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German Pages 288 Year 1991
HERMAEA GERMANISTISCHE FORSCHUNGEN NEUE FOLGE HERAUSGEGEBEN VON HANS FROMM UND HANS-JOACHIM MÄHL
BAND 63
CHRISTIAN KIENING
Reflexion - Narration Wege zum »Willehalm« Wolframs von Eschenbach
MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN 1991
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT GmbH
D 19 Philosophische Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaft II
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Kiening, Christian : Reflexion - Narration : Wege zum „Willehalm" Wolfram von Eschenbachs / Christian Kiening. - Tübingen : Niemeyer, 1991 (Hermaea ; N.F., Bd. 63) NE: GT ISBN 3-484-15063-7
ISSN 0440-7164
© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1991 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz: pagina GmbH, Tübingen Druck: Allgäuer Zeitungsverlag GmbH, Kempten Einband: Heinr. Koch, Tübingen
Vorwort
Aufrichtig verpflichtet weiß ich mich allen, die gedanklich, moralisch oder materiell zum Werden des Buches beitrugen. Besonderer Dank gebührt dem Verlag für seine entgegenkommende Haltung, Herrn Professor Ernst Hellgardt (München) und Herrn Professor Walter Haug (Tübingen) für verständnisvolle Lektüre und Anregung, vor allem aber meinem Lehrer, Professor Hans Fromm, für mannigfache Unterstützung, für Ermutigung und kritische Offenheit. München, Frühjahr 1990
Ch. K.
Inhalt
Α. P R O B L E M E U N D P E R S P E K T I V E N
ι
B. T E X T V O R G A B E N I.
28
Prolog
28
1. Aspekte literarischer Prologreflexion im höfischen R o man
28
2. >WillehalmRolandslied< und Karlstradition
86
2. >Parzival
Sprachreflexion
Reflexion< und >Narration< wollen im folgenden zuerst als hermeneutische Begriffe verstanden werden. Sie betreffen den Gegenstand der Untersuchung, Wolframs >WillehalmReflexion< von Literatur impliziert Übereinstimmung, Adäquation zwischen vergangenem und gegenwärtigem Text, zugleich Abstand und Differenz. 1 Sie ist in diesem Verständnis kein sekundärer Akt des deutenden Bezuges zu einem in primärer (ästhetischer) Aufnahme erfahrenen Werk/ sondern meint eine grundsätzlich als gebrochen bestehende Relation. Auch ästhetische Erfahrung ist deshalb auf ihre reflexionslogische Struktur hin zu befragen.' In der Reflexion des vergangenen Textes kommt einerseits ein Nacheinander zur Geltung, das sich in der Bezugnahme auf den Text und dem Innewerden dieses Bezuges entfaltet, und ist andererseits eine Gleichzeitigkeit gegeben, die das Vergangene je neu gegenwärtig macht.4 Dieser synchronisierende Charakter der Reflexion bedarf aber zu seiner Kundgabe wiederum der Zeitlichkeit, der Diachronie und — in einem weiteren Sinne — der Narration. >Narration< bezeichnet ein Darstellungsschema, das, Geschehen und Handlung aufeinander beziehend, als Geschichte sich in Sprache manifestiert und verzeitlicht, damit zugleich ein Prinzip des temporalen Übergangs zwischen Zuständen relativer Abgeschlossenheit;5 spezieller ' s. aus neukantianischer Perspektive WAGNER ('1980), S. j82f. (zur »Fremdwendung der Reflexion«); RÖTTGERS (1982), S. 227 bezeichnet die »Beziehung, die zwischen einem gegenwärtigen und einem vergangenen Text herrscht, [als] Reflexion«. Der metaphorische Aspekt des >ReflexionsNarrativ, Narrativitätund dann< des Erzählens, das einen zeitlichen Zusammenhalt erstellt, der über eine argumentative Verknüpfung 7 ebenso hinausweist wie über eine als geordnetes Nacheinander gedachte Verkettung von Zeichen. 