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German Pages 396 Year 1998
Reformabsolutismus und ständische Gesellschaft
FORSCHUNGEN ZUR BRANDENBURGISCHEN UND PREUSSISCHEN GESCHICHTE NEUEFOLGE Herausgegeben im Auftrag der Preußischen Historischen Kommission, Berlin von Johannes Kunisch
Beiheft 3
Reformabsolutismus und ständische Gesellschaft Zweihundert Jahre Preußisches Allgemeines Landrecht
Herausgegeben von Günter Birtsch und Dietmar Willoweit
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme [Forschungen zur brandenborgiseben und preussischen Geschichte I Beiheft Forschungen zur brandenburgischen und preussischen Geschichte I hrsg. im Auftr. der Preussischen Historischen Kommission, Berlin. Beiheft. - Berlin : Duncker und Humblot Früher Schriftenreihe Reihe Beiheft zu: Forschungen zur brandenburgischen und preussischen Geschichte 3. Reformabsolutismus und ständische Gesellschaft. - 1998 Refonnabsolutismus und ständische Gesellschaft : zweihundert Jahre Preußisches Allgemeines Landrecht I hrsg. von Günter Birtsch und Dietmar Willoweit. - Berlin : Duncker & Humblot, 1998 (Forschungen zur brandenburgischen und preussischen Geschichte : Beiheft; 3) ISBN 3-428-09275-9
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1998 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Berliner Buchdruckerei Union GmH, Berlin Druck: Gerike GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0940-1644 ISBN 3-428-09275-9
Vorwort Die Preußische Historische Kommission hat unter dem Vorsitz von Johannes Kunisch in Zusammenarbeit mit der Stiftung Preußischer Kulturbesitz vom 13. bis 15. April1994 in der Staatsbibliothek zu Berlin ein Symposion aus Anlaß des Inkrafttretens des Allgemeinen Landrechts vor 200 Jahren veranstaltet, dessen Beiträge in diesem Band nunmehr der Öffentlichkeit vorgelegt werden. Die Herausgeber, bei denen die Verantwortung für die Konzeption der Tagung lag, danken den wissenschaftlichen Mitarbeitern Frau Stephanie Blankenhorn und Herrn Michael Kaiser in Köln sowie Frau Dagmar Janson, Herrn Thomas Brückner und Herrn Mathias Trost in Würzburg für die Unterstützung bei der Drucklegung. Herr Assessor Norbert Machheit, Tübingen, hat die Anfertigung der Register übernommen, die Fritz Thyssen Stiftung die Veranstaltung durch einen namhaften finanziellen Beitrag gefördert. Auch ihnen gilt unser Dank.
Günter Birtsch Dietmar Willoweit
Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Teil Enstehungsbedingungen
Notker Hammerstein Die Naturrechtslehre an den deutschen, insbesondere den preußischen Universitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Christoph Link Aufgeklärtes Naturrecht und Gesetzgebung - vom Systemgedanken zur Kodifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Günter Birtsch Reformabsolutismus und Gesetzesstaat Rechtsauffassung und Justizpolitik Friedrichs des Großen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Eckhart Hellmuth Noch einmal: Freiheit und Eigentum. Zum politisch-gesellschaftlichen Bewußtsein der Landrechtsautoren Carl Gottlieb Svarez und Ernst Ferdinand Klein .. . . . . .. . . . .. . . . . . . . . . ... . . . .. . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . ... . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . .
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Dietmar Willoweit Die Revisio Monitarum des Carl Gottlieb Svarez
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Andreas Schwennicke Der Einfluß der Landstände auf die Regelungen des Preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . .. . . . . 113 Peter Krause Die Überforderung des aufgeklärten Absolutismus Preußens durch die Gesetzgebung. Zu den Hemmnissen auf dem Weg zum Allgemeinen Landrecht . . 131 2. Teil Rechtspolitische Ziele
Diethelm Klippel und Louis Pahlow Freiheit und aufgeklärter Absolutismus. Das Allgemeine Landrecht in der Geschichte der Menschen- und Bürgerrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215
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Inhalt
KlausLuig Das Privatrecht des ALR und seine Stellung unter den Naturrechtsgesetzbüchern der Aufklärung ........ . ....... . ............. . .. . .................. . .. . .. 255 Gerd Kleinheyer Das herkömmliche Verständnis der Stände und die kodifikatorische Regelung des Ständerechts im Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 . . . . . . 273 Ute Frevert Der Bürgerstand- Funktionsstand in der geburtsständischen Gesellschaft? . . 291 Hartmut Harnisch Bauer und bürgerliche Gesellschaft. Die Lehre vom Gesellschaftsvertrag und die bäuerliche Untertänigkeit im Allgemeinen Landrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Anke Breitenborn Die Minderheitenproblematik in den preußischen Staaten und das ALR ... . .. 321 Dirk Blasius Grenzen sozialer Disziplinierung: das Strafrecht des ALR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Chronologisches Register der Rechtsquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 Verzeichnis der Mitarbeiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383
Einleitung Von Günter Birtsch, Trier
Das "Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten", das auf einen Gesetzesbefehl Friedrichs des Großen vom 14. 4. 1780 zurückgeht, gehört zu den bedeutendsten Leistungen des europäischen Reformabsolutismus. Das sich auf nahezu alle Gebiete des materiellen Rechts erstreckende Gesetzbuch bietet eine umfassende Dokumentation der ständisch geordneten friderizianischen Rechts-, Staats- und Gesellschaftsverfassung. Es legt Zeugnis ab von dem Rechtswillen der spätabsolutistischen preußischen Monarchie, den aufgeklärten Prinzipien der Gesetzesautoren und der ständischen Wertorientierung des Gesetzgebers. Um so begründeter erscheint das wissenschaftliche Bedürfnis, den geistesgeschichtlichen und institutionellen Entstehungs- und Rahmenbedingungen des Allgemeinen Landrechts und den rechtspolitischen Zielen des preußischen Gesetzgebers nachzugehen. Mit der Frage nach den Entstehungsbedingungen des Allgemeinen Landrechts ist wesentlich die Frage nach den naturrechtliehen Voraussetzungen des Gesetzbuches verknüpft. Deshalb sucht einleitend Notker Hammerstein den Stellenwert der Naturrechtslehre an den deutschen Universitäten der Aufklärungszeit zu bestimmen. Er unterstreicht deren propädeutischen Charakter und zeigt, daß nach 1750 Samuel Pufendorf stärker als Christian Wolff vordrang. - Christoph Link akzentuiert den Modernisierungsschub des Vernunftrechts für das Wissenschaftsverständnis und die Rolle des Naturrechts für den Systemgedanken des Gesetzeswerks, das die "soziale Realität der ständischen Verfassung" als selbstverständlich voraussetzt. Günter Birtsch kommt in seinen Überlegungen zur Justizpolitik Friedrichs des Großen zu dem Schluß, daß das Gesetzbuch weniger durch Vorgaben des Königs als durch die Rahmenbedingungen der Rechtspolitik, durch die Staats- und Gesellschaftsverfassung und so durch die Spannung zwischen tradierter Rechtskultur und aufgeklärten Reformtendenzen bestimmt war. Eckhart Hellmuth sucht den Geisteshaushalt der Gesetzesautoren C.G. Svarez und E .F. Klein unter den Leitmotiven von "Freiheit" und "Eigentum" zu rekonstruieren. Er belegt, daß das Gedankengebäude des Hauptautors Svarez, der von der unaufhebbaren Diskrepanz zwischen Naturrechtslehre und Realität ausging, das klassische Beispiel einer Naturrechts-
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theorie bietet, die zur Rechtfertigung der politischen und sozialen Wirklichkeit des spätabsolutistischen Gemeinwesens angelegt ist, während Klein zwar den Horizont der konventionellen Naturrechtstheorie hinter sich läßt, aber doch in einer Werthaltung verharrt, die um die "Akzeptanz bestehender Zuständlichkeiten zentriert" ist. - Dietmar Willoweit fragt nach den Methoden und Zielen des wichtigsten Gesetzesautors, C.G. Svarez. Er zeigt, daß der Schutz der wohlerworbenen Rechte nicht bloß der rechtlichen Sicherung der Institutionen des Ständestaats galt, sondern der Grundsatz der Verbindlichkeit subjektiver Privatrechte von der Überzeugung bestimmt war, daß der Bürger auch vor dem Staat geschützt werden mußte.Andreas Schwennicke sucht den Einfluß der Landstände auf die Regelungen des Allgemeinen Landrechts für die "Sicherung des Status quo der partikularen und administrativen Struktur" zu bestimmen. Er hebt den ständischen Erfolg bei Einzelpunkten hervor, will aber angesichts gleichgerichteter Interessen von Redaktion und Ständen den Einfluß der letzteren auf die Grundprinzipien des Gesetzbuches nicht überschätzt wissen. - Peter Krause geht sodann in seiner weit ausholenden Studie zur Entstehungsgeschichte des Allgemeinen Landrechts der Problematik der Gesetzgebung im aufgeklärten absolutistischen Preußen nach. - Ihm haben die Herausgeber angesichtsseines originellen Ansatzes, der die Rolle Fhedrich Wilhelms II. und seiner Umgebung neu zu bestimmen sucht, einen besonders breiten Raum gewährt. Im zweiten Teil fragen Diethelm Klippel und Louis Pahlow zunächst nach dem Stellenwert des Allgemeinen Landrechts in der Geschichte der Menschen- und Bürgerrechte. Sie zeigen, daß es zwar Berührungspunkte mit der liberalen Theorie der Freiheitsrechte der letzten Jahre des 18. Jahrhunderts gibt, das liberale Grundrechtsdenken jedoch ohne Einfluß blieb und die einschlägigen Textstufen des preußischen Gesetzbuchs einer "älteren Schicht politischer Theorie angehörten". So erscheint das Allgemeine Landrecht als "Schluß- und Höhepunkt des Rechts- und Verfassungsverständnisses des aufgeklärten Absolutismus und des älteren Naturrechts".Klaus Luig erinnert in seiner Untersuchung über das preußische Gesetzbuch und seine Stellung unter den Naturrechtsgesetzbüchern daran, daß in der Kodifizierung des Allgemeinen Landrechts das Naturrecht keine unmittelbare Rolle spielte und insofern der Begriff "Naturrechtskodifikation" ungenau sei. Er unterstreicht sowohl die Bindung der Freiheiten an das Gemeinwohlziel als auch die Regelung der Eigentumspflichten, wie denn das ältere Naturrecht aus der Schule von Pufendorf, Leibniz und Wolff mit dem Gesichtspunkt sozialer Pflichten im Allgemeinen Landrecht dominiere, während sich im Österreichischen Gesetzbuch von 1811 stärker ein jüngeres, liberaleres, der Philosophie Kants verpflichtetes Naturrecht bemerkbar mache. - Daß die soziale Wirklichkeit der ständischen Gesellschaft von
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größerer Relevanz für das preußische Gesetzbuch war, wird durch Gerd Kleinheyer bestätigt. Er geht dem herkömmlichen Verständnis der Stände und der kodifikatorischen Regelung des Ständerechts nach und weist darauf hin, daß die Rolle der Stände zwar einerseits durch das Gesetzgebungsverfahren sanktioniert wurde, andererseits aber durch die Justizkollegien relativiert und auf ein konsultatives Votum eingeschränkt wurde. Die Gemeinwohlorientierung des ständischen Pflichtensystems schloß zudem den sozialreformerischen Impetus nicht aus. Insgesamt freilich biete das Gesetzbuch eine die "bestehende Sozialstruktur gesetzlich unterfangende Rechtsordnung". - Wie problematisch die Kodifikation des Standesrechts war, bezeugt die von Ute Frevert in Anlehnung an Tocqueville gestellte Frage nach dem Bürgerstand als "Funktionsstand in der geburtsständischen Gesellschaft" . Sie sieht den heterogenen Sozialkörper des Bürgerstandes "nur mit Mühe ... in das sozialrechtliche Korsett des Ancien Regime hineingepreßt", ohne daß das auf Festigung der ständischen Ordnung zielende Landrecht der Dynamik des Bürgerstandes gerecht werde. - Auch Hartmut Harnisch macht in seinem Beitrag über "Bauer und bürgerliche Gesellschaft" die Grenzen der Reformierbarkeit des friderizianischen Systems sichtbar. Zwar bestätige das Allgemeine Landrecht Friedrichs Bemühungen, die Rechtsposition der untertänigen Bauern zu sichern, der Bruch zwischen der naturrechtliehen Theorie vom Gesellschaftsvertrag und den agrargesellschaftliehen Realitäten sei jedoch offenkundig. Harnisch sieht im Landrecht kaum Reformansätze für die Agrargesellschaft am Ende des 18. Jahrhunderts. So werde die "althergebrachte Rechtspraxis der feudalen Untertänigkeitsverhältnisse ohne Einfügung verbindlich zwingender Eingriffe des Gesetzgebers in die Herrenrechte der Rittergutsbesitzer" kodifiziert und ungeachtet der Sicherung bäuerlicher Rechtspositionen und der vom Hauptautor Svarez bekundeten Reformbedürftigkeit der Schritt zur Gesellschaft von Staatsbürgern verbaut. -Anke Breitenborn unterstreicht in ihrer Betrachtung der Minderheitenproblematik ebenfalls die Antinomie zwischen der Theorie des Gesellschaftsvertrages und den rechtlichen Regelungen des Gesetzbuchs. Sie beobachtet sowohl humanisierende wie disziplinierende Tendenzen und hält u.a. fest, daß sich an der Rechtsstellung der Juden "dem Grundsatz nach nichts" änderte. In einer Staatsräson, in der humanitäre Erwägungen hinter utilitaristische Motive zurücktraten, erblickt sie hier ein durchgehendes Leitmotiv staatlicher Minderheitenpolitik. -Daß indessen die sozialdisziplinierenden Tendenzen des spätabsolutistischen preußischen Staates für das Gesetzbuch nicht überakzentuiert werden dürfen, erweist der den Band abschließende Beitrag von Dirk Blasius zum Strafrecht des Allgemeinen Landrechts. Vor allem das auf Spezialprävention setzende Strafrecht sieht er "auf der Höhe seiner Zeit": "Diese Strafgesetzgebung verstand sich als ein Akt vernunftorientierter Herr-
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schaftsdarstellung". In der kriminalpolitischen Perspektive des Allgemeinen Landrechts, in der Selbstbindung des Staats, der sein "Strafhandeln unter legale Vorbehalte" stelle, nicht zuletzt in der "rechtlichen Ausdünnung der körperlichen Züchtigung" kündige sich der "Ausstieg aus der ständisch geprägten Rechtsvergangenheit" an.
1. Teil
Entstehungsbedingungen
Die Naturrechtslehre an den deutschen, insbesondere den preußischen Universitäten Von Notker Hammerstein, Frankfurt a. M. Die Dichte der Fragestellungen erlaubt es, bei meinem Thema von einer inhaltlichen Analyse der fraglichen Naturrechtslehren weitgehend abzusehen. Auch muß ich nicht die verschiedenen Modifikationen dieser Lehren verfolgen und darstellen. Schon gar nicht muß ich erörtern, inwieweit solche Naturrechtslehren liberalen Staatsvorstellungen, gar Freiheits- und Bürgerrechten vorarbeiteten, inwieweit der status liberalis, der Naturrechtszustand, Anklänge an jüngere Freiheitsvorstellungen aufweist, die naturrechtlich unterfütterten Bestimmungen des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten freiheitlich, rechtsstaatlich im Sinne des 19. Jahrhunderts waren. So darf ich also mein Thema eher ein wenig äußerlich, formal angehen. Es soll darum gehen, welchen Stellenwert die Naturrechtslehre an den deutschen Universitäten im 18. Jahrhundert, insbesondere in Preußen hatte. Was bedeutete es, wenn und daß Naturrecht gelehrt wurde, welche Bedeutung hatte das innerhalb der juristischen Ausbildung, wo war das Naturrecht im Umfeld der erneuerten Universität angesiedelt? Denn daß sich im Zuge der Aufklärung die deutschen Universitäten erneuerten, verjüngten und kräftigten, darf ich als bekannt voraussetzen. Die Inauguration der Fridericiana vor nunmehr 200 Jahren kann beispielhaft dafür stehen. Anders als in den westeuropäischen und mediterranen Ländern hatte daher die Aufklärung auch in den Universitäten einen zentralen Ort, fanden gelehrte, wissenschaftliche Diskussionen und Entwicklungen vorab innerhalb der Hochschulen statt. Aufgeklärte, besser verjüngte, reformierte Universitäten erzogen ihre Studenten zu aufklärerischen Amtsträgern und Räten. Die emphatische Erziehungs- und Ausbildungseuphorie des Jahrhunderts hatte in den Hohen Schulen des Reichs vorzügliche und funktionierende Schaltstellen. Im Blick auf meine Themenstellung darf ich nun schon hier eine gewisse Einschränkung machen. Was bedeutet es, vornehmlich im Blick auf die preußischen Universitäten zu argumentieren, wie es in der Themenstellung vorgegeben ist? Gewiß, soweit Halle betroffen ist, die neue und jüngste
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preußische Universität, kann das einen gewissen Sinn geben, gehörte die Fridericiana doch zu den wichtigen und bedeutsamen Hochschulen des 18. Jahrhunderts 1. Was kann aber der Blick auf Duisburg, auf Königsberg oder Frankfurt an der Oder erbringen? Das waren eher drittrangige Universitäten, die zwar durchaus ihren Auftrag ordnungsgemäß und auch sinnvoll erfüllten, die aber weit davon entfernt waren, Spektakuläres oder gar Wichtiges zu entwickeln, schon gar, nachdem Halle ins Leben getreten war2 • Allenfalls im Blick auf die Wirkung, die Darjes in Frankfurt/Oder hatte,- er war immerhin wichtiger Anreger und kurzzeitiger Lehrer Carl Gottlieb Svarez'- ist von einer nicht unbedeutsamen Folge zu sprechen3 . Aber das war doch sehr punktuell bzw. personenbezogen, darf und kann nicht verallgemeinert werden. Keiner der vielen anderen Schüler Darjes' hat schließlich ähnliche Wirkung entfaltet. Auch darf nicht das Auftreten Kants in Königsberg- wichtig für das ausgehende Jahrhundert- dazu verleiten, diesem soliden Ausbildungsort überregionale oder gar weitreichende Bedeutung zuzusprechen. Darjes wie Kant sind in ihrer Wirkung klassische Ausnahmen in der eher ruhigen, unspektakulären preußischen Universitätslandschaft, ganz so wie das frühe Halle. Für das 18. Jahrhundert und seine vielfältigen Aspekte ist hingegen ab 1740 I 50 - wie bekannt - Göttingen die Anstalt, die stilbildend, wissenschaftlich und gesellschaftlich herausragend und führend war4 • An diesem Modell orientierten sich - nachdem Halle zurückgetreten war - die anderen Universitäten, vor allem die, die Reformen durchführen wollten. Nicht zuletzt war Göttingen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wichtig für 1 Vgl. etwa Notker Hammerstein, Universitäten und gelehrte Institutionen von der Aufklärung zum Neuhumanismus und Idealismus, in : Samuel Thomas Soemmerring und die Gelehrten der Goethezeit, hrsg. v. Gunter Mann und Franz Dumont (Soemmerring-Forschungen), Mainz 1985, 309ff.; Aufklärung und Pietismus, hrsg. v. Norbert Hinske (Zentren der Aufklärung, I), Halle/Heidelberg 1989; Notker Hammerstein, Halles Ort in der deutschen Universitätslandschaft der Frühen Neuzeit, in: Aufklärung und Erneuerung. Beiträge zur Geschichte der Universität Halle im ersten Jahrhundert ihres Bestehens, hrsg. v. Günter Jerouschek, Arno Sames u . a., Hanau I Halle 1994, 18 ff. 2 Jüngere Untersuchungen fehlen im allgemeinen; vgl. insofern Gunter von Roden, Die Universität Duisburg, 2. Aufl.., Duisburg 1968; Goetz von Selle, Geschichte der Albertus-Universität zu Königsberg in Preußen, 2. Aufl., Würzburg 1956. Die OderUniversität Frankfurt. Beiträge zu ihrer Geschichte, hrsg. v. Günter Haase und Joachim Winkler, Weimar 1983. 3 So Erik Wolf, Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, 4. Aufl., Tiibingen 1963, 424ff. 4 Notker Hammerstein, Jus und Historie, Göttingen 1972, insbes. 309ff.; Jürgen von Stackelberg, Zur geistigen Situation in der Zeit der Göttinger Universitätsgründung 1737, Göttingen 1988; Stationen der Göttinger Universitätsgeschichte, hrsg. v. Bernd Moeller, Göttingen 1983.
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die Universitäten im katholischen Reich, die zunehmend an Gewicht gewinnen konnten und oft an protestantische aufschlossen5 . In der zweiten Jahrhunderthälfte wird zunehmend auch Leipzig seinen inzwischen verlorenen Status wiedergewinnen und ähnlich wie Jena bemerkenswerte, Göttingen verwandte, von da abgeleitete, aber modifizierende Lehren entwickeln6 . Es führte daher wohl in die Irre, den Blick zu eng oder gar allein auf Preußen zu richten. Für meine Themenstellung wird es insoweit entschieden fruchtbarer sein, die Gesamtheit der juristischen Ausbildung im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation während des 18. Jahrhunderts in den Blick zu nehmen, zu versuchen, die divergierenden oder auch gleichlaufenden Auffassungen über Wesen und Aufgaben juristischer Fakultäten zu analysieren. Die - schließlich - vorhandene Verwandtschaft in Praxis und Meinung über diese Aufgaben, die Vergleichbarkeit, ja z.T. analoge Universitäts- und Wissenschaftspolitik der Territorien gestatten es zudem, ein wenig verallgemeinernd zu argumentieren, ohne dadurch die Sache selbst unangemessen zu vereinfachen, sie aus den Augen zu verlieren. Aber noch eine weitere Vorbemerkung. Christian Wolff, nicht nur seine Naturrechtslehre, gilt vielerorts als schulbildend, vorbildlich und zentral für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts 7 • Auch hier darf ich erneut fragen, ob das solcherart zutrifft und wenn ja, in welcher Weise, in welchem Argumentationszusammenhang diese stilbildende Wirkung Wolffs zu beobachten steht. Schon eher mag vernachlässigt werden, daß mein "Preußenbezogen-sein-sollendes Thema" nicht erheblich von Wolffs Vertreibung aus Preußen tangiert ist. Schließlich kam Wolff später wieder zurück, und seine zwischenzeitliche Tätigkeit in Marburg hat dieser Universität, sieht man von der zeitweisen Werbewirkung durch die Person Wolffs selbst einmal ab, keinen nachhaltigen Aufschwung gebracht8 . Das benachbarte Gießen war mit Sinold gen. Schütz und später mit Schlettwein allemal besser als das verhockte Marburg. Aber das kann getrost als eine eher beiläufige Angelegenheit außer acht gelassen werden. Die Antwort hingegen auf die behaup5 Notker Hammerstein, Aufklärung und katholisches Reich, Berlin 1977; ders., Was heißt Aufklärung in katholischen Universitäten Deutschlands?, in: Katholische Aufklärung- Aufklärung im katholischen Deutschland, hrsg. v. Hann Klueting (Studien zum Achtzehnten Jahrhundert, 15), Harnburg 1993, 142 ff. 6 Leipzig, Aufklärung und Bürgerlichkeit, hrsg. v. Wolfgang Martens (Zentren der Aufklärung, III), Heidelberg 1990. 7 So gleichsam topisch in der älteren, vielfach aber auch in der jüngeren Literatur zum deutschen 18. Jahrhundert. Statt aller vgl. etwa Rudolf Vierhaus, Deutschland im Zeitalter des Absolutismus (Deutsche Geschichte, 6), Göttingen 1978, 94ff. B Heinrich Hermelink I Siegfried A. Kaehler, Die Phitipps-Universität zu Marburg 1527-1927, 2 Bde., Marburg 1927, hier I, 332 ff.
2 Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte - NF, Beiheft 3
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tete überzeugende bzw. schulbildende Wirkung Wolffs auf Wissenschaften und Universitäten wird gewiß besser zu geben sein, werden die Universitäten im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation insgesamt in den Blick genommen. Schließlich noch eine letzte Vorbemerkung bzw. Selbstbeschuldigung im Anblick von so vielen bedeutenden Kollegen. In früheren Arbeiten habe ich Behauptungen aufgestellt, die eigentlich meine Mitwirkung hier ausschließen und verbieten sollten. Da meinte ich nämlich, Naturrechtslehren hätten kaum oder allenfalls vorübergehend und auch dann vergleichsweise marginal die Reformen der deutschen Universitäten im 18. Jahrhundert mitgestaltet und bestimmt. Im protestantischen Reich komme ihnen innerhalb des nunmehr bestimmenden, tonangebenden Universitätsfachs, der Jurisprudenz, eine allenfalls untergeordnete Funktion zu9 . Schaue ich auf die Herren Birtsch, Klippel, Link, Willoweitl 0 - schlicht alphabetisch gereiht fällt es mir schwer, diese Auffassung weiterhin als zutreffend und überzeugend zu vertreten. So werde ich ein wenig nach modifizierenden Argumenten suchen müssen, unter Umständen gar Korrekturen anzubringen haben. Doch, warten wir das ab und wenden uns dem zweiten umstrittenen Phänomen zu: dem Einfluß Christian Wolffs insbesondere auf die Jurisprudenz im Reich. Unterstellt man einen solchen, für manchen übergewichtigen Einfluß, müßte davon auch die erste, die höchste Fakultät betroffen sein. Es müßte diese Materie zudem zum Kern reformerischer Disziplinen gehören, im methodischen Zentrum erneuerter Jurisprudenz liegen, die anderen Fakultäten und ihr Selbstverständnis, ihre Methode und ihre Ausrichtung mitbestimmen. Auch dazu habe ich früher gemeint, dieser Einfluß sei eher beiläufig gewesen 11 . Die Wirkung Wolffs müsse man insbesondere hinsichtlich 9 Notker Hammerstein, Zum Fortwirken von Pufendorfs Naturrechtslehre an den Universitäten des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation während des 18. Jahrhunderts, in: Samuel von Pufendorf 1632 -1982, hrsg. v. Kjell A. Modeer, Lund 1986, 31 ff.; ders., Christian Thomasius und die Rechtsgelehrsamkeit, in: Studia Leibnitiana 11 (1979), 22 ff. 10 Günter Birtsch, Zum konstitutionellen Charakter des preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794, in: Politische Ideologien und nationalstaatliche Ordnung. Fs. Theodor Schieder, hrsg. v. Kurt Kluxen und Wolfgang Mommsen, München 1968, 97ff.; Christoph Link, Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit, Weimar 1979; Diethelm Klippel, Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts, Paderborn 1976; Dietmar Willoweit, War das Königreich Preußen ein Rechtsstaat?, in: Staat, Kirche, Wissenschaft in einer pluralistischen Gesellschaft, hrsg. v. Dieter Schwab u. a. Fs. Paul Mikat, Berlin 1989, I, 491 ff.; ders., Deutsche Verfassungsgeschichte, München 1990, Kap. 5, 170 ff. 11 Notker Hammerstein, Christian Wolffund die Universitäten. Zur Wirkungsgeschichte des Wolfflanismus im 18. Jahrhundert, in: Christian Wolff 1679-1754, hrsg.
