unscheinbaren Frage verbirgt sich eines der gravierendsten Probleme der Schule. „Gelöst“ wird das Problem in der „alten Schule“ durch die Berücksichtigung des mittleren Leistungsniveaus der Klasse. Der Unterricht zielt auf den „Durchschnittsschüler“ und erreicht auf diese Weise auch jene Schüler, die wenig von diesem Mittelmaß abweichen. Durch differenzierende Maßnahmen kann der Kreis der angesprochenen Schüler erweitert werden. Im lehrerzentrierten Frontalunterricht wird sich das Problem freilich nicht völlig lösen lassen. Es wird in der Regel Schüler geben, die unterfordert, andere die überfordert sind – mit den bekannten Folgen von Langeweile und Verdruss. Die Schüler dennoch „bei der Stange zu halten“, wenn nötig mit disziplinarischen Mitteln, gehört zu den unangenehmen Daueraufgaben des Lehrers. Wie der Begriff „Frontalunterricht“ bereits signalisiert, bedeutet das einen permanenten Kampf mit dem Ziel, die Kluft zwischen Sollen des Schülern und seinem mangelnden Wollen oder Können zu überbrücken. Die US-Amerikanerin Helen Parkhurst (1886-1973), die Begründerin des Daltonplans, hat dieses Dilemma in ihrem Buch „Education on the Daltonplan“ prägnant zum Ausdruck gebracht: „Fünf Schüler können genauso wenig zusammengehalten werden, wie vierzig, und je eher die Lehrer diese Illusion, die in ihren Köpfen spukt, aufgeben, umso besser für die Schule. Zusammenhalten bedeutet Zwang, und die wichtigste Absicht des Daltonplans besteht darin, Zwang in jeder Form aufzuheben. Der Plan fast die Befreiung des Lehrers ebenso ins Auge wie die Befreiung des Kindes.“1 Damit ist bereits eine umfassendere schulpädagogische Perspektive angedeutet: Über die Befreiung von (unnötigem) Zwang sollen die Arbeits- und Lebensverhältnisse in der Schule insgesamt grundlegend erneuert werden. Auch ein Problem wird sichtbar, auf das aus der Perspektive eines hypertrophen Gemeinschaftsdenkens2 vor allem die zeitgenössische deutsche Kritik hingewiesen hat: dass nämlich die Gemeinschaftserziehung zu kurz käme. Indessen entgegnen die Befürworter des Plans, dass sowohl in den „Dalton-Stunden“ wie auch im übrigen Schulleben zahlreiche Gelegenheiten zur gemeinschaftlichen Aktion und zur Entwicklung sozialer Fähigkeiten gegeben sind. Neben „Freiheit“ ist „Kooperation“ eines der Prinzipien des Daltonplans. Auch der Daltonplan steht in der Reihe jener Schulkritiker, die eine Überwindung der „Alten Schule“ anstreben. Zur Illustration zitiere ich eine Aussage des führenden Vertreters der englischen Dalton-Plan-Bewegung in den zwanziger und dreißiger Jahren A.J. Lynch aus dem Jahre 1925. Ich entnehme das Zitat der 1937 erschienenen finnischen Übersetzung des von dem Esten Johannes Käis 1935 vorgelegten Buches „Die Arbeitsweisen der Neuen Schule – Selbsttätigkeit
1
Parkhurst, Helen: Education on the Dalton Plan, London 1937 (G. Bell and Sons, LTD.), S. 112. Im folgenden zitiere ich nach dieser Ausgabe. Sie ist vermutlich mit der 1924 erschienenen erweiterten dritten Auflage identisch. Die von mir benutzte Ausgabe trägt den Vermerk: „First Published July 1922“.) 2 Vgl. dazu: Popp, Susanne: Der Daltonplan in Theorie und Praxis, Heilbrunn 1995: Klinkhardt, S. 215ff „Hypothesen zur deutschen Distanz“
270 Reformpädagogik
und der Gebrauch von Arbeitsmitteln im Schulunterricht“3. Auf diesem „Umweg“ will ich gleichzeitig auf einen bisher unerschlossenen, historisch und schulpädagogisch außerordentlich interessanten Rezeptionszusammenhang hinweisen. Im Vergleich mit den Schulkritiken im mitteleuropäischen Raum (Pestalozzi, Key: Seelenmorde in der Schule) handelt es sich bei Lynch um eine eher moderate Variante der Schulkritik. In Form von „Vorschriften“ stellt Lynch die Wesensmerkmale der „neuen“ der „alten“ Schule gegenüber4: Die Alte Schule
Die Neue Schule
1. Sei aufmerksam und gehorsam! 1. Zeige Interesse an deiner eigenen Arbeit. 2. Schreibe ab, kopiere. 2. Sei selbständig. 3. Bewege dich nicht ohne Erlaubnis in der Klasse. 3. Sei frei, forsche und mache Versuche. 4. Sprich nicht ohne Erlaubnis. 4. Diskutiere. 5. Lache in der Stunde nicht ohne Erlaubnis. 5. Habe Freude an deiner Arbeit. 6. Versuche, der Beste zu sein. 6. Versuche, beispielhaft zu arbeiten. 7. Versuche, den anderen zu übertreffen. 7. Versuche, der ganzen Klasse zu helfen. 8. Hilf deinem Klassenkameraden nicht. 8. Hilf besonders dem Schwächeren. 9. Lass dir von deinem Kameraden nicht helfen. 9. Nimm Hilfe an vom Fähigeren. 10.Verstoße nicht gegen die Schulordnung. 10. Tue so viel für die Schule wie du kannst. (b) Organisation. Im Daltonplan geht es um die Individualisierung des Lernganges bei gleichzeitiger Berücksichtigung der sozialen Komponente schulischer Erziehung. Ein erster Schritt in Richtung Individualisierung ist durch die Möglichkeit der differenzierten Ansprache der Kindergruppe innerhalb des Unterrichts gegeben, beispielsweise durch zusätzliche Erklärungen für die langsameren Lerner. Ein weiterer wäre die zusätzliche individuelle oder leistungsgruppenspezifische Anpassung von Lernhilfen (z.B. für die „Stillarbeit“ bzw. „Einzelarbeit“). Beide Schritte sind noch ohne besondere organisatorische Maßnahmen durchzuführen, wohl machen sie schon den Blick auf Kinder abseits des „Durchschnittsschülers“ notwendig. Der Dalton-Plan geht noch einige Schritte weiter. Zunächst ist an die Einrichtung von freien, aber vom Lehrer vorher in „Pensen“ strukturierten Lernphasen zu denken. Die Schüler haben jetzt die Möglichkeit, immer noch in der eigenen Klasse, oder auch schon in angrenzenden Räumen, zu einer bestimmten Zeit des Tages oder der ganzen Woche ihr Pensum nach eigenem Tempo und in der selbst bestimmten Reihenfolge zu bearbeiten. Dafür stehen dann adäquate Hilfsmittel zur Verfügung, zu denen die vom Lehrer an der Tafel oder – bei stärkerer Individualisierung – für jedes Kind vorgeschlagene didaktische Route führt. In den Phasen der „gebundenen“ Freiarbeit ist gegenseitiges Helfen der Kinder möglich und erwünscht. Der Lehrer steht – selbstverständlich – ebenfalls bei Bedarf zur Verfügung. 3
Käis, Johannes: Uuden Koulun Työtapoja – Omatoimisuus ja Työohjeiden Käyttö Kouluopetuksessa, Helsinki 1937: Otava. Bei dem Buch handelt es sich um eine fundierte theoretische Begründung des im Titel genannten Anliegens mit zahlreichen Praxisbeispielen aus der estnischen Versuchsarbeit. Konzeptionell handelt es sich um den originellen Versuch der Synthese des Arbeitsschulgedankens mit dem Daltonplan. Lahdes berichtet über einen Pädagogenkongress im Jahre 1930 in Tallinn (Estland), an dem über 2000 Lehrer teilnahmen. Dort sprach u.a. Lynch über seine Versuche mit dem Daltonplan in London. Die reformpädagogische Versuchsarbeit nahm in Estland mit der sowjetischen Okkupation im Jahre 1939 ein Ende. Dazu näheres in: Lahdes, Erkki: Uuden koulun vaikutus Suomen kansakouluun, Helsinki 1961; Otava (Der Einfluss der Neuen Schule auf die finnische Volksschule) Nach Erlangung der Selbständigkeit versucht man seit Beginn der neunziger Jahre wieder an Käis anzuknüpfen. 4 Lynch, A.J., zitiert nach Käis (1937), a.a.O. S.101. Zitatnachweis bei Käis: Lynch, A.J.: Individual Work and the Dalton Plan, 1925, S.7
Dalton-Plan-Pädagogik 271
Das Kind ist jetzt „Herr seiner Zeit“, allerdings mit der Verpflichtung auf ein vom Lehrer festgelegtes didaktisches Ziel. Eine Verbesserung der Voraussetzungen kann nun durch eine Neustrukturierung des Lernraumes erreicht werden, indem in klarer Ordnung fach- oder lernbereichsspezifische Arbeitsmittel zugänglich gemacht oder spezifische Lernzonen (bei Parkhurst: „subject corners“ z.B. für Sprache, Naturwissenschaften, Geographie ...) eingerichtet werden. Das Kind ist dann – in den Grenzen der in der Schulkasse oder in der Schule gegebenen Möglichkeiten und immer in Bindung an die Aufgabe – „Herr seines Körpers“, das heißt, der Schüler kann sich frei bewegen. Das ist bereits der erste Schritt in Richtung „Daltonplan“, wie er von Helen Parkhurst in einer einklassigen Landschule mit mehreren Schuljahrgängen realisiert wurde. Eine Weiterentwicklung insbesondere für die Sekundarstufe – für diese Stufe vor allem hat Parkhurst ihren Plan ausgearbeitet und vorgelegt – ist die Einrichtung von Fachräumen („Laboratories“; daher der vollständige Name: „Dalton-Laboratory-School“), in denen die Schüler in den entsprechenden Phasen der Freiarbeit ihr Pensum erarbeiten können, ggf. unter Anleitung eines jeweils dort befindlichen Fachlehrers. Es ist der Klasse bzw. der Schule überlassen, in welchem Umfang weiterhin klassengebundener Unterricht gegeben bzw. jener zugunsten der Freiarbeitsphasen reduziert wird. An eine vollständige Abschaffung des Klassenunterrichts ist im Daltonplan nicht gedacht. Alle Beispiele in „Education on the Daltonplan“ zeigen immer noch einen hohen Anteil an Klassen- oder Gruppenunterricht, der dann vielfach auch Bezüge zu den Freiarbeitsphasen aufweist. Das entspricht auch der gegenwärtigen Praxis der Daltonplanschulen. Im Allgemeinen ist der Schüler im Daltonplan freilich nicht „Herr über seine Ziele“. Diese orientieren sich am verbindlichen Curriculum. Parkhurst betont aber, dass es durchaus möglich und erwünscht ist, die Interessen der Schüler zu berücksichtigen und Erfahrungslernen im Sinne Deweys oder Projektlernen im Sinne Kilpatricks zu integrieren. Diese Formen bedürfen aber eines eigenen Zuschnitts und sind erfahrungsgemäß eher in den Jenaplan-, Freinet- und Freien Alternativschulen anzutreffen. Im Daltonplan werden die Kinder also, so kann zusammenfassend festgehalten werden, nach mehr oder weniger individuell zugeschnittenen „Fahrplänen“ auf die „didaktische Reise“ geschickt, die sie in den Phasen der Freiarbeit hinsichtlich des „Wie“, „Wann“ und „Wo“ weitgehend selbst bestimmen können. (c) Rezeption. Der Vorzug des Planes besteht vor allem darin, dass er das Kernproblem der Schularbeit herausarbeitet und pragmatische Lösungen anbietet, die vollständig im Rahmen empirischer Erfahrungen und rationaler Argumente diskutiert werden können. Sie fußen auch nicht auf einer ausgearbeiteten Entwicklungslehre oder einer speziellen inhaltsorientierten Didaktik, die es zunächst zu akzeptieren gälte. Der Plan wurde in einem gesellschaftlichen Kontext entwickelt, der von dem heutigen europäischen im Prinzip wenig verschieden, vielmehr sogar dem hiesigen in mancherlei Hinsicht vorausgegangen ist. Wir haben es heute fast überall in Europa mit sehr heterogenen Gesellschaften demokratischen Zuschnitts zu tun, die u.a. über die Schule ähnliche Integrationsleistungen vollbringen müssen, wie das Amerika der vorigen Jahrhundertwende und der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts. Heterogenität wird ja ein schulpädagogisches Problem erst in dem Moment, wo sowohl gewisse Grenzen der Vielfalt in der Klasse überschritten als auch bisher fraglos akzeptierte disziplinarische Maßnahmen (Lernen unter Zwang, Strafen usw.) gleichzeitig obsolet geworden oder gar gesetzlich verboten sind. Die Reduktion des Daltonplans auf ein schulpädagogisches Kernproblem und das gleichzeitig recht offen gehaltene Angebot, mit seiner Hilfe einige Übel der „Alten Schule“ zu beseitigen oder zu mindern, mag ein Grund gewesen sein für sein rasches Bekanntwerden in Europa – und auch der Grund für sein baldiges Vergessenwerden. Denn einmal in seiner generellen Problemstellung und in seinen Möglichkeiten erkannt, lösen sich diese leicht von einem bestimmten Vermitt-
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lungskontext und finden so als frei verfügbare Momente in die Reformdiskussion Eingang. So finden sich heute Schulen – vor allem in England, wo der Daltonplan in den zwanziger Jahren eine erstaunliche Blütezeit erlebte – , die den Daltonplan weitgehend realisieren, ohne dass deren Lehrkräfte je von ihm gehört hätten. Lediglich in den Niederlanden hat sich eine durchgängige Traditionslinie erhalten, die bis in die zwanziger Jahre zurückreicht. So ist Holland das einzige europäische Land, in dem eine lebendige Daltonplan-Tradition besteht, die sich heute, nach zahlreichen Rückschlägen und Aufschwüngen, in über 100 Schulen manifestiert, vorwiegend im Primarbereich. Der erste Versuch einer breiter angelegten rezeptionsgeschichtlichen Studie ist 1995 von Susanne Popp im Rahmen ihrer gründlichen und informativen Arbeit zum „Daltonplan in Theorie und Praxis“ vorgelegt worden. Danach ergibt sich das folgende Bild: In Amerika kam der Plan nicht zu einer größeren Ausbreitung, und viele amerikanische Lehrer haben ihn erst über den Umweg seiner Rezeption in England kennengelernt. Für die Zurückhaltung in Amerika mag die kritische Distanz von John Dewey und William H. Kilpatrick ausschlaggebend gewesen sein. Sie galten (und gelten noch) als die führenden Vertreter der „Progressive Education“ in Amerika. Sie propagieren ein auf die persönliche und gesellschaftliche Erfahrung bezogenes problemorientiertes Lernen (u.a. Projektlernen). Zudem waren in Amerika bereits verschiedene Schulpläne entwickelt und erprobt worden (Pueblo-, Platoon-, Gary-, Port-Denver-, Batavia-, Santa-Barbara-Plan), die sich ebenfalls dem Problem der Individualisierung stellten und zu vergleichbaren Lösungsansätzen gekommen waren.5 Auf dem Hintergrund dieser „Pläne“ konnte der „Daltonplan“ keine herausragenden Aufmerksamkeitswerte erringen. Sein eigentlicher Wert liegt nämlich nicht in einer grundsätzlich neuen pädagogischen Orientierung, sondern in der praxisnahen, detaillierten methodisch-didaktischen Ausarbeitung des Individualisierungskonzeptes unter gleichzeitiger Berücksichtigung der sozialerzieherischen Komponente. Anders dagegen verlief die Rezeption in England. Hier fand der Plan nach seinem Bekanntwerden eine begeisterte Aufnahme und wurde in zahlreichen Schulen des Landes erprobt. Helen Parkhurst schrieb ihr Buch „Education on the Daltonplan“ (1922) vor allem für ein englisches Publikum. „Die englische Rezeption hat ... als wichtigster Multiplikator für die weltweite Verbreitung des Daltonplans gewirkt, ...“6 Über England kam seine Kenntnis nach Holland, wo seit Mitte der zwanziger Jahre zahlreiche Schulen mit entsprechenden Versuchen anfingen. Popp verfolgt des Weiteren die Entwicklung in Sowjetrussland und die deutsche (im Tenor meist ablehnende) Rezeption. In der Vorkriegszeit und nach dem Kriege ist ein Absinken des Interesses zu verzeichnen, das vielerorts fast bis zum Vergessen reichte (das gilt nicht für die theoretische Literatur). Selbst in den Niederlanden schwächte sich der Reformimpuls weitgehend ab, sodass die Daltonplanschulen in den siebziger Jahren, im Gegensatz zu den Waldorf-, Jenaplan- und Montessorischulen, den Anschluss an die zu jener Zeit einsetzende Versuchs- und Reformphase im Primarbereich (achtjährige „Basisschule“ für die 4- bis 12Jährigen) verpassten. Erst nach Einführung des neuen Basisschulgesetzes im Jahre 1985, an dessen inhaltlicher Ausprägung die anderen reformpädagogischen Linien einen entscheidenden Anteil nehmen konnten, erlebte die Daltonplan-Bewegung einen kräftigen Aufschwung. Die neuen Leitlinien der „Basisschule“, wie die Betonung der Individualität und der Kontinuität des Bildungsganges, die Betonung der Selbsttätigkeit und vieles andere referieren einen reformpädagogischen Grundkanon, dem sich der Daltonplan vorbehaltlos zuordnen konnte. Heute gehören die niederländischen Daltonplanschulen im 5
Vgl. dazu Popp (1995) Kap. 4 „Die Rezeptionsgeschichte ...“ und bes. Anm. 165 auf S.165. Ferner: Röhrs, Hermann: Die progressive Erziehungsbewegung. Verlauf und Auswirkung der Reformpädagogik in den USA, Hannover 1977 (Hermann Schroedel) 6 Ebd., S. 192
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Verein mit den Schulen der anderen reformpädagogischen Richtungen zu den vielbesuchten Zielen reforminteressierter Lehrer, Wissenschaftler und Schuladministratoren, auch aus Ländern des europäischen Ostens. – Wegen ihrer prinzipiellen Übereinstimmung mit dem ursprünglichen Konzept und ihrer aktuellen Bedeutung erscheint es angebracht, zunächst einen „Blick“ in die niederländische Daltonplanpraxis zu werfen.
2 Beispiele aus der niederländischen Praxis des Daltonplans Vorbemerkung: In den Niederlanden haben die verschiedenen Strömungen der Reformpädagogik eine bemerkenswerte Wirkung mit heute etwa 600 Grundschulen (das sind etwa 6% aller Grundschulen) entfalten können. Ihre Wirksamkeit reicht weit über den engeren Kreis der zugehörigen Schulen hinaus. Die liberale Bildungsverfassung, eine Errungenschaft des Schulkampfes im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, brachte öffentlichen wie privaten Schulen einen beachtlichen Gestaltungsraum für pädagogische Initiativen. Neben den Dalton-Grundschulen bestehen heute etwa 10 Dalton-Sekundarschulen, darunter eine Berufsschule (in Meppel). Es lässt sich also in idealtypischer Sicht der Bildungsgang eines „Dalton-Schülers“ vom 4. – ca. 16. Lebensjahr, d.h. über 12 Schuljahre hinweg rekonstruieren: Tägliche Aufgaben (Tagesplan) für das 4- und 5jährige Kind in der (meist altersgemischten) „Kleutergroep“; dann symbolisch-ikonisch und schließlich sprachlich repräsentierte Mehrtagespläne bis zu mehr oder weniger individuell zugeschnittene Wochenpensen, die in der Basisschule vorwiegend in der Klasse selbst und im Dokumentationszentrum der Schule (der Klassenverband wird also in den Dalton-Stunden gelockert), in den Sekundarschulen in eigenen Fachräumen erarbeitet werden (hier wird also der Klassenverband zeitweise ganz aufgehoben). Beispiel 1, Basisschule: Die „JAN LIGTHART BASISSCHOOL“ in Zytphen, Openbare school voor Daltononderwijs Mein Besuch, auf den sich diese Ausführungen stützen, fand an einem Tag im Herbst 1994 statt. Die wörtlichen Zitate beruhen auf Gesprächen mit den Lehrkräften, größerenteils sind sie einem Infoheft über die Schule entnommen. Es handelt sich um eine öffentliche Basisschule (d.h. alle Kinder der zugehörigen Region werden aufgenommen. Sie kommen aus allen Schichten der Bevölkerung). 203 Kinder werden in 9 Jahrgangsgruppen unterrichtet. Eine besondere „Kleutergroep“ mit 12 türkischen Kindern wird von einem türkischen Lehrer separat unterrichtet. Diese Kinder haben den „Betreuungsfaktor“ 1,9; d.h.: jedem Kind steht das 1,9-fache an Lehrerstunden zu im Vergleich zu einem Kind holländischer Muttersprache ohne besonderen Förderbedarf (Betreuungsfaktor: 1). Der Schwerpunkt in dieser Gruppe liegt in der Spracherziehung. Das Problem dieser Kinder liegt u.a. darin, dass sie „in beiden Sprachen nicht richtig zu Hause“ sind. Hinzu kommen soziale Probleme. Die Stärke der anderen Klassen liegt bei etwa 25. – Die Initiative zur Errichtung einer Daltonschule ging 1988 von der Gemeinde aus. Ab 1989 wird nach dem niederländischen Daltonkonzept gearbeitet; 1992 erfolgte die Anerkennung als „Daltonschool“ durch die niederländische Dalton-Vereinigung. Ein besonderes Problem bei der Umsetzung und Entwicklung des Konzeptes liegt darin, dass es nicht von allen Lehrkräften gleichermaßen getragen wird. Neu hinzukommende Lehrkräfte sind oft auf diese Arbeitsweise nicht genügend vorbereitet. Das Schulgebäude ist ein heller Pavillonbau auf einem relativ kleinen Gelände. Die Klassen sind um einen großen Innenraum angeordnet, in dem das „Dokumentationszentrum“ unterbracht ist. (Das „Dokumentatiecentrum“ ist an vielen niederländischen Grundschulen zu finden. Es enthält eine Fülle an Medien zur Unterstützung der pädagogischen Arbeit. Vor allem dient es der
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Einzel- und Gruppenarbeit.) Außerdem stehen dort einige Tische und Stühle, die während der Unterrichtszeit von den Kindern als Arbeitsplätze genutzt werden können. Mein spezifisches Interesse besteht darin zu erfahren, in welcher Weise und in welchem Maße der Daltonplan das pädagogische Selbstverständnis prägt und die pädagogische Praxis bestimmt. Es zeigt sich, dass unter „Daltononderwijs“ eine „Philosophie“ verstanden wird, die – in prinzipieller Übereinstimmung mit Parkhurst – unter den Begriffen „Freiheit, Zusammenarbeit und Selbständigkeit“ gefasst ist. Bezüglich der Praxis wird in der Schule von „Daltonuren“, Daltonstunden, gesprochen. Die Praxis der Daltonstunden konnte ich auch an anderen niederländischen Daltonplanschulen (in Epe und Gouda) beobachten. Das heißt: Eine bestimmte Zeit des Tages (1-2 Stunden) dient der (individuellen und/oder Gruppen-)Arbeit im Sinne des Daltonplans. (a) Drei miteinander verbundene Prinzipien werden als Ausgangspunkt der Schularbeit genannt: 1. Freiheit: Freiheit bedeutet keine Willkür. Das Kind kann „nicht tun und lassen was es will“. Die Entscheidungen des Kindes sind an Verantwortlichkeit gebunden. „In den Aufgaben findet das Kind Freiheit und Verantwortlichkeit. Der Auftrag ist verbindlich. Das Kind hat die Wahl hinsichtlich: - Tempo und Reihenfolge der Bearbeitung; - Wahl von Hilfsmitteln und Beanspruchung von Rat und Hilfe; - Einzelarbeit oder Zusammenarbeit mit anderen; - Zeit, die den verschiedenen Teilen gewidmet wird.“ 2. Zusammenarbeit: Es besteht jederzeit die Möglichkeit zur Zusammenarbeit. „Das Voneinanderlernen ist äußerst wichtig. Dadurch wird die Selbständigkeit gefördert.“ Die Beziehungen untereinander und zwischen Lehrer und Schüler werden dadurch gestärkt. 3. Selbständigkeit und Selbsttätigkeit: Das selbstentdeckende Lernen der Kinder soll stimuliert werden. Es geht darum, die Methodik des traditionellen Lernens zu überwinden; Schule soll keine „still-sittery“ (Lynch) mehr sein. „Die Aufgaben der Kinder werden an ihr Entwicklungsniveau angepasst. ... In dem Maße, wie das Kind seine Selbständigkeit entwickelt, ist es zu begründeten Entscheidungen fähig. Das gesamte Unterrichtsmaterial ist an unserer Schule in offenen Kästen untergebracht. Die Schüler können alles selbst holen. Vieles hat selbstkorrigierenden Charakter. Durch Gruppen- oder Einzelinstruktion wird neuer Lehrstoff eingeführt. Während der Aufgabenstunden (gemeint sind die ‚Daltonstunden‘ – E.S.) können die Kinder die Aufträge weiter bearbeiten. Als Lehrkraft wirken wir stimulierend, korrigierend, begleitend.“ (b) „Daltonuren“, Daltonstunden: Auf eine Kurzformel gebracht bedeutet „Daltononderwijs“ an dieser Schule: Jedes Kind einer Klasse oder eines Jahrgangs arbeitet in einer bestimmten Zeitspanne an denselben Aufgaben (Basiscurriculum), wobei es die Reihenfolge, die Art ihrer Bearbeitung (alleine oder zusammen, mit oder ohne weitere Hilfsmittel) und den Arbeitsplatz (nach den gegebenen Möglichkeiten im Klassenraum, auf dem Flur oder im Dokumentationszentrum) frei wählt. Es besteht ferner die Möglichkeit für zusätzliche Aufgaben und für eine individuell angemessene Niveaudifferenzierung. Grundsätzlich soll nur das gefordert werden, was das Kind leisten kann. Die Arbeit in den unteren Klassen (1-4; d.h. für die ca. 4-8jährigen) wird mittels einer „Aufgabentafel“ inhaltlich und zeitlich strukturiert. In den oberen Klassen erhält jedes Kind ein identisches Aufgabenblatt für einen Tag oder eine Woche, das individuelle Zusätze enthalten kann. Die „Daltonuren“ werden pro Klasse festgelegt. Sie umfassen derzeit 1 bis 2 Stunden pro
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Tag. (Im Prinzip ist das System mit der „Wochenplanarbeit“ in den deutschen Grundschulen verwandt. Möglicherweise besteht ein Zusammenhang mit den niederländischen Erfahrungen.) Die „Aufgabentafel“ in den unteren Klassen werden zu Tages- später zu Wochenbeginn jeweils neu strukturiert. In der Vertikalen sind mit Namenskarten die Kinder aufgeführt, in der Horizontalen am oberen Rand wird mit „Aktivitätssymbolen“ das inhaltliche Angebot markiert (z.B.: die Puppenecke wird mit einer Puppe, die Bauecke mit einem Klotz, die Malecke mit einem Pinsel usw. symbolisiert). Die Kinder wählen nun, wo sie arbeiten möchten und in der Schnittfläche von Namen und Symbol wird ein farbiger Kreis angebracht, der den Wochentag symbolisiert (rot für Montag, orange für Dienstag usw.), an dem das Kind die Arbeit ausführt bzw. ausführen will. Von Tagesplänen kann im Laufe der ersten Schuljahre zu halbwöchigen und schließlich zu Wochenplänen übergegangen werden. Neu hinzukommende Aktivitäten (z.B. Schreiben, Theaterecke, Rechnen usw.) werden mit neuen Symbolen und dann auch mit Wörtern symbolisiert. Wenn ein Kind die Arbeit ausgeführt hat, wird das ebenfalls an der Aufgabentafel vermerkt: In das farbige Tagessymbol wird eine Perle gesteckt. Auf diese Weise kann jedes Kind sehen, wo und womit es selbst und die anderen Kinder an diesem Tag oder in der Woche tätig sind oder tätig waren. Ferner ist ersichtlich, wo noch Arbeitsplätze frei sind. Am Ende der Arbeitswoche hat die Lehrkraft einen Überblick über die Arbeit jedes Kindes. In den höheren Gruppen (ab Gruppe 4) wird die Aufgabentafel durch ein Aufgabenblatt (zunächst für einen Tag, ab etwa Gruppe 6 für eine Woche) ersetzt, das jedes Kind in die Hand bekommt. Das Aufgabenblatt für die Woche vom 24. bis 28. Oktober 1994 für die Klasse 7 enthielt z.B. Aufgaben mit entsprechenden Verweisen auf Lehrbücher und Arbeitsmittel für Sprachlehre, Aufsatz, Sprichwörter, Englisch, Rechnen, Schreiben, Lesen, Erdkunde, Geschichte und eine Zusatzaufgabe (Lesen) für die „schnellen Arbeiter“. Am rechten Rand wird mit einem farbigen Symbol der Tag der Ausführung angegeben (s.o.) und ein Kontrollvermerk angebracht. Die Aufgaben selbst beziehen sich meist auf Lehr- und Arbeitsbücher. Der Lehrer gibt während der Daltonstunden wo nötig Hilfestellungen, sorgt für zusätzliche Aufgaben, gibt ggf. Einzel- oder Gruppeninstruktionen. „Wir als Lehrer machen auch eine Entwicklung durch: wir entwickeln uns von einem Klassenleiter mehr und mehr zu einem Begleiter des Entwicklungsprozesses der uns anvertrauten Schüler.“ Der Vorteil einer solchen Arbeitsweise liegt auf der Hand: Es besteht die Möglichkeit der Individualisierung des Unterrichts. Gleichzeitig sind gute Kontrollmöglichkeiten gegeben, so dass die den Kindern gewährte Freiheit nicht in Unverbindlichkeit mündet. In Klassen mit sehr leistungsheterogenen Gruppen (an der Schule sind viele Kinder mit nicht-niederländischer Muttersprache) ist das von größter Bedeutung. Auffällig ist aber, dass dem „entdeckenden Lernen“ insbesondere mit dem Eintritt in die dritte Jahresstufe (das entspricht der ersten Klasse der früheren Grundschule) doch enge Grenzen gezogen sind. Das Basiscurriculum genießt aus verständlichen Gründen eine hohe Priorität, die auch von den Schülern nicht in Frage gestellt wird. Es ist aber durchaus möglich, nach Ableistung des Pflichtpensums, oder nach Absprache auch in Zwischenphasen, eigenen Lerninteressen nachzugehen. Der Begriff „Daltonstunden“ signalisiert, dass an dieser Schule im übrigen zahlreiche Aktivitäten stattfinden, die nicht mit dem „Daltonsystem“ begründet werden: Sport, Musik, Schul- und Geburtstagsfeiern, Kreisgespräch als Tageseröffnung (das geht auf den Einfluss der niederländischen Jenaplanbewegung zurück), Theaterspielen (die Abschlussklasse übt immer ein Musical ein und führt es mehrmals in der Schule und vor Eltern auf), außerschulische Aktivitäten. Der „Daltononderwijs“ bildet in erster Linie ein wichtiges methodisches Element zur Aneignung des „Basislernstoffes“. Aber auch die damit verbundenen sozialerzieherischen Intentionen und Wirkungen müssen beachtet werden. Nach Auskunft des Schulleiters kommen die Schüler in den
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weiterführenden Schulen im allgemeinen gut zurecht; sie gelten als besonders selbständig und kooperativ. Beispiel 2, Sekundarschule: Die „Daltonscholengemeenschap den Haag“7 Bei dieser Schule handelt es sich um eine große additive Gesamtschule, d.h. verschiedene nach Anspruchsniveau und Dauer unterschiedene Schulzweige bzw. Bildungswege sind „unter einem Dach“ vereinigt. Wie in der Basisschule wird auch hier nur ein Teil der Stunden „daltonisiert“. Vorgesehen sind jeden Morgen zunächst drei Stunden traditioneller Klassenunterricht. Es folgen zwei „Daltonstunden“, die zu einem Block von 90 Minuten zusammengefasst sind. An drei Nachmittagen sind weitere je einstündige Daltonphasen vorgesehen. Die insgesamt vorgesehene Zahl von 13 „Daltonstunden“ wird aber in der Praxis nicht erreicht. – Zu Beginn der Schulwoche erhalten die Schüler eine „Takenkaart“, eine Aufgabenkarte, in der die Aufgaben für die „daltonisierten“ Fächer verzeichnet sind (für die 7. Jahrgangsstufe z.B. Aufgaben zu: Sprachen, Geographie, Geschichte, Biologie, Mathematik; im Gymnasialzweig kommen noch weitere Fachgebiete hinzu). Für die Freiarbeit in den „Daltonstunden“ stehen in etwa ein Viertel der für ein Fach vorgesehenen Gesamtunterrichtszeit zur Verfügung; die Freiarbeit hat also einen den Fachunterricht begleitenden Charakter. In der Phase der Freiarbeit „lopen“, laufen, die Schüler nun von Fachraum zu Fachraum (Parkhursts „Laboratory“), wo sie einen fachkompetenten Lehrer vorfinden und die entsprechenden erforderlichen Arbeitsmittel. Die Schüler tauchen gleichsam in die Atmosphäre eines Faches ein. Haben sie eine Aufgabe erledigt, wird das Ergebnis mit der Fachlehrkraft besprochen und von dieser in einer eigenen Kontrollkarte, die der Schüler mit sich führt, bestätigt. Bestimmte Regelungen sorgen dafür, dass die unvermeidliche Unruhe beim „lopen“ auf ein Minimum reduziert ist. Das vielleicht zu befürchtende Chaos bleibt aus. Auch ist die Gefahr des Missbrauchs der gewährten Bewegungsfreiheit erfahrungsgemäß gering. Popp hat repräsentative Aufgabenkarten analysiert und kommt zu dem Ergebnis, dass diese nur in geringem Maße den von Parkhurst gestellten hohen Qualitätsansprüchen entsprechen. Auch die vom Niederländischen Daltonverein vorgeschlagene Unterscheidung von verschiedenen Aufgabentypen wie u.a. Aufgaben zur Selbstkontrolle, Wahlaufgaben zur Erweiterung und Vertiefung, differenzierende Aufgaben zum Ausgleichen von Lernschwierigkeiten sind „in den schriftlichen Anleitungen nicht präsent.“8 Das bedeutet freilich noch nicht, dass die damit verbundenen pädagogischen Intentionen nicht doch auf andere Weise berücksichtigt sind. Insgesamt gilt aber wohl, dass die „meisten ‚weektaken‘ (Aufgaben der Woche – E.S.) ... der Übung, Vertiefung, Sicherung und Wiederholung des Klassenlehrstoffs“ dienen. Selten werde „von ihnen in erkennbarer Weise ‚problemlösendes‘ oder ‚entdeckendes Lernen‘ gefordert.“9 Anspruch und Wirklichkeit klaffen auch hier – wie so oft im Bereich der Pädagogik – auseinander. Dennoch kommt Popp zu einer günstigen Beurteilung. „Hat diese Form der ‚Daltonisierung‘ auch ihre (reform-)pädagogischen Grenzen, so zeigt sie doch auch den Vorteil hoher Praktikabilität.“10 Wie Gespräche und von der Schule durchgeführte Befragungen zeigen, werden die Freiarbeitsphasen von den Schülern durchaus geschätzt. Dabei spielt die beim „lopen“ (Laufen) verstärkt gegebene Möglichkeit zum Knüpfen sozialer Kontakte eine große Rolle, aber auch die Aufgaben als solche werden ernst genommen. Im Sinne des ursprünglichen Konzeptes ist die Feststellung aufschluss7
Die folgenden Angaben beruhen auf der Untersuchung von Popp (1995), vgl. ebd., S.254ff Popp, Ebd. S.263 Ebd., S.264 10 Ebd. 8 9
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reich: „Die Schüler schätzen die Freiarbeit sehr, und zwar primär als wirksamen Impuls zur Selbsterziehung auf Selbständigkeit und Selbstverantwortung hin sowie sekundär als motivierende Abwechslung des Schultages. Sie wollen weder auf die Freiarbeit noch auf einen guten Klassenunterricht verzichten ...“11 Trotz mancher Einschränkungen dürften doch grundlegende Anliegen des Daltonplans zum Tragen kommen.
3 Helen Parkhurst und der „Daltonplan“ – Eine werkbiographische Skizze Helen Parkhurst wird am 8. März 1886 in der Kleinstadt Durand in Wisconsin (USA) geboren. Nach eigenem Bekunden erlebt sie eine glückliche Kindheit in gesicherten sozialen und materiellen Verhältnissen. Der Vater betreibt ein Gasthaus, züchtet Pferde und betätigt sich als Viehhändler. In ihrem pädagogischen Hauptwerk findet sich ein anschaulicher Reflex auf diesen biographischen Hintergrund, indem sie – übrigens ähnlich wie Célestin Freinet – das Verhältnis zwischen Lernen und Lehren mit dem Tränken eines Pferdes vergleicht. Lernen und Lehren müssen als zwei verschiedene Probleme betrachtet werden. „Wir haben bisher noch nicht angemessen die Tatsache gewürdigt, dass Lehren bloß bedeutet, das Pferd zum Wasser zu führen. Es kann, im alten System (der Schule) ebensowenig den Lerner zum Lernen bringen, wie der Pferdeführer das Pferd zum Trinken bringen kann.“12 Parkhurst muss den darin beschlossenen Konflikt auch am „eigenen Leibe“ erlitten haben. „In ihren Erinnerungen an die Schulzeit beklagte Parkhurst vor allem den Zwang zum Stillsitzen und die unerträgliche Langeweile. Die Unterrichtsgestaltung scheint das Mädchen erheblich unterfordert und schließlich in schwere Disziplinkonflikte getrieben zu haben.“13 Dennoch regt sich bereits früh ein starker pädagogischer Impuls. Nach dem Abschluss der „Durand High School“ besteht sie als externe Autodidaktin das „Teachers‘ Exam“. Im Herbst des Jahres 1904 wird sie mit beachtlichem Erfolg Lehrerin an der einklassigen Landschule mit 40 Schülerinnen und Schülern in Waterville unweit ihres Heimatortes. Und bereits hier treten einige Grundzüge des späteren Daltonplans zutage. Die Schüler „waren eingeteilt in acht Stufen oder Klassen. Ich hatte also sieben Klassen zu beschäftigen, während ich einer Klasse mündliche Instruktionen erteilte. Als die beste Lösung dieser Schwierigkeit erschien es mir, jeden Schüler solange mit etwas zu beschäftigen, bis ich mich seiner Arbeit widmen konnte. Um diesen Plan zum Erfolg zu führen, musste ich die älteren Kinder dazu bringen, den Kleinen zu helfen. Besonders die großen Jungs gingen auf meinen Vorschlag ein. Mit ihrer Hilfe verwandelte ich einen Lagerraum in einen Schulraum, in dem jede Ecke einem anderen Fach („subject“: auch „Thema“ – E.S.) gewidmet war.“ Das Experiment wird ein Erfolg. Es stellt sich eine ständig wachsende Besucherzahl ein. „Die Kinder waren ruhig und gehorsam, und sie arbeiteten aus eigenem Willen (‚with a will‘)“.14 Den späteren Namen „Laboratory“ führt Parkhurst auf die Lektüre des Werkes „Mind in Making. A Study in Mental Development“ von Edgar James Swift zurück, das sie „profoundly“ beeinflusste. Swift spricht darin von dem bedeutenden erzieherischen Einfluss der Umgebung auf das Kind. Der Lehrer müsse seine Schüler beobachten und der Schulraum werde sich, wenn der Lehrer an der Erweiterung seines Blickfeldes („mental expansion“) arbeite, in ein „educational laboratory“ wandeln.15
11
Ebd., S.269 Parkhurst, a.a.O. (1937), S.104 13 Popp, a.a.O. (1995), S.22 14 Parkhurst (1937), S.8 15 Vgl. ebd., S.9f 12
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Im Jahre 1905 beginnt Parkhurst ein Studium am „Teachers‘ College“ des „Wisconsin State College“ und schließt es nach der Hälfte der sonst üblichen Zeit mit einem ausgezeichneten Examen zum „Bachelor of Science“ ab. Es folgen Stationen einer glänzenden Karriere: Grundschullehrerin in Hudson/Wisconsin, Lehrtätigkeit an der „Rural Training School for Teachers“, wiederum Grundschullehrerin (1909-11) in Tacoma/Washington und anschließend (bis 1913) Tätigkeit am „Primary Teacher Department“ des „Central State College“ in Ellensburg/Washington, schließlich „Directory of Primary Teacher Training Department“ am „Central Teachers‘ College“ in Stevens Point/Wisconsin. In Tacoma führt sie mit Unterstützung eines Dozenten aus einem Lehrerseminar und mit den beteiligten Lehrkräften der Schule im Jahr 1910/11 ihre Versuchsarbeit in fünf Klassen mit acht- bis zwölf/dreizehnjährigen Kindern weiter, indem sie nun nicht mehr nur mit „subject corners“, sondern mit Fachräumen arbeitet. In der „Edison School“, Tacoma, gewinnt der „Laboratory Plan“ bereits seine wesentlichen Konturen und ab 1913 bezeichnet sie ihn selbst als „laboratory plan“. Im Jahre 1914 bricht sie ihre vielversprechende Karriere ab und wird nach einem Romaufenthalt für etwa vier Jahre Mitarbeiterin16 – nicht eigentlich Schülerin – von Maria Montessori. Seit 1915 ist Parkhurst offizielle amerikanische Stellvertreterin Montessoris und arbeitet auf verschiedenen Ebenen für die Verbreitung von deren Ideen. Nach dem Bruch mit Montessori im Jahre 1918 führt Parkhurst eine ursprünglich als Montessori-Demonstrationsschule in New York gegründete Schule mit einem eigenen Schulkonzept weiter, bald unter dem neuen Namen „Children‘s University School“. 1919 wird der „Laboratory Plan“ in der neu eröffneten Sekundarstufe dieser Schule eingeführt. Im Schuljahr 1919/20 richtet Parkhurst schließlich – nach der vorangegangenen erfolgreichen Umstellung der „Berkshire Cripple School“ für behinderte Jungen – die „Public High School“ in Dalton/Massachusetts nach dem „Laboratory Plan“ ein. Es folgt seine baldige „Entdeckung“ durch die englische Pädagogin Belle Rennie, und nach der Veröffentlichung ihres Berichts im „Times Educational Supplement“ (1920) beginnt der „Siegeszug“ des Plans, nun erst unter dem von Parkhurst gewählten Namen „Dalton-Laboratory-Plan“. Es folgt für Helen Parkhurst eine ausgedehnte Vortragstätigkeit in zahlreiche Länder. Ihr 1922 erschienenes Werk „Education on the Daltonplan“ erlebt viele Neuauflagen und Übersetzungen in andere Sprachen. 1924 wird die „Children‘s University School“ umbenannt in „Dalton Schools New York“. Die Leitung der Schule hat Parkhurst bis 1942 inne. Danach widmet sie sich der Produktion von Rundfunk- und Fernsehsendereihen, in denen sie auf einfühlsame Weise um Verständnis für die Lebensprobleme von Kindern und Jugendlichen wirbt. Einige Sendetitel mögen diese Grundintention der Sendungen andeuten: „Child‘s World“, „Growing Pains“, „Children Should Be Heard“. – Im Juni 1973 verstirbt Helen Parkhurst nach einem längeren Krankenhausaufenthalt in New Milford/Connecticut. Ihr schulpädagogisches Kernanliegen hat Parkhurst als „Verlebendigung der Erziehung“ bezeichnet. Erziehung müsse zu etwas Lebendigem werden, „das in der Lage ist, das Interesse der Schüler an ihrer Arbeit zu wecken und zu erhalten.“ Um dies zu erreichen, bat sie die betroffenen Schüler in Dalton selbst um ihre Meinung. „Ihre Anregungen waren von großem Wert. Es waren in der Tat die Schüler selbst, die mir den Weg wiesen, um einige missglückte Punkte zu korrigieren.“17
16
Zum Verhältnis von Parkhurst und Montessori vgl. die erhellenden Ausführungen von Popp (1995), S.29ff und 77ff 17 Parkhurst, 1937, S.14
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4 Das Ziel der Erziehung, die Prinzipien der Schularbeit18 und die neue Rolle des Lehrers Eine fundierte bildungstheoretische Debatte wird man bei Parkhurst vergeblich suchen. Zu erinnern ist daran, dass ihr Entwurf jeweils mit der Lösung von praktischen Problemen in Zusammenhang steht und daraus entwickelt wurde. In ihren unerschrockenen, theoriefernen Verlautbarungen zu den Aufgaben der Erziehung mag etwas von dem amerikanischen Pioniergeist vergangener Tage anklingen. Der weltanschauliche Hintergrund ihrer Zielvorstellungen ist in der fraglos akzeptierten demokratisch-liberalen Wertorientierung der amerikanischen Mittelschicht zu suchen. „A fearless human being“, der „furchtlose Mensch“ ist ihr Ideal, Männer und Frauen mit Initiative, „who know how!“19 Es geht darum, für den „Lebenskampf“ („battle of life“) gerüstet zu sein. Als „unit of society“ soll jeder in die Lage versetzt werden, sein Leben selbständig zu führen. Sie nimmt Bezug auf das Werk Conklins „Heredity and Environment in the Development of Men“ („Erbe und Umwelt in der Entwicklung des Menschen“) und geißelt mit ihm jede Religion und soziale Institution, „die zu Gewohnheiten frommen Nachbetens, Unaufrichtigkeit, sklavischer Hochachtung von Autorität und Missachtung beweiskräftiger Erfahrung“ führt und setzt dagegen: Aufrichtigkeit, geistige Offenheit („open-mindedness“) und Unabhängigkeit.20 Wenn sie des weiteren von dem „wide struggle for life and success“ spricht und davon, dass man sich heute nicht mehr wie in der Pionierzeit den „hohen Anteil an gestrandeten Existenzen“ leisten könne, scheint ein sozial-darwinistisches Motiv die Oberhand zu gewinnen. Die Diskussion der „Prinzipien“ der Erziehung zeigt jedoch, dass mit der Dimension der Verantwortung und mit der Akzentuierung der Kooperation das liberalistische Freiheitsmoment zugunsten des Prinzips der Solidarität eine Einschränkung erfährt. In ihrem Hauptwerk 1922 entfaltet Parkhurst vor allem zwei Prinzipien der Erziehung: Freiheit und Kooperation. Später (1925)21 fügt sie diesen noch ein drittes hinzu, das in einem nicht als Prinzip formulierten Status allerdings 1922 bereits deutlich artikuliert ist: „budjeting time“, also den freien Gebrauch der Lernzeit nach eigenen Bedürfnissen. Parkhurst verbindet damit zugleich eine Effizienzerwägung. Die Gewährung von (a) Freiheit zu verantwortlichem Gebrauch, (b) Kooperation als Bedingung jeder – auch der schulischen – Gemeinschaft und (c) verantwortlicher, d.h. auch effizienter Gebrauch der Lernzeit. Die Komponente der Effizienz wird in der niederländischen Variante des Daltonplans theoretisch nicht als eigenes Prinzip hervorgehoben, ist aber im Verständnis des Begriffes verantwortlicher Freiheit enthalten und für die Praxis (Kontrolle des Pensums) relevant.22 Dagegen wird der Selbsttätigkeit, durchaus im Sinne Parkhursts, ein prinzipieller Status zuerkannt (s.o.). (a) Freiheit. Die Schule soll in eine Gemeinschaft (community) verwandelt werden, deren wesentliche Bedingung darin besteht, „Freiheit für den einzelnen zu seiner eigenen Entwicklung“ zu gewährleisten.23 Die Freiheit wird als Freiheit zum verantwortlichen Mittelgebrauch verstanden, die dem Ziel der Entwicklung zu einem „harmonischen, verantwortlichen Wesen“ dient, das „willens und in der Lage ist, sich bewusst einzubringen in die Kooperation mit sei18
Vgl. Popp (1995), S.91ff. Wo möglich beziehe ich mich auf den mir vorliegenden Text Parkhursts „Education ...“, um den Orignalton ihres Denkens transparent werden zu lassen. Purkhurst (1937), S.7 20 Ebd., S.3 21 Siehe Popp (1995), S.94 22 Janssen, C.J.: Der Daltonunterricht und seine Stellung innerhalb reformpädagogischer Auffassungen, o.O., o.J. (hektographiertes Manuskript, 36 Seiten) 23 Parkhurst (1937), S.15 19
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nesgleichen für das gemeinsame Wohl.“24 Antisoziale Verhaltensweisen werden als fehlgeleitete Energie betrachtet, die es auf sozial-nützliche Zwecke zu lenken gilt. „Bevor ein Schüler nicht die Erlaubnis hat, Wissen in seinem eigenen Zeitmaß zu erwerben, wird er nie etwas gründlich lernen. Freiheit bedeutet, über seine eigene Zeit zu verfügen. Über eines anderen Zeit zu verfügen bedeutet Sklaverei.“25 – Freiheit ist also nicht ohne die beiden anderen Aspekte zu denken. (b) Kooperation, Zusammenarbeit. Das zweite Prinzip sieht Parkhurst als notwendige Bedingung zur Entwicklung eines demokratischen Gemeinwesens. Sie versteht darunter „die Interaktion des Gruppenlebens“ und bezieht sich dabei auf John Deweys „Democracy and Education“, ein Werk, das „in bewundernswerter Weise diese Idee definiert. ‚Das Ziel einer demokratischen Erziehung‘, so schreibt er, ‚besteht nicht bloß darin, den einzelnen zu einem intelligenten Teilhaber im Leben seiner unmittelbaren Gruppe zu machen, sondern die verschiedenen Gruppen in eine permanente Interaktion zu bringen, so dass kein Individuum, keine ökonomische Gruppe, dem Irrtum verfallen kann, unabhängig von anderen zu leben‘“. („... that no individual ... could presume to live independently of others.“)26 Schule gelte es demnach so zu organisieren, dass Schüler wie Lehrer Anteil nehmen an den Aktivitäten und Schwierigkeiten der anderen. (c) Handhabung der Zeit und Effizienz. Parkhurst trifft die lapidare Feststellung: „The Dalton Laboratory Plan permits pupils to budget their time and to spend it according to their need.“27 Auf diese Weise kann das Kind ein Gefühl für den Zusammenhang von Anstrengung und Erfolg entwickeln. Es konzentriert sich auf die Gegenstände seines momentanen Interesses und wird nicht nur mehr arbeiten, sondern auch bessere Ergebnisse erzielen. Von einem schulischen Arrangement auf der Grundlage von Freiheit, Kooperation und Effizienz erwartet Parkhurst einen wohltuenden Einfluss „morally as well as mentally“. „Es ist die soziale Erfahrung, welche die Arbeit an den Aufgaben begleitet, nicht die Aufgaben selbst, die beide Arten des Wachstums stimuliert und fördert.“28 Konflikte und Störungen, die aus den alten Zwangsverhältnissen resultieren, werden zum Verschwinden gebracht. Der Daltonplan beschreibt die Mittel, durch die eine Schule als ganzes eine Gemeinschaft bilden und als solche erzieherisch wirken kann. Entscheidend ist dabei die Möglichkeit des Kindes, „to carry out the educational programme in his own way. Freedom and responsibility together perform the miracle.“ Dementsprechend wandelt sich die Rolle des Lehrers, der Lehrerin. Sie sorgt einerseits für förderliche Bedingungen im „educational environment“, insbesondere durch die Einrichtung der Räume, Bereitstellung der Materialien und Konstruktion der didaktischen Routen (assignments, s.u.). Andererseits wandeln sich die sozialen Beziehungen zwischen ihr und dem Schüler zum Vorteil beider grundlegend. „Ihre intimere Beobachtung der Kindesnatur und das Hereinbringen von Freude und Interesse in das Leben und die Arbeit der Kinder üben einen außerordentlich starken Einfluss aus auf die Lehrerpersönlichkeit. Sie wird nicht länger damit beschäftigt sein, Informationen in unwillige Hälse hineinzustopfen oder damit, die Erledigung uninteressanter Aufgaben von apathischen Schülern einzufordern.“ Er hat nicht mehr die Rolle desjenigen, der ständig antreiben und zur Arbeit überreden muss, statt dessen suchen und schätzen die Kinder 24
Ebd. Ebd., S.16 26 Ebd. 27 Ebd., S.20 28 Ebd., S.24 25
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„seinen Rat und seine Sympathie. Und dieser Wandel in der Beziehung zeigt sich nicht nur im Erfolg und in der Zufriedenheit (happiness) der Kinder, sondern auch im Erfolg und in der Zufriedenheit des Lehrers.“29 Vom Lehrer vor der Klasse wird er zum aufmerksamen Lernbegleiter der ihm anvertrauten Kinder.
5 Der Kern des methodisch-didaktischen Arrangements: „assignment“ und „graph“, die Aufgabe und die symbolische Repräsentation des Lernerfolges In der Praxis haben sich verschiedene Varianten des Daltonplans entwickelt. So kann das Verhältnis zwischen Klassenunterricht und Freiarbeitsphasen verschieden sein. Hinsichtlich der Gruppierungsformen selbst macht der Daltonplan keine Vorschläge: sowohl Jahrgangsklassen wie altersgemischte oder nach anderen Gesichtspunkten gebildete Gruppen (z.B. Tutorengruppen nach Wahl der Schüler um einen Lehrer) sind möglich. Die Einrichtung von Fachräumen wird sich nach den jeweiligen Möglichkeiten richten; in den Grundschulen (z.B. auch in den Niederlanden) wird eher im eigenen Klassenraum, in den „subject corners“ und im zentralen „Dokumentationszentrum“ gearbeitet als in Fachräumen. Es werden verschiedene Formen der Tempodifferenzierung praktiziert: vom individuellen Fortschreiten ohne jegliche individuelle oder gruppenspezifische Zielvorgabe bis zu definierten Zielvorgaben pro Woche, Monat oder Schuljahr (divergierende oder konvergierende Tempodifferenzierung)30. Die Praxis von Hausaufgaben kann unterschiedlich geregelt sein. Gleich wie diese Fragen im einzelnen geregelt sind, gibt es doch eine zentrale „Institution“, nämlich das „assignment“, die Lern- bzw. Arbeitsaufgabe, das schriftlich fixierte Lernpensum. Parkhurst schlägt vor, das assignment mittels eines schriftlich fixierten Vertrages (als „contract-job“) zwischen Schüler und Lehrer festzulegen, eine Praxis, die in den europäischen Schulen nicht übernommen wurde. Faktisch handelt es sich mit der Ausgabe der Lernpensen freilich gleichwohl um eine vertragsähnliche Verpflichtung des Schülers, deren Einhaltung vom Lehrer entsprechend kontrolliert wird. „Es ist nicht übertrieben zu behaupten, dass der Dalton Laboratory Plan mit den assignments steht und fällt; seine erfolgreiche Einführung hängt ab vom Grade des Geschicks und des Verständnisses, mit dem sie komponiert werden.“31 Im Abschnitt „Assignment – How to make them“ werden die qualitativen Aspekte der assignments zur Sprache gebracht. Mit zahlreichen Beispielen erläutert sie deren Konstruktion und Funktion im Gesamtzusammenhang des Lernens. Als Bedingungen guter assignments nennt sie folgende: x Schriftliche, klar formulierte, zielorientierte Fassung der Lernaufgaben x Angemessenheit im Hinblick „to the mental power of the child“ x Bei starken Leistungsunterschieden in der Klasse: Differenzierung nach etwa drei Kategorien, „minimum“, „medium“ und „maximum assignment“ x Eine konsequente Stufenfolge des Lernganges, „step by step“ x Hilfreiche Anregungen und Verweise auf Studienmaterial sowie „lists of definite questions to be answered“ mit motivierendem Charakter (von Parkhurst als „interest pocket“ bezeichnet)
29
Ebd., S.112 Vgl. Popp (1995), S. 120f 31 Parkhurst (1937), S.47 30
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x
Diskussion der assignments im Kollegium zum Zwecke angemessener Gesamtforderungen und zur Herausarbeitung fächerübergreifender Gesichtspunkte Wenn die assignments auf diese Weise konstruiert werden, können sie fast die Funktion eines „assistent teacher“ erfüllen. Parkhurst entwickelt auf dieser Grundlage einen ausgefeilten Vorschlag zur formalen Gestaltung, in dem auch die Vernetzung mit dem übrigen Schulleben deutlich wird. Sie schlägt eine Gliederung in 10 Punkten vor: x Preface. Knappe, motivierende Einführung (sollte schon ein „interest pocket“ sein) x Topic. Angabe des generellen Themas (im Geographie-assignment z.B.: China) x Problems. Die konkreten Aufgaben. Beispiele: Zeichnen von Landkarten, Ausführen von Messungen und Experimenten, Übersetzungen usw. x Written Work. Die von den Schülern zu erstellenden schriftlichen Ausarbeitungen x Memory Work. Aufgaben zum Auswendiglernen z.B. Gedichte, Regeln, Lieder, Formeln usw. x Conferences. Zeitangabe der Unterrichtsstunde, der „oral lesson“, in der Arbeitsergebnisse vorgestellt und diskutiert werden (können) x References. Verweise auf Bücher und Zeitungsartikel und wo sie aufzufinden sind x Equivalents. Angabe von „units“, „Leistungseinheiten“, entsprechend der zu veranschlagenden Lernzeit. Ein „unit“ entspricht der für ein Fach an einem Vormittag vorgesehenen Lernzeit; dient vor allem der Selbstkontrolle des Lernfortschritts (zu verzeichnen im „graph“, s.u.) x Bulletin Study. Ggf. Hinweise auf Präsentationen, Bilder, Poster am „laboratory bulletin board“, d.i. die öffentliche Wandtafel x Departmental Cuts. Verdeutlichen von fächerübergreifenden Zusammenhängen. Angabe, ob eine Leistung teilweise auch für ein anderes Fach angerechnet werden kann (so dass die erreichten „units“ auf mehrere Fächer aufgeteilt werden können) Zur Veranschaulichung ihrer Vorstellungen präsentiert Parkhurst viele Beispiele. Sie beziehen sich in der Regel auf ein Vier-Wochen-Pensum, das in sich noch einmal in Wochenpensen (bzw. „units“ pro Woche) untergliedert ist. Aber weder ihre eigenen Beispiele noch die der Mitautoren des Werkes „Education on the Daltonplan“ genügen immer den gestellten Anforderungen. Ein weiterer Aspekt im Zusammenhang mit den assignments sind die verschiedenen „graphs“. Erstmalig hatte Parkhurst sie 1919 in der „Birkshire Cripple School“ eingeführt, als ihr klar wurde, dass man „irgend ein Mittel braucht, um den Fortschritt eines jeden Schülers zu überwachen“.32 Allerdings ist es nicht die Kontrollfunktion, die hier im Mittelpunkt steht, sondern auf Seiten des Lehrers die bessere Übersicht zur Planung weiterer Lernschritte und auf Seiten des Schülers die motivierende Wirkung, die von den eingezeichneten graphischen Symbolen ausgeht. Der Schüler kann nämlich seinen Wissenszuwachs gleichsam an den „Graphen“ in seiner Kontrollkarte mitverfolgen, die nach getaner Arbeit, indem die entsprechenden Fortschritte eingetragen werden, mitwachsen. Der „Pupil’s Contract Graph“ etwa ist so aufgebaut, dass die Lernfortschritte mittels einer Linie repräsentiert sind, die von unten nach oben aufsteigend über eine Tabellenleiter geführt wird. Die Tabellenkästchen repräsentieren dabei – jeweils pro Fach verzeichnet – die „units“, also die zu erbringenden Lerneinheiten. In Verbindung mit den assignmentcards kann der Schüler und der betreuende Lehrer jeweils den Lernfortschritt nach fachlichem Inhalt und bezogen auf das Gesamtziel rasch erkennen. Die Schüler führen ihren „graph“ immer 32
Ebd., S.13
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mit sich, um die jeweiligen Fortschritte selbst oder nach Begutachtung durch den Lehrer zu verzeichnen. – Heute sind in den niederländischen Schulen vereinfachte Formen der Kontrollkarten in Gebrauch und selbst einige Beispiele aus englischen Schulen in Parkhursts Werk bedienen sich wesentlich einfacherer Systeme, als die von Parkhurst entwickelten. Parkhurst beschreibt in ihrem Werk noch weitere Formen von Graphen, die der Gesamtübersicht bezogen auf ein Fach oder auf den Lernfortschritt einer Klasse dienen. Und selbst ein „Attendance Graph“ fehlt nicht, in dem verzeichnet ist, ob die Kinder „on time“ oder „late“ am Vormittag und am Nachmittag in der Schule erschienen sind. All diese Kontrollformen und die assignments haben den Sinn, eine hohe Arbeitsmoral und Leistungsbereitschaft durch ein hohes Maß an Entscheidungsfreiheit im Rahmen einer genau definierten Verbindlichkeit zu gewähren. Es handelt sich insgesamt nicht um eine starre Form, nicht um ein festes System. „Wenn intelligent angewandt“, so Parkhurst, „schafft er (der Plan) Bedingungen, die dem Lehrer zu lehren und dem Lerner zu lernen erlauben.“33 In dieser harmlos scheinenden Formulierung liegt eine massive Schulkritik. Sie besagt, dass Schüler wie Lehrer in der „alten Schule“ wegen des permanenten Kampfes gegen Nebeneffekte ihres Systems (Disziplinschwierigkeiten, Verdruss, Über- und Unterforderung der Schüler) nicht zu ihrer eigentlichen Aufgabe kommen.
6 Die „Kind-Anthropologie“ und „Psychologie“ des Daltonplans Der Daltonplan will Schule nicht auf eine neue theoretische Basis stellen, sondern die Bedingungen zum Erreichen der ihr seit je eingeschriebenen Ziele verbessern. Ebensowenig wie ein eigenes Curriculum und eine eigenständige Bildungstheorie wird man im Daltonplan eine ausgearbeitete Lern- oder Entwicklungspsychologie respektive Kind-Anthropologie auffinden. Dennoch lassen sich diesbezügliche Ansätze aufspüren oder aus den Prinzipien und Vorschlägen erschließen. Sie haben, wenn auch zuweilen nur in Nebenbemerkungen angedeutet, für den Daltonplan einen konstitutiven Sinn. Das Kind wird offensichtlich als ein Wesen gesehen, das von sich aus lernen will. Vertrauen in den Lernwillen des Kindes zu setzen und in seine Fähigkeit, nach Maßgabe seiner sich entwickelnden Verantwortungsbereitschaft Freiheit sinnvoll zu gebrauchen – diese Auffassung ist für Parkhurst grundlegend. Des Weiteren spricht sie häufig von den Bedürfnissen (needs) der Kinder und Jugendlichen, ohne sich auf bestimmte theoretische Vorgaben zu beziehen. Aus dem Zusammenhang lässt sich aber eine Reihe von „Bedürfnissen“ erschließen. Das Bedürfnis nach x Mitgestaltung der eigenen Umwelt, x freien sozialen Beziehungen, x sinnvollem Tätigsein, x Freier Bewegung (Schule sei – nach Lynch – keine „still-sittery“), x reichen sozialen Erfahrungen und Beziehungen, x erfolgreichen Lernerfahrungen (ohne Konkurrenz- und Selektionsdruck), x Anerkennung der eigenen Leistungen, x Achtung der eigenen Person. Es handelt sich also um eine – implizite – allgemeingültige Anthropologie einer selbstverantwortlichen Lebensführung in der Gemeinschaft. Das kommt auch in ihren knappen Bemerkungen zur 33
Ebd., S.28
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„Lernpsychologie“ zum Ausdruck. Sie plädiert für eine „deduktive Methode“ des Lernens, die in der Perspektive eines klaren, vom Schüler akzeptierten Zieles Anreize zum Weiterlernen enthält.34 „Das gleiche gilt auch für das Leben des Erwachsenen. Ohne Projekte wäre das Leben nicht lebenswert, ...“35 In entwicklungspsychologischer Sicht hebt Parkhurst drei Perioden heraus. Für alle Perioden gilt das Freiheitsprinzip in der Erziehung. „Liberty is at all ages equally vital to the child, for he (das Kind – E.S.) is as truly an individual in infancy as at any later stage of his life.“36 In der ersten Periode (bis zum Alter von etwa 8 Jahren), soll dem Kinde in der Weise Freiheit gewährt werden, dass es seine individuellen Kräfte entwickeln kann, um später als „responsible member of the group“ wirken zu können: „This is the reason for, and the purpose of, freedom.“ In der zweiten Periode zwischen dem achten und zwölften Lebensjahr geht es vor allem darum, die „tools of knowledge“ zu erwerben. Das wird den Heranwachsenden auf die Adoleszenz, die dritte Periode zwischen dem zwölften und zwanzigsten Lebensjahr, vorbereiten. Diese Periode sei, unter dem Aspekt von Arbeit und Konzentration, die schwierigste. In der Zeit der Prä-Adoleszenz müsse der Charakter gefestigt werden, andernfalls bestehe die Gefahr, dass der Jugendliche in den kritischen Jahren der Adoleszenz einer „line of least resistance“ folgt, also keine angemessene Arbeitshaltung und wirkliche Interessen entwickelt. Parkhursts Aufmerksamkeit und ihr Schulplan ist auf die zweite und dritte Periode konzentriert, wo es zunächst darum geht, die „Werkzeuge des Wissens“ zu erwerben und selbständig zu gebrauchen. Sie ist der Auffassung, dass erst das etwa neun- oder zehnjährige Kind ein hinreichendes Bewusstsein eigener Erfahrung besitzt, das es in die Lage versetzt, „his first job“ zu übernehmen. Vermutlich steht diese Auffassung in Zusammenhang mit der sprachlichen Abfassung der assignments. Deren Verständnis setzt ausreichende Kenntnisse im Lesen voraus. Wie bereits gezeigt, wurde ihr Konzept in den Niederlanden mit Erfolg nach „unten“ bis in den vorschulischen Bereich (für Kinder ab vier Jahren) erweitert, indem bildhafte Formen der Repräsentation von „Aufgaben“ entwickelt worden sind.
7 Zur Beurteilung des Daltonplans Parkhurst hatte offensichtlich ein Bewusstsein davon, dass ihr Plan – um mit umgekehrtem Vorzeichen ihre Wendung aufzugreifen – auch „nicht intelligent“ angewendet werden kann. Das ist vor allem dann der Fall, wenn das Arbeitsmaterial, auf das die assignments verweisen, didaktisch von geringer Qualität ist oder die „Daltonstunden“ nur für reine Übungszwecke verwendet werden. Das von Parkhurst skizzierte „interest pocket“, die motivierenden Fragen und Hinweise, verweisen auf die Notwendigkeit einer hohen didaktischen Qualität der Arbeitsmittel – während in der Praxis die assignments selbst durchaus knapp gefasst sein können. Die Lernmotivation kann von den Materialien selbst ausgehen. Assignment und materialer Hintergrund müssen also als eine Einheit betrachtet werden. In Parkhursts Werk ist das Beispiel einer englischen „Primary School“ aufgenommen. Dort wird die Aufgabenfolge für jedes Kind individuell mittels einer „work record card“ strukturiert. Sie enthält nach Fächern gegliedert Nummern von Aufgaben, die nach Erledigung vom Lehrer mit einem Haken abgezeichnet werden. – In einer heutigen engli34
Vgl. Ebd. S.108 Ebd. 36 Ebd., S.107 35
Dalton-Plan-Pädagogik 285
schen „Primary School“, die wegen der großen Heterogenität ihrer Schülerschaft den Unterricht weitestgehend individualisieren musste, habe ich den Gebrauch solcher ebenso bezeichneter Karten während einer Hospitationswoche beobachten können. (Möglicherweise liegt hier eine anonyme Tradierung vor.) Die Kinder haben diese wenig ansprechenden Karten freudig akzeptiert, weil sie wussten, dass sie der Wegweiser zu wichtigen und interessanten Aufgaben waren.37 In den Jahren zwischen 1933 und 1941 wurde in den USA eine Evaluationsstudie an 30 Sekundarschulen (High Schools), die der „Progressive Education“ zuzurechnen sind, durchgeführt. Um den Studienerfolg ihrer Absolventen feststellen zu können, wurde die Studie auf 300 Colleges ausgedehnt. „Aus der Sicht der Colleges wurde deutlich, dass die Absolventen der Progressiven Schulen zu den aufgeschlosseneren Studierenden gehörten, die mit eigenen Fragen an die Aufgabe herantreten.“38 Zu den 30 Schulen gehörte auch die damals noch von Parkhurst geleitete „Dalton Schools New York“. In dem fünfbändigen Abschlussbericht werden für die einzelnen Schulen keine konkreten Ergebnisse ausgewiesen. Aus Korrespondenzberichten geht aber hervor, dass die Leistungen in der Abschlussklasse hinsichtlich zahlreicher Aspekte – wie schriftlicher und mündlicher Ausdruck, logisches Denken, Entwickeln kreativer Ideen, Verfolgen von „wholesome interests“, Sensibilität für soziale Probleme und Verständnis von deren Bedeutung – sehr deutlich über dem Durchschnitt der Vergleichsgruppe aus „normalen“ Schulen lagen. „All of this data indicate that the new Dalton School program is making a real and vital contribution to the development of its students. In the opinion of the members of the Evaluation Staff (der „Acht-JahresStudie“ – E.S.), the Dalton School is one of the most promising school in the Study.“39 Diese von externen Evaluatoren erstellte überzeugende Wertung kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass im Konzept des Daltonplans selbst die Möglichkeit, außerschulische oder nichtcurricular gestützte schulinterne soziale Erfahrungen zum Thema oder zur Grundlage des Lernens zu machen, strukturell nicht hinreichend verankert ist. Parkhurst betont zwar wiederholt den Wert sozialer Erfahrung. Es geht ihr um „real experience“, um eine Kultur, die „durch die individuelle Entwicklung und durch kollektive Kooperation“ angeeignet wird. Die Schule bleibe dann – und hierin artikuliert sich eine zentrale Vision der amerikanischen wie der europäischen Reformpädagogik – „no longer school – it is life“.40 Dieses Leben bleibt aber doch in den Grenzen der Schule selbst und konzentriert sich um die Erfüllung der Aufgabe. Es ist die „social experience accompanying the tasks“41, nicht die soziale Erfahrung in ihrer Gänze und Komplexität als solche, von der Parkhurst „spirituelles und geistiges Wachstum“ in der Schule erwartet. Parkhurst bezieht sich zwar auf Dewey und sein Werk „School and Society“, übergeht aber dessen anspruchsvolles pädagogisches Programm. Als John Dewey und seine Frau Mary 1896 mit der Hilfe von Nachbarn ihre „Laboratory School“ in Chicago einrichteten – „Mary Dewey taught: John observed, interpreted, philosophized“42 –, gingen sie vier Fragen nach. „(1) What can be done to bring the school into closer relation with the home and neighbourhood life? (2) What can be done in the way of introducing subject matter in history and science and art that shall have a positive value 37
Die Schule ist beschrieben in: Klaßen, Theodor F.: Eine Grundschule in England. Das Beispiel der Singlegate Primary School in London, Gießen 1981 (Ferber‘sche Universitätsbuchhandlung) 38 Röhrs (1977), S.125. Zu Einzelheiten der Ergebnisse siehe auch: Röhrs, Hermann: Eine gute Schule im Geiste der Reformpädagogik und die Perspektiven für die Gegenwart, in: Vierlinger, Rupert (Hsg.): Eine gute Schule – was ist das. 10. Europäisches Symposion an der Universität Passau vom 27.7. bis 4.8.1989, Passau o.J., S.120ff, bes. S.125 39 Tyler, Ralph W., zitiert nach: Popp (1995), S.239f 40 Parkhurst (1937), S.19 41 Ebd., S.24. Hervorhebung von mir. 42 Boyd, William und Rawson, Wyatt: The Story of the New Education, London 1965 (Heinemann), S.19
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and a real significance in the child‘s own life? (3) How can instruction in reading, writing and arithmetic be carried on with everyday experience and occupations in the background? (4) How can adequate attention be paid to individuell powers and –needs?“43 Dewey hat damit im Ansatz einen sozialen Erfahrungshorizont pädagogisch-programmatisch herausgearbeitet, der weit über die Möglichkeiten des Daltonplans als Konzept hinausweist – und der im übrigen auch von Dewey selbst seinerzeit nicht in der Weise realisiert wurde, dass daraus eine schulpädagogische Tradition hätte erwachsen können. Erst im Projektgedanken seines Schülers Kilpatrick, später dann in manchen Konzepten der Arbeitsschule (insbesondere bei Gaudig) ferner bei Célestin Freinet (texte libre, classe promenade, Lesen- und Schreibenlernen als Ausdruck persönlicher und kollektiver Erfahrung) und schließlich in erfahrungsbezogenen Konzepten des (modernen) Jenaplans werden weiterführende und pädagogisch weiterwirkende Ansätze in die Diskussion gebracht. Solch ein anspruchsvoller Erfahrungsbezug hat im Daltonplan keinen konkreten systematischen Ort. Auch eine „intelligente Anwendung“ des Plans oder auch eine additive Ergänzung durch andere Unterrichtsformen kann diesen Mangel nicht ausgleichen; auch nicht die gegebene Möglichkeit für einzelne, meist leistungsstärkere Kinder, eigenen Lerninteressen nachzugehen. Erst die Entwicklung entsprechender methodisch-didaktischer Konzepte und ihre konkrete Einbettung in das Schulleben sowie deren Vernetzung mit den „tasks“ (Aufgaben) könnte in diesem Punkt weiterführen; das heißt aber auch: Wegführen vom Daltonplan und Überschreiten seiner konzeptionellen Grenzen, also einen neuen Schulplan entwickeln.
8 Die Pädagogik des Daltonplans im systematischen Überblick
Aspekte
Begriffliche bzw. inhaltliche Bestimmungen
Gründerpersönlichkeit
Helen Parkhurst (1886-1973), amerikanische Lehrerin und Reformpädagogin. Kind einer Gastwirtsfamilie, Grundschullehrerin, 1904 Einrichtung von „subject corners“ in einer einklassigen Landschule, Sekundarschullehrerin, Lehrerbildnerin, 1914 Hörerin bei M. Montessori in Rom, 1915-18 Mitarbeiterin und Vertreterin Montessoris, Begründerin des „Dalton Laboratory Plan“, benannt nach der im Februar 1920 umgestellten „Public High School“ in Dalton/Mass., von 1918-42 Leiterin der „Dalton Schools New York“. Demokratisch-liberale Grundhaltung, Betonung von Freiheit und Selbständigkeit im Rahmen der Interaktion von Individuen und Gruppen. E.J Swift „Mind in Making“, Swifts „educational invironment“, amerikanischer Pragmatismus (Dewey), Individualisierungskonzepte von Versuchsschulen, „Progressive Education“, M. Montessori.
Biographie
Weltanschauung, Politisch-päd. Kontext Einflüsse
43
Ebd.
Dalton-Plan-Pädagogik 287
„Fit for the struggle of life“, „fearless human being“, selbstbestimmtes und –gesteuertes Mitglied der Gesellschaft; zielorientierte, rationale Lebensführung: Selbständigkeit im Urteilen und Handeln. Kind-Anthropologie/ Bedürfnisse des Kindes nach Unabhängigkeit, Anerkennung, guten Psychologie sozialen Beziehungen und Erfahrungen; natürliche Lernbereitschaft im Horizont konkreter Ziele; drei Entwicklungsperioden: Kindheit, PräAdoleszenz, Adoleszenz. Erziehungsbegriff Demokratische Orientierung, „Funktionieren“ als „unit in a society“, Aneignen der moralischen und sozialen Fähigkeiten im „educational environment“ durch Umgang miteinander. Prinzipien: Freiheit und Verantwortung, Kooperation, Verfügung über die eigene Lernzeit. Lernbegriff(e) Kognitiver Aspekt: individuelles, freies, kooperatives Lernen an hand genau definierter, den Fähigkeiten angemessener Aufgaben. Wichtig: Erwerb der „tools of knowledge“: Sozialer Aspekt: die Arbeit begleitendes soziales Lernen. Lehrer „Autor“ der erzieherischen Umgebung und der Aufgaben, Ermutigung und Anerkennung gewährender Begleiter und Berater sich frei fühlender und arbeitender Kinder; in den Fachräumen: Spezialist. Lehrplan Orientierung am vorgegebenen Lehrplan. Methodisch-didaktische „Subject corner“ (Fach-Arbeitsecken, Ateliers), „Laboratory“ (FachMomente raum). „Assignments“ und „Graphen“ (Aufgaben- und Kontrollkarten), Arbeitsmittel, „conferences“ (Zusammenkünfte zur Präsentation und Besprechung der Arbeitsergebnisse), „oral lessons“ (Unterrichtsstunden), „Bulletin“ (Öffentliche Wandtafel), Phasen der Freiarbeit. Neuere Entwicklungen In den NL: Erweiterung des Daltonplans bis in die Vorschul- und Primarstufe (ab 4. Lebensjahr); Anwendung auch in der Lehrerbildung. Erziehungsziel
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Kapitel 9
Die Jenaplan-Schule. Erziehung in, durch und für die Gemeinschaft Die deutsche Universitätsstadt Jena (im Land Thüringen) ist Geburtsort eines Schulkonzeptes, das unter dem Namen „Jenaplan“ internationale Beachtung fand und weiterhin findet. Auffällige äußere Merkmale dieses Schulkonzeptes sind die Abschaffung der Jahrgangsklasse zugunsten einer jahrgangsübergreifenden Lerngruppe und die Schaffung eines anregungsreichen Schullebens mit verschiedenen methodisch-didaktischen Formen des Lehrens und Lernens. Jena ist der Ausgangspunkt einer Schulreformbewegung, der sich heute etwa 270 Schulen zurechnen.1 In Deutschland gibt es nur etwa 10 Jenaplanschulen; einige davon sind erst nach der politischen Wende 1989 in den östlichen Bundesländern entstanden. In Ungarn und in der Tschechischen Republik bestehen, ebenfalls in den Jahren unmittelbar nach der politischen Wende entstanden, einige Jenaplan-Initiativen. Vor allem in den Niederlanden wurde diese Bewegung mit inzwischen ungefähr 250 Schulen zu einem gewichtigen Faktor in der schulpädagogischen Landschaft und in der schulpädagogischen Reformdiskussion. Die Entwicklung in den Niederlanden setzte freilich erst in den sechziger Jahren ein, also lange nach dem Tode des Gründers der Jenaplan-Schule Peter Petersen und lange nachdem die „Mutterschule“ geschlossen worden war. Der geographische Geburtsort besagt jedoch noch wenig über die geistigen Wurzeln dieser Schule. Als Peter Petersen im Jahre 1924 seinen Schulversuch an der Universität Jena einrichtete, war er bereits bestens vertraut mit den pädagogischen Reformbestrebungen des In- und Auslandes. In seinem Buch „Die Neueuropäische Erziehungsbewegung“ (1926), begegnen uns die wichtigsten Reformlinien jener Zeit mit ihren Begründern, deren Ideen bis heute weiterwirken: John Dewey, Helen Parkhurst, Paul Geheeb, Maria Montessori, Rudolf Steiner und viele andere. Damit ist ein Zusammenhang angedeutet, der für Petersen eine nachhaltige Inspiration und Herausforderung bedeutete. In einem wissenschaftlich begleiteten Versuch sollten die tragenden Einsichten verschiedener Reformlinien zusammengeführt und so die Grundlagen einer „Freien allgemeinen Volksschule nach den Grundsätzen Neuer Erziehung“ geklärt und schulpraktisch erprobt werden. Die Versuchsarbeit musste in einer Zeit erfolgen, die nur in den ersten Jahren ein freies wissenschaftliches Arbeiten zuließ. Nach 1933 und auch nach dem Zweiten Weltkrieg war Petersens Werk und er selbst als Person zahlreichen Behinderungen ausgesetzt, wenngleich er den Fortbestand seiner Universitätsschule über 25 Jahre hin sichern konnte. Geboren im Kaiserreich, in dem er seine Jugend- und Studienjahre verbrachte und erste Berufserfahrung sammelte, legte Petersen den Grundstein der Jenplan-Schule in der Zeit der Weimarer Republik. Auch in der Zeit des Nationalsozialismus konnte er sein schulpädagogisches Werk weiterführen und trotz mancher Behinderungen teilweise sogar ausbauen. Die von Petersen zunächst gehegten Hoffnungen nach neuen Wirkungsmöglichkeiten im politischen System der SBZ (Sowjetisch Besetzte Zone) und später der DDR erfüllten sich nicht. So weist schon der geschichtliche Rahmen seines Wirkens, der sich über vier politische Systeme erstreckt, auf ein spannungsreiches Lebenswerk hin, das später zu manchen kritischen Nachfragen Anlass geben musste. – Petersen hat sein schulpädagogisches Werk in eine erziehungstheoretische Reflexion eingebettet, in der dem Gedanken einer organisch verbundenen Lebensgemeinschaft als Grundlage der Erziehung eine zentrale Bedeutung zukommt. 1
Ausführlich dazu siehe: Jenaplaninitiative Bayern (Hsg.): Der Jenaplan in Europa, Themenheft der Zeitschrift „Kinderleben“, Heft 15/2002; darin insbesondere: Both, Kees und Schraut, Alban: Der Jenaplan in Europa – Der Jenaplan in der Welt. Internationale Verzweigungen der Jenaplanbewegung, ebd. S.4f
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„Volk“ ist ihm eine „oberste schöpfungsmäßige Ordnung der geistigen Gemeinschaften“, eine Ordnung, die das Differente in der Gesellschaft, die Parteiungen und Klassen, zu überwinden imstande ist und die notwendige Einheit zu begründen vermag. Erziehung habe sich an der „Liebe zum Volk“ zu orientieren.2 Petersens Erziehungstheorie ist in die Kritik geraten, vor allem ihrer harmonistischen Implikationen wegen, die es erschweren oder gar verwehren, den tatsächlich bestehenden gesellschaftlichen Einfluss und die gesellschaftlichen Bedingungen im Bereich institutionalisierter Erziehung angemessen zu thematisieren. Der Wirksamkeit des Jenaplans hat diese Kritik freilich keinen Abbruch getan. Zu einer breiteren Wirkung gekommen ist der Jenaplan – bald relativ losgelöst von der Erziehungstheorie seines Begründers – zum einen als anpassungs- und entwicklungsfähiges Organisationsmodell, das die allseits bekannten und beklagten Mängel des traditionellen frontal vom Lehrer geführten Klassenunterrichts zu beseitigen oder wenigstens zu mildern im Stande ist. Zum anderen finden sich in Petersens Werk zahlreiche Momente einer erfahrungsgesättigten Theorie schulpädagogischen Handelns, die sich als tragfähig und entwicklungsfähig erwiesen haben. Schon im ursprünglichen Jenaplan sind grundlegende Motive und methodischdidaktische Momente der internationalen Reformpädagogik aufgenommen und in einer eigenen stimmigen Synthese zusammengeführt. Es ist vor allem dieser Aspekt seines Werkes, weniger seine erziehungstheoretischen Reflexionen, der eine bleibende Inspiration für die Reform die Schule darstellt.
1 Peter Petersen. Leben und Werk im Umriss Peter Petersen wird am 26. Juni 1884 in Großenwiehe als ältester Sohn einer evangelischlutherischen Bauernfamilie geboren. Der Geburtsort liegt im Norden Deutschlands in der Nähe von Flensburg nicht weit von der (heutigen) Grenze zu Dänemark. Von 1890 ab besucht er für 6 Jahre die einklassige „Landschule“ seines Dorfes, eine Zeit, die er in guter Erinnerung behalten wird. Das ländliche Leben und die dörflich-religiöse Gemeinschaft haben sein Erziehungsdenken nachhaltig geprägt. Wenn Petersen später dem Aspekt der Gemeinschaft und des Dienstes an der Gemeinschaft im Rahmen erziehungstheoretischer Reflexionen einen so bedeutenden Stellenwert zumisst, so mag das u.a. auch auf sein Erleben in den frühen Jugendjahren zurückzuführen sein. Von 1896 bis zum Abitur 1904 besucht er das Königliche Gymnasium in Flensburg. Danach führt ihn sein Studium – sein Berufsziel ist Gymnasiallehrer – in verschiedene Universitätsstädte: Leipzig, Kiel, Posen und Kopenhagen. Er widmet sich verschiedenen Studiengebieten, u.a. Philosophie, Evangelische Theologie, Geschichte, Englische Sprache, Sprachwissenschaft. In seiner Assistenzzeit in Posen und Leipzig befasst er sich im Rahmen seiner Mitarbeit an Forschungsprojekten mit Fragen zu nationalistischen Entwicklungstendenzen in Mittel- und Osteuropa respektive (in Leipzig) mit Untersuchungen über marxistische und anti-marxistische Strömungen im 19. Jahrhundert. „Das führt bei ihm zu der Einsicht, dass der orthodoxe Marxismus in einer einseitigen Sichtweise befangen ist.“3 Die materialistische Geschichtsauffassung eines Marx und seiner orthodoxen Nachfolger, so heißt es in einem unveröffentlichten Vortragsmanuskript Petersens, übersehe „die Macht der geisti2
Vgl.: Petersen, Peter (1971): Führungslehre des Unterrichts, Weinheim u.a.O.: Beltz (10. Auflage) S. 126f. Die 1. Auflage der „Führungslehre“ erschien 1937. Petersen verweist a.a.O. auf seine „Allgemeine Erziehungswissenschaft“ aus dem Jahre 1924, die eine „Volkstheoretische Grundlegung“ enthält. 3 Vreugdenhil, Cornelis (1992): De Führungslehre van Petersen, Deel 1, Historisch-pedagogisch tekst- en contextonderzoek van de onderwijspedagogiek van het Jenaplan, Groningen: Wolters-Noordhoff bv, S. 85. Bei den biographischen Notizen zu Petersen folge ich im Wesentlichen Vreugdenhil. Eine recht umfangreiche biographische Arbeit hat vorgelegt: Kluge, Barbara (1992): Peter Petersen. Lebenslauf und Lebensgeschichte, Heinsberg: Agentur Dieck.
Jenaplan-Pädagogik
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gen Faktoren“ auf die Wirtschaft und den ökonomisch-technischen Fortschritt.4 Im Mai 1908 promoviert Petersen in Jena mit der Dissertation „Der Entwicklungsgedanke in der Philosophie Wundts“. Nach der Staatlichen Prüfung für das Lehramt an Gymnasien im Februar 1909 ist er 2 ½ Jahre Hilfslehrer zunächst in Leipzig, bald an der renommierten „Gelehrtenschule des Johanneums“ in Hamburg, an der er im Jahre 1911 eine feste Anstellung als „Oberlehrer“ erhält. „Im Jahre 1912 wird er zusammen mit Kerschensteiner (dem wichtigsten Repräsentanten der deutschen Arbeitsschule – E.S.) in den Vorstand des ‘Deutschen Bundes für Schulreform’ gewählt, dessen Sekretär er wird. Im selben Jahr publiziert er seine ersten Artikel über die Reform der Schule und führt darin u.a. ein Plädoyer für selbständiges Arbeiten.“5 Seine Arbeit im „Deutschen Bund“ und anderen reformorientierten Gremien bringen ihn in Kontakt mit allen wichtigen zeitgenössischen Strömungen der Schulreform. Sie führt ihn auch zur „Reichsschulkonferenz“ 1920, in der es um die Einführung der vierjährigen für alle Kinder gemeinsamen Grundschule ging, ein Anliegen, das sich bei Petersens Schulplan in wesentlich erweiterter Form wiederfindet, nämlich als zehnjährige Volksschule für alle Kinder und Jugendlichen, gleich welcher Herkunft und Begabung. Sein Interesse gilt daneben aber auch weiterhin der Philosophie, insbesondere der Philosophiegeschichte. 1920 habilitiert er sich an der Universität Hamburg mit der Schrift „Geschichte der Aristotelischen Philosophie im protestantischen Deutschland“. In Bezug auf die spätere Konzeption des Jenaplans ist das wohl wichtigste Datum seiner Hamburger Zeit die Mitarbeit an der neugegründeten Lichtwarkschule, benannt nach dem bedeutenden Kunsthistoriker und Mitinitiator der Kunsterziehungstage (1901 Dresden, 1903 Weimar, 1905 Hamburg) und damit der Kunsterziehungsbewegung. Im Jahre 1920 wechselt er an diese Schule und arbeitet dort bis zu seiner Berufung nach Jena im ersten Jahr als Schulleiter und dann als Lehrer. Bei diesem Schulversuch geht es um die Einführung der „Deutschen Oberschule“, einer höheren Schule, die das muttersprachlich-musische Element und das deutsche Kulturgut in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellt. Neben neuen inhaltlichen Aspekten, die auch die Querverbindungen zu verschiedenen Fächern berücksichtigen, werden neue Formen der Unterrichtsorganisation erprobt, wie z.B. Kernunterricht für alle Kinder einer Lerngruppe und Kursunterricht für Lerngruppen mit vergleichbarer Leistungsfähigkeit oder gleichen Lerninteressen. „Vor allem aber stellt man das Gemeinschaftsleben der Schüler in den Mittelpunkt der Unterrichtsarbeit. In der sogenannten ‘Schulgemeinde’ arbeiten Lehrer, Eltern und Schüler zusammen. Die Erfahrungen, die Petersen während dieser Zeit sammelt, sowie der Besuch des Landerziehungsheims am Ammersee im Herbst 1912 und die hieraus gewonnenen Erkenntnisse bilden die Ansatzpunkte für die spätere Schulkonzeption: den Jena-Plan. Man darf mit Sicherheit annehmen, dass die Ideen für die neue Schulform schon weitgehend ausgereift sind, als Petersen nach Jena berufen wird.“6 Im August 1923 tritt er an der Universität Jena sein neues Amt als Professor für Erziehungswissenschaft an. Er schließt bald die im Geiste des Herbartianismus geführte renommierte Seminarschule, eine Übungsschule für die Ausbildung von Lehrern – gegen den erbitterten Widerstand der Gruppe um seinen Vorgänger Wilhelm Rein und gegen den Widerstand von Eltern. Im Jahr darauf, um Ostern 1924, wird eine eigene, mit der „Erziehungswissenschaftlichen Anstalt“ der Universität verbundene Übungsschule eröffnet. Die erste „Stammgruppe“ wird von dem jungen Volksschullehrer Hans Wolff geführt, der bald darauf (1925) zusammen mit Petersen einen ersten ausführlichen Bericht veröffentlicht unter dem Titel: „Eine Grund4
Nach einem Auszug des Vortragsmanuskriptes in: Vreugdenhil, C.: De Führungslehre van Petersen (1992): Deel 2, Aaantekeningen/Bibliographie/Register/Bijlagen, Groningen: Wolters-Noordhoff bv, S. 17 (in Anm.2) 5 Vreugdenhil, a.a.O. (Deel 1), S. 86 6 Dietrich, Theo: Die Pädagogik Peter Petersens. Der Jena-Plan: Beispiel einer humanen Schule, Bad Heilbrunn (Julius Klinkhardt) 1991, S. 26
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schule nach den Grundsätzen der Arbeits- und Lebensgemeinschaftsschulen“. Der Name „Jenaplan“ taucht hier noch nicht auf. Er wird erst von englischen Teilnehmern des Kongresses der „International New Education Fellowship“ im Jahre 1927 in Locarno (Schweiz) geprägt und von Petersen als Bezeichnung akzeptiert und fortan verwendet. Die etwas missverständliche Rede von „Plänen“ – es handelte sich ja nicht eigentlich um Pläne, sondern um konkrete Schulversuche – war insbesondere im englischsprachigen Raum üblich. Man kannte bereits, jeweils benannt nach den Städten ihrer Entstehung, den Dalton-Plan Helen Parkhursts und den Winnetka-Plan Carleton Washburnes. Auf dem Kongress in Locarno stellt Petersen erstmalig einer breiten internationalen Öffentlichkeit sein Schulkonzept vor. In erweiterter Form wird sein Vortrag noch im selben Jahr unter dem Titel „Der Jena-Plan einer freien allgemeinen Volksschule“ veröffentlicht und erlebt in der Folgezeit zahlreiche Neuauflagen und zahlreiche Übersetzungen in andere Sprachen. Es ist diese dem Umfang nach relativ bescheidene Schrift, die als „pädagogischer Bestseller“ wesentlich zum Bekanntwerden des Jenaplans beiträgt. Noch heute eignet sich diese Schrift als erster Zugang zum „historischen“ Jenaplan. Trotz der eingangs erwähnten „volkstheoretischen Grundlegung“ seiner Erziehungstheorie – und durchaus nicht im Gegensatz dazu – war sich Petersen der Internationalität des neuen pädagogischen Strebens stets bewusst. Es zielte auf die Überwindung der alten „Lernschule“ – man müsste richtiger sagen: „Lehrschule“ – hin zu einer „Erziehungsgemeinschaft“, die der freien Selbstentfaltung im verantwortlichen Miteinander Raum gewährt. Daran knüpften sich gleichzeitig, nach den Schrecknissen des Krieges, weitergehende Hoffnungen nach weltweitem Frieden, nach persönlicher Freiheit und echter Gemeinschaft. In den großen Kongressen der „New Education Fellowship“ (gegründet 1921) findet sich diese Aufbruchsbewegung zusammen: Calais 1921, Montreux 1923, Heidelberg 1925, Locarno 1927, Helsingör 1929, Nizza 1932. „In den Vorkämpfern der neuen Bewegung lebt auch allerorten das Gefühl, einer neuen Zeit zu dienen, nicht nur Schulreform zu bringen. Man spricht von New Era, L’Ere nouvelle, Schule der werdenden Gesellschaft. ... Sie ist mit vielem andern ein Anzeichen dafür, dass ein neues Europa im Entstehen begriffen ist.“7 Diese Gedanken entfaltet Petersen in seiner Schrift „Die neueuropäische Erziehungsbewegung“ (1926), einer erweiterten Fassung von Vorträgen, die er im Oktober 1923 in Kopenhagen hielt. Ausgehend von der Kritik an der „Alten Schule“ und ihrer Theorie stellt er – auch auf außereuropäische Beispiele verweisend – eine Fülle von praktischen Versuchen dar, um anschließend das „Profil der Neuen Schule und ihre Weltanschauung“ zu zeichnen. Die Kenntnis der in- und ausländischen Reformbestrebungen, seine eigene Versuchsarbeit an der Lichtwarkschule in Hamburg sowie seine erziehungstheoretischen Reflexionen bilden demnach zusammen den Ausgangspunkt seines Schulversuches an der Universität Jena. Diesen Versuch konnte Petersen ab 1924 durchführen und trotz mancher Schwierigkeiten über die Zeit der „braunen Diktatur“ retten und noch fünf Jahre nach dem Krieg weiterführen. Auf zahlreichen Vortragsreisen im In- und Ausland, weniger häufig auch noch in der Zeit des Nationalsozialismus, berichtet er über seinen Jenaer Schulversuch. Im September 1939 wird eine Kindertagesstätte der Erziehungswissenschaftlichen Anstalt angegliedert, 1942 gelingt es Petersen, an seinem Institut eine Forschungsabteilung „Das Kleinkind“ einzurichten. In der Nachkriegszeit zeichnen sich neue Wirkungsmöglichkeiten ab. So wird Petersen von der Besatzungsmacht zum Dekan der philosophischen Fakultät, später der sozial-pädagogischen Fakultät bestimmt. Er arbeitet in einer ministeriellen Kommission mit, die die Aufgabe erhält, Ausgangspunkte für die neue demokratische Schule zu erarbeiten. Bald aber folgen gravierende Einschränkungen, die schließlich zur Auflösung der Schule führen. 7
Petersen, P.: Die neueuropäische Erziehungsbewegung. Weimar 1926, S. 4
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„Kontakte mit dem Ausland verlaufen mühsam. Briefe an Piaget kommen nicht an. Eine Einladung von Freinet zum Besuch einer Konferenz seiner Bewegung im Jahre 1950 kann er nicht annehmen, weil die SED-Abteilung Jena ihm die Zustimmung versagt. – Im August 1950 wird die Universitätsübungsschule durch den Minister für Volksbildung in Thüringen geschlossen. Die 250 Schüler müssen auf andere Schulen in Jena verteilt werden. Während einer Elternversammlung in der Schule gibt der Minister als Grund für die Schließung an, dass die Schule sich nicht an den Maßnahmen der Pionier-Bewegung in der Schule und an den Wandzeitungen beteiligen will, weil Petersen der Auffassung sei, dass mit Kindern unter 14 Jahren keine Politik betrieben werden darf. Die Petersen-Schule sei ‚ein reaktionäres, politisch sehr gefährliches Überbleibsel aus der Weimarer Republik‘. Petersen bleibt gleichwohl als Hochschullehrer der Erziehungswissenschaftlichen Anstalt verbunden.“8 Am 21. März 1952 stirbt er in Jena. Seine Asche wird in seinem Geburtsort Großenwiehe beigesetzt. Dass seine Pädagogik bald eine breite, vor allem auch internationale Wirkung haben würde, war zu diesem Zeitpunkt nicht abzusehen. Mit diesen wenigen Hinweisen ist Petersens Werk freilich nicht vollständig umrissen. Mit seiner Arbeit für die Schulreform eng verbunden ist sein Eintreten für die akademische Ausbildung aller Lehrer, die er ab 1924 bis 1938 durchführen konnte; seine Konzeption einer „realistischen Erziehungswissenschaft“, die aus den Gegebenheiten der menschlichen Existenz selbst (zu denen für Petersen die existentielle Sinnfrage und die religiöse Dimension konstitutiv dazugehören) und nicht aus vorgängigen theoretischen oder politischen Bezugssystemen ihre Maßstäbe zu ermitteln sucht; ferner die Methode und Praxis der „Pädagogischen Tatsachenforschung“, mit der Petersen zum Vorläufer der modernen empirisch-pädagogischen Forschung geworden ist. Eine umfassende und wissenschaftlich tragfähige Würdigung von Petersens Lebenswerk steht allerdings noch aus. Zwar gibt es eine Reihe von Versuchen aus dem Umkreis seiner unmittelbaren oder mittelbaren Schülerschaft. Sie entstanden aus der Haltung verpflichtend erlebter geistiger Nachfolgerschaft und lassen so – bei allem Verdienst hinsichtlich der Darlegung wesentlicher Aspekte – die nötige kritische Distanz vermissen. Diese ist aber unerlässlich, insbesondere dann, wenn das zeitgeschichtliche Umfeld von Petersens Wirken miteinbezogen wird. Wir wissen, dass Petersen nicht Mitglied der NSDAP war, gleichwohl aber seine Arbeit nach 1933 fortführen konnte. Eine kritische Herangehensweise muss die Frage nach Petersens Verhältnis zur NS-Ideologie ernsthaft (und nicht in nur verteidigender oder nur anklagender Absicht) und mit historischer Sensibilität für die Lebensumstände der Zeit stellen. Nur so können krasse Fehlurteile wie „Petersen – der Fabrikateur einer faschistischen Bildungsideologie“9 oder „Petersen – ein Mensch rein demokratischer Gesinnung, die er auch öffentlich bekannte“10 korrigiert werden. Petersens teils anpassungsbereite teils mutige Haltung in der NS-Zeit hat den gegensätzlichen Urteilen Vorschub geleistet, und diese Ambivalenz erschwert durchaus eine ausgewogene Wertung. Erst die jüngere Diskussion in den Niederlanden und in Deutschland hat hier differenzierte Wege beschritten und zu angemesseneren Urteilen geführt.11 8
Vreugdenhil, a.a.O., Deel 1, S. 100 Heydorn, H.J.(1980): Ungleichheit für alle. Zur Neufassung des Bildungsbegriffs. Bildungstheoretische Schriften Band 3, 2. Aufl., Frankfurt , S.237 10 Rutt, Theodor (1984): Peter Petersen - Leben und Werk, Heinsberg: Agentur Dieck, S.218 11 Zu dem in Anm. 1 und 2 genannten Werken seien zu diesem Problemkreis zusätzlich angeführt: Oelkers, Jürgen (1989): Petersen und der Nationalsozialismus. In: Keil, W. (Hsg.) (1989): Pädagogische Bezugspunkte Exemplarische Anregungen. Festschrift für Hans Scheuerl, Regensburg, S.99-130. Skiera, Ehrenhard (1990): Peter Petersens politisch-pädagogisches Denken in der Zeit des Nationalsozialismus. Versuch einer textherme9
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Indessen besteht ein breiter Konsens hinsichtlich der Beurteilung der schulpädagogischen Leistung Petersens. Selbst viele Kritiker erkennen an, dass in der Schulwelt des Jenaplans, sowohl in der Weimarer Zeit, als auch in der NS- und Nachkriegszeit ein Freiraum zur Mitgestaltung des Schullebens, zur Entfaltung eines individuellen Arbeitsrhythmus’ und insgesamt ein vielfältiges pädagogisch durchdachtes und anregungsreiches Lernklima geschaffen wurde. In dieser Hinsicht besteht eine Kontinuität zu den heutigen Jenaplanschulen, während in Bezug auf die erziehungstheoretischen Annahmen durchaus gravierende Unterschiede zu konstatieren sind.
2 Der weltanschauliche und erziehungstheoretische Hintergrund 2.1 Erziehung, Gemeinschaft und Gesellschaft bei Petersen Petersens Erziehungsdenken ist die Unterscheidung zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft eigentümlich. Unter Gesellschaft versteht er die Handlungsbereiche der „Lebensnot“, Wirtschaft, Politik, Institutionen, deren Zweck darin besteht, menschliche Not zu lindern. Als zweckorientierte Veranstaltungen wohnen ihnen keine vergeistigenden, d.h. erzieherischen Funktionen inne. Er warnt davor, „das Schulleben auf ‚gesellschaftliche‘ Grundlagen“ stellen zu wollen. „Es ist fast erschreckend, zu beobachten, wie schnell es eine Klassengemeinschaft satt hat, diese Ämtergeschichten, diese Beratungen, Abstimmungen, Wahlen usf. vorzunehmen“12. Erst in der Gemeinschaft, die einen ursprünglichen Bezug besitzt zum „Grunde des Seienden“ kann sich Erziehung ereignen in dem Sinne, dass die „geistigen Tugenden“ zur Wirkung kommen, „erblühen“: „Güte, Liebe, Treue, Demut, echtes Mitleid, Leid, Andacht, Ehrfurcht, reiner Gehorsam, Dienst.“13 Die Grundlage der Erziehung ist aber nicht nur in den konkreten Gemeinschaften zu suchen, sondern darüber hinaus bestimmt Petersen „Erziehung als kosmische Funktion“14 und das bewusste Erziehen als den „menschliche(n) Versuch, einer kosmischen Funktion ihre Wirkart und ihre Gesetzlichkeit abzulauschen“. Das kann wegen der prinzipiellen Erkenntnisgrenzen immer nur annäherungsweise gelingen. Letztlich wirke die „Irrationalität der Erziehungswirklichkeit“ in der „pädagogischen Sphäre“ nach und dürfe auch nicht durch „technisch-rationale Veranstaltungen .... erstickt“ werden.15 In der geistdurchwirkten Gemeinschaft nun steht der Mensch in einer „schöpfungsgemäßen Verbundenheit“, in einer „Ursprungsgemeinschaft“. Auf den geistigen Tugenden „ruht jede Gemeinschaft, angefangen von den kleinsten Zellen, von der Familie, bis hinauf zur höchsten, der Gemeinschaft des Volkes.“16 Petersen glaubt nun, mit dieser Bestimmung „das oberste und einzige Erziehungsziel, ein Ziel, das zudem ewig ist“17 gefunden zuhaben. Während sich Bildungsziele „aus der Zeitlage und der Lebensnot eines Volkes heraus wandeln“18, gilt das für die geistigen Tugenden, also für das oberste Erziehungsziel, nicht. „Und wo immer wir menschliche Gemeinschaft finden, Menschen, die selbstlos füreinander da sind und tätig sind, wie sie am schönsten in der Gemeinschaft von Mutter und Kind als reinstem Urbild allen
neutischen Kritik, in: Pädagogische Rundschau, Jg. 44, Heft 1990, S.25-41. Benner, D. und Kemper, H. (1991): Einleitung zur Neuherausgabe des Kleinen Jena-Plans, Weinheim und Basel: Beltz 12 Vgl. Petersen 1971 (siehe Anm.1), S. 79 13 Petersen, ebd. S. 227 14 Vgl. Petersen, Peter: Der Ursprung der Pädagogik, Berlin 1931, §2 15 Petersen 1971, S. 15 16 Ebd., S. 227 17 Ebd., S.228 18 Ebd.
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Erziehens gegeben ist, dort ereignet sich Erziehung“19. Durch die Bestimmung des „ewigen“ Erziehungsziels werden die zugeordneten Gemeinschaften in eine metaphysische Distanz gerückt und damit einer historischen oder kritisch-relativierenden Sicht enthoben. Das zeigt sich auch für Petersens Begriff des Volkes, an dem er über den Wandel der Zeit unbeirrt festhält. Das soll mit einem längeren Zitat belegt werden. Im Jahre 1937 heißt es ebenso wie in der Nachkriegsausgabe 1949 der „Führungslehre des Unterrichts“, dem schulpädagogischen Hauptwerk Petersens (nachdem er auf die Gefahr für das Pädagogische von Seiten der Politik hingewiesen hat): „Die Liebe zum Volk, als eine Klassen und Parteien überwindende Liebe zum Volk ist es ganz allein, die ein Volk zusammenhält; sie ist darum jeden Lehrers oberste Norm für sein Handeln und Reden in der Schule. ... Denn“ – und nun zitiert Petersen aus seinem Werk „Allgemeine Erziehungswissenschaft“ aus dem Jahre 1924, das eine „Volkstheoretische Grundlegung“ der Erziehungswissenschaft enthält, von ihm konzipiert im Jahre 1920/21 –: „‘Volk ist die oberste schöpfungsmäßige Ordnung der geistigen Gemeinschaften, deren Glieder auf dem Grunde einer gemeinsamen Natur und Sprache und einer gemeinsamen Kulturarbeit vieler Geschlechter in Vergangenheit und Gegenwart stehen; sie umspannen die auf diesem Grunde entstandenen idealen Güter und Werte mit allen Liebeskräften ihres Blutes, ihres Gemütes, ihrer Innerlichkeit und erwerben sie in ihrem Leben und Handeln täglich neu, um sie dem zukünftigen Geschlechte zur Arbeit daran zu überliefern’“20. Es handelt sich hierbei um zeitbedingte Anschauungen. Für Petersens Erziehungsdenken haben sie einen konstitutiven Charakter. In der Unterscheidung von Gesellschaft und Gemeinschaft zeigt sich eine polare Denkstruktur, die überhaupt typisch ist für Petersens Reflexion. Gemeinschaft zu Gesellschaft, Erziehung zu Bildung, Persönlichkeit zu Individualität werden in ihrem Verhältnis zum Geistigen definiert und bewertet. Ersteres entsteht, wo das Geistige zum zweiten hinzutritt. Die gemeinschaftsfähige Individualität ist nicht mehr nur Individualität, sondern Persönlichkeit. Als bloße Individualität wäre der Mensch im Sinne Petersens nur ein (möglicherweise) hochgebildetes Einzelwesen, das in der Gesellschaft wohl etwas zu leisten imstande ist, aber bei den menschlichen Gemeinschaftsaufgaben versagen muss. So ernst Petersen den Gedanken der volkstheoretischen Grundlegung auch genommen hat, ist doch zu betonen, dass ihm in Bezug auf den Jenaplan nur eine untergeordnete Bedeutung zukommt. Die Termini „Ursprungsgemeinschaft“, „Volk“, „schöpfungsmäßige Verbundenheit“ und dergleichen weisen hin auf die – verständliche aber irrationale – Sehnsucht nach Einheit, nach Aufhebung der in der modernen Welt als schmerzlich erfahrenen Gegensätze. Es sind, so kann man zugespitzt sagen, sozial-immune Begriffe, weil in deren Rahmen reale, sozial bedeutsame Gegensätze nicht erkannt, geschweige denn vermittelt oder ausgeglichen werden können. In der Gemeinschaft stehen sie nicht auf der Tagesordnung, werden temporär suspendiert oder verdrängt und auf die „Gesellschaft“ geschoben, aus der sie kommen und wo sie hingehören. Die fraglichen Termini werden bei Petersen immer dann bemüht, wenn es um Letztbegründungen seines Erziehungsbegriffs geht, tangieren aber das Konzept als schulorganisatorisches und methodisch-didaktisches System sowie die meisten der damit verbundenen pädagogischen Fragen kaum. Hier kommt eher der Erfahrungszusammenhang der internationalen Reformpädagogik überhaupt und Petersens praktische (und pragmatisch bestimmte) Versuchsarbeit vor der Jenaer Zeit und in Jena zur Geltung. Das sind die entscheidenden Quellen des Jenaplans, und sie sind es vor allem, die ihn zu einem praktikablen, entwicklungsfähigen und einflussreichen Modell werden ließen.
19 20
Ebd., S. 25 Ebd., S. 126. Hervorhebungen von Petersen.
296 Reformpädagogik
2.2 Zum Verhältnis von Petersens Erziehungstheorie zum heutigen Jenaplan Petersens „volkstheoretische“ Grundlegung und Geistmetaphysik wurde in praxisnahen Reflexionen in der Nachkriegszeit und insbesondere in den Niederlanden schlichtweg übergangen oder umgedeutet. Eine gewisse Kontinuität zeigt sich wohl in der Betonung des Gemeinschaftsgedankens, der aber nun mit eigenen religiösen, sozial-pädagogischen oder psychologischen Akzentuierungen besetzt wird. Rhetorisch wird das bei den programmatischen Äußerungen der Jenaplan-Bewegung in den Niederlanden zunächst noch als Suche nach den tragenden Prinzipien der Jenaer Universitätsschule ausgegeben; so etwa bei Susan Freudenthal-Lutter (1908-1986), die sich als Initiatorin der niederländischen Jenaplanbewegung große Verdienste erworben hat.21 Sie vermittelte ihre Version des Jenaplans im Hinblick auf aktuelle Reformbedürfnisse. Das von ihr formulierte „Credo“ wurde auf der Umschlagseite der von ihr ab 1978 herausgegebenen Jenaplanzeitschrift „Pedomorfose“ abgedruckt. Ihre Jenaplanschule als Lebens- und Arbeitsgemeinschaft wurzelt nicht mehr in einem metaphysischen Urgrund schöpfungsmäßiger Verbundenheit, auch nicht mehr in der Volksgemeinschaft. Und die von Petersen zeitlebens eingeforderte Distanz zu politischen Bestimmungen im Raum der Erziehung erfährt eine Relativierung, indem des Öfteren von Demokratisierung gesprochen wird. Ferner ist von der Förderung des kritischen Denkens die Rede, wo doch Petersen das kritische, rationale Denken als positive Kategorie der Erziehung nicht kannte, da es nach seiner Ansicht dem irrationalen Charakter echter Erziehung, ihrer einigenden Funktion und echter Gemeinschaftsbildung, widerspricht. Das bedeutet, dass der Jenaplan in den Niederlanden pragmatisch und eklektizistisch in den jeweiligen Kontext der aktuellen pädagogischen und sozialwissenschaftlichen Diskussion eingepasst wurde – freilich ohne die Bezüge zu Petersen in jeder Hinsicht aufzugeben! In Freudenthals Jenaplan-Konzept heißt es zum Beispiel: „Es geht in der Jenaplanschule um eine grundlegende Veränderung, die Humanisierung und Demokratisierung des Lebens- und Arbeitsklimas ...“ Das setzt voraus, dass den Kindern „Freiheiten verschiedener Art geboten werden, z.B. Freiheit der Bewegung, der Wahl des Arbeitsplatzes und des Lernstoffes, der Meinungsäußerung usw. ... Die in einer Stammgruppe notwendigen Verhaltensnormen müssen aus der täglichen Konfrontation mit den Freiheiten anderer erwachsen sein.“ Und: Das Gespräch im Kreis „garantiert eine offene Problemstellung, die kritisches Denken sowohl voraussetzt als auch stimuliert.“22 Die Unterschiede zu Petersen sind deutlich.23 Aber auch auf die Kontinuität muss hingewiesen werden. Sie betreffen im zitierten Beispiel die Aussagen über die Freiheiten der Kinder. Diese korrespondieren u.a. mit den Aussagen Petersens zu den „Grundkräften des Kindes“ und ihrer Berücksichtigung in der Schule. Darauf komme ich weiter unten noch zu sprechen. Während Freudenthal-Lutter noch häufig auf Petersen Bezug nimmt, wenn auch recht selektiv und eigenwillig, reduziert sich dieser Verweisungszusammenhang in den programmatischen Verlautbarungen und schulpraktischen Konzepten der heutigen Jenaplanschulen mehr und mehr. Das gilt vor allem für Petersens erziehungstheoretische Grundlagenreflexion, weit weniger aber für jene pädagogischen Denkansätze und organisatorischen Maßnahmen, die sich 21
Freudenthal-Lutter, Susan (1970): De Jenplanschool - een leef- en werkgemeenschap, Utrecht Freudenthal-Lutter: Jenaplan - Uitdaging en Antwoord, Umschlagtext zu „Pedomorfose“; auch wiedergegeben in: Skiera, Ehrenhard (1982): Die Jena-Plan-Bewegung in den Niederlanden. Beispiel einer pädagogisch fundierten Schulreform, Weinheim und Basel: Beltz, S. 469 23 Erstmalig wird die Theorieentwicklung im Bereich der Jenaplanschule von Petersen über seine unmittelbare Schülerschaft bis zu niederländischen Autoren kritisch untersucht von: Imelman, J.D.; Jeunhomme J.M.P.; Meijer, W.A.J. (1981): Jenaplan - wel en wee van een schoolpedagogiek. Begripsanalytisch kritiek en handelingsonderzoek, Nijkerk: Uitgeverij Intro. 22
Jenaplan-Pädagogik
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unmittelbar auf die schulpraktische Arbeit beziehen. Das wird in den nächsten Abschnitten noch deutlich werden. Es geht im Folgenden darum, die ursprünglichen pädagogischen Ansätze, soweit sie die Gestalt des heutigen Jenaplans maßgeblich geprägt haben, und gegebenenfalls ihre Modifikationen bzw. Erweiterungen aufzuhellen. Zu fragen ist zunächst nach den kind-anthropologischen Grundlagen, den Grundformen der Bildung, den inhaltlichen Aspekten des Unterrichts (Lehrplan) und ihre didaktische Beziehung zum Kind sowie nach den Aufgaben des Lehrers.