8 Paul R I C O E U R sprach - in seiner eindrucksvollen Darlegung des philosophischen Zusammenhanges von Zeit und Erzählung — von der »fundamentale[n] Diachronie der Erzählung«, die aus der syntagmatischen Anordnung des Textes aufscheint und zugleich dessen Rezeptionsbedingungen prägt. 9 Auch der paradigmatische Aspekt eines Werkes kann nur erfaßt werden von dessen syntagmatischer Komposition her, was bedeutet, »daß das Verstehen dessen, worin eine Erzählung besteht, dem Beherrschen der Regeln gleichkommt, denen ihre syntagmatische Ordnung folgt«. 10 Diese diskursive Einheit des Werkes kann zwar in der trennenden und seiegierenden Analyse anders konfiguriert werden, stellt sich jedoch im Akt marrativen VerstehensUnbestimmtheitsrelation< der beiden Perspektiven führt in das Zentrum der hermeneutischen Fragestellung hinein. Differenz meint hier nicht den logisch unüberwindlichen Abstand zwischen Synchronic und Diachronie, vielmehr das Dynamische in deren Verhältnis, den jeweils neuen Abstand bei veränderter Konfiguration. 1 ' Das Verhältnis von Reflexion und Narration zu bedenken, heißt aber auch eine Frage zu evozieren, die für die Analyse von Wolframs >Willehalm< keineswegs äußerlichen Charakter hat. Der >Willehalm< ist immer wieder als Problemdichtung gesehen worden, spröder als der >ParzivalWillehalmParzival< zu sprechen, war über lange sprechen und doch nicht die gleiche Sprache sprechen, ist für den Philologen Last und Beglückung . . .«. 14
MARQUARD (1986), S.
io$f.
In diesem Sinne bereits aus dem Prager Strukturalismus: MUKAAOVSKY (1970) und VODIÖKA
(1976).
' 6 HAUG (1975), S. 2 1 7 . 17
BERTAU, Über Literaturgeschichte (1983), S. 103.
'8 BERTAU ( 1 9 7 2 / 7 3 ) I I , S .
1160.
' 9 Vorrede zur Ausgabe ( 1 8 3 3 , 6 i920), S. X L .
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Jahre hin zum Topos geworden, ohne an Berechtigung einzubüßen.20 Erst die beginnenden sechziger Jahre brachten einen Umschlag, in Zusammenhang vor allem mit der Neuedition des Textes durch Werner S C H R Ö D E R . Doch repräsentierte diese selbst den Aufschwung, den sie erzeugen wollte, aber kaum der Zukunft zu vermitteln vermochte.21 Auch dort, wo die Auseinandersetzung mit Wolframs Spätwerk nun gesucht wurde, sind Einseitigkeiten nicht immer vermieden, offenbaren sich Tendenzen, den Text zu verabsolutieren22 oder — im Gegenteil — als nur bedingt eigenständiges Resultat eines Bearbeitungsvorganges, nämlich der Übertragung der >Bataille d'AliscansWillehalmWillehalm Das gilt für neuere, der These der adaptation courtoise< verpflichtete französische Forschung, s. etwa MARLY (1981 und 1982); kritisch schon WOLF (1977). 24 BERTAU, Aggressionsphantasien (1983), S. 108. 25 Vorrede zur Ausgabe ('19 26), S. X L . 26 v. a. ADLER (1975) mit Vorwort von Hans Robert JAUSS (S. 7—14) zur theoretischen Bedeutung des Untersuchungsansatzes.