Die Naturrechtslehre an den deutschen Universitäten
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der höheren Fakultäten, also auch die im 18. Jahrhundert noch lange führenden und besser bezahlten Wissenschaften, mit Kant dahingehend charakterisieren, daß sie die Gelehrten zu größerer Klarheit und Gründlichkeit erzogen habe. Kant nannte Wolff den "Urheber des Geistes der Gründlichkeit", er habe die allgemeinen Tendenzen der Zeit energisch verstärkt und geordnet. Dazu gehörte fraglos Wolffs Bedeutung für eine wissenschaftliche deutsche Fachsprache, für ein eleganteres Deutsch. Die bessere Fähigkeit, Wissenschaftsfelder systematisch zu ordnen - nicht nur "more geometrico -, das allgemeine Vertrauen auf Vernunft und Vernünftigkeit auch der Wissenschaften, die einer Art Systemlogik zu folgen hätten, können in der Tat kaum treffender daher als "Geist der Gründlichkeit" charakterisiert werden. Inwieweit dies freilich Inhalte, Bestimmungen, Problembewußtsein der einzelnen Wissenschaften prägte, inhaltlich-methodisch ordnete, erscheint danach recht unentschieden, bedarf jeweils detaillierten, überzeugenden Nachweises. Insoweit seien- wie ich früher meinte, darzulegen berechtigt zu sein- Wolffs Wirkungen auf die protestantischen Universitäten doch eher allgemein, da sie im Konkreten der Disziplinen, in ihrer die wissenschaftlichen Methoden reformierenden Kraft nicht tiefgreifend gewesen seien. Dies seien sie im katholischen Reich gewesen, allwo Wolff - zunächst vor Pufendorf - im Zuge der Aufklärung wichtige Funktionen hatte und nachhaltig rezipiert worden ist12 • Freilich, es ist neuerlich zu fragen, ob dies frühere Urteil solcherart aufrecht zu halten ist. Bei der formalen Betrachtung, wann, wo und wie Naturrechtslehren an Universitäten vorgetragen wurden, könnte und müßte es naheliegen, die vorhandenen Vorlesungsverzeichnisse zu studieren. Bei der hohen Zahl von Universitäten war mir dies freilich nicht möglich. Auch gibt es keine verläßliche Zusammenstellung zu dieser Frage, und selbst in Monographien finden sich nur ungenügende, kaum detaillierte Angaben zur Sache. So mußte ich mich darauf beschränken, an einigen ausgewählten Beispielen, z.T. auch dank älterer Bemühungen, einen tragfähigen Überblick zu gewinnen. Immerhin befinden sich darunter Institutionen, die für das 18. Jahrhundert von gleichsam beispielhafter Bedeutung gewesen sind, wie Halle, Göttingen, Wien und z.T. auch Ingolstadt. Andererseits sind außer den Vorlesungsverzeichnissen zum mindesten ebenso aussagekräftig die vielen gedruckten Studienanleitungen, Handbücher oder, modern gesprochen, "text books". v. Wemer Schneiders (Studien zum Achtzehnten Jahrhundert, 4), Harnburg 1983, 266 ff. 12 Notker Hammerstein, Besonderheiten der Österreichischen Universitäts- und Wissenschaftsreform zur Zeit Maria Theresias und Josephs li., in: Österreich im Europa der Aufklärung, hrsg. v. Richard Georg Plaschka u. a., Wien 1985, hier li, 787 ff.
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Auch sie lassen Schlußfolgerungen zu Verbreitung, Bedeutung, Auswirkungen und Einfluß von Naturrechtslehren zu. Aber nun zur Sache unmittelbar. Ich darf mit einem eher äußerlichen Moment beginnen: der Errichtung von Professuren für Naturrecht. Hier ging, wie allgemein bekannt, Heidelberg 1661 mit der Berufung Samuel Pufendorfs voraus. Alsbald, aber nur für wenige Jahre, folgten Kiel 1665 und 1674 Greifswald. In 1\ibingen finden wir 1686 einen solchen Lehrstuhl, in Gießen 1692, in Jena 1734 13 • Mitte des 18. Jahrhunderts stoßen im allgemeinen die katholischen Universitäten zu dieser Phalanx, am frühesten Ingolstadt 1746, dann Würzburg und Bamberg und in den 50er Jahren viele Habsburger Universitäten. Freilich, all das sagt nicht sehr viel bzw. braucht es nicht. Denn bezeichnenderweise wurden diese Lehrstühle in der Regel innerhalb der Artes-Fakultäten errichtet. Darüber hinaus entsprachen sie üblicherweise einem Wunsche des jeweiligen Ordinarius, der dies Gebiet gleichsam zu seiner Liebhaberei zählte. Häufig wurden solche Lehrstühle denn auch nach dem Tod ihres Inhabers, nach N euberufungen, aufgelöst bzw. umfirmiert. Und schließlich: Bei der Aufzählung fehlt die entscheidende Reformuniversität, die Fridericiana zu Halle. Aber genau dort wurde ab 1692, offiziell 1694, die emeuerte Jurisprudenz entwickelt, verkündet und beispielgebend vertreten. Daß dort kein solcher Lehrstuhl eingerichtet wurde, ist ein wichtiges Indiz sowohl für die uns interessierende Themenstellung sowie auch die Bedeutung, die Wertschätzung des Naturrechts als juristischer Disziplin. Denn darum geht es ja bei meiner Argumentation. Andererseits ist das Anlaß, mit Halle, mit Thomasius und seinen Kollegen und Schülem zu beginnen. Auf die Fridericiana geht es zurück, wenn die Wissenschaften- und damit die Universitäten- neu geordnet, in eine andere Werthierarchie überführt und die Studien insgesamt verjüngt wurden14 . Durch Thomasius kommt es, wie ich das nannte, zu einer "Juridifizierung" des gesamten Wissenschaftskanons. Das Naturrecht- das uns hier interessiert- bietet ihm nun die beste "Hülffe in theoretischer Erklärung der Gesetze" . Es sei ;,im engeren Sinne" die Grundlage allen Rechts, ergänze die positive bzw. überkommene Rechtsordnung dort, wo keine Normen oder Gesetze vorhanden sind. Insoweit sei es zwar wichtig, aber ersetze weder die überkommene Rechtsordnung noch bestimme es sie und bedürfe daher auch nicht bevorzugter Aufmerksamkeit wie Jus civile, Jus publicum, Jus patrium, Jura circa sacra. Selbst die ars legislatoria verlange vorab Kenntnis der "historischen" (jeweiligen) Rechtsordnung mehr als die eines Naturrechts. Im Kem gebiete das Naturrecht, 13 Die Zusammenstellung nach Horst Denzer, Moralphilosophie im Naturrecht bei Samuel Pufendorff, München 1972, 319 f . 14 Insges. N . Hammerstein, Jus und Historie (Anm. 4).
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recht allgemein dasjenige zu tun, "was der Menschen Leben sehr lang und glückseelig machet, und dasjenige ... (zu) meiden, was das Leben unglückseeliger machet und den Tod befördert" 15 . Anders als Grotius und Pufendorf mißtraute freilich Thomasius der Vernunft. Er band daher sein Naturrecht an die Affektenlehre - was ich hier nicht näher erörtern, eben nur erwähnen kann- säkularisierte bzw. mundanisierte es aber nicht minder16 • Seine weitgehende Trennung von Recht und Moral, Religion und Recht führte bei ihm bis zu einer Art "Frühhistorisierung" des Denkens und des Weltverständnisses, läßt ihn zudem als einen "liberaleren", enger "juristisch argumentierenden" Vertreter der Naturrechtstradition erscheinen. Auch darin unterscheidet er sich von Leibniz, Pufendorf und Wolff. Ich brauche und kann das hier nicht umständlich darstellen, da es nicht eigentlich mein heutiges Thema ist. Verweisen mußte ich nur deswegen darauf, weil sich zunehmend diese "dictamina rectae rationis", wie Thomasius gelegentlich das Naturrecht apostrophierte, verflüchtigen. Immer dann, wenn in einem Staatswesen harmonische Übereinstimmung "des inneren und des äußeren Friedens" herrscht und gewährleistet ist, ist diese Ordnung gleichsam naturrechtlich sanktioniert, erscheint als gerecht, in seiner Rechtsordnung geheiligt und erhaltenswert. Das Naturrecht verbleibt zwar als letzter Grund, aus dem die jeweilige staatliche Ordnung mitentstand, aber diese selbst- wie gesagt- ist das Eigentliche, Wichtige, vom Naturrecht nicht in Frage zu Stellende. Was rechtlich- und politisch- in einem Staatswesen zu geschehen hat, zu befolgen ist und verantwortet werden darf, bestimmt sein "Herkommen", seine Geschichte. Deren Gerechtigkeitsabsichten, Gerechtigkeitsauffassungen, muß die bestehende allgemeine oder territoriale Rechtsordnung entsprechen, und die läßt sich allein aus den Anfängen des Staatswesens erschließen. Thomasius geht folgerichtig daher so weit, in der einzelstaatlichen Rechtsordnung, wenn sie inneren und äußeren Frieden gemäß den Gesetzen ermöglicht, die ausgefalteten Prinzipien des ursprünglich göttlichen- Naturrechts zu erkennen. Bei ihm entspricht insoweit - um es zu wiederholen - der Begriff staatlicher Rechtsordnung dem eines gleichsam verflüchtigten Naturrechts. Im funktionierenden Gemeinwesen, das seinen (gerechten) Gesetzen folgt, hat sich das Naturrecht gewissermaßen positiviert. Das zwingt dazu, dieser positiven Rechtsordnung vorab die Aufmerksamkeit und die Pflege der Rechtsgelehrten zuzuwenden, ihr müssen sie sich widmen17 . Zit. nach ebd., 72 ff. Vgl. -außer D . Klippel, Politische Freiheit (Anm. 10),- auch Hinrich Rüping, Die Naturrechtslehre des Christian Thomasius und ihre Fortbildung in der Thomasius-Schule, Bonn 1968, passim. 15 16
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Daher traut Thomasius auch- um dies in Parenthese anzumerken- der schöpferischen Kraft naturrechtlicher Vernunft als solcher nicht allzuviel zu. Dem königlichen Auftrag, eine bessere Rechtsordnung für Brandenburg-Preußen "binnen kürzester Frist" zu unterbreiten- die königliche Ordre stammte von 1714, Thomasius war Primarius- wollte und konnte er folgerichtig nicht entsprechen. "Alle politische, lang eingerissenen Mängel im gemeinen Wesen" - meinte er andernorts - "können so wenig durch übereylte Gesetze gehoben werden, als wenn ein Medicus einen Gichtbrüchigen bey Straffe der Prügelung anbefehlen wollte, daß er aufstehen und herumgehen solle" 18. Die Anwendung auch bester Rezepte, die Hoffnung auf vernunftrechtliche Konstruktionsmöglichkeiten führen zu nichts, sie können es für Thomasius und die Hallenser nicht! Sie sind dort zu suchen bzw. herzuleiten, wo sie historisch wirksam und existent geworden sind, und sind als solche zu stützen und eventuell fortzubilden. Das Naturrecht bleibt zwar eine wichtige, aber im Grunde insoweit allein propädeutische Grundlegung der Rechtsmaterie. Darin erfüllt es freilich eine entscheidende methodische Aufgabe. Indem es die letzte Rechtsbegründung aus der Vernunft holt, erlaubte es immerhin - und das ist seine Aufgabe - die religiöse, besser theologische Ableitung staatlicher Ordnung zu vermeiden, sie zu überwinden19 . Die Absicht, das Recht und damit das Gemeinwesen theologischer Bevormundung zu entziehen, war damit erreicht. Das ging, wie bekannt, nicht ohne Konflikte ab. Aber anders als bei Pufendorf und Leibniz hat diese Lehre des Thomasius, da in Universitäten schulbildend vermittelt, tatsächlich einen neuen Abschnitt rechtlicher Argumentation und juristischer Unterweisung eröffnen können. Grob schematisiert lief das auf eine veränderte, juristische Ausbildung und eine neu gewichtete Methode hinaus. Das Civilrecht rückte von der sächsischen Praxis ab. Stärker wurden deutschrechtliche, herkömmliche, überhaupt historische Ableitungen miteinbezogen. Das Kirchenrecht, Strafrecht und Territorialstaatsrecht wurden wie auch das Jus Publicum "historisiert". Die Historie als Hilfsdisziplin mit ihren weiteren Unterdisziplinen galt Thomasius als "das eine Auge der Weisheit". Der Ausbau der Reichs-Historie und Staatenkunde und eine neue Form der Beweisführung gemäß der historischen Entwicklung - und nicht aufgrund vorgegebener Autoritäten- wurden eingeführt und verbindlich. Die Historia litteraria belehrte darüber, die jurisprudentia legislatoria entnahm ihnen ihre Handlungsanleitungen. N. Hammerstein, Thomasius und die Rechtsgelehrsamkeit (Anm. 9). Christian Thomasius, Dr. Melchior von Osse Testament ... , Halle 1717, 450. 19 So auch H. Rüping, Naturrechtslehre (Anm. 16), 45 ff. u. ö., D. Klippel, Politische Freiheit (Anm. 10), 46 f. 17
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All das wirkte nicht nur auf die anderen Fakultäten, insbesondere die Theologie und die artistischen Disziplinen zurück, sondern änderte insgesamt Argumentationsweise wie gelehrtes Schrifttum. An die Stelle des Polyhistorismus trat eine eklektische, frühhistoristische, eine stärker auf Praxis orientierte und auf Sitte, decorum (Verhalten) zielende Tendenz20 . Ich rufe das nur in Erinnerung, um erneut zu verdeutlichen, wie eher am Rande dabei Naturrechtslehren fungierten. Gewiß hatten sie nach wie vor ihren Platz und ihre Aufgabe, aber sie gehörten nicht eigentlich in den zentralen Teil juristischer Ausbildung. Mit wenigen Ausnahmen gab es fast niemanden, der dies anders sah, ohne daß damit freilich die propädeutische Grundlegung und die wichtigen Positionen für vernünftige, innerweltliche Ordnung der Dinge, die diese Materie vermittelte, gering geschätzt worden wären. In der Fortentwicklung des Fachs an den Universitäten sieht man das recht gut. Erneut ist freilich festzuhalten, daßNaturrechtoder Jus Publicum universale, wie das Justus Henning Böhmer im Gefolge Thomasius' nannte, zumeist in den Artes-Fakultäten angeboten wurde. Aber selbst wenn es in der Juristischen Fakultät auftauchte, war deutlich, daß diese Disziplin als "Voraussetzungswissenschaft" angesehen wurde, als Propädeutik. Das war bei Johann Laurentius Fleischer wie bei Heineccius, bei Nicolaus Morgenstern und Jacob Gabriel Wolf- alle lehrten sie in Halle bis etwa 1740- der Fall21 und selbstverständlich auch bei Nikolaus Hieronymus Gundling und Justus Henning Böhmer, die übrigens beide wesentlich daran mitwirkten, die Thomasischen Vorstellungen zu verfeinern, zu vervollständigen und führend zu machen. Begreiflicherweise galten nach wie vor auch Grotius und Pufendorf als wichtige, ja entscheidende Gewährsmänner eines Jus naturae et gentium. Freilich sollte deren und anderer "falsche" Ableitung des Naturrechts, wie Gundling etwa argumentierte, vermieden werden. Er meinte damit - um es kurz anzumerken - die Berufung auf einen statum integritatis wie bei Valentin Alberti, David Mevius oder Seckendorf, oder die auf den Decalog wie bei Georg Calixt und anderen Theologen. Auch galt ihm und anderen Thomasianern die Annahme eines consensus gentium, wie er sich bei Aristoteles oder Cicero fände, als falsch. All diese Begründungen hätten einer rein innerweltlichen zu weichen, wie sie zuletzt Thomasius entwickelt habe. Die garantiere dem Naturrecht gleichwohl in allgemeinster Grundlegung den "pacem externam" des Gemeinwesens und seiner Mitglieder als letztes Ziel der res publica zu beschreiben. Auch erkläre dies Naturrecht, 2o Die allgemeine Situation vorzüglich auch bei Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, Göttingen 1967; Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1, München 1988. 21 Die Angaben entsprechen den Vorlesungsverzeichnissen der Universität Halle, im Universitäts-Archiv zu Halle.
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daß die Kirchen nur Teil in und unterhalb der staatlichen Notwendigkeiten seien, nicht über dem Gemeinwesen stünden22 . Das Naturrecht müsse insoweit als "der theoretische Theil von der alten Moral" gelten, wie das Joachim Georg Darjes formulierte 23 . Folgerichtig verblieb es als Teil der philosophia practica, diente dazu, wie Gundling anerkennend Cocceji zitierte, "pacem quaerere, socialiter vivere". Freilich müsse diese innere Verpflichtung von der letztlich entscheidenden äußeren juristisch getrennt werden, damit klar und deutlich eine Trennungslinie zwischen Moral und Recht, bzw. Religion und allgemeiner staatlicher Rechtsordnung gezogen werden könne24 . Soweit also diese von Halle ausgehenden, die Juristischen Fakultäten und Auffassungen erfassenden sowie verändernden Lehren. Sie bestimmten Rangordnung und Rangfolge der Materien und der Fakultäten selbst, erneuerten die Universitäten, legten Methoden und Unterweisung fest, begründeten die Hierarchie der Fächer und ihrer Vertreter. Viele Professoren legten ihren Vorlesungen nun gern eigene Compendien oder "Systeme" zugrunde. Das erlaubte schlicht, ein Zubrot zu verdienen und Originalität unter Beweis zu stellen, selbst wenn die nicht allzu groß war, wie in der Mehrzahl der Fälle. Daneben blieben freilich "Klassiker" des Naturrechts im Gebrauch, die wegen ihrer Kürze, ihrer Deutlichkeit und auch Zweckmäßigkeit immer wieder genutzt wurden, wie die Vorlesungsankündigungen zeigen. Vorab war Pufendorfs "De officio Hominis et Civis juxta Iegern naturalem" ein solcher Grundtext, daneben wurde Böhmers "Jus publicum universale" oder Heineccius' gleichlautendes opus anempfohlen. So war es etwa in Halle, aber auch an anderen Hochschulen. In Göttingen wurde öfters Gundlings Naturrecht, neben Pufendorf und- ab 1756auch Wolffs Grundriß genutzt. Zugleich lasen Achenwall und Feder häufig nach eigenem Compendium. Sie führten Pufendorf und Thomasius fort, übernahmen auch Wolfische Vorstellungen und Termini. Ab den 1780er Jahren wurde zunehmend Ludwig Julius Friedrich Höpfners 1780 in Gießen publiziertes "Naturrecht der einzelnen Menschen, der Gesellschaft und der Völker" zugrunde gelegt25 , das nicht nur wegen seiner stilistischen Exzellenz geschätzt wurde, sondern auch von Thomasius gleichsam zu Kant hinüberwies26. 22 Nikolaus Hieronymus Gundling, Jus Naturae ac Gentium connexa ratione novaque methodo . . ., 3. Aufl., Halle I Magdeburg 1736, 24 ff. 23 Joachim Georg Darjes, Discours über sein Natur- und Völker Recht, 3 Bde., Jena 1762, hier I, 64. 24 N . H. Gundling, Jus Naturae (Anm. 22), 26f., 15. 25 Vorlesungsverzeichnisse der Georgia-Augusta in der Niedersächsischen Staatsbibliothek Göttingen.
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Die vielfältigen "eigenen" Lehrbücher erklären es, daß insgesamt recht unterschiedliche Vorlagen in Naturrechtsvorlesungen genutzt wurden. Schon eher erstaunt es, daß die Wolff-Schule nicht einheitlich den Wolfischen Grundriß nutzte, sondern auch andere, oft selbst Vorlagen der Thomasius-Schule heranzog. Nettelbladt und Darjes lieferten eigene Entwürfe, die den "Meister" variierten, aber ihm vielfach verpflichtet blieben. Sie dienten ihrerseits jedoch kaum anderen als Grundhandbücher für Vorlesungen. Wolff selbst variierte bemerkenswerterweise seine Ankündigungen in Halle mehrfach. Neben den eigenen Werken nutzte auch er übrigens Pufendorf, Grotius und Heineccius. Bei ihm blieb die propädeutische Absicht immer deutlich, die Vorlesung "explicavit philosophiam moralern una curn genuinis principiis Juris Naturae'127 • Eine Hallenser Ankündigung von 1788 machte das dann noch klarer, indem sie als "jurisprudentiam naturalern, doctrinae propaedeuticas Jurisprudentiae positivae et jurisprudentiarn positivarn generalem" vorzutragen verkündete 28 • In der Spätphase des Reichs wurde diese Materie zunehmend an das Gebot allgerneiner Glückseligkeit gebunden29 . Vorstellungen des Wohlfahrtsstaates, der Policey als "eine Einrichtung des Staats zum glücklichen und vergnüglichen Leben der Unterthanen", wie Darjes formulierte, wirkten insofern auf das Naturrecht zurück, das gern- wie in Göttingen- "nebst den Gründen der Politik" (Feder), der allgemeinen Staatslehre oder I und der Cameralistik angekündigt wurde. Damit änderten sich manche Bewertungen, ohne daß die Materie als solche einen anderen Stellenwert in der Ausbildung erhielt. Sie blieb "ein Theil der practischen Philosophie, und (galt als) diejenige Lehre, welche die Pflichten erkläret, so aus dem Lichte der Natur und gesunden Vernunft können erkandt werden, mithin alle Menschen und alle Völker verbinden, in Dingen, so die äußerliche Ruhe der menschlichen Gesellschaft betreffen", wie im entsprechenden Artikel bei Zedler30 bereits in der Mitte des Jahrhunderts formuliert worden war. Wie bei "aufgeklärten" Juristen kaum anders zu erwarten, mußte trotz des nicht herausragenden Stellenwertes dieser Materie der eminente Nutzen der Disziplin betont werden. So konnte und durfte sie nicht als über26 Vgl. jeweils auch die Nachweise und Angaben in Roderich Stintzing/Ernst Landsberg, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, Abt. 3, München/Leipzig 1898. 27 So etwa die Vorlesungsankündigung von 1747, der Text wiederholt sich aber öfter. 28 Ein gewisser Professor Koenig; Universitäts-Archiv Halle. 29 D. Klippel, Politische Freiheit (Anm. 10), 63 f . 30 Johann Heinrich Zedler, Großes vollständiges Universallexikon aller Wissenschaften und Künste, Leipzig 1732.
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flüssig und nebensächlich eingestuft werden. Mit am deutlichsten hat dies Adam Friedrich Glafey in seiner "Vollständigen Geschichte des Rechts der Vernunfft" getan 31 . Allen Ständen, die im Gemeinwesen irgendwie Verantwortung zu tragen in die Lage kommen konnten, war folgerichtig diese Materie anempfohlen. "Von dem Regenten-Stande den Anfang zu machen, so ist nach und nebst dem Christenthum keine nöthigere Wissenschafft, worinnen ein junger Fürst informieret werden solte, als das Recht der Vernunfft. Denn da lernet er aus demselbigen, in Sonderheit aus dem Jure Publico universali, die wahren Grentzen seiner Macht, und wieweit die Gewalt eines OberHerrn über seiner Unterthanen gehet .... Das oderint, dum metuant, ist ein überaus schlechtes Regenten-Principium, so manchen großen Herrn um Ehre, Reich und Land gebracht". Aber auch Minister, ICtus, selbst Feldherrn bedürften dieser Lehren, um in anstehenden, in Gesetzen nicht geregelten Fällen gemäß der Billigkeit und anderer Prinzipien zu entscheiden. Das müsse freilich in den "gehörigen Schrancken" geschehen. "Wer es beyden Bürgerlichen Gesetzen überall zur Norm machen, und nichts annehmen und passieren lassen will, als was aus den Principiis der Vernunfit hergeleitet werden kan oder doch mit denselbigen übereinstimmt, wird in der Juris prudentia civili nicht weit kommen, gestalten denn die Erfahrung lehrt, daß das Jus naturae denenjenigen, welche auf solche Arth mit dem Jure Civili verfahren, an der Erlernung desselben mehr schädlich als nützlich gewesen ... " 32 . Auffallen muß es schon, daß an den protestantischen Universitäten, in Halle und noch mehr in Göttingen, Wolff keineswegs bestimmender oder gar dominierender Autor gewesen ist. Selbst im Natur- und Völkerrecht wird er nach 1750 nicht annähernd so häufig genutzt wie Pufendorfs "de officio", muß sich darüber hinaus den Platz mit anderen Autoren teilen. In Göttingen hält man sogar bewußt Distanz zur Wolff-Schule, in der man eine neue Orthodoxie, eine zu entschiedene Parteibildung erkennen zu müssen meint. Schon ihr Gründer und Wächter, der Freiherr von Münchhausen, äußerte, "von des Wolffen Philosophie keine sonderliche Hochachtung" zu hegen. Man müsse sie freilich, da sie andernorts offensichtlich höher geachtet werde, mitvertreten lassen33 . Johann Jakob Schmauß, der in Göttingen lange wirkungsmächtige und einflußreiche Reichspublizist war nicht nur, weil er ein eigenes Naturrecht zu entwickeln versuchte, gegen die "Wolfische Grillenfängerey". Nach Wolffs Ableben meinte er denn auch lapidar: "und wann der Tod sich über das Publicum nicht erbarmet hätte, würde er 31 32 33
Leipzig 1739 (Reprint Aalen 1965). Ebd., 1 ff. N . Hammerstein, Jus und Historie (Anm. 4), 312 ff.