3
Die pädagogische und kind-anthropologische Grundlegung des Jenaplans
3.1 Die „Grundkräfte“ des Kindes und ihre Berücksichtigung in der Schule Petersen plädiert entschieden dafür, „die Gesamtheit der Lebensäußerungen des Kindes in allen schulischen Aufgaben zu beachten, nein, mitaufzunehmen“24 Er nennt in diesem Zusammenhang vier Grundkräfte des Kindes: x x x x
Bewegungsdrang, Tätigkeitsdrang, Gesellungstrieb „Wie drängt es da Kind zum Kinde!“, Lerntrieb, des „Kindes wunderbare Fähigkeit, natürlich zu lernen“.
Von der „Fähigkeit natürlich zu lernen“ sagt Petersen, dass der Mensch sie „bisher mit Hilfe der Schule mehr und mehr verlernt“25, wie überhaupt die Rede von den Grundkräften eine Kritik der Alten Schule impliziert. Sie sind geradezu als Reflex auf das formuliert, was die Alte Schule nicht leistet. In die Schulstuben kommen Kinder, so Petersen, „quellenden Lebens voll ...: hungernd nach Bewegung, weil ihr wachsender Körper sie noch nötiger braucht als das tägliche Brot; ....; voller Tätigkeitsdrang, zu gestalten, zu schaffen, ordentlich etwas zu tun, neues, nie geahntes Werk zu tun, zu werden wie die Großen; voller Freude, mit so vielen Kindern beisammen zu sein, mit denen man so viel sprechen, spaßen und spielen kann; in der Vollkraft des natürlichen Bildungsdranges, die große geheime Kunst des Schreibens und Lesens und alles dessen, was die Schule lehrt, beherrschen zu lernen. Was soll man da mit ihnen machen? – Es gibt wirklich nur zwei Wege: entweder man sorgt dafür, dass sie so bald als möglich lernen, still und artig zu sein, ruhig auf den Plätzen auszuharren, bis Aufstehen und Hinausgehen erlaubt werden, den Mund zu halten, bis man gefragt wird, und was des Bekannten noch mehr ist, um sie ganz den Schranken formaler Disziplin zu unterwerfen. Oder man sucht den Schulraum so zu gestalten und darin nun – das ist das Entscheidende! ein Schulleben zu entwickeln derart, dass alle jene vier Grundkräfte, jene natürlichen Antriebskräfte und Motoren soweit nur irgend möglich ausgenutzt werden, ..., ja dass sie alle gerade denjenigen Aufgaben dienstbar gemacht werden, welche eine Schule zu erfüllen hat.“26 Dieser Aspekt der Schulpädagogik Petersens wurde insbesondere in den Niederlanden akzentuiert – und weitergeführt. Er bestimmt das pädagogische Selbstverständnis in entscheidendem Maße: die Jenaplanschule wird dort als „Kind-anthropologische Schule“ bezeichnet. Bei der Bestimmung der „Anthropologischen Identität der Jenaplanschule“ ist man – im Bemühen
24
Petersen, 1971, S. 143 Ebd., S.95 26 Ebd. 25
298 Reformpädagogik
um eine konzeptionelle Weiterentwicklung – über die Aussagen Petersens weit hinausgegangen. Einbezogen werden u.a.: x
x
x
Aussagen von Martinus Langeveld, dem niederländischen Pädagogen und Psychologen (die von Langeveld formulierten vier „Grundgegebenheiten der psychischen Entwicklung“ sind: das biologische Moment, das die Versorgung hinsichtlich der physischen Bedürfnisse betrifft; das Prinzip der Hilflosigkeit der Welt gegenüber, das nur durch die Beachtung des Prinzips der Geborgenheit ausgeglichen werden kann; das Prinzip der Exploration als Ausgreifen in die Welt), Aussagen des amerikanischen Pädagogen John I. Goodlad (fundamentale Bedürfnisse des etwa vier- bis neunjährigen Kindes: Aufbau gesunder Beziehungen mit a) den Dingen in seiner Schulumgebung, b) den Erwachsenen in der Schule, c) den Kindern in seiner Gruppe – und im Zusammenhang damit die Entwicklung eines gesunden Selbstbildes), ferner die Bedürfnistheorie des amerikanischen Psychologen Abraham Maslow (die „basic needs“, die fundamentalen Bedürfnisse nach Maslow: Physiologische Bedürfnisse und Bedürfnisse nach: Sicherheit, Zugehörigkeit und Liebe, Anerkennung und Achtung, Selbstverwirklichung, Wissen und Verstehen, ästhetischer Wahrnehmung).27
Die Beachtung dieser Aspekte ist von dem Willen getragen, die Jenaplanschule als „Schule des Kindes“ zu konzipieren und zu entwickeln.
3.2 Die Bildungsgrundformen Gespräch, Spiel, Arbeit und Feier Die Überschrift kündigt schon an, dass es um die Frage geht, in welchen Formen Erziehung und Bildung in der Schule realisiert werden. Die Konzeption der Bildungsgrundformen kann als der Versuch angesehen werden, die einseitige frontale Ausrichtung des Unterrichts in der herkömmlichen Schule zu überwinden und das Kind als „ganze Person“ anzusprechen. Ferner bedeutet sie ein weiteres Moment der anthropologischen Fundierung der Jenaplanschule. Petersen nennt vier „Gemeinschaftsformen des Sich-Bildens und Lernens“ oder auch „Urformen“, ein Ausdruck, der auf die vor-pädagogische Verwurzelung dieser Formen in der Wirklichkeit des Menschen verweist: „Gespräch (Unterhaltung); Spiel; Arbeit und Feier“28. In den verschiedenen Situationen der Schule kommt es darauf an, in möglichst lebens- und wirklichkeitsnaher Weise diese Formen zur Geltung zu bringen. Am Kreisgespräch etwa beteiligt sich der Lehrer mit seinem Wissen und Können als anregender Begleiter, entwickelt es nicht so sehr im Sinne des fragend-entwickelnden Gesprächs, sondern lässt es sich entwickeln, sorgt für einen pädagogisch sinnvollen Ablauf.29 Das Spiel – in der Alten Schule verbannt oder bestenfalls in der Pause geduldet – wird als eigenwertige Bildungsgrundform in Schularbeit und Schulleben aufgenommen und in altersangemessener Weise berücksichtigt. Der Arbeit kommt eine zentrale Funktion zu, nicht im Sinne ökonomischer Zwecke, sondern 27
Vgl. dazu: Skiera (1982) a.a.O. (Anm.12), S. 303 ff der Abschnitt „Die anthropologische Grundlegung“. Eine theoretische Synthese mit schulpädagogischen Erwägungen enthält: a) Skiera, E.(1985): Die kindgerechte Schule als Ort bildender Begegnung mit der Welt. Versuch einer anthropologisch-pädagogischen Begründung, in: Skiera, E. (Hsg.): Schule ohne Klassen. Gemeinsam lernen und leben. Das Beispiel Jenaplan, Heinsberg: Agentur Dieck; b) Skiera, E.(1986): Grundzüge einer anthropologischen Pädagogik, dreiteilige Aufsatzserie in: Erziehungswissenschaft – Erziehungspraxis, 1986/2-4 28 Petersen (1971), S.33. Vgl. dazu auch: Klaßen, Theodor F.: Die Bildungsgrundformen Gespräch, Spiel, Arbeit und Feier im Jena-Plan Peter Petersens, Dissertation Münster 1968 29 Vgl., ebd. S. 204
Jenaplan-Pädagogik
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als Möglichkeit zur Entfaltung der Selbsttätigkeit, zum selbsttätigen Erwerb von Wissen und zur Entwicklung von Fertigkeiten, gleichsam als Arbeit an sich selbst; auch als „innerliches Arbeiten“, zu dem das „Nachdenken in Muße gehört“30. In der Gruppenarbeit und in den verschiedenen Kursen sieht Petersen den pädagogischen Sinn der Arbeit am besten gewahrt. Die Feier dient insbesondere der Gemeinschaftsbildung, sie hat einen „erhebenden Sinn“, zielt auf gemeinsames Erleben, und in geglückter Form entsteht eine „wahre Gemeinschaft der Feiernden: der Spieler und der Zuschauer, der Redenden und der Lauschenden.“31 Die folgende Übersicht nennt verschiedene pädagogische Situationen der Jenaer Universitätsschule in ihrem schwerpunktmäßigen Bezug zu den Bildungsgrundformen. Zu beachten ist, dass pädagogische Situationen häufig einen Bezug zu mehreren Bildungsgrundformen aufweisen.
Bildungsgrundformen Korrespondierende pädagogische Situationen Gespräch (Unterhaltung) Kreisgespräch, Berichtskreis, Vortrag, Aussprache, Lehrgang, belehrende Unterhaltung, Frühstück Spiel Freies Spiel, Lernspiele, Pausenspiele, Turnspiele, Schauspiel Arbeit Gruppenarbeit, Kurse: Einführungs-, Niveau-, Sonder-, Einschulungskurse Feier Morgenfeier, Wochenschluss-, Advents-, Weihnachts-, Geburtstags-, Schulgeburtstags-, Verabschiedungsfeier, Aufnahmefeier für Schulanfänger, Pädagogische Rückschau Zur terminologischen Klarheit ist darauf zu achten, dass die Bildungsgrundformen, die ja Grundverhaltensweisen des Lernens und Sich-Bildens – nicht des Lehrens – bezeichnen, deutlich von den pädagogischen Situationen zu unterscheiden sind. Die pädagogische Situation wird durch die Aktivierung der Bildungsgrundformen in konkreten Sozialformen konstituiert, die um bestimmter sinnvoller Inhalte willen gebildet werden. Ein Beispiel: es wird ein Gespräch (Bildungsgrundform) im Kreis (Sozialform) über die Arbeitsergebnisse (Inhalt) geführt. Pädagogisch ist eine Situation durch die unmittelbare (z.B. durch persönliche Ansprache) oder mittelbare Einwirkung (etwa durch die Bereitstellung von Arbeitsmitteln) des Pädagogen: Im Sprechen über, Spielen mit, Arbeiten an und Feiern von etwas wird die pädagogische Situation und der pädagogische Sinn konstituiert, indem der Pädagoge seine Absicht in das „Was“ und das „Wie“ dieses „Etwas“ hineinlegt. Während also die Zahl der möglichen pädagogischen Situationen wegen der vielfältig möglichen pädagogischen Absichten praktisch unbegrenzt ist, können sie, was ihre Form betrifft, immer auf die vier Bildungsgrundformen zurückgeführt werden. Der praktische Sinn der Konzeption besteht nun darin, zur Vermeidung von Einseitigkeiten diese Formen bei der Gestaltung der pädagogischen Situationen und ihrer zeitlichen bzw. rhythmischen Abfolge in pädagogisch ausgewogener Weise zu berücksichtigen. Die heutigen Jenaplanschulen haben eine große Anzahl der genannten pädagogischen Situationen übernommen, einige weiterentwickelt, aber auch andere und neue hinzugefügt: Projektarbeit, Freie Arbeit, Arbeitstechniken der Freinet-Pädagogik, Wochenplanarbeit (Lernen nach einem individuell abgestimmten Plan), in den Niederlanden die sogenannte „Blockstunde“ 30
Vgl., ebd. S. 39. Ferner: Petersen, P. und Förtsch, a.: Das gestaltende Schaffen im Schulversuch der Jenaer Universitätsschule 1925-1930, Weimar 1930 31 Petersen (1971), S. 106 und 107
300 Reformpädagogik
(ca. 100 Minuten am Vormittag), die der individuellen Arbeit oder der Arbeit in Gruppen gewidmet ist.
3.3 Der Lehrplan und das Lernen des Kindes Petersen geht es nicht darum, einen neuen Lehrplan zu entwickeln, sondern „die alten, ewig wichtigen Lernaufgaben anders und neu“ in das Schulleben einzuordnen, „damit sie genau so gesichert bleiben, wie bisher, möglichst aber noch besser bewältigt werden.“32 Als Quellen der Lerninhalte sieht er die „drei großen Wirklichkeiten“ „Gott, Natur und Menschenwelt ..., in denen und vor denen jeder Mensch sein Leben gewinnen und führen muss.“33 Er schließt sich im Wesentlichen den „Grundlinien des Lehrplans“ (1873) von Friedrich Wilhelm Dörpfeld an, der die Stoffgebiete um diese drei „realen Lebenssphären“ ordnet. Zugleich geht Petersen über den Lehrplan – als bloßes Mittel der Tradierung von Kulturinhalten – hinaus. „Gekanntes, Gekonntes, Gewusstes“ muss zwar tradiert werden. „Neben diesem steht als das weit Wichtigere die Pflege der geistigen Fähigkeiten der jungen Generation, um anderes, Neues, noch nicht Dagewesenes zu entdecken, zu gestalten, zu leben und darzustellen.“ „Es ist kein Ende dessen abzusehen, was der Mensch aus seiner eigenen Innerlichkeit an Gestaltungsformen im künstlerischen Schaffen und auf allen Gebieten herausstellen kann. Und das wird für uns der letzte Grund dafür, dass wir den Schülern Freiheit der Forschung im Umgang mit den Stoffen geben müssen“.34 Petersen will aber auch die „alten Lernaufgaben“ „besser bewältigt“ wissen. Ein wichtiges Mittel dazu ist die Bereitstellung von Arbeitsmitteln. „Arbeitsmittel ist ein Gegenstand, der mit eindeutiger didaktischer Absicht geladen ist, hergestellt, damit sich das Kind frei und selbständig dadurch bilden kann.“35 Diese widersprüchlich anmutende Definition fast seine „Pädagogik der Arbeitsmittel“ zusammen. Ein gutes Arbeitsmittel genügt den folgenden sieben Kriterien (hier verkürzt wiedergegeben): x x x x x x x
es enthält einen Anreiz zur Beschäftigung; es lässt von sich aus oder nach einer Einführung erkennen, was damit zu tun ist; es enthält eine Kontrollfunktion für die rechte Verwendung und Lösung; es enthält Anreize zu Wiederholungen; es enthält Anreize zum Weitergehen – es muss „von sich aus weiterführen“; es erzieht zu einer wertvollen Arbeitshaltung; es bietet dem Lehrer Gelegenheit zum besseren Beobachten und Verstehen der Kinder.
Ausgehend von den Ansätzen Petersens geht es in den heutigen Jenaplanschulen um die Ausarbeitung einer Didaktik, die den Prinzipien der Lebensnähe, des vernetzten, fächerübergreifenden Lernens sowie der Selbsttätigkeit genügen. Es gibt bereits viele fruchtbare Ansätze – einige werden später noch deutlich werden – eine systematische Erschließung, Kritik und ggf. Synthese dieser Ansätze steht aber noch aus. Am weitesten in dieser Richtung ist das niederländische Konzept der „Arbeitsform für die Weltorientierung“ gediehen. Es stellt den Versuch dar, in dialogisch-kooperativer Form zwischen kindlichem Lerninteresse und pädagogischem Anspruch zu vermitteln und in diesem Prozess Lernaufgaben zu entwickeln, zu lösen, zu evaluieren und weiterzuführen. Aus dem 32
Ebd., S. 108 Ebd., S. 27 Ebd., S. 30 (Hervorhebung von Petersen) 35 Ebd., S. 182 33 34
Jenaplan-Pädagogik
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Gesprächskreis, in den das Kind seine Fragen einbringt und in dem der Lehrer „FragWürdiges“ in den geistigen Horizont der Kinder stellt, werden lebensbedeutsame „weltorientierende“ Themen und Aufgaben entwickelt. Deren Ergebnisse, die möglichst in selbständiger Arbeit entstehen sollen, werden wiederum ins gemeinsame Gespräch eingebracht und ausgewertet, auch im Hinblick auf offengebliebene oder weiter zu verfolgende Fragen. Aber auch in Lernbereichen, die von ihrer Struktur her ein strafferes methodisches Vorgehen nahelegen, wie anfängliches Rechnen, Lesen und Schreiben, gibt es zahlreiche interessante Beispiele für den Versuch, diese in den Prozess der „Weltorientierung“ einzubinden.36 So wird etwa in vielen niederländischen und deutschen Jenaplanschulen (übrigens in Anlehnung an Freinet) das Lesen- und Schreibenlernen aus der zeichnerischen Darstellung eigener Erlebnisse entwickelt, so dass dem Kind der Zusammenhang zwischen eigenem Erleben und schriftsprachlichem Ausdruck von Anfang an deutlich wird. Insgesamt gilt es, dem Kind nach Möglichkeit bei jedem Lehr/Lernprozess den Zusammenhang mit seinem Leben und den Sinn für sein Leben deutlich werden zu lassen. 3.4 Die Aufgaben des Lehrers Schon in den vorangegangenen Abschnitten war, mehr oder weniger ausdrücklich, von den Aufgaben des Lehrers die Rede. Deutlich ist bereits, was er nicht mehr in erster Linie ist: Fachmann für die Vorbereitung, Durchführung und Auswertung von Unterrichtsstunden. Im Jenaplan ist er das weiterhin, aber nur in den Stunden bzw. Kursen, in denen ein lehrgangsmäßiges Arbeiten vorgesehen und angebracht ist. Petersen spricht in seiner „Führungslehre des Unterrichts“ von Führung des und Führung im Unterricht. „Führung des Unterrichts“ bezieht sich auf alles Handeln, das unter pädagogischen Gesichtspunkten der Vorbereitung des Unterrichts und des Schullebens dient. Dazu gehören zum einen „die Einrichtung der Räume; Gruppierung der Kinder; Wochenarbeitsplan; Arbeitsmittel aller Art usf.“, auch die Regeln des Zusammenlebens und -arbeitens („Gesetz der Gruppe“), zum anderen Entscheidungen über methodische Fragen, „über das jeweils Bessere oder Zeitgemäßere oder das eher Zweckentsprechende.“ Dabei geht es darum, dass der Lehrer gewissenhaft nach dem Stand der wissenschaftlichen Diskussion und in Hinsicht auf seine konkrete Situation entscheidet und seinen Weg entwickelt in dem Wissen, dass es „keine allgemeingültige richtige Methode“ gibt.37 „Führung im Unterricht“ bezieht sich auf die Grundhaltung des Lehrers und alle pädagogischen Handlungen in den pädagogischen Situationen selbst. „Vom ‚erteilten‘ Klassenunterricht zum geleiteten ‚Unterrichtsleben‘“ – diese Kapitelüberschrift deutet die Richtung der Änderung gegenüber der traditionellen Schule bereits an. Der Lehrer soll die „Gruppengemeinschaft sich so gestalten lassen, dass darin ein gesunder Wettbewerb gepflegt, wirksam gemacht und erhalten wird, sowie eine recht angesetzte Menge von Leistungsanreizen.“38 Es geht um „Leistungen als Bildungs- und Erziehungsmittel; Leistungskultur nicht Leistungskult!“39 Der Lehrer ist aufgefordert, bei allem an die Tätigkeit des Kindes, an seine „Grundkräfte“ anzuknüpfen. „Er muss nämlich in einer besonderen Weise auf sich verzichten können, sich unterordnen, richtiger vielmehr, sich dem kindlichen Wegesuchen und Tätigsein einfügen, einreihen, beifügen, zuordnen als die immer regelnde, fördernde, anspornende, mittragende und mittreibende Kraft.“40 Wie das in den verschiedenen pädagogischen Situationen 36
Näheres zum Konzept der „Weltorientierung“: s.u. im Kapitel 13 „Die Erweiterung des Lernbegriffs ...“ Vgl. Petersen (1971), S. 46f 38 Ebd., S. 142 39 Ebd., S. 140 40 Ebd., S.142f 37
302 Reformpädagogik
zu geschehen hat, dafür bringt Petersen aus den Erfahrungen und Forschungen der Universitätsschule eine Fülle von Beispielen und „Anweisungen aus der Praxis für die Praxis“. Vieles davon ist auch noch heute bedenkenswert. Will man eine konkretere Vorstellung davon gewinnen, welche Aufgaben dem Lehrer in der heutigen Jenaplanschule gestellt sind, ist es zweckmäßig, die Praxis der Ausbildung von Jenaplanlehrern in den Niederlanden zu betrachten. Anders als in Deutschland, wo es nur relativ wenige Jenaplanschulen gab und gibt, wuchs mit der Zahl der niederländischen Jenaplanschulen in den siebziger Jahren der Bedarf an speziell vorbereiteten Lehrkräften. Zu diesem Zweck wurde von einigen Pädagogischen Akademien, allen voran von der Pädagogischen Akademie „De eekhorst“ in Assen, ein Aufbaustudiengang für zukünftige Jenaplanlehrer konzipiert und durchgeführt. Die damit verbundenen praktischen Studien an den angeschlossenen Jenaplanschulen können ein Bild davon geben, was heute – sowohl in Holland wie in Deutschland – als praktische Jenaplan-Qualifikation angesehen werden kann. (Es sei am Rande darauf hingewiesen, dass die Konzepte der niederländischen Jenaplanschulen die Entwicklungen im Deutschland der achtziger und neunziger Jahre stark beeinflusst haben. Auf vielen Gebieten besteht eine Zusammenarbeit, heute auch im Bereich der Lehrerfortbildung.) – Die schulpraktischen Studien umfassen u.a. folgende Tätigkeiten, die zum Teil mehrfach ausgeübt werden sollen: x x x
x x x x x x x x x
Vorbereiten und Leiten einer Feier, respektive Wochenschlussfeier, Tageseröffnung und Tagesschluss; Vorbereiten und Leiten von Gesprächen im Kreis; Protokollieren und Analysieren zumindest bei den folgenden Kreisformen: offener Kreis, Berichts-, Lese-, Beobachtungs-, Evaluations- und Planungskreis; Planen und Durchführen eines Projektes, wozu gehören: Prozess der Themenwahl, Verteilen der Aufgaben, Begleitung von Gruppen, (evtl.) zwischenzeitlicher Bericht, Präsentation der Ergebnisse, (evtl.) Bericht in einem Elternabend oder in einer Schulzeitung, Endevaluation; Vorbereiten und (Mit-)Leiten einer Exkursion, vor allem in die Umgebung der Schule; Entwerfen und Ausführen eines Lernprogramms für ein Kind mit Lernschwierigkeiten; Leiten eines Niveaukurses im Rechen- und Sprachunterricht; Leiten einer „Blockstunde“ (für Einzel-, Frei- und Gruppenarbeit am Vormittag); Einrichten einer Arbeitsecke und/oder eines Naturpfades; Mit Kindern gezielt im „Dokumentationszentrum“ der Schule arbeiten (das ist ein – oft von Eltern mitbetreutes – Zentrum mit Arbeitsmitteln, Büchern, Lexika, Dias, Sammlungen usw. insbesondere für die Arbeit in „weltorientierenden“ Sachthemen und Projekten); Organisieren einer „Integrierten Ausdrucksperiode“ (gemeint sind Projekte, in denen Musik, Tanz, Handarbeit, Theater integriert sind); Aufspüren und Zusammenstellen von Lernanlässen, die die Schulumgebung der „Weltorientierung“ bietet; Entwerfen, Herstellen, Erproben und Verbessern von Arbeitsmitteln.41
Damit ist eine Vielzahl von Aufgaben angesprochen, die über das herkömmliche Unterrichten hinausgehen. Sie verweisen implizit zugleich auf eine neue Ordnung bzw. Struktur des Schullebens: Die „Blockstunde“ findet in der „Stammgruppe“ statt, also mit Kindern verschiedenen Alters; das Lernen in altersgemischten Gruppen erfordert eine Neugestaltung des Gruppenraumes; aber es gibt auch ein Lernen in „Niveaukursen“, das dem traditionellen Unterricht 41
Vgl., Skiera, E., a.a.O. (1982), S.262ff, Kapitel „Jenaplan und Lehrerausbildung“.
Jenaplan-Pädagogik
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nahesteht – all das gilt es zu organisieren. Mit der Neugestaltung des Schullebens und der Auflösung des traditionellen Klassenverbandes und der „Klassenarbeiten“ ist auch eine Revision der Bewertungspraxis verbunden (zur Vermeidung oder Milderung von Konkurrenzkampf und Versagensangst).
4
Grundzüge der Schul- und Unterrichtsorganisation
Ergänzend zu den bereits angesprochenen Momenten der Praxis werden im Folgenden nur jene vier Merkmale der Jenaplan-Pädagogik hervorgehoben, die den Kontrast zur „didaktischmethodischen Normalform der Schule“ am deutlichsten zeigen: x die Organisation der Schüler in jahrgangsübergreifenden Stammgruppen, x der Wochenarbeitsplan, x der Gruppenraum als Schulwohnstube, x neue Formen der Leistungsbeurteilung (als Leistungswürdigung) 4.1 Stammgruppen statt Jahrgangsklassen Im Jenaplan werden die Jahresklassen abgelöst durch Stammgruppen, in denen jeweils drei oder zwei Jahrgänge zusammengefasst sind. Die Jenaer Universitätsschule hatte folgende Gruppen: Untergruppe: Mittelgruppe: Obergruppe: Jugendlichengr.:
1.– 3. 4.– 6. 7.– 8. 9.–10.
Schuljahr Schuljahr Schuljahr Schuljahr
Der pädagogische Sinn dieser Organisation liegt vor allem in einer Bereicherung des Gemeinschaftslebens. Sie sichert sowohl Kontinuität wie Wandel im Bereich der sozialen Beziehungen. Durch die jährlich sich verschiebende Stellung des Kindes innerhalb der Stammgruppe werden langanhaltende Außenseiterpositionen (der „Klassenbeste“, der „Schlechteste“) vermieden. Für den Einzelnen bedeutet das jeweils neu Chance oder Begrenzung, insgesamt reichere Möglichkeiten der menschlichen Bewährung und der Bewährung bei den Aufgaben des Lernens. Kontinuität im Sozialen ist u.a. dadurch gewährleistet, dass das Kind mit jeweils etwa einem Drittel (in den oberen Gruppen mit der Hälfte) fortschreitet – so auch beim Übergang in eine höhere Stammgruppe. Und selbst ein längeres Verbleiben in der alten Gruppe kann nicht in dem Maße wie beim Jahrgangsklassensystem als Degradierung empfunden werden, bleibt das Kind doch mit dem größten Teil seiner bisherigen Mitschüler zusammen. Die mit den Begriffen „Versetzung“ und „Sitzenbleiben“ signalisierten Probleme bestehen bei der Stammgruppenstruktur also nicht mehr in der sonst gegebenen Schärfe. Nicht überall kann aus vorgegebenen organisatorischen Gründen die dreijährige Stammgruppe eingeführt werden. In den Bundesländern mit vierjähriger Grundschule hat sich eine Zweierstruktur ergeben (1/2 und 3/4). An einer Schule in Köln steigt die Gruppe „1/2“ gemeinsam auf, wird nach einem Schuljahr zu „2/3“, dann „3/4“ und nun – da die Viertklässler jetzt eine weiterführende Schule besuchen – wird eine „1/4“ gebildet. Es besteht in Köln auch eine Jenaplan-Grundschule mit jeweils vierjährigen Stammgruppen. Jenaplanschulen in Deutschland mit weiterführenden Schulstufen haben auch dreijährige Stammgruppen (Ulmbach, Lübbenau, Jena, Rostock, Suhl, Markersbach). In den Niederlanden konnten von Anfang an wegen der ursprünglich sechsjährigen Grundschule ohne große Schwierigkeiten dreijährige Stammgruppen gebildet werden (es bestehen aber auch dort viele Zwischen- und
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Übergangsformen). Nach der Einführung der neuen Basisschule für die 4-12Jährigen ist der „Untergruppe“ (1/2/3) eine zweijährige „Kleinkindergruppe“ vorangestellt. Zu beachten ist, dass die Stammgruppe zwar eine zentrale Stellung besitzt, nicht aber das alles beherrschende Gliederungsprinzip bildet. Einerseits ordnet sie sich in das gesamte Schulleben ein, anderseits werden zeitweise auch andere Kriterien der Lerngruppenbildung angewendet – etwa nach Leistungsniveau oder Sachinteressen, zunehmend in den oberen Stufen. Das kann bereits an dem „Wochenarbeitsplan“ abgelesen werden. 4.2 Wochenarbeitsplan statt Stundenplan Der neue Gruppenaufbau macht eine Umgestaltung des Arbeitsplanes erforderlich. Der „alte“ nach Fächern gegliederte Stundenplan (Petersen polemisch: „Fetzenstundenplan“) wird ersetzt durch den Wochenarbeitsplan, der eine „arbeits- und lebensrhythmisch abgestimmte Ordnung der pädagogischen Situationen“ ausweist.42 Die pädagogischen Bezugspunkte dieses Plans bilden die oben erläuterten Bildungsgrundformen Gespräch, Spiel, Arbeit und Feier.
Man wird wohl keine zwei Schulen finden, deren Wochenarbeitspläne in allen Punkten übereinstimmen – zu verschieden sind die jeweils bedingenden Faktoren des Schullebens. Das hier gezeigte Beispiel ist lediglich eine idealtypische Form, die in der konkreten Situation nach schul- und stufenspezifischen Gesichtspunkten zu variieren ist. – Besonders in den Niederlanden hat man das Problem der Entwicklung eines „Rhythmischen Wochenarbeitsplanes“ ausführlich diskutiert.43 4.3 Schulwohnstube statt Klassenzimmer Petersen kritisiert das alte Klassenzimmer mit seinen frontal ausgerichteten Bankreihen. Über Jahre hinweg einer solch starren Ordnung und der ihr entsprechenden frontalen Unterrichtsweise ausgesetzt, biete jede Klasse, „man mag hinkommen, wo man will in Europa ... den 42 43
Petersen (1971), S.124 Stichting Jenaplan: Het Ritmisch Weekplan, Utrecht 1975
Jenaplan-Pädagogik
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bejammernswerten Anblick verschütteter geistiger Kraft.“44 Der Schulraum sollte aber der „Sammlung der inneren Kräfte“ dienen, dem selbständigen und selbsttätigen Arbeiten und Lernen. In der „Schulwohnstube“ sieht Petersen „das hervorragende Mittel für sittliche und soziale Bildung“. Das verantwortungsvolle Miteinander, die gemeinsame Arbeit, das gegenseitige Sichhelfen werden gleichsam auf natürliche Weise gefördert. Als Mobiliar werden einfache Tische ohne zusätzliche Haken oder Fächer und frei bewegliche Stühle verwendet, die leicht für neue pädagogische Situationen umgestellt werden können. Arbeits- und sonstige Hilfsmittel sind in Schränken untergebracht. Von dort werden sie von den Kindern nach Bedarf geholt. Sie sollen sich darin üben, „sich auf dem Hin- und Rückweg nicht sinnwidrig ablenken zu lassen. Zugleich soll ihnen durchaus auch Gelegenheit gegeben sein, ... die Arbeiten der Kameraden ... zu beachten ... . Es gibt ja keinerlei verbotenes ‘Absehen’ mehr...“ – wie überhaupt den „Interessen und menschlichen Beziehungen Bewegungs- und Äußerungsfreiheit gegeben werden“ soll.45 Bei der Ausgestaltung des Raumes wird den Kindern weitgehende Mitwirkung gestattet. Er wird mit Bildern und Blumen geschmückt, Aquarien werden eingerichtet, den Kindern „liebe Sachen“ mitgebracht und ausgestellt: Werkzeuge, Sammlungen, Tiere, Bücher usw. Das Klassenzimmer wird so zur „Schulwohnstube“, die die Kinder als „ihren“ Raum annehmen können. Er ist nicht mehr nur Lehrraum, sondern ein anregender Erfahrungsraum: ein nach außen hin offener Ort kindlicher Bildeprozesse. 4.4 „Charakteristik“ statt Zensuren und Zeugnissen Petersen lehnt das Zensuren-, Prüfungs- und Versetzungssystem ab. Es muss „bildungswissenschaftlich zum Gebiet der Strafe gerechnet werden“.46 Die durch den Lehrer erteilte Zensur befördert „die Einstellung des Lernens auf den Lehrer und verdirbt die eigene Arbeitslinie und verstört das eigene sittliche Urteil, die Sicherheit der eigenen Stimme im Kinde.47 Die lapidare Folgerung Petersens lautet, jede Art der Leistungsbeurteilung im Sinne eines Disziplinierungsmittels zu unterlassen: „Noten und Zeugnisse werden nicht erteilt.“ Statt des Notenzeugnisses tritt am Ende des Jahres, erstmalig nach dem dritten Schuljahr, eine verbale „Charakteristik“, in der die Entwicklung der Gesamtpersönlichkeit berücksichtigt wird. In den heutigen Jenaplanschulen wird häufig eine selbstentwickelte formalisierte Form verbaler Beurteilung verwendet. In den einzelnen Lernbereichen ist im „Informationsbogen“ eine Anzahl an Teilleistungen formuliert, die entsprechend angekreuzt werden. Der „Informationsbogen“ wird Kindern und Eltern am Ende eines Jahres oder Halbjahres ausgehändigt und mit dem Kind (und evtl. den Eltern) besprochen. – Hier ein Beispiel aus der Petersen-Schule Köln-Höhenhaus. Der „Informationsbogen“ bietet in den verschiedenen Lernbereichen jeweils 5 bis 23 Aussagen zu Teilleistungen. Die Beispiele sind dem Bereich „Sachunterricht“ entnommen, der im Ganzen 23 Punkte enthält48: x x x x x 44
hat Probleme selbständig erkannt hat Probleme über Hinweise erkannt hat Fragen entwickelt hat eigene Lösungswege gefunden konnte Lösungswege nachvollziehen
Petersen (1971), S. 56 Ebd., S. 58 46 Ebd., S. 141 47 Petersen, P. (1980): Der Kleine Jena-Plan, Basel: Beltz, S. 64 48 Siehe: Skiera, E.(Hsg.), a.a.O. (1985) S. 130f 45
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x x x x
hat Karten und Schaubilder ausgewertet hat Arbeitsergebnisse frei vorgetragen Wissen weist noch Lücken auf Verkehrstest bestanden/teilgenommen
5 Lernen und Leben des Kindes und Jugendlichen im „Zeit-Raum“ der Jenaplanschule Die Schulwelt des Jenaplans bietet dem Kind eine pädagogisch strukturierte Umwelt, in der es während der Phase der allgemeinbildenden Schulzeit einen kontinuierlichen Entwicklungsund Bildungsprozess durchlaufen kann. Das ist die pädagogische Grundintention, die jedoch durch strukturelle Bedingungen in der Praxis selbst häufig eingeengt wird. Durch die dynamische Entwicklung in den Niederlanden ist es gelungen, ein Jenaplan-Schulkonzept zu entwickeln, das für die Kinder und Jugendlichen von 4 bis 16 Jahren konzipiert ist, also die Stufen der „Basisschule“ und des allgemeinbildenden Weiterführenden Unterrichts umfasst, und auch an vielen Schulen (mehr oder weniger entsprechend) realisiert wird. Allerdings gibt es bisher noch keine Jenaplanschule, die beide Stufen organisatorisch in sich vereinigt. Das ist in Deutschland nun anders. Die nach der politischen Wende neu gegründete Schule nach dem Jenaplan in Jena vereinigt in sich heute den Bereich der Grundschule und der Sekundarstufe I. An Hand des niederländischen Konzeptes soll der Gang des Schülers durch den pädagogischen „Zeit-Raum“ in idealtypischer Weise verfolgt werden. – Um den Aufbau in Hinsicht auf die Schullaufbahn des Kindes bzw. Jugendlichen zu verstehen, stelle man sich einen „Normalschüler“ vor, nennen wir ihn Jan. In der „Kleinkindergruppe“ der „Basisschool“ für die vier- bis ca. fünf/sechsjährigen Kinder Jan tritt in seinem vierten oder fünften Lebensjahr in die „Kleinkindergruppe“ ein, in der etwa 20 bis 25 Kinder um einen Gruppenleiter oder eine Gruppenleiterin versammelt sind: Freies Spiel im Gruppenraum und auf dem Schulgelände, Gespräche, Erzählen, Vorlesen, Singen und Spielen im Kreis, Bewegungsspiele (Gymnastik) bestimmen den Tagesablauf. Je nach Interesse und Konzentrationsvermögen wird er in der „Spielarbeitsstunde“ (das ist eine Vorläuferin der späteren „Blockstunde“) allmählich gezielte Aktivitäten zur Weiterentwicklung der Sprache und des (vorbereitenden) Rechnens ausführen (Arbeit mit Entwicklungsmaterial), vielleicht unter Anleitung der Gruppenleiterin, die bestrebt ist, eventuell erkannte Rückstände in der Entwicklung auszugleichen. Die Gruppenleiterin wird allerdings eine „Verschulung“ der Kindergruppe mit einseitiger Betonung der kognitiven Fähigkeiten vermeiden und ihre kompensatorische Aufgabe gleichermaßen in der Entwicklung und Förderung sozialemotionaler und motorischer Fähigkeiten sehen. In der „Untergruppe“ der„Basisschool“ für die ca. sechs- bis acht/neunjährigen Kinder Zusammen mit etwa der Hälfte der Kinder seiner Gruppe kommt Jan im Laufe seines 6. Lebensjahres in die Untergruppe. Der neue Gruppenleiter und die Mitschülerinnen und Mitschüler sind ihm nicht gänzlich unbekannt. Während einiger vorausgegangener Besuche konnte er bereits die neuen Gruppenmitglieder und deren Raum kennenlernen. Vielleicht nimmt sich ein älteres Kind der neuen Gruppe seiner in besonderer Weise an (Patenschaften). Das Unterrichtsleben folgt jetzt der festgelegten aber flexibel gehandhabten Ordnung nach dem „Rhythmischen Wochenplan“, der genügend Raum zur Entfaltung eines individuellen Lernrhythmus (z.B. während der ca. 100minütigen „Blockstunde“) lässt. In kursorischem Unterricht inner-
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halb der Stammgruppe und unter Verwendung individualisierender Arbeitsmittel wird er in die kulturellen Basistechniken eingeführt: Rechnen, Lesen, Schreiben. Daneben nimmt er an verschiedenen in Untergruppen oder mit der ganzen Stammgruppe durchgeführten Aktivitäten teil: Gesprächs- und Lesekreis, Einzel- oder Gruppenarbeit in verschiedenen Sachgebieten während der Blockstunde, musisch-expressive Aktivitäten (Handarbeit, Musik, Theater, Gymnastik), Ausflüge, Erkundungsgänge. Auch stehen ihm bereits das „Dokumentationszentrum“ und verschiedene Arbeitsecken, die sich innerhalb oder außerhalb des Gruppenraumes befinden zur Verfügung: Mess- und Wiegeecke, Bastelecke, Spielecke, Flanelltafel mit Bildern, Ziffern und Buchstaben, Bücher- und Leseecke, Horchecke, Handpuppenecke, Entdeckungsecke: Schachteln mit Materialien und Arbeitskarten zu Themen aus dem Sachunterricht bzw. der „Weltorientierung“, Musikecke und viele andere.49 In der Obergruppe der „Basisschool“ für die ca. neun- bis zehn/elfjährigen Kinder Nach drei Jahren, jetzt etwa neun- oder zehnjährig, tritt Jan mit einem Teil seiner Mitschüler in die Obergruppe ein, die ihm wieder nicht unbekannt ist. (Der eine oder andere Schüler, der mit ihm zusammen in die Untergruppe eingetreten war, verbleibt vielleicht noch ein Jahr in der vorigen Gruppe, um im nächsten Jahr einen besseren Anschluss zu finden.) Auch hier folgt das Unterrichtsleben einem „Rhythmischen Wochenplan“ mit einer stärkeren Akzentuierung des kursorischen Unterrichts und fachlich ausgerichteter Inhalte und Arbeitsweisen im Bereich „Weltorientierung“. Der Unterricht im Rechnen und evtl. einer Fremdsprache wird jetzt (möglicherweise) in stammgruppen-externen Niveaugruppen durchgeführt. Auch in dieser Gruppe stehen ihm verschiedene Arbeitsecken und das Dokumentationszentrum zur Verfügung, welch letzteres er jetzt bereits recht selbständig nutzen und eventuell sogar mit eigenen Arbeiten und Sammlungen erweitern kann. In der Sekundarstufe für die ca. Zwölf- bis Fünfzehn/Sechzehnjährigen In der vierjährigen Sekundarstufe (eine Gesamtschule) wird Jan – nun etwa 12/13-jährig – in eine „Mentorgruppe“ aufgenommen, der etwa 25 Kinder bzw. Jugendliche desselben Jahrganges angehören. Sie kommen aus verschiedenen Stammgruppen. (Da es nur zwei „JenaplanGesamtschulen“ – beide in Utrecht – gibt, kommen die Schüler faktisch aus verschiedenen Schulen.) Die Zusammensetzung der Mentorgruppe bleibt im Prinzip die gesamte Schulzeit über (in der Regel also vier Jahre) erhalten. Sie bildet das täglich wiederkehrende Moment im ansonsten komplexen Unterrichtsgeschehen. – Neben dem täglichen Kreisgespräch findet der größte Teil des Unterrichts im ersten und zweiten Jahr ebenfalls innerhalb dieser Gruppe statt. Als wichtiges sozial-integratives Moment ist hervorzuheben, dass in den ersten beiden Jahren keine Niveaugruppen außerhalb der Mentorengruppen gebildet werden. Lediglich in den Lernbereichen „Ausdruck“ und „Allgemeine technische Orientierung“ werden aus praktischen Gründen andere, kleinere, zum Teil nach Wahl der Schüler zusammengestellte Gruppen gebildet mit maximal 18 Schülern gebildet. („Ausdruck“ umfasst: Leibeserziehung, Zeichnen, Handarbeit, textiles Arbeiten, Theater und Pantomime, Musik, Volkstanz, Fotografie; „Allgemeine technische Orientierung“ umfasst: technisches, haushaltskundliches, agrarisches und ökonomisch-administratives Praktikum, angewandtes Rechnen.) – Im dritten und vierten Jahr findet immer noch ein erheblicher Teil des Unterrichts im Verband der Mentorgruppe statt: Geschichte, Niederländisch und Erdkunde. Alle übrigen Fächer bzw. Lernbereiche (Fremdsprachen, Naturwissenschaften und Mathematik, „Ausdruck“ und „Allgemeine technische 49
Zur Funktion der „Arbeitsecken“ siehe auch im Kapitel 13 des vorliegenden Buches und den Bericht einer niederländischen Jenaplan-Basisschule in: Ebd. (siehe Anm. 48), S.181ff
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Orientierung“) werden in Gruppen unterrichtet, die nach Leistung oder Interesse gebildet sind (Niveau-, Wahlpflicht- und Wahlkurse), wobei „Unterricht“ die nach den oberen Klassen hin zunehmende Einzel- und Gruppenarbeit einschließt, mit „vertraglichen“ Aufgaben ähnlich organisiert wie im Daltonplan. Die sozial-integrative und erzieherische Komponente der Mentorgruppe wird noch gestärkt durch gemeinsame Unternehmungen außerhalb der Unterrichtszeit: Besuch kultureller Veranstaltungen (Theater, Museum, Film, Konzert), Wanderungen und Klassenfahrten, gemeinsames Feiern und Spielen, Gruppenabende. – Mit einem dem individuellen Lerngang angepassten Examen wird die Schule abgeschlossen. Die Ergebnisse werden in einem „Entwicklungsprofil“ festgehalten, das den Rahmen für die Wahl anschließender Bildungsgänge bildet.
6 Was wäre zu lernen? Der Jenaplan ist, anders als es das Wort „Plan“ nahelegt, kein festgelegtes System, sondern eine schulpädagogisch durchdachte Ausgangsform, die je nach Situation gestaltet, modifiziert, weiterentwickelt werden kann. Das hat vor allem zwei Gründe: x
x
Petersen selbst hat sich als Wissenschaftler in den Raum der Wissenschaft gestellt und damit bewusst sein Konzept der Kritik geöffnet, ein Sachverhalt, der von seinen Schülern oft nicht hinreichend beachtet worden ist. Als offenes Konzept konnte die Pädagogik des Jenaplans zusammen mit anderen Konzeptionen der Reformpädagogik in Deutschland und in den Niederlanden weit über den Kreis der sich ihm ausdrücklich zurechnenden Schulen wirken. Zahlreiche Momente aus dem Jenaplan (Kreisgespräch, Feier, Spiel, Gruppenunterricht und fächerübergreifendes Arbeiten, in den Niederlanden die „Weltorientierung“ – um nur einige zu nennen) sind schon nahezu schulpädagogisches Allgemeingut geworden. Insbesondere die Arbeit der deutschen Grundschulen und der niederländischen Basisschulen ist davon maßgeblich geprägt. Die dynamische Entwicklung in den Niederlanden hat in besonderer Weise zu dieser Offenheit beigetragen. Im Rahmen der Konzept- und der Einzelschulentwicklung wurden theoretische Konzepte und Praxiserfahrungen in internationalem Maßstab zur Kenntnis genommen und – falls sie fruchtbare Ansätze für die eigenen pädagogischen und Entwicklungsprobleme enthielten – für die eigene Arbeit genutzt. Der „ursprüngliche“ Jenaplan, der sich bei seiner Ankunft in Holland ja – wie oben angedeutet – hinsichtlich seiner von Petersen gegebenen erziehungstheoretischen Grundlegung bereits erheblich von seinem Ursprung entfernt hatte, wurde als Grundmodell genommen und kontinuierlich weiterentwickelt, zum Teil im Rahmen der allgemeinen Schulentwicklung und Bildungspolitik. So konnte sich die Jenaplan-Bewegung in den Niederlanden als stärkste Gruppe innerhalb des Kreises der reformpädagogischen Schulen etablieren.
Wer eine Schule wünscht, die „auf das Kind zugeht“ ohne die Aufgaben der kulturellen Vermittlung (Leistungskultur!) zu beschneiden; wer Anregungen sucht zur Überwindung oder Minderung der mit der didaktisch-methodischen Normalform verbundenen Probleme; wer als Lehrer an einer Arbeit interessiert ist, die seiner didaktisch-methodischen Kreativität Spielraum lässt, wird durch die kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte, der Theorie und der Praxis des Jenaplans und vor allem der Kenntnisnahme konkreter Schularbeit wichtige Anregungen finden.
Jenaplan-Pädagogik
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7 Die Pädagogik des Jenaplans im systematischen Überblick Erläuterung: (a) = Ursprüngliches Konzept, (b) = Neuere Entwicklungen, (c) = Päd. Schwerpunkte bei einzelnen Schulen heute, ohne besondere Kennzeichnung: allgemein gültig.
Aspekte Gründerpersönlichkeit
Biographie
Weltanschauung
Einflüsse
Kind-Anthropologie
Erziehungsbegriff(e)
Lernbegriff
Lehrer
Begriffliche bzw. inhaltliche Bestimmungen Peter Petersen (1884-1952), deutscher Professor und Reformpädagoge. >Für (b) ab ca. 1960 bedeutsam: Susan Freudenthal-Lutter (1908-1986), niederländische Reformpädagogin, Initiatorin und Zeit ihres Lebens ehrenamtliche Förderin der ndl. Jenaplanbewegung.@ Kind einer norddeutschen evangelisch-lutherischen Bauernfamilie, Gymnasiallehrer, ab 1923 Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Jena; an der Universitätsübungsschule von 19241950 Konzipierung und Erprobung des „Jenaplans“. (a) Gesellschaft versus Gemeinschaft; Gemeinschaft beinhaltet ursprüngliche Verbundenheit durch „geistige Tugenden“: Liebe, Treue, Demut, Dienst usw. „Natürliche“ Formen der Gemeinschaft: Familie, Volk – zugleich Orientierungsgrößen der Schulgemeinschaft. Gestus: Einheitsgedanke, anti-individualistisch und antirationalistisch; (b) Humanisierung und Demokratisierung von Gesellschaft und Schule. Hamburger Lebensgemeinschaftsschulen, Arbeitsschulgedanke, Landerziehungsheime, internationale Strömungen der Reformpädagogik, Einheitsschulbewegung. (b) Freinet-Pädagogik, Humanistische Psychologie, ökologisches Denken, Kind-Anthropologie (Langeveld, Goodlad u.a.). Grundkräfte des Kindes: Bewegungs-, Gesellungs-, Tätigkeits-, Lerntrieb. (b) Bedürfnisse des Kindes: nach Zuwendung und Geborgenheit, Anerkennung, neuen Erfahrungen, Urheberschaft (kreative Mitgestaltung der Welt), Mit- und Selbstverantwortung, Selbstausdruck, ästhetische Wahrnehmung. (a) Erziehung geschieht in, durch und für die Gemeinschaft. Ziel: Persönlichkeit als gemeinschaftsfähige Individualität. (b) wie (a), aber mit „entmythologisiertem“, sozial-pädagogisch bzw. sozial-wissenschaftlich begründetem Gemeinschafts- und Gruppenbegriff. Emanzipatorische Ansätze. Bildungsgrundformen: Gespräch, Spiel, Arbeit und Feier; aktiviert in vielfältigen päd. Situationen. Betonung des natürlichen, selbsttätigen Lernens als Grundlage. Organisator (im Sinne von „Vorordnungen“) und Leiter kindlicher Lernprozesse. Persönlichkeit, pädagogische Haltung, Begeisterungsfähigkeit für den Beruf entscheidend.
310 Reformpädagogik
Lehrplan
Betonung fächerübergreifenden Lernens. (a) Inhalte gruppieren sich um die Lebensbereiche: Gott, Natur und Menschenwelt. (b) Orientierung an den jeweils verbindlichen Lehrplänen. Schulorganisation, Stammgruppen (jahrgangsübergreifende Lerngruppen); Ordnung des Raumgestaltung, Schul- und Unterrichtslebens (Pädagogische Situationen) nach eimethodisch-didaktische nem „Rhythmischen Wochenarbeitsplan“, orientiert an den BildungsMomente grundformen; Gespräch: Kreisgespräch, Berichtskreis, Vortrag, ... Spiel: Freies Spiel, Lernspiele, Pausenspiele ... Arbeit: Gruppenarbeit, Kurse ... Feier: Morgen-, Wochenschluss-, Geburtstags-, Schulfeiern usw. Schulraum als Schulwohnstube und Arbeitsraum mit verschiedenen Aktivitätszonen. Vielfältige Arbeitsmittel. (b) Konzeption eines fächerübergreifenden, projektorientierten Unterrichts „Weltorientierung“ in den NL, Projektunterricht, Wochenplanunterricht (Lernen nach einem individuellen oder individuell differenzierten Plan), Freinet-Arbeitstechniken, MontessoriMaterialien, (c) Integration Behinderter, Multikulturelle Schule.
Freinet-Pädagogik 311
Kapitel 10
Die Freinet-Schule: Erziehung als Emanzipation und als Einübung in ein selbstbestimmtes Leben Wohl kaum ein anderes pädagogisches Werk ist so unmittelbar aus den konkreten Lebensbezügen erwachsen, wie das des französischen Reformpädagogen Célestin Freinet. Als Freinet aus dem Ersten Weltkrieg zurückkehrte, konnte und wollte er sich als Volksschullehrer nicht „mit der friedlichen Routine zufriedengeben, die ohne große Anstrengung und Sorgen zum Ruhestand führt.“1 Er konnte nicht, weil eine schwere Verwundung ihm diese Routine, die einen permanenten strapaziösen Einsatz der Stimme erfordert, unmöglich machte; er wollte nicht, weil er von der Idee und der Notwendigkeit einer anderen Schule beseelt war, die – im Gegensatz zur traditionellen Schule – die Erfahrungen der Kinder, ihr eigenes persönliches und gesellschaftliches Leben, zur Sprache bringt und zum Ausgangspunkt der Erziehung macht. Soll Fremdbestimmung vermieden werden, kann dieses „Zur-Sprache-Bringen“ nur durch die Kinder selber geschehen – und Erziehung besteht dann darin, ihnen dabei zu helfen. Das bedeutet: einen sozialen Raum mit den angemessenen organisatorischen Formen und technischen Mitteln zu schaffen, der Lernende wie Lehrende von den Zwängen der traditionellen Schule befreit und den „Freien Ausdruck“ ermöglicht. Der „Freie Ausdruck“ kann als die Metapher angesehen werden, in der sich bei Freinet die existentielle Notwendigkeit und das pädagogisch-politische Wollen zusammenschließen. Er befreit ihn selbst von lästiger Schulmeisterei und führt das Kind durch eigenständige individuelle und gemeinsame Arbeit über die Erkenntnis seiner Bedürfnisse, seiner Möglichkeiten und seiner sozialen Lage zur Mündigkeit im politischen und allgemein lebenspraktischen Sinn. Freinet beließ es aber nicht bei der Suche nach einer pädagogischen Lösung, die er vor allem im Einsatz der „Schuldruckerei“ sah. Ihm ging es darum, das Einzelkämpfertum zu überwinden, den „sterilen Kreis der Eigenbrötlerei“ zu durchbrechen. „Eine weitere Eigenheit meines Geistes oder meiner Neigungen hat mich aus den gewohnten Pfaden gedrängt: ein geradezu körperliches und moralisches Verlangen, einer sozialen Klasse anzugehören, oder mehr noch, der Menge der Unterrichtenden anzugehören, die sehr stark die Gegebenheiten einer Gesellschaftsschicht widerspiegelte, denen auch ich unterlag. Mein Problem stellte sich von selbst: Ich wollte meine Arbeitsmethoden verbessern, ohne mich von meinen Kollegen abzusondern.“2 Das konnte ihm letztlich mit den Kollegen der schulischen Nachbarschaft und im Rahmen der traditionellen Schule nicht gelingen – zu weit waren diese seinerzeit von den Ideen einer freiheitlichen Pädagogik entfernt – sondern nur, indem er seine „eigene“ „Klasse“ schuf, nämlich die der Freinet-Lehrer bzw. der Freinet-Bewegung. Im Leben, Handeln und Wollen Freinets konnten viele Lehrerinnen und Lehrer ihre eigenen Probleme und die ihrer Schulkinder gespiegelt sehen. Die Identifikation mit seinem Anliegen, das eine Freiheit zur eigenen Forschung und Problemlösung impliziert, führte zu einer pädagogischen Bewegung, die sich heute in zahlreichen nationalen Gruppen und auf internationaler Ebene artikuliert und die pädagogische Reformdiskussion nachhaltig beeinflusst. Dass diese Wirkung durchaus Nach-Wirkung eines reichen Lebens ist und nicht bloß auf einer ihrer Ursprünge entfremdeten, nur mehr in blasser nomineller Identifikation weiterbestehenden Bewegung beruht, wird ersichtlich, wenn Leben und Werk Freinets näher in den Blick geraten.
1 Freinet, C. (1964): Les techniques Freinet de l’Ecole Moderne, Paris: Librairie Armand Colin; hier zitiert nach: Jörg, Hans (Hsg.) (1981): Praxis der Freinet-Pädagogik. Übersetzung und Bearbeitung des Buches von Célestin Freinet: "Les techniques Freinet de l’Ecole Moderne", Paderborn u.a.O.: Ferdinand Schöningh, S.19 2 Ebd., S.20
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1 Célestin Freinet (1896-1966) – Leben, Werk, Grundgedanken Seine früheste Jugend verbringt Célestin Freinet, in eine große Bauernfamilie hineingeboren am 15. Oktober 1896, in seinem Geburtsort Gars, einem kleinen, durch und durch ländlich geprägten Ort im Departement Alpes-Maritimes (Südfrankreich, Provence). Die nächst größere Stadt ist Grasse, ca. 20 Kilometer Luftlinie in südöstlicher Richtung gelegen, von Freinets Geburtsort durch mehrere Gebirgszüge getrennt. Nach dem Besuch der Dorfschule in Gars, die ärmlich ausgestattet ist und wo „es nur ein Lesebuch“ gibt3, wechselt er 1908 an die „Ecole primaire superieure“. Im Oktober 1912 tritt er in die „Ecole Normale d’instituteurs“ (Lehrerseminar) in Nizza ein.4 – Damit ist auch schon der geographische Umkreis seines unmittelbaren pädagogischen Wirkens bezeichnet: Ende 1914 für kurze Zeit Vertretungslehrer in Saint-Cézaire, ab 1920 die erste feste Anstellung als „maitre adjoint“ (Hilfslehrer) in Bar-sur-Loup, 1928 Amtsübernahme in Saint-Paul, 1934/35 bis zu seinem Tode am 8. Oktober 1966 Tätigkeit in seinem Landerziehungsheim „Ecole Freinet“ in Vence. Das dörfliche Leben seiner Kindheit hat Freinets Denken nachhaltig geprägt. „Die vierzig Jahre später geschriebenen Werke (zum Beispiel: ‚l‘Education du travail’ erschienen im Jahre 1946, mit seiner Hauptgestalt Vater Mathieu, Bauer, Dichter und Philosoph) zeugen von der innigen Verbundenheit Freinets mit den Landschaften, dem handwerklichen Können, den Produktionsweisen, dem sozialen Leben und den Werten der bäuerlichen Welt im Hinterland des mediterranen Frankreich zu Beginn dieses Jahrhunderts.“5 Dieser Hintergrund bleibt eine Inspirationsquelle für die Entwicklung seiner Pädagogik, erkennbar an seiner Wertschätzung der bildenderziehenden Wirkung der Arbeit, der Konzeption der Arbeitsateliers, der Idee der Schule als Kooperative. Gleichwohl ist seine Pädagogik keinem nostalgischen Sentiment verhaftet. Davor schützen ihn sein Glaube an den sozialen und technischen Fortschritt und sein weiter kultureller wie gesellschaftspolitischer Horizont, der maßgeblich von den Erfahrungen des Krieges mitgeprägt ist. Es geht ihm immer um die Entwicklung einer „Ecole Moderne“, die sich, analog zur Entwicklung in Landwirtschaft und Industrie, neue „technische“ Errungenschaften zunutze machen muss. Die Ereignisse des Krieges verhindern den regulären Abschluss der Ausbildung. „Meine Ausbildung als Lehrer habe ich durch den Krieg erhalten.“6 Freinet wird im Oktober 1917 an der Front schwer verwundet. Er erleidet eine lebensbedrohliche Verletzung am rechten Lungenflügel, und die nächsten Jahre muss er seiner Rekonvaleszenz widmen. Als zu 70% Kriegsversehrter kehrt er dennoch – gegen den Rat der Ärzte – in seinen Beruf zurück. Was es im Krieg zu lernen gab, hat sein Kollege René Daniel, ab 1921 Lehrer in Treguenc (Finistère, Bretagne) und Freinets erster Partner der Interschulischen Korrespondenz, in einem Interview auf den Punkt gebracht. Wie Freinet ist Daniel „in das Leben (eingetreten) durch die Pforten der Hölle“.7 Im Rückblick spricht Daniel über diese Zeit: „Wir ehemaligen Kämpfer, mystifiziert, betrogen, missbraucht, wir hatten uns zu revanchieren, und vielleicht war uns das in diesem Moment nicht bewusst, aber 3
Peyronie, Henri: Célestin Freinet, in: Houssaye, Jean (Hsg.) (1994): Quinze Pédagogues. Leur influence aujourd’hui, Paris: Armand Colin, S. 213 4 In der Literatur differieren die biographischen Angaben zu Freinet. Ich richte mich im wesentlichen nach: Freinet, Madeleine (1994): Repères biographiques, in: Freinet, C. (1994), Oevres pedagogiques, Tome I, Edition du Seuil, S.13-17. Alle Verweise und Zitationen im Text mit der Nr. 4 beziehen sich auf diese Seiten. 5 Peyronie, H. a.a.O. (3), S.213 6 Freinet, C., zit. ebd. 7 Vgl.: Portier, Henri (1994): René DANIEL, Un pionnier de l’école rurale et de la pedagogie nous quitte, in: Ecole rurale, Ecole nouvelle ... Communautes nouvelles, Bulletin No 3, Fevrier 1994, S. 6 (Nachruf auf René Daniel, 18971993)
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ich glaube, dass viele Kameraden 1920 in den Beruf zurückgekehrt sind mit diesem festen Vorsatz: es darf nicht sein, dass sich so etwas wiederholt, es darf nicht sein, dass die zukünftige Generation diesen Schrecken kennenlernt, den wir kennengelernt haben.“8 Freinets Kritik am Kapitalismus, seine antifaschistische Gesinnung, sein Eintritt im Jahre 1927 in die Kommunistische Partei Frankreichs (die er nach „einer von der Partei orchestrierten Verleumdungskampagne“ gegen ihn4 1948 verlässt), sein gewerkschaftliches Engagement, sein Eintreten für eine „Education populaire“ und die laizistische Schule, einer Volkserziehung im Sinne aufklärerischer und republikanischer Grundsätze, sein wacher Sinn für alle Bestrebungen einer Neuen Erziehung und Schule, seine Mitarbeit in der Résistance, sein friedenspolitisches und -pädagogisches Engagement – all das dürfte entscheidende Impulse aus dieser „Ausbildung“ empfangen haben. Schon bald nach Aufnahme seiner Tätigkeit als Lehrer in Bar-sur-Loup beteiligt sich Freinet an der öffentlichen Diskussion zur Frage nach der Rolle der Erziehung im Prozess einer sozialen Revolution. Es erscheinen Beiträge in der Zeitschrift „L’Ecole émancipée“, Gewerkschaftsorgan der Lehrerschaft und in „Clarté“ („Klarheit“), Zeitschrift einer gesellschaftskritischen kulturellen Bewegung um den Schriftsteller Henri Barbusse. Gleichgültig welchem Motiv man die Suche nach neuen Formen des Unterrichts primär zuschreiben mag – der Rücksichtnahme auf seinen noch immer prekären Gesundheitszustand (das ist die von Freinet selbst vorgetragene Version – eine Legende?) oder seinem wachen Sinn für neue geistige Strömungen, für gesellschaftlichen Fortschritt, für Kommunikation – : in der Folgezeit nimmt er all das zur Kenntnis und nach Möglichkeit auch in Augenschein, was sich unter dem Begriff „Nouvelle Ecole“, „New Education“, „Neue Schule“, „Progressive Education“ national wie international artikuliert. Im Jahre 1921 wird in Calais die „New Education Fellowship“ gegründet, die in der Folgezeit ein bedeutendes Forum der Diskussion bildet. Schon der Titel des Publikationsorgans der „Ligue internationale pour l’éducation nouvelle“: „Pour l’ère nouvelle“ (in England: „The New Era“, in Deutschland: „Das Werdende Zeitalter“) signalisiert den weiten Horizont der Fragestellungen, in den auch Freinet die Erziehungsfrage eingebettet sieht. Freinet tritt mit vielen Repräsentanten dieser Bewegung in persönlichen oder brieflichen Kontakt, kommentiert seine Eindrücke kenntnisreich in „L’Ecole émancipée“ und „Clarté“9, sucht aber beharrlich weiter seinen eigenen Weg. „Ich machte es dann wie alle Forscher. Ich folgte dem gleichen Prozess des versuchenden Tastens (tatonnement experimental), den wir bald ins Zentrum unserer Lehrweise (comportement d’apprentissage) und unserer Lebenstechniken (techniques de vie) stellen sollten. Ich las Montaigne und Rousseau, später Pestalozzi, mit dem ich eine erstaunliche Verwandtschaft fühlte. Ferrière, mit seiner ‚Ecole active‘ und der ‚Pratique de l’école active‘, wies meinen Versuchen die Richtung. Ich besuchte die Lebensgemeinschaftsschulen von Altona und Hamburg. Im Jahre 1923 nahm ich am Kongress der ‚Lique internationale pour L’éducation nouvelle‘ teil, wo die großen Meister der Epoche Seite an Seite gingen, von Ferrière bis Pièrre Bovet, von Claparède bis Cousinet und Coue. Schließlich brachte mich im Jahre 1925 eine Reise in die UdSSR ins Zentrum eines etwas wahnhaften Gärungsprozesses von Versuchen und Realisierungen.“10 Zu ergänzen wären (neben anderen für ihn weniger bedeutsamen) die Kontakte mit dem belgischen Arzt-Erzieher Ovide Decroly, Begründer einer bis heute bestehenden Reform8
Daniel, zit. nach Peyronie a.a.O. Vgl.: Kock, Renate (1995): Die Reform der laizistischen Schule bei Célestin Freinet. Eine Methode befreiender Volksbildung, Frankfurt am Main u.a.O.: Peter Lang. Darin das Kapitel: Der reformpädagogische Hintergrund: Freinets Beziehungen zu internationalen Reformbestrebungen und sein reformpädagogisches Selbstverständnis, S. 103199, mit instruktiven vergleichenden Analysen. 10 Freinet, C. (1994), siehe Anm. 4, S.19f. Vgl. auch den Abschnitt über die Arbeitsschule, insbesondere über Blonskij. 9
314 Reformpädagogik
schule in Brüssel, den Freinet in vielen Punkten als seinen „inspirateur direct“ bezeichnet.11 Das gilt etwa für Freinets Gedanken zu einer kindzentrierten Pädagogik im allgemeinen sowie zu den „Interessenkomplexen“ des Kindes, an denen die planvolle inhaltliche Arbeit sich ausrichten soll sowie für seine Gedanken zur Ganzheitsmethode („Globalisation“) im Schreib/Lese-Lehrgang im besonderen. Allerdings führen diese Orientierungsversuche nach den Worten Freinets zunächst zu keiner Lösung seiner pädagogischen Probleme. Erst die „classe promenade“, der Spaziergang mit den Kindern am Nachmittag, angeregt von den Lehrern der „Féderation de L’Enseignement“, bringt einen ersten Lichtblick, d.h. gelebtes Leben in die Klasse, indem die gemeinsamen Erlebnisse zum Ausgangspunkt eigener (Tafel)Texte gemacht werden. Aber der Weg zur Verbannung des traditionellen Schulbuches, das noch immer die Lese- und Rechtschreib- sowie Grammatikübungen dominiert, ist erst dann gefunden, als Freinet (im Jahre 1923) eine kleine Druckerei in die Schule mitbringt, die von den Kindern – entgegen seiner Erwartung! – mit anhaltender Begeisterung aufgenommen wird und deren technische Beherrschung sie ohne große Mühe erlernen. Jetzt können in Eigenarbeit „Buchseiten“ hergestellt werden, deren Texte das Leben der Kinder selbst widerspiegeln, und zum Ausgangspunkt schon der elementarsten Lese/Schreibübungen gemacht werden. Die Entfremdung vom eigenen Leben durch die didaktische Dominanz beziehungsloser, fremder Texte ist überwunden. Das (alte) Prinzip der Selbsttätigkeit und der „Ecole Active“ gewinnt eine neue konkrete Gestalt. Der „Freie Text“ wird bald zur Metapher einer Pädagogik, die sich jeglicher erprobter oder zu erprobender technischer Mittel zum freien Ausdruck des eigenen Lebens und Lernens zu bedienen versucht. Und wenn heute manche passionierten Freinet-Anhänger der Schuldruckerei eher einen musealen Wert zuschreiben und sie durch neue Medien ersetzen, bedeutet das keineswegs einen Verrat an den grundlegenden pädagogischen Prinzipien12, erklärt Freinet (1938) doch selbst: „... es wäre eine Gefahr, wenn unsere Methode sich auf diese Technik beschränken würde; ... Die Schuldruckerei muss ihre Rolle spielen, aber weiter nichts. Wir machen daraus keinen neuen Tyrannen.“13 Gleichwohl bleibt die Schuldruckerei das bevorzugte „Markenzeichen“ der FreinetPädagogik. Nach der Veröffentlichung von Artikeln in „Clarté“ und „L’Ecole émancipée“ werden viele Lehrer auf die Möglichkeiten aufmerksam, den eingefahrenen Gleisen zu entrinnen. Mit missionarischem Eifer tritt Freinet für die Verbreitung aber auch kooperative Weiterentwicklung seiner Ideen und Vorschläge ein. – Die weiteren wichtigsten Stationen im Überblick: 1924: Beginn der interschulischen Korrespondenz mit dem oben erwähnten René Daniel – ein wichtiger Schritt zur Schaffung lebensnaher motivierender Anlässe zur Kommunikation und zum Lernen. „Wir sind nicht mehr allein, notiert Freinet in sein Tagebuch.“4 1926 im ersten Rundbrief (1. Juli 1926): „Die Zahl der Schulen, die mit der Schuldruckerei (L’Impimérie a l’école) arbeitet, nimmt stetig zu. Im letzten Jahr waren wir nur zwei, im nächsten Oktober werden wir sechs sein.“4 Im selben Jahr erscheint die erste Nummer der Monatsschrift „L’Imprimérie a l’école“, Organ der Kooperative der Schuldrucker, im Jahr darauf „La Gerbe“, „Die Garbe“, eine von Kindern redigierte und illustrierte Zeitschrift. Bei „La Gerbe“ handelt es sich freilich nicht, wie Madeleine Freinet vermerkt4, um die erste Zeitschrift dieser Art. Roger Cousinet hatte bereits 1922 eine Zeitschrift von und für Kinder ins Leben gerufen, die bis 1927 erschienen ist und Kindertexte und -zeichnungen enthält: „L’oiseau 11
Vgl. Kock, a.a.O, S.114ff Fries, Burkhard (1995): Eine Freinet-Schule auf dem Land in den 90ern. Kein Beitrag über die Schuldruckerei, in: Dietrich, Ingrid (hsg.), Handbuch Freinet-Pädagogik, Weinheim und Basel: Beltz 13 Freinet, Elise (1981): Erziehung ohne Zwang. Der Weg Célestin Freinets, München: dtv 12
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bleu, revue mensuelle redigée par des enfants pour des enfants“. „Der Blaue Vogel“ will, wie es in der ersten Nummer im Januar 1922 heißt, die Kreativität und die Freude am Schreiben dokumentieren. Die Monatsschrift enthält „Werke, die zeigen werden, wozu Kinder in der Lage sind, die im Rahmen einer freiheitlichen Erziehung ihre persönliche Initiative und Aktivität entwickeln konnten.“ – Cousinet ist der „Erfinder“ der „Freien Gruppenarbeit“ („Travail libre par groupes“). Freinet steht zu ihm, bei aller Sympathie, als dem Vertreter der eher „bürgerlichen“ „Nouvelle Education“ in einer gewissen Distanz. An den Titeländerungen der „L’Imprimérie a l’école“ lassen sich neue pädagogische Akzentsetzungen ablesen, verbunden mit dem Bemühen, einseitige Etikettierungen zu vermeiden: Von der Schuldruckerei über die Einbeziehung neuer Techniken in die Erziehung (der Film, Filmkamera und Projektor halten in Bar-sur-Loup bereits 1925 ihren Einzug) hin zur Betonung der Aspekte einer proletarischen Erziehung und schließlich die Zurückdrängung der klassenkämpferischen Rhetorik. Im Jahre 1928 wird dem Titel der Zeitschrift hinzugefügt „Film, Radio und die neuen Techniken der Volkserziehung“, 1932 wird der Titel in „L’Educateur prolétarien“ geändert und 1939 in „L’Educateur“. Letzteres ist zunächst – am Vorabend des Zweiten Weltkrieges; die Volksfront hat massiv an politischem Einfluss verloren – eine Rettungsmaßnahme, um dem drohenden Publikationsverbot zu entgehen (décrets Serol). Die Kriegsereignisse machen das weitere Erscheinen wie überhaupt eine kontinuierliche Arbeit unmöglich. Im Februar 1945 erscheint die erste Nachkriegsausgabe, nun und in Zukunft unter Beibehaltung des „klassenneutralen“ Titels. 1927 findet der erste Kongress der Schuldrucker in Tours statt. Es ist der Auftakt der von nun an jährlich an verschiedenen Orten stattfindenden Zusammenkünfte, unterbrochen nur in der Zeit der Besatzung im Zweiten Weltkrieg. Bald entstehen Bruderbewegungen in Belgien und Spanien; die internationale Ausweitung der Freinet-Bewegung nimmt ihren Anfang. 1928 wird die „Coopérative de l’enseignement laic“ (CEL), „Kooperative für ein laizistisches Schulwesen“, gegründet. Im selben Jahr wechselt Freinet an die Primarschule Saint-Paulde-Vence. Mit ihm wechselt auch der Sitz der CEL. „Ich hatte hier 45 Schüler, eingepfercht in einer für 27 gebauten Klasse, die nur 41 Sitzplätze hat.“4 Der Begriff „laic“, „laizistisch“, weist hin auf die als Folge der Revolution von 1789 bestehenden und insbesondere in der III. Republik unter dem Ministerium Ferry (um 1885) vorangetriebenen Bemühungen zur Schaffung einer von der Kirche unabhängigen (d.h. im Sinne der Reformer: frei von herrschafts- und klassenstabilisierender Indoktrination), nach den Kriterien der objektiven Wissenschaften (sprich: Positivismus) konzipierten öffentlichen Volksbildung. Dieser Tradition fühlen sich Freinet und die in der CEL zusammengeschlossenen Lehrerinnen und Lehrer verbunden. Im Rahmen der Arbeit dieser Kooperative werden zahlreiche Arbeitsmittel und -techniken zur individuellen und Gruppenarbeit (zum Beispiel ab 1931 die „Bibliotheque de travail; brochures documentaires pour le travail libre des enfants“) sowie kooperative Formen der Schulorganisation entwickelt und propagiert. Das geschieht unter der freiheitspädagogischen Suchlinie (und gerade auch wegen ihr!) nicht durch abgehobene Experimente „in vitro“ sondern aus der unmittelbaren und mit bedrängenden Erfahrungen gesättigten Praxis der Betroffenen heraus. Die Konturen der „Ecole Moderne“ – diesen Begriff verwendet Freinet nach dem Zweiten Weltkrieg zur Bezeichnung seiner Bewegung – werden so als Konzept und als Praxis in der einzelnen Klasse oder Schule weiter ausgearbeitet in Richtung einer solidarischen „Coopérative scolaire“. – Diese Bemühungen stehen zwar in einem kämpferischen Gegensatz zur „pédagogie traditionelle“, finden aber in offiziellen Richtlinien durchaus eine Stütze. Zahlreiche Ideen der „Education Nouvelle“ hatten bereits in den „Instructions Officielles“, z.B. in die des Ministers Leon Berard aus dem Jahre 1923, Eingang gefunden. 1932 „Anfang August: Der internationale Kongress der Neuen Erziehung in Nizza, ‚eine Manifestation der wichtigsten Vertreter der neuen Weltpädagogik‘ wird vom Prestige der Maria
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Montessori dominiert. (Deren Gewohnheit, sich didaktische Errungenschaften patentieren zu lassen, hat Freinet – bei aller Anerkennung und Bewunderung ihrer Leistungen – gelegentlich kritisiert. – E.S.) Am Morgen des 7. August findet auf Einladung Freinets eine Invasion von etwa einhundert Krongressteilnehmern in der Schule und in den Straßen von Saint-Paul statt, unter ihnen Roger Cousinet und Roubakin aus der Sowjetunion. Es ist dieser Tag und dieses Ereignis, von den Notablen von ‚Saint-Paul des riches‘ als ‚revolutionär‘ eingestuft, das als der Beginn dessen angesehen werden kann, was sich zur ‚Affäre von Saint-Paul‘ auswuchs.“4 Die zahlreichen prominenten Protestadressen, darunter sogar auch einige von kirchlicher Seite, führen nicht zur Entschärfung der angespannten Lage und Freinet bittet aus gesundheitlichen Gründen um eine längere Beurlaubung vom Dienst. Diese wird ihm gewährt. Er bleibt in Saint-Paul und widmet sich weiter der Arbeit der CEL. Um einer Rückversetzung nach Bar-sur-Loup zu entgehen, die eine dienstliche Degradierung bedeutet hätte, sieht er sich 1934 gezwungen, den staatlichen Schuldienst endgültig zu quittieren.14 Das ist der Beginn einer neuen Entwicklungsphase: Aufbau (1934) und Eröffnung (1935) eines Landerziehungsheims, der „Ecole Freinet“, der „ersten Privatschule für Proletarier“ (Elise Freinet) auf dem Hügel Pioulier in Vence.15 Die Schule wird zu einem lebendigen pädagogischen Laboratorium, Kristallisationspunkt der sich ausweitenden Bewegung, Sitz der CEL (Mitgliederstand 1936: 1500), Ort der Ferienkurse, an denen häufig Lehrkräfte aus anderen Ländern teilnehmen. „Außer Kindern aus der Verwandtschaft, darunter die Tochter der Freinets, nimmt die Schule Kinder in sozialen Schwierigkeiten aus der Region Paris auf und etwas später Waisenkinder aus dem spanischen Bürgerkrieg. M. Barre merkt an, dass diese Schule der Ort zur Einführung neuer Techniken wird: der wöchentliche Arbeitsplan, der Klassenrat ‚conseil de coopérative‘ (in einem Kontext und mit einer Kinderpopulation, wo Konfliktbewältigung und die Regelung des gemeinsamen Lebens eine absolute Notwendigkeit sind), die Wandzeitung, die Lernkartei mit Selbstkorrektur, dann die ‚methode naturelle de lecture‘.“16 Der Grundgedanke der natürlichen Schreib/Leselernmethode, belegt mit einer über fünf Jahre angelegten Dokumentensammlung mit Zeichnungen seiner Tochter, besteht darin, diese Fähigkeiten aus der freien – ihrerseits auf dem natürlichen Spracherwerb und dem „freien Ausdruck“ beruhenden – Kinderzeichnung sich entwickeln zu lassen.17 – Lediglich unterbrochen durch die Kriegsereignisse arbeitet die Schule bis heute weiter, seit 1991 als „Ecole Publique“ und staatliche Angebotsschule für die Kinder der Region. (Das Internat wird wenige Jahr nach Freinets Tod geschlossen.) Die Jahre des Krieges bedeuten einen gravierenden Einschnitt, eine Unterbrechung der praktischen Arbeit, aber auch eine Phase besonderer nun literarischer Fruchtbarkeit. Freinet wird als aktiver Kommunist und Syndikalist im März 1940 von der Polizei des Vichy-Regimes verhaftet und interniert. Im Oktober 1941 kommt er „frei“, steht aber fortan unter Hausarrest. Er lebt und arbeitet in Vallouise, wohin seine Frau Elise sich im Juni desselben Jahres fluchtartig begeben hat, um der ihr drohenden Verhaftung zu entgehen. Freinet schließt sich später dem Widerstand 14 Zur „Affäre von Saint-Paul“: a) Freinet, Elise (1949): Naissance d’une pedagogie populaire. Historique de la CEL. Neuausgabe mit dem Untertitel „Methodes Freinet“ 1978, Paris: Maspero. b) Jörg, Hans: Schulkampf in Saint Paul, in: ders. (1979) Célestin Freinet, die Bewegung „Moderne Schule“ und das französische Schulwesen heute (in einem Band zusammen mit: Freinet, C.: Die moderne französische Schule), Paderborn: Ferdinand Schöningh, S.190-196. c) Eine auf neueren Forschungen in Frankreich basierende Darstellung: Kock, a.a.O., S.22f; siehe dort insbes. die Literaturhinweise in den Anm. 46 und 47. 15 Freinet, Elise, a.a.O. (Anm. 13), darin das Kapitel IV: Die Freinet-Schule, S. 93ff. Kock, R. a.a.O. (Anm.9), darin das Kapitel 5: Die „Ecole Freinet“: Prinzipien befreiender laizistischer Volksbildung, S.201ff 16 Peyronie, a.a.O. (Anm.3), S. 217 (Hervorhebung von mir) 17 Freinet, C. (1994), Methode naturelle de lecture, in: ders.: Oeuvre pédagogiques, Tome II, Editions du Seuil (S.205-379)
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an und übernimmt 1944 die Leitung des „Comité departemental de libération des Hautes-Alpes“. (Elise Freinet hatte die Schule bis zu ihrer Flucht aus Vence alleine weitergeführt. Sie wird 1947 von Célestin und Elise Freinet wieder eröffnet.) „1941-1943: Die Zeit der Inaktivität wird die Zeit des Schreibens. In den Lagern wie in Vallouise baut Freinet weiter an seinem Werk, das ihn überleben wird.“4 Es enstehen seine wichtigsten pädagogischen Schriften: In seinem umfangreichsten Werk „L’Education du travail“ („Erziehung durch Arbeit“) entwickelt Freinet auf dem Hintergrund einer reichen pädagogischen Erfahrung seine Ideen in dialogisch-narrativer Form. Es geht ihm zentral um die „Konzeption einer interessanten, wirksamen und humanen Volkserziehung. Die Arbeit wird darin zugleich Basis und Motor sein.“18 Darin kommen auch die praktischen Details einer solchen Erziehung zur Sprache, noch ausführlicher dann in dem (auch in Deutsch vollständig vorliegenden) Werk „L’Ecole moderne francaise. Guide pratique pour l’organisation materielle, technique et pédagogique de l’école populaire“, nun verfasst in Sachprosa.19 In seinem „Essai de psychologie sensible“ (etwa: „Abhandlung über die Psychologie der Sinne“) steht der Begriff des „Tatonnement experimental“, das „experimentelle Tasten“, im Mittelpunkt. Es bildet für ihn den Dreh- und Angelpunkt seiner Vorstellung vom natürlichen Lernen. Erfolgreiches Lernen geschieht auf dem Weg von Versuch, Irrtum, erneutem Versuch, Wiederholung der erfolgreichen Lösung bis zur Festigung einer „regle de vie“, einer „Lebensregel“. Dieser Prozess wird von den Ereignissen des Lebens angeregt und von den vitalen Interessen des Kindes selbst geleitet. Er kann nicht lehrplanmäßig rationalisiert – „man tränkt kein Pferd, das keinen Durst hat“ –, sondern nur durch die Entwicklung eines günstigen sozialen Milieus und mittels adäquater Lerntechniken unterstützt werden.20 Die Jahre nach dem Kriege sind der Reorganisation der brachliegenden Arbeit gewidmet. Die Bewegung erlebt einen kontinuierlichen Aufschwung auf nationaler wie internationaler Ebene. Neue Formen der Organisation entstehen, neue Zeitschriften werden gegründet, neue politischpädagogische Initiativen werden auf den Weg gebracht: Die CEL zählt rasch „10000, 20000, bald 30000 Anhänger“4, 1961 wird die „Féderation internationale des mouvements d’Ecole moderne“ (FIMEM) gegründet, eine bis heute arbeitende Vereinigung der nationalen Gruppierungen, auch aus dem Osten und Südosten Europas sowie aus Übersee.21 – Die neuen Zeitschriften: „Art enfantin“ (1950), bald darauf „Albums d’enfants“ und „L’Educateur culturel“ (1953), „Techniques de vie“ (1959), „L’Educateur second degré“ für den Unterricht in der Sekundarstufe (1963), „L’Educateur technologique“ (1964). „1953 beginnt Freinet die Kampagne ‚25 Schüler pro Klasse‘ und zehn Jahre später erfolgt die Gründung der ‚Gesellschaft zum Schutz des Kindes‘.“4 Die „Ecole Freinet“ in Vence wird (wieder) zum Ort zahlreicher Kolloquien und pädagogischen Wochen; ein Museum für Kinderkunst wird dort eingerichtet. „1965: Freinet beabsichtigt die Gründung eines Lehrerbildungsinstituts, das seiner Schule eine neue Dimension hinzugefügt hätte. Aber, ein weiteres Mal, fehlt es an Geld und es bleibt ihm keine Zeit mehr für dieses letzte Wagnis.“4 Die Grundlagen der Freinet-Pädagogik sind aus der spannungsreichen Einheit eines Lebens erwachsen, das sein Handeln und Denken bewusst an die Bewältigung konkreter pädagogischer 18
Freinet, C. (1994): Oeuvre pedagogiques, Tome I, Editions du Seuil, S.133 Siehe Anm. 14 b) 20 Die genannten Werke liegen zusammen mit anderen wichtigen Schriften Freinets in der neuen zweibändigen Werkausgabe (siehe Anm. 17 u. 18) vor. 21 Jörg, Hans (1994): Die Freinet-Pädagogik und ihr internationaler Einflussbereich, in: Röhrs, Hermann und Lenhart, Volker (Hsg.),Die Reformpädagogik auf den Kontinenten, Frankfurt am Main u.a.O.: Peter Lang 19
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Aufgaben bindet und hierfür Partner und Mitstreiter sucht. Nur die Berücksichtigung des biographischen und zeitgeschichtlichen Hintergrundes erschließt die Quellen und die Substanz des Werkes. Es schließt den Appell mit ein, keine „Patentrezepte“ zu suchen, sondern in kritischem Geist eigene Wege zu gehen und dabei die Erfahrungen anderer zu nutzen. Als Ergebnis liegt kein geschlossenes oder tendenziell abschließbares Lehrgebäude bzw. Schulkonzept vor, vielmehr ein kaum überschaubarer, empirisch und kollektiv erarbeiteter Schatz an pädagogischtechnischen Verfahren und organisatorischen Formen, die der Adaption, Modifikation und Weiterentwicklung offenstehen. Unter der Maßgabe des „Freien Ausdrucks“ und des gemeinsamen lebensnahen Arbeitens und Lernens gewinnen sie ihren inneren Zusammenhang. Dieser wird – im biographischen Ursprung – einmal gebildet durch den Hintergrund einer (bäuerlichen) Lebenswelt, in der die Notwendigkeit und der (Bildungs-)Wert des Arbeitens, insbesondere der kooperativen Arbeit, die Verbindung zur Natur und die Erfahrung einer solidarischen Gemeinschaft erlebbar sind. Durch zeitgemäße, gleichwohl auch zeitgebundene, pädagogisch-politische Orientierungen wird dieser Horizont überschritten. Der politische Hintergrund ist in den Klassengegensätzen der Zwischenkriegszeit zu sehen. Freinet geht es um die Verbesserung der Lebensverhältnisse der unteren Volksschichten, das heißt der vom Markt oder vom Kapital abhängigen Bauern, Handwerker, Kleinhändler und Arbeiter. Unterricht als Aufklärung durch die Initiierung freier Forschung und Erkenntnis ist für ihn per se politisch, bedeutet aber nicht die Instrumentalisierung der Pädagogik. Freinet fordert zur politischen Aktion heraus, betont aber, dass der Pädagoge als solcher kein Politiker ist und sein darf. Das korrespondiert mit dem reformpädagogischen Ansatz einer „Pädagogik vom Kinde aus“ und seinem grundlegenden Prinzip der Achtung vor der Würde und Eigenart des Kindes. Diesem Hintergrund ist er verbunden – und das hebt seine Pädagogik über den Rahmen einer Klassen(kampf)pädagogik, die er in den Anfangsjahren durchaus propagierte, weit hinaus. Aus all dem resultiert das Eintreten für eine Schule, die die „Wahrheit“, das Faktische des eigenen und gesellschaftlichen Lebens als Basis der Lebensbewältigung und des gesellschaftlichen Fortschritts ins Bewusstsein rücken will – und dies nicht in erster Linie durch entsprechende inhaltliche Vorgaben, sondern durch die Form des Zusammenlebens und Lernens selbst. – Das gilt es weiter aufzuhellen.
2 Die weltanschaulichen, erziehungstheoretischen und psychologischen Grundlagen der Erziehung und Bildung Wiewohl aus einem biographisch-politischen Zusammenhang erwachsen, ist der theoretische Ertrag des Freinetschen Werkes nicht an diesen Hintergrund gebunden. Freinet hat immer wieder die Bedeutung der Praxis betont und gegen das Theoretisieren und die hohe Wissenschaft, die sich angeblich vom Leben entfernt hat, polemisiert. Dabei hat er doch gleichzeitig ein theoretisches Werk geschaffen, das grundlegende und miteinander verbundene Aussagen zum Prozess der Erziehung macht. Die vorgeblich nur praxisbegleitende oder unmittelbar aus der Praxis fließende Reflexion hat bei Freinet durchaus eine eigenständige theoretische Dignität und theoretische Tiefe, die – letztlich – erst die Lebens- und Entwicklungsfähigkeit dieser Pädagogik begründet. Aufgrund ihrer theoretischen Qualität kann sie zur Aufhellung von Erziehungsprozessen und Erziehungsproblemen beitragen, die nicht mehr ihrem ursprünglichen Entstehungszusammenhang entsprechen. Das heißt: es handelt sich um eine pädagogische Theorie, die den Anspruch auf Bedeutsamkeit erheben kann, weil sie Allgemeines im Besonderen ihres Ursprungs ins Bewusstsein hebt. Freinet scheut sich auch trotz seiner Abneigung gegen dogmatische Setzungen
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nicht, bei der Darstellung und Begründung seiner Pädagogik von „Gesetzen“ und „Invarianten“ zu sprechen. Freinet war sich durchaus bewusst, dass er zentrale Momente dieses Allgemeinen (wie die politische Perspektive, die Gebote einer menschenfreundlichen Erziehung, die Orientierung am Kind, das Aktivitätsprinzip in der Erziehung u.a.) nicht selbst „entdeckt“ hatte. Er hat diese Momente aber unter der von ihm verfochtenen Maßgabe einer „pédagogie moderne de bon sens“, einer Pädagogik, die dem „gesunden Menschenverstand“ entspricht und jedem zugänglich sein sollte, in spezifischer Weise integriert und konkretisiert. – Will man den theoretischen, normativen und pädagogischen Gehalt des Freinet’schen Werkes, dessen biographisch-genetische Seite bereits deutlich geworden ist, in systematischer Sicht skizzieren, so lassen sich die im Folgenden dargestellten, miteinander verbundenen Orientierungen ausmachen.
2.1 Die gesellschaftspolitische Zielperspektive: Ein Leben in Würde und Freiheit in einer Gesellschaft ohne Ausbeutung Im Gegensatz zu manch anderem Theoretiker einer emanzipatorischen, an den Idealen der französischen und der erwarteten proletarischen Revolution orientierten Emanzipationspädagogik lehnt Freinet im Bereich der Erziehung „jede propagandistische Bearbeitung, sei sie von rechts oder von links, regierungsfreundlich oder oppositionell“ strikt ab.22 Die politische Instrumentalisierung der Pädagogik ist mit der Würde des Kindes und den Prinzipien einer selbsttätigen Erziehung unvereinbar. „Die Absicht, im Voraus die Gesellschaft definieren zu wollen, in der wir die Schüler später gern leben sehen würden“, bezeichnet Freinet als einen „pädagogischen und historischen Unsinn“.23 Gleichwohl bildet der Traum einer Gesellschaft, „in der alle Ausbeutung des Menschen durch den Menschen ausgeschlossen ist“23 das menschliche Ideal, an dem sich eine befreiende Erziehung zu orientieren habe. Und in der frühen Phase seines Wirkens stand Freinet – wie im obigen werkbiographischen Abriss gezeigt – durchaus in der Tradition klassenkämpferischen Denkens und des Syndikalismus, während er diesen Pol seines Denkens ansatzweise bereits in den dreißiger Jahren, deutlicher aber noch in der Nachkriegszeit zurücknahm (freilich ohne ihn je zu verleugnen) und den anderen konstitutiven Pol seines Wirkens, nämlich eine kindorientierte Pädagogik, deutlicher hervorhob.
2.2 „Funktionelle Arbeit“ als Mittel zur Entwicklung der Persönlichkeit des Kindes Die pädagogische Qualität der Arbeit kann sich nur in einer Form und durch eine Organisation entfalten, in der – ähnlich der überschaubaren Arbeit des Bauern – ihr sozialer Sinn und Nutzen mit dem, was individuell gewollt und gefühlt wird, eine erlebbare Verbindung eingeht. Die Ausführung einer solchen Arbeit wird das Kind dem Spiel und dem bloßen Vergnügen vorziehen. Freinet versteht in pädagogischer Hinsicht „unter Arbeit ausschließlich die Tätigkeit, die so eng mit dem Menschen verbunden ist, dass sie eine Funktion von ihm wird und ihre Ausübung allein ihm schon ein Gefühl von Befriedigung gibt, auch wenn sie von Erschöpfung und Leiden beglei22
Freinet, nach: Kock, a.a.O. (Anm.9), S. 68. Dort zitiert nach Freinet, C.: Freudisme, Communisme, Confusion, in: L’Educateur Prolétarien, 8/1933 Freinet, C. (1980): Pädagogische Texte - mit Beispielen aus der praktischen Arbeit nach Freinet, hrg. von Heiner Boehncke und Christoph Hennig, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S. 116 23
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tet ist. Wie Sie ja wissen, sind Erschöpfung und Leiden nicht unbedingt unerbittliche Feinde des Glücks; manchmal sind sie sogar seine Vorbedingung.“24 Das Ziel dieser funktionellen Arbeit ist die Steigerung des Lebens, die Entwicklung der individuellen Fähigkeiten bzw. der „Lebensregeln“. Was oft als Spielbedürfnis bezeichnet wird, ist – nach Freinet – meist nur der Ausdruck eines fehlgeleiteten Bedürfnisses nach Arbeit, zu dessen eigentlicher Befriedigung in kindlichangemessener Form heute vielfach die Voraussetzungen fehlen. (Deshalb seine Forderung nach „Kinderreservaten“ für die bis Fünfjährigen, die den funktionellen Bedürfnissen Raum gewähren.) „Das Kind will arbeiten, wie es sich ernähren will.“25 In der Schule geht es darum, diesem ursprünglichen Bedürfnis Rechnung zu tragen, u.a. indem im kindlichen Spiel der Arbeitscharakter gesehen und respektiert wird bzw. in der pädagogisch notwendigen Arbeit ein spielerisches Moment eingeführt wird. Insgesamt geht es darum, in der Schule die erzieherische Qualität funktioneller Arbeit zur Geltung zu bringen. „Unsere Pädagogik ist in ihrem Wesen eine Pädagogik der Arbeit. Unsere Originalität besteht darin, Werkzeuge und Techniken der Arbeit geschaffen, erprobt und verbreitet zu haben, die unsere Klassen von Grund auf umgestalten.“26
2.3 Das „experimentelle Tasten“ als Weg erfolgreichen Lernens Nicht der schnelle, womöglich erzwungene Weg zur Rezeption der Ergebnisse vorgängiger Erfahrung bildet den Grund lebensverbundenen Lernens, sondern die Möglichkeit, durch Versuch und Irrtum einen individuell angemessenen Weg zu finden. „Das große Gesetz, das wir immer im Zentrum aller menschlichen Handlungen finden werden, ist das Gesetz des tastenden Versuchens.“27 Dieses Tasten hat zunächst den Charakter mechanischer Reaktionen, die sich im Falle des Erfolgs als Verhaltensnorm manifestieren. Bald aber tritt die Intelligenz hinzu. Das Kind ist zugänglich für Erfahrung. „An der Schnelligkeit und Sicherheit mit der das Individuum von den Lehren seiner tastenden Versuche profitiert, messen wir den Grad seiner Intelligenz.“28 Auch die Nachahmung einer erfolgreichen Handlung hat den Charakter des experimentellen Tastens, nur wird das Tasten, dessen Erfolg man gewahr wird, stellvertretend vom anderen ausgeführt. Die Möglichkeit zum experimentellen Tasten und zur funktionellen Arbeit ist die Bedingung für eine „Pädagogik des Erfolgs“. „Jedes Individuum will Erfolg haben. Das Versagen bedeutet Hemmung, Vernichtung von Aufgewecktheit und Begeisterung.“29 Freinet fast die schulpädagogischen Folgerungen zusammen: „Wenn man von dem Prinzip ausgeht, dass tastende Erfahrungen gemacht werden müssen, dass das Kind alles selbst ausprobieren muss und auch selbst der Pförtner ist, der die willkommenen Erfahrungen einlässt, kann man ihm helfen, seine Erfahrungen zu machen und kann den Prozess beschleunigen. – Wir schließen daher folgendes aus unserer Argumentation: 1. Man muss den Kindern die technischen Möglichkeiten für eine reichhaltige tastende Erfahrung geben: durch die Umgebung, Felder, Wiesen, richtige Arbeit, Tiere, am Anfang einfaches, später komplizierteres Werkzeug;
24
Ebd., S.86 Freinet (1994), L’Education du travail, in: vgl. Anm. 18, S.267 Freinet (1994), Les Invariants Pédagogiques (zuerst veröffentlicht 1964), in: vgl. Anm. 17, S.398 (In dieser Schrift definiert Freinet 30 „Pädagogische Invarianten“, sprich: Voraussetzungen, Bedingungen und Formen der Erziehung.) 27 Freinet (1980), vgl. Anm. 23, S.54 28 Ebd., S.59 29 Freinet (1994), siehe Anm. 26, S. 397 25 26
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2. Man muss dafür sorgen, dass Material und Techniken bereitstehen, die die tastende Erfahrung beschleunigen, vervollständigen, vertiefen und ihre Ergebnisse sichern; 3. Man muss die tastende Erfahrung ständig mit anderen Erfahrungen und Techniken konfrontieren: mit anderen Kindern, Erwachsenen, Maschinen usw. Voraussetzung für diese Schritte ist notwendigerweise, dass das Kind in ein lebendiges Arbeitsmilieu versetzt wird.“30 2.4 Der „Freie Ausdruck“ und die „natürliche Methode“ als Bedingung lebensbedeutsamen Lernens Beides bedingt sich gegenseitig: „Natürlich“ ist die Methode des Lernens, wenn ihr Medium die Erfahrung des Kindes selbst ist. Diese Erfahrung kann nur „zur Sprache“ gebracht werden in einem Raum, der eben dies zulässt: den Freien Ausdruck kindlicher Erfahrung – in welcher Form auch immer. Der Freie Ausdruck scheint sich qua definitionem einer methodischen Planung, die ihm das Charakteristikum der Freiheit und Freiwilligkeit nehmen könnte, zu entziehen. Aber es ist durchaus möglich, einen menschlichen Raum des Vertrauens und eine Unterrichtsorganisation zu entwickeln, in der die Äußerung der Gefühle, der Eindrücke und Erfahrungen, des Zweifels, der Kritik, der Kreativität ... ermöglicht, ermutigt, herausgefordert, kultiviert und geübt wird. „Die Pfeiler des Freien Ausdrucks sind vielfältig: das Wort und natürlich die Schrift (mit dem zentralen Prinzip des freien Textes), aber auch die Musik und das Malen, das Theater, die Landarbeit ...“, ferner handwerkliche Arbeit und audiovisuelle Produktionen. „Die Kommunikation ist die komplementäre Seite des Freien Ausdrucks: sich-ausdrücken, das bedeutet auch, mit den anderen Kindern und den anderen Erwachsenen zu kommunizieren“.31 Elise Freinet hebt den zentralen Wert des Freien Ausdrucks bereits im Untertitel eines Werkes hervor, das den „Weg Célestin Freinets“ zum Gegenstand hat: „L’Itinéraire de Célestin Freinet. La libre expression dans la Pédagogie Freinet“.32 Die „Natürliche Methode“ findet ihr Prinzip in der Beobachtung von Lernprozessen, die „auf natürliche Weise“ durch „experimentelles Tasten“ und Nachahmung erfolgversprechender Beispiele in der sozialen Situation ohne spezifische Lehrgänge stattfinden, wie das Laufenlernen, das Erlernen mancherlei Geschicklichkeiten und Fähigkeiten, schließlich das Sprechen und gleichzeitig damit der Erwerb von nützlichen und lebensnotwendigen Kenntnissen. Der methodische Gedanke besteht dann darin, dieses Lernen so weit als möglich in die Schule hinein zu verlängern und fruchtbar zu machen. Am weitesten hat Freinet diesen Ansatz für den Schriftspracherwerb in dem umfangreichen Werk „Methode naturelle de Lecture“ ausgearbeitet. Schritt für Schritt zeigt er den Weg vom natürlichen Spracherwerb über die freie Zeichnung, dann die (zunächst unbeholfen und formelhaft) beschriftete Zeichnung bis zu dem Punkt, wo sich „die Schrift von der Zeichnung löst“, und weiter bis zur „definitiven Meisterung der Techniken des Schreibens und Lesens“.33 – Aber auch in den Sachfächern und im Ansatz der Interessenkomplexe ist dieser Grundgedanke enthalten, indem auch dort soweit als möglich an den „natürlichen“ Interessen und den Bedürfnissen der Kinder angeknüpft wird.
30
Freinet (1980), siehe Anm. 23, S.72. Original: Essai de psychologie sensible II, in: siehe Anm. 18, S.502 Peyronie, a.a.O. (siehe Anm.3), S.220f 32 Freinet, E.; siehe Anm.13 33 Freinet, C. (1994, Erstveröffentlichung: 1968): Methode naturelle de Lecture, a.a.O. (siehe Anm. 17), S.204-379. Hinweise auf die „Natürliche Methode“ in anderen Lernbereichen u.a. in: Freinet, C. (1964/1981), a.a.O. (Anm.1), 112ff 31
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2.5 Zum Problem des „Lehrplanes“: „Interessenkomplexe“ und der „Allgemeine Arbeitsplan“ als Richtschnur didaktischer Entscheidungen Eine Pädagogik, die die Interessen und Bedürfnisse des Kindes als Ausgangspunkt des Lernens und der Erziehung ernst nehmen will, wird mit den mehr oder weniger unerbittlichen Forderungen einer Welt konfrontiert, die direkt oder über Lehrpläne und andere Maßgaben vermittelt der Erziehung ihren Stempel aufzudrücken versucht. Wie sind diese Forderungen – seien sie nun berechtigt oder nicht – mit den Interessen und Bedürfnissen des Kindes in Einklang bringen? Freinet stellt den Lehrplan nicht grundsätzlich in Frage, will dessen Inhalte jedoch in einem „Allgemeinen Arbeitsplan“ neu ordnen in der Weise, dass sie mit den Interessen und Bedürfnissen des Kindes in Verbindung gebracht werden können. Wo dies nicht oder nur unzureichend möglich ist, wo „(wir) offizielle Lehrer“ bleiben und „gezwungen (sind), mit unseren administrativen Verpflichtungen umzugehen“ empfehlen sich Kompromisse, etwa in Form vorstrukturierter Arbeitsblätter und Arbeitshefte.34 Wenn – und soweit – sich der „Allgemeine Arbeitsplan“ an den „Interessenkomplexen“ orientiert, spiegelt er gleichzeitig die Grundstrukturen des Lebens wider, die den Grund der gesellschaftlichen und der individuellen Entwicklung bilden. Die frei geäußerten Bedürfnisse des Kindes sind dann auch in diesem Plan wiederzufinden; der unüberbrückbar scheinende Gegensatz zwischen individuellem Interesse und gesellschaftlich vermittelter Anforderung – bleibender Grund des schulischen Zwanges – wird so zumindest tendenziell überbrückt.35 In Anlehnung an Decrolys „Interessenzentren“ und Blonskijs „Interessenkomplexen“ unterscheidet Freinet in seinem „Plan general du travail“ drei fundamentale Bedürfnisbereiche, denen er inhaltliche Konkretionen zuordnet: „a) Leben erobern: 1. Kletterer 2. Pflücker 3. Jäger 4. Fischer 5. Züchter 6. Landarbeiter 7. Koch
b) Leben bewahren 1. Sich schützen 2. Heizen und Beleuchtung verwenden 3. Sich bedecken 4. Sich pflegen 5. Die Natur beherrschen 6. Die Tiere beherrschen 7. Das Schicksal beherrschen
34 35
Freinet (1980), a.a.O. (siehe Anm.23), S. 117f Vgl. Kock, a.a.O. (siehe Anm.9), S.126
Freinet-Pädagogik 323
c) Leben weitergeben 1. Familie 2. Gesellschaft 3. Der Mensch inmitten des Lebens“.36 „Die einzelnen Sparten dieses Arbeitsplanes unterteilt Freinet in die funktionalen Aktivitäten (activités fonctionelles), die Techniken und die Kenntnisse.“37 Die Grundlage der Schularbeit bilden die funktionalen Aktivitäten, die einen lebendigen Zugang zu Techniken und Kenntnissen ermöglichen sollen. So werden, um zur Illustration ein Beispiel zu nennen, für das Vorhaben „Wir pflücken die Weintraube“ im Bereich „Funktionaler Aktivitäten“ u.a. genannt: Traubenernte im Schulgarten, Helfen bei der Ernte zu Hause, Teilnahme am Weinerntefest. In der Rubrik „Techniken“ finden sich u.a. Hinweise auf Pflückgeräte und Transportmittel. Unter „Kenntnissen“ ist in den Lernbereichen Französisch, Rechnen, Wissenschaften, Erdkunde, Geschichte das verzeichnet, was am ehesten einem traditionellen Lehrplan zugerechnet werden kann. Einbezogen werden auch soziale und wirtschaftliche Fragen, etwa wenn im Rechnen die Rendite pro Hektar ermittelt wird oder wenn in Geschichte die sozialen und menschlichen Veränderungen in Folge der durch die Reblaus entstandenen Krise zur Sprache kommen.38 – Es handelt sich also um die Konzeption eines Gesamtunterrichts mit einer Schwerpunktsetzung im Bereich der Arbeit und unter Einbeziehung sozialer und wirtschaftlicher Gegebenheiten.
2.6 „Pädagogischer Materialismus“: Für die Verbesserung der konkreten Bedingungen der Erziehung, wider den überfordernden Idealismus und die falsche Rhetorik der pädagogischen Liebe Freinet geht es darum, die pädagogische Arbeit auf ein menschliches Maß zurückzuführen. Die Anspruchsrhetorik einer überhöhten, ans Irrationale grenzenden pädagogischen Ethik birgt in sich die Gefahr einer Überforderung des Lehrers und hat bewusst oder unbewusst die Funktion der Verschleierung unzureichender materieller Bedingungen.39 Zwar ist Liebe durchaus eine notwendige Bedingung individueller Erziehung. Aber „Güte und Liebe können nicht verordnet werden. Sie realisieren sich; sie durchdringen das Leben“40 und damit auch die Erziehung. Der eigentliche Angelpunkt der pädagogischen Entwicklung ist die Verbesserung der materiellen und organisatorischen Bedingungen der Erziehung: „Wir wollen die Erziehung grundlegend und dauerhaft aufbauen, indem wir von der Wirklichkeit ausgehen. Wir suchen daher Arbeitsmittel, Unterrichtstechniken und eine Organisation des Unterrichts, die es den Lehrern bei normaler menschlicher Beanspruchung erlauben, einen höchstmöglichen Erziehungserfolg zu erzielen.“41 2.7 Schule des Kindes Erziehung bedeutet Hilfe beim Aufbau der Persönlichkeit des Kindes. „Technisch gesehen war die traditionelle Schule um den Wissensstoff zentriert ... Die Schule von morgen wird das Kind 36
Freinet, C., zitiert nach Kock, ebd. S.116 Kock, ebd. Vgl. Kock, ebd., S.117f 39 Vgl.: Freinet (1994): L'Education du travail, a.a.O. (Anm.18), darin insbesondere: La bonté et l’amour, S.319ff; ferner: Freinet (1979), a.a.O. (siehe Anm. 14b), S.99ff und Kock (1995), a.a.O. (Anm.9) S.159ff 40 Freinet (1994), ebd. 41 Freinet (1979), a.a.O (Anm.14b), S.101 37 38
324 Reformpädagogik
als Mitglied der Gemeinschaft in den Mittelpunkt stellen. Es sind seine wesentlichen Bedürfnisse, im Blick auf die Belange der Gesellschaft, der es angehört, von denen aus die zu beherrschenden Techniken – die manuellen und die intellektuellen – , das Bildungsgut, das System des Bildungserwerbs, die Art und Weise der Erziehung abgeleitet werden.“ Es geht darum, den Kindern ein reiches Milieu zu bieten, ... „die Wege zu ebnen, auf denen sie beherzt weiter voranschreiten, gemäß ihren Veranlagungen, ihren Vorlieben und Bedürfnissen.“42
3
Elemente der pädagogischen Praxis: Die materiellen, technischen, methodisch-didaktischen Momente und die soziale Organisation der Schule
Die vorgenannten Orientierungen implizieren eine Distanz zur „pédagogie traditionelle“, führen aber noch nicht von sich aus zu einer anderen Schule. Hier ist der Versuch, das Experiment, das „experimentelle Tasten“ angesagt mit dem Ziel, praktikable und verantwortbare neue Unterrichtsformen zu entwickeln. In ihrer Gesamtheit bilden die von Freinet und seinen Anhängern entwickelten Elemente der Praxis eine neue Konzeption von Schule. – Die wichtigsten Elemente der Schularbeit nach Freinet sind die folgenden:43 Ateliers (innerhalb und/oder außerhalb des Klassenraumes) für verschiedene manuelle, geistige und künstlerische Aktivitäten mit entsprechender Ausstattung: x x x x x x x x
Atelier 1: Feldarbeit und Tierzucht, Atelier 2: Schmiede und Schreinerei, Atelier 3: Spinnerei, Weberei, Schneiderei, Küche, Haushalt, Atelier 4: Bauen, Mechanik, Handel, Atelier 5: Erkundungen, Wissensgebiete, Dokumentation, Atelier 6: Experimentieren und Beobachten (im Bereich Biologie, Physik, Chemie, Meteorologie), Atelier 7: Schöpferisches Gestalten, graphischer Ausdruck und graphische Kommunikation, Atelier 8: Schöpferisches Gestalten, künstlerischer Ausdruck, und künstlerische Kommunikation (Gesang, Musik, Tanz, Zeichnen, Malen, Gravieren, Modellieren, Theater, Kasperltheater, Marionetten).
Einige wichtige Arbeitsmittel, Techniken, Lern- und Kontrollformen, die den Ateliers (5, 6 oder 7) zugeordnet sind bzw. den dort eingeschriebenen Zielsetzungen dienen seien eigens genannt: x x x x
42 43
„Bibliotheque de travail“: die „Arbeitsbücherei“ mit einem großen Bestand an informativen und zur weiteren Forschung anregenden Sachheften, zum Teil in Verbindung mit audiovisuellem Material; die Versuchskartei mit Anleitungen für Versuche im naturwissenschaftlichen und technischen Bereich; Studium des lokalen Milieus; die alphabetisch geordnete Nachschlagekartei (eine kindgerechte, ausbaufähige Enzyklopädie); Freinet (1994), L'Ecole Moderne Française, a.a.0 (Anm.17), S.18f Vgl. die entsprechenden Abschnitte der in den Anmerkungen 1, 13, 14b, 25 angeführten Schriften
Freinet-Pädagogik 325
x x x x x x x x
die den Grundlehrstoff gliedernde Arbeitskartei, jeweils bestehend aus: Informations-, Aufgaben-, Lösungs- und Testkarten; akustische Lernprogramme, besonders für den Sprach- und Sachunterricht; die sehr vielseitig verwendbare Schuldruckerei (Druck der freien Texte, der Klassenzeitung usw.); Arbeit mit Projektor, Tonband, Film; die Korrespondenz mit anderen Klassen und Schulen; der Freie Ausdruck im Rahmen der Spracherziehung (und als Unterrichtsprinzip überhaupt); Vorträge von Schülern und anderen Experten; Fertigkeitsbescheinigungen (brevets) für den „Schriftsteller“, „Insektensammler“, „Brandmeister“, „Graveur“, „Historiker“, „Koch“ usw., die nach Vorlage eines „Meisterstücks“ erworben werden können. (Freinet nennt über 30. Einige davon werden als verpflichtend angesehen.)
Der Organisation der Arbeit und des sozialen Lebens dienen insbesondere: x x x
der Klassenrat als gemeinschaftlicher Ausdruck der Schülerselbstverwaltung; der (am Anfang der Woche in gemeinsamer Absprache erstellte) individuelle Arbeitsplan mit Aufgaben in den verschiedenen Lernbereichen und einer persönlichen Leistungskurve zur Kontrolle; die Wandzeitung: in ihr werden (mit Namen, niemals anonym) Kritik, Lob, Wünsche und außerdem Arbeitsergebnisse eingetragen.
4 Das „Lehren“ des Lehrers und das Lernen des Kindes im „pädagogischen ZeitRaum“ der Freinet-Schule Es ist deutlich geworden, dass sich der „pädagogische Zeit-Raum“ einer Freinet-Schule bzw. einer Freinet-Klasse erheblich von der „didaktisch-methodischen Normalform der Schule“ unterscheidet. Unter dem Begriff „Pädagogischer Zeit-Raum“ können wir – in einer vorläufigen Bestimmung – all jene sachlichen, sozialen, topographischen und rhythmisch-zeitlichen Arrangements verstehen, soweit sie in einen bewussten Zusammenhang zu den Prozessen des Lehrens, Lernens und Erziehens gestellt sind. Zum topographischen Zusammenhang gehört zunächst der Klassenraum selbst: Kind und Lehrer betreten am Morgen des Tages einen anderen Raum. Er zeichnet sich durch eine besondere Anordnung der Arbeitsplätze aus: Gruppenarbeitstische haben die herkömmliche frontale Anordnung der Schulbänke abgelöst; verschiedene Arbeitsmittel sind in Regalen frei zugänglich; der Raum ist gegliedert in verschiedene Zonen (Ateliers), in denen die Kinder „in Ruhe“ nach ihren Interessen und nach ihrem Rhythmus arbeiten können; der Raum spiegelt die Tätigkeiten wider: Ergebnisse werden sichtbar präsentiert, die Wandzeitung ist ein öffentlicher Spiegel der sozial-emotionalen Befindlichkeit der Klasse. Das topographische Arrangement setzt sich außerhalb des Klassenraums fort: es gibt Räume und Flächen, die der Garten- und Feldarbeit sowie gegebenenfalls der Viehzucht gewidmet sind. Und weiter geht es in die nähere oder fernere Umgebung („classe promenade“) mit ihren geographischen und sozialen Besonderheiten. Diese sind zwar nicht eigens pädagogisch arrangiert (jedenfalls in der Regel nicht), erhalten aber durch die Art und Weise der Annäherung und Erkundung ihre pädagogische Bedeutung. Hang, Tal und Berg mit ihren zugehörigen wirtschaftlichen Verrichtungen, wie sie sich etwa vor Freinets Schule in Bar-sur-Loup ausbreiten sowie das Dorf selbst, sind insoweit
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pädagogisch-intentional „arrangiert“, als sie bewusst in den Lebens- und Lernzusammenhang der Kinder eingebunden werden. Der „pädagogische Zeit-Raum“ geht also weit über das hinaus, was die herkömmliche Schule ausmacht. Das bleibt nicht ohne Folgen für die Qualität des Lehrens und Lernens und für die sie tragenden sozialen Beziehungen. Der Lehrer ist nicht mehr in erster Linie der Dozent, obwohl er das durchaus gelegentlich sein kann, wie übrigens auch jedes Kind, das einen Sachverhalt, in dem es kundig ist oder sich kundig gemacht hat, durch Vortrag und Gespräch vermitteln kann. Der Lehrer hat seine frontale Position vor der Klasse aufgegeben, zugunsten einer pädagogischen Haltung, die die Kinder bei ihrem eigenen Lernprozess in vielfältiger Weise anregend, korrigierend, beratend, ermutigend zu begleiten sucht. Analog dazu verändert sich auch die Haltung des Schülers. Er kann täglich – zum Beispiel in den morgendlichen Arbeitsbesprechungen – erleben, dass er als Mensch gefragt ist, der persönlichen Anteil hat und nehmen kann an dem, was ihn selbst und die Gruppe angeht und beschäftigt. Die zur Verfügung stehenden Arbeitsmittel wie überhaupt das gesamte didaktisch-methodische Arrangement gewähren ihm ein hohes Maß an Mitbestimmung, Mitgestaltung, Mitverantwortung, Eigenaktivität. So kann er sich als „Mitautor“ seines Lern- und Bildungsprozesses erleben und gleichzeitig als bedeutsam für die anderen Mitglieder seiner „pädagogischen Kooperative“, mit denen er durch das gemeinsame Arbeiten, das Gemeinschaftsleben und die Regelung der gemeinsamen Angelegenheiten in einer lebendigen Beziehung steht.