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manente Diachronie der Erzählung und Synchronic des Exkurses sind in ihr beständig zu vermitteln. Aus der Perspektive der Intertextualität, von dem synchronen Schnitt durch die Reihe literarischer Evolutionen her gesehen, stehen beide — Erzählprozeß wie Exkurs — in den Linien verschiedener diachroner Entwicklungen: der einer an Ausdrucksmitteln gewinnenden Erzähl p r a x i s und der einer sich allmählich emanzipierenden Literat u r t h e o r i e . Doch bedeutet diese Trennung zugleich eine Isolation zweier Aspekte, die sich, wie im Falle Wolframs, durchdringen und überlagern können. Die neue Dynamik des Erzählprozesses, die sich in gleichem Maße als literarische Bezüglichkeit, sprachliche Innovation und Perspektiven gewinnende Raum-Zeit-Gestaltung kundtut, kann nicht ohne die in sie eingelagerte Reflexion gesehen werden, genausowenig wie diese einen von der Erzählung unabhängigen Ort besitzt. Es scheint sich anzubieten, den Zusammenhang von Reflexion und Narration im Begriff der immanenten >Poetik< zu erfassen, doch läuft man damit Gefahr, eine nicht selbstverständliche Konsistenz zu erwarten, außerdem in die Rhetorik zu verlagern, was als Bewußtseinsphänomen auszuweisen wäre. Aber auch der Begriff der Literaturtheorie selbst, der Systematik impliziert, ist nur mit Vorsicht zu benutzen. Er gewinnt dort an Profil, wo konventionell geprägte Passagen - Prolog, Epilog, Literaturexkurs — auf ihre Differenz zur Tradition befragt werden bzw. die scheinbare Marginalität knapper, über den Text verstreuter Bemerkungen miteinbezogen ist. Nicht zufällig begegnet auch hier das Stichwort der Differenz; es wird als Leitbegriff der Analyse immer wieder auftauchen: nicht nur im Hinblick auf die »fundamentale Differenz [Wolframs] zur höfischen Gesellschaft«, 27 sondern als vielfältiges Phänomen des Textes wie seiner intertextuellen Stellung, das zugleich transparent wird für die Differenz der Blickrichtungen (von Diachronie und Synchronic). 28 Vor diesem Hintergrund steht das Programm der folgenden Untersuchung. Es versucht den narrativen Prozeß, aber auch die in ihn verwobene Kommentar- und Reflexionsebene zur Geltung zu bringen. 29 27
BERTAU, Aggressionsphantasien ( 1 9 8 3 ) , S. 109; s. a. bereits ders. ( 1 9 7 2 / 7 3 ) I, S. 7 5 4 ^
28
Z u Synchronic und Diachronie als Elementen der Betrachtungs-, nicht der O b j e k t ebene s. grundsätzlich in Auseinandersetzung mit de Saussure COSERIU ( 1 9 7 4 ) , S. 9 und bes. 2o8ff.; im spezieller literaturwissenschaftlichen Sinne: SLAWINSKY ( 1 9 7 6 ) .
29
Hinweise auf die >Bataille d'Aliscans< müssen damit natürlich punktuell bleiben, denn die meisten v o n Wolframs Anspielungen finden dort kein Pendant; ein genereller Vergleich zuletzt bei WIESMANN-WIEDEMANN ( 1 9 7 6 ) und ins einzelne gehend bei M A R LY ( 1 9 8 2 ) .