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nach seinem insanabili scribendi cacoethe vielleicht noch viele mehrere volumina von dem Jure Naturae der Schuster, Schneider und anderer Handwerker geschrieben ... haben" 34 . Im Naturrecht, dem neben juristischer Enzyclopädie und Historia Juris dritten wichtigen propädeutischen Fach für angehende Jurisperiti gab es also eine große Anzahl von Lehrbüchern, Compendien, Grundrissen. Sie argumentierten zumeist auf je eigene Weise. Doch war und blieb die Disziplin immer eine der philosophia practica viel mehr als eine der Jurisprudenz, selbst wenn sie als Jus Publicum universale einherging. Insoweit konnte sie an protestantischen Universitäten kaum als eigene Professur, gar als wichtige, hochbezahlte Lehrkanzel firmieren. Sie gehörte in die Vorstufe juristischer Ausbildung, nicht ins Zentrum!
Entgegen der Frühphase naturrechtlicher Diskussion spielte ab der Mitte des Jahrhunderts etwa die Frage nach der Entstehung der Staaten bzw. des Staats kaum mehr eine Rolle. Die Wirkungen Halles, die Frühhistorisierung verwiesen zunehmend- selbst Wolffianer- auf die "quaestio facti", die alles entscheidende historische Ableitung und Begründung der Reichsrechtsordnung. Die erfuhr - um es zu wiederholen - hohe Wertschätzung, ja eine Art naturrechtlicher Überhöhung. Die in den Anfängen des Reichs festgelegten oder beabsichtigten Zwecke seien daher vorab und immer wieder zu verdeutlichen und zurückzugewinnen, war die Lehrmeinung. Sie garantierten den zuverlässigen und genuinen Rechtscharakter des Reichs, den es jeweils neu zu verankern und zu konservieren gelte35 . Auch von daher erklärt es sich, daß Naturrechtslehren deutscher Professoren und Staatsrechtslehrer nicht hin zu einer revolutionären oder auch nur stark reformistischen Veränderung drängten. Sie behielten auf Reichsboden den in jüngerer Zeit zu Recht festgestellten statischen, bewahrenden Zug, der diese lutherischen Juristen auszeichnete. Begreiflicherweise konnten diese Lehrmeinungen und Campendien im katholischen Reich unschwer rezipiert und übernommen werden! Denn dort, um mich nun noch kurz diesen Territorien zuzuwenden, dienten die neuen juristischen Disziplinen bzw. Materien ebenfalls zu einer Verjüngung, einer Reform der Universitäten. Die erfolgreichen protestanZit. nach H. Rüping, Naturrechtslehre (Anm. 16), 101. Historische Ableitung, nicht göttliche Setzung oder allgemeine Vernunft ließen also den seit seinen Anfängen deutlich bestimmten Staatszweck erkennen: "Solus consensus macht ein imperium proprie sie dictum. Alles kommt ex artificio, ex pacto, ex approbatione populi, und sind diejenigen Enthusiasten, welche sagen, daß Majestas immediate a Deo," -hieß es in Grundlings Discours seines Naturrechts; J. Kemmerich nannte hingegen eine Verfassung eine "Vereinigung undverbindungder obrigkeit und unterthanen zu dem endzweck der Republique, wie solchen denen anfangs gemachten pactis gemäß ist". 34 35
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tischen "Errungenschaften" wurden ab 17 50 ca. vennehrt den eigenen Mundanisierungs- und Wohlfahrtsstaatsbemühungen nutzbar zu machen gesucht. Folgerichtig wurden fast alle der in Halle und dann in Göttingen entwickelten Disziplinen zu übernehmen gesucht, so auch das Naturrecht. Die katholischen Aufklärer wollten gleichennaßen das Postulat allgemeiner Glückseligkeit verwirklichen, wie auch die Regelung der Welt durch weltliche Instanzen sicherstellen36 • Da jedoch diese katholischen Territorien, und nicht nur die geistlichen, auf anderen Grundlagen und Traditionen aufruhten, die eine völlige Mundanisierung wissenschaftlicher Materien ausschlossen, mußten sie ein wenig anders vorgehen. Die Religion, die katholische Kirche, waren und blieben Bedingungen ihrer Existenz, im Habsburgischen stärker als in Bayern, aber auch da - und erst recht in den geistlichen Territorien. Anders daher als in Halle I Göttingen mußte die Historisierung der Disziplinen vor einer zu weit gehenden "Aufklärung" halt machen und mußte insbesondere die Begründung des Staats wie auch die der Kirche möglichst in einem (göttlichen) Naturrecht ankern37 • Das schloß keineswegs aus, daß hinfort der Landesherr vor der Kirche für die territorialstaatlichen Interessen zuständig zu sein hatte, aber es führte zu einer leicht modifizierten Argumentation und Begründung. Dafür war insbesondere das Jus Naturae zuständig und staats- wie zivilrechtlich unverzichtbar. " ... wird sich der Professor hauptsächlich angelegen sein lassen, bei Erklärung des allgemeinen Staatsrechts den Zuhörern einen gründlichen Begriff von den echten Hauptgrundsätzen, aus welchen die übrigen Lehren dieser Wissenschaft fließt, beizubringen ... ; welches besonders in der materia de jure sacrorum nötig ist, weilen ja in Ansehung deren Protestanten alldiesfalls in Deutschland mitstehende Streitigkeiten aus keinem anderen Fonte als aus dem Jure publico universaH entschieden werden können .. . Ferner ist allhier in dem eigentlichen Sitz den zur allgemeinen Wohlfahrt unumgänglich nötigen rechten Lehren von der höchsten Gewalt und ihren Befugnissen überhaupt und insbesondere, da dann der Professor die Nutzund Notwendigkeit der Majestät, ihre Unabhängigkeit auf Erden, ihre Unverletzbarkeit in allen erdenklichen formis rerum publicarum folgsam von Seiten der Gehorchenden derselben schuldige Verehrung der studentischen Jugend ... einprägsam und ... (vor) verderblichen Lehren bewahren kann", wie es in einer kaiserlichen Vorschrift hieß 38 . 36 lnsbes. auch Horst Möller, Vernunft und Kritik. Deutsche Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1986, passim. 37 Christoph Link, Die Staatstheorie Christian Wolffs, in: W. Schneiders Christian Wolff (Anm. 11), 171 ff. 38 Vgl. insges. N. Hammerstein, Aufklärung (Anm. 5), passim.
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So wurde denn auch in katholischen Universitäten anders als im protestantischen Reich dem Primarius der Juristen neben der Publizistik das Naturrecht mitübertragen. In Ingolstadt 1746- der ersten Einrichtung eines solchen Lehrstuhls in der Juristischen Fakultät, der dieserart im protestantischen Reich eigentlich nicht vorkam- firmierte der als: "Jus publicum naturae et gentium et Jus oeconomico-camerale" 39 . In Würzburg hieß die Professur in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts "Natur- und Völker-Recht und deutsches Reichs-Staatsrecht" 40 . Im Habsburgischen verfuhr man bald ähnlich und allenthalben erschienen eigene, nicht unwichtige Compendien. Johann Adam Ickstadt, der Freiherr von Martini, auch Paul Josef Riegger und selbst der Freiherr von Sonnenfels taten sich neben anderen hervor. Bemerkenswerterweise nahm alsbald jedoch Pufendorfs "de officio" den ersten Rang in dieser Materie ein. Ganz wie im protestantischen Deutschland stach auch er alle anderen Autoren aus, einschließlich Christian Wolff, der zunächst im katholischen Reich deutlicher und nachhaltiger rezipiert worden war als an evangelischen Universitäten. Wolff selbst hatte das freudig zur Kenntnis genommen, wie er in einem Brief an Ickstadt 1751 schrieb. "Es haben mich kürzlich einige reisende Kavaliere versichert, daß sie in den Benediktiner-Klöstern viele gefunden, die meine Philosophie werth halten, wie auch Ew. Hochwohlgeb. dieses von den Benediktinern in Baiern mich versichert. Es ist mir auch solches von einigen Patribus Societatis (also Jesuiten, N . H.) aus ihren Briefen, die ich von ihnen erhalte, bekannt; allein ich weiß gar wohl, daß sie propria autoritate in ihrem Dociren von der eingeführten Art zu dociren nicht abweichen dürfen. Schon längst haben in Warschau die Patres piarum scholarum einen Geschmack an meiner Philosophie gefunden ... Ich habe auch erst kürtzlich von den hiesigen Patribus, welche Franziskaner aus Halberstadt sind, Barfüßer-Ordens, vernommen, daß die vier Personen, welche sich als Professores aus Würzburg melden ließen, und von denen ich wissen wollte, wer sie doch möchten sein, Jesuiten aus Mainz und Würzburg gewesen, welche sowohlbeyden hiesigen Patribus, als im Wirtshause viel rühmens von mir gemacht, in Sonderheit, nachdem sie mündlich mit mir gesprochen und mich von Person kennenlernten"41. Jedoch, Wolff wurde zugunsten Pufendorfs, gelegentlich auch Böhmers oder anderer protestantischer Autoren verlassen. Im Habsburgischen gab es Ebd., 216. Anton Schindling, Die Julius-Universität im Zeitalter der Aufklärung, in: Vierhundert Jahre Universität Würzburg. Eine Festschrift, hrsg. v. Peter Baumgart, Neustadt an der Aisch 1982, 77 ff. 41 Anton von Bücher, Sämtliche Werke, hrsg. v. Joseph von Klessing, Bd. 1, München 1819, 250ff. 39
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daneben - wie erwähnt - noch Martini und auch Ickstadt, die mit ihren an die Thomasius-Schule angelehnten, aber auch Wolff verpflichteten Campendien Schule machten. Der Gebrauch protestantischer Campendien schien übrigens keineswegs problematisch, waren sie doch in den entscheidenden Dingen, der Reichs- und Kaisertreue42 wie auch in der Lehrmeinung, der Landesherr habe in allen weltlichen Dingen das Sagen, angenehm entschieden, deutlich und der katholisch-aufgeklärten Anschauung keineswegs entgegengesetzt. Man verwies allenfalls in einem Vorwort darauf - wie etwa in dem Nachdruck von Böhmers Jus Publicum Universale, Prag 1763, - ein vernünftiger Leser werde erkennen, daß hier ein Lutheraner argumentiere, der der katholischen Kirche nicht immer gerecht zu werden in der Lage sei. Geringfügige Abstriche und Modifikationen müßten daher gelegentlich vorgenommen werden. Sie könnten aber insgesamt nicht den Wert und Nutzen dieser Bücher mindern43 . Eine wichtige Folge dieser Entwicklung war es nun, daß zunehmend gleiche Autoren und gleiche Disziplinen studiert, gelesen und gekannt wurden. Selbst bei unterschiedlichen Gewichtungen blieb es insoweit klar - und das war seit den Tagen der Reformation zum erstenmal -, daß gleiche Überzeugungen, Interessen, Grundlagen und Wissenschaften nördlich und südlich derMain-Liniegelehrt und studiert werden mußten. Dieser neue hallischgöttinger Kanon beschrieb das Eigentümliche der Reichsrechtsordnung, der Reichsgesinnung, die er zugleich emphatisch bejahte, zu befördern und zu verstärken suchte, einer "Reichsideologie", die sich deutlich von den Staats- und Rechtsauffassungen anderer europäischer Länder abhebe. Neben die Frühhistorisierung trat also bereits im späteren 18. Jahrhundert eine Art Frühnationalisierung, ohne daß dies solcherart begriffen oder intendiert worden wäre. Gleichwohl verweist das auf Tendenzen, die im 19. Jahrhundert, wenn z.T. auch in anderer Form, Allgemeingut werden sollten. Fassen wir zusammen: Die Naturrechtslehre wurde an fast allen Universitäten regelmäßig vorgetragen, also auch an den preußischen. In ihrer inhaltlichen Ausgestaltung folgten die Professoren unterschiedlichen Vorgaben, die freilich kaum grundsätzlich-tiefgreifende Prinzipien betrafen. An protestantischen Universitäten, an denen die Thomasius-Schule bestimmend blieb, gehörte Naturrecht nicht zu den wichtigen juristischen Materien, es verblieb im Rahmen der Reform- und Leitdisziplinen von untergeordneter Bedeutung. Es gehörte - so in Göttingen - zu den Gegenständen der "Welt42 Notker Hammerstein, Der Reichstitel als politisches Programm, in: Bilder des Reichs, hrsg. v. Rainer A. Müller, München 1997; vgl. insges. die dort versammelten Beiträge. 43 Just_us Henning Böhmer, Jus Publicum universale ex genuinis Juris Naturae principiis deductum ... , Prag 1774, Praefatio (o. S.).
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weisheit", löste sich nach 1795 in allgemeines Staatsrecht und Politik unter der Überschrift "Philosophie" auf. Aber selbst bei Wolffianern galt es als wichtiger Teil der Philosophia practica, konnte- wie in Halle- unter "Ethicam, Jus Naturae et Politicam" angekündigt werden. Diese grundlegenden, propädeutischen Funktionen erhielt das Naturrecht auch an katholischen Universitäten ab 1750 ca. Aber dort hatte es einen insgesamt höheren Stellenwert. Auch gehörte es nicht vorab in die Artistische bzw. Philosophische Fakultät, sondern residierte im allgemeinen in der Juristischen. Im katholischen Reich zählte das Naturrecht zudem zu den wichtigen Reformdisziplinen erneuerter Jurisprudenz und verjüngter Universitäten. Aber auch hier stützte es vorab die als vorbildlich, ja ideell rechtsstaatlich begriffene Reichsrechtsordnung. Nicht nur Johann Jacob Moser sprach davon, daß "Teutschland der allerglücklichste und respectabelste europäische Staat" sei, auch Johann Stephan Pütter urteilte, es könne keine "glückseligere Einrichtung eines Staats erdacht werden" 44 . Beide stimmten sie- wie alle Reichspublizisten nördlich und südlich des Mains- Fr:iedrich Carl von Moser zu, daß die Deutschen "im Bunde und Schutz der Gesetze frey" seien, ihre staatlich/territoriale Ordnung eine auf Frieden, Ausgleich und Wohlfahrt angelegte sei. Darum lehnten 1789 auch viele von ihnen die - wie wiederum der jüngere Moser sagte- "überspannten Begriffe von der Freyheit des Menschen und (der) bürgerlichen Freyheiten" ab. "Die ganze Idee in ihrer Darstellung und würklichen Anwendung ist Unsinn, ist gegen die Ordnung des Schöpfers und der ganzen Natur. Mannigfaltigkeit und Abstufung ist das Große und Schöne der Harmonie der Schöpfung, vom Elefanten bis zur Maus, vom Adler bis zur Fliege"45 .
44 Nachweise im Artikel ,Reich', in: Geschichtliche Grundbegriffe, hrsg. v. Otto Brunner u . a., Bd. 5, Stuttgart 1984. 45 Friedrich Carl von Moser, Politische Wahrheiten, Zürich 1796; vgl. insges. auch Notker Hammerstein, Das politische Denken Friedrich Carl von Masers, in: HZ 212 (1970), 316ff.
Aufgeklärtes Naturrecht und Gesetzgebungvom Systemgedanken zur Kodifikation Von Christoph Link, Erlangen "Das gesetzmäßig festgestellte Recht, Unsinn zu sagen, ist ein so charakteristischer Vorzug unserer Gesellschaft, daß ich nicht begreifen kann, warum die übrigen Mitglieder derselben, ausser mir, davon so gar keinen Gebrauch machen. Um der sehr begründeten Besorgniß, daß dies herrliche Vorrecht durch den Nichtgebrauch am Ende gar verlohren gehen möchte, vorzubeugen, habe ich mich entschlossen, heute über einen Gegenstand zu reden, von dem ich durchaus nichts verstehe; in der Hoffnung, daß es dabei an Unsinn nicht fehlen werde." Diese captatio benevolentiae stammt von keinem Geringeren als Carl Gottlieb Svarez - und ich darf sie mir zu eigen machen, denn ich bin weder Privatrechtshistoriker noch Fachmann für das ALR. Immerhin hat freilich Svarez mit diesen Worten 1791 einen Vortrag in der Berliner Mittwochsgesellschaft über Abgabenbefreiungen als ständisches Privileg eingeleitet1 , in dem er gleich eingangs Gedanken zu den Besteuerungsgrundlagen entwikkelt, die dann der Sache nach 200 Jahre später nur wenig modifiziert beim BVerfG2 wiederkehren. Ich hoffe also- jedenfalls insoweit den Spuren meines großen Vorgängers folgend- nicht nur Unsinn vorzutragen, trotz des mir gestellten umfassenden und etwas kryptischen Themas.
I. Vernunftrecht und positives Recht im Rechtsdenken seit dem 17. Jahrhundert Das ALR gilt gemeinhin als eines der großen Naturrechtsgesetzbücher3 zusammen mit dem Code Civil Napoleons (1804), dem Österreichischen 1 Vortrag vom 21. 12. 1791 "Über die Befreiung der Staats Abgaben in so fern als dieselbe, als ein Privilegium gewisser Stände im Staat, betrachtet wird", abgedr. bei Andreas Schwennicke, Die Entstehung der Einleitung des Preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794 (Ius Commune, Sonderheft 61), Frankfurt a. M. 1993, Anh. VIII, 435 ff. (435). 2 BVerfGE 82, 60 (85 ff.) . 3 Vgl. nur statt vieler Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl., Göttingen 1967, 322ff.
3 Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte - NF, Beiheft 3
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ABGB von 1811 und- noch in sehr eingeschränktem Maße- dem bayerischen Codex Maximilianeus Bavaricus Civilis (1756). Diese Bezeichnung ist mißverständlich und bedarf der Präzisierung. Sie ergibt sich aus der komplizierten Verhältnisbestimmung von Naturrecht und tradiertem positiven Recht, wie sie sich in der Rechtswissenschaft des 18. Jahrhunderts herausgebildet hatte. Ihr gilt der 1. Abschnitt meines Vortrags.
1. Das säkulare Naturrecht als Grundlage einer vernünftigen Ordnung Zweifellos gewinnt der Kodifikationsgedanke seit der Mitte des 18. Jahrhunderts nur auf der Folie des Naturrechts klare Konturen. Indes setzt dies einen bestimmten Entwicklungsstand naturrechtliehen Denkens voraus, der ein solches Unterfangen möglich, ja geboten erscheinen ließ. Sollte ein Gesetzbuch aus einem einheitlichen Guß entstehen, das sich nicht in einer Bestandsaufnahme des geltenden Rechts erschöpfte, das nicht nur- wie die älteren Rechtsreformationen - dessen Besserung und Anpassung zum Ziel hatte, so bedurfte es eines die zersplitterte Materie übergreifenden Ordnungsprinzips. Wollte man nicht an die als unsystematisch vielkritisierte historische Legalordnung des römischen Corpus Juris Civilis anknüpfen, der noch dazu in dessen verschiedenen Teilen kein einheitliches Schema zugrundelag, so erforderte das Werk die Durchdringung der Stoffmassen mit einem Geist, der sich nicht allein vor der Geschichte, sondern vor allem in einem logischen Ableitungszusammenhang vor der menschlichen Vernunft legitimierte. Dies war freilich keineswegs neu, die Rechtswissenschaft hatte in zweieinhalb Jahrhunderten die Fundamente eines solchen auf die Natur der Sache zentrierten Rechtsdenkens gelegt4 . Die Vorstellung, daß sich die richtige und damit die gerechte Ordnung zwischenmenschlicher Beziehungen aus der Natur des Menschen, aus dem Wesen menschlicher Gemeinschaft ergibt, ist an sich griechischen Ursprungs5 und war vom römischen Rechtsdenken aufgenommen worden. "Naturrecht ist jenes Recht, das die Natur alle Lebewesen gelehrt hat" 6 , heißt es bei Ulpian. Die christliche Theologie - namentlich der Hoch- und Spätscholastik bezog dies auf die Geschöpflichkeit des Menschen und seine Stellung in Gottes Heilsplan; "ius naturale" war göttliches Recht und fiel in die Zuständigkeit der Moraltheologie7 . 4 Zusammenfassend Michael Stolleis, Geschichte des Öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1, München 1988, 268 ff. m . w. N. 5 Reinhold Zippelius, Art. ,Naturrecht', in: HRG, Bd. 3, Sp. 933ff. (934ff.) (Nachw.). s Dig. 1.1.3; Inst. 1.2.
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Trotz gleitender Übergänge zur Spätscholastik markiert hier das 17. Jahrhundert eine Wende von höchster geistesgeschichtlicher und politischer Tragweite. Ein neues Lebensgefühl brach sich Bahn. Die aufblühende Naturwissenschaft erhob den Anspruch, die materielle Welt und die in ihr wirkenden Kräfte zu erklären, ja zu beherrschen und in Dienst zu nehmen. Der erwachende Glaube an die Allmacht des menschlichen Vermögens setzte Energien frei, die sich auch auf die Umgestaltung der sozialen Welt richteten. So wie die Naturwissenschaft die Natur durch Erforschung ihrer Gesetze zu entzaubern begann, so sollte es auch möglich sein, die Gesetze des sozialen Lebens zu erkennen, zu beschreiben und ihnen schließlich gegen alle historische Unvernunft Geltung zu verschaffen. Kompaß dieser Entdekkungsfahrt waren nun nicht mehr Offenbarung und Tradition, sondern war allein die menschliche Vernunft. Das Naturrecht wurde zum Vernunftrecht. In dem Maße, wie es sich von seinen theologischen Bindungen emanzipierte, gewann es eine ungeahnte Dynamik. Unbarmherzig legte es mit scharfer Sonde die Irrationalität gewachsener sozialer Strukturen bloß, entkleidete geschichtlich begründete Herrschaftsansprüche ihrer Heiligkeit und zog sie vor den unbestechlichen Riebtstuhl der Vernunft. Recht und Staat erschienen nun prinzipiell veränderbar und veränderungsbedürftig. Kritik des Bestehenden und Entwurf eines besseren, weil vernünftigen und damit gerechten Gemeinschaftslebens - diese explosive Mischung legte einen Sprengsatz an die Fundamente der altständischen, patriarchalischen Gesellschaftsordnung und sollte bald das Gesicht der alten wie der neuen Welt entscheidend verändern. Solche Kräfte konnten nur durch das Vertrauen auf das menschliche Vermögen freigesetzt werden, nach den Geboten einer als allgemeingültig vorausgesetzten Vernunft nicht nur zu denken, sondern auch zu handeln. Es galt darum, den Menschen aus den Fesseln seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit zu befreien8 . Daneben aber stand ein anderes, handfestes Motiv: Die Entdeckung der Neuen Welt hatte durch die Berührung mit fremden Kulturen den Blick geweitet, während die Religionskriege des Abendlandes die Staaten an den Rand des Abgrunds geführt hatten. Es galt, eine Ordnung zu errichten, die für die Katholiken und Protestanten, für Christen und Heiden gleichermaßen Verbindlichkeit beanspruchte. Dies setzte ihre Einsehbarkeit voraus, die auf der vernünftigen Begründung ihrer Regeln beruhte. Der alte Anspruch der Kirche, in den biblischen Geboten eine solche verbindliche 7 Dazu Christoph Link, Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit, Wien/ Köln/Graz 1979, 206f. (Nachw.). a Zu dieser Entwicklung M. Stolleis, Geschichte (Anm. 4), 271 ff. m. zahlreichen Nachw.; s. a. Christoph Link, Zwischen Absolutismus und Revolution. Aufgeklärtes Denken über Recht und Staat in der Mitte des 18. Jahrhunderts, in: Aufbruch aus dem Ancien regime, hrsg. v. Helmut Neuhaus, Köln/Weimar /Wien 1993, 185 ff.