5
Zur Weiterentwicklung und Wirkung der Freinet-Pädagogik
Die Aufzählung der verschiedenen Praxismomente könnte den Eindruck erwecken, als handele es sich um ein relativ beliebiges und beliebig erweiterbares Reservoire an pädagogischen Techniken und Formen – und in der Tat kann keine einzelne dieser Formen als unabdingbar angesehen werden, wie auch der Erweiterung dieses „Reservoires“ keine prinzipiellen Grenzen gesetzt sind. Selbst die Druckerei, das „Markenzeichen“ der Freinet-Pädagogik, wird heute von manchen Anhängern in ihrer Bedeutung relativiert und durch neue Medien (z.B. elektronische Kommunikationsmittel, Computer, Drucker, Internet) ersetzt. Die verschiedenen Elemente finden jedoch in den zuvor genannten grundlegenden pädagogischen Orientierungen sowie in der Praxis durch die kompetente und verantwortliche Lehrperson ihren Zusammenhang und ihre Legitimation. Die Perspektive und die Notwendigkeit einer Weiterentwicklung der ursprünglichen „Techniken“ ergibt sich aus der Tatsache unterschiedlicher Problemstellungen. War die Auffassung Freinets noch stark an den überschaubaren Verhältnissen der – schon zu seiner Zeit im Umbruch befindlichen – ländlichen Gemeinden mit einer spezifischen Ethik der Arbeit und des sozialen Lebens orientiert, brachten die Verhältnisse in den Städten für die Anhänger der FreinetPädagogik neue Herausforderungen. Es zeigte sich, dass in besonders belasteten Situationen die Freinet-Techniken allein nicht mehr ausreichten. Bereits 1952 gründete Freinet selbst eine eigene Unterorganisation, das „Institut Parisien de l’Ecole Moderne“, das sich insbesondere den pädagogischen Problemen in den städtischen Ballungsgebieten annahm. Innerhalb dieser Gruppe bildete sich eine neue Strömung, die dann mit einer eigenständigen Organisation hervortrat: die „Groupe Techniques Educatives“ (GTE). Diese Lehrergruppe öffnete sich stärker den Fragen der Gruppendynamik, der Psychoanalyse, der humanistischen Psychologie und Pädagogik (insbesondere Rogers). Im Jahre 1964 spaltete sich eine kleine Gruppe um den Lehrer Fernand Oury von der GTE ab und gründete die „Groupe d’Education Thérapeutique“. Im Zusammenhang mit den massiven Problemen in städtischen Klassen und Schulen, „wo nichts mehr läuft“, wird die von Oury und
Freinet-Pädagogik 327
anderen entwickelte und an einigen Schulen erprobte „Pédagogie Institutionelle“ gegenwärtig in Frankreich stark diskutiert. Neben den weiterhin praktizierten Verfahren aus der FreinetPädagogik wird dem Aspekt der sozialen Beziehungen und den inner- und außerschulischen Ursachen ihrer Störungen verstärkte Aufmerksamkeit gewidmet und ein eigener Stellenwert zuerkannt. Man erwartet also nicht mehr – wie noch Freinet – eine Harmonisierung des sozialen Lebens als quasi-automatischen Nebeneffekt der Arbeitsorganisation selbst. Der pädagogischtherapeutische bzw. sozialpädagogische Ansatz besteht vor allem darin, über die gemeinsame Entwicklung von „Gesetzen“ bzw. „Institutionen“ der Klasse eine verbindliche (gleichwohl an neue Situationen anpassungsfähige) soziale Ordnung zu schaffen, die das Leben und Arbeiten in der Klasse erleichtert oder allererst ermöglicht. Die Übernahme von Verantwortung und der Grad der erlangten Verantwortungsfähigkeit wird dabei auch nach außen demonstriert. So heißt es zum Beispiel in einem Schulkonzept in dem Abschnitt über „Soziales Lernen“ (Apprentissage de la vie sociale) – und hier wird auch der Zusammenhang mit der Freinet-Pädagogik deutlich – : „Die Institutionelle Pädagogik des Pädagogen Fernand Oury schlägt ein System von Versammlungen vor, die ein erzieherisches Milieu schaffen, das es den Kindern erlaubt, gemäß ihren Wünschen und Möglichkeiten Verantwortlichkeiten in der Schule zu übernehmen. Zu jedem Grad der Verantwortlichkeit gehört ein farbiger Gürtel: vom Gürtel beim Eintritt in die Gruppe, das ist der hellste, bis zum dunkelsten (für Kinder, die die Regeln des Zusammenlebens kennen und respektieren, die gelegentlich die Ateliers leiten, die Vorschläge in den Versammlungen einbringen). Jedem Gürtel ist eine präzise Anzahl von Aufgaben zugeordnet, die zu erfüllen sind, bevor ein Antrag auf einen neuen Gürtel gestellt werden kann, der dann dem Kandidaten durch die Gruppe in einer Versammlung zugesprochen wird. .... Am Ende der Woche findet für 1 1/2 Stunden eine Versammlung aller Kinder und Erwachsenen der Schule statt (für die Kinder der ‚classes maternelles‘ ist die Dauer reduziert) um Probleme, Projekte und Vorschläge zu besprechen, und dort werden die Lebensregeln der Schule beschlossen, die in Zukunft eine bessere Organisation gestatten.“44 Ohne die Einflüsse im einzelnen immer nachzeichnen zu können, ist die Freinet-Pädagogik zweifellos zu einer bedeutsamen Bewegung geworden, die weit über den Kreis ihrer international verbreiteten Anhängerschaft hinaus Wirkungen auf das Bild und die Praxis der Schule allgemein entfaltet hat. Das gilt insbesondere für den Bereich der Grundschule. Wenn heute in der Schulpädagogik von „handlungsorientiertem Unterricht“, „Projektarbeit“, „Freier Arbeit“, „Wochenplanarbeit“, „Offenem Unterricht“ gesprochen wird, so sind die Anklänge an die Freinet-Pädagogik, auch wenn sie nicht eigens genannt werden, unverkennbar.
6 Was wäre zu lernen? Kritische Anmerkungen in konstruktiver Absicht Sowohl bei der Frage nach dem Lernertrag als auch nach den aktuellen Einflüssen der FreinetPädagogik muss die historische Differenz zur Gründerpersönlichkeit bedacht werden. Freinet lebte in einer Welt extremer sozialer Widersprüche und internationaler Spannungen und Katastrophen. Die Erziehungsfrage war für ihn eingebettet in die sozialen Fragen seiner Gegenwart; die Befreiung von ungerechter Herrschaft kapitalistischer Signatur blieb – wenn auch gegen Ende seines Wirkens in abgeschwächter Diktion vorgetragen – sein politisch-pädagogisches Credo. 44
Ecole du Plateau, in: Auffrand Roger (1995): Des Ecoles Differentes et des Alternatives Educatives, Paris: Agence Informations Enfance, S.136. Vgl. auch: a) Vasquez, Aida; Oury, Fernand u.a. (1976): Vorschläge für die Arbeit im Klassenzimmer, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. b) Zehrfeld, Klaus (1977): Freinet in der Praxis, Weinheim und Basel: Beltz
328 Reformpädagogik
Das Verständnis der theoretischen Grundlagen einschließlich seines Lernbegriffes ist an diesen Hintergrund gebunden. Losgelöst davon erscheinen Konzepte wie der „Freie Text“, das „experimentelle Tasten“, der „Klassenrat“, „Klassenkorrespondenz“ usw. als politisch weitgehend neutralisiert, auch wenn sie in den heutigen Kontext einer demokratischen Erziehung eingebunden werden. Ein politisch solchermaßen entschärfter Freinet kann durchaus von Lehrern mit verschiedenen oder gar gegensätzlichen politischen Überzeugungen, angefangen von christlichkonservativ über liberal bis sozialistisch, in Anspruch genommen werden. Und zweifellos kann jede pädagogische Praxis von diesen Anregungen profitieren, wenn sie nicht als bloße Formen übernommen, sondern tatsächlich auf das soziale Leben in der Gruppe bezogen und so kreativ integriert werden. Freilich ist dann ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass es sich – gegebenenfalls – nicht mehr um Freinet-Pädagogik handelt, sondern um eine Praxis, die sich von Freinets didaktisch-methodischen Ansätzen zwar inspirieren lässt aber nach Zielsetzung und Inhalt eben eine andere Pädagogik darstellt. Dass es in Köln seit 1990 eine Schule mit dem Namen „Célestin-Freinet-Schule, Katholische Grundschule“ gibt, weist auf eine erfreuliche Offenheit gegenüber dem Werk Freinets hin, signalisiert aber auch die Gefahr einer unbedacht oder gar unbewusst einseitigen Rezeption. Freinets Pädagogik bleibt, recht verstanden, ein inspiratives Beispiel und eine Mahnung, die sozialen Prozesse und sozialen Verwerfungen wahrzunehmen und in den Bildungsprozess unter dem Aspekt sozialer Gerechtigkeit und Menschlichkeit bewusst einzubeziehen. Sie ist gleichzeitig eine Mahnung, die Würde des Kindes zu achten und dem Kind im Prozess der Erziehung das Wort zu geben.
7 Freinet-Pädagogik im systematischen Überblick
Aspekte
Begriffliche bzw. inhaltliche Bestimmungen
Gründerpersönlichkeit Biographie
Célestin Freinet (1896-1966), französischer Reformpädagoge. Kind einer südfranzösischen Bauernfamilie, Erfahrung des ländlichen Lebens, Kriegsereignisse, Klassengegensätze in der Gesellschaft, politisches Engagement, Volksschullehrer. Kommunismus, Syndikalismus, Kampf für ein laizistisches Schulwesen und eine laizistische, befreiende Volksbildung, Glaube an den technischen und sozialen Fortschritt. Ecole active (Adolph Ferrière), Interessenzentren und Ganzheitsmethode (Ovide Decroly), Hamburger Lebensgemeinschaftsschulen, Vertrautheit mit allen wichtigen Bestrebungen der Internationalen Reformpädagogik. Hinführung zu einem selbstbestimmten Leben in einer gerechten (d.h. für Freinet: klassenlosen) Gesellschaft. Kind ist ein aktiver Organismus, der durch Eigenaktivität seine Entwicklung bestimmt; „Psychologie sensible“ (Psychologie der Sinnesund Ausdrucksentwicklung); es gibt keinen Wesensunterschied zwischen Kind und Erwachsenem.
Weltanschauung/politisch-pädagogischer Kontext Einflüsse
Erziehungsziel Kind-Anthropologie/ Psychologie
Freinet-Pädagogik 329
Lernbegriff(e) Erziehungsbegriff Lehrer Lehrplan
Methodisch-didaktische Momente
Neuere Entwicklungen
Natürliches Lernen, experimentelles Tasten, funktionelle Arbeit. Ermöglichung und Förderung des selbständigen Lernens. Motto: „Pour la vie, par la vie, par le travail“. Leiter und Organisator einer pädagogischen Kooperative, Begleiter kindlicher Lernprozesse. Orientierung an den „Interessenkomplexen“: Leben erobern, bewahren und weitergeben („Plan general du travail“ mit dem Zweck der Entwicklung „funktionaler Aktivitäten“, „Techniken“ und „Kenntnissen“). Ateliers für die Bereiche Landwirtschaft, verschiedene Handwerke und Haushalt, Handel, Naturwissenschaft, Kunst, Gestaltung, Kommunikation; Arbeitsbücherei; Arbeitskartei für den Grundlehrstoff; Nachschlagekartei (Enzyklopädie für Kinder); Arbeit mit Projektor, Tonband, Film; akustische Lernprogramme; „classe promenade“ (Erkundungsgänge); Studien des lokalen Milieus; Freier Ausdruck; Vorträge; Fertigkeitsbescheinigungen; Expertenvorträge; Schuldruckerei; Klassenkorrespondenz. Organisation der Arbeit und des Schullebens durch: Klassenrat, individueller Arbeitsplan, Wandzeitung. Einbeziehung moderner Kommunikationsmittel (Computer, Drucker, Internet). Konzeptionelle Neuentwicklungen: „Groupe Techniques Educative“ (Einbeziehung von Gruppendynamik, Psychoanalyse, Humanistische Psychologie); Institutionelle Pädagogik (Fernand Oury).
Die Pädagogik der Freien Alternativschulen 331
Kapitel 11
Die Freie Alternativschule: Erziehung in Freiheit – durch Mitbestimmung zur Selbstbestimmung Der Titel weist auf den erzieherischen Grundgedanken der in Rede stehenden Gruppe von Schulen hin. „Erziehung in Freiheit“ ist als Chiffre einer radikalen Ethik der Partizipation aufzufassen. Es geht darum, Kindern und Jugendlichen sowie deren Eltern den größtmöglichen Raum der Mitbestimmung und Mitgestaltung in allen sie betreffenden Angelegenheiten zu sichern. Erziehung wird also nicht gesehen als Vorbereitung zum rechten Gebrauch einer zukünftig möglichen Freiheit, sondern bereits als ihre Verwirklichung im „Hier und Jetzt“. Die jeweils mehr oder weniger deutlich artikulierte anthropologische Prämisse besagt, dass der Mensch (ganz im Sinne Rousseaus) ursprünglich „frei“ und „gut“ ist und erst die Herrschaftsverhältnisse die Menschen sich gegeneinander kehren lässt. Im freien Menschen könne, so die Prämisse einer libertären Erziehung, der individuelle Wille im jungen Menschen bereits als sozialisierter erscheinen und sich als solcher weiter ausbilden. Gleichwohl auftretende Interessengegensätze und Konflikte können – so die Hoffnung – durch die Ausbildung und Einübung der Fähigkeit autonomer Selbstregulierung einer Lösung zugeführt werden. Erziehung kommt dann ohne autoritäre Eingriffe (Entscheidungen „von oben“, Strafen) aus, wie sie in der „normalen“ Erziehungspraxis mit ihren hierarchischen Strukturen üblich sind. Der freigelassene oder befreite Mensch aber wird noch lange Zeit an den psychischen Folgen einstiger Unfreiheit leiden. Die Schwierigkeiten einer libertären Erziehungspraxis wurden von den beteiligten Erwachsenen zu einem großen Teil als Folgen der Unfreiheit gesehen, die aus der Vergangenheit der Erziehenden und der zu Erziehenden sowie aus den (repressiven) Strukturen der Gegenwart in den Prozess der Erziehung hineinreichen. Aufklärung über diese Strukturen, Auflösung der zugrundeliegenden Herrschaftsstrukturen und so Überwindung der Herrschaft des Menschen über den anderen Menschen gehörte in den Anfangsjahren der Alternativschulbewegung zum Programm. Es wurzelt in der utopischen Vision einer herrschaftsfreien Gesellschaft, einer Gesellschaft also, in der die Gegensätze zwischen individuellen Bedürfnissen und gesellschaftlichen Notwendigkeiten aufgehoben erscheinen. Dieses Programm und die ersten Schulgründungen haben ihren zeitgeschichtlichen Ort in den Emanzipationsbestrebungen gegen Ende der sechziger Jahre und in den siebziger Jahren (Stichworte: die Generation der Achtundsechziger, neue Frauenbewegung, Studentenrevolte). Ihr gemeinsamer ethisch-politischer Imperativ ist anarchistischer Signatur. Er verweist auf einen weitreichenden politik- und erziehungsgeschichtlichen Zusammenhang, dessen Stränge erst im Laufe der Auseinandersetzung mit den eigenen Anliegen und den „neuen“ Konzeptionen deutlicher ins Bewusstsein gehoben wurde. Mit der zunehmenden Konsolidierung und Institutionalisierung dieser Schulen wurde der revolutionäre Gestus zurückgenommen. Das kommt bei neueren Gründungen bereits in der Namensgebung zum Ausdruck. Die von radikalen Gruppierungen intendierte politisch-revolutionäre Indienstnahme der Pädagogik musste letztlich scheitern, zum einen deshalb, weil ihr eine breitere soziale Basis – etwa in der Arbeiterschaft – fehlte, zum anderen, weil jegliche Indienstnahme in Widerspruch steht zum Prinzip einer Erziehung in Freiheit. Dieser Widerspruch kann in der Praxis nicht aufgelöst werden. Erziehung im Hinblick auf eine zukünftig bessere Gesellschaft impliziert oder verführt zu pädagogischen Strategien, die sich am Wunschdenken des Erwachsenen orientieren mit der Folge, dass im Namen des zukünftigen Guten die Prinzipien der Selbstbestimmung und Bedürfnisorientierung suspendiert werden. Im Streit der „Pädagogen“ mit den
332 Reformpädagogik
„Politikern“ obsiegten die Pädagogen. „Erziehung in Freiheit“ wird zu einer Angelegenheit, die sich als konkrete Praxis jetzt zu erweisen hat und deren Möglichkeit es experimentell auszuloten gilt. Dabei wird eine auf evolutive Veränderung der Gesellschaft zielende Perspektive durchaus gewahrt, nun aber nicht mehr als revolutionär bestimmte Praxis, sondern als Einübung in Demokratie durch Demokratisierung des Alltages. So finden wir heute im Bereich der „Freien Alternativschulen“ anschauliche Beispiele einer Erziehungspraxis, die tatsächlich die Partizipationsmöglichkeiten der unmittelbar Betroffenen in einem erstaunlichen Maße erweitert. Diese Orientierungsgrundlage kann als kleinster gemeinsamer Nenner einer ansonsten in sich recht vielgestaltigen Gruppe von Schulen angesehen werden. Dieser Nenner erst erlaubt es den Schulen, sich als Gruppe zu verstehen und zu artikulieren. Dass es sich um eine wiewohl recht kleine, so doch unübersichtliche Gruppe von Schulen einer „Neuen radikalen Reformpädagogik“ handelt, zeigt eine zahlenmäßige Übersicht.1 In Deutschland beträgt ihre Zahl etwa 25 Schulen, in Dänemark 38, in Belgien 5, in Großbritannien 6, in der Schweiz etwa 20, in Österreich etwa 25 und in Frankreich2 etwa 30. Die meisten Schulen sind dem Primarbereich zuzuordnen, einige wenige reichen bis in die Sekundarstufe I (also für Kinder und Jugendliche bis zum Alter von etwa 16 Jahren). Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen (Beispiel: Glockseeschule Hannover) handelt es sich um private Einrichtungen. Viele dieser Schulen haben ihren Bestand erst nach langen Auseinandersetzungen mit Behörden und Gerichten durchsetzen und langfristig sichern können. – Hinter dieser Bemerkung steht eine langes und für die Beteiligten vielfach bitteres Kapitel der Auseinandersetzung zwischen staatlichem Lenkungsanspruch und privater Initiative auf dem Feld der schulischen Erziehung.3
1 Die Vielfalt der Alternativschulbewegung und ihr weltanschaulicher Hintergrund Von den traditionellen reformpädagogischen Schulen aus dem ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts unterscheiden sich die Alternativschulen u.a. darin, dass sie sich im allgemeinen nicht auf einen bestimmten „Ahnherrn“ oder eine „Ahnfrau“ berufen. Die Eltern und Lehrer wollen also nicht einer bestimmten tradierten Linie folgen, sondern sich selbst in einem offenen Diskurs einbringen und die Schule nach eigenen Ideen gestalten. Im Ergebnis werden dann allerdings durchaus Bezüge zu den traditionellen Reformlinien herausgestellt, von deren Methodenrepertoire und Organisationsformen man sich teilweise inspirieren lässt. Die ersten Alternativschulen werden von pädagogisch engagierten Elterngruppen gegründet, die eine Alternative zur staatlich geregelten Normalschule suchen. Oft haben die Eltern bereits Erfahrungen mit selbstorganisierten Kindergärten, den sogenannten „Kinderläden“ gesammelt, in denen ein anarchistisch-libertäres Erziehungskonzept praktiziert wurde. (Der Name „Kinderladen“ verweist auf die Anmietung von leerstehenden Läden.) Mit dem Heranwachsen der Kinder taucht schließlich die Frage auf, ob und wie dieses Konzept im Schulalter weitergeführt werden kann. „Kinderläden“ und Alternativschulen können zum großen Teil als pädagogischer Ausdruck des allgemei1 Es handelt sich um eine quantitative Schätzung auf der Grundlage eines Dokumentationsprojektes: Klaßen, Theodor F. und Skiera, E.(1993): Handbuch der reformpädagogischen und alternativen Schulen in Europa, Baltmannsweiler: Verlag Burgbücherei Schneider und verschiedener neuerer Veröffentlichungen und Adressenlisten. 2 Zur Situation in Frankreich vgl.: Auffrand, Roger (1995): Des Ecoles Differentes et Des Alternatives Educatives, le Guide Annuaire 95/96, Paris: agence informations enfance (29 rue Davy, F-75017 Paris) 3 Vgl. dazu: Borchert, Manfred (1992): Zur aktuellen Lage der Freien Alternativschulen in Deutschland, in: Bundesverband der Freien Alternativschulen (Hsg.; Redaktion: Norbert Scholz) (1992): Freie Alternativschulen: Kinder machen Schule. Innen- und Außenansichten, Wolfratshausen: Drachen Verlag
Die Pädagogik der Freien Alternativschulen 333
nen Stimmungswandels angesehen werden, der in den Industrieländern gegen Ende der sechziger Jahre einsetzte und sich u.a. als radikal-demokratische Bewegung artikulierte, vor allem an den Hochschulen. In der Namensgebung der Schulen klingt etwas von dem ursprünglichen alternativen Programm an, allerdings nicht durchgängig. In Deutschland bezeichnen sich die Schulen meist als „Freie Schulen“. (Später wird der Name „Freie Alternativschule“ gebräuchlich, um sich von anderen Schulen – z.B. von konfessionellen oder den „Freien Waldorfschulen“ – in freier Trägerschaft abzugrenzen.) In der Schweiz und Österreich sind, neben „frei“ und „alternativ“, Attribute wie „aktiv“, „demokratisch-kreativ“ oder „kooperativ“ in Gebrauch. Bei neueren Gründungen aus den achtziger und neunziger Jahren ist in der Namensgebung bereits oft die Tendenz zum Verzicht auf utopische gesellschaftspolitische Zielsetzungen erkennbar. Die Namen werden „bunter“: „Regenbogenschule“ (in D-Erfurt und A-Gratkorn), „Knallerbse (mit Kindern leben)“ (in A-Graz), „Schmetterlingschule“ (in A-Ried/Innkreis). Die in Dänemark gebräuchliche Bezeichnung „Lilleskoler“ („Kleinschulen“) lässt im Namen nichts Wesentliches von ihrem pädagogischen Programm erkennen. Der Name signalisiert zunächst nur, dass sich die Schule von den öffentlichen Großschulen mit ihren unvermeidbaren Merkmalen der Anonymität distanzieren will. Sie verstehen sich als sozialistische Alternative zur normalen Schule und stehen heute dem ursprünglichen pädagogisch-politischen Ansatz noch am nächsten. In einer Dokumentationsschrift der „Lilleskolernes Sammenslutning“ wird auf ein Motto Mao Tse-Tungs Bezug genommen. Die Schrift heißt „Lad 100 Lilleskoler blomstre“ (Lass 100 Kleinschulen blühen) und stellt die Arbeit einer Anzahl dieser Schulen vor. „Lasst hundert Blumen blühen, lasst hundert Schulen miteinander wetteifern“: so lautete das Motto einer kurzen Blüte liberaler Kritik an den erstarrten Verhältnissen im China des Jahres 1957. – Zur Gruppe der Alternativschulen in Dänemark müssen wegen des gleichen politisch-pädagogischen Hintergrundes auch die „Tvind-Schulen“ gerechnet werden. Sie gingen aus einer 1970 gegründeten Heimvolkshochschule für junge Erwachsene hervor und wurden in den nachfolgenden Jahren an einigen Standorten bis zur Oberstufe, dann bis zur Unterstufe der Volksschule ausgeweitet. Sie sind heute nahezu vergessen, erregten aber in den siebziger Jahren durch ihre spektakulären Aktionen europaweit Aufsehen: Reisen in die „Dritte Welt“ mit selbstreparierten Bussen, Nutzung der Windkraft als Energieträger, Nutzung der Sonnenenergie u.a. Sie sind damit Vorreiter der ökologischen Bewegung und Erziehung geworden. Zudem hat die allgemeine Diskussion um eine Erziehung zu globaler Verantwortung und um eine Öffnung der Schule zur sozialen Wirklichkeit hin von den „Tvind-Schulen“ wichtige Impulse erhalten. In diesem Zusammenhang ist auch auf die beispielgebende Rolle der amerikanischen FreeSchool-Bewegung der sechziger Jahre hinzuweisen4. Sie hat in ihren Motiven und Formen vieles von der wenige Jahre später einsetzenden Alternativschulbewegung in Europa vorweggenommen und ist denn auch intensiv rezipiert worden. Es handelt sich um sozialpädagogisch inspirierte (und häufig recht kurzlebige) Initiativen in Großstädten der USA. Sie nahmen sich unter dem Eindruck der von Goodman und Holt initiierten „Entschulungsdebatte“ auf der Basis von Freiwilligkeit den besonderen Problemen gesellschaftlicher Randgruppen an. Die amerikanischen FreeSchool-Initiativen, hervorgegangen aus einer radikalen Kritik an der autoritären, vermeintlich 4 Über die Situation der sechziger Jahre und das Wirken der prominentesten Schulkritiker (Goodman, Holt) informiert mit ausführlichem Literaturverzeichnis: Blankertz, Stefan (1989): Schulkritik und Schulalternativen in den USA, in: Klemm, Ulrich und Alfred K. Treml (Hsg.) (1989): Apropos Lernen. Alternative Entwürfe und Perspektiven zur Staatsschulpädagogik, München: AG-Spak-Publikationen (darin auch Hinweise zur Entwicklung der Alternativschulen in anderen Ländern). Der heutige Stand der Alternativschulbewegung in den USA ist außerordentlich vielschichtig und kaum überschaubar. Vgl. dazu: The National Coalition of Alternative Community Schools (Redaktion: Jerry Mintz) (o.J.): 1989-1990 National Directory of Alternative Schools, New York (Jerry Mintz, Editor, 417 Roslyn Road, Roslyn Heights, NY 11577, USA)
334 Reformpädagogik
lebensfremden Struktur der normalen öffentlichen oder privaten Schule, wirkten ihrerseits auf die „normalen“ Schulen zurück. Unter der Maßgabe des „Offenen“ („open school“, „open classroom“, „open education“) wurden pädagogische Reformansätze diskutiert und erprobt, die in manchen Punkten mit der methodisch-didaktischen und organisatorischen Struktur der Freien Alternativschulen übereinstimmen.5 Fasst man den zeitgeschichtlichen Entstehungshintergrund – also das Jahrzehnt nach 1968 – ins Auge und fragt nach den geistig-ideologischen Orientierungen der Freien Alternativschulen, so werden folgende Ausgangspunkte sichtbar: x
Radikale Kapitalismuskritik: Das Empfinden einer weltweiten Bedrohung durch rücksichtslose Ausbeutung macht sich breit. Führende Zeitungen bringen fast täglich Meldungen über Umweltvergehen. Kriege in der „Dritten Welt“, soziale und ökologische Katastrophen werden auf das kapitalistische System zurückgeführt, das es zu überwinden gelte. Mehr oder weniger radikale Forderungen nach einer revolutionären Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse werden erhoben und mit großer Selbstverständlichkeit als politische Alternative insbesondere in universitären Kreisen diskutiert. Pädagogisch gewendet führte dies im Rahmen der „Kinderladenbewegung“ zur Forderung, bereits die Kleinen im Sinne der Entwicklung eines revolutionären Bewusstseins zu beeinflussen.
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Kritik an Institutionen und großen Systemen: Die Institutionen der Gesellschaft geraten in den kritischen Blick. Ihnen wird ein repressiver Charakter zugeschrieben, der den Einzelnen seiner menschlichen Würde beraube und ihrer eigentlichen Funktion zuwiderlaufe. So wird das Gesundheitssystem als krankmachend entlarvt und die Schulen werden als Systeme zur Verhinderung lebensbedeutsamen und lebendigen Lernens denunziert. „schulen helfen nicht. über das mythenbildende ritual der industriegesellschaft“ heißt ein vieldiskutiertes Buch von Ivan Illich aus dem Jahre 1970. Illich versucht darin, „die allgemeine Nutzlosigkeit der Bildungseinrichtungen in aller Welt darzulegen“.6 Es wird nichts weniger als eine „Kulturrevolution“ ins Auge gefasst, deren eine Komponente die „Entschulung der Gesellschaft“ sein soll. Lernen soll nur noch zu einem geringen Teil schulmäßig und ansonsten durch programmierte Unterweisung (in Mathematik und Fremdsprachen) sowie u.a. durch „praktische Lehrzeiten“ in den Fabriken erfolgen. – Die Alternativschulen können z.T. als eine pädagogische Antwort auf die Institutionenkritik gesehen werden. Durch ihre geringe Größe (in Dänemark: „Lilleskoler“ – s.o.) sollen die sozialen Prozesse in einem überschaubaren und kontrollierbaren Rahmen gehalten und Entfremdungsprozesse vermieden werden.
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Basisdemokratische Ideen: Während sich die weitgespannten Hoffnungen sozialistischer Provenienz nicht erfüllen, formieren sich die vereinzelten und anfangs oft unpolitischen ökologischen Initiativen der sechziger Jahre (frühe Zeitschriftentitel lauten: „Grüner Baum“, „Grüne
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Stephens nennt 15 Merkmale der „Open Education“, die ohne Abstriche als pädagogisches Konzept der heutigen (deutschen) Alternativschulen gelesen werden könnten und auch – wie Stephens nachweist – weitgehend mit der Konzeption englischer „Informal Schools“ übereinstimmen. Stephens, L.S. (1974): The Teacher’s Guide to Open Education, New York: Holt, Rinehart and Winston (vgl. ebd., S.26ff) (Auch von England nach Deutschland bestand in den siebziger Jahren ein reger pädagogischer „Ideenimport“. Zu den englischen Alternativschulen siehe die Schulporträts in: Rödler, Klaus (1981): Kinderbefreiung und Kinderbewußtsein. Zur Theorie und Praxis der freien Schule, Frankfurt am Main: AFRA-Druck/ KA-RO.) 6 Illich, Ivan (1972): schulen helfen nicht. über das mythenbildende ritual der industriegesellschaft. strukturen einer kulturrevolution, Reinbek bei Hamburg: rororo (Erstveröffenlichung;: 1970, München: Kösel), S.23
Die Pädagogik der Freien Alternativschulen 335
Kraft“) in den siebziger Jahren als ernstzunehmende politische Alternative. Viele „Altlinke“ finden darin eine neue politische Heimat. Mit dem Erstarken der „Grünen“ bzw. der „grünalternativen“ Bewegungen geht ein Aufschwung der Alternativschulbewegung einher, die inzwischen ihren revolutionären Gestus weitgehend abgelegt hat. Der basisdemokratische Charakter der „Grünen“ entspricht dem partizipatorischen Ansatz der Alternativschulen. Die „Grünen“ unterstützen die Alternativschulen. Im Zuge der Übernahme von politischer Verantwortung auf Gemeinde- und Landesebene erhalten sie in einigen deutschen Bundesländern bildungspolitische Unterstützung. Manche Schulen werden zum Gegenstand von Koalitionsvereinbarungen. x
Antiautoritäre Pädagogik und das Konzept der Selbstregulierung: Das libertäre Konzept der Erziehung beinhaltet eine radikale Kritik an den traditionellen Formen der Erziehung. Die Konzepte von Disziplin und Gehorsam, schließlich erzieherische Autorität überhaupt, werden als Mechanismen der Unterdrückung und des Anpassungszwangs entlarvt und abgelehnt, Erziehung in extremen Stellungnahmen gar als subtil arbeitende „Gehirn- und Seelenwäsche“ denunziert (Stichwort: „Antipädagogik“).7 Der Wegfall autoritärer Regelungsfunktionen wird begleitet durch eine weiträumige „Entdeckung“ des „Selbstes“. Die Begriffe „Selbstbestimmung“, „Selbständigkeit“, „Selbstverwirklichung“ und in Bezug auf soziale Prozesse vor allem „Selbstregulierung“ oder „Selbstorganisation“ bezeichnen die Wertorientierungen, mit denen das erzieherische Machtvakuum kompensiert werden soll, das durch die Demontage von Hierarchie und Autorität entstanden ist. In diesem Zusammenhang werden Theoreme der Psychoanalyse (Bedürfnis, Triebunterdrückung und –befriedigung, Befreiung der Sexualität) und der Humanistischen Psychologie (Selbstverwirklichung, Ganzheitlichkeit) aufgegriffen. Als geradezu notwendiger Kristallisationspunkt einer antiautoritären Pädagogik erweist sich der Begriff der Selbstregulierung.
Es zeigt sich, dass die „Geburtsumstände“ der Alternativschulbewegung eine zeitspezifische Variante zentraler Motive darstellt, die bereits bei der Entstehung der traditionellen reformpädagogischen Richtungen aufzufinden sind: Kultur- und Schulkritik, Kritik der Autorität, Lebensreform, Glaube an den engen Zusammenhang von Erziehungs- und Gesellschaftsreform. Auch im konkreten pädagogischen Bereich lassen sich zahlreiche Parallelen zu reformpädagogischen Konzepten und Grundanliegen erkennen, die zum Teil bewusst aufgegriffen und diskutiert werden. Diese werden aber meist noch radikaler formuliert und auf die Praxis bezogen. In Parallelität und Radikalisierung zeigt sich der reformpädagogische Zusammenhang der Alternativschulen etwa in Folgendem: x x x x x x x 7
Starke Einbeziehung der Elternschaft innerhalb und außerhalb der Schularbeit, Ablehnung von Leistungszwang und Konkurrenzdruck (weitestgehende Selbstbestimmung auch der Kinder), weitgehender Verzicht auf formelle Leistungsbeurteilung (d.h. keine Noten und Ziffernzeugnisse), häufige Einbeziehung der Umwelt (Aufsuchen außerschulischer Erfahrungsorte), flexible Gruppierungen der Kinder, flexible Lernrhythmen (Abschaffung der „Diktatur der Pausenklingel“), weitgehende Abschaffung des lehrerzentrierten Frontalunterrichts,
Braunmühl, Ekkehard von (1975): Antipädagogik – Studien zur Abschaffung von Erziehung, Weinheim und Basel: Beltz
336 Reformpädagogik
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weitgehende Aufhebung der Fächergrenzen (Projektunterricht, Gruppenarbeit u.a.).
In der Radikalisierung dieser Momente – nicht in der Entwicklung grundsätzlich neuer didaktischer Ansätze – ist das eigene Profil der Freien Alternativschulen und ihr eigenständiger Beitrag zur Erziehungs- und Schulreform zu sehen. Als Besonderheit ist freilich ihre besondere Dynamik zu beachten. Im Gegensatz zu den traditionell-reformpädagogischen Schulen, die sich im Rahmen eines durch lange Erfahrung gesicherten didaktisch-methodischen Wissens kontinuierlich entwickeln können, sind die Alternativschulen ständig in Bewegung. Das macht es auch vergleichsweise schwierig, ein allgemein- oder längere Zeit gültiges Konzept herauszuarbeiten. Die mit neuen Eltern und neuen Kindern immer wieder neu aufzunehmende Suche nach einem Konsens ist geradezu ein konstitutives Merkmal dieser Schulen. Die Lebendigkeit und der Erfolg der Alternativschulbewegung muss auch als Frucht ihrer Wandlungsfähigkeit verstanden werden. Ihre gelungene Domestikation als Alternative zum staatlichen Regelschulwesen und zu den traditionellen reformpädagogischen Ansätzen hat sie sich mit dem Verzicht auf revolutionär-utopische Positionen erkauft. In Bezug auf die Verhältnisse in Österreich hat eine Autorengruppe diesen Wandlungsprozess untersucht. Der Befund beschreibt m.E. eine generelle, auch in anderen Ländern beobachtbare Tendenz. „Waren in den 70er Jahren die politischen Anliegen, Engagement gegen das ‚Establishment‘, antiautoritäre Konzepte und die Utopie einer klassenlosen Gesellschaft bzw. eine repressionsfreie Umgebung als Vorwegnahme für die noch zu gestaltende Zukunft die tragenden Motive, so sieht die neue Elterngeneration die nun schon quasi zur Institution gewordenen Initiativen eher pragmatisch und mehr von einem individualpsychologischen Ansatz her. Die Alternativschule bedeutet eher eine Nische, eine Ausweichmöglichkeit gegenüber der Regelschule als einen Hort der Rebellion. Trotzdem hat sich die Aufmüpfigkeit erhalten, und das Engagement über die pädagogischen Konzepte hinaus hat sich zugunsten globalem Umweltschutz und zugunsten der Frauenbewegung verschoben. Die ‚Politik der Utopie‘ hat sich zur ‚Politik des Machbaren‘ gewandelt. ... Gesellschaftlich gesehen sind alle diese Schulen und Initiativen gewissermaßen Freiräume, in denen ein anderer Umgang mit Kindern und kindlichem Lernen gepflegt und neue Wege des kindlichen Lernens beschritten werden.“8 Wie schon angedeutet sind diese Wege freilich nicht grundsätzlich neu. Neben den aufgezeigten Parallelen zu durchgängigen zentralen Motiven der „alten“ Reformpädagogik müssen in historischer Sicht vor allem einige besondere Initiativen spezifisch libertären Erziehung Beachtung finden. Sie reichen bis ins 19. Jahrhundert hinein. Doch wenden wir uns zunächst der aktuellen Programmatik zu.
2 Zu den bildungspolitischen und pädagogischen Leitvorstellungen der Freien Alternativschulen Stärker als bei den traditionellen reformpädagogischen Schulen, die im Textkorpus ihrer Gründerpersönlichkeiten einen zentralen theoretischen Bezugspunkt haben, hat der Prozess der Verständigung und Vergewisserung über die gemeinsamen Anliegen einen eher kollektiven Charak8
Fischer-Kowalski, Marina; Pelikan, Johanna; Schandl, Heinz (1995): Große Freiheit für kleine Monster: Alternativschulen und Regelschulen im Vergleich, Wien: Verlag für Gesellschaftskritik, S.22f (Autoren der zitierten Passsage: Wolfgang Drasch, Marina Fischer-Kowalski, Maria Wieger)
Die Pädagogik der Freien Alternativschulen 337
ter. Dabei hat die Alternativschulbewegung mit einer ihr eingeschriebenen Schwierigkeit zu ringen. Die Betonung der Individualität und der Selbstregulierung stehen nämlich der Formulierung eines gemeinsamen „Credo“ entgegen. Andererseits hat sich im Laufe der Entwicklung ein gemeinsamer Erfahrungs- und Kommunikationszusammenhang herausgebildet, der – um handlungsfähig zu bleiben – einer theoretischen Vergewisserung und programmatischen Klärung bedarf. Die Gruppe der deutschen Alternativschulen hat im Jahre 1986 auf ihrem 16. Bundestreffen ihre bildungspolitischen und pädagogischen Anliegen in konziser Form vorgelegt:
„1. Die gesellschaftlichen Probleme der Gegenwart und Zukunft (Ökologie, Kriege, Armut usw.) sind auf demokratische Weise nur von Menschen zu lösen, die Eigenverantwortung und Demokratie leben können. Alternativschulen versuchen, Kindern, Lehrern und Eltern die Möglichkeit zu bieten, Selbstregulierung und Demokratie im Alltag immer wieder zu erproben. Das ist die wichtigste politische Dimension der Alternativschulen. 2. Alternativschulen sind Schulen, in denen Kindheit als eigenständige Lebensphase mit Recht auf Selbstbestimmung, Glück und Zufriedenheit verstanden wird, nicht etwa nur als Trainingsphase fürs Erwachsenendasein. 3. Alternativschulen schaffen einen Raum, in dem Kinder ihre Bedürfnisse, wie Bewegungsfreiheit, spontane Äußerungen, eigene Zeiteinteilung, Eingehen intensiver Freundschaften entfalten können. 4. Alternativschulen verzichten auf Zwangsmittel zur Disziplinierung von Kindern; Konflikte sowohl unter Kindern als auch Kindern und Erwachsenen schaffen Regeln und Grenzen, die veränderbar bleiben. 5. Lerninhalte bestimmen sich aus den Erfahrungen der Kinder und werden mit den Lehrern gemeinsam festgelegt. Die Auswahl der Lerngegenstände ist ein Prozess, in den der Erfahrungshintergrund von Kindern und Lehrern immer wieder eingeht. Der Komplexität des Lernens wird durch vielfältige und flexible Lernformen, die Spiel, Schulalltag und das soziale Umfeld einbeziehen, Rechnung getragen. 6. Alternativschulen wollen über die Aneignung von Wissen hinaus emanzipatorische Lernprozesse unterstützen, die für alle Beteiligten neue und ungewohnte Erkenntniswege eröffnen. Sie helfen so, Voraussetzungen zur Lösung gegenwärtiger und zukünftiger gesellschaftlicher Probleme zu schaffen. 7. Alternativschulen sind selbstverwaltete Schulen. Die Gestaltung der Selbstverwaltung ist für Eltern, Lehrer und Schüler prägende Erfahrung im demokratischen Umgang miteinander. 8. Alternativschulen sind für alle Beteiligten ein Raum, in dem Haltungen und Lebenseinstellungen als veränderbar und offen begriffen werden können. Sie bieten die Möglichkeit, Abenteuer zu erleben, Leben zu erlernen.“9
Diese programmatischen Aussagen werden in Hinsicht auf die Praxis konkretisiert, wobei in didaktischer Hinsicht der hohe Stellenwert des „Unterrichts in Angebotsform“ als charakteristisches Merkmal hervorzuheben ist. Seine Bandbreite reiche von „absolut freiwilliger Teilnahme bis zur verbindlichen Teilnahme an bestimmten Teilen des Unterrichts.“ Bei diesem Programm handelt sich um ein bedeutsames Dokument, das, wie ein länderübergreifender Vergleich zeigen würde, für die Anliegen der europäischen Alternativschulbewegung(en) 9
Zitiert nach: Bundesverband der Freien Alternativschulen (1992), a.a.O., S.15f
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überhaupt als repräsentativ gelten kann. In Bezug auf Frankreich soll das an einigen Beispielen gezeigt werden. So versteht sich etwa die Alternativschule „Bonaventure“ (in F-17190 Saint George d‘Oleron) als „ein Zentrum libertärer Erziehung: eine kleine Republik von Kindern und Erwachsenen“. In sozialerzieherischer Hinsicht werden die Ideale der französischen Revolution reflektiert. Es wird Wert gelegt auf die Beteiligung der Kinder bei Entscheidungs- und Verwaltungsprozessen. Beim schulischen Lernen gehe es darum, Lernweisen zu entwickeln und zu kultivieren, die einer Autonomisierung des Lernprozesses dienlich sind. Die Lerninhalte werden gemeinsam mit den Kindern festgelegt. Bei den Methoden wird keine bestimmte favorisiert, sondern man orientiert sich „am ‚Arsenal‘ der bestehenden anti-autoritären Pädagogiken.“10 – Beim Vergleich verschiedener Schulprogramme aus dem Spektrum der französischen Alternativschulen kann man eine weitgehende Übereinstimmung mit den oben genannten Positionen der deutschen Alternativschulbewegung feststellen. Sie erhalten aber durchgängig eine eigentümliche Färbung durch den mehr oder weniger deutlichen Bezug auf die republikanischen Werte und Traditionen der eigenen Geschichte. In Frankreich bestehen zahlreiche konzeptionell verwandte Einzelinitiativen, die sich jedoch weniger deutlich als in Deutschland als Gruppe artikulieren. Eine Ausnahme bildet eine Gruppe mit einer wechselnden Anzahl von Schulen (5 – 12 Mitglieder plus einer Reihe sympathisierender Schulen), die der „Association Nationale pour le développement de l’Education Nouvelle“ (ANEN) angehören.11 Diese Vereinigung wurde im Jahre 1969 gegründet und zeigt in ihrem „Programm Maximum“ eine deutliche Nähe zur politischen und pädagogischen Aufbruchstimmung ihres Gründungszeitraumes. Die Schulen betonen die Spontaneität und Autonomie des Kindes, plädieren dafür, das Kind nach seinem eigenen Rhythmus leben und lernen zu lassen („... l’enfant ou le jeune peut vivre à son rythme, apprendre à sa vitesse‘.“), ermutigen Kooperation, treten für die Abschaffung der Jahrgangsklasse ein, kultivieren eine nach außen hin offene Pädagogik („pédagogie des sorties, des voyage“), öffnen sich neuen sozialen Bewegungen, betonen partizipatorische, demokratische und emanzipatorische Momente.12 Ihr „Programm maximum“ stellt eine bemerkenswerte Synthese dar aus den traditionellen Grundmotiven der Reformpädagogik und „neuen“ basisdemokratisch-emanzipatorischen Ideen, verbunden mit Vorstellungen, wie sie auch im Umkreis der Humanistischen Psychologie (bzw. Lebensphilosophie) entwickelt wurden. Sie stehen in allen grundsätzlichen Fragen den deutschen Alternativschulen nahe. Gleichwohl sind sie – anders als diese – in ihrem Selbstverständnis der traditionellen Reformpädagogik, in diesem Fall ihrer romanischen Linie – nämlich der „Education Nouvelle“ – , verbunden, insbesondere der von Roger Cousinet entwickelten Form einer „Gruppenarbeit“ („Travail libre par groupes“). Die Beispiele zeigen, dass die pädagogisch-politische Programmatik und ihr zeitgeschichtlicher Entstehungshintergrund verwandte Züge trägt und insofern die Rede von einer Schulreformbewegung internationaler Dimension gesprochen werden kann. Freilich wird eine genauere Analyse auch die Unterschiede herausarbeiten müssen. Sie haben zum einen ihren Grund in spezifischen nationalen Traditionen libertärer Politik und Reformpädagogik, zum anderen in den jeweils gegebenen konstitutionellen und schulrechtlichen Bedingungen der Möglichkeit ihrer konkreten 10
Vgl. Auffrand (1995), a.a.O., S. 295f Vgl. dazu den entsprechenden Abschnitt in dem Kapitel über die „Neue“ Reformpädagogik. 12 Das „Programme maximum“ der ANEN umfasst 22 Punkte. Schulen mit der Bezeichnung „Ecole Nouvelle“ sollen mindestens die Hälfte der Punkte als „Programm minimum“ realisieren. Der vollständige Text des Programms ist zu finden in: Agence Informations Enfance (Hsg., Redaktion: Roger Auffrand) (März 1989): Des Ecoles Différentes ... et autres lieux, guide-annuaire 1989, Paris: Possible – A.I.E., S.74-77 11
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Artikulation. Hinsichtlich der letztlich doch erstaunlich weitgehenden Gemeinsamkeiten müssen gewiss auch ältere Beispiele einer libertären Pädagogik in Rechnung gestellt werden. Zwar lassen sich die heute bestehenden Alternativschulen wegen ihrer individualistischen und gruppendynamischen Komponenten nicht eindeutig auf bestimmte Traditionsstränge zurückführen, ein Blick in die Geschichte zeigt aber, dass es – z.T. sehr prominente – Vorläufer gibt. Sie haben – wie auch immer vermittelt – mit ihren Ideen und ihren praktischen Versuchen zur Bildung eines Bewusstseins der Möglichkeit einer „Erziehung in Freiheit“ beigetragen, das als kollektive, streckenweise sicher diffus gebliebene Erinnerung die neuen Entwicklungen mitprägt. Durch die historische Vergewisserung wird die Alternativschulbewegung als singuläre Erscheinung relativiert und zugleich als soziale Bewegung sichtbar, die „über den Tag hinausgehende“ pädagogische Anliegen dauerhaft ins Bewusstsein hebt und zur Geltung bringt.
3 Wegbereiter einer libertären Erziehung Mit dem 1971 in Deutsch erschienenen Buch von Dennison „Lernen und Freiheit“ wurde mit dem Beispiel einer libertären Schule in New York die Aufmerksamkeit nicht nur auf die amerikanische Free-School-Bewegung gelenkt. Das Buch verwies gleichzeitig auf die europäischen Wurzeln dieser Bewegung und sorgte so dafür, dass in der Aufbruchsstimmung der unruhigen siebziger Jahre der historische Sinn für die eigenen Anliegen wach blieb. „Ich habe bereits erwähnt, wie wichtig A.S. Neills Schriften und das Beispiel der Summerhill-Schule für uns waren. Es gab noch eine andere Schule, deren Geschichte uns viel bedeutete und von deren Existenz nicht viele Leute Kenntnis genommen haben. Das war die freie Schule, die Leo Tolstoi für die Bauernkinder seines eigenen Landsitzes Jasnaja Poljana einrichtete.“13 Wollte man einen „Ahnherrn“ der Alternativschulbewegung ausfindig machen, so gebührte dieser Titel in der Tat Tolstoi. Nahezu alle zentralen schulkritischen und alternativ-pädagogischen Ideen sind bei ihm aufzufinden, vorgetragen in einer lebendigen, anschaulichen Sprache von großer Überzeugungskraft. Von weitaus größerer unmittelbarer Wirkung dürfte freilich „das Beispiel Summerhill“ gewesen sein – so der deutsche Untertitel eines weitverbreiteten Werkes von A.S. Neill – , das im englischen Original 1960 erschienen ist. Erich Fromm hat dazu ein Vorwort beigesteuert und darin Neills Pädagogik in 10 knappe „Grundsätze“ programmatisch verdichtet und sie auf diese Weise den spontanen Rezeptions- und Diskussionsformen der „alternativen Gründerzeit“ besser zugänglich gemacht. – In den pädagogischen Schriften Tolstois und Neills sind die kultur- und schulkritischen Motive der Freien Alternativschule sowie die pädagogische Programmatik und Praxis einer Erziehung in Freiheit bereits umfassend entfaltet, nicht jedoch eine dezidiert gesellschaftspolitische bzw. –reformerische Programmatik. Der Zusammenhang der neuen Alternativschulbewegung mit den Ideen der frühen sozialistischen Gesellschaftsreformer wurde erst in den achtziger Jahren aufgedeckt. „Spuren libertärer Schulund Pädagogik(kritik)“14 lassen sich bereits in der frühsozialistischen Schulkritik und in den ent13
Dennison, George (1971): Erziehung und Freiheit. Aus der Praxis der First Street School, Frankfurt am Main: März Verlag, S. 162. Im selben Jahr erschien auch der vielbeachtete Bericht des amerikanischen Lehrers: Kohl, Herbert R. (1971): Antiautoritärer Unterricht in der Schule von heute. Erfahrungsbericht und praktische Anleitung, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt (Titel des Originals: The Open Classroom. A Practical Guide to an New Way of Teaching). Kohl beschreibt die Möglichkeiten und Schwierigkeiten eines solchen Unterrichts im Klassenraum der „normalen“ Schule. 14 Kapitelüberschrift von Klemm, Ulrich (1989): Entwürfe libertärer Alternativschulpraxis. Über den Zusammenhang von Anarchismus und Pädagogik, in: Klemm, Ulrich und Treml, Alfred K. (Hsg.) (1989)
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sprechenden Praxisversuchen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts auffinden. Berühmt wurde Owens Initiative für eine ganzheitliche und lebenslange Aus- und Fortbildung in der Baumwollspinnerei „New Lanark“. Owen hatte die heruntergekommene Fabrik im Jahre 1800 erworben und versuchte, durch ein umfassendes soziales Reformwerk – einschließlich der Schaffung von Bildungseinrichtungen – das Elend der Fabrikarbeiter und der Kinderarbeit zu bekämpfen. – Neben Robert Owen stehen als Repräsentanten einer frühsozialistischen Schulkritik und Gesellschaftsreform u.a. die Namen William Godwin und Charles Fourier. – Dem anfänglichen sozial-(r)evolutionären Impuls der Alternativschulbewegung sowohl ideologisch als auch zeitlich näher steht das anarchistische Manifest des Jahres 1898 „La liberté par l’enseignement“ (Freiheit durch Bildung), an dem u.a. neben Kropotkin auch Tolstoi mitgewirkt hatte. Es entfaltet die Konturen eines Schulprogramms, „dessen Leitgedanke die Befreiung der Schule von Staat, Kirche und Autorität der Erwachsenen war, d.h. die Beseitigung der Disziplin, der Lehrpläne sowie der Zensurgebung durch die Staatsschule.“15 – Als frühe herausragende Beispiele einer libertären Erziehungspraxis im Zusammenhang des politischen Anarchismus gelten die Initiativen des Franzosen Paul Robin und des Spaniers Francisco Ferrer. Sie wurden im Zuge der Auseinandersetzung mit der Alternativschule wiederentdeckt und diskutiert. Zusammen mit dem Werk Tolstois und Neills können sie als Wegbereiter der modernen Alternativschulbewegung angesehen werden.
3.1 Leo N. Tolstoi (1828-1910) und seine freie Bauernschule in Jasnaja Poljana Tolstoi schrieb im Juli 1860 nach einem Schulbesuch in Deutschland in sein Tagebuch: „War in der Schule. Entsetzlich. Gebet für König, Prügel, alles auswendig, verängstigte, seelisch verkrüppelte Kinder.“16 Dieses leidenschaftliche Notat spiegelt sein leidenschaftliches Interesse für pädagogische Fragen wider und entspricht in der inhaltlichen Umkehrung seinem eigenen pädagogischen Bestreben, das er mit großem Eifer über viele Jahre in die Tat umzusetzen versuchte: nämlich eine völlige Neudefinition der Rolle des Lehrers und eine Schule zu schaffen, die nicht obrigkeitshörig ist, jeglichen Zwang vermeidet, Lernen an das eigene Interesse bindet und die natürliche Lebens- und Lernfreude der Kinder erhält und fördert. Bereits als Einundzwanzigjähriger gründet er für seine Leibeigenen (die Leibeigenschaft wurde in Russland erst 1861 aufgehoben) eine allerdings kurzlebige Schule, der die notwendige Resonanz in der Bauernschaft fehlte. Im Herbst 1859 wagt er in Jasnaja Poljana einen neuen Versuch und unterrichtet – unterbrochen durch seine Reisen – zeitweise selbst. In den folgenden Jahren sorgt er für die Gründung weiterer 14 Schulen im Gouvernement Tula (ca. 200 km südlich von Moskau), zu dem sein Landsitz gehört. Auf Grund polizeilicher Interventionen und Repressalien muss er die pädagogische Arbeit an seiner Schule einstellen, nimmt sie aber im Jahre 1869 für etwa 6 Jahre in bescheidenerem Umfang wieder auf. Über die Grundsätze seiner Arbeit, verbunden mit anschaulichen Beispielen und theoretischen – auch mutigen selbstkritischen – Reflexionen, hat Tolstoi einen umfangreichen Bericht vorgelegt: „Die Schule in Jasnaja Poljana im November und Dezember des Jahres 1862“.17 Beim Lesen des Berichts vergisst man sehr schnell den zeitlichen Abstand zu seiner Entstehung, nicht nur deshalb, weil es zeitübergreifende pädagogische Grundprobleme in den Blick rückt, sondern wegen der zugrundeliegenden pädagogischen Perspektive, die inzwischen in der „modernen“ 15
Ebd., S.214 Tolstoi, zitiert nach Klemm, ebd., S.221 17 In: Tolstoj, Leo N. (1960): Ausgewählte pädagogische Schriften, Paderborn: Ferdinand Schöningh 16
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pädagogischen Diskussion eine – wenn auch keineswegs unangefochtene – Heimat gefunden hat: denken wir etwa an Ideen des schülererorientierten, erfahrungsbezogenen Lernens, des handlungsorientierten Unterrichts (Tolstoi hatte in vielen Aspekten auch Ansätze der Arbeitsschule vorweggenommen), an die Problematisierung fester Zeitschemata und zentraler Lehrpläne sowie an das mit der Schule verbundene Straf-, Bewertungs- und Berechtigungs(un)wesen. Das Dokument zeigt, wie es in einer reformpädagogisch inspirierten Würdigung aus dem Jahre 1952 heißt, dass „fast alle wichtigen Forderungen, die von den gemäßigten und radikalen Schulreformern in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen vertreten wurden, verwirklicht waren.“18 Und es zeigt in schonungslos offener Weise, mit welchen inneren und äußeren Widerständen eine Pädagogik zu ringen hat, – so Tolstoi – deren „einziges Kriterium die Freiheit ist“.19 Damit ist vor allem auch die Freiheit des Schülers gemeint, den Unterricht nicht zu besuchen oder ihn vorzeitig zu verlassen, wenn er seinen Interessen und Bedürfnissen nicht entspricht: „Damit der Erzieher genau weiß, was gut und was schlecht ist, muss der Zögling die volle Freiheit haben, seine Unzufriedenheit auszudrücken, oder wenigstens der Erziehung sich zu entziehen, von der er instinktiv fühlt, dass sie ihn nicht befriedigt.“20
3.2 Paul Robin (1837-1912) und sein Versuch einer libertären Erziehung im Waisenhaus zu Cempuis Im Jahre 1880 übernimmt Robin die Leitung des Waisenhauses in Cempuis und gestaltet dort die Erziehung nach anarchistischen, internationalistischen Grundsätzen, wie sie im Kreise libertärer Sozialisten formuliert worden waren. Seinen Schul- bzw. Erziehungsversuch kann er über 14 Jahre durchführen und weiterentwickeln, und zwar, wie zahlreiche Hospitanten aus vielen europäischen Ländern und Teilnehmer an den „Fêtes pédagogiques“, den pädagogischen Wochen zur Fortbildung interessierter Lehrer, bezeugen, mit Geschick und Erfolg. Im Jahre 1894 wird er entlassen – nach einer gehässigen Kampagne konservativer Kreise. Sie mussten Anstoß nehmen an seiner sozialistischen, antiklerikalen (er hatte z.B. in der ehemaligen Kapelle des Anwesens Werkstätten eingerichtet) und pazifistischen Grundhaltung sowie an den Grundsätzen seiner „Education intégrale“, zu der konstitutiv auch die Koedukation und das Eintreten für die gesellschaftliche Emanzipation der Frau gehörte. Zu seiner Verteidigung gibt Robin eine Erklärung ab, die sein pädagogisches Wollen konzise umreißt: „In Cempuis, dem Haus ohne Götzen, wurden Mädchen und Knaben zwischen vier und sechs Jahren gemeinsam erzogen, in einer großen Familie (zu der auch seine eigene gehörte – E.S.) und in größtmöglicher Freiheit, jeden anleitend, in sich die Qualitäten beider heute noch feindlicher Klassen (d.h. des Arbeiters und des gebildeten Bürgers – E.S.) zu vereinen. Ebenso zu vereinen die Düfte des Intellektuellen und des Künstlers, die Kultur des Hirns und diejenige der Hand – und so einen Typus desjenigen Menschen zu repräsentieren, der innert kürzester Zeit das menschliche Wesen ausmachen muss.“21 Nach Grunder ist Robin einer der ersten Pädagogen, der libertär-pädagogische Ideen aus seiner anarchistischen Weltanschauung entwickelt und zugleich praktisch umsetzt. „Selbst Didaktisch-methodisches wie Fächer- und Stoffauswahl, Gruppenarbeit, Vermeiden von Konkurrenz, Prinzip der gegenseitigen Hilfe, Stundenaufbau- und -länge, sinnvolle Abwechslung, fächerüber18
Stichwort „Tolstoi, Graf Leo Nikolajewitsch“ in: Lexikon der Pädagogik, 1952, Bern: A. Francke AG. Tolstoi, (1960) ebd. S.27, ähnlich. S.25 20 Tolstoi, ebd. S. 25 21 Robin, zitiert nach: Grunder, Hans-Ulrich (1986): Thorie und Praxis anarchistischer Erziehung, GrafenauDöffingen: Trotzdem-Verlag, S.22. Vgl. auch: Lechevalier, Bertrand (1994): Paul Robin, in: Houssaye, Jean (Hsg.) (1994), Quinze Pédagogues. Leur influence aujourd`hui, Paris: Armand Colin Editeur 19
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greifender Unterricht oder das Ausgestalten eines fruchtbaren Lehrer-Schüler-Verhältnisses lassen sich auf seine politische Philosophie zurückführen: anarchistische Theorie, daraus abgeleitete pädagogische Grundsätze und die Praxis erweisen sich als nahezu widerspruchsfreie Konstruktion.“22 Die Widersprüche ergeben sich aus dem feindlich gesinnten Umfeld, das ihn zu manchen Kompromissen zwingt, sowie – grundsätzlicher – daraus, dass er für eine Welt vorbereiten musste, deren soziale Ordnung er doch radikal ablehnt. Er bearbeitet diesen Widerspruch, indem er soweit als möglich die pädagogische Arbeit und das Gemeinschaftsleben am Modell einer zukünftigen egalitären und freiheitlichen Gesellschaft orientiert, deren Kommen er im übrigen in nicht allzu ferner Zukunft erwartet. Seine Einrichtung gehört zweifellos zu den interessantesten, methodisch reichhaltigsten, zugleich ausgewogensten Versuchen der frühen „Education Nouvelle“. In der Nachfolge wurden einige weitere Einrichtungen in Frankreich, Belgien und in der Schweiz gegründet. Auch der spanische Revolutionär und Pädagoge Garcia Francisco Ferrer (1859-1909) ließ sich bei der Gründung seiner „Escuela Moderna“ im Jahre 1901 in Katalonien von den Grundsätzen und Erfahrungen Robins anregen.23
3.3 Francisco Ferrer (1859-1909) und die Bewegung der „Escuela Moderna“ Wie kein anderer Pädagoge ist Francisco Ferrer zum Symbol einer anarchistisch-libertären Erziehung geworden. Er ist Sohn einer katalonischen Bauernfamilie und genießt eine Erziehung nach katholischen und monarchistischen Grundsätzen. Als angeblicher Rädelsführer der Juliunruhen 1909 in Barcelona wird er zum Tode verurteilt und im Oktober desselben Jahres trotz starker internationaler Proteste hingerichtet. Ferrer verbringt 17 Jahre seines Lebens – von 1894 bis 1901 – im französischen Exil, eine Zeit, die ihn entscheidend in seinen libertären Überzeugungen mit den zugehörigen zeitgenössischen Konnotationen des „Dagegen“ und des „Dafür“ prägen sollte: gegen staatliche und kirchliche Bevormundung, gegen Patriotismus und Militarismus, gegen den Kapitalismus – und für posivistische (d.h.: auf beweisbare Tatsachen gegründete) Wissenschaft, für Aufklärung, für den Bau einer neuen, gerechten und freiheitlichen Gesellschaft. Nach seiner Rückkehr gründet Ferrer, im Jahre 1901 in Barcelona seine „Escuela Moderna“, die Mutterschule und Namensgeberin einer lebendigen Schulreformbewegung, die erst mit dem endgültigen Sieg des Faschismus 1938 in Spanien ihr Ende findet. Seine eigene Schule erfährt wachsenden Zuspruch – die Schülerzahl steigt von anfangs 30 nach drei Jahren auf 266 –, besteht aber nur wenige Jahre. Wegen des Verdachts der Beteiligung an einem Attentat wird Ferrer 1906 verhaftet. Die Schule wird geschlossen und nach seiner 1907 erfolgten Entlassung aus dem Gefängnis – die gegen ihn erhobenen Anschuldigungen hatten sich als haltlos erwiesen – nicht wieder eröffnet. Ferrer setzt seine publizistische und propagandistische Tätigkeit verstärkt fort. Im Jahre 1908 gründet er in Paris die „Ligue internationale pour l’éducation rationnelle de l’enfance“, deren Ehrenpräsident der Schriftsteller Anatole France (1896 Mitglied der Académie Française, 1921 Nobelpreis) wird. Die Liga entfaltet eine internationale Wirksamkeit bis in amerikanische Länder, insbesondere durch ihre drei Publikationsorgane: „L’Ecole rénovée“ (Brüssel, Paris), „Boletin de la Escuela Moderna“ (Barcelona), „Scuola Laica“ (Rom).24 Die Liga sieht ihre Aufgabe darin – wie es in den Statuten heißt –, den „Ideen 22
Grunder (1986), S.53 Zur Wirkungsgeschichte vgl. Grunder (1986) und Lechevalier (1994) Angaben nach: Novoa, Antonio und Vilanou, Conrado (1994): Francisco Ferrer (1859-1909), in: Houssaye, Jean (Hsg.) (1994), Quinze Pédagogues. Leur influence aujourd`hui, Paris: Armand Colin Editeur
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der Wissenschaft, der Freiheit und der Solidarität“ in der Erziehung und in den Schulen aller Länder Eingang zu verschaffen.25 Ferrer ist wie Robin von dem Glauben beseelt, dass nur über eine Erneuerung der Erziehung eine freie und gerechte Gesellschaft geschaffen werden kann. Er tritt im Einklang mit seinen politischen Überzeugungen mit seiner Schule für einen „humanistischen Rationalismus“ ein, der gegen alle Vorurteile kämpft, die der „vollständigen Emanzipation des Individuums“ im Wege stehen und die den Menschen im Zustand von „Sklaven des Kapitals“ belassen: gegen religiöse Vorurteile, gegen den Glauben an das Privateigentum, gegen die Auffassung, dass es notwendigerweise „immer Arme und Reiche“ geben wird.26 Die traditionelle Schule sieht er als Instrument der Einübung in die alten, zu überwindenden Verhältnisse. Wie eine demgegenüber neue Schule aussehen sollte, dazu hat er nach seinen Worten schon Anregungen in der eigenen Kindheit erhalten, gewonnen aus leidvollen Schulerfahrungen, „die mich darin bestärken, das genaue Gegenteil dessen zu verwirklichen, was Schule einmal war.“27 Die Grundsätze seiner pädagogischen Arbeit stimmen im Wesentlichen mit denen Robins überein. Robins „Manifest für die Partisanen der Integralen Erziehung“ ist Grundlage auch der „Escuela Moderna“. Über letzteren hinausgehend plädiert Ferrer für eine „erweiterte Koedukation“, die zusätzlich verschiedene soziale Klassen einbezieht, denn gerade die „unschuldige Gleichheit der Kindheit“ erleichtere den Kontakt zwischen den „Armen und Reichen“. Ein zweiter über Robin hinausgehender Ansatz besteht in seinem Bestreben, die Schule zu einem „Haus des Volkes“ auszubauen, zu einem öffentlichen Ort der Aufklärung. (Er wurde damit auch zum Vorläufer der „Community Education“.) Ferrer ist zwar nicht unmittelbar politisch tätig, „aber seine Schule ist ein mächtiger Hort der Opposition, den die politische, klerikale und soziale Reaktion mehr fürchtet, als die verschiedenen republikanischen, sozialistischen, libertären und syndikalistischen Gruppierungen.“28 Von seinen pädagogischen Grundsätzen sei noch der Gedanke des Respektes vor der Würde und Freiheit des Kindes hervorgehoben, den kaum ein anderer vor ihm radikaler formuliert hat. In seiner Schule verzichtet Ferrer auf jede Form der Belohnung oder Strafe, „auch dann, wenn die Eltern das einfordern. ... Diese irrationalen und atavistischen Praktiken müssen verschwinden.“ Das gleiche gilt für Examina, die ein Grund sind für „Torturen und Krankheiten des Kindes.“ Dagegen beruhe der ganze Wert der Erziehung in der „Respektierung des physischen, intellektuellen und moralischen Willens des Kindes.“ Die Entwicklung der kindlichen Energien, die Richtung seiner eigenen Bemühungen, gelte es zu unterstützen, auch dann, wenn sie den Vorstellungen des Erziehers zuwiderlaufen. Und schließlich: „In Zukunft wird die Erziehung vollständig spontan sein.“29 Damit ist wohl gemeint, dass Erziehung vom Willen des Kindes ausgehen, von seinem Interesse gesteuert und jegliches autoritative Eingreifen unterbleiben kann. Eine paradiesische Vision ist beschworen, ein Arkadien der sozialen Harmonie, wie es im Umkreis der Reformpädagogik sowohl bürgerlicher wie sozialistischer Prägung immer wieder auftaucht. – Wir finden dieses Motiv auch bei Neill. Er wendet sich – Reaktion auf seine strenge calvinistische Erziehung – gegen die religiöse Vertröstung auf das Jenseits und „möchte den Himmel auf Erden sehen und nicht in den Wolken.“30 Hauptmittel ist ihm allerdings nicht die Überwindung der 25
Vgl. ebd., S.101 Ferrer, zitiert nach: ebd. S.90 Ferrer, zitiert nach: ebd., .S.88 28 Dommanget (1952), zitiert nach ebd., S. 97 29 Ferrer, zitiert nach Novoa und Conrado (1994), S.99 30 Neill, Alexander S. (1969): Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung. Das Beispiel Summerhill, Reinbek bei Hamburg: Rohwolt, S.203 26 27
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Klassengegensätze in der Gesellschaft, in deren Rahmen Robin und Ferrer ihre pädagogische Arbeit eingebettet sehen, auch nicht ein wie auch immer fundierter Unterricht, sondern der individuelle „Weg zum Glück“31 durch die Entwicklung des innerlich freien Menschen.
3.4 Alexander Sutherland Neill (1883-1973) und der radikale Ansatz einer freiheitlichen Erziehung in „Summerhill“ Es gibt wohl keine zweite einzelne Schule und kein zweites pädagogisches Lebenswerk im 20. Jahrhundert, das die internationale Öffentlichkeit mehr in ihren Bann gezogen hat, als die englische Schule (besser: Lebensgemeinschaft) Summerhill und ihr Gründer. Im Jahre 1960 veröffentlicht Neill für das amerikanische Publikum sein aus früheren Publikationen zusammengestelltes Werk „Summerhill. A Radical Approach to Child Rearing“. Es wird zur „Bibel“ einer weltweiten Gemeinde freiheitlich gesinnter Lehrer und Erzieher und beeinflusst die amerikanische „Free School“ und die europäischen Alternativschulen maßgeblich. In den USA werden davon zwei Millionen Exemplare verkauft. Danach wird es auch in Großbritannien zum Bestseller. In Deutsch erscheint das Buch 1965 unter dem Titel „Erziehung in Summerhill, das revolutionäre Beispiel einer freien Schule.“ Aber die Zeit ist in Deutschland noch nicht reif für derartige „Revolutionen“ und das Buch wird nur wenig beachtet. Erst die Taschenbuchausgabe im Dezember 1969 findet im Zuge des gesellschaftlichen Stimmungswandels eine ungeahnte Aufmerksamkeit. Über eine Million Exemplare werden in Deutschland verkauft, nun unter dem zugkräftigen, den Ideen der Zeit angepassten Titel „Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung. Das Beispiel Summerhill“.32 Die französische Ausgabe erscheint 1970 unter dem Titel „Libres enfants de Summerhill“ (Paris: Maspero). Die finnische Ausgabe kündigt 1968 in ihrem Titel eine „neue Richtung“33 der Erziehung an. Freilich handelt es sich bei dieser „neuen“ Richtung um eine solche, die Neill im Jahre 1968 bereits seit 45 Jahren beschritten hatte und deren Ursprünge noch weiter zurückreichen. Die Zeit war inzwischen also „reif“ geworden – nicht nur für die Vermarktung eines pädagogischen Bestsellers, sondern auch für eine intensive und bis heute kontrovers geführte Diskussion. Die Schule besteht noch heute und kämpft wegen behördlicher Auflagen gegenwärtig um ihr Überleben. Neill stammt aus einer streng calvinistischen schottischen Familie. Nach Studienjahren und während seiner Tätigkeit (im Jahre 1919) an der „King Alfred School“ in London lernt er Homer Lane kennen und ist von dessen Werk beeindruckt. Homer Lane leitete von 1913 bis 1918 in der Grafschaft Dorset die Erziehungsgemeinschaft „The Little Commenwealth“34 für straffällig gewordene Kinder und Jugendliche nach freiheitlichen Prinzipien. Neill sagt über Lane, er habe „verkündet, dass wir nichts über Kinder wissen, und dass es falsch sei, ihnen unsere Persönlichkeit aufzuzwingen. Vor seinem Kleinen Commenwealth gab es meines Wissens keine Schule, die tatsächlich sagte: ‚Wir wissen nicht, wie ein Kind sein sollte; wir müssen die Natur des Kindes 31
Vgl. Ebd., S.270ff Die Angaben zu den Verkaufszahlen in den USA und Deutschland: Friends of Summerhill Trust Journal, Issue 10, Summer 1994 „Summerhill School Booklet“, S.28. Ebendort ist auch ein Hinweis auf die Rezeption in Japan: „Zuletzt, in den achtziger Jahren, gab es in Japan ein großes Interesse an Büchern über Summerhill“. Siehe dazu auch den Bericht im selben Heft über eine nach (modifizierten) Summerhill-Grundsätzen arbeitende und seit 1992 bestehende japanische Schule: Potter, John: Kinokuni: Summerhill’s Modified Model, ebd., S.10-16 33 „Summerhill. Kasvatuksen uusi suunta“ (die „neue Richtung“ – oder auch – der „neue Weg“ der Erziehung), Helsinki: Weilin und Göös 34 Vgl. auch den Abschnitt über Homer Lane im Kapitel über die Reformpädagogik in außerschulischen Bereichen. 32
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studieren und unser System dieser Natur anpassen.‘“35 1921 gründet Neill seine Schule „Summerhill“ in einem Haus gleichen Namens in Lyme Regis. 1927 zieht die Schule unter Beibehaltung ihres Namens nach Leiston in der südenglischen Grafschaft Suffolk um. Leiston liegt in Küstennähe ca. 130 km nord-östlich von London. Neill leitet die Schule bis zu seinem Tode im Jahre 1973. Danach wird die Schule von seiner Frau weitergeführt, später (ab 1985 bis heute) von der Tochter. Bei der „Schule“ handelt es sich um eine überschaubare Lebensgemeinschaft, deren Mitgliederzahl um die 100 liegt, darunter etwa 70 Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 6 und 18 Jahren. Zum Teil kommen sie aus dem Ausland. Schon bald nach Schulgründung erwirbt sich Summerhill den Ruf einer Schule und einer Gemeinschaft, wo jeder „machen kann was er will“. Anstoß erregt immer wieder der unkonventionelle Umgang mit Fragen der Sexualität und mit der Nacktheit. Neill setzt sich für die Befreiung der Sexualität aus den konventionellen Zwängen ein und nur die Rücksicht auf den Fortbestand seiner Schule hindert ihn daran, den Jugendlichen empfängnisverhütende Mittel zur Verfügung zu stellen. „Man darf dem Gesetz nicht zu weit vorauseilen“.36 Neill ist ein Verehrer der Psychoanalyse. Homer Lane praktizierte bis zu seinem Tode 1925 als Psychoanalytiker in London und Neill war einer seiner Patienten. Mit dem deutschen Psychoanalytiker Wilhelm Reich verbindet ihn eine langjährige Freundschaft. Wie Reich sieht auch Neill die Hauptübel der Welt in einer unterdrückten Sexualität begründet, die den Menschen in Unglück, Hass und Neurosen treibt. „Ich hoffe aber, dass in kommenden Generationen diese beginnende Befreiung von Sexualtabus schließlich zu einer Welt führt, in der das Leben geliebt wird.“37 Erst die Befreiung von jeglichem Zwang führt zu der inneren Freiheit und Harmonie, die nach Neill die Vorbedingung für ein glückliches Leben ist – und letztlich auch Vorbedingung für die Heraufkunft einer von Kriegen, Verbrechen, Gewalt und Hass befreiten Gesellschaft.38 Die Kinder genießen ein hohes aber keineswegs unbeschränktes Maß an Freiheit. Freiheit bedeutet für Neill nicht Zügellosigkeit. Was den eigentlichen Unterricht betrifft, so ist sein Besuch in das Belieben des Schülers gestellt. Die Unterrichtsangebote richten sich nach Alter oder Interesse der Kinder; spezielle Unterrichtsmethoden werden nicht angewandt. Auf „Lenkung, jede suggestive Beeinflussung, auf jede ethische und religiöse Unterweisung“ wird verzichtet. „Nach meiner Ansicht“, so Neill, „ist das Kind von Natur aus verständig und realistisch. Sich selbst überlassen und unbeeinflusst von Erwachsenen entwickelt es sich entsprechend seinen Möglichkeiten.“39 Die Grenzen der individuellen Freiheit sind durch „die Freiheit der anderen“ gezogen40, ferner durch notwendige Regelungen zur Sicherheit und Gesundheit der Kinder. Der ethische Imperativ, beim Genuss der eigenen Freiheitsrechte die gleichen Rechte des anderen zu achten, muss in einer komplexen, noch dazu nicht-hierarchischen und an-archischen Lebensgemeinschaft durch eine konstitutionelle Institution ergänzt werden, die den gemeinsamen Willen artikuliert. Das wird vom wöchentlich stattfindenden „Meeting“ geleistet, die „gesetzgebende“ Versammlung, in der Kind wie Erwachsener bei den mehrheitlich gefassten Beschlüssen eine je gleichgewichtige Stimme haben. „Nach einer oder zwei Unterrichtsperioden bezweifelt keiner mehr auch nur eine Minute, weder Kind noch Erwachsener, die Autorität des Meetings über
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Neill, zitiert nach: Klemm, Ulrich (1989): Alexander S. Neills „Summerhill“, in: Klemm/Treml (1989), a.a.O., S.172 Neill (1969), S.207 37 Ebd., S.201 38 Vgl. ebd. Die Einführung S. 19f, das Kapitel über Sexualität S. 197ff und den Abschnitt „Der Weg zum Glück“, S. 270ff 39 Ebd., S.22f 40 Ebd., S.158 36
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sich.“41 Der erzieherische Sinn der „Selbstregierung“ besteht u.a. darin, die Kinder zur „SelbstRegulierung“ zu führen, zur Fähigkeit, als „Eigentümer ihres eigenen Körpers und ihrer Seele zu leben, ohne Abhängigkeit von autoritären Strukturen“42 und sie zu lehren, durch soziale Aktionen ihre Interessen wahrzunehmen. Eine Schule, die mit solchen Grundsätzen ernst macht, muss mit öffentlichem Widerstand rechnen und vor allem auch mit dem Widerstand „Her Majesty’s Royal Inspectors“. Summerhill hatte des Öfteren und bis heute mit diesen Widerständen zu ringen. Martin Kamp hat zur Unterstützung der Schule und zur Abwendung ihrer drohenden Schließung im Frühjahr 1998 einen Aufruf verfasst, aus dem ich auszugsweise zitiere. Der Text fasst konzise wesentliche Momente zusammen und zeigt in geradezu exemplarischer Weise die Grundstruktur des Konfliktes auch anderer Freier Alternativschulen mit der Aufsichtsbehörde. Über den Charakter Summerhills schreibt Kamp u.a.: „Wenn das Kind seine – naturgemäß egoistischen – Interessen wirklich ausleben und seiner Kreativität freien Lauf lassen kann (dann und nur dann!), so entwickeln sich in der Jugendzeit gewissermaßen von selbst (erfahrungsgemäß!) altruistische Orientierungen. Dies bedeutet möglicherweise schwierigere Kinder, dann aber weniger schwierige Jugendliche. Summerhill geht davon aus, dass jedes Lernen, das nicht aus innerem Antrieb freiwillig geschieht, die Lernmotivation (d.h. die Grundlage allen Lernens!) zerstört. Es gibt darum weder Zwang oder Überredung zum Unterrichtsbesuch, keinen Wettbewerb, keine Noten. Dies führt zu einer hohen inneren Motivation der tatsächlichen Unterrichtsteilnehmer. Es gibt keinerlei Hinführung zu weltanschaulichen, moralischen, politischen oder religiösen Zielen, darum auch keinen Religionsunterricht. ... In den letzten Schuljahren lernen die Schüler intensiv aus eigenem Antrieb und holen in verhältnismäßig kurzer Zeit den früher versäumten Schulstoff auf, um die Abschlussprüfung (...) zu schaffen und dann auf ein College (= Sekundarstufe II) oder in einen Beruf zu wechseln.“ Die von den Inspektoren erhobenen Beanstandungen kontrastiert Kamp mit den erklärten Zielen von Summerhill. „Die Inspektoren forderten nicht nur mehr Platz zum Lernen und zusätzliche Unterrichtsinhalte wie Informatik (...), sondern auch Religionsunterricht, den Summerhill – seinen erklärten Zielen zum Trotz – seit einigen Jahren anbieten muss (der aber von den Schülern nicht belegt wurde). Die Inspektoren fordern von der Schule nun die Sicherstellung eines häufigeren und regelmäßigeren Unterrichtsbesuchs. Das widerspricht grundlegend der völligen Lernfreiheit, die von Anfang an ein wesentliches Kennzeichen Summerhills war. Die Inspektoren bemängeln den ‚unbefriedigenden‘ Leistungsstand und fordern einen schnelleren Lernfortschritt, insbesondere beim Lesen, Schreiben und Rechnen der jüngeren Kinder. Das widerspricht der geringeren Bewertung von Schulleistung in Summerhill überhaupt und der in Summerhill üblichen anderen Verteilung auf die Lebensjahre. Die Forderungen laufen auf eine weitestgehende Angleichung des Unterrichts an staatliche Schulen hinaus. ... Die Leitung Summerhills hat in den letzten Jahren mehrfach erklärt, dass sie die Schule eher schließen wird, als ihre wesentlichen Eigenschaften aufzugeben.“43 Anders als die anderen Beispiele in der historisch orientierten Übersicht zu den Wurzeln der Freien Alernativschulen, gehört Summerhill (noch) nicht nur zur Geschichte, sondern bietet weiterhin das lebendige Beispiel einer freiheitlichen Erziehungspraxis. Es bleibt abzuwarten, wie der Kampf zwischen Anpassungsdruck, Kompromissbereitschaft und Selbstbehauptungswillen ausgeht. Für die Alternativschulbewegung war Neills Summerhill in ihren Anfangsjahren eine Quelle der Inspiration, vielleicht sogar eine maßgebliche Quelle. Es ist die einzige Schule libertärer 41
Friends of Summerhill Trust Journal, (a.a.O.), S. 26 Ebd., S.29 43 Kamp, Martin: Summerhill muss bleiben! Stellungnahme deutscher Erziehungswissenschaftler (1998) 42
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Signatur, die zu Beginn der siebziger Jahre in Europa allgemein bekannt war. Zu nahezu jedem Moment der didaktisch-methodischen Struktur der heutigen Alternativschulen, wäre eine Entsprechung in Summerhills Schule aufzufinden.
4 Organisatorische und didaktisch-methodische Merkmale und ihre erziehungstheoretischen Grundlagen Im Gegensatz etwa zu Montessori oder Steiner berufen sich die Alternativschulen nicht auf eine bestimmte Entwicklungslehre. Ihr Bild des Kindes kann am ehesten in einem allgemeinen Sinn als ein interaktionistisches bezeichnet werden. Das heißt: Kinder entwickeln sich in einem offenen Prozess selbst in Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt. Jeder Bezug auf eine explizite Entwicklungslehre könnte diesen Prozess determinieren und das Prinzip der Freiheit untergraben. „Wie diese Interaktion funktioniert, kann man im Alltag Freier Alternativschulen ständig beobachten, weil dort eine sehr offene Atmosphäre herrscht, die sowohl den Kindern und Jugendlichen als auch den Erwachsenen offene Möglichkeiten der gegenseitigen Rückmeldung über das Verhalten der jeweils Anderen erlaubt.“44 Bildung wird so als aktiver Prozess aufgefasst, dessen Zentrum das jeweilige Subjekt ist. Auch das Prinzip der Selbstregulierung ist an die Interaktion gebunden. Entfalten kann sich die Fähigkeit zur Selbstregulierung „erst in der Begegnung mit anderen Menschen. Selbstregulierung entsteht aber nicht nur auf der Ebene von Beziehungen. Sie braucht auch die Auseinandersetzung mit vielfältigen Lerngegenständen.“45 Die Atmosphäre einer solchen Begegnung „in Freiheit“ ist gekennzeichnet von Geborgenheit, die durch den Respekt vor der kindlichen Persönlichkeit und der Achtung vor seinem „Recht auf Glücklichsein“ geschaffen wird. Damit ist schon etwas gesagt über die Rolle des Lehrers. Er gibt seine „frontale“ Stellung auf und wird – im Prinzip – ein gleichwertiger Partner und Mitgestalter der pädagogischen Situation. Er ist gleichwohl verantwortlich für das Erstellen eines Unterrichtsangebotes, an dessen Festlegung und Durchführung die Kinder aber wiederum zu beteiligen sind. Häufig wird nicht mehr von Lehrern oder Lehrerinnen sondern von „Bezugspersonen“ („Bezugis“) gesprochen, und die Anrede mit dem Vornamen ist eine Selbstverständlichkeit. Unterricht in der Form eines Lernangebotes, also der Verzicht auf „intellektuelle Zwangsfütterung“, wird von den meisten Alternativschulen als das wichtigste unterscheidende Merkmal zu anderen Schulen einschließlich der anderen reformpädagogischen Schulen angesehen. Die hieraus vielfach entstehenden gravierenden Probleme (Unruhe, Wechsel in der Lerngruppe und dadurch mangelnde Kontinuität, Entwicklung eines „Lernvermeidungsverhaltens“) haben in vielen Schulen allerdings – und dort jeweils immer mit Zustimmung fast aller Kinder – zu einer Einschränkung geführt, so dass heute die Spannweite von nach wie vor völliger Freiwilligkeit bis zu ihrer fast vollständigen Abschaffung und Ersetzung durch Wahlfreiheit zwischen verschiedenen Aktivitäten reicht. Borchert skizziert zusammenfassend folgendes Spektrum der Entscheidungsfreiheit: zeitlich mehr oder weniger eingeschränkte Entscheidungsfreiheit über die Teilnahme an den Lernangeboten; freie Wahl der Aufgaben in der Phase der „Freiarbeit“; freie Entscheidung 44
Borchert, Manfred (o.J., 1996 oder 1997): Was unterscheidet Freie Alternativschulen von anderen reformpädagogischen Schulen?, S.8 (hektographiertes Manuskript). Borchert hat die Freie Schule Bochum mitbegründet. Er ist ein exponierter Vertreter der Alternativschulbewegung und Autor zahlreicher Beiträge. In diesem Abschnitt orientiere ich mich im Wesentlichen an dem genannten Beitrag. 45 Ebd., S.3. Zum Prinzip der Selbstregulierung vgl. des Weiteren: Scholz, Norbert (1992): Wiederbelebung der Selbstregulation. Ein alter Gedanke im neuen Licht von Autopoiesis, Chaosforschung und Gestalttherapie, in: Bundesverband der Freien Alternativschulen (1992), a.a.O.
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über den Zeitpunkt der Bearbeitung der im „Wochenplan“ festgelegten Aufgaben; freie Wahl zwischen unterschiedlichen Angeboten wie z.B. parallel laufenden Arbeitsgemeinschaften, Projekten oder Kursen; eigene Vorschläge für Lernaktivitäten. – Die Einschränkung der Wahlfreiheit bedeutet gleichzeitig die Relativierung des Prinzips eines „naturwüchsigen“, an den spontanen Bedürfnissen und Interessen des Kindes orientierten Lernens. In ihr kommt die in der Praxis gewachsene Einsicht zum Ausdruck, dass die materiale (bzw. inhaltliche) Seite der Bildung nicht beliebig ist, sondern einer bewertenden Reflexion in Hinsicht auf die Notwendigkeiten des weiteren Schulweges und des konkreten gesellschaftlichen Lebens bedarf. Bei den Sozialformen und Methoden des Lernens zeigt sich ein außerordentlich reichhaltiges Spektrum – und ein geradezu bedenkenloser Zugriff auf das Repertoire reformpädagogischer Ansätze, wobei – nach Borchert – eine Favorisierung solcher Methoden festzustellen ist, die die Eigentätigkeit, Kooperation und Selbständigkeit der Kinder befördern. Gearbeitet wird meist nicht in Jahrgangsklassen, sondern in jahrgangsheterogenen Gruppen. Borchert bringt eine ziemlich vollständige Auflistung unter Auslassung spezifisch fachdidaktischer Arbeitsformen (diese sind ohnehin kein unterscheidendes Merkmal der Arbeit an Alternativschulen): „Einzel-, Partner-, Tischgruppenarbeit, Gruppenarbeit, Kurse, Arbeitsgemeinschaften, Freie Arbeit (...), Freies Spiel, Wochenplanarbeit, Gruppen-Projekte, individuelle Projektarbeiten, projektorientierter Unterricht, Morgenrunde, Experiment, Lehrerdarbietung, Schülerdarbietung, Rollenspiele, Diskussion, Ausstellungen, Feste, Praktika, Aufsuchen außerschulischer Lernorte, Fahrten sowie neuerdings auch Entspannungsübungen und Meditation. ...Frontalunterricht wird an den meisten Freien Alternativschulen nur selten praktiziert.“46 Einen eigenen Lehrplan besitzen die Alternativschulen nicht. Vielmehr orientieren sie sich (mehr oder weniger freiwillig) an den offiziellen Lehrplänen, und soweit das geschieht partizipieren sie an dem in ihnen repräsentierten allgemeinen Begriff von Bildung. Gleichzeitig sind sie bestrebt, Freiräume zu schaffen, die die intendierte Wahlfreiheit und Selbstregulation, mithin das Eingehen auf die Interessen und Bedürfnisse der Kinder, ermöglichen. Die Unterrichtsinhalte bewegen sich meist im Rahmen der traditionellen Schulfächer. Es gibt aber auch sehr spezielle Lernwünsche der Kinder, die ernst genommen werden. Eva Pietsch nennt in ihrer Arbeit über die „Freie Schule Erfurt“ zahlreiche Fächerkreationen, die auf solche speziellen Kinderwünsche zurückgehen und teilweise sogar wiederholt angeboten werden, also den Anlass zu Traditionsbildungen geben: Tigerkunde, Vogelkunde, Himmelskunde, Feuerkunde, Steinkunde, Knochenkunde, Götterkunde, Ritterkunde u.a.47 Das Beispiel zeigt, dass der Begriff der „Individualisierung“ nicht auf eine didaktisch-methodische Niveau- oder Lerntempodifferenzierung eines ansonsten im Wesentlichen gleichen Lernpensums beschränkt bleibt, sondern auch die inhaltliche Seite einbezieht. Je nach Breite des (wahlfreien) Angebotes lernen die Kinder auch verschiedenes. Ferner werden Teile der allgemeinen Bildung wie die Grundfertigkeiten des Lesens, Schreibens, Rechnens und Einsichten in soziale und sachliche Gegebenheiten gezielt im Medium der persönlichen Erfahrung angeeignet. Hierbei greifen viele Alternativschulen auf „Techniken“ der Freinet-Pädagogik zurück, in deren Mittelpunkt der „Freie Ausdruck“ steht. „Einübung in Alltagsdemokratie“ gilt durchgängig als ein Schwerpunkt des Unterrichts, und zahlreiche Formen innerhalb des Unterrichts (Planungskreis am Morgen, Schlussrunde am Ende des 46
Borchert, a.a.O., S. 15 Pietsch, Eva (1997): Freies Lernen in der Freien Schule. Das Beispiel Regenbogenschule Erfurt, Flensburg (Examensarbeit an der Universität Flensburg) 47
Die Pädagogik der Freien Alternativschulen 349
Tages oder der Schulwoche u.a.) und organisatorische Formen der Mitbestimmung, die das Schulleben im Ganzen betreffen (Schulversammlung), dienen diesem Ziel. Als Beispiel sei die „Kinderversammlung“ an der Freien Schule Erfurt genannt. Sie findet zweimal pro Woche statt. „Jeweils ein Kind oder ein Erwachsener ist dafür zuständig, die Versammlung zu leiten.“ Typische Themen der Versammlung sind „Angeboten von den Großen, Wünsche von den Kleinen, Fragen nach verlorengegangenen Gegenständen, Streitfälle zwischen den Kindern, die diese nicht alleine klären konnten, und Beratungen über die Einführung neuer oder die Abschaffung alter Regeln.“ Es handelt sich also gleichsam um die schulische Legislative und von einem Kind wurde schon der Vorschlag eingebracht, „ein Gesetzbuch zu schreiben.“48 Der Klassenraum oder die Lernumgebung spiegelt die Vielfalt der Lernaktivitäten wider. Man findet kein Klassenzimmer mehr mit Bänken, die zur Tafel hin ausgerichtet sind. Der Lernraum hat Ateliercharakter mit Regalen für diverse Arbeitsmaterialien und Zonen für bestimmte Aktivitäten. „Außerhalb der Schulen sieht man Sandkästen, Spielgeräte, Basketball- und Fußballflächen, selbst gebaute Buden und meist einen Schulgarten.“49 Der Tagesablauf in den Alternativschulen kann nicht auf ein einheitliches Schema zurückgeführt werden. Die Vielfalt der genannten methodisch-didaktischen Momente macht deutlich, dass sie in ihrer Mischung zu sehr verschiedenen Abläufen führen können. Eher ist eine Negativbestimmung möglich: Der alte Stundenplan (Peter Petersen: „Fetzenstundenplan“) und das Fortschreiten im Zeittakt der Dreiviertelstunden ist, zumindest auf der Grundschulstufe, aufgehoben. Nach den Angaben von Borchert lässt sich folgender Ablauf eines „normalen“ Schultages an einer Ganztagsgrundschule rekonstruieren (in der Sekundarstufe ist der Ablauf wegen der Fächerbetonung stärker in herkömmlicher Weise strukturiert): 1. Offener Schulbeginn: die Kinder treffen nacheinander ein, spielen auf dem Schulhof, unterhalten sich miteinander und mit den Erwachsenen. 2. Gemeinsames Frühstück im Gruppenraum. 3. Morgenrunde: hier gibt es Gelegenheit für freies Erzählen, für das Besprechen und Planen von Aktivitäten, ggf. für gemeinsames Singen und/oder Vorlesen einer Geschichte. 4. Gruppenarbeit (manchmal auch „Stille Stunde“ genannt): Arbeit am „Wochenplan“ oder an frei gewählten Aufgaben (ein- bis zweistündig) 5. Fachbezogener Unterricht: Englisch, Mathematik, Kunst, Musik oder Auseinandersetzung mit fachübergreifenden Themen 6. Mittagessen mit einer anschließenden langen Pause 7. Nachmittagsangebot: „Arbeitsgemeinschaften, Sport, Projekte, freies Spiel, Toben – fast alles ist möglich. An einigen Freien Alternativschulen gibt es eine Schlussrunde, in der auf den Tag zurückgeblickt wird.“50 Es besteht ein enge und kontinuierliche Beziehung zwischen Elternhaus und Schule. In der Regel wurden die Freien Alternativschulen auf Initiative von Elterngruppen ins Leben gerufen. Es gibt zahlreiche Gremien, in denen die Eltern ihre Vorstellungen einbringen können. Erwünscht ist die aktive Teilnahme am Schulleben. Bei der Organisation von Festen, bei der Pressearbeit, bei der
48
Ebd., S.21 Borchert, a.a.O., S.16 50 Ebd. 49
350 Reformpädagogik
Einstellung von neuen Lehrkräften usw. haben die Eltern im Allgemeinen ein Mitspracherecht. Auch können von ihnen unterrichtliche Aktivitäten übernommen werden.
5 Zur Beurteilung der Freien Alternativschulen Die Freien Alternativschulen bilden die jüngste Facette der reformpädagogischen Landschaft, hervorgegangen aus der gesellschaftskritischen Haltung intellektueller Kreise gegen Ende der sechziger und zu Anfang der siebziger Jahre. Die Alternativschulbewegung hat ihre eigene – noch immer nicht genügend erforschte und zu wenig bewusste – „Vorgeschichte“, die bis ins 19. Jahrhundert hineinreicht. Sie hat aber auch eine inzwischen über 30jährige und bewusst vollzogene eigene Geschichte, in deren Verlauf eine Relativierung der anfänglichen radikalen pädagogischen und politischen Positionen eingetreten ist. Der ihr heute gemeinsame pädagogischpolitische Orientierungsrahmen zeigt bei allen erkennbaren Bezügen zu zahlreichen Momenten anderer reformpädagogischer Strömungen doch in der Summe und Akzentuierung ein eigenes Profil. Es lässt sich zusammenfassend folgendermaßen kennzeichnen: Bewusstsein der „ökologischen Vernetzung“ menschlichen Lebens mit der Welt im Ganzen; emanzipatorisches Lernen und darin einbezogen Abbau geschlechtsspezifischer Rollenmuster; partizipatorisches Lernen und Leben in einem weiten Sinne (Abbau von Hierarchie, Autoritarismus und Konkurrenzdenken; „Brüderlichkeitsethik“: Entwicklung von Partnerschaft und Freundschaft in allen Sozialbeziehungen; Favorisierung autonomen und auf die Bedürfnisse und Fähigkeiten des einzelnen abgestimmten Lernens; Selbstregulierung in der Gruppe bzw. Schulgemeinschaft, einschließlich diskursiver Formen der Konfliktbewältigung); ein „offenes Lernen“, in dem persönliche Erfahrung, persönliches Handeln, Empfinden, Fragen, Erleben ... zur Geltung und zum Ausdruck gebracht werden können („ganzheitliches Lernen“). Niemand wird heute mehr ernsthaft annehmen, dass in den Alternativschulen kleine Revolutionäre herangezogen werden oder dass die Kinder zu Außenseitern der Gesellschaft gemacht werden. Die nun zahlreich vorliegenden Erfahrungen zeigen vielmehr, dass die Kinder und Jugendlichen mit durchaus ähnlich guten Erfolgen ihre Schullaufbahn oder ihre vorberufliche und berufliche Ausbildung fortsetzen, wie Schüler aus anderen Schulen. Defizite in den „harten“ Lernfächern werden auf anderen Schulen meist rasch ausgeglichen. Diese Defizite bestehen freilich durchaus; das zeigen zahlreiche Untersuchungen an den „Free-Schools“51 in den USA und die (wenigen) Untersuchungen an den Alternativschulen in Europa. Hierin liegt denn wohl auch der Grund für das außerordenlich starke Abflauen der „Free-school-“ und „Open-School-Bewegung“ in den USA, deren Höhepunkt52 Mitte der siebziger Jahren überschritten wurde. „Nach Meinung der Eltern besteht der einzige Weg zum Aufsteigen in der gesellschaftlichen Hierarchie darin, dass man möglichst gut die akademischen Grundfähigkeiten lernt.“53 51
Vgl. dazu den Beitrag: Haan, Gerhand de (1992): Was leisten Freie Schulen?, in: Bundesverband der Freien Alternativschulen (1992) 52 Gerhard de Haan nennt ebd. eine Zahl von 5-10tausend solcher Schulen für die siebziger Jahre in den USA, „von denen nur noch wenige überlebt haben.“(S.187) Es handelt sich vermutlich um eine grobe, recht unsichere Schätzung, die bei genauerer Recherche erheblich nach unten zu korrigieren wäre. Zu quantitativen Aspekten vgl. auch: Ramseger, Jörg (1975): Gegenschulen. Radikale Reformschulen in der Praxis, Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt (S.41ff) 53 Hytönen, Juhani (1992): Lapsikeskeinen kasvatus, Juva: Werner Söderström Osakeyhtiö, S.97 (Titel in dt.: Kindzentrierte Erziehung)
Die Pädagogik der Freien Alternativschulen 351
Gemessen an den traditionellen Schulleistungen schneiden die Alternativschulen also im Vergleich mit der „didaktisch-methodischen Normalform“ der Schule ungünstiger ab. Es ist jedoch durchaus problematisch, eine generelle Beurteilung auf diesen Befund alleine stützen zu wollen. Sowohl Neills Summerhill als auch die Freien Alternativschulen betonen ausdrücklich ihre Distanz zu einem einseitig intellektualistischen Lernbegriff. Eine Bewertung unter Einbeziehung ausdrücklich angestrebter Ziele wie Glück, Zufriedenheit, intrinsische Motivation bzw. Lernfreude, soziale Kompetenz, Konfliktfähigkeit, Problemlösungsfähigkeit, Ausdrucksfähigkeit, Eigeninitiative usw. könnte zu differenzierten Stellungnahmen führen. Das Problem der „Fremdbewertung“ hat Kamp in seinem oben erwähnten Aufruf prägnant zum Ausdruck gebracht. „Die wesentlichen Kritikpunkte der Schulinspektoren spiegeln nicht Defizite der Schule wider, sondern ihre spezifische Pädagogik. An Summerhill-Kriterien gemessen müssten die Staatsschulen geschlossen werden. Misst man umgekehrt Summerhill an Staatsschul-Kriterien, droht ebenfalls die Schließung. Beide Modelle können sinnvoll nur unter Berücksichtigung ihrer jeweils eigenen Methoden inspiziert werden.“ Und dabei, so wäre hinzuzufügen, kämen auf der Folie der jeweils anderen Schulorganisation Mängel und Vorzüge deutlicher zum Vorschein. Nun ist inzwischen in Österreich eine umfangreiche empirische Studie erschienen, die mit Hilfe eines aufwändigen sozialwissenschaftlichen Methodenrepertoires ausdrücklich „Alternativschulen und Regelschulen im Vergleich“54 betrachtet. Die Studie versucht, die von Kamp angemahnte differenzierte „Inspektion“ zu leisten. Auch aus dieser Studie geht hervor, dass die „Alternativkinder“ in bezug auf „klassische Schulleistungen“ (überprüft wurden Leistungen in Deutsch und Rechnen) gegenüber den „Regelschulkindern“ zurückstehen, den Unterschied aber in den weiterführenden Schulen wieder aufholen. „Sie erreichen im Schnitt nur etwa 80% der Leistung. Generell sind AlternativschülerInnen gut im Lösen von Problemen, weniger gut in trainingsintensiven Routineleistungen. Andererseits scheint es auch unter den an Alternativschulen üblichen Bedingungen der weitgehenden Freiwilligkeit des Lernens gewährleistet, dass alle Kinder Basiskenntnisse in den Kulturtechniken erwerben und nicht bereits im Laufe der Volksschulzeit eine Karriere als ‚gute‘ oder ‚schlechte‘ SchülerInnen einschlagen.“55 Hören wir noch das zusammenfassende, in den Detailbereichen der Untersuchung gut begründete Ergebnis in Bezug auf soziale Fähigkeiten: „Alternative Volksschulklassen legen ausgezeichnete Fähigkeiten an den Tag, auch im Falle von Interessenkonflikten zu konsensuellen Entscheidungen zu kommen, ... Sie haben eine ausgeprägte Gruppenorientierung, sind gut in der Lage, sich auf den Entscheidungsprozess zu konzentrieren, unterstützen eine gemeinschaftsbezogene Moderatorenrolle einzelner Kinder und zeigen viel Phantasie bezüglich unterschiedlicher Lösungsmöglichkeiten von Konflikten. All dies gilt in gleichaltrigen Regelschulklassen in deutlich geringerem Maße, und zwar auch dann, wenn die Größe der Gruppe reduziert wird, wie es in Alternativschulen üblich ist. Allerdings fanden wir auch einzelne Regelschulklassen, die eine ähnlich gute Kommunikationskultur aufweisen wie die Alternativschulklassen. – Mädchen und Jungen lernen an Alternativschulen sehr ähnliche Verhaltensweisen. Sprachlich verfügen die Kinder über das Repertoire beider Geschlechter – die sonst beobachtete Bubendominanz, die auch in den untersuchten Regelschulklassen gegeben war, fehlt. Auch den späteren LehrerInnen an weiterführenden Schulen fallen besonders die Alternativschulmädchen als selbstbewusst und wenig rollenkonform auf. ... In weiterführenden Schulen, die offenere und partizipativere Formen des Lernens pflegen, sind Kinder aus Alternativschulen hochwillkommen, und diese Schulen werden von ehemaligen Al54 Fischer-Kowalski, Marina; Pelikan, Johanna; Schandl, Heinz (1995): Große Freiheit für kleine Monster: Alternativschulen und Regelschulen im Vergleich, Wien: Verlag für Gesellschaftskritik 55 Ebd., S.261f
352 Reformpädagogik
ternativschülerInnen auch bevorzugt. Sie gelten dort als selbstbewusst, offen, angstfrei, kreativ, teamfähig und zielgerichtet. Sie haben wenig disziplinäre Schwierigkeiten und sind in der Lage, ihren Leistungsrückstand insbesondere im Rechtschreiben innerhalb der ersten beiden Jahre aufzuholen.“56 Sowohl in der schulpädagogischen Diskussion allgemein wie in neueren Lehrplänen finden wir eine deutliche Option für die sozialen Zielsetzungen und das Persönlichkeitsbild, wie sie von den Alternativschulen intendiert sind. Die „Quadratur des Kreises“, nämlich die traditionelle Leistungskultur der Schule (was nicht notwendigerweise Leistungskult bedeuten muss) mit einer hohen Kultur der partizipativen Kommunikation zu verbinden, ist möglicherweise in Regel- wie in Alternativschulklassen erst ansatzweise gelungen. Der Hinweis der Forschergruppe auf „einzelne Regelschulklassen mit einer ähnlich guten Kommunikationskultur“ könnte – sofern diese im Bereich traditioneller Schulleistungen mit anderen Regelschulklassen ebenbürtig sind – durchaus als Zeichen dafür gewertet werden, dass die Entwicklung des einen Lernbereiches auch ohne Abstriche im anderen Bereich möglich ist. Die Balance zu halten, die Quadratur zu versuchen, bleibt in jedem Fall eine schulpädagogische Aufgabe.
6 Die Pädagogik der Alternativschulen im systematischen Überblick
Aspekte „Vorgeschichte“, Gründerpersönlichkeiten
Weltanschauung/politisch-pädagogischer Kontext Einflüsse
Erziehungsziel
Kind-Anthropologie/ Psychologie Lernbegriff(e)
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Ebd., S.162f
Begriffliche bzw. inhaltliche Bestimmungen Leo N. Tolstoi (1828-1910), seine freie Bauernschule „Jasnaja Poljana“; Paul Robin (1837-1912), sein anarchistisch-libertäres Waisenhaus in Cempuis; Francisco Ferrer (1859-1909), die Bewegung der „Escuela Moderna“; Alexander S. Neill (1883-1973), seine radikal-freiheitliche Schule und Lebensgemeinschaft „Summerhill“. Kapitalismuskritik; Kritik an den Verwerfungen der Industriegesellschaft; Studentenrevolte (1968) und Antiautoritarismus; neue soziale Bewegungen (ökologische Bewegung, Frauenemanzipation) und basisdemokratische Orientierungen; Demokratisierung der Gesellschaft. Politisch: Anarchismus, Basisdemokratie. Pädagogisch: Antiautoritäre Erziehung; Reformpädagogische Konzeptionen, vor allem Elemente von Peter Petersen (Stammgruppen, Gruppenarbeit) und Célestin Freinet („Freier Ausdruck“, Klassenversammlung, Ateliers u.a.). Autonomer Mensch, fähig zur Mit- und Selbstbestimmung; Demokratiefähigkeit, Fähigkeit zu „vernetztem Denken“ und (ökologische) Verantwortungsfähigkeit. Kindheit eine eigenwertige Phase mit Anspruch auf Glück, Selbstbestimmung, Geborgenheit (keine Orientierung an einer Entwickungslehre); Respektierung der kindlichen Bedürfnisse und Interessen. Dynamische Interaktion zwischen Umwelt und Selbst; ganzheitliches Lernen „mit allen Sinnen“; erfahrungs- und handlungsbezogenes Lernen; Betonen des sozialen Lernens; Lernfreude und Freiwilligkeit.
Die Pädagogik der Freien Alternativschulen 353
Erziehungsbegriff
Lehrer
Lehrplan
Methodisch-didaktische und organisatorische Momente
Antiautoritäre Einstellung; Hilfe zur „Selbstregulierung“; Unterstützung „innengeleiteter“, konkret geäußerter (nicht entwicklungstheoretisch abgeleiteter) Entwicklungs- und Lernprozesse. Partnerschaftliches Lehrer-Schülerverhältnis; Lehrer ist zurückhaltender „Prozessbeobachter“, Berater und (Mit-)Organisator kindlichen Lebens und Lernens. Kein spezifischer Lehrplan, aber Betonung fächerübergreifender Zusammenhänge und entsprechender Lernformen; Schwerpunkte: Einübung in Demokratie und ökologisches Lernen. Organisatorisch: Selbstverwaltung, starke Mitwirkung der Elternschaft; auf allen Ebenen Institutionen zur Diskussion, Entscheidungsfindung und Konfliktlösung; (meist) jahrgangsübergreifende Lerngruppen. Methodisch-didaktisch: Orientierung am Repertoire reformpädgogischer Lernformen, insbesondere: Projekt- und Gruppenarbeit, arbeitsmittelgestützte Einzelarbeit, Freiarbeit, freies Spiel, Ateliercharakter des Klassenraums, keine Noten- und Notenzeugnisse, stattdessen Lernberichte, Einbeziehung außerschulischer Lernorte.
„Neue“ Reformpädagogik 355
Kapitel 12
„Neue“ Reformpädagogik im Überblick. Schul- und Unterrichtskonzeptionen aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Wie in der komplexen Arbeitsdefinition zur Reformpädagogik in der Einleitung zu diesem Buch dargelegt, handelt es sich bei der Reformpädagogik um eine „unendliche Geschichte“. In der Literatur wird häufig von der „neuen“ Reformpädagogik und den „neuen Reformpädagogiken“ gesprochen, wenn es darum geht, entsprechende Entwicklungen nach dem Zweiten Weltkrieg zu untersuchen. Die „alte“ Reformpädagogik wird dann als „klassisch“ bezeichnet oder – wie in den Niederlanden – als „traditionell“. Gleichzeitig wird die „neue“ dann als irgendwie zeitgemäßer dargestellt in dem Sinne, dass sie eine moderne Antwort auf den gesellschaftlichen Wandel, insbesondere auf den dramatischen Wandel der Kindheit in der modernen Lebenswelt sei.1 Als Beispiele werden dann, etwa von Göhlich, genannt: Alternativschulpädagogik, Offener Unterricht, Community Education (die gemeinwesenorientierte Schularbeit), Reggio-Pädagogik. Die „neue“ Reformpädagogik ist gegenüber der „alten“ zweifellos in dem Sinne neu, dass ihre Entwicklung später, in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, erfolgte. Unter konzeptionellem Aspekt sind jedoch sämtliche von Göhlich zur Unterscheidung genannten Merkmale der „neuen“ bereits auch bei Teilen der „klassischen“ Reformpädagogik aufweisbar. Bei der von Göhlich vorgenommenen Charakterisierung der „klassischen“ Reformpädagogik handelt es sich denn auch um eine kaum gerechtfertigte Reduktion, teilweise gar eine Verzeichnung derselben.2 x
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Die den „neuen“ Reformpädagogiken zugeschriebene „multipersonale Urheberschaft“ zum Beispiel trifft auch auf verschiedene Richtungen der „klassischen“ Reformpädagogik zu – wie beispielsweise die Kunsterziehungs- und Arbeitsschulbewegung, Ansätze bei der Reform der Grundschularbeit (Kindgemäßheit, Gesamtunterricht), Richtungen der „Ecole active“ und die „Education Nouvelle“ in Frankreich, der Schweiz und Belgien. (Zudem trifft sie nicht auf alle Konzepte zu, die Göhlich in seinen Kanon der „neuen Reformpädagogiken“ aufgenommen hat. So wie es ohne Maria Montessori keine Montessori-Pädagogik gegeben hätte, so auch keine Reggio-Pädagogik ohne Loris Malaguzzi, den „Vater der Reggio-Pädagogik“. So jedenfalls wird Malaguzzi von vielen praktizierenden ReggioPädagoginnen genannt und gesehen.). Auch gibt es in der „klassischen Reformpädagogik“ schon sozialisationstheoretisch orientierte Ansätze, etwa bei Freinet und bei den sozialistischen Konzeptionen der Arbeitsschule (und eben nicht nur „normativ-anthropologische“). Das gleiche gilt für „vom Kind eingebrachtes Material“ als wesentliches Moment der Gestaltung der Lernumgebung, besonders in den Freinet- und Jenaplanschulen, ferner in allen Konzeptionen, die die Gruppenarbeit und projektorientiertes Arbeiten betonen, ansatzweise aber auch in der Praxis der Montessori-Pädagogik (also: in der „klassischen“ Reformpädagogik keineswegs nur „vom Erwachsenen vorgegebenes“ Material und eine von ihm weitgehend „pädagogisch normiert(e)“ Umgebung!). Der Aspekt „Kultur als äußere Umgebung“ spielt ebenfalls in fast allen „klassischen“ Konzeptionen eine große Rolle (und nicht nur „Natur“).
1 Göhlich, Michael (Hsg.) (1997): Offener Unterricht, Community Education, Alternativschulpädagogik, Reggiopädagogik. Die neuen Reformpädagogiken. Geschichte, Konzeption, Praxis, Weinheim und Basel: Beltz 2 Zum folgenden siehe: Ebd., S.21ff
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Auch andere von Göhlich genannte Unterscheidungsmerkmale sind m.E. nicht prinzipieller Natur: verstärkte Elternmitarbeit in den Belangen der Schule (in der Tradition der Jenaplanschulen schon von Anfang an zentral); Schule als gesellschaftlicher Ort (schon bei den meisten Vorläufern der „Freien Alternativschulen“ um die Wende vom 19./20. Jahrhundert; aber auch bei anderen gemäß dem reformpädagogischen Prinzip der „Lebensnähe“). Im Zusammenhang mit seinen Ansichten zur Disziplin als Unterscheidungsmerkmal – „Unsicherheit als Chance“ bei der „neuen“ und „Disziplin ohne Lehrereingriff“ bei der „klassischen“ Reformpädagogik – knüpft Göhlich eine geradezu abenteuerliche Assoziationskette. Er kommt hinsichtlich der „klassischen Reformpädagogiken“ zu dem Urteil: „Ohne dass sie dies reflektieren, geht es ihnen um eine Perfektionierung der (militärisch-)pädagogischen Ansprüche des 19. Jahrhunderts. Wie Montessori betont, ‚die diszipliniertesten Menschen werden die vollkommensten‘, so schreibt Freinet, die Schule der Zukunft werde die ‚best-disziplinierteste sein‘. Hier sind durchaus Übergänge zu Faschismus, Nationalsozialismus und Stalinismus vorstellbar.“ – Nun sind der Phantasie „naturgemäß“ keine Grenzen gesetzt. Vor der Konstruktion eines Zusammenhanges der „klassischen“ Reformpädagogik mit dem Faschismus und Stalinismus wäre aber doch eine theoretische Anstrengung angebracht, die den Unterschieden in den jeweiligen Konzepten von Disziplin nachgeht: Auf der einen Seite etwa die leidenschaftliche Bemühung zur Erkundung der pädagogischen Bedingungen, unter denen die Kinder „ohne Lehrereingriff“ zu „Disziplin“, das heißt zu einer inneren Ordnung, zu einer konstruktiven Arbeitshaltung und einem fruchtbaren Miteinander gelangen können; auf der anderen Seite eine kollektivistische Disziplinierung mit den Mitteln ästhetischer Verführung, Desinformation, ideologischer Indoktrination, mit Zwang, Gewalt, Einschüchterung, menschenverachtendem Terror.