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Dies bedeutet zugleich und bewußt weitgehende Beschränkung auf >ErzählerWillehalm< erachtet wurden: das Religionsgespräch zwischen Gyburc und ihrem Vater Terramer, die Begegnung zwischen Willehalm und dem Heidenkönig Matribleiz, vor allem aber die große, nach einer Integration der Heiden suchende Rede Gyburcs vor dem Beginn der zweiten Schlacht. Auch diese wie andere Reden der handelnden Personen wären auf ihren reflektierenden Gehalt, ebenso auf ihre Stellung in der Narration zu befragen, auf ihren inneren Aufbau und thematischen Zusammenhang. Auch könnte der Bezug zwischen Narration und Reflexion erweitert und vertieft werden, doch wäre eine methodische Fundierung zugleich erschwert: die Betrachtung von Aussagen auf Erzähler- u n d Figurenebene offenbart — erzähllogisch — eine Verdoppelung der Diskurse, deren mögliche Kongruenz erst zu erweisen ist, also auch eine Verdoppelung des hermeneutischen Problems. Nicht um diesem auszuweichen, sondern um einer präziseren Erfassung willen, soll >Reflexion< im folgenden auf die deutende, >theoretisierende< Durchdringung des Erzählgeschehens bezogen bleiben. Doch hat dieser Versuch sich sowohl zu messen an wissenschaftsgeschichtlichen Prämissen, an Deutungsvorgaben und -problemen, die die >WillehalmWillehalm< durch CASPARSON aus der Kasseler Handschrift' 0 offenbart Schwierigkeiten im Umgang mit dem Text. Sie zeugt nicht nur von gelehrt-antiquarischer Begeisterung für 30
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1780 erschien eine A n k ü n d i g u n g der A u s g a b e , 1781 dann die Vorgeschichte Ulrichs von dem Türlin, 1784 der Wolfram-Text. Beide Teile waren, wie Myllers >Sammlung deutscher GedichteWillehalm< »mit genügend äußerer Pracht, aber in einem sehr unlesbaren Texte« abgedruckt sei (S. 156), so bezeichnet LACHMANN ihn schlichtweg als »furchtbar entstellt« (Vorrede, S. X X X I I I ) ; s. a. B. NEUMANN (1986), bes. S. 1 0 5 - 1 0 7 .
»diese schätzbare(n) Alterthümer des Vaterlands«, 51 sondern soll auch als Vorlage für produktiv-literarische Aneignung bei den Autoren der Gegenwart dienen.' 1 Inhaltliche Dimensionen bleiben zunächst weitgehend unberührt," und auch die Fremdheit des Textes ist nicht zu verdrängen: C A S P A R S O N S Vorrede zum Ersten Theil gilt in überwiegendem Maße bereits einem anderen Text (S. V I I - X X I V ) , der Vorstellung einer anderen Kasseler Handschrift, insbesondere dem dort überlieferten >Wilhelm von Brabant< ( = >Wilhelm von OrlensWillehalm< (1833), die als Anfangspunkt kritischer >WillehalmWillehalm< beschäftigte, behandelte als erster ausführlich das Verhältnis von Wolframs Text zur >Bataille d'Aliscans< und zu anderen chansons." Daß sein Unternehmen dabei im Dienst »nationaler Bildung« und »patriotischer Pflicht« stand (S. IV), verweist auf die Situation der Germanistik in der Kaiserzeit, ist aber in diesem Zusammenhang weniger interessant als der Blick auf die Prämissen, die seiner Interpretation zugrundeliegen. S A N - M A R T E S Vergleich des >Willehalm< mit den französischen Texten alterniert zwischen philologischer Einsicht und interpretatorischer Willkür; das Wissen darum, daß keine der bekannten Fassungen der >Bataille d'Aliscans< mit " Zweiter Theil (1784), S. V I I I . 32 Johann Jacob Bodmers Gedicht von 1 7 7 4 (>Wilhelm von Oranse in zwey Gesängen«, Frankfurt und Leipzig) habe — so CASPARSON im Ersten Theil ( 1 7 8 1 ) — »einen Beweis geliefert, daß unsers Gedichts Haupthandlung, Episoden, Personen und Sitten besonders, ein reicher Stof für die romantischen Dichter unserer Zeit seyn könne« (S. V). " In der Ankündigung der Edition (1780) war CASPARSON auch auf einige literarhistorische Fragen eingegangen (mir leider nicht zugänglich). ' 4 Vorrede zur Ausgabe C1926), S. X L . " SAN-MARTE (1871); das Wesentliche ist zusammengefaßt in dem wenig späteren Vorbericht zur Übersetzung (1873), S. I I I - X I V .