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Richtschnur zu besitzen, wurde zunehmend bestritten. Denn den Heiden konnte er nur als Diktat auferlegt werden, und in den konfessionellen Auseinandersetzungen hatte sich gerade jede Partei auf ihr göttliches Recht berufen. Die Religionsspaltung hatte unausweichlich zur Rechtsspaltung geführt, die es nun zu überwinden galt9 •
2. Vernunftrecht und monarchische Souveränität Das Vernunftrecht 10 begleitet und befördert damit einen wesentlichen Modernisierungsschub 11 . Gleichwohl wirkten dessen Kräfte in unterschiedlichen Richtungen. Während seine freiheitlichen Intentionen in Frankreich die bereits brüchigen Fundamente des ancien regime sprengten, kam im deutschen Reich eher sein reformerischer Impetus zur Geltung. Die Gründe für diese unterschiedliche Entwicklung, die im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts einsetzt, liegen nicht in einer hierzulande stärker ausgeprägten Untertanengesinnung. Eine aufgeklärte Monarchie im strengen Sinn hatte es in Frankreich nicht gegeben. Im Reich dagegen, namentlich in Preußen, Österreich und Baden, begannen die Herrscher mit starker Hand, die Reformen gegen die beharrenden Kräfte der ständischen Gesellschaft durchzusetzen. Im Monarchen und der an seiner Seite stehenden Beamtenelite verkörperte sich gleichsam der Fortschritt, dagegen erschien die Freiheit eher bedroht von den Machtpositionen der ständischen Gesellschaft, dem corps intermediaire, dessen politische Gewalt einer vernünftigen Staatsgeometrie entgegenstand. Das bedeutete, daß -jedenfalls bis über die Mitte des 18. Jahrhunderts hinaus- die absolute Herrschaft des Monarchen nicht in Zweifel gezogen wird12 . Dabei ist "absolut" in der naturrechtliehen Staatslehre keineswegs mit einer Legitimation souveräner Beliebigkeit in der Herrschaftsausübung gleichzusetzen. Die alten Parömien "princeps legibus solutus" und "quod principi placuit legis habet vigorem" 13 bezeichnen nur die Freistellung des 9 M. Stolleis, Geschichte (Anm. 4), 273 ff.; F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte (Anm. 3), 266f.; Hans Welzel, Naturrecht und Materiale Gerechtigkeit, 4. Aufl., Göt-
tingen 1962; dazu grundlegend Martin Heckel, Säkularisierung, in: ZRG KA 66 (1980), 151 ff., jetzt in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. v. Klaus Schiaich (Jus Ecclesiasticum, 38), Bd. 2, Tübingen 1989, 901 ff.; ders., Deutschland im konfessionellen Zeitalter (Deutsche Geschichte, 5), Göttingen 1983. 10 Klaus Luig, Art. ,Vernunftrecht', in: HRG, Bd. 5, Sp. 781ff. (Nachw.); F. Wieakker, Privatrechtsgeschichte (Anm. 3), 249 ff. u M. Stolleis, Geschichte (Anm. 4), 277. 12 Chr. Link, Herrschaftsordnung (Anm. 7), 54f.; ders., Absolutismus (Anm. 8), 201 ff. 13 Dieter Wyduckel, Princeps Legibus Solutus (Schriften zur Verfassungsgeschichte, 30), Berlin 1979, insbes. 17 ff. ; Helmut Quaritsch, Staat und Souveränität,
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Monarchen von Bindungen durch das von ihm selbst gesetzte positive Recht und von konkurrierendem ständischem Koimperium- und dies auch nur insoweit, als sich der Souverän nicht vertragsweise durch Fundamentalgesetze selbst dazu verpflichtet hat 14 . Unbezweifelt bleibt der prinzipielle Geltungsanspruch des Naturrechts und - sich freilich zunehmend abschwächend - des biblischen Offenbarungsrechts auch gegenüber dem Monarchen15. Die Begründung liegt in der Fiktion des Herrschaftsvertrages als Grundlage einer vernünftigen Staatsgestaltung: Die Übertragung der ReiTschaftsrechte vom Volk auf den Monarchen schließt die Bedingung ein, die naturrechtliehen Grenzen der Staatsgewalt zu wahren. Diese dem herrscherlichen Selbstverständnis Friedrichs d. Gr. und Josephs li. immanente Grundlage läßt keinen Raum für eine unmittelbare Herrschaftslegitimierung als Gottesgnadentum16 , in ihrer Konsequenz liegt vielmehr der Amtscharakter des Monarchen als erster Diener des Staates. Allerdings geht es hier nicht etwa um eine Pflichtenstellung, in der Verstöße vom Pflichtenobjekt, dem Volk, in irgendeiner Weise sanktioniert werden könnten. Fast durchweg lehnt die jüngere Naturrechtslehre ein individuelles oder kollektives Widerstandsrecht ab 17 . Zwar erwächst aus der Verletzung zwingender Naturrechtsgebote keine Gehorsamspflicht des Untertanen, aber es ist ein Widerstand auf eigene Gefahr, der Bürger - so empfiehlt etwa Christian Wolff18 - soll in solchem Fall in leidendem Gehorsam die Strafe auf sich nehmen. Die Naturrechts- und Amtsbindung beruht also letztlich auf unerzwingbarer monarchischer Selbstverpflichtung19. Bd. 1, Frankfurt a. M. 1970, 387ff.; ders., Souveränität, Entstehung und Entwicklung des Begriffs in Frankreich und Deutschland vom 13. Jahrhundert bis 1806 (Schriften zur Verfassungsgeschichte, 38), Berlin 1986, 51ff.; Chr. Link, Herrschaftsordnung (Anm. 7), 89 ff. 14 Wolfgang Hardtwig, Wie deutsch war die deutsche Aufklärung, in: H. Neuhaus, Aufbruch (Anm.8), 157 ff. , hier 162. 15 Christoph Link, "Jus divinum" im deutschen Staatsdenken der Neuzeit, in: Festschrift für Ulrich Scheuner, hrsg. v. Horst Ehmke u. a., Berlin 1973, 377ff.; ders., Herrschaftsordnung (Anm. 7), 89 ff., 203 ff.; Heinrich de Wall, Die Staatslehre Johann Friedrich Horns (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, 30), Aalen 1992, 174 ff. 16 Günter B irtsch, Der Idealtyp des aufgeklärten Herrschers. Friedrich der Große, Karl Friedrich von Baden und Joseph II. im Vergleich, in: Aufklärung 2 I 1 (1987), 9 ff.; Wolfgang Hardtwig, Deutsche Aufklärung (Anm. 14), 162, jeweils m . Nachw. 17 Christoph Link, Jus resistendi. Zum Widerstandsrecht im deutschen Staatsdenken, in: Convivium utriusque iuris. Festschrift für A. Dordett, hrsg. v. Audomar Scheuermann u. a., Wien 1976, 55 ff. 18 Christian Wolf!, Jus Naturae Methodo Scientifica Pertractatum, 8 vol., Halle 1740-48, VIII cap. VI §§ 1044s.; ders., Institutiones Juris Naturae et Gentium (1754), Venitiis 1768, Pars III sect. li cap. IV § 1079 (p. 444s.); dazu Christoph Link, Die Staatstheorie Christian Wolffs, in: Christian Wolff 1679-1754, hrsg. v. Werner Schneiders (Studien zum 18. Jahrhundert, 4), Harnburg 1983, 171 ff.
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Eine weitere Sicherung der herrscherliehen Machtvollkommenheit kam hinzu: Nach der naturrechtliehen Konstruktion galt dem Monarchen durch den Herrschaftsvertrag die Verwirklichung des Staatszwecks20 - Sicherheit und Wohlfahrt der Bürger - als ausschließliche Kompetenz übertragen. Was dies freilich im konkreten Fall verlangte und mit welchen Mitteln es durchzusetzen war, das unterlag seiner souveränen Entscheidung, deren Naturrechtskonformität im Zweifel zu vermuten war21 . Die Dämme, die das Naturrecht gegen absolutistische Gewaltenkonzentration aufgeworfen hatte, erscheinen also eher brüchig. Trotzdem darf man seine machtbegrenzenden Wirkungen nicht unterschätzen. Das Vernunftrecht bewirkte nicht allein eine deutliche Rationalisierung der Staatstätigkeit22, es schuf auch einen Legitimationsdruck, dem monarchische Entscheidungen vor der öffentlichen Meinung unterworfen waren. Sie hatten sich als vernünftig auszuweisen23 . Gerade die ausgedehnte Diskussion des Allgemeinen Landrechts, die von seinen Autoren selbst angeregt wurde, bietet hierfür ein charakteristisches Beispiel24 • 19 W Hardtwig, Deutsche Aufklärung (Anm. 14), 162; Chr. Link, Herrschaftsordnung (Anm. 7), 89 ff., 203 ff.; Diethelm Klippe!, Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts, Faderborn 1976, 104 ff. 20 Vgl. Hermann Conrad, Das Allgemeine Landrecht von 1794 als Grundgesetz des friderizianischen Staates, Berlin 1965, 18 ff. 21 Chr. Wolff, Jus Naturae (Anm. 18), VIII cap. I§ 121; Carl Gottlieb Svarez, Vorträge über Recht und Staat (1791192), hrsg. v. Hermann Conrad und Gerd Kleinheyer, Köln/Opladen 1960, 467; Günter Birtsch, Zum Konstitutionellen Charakter des Preussischen Allgemeinen Landrechts von 1794, in: Politische Ideologien und nationalstaatliche Ordnung. Festschrift für Theodor Schieder, hrsg. v. Kurt Kluxen und Wolfgang Mommsen, München/Wien 1968, 97 ff., hier 115; D. Klippe!, Politische Freiheit (Anm. 19), 53; Chr. Link, Staatstheorie Christian Wolffs (Anm. 18), 182, 184; ders., Herrschaftsordnung (Anm. 7), 144ff.; Peter Preu, Polizeibegriff und Staatszwecklehre (Göttinger Rechtswissenschaftliche Studien, 124), Göttingen 1983, 115ff. - Die Definitionsmacht des Souveräns über das Gemeinwohl als Staatszweck ist auch einer der zentralen Kritikpunkte Johann Georg Schlossers (Briefe über die Gesetzgebung, Frankfurt 1789 [ND Glashütten 1970], 31 ff.) am ALR. Ernst Ferdinand Klein (in: ders. [Hrsg.], Annalen der Gesetzgebung und Rechtsgelehrsamkeit in den Preussischen Staaten 4 [1789], abgedr. bei J. G. Schlosser, ebd., 12 ff.) repliziert mit dem Vorwurf, Schlosser sehe nur deren Mißbrauch, nicht aber die verantwortliche Handhabung und die Kontrollkompetenz von Justiz und Ständen. 22 M. Stolleis, Geschichte (Anm. 4), 277. 23 Peter Krause, Naturrecht und Kodifikation, in: Aufklärung 3/2 (1988), 7 ff., hier 17, 23. 24 Hans Thieme, Publizität der Gesetzgebung im absoluten Staat, in: Beiträge zur Rechtsgeschichte. Gedächtnisschrift für Hermann Conrad, hrsg. v. Gerd Kleinheyer und Paul Mikat (Rechts- und Staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der GörresGesellschaft, N. F. 34), Faderborn/München/Wien/Zürich 1979, 539ff.; s. a. Peter Krause, Die Beteiligung der Öffentlichkeit an der Gesetzgebung, in: Aufklärung und Gesetzgebung (Ausstellungskataloge Trierer Bibliotheken, 17), hrsg. v. Peter Krause
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3. Die potestas legislatoria des Monarchen In diesen Rahmen fügt sich die potestas legislatoria als vornehmstes Majestätsrecht ein; Svarez und Klein betonen sie in besonderer Weise25 . Siebezeichnet ein Souveränitätsrecht, das nur dort einer ständischen Mitwirkung bedarf, wo Fundamentalgesetze, d. h. die Landesverfassungen, dies ausdrücklich vorsehen26 • Für Friedrich d. Gr. ist es unzweifelhaft, daß dies in Preußen nirgendwo der Fall ist, trotz ständischer Einwände. Daß gleichwohl der Absolutismus den alten Ständestaat nicht völlig verdrängt hat, zeigt das Anhörungsverfahren, das dem ALR vorausgeht, das sich aber auch nicht auf die Befragung der Stände allein beschränkt27 • Dabei geht es nicht nur um die von den Gerichten eingeholte Stellungnahme der Rechtspraxis, sondern um die Akzeptanz einer Reform, auf die auch die absolute Monarchie nicht verzichten kann. Dies gilt vor allem für das sensible Gebiet des Zivilrechts. Im Unterschied zur sog. Polizeigesetzgebung und zum Staatsrecht sind hier die Rechtsbeziehungen der Bürger untereinander betroffenund damit das allgemeine Rechtsbewußtsein. Und: Hier handelt es sich um sog. Justizsachen, d. h. um solche Materien, die im Streitfall vor die ordentlichen Gerichte kamen. Wenn auch Brandenburg in einer längeren Entwicklung das ius de non appellando erwirkt hatte, d. h. die Ausschaltung der Reichsgerichte, so war doch die Richterschaft am sog. Gemeinen Recht geschult, d. h. an der eigentümlichen Verbindung, die Römisches und Germanisches Recht in der deutschen Rechtspraxis und -wissenschaft eingegangen waren. Legislatorische Eingriffe in diesem Bereich warfen aber nicht nur praktische, sondern vor allem auch theoretische Probleme auf. Sie lagen im Begriff des Gesetzes.
und Walther Gose, Trier 1988, 1 ff.; skeptisch insofern A. Schwennicke, Entstehung (Anm. 1), 29 ff. 25 Nachw. aus den ungedruckten Materialien und der "Revisio monitorum" bei A. Schwennicke, Entstehung (Anm. 1), 183ff.; s. a . C. G. Sv arez, Vorträge (Anm. 21), 479f. und ALR II 13 § 6; allg. dazu auch Heinz Mohnhaupt, Potestas legislatoria und Gesetzesbegriff im Ancien Regime, in: Ius commune 4 (1972), 188ff.; zu Brandenburg-Preußen ders., Gesetzgebung und Gesetzgeber in Brandenburg-Preußen während des Ancien Regime, in: I:educazione giuridica V 2, Perugia 1987, 351 ff. 26 H. Mohnhaupt, Potestas (Anm. 25), 199; Chr. Link, Herrschaftsordnung (Anm. 7), 179 ff. 27 Dazu s. Günter Birtsch, Gesetzgebung und Repräsentation im späten Absolutismus. Die Mitwirkung der preußischen Provinzialstände bei der Entstehung des Allgemeinen Landrechts, in: HZ 208 (1969), 265ff.; A. Schwennicke, Entstehung (Anm. 1}, 34ff.
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4. "Civil"- und "Regierungsgesetze" Einerseits galt als Gesetz jede allgemeinverbindliche Anordnung. Dieser unspezifische Gesetzesbegriff umfaßte also alle Normen, d. h. auch Verordnungen, Zirkulare, Patente, Mandate, Reskripte - selbst dann, wenn sie Einzelfälle betrafen. Auch Privilegien werden - als Ausnahmen von der Gesetzesgeltung- als Rechtssätze aufgefaßt. Wenn auch die Allgemeinheit einer Regel als Normalfall des Gesetzes (in diesem Sinne) gilt, so gehören doch auch Einzelfallregelungen dann dazu, wenn sie in einer der genannten Formen ergangen sind. Wir würden heute von Maßnahmegesetzen sprechen. Ein solcher weiter Gesetzesbegriff entsprach am ehesten der monarchischen Vollgewalt, da insoweit der Herrscher jedes Gebot mit Gesetzeskraft ausstatten konnte. Erst dies sicherte die potestas legislatoria in ihrem unbeschränkten Umfang28 . Andererseits ist nicht zu übersehen, daß in der Rechtslehre doch wiederum Unterschiede nach der zu regelnden Materie gemacht werden. Teilweise wird als Kennzeichen des Gesetzes im eigentlichen Wortsinn neben der Allgemeinheit auch die Dauerhaftigkeit einer Regelung angesehen. "Festigkeit" und "Zuverlässigkeit"- so sagt Schlosser- sind bei "Civilgesetzen eigentlich die Basis ... , worauf ihre Gerechtigkeit ruht" 29 . Der salus publica, deren konkrete Realisierung Domäne des Regenten ist, dienen sie nur mittelbar, nämlich insofern, als man "die Bestimmung der Rechte aller Glieder des Staates gegeneinander", d. h. die Garantie der Rechtssicherheit, "als den ersten Zweck des Staates" ansehen kann. Eingriffe sind hier zwar durch unmittelbare Gemeinwohlerfordernisse legitimiert; rechtstechnisch geschieht dies indes durch "Befehle, Ordnungen, Anstalten u.s.w. " 30 Diese Unterscheidung hat zur Folge, daß derartige "Civilgesetze", die scharf von den "Regierungsgesetzen" getrennt werden, nicht ohne weiteres 28 Dazu Christoph Link, Das Gesetz im späten Naturrecht, in: Zum römischen und neuzeitlichen Gesetzesbegriff, hrsg. v. Okko Behrends und Christoph Link (Abh. d. Akad. d. Wiss. in Göttingen, Phil.-Hist. Kl., 3. F. 157), Göttingen 1987, 166ff. (Nachw.); zum Gesetzesbegriff und zur Gesetzgebungsgewalt in diesem Zusammenhang ferner Ernst-Wolfgang Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, Berlin 1957, 53 ff.; Reiner Schulze, Policey und Gesetzgebungslehre im 18. Jahrhundert, Berlin 1982, 22 ff., 159 ff.; Michael Stolleis, Condere leges et interpretari. Gesetzgebungsmacht und Staatsbildung im 17. Jahrhundert, in: ZRG GA 100 (1984), 89 ff., hier 109ff.; Wilhelm Ebel, Geschichte der Gesetzgebung in Deutschland, Göttingen 1958, 58ff.; Rolf Grawert, Art. ,Gesetz', in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2, Stuttgart 1979, 863ff., 875ff.; H. Mohnhaupt, Potestas (Anm. 25), 188ff., 208ff.; Hermann Conrad, Die geistigen Grundlagen des Allgemeinen Landrechts für die preußischen Staaten von 1794 (Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen Geisteswissenschaften, 77), Köln/Opladen 1958, 36ff. 29 J. G. Schlosser, Briefe (Anm. 21), 114f. 30 Ebd., 115, 122.
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fungibel sind. Sie sind in besonderem Maße Ausdruck des dietarnen rectae rationis, der Rechtsvemunft, und der Regent wirkt hier nur - um wiederum Schlosser zu zitieren- als "Erklärer der Naturgesetze'131 . Dies ist freilich zugespitzt, denn die Naturrechtslehre hatte den Monarchen als Gesetzgeber auch im Hinblick auf die "Civilgesetze" keineswegs in ein derart enges Korsett gezwängt. Unbestritten war hier zunächst, daß er naturrechtlich neutrale oder jedenfalls nicht eindeutig entschiedene Rechtsfragen ohne Beschränkung gesetzlich regeln konnte32 . Komplizierter war es jedoch dort, wo das Naturrecht bindende Antworten auf derartige Fragen bereithielt33. Gegenüber älteren Versuchen, hier einen absoluten Geltungsvorrang des Naturrechts zu behaupten, äußerten sich die Hauptvertreter des Naturrechts differenzierter. Zwar hatte die Behauptung des älteren Thomasius keine Gefolgschaft gefunden, Gott als "auctor legis naturae" wirke insoweit nur in den Formen väterlicher Ratschläge34 . Hier ist das Naturrecht auf eine materiale Rechtsethik reduziert und damit in eine Sackgasse (Wieacker) geführt35 . Trotzdem ging es jedenfalls der späteren Naturrechtslehre keineswegs um eine Verdrängung oder Substituierung des historisch gewachsenen positiven Rechts, insbesondere des Gemeinen Rechts. Das ius naturale soll vielmehr zunächst als Interpretationsmittel, als Wissen um Grund und rechtverstandenen Sinn des Gesetzes, als Kompaß der Vernunft im Normengestrüpp dienen, zugleich aber dessen Irrationalitäten bloßlegen und Reformbedarf aufzeigen. Gerade Christian Wolffund seine Schule betonen dieses Anliegen mit Nachdruck36. Im übrigen solles-so die überwiegende Meinung- subsidiär gelten, d. h. Lücken des positiven Rechts schließen37 . Ebd., 133. Klaus Luig, Der Einfluß des Naturrechts auf das positive Privatrecht im 18. Jahrhundert, in: ZRG GA 96 (1979), 38ff.; Chr. Link, Herrschaftsordnung (Anm. 7), 113 ff. (Nachw.); ders., Gesetz {Anm. 28), 152 ff., 157 ff. ; Fritz Loos I Hans-Ludwig Schreiber, Art. ,Recht, Gerechtigkeit', in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5, Stuttgart 1984, 231 ff., 270 f. 33 Jan Schröder, "Naturrecht bricht positives Recht" in der Rechtstheorie des 18. Jahrhunderts?, in: Staat, Kirche, Wissenschaft in einer pluralistischen Gesellschaft, Festschrift für Paul Mikat, hrsg. v. Dieter Schwab u . a., Berlin 1989, 419ff., hier 428ff. 34 Christian Thomasius, Fundamenta luris Naturae et gentium {1705), 4. Aufl., Halle 1718, ND Aalen 1963, I, 5, §§ 40 f. (153 f.); dazu und zur mangelnden Gefolgschaft selbst innerhalb der Thomasius-Schule Chr. Link, Herrschaftsordnung (Anm. 7), 120ff., 125f., 253ff. (Nachw.); ders., Gesetz (Anm. 28), 154ff.; Werner Schneiders, Naturrecht und Liebesethik. Zur Geschichte der praktischen Philosophie im Hinblick auf Christian Thomasius {Studien und Materialien zur Geschichte der Philosophie, 39), Hildesheim/New York 1971, 258ff. 35 F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte (Anm. 3), 318. 36 Dazu mit zahlreichen Nachw. P. Preu, Polizeibegriff {Anm. 21), 91-100. 31 32
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Allerdings verschieben sich die Grundlagen einer solchen Einwirkung. Die in den Traditionen des älteren Naturrechts stehenden Autoren wollen dem ius naturalelediglich allgemeine Sätze und Verhaltensgebote entnehmen. Demgemäß kommt der "Civilgesetzgebung" primär die Aufgabe zu, diese zu konkretisieren, an die spezifischen kulturellen, ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen des Landes zu adaptieren38 . Demgegenüber entwickeln die späteren Naturrechtler, insbesondere die Wolfische Schule, ein naturrechtlich bis in die fernsten Verästelungen hinein determiniertes Rechtssystem, das gelegentlich nicht ohne unfreiwillige Komik ist. Ein zeitgenössischer Kritiker spottet, daß Wolff nur der Tod davon abgehalten habe, die naturrechtliche Pflicht des Schneiders zu behaupten, die Hose nicht zu eng zu machen, nachdem er doch schon als praescriptum legis aeternae bewiesen habe, daß man beim Essen das Maul nicht zu weit aufsperren noch zu eng zusammenfalten soll39 • Zu Recht ist bemerkt worden, "im Glauben an die gesetzmäßige Erfaßbarkeit der sozialen und ökonomischen Bewegungen" erhebe die Wolffianisch geprägte Vernunftrechtslehre den Anspruch, bei genauer Kenntnis der jeweiligen konkreten Umstände die Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit jeder Handlung wissenschaftlich demonstrieren zu können" 40 •
5. "Natürliche" und "willkürliche" Elemente des Gesetzes Indes bedeutet dies auch bei Wolff keine Geringschätzung des positiven Gesetzesrechts. Denn die jedem Staatswesen eigentümliche Staatsräson fordert eine Anpassung an die jeweiligen Gegebenheiten. Das Gemeinwohl, dem der Herrscher durch den Staatsvertrag verpflichtet ist, ist kein ein für allemal feststehendes, inhaltlich abstrakt zu definierendes Datum. Wie bei Montesquieu wird es vielmehr durch eine Vielzahl unterschiedlicher, auch 37 So begründet etwa Johann Stephan Pütter, Beyträge zum Teutschen Staats- und Fürsten-Rechte, Bd. 1, Göttingen 1777, 16, das Nachdruckverbot für Bücher- eine die Zeit immer wieder beschäftigende Frage - rein naturrechtlich, ebenso das Verbot der Lotterien (ders., Über die Rechtmässigkeit der Lotterien, insonderheit der Zahlenlotterien, in: Götting. Magazin der Wissenschaften 1 [1780], 339 ff.); allg. dazu ders., Kurzer Begriff des Teutschen Staats-Rechts, Göttingen 1764, 2. - So auch bereits Samuel Pufendorf, De Jure Naturae et Gentium libri octo (1672), Frankfurt/ Leipzig 1759, lib VIII cap. 1 § 1. - Dazu J. Schröder, Naturrecht (Anm. 33), 428 m. Nachw., Anm. 53. 38 Chr. Link, Gesetz (Anm. 28), 158. 39 Johann Jacob Schmauss, Kurze Erleuterung und Vertheydigung seines Systematis Juris Naturae, Göttingen 1755, zit. nach P. Preu, Polizeibegriff (Anm. 21), 131 Anm.5. 40 P. Preu, Polizeibegriff (Anm. 21), 131; vgl. a. R. Schulze, Policey (Anm. 28), 73 ff.
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historisch variabler Faktoren bestimmt. Von daher stehen "natürliche" und "willkürliche" Elemente des Gesetzes in einem notwendigen Bezugsverhältnis, keines von beiden kann durch das andere verdrängt werden; und die Bindung der Untertanen an den gemeinwohlkonformen "willkürlichen" Gesetzesbefehl folgt aus der im Sozialvertrag wurzelnden Gehorsamspflicht41.
6. Das ALR als Naturrechtsgesetzbuch? Kehren wir zu unserer Ausgangsfrage zurück, inwieweit das ALR als Vernunftrechtsgesetzbuch bezeichnet werden kann, so läßt sie sich jedenfalls nicht einfach in dem Sinne bejahen, daß seine Rechtssätze materiell einem Naturrechtssystem entnommen wären. Inhaltlich ist sein Fundament durchaus das Gemeine Recht42 . Das Naturrecht wird nicht einmal- wie im Österreichischen ABGB 43 - als subsidiäre Rechtsquelle genannt. Lediglich § 87 der Einleitung stellt kryptisch fest: "Handlungen, welche weder durch natürliche noch durch positive Gesetze verboten worden, werden erlaubt genannt". Der Sinn dieses Satzes ist bereits im 19. Jahrhundert kontrovers beurteilt worden. Wie Schwennicke detailliert aus den ungedruckten Materialien nachgewiesen hat, lag Svarez die Anerkennung des Naturrechts als positive Rechtsquelle fern44 . Er verwahrt sich generell dagegen, daß der Entwurf als Naturrechtskompendium anzusehen sei, vielmehr sei "die Grundlage des neuen Preußischen Gesetzbuchs noch sehr römisch"; nicht "aus dem innersten Heiligtum der Philosophie", nicht "bloß aus der Natur und den Begriffen der Dinge, aus dem Zwecke des Staats und der Gesellschaft, nicht aus der Entwicklung des bürgerlichen Vertrags" seien die Vorschriften "herbey geholt". Das Publikum werde erkennen, daß "nicht Montesquieu, Rousseau und Mably, sondern daß Labeo und Capito, daß Sever und die Antonine die meisten Materialien dazu geliefert haben". M.a. W., die inhaltliche Ausgestaltung der Rechtsregeln folgt überwiegend dem in das 41 Vgl. dazu Gerhard Dilcher, Gesetzgebungswissenschaft und Naturrecht, in: JZ 24 (1969), lff.; Dieter Wyduckel, Jus Publicun1, Berlin 1984, 195ff.; P. Preu, Polizeibegriff (Anrn. 21), 93; vgl. a. R. Schulze, Policey (Anrn. 28), 149ff.; P. Krause, Naturrecht (Anrn. 23), 17, 19, 23. 42 Ernst Landsberg, in: Roderich v. Stintzing I Ernst Landsberg, Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft, Abt. III Halbband 1 (1898), ND Aalen 1978, 473; A. Buschmann, Europäisches Recht in historischer Perspektive, in: Perspektiven des europäischen Rechts, hrsg. v. Wolfgang Schuhmacher, Wien 1994, 20 f. 43 § 7 ABGB, dazu s. Theo Mayer-Maly, Die natürlichen Rechtsgrundsätze als Teil des geltenden Österreichischen Rechts, in: Das Naturrechtsdenken heute und morgen. Gedächtnisschrift für Rene Marcic, hrsg. v. Dorothea Mayer-Maly und Peter M. Simons, Berlin 1982, 853 ff. 44 A. Schwennicke, Entstehung (Anrn. 1), 129 ff.