Nicht beachtet wird dann auch, dass sich die „klassischen Reformpädagogiken“ – wie in den einzelnen Kapiteln oben aufgezeigt – weiterentwickelt, dass sie auf neue pädagogische Herausforderungen reagiert und zum Teil beispielhafte Lösungsansätze entwickelt haben, von denen längst unzählige Schulen außerhalb ihres engeren Kreises profitieren. Sie haben darüber hinaus weitreichende bildungspolitische Initiativen mitgeprägt (die Konzeption der „Basisschule“ etwa in Holland, in den 1980er Jahren die Grundschule in Nordrhein-Westfalen, später in Deutschland allgemein). Genannt seien Initiativen in den Bereichen: multikulturelle Erziehung (Freinet- und Jenaplanschulen); Integration Behinderter (Montessori- und Jenaplanschulen); Konzepte einer konstitutionell verankerten Mitbestimmung der Kinder (Freinetund Jenaplanschulen, Schulen der „Education Nouvelle“ in Frankreich); Öko-Pädagogik (in mehreren „klassischen“ Richtungen, in der Mentessoripädagogik im Rahmen der „kosmischen Erziehung“) und Integration von allgemeinem und berufsorientierendem Unterricht (Waldorfschulen); Entwicklung von – bei einer heterogenen Schülerschaft mehr und mehr notwendigen – individualisierenden Unterrichtsverfahren und Entwicklung der Schule zu einer motivierenden „Lernlandschaft“ (Montessori-, Daltonplan-, Jenaplan-, Freinetschulen). Und (fast) alle „klassischen“ Richtungen reagieren – ganz im Sinne ihrer Traditionen – auf den Wandel der Kindheit, indem sie einerseits mit der Betonung sinnenhafter Primärerfahrungen und sozialerzieherischer Aspekte ein kompensatorisches Gegengewicht schaffen zur sinnlich und sozial anregungsärmer gewordenen Umwelt, andererseits wichtige neuere Entwicklungen wie Computer, Internet, Medienentwickung in ihren pädagogischen Konsequenzen reflektieren. Die Unterschiede zwischen der „klassischen“ und der „neuen“ Reformpädagogik sind also m.E. nicht prinzipieller Natur. Dennoch kann von einer „neuen“ Reformpädagogik gesprochen werden in dem Sinne, dass in den letzten Jahrzehnten relativ selbständige, von der „klassischen“ Reformpädagogik unabhängige Initiativen zur Reform der Schule und des Unter-
„Neue“ Reformpädagogik 357
richts entstanden sind. Häufig war es so, dass die Kritik am Bestehenden und ein eher spontaner Reformwille am Anfang standen und erst in der Reflexion Anknüpfungspunkte zur „klassischen“ Reformpädagogik gesucht und gesehen wurden – so etwa bei der Gründung und Entwicklung Freier Alternativschulen in Deutschland und in anderen Ländern. Die Gründungswelle der Freien Alternativschulen stand in einem engen Zusammenhang mit dem (zum Teil spontaneistischen) Antiautoritarismus der späten 1960er und frühen 1970er Jahre. In diesem Kapitel geht es mir darum, an vier Beispielen neuere Schul- und Unterrichtskonzeptionen vorzustellen, die eine ideelle Verwandtschaft mit wichtigen Konzeptionen der „klassischen“ Reformpädagogik aufweisen oder sich als Weiterentwicklung früherer Ansätze verstehen. Allen Ansätzen der „neuen“ Reformpädagogik sind (mindestens) vier Prinzipien gemeinsam. x Sie betonen das Moment der Beteiligung der Schülerinnen und Schüler bei Fragen der Schul- und/oder Unterrichtsorganisation (Partizipation, Kooperation); x sie setzen auf eine umfassende Aktivierung des Schülers (Aktivitätspädagogik, Handlungsorientierung, Lernen mit allen Sinnen); x sie organisieren das Lernen oder Teilbereiche des Lernens schwerpunktmäßig um längerfristige Projekte mit dem Ziel, lernbereichs- bzw. fächerübergreifende Zusammenhänge ins Bewusstsein zu heben, x und sie legen einen besonderen Wert auf die pädagogische Sozialform der Gruppenarbeit. (Wegen ihrer prinzipiellen Bedeutung – „Lernen in Freiheit“ – habe ich den Freien Alternativschulen, die zur „neuen“ Reformpädagogik gerechnet werden können, aber tiefe historische Wurzeln haben, ein eigenes umfangreicheres Kapitel gewidmet.) Es handelt sich im Folgenden um relativ komplexe Konzeptionen, die eine gründlichere Auseinandersetzung, als es an dieser Stelle möglich ist, verdienen. x x
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Zunächst erinnere ich an die Renaissance der „Education Nouvelle“ in Frankreich, die inzwischen zu einer neuen, auch über die Grenzen des Landes (aber nicht nach Deutschland ausstrahlenden) Schulbewegung geführt hat. Die „Community-Education“ bzw. die gemeinwesenorientierte Erziehung ist ein bemerkenswerter Versuch, den reformpädagogischen Grundsatz der Verbindung von Leben und Lernen in einer umfassenden Weise zur Geltung zu bringen. Im Ansatz handelt es sich um eine Bewegung mit der zweifachen Intention, einerseits schulisches Lernen in eine engere Verbindung mit der Nachbarschaft oder der Gemeinde zu bringen sowie andererseits, die Schule als Lern- und Begegnungszentrum der ganzen Gemeinde auszubauen. Die „Reggio-Pädagogik“ kann als eine „neue“ Reformpädagogik angesehen werden, in der der „Freie Ausdruck“ (Freinet) oder „The creative selfexpression of the child“ – so der Konferenztitel der Gründungsversammlung der internationalen „New Education Fellowship“ in Calais 1921 – zu einer einzigartigen Form gefunden hat. Bei der „Storyline-Methode“ – dem jüngsten der hier vorgestellten Konzepte – handelt es sich um eine originelle Form der Projekt- oder Gruppenarbeit, in der die Lernprozesse um die Konstruktion einer komplexen „Geschichte“ gruppiert werden.
Andere in ihrem Anspruch und in ihrer didaktisch-methodischen Reichweite begrenztere Konzeptionen – wie Offener Unterricht, Freiarbeit, Wochenplanunterricht, Projektunterricht, Gruppenarbeit u.a. –, die meist ebenfalls zur „neuen“ Reformpädagogik gerechnet werden, thematisiere ich in einem eigenen Kapitel. Diese Konzepte sind – abgesehen von knappen Hinweisen auf historische Vorläufer – häufig ohne eine tiefergehende Analyse ihrer reformpädagogischen Bezüge entwickelt und eingeführt worden. Gerade auch diese begrenzteren
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Konzepte haben zur allmählichen Erweiterung des schulischen Lernbegriffs im allgemeinen beigetragen, weil sie ohne große Probleme und ohne den „ideologischen Ballast“ der „klassischen“ reformpädagogischen Schulkonzeptionen als Elemente in den Rahmen der Arbeit an „normalen“ öffentlichen Schulen integriert werden können und integriert werden. So trägt die pragmatisch orientierte Reformarbeit an den Schulen dazu bei, dass die „didaktisch-methodische Normalform“ der „Alten Schule“ ihr strenges Profil nach und nach verliert, und insgesamt offener wird für Anregungen aus dem gesamten Bereich einer demgegenüber anderen Pädagogik.
1 Zur Renaissance der „Education Nouvelle“ in Frankreich. Das Beispiel der Schule „La Prairie“ in Toulouse Vorbemerkung: Die großen bildungspolitischen Debatten in Frankreich werden noch immer bestimmt vom Gegensatz zwischen staatlichen und privaten (das heißt vor allem: kirchlichen) Schulen. Die eigentlich pädagogischen Fragen, wie sie in Deutschland unter dem Begriff „Innere Schulreform“ geführt werden, bleiben davon aber weitgehend unberührt. Sowohl in den staatlichen als auch kirchlichen Schulen dominiert das Bild der alten didaktisch-methodischen Normalform der Schule mit seinen Momenten der Konkurrenz (Leistungsdruck), der starken Fachorientierung des Unterrichts, der Lehrerdominanz mit frontaler Positionierung Lehrer/Schüler. Die mit diesem System strukturell verbundenen Probleme des Schulversagens („Sitzenbleiben“) werden in Frankreich breit diskutiert. In jeder Buchhandlung finden sich mehrere Bücher, in den größeren ein eigenes Regal, zum Thema „échec scolaire“ (Schulversagen). Das öffentliche Interesse hat inzwischen zu partiellen Verbesserungen (z.B. Förderunterricht) geführt, nicht aber zu einer grundlegenden Reform des Systems selbst. Lediglich in dem äußerst facetteneichen, umfangmäßig aber sehr bescheidenen Sektor des alternativen Schulwesens und an einigen staatlichen Schulen finden sich interessante Ansätze zur pädagogischen Neugestaltung von Schule.3 „La Prairie“4, Ecole & College (1, Rue des Nefliers, F-31400 Toulouse), habe ich im Herbst 1994 für zwei Tage besucht. Diese in einem Toulouser Vorort gelegene Privatschule für Kinder und Jugendliche im Alter von etwa 4 bis 16 Jahren gehört der 1972 gegründeten „Association Nationale pour le Developpement de l‘Education Nouvelle“ (ANEN) an. Diese Vereinigung ist ein recht lockerer Zusammenschluss und umfasst einen Kreis von etwa 10 eingetragenen Schulen. Ferner besteht eine mehr oder weniger intensive Zusammenarbeit mit einigen weiteren Schulen. Die Anzahl der beteiligten Schulen schwankte seit Gründung der ANEN stark. Zuweilen gab es Abspaltungen auf Grund von Meinungsverschiedenheiten. Die Schulen der ANEN sehen sich in der Tradition der französischen Education Nouvelle. Sie betonen die Spontaneität und Autonomie des Kindes, plädieren dafür, das Kind nach seinem eigenen Rhythmus leben und lernen zu lassen, ermutigen Kooperation und gegenseitige Hilfe, kultivieren eine nach außen hin offene Pädagogik (Pédagogie des sorties, des voyages), öffnen sich neuen sozialen Bewegungen, betonen partizipatorische, demokratische und emanzipatorische Momente. Insgesamt kann das pädagogische Konzept als eine Verbindung der traditionellen romanischen Linie der Reformpädagogik (Gruppenarbeit und Aktivitätspädagogik nach Ferrière, Cousinet u.a.) mit den im Gründungszeitraum der ANEN aktuellen basisdemo3
Skiera, Ehrenhard (1996): Länderstudie Frankreich, in: Seyfarth-Stubenrauch, Michael und Skiera, Ehrenhard (1996): Reformpädagogik und Schulreform in Europa, 2 Bände, Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 4 Max Collet e.a.(1986): "Copie non conforme". Quinze ans à La Prairie, école nouvelle, Toulouse: Edouard Privat
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kratischen und emanzipatorischen Ideen angesehen werden. Das „Programme Maximum“ der ANEN ist durch und durch von jenem radikal-liberalen Geist geprägt, wie er im Zuge der um das Jahr 1968 in allen westlichen Industrieländern einsetzenden (meist studentischen) Protestbewegungen gegen autoritäre Strukturen in den Institutionen (Hochschule, Schule, Familie, Politik) und der Gesellschaft insgesamt zum Ausdruck kam. Sie stehen in ihrem Selbstverständnis also den Freien Alternativschulen in Deutschland nahe mit dem Unterschied, dass sie eher als jene historisch vermittelte Erfahrung ausdrücklich reflektieren und praktisch einbeziehen. „La Prairie“ – der Name erinnert an den Mythos der Freiheit, die in der Prärie herrscht – ist ein bemerkenswertes Beispiel für die praktischen Schwierigkeiten, mit denen ein radikaler Reformwille mit utopischen Zügen zu kämpfen hat; sei es wegen mangelnder Unterstützung (Finanz- und Raumnot, ideologische Distanz zum schulischen Umfeld, einengende administrative Vorgaben) von außen, sei es wegen „hausgemachter“ interner Probleme, sei es wegen der hohen Erwartungen auf seiten der Eltern, die ihre Kinder nach einem Versagen („échec scolaire“) im öffentlichen System (oder des öffentlichen Systems?) in diese Schule schicken. „La Prairie“ und die anderen Schulen der ANEN können nur auf dem Hintergrund der übrigen Staatsschulen bzw. der kirchlich geprägten Privatschulen, von deren Pädagogik sie sich bewusst absetzen, angemessen verstanden werden. Bei meinem Besuch konnte ich feststellen, dass „La Prairie“ eine Reihe von innovativen didaktisch-methodischen Momenten integriert hat, die in den übrigen Schulen Frankreichs bisher kaum anzutreffen sind, die dem deutschen Beobachter und dem Kenner etwa des dänischen oder niederländischen Schulwesens aber durchaus vertraut sind: Anordnung von Tischgruppen für jeweils 4 oder 6 Schüler anstelle einer frontalen Ausrichtung der Bänke, fächerübergreifende Unterrichtsprojekte, im Unterricht eine starke Schülerbeteiligung und Gruppenarbeit, institutionelle Formen der Schülermitbestimmung auf Klassen- und Schulebene, entwickelte und phantasievolle Formen der Freiarbeit, eine partnerschaftliche Schüler-Lehrer-Beziehung, anstelle von Notenzeugnissen eine ausführliche verbale Beurteilung. Als didaktische Schwerpunkte sind zu nennen: der hohe Stellenwert kreativer Arbeit in Literatur, Musik, Theater, bildnerische Techniken; Unterricht in einer Fremdsprache (Englisch oder Spanisch) bereits in der „Ecole Maternelle“ (entspricht in etwa der Stufe des deutschen Kindergartens); Öko-Pädagogik. Von der pädagogisch-politischen Aufbruchstimmung, die aus den frühen programmatischen Dokumenten der Gründungszeit der Schule spricht, ist heute nur noch wenig zu bemerken, wenn auch – wie angedeutet – der beträchtliche Abstand zu den sonstigen Schulen bemerkenswert bleibt. Das Anwachsen der Schülerschaft auf etwa 500, die beengten räumlichen Verhältnisse, die recht großen Klassen (25 bis 30 Schüler) haben zu einem Regelungsbedarf geführt, durch den das ursprüngliche Konzept in der Praxis relativiert werden musste. Nach der Pause zum Beispiel müssen sich die Schüler klassenweise an einem bestimmten Platz aufstellen, wo sie von der Lehrkraft abgeholt werden. In den Stunden selbst haben die Lehrer mit den üblichen Disziplinproblemen zu kämpfen. Ein Konsens über das gemeinsame Interesse ist naturgemäß in großen Klassen nur schwer herzustellen, eine „Pädagogik des Interesses“ im Sinne von Decroly nur schwer zu realisieren. Hinzu kommen die Probleme von Kindern, die besonderer Zuwendung und Förderung bedürfen. Wie häufig an reformpädagogisch orientierten Schulen, sammeln sich hier Kinder, die aus den verschiedensten Gründen an den „normalen“ Schulen nicht zurechtkommen. In den Klassen des Primarbereichs sind jeweils kleine Gruppen (ca. 5 Schüler) mit sonderpädagogischem Förderbedarf integriert, die zeitweise aus dem übrigen Unterricht herausgenommen und separat unterrichtet werden. Das schafft zusätzliche organisatorische, didaktische und soziale Probleme, die nach meinem Eindruck die Arbeit erheblich belasten. Die Lehrkräfte selbst halten den separaten Förderunterricht für effektiv, sehen aber auch die Probleme. Manche würden eine differenzierende Förderung innerhalb der Klasse einer externen vorziehen. Hinsichtlich der Integrationsproblematik besteht zweifellos Diskussions- und Entwicklungsbedarf. Ein weiteres Problem besteht hinsichtlich der Or-
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ganisation der Partizipation. Der Partizipation der Schülerinnen und Schüler wird ein hoher Stellenwert beigemessen und sie ist durch eine Reihe von Institutionen (Klassenrat, Delegiertenversammlung, Generalversammlung) verankert. Möglicherweise bedingt durch die Entscheidungs- und Verwaltungszwänge einer großen Schule, ist eine gewisse Entfremdung von Verwaltungsebene und pädagogischer Ebene festzustellen. (Mir ist nicht bekannt, ob und in welcher Weise diese Probleme, die in Gesprächen immer wieder transparent wurden, im Sinne einer kritisch-konstruktiven Selbstreflexion und Selbst-Evaluation der Organisation zur Sprache gebracht werden.) Trotz der angedeuteten Probleme handelt es sich nach meinem Eindruck um eine lebendige, kreative, den sozialen Problemen zugewandte Schule mit einem engagierten Lehrerteam, das in den grundsätzlichen pädagogischen Orientierungen übereinstimmt. Gleichwohl scheint der Traum von einer anderen Schule, die den ursprünglichen Intentionen besser entspricht und in der die Entfremdung zwischen persönlichem Leben und beruflicher Arbeit aufgehoben oder gemildert ist, bei vielen Lehrkräften lebendig zu sein. Über den jeweils aktuellen Stand der Entwicklung der ANEN-Schulen informiert die Vereinigung (Anschrift: wie die Schule) oder das jährlich neu herausgegebene Handbuch „Des Ecoles Différentes“ von Roger Auffrand.5 Nach einer Internetrecherche haben die Ideen der „Education Nouvelle“ in den letzten Jahren auch in anderen Ländern zu entsprechenden Schulversuchen geführt (auf den Philippinen und in Kolumbien), möglicherweise mit inspiriert durch die Renaissance der „Education Nouvelle“ in Frankreich.6
2 „Community-Education“ – Gemeinwesenorienierte Erziehung in der Schule Es scheint nicht gerade einfach zu sein, sich einen Überblick über die heutige Bedeutung des Begriffs „Community Education“ und über die unter diesem Nenner stattfindenden Entwicklungen zu verschaffen. Meine Internetrecherche am 6. Mai 2002 zu diesem Begriff ergab 392.000 Einträge, eine Reduzierung des Suchauftrages auf Einträge in der Titelzeile (allintitle: „Community Education“) immer noch 11.000. Die pure Quantität der – meist nordamerikanischen – Einträge lässt schon einen ersten Schluss zu. Es handelt sich um einen äußerst populären Begriff, der – möglicherweise – auch einen äußerst wichtigen Sachverhalt bezeichnet. Bei einer Durchsicht stellt sich heraus, dass auf den entsprechenden „Homepages“ die Gemeinden unter diesem Begriff sämtliche Schul- und Bildungseinrichtungen zum Teil einschließlich der gegenwärtig laufenden oder angebotenen Programme verzeichnen, also „Community Education“ als „Educational Programs in the Community“. In manchen Texten finden sich dann aber auch definitorische Aussagen zur Community Education, wie sie in der europäischen Diskussion in modifizierter Form aufgegriffen und gebraucht werden. Viele der einschlägigen Vereinigungen zur Förderung der Community Education in den USA legen ihrer Arbeit ein Verständnis zugrunde, wie es 1991 in den „Community Education Principles“ der „National Coalition for Community Education“ formuliert ist: Es geht darin um den Auf- und Ausbau7 von: Selbstbestimmung: gezielte Förderung von Partizipation der Eltern in allen schulischen Angelegenheiten, Selbsthilfe: Förderung der Fähigkeit zur Verantwortung und Unabhängigkeit, 5
Auffrand, Roger: Des Ecoles Différentes et des Alternatives Educatives, Jahrbuch, Paris: agence informations enfance 6 Guttmann, Cynthis (1999): Les bonnes leçons de l‘Ecole nouvelle, in: Courier de l‘UNESCO, 1999/6 (auch im Internet) 7 Vgl.: Wisconsin Department of Public Instruction: Community Education Principles (im Internet)
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Führungsqualitäten: Förderung politisch-organisatorischer Fähigkeiten der Gemeindebürger(innen) als Voraussetzung für eine kontinuierliche Gemeindeentwicklung, Lokalitäten: wohnortnahes Angebot an Dienstleistungen, Bildungsprogrammen, Veranstaltungen usw. als Voraussetzung für eine hohe Akzeptanz in der Bevölkerung, Vernetzung: enge Kooperation von Einrichtungen, die der Förderung des Gemeinwohls dienen, Ressourcen: Maximale Vernetzung und Nutzung sächlicher, finanzieller, humaner Ressourcen, „Inklusivität“: Integratives Angebot für alle Bürgerinnen und Bürger, gleich welchen Alters, Einkommens, Geschlechts, gleich welcher Rasse, ethnischer Herkunft und Religion als Voraussetzung zur „vollen Entwicklung“ der Gemeinde; „Responsibilität“: Abstimmung der Angebote auf die wirklichen, wandelbaren Bedürfnisse und Interessen der Adressaten; Lebenslanges Lernen: Bereitstellung eines vielfältigen formellen und informellen Lernangebotes für alle Altersstufen. Unter allen Aspekten ist dann der Gedanke wichtig geworden, die Angebote in einer zentralen Einrichtung zu bündeln, gleichsam als Integrations-, Kristallisations- und Identifikationspunkt der Gemeinde. Damit ist die Hoffnung verbunden, zur Integration auseinanderstrebender Gruppen, zur Überbrückung von mentalen und sozio-kulturellen Gegensätzen beizutragen. Zu diesem Zweck erschien die Konstruktion eines neuen „Glaubens“ wichtig, dessen Notwendigkeit durch den raschen Wandel der Gesellschaft eine zusätzliche Legitimation erhielt: Lernen ist für jeden und in jedem Alter eine wichtige und sinnvolle Beschäftigung. Nachdem die „Kirche“ ihre „katholische“ Funktion – das heißt ursprünglich: „das Ganze, alle betreffend“ (von griechisch: katholikós) – verloren hat, schien die multifunktionale Schule, das „Bildungszentrum“, jetzt geeignet, zur sozialen Integration beitragen zu können. Der neue „Tempel“ ist der Tempel des Lernens. Dort können sich alle Menschen ohne Vorbehalte treffen, wenn sie nur in irgendeiner Hinsicht lernwillig sind oder wenigstens den Willen haben, sich mit anderen „an einen Tisch zu setzen“ und gemeinsamen Interessen nachzugehen. Community Education hat also neben dem Sinn einer maximalen Mobilisierung und „Erziehung“ des Einzelnen einen gesellschaftspolitischen Sinn: es ist der Intention nach die Erziehung der Gemeinde als Ganzes zu einer funktionstüchtigen sozialen Einheit, also „Education of the Community“. Der Aspekt der „Gemeindeerziehung“ findet sich auch in den europäischen Konzepten wieder. Historisch gesehen geht die Bewegung der Community Education zurück auf eine Initiative des Jahres 1935, die in Flint, Michigan, zur Behebung ökonomisch mitbedingter sozialer Probleme (Arbeitslosigkeit, Abwanderung, Jugendkriminalität) ergriffen wurde.8 Nach der Idee von Frank Manley, zuständig für die Bereiche Sport und Freizeit in den Schulen von Flint, und mit der finanziellen Unterstützung eines Gönners („Mott Foundation“) wurden die Schulen zum Zwecke einer breiteren Nutzung für verschiedene Bildungsprogramme „geöffnet“. Das war die Geburtsstunde des Konzeptes der Community School. In der Folgezeit wurden zum Teil andere Begriffe synonym verwendet. Alle akzentuieren sie die Öffnung der Schule auf die Bildungsbedürfnisse der ganzen Gemeinde hin: „The open-door-policy“ („Politik der offenen Tür“), „the lighted school house“ (es ist „beleuchtet“, nämlich abends), „the Neighborhood school“ (Nachbarschaftsschule). – Letzterer Name wird auch in Deutschland aufge-
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Vgl.: Hiemstra, Roger (1997): The Educative Community: Linking the Community, Education and Family, Baldwinsville, NY: HiTree Press (auch im Internet)
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griffen und in einem programmatischen Sinne gebraucht, z.B. im Falle der „Nachbarschaftsschule Leipzig“.9 Community Education geschieht am besten in der „Community School“, die in sich die beiden zentralen Bildungsbereiche aufnimmt, nämlich den schulischen Pflichtbereich und den nach Neigung und Bedürfnis genutzten Bereich für alle Mitglieder der Gemeinde, auch der Kinder und Jugendlichen. Die innere Vernetzung der beiden Bereiche kann in sehr verschiedenen Graden gedacht und entwickelt werden, so dass die Community School als ein Ort erscheint, x wo am späten Nachmittag und am Abend in den sonst ungenutzten Räumlichkeiten (Ressourcennutzung!) der öffentlichen Schule zahlreiche Kurse für alle Altersgruppen angeboten werden, von der Spiel- und Bastelgruppe für die Kleinen (vielleicht zusammen mit Eltern und Großeltern) am frühen Nachmittag über die Selbsterfahrungsgruppe oder den Geburtsvorbereitungskurs für werdende Mütter am späteren Nachmittag und schließlich der Seniorenclub am Abend (vierzehntägig oder wöchentlich); parallel in anderen Räumen ein eher formelles schulischen Angebot zum nachträglichen Qualifikationserwerb oder kulturelle Veranstaltungen und so weiter. Wie aus den im Internet zahlreich veröffentlichten Programmen und Nutzungsplänen zu ersehen, beschreibt das in etwa die gängige Praxis der „Community School“. Vermutlich gibt es dann kaum Berührungspunkte zwischen beiden Bereichen und falls doch, allenfalls als Störung; x wo im Bereich der Pflichtschule Allgemeinbildung verstanden wird als ein Lernen mit der vorrangigen Intention, – wie es im ersten Punkt der Zielformulierung des deutschen „Verein(s) zur Förderung von Community Education“ heißt –, „Schule und Gemeinwesen zusammen zu bringen und Lernen mit Blick auf lokale und regionale Entwicklungen zu gestalten.“10 Das ist freilich nicht gebunden an eine räumliche oder institutionelle Integration der beiden Bereiche. Aber in der neuen Community School sind idealiter „Schule und Gemeinwesen“ als eine Versammlung Lernender bereits zusammengebracht. Eine fruchtbare Verbindung könnte entstehen. In radikaler Ausprägung würde das Prinzip der Gemeinwesenorientierung den endgültigen Abschied von einem als allgemein verbindlich betrachteten Kanon klassischer Bildung bedeuten, es sei denn, man tolerierte schwache Bezüge, etwa lateinische Grabinschriften auf dem Alten Friedhof als Motiv für einen Intensivkurs in Latein. Durch die nachbarschaftliche Nähe der Bildungsangebote „unter einem Dach“ mit den daran beteiligten Menschen wird vielleicht schon ein „Gemeindebewusstsein“ bei den Schülerinnen und Schülern angebahnt. Möglicherweise ist es dadurch auch leichter, erzieherisch bedeutsame und didaktisch fruchtbare Kontakte zu Menschen anzubahnen, die mit ihrer Person wichtige Fragen und Entwicklungen repräsentieren und dabei helfen können, Zugänge zu außerschulischen Lernorten zu erschließen. Die Schwierigkeiten bei der Realisierung solcher Konzepte dürften jedoch beträchtlich sein. Die einzelne Lehrperson kann zwar gelegentlich durchaus die Schüler hinaus und zu außerschulischen Lernräumen führen oder Experten von außerhalb in die Schule hereinholen. Ein dauerhafter Erfolg wäre jedoch nur dann gewährleistet, wenn die intendierte Verbindung Schule-Gemeinde nicht nur programmatisch, sondern curricular, institutionell und organisatorisch abgesichert wird. Dazu sind zusätzliche Sach- und Personalmittel, Kommissionen und Vereine zur Bearbeitung von Teilaspekten und eine entwickelte interne und nach außen reichende Kommunikations- und Partizipationsstruktur uner9
Fuchs, Sylvia und Marlow, Katharina (1997): Öffnung nach innen und außen. Zwei Seiten gemeinwesenorientierter Pädagogik in der Nachbarschaftsschule Leipzig, in: Göhlich a.a.O.,1997 10 Verein zur Förderung von Community Education e.V. COMED: Wir über uns. Was ist Community Education, im Internet; Anschrift: Burgholzstraße 150, 44145 Dortmund. Der Verein veröffentlicht auch eine Liste mit beispielhaften „Schulen der Demokratie“ in Deutschland.
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lässlich. – Über die diesbezüglich rückläufigen Entwicklungen bei Mittelknappheit in englischen Schulen, die in den 1970er und 80er Jahren beispielgebend gewirkt haben, gibt ein Erfahrungsbericht Auskunft.11 – Am Rande sei aber bemerkt, dass auch Variante a) mit erheblichen Schwierigkeiten zu rechnen hat. Nicht ohne weiteres ist ein von einer Gruppe vielleicht individuell gestalteter Schulraum auch für andere Aktivitäten zu nutzen. Multifunktionalität des Raumes hat in jedem Fall ihren Preis und steht dem u.U. wichtigen pädagogischen Aspekt der Identifikation einer Schulklasse mit ihrem Raum entgegen. Klaus Reinhardt hat in einer gründlichen historisch-systematisch angelegten Untersuchung unter Einbeziehung internationaler Entwicklungen den Diskurs um die Community Education in Deutschland aufgearbeitet. Er stellt sieben Merkmale einer Gemeinwesenorientierung bzw. „Öffnung der Schule“ heraus:12 x x x x x x x
Entwicklung und aktive Gestaltung der Wechselwirkung zwischen Schule und sozialem Umfeld, auch in der Erwartung, dass sich die Gemeinde der Schule gegenüber öffnet und Lern- und Bewährungsfelder in ihrem Raum bietet; Ausbau der Schule zu einem multifunktionalen sozio-kulturellen Zentrum, als Kristallisationspunkt vielfältiger sozialer Beziehungen im Medium von Bildung, Kultur, Geselligkeit, Sport, Freizeit; Entwicklung von Curricula, die verstärkt die lebensgeschichtlichen Hintergründe, Interessen, aktuelle Ereignisse und die jeweilige Umwelt berücksichtigen; Entwicklung der institutionell verankerten (Beteiligungsrechte) und informell gepflegten Kooperation von Elternhaus und Schule; Verknüpfung von Lernorten, wobei auch darauf zu achten ist, dass die „Nachbarschaftsschule“ der Gefahr von „Kleinräumigkeit“ entgeht und einen erweiterten Erfahrungsraum einbezieht; Einbeziehung von Laienpädagogen in den Unterricht, also die Anwerbung von „Experten“ aus dem Kreis der Freunde, der Familie, der Bekannten, der Nachbarn; Kooperation Schule-Sozialpädagogik/Jugend- und Sozialarbeit, damit Öffnung der Schule gegenüber der Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen mit ihren eigenen, den Erwachsenen häufig unbekannten ästhetischen Formen, Verhaltensweisen, sozialen Problemen und Gefährdungen.
Anknüpfungspunkte für Reformen im Sinne einer gemeinwesenorientierten Arbeit in der Schule allgemein sieht Reinhardt darin, bereits praktizierte Ansätze entsprechend auszubauen. „Zum einen geht es um die Möglichkeit, die an einigen Schulformen schon bekannten und bisher einseitig auf betriebliche Erfahrung abzielenden Praktika um gesellschaftliche Praktika zu erweitern (etwa Sozialpraktika in Einrichtungen der Freien Wohlfahrt, in Selbsthilfegruppen, karitativen Vereinen, Kirchengemeinden, im Krankenhaus usw. – E.S.). Zum zweiten wird an ein verstärktes Lernen in Projekten gedacht, das die zeitliche und stoffliche Fragmentierung schulischen Lernens tendenziell aufhebt und die Möglichkeit eröffnet, auch außerunterrichtliche Formen des Lernens aufzunehmen. Und zum dritten können Exkursionen, Klassenfahrten und Schullandheimaufenthalte als Anknüpfungspunkte für eine umfassende Strategie einer Diversifizierung der Lernorte genutzt werden.“13 11
Hofmann, Klaus T. (2000): Community Education revisted. Noch einmal. Nach Coventry und zurück, in: Nachbarschaft und Schule – Zeitschrift für Community Education, 15/Mai 2000 (Beitrag auch im Internet) 12 Reinhardt, Klaus (1992): Öffnung der Schule. Community Education als Konzept für die Schule der Zukunft?, Weinheim und Basel: Beltz, S.167-199 13 Reinhardt, a.a.O. (1992), S.200
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Sucht man nach beispielhaften Ansätzen der „Community Education“ in Deutschland so ist an erster Stelle zweifellos die als Schulversuch geführte „Nachbarschaftsschule Leipzig“ (gegründet 1991) zu nennen. Sie ist aus Initiativen der Bürgerbewegung „Neues Forum Leipzig“ im Sommer 1989 – die Zeit unmittelbar vor der politischen Wende – hervorgegangen. In der „Initiative Nachbarschaftsschule Leipzig e.V.“ wurde das Konzept einer reformpädagogisch orientierten Schule entworfen. Bewusst wurden Momente aus verschiedenen Konzeptionen integriert. Die „Schulchronik“ verzeichnet als Vorbilder: Community Education, Praktisches Lernen, Jenaplan-, Freinet- und Montessoripädagogik. Im Jahre 2001 konnte die Schule auf ihr zehnjähriges Bestehen und eine kontinuierliche Entwicklungsarbeit zurückblicken. Die Schule begann ihre Arbeit mit 86 Kindern, 5 Lehrerinnen, einem Lehrer, einer Erzieherin und der Schulleiterin. Im September 2001 wurde die Schule von 430 Schülerinnen und Schüler in 20 Klassen der Jahrgangsstufen 1 bis 10 besucht. Nach den vorliegenden Berichten zu schließen handelt es sich um eine reich entwickelte Schulkultur, die in ihre Arbeit wesentliche methodische Aspekte aus den genannten „klassischen“ Richtungen der Reformpädagogik integriert hat (Jahrgangsübergreifende Lerngruppen, Fächervernetzung, individualisierende Lernformen, Klassenrat, Lernen in Projekten, notenfreie Lernerfolgsrückmeldung u.a.) und allen von Reinhardt herausgearbeiteten sieben Kriterien zur Community Education entspricht. Ein besonderer Akzent im Selbstverständnis und in der Arbeit liegt in der Beachtung von Problemen sozial benachteiligter Gruppen.14 – Die Schule hat inzwischen eine erfahrene Schülergruppe zur Verfügung, die dabei hilft, den anwachsenden Besucherstrom in geregelte Bahnen zu lenken.
3 „Reggio-Pädagogik“ – Erziehung und Persönlichkeitsentwicklung im Medium vielfältig reflektierter kreativer Tätigkeiten Vorbemerkung – Impressionen von einer Studienreise: An einem Vormittag im September 1999 besuchte ich zusammen mit einer Studentinnengruppe nicht „Reggio Emilia“ in Norditalien, den Geburtsort jener nach dieser Stadt benannten, bisher vor allem im Bereich der Vorschule praktizierten Pädagogik, sondern Keuruu, einen mittelgroßen Ort in Finnland. Liisa Puurula hatte uns in ihre Klasse, die dritte Stufe der neunjährigen Grundschule, eingeladen. Nach der Begrüßung konnten wir den Beschäftigungen der Kinder zuschauen und mit ihnen sprechen (soweit das möglich war). Die Kinder zeigten auch ein lebhaftes Interesse an uns und stellten Fragen auf Englisch. Auf den ersten Blick sah ich nichts Ungewöhnliches. Die Kinder arbeiteten mit Ruhe und Konzentration „ohne Lehrereingriff“ an ihren Aufgaben aus dem Bereich „Bildende Kunst“. Sie holten Herbstblätter von draußen, untersuchten ihre Farben und Strukturen und stellten einen Abdruck in einer feuchten Tonplatte her. Nach Fertigstellung der Arbeiten widmeten sich einige Kinder anderen Aufgaben, Schreiben und Rechnen. Die Kinder bewegten sich frei und diszipliniert im Raum, sprachen leise miteinander, mit der Lehrerin oder mit uns. Der Klassenraum war zu einer „Lernlandschaft“ gestaltet, verschiedene Bücher und Arbeitsmittel standen den Kindern zur Verfügung, die Wände waren geschmückt mit Arbeiten der Kinder aus den Bereichen Kunst und Sprache (Geschichten), auf einem Tisch lag eine mit Fotos und Texten versehene Dokumentation verschiedener Unterrichtsprojekte der Klasse. Neben dem Klassenraum befand sich ein kleines Atelier für künstlerisches Arbeiten, von dem aus man direkt nach draußen gelangen konnte. – Alles in allem fand ich mich in einer pädagogischen Atmosphäre wieder, die mir aus vielen Besuchen an reformpädagogischen Schulen (vor allem an Freinet-, Jenaplan -, und Freien Alternativschulen) verschiedener Länder und an manchen deutschen Grundschulklassen längst vertraut war. 14
Vgl. Fuchs/Marlow, a.a.O. (1997). Die „Nachbarschaftsschule Leipzig“ ist mit ausführlichen Informationen auch im Internet präsent.
„Neue“ Reformpädagogik 365
Und doch gab es einige Besonderheiten, die mich veranlassen, die „vielfältige Reflexion“ als das besondere Merkmal der „Reggio-Pädagogik“ herauszustellen. Liisa Puurula arbeitet seit 1986 nach diesem Ansatz und versucht – auch durch Aktivitäten in der Kommunalpolitik und in der Lehrerfortbildung –, für diese Pädagogik und insbesondere für ihre Anpassung und Verbreitung in finnischen Grundschulen zu werben. Die „auf den zweiten Blick“ auffallenden Besonderheiten lassen darauf schließen, dass hinter der geradezu „natürlich“ anmutenden Atmosphäre ein dezidierter pädagogischer Gestaltungswille steht, der als der Versuch angesehen werden kann, eine neue Form des „Erziehenden Unterrichts“ zu entwickeln: x
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Die Lehrerin lässt die Kinder nach der Erklärung der bildnerischen Techniken zwar in Ruhe arbeiten, verwickelt sie aber immer wieder in Gespräche über ihr Tun – nicht in der Weise einer Belehrung oder Korrektur, sondern als Anregung zur (sprachlichen) Reflexion ihres Tuns. Die Lehrerin fotografiert die Kinder beim Arbeiten, und zwar in verschiedenen Stadien der Entstehung des Produktes; sie fotografiert auch uns, z.B. wenn wir mit den Kindern sprechen. Die Lehrerin hält uns ein Referat über die Reggio-Pädagogik (in Englisch) unter Einsatz von Folien und Dias, und zwar während des „Unterrichts“. Gelegentlich gibt ein Kind, das an Hand der Dias die gerade besprochene Situation erkennt (und wiedererkennt, denn es handelt sich zum Teil um Bilder aus dem Unterricht der Klasse) einen Kommentar und die Lehrerin übersetzt ihn für uns. Vielleicht verstehen manche Kinder auch die Erläuterungen der Lehrerin, denn sie spricht ein sehr einfaches Englisch – wie ich heute weiß durchaus in der Absicht, dass zumindest einige Kinder dem Referat folgen können. Der Vortrag im Klassenraum wurde von der Lehrerin und den Kindern als Anlass genommen, mit uns über ihre eigene Arbeit nachzudenken. An den Wänden werden Arbeiten der Kinder, Bildwerke, Geschichten, Gedichte in ansprechender Form gezeigt – nichts Ungewöhnliches. Dies aber ist bemerkenswert: unter den Arbeiten ist eine zusätzliche, von den Urhebern verfasste Information angebracht, die Auskunft gibt über die Identität des Autors bzw. der Autorin mit Name und Anschrift. Außerdem enthält sie Hinweise zu den Werken. Manche davon sind als Entstehungsgeschichte der Geschichte oder des Bildwerkes zu lesen. Jedes Kind (und die Besucher der Klasse) können sich an Hand der sorgfältig gestalteten Dokumentationsbände ein je eigenes und durch Gespräche mit Mitschülern oder Nachfragen auch zu vertiefendes „Bild“ von der Projektarbeit der letzten Jahre machen. Jetzt wird deutlich, welchen Sinn das Fotografieren hat. Die Dokumentation dient nicht Außenstehenden und Besuchern zur Information oder Legitimation (das wohl auch, aber nicht in erster Linie), sondern der eigenen Reflexion.
Die Dokumentation hat die pädagogische Funktion einer „reflexiven Schleife“ des fragenderinnernd-forschenden Bewusstseins, indem sie in Wort und Bild die Lerngeschichte repräsentiert. Auf verschiedenen Wegen – informell durch gelegentliches Betrachten oder gezielt durch Gruppengespräche im Kreis oder Einzelgespräche mit der Lehrerin – können sich die Kinder und die Lehrerin ihrer eigenen Erfahrungen vergewissern. Alle können an allem was in der Gruppe geschieht teilhaben. Das Ausstellen der Arbeiten und die Gespräche mit den Kindern, in unserem Fall auch der Expertenvortrag von Liisa Puurula, dienen dem gleichen Zweck. Schließlich ist anzunehmen, dass die Kinder ihre Arbeiten mit einem hohen Grad an Bewusstheit ausführen, weil sie zahlreiche Anregungen zu bildlichen und begrifflichen Reflexionen erhalten, sowohl gezielt als auch „indirekt“ durch die verschiedenen Repräsentationen ihrer Tätigkeiten (ggf. auch mittels Video- und Tonbandaufzeichnungen). Philosophisch ge-
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sprochen handelt es sich bei der Betrachtung und beim Gespräch um die reflexive Vergewisserung, gleichsam um die symbolische Rekonstruktion des Geschehens und so um die Konstruktion eines realistischen Selbst- und Weltbildes, mithin um die Generierung von Lebenssinn auf der Grundlage von Lebenserfahrung. Das beginnt in den Kindertagesstätten in Reggio Emilia schon im „Spiegeldach“, unter dem die Kleinen, wenn sie hineinkriechen, ihr Bild in mehrfacher Spiegelung erleben. Wie andere Konzeptionen der Reformpädagogik scheint auch die Reggio-Pädagogik sich als Kristallisationspunkt einer persönlichen Identifikation anzubieten, die weit über die Gewinnung einer pädagogischen Existenz hinausreicht. Liisa Puurula veröffentlichte 1997 einen persönlich gehaltenen Erfahrungsbericht, in dem sie über ihren Weg als Erzieherin und Mensch Auskunft gibt: „Eine Reise zu meinem Bewusstsein. Ein Forschender Lehrer auf der Suche nach seiner eigenen Lebensart in Keuruu und Reggio Emilia“. Darin heißt es im Vorwort: „Ich bin Klassenlehrerin, Lehrer-Forscherin und Kommunalpolitikerin. ... Diese Untersuchung reflektiert meine Lebensgeschichte. In sieben Kapiteln, ich nenne sie ‚Tage‘, lasse ich in Form von Dialogen die letzten dreißig Jahre meines Lebens an mir vorbeiziehen, um meine eigenen Vorstellungen über den Menschen, das Wissen, das Lernen, die Kunsterziehung und die Welt zu erforschen.“15 Bei der Reggio-Pädagogik handelt es sich um die originelle Verwirklichung eines „Erziehenden Unterrichts“, wie er von Dietrich Benner im Anschluss an Herbart beschrieben wurde: Erziehender Unterricht zielt darauf, „das Lernen von Kenntnissen (Unterricht) mit der Entwicklung eines reflektierten Selbstverhältnisses der Kinder zum Gelernten (Erziehung) zu verbinden und so eine Handlungskompetenz zu fördern, die Sach- und Sozialkompetenz umfasst.“16 Es scheint mir daher gerechtfertigt zu sein, die ansonsten sehr facettenreiche ReggioPädagogik vor allem als den Versuch zu kennzeichnen, Erziehung und Entwicklung im „Medium vielfältig reflektierter kreativer Tätigkeiten“ zu konstituieren. Reflexives Lernen ist im Prinzip auch in Hinsicht auf andere, das heißt nicht- oder weniger kreative Tätigkeiten möglich, sofern deren Sinn dem Kind einleuchtend ist oder vermittelt werden kann.
Das Konzept der Reggio-Pädagogik umfasst in Theorie und Praxis im Wesentlichen die folgenden eng aufeinander bezogenen Momente:17 Bild des Kindes: Alle Kinder sind bereit und in der Lage, mit Neugier, Interesse, Phantasie, Forschergeist und Leidenschaft ihren Lernprozess mit zu gestalten, sich an sozialen Interaktionen zu beteiligen und mit der Umwelt in einen konstruktiven Dialog einzutreten. Kinder sind „aktive Konstrukteure ihres eigenen Wissens“.18 Das Kind übt sich in „hundert Sprachen“, das heißt in einer Vielzahl von Ausdrucksmöglichkeiten: Mimik, Gestik, bildnerische und künstlerische Tätigkeiten, Symbole, logische Urteile, Aufbau von Beziehungen, Imagination, ethische Urteile, Metaphorik. 15 Puurula, Liisa (1997): Mieleni matka. Tutkiva opettaja omaa elämäntapaansa etsimässä Keuruulla ja Reggio Emiliassa, Jyväskylä: yliopstopaino, aus dem Vorwort (Titel in der engl. Zusammenfassung: A Journey to My Mind. A teacher researcher on a journey in Keuruu and Reggio Emilia to find her way of living) 16 Benner, Dietrich (1989): II. Baustein: Erziehender Unterricht, in: Wittenbruch, Wilhelm (Hsg.) (1989): Das pädagogische Profil der Grundschule, Heinsberg: Agentur Dieck, S.84 17 Ich stütze mich auf die bereits genannte Literatur, zudem auf Informationsmaterial aus der Ausstellung „The Hundred Languages of the Child“, zum Teil zugänglich im Internet; ferner: Gandini, Lella (1993): Fundamentals of the Reggio Emilia Approach to Early Childhood Education, National Association for the Education of Young Children (Internetversion) 18 Vgl.: Lingenauber, Sabine (2001): Einführung in die Reggio-Pädagogik, Bochum: projekt verlag, S.23ff
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Rolle des Erziehers/der Lehrerin: Die Erzieherin versucht, in einer Haltung höchster Aufmerksamkeit gegenüber den Bedürfnissen und Interessen der Kinder Lernanlässe aufzugreifen, zu initiieren und in komplexe Lernprozesse einmünden zu lassen (Lernen in Projekten). Sie ist mit „Auge und Ohr“ bei den Kindern. Sie achtet besonders auf die ästhetische Gestaltung des Raumes. Wichtige Aufgaben sind ferner: umfassende Dokumentation des Lernprozesses; intensive Kooperation mit allen an der Erziehung der Kinder Beteiligten; Verbindungen Herstellen zwischen Schule, Elternhaus und Gemeinde (umfassende Kooperation auf allen Handlungsebenen). Emergentes Curriculum (Emergenz: „das Hervorkommende“); Projektarbeit: Das Curriculum geht aus dem Leben der Kinder hervor. Anknüpfungspunkte für Projekte können etwa sein: Unterhaltungen der Kinder untereinander und mit der Lehrerin, Ereignisse in den Familien oder in der Gemeinde, neu auftauchende oder der Lehrerin bereits bekannte Interessen der Kinder. Dabei bilden sich wertvolle Traditionen (bewährte in der Literatur vielfach beschriebene Projekte: das Platanenblatt, Löwenprojekt, Weinlese, unsere Stadt, Regen, „Was macht der Wind, wenn er nicht pustet?“ u.a.), aber kein fester Kanon des Lernens, denn alles wird auf die jeweilige Situation hin neu reflektiert (permanente Curriculumrevision auf der Basis neuer Einsichten in die Interessen und die Lebenswelt der Kinder). Projekte haben den Charakter von Entdeckungsreisen, die das vorhandene oder geweckte Interesse vertiefen. Sie können sich über eine Woche bis zu einem ganzen Jahr erstrecken. Lernen im Rahmen multimedialer Repräsentationen (im Prozess) und Präsentationen (im Ergebnis): Die Kinder werden ermutigt, alle ihre „hundert“ Sprachen zu gebrauchen. Drucken, bildnerisches Arbeiten, technisches Konstruieren, Bauen, dramatischer Ausdruck (in Wort und Gebärde), Musik, Tanz, Puppenspiel, Schattenspiel sind wichtige Mittel zum Aufbau von Erfahrung und zum Erwerb einer vielseitigen „Intelligenz“ (kognitiv, sozial, emotional, psychomotorisch, linguistisch, mathematisch, bildnerisch, musikalisch). „Atelierista“ und Arbeitsatelier: Die „Atelierista“ ist eine besonders ausgebildete Kunsterzieherin. Sie steht in enger Kooperation mit den übrigen Lehrerinnen in einem eigenen Atelier der Schule (bzw. in der vorschulischen Einrichtung) allen zur Verfügung. „Kunst“ bzw. der Gebrauch der „hundert Sprachen“ wird als wesentlicher Bestandteil kognitivsymbolischen Ausdrucks und des Lernens überhaupt betrachtet. Zusammenarbeit: Die Arbeit in kleineren oder größeren Gruppen wird in zweifacher Hinsicht als wesentlich angesehen: sie fördert das Gefühl der Zugehörigkeit mithin soziale Fähigkeiten und das Bewusstsein für das individuelle Selbst. Dokumentation als symbolische Repräsentation und Reflexion des Geschehens: Die sorgfältig arrangierten Dokumentationen erfüllen mehrere Funktionen: „sie sensibilisieren die Eltern für die Erfahrungen ihrer Kinder und halten ihr Interesse daran wach; sie erlauben es dem Lehrer oder der Lehrerin, die Kinder besser zu verstehen und die eigene Arbeit zu evaluieren, sind also ein Mittel zur Entwicklung der eigenen professionellen Fähigkeiten (Lehrer/in als Forscher/in – E.S.); sie erleichtern die Kommunikation und den Gedankenaustausch in der Gruppe der Lehrkräfte; sie bringen den Kindern zu Bewusstsein, dass ihre Anstrengungen durch andere gewürdigt werden; sie sind zusammen ein Archiv, das die Geschichte der Schule, die Lernfreude und den Prozess des Lernens vieler Kinder und ihrer Lehrerinnen nachzeichnet.“19 Die Umgebung als „dritte Erzieherin“: Neben (1.) den anderen Kindern und (2.) den Erwachsenen (Eltern und Lehrerinnen) wird die Umgebung als „dritte Erzieherin“ angesehen. „Die Lehrerinnen organisieren den Raum für kleinere oder größere Gruppenprojekte und sie schaffen kleine intime Räume für ein, zwei oder drei Kinder. Die Dokumentation der Arbeiten, Pflanzen, Sammlungen, die Kinder nach ihren früheren Ausflügen angelegt haben dienen sowohl dem Auge der Kinder wie auch dem Auge der Erwachsenen. Der Gemeinschaftsraum steht allen Kindern der Schule zur Verfügung; es gibt einen Theaterraum und Arbeitstische, 19
Gandini, a.a.O. (1993)
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an denen Kinder aus verschiedenen Klassen zusammenkommen.“20 Bei der Innenraumgestaltung und besonders bei Neubauten wird auf Transparenz geachtet: Mauerdurchbrüche und Glastüren erlauben den „Durchblick“. Geachtet wird auf eine Ausgewogenheit zwischen Intimität und binnenschulischer Öffentlichkeit. – Zur „Umgebung“ gehört schließlich als wesentlicher Faktor auch der außerschulische Raum.
Es handelt sich um eine anspruchsvolle pädagogische Konzeption, deren Realisierung in einer entwickelten Form ein komplexes Netzwerk der binnenschulischen und außerschulischen Kooperation und Kommunikation zur Voraussetzung hat. In Reggio-Emilia ist über die Jahre ein solches Netzwerk entstanden. So steht den Kindertagesstätten u.a. ein Team von „Pädagogischen Koordinatoren“ zur Verfügung. Sie unterstützen die Kooperation zwischen allen Lehrern, Eltern, der Gemeinde und den Behörden. Ein wichtiges Anliegen ist die permanente berufliche Fortbildung. Sechs Stunden der wöchentlichen Arbeitszeit von 36 Stunden sind der Fortbildung gewidmet. Das gilt für die Erzieherinnen sowie auch für das weitere Personal wie Köchinnen und Hausarbeiterinnen.21 Die Reggio-Arbeit in Keuruu ist die Spur einer großen Erziehungsbewegung, die ihren Anfang Mitte der sechziger Jahre in der Gemeinde Reggio Emilia im Norden Italiens genommen hat, eine Gemeinde, die auf eine lange sozialistisch-kommunistisch geprägte Geschichte und Kommunalpolitik zurückblickt. Inzwischen unterhält die Stadt 20 Tagesstätten für Kinder zwischen drei und sechs Jahren und 13 Kleinkinderzentren für Kinder im Alter zwischen 4 Monaten und 3 Jahren. Der Initiator der Bewegung, ihr wichtigster Theoretiker und Begleiter bis zu seinem Tode 1994 war Loris Malaguzzi. Nicht ohne Lokalstolz wird in einer Broschüre der Gemeinde über das Echo berichtet, das ihr System und ihr pädagogisches Konzept der Kindertagesstätten weltweit gefunden hat. Mit ein Grund für das wachsende Interesse war und ist die Ausstellung „Die 100 Sprachen der Kinder“ mit beeindruckenden phantasievollen Kinderarbeiten aus diesen Einrichtungen. Die Ausstellung wird in zwei Versionen (eine europäische und eine nordamerikanische) in der Welt gezeigt. Die Folge ist ein nicht abreißender Besucherstrom nach Reggio. „Von Januar 1981 bis Februar 1996 besuchten etwa 575 Delegationen aus aller Welt das System der Elementarerziehung in Reggio Emilia.“22 Alleine aus Schweden kamen ca. 120, aus den übrigen skandinavischen Ländern etwa 100, aus Deutschland etwa 60 Delegationen – bis 1996 insgesamt ein Besucherstrom von 9200 Personen aus den verschiedensten Bereichen des Erziehungs- und Bildungswesens von der Kinderkrippe bis zur Universität sowie aus der Bildungspolitik. Es ist möglich, dass zum zweiten Mal in der Erziehungsgeschichte Italien zum Ausgangspunkt wird einer weltweiten Erziehungsbewegung, die – wie zuerst die Montessoripädagogik – zunächst eine Reform des Elementarbereichs anstrebte. In verschiedenen Ländern sind Entwicklungen im Gang, die ReggioPädagogik auch in den Primarbereich hineinzutragen, zum Teil mit Unterstützung seitens der Schulbehörden. In Deutschland wurde Ende 1995 der Verein „Dialog Reggio – Vereinigung zur Förderung der Reggio-Pädagogik in Deutschland“ gegründet.23 Im Internet funktionieren auf internationaler Ebene bereits zahlreiche Diskussionsgruppen zum Thema.
20
Nach Informationsmaterial aus der erwähnten Ausstellung (engl., im Internet) Vgl. Lingenauber, a.a.O. (2001), S.71 22 Municipality of Reggio Emilia (1996): The Municipal Infant-Toddler Centers and Preschools of Reggio Emilia. Historical notes and general information, Reggio Emilia: Reggio Children Srl, S.23 23 Aktuelle Informationen dazu im Internet. 21
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4 Die „Storyline-Methode“ – Lernen im Rahmen der Konstruktion einer komplexen Geschichte Vorbemerkungen: In der Literatur werden zahlreiche Synonyme zum Begriff „Storyline Methode“ gebraucht: „Scottish Method“, „Glasgow Method“, „Topic studies“, „thematisch onderwijs“ und „verhalend onderwijs“ (in den Niederlanden: „thematischer“ bzw. „erzählender“ Unterricht), „Storyline-Modell“, „Scottish Storyline Method“ oder entsprechende Wortverbindungen mit „Approach“ bzw. „Ansatz“. Im Wesentlichen geht es darum, gegen die Zersplitterung in schulische Einzelfächer und Einzelstunden (und die damit häufig einhergehende Demotivation der Schülerinnen und Schüler) ein projektartiges Lernen zu entwickeln, in dem über die „story“ ein motivierender Zusammenhang zwischen einzelnen Lernbereichen und Lerninhalten hergestellt wird, und zwar in der Weise eines dynamischen, in den Einzelheiten unter Beteiligung von Lehrern und Schülern sich entwickelnden Geschehens. Durch die Einbettung des Unterrichtsgeschehens in eine „storyline“ – oder genauer: durch das aktive, mit vielfältigen Medien und Aktionen gestützte „Schreiben“ der Geschichte – wird ein hoher Grad an Integration erreicht: Integration der Lerninhalte (sie gruppieren sich um den Leitfaden der Geschichte), des Lernraums (der Klassenraum wird zur gemeinsamen „Bühne“ des Geschehens), der Lernzeit (partielle Aufhebung des 45-Minuten-Rasters) und der Lerngruppe (alle sind am Fortgang des Projekts, beim „Schreiben“ der Geschichte, beteiligt). Mit vollem Recht könnte ein weiteres Synonym der Methode eingeführt werden, das die pädagogische Intention besser als die anderen zum Ausdruck bringen würde: „Integrative Education“ oder ausführlicher – wegen des inflationären Gebrauchs des Begriffs einer integrativen Erziehung – „The Storyline Approach of Integrative Teaching and Learning“. An dieser Stelle geht es mir in erster Linie darum, die Grundlinien des Konzeptes zu zeigen. Es handelt sich zwar „nur“ um eine Variante des Projektunterrichts, die als solche auch im Kapitel über die Erweiterung des Lernbegriffs im diesbezüglichen Abschnitt ihren Platz hätte finden können. Einige Gründe sprechen aber dafür, es mit einem eigenen Abschnitt unter die „neue“ Reformpädagogik aufzunehmen und so stärker hervorzuheben. Es ist zeitlich gesehen ein neuer Ansatz, der erst in den letzten etwa 20 Jahren außerhalb Schottlands größere Aufmerksamkeit erlangte. Es handelt sich um einen originellen Ansatz mit einer durchaus eigenen Struktur und Begrifflichkeit. Zahlreiche pädagogische Motive aus dem reformpädagogischen Umkreis sind darin wiederzuerkennen. Es zeichnet sich unter dem Nenner „Storyline“ die Entwicklung einer internationalen pädagogischen Bewegung ab mit eigenen Kongressen, Diskussionsforen und Fortbildungsveranstaltungen, so dass nach und nach ein weites Feld für theoretische und empirisch orientierte Forschungen entsteht. Ich halte es für möglich, dass sich das Unterrichtskonzept in der Zukunft zu einem Schulkonzept weiterentwickelt, indem mehr und mehr Lernbereiche integriert werden und das Schulleben von hier aus eine neue Prägung erhält. Wie der Name und die Hinweise in den synonym gebrauchten Bezeichnungen schon zeigen, handelt es sich dem Ursprung nach um ein in Schottland, genauer in Glasgow entwickeltes Unterrichtskonzept. Die Urheberschaft gebührt einer Gruppe von Dozenten am damaligen „Jordanhill College of Education, Glasgow“: Steve Bell, Sallie Harkness und Fred Randell. (Das College ist später in die „Faculty of Education of the University of Strathclyde“ umgewandelt worden.) Die Gruppe wurde Mitte der 1970er Jahre vom „Scottish Consultative Councel on the Curriculum“ mit der Aufgabe betraut, Ansätze zu entwickeln, die es ermöglichen würden, die bisher übliche enge Fachorientierung des Unterrichts im Sinne eines sinnvollen integrativen Lernens zu überwinden. In enger Kooperation mit Klassenlehrern und mit anderen für das Curriculum verantwortlichen Personen entstand in langjähriger experimenteller Arbeit und Erprobung die „Storyline-Methode“.
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Über die anfänglichen Intentionen und die Ausgestaltung des Ansatzes schreibt Sallie Harkness: Neben der Integration des Curriculums ging es auch darum, einen „eher kind-zentrierten Ansatz zu entwickeln, der weniger an den Gebrauch der ungeeigneten Lehrbücher gebunden ist. Das Hauptgewicht sollte auf die Schaffung von geeigneten Kontexten im Klassenraum gelegt werden (appropriate classroom contexts), in denen Schüler die spezifischen Fähigkeiten und Konzepte (Begriffe) erlernen und zugleich eine positive Einstellung zum Lernen überhaupt entwickeln könnten. Die Storyline-Methode stellt eine Planungsstruktur für Erfahrungen im Klassenraum zur Verfügung, die der Lehrerin/dem Lehrer die Sicherheit gibt, dass die Schüler das Wissen, die Fähigkeiten und die Haltung erwerben, die sie/er vermitteln wollen. Die Methode bietet auch praktische Strategien zu ihrer Implementation an, die sich in der Erprobung mit Klassen, Gruppen und Einzelpersonen als praktikabel erwiesen haben. Die Methode folgt bestimmten Sequenzen und sichert Fortschritt und Erfolg (progression), indem sich das (vom Lehrer vorgeschlagene – E.S.) Thema entfaltet. Gleichwohl liegt im Fortgang der Storyline eine Flexibilität darin, dass die Anworten der Schüler einen wesentlichen Anteil an der Gesamtentwicklung haben. Ein charakteristischer Zug dieses Ansatzes besteht in dem hohen Stellenwert, den vorhandene Erfahrungen und vorhandenes Wissen der Schüler einnehmen. Ebenfalls bedeutend ist das Maß der Einbeziehung der Schüler beim Lösen von Problemen sowohl auf der imaginativen als auch auf der praktischen Ebene. Die StorylineMethode konfrontiert die Schüler mit Fragen und Problemen anstatt Anworten zu geben auf Fragen, die die Schüler nie gestellt haben. Die Schüler und der Lehrer erforschen die Ideen gemeinsam. Der Ansatz ist wesentlich experimentell und konstruktivistisch. Er integriert das Curriculum, indem die Umgebung und soziale Gegebenheiten als ein Anreiz zur Erforschung genommen werden. Dabei werden bildnerische Künste (expressive arts) und Sprache als Mittel der Diskussion, der Beschreibung und der Erklärung von Sachverhalten verwendet. Die Fähigkeiten zum Forschen und Auffinden von Beziehungen werden entwickelt indem die Schüler ermutigt werden, Antworten und Informationen auf verschiedenen Wegen zu suchen: mündlich, durch das Betrachten von Dias, Videoaufzeichnungen usw., durch den Gebrauch von Datenbanken, das Studium von Büchern, Plakaten und Fotografien. Wenn die Themen entwickelt werden, dokumentieren die Schüler ihre Ideen, ihre Ansichten und Anworten in visueller und schriftlicher Form. Auf diese Weise entstehen im Klassenraum eine ausdrucksstarke (von allen mit- und je nach Fortgang des Prozesses umgestaltete – E.S.) Ausstellung („display“: etwa in Form von Bildcollagen, Texten und dreidimensionalen figürlichen Darstellungen – E.S.) sowie individuelle Arbeitsergebnisse. Das ermöglicht einen Rückblick und die Evaluation des Ganzen, wenn die Storyline abgeschlossen ist. In dem Maße wie sich die Selbständigkeit und Verantwortungsfähigkeit auf Seiten der Schüler erhöht können Eltern in verschiedener Weise in das Geschehen einbezogen werden: als Besucher oder ‚Experten‘, die an der Feier auf dem Höhepunkt der thematischen Arbeit teilnehmen, als Helfer während eines Besuches außerhalb der Schule, als Helfer bei der praktischen Arbeit in der Klasse und bei der Dokumentation und Anordnung der Arbeitsergebnisse der Schüler.“24
In diesem komplexen Geschehen spielen verschiedene aufeinander eng bezogene Momente eine tragende und motivierende Rolle: „Storyline“. Das narrative Grundmuster, der Leitfaden der Geschichte. Die Grundstruktur wird (in der Regel) vom Lehrer entwickelt und vorgegeben und beinhaltet folgende Momente: „Basic idea“. Eine tragende Idee, das Thema („topic“) häufig im Sinne eines „Plot“, eines spannendes Momentes, das den Ausgang (noch) offen lässt; 24
Harkness, Sallie (1993): How the Storyline Method came to be ..., www.storyline.org (Internet)
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„Main charakters“. Hauptcharaktere, Akteure der Geschichte. Das können Personen oder Tiere sein. „Setting“, „Time and Place“. Zeit und Raum der Geschichte. „Episodes“. Die einzelnen Abschnitte, „Kapitel“, Episoden der Geschichte. Hier liegen die eigentlichen Aufgaben, Aktivitäten und Gestaltungsmöglichkeiten der Lerner. „Key Questions“. Schlüsselfragen, mit denen die Episoden eingeleitet werden. Es handelt sich nicht um Fragen, die eine eindeutige Antwort ermöglichen. Sie sollen die Phantasie des Kindes beflügeln, seine Aktivität und seinen Forschergeist herausfordern, zu weiteren Fragen auf Seiten des Kindes anregen. (Intelligente Schlüsselfragen werden als der Dreh- und Angelpunkt des Prozesses betrachtet.) „Incidents“. Zwischenfälle, besondere Vorkommnisse sorgen für neue Probleme und bieten so motivierende Anreize zum Weiterlernen und –arbeiten. Typische äußere Merkmale sind: Collagen: Die Haupt- und Nebenfiguren der Geschichte werden in Form von veränderbaren figürlichen Arrangements (nichts ankleben!) in zwei- oder dreidimensionaler Form, ggf. mit Gegenständen und Modellanfertigungen angeordnet. Das sind die Ergebnisse der Arbeit Einzelner oder von (Klein)Gruppen. „Frieze“. An der Wand werden die Produkte der Arbeit als Wandfries, als „Großcollage“ präsentiert. Sie kann durch das Beistellen von Tischen auch dreidimensional gestaltet werden. Der Fries dokumentiert den zeitlichen und inhaltlichen Verlauf des Projektes. Ein festlicher Höhepunkt als Abschluss: Das Projekt wird mit einem Fest, einer Ausstellung, einer Theateraufführung oder einem Ausflug usw. abgeschlossen. Evaluation: Ein abschließendes Gespräch oder prozessbegleitende Gespräche bieten Gelegenheit zur Besinnung.
Es könnte scheinen, dass durch das vom Lehrer vorgegebene Grundmuster der zu realisierenden Story den Schülerinnen und Schülern nur ein recht begrenzter Entfaltungsraum zugemessen würde. Fehse und Kocher bemerken dagegen: „Obwohl der Handlungsrahmen einer Storyline von der Lehrkraft vorstrukturiert ist, bleibt den Lernenden reichlich Spielraum, einzelne Aspekte der Handlung nach ihren eigenen Vorstellungen individuell und frei auszugestalten: Sie entwerfen die Personen, geben ihnen eigene Namen und eine selbst erfundene Identität (z. B. Hobby, Beruf, Lebensumstände) und gestalten das jeweilige setting sowie zahlreiche weitere Details. Auf diese Weise können Schülerinnen und Schüler ihre eigenen Kenntnisse, Ideen und Fertigkeiten einbringen, während sich gleichzeitig auch die Rolle der Lehrenden entscheidend verändert: Ihre Aufgabe ist nicht mehr in erster Linie, Wissen frontal zu vermitteln und zu überprüfen, sondern die Lernenden individuell zu beraten, Anregungen zu geben, die verschiedenen Lernaktivitäten und -materialien im Klassenzimmer bereitzustellen und zu koordinieren sowie sich am Prozess des gemeinsamen ‚Geschichtenmachens‘ zu beteiligen. Lehrende und Lernende gestalten gemeinsam eine Geschichte und tragen damit gleichzeitig auch zu einem veränderten Lernklima bei. Das Storyline-Konzept verleiht dem Unterricht inhaltliche und thematische Kohärenz, so dass er von den Lernenden nicht nur als lose Folge von unverbundenen Einzelstunden erlebt wird. Für die Lehrenden ist es ein Leitfaden für die unterrichtlichen Aktivitäten: Mit Hilfe von key questions können sie die Handlung strukturieren, einzelne Episoden einleiten und Impulse geben. Key questions sollen offen sein in bezug
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auf die Antwort und die Klasse zum Bilden von Hypothesen und zum selbständigen Lösen von Aufgaben anregen.“25 Um eine erste Vorstellung von den konkreten Möglichkeiten der Storyline-Methode zu vermitteln, beziehe ich mich auf eine Unterrichtseinheit an einer amerikanischen Grundschule. Die Repräsentanten der Grundschule (Elementary School) in Bend, Oregon, sehen im Ansatz der Storyline-Methode – ganz im Sinne des Urteils von Fehse und Kocher – mehr als nur eine „neue Methode“, sondern eine „Philosophie und einen komplexen Prozess mit dem Ziel, das bisher eher vom Lehrer gesteuerte Lernen in eine Richtung zu entwickeln, die dem Schüler größere Möglichkeiten zur Mitgestaltung einräumt“ („from teacher directed learning to a more student driven one“). Als Beispiel erwähnen sie das für die amerikanische Geschichte zentrale Thema „Oregon Trail“, die große Route nach Westen, auf der – neben anderen wichtigen Routen – die Eroberung und Kultivierung des weiten Raumes und die Unterwerfung der Urbevölkerung vonstatten ging. „Die Lernenden werden Pioniere, die ihre Heimat im Osten verlassen, um sich im Westen anzusiedeln. Die Reise verlangt von den Schülerinnen und Schülern Nachforschungen zu der Frage, warum Menschen wegziehen, welche Vorräte gebraucht werden, welche Regeln auf der Route zu befolgen sind, welches die möglichen Schwierigkeiten und Herausforderungen sind. Sorgfältig geplante Episoden bringen die Lernenden dazu, im Rahmen der Storyline Grundfertigkeiten anzuwenden („basic skills“ – gemeint sind die „Kulturtechniken“ Lesen, Schreiben und Rechnen – E.S.). Die Geschichte motiviert die Lernenden, diese Fähigkeiten weiter auszubauen und sie für den Gebrauch im ‚wirklichen Leben‘ weiterzuentwickeln.“26 Weitere Einzelheiten werden an der zitierten Stelle nicht mitgeteilt. Mit einiger didaktischer Phantasie lässt sich aber erkennen, welche dramaturgischen, inhaltlich-curricularen und organisatorisch-methodischen Möglichkeiten und Herausforderungen in der Geschichte etwa zum Thema „Familie Jefferson zieht mit ihren sieben Kindern nach Westen“ liegen: Untersuchungen zur wirtschaftlichen Situation der Siedlungswilligen; Geographie; Wirtschaftsgeographie; Geometrie; (historische) Biologie; allerlei Berechnungen; Modellanfertigungen; Rollenspiele zur Planungsphase mit Überzeugungsversuchen oder Vorbehalten seitens eines Ehepartners; Ängste der Kinder, der Verwandten; Abschiedsszenen; Begegnungen mit verzweifelten, feindseligen oder kooperationswilligen Ureinwohnern; kulturanthropologische Fragen; Kunsthandwerk der „Native People“; ihre Situation heute; Unbill und Hoffnung auf der Fahrt; Ankunft und Anfang usw. Kurz: ein beeindruckender Fries mit Darstellungen der Episoden könnte entstehen, das lebendige Panorama eines wichtigen Ausschnittes der amerikanischen Geschichte. Ferner könnten in der Abschlusspräsentation oder im Abschlussfest einfließen: Dialoge, Rollenspiele, Theater, Musikalisches, Tanz, Poesie, Referate, Fernsehfilme, selbst hergestellte Videofilme und Interviews, Diaschau, Ausstellung von Archivfotos, alte Zeitungen usw. – Auch in den Beispielen der deutschen und internationalen Literatur zur Storyline-Methode kommt der klassische literarische Odyssee-Topos, die abenteuerliche Reise, zu hohen Ehren – aus gutem Grund, denn die Reise, eine fiktive oder eine real mögliche, kann als „Line“, „Band“, nahezu alles mit allem in Verbindung bringen. Reisen kann, weil es zu unbekannten Ufern führt, als Metapher für das Lernen überhaupt genommen werden. Inzwischen haben sich in vielen Ländern (vor allem: in den nordischen Ländern, in den Niederlanden, in Deutschland, in Hong Kong, in den USA) eigene Kreise von Anhängern dieser Methode gebildet, die je eigene Schwerpunkte setzen. In Deutschland wird dieser Ansatz vor
25 Fehse, Klaus Dieter und Kocher, Doris (ca. 2000): Fremdsprachenunterricht nach dem Storyline-Konzept, www.acskive.dk/storyline/Germany/ph-freiburg.html 26 Smith, Elaine und Vallerga, Colleen (1997): The Scottish Storyline Method, at Buckingham Elementary, http://beta.open.k12.or.us/mars/marsssm1.html
„Neue“ Reformpädagogik 373
allem im Fremdsprachenunterricht erprobt.27 In Dänemark wird betont, dass sich die Entwicklung weit von dem ursprünglichen schottischen Vorbild entfernt hat, das an enge curriculare Vorgaben gebunden sei und sich deswegen kaum weiterentwickeln konnte.28 Das heißt, dass in Dänemark der Aspekt „der Lernende als Mitkonstrukteur oder ‚Co-Designer‘ seiner Lernund Lebensgeschichte“ eine stärkere Berücksichtigung finden kann. Im Zusammenhang mit dem Programm der „Storyline Methode“ ist ein Begriff in die Pädagogik eingesickert, der bisher eher in der Modebranche, im Kunsthandwerk und in der Industrie beheimatet war: „Design“. Da es keinen Lehrgang im herkömmlichen Sinne mehr gibt, wird die sorgfältige Planung oder „Zeichnung“ der Story tatsächlich zu einem wichtigen Angelpunkt des Ganzen, denn bereits hier müssen die verschiedenen pädagogischen Ansprüche zusammengebracht werden: die mehr oder weniger eng formulierten curricularen Vorgaben, die „Herstellung“ eines inhaltlichen Zusammenhanges, die Erfindung einer „Storyline“ bzw. eines dramaturgischen Leitfadens als Rückgrat einer dauerhaften Motivation, die Interessen der Lernenden, ihre Bedürfnisse im Hinblick auf ihr Leben in Gegenwart und Zukunft, die Erwartungen der Eltern. Die „European Association for Educational Design“ (EED), eine internationale pädagogische „Designer-Vereinigung“ widmet sich der Grundlegung und Propagierung der „Storyline-Idee“, veröffentlicht neue Storylines und stellt „Designern“ ihres eigenen Curriculums hilfreiche Anleitungen zur Verfügung.
5 Exkurs: Anmerkungen zum Zusammenhang zwischen „neuer“ sowie „klassischer“ Reformpädagogik und Konstruktivismus Die Reggio-Pädagogik mit ihrem Konzept der „100 Sprachen der Kinder“ und des Kindes als „aktiver Konstrukteur seines Wissens“ sowie die „Storyline-Methode“ entsprechen in mancher Hinsicht dem modernen erkenntnistheoretischen Konstruktivismus (Heinz von Foerster, Ernst von Glasersfeld, Humberto Maturana u.a.). Weniger ausgeprägt gilt das auch für andere Konzeptionen der „neuen“ sowie ebenso für die „klassische“ Reformpädagogik. Denn die Akzentuierung einer „Pädagogik vom Kinde aus“ muss, sofern sie sich selbst ernst nimmt, in eine kritische Distanz zu jeglichem im vorhinein festgelegten „objektiven“ Bildungskanon geraten. Die radikale Ausprägung des Konstruktivismus geht von der Annahme aus, dass es keine außerhalb des menschlichen Bewusstseins bestehende „objektive“ Realität gibt bzw. dass die Annahme ihrer Existenz erkenntnistheoretisch ohne Bedeutung ist. „Der Traum der Realität“29 bildet sich nur im individuellen Bewusstsein und zwar nach Maßgabe der im Gehirn (im „Denken“) wirkenden Regeln. Realität ist immer eine je eigene, vom Selbst geschaffene, das heißt subjektive „Konstruktion“ von Wirklichkeit und nicht etwa die individuelle symbolische Rekonstruktion einer objektiv vorhandenen Welt. Das Beharren auf einem „objektiven“ Curriculum, das über mehr oder weniger erzwungene Aneignungsprozesse in die gegebene „objektive“ Welt einführt, wäre demnach aus radikal-konstruktivistischer Sicht eine erkenntnistheoretisch unhaltbare Position, eine anachronistische Reduktion und eine machtgestützte Vergewaltigung des individuellen Bewusstseins. Da die „Konstruktion“ von Gemeinsamkeiten aus praktischen Gründen (z.B. Lernen, Kommunikation, Zusammenleben, Verkehrsregeln!) dennoch wichtig ist, müsste es – aus konstruktivistischer Sicht – in der Schule darum gehen, einen Rahmen zu schaffen, der den Kindern die Möglichkeit bietet, sich durch vielfäl27
Vgl. die zahlreichen Informationen im Internet; ferner: Kocher, Doris (1999): Das Klassenzimmer als Lernwerkstatt. Medien und Kommunikation im Englischunterricht nach der Storyline-Methode, Hamburg: Kovac 28 Mosegaard, Finn W. (1994): The Storyline Method in Special Education, Internetversion 29 Segal, Lynn (1986): The Dream of Reality. Heinz von Foerster‘s Constructivism, New York/London: W.W. Norton & Company
374 Reformpädagogik
tige Tätigkeiten und deren symbolische Repräsentationen ein je eigenes „Bild“ von der Welt zu „konstruieren“. Jeder wäre dann der „Designer“ seines eigenen Weltbildes, jeder dürfte seine „eigene Sprache“ sprechen. Bedeutet das die ungebrochene Fortsetzung der in der Gesellschaft zu beobachtenden Individualisierungs- und Fragmentierungstendenzen in den Bereich der Pädagogik hinein? Keineswegs – denn die kommunikativen Prozesse gewinnen in „Reggio“ und „Glasgow“ eine herausragende Bedeutung. In ihnen kann man sich – beiläufig oder gezielt – auf Gemeinsamkeiten verständigen. Das ist zugleich eine notwendige Lektion für das Leben in einer Demokratie. In ihr hat das friedliche diskursive „Aushandeln“ einen konstitutiven Stellenwert. Indem sie den individuellen Ausdruck herausfordern und fördern, entsprechen die Reggio-Pädagogik und die Storyline-Methode – und mit diesen alle pädagogischen Konzeptionen, die der Mitautorschaft des Kindes bei seinem Lernprozess einen entscheidenden, also tatsächlich wirksamen Stellenwert einräumen – dem konstruktivistischen Ansatz subjektiver „Weltenbildung“ im Bewusstsein. Andererseits müssen auch diese wie alle vertretbaren pädagogischen Konzeptionen sich im Medium einer „irgendwie“ gegebenen oder vorhandenen „objektiven“ Kultur bewegen, die als eine relativ gemeinsame erscheint und so auch von den Kindern „verstanden“ wird. Reggio-Pädagogik und Storyline-Methode stehen dem Konstruktivismus nahe, „retten“ aber gleichwohl das „Objektive“ – bzw. arbeiten an der „Konstruktion“ von Gemeinsamkeit – , indem sie den subjektiven Gestaltungsraum ausweiten, der gleichzeitig zu einem Raum hoher kommunikativer Dichte wird. Damit erweitern sie die Möglichkeit der Erfahrung kommunikativer Rationalität und die Möglichkeit der Erfahrung von Differenz. Beides ist für die soziale und intellektuelle Entwicklung des Kindes und Jugendlichen, zumal in der modernen Lebenswelt, von grundlegender Bedeutung. Erfahrungen von Differenz in der Gesellschaft auf Grund von Fraktionen (z.B.: verschiedene ethnische und/oder religiöse Gruppen), politischen Widersprüchen oder sozialen Konflikten werden dann vielleicht als weniger bedrohlich erlebt. Das Bemühen um Frieden und der Einsatz friedlicher Mittel zur Konfliktlösung setzt den Glauben an die Möglichkeiten rationalen Handelns bzw. „Aushandelns“ und die Übung darin voraus.
Die Erweiterung des Lernbegriffs 375
Kapitel 13
Die Erweiterung des Lernbegriffs: Wege zu methodischer Vielfalt im Unterricht Der entscheidende normierende Einfluss unterrichtlichen Handelns geht – nach wie vor – vom Lehrplan aus. Der Begriff als solcher signalisiert: Es ist möglich und sinnvoll, einen Plan, ähnlich einem Fahrplan, zu erstellen, der die Ziele und adäquaten Mittel für die „Bildungsreise“ angibt. Der anglo-amerikanische Begriff für Lehrplan „Curriculum“ veranschaulicht gleichzeitig die soziale Komponente der „Bildungsreise“. Bei ihr geht es nämlich nicht nur darum, das Ziel zu erreichen. Es ist angesagt, es möglichst mit der besten Punktzahl, mit den besten Noten, zu erreichen, um eine gute Startposition in der weiteren Ausbildung und im beruflichen wie gesellschaftlichen Leben zu erringen. Es geht also auch um Konkurrenz und im Unterricht setzt sich, durch individuelle Rücksichtnahmen und die Integration sozialerzieherischer Gesichtspunkte mehr oder weniger gemildert, das Konkurrenzprinzip einer leistungsorientierten Gesellschaft durch. „Curriculum“ ist die lateinische Bezeichnung für „Wettlauf“ und „Rennbahn“. Man müsste also in Verfolgung des ursprünglichen Wortsinnes von einem „Bildungswettrennen“, von einem permanenten „Lernwettstreit“, sprechen, denn der Begriff „Bildungsreise“ enthält noch einen Anklang an den ursprünglichen griechischen Sinn des Wortes Schule: „scholé“ gleich Muße, Ruhe. Ein Schüler als „Bildungsreisender“ könnte sich durchaus Muße gönnen; er könnte sich „Zeit nehmen“ für Sachverhalte, die ihn besonders „ansprechen“, für Fragen, Forschungen und Tätigkeiten, an denen „sein Herz hängt“ und die abseits der Schnellbahntrasse „Curriculum“ liegen. Die Kritik an der geschlossenen Form des Curriculums hat inzwischen ihren Niederschlag in vielen neueren Lehrplänen, Verordnungen und Schulgesetzen gefunden. Es wurden „Öffnungen“ eingebaut, die es nun – mit administrativem Segen – gestatten, „andere“ Wege als bisher zu gehen. Gleichwohl war und bleibt die Schule offenbar einem Effektivitätskriterium unterworfen, das trotz zahlreicher Möglichkeiten zur „Öffnung“ kaum Abweichungen von ihrer „didaktisch-methodischen Normalform“ gestattet – und das anscheinend am besten in der Form des Frontalunterrichts zu erfüllen ist. Auf Grund der Sichtung zahlreicher empirischer Studien zum methodischen Verhalten von Lehrern kommt Hilbert Meyer zu dem Schluss: „Schüler werden in der Schule einseitig gefordert und gefördert. Sie sitzen nahezu den ganzen Schulvormittag an dem fest zugewiesenen Platz im Klassenzimmer, sie sind überwiegend mit Zuhören, Rede-und-Antwort-Stehen, Lesen, Abschreiben und Rechnen befasst. Im Schulalltag herrscht eine Ein- und Gleichförmigkeit methodischen Handelns, die in einem auffälligen Widerspruch zur Buntscheckigkeit und Vielfalt der in Theorie und Praxis bekannten und auch methodisch aufbereiteten Handlungsmuster steht.“1 Die Schüler goutieren diese Einförmigkeit keineswegs, so dass der Lehrer einen Großteil seiner Kraft aufwenden muss, die „Ordnung zu wahren“ oder wiederherzustellen, während die Schüler ihrerseits einen Großteil ihrer kreativen Phantasie darauf verwendet, sie zu untergraben und zu hintergehen. Geradezu zwangsläufig gebiert die mit dem Frontalunterricht einhergehende Gängelung des Denkens und die Stillstellung des Körpers den Impuls zur Subversion. Die Dominanz des Frontalunterrichts gilt allerdings – das wurde an anderer Stelle in diesem Buch bereits festgestellt – nicht in gleichem Maße für alle Schulstufen, und bezüglich verschiedener Länder sind ebenfalls Differenzierungen angebracht. Unter dem Aspekt der Überwindung dieser Dominanz dürfte nach meiner Einschätzung gegenwärtig im Primarbereich die Grundschule in Deutschland (vierjährig 1
Meyer, Hilbert (1987): UnterrichtsMethoden II: Praxisband, Frankfurt am Main: Scriptor, S.60
376 Reformpädagogik
für die ca. 6 – 10Jährigen, in Berlin und Brandenburg sechsjährig für die ca. 6 – 12Jährigen) und die „Basisschool“ in den Niederlanden (achtjährig für die ca. 4 – 12Jährigen) am weitesten fortgeschritten sein, ferner auch die vergleichbaren Schulstufen der dänischen „Folkeskole“ (Volksschule). Im Bereich der Primarstufe dieser Länder hat der Wandel vermutlich bereits so weit geführt, dass hier von einer Vorherrschaft der eingangs in diesem Buch so genannten „didaktischmethodischen Normalform der Schule“ jetzt nicht mehr gesprochen werden kann. Im Sekundarbereich sind ebenfalls in manchen Ländern entsprechende Bemühungen und beispielhafte Einzelinitiativen festzustellen, die aber bisher auf regionaler Ebene oder Landesebene nirgends zu einer umfassenden Neugestaltung des schulischen Lernens geführt haben – mit einer bemerkenswerten Ausnahme. Die dänische neun- bis zehnjährige „Folkeskole“ (für die ca. 7 – 17Jährigen) entspricht in einem hohen Maße dem Begriff von Schule als einer anregungsreichen Lern- und Lebensgemeinschaft, in der die rigiden Strukturen des „Lehrstoffjahrgangsklassensystems“ weitgehend aufgebrochen sind. „Trotz lokaler Unterschiede sind reformpädagogische Züge in der staatlichen Regelschule (Dänemarks – E.S.) unverkennbar. Die Ursache ist im Zusammenspiel und in der Wechselwirkung zwischen staatlicher und nichtstaatlicher Schule – also in der skolefrihed – zu suchen.“2 Die „Schulfreiheit“ schafft (übrigens ähnlich wie in den Niederlanden) einen grundgesetzlich abgesicherten, relativ weiten Spielraum für die Gründung von Privatschulen und zur Entwicklung von Schulprofilen, die von der „Normalform“ abweichen. So können „andere“ Schulen entstehen, die in Konkurrenz zur „Normalform“ stehen und – indem sie als „andere“ Schulen mögliche Alternativen zur Normalform anschaulich präsentieren – auf diese einen Reformdruck ausüben. Indessen ist lediglich seine Dominanz in der Schule, nicht aber der Frontalunterricht als solcher pädagogisch bedenklich. Methodisches Geschick bei der Artikulation und pädagogisches Einfühlungsvermögen bei der Führung des Unterrichts vorausgesetzt, hat der Frontalunterricht eine unaufgebbare und durch andere Formen nicht zu ersetzende didaktische Funktion. Er ist „besser als andere Sozialformen geeignet, einen Sach-, Sinn- oder Problemzusammenhang aus der Sicht und mit den Mitteln des Lehrers darzustellen. ... Frontalunterricht ist dann am Platze, wenn eine Wissens- oder Problemstruktur begriffen und nachvollzogen werden soll.“3 Hierin liegt seine Funktion – und sein partieller Wert auch für Unterrichtsformen, die insgesamt eine Verlebendigung des Unterrichts und eine weitgehende Mitwirkung des Schülers anstreben. Weil in seinem Vollzug aber notwendigerweise (und partiell eben auch pädagogisch sinnvollerweise!) die „Sicht des Lehrers“ die normierende Größe darstellt, auch in Hinsicht auf die Beiträge der Schüler, ist der Frontalunterricht als solcher zur Entfaltung von Fähigkeiten wenig geeignet wie: konstruktive Kreativität (im Gegensatz zur oben genannten subversiven), Selbständigkeit im Denken und Handeln, Erhalten oder Wecken einer mit dem eigenen Leben und Erleben verbundenen Fragehaltung, Lernen aus eigenem Antrieb, solidarisches Handeln aus eigener Einsicht. Ein Ernstnehmen dieser pädagogischen Intentionen bedeutet gleichzeitig eine Kritik am Frontalunterricht respektive an seiner wo auch immer (noch) aufzufindenden Dominanz. Die meisten Schulkonzeptionen der Reformpädagogik haben ihre Überwindung zum gemeinsamen Ziel. Das geschieht durch die Entwicklung neuer didaktisch-methodischer Formen, durch eine Neudefinition der Lehrerrolle (der Lehrer als Partner und Lernbegleiter des Kindes) sowie durch eine bewusste pädagogische Funktionalisierung der (Lern)Zeit und des (Lern)Raumes, also durch die Neugestaltung der Schule im Ganzen. Lediglich die Waldorfpädagogik bildet eine Ausnahme. Der Lehrer hat als Repräsentant der kosmischen Ordnung eine – im Wortsinne gesprochen – 2 Bodenstein, Eckhard (1996): Länderstudie Dänemark, in: Seyfarth-Stubenrauch, M. und Skiera, E. (Hsg.)(1996): Reformpädagogik und Schulreform in Europa, Band 2, Baltmannsweiler: Burgbücherei Schneider, S. 448 3 Meyer, (1987), S.184
Die Erweiterung des Lernbegriffs 377
„All-umfassende“ Stellung. Sein Wort selbst ist, sofern es in der „wahren Menschenerkenntnis“ der Anthroposophie gründet, unfehlbarer Ausdruck dieser Ordnung. Der Frontalunterricht wird in der Waldorfpädagogik also nicht grundsätzlich in Frage gestellt, im Gegenteil sogar im Rahmen einer eigenen Weltanschauung, die dem Lehrer eine geradezu „un-menschliche“, will sagen „übermenschliche“ Funktion zuweist, neu begründet und überhöht. Durch die besondere Art der Ästhetisierung des Unterrichts und das Bemühen des Lehrers, die „Temperamente“ der Kinder anzusprechen, wird aber zugleich versucht, die Herzen der Kinder zu gewinnen und so den mit der Lehrerdominanz einhergehenden Frustrationen und subversiven Tendenzen auf Seiten der Schüler entgegenzuwirken. Zusätzlich muss in Hinsicht auf die Waldorfpädagogik auf die starke Betonung des künstlerischen und handwerklichen Momentes (in Musik, bildnerischer und darstellender Kunst, Bewegung, Tanz; Textil-, Metall- und Holzarbeiten, Gartenbau, Buchbinderei u.a.) hingewiesen werden. Diese Akzente heben ein Hauptmoment des Frontalunterrichts auf, nämlich die überwiegend rezeptive Haltung und Aktivitätsarmut auf Seiten des Schülers. Die reformpädagogischen Schulen bilden einen Erfahrungsschatz mit zahlreichen didaktischmethodischen Momenten, die auch als einzelne ihren pädagogischen Wert behalten und Impulse für die Entwicklung der Schule allgemein zu geben vermögen. Zwar hat sich die Hoffnung der meisten Reformpädagoginnen und Reformpädagogen nach einer umfassenden Einführung gerade ihrer Schulform nicht erfüllt. Ihr Einfluss geht jedoch weit über den engeren Kreis dieser Schulen hinaus. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang an viele pädagogisch begründete Initiativen im Bereich der Schule allgemein, die vorher im Raum der Reformpädagogik eine praktische Ausformung gefunden haben. Unter nicht immer klar voneinander geschiedenen Begriffen und nicht immer in deutlichem Bezug zu ihrem reformpädagogischen Ursprung ist in den letzten Jahren und Jahrzehnten ein Repertoire an methodischen und didaktischen Formen erprobt und diskutiert worden, das über eine evaluativ-kritische und strukturierte Aneignung die Möglichkeit eröffnet, die Einseitigkeit der schulischen Normalform nach und nach zu überwinden. In den letzten Jahren ist vielfach vom „Offenen Unterricht“ die Rede. Es ist der Versuch, die Grenzen des „Curriculums“ zu sprengen, die „Rennbahn“ des Lehrens und Lernens zu verlassen, „offen“ zu sein für die vielfältigen Fragen, Wirklichkeitsbereiche und methodischen Formen. Mit dem Begriff „Offener Unterricht“ wird also nicht eine definierte methodische Form bezeichnet, sondern die Zielperspektive eines vielschichtigen Wandlungsprozesses. In der „Freien Arbeit“ und im „Wochenplanunterricht“ werden den Schülern inhaltliche und/oder zeitliche Freiräume für selbstverantwortliches Lernen gewährt. Im „Gruppenunterricht“ wird die Klasse nicht mehr als monolithischer Block gesehen, gleichsam als zu belehrende (zu besiegende?) „Schülerfront“, sondern als soziale Gruppe, deren Mitglieder mit- und voneinander lernen sollen und lernen können. Im „Projektunterricht“ geht es darum, komplexe Lernprozesse in Gang zu setzen, die in einem konkreten „Projekt“ ihren Höhe- und Abschlusspunkt finden. In manchen didaktischen Konzepten wird daran gearbeitet, die persönliche Erfahrung und das Erleben des Kindes bzw. Schülers zum Ausgangspunkt des Lernens zu nehmen. Als Beispiele seien hier genannt und weiter unten näher erläutert: der erlebnisorientierte Anfangsunterricht im Lesen und Schreiben sowie das niederländische Konzept der „Weltorientierung“. In einem weiten Sinne gefasst müssen auch der Klassenraum selbst sowie die verfügbaren Arbeitsmittel als „Methoden“ gesehen werden. Der Raum erhält durch die genannten methodischen Formen eine neue pädagogische Dimension. Er nimmt den Charakter eines Ateliers mit verschiedenen Arbeitsbereichen („Arbeitsecken“) an, in denen zahlreiche funktionelle „Arbeitsmittel“ für die Einzel-, Partner- oder Gruppenarbeit zur Verfügung stehen. All die genannten methodischen Formen haben keinen sich gegenseitig ausschließenden Charakter, sie stützen und erläutern sich vielmehr gegenseitig. Aspekte des Gruppenunterrichts
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etwa können in die Freie Arbeit einfließen; Projektunterricht integriert häufig Momente des Gruppenunterrichts; zwischen Freier Arbeit und Wochenplanunterricht sind die Grenzen fließend; Erlebnisbezüge können alle Formen aufweisen. Der Offene Unterricht schließlich ist der weiteste (oder auch unschärfste) Begriff, da unter ihm all das gefasst werden kann, was die erstarrte Struktur der „Normalschule“ aufzubrechen vermag. Die Aufzählung verschiedener methodischer Formen sollte nicht zu dem Schluss führen, dass hier in eklektizistischer Weise bloß eine beliebig erweiterbare Reihe möglicher oder wünschenswerter pädagogischer Momente konstruiert wird. Die Reihe ist zwar in der Tat erweiterbar oder auch durch andere Akzente zu ergänzen, etwa durch den Aspekt der Handlungsorientierung oder des praktischen Lernens, des „Lernens mit allen Sinnen“, des erfahrungsoffenen Lernens, des entdeckenden Lernens – Begriffe und Ansätze für Unterrichtskonzeptionen, die ebenfalls im Zusammenhang mit der „Öffnung“ von Schule und Unterricht diskutiert werden. Gleichwohl haben alle diese Konzeptionen eine gemeinsame Grundausrichtung. In negativer Wendung geht es darum, die eingefahrenen Kommunikations- und Interaktionsstrukturen der „Alten Schule“ mit ihren autoritären, den Lernenden sich selbst und dem Mitmenschen entfremdenden Momenten aufzubrechen, vor allem durch die Überwindung der Dominanz des Frontalunterrichts – nicht durch seine völlige Eliminierung. Positiv gewendet steht dahinter ein erweiterter, facettenreicher Begriff schulischen Lernens. Der Lernende wird als aktives Subjekt seines Bildungsprozesses begriffen, dem aus politisch-ethischen wie pädagogischen Gründen ein hohes Maß an Mitwirkung, an Mit-Entscheidung, an Mitgestaltung seiner (Lern)Wirklichkeit gewährt werden soll. In dem Maße, wie die bisher notwendigen Zwangsmaßnahmen zur „Herstellung des Lerners“ moralisch und politisch obsolet oder überhaupt gar unwirksam werden, tritt das Kind, der Mensch, als aktives Subjekt seiner Bildung, als entscheidender Mitautor seiner Lebensgeschichte, ins Zentrum der Pädagogik. Das ist in der „didaktisch-methodischen Normalform der Schule“ in einem hinreichenden oder zumindest heute wünschenswertem Maße nicht möglich. Hierin liegt der Grund und die Notwendigkeit zur Entwicklung neuer oder zur Wiederentdeckung bereits erprobter aber bisher wenig praktizierter methodischer Formen. Dieser Fokus bildet den „roten Faden“ der Ausführungen in diesem Kapitel.
1
Offener Unterricht
Begriff und Inhalt des „Offenen Unterrichts“ haben ihren zeitgeschichtlichen Urspung in den gesellschaftskritischen, vor allem institutionen- und autoritätskritischen Debatten der sechziger und siebziger Jahre. Eine Frucht dieser Debatte war der Ruf nach „Freiheit in der Erziehung“, die Konzipierung und Erprobung einer „antiautoritären Erziehung“ sowie die Etablierung von „Freien Alternativschulen“. Diese Aufbruchsbewegung blieb nicht ohne Folgen für das Selbstverständnis von Schule überhaupt. Die quasi-revolutionäre Stimmung fand bald auch Eingang in die Welt der Schule, nun aber in einer Form, die das revolutionäre Moment herabgestimmt, es gleichsam domestiziert hat. Dies geschah meist unter dem Begriff der Öffnung. „Open Education/Curriculum/School/Classroom/Teaching“ in den USA, in England zusätzlich auch „Informal Teaching“ und „Integrated Day“, in Frankreich „Ecole Ouverte“, in Deutschland „Offene Schule“ und „Offener Unterricht“ – dies waren und sind die Schlagworte mit denen das „Neue“ zugleich aufgenommen wie institutionell gezähmt werden sollte. Denn es geht um eine pädagogisch prak-
Die Erweiterung des Lernbegriffs 379
tikable, um eine „strukturierte Offenheit“4, die den institutionellen Rahmen der Schule nicht grundsätzlich in Frage stellt. Inzwischen sind mehr als drei Jahrzehnte vergangen, in denen der Offene Unterricht in Theorie, Praxis und empirischer Forschung umfassend thematisiert worden ist.5 Dabei wurde auch der enge Bezug des „Neuen“ zu zahlreichen konzeptionellen Momenten der Reformpädagogik herausgestellt. In Bezug auf die wesentlichen pädagogischen Aspekte hat sich ein recht weiter definitorischer Rahmen ergeben, denn das „Offene“ lässt sich verständlicherweise kaum wirklich definieren. „Offener Unterricht“ kann heute als ein für Neuerungen prinzipiell „offener“ Sammelbegriff für zahlreiche methodisch-didaktische und schulorganisatorische Maßnahmen verstanden werden, die im einzelnen wie insgesamt dem Ziel dienen, institutionell bedingte Entfremdungsprozesse – gegenüber dem eigenen Fühlen, Denken, interessegeleiteten Handeln; gegenüber dem Mitmenschen; gegenüber der Wirklichkeit innerhalb und außerhalb der Schule – zu überwinden oder doch zu mildern. Diese Zielsetzung impliziert die Suche nach pädagogischen Formen, die den individuellen Ausdruck fördern und in der Wahl von Lerninhalten, Lernwegen, Materialien, Lernorten und pädagogischen Hilfen ein hohes Maß an Entscheidungsfreiheit gewähren. Die Zielsetzung besagt weiterhin, den Lernenden in einem pädagogisch und sozial zu verantwortenden Rahmen weitgehende Verfügungsrechte über ihren (Lern)Raum, ihre (Lern)Zeit und ihre sozialen Kontakte zu gewähren. – Eine Analyse der Schulwirklichkeit unter dem Blickwinkel dieser Maßnahmen und Maßgaben kann gleichzeitig dazu dienen, die Prozesse der Selbstund Weltentfremdung erst einmal bewusst werden zu lassen, denn im Horizont einer zukünftig möglichen anderen Praxis enthüllt sich oft erst der Mangel der gegenwärtigen. Was nun bedeutet Offener Unterricht in der Praxis? Wulf Wallrabenstein hat auf der Suche nach „Qualitätskriterien“ eine facettenreiche Umschreibung des Offenen Unterrichts in Form einer Reihe von Fragen vorgelegt. Ich beziehe mich darauf und gebe sie (zum Teil modifiziert und durch weitere Beispiele sowie Kommentierungen ergänzt) als Katalog von Merkmalen wieder: Merkmale Offenen Unterrichts (in Anlehnung an Wulf Wallrabenstein6) 1. Methodenvielfalt: Freie Arbeit, Projekte im regulären Unterricht, an einzelnen Tagen oder als Wochenprojekte (die beiden letzteren ggf. auch als solche der gesamten Schule), Kreisgespräche (Beispiele: Kreis zur Tageseröffnung oder zum Tages/Wochenabschluss, Lesekreis, Berichts- und Evaluationskreis) Einzel-, Partner-, Kleingruppen- und Gruppenarbeit, Schülerberichte, Arbeit nach dem (ggf. teilweise auf den Einzelnen zugeschnittenen) Wochenplan, Ausstellungen und Präsentationen innerhalb der Lerngruppe und in der Schulgemeinde. 4
Wallrabenstein, Wulf (1996) Reformpädagogisch inspirierte methodische Innovationen in der schulpädagogischen Diskussion der Gegenwart: Handlungsorientierter Unterricht, Offener Unterricht, Wochenplanarbeit, Freie Arbeit, in: Seyfarth-Stubenrauch, M. und Skiera, E. (Hsg.) (1986), a.a.O. Band 1, S.209 5 Ramseger, Jörg (1977/3.Aufl.1992): Offener Unterricht in der Erprobung: Erfahrungen mit einem didaktischen Modell, München: Juventa. Kunert, Christian (1978): Theorie und Praxis des offenen Unterrichts, München: Kösel. Nauck, Joachim (1993): Offener Unterricht – Ziele, Praxis, Wirkungen, Braunschweig: TU Braunschweig, Braunschweiger Arbeiten zur Schulpädagogik Bd. 10. Wallrabenstein, Wulf (1994): Offene Schule – Offener Unterricht, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Feldhaus, Clemens (1995): Lernen mit allen Sinnen: Offene Unterrichtssituationen am Beispiel des Sachunterrichts, Hamburg: Kovac. Jürgens, Eiko (1995): Die ‚neue‘ Reformpädagogik und die Bewegung Offener Unterricht – Theorie, Praxis und Forschungslage, Sankt Augustin: Academia Verlag. Ferner finden sich in allen schulpraktisch orientierten Zeitschriften zahlreiche einschlägige Beiträge. 6 Wallrabenstein, Wulf (1994): Offener Unterricht, in: Kohls, Eckhard (1994): Grundbegriffe zur Erziehung, zum Lernen und Lehren in der Grundschule, Heinsberg: Agentur Dieck, S.205f
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2. Freiräume: zum vertiefenden, spielerischen, selbständigen, entdeckenden, praktischen Lernen; zum „Lernen mit allen Sinnen“; zur Wahl von Lernaktivitäten bzw. –inhalten. 3. Umgangsformen: Klare Regelungen des Miteinanderlernens und –umgehens, Transparenz ihres sozialen Sinnes und Mitwirkung aller bei ihrer Entwicklung bzw. Modifikation, Rücksichtnahme auf die emotionale Befindlichkeit der Kinder/Schüler, offene, partnerschaftlichkooperative Konfliktbearbeitung und –bewältigung, Betonung des sozialen Lernens, Schaffung einer Atmosphäre der Anerkennung, des Vertrauens, der Ermutigung, der Freude. 4. Selbständigkeit: aktive Rolle der Kinder/Schüler bei der Steuerung von Lernprozessen und Mitwirkung bei der Wahl von Lernaktivitäten, Aufbau eines Systems gegenseitiger Hilfe. 5. Lernberatung: individuelle, förderungs-orientierte Lernberatung, Akzeptierung von Umund Irrwegen sowie Fehlern als notwendige Bestandteile des Lernprozesses, besondere Beachtung der leistungsschwächeren Schülern. 6. Öffnung zur Umwelt: Erweiterung des Lernraumes durch Einbeziehung der näheren und ferneren Umgebung; Erkundungsgänge, Exkursionen, Experten von außen (evtl. auch Elternhilfe) in der Klasse. 7. Sprachkultur: Entwicklung einer hohen Kultur des Gesprächs, des freien Ausdrucks durch das geschriebene und gesprochene Wort; lebendige, erfahrungsbezogene Verbindung von Sacherkenntnis und Sprachgestaltung; phantasievoller, kreativer Umgang mit Sprache. 8. Lehrerrolle: besondere Beachtung der Beziehungsdimension; Geduld, Gelassenheit und Toleranz gegenüber langsameren Schüler; Vermeidung von Routine- und Scheinfragen, statt dessen: sachgerechte Impulse für die Bewegungen des Denkens, der Problemlösung, des Handelns; Entwicklung von Instrumenten zur Klärung von Störungen und Konflikten; reflexiver Umgang mit den eigenen und von außen kommenden Erwartungen an das Lehrerhandeln. 9. Akzeptanz des Unterrichts: Klasse als Arbeitsgemeinschaft, an deren Entwicklung jeder Anteil nehmen und seinen Anteil erkennen kann; verantwortungsvoller Umgang mit der Unterrichtszeit als effektive Lernzeit; Erfahrbarkeit des Zusammenhangs zwischen Person (dem Leben des Kindes/Schülers) und dem Unterricht. 10. Lernumgebung: Wandel des Klassenraumes mit frontal ausgerichteten Bankreihen zu einem vielfältig gegliederten Lern- und Erfahrungsraum (Ateliercharakter des Raumes) mit thematisch oder nach Lernbereichen strukturierten Arbeitsecken, gut zugänglichen und pädagogisch funktionalen Arbeitsmitteln, Gruppentischen, Ausstellungsflächen.
Es handelt sich um eine vielfältige, facettenreiche „Definition“. Ihr liegt ein Denken in Prozessen zugrunde, das nicht ein festumrissenes Ziel ins Auge fasst, nach dessen Erreichung man dann von einer endgültigen Etablierung des Offenen Unterrichts sprechen könnte. Besser wäre von pädagogischen Dimensionen der Öffnung von Unterricht zu sprechen, denn ein fertiges, in einem technischen Sinne übertragbares Konzept bietet der Offene Unterricht nicht. Die Öffnung kann in der Praxis sinnvollerweise nur punktuell ansetzen und dann in einem kritisch-konstruktiven Prozess unter Beachtung der Rahmenbedingungen zusammen mit den Schülern/Lehrkräften/Eltern (ggf. auch Hausmeister und Reinigungspersonal!) allmählich weitergeführt werden. Für die Entwicklung der Unterrichtspraxis unter den Prämissen des Offenen Unterrichts war in Deutschland vor allem die Einführung der „Freien Arbeit“ bedeutsam. In ihr kristallisieren sich seine wesentlichen Anliegen.
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Freie Arbeit
Die reformpädagogischen Ursprünge und Ideeninhalte der Freien Arbeit sind leicht aufzuspüren. Zunächst ist auf Konzeptionen hinzuweisen, die den Gedanken der Freiheit für die Schularbeit überhaupt als grundlegende pädagogische Maxime betont haben. Hugo Gaudig (1860-1923), einer der führenden Vertreter der Arbeitsschule in Deutschland, forderte und erprobte auf der Grundlage seiner Persönlichkeitspädagogik die „Freie geistige Schularbeit“. Die Hauptaufgabe des Lehrers sieht Gaudig darin, den Schülern Arbeitstechniken für selbsttätiges Lernen zu vermitteln. Er stellt den „Schüler als werdende Persönlichkeit“ in den „Mittelpunkt des pädagogischen Denkens und Handelns, in dem bisher der Lehrer gestanden hat.“7 Ähnliche Forderungen werden von Célestin Freinet formuliert, nun aber auf der Grundlage eines politisch-emanzipatorischen und (in den Anfängen seines Wirkens) klassenkämpferischen Gesellschaftsbildes. Freie Arbeit kann bei ihm als durchgängiges Prinzip verstanden werden. „Deshalb finden wir bei ihm auch Aussagen zur Freien Arbeit für alle Dimensionen des Lernprozesses und in allen Lernbereichen, den freien Ausdruck im musisch-ästhetischen Bereich, den freien Text im Sprachbereich, das freie Experimentieren im naturwissenschaftlichen Bereich usw.“8 Maria Montessori betont die Freiheit des Kindes im Gebrauch ihrer Materialien, die den Entwicklungsschritten des Kindes und seinem „inneren Bauplan“ angepasst sind. Helen Parkhurst befreit in ihrem „Dalton-Plan“ die Schüler vom Zwang des Lernens im Gleichschritt der Klasse, indem sie den Lernenden gestattet, den (inhaltlich aber meist vorbestimmten) Lehrgang in selbstgewähltem Rhythmus und selbstgewählter Reihenfolge der einzelnen Aufgaben zu absolvieren. – Näher an den heute üblichen Begriff und die heute geübte Form der Freien Arbeit führt ein Blick auf den Jenaplan Petersens. In der Untergruppe der Jenaer Universitätsschule ist in der Woche eine Doppelstunde (100 Minuten) als „freie Spiel- und Bastelstunde“ eingerichtet.9 Im „Wochenarbeitsplan“ der oberen Gruppen ist am letzten Tag der Woche eine bestimmte Zeit für „Freies Arbeiten“ vorgesehen. Hier arbeiten die Schüler „nach Wahl und Bedürfnis oder nach Verabredung und Auftrag des Gruppenleiters an Aufgaben, die sie während der Woche nicht ganz fertigstellen konnten, ...“10 Nachdem die Freie Arbeit bereits in den siebziger Jahren (meist im Zuge der Reform der Grundschule) gefordert und erprobt wurde – zum Teil als bewusste Gegenbewegung gegen die zu jener Zeit aufkommenden wissenschafts- und lernzielorientierten Curricula – hat sie inzwischen in den Richtlinien zur Entwicklung der Grundschule und ansatzweise auch in der Sekundarstufe11 einen Platz gefunden. Damit hat die im Zusammenhang mit der Öffnung des Unterrichts diskutierte Forderung nach Gewährung von Freiräumen (s.o.) eine wichtige Stütze erhalten. Die Freie Arbeit findet in Schule und Unterricht in zweifacher, sich ergänzender und durchdringender Weise in den Unterricht Eingang. Zum einen kann sie als Prinzip des Unterrichts (im Sinne Freinets und der Didaktik der Freien Alternativschulen) verstanden werden und tritt so neben anderen Unterrichtsprinzipien – und ggf. in Verbindung mit diesen – in Funktion wie: Anschaulichkeit, Selbsttätigkeit, Lebensnähe, Erfahrungsbezogenheit, Entwicklungsgemäßheit, Exemplarität. Zum anderen kann eine Form entwickelt werden, in der das Prinzip Freie Arbeit eine tragende Funktion einnimmt. Die Unterrichtsprinzipien verweisen als solche nicht auf be7 Gaudig, zitiert nach: Scheibe, Wolfgang (1978): Die reformpädagogische Bewegung: 1900 – 1932, Weinheim und Basel: Beltz, S.191 8 Hagstedt, Herbert (1995): Zur Pädagogik der neuen Lerngärten, in: Claussen, Claus (Hsg.) (1995): Handbuch Freie Arbeit. Konzepte und Erfahrungen, Weinheim und Basel: Beltz, S.33 9 Petersen, Peter (1937/1971): Führungslehre des Unterrichts, Weinheim u.a.O.: Beltz, S. 102 10 Ebd., S.116 11 Zur Freien Arbeit in der Sekundarstufe siehe die entsprechenden Abschnitte in Claussen (1995)
382 Reformpädagogik
stimmte Methoden oder bestimmte Lernbereiche, wiewohl sie in methodischer wie inhaltlicher Hinsicht bestimmte Affinitäten aufweisen können. So werden etwa Themen aus dem sozialkundlichen Bereich dem Prinzip der Erfahrungsbezogenheit und Lebensnähe eher entsprechen können, als solche aus der Mathematik; und experimentelle Erkundungen im Projekt- oder Gruppenunterricht stehen dem Prinzip der Selbsttätigkeit (und damit auch der Freien Arbeit) näher als ein konsequent vom Lehrer in Form von Vortrag und fragend-entwickelndem Gespräch durchgeführter Lehrgang. Manche Prinzipien (etwa Entwicklungsgemäßheit) mahnen ihre Beachtung gleichsam von selbst an, weil ihre dauerhafte Nichtbeachtung ein unmittelbares Scheitern des Unterrichts zur Folge hätte: was sprachlich und kognitiv über den Horizont der Kinder hinausgeht, das kann auf Seiten des Schülers wie des Lehrers nur in Frustration enden. Andere Prinzipien bedürfen der konsequenten pädagogischen Mühe, weil ihre Nichtbeachtung keine unmittelbaren Alarmzeichen freisetzt oder die Alarmzeichen selbst nicht – weil als vermeintlich unvermeidliche Begleiterscheinungen systematischen Lernens angesehen (wie Widerstände, subversive Nebentätigkeiten) – als solche erkannt werden. Freie Arbeit ist ein solches „diskretes“ Prinzip, dessen pädagogischer Wert erst im Zuge subjektorientierter, emanzipatorischer Bildungstheorien „entdeckt“ werden konnte. Freie Arbeit als Prinzip des Unterrichts richtet sich auf die Initiierung von Bildungsprozessen, bei denen die Schüler ein Höchstmaß an Verfügungsrechten und Wahlmöglichkeiten in Bezug auf die Ziele, Mittel, Darstellungsweisen, Kommunikationsformen und Sozialpartner des Unterrichts haben. Freie Arbeit steht in einer polaren Spannung zum Prozess der Bildung als eines auch auf Anpassung an vorgegebene Normen (inhaltliche Ziele, Verhaltensweisen) gerichteten Geschehens. In der Institution Schule mit ihren zahlreichen Zwängen ist das Prinzip der Freien Arbeit durch ihren Gegenpol einer notwendigen, zielgerichteten Gebundenheit an inhaltliche und soziale Normen bedroht. Es ist daher konsequent, neben einer theoretischen Klärung des Prinzips nach speziellen Formen zu suchen, in denen Freie Arbeit konsequent und von gegenläufigen Ansprüchen weniger bedrängt in der Praxis umgesetzt werden kann. Das kann in einem geschützten, eigens dafür eingerichteten Zeitraum geschehen. In den „Daltonstunden“ und im Freien Arbeiten des Jenaplans sind solche Formen gegeben, allerdings nur im Ansatz, weil Freie Arbeit in ihrer konsequenten Form lediglich als Additivum nach Erledigung der Pflichtaufgaben auftritt. Das entspricht im Übrigen auch der heute weithin geübten Praxis, da in den Phasen der Freien Arbeit häufig auch Pflichtaufgaben (nun in selbstgewählter Reihenfolge und mit einer gewissen Freiheit in der Wahl ihrer Mittel und der Sozialpartner) zu erledigen sind. Zu untersuchen wäre also, in welchem Maße in den Phasen der Freien Arbeit ihr grundlegendes Prinzip Beachtung finden kann. Und selbst die oben gegebene Definition spricht relativierend „nur“ von einem „Höchstmaß an Verfügungsrechten ...“, eingedenk der in der Schule mitgesetzten Verantwortlichkeit des Lehrers, der die gewährte Freiheit in jedem Fall pädagogisch legitimieren und ggf. Einschränkungen vornehmen muss. – Auf dem Hintergrund dieser Erörterungen sollen thesenartig die wichtigsten Merkmale der Freien Arbeit als eigenständiger Phase des Unterrichts formuliert werden:
Freie Arbeit – ihre pädagogischen, methodisch-didaktischen und organisatorischen Merkmale 1. Organisatorische Einordnung: Freie Arbeit bezeichnet eine fest eingebundene Phase im Rhythmus des Tages und/oder der Schulwoche, in der dem Prinzip der Selbstbestimmung und Selbsttätigkeit in besonderer Weise Geltung verschafft wird. 2. Inhalte: Es wird ein breites Spektrum an Lernmöglichkeiten angeboten, aus dem der Schüler nach eigenem Ermessen und ggf. mit beratender Hilfe des Lehrers seine Vorhaben auswählt.