7
Wolframs Vorlage zu identifizieren ist, wird überwogen von der Faszination, »den Dichter in seiner poetischen Werkstatt [zu] belauschen« (S. IV), mit der Sukzession des Textes zugleich dessen Unvergleichbarkeit erwachsen zu sehen. Damit ist die Betrachtung der chansons instrumentell geworden; sie dient dazu, die Eigenständigkeit des deutschen Textes zu erweisen. Erkauft ist diese mit Reduktion — nicht nur der komplexen Relation zu den Quellen, sondern auch der inneren Komplexität des Werkes. Es dominiert die »Einfachheit und epische Klarheit des Ganzen« (S. IV), das sich nun — aus der Unvergleichbarkeit heraus - tatsächlich als Ganzes sehen läßt: S A N - M A R T E gilt der >Willehalm< in seiner bewußten Isolierung aus der zyklischen Tradierung als abgeschlossen (S. XI). Solchermaßen das von L A C H M A N N formulierte Problem aufzuheben, wurde zu einer Möglichkeit, auf die immer wieder - von S C H W I E T E R I N G und M E R G E L L bis zur Gegenwart' 6 — zurückgegriffen werden konnte, auch wenn schon früh schwer zu verdrängende Einwände vorgebracht wurden. 57 Die gleiche Problemlage spiegelt sich in Ernst B E R N H A R D T S Aufsatz (1900), der zwar den generellen Fragmentcharakter des >Willehalm< betont, in dessen ungewöhnlicher Schlußpassage (Matribleiz-Szene) dennoch einen partiellen Abschluß sehen kann. E r veranschaulicht dies durch einen architektonischen Vergleich: der Schluß wirke, als ob dem Text »anstatt der ihm zugedachten zierlich durchbrochenen spitze ein flaches notdach aufgesetzt worden« wäre (S. 40). Mit dem Gedanken des gotischen Kunstwerks ist der zentrale Beurteilungsmaßstab genannt, der die Interpretation des Werkes prägt: Milderungen und Veredlungen gegenüber der unverblümten Direktheit der chansons sind dessen Grundzüge, die spezifische (»kunstlose und verworrene«) Erzählweise der chansons ist »zu klarer Übersichtlichkeit« umgestaltet (S. 41 und 46). Diese inhaltliche und formale Vereinheitlichung des >Willehalm< signalisiert zugleich das Problem, mit der Komplexität vor allem der beiden Schlachtschilderungen umzugehen.' 8 Diese bedürfen des narrativen Nachvollzuges, lassen sich fassen aber scheinbar nur in einer zu knapper Konsistenz gebrachten Raffung.' 9 Beide Wege wurden in der Folgezeit beschritten. ' 6 SCHWIETERING ( 1 9 2 7 ) , S. 144, A n m . 4; bei MERGELL (1936), S. 189 ist dann von dem »schlechthin Unvergleichlichen« des >Willehalm< die Rede; zu GIBBS (1976) s. u. S. I2F. und 236. 37 58
39
8
s. etwa SEEBER (1884). Das zeigt sich auch an SCHERERS Urteil in seiner Literaturgeschichte ( , 0 I905), Wolfram habe »die langen Kampfschilderungen noch länger« gemacht (S. 183). BERNHARDT gibt (S. 46—50) einen Abriß der beiden Schlachten, der Wolframs freie Umgestaltung »zur genüge« zeige.