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Gemeine Recht übergegangenen Römischen Recht. Gegenüber dem positivierten Gesetz vermag das Naturrecht weder als Auslegungshilfe zu wirken noch Lücken zu füllen. Beides lehnt Svarez kategorisch ab, da es keinen "allgemein anerkannten Codex des Natur Rechts" gebe, öffne es richterlicher Willkür Tür und Tor - und das von Svarez erwünschte Preußische Naturrechtsgesetzbuch solle- so fordert er -lediglich ein "mit philosophischem Geist bearbeiteter Auszug des Gesetzes selbst" sein45 . Auch im Kollisionsfan geht das positive Gesetz, d. h. das ALR, dem Naturrecht vor. Gesetzeslücken sind dagegen von der Gesetzeskommission zu schließen. Alles andere träte der potestas legislatoria des Souveräns zu nahe, die keine, auch keine naturrechtliehen Nebensonnen neben sich duldet. Damit ist jedes richterliche Normprüfungsrecht im Ansatz ausgeschlossen46 .
7. Die Verwissenschaftlichung des Rechts
durch die Naturrechtslehre
Das bedeutet indes keineswegs, daß das Naturrecht für die Kodifikation unbeachtlich geblieben wäre. Es sei, so sagt Klein, nicht erforderlich, "in dem Gesetzbuche überall das philosophische Schild auszuhängen". Ob "der Gesetzgeber philosophische Grundsätze" gehabt habe, müsse "aus seinen Verordnungen selbst gefolgert werden" 47 . Gemeint ist, daß die Regeln eines vernünftigen Rechts das Gesetz selbst geprägt haben. Dies zunächst in der Weise, daß Unklarheiten des Gemeinen Rechts beseitigt, namentlich die immer wieder beklagte Fülle der hier entstandenen Kontroversen autoritativ "vernünftig" entschieden werden. Wichtiger aber ist der Versuch, den Rechtsstoff begrifflich zu durchdringen, d. h. nach wissenschaftlichen Prinzipien zu ordnen und zu gestalten. Da- so wieder Klein- "Civil- und Criminalgesetze auch gemeinschaftliche Begriffe und Grundsätze haben", müssen ebensolche Gesetze "mittels dieser gemeinschaftlichen Begriffe und Regeln mit einander in ein Ganzes verbunden werden" 48 . Darin wird eine Verwissenschaftlichung des Rechtsdenkens spürbar, der vollzogene Übergang von einem subjektiven, "habituellen" (Jan Schröder) zu einem objektiven Wissenschaftsverständnis der Jurisprudenz49 . Sie ist in dieser Form eine Frucht des Vernunftrechts, das auch die gemeinrechtliche Lehre zunehmend geZitate nach A. Schwennicke, Entstehung (Anm. 1), 130 f. mit Anm. 249. Ebd., 133- zur modifizierten Ansicht Kleins zu dieser Frage ebd., Anm. 257. 47 E. F. Klein, Annalen (Anm. 21), 75. 48 Ebd., 42. 49 Jan Schröder, Wissenschaftstheorie und Lehre der "praktischen Jurisprudenz" auf deutschen Universitäten an der Wende zum 19. Jahrhundert (Jus Commune, Sonderhefte 11), Frankfurt a. M. 1979, 42 ff. 45
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prägt hatte50 . Die Kleinsehe Forderung findet sich in ähnlicher Formulierung bei Glück und Pütter51 . 8. Die "Etatisierung" des Naturrechts in der Gesetzgebung Damit ist zugleich der Systemgedanke angesprochen. Es galt, den Stoff wissenschaftlich zu durchdringen und systematisch zu ordnen. Dies war nur unter Abgehen von der als unorganisch empfundenen Legalordnung der römischen Quellen möglich. Darauf wird gleich noch einzugehen sein. Als regulatives Prinzip bot sich dafür die differenzierte naturrechtliche Pflichtenethik an, wie sie namentlich von Christian Wolff und seiner Schule entwickelt worden war. Wolff hatte den vernunftrechtlichen Ausgangspunkt nicht verlassen, wonach der Einzelne beim Übertritt in den bürgerlichen Status im Staatsvertrag nur auf diejenigen ursprünglichen Rechte Verzicht leistet, die mit einem wohlgeordneten Gemeinschaftsleben unverträglich sind, und wonach er eine Beschränkung der Freiheit im übrigen nur insoweit hinnehmen muß, als es das vom Herrscher zu wahrende Gemeinwohl zwingend erfordert52 . Indes führt der erwähnte Vorbehalt, daß nämlich dem Monarchen die Definitionsmacht über die salus publica zukommt, zu einer prinzipiellen Überformung der natürlichen Freiheit im bürgerlichen Status: Die libertas naturalis wandelt sich zur libertas civilis, Freiheit ist Freiheit nach Maßgabe der bürgerlichen Gesetze53 . Dies bedeutet gerade bei Wolff und seiner Schule die Konkretisierung des Naturrechts im vorgefundenen politischen und sozialen Kosmos der aufgeklärten Monarchie. Ihre gesellschaftliche Wirklichkeit soll durchdrungen werden von der lebendigen Sozialethik des Naturrechts. Dies schließt den Appell zu vernunftgeleiteter Reform mit dem Instrumentarium der bürgerlichen Gesetze ein. Leitmotiv ist die gegenseitige Pflichtenrelation, die Monarch und Untertan im Dienste des Gemeinwohls verbindet. Indem Wolff- aus Obersätzen schließend - ein bis in die Verästelungen der Rechtspraxis hinein aufgefächertes Ordnungs50 'JYpisch etwa Christian Friedrich Glück, Ausführliche Erläuterung der Pandecten nach Hellfeld, I. Th., Erlangen 1867 (ND d. 2. Aufl. 1797), 1. Buch 1. tit. § 2 (17) zum Obligationenbegriff unter Berufung auf Pufendorf und Wolff. - Allg. dazu F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte (Anm. 3), 322. 51 Chr. F. Glück, Erläuterung (Anm. 50), 1. Buch 1. tit. § 27 (198); Johann Stephan Pütter, Neuer Versuch einer juristischen Encyklopädie und Methodologie, Göttingen 1767, Vorb. § 2 (1)- weitere Nachw. bei J. Schröder, Wissenschaftstheorie (Anm. 49), 42 ff.- zu Pütters Stellung zum Naturrecht Christoph Link, Johann Stephan Pütter, in: Staatsdenker im 17. und 18. Jahrhundert, hrsg. v. Michael Stolleis, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1987, 310 ff. (315 ff.) m. Nachw. 52 Chr. Wolff, Jus Naturae (Anm. 18), VIII cap. I§ 47; dazu s. a. Chr. Link, Herrschaftsordnung (Anm. 7), 145 f. 53 D. Klippel, Politische Freiheit (Anm. 19), 59 ff.
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system deduziert, entwirft er zugleich ein Programm der bürgerlichen Gesetzgebung. Handhabbar für den Gesetzgeber aber wird es erst dadurch, daß die Regeln aus dem System nicht als abstrakter "Kunstbau" (Hans Schlosser) entwickelt werden, sondern im Maße ihrer Konkretisierung an das vorgefundene Gemeine Recht anknüpfen, es "als Naturrecht deklarieren"54. In dieser eigentümlichen Symbiose mit dem geltenden Recht aber wird das Naturrecht dann durch die Gesetzgebung "etatisiert" 55 , zugleich aber auch seiner politischen Sprengkraft beraubt. Denn eben: nur soweit es in den monarchischen Gesetzgebungswillen aufgenommen wurde, soll sein Geltungsanspruch reichen. Das Naturrecht hört damit auf, gesellschaftliche Oppositionskategorie zu sein. Nur insoweit ist auch mit Dilthey das ALR als "preußisches Naturrecht" zu bezeichnen56 .
9. Die rechtsstaatliehen Impulse des ALR Allerdings darf man den rechtsstaatliehen Gewinn einer derart naturrechtlich imprägnierten Gesetzgebung nicht unterschätzen57 . Freilich- und darin ist Schwennicke mit seiner Skepsis im Recht58 - kann von einer Rechtsstaatlichkeit im heutigen Sinn noch keine Rede sein. Dies gilt für die strikte Gesetzmäßigkeit der Verwaltung- Kern des Rechtsstaatsbegriffs im ausgehenden 19. Jahrhundert - ebenso wie für Gewaltenteilung, Grundrechtsgewährleistung, Verfassungsmäßigkeit allen Staatshandeins und umfassenden Rechtsschutz durch unabhängige Gerichte. Eine gesetzliche Positivierung dieser Ingredienzien des modernen Rechtsstaatsbegriffs widerstritt dem Grundgedanken der absoluten Monarchie in ihrer spätfriderizianischen Ausprägung. Insoweit ist der Rechtsstaat ein politischer Kampfbegriff59 der konstitutionellen Bewegung, der gerade auf die Überwindung eben jener absolutistischen Strukturen zielte, auf Respektierung einer staatsfreien bürgerlichen Sphäre, auf Freiheit und Gleichheit der Individuen auch als Wirtschaftssubjekte. Demgegenüber bleibt das ALR dem Leitbild der ständisch und wohlfahrtsstaatlich geordneten Gesellschaft verhaftet. Mit Recht hat man bemerkt, daß der berühmte 1117 § 10 ALR keinesF. Wieacker, Privatrechtsgeschichte (Anm. 3), 319. Pio Caroni, Der Schiffbruch der Geschichtlichkeit - Anmerkungen zum NeoPandektismus, in: ZNR 16 (1994), 90, 94. 56 Wilhelm Dilthey, Das Allgemeine Landrecht, in: Gesammelte Schriften, Bd. 12, 2. Aufl., Göttingen 1960, 131ff., 152; vgl. a. H. Conrad, Geistige Grundlagen (Anm. 28), 9ff.; ders., Allgemeines Landrecht (Anm. 20), 26. 57 S. a. Reinhart Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution (Industrielle Welt, 7), Stuttgart 1967, 31f. 58 A. Schwennicke, Entstehung (Anm. 1), 381. 59 Michael Stolleis, Art. ,Rechtsstaat', in: HRG, Bd. 4, Sp. 367 ff. 54 55
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wegs eine gesetzliche Reduktion der umfassenden Polizeigewalt des absolutistischen Staates intendiert60 und damit die wohlfahrtsstaatliehen Kompetenzen im liberalen Sinn auf bloße Gefahrenabwehr begrenzen will. Für eine Rechtsstaatlichkeit im absolutistischen Staat kann deshalb nicht an modemer Begrifflichkeit maßgenommen werden. Was sich im ALR konkretisiert, ist vielmehr deren Grundvoraussetzung, daß nämlich der Staat "das Recht zur Grundbedingung seines Daseins" erhebt. "In der Verwirklichung des Rechts verwirklicht der Staat den ersten Keim seiner eigenen Idee" 61 . Diese Verwirklichung geschieht durch eine allgemeine Gesetzgebung, die nicht nur die Rechtsverhältnisse der Bürger untereinander regelt, sondem auch das Untertanenverhältnis zu einem Rechtsverhältnis ausgestaltet. "Der Gesetzesstaat in diesem Sinn darf daher als unverzichtbares Element und erste Stufe des Rechtsstaats bezeichnet werden" 62 . Es würde zu kurz greifen, hier kritisch allein auf die gleichwohl durchweg auch im ALR festgehaltene prinzipielle Souveränität des Monarchen auch gegenüber dem von ihm selbst gesetzten Recht abzustellen, darauf, daß die Rechtstreue des Königs nur auf einer unerzwingbaren moralischen Selbstverpflichtung beruht. Einmal gilt dies ohnehin nicht im Privatrechtsverkehr, und im Bereich hoheitlichen Handeins nur dort, wo Fundamentalgesetze keine herrscherliehe Pflichtenstellung begründen. Hier hatte bereits die vemunftrechtliche Staatslehre Begrenzungen der Parömie "princeps legibus solutus" entwickelt63 , die sich auch in der preußischen Staatspraxis durchgesetzt hatten. Wichtiger ist, daß Adressat zahlreicher, namentlich polizeirechtlicher Vorschriften ja auch die Verwaltung war. Das ALR bedeutet daher einen wesentlichen Schritt auf dem Wege zur Gesetzmäßigkeit der Verwaltung. Gerade Klein legt in seiner Kontroverse mit Schlosser darauf großen Wert64 • Dies gilt nicht nur von den Regularien für die städtischen P. Preu, Polizeibegriff (Anm. 21), 274 ff. Otto Bähr; Der Rechtsstaat, 1864, ND Aalen 1961, 2, 8. 62 Dietmar Willoweit, War das Königreich Preußen ein Rechtsstaat?, in: D. Schwab, Staat, Kirche, Wissenschaft (Anm. 33), 451 ff., hier 454; s. a. Detlef Merten, Die Rechtsstaatsidee im Allgemeinen Landrecht, in: Gemeinwohl - Freiheit - Vernunft 60
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Rechtsstaat, hrsg. v. Friedrich Ebel, Berlin I New York 1995, 114 ff .. 63 Dazu näher Christoph Link, Anfänge des Rechtsstaatsgedankens in der deutschen Staatsrechtslehre des 16. bis 18. Jahrhunderts, in: Die Rolle der Juristen bei der Entstehung des modernen Staats, hrsg. v. Roman Schnur, Berlin 1986, 775 ff., 784 ff. 64 E. F. Klein, Annalen (Anm. 21), 31 f.; aufS. 65 bemerkt er ironisch: "Denn damit die vermehrte Macht des Fürsten ja nicht zum Schutze der Geringern gegen die Mächtigern gereichen möge, muß man den obrigkeitlichen Personen eine uneingeschränkte Macht geben, welche so dann nicht ermangeln werden, die Geringern unter dem gehörigen Drucke zu halten. Zu diesem Ende müssen allerdings die Diener des Fürsten und der Gerechtigkeit von der beschwerlichen Kontrolle der Gesetze befreit werden . .. ".
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Magistrate im allgemeinen 65 und für diejenigen der speziellen Polizeibereiche, etwa der Gewerbepolizei66 , sondern auch dort, wo die Herrschaftsgewalt auf "privatem", d. h. ständischem Rechtstitel beruht, wie bei der Gutsuntertänigkeit67. Ungeachtet der Subsidiarität des Gesetzbuches gegenüber den Provinzialrechten wird hier die Tätigkeit in ein dichtes Regelwerk von Rechten und Pflichten eingebunden. Eine Bemerkung wie die des II 7 § 162, wonach die Grundherrschaft eine Heiratserlaubnis "ohne gesetzliche Ursache nicht versagen" darf, hätte immerhin Figaros Hochzeit ohne dramatische Verwicklungen ermöglicht. Das ALR bringt zwar noch keine Unabhängigkeit der Justiz68 • II 17 § 18 bestimmt in Übereinstimmung mit der vernunftrechtlichen Theorie, daß "die allgemeine und höchste Gerichtsbarkeit im Staate ... dem Oberhaupte desselben" gebührt. Dennoch ist auch das nur die eine Seite der Medaille. Sie kennzeichnet die Gewaltenkonzentration von Judikative und Exekutive in der Person des Monarchen. Praktisch bedeutsamer ist aber die Lockerung dieser Verbindung unterhalb der Staatsspitze. Auf die Entwicklung der Kammerjustizdeputationen zu selbständigen Spruchkörpern mit rechtsförmlichen Verfahren und rechtskundigen Beisitzern sowie auf die Entstehung einer eigenen, der Polizei entzogenen Fabrikengerichtsbarkeit haben Rüfner69 und Willoweit70 aufmerksam gemacht. Auch das ALR sanktioniert einerseits den Mißbrauch richterlicher Gewalt71 und stellt die "Unterrichter" unter die "Direktion des Staates", stellt aber zugleich klar, daß diese Direktion durch die "vorgesetzten Obergerichte" ausgeübt und daß auch nur von diesen Strafen oder Disziplinarmaßnahmen gegen Richter verhängt werden dürfen72 . Schließlich ist die Gesetzeskommission, an die das ALR die Richter bei Unklarheiten des Gesetzes verweist73 , sicherlich nicht eine die monarchische Vollgewalt beschränkende- mithin gewaltenteilende- Institution. Sie übt vielmehr das in der Naturrechtslehre allein dem Herrscher zugeschriebene Recht der authentischen Gesetzesauslegung74 in dessen NaALR li 8 §§ 25 ff. Vgl. etwa ALR li 8 §§ 407 ff.; li 19 §§ 1 ff. 67 ALR li 7 §§ 46 ff., 87 ff. 68 Insofern zutreffend A. Schwennicke, Entstehung (Anm. 1), 156 f.; vgl. a . H. Conrad, Allgemeines Landrecht (Anm. 28), 16 ff. 69 Wolfgang Rüfner, Verwaltungsrechtsschutz in Preußen von 1749 bis 1842 (Bonner Rechtswissenschaftliche Abhandlungen, 53), Bonn 1962, 78 ff. 70 Dietmar Willoweit, Die Entstehung der Preußischen Fabrikengerichte im späten 18. Jahrhundert, in: ZNR 4 (1982), 1 ff. 71 ALR II 17 § 85. 72 ALR li 17 §§ 98 f. 73 ALR Einl. §§ 47 f. 74 M. Stolleis, Condere (Anm. 28), 89 ff. 65
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men aus, und sie bestätigte in ihrer faktischen Selbständigkeit die "intendierte zentrale Rolle der preußischen Bürokratie im Rechtsentstehungsprozeß"75. Trotzdem lag gerade bei dieser schmalen Schicht vernunftrechtlich geschulter hoher Beamten das Anliegen der Rechtsstaatlichkeit in guten Händen. Es ist kein Zufall, daß es die Aufgabe, die Wolff den Akademien76 und Svarez der Gesetzeskommission als "unparteiische(r) Stimme der Wahrheit und des gemeinen Besten" 77 vorbehalten wissen wollten, gerade sein sollte dem "Ministerialdespotismus" 78 zu steuern, sozusagen als Frühwarnsystem des Monarchen gegen staatliche Fehlentwicklungen. Überhaupt darf man das Gewicht der aufgeklärten monarchischen Selbstverpflichtung zur Gesetzesbindung nicht unterschätzen. Zwar hatte sich die noch bei Friedrich Wilhelm I. spürbare christliche Amtsethik lutherischer Prägung deutlich abgeschwächt, an ihre Stelle war aber der Impetus des Vernunftrechts getreten, der Despotismus - ein Modewort der Zeit - nicht nur als verwerflich, sondern - schlimmer noch - als irrational erscheinen ließ. Gesetze, die als Ausdruck gesetzgeberischer Vernunft zu gelten beanspruchten, entfalteten eine andere, höhere Autorität als nur situationsgebundene Anordnungen79 . Darin lag ja auch der bereits genannte Unterschied von "Civil"- und "Regierungsgesetzen". Ein wesentliches Element des "Rationalstaats" lag gerade in der Berechenbarkeit der Staatstätigkeit. Deshalb erschien die Zeit der Machtsprüche abgelaufen80 - und sie war es auch nach den Erfahrungen des Müller-Arnold-Prozesses. Dies, obwohl bekanntlich das Machtspruchverbot aus dem Entwurf eliminiert worden war und obwohl ihre Zulässigkeit prinzipiell nicht mehr in Frage stand81 . Insgesamt entsprach der Rechtsstaat des ALR der spezifisch deutschen Vorstellung von der "Bewahrung des status quo durch formale Sicherungen" 82 , aber in diesem Sinn erschien Preußen doch im Reich als "Herold einer neuen staatlichen Kultur" 83 . 75 Zutreffend A. Schwennicke, Entstehung (Anm. 1), 283 ff., hier 287. 76 Christian Wolf!, Vernünftige Gedanken von dem gesellschaftlichen Leben der
Menschen und insonderheit dem gemeinen Wesen, 6. Aufl., Frankfurt a. M./Leipzig 1747, § 412, hier428. 77 C. G. Svarez, Vorträge (Anm. 21), 480. 78 Ebd.; vgl. auch D. Willoweit, Rechtsstaat (Anm. 62), 458. 79 D. Willoweit, Rechtsstaat (Anm. 62), 455. so Neuere Literatur zu den Machtsprüchen bei A. Schwennicke, Entstehung (Anm. 1), 136, Anm. 266. Daß dieses Bewußtsein sich in Preußen rascher als etwa in der Habsburgennonarchie entwickelt hatte, zeigt die selbstverständliche Inanspruchnahme des Machtspruchsrechts durch Maria Theresia; dazu Werner Ogris, Maria Theresia ludex, in: Anzeiger der phil.-hist. Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 110 (1973), 232 ff. 81 A. Schwennicke, Entstehung (Anm. 1), 136 ff. 82 M. Stolleis, Geschichte (Anm. 4), 55. 4 Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte - NF, Beiheft 3
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ll. Der Systemgedanke des ALK
1. Die "Simplificierung der Regierungs-Maschine" Sieht man von einer Reihe von Einzelregelungen ab, so ist das eigentlich Neue des Gesetzbuchs seine systematische Durchdringung des Stoffs in Gestalt einer Kodifikation. Dies ist auch der eigentliche Vorwurf Schlossers. In seiner Polemik gegen Filangieri wendet er sich gegen das Bestreben, durch eine systematische Neukonzeption des Rechts aus "philosophischem", d. h. vernunftrechtlichem Geist die Vielgestaltigkeit der alten gelebten Ordnung zu zerstören. Solche Gesetze dienten nur der "Simplificierung der Regierungsmaschine" und seien eben als "Simplifications-Systeme so geschickt ... , den Despotismus zu befördern. Es scheint den Regenten und ihren Ministers so überaus schön, wenn sie .. . die große Maschine mit einem einzigen Hebel, ohne Widerstand ... lenken können". "Ein Staat, dessen Glieder alle nur nach einem Weg gehen, ist entweder ein Staat von lauter Weisen oder ein Staat von lauter Sklaven. Wo Menschen sind .. . und Bürger sein sollen, da macht nicht die Simplizität der Rechte, sondern ihre Sicherheit und Unverbrüchlichkeit ... den Staat glücklich ... und wie in einem Weltgebäude, so muß auch da die scheinbare Unordnung die wahre Ordnung seyn" 84 • Justus Möser meint dasselbe, wenn er die Positivierung vernunftrechtlicher Systeme mit dem Stern vergleicht, der die Weisen aus dem Morgenland "zur Krippe unseres Heilands gebracht" hat, während doch im Alltag "hölzerne Wegweiser" so viel nützlicher seien85 . Gegenüber dieser Apotheose einer freiheitsverbürgenden Vielgestaltigkeit der überkommenen Rechtsordnung führt Klein gerade die rechtsstaatliche Sicherung einer klaren gesetzlichen Konzeption ins Feld: "Wenigstens ist so viel gewiß, daß die Dunkelheit und Verwirrung nicht .. . das wahre gemeine Beste ausmache." Gerade dies bändigt den Despotismus86 , gerade die systema83 D. Willoweit, Rechtsstaat (Anm. 62), 456; vgl. a. R. Koselleck, Preußen (Anm. 57), 31 f.; G. Birtsch, Konstitutioneller Charakter (Anm. 21), 114. 84 J. G. Schlosser, Briefe (Anm. 21), 11-13. 85 Justv.s Möser, in: Justus Mösers sämtliche Werke, hrsg. v. d. Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Oldenburg i. 0. u . a . 1943- 1990, Bd. 3, 290; s. dazu auch Jan Schröder, Justus Möser als Jurist (Osnabrücker Rechtswissenschaftliche Abhandlungen, 5), Köln/Berlin/Bonn/München 1976, 56ff. (Nachw.); Christoph Link, Justus Möser als Staatsdenker, in: Möser Fbrum 2, Münster 1994, 21, hier 35ff.; ders., Absolutismus (Anm. 8), 196 f. 86 E. F. Klein, Annalen (Anm. 21), 31 ff.- In diese Richtung zielt auch der Satz Jean Jacqv.es Rousseaus (Du contrat social [1762), li 7): "Der Fürst folgt nur dem Vorbild, das der Gesetzgeber ihm gibt. Dieser ist der Mechaniker, der die Maschine erfindet, jener nur der Arbeiter, der sie aufzieht und in Gang hält." (Zit. bei Alfred Voigt, Gesetzgebung und Aufklärung in Preußen, jetzt in: ders., Schriften zur Rechts- und Verfassungsgeschichte (Erlanger Fbrschungen, Reihe A: Geisteswissenschaften, 65), hrsg. v. Peter Badura, Erlangen 1993, 207 ff., hier 209.
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tischeDurchdringungdes Stoffs demontiert die hölzernen Wegweiser, indem sie das Recht an Leitlinien ausrichtet, die nicht, jedenfalls nicht allein, im Herkommen begründet sind. Entscheidend ist dabei nicht, daß die einzelnen Regelungen selbst traditionsfeindlich sind, sondern daß sie sich jeweils in ihrer Gesamtheit unter systematischen Gesichtspunkten wie Eisenspäne im Magnetfeld neu ordnen und von daher einen neuen Sinnzusammenhang gewinnen.