Die Erweiterung des Lernbegriffs 383
Inhaltlich sind die Aufgaben auf das verpflichtende Pensum in den verschiedenen Lernbereichen (hieraus ergibt sich u.a. die Verbindung zu anderen Lernformen spezifischer thematischer Ausrichtung) und auf darüber hinausreichende und weiterführende Interessen ausgerichtet. 3. Arbeitstechniken: Für die Phase der Freien Arbeit und/oder in ihr werden besondere Techniken der „freien geistigen Schularbeit“ eingeführt und geübt wie Arbeitsplanung, Umgang mit Lernkarteien, Gebrauch von Nachschlagewerken, falls vorhanden Gebrauch von modernen Medien wie Computer (Lernprogramme, Internet), Beobachten, Experimentieren, Ergebnisund Verlaufsprotokolle verfassen, Ordnungssysteme nutzen, Kontrolle der Ergebnisse (durch autokorrektive Arbeitsmittel, selbständige Kontrolle mittels Kontrollblätter, Kontrolle mit Hilfe von Mitschülern oder des Lehrers), Formen der Präsentation von Ergebnissen in der Gruppe/Schule ... 4. Kommunikation: Der Schüler ist frei in der Wahl seiner Sozialpartner. Er kann einzeln arbeiten oder nach Absprache mit einem Partner oder mit einer kleineren oder größeren Gruppe von Mitschülern. 5. Differenzierung/Individualisierung: Während der Freien Arbeit arbeiten die Kinder (jeweils einzeln oder mit anderen) an unterschiedlichen Aufgaben nach ihrem eigenen Vermögen und Lernrhythmus. 6. Lernraum: Der Lernraum hat den Charakter eines „Ateliers“, einer „Schulwohnstube“ oder eines „Lerngartens“. In ihm findet der Schüler (in übersichtlicher Ordnung) Arbeitsmaterialien und Aktivitätszonen für pädagogisch sinnvolle Tätigkeiten. Der Lernraum ist nicht auf den Klassenraum beschränkt. Je nach Möglichkeit und Verfügbarkeit kann er auf andere Räume (Flur, Bibliothek und Dokumentationszentrum in der Schule, Werkstätten und Fachräume, Schulhof, Schulgarten ...) ausgeweitet werden. 7. Regeln: Freiheitsrechte bedürfen der sozialen Regelung. Verbindliche Absprachen für das Arbeiten/Sich-Bewegen/Ordnunghalten/Kommunizieren im Lernraum sichern die Möglichkeit der gemeinsamen Nutzung dieser Rechte. 8. Arbeitshaltung und Arbeitsablauf: Jeder Schüler sollte zu jeder Zeit wissen, welchen Tätigkeiten und Lernaktivitäten er nachgehen kann, und ihr jeweiliger Sinn für ihn und/oder die Gemeinschaft sollten einsichtig sein. Das kann am Anfang der Arbeit durch ein Planungsgespräch (Planungskreis) erfolgen, aus dem die Schüler mit einer festen Vorstellung über ihr Vorhaben in die eigentliche Phase der Freien Arbeit entlassen werden. Auch ein Abschlussgespräch (Evaluationskreis) am Ende der einzelnen Phase und/oder am Ende der Schulwoche dient diesem Ziel. Es empfiehlt sich, Absprachen über den Abschluss von begonnenen und den Wechsel zu neuen Aufgaben zu treffen. 9. Lehrerrolle: Der Lehrer nimmt seine Funktion als Lehrender zurück. Er hilft bei der Organisation der Lernaktivitäten, berät, ermutigt, informiert, kontrolliert, gibt weiterführende Hinweise. 10. Übersicht und Transparenz: Ein komplexes Lerngeschehen und Gruppenleben bedarf aus Gründen pädagogischer Verantwortlichkeit gleichwohl der Übersicht. Auf einer Tafel kann jedes Kind sich zu Beginn der Arbeit mittels Namenskärtchen einem Tätigkeitsbereich zuordnen. Das erleichtert die Übersicht über verfügbare Arbeitsmittel und Arbeitsplätze (z.B. in den „Arbeitsecken“ oder in Außenräumen) und hilft so beim Wechsel von einer Tätigkeit zur anderen. Eine individuelle Arbeitskarte, in der alle Tätigkeiten über einen gewissen Zeitraum aufgeführt werden, hilft dem Lehrer und dem Schüler, Einseitigkeiten zu erkennen, um ggf. gemeinsam nach ausgleichenden Wegen zu suchen.
384 Reformpädagogik
3
Unterricht nach dem Wochenplan
Ausgehend von dem Marburger Grundschulprojekt unter Leitung von Wolfgang Klafki in den siebziger Jahren fand der „Wochenplan-Unterricht“ nach und nach seinen Weg in die Praxis der Grundschule.12 Seine Grundidee ist freilich keineswegs neu, vielmehr in Form und Funktion ein lange geübtes Moment in der Pädagogik Freinets und Parkhursts. (Wochenplan-Unterricht findet sich nicht im ursprünglichen Jenaplan Petersens, dessen „Rhythmischer Wochenarbeitsplan“ – er ersetzt den alten Stundenplan und regelt die Arbeit der gesamten Woche – wegen der Namensähnlichkeit oft mit diesem gleichgesetzt wird. Die Praxis der Arbeit nach dem Wochenplan in den neueren niederländischen und deutschen Jenaplanschulen geht auf den Einfluss der FreinetPädagogik, in den Niederlanden auch des Dalton-Plans zurück.) Parkhurst hatte mit ihrem System der „Assignments“ (Aufgaben) ein System geschaffen, mit dessen Hilfe der Schüler gezielt nach eigenem Tempo in bestimmten Abschnitten der Unterrichtszeit in den „Laboratories“ (den Fachräumen) seinen Studien nachgehen kann. Die von Parkhurst formulierten pädagogischen Begründungen und ihre Kriterien für „gute“ „Assignments“ sowie ihre Funktion überhaupt gelten uneingeschränkt auch für den „guten“ Wochenplan-Unterricht. Ihre „Laboratories“ sind nun aber als spezielle Funktionsbereiche wie Arbeitsecken und lernbereichsspezifische Materialien teilweise in den Klassenraum eingezogen. Zu ergänzen wäre lediglich die zusätzliche Betonung der Freien Arbeit und die Mitwirkung der Schüler, der bei der Abfassung von Wochenplänen Raum gewährt wird bzw. gewährt werden soll. Célestin Freinet entwickelte im gleichen Sinne den „Plan de travail“. Er verzeichnet Aufgaben für eine Woche aus allen wichtigen Lernbereichen. In einer zusätzlichen „Graphique personel“ im unteren Teil des Plans ist der Schüler gehalten, seine Arbeit differenziert selbst zu beurteilen (das entspricht Parkhursts „graphs“). Der Wochenplan ist also ein organisatorisches Hilfsmittel zur Strukturierung der den Kindern gewährten „freien“ Zeit (etwa 5 bis 10 Stunden in der Woche) zur Bearbeitung von Pflichtund Wahlpflichtaufgaben (Wahl einer bestimmten Anzahl aus einer Reihe vorgegebener Aufgaben). Er enthält zusätzliche Aufgaben und Anregungen für die „schnellen“ Lerner, ggf. auch solche für die besonders förderungsbedürftigen. Alle diese Aufgaben beziehen sich auf das schulische Curriculum. Die Qualität der Durchführung und der Fortschritt werden in geeigneter Weise kontrolliert. Ferner sollte der Wochenplan ein Angebot bereithalten, das in besonderer Weise den individuellen Interessen entgegenkommt. Als solches kann es über die verpflichtenden Themen und Lernbereiche hinausgehen. Der Unterricht nach dem Wochenplan stützt sich auf den „Lernraum“, wie er im Zusammenhang mit der Freien Arbeit charakterisiert wurde (und unten noch näher beschrieben wird). Er fungiert so auch als „Wegweiser“ zu den Lernbereichen sowie Lernhilfen und bietet eine Strukturierungshilfe für die Freie Arbeit. Bei der (üblichen und pädagogisch weithin auch sinnvollen) Praxis der Integration Freier Arbeit in die für die Arbeit am Wochenplan vorgesehene Zeit ist darauf zu achten, dass sie nicht nur als „Belohnung“ für die „Schnellen“ ermöglicht wird, sondern prinzipiell allen (wenn auch den Langsameren möglicherweise in geringerem Ausmaß) zugute kommt. Im Übrigen gelten im Unterricht nach dem Wochenplan die für die Freie Arbeit bestimmten Merkmale, allerdings mit der Einschränkung, dass es sich hier eher um verbindliche Aufgaben handelt. – Zur Veranschaulichung ein Beispiel:
12 Huschke, P. (1980): Wochenplan-Unterricht, in: Klafki, W. (1980): Marburger Grundschulprojekt, Abt. I: Unterrichtskonzepte und –hilfen, Weinheim und Basel: Beltz. Strote, Ingo (1985): Das Wochenplanbuch für die Grundschule. Lernen zwischen Pflicht und Kür, Heinsberg: Agentur Dieck. Sennlaub, Gerhard (Hsg.) (1983): Mit Feuereifer dabei. Praxisberichte über Freie Arbeit und Wochenplan, Heinberg: Agentur Dieck
Die Erweiterung des Lernbegriffs 385
Grundschule an der Küste Name:
Klasse 4
Wochenplan (10 Stunden) für den 4. bis 8. Mai kontrolliert Deutsch: Ƒ
fertig Partnerdiktat und zugehöriges Arbeitsblatt „Wortarten“ (liegt auf der Fensterbank)
Ƒ
Ƒ
Hast du Ideen für unseren Brief an die Partnerklasse in Saint-Luc? Schreibe sie auf! Geschichte vom Ausflug: „Mit der ‚Forelle‘ unterwegs auf der Flensburger Förde“ oder „Tagebuch vom Wochenende“
Ƒ
Ƒ
Weiterarbeit an der Rechtschreibkartei, Nr.: .......................
Ƒ
Mathematik: Ƒ
Übungsheft S. ...., Nr. .... Arbeitsblatt mit Textaufgaben (Fischfang an der Küste)
Sachunterricht: Thema: „Leben und Arbeiten an der Förde“ (Arbeiten für den Abschlusskreis und die Ausstellung) Gruppe 1: Textbuch erstellen mit der Artikelsammlung aus Ƒ dem „Flensburger Tageblatt“ (für die Ausstellung)
Ƒ
Ƒ
Ƒ
Gruppe 2: Der Heringszug und der Heringszaun in Kappeln, Bericht und Plakat für Abschlusskreis vorbereiten
Ƒ
Ƒ
Gruppe 3: (Interviewgruppe) Auswertung des Interviews mit Fischer Hansen: Heringsfang gestern und heute
Ƒ
Freiarbeit:
Ƒ
Für (Name)
Gruppe 4: ..... Weiterarbeit am „Kettenkrimi“ (mit Holger absprechen) Üben für den Vorlesekreis (mit mir absprechen) Aufgaben aus der Rechtschreib/Mathe/Geschichtenkartei und Arbeit in den „Arbeitsecken“ nach Wahl: ................................ Meine Vorhaben in dieser Woche: ........................................... ................................................................................................... (Individuelle Hinweise/Aufgaben/Aufträge)
Ƒ
Ƒ
386 Reformpädagogik
Es handelt sich um einen (fiktiven) Wochenplan für ein 4. Schuljahr. Zur Einübung in die Praxis des Wochenplans kann anfangs auch mit Tagesplänen (etwa für 1 – 2 Schulstunden) begonnen werden. Auf die in den niederländischen Dalton-Plan-Schulen erprobte Praxis der Verwendung von Symbolen zur Kennzeichnung von Arbeitsaufträgen in den ersten Schuljahren (aus Rücksicht auf die Leseanfänger) sei ergänzend hingewiesen. In der einschlägigen Literatur finden sich zahlreiche weitere Beispiele.
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Gruppenunterricht und der Begriff der Freiheit in der pädagogischen Situation
In der rigiden Form des Frontalunterrichts lernen die Schüler als Einzelne parallel und in Ausrichtung auf Lehrer und Tafel jeweils das Gleiche. Die „Kommunikationslinien“ gehen vom Lehrer als dem Motor und Mittelpunkt des Unterrichtsgeschehens aus und führen – gleichsam ohne Umwege – von den einzelnen Schülern zu ihm zurück. Lehrerfrage und Einzelschülerantwort sowie Lehreranweisung und Einzelschüler(still)arbeit sind die elementaren Bestandteile dieses Prozesses. Der Gruppenunterricht ist demgegenüber auf eine Stärkung der sozialen Seite des Lernprozesses ausgerichtet. Er geht von der vielfach verifizierten Annahme aus, dass die Schüler nicht nur mit- und voneinander lernen können, sondern dass sie auf diese Weise viele sachlichen Inhalte auch besser sowie manche sozialen Fähigkeiten (wie Kooperation) überhaupt erst durch die „Öffnung“ und Bereicherung der kommunikativen Situation lernen. Gegenüber dem „Strahlenbündel“ beim Frontalunterricht ist das kommunikative Grundmuster jetzt das „Wollknäuel“, also Kommunikations- und Interaktionslinien zwischen allen Beteiligten. Bereits die Klasse als Ganzes kann in diesem Sinne als Gruppe gesehen und durch geeignete pädagogische Maßnahmen (um)gestaltet werden. Im allgemeinen wird aber unter Gruppenunterricht die zeitweise Aufteilung der Klasse in eine Anzahl kleinerer Gruppen verstanden, die selbständig entweder am gleichen oder an verschiedenen – dann meist durch ein übergeordnetes Thema zusammengehaltenen – Themen arbeiten (themengleicher oder themendifferenzierter bzw. arbeitsteiliger Gruppenunterricht). Das methodische Grundmuster des Gruppenunterrichts lässt sich auf die einfache Formel bringen: Ausgehend von einer Phase der Themenfindung, Aufgabenstellung, Kleingruppenbildung sowie Aufgabenverteilung in der Großgruppe arbeiten die verschiedenen Gruppen selbständig, um nach Abschluss ihrer Arbeit die Ergebnisse in geeigneter Form in die Großgruppe einzubringen. Diese einfache Formel darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich beim Gruppenunterricht um eine der schwierigsten und pädagogisch anspruchsvollsten methodischen Formen handelt. Sein heutiges Verständnis ist aus einem langen Entwicklungs- und Forschungsprozess erwachsen. Ernst Meyer beginnt seinen historischen Exkurs zum Gruppenunterricht mit der lapidaren Feststellung: „Die Geschichte der Pädagogik weist zu allen Zeiten Schulen auf, die die besonderen Werte der Kooperation ihrer Schüler schätzten und pflegten.“13 Sein Exkurs führt in die Schulen der Reformation und Gegenreformation, in die englischen und französischen Schulen des 18./19. Jahrhunderts, in die deutschen Landschulen seit Pestalozzi und schließlich in die Zeit der internationalen Reformpädagogik, in der der Gruppenunterricht eine methodisch differenziert ausgearbeitete Form gefunden hat. Vor allem sind hier die Vertreter des Arbeitsschulgedankens zu nennen (Meyer nennt u.a. Kerschensteiner, Gaudig und Makarenko, zu ergänzen wäre Frei-
13
Meyer, Ernst (1964, Erstaufl. 1954): Gruppenunterricht – Grundlegung und Beispiel, Worms: Ernst Wunderlich, S.21
Die Erweiterung des Lernbegriffs 387
net), ferner die verschiedenen gruppenunterrrichtlichen Versuche in Amerika (Projektplan, Winnetkaplan u.a.) und in Europa. Aus dem Kreis der „jüngeren“ Reformpädagogen erscheinen mir dabei die Ansätze von Roger Cousinet (1881-1973) in Frankreich und Peter Petersen (1984-1952) in Deutschland von besonderem Interesse. Sie haben schulnahe Konzeptionen vorgelegt, von denen für die weitere Entwicklung des Gruppenunterrichts weitreichende Impulse ausgegangen sind. Das Konzept der weiter unten skizzierten niederländischen „Weltorientierung“ beruht in wesentlichen Punkten auf Petersens Anregungen. Mit dem Hinweis auf Cousinet will ich zugleich das Werk eines viel zu wenig beachteten Pädagogen in den Blick rücken. Seinem Konzept der „Freien Gruppenarbeit“ müsste im Rahmen eines kritischen Diskurses um „Offenen Unterricht“ und „Freie Arbeit“ eigentlich eine herausragende Bedeutung zukommen. Roger Cousinet14 ist von 1910 bis 1941 in verschiedenen Regionen Inspekteur für die Primarschule, von 1945 bis 1957 hält er an der Pariser Sorbonne Vorlesungen über pädagogische Psychologie. 1922 gründet Cousinet die Zeitschrift „La Nouvelle Education“, die bis 1939 erscheint und ein bedeutsames Diskussionsforum wird. Um Cousinet bildet sich eine Gruppe gleichen Namens, die durch zahlreiche Kongresse und Ausstellungen im Verein mit regionalen Gruppen für ihre Ideen wirbt. In jenen Jahren gilt Cousinet als wichtigster Repräsentant der französischen Reformpädagogik. Nach dem 2. Weltkrieg, nun bereits im Ruhestand, gründet er zusammen mit François Chatelain die Ecole Nouvelle La Source, die bis heute besteht (in F-92190 Meudon). Eine neugegründete Zeitschrift, „L’Ecole Nouvelle Française“, erscheint bis 1964. – Sein wichtigstes und bekanntestes Werk, erschienen 1945, lautet „Une Methode de travail libre par groupes“. Er berichtet darin ausführlich über seine von 1920 bis 1942 nahezu ohne Unterbrechung durchgeführte Versuchsarbeit. Seine Methode habe Interesse gefunden „in der Stadt, auf dem Lande (in Mädchen- und Jungen- sowie in gemischten Schulen), in 40 Klassen, bei vielleicht tausend Kindern. In einer Mädchenschule konnte eine Lehrerin über sieben Jahre die Schülerinnen mit meiner Methode begleiten und zur Arbeit anleiten.“15 Bereits anlässlich des Jahreskongresses der „Nouvelle Education“ 1924 in Lyon hat Cousinet in dem Vortrag „Jeu libre – travail collectif libre“ die Grundlinien seines Konzeptes vorgetragen und zur Diskussion gestellt. Es gründet auf einem genauen Studium des „natürlichen“ geselligen Lebens der Kinder, insbesondere des Spiels, an dem er vier Merkmale hervorhebt: 1. Es ist eine freie Aktivität, 2. es folgt einem natürlichen Interesse (instinct naturel), 3. es hat Regeln, 4. es wird im Verein mit anderen (collectif) ausgeführt. Knüpft die Schularbeit daran an, werden die Arbeitsfreude, das Selbstvertrauen und die Fähigkeit, selbständig zu lernen gestärkt. Der Arbeit selbst und der Gruppe kommt dabei eine „auto-korrektive“ und „auto-edukative“ respektive sozialisierende Funktion zu. In dem genannten Vortrag fasst Cousinet die schulpädagogische Schlussfolgerung zusammen: „So sind es diese vier Bedingungen, die mir unabdingbar erscheinen, damit die Arbeit sich dem Spiel angleichen kann: es ist nötig, dass in der Schule annähernd die Arbeitsformen („types de travail“, gemeint sind inhaltliche und methodische Aspekte gleichermaßen – E.S.) vorhanden sind, die jedes Kind in die Lage versetzen, das zu wählen, was ihm geeignet erscheint; dass jede Arbeitsform auf einem natürlichen Interesse (instinct naturel) beruhe; dass diese Arbeitsformen ihre Regeln haben; und dass die Kinder die Freiheit haben, zusam-
14 Zu Person und Werk: Houssaye, Jean (1994): Roger Cousinet (1881-1973), in: Houssaye, Jean (Hsg.) (1994), Quinze Pedagogues. Leur influence aujourd`hui, Paris: Armand Colin Editeur 15 Cousinet, Roger (1945): Une méthode libre par groupe, Ligugé (Vienne): Les Editions du CERF, S.69
388 Reformpädagogik
men zu arbeiten. Das sind genau die Bedingungen, die ich versucht habe zu realieren.“16 Cousinet will dabei die Gruppenarbeit nicht nur als wichtiges Moment schulischer Praxis integrieren, sondern Schule und Unterricht insgesamt als Gruppenarbeit organisieren. „Der Lehrer (oder die Lehrerin) schafft das ‚Podium‘ ab, plaziert seinen Tisch und seinen Stuhl in eine Ecke der Klasse, installiert so viele Tafeln (für das Notieren der Arbeitsergebnisse – E.S.) wie er Gruppen erwartet (indem er etwa von 6 Kindern pro Gruppe ausgeht). Außerdem stellt er die wichtigsten Mittel für die Arbeit (éléments du travail) zur Verfügung: im Rahmen des Möglichen Materialien und Werkzeuge für die kreativen Tätigkeiten ( travail de création; gemeint sind künstlerische und handwerkliche einschließlich gärtnerische Tätigkeiten – E.S.); Dokumente für die intellektuelle Arbeit (travail de connaissance) (Pflanzen, Insekten, historische Dokumente), alles in einer kleinen Anzahl, um einen Anstoß zur Arbeit zu geben (donner l’élan au travail) und um einige Arbeitstypen vorzuschlagen. Den Rest werden die Kinder erledigen.“17 Auf die Bildung der Arbeitsgruppen nimmt der Lehrer nicht den geringsten Einfluss. Hinsichtlich der Arbeit lässt er den Gruppen völlige Wahlfreiheit. Und den einzelnen Gruppen wird dem Anspruch nach eine nahezu unbegrenzte Autonomie gewährt. Freilich überlässt der Lehrer „den Rest“ keineswegs ausschließlich den Kindern. Auch bei Cousinet hat er weitere pädagogische Funktionen inne wie Informieren, Beraten, Korrigieren, Setzen von Arbeitszielen. Der Gedanke der „travail libre par groupe“ ist der Kristallisationskern von Cousinets Pädagogik, die im übrigen ein soziologisch, psychologisch und schulpädagogisch aspektreiches Ganzes bildet. Nur deshalb konnte sie eine anhaltende Wirksamkeit entfalten. Und eine Reihe von Schulen nimmt heute wieder ausdrücklich auf Cousinet Bezug, nämlich die kleine Gruppe von Schulen (ihre Anzahl schwankte in den letzten Jahren zwischen 5 und 20) der französischen „Association Nationale pour le développement de l’Education Nouvelle“. Anders als Cousinet versucht Peter Petersen nicht, den gesamten Unterricht auf die freie Gruppenarbeit zu gründen. Gleichwohl weist er dem Gruppenunterricht einen zentralen Stellenwert innerhalb seines Schulkonzeptes (Jenaplan) zu. Das wird schon bei einem Blick auf den „Wochenarbeitsplan“ deutlich, der „Schularbeit und Schulleben in ihrem Wochenrhythmus“ regelt. Außer sonnabends findet an jedem Schultag der Woche „von der Kulturwelt her“ oder „von der Natur her bestimmte Gruppenarbeit“ statt.18 Sie ist der Bildungsgrundform „Arbeit“ zugeordnet, die nach Petersen neben Spiel, Gespräch (Unterhaltung) und Feier eine der vier „Urformen“ bildet, in denen der Mensch „nach außen hin tätig (wird) im Verein mit anderen“.19 Im Einzelnen wie in ihren wechselseitigen Bezügen, Verschränkungen und Übergängen bilden diese vier „Urformen“ nach Petersens Auffassung die eigentliche Grundlage für das Bildungsgeschehen in den – je nach Intentionen sehr unterschiedlichen und vielgestaltigen – pädagogischen Situationen. In dem Werk „Die Praxis der Schulen nach dem Jenaplan“ (1934) hat Hildegard Borkenhagen eine Übersicht über den „Gruppenunterricht in den einzelnen Stammgruppen“ gegeben und Petersen ergänzt diese Ausführungen mit grundsätzlichen Überlegungen zu den fünf „Stufen des Gruppenunterrichts“20:
16 Cousinet, Roger (1924): jeu libre – travail collectif libre; Wiederabdruck in: Education et Développement, Nr. 87, juil. Sept. 1973, Zitat: S.48 17 Cousinet (1945), S.64 18 Vgl. Petersen, Peter (1937/1971), a.a.O., S.108ff und Petersen, Peter (1927/1980): Der Kleine Jena-Plan, Weinheim: Beltz, S.52 19 Petersen (1971), S.33. Siehe auch Kapitel 9 in vorliegendem Buch. 20 Petersen, Peter (Hsg.) (1934): Die Praxis der Schulen nach dem Jena-Plan, Weimar: Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger. Die Zitate im Text sind ebd. auf den Seiten 67-92 aufzufinden.
Die Erweiterung des Lernbegriffs 389
1. „Die Bestimmung der Aufgabe. Oberste Grundsätze zur Sichtung und Ordnung. Wie beginnt man das erstemal? Die entscheidende Bedeutung dieser ersten Stufe.“ Der Stoff soll den folgenden 4 Grundsätzen entsprechen, nicht in jedem Fall unbedingt allen, aber doch so, dass er wenigstens einem entspricht und keinem widerspricht: Petersen fordert (1.) die Nähe zum Leben des Kindes (biopsychisches, phasenspezifisches und entwicklungspsychologisches Merkmal), (2.) die Berücksichtigung der Bildungsbedürfnisse des individuellen Kindes und (3.) der „Bedürfnisse der Gegenwart und deren Anforderungen, der Zeit des Kindes ... (Kulturmerkmal)“; des weiteren (4.) einen „belebenden und erhebenden“ geistigen Gehalt, der der Schulgemeinschaft im Ganzen zugute kommt („Gemeinschaftsmerkmal“). Er betont ausdrücklich, die Schüler „hier bei der Planlegung der Arbeit mitraten, mit aussuchen und entscheiden zu lassen.“ 2. „Die Quellen; die Arbeitsmittel. Wer beschafft sie? Die Einführung der Quellen und Arbeitsmittel.“ Petersen listet eine Fülle an Arbeitsmitteln auf. Er unterscheidet „Quellen ersten Grades“, die sich in unmittelbarem Kontakt mit der „Natur und (dem) Menschenleben“ innerhalb und außerhalb des Klassenzimmers als Beobachtungen, Erlebnisse, Erfahrungen usw. ergeben und pädagogisch nutzen lassen. „Erst an zweiter Stelle stehen die gedruckten Quellen“. Die Liste der in Jena „erprobten Arbeitsmittel für sämtliche Gruppen“ umfasste seinerzeit „30 Folioseiten in Maschinenschrift“. Der Gruppenleiter wird bei der Beschaffung „eine Hauptrolle spielen“ aber alle sind aufgefordert, beim Aufspüren und Sammeln geeigneter Materialien mitzuwirken. Übersichtlichkeit und Ordnung sind unbedingte Voraussetzung einer sinnvollen Nutzung; jedes Arbeitsmittel ist hinsichtlich Nutzen und Gebrauch eigens einzuführen. 3. „Die Ausarbeitung“ und die „pädagogischen Aufgaben des Lehrers während des Gruppenunterrichts“. Je nach Grad der erreichten Fähigkeit zu angemessener Selbsteinschätzung und zum selbständigen Arbeiten wählen die Schüler (sie waren ja bereits bei der Planung beteiligt) ihre Aufgaben selbst oder mit Unterstützung des Lehrers aus; nötigenfalls gibt er auch gezielte Anordnungen. Während der Erarbeitungsphase hat er „arbeitende Schüler zu unterstützen, auszuhelfen, zu steuern, zu führen und dabei in letzter verantwortlicher Instanz dafür zu sorgen, dass sich das Arbeiten im Raume in guter Ordnung vollzieht...“ Das kann nur durch planvolle Übungen mit den Schülern gelingen und erst ihre Beherrschung „des Raumes nach allen Seiten hin“ sichert die Freiheit zu einem reichen Unterrichtsleben in der Gruppe. 4. „Die Darbietung: Vorbereitung, ... , Bericht, Besprechung und Auswertung.“ Die einzelne Gruppenarbeit mündet in einen durch Notierung von Stichpunkten, Anfertigen von Zeichnungen, Übersichten an der Tafel usw. gut vorbereiteten Bericht vor der ganzen Gruppe, an den sich Fragen und ein freier Gedankenaustausch anschließen können. Es ist auch der Ort, wo der Lehrer in rücksichtsvoller Weise ihm nötig erscheinende „Zusätze, Vertiefungen und Verbindungen gibt.“ 5. „Die Zusammenfassung. Wiederholen. Einprägen, Mindestlernstoffe.“ Es ist die Aufgabe des Lehrers, bereits während der ganzen Arbeitszeit darauf zu achten, „was vor allen Dingen hervorgehoben, geübt und schließlich auch ganz oder in Teilen eingeprägt werden soll.“ Eine Ausstellung etwa kann die Einzelergebnisse zusammenfassend und unter dem Aspekt des „wirklich Wissenswerten“ darstellen und innerhalb der Schule präsentieren. Im Zusammenhang mit diesen Erwägungen stellt Petersen fünf Vorteile des Gruppenunterrichts heraus: Dem einzelnen widerfahre Gerechtigkeit ohne in die Gefahr einer zu starken Individualisierung des Unterrichtslebens zu geraten; dem „schweigenden Denken“, dem Schaffen „aus der Ruhe heraus“ werde größter Spielraum gewährt; der Schüler werde in ein viel „innigeres Verhältnis zum Stoff“ gebracht; dem „nebenhergehenden Lernen“, dem „Zwischenlernen“ werde Raum geboten („Unter Zwischenlernen soll verstanden werden alles, was während der Arbeit an
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einem Teilgebiet mitgelesen, mitbesprochen, diskutiert wird, Anregungen für weiteres Nachdenken und nebenhergehende Arbeiten liefert.“); „ein ganz anderes Freiwerden der menschlichen Beziehungen, des ‚Zwischenmenschlichen‘“ könne beobachtet werden. Cousinets „freie Gruppenarbeit“ wie Petersens „Gruppenunterricht“ sind aus der langjährigen Arbeit an der Schulreform erwachsen. Beide versuchen, die methodische Einseitigkeit der „pédagogie traditionelle“ bzw. der „alten Schule“ durch die Entwicklung neuer Formen zu überwinden. Selbst bei einer kritischen Einstellung zu ihren Konzepten wird man zugeben müssen, dass die Schüler in ihrem Rahmen weitgehende Mitwirkungsmöglichkeiten haben. Sie haben die Chance, „sich Gehör zu verschaffen“, und zwar in einem Maße, wie es wahrscheinlich weder seinerzeit noch heute in der Alltagspraxis der Schule allgemein erreicht worden ist. Indessen müssen auch Einwände vorgebracht werden, die zeigen, dass beide Konzeptionen ihre „blinden Flecken“ haben, die es verbieten, sie heute ohne kritische Revision einfach als brauchbare Reformkonzepte zu übernehmen. Auch hier gilt – in Anlehnung an Adorno formuliert – , dass nichts unverwandelt gerettet werden kann. Was „zu retten“ wäre und wie es als nun Verwandeltes (weil anders gegründetes) in einer neuen Form einfließen könnte, ist nur mit einer theoretischen Perspektive zu leisten, die über die Phänomene der Praxis hinausreicht. Die Schwäche der Konzeptionen liegen nämlich weniger in ihrer Praktikabilität – sie wurde ja in beiden Fällen über Jahre hinweg erprobt – als in der theoretischen Fundierung ihres Autoritäts- und Freiheitsbegriffes, wie er sich in der zugewiesenen Funktion des Lehrers manifestiert. Der Schlüssel von Cousinets pädagogischem Freiheitsbegriff liegt im Begriff des „wahren Bedürfnisses“ (vrai besoin). Erkennen der zahlreichen Bedürfnisse des Kindes und das Bereitstellen der Mittel zu ihrer Befriedigung ist für Cousinet die zentrale Aufgabe der „neuen Erziehung“.21 Es ist die Grundlage der Möglichkeit zur Befreiung des Kindes von unnötigem Zwang zur Überwindung von Entfremdung. Cousinet will die Rolle des Lehrers auf die Funktion eines Vorbereiters und Initiators bedürfnisgerechter kindlicher Lernprozesse reduzieren, und zwar derart, dass die Lernprozesse dann ohne weitere Eingriffe in einem quasi-naturwüchsigen Prozess autonom ablaufen. Indessen zeigt ein Blick in Cousinets Schriften zur Konzeption, dass diese Perspektive von ihm nicht wirklich durchgehalten werden kann. Bereits die Vorbereitung, das Zurverfügungstellen der Mittel bedeutet faktisch eine Normierung des Lernprozesses, dessen Maß auch außerhalb kindlicher Bedürfnisse liegt und mit diesen in Konflikt geraten kann. Die „éléments du travail“, etwa die historischen Dokumente, die Pflanzen und Insekten tragen durchaus die Wesenszüge ihrer curricularen Verwandten – wie es in Frankreich mit der Dominanz der „Education Nationale“ damals wie heute kaum anders zu erwarten ist. Aber auch „den Rest“ erledigen die Kinder keineswegs von selbst; der Lehrer behält seine leitende, beratende und insgesamt eben den Prozess maßgeblich bestimmende Funktion. Petersen dagegen ist schon auf Grund seines erweiterten Bildungsbegriffes gegen eine freiheitsideologisch reduzierte und verzerrte Rollenbestimmung des Lehrers gefeit. Im Gegenteil weist er dem Lehrer – unter Beibehaltung einer Begrifflichkeit der Freiheit – eine dominante Position zu. Bei der „Bestimmung der Aufgabe“ etwa (Stufe 1) beraten die Kinder zwar mit, aber: „Wiederum nicht im Sinne irgendwelchen Abstimmungsverfahrens, sondern so, dass vom Führer die beste Meinung, der beste Vorschlag aufgegriffen und dann ausgeführt wird.“22 Und er reflektiert sehr 21 Vgl. Cousinet, Roger (1986): Analyse des besoins des enfants que l’éducation doit respecter, in: ders.:L’Education nouvelle, Delachaux et Niestlé 22 Petersen (1934), S.80
Die Erweiterung des Lernbegriffs 391
ausführlich über die „Grundregeln der Kunst, sich frei bewegende und arbeitende und sich frei fühlende Kinder zu leiten.“23 Nach Petersens Erfahrungen bleibt die „unmittelbar leitende, still und unmerklich regelnde, dabei um so stärker aber beobachtende und die Schüler charakterologisch allseitig prüfende Tätigkeit des Lehrers unumgänglich nötig.“24 Das ist für Petersen eine grundlegende Bedingung für die Möglichkeit von Freiheit in der pädagogischen Situation. Man mag das als eine – gegenüber Cousinet – erfreulich realistische Sicht schulischer Bedingungen einschätzen. Eine solche Sicht führt aber am Problem der Freiheit vorbei, weil ihre Bedingungen und Grenzen im pädagogischen Prozess selbst nicht zur Sprache gebracht werden, sondern in der Kompetenz und Autorität des Lehrers aufgehoben und so dem Schüler verborgen bleiben. Der Lehrer ist eben der „still und unmerklich Regelnde“. Petersen kann dann auch durchaus folgerichtig in Bezug auf den Gruppenunterricht sagen: Die Schüler „sollen beileibe nicht tun, was sie wollen, aber wir möchten, dass sie wollen was sie tun!“25 Eine solche Sichtweise untergräbt jeglichen Begriff von Freiheit in der pädagogischen Situation (nicht notwendigerweise jegliche Momente von Mitwirkung in ihr), weil das Handeln des Schülers – ihm selbst weitgehend unbewusst – in der Botmäßigkeit des Lehrerwillens verbleibt. Es handelt sich also um eine subtile Form der Manipulation. Sie wird auch dadurch weder aufgehoben noch gemildert, wenn Petersen den Lehrer in die Pflicht einer hohen Ethik – er spricht in diesem Zusammenhang von den „geistigen Tugenden“ – des Dienstes am Menschen und an der Gemeinschaft nimmt. Beide, Cousinet ebenso wie Petersen – so kann zugespitzt formuliert werden –, huldigen dem bloßen Schein der Freiheit, freilich jeweils auf unterschiedliche Weise. Bei Cousinet geschieht dies, indem die situativ gesetzten Grenzen der Freiheit durch eine Ideologie des spontanen, autonomen, bedürfnisgeleiteten Lernens überspielt werden; bei Petersen geschieht dies, indem unter der Prämisse eines harmonistischen Gemeinschaftsbegriffs diese Grenzen im Lehrerwillen aufgehoben und verdeckt sind. Wir haben es dann mit sich frei fühlenden Kindern zu tun, die wollen, was sie sollen und die gar nicht die Möglichkeit haben, einen dem Lehrerwillen und Lehrerurteil entgegengesetzten Willen zur Geltung zu bringen. – In beiden Konzeptionen kommt die Möglichkeit von Freiheit nicht in den Blick. Diese ist nur dort gegeben, wo ihre faktisch bestehenden Grenzen in der pädagogischen Situation nicht ignoriert (Cousinet) oder verdeckt (Petersen), sondern als solche prinzipiell dem Bewusstsein zugänglich gemacht werden. Freiheit entsteht nur dort, wo ihre Grenzen wirklich erkannt und anerkannt werden (letzteres in einem Akt der Demut oder aus rationaler Einsicht in ihre Unabänderlichkeit oder Notwendigkeit) oder wo diese Grenzen erkannt und negiert werden (aus Einsicht in die Möglichkeit ihrer Erweiterung oder Überwindung in der Perspektive eines zukünftigen Gewinnes an Handlungsmöglichkeiten). Cousinet und Petersen haben entgegen ihrer Rhetorik der Freiheit keinen tragfähigen pädagogischen Begriff von Freiheit, weil die prinzipielle Spannung zwischen Lehrer- und Schülerwillen sowie zwischen pädagogischer Notwendigkeit und individueller Bedürfnislage im einen Fall nicht gesehen und negiert wird (bei Cousinet), im anderen zwar gesehen aber nicht problematisiert wird (bei Petersen). In beiden Fällen ist ein „Lernen ohne Zwang“, ein Lernen in Freiheit, nur dem Schein nach möglich. Der Sinn des Freiheitsbegriffs kann erst dann eingeholt werden, wenn die Grenzen und Widerstände der Freiheit selbst zum Gegenstand der Reflexion in der pädagogischen Situation gemacht werden. Dann tun die Kinder bei einem interessanten Unterricht sicher immer noch was sie sollen, aber sie tun es in dem Bewusstsein, dass sie es gelegentlich oder partiell „unwillig“ tun – und sie haben eine reelle Chance, sich mit ihren eigenen Interessen und Wünschen 23
Petersen (1937/1971), S.163ff Ebd., S.102 25 Petersen (1934), S.81 24
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eventuell bei nächster Gelegenheit erneut Gehör verschaffen zu können. Es geht also um die Integration des Grundgedankens jeglicher emanzipatorischer Erziehung. Er beinhaltet die prinzipielle Möglichkeit der Aufklärung des Schülers hinsichtlich der bestehenden Zwänge und der Verfügungsgewalt über sich durch andere (Strukturen, Institutionen, Personen, Prozesse). Das kann in einer ersten Annäherung zumindest in der Weise geschehen, dass entsprechende kritische Anfragen und Äußerungen von Seiten der Schüler nicht als bloße Störungen abgetan oder durch einen autoritären erzieherischen Gestus unterdrückt, sondern der gemeinsamen Reflexion zugänglich gemacht werden. Erst die neueren Konzeptionen des Gruppenunterrichts nehmen diese Dimensionen auf, heute meist unter dem Begriff des „Metaunterrichts“ oder der „Metakommunikation“, das ist die Verständigung über die gemeinsamen Ziele, die Bedingungen und den Verlauf des gemeinsamen Interaktionsprozesses. Sie kann (und sollte) in Phasen des Entscheidens und Bewertens einen festen Ort haben. Die Erweiterung des Gruppenunterrichts um die Dimensionen emanzipatorischer Erziehung geht vor allem auf den Einfluss zweier Theorieströme zurück: Gruppendynamik und Rollen- bzw. Interaktionstheorie. Die Gruppendynamik rückt die Beziehungsproblematik innerhalb von Gruppen und mit ihr die manifesten und latenten Machtverhältnisse zwischen ihren Mitgliedern in den Blickpunkt. Guppendynamische Erkenntnisse entstammen meist einem therapeutischen oder außerschulischen Kontext (z.B. Managertrainingskurse). Ihre Grundlagen entstammen verschiedenen Ansätzen der Tiefenpsychologie und der Humanistischen Psychologie. Sie können nicht ohne Modifikationen und vor allem nicht ohne eine gründliche Schulung von seiten des Lehrers in die pädagogische Situation eingebracht werden. Die Gruppendynamik mahnt die Beachtung der emotionalen Dimension in Gruppenprozessen, die – möglichst unverzügliche – Klärung von emotional bedingten Störungen und die Entwicklung der „Sensibilität für die Selbst- und Fremdwahrnehmung“26 an. (Ein eigener inzwischen vielfach gegliederter Zweig der Pädagogik, die sogenannte Humanistische Pädagogik, versucht, gruppendynamische Erkenntnisse für die Schularbeit fruchtbar zu machen.27) Über den zweiten Theoriestrom, die Rollen- und Interaktionstheorie mit ihrem Fundament einer kritischen Theorie der Gesellschaft (der sogenannten „Frankfurter Schule“), wurde die Dimension des sozialen Lernens um den Aspekt emanzipatorischer Bildung erweitert. Ihre Zielformel kann als Befähigung zur Erkenntnis und zum Abbau von rational nicht legitimierbarer Herrschaft gefasst werden. Hilbert Meyer hat die Konzeption eines „Handlungsorientierten Unterrichts“ entworfen (es handelt sich der Organisation nach um eine Form des Gruppenunterrichts), in der der emanzipatorischen Dimension eine grundlegende Funktion zukommt. „Weil es unmöglich ist, die Schüler unter Umgehung oder Unterdrückung ihrer subjektiven Interessen zur Mündigkeit und Selbständigkeit zu führen, müssen die Schüler die Chance haben, sich des Zusammenhangs ihrer subjektiven und objektiven Interessen im Unterricht bewusst zu werden.“28 Unter objektiven Schülerinteressen versteht Meyer die in der gegenwärtigen und zu erwartenden zukünftigen gesellschaftlichen Situation verankerten Motive der Bildung und des Lernens, die überindividuell gelten und in der Erziehung berücksichtigt werden müssen. (Es handelt sich knapp formuliert um die Kategorie „Welt“ im Ich-Weltbezug des Bildungsprozesses.) Der Unterricht muss nun Freiräume schaffen, „in denen sich die Schüler im handelnden Umgang mit dem neuen 26
Meyer, Hilbert (1987), Bd.II, S. 239 Eine gute Einführung ihrer psychologischen Grundlagen ist zu finden in dem Buch: Kriz, Jürgen (1985): Grundkonzepte der Psychotherapie, München u.a.O.; Urban und Schwarzenberg 28 Meyer, Hilbert (1987), Bd.II, S.414 27
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Thema ihrer Interessen bewusst werden können.“29 Er will diese Dimension vor allem durch einen der Erarbeitungsphase (der Phase des Gruppenunterrichts im engeren Sinne) vorgeschalteten Verständigungsprozess über das angestrebte Handlungsprodukt sichern, weist aber gleichzeitig darauf hin, dass Handlungsorientierter Unterricht unter der Maßgabe von Mündigkeit mit einem gesellschaftlichen Umfeld von Schule zu rechnen hat, „das so strukturiert ist, dass ein nichtentfremdetes Leben und Lernen in der Schule nur ansatzweise und widersprüchlich möglich ist.“30 Welchen Nutzen bringt nun der Gruppenunterricht? Meyer (Ernst, nicht Hilbert) kommt nach der Durchsicht zahlreicher Vergleichsuntersuchungen zu folgendem Ergebnis. Ich zitiere es ausführlich, weil sich darin gleichzeitig die wichtigsten Zielsetzungen widerspiegeln: „Der Unterricht mit Kleingruppenarbeit ist einem Unterricht ohne Kleingruppenarbeit sowohl in der Reproduktion von Wissen als auch in der Beherrschung geistiger Arbeitstechniken weit überlegen. Das erworbene Wissen haftet nachhaltiger. – Die Überlegenheit zeigt sich ebenfalls hinsichtlich der Ausprägung sozialer Verhaltensweisen der Schüler. Neben einer engen und beständigen Kontaktstruktur ist auch ein kooperatives, kohäsiveres und disziplinierteres Verhalten nachweisbar. – Weiterhin zeigt sich eine Überlegenheit hinsichtlich persönlichkeitsformender Faktoren. Die Leistungspersönlichkeit, d.h. Aktivität und Produktivität, Arbeitsintelligenz und Verhaltenssteuerung werden ebenso gesteigert wie die Sozialpersönlichkeit, d.h. Kontaktverhalten und Sozialaktivität. ... Die Beobachtung und Beschreibung von Gruppenprozessen, der Beziehungszusammenhang verschiedener Interaktionen in der Gruppe und die Entwicklung gruppenimmanenter sozialer Prozesse waren die bevorzugten Gegenstände zahlreicher Studien. Positive Kurzzeiteffekte konten differenziert nachgewiesen werden: – Veränderung von Sensitivität: Zunahme der Selbstreflexivität, .... Reduzierung starker seelischer Beeinträchtigungen wie Gehemmtheit, Nervosität, Depressivität, Angst. – Veränderung von Einstellungen: Zunahme von Gefühlsorientierung gegenüber intellektueller Orientierung. Zunahme der Bevorzugung affektiver Beziehungen, Zunahme der Initiative und der Rollenflexibilität, positive Gefühle und Einstellungen der eigenen Person gegenüber. – Veränderung der Leistungsfunktion: Bessere Diagnose von Problemen in der Gruppe, verbesserte Kommunikationsfähigkeit, Zunahme der Fähigkeit zu Planung und Koordination.“31 Als Beispiel für eine Form des Gruppenunterrichts unter normalen schulischen Bedingungen sei auf das Konzept der „Weltorientierung“ verwiesen, in dem die Phasenkomponenten noch einmal anschaulich werden. Auch der „Projektunterricht“ kann als eine besondere Form des Gruppenunterrichts angesehen werden, in der allerdings die „normalen“ schulischen Bedingungen eine stärkere Modifizierung oder gar Aufhebung erfahren. 5
Projektunterricht
Die Bezeichnung „Projektunterricht“ verweist auf die Intention, dem Gedanken des planvollproblemorientierten Handelns einen zentralen Stellenwert zu geben. Wilhelm Heard Kilpatrick, neben John Dewey der wichtigste Repräsentant der „Progressive Education“ in Amerika, verteidigt die Ansicht, „dass planvolles Handeln aus ganzem Herzen heraus in einer sozialen Situation als typische Einheit des Schulverfahrens der beste Garant der Nutzbarmachung der angeborenen 29
Ebd., S.415 Ebd., S.403 Meyer, Ernst (1991): Der Gruppenunterricht in Theorie und Praxis, in: Meyer, E. und Winkel, R. (Hsg.) (1991): Unser Ziel: Humane Schule, Hohengehren: Schneider, S.161f
30 31
394 Reformpädagogik
Fähigkeiten des Kindes ist, die jetzt so häufig vergeudet werden. Planen unter richtiger Leitung heißt erfolgreiches Wirken, nicht nur durch das Erreichen des geplanten Zieles der augenblicklich vorliegenden Tätigkeit, sondern sogar mehr durch die Gewinnung des Lernens aus der Tätigkeit, das sie als Möglichkeit enthält.“32 Sein 1918 erstmalig erschienener Aufsatz kündigt im Titel bereits die Grundidee an: „Die Projekt-Methode. Die Anwendung des zweckvollen Handels im pädagogischen Prozess“. Es handelt sich also – mit Dewey33 gesprochen – um ein „learning by doing“; mithin um eine Begründung der Schularbeit aus dem Geist des Pragmatismus. – Kilpatrick ist nicht der „Erfinder“ des pädagogischen Projektgedankens. Dessen Ursprung reicht bis in die Architekturakademien des 18. Jahrhunderts zurück, von wo die Ideen über Deutschland ihren Weg in das amerikanische berufsbildende Hochschulwesen fanden. Aber erst Kilpatricks programmatische Schrift wurde zum Auftakt einer beispiellosen internationalen Rezeptions- und Entwicklungsgeschichte, die sich in zahlreichen Schulversuchen und Tausenden von Publikationen niedergeschlagen hat.34 Es besteht im übrigen, darauf sei ergänzend hingewiesen, in Hinsicht auf den Lernbegriff (Betonung der Aktivität und der zielgerichteten Planung und Ausführung eines materiellen oder geistigen „Produktes“) eine innere Verwandtschaft mit allen Konzeptionen der Arbeitsschule (Kerschensteiner, Gaudig, Scheibner, Blonskij, Makarenko, Ferrière, Freinet), mit allen Schulen, die dem Moment selbständiger, bildender Arbeit einen hohen Stellenwert zumessen (Landerziehungsheime, die historischen Vorläufer und gegenwärtigen Formen der Freien Alternativschulen, die „Gruppenarbeit“ im Jenaplan) und mit dem „Vorhaben“ (Haase, Reichwein, Kretschmann) in den reformpädagogisch orientierten Landschulen.35 Der Projektgedanke hat in der Form von „Projektwochen“ inzwischen eine weite Verbreitung gefunden. Es gibt kaum eine Schule, vor allem im Sekundarbereich, die heute nicht wenigsten einmal im Jahr Projektwochen durchführt. Sie werden häufig gegen Ende des Schuljahres vor den großen Ferien durchgeführt. Das schränkt ihren pädagogischen Nutzen ein, denn die Erfahrungen und die sich ergebenden Anregungen können nun nicht mehr auf den gesamten Unterricht ausstrahlen. Die Klassenarbeiten sind geschrieben, die Noten stehen fest, die Lehrbücher sind eventuell bereits eingesammelt, „die Luft ist raus“, also Lehrer wie Schüler für den normalen Gang des Unterrichts wenig motiviert. Es bietet sich geradezu an, diese Zeit in der Weise zu nutzen, dass die normalen Bedingungen des Unterrichts (Stundenplan, Gruppenzusammensetzung, überwiegend rezeptive Lernformen im Klassenraum ...) aufgelöst werden, um in „Projekten“ zu arbeiten. Eine Vorbereitungsgruppe – zusammengestellt aus Lehrern, Schülern, evtl. auch Eltern und anderen Experten von außerhalb der Schule – erarbeitet ein Angebot, aus dem die Schüler ein Projekt ihres Interesses auswählen. Über mehrere Tage wird dann in der (meist jahrgangsübergreifenden) Gruppe an der Herstellung eines „Produktes“ gearbeitet, das am Abschlusstag 32
Kilpatrick, William Heard (1918/1935): Die Projekt-Methode. Die Anwendung des zweckvollen Handelns im pädagogischen Prozeß, in: Dewey, John und Kilpatrick, William Heard (1935): Der Projekt-Plan. Grundlegung und Praxis, Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger, S.178 33 Über den Beitrag Deweys zur Begründung der Projektmethode informiert ausführlich: Hänsel, Dagmar (1997): Projektmethode und Projektunterricht, in: Hänsel, Dagmar (Hsg.) (1997): Handbuch Projektunterricht, Weinheim und Basel: Beltz 34 Schäfer, U. (1988): Internationale Bibliographie zur Projektmethode in der Erziehung 1895-1982, 2 Bände, Berlin: VWB-Verlag für Wissenschaft und Bildung (Die Angabe entnehme ich dem Buch: Frey, Karl (1996): Die Projektmethode, Weinheim und Basel: Beltz. Ebd. S.258: „Diese Bibliographie enthält die Literatur zur Projektmethode für die Zeit bis 1982 aus 40 Ländern.“ Band 2 enthält u.a. „ein Register mit Nachweisen zu über 2500 einzelnen Projektthemen.“) 35 Über „Historische Vorbilder“ informiert knapp: Frey (1996), S.30ff. Erste Informationen über die genannten Namen und Begriffe können über die Register erschlossen werden bei: Röhrs, Hermann (1980): Die Reformpädagogik. Ursprung und Verlauf in Europa, Hannover: Schroedel; Scheibe, Wolfgang (1978), s.o.; Boyd, William und Rawson, Wyatt (1965): The Story of the New Education, London: Heinemann
Die Erweiterung des Lernbegriffs 395
der Schulgemeinde und einer interessierten Öffentlichkeit vorgestellt wird: etwa die Aufführung eines kleinen Tanz- oder Theaterstückes, Präsentationen der gefertigten Arbeiten aus den Bereichen Kunst (bildende Kunst, Foto, Video), Handwerk, Gartenbau (Anlegen eines Schulgartens oder eines Feuchtbiotopes), Ergebnisse von Erkundungen des ökologischen/sozialen/geographischen Umfeldes usw. – nahezu alles ist möglich, was pädagogisch sinnvoll erscheint und sonst nicht oder nur schwer zu realisieren ist. – Zum Teil haben die Projekte in den Schulen den Charakter organisierter Freizeitveranstaltungen („Bootsfahrt auf der Treene“, „Wir machen Musik“) angenommen, und wenn in den Schulen von Projekten im eigentlichen Unterricht gesprochen wird, so ist dies oft nicht mehr als die etwas eingehendere Beschäftigung mit irgendeinem interessanten Thema („Saurierprojekt“, „Indianerprojekt“). Dagegen gilt es, den ursprünglichen Sinn des Projektes festzuhalten. Häufig wird das „zweckvolle Handeln“ ausdrücklich unter den Stern eines „guten Zweckes“ gestellt, der einen über den Tag und die Woche hinausweisenden Sinn zu stiften vermag. Das kann indirekt geschehen, indem der ökonomische Ertrag einer Aktion einer karitativen Einrichtung oder Initiative zukommt – oder direkt, indem das Handlungsziel bzw. „Produkt“ unmittelbar der Entwicklung oder Verbesserung von Lebensbedingungen dient. Kyösti Kurtakko von der Universität Rovaniemi (Nordfinnland) berichtet von einer Projektinitiative im Rahmen der Umwelterziehung.36 Eine Klasse hatte durch Messungen die schädlichen Folgen der Unsitte des „Warmlaufens“ und „Warmhaltens“ von Motor und Auto während längerer Parkzeiten im finnischen Winter dokumentiert. Über verschiedene Aufklärungsaktionen (unter anderem mit Hilfe der örtlichen Presse) konnte bei den Autofahrern (man bedenke, dass die „Täter“ ja auch im Familienkreis der Schüler zu finden sind) tatsächlich eine Verhaltensänderung und so eine nachweisbare Verbesserung der Luftqualität bewirkt werden. Zahlreiche Projekte widmen sich umwelterzieherischen Aspekten.37 Sie entsprechen genau den ursprünglichen erzieherischen Intentionen Kilpatricks. Als Prototyp des Projektunterrichts gilt das von Collings beschriebene „Typhusprojekt“38: Eine Schülergruppe spürt die vielfältigen Ursachen der häufigen Typhuserkrankungen in der Familie eines Mitschülers auf und sorgt für Abhilfe. Das „zweckvolle Handeln“ ist also gleichzeitig ein sozial nützliches. Mit diesem Anspruch ist freilich nur die Hochform des Projektes ins Auge gefasst. Die meisten der von Collings genannten Projekte signalisieren einen bescheideneren pädagogischen Anspruch, der den traditionellen Aufgaben und Realitäten der Schule näher steht. Er unterscheidet Projekte in den Bereichen „Lehrausflüge“ („Die Sonnenblumen von Frau Murphy“, „Wie Herrn Jones neuer Binder mäht“, ...), „Handtätigkeiten“ („Wir bauen ein Plättbrett“ – Bügelbrett –, „Wir bauen einen Kükenfuttertrog“, „Schulfest mit Ausstellung unter Mitwirkung von Nachbarschulen“, ...), „Spiele“ („Zimmerspiele“, „Spiele im Freien“, ...) und „Geschichtenerzählungen“ („Balladen und Lieder“, „Bilder“ , ...).39
36
Nach einer persönlichen Mitteilung. Zahlreiche ähnliche Projekte zur Umwelterziehung wurden mit einem Schulenverbund mit den Mittels der „action research“ begleitet und dokumentiert. Kurtakko, Kyösti (1991): A Systems View on Environmental Education, Rovaniemi: Lapin yliopiston monistuskeskus (Der Bericht ist zu erwerben über: P.O. Box 122, FIN-69101 Rovaniemi). Kurtakko, Kyösti (1989): Toiminta, ajattelu, tieto. Opetus kasvuympäristöstä orientoituvaksi – projektin loppuraportti, Rovaniemi: Lapin Korkeakoulu („Handeln, Denken, Wissen. Wegweiser eines umweltbezogenen Unterrichts – Abschlussbericht des Projektes“; „kasvuympäristö“ genauer: „Umgebung des Aufwachsens“) 37 Beispiele u.a. in: Bastian, Johannes und Gudjons, Herbert (Hsg.) (1986): Das Projektbuch, Hamburg: Bergmann und Helbig 38 Vgl. den Bericht in: Dewey/Kilpatrick (1935), S.180ff 39 Ebd. S.181
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Die theoretisch-konzeptionelle Weiterentwicklung des Projektunterrichts und die zahlreich publizierten Beispiele haben sich, um das „Neue“ und die gegenüber der traditionellen Unterrichtsweise weiterführenden Momente herauszuheben, eher an der „Hochform“ orientiert. Dabei wird in der Regel der im „Typhusprojekt“ implizierte hohe Anspruch, einen anhaltenden Beitrag zur Verbesserung der Gesellschaft zu leisten, weitgehend zurückgenommen zugunsten der Betonung der bildenden Gehalte während der Tätigkeit selbst. Benner und Ramseger warnen zu Recht vor der Illusion, „die Schüler könnten im Unterricht Lösungen für Aufgaben und Probleme finden, die die Erwachsenen außerhalb der Schule selber noch nicht gefunden haben.“40 Als allgemeine Bestimmung der Merkmale eines Projekts kann die Definition gelten: Projektunterricht bezeichnet einen Lehr-Lernprozess, in dem im Horizont einer konkreten, von den Beteiligten in gemeinsamer Anstrengung formulierten, in ihren Ausführungsschritten geplanten und akzeptierten Aufgabe Bildungsprozesse in Gang gesetzt werden, die folgende Fähigkeiten (weiter)entwickeln wollen: Problemlösendes Denken, planvolles Handeln, Selbständigkeit, Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit. Das soll an Hand der idealtypischen Rekonstruktion des methodischen Ablaufs näher verdeutlicht werden. Ich beziehe mich dabei im Wesentlichen auf Herbert Gudjons41, der die gemeinsamen Merkmale verschiedener konzeptioneller Entwürfe herausgearbeitet und in vier Schritten zusammengefasst hat, füge aber einen fünften Schritt hinzu.
Projektunterricht – methodische Schritte, pädagogische Merkmale (in Anlehnung an Herbert Gudjons) 1. Aufgabenfindung: Aufspüren einer für den Erwerb von Erfahrungen geeigneten, problemhaltigen Sachlage, die einen Bezug aufweist zur Situation, zum Leben, zu den Interessen der Beteiligten und die in gesellschaftlicher Hinsicht bedeutsam ist. 2. Planung: Sicherung des Prozesses zur Problemlösung bzw. zur Erreichung des Handlungsziels durch genaue Planung der auszuführenden Schritte. 3. Ausführung: Handelnde Auseinandersetzung mit der Problemstellung unter Einbeziehung von geeigneten Hilfsmitteln, verschiedenen Arbeitstechniken, verschiedenen Sozial-, Kommunikations- und Handlungsformen; evtl. Integration verschiedener Fachaspekte zur Entwicklung des Denkens in Zusammenhängen; möglichst Tätigsein „mit allen Sinnen“; bei Problemen (Konflikte, sachlich bedingte Schwierigkeiten) im Prozess ggf. reflexives Innehalten in der Gesamt- oder Teilgruppe und Modifikation der ursprünglichen Planung. 4. Überprüfung: Produkt- und Prozessevaluation in der Gruppe und anschließende Veröffentlichung der Ergebnisse: Ausstellungen, Berichte, Diskussionen, Vorführungen .... 5. Weiterführung: ggf. Entwicklung von Anschlussfragen und –aufgaben für neue Projekte und/oder für andere Lernbereiche und Fächer. Der Lehrer bleibt hauptverantwortlicher Leiter des Prozesses. Seine Aufgaben sind vor allem: Beraten, Helfen, Koordinieren, Ermutigen.
40
Benner, Dietrich und Ramseger, Jörg (1983): Erziehender Unterricht und Projekte, in: Grundschule, Heft 8/1983, S.11 41 Gudjons, Herbert (1994): Projektunterricht, in: Keck, Rudolf W. und Sandfuchs, Uwe (Hsg.) (1994). Wörterbuch Schulpädagogik, Bad Heilbrunn: Julius Klinckhardt, S. 249f. Ausführlicher äußert sich Gudjons zu den einzelnen Merkmalen in: Projektunterricht: theoretisch, in: Bastian, Johannes und Gudjons, Herbert (Hsg.) (1986), S.14ff
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Wo liegen die Grenzen des Projektunterrichts? Inwieweit er „als typische Einheit des Schulverfahrens“ (Kilpatrick) in den Unterricht Eingang finden kann, hängt von zahlreichen Faktoren ab. Fast man den Projektbegriff nicht zu weit und hält an der Bestimmung des „zweckvollen Handelns“ in pädagogischer Absicht fest, muss eine „innere Grenze“ beachtet werden. Sie ist dadurch bestimmt, dass vieles nur durch gezielte Lehre, durch einen vom Lehrer geleiteten Lehrgang und durch beharrliches Üben erschlossen werden kann (z.B. im Anfangsunterricht, in Mathematik, in den Fremdsprachen), bevor das nunmehr Gewusste und Gekonnte als Mittel für eine höhere Form selbständiger und selbstbildender Tätigkeiten im Projekt (und andernorts) zur freien Verfügung steht. Freilich ist diese innere Grenze nicht statisch zu bestimmen. So lassen sich verschiedene Grade der „Projektorientierung“ im Unterricht ausmachen. Die Freien Alternativschulen beispielsweise realisieren den Anspruch Kilpatricks, das Lernen selbst aus den im Projekt liegenden Möglichkeiten heraus zu entwickeln, in einem hohen Maße. Dass der Projektunterricht in welcher Form auch immer ein wichtiges Mittel zur Entwicklung eines reicheren Schullebens beizutragen vermag, dürfte außer Frage stehen. Fraglich ist dagegen, ob ein solches Vorgehen zur generellen Grundlage jeglicher Schularbeit gemacht werden kann. Nicht nur die „innere Grenze“ gilt es in Rechnung zu stellen. Auch die „äußeren Grenzen“ legen Zurückhaltung im Optimismus nahe. Die „Freien Alternativschulen“ und manche anderen reformpädagogischen Schulen haben es vermocht, die strukturellen Grenzen erheblich zu erweitern, so dass andere Formen des Unterrichts in einem relativ gesicherten Raum erprobt werden können. Bereits Kilpatrick hatte in seinem programmatischen Aufsatz die äußeren Grenzen fragend in den Blick genommen, ohne sie eingehender zu erörtern. Er nennt folgende Aspekte, die als reformbegleitende Entwicklungsfelder und/oder widerständige Faktoren aufzufassen sind: „die Veränderungen, die durch diesen Plan in der Klassenmöblierung und –ausstattung erforderlich werden, vielleicht in der Schularchitektur; der neue Typ des Schulbuches, die Art des Lehrplans und Schulprogramms, möglicherweise neue Pläne der Klasseneinteilung und Versetzung; am meisten von allem, eine veränderte Einstellung hinsichtlich dessen, was man sich als Leistung wünscht. ... die Opposition der Tradition, der Steuerzahler, die unausgebildeten und ungeeigneten Lehrer, das Fehlen eines ausgearbeiteten Verfahrens, Probleme der Verwaltung und der Aufsicht.“42 – Nahezu alle diese Anfragen haben bis heute ihren Sinn nicht verloren. Im Unterschied zur Zeit Kilpatricks steht allerdings heute nicht nur ein „ausgearbeitetes Verfahren“ zur Verfügung, sondern deren mehrere. Sie in kritisch-konstruktiver Absicht aufzugreifen, sie auf die eigene Arbeitssituation hin zu befragen, bleibt eine lohnende Aufgabe.
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Die „Weltorientierung“ in niederländischen Reformschulen – Modell für einen projektorientierten, fächerübergreifenden Unterricht
,,Dasda?“ fragt mit ausgestreckter Hand schon das noch nicht zweijährige Kind und lernt die ersten Namen für Dinge, Tiere und Menschen, die ihm begegnen, die seine Aufmerksamkeit erregen. Mit dem Erlernen der Sprache erschließt es sich allmählich den Erfahrungshorizont seiner Sprachgemeinschaft, in den es mit jedem Wort tiefer eindringt. Es erlernt die Sprache nicht in einem bloßen Akt der Nachahmung des Gehörten. Wie mit Gegenständen die ihm gehören, mit denen es schon Erfahrungen gesammelt hat, experimentiert es mit der Sprache und bildet oft verblüffend zutreffende neue Wörter und Redewendungen. Das gegenständliche Experimentieren in den (Spiel) Handlungen und das symbolische in der Sprache bilden das Fundament eines immer 42
Kilpatrick (1918/1935), a.a.O., S.178
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reicheren Beziehungsgefüges zwischen Ich und Welt; ja dieses Beziehungsgefüge ist für das Bewusstsein des Menschen seine Welt. Der Aufbau der Welt im Bewusstsein des Menschen kann als ein Prozess verstanden werden, der in den Spielhandlungen und Reaktionen des Kleinkindes seinen Anfang nimmt und im Prinzip nie zum Abschluss kommt. Die Triebkraft dieses Prozesses liegt in der ,,Neugierde“, in dem Bestreben, neue Erfahrungen, neues Wissen zu sammeln. Es scheint so, als ob der Mensch von einer ursprünglichen Ahnung nach neuen Lebens- und Erlebensmöglichkeiten getrieben wird. M. Langeveld spricht in diesem Zusammenhang von dem Prinzip der Exploration. Explorierend wendet sich das Kind Menschen und Dingen zu, entdeckt ihre Eigenschaften, erkennt Unterschiede, Gemeinsamkeiten, Regelhaftigkeiten. Mit der Erfahrung von Gegenständen (Widerständen) entwickelt das Kind ein Selbstbewusstsein: im Anderen und am Anderen formt und entdeckt es sich selbst. ,,Bildet sich eine ,objektive‘ Welt, dann bildet sich entsprechend ein objektives Subjekt. D.h. im Explorationsprinzip liegt auch ein anderes Prinzip genetisch bereit, nämlich dass das Kind selbst jemand sein will (Emanzipationsprinzip).“43 Welterfahrung ist also immer auch Selbsterfahrung und Selbstbildung. Das schulpädagogische Problem besteht nun darin, die Fragehaltung des Kindes, sein Vonsich-aus-Fragen, zu nutzen, wachzuhalten und gegebenenfalls – z.B. im Falle von entwicklungsoder milieubedingten Hemmnissen – zu wecken. Der gefächerte Unterricht der Schule scheint nur sehr bedingt zur Lösung dieses Problems beizutragen. Im Laufe der abendländischen Geschichte haben sich, angefangen von den ,,Artes liberales“ (den ,,Freien Künsten“: Wissenschaften für die „Freien“) des Altertums bis zur modernen Wissenschaftssystematik, zweckmäßige Ordnungen des Wissens entwickelt, die die Grundlage des Fächerkanons in der Schule bilden. Die Orientierung an dem vorgängigen Wissensbestand hat nun in der Schulpraxis eine eigentümliche Verkehrung der pädagogischen Frage bewirkt. Es heißt nicht: wie führe ich das schon immer auf seine Weise lernende Kind zu neuem Wissen, zu neuen Fähigkeiten und Erfahrungen, sondern: wie vermittle ich den Kindern möglichst effektiv ein vorher festgelegtes Wissen? Eine Folge davon ist das ständige Anbieten von Antworten zu Fragen, die die Kinder gar nicht selbst gestellt haben. Es kann dazu führen, dass die Fragehaltung der Kinder in der Schule überhaupt abgetötet wird. Lernen wird dann nicht mehr als Bereicherung des persönlichen Lebens erfahren, sondern nur noch als Zwang und Quälerei. Gegen diese Art des schulischen Lernens richtet sich die Kritik vieler Pädagogen und die Geschichte der Schulpädagogik hat eindrucksvolle Beispiele für den Versuch gezeigt, schulisches Lernen an der Lebenswelt des Kindes und an seinen Fragen zu orientieren. Ihnen liegt das Bestreben zugrunde, die enge fachsystematische Ausrichtung des Lehrens und Lernens und die einseitige kognitive Orientierung zu überwinden. Der Schüler soll als ,,ganzer Mensch“ mit all seinen emotionalen, kognitiven, sozialen und motorischen Anlagen gesehen und im Unterricht angesprochen werden. Der Lehrer ist dann nicht mehr ,,Stoffvermittler“ sondern Begleiter, Anreger und Förderer kindlicher Lernprozesse. Seine Hauptaufgabe besteht darin, Erfahrungen und Fragen der Kinder aufzuspüren, zu bewerten und ggf. in gezielte Lernprozesse zu übersetzen. In der niederländischen Jenaplanbewegung werden die damit zusammenhängenden Fragen unter dem Nenner ,,Wereldorientatie“ (Weltorientierung) diskutiert, ein Begriff, der von Chris Jansen geprägt wurde, einem entscheidenden Förderer der Jenaplanschulen in den sechziger und ersten siebziger Jahren.44 Der eigentliche Beginn der lebhaft geführten Diskussion ist in dem Artikel 43
Langeveld, Martinus J.(1964): Studien zur Anthropologie des Kindes, Tübingen, S.82 Vgl.: Freudenthal, Suus (1983): Wereldorientatie - De Geboorte van een Begrip, in: Redactieraad Jenaplanuitgaven LPC (Hsg.) (o.J.;1983) : Wereldorientatie in Jenaplanperspectief, Hoevelaken
44
Die Erweiterung des Lernbegriffs 399
,,Wereldorientatie“ zu sehen, der am 22. 2. 1969 von der ,,Commissie Basisonderwijs“ veröffentlicht wurde. Der ,,Kommission für den Basisunterricht“ gehörte auch Chris Jansen an. In der Folgezeit erschienen hunderte von Zeitschriftenbeiträgen und Büchern zu diesem Thema, eine Flut, die bis heute unvermindert anhält, zumal ,,Wereldorientatie“ inzwischen zu einem festen Begriff in der didaktischen Diskussion der Niederlande überhaupt geworden ist. Im Zuge dieser Diskussion hat sich wieder das Beharrungsvermögen der alten Sachfächer geltend gemacht, so dass heute vielfach von ,,Weltorientierung: Aspekt Geschichte“, ,,Weltorientierung: Aspekt Biologie“ usw. gesprochen wird. Dies hängt u.a. damit zusammen, dass die Fachdidaktiken – sprich: Fachdidaktiker – sich des neuen Begriffs gerne annahmen und annehmen. Die Tendenz ist deutlich: ,,Wereldorientatie“, einst gegen die zersplitterte Wissensvermittlung angetreten, mündet wieder in den alten Fächerkanon ein. Dagegen gilt es die ursprüngliche Intention festzuhalten: sie ist in dem genannten Artikel beschrieben und begründet. Ich werde im Folgenden den grundlegenden didaktischen Gedankengang in enger Anlehnung an den genannten Text nachzeichnen, verzichte aber auf die zahlreichen historischen Verweise und die Bezüge zum niederländischen Schulwesen. Weltorientierung: Zielperspektive schulischen Lernens Das Kind wird in eine Welt von Menschen, Tieren und Dingen hineingeboren, die zunehmend seine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Im Kontakt mit der Welt bildet sich ein dynamisches ,,Weltbild“, d.h. die dem Kind begegnenden Dinge erhalten einen Sinn, eine Bedeutung. Es fragt nach dem Namen, dem Nutzen und der Herkunft der Dinge. Diese Fragen sind ,,sind nicht nur mit individuell verschiedenen Anmutungsqualitäten gefärbt, sondern sie entwickeln sich schwerpunktmäßig und individuell unterschiedlich von Kind zu Kind in den verschiedenen Altersstufen.“45 Die Sorge des Erziehers muss nun darauf gerichtet sein, dem Kind beim Aufbau seiner Welt, seines Weltbildes, zu helfen. Diese Welt ist zu großen Teilen auch unsere Welt, also eine Welt, über die man miteinander reden kann. Gleichzeitig ist es eine dynamische, sich verändernde Welt, sie besteht nur, indem sie sich wandelt. ,,Welt-Deutung und Welt-Erhellung wird immer als ein Deuten-der-Welt-im-Wandel verstanden werden müssen.“46 ,,Weltorientierung“ in der Schule ist dann von dem Bemühen getragen, die spontanen oder geweckten Fragen des Kindes in Bezug auf sich selbst, das Zusammenleben, die Kultur und Natur aufzugreifen. Der Erzieher begleitet das fragende Kind behutsam auf dem Weg zu einem verantworteten Wissen, das dem Niveau des Kindes entspricht und das ihm hilft, die komplexe Welt zu ordnen und zu deuten, damit es darin einen – seinen – Weg finden kann. Diese Zielsetzung verlangt eine Besinnung auf das ,,fragende Kind“, auf die Art und Weise, wie die Fragen in der Schule aufgegriffen und behandelt werden und welche Rolle dem Erzieher dabei zukommt, auf Kriterien der Auswahl von Lerninhalten und auf nötige Hilfsmittel. Anhand der nachstehenden Skizze werden die verschiedenen Aspekte näher erläutert.
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Mayer, Werner G. (1978): Projektunterricht in der Primarstufe, Limburg, 5. 33 De Commissie Basisonderwijs: Wereldorientatie, Sonderdruck in vier großformatigen Seiten vom 22. 2. 1969, S.1, Sp.2; weiterhin im Text zitiert:W, Seite u.Spalte.
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400 Reformpädagogik
Arbeitsform für Weltorientierung
Das fragende Kind Unausgesprochen oder ausgesprochen geht es bei den Fragen der Kinder um die Fragen nach dem Wie, Was, Warum, Wann, Wieviel der Dinge und Ereignisse. ,,Jedes fragende Kind hat ein Recht auf eine Antwort. Das gilt für das Kleinkind ebenso, wie für das Kind der Basisschule. Auf sehr viele Fragen findet das Kind selbst eine Antwort und häufig kommt es über seine Eltern oder Freunde zum ,Wissen‘. Hier liegt aber auch eine wichtige Aufgabe der Schule. Dieses Lehrinstitut muss, neben dem möglichst effizienten Lehren der Systeme des Lesens, Schreibens und Rechnens, die heute notwendige kulturelle Fertigkeiten und Kommunikationsformen bilden, zugleich ein Ort sein, wo mit Hilfe dieser Systeme ,Welt-Information‘ gegeben wird.“ (W3,Sp.1) Die Wendung, die inzwischen im pädagogischen Denken eingetreten ist und die der ,,Wereldorientatie“ zugrunde liegt, besteht u.a. darin, dass man nicht mehr unkritisch einem festgelegten Kanon von Antworten vertraut. Der Lehrer wartet auf die Frage des Kindes und versucht bei der Beantwortung eine Richtung einzuschlagen, die von der Frage und damit vom Kind und seiner Situation abhängig ist. Das hat freilich zur Folge, dass u.U. nicht alles, was der Erwachsene für wichtig hält, Gegenstand des Unterrichts werden kann. Damit wird keineswegs der Zufälligkeit und Willkür das Wort geredet. Es hat nur eine Verlagerung des Schwerpunktes stattgefunden: nämlich vom System vorhandenen Wissens zum System des Wissenerwerbs. Dass vom Lehrer dennoch ständig inhaltliche Entscheidungen abverlangt werden, er also eine didaktische Kompetenz besitzen muss, so dass er notwendiges Wissen und notwendige Fähigkeiten ins Spiel bringen kann, zeigen die nachfolgenden Ausführungen. Die Bearbeitung der Frage und die Rolle des Lehrers Obgleich das Kind ein ,,fragendes Wesen“ ist, das seine Erfahrungen strukturieren, erweitern und verarbeiten will, liegen diese Fragen dennoch nicht ,,auf der Hand“. Das Erkennen der Fragen des Kindes ist nicht ganz einfach, es kann diese nämlich auf verschiedene Weise zum Ausdruck brin-
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gen. ,,Neben Wort und Gebärde kann z.B. auch der Gesichtsausdruck bedeutsam sein.“ (W3,Sp.2) Beim Begleiten des Lernweges der Kinder ergeben sich eine ganze Reihe von Entscheidungsmomenten. Der Lehrer bestimmt, ob und in welcher Form einzelne Fragen weiterverfolgt werden. Er befindet darüber, welche Fragen eine kurze abschließende oder aber vorläufige Antwort erhalten. ,,Er stellt auch fest, ob eine Frage ein Problem von allgemeinem Interesse anschneidet und ob sie geeignet erscheint, in weiterführende Aufträge umgesetzt zu werden.“ (ebd.) Der Ausgangspunkt der ,,Wereldorientatie“ liegt also immer im Klassen- bzw. Kreisgespräch. Die Schule sollte feste Zeiten für solche Gesprächssituationen einfügen, so dass sich das Kind an eine Situation gewöhnen kann, in der es seiner Beunruhigung und seiner Freude, seinen Fragen Ausdruck verleihen kann, in der es sagen kann, was es gelesen, gesehen oder gefühlt hat und in der es anderen zuhören kann. In den unteren Klassenstufen wird die ,,Wereldorientatie“ in der Hauptsache im ,,Anschauungs- oder Erzählkreis“ stattfinden. Mitgebrachte Dinge werden einander gezeigt, Erlebnisse mitgeteilt und unmittelbar im Gespräch geklärt. Sie können dann auch in verschiedenen Formen weiterverarbeitet werden, z.B. in einem kleinen Text oder in dramatischen oder künstlerischen Aktivitäten. Das oben gezeigte Schema für die Arbeitsform in ,,Weltorientierung“ bezieht sich in erster Linie auf die Arbeit in den Klassenstufen 4 bis 6, kann aber auch in höheren Klassen sinnvoll angewendet werden. (Mit Rücksicht auf die Voraussetzungen bei den Kindern kann es auch in angepasster und vereinfachter Form die Arbeit in den unteren Klassen strukturieren.) Ich lasse ein längeres Zitat folgen, aus dem in anschaulicher Weise deutlich wird, wie mit diesem Modell gearbeitet werden kann. Die in Klammern gesetzten Buchstaben beziehen sich auf das oben gezeigte Schema: ,,In der Oberstufe der Basisschule benötigt die Weltorientierung eine detailliertere Arbeitsform, da die älteren Kinder schon viel mehr zum selbständigen Suchen und Lernen in der Lage sind. Auch hier sollte die Gesprächssituation den Ausgangspunkt bilden. Bei einem solchen Gespräch sitzen Lehrer und Schüler am besten in einem Kreis. ... Einen solchen Gesprächskreis (a) kann man als einen offenen Informationskreis bezeichnen. Von großer Bedeutung ist hier der Lehrer, der nach Möglichkeit im Kreis sitzend mit zuhört und falls notwendig den geordneten Ablauf des Gesprächs überwacht. Er ist dabei aktiv – nicht so sehr dadurch, dass er alle Fragen schnell beantwortet, sondern dadurch, dass er manche unklare Fragen, in denen er aber deutliche Probleme erkennt, so formuliert, dass eine Antwort gesucht werden kann. Um der Klarheit willen kann er die Frage eines Kindes wiederholen, manchmal auch umformulieren und einem anderen Kind zuspielen. ... Es wird öfters geschehen, dass eine Frage schon während des Kreisgesprächs eine vorläufige aber im Moment doch hinreichende Antwort erhält, manchmal vom Lehrer, häufig auch von anderen Kindern. Oft wird der Lehrer (b) in der Frage weitere Tendenzen erkennen und anstelle einer mündlichen Antwort innerhalb des Kreises die Fragenden zu selbständigen Studien und Untersuchungen anregen. In der neuen Basisschule müssen dafür Studienstunden eingeplant werden, Stunden für selbständiges Lernen und ruhiges Zusammenarbeiten. ... Der Lehrer bestimmt, ob ein bestimmtes Thema für weitere Untersuchungen in Frage kommt, ferner ob es nur von einem Schüler, mehreren oder allen Schülern bearbeitet wird. So kann er abwägend die Belange des einzelnen Kindes und der Gemeinschaft in Einklang bringen. ... Wenn also die Frage des Kindes zum Ausgangspunkt genommen wird und der Lehrer die Form der ‚Antwort‘ festlegt, stehen ihm zwei Möglichkeiten offen, die beide im Kreis- oder Klassengespräch vorkommen:
402 Reformpädagogik
– Der Lehrer beantwortet die Frage unmittelbar im Kreis oder lässt sie beantworten. – Der Lehrer formuliert in Übereinkunft mit den Kindern aus der Frage einen Auftrag für: – den Fragenden oder ein anderes Kind, das sich bereiterklärt, den Auftrag auszuführen (d); – eine kleine Gruppe von Kindern (e); – die ganze Gruppe bzw. Klasse, falls es sich um eine allgemeine Frage handelt, das betreffende Thema von allgemeinem Interesse ist oder wenn es ein Thema betrifft, das nach Meinung des Lehrers alle angeht und für das allgemeines Interesse geweckt werden kann (f); das ist der Ort für den Projektunterricht; – sich selbst, wenn die Frage am besten in Form einer ausgearbeiteten Lektion des Lehrers beantwortet werden kann (g). Nach Erteilung des Auftrages (bzw. der Aufträge) sehen die nächsten Arbeitsschritte im Allgemeinen folgendermaßen aus: x x
x x x
Das Kind oder die Kinder suchen selbständig Antworten. Dafür sind unter Umständen bestimmte Hilfsmittel (Arbeitsmittel, Quellen) notwendig (siehe dazu weiter unten). Wenn das Kind oder die Kinder der Meinung sind, die richtigen Antworten gefunden zu haben, tragen sie dem Lehrer kurz ihre Ergebnisse vor (h). Dieser prüft dann, ob die Ergebnisse für den Berichtskreis (i) ausreichen oder ob weitergehende Studien notwendig sind. Er bedenkt dabei auch weitere Möglichkeiten der Verarbeitung und Präsentation der Ergebnisse, z.B. in Form von Zeichnungen, Rollenspiel, tänzerischem oder dramatischem Ausdruck. Nach dem Plazet des Lehrers werden die Antworten (der Bericht usw.) im Berichtskreis (Evaluationskreis) vorgetragen und besprochen (i). Wichtige Begriffe (Informationen) werden von allen in ihr Heft ‚Was ich wissen muss‘ (Merkheft) aufgenommen (j), so dass sie jederzeit zur Verfügung stehen. Fragen, die im Berichtskreis auftauchen, können wieder als Ausgangspunkt für weitere Lernprozesse genommen werden. (Es können hier auch Fragen aus anderen Unterrichtssituationen - z.B. dem Lesekreis - Eingang finden.)“ (W3, Sp.3;4,Sp.1)
Im Anschluss an diese Überlegungen plädiert die ,,Commissie Basisonderwijs“ für eine „Vertikale Gruppierung der Schüler“, also für Lerngruppen mit Schülern aus mehreren Jahrgängen, wie es zu der Zeit (1969) bereits eine Anzahl von Schulen praktizierte. Der Unterschied in der Entwicklung, der Intelligenz und der Herkunft der Kinder in solchen Gruppen komme allen zugute. Ist die Bildung vertikaler Gruppierungen nicht möglich, kann nach dem Modell für ,,Weltorientierung“ auch in der normalen Jahrgangsklasse gearbeitet werden. ,,Auch in einer solchen Situation können die Schüler je nach Auftrag in jeweils neuen Gruppen arbeiten, Gruppen, in denen die Schüler auf verschiedene Weise Formen der Zusammenarbeit kennenlernen und wo sie lernen, den Anteil eines jeden am endgültigen Resultat zu würdigen.“ (ebd.) Die Auswahl der Lerninhalte Es dürfte bereits deutlich geworden sein, dass mit dem fragenden Kind als Ausgangspunkt von Lernprozessen die Probleme der ,,Stoffauswahl“ nicht gelöst sind. Im Idealfall des Modells liegt die Entscheidung nicht mehr bei den Lehrbuch- oder Lehrplanautoren, sondern beim Lehrer selbst. (In der Praxis sind freilich im Allgemeinen manche Kompromisse mit den Vorgaben des Lehrplans notwendig.) Sofern der Lehrer eine hinreichende Entscheidungsfreiheit hat, kann er aktuelle Informationen aufgreifen, die außerhalb der Schule auf das Kind einwirken; er wird Fra-
Die Erweiterung des Lernbegriffs 403
gen aufgreifen, die das Kind bewegen. Die Schule kann so eine wirkliche Hilfe bieten bei der Orientierung des Kindes in seiner Welt. Nach welchen Kriterien soll aber der Lehrer die eingebrachten Fragen bewerten, also entscheiden, welche Frage für weiterführende Lernprozesse geeignet erscheint und welche nicht? Und er hat nicht nur einen einzelnen vor sich, sondern eine Gruppe von Kindern, deren verschiedene Fragen und Vorstellungen unter pädagogischen Aspekten – in erster Linie in Hinsicht auf die Bedeutung der Fragen im gegenwärtigen und zukünftigen Leben der Kinder – in einen gemeinsamen Handlungsrahmen eingebracht werden müssen. Hier handelt es sich um eine Kardinalfrage der didaktischen Theorie, die hier nur knapp (z.T. in den Anmerkungen) umrissen werden soll. In jedem Fall muss der Lehrer ein hohes Maß an didaktischer Kompetenz besitzen, das ihn in die Lage versetzt, begründete Entscheidungen zu treffen. Die ,,Commissie Basisonderwijs“ verweist in diesem Zusammenhang auf die bedeutende Funktion von Schlüsselbegriffen für das Weltverstehen. Das menschliche Begriffsvermögen entwickelt sich in Form einer Spirale. Dieselben Fragen tauchen immer wieder auf und erhalten jeweils auf einem höheren Niveau eine neue Antwort. ,,Auf dem Gebiet Mensch-Natur, dem Gebiet der Naturwissenschaften, stoßen wir und das Kind immer wieder auf bestimmte Begriffe, die als Schlüsselbegriffe die Tür zu vielen anderen Begriffen öffnen. Jeder Lehrer kann das feststellen. Begriffe wie: Energie, Zeit, Licht, Dunkelheit, Leben, Bewegung, Raum usw. scheinen fundamental zu sein für Fragen, die mit Naturerscheinungen zusammenhängen. – Auch auf dem Gebiet Mensch-Mitmensch kann man solche Schlüsselbegriffe finden. Man denke an: Friede, Wohlfahrt, Freiheit, Gleichheit, Recht, Handel, Geld, Existenz.“ (W4,Sp. 2) Der Lehrer hat nun u.a. die Aufgabe, dem Kind beim Aufbau eines Fundus’ solcher Schlüsselbegriffe behilflich zu sein. Das geschieht aber nicht in der Form einseitigen Dozierens. Unter Berücksichtigung der Fragehaltung des Kindes geht es vielmehr darum, die Fähigkeiten der selbständigen Wissenserschließung weiterzuentwickeln. Der Lehrer wird also besonders jene Fragen verstärken und weiter problematisieren, von deren Beantwortung er eine wirklichkeitserschließende Wirkung annehmen kann.47 47 Es gibt zahlreiche Versuche, Kriterien- bzw. Zielsysteme zu entwickeln, mit deren Hilfe didaktische Entscheidungen begründet werden können. Es ist aber weder möglich noch sinnvoll, mit Hilfe solcher Systeme den Entscheidungsprozess gleichsam zu automatisieren. Neben der Orientierung an ,,Schlüsselbegriffen“ seien noch einige weitere Möglichkeit genannt. In dem Buch von W.G. Mayer zum „Projektunterricht in der Primarstufe“ (1978) wird versucht, didaktische und methodische Folgerungen von einem Katalog formaler Bildungsziele abzuleiten. In Anlehnung an den Mehrperspektivischen Sachunterricht (Giel/Hiller/Krämer) spricht Mayer von fünf Kompetenzbereichen, deren Entwicklung die Handlungsfähigkeit des Kindes erweitern sollen: Sach-, Fach-, Sozialkompetenz, kommunikative Kompetenz, kulturell-zivilisatorische Kompetenz. - Siehe dazu W.G. Mayer: a.a.O. den Abschnitt: ,,Handlungsfelder“ statt ,,Fächer“, 5. 33ff. – In der neueren didaktischen Diskussion, die sich inzwischen auch in den Lehrplänen niedergeschlagen hat, wird von „Schlüssel-“ oder „Kernproblemen“ gesprochen. Durch die (fächerübergreifende) Auseinandersetzung mit diesen Kernproblemen sollen „Schlüsselqualifikationen“ als Fähigkeiten zur individuellen Lebensführung und zur Teilnahme am gesellschaftlichen Leben aufgebaut werden. Die Diskussion wird maßgeblich von Wolfgang Klafki, dem exponierten Vertreter einer „kritisch-konstruktiven Didaktik“ bestimmt. (Klafki, Wolfgang (1985): Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik, Weinheim: Beltz). Als Beispiel für den Einfluss dieser Diskussion auf den Lehrplan sei genannt: Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur des Landes Schleswig-Holstein (Hsg.) (1997): Lehrplan Grundschule (Vertrieb: Glückstädter Werkstätten, Stadtstr. 35, D-25348 Glückstadt). Darin werden die folgenden „Kernprobleme“ genannt: Grundwerte, Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen, Strukturwandel, Gleichstellung, Partizipation. Sie sollen in verschiedenen Zusammenhängen zur Sprache kommen, u.a. auch fächerübergreifend. Als zu entwickelnde „Schlüsselqualifikationen“ im Sinne grundlegender Einsichten, Einstellungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten zur Lebensführung werden genannt (hier zusammenfassend): Fähigkeiten zum bzw. zur ästhetischen Wahrnehmung und Urteilsbildung; Sich-Ausdrücken und Gestalten; Denken; Entscheiden nach ethischen Gesichtspunkten; handwerklichen und technischen Handeln; Interpretation von Lebenszusammenhängen; Kommunikation; Kooperation; Kreativität; Orientierung in Raum und Zeit; Selbständigkeit; Übernahme von Verantwortung. (ebd., S.8f)
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Notwendige Hilfsmittel Das Ausführen der Aufträge bedeutet, dass die Kinder Informationen sammeln und ordnen müssen. In vielen Fällen ist die Möglichkeit konkreter Anschauung und unmittelbarer Sachbegegnung gegeben. Exkursionen oder Untersuchungen ,,am Objekt“ können einen zu befragenden Gegenstand dem Kind nahebringen. – In einer hochkomplexen Welt wie der unseren sind aber oft notwendige Informationen nicht in dieser Weise zu gewinnen. Entweder ist der Lerngegenstand räumlich zu weit entfernt oder die Frage selbst hat ein hohes Abstaktionsniveau, so dass sie nur in Form gedanklicher Modelle beantwortet werden kann. Um nur ein Beispiel zu geben: die (wirtschaftlichen und sozialen) Probleme des internationalen Handels können nicht auf dem heimischen Wochenmarkt veranschaulicht werden – obwohl sie auch dort Auswirkungen haben. Für die Schule ergibt sich daher die Frage nach den ,,Quellen“ (k), die die Kinder bei ihren Nachforschungen benutzen können. Jede Schule sollte über ein gut erschlossenes und gut zugängliches Dokumentationszentrum verfügen (1), in dem Lehrer und Schüler Nachschlagewerke, Sachbücher, Lehrbücher, Zeitungsartikel zu aktuellen Fragen, Dias, Karten, Schallplatten, technische Wiedergabegeräte, Modelle usw. finden. – Das Dokumentationszentrum ist eine entscheidende Hilfe auf dem Weg zu selbständigem Arbeiten und Wissenserwerb. Schlussbemerkung: Das Kind ernst nehmen Das fragende Kind ernst nehmen heißt zugleich, den Menschen als Fragenden verstehen. Wenn der Lehrer sich den Erfahrungen des Kindes öffnet, erschließt er sich zugleich neue Erfahrungsmöglichkeiten. Das Kind tritt ihm dann nicht mehr als bekanntes Wesen entgegen, auf das in professioneller Weise mit bereits bekannten Methoden zu reagieren wäre. Die ihm anvertrauten Kinder werden ihm dann zur täglich neuen Aufgabe, die sein Einfühlungsvermögen und sein Wahrnehmungsvermögen herausfordert. Dies bedeutet ein Wagnis, eine Unsicherheit. Damit ist aber die Chance gegeben, ein Wissen und Können zu erwerben, das als lebensbedeutsam, als mit dem eigenen Leben verbunden erfahren wird. Das Kind, das seine Erfahrungen und Fragen ernst nehmen darf, wird zugleich sein Wahrnehmungsvermögen, sein Urteilsvermögen, sein Selbstvertrauen und seine Verantwortungsfähigkeit entwickeln und weniger anfällig sein für die Verlockungen der großen ,,Sinnspender“ in der industrialisierten Werbewelt. Es wird dann mehr und mehr in der Lage sein, sein Leben aus eigener Einsicht in seine Situation selbst zu gestalten.
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Persönliches Erleben als Ausgangspunkt des Lernens: Beispiele aus dem Anfangsunterricht im Lesen und Schreiben
In der „Weltorientierung“ geht es um die Erschließung von bedeutsamen Sachverhalten, nach Möglichkeit ausgehend von den Fragen des Kindes. Ein wichtiges und zentrales Mittel zur Orientierung in der Welt ist die Lese/Schreibfähigkeit. Es geht um die Frage: kann dem Gedanken des Anknüpfens am persönlichen Erleben und an der persönlichen Erfahrung des Kindes auch beim Erlernen des Lesens und Schreibens von Anfang an entsprochen werden? Muss man den Kindern zumindest ganz am Anfang nicht doch sagen und sie darin üben, was die Buchstaben und Silben bedeuten, welche Funktion sie im Wort haben? Der Gedanke scheint nahezuliegen: Kenne ich die Lautwerte der einzelnen Buchstaben und Silben, kann ich leicht durch die Synthese der Bestandteile des Wortes das Klangbild erschließen
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und seinen Sinn verstehen. Das war – und ist zum Teil noch immer – der Leitgedanke bei den Lese-Schreib-Lehrgängen, und es ist ein Hauptgrund der „Kopfmarterung“ der Kinder, gegen die fortschrittliche und einfühlsame Erzieher schon seit langem angehen. Bereits Johann Amos Comenius (1592-1670) wollte dieses Leiden aus der Schule verbannt wissen. Auch er stellt zwar seinem „Orbis sensualium pictus“, „Die sichtbare Welt. Das ist aller vornemsten (wichtigsten – E.S.) Welt-Dinge und Lebens-Verrichtungen Vorbildung (Abbildung – E.S.) und Benahmung (Benennung – E.S.)“ das Alphabet mit den zugehörigen, bei ihm von Tierstimmen abgeleiteten, Lauten voran. Aber den eigentlichen Leselernvorgang will er über eine Zuordnung von Bild und ganzem Wort erreichen; lernpsychologisch ausgedrückt geht es um die Assoziation der symbolischen Repräsentation eines Sachverhaltes oder Wissensbestandes durch das (den Sinnen leicht zugängliche und verständliche) Bild mit der symbolischen Repräsentation durch das zugehörige Schriftzeichen bzw. Wortbild. Es handelt sich also – im Gegensatz zu der „Synthetischen“ – um den Ansatz einer „Analytischen“ Leselernmethode (oder „Ganzwortmethode“). Zusätzlich wird bei Comenius die mögliche und in vielen Fällen wahrscheinlich auch erworbene Erfahrung des Kindes ins Spiel gebracht. Denn das Bild verweist auf vorgängige „Anschauungen“ und Erfahrungen in der Lebenswirklichkeit. Das Kind hat schon einen „Begriff“ von „Wasser“, „Schmied“, „Reiter“ und von vielen der in etwa 150 Bildern dargestellten Sachverhalte, die unter einer Überschrift mit knappen Texten und unter Zuhilfenahme von zuordnenden Buchstaben in ihren Einzelheiten erläutert werden. –– Könnte nun das Kind seiner Erfahrung etwa durch eine Zeichnung Ausdruck verleihen und schriebe der Lehrer das zentrale Wort neben die Zeichnung, indem er das Wort zugleich deutlich ausspricht und das Kind nachsprechen und dann nachschreiben lässt, so wäre bereits der pädagogische Kern dessen ins Auge gefasst, was mit den heutigen erlebnisund erfahrungsorientierten Methoden des anfänglichen Lesens und Schreibens intendiert ist: Der Bezug zum persönlichen Leben des Kindes ist hergestellt, die Bedeutung des Lesens und Schreibens als etwas ihm selbst – weil seine Erfahrung ausdrückendes – Kommunikationsmittel wird dem Kind deutlich; die Entfremdung des Lernvorganges wird vermieden. Das ist freilich ein moderner Gedanke. Die Grundbedingung seiner Möglichkeit war überhaupt erst zu einem Zeitpunkt gegeben, als die Kinderzeichnung nicht mehr als minderwertiges Produkt angesehen, sondern als eigenwertiger bildhaft-symbolischer Ausdruck persönlichen Erlebens entdeckt und anerkannt wurde. Von diesem salto mortale durch die Jahrhunderte aber zurück zu Comenius: Er schreibt im Vorwort zu seinem „Orbis sensualium pictus“ aus dem Jahre 1658 zum Lesenlernen unter anderem – das übrige des Vorwortes beinhaltet zahlreiche noch heutige gültige didaktische Grundsätze –: Der Schüler soll sich mit den Buchstabenlauten zwar vertraut machen. Die Buchstaben erhalten bei Comenius durch die Rückführung auf Tierlaute im Sinne einer der Natur abgelauschten Methode gewissermaßen einen „Ersatzsinn“. Und „auch in einer Buchstabir-Tafel“ soll sich der Schüler „etwas bewandert“ machen. Seine Leser verstehen: Wegfallen soll das den Kindern verleidete lange Üben von Buchstabenlauten und Silben vor dem eigentlichen Leselehrgang. Denn wichtiger ist folgendes: „ ... , die Beschauung des abgebildeten Dings, ihn des Nahmens desselben erinnern wird, und (das Bild sagt ihm – E.S.) wie (durch diese Erinnerung – E.S.) der FigurTitel zu lesen sey. Und wann er also das ganze Buch durchlauffen (hat – E.S.), kan es nit fehlen (fehlgehen – E.S.), dass er nicht, durch die blosse Bild-Überschriften, lesen lerne: Und zwar welches zu beobachten, ohne Zuthun der beschwerlichen Kopfmarterung, der insgemeyngebräuchlichen Buchstabirung, welche auf solche Weise gänzlich kan vermieden werden.“48 48
Comenius, Johann Amos Comenius (1658): Orbis Sensualium Pictus. Hoc est, Omnium fundamentalium in Mundo Rerum & in Vitae Actionum. Pictura & Nomenclatura, Noribergae (zweisprachige Ausgabe lateinisch-deutsch, Faksimileausgabe 1910, Leipzig: Julius Klinkhardt), „Vortrag. An den Leser“ nicht paginiert.
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Gegen diese „Kopfmarterung“ beim Lesenlernen wurde in der Folgezeit immer wieder Einspruch erhoben und als Alternative die „Ganzwortmethode“ (in Frankreich: „Méthode globale“) empfohlen. So hat beispielsweise der Abbé de Radonvilliers 1768 auf die Schwierigkeiten hingewiesen, die Kinder bei der Wortbildung mit dem Aneinanderreihen sinnloser Silben haben. „Man sollte dies einfacher anstellen, sagt er; man spreche zuerst das Wort aus, lasse es dann wiederholen, zeige darauf dieses Wort in einem Buch, und ohne jegliche Mühe wird es das Kind lesen: ‚Es ist fraglos, dass in kurzer Zeit die Wortbilder ihm die Laute in Erinnerung rufen werden, und dann wird das Kind lesen können.‘“49 Ähnlich äußert sich wenig später Nicolas Adam. Er empfiehlt eine Methode, die ausgehend vom ganzen Wort dann überleitet zu synthetischen Übungen. Diese Vorgehensweise, das heißt eine Integration von Analytischer und Synthetischer Methode, hat sich in den Fibelkonzeptionen und im Leselehrgang im Grunde durchgesetzt und bestimmt auch heute noch das Bild des anfänglichen Leseunterrichts. Radikaler als Comenius fordert Adam: „Nehmt ihnen also die Alphabete fort und lehrt sie lesen, wie man sie sprechen lehrt: schreibt auf einen Zettel ‚papa‘, zeigt dies eurem Kinde und sagt ihm, das heiße Papa, es wird es ebenfalls lesen. Wenn es auf diese Weise einige Wörter kennengelernt hat, lasst es die Silben pa-pa, ma-ma erkennen und schließlich auch die Buchstaben, aus denen sie gebildet sind. Auf diese Weise werdet ihr in der natürlichen Reihenfolge vorgegangen sein.“50 Unter dem Aspekt der Orientierung an der Erfahrung des Kindes bleibt gleichwohl eine Fremdheit bestehen, denn bei der Wahl der dem Kind angebotenen Wörter wird der Erlebnisbezug nicht eigens reflektiert. So sind auch heute noch Fibeltexte in Gebrauch, die in dieser Hinsicht mehr als fragwürdig sind. In einer neueren Fibel finden wir auf Seite 28, systematisch vorbereitet durch Übungen mittels „Papa, Mama, Oma, Uta usw.“ auf Seite 28 ein erstes „Erlebnis“, unter der Überschrift „Toni weint“ geschildert. Tipsi, die Maus, ist verschwunden: „Was ist, Toni? Toni, was ist? Wo ist Tipsi? Toni, da ist Tipsi, da, im Hut, in Papas Hut! Ha, ha, ha, Tipsi hat einen Hut.“51 Es handelt sich meist durchaus um durchdachte Lehrgänge, die schrittweise vorgehen und im Sinne der synthetischen oder analytischen oder aber durch eine Kombination beider Methoden sich dem Ziel schrittweise nähern. Bei dem Beispieltext als solchem und bei sehr vielen anderen Fibeltexten – die Beispiele sind Legion – tendiert die Erlebnisqualität für den Leseanfänger allerdings gegen Null. Der Text repräsentiert kein Erlebnis, und der nicht vorhandenen Erlebnisqualität kann nur nachträglich durch Spiele, spannende Einlagen und Gesten des Lehrers künstlich ein wenig aufgeholfen werden. Das kann auch kaum anders sein bei didaktischen Texten, die ein Publikum von Tausenden von Kindern im Auge haben. Aus dem Ungenügen an diesem Vorgehen hat sich in den letzten Jahrzehnten eine bemerkenswerte, wenn auch zahlenmäßig immer noch recht bescheidene Bewegung unter dem Nenner „Eigenfibel“ entwickelt. Meines Wissens ist Célestin Freinet der erste Pädagoge, der entschieden dafür plädiert, beim Lese- und Schreiblehrgang an den wirklichen Erlebnissen und am symbolisch-bildlichen Ausdrucksvermögen des Kindes anzuknüpfen. Letzteres ist im allgemeinen durch die Fähigkeit des Kindes zum Zeichnen und Malen gegeben. Freinet hat gezeigt, wie aus dem Zeichnen des Kindes heraus der Leselehrgang entwickelt werden kann. Durch das dadurch geweckte Interesse am Inhalt des Lesens (und Schreibens), durch den emotionalen Bezug des Kindes zu den Wörtern, werden die diskriminatorischen Fähigkeiten gleichsam „nebenbei“ erworben. Das schließt systematische Übungen im Lernen der Buchstaben und zur Rechtschreibung zu 49
Zitiert nach: „Ganzwörtermethode“ im „Lexikon der Pädagogik“, Bern 1950, Band 1, S.503 Ebd. 51 Topsch, Wilhelm (1987): Hallo, Kinder. Eine Schreib-Lese-Fibel, Hannover: Schroedel, S. 28f 50
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einem geeigneten Zeitpunkt nicht aus. Bei diesem Weg und bei allen vergleichbaren Methoden handelt es sich im Anfang immer um Ganzwortmethoden; denn es bedarf zumindest eines sinnvollen Wortes, um einen Erlebnisgehalt schriftlich zu fixieren. Freinets Anregungen wurden nach meiner Kenntnis – zum Teil in anonymer Tradierung – verschiedentlich aufgegriffen, modifiziert, systematisiert. In vielen englischen Primarschulen wurde und wird in dieser Weise gearbeitet.52 Von dort fand der Ansatz seinen Weg in die niederländischen Jenaplanschulen53 und weiter in einige deutsche Jenaplanschulen sowie in modifizierter Form in andere „normale“ Grundschulen. Indessen sind in diesem Zusammenhang weniger die historischen Bezüge oder systematischen Entsprechungen zu anderen Methoden von Interesse – sie verdienten eine eigene Erforschung und Darstellung – als vielmehr „die Sache selbst“. Ich will drei verschiedene Methoden in ihren Grundzügen vorstellen. Die erste kenne ich nur aus der Literatur, die beiden anderen aus der konkreten Schulpraxis an niederländischen und deutschen Schulen. Es handelt sich um „Ganzwortmethoden“ mit dem pädagogisch entscheidenden Zusatz: Sie verknüpfen bereits das erste „Lesewort“ mit einem für das Kind existentiell oder doch zumindest emotional bedeutsamen Sinn. Die Methoden unterscheiden sich in der Art und Weise, wie das „Ausgangsmaterial“ des Lehrgangs gewonnen wird und so im Maß der Intensität des emotionalen Bezuges zu den ersten Wörtern. x Die erste Methode wurde von der Lehrerin Sylvia Ashton-Warner im Unterricht benachteiligter Maori-Kinder in Neuseeland entwickelt und in einem Buch (1963) vorgestellt. Ihr „Ausgangsmaterial“ ist das tiefinnere seelische Erleben des Kindes: Lesen- und Schreibenlernen im Medium des Ausdrucks seelischen Tiefenerlebens. x Die zweite Methode (sie entspricht den Anregungen Freinets) gewinnt ihr „Ausgangsmaterial“ aus der bildlichen Darstellung individuellen Erlebens, das vom Kind dem Lehrer zusätzlich sprachlich erläutert wird: Lesen- und Schreibenlernen im Medium der Darstellung eines individuell bedeutsamen Erlebnisses. x Die dritte ist im Prinzip mit der zweiten identisch, geht aber von der Darstellung eines gemeinsamen Erlebnisses der Klasse aus (das entweder im Leben der Klasse „gegeben“ oder erst zu diesem „Gebrauch“ initiiert worden ist): Lesen- und Schreibenlernen im Medium der Darstellung eines gemeinsamen Erlebnisses.
7.1 Lesen- und Schreibenlernen im Medium des Ausdrucks seelischen Tiefenerlebens – Die Methode Ashton-Warner54 Auf die „Schlüsselwortmethode“ von Sylvia Ashton-Warner hat meines Wissens im deutschsprachigen Raum erstmalig Jörg Ramseger in seinem Buch „Gegenschulen“ hingewiesen. Der „Fundort“ des Hinweises zeigt schon seine Einbettung in einen bestimmten Fragehorizont. Es ist die Suche nach einer alternativen Didaktik, die ihren Ausgang von den Bedürfnissen und Interessen der Kinder nimmt und dem spontanen, kreativen Lernen einen zentralen Platz einräumt. Der Unterricht von Ashton-Warner, nicht nur das anfängliche Lesen/Schreibenlernen, beruht auf tiefenpsychologischen Einsichten. Die aggressiven Triebe, die zerstörerischen Kräfte der Kinder wer52
Nash, Doris M. (1973) Lezen – een onderdeel van de totale ontwikkeling van jonge kinderen, in: Pedomorfose (NL-Utrecht) Heft 19, November 1973, S.15ff (Lesen – Teil der Gesamtentwicklung junger Kinder) 53 Postumus, Rolande (1976): Aanvankelijk lezen op de Pr. Marijkeschool te Geldermalsen, in: Pedomorfose (Heft 31, November 1976) S. 55ff (Anfängliches Lesen an der Pr. Marijkeschule in Geldermalsen) 54 Ashton-Warner, Sylvia (1963): „Teacher“, New York: Simon & Schuster. Ich beziehe mich im Folgenden auf die Darstellung des Ansatzes bei: Ramseger, Jörg (1975): Gegenschulen, Bad Heilbrunn: Klinkhardt
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den gezähmt und sublimiert, wenn es gelingt, sie in kreative Bahnen zu lenken. „So oft habe ich den Ausbruch der Zerstörung unter dem Ansturm der Kreativität vor meinen Augen versiegen sehen. Besonders bei den kriegerischen fünfjährigen Maoris, die zu hunderten durch meine Hände gehen ...“55 Es handelt sich um fünfjährige Maorikinder, also Kinder der „Infant-School“, an denen sie ihre Leselernmethode entwickelt hat. Auch der Leselehrgang ist eingebettet in dieses Konzept der Kreativität, unter deren „Ansturm“ Wörter mit dem Triebleben des Kindes in Verbindung gebracht werden. Sie sind als solche für das Kind dann „Schlüsselwörter“ in dem Sinne, dass sie inneres Leben zum Ausdruck bringen, das gleichzeitig in der symbolisch verdichteten Form des Wortes zur Kommunikation mit anderen genutzt werden kann. Wie geht das vor sich? „Die ersten Worte müssen eine intensive Bedeutung für das Kind haben. Sie müssen ein Teil seines Wesens sein. Wieviel hängt von der Liebe zum Lesen ab, von der triebhaften Neigung, ein Buch in Händen zu halten! Triebhaft – das muss es sein!“56 Da jedes Kind verschiedene Trieberlebnisse hat, sind die Schlüsselwörter ebenfalls verschieden. Der Weg Ashton-Warners zum Triebleben des Kindes erscheint einfach; er ist aber nur möglich in einer Atmosphäre der Wärme und Geborgenheit, in der das Kind Vertrauen fassen, sich öffnen und mitteilen kann. Die Lehrerin fragt einfach, welches Wort das Kind „haben“ möchte. Das gewünschte Wort schreibt sie auf eine Karte, während das Kind zuschaut und das Wort mitspricht. „Mit der Pappe geht das Kind zu irgendeinem Mitschüler, zeigt ihm den Schriftzug, nennt die Bedeutung und erzählt – dies ist das Wichtigste – dem anderen Kind die Geschichte, die mit dem Wort zusammenhängt, d.h. es ruft das dem Wort zugrundeliegende Trieberlebnis durch die Kommunikation mit dem Mitschüler ins Bewusstsein.“57 Als Schlüsselwort ist es ein „Ein-Blick-Wort“. Das Kind lernt es auf einen Blick, es ist „sein“ Wort. Falls das Kind am nächsten Tag das Wort aus der Reihe aller Wörter der Schülergruppe nicht mehr identifizieren kann, ist das für die Lehrerin ein sicheres Zeichen dafür, dass es kein wirklich bedeutsames, kein Schlüsselwort für das Kind ist. Um den Zugang zum Tiefenerleben des Kindes frei zu machen oder frei zu halten, werden solche Wortkarten vernichtet und ein neues wirklich bedeutsames Wort wird gesucht. „Die Wörter, die ich auf große, feste Karten schreibe und den Kindern zum Lesen gebe, erweisen sich als Ein-Blick-Wörter, wenn sie sorgfältig genug ausgewählt werden. ... Wenn der Wortschatz (der Schlüsselwörter – E.S.) eines Kindes jedoch noch unzugänglich ist, kann man immer mit einem allgemeinen Schlüsselwort anfangen, der allen Kindern aller Rassen gemeinsam ist, ein Satz von Wörtern, die, wie Experimente und später das eigene kreative Schreiben der Kinder zeigen, mit Sicherheit mit ihrer inneren Welt organisch verbunden sind: ‚Mami‘, ‚Vati‘, ‚küssen‘, ‚bange‘, ‚Geist‘.“58 Beim Äußern und Aufschreiben von gewünschten Wörtern gibt es keinerlei moralische Zensur, keinerlei Beurteilung der Schicklichkeit. Akzeptiert wird alles, was aus dem Innern des Kindes kommt, auch wenn es sich um Wörter handelt, die Aggressivität oder Angst ausdrücken wie Schlachtmesser, Bombe, Gefängnis, schreien, aufhängen und dergleichen – Wörter, die man vermutlich kaum in irgendeiner herkömmlichen Fibel entdecken würde. Auf diese Weise werden von den ersten Tagen des „Lehrgangs“ an die für jedes Kind tief bedeutsamen Wörter gefunden und schriftlich fixiert. Und von hier aus führt der Weg weiter zum Schreiben eigener Geschichten und zum Lesen fremder Texte. Ein solcher Weg erfordert ein hohes Maß an Ausdrucksfreiheit (auch der aggressiven Impulse) bei einem gleichzeitigen Minimum an Zwang und äußeren disziplinarischen Mitteln, die den Zugang zum Tiefenerleben verstellen würden. Die „Kultivierung des Unbewussten“ kann kaum 55
Ashton-Warner, zitiert nach: Ramseger, ebd., S.103 Ebd., S.101 Ramseger, Ebd., S.105f 58 Ashton-Warner, ebd., S.106 56 57
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in einer großen Klasse erfolgen. Als optimale Gruppengröße für ihre Art zu unterrichten empfiehlt Ashton-Warner acht bis zehn Kinder. Erst dann ist die Aufrechterhaltung einer Atmosphäre gewährleistet, die sie mit den Worten schildert: „Es geht darum, den äußeren Schein zu vergessen und die Ordnung des Unbewußten zu kultivieren. ... Da ist eine geräuschvolle Art der Stille während der langen kreativen Periode am Morgen, wenn jedes Kind in irgendein Medium des Schaffens versunken ist.“59 Wegen der besonderen Bedingungen des Lernens und wegen des tiefenpsychologischen Zugangs, der eine besondere Sensibilität erfordert und dem sinnvollerweise auch eine besondere Schulung vorausgehen müsste, kann gar nicht der Gedanke aufkommen, hier einen in jeder Schule gangbaren Weg des Lernens vor sich zu haben. Unter dem Aspekt des persönlichen Erlebnisbezuges des Lernens handelt es sich gleichwohl um einen wichtigen und beachtenswerten Versuch. Es wäre zu prüfen, ob und inwieweit er für das Lernen unter normalen Bedingungen mit normalen Gruppengrößen fruchtbar gemacht werden könnte. – Die beiden folgenden Wege skizzieren Ansätze, die vielfach unter normalen Bedingungen erprobt worden sind. Auch sie können freilich nicht einfach und isoliert in einen anderen Kontext übernommen werden. Sie bedürfen der Einbettung in und der Anbindung an den Gesamtzusammenhang des Unterrichts.