Samuel S I N G E R ( 1 9 1 8 ) hob nachdrücklich den Zusammenhang des Textes hervor (S. IV) und explizierte diesen in einem, chronologisch vom ersten bis zum neunten Buch, vom Prolog bis zum Abbruch reichenden Durchgang, der viele Einzelaspekte erhellte, zugleich Wolframs kommentierendes und deutendes Erzählprinzip bewußt machte. Der detailgesättigten Nacherzählung stellte Ludwig W O L F F in einem wirkungsreichen Aufsatz (1934) die weitgespannte Perspektive auf das Sinnganze des Textes gegenüber. Zwar ist die »Mehrzahl dieser farbigen Einzelheiten«, die »Mehrzahl der Helden« nicht vergessen, doch der Blick gilt »der Entfaltung und Entwicklung einer einzigen geistigen Grundfrage« (S. 505, 512). Dies führt zu keiner Ideengeschichte im reinsten Sinne, da die Dichotomie zwischen Form und Gehalt immer wieder durchbricht, die >Gegenständlichkeit< des Textes (S. 506) nicht zu verdrängen ist. An der Metaphorik der Interpretation, die um die Begriffe von Kern und Innerstem kreist (S. 512, 522 u. ö.), zeigen sich deutlich die Schwierigkeiten mit der sprachlich-konkreten Gestalt des >WillehalmWillehalm< gefährdet zu sehen, versucht W O L F F den Abschluß zu rekonstruieren, indem er die im >Geist< des Werkes angelegten Linien über dieses selbst hinaus verlängert: es entsteht in umrißhafter Gestalt ein neues zehntes Buch (S. 5i8ff.), mit dem Jahre später auch Richard K I E N A S T bei seiner formalen Gliederung des Textes operieren wird (1950). Bodo M E R G E L L S Dissertation ( 1 9 3 6 ) bietet demgegenüber neue Perspektiven. Ausgehend von der »untrennbaren Einheit von Gehalt und Form« (S. 5) und aufbauend auf dem Quellenvergleich, werden hier erstmals erzählerische Darstellungsmöglichkeiten, wird das >Wie< der Gestaltung ausdrücklich zum Thema. Die eindringliche Erarbeitung des Prinzips der >Zweischau< (S. ioff.), der wechselnden Einstellung auf Christen und Heiden, bringt einen wesentlich erweiterten Blickwinkel zur Geltung, um ihn gleichzeitig wieder an bekannte Voraussetzungen zurückzubinden. »Perspektiventechnik höfischer Einheitsform« (S. 30) ist das Stichwort, in dem diese Ambivalenz zusammentrifft. Auch das schon bei B E R N H A R D T sich andeutende gotische Stilideal kehrt wieder, jetzt — als Ausbau eines Gedankens von Julius S C H W I E T E R I N G 4 0 — auf 4
° SCHWIETERING ( 1 9 2 7 ) , der aber den metaphorischen Charakter der begrifflichen A n a logie zwischen Kunstgeschichte und Literaturwissenschaft betont (S. 1 3 5 ) .
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eine ganze literarische Epoche und die Differenz von romanischem und gotischem Stil bezogen.41 Die Absicht, das Werk als »in sich abgeschlossenes Ganzes zu verstehen« (S. 3), richtet sich zunächst gegen vorgefaßte Meinungen bezüglich des >WillehalmWillehalm< wird unscharf, wenn gleichzeitig die »einheitliche Handlungsführung« gegenüber der »vielheitlichen Nebenordnung der Chanson« hervorgehoben ist (S. 187). Nicht zum Tragen kommt die Erkenntnis S C H W I E T E R I N G S , daß die »künstlerische Einheit« des >Willehalm< »zunächst auf der Folge der Ereignisse und ihrer immanenten Verknüpfung beruht«.41 Daran wird erst Joachim B U M K E in seinem Bahn brechenden Werk von 1959 anschließen, das den >Willehalm< aus einer allzu starken Verkoppelung mit dem >ParzivalAlterswerk< gelten, »ein in sich gerundetes Epos mit einheitlicher Handlungsführung und einer beherrschenden Mittelpunktsfigur« zu schaffen. 47 Die von B U M K E entwickelte Problemstellung wurde erst in den folgenden Jahren wiederaufgenommen, unter zwar veränderten, aber nur bedingt weiterführenden Gesichtspunkten. Bei Uwe P Ö R K S E N (1971) ist bereits die Fragerichtung eine andere. Die Arbeit über den >Erzähler im mittelhochdeutschen Epos< soll nicht »als Einstieg zu Werkinterpretationen, sondern als Teil der [. . .] Poetik des mittelhochdeutschen Epos« dienen (S. 16). Der >Willehalm< wird hierbei, mit zwölf anderen Epen zusammen, zum Steinbruch für >mor44
Hier wäre LÄMMERT ( 1 9 5 5 ) stärker zu berücksichtigen gewesen (kurzer Verweis bei
BUMKE, S. 40, A n m . 80). 4 ' Übersicht bei BUMKE (1970), S. 313—335· 46
47
Bei WILLSON ( 1 9 6 1 ) wird der >Willehalm< zum Zeugnis mystischer Frömmigkeit; weltbildliche Interpretation bei WEBER ( 1 9 6 5 ) und WEBER/KILIAN (1968). SCHRÖDER (1970), S. 205.