2. Die naturrechtliche Systematik Zwar hatte auch die gemeinrechtliche Wissenschaft Systematisierungsversuche unternommen, die sich von der Legalordnung der römischen Quellen lösten87 • Ging es hier aber um eine bloße Stoffgliederung, also um ein Ordnungsprinzip, so ändert sich das Anliegen im Naturrecht. Eine vernünftige Betrachtung mußte notwendigerweise den Rahmen gemeinrechtlicher Systemimmanenz sprengen und eine Ordnung begründen, die sich an außerhalb des Systems stehenden Prämissen orientierte. Für Pufendorf und die erste Generation der großen Naturrechtslehrer waren dies noch eher allgemeine Kategorien: Die Stellung des Menschen im Naturstand und als Bürger nach der Staatsgründung, der sich daraus ergebende unterschiedliche Rechts- und Pflichtenstatus88 • Erst im späteren Naturrecht, vor allem bei Wolffund seiner Schule, wird daraus- wie bereits erwähnt- ein innerer Zusammenhang von konkreten Regeln, die sich in deduktiver Ableitung aus vernünftig postulierten Primärprinzipien ergeben. Dieser Deduktionszusammenhang, der alles Recht miteinander in der Wurzel verbindet, ermöglicht eine Systembildung im strengen Sinn89• Gleichwohl stimmen frühe und spätere Naturrechtier in ihrem Ausgangspunkt überein. Ihrer Darstellung liegt nicht mehr das Institutionenschema: personae-res-actiones zugrunde. Sie setzen vielmehr an bei der sozialen Befindlichkeit des Menschen. Gegenstand des Rechts ist die Einbindung des Menschen in die Gemeinschaft - und so behandeln die Naturrechtssysteme demzufolge zunächst das Individuum und dann diese Gemeinschaften in aufsteigender Reihenfolge: Ehe, Familie, Hausgemeinschaft, Staat, Staatengemeinschaft (Völkerrecht), dies alles eingebunden in die in alledem wirksame christliche Sozialethik der officia erga Deum.. Das schloß im Detail eine Einbeziehung 87 Andreas Schwarz, Zur Entstehung des Pandektensystems, in: ders., Rechtsgeschichte und Gegenwart (Freiburger Rechts- und Staatswissenschaftliche Abhandlungen, 13), Karlsruhe 1960, 4 f. (Nachw.); Helmut Coing, Europäisches Privatrecht, Bd. 1, München 1985, 189ff. (Nachw.). 88 Dazu insbes. F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte (Anm. 3), 305 ff. 89 Helmut Coing, Zur Geschichte des Privatrechtssystems, Frankfurt a. M. 1962, 11, 23.
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traditioneller gemeinrechtlicher Institute keineswegs aus, aber es liegt doch auf der Hand, daß der systematische Ansatz auch den Inhalt, die konkreten Rechtsinstitute prägte, je nach Intention des Autors eher im reformerischen oder konservierenden Sinn. Im Kern lag die beschriebene Systematik aber bereits Pufendorfs Naturrechtswerk von 1672 zugrunde 90 ; sie findet sich dann bei Christian Wolff, bei Joachim Georg Darjes, bei Daniel Nettelbladt und bei Gottfried Achenwall 91 . 3. Die Systematik des ALR Dieser Einteilung folgt nun auch das ALR, wenn es in einem ersten Teil Sachen- und Schuldrecht unter dem Gesichtspunkt des Eigentumserwerbs (einschließlich des Testaterbrechts) und die aus dem Eigentum fließende Rechtsstellung als Individualrechte behandelt und dann zum Familienrecht im weiteren Sinne unter Einschluß des Gesinde- und Intestaterbrechts übergeht92 • Dem schließt sich die Regelung der ständischen Ordnung (mit dem Kirchenrecht) an: Den Abschluß bilden die Rechte und Pflichten des Staates gegen seine Bürger. Entsprechend der zivilrechtliehen Beschränkung des Gesetzbuchs, d. h. der Reduzierung des Regelungsgehalts auf solche Materien, die unmittelbar die Rechtssphäre des Untertanen berühren, bringt dieser Teil nicht- wie die Naturrechtssysteme- eine umfassende Behandlung des Staatsrechts. Von einer "Ersatzverfassung" kann daher auch nur in einem sehr eingeschränktem Sinne die Rede sein93 . S. Pufendorf, Jus Naturae (Anm. 37). Gottfried Achenwall, Ius Naturae, 2 Bde., 7. Auß., Göttingen 1781; Joachim Georg Darjes, Institutiones lurisprudentiae Universalis, 4. Auß., Jena 1751; Daniel Nettelbladt, Systema Elementare lurisprudentiae Naturalis, 3. Aufl., Halle 1768; Christian Wolf!, Jus Naturae (Anm. 18); ders., Institutiones (Anm. 18); s. a. F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte (Anm. 3), 305ff., 332; E. Landsberg, Geschichte (Anm. 42), 473; A. Schwarz, Entstehung (Anm. 87), 5f., 19f.; Lars Björne, Deutsche Rechtssysteme im 18. und 19. Jahrhundert (Münchener Universitätsschriften. Juristische Fakultät. Abhandlungen zur Rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung, 59), Ebelsbach 1984, 14f. Von dieser Systematik weicht Wolff nur insofern ·ab, als er die Grundsätze des Vermögensrechts in einer philosophischen Einleitung gleichsam vor die Klammer zieht und die Einzelheiten in einem eigenen Kapitel folgen läßt (Chr. Wolf!, Institutiones [Anm. 18), Pars I [De Jure naturae in genere & officia erga seipsum, erga alios, & erga Deum), Pars II ["De dominio & Juribus atque obligationibus inde nascentibus"]), während die anderen Autoren Schuld- und Sachenrecht insgesamt bei der Rechtsstellung des Individuums behandeln. 92 S. a . die bei F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte (Anm. 3), 332 wiedergegebene Struktur des ALR. 93 Nachweise zum Meinungsstand bei A. Schwennicke, Entstehung (Anm. 1), 5, Anm. 10; s. a . R. Koselleck, Preußen (Anm. 57), 30ff.; G. Birtsch, Konstitutioneller Charakter (Anm. 21), 115. 90 91
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a) Der "Allgemeine Teil" Mit den jüngeren Naturrechtssystemen- und hierin liegt das Bahnbrechende des ALR- wird indes zunächst ein allgerneiner Teil vorangestellt94 . Wieacker hat in dessen Herausarbeitung nicht zu Unrecht für die Theorie ein besonderes Verdienst Christian Wolffs gesehen95 . Für das ALR gilt dies nicht nur im Hinblick auf die Einleitung, sondern vor allem auch für die einzelnen Abschnitte. So enthalten die ersten 5 Titel des 1. Teils die Materien, die auch die Kernstücke des Allgerneinen Teils des BGB bilden. Während diese allgemeinen Ausführungen noch bei Pufendorf, in gewissem Sinne auch bei Wolff das philosophische Fundament legen und damit nur beschränkt mit den jeweiligen Passagen des ALR vergleichbar sind, stellt etwa Nettelbladt konkrete Rechtsbegriffe an den Anfang96 . Gerade hier wird der naturrechtliche Einfluß auf die Systembildung besonders deutlich97 . b) Vermögens- und Schuldrecht Betrachtet man das Vermögensrecht genauer, so zeigt sich in der erwähnten Verbindung von Schuld- und Sachenrecht, daß die einzelnen Schuldverhältnisse als mittelbare "Titel zur Erwerbung des Eigenthurns unter Lebendigen" neben die unmittelbaren Erwerbsrechte (einschließlich des Testaterbrechts) gestellt werden. Dies entspricht durchaus der naturrechtlich vorgegebenen Ordnung bei Pufendorf, Wolff, Nettelbladt, Darjes und Achenwall, die freilich insofern bis zu einem gewissen Grade in gerneinrechtlichen Traditionen standen98. Dagegen folgt das ALR bei Bestimmung 94 Zur Bedeutung des Naturrechts in diesem Zusammenhang Martin Lipp, Die Bedeutung des Naturrechts für die Ausbildung der allgemeinen Lehren des deutschen Privatrechts, Berlin 1980; P. Krause, Naturrecht (Anm. 23), 19. 95 F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte (Anm. 3), 320, 332; s. a . A. Schwarz, Entstehung (Anm. 87), 7ff.; L. Björne, Rechtssysteme (Anm. 91), 250ff. 96 S. Pu.fendorf, Jus Naturae (Anm. 37), lib 1 (de actionibus moralibus); Chr. Wolf!, Institutiones (Anm. 18), Pars I (De Jure Naturae in genere et officiis erga seipsum, erga alios, et erga Deum); D. Nettelbladt, Systema (Anm. 91), Intr. P. III (§§ 41 ff.; De personis, factis et rebus). 97 Vgl. a. A. Schwarz, Entstehung (Anm. 87), 7 ff. m w. N. 98 S. Pu.fendorf, Jus Naturae (Anm. 37), lib. IV und V; Chr. Wolf!, Institutiones (Anm. 18), Pars II cap. II ss.; D. Nettelbladt, Systema (Anm. 91), §§ 531ss.; J. G. Darjes, Institutiones (Anm. 91), Pars Spec. sect. II cap. II tit. IV ff.; G. Achenwall, Ius Naturae (Anm. 91), lib. I sect. II; vgl. auch F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte (Anm. 3), 310. Nach E. Landsberg, Geschichte (Anm. 42), 473, beruht die Einordnung des Obligationenrechts (wie auch des Erbrechts) unter die Lehre vom Eigentumserwerb auf einem Vorschlag Darjes', der von Lukas Fenderlin, Gedanken über die Verabfassung eines Gesetzbuches zur Verbesserung derer Justizverfassungen, Breslau 1770-1773, ND Goldbach 1994, unterstützt wurde, dazu auch E. Landsberg, Geschichte (Anm.
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und Gliederung der Vertragstypen der Pufendorfschen, von Achenwall aufgenommenen Systematik, die ihrerseits von der römisch-rechtlichen Tradition abweicht, nicht99 . c) Familien- und Vormundschaftsrecht Die naturrechtliche Systemlogik zeigt sich darin, daß das Familienrecht an den Beginn des zweiten Teils gestellt ist, in dem es insgesamt um die Einordnung des Individuums in die Gemeinschaft geht 100 • Die Institutionen hatten diese Materie im römischen CIC in das Personenrecht eingegliedert und an die Spitze gestellt. Aber auch im einzelnen folgt das ALR nicht der Institutionenordnung, so etwa im Auseinanderreißen des ErbrechtsTestaterbrecht bei den Arten des Eigentumserwerbs, lotestaterbrecht im Familienrecht - oder in der Behandlung des Vormundschaftsrechts bei den Rechten und Pflichten des Staates. Das erste findet sich aber auch in der vernunftrechtlichen Literatur bei Darjes 101 . Anders steht es dagegen um das Vormundschaftsrecht. Die Naturrechtssysteme ordnen es in Fortführung der römisch-rechtlichen Tradition durchweg dem Familienrecht zu. Bei Christian Wolff wird es sachlich durch das "imperium privatum" der "potestas patria" bestimmtl 02 ; die staatliche Pflichtenstellung kommt nur ergänzend als Bestätigungs- und Kontrollrecht beim imperium publicum in den Blick103 . Dagegen kehrt sich dieses Verhältnis im ALR um: Der wohlfahrtsstaatliche Grundsatz "Personen, welche für sich selbst zu sorgen nicht im Stande sind, stehen unter der besandem Aufsicht und Vorsorge des Staats" 104 bestimmt die öffentlich-rechtliche Klassifizierung des Instituts. d) Das Recht der Stände Ein Herzstück des ALR bildet das Standesrecht. Es schließt sich an die Rechtsbeziehungen von Herrschaft und Gesinde und an das allgemeine Ge42), 465f. Zu Fenderlin ebd., Not. 297 und die Einleitung des Nachdrucks von A. Schwennicke, Entstehung (Anm. 1), IX ff. 99 F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte (Anm. 3), 310. 1oo A. Schwarz, Entstehung (Anm. 87), 20 f. (Nachw.); F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte (Anm. 3), 332. 101 J. G. Darjes, Institutiones (Anm. 91), Pars Spec. sect. II cap. II tit. VI, sect. IV cap. II. 102 Chr. Wolf!, Institutiones (Anm. 18), Pars III sect. I cap. IV §§ 898 ss. (p. 368 ss.); vgl. a. G. Achenwall, Jus Naturae (Anm. 91), lib. II sect. II, I 2; J. G. Darjes, Institutiones (Anm. 91), Pars Spec. sect. VI cap. II. 103 Chr. Wolf!, Institutiones (Anm. 18), Pars III sect. II cap. III § 1023 (p. 416). 104 ALR II 18 § 1; vgl. auch I 1 §§ 32f.- So schon C. G. Svarez, Vorträge (Anm. 21), 9,15,18,315,483,641i
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seilschaftsrecht an. Nacheinander werden eingehend Bauern-, Bürger- und Adelsstand sowie das Beamtenrecht behandelt. Daß sich in den Vernunftrechtssystemen dafür kein unmittelbares Vorbild findet, ist kein Zufall: Das Naturrecht ging ja von der prinzipiellen Gleichheit der Menschen aus. Ausnahmen davon zu schaffen erscheint als besonderes Hoheitsrecht; es hat seinen systematischen Ort deshalb bei den "potestates surnrni imperii", bei Pufendorf unter dem bezeichnenden Titel: "De potestate imperii civilis circa definiendum valorem civiurn" 105 . Der Ansatz bei der Gleichheit entspricht auch dem 1. Teil des ALR. Dagegen spiegelt sich im 2. Teil das traditionelle Menschenbild des Ständestaates106 . Obwohl auch das ALR den naturrechtliehen Ausgangspunkt nicht verläßt, daß sich nämlich Standesrechte prinzipiell auf staatliche Verleihung gründen107 , und damit die ältere Vorstellung einer gottgewollten Ständeordnung beiseiteschiebt108 , wird doch die soziale Realität des Ständestaates als selbstverständlich vorausgesetzt. Die nur schwer übersteigbaren ständischen Schranken haben dann auch zur Folge, daß, da ja die Befugnis zur Gewerbeausübung grundsätzlich dem Bürgerstand vorbehalten blieb, das Gewerberecht hier ebenso seine Regelung findet wie Teile des besonderen Schuldrechts, des Handels- und Wechselrechts. e) Das Kirchenrecht Unter systematischem Gesichtspunkt ist nur interessant, daß die Einordnung des Kirchenrechts 109 weder unter ständischen Aspekten erfolgt - in der Einteilung der Stände bei Svarez wird der geistliche Stand als ein besonderer, von den Staatsdienern abgehobener nicht mehr erwähnt110 -, noch auch unter religionsrechtlichen. Die Erörterung der Materie in den NaturS. Pufendorf, Jus Naturae (Anm. 37), lib VIll cap. 4 (II p. 373 ss.). Hans Hattenhauer, Einführung, in: ders. (Hrsg.), Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794, 2. Aufl., Neuwied/Kriftel/Berlin 1994, 22; s. a. H. Coing, Europäisches Privatrecht (Anm. 87), 79. Zur ,.Janusgesichtigkeit" des ALR Koselleck, Preußen (Anm. 57), 24, 41f., 44, 55, 143. 107 C. G. Svarez, Vorträge (Anm. 21), 26lf.; in diesem Sinne ist daher ALR I 1 § 6 zu verstehen: ,.Personen, welchen vermöge ihrer Geburt, Bestimmung oder Hauptbeschäftigung gleiche Rechte in der bürgerlichen Gesellschaft beygelegt sind, machen zusan1men Einen Stand des Staates aus". 1oa Dazu Adolf Laufs I Alexander Eichener, Art. ,Stände, Ständewesen', in: HRG, Bd. 4, Sp. 1901 ff., hier 1902. 109 Dazu Hans Wolfgang Strätz, Das Staatskirchenrechtliche System des preußischen Allgemeinen Landrechts, in: Civitas. Jahrbuch für Sozialwissenschaften 11 (1972), 156ff.; Christoph Link, Art. ,Kirchenrecht'(= Staatskirchenrecht), in: HRG, Bd. 2, Sp. 783 ff., hier 799 ff. , jeweils m. Nachw. u o C. G. Svarez, Vorträge (Anm. 21), 313. 105 106
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rechtssystemenerfolgt regelmäßig unter dem Titel der staatlichen Hoheitsrechte in Religionsdingen, des Jus sacrorum111 • Im ALR dagegen ist das Kirchenrecht Teil des Verbandsrechts, Gegenstand sind die "Kirchengesellschaften". Schon darin erweist sich der Übergang von einer territorialistischen, d.h. auf die Religionshoheit der Territorialgewalt bezogenen, zu einer kollegialistischen, in der Korporationsaufsicht wurzelnden Begründung der Staatskirchenhoheit112 . Daß mit diesem Paradigmenwechsel die Entwicklung zum modernen, freiheitlichen Staatskirchenrecht beginnt, habe ich an anderer Stelle darzulegen versucht113 . f) Die Rechte und Pflichten des Staates Der letzte Abschnitt (II 13- 20) handelt von den Rechten und Pflichten des Staates. Daß Schulen und Universitäten trotz des berühmten li 12 § 1, der beide als "Veranstaltungen des Staats" ausweist, bereits im vorausgehenden Titel geregelt werden, ist in ihrem korporativen Charakter begründet. Andererseits findet das Strafrecht im letzten Titel eine eigene, ausführliche Behandlung. Dies bedeutet aber natürlich keine Herauslösung aus den Hoheitsrechten11\ sondern lediglich eine gesetzestechnische Sonderung wegen Umfang, Gewicht und Eigenart der Materie 115 . - Der auch hier gleichsam als allgemeiner Teil vorausgeschickte kurze 13. Titel wiederholt in Kompendienform die Grundsätze des naturrechtliehen "Allgemeinen Staatsrechts", freilich in absolutistischer Zuspitzung und ohne die dort herausgearbeiteten Schranken der Herrschaftsausübung. Freilich sollte man dies nicht überbewerten: Einmal folgte etwa die Nichterwähnung verfassungsrechtlicher Vorbehalte schon aus der beschränkten Zielsetzung des Gesetzbuchs; anderes- wie etwa die Bindung an Privilegien und "wohlerworbene", d . h. vor allem ständische Rechte- hatte im Gesetzestext eine eigene Behandlung erfahren, und schließlich besaßen zahlreiche Ingredienzen einer "bene moderata potestas" 116 ohnehin eher Appellcharakter gegenüber Vgl. etwa Chr. Wolff, Jus Naturae (Anm. 18), VIII, §§ 945 ss. (p. 719 ss.). Klaus Schlaich, Kollegialtheorie - Kirche, Staat und Recht in der Aufklärung (Ius Ecclesiasticum, 8), München 1969; Chr. Link, Herrschaftsordnung (Anm. 7), 322 ff., 337 f. 113 Christoph Link, Christentum und Moderner Staat - Zur Grundlegung eines freiheitlichen Staatskirchenrechts im Aufklärungszeitalter, in: Christentum und modernes Recht, hrsg. v. Gerhard Dilcher und llse Staff, Frankfurt a. M. 1984, 110 ff. 114 C. G. Svarez, Vorträge (Anm. 21), 20f., 374ff.; vgl. auchALR II 20 § 1. 115 C. G. Svarez, Vorträge (Anm. 21), 21: "Weil aber die Lehre von Verbrechen und Strafe von so vorzüglicher Wichtigkeit ist, auf die Sicherheit und das Wohl des Staats einen so unmittelbaren Einfluß hat und der Souverän dabei noch öfterer und unmittelbarer mitwirkt als bei der bürgerlichen Gesetzgebung, so verdient und erfordert diese Materie eine besondere Abhandlung". lll
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dem Monarchen, waren also einer verbindlichen Regelung in Rechtssatzfarm nur beschränkt zugänglich. Bereits Schlosser hat gerügt, daß vor allem mit diesem Teil des Gesetzbuches die Grenzen der "Civil"-Gesetzgebung überschritten seien117 . In der Tat geht es hier im heutigen Verständnis um genuin öffentlich-rechtliche Materien. Für naturrechtlich geschultes Denken bildete indes der Komplex des "ius civitatis" die Spitze der Rechtspyramide- und eine "zivil"-rechtliche Reduktion des Stoffs erfolgt im ALR nur unter dem Gesichtspunkt der unmittelbaren Betroffenheit von Untertanenrechten. Aus den- variierenden - vernunftrechtlichen Regalienkatalogen werden demgemäß auch nur diejenigen näher geregelt, die einen dahingehenden Rechtsbezug hatten, also namentlich die fiskalisch bedeutsamen (Zoll-, Post-, Bergwerks-, Mühlenregal, Staatserbrecht u.a.) oder diejenigen mit unmittelbarer Rechtswirkung nach außen (Emigrationsrecht). Unter einer solchen, durch die Kabinettsordre von 1780118 vorgegebenen Prämisse war also eine derartige Ausweitung konsequent 119 . Bei der Auswahl der zu behandelnden Regalien ließen sich die Reformer von diesem Maßstab auch insofern leiten, als es sich dabei um veräußerliche, d. h . in Privathand überführbare Hoheitsrechte handelte, während die unveräußerlichen als Teil der Staatsverfassung galten. Damit war eine auch der naturrechtliehen Literatur geläufige Klassifizierung aufgenommen worden120 , die hier zum Systemprinzip erstarkte. Gerade dies aber gebietet äußerste Vorsicht bei der Umhüllung des ALR mit dem Ornat eines zumindest faktischen Verfassungsersatzes 121 .
m. Schluß Der Überblick hat ergeben, daß das ALR nur in beschränktem Maße "preußisches Naturrecht" war, schon gar nicht eine Frucht am revolutionären Ast dieser geistesgeschichtlichen Tradition. Prägend war die dritte Generation der Naturrechtslehre, vor allem Wolffund seine Schule, die gerade im aufgeklärten Absolutismus die Postulate vernünftiger Staatsgestaltung 116 Justus Henning Boehmer, Introductio in ius publicum universale, ed. 2 Halae Magdeb. 1726, P. spec. lib. 1 cap. 5 § 23 Ann. a (p. 292). 117 J. G. Schlosser, Briefe (Anm. 21), 327f. 118 Abgedruckt in der von H. Hattenhauer herausgegebenen Ausgabe des ALR (Anm. 106), 43 ff. 119 G. Birtsch, Konstitutioneller Charakter (Anm. 21), 101. 12o Vgl. etwa Chr. Wolf!, Jus Naturae (Anm. 18) VIII, §§ 790, 1058 ff.; ders., Institutiones (Anm. 18), Pars 111 sect. II cap. 111 §§ 1038 ff. (p. 425 f.); J. G. Darjes, Institutiones (Anm. 91), Pars Spec. sect. V cap. II Tit. I, §§ 691 ff. 121 S. o. Anm. 93.
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verwirklicht sahen. Schwennicke hat mit Recht gezeigt, daß demgegenüber die Forderungen der Französischen Revolution keinesfalls bei der Textredaktion, allenfalls in den späteren Diskussionen eine Rolle spielten und hier das Werk eher gefährdeten als beflügelten 122 . Motiv ist weniger die Kanalisierung einer gesellschaftlichen Unruhe als die Herstellung der Rechtseinheit in einer rational konzipierten gesamtstaatlichen Monarchie. Daß dieses Anliegen im Sinne gerade des Wolfischen Naturrechts lag, bedarf keiner Begründung. Dies sollte aber ohne Eingriffe in die ständestaatliche Struktur der Gesellschaft geschehen, die das Fundament des ancien regime bildete. Das ALR blieb diesem Sozialmodell verpflichtet, und hier lagen auch historisch die Grenzen seiner Wirksamkeit. Die Friktionen mit einer gewandelten sozialen Wirklichkeit zeigten sich alsbald in einem steigenden Änderungsbedarf und im Obsoletwerden ganzer Teile. Trotzdem markiert es einen Höhepunkt naturrechtlich inspirierter Gesetzgebungskultur - einen, wenn auch nicht den absoluten, wie es in der borussisch geprägten Geringschätzung des Österreichischen ABGB immer wieder behauptet worden ist. In den Grenzen seiner Ziele wares - um mit Klein zu sprechen- kein vollkommenes, aber ein gutes Gesetzbuch123 .
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A. Schwennicke, Entstehung (Anm. 1), 383 f. und passim. E. F. Klei n Annalen (Anm. 21), 35.
Reformabsolutismus und Gesetzesstaat Rechtsauffassung und Justizpolitik Friedrichs des Großen Von Günter Birtsch, Trier
Kant hat 1783 in seiner berühmten Beantwortung der Frage: "Was ist Aufklärung?" das Zeitalter der Aufklärung "das Jahrhundert Friedrichs" genannt. Dabei hatte er nicht zuletzt "die Denkungsart eines Staatsoberhaupts" im Auge, das seinen Untertanen "selbst in Ansehung seiner Gesetzgebung" erlaube, "von ihrer eigenen Vernunft öffentlich Gebrauch zu machen und ihre Gedanken über eine bessere Abfassung derselben, sogar mit einer freimüthigen Kritik ... der Welt öffentlich vorzulegen" 1 . Kant konnte damals nicht wissen, daß der von der Respektierung des öffentlichen Räsonnements begleitete Gesetzgebungsprozeß der 80er Jahre durch die Justizkrise der Müller-Arnold-Affäre ausgelöst worden war. Noch 1776 hatte Friedrich der Große selbst gar nicht an ein neues Gesetzbuch gedacht. "Preußen besitzt eine recht weise Gesetzgebung", so heißt es in Friedrichs Expose du Gouvernement von 1776. "Ich halte es für unnötig, daran zu bessern " 2 • Diese optimistische Auffassung des Königs wurde durch die Leitung der Justizadministration gestützt: Der Großkanzler de Jariges hatte 1765 die Gesetzesreform Coccejis geradezu als eine "glückliche Revolution" gepriesen3. Die Annahme, die sich auch bei Theodor Schieder findet, daß die "von der Aufklärung ausgehenden Impulse die friderizianische Rechtspolitik nicht ruhen ließen, die Kodifikation eines ... von einer einheitlichen Triebkraft bestimmten Gesetzbuches" anzustreben, entspricht der fast durchgehenden Überschätzung der Aufklärungswirkung und läßt sich 1 I[mmanuel] Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: Was ist Aufklärung? Beiträge aus der Berlinischen Monatsschrift, hrsg. v. Norbert Hinske, 4. Aufl., Dannstadt 1990, 452-465, 462 ff. 2 Friedrich der Große, Abriß der preußischen Regierung und der Grundsätze, auf denen sie beruht, nebst einigen politischen Betrachtungen (1776), in: Die Werke Friedrichs des Großen, hrsg. v. Gustav Berthold Volz, Bd. 7, Berlin 1913, 210-216, hier 214. 3 Reinhold Koser, Geschichte Friedrichs des Großen, 4 Bde., Nachdruck 1963 [7. Aufl. 1925], Bd. 3, 411.