7.2 Lesen- und Schreibenlernen im Medium der Darstellung eines individuell bedeutsamen Erlebnisses Die Überschrift könnte der Ansicht Vorschub leisten, dass es sich bei der zweiten Methode im Prinzip um denselben Lehrgang handelt. Das ist insofern richtig, als kein prinzipieller Gegensatz zur „Schlüsselwortmethode“ besteht. Ein Kind könnte auch hier durchaus eine – seine – tief innere Geschichte ins Spiel bringen. Dennoch besteht ein wesentlicher Unterschied. Die „Entdeckung“ des wichtigen Wortes erfolgt über den Weg (freien) Malens eines Bildes und zunächst nicht unmittelbar in der Kommunikation Kind-Lehrerin. Das schafft im Kind eine gewisse Distanz zum Dargestellten. Der sprachlichen Mitteilung des Kindes gegenüber der Lehrerin durch das Erzählen des Bildinhaltes geht eine bildlich-reflexive Phase voraus. Und: die Lehrerin ist zwar auf der Suche nach einem für das Kind bedeutsamen Wort, aber an dieses Wort wird nicht der tiefenpsychologische Maßstab triebbezogenen Ausdrucks angelegt. Es handelt sich also um einen Weg, der dem „normalen“ Lehrer eher zugänglich ist und der mit den normalen Bedingungen in der Schule rechnet. Er trägt zudem – trotz des entschieden kind- und erlebniszentrierten Ansatzes – eher die Charakteristika eines systematischen Lehrgangs. Peter Peels von der Jenaplanschule Amsterdam-West hat die Vorgehensweise an seiner Schule in einem Gemeinschaftsbeitrag für die deutsche Leserschaft beschrieben. Er steht nach eigenem Bekunden nicht nur in der Tradition der niederländischen Jenaplanbewegung sondern ist ebensosehr ein Anhänger der Freinet-Pädagogik. In den Niederlanden bestehen noch zahlreiche Varianten dieses Ansatzes, die sich aber nur in Nuancen, nicht im Grundsätzlichen, voneinander unterscheiden. Der entscheidende Entwicklungsimpuls ging von Hospitationen niederländischer Lehrerinnen und Lehrer an der „Sea Mills Infants’school“ in Bristol (England) aus. Dort hatte Doris M. Nash (in Kenntnis der Arbeit von Ashton-Warner?) ihre Methode entwickelt und seit 1971 in zahlreichen Veranstaltungen der Lehrerfortbildung in Holland vorgestellt sowie darüber publiziert.
59
Ebd., S.111f
410 Reformpädagogik
Ich gebe aus dem Bericht von Peter Peels den Teil wieder, der sich auf die Anfänge des LeseSchreib-Lehrgangs bezieht. Er enthält auch einige Hinweise auf weiterführende Schritte und Übungen. Peter Peels: Lesen und Schreiben im Anfangsunterricht60 Nach dem Morgenkreis in der Untergruppe (es handelt sich um Kinder im Alter von etwa 6 bis 8/9 Jahren. – E.S.) bitten wir die Kinder (in diesem Fall nur die Leseanfänger – E.S.), ein Bild zu einem Erlebnis zu malen. Es kann sich dabei um eine Erfahrung handeln, die das Kind beim Morgenkreis, zu Hause, auf der Straße oder anderswo gemacht hat. Wichtig ist, dass es sich wirklich um eine persönlich bedeutsame Erfahrung handelt. Wenn es sich um mediale Erlebnisse handelt (z.B. aus dem TV-Programm des vorigen Tages), geben wir die Anregung, auch das zum Ausdruck zu bringen, was es beim Anschauen empfunden hat. Großen Wert legen wir auf Details. Die Kinder zeichnen in ein eigens dafür vorgesehenes Heft, das aus Zeichenpapier im DINA4-Format gemacht und mit einem festen bunten Umschlag versehen ist. Jedes Heft hat zehn Blätter, reicht also für zwei Wochen. Die Zeichnung kommt immer auf die rechte Seite. Wenn ein Kind mit seiner Zeichnung schon ein wenig fortgeschritten ist, knüpft der Gruppenleiter daran ein kurzes Gespräch an. Ein Wort oder mehrere werden dann in die Zeichnung geschrieben. Ausdrücklich werden Bild und betreffendes Wort in Verbindung gebracht: also das Wort ,,Baum“ steht neben dem gezeichneten Baum. Die Wahl der Wörter wird nach folgenden Kriterien vorgenommen: x x x
Das Wort soll für das Kind eine bestimmte emotionale Bedeutung haben (z.B. der Name einer bekannten Person, einer geliebten Beschäftigung, Kennzeichen seiner Umgebung und dergleichen). Das Wort soll kernartig die Erfahrung wiedergeben, die das Kind in der Zeichnung zum Ausdruck bringen will. Das Wort soll einen Beitrag leisten zum Aufbau der eigenen Reihe der ,,Globalwörter“ (siehe dazu unten).
Im ersten Zeichenheft werden die Wörter mit einem hellen Filzstift eingetragen. Die Kinder ziehen sie mit ihrem Bleistift nach. Als Hilfe dient eine Schriftkarte, die die Form der Buchstaben und mittels eingestrichelter Richtungslinien den Bewegungsablauf zeigt. Sie stehen in Gruppen, die jeweils dieselbe Farbe haben; Vokale, Konsonanten, Diphtonge, Doppellaute und Artikel. Wir beginnen mit Druckbuchstaben und lassen diese erst im 2. oder 3. Schuljahr verbinden. Diese Methode hat einige Vor- aber auch Nachteile. Es ist empfehlenswert, in der eigenen Situation zu überlegen, ob man nicht gleich mit der verbundenen Schreibweise beginnen soll. Nach zwei Wochen wird das zweite Heft begonnen. Jetzt werden schon mehr Wörter in die Zeichnung geschrieben, Artikel hinzugefügt und kleine Sätze gebildet, z.B.: ,,ik speel“ (ich spiele). Im dritten Heft werden die Wörter zum Teil in die Zeichnung, zum Teil schon auf der gegenüberliegenden linken Seite geschrieben. Alle Wörter und Sätze werden von den Kindern nachgeschrieben. Im vierten Heft werden dann alle Wörter und Sätze auf die linke Seite geschrieben. Die Kinder schreiben die Wörter und Sätze nach und schreiben sie noch einmal selbst darunter. 60 Peels, Peter (1985): in dem Gemeinschaftsbeitrag: De Jonge, Wilma; Peels, Peter und de Visser, Goverien: Leben und Arbeiten in einer Jenaplan-Basisschule in Amsterdam-West, in: Skiera, Ehrenhard (Hsg.)(1985): Schule ohne Klassen. Gemeinsam lernen und leben. Das Beispiel Jenaplan, Heinsberg: Agentur Dieck, S.201f
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Diese Arbeitsweise wird solange fortgesetzt, bis das Kind einen Teil des Textes oder den ganzen Text auf der linken Seite selbst schreiben kann. Von der ersten Zeichnung an versuchen wir, aus dem Text ein sogenanntes ,,Globalwort“ zu ermitteln. Diese Wörter werden in das ,,Globalwörterbuch“ des Kindes geschrieben. Darin wird jedem Laut, Doppellaut und Diphtong ein klangtypisches Wort zugeordnet, das mit dem entsprechenden Laut beginnt. Der Inhalt des Globalwörterbuches ist also bei jedem Kind verschieden. Auf der Umschlaginnenseite stehen die Laute in systematischer Ordnung. Wird ein Globalwort ins Heft eingetragen, erhält der betreffende Buchstabe auf der Umschlaginnenseite einen Kreis. Wenn das Kind den Laut bzw. Buchstaben beherrscht, wird der Kreis eingefärbt. Immer wieder werden die Wörter im Zeichenheft und im Globalwörterbuch wiederholt, sowohl individuell als auch in der Gruppe der jüngsten Kinder. Das Üben und Wiederholen bekannter Buchstaben und Wörter geschieht weiterhin noch in einigen Arbeitsecken (siehe dazu unten). Bei diesen Übungen geht es um die unmittelbare auditive und visuelle Analyse und Synthese der Wörter sowie um die Assoziation von Wort und Bild bzw. Vorstellung. Aus dem Niederländischen: E. Skiera
In der Gruppe von Peter Peels und auch in der Infantschool von Doris Nash handelt es sich um jahrgangsübergreifende Gruppen. Das heißt: Nur ein drittel bis die Hälfte der Kinder sind Leseanfänger. Der Lehrer oder die Lehrerin kann sich so intensiver auf das einzelne Kind einlassen und die verschiedenen Wege dennoch im Blick haben. Die älteren Kinder kommen vielleicht etwas später am Morgen in die Gruppe dazu oder sie arbeiten selbständig an eigenen Aufgaben, ggf. in den verschiedenen Arbeitsecken (s.u.). Bei der Übertragung dieses Ansatzes auf eine normal große Jahrgangsklasse muss dieser Umstand beachtet werden. Im Prinzip ist eine solche Vorgehensweise auch dort möglich, dürfte aber wegen der großen Zahl an Kindern (zuweilen bis 30) zu zeitaufwendig werden. Hier ist dann der dritte Weg angebracht, in dem von einem gemeinsamen Erlebnis ausgegangen wird.
7.3 Lesen- und Schreibenlernen im Medium der Darstellung eines gemeinsamen Erlebnisses Oft liegt der Entscheidung zu einem gemeinsamen Vorgehen nicht nur die bessere Handhabbarkeit in einer größeren Gruppe zugrunde, sondern die ausdrückliche Betonung des gemeinsamen Lernens und Erlebens, das im übrigen durchaus den oben intendierten individuellen Erlebnisbezug aufweisen kann. Zum gemeinsamen Erleben ergeben sich in einer Klassengemeinschaft immer genügend Anlässe oder diese können eigens arrangiert werden: ein Ausflug (Freinet: „classe promenade“), ein Projekt aus dem Bereich Sachunterricht, Arbeiten im Schulgarten, eine Geschichte usw. Jetzt erfolgt die emotionale Anbindung vor allem durch das vorausgehende gemeinsame Erleben. Das individuelle Zeichnen fügt diesem Erleben gleichwohl eine individuelle Komponente hinzu, denn das Kind kann in seinem Bild das herausheben, was es selbst für wichtig hält. Die Lehrerin geht auch hier während des Malens zu jedem einzelnen Kind und schreibt das „Kernwort“ und wenige Wochen später den „Kernsatz“ neben das Bild, spricht ihn deutlich aus und lässt ihn vom Kind „lesen“. Nach Fertigstellung des Bildes wird das Wort bzw. der Satz vom Kind nachgeschrieben und so noch einmal verinnerlicht. Die Kriterien für die Auswahl des
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Wortes sind dieselben wie bei Peter Peels. Die Eigenfibel ist jetzt aber nicht mehr individuell, sondern bezüglich der Wörter bei allen Kindern der Gruppe identisch. Sie repräsentiert eine „Gruppenidentität“, sie ist das Zeugnis des gemeinsamen Lernens und besitzt durch die bildnerische Gestaltung durch das einzelne Kind zugleich eine individuelle Komponente. Die Erfahrung zeigt, dass die Kinder auf diese Weise ebenfalls eine enge Beziehung zu ihren ersten SchreibLese-Wörtern aufbauen. Die meisten hüten die Eigenfibel und besitzen sie noch am Ende der Grundschulzeit. Die Lehrerinnen berichten übereinstimmend über die positiven Wirkungen eines solchen Vorgehens in Hinsicht auf Lesefreude, Lesefähigkeit und persönlichem Ausdrucksvermögen beim Schreiben. Trotz der positiven Erfahrungen ist es nach meinem Eindruck für den Anfänger im Unterrichten nicht empfehlenswert, sich ohne kundige Begleitung auf eine der skizzierten Methoden einzulassen. Sie erfordern lange pädagogische Erfahrungen im Allgemeinen und im Umgang mit den Problemen des Lesenlernens im Besonderen – denn es fehlt ein vorgegebener und erprobter Leitfaden, wie er mit den Fibeln eben doch gegeben ist. Hat eine Lehrkraft oder gar ein ganzes Schulkollegium aber einmal erfolgreich in der „neuen“ Weise gearbeitet, will es – wie Rolande Postumus, Lehrerin an einer niederländischen Jenaplan-Basisschule, in ihrem Bericht über die zweite Methode feststellt – davon nicht mehr ablassen: „Durch diese Art des anfänglichen Lesens ist es möglich, dass ein Kind nach zwei Monaten liest, aber es ist auch möglich, dass ein Kind ein Jahr oder länger braucht, wenn das nötig ist. Deshalb wollen wir die traditionelle Art des Lesenlernens nicht mehr zum Ausgangspunkt unserer Arbeit nehmen.“61 Im erlebnisorientierten Anfangsunterricht wie im Konzept der „Weltorientierung“ ist die pädagogische Intention darauf gerichtet, das Kind als Partner bei der Gestaltung des Schul- und Unterrichtslebens zu gewinnen. In dem Maße wie das gelingt, kann es sich als Mitautor seines Lernund Bildungsprozesses und gleichzeitig als bedeutsam für andere erleben. Das ist eine Grundbedingung der Möglichkeit, die nachhaltige Zustimmung des Kindes zur Situation des Schülerseins zu erlangen, eine Situation, in die sich das Kind ja keineswegs immer aus freiem Willen begeben hat und die immer mit zahlreichen Momenten des Zwanges durchsetzt ist. 8
Arbeitsmittel und Arbeitsecken: Der Klassenraum als Lernumgebung
Überspitzt formuliert kann der Wandel des Klassenraums im „Offenen Unterricht“ charakterisiert werden als Weg (und weg) von der eindimensionalen Belehrungszelle zum vielfältig gegliederten und nach außen hin offenen Lernraum. Betritt der Besucher etwa den Raum einer Montessori-, Freinet- oder Jenaplangruppe, fällt der Unterschied sofort auf. Die „Öffnung nach außen“ zeigt sich meist schon im Vorraum oder im Flur auf dem Weg zum eigentlichen Klassenzimmer. Es handelt sich nicht mehr um bloße Verkehrsflächen: Tische, Bänke, Regale, Plakate an den Wänden signalisieren, dass sie pädagogisch genutzt werden. Die Ästhetik des Klassenraumes, die Anordnung der Bänke und Arbeitsplätze, die Gliederung des Raumes in verschiedene Bereiche vermittelt auch bei Abwesenheit der Kinder einen anschaulichen Eindruck des Geschehens. Die Tische sind zu Gruppen angeordnet, so dass vier bis sechs Kinder daran Platz finden. Wenn die Größe des Raumes es gestattet, ist in einer Ecke ein fester Sitzkreis (einfache Bänke) für die verschiedenen „Kreise“ (zum Berichten, Zeigen, Besprechen, ...) installiert, eventuell angeordnet um einen Tisch. Der Raum ist mit einigen Regalen unterteilt. Sie enthalten verschiedene Lern- und Arbeitsmittel sowie Schülerarbeiten und dienen gleichzeitig als „Wände“ zur Gliederung des 61
Postumus (1976), a.a.O. S.72
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Raumes in verschiedene Aktivitätszonen. Die Einrichtung einer „Leseecke“, in die sich Kinder in Phasen der Freien Arbeit begeben können, ist bei der Umgestaltung oft der erste Schritt. Die Fensterbänke werden als Experimentier- oder Ausstellungsflächen genutzt. An den Wänden sind Arbeiten der Kinder zu sehen und Plakate mit Hinweisen zum Gruppen- und Unterrichtsleben: Klassendienste (Frühstücks-, Aufräum-, Blumendienst, ...), ein Regelkatalog für das Verhalten in der Klasse, Plakate mit den Ergebnissen von Gruppenarbeiten, Exkursionen, Projekten und dergleichen; kurz: der Gruppenraum ist in seinen Einzelheiten ein Spiegelbild des Unterrichts- und Gruppenlebens. Ein solcher Raum kann nicht einfach nach Plan und Katalogvorgabe eingerichtet werden. Er ist das Ergebnis eines langen Weges der „kleinen Schritte“, die zusammen mit den Kindern und den kooperierenden Kollegen entwickelt und erprobt werden müssen. Im Hinblick auf den Unterricht kommt den Arbeitsmitteln und den Arbeitsecken (den „Ateliers“ nach Freinet) eine besondere pädagogische Funktion zu. Eine solche können sie freilich nur erfüllen, wenn sie pädagogisch durchdacht, überschaubar und in ihrem Sinn den Kindern deutlich sind. Zu warnen ist vor einem „Materialfetischismus“. Die Überschätzung der Bedeutung von Arbeitsmitteln kann – wie es eine Lehrerin drastisch ausgedrückt hat – einerseits zu Übereifer und zum „Erstickungstod durch Materialien“62 führen oder in genau entgegengesetzter Richtung als Begründung dafür vorgeschoben werden, wegen mangelnder Ausstattung überhaupt auf die Entwicklung neuer Unterrichtsformen verzichten zu müssen. – Dagegen ist festzuhalten, dass Arbeitsmittel und Arbeitsecken keinen Zweck an sich repräsentieren, sondern nur im Rahmen übergeordneter pädagogischer Zielsetzungen und definierter pädagogischer Konzeptionen entwickelt und sinnvoll eingesetzt werden können. Peter Petersen hat versucht, die Qualitätskriterien zu beschreiben, an denen der pädagogische Wert von Arbeitsmitteln allgemein zu bemessen ist. In einer widersprüchlich anmutenden Definition bestimmt er das Arbeitsmittel als einen Gegenstand, hergestellt und mit einer eindeutigen didaktischen Absicht „geladen“, „damit sich das Kind frei und selbständig dadurch bilden kann.“63 Petersen nennt sieben Kriterien, denen ein gutes Arbeitsmittel genügen sollte (ich gebe sie hier verkürzt und z.T. interpretierend sowie mit einem vorangestellten Begriff wieder, der das Wesentliche auf den Punkt bringen soll): x x x x x x
x 62 63
Motivationsfunktion: Es muss einen Anreiz für das Kind enthalten, sich damit zu beschäftigen. Klarheit in der Anwendung: Das Kind muss seine Anwendung leicht durchschauen und ggf. – bei einem komplizierteren Arbeitsmittel – in seinen Gebrauch eingeführt werden. Kontrollfunktion: Es enthält in sich eine Kontrolle (autokorrektive Materialien) oder verweist auf eine solche (Lösungshefte, Kontrollkarten usw.). Übungsfunktion: Es enthält Anreize zu wiederholter Beschäftigung. (In der Regel so lange, bis das Lösen der Aufgaben keinerlei Schwierigkeiten mehr bereitet.) Weiterführung: Es führt von sich aus weiter, steht meist in einer Reihe von Übungen und Arbeitsgängen. Erzieherische Funktion: Es erzieht im Gebrauch zu einer zielgerichteten, disziplinierten Arbeitshaltung und fördert durch die notwendige Beachtung von Regelungen (Bewegung im Raum, ordnungsgemäßer Gebrauch, Holen und wieder Zurückbringen nach Gebrauch) die soziale Erziehung. Diagnostische Funktion: Es hilft dem Lehrer, die Individualität des einzelnen Schülers hinsichtlich seiner Leistungsfähigkeit und seiner Arbeitshaltung besser zu verstehen. Schulz, Eva M. (1983): Wider den Materialfetischismus, in: Grundschule, 2/1983, S.16ff Petersen, Peter (1937/1971), a.a.O., S.182
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Arbeitsmittel stehen also nicht isoliert, sondern in einem größeren pädagogischen und didaktischen Zusammenhang. Hinsichtlich ihrer inhaltlichen Zielsetzungen stehen sie meist mit bestimmten Lernbereichen in Verbindung: Arbeitsmittel für Mathematik, für Sachunterricht, für Deutsch usw. Werden die Arbeitsmittel nach ihrem jeweiligen Bezug zu Lernbereichen gesondert an einem bestimmten Ort im Klassenraum (oder im Flur) „lokalisiert“ und wird dieser Ort eigens zu deren Gebrauch ausgewiesen und hergerichtet, entstehen „Arbeitsecken“. Die Arbeitsecken sind eine wichtige Hilfe zur Gliederung des Raumes und zum pädagogisch funktionalen Gebrauch der Arbeitsmittel. Welche reichen Möglichkeiten hier bestehen, zeigt das Beispiel der Jenaplanschule Amsterdam-West. Während einer einwöchigen Hospitation konnte ich die Einrichtung und den Gebrauch der Arbeitsecken an dieser Schule studieren. Sie sind das Ergebnis einer langen Auseinandersetzung, das selbstredend nirgends „von heute auf morgen“ zu realisieren ist. Eine Gruppe aus dem Lehrerkollegium hat für einen deutschen Leserkreis einen Überblick über die Arbeit an dieser Schule gegeben, u.a. auch bezüglich der Arbeitsecken. Ein längerer Abschnitt aus diesem Bericht zeigt ihre Funktion und ihre Einbettung in den didaktischmethodischen Gesamtrahmen der Schule. Zum besseren Verständnis des folgenden längeren Zitates seien noch einige Informationen zu den niederländischen Begriffen vorangestellt. Es handelt sich bei dieser Schule um eine achtjährige „Basisschule“ für die ca. vier- bis zwölfjährigen Kinder. Sie sind aufgeteilt in einen „Kleuterbouw“ (etwa: „Kleinkindergruppe“) mit den Vier- und Fünfjährigen sowie in zwei jeweils drei Jahrgänge umfassende weiterführende Gruppen: „Onderbouw“ (Untergruppe) und „Bovenbouw“ (Obergruppe). Bei der großen Anzahl der Arbeitsecken wird der Leser vermutlich fragen: Wieviel Ecken hat denn ein Klassenzimmer? Indessen ist zu beachten, dass in der Übersicht alle Arbeitsecken an der Schule, wie sie zu einem bestimmten Zeitpunkt bestanden haben, aufgeführt sind. Manche von ihnen sind im Flur oder in Nebenräumen untergebracht, manche „Ecken“ bestehen nur aus einem Kästchen mit Arbeitskarten.
Einrichtung und Funktion der Arbeitsecken an der Jenaplanbasisschule Amterdam-West (von Wilma de Jonge, Peter Peels und Goverien de Visser)64 Die Aufgabe des Gruppenleiters besteht darin, die Kinder bei ihren Tätigkeiten zu begleiten und zu unterstützen. Er sorgt dafür, dass die Arbeitsecken einen anregenden Charakter behalten, verändert oder ergänzt sie, richtet ggf. neue eine oder schließt solche, für die kein Interesse mehr besteht. Wie wir bereits von Pauls Schultag wissen, kann nach der Arbeit in den Arbeitsecken ein ,,Zeigekreis“ stattfinden, in dem die Kinder erzählen und/oder zeigen, was sie gearbeitet haben. Andere hören zu oder geben aus der Sicht ihrer eigenen Erfahrungen Anregungen. Dieser Kreis ist insofern bedeutsam, als er – neben dem Erfahrungsaustausch – der Tätigkeit in den Arbeitsecken einen natürlichen Sinn verleiht. Die Arbeitsergebnisse treten dort aus der Anonymität der ,,Ecke“ 64
De Jonge, Wilma; Peels, Peter und de Visser, Goverien: Leben und Arbeiten in einer Jenaplan-Basisschule in Amsterdam-West, in: Skiera, Ehrenhard (Hsg.)(1985), a.a.O, S.194ff
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ins helle Tageslicht. Welche Arbeitsecken gibt es nun in den Gruppenräumen? Arbeitsecken können sehr einfach sein (z.B. besteht die ,,Schauspielecke“ nur aus einem Kästchen mit Auftragskarten) oder äußerst differenziert. So enthält die Druckecke in der Oberstufe den Limographen, die Druckpresse, Buchstabenkästen, Papier und weiteres Zubehör. Sie können sehr strukturiert sein (vor allem im ,,Bovenbouw“) oder ziemlich offen (wie im Kleuterbouw“). In manchen Ecken wird in erster Linie individuell gearbeitet, andere enthalten Aufgaben, die in Partner- oder Gruppenarbeit zu lösen sind. Das Resultat ist manchmal für alle Kinder von Interesse, das andere Mal nicht. Es ist deutlich geworden, dass alle diese Aspekte an die Einrichtung der Arbeitsecken bestimmte Bedingungen stellen. Die Einrichtung ist dann auch abhängig vom verfügbaren Raum, Geld und Materialien, schließlich von den Wünschen der Gruppenleiter und Kinder. Wir haben aber die Erfahrung gemacht, dass schon mit sehr einfachen Mitteln viel erreicht werden kann. Die unten beschriebenen Arbeitsecken finden sich nicht in allen Gruppenräumen. Wie schon angedeutet, werden die Flure zum Teil mit einbezogen. Bei manchen Arbeiten ist der Gruppenraum wohl Ausgangspunkt, die Durchführung muss aber dann wegen der damit verbundenen Lautstärke in kleineren Nebenräumen, im ,,Großen Saal“ oder im Flur erfolgen.
Zur Zeit haben wir in den Gruppenräumen folgende Arbeitsecken: Mess- und Wiegeecke: Karten mit verschiedenen Aufträgen: z.B.: wieviel wiegt ein bestimmter Gegenstand, was ist schwerer als, usw.? Wiegen mit natürlichen Materialien wie Bohnen, Klötzen, Muscheln usw. Ausmessen den eigenen Körpers; Höhe, Breite und Tiefe verschiedener Gegenstände der Umgebung, z.B. des Gruppenraumes. Die Ergebnisse können von älteren Kindern in graphischer Form weiter verarbeitet werden. Bastelecke: Kästen mit Auftragskarten zum Üben von bestimmten Basteltechniken; Dosen mit ,,kostenlosem Material“ zur freien Bearbeitung oder zur Durchführung bestimmter Aufgaben. Spielecke: Gesellschaftsspiele und Entwicklungsmaterial, gestaffelt nach Schwierigkeitsgrad. Flanelltafel: Material: Bilder, Ziffern und Buchstaben; im Kleuterbouw: Geschichten legen; im Onderbouw: eigene Texte schreiben, Analogiereihen üben (z.B. verschiedene Wörter mit gleichen Endsilben finden). Stempelecke: Im ,,Kleuterbouw“: experimenteller Umgang mit Buchstaben und Ziffern, ggf. Erkennungsübungen, Stempeln des eigenen Namens; im ,,Onderbouw“: etwas aus dem eigenen Textbuch stempeln, Geschichten, Reimwörter, Wörter mit gleichen Anfangsbuchstaben u.a.; im ,,Bovenbouw“: Druckecke mit Druckpresse und Limograph. Entdeckungsecke: Schachteln mit Materialien und Arbeitskarten zu einem bestimmten Thema aus dem Bereich der ,,Wereldorientatie“ (Sachunterricht). Sand- und Wassertisch: Nur im ,,Kleuterbouw“: die Kinder erkunden auf spielerische Weise die Eigenschaften und Gestalrungsmöglichkeiten von Sand und Wasser. Bücherecke: Im ,,Kleuterbouw“ gibt es Bilderbücher und Malbücher, auch eigene Bücher, die gemeinsam hergestellt wurden. Im ,,Onder-“ und ,,Bovenbouw“ gibt es neben Bilderbüchern
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Kinder- bzw. Jugendbücher sowie Sachbücher. Horchecke: Mit Hilfe des Kassettenrecorders wird an bestimmten Aufträgen gearbeitet, beispielsweise Übungen im Englisch. Rechenecke: Hilfmittel für das Rechnen: z.B. Uhrenstempel, Spielgeld usw; Karten mit verschiedenen Rechen spielen. Tafelecke: Aufträge: Male ein Bild an die Tafel zu einer Geschichte, die wir gerade (nach der Vormittagspause) vorlesen; für ältere Kinder: schreibe einen Text über diese Geschichte. Bauecke: Im ,,Kleuterbouw“ handelt es sich hier um freie Spielmöglichkeiten mit Klötzen. Im ,,Onderbouw“: Überlege genau, was du bauen willst. Wenn du fertig bist, zeichne es von oben oder von der Seite aus gesehen. Musikecke: Auftragskarten für Glockenspiel, Xylophon, Cymbal und Rhythmusinstrumente; Komponieren kleiner Musikstücke. Puppenecke: Nur im „Kleuterbouw“: Verschiedene Gegenstände aus dem Haushalt; hiermit kann frei gespielt werden; Aufträge wie: Schmücken der Wiege, Besteckkasten ordnen, abwaschen, Puppen waschen. Malecke: Arbeiten mit Fingerfarben und Wasserfarben; Aufträge in Verbindung mit den Kreisgesprächen, freien Texten oder der Vorlesegeschichte. Schauspielecke: Zwei Kartenkästchen mit (1.) Personen- und (2.) Situationsbeschreibungen; die Kinder ziehen aus beiden eine Karte und erfinden damit ein Schauspiel (Hilfsmittel: Kleiderkiste). Handpuppenecke: Wie bei der Schauspielecke, nur wird die Geschichte mit einfachen Handpuppen dargestellt. Es ist verständlich, dass hier nur eine kurze Beschreibung der Arbeitsecken gegeben werden kann. Im Laufe der Jahre haben die Ecken einen reichen und ständig wechselnden Inhalt erhalten. Und der Leser würde heute sicher noch andere Inhalte und auch ganz neue Arbeitsecken antreffen. Die Kontrolle über die ,,Eckenaktivitäten“ der Kinder geschieht auf zweifache Weise. Die erste dient der Übersicht während der entsprechenden Arbeitsphase der Kinder. Auf der sog. ,,Arbeitseckentafel“ sind alle im Gruppenraum befindlichen Ecken mit einem Symbol verzeichnet. Unter jedem Symbol befinden sich so viele Häkchen, wie Kinder in der zugehörigen Arbeitsecke arbeiten können. Die Kinder haben die Möglichkeit, nach freier Wahl ihr Namenskärtchen unter ein freies Symbol zu hängen. Kinder und Gruppenleiter sehen mit einem Blick die Auslastung der Arbeitsplätze und wo die einzelnen Kinder gerade arbeiten. – Zweitens gibt es eine individuelle Kontrolle. Auf einer Karte, die den Namen des Kindes trägt, wird eingetragen, wann und wo dieses Kind gearbeitet hat. Im ,,Kleuter-“ und ,,Onderbouw“ tragen das die Gruppenleiter ein, im ,,Bovenbouw“ machen es die Kinder selbst. Wie schon gesagt, begleitet der Gruppenleiter die Arbeit der Kinder, indem er die Tätigkeiten aufmerksam verfolgt und wenn notwendig hilft. Bei der gegenwärtigen Gruppengröße ist das nur möglich, wenn die Arbeitsecken so eingerichtet sind, dass die Kinder weitgehend selbständig arbeiten können. Zum Schluss wollen wir noch das Dokumentationszentrum erwähnen, das fast
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nur von den Kindern des ,,Bovenbouw“ benutzt wird. Es ist eigentlich keine ,,Arbeitsecke“, kann aber zu manchen Aufgaben, die die Arbeitsecken vorgeben, herangezogen werden. Aus dem Niederländischen: E. Skiera
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Wege der Inneren Schulreform: Ihre Bedingungen und die Suche nach dem „ersten Schritt“
Das ausgebreitete Spektrum an Neuerungen gegenüber der didaktisch-methodischen Normalform der Schule führt zur Frage: Wie finden die Ideen überhaupt ihren Eingang in die Praxis und welches könnte in einer gegebenen Situation der „erste Schritt“ des Wandels sein? Es ist deutlich geworden, dass es sich bei den meisten Ansätzen nicht um eine rein technische Angelegenheit handelt. Sie sind immer verbunden mit anderen Vorstellungen vom Unterrichten, vom Kind, von der Rolle und den Aufgaben des Lehrers, schließlich auch von der Beziehung Schule-Gesellschaft. „Schulreform und die Entwicklung der Gesellschaft bedingen einander“. So richtig dieser Satz sein mag, so wenig aussagekräftig ist er doch für die einzelne Situation. Er trifft eher für den allgemeinen Trend zu als für die einzelne Schule. Die Strafrituale der mittelalterlichen Klosterund Stadtschulen wird man heute zum Beispiel im allgemeinen nicht mehr finden und wo sie doch auftauchen, müsste der Lehrer mit Protesten und der Verfolgung durch den Gesetzgeber rechnen. Es gibt im allgemeinen hinreichend Schulgebäude; die hygienischen Bedingungen haben sich gegenüber früheren Zeiten verbessert; das gesellschaftliche Ansehen und der Ausbildungsstand der Lehrkräfte, in manchen Ländern auch die Besoldung, haben sich verbessert. Das hat ohne Zweifel einen erheblichen Einfluss auf das Schulklima und die Binnenverhältnisse der Schulen genommen. Gleichwohl bestehen gravierende Unterschiede sowohl zwischen verschiedenen Ländern wie auch innerhalb eines Landes. Frankreich, ein Land, von dem die Ideale der Aufklärung einen mächtigen politischen Auftrieb erfuhren, huldigt heute einem eher traditionellen Bild von Schule als die meisten Nachbarländer. Und in den Ländern selbst – einschließlich Frankreich – gibt es erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen Schulen. Man wird Schulen finden, die nach wie vor nahezu völlig unberührt von reformerischen Ideen einer traditionellen Unterrichtsweise huldigen, während die Nachbarschule sich diesen Ideen gegenüber aufgeschlossen zeigt. Weniger krass kann man diesen Unterschied bis in die einzelne Schule verfolgen. Oft stehen motivierte Lehrkräfte alleine da oder gar völlig „auf verlorenem Posten“. Der militärische Sprachgestus etwa von Freinet reflektiert diese Situation. Seine Anhänger verstehen sich (zum Teil bis heute) als „Kämpfer“, als „Partisanen“ für eine Erneuerung der Erziehung und für die Befreiung des Kindes aus unnötigen Zwängen. Wie nun, das ist ein Teil der eingangs gestellten Frage, finden reformerische Ideen ihren Weg in die Praxis? Betrachtet man die Schulgeschichte und die aktuellen Entwicklungen, dann lassen sich vier miteinander korrespondierende Wege und Handlungsebenen unterscheiden. 1. Der allgemeine Wandel der Einstellung zum Kind und zur Erziehung überhaupt führt zu einem Wandel des Schülerbildes und der sozialen Beziehungen innerhalb der Schule. Eine Demokratisierung und Humanisierung des Schulalltages sind die Folge.
418 Reformpädagogik
2. Der zweite Weg hat seinen Grund in der Gestaltungsfreiheit und –kraft der einzelnen Lehrperson. Sie kann im Rahmen der geltenden Vorschriften und Lehrpläne didaktisch-methodische Neuerungen innerhalb der Klasse auf den Weg bringen. 3. Der dritte Weg fast die Möglichkeit einer Initiative von „ unten“ auf der Ebene der Einzelschule ins Auge. Sie kann abzielen auf die Weiterentwicklung einer „normalen“ (öffentlichen) Schule oder auf die Gründung einer neuen öffentlichen oder privaten Schule im Rahmen der bestehenden Gesetze. 4. Entsprechend ist – viertens – an Initiativen von „oben“ zu denken, also an Initiativen im Rahmen bildungspolitischer Instrumente: Schulversuche, Lehrplanentwicklung, institutionell geförderte Schulbegleitung und Schulentwicklung sowie strukturelle Reformen. Schulentwicklung und Unterrichtsreform muss als ein dynamischer Prozess angesehen werden. Sein Verlauf ist – formal betrachtet – durch bestimmte Phasen gekennzeichnet, die sich – solange der Prozess als bewusst gesteuerter anhält – auf einer neuen Ebene mit modifizierten oder neuen Zielen wiederholen. Die Phasen gelten im Prinzip auch für bescheidenere Vorhaben im Rahmen der einzelnen Klasse. Sie beschreiben die Stufen eines reflexiven Vorgehens. Hilfreich ist hier die Vorstellung einer Spirale. Die flächige Projektion der Spirale aus der Sicht von oben bildet einen Kreis, dessen Abschnitte die Phasenabfolge symbolisiert: a) PLANUNG (mit diagnostisch gestützter Zielformulierung, theoretische bzw. hypothetische Beschreibung der Veränderungsprozesse und –ergebnisse, Benennung und Bereitstellung der notwendigen sächlichen und/oder personellen Mittel); b) DURCHFÜHRUNG (Einführung der geplanten Änderungen in der Praxis); c) EVALUATION (Feststellung der tatsächlich aufgetretenen relevanten Ereignisse und Ergebnisse; also Prozess- und Produktevaluation); d) KRITIK und BEWERTUNG (Stellungnahme zu einzelnen Phasen und zum bisherigen Gesamtprozess); e) sodann: aa) Neuplanung, bb) .... cc) ... dd) ... Die aufsteigende Richtung der „Innovationspirale“ symbolisiert die Inhalte des Prozesses, also PLANUNG bestimmter didaktischer Prozesse, DURCHFÜHRUNG bzw. Einführung neuer Inhalte, neuer Methoden, Umgestaltung einer Schule usw. Nur durch eine institutionelle Absicherung ist es möglich, innovative Entwicklungen langfristig zu sichern und Probleme sowie Fehlentwicklungen frühzeitig zu diagnostizieren. Ein besonderes Gewicht muss bei allen Phasen der Innovation auf die Beteiligung von Personen gelegt werden, die bei der DURCHFÜHRUNG verantwortlich tätig oder unmittelbar betroffen sind (also in der Regel Lehrkräfte, gegebenenfalls aber auch Schülervertreter und Eltern). Diese sind am ehesten in der Lage, das Mögliche vom bloß Wünschenswerten zu trennen und überhaupt dafür zu sorgen, dass die Interessen der jeweils unmittelbar Beteiligten und Betroffenen in allen Phasen mitbedacht werden. Bei allen Versuchen zur Entwicklung des Unterrichts und der Schule ist es außerordentlich wichtig, die Ebene des Handelns zu bestimmen und die jeweils gegebenen Möglichkeiten auszuloten. Die Frage nach dem „ersten Schritt“ in der eigenen Unterrichtspraxis hat also eine Analyse des eigenen „Standpunktes“ zur Voraussetzung, und zwar im Sinne einer doppelten Vergewisserung: Ich muss wissen und in einem dialektischen Prozess herausfinden, „wo ich stehe“ und „wohin ich eigentlich will“. Das „wo“ schließt die Analyse der gegebenen Möglichkeiten und Grenzen im Horizont anderer Vorstellungen ein; das „wohin“ bedeutet die Erhellung dieses Horizontes selbst. Der „erste Schritt“ in einer normalen Klassensituation (also auf „Weg 2“) ist für die Klasse und
Die Erweiterung des Lernbegriffs 419
ihren Lehrer immer schon ein bedeutender Schritt, so bescheiden er sich auch ausnehmen mag: sei es die Einführung eines Kreisgesprächs am Anfang der Woche oder des Tages oder im fachlichen Unterricht, seien es kurze Phasen freier Arbeit, seien es erste Versuche der Gruppenarbeit oder andere vorsichtige Versuche zur „Öffnung“ des Unterrichts. In allen Fällen ist ein reflexives Vorgehen unerlässlich, in das durchaus auch die Kinder einbezogen werden können. In der eigenen Klasse zeigen sich die Wirkungen neuer Formen des Unterrichts unmittelbar und können gegebenenfalls weiterentwickelt oder modifiziert werden. Schon das gemeinsame Vorgehen mit der Nachbarklasse oder mit dem Kollegium erfordert eine Institutionalisierung des Prozesses zum Zwecke seiner permanenten Evaluation. Innere Schulreform als pädagogisch-methodische Bereicherung im Sinne einer Überwindung der methodischen Monokultur sowie als Humanisierung und Demokratisierung des Schul- und Unterrichtslebens selbst – damit ist eine Entwicklungsaufgabe bezeichnet, in deren Horizont auch die Versuche einer „Öffnung von Schule und Unterricht“ stehen.
Reformpädagogik und die Schulreform der Gegenwart 421
Kapitel 14
Zum Einfluss reformpädagogischen Denkens auf die Schulreform der Gegenwart 1
Reformpädagogik und ihre Wege in die Welt der Schule
Wer die heutigen Verhältnisse in den Schulen auf dem Hintergrund des Bildes der autoritären „Alten Schule“ betrachtet, käme vermutlich zu der Einschätzung, dass die Reformpädagogik in den zurückliegenden Jahrzehnten zu einer umfassenden Wirksamkeit gekommen sei, wenn auch von Land zu Land in unterschiedlichem Maße. Schon ein kurzer Blick in die Klassenräume weist auf einen erheblichen Wandel hin. Die fest installierten Tische und Bänke früherer Zeiten sind verschwunden und haben flexiblem und ansprechendem Mobiliar Platz gemacht. Nicht selten ist die frontale Anordnung aufgehoben: die Tische stehen zu Gruppen zusammen, an denen 4 bis 6 Kinder Platz finden. Die Klassenräume sind zumeist hell und freundlich, die Fenster geben die Sicht nach draußen frei. Der Raum ist geschmückt, Bilder und Arbeiten der Kinder werden ausgestellt, Blumen sind zu finden, Arbeitsmaterial für die „Freie Arbeit“ in der Grundschule steht griffbereit. Aber auch die Veränderungen im Unterricht selbst sind offensichtlich. Der Umgangston ist freundlicher geworden, Körperstrafen und „Strafarbeiten“ nahezu verschwunden – nicht nur deshalb, weil sie mittlerweile in den meisten Ländern verboten sind. Diese Änderung wird sicher von fast allen Lehrern gutgeheißen und innerlich bejaht, Verstöße dagegen sicher als letztlich hilflose und unangemessene Reaktion angesehen. Und der Gang zur Toilette während des Unterrichts wird nicht mehr als mögliche Störungsquelle zu verhindern versucht. „Zeugnisse ohne Noten“ sind kein bloßes Schlagwort geblieben, sondern in den ersten beiden Schuljahren zum Beispiel in Deutschland (in Schleswig-Holstein in den ersten 3 Schuljahren) Realität, in Dänemark sogar in den ersten 7 Schuljahren. Der Projektunterricht hat in vielen Schulen Eingang gefunden und sehr viele Lehrkräfte nutzen den gegeben Spielraum methodisch und didaktisch kreativ. – Dieses Bild trifft wohl in erster Linie für die Grundschule zu, aber in manchen Punkten auch für die weiterführenden Schulen, wenngleich gerade im Sekundarbereich zweifellos noch viel Reformbedarf besteht. Insgesamt ist die folgende Überlegung wohl nicht abwegig: Ein Betrachter, der die allgemeinen Schulverhältnisse in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kennt und mit den reformpädagogischen Bestrebungen jener Zeit vertraut ist, käme, konfrontiert mit den heutigen Verhältnissen, vermutlich zu der Einschätzung, dass die Reformpädagogik in den zurückliegenden Jahrzehnten zu einer umfassenden Wirksamkeit gekommen sei. Indessen ist ein solches Urteil in mancherlei Hinsicht fragwürdig. Eine Antwort auf die Frage nach der Wirksamkeit der Reformpädagogik kann sich bis heute nicht auf empirische Studien stützen, die eine generelle Beurteilung gestatten würden und gleichzeitig eine Gewichtung der reichlich vorhandenen „Restbestände“ der „Alten Schule“ zuließen. Zudem ist es schwierig, die Reformpädagogik begrifflich zu fassen. Die theoretischen Begründungen und Praxisgestaltungen sind – wie wir gesehen haben – außerordentlich verschieden, ja, gegensätzlich (denken wir etwa an die Freinet- und Waldorfpädagogik), die historischen Einordnungsversuche fragwürdig, der Kanon an Sätzen, der als das „Credo“ der Reformpädagogik zu gelten habe, ist umstritten. Je nach Bevorzugung einer „engen“ oder „weiten“ Auslegung des Begriffs „Reformpädagogik“ wird man zu unterschiedlichen Einschätzungen hinsichtlich ihrer Wirkung gelangen. So wird im Sinne einer weiten Auslegung oft vom „Geist der Reformpädagogik“ gesprochen, wenn in der Schulreform verwandte Motive ohne einen expliziten oder historisch nachweisbaren Bezug zur „eigentlichen“ Reformpädagogik auftauchen.
422 Reformpädagogik
Trotz der angedeuteten Schwierigkeiten schlage ich eine Definition vor, die m.E. das Verständnis von Reformpädagogik heute angemessen widerspiegelt, soweit sie unter pragmatischen bzw. innovativen Gesichtspunkten in den Blick genommen wird. Die Definition reflektiert also nicht die Ambivalenzen und Widersprüche, die in historischer und systematischer Sicht unabdingbar zur Sprache gebracht werden müssen, sondern nur jene Momente, die zusammenfassend häufig als der bleibende „Ertrag“ der Reformpädagogik herausgestellt werden. Reformpädagogik heute, soweit sie die Schule betrifft, ist der Versuch, in radikaler Abkehr vom Bild der „Alten Schule“ mit ihren autoritären, lebensfernen, einengenden, lebens- und lernfeindlichen ... Momenten einer demgegenüber „Neuen Schule“ zum Durchbruch zu verhelfen, die die folgenden pädagogischen Motive ernst nimmt: x Berücksichtigung der Interessen und Bedürfnisse des Kindes; x aktives, kreatives, lebensverbundenes Lernen; x Schule als Lebensgemeinschaft, als Ort kooperativen, selbst- und mitverantwortlichen Lernens und Lebens; x Erziehung des „ganzen“ Menschen („Kopf, Herz und Hand“). In historischer Sicht verweist diese Definition auf die Versuche zur Schulreform, wie sie sich in methodischen Richtungen (Kunsterziehungsbewegung, Arbeitsschule, Erlebnisunterricht u.a.) und in durchgeformten Schulgestalten (Landerziehungsheime, Montessori-, Waldorf-, Jenaplan-, Freinet-, Dalton-Plan-, Freie Alternativschulen u.a.) artikuliert haben; in aktuellpragmatischer Sicht auf ein permanentes Programm zur Humanisierung der Schule, bei dem ein historischer Bezug nicht unbedingt vorhanden sein muss (aber ggf. natürlich gesehen werden sollte!). Wie nun bringt sich Reformpädagogik ins Spiel? Welche Wege nimmt sie in die Welt der Schule? Ich erinnere an die im letzten Kapitel aufgezeigten „miteinander korrespondierenden Wege und Handlungsebenen“, über die sich Innovationen im Bereich der Schule vollziehen. Sie müssen entsprechend auch bei der Frage nach den Wirkungen der Reformpädagogik auf die Gestaltung der Schule berücksichtigt werden. Demnach können vier Wege unterschieden werden: Weg 1: Der allgemeine Wandel der Einstellung zum Kind und zur Erziehung überhaupt und damit verbunden eine zunehmende Anerkennung der Menschenwürde auch des Kindes führt u.a. zu folgenden, mit der Reformpädagogik korrelierenden Veränderungen: x Wandel des Schülerbildes vom Belehrungsobjekt zum Bildungssubjekt; x Humanisierung und Demokratisierung der Umgangsformen in der Schule; x Verbot von Körperstrafen und Strafarbeiten und – weitgehende ? – Beachtung dieses Verbotes; x Problematisierung des „Sitzenbleiberelends“ verbunden mit der Forderung nach „Fördern statt Auslesen“. Weg 2: Durch die Gestaltungsfreiheit und den Gestaltungswillen der einzelnen Lehrperson können im Rahmen der geltenden Vorschriften und Lehrpläne wie auch immer hergeleitete reformpädagogische Motive zu praktischer Geltung gebracht werden, zum Beispiel: x Einführung von Kreisgespäch und Gruppenarbeit; x Beachtung der Schülerinteressen bei der Themenwahl; x erlebnis- und erfahrungsbetonende Unterrichtsmethoden;
Reformpädagogik und die Schulreform der Gegenwart 423
x
Kultivierung eines reichen Gruppenlebens mit Spiel, Feier, freien Gesprächen, gemeinsamen Unternehmungen.
Weg 3: Eine „Initiative von unten“ auf Schulebene kann (a) zur Weiterentwicklung einer „normalen“ (öffentlichen oder privaten) Schule in pädagogischen Teilbereichen oder als Ganzes führen sowie (b) auch zur Gründung einer neuen reformpädagogisch ausgerichteten Schule im Rahmen der bestehenden Gesetze. Beispiele (für a)sind etwa: x Entwicklung von Konzepten zur Integration Behinderter; x Initiativen zur multikulturellen Erziehung; x Einführung neuer didaktischer Konzepte auf Schulebene (z.B. handlungs- oder projektorientierter Unterricht, „Weltorientierung“, ökologische Erziehung u.a.); x Entwicklung einer Nachbarschaftsschule im Sinne der „Community Education“. Weg 4: Über „Initiativen von oben“ kann mit Hilfe bildungspolitischer Instrumente auf Gemeinde- oder Landesebene die Schulentwicklung im Sinne reformpädagogischer Motive vorangebracht werden, zum Beispiel durch entsprechende: x Schulversuche; x Lehrplanreform, Erlasse; x institutionell geförderte Schulbegleitung und –entwicklung; x Strukturreformen des Bildungswesens (z.B. „Einheitsschule“ bzw. Gesamtschule). Es ist deutlich, dass diese Unterscheidungen nicht als jeweils isolierte Wege gesehen werden können. Es handelt sich vielmehr um Wege, die sich in der konkreten Ausformung mehr oder weniger wechselseitig bedingen. Der konkrete Anteil reformpädagogischen Gedankengutes und entsprechender Reformmotive im Prozess der Schulentwicklung lässt sich bezüglich der skizzierten Wege nur ungefähr abschätzen. So dürfte eine genauere Einschätzung des reformpädagogischen Anteils am allgemeinen Bewusstseinswandel und den hierüber vermittelten schulpraktischen Einflüssen kaum möglich sein. Eher ist eine Einschätzung der Wirksamkeit des zweiten Weges möglich. Hier können die beruflichen Qualifizierungsmaßnahmen in der Lehreraus- und -fortbildung sowie über Fachzeitschriften, soweit sie eben reformpädagogisches Gedankengut aufgreifen, zur Wirkung kommen. Über den Weg der persönlichen Initiative kann eine Breitenwirkung vermutet werden, die letztlich zu einer weitreichenden generellen Verbesserung der schulischen Binnenverhältnisse geführt hat. Eine recht genaue Einschätzung ist hinsichtlich des dritten Weges möglich. Wenngleich gemessen an der Gesamtzahl der Schulen die Gruppe der reformpädagogischen Schulen immer noch recht klein ist, präsentiert sie sich in Europa doch heute mit immerhin etwa 2000 Schulen, wobei ein deutlicher zahlenmäßiger Schwerpunkt in den Niederlanden festzustellen ist, gefolgt von Deutschland und Dänemark1. In den Niederlanden kam bei dieser Entwicklung den „Regionalen Schulbegleitungsdiensten“ eine wichtige Rolle zu. Sie bieten eine gezielte Unterstützung bei didaktisch-methodischen Entwicklungsvorhaben. Manche Schulbegleitungsdienste sind in der Lage, eine sogenannte „Systembegleitung“ anzubieten, wenn es darum geht, eine Schule als Ganzes im Sinne etwa des Jenaplans, der Montessorischule oder des Daltonplans umzugestalten. Den „vierten Weg“ will ich im Folgenden in aktueller Perspektive näher ausleuchten – ohne dabei allerdings die anderen Wege völlig auszuklammern; denn „Initiativen von oben“ bedürfen zumindest in demokratischen Gesellschaften der Vorbereitung auf den anderen Handlungsebenen. Ich beschränke mich dabei exemplarisch auf Entwicklungen in Deutschland und in den Niederlanden – und verweise im übrigen auf die Länderstudien in der neueren Litera1
Klaßen, Th. u. Skiera, E. (Hsg.) (1993): Handbuch der reformpädagogischen und alternativen Schulen in Europa. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren
424 Reformpädagogik
tur, in der auch über die teilweise sehr wechselvolle Geschichte der Reformpädagogik in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg berichtet wird.2 2 Neuere Entwicklungen im Primar- und Sekundarbereich in Deutschland am Beispiel Nordrhein-Westfalens Im Blick auf die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte lässt sich feststellen, dass sich reformpädagogische Anliegen – oft auf verschlungenen Wegen – insgesamt als einflussreich erwiesen haben, und zwar immer dann, wenn die noch mächtigen Züge der „Alten Schule“ in den kritischen Blick gerieten. Zu Beginn der siebziger Jahre waren es die staatlichen Richtlinien für die Grundschularbeit in den Ländern Niedersachsen, Hessen und Hamburg, von denen maßgebliche Impulse für ganz (West-)Deutschland ausgingen. Bald wurde in allen Grundschulrichtlinien die Möglichkeit für Freie Arbeit, Arbeit nach dem Wochenplan und projektorientiertes Arbeiten abgesichert3, allesamt Anliegen, bei denen die reformpädagogische Herkunft offensichtlich ist. Klafki stellte 1986 sicher zu Recht fest: „Wer sich in der Geschichte der Reformpädagogik einigermaßen auskennt, stellt fest, dass der größte Teil heutiger Initiativen für innere Schul- und Unterrichtsreform direkt oder indirekt auf Ideen der Reformpädagogik des ersten Jahrhundertdrittels zurückgeht oder als Wiederentdeckung solcher Ideen anzusprechen ist.“4 Klafki verschweigt aber auch nicht, dass jene Ideen „im Widerspruch zur didaktischen Erkenntnislage“ die Praxis immer noch viel zu wenig berührt haben. Mit der Einführung der neuen Richtlinien für die Grundschule in Nordrhein-Westfalen und durch die begleitende bildungspolitische Diskussion wurde der reformpädagogische Impetus verstärkt und die Bearbeitung des Widerspruchs, den die didaktische Erkenntnislage signalisiert, fortgesetzt; mit sichtbaren Wirkungen für die Reformarbeit in den Schulen selbst. Bei den Grundschulrichtlinien für Nordrhein-Westfalen, verbindlich eingeführt im Jahre 1985, handelt es sich um eine „Initiative von oben“ (Weg 4), die freilich lange vorbereitet war durch Entwicklungen in vielen Schulen wie Einführung von Freier Arbeit und Wochenplanunterricht, projektorientiertes Arbeiten, Entwicklung eines reichen Schullebens sowie gezielte Entwicklungsarbeit im Sinne Freinets, Montessoris und Petersens (Wege 2 und 3). Auch muss auf vergleichbare Entwicklungen in den Niederlanden hingewiesen werden, die zu jener Zeit in den reformorientierten Kreisen Nordrhein-Westfalens intensiv zur Kenntnis genommen wurden. Hinsichtlich bestimmter reformpädagogischer Optionen werden staatliche Richtlinien aus guten Gründen Zurückhaltung üben müssen. Sie sind darauf verpflichtet, einen möglichst breiten Konsens in pädagogischen Fragen zu formulieren, der über die Verständigung innerhalb der Fachwelt weit hinausreicht. Sie müssen u.a. den „pädagogischen Zeitgeist“ in Rechnung stellen, also veränderte Einstellungen zu Fragen der Erziehung und des Zusammenlebens überhaupt beachten. Um so bemerkenswerter erscheint die Tatsache, dass in den Richtlinien reformpädagogische Akzente nicht nur vereinzelt gesetzt sind, sondern in einen stimmigen Gesamtzusammenhang gebracht und bis in konkrete Vorschläge zu verschiedenen Lernbereichen didaktisch-methodisch verankert werden. Das hat seinen Grund u.a. in einer entschiedenen Stellungnahme des Kultusministers zu Beginn der Richtlinienarbeit im Jahre 1980. Er forderte ausdrücklich die Einbeziehung der Erfahrungen der Reformpädagogik und 2 Röhrs, H. und Lenhart, V. (Hsg.) (1994): Die Reformpädagogik auf den Kontinenten. Ein Handbuch, Frankfurt am Main u.a.O.: Peter Lang; Seyfarth-Stubenrauch, M und Skiera, E. (Hsg.) (1996): Reformpädagogik und Schulreform in Europa. 2 Bände, Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren; Skiera, Ehrenhard (1988): Europäische Reformpädagogik im Aufschwung. Neue Richtlinien für die Primarstufe des Bildungswesens in den Niederlanden, in Nordrhein-Westfalen und in Finnland. In: Forum Pädagogik 2/1988 3 Haarmann, D. (1987): Chaos im Klassenzimmer? Offener Unterricht, Freie Arbeit, Wochenplan: was die Lehrpläne der Bundesländer dazu sagen, in: Grundschule Heft 6/1987 4 Klafki, Wolfgang (1986): Aufgaben der Grundschule und der Grundschulreform, in: Erziehungswissenschaft Erziehungspraxis, Heft 1/1986, S.4
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in diesem Zusammenhang auch als einen der unverzichtbaren Schwerpunkte die „Problematisierung der Jahrgangsklasse“.5 Im Laufe der bildungspolitischen Debatte im Zusammenhang mit der Einführung der Richtlinien betonte die Landesregierung ferner ausdrücklich die Vereinbarkeit der Richtlinien mit wichtigen reformpädagogischen Konzeptionen.6 Der Richtlinientext liest sich denn auch über weite Strecken wie eine Zusammenfassung wichtiger Grundanschauungen der Reformpädagogik im Sinne der eingangs gegebenen Definition einer „modernen“ Reformpädagogik. Das soll nur mit einigen wenigen Beispielen belegt werden. Die dezidiert kind-anthropologische Orientierung kommt in dem Abschnitt „Schule des Kindes“ zum Ausdruck. Darin heißt es u.a.: Die Grundschule „darf für die Kinder nicht allein Unterrichtsstätte, sondern muss zugleich Lebens-, Lern- und Erfahrungsraum sein. In ihr sollen sich die Kinder glücklich und geborgen fühlen und in einer freien und befreienden Atmosphäre lernen können. – Die Grundschule muss die Kreativität und Phantasie der Kinder fördern, ihrem Tätigkeits- und Bewegungsdrang entgegenkommen und Fähigkeiten zum Entdecken und Gestalten entwickeln. – Die Kinder müssen Anerkennung und Zuneigung von Mitschülern und Lehrern erfahren und lernen, andere anzuerkennen. ... Arbeit und Spielen, Anstrengung und Fröhlichsein sollen sich ergänzen und durchdringen.“7 Die Lehrer werden ausdrücklich ermutigt, die – wohl immer noch vorherrschende – Form des frontalen Unterrichts vor der Klasse durch vielfältigere Formen in der Klasse zu ergänzen. „Beim Zusammenleben und Miteinanderleben in der Schule, im Klassenverband, bei Einzel-, Gruppen- und Partnerarbeit sowie im klassen- und jahrgangsübergreifenden Unterricht machen die Kinder vielfältige soziale Erfahrungen.“ In vielen Schulen des Landes sind diese Anregungen auf einen fruchtbaren Boden gefallen. Mit den Richtlinien ist ein Bedingungsrahmen geschaffen worden, der das Nachdenken über die eigene Praxis (Schulprogramm) herausfordert und die Besinnung auf Anliegen und Erfahrungen der Reformpädagogik bei Initiativen zur Inneren Schulreform und zur Lösung aktueller pädagogischer Probleme begünstigt. Eine 1992 vorgelegte Untersuchung von Tassilo Knauf „Innovationsatlas Grundschule – Handbuch zur Grundschulreform in NordrheinWestfalen“ bestätigt das mit Daten aus 400 Schulen eindrucksvoll. Nordrhein-Westfalen steht aus reformpädagogischer Sicht heute an der Spitze der Schulentwicklung in Deutschland. Die hier gesammelten Erfahrungen haben inzwischen die Entwicklungsarbeit in den übrigen Bundesländern maßgeblich befruchtet. Das Leitbild für die Arbeit in der Grundschule in Deutschland darf heute wohl zu Recht als ein solches angesehen werden, das in einem hohen Maße didaktische und methodische Grundanliegen der Reformpädagogik artikuliert. Sowohl die Richtlinien verschiedener Länder sowie die einschlägige didaktische Diskussion legen diesen Schluss nahe. Für die Sekundarstufe des Bildungswesens gilt diese Feststellung freilich nicht. Die hier verstärkt wirkenden Mechanismen der Selektion, Noten- und Stoffdruck, das ausgeprägte Fachlehrersystem und die großen Systeme, die der Anonymisierung Vorschub leisten und Konsens erschweren, bilden insgesamt ein ungünstiges Bedingungsgefüge für Entwicklungen aus dem Geist der Reformpädagogik. Also: Reformpädagogik in der Sekundarstufe – Fehlanzeige? Nun muss auch hier gesehen werden, dass über die oben so bezeichneten Wege 1 und 2 zahlreiche Momente in die Praxis „eingesickert“ sind, die dem Bild der Schule als einer freudlo5
Wittenbruch, Wilhelm (1989) (Hsg.): Das pädagogische Profil der Grundschule. Heinsberg: Agentur Dieck, S.13 Skiera, Ehrenhard (1988): Europäische Reformpädagogik im Aufschwung. Neue Richtlinien für die Primarstufe des Bildungswesens in den Niederlanden, in Nordrhein-Westfalen und in Finnland. In: Forum Pädagogik 2/1988 7 Kultusminister des Landes Nordrhein-Westfalen (1985): Richtlinien und Lehrpläne für die Grundschule in Nordrhein-Westfalen, Köln 6
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sen Lernanstalt entgegenwirken. In nahezu allen Schulen des Sekundarbereichs dürften heute belebende Momente wie Fest und Feier, Projekttage und -wochen, freiwillige Arbeitsgemeinschaften u.a. zu finden sein. Als innovative Beispiele für weitergehende Initiativen im Bereich der Sekundarstufe (Wege 3 und 4) können die „Stufenstrukturierte Hauptschule“ in Nordrhein-Westfalen angesehen werden. In Fortführung der Grundschulreform in die Sekundarstufe hinein fanden intensive Bemühungen zur Inneren Reform der Hauptschule statt, in einer Schulform also, die – mitbedingt durch die Selektionsmechanismen des Gesamtsystems – am meisten mit Motivationsund Integrationsproblemen konfrontiert ist. Bei dem Reformprogramm der späten 1980er und frühen 1990er Jahre, an dem sich zahlreiche Schulen des Landes beteiligten, geht es um die Stärkung der pädagogischen und sozialpädagogischen Komponenten. Gearbeitet wird stufenbezogen (Klassen 5/6, 7/8 und 9/10) mit kleinen Lehrerteams. Das bedeutet eine Stärkung des personalen Bezuges zwischen Schülern und Lehrern sowie der Lehrer untereinander. Freizeitangebote und ein thematisch breit angelegtes Spektrum an Arbeitsgemeinschaften am Nachmittag kommen den individuellen Bedürfnissen und Interessen entgegen. Das bedeutet eine Bereicherung des Schul- und Unterrichtslebens mit der Folge einer größeren Akzeptanz der Arbeit auf Seiten der Schüler. Als „Prototyp“ dieser Initiativen kann die Hauptschule Aldenhoven angesehen werden, die seit 1968 einen konsequenten Weg der Inneren Reform unter bewusster Einbeziehung reformpädagogischer Erfahrungen (insbesondere aus dem „Jenaplan“ Peter Petersens) gegangen ist.8 Das genannte Beispiel zeigt, dass auch im Sekundarbereich Entwicklungen und Initiativen zu beobachten sind, die – mehr oder weniger ausdrücklich und bewusst – mit reformpädagogischen Anliegen und Erfahrungen korrespondieren. Auch hier zeigt sich inzwischen, dass die Erfahrungen in Nordrhein-Westfalen die didaktische Diskussion insgesamt befruchtet und Entwicklungen in anderen Bundesländern angeregt haben. Reformpädagogik in der Sekundarstufe: also keine Fehlanzeige! Im Vergleich zur Primarstufe sind entsprechende Tendenzen allerdings weniger stark ausgeprägt.
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Die Niederlande: Zur Reform des Bildungswesens unter dem Einfluss der Reformpädagogik – strukturelle und pädagogisch-konzeptionelle Aspekte
Im Juni 1975 wurde in den Niederlanden ein bedeutendes bildungspolitisches Dokument vorgelegt, das die Grundlinien der Bildungsplanung und Schulentwicklung für die nächsten 20 bis 25 Jahren festlegen sollte. Diese „Konturen eines zukünftigen Schulsystems“ zielten, ähnlich dem fünf Jahre vorher in der Bundesrepublik erschienenen „Strukturplan für das Bildungswesen“, auf eine strukturelle und pädagogisch-konzeptionelle Neugestaltung des Primar- und Sekundarbereichs. Der bisherige Primarbereich, bestehend aus der zweijährigen „Kleuterschool“ („Kleinkinderschule“) für die Vier- bis Fünfjährigen und die anschließende sechsjährige „lagere school“ („Grundschule“), sollte zu einer achtjährigen „Basisschule“ vereinigt werden. Im Bereich der Sekundarstufe I war die Schaffung der vierjährigen „Middenschool“, eine „Integrierte Gesamtschule“, vorgesehen. Man kann sich vorstellen, auf welch bedeutende Schwierigkeiten und Widerstände eine Initiative stoßen musste, die sich die Integration des in den Niederlanden sehr stark differenzierten Sekundarbereichs zum Ziel gesetzt hatte. Insbesondere die mit dem Gesamtschulkonzept verbundenen gesellschaftspolitischen Vorstellungen – die Gesamtschulinitiative wurde vor allem von der Arbeiterpartei getragen – 8
Bielefeldt, H. (1977): Schritte in Richtung Schulreform – das Modell der Hauptschule Aldenhoven, in: Brinkmann, G. (Hsg.) Praxis Hauptschule. Kronberg; vgl. auch: Bielefeldt, Heinz und Emundts, Martin (1984): Hauptschule unterwegs. Pädagogische Skizzen zur Innenseite einer nicht nur ungeliebten Schulform, Heinsberg: Agentur Dieck
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fanden nicht die für makro-strukturelle Veränderungen notwendige breite Zustimmung. Nach anfänglichem Reformeifer, der von der politischen Gesamtlage beflügelt wurde und auch bemerkenswerte Ergebnisse bei einzelnen Schulversuchen brachte, wurden die ehrgeizigen Pläne bald zurückgenommen und durch bescheidenere Initiativen ersetzt. Völlig anders verhielt es sich im Primarbereich. In der Zielsetzung noch radikaler gefasst als die vergleichbaren Vorschläge des deutschen Strukturplans, fand sich in den Niederlanden ein breiter Konsens hinsichtlich der zentralen pädagogischen Zielsetzungen wie Kontinuität des Bildungsganges und damit verbunden der Abbau von Selektionsschwellen, gezielte Förderung sozial benachteiligter Kinder, Entwicklung kindgerechter Lernformen, Schaffung eines anregungsreichen Lernmilieus („pedagogisch klimaat“). Nach einem zehnjährigen Innovationsprozess wurde im Jahre 1985 die neue achtjährige Grundschule für die Vier- bis Zwölfjährigen landesweit verbindlich eingeführt. In diesem Prozess war die Präsenz und die bildungspolitische Artikulation der in den Niederlanden so genannten „Traditionellen Reformschulen“ für die pädagogische Konzeption der Basisschule von entscheidender Bedeutung. Denn die „neuen“ Ziele gehörten seit je zum Grundbestand reformpädagogischer Motive. Bereits in dem eben erwähnten „Konturenplan“ wurden die reformpädagogischen Schulen als bedeutsam für den gesamten Innovationsprozess genannt. Von der Teilnahme dieser Schulen erwartete man Beiträge in zweierlei Hinsicht. Ich zitiere Verlautbarungen der „Innovationskommission für die Basisschule“. Diese Kommission nahm initiierende und koordinierende Funktionen auf nationaler Ebene wahr. In ihrer Empfehlung vom Juni 1976 heißt es u.a.: „Erstens ist es wegen des Zustandekommens von Pluriformität bei der Gestaltung der neuen Basisschule an sich wichtig, dass Jenaplan-, Montessori- und Freie Schulen die Gelegenheit erhalten, ihr Konzept weiter auszuarbeiten und zu realisieren. ... Zweitens hält es die Kommission für wichtig, dass der übrige ‚kleuter-‚ und ‚lager onderwijs‘ von den Erfahrungen profitieren kann, die diese Schulen mit Veränderungsprozessen und -produkten gemacht haben.“9 In den nachfolgenden Jahren nahmen 14 Schulen der genannten reformpädagogischen Richtungen an entsprechenden Untersuchungen und Schulversuchen teil. Indem sie bei der konzeptionellen Gestaltung der Basisschule mitwirkten, konnten sie ihre Stellung in der niederländischen Bildungslandschaft weiter ausbauen. Das zeigt sich einmal in der zahlenmäßigen Ausweitung von etwa 200 Schulen im Jahre 1975 auf etwa 600 heute. Zum anderen haben wichtige didaktisch-methodische Momente und – wie es in dem eben zitierten Text lakonisch heißt: „Produkte“ – dieser Schulen in erheblichem Ausmaß Eingang in die Praxis der Basisschule überhaupt gefunden, wie das Kreisgespräch, Arbeitsmittel, Ateliercharakter des Schulraums („Arbeitsecken“), Dokumentationszentrum für den Lernbereich „Weltorientierung“, neue Formen der Leistungsbeurteilung, erweiterte Eltermitarbeit u.a.10 In der niederländischen Bildungslandschaft haben sich die reformpädagogischen Schulen, nicht zuletzt durch die Einbindung in den Prozess der Bildungsreform, ein beachtliches Terrain erobern können. Dessen Grenzen werden sich aber – gerade auch wegen dieser Einbindung – zunehmend verwischen. Denn ihr ursprünglicher Charakter einer radikalen Alternative zur „Alten Schule“ wird in dem Maße schwinden, wie die Schule allgemein – mitbedingt durch den reformpädagogischen Einfluss – ihre Gestalt verändert. Gleichwohl liegen durch die Vielfalt ihrer Formen in diesen Schulen gewiss noch immer innovative Momente bereit, die als solche im pädagogischen Diskurs erkannt und im Zusammenhang mit neuen Entwicklungsaufgaben auf den verschiedenen Handlungsebenen konstruktiv genutzt werden können.
10
Vgl. den Abschnitt über „Weltorientierung“ und den Abschnitt über den erlebnisorientierten Leselehrgang in diesem Buch, Kapitel 13; außerdem: Skiera, Ehrenhard (1991): Das Bildungswesen der Niederlande. Geschichte Struktur und Reform, Gießen: Verlag der Ferber‘schen Universitätsbuchhandlung (2. Aufl.)
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Schon seit vielen Jahren sind die Niederlande zu einem bevorzugten Reiseziel reformpädagogisch interessierter Lehrer/innen, Forscher/innen und Lehramtsstudierender geworden.
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Perspektiven der Schulentwicklung aus reformpädagogischer Sicht
Ein Blick auf die heutigen Probleme und Aufgaben im Bereich der Schule zeigt, dass manche der Grundanliegen und praktischen Ansätze der Reformpädagogik weiterhin maßgebliche Impulse für die Entwicklung der Schule geben können. Das in Richtlinien, Lehrplänen und Verordnungen sowie in der didaktischen Diskussion repräsentierte Leitbild für die Arbeit der Grundschule in vielen Ländern darf inzwischen wohl zu Recht als ein solches gesehen werden, das in einem hohen Maße diese Anliegen artikuliert und darüber hinaus auch die praktische Arbeit mehr oder weniger stark beeinflusst. Das gilt freilich, trotz einiger bemerkenswerter Initiativen und Ansätze, (noch) nicht für den Sekundarbereich. Gerade im Horizont der aktuellen Probleme und pädagogischen Aufgaben erscheint mir eine kritische Vergegenwärtigung der Reformpädagogik geboten. Die Schule steht heute – drängender als früher – vor einer doppelten Aufgabe: Einmal geht es verstärkt darum, defiziente außerschulische Lern- und Erfahrungsräume (deren Momente sich nicht selten in die Schule hinein fortsetzen!) nach Möglichkeit auszugleichen. In einer Welt mit zunehmend eingeschränkten konkreten Handlungs- und Erfahrungsmöglichkeiten wird die Schule ein Gegengewicht schaffen müssen, das es dem Kind und Jugendlichen erlaubt, sich selbst einzubringen, selbst tätig zu werden, damit der Schüler sich als Urheber eigener – und nicht überwiegend als Rezipient fremder – Erfahrungen erleben kann. Und für die wachsende Zahl von Kindern aus instabilen sozialen Verhältnissen kann eine problembewusste Schule mit einer verlässlichen Binnenstruktur und dauerhaften sozialen Beziehungen und einem anregenden sozialen Leben zum Segen werden. Zum anderen und eng mit dem ersten verknüpft stellt sich die Aufgabe der Integration von Kindern und Jugendlichen aus unterschiedlichen sozialen Verhältnissen, aus verschiedenen ethnischen Gruppen, verschiedenen Leistungs- und Entwicklungsstandes und von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen. Zu denken wäre auch an die Bestandsprobleme der Schulen in ländlichen Gebieten, die durch die Fixierung auf die Jahrgangsklasse geradezu heraufbeschworen werden. Hier könnten die reichen reformpädagogischen Erfahrungen mit jahrgangsübergreifenden Lerngruppen eine zukunftsträchtige Hilfe bieten. Diese Aufgaben können ansatzweise oder gar hinreichend nur dann bewältigt werden, wenn dem Aspekt der Partizipation, der Teilnahme, der Mitteilung und Anteil-Nahme im Schulleben selbst wie bei den politischen und innovativen Aspekten der Schulentwicklung ein hoher Stellenwert zuerkannt wird. Das ist nicht nur das Gebot einer demokratischen Wertorientierung im Zusammenleben. Partizipation hat einen konkreten Sinn. Nur so nämlich kann das jeweils pädagogisch Notwendige und das pädagogisch wie innovativ Mögliche im Raum der Schule und bei der Schulentwicklung erkannt werden. Schulentwicklung ist heute nur als vielschichtiger kommunikativer Prozess denkbar und sinnvoll. In diesem Prozess kann die kritische Auseinandersetzung mit der Reformpädagogik weiterhin fruchtbar sein – sowohl bei der Problematisierung fragwürdiger Strukturen und Handlungsmuster wie bei der Konzipierung von Alternativen.
Außerschulische Bereiche 429
Kapitel 15
Reformpädagogik in außerschulischen Bereichen – Ein Überblick Ein wichtiges Kriterium der Reformpädagogik sieht Hermann Röhrs darin, dass sie „nicht auf die Schule begrenzt ist, sondern breite Teile der Erziehungswirklichkeit – die Erziehungsheime, die Erwachsenenbildung, das Bibliothekswesen – einbezieht.“ Zugleich stellt er fest, dass die Diskussion „im weiteren Umkreis der Erziehungswirklichkeit“ stagniert.1 Diese Feststellung ist sicher zutreffend und das von Röhrs zusammen mit Lenhart 1994 herausgegebene umfangreiche Handbuch „Die Reformpädagogik auf den Kontinenten“, dem das Zitat entnommen ist, bestätigt sie erneut. Von den über 30 Beiträgen des Handbuches ist im Titel nur einer ausdrücklich einem außerschulischen Bereich zugeordnet (der Erwachsenenbildung). Alle anderen beschäftigen sich ganz überwiegend mit schulischen Fragen. Schulpädagogik ist der beherrschende Gesichtspunkt in den Gesamtdarstellungen zur Reformpädagogik geblieben. Das gilt auch für die vorliegende Darstellung. Darin liegt freilich keine Willkür. Es ist nämlich die Schule, in der Reformpädagogik mit ihren ausgearbeiteten Schul- und Unterrichtskonzeptionen zu einer relativ eindeutig zu benennenden Gestalt und Wirkung gelangt ist. „Reformpädagogik“ war und ist noch immer ein wichtiges Thema in der Lehrerinnenausbildung und in den Diskursen um die Schulreform, so dass die Annahme gerechtfertigt erscheint, dass in der Lehrerschaft ein mehr oder weniger stark entwickeltes Bewusstsein über deren Hintergründe und aktuelle Bedeutung vorhanden ist. Für den außerschulischen Bereich gilt dies vermutlich nicht. Gelegentlich wird in den sozialpädagogischen Studiengängen, wie aus den Veranstaltungsverzeichnissen zu ersehen ist, die Reformpädagogik zwar thematisiert. Es ist aber anzunehmen, dass im allgemeinen von den im sozialpädagogischen Bereich, etwa in den Fürsorgeeinrichtungen und im Strafvollzug oder im Bereich der Erwachsenenbildung Tätigen ein Bezug ihrer Arbeit zur Reformpädagogik nicht gesehen wird. In der einschlägigen Literatur zur außerschulischen Erziehungs- und Bildungsarbeit kommt die Reformpädagogik, wenn überhaupt, nur marginal zur Sprache. Eine eigenständige Untersuchung zur Wechselwirkung zwischen diesem Bereich und der (schulischen) Reformpädagogik ist m.W. bisher noch nicht durchgeführt worden. Es scheint sich eher um eine einseitige Liebe zu handeln. Denn auf Seiten der Historiographen der Reformpädagogik wird der außerschulische Bereich durchaus einbezogen. – Ist das auf einen Mangel historisch-professionellen Bewusstseins zurückzuführen? Oder bestehen in den außerschulischen Bereichen andere Grundorientierungen, etwa religiöser, politischer, freizeitpädagogischer, „neutral“ humanistischer Ausrichtung, die das (reform)pädagogische Erbe in den Hintergrund treten lassen oder fast ganz zum Verschwinden bringen? Oder ist der von den Monographen und Historiographen der Reformpädagogik postulierte Zusammenhang eine gewagte Konstruktion unter der Maßgabe eines Blickwinkels, der nach Einheit und Gemeinsamkeit sucht, nach „innerer Übereinstimmung mit den pädagogischen Intentionen der Schulreform“ (Scheibe); eine Konstruktion, die, wenn überhaupt, in der „Erziehungswirklichkeit“ nur schwache Anhaltspunkte findet? Jedenfalls lässt sich zeigen, dass zwischen der schulischen Reformpädagogik und der Reform bzw. dem Aufbau des außerschulischen Erziehungswesens ein ideeller, gesellschaftspolitischer und personeller Zusammenhang besteht. Wenn auch nicht von Anfang an, so ist der Bereich der außerschulischen Erziehungs- und Bildungsarbeit schon früh in den Blick der reformpädagogischen Historiographie geraten, so dass es gerechtfertigt erscheint, ihn an dieser Stelle eigens herauszustellen. Der beherrschende schulpädagogische Gesichtspunkt in den Darstellungen zur Reformpädagogik ist nämlich kein alles beherrschender, wenn man von einem ersten (kritischen) Deutungsversuch absieht. In 1
Röhrs, Hermann und Lenhart, Volker (Hsg.) (1994): Die Reformpädagogik auf den Kontinenten. Ein Handbuch, Frankfurt am Main u.a.O.: Peter Lang, S.13
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der von Regener 1910 vorgelegten Schrift „Die Prinzipien der Reformpädagogik – Anregungen zu ihrer kritischen Würdigung“ kommen gesellschaftliche Gegebenheiten als Voraussetzung der Reformpädagogik in den Blick, die Diskussion der Prinzipien selbst verbleibt aber noch ganz im Bereich der Schule und des Unterrichts.2 Das ändert sich in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg. In seinem 1922 erschienenen international orientierenden Werk „Ecole Active“ (dt. 1928) spricht Adolphe Ferrière ausdrücklich von der „Tatschule außerhalb der Schule im engeren Sinne“3. Die „Tatschule“, die auf den spontanen Entwicklungskräften des Kindes aufbauende „Ecole Active“, ist ihm der Inbegriff der „Neuen Erziehung“. Er erwähnt nun als „Tatschule außerhalb der Schule“ u.a. die von Baden-Powell begründete und international verbreitete Pfadfinderbewegung sowie verschiedene erfolgreich arbeitende christliche Hilfsdienste, in denen Kinder und Jugendliche maßgeblich mitwirken. Peter Petersen schließt dann 1926 in seiner Darstellung der „Erziehungsgemeinschaften neuer Gesinnung“ in internationaler Perspektive neben den neuen Schulen auch Ansätze ein, die in den Fürsorgeeinrichtungen und im Strafvollzug eine Pädagogisierung und Humanisierung der Erziehung zum Ziel haben. Ferner verweist er am Rande auf die (dänische) Volkshochschulbewegung.4 Eine weitere Ausweitung der Aufmerksamkeit auf den außerschulischen Bereich wird dann 1933 von Herman Nohl5 vorgenommen. Er deutet die – auch schon von Petersen unter pädagogischen Gesichtspunkten gewürdigte – Jugendbewegung6 als „tiefgreifendste Erscheinung der pädagogischen Gegenwart“, die „sich selbst als eine erzieherische“ wisse. Wie der „Jugendbewegung“ wird der „Volkshochschulbewegung“ ein eigener Abschnitt gewidmet. In verschiedenen Zusammenhängen kommt dann auch die „sozialpädagogische Bewegung“ zur Sprache (Ausbau der staatlichen Jugendpflege, Fürsorge- und Gefängniserziehung). Diese Aufmerksamkeitsrichtung wird von Wolfgang Scheibe 1969 fortgeführt und erweitert. In seiner Darstellung der reformpädagogischen Bewegung werden in zwei recht umfangreichen Abschnitten die „Sozialpädagogische Bewegung“ und die „Volksbildungsbewegung“ thematisiert.7 Hermann Röhrs greift 1980 die entsprechenden Entwicklungen ebenfalls auf, nun ausdrücklich unter Einbeziehung von „Entwicklungstendenzen im internationalen Rahmen“8, die im Übrigen auch bei Scheibe exemplarisch zur Sprache gebracht werden. Ein recht ausführlicher Überblick über den außerschulischen Bereich der Reformpädagogik lässt sich mit der 1979 erschienenen (vorzüglich kommentierten!) Bibliographie zur Reformpädagogik von Edgar Becker und Elke Richter gewinnen.9 Neben den Aspekten der Schulpädagogik, die auch hier – der Sache nach angemessen – dominieren, werden alle bereits genannten außerschulischen Bereiche berücksichtigt. In einem Abschnitt kommen die „Sozialistisch und kommunistisch motivierte(n) Bewegungen“ eigens zur Sprache, darunter eben auch solche, die sich außerhalb der Schule artikulieren: die der Sozialdemokratie nahestehende „Kinderfreundebewegung“ (sie versuchte u.a. über die „Kinderrepublik“, ein nach dem Gleichheitsprinzip organisiertes „Zeltlager“, die Kinder und Jugendlichen im Alter von etwa 8 bis 14 Jahren – die „Küken“, „Jungfalken“ und die „Roten Falken“ – im sozialistischen Geist zu erziehen), die demgegenüber revolutionär-radikale „kommunistische Kinder2 Regener, Fr. (1910): Die Prinzipien der Reformpädagogik. Anregungen zu ihrer kritischen Würdigung, Berlin: Gerdes & Hödel 3 Ferrière, Adolphe (1928): Schule der Selbstbetätigung oder Tatschule, Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger, S.179ff 4 Petersen, Peter (1926): Die Neueuropäische Erziehungsbewegung, Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger; vgl. ebd. S.49ff, 69ff und 98 5 Nohl, Herman (1949): Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie, Frankfurt am Main: Verlag G. Schulte-Bulmke (Dritte unveränderte Auflage; Erstauflage 1933) 6 Zur Jugendbewegung vgl. den entsprechenden Abschnitt im Kapitel 3 des vorliegenden Buches. 7 Scheibe, Wolfgang (1978): Die Reformpädagogische Bewegung 1900-1932, Weinheim und Basel: Beltz Verlag (erste Auflage: 1969) 8 Röhrs, Hermann (1980): Die Reformpädagogik. Ursprung und Verlauf in Europa, Hannover u.a.O.: Schroedel 9 Beckers, Edgar und Richter, Elke (1979): Kommentierte Bibliographie zur Reformpädagogik, Sankt Augustin: Verlag Hans Richarz
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bewegung“ mit ihren „kämpfenden Kindern“, die Arbeiterbildung, die gewerkschaftliche Erziehungsarbeit. Die sozialistischen bzw. kommunistischen Bewegungen finden auch in den Arbeiten von Nohl, Scheibe und Röhrs eine Berücksichtigung, allerdings nur in marginaler Position. Ich gebe an dieser Stelle nur einige wenige weiterführende Hinweise zum außerschulischen Bereich und stütze mich dabei auf die einschlägige Sekundärliteratur, lasse gelegentlich aber auch den besonderen, hoffnungsvoll gestimmten reformpädagogischen „Originalton“ früher Texte anklingen.
1 Sozialpädagogische Bestrebungen: Jugendpflege, Fürsorgeerziehung und Reformansätze im Jugendstrafvollzug in Deutschland Auf Grund der oben angedeuteten Problematik einer Zuordnung außerschulischer Bereiche zur Reformpädagogik spreche ich lieber von „sozialpädagogischen Bestrebungen“ und nicht – wie Wolfgang Scheibe, auf den ich mich inhaltlich u.a. gleichwohl stütze – von der „Sozialpädagogischen Bewegung“. Scheibe schreibt dieser „Bewegung“ eine weitgehende innere Übereinstimmung mit den pädagogischen Intentionen der Schulreform zu.10 Er geht damit konform mit der historiographischen Tradition zur Reformpädagogik, die den in Frage stehenden Bereich seit den 1920er Jahren integriert hat, weil die Autoren in manchen der dort entwickelten Initiativen das Verständnis einer „Neuen Erziehung“ widergespiegelt sehen, und zwar, wie es Röhrs ausdrückt, im Sinne einer „human begründeten Gestaltung“11 jener Bereiche. In diesem allgemeinen Sinne lässt sich gewiss eine „innere Übereinstimmung“ feststellen: Es geht in den sozialpädagogischen Handlungsfeldern eben auch darum, den „Adressaten“ – Kindern und Jugendlichen in schwierigen sozialen Lagen – gerecht zu werden, auf ihre jeweiligen Bedürfnisse und individuellen Schwierigkeiten behutsam unter Beachtung ihrer menschlichen Würde einzugehen, ihre „Selbsttätigkeit“ („Ecole Active“), ihre kreativen Entwicklungspotentiale zu wecken und zur Wirkung zu bringen, Hilfestellung zu geben beim Aufbau sozialer Gewissenhaftigkeit, Verantwortungsfähigkeit, Selbstvertrauen, Eigeninitiative; mithin ihre seelische und soziale Situation durch pädagogische Maßnahmen nach und nach umfassend zu bessern. Mit manchen sozialpädagogischen Bestrebungen wurde nach den politischen, sozialen und mentalen Erschütterungen des Ersten Weltkrieges auch die Intention verbunden, und das ist eine weitere Gemeinsamkeit mit der (schulischen) Reformpädagogik, über die Erziehung einen „Beitrag zur Gesamterneuerung des Volkes“12 zu leisten. Die zahlreichen sozialpädagogischen Initiativen sind ein Reflex auf die besonderen Belastungen der modernen sozio-ökonomischen Entwicklung seit den 1870er Jahren, zusätzlich noch motiviert durch die Folgen des Ersten Weltkrieges in Deutschland und in anderen vom Krieg betroffenen Ländern. Sie sind Ausdruck einer dynamischen „Bewegungsgesellschaft“13, die parallel zu den sozialen Verwerfungen der industriellen Entwicklung mit ihren individualbiographischen Kosten kompensatorische Gegenbewegungen hervorbringt, die – politisch, christlich-religiös, allgemein-humanitär oder auch ökonomisch motiviert – zur Ausbildung eines öffentlichen sozialen Gewissens, zu einem wirksamen sozialpolitischen und sozialpädagogischen Diskurs, beigetragen haben. Diese Bewegungen sind ein Zeichen und eine Voraussetzung dafür, dass eine Gesellschaft sich über sich selbst aufzuklären in der Lage ist – sei es in politisch-parlamentarischen, sei es in außerparlamentarischen Formen der öffentlichen Auseinandersetzung. Der Ausbau der Sozialgesetzgebung in der Kaiserzeit und in der Weima10
Vgl. Scheibe, a.a.O. (1978), S.323 Röhrs, in: Röhrs/Lenhart, a.a.O. (1994), S.13 Scheibe, a.a.O. (1978), S.328 13 Vgl. dazu das 3. Kapitel. 11 12
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rer Zeit sind eine Folge jener kompensatorischen Gegenbewegungen. Im Hinblick auf die Situation der benachteiligten und delinquenten Jugendlichen kommt in diesem Diskurs mehr und mehr der Gedanke einer Mitschuld und Mitverantwortung der Gesellschaft ins Spiel. Die außerschulische gesellschaftlich oder staatlich geförderte Erziehungsarbeit hat im Verlauf ihrer Entwicklung einen außerordentlichen Umfang erreicht. So stellt Scheibe fest: „Eine umfassende Darstellung der Sozialpädagogischen Bewegung hätte außer auf Jugendpflege und –fürsorge einzugehen auf den Mutterschutz, die Wohlfahrt der Säuglinge, der Kleinkinder, der Schulkinder und der Schulentlassenen, auf die Sorge für Psychopathen und sinnesgeschädigte Kinder, die Erholungsfürsorge aller Altersstufen, das Vormundschaftswesen, die rechtliche und pädagogische Betreuung der unehelichen Kinder, die Bestimmungen für Pflegekinder u.a. Alle diese Aufgaben haben damals, auch gerade dann, wenn es sich um rechtliche Regelungen handelte, einen pädagogischen Aspekt erhalten und müssen als Ausdruck und Werk der Sozialpädagogischen Bewegung gesehen werden.“14 Parallel zu den Entwicklungen in den praktischen Erziehungsfeldern und zur Entwicklung der Gesetzgebung kommt es in Deutschland zur „Konstituierung der Sozialpädagogik“ als spezielle Disziplin der Erziehungswissenschaft.15 – Ein Blick auf die Jugendpflege und Fürsorgeerziehung, Reformansätze im Jugendstrafvollzug sowie einige Hinweise auf entsprechende Bestrebungen im Ausland sollen an dieser Stelle genügen. Die Anfänge der „Jugendpflegebewegung“ gehen auf kirchliche Bestrebungen des 19. Jahrhunderts zurück. Der Weimarer Staat nimmt dann die „sozialpädagogischen Aufgaben mit in seine Verantwortung auf und unterstützt sie. ‚Erziehungsfürsorge‘, in entsprechendem Sinne auch ‚Jugendwohlfahrt‘ genannt, war ein Teilbereich der ‚Volkswohlfahrt‘, für die ein 1919 neu geschaffenes ‚Ministerium für Volkswohlfahrt‘ zuständig war.“16 Das 1922 erlassene „Reichsjugendwohlfahrtsgesetz“ bildet nach Aloys Fischer den erziehungspolitischen „Höhepunkt der Tätigkeit des Reiches“.17 Scheibe sieht darin eine Wirkung der „langjährigen Reformbestrebungen der Pädagogischen Bewegung“. Maßgebliche Impulse gehen auch von der Jugendbewegung aus. „Die jugendgemäßen Formen und der Stil der Jugendbewegung setzten sich in der Jugendpflege durch. Dies zeigte sich in der Kleidung, in der Bildung kleiner Gruppen, in den Liedern und im Spiel, im Diskutieren, im Wandern, in der Pflege der Leibesübungen, im Laienspiel, in der größeren Fahrt. Diese Betätigungsweisen erfüllten die Jugendpflegearbeit, welche spezifischen Inhalte auch immer den tragenden Grund bildeten, seien es religiöse, politische, berufliche, sportliche.“18 Als ein herausragendes Beispiel der pädagogischen Sorge für verwahrloste Kinder und Jugendliche nennt Scheibe den „Lindenhof“ unter Leitung von Karl Wilker (geb. 1885), ein von diesem umgestaltetes Heim für straffällig gewordene Jugendliche. Bereits Peter Petersen (1926) widmete Wilker und der Wirkung seiner Arbeit auf andere Einrichtungen einen längeren Abschnitt. Ich zitiere daraus, weil hier ein lebendiger Eindruck von der Reformarbeit und die daran geknüpften weiterreichenden Hoffnungen auf eine bessere Welt vermittelt wird. Petersen stellt Wilkers Arbeit in eine Reihe von Beispielen – auch aus dem europäischen und außereuropäischen Ausland –, die insgesamt für ihn ein Zeichen dafür sind, dass „Ein neuer Geist brüderlicher Gesinnung des Menschen zum Menschen geht von Land zu Land und über die Ozeane hinüber.“19 Nach einem Hinweis auf die 1894 von William R. George im Staate New York (USA) gegründete „Junior Republic“ (s.u.) für verwahrloste Jugendliche, eine Ein14
Scheibe, a.a.O. (1978), S.324 Vgl. dazu: Röhrs (1980), S.286ff sowie: Natorp, Paul (1899/1974): Sozialpädagogik. Theorie der Willensbildung auf der Grundlage der Gemeinschaft, Paderborn: Ferdinand Schöningh (1. Aufl. 1899; hier: 7. Aufl., Textwiedergabe auf der Basis der 6. Aufl.) 16 Scheibe, a.a.O. (1978), S.325 17 Fischer, Aloys, zitiert nach Scheibe, ebd., S.325 18 Scheibe, a.a.O. (1978), S.330 19 Petersen, a.a.O. (1926), S.70 15
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richtung, die wegen ihres außergewöhnlichen Erfolges in den Staaten bald Schule machte, fährt Petersen fort: „Fast gleichzeitig ähnliche Versuche in Deutschland und Belgien. Und nun ist in Deutschland eine besondere Note dadurch hinzugekommen, dass sich führende Männer aus der Jugendbewegung gerade der jugendlichen Bestraften angenommen haben. Eine solche viel Aufsehen erregende Verbindung zwischen den neuen Ideen über den Strafvollzug Jugendlicher und der Ideenwelt der Jugendbewegung führte 1917 inmitten der Hungersnot des Weltkrieges in Berlin zu einer radikalen Umgestaltung einer berüchtigten Fürsorgeanstalt, der Fürsorge-Erziehungsanstalt für schulentlassene männliche Erwachsene in Berlin-Lichtenberg, durch Karl Wilker. 300 Burschen, echte verkommene Großstadtjugend, verwildert, früh schon gefallen, sollten in einem rauhen Kasernenbetrieb gebessert werden unter der lieblosen Behandlung durch mechanisch gewordene, verbitterte Beamte. Nirgends wurde eine Arbeit gern getan, ... Jeder Zögling dachte nur an Flucht, ... Diese Welt wagte Wilker mitten im Kriegswinter umzugestalten: in die graugrün gestrichenen Räume brachte er nach und nach lichtere Farben, gute Bilder, Blumen, ... Die Gitter vor den Fenstern wurden nach und nach weggelassen, zuletzt auch das Tor offengelassen.“ Es folgt die Darstellung weiterer Maßnahmen zur Humanisierung und Pädagogisierung des Heimes, darunter Hinweise auf Feste „im Hofe unter den Linden“ und die Einbeziehung der Elternschaft. Auch Momente des in den „Junior Republics“ erprobten „self-government“ konnten offenbar verwirklicht werden. „Es ist selbstverständlich für uns alle, dass erst jetzt überall wirkliche Arbeit geleistet wurde, als Sonnenschein und Freude in die Anstalt eingezogen waren; denn Freude ist alles! Ist das Höchste! ... Als Wilker nach fast dreijähriger Leitung diese niederlegte, da war seine Idee längst bewährt. Sie lebt heute mancherorts weiter; sie wirkte sich besonders erfolgreich aus in dem Hamburgischen Jugendgefängnis Hahnöfersand unweit der Elbmündung. Es war gewiss eigentümlich, einer Schulgemeindesitzung dort beizuwohnen, wenn man wusste, der Leiter sei ein 21 jähriger Bursche, der wegen Raub zu 5 Jahren verurteilt wurde. ...“20 Mit dem Hinweis auf Pestalozzi plädiert Petersen dafür, „selbst noch in dem Verbrecher den Menschen zu sehen“ und ihn entsprechend zu behandeln und zu leiten. Wilker repräsentiert wie kaum ein anderer Pädagoge in seinem Wirken den Zusammenhang zwischen Jugendbewegung, Reformpädagogik und außerschulischer Erziehungsarbeit. (Er wirkte zeitweise auch als Mitarbeiter in der bekannten Heimvolkshochschule Dreißigacker und als Mitleiter des Landerziehungsheimes Hof Oberkirch in der Schweiz.) Elisabeth Rotten, eine führende Repräsentantin der Reformpädägogik, sieht in Wilkers fürsorgeerzieherischem Wirken „den Auftakt der pädagogischen Revolution auf diesem Gebiet“. Er habe praktisch bewiesen, „was Vertrauen, Befreiung von Angst und Hinführung zur Selbstachtung bewirken“ könne.21 Röhrs sieht in seinem Ansatz einen „Brennpunkt der reformpädagogischen Bestrebungen“: „Einmal kommt Karl Wilker aus der Jugendbewegung. Er war Mitglied des Jungdeutschen Pfadfindertums und sucht bewusst die Grundtugenden dieser Bewegung, wie viele mit ihm, in die Fürsorgeerziehung hineinzutragen: Achtung vor dem Anderen, Kameradschaft, Eigenverantwortung. Zum anderen versucht Wilker bewusst die kunst- und arbeitserzieherischen Bestrebungen für eine Reform der Fürsorgeerziehung zu nutzen. Das gestaltende Schaffen einerseits, der Besuch von Museen und das Betrachten großer Kunst andererseits sollten eine neue Form des Selbstverständnisses wecken. Schließlich weiß sich Karl Wilker, der zusammen mit Elisabeth Rotten zu den Vorsitzenden der deutschen Sektion des Weltbundes für Erneuerung der Erziehung und zum Mitherausgeber von dessen deutschem Publikationsorgan ‚Das Werdende Zeitalter‘ gehörte, der internationalen Entwicklung und Verständigung vielfältig verpflichtet. Sein ‚Heim der Zukunft‘ ist auf internationale Verstän20 Petersen, a.a.O. (1926), S.70f. Scheibe berichtet a.a.O. (1978), S.343ff unter der Überschrift „Erziehungsgemeinschaft und pädagogische Atmosphäre“ auch über das Jugendgefängnis Hahnöfersand. 21 Rotten, Elisabeth (1952): Wilker, Karl H., in: Lexikon der Pädagogik in 3 Bänden, III, Bern: A. Francke, S.480f
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digung und Kooperation in einem Bereich eingestellt, der bisher nur äußere Disziplinierung des ‚Materials‘ kannte.“22 In diesem „Heim“ sollten nach Wilkers Vorstellungen im Sinne der Friedenserziehung und Völkerverständigung auch „Kinder anderer Staaten“ aufgenommen werden. „Wir wollen unsere Kinder jeweils auf ein oder zwei Monate dahin schicken, wir wollen also einen internationalen Kinderaustausch – sogar unter Fürsorgezöglingen.“23 All diese Initiativen sind als Impulse zu verstehen für weitreichende Reformen im Jugendstrafrecht und –strafvollzug. Insgesamt zielen sie auf eine Resozialisierung durch Humanisierung und Pädagogisierung des Strafvollzuges. Darüber hinaus wirkten sich die neuen Bestrebungen auch auf die Reform des Erwachsenenstrafrechtes aus. Man kann die Ansicht vertreten, dass über den Weg einer Besinnung auf die Menschenwürde des gefährdeten Kindes oder des bereits „gefallenen“ Jugendlichen die Menschenwürde als ein unantastbares Gut eines jeden in den praktischen Vollzügen einen neuen Stellenwert errungen hatte.
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Erziehung im Raum eines „Jugendstaates“ – Beispiele aus der Fürsorgeerziehung in anderen Ländern
Ähnlich wie im „Lindenhof“ geht es bei den hier vorgestellten Beispielen fürsorgeerzieherischen Wirkens darum, das Kind und den Jugendlichen durch Teilhabe an der Gestaltung des Gemeinschaftslebens im „Heim“ – in der „Junior Republic“ (George), im Waisenhaus (Korczak), in der „Kolonie“ (Makarenko), im „Little Commonwealth“ (Lane) oder in der „Boys Town“ (Flanagan) – verantwortlich einzubinden. Wie der jeweilige Name meist schon signalisiert, handelt es sich um Erziehungseinrichtungen, die nach dem Modell eines „Staates“ bzw. einer „Polis“ konzipiert sind mit ökonomischen, politischen, kulturellen und judikativen Institutionen, in deren Funktion die jungen Menschen mit weitgehenden Beteiligungsrechten und –pflichten eingebunden sind. Auf diese Weise kann das Kind und der Jugendliche den Sinn von Rechten und Pflichten im Leben der Gemeinschaft, der er angehört, erfahren, weil er die unangenehmen Folgen von Verweigerung und die segensreichen von Befolgung gleichsam „am eigenen Leibe“ zu spüren bekommt. In diese „Staaten“ ist meist auch eine Schule bzw. eine sonderpädagogische Einrichtung integriert. Der junge Mensch, der – aus welchen Gründen auch immer – in der „normalen“ Welt nicht mehr zurecht kommt und in ihr zum „Fremden“ geworden ist, wird als „Bürger“ in eine eigens geschaffene „künstliche“ Welt mit Ernstcharakter aufgenommen. Er soll die Chance erhalten, über die Entwicklung seines sozialen Empfindens und die Steigerung seines sozialen Wertgefühls Vertrauen in sich selbst und die Welt zu entwickeln, Selbstachtung und Ich-Stärke wiederzugewinnen, um schließlich „in der Welt draußen“ in eigener Verantwortung bestehen zu können. Bei allen genannten Einrichtungen handelt es sich um beispielhafte Erziehungsversuche nach dem Modell einer pädagogischen „Polis“, eines Kinder- oder Jugendstaates. Allen sind die beiden, auch im internationalen reformpädagogischen Diskurs zentralen Prinzipien gemeinsam: „shared responsibility“ – die mit den Erwachsenen „geteilte Verantwortung“ – und „self-government“ – die „Selbstregierung“ und Selbstverwaltung in allen zentralen Angelegenheiten des „Staates“.24 Alle wurden früher oder später auch im Diskurs der Reformpädagogik in Deutschland gewürdigt: bereits Petersen (1926) geht auf die Erziehungsversuche von George und Lane ein, Scheibe 22
Röhrs, a.a.O. (1980), S.285 Wilker, zitiert nach Röhrs, ebd. (1980), S.286 24 Eine eingehendere Analyse solcher Einrichtungen unter historischen und pädagogisch-systematischen Aspekten, auch im Hinblick auf die Übernahme grundlegender Elemente im allgemeinen Schulwesen und in der Jugendhilfe, bringt: Liegle, Ludwig (1989): Kinderrepubliken. Dokumentation und Deutung einer „modernen“ Erziehungsform, in: Zeitschrift für Pädagogik, 35. Jg. 1989, Nr.3, S.399-416. (Liegle geht darin nicht auf die nur über einen kurzen Zeitraum in den Ferien stattfindenden Veranstaltungen gleichen Namens der sozialistischen „Kinderfreundewegung“ ein. Vgl. dazu weiter unten.) 23
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würdigt Makarenko und Flanagan, Röhrs zusätzlich Korczak. – Die „Junior Republics“ (einschließlich der Modellgründung von George) und die „Boys Towns“ (seit den 1970er Jahren auch „Girls and Boys Towns“) bestehen bis heute.
2.1 William R. George (1866-1936) und seine „Junior Republic“ William Reuben George (1866-1936), ein amerikanischer Philanthrop, gründete im Jahre 1895 auf dem Familienbesitz nahe des Dorfes Freeville (im Staat New York) die sogenannte „Junior Republic“, eine Gemeinschaft von und für bedürftige Jugendliche, Mädchen wie Jungen, im Alter von etwa 13 – 18 Jahren. Sie wurde zum Vorbild für zahlreiche Neugründungen in anderen Bundesstaaten und in England. Für Petersen ist diese Einrichtung „ein besonders großes und gelungenes Beispiel“ fürsorgeerzieherischen Wirkens im Geiste einer weltweiten „brüderliche(n) Gesinnung“.25 „Self-government“, die Selbstregierung der Gemeinschaft, ist das tragende Element. Die exekutiven, repräsentativen und judikativen Vollmachten liegen in den Händen der Jugendlichen. Der (erwachsene) Leiter der „Republik“ besitzt allerdings ein Vetorecht. „Nothing without labor“, „Nichts ohne Arbeit“ ist das streng befolgte Motto der Gemeinschaft. Die Legislative bestand anfangs nach dem Vorbild der amerikanischen Verfassung aus dem Repräsentantenhaus und dem Senat, später orientierte sich die politische Verfassung an der einfacher zu handhabenden Gemeindeordnung von New England. Die von der Legislative erlassenen Gesetze werden nach den vorliegenden Berichten erstaunlich gut befolgt, wenn man bedenkt, dass in der Gemeinschaft ein erhebliches kriminelles Potential vorhanden ist. Positionen in der Exekutive (Polizei) werden von den Jugendlichen bevorzugt angestrebt. In den frühen Jahren der Republik lebten die Jugendlichen nach Altersstufen geordnet in den Häusern, später wurden Familiengruppen unter der Leitung von „house-mothers“ gebildet. 1910 waren es zwölf an der Zahl mit insgesamt schätzungsweise 150 Jugendlichen, davon etwa ein Drittel Mädchen. Die Arbeit wird geschlechtsspezifisch eingeteilt: Nähen, Waschen, Kochen und Hausarbeiten für die Mädchen; Holzarbeiten (Zimmerei, Möbelherstellung), Landwirtschaft, Backen, Druckerei (in der auch eine Zeitschrift „The Junior Republic Citizen“ mit Beiträgen der Bürger gedruckt wird), Maurer- und Klempnerarbeiten, einige Jahre auch Schuhmacherei und die Herstellung von Zaumzeug (zum Führen von Pferden) für die Jungen. Die „Regierung“ gab eine eigene Währung (Zinn- und Aluminiummünzen) heraus, die auf dem 48 „acres“ großen Gelände der Republik Gültigkeit besaß (bis1906). Für ein effizientes schulisches Angebot, das den Anschluss an weiterführende Bildungsgänge außerhalb der Republik sichert, ist ebenfalls gesorgt. Die religiöse Erziehung (katholisch, jüdisch) hat einen hohen Stellenwert, aber nur die „Gefängnisinsassen“ der Republik sind zum Besuch der katholischen Messe oder des jüdischen Gottesdienstes verpflichtet. „Die George Junior Republik bildet einen Miniaturstaat, dessen ökonomische, zivile (bzw. politische) und soziale Bedingungen so weit als möglich jene der Vereinigten Staaten abbilden. Die Bürgerschaft der Republik wird jungen Menschen verliehen, insbesondere den Vernachlässigten und den sozialen Außenseitern, die auf diese Weise in die Lage gebracht werden, Selbstvertrauen, Selbstkontrolle und Moralität zu entwickeln.“26
25
Petersen, a.a.O. (1926), S.70. Die nachfolgenden Informationen stützen sich auf verschiedene Internetquellen. Sie können mit Suchmaschinen über die Wortfolge „George Junior Republic“ erschlossen werden. 26 Nach einer Internetquelle. Darin sind u.a. folgende Literaturhinweise zu finden: George, William R. (1910): The Junior Republic: its History and Ideals, New York; The Junior Republic Citizen (Zeitschrift, Freeville, 1895ff), written and printed by „citizens“.