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phologisch< bestimmte Konstanten der narrativen Vermittlung: an den Texten soll die »Behandlung der einzelnen Kategorien« erzählerischen Hervortretens aufgezeigt werden (S. 17). Ausgehend von dem durch Ernst Robert Curtius entwickelten rhetorischen Modell der Toposforschung, untersucht
PÖRKSEN
Ausprägungen eines in Typen faßbaren
Formelschatzes innerhalb des durch >Alexanderlied< und >Willehalm< abgesteckten Rahmens. Einzelne Einschübe des Erzählers in den Handlungsablauf, narrative Strategien sind damit isoliert, die Texte selbst auf die Kombination erzähltechnischer Schemata reduziert. Gleichzeitig läßt sich kaum vermeiden, Entwicklungsmomente in der Erzähltechnik des (vor-)höfischen Epos, damit in dessen Poetik, aufzudecken und die anvisierte strenge Scheidung von Systematik und Historismus (S. 223) zu unterwandern.
Der
funktionale Zusammenhang
bemerkungen bleibt aus dem Blick. Eberhard
von
NELLMANN,
Erzähler-
der ebenfalls
vor dem Hintergrund der Rhetorik eine ähnlich strukturierte, aber anders akzentuierende Untersuchung zu Wolfram vorlegte (1973), betont dieses Defizit in seiner Schlußperspektive: »Wichtig wären ferner weitere Interpretationen der Kommentare zur Erzählung. [. . .] Die Isolierung der Eingriffe, die aus methodischen Gründen notwendig war, gibt keine adäquate Vorstellung von ihrem Funktionieren im Erzählzusammenhang.« (S. 187).48 Doch wie dieser Erzählzusammenhang darzustellen ist, bleibt weiter offen, auch nach der ersten buchfüllenden Untersuchung zum Thema aus der Feder von Marion E .
GIBBS
(1976). Erzählkunst (»narrative
art«) - das meint hier verschiedenste Formen narrativer Gestaltung: die Rolle von Figuren, die Darstellung von Raum und Zeit, dann auch aus nähergehender Betrachtung - die Funktion von Kontrasten, von Parallelen, von Detailschilderungen und wörtlicher Rede. Dieses Programm entfernt sich deutlich von rhetorischen Modellen und bleibt doch einer isolierenden Analyse von >Bauformen< des Erzählens verpflichtet. Basierend auf einer Gleichsetzung von Erzähler und Autor, 49 auf einer Nichtunterscheidung verschiedener narrativer Ebenen, ist
48
Hierdurch fallt auch Licht auf die hermeneutische Problematik der systemorientierten Methode: das rhetorische Modell, dessen Kategorien die Untersuchung bestimmen, läßt sich — wie NELLMANN selbst aufzeigt (S. 165—180) - kaum fruchtbar anwenden, denn die »Technik des Wolframschen Erzählereingriffs ist ungleich differenzierter« (S.