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schwerlich aufrechterhalten4 • Erst im Zuge der Müller-Amold-Affäre war Friedrich offenbar bewußt geworden, daß die nach dem zweiten schlesischen Kriege von Cocceji begonnene Justizreform nicht den durchschlagenden Erfolg hatte, den sich Friedrich von ihr versprochen hatte. Wie kam es zu dieser unterschiedlichen Einschätzung des Königs binnen weniger Jahre? Offensichtlich war in den Augen Friedrichs die Rechtspflege hinter der 1746 ausgegebenen Devise einer Justiz nach "Vernunft, Recht, Billigkeit und dem Besten des Landes und der Untertanen" zurückgeblieben5 . Friedrich zeigte sich 1776 zwar mit seiner Gesetzgebung im engeren Sinne zufrieden, nicht jedoch mit der Justizpflege. So lautete denn auch Mitte der 1770er Jahre seine mahnende Kritik an den Großkanzler von Fürst: "Es kommt mir vor, als wenn die Justiz wieder anfängt einzuschlafen" 6 . Vor allem die Verschleppung der Prozesse bot hier einen kritischen Ansatz für das Mißtrauen des Königs. In seinem Expose von 1776 hielt er eine dreijährige Visitation der Gerichtshöfe, eine Überprüfung von Richtern und Advokaten für geboten7 . Ein Edikt aus dem gleichen Jahr drohte Richtern und Advokaten geradezu Amtsentsetzung und Festungsstrafe wegen Prozeßverschleppung an8 . So war denn auch mit der Justizkrise der Müller-Amold-Affäre, die zur Entlassung des Großkanzlers von Fürst und zur Ernennung von Carmers zum Chef de Justice führte, der Anlaß für die große Justizreform der 80er Jahre gegeben, nicht jedoch die eigentliche Ursache für den großen Gesetzgebungsprozeß, den Kant im Auge hatte, als er Friedrich rühmte. Gewiß hatte nicht bloß der Zufall der Müller-Amold-Affäre oder die Willkür des absolutistischen Königtums zur Abberufung des Großkanzlers von Fürst und zur Ernennung von Carmers geführt. Der Wechsel der Amtsträger gründete in der Rechtsauffassung des Königs und in seinem Mißtrauen gegenüber der Justiz. Die Antriebe für die große Reformgesetzgebung und damit für das Allgemeine Gesetzbuch aber gingen von den Reformenergien von Carmers und seiner Mitarbeiter aus. Für den Erfolg ihrer Arbeit war jedoch letzten Endes die Übereinstimmung mit den königlichen Intentionen entscheidend. Ohne die Vorgaben des Königs, d. h. ohne die von Friedrich stimulierten Reformenergien, ganz zu schweigen vom eigentlichen Gesetzgebungsbefehl, hätte der Kodifikati4 Theodor Schieder, Fri.edrich der Große. Ein Königtum der Widersprüche, Frankfurt/Berlin/Wien 1983, 292. 5 Walter Krusch, Die Gedanken der Aufklärung in der Gesetzgebung, Rechtspflege und Verwaltung Fri.edrichs des Großen. Ein Beitrag zur Geschichte und Philosophie des preußischen Rechtes, Diss.jur., Breslau 1928, 30; R. Koser, Fri.edrich der Große (Anm. 3), Bd. 2, 39. 6 W. Krusch, Gedanken der Aufklärung (Anm. 5), 30. 7 Friedrich der Große, Abriß (Anm. 2), 214. 8 W. Krusch, Gedanken der Aufklärung (Anm. 5), 35.
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onsprozeß einen anderen Verlauf genommen. Die aufgeklärte Rechtsauffassung des Königs gehört zu den entscheidenden Rahmenbedingungen. Deshalb bildet sie den Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen. In einem weiteren Schritt sollen die von Friedrich befolgte Justizpolitik, die erteilten Gesetzgebungsbefehle, die vom König ausgehenden Denkanstöße sowie die Rezeption seiner Gedanken durch die Justizadministration knapp referiert werden.
I. Friedrichs Rechtsauffassung Friedrich der Große hat in etwa vier Jahrzehnten von seinen "Betrachtungen über den gegenwärtigen Zustand Europas" (1737 I 38), dem "Antimachiavell" (1739), den politischen Testamenten von 1752 und 1768 bis hin zur Abhandlung über die "Regierungsformen und Herrscherpflichten" von 1777 und den Briefen über die Vaterlandsliebe von 1779 am Gedanken der naturrechtliehen Grundlegung des Staates durch einen Vertrag festgehalten. Und er hat hierauf den von ihm häufig bemühten Topos vom König als erstem Diener des Staates gestützt: "Die Aufrechterhaltung der Gesetze" sei "der einzige Grund, der die Menschen bewog, sich Obere zu geben"; denn das bedeute den "wahren Ursprung der Herrschergewalt. Ihr Inhaber sei der erste Diener des Staates". Als solcher habe er die Pflichten des ersten Richters, des ersten Feldherren, des ersten Finanzbeamten, des ersten Ministers der "Gemeinschaft" zu tragen, deren "Mitbürger" er sei. Er sei "nur der erste Diener des Staates" und als solcher "verpflichtet, mit Redlichkeit, mit überlegener Einsicht und vollkommener Uneigennützigkeit zu handeln, als sollte er jeden Augenblick seinen Mitbürgern Rechenschaft über seine Verwaltung ablegen" 9 • In Friedrichs staatstheoretischer Reflexion nehmen Richteramt und Justizpflege des Monarchen durchgehend einen vorzüglichen Platz ein. Bereits im Antimachlaven betont er ihren Vorrang. "Wahrung des Rechts ... ist eines Herrschers erste Obliegenheit" 10 • Die historische Forschung ist nicht müde geworden, auf Konsistenz und Kontinuität dieses Denkmusters zu verweisen. Indessen sollte nicht übersehen werden, daß es Zwischentöne oder Ambivalenzen in den einschlägigen Reflexionen Friedrichs gibt, die nicht unbedingt mit seinem Staatsentwurf der "Communaute" von Herrscher und Beherrschten korrespondieren 11 und jenseits des von ihm be9 Vgl. Günter Birtsch, Der Idealtyp des aufgeklärten Herrschers. Friedrich der Große, Karl Friedrich von Baden und Josef II. im Vergleich, in: Der Idealtyp des aufgeklärten Herrschers, hrsg. v. dems. (Aufklärung 2, 1), Harnburg 1987, 9-47, 14f. 10 Friedrich der Große, Der Antimachiavell, in: Werke (Anm. 2), 1-114, hier 6. 11 G. Birtsch, Idealtyp (Anm. 9), 15 f.
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haupteten rationalen Legitimationsgrundes von Herrschaft liegen. Friedrich vermochte schon im "Antimachiavell" den Herrscher zwar als Diener seiner Untertanen zu stilisieren, aber er hat eben umgekehrt auch dessen Untertanen instrumentalisiert, indem er sie als Werkzeug des "Herrscherruhms" apostrophierte12 . In solchen Aussagen verdichtet sich m.E. Friedrichs Herrschermentalität nicht weniger stark als in den wiederholten rhetorischen Kunstfiguren des Aufklärers. Eine Äußerung wie die eben zitierte aus dem "Antimachiavell" relativiert die von Friedrich behauptete und wiederholte Hierarchie der Staatszwecke, an deren erster Stelle die Justizpflege zu stehen habe. Daß Friedrich 1744 in seiner "Unterweisung" für den jungen Herzog Karl Eugen von Württemberg diesem nur ganz allgemein die Wohlfahrt seiner Untertanen, eine tolerante Religionspolitik und eine Außenpolitik des Augenmaßes ans Herz legte, jedoch kein Wort über Justizpflege oder Gesetzgebung verlor, sollte nicht überbewertet werden, aber doch zu denken geben 13 . Für Friedrich gab es zumindest ebenso wichtige andere Regierungsaufgaben wie die Justiz. Dies hat der König auch ausdrücklich - so im politischen Testament von 1768 - festgehalten 14 . Schon der "Antimachiavell" läßt erkennen, daß bei Friedrich zwischen einem monarchischen Selbstverständnis und seiner aufgeklärten naturrechtliehen Staatstheorie differenziert werden muß, auch wenn es hier eine enge Wechselbeziehung gibt. Wohl gelangte Friedrich zu einem von der Person des Herrschers unterschiedlichen Staatsbegriff; aber er selbst sah den Monarchen "durch unlösliche Bande mit dem Staatskörper verknüpft" , er identifizierte sein Heil mit dem des Staates (1777) 15 . Dieses enge Verhältnis von Herrscher und Staat begründete er letzten Endes von seinem monarchischen Selbstverständnis her nicht so sehr mit der Vertragstheorie. Eher beiläufig und mittelbar wies er - und deshalb wird dies fast durchgehend in der Literatur übersehen16 - auf das besondere Eigentumsverhältnis des Monarchen am Staat hin. Eben weil dieses bei Amtsträgern wie den Ministern fehle, sei ihnen gegenüber Skepsis geboten: "Die Menschen verwachsen innerlich mit dem, was ihnen gehört. Der Staat gehört den Ministern nicht. Sein Wohlergehen liegt ihnen also nicht wahrhaft am Herzen" 17 .
Friedrich der Große, Der Antimachiavell (Anm. 10), 6. Friedrich der Große, Fürstenspiegel oder Unterweisung des Königs für den jungen Herzog KarlEugen von Württemberg, in: Werke (Anm. 2), 200- 207 . 14 Friedrich der Große, Testament politique [1768], in: Die politischen Testamente der Hohenzollern, bearbeitet v. Richard Dietrich. Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz, hrsg. v. Friedrich Benninghoven, Bd. 20, Köln, Wien 1986, 462- 697, vgl. bes. 463 ("ebenso andere wichtige Angelegenheiten wie die Justiz"). 15 G. Birtsch, Idealtyp (Anm. 9), 15. 16 Vgl. Th. Schieder, Friedrich der Große (Anm. 4), 287. 12 13
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So wird in der späten Schrift Friedrichs von 1777 über "Regierungsformen und Herrscherpflichten" ganz unmißverständlich deutlich, was sich im Antimachlaven nur andeutet: Monarchisches Selbstverständnis und aufgeklärte Vertragstheorie waren bei Friedrich nicht deckungsgleich. Die Vertragslehre war der Rationalisierung des Herrschaftsverständnisses dienlich, sie bot vor allem dem religiös indifferenten Geist eine Chance zeitgemäßer Selbstdarstellung monarchischer Herrschaft. Aber das tradierte monarchische Selbstverständnis war doch stärker. Es gebot die Verpflichtung auf ein vom königlichen Amt bestimmtes Handeln, das in vielem bruchlos an dynastische Vorgaben anknüpfen konnte. Die Kontinuitätslinien, die vom absolutistischen Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. zum aufgeklärten Herrscher Friedrich vor allem in der Administration führen, sind denn auch sichtbarer als die Bruchzonen. Das bestätigt vor allem die 1748 von Friedrich erneuerte Instruktion Friedrich Wilhelms I. für das "Oberfinanz-, Krieges- und Domänendirektorium". In der Tat knüpfte Friedrich hier an die in seinen Augen bewährten Grundsätze seines Vorgängers an, indem er es bei der "merkwürdigen Zwitterfunktion der staatlichen Behörde mit der Verzahnung von Provinzial- und Realressorts beließ- und wie Theodor Schieder treffend beobachtete, sich kaum von Einflüssen aufklärerischer Ideen leiten ließ, sondern sich vielmehr an dem auf "Zweckmäßigkeit und wirtschaftliche Effizienz" abgestellten bürokratisch-militärischen Staatsentwurf Friedrich Wilhelms orientierte 18 . Gewiß hat Friedrich den Widerspruch zwischen tradiertem absolutistischen Staatsgedanken einerseits und aufgeklärt humanitärem Staatsideal mit dem Ziel der allgemeinen Sicherheit und Wohlfahrt der Staatsbürger andererseits in seiner Regierungstätigkeit zu versöhnen gesucht; doch griff das aufgeklärte Staatsideal sehr viel weiter, als das pragmatische Regierungshandeln zuließ. Umgekehrt machte die Regierungsverantwortung, die sich zu einem guten Teil an der bewährten Praxis orientierte, ihren Einfluß auf das theoretische Konzept geltend. So mochte der Aufklärer Friedrich für die ständige Verbesserung der Gesetzgebung wie überhaupt für eine kontinuierliche Reformtätigkeit plädieren: Dahinter stand die von betrüblichen Erfahrungen auch gegenwärtig gestützte Einsicht: "Les mejeurs institutions se corrompent" 19 • Deshalb müsse man von Zeit zu Zeit da reformieren, wo es nötig sei, hieß es im politischen Testament von 1752. Aber die Beharrungstendenzen waren doch zu respek17
Friedrich der Große, Regierungsformen und Herrscherpflichten, in: Werke
(Anm. 2), 225-237' 228.
Th. Schieder, Friedrich der Große (Anm. 4), 303. Friedrich der Große, Testament politique [1752], in: Die politischen Testamente (Anm. 14), 254-461,256. 18
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tieren. Entscheidend hieß es in der von Montesquieus "Esprit des Lois" inspirierten Akademieabhandlung Friedrichs von 1749 über die "Gründe, Gesetze einzuführen oder abzuschaffen": Zwar hingen die Menschen an manchen Gesetzen bloß, weil sie zumeist Gewohnheitstiere seien; aber obwohl man bessere einführen könne, wäre es vielleicht doch gefährlich, die tradierten Gesetze anzutasten. "Die Verwirrung, die eine solche Reform in der Justiz anrichten" würde, schade "vielleicht mehr, als die neuen Gesetze nützten" 20 • Es kam hier auf die richtige Balance von Herkommen und Reformtätigkeit an. Die regulative Devise lautete: "Öffentliches Wohl und natürliche Billigkeit". Ihre Auslegung und die praktischen Konsequenzen blieben der monarchischen Staatsräson vorbehalten. Läßt man Friedrichs Rechtsanschauung in den einschlägigen Schriften und in den politischen Testamenten Revue passieren, so läßt sich folgender knapper Katalog rechtspolitischer Forderungen festhalten: 1. An vorzüglicher Stelle forderte Friedrich eine "prompte Justiz" , d. h. die
Verkürzung der Verfahren aus wirtschaftlichen und rechtlichen Gründen "zum Besten des Landes" und der Betroffenen. 2. Als zwingende Voraussetzung für eine wohlfunktionierende Rechtssprechung galt ihm eine widerspruchsfreie Kodifikation der Gesetze. Es sollten möglichst wenige und eindeutig abgefaßte Gesetze sein.
3. Die Humanisierung der Strafrechtspflege erschien als dringendes Gebot aufgeklärter Rechtskultur. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit von Verbrechen und Strafen sollte bei Wahrung des Abschreckungszwecks der Strafe befolgt werden21 . 4. In den Gerichtshöfen sollten "die Gesetze sprechen und der Souverän schweigen" 22 , d. h. die Rechtsfindung sollte gesetzeskonform und unparteiisch erfolgen, die Pflicht des Souveräns sich auf Sicherung der unparteiischen Rechtspflege beschränken. 5. Um die Integrität der Rechtsprechung zu gewährleisten, bedürfe es ständiger, regelmäßiger Kontrollen. Friedrichs kritisches Menschenbild schloß die Richter ein, um sich im Falle der Rechtsbeugung nicht "zum Komplizen des Verbrechens" zu machen, wie es im politischen Testament von 1752 hieß23 . 20
Friedrich der Große, Über die Gründe, Gesetze einzuführen oder abzuschaffen,
in: Die Werke Friedrichs des Großen, Bd. 8, hrsg. v. Gustav Berthold Volz, Berlin
1913, 22-39, hier 32: "Angelegenheiten wie die Justiz". 21 Friedrich der Große, Regierungsformen (Anm. 17), 230. 22 Friedrich der Große, Testament politique [1752] (Anm. 14), 256; Testament politique [1768], 465. 23 Friedrich der Große, Testament politique [1752] (Anm. 14), 259; Testament politique [1768], 465.
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Dieser Fünf-Punkte-Katalog, zu dem sich Friedrichs rechtspolitisches Programm zusammenfassen läßt, war in den Grundzügen Ende der 40er Jahre gegeben. Die erste Forderung der "prompten"- und das hieß zugleich einer weniger kostenintensiven - Justiz erinnert daran, daß Friedrichs Justizpolitik nicht isoliert betrachtet, sondern nur in "engster Verbindung mit dem ganzen System seiner Regierungstendenzen" zu sehen ist. Otto Hintze hat mit großem Nachdruck auf den "unverkennbaren Zusammenhang mit der merkantilistischen Wirtschafts- und Wohlfahrtspolitik, die ihrerseits wieder den militärisch-politischen Machtinteressen dienen sollte", hingewiesen24. Der König selbst hat den Systemgedanken immer wieder ins Spiel gebracht25 • Aber was für die wirtschaftspolitischen Kenntnisse des Königs gilt, bestätigt sich auch hier: eine fortschreitende Entwicklung der rechtspolitischen Ansichten des Königs, die er vor allem in der Auseinandersetzung mit Montesquieus "Esprit des Lois" ausbildete, die sicherlich aber auch Impulse durch längere Konferenzen mit dem Großkanzler Cocceji empfingen, läßt sich schwerlich erkennen. So bemerkenswert die rechtspolitischen Vorstellungen des aufgeklärten jungen Königs auch sein mochten - Friedrich erweist sich durchaus als "Kenner der allgemeinen Rechtsgeschichte in ihrem großen kulturgeschichtlichen Zusammenhange" 26 , so dürften seine eigentlichen Rechtskenntnisse doch eher begrenzt geblieben sein. Praktische Wege einer materiellen Justizreform wurden denn auch kaum von ihm erörtert. Die gebotene Zurückhaltung des Monarchen vor den Gesetzen entsprach ganz seiner kritischen Selbsteinschätzungangesichts der komplexen Rechtsmaterie.
n. Friedrichs Rechtspolitik Die Selbstdisziplinierung der monarchischen Macht durch die Ideen der Aufklärung, die höheren Staatszwecke der Gerechtigkeit und allgemeinen Wohlfahrt, die das Erscheinungsbild des friderizianischen Staates bestimmten, fanden im Justizwesen ihren besonderen Ausdruck. Motiviert durch die aufgeklärten Gesichtspunkte der Humanität, Vernünftigkeit und Nützlichkeit schaffte Friedrich wenige Tage nach seinem Regierungsantritt weitgehend die Folter ab, beseitigte die grausame Strafe des Säckens für Kindsmörderinnen, schaffte 1746 die Kirchenbuße ab, schränkte die Anwendung 24 Otto Hintze, Friedrich der Große und die preußischen Justizreformen des 18. Jahrhunderts, in: Recht und Wirtschaft. Monatsschrift der Vereinigung zur Förderung zeitgemäßer Rechtspflege und Verwaltung "Recht und Wirtschaft" 1 (1912), 129-135, hier 130. 25 Friedrich der Große, Regierungsformen (Anm. 17), 230. 26 0. Hintze, Friedrich der Große (Anm. 24), 129.
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der Todesstrafe ein27 • Aber sehr viel schwieriger als diese ersten Schritte der Humanisierung der Strafrechtspflege, die durch das aufgeklärte Selbstverständnis stimuliert waren, gestaltete sich doch die Zivilrechtspflege als das eigentliche Kernstück der friderizianischen Rechtspolitik im Rahmen des allgemeinen Regierungssystems. Hier hat sich Friedrich eineinhalb Jahrzehnte auf Samuel von Cocceji stützen können, den er als Justizminister von seinem Vater übernahm und der seit 1747 als Großkanzler und Chef de Justice an der Spitze der preußischen Justizbürokratie stand. Zunächst mit der Ordnung des schlesischen und dann des pommerseben Justizwesens befaßt, wurde Cocceji nach dem zweiten schlesischen Kriege mit der Reform der gesamten preußischen Justiz beauftragt. Die Reformstrategien, die Cocceji in königlichen Audienzen entwickelte und dabei des Königs Absichten so sehr traf, daß Friedrich das gesamte Konzept als sein eigenes Programm übernahm, führte zur Konsolidierung der preußischen Rechtspflege, indem die Aktenversendung an die juristischen Fakultäten aufgehoben, die Justizorgane zweckmäßiger eingerichtet, eine feste Besoldung der Richter eingeführt, die Prokuratur, die sich zwischen Advokaten und Klienten eingeschoben hatte, beseitigt und mit der Einführung eines geregelten Justizprüfungswesens die Voraussetzungen für die Bildung eines leistungsfähigen und selbstbewußten Richterstandes geschaffen wurden28 . Nachdem Friedrich das im Dresdener Frieden 17 46 ausbedungene privilegium de non appelando illimitatum 1750 erlangt und damit die Gerichtshoheit auch in den bislang den Reichsgerichten unterworfenen Provinzen erhalten hatte, war die für den preußischen Gesamtstaat wichtige Aufgabe der Vereinheitlichung der Gerichtsverfassung durchgesetzt und eine einheitliche Rechtspflege in der gesamten Monarchie gewährleistet. Es blieb nicht bei der Reform der Gerichtsverfassung und einer Neuordnung des Prozeßrechts, die den beschleunigten Rechtsgang gesetzlich festschrieb, es kam auch in Gestalt des - wenn auch unvollendet gebliebenen "Projekts des Corpus Iuris Fridericianum" zur Kodifikation des materiellen Rechts. 1749 wurde der erste Teil mit dem Personen- und Familienrecht,1751 der zweite mit dem Sachen- und Erbrecht publiziert; der vorgesehene dritte Teil mit dem Obligationen- und Kriminalrecht ist nicht mehr erschienen. Das "Projekt des Corpus Iuris Fridericianum" berief sich zwar ganz entsprechend der an Cocceji am 30. Dezember 1746 ergangenen Kabinettsorder 27 Eberhard Schmidt, Die Justizpolitik Fried.richs des Großen, in: Ders., Beiträge zur Geschichte des preußischen Rechtsstaates (Schriften zur Verfassungsgeschichte, 32), Berlin 1980, 305-323, bes. 307 f. 28 Zum Verhältnis Fried.richs des Großen zu Cocceji s. Max Springer, Die Coccejische Justizreform, München 1914, 155ff.; 0 . Hintze, Fried.rich der Große (Anm. 24), 129.
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schon im Titel auf ein "in der Vernunft" und den "Landesverfassungen" gegründetes "Landrecht, worin das Römische Recht in eine natürliche Ordnung und richtiges Systema . .. gebracht" - es gab die Absicht Fnedrichs kund, ein "gewisses und zuverlässiges auf die jetzigen Verhältnisse passendes Recht" einzuführen und nahm damit bereits die Zielrichtung der Carmerschen Reform vorweg, wie sie in der Kabinettsorder vom 14. April1780 festgehalten wurde29• Auch sah bereits der Plan Coccejis vom 9. Mai 1746 vor, daß "zu dem Entwurf des neuen Landrechts . . . Collegia und Stände jeder Provinz mit ihren Monitis gehört werden" sollten30 . Insgesamt entsprach freilich Coccejis Projekt nicht den Maßstäben der fortgeschrittenen aufgeklärten naturrechtliehen Jurisprudenz. Daß seine Ausführung durch den Siebenjährigen Krieg und seine Folgen zum Stillstand kam - so urteilt Wieacker im Hinblick auf das Allgemeine Landrecht -, "war eher ein Glück" 31 . Bevor hier in der gebotenen Kürze das Reformwerk von Carmers zur Sprache kommt, sei wenigstens auf die Regulierung und Beschränkung der administrativen Kammerjustiz hingewiesen, wie sie im Ressortreglement von 1749 vorgenommen wurde. Cocceji hat zwar angesichts des Widerspruchs des Generaldirektoriums die Kammerjustiz nicht beseitigen, aber doch einen wichtigen Reformaspekt des preußischen Gesetzesstaates zur Geltung bringen können, indem er von der Allzuständigkeit der ordentlichen Gerichte ausging und den Kammerjustizdeputationen nur solche Streitigkeiten überließ, die ein spezielles landesherrliches Interesse betrafen. Von einer strikten "Trennung von Justiz und Verwaltung" im Sinne des Rechtsstaates konnte freilich nicht die Rede sein, auch wenn sich Cocceji durchaus in Richtung auf die Rechtsstaatsidee bewegte. Es kam der administrativen Jurisdiktion der friderizianischen Zeit, wie Otto Hintze treffend festhielt, immer mehr darauf an, "den Anordnungen der staatlichen Autoritäten den gehörigen gerichtlichen Nachdruck zu verleihen, als die Verwaltung unter Rechtsnormen und Rechtskontrollen zu stellen, die der individuellen Freiheit zugute kommen" 32 •
29 Christian Wilhelm Dohm, Denkwürdigkeiten meiner Zeit oder Beiträge zur Geschichte vom letzten Viertel des achtzehnten und vom Anfang des neunzehnten Jahrhunderts 1778 bis 1806, 4. Bd., Lerngo/Hannover 1819, 355 f. 30 Schriftwechsel des Königs vom Cocceji. 12. Januar bis 12. Mai 1746, in: Acta Borussica. Denkmäler der Preußischen Staatsverwaltung im 18. Jahrhundert, hrsg.v.d. Königlichen Akademie der Wissenschaften. Die Behördenorganisation und die allgemeine Staatsverwaltung Preußens im 18. Jahrhundert, Bd. 7: Akten vom 2. Jan. 1746 bis zum 20. Mai 1748, bearb.v. Gustav SchmolleT und Otto Hintze, Berlin 1904, 9. 31 Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl., Göttingen 1967, 328, in Anlehnung an M. Springer, Die Coccejische Justizreform (Anm. 28), 382. 32 0. Hintze, Fri.edrich der Große (Anm. 24), 134.