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2.2 Janusz Korczak (1878-1942) und sein Waisenhaus „Dom Sierot“ Janusz Korczak (1878-1942), der polnisch-jüdische Arzt, Schriftsteller, Erzieher und unermüdliche Streiter für die Rechte des Kindes, hat mit seinem Waisenhaus „Dom Sierot“ für jüdische Kinder in Warschau ein ergreifendes Beispiel für eine menschliche Erziehung gesetzt, für eine menschliche Erziehung noch in unmenschlicher Zeit, die ihm zusammen mit seinen Schutzbefohlenen und mit seinen Mitarbeiterinnen den Tod im Vernichtungslager von Treblinka brachte. „Am 5. August (1942) umzingelten die Deutschen Korczak und seine zweihundert Kinder. Ein Zeuge des Drei-Meilen-Marsches der Waisen zum Deportationszug beschrieb dem Historiker Emanuel Ringelblum die Szene folgendermaßen: ‚Das war kein Marsch zu den Eisenbahnwagen; das war ein organisierter, wortloser Protest gegen die Mörder! ... Die Kinder marschierten in Viererreihen, Korczak an der Spitze des Zuges, geradeaus blickend, an jeder Hand ein Kind. ... Eine zweite Abteilung wurde von Stefania Wilczynska angeführt; die dritte von Broniatowska (...), und die vierte von Sternfeld aus der Internatsschule der Twardastraße‘. Von ihrer letzten Reise, nach Treblinka, wo sie alle umgebracht wurden, ist nichts bekannt.“27 In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg sind in zahlreichen Ländern KorczakGesellschaften gegründet worden, die sich der Aufgabe widmen, sein Lebenswerk und seine Pädagogik der Achtung zu erschließen. Insbesondere in der Heim- und in der Vorschulerziehung sind seine Gedanken auf einen fruchtbaren Boden gefallen. Seit 1996 erscheint unter der Herausgeberschaft von Friedrich Beiner und Erich Dautzenroth auf der Grundlage der polnischen Ausgabe eine auf 16 Bände angelegte deutsche Ausgabe sämtlicher Werke Korczaks.28 Mit vielen Reformpädagogen glaubte auch Korczak: „die Welt zu reformieren“ heiße, „das Erziehungssystem zu reformieren“.29 Diesen Satz soll er als Jugendlicher einmal geäußert haben. Vielleicht brachte er damit, gepaart mit jugendlichem Überschwang, seinen Verdruss an der Schule zum Ausdruck. Die große Rettungsgeste war ihm eigentlich fremd. Wie die Reformpädagogen kritisierte er später mit drastischen Worten die gängige Erziehung und die Schule. Anders aber als viele andere Reformpädagoginnen und –pädagogen hatte er keinen Plan, kein System, kein Regelwerk, keine Strategie zur Beantwortung der Frage, wie die Reform der Erziehung und der Schule zu erfolgen habe. Man könnte seine Pädagogik auch kennzeichnen als eine solche der rückhaltlosen Nachdenklichkeit über sich selbst und das einzelne Kind. Korczak war ein beispielhafter und doch unnachahmlicher Meister der Fähigkeit, die Tiefe der erzieherischen „Ich-Du-Situation“ literarisch zu vermitteln und so Nachdenklichkeit anzuregen. Unaufdringlich, poetisch, ohne Pathos gemahnt er aus der Erzählung des eigenen Erlebens, Erleidens und erzieherischen Versagens daran, das Verfehlte der „guten“, nach bestem Wissen und Gewissen ausgeführten erzieherischen Tat zu erkennen – und das Berechtigte, das „Richtige“ in der Verfehlung des Kindes wahrzunehmen. Über die Anfänge des Waisenhauses „Dom Sierot“ schreibt Korczak: „Ich hatte geglaubt, meine Erfahrungen aus den Sommerkolonien würden mich vor Überraschungen schützen. Ich hatte mich geirrt. ... Meinen Forderungen begegneten die Kinder mit bedingungslosem Widerstand, den man mit Worten nicht zu brechen vermochte, und Zwang konnte ihre Abneigung nur noch verstärken. Das neue Haus, von dem sie ein ganzes Jahr lang geträumt hatten, wurde ihnen verhasst. Viel später erst begriff ich die Empfindung der Kinder für ihr früheres Leben. In der mangelnden Ordnung, in dem zigeunerhaften Elend ihrer Lebensbedingungen und bei der Dürftigkeit der vorhandenen Mittel war ein Betätigungsfeld für ihre freie Initiative vorhanden gewesen: es hatte den Aufschwung von einzelnen Anstrengungen, allerdings 27
Encyclopedia of the Holocaust (1990), New York: Macmillan Publishing C. (Internetversion) Korczak, Janusz (1996ff): Sämtliche Werke, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus (bereits mehrere Bände erschienen) 29 Vgl. dazu die kritischen Bemerkungen: Pelzer, Wolfgang (1987): Janusz Korczak, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S.43 28
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nur für kurze Dauer, gegeben, die Phantasie eines überschäumenden Mutwillens, die Bravour eines Kraftaktes, die Notwendigkeit kameradschaftlichen Verhaltens und die Sorglosigkeit im Blick auf den morgigen Tag. Dank der Autorität einiger weniger hatte es hin und wieder Ordnung für kurze Zeit gegeben. Hier nun sollte eine dauerhafte Ordnung kraft einer unpersönlichen Notwendigkeit herrschen. Deshalb also waren die Kinder, auf deren Mithilfe ich am meisten gerechnet hatte, erlahmt und hatten versagt.“30 Korczak nimmt den Kampf um die Etablierung einer „dauerhaften Ordnung“ gleichwohl auf und kommt zur Einrichtung von zahlreichen Institutionen, deren Funktionieren oder Nicht-Funktionieren er kritisch reflektiert. Dabei ging es ihm nicht – wie seinem russischen Zeitgenossen Makarenko in der „Gorkij Kolonie“ (s.u.) – um eine Erziehung durch das Kollektiv und zum Kollektiv hin. Ihn bewegte – nach einem seiner Biographen – durchgängig die Frage: „Wie ist es möglich, in einer Gemeinschaft zu leben, ohne von ihr geschluckt zu werden oder – im schlimmsten Fall – tyrannisiert zu werden? Oder: Kann es eine Gemeinschaft geben, ohne den Druck des Kollektivs, das immer der Stärkere ist? Korczak wollte keine Egoisten heranziehen. ... Er wollte Menschen bilden, die lernen zusammenzuleben. Das war seine Idee, sein Traum, und in dieser Idee hat der Einzelne Vorrang vor der Gemeinschaft. ... Hier knüpft Korczak deutlich an die westeuropäische Tendenz der Reformpädagogik an: an die Idee der Selbstverwirklichung in der Gemeinschaft und einer Individualpädagogik, die das Leben des einzelnen als höchstes Gut schützt und fördert. ... Die Einrichtungen, die Korczak im Laufe der Jahre geschaffen hat .... sollten den einzelnen vor dem Druck der Gruppe schützen, ihm Artikulationsmöglichkeiten bieten und ihm helfen, sich mit anderen zu verständigen.“31 Wichtige Einrichtungen waren: das Schwarze Brett, die regelmäßig im Waisenhaus erscheinende Zeitung (Korczak: „Eine Zeitung ist ein festes Band, das die eine Woche mit der nächsten verknüpft und Kinder, Personal und Dienstboten zu einer untrennbaren Einheit verbindet.“32), das Kameradschaftsgericht, der Sjem: das Parlament der Kinder. Korczaks Pädagogik hat innerhalb der Erziehungsgeschichte nach Form und Inhalt eine herausragende Bedeutung, die weit über den Rahmen der Fürsorgeerziehung hinausreicht. Sie artikuliert Fragen, die das Verhältnis des Erziehers zum Zögling, mithin den zentralen Aspekt des Erzieherischen überhaupt betreffen. Wollte man seine Pädagogik mit gängigen Begriffen der Wissenschaft kennzeichnen, könnte man sie der Methode nach phänomenologisch und dem Gehalt nach existenziell nennen. Sein leidenschaftliches Anliegen ist die Gewinnung einer Existenz als Erzieher und die Befreiung der Kinder zu einem je eigenen Leben. Das geht auch aus der berühmten „Magna Charta Libertatis“, dem Grundgesetz für das Kind, hervor. Es enthält drei Forderungen33: 1. Das Recht des Kindes auf seinen Tod, 2. Das Recht des Kinds auf den heutigen Tag, 3. Das Recht des Kindes, so zu sein, wie es ist. Die erste Forderung richtet sich gegen jede „Überpädagogisierung“, gegen die „Übermutter“. Sie ist ein entschiedenes Plädoyer für das Leben, für die Schaffung von Lebens- und freien Entfaltungsmöglichkeiten für jedes Kind. Korczak: „Aus Furcht, der Tod könnte uns das Kind entreißen, entziehen wir es dem Leben; um seinen Tod zu verhindern, lassen wir es nicht richtig leben.“ Und: „Du musst eben den Mut aufbringen, ein bisschen Angst um sein Leben auf dich zu nehmen.“ – Die zweite Forderung richtet sich gegen jede rigide pädagogische Inanspruchnahme des Kindes um einer fernen Zukunft willen; gegen eine Missachtung dessen, 30
Korczak, zitiert nach Pelzer, a.a.O. (1987), S.78f Pelzer, a.a.O. (1987), S.83f 32 Korczak, zitiert nach Pelzer, a.a.O., S.86. 33 Vgl. zum Folgenden: Pelzer, a.a.O. (1987), S.49f. Die nachfolgenden Zitate stammen aus: Korczak, Janusz (1967): Wie man ein Kind lieben soll, Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht (hier zitiert nach Pelzer) 31
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was das Kind heute bewegt. – Die dritte Forderung wendet sich gegen die Illusion des Erziehers, er selbst könne, gleichsam „von außen“, im Kind etwas Wesentliches und Dauerhaftes bewirken. Korczak: Man solle daran denken, „dass alles durch Dressur, Druck und Gewalt Erreichte vorübergehend, ungewiss und trügerisch ist.“
2.3 Anton Semjonowitsch Makarenko (1888-1939), die „Gorkij-Kolonie“ und die „Dzerzinskij-Kommune“ Makarenko hat die Maxime seiner Erziehungsversuche zur Schaffung des „neuen“ kommunistischen Menschen bzw. des „Sowjetmenschen“ der neuen sozialistischen, perspektivisch der zukünftigen kommunistischen Gesellschaft in den Satz gefasst: „Fordere so viel wie möglich von einem Menschen und bringe ihm gleichzeitig den größtmöglichen Respekt entgegen.“34 Kritikern seiner rigiden pädagogischen Forderungsethik, die auch Strafe kennt und theoretisch rechtfertigt, die mithin so gar nichts von einer behutsamen, nachgehenden Pädagogik an sich hat, hält er entgegen, dass es sich bei dem Verhältnis von Forderung und Respekt um einen genuin humanen Standpunkt handele, der das Ganze der dialektischen, unteilbaren Erziehungssituation umfasse. Die Arbeit in seiner „Gorkij-Kolonie“ (1920-28) hat er in seinem „Pädagogischen Poem“ mit dem Titel „Der Weg ins Leben“ und die Arbeit in der nach den gleichen Prinzipien eingerichteten „Dzerzinskij-Kommune“ (1927-35) in dem Werk „Flaggen auf den Türmen“ anschaulich beschrieben.35 Wie kaum ein anderer Pädagoge aus dem Umkreis der Reformpädagogik ist Makarenko eine umstrittene Persönlichkeit geblieben. Gehört sein Werk überhaupt in den „ideellen Zusammenhang der Reformpädagogik“? Anweiler verneint dies. „Sein in den 20er Jahren aus der Arbeit mit jugendlichen Verwahrlosten entwickeltes Programm der Kollektiverziehung enthielt zwar auch Gedanken und Formen der reformpädagogischen ‚Sozialerziehung‘, wie sie Sackij und Blonskij vertraten, aber die autoritäre Grundstruktur und das staatsbürgerlichpatriotische Erziehungsziel markieren deutlich den Unterschied. Makarenkos Pädagogik gehört daher nicht in den ideellen Zusammenhang der Reformpädagogik, deren Methoden und Ziele von ihm schon Mitte der 20er Jahre abgelehnt wurden.“36 Gewiss war Makarenko kein „Pädagoge vom Kinde aus“. Sein Erziehungsoptimismus, sein Eintreten für die Erziehung des „neuen Menschen“ und die von ihm reklamierte (Mit)Verantwortlichkeit der Erziehung für die Entwicklung einer besseren (klassenlosen) Gesellschaft („Rettungspädagogik“), seine Pädagogik der Arbeit, der Mitverantwortung, der Mitbestimmung u.a. sprechen doch für eine andere Einschätzung – insbesondere dann, wenn man zugesteht, dass die Reformpädagogik eine durchaus vielschichtige und ambivalente Erscheinung ist. Makarenko gehört m.E. zweifellos in deren „ideellen“ und vor allem auch praktischen Zusammenhang, es sein denn, man wollte aus der Reformpädagogik einen tradierbaren „guten“ und dann als „wesentlich“ dekla34
Makarenko nach: Filinov, G.N. (1994): Anton Makarenko (1888-1939), in: Prospects: the quarterly review of comperative education (Paris, UNESCO: International Bureau of Education), vol. XXIV, no. 1/2, 1994, S.77-91 (hier zitiert nach einer Internetquelle, S.2. Der Artikel wurde vermutlich vor dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ 1989 geschrieben). 35 Makarenko, Anton S. (1984): Ein pädagogisches Poem, Der Weg ins Leben, Berlin: Aufbau-Verlag; Makarenko, Anton S. (1953): Flaggen auf den Türmen, Berlin: Aufbau-Verlag; Makarenko, Anton S. (1980): Vorträge über Kindererziehung, Berlin: Volk und Wissen Volkseigener Verlag. Vgl. dazu auch: Makarenko, Anton S. (1973): Hauptmomente sowjetischer Sozialerziehung, in: Hierdeis, Helmwart (1973): Sozialistische Pädagogik im 19. und 20. Jahrhundert, Bad Heilbrunn: Klinkhardt (Im Angesicht eines Beschlusses zu seiner Absetzung als Leiter der Kolonie verteidigt Makarenko hier in leidenschaftlichen Worten seine pädagogischen Ansichten in Form eines Glaubensbekenntnisses. „Und deshalb kann ich nach bestem Wissen und Gewissen nichts ändern, ohne die Sache aufs Spiel zu setzen.“) Vgl. auch das sehr reichhaltige englischsprachige „Makarenko Archive“ im Internet. 36 Anweiler, Oskar (1994): Ursprung und Verlauf der Reformpädagogik in Osteuropa, in: Röhrs/Lenhart (Hsg.) (1994): Die Reformpädagogik auf den Kontinenten, Frankfurt am Main u.a.O.: Peter Lang, S.132.
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rierten Ideengehalt extrahieren, aus dem dann „autoritäre“ und „staatsbürgerlich-patriotische“ Tendenzen auszuschließen wären. Diesem Verdikt müssten dann – streng genommen – viele Ansätze aus dem Kanon reformpädagogischer Konzeptionen und Versuche zum Opfer fallen. Patriotisches und Autoritäres findet sich – wie in den vorigen Kapiteln vielfach belegt – allenthalben, häufig auch dort, wo vordergründig eine andere Sprache gesprochen wird. Filinov verteidigt Makarenko gegen den Vorwurf, dass bei ihm die Freiheit des Kindes den Zwecken des Kollektivs geopfert werde. Im Gegenteil werde durch verschiedene Einrichtungen und die abgestimmte Funktion verschiedener methodischer Momente die Freiheit jedes Beteiligten gesichert und gefördert. Selbst wenn die Frage der Strafe auftauchte (es handelte sich ja um sozial äußerst gefährdete, zum Teil kriminelle Kinder und Jugendliche beiderlei Geschlechts), sei die Reaktion human gewesen, ausgerichtet an sozialen Notwendigkeiten und dem Grundsatz des Respekts vor dem Einzelnen. Makarenko war der Überzeugung, dass jeder Mensch die gleichen moralischen und sozialen Fähigkeiten habe und nur die äußeren Umstände ihn hinderten, diese Fähigkeiten zum Guten der Gemeinschaft und der eigenen Person auszubilden. Entsprechend könne in einem erzieherischen Kollektiv nach kommunistischen Grundsätzen nach und nach eine „Umerziehung“ zu einer sozial verantwortlich handelnden Person erreicht werden. Die Umstände „draußen“ waren in der Nachkriegszeit (Krieg, Bürgerkrieg und die „große sozialistische Oktoberrevolution“) katastrophal. Das ist der historische Hintergrund von Makarenkos Wirken – wie auch des Wirkens von Blonskij, der unter den gleichen gesellschaftspolitischen Zielen an der Reform der allgemeinbildenden Schule wirkte. Sie sollte eine Arbeitsschule zur Hervorbringung des altruistischen, dem Aufbau einer klassenlosen Gesellschaft ergebenen „Industrialisten“ werden. Bei beiden hatte die Arbeit einen hohen, jedoch nie einen exklusiven, andere Bildungsformen ausschließenden Stellenwert. Makarenko wird zu Recht auch in die Reihe der bedeutenden sowjetischen Arbeitsschulpädagogen gestellt. Filinov resümiert im Hinblick auf Makarenkos Intentionen: „Arbeit wird ein effektives Mittel kommunistischer Erziehung erst dann, wenn sie einen Teil des allgemeinen erzieherischen Prozesses ausmacht; zugleich ist sie ohne Bedeutung, solange die Kinder und Jugendlichen nicht eingebunden sind in jeweils dem Alter angepasste Formen sozial nützlicher Arbeit.“ Es gehe um eine ausgewogene Kombination verpflichtender Teilnahme an Selbsthilfeeinrichtungen und produktiver Arbeit, Teilnahme nach Wahl an kreativen technischen und künstlerischen Tätigkeiten sowie unbezahlter Arbeit für die Gemeinschaft als Ganzes. „Dem Arbeitskollektiv der Schüler mit seinen konstitutionellen Einrichtungen (Institutionen zur Entscheidungsfindung und Durchführungskontrolle – E.S.) und Repräsentanten muss in einem zunehmenden Maße die Rolle eines verantwortlichen Organisators seiner eigenen Arbeit zugestanden werden; zugleich muss es eine entscheidende Rolle einnehmen in den Fragen der Verteilung des Profits und der Zumessung der Löhne, im Gebrauch eines weiten Spektrums an materiellen und moralischen Anreizen zur Arbeit und bei der Organisation der Versorgung.“37 Auch Scheibe kommt zu einer positiven Würdigung, überlässt aber die Frage nach der Möglichkeit einer Kollektiverziehung nach Makarenko dem speziellen Diskurs in der wissenschaftlichen Literatur: Makarenko war „zunächst Lehrer, dann Leiter einer höheren Elementarschule und erhielt 1920 den Auftrag, eine Arbeitskolonie für verwahrloste und kriminell gewordene Jugendliche einzurichten und zu leiten. In den Jahren nach der Oktoberrevolution 1917 und den Bürgerkriegen waren in einem verheerenden Ausmaß heimat- und elternlose Kinder und Jugendliche schutzlos dem Elend preisgegeben, waren verkommen, verwildert und weitgehend zu einer ernsten Sorge für den Aufbau der Sowjetunion geworden. In Arbeitskolonien sollten sie nun für das ‚Lebenskollektiv der Sowjetvölker‘ erzogen werden.“ Die Berichte und Makarenkos literarische Hinterlassenschaft lasse „erkennen, wie sich bei ihm die Achtung vor dem Einzelnen und eine individuelle erzieherische Behandlung verbanden mit straffen Formen der Kollektiverziehung, bei der die Jugendlichen wichtige Aufgaben 37
Filinov a.a.O. (1994), S.5
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der Selbsterziehung in der Gemeinschaft zu erfüllen hatten. Die dramatisch geschriebenen Werke, voll unmittelbarer Lebendigkeit – Makarenko war Maxim Gorkij in Freundschaft verbunden und Gorkij hatte ein Patenverhältnis zu Makarenkos Kolonie – zeigen eine Erzieherpersönlichkeit, die es verstand, schwierige menschliche und erzieherische Situationen pädagogisch zu bewältigen, so dass er der Ost-Pädagoge jener Zeit ist, mit dem sich auch die Wissenschaft des Wesens in den letzten Jahren eingehend befasst hat. Übereinstimmende Züge seiner Pädagogik mit der deutschen Sozialpädagogischen Bewegung haben sich dabei deutlich gezeigt, ungeachtet aller Unterschiedlichkeit in entscheidenden Fragen. Die Problematik wie sich die kollektiven Elemente seiner kommunistischen Erziehung mit einem personalen Menschenverständnis vertragen, hat die neuere Makarenko-Literatur erörtert.“38
2.4 Homer Lane (1875-1925) und sein „Little Commonwealth“ Homer Lane leitete über die Jahre ihres Bestehens (1913-1918) den „Little Commonwealth“, eine koedukative, dorfähnliche Einrichtung in Dorset (England) für Kinder und Jugendliche im Alter von wenigen Monaten bis zu 19 Jahren. Bei den über 13Jährigen handelte es sich um delinquente Jugendliche, also Angehörige der eigentlichen Zielgruppe des Unternehmens. Der gebürtige Amerikaner Lane hatte in Amerika als „Slöjd-Lehrer“39 (Handfertigkeitsunterricht) gearbeitet und so Erfahrungen gesammelt mit einem der ersten arbeitsunterrichtlichen Verfahren reformpädagogischer Prägung. Danach wirkte er als Erzieher in der von ihm nach dem Modell der „George Junior Republic“ (s.o.) 1907 mitbegründeten und nach ihrem Förderer benannten „Ford Junior Republic“. Nach der Schließung des „Little Commonwealth“ ließ er sich als Psychotherapeut in London nieder. Den Anlass zur Schließung gaben zwei straffällige Mädchen mit der strittigen Behauptung, Lane habe zu ihnen „unmoralische Beziehungen“ unterhalten.40 Peter Petersen ist m.W. der erste, der Lane im internationalen Zusammenhang der „Neuen Erziehung“ würdigt. Er berichtet (1926) über Lanes Wirken mit begeisterten Worten als ein herausragendes Beispiel der „Erziehungsgemeinschaften neuer Gesinnung“: „Ich will nur noch kurz erzählen von einem dieser Menschenfreunde, die mit Wunderkräften ausgestattet erscheinen und uns doch nur darin ein Vorbild sind, dass sie schlechthin Menschen sein wollten und alle Künstlichkeit und Enge abstreiften, von Homer Lane, der in der kleinen Gemeinde in Dorset in England lebt. Er besuchte die Jugendgefängnisse der Nachbarschaft und bat sich die gefährlichsten Burschen zur Erziehung aus. Und das erste war, dass er ihnen dann in Dorset die Freiheit gab und sie in kleinen Hausgemeinschaften zusammen wohnen ließ. Im Anfang entstand unter diesen antisozialen Burschen und Mädchen ein wüstes Chaos. Allein Homer Lane beteiligte sich daran. Machte es ihnen Spaß, Fenster einzuwerfen, so half er selber mit. Der schlimmste Fall, von dem er erzählt, das war der eines jugendlichen Diebes und Straßenräubers Jabez. Als dieser in die nun bereits geordnete Gemeinde eintrat, war er erstaunt. Er sah hier Knaben und Mädchen arbeiten und sich in allen Dingen selber Gesetze geben. ...“ Jabez wurde gleichsam zum Prüfstein der paradox anmutenden Erziehungsmethode. Nachdem er eine Menge Geschirr mit Lanes Duldung, ja mit seiner „Ermutigung“ zerschlagen hatte, reichte Lane ihm, weil Protest von Seiten der Mitbewohner aufgekommen war, nun seine eigene, goldene Uhr zur Fortsetzung des Zerstörungswerkes. „Einige Sekunden blickte er auf die Uhr, dann warf er die Schaufel (vom Kamingeschirr – E.S.) fort und stürzte aus dem Zimmer. Der Bann war gebrochen, die Heilung begann. Was hätte hier die
38
Scheibe, a,.a.O. (1978), S.350f. Siehe zur kontroversen Diskussion auch: Dietrich, Theo (1966): Sozialistische Pädagogik – Ideologie ohne Wirklichkeit, Bad Heilbrunn: Klinkhardt Zum „Slöjd-System“ vgl. den entsprechenden Abschnitt im Kapitel „Arbeit und Kunst ...“ dieses Buches. 40 Wills, David W. (1964): Homer Lane. A Biographie, London: George Allen and Anwin, S.163. 39
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alte Methode der Bestrafung genützt?“41 Lane rechtfertigt seine außergewöhnliche Methode mit dem bei den Jugendlichen völlig unter- bzw. fehlentwickelten Begriff sozialer Ordnung. „Ihre Idee von sozialen Beziehungen war auf die primitive Form der Kooperation zum Zwecke des Selbstschutzes beschränkt – gegen Autorität. Alleine waren sie passiv, unterwürfig und apathisch. Zusammen oder als Gruppe waren sie aggressiv, furchtlos und antisozial.“ Lane nimmt ihnen nun durch Mittun den autoritativen Angriffspunkt oder Hintergrund ihrer zerstörerischen Aktionen. „Ich schloss mich der Gruppe bei ihren zerstörerischen Aktivitäten an, wurde ein Mitglied der Gang, und dadurch hörte der Spaß ziemlich schnell auf. Als die anerkannte Autorität in der Gemeinde wurde durch meine Zustimmung und Ermutigung zu mitternächtlichen Kissenschlachten, Plünderungen der Speisekammer und zerstörerischen Handlungen (hooliganism) das damit verbundene Element der Gefahr entfernt. Das Ganze hörte auf, spaßig zu sein. Jetzt waren wir dazu bereit, uns in einer anderen Richtung zu organisieren, was wir auch taten. Die Einwohner entwickelten Interesse an ernsthafteren Tätigkeiten. Das Ideal der Gruppe hatte sich gewandelt. Sie halfen bei der Arbeit und wendeten sich gegen das noch eher obstruktive Verhalten einzelner. Allmählich erreichten sie den Punkt, an dem das Bedürfnis nach formalen Regeln und Gesetzen auftauchte. Sie institutionalisierten nicht nur die Form einer parlamentarischen Prozedur mit gesetzgeberischen Funktionen sondern auch eine juristische Prozedur, durch die Regelverletzungen geahndet wurden.“42 Auf Alexander S. Neill, den Begründer der berühmten antiautoritären Internatsschule „Summerhill“ und geistigen „Mitvater“ der neueren Bewegung der Freien Alternativschulen, übte Lane einen entscheidenden Einfluss aus.43 Neill wollte als Lehrer im „Little Comonwealth“ arbeiten, was durch die frühe Schließung der Einrichtung unmöglich geworden war. Durch Lane, der Neill als Patient annahm, wurde er an die Psychoanalyse Sigmund Freuds und anderer Analytiker aus dem Wiener Kreis herangeführt. (Wichtig wurde auch seine spätere Freundschaft mit Wilhelm Reich.) Diese Erfahrungen prägten sein radikal auf Freiheit und Freiwilligkeit setzendes Erziehungsverständnis maßgeblich. Es ist vor allem dieser über Neill verlaufende und in die weltweite antiautoritäre Erziehungsbewegung einmündende Weg, auf dem Homer Lanes Ideen einer freiheitlichen Erziehung weiterwirken. Neill über Lane: „Ich glaube, Lane hatte Recht. Ich glaube auch, dass die Schulen das einsehen werden ... irgendwann um das Jahr 2500 herum.“
2.5 Exkurs: Anmerkungen zu Makarenkos „Explosionsmethode“ und Lanes „Implosionsmethode“ In mancher Hinsicht kann der „Little Commonwealth“ als ein Gegenmodell zu Makarenkos Konzeption betrachtet werden. Makarenko setzte unter anderem auf die kathartische, heilende Wirkung der explosionsartigen, authentischen, von starken Emotionen begleiteten Reaktion des Erziehers (oder der Mitwelt) gegen den widerspenstigen Jugendlichen – zum Beispiel in Form von Wutanfällen oder körperlich strafender Gewalt in einer aussichtslosen Lage. Das ist der Hintergrund seiner „Explosionsmethode“, die Strafe als letztes Mittel ausdrücklich einschließt. Die emotionale Reaktion der Außenwelt sollte beim Jugendlichen eine innere Erschütterung und Umkehr bewirken. – Lane dagegen setzte infolge seiner psychoanalytischen Orientierung auf die Anbahnung der Heilung durch ein nahezu grenzenloses Gewährenlassen 41
Petersen, a.a.O. (1926), S.73. Lane, Homer (1918/1928): An account of the Little Commonwealth at Evershot, Dorset, in: Ders. (1928): Talks to Parents and Teachers, London: George Allen and Unwin (hier zitiert nach einer Internetquelle); Vgl. auch: Bazeley, E.T. (1948): Homer Lane and the Little Commonwealth, London: New Education Book Club (Erstauflage 1928) 43 Siehe im Kapitel über die Freien Alternativschulen in diesem Buch; ferner: Ahrens, Birgit (1996): Summerhill – Theorie und Praxis eines reformpädagogischen Modells und seine Relevanz für die öffentliche Schule heute, Heidelberg (wiss. Hausarbeit), darin den Abschnitt 2.2.1 „Homer Lane“ (auch im Internet zugänglich) 42
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beim Ausleben der aggressiven Impulse des Jugendlichen; unterstützte dies beim Auftauchen aggressiver Tendenzen gar noch durch eine ausdrückliche Ermunterung. Das bedeutet einen radikalen Entzug erzieherischer Autorität. Man könnte im Vergleich Lanes Vorgehensweise als „Implosionsmethode“ bezeichnen: Gewährenlassen (in der Praxis gewiss nur bis zur Gefahrengrenze für Leib, Leben und größere materielle Güter), Implosion als plötzlicher Zusammenbruch des aggressiven Potenzials und innere Umkehr des Jugendlichen mit dem Beginn einer sozial wirksamen Neuorientierung. Auf der einen Seite steht die Konfrontation des Jugendlichen mit einer extremen äußeren sozialen Realität, auf der anderen die Konfrontation mit einer extremen inneren psychischen Realität. Beide sind freilich „von außen“ initiiert und insofern handelt es sich noch um eine erzieherische Intervention, wenn auch in einer einseitigen und ins Extreme getriebenen Ausprägung jeweils der beiden dialektischen Pole des erzieherischen Prozesses: „Führen“ als Setzen von nahezu absoluten Grenzen auf der einen und „Wachsenlassen“ als nahezu grenzenloses Gewähren auf der anderen Seite. So ins Extreme getrieben geht die erzieherische Situation dann in eine therapeutische über und als solche ist sie möglicherweise zu verantworten. Voraussetzung ist ein starkes moralisches Ich und ein feines Gespür auf Seiten des Erziehers, ein Fingerspitzengefühl für die Situation, die in ihrer seelischen und sozialen Tiefenstruktur erfasst sein will. Denn die möglichen Gefahren sind offensichtlich: Erziehungsdiktatur auf der einen Seite oder Erziehungschaos auf der anderen. Sie liegen in kritischen Situationen dicht beieinander und die Gefahr eines plötzlichen Umschlages besteht. In beiden Fällen ist die Erziehung oder Therapie auch auf das Vorhandensein eines moralischen Ich im Jugendlichen angewiesen, und sei es noch so schwach entwickelt – sonst wäre er zu der erwarteten Umkehr nicht fähig. Seine Mitwirkung, seine Einsicht bleibt letztlich der entscheidende Hebelpunkt einer Entwicklung zum Besseren hin. Beide „Methoden“ mögen ihre Berechtigung haben in erzieherischen Grenzsituationen, wo es um die Frage der Aufrechterhaltung einer minimalen Ordnung oder das Absinken ins Chaos geht. Beide verfolgen die gleichen Ziele, nämlich die Rettung von Subjekten und Situationen: des delinquenten Kindes und Jugendlichen aus seiner inneren Zerrüttung, des Erziehers als eines solchen, des Erzieherischen, als der Möglichkeit, helfend zu wirken. – Eine eingehendere Diskussion und Wertung hätte auch die historischen Hintergründe einzubeziehen: auf der einen Seite die autoritäre bolschewistische Herrschaft in der Sowjetunion, unter der Makarenko zu leiden hatte, in deren Diensten er aber letztlich freiwillig stand; auf der anderen die relativ liberale gesellschaftliche Verfassung Nordamerikas und dann Englands als Wirkungsfelder von Lane.
2.6 Father Flanagan (1886-1948) und seine „Boys Town“ Ähnlich der älteren „George Junior Town“ richtete auch Edward Joseph Flanagan seine noch heute bestehende „Boys Town“ ein. Scheibe resümiert: Flanagan hatte als Kaplan in Omaha (Nebraska) „zunächst ein Heim für asoziale Erwachsene eingerichtet und schuf dann in der Überzeugung, dass man der Verwahrlosung schon in frühem Alter begegnen müsse, im Jahre 1917 ein Jugenddorf für Jugendliche aller Bekenntnisse und Rassen, die heimatlos und in ihrer Entwicklung gefährdet waren. Unter dem Namen ‚Boy Town‘ ist seine Gründung weit bekannt geworden. Sie umfasste mit der Zeit außer Wohngebäuden ein Handwerkerzentrum, ein Postamt, eine Dampfwäscherei, eine Mechanikerwerkstatt, ein Stadion, einen Speisesaal, einen landwirtschaftlichen Betrieb, ein Krankenhaus, Kirche und Pfarrei, eine kleine Fabrik usw.; konnte also zu Recht als eine ‚Stadt‘ bezeichnet werden. Die in sich abgeschlossene Jugendgemeinschaft war eine Gemeinde mit Stadtrechten, in der die notwendigen Funktionen der Verwaltung weitgehend von den Jugendlichen selbst durchgeführt wurden, einschließlich all der Aufgaben, die für die Ausbildung und Unterrichtung der Jungen wahrzunehmen waren.
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Ein ausgeprägtes Vertrauen zum jungen Menschen, der sich zuvor verstoßen vorkam und nun hier heimisch werden sollte, und eine erstaunliche Delegierung von Verantwortung sowie Herausforderung von Aktivität und Selbständigkeit kennzeichneten die erzieherische Welt, die Flanagan herzustellen verstand.“ Damit schuf er „ein interessantes Modell einer Gemeinschaftserziehung für Schwererziehbare.“44 Die Grundstruktur der Einrichtung, einschließlich wichtiger Mitbestimmungsrechte der jugendlichen Einwohner, hat sich bis heute erhalten. Wertvolle Hinweise zur Geschichte und gegenwärtigen Gestalt der „Boys Town“ bzw. nun der „Girls and Boys Town“ finden sich im Internet. „Im Jahre 1977 kamen die ersten Mädchen in die ‚Boys Town‘. Am 25. August im Jahre 2000 votierten die Einwohner dafür, den Namen ihrer Stadt zu ändern: Sie heißt nun ‚Girls and Boys Town, Nebraska‘.“45 Heute bietet diese Einrichtung ein umfangreiches Spektrum an Hilfen für Kinder, Jugendliche und Familien. Viele sind von emotionalem, physischem oder sexuellem Missbrauch gezeichnet. Delinquente Jugendliche oder solche in einer prä-delinquenten Situation werden ebenfalls aufgenommen. 1977 wurde das „Boys Town National Research Hospital“ gegründet, das seither mehr als hunderttausend Kinder und junge Erwachsene vor allem mit Hör-, Sprachund Lernproblemen behandelt hat. Eine „High School“ begann ihre Arbeit im Jahre 1983. Im Jahr 1983 begann in den Vereinigten Staaten eine Gründungswelle weiterer „Towns“, so dass heute von einer „Girls and Boys Town Movement“ gesprochen werden kann. 1998 wurden insgesamt etwa 33.000 Jugendliche in entsprechenden Einrichtungen in etwa 35 Staaten betreut. „All das hat sich in einer Weise entwickelt, die Father Flanagan im Traum nicht für möglich gehalten hätte. Über die Jahre hin konnte Millionen von Kindern geholfen werden und die Arbeit geht weiter bis auf den heutigen Tag.“46 – Father Flanagan starb während eines Aufenthaltes in Deutschland, wo er nach dem Krieg mit der Aufgabe betraut war, beim Aufbau der Jugendhilfe beratend mitzuwirken. Auch die vor allem in den 1970er Jahren im Diskurs um alternative, freiere Lebens- und Erziehungsformen international viel beachtete „Kinderrepublik Bemposta“ in der spanischen Provinz Orense geht auf Flanagans Einfluss zurück. „Jesus Silva Méndez (geb. 25.1.1933) war neun Jahre alt, als er in Orense den Kinofilm ‚Boys Town‘ sah, in dem Spencer Tracy die Hauptrolle des Father Flanagan spielte. .... Jesus Silva begeisterte sich derart für Flanagans Erziehungsarbeit, dass in ihm der Wunsch erwachte, Priester zu werden. ... 1956 begann der junge Padre Silva seinen Wunschtraum, eine ‚Stadt für Jungen‘, zu verwirklichen. In den Armenvierteln seiner Heimatstadt Orense suchte und fand er die Freundschaft von fünfzehn Jungen. ... Obwohl die meisten Jungen zwischen zehn und zwölf Jahre alt waren, hatten sie noch nie eine Schule von innen gesehen. Mit Silvas Vorschlag öffneten sich ihnen Entwicklungschancen, von denen sie nie geträumt hätten.“47 – In aller Welt bekannt wurde der „Circus Muchachos“ der Kinderrepublik.
3
Erwachsenenbildung und Volkshochschulbewegung
In seinem 1994 veröffentlichten Beitrag „Reformpädagogik in der Erwachsenenbildung“ schlägt Franz Pöggeler eine „Korrektur der Historiographie des Bildungswesens“ vor.48 In der bisherigen Historiographie der Reformpädagogik sei die Erwachsenenbildung „zu wenig beachtet“ worden. Nach der Aufzählung zahlreicher Ansätze in der Erwachsenenbildung stellt er 44
Scheibe, a.a.O. (1978), S.350. Internet „Gallery of History“, 2002 46 Sobotka, Pamela (2001): Father Flanagan and the history of Boys Town, http://azaz.essortment.com/boystown, (29.4.02). Weitere Informationen im Internet mittels Suchmaschine zu „Girls and Boys Town“. 47 Möbius, Eberhard (1973): Die Kinderrepublik Bemposta und die Muchachos, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S.15f. 48 Pöggeler, Franz (1994): Reformpädagogik in der Erwachsenenbildung, in: Röhrs/Lenhart (Hsg.) (1994), s.o. Anm.1 45
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ihre Bedeutung für die Reformpädagogik heraus und bemerkt kritisch, dass „man sie bisher bei Gesamtdarstellungen der Reformpädagogik“ übersehen habe. Allerdings muss man Pöggeler entgegenhalten, dass er offenbar selber die einschlägigen Gesamtdarstellungen nicht zur Kenntnis genommen hat. Bei einem Blick in die entsprechenden Arbeiten von Scheibe (1978, Erstauflage 1969) und Röhrs (1980) zeigt sich nämlich, dass diese von ihm angemahnte „Korrektur“ längst vollzogen war (bei Röhrs dem Umfang nach weitaus geringer, dafür unter Einbeziehung der „Frauenbildung im Umkreis der Reformpädagogik“). Instruktive Hinweise zum „Volks- und Fortbildungswesen“ finden sich auch in der „Kommentierte(n) Bibliographie zur Reformpädagogik“ von Beckers/Richter, 1979. Pöggelers Beitrag liest sich denn auch auf weite Strecken wie eine konzise Zusammenfassung der bei Scheibe breiter entfalteten Themen. – Ja, die „Korrektur“ wurde schon von Nohl (1933) vorgenommen, in dessen Arbeit „Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie“ der „Volkshochschulbewegung“ ein prominenter Platz im ersten der insgesamt sechs Kapitel eingeräumt wird – und in dem bereits zahlreiche Hinweise gegeben werden, deren historiographische Beachtung Pöggeler anmahnt. Scheibe49 widmet der „Volksbildungsbewegung“ ein recht umfangreiches Kapitel. Er sieht die „Anfänge der Volksbildung“ in den aufklärerischen Bestrebungen des 18. Jahrhunderts. Vor allem mittels Buch und Zeitschrift sollte Wissen vermittelt werden. Im 19. Jahrhundert tritt das politisch-emanzipatorische Moment als Bildungsmotiv insbesondere der unteren Schichten und als Gründungsmotiv zahlreicher Bildungsvereine hinzu. Die von England ausgehende „Universitätsausdehnungsbewegung“ („University Extension Movement“) wirkte um die Jahrhundertwende auf eine Öffnung der Universitäten hin, z.B. durch öffentliche „volkstümliche“ Vorträge und Ferienkurse. In der Entwicklung der Volksbildung in der Zeit des Kaiserreiches traten in drei Perioden nacheinander die folgenden Motive in den Vordergrund: das Loyalitäts-, Kultur- und Individualprinzip. „Die erste (Periode) reicht von 1870 bis 1895 und folgt dem Prinzip ‚vom Staate‘ aus durch ‚Züchtung‘ des Einheitsstaatsbürgers zur Abwehr der Sozialdemokratie; die zweite Periode dauert etwa von 1890 bis 1905 unter dem Prinzip ‚von der Kultur aus‘ mit der Universitätsausdehnungsbewegung. Die dritte Periode beginnt etwa ab 1905 unter dem Prinzip ‚vom Menschen aus‘. Bereits in dieser Formulierung ist die Identität der Zielsetzung zu der pädagogischen Bewegung ‚vom Kinde aus‘ festgelegt. Dieses Motto legt die Vertreter der neuen Richtung zwar einerseits auf allgemeine Zielvorstellungen fest, bewirkt andererseits aber in noch stärkerem Maße als zuvor eine Zersplitterung der Zielvorstellungen auf Grund weltanschaulicher oder politischer Ausgangspositionen.“50 So wurde der Bildungsarbeit ein breites Zielspektrum zugrunde gelegt: Aufklärung über soziale Ungerechtigkeiten (insbesondere in der Arbeiterbewegung), Umgang mit Demokratie (vor allem in der Weimarer Zeit), Fortbildung im Beruf, individuelle Lebenshilfe, Einführung in das „Volkstum“. Die Ansätze der dritten als „Neue Richtung“ bezeichneten Periode der Volksbildungsarbeit wurden für die weitere Entwicklung bestimmend. Ausgehend von kulturkritischen Ansätzen51 und der Krisenerfahrung des Ersten Weltkrieges und seiner Folgen sah man das Heilmittel gegen den fortschreitenden „Kulturverfall“ in „wahrer“ seelenvoller Menschenbildung. Die „Laienbildung“ sollte – gegen die seelenlose Fachbildung – vor allem durch (kunst)handwerkliche, musikalische, poetische Beschäftigungen zu einer neuen „Laiengeistigkeit“ führen. Insbesondere in der „autonomen Bildungsbewegung der jungen Generation“ (Wilhelm Flitner), der Jugendbewegung, sah man Ansätze zur Wiedergewinnung verlorenen volkstümlichen, „intensiven“, „echten“ Bildungsgutes. „Gestaltende Volksbildung“ (Walter Hoffmann 1925) sei der Weg, gegen die „prinzipiell feindlichen Lebensmächte der Zeit“ die „innere Zerrissenheit“ zu überwinden und eine neue „Volksgemeinschaft“ herzustellen. 49
Vgl. zum Folgenden wenn nichts anderes vermerkt:: Scheibe, a.a.O. (1978), S.353ff. Beckers/Richter, a.a.O. (1979), S.146 (E.Beckers). Dort auch eine sehr lesenswerte Zusammenfassung. 51 Vgl. Kapitel 3 über Zivilisations- und Kulturkritik in dem vorliegenden Buch. 50
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In Bezug auf die institutionelle Etablierung der Volks- bzw. Erwachsenenbildung kommt der „Volkshochschulbewegung“ eine herausragende Bedeutung zu. Die Entwicklung der „neuen Volkshochschulen“ und die „Heimvolkshochschule“ werden von Scheibe ausführlich gewürdigt, bei letzterer auch der Däne Grundtvig als deren Wegbereiter und vorbildlicher Gestalter. Als in zweiter Linie wichtige Einrichtung thematisiert Scheibe ausführlich auch die „Volksbüchereibewegung“ in Hinsicht auf die „Bildungsaufgabe der Volksbücherei“, den „pädagogischen Aspekt des Buchbestandes“ und die „Buchausleihe als pädagogische Aufgabe“. Ich beschränke mich mit Hinweisen auf die Entwicklung der Volkshochschule, und zwar in enger Anlehnung an und mit einem längeren Zitat aus Pöggelers eingangs genanntem Beitrag. Er nimmt u.a. unter gesellschaftspolitischen Aspekten zur Erwachsenenbildung und hier vor allem zur Arbeit der Volkshochschule Stellung:
„Als Pionier einer neuzeitlichen Volks- und Erwachsenenbildung gilt in Europa (der Theologe, Dichter, Historiker, Volkserzieher und Politiker – E.S.) Nicolai F.S. Grundtvig (17831872). Die von ihm konzipierte Volkshochschule, zu seinen Lebzeiten als revolutionäre Neuerung eingeschätzt, sollte nicht nur das Bildungswesen, sondern auch Gesellschaft und Staat von Grund auf reformieren, dem dänischen Volk, das lange fremdkulturell beeinflusst worden war (Grundtvig wandte sich vor allem gegen den deutschen Einfluss – E.S.)52, endlich ‚Volkheit‘ als Basis ethnischen Selbstbewusstseins geben und dem Staat die lange ersehnte nationale Identität vermitteln, vor allem durch Besinnung auf die dänische Geschichte. Das sollte in einer Art ‚Erweckung‘ geschehen – in der neugeschaffenen Volkshochschule, in der junge Erwachsene in heimartigem Zusammenleben ein Jahr lang nationale Solidarität erfahren sollten. (Der historische Hintergrund jener „Erweckungsbewegung“ und ihres großen Erfolges ist u.a. die militärische Niederlage Dänemarks im deutsch-dänischen Krieg 1864. – E.S.) Verbunden mit der Schaffung dieser neuen Institution war Grundtvigs Kritik der vorhergehenden Pflichtschule, die er als ‚Buchschule‘ und ‚Schule des Todes‘ karikierte. Den Übergang vom Jung- zum Erwachsensein hielt er für die ‚Schöpfungsstunde‘ des menschlichen Genius. Hinwendung zum eigennationalen Bildungsgut und Abwendung von dem, welches man bis dahin als klassisch bezeichnet hatte, waren eins.“ In all dem wird auch der enge ideelle Zusammenhang zur Reformpädagogik deutlich. Eine Geschichte der Reformpädagogik in Dänemark muss, wie es in der einschlägigen Literatur auch geschieht, Grundtvig einen prominenten Platz einräumen. Die meisten didaktischmethodischen Motive der Reformpädagogik lassen sich bei ihm aufweisen: Betonung der Muttersprache, insbesondere der gesprochenen, gegen „totes Buchwissen“ (Antiintellektualismus), starke Betonung des Ästhetisch-Musischen, insbesondere Musik und Dichtung, gegen Auswendiglernen und körperliche Züchtigung, keine Prüfungen und Zensuren, Förderung der Selbsttätigkeit und Selbständigkeit, Lebensnähe.53 – Pöggeler weiter: „Als eine auf politische und soziale Reform bedachte Bildungsstätte wurde die HeimVHS bald in ganz Skandinavien, in Großbritannien (dort als ‚Residential College‘ bezeichnet) und danach 1900 in Deutschland, Österreich und der Schweiz adaptiert. Anton Heinen (18691934), zwischen 1910 und 1933 einer der markantestes Vertreter der deutschen Heim-VHSn, forderte ‚Volksbildung als Volk-bildung‘: ... Wie Heinen vertrauten die Vertreter der ‚intensiv-gestaltenden‘ Volksbildung, ..., auf die soziale und politische Kreativität der ‚Arbeitsge52
Vgl.: Röhrig, Paul (Hsg.) (1991): Um des Menschen willen. Grundtvigs geistiges Erbe als Herausforderung für Erwachsenenbildung, Schule, Kirche und soziales Leben, Weinheim: Deutscher Studien Verlag 53 Vgl. dazu: Bodenstein, Eckhard (1996): Länderstudie Dänemark, in: Seifarth-Stubenrauch/Skiera (Hsg.) (1996): Reformpädagogik und Schulreform in Europa, Band 2, Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Insbesondere: ebd. S.440 „Wie fing es an?“
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meinschaft, kleinen Kreisen, in denen die ganze Pluralität des Staatsvolkes repräsentiert werden sollte, um einen Modus des friedlichen Zusammenlebens zu erarbeiten. Urheber dieser Idee war Robert von Erdberg (1866-1929), der im Preußischen Kultusministerium die Schalthebel zur Verwirklichung seiner Idee in der Hand hatte.“ Die Hoffnung war, das gemeinsame „Verstehen in der Arbeitsgemeinschaft werde diese in Art einer Zellenbildung auf den ganzen Volkskörper ausdehnen und dieser gesunden, nachdem er durch ständische und religiöse Not schwer erschüttert worden war.“ Wilhelm Flitner (1989-1989), Eugen Rosenstock-Huessy (1888-1973), Martin Buber (1878-1965) und viele andere Förderer der Volksbildungsarbeit stellten „extrem hohe Erwartungen an die politisch-reformerische Wirksamkeit von Erwachsenenbildung“, die – wie die Machtübernahme durch den Nationalsozialismus zeigte – nur enttäuscht werden konnten. „Nicht nur die auf Arbeit im kleinen Kreis bedachte ‚intensivgestaltende‘, sondern auch die extensiv-popularisierende Erwachsenenbildung, so wie sie sich um 1900 in den Abendvolkshochschulen und in der Urania-Bewegung etabliert hatte, erreichten nur eine Minderheit der Bevölkerung, ... . Zwischen 1918 und 1933 kam es, inspiriert gleichermaßen von politischem Idealismus und pädagogischem Helferwillen, zur Gründung von ganz neuen Institutionen, die in den Rahmen des bisherigen Bildungswesens kaum hineinpassten. Dazu gehören z.B. die ‚Deutsche Schule für Volksforschung und Erwachsenenbildung‘, ..., die ‚Schule der Volkschaft‘ Leo Weismantels (1888-1964) in Marktbreit am Main und Eduard Weitschs (1883-1955) Heim-VHS in Dreißigacker, die er programmatisch als ‚Schule ohne Katheder‘ (1952) titulierte.54 ... In den genannten Reformansätzen spielt der Begriff ‚Volk‘ eine wichtige Rolle. Dass er keineswegs nationalistisch oder gar chauvinistisch gemeint war, ergibt sich aus der dezidierten Internationalität der Konzepte. ... Im Hohenrodter Bund, dem wichtigsten Reformgremium der deutschen Erwachsenenbildung der Weimarer Republik, kam es schon deshalb nicht zu einer nationalistischen Verengung des Volksbegriffs, weil hier ein durch und durch liberales und nonkonformistisches Dialogklima üblich war. Die Auflösung der genannten reformorientierten Bildungsstätten durch das nationalsozialistische Regime wurde u.a. mit der ‚Internationalität‘, den pazifistischen Tendenzen und der Liberalität der Einrichtung sowie der sie tragenden Theorien begründet.“55
Bei der Volkshochschule handelt sich zweifellos um den wichtigsten und bis in unsere Zeit expandierenden Bereich der „allgemeinen“ Erwachsenenbildung. Pöggeler beleuchtet in dem zitierten Abschnitt die „Erwachsenenbildung als Faktor der Gesellschafts- und Staatsreform“. Damit wählt er einen zentralen Aspekt im Selbstverständnis der „Neuen Richtung“ (s.o.) in der Weimarer Zeit und erinnert implizit zugleich an den ideellen Zusammenhang mit der schulischen Reformpädagogik. Auch diese schickte sich an, über eine (reformierte) Erziehung in der „Neuen Schule“ zur Verbesserung der Gesellschaft, ja zur Heraufkunft eines „Neuen Zeitalters“ beizutragen. Auf personelle bzw. biographisch verankerte Zusammenhänge zwischen schulischer Reformpädagogik und Erwachsenenbildung wäre ebenfalls hinzuweisen, die allerdings noch näher erforscht werden müssten. Karl Wilker wurde weiter oben bereits genannt. Als weiteres Beispiel sei Adolf Reichwein (1898-1944) genannt: Sozialdemokrat, der Jugendbewegung eng verbunden, Reformpädagoge, Museumspädagoge, Erwachsenenbildner, Widerstandskämpfer gegen die nationalsozialistische Herrschaft. Er wurde vor allem mit seinem in einer Art „inneren Emigration“ und doch in aller Öffentlichkeit durchgeführten, 1937 in seinem Bericht „Schaffendes Schulvolk“ dokumentierten Schulversuch in Tiefensee (bei Berlin) bekannt. Unter anderem beeinflusst von Grundtvigs Werk wandte sich Reichwein – wie Zeitzeugen berichten mit großem Erfolg – in verschiedenen Positionen der Volkshochschularbeit 54 55
Näheres zu vielen der genannten Strömungen und Einrichtungen in Scheibe (1978). Pöggeler, a.a.O. (1994), S.312ff.
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zu. Von 1925 bis 1929 war er in der Nachfolge von Wilhelm Flitner Leiter der städtischen Volkshochschule Jena.
4
„Kinderfreundebewegung“, „Kinderrepubliken“, „kämpfende Kinder“ – Organe und Formen proletarischer Erziehung
Es war in den sozialistischen und kommunistischen Bewegungen ein naheliegender Gedanke, nach Möglichkeiten zu suchen, auf die Kinder und Jugendlichen außerhalb der etablierten Institutionen von Familie und Schule erzieherisch einzuwirken. Familie und Schule erschienen wegen ihrer strukturellen Verankerung in der gegebenen Gesellschaft für eine politische Erziehung ungeeignet, für eine Erziehung, die sich in der Zielperspektive von Egalität und Gerechtigkeit die Überwindung eben jener Gesellschaft zum Programm gemacht hatte. Familie und Schule – wegen ihrer meist ebenfalls patriarchalisch-autoritären Struktur auch die proletarische Familie – wurden als Reproduktionsinstanzen des kapitalistischen Systems angesehen, als Ort der Einübung in die gesellschaftliche Ungleichheit der Menschen, deren Aufhebung nun angesagt war. „Die monogame Familie ist die Familienform, die sich auf den Sieg des Privateigentums über das ursprüngliche, naturwüchsige Gemeineigentum gründet.“ So heißt es im Marxistisch-Leninistischen Wörterbuch der Philosphie. So ist denn auch bei der „Herausbildung neuer Familienbeziehungen in der Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus ... von vielfältigen Konflikten“ auszugehen. Es ist der „Kampf zwischen überlieferten Traditionen und seit Jahrhunderten zu Gewohnheit gewordenen, fest verwurzelten Anschauungen und Verhaltensweisen einerseits und den neuen, auf der Gleichberechtigung der Geschlechter, der gegenseitigen Hilfe, Liebe und Achtung beruhenden (und nicht auf Unterdrückung und Besitzakkumulation bedachten – E.S.) neuen sozialistischen und kommunistischen Familienbeziehungen andererseits.“56 Das bedeutet auch, dass sozialistische und kommunistische Erziehung, zumindest in ihren radikalen Ausprägungen, in der „Epoche des Übergangs“ durchaus eine Entfremdung des Kindes und Jugendlichen von seiner Herkunftsfamilie in Kauf nimmt, sie sogar bewusst fördert. Auch die öffentliche Schule konnte kaum als Sozialisationsinstanz für zukünftige Sozialisten und Kommunisten angesehen werden. Zu sehr war sie der Kontrolle des bürgerlichen Staates unterworfen, eines Staates, zu dem Sozialisten und Kommunisten in einer prinzipiellen, wenn auch unterschiedlich weiten Distanz standen. Beide lehnten den Kapitalismus ab, beide propagierten den Kampf für eine egalitäre Gesellschaft, die Kommunisten gar den gewaltsamen, revolutionären Kampf. Zudem war die Schule noch stark von Kirche und Religion geprägt. Die Grund- bzw. Volksschullehrerschaft war im Allgemeinen dem rechten politischen Spektrum zuzuordnen und sozial nicht – oder im Falle eines sozialen Aufstiegs nicht mehr – im Arbeitermilieu verankert. Das galt auch für die Weimarer Zeit. Selbst der schulpolitische Teilerfolg der Sozialdemokratie, die Einführung der „Einheitsschule“ für die ersten vier Schuljahre für alle Kinder des Volkes (Grundschule) und damit die Auflösung des ständisch gegliederten Schulwesens im Elementarbereich, konnte hier keine „Besserung“ bewirken – im Gegenteil. Denn jetzt saßen Bürger-, Arbeiter- und Bauernkind in einem Klassenraum zusammen, was der Lehrkraft nicht nur von Amts wegen, sondern auch unter einsehbaren erzieherischen Gesichtspunkten eine Zurückhaltung in politischen und weltanschaulichen Fragen abverlangte. Anders hätte der Klassenkampf schon in der einzelnen, sozial heterogen zusammengesetzten Schulklasse seinen Anfang nehmen und u.U. sehr konkrete Formen annehmen können. Solche Rücksichtnahmen waren den kommunistischen Erziehungstheoretikern gleichwohl fremd. Sie propagierten im Horizont ihres großen Ziels durchaus den Klassenkampf in 56
Klaus, Georg und Buhr, Manfred (Hsg.) (1972): Marxistisch-Leninistisches Wörterbuch der Philosophie, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, Stichwort „Familie“ in Bd. 1, S.362f
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der Schule – freilich nicht unbedingt den Kampf der Schülergruppen gegeneinander, sondern den Kampf der „Schülerkollektive“ oder der „roten Schulzellen“ gegen die autoritäre Schule und ihre (prügelnden) Repräsentanten, die Lehrer. Der Schulstreik war in der Anfangsphase der Kommunistischen Kinderbewegung eines ihrer bevorzugten Mittel. Die massenhafte Organisation der Kinder und Jugendlichen außerhalb von Schule und Familie erschien als der geeignete Weg eines politischen Lernens. Die sozialdemokratischen „Kinderfreunde“ organisierten während der Weimarer Zeit in den Ferien große Zeltlager mit 800 bis 2000 Kindern. Diese so genannten „Kinderrepubliken“ waren nach einem ähnlichen Modell wie die im vorigen Abschnitt beschriebenen „Republiken“ zum Zwecke der Einübung in republikanisch-demokratische Tugenden organisiert. Ihr wichtigster Förderer in Deutschland war der Reichstagsabgeordnete für die USPD und die SPD Kurt Löwenstein (18851939), von 1924-1933 Vorsitzender der „Reichsarbeitsgemeinschaft der Kinderfreunde Deutschlands“. Die Kinderfreundebewegung hat ihren Ursprung in Österreich, wo sie 1908 in enger Verbindung mit der linken Sozialdemokratie, dem sogenannten „Austromarxismus“, entstand. (Unter dessen Einfluss stand nach dem Ersten Weltkrieg auch die österreichische Reformpädagogik und Bildungspolitik: Konzeption der Einheitsschule auf arbeitsunterrichtlicher Grundlage.) Einer ihrer maßgeblichen Förderer war der Begründer der Individualpsychologie Alfred Adler57, neben Sigmund Freud und Carl Gustav Jung einer der drei großen Gründergestalten tiefenpsychologischer Richtungen. Die Ideen der „Kinderfreunde“ verbreiteten sich auf Grund des sozialistischen Internationalismus rasch in anderen Teilen Europas. Ab 1919 kam es dann auch in Deutschland zu Gründungen von Kinderfreundegruppen. 1922 erfolgte die Gründung einer „Internationale der sozialistischen Kinderorganisationen“. In Deutschland wuchs die Zahl der Ortsgruppen von 54 im Jahre 1923 auf 1100 im Jahre 1932 mit zum Schluss mehr als 120.000 Kindern, über 10.000 unbezahlten Helfern und über 70.000 Eltern und fördernden Mitgliedern. Der Auftakt einer ganzen Reihe von „Roten Kinderrepubliken“ fand 1927 in Seekamp bei Kiel statt. Bis 1933 gab es insgesamt 35 solcher Experimente mit insgesamt etwa 35.000 Teilnehmern in Deutschland, der Schweiz, in Österreich, Dänemark und Frankreich.58 Die Kommunisten standen den Versuchen der „Kinderfreunde“ wegen ihres nicht-revolutionären Charakters skeptisch gegenüber und gingen mit ihrem Konzept der „kämpfenden Kinder“ einen Schritt weiter. Die kleinen Revolutionäre mussten sich – selbstverständlich – ihr Rüstzeug außerhalb der Schule oder im „Untergrund“ der Schule aneignen. Sie sollten den Klassenkampf dann aber direkt in die Schule und nach außen tragen; denn: „Der Kampf in der Schule ist zugleich eine Vorschule unserer jungen Kämpfer für den späteren Kampf im Betrieb und Staat.“59 Gegen den Vorwurf der politischen Indienstnahme unmündiger Kinder verteidigt sich der eben zitierte Theoretiker der KPD für Erziehungs- und schulpolitische Fragen Edwin Hoernle (1883-1952) u.a. mit folgenden Worten: „Das kämpfende proletarische Kind war schon lange vorhanden, ehe es einen Kommunisten gab, der sich seiner annahm. Der Kampf des Kindes ist so alt wie die Ausbeutung des Kindes, wie die Unterdrückung und Brutalisierung des Kindes. Er ist die natürliche Reaktion der Kinder gegen das Verbrechen, das der Kapitalismus, das unverständige Eltern, reaktionäre Lehrer Tag für Tag an Seele und Körper der Arbeiterkinder verüben. Allein dieser Kampf verlief bisher regellos, vereinzelt und unglücklich. Das proletarische Kind kämpfte, kämpfte aus innerer und äußerer Not, kämpfte, 57 Vgl. Stenzel, Andreas (1995): Das Kind als Anwalt für sich selbst – Utopie und Realität, Diplomarbeit an der Fachhochschule für Sozialarbeit und Sozialpädagogik „Alice Salomon“, Berlin (Internetversion) 58 Archiv der Arbeiterjugendbewegung (2001): Kinderfreundebewegung in Deutschland vor 1933, (Internetversion) Text aus: Uellenberg, Wolfgang und Rütz, Günter: 80 Jahre Arbeiterjugendbewegung in Deutschland 1904-1984. 59 Hoernle, Edwin, zitiert nach: von Werder, Lutz und Wolff, Reinhart (1970): Schulkampf, Frankfurt: März Verlag, S.248. Ebd. S.247ff zahlreiche Quellentexte zum „Schulkampf der kommunistischen Kinderbewegung“.
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ohne Weg und Ziel zu wissen, ohne Hilfe, Rückhalt und Verständnis bei den Erwachsenen zu finden. Es ging aus diesem Kampf hervor, geistig verkrüppelt, moralisch geknickt; nur wenige heilten später die Wunden aus. Das ausgebeutete, misshandelte, systematisch vom Dienstherrn, von Eltern, vom Lehrer gequälte Kind wehrt sich, so gut es kann... Ist es ein Wunder, dass unsere Kinder als geistige Krüppel, als moralisch defekt diese Schulen und Werkstätten und das ach so ‚traute Heim‘ verlassen? Ist es ein Wunder, dass sie unehrlich, diebisch, tückisch und hinterlistig werden? Sie müssen es ja, um unter der Peitsche der Ausbeutung und der Sklaverei, um in Armut und Fron nicht ganz zugrunde zu gehen! ... . Das Neue, das wir Kommunisten aussprechen, ist dies: Der Kampf der Kinder darf sich nicht länger bewegen im Dunkel des Unterbewusstseins, in der Vereinzelung, in der ungeleiteten, regellosen, verzweifelten und deshalb demoralisierenden Art tierischer Selbsthilfe. Nein, der Kampf unserer ausgebeuteten, unterdrückten, misshandelten Kinder soll ans Licht gezogen, soll bewusst organisiert und solidarisch geführt werden, als Teilkampf im Klassenkrieg der arbeitenden Klasse. Er soll mitgeführt werden von dem gesamten revolutionären Proletariat. Erst dadurch retten wir unsere Kinder vor dem Untergang in Lüge, Tücke, Feigheit, Duckmäuser- und Stänkertum, Verzweiflung und Verbrechen, indem wir eine neue Lebensbejahung in ihnen wecken, das große Erlebnis der Arbeitersolidarität, des solidarischen Kampfes gegen die Unterdrücker.“60 Bei der Mobilisierung von „kämpfenden Kindern“ konnten auch die kommunistischen Organisationen Erfolge verbuchen; insgesamt verlief die Entwicklung aber weniger kontinuierlich, war von schweren Rückschlägen, inneren Kämpfen, organisatorischer Umstrukturierung und neuen strategischen Schwerpunktsetzungen gekennzeichnet und erreichte nie das Ausmaß der „Kinderfreundebewegung.“61 Elke Richter hat wesentliche Momente beider Richtungen einer proletarischen Kindererziehung bündig zusammengefasst. Ich gebe Ausschnitte aus ihrem Text wieder: „Kinderfreundebewegung“, „Kinderrepubliken“ (E.Richter)62 „Die Kinderfreunde sehen ihre Hauptaufgabe in: 1. der Heranbildung von Erziehern aus der Arbeiterklasse, 2. die Einwirkung auf den Ausbau und 3. der Schaffung neuer Kindererziehungseinrichtungen, 4. der Erstellung einer Kinderzeitschrift und eines Organs für Erziehungsfragen (‚Der Helfer‘). Die Basis der Organisation bildet die Ortsgruppe, die sich in einen Helfers-, Eltern- und Kinderkreis unterteilt. ... Eigenständige theoretische Grundsätze sozialistischer Erziehung werden geschaffen. (insbesondere von Kanitz) und in der Praxis erprobt. Das wichtigste Erziehungsmittel zur Heranbildung der sozialistischen Persönlichkeit ist das Zeltlager, das als Kinderrepublik konzipiert wird. Die Kinderrepublik verwaltet sich selbst durch das Lagerparlament. Allerdings verkörpert ein Erwachsener den ‚Bürgermeister‘. Das gesamte Lager steht unter der Kontrolle der Kinder. ... Der Kinderfreundebewegung gelingt es nicht, die Verbindung zur Arbeiterklasse herzustellen. ... Das liegt u.a. in der engen Zusammenarbeit mit der SPD begründet: Wie viele Mitglieder der SPD ist auch Kurt Kerlow-Löwenstein von einer evolutionären Veränderung des bestehenden Gesellschaftssystems überzeugt. ... Die Kinderfreunde60
Hoernle, Edwin, hier zitiert nach: Giesecke, Hermann (1981): Vom Wandervogel bis zur Hitlerjugend. Jugendarbeit zwischen Politik und Pädagogik, München: Juventa-Verlag, S.132f. 61 Vgl. dazu: von Werder, Lutz und Wolff, Reinhart (1970): Schulkampf, Frankfurt: März Verlag, darin den Abschnitt „Der Schulkampf der kommunistischen Kinderbewegung“. 62 Beckers/Richter, a.a.O. (1979), S.183ff.
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bewegung trägt allerdings entscheidend dazu bei, dass Pädagogen die besondere Psyche und Situation des Arbeiterkindes analysieren, die sehr ausgeprägte autoritäre Familienstruktur und ihre Unterdrückungsmechanismen aufdecken. ... 1933 lösen die Nationalsozialisten die Kinderfreundebewegung auf.“ „Kommunistische Kinderbewegung“, „Kämpfende Kinder“ (E. Richter) „Die ersten kommunistischen Kindergruppen entstehen zur Zeit der Revolution (Novemberrevolution in Deutschland 1918 – E.S.). Sie werden von der KPD ins Leben gerufen. ... Entstanden sind diese Gruppen, als Erwachsene feststellen, dass Kinder von kämpfenden Proletariern während der Revolution an Aktionen teilnehmen. ... Die kommunistische Kinderbewegung betrachtet das Kind als kämpfendes Glied der Arbeiterbewegung. Erziehungsziele sind das Kollektiv, die Weckung eines proletarischen Klassenbewusstseins, die Entwicklung einer Solidarität im Kampf gegen die Herrschenden und der Ausbau organisatorischer Fähigkeiten. Das Kind soll nicht eine heile, sondern die reale Welt – des Klassenkampfes – kennenlernen. Die Erziehung übernimmt anstelle des berufsmäßig ausgebildeten Pädagogen der vorbildliche Proletarier und Klassenkämpfer. ... Die Unterdrückung des Arbeiterkindes in der Schule führt 1912-1924 zu spontanen Schulstreiks (gegen die Autorität des Lehrers, Berufsverbote; 1924 Aufbau einer Gegenschule im Gothaer Schulstreik). Während der Schulkampfwoche der kommunistischen Kinderbewegung vom 11.-18.2.1923 treten die Schüler selbst für die Abschaffung der Prügelstrafe, Einstellen der Kommunistenhetze, Öffentlichkeit des Unterrichts, Einrichtung von Schülerräten und Schülergerichten u.a. ein. Größere Erfolge stellen sich nicht ein, was zu einer strafferen Organisierung der Kinderbewegung führt. Grundlage ist die Schulzelle, die den Zusammenhalt der Kinder untereinander festigen und den Schulkampf effizienter gestalten soll. ... Der 1. und 2. Weltkongress der Arbeiter- und Bauernkinder 1929 in Moskau und 1930 in Berlin bilden die Höhepunkte sozialistischer Massenerziehung. Der Einfluss der sowjetischen Pionierbewegung ist unverkennbar. Als die Führer der Kinderbewegung die Isolation der Arbeiterkinder in der Schule bemerken, verlagert sich der Schwerpunkt der Organisationsarbeit auf die Straßen und Stadtteile (Roter Schulvorposten). ... Es wird vom jungen Pionier die Bereitschaft gefordert, für die Sache der Arbeiterklasse und die Unterordnung der Persönlichkeit unter die Organisation einzutreten. Das Haupterziehungsmittel für die jüngeren Pioniere ist neben politischer Arbeit das politische Spiel. Bei den älteren Pionieren nimmt die Schulung einen breiten Raum ein. – Dieses letzte Kapitel umreißt die Phase strenger ideologisch ausgerichteter Erziehung – eine Erziehung, die das Kind vergewaltigt, weil sie seiner Persönlichkeit nicht, wie Marx es fordert, zur vollen Entfaltung verhilft. Diese Pädagogik übernimmt die gleichen Fehler des Erziehungssystems, das sie überwinden möchte.“
Zusammenfassend kann folgendes festgehalten werden: Im außerschulischen Bereich der Reformpädagogik zeigt sich ein äußerst facettenreiches Bild. Es spiegelt wie im Bereich der schulischen Reformpädagogik verschiedene Erziehungsauffassungen – von permissiv (Lane) bis autoritär (Makarenko) – , die Bildungsinteressen verschiedener weltanschaulicher Gruppierungen sowie verschiedene gesellschaftspolitische Strömungen wider. Vor allem bildet sich in historischer Sicht auch hier, und zwar auf internationaler Ebene, der gesellschaftliche Gegensatz zwischen „links“ und „rechts“, zwischen Arbeiterbewegung und Bürgertum, ab; zum Beispiel die proletarische Jugendbewegung auf der einen, die bürgerliche Jugendbewegung auf der anderen Seite und entsprechend die proletarische und die bürgerliche „Kinderbewegung“, nämlich die Kinderfreunde- und kommunistische Kinderbewegung sowie auf der
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„Gegenseite“ christliche oder weltanschaulich neutrale Pfadfinder- und andere christliche Gruppierungen. Noch bis zum heutigen Tag wird im Bereich der Erwachsenenbildung in Finnland die traditionelle Namensgebung beibehalten und zwischen der ursprünglich bürgerlichen „Volkshochschule“ („Kansalaisopisto“) und der ursprünglich sozialistischkommunistischen „Hochschule der Arbeiterschaft“ („Työväenopisto“) unterschieden, eine Unterscheidung, deren leidvoller geschichtlicher Hintergrund vielen Bürgern durchaus bewusst ist. Auch in den „Jugendstaaten“ zeigt sich dieser Gegensatz, wo Father Flanagan exemplarisch für die christlich-bürgerliche Variante, Makarenko für die atheistischsozialistische stehen mag.
Fragen, Hinweise 453
Kapitel 16
Reformpädagogik – offene Fragen, Hinweise zum Weiterstudium Dass in einem komplexen Sachverhalt und einer kontroversen Debatte Fragen offen bleiben und offen bleiben müssen, ist eine banale Feststellung. Bleibt aber Reformpädagogik insgesamt eine „offene Frage“? Lässt sie sich überhaupt begrifflich-systematisch fassen, in ihrem Umfang bestimmen, historisch einordnen, hinsichtlich ihres Gehaltes an pädagogischen Motiven und Erkenntnissen werten, in ihren Wirkungen und Nachwirkungen aufweisen? Ich habe versucht, die einzelnen „Stimmen“ dieses „Kanons“ unter eben diesen Aspekten „zum Klingen“ zu bringen in der Überzeugung, dass es möglich ist, die einzelnen Bewegungen, die in der wissenschaftlichen Literatur als der Reformpädagogik zugehörig betrachtet werden, unter diesen Aspekten zu beschreiben und zu analysieren. Dabei ist – um im Bilde zu bleiben – gewiss ein interessanter, auch lehrreicher, aber keineswegs harmonischer Kanon erklungen. Frühe Beobachter der Reformszene sprechen 1911 gar von einem „krause(n) Etwas“1, vom „Utopismus“ extremer Vertreter der Reform und ein Auseinandergehen auch der „gemäßigten Richtungen“, weshalb „eine Einigung unmöglich ist“.2 In der Einleitung zu diesem Buch habe ich auf die Gründe dieser Vielstimmigkeit hingewiesen, und das in der „komplexen Arbeitshypothese zur Reformpädagogik“ skizzierte „Bild“ einer vielgliedrigen und in sich teilweise widersprüchlichen Bewegung konnte im Zuge der Darstellung zu einem bunten „Fries“ ausgearbeitet werden. In Anbetracht ihrer immanenten Widersprüche und der kritischen Reflexe zur Reformpädagogik im allgemeinen sowie zu einzelnen Motiven und Bewegungen im besonderen kann die Reformpädagogik nicht als irgendwie geschlossen oder einheitlich vor- und dargestellt werden. Freilich gab es eine Reihe von Monographen der Neuen Erziehung bzw. der Reformpädagogik, die eben dies sich zur Aufgabe gemacht haben, also deren „Einheit“ herauszustellen oder genauer: reflexiv-literarisch-kompositorisch „herzustellen“. Auf manche Autoren dieser Versuche wurde im Laufe der Darstellung schon hingewiesen3: Ferrière (1921/1928), Hilker (1924), Petersen (1926), Nohl (1926, 1933), Flitner (1928), Scheibe (1969/1978), Röhrs (1980). Hermann Röhrs wagt 1980 erneut diesen Versuch – und scheitert daran. Im Schlusskapitel seiner Monographie – es trägt die Überschrift „Der Ertrag der Reformpädagogik“ – bestimmt er als den „entscheidende(n) Grundgedanken der Reformpädagogik, der ihre Verästelung in die verschiedensten pädagogischen Bereiche zusammenhält“: „das Prinzip der Selbsttätigkeit in der Erziehung“. Nur wenige Zeilen später muss aber auch er zugeben, dass eine „so komplexe Bewegung“ „nicht auf einzelne theoretische Grundformeln zurückführbar ist“.4 Wenn dem so ist, wird sie dann aber auch nicht durch irgendeinen „entscheidenden Grundgedanken“, auch nicht durch den tatsächlich viel strapazierten Begriff der Selbsttätigkeit, „zusammengehalten“; denn das apostrophierte „Selbst“, das in den einzelnen Konzeptionen – man denke etwa an Freinets emanzipatorische Befreiungspädagogik, Montessoris endogene Entwicklungspädagogik, Steiners okkult-kosmologische Entwicklungs- und Eingliederungspädagogik oder an manche politisch-affirmativen Konzepte der Kunsterziehungs- und 1 Rissmann, Robert (1911): Volksschulreform. Herbartianismus – Sozialpädagogik – Persönlichkeitsbildung, Leipzig: Klinkhardt; hier zitiert nach: Andreas von Prondczynsky (1996): Zur historischen Einordnung der Reformpädagogik in der Geschichte der Pädagogik, in: Seyfarth-Stubenrauch und Skiera, Ehrenhard (Hsg.) (1996): Reformpädagogik und Schulreform in Europa, Band 1, Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, S.72 (im Orig. S.66) 2 Hohmann, Ludwig (1911): Die pädagogische Reformbewegung der Gegenwart, Breslau: Ferdinand Hirt, S.121 3 Zum Nachweis der Werke: siehe das Einleitungskapitel zu diesem Buch bzw. das entsprechende Literaturverzeichnis; Hilker, Franz (Hsg.) (1924): Deutsche Schulversuche, Berlin: C.A. Schwetschke & Sohn; zu Flitner (1928) s.u. 4 Röhrs, Hermann (1980): Die Reformpädagogik. Ursprung und Verlauf in Europa. Hannover u.a.O.: Schroedel, S.332f
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Arbeitsschulbewegung – jeweils „in Tätigkeit“ gebracht werden soll, lässt sich in der Summe inhaltlich nicht vermitteln, so dass mit dem Begriff „Selbsttätigkeit“, als entscheidender oder gemeinsamer Grundgedanke konfirmiert, nur noch eine leere Worthülse bleibt. Der Sinn des Begriffs bleibt an die einzelnen Konzeptionen gebunden und muss im Einzelnen entfaltet und ggf. kritisiert werden. Dieser Einwand kann sinngemäß für alle Versuche geltend gemacht werden, Reformpädagogik als einheitliche Bewegung zu charakterisieren. Ich erinnere nur an den frühesten derartigen Versuch, „vom ‚Chaos‘ zur ‚Einheit‘“5 zu gelangen. Rissmann sieht ähnlich wie Jahrzehnte später Röhrs bereits 1911 in der „Wirrnis der mitgeteilten Reformpläne“ einen „Kerngedanke(n) zum Ausdruck“ gebracht. Es ist „die Anerkennung des Rechts der Kindheit auf freie Entwicklung ihrer natürlichen Kräfte“. Unter dieser Perspektive schließt er das „krause Etwas“ zusammen, das da und dort – bei den pädagogischen Kunstfreunden in Hamburg oder im Zirkel des Bremer ‚Roland‘ oder im Kreise der ‚Naturerzieher‘ vor den Toren Berlins oder anderwärts im deutschen Vaterlande, denn überall brodelt es in den Köpfen der jungen pädagogischen Welt – aus der Wirrnis aufsteigt, ...“6 Kann dennoch von der Reformpädagogik gesprochen werden? Ich denke ja. Die Legitimation zum Gebrauch dieses Begriffs kann zum einen im Selbstverständnis ihrer Akteure gesehen werden, von denen einige selbst zur Feder gegriffen und mit der Zusammenstellung zahlreicher pädagogischer Initiativen und Bewegungen einen reformpädagogischen Kanon an Motiven, Initiativen und Bewegungen geschaffen haben. Schon früh wird die literarische Grundlage eines Bewusstseins von Gemeinsamkeit „im Grundsätzlichen“ gebildet – namentlich mit Ferrière (1921/1928), Hilker (1924)7 und Petersen (1926), dann systematisch mit Nohl (1926) und Flitner (1928) in der Perspektive einer sich als autonom verstehenden „geisteswissenschaftlichen Pädagogik“. Letztere lassen sich von einem kulturphilosophischen Begriff der geistigen Weiterentwicklung des Menschen und der Gemeinschaft beflügeln und schmieden nahezu die gesamte „Erziehungswirklichkeit“ unter dieser Prämisse zusammen. – Das Gemeinschaftsbewusstsein muss als solches zunächst einmal Ernst genommen und anerkannt werden, auch wenn der Kritiker nachweisen kann, dass das theoretische und realgeschichtliche Fundament dieses Bewusstseins äußerst fragil ist. Als Hauptmomente des Selbstverständnisses müssen die gemeinsame Kritik gegen die „Alte Schule“ und die „Alte Erziehung“ genannt werden, ferner die damit einhergehende Kritik an der modernen Zivilisation mit ihren (vermeintlichen oder tatsächlich nachweisbaren) Verfalls- und sozialen Krisenerscheinungen. Um diesen gemeinsamen Kern der Negation des Alten und bedrohlichen Neuen schließt sich ein Ring mit gemeinsamen pädagogischen Motiven (Kindorientierung, Selbsttätigkeit, freie Entfaltung u.a.) und Rettungsphantasien (Stichworte: „Neue Menschen“, „Neues“ oder „Werdendes Zeitalter“, „höhere Gemeinschaft“) an, ein Ring, der wegen seiner formalen Leere für unterschiedliche oder gar gegensätzlichen „Füllungen“ offen ist. Der Kommunist Freinet und der christlich-konservative Petersen reichen sich dann die Hand (sie korrespondierten vor und nach der NS-Zeit freundschaftlich miteinander), Petersen lobt die Schulinitiative des Okkultisten Steiner, der Sozialist Nelson lernt vom konservativen Nationalisten Lietz usw. Und alle handeln im Bewusstsein eines letztlich gemeinsamen Wollens – und sie alle mussten auch in diesem Buch einen Platz finden. So kann bei aller Divergenz und Heterogenität im Pädagogischen wie im Politischen ein Bewusstsein von Gemeinsamkeit wachsen, das nun durchaus eine eigentümliche und konkrete Entwicklungsdynamik auszulösen und weiterzutragen imstande ist. Sie alle artikulieren die
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Vgl. A. von Prondczynsky (1996), a.a.O., S.72 Rissmann, zitiert nach A. von Prondczynsky, ebd. 7 Hilker, Franz (1924): Einleitung. Grundriss der neuen Erziehung, in: Hilker, Franz (Hsg.) (1924): Deutsche Schulversuche, Berlin: C.A. Schwetschke & Sohn, S.1ff (Nachweis der übrigen Werke: s.u. und Kapitel 1 des vorliegenden Buches) 6
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Sehnsucht des „Zeitgeistes“ nach einer neuen „Mitte“ im sozialen Chaos, nach Sinn und Ganzheit. Neben dem Selbstverständnis der reformpädagogischen Akteure und Autoren, soweit sie sich zu Wort gemeldet haben, sind dann auch – das ist der zweite Grund meines Festhaltens an dem Sammelbegriff „Reformpädagogik“ – die sozialgeschichtlich nachweisbaren Entwicklungen, vor allem die zum Teil bis heute lebendigen schulpädagogischen Traditionen zu nennen, die mit eben diesem Begriff assoziiert werden. Hier schließt sich ein weiteres gerade heute aktuelles pragmatisch-kommunikatives Argument an, das für den weiteren, nun selbstredend kritischen Gebrauch des Begriffs spricht. Wenn sich im Zuge der demokratischen Entwicklungen im Osten Europas Wissenschaftler und Erzieher bei der Erneuerung des Schulwesens nach 1989 endlich der jahrzehntelang verleugneten oder offiziell verdammten Erziehungstraditionen im eigenen Land vergewissern wollen, die sich vor der kommunistischen Ära unter dem Begriff „Reformpädagogik“, „Neue Erziehung“ oder „Neue Schule“ herausgebildet hatten, und wenn sie dabei zugleich das Gespräch mit den westlichen Ländern suchen, wo diese Traditionen (in den gegebenen Grenzen) sich entfalten konnten, wäre dem Gespräch mit dem Verzicht auf den Begriff „Reformpädagogik“ die Grundlage entzogen.8 Als Folge der ideen-, sozial- und rezeptionsgeschichtlichen Entwicklungen im Umkreis der Reformpädagogik ist zudem auf die pädagogische Diskussion und Begriffsbildung im allgemeinen hinzuweisen. Es gibt kaum einen wichtigen Begriff der Pädagogik, soweit er auf didaktisch-methodische Fragen und Formen bezogen ist, dessen genetische Haupt- oder Nebenlinien nicht auch auf den Diskurs der Reformpädagogik verweisen. Das gilt wegen der Lebendigkeit der „Schulen der Reformpädagogik heute“9 auch für die aktuelle Reformdiskussion. Denken wir etwa an pädagogische Herausforderungen, wie sie unter den Begriffen „Multikulturelle Erziehung“, „Integrative Erziehung“ (von Behinderten und Nichtbehinderten), „Offener Unterricht“, „Erziehung zum Frieden“, „Individualisierung des Unterrichts“, „Lernen mit allen Sinnen“, „Handlungsorientierter Unterricht“ usw. diskutiert werden. – „Reformpädagogik“ ist als Begriff der pädagogischen Historiographie, als Sammelbegriff spezifischer Richtungen der Schulreform, als Begriff zur Beschreibung bestimmter Bereiche des Schulwesens, als Begriff spezifischer methodischer und pädagogischer Handlungsweisen und Vorstellungen unverzichtbar. Vielleicht ist ein historisch und systematisch angemessenerer Begriff möglich. In Sicht ist ein solcher nicht. Freilich bleibt die Reformpädagogik in vieler Hinsicht eine „offene Frage“ und ein Abschluss der kontroversen Debatte ist in der nahen Zukunft nicht zu erwarten. x x x
Wie steht es mit der historischen Rekonstruktion und Einordnung der Reformpädagogik im Ganzen? Welche Initiativen und „Bewegungen“ sind ihr – im Sinne der Konstruktion eines reformpädagogischen Kanons – zuzurechnen? Kann eingedenk der kritischen Reflexe von einem bleibenden bzw. zu tradierenden „Erbe“ der Reformpädagogik gesprochen werden?
Nicht mit dem Anspruch einer abschließenden Beantwortung dieser Fragen – zum Teil liegen in ihnen leitende Gesichtspunkte der vorliegenden Einführung in die Reformpädagogik – son8
Seit Beginn der 1990er Jahre sind in zahlreichen ehemals kommunistischen Ländern eigenständige Monographien zum Thema erschienen, m.W. die erste umfangreichere in Ungarn: Németh, András (1993): A reformpedagógia múltja és jelene, Budapest: Nemzeti Tankönyvkiadó (118 S., 2. überarbeitete und erweiterte Auflage 1996, 167 S.). Vgl. auch: Böttcher, Lothar und Golz, Reinhard (Hsg.) (1995): Reformpädagogik und pädagogische Reformen in Mittel- und Osteuropa, Münster: Lit Verlag 9 Röhrs, Hermann (1986): Die Schulen der Reformpädagogik heute. Handbuch reformpädagogischer Schulideen und Schulwirklichkeit, Düsseldorf: Schwann
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dern im Sinne von Hinweisen zum Weiterstudium will ich darauf zusammenfassend eingehen und dabei einige Aspekte aus der erziehungswissenschaftlichen Diskussion hervorheben.
1 Zur Rekonstruktion der Geschichte der Reformpädagogik – vom „Chaos“ über die „Einheit“ zur Vielfalt Schon bald nach dem ersten Versuch einer kritischen Würdigung der „Prinzipien“ der Reformpädagogik durch Regener 191010 legt Hohmann 1911 eine umfangreiche Studie mit dem Titel vor „Die pädagogische Reformbewegung der Gegenwart“. Das ist m.W. der erste umfassende Versuch einer Darstellung und Kritik nicht nur der Prinzipien sondern auch der einzelnen Richtungen mit ihrer „Einwirkung“ auf „Lehr- und Stundenplan, auf Erziehung und Unterricht“. Diese Schrift kann als der Prototyp aller Monographien zur Reformpädagogik angesehen werden. Hohmann stellt einen umfassenden Kanon an Reformbewegungen und Reformmotiven zusammen, dessen Stimmen auch in den späteren, dann entsprechend erweiterten Zusammenstellungen wieder zu finden sind. Er warnt eindrücklich vor den „Extreme(n) Vertreter(n) der Schulreform“ (u.a. Paul Förster, Ludwig Gurlitt, Ellen Key), deren Anliegen er gleichwohl sachlich diskutiert. Ausführlich werden die „kunstpädagogische Bewegung“ und „das Arbeitsprinzip in unseren Schulen“ erörtert. In diesem Zusammenhang wird auch auf ausländische Vorbilder und Einflüsse verwiesen (Ruskin und Morris für die Kunsterziehung und Dewey für die Arbeitsschule). Mit den Themen „Persönlichkeitspädagogik“, „Vom Rechte des Kindes“, „Freiheitspädagogik“, „Selbstregierung der Schüler“, „Strafarbeiten“, „gemeinsame Erziehung der Knaben und Mädchen“ behandelt Hohmann zentrale Anliegen aus dem Umkreis der Reformbewegung. Er nimmt dazu der Intention nach mit dem realistischen Blick des Erziehers Stellung, der das „Gute aus den neuzeitlichen Ideen mit den überkommenen Kulturwerten verschmelzen“ will, dabei aber „stets mit den gegebenen sozialen Zuständen“ rechnet. Dieser „ernste(n) Aufgabe“ gilt sein kritisches Bemühen.11 In der „an sich erfreulichen Bewegung“ sieht Hohmann einen „Grundmangel“, der darin bestehe, „dass die Beurteiler das Ganze der Erziehung aus dem Auge verlieren und die eine oder andere Richtung zu stark betonen.“ Auf diese Einseitigkeiten führe „das heutige Chaos auf pädagogischem Gebiete zurück.“12 Anders als die späteren Architekten einer reformpädagogischen Einheit bleibt Hohmann nach Durchsicht der neuen Bestrebungen bei dem nüchternen Befund ihrer inkommensurablen Vielfalt, die auch noch bei den „gemäßigten Richtungen“ bestehe: „In ihren grundlegenden Prinzipien, in den vorgeschlagenen Mitteln und Wegen zur Erreichung des Erziehungszieles gehen auch die gemäßigten Richtungen so weit auseinander, weshalb eine Einigung unmöglich ist.“13 Etwa 15 Jahre später, nachdem sich die pädagogische Reformbewegung in der Weimarer Republik14 weiter verzweigt hatte und neue Richtungen hinzugetreten sind, sich mithin die Gründe der Vielfalt noch vermehrt haben, wird genau dies – die Einigung des Disparaten – zum wissenschaftlichen Programm erhoben. Der eigentliche Initiator dieses Programms ist 10
Regener, Fr. (1910): Die Prinzipien der Reformpädagogik, Berlin: Gerdes & Hödel (Vgl. auch die ausführliche Würdigung Regeners im Einleitungskapitel.) Hohmann (1911), a.a.O., S.5. NB: Lietz kommt bei Hohmann nur am Rande zur Sprache. Vermutlich sind erst mit dem Freideutschen Jugendtag auf dem Hohen Meißner 1913 und dem Einfluss Wynekens in der Jugendbewegung die Landerziehungsheime einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden. Die wichtigsten schulpädagogischen Gesamtkonzeptionen, die später zur Reformpädagogik hinzugerechnet werden, waren zur Zeit der Abfassung des Buches in Deutschland noch kaum bekannt – wie Montessori – oder noch nicht entwickelt – wie die meisten übrigen. 12 Hohmann, a.a.O., S.6 13 Ebd., S.121 14 Siehe dazu auch Anm. 29 unten: Amlung, Ullrich u.a. (Hsg.) (1993) 11
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Herman Nohl, einer der bedeutendsten Repräsentanten der „Geisteswissenschaftlichen Pädagogik“. Im Jahre 1926 veröffentlicht er in der neu gegründeten und von ihm mitherausgegebenen Zeitschrift „Die Erziehung. Monatsschrift für den Zusammenhang von Kultur und Erziehung in Wissenschaft und Leben“ den Beitrag „Die Einheit der pädagogischen Bewegung“.15 Nohl leuchtet „mit dem Lichte der Autonomie der Pädagogik in diesen Tumult“ der Reformbewegungen hinein und wird einer alles, das heißt Klassen- und Bildungsunterschiede versöhnenden Einheit in der Vielfalt gewahr, die sich dem enthüllt, der den Blick „von außen“ transzendiert und zum gemeinsamen inneren Kern vordringt. „Wer unsre pädagogische Revolution von außen ansieht, für den zerfällt sie in lauter einzelne Bewegungen für Kunsterziehung, Arbeitsschule, Einheitsschule, Schulgemeinde, Lehrerbildung, Universitätsreform usw. Ja jede einzelne dieser Bewegungen selbst ist noch umstritten und zerspalten, z.B. die Arbeitsschule. Und doch kann man von vornherein sagen: handelt es sich bei dem allen überhaupt um etwas Wahres und Lebendiges, dann muss eine letzte Einheit dasein, aus der es seinen besten Sinn und seine Lebenskraft bezieht: die Einheit eines neuen Ideals vom deutschen Menschen und von einer höhren geistigen Volkskultur.“ Und nach einem knappen Durchgang durch Jugend- und Volkshochschulbewegung, wird, weil sich ereignen muss, was als geschichtlich notwendig (als „muss“ – Nohl) erkannt wurde, die große Einheit geschmiedet. Sie lasse sich atmosphärisch überall, in den Volkshochschulgemeinden, bei den „Nestabenden“ der Jugendbewegten usw. „hier wie dort“ ausmachen. „... und der Sinn ist derselbe: der Wille zu einem neuen Menschentum in einer neuen Gemeinschaft, zu einem starken Volkstum jenseits der sozialen Trennungen, und ein Verlangen nach einem geistigen Leben ohne den Apparat der Gelehrsamkeit.“ Und nun erfolgt eine ungeheure Aufweitung des Kanons an pädagogischen Bewegungen, der jetzt weit über die Schule hinausreicht und alles umfasst, was irgendwie mit Erziehung zu tun hat. Der Nohlsche Kanon von 1926 spiegelt etwas von der tatsächlichen Ausweitung der Pädagogik in verschiedene Bereiche der modernen Gesellschaft (Stichwort: Sozialstaat) wider. Die Vielfalt in den Blick zu nehmen unter der Perspektive ihrer „geistigen“ Einheit bestimmt fortan für Jahrzehnte den Ehrgeiz zahlreicher Forscher in der Tradition der „Geisteswissenschaftlichen Pädagogik“ – bis hin zu Arbeiten der 1980er und 90er Jahre. Zugleich steckt Nohl ein weites Terrain ab, das wissenschaftlich zu bearbeiten die Geisteswissenschaftliche Pädagogik sich selbst zurechnet – als einer Wissenschaft von der Erziehung, die nunmehr zwar als „autonom“ deklariert wird, sich zugleich aber in die historische Pflicht des Dienstes an der Erziehung vom Säugling bis zum Greis nimmt, und zwar im Sinne des großen, im Wesen der Geschichte selbst liegenden Ziels der Schaffung einer „neuen Gemeinschaft“ und eines „neuen Menschentums“: „Aus diesem Ideal heraus organisieren sich die pädagogischen Bünde und Gemeinschaften, die das beste und zukunftstärkste Leben des gegenwärtigen Deutschland ausmachen, allmählich jeden einzelnen ergreifend und das ganze Leben durchwaltend. Immer deutlicher erkennt auch die Theorie der Pädagogik, die bisher nur Schulpädagogik war, die riesige Ausdehnung ihres Arbeitsfeldes, beginnend mit der Säuglingsfürsorge und Müttererziehung über Kindergarten, Horte und Warteschulen zu dem großen Schulsystem in allen seinen Verzweigungen als einer großen Einheit, zu Jugendpflege als Pädagogik der Schulentlassenen, Fürsorgeerziehung und Gefangenenerziehung, die auch die anormale, die physisch oder moralisch kranke Jugend aufnimmt, und endlich zu Universität, Volkshochschule und Elternschule, die die Erwachsenen noch erfassen und den pädagogischen Geist in jede Familie und alle Organisationen beruflichen Lebens tragen wollen. Auf dieser Arbeit ruht die Zukunft des deutschen Volkes, an der mitzuarbeiten Glück und Verantwortung jedes deutschen Erziehers ist.“ Nohls Einheitsdenken trägt unübersehbar zugleich die Züge einer bürgerlich-konservativen Gesellschafts- respektive Befriedungspolitik. Die „Einheitsschule“ und die „Arbeits15
Nohl, Herman (1926): Die Einheit der Pädagogischen Bewegung, in: Die Erziehung, Jahrgang 1/1926, Leipzig: Quelle & Meyer, S.57-61. Alle folgenden Zitate daraus im Text: siehe ebd.
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schule“, die Jugend- und Volkshochschulbewegung werden in den Kreis der – Nohl allein interessierenden – „rein pädagogischen Bewegungen“ aufgenommen. Die auf die Emanzipation der Arbeiterklasse und eine sozio-kulturelle Egalisierung der Gesellschaft insgesamt gerichteten Bestrebungen der sozialistisch-kommunistischen Fraktionen jener Bewegungen können so im Horizont eines alles überwölbenden Einheitsideals vereinnahmt und politisch neutralisiert werden. „Jede einzelne dieser Bewegungen“ ist zwar „noch umstritten und zerspalten“16, aber diese Divergenzen werden im „Licht der Autonomie der Pädagogik“ und durch die vereinigende Kraft des „rein pädagogischen“ Wollens zum einen großen Ideal hin bald überwunden sein. Nach Nohls Vorarbeit konnte ein erster Versuch zur historischen Rekonstruktion der Reformpädagogik als einer übergreifenden, in Phasen verlaufenden pädagogischen Bewegung gewagt werden. Wilhelm Flitner17 arbeitet 1928 ein System von „drei Phasen der pädagogischen Reformbewegung“ heraus. Sein Drei-Phasen-Modell ist allerdings in sich abgeschlossen, also im Prinzip a-historisch, und lässt – wie sich noch zeigen wird – eine Fortschreibung eigentlich nicht zu. „Die pädagogische Bewegung, die seit den 1890er Jahren in Deutschland sich regte, hat etwa diesen Entwicklungsgang genommen: in einer ersten Phase sind von verschiedenen Ansatzpunkten aus Einzelreformen in unserem Erziehungswesen gefordert worden, und einzelne Pädagogen sind aufgetreten, die von bestimmten Erfahrungen, bestimmten Deutungen der Gegenwartslage aus eine Theorie und ein praktisches Reformsystem entwickelt haben, das sie dann auch eigenwillig gestaltet haben. Untereinander hatten die Reformen keinen unmittelbaren Zusammenhang, und einer hat den Ansatzpunkt des anderen kritisiert.“ Flitner nimmt die verschiedenen Strömungen und Initiativen in den Blick: Kunsterziehungs- und Arbeitsschulbewegung, die Landerziehungsheime (Lietz und Wyneken), Wandervogel (er verfolge „beinahe geheim und isoliert den Weg der Selbstbildung der Jugend ...“), Berthold Ottos Idee eines „organischen, volksmässigen“ Aufbaus der Schule, ferner „weitere einseitig bestimmte Richtungen“ als da sind: die „Individualpsychologie, das Montessorisystem, die einzelnen Gymnastikschulen“. Als Kennzeichen dieser ersten Phase sieht Flitner Einzelkämpfertum, gegenseitiges Bekämpfen oder Ignorieren. In eine zweite Phase tritt die Reformbewegung dann kurz vor dem Ersten Weltkrieg 1914 ein. (Vermutlich denkt Flitner an den Freideutschen Jugendtag im Oktober 1913.) Nun breche „die Überzeugung durch, dass die Erziehungsreform total ist: sie muss sich auf alle Mittel und Formen der Erziehungsarbeit erstrecken. ... Die Selbstbildung zu einem neuen Menschentum und die Lebensreform, mit der man bei sich selber beginnen muss, werden das wichtigste.“ Die Einzelreformen werden in weiten Kreisen bekannt und in ihrer Berechtigung anerkannt. „Auf dieser Stufe haben verschiedenartige Bünde der Jugendbewegung, sozial, beruflich, konfessionell und politisch getrennte Gruppen in der Erziehungsarbeit kooperieren können; ebenso verschiedene Gruppen in der freien Volksbildungsarbeit.“ Wie Nohl und andere vor und nach ihm postuliert auch Flitner eine „innere Einheit“ in den „vielfältigen Formen unseres Bildungswesens“. Bei ihm ist – wie bei Nohl – die Einheit im Begriff der Gemeinschaft beschlossen: „die alte Erziehung ... erzog ... zu bloss gesellschaftlichen Zwecken und durch gesellschaftliche Mittel und Formen; die erneuerte Erziehung soll zur Gemeinschaft erziehen ...“ Sie sei „Mittel, Weg und Ziel zugleich“. Die Programme dieser Phase haben sich aber mit „utopische(n) Forderungen verbunden“, deren Unmöglichkeit sich bald erweisen sollte. Das habe eine „dritte Phase der pädagogischen Bewegung hervorgetrieben, die seit 1924 deutlich sichtbar geworden ist.“ Es ist die Phase einer umfassenden Kritik an „jenen Gesamt16
Hervorhebung von mir. Flitner, Wilhelm (1928): Die drei Phasen der pädagogischen Reformbewegung, in: Neue Jahrbücher, Jg. 1928, Heft 2, S.242-249 (hier zitiert nach dem Wiederabdruck in: Flitner, Wilhelm (o.J.): Theorie des pädagogischen Weges und der Methode, Weinheim: Julius Beltz, S.56-66. Alle folgenden Zitate zu Flitner: ebd.) 17
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programmen“. Sie werde „von den Anhängern der Reformbewegung selber geäussert“. Es kommen aber auch wieder „die Feinde der gesamten Reformbewegung“ zu Wort, womit sich Flitner als einen Freund der Reformpädagogik ausweist, und zwar als einen väterlichen, der sich, zusammen mit seinen Kollegen von der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik, zur Klärung der Sachverhalte berufen fühlt. „Alles warnt vor der Übertreibung einzelner Prinzipien der Reformbewegung.“ Eine herausragende Bedeutung in der Phase reformpädagogischer Selbstkritik komme nun der „Erziehungswissenschaft als Geisteswissenschaft“ zu. Sie gewinne „wieder praktische Bedeutung“. „Sie muss die Besinnung leiten und Überlegenheit über die Lage zu gewinnen versuchen. Denn freilich besteht eine Neigung in solchen Lagen, die Kritik wieder so radikal zu führen, dass der berechtigte Kern der Reformpädagogik mit von ihr vernichtet wird.“
Wilhelm Flitner nennt zahlreiche Angriffspunkte der Kritik an der Reformpädagogik seiner Zeit und nimmt in einer vermittelnden Weise im Sinne der Wahrung ihres „berechtigte(n) Kerns“ und der Auffindung der „Wahrheit“ dazu Stellung: x
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die Kritik an den utopistischen, auf eine radikale Erneuerung der Gesellschaft gerichteten Züge der Reformpädagogik; diese Kritik verfalle leicht „in den entgegengesetzten Irrtum“, nämlich „die Erziehung für durch und durch heteronom und für geistig wie gesellschaftlich machtlos zu erklären“; die Kritik an den „weltanschaulichen Grundlagen der Reformpädagogik“, die „wie das gesamte kulturelle Schaffen um die Jahrhundertwende (gemeint ist die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert – E.S.) auf dem Boden einer mystisch-pantheistischen Religiosität und ihrer Spielarten bis hinüber zum Naturalismus“ reiche; die Kritik (von kulturphilosophischer und -pädagogischer sowie theologischer Seite) habe dazu geführt, dass „die Reformpädagogik ... sich ... teilweise schon von der Bindung an die religiöse Grundlage der ersten Phase“ frei gemacht habe; die Kritik an den „psychologischen Grundlagen“, insbesondere an den Übertreibungen im Zusammenhang mit der Rede von den „schöpferischen Kräften des Kindes“; damit zusammenhängend die Kritik am Gedanken spontaner Selbsterziehung, der in der zweiten Phase dazu geführt habe, „die Zurückhaltung des Erziehers aufs Äusserste zu treiben“; die Kritik an einer Überforderung des Jugendlichen durch das „Prinzip der Selbstverwaltung“. Flitner: „Die Jugend will Zonen des Schutzes haben und Zonen, in denen sie nicht verantwortlich ist und nicht selbst ordnen und befehlen, sondern nur gehorchen muss.“ die Kritik am Gemeinschaftsdenken, das die „gesellschaftliche(n) Verhältnisse“ und das Prinzip der Sachlichkeit nur unzureichend in den Blick nimmt. Gleichwohl beharrt Flitner auf dem Gemeinschaftsgedanken: „Die Wahrheit ist aber auch hier, dass alles erzieherische Wirken heute von gesellschaftlichen Aufgaben ausgeht und diese auch bewältigen muss, dass aber gerade auch im Gesellschaftlichen ein gläubiges Wirken seinen Raum findet, das auf gemeinschaftliche Lebensformen drängt.“ (Hervorhebungen von mir.)
Kurzgefasst lässt sich Flitners Versuch einer historischen Rekonstruktion der (deutschen) Reformpädagogik so zusammenfassen: auf eine erste Phase individuellen und isolierten pädagogischen Wollens und Handelns folgt eine zweite, in der die Akteure im Gedanken der Gemeinschaft ihren gemeinsamen Grund entdecken. Alle werden dann in einer dritten, nämlich der Klärungsphase in die kritische Zucht der „Geisteswissenschaftlichen Pädagogik“ genommen, die „die Besinnung“ leitet und so „Überlegenheit über die Lage“ gewinnt. So tritt das
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gemeinsame Gute oder der gemeinsame Geist aus der Latenz (Individualismus der 1. Phase) über das kollektive Bewußtsein prinzipieller Gemeinsamkeit im Wollen (Gemeinschaftsgedanke in der 2. Phase) vor den Richterstuhl des Geistes oder der Kritik (3. Phase). In der letzten Phase ist der Geist des Neuen also zu sich selbst gekommen. Die „praktische Bedeutung“ der „Erziehungswissenschaft als Geisteswissenschaft“ liegt im Blick auf zukünftiges Handeln darin, die „Wahrheit“ festzustellen. Diese literarisch-geschichtsphilosophische Komposition hält einem kritischen Blick freilich kaum stand. In der ersten Phase ist mehr Zusammenhang (man denke an die großen Kongresse und die vielen pädagogischen Fachzeitschriften), in der zweiten weniger Zusammenhang als Flitner annimmt. Ähnlich wie andere Versuche, die divergenten Strömungen der Reformpädagogik etwa im Prinzip der natürlichen Kräfteentfaltung des Kindes (Rissmann) oder der Selbsttätigkeit zusammenzubinden (Röhrs), kann auch der Einigungsversuch mittels „Gemeinschaft“ nicht gelingen, weil das „gläubige Wirken“ „... sozial, beruflich, konfessionell und politisch getrennte(r) Gruppen“ (s.o.) – man denke zum Beispiel an den revolutionär gesinnten Kommunisten und den pazifistisch eingestellten Christen oder Demokraten – nun einmal durchaus verschieden ausfällt. Auch die Kennzeichnung der 3. Phase muss hinterfragt werden. Zwar wird in den zwanziger Jahren tatsächlich vermehrt Kritik geübt. Ob und wie sie in die Praxis wirkt, also die Frage nach ihrer von Flitner beschworenen „praktische(n) Bedeutung“ – eine Antwort darauf könnte erst die Rede von einer eigenen 3. Phase legitimieren – bleibt aber durchaus unklar. Flitner ignoriert zudem schlicht die Versuche Regeners aus dem Jahre 1910 und Hohmanns aus dem Jahre 1911 (s.o.), die bereits fast alle Ansatzpunkte der Kritik nennen, die Flitner für die Jahre nach 1924 heraushebt. Die „Phase“ der Klärung und Kritik wäre also früher anzusetzen. Auch sind in den zwanziger Jahren eine Reihe profilierter Kritiker (Buber, Plessner, Bernfeld u.a.) aufgetreten, die nicht der „Erziehungswissenschaft als Geisteswissenschaft“ angehören, der Flitner doch das kritische Wächteramt zugesprochen hatte. Welche praktischen Auswirkungen die Kritik auf die Reformerschaft hatte, inwieweit also die 3. Phase einen Anhalt in der Erziehungswirklichkeit findet, bleibt weitgehend ungeklärt. Es ist nicht auszuschließen, dass sie manchen Enthusiasten zur „Besinnung“ gebracht hat. Mancher ist auch aus eigener Erfahrung und Einsicht zu einem selbstkritischen Urteil gelangt (Kurt Zeidler: Die Wiederentdeckung der Grenze, Jena 1926). Es ist aber m.W. bisher kein Fall beschrieben worden, in dem auf Grund nachvollziehbarer kritischer Einwände eine reformpädagogische Schul- oder Unterrichtskonzeption eine wesentliche Änderung erfahren hätte. Die klassischen Reformbewegungen jedenfalls (Landerziehungsheim-, Montessori-, Waldorf-, Daltonplan-, Jenaplan-, wenig später die Freinetbewegung) haben eigene Modi der Propagierung, Konzeptualisierung, Praxisgestaltung, der kommunikativen Selbstvergewisserung und teilweise auch der Lehrer(fort)bildung gefunden, die sie recht unempfindlich gegen Kritik werden ließen. Das gilt zum Teil bis heute, wenn auch in je unterschiedlichem Grade. Die 3. Phase als eine solche der Kritik, die nach Flitner von den utopistischen Zügen der „Gesamtprogramme“ „hervorgetrieben“ wurde, verbleibt im Wesentlichen bei sich selbst, das heißt im Diskursraum der Wissenschaft und ihre „praktische Bedeutung“ ist dementsprechend vermutlich gering. All diese Bewegungen haben ihre je eigene Geschichte, die jeweils – auch im Sinne von Phasen – rekonstruierbar ist. Das ist möglich, weil sich ihre Verlautbarungen und Aktionen unter dem Banner einer Gründergestalt oder eines gemeinsamen pädagogischen Programmes relativ eindeutig identifizieren lassen. Trotz eines gewissen inhaltlichen und kommunikativen Zusammenhanges untereinander – kulturkritisches Fundament, Schulkritik, Übereinstimmung in einigen formalen pädagogischen Prinzipien respektive gemeinsame Zeitschriften, Vereine und Kongresse – lassen sich diese Einzelgeschichten aber in ihrer Summe nur schwer auf einen erziehungsgeschichtlichen Gesamtnenner bringen, und zwar u.a. deshalb, weil ihnen ein
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substanzieller pädagogischer Gesamtnenner fehlt. Dieser kann nur in einer gezielt auf Einigung bedachten Selektion und Interpretation gefunden werden, die sowohl die reale Erziehungsgeschichte mit ihren letztlich unaufhebbaren Differenzen als auch die gravierenden Differenzen zwischen den einzelnen pädagogischen Konzeptionen außen vor lässt oder rhetorisch minimiert. Flitners Phasenkonzeption hat selbst „Geschichte“ gemacht und andere Autoren zu Fortschreibungen inspiriert, zuletzt Hermann Röhrs (1986). Er nimmt auf Flitners Dreiphasenmodell Bezug und erweitert es im Horizont neuerer und unter Einschluss internationaler Entwicklungen um weitere drei Phasen.18 Die vierte Phase beginne in den faschistisch gewordenen Ländern „um 1934“ und „in der übrigen Welt zu Beginn des Zweiten Weltkrieges“. Die Reformpädagogik habe in dieser Phase insgesamt – aus unterschiedlichen Gründen – sowohl in Europa (Faschismus) wie auch in Amerika (massive Kritik an Dewey und an den Zielen der „Progressive Education“) erheblich an Einfluss verloren. Ausführlich geht Röhrs auf die Zeit des Nationalsozialismus ein. Unter Beachtung zahlreicher persönlicher Einzelschicksale (von NS-Gegnern und Opfern, Pädagogen und Pädagoginnen der inneren und äußeren Emigration, aber auch der Anpassungsbereiten: „Taktieren“, „Paktieren“) und der Entwicklung einzelner reformpädagogischer Schulen (die sich mit wenigen Ausnahmen meist nicht über die Zeit der Diktatur retten konnten) tritt Röhrs dem Vorwurf entgegen, dass die Reformpädagogik präfaschistische Züge trage.19 Eine fünfte Phase beschreibt Röhrs für den amerikanischen und englischen Raum, in dem er für die sechziger Jahre u.a. mit der Dewey-Renaissance, der Gründung von „Free“ und „Open Schools“ sowie von „Comprehensive Schools“ (Gesamtschulen) und mit der Wiederentdeckung von Neills radikal-freiheitlicher Schule „Summerhill“ ein Wiederaufleben reformpädagogischer Tendenzen sieht, die sich allerdings in relativer Unabhängigkeit von der „ersten Reformpädagogik“ gebildet hätten. (Die Entwicklung in den ersten beiden Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland beleuchtet Röhrs in diesem Zusammenhang nicht näher. Hier wäre auf die Versuche einer Anknüpfung an die Reformpädagogik der Weimarer Zeit zu erinnern.20) Als sechste Phase beschreibt Röhrs die Entwicklungen in den siebziger Jahren in Deutschland, wobei seine Diktion eine gewisse Unsicherheit im Urteil verrät. (Da eine fünfte Phase für Deutschland nicht konzipiert ist, wird auch nicht deutlich, wie der Anschluss an die vierte Phase zu denken ist.) „Die Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland korrespondiert – wenn auch meist zeitversetzt – mit den Initiativen in den angelsächsischen Ländern, insbesondere in den USA. Diese pädagogische Wechselwirkung trifft zu für den Beginn der Gesamtschulbewegung, sowie für die Gründung der Alternativschulen, die wohl insgesamt seit 1970 eine sechste Phase der Reformbewegung markieren.“ Zur besseren Übersichtlichkeit seiner an Flitner anschließenden Phasierung schlägt Röhrs noch eine Reduzierung bzw. Zusammenfassung der Phasen in zwei Perioden – 1 bis 4 sowie 5 und 6 – vor, ohne allerdings einen Einteilungsgesichtspunkt zu nennen. Die von Röhrs vorgenommene Fortschreibung hat ihre eigene Problematik. Sie liegt vor allem darin, dass sie nur formal an Flitners Phasenkonzept anschließt, seine innere Logik aber ignoriert. Diese liegt darin, dass ihr ein (kultur)philosophisches Entwicklungskriterium zugrunde liegt (Entwicklung eines neuen Menschentums in einer neuen Gemeinschaft), das nicht in der Weise fortgeschrieben werden kann, indem auf neuere Entwicklungen verwiesen wird. Durch 18
Röhrs, Hermann (1986): Die Schulen der Reformpädagogik – Glieder einer kontinuierlichen Bewegung, in: Ders. (Hsg) (1986), S.13-63. Alle folgenden Zitate im Haupttext: vgl. ebd. 19 Kunert, Hubertus (1973): Deutsche Reformpädagogik und Faschismus, Hannover u.a.O.: Hermann Schroedel 20 Siehe: Chiout, Herbert (1955): Schulversuche in der Bundesrepublik Deutschland. Neue Wege und Inhalte in der Volksschule, Dortmund: W. Crüwell
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die drei Phasen der „pädagogischen Bewegung“ – latente (1.), bewusste (2.) und kritischreflektierte geistige Einheit in der Vielfalt (3. Phase) – wird eine in sich abgeschlossene und auch nicht zu überbietende oder zu überschreitende Entwicklung beschrieben. Der Reformgeist ist nämlich in Phase 3 zu seinem kritischen Selbstbewusstsein gelangt, das sich von den Übertreibungen und Irrtümern der Reformwelt im Horizont der pädagogischen „Wahrheit“ distanziert und nun segensreich in die Reformpraxis zurückwirkt. Dass es sich bei den „drei Phasen“ im Grunde um ein Gebilde handelt, das als in sich abgeschlossenes Ganzes gedacht ist – darauf weist Flitner schon im ersten Satz seiner Abhandlung mit Nachdruck hin: „Die pädagogische Bewegung der letzten Jahrzehnte kann heute geschichtlich verstanden und beinahe als ein geschlossenes Ganzes dargestellt werden.“ Eine Phase 4 im Anschluss an Fitner könnte nur als Verlängerung und geschichtliche Bewährung der Phase 3 beschrieben werden, nämlich indem der Nachweis der praktischen Wirksamkeit und einer immer weiter um sich greifenden fruchtbaren Theorie-Praxis-Korrespondenz im Geschäft reformpädagogischen Bemühens geführt werden könnte. Alles andere wäre nicht Entwicklung, sondern Rückschritt. Tatsächlich charakterisiert Röhrs seine Phase 4 als eine solche des abnehmenden Einflusses der Reformpädagogik. Sie hat also nichts mit Flitners Konzept zu tun. Sofern die Konstruktion weiterer Phasen mit einzelnen Entwicklungen in der Wirklichkeit begründet wird, wiederholt sie im Grunde Flitners Schema, verbleibt aber in dessen Phase 1, weil nur – möglicherweise zu Recht – ein reformpädagogischer Zusammenhang postuliert, Flitners Entwicklungskriterium aber nicht angewandt und auch ein neues nicht angegeben wird. Hinzu kommt die Schwierigkeit, in der von Röhrs verteidigten Perspektive auf die ganze Welt nationalspezifische Differenzen (sie sind durchaus nicht unerheblich!) wahrzunehmen. So kann dann eine Phase (die 4.) im faschistisch gewordenen Europa und im demokratischen Amerika als im Ergebnis ähnlich beschrieben werden, und eine fünfte spielt sich überhaupt nur in Amerika und England ab, erscheint dann aber „zeitversetzt“ nach einer „Pädagogische(n) Wechselwirkung“ als sechste in Deutschland. Flitners Phasenmodell wie auch Röhrs Fortschreibung ist zudem nur selektiv, nämlich im Horizont von mehr oder weniger klar definierten pädagogischen Anliegen oder Grundgedanken auf die Erziehungswirklichkeit als einer sozialen Wirklichkeit bezogen. Diesem pädagogisch gewiss außerordentlich interessanten Ausschnitt der Wirklichkeit, dem sich die Autoren affirmativ verbunden fühlen, wird dann der Status einer herausragenden erziehungsgeschichtlichen Bedeutung und Dignität zugesprochen. Trotz nachweisbarer „Erfolge“ und Einflüsse im Bereich der Schul- und Erziehungswelt sowie der Bildungspolitik ist es aber nicht möglich, eine verlässliche Auskunft über das Ausmaß der Wirkungen reformpädagogischer Initiativen auf das Erziehungswesen insgesamt zu geben. Der Nachweis eines fundamental prägenden Einflusses auf das Entwicklungsgeschehen wäre aber die Voraussetzung für die Rede von einer historischen Epoche der Reformpädagogik im Sinne eines spezifischen sozial- und erziehungsgeschichtlich relevanten Entwicklungszeitraumes. Dieser Nachweis ist bisher nicht gelungen. Reformpädagogik als Epoche gedacht verdankt sich einer erziehungsgeschichtlichen bzw. sozialisatorischen Nebenströmung, die mit rhetorischen und diskursiven Mitteln zu einer Hauptströmung aufgewertet sowie mit zahlreichen pädagogisch oft überzeugenden Praxisbeispielen illustriert wird, während in der „wirklichen Wirklichkeit“, in der Breite der sozialen Welt der Erziehung, der „Pauker“ ungeachtet aller reformpädagogischen Appelle mit den Mitteln der „Alten Erziehung“ seiner gesellschaftlichen Funktion nachkommt: die nachwachsende Generation zu qualifizieren, sie bereits in der Schule nach „Gütekriterien“ zu selektieren und so ein Fundament zu legen für die Legitimation von Herrschaft in der Gesellschaft.21 Und: auch eine reformpädagogisch durchwirkte Erziehung kann sich von ihrer gesellschaftlichen Funktion nicht distanzieren, bestenfalls den darin beschlossenen Widerspruch zur eigenen Programmatik verschleiern oder in seiner subjektiven Härte mindern. 21
Vgl. Fend, Helmut (1981): Theorie der Schule, München: Urban und Schwarzenberg
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Reformpädagogik lässt sich offenbar nicht als eigenständige Epoche der Erziehungsgeschichte begründen, wohl aber als ein vielstimmiger, recht lose miteinander verbundener pädagogischer Diskurs und als eine gewisse Anzahl darauf bezogener Praxisfelder in der „Erziehungswirklichkeit“ („Bewegungen“). Röhrs schreibt, ebenso wie Flitner, Nohl und andere Autoren aus dem Kreis der Freunde und Verteidiger der Reformpädagogik, in der Haltung des Wissenschaftlers, der den unverzichtbaren „Kernbestand“, gleichsam die pädagogische Wahrheit der Reformpädagogik herausarbeiten und tradieren, das heißt ins öffentliche Bewusstsein heben will. Ferrière ruft im Nachwort zur deutschen Ausgabe seines Buches „Ecole Active“ seinen Lesern zu: „Leser, sei unser Mitarbeiter! Wenn du diese Seiten gelesen hast, kannst du nicht anders, als auch ein Arbeiter an einer besseren und glücklicheren Menschheit zu werden. – Sommer 1926. Adolphe Ferrière.“22 Ähnlich auch Röhrs 1986: „Modellbildung und Beispielgebung“ für die neuere Bildungsgeschichte, „Schärfung des pädagogischen Bewusstseins“ – darin vor allem sieht er die Funktion der „traditionellen Reformpädagogik“ bzw. den Zweck der Befassung mit ihr. Die Reformpädagogik im Ganzen erscheint dann als respektable Erfolgsgeschichte und ihre Vertreter als Vorkämpfer einer humanen Erziehung, die beispielgebend oder wenigsten anregend auf zukünftige Lehrer- und Reformergenerationen wirken. Alles Disparate und Ambivalente, Widersprüchliche und Irrationale erscheint vor diesem großen Ziel als Marginalie – und die Erinnerung an die irritierenden Seiten der Reformpädagogik kann als tendenziös-einseitig desavouiert werden. Andreas von Prondczynsky hat auf die Grenzen der Möglichkeit historischer Erkenntnisgewinnung in pragmatischer Absicht hingewiesen.23 In einer eingehenden Untersuchung arbeitet er heraus, dass die – im übrigen durchaus als legitim erachtete – pragmatische Perspektive zur Gewinnung methodisch-didaktischen Handlungswissens die Wahrnehmung so weitgehend einengt, dass ein Wissen über und Verstehen von realen geschichtlichen Prozessen nicht mehr recht möglich ist. Und man muss hinzufügen: auch eine kritische erziehungstheoretische Erschließung der Konzeptionen und Programme wird unter der Zielstellung pragmatischer Zwecke erschwert. Denn der pragmatisch orientierte Wissenschaftler oder Pädagoge kommt oftmals nicht umhin, das Disparate im Blick auf die „eigentliche“ Wahrheit entweder von vorn herein abzusondern, oder – wo das auf Grund eigener Einsicht oder kritischer Stimmen nicht (mehr) möglich erscheint – als weniger bedeutsam zu deklarieren. Dem Bemühen um diskursive Reinigung, um Relativierung des Disparaten und der irritierenden historischen und theoretischen Momente der Reformpädagogik, sind zahlreiche pädagogische Schriften aus dem Lager der reformpädagogischen „Freunde“ geschuldet. Als Ergebnis dieser Bemühung ist es zum Beispiel dann noch immer möglich, die Landerziehungsheime als herausragende Beispiele einer pädagogischen Lebensgemeinschaft und als „maßstabbildend“ (Röhrs) vorzustellen – ungeachtet der Tatsache, dass Lietz mit seiner nationalistischen Begeisterung im Ersten Weltkrieg und ebenso Andreesen im Zweiten Weltkrieg zahlreiche Schüler für den militärischen „Dienst am Vaterland“ gewinnen konnte, in dessen Vollzug hunderte Ehemalige ihr Leben ließen.24 Das veranlasst Röhrs u.a. zu folgender Bemerkung: „Der einseitige Kurs der Landerziehungsheime unter Andreesen (in der NS-Zeit – E.S.) erlaubt keine Kaschierung; er muss vielmehr gesehen und kritisiert werden, um um so bewusster das demokratische Prinzip in sozialer Verantwortung zur Geltung bringen zu können.“25 Dieses Prinzip sieht Röhrs als den eigentli22
Ferrière, Adolphe (1928): Schule der Selbstbetätigung oder Tatschule, Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger (Original fr.: Ecole Active, 1. Auflage 1921) 23 Von Prondczynsky, Andreas (1996), a.a.O. 24 Röhrs nennt a.a.O. (1986), S.25 Zahlen der Opfer. 25 Ebd.