179)· 49
Die Arbeiten von PÖRKSEN ( 1 9 7 1 ) und NELLMANN ( 1 9 7 3 ) wurden nicht (mehr) herangezogen. A u c h LOFMARKS ansonsten umsichtig wägendes Buch, das GIBBS kannte, bleibt in diesem Punkte unscharf ( 1 9 7 2 , S. 7iff.).
I2
auch die Perspektive, unter der die Einzelaspekte zusammentreffen sollen, problematisch; sie greift — wieder einmal — auf den Gedanken organischer Einheit zurück: »harmony of the work« und »unity of form and of thought« sind Leitbegriffe der Interpretation' 0 und ebenso schwierig objektivierbar wie die — aus ähnlichem Zusammenhang bekannte — Deutung des Textendes als harmonisch rundenden Abschlusses einer vollendeten Dichtung.' 1 Ein von moderner Ästhetik geprägter Kunstbegriff und wissenschaftsgeschichtlicher Anachronismus gehen hier Hand in Hand. Zur gleichen Zeit wurden in mehreren Aufsätzen andere Wege beschritten.'2 Alois W O L F lenkte 1975 die Aufmerksamkeit auf die Omnipräsenz des Erzählers, auf die Verbindung von erzählter Handlung und Kommentar, auf die Beteiligung des Publikums am Erzählvorgang. Erst hier ist das Problem des Erzählens im >Willehalm< — verschärft als Problem, leid volles Geschehen narrativ darzustellen'5 — präsent. Und hier setzt auch Michael C U R S C H M A N N (1975) an in einem Versuch, das komplexe Verhältnis zwischen Erzähler und Publikum aus der Spannungssituation von Fiktion (Buchliterarizität) und Realität (Vortrag) heraus zu erklären, aus der Orientierung an einer mündlichen Aufführung, die sich der Handschrift, des fixierten Textes als Medium bedient.' 4 Und deutlich hat schließlich vor allem Wolfgang M O H R (1979, entstanden teilweise 1971) ausgesprochen, daß es nicht genüge, sich an den >Ideen< der Dichtung zu orientieren, die Interpretation vielmehr dem Erzähler »auf seinem schwierigen Weg durch die Erzählung« zu folgen habe (S. 286f.) — auf einem Weg auch der spannungsvollen und nicht selten diskontinuierlichen Integration von Reflexion." ,0
s. a. SCHRÖDER, Dissertationsthema (1980), S. 1 9 1 .
" »Yet, great narrator that he [Wolfram] is, he supplies a conclusion which, with its lingering sadness, is totally fitting to the mood of the whole w o r k , and, precisely because it leaves so many problems unsolved, is completely commensurate with the work which precedes ist.« (S. 2 4 1 , Schluß). Bemerkenswert ist damit allerdings die Verzögerung gegenüber der >ParzivalWillehalmWillehalm< war nur als »gestalthafte, präsentative Symbolisation« zu behandeln (S. 83), diskursiv wird erst der Charakter der Interpretation sein können. Diese Annahme trifft ein wesentliches Moment hermeneutischer Differenz und läßt doch einige Fragen offen. Diskursive und präsentative Funktion scheinen im Werk (vielleicht von Szene zu Szene wechselnd) wie in der Analyse selbst in komplexer Wechselwirkung zu stehen. Diskursiv ist der >Willehalm< allerdings nicht und kann er nicht sein im Sinne einer begrifflich-rationalen Untersuchung (ebd.), doch entbehrt diese wiederum als Form sprachlichen Handelns wohl nicht völlig des simultanen, präsentativen Charakters. Ermessen sind die angedeuteten Perspektiven also in ihren Dimensionen noch kaum, und ihre Darstellung stößt weiterhin auf nicht zu geringe Probleme." Die skizzierte Forschungsentwicklung läßt sich zwar — zumindest bis B U M K E hin — als Geschichte des Vergessens oder der Verdrängung einer schon von L A C H M A N N bemerkten Tatsache (Reichtum und Feinheit der Form des >Willehalm