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Eberhard Schmidt hat generell die absolutistische Kabinettsjustiz als einen "der bedeutsamsten Hebel zur Anpassung der Strafrechtspflege an die politischen und kulturellen Anforderungen der Zeit" betrachtet und insbesondere im friderizianischen Preußen die Durchsetzung aufgeklärter Ideen durch die "oberstrichterliche Tätigkeit des Königs in Strafsachen" hervorgehoben33. Friedrich nahm nicht bloß formell seine richterliche Funktion in Gestalt des landesherrlichen Begnadigungs- und Bestätigungsrechts wahr. Er milderte Urteile und ordnete Strafverschärfungen bis zur Todesstrafe an. Dabei schützte die Einsicht in die Komplexität der Verfahren den König indessen so wenig vor Irrtümern wie sein Gerechtigkeitssinn. Das belegen nicht zuletzt die Vorgänge, die Anlaß zur großen Justizreform unter von Carmer gaben. So sei auch an dieser Stelle daran erinnert, daß das Kernstück der Reform, das Preußische Allgemeine Gesetzbuch, seine Entstehung einer Katastrophe verdankte, der Justizkatastrophe der sogenannten Müller-ArnoldAffäre. Der König glaubte hier im Sinne der Gerechtigkeit zu handeln, indem er ungeachtet des Bekenntnisses zu dem Grundsatz, daß vor den Gerichtshöfen die Gesetze zu sprechen und der Herrscher zu schweigen habe, dem Kammergericht befahl, eine vermeintliche Rechtsbeugung parteilicher Richter zu ahnden. Der Kriminalsenat des Kammergerichts suchte jedoch den königlichen Machtspruch zu umgehen; und der verantwortliche Justizminister, Freiherr von Zedlitz, verweigerte seinem Herrn förmlich den Gehorsam. Deshalb sah sich Friedrich genötigt, in seiner Eigenschaft als oberster Richter zu handeln und kraft seines höchstrichterlichen Amtes selbst das Urteil zu sprechen. Es lautete auf Cassation und ein Jahr Festungshaft für die der Rechtsbeugung beschuldigten Richter sowie Schadloshaltung des vermeintlichen Justizopfers 34 . Die Müller-Arnold-Affäre führte zum Sturz des Großkanzlers und Chefs der preußischen Justiz von Fürst und zur Übertragung seines Amtes an den schlesischen Justizminister von Carmer. Mit von Carmer und seinen Helfern, an ihrer Spitze Carl Gottlieb Svarez und Ernst Ferdinand Klein, begann dann die große preußische Justizreform, aus der das "Allgemeine Landrecht für die preußischen Staaten" hervorging. Den Auftakt zu diesem aufgeklärten Reformwerk aber bildete ein Eingriff des absolutistischen Monarchen in die Rechtssphäre. 33 Eberhard Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspfl.ege, Göttingen 1965, 180, 273 - ein Urteil, das, wie gerade die Müller-Amold-Affäre zeigt, zu optimistisch erscheint, es sei denn, man blickt auf die dadurch ausgelöste Reform. 34 E. Schmidt, Justizpolitik (Anm. 27), 321 f.; Malte Dießelhorst, Die Prozesse des Müllers Amold und das Eingreifen Friedrichs des Großen (Göttinger Rechtswissenschaftliche Studien, 129), Göttingen 1984.
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Die Kabinettsordre vom 14. April1780, "die Verbesserung des Justizwesens betreffend", mit der Friedrich die Justizreform einleitete, hielt die rechtspolitischen Ziele des Königs fest: obenan stand für den vom Gerechtigkeitswillen bestimmten, auf Loyalität der Untertanenschaft und Effizienz der Behörden bedachten König das dreifache Erfordernis eines sachkundigen und persönlich integren Richterstandes, der Prozeßbeschleunigung und einer unzweideutigen, präzisen Gesetzesgrundlage35 . Damit dokumentiert auch diese Kabinettsordre die Kontinuität der Rechtspolitik Friedrichs des Großen, der durchgehend auf die fachliche und moralische Qualität des Justizpersonals ebenso pochte, wie er auf der Beschleunigung der Verfahren bestand. Von der Verbesserung der Justiz versprach sich Friedrich nicht nur Nutzen für den in einen Prozeß verstrickten Untertan, sondern die Hebung der allgemeinen Wohlfahrt. Er hoffte insbesondere, daß "das ganze Corps der bisherigen Advokaten unnütze" werde. "Allein Wir werden dagegen Unsere getreue Unterthanen von einer nicht geringen Last befreyen, und desto mehr geschickte Kaufleute, Fabricanten und Künstler gewärtigen können, von welchen sich der Staat mehr Nutzen zu versprechen hat" 36 . So bot die Justizkrise weniger Anlaß, grundstürzende Reformen einzuleiten, als die traditionellen Reformziele erneut einzuschärfen. Das bestätigen die der Gesetzgebung geltenden, an Coccejis Reformwerk erinnernden Wendungen der Kabinettsordre 37 . Stölzel hat mit Recht hervorgehoben, daß die 1794 vollendete Kodifikation des Allgemeinen Landrechts "auf den Schultern des corpus Fridericianum steht" 38. Das neben der allgemeinen Verbesserung der Rechtspflege, der Reform der Prozeßordnung und der Sammlung der Provinzialgesetze befohlene allgemeine Gesetzbuch sollte eine Synthese bilden zwischen dem bislang geltenden, von Anachronismen und Widersprüchen zu befreienden römischen Recht, dem Naturrecht und der bestehenden preußischen Verfassungs- und Rechtsordnung. Der von Grundsätzen der Staatsräson geleitete Reformabsolutismus erstrebte ein sicheres Recht, dessen Vereinfachung und Vereinheitlichung in den verschiedenen Provinzen und deshalb auch ein allgemeines, systematisch geordnetes, in der Volkssprache abgefaßtes Gesetzbuch. Eine wesentliche Voraussetzung für das Gelingen des Reformwerks war 35 Acta Borussica. Denkmäler der Preußischen Staatsverwaltung im 18. Jahrhundert. Die Behördenorganisation und die Allgemeine Staatsverwaltung Preußens im 18. Jahrhundert, Bd. 16.2: Akten vom Januar 1778 bis zum August 1786, bearb. v. Peter Baumgart und Gerd Heinrich (Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, 5, Quellenwerk, 5), Hamburg/Berlin 1982, 602-606, hier 602. 36 Acta Borussica (Anm. 35), 606. 37 Siehe oben 8 f. 38 Adolf Stölzel, Brandenburg-Preußens Rechtsverwaltung und Rechtsverfassung, 2 Bde., Berlin 1888, hier Bd. 2, 209 f.
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freilich eine aufgeklärte refonnfreudige Justizbürokratie, wie sie mit von Carmer und seinen naturrechtlich geschulten Mitarbeitern gegeben war39 • Bereits 1780, bald nach Aufnahme der Reformtätigkeit erschien eine neue Prozeßordnung, ihr folgte 1783 eine Hypothekenordnung, und zwischen 1784 und 1788 erschien der gewichtige Entwurf des Allgemeinen Gesetzbuchs in sechs Bänden- eine Leistung, die zumindest ihrem Umfang nach nicht die ungeteilte Zustimmung des Königs fand: "es ist aber Sehr Dicke undgesetzemüssen kurtz und nicht Weitläuftig seindt" 40 . Nur skizzenartig sei hervorgehoben, daß das Gesetzbuch ebenso einen Spiegel der aufgeklärten Reformpolitik des Königs wie der ständisch geordneten friderizianischen Staats- und Gesellschaftsverfassung bietet und daß es sowohl Zeugnis vom aufgeklärten Denken seiner Schöpfer wie von einer am Leistungsbegriff orientierten ständischen Wertordnung ablegt. Zudem haben die Gesetzesautoren zwar die bestehende absolutistische Staatsverfassung rechtlich fixiert 4 \ damit aber- ganz der Staatsphilosophie Friedrichs folgend - die naturrechtliche Vertrags- und Pflichtenlehre verbunden und so in der Verknüpfung von monarchischer Souveränität und landesherrlicher Amtspflicht die Selbstdisziplinierung der absolutistischen Staatsgewalt im Gesetzbuch festgeschrieben. Die Bindung an die ständische Rechtswirklichkeit begrenzte zwar einerseits mit dem Gebot des umfassenden Eigentumsschutzes42 die Reformmöglichkeiten der Gesetzesautoren, andererseits aber gewährte die in der Ordre vom 14. April 1780 gegebene Berufung auf das "Natur-Gesetz" die Öffnung gegenüber naturrechtliehen Prinzipien43 • Von Carmer und seine Mitarbeiter haben in der Befolgung des Ziels der Vollständigkeit des Gesetzbuchs nicht nur nahezu das gesamte materielle Recht erlaßt, sondern auch naturrechtliche Maximen in das Gesetzbuch aufgenommen und damit ihrer wie der künftigen Gesetzgebungstätigkeit eine naturrechtliche Perspektive gegeben. So haben die Gesetzesautoren in der Einleitung des Gesetzbuchs unter den "allgemeinen Grundsätzen des Rechts" mit der Zweckbestimmung des 39 Zur Problematik des "preußischen" Naturrechts siehe Eckhart Hellmuth, Naturrechtsphilosophie und bürokratischer Werthorizont. Studien zur preußischen Geistes- und Sozialgeschichte des 18. Jahrhunderts (Veröffentlichungen des MaxPlanck-Instituts für Geschichte, 78), Göttingen 1985. 40 Fhedrich der Große, zitiert nach Adolf Stölzel, Carl Gottlieb Svarez, Berlin 1885,239. 41 1m 13. Titel des 2. Teils, siehe unten 14 f. 42 Vgl. das "Patent, wodurch eine Gesetz-Commission errichtet und mit der nöthigen Instruction wegen der ihr obliegenden Geschäfte versehen wird, vom 29. Mai 1781 ", in: Sammlung Preußischer Gesetze und Verordnungen, hrsg. v. Carl Ludwig Heinrich Rabe, Bd. 1.6, Halle 1822, § 13. 43 Acta Borussica, Bd. 16.2 (Anm. 35), 605.
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Staats als einer "bürgerlichen Vereinigung" den Topos vom Staats- und Gesellschaftsvertrag ins Spiel gebracht: "Das Wohl des Staats überhaupt, und seiner Einwohner insbesondere, ist der Zweck der bürgerlichen Vereinigung und das allgemeine Ziel der Gesetze" (§ 77). "Die Gesetze und Verordnungen des Staats dürfen die natürliche Freiheit und Rechte der Bürger nicht weiter einschränken, als der gemeinschaftliche Endzweck erfordert" (§ 79) 44 • Mit diesem, freilich interpretationsbedürftigen Grundrecht der "natürlichen Freiheit" haben die Gesetzesautoren auf die Grenzen der Staatsmacht verwiesen und desweiteren mit der "Heiligkeit" von Verträgen zwischen Staat und Bürgern den absolutistischen Landesherren hinsichtlich der mit seinen Untertanen geschlossenen Verträge den Entscheidungen der Gerichtshöfe unterwerfen wollen: "Sowohl dem Staat als seinen Bürgern müssen die wechselseitigen Zusagen und Verträge heilig seyn" 45 • Der Gedanke der naturrechtliehen Grundlegung des Staats durch einen Herrschaftsvertrag, zu dem sich Friedrich der Große bekannte, fand im preußischen Gesetzbuch seine rechtspolitische Umsetzung: die rationale Legitimation monarchischer Herrschaft wurde gesetzlich sanktioniert. Es blieb nicht bei eher programmatischen Wendungen. Friedrichs Grundsatz der Nichteinmischung in schwebende Verfahren sollte in Gestalt des Machtspruchverbots Gesetzeskraft gewinnen: "Machtsprüche, oder solche Verfügungen der oberen Gewalt, welche in streitigen Fällen, ohne rechtliches Erkenntnis, erteilt worden sind, bewirken weder Rechte noch Verbindlichkeiten " 46 • Die Selbstdisziplinierung der monarchischen Gewalt wurde im besonderen Maße durch die im allgemeinen Gesetzbuch vorgesehene Bindung der Zivilgesetzgebung an die beratende Mitwirkung einer Gesetzkommission manifest, die als Sachverständigengremium von Ministerialbeamten und Fachjuristen für die Einheit und Widerspruchsfreiheit der Gesetzgebung Sorge tragen sollte und zugleich als Mittel der Selbstkontrolle und Selbstbeschränkung der absolutistischen Staatsgewalt gedacht war: "Ein ohne dergleichen Prüfung bekanntgemachtes Gesetz ist, in Ansehung des da44 Diese Bestimmungen sind der Revision des Gesetzbuches unter Friedrich Wilhelm ll. zum Opfer gefallen; siehe den Gesetzesanhang bei Hermann Conrad, Die geistigen Grundlagen des Allgemeinen Landrechts für die preußischen Staaten von 1794 (Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, 77), Köln/Opladen 1958, 44ff. 45 Entwurf eines allgemeinen Gesetzbuches für die Preußischen Staaten, 1. Teil, 1. Abtheilung, Berlin/Leipzig 1784, Einleitung§ 57. Svarez hatte in der Revisio monitarum den Vorschlag gemacht, nach dem§ 57 den Satz einzurücken: "Auch der Staat ist wegen seiner mit Privatpersonen geschlossenen Verträge der Erkenntnis und der Entscheidung der Gerichtshöfe unterworfen", Geh. Staatsarchiv Preuß. Kulturbesitz Berlin, Rep. 84, Abt. XVI, Nr. 7, Bd. 80. 46 Auch dieser§ der Einleitung des Allgemeinen Gesetzbuchs fiel der Revision zum Opfer, s. oben Anm. 44.
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durch beeinträchtigten Staatsbürgers, unverbindlich und ohne Wirkung" 47 . War damit der vom Monarchen zu ernennenden Gesetzkommission auch nicht die Rolle eines "halbkonstitutionellen" Verfassungsorgans zugewiesen, zumal die Gesetzesgeltung nur hinsichtlich möglicher Rechtskränkungen ausgeschlossen wurde, so war hier durchaus ein die absolutistische Staatsgewalt bindender gesetzesstaatlicher Rechtsschutz gegeben48 . In Machtspruchverbot und bindender Mitwirkung der Gesetzkommission - Bestimmungen, die der Reaktion gegen das Gesetzbuch zum Opfer fielen49- mochten die Vertreter der Justizreform den zeitgemäßen Ausdruck des die Rechtssphäre der Untertanen respektierenden absolutistischen Gesetzesstaats sehen. Mit der gesetzlichen Selbstbindung des Monarchen trafen sie durchaus die Herrschaftsauffassung Friedrichs des Großen, sie verankerten dessen Absage an den Despotismus im Gesetzbuch. Um so eher vermochten sie wie Svarez der "uneingeschränkten Monarchie ... vor allen übrigen Regierungsformen die sichtbarsten Vorzüge" einzuräumen: siegewähre nicht bloß den "zuverlässigsten" Schutz gegen äußere Feinde und innere Unruhen, sondern auch "für die Rechte des Privateigentums" und die "bürgerliche Freiheit" der Untertanen50 . Dem monarchischen Selbstverständnis Friedrichs, in dem sich Herrscherrecht und Amtspflicht des Monarchen unauflöslich verbanden, gaben die Gesetzesautoren Ausdruck im 13. Titel des 2. Teils "von den Rechten und Pflichten des Staats überhaupt": "Alle Rechte und Pflichten des Staats gegen seine Bürger und Schutzverwandten vereinigen sich in dem Oberhaupt desselben" (§ 1). "Die vorzüglichste Pflicht des Oberhaupts im Staate ist, sowohl die äußere als innere Ruhe und Sicherheit zu erhalten, und einen Jeden bey dem Seinigen gegen 47 § 12, Einleitung A.G.B. (Anm. 44). 48 Der Hauptautor des Allgemeinen Landrechts, C. G. Svarez, hatte gegen die im § 12 gegebene Einschränkung der gesetzgebenden Gewalt des Monarchen verfassungsrechtliche Bedenken geltend gemacht. Siehe Günter Birtsch, Zum konstitutionellen Charakter des Preußischen Allgemeinen Landrechts, in: Politische Ideologien und nationalstaatliche Ordnung. Festschrift für Theodor Schieder, München/Wien 1968, 97-115, bes. 105. Zur Abfassung der Gesetze und Beteiligung der Gesetzkommission siehe Andreas Schwennicke, Die Entstehung der Einleitung des Preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794, Frankfurt a.M. 1993, 177 ff. 49 Zur Revision des Allgemeinen Gesetzbuches siehe Günter Birtsch, Revolutionsfurcht in Preußen, in: Preußen und die revolutionäre Herausforderung seit 1789, hrsg. v. Otto Büsch u. Monika Neugebauer-Wölk (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, 78), Berlin I New York 1991, 87-101, 93 ff.; ferner die differenzierte Untersuchung von Thomas Finkenauer, Vom Allgemeinen Gesetzbuch zum Allgemeinen Landrecht- preußische Gesetzgebung in der Krise, in: ZRG GA 113 (1996), 40-216.
so Carl Gottlieb Svarez, Vorträge über Recht und Staat (1746 -1798), hrsg. v. Hermann Conrad und Gerd Kleinheyer (Wissenschaftliche Abhandlung der Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, 10), KölntOpladen 1960,
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Gewalt und Störungen zu schützen"(§ 2). "Ihm kommt es zu, für Anstalten zu sorgen, wodurch den Einwohnern Mittel und Gelegenheiten verschafft werden, ihre Fähigkeiten und Kräfte auszubilden, und dieselben zur Beförderung ihres Wohlstandes anzuwenden" (§ 4). Die umfassende Kompetenz des Monarchen war durch die Staatsziele der äußeren und inneren Sicherheit, des Eigentumsschutzes und der allgemeinen Wohlfahrt der Untertanen definiert. Das Gesetzbuch führte als Majestätsrechte u. a. ausdrücklich auf: das Recht, Kriege zu führen, Bündnisse mit fremden Mächten zu schließen, das Recht der Gesetzgebung und der Besteuerung, das strafrechtliche Bestätigungsrecht und das Begnadigungsrecht sowie das Recht auf Privilegienverleihung und Standeserhöhung51 . Der zu den vorzüglichsten Pflichten des Staatsoberhaupts gehörende "Schutz eines Jeden bei dem Seinigen" entsprach für den Hauptschöpfer des Gesetzbuchs dem naturrechtliehen Grundsatz der "Heiligkeit des Eigentums". Da das Spektrum der ständischen Eigentumsverfassung in die Schutzzone des "jeweils Seinigen" gehörte, gewann Standesrecht den Rang eines Naturrechts. So bedeutete in der Naturrechtskodifikation des Allgemeinen Landrechts Rechtsschutz weitgehend Standesschutz. Damit trug das preußische Gesetzbuch den gesellschaftspolitischen Vorstellungen und Werthaltungen Friedrichs des Großen Rechnung, die von der Arbeitsteilung zwischen den Ständen bestimmt und an den Bedürfnissen des preußischen Militärstaats orientiert waren 5 2 • Insgesamt war das preußische Gesetzbuch Ergebnis einer Reformgesetzgebung, die weniger durch engere Vorgaben des Königs als durch die allgemeinen Rahmenbedingungen der friderizianischen Rechtspolitik und die Staats- und Gesellschaftsverfassung des preußischen Staats bestimmt war. Das Gesetzbuch gab dem monarchischen Selbstverständnis Friedrichs in der Verzahnung von Herrschaftsrecht und Pflichtethos Ausdruck, es sanktionierte mit der Bindung des Monarchen an das Gesetz einerseits den friderizianischen Gesetzesstaat, andererseits die mit entschiedenen strafrechtlichen Bestimmungen umhegte uneingeschränkte Monarchie. Die Gesetzesautoren trugen der funktionsständischen Auffassung des Königs Rechnung, in welcher sich das Festhalten an der tradierten geburtsständischen Rechtsordnung mit dem Interesse des sich auf die ständische Sozialordnung stützenden Militärstaats verband. Die von Friedrichs Rechtsauffassung und Justizpolitik erstrebte Balance von Herkommen und Reformtätigkeit war ans1 §§ 5 ff., II 13 A.L.R. 52 Günter Birtsch, Die preußische Sozialverfassung im Spiegel des Allgemeinen Landrechts für die preußischen Staaten von 1794, in: Das Preußische Allgemeine
Landrecht. Politische, rechtliche und soziale Wechsel- und Fortwirkungen, hrsg. v. Jörg Wolff, Heidelberg 1995, 133-147.
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gesichts der drückenden Last wohlerworbener Rechte, tradierter Herrschafts- und Rechtsauffassung schwerlich zu finden. Der Widerspruch zwischen programmatischer Kühnheit und faktischer Bescheidung, den Alexis de Tocqueville dem Gesetzbuch Friedrichs attestierte 5 3 , war weitgehend durch die gegenläufigen Zeitstrukturen, die Spannung von tradierten Rechtszuständen und aufgeklärten Reformtendenzen bestimmt. Seine Auflösung hätte entweder die Selbstaufgabe des absoluten Königtums und die Preisgabe der ständischen Ordnung oder den gänzlichen Verzicht auf die aufgeklärt-naturrechtliche Reformperspektive verlangt. Eine solche Widerspruchsfreiheit aber war nur auf dem Wege der Revolution oder der Reaktion erreichbar.
53 Alexis de Tocqueville, L'Ancien Regime et la Revolution, CEuvres Completes, 4. I 5. Aufl., Paris 1896, 336.
Noch einmal: Freiheit und Eigentum Zum politisch-gesellschaftlichen Bewußtsein der Landrechtsautoren Carl Gottlieb Svarez und Ernst Ferdinand Klein • Von Eckhart Hellmuth, München "Jeder Staatsdiener . . . muß eine philosophische Ausbildung erhalten, denn jedem Staatsdiener ist eine Entfesselung seines Geistes wesentliches Bedürfnis". "Jeder Staatsdiener . .. muß ... die Theorien des Rechts und der Politik inne haben, er muß die positiven Verfassungen und Verwaltungen der merkwürdigsten Staaten, vornehmlich aber dessen, dem er zu dienen denkt, kennen und nach jener Theorie zu prüfen und zu beurteilen im Stande sein".- Diese Sätze finden sich in dem 1799 erschienenen Versuch über die Erziehung für den Staat des preußischen Kriegs- und Domänenrates Christian Daniel Voss 1 . Man kann sie als überspannten programmatischen Anspruch abtun, der mit der Wirklichkeit des preußischen Beamtenstandes des ausgehenden 18. Jahrhunderts wenig zu tun hatte. Jedoch ist dieses Bild vom philosophisch geschulten, von Reflexion und Diskurs geprägten Staatsdiener, wie es Voss entwirft, keineswegs so realitätsfern wie es auf
* Dieser Artikel stellt den Versuch dar, die politisch-gesellschaftlichen Grundpositionen von Svarez und Klein zu erfassen. Dabei habe ich mich teilweise an meine älteren Arbeiten angelehnt, die - wenn ich dies recht sehe - keineswegs überholt sind. Insbesondere durch das unlängst erschienene Buch von Andreas Schwennicke, Die Entstehung der Einleitung des Preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794 (Ius Commune Sonderheit; Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte, 61), Frankfurt a.M. 1993, fühle ich mich in vielerlei Hinsicht bestätigt. Meine Auffassungen zu Svarez und Klein habe ich bisher dargelegt in: Eckhart Hellmuth, Aufklärung und Pressefreiheit. Zur Debatte der Berliner Mittwochsgesellschaft während der Jahre 1783 und 1784, in: ZHF 9 (1982), 315- 345; ders., Naturrechtsphilosophie und bürokratischer Werthorizont Studien zur preußischen Geistes- und Sozialgeschichte des 18. Jahrhunderts (Veröffentlichungen des Max-Planck-lnstituts für Geschichte, 78), Göttingen 1985; ders., Ernst Ferdinand Klein. Politische Reflexion im Preußen der Spätaufklärung, in: Aufklärung als Politisierung - Politisierung der Aufklärung, hrsg. v. Hans Erich Bödeker und Ulrich Herrmann (Studien zum achtzehnten Jahrhundert, 6), Harnburg 1987, 222-236. 1 Christian Daniel Voss, Versuch über die Erziehung für den Staat als Bedürfnis unserer Zeit, zur Beförderung des Bürgerwohls und der Regenten-Sicherheit, Bd. 1, Halle 1799, 326 u. 325.
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den ersten Blick scheint. Die Biographien der beiden Landrechtsautoren Carl Gottlieb Svarez2 und Ernst Ferdinand Klein3 machen jedenfalls sinnfällig, daß zumindest für einen Teil der aufgeklärten preußischen Bürokratie das politisch-gesellschaftliche Räsonnement zentraler Bestandteil des eigenen Lebensentwurfs war. Denn beide konzentrierten sich nicht nur auf ihre professionelle Sphäre, vielmehr nahmen sie intensiven Anteil an der Diskussion über Staat, Gesellschaft und Recht, die im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts neue Konturen annahm. Die Landrechtsautoren waren "philosophische Köpfe" von beträchtlichem Gewicht. Svarez' "Kronprinzenvorträge" 4 und Kleins durch die August-Ereignisse im revolutionären Frankreich provozierte Schrift Freyheit und Eigenthum5 gelten mit Grund als Schlüsseldokumente politisch-gesellschaftlichen Bewußtseins im Zeitalter der Aufklärung. Diese beiden Texte sind aber nur Teil des jeweiligen