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chen, zu bewahrenden und „maßstabbildenden“ Grund der Landerziehungsheime an. Er wird durch ihre Geschichte, weder unter Lietz noch unter Andreesen, keineswegs beschädigt – und die Landerziehungsheime sind so im Grunde rehabilitiert. Ihre Konzeption ist unantastbar. Die naheliegende Frage, inwieweit das gelebte „Ethos“ einer pädagogischen Lebensgemeinschaft im Stile der Landerziehungsheime, ungeachtet möglicher pädagogisch-politischer „Einseitigkeiten“ einiger ihrer wichtigsten Repräsentanten, dem Aufbau einer transzendentalen Opferbereitschaft Vorschub geleistet hat, die machtpolitisch instrumentalisiert und missbraucht werden konnte, kommt dann nicht in den Blick. Die Historiographie der Reformpädagogik wird – und das gilt nach von Prondczynsky auch für die meisten Werke der pädagogischen Geschichtsschreibung überhaupt – von den Autoren bewusst in die Botmäßigkeit einer bestimmten Nützlichkeit gezwungen wie pädagogische Bewusstseins- und Gewissensbildung, Gewinnung von didaktisch-methodischem Handlungswissen oder von Anregungen und Beispielen im Hinblick auf Schul-, Unterrichtsund Erziehungsreformen. Erst seit Mitte der siebziger Jahre sind „neue Perspektiven Historischer Bildungsforschung und Pädagogischer Historiographie“ entwickelt worden, die auf die Erhellung der „Praxis der pädagogischen Reformepoche“ zielen und u.a. die Frage zu klären suchen, „in welchem Maß die Reformpädagogik tatsächlich die Erziehungswirklichkeit ihrer Zeit bestimmt hat.“26 A. von Prondczynsky stellt seiner Analyse zur „historischen Einordnung der Reformpädagogik in der Geschichte der Pädagogik“ das Motto Adornos voran: „Nichts kann unverwandelt gerettet werden ...“; will sagen: ein unverbrüchliches, kritisch unreflektiertes Erbe ist weder aus der Geschichte der Reformpädagogik noch aus der Geschichte der Erziehung überhaupt zu gewinnen. Den Befund seiner Analyse fast von Prondczynsky folgendermaßen zusammen: „Wenn nun bildungs- und schulhistorische Forschungen an die Stelle getreten sind, die ehemals ureigenstes Terrain der ‚Geschichten der Pädagogik‘ war, so muss man doch auch registrieren, dass historische Forschung in ihrer Historisierung, Distanzierung und Kontextualisierung (Einordnung in übergreifende historische Zusammenhänge – E.S.) eine Aufgabe von ‚Geschichten der Pädagogik‘ nicht mehr erfüllt: Diejenige der Selbstvergewisserung und Identitätsstiftung der pädagogischen Professionen über ihre eigene Geschichte und der Motivierung eines praktisch möglichen Anknüpfens an Traditionen. Die Differenz zwischen den historischen Befunden der Bildungsforschung einerseits und den pädagogischen Interessen an der Geschichte als eines Reservoirs praktischer Konzeptionen andererseits ist unüberbrückbar geworden; Repräsentanten der einen und der anderen Richtung verstehen sich nicht mehr, weil sie keine gemeinsame Sprache besitzen. Es ist geradezu ein eigenständiges Arbeitsgebiet des Bildungshistorikers geworden, den praktisch-pädagogischen Gegenwartsinteressen am Erbe der ‚Reformpädagogik‘ historische Kurzsichtigkeit nachzuweisen.“27 Dieser nüchterne Befund und die Inzweifelsetzung der von ihren Verfechtern ausgerufenen epochalen Geltung der Reformpädagogik legen es nahe, den Gedanken der Einheitlichkeit und umfassenden Wirksamkeit der Reformpädagogik aufzugeben. So kann Reformpädagogik als das in den Blick genommen werden, was sie nach dem Erkenntnisstand von 1911 (Hohmann) bereits war und nach heutigem Erkenntnisstand stets war und noch heute ist: als Vielfalt. Ihre Heterogenität im Sozialen (verschiedene „Bewegungen“ mit ihren je eigenen „Geschichten“) und ihre Widersprüchlichkeit im Konzeptionellen (inter- und intrakonzeptionelle Widersprüche, Indifferenzen und Ambivalenzen) kann so (wieder) unvoreingenommen dargestellt und kritisch analysiert werden, also in einer Weise, die sich von einem historisch nicht verifizierbaren Einheitspostulat verabschiedet und sich zugleich von der Intention distanziert, ein pädagogisches „Erbe“ zu generieren. – Trotz der notwendigen Relativierung ihres Bedeutungsanspruches wird die Reformpädagogik in Zukunft aber weiterhin ins Gespräch gebracht 26 27
Böhm, W., zitiert nach A. von Prondczynky a.a.O. (1996), S.90 Ebd., S.97
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werden müssen: als die irritierend-faszinierende Summe bedeutsamer Facetten der Erziehungsgeschichte mit ihren bis heute lebendigen Schultraditionen und ihren zum Teil nachhaltig inspirierenden didaktisch-methodischen Gehalten.
2 Zum „Kanon“ reformpädagogischer Initiativen und Motive; Nachträge Jede monographische Arbeit muss ihren Gegenstand hinreichend bestimmen und Kriterien seiner Definition angeben. Der Blick in die Historiographie der Reformpädagogik hat gezeigt, dass dies im gegebenen Falle auf einige Schwierigkeiten stößt. Die Bildung des reformpädagogischen Kanons hat selbst seine eigene Geschichte, deren wichtigste Stationen als das Werk einzelner Autoren aufgezeigt werden können. Die Reformbestrebungen erschienen den Beobachtern in ihrer Summe als „Chaos“, „krauses Etwas“, „Wirrnis“ oder „Tumult“. Es war aber auch deutlich, dass sich in dem „Chaos“ jener überhaupt reformschwangeren Zeit um die Wende zum 20. Jahrhundert neben den utopistischen, extremen Tönen auch berechtigte Anliegen artikulierten, so dass es geboten erschien, dem Ganzen eine Struktur zu verleihen, die es erst möglich machen würde, darstellend-affirmativ und/oder kritisch darauf zu reagieren. Dazu musste ein Corpus oder Kanon an Themen, Initiativen, Motiven und Reformbewegungen identifiziert werden, der als „Reformpädagogik“, „pädagogische Reformbewegung“, „reformpädagogische Bewegung“ oder einfach (wie meist in der Weimarer Zeit) als „Pädagogische Bewegung“ ausgegeben werden konnte. Es mussten also Kriterien gefunden bzw. in dem „Chaos“ selbst aufgefunden werden, die eine Ordnung, das heißt eine Überwindung des Chaos‘ gestatten würden. Schon im ersten umfassenden Versuch einer Beschreibung der pädagogischen Reformbewegung (Hohmann 1911) unter theoretischen Aspekten und im Hinblick auf ihren Einfluss im Bereich der (schulischen) Erziehung wurde deutlich, dass die realen Anhaltspunkte des Neuen außerordentlich vielfältig waren. Als gemeinsames Merkmal „aller neueren Strömungen“ kann Hohmann denn auch nur ihre Opposition „gegen den Intellektualismus“ ausmachen, „dem die Schulpraxis leider vielfach huldigt“. Auf diesem Hintergrund erscheinen dann die verschiedenen „Sonderbestrebungen“, die sich, abgesehen von einem mehr oder weniger radikal artikulierten Reformwillen, nicht auf einen inhaltlichen Gesamtnenner bringen oder in ihren Intentionen untereinander vermitteln lassen. Gleichwohl präsentiert Hohmann wie oben gezeigt einen Kanon an „neueren Strömungen“, wobei er betont, dass er „nicht alle pädagogischen Richtungen in den Kreis unserer Betrachtungen ziehen“ kann, sondern sich auf die Kennzeichnung der „Hauptrichtungen“ beschränken muss. Angesichts der Fülle der Erziehungswirklichkeit ist Hohmann also mit dem Problem der Auswahl des Wichtigen konfrontiert. Er entwirft dann eine Gliederung und einen Kanon an Themen, der bereits wesentliche Komponenten aller nachfolgenden Gesamtdarstellungen vorwegnimmt, wenn man von der erst später etablierten Sicht einer wie auch immer begründeten „Einheit“ absieht. Auch ausländische Strömungen werden am Rande in den Blick genommen (s.o.). Allerdings ist seine Darstellung in einem kritischen Geist gehalten und er macht keinen Hehl daraus, dass er von den Ideen der Neuerer nicht das Heil erwartet. Nicht um Befolgung der Ideen kann es sich daher handeln, sondern bestenfalls „um Anpassung, um Dulden und Tragen“28, gleichsam um eine vorsichtige Adaption und Abfederung des stürmisch drängenden pädagogischen Reformgeistes. In dieser Skepsis mag der Grund liegen, dass m.W. alle späteren affirmativ eingestellten Monographen der Reformpädagogik die Vorarbeit Hohmanns schlichtweg ignorieren. (Dasselbe gilt auch für den im Jahre 1910 erschienenen kritischen Versuch von Regener.) Die wichtigsten späteren „Architekten“ des reformpädagogischen Kanons in Deutschland seien im Überblick genannt. Der erste ausgearbeitete Orientierungsversuch in der Weimarer Zeit stammt von Franz Hilker 1924, nun auf dem Hintergrund und in intimer Kenntnis der 28
Hohmann, a.a.O. (1911), S.121
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außerordentlich regen pädagogischen Versuchstätigkeit der frühen Weimarer Jahre. Als „grundsätzliche(n) Unterschied“ der „alten“ zu der sich Bahn brechenden „neuen“ Erziehung bestimmt er ihre Dynamik, ihre Lebendigkeit, die nun dem Werden und dem Leben selbst Raum gebe. Ihm geht es darum, ein „Ideen-Gradnetz oder Gedankengitter zu schaffen, das, über die bunte Fülle der Erscheinungen gelegt, eine gewisse Orientierung in dem Mit-, Durchund Gegeneinander der pädagogischen Strömungen ermöglicht.“29 Hilker sucht den Anschluss an die großen Klassiker der Pädagogik – Comenius, Locke, Rousseau, Pestalozzi, Jean Paul, Fröbel, Toltoj – , in deren Wirken er Stationen auf dem Wege zu einer „Erziehung vom Menschen aus“, einer „kind- oder jugendgemäßen Pädagogik“ bzw. einer „Pädagogik vom Kinde aus“ sieht. Die „neue Erziehung“ rückt somit in den Stand historischer Dignität, indem sie zu erfüllen scheint, was die besten pädagogischen Denker der Geschichte bereits seit Jahrhunderten gefordert hatten. Ausgestattet mit diesem „Netz“ kann Hilker aus der „bunten Fülle“ nun ein außerordentlich breites Spektrum an Reformideen und Reforminitiativen zusammenstellen, das bereits – und darin geht er inhaltlich über den von Hohmann gesetzten Rahmen hinaus – auch „Neue Formen der Berufs- und Volkshochschulbildung“ (Teil III des Buches) einbezieht. Zahlreichen Vertretern aus den deutschen und österreichischen Versuchsschulen wird das Wort erteilt. Die deutschen Landerziehungsheime als Beispiele aus dem Bereich der „freien“, das heißt nicht-staatlichen Schulen (Teil I des Buches), werden ausführlich gewürdigt (u.a. mit einem Beitrag von Alfred Andreesen, dessen „Taktieren“ in der NS-Zeit später in die Kritik geraten ist – s.o.). Neben der „Berthold-Otto-Schule“ werden die Landerziehungsheime zu den „grundlegenden Versuchen“ gerechnet. Der Pädagogik der Waldorfschule am Beispiel der 1919 gegründeten Stuttgarter Mutterschule ist in Teil I unter der Rubrik „Neuere Versuche“ eine eingehende Darstellung gewidmet. Aus dem Bereich der „Staatsschule“ (Teil II) seien genannt: die 1921 eröffnete Leipziger „Versuchs-Arbeitsschule“, die aus Initiativen des schon im Deutschen Kaiserreich sehr rührigen „Leipziger Lehrervereins“ hervorgegangen ist; die Bremer und Hamburger Lebensgemeinschaftsschulen; die Volksschule der Gartenstadt und Künstlerkolonie Hellerau; die Gartenarbeitsschulen in Neukölln (Nachmittagsschulen); die „Schulfarm Scharfenberg“ bei Berlin. In Teil III des Werkes lässt Hilker u.a. auch einen Autor zu Wort kommen, der sich mit der „freie(n) proletarischen Volkshochschule Remscheid“ „totaliter in den Dienst des Kommunismus“ gestellt sieht und sich entschieden für den „proletarischen Radikalisierungsprozess“30 ausspricht. – Hilker reflektiert auch den Zusammenhang der Versuchsschulen mit der allgemeinen Schulreform und nimmt so einen Fragenkreis auf, den Hohmann bereits, allerdings in einer eher skeptischabwägenden Weise, angesprochen hatte. Das korrespondiert mit dem Selbstanspruch der Reformpädagogik. Ihre Vertreter und Verfechter sehen seit je ihr Anliegen auch in der Perspektive einer allgemeinen Schulreform. Hilker resümiert: „Die neuen Schulen müssen Keimzellen für die Umgestaltung unseres gesamten Schulwesens werden!“31 Das pädagogische und weltanschauliche Spektrum der von Hilker versammelten Initiativen zur „neuen Erziehung“ kann kaum heterogener ausfallen. Und doch unternimmt er als Fürsprecher des Neuen den Versuch, die bunte Fülle unter einem Dach zu vereinen. Er sieht in allem „eine neue Religiosität“, eine „neue Sinngebung der Welt“ am Werk, die sich in der Empfindung „der kosmischen Verbundenheit und Solidarität“ äußert.32 Dieses beachtliche Spektrum wird – wie bereits weiter oben gezeigt – von Nohl und Flitner noch einmal einerseits auf nahezu die ganze Welt der Erziehung erweitert, andererseits 29
Hilker, a.a.O. (1924), S.1. Regionalstudien zur Geschichte und Wirkungsgeschichte der Reformpädagogik in der Weimarer Zeit, dazu Studien zu einzelnen Schulen sowie ein Beitrag über Adolf Reichweins Alternativschulmodell Tiefensee 1933-1939 als Gegenkonzept zum NS-Erziehungssystem enthält: Amlung, Ullrich; Haubfleisch, Diemar; Link, Jörg-W.; Schmitt, Hanno (Hsg.) (1993): „Die Alte Schule überwinden“. Reformpädagogische Versuchsschulen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, Frankfurt am Main: dipa-Verlag 30 Ebd., S.430ff 31 Ebd., S.448 32 Ebd., S.32 (Hervorhebung im Original)
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dann aber ideologisch „geerdet“ respektive nationalisiert – neues Menschentum in einer neuen deutschen Volksgemeinschaft – und so durch das Einschwören auf ein allen gemeinsames Einheitsideal zusammengeschmiedet und politisch neutralisiert. Hierin liegt der Grund der Randstellung der letztlich widerständigen sozialistisch-kommunistischen Richtungen in der (bürgerlichen) Historiographie zur Reformpädagogik bis hin zu Scheibe (1969/78). Sie wurden allerdings daraus nie vollständig verbannt. – Noch Scheibes Werk „Die Reformpädagogische Bewegung 1900-1932“ (Erstauflage 1969) liegt ganz auf der von Flitner und Nohl aufgezeigten Linie. Es expliziert im Wesentlichen den von beiden in ihren Schriften bereits aufgezeigten Kanon. Schon mit den Daten „1900-1932“ wird eine Eingrenzung vorgenommen: auf die Entwicklungen vor allem in Deutschland und auf einen Zeitraum, der die brisante Frage nach der Kontinuität und/oder dem Abbruch der reformpädagogischen Bewegung in der NS-Zeit (s.o.) auszusparen erlaubt. Indessen ist die internationale Perspektive in dezidierter Form bereits früh entwickelt worden. Damit wurde im Ansatz auch die Durchbrechung jeglicher zeitlichen Begrenzung Richtung Gegenwart vorgenommen. Mit der weiten Perspektive kommen nun zusätzlich andere Schulen, andere Bewegungen usw. in den Blick. Das Forschungsfeld und der reformpädagogische Kanon erfahren dadurch eine Erweiterung, die nun kaum mehr von einem einzelnen Wissenschaftler wirklich nachvollzogen werden kann. Dennoch wird der Versuch von einzelnen gewagt. Als erster ist hier der Schweizer Reformpädagoge Adolphe Ferrière zu nennen. Sein didaktisch-methodisches Anliegen und seine Suchlinie in dem weiten internationalen Feld ist die „Ecole Active“; sein großes Ziel ist die „bessere“ und „glücklichere Menschheit“ in einem „neue(n) Zeitalter“.33 Auch Ferrière sucht den Anschluss an die Geschichte pädagogischen Denkens, indem er zahlreiche Vorläufer seines Ideals ausmacht. Dieses Ideal sei nicht neu. „Es war schon dasjenige eines Montaigne, eines Locke, eines J.J. Rousseau, – Pestalozzi, Fichte, Fröbel machten es zum Mittelpunkt ihres Erziehungssystems.“34 Allerdings nicht auf dem Boden dieser Denker, sondern auf die Lebensphilosophie Henri Bergsons zurückgreifend bestimmt er das „Ideal der Tatschule“: es ist die „spontane, persönliche und produktive Aktivität“.35 Sein Werk enthält zahllose Beschreibungen von Schulversuchen und einiger (weniger) außerschulischer Initiativen in verschiedenen Ländern. Er beschreibt sie zum größten Teil affirmativ, zum kleineren Teil kritisch; kritisch dann (wie z.B. das Slöjd-System in Schweden), wenn eine Initiative seinem Ideal nur ungenügend nachkommt, wenn sie also die Schüler nach alter Weise zu stark reglementiert. – Adolphe Ferrière (1879-1960)36 war zeit seines Wirkens ein immens fleißiger Dokumentator der „Ecole Active“, die für ihn den Inbegriff der Neuen Erziehung darstellt. Zum Schluss seines Berichtes über die „Tatschule“ stellt er fest: „Wir könnten diese Rundreise noch fortsetzen denn Europa ist groß! Und außerdem wäre noch Russland zu besuchen, der Orient, der Okzident, die Vereinigten Staaten! ...“37 Und er versäumt es nicht, mit Hinweisen auf zahlreiche konkrete Initiativen, pädagogische Vereinigungen, weitere Literatur und Zeitschriften Wegweiser für weitergehende Nachforschungen in aller Welt aufzustellen. Peter Petersen ist m.W. der erste, der bereits im Titel seines Werkes „Die Neueuropäische Erziehungsbewegung“ (1926) die internationale Perspektive dezidiert anmahnt. In Abgrenzung zur „Alten Schule“ sieht er die „Neue Erziehung“ und die „Erziehungsgemeinschaften neuer Gesinnung“ in einer „neueuropäischen Kulturbewegung“ eingebettet. Er präsentiert einen weiten Kanon an pädagogischen Initiativen und Bewegungen und bezieht darin auch 33
Ferrière, a.a.O. (1928), S.242 Ebd., S.3 35 Ebd. 36 Hameline, Daniel (1994): Adolphe Ferrière (1879-1960), in: Houssaye, Jean (Hsg.) (1994): Quinze Pédagogues. Leur influence aujourd‘hui, Paris: Armand Colin 37 Siehe: Ferrière, a.a.O. (1928), S.291ff 34
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verwandte Bestrebungen aus Übersee mit ein. In einer im Vergleich zu Ferrière eher systematisch-begrifflich angelegten Untersuchung arbeitet er dann das „Profil der Neuen Erziehung und ihre Weltanschauung“ heraus. Es werde letztlich getragen von einem „starke(n), große(n) und schöne(n) Glaube(n) an die Zukunft der Völkergemeinschaft.“38 Wegen der dominanten Stellung der „Nohl-Schule“, schließlich wegen der Isolation in der NS-Zeit, ist der internationale Ansatz weder in der Weimarer Zeit noch in den ersten drei Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg in Deutschland zum Durchbruch gelangt, obwohl es an entsprechenden Bemühungen nicht gefehlt hat – zum Beispiel seit Gründung der „New Education Fellowship“ (NEF) 1921 in Calais auch in Form großer internationaler Konferenzen sowie im Rahmen einer intensiven Zusammenarbeit, die von der NEF und ihren nationalen Sektionen getragen wurde.39 In neuerer Zeit vertritt mit Nachdruck insbesondere Hermann Röhrs die internationale Perspektive. Er ist persönlich eng mit der internationalen Reformbewegung verbunden; zeitweise war er Präsident der deutschen Sektion der „New Education Fellowship“. (Die NEF besteht bis heute, seit 1966 unter dem Namen „World Education Fellowship“.) Röhrs versucht, wie weiter oben gezeigt, Reformpädagogik als eine weitverzweigte, vielfältige aber in wesentlichen Punkten doch gleichgerichtete oder –gesinnte pädagogische Bewegung zu begründen, die sich nicht nur in Europa (1980), sondern „auf den Kontinenten“ (1994)40 artikuliert. So kommt ein weites Spektrum an pädagogischen Einzelinitiativen, international sich ausbreitenden Bewegungen, bildungspolitischen Entwicklungen respektive Einflüssen und Reformmotiven in den Blick, das sich kaum mehr in einen spezifischen begrifflichen Rahmen bannen lässt. Röhrs verlässt dabei zum Teil die im engeren Sinne historische Perspektive und weist zusätzlich auf Entwicklungen hin, die „im Geiste“ der Reformpädagogik erfolg(t)en oder als Wirkung einer möglicherweise anonymen Tradierung anzusehen sind. So können dann neuere Initiativen in den Gesamtkanon der Reformpädagogik aufgenommen werden, die sich unabhängig von der „traditionellen“ bzw. „klassischen Reformpädagogik“ entwickelt haben, wie auch jene, die heute unter dem Begriff „Neue Reformpädagogik(en)“ diskutiert werden. Und in der Tat ist die Übereinstimmung mancher neuerer Initiativen mit klassischen reformpädagogischen Konzeptionen gut zu belegen. Auch die vorliegende Einführung präsentiert einen reformpädagogischen Kanon bzw. Corpus, dessen Zusammenhang mit den vorangegangenen Versuchen unschwer zu erkennen ist. In der Einleitung habe ich ausführlich zu seiner Struktur, zu den leitenden Gesichtspunkten seiner „Konstruktion“ sowie zu den Gesichtspunkten der Darstellung und Kritik Stellung genommen, und das Ergebnis in einer mehrperspektivischen, komplexen Arbeitshypothese zusammengefasst. Dem kundigen Leser wird aber auch aufgefallen sein, dass ich manches Thema nur am Rande erwähne, das in anderen Darstellungen einen prominenten Platz einnimmt. Ja mancher wird vielleicht ein Thema ganz vermissen, das er – vielleicht mit guten Gründen – in einer Einführung behandelt wissen möchte. Dieser Mangel könnte nur durch entsprechende Nachträge ausgeglichen werden, die insgesamt, wenn sie über eine bloß summarische Erwähnung hinausgingen, leicht ein zweites umfangreiches Buch ergeben würden. Dass mit Vielfalt gerechnet werden muss, ist allerdings hinreichend deutlich geworden. Über den tatsächlichen Umfang der Themen, die unter dem Begriff Reformpädagogik diskutiert wurden und werden, 38
Petersen, Peter (1926): Die Neueuropäische Erziehungsbewegung, Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger, S. 130 39 Vgl.: Boyd, William und Rawson, Wyatt (1965): The Story of the New Education; Röhrs, Hermann (1977): Die Reform des Erziehungswesens als internationale Aufgabe. Entwicklung und Zielstellung des Weltbundes für Erneuerung der Erziehung, Rheinstetten: Schindele-Verlag 40 Röhrs, Hermann und Lenhart, Volker (1994): Die Reformpädagogik auf den Kontinenten, Frankfurt a.M. u.a.O.: Peter Lang. Siehe dazu auch den Absachnitt „Zugang IV: Reformpädagogik – Versuch einer mehrperspektivischen, komplexen Arbeitshypothese“ im Einleitungskapitel dieses Buches.
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könnte nur mittels einer breit angelegten Forschungsinitiative Klarheit gewonnen werden. Ihr Ziel könnte sein, die Ergebnisse in einem „Internationalen Lexikon zur Reformpädagogik in Geschichte und Gegenwart“ vorzulegen. Die bisher vollständigste Übersicht, allerdings begrenzt auf den Zeitraum bis 1933 in Deutschland, liegt in der vorzüglich „Kommentierte(n) Bibliographie zur Reformpädagogik“41 (1979) vor. Ähnliche Bemühungen in Bezug auf andere Länder und mit einer Ausweitung der zeitlichen Perspektive bis zur Gegenwart könnten weiteres Material für ein solches Lexikon liefern. Indessen liegt mir daran, wenigsten einen etwas ausführlicheren Hinweis auf den bereits mehrfach erwähnten Berthold Otto (1859-1933) und seine „Hauslehrer-Schule“ zu BerlinLichterfelde nachzutragen, weil sein Schulversuch in den Darstellungen zur Reformpädagogik durch die Jahrzehnte eine wachsende Beachtung erfahren hatte. In seinem Werk zeigt sich deutlich der Zusammenhang zwischen didaktisch-methodischem und rettungspädagogischem Denken. Die Überwindung der sozialen Gegensätze erwartet er im Horizont einer zukünftigen „sozialistischen Monarchie“. Sein „Lehrgang der Zukunftsschule“ war das Konzept einer „formale(n) Bildung ohne Fremdsprache“. Mit dieser Bildung – so Scheibe – „sollte vor allem die unglückliche Trennung in Gebildete und Ungebildete in unserem Volke aufgehoben werden.“42 Großzügig unterstützt vom Preußischen Kultusministerium konnte Otto seit 1902 einen Schulversuch durchführen, der sich an den Prinzipien eines häuslichen Unterrichts orientierte, den er seinen eigenen Kindern erteilt hatte und aus dem seine Schule dann auch hervorgegangen ist. Seine Pädagogik könnte knapp als eine solche charakterisiert werden, die vom aktuellen, „natürlichen“ Interesse des Kindes ausgeht, sich im Medium der lebendigen Sprache des Kindes und des Volkes bewegt und – weil sich in der Sprache des Volkes seine innere „organische“ Verbundenheit manifestiert – zum Volksganzen hinführen will. Berühmt wurde Otto vor allem durch seinen „Gesamtunterricht“, der ein „natürlicher Unterricht“ sein sollte. Er bildete den Mittelpunkt des Schullebens und des Unterrichts und war nach Ottos Worten die „Hauptform der Geistesgemeinschaft“ mit den Kindern.43 Bereits Hohmann (1911) geht auf Ottos Pädagogik ein, kommt aber im Zuge seines vorwiegend kritischen Interesses zu einem ablehnenden Urteil. „Alles in allem handelt es sich um die Herrschaft des gegenwärtigen Interesses (des Schülers – E.S.) in ihrer schroffsten Form. B.Ottos Bestreben, mit den Schülern in ihrer Sprache, in der Altersmundart zu verkehren, läuft ganz in diese Richtung.“44 – Im Reformdiskurs der Weimarer Zeit kommt B. Otto dann aber zu hohen Ehren. Hilker (1924) widmet sich ihm ausführlich (s.u.) und seiner Schule ist zudem ein eigenständiger Beitrag gewidmet; Petersen (1926) würdigt Otto eingehend als einen „geniale(n) und begnadete(n) Erzieher und Kinderfreund“45; und Nohl sieht in Otto neben Lietz „eine seiner (Deutschlands – E.S.) ganz wenigen ursprünglich pädagogischen Persönlichkeiten“ mit allen „charakteristischen Merkmale(n) der pädagogischen Genialität in ihren Stärken und Schwächen ...“46 In den Gesamtdarstellungen nach dem Zweiten Weltkrieg wird 41
Beckers, Edgar und Richter, Elke (1979): Kommentierte Bibliographie zur Reformpädagogik, Sankt Augustin: Verlag Hans Richarz 42 Scheibe, Wolfgang (1969/1978): Die reformpädagogische Bewegung, Weinheim und Basel: Beltz, S.105 43 Vgl. Scheibe, a.a.O. (1969/1978), S.95f. Siehe auch: Otto, Bertold (1972): „Der Begriff des natürlichen Unterrichts“ und „Der Gesamtunterricht“, in: Dietrich, Theo (1973): Die pädagogische Bewegung „vom Kinde aus“, Bad Heilbrunn: Klinkhardt 44 Hohmann, a.a.O. (1911), S. 108. Hohmann weist auch auf politische Vorstellungen Ottos hin. „1910 hat B. Otto die Schrift veröffentlicht: ‚Der Zukunftsstaat als sozialistische Monarchie‘ (Berlin, ...), worin der die Deutschen für den Gedanken eines sozialistischen Zukunftsstaates zu gewinnen sucht. Er will die tiefe Kluft zwischen dem Bürgertum und der Sozialdemokratie ausfüllen helfen. Ausgehend von den Verhältnissen und den Menschen der Gegenwart, verfolgt er die Frage bis zur Ausarbeitung eines Gesetzentwurfs. Das Prinzip des Altruismus soll die auf Egoismus aufgebaute Gesellschaft erneuern.“ (ebd.) 45 Vgl. Petersen, a.a.O. (1926), S.92-96 46 Nohl, Herman (1933/1949): Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie, Frankfurt am Main: Verlag G. Schulte-Bulmke, S.82
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dann Otto eine zentrale Stellung eingeräumt. Scheibe geht in seiner Monographie zur reformpädagogischen Bewegung (1969) in einem eigenen Kapitel mit sechs Abschnitten sehr ausführlich auf Otto ein. Allein das Inhaltsverzeichnis des Kapitels „Berthold Otto und seine Reformpädagogik“ nimmt im Gesamtverzeichnis eine ganze Seite in Anspruch. Röhrs (1980) schließlich widmet ihm ebenfalls einen längeren Abschnitt. Im Kapitel „Die wissenschaftliche Richtung“ erhält Otto – neben „Idee und Realität der Dorfschule bei Johannes Kretschmann“, einem Schüler Ottos – seinen Platz in dem Abschnitt „Die anthropologisch-geisteswissenschaftlich orientierte Richtung“. An dieser Stelle will ich nicht näher auf die Otto-Rezeption in der Historiographie selbst eingehen, sondern mit einem ausführlichen Zitat Hilkers sein Werk näher in den Blick rücken: „In Deutschland ging seit den achtziger und neunziger Jahren Berthold Otto ähnliche Wege, ohne Toltojs pädagogische Schriften zu kennen. Auch er wurde ein Entdecker der Kinderwelt, ihrer Sprache, ihrer Fragelust und ihrer besonderen Geistigkeit und baute auf diesen Beobachtungen seine Lichterfelder Schule auf, die eine Pflegestätte des naturgemäß kindlichen Wachstums ist. Wer diese Schule besucht, darf natürlich nicht die Arbeitsweisen und Unterrichtsresultate der Staatsschule zum Vergleich heranziehen.“ Es folgt eine Charakterisierung der Staatsschule als eines Ortes „zwangsmäßig(en)“ Lernens. „..., hier aber geht es um freies innerliches Wachsen und Reifen, ... Die Gebundenheit des geistigen menschlichen Werdens an natürliche Wachstumsgesetze war so lange in der Erziehung überhaupt nicht beachtet worden, und wenngleich der Mensch als geistiges Wesen auch noch anderen Entwicklungsbedingungen unterworfen ist als rein-naturhaften, so muss doch auch heute noch gegenüber der nach wie vor geltenden abstrakten Erziehungsweisheit des Alters (d.h. der Erwachsenen – E.S.) gerade die naturgegebene Struktur des Kindes- und Jugendalters mit den daraus entstehenden erziehlichen Folgerungen in aller Schärfe betont werden.“47 – Was Hilker in einer vorsichtig-distanzierenden Wendung andeutet, wird Nohl zum Anlass einer expliziten Kritik an Otto. Er mahnt die erzieherische Berücksichtigung des „objektiven Geistes“, die hohen Werte der Kultur an, die nicht über das spontane Interesse des Kindes allein vermittelt werden können. „Die Theorie vom schöpferischen Kinde reicht darum nicht aus.“48 Hilkers Stellungnahme charakterisiert m.E. zutreffend wichtige Grundzüge von Ottos Anliegen, spiegelt selbst ein Stück seiner Rezeptionsgeschichte, sowohl als Instrument der Schulkritik und Beispiel für die „Neue Erziehung“ als auch in den Ansätzen einer kritischen Distanz, und kann – im Vergleich mit den Stellungnahmen vor dem Ersten Weltkrieg, in der Weimarer Zeit und nach dem Zweiten Weltkrieg – exemplarisch zum Studium der Frage anregen, wie einzelne „Stimmen“ in den reformpädagogischen Kanon gelangten und welchen Weg sie in Tradition und Modifikation durch die Historiographie der Reformpädagogik anschließend nahmen. Bei Otto war dies eine „Erfolgsgeschichte“: von Regener (1910), der ihn nicht kennt, über Hohmann, der ihn zur Kenntnis nimmt und kritisiert über die wohlwollenden und zum Teil zugleich kritischen Verlautbarungen in der Weimarer Zeit bis hin zu einer zentralen Gestalt der Reformpädagogik in den Darstellungen der Nachkriegszeit. Nohls Stellungnahme zu Otto ist ein Beispiel für die Funktion der „geisteswissenschaftlichen Pädagogik“ als (selbst)kritisches Gewissen der pädagogischen Bewegung. Es blieb aber trotz mancher fruchtbaren Ansätze im Einzelnen – wie bezüglich der Relativierung einer „Pädagogik vom Kinde aus“ – , im Ganzen einem irrationalen, von der sozialen Wirklichkeit abgehobenen Gemeinschaftsdenken verhaftet.49 Als solches konnte es die Gegensätze in der 47
Hilker, a.a.O. (1924), S.6f Nohl, a.a.O. (1933/35/49), S.86 (hier zitiert nach der Auflage 1949, „Dritte, unveränderte Auflage“, d.h. gegenüber 1935 unverändert) 49 In einer eingehenden Analyse untersucht Bast die deutsche Reformpädagogik einschließlich mancher ihrer zeitgenössischen kritischen Autoren im Hinblick auf ihr Verhältnis zur „konservativen Revolution“. Er erschließt auf diese Weise u.a. neue Ansatzpunkte für die Frage nach dem „Verhältnis von Reformpädagogik und Nationalsozialismus“: Bast, Roland (1996): Kulturkritik und Erziehung. Anspruch und Grenzen der Reformpädagogik, 48
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Gesellschaft nicht auf den Begriff bringen und auch pädagogisch nicht vermittelt. Der „objektive Geist“ wurde als ein letztlich einheitlicher und nicht fundamental differenter Strom gedacht, der in den Dienst des „neuen Volkswerdens“ zu stellen war. Nohl bekräftigt 1933/35 seine schon 1926 vorgetragene Sicht: „(E)s muss derselbe Geist sein, der hier wie dort an der Arbeit ist.“50 Dieser „Geist“ aber schwebte über allem und war unangreifbar. So konnte die „geisteswissenschaftliche Pädagogik“ im Detail durchaus eine fruchtbare Kritik an der Reformpädagogik entfalten, war aber strukturell nicht in der Lage, ihre eigenen Prämissen und irrationalen rettungspädagogischen Ambitionen zu hinterfragen. Ein solcher kritischer Akt hätte zwangsläufig zur Verabschiedung ihres Status‘ als wohlwollend-(selbst)kritisches Gewissen der pädagogischen Bewegung geführt und damit die Fundamente ihrer Selbstkonstitution untergraben. „Man säge nicht an dem Ast, auf dem man sitzt.“
3 Zum „Ertrag“ der Reformpädagogik Ist es angesichts der kritischen Einwände möglich, „Ein Plädoyer für unser reformpädagogisches Erbe“51 zu führen? Auf dem Hintergrund der Ambivalenzen reformpädagogischer Programmatik kann die Antwort nur lauten: Manches kann – in Anlehnung an Adorno (s.o.) gesprochen – nur „verwandelt gerettet werden“; anderes kann überhaupt nicht „gerettet“ werden, weil sein irrationaler oder ideologischer Gehalt inzwischen nicht mehr übersehen oder relativiert werden kann. Letzteres gilt zum Beispiel für die großen reformpädagogischen Aspirationen, die über eine reformierte Erziehung die Heraufkunft eines „Neuen Zeitalters“ erwarten, sei es in der Perspektive naturalistisch-evolutionistischer Spekulationen (Spencer, Key, Gurlitt) oder als großes geistesgeschichtliches Vereinigungs- bzw. soziales Versöhnungswerk nationalen oder globalen Ausmaßes (Ferrière, Nohl, W. Flitner, Petersen). Aber auch dem „Verwandelten“ kann als solchem nicht mehr das Merkmal „Prinzipien oder Ideen im Sinne der Reformpädagogik“ zugesprochen werden, weil es einen solchen allgemeinen Sinn der Reformpädagogik nicht gibt. Denn die „Quersumme“ ihrer Verlautbarungen etwa zur „Pädagogik vom Kinde aus“, zur Selbsttätigkeit, zur Ganzheit, zur Aktivität usw. ergeben keinen konsistenten und tradierbaren Gehalt. Es bleiben als gemeinsame Kennzeichen nur rhetorische Chiffren, an denen sich gleichwohl ihre Vertreter als „im Grunde“ Gleichgesinnte erkennen mögen, obwohl – oder besser: weil – sie damit verschiedene Inhalte, nämlich ihre je eigenen verbinden. Das soll exemplarisch an dem für die Reformpädagogik zentralen Grundgedanken einer kindorientierten Pädagogik verdeutlicht werden. Ludwig Gurlitt (1855-1931) gilt als ein herausragender Vertreter der Reformpädagogik, Verfechter vor allem einer „natürlichen“, kindgemäßen Erziehung. Er ist Wilhelm Flitners Phase 1 der pädagogischen Bewegung zuzuordnen und Scheibe (1969/78) widmet ihm unter der Überschrift „Das Kind – ‚Ausgangspunkt aller Erziehungs- und Unterrichtsmaßnahmen‘“ einen eigenen Abschnitt. „Die natürliche Erziehung braucht nur von den Bedürfnissen des Kindes auszugehen und ihnen zu dienen, ...“, erklärt Gurlitt. Seine „Parole“ lautet, ganz im Sinne Ellen Keys: „Wachsen lassen, pflegen, behüten und stützen, dem Kinde sein Eigenstes lassen und sich selbst bescheiden.“52 Das Dortmund: projekt verlag. Bast geht dabei insbesondere auf die folgenden Autoren ein: Theodor Litt (18801962), Siegfried Bernfeld (1892-1953), Friedrich Delekat (1892-1970), Eberhard Grisebach (1880-1945), Helmut Plessner (1892-1985), Kurt Zeidler (1889-1982), Jonas Cohn (1869-1947). Eine Sonderstellung im Kreise der Kritiker komme dem marxistisch-psychoanalytisch orientierten Bernfeld zu. Zu den von Bast unter anderem behandelten Schriften dieser Autoren: siehe Literaturverzeichnis zu diesem Kapitel. 50 Nohl, ebd., S.10 51 Pehnke, Andreas (1992): Ein Plädoyer für unser reformpädagogisches Erbe. Protokollband der internationalen Reformpädagogik-Konferenz am 24. September 1991 an der Pädagogischen Hochschule Halle-Köthen, Neuwied u.a.O.: 1992 52 Gurlitt, Ludwig (1909): Erziehungslehre, Berlin: Wiegandt & Grieben, S. 88 bzw. S. 264
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klingt noch heutigen Ohren sympathisch, auch wenn sich dem zeitgenössischen (Regener, Hohmann, W. Flitner, Nohl) und heutigen Kritiker sofort die Frage nach der Bedeutung der „objektiven Gehalte“ der Kultur und nach den Anforderungen der Gesellschaft stellt. Zu Gurlitts „Erziehungslehre“ und seiner Pädagogik vom Kinde aus gehört aber auch ein anderer Grundzug: „Nur im Kampfe erhält und fördert sich der Mensch. Nur im Kampf kommen die Kräfte empor und werden die Schwachen an den ihnen gebührenden Platz gedrängt. Damit erklären wir uns gegen das Prinzip der christlichen Demut. ... Die Schwachen können sich in ihrer Machtstellung nur durch den Schutz ihrer staatlich garantierten Autorität halten. Dieser Zustand ist aber unter allen Umständen und für alle davon berührten schädlich.“53 Das ist eine unverhohlene Huldigung an den Sozialdarwinismus, die in ein Handbuch des Über- und Unmenschen Eingang finden könnte. Liegt darin ein Widerspruch zum Gebot der Kindgemäßheit? Ja und Nein. Der Widerspruch ist nur dann gegeben, wenn mit dem Prinzip einer „Pädagogik vom Kinde aus“ eine humane Ethik mit gedacht ist. Bei Gurlitt handelt es sich freilich nicht um einen Widerspruch. Das Loblied des Kampfes kann nämlich als Explikation oder als „die andere Seite“ seiner „Pädagogik vom Kinde aus“ betrachtet werden. Die Entwicklung des Kindes, die zu schützen ist, ist gleichen Ursprungs, wie der Lebenskampf, der notwendig ist für die Höherentwicklung der Menschheit. Und Gurlitt kennt auch Kinder, die zu dieser Höherentwicklung nichts beizutragen vermögen: „ich glaube ferner, dass es (ein bestimmtes Kind – E.S.) moralisch defekt zur Welt gekommen ist.“54 Wenn Theo Dietrich in seiner Quellensammlung zur „Pädagogik vom Kinde aus“, in der er Gurlitt u.a. mit seinem Text zur „natürliche(n) Erziehung“ aus dem eben zitierten Werk ausführlich zu Wort kommen lässt, im Nachwort das folgende Resümee zieht, dann wird der martialische Zug einer „Pädagogik vom Kinde aus“55 im Sinne Gurlitts oder der autoritäre Grundzug einer solchen Pädagogik im Sinne Keys oder Montessoris schlichtweg ignoriert: „Die Bewegung der ‚Pädagogik vom Kinde aus‘ war davon überzeugt, dass der Mensch von Natur aus gut ist und dass seine Schöpfungskräfte an der Gestaltung einer neuen, schöneren Welt mitzuwirken imstande sind.“56 – Darin ist freilich Gurlitts ganzer Begriff einer kindgemäßen Erziehung nicht aufgehoben. Die „Natur“ des Kindes erscheint in den reformpädagogischen Konzeptionen als durchaus verschieden, ebenso wie die „neue schönere Welt“, die sie entwerfen oder in deren Dienst sie sich stellen. Man kann von einer „Pädagogik vom Kinde aus“ im Sinne Gurlitts sprechen, im Sinne Keys oder im Sinne Montessoris usw., nicht aber im „Sinne der Reformpädagogik“. Letzteres kann nur vordergründig plausibel erscheinen, wenn der ideologische Kontext, in dem und mit dem der Gedanke jeweils entfaltet wurde, weitestgehend außen vor bleibt. Ein reformpädagogischer Gedanke einer „Pädagogik vom Kinde aus“ kann nicht ohne seine genetisch-historisch bedingten Ambivalenzen, die den Konzeptionen im Einzelnen anhaften, expliziert werden. Eine „Anknüpfung“ an diesen und an andere „Grundgedanken“ der Reformpädagogik ist deshalb nicht ohne weiteres möglich. Wo eine Anknüpfung doch versucht wird, kann das in Kenntnis der Ambivalenzen nur in der Weise einer kritischen Distanzierung erfolgen. Die Untersuchung der Rezeptionsgeschichte, der Adaption und Modifikation des Gedankens der „Pädagogik vom Kinde aus“ und anderer zentraler Begriffe der Reformpädagogik wäre eine eigene Aufgabe. Neuere Versuche, den „Ertrag der Reformpädagogik“ (Röhrs, s.o.) herauszuarbeiten oder die bleibende Aktualität ihrer Themen aufzuweisen (Andreas Flitner), erweisen sich – auch wo sie kenntnisreich in kritisch-abwägender Form vorgetragen werden – 53
Ebd., S.128 Ebd., S.194 Siehe auch die Abschnitte 7 und 8 im dritten Kapitel des vorliegenden Buches. 56 Dietrich, Theo: a.a.O. (1973), S.158 54 55
Fragen, Hinweise 473
letztlich als ein virtuoses Herausheben, gegeneinander Abwägen, Zurechtrücken, Zusammenfassen, Gewichten, Auswählen einzelner in ihrer Gesamtheit inkommensurablen pädagogischen Reformbewegungen und Reformmotiven unter der Maßgabe des eigenen Verständnisses von Erziehung und eigener thematischer Präferenzen. Das heißt: Reformpädagogik dient in der selektiven Wahrnehmung und/oder spezifischen kritischen Gewichtung ihres immensen Corpus‘ an Theorien und Praxen eher der Explikation der eigenen Erziehungstheorie des jeweiligen Autors als der darstellend-kritischen Spiegelung bzw. Vergegenwärtigung ihrer selbst. Andreas Flitner gibt das auch unumwunden zu. Er entfaltet in einem 1992 vorgelegten Beitrag eine Reihe von „Themen der ‚Reformpädagogik‘“ und weist auf „ihre Bedeutung für die heutige Schule“ hin. In einer im gleichen Jahr erschienenen und in Teilen mit dem ersten Beitrag textidentischen Abhandlung beschreibt er seine Intention: „Dieses Kapitel soll noch einmal wichtige Reformthemen nicht in ihrer historischen Entwicklung, sondern in ihrer heutigen Aktualität vorführen, teils in Anknüpfung an das Dargestellte, teils ergänzend und aus anderer Sicht. ... Dass sie beileibe nicht vollständig sind, dass sie Präferenzen des Autors wiedergeben, brauche ich wohl kaum zu sagen.“57 So wird Reformpädagogik in „Anknüpfung“, Themenauswahl, Abgrenzung, Adaption, Modifikation und „Ergänzung“ zum Medium der Entfaltung des eigenen Erziehungsverständnisses, dessen Rang damit im Übrigen keineswegs angezweifelt werden soll. Im Gegenteil muss hervorgehoben werden: In der von A. Flitner vorgenommenen Akzentuierung wichtiger „Themen“ der Reformpädagogik und durch ihre Ergänzung „aus anderer Sicht“ wird ein Spektrum an pädagogischen Grundgedanken entfaltet, auf deren Erörterung im Rahmen einer zeitgemäßen Schulpädagogik und Schulreform nicht verzichtet werden kann – wie „Kinder verstehen“, „Selbständigkeit ermutigen“, „Ausdruck und Gestaltung ermöglichen“, „‘Ganzheitlich‘ lernen“ und andere. Wohl aber muss gesagt werden, dass Reformpädagogik auf diese Weise nur äußerst verkürzt in den Blick genommen werden kann. Was wird dann aus dem vielstimmigen Chor einer „Pädagogik vom Kinde aus“? Ein allgemeiner Erziehungsgrundsatz, der explizit nur gegen die reformpädagogische Mythisierung der Kindheit und der Mystifizierung des Kindes, also in Abgrenzung zur Reformpädagogik formuliert werden kann. „Die erste und allgemeinste Reformforderung will, dass wir Kinder besser verstehen, sie annehmen, ja respektieren und dass wir von den Kindern und ihrer Lage aus zu denken vermögen.“58 Auf diese Weise wird die „Pädagogik vom Kinde aus“ in „gewandelter“ Form zwar „gerettet“. Sie hat dann freilich mit der Reformpädagogik substantiell nicht mehr viel gemein; der naturalistische und evolutionistische Grundzug, mit dem sie in vielen Konzeptionen der Reformpädagogik untrennbar verbunden ist, ist vollständig eliminiert. Sein „neuer“ Sinn könnte somit auch „in Anknüpfung“ an die Pädagogik des 17. bis frühen 19. Jahrhunderts (von Comenius bis Pestalozzi und Fröbel), also unter Umgehung der Reformpädagogik, entfaltet werden. Was seine theoretische Substanz betrifft bedürfte es da nicht einmal der Ergänzungen „aus anderer Sicht“. Erst wenn davon Abstand genommen wird, eine moderne Erziehung mittels der Reformpädagogik zu begründen, können die Grundzüge der Reformpädagogik in ihrer Vielfalt, Widersprüchlichkeit und Ambivalenz unverkürzt in den Blick genommen werden. Denn: weder die
57 Flitner, Andreas (1992): Reform der Erziehung. Impulse des 20. Jahrhunderts. Jenaer Vorlesungen, München/Zürich: Piper, S.210 (Hervorhebungen von mir). Flitner behandelt ebd.ff folgende Themen: Kinder verstehen, Selbständigkeit ermutigen, Ausdruck und Gestaltung ermöglichen, „Ganzheitlich“ lernen, Begabungen finden und fördern, Gemeinschaft über Konkurrenz setzen, Ausgrenzungen überwinden, Kinder hilfreich beurteilen, Vertiefung und „Einwurzelung“ anbahnen, Konzentration und Stille üben, Brücken zur „Wirklichkeit“ schlagen, An die großen Aufgaben öffentlicher Verantwortung heranführen, Eine „Kultur“ des Lebens und Arbeitens entwickeln. 58 Flitner, Andreas (1992): Die Themen der „Reformpädagogik“ und ihre Bedeutung für die heutige Schule, Weimar: Thüringer Ministerium für Bundes- und Europaangelegenheiten (Ettersburger Gespräche)
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historische Forschung noch die kritische systematische Forschung kann einen reformpädagogischen Kanon im Sinne eines schlechthin traditionswürdigen Erbes generieren. Ungeachtet dessen hat sich „Reformpädagogik“ als Topos für „die gute Schule“ in der Diskussion um die Schulreform etabliert. Damit wird das Vorhandensein eines relativ unproblematischen „Erbes“ vorausgesetzt, das es so nicht gibt. Wenn Bast meint, „dringend zur Vorsicht im Umgang mit reformpädagogischen Ansätzen in demokratischen Erziehungskontexten“59 raten zu müssen, so hat er einen historisch-systematisch aufgeklärten Begriff im Sinn, der die Problematik bzw. die irrationalen Schlagseiten vieler reformpädagogischer Ansätze mitbedenkt. Die aber hat der pragmatisch eingestellte Schulreformer längst abgestreift. So kann sich Reformpädagogik heute in ihrem „eigentlichen“ pädagogischen Anliegen selbst durch die neuere empirische Schulforschung bestätigt fühlen, die als Empfehlung zur Entwicklung einer guten Schule Imperative formuliert, die „seit je“ zu ihrem Programm gehören. Der Schulforscher Helmut Fend kommt auf der Grundlage empirischer Befunde zu folgenden Empfehlungen: x x x x x x x x x
„Entfaltungsspielräume schaffen! Wertschätzung äußern! Verpflichtungen aufbauen und überprüfen! Handlungen und Ereignisse anzetteln! Symbolisieren und Darstellen! Konsens schaffen! Kultur schaffen, präsentieren und darstellen! Selbermachen und Eigeninitiative ermöglichen! Identifikationen bereitstellen!“60
Auf der Grundlage zahlreicher Studien zur Schulqualitätsforschung im internationalen Raum kommt Kurt Aurin zu ähnlichen Ansichten über die Strukturelemente und Merkmale guter Schulen. Er nennt: x x x x x
x x
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„Pädagogischer Konsens über die Zielorientierung und auf ihm beruhende Stimmigkeit des Schulgeschehens“; „Orientierungs- und Handlungssicherheit, Freiheit und Initiative ermöglichende Ordnungen“; „Humane, auf Vertrauen sich gründende Kultur mitmenschlichen Umgangs“; „‘Fördern‘ und ‚Fordern‘“ als „polar sich ergänzende Formen pädagogischen Handelns“; ein umfassendes Verständnis von Leistung und Wert, das neben den intellektuellen Fähigkeiten „im Sinne ganzheitlicher Förderung der Persönlichkeit die kreativ gestaltenden, ästhetischen und musischen Fähigkeiten ebenso (einschließt) wie die sittlichen und sozialen“; „Redlichkeit von Schulen“ im Sinne einer Transparenz hinsichtlich ihrer Forderungen, Möglichkeiten und Grenzen; die „Erziehungswirkungen der Schule förderndes, die Lebenswelten von Schülern verbindendes Schulleben“.61
Bast, a.a.O. (1996), Buchumschlag Fend, Helmut (1987): Gute Schulen – schlechte Schulen, in: Ermert, Karl (Hsg.) (1987): „Gute Schule“ – Was ist das?, Loccum: Evangelische Akademie, S.50 61 Aurin, Kurt (1989): Strukturelemente und Merkmale guter Schulen – Worauf beruht ihre Qualität?, in: Ders. (Hsg.) (1989): Gute Schulen – Worauf beruht ihre Wirksamkeit?, Bad Heilbrunn: Klinkhardt; Zitate ebd., S.7684 60
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Wie eine Schule, die sich diesen Imperativen stellt, im einzelnen aussehen könnte, auf diese Frage können reformpädagogische Schulen nun allerdings eine substantielle Antwort geben, sei es im Hinblick auf didaktisch-methodische Aspekte, im Hinblick auf die sozialen Verhältnisse innerhalb der Schule und ihre Binnenorganisation oder im Hinblick auf die Gestaltung ihrer Außenbeziehungen. All das korrespondiert mit schulpädagogischen Momenten, die in der Perspektive eines pragmatisch nutzbaren „Erbes“ vielen reformpädagogischen Konzeptionen und Realisationen in Geschichte und Gegenwart abgewonnen werden können.
4 Hinweise zum Weiterstudium Bei der Differenz in der Wahrnehmung und Beurteilung der Reformpädagogik handelt es sich zum Teil um das Ergebnis von zwei verschiedenen Perspektiven oder Erkenntnisinteressen. Das historisch-systematische Interesse geht (im Idealfall) aus auf theoretisches Wissen im ursprünglichen Sinne einer zweckfreien Anschauung, also auf Begriffsbildungen, die – unabhängig vom praktischen Nutzen ihrer Ergebnisse – einen Sachverhalt gleichsam „rücksichtslos“ aufklären; das praktische Erkenntnisinteresse dagegen sieht sich in die Verantwortung aktuell anstehender Aufgaben oder Probleme gestellt, sei es bei der Gewinnung allgemeinen professionellen Handlungswissen, sei es bei der Gewinnung innovativer Ideen, und befragt unter dieser Perspektive die reformpädagogischen Richtungen in Geschichte und Gegenwart. Beide Perspektiven haben ihre Berechtigung, beide folgen sie einer je eigenen „Logik“. Sie sind Ursache von Irritationen, die daraus entstehen, dass unter dem gleichen Begriff und – dem Anschein nach – bezogen auf die gleiche Wirklichkeit Grundverschiedenes erfragt, gesucht und dann auch gefunden wird. Beim Studium der Reformpädagogik und bei der Beurteilung einzelner ihrer Aspekte ist es ratsam, beide Perspektiven im Auge zu behalten und die eine nicht durch die andere zu desavouieren. Mit der vorliegenden Einführung habe ich versucht, dem Leser oder der Leserin unter historischen, theoretisch-systematischen aber vor allem auch pragmatischen Aspekten eine zusammenhängende Sicht auf die Reformpädagogik in ihren zahlreichen Verzweigungen zu geben. Die Anlage insbesondere der Kapitel über die schulpädagogischen Konzeptionen will dazu einladen, auch unter vergleichenden Aspekten zentrale systematische Fragen weiterzuverfolgen, etwa die Frage nach dem Bild des Kindes, nach der Rolle des Lehrers bzw. der Lehrerin, nach pädagogischen und gesellschaftspolitischen Optionen usw. Zu diesem Zweck wurde an alle klassischen schulpädagogischen Konzeptionen der Reformpädagogik ein in etwa gleiches „Raster“ angelegt, das bei der Darstellung selbst allerdings im Hinblick auf die jeweiligen Besonderheiten flexibel gehandhabt werden musste. Durch die zusammenfassende Sicht unter zentralen Aspekten am Ende der Kapitel ist es aber, so hoffe ich, gut möglich, erste Anknüpfungspunkte für entsprechende vergleichende Fragen zu finden. Die internationale Dimension ist in der vorliegenden Darstellung nur in ihren allgemeinen Zügen in den Blick geraten. Umfassend und differenziert kann sie nur auf einer Kenntnis der je nationalen Entwicklungen entfaltet werden. In den einzelnen Länder wurden die international verbreiteten Konzeptionen häufig in spezifischer Weise rezipiert und oft auch eigenwillig umgebildet. (Der Jenaplan hat etwa in Holland in Theorie und Praxis eine eigene Gestalt angenommen.) Die Gründe dafür liegen u.a. darin, dass es in den einzelnen Ländern verschiedene „Vorgeschichten“ und „Geschichten“ der Reformpädagogik gibt, differente Erziehungsbegriffe respektive Erziehungsvorstellungen existieren und verschiedene konstitutionelle Voraussetzungen bestehen (Schulgesetzgebung), unter deren Einfluss sich dann nationaleigenständige Entwicklungen ergeben haben. Hier handelt es sich um ein außerordentlich
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weites und interessantes Studienfeld, das im Hinblick auf die zunehmende internationale Kooperation in Studium und Forschung eine stärkere Beachtung als bisher verdienen würde.62 An dieser Stelle ist es angebracht, einen Hinweis auf konkrete Erfahrungsmöglichkeiten in reformpädagogischen Schulen zu geben. Ein tiefer reichendes Verstehen ist in jedem Fall auf die theoretische, begriffliche Anstrengung angewiesen. Nichts aber kann besser eine lebendige Vorstellung von der Praxis vermitteln, als Beobachtungen in den pädagogischen Situationen selbst. Nach meiner Erfahrung sind die Schulen im allgemeinen gerne bereit, Besuchern ihre Tore zu öffnen, zumal wenn die Anfragen im Rahmen der Lehrerinnenaus– oder –fortbildung gestellt werden. Häufig ist es so, dass die Schulen von ihren Gästen eine mehr als nur eintägige Hospitation erwarten. Zum einen erschließt sich dem Besucher der Sinn mancher Einzelheiten erst in einem größeren zeitlichen Rahmen, zum anderen können die Gastgeber bei längeren Besuchen eine fundiertere Rückmeldung erwarten. Durch die Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten des Internets dürfte es heute keine Schwierigkeiten bereiten, geeignete Adressen und Ansprechpartner im In- und Ausland ausfindig zu machen. Alle wichtigen Richtungen der Reformpädagogik, zudem zahlreiche einzelne Schulen sind im Internet präsent. Auch die „Neuen Reformpädagogiken“ (Reggio-Pädagogik, CommunityEducation, Freie Alternativschulen, Storyline-Konzept) informieren via Internet ausführlich über ihre Anliegen. Das Internet hat sich ohnehin in den letzten Jahren als ausgezeichnetes Informationsmedium entwickelt und dessen Nutzung sei im vorliegenden Zusammenhang nachdrücklich empfohlen. Der geübte und in der Sache hinreichend vorinformierte Nutzer wird in der Lage sein, über die leistungsfähigen Suchmaschinen das für ihn Wesentliche zu finden und herauszufiltern. Nahezu zu allen Themen, repräsentativen Gründerpersönlichkeiten und Konzeptionen der Reformpädagogik, auch zu den damit verbundenen historischen und philosophischen Aspekten lassen sich im Internet Informationen auffinden. Auch sind heute bereits viele wichtige Quellenwerke aus der Geschichte der Pädagogik, der Philosophie und der Literatur im Internet zugänglich. Das Literaturverzeichnis ist nach Kapiteln geordnet. Die dadurch bedingte wiederholte Aufführung mancher Standardwerke zur Reformpädagogik scheint mir durch den Vorteil einer leichteren themenbezogenen Literatursuche gerechtfertigt. Bei einem tiefergehenden Interesse am Gesamtkomplex oder an einzelnen Richtungen sei insbesondere die Lektüre von Originalliteratur der Gründerpersönlichkeiten und der einflussreichen Wortführer empfohlen. Das ist zur Bildung eines eigenständigen Urteils letztlich unerlässlich.
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Personen- und Sachregister 501
Personen- und Sachregister Das Register ist von Arno Mohr erstellt worden. Die Personennamen und die Sachbegriffe in den Anmerkungen wurden nicht erfasst. Abbé de Radonvillier 405f. Abbotsholm Liturgy 169 Abbotsholm, New School 21, 66, 127, 154, 163, 165, 166-173 Adam, Nicolas 406 Adler, Alfred 448 Adorno, Theodor W. 464, 471 Äther 243, 244, 246 Agricola 34 Aktivitätspädagogik 357, 358 Alcott, Amos Bronson 62, 63 Aldenhoven, Hauptschule 426 „Alte Schule“ 1, 14, 269, 270, 271, 421f., 427, 454 Altersmundart (bei Otto) 469 American Progressivism 63 Amsterdam-West (Jenaplan-Basisschule) 414416 André 106 Andreae, Johann Valentin 36 Andreesen, Alfred 174, 191, 463, 464, 466 Anthroposophie 20, 233-267 antiautoritäre Erziehung 335, 378 Antimodernismus 139 Anweiler, Oskar 129f., 131 Arbeit 103-162 - als pädagogisches Moment 103f. - Anwendungsunterricht 106 - und Erziehung 106-109 - experimentelle 156 - Handarbeiten 106, 107 - Handfertigkeit 106 - Industrieschulen 106, 137 - Jenaplanschule 298f. - Landerziehungsheimbewegung 171 - „Lebenseinigung“ 106 - Lebenstüchtigkeit 106 - praktischer Unterricht 106 - Slöjd 106 - sozialistische Gesellschaft, in der 106 Arbeiterbildungsinstitut Stockholm 92 Arbeitsecken 413, 414-416 Arbeitsgemeinschaft 103, 117 Arbeitslehre 104 Arbeitsmaterialien 197, 203, 208f., 221 Arbeitsschule 105-138, 457, 466 - Berufsbildung 115, 117 - Freie geistige Schularbeit 122 - Gemeinschaft, Begriff 117 - Gemeinwohl, Arbeit am 115, 117
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Hand- und Kopfarbeit 108 horizontale Arbeitsteilung 108 kognitiv 108 Motivation 108 polytechnische 107 Sachlichkeit 119, 120 Selbstprüfung 118, 119 Staatsbürger, Erziehung zum brauchbaren 114-120 - Subjekthaftigkeit 108 - Überschreitung von Unmittelbarkeit 108 - Unterricht, methodische Stufenfolge 118, 119 - Vergesellschaftung 108 Arbeitsteilung, horizontale 108 Arbeitsvorgang 123 Architektur 146 Aristoteles 265 Arndt, Ernst Moritz 173, 174 Arts and Crafts Movement 65 Ashton-Warner, Sylvia 407, 408 assignment 281f., 384 „Association nationale pour le Développment de l’Education Nouvelle (ANEN)“ 358f., 360 Astralleib 243 Ateliers 324f., 367 Auffrand, Roger 360 Aufmerksamkeit 198f., 199f. Aufsatzunterricht 153f., 156 Augustinus, Aurelius 24f., 32-33, 41 Aurin, Kurt 474 Ausdrucksfähigkeit 144, 153-155 Außerschulischer Bereich 24, 429-451 - „Boys Town“ (Flanagan) 434, 442f. - „Dom Sierot“, Waisenhaus von (Korczak) 434, 436-438 - „Dzerzinskij-Kommune“ (Makarenko) 438 - Explosionsmethode (Makarenko) 441f. - Fürsorgeerziehung 432f., 434-441 - „Gorkij Kolonie“ (Makarenko) 434, 437, 438-440 - Implosionsmethode (Lane) 441f. - Jugendpflege 432 - „Jugendstaat“ 434f. - Jugendstrafvollzug 433 - „Junior Republic“ (George) 432f., 434, 435 - Kind, seine Rechte (Korczak) 436-438 - Kinderfreundebewegung 447-451
502 Reformpädagogik
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kommunistisch/sozialistisch: Kinderfreundebewegung 447-451 - Laienbildung 444 - „Little Commonwealth“ (Lane) 434, 440f. - Sozialpädagogik 431-434 - „Tatschule“ (Ferrière) 430 - Volkshochschulbewegung 430, 443-447 Aussprache, freie 153 Autorität 246, 265 Avenarius, Ferdinand 71, 150 Baden-Powell 430 Badley, John Haden 164, 172, 191 Barbusse, Henri 313 Barre, M. 316 Bartes, Karl 88 Basedow Johann Bernhard 40, 106 Basisdemokratie 334f. Basisschool (Niederlande) 376, 427 Bast 474 Batavia-Plan 272 Beckers, Edgar 430, 444 Bedales, New School 164 Beethoven Ludwig van 142 Behr, Michael 228 Beiner, Friedrich 436 Bell, Steve 369 Bellamy, Edward 64, 68 Bemposta 443 Benner, Dietrich 366, 396 Berard, Leon 315 Berg, Christa 50-52 Bergson, Henri 79, 189, 217, 467 Bernfeld, Siegfried 73, 460 Bernhard 128 Berufsbildung 115, 117, 260 Berufsschulen 180 Biedermann, Karl 106f. Bildende Kunst 145-151 Bildung - Selbstbildung 41 - Bildungsarbeit, muttersprachliche 156f. Blonskij, Pawel 18, 97, 105, 107, 109, 125126, 129, 131-138, 139, 322, 394, 438, 439 Blüher, Hans 71 Böhm, Winfried 205, 212 Bondy, Gertrud u. Max 178 Borchert 347, 348 Borkenhagen, Hildegard 388 Bovet, Pierre 313 „Boys Town“ 434, 442f. Breg 153 Bruckner, Anton 84 Buber, Martin 12, 446, 460 Bund Entschiedener Schulreformer 99, 109, 127f.
Campbell, Archibald 168, 169 Carlyle, Thomas 170 Carpenter, Edward 48, 53, 60-68, 69, 93, 168, 169, 170, 172 Casa dei bambini 195, 198-200 Cempuis, Waisenhaus von 341f. „Charakteristik” (Jenaplanschule) 305f. Chattin-McNichols, John 231 „Classe promenade“ (Freinet) 130, 314, 325, 411 Clemens 33 Collagen 371 Collings 395 Comenius, Johann Amos 3, 25, 30, 35, 36-40, 41, 101, 105, 106, 120, 131, 137, 138, 174, 404, 405, 406, 466, 473 Community-Education 24, 27, 343, 360-364 - Community School 362 - Gemeinwohlorientierung 363 - Integration 361 - Nachbarschaftsschule Leipzig 362, 364 - Praktika 363 - Prinzipien 360f. - Projektarbeit 363 - Schule, Öffnung der 361, 363 Comte, Auguste 173 Condorcet 120 Conklin 279 „Coopérative de l’enseignement laic“ 315, 317 Coue 313f. Cousinet, Roger 313, 314, 316, 338, 359, 387, 388, 390, 391 Crane 149 Cremin, Lawrence 5 Cygnaeus, Uno 110 Daltonplan, Dalton-Laboratory-Plan 23, 107f., 130, 269-287, 381, 382, 384, 385 - assignment 281f., 384 - Aufgabentafel 275 - Befreiung von Zwang 269 - Didaktik 281-283 - Daltonstunden 274-276 - Effizienz 280 - Erziehungsbegriff 278-281 - Freiarbeit 276, 277 - Freiheit 274 - Freiheitsbegriff 279f. - graphs (i. S. von Lernkontrolle) 282f. - Individualisierung 270 - Kind 271, 283f. - Kooperation 274, 280 - Lehrerbildung 270 - Lehrerrolle 280f. - Organisation 270f.
Personen- und Sachregister 503
- Pensum 270 - Rezeption in England 272f. - Rezeption in den Niederlanden 273-277 - Rezeption in den USA 272 - soziale Komponente 270 Daltonstunden 274-276 Daniel, René 312, 314 Darwin, Charles 63, 208 Dautzenroth, Erich 436 Davidson, Thomas 65, 66, 168 Decroly, Ovide 313f., 322, 328, 359 Démolins, Edmond 164, 178-180, 187, 190, 191 Dennison, George 339 „Der Anfang“ 73 Descartes, René 54 Design 373 Deutsche Akademische Freischar 71 Deutscher Verein für werktätige Erziehung 106 Deutsches Landerziehungsheim 163, 164, 173178 - Erziehungsgrundsätze 175f. - getrennt-geschlechtliche Erziehung 174 - Lebensgemeinschaftsschule 176 - Schulgemeinschaft 176 - Schulleben 176 - „Schulstaat“ 174 Deutsches Zentralkomittee für HandfertigkeitsUnterricht und Hausfleiß 106, 114 Deviation 197, 207, 209 Dewey, John 64, 107, 130, 131, 271, 272, 280, 285, 286, 289, 393, 394, 456, 461 Dewey, Mary 285 Diederichs Eugen 71 Diefenbach, Karl Wilhelm 82 Dietrich, Theo 91, 472 Diez 151 Disziplin, Disziplinierung 16, 356 Dörpfeld, Friedrich Wilhelm 300 Dokumentation 367 Dolch, Josef 14 „Dom Sierot“, Waisenhaus von 434, 436-438 „Drei-Phasen-Modell“ (bei W. Flitner) 458461 Dreistufenlektion 207 Dubois-Reymond 140 „Dzerzinskij-Kommune“ 438 école active 79, 110, 314, 467 Ecole moderne 127, 312, 315 École des Roches 164, 178-180 Eden, Vegetarische Obstbaukolonie 73, 81, 8587, 88 Éducation du travail 22 Educational Laboratory 164
Éducation Nouvelle 1, 332, 338, 357, 358-360 - Aktivitätspädagogik 358 - „Association Nationale pour le Développment de l’Education Nouvelle (ANEN)“ 358f., 360 - Didaktik 359 - Förderunterricht 359f. - Gruppenarbeit 358 - Kind 358 - „La Prairie“ (Toulouse) 358-360 - offene Pädagogik 358 - Pädagogik des Interesses 359 - Schülerpartizipation 360 Eeden, Frederik van 61 Efterskoler (Nachschulen) 166, 193 „Eigenfibel“ 406, 411 Einheitsschule 457 Elementararbeitsschule 134f. Eliteerziehung 181 Eltern, Rolle der 349f. Emanzipation 319 Emerson, Ralph Waldo 62f., 68 Engels, Friedrich 62, 127, 167 Entfremdung 73 - bei Carpenter 66 - Industrialisierung 47 - Nation, deutsche 48 Entwicklung - Begriff der 208, 231, 244-246 Epochenhefte 261 Erasmus von Rotterdam 33-36 Erdberg, Robert von 446 Erleben 409-411, 411f. Erlebnisunterricht 75 Erler, Fritz 77 Ernst, Otto 151, 152, 155 Erziehender Unterricht 365, 366 Erziehung - andere 1 - Begriff/Theorie 121, 165, 205-214, 215, 231, 278-281, 294-297, 318-324 - geschlechtlich-getrennt 174 - kosmische 205, 207, 213f. - neue 1, 20 - Zivilisationskritik 45-101 Erziehungsbewegungen 49 Erziehungsgemeinschaft 75 Erziehungsleid 45 Erziehungsreform 212f. Erziehungswirklichkeit 2 Erziehungswissenschaft, realistische 293 Escuela Moderna 342-344 Eucken, Rudolf 173 Eurythmie 26, 235, 249, 253-260, 262 experimentelles Tasten 313, 317, 320f. Explosionsmethode 441f.
504 Reformpädagogik
Fabrik 137 Farberleben 235 Faure, Sebastien 180 Feier(n) 298f. Fellenberg, Philipp Emanuel 40 Fellowship of the New Life 64, 65, 66, 127, 167 Fend, Helmut 474 Ferrer, Francisco 127, 340, 342f. Ferrière, Adolphe 79, 110f., 113, 187-193, 313, 328, 359, 394, 430, 453, 454, 463, 467, 468, 471 Feudel, Elfriede 84, 159f. Fichte, Johann Gottlieb 163, 173, 174, 238, 240, 467 Fidus (alias Hugo Höppener) 53, 77, 79, 82 Filinov 439 Findlay 167 Fischer, Aloys 432 Flanagan, Edward Joseph 434, 435, 442f., 451 Flitner, Andreas 473 Flitner, Wilhelm 444, 446, 447, 453, 454, 458, 459, 460, 461, 462, 463, 466, 467, 471, 472 Foerster, Heinz von 373 Förster, Paul 456 Folkeskole (Dänemark) 376 Fortschrittsoptimismus 48 Fourier, Charles 61, 127, 340 France, Anatol 342 Francke, August Hermann 40, 106 Fraternity of the New Life 172 Frau, künstlerische Erziehung der 145f. Frauenbewegung 24, 171, 231, 331, 336 Frauenbildung 444 Frauenemanzipation 52, 63, 201, 202, 341, 352 Free-School-Bewegung (USA) 333, 350 Freiarbeit 228f., 276, 277 Freidenker 92,94 Freidenkertum 47 freideutsche Jugend 69, 71, 458 Freie Alternativschulen 22, 23, 164, 271, 331353, 356, 357, 397 - antiautoritäre Erziehung 335 - Basisdemokratie, Forderung nach 334f. - Cempuis, Waisenhaus von 341f. - Demokratisierung des Alltags 332, 348f. - Eltern, Rolle der 349f. - Escuela Moderna 342-344 - Frankreich, in 337f. - Freie Schule Erfurt 348f. - Gesellschaftskritik 334 - Jasnaja Poljana (Schule Tolstoi‘s) 339, 340f. - Kapitalismuskritik 334 - Kind 343, 345, 346
-
„Kinderläden“ 332 Klassenraum 349 Lehrerrolle 347 Lehrplan 348 Lernen 346, 347f. libertäre Erziehung 331, 332, 338, 339, 346, 347 - „Lilleskoler“ (Dänemark) 333, 334 - Österreich, in 336, 351 - Prinzipien 337, 350 - Projektunterricht 397 - Sexualität 345 - Summerhill 339, 344-347 - Tagesablauf 349 - Unterricht 347f. Freie Arbeit 377, 381-383, 384 - Arbeitstechniken 383 - Didaktik 382f. - Lehrerrolle 383 - Lernraum 383 - Organisation 382f. - Unterrichtsprinzip, als 381f. Freie Bauernschule 22 Freie geistige Schularbeit 120-125 - Anschauung 124 - Arbeitsschule 122 - Arbeitstechnik 122 - Arbeitsvorgang, Grundformen 123 - Ergiebigkeit 124 - Formung 124 - Kognition 124 - Lebensnähe 124 - Lehrer als Anreger 122f. - Lernen des Lernens 122 - Naturgemäßheit 124 - Schulklasse 122 - Selbsttätigkeit 122, 124 - Sprache 124 - Staats- und Erziehungsbegriff 121 - Wirtschaftlichkeit 124 - Stoffgemäßheit 124 freie Gruppenarbeit 388 Freie Schule Erfurt 348f. Freier Ausdruck/Freier Text 311, 314, 318, 321 Freiheit 274, 319f. Freiräume 380 Freinet, Célestin 20, 22, 23, 127, 130, 134, 165, 277, 286, 292, 311-329, 355, 356, 357, 381, 384, 394, 406, 407, 411, 453, 454 Freinet, Elise 29, 316, 321 Freinet, Madeleine 314 Freinetschule 23, 271, 309, 311-329, 348 - Aktivitäten, funktionale 323 - Ateliers 324f. - „classe promenade“ 314, 325
Personen- und Sachregister 505
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„Coopérative de l’enseignement laic“ 315, 317 - „École active“ 314 - „École Moderne“ 312, 315 - Emanzipation 319 - Erziehungstheorie 318-324 - experimentelles Tasten 313, 317, 320f. - Freier Ausdruck/Freier Text 311, 314, 318, 321 - Funktionelle Arbeit 319f. - Ganzheitsmethode (Globalisation) 314 - Interessenkomplexe 314, 322 - Kenntnisse 323 - Kind, Persönlichkeit 319f., 326f. - Kinderreservate 320 - kindzentrierte Pädagogik 314, 318, 319 - laizistische Schule 313 - Lehrerrolle 326 - Lehrplan/Arbeitsplan 322f. - natürliche Methode 321 - „Pädagogik des Erfolgs“ 320 - Pädagogischer Materialismus 323 - Pädagogischer Zeit-Raum 325f. - Pédagogie Institutionelle 327 - Psychologie sensible 317 - Positivismus 315 - Schuldruckerei 314, 326 - Schulorganisation 324f. - Techniken 323 - Volkserziehung 313, 317 Fremdsprachen 249 Freud, Sigmund 89, 217, 441, 448 Freudenthal-Luther, Susan 296, 309 Fries, Friedrich Jacob 181 Fritsch, Theodor 81 Fröbel, Friedrich 40, 41, 101, 106, 131, 136, 161, 163, 174, 205, 466, 467, 473 Fromm, Erich 339 Frontalunterricht 27, 269, 375, 376, 377 Fuchs, Georg 104f., 150, 158 Fürsorgeerziehung 432f., 434-441 Fuller, Margaret 62, 63 Funktionelle Arbeit 319f. Gansberg, Fritz 11, 75 Ganzheit, soziale 49 Ganzheitsmethode (Globalisation) 314, 405f., 407 Gartenstadtbewegung 81, 167 Gartenstadt Hellerau 81f., 84, 466 Gary-Plan 272 Gaudig, Hugo 109, 120-123, 125, 286, 381, 386, 394 Geddes, Patrick 168, 169 Geheeb, Paul 176, 177, 178, 190, 191, 193, 289
Geheeb-Cassirer, Edith 178 Geisteswissenschaften 259, 263f. Gemeinschaft, Begriff der 117, 294f. Gemeinwohl 115, 117, 363 George, Stefan 78 George, William R. 432f., 434, 435 Geschichte, siehe unter Reformpädagogik Geschmacksbildung 146 Gesellschaft, Dreigliederung 241, 242 Gespräch 298f. Gesundheitserziehung 171 Glasersfeld, Ernst von 373 Gleichberechtigung 182 Glöckel, Otto 109, 128, 129 Godwin, William 340 Goethe, Johann Wolfgang 40, 141, 142, 153, 163, 173, 239, 266 Goetheanismus 239 Götze, Carl 104, 147, 150 Götze, Woldemar 106, 107 Götsch, Georg 160f. Goodlad, John I. 298, 309 Goodman 333 Gorkij, Maxim 440 „Gorkij Kolonie“ 434, 437, 438-440 graphs 282f. Gregor von Nyssa 33 Gröhlich, Michael 355, 356 Grohmann, A. 87 Grosse, Rudolf 252 Grüllich 141 Grundtvig, Nicolai F. S. 184, 185, 445, 446 Gruppenarbeit 357, 358 Gruppendynamik 392 Gruppenraum 75 Gruppenunterricht 386-393 - freie Gruppenarbeit 388 - Freiheit, Begriff 391f. - Gruppendynamik 392 - Lehrerrolle 388, 390, 391 - Metaunterricht 392 - Rollen/Interaktionstheorie 392f. - Stufen des Unterrichts (bei Petersen) 388f. - „travail collectif libre“ (bei Cousinet) 387, 388 - „wahres Bedürfnis“, Begriff (bei Cousinet) 390 Gudjons, Herbert 396 Gurlitt, Ludwig 11, 94, 97, 456, 471, 472 Gutsmuths, Johann Christoph Friedrich 174 Gymnastik 145, 250 Haase 394 Hackenberg, D. 151, 153 Hackl, Bernd 108-109, 114, 125, 129, 130, 136 Haeckel, Ernst 252
506 Reformpädagogik
Hahn, Kurt 178, 191 Handarbeiten 106, 107, 169, 187 Handfertigkeit 106 handwerkliche Fächer 249 Harkness, Sallie 369, 370 Hart, Heinrich 151 Hartlaub, Gustav 147-149, 151 „Haslev-Efterskole“ („Nachschulen“, Dänemark) 183-186, 193 Hauslehrer-Schule Berlin-Lichterfelde (nach Otto) 469f. - Altersmundart 469 - Herrschaft des gegenwärtigen Interesses 469 - Kritik bei Hilker und Nohl 470 Hecker, Johann Julius 40 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 103 Heil- und Sonderpädagogik 23 Heileurythmie 263 Heilpädagogik 23, 201, 202, 236 Heimatlosigkeit 91f. - Natur 94-96 Heinen 445 Hellerau: - Gartenstadt 81f., 84, 466 - Hellerau, Tanzschule 84 Helmchen, Jürgen 5 Herbart, Johann Friedrich, 9, 11, 14, 106, 115, 119, 173, 174, 205, 291, 366 Herder, Johann Gottfried 40 Herrmann, Ulrich 50-52, 99, 138 Herrschaft des gegenwärtigen Interesses (bei Otto) 469 Heydebrand, Caroline von 248, 249 Hibernia-Schule (Wanne-Eickel) 260 Hildebrand, Heinrich Rudolf 155 Hilker, Franz 84, 453, 454, 465, 466, 469, 470 Hirt 140 Historiographie, siehe unter Reformpädagogik Hodler, Ferdinand 77 Hoernle, Edwin 448 Hoffmann, Heinrich 177 Hoffmann, Walter 444 Hofmann, Ida 87 Hoher Meißner (1913) 69, 72, 74, 77 Hohmann, Ludwig 456, 464, 465, 466, 469, 470, 472 Holt 333 Holtstiege 218 Howard, Ebenezer 81 Hyndman, H.M. 167 Ibsen, Henrik 152 „Ideen von 1914“ 76 Illich, Ivan 334 Implosionsmethode 441f.
Industrieschulen 106, 137 Integrative Pädagogik/Erziehung 23, 310, 357, 455 Interessenkomplex 314, 322 Internationalität 5, 467, 468, 475 Itard, Jean-Marc 206-207, 226, 231 Jacque-Dalcroze, Emile 84 Järna, Schule von (Schweden) 236 Jahn, Friedrich Ludwig 173, 174 Jansen, Chris 398, 399 Jasnaja Poljana 339, 340f. Jean Paul 154, 466 Jenaplanschule 4, 21, 23, 271, 289-310, 381, 382, 384 - Amsterdam-West (Jenaplanbasisschule) 414-416 - Arbeit 298f. - Arbeitsecken 413, 414-416 - „Charakteristik“ (i. S. von Zeugnis) 305f. - Erziehungsbegriff 294-297 - Feier(n) 298f. - Gemeinschaft vs. Gesellschaft 294f. - Gespräch 298f. - Gründungen von Schulen 289 - Kind(es), Anthropologie des 297-303 - Lehrerrolle 301-303 - Lehrplan 300f. - Rezeption in den Niederlanden 296, 297, 300, 302, 306-308, 475 - Schulwohnstube 304f. - Spiel 298f. - Stammgruppen 303f. - Volksbegriff 295 - Unterricht 301, 302, 303-306 - Wochenarbeitsplan 304 Jensen, Adolf 156 Jöde, Fritz 159 Jonge, Wilma de 414-416 Jugend 74 Jugendbewegung 458 Jugendforschung 74 Jugendkultur 73 Jugendpflege 432 „Jugendstaat“ 434f. Jugendstrafvollzug 433 Jung, Carl Gustav 448 „Junior Republic“ 432f., 434, 435 Käis, Johannes 269 Kamp, Martin 346, 351 Kanitz 449 Kant, Immanuel 95, 181, 240 Karma, Reinkarnation 236f., 240, 242 Kehlkopf 257 Kennzeichen (Ferrière) 187-193
Personen- und Sachregister 507
Kepler, Johannes 37 Kerbs, Diethart 149f., 158, 161f. Kerschensteiner, Georg 105, 109, 113, 114120, 121, 124, 125, 138, 147, 152, 291, 386, 394 Key, Ellen 6, 11, 18, 29, 48, 89-97, 100, 113, 150, 165, 190, 270, 456, 471, 472 Kilpatrick, William 204, 271, 272, 286, 393f., 395, 397 Kind 215-219, 248, 271, 283f., 343, 345, 346, 358, 366, 370, 454 - Anthropologie 297-303 - befreites 197 - Entwicklung, freie 219-229 - fragendes 398, 399, 400, 401f., 404 - Gehorsam 224-228 - Genius des –es 18 - Persönlichkeit 319f., 326f. - Rechte, seine 436-438 - Schöpferisches im 139 - Weltbild 399 Kinderfreundebewegung 447-451 Kinderhaus 220-222 „Kinderläden“ 332 Kindermann, Ferdinand 106 Kinderrepublik Bemposta 443 Kinderreservate 320 Klafki, Wolfgang 384 Klages, Ludwig 71, 72, 73, 78 Klassenbildung nach Altersjahrgängen 16 Klassenlehrerprinzip 261 Klassen/Kreisgespräch 401 Klassenraum, als Lernumgebung 412-416 - Arbeitsecken 413, 414f. - Arbeitsmittel 413f. - Freie Alternativschulen 349 - Jenaplanbasisschule Amsterdam-West 414-416 - offener Unterricht 412 Koedukation 12 Körper 79 Körperkultur 83 Kohnert, Otto 86-87 Kolb, Gustav 149 Kold, Christen 184 Konstruktivismus 373f. Korczak, Janusz 434, 435, 436-438 Kosmos, kosmisch 236f., 252, 264 Krabbe, Wolfgang R. 80-83 Kramer, Rita 196f. Krause, Karl Christian Friedrich 40 Kretschmann, Johannes 75, 394, 470 Kropotkin, Peter A. 340 Krupskaja, Nadesha Konstantinowa 129, 131 Kulturkritik /Zivilisationskritik 45-101 Kulturpessimismus 48
Kulturstufenlehrplan 252 Kunst 104f. „frei“ als pädagogisches Kriterium 104 - Kreativität des Kindes 104 - als Prinzip des Unterrichts 155f. „Kunst dem Volke“ 150 Kunsterziehung - Arbeit, experimentelle in der Schule 156 - Aufsatzunterricht 153f., 156 - Ausdrucksfähigkeit 144, 153-155 - Aussprache, freie 153 - Bildungsarbeit, muttersprachliche 156f. - Didaktik 144f. - Gymnastik 145 - „Kunst dem Volke“ 150 - Landerziehungsheimbewegung 172 - Leitmotive 149f. - Musik und Gymnastik 157-161 - Naive, das 148 - „Natur“ 150 - psychogenetisches Grundgesetz 149 - schriftlicher Ausdruck 145 - Sprachunterricht 145, 151-157 - Tanz, Volkstanz 160f. - Zeichenunterricht 144f., 147, 149 Kunsterziehungsbewegung 6, 11, 24, 49, 65, 73, 83, 104, 115, 138-162, 291 - Antimodernismus 139 - Architektur 146 - Einheit und Ganzheit 139 - Geschmacksbildung 146 - Romantik 139 - Schöpferisches im Kind 139 Kunsterziehungstage 140-143, 150-152, 157161, 291 Kunstgewerbebewegung 65 Kupffer, Elisar von 53 Kupffer, Heinrich 177 Kurtakko, Kyösti 395 Laboratory School 107 Lagarde, Paul de 7, 51, 53, 57-59, 60, 76 Laienbildung 444 Lamarck, Jean Baptiste Pierre Antoine de Monet, Chevalier de 63 Lamszus, Wilhelm 156 Landerziehungsheimbewegung 6, 23, 49, 163193, 463f., 466 - Arbeit 171 - Berufsschulen 180 - Deutsche Landerziehungsheime 173-178 - „Ecole des Roches“ 178-180 - Eliteerziehung 181 - Erziehungsbegriff 165 - Exkursionen 172 - Geschichte 172
508 Reformpädagogik
-
Gesundheitserziehung 171 Handarbeit 169, 187 „Haslev-Efterskole“ („Nachschulen“, Dänemark) 183-186 - Kennzeichen nach A. Ferrière 187-193 - Kunsterziehung 172 - Lehrerbild 180 - Mathematik 172 - „Nachschulen“ (Dänemark) 183-186, 193 - Naturwissenschaften 170, 171, 179 - „New School Abbotsholm“ 166-173 - praktische Arbeiten 179 - Programmatik nach Ferrière 188-190 - religiöse Erziehung 172 - Schulgründungen 177f. - Sexualunterricht 172 - sozialistisches Landerziehungsheim „Walkemühle“ 180-183 - Sprachen, klassische 171 - Sprachen, moderne 179 - Wissensbegriff 171 Lane, Homer 344, 345, 434, 435, 440f., 441f. Langbehn, Julius 7, 11, 48, 51, 53, 57, 59-60, 76, 98, 139f., 146, 152 Lange, Konrad 104, 140 Langeveld, Martinus 298, 309, 398 „La Prairie“ (Toulouse) 358-360 Lassalle, Ferdinand 62 Lauriala, Anneli 230 Lay, August Wilhelm 252 „Lebenseinigung“ 106 Lebensgemeinschaftsschulen, Hamburger und Bremer 23, 84, 176 Lebensnähe 124 Lebensreform 76-83, 165 - individual-genetische 82f. - Körper 79 - Körperkultur 83 - Leben 79f. - Nacktkultur 82f., 83 - Natur 78f. - Naturheilbewegung 82 - neue Spiritualität 78 - ökologisch-soziogenetische 81f. - Seele 78 - Sexualreform 83 Lebenstüchtigkeit 106 Lehmann, Rudolf 151, 152 Lehrbuch 15 Lehren, das 15 - Zeittakt 15 Lehrer - Anreger, als 122f. - Psychogramm 33-36 Lehrerausbildung 203, 293 Lehrerbildung 237, 246, 270
Lehrerrolle 180, 224-228, 280f., 301-303, 326, 347, 367, 371, 376, 380, 383, 388, 390, 391, 400-402 Lehrperson 14 Lehrplan 15, 223f., 300f., 322f., 348, 375 Lehrstoffjahrgangsklassensystem 15f. Leiber 243f., 264 Leistungsschule 130 Leitmotive (der Kunsterziehung) 149f. Lenhart, Volker 429 Lenin 129 Lernbegriff, erweiterter 375-419 Lernberatung 380 Lernbereich, didaktische Konzeptionen 27 Lernen - bei Erasmus 35 - erweitertes 375-419 - Freie Alternativschulen 346, 347f. - Freie geistige Schularbeit 122 - Idee des natürlichen 32f. - projekthaft 369 - Reggiopädagogik, in der 367 - schulisches 23f., 25 - Neue Reformpädagogik, in der 357 Lerninhalte 369, 402f. Lernraum 383, 384 Lernumgebung 380 Lese/Schreibfähigkeit 404-412 „Eigenfibel“ 406, 411 - Erleben, gemeinsames 411f. - Erleben, individuelles 409-411 - Ganzwortmethode 405f., 407 - Schlüsselwortmethode 407-409 Lessing, Theodor 176, 177 Levinstein, Siegfried 147, 149 libertäre Erziehung 331, 332, 338, 339, 346, 347 Lichtwark Alfred 140f., 143, 144f., 145f., 151, 153, 157f., 160 „Little Commonwealth“ 434, 440f. Lietz, Hermann 79, 154, 163, 164, 167, 168, 173-177, 187, 190, 191, 454, 458, 464, 469 „Lilleskoler“ (Dänemark) 333, 334 Litt, Theodor 12, 96, 99, 100 Locke, John 106, 466, 467 Löwenfeld, Raphael 151 Löwenstein, Kurt 448 Lohmann, Julius 178 Lombroso, Cesare 209 Lorenzen, Hermann 145, 158 Lowerison, Harry 93 Lues, Hans 178 Lunn, Torben 183 Luserke, Martin 176, 178 Luther, Martin 174 Lynch, A. J. 269, 270, 283
Personen- und Sachregister 509
Makarenko, Anton Semjonowitsch 386, 394, 434, 435, 437, 438-440, 441f., 451 Malaguzzi, Loris 355, 368 Manley, Frank 361 Mann, Thomas 54 Marrou, Henri 32 Marseille, Gustav 177 Marx, Karl 62, 66, 103, 125, 127, 167, 170, 184, 290, 450 Maslow, Abraham 298 Maturana, Humberto 373 Medizin 205-207 Menschenbild 240, 242-263 Menschen-Erkenntnis 236f. Messianismus 205, 210f. Messiasmotiv 97 Metaunterricht 392 Meyer, Ernst 386, 393 Meyer, Hilbert 375, 392f. Milieulernen 19 Modersohn, Otto 77 Molt, Emil 233, 241 Monismus 47, 83 Montaigne, Michel 313 Monte Verità 87 Montessori, Maria 18, 19, 20, 23, 26, 27, 97, 131, 141, 196-205, 231, 278, 286, 289, 347, 355, 356, 381, 453, 472 Montessori-Phänomen 198 Montessori-Schule 195-232 - Arbeitsmaterialien 197, 203, 208f., 221 - Aufmerksamkeit 198f., 199f. - Bauplan in der Erziehung 210, 214 - befreite Kind, das 197 - casa dei bambini 195, 198-200 - Deviation 197, 207, 209 - Dreistufenlektion 207 - Entwicklungsbegriff 208, 231 - Erziehungsreform 212f. - Erziehungstheorie 205-214, 215, 231 - Freiarbeit 228f. - freie Entwicklung des Kindes 219-229 - Gehorsam des Kindes 224-228 - Institutionalisierung 203-205 - Kind, Begriff 215-219 - Kind, normales 197, 215-217, 231 - Kinderhaus 220-222 - kosmische Erziehung 205, 207, 213f. - Lehrer, seine Erzieherrolle 224-228 - Lehrerausbildung 203 - Lehrplan 223f. - Medizin, Rolle der 205-207 - Messianismus 205, 210f. - Normalisation 207, 209, 215-217, 231 - Positivismus 207, 231
- Schule 222f. - Sekundarerziehung 219 - sensitive Perioden 217-219 - Vorschule 195 Moog, Willy 107 Morris, William 53, 64, 149, 170, 456 Mühsam, Erich 87 Müller, Lotte 120 Munch, Edvard 77 Musik und Gymnastik 157-161 Mussolini, Benito 196 Nachahmung 246 Nachbarschaftsschule Leipzig 362, 364 Nachfolge 246 Nacktkultur 82f., 83 Nash, Doris M. 409, 411 National Society for the Promotion of Industrial Training 105 natürliche Methode 321 Natur 78f. Naturgemäßheit 124 Naturheilbewegung 82 Naturlehre 251 Naturwissenschaften 170, 171, 179 Neill, Alexander S. 84, 164, 191, 339, 340, 343, 344-347, 351, 441, 461 Nelson, Leonhard 165, 180-183, 454 Neueuropäische Erziehungsbewegung 4 Neubert, Waltraut 75 Neue Erziehung 453, 455, 466, 467f. Neue Reformpädagogik 355-374 - und klassische Reformpädagogik 355-358 - Community Education (s.d.) 360-364 - Éducation Nouvelle (s.d.) 358-360 - Konstruktivismus 373f. - Reggio-Pädagogik (s.d.) 364-368 - Storyline-Methode (s.d.) 369-373 Neuhaus, Elisabeth 156 New Age Bewegung 169 New Education Fellowship 5, 49, 88, 104, 187, 203, 292, 313, 468 Niederer, 40 Nietzsche, Friedrich 7, 53-57, 58, 68, 90, 96, 97, 98, 100 Nipperdey, Thomas 50, 60 Nohl, Herman 2, 3, 4, 5, 6, 7, 19, 28, 75, 430, 431, 453, 454, 457, 458, 463, 466, 467, 468, 469, 470, 471, 472 Normalisation 207, 209, 215-217, 231 Nunn, Percy 217 Odenbach, Karl 106f. Oelkers, Jürgen 2, 3, 19 Oestreich, Paul 99, 109, 128 Offener Unterricht 377f., 378-380
510 Reformpädagogik
- antiautoritäre/libertäre Erziehung 378 - Freiräume 380 - Lernberatung 380 - Lernumgebung 380 - Methodenvielfalt 379 - Selbständigkeit 380 - Sprachkultur 380 - Umgangsformen 380 Origenes 33 Otto, Berthold 23, 75, 458, 466, 469, 470, 471 Oury, Fernand 326f., 329 Owen, Robert 61, 127, 339f. Pädagogik: - bei E. Key 89-96 - des Erfolgs 320 - geisteswissenschaftliche 454, 457, 459, 460, 470f. - integrative 23 - des Interesses 359 - ohne Kind 130 - vom Kinde aus/kindzentriert 5f., 10, 84, 100, 136, 137, 145, 148, 150, 157, 158, 314, 318, 319, 370, 466, 470, 471, 472, 473 - offene 358 Pädagogische Bewegung 2f., 5 Pädagogische Tatsachenforschung 293 Pädagogischer Bezug (bei H. Nohl) 2, 75 Pädagogischer Materialismus 323 Pädologie 131 Pallat, Ludwig 142, 144, 153 Parkhurst, Helen 107f., 130, 229, 269-287, 289, 292, 381, 384 Paulsen, Friedrich 89 pedagogia scientifica 222 Pédagogie Institutionelle 327 Peels, Peter 409, 410f., 414-416 Pensum 270 Perez, Bernard 151 Persönlichkeit 11 Persönlichkeitspädagogik 125 Pestalozzi, Johann Heinrich 40, 48, 101, 131, 163, 174, 205, 270, 313, 386, 433, 464, 467, 473 Petersen, Peter 4, 18, 20, 21, 27f., 75, 97, 141, 178, 229, 289-309, 349, 381, 387-391, 413, 430, 432, 435, 440, 453, 454, 467, 468, 469, 471 Piaget, Jean 292 Pietsch, Eva 348 Platon 31, 33, 41, 62, 101, 163, 181 Platoon-Plan 272 Plenge, Johannes 57 Plessner, Helmut 460 Plotin 62
Pöggeler, Franz 443f., 445f. polytechnische Erziehung 127 Polytechnisch-Industrielle Arbeitsschule 107, 125-138 Popp 272, 276f. Port-Denver-Plan 272 Positivismus 207, 231, 315 Postumus, Rolande 412 Prange, Klaus 5, 6, 14, 19 Progressive Education 22, 49, 64, 107, 130, 285, 286, 461 Projektunterricht, Projektarbeit 104, 363, 369, 393-397 - Curriculum, emergentes 367, 368 - Didaktik 396 - Problembezogenheit 396 - Projektwochen 394 - Zweckgerichtetheit 395 Prondczynsky, Andreas von 463, 464 psychogenetisches Grundgesetz 149 Psychologie sensible 317 Pueblo-Plan 272 Puurula, Liisa 364, 365, 366 Quintilian 33 Ramseger, Jörg 396, 407f. Randell, Fred 369 Reddie, Cecil 66, 127, 163, 164, 166-173, 174, 187, 190, 191 Reformhäuser 73 Reformpädagogik: - bei A. Flitner 473 - und Lagarde 57-59 - und Langbehn 59f. - und Nietzsche 53-57 - Aldenhoven, Hauptschule 426 - und „Alte Schule“ 421f., 427 - Ansprüche (moderne) an die 474 - Auflösung 5f. - außerschulischer Bereich 429-451 - Basisschule (Niederlande) 427 - Begriff 1-10, 421, 454, 455 - bildungshistorischer Ansatz 6-8 - Dogmengeschichte 2-10 - Einheitlichkeit, ihre Infragestellung 464 - Ertrag der 453f., 471-475 - Ertrag der (bei Röhrs) 453f. - im Exil 69 - Geschichte, der 21f. - gesellschaftliche Umbrüche 50-53 - Grundintention 17f. - Grundschule 425 - Historiographie der 456-463 - Historiographie bei W. Flitner 458-461 - Historiographie bei Hohmann 456
Personen- und Sachregister 511
-
Historiographie bei Nohl 456-458 Historiographie bei Petersen 467f. Historiographie bei Prondczynsky 463f. Historiographie bei Röhrs 461-463 Inbegriff von Pädagogik 3 Internationales Lexikon zur 469 Internationalität 5, 467, 468, 475 Internet, im 476 Kanon der 465-471 Konstruktivismus 373f. Kritik an der 1, 11-13, 98-100, 428 Kulturkritik 53-60 und Lebensreform 83-89 Leistung der 43 mehrperspektivischer Aspekt 17-24 und moderne (empirische) Schulforschung 474 - Modernisierung 8f. - Neue 355-374 - Niederlande(n), in den 426-428 - Nordrhein-Westfalen, in 424-426 - „offene“ Frage 455 - pragmatische Sicht 463f. - Reflexions- und Handlungsform 10f. - Rehabilitierung 6f. - Schulpädagogik 429f. - Schulpraxis, in der 423 - Schulreform, gegenwärtige 421-428 - Sekundarschule 425f. - Selbsttätigkeit, Begriff der 453f. - vordemokratische vs. demokratische Gesellschaft 8f. Regener, Friedrich 11-13, 95, 98, 99, 430, 456, 465, 470, 472 Reggio-Pädagogik 24, 27, 364-368 - Ateliers 367 - Curriculum, emergentes/Projektarbeit 367, 368 - Dokumentation, als Ziel 367 - Erziehender Unterricht 365, 366 - Erzieher/Lehrerrolle 367 - Kind, Bild vom 366 - Lernbegriff 367 - Umgebung, als „Dritte Erzieherin“ 367 Reich, Wilhelm 345, 441 Reichsschulkonferenz (1920) 162 Reichwein, Adolf 23, 69, 75, 394, 446 Rein, Wilhelm 168, 173, 291 Reincke, Hans Joachim 109, 111 Reinhardt, Klaus 363 Reisinger, Ernst 178 Rembrandt 140 Rennie, Belle 278 Rettungspädagogik 19, 21, 25, 96-101, 141, 164, 454 - und Messiasmotiv 97, 164
- nationale 143 Ricci, Corrado 147 Richter, Elke 430, 444, 449f. Richter, Johannes 161 Rilke, Rainer Maria 89, 113 Ringelblum, Emanuel 436 Rissmann 454, 460 Robin, Paul 127, 179, 340, 341f., 343 Robinsonade 133f. Röhrs, Hermann 2, 4f., 17f., 19, 28, 151, 429, 430, 431, 433, 435, 444, 453, 454, 460, 461, 462, 463, 464, 468, 470, 472 Rößger 138 Rollen/Interaktionstheorie 392f. Romantik 139 Roosevelt, Theodore 63 Rosenstock-Huessy, Eugen 446 Rotten, Elisabeth 433 Roubakin 316 Rousseau, Jean-Jacques 3, 7, 40, 66, 100, 106, 131, 136, 141, 205, 313, 331, 464, 467 Rosmini-Serbati, Antonio 65, 168 Rumpf, Horst 5, 6 Ruskin, John 53, 61, 65, 68, 149, 151, 169, 170, 456 Ruskin School Home 93 Sackij 438 Saint, Simon 206 Salomon, Otto 110, 114 Salzmann 106, 174 samskola (in Schweden)113 Santa-Barbara-Plan 272 Scharrelmann, Heinrich 11, 75, 131, 155 Scheibe, Wolfgang 2, 19, 28, 118, 147, 430, 431, 432, 435, 439, 444, 445, 453, 467, 470 Scheibner, Otto 120, 123-125, 394 Schelling, Friedrich Wilhelm 240 Schenkendorf 152 Schiller, Friedrich 45-47, 76, 97, 142, 173 Schlüsselwortmethode 407-409 Schneider, Wolfgang 254 Scholl, Geschwister 69 Schreiben 250 Schuldruckerei 314, 326 Schule: - bei Comenius 36-40 - Alte 1, 14, 269, 270, 271, 454 - Anschauung 38 - antike 30f. - Kritik, frühe, an der 29-43 - Lebensnähe 38 - Leiden in der 42 - menschenfreundliche 33-43 - Neue 270, 453, 455, 466, 467f. - Normalform 13-17
512 Reformpädagogik
- Partizipation der Schüler 357 - Sach- und Sprachverständnis 38 - Selbsttätigkeit 38, 453f. - Struktur 16, 22f. - „Werkstätte der Menschlichkeit“ 39f. Schulfarm Scharfenberg 466 Schulgin 130 Schulküchenunterricht für Mädchen 115 Schulleben 74 Schulpädagogik 25, 429f. Schulreform, innere 417-419, 421-428 - Gestaltungsfreiheit der Lehrperson 417, 422 - „Initiative von oben“ (Bildungspolitik) 417, 424 „Initiative von unten“ (Schulebene) 417, 423 - Kind, Einstellung zum 417, 422 - Schulwohnstube 304f. Schulz-Benesch 213 Schulze, Rudolf 153f., 156 Schwab, Erasmus 106 Séguin, Édouard 206-207, 226, 231 Sekundarschule 425f. Selbsterziehung 245, 255 sensitive Perioden 217-219 Sergi, Guiseppe 209 Sexualität 255, 257-259, 345 Sexualreform 83 Sexualunterricht 172 Siebenjahresrhythmus 244, 245f. Sippel, H. 159 Sittsamkeit 12 Slöjd 106, 109-114, 119, 467 - Curriculum 112 - Hemslöjd 110 - Holzslöjd 112 - Tischlerslöjd 112 Sokrates 181 Sombart, Werner 51 Sonderpädagogik 23, 359, 434 Sozialistische Erziehung 125-138 - „Arbeiter-Philosoph“ 133, 136 - Arbeitsschule 129-138, 139 - Bildungsgang 132-136 - Elementar-Arbeitsschule 134f. - Fabrik, Rolle der 137 - Kerschensteiner 132 - Kinderfreundebewegung 447-451 - Landerziehungsheim „Walkemühle“ 180183 - Leistungsschule 130 - „Pädagogik ohne Kind“ 130 - Pädologie 131 - polytechnische Erziehung 127 - Robinsonade 133f.
- Schule der zweiten Stufe 135f. - vorschulische Erziehung 133 Sozialpädagogik 431-434 Specht, Minna 127, 130, 165, 177f., 180-183 Spencer, Herbert 90, 96, 97, 471 Spiel 298f. Spiritualität, neue 78 Sprache, Sprechen 124, 255-257 Sprachunterricht 145, 151-157 - klassische Sprachen 171 - moderne Sprachen 179 Staatsbegriff 121 Staatsbürger 105, 114-120 Stalin 130 Stammgruppen 303f. Standing, Edward M. 196 Steche 192f. Stein, Freiherr vom 173 Steiner, Rudolf 20, 26, 53, 97, 98, 233, 237267, 289, 347, 453 Stern, Fritz 59 Stewart, W.A.C. 166, 170 Stoffgemäßheit 124 Storyline-Methode 27, 369-373 - Collagen 371 - Design(s), Begriff des 373 - Key Questions 371f. - kindzentriert 370 - Lehrerrolle 371 - Lernen, projekthaft 369 - Lerninhalte, Interpretation der 369 - Themengenerierung 370f. Stoy, Karl Volkmar 9 Strauß, David Friedrich 54 Sully, James 151 Summerhill 84, 164, 339, 344-347, 461 Suttner, Bertha von 89 Swift, Edgar James 277, 286 Tanz 12, 160f. Temperamente 242, 246-248 Tenorth, Heinz-Elmar 6-8, 19 Themengenerierung 370f. Theosophie 239, 240 Thierfelder 85 Thoreau, Henry 53, 61, 62, 63 Tolstoi, Leo 22, 131, 339, 340f., 464, 470 Trapp 106 „travail collectif libre“ 387, 388 Treitschke, Heinrich von 116 Ullrich, Heiner 2-5, 6, 8, 10, 252 Unterricht - Erlebnisunterricht 75 - Erziehender 365, 366 - Erziehungsgemeinschaft 75
Personen- und Sachregister 513
- Freie Alternativschulen 347f. - Jenaplanschule 301, 302, 303-306 - Kommunikation im 16 - lebensnaher 75 - Lehrer-Schüler-Verhältnis 75 - Prinzipien 22f. - Projektunterricht 104 - Stufenfolge, methodische 118, 119, 388f. - Umgebung 367 Uschinski 131 Vegetarismus 82 Velder, Henry van der 57 Vergesellschaftung 108 Visser, Goverien de 414-416 Vogeler, Heinrich 77, 84 Volk, völkisch 76, 295 Volkserziehung 313, 317 Volksgemeinschaft 141f., 467 - Musik und Gymnastik 142f. Volkshochschulbewegung 430, 443-447, 458, 466 Volksstaat, organischer 76 Vorschule 133, 195 Vries, Hugo de 231 Waetzoldt, Stephan 141, 142, 151, 153 Wagner, Richard 53 „wahres Bedürfnis“ 390 Waldorfpädagogik 19, 233-267, 376f., 466 - Äther 243, 244, 246 - Anthroposophie 233-267 - Astralleib 243 - Autorität 246, 265 - berufliche Ausbildung 260 - Didaktik 251, 252 - Entwicklungslehre des Menschen 244-246 - Epochenhefte 261 - Eurythmie 235, 249, 253-260, 262 - Farberleben 235 - Fremdsprachen 249 - Geisteswissenschaften 259, 263f. - Gesellschaft, Dreigliederung 241, 242 - Goetheanismus 239 - handwerkliche Fächer 249 - Hibernia-Schule (Wanne-Eickel) 260 - Järna (Schweden), Schule von 236 - Karma/Reinkarnation 236f., 240, 242 - Kehlkopf 257 - Kind, Bild vom 248 - Klassenlehrerprinzip 261 - Kosmos, kosmisch 236f., 252, 264 - künstlerisches Moment 235 - Kulturstufenlehrplan 252 - Leiber 243f., 264 - Lehrerbildung 237, 246
- Menschenbild 240, 242-263 - Menschen-Erkenntnis 236f. - Nachahmung 246 - Nachfolge 246 - Naturauffassung 239, 240, 241 - Naturlehre als Unterrichtsfach 251 - Schreiben 250 - Schulgründungen 234 - Schulorganisation 260-262 - Selbsterziehung 245, 255 - Sexualität 255, 257-259 - Siebenjahresrhythmus 244, 245f. - Sprechen, Sprache 255-257 - Temperamente 242, 246-248 - Theosophie 239, 240 - Turnen/Gymnastik 250 - Vergeistigung 265 - Wesensglied 242, 243-246 - Zeugnisse 261 Walkemühle, Landerziehungsheim 165 Wallrabenstein, Wulf 379f. Wandervogel 49, 68-76 Washburne, Carleton 292 Weismantel, Leo 446 Weitsch, Eduard 446 Welterziehungsbewegung 17 „Weltorientierung“ (Wereldorientatie, Niederlande) 387, 397-404 - „Commissie Basisonderwijs“ 399, 402, 403 - fragendes Kind 398, 399, 400, 401f., 404 - Hilfsmittel 403 - Klassen/Kreisgespräch 401 - Lehrerrolle 400-402 - Lerninhalte 402f. - Lesefähigkeit 404-412 - Neugierde 398 - Schreibfähigkeit 404-412 - Weltbild des Kindes 399 Wesensglied 242, 243-246 Whitman, Walt 93 Wickersdorf, Schulgemeinde 73 Wilker, Karl 432, 433, 434, 446 Wille, Begriff 256, 257 Wilson, Woodrow 64 Winnetka-Plan 387 Wochenarbeitsplan 304 Wochenplan-Unterricht 384-386 - Lernraum 384 Wolff, Hans 291 Wolgast, Heinrich 146f., 151, 154, 155, 156 Woody, Thomas 30f. Wunder, Ludwig 177, 181 Wyneken, Gustav 69, 73, 74, 176, 177, 191, 458
514 Reformpädagogik
Zeichenunterricht 144f., 147, 149 Zeidler, Kurt 12, 99, 460 Zetkin, Klara 130 Zeugnisse 261 Ziller, Tuiskon 9, 252 Ziviler Ungehorsam (civil disobedience) 63 Zivilisationskritik/Kulturkritik 45-101 Zola, Emile